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PSYCHIATRIE

EIN LEHRBUCH

FÜR

STUDIERENDE UND ÄRZTE

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VON

Dr. EMIL KRAEPELIN

PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT MÜNCHEN

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SIEBENTE, VIELFACH UMGEARBEITETE AUFLAGE

I. BAND

ALLGEMEINE PSYCHIATRIE

LEIPZIG

VERLAG VON JOHANN AMBROSIUS BARTH

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1903

1961

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Übersetzungsrecht Vorbehalten.

WELLCOME INSTITUTE LIBRARY

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Druck von C. Grumbach in Leipzig.

Dem Andenken

Bernhard Gudden’s

gewidmet.

Digitized by the Internet Archive in 2016

https://archive.org/details/b28120796_0001

Vorwort zur 7. Auflage.

Die Neubearbeitung des vorliegenden Buches, die ich durch wiederholte Vergrösserung der Auflagen möglichst hinauszuschie- ben gesucht habe, findet unsere Wissenschaft noch immer in lebhaften Entwicklungskämpfen. Die meisten der im letzten Jahr- zehnt aufgetauchten klinischen Fragen harren noch ihrer end- gültigen Lösung, und auch auf Gebieten, deren Kenntnis zu einem gewissen Abschlüsse gediehen zu. sein schien, wie die Paralyse und die Epilepsie, erheben sich gewichtige Zweifel, ob nicht un- sere bisherigen Anschauungen in wesentlichen Punkten einer Neu- prüfung bedürfen. Diese Unsicherheit unseres Wissens ist gewiss kein unerfreuliches Zeichen; bedeutet sie doch nach einem lange dauernden, ziemlich unfruchtbaren Beharrungszustande eine Neu- belebung des Bedürfnisses nach klinischer Durchforschung der Geisteskrankheiten. Ausserordentlich erschwert wird aber durch die Unfertigkeit und Zwiespältigkeit der weit auseinander weichen- den, vielfach wechselnden Lehrmeinungen die Aufgabe, in einem gegebenen Zeitpunkte den Besitzstand unserer Wissenschaft dar- zustellen. So wenig ich mich zu der Selbstverleugnung ent- schliessen kann, Anschauungen, die ich für überwunden halte, nur deswegen weiter zu lehren, weil sie sich sonst noch allgemeiner Anerkennung erfreuen, so sehr scheint es mir doch geboten, einen vorläufig gewonnenen, wenn auch als unbefriedigend erkannten Standpunkt erst dann zu verlassen, wenn ein unzweifelhaft besse- rer gefunden wurde.

Aus diesem Grunde habe ich die Umänderungen in der neuen Bearbeitung auf das Unumgängliche beschränkt, so tief ich auch von der Verbesserungsbedürftigkeit der vorgetragenen Anschau- ungen, namentlich auf dem Gebiete der Dementia praecox, über-

VI

Vorwort.

zeugt bin. Im allgemeinen Teile hat namentlich die Lehre von den Erscheinungen des Irreseins eine umfassendere Durcharbei- tung erfahren; ich hoffe, dass sie mehr und mehr durch eine tiefer dringende Zergliederung der krankhaften Seelenvorgänge mittelst des psychologischen Versuches ersetzt werden soll. Auf klinischem Gebiete sind neben Anderem die alkoholischen Geistesstörungen, das Jrresein bei Hirnerkrankungen und die Schlussabschnitte des Buches wesentlich umgestaltet worden. Die fast durchweg neuen pathologisch-anatomischen Bilder nebst den dazu gehörigen Erläuterungen verdanke ich, wie früher, der treuen und uner- müdlichen Mitarbeiterschaft Nissls, zum Teil auch der Freund- lichkeit Alzheimers.

Heidelberg, den 19. September 1903.

E. Kraepelin.

Erster Band:

Allgemeine Psychiatrie,

Inhaltsverzeichnis.

Seite

Einleitung

i o

I. Die Ursachen des Irreseins .

A. Äussere Ursachen ^

1. Körperliche Ursachen ^

Himkrankheiten

Kreislaufstörungen (Blutandrang, Anämie, Stauung) Che- mische Wirkungen, Zerstörungen, Psychische Wirkungen Kopfverletzungen Localisation der psychischen Störungen (Geschwülste, Giftwirkungen, landkartenartige Abgrenzung, schichtweise Gliederung).

Nervenkrankheiten

Tabes Polyneuritis Chorea Epilepsie Tetanie Migränepsychosen Schmerzdelirien, Reflexpsychosen (Dys- phrenia neuralgica).

Operative Eingriffe . . , 34

Delirium traumaticum Künstliches Klimakterium De-

lirien im Dunkelzimmer.

Vergiftung und Erschöpfung (Hunger, Schlaflosigkeit) . . .

Infektionskrankheiten

Akute Infektionskrankheiten (Infektion, Eieber, Erschöpfung) Chronische Infektionskrankheiten (Tuberkulose, Lepra, Sy-

philis, Metasyphilis).

Stoffwechselkrankheiten

Selbstvergiftungen (Kohlensäurevergiftung, Urämie, Cholä- mie) — Krebssiechtum Darmgifte Diabetes, Glykos- nrie _ Gicht Myxödem, Basedowsche Krankheit.

Vergiftungen

Pellagra Ergotismus Alkohol Äther, Paraldehyd, Petroleum, Benzin, Chloroform Morphium, Opium Kokain Haschisch, Fliegenschwamm Arzneimittel (Brom, Sulfonal, Jodoiorm) Quecksilber, Blei, Phosphor Kohlenoxydgas, Schwefelkohlenstoff, Anilin.

X

Inhaltsverzeichnis.

Organerkrankungen

Sinnesorgane (Ohren) Lungenleiden Herzleiden Gefässerkrankungen Erkrankungen derVerdauungswerk- zeuge Nierenleiden Genitalerkrankungen.

Geschlechtsleben und Fortpflanzungsgeschäft

Ausschweifungen, Onanie, Nuptiales Irresein, Enthaltsam- keit — Menstruationsstörungen, Klimakterium Schwan- gerschaft, Wochenbett und Säugegeschäft.

2. Psychische Ursachen

Gemütsbewegungen

Akute (Emotionspsychosen, Angstdelirien) und chronische Affekte.

Überanstrengung

Gefangenschaft

Krieg

Psychische Ansteckung

Epidemien, Induziertes Irresein Irresein nach hypnotischen und spiritistischen Versuchen.

Seite

68

74

83

85

88

90

92

93

B. Innere Ursachen (Prädisposition)

1. Allgemeine Prädisposition

Lebensalter

Kinderpsychosen Entwicklungsalter Lebenshöhe Rückbildung Greisenalter.

Geschlecht

Volksart und Klima

Allgemeine Lebensverhältnisse

Stadt und Land Kulturfortschritte.

Beruf

Civilstand

2. Persönliche Prädisposition .

Erblichkeit

Entartung Vererbungstypen Entartungszeichen.

Entwicklungsstörungen

Erziehung

II. Die Erscheinungen des Irreseins

A.. Störungen des TV^ahwiehniungsvor ganges

Sinnestäuschungen

Elementare Trugwahrnehmungen Wahrnehmungstäuschun- £en Hallucination und Illusion Reperception Ein- bildungstäuschungen (Doppeldenken) Auffassungstäu- schungen — Reflexhallucinationen Gesichts-, Gehörs-, Geruchs-, Geschmacks-, Gefühlstäuschungen Verschieden- artige klinische Ausprägung.

96

97 97

104

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111

114

114

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127

128 129

Inhaltsverzeichnis.

XI

Seite

Trübungen des Bewusstseins

Dämmerzustände Schlaf und Traum.

Störungen der Auffassung

Verlangsamung der Auffassung Unbesinnlichkeit, Be- nommenheit.

Störungen der Aufmerksamkeit

Abstumpfung Sperrung Hemmung Bestimmbar- keit — Ablenkbarkeit (Hyperprosexie) Fesselung der

Aufmerksamkeit.

B. Störungen der Verstandestätigkeit

Störungen des Gedächtnisses

Störungen der Merkfähigkeit Erinnerungslosigkeit (Retro- grade Amnesie) Gedächtnisschwäche Partielle Am- nesie (Amnestische Aphasie) Erinnerungsfälschungen (Paramnesien, Erinnerungshallucinationen).

Störungen der Orientierung

Zeitliche, örtliche, sachliche Orientierung Desorientiert- heit (apathische, stuporöse, deliriöse, hallucinatorische , amnestische, wahnhafte).

Störungen in der Bildung der Vorstellungen und Begriffe Allgemeinvorstellungen, Begriffe (Sprache) Erschwerte und verschwommene Begriffsbildung.

Störungen des Gedankenganges

Vorstellungsverbindungen (Koexistenz, sprachliche Übung, Klangassoziationen, Subsumtionen, prädikative Verbin- dungen) — Zielvorstellungen Zwangsvorstellungen Haften der Vorstellungen, Perseveration Stereotypie Einförmigkeit Umständlichkeit Ablenkbarkeit (Ideen- flucht, Weitschweifigkeit) Zerfahrenheit Verwirrtheit.

162

163

171

177

181

Störungen der Einbildungskraft

Lähmung (Schwerfälligkeit) Denkhemmung Interesse- losigkeit — Steigerung der Einbildungstätigkeit (Lügner und Schwindler), erhöhte Suggestibilität und Autosugge-

stibilität.

Störungen des Urteils und der Schlussbildung

Wissen und Glaube Irrtum, Aberglaube und Wahnidee Entstehungsbedingungen der Wahnideen (Monomanien, überwertige Ideen, partielle Wahnbildung) Lokalisation derselben Deliriöse, schwachsinnige, fixierte, systemati- sierte Wahnideen Kleinheits- und Grössenideen (Ver- sündigungs-, Verfolgungswahn, Eifersuchtswahn, Telepathie, Verwandlungswahn, hypochondrischer Wahn, Grössenwahn, Mangel des Krankheitsbewusstseins).

XII

Inhaltsverzeichnis.

Seite

Störungen in der Schnelligkeit des Vorstellungs Verlaufes . . 228 Verlangsamung und Beschleunigung.

Störungen der geistigen Arbeitsfähigkeit 231

Psychische Grundeigenschaften Übungsfähigkeit Übungs- festigkeit Anregbarkeit Ermüdbarkeit Erholungs- fähigkeit (Schlaftiefe) Ablenkbarkeit Gewöhnungs- fähigkeit.

Störungen des Selbstbewusstseins 235

Spaltung der Persönlichkeit Doppeltes Bewusstsein (rEk- mnesie“) Krankhafte Wandlungen.

C. Störungen des Gefühlslebens 239

Herabsetzung und Steigerung der gemütlichen Erregbarkeit Teilnahmlosigkeit Einschränkung der Gefühlsbeziehun- gen — Beeinflussbarkeit der Stimmung, Stimmungswechsel.

Krankhafte Gemütsarten 244

Gesteigerte Unlustempfindlichkeit Ängstlichkeit Reiz- barkeit — Verschlossenheit Sonnennaturen Schwärmer und Schwindler Leichtsinn.

Krankhafte Gemütsbewegungen 248

Angst Zwangsbefürchtungen, Phobien Niedergeschlagen- heit — Gereiztheit Übermut Humor Glücks- gefühl — Heiterkeit Verzückung, Ekstase.

Störungen der Gemeingefühle 259

Müdigkeit, Hunger Langeweile Ekelgefühle, Schmerz geschlechtliche Gefühle.

D. Störungen des Wollens und Handelns 264

Herabsetzung der Willensantriebe 265

Steigerung der Willensantriebe 267

Unruhe Beschäftigungsdrang Bewegungsdrang.

Erschwerte Auslösung der Willensantriebe 270

Psychomotorische Hemmung, Stupor Willenssperrung.

Erleichterte Auslösung der Willensantriebe 272

Erhöhte Beeinflussbarkeit des Willens 274

Willensfreiheit Bestimmbarkeit Willenlosigkeit (Befehls- automatie, Hypnose, Flexibilitas cerea, Nachahmungsauto- matie, Echolalie, Echopraxie) Ablenkbarkeit des Willens (Unstetigkeit).

Verschrobenheit und Stereotypie

Willensdurchkreuzung Stereotypie Manieren Rhyth- mische Bewegungen Entgleisungen (Paramimie, Drum- herumreden).

Inhaltsverzeichnis.

XIII

Seite

Verminderte Beeinflussbarkeit des Willens 284

Negativismus (Mutacismus, Vorbeireden, Befehlsnegativis- mus) — Widerstreben Eigensinn Unlenksamkeit Bindung des Willens, Pedanterie.

Zwangshandlungen

Schutzhandlungen Zwangsantriebe.

Triebhandlungen 291

Krankhafte Triebe ^32

Suchten Krankhafter Geschlechtstrieb (Konträre Sexual- empfindung, Sadismus, Masochismus, Fetischismus) So- domie, Zoophilie Sammeltrieb, Stehltrieb Brand- stiftungstrieb — Mordtrieb, Giftmischerei.

Störungen der Ausdrucksbewegungen 300

Bewegungen (Verlust der Grazie) Gebärden Sprache (Sprachverwirrtheit, Verbigeration, Wortneubildungen)

Schrift Literatur und Kunst.

Handeln aus krankhaften Beweggründen 311

Handeln aus Wahnideen Leistungsfähigkeit Kranke Herrscher Geschäftsfähigkeit Zurechnungsfähigkeit.

ITT- Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins 317

A. Verlauf des Irreseins 317

Beginn der Erkrankung 318

Höhe der Erkrankung 319

Wechsel des Zustandes Anfälle Intermissionen und Remissionen.

Genesungszeit 323

Körpergewicht.

B. Ausgänge des Irreseins 325

Heilung 327

Prognose des Irreseins Krankheitseinsicht Einfluss fieberhafter Krankheiten.

Unvollständige Heilung 331

Unheilbarkeit 333

Verblödung.

Tod 335

Sterblichkeit Selbstmord.

C. Dauer des Irreseins 337

Spätheilungen.

IV. Die Erkennung des Irreseins 339

A. Krankenuntersuchung 339

Vorgeschichte 340

XIV

Inhaltsverzeichnis.

Zustandsuntersuchung

Körperliche Untersuchung (Allgemeinzustand, Entartungs- zeichen, Schädel, Nervensystem, einzelne Organe, Kreis- lanfsverhältnisse, Blut, Ausscheidungen) Psychischer Zu- stand (Intelligenzprüfungen) Feinere Untersuchungen (Auffassung, Zeitmessungen, Aufmerk6amkeit6schwankun- gen, Gedächtnis, Merkfäbigkeit, Vorstellungsverbindungen, Willensantriebe, Schrift, Ergographenversuche , Zitter- bewegungen, Ausdrucksbewegungen, Reflexe, Plethysmo- graphie, psychische Grundeigenschaften).

Beobachtung

Leichenbefund

Anatomische Diagnose.

B. Grenzen des Irreseins

Klinische Diagnose Krankhafte Vorgänge und Zustände Grenzgebiete (Beschränktheit, verkannte und wahre Genies, sittliche Schwäche).

C. Verstellung und Verleugnung

Seite

343

369

370

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381

T. Die Behandlung des Irreseins

A. Vorbeugung

Heiraten Geisteskranker Kampf gegen die Entartung Diätetik der Säuglinge Erziehung Überbürdungs- frage — Berufswahl - Kampf gegen Trunksucht und Syphilis Irrenfürsorge, Irrenheilanstalten, HilLvereine Aufgaben des Staates (Wissenschaft und Unterricht).

B. Körperliche Behandlung

Arzneimittel

Narkotika (Opium, Morphium, Codein, Hyoscin, Duboisin Haschisch, Pellotin)

Schlafmittel (Chloralhydrat, Paraldehyd, Amylenhydrat,

Dormiol, Sulfonal, Trional, Urethan, Hedonal. Veronal Alkohol)

Chloroform, Äther, Bromäthyl . . .

Brompräparate ....

Amylnitrit, Digitalis

Thyreoidin, Tuberkulin, Bacterium coli ! . . Blasenpflaster, Brechweinstein, Drastika

Operative Eingriffe ....

Hirnoperationen, Kraniektomie - Gynäkologische Eingriffe - Künstlicher Abortus und Frühgeburt - Beseitigung von Wucherungen im Nasenrachenraum - Thyreodektomie - Aochsalzinfusionen."

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Inhaltsverzeichnis.

XV

Physikalische Heilmethoden

Wasserbehandlung (Dauerbäder, Wicklungen, Regenduschen, Abreibungen) Kälte Elektrotherapie Massage.

Diätetische Massregeln

Ernährung Alkohol als Genussmittel Mastkur Bett- lagerung — Separierung, Isolierung Mechanische Be- schränkung.

C. Psychische Behandlung

Allgemeine Regeln Beschäftigung Intimidation Suggestion.

D. Behandlung einzelner Krankheitserscheinungen

Psychische Erregung Angst Schlaflosigkeit Selbst- mordneigung — Zerstörungssucht Unreinlichkeit Masturbation Nahrungsverweigerung (Sondenernährung, Nährklystiere, Kochsalzinfusion, subkutane Ernährung).

E. Die Irrenanstalt

Geschichtliches Wirkung der Anstalt Verbringung in die Anstalt (Förmlichkeiten) Irrenärzte Pflegepersonal Stadtasyle (Wachabteilung) Kolonien (Beschäftigung, Ofifen-Türsystem) Familiäre Verpflegung Abteilungen für gefährliche Geisteskranke Entlassung aus der An- stalt — Hilfsvereine Trinkeranstalten Nervenheil- stätten.

Seite

411

417

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434

446

Einleitung.

Psychiatrie ist die Lehre von den psychischen Krank- heiten und deren Behandlung. Ihren Ausgangspunkt bildet die wissenschaftliche Erkenntnis des Wesens der Geistesstörungen. In der Lösung dieser Aufgabe waren schon die Ärzte des Alter- tums so weit vorgeschritten, dass sie das Irresein mit gewissen körperlichen Störungen in Verbindung brachten, namentlich mit dem Fieber und mit Veränderungen der Körpersäfte. Leider gingen diese bereits zu Lehrgebäuden entwickelten Anschauungen mit dem Zusammenbruche der alten Kultur fast völlig wieder verloren. Dafür drangen im Mittelalter einerseits scholastisch- philosophische, andererseits religiös-abergläubische Vorstellungen in die Auffassung des Irreseins ein und verdrängen rasch die vorhandenen Ansätze eines naturwissenschaftlichen Verständ- nisses. Die Geistesstörung war nicht mehr Krankheit, sondern Werk des Teufels, Strafe des Himmels, bisweilen auch göttliche Verzückung. Nicht der Arzt beschäftigte sich mehr mit der Erforschung und Behandlung des Seelengestörten, sondern der Priester suchte ihm die bösen Geister zu vertreiben; das Volk betete ihn als Heiligen an, und die Hexenrichter liessen ihn in der Folterkammer wie auf dem Scheiterhaufen für seine ver- meintlichen, wahnhaften Sünden büssen.

Mit der Wiedererneuerung der Wissenschaften und insbe- sondere mit dem Aufschwünge der Medizin begann allmählich auch das Interesse der Ärzte sich wieder den Geisteskranken zuzuwenden. Allein es dauerte Jahrhunderte, bevor die klare Erkenntnis sich überall Geltung zu erringen vermochte, dass die Seelenstörungen nur vom ärztlichen Standpunkte aus richtig er- forscht und erkannt werden können. Noch Kant vertrat die

K r aep elin, Psychiatrie I. 7. Aufl. 1

2

Einleitung.

Anschauung, dass zur Beurteilung krankhafter Geisteszustände mein- der Philosoph als der Arzt berufen sei. Erst die Errichtung besonderer Anstalten für Geisteskranke unter ärztlicher Aufsicht begann allmählich die Entwicklung einer wirklich wissenschaft- lichen Betrachtungsweise des Irreseins anzubahnen. Wenn wir von vereinzelten Vorläufern absehen, so gibt es erst seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts wirkliche Irrenärzte. Seit jener Zeit hat sich die Psychiatrie trotz gewaltiger innerer und äusserer Schwierigkeiten überraschend schnell zu einem kräftigen Zweige der medizinischen Wissenschaft fortentwickelt.

Allerdings waren, namentlich bei uns in Deutschland, zunächst noch schwere Kämpfe zu überstehen.*) Zwar hatte der auf die Autorität der Bibel sich stützende Besessenheitsglaube bereits seine Macht verloren, wenn er auch heute noch hier und da im Verborgenen zu blühen scheint. Dagegen erstand der jungen psychiatrischen Wissenschaft, wie sie damals gerade v on E s - q u i r o 1 an der Hand einer reichen klinischen Erfahrung begründet wurde, ein gefährlicher Feind in gewissen moraltheologischen Auf- fassungen des Irreseins, die in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts von Heinroth, Beneke u. a. in die Lehre \ om Irresein hineingetragen wurden. Nach diesen Anschauungen sollte die Geistesstörung wesentlich eine Folge der Sünde sein, welche durch eigene Verschuldung Gewalt über den Menschen gewinne und am Ende Leib und Seele verderbe. Gegen diese und ähnliche, mit grossem Scharfsinn ausgeklügelten Anschauungen kämpften mit den Waffen der naturwissenschaftlichen Forschung die „So- matiker“, an ihrer Spitze Nasse und Jacobi**), welche das Irresein für den Ausdruck körperlicher Störungen erHäiten.

Ihnen ist es gelungen, Sieger zu bleiben. Was noch vor siebzig Jahren mühsam erstritten werden musste, ist heute, wenn auch in vielfach veränderter Ausgestaltung, die selbst- verständliche Grundlage unserer Wissenschaft geworden. Nie- mand wagt es mehr, zu bezweifeln, dass Geistesstörungen Krank- heiten sind, die der Arzt zu behandeln hat. Wir wissen jetzt,

*) Friedreich, Historisch-kritische Darstellung der Theorien über das Wesen und den Sitz der psychischen Krankheiten. 1836.

**) J a c o b i , Beobachtungen über die Pathologie und Therapie der mit Irresein verbundenen Krankheiten. 1830.

Einleitung-.

3

dass wir in ihnen die psychischen Erscheinungsformen mehr oder weniger feiner Veränderungen im Gehirne, insbesondere in der Rinde des Grosshirns, vor uns haben. Mit dieser Erkenntnis hat die Psychiatrie bestimmte, klare Ziele gewonnen, denen sie mit den Hilfsmitteln und nach den Grundsätzen naturwissenschaftlicher Forschung entgegenstrebt.

Vor allem wird uns die Beobachtung am Kranken- bette eine möglichst umfassende und eingehende Kenntnis der klinischen Krankheitsformen zu liefern haben. A¥ir müssen lernen, aus der fast unübersehbaren Mannigfaltigkeit der Einzelerfahrungen nach und nach das Regelmässige und Wesent- liche herauszuschälen, und auf diese AVeise zu einer Abgrenzung und Gliederung der zusammengehörigen Beobachtungsreihen ge- langen. Gerade diese Aufgabe hat sich auf unserem Gebiete bisher als ganz besonders schwierig erwiesen. Krankheitsbilder, die ihrem Wesen nach voneinander völlig verschieden sind, können zeitweilig die grösste äusserliche Übereinstimmung darbieten, und umgekehrt fassen wir heute mit gutem Rechte Zustände als Äusserungen eines und desselben Krankheitsvorganges auf, die zunächst durchaus unvereinbar, ja als schärfste Gegensätze er- scheinen.

Was man mit Recht vom Arzte verlangt, ist die Vorher- sage des Kommenden. Sobald wir imstande sind, aus dem gegenwärtigen Zustande eines Kranken die weitere Entwicklung seines Leidens mit Wahrscheinlichkeit vorauszubestimmen, ist der erste wichtige Schritt zu einer wissenschaftlichen und prak- tischen Beherrschung des Krankheitsbildes geschehen. Wir werden daher gut tun, dieser Aufgabe zunächst unsere volle Aufmerksam- keit zu widmen. Die meisten übrigen Zweige der Heilkunde haben mit derselben im wesentlichen bereits abgeschlossen. Wir wissen recht genau, wie ein Typhus oder ein Beinbruch verlaufen wird, und kennen alle die Zwischenfälle, die den Heilvorgang durchkreuzen können. In der Psychiatrie besitzen wir höchstens die ersten Ansätze zu einer derartigen Kenntnis. Wohl erwirbt sich der einzelne Irrenarzt im Laufe seiner persönlichen Erfahrung die Fähigkeit, aus gewissen Zeichen Schlüsse auf die Heilbarkeit oder Unheilbarkeit seiner Kranken zu ziehen. Dagegen fehlt es, ab- gesehen etwa von der Gruppe der Paralyse, noch fast vollständig

4

Einleitung.

an zuverlässigen und lehrbaren Sätzen über die voraussichtliche klinische Weiterentwicklung des einzelnen Krankheitsfalles.

Einer der Hauptgründe für diese Unvollkommenheit unserer Wissenschaft liegt in der ungemein langen Dauer der Geistes- krankheiten. Einerseits gibt es viele unheilbare Formen, die in allmählichem Wechsel der Zustände das ganze Leben ausfüllen; andererseits aber sehen wir bei einigen Hauptgruppen des Irre- seins das Leiden in abgegrenzten, weit auseinander liegenden Anfällen verlaufen oder doch jahrelang Stillstand machen, so dass die innere Zusammengehörigkeit der einzelnen Anfälle oder Nachschübe nur bei genauer Kenntnis der ganzen Vergangen- heit überblickt werden kann. Jeder Irrenarzt erlebt zahlreiche Überraschungen, sobald er in die Lage kommt, die späteren Lebensschicksale seiner einstigen Kranken verfolgen zu können. Namentlich wird er stets erkennen, dass die überwiegende Mehr- zahl der rasch und günstig verlaufenden Geistesstörungen nichts anderes sind, als die Äusserungen eines dauernden krankhaften Zustandes, der freilich lange Zeit gar nicht hervorzutreten braucht. Gerade diese trügerischen Augenblicksbilder sind es, welche uns die Klärung der klinischen Erfahrung so sehr er- schweren. Die Feststellung dessen, was wirklich vorkommt, muss daher noch auf längere Zeit hinaus unsere erste Aufgabe bleiben. Vor allem ist es wichtig, den gesamten Lebenslauf unserer Kranken durch Jahrzehnte hindurch im Auge zu behalten; öfters wird es erst dann möglich sein, den richtigen Standpunkt für die klinische Beurteilung zu gewinnen.

Ganz besondere Vorsicht ist ferner bei der Feststellung der Krankheits Ursachen geboten. Der Laie ist geneigt, ohne weiteres irgend ein zufälliges Ereignis, eine gemütliche Erregung, einen Misserfolg, ein körperliches Leiden, eine Überanstrengung für den Ausbruch des Irreseins verantwortlich zu machen. Die weiterblickende klinische Erfahrung lehrt indessen, dass die ur- sächliche Bedeutung derartiger äusserer Einflüsse eine verhält- nismässig recht geringe ist. Sehr häufig werden sogar die ersten Erscheinungen des beginnenden Irreseins fälschlicherweise für dessen Ursachen gehalten. Wenn wir sehen, dass die gleichen Krankheitsfälle, die heute durch einen bestimmten Anstoss er- zeugt zu werden scheinen, bei demselben Kranken ein anderes

Einleitung.

5

Mal, und ebenso in zahllosen anderen Fällen regelmässig, ganz ohne jeden Anlass sich einstellen, so werden wir auch gegen die erste, anscheinend so beweisende Beobachtung misstrauisch werden. Auch auf diesem Gebiete ist noch ausserordentlich viel zu tun. Die gleichen Ursachen müssen auch bei dem Vorgänge der psychischen Erkrankung überall die gleichen Wirkungen haben. Begegnen uns, wie so häufig, vermeintliche Abweichungen von jenem Gesetze, so sind zweifellos entweder die Ursachen oder die Wirkungen nicht wirklich gleich gewesen. Nach beiden Rich- tungen hin wird eine geduldige Häufung zuverlässiger und nament- lich vollständiger Beobachtungen allmählich Klarheit bringen.

Ist es uns gelungen, die klinischen Erfahrungen soweit zu verarbeiten, dass wir Krankheitsgruppen mit bestimmten Ur- sachen, bestimmten Erscheinungen und bestimmtem Verlaufe aufstellen können, so wird es unsere Aufgabe sein, in das Wesen des einzelnen Krankheitsvorganges einzu- dringen. Ein wichtiger und auch bereits vielfach betretener Weg zu diesem Ziele ist derjenige der pathologischen Ana- tomie. Leider hat uns diese Wissenschaft, der die übrige Medizin so viel verdankt, erst verhältnismässig wenige Aufschlüsse zu liefern vermocht, weil unsere Kenntnisse von dem Bau der ge- sunden und den Veränderungen der kranken Hirnrinde viel zu lückenhaft sind. Insbesondere versagt unser Wissen völlig bei denjenigen Gewebsteilen, die vorzugsweise Träger der höheren Seelenäusserungen zu sein scheinen. Auch dort aber, wo die Untersuchung bereits tiefgreifende und ausgedehnte Verände- rungen aufgedeckt hat, erweist es sich als sehr schwierig, aus den Befunden das Wesentliche und Eigenartige herauszuschälen und weiterhin ein Bild von der Art und dem Verlaufe der zu Grunde liegenden Krankheitsvorgänge zu gewinnen. Sehr wich- tige Aufschlüsse hat der Tierversuch, namentlich die Erforschung der Hirnrindenvergiftungen, gebracht, da es hier möglich ist, eindeutige Beziehungen zwischen krankmachenden Ursachen und Rindenveränderungen herzustellen und zugleich die einzelnen Ent- wicklungsstufen des Krankheitsvorganges zu verfolgen. Freilich sind diese Erfahrungen nicht ohne weiteres auf die wesentlich anderen Verhältnisse beim Menschen zu übertragen. Immerhin wird unser Verständnis wenigstens für diejenigen Formen der

6

Einleitung.

Geistesstörungen gefördert werden, deren Ursachen die Verwer- tung im Tierversuche gestatten.

Weit weniger, als die pathologische Anatomie, vermag einst- weilen die Physiologie der Hirnrinde zur Vertiefung unserer Kenntnisse von den Geistesstörungen beizutragen, so wert- voll ihre Lehren auch für die Erforschung und Behandlung der gröberen Hirnerkrankungen geworden sind. Alle Formen des Irreseins beruhen höchst wahrscheinlich auf ausgebreiteten Stö- rungen in der Hirnrinde und dürften schwerlich an engumschrie- bene Gebiete derselben geknüpft sein. Zudem sind die Eingriffe, die uns Aufschlüsse über die örtliche Verteilung der Hirnver- richtungen geliefert haben, unter allen Umständen weder ihrer Art noch ihrer Ausbreitung nach den feinen und weitschichtigen Abweichungen irgendwie vergleichbar, die wir als die Grundlage der Geisteskrankheiten vermuten müssen. Andererseits ist die Psychiatrie leider der Gefahr nicht immer entgangen, die aus den Lokalisationsversuchen gewonnenen Vorstellungen ohne wei- teres auf das unendlich verwickeltere Gebiet der psychischen Störungen zu übertragen und damit einer rohen und zugleich unfruchtbaren Schematisierung der klinischen Erfahrungen Vor- schub zu leisten.

Das konnte um so leichter geschehen, je weniger wir tat- sächlich von dem Getriebe und den Gesetzen unserer psychischen Vorgänge wissen. Gerade die spekulative Psychologie mit ihren dürren Gedankenspielereien hat die Entwicklung der Seelenheil- kunde zu einer klinischen Wissenschaft am stärksten gehindert. Diese Erkenntnis musste zu einer kräftigen Gegenströmung führen, welche das Schwergewicht der psychiatrischen For- schung auf die körperlichen und, wegen der Erfolge in anderen medizinischen Gebieten, auf die anatomisch nachweisbaren Verän- derungen legte. Es ist indessen klar, dass uns auch die voll- kommenste Kenntnis der Hirnrindenstörungen beim Irresein, der Nachweis aller sich dort vollziehenden Abweichungen in Form und Verrichtung, durchaus im Unklaren darüber lassen würde, ob und welche Beziehungen zwischen jenen Störungen und den psychi- schen Krankheitserscheinungen bestehen. Ja, wir könnten das eindringendste Verständnis für alle in der Hirnrinde sich abspielen- den körperlichen Vorgänge besitzen, ohne an sich auch nur einen

Einleitung.

7

Augenblick zu der Vermutung gezwungen zu werden, dass wir in jenem Gewebe den Träger des Seelenlebens vor uns haben. Aus diesen Erwägungen ergibt sich die Notwendigkeit, ausser den körperlichen Zuständen der Hirnrinde auch die psychischen Erscheinungsformen jener letzteren gesondert zu erfor- schen. Wir erhalten auf diese Weise zwei Reihen innig mit- einander verbundener, aber ihrem Wesen nach unvergleichbarer Tatsachen, das körperliche und das psychische Geschehen. Aus den gesetzmässigen Beziehungen beider zu einander geht das klinische Krankheitsbild hervor.

Wir müssen es daher als unsere Aufgabe betrachten, auch jene Gesetze kennen zu lernen, welche den Ablauf der psychischen Vorgänge beherrschen, namentlich aber auf das sorgfältigste den Abhängigkeitsverhältnissen nachzugehen, die zwischen körper- lichen und seelischen Zuständen bestehen. Glücklicherweise hat sich aus dem Schosse der Physiologie heraus, namentlich in den letzten Jahrzehnten, auch die Psychologie zu einer Erfahrungs- wissenschaft entwickelt, die auf dem Wege der Naturforschung ihren Gegenstand erfolgreich zu bearbeiten begonnen hat. Es ist, wie schon die bisherige Arbeit gezeigt hat, nicht unmöglich, mit Hilfe jener jungen Wissenschaft zu einer Physiologie der Seele zu gelangen, die auch der Psychiatrie eine brauch- bare Grundlage zu liefern vermag. Sie wird uns einerseits dazu dienen können, verwickelte Erscheinungen in ihre einfacheren Bestandteile zu zerlegen. Wir werden aus der Zergliederung des gesunden Seelenlebens die Anhaltspunkte für die Beurteilung und Erklärung krankhafter Störungen gewinnen, und wir werden auch in der Lage sein, in geeigneten Fällen das Hilfsmittel des psychologischen Versuches unmittelbar zur genaueren Eifor- schung von Krankheitszuständen heranzuziehen.

Andererseits aber dürfen wir von einer wissenschaftlichen Psychologie wertvolle Ergänzungen unserer Vorstellungen über die Entstehung des Irreseins erwarten. Vor allem sind es wieder die Gifte, deren Einwirkung auf den Ablauf unserer psychischen Vorgänge wir grundsätzlich schon heute mit ziemlicher Genauig- keit in ihre Einzelzüge zu zerlegen imstande sind. Die hier noch im Bereiche des Gesunden gewonnenen Erfahrungen können uns dann das Verständnis auch für die klinischen Krankheitserschei-

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Einleitung.

nungen eröffnen, wie sich das bereits für einzelne Gifte gezeigt hat. Auch eine Reihe anderer Einflüsse, denen wir gewöhnt sind, Wirkungen auf unser Seelenleben zuzuschreiben, lassen sich in ganz ähnlicher Weise untersuchen. Wir können die Veränderungen, die durch den Hunger, mangelhaften Schlaf, geistige und körper- liche Überanstrengung im Verhalten unserer psychischen Vor- gänge hervorgerufen werden, von ihren leisesten Anfängen an genau verfolgen und aus den geringeren Gleichgewichtsschwan- kungen beim sonst gesunden Menschen Schlüsse auf die Deutung der ausgeprägteren Störungen im Krankheitszustande ableiten. Endlich aber wird die psychologische Zergliederung der einzelnen Persönlichkeit mit Hilfe des Versuches vielleicht auch geeignet sein, uns über die Eigentümlichkeiten jener vielgestaltigen Formen krankhafter Veranlagung Aufklärung zu verschaffen, die man unter dem gemeinsamen Namen der Entartungszustände zusam- menzufassen pflegt.

Wenn der Seelenheilkunde aus der Beschäftigung mit den höchsten und verwinkeltsten Lebensäusserungen und deren körper- lichen Grundlagen auf Schritt und Tritt schier unüberwindliche Schwierigkeiten erwachsen, so verleiht andererseits die Eigenart des Gegenstandes ihren Ergebnissen eine Bedeutung, die weit über das Gebiet der Fachwissenschaft hinausreicht. Nicht nur wird der psychiatrisch geschulte Arzt aus ihr ein tieferes Ver- ständnis für zahlreiche Beobachtungen am Krankenbette gewinnen, die ihm sonst unklar geblieben wären, sondern die Lehre von den geistigen Störungen liefert auch für alle diejenigen Wissenschaf- ten wichtige Bausteine, die sich überhaupt mit dem Seelenleben des Menschen beschäftigen. So kommen die innigsten wissen- schaftlichen Wechselbeziehungen zur Psychologie und ihren ver- schiedensten Zweigen zu stände, zur Völkerpsychologie, Kriminal- psychologie, Persönlichkeitskunde, Psychologie der Altersstufen, der Geschlechter, ferner zur Pädagogik, Ethik, Erkenntnis- theorie u. s. f.

Unmittelbar wichtiger, als diese weitausgedehnten wissen- schaftlichen Anknüpfungen, sind die praktischen Aufgaben, welche die Psychiatrie zu lösen hat. Zunächst wird es sich dabei um die Verhütung des Irreseins handeln. Die Gesichtspunkte für diesen Zweig der Gesundheitspflege können naturgemäss nur

Einleitung.

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aus der Lehre von den Ursachen geistiger Erkrankungen ge- wonnen werden. Bedeutsame Fortschritte jener letzteren werden daher vielfach auch Ausblicke auf vorbeugende Massregeln zu eröffnen imstande sein. So wird unsere Kenntnis von der Rolle, die Erblichkeit, Alkohol, Syphilis bei der Entstehung des Irre- seins spielen, dem Arzte eine gewisse Richtschnur für sein Handeln geben, mag der tatsächliche Erfolg seiner Bemühungen auch heute noch ein bedauernswert geringer sein.

Leider ist auch der Nutzen, den die Behandlung der Geistesstörungen aus der Erkenntnis ihrer Ursachen zieht, bisher noch nicht sehr gross. Wo uns die Ursachen bekannt sind, ver- mögen wir sie meistens nicht zu beseitigen, wie zum Beispiel bei der erblichen Entartung. Darum muss hier die Erfahrung am Krankenbette selbst unsere Lehrmeisterin werden. Sie hat uns in verhältnismässig kurzer Zeit einen weiten, weiten Weg ge- führt. Von dem Zeitpunkte an, in welchem Ärzte die Fürsorge für die Geisteskranken übernahmen, seitdem sie in der Lage waren, klinische Beobachtungen zu sammeln, hat sich das Los unserer Kranken stetig gebessert. Die Entwicklung unseres ganzen Anstaltswesens, einer der grossartigsten Schöpfungen menschlichen Mitleids, ist auf das engste verknüpft gewesen mit den Fortschritten in unserem Verständnisse des Irreseins. Je klarer sich die Überzeugung Bahn brach, dass die Irren Kranke sind, dass ihren Störungen bestimmte körperliche Ver- änderungen zu Grunde liegen, um so mehr haben sich die Irren- anstalten in ihren ganzen Einrichtungen denjenigen anderer Kran- kenhäuser genähert, so dass heute ein Asyl für frisch Erkrankte fast vollständig einer Abteilung für körperlich Kranke glei- chen darf.

Ein Punkt ist es allerdings, welcher den Geisteskrankheiten eine besondere Stelle gegenüber allen übrigen Leiden anweist: das ist ihre ausserordentliche soziale Bedeutung. Das Irresein gehört unter allen Umständen zu den schwersten Erkrankungen, die es überhaupt gibt. Dazu kommt aber, dass der Geisteskranke in der Regel nicht imstande ist, selbständig für sich zu sorgen. Man kann ihn in seinem Handeln nicht nach seinem Belieben ge- währen lassen, sondern er bedarf fremder Aufsicht und Fürsorge. Aus dieser Tatsache erklärt es sich, dass dem Irrenarzte noch

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Einleitung.

eine Reihe von Aufgaben zufallen, welche anderen Gebieten der Heilkunde fremd sind. Die Verbringung des Geisteskranken in die Anstalt geschieht meist nicht auf seinen eigenen Wunsch, sondern auf Veranlassung seiner Angehörigen oder der Behörden. Er wird behandelt und festgehalten ohne und nach Umständen selbst gegen seinen Willen. Die gesetzliche Regelung der hier erwachsenden, sehr schwierigen Fragen hat von jeher die Aufmerksamkeit der Irrenärzte auf das ernsthafteste beschäftigt. Wie die Erfahrung lehrt, sind die Fälle, in denen Geisteskranke schwerstes Unheil über sich oder ihre Angehörigen bringen, überaus häufig. Darum ist rasches Einschreiten beim Ausbruche geistiger Erkrankung mit Rücksicht auf den Kranken selbst wie auf seine Umgebung dringend geboten, um so mehr, als die Heilungsaussichten unter solchen Umständen am günstigsten sind. Andererseits gibt es nicht wenige Kranke, die nur mit grösstem Widerstreben in der Anstalt bleiben, ja zweifellos unter der Freiheitsentziehung leiden. Es leuchtet ein, dass es schwer genug ist, zwischen den wider- strebenden Wünschen des Kranken und den Forderungen der öffentlichen Sicherheit jederzeit entscheiden zu müssen.

Für die richtige Würdigung der Rolle, die das Irresein im Gemeinwesen spielt, ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass sich im Jahre 1898*) in den Irrenanstalten des Deutschen Reiches nicht weniger als etwa 74 000 Kranke befanden. Es kam somit 1 Anstaltskranker auf 688 Einwohner. Nach allgemeiner Erfahrung beträgt die Anzahl der überhaupt vorhandenen Geistes- kranken mindestens das Doppelte, so dass wir mit einer Zahl von etwa 150 000 derartiger Kranker im Deutschen Reiche zu rechnen haben. Ob damit die Wahrheit bereits erreicht ist, müssen wir freilich sehr dahingestellt sein lassen. In manchen Gegenden Deutschlands bieten heute die Anstalten schon Raum für einen Kranken auf 5 600 Gesunde, ja man hat in der Schweiz sogar auf je 200 Einwohner einen Platz in der Irrenanstalt gefordert! Jedenfalls bedeutet die gewaltige Zahl der Geisteskranken, welche ausser stände sind, ihr Leben selbständig zu führen, vielfach sogar einer sehr sorgfältigen und kostspieligen Pflege bedürfen, eine schwere Belastung unseres Volkes, namentlich der Gemein-

*) L ä k r , Die Heil- und Pfleganstalten für Psychisch-Kranke .des deutschen Sprachgebietes. 1899.

Einleitung.

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den, die meistens für die unbemittelten Kranken einzutreten haben. Die zweckmässige Gestaltung dieser umfassenden Für- sorge ist eine ebenso wichtige wie umfangreiche praktische Auf- gabe unserer Wissenschaft.

Noch verwickelter fast und schwieriger sind die Beziehungen unserer Kranken zu den verschiedenen Zweigen der Rechts- pflege. Das Strafgesetz aller gesitteten Völker betrachtet höhere Grade geistiger Erkrankung als Strafausschliessungsgrund ; das bürgerliche Gesetzbuch spricht den Handlungen des Irren die rechtliche Verbindlichkeit ab. Nach beiden Richtungen hin hat das Gutachten des Irrenarztes sehr gewichtige Folgen für das Lebensglück der Betroffenen. Wenn irgendwo, so gilt hier der Satz, dass die Entscheidung solcher Fragen nur auf der Grundlage einer tiefgehenden Sachkenntnis geschehen kann. Auf Schritt und Tritt tauchen Schwierigkeiten auf, die ausschliess- lich durch vollkommenste Beherrschung aller Einzelheiten der klinischen Erfahrung überwunden werden können. Ja, nicht selten entdeckt erst der Wissende dort Schwierigkeiten, wo sie dem Unerfahrenen verborgen bleiben. Unter allen Umständen wird dei- jenige der beste Gutachter sein, welcher der beste Kliniker ist.

Von der endgültigen Lösung der im vorstehenden gekenn- zeichneten Aufgaben ist die Psychiatrie leider nur allzu weit noch entfernt. Sie ist eine junge, im Werden begriffene Wissenschaft, und sie muss sich in harten Kämpfen erst langsam die Stel- lung erobern, die ihr nach Massgabe ihrer wissenschaftlichen und praktischen Bedeutung gebührt. Kein Zweifel, dass sie sich die- selbe erringen wird stehen ihr doch dieselben Waffen zu Gebote, die sich auf den übrigen Gebieten der Medizin so glänzend be- währt haben: die klinische Beobachtung, das Mikroskop und das Experiment.

H. Emminghaus, Allgemeine Psychopathologie zur Einführung in das Studium der Geistesstörungen. 1878.

Maudsley, The pathology of mind. 1895.

S t ö r r i n g , Vorlesungen über Psychopathologie. 1900.

Ausführliche Darstellungen der allgemeinen Psychiatrie enthalten auch die meisten der im zweiten Teile dieses Buches aufgeführten Lehrbücher.

I. Die Ursachen des Irreseins*)

Die Entstehungsgeschichte einer geistigen Erkrankung ist fast immer eine sehr verwickelte. Nur recht selten finden wir hier einfache und durchsichtige Beziehungen zwischen greifbaren Ursachen und entsprechenden Wirkungen vor; fast immer sind wir in der Lage, mit einer ganzen Reihe von verschiedenen Mög- lichkeiten rechnen zu müssen, deren besondere Bedeutung im einzelnen Falle wir oft kaum annähernd abzuschätzen vermögen.

Die Lehre von der Entwicklung des Irreseins kennt daher nur ausnahmsweise einen unverbrüchlichen Zusammenhang zwi- schen bestimmter Krankheitsursache und Krankheitsf orm ; viel- mehr pflegen wir allgemein den gleichen äusseren Einwirkungen die Erzeugung mannigfaltiger Formen des Irreseins zuzuschreiben und andererseits die gleichen psychischen Erkrankungen aus einer Anzahl der verschiedenartigsten Ursachen herzuleiten. Dieser Widerspruch mit dem naturwissenschaftlichen Grundge- setze, der sich übrigens bei allen unentwickelten Erfahrungs- wissenschaften wiederfindet, beruht zunächst darauf, dass wir auf unserem Gebiete vielleicht noch mehr, als irgendwo sonst, die beiden grossen Gruppen der äusseren und inneren Ursachen auseinanderzuhalten haben.

Unser Gehirn ist ein überaus reich und vielseitig entwickeltes M erkzeug und zeigt daher eine ausserordentlich mannigfaltige Ausbildung bei verschiedenen Personen. Aus diesem Grunde werden wir bei der Entstehung des Irreseins der Eigenart des einzelnen Menschen eine besonders hohe Bedeutung einräumen müssen. Die gleiche Schädlichkeit wird bei der Einwirkung auf verschiedenartige Wesen notwendigerweise auch verschiedenartige

' r o u 1 o u s e , les causes de la folie, prophylaxie et assistance. 1S96.

I. Die Ursachen des Irreseins.

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Krankheitserscheinungen nach sich ziehen müssen. Während sie in einem Falle an der inneren Widerstandsfähigkeit des Betrof- fenen ohne weiteres abprallt, kann sie ein anderes Mal vielleicht eine heftige, aber kurze Erschütterung des seelischen Gleich- gewichtes erzeugen, bei einem Dritten etwa eine schlummernde Krankheitsanlage wecken, die nun ihrerseits zu langdauerndem geistigem Siechtum führt. Überall wird dabei der Satz Geltung haben, dass äussere und innere Ursachen in einem gewissen Er- gänzungsverhältnisse zu einander stehen. Je weniger ein Mensch zum Irresein veranlagt ist, um so stärker muss die äussere Schädigung sein, die ihn krank macht, und umgekehrt gibt es Personen, die schon unter dem Einflüsse der kleinen Reize des täglichen Lebens geisteskrank werden, weil ihre Widerstands- fähigkeit zu gering ist, um selbst diese ohne tiefere Störung er- tragen zu können.

Dazu kommt, dass wir heute überall wesentlich nur die rohen, nicht aber die wahren Ursachen und Wirkungen zu berücksichtigen vermögen. Wäre z. B. eine bestimmte chemische Veränderung in der Zusammensetzung des Blutes die wahre Ur- sache einer eigenartigen Geistesstörung, so könnten sehr ver- schiedene rohe Ursachen, etwa das Krebssiechtum, häufige Blu- tungen, chronische Malariavergiftung, Erkrankungen der blut- bildenden Organe u. s. f. neben anderen Wirkungen gerade den gemeinsamen Erfolg haben, dass die Ernährungsflüssigkeit nach der hier in Betracht kommenden Richtung hin untauglich wird. Noch wichtiger vielleicht ist es, dass umgekehrt psychische Stö- rungen, die der äusserlichen Betrachtung völlig verschieden er- scheinen, in Wahrheit doch nahe verwandt, etwa nur verschiedene Entwicklungsstufen oder Stärkegrade eines und desselben Krank- heitsvorganges sind. So wird man vielleicht den Grössen- und den Kleinheitswahn des Paralytikers zunächst als Anzeichen völlig entgegengesetzter Störungen anzusehen geneigt sein, bis man entdeckt, dass beide als Erscheinungsformen desselben Grund- leidens ohne weiteres ineinander übergehen, sich sogar miteinan- der mischen können. Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass eine brauchbare Ursachenlehre ohne die genaueste Kenntnis der klinischen Krankheitsformen nicht möglich ist. So lange wir nicht am Krankenbette Wesensgleiches zusammenzufassen und

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I. Die Ursachen des Irreseins.

Verschiedenes zu trennen vermögen, werden auch unsere ätio- logischen Anschauungen notwendig unklar und widerspruchsvoll bleiben.

Dennoch beginnt sich schon jetzt allmählich die Auf- fassung Bahn zu brechen, dass dem Überwiegen der äusseren oder der inneren Ursachen im allgemeinen zwei grosse Gruppen von Geistesstörungen entsprechen, die von Möbius als exogene und endogene Erkrankungen auseinandergehalten worden sind. Jene erstere Gruppe zeigt wesentlich abgerundete Verlaufsarten von bestimmtem Gepräge mit einer gewissen Gleichförmigkeit der gesamten Entwicklung; dieser letzteren dagegen ist vielfacher Wechsel der Krankheitserscheinungen nach Stärke und Art, schwankender, unregelmässiger Verlauf oder Fortbestehen der Störungen durch das ganze Leben hindurch eigentümlich. Es liegt indessen auf der Hand, dass sich eine strenge Scheidung auf diesem Gebiete nicht durchführen lässt. Vielmehr muss es natur- gemäss alle möglichen Mischungen in dem Verhältnisse der äusseren zu den inneren Ursachen geben. Das Gewicht des gleichen äusseren Anstosses kann je nach dem uns wesentlich unbekannten inneren Zustande ein sehr verschiedenes sein. Auf diese Weise entstehen praktisch die mannigfaltigsten Beziehungen zwischen rohen äusseren Ursachen und klinischen Formen des Irreseins, so dass die zu Grunde liegenden Gesetzmässigkeiten tatsächlich überaus schwer zu entwirren sind. Immerhin sind uns auch heute schon gewisse Anhaltspunkte in den Krankheitsbildern selbst ge- geben. Wir wissen von einer ganzen Reihe klinischer Formen aus vielfältiger Erfahrung, dass sie überwiegend äusseren oder inneren Ursachen ihre Entstehung verdanken, und wir können daher aus der Art der Krankheitszeichen nicht selten auch dann die exogene oder endogene Natur des einzelnen Falles mit grösster Wahrscheinlichkeit feststellen, wenn uns der grobe Augenschein zunächst zu einer falschen Auffassung zu verführen drohte.

A. Äussere Ursachen.

Die grosse Klasse der äusseren Ursachen des Irreseins pflegt man zur besseren Übersicht weiter in die beiden Gruppen der körperlichen und der psychischen Ursachen auseinan-

Hirnkrankheiten.

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der zu trennen. Die ersteren greifen unmittelbar in den körper- lichen Bestand unseres Seelenorganes ein, die anderen erst durch Vermittlung psychischer Vorgänge, durch Erzeugung von Vor- stellungen oder Gemütsbewegungen. Eine grundsätzliche Ver- schiedenheit zwischen beiden Gruppen besteht selbstverständlich nicht, da nach den überall festzuhaltenden Grundanschauungen jeder Veränderung auf psychischem Gebiete durchaus eine Störung im Ablaufe der körperlichen Vorgänge entspricht.

1. Körperliche Ursachen.

Hirnkrankheiten*). Da die letzte Grundlage aller Formen des Irreseins höchst wahrscheinlich in krankhaften Vorgängen odei Zuständen der Grosshirnrinde gesucht werden muss, so werden wir allen wahren Ursachen die gemeinsame Eigenschaft zu- schreiben dürfen, dass die Erkrankungen der Hirnrinde bewirken. Der anatomische Nachweis solcher Erkrankungen ist schon bei einer grossen Reihe von psychischen Störungen gelungen, wenn auch die Deutung der Befunde und namentlich ihre gesetzmässige Beziehung zu den klinischen Erscheinungen meist noch recht un- klar ist. Insbesondere scheinen Veränderungen an den Rinden- zellen überaus häufig zu sein, so dass es gar nicht ganz leicht ist, völlig normale Bilder zu erhalten. Jedenfalls können ein- greifende körperliche Schädigungen Zellenveränderungen er- zeugen, ohne dass sie von auffallenderen psychischen Störungen begleitet sind. Hoch hat ferner in der Rinde von nicht geistes- kranken Menschen die Anzeichen einer kurz vor dem Tode ein- setzenden akuten Störung aufgefunden, als deren Ausdruck wir vielleicht die Bewusstseinstrübung betrachten dürfen, die den Todeskampf zu begleiten pflegt. Natürlich wird durch solche Erfahrungen die klinische Verwertbarkeit der Zellenbefunde sehr stark geschmälert.

Auf der anderen Seite muss es bei grossen Gruppen von geistigen Erkrankungen als recht zweifelhaft bezeichnet werden,

*) Nothnagel, Topische Diagnostik der Gehirnkrankheiten. 1879 ; Wer nicke, Lehrbuch der Gehirnkrankheiten. 1881; Go wer s, Vorlesungen über die Diagnostik der Gehirnkrankheiten, deutsch v. Mommsen. 1886; Henschen, Klinische und anatomische Beiträge zur Pathologie des Gehirns. 1892; v. Monakow, Gehirnpathologie. 1897; Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten, 3. Aufl. 1902.

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I. Die Ursachen des Irreseins.

ob die Veränderungen, die ihnen zu Grunde liegen, überhaupt oder doch mit unseren heutigen Hilfsmitteln sichtbar gemacht werden können. Dass übrigens die wahrnehmbaren Veränderungen durchaus nicht immer die Ursache der klinischen Störungen zu sein brauchen, bedarf wohl kaum der Erwähnung.

Bei den Gehirnerkrankungen im engeren Sinne werden wir ausgeprägtere psychiscne Erscheinungen dann erwarten, wenn das Leiden entweder gerade in der Binde seinen Sitz hat oder doch durch Erhöhung des Hirndruckes, Störungen der Blut- verteilung, Giftwirkungen und dergl. die Rinde in Mitleidenschaft zieht. Es kommt indessen vor, dass selbst greifbare Rinden- erkrankungen, wenn sie umschrieben sind und sich langsam eni> wickeln, die psychischen Leistungen, wenigstens anscheinend, völlig unbeeinflusst lassen. Zur Erklärung derartiger Tatsachen ist vielleicht die Möglichkeit einer teilweisen Stellvertretung ge- sunder Rindenpartien für erkrankte, namentlich aber der Um- stand in Erwägung zu ziehen, dass eine ganz allmählich ein- tretende leichte Verminderung der psychischen Leistungsfähigkeit mit unseren heutigen unvollkommenen Hilfsmitteln sehr schwer aufzufinden und genau zu bestimmen ist.

Als das wichtigste Bindeglied zwischen Schädlichkeiten und Hirnrindenerkrankungen hat man früher vielfach die Störungen des Hirnkreislaufes betrachtet, durch deren Vermittlung noch Meynert verschiedene psychische Krankheitsbilder zu erklären suchte. Obgleich diese Anschauung heute nicht mehr haltbar ist, so kann doch nicht bezweifelt werden, dass wesentliche Ände- rungen in der Blutzufuhr einen entschiedenen Einfluss auf das Seelenleben ausüben, namentlich, wenn sie sich rasch ausbilden. Insbesondere pflegt man auch den Gefässerkrankungen, wie wir sie bei einer Reihe von Geistesstörungen auftreten sehen, die Entstehung schwerer, die Hirnernährung schädigender Kreislauf- störungen zuzuschreiben, ohne dass bisher unsere Vorstellungen über den inneren Zusammenhang der Vorgänge besonders klare wären.

Vermehrten Blutandrang zum Gehirn beobachten wir im Fieber, bei Wärmebestrahlungen des Kopfes, bei gewissen Gemütsbewe- gungen, bei Hypertrophie des linken Ventrikels und bei den- jenigen Giften, die eine Förderung der Herzarbeit oder eine Er-

Hirnkrankheiten.

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Weiterung der Ifirngefässe bewirken. Endlich werden wir ört- liche Steigerungen der Blutzufuhr bei allen entzündlichen Vor- gängen anzunehmen haben, welche die Hirnrinde in Mitleidenschaft ziehen. Das Abschneiden der Blutzufuhr vom Gehirn wird am raschesten durch Zusammenpressen der beiden Halsschlag- adern bewirkt, wie es wohl auch beim Erhängen vorkommt. Hier dürfte jedoch in der Regel zugleich die Behinderung des Blutabflusses durch Verschluss der grossen Halsvenen eine wesentliche Rolle spielen. Weiterhin kommt Blutleere des Ge- hirns namentlich durch starke Blutverluste, durch Herzschwäche und vorübergehend durch diejenigen Gemütserschütterungen (Schreck) zu stände, die mit einer krampfhaften Zusammen- ziehung der Hirngefässe einhergehen. Ähnliche Wirkungen kön- nen Gifte entfalten; vielleicht sind auch die unmittelbaren Folgen der Hiimerschütterung zum Teil auf Gefässkrämpfe zurückzu- führen. Örtliche Beeinträchtigung oder Abschneidung der Blut- zufuhr kann durch die teilweise oder völlige Verstopfung von Hirngefässen, ferner durch den Druck von Geschwülsten verur- sacht werden, welche die Gefässe zusammenpressen. Wachsen die Geschwülste, so kann die zunächst umschriebene Wirkung eine allgemeine werden, indem sich die Raumbeschränkung in der Schädelkapsel durch Vermittlung der Cerebrospinalflüssigkeit auf den gesamten Schädelinhalt überträgt.

Wie wir durch Grasheys Untersuchungen*) wissen, führt jede Erhöhung des Druckes im Schädel über ein bestimmtes per- sönliches Mass hinaus sehr rasch zur Zusammendrückung der Hirnvenen in ihren freien Abschnitten, weiterhin aber zur Ent- stehung von Gefässschwingungen mit erheblicher Verlangsamung der Kreislaufsgeschwindigkeit und deren Folgezuständen (Stau- ungen, Ödeme). Die grössere oder geringere Leichtigkeit, mit welcher eine derartige Drucksteigerung im einzelnen Falle zu stände kommt, hängt wesentlich ab von der Ausbildung, welche die Abflussbahnen der Cerebrospinalflüssigkeit besitzen. Vermag diese letztere bei einer Vermehrung des Schädelinhaltes rasch

*) Experimentelle Beiträge zur Lehre von der Blutcirkulation in der Schädel-Rückgratshöhle. 1892; Kocher, Hirnerschütterung, Hirndruck und chirurgische Eingriffe bei Hirnkrankheiten. Nothnagels Handbuch IX, 3, 2. 1902.

Kraepelin, Psychiatrie. I. 7. Aufl. 2

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I. Die Ursachen des Irreseins.

nach allen Richtungen hin auszuweichen, so bleibt der Druck im Schädel unverändert und die Blutversorgung erleidet keine Störung. Sind aber die Ausgleichsvorrichtungen mangelhalt, so genügt schon eine mässige Zunahme des Schädelinhaltes, um das Auftreten schwererer Ernährungsstörungen einzuleiten. Vielleicht verdient gerade nach dieser Richtung die von Thoma festge- stellte Tatsache besondere Beachtung, dass von sämtlichen Ge- fässen des Körpers das Gebiet der Carotis interna bei weitem am meisten der Erkrankung an Arteriosklerose infolge von cber- dehnung der Gefässwand ausgesetzt ist. Weit günstiger liegen bei einer Zunahme des Schädelinhaltes die Verhältnisse dann, wenn sie sich langsam, allmählich einstellt, so dass die Abfluss- bahnen sich bis zu einem gewissen Grade den wachsenden Am- forderungen anzupassen vermögen. Hier kann die lähmende V, ir- kung auf die Hirnrinde ziemlich lange hintangehalten werden: jede rasche Vermehrung des Schädelinhaltes dagegen hat unaus- bleiblich die Erstickung der Hirnrinde zur Folge.

In geringerem Massstabe, als bei der Entwicklung von Ge- schwülsten oder gar beim Eintritt von grösseren Blutungen bilden sich Blutstauungen in der Schädelkapsel regelmässig aus, wenn ein Missverhältnis zwischen dem Drucke in den Blutgeiässen und in der Schädelhöhle entsteht. Dauernde Blutwallungen, , wie sie bei Feuerarbeitern, bei aufregender Tätigkeit, bei häufigem Alkoholmissbrauche stattfinden können, dürften ebenso zu S Lau- ungen in der Schädelhöhle führen wie eine Abnahme der Trieb- kraft des Herzens.

Die letzten Folgen aller Kreislaufstörungen im Gehirn können immer nur Beeinträchtigungen des Stoffwechsels im Nerven- gewebe, also chemische Wirkungen sein. Aus diesem Grünen wird es für den Ablauf der Hirnvorgänge nicht nur auf die Menge, sondern vor allem auch auf die Beschaffenheit des durchströmen- den Blutes ankommen. Diese letztere aber ändert sich bei allen Kreislaufsbehinderungen sehr rasch, da sich das Blut mit Zei falk- stoffen beladet, die sonst in anderen Stätten des Körpers möglichst bald unschädlich gemacht werden. Wir haben uns im Laufe der letzten Jahrzehnte mehr und mehr daran gewöhnt, diesen und anderen giftigen Beimischungen der Ernährungsflüssigkeit eine Hauptrolle bei der Entstehung von Krankheitserscheinungen zu-

Hirnkrankheiten.

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zuschreiben. Auch beim Fieber, bei Entzündungsvorgängen, bei der örtlichen Reizwirkung von Herderkrankungen denken wir in erster Linie an den reizenden und zersetzenden Einfluss im Blute kreisender oder an Ort und Stelle gebildeter Gifte.

Ausser den Wirkungen auf Kreislauf und Stoffwechsel kom- men vielfach noch sehr wesentlich einfach mechanische Zerstö- rungen in Betracht. Das gilt namentlich von den Schädigungen des Hirns durch Kopfverletzungen, bei denen nicht nur an den unmittelbar betroffenen Stellen, sondern auch an den Gegenpolen durch den Anprall Zerreissungen stattfinden können, ferner von den Blutungen und wohl auch von dem Drucke sehr schnell wachsender und die mannigfachsten Verheerungen bedingender Geschwülste.

Endlich aber haben wir darauf hinzuweisen, dass bei den verschiedensten Hirnkrankheiten neben den unmittelbaren Wir- kungen auf das Hirngewebe noch mittelbare Beeinflussungen der Seelenvorgänge eintreten können. Wir haben uns wohl vorzu- stellen, dass die durch das Hirnleiden erzeugten Störungen allerlei Gemütsbewegungen auslösen können, die nun ihrerseits wieder psychogene Begleiterscheinungen erzeugen. Dass diese mittel- baren Krankheitszeichen vielfach durch diejenigen des Hirnleidens beeinflusst werden und daher unter Umständen als eine Übertrei- bung und Vergröberung derselben erscheinen, wird man kaum verwunderlich finden. Bei sorgfältiger Prüfung ergibt sich, dass die Verknüpfung psychogener, sog. „hysterischer“ Krankheits- äusserungen mit schweren Schädigungen der Hirnrinde ein überaus häufiges Vorkommnis ist. Insbesondere hat Möbius auch ge- wisse Krampferscheinungen und Dämmerzustände bei wieder- belebten Erhängten*) als hysterische aufgefasst, während sie von anderen Beobachtern nebst der gleichzeitig auftretenden retro- graden Amnesie als Folgen der Erstickung gedeutet werden.

Wenn wir von diesen mittelbaren Störungen absehen, pflegen sich die psychischen Krankheitsbilder bei gröberen Hirnleiden in verschiedenartigerweise aus den Zeichen der Erregung und der

*) Wagner, Jahrbücher für Psychiatrie, VIII, 313; Möbius, Neuro- logische Beiträge I, 55; Lührmann, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LII, 185; Wollenberg, Archiv f. Psychiatrie, XXXI, 241.

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I. Die Ursachen des Irreseins.

Lähmung auf den einzelnen Gebieten des Seelenlebens zusammen- zusetzen. Von den ersteren, die im allgemeinen geringeren Gra- den des Leidens entsprechen, sind einfache oder verwickeltere Sinnestäuschungen, Schlaflosigkeit, Ideenflucht, Delirien, ängst- liche oder heitere Verstimmung, Unruhe und mehr oder weniger heftige motorische Erregung zu nennen. Der psychische Aus- druck einer plötzlichen allgemeinen Lähmung der Hirnrinde ist dagegen eine rasch einsetzende tiefe Bewusstlosigkeit. Bei leich- teren Graden der Störung kommt es zunächst zu einer Erschwe- rung der Auffassung und Verarbeitung äusserer Eindrücke, zu Unbesinnlichkeit, Gedächtnisschwäche, Gedankenarmut und Ver- langsamung des Vorstellungsverlaufes, Urteilslosigkeit, grosser Ermüdbarkeit; bei höherer Ausbildung entwickelt sich geradezu Schlafsucht, traumartige Benommenheit, Blödsinn. Ferner be- steht gemütliche Stumpfheit, verdriesslich weinerliche oder kin- disch heitere Stimmung, Bestimmbarkeit oder Eigensinn, endlich völliges Erlöschen der Willensregungen.

Da der Lähmung des Hirngewebes zumeist ein Zustand der Reizung vorauszugehen pflegt, werden wir in den klinischen Äusserungen der Hirnrindenerkrankungen den mannigfachsten Verknüpfungen von psychischen Lähmungs- und Erregungserschei- nungen begegnen. Noch verwickelter können die entstehenden Krankheitsbilder dadurch werden, dass die Beeinträchtigung oder der Ausfall höherer psychischer Leistungen noch Störungen ganz anderer Art nach sich ziehen kann. Wenn wir berechtigt sind, als den seelischen Kern der Persönlichkeit eine gewisse, durch Anlage und Lebenserfahrung bestimmte Summe von Vorstel- lungen, Denkgewohnheiten, Gefühlsrichtungen und Strebungen anzusehen, so ist es einleuchtend, dass durch diesen Kern die Einheitlichkeit und Stetigkeit der psychischen Persönlichkeit be- dingt wird. Wird aber die Festigkeit seines Gefüges durch krank- hafte Vorgänge geschwächt, so ist die Folge eine stärkere Beein- flussbarkeit des Seelenlebens durch äussere und zufällige Ein- wirkungen. Wir finden daher unter den Zeichen der Hirnerkran- kungen, namentlich in den Anfängen ihrer Entwicklung, häufig eine verminderte psychische Widerstandsfähigkeit, die sich in rascher Erschöpfbarkeit, erhöhter Ablenkbarkeit und Zerstreut- heit, gemütlicher Reizbarkeit und Haltlosigkeit des Willens

Hirnkrankheiten.

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äussert. Dazu gesellt sich gewöhnlich auch eine grössere Em- pfindlichkeit gegen Alkohol. Natürlich können sich die genannten Störungen wieder in der verschiedenartigsten Weise mit Zeichen der psychischen Lähmung und Erregung verbinden. Endlich ge- hören zu allen diesen Krankheitsbildern natürlich noch die eigen- artigen körperlichen Störungen, die durch den besonderen Sitz des Leidens bedingt werden. Auf ihre Schilderung müssen wir ebenso wie auf diejenige der aphasischen Erscheinungen an dieser Stelle verzichten.

Für die klinische Psychiatrie haben die gröberen Hirn- erkrankungen im allgemeinen keine allzu grosse Bedeutung. Die meningitischen und encephalitischen Erkrankungen begegnen uns zumeist nur in den Zuständen von Idiotie und Imbecillität, die sie bei Kindern so oft erzeugen. Kranke mit Hirngeschwülsten ge- raten nur gelegentlich unter falscher Diagnose, meist als Paraly- tiker oder Epileptiker, einmal in die Irrenanstalt. Dagegen hat sich der Irrenarzt nicht selten mit den krankhaften Seelenzustän- den nach Kopfverletzungen*) zu beschäftigen. Während sich un- mittelbar an solche Schädigungen traumartige Bewusstseins- trübungen mit deliranten Zügen anzuschliessen pflegen, entwickeln sich späterhin vorwiegend Krankheitsbilder mit den Zeichen ver- minderter psychischer Widerstandsfähigkeit. Dazu gesellen sich dann sehr häufig allerlei psychogene Störungen, so dass es oft genug recht schwierig wird, ihren Anteil am Gesamtzustande von demjenigen zu trennen, der unmittelbar durch die Verletzung des Hirns bedingt ist. Eine weitere klinische Gruppe bildet der Schwachsinn nach Apoplexie, der in der Regel den Stempel einer einfachen psychischen Lähmung trägt und daher seltener in die Hand des Irrenarztes gelangt. Ähnliches gilt von der multiplen Sklerose. Mehr in den Vordergrund treten dann die psychischen Störungen bei gewissen Verblödungsformen, die ihre Grundlage in ausgebreiteten Erkrankungen der Hirnrinde haben, namentlich bei den arteriosklerotischen und syphilitischen Gefässerkran- kungen und gewissen diffusen, vielfach familiären Erkrankungen des gesamten Nervensystems. Diese letzteren bilden pathologisch- anatomisch wie klinisch den Übergang zu denjenigen Hirnerkran-

*) Werner, Vierteljahrsschrift f. gerichtl. Medizin, XXIII, Suppl. 1902.

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I. Die Ursachen des Irreseins.

kungen, die wir ohne weiteres dem Gebiete der psychischen Störungen zuzuweisen pflegen.

Das leuchtende Vorbild der Hirnpathologie und besonders der Aphasielehre muss auch dem Irrenarzte den Gedanken nahe legen, dass vielleicht die Seelenvorgänge an bestimmte Orte des Hirnes, insbesondere der Rinde, gebunden sind. Daraus ergibt sich die Frage, wie weit wir etwa jetzt schon imstande sind, aus bestimmten psychischen Erscheinungen allein Rückschlüsse auf den Sitz der ihnen zu Grunde liegenden Ernährungsstörung in der Hirnrinde zu ziehen. Die allgemeine Möglichkeit einer derartigen örtlichen Umgrenzung kann bei dem heutigen Stande der Lokali- sationsfrage*) nicht wohl mehr in Zweifel gezogen werden, ja es liegen klinische wie experimentelle, wenn auch nur sehr ver- einzelte Tatsachen vor, welche Ausblicke nach der angedeuteten Richtung hin zu eröffnen scheinen, auch wenn wir hier vollständig absehen von den Störungen der rein sinnlichen Wahrnehmung und der Bewegungen. So dürfen wir vielleicht daran denken, unsere Erfahrungen über Worttaubheit und Asymbolie, über Para- phasie und Parapraxie auf ähnliche Störungen bei Geisteskranken zu übertragen, auf die Verständnislosigkeit in Zuständen von schwerer Verworrenheit, beim Altersblödsinn, nach Kopfver- letzungen, auf die Sprachverwirrtheit der Katatonischen, gewisse Störungen des Handelns bei Paralytikern. Da wir ein Recht haben, den Sitz der Veränderung bei jenen Krankheitszeichen mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit in bestimmte Gegenden der Hirn- rinde zu verlegen, so lässt sich vermuten, dass auch den ähnlichen Störungen bei eigentlichen Geisteskrankheiten eine entsprechende Beziehung zu örtlichen Krankheitsvorgängen zukommt. Indessen fehlt uns im Augenblicke noch viel zu sehr die Kenntnis der Rin- denveränderungen einerseits, das tiefere Verständnis der klini- schen Zeichen andererseits, als dass wir über die allgemeine Ver- mutung einer näheren Verwandtschaft gewisser Erscheinungen des Irreseins mit Störungen von bekanntem Sitze in der Hirnrinde hinauszukommen vermöchten. Ähnliches gilt für die von Char-

*) Lucianiu. Seppilli, Die Funktionslokalisation auf der Grosshirn- rinde, deutsch v. Frankel. 1886; v. Monakow, Über den gegenwärtigen Stand der Frago nach der Lokalisation im Grosshirn, Ergebnisse der Physiologie, I, 533. 1902. 1

Hirnkrankheiten.

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cot und W i 1 b r a n d mitgeteilten Fälle mit Verlust der optischen Einbildungskraft. Dieselben legen im Zusammenhalte mit viel- fachen Erfahrungen an operierten Tieren nahe, die Ursachen ähn- licher Störungen bei Geisteskranken in der Hinterhauptsrinde zu suchen. Endlich hat bekanntlich Goltz die interessante Beobach- tung gemacht, dass Verlust der ^orderen Rindengebiete bei Hun- den neben anderen Veränderungen grosse Reizbarkeit und plan- lose Unruhe erzeugt, während Entfernung der Hinterhauptslappen im Gegenteil Trägheit und Stumpfheit selbst bei vorher bösartigen Tieren zur Folge hat. Auch diese Ergebnisse würden sich etwa mit 'den bekannten klinischen Erscheinungen erregter und stumpfer Schwachsinnsformen einigermassen in Verbindung bringen lassen.

Leider lassen uns in dieser Frage die Erfahrungen über die psychischen Störungen bei umgrenzten Hirnerkrankungen fast vollkommen im Stich. Nur soviel scheint festzustehen, dass Ge- schwülste des Balkens in der Regel mit tiefgreifender Störung der Verstandesleistungen einhergehen. Das kann mit der Zerstörung zahlreicher Verbindungen zwischen den beiden Hirnhalbkugeln oder mit der gleichzeitigen Beeinträchtigung grösserer Rinden- abschnitte auf beiden Seiten Zusammenhängen. Viel umstritten ist die Rolle, die dem Stirnhirn für das höhere Seelenleben zuge- schrieben wird. Für eine solche Beziehung spricht der Umstand, dass es beim Menschen besonders stark entwickelt ist, und dass ihm sonst anscheinend keine Verrichtung zukommt, die eine der- artige Ausbildung erklären würde. Weniger sichergestellt scheint die Behauptung zu sein, dass Zerstörungen des Stirnhirns in be- sonders hohem Grade Verstandesstörungen bewirken.*) Es ist natürlich ungemein schwierig, einen derartigen Satz zu beweisen, da nur scharf umschriebene Verletzungen ohne Fernwirkungen bei vorher völlig gesunden Menschen verwertbar sind. Zudem kommt, wie Bruns betont, in Betracht, dass Stirnhirn- geschwülste, ohne das Leben zu gefährden, sehr gross werden können und schon deswegen unter Umständen stärkere psy- chische Ausfallserscheinungen bedingen. Allerdings ist nament- lich von Oppenheim auf ein besonderes Zeichen, die „Witzel-

*) Bruns, Die Geschwülste des Nervensystems. 1897; Oppenheim, Die Geschwülste des Gehirns, 2. Auflage. 1902; Schuster, Psychische Störungen bei Hirntumoren. 1902.

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I. Die Ursachen des Irreseins.

sucht“, hingewiesen worden, das sich bei Stirnhirngeschwülsten auffallend stark und häufig zeigen soll und in einem Falle durch die Operation mit beseitigt wurde. Es muss indessen einstweilen wohl dahingestellt bleiben, ob das Auftreten der Witzelsucht wirklich den Schluss auf eine Stirnhirnerkrankung gestattet. Jedenfalls beobachten wir Störungen, die wir klinisch davon nicht abzutrennen vermögen, bei einer Reihe von Erkrankungen, die sich sicher über weite Rindenabschnitte erstrecken, so nament- lich beim Altersblödsinn, bei syphilitischer Gefässerkrankung und bei der Katatonie. Natürlich ist das nicht etwa ein Gegenbeweis.

Yv^enn demnach die Anhaltspunkte für die Anknüpfung psychi- scher Verrichtungen und Störungen an bestimmte Gebiete unserer Hirnrinde zur Zeit noch ungemein dürftige sind, so liegen doch eine ganze Reihe von Tatsachen vor, die eine Verlegung seelischer Vorgänge in umgrenzte Rindenabschnitte wahrscheinlich machen. Dahin gehört vor allem die ausserordentliche Verschie- denheit der Nervenzellen, die wir als Träger unseres Seelenlebens betrachten müssen. Durch N i s s 1 s Untersuchungen wissen wir nicht nur, dass der Bauplan jener Zellen kein einheit- licher ist, sondern auch, dass dort, wo wir ihre Verrichtungen kennen, ähnliche Formen wiederkehren. Mit anderen Worten, der Verschiedenheit im Bau entspricht eine Verschiedenheit in der Funktion, ein Satz, der für alle anderen Körperzellen ganz selbstverständlich erscheint und nur auf dem Gebiete des Ner- vengewebes sich auffallend schwer Geltung verschafft. In der Tat, wenn man die zahlreichen gesetzmässigen Verschiedenheiten in Grösse, Umriss und innerem Aufbau der Nervenzellen betrach- tet, so wird es völlig unmöglich, darin etwas anderes zu sehen, als den Ausdruck einer verschiedenen Bestimmung. Dafür spricht auch die Anordnung der Zellen in der Rinde. Fast überall finden wir kleinere oder grössere Mengen gleichartiger Rindenbestandteile zu einheitlichen Gruppen und Schichten ver- bunden; seltener mischen sich Zellen verschiedener Bauart unter- einander. In der Tierreihe bietet der Bau der Rindenzellen wie ihre Anordnung die grössten Verschiedenheiten dar. Während gewisse Formen der Nervenzellen, wie die grossen Gebilde der motorischen Centren, schon bei niederen Wirbeltieren, wenn auch nicht in der Rinde, auftreten, erscheinen die kleinen Zellen der

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zweiten Schicht erst beim Affen und vor allem beim Menschen. Hier bilden sie eine riesige Schicht, von der beim Kaninchen auch nicht eine Spur vorhanden ist. Aber auch die grossen Pyramiden- zellen zeigen beim Menschen einen durchaus eigenartigen Bau; sie sind zudem durchschnittlich kleiner, als z. B. die entsprechen- den Zellen des Kaninchens. Wir werden kaum zweifeln können, dass diese freilich noch fast ganz unbekannten Unterschiede in irgend einer Beziehung zu der verschiedenen Ausbildung des Seelenlebens stehen müssen.

Endlich hat Nissl* **)) gezeigt, dass verschiedene Zell- arten durch Gifte in verschiedener Weise beein- flusst werden können. Während z. B. der Alkohol die' meisten Bestandteile der Hirnrinde auf das schwerste schädigt, lässt er die grossen Zellen des Ammonshorns fast gänzlich un- berührt; das Blei vernichtet ebenfalls den grössten Teil der Rindenzellen, verändert aber nur in sehr geringem Masse die Spi- nalganglien. Auch beim Menschen lässt sich zeigen, dass allge- meine Krankheitsursachen (Infektionen, Fieber) die verschiedenen Bestandteile der Rinde in sehr verschiedenem Grade schädigen. Alle diese Erfahrungen deuten in gleicher Weise darauf hin, dass den Verschiedenheiten im Bau der Nervenzellen eine tiefere Be- deutung zukommt, und diese Bedeutung kann nur in ihrer ver- schiedenen Verrichtung liegen. Die Lehre von der Lokalisation der psychischen Vorgänge wird demnach zunächst die örtlichen Verschiedenheiten der Rindenzellen zu berücksichtigen haben. 1 *)

Wie eine Durchmusterung der Hirnrinde unter diesem Ge- sichtspunkte lehrt, setzt sich dieselbe aus unabsehbar vielen einzelnen Teilen zusammen, die sich durch die Art ihrer Nerven- zellen voneinander abgrenzen. Der Bau der Hirnrinde ist dem- nach nichts weniger als einförmig, wie etwa derjenige der Leber, sondern sie enthält eine Menge neben- und übereinander gelagerter Organe von sehr verschiedener Ausdehnung und nicht minder verschiedenartigem Aufbau. Bis jetzt wissen wir allerdings über die Zahl, Beschaffenheit und gegenseitige Lage dieser Organe, deren Gesamtheit wir als Hirnrinde bezeichnen, verzweifelt wenig.

*) Nissl, Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie, LIV, 1.

**) Nissl, Archiv f. Psychiatrie, XXIX, 1025; Schlapp, ebenda, XXXII, 1037.

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I. Die Ursachen des Irreseins.

Insbesondere sind wir ganz ausser stände, zu beurteilen, welche Mannigfaltigkeiten in Anordnung und Gliederung etwa die zwi- schen den Zellen liegenden Teile des Nervengewebes darbieten. Nur die ganz grobe Sonderung der Rinde in eine Reihe von über- einander gelegenen Schichten urd die allergreifbarsten örtlichen Unterschiede in dieser Schichtung sind seit längerer Zeit bekannt. Schon aus diesen Tatsachen aber lässt sich mit aller Bestimmtheit der Schluss ableiten, dass der Querschnitt der Kirnrinde keine Einheit darstellt, sondern überall eine Reihe von Organen mit vielleicht völlig verschiedener Leistung enthält. Jedenfalls ist die schichtweise Gliederung der Hirnrinde die bei weitem auffallendste; sie zeigt uns unmittelbar übereinander Bestandteile von denkbar grösster Verschiedenheit des gesamten Bauplanes.

Die Geschichte der Lokalisationsbestrebungen lehrt, dass dieser nächstliegende Unterschied kaum jemals für die örtliche Abgrenzung der Hirnverrichtungen verwertet worden ist. Der Fehler, der zu den Zeiten G a 1 1 s begreiflich war, ist bis auf den heutigen Tag immer wiederholt worden. Nahezu alle Versuche einer strengeren Lokalisation haben den Rindenquerschnitt als Einheit behandelt und ausschliesslich die Oberfläche „landkarten- artig“ in verschiedene Gebiete eingeteilt. So konnte es geschehen, dass ausgedehnten Abschnitten der Stirnrinde keine andere Be- stimmung zugeschrieben wurde, als die willkürliche Beherrschung der Rumpfmuskeln. Auch heute noch pflegt als „motorische Region“ die ganze Gegend der vorderen Centralwindung betrach- tet zu werden, obgleich die nachweisbaren motorischen Leistungen höchst wahrscheinlich nur den kleinen, in der vierten und fünften Schicht eingestreuten Nestern von motorischen Zellen zukommen, während alle übrigen, weit zahlreicheren Bestandteile der Rinde gar nichts damit zu tun haben brauchen.

In zielbewusstem Anschlüsse an Gail hat neuerdings Möbius*) versucht, eine besondere geistige Fähigkeit, die „An- lage zur Mathematik“ an eine umschriebene Hirngegend, die vorderen Teile der ersten und zweiten Stirnwindung der linken Seite, zu knüpfen. Er ist dabei ähnlich verfahren wie Gail und hat sich, wie es ja auch kaum anders möglich war, wesentlich

*) Möbius, Über die Anlage zur Mathematik. 1900.

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auf die Feststellung gestützt, dass die entsprechende Schädel- gegend bei vielen hervorragenden Mathematikern eine Vorwöl- bung zeigte. Es hat nicht fehlen können, dass alle Einwände, die gegen Gail gemacht worden sind, auch diesem Versuche einer Erneuerung der alten Schädellehre entgegengehalten wurden. Mir scheint, dass unsere Unsicherheit in den Lokalisationsfragen selbst dort, wo uns unvergleichlich vielseitigere und zuverlässigere Hilfsmittel für ihre Lösung zu Gebote stehen, einstweilen nicht gerade zur Wiederaufnahme des trügerischen Gail sehen "V er- fahrens ermutigen kann.

Auch die jüngste Einteilung der Hirnrinde von Flechsig*) mit ihrer Abgrenzung von Sinnescentren und Associationscentren baut sich nicht auf der grundlegenden Schichtung im Rinden- querschnitte, sondern nur auf den noch recht unvollkommen be- kannten örtlichen Verschiedenheiten dieses letzteren auf. Sie stützt sich vor allem auf die Beobachtung, dass die Umhüllung der Achsencylinder mit Markscheiden in verschiedenen Gegenden des Stabkranzes und der Rinde zu sehr verschiedener Zeit er- folgt. Flechsig nimmt an, dass diese Unterschiede in innig- stem Zusammenhänge mit der Funktion der Faserzüge stehen, dass Bündel mit gleicher Bestimmung zu gleicher Zeit markreif werden und umgekehrt. Da er ferner zu der Überzeugung kam, dass nur bestimmte Gegenden der Hirnrinde Stabkranzbündel auf- weisen, während in anderen wesentlich nur Verbindungszüge auf- treten, so schloss er, dass die Rinde in „Sinnescentren“ und „Associationscentren“ zu zerlegen sei. Erstere sollten der Ver- bindung mit der Aussenwelt, letztere den höheren Seelentätig- keiten dienen. Gegen diese Aufstellungen sind eine Reihe der hervorragendsten Hirnforscher auf getreten, Hitzig, Sachs, v. Monakow, Dejerine, Nissl, Vogt, Siemerling u. a. Sie haben zunächst geltend gemacht, dass der allgemeine Zusammenhang zwischen Markreife und Funktion keineswegs er- wiesen sei, sodann, dass die Ausbreitung des Stabkranzes in der Rinde durchaus nicht die von Flechsig behaupteten Unter- schiede erkennen lasse. Damit wird aber die Einteilung der Rinde,

*) Flechsig, Gehirn und Seele, 2. Anfl. 1896; Neurolog. Centralblatt, XVH, 977; XIX, 828.

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I. Die Ursachen des Irreseins.

die nach Flechsig anfangs neun, späterhin aber gar vierzig verschiedene Felder enthalten sollte, vollkommen hinfällig. In der Tat spricht der überall anscheinend gleichmässige Bau der klein- zelligen Schicht weit mehr dafür, dass wir es in ihr mit einem einheitlichen, fast über die ganze Rindenoberfläche sich er- streckenden Organ zu tun haben, in dem vom anatomischen Stand- punkte heute keinerlei landkartenartige Abgrenzung möglich ist. Erst in den tieferen Schichten prägen sich die örtlichen Verschie- denheiten stärker aus. Gerade die kleinzellige Schicht aber ist für das höhere Seelenleben wahrscheinlich die wuchtigste, weil sie erst beim Menschen ihre hohe und eigenartige Entwicklung erlangt.

Die einzige Lokalisationslehre, welche dem geschichteten Bau der Hirnrinde gerecht zu werden versucht, ist diejenige von W e r n i c k e , der sich vorstellt, dass „eine Art schichtenweiser Ablagerung der Vorstellungen, ähnlich den Sedimentbildungen der jüngsten Erdschichten“ im Gehirn stattfinde. Er vermutet weiter, dass der Reihe nach von innen nach aussen in den Zellen- schichten „das Bewusstsein der Körperlichkeit“, dasjenige „der Aussenwelt“ und endlich jenes „der Persönlichkeit“ seinen Sitz habe. Wollten wir hier auch von der Schwierigkeit absehen, wie diese schichtweise Ablagerung zu denken sei, so wäre nicht recht zu verstehen, wie gerade die genannten drei Vorstellungs- gruppen sich an so grundverschiedene Nervenzellen knüpfen sollen, während doch jede einzelne dieser „Bewusstseinsarten“ viel weiter auseinanderweichende Bestandteile enthält. Sodann aber ist die angenommene Dreiteilung psychologisch völlig un- haltbar. An diesem Punkte liegt aber die Schwache der bis- herigen Lokalisationsversuche überhaupt. Alle derartigen Be- strebungen, die über die einfachsten Sinnesempfindungen und Bewegungen hinausgreifen, müssen notwendig an der Unvollkom- menheit unserer psychologischen Kenntnisse Schiffbruch leiden. Auch die gewöhnlichsten psychischen Vorgänge erweisen sich bei genauerer Betrachtung als so ungemein verwickelt, dass wir gut begreifen, warum das Werkzeug unseres Seelenlebens einen so hoffnungslos unentwirrbaren Aufbau besitzt. Kennten wir wirk- lich alle die vielen Organe, aus denen sich die Hirnrinde zusam- mensetzt, so wüssten wir immer noch nicht, was eine psychische

Rindenlokalisation.

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„Funktion“ ist, wie wir sie dem einzelnen Zellenverbande zuschrei- ben dürften. Erst dann, wenn wir nicht nur die körperliche Grund- lage des Seelenlebens, sondern auch die psychischen Vorgänge selbst in ihre einfachsten Bestandteile zerlegt haben, können wir hoffen, Beziehungen zwischen beiden aufzufinden; bis dahin hat jeder Versuch einer Lokalisation der verschiedenen psychischen Leistungen in der Hirnrinde keinen anderen Wert, als den eines unbeweisbaren und unwiderlegbaren Einfalles.

Einen sehr klaren Beweis für die Notwendigkeit der Ver- einigung psychologischer Zergliederung mit der anatomischen Betrachtung haben uns die neueren Versuche von Ewald über den Muskelsinn geliefert. Man wusste längst, dass die Beein- trächtigung der Bewegung, die nach Ausschneidung der moto- rischen Centren eintritt, sich ziemlich rasch wieder verliert, infolge vicariierenden Eintretens anderer Zellengruppen, wie man annahm. Ewald hat aber gezeigt, dass hier keineswegs die Verrichtung der zerstörten Teile als solche von anderen über- nommen wird, sondern dass die Herrschaft über die Bewegungen drei voneinander unabhängige Hilfsmittel besitzt, den Labyrinth- sinn, die Gelenkempfindungen und das Auge. Die Lösung der- selben Aufgabe erfolgt also auf drei ganz verschiedenen Wegen und mit ganz verschiedenen Werkzeugen. Jedes derselben kann für die anderen nur insofern eintreten, als der gleiche Zweck er- reicht wird; dagegen ist die einmal vernichtete Leistung selbst unwiederbringlich verloren. Gerade diese Erfahrungen dürften sehr für eine schärfere örtliche Umgrenzung der Hirnleistungen sprechen, während früher der rasche Ausgleich der Bewegungs- störungen als ein wichtiger Beweis für die „funktionelle Indif- ferenz“ der Hirnrindenteile betrachtet wurde.

Die schichtweise Anordnung und flächenhafte Ausbreitung der Rindenorgane trägt die Schuld, warum uns in diesen Fragen weder krankhafte noch künstliche Zerstörung sicheren Auf- schluss über den Zusammenhang von anatomischem Gebilde und psychischer Verrichtung zu geben vermag. Es erscheint so gut wie ausgeschlossen, dass einmal ein Krankheitsvorgang oder ein Eingriff nur ein einziges Organ und zugleich dieses wirklich vollständig zerstören könne. Damit fehlen uns aber gerade die- jenigen Hilfsmittel, die uns bei der Lokalisation auf subkortikalen

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I. Die Ursachen des Irreseins.

Gebieten so sicher geführt haben. So viel ich sehe, bleibt uns zur Zeit, ausser den Schlussfolgerungen der vergleichenden Ana- tomie und Physiologie, nur eine einzige Möglichkeit, diese Fragen mit Aussicht auf Erfolg in Angriff zu nehmen, die Vergiftung. Durch psychologische Versuche haben wir gelernt, dass gewisse Gifte nur einzelne, ganz bestimmte Seiten unseres Seelenlebens beeinflussen, andere unberührt lassen; andererseits scheint die Untersuchung der Nervenzellen vergifteter Tiere darzutun, dass auch die verschiedenen Arten der Rindenbestandteile nicht in gleichem Masse dem Gifte zugänglich sind. Vielmehr dürfte eine Auswahl stattfinden, entsprechend etwa der verschiedenen che- mischen Zusammensetzung und damit vielleicht auch der Funktion der Zellen. Hier wäre also eine ferne Aussicht, nebeneinander die Veränderung im Ablaufe der psychischen Vorgänge und im Ver- halten ihrer körperlichen Grundlage festzustellen.

Eine erste Anknüpfung klinischer Erfahrungen an die Er- gebnisse der Giftversuche könnten die durch Gifte erzeugten Geistesstörungen liefern. Es wäre z. B. denkbar, dass den Er- scheinungen des Rausches Veränderungen in verschiedenen Rin- dengebieten zu Grunde liegen, die sich mit den uns bereits be- kannten psychischen Wirkungen des Alkohols in Verbindung bringen liessen. Weiterhin aber ist darauf hinzuweisen, dass wir eine ganze Reihe von psychischen Krankheitsbildern kennen, bei denen einzelne Störungen ganz besonders ausgeprägt sind. Dem Rausche am nächsten steht die manische Erregung. Beiden Zuständen gemeinsam ist die erleichterte Auslösung von Hand- lungen; dagegen fehlen in der Manie die Zeichen der Lähmung, wie sie sich beim Rausche in der Abnahme der Kraft, in der Ver- langsamung der Bewegungen, in dem Auftreten ataktischer Stö- rungen kundgeben; zudem bestehen wohl auch auf anderen psy- chischen Gebieten wesentliche Unterschiede. Soweit diesen Ab- weichungen verschiedene Angriffspunkte der krankmachenden Schädlichkeit entsprechen, müsste es grundsätzlich, wenn auch vielleicht noch lange nicht tatsächlich, möglich sein, ihre Ursache aufzudecken und damit aus dem Vergleiche der klinischen und anatomischen Übereinstimmungen und Unterschiede Aufschlüsse über den Sitz dieser oder jener Störung zu erhalten. Freilich wird dieser Weg erst dann gangbar sein, wenn ausser der sorg-

Nervenkrankheiten.

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fältigen psychologischen Zergliederung der einzelnen Krankheits- bilder auch die feineren Veränderungen der Hirnrinde unserem Verständnisse weit mehr erschlossen sind, als heute. Die alleinige Berücksichtigung von Zellen und Fasern kann dafür nicht genügen.

Gibt es überhaupt eine Lokalisation höherer psychischer Leistungen, so werden sich für die Klärung dieser Frage besonders diejenigen Krankheitsbilder fruchtbar erweisen, bei denen einzelne sehr ausgeprägte Störungen hervortreten. Dahin gehören z. B. die Presbyophrenie und die Korssakow sehe Krankheit mit ihrer hochgradigen Merkstörung, die eigentümliche Gruppe der Kranken mit Sprachverwirrtheit, die Formen mit einfacher hal- lucinatorischer Verblödung, die Katatonien mit stark entwickel- ten Willensstörungen u. s. f. Ihnen stehen andere Erkrankungen, wie etwa die Fieberdelirien, die Paralyse, die syphilitische und arteriosklerotische Hirnerkrankung, gegenüber, bei denen sich die Krankheitszeichen viel gleichmässiger auf mannigfaltige Ge- biete des Seelenlebens verteilen. Aus der verschiedenen Um- grenzung der anatomischen Veränderungen bei den einzelnen Krankheitsformen Hessen sich daher vielleicht einmal Aufschlüsse über den besonderen Sitz der eigenartigen klinischen Störungen gewinnen. Dass tatsächlich Unterschiede in der örtlichen Aus- breitung der krankhaften Veränderungen bestehen, lehren schon jetzt Nissls Beobachtungen bei Katatonie. Die Zerstörungen liegen hier vorzugsweise in den tieferen Rindenschichten, im Gegensätze zu ihrer gleichmässigeren Verteilung über die ganze Rindenbreite bei der Paralyse. Es wäre daher immerhin denkbar, dass die auffallende Störung der Gemütsregungen und der Willens- handlungen bei Schonung der Auffassung und des Gedächtnisses in irgend einer Beziehung zu der örtlichen Umgrenzung des kata- tonischen Krankheitsvorganges stünde.

Nervenkrankheiten. Zwischen Nervenkrankheiten und Geistes- störungen bestehen mannigfache Beziehungen. In der Regel handelt es sich jedoch nicht um ein ursächliches Verhältnis, sondern beide sind die Äusserungen desselben Krankheitszu- standes, der die verschiedenen Gebiete des Nervensystems in Mitleidenschaft zieht. So haben wir es bei den t a b i - sehen Geistesstörungen einfach mit dem Fortschreiten des Krankheitsvorganges vom Rückenmarke auf die Hirnrinde zu

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I. Die Ursachen des Irreseins.

tun. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle sind es einfach Paralysen, bei denen nur die Rückenmarkserscheinungen den übrigen Krankheitszeichen längere Zeit voraufgegangen sind. Ob diese Deutung jedoch für alle Fälle zutrifft, ist unsicher und sehr schwer zu entscheiden. Auch das polyneurische Irresein zeigt uns nur an, dass die gleiche Schädlichkeit, die eine Erkran- kung der Nervenstämme bewirkt hat, auf die Hirnrinde über- greift. Wir werden uns daher auch nicht wundern, wenn ge- legentlich die psychische Störung allein, ohne Beteiligung der Nerven, beobachtet wird; die Krankheitsursache kann eoen, wie es scheint, die verschiedenen Abschnitte des Nervensystems ge- trennt oder gemeinsam schädigen. Diese Ursache selbst besteht ohne Zweifel in einer Giftwirkung, wenn wir deren Art auch noch nicht genauer kennen. Nach Bonhöffers Ansicht bildet die wesentliche Grundlage immer der Alkoholismus, nährend Infektionen, namentlich Tuberkulose, und andere Schädlichkeiten als Plilfsursachen in Betracht kommen. Zu bemerken bleibt, dass auch bei Nichttrinkern ganz ähnliche Krankheitsbilder auftreten können, deren Abgrenzung von den alkoholischen Formen einst- weilen noch recht schwierig erscheint. Das hervorstechendste Krankheitszeichen ist die starke Störung der Merkfähigkeit mit lebhaften Erinnerungsfälschungen. Ausserdem bestehen Er- schwerung der Auffassung, grosse Ermüdbarkeit, ängstliches, misstrauisches Wesen, vielfach auch Wahnbildungen.

Das choreatische*) Irresein haben wir wohl ebenfalls darauf zurückzuführen, dass die infektiöse Krankheitsursache auch das Hirn schädigt. In der Regel, wenn nicht ausschliesslich, ist es der Krankheitserreger des akuten Gelenkrheumatismus, der hier eine Rolle spielt. Wart mann und Westphal konnten ihn aus dem Hirn einer Choreatischen züchten. Das Krankheitsbild ist gekennzeichnet durch erhöhte gemütliche Reizbarkeit, kin- disches, launenhaftes Wesen, raschen Stimmungswechsel, Schlaf- losigkeit; in schweren Fällen kommt es zur Entwicklung ver- wirrter, deliriöser Aufregungszustände. Völlig davon zu trennen sind natürlich diejenigen Formen der Chorea (hereditäre, H u n -

*) Koppen, Archiv f. Psychiatrie, XX, 3; Zinn, ebenda, XXVIII, 411; Bernstein, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LIII, 538.

Nervenkrankheiten.

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tingtons Chorea), die auf diffusen, chronischen Erkrankungen des Centralnervensystems bisher unbekannter Entstehungsart be- ruhen und regelmässig zu mehr oder weniger ausgeprägtem Schwachsinn führen. Sie sind ähnlich zu beurteilen wie die chronischen Hirnerkrankungen, die wir als die Grundlage der Epilepsie zu betrachten haben. Wir benennen dieses Leiden nach einem einzelnen, besonders in die Augen fallenden klinischen Zeichen, während es sich doch um ausgebreitete, feinere oder gröbere Veränderungen handelt, die in der Regel das gesamte Seelenleben betreffen. Wahrscheinlich hat diese symptomatische Betrachtungsweise zur Folge, dass wir bisher eine Reihe von ganz verschiedenartigen Krankheitsvorgängen unter dem gleichen Be- griffe zusammenfassen. Mit den klinischen Erscheinungsformen werden wir uns späterhin eingehend zu beschäftigen haben.

Bei der Tetanie sind von v. Frankl-Hochwart und von Fr. Schultze deliriöse Zustände mit Sinnestäuschungen beschrieben worden; auch ich habe wiederholt derartige Zustände gesehen. Es ist möglich, dass sie, ähnlich wie die choreatischen Störungen, auf einer Vergiftung durch das mutmassliche Tetanie- gift beruhen. Auf Grund bestimmter Erfahrungen bin ich in- dessen zweifelhaft geworden, ob es sich in manchen Fällen nicht um den Beginn einer Dementia praecox gehandelt hat. Ebenso unsicher erscheint mir zur Zeit noch die Deutung der sog. „Migräne psychosen“*). Sie werden als rasch verlaufende Dämmerzustände mit deliriösen Sinnestäuschungen und Wahn- bildungen geschildert und gleichen klinisch offenbar völlig ge- wissen epileptischen Störungen. Da wenigstens die schwereren, mit Augenerscheinungen einhergehenden Formen der Migräne viel- fach mit der Epilepsie in Beziehung stehen, halte ich es für wahr- scheinlich, dass auch die geschilderten Zustände als epileptische aufzufassen sind, zumal leichtere Zeichen der Epilepsie, nament- lich die periodischen Verstimmungen, sehr häufig übersehen werden.

Ähnliche Zustände rasch verlaufender deliriöser Verworren-

*) Möbius, Die Migräne, 76; v. Krafft-Ebing, Arbeiten, 110, 135; Jahrb. f. Psych. XXI, 38; Koppen, Centralbl. f. Nervenheilk. 1898, 269; Mingazzini e Pacetti, Rivista sperimentale di freniatria, XXV, 3 u. 4. 1899.

Kraepelin, Psychiatrie. I. 7. AuB.

3

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I. Die Ursachen des Irreseins.

heit mit nachheriger Erinnerungslücke sind mehrfach nach dem Auftreten heftiger Nervenschmerzen, namentlich in Verbindung mit krankhaften Zähnen, beobachtet worden. Man hat diese „Schmerzdelirien“*) durch die Einwirkung des Nervenreizes auf das Gehirn, vielleicht mit Erzeugung eines Gefässkrampfes, zu erklären gesucht; auch die Auslösung starker gemütlicher Er- schütterungen könnte dabei eine Rolle spielen. Diese Erfahrungen erinnern an die Fälle von sog. Reflexepilepsie, bei denen ebenfalls peripheren Nervenreizungen eine ursächliche Rolle zugeschrieben

wird. Man hat auch eine Gruppe von „Reflexpsychosen“ aufgestellt,

die durch dauernde Zerrung narbig eingeheilter Nervenäste be- dingt sein sollen, und namentlich Schüle hat die ursächliche Wirkung körperlicher Reize in seiner „Dysphrenia neuralgica sehr weit ausgedehnt. Es ist gewiss nicht von der Hand zu weisen, dass lebhafte Schmerzen einen starken Einfluss auf das Seelen- leben ausüben und unter Umständen auch jemanden „rasend“ machen können, doch handelt es sich dabei gewiss nur selten um ausgeprägte psychische Erkrankungen. Am leichtesten wird man derartige Störungen bei solchen Personen auftreten sehen, die ohnedies eine erhöhte gemütliche Beeinflussbarkeit darbieten, bei Hysterischen.

Operative Eingriffe. Als Delirium nervosum oder traumati- cum sind seit Dupuytren gewisse deliriöse Geistesstörungen zusammengefasst worden, die sich bisweilen an schwere chiiui- gische Eingriffe**) anschliessen. Die genauere Zergliederung derartiger Erfahrungen zeigt, dass es sich dabei um eine ganze Reihe sehr* verschiedenartiger klinischer Bilder handelt. In einer grossen Zahl von Fällen ist der ursächliche Zusam- menhang zwischen Eingriff und psychischer Störung nur ein ganz lockerer. Das trifft zu für die manischen, katatonischen, epileptischen, paralytischen Zustandsbilder, dann auch für die senilen Delirien, die auf dem schon krankhaft vorbereiteten

*) Laquer, Archiv f. Psychiatrie, XXVI, 3; v. Krafft-Ebing, Arbeiten, I, 81; Allgem. Zeitschr. f. Psych., LVffl, 463.

**) Picque, Annales mddico-psychol., VIII, 8, 91, 113, 453; Picque et Briand, ebenda, 249, 1898; Simpson, Journal of mental Science, 1897, Januar; Pilcz, Wiener klinische Wochenschrift, 1902, 36.

Nervenkrankheiten.

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Boden durch die Schädigung ausgelöst werden. Ähnliches gilt natürlich von den ungemein häufigen alkoholischen und von den urämischen Delirien. Entscheidender schon ist die Rolle des chirurgischen Eingriffes bei den hysterischen Zufällen, obgleich ja auch hier die wesentlichste Ursache immer in der erkranken- den Persönlichkeit selbst gesucht werden muss. Der psychische Eindruck, die Angst und Aufregung, die schon vor dem Eingriffe besteht, ist das wirksame Bindeglied. Die Operation selbst kann durch starken Blutverlust schädigen und dadurch Erschöpfungs- delirien erzeugen; auch Giftwirkungen, namentlich Jodoform- delirien, können auftreten. Im weiteren Verlaufe ist es einmal wieder die Erschöpfung durch schwere Eingriffe mit mangel- hafter Ernährung, die in Betracht gezogen werden muss; anderer- seits aber können sich Eiterungen und Blutvergiftungen ent- wickeln, die wieder die eigenartigen Krankheitsbilder der sep- tischen Delirien hervorbringen. Endlich aber ist noch von ver- schiedenen Seiten der starke gemütliche Eindruck betont worden, den gewisse verstümmelnde Operationen ausüben, Amputationen, Kastration, Anlegung eines Anus praeternaturalis u. dergl. Ob die nach solchen Eingriffen beobachteten, länger dauernden, unter Umständen zur Unheilbarkeit führenden Depressionszustände wirk- lich eine klinische Sonderstellung beanspruchen dürfen, ist mir einstweilen noch zweifelhaft.

Ebenso erscheint es unsicher, ob der besonderen Art der Ein- griffe, abgesehen von ihren allgemeinen Wirkungen, eine be- stimmte ursächliche Bedeutung zukommt. Allerdings werden bei weitem am häufigsten Geistesstörungen nach Operationen an den weiblichen Genitalorganen beobachtet. Bekanntlich hat man der Entfernung der Eierstöcke vielfach einen hervorragenden Einfluss auf das Seelenleben der Frau zugeschrieben und dabei namentlich auch auf die starken geistigen und gemütlichen Umwälzungen im Klimakterium hingewiesen. Wenn es auch bezweifelt werden muss, dass gerade die Rückbildung der Eierstöcke, etwa das Ausbleiben einer inneren Sekretion, die wichtigste oder gar die einzige Ursache der klimakterischen Störungen bildet, so ist doch wohl anzunehmen, dass der Verlust der Generationsdrüsen auch für das seelische Gleichgewicht kein ganz bedeutungsloser Ein- griff ist. Immerhin scheinen ausgeprägte psychische Störungen

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I. Die Ursachen des Irreseins.

sich jedenfalls nicht besonders häufig an denselben anzuschliessen. Wir dürfen auch nicht ausser Acht lassen, dass längere Zeit hin- durch die Kastration vielfach bei psychisch bereits nicht mehr ganz gesunden Personen ausgeführt wurde, in der freilich meist getäuschten Hoffnung, sie dadurch von ihren Leiden zu befreien.

Bei den Operationen in der Bauchhöhle und am Darm soll nach der Ansicht von Pilcz Kotstauungen mit Aufsaugung von Krankheitsgiften durch den Darm eine wichtige Rolle zukommen. Nach Kataraktoperationen und überhaupt nach längerem Auf- enthalte im Dunkelzimmer*) hat man nicht selten deliriöse Zu- stände mit lebhaften Sinnestäuschungen, namentlich des Gesichts, aber auch des Gehörs, seltener reine Gesichtstäuschungen bei klarem Bewusstsein, auftreten sehen, die eine gewisse Ähnlich- keit mit den in der Einzelhaft beobachteten Störungen darbieten. Hier wie dort scheint der Abschluss gewisser Sinnesreize das Auftreten von Trugwahrnehmungen auf dem betreffenden Gebiete zu begünstigen. Im übrigen sind hier jedoch vor allem das Greisenalter, unter Umständen auch schlechte Ernährung, ge- mütliche Erregung oder alkoholische Gewohnheiten als Ent- stehungsursachen zu berücksichtigen.

Vergiftung und Erschöpfung. Die schädigende Wirkung aller nicht im Nervensystem selbst gelegenen körperlichen Ursachen des Irreseins lässt sich, wie ich glaube, unter zwei allgemeine Gesichtspunkte unterordnen, diejenigen der Vergiftung und der Erschöpfung. In die erste Gruppe von Krankheitserzeugern ge- hören alle jene Umwälzungen der Lebensvorgänge, bei denen irgendwelche Stoffe in das Blut und damit auch in das Nerven- gewebe eindringen, die unmittelbar zerstörend auf dieses letztere einwirken. Mit solchen Vergiftungen haben wir es zu tun bei allen Infektionskrankheiten, bei den Blutentmischungen, bei der Einfuhr nicht organisierter Gifte. Grundsätzliche Unterschiede zwi- schen diesen einzelnen Vorgängen dürften kaum bestehen, nach- dem es wahrscheinlich geworden ist, dass wir die W irkung der Infektion in letzter Linie auf die giftigen Erzeugnisse der Krank- heitserreger zurückzuführen haben.

*) v. Frankl-Hochwart, Jahrbücher f. Psychiatrie, IX, 1 n. 2, 1889; Löwy, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LII, 166.

Vergiftung und Erschöpfung.

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Die psychischen Erscheinungen der Vergiftung hängen einmal von der Art des Giftes, dann aber auch von der Schnelligkeit ab, mit der es seine Wirkung entfaltet. Alle rasch eintretenden Ver- giftungen des Gehirns pflegen sich in Zuständen deliriöser Ver- wirrtheit mit mehr oder weniger lebhaften Sinnestäuschungen und vielfach auch mit Aufregung zu äussern, während bei lang- samer Zerstörung durch das Gift mehr die Zeichen der psychi- schen Lähmung in den Vordergrund treten. Natürlich wird das klinische Bild im einzelnen sehr wesentlich durch die besonderen Eigenschaften des Giftes bestimmt. Nach den bisher, nament- lich von N i s s 1 , angestellten Versuchen ist es durchaus wahr- scheinlich, dass jedem Gifte ein eigentümlicher Erkrankungsvor- gang im Nervengewebe entspricht, dessen besondere Kennzeichen wir bei subakuter maximaler Vergiftung auch anatomisch unter- scheiden können, während bei sehr akuter oder chronischer Ver- giftung sich wenigstens die Nervenzellenveränderungen noch nicht auseinanderhalten lassen. Auch die Untersuchung der psychischen Giftwirkungen, soweit sie bis jetzt genauer durchgeführt wurde, hat uns für jedes Gift eine besondere Verteilung der Wirkung auf die verschiedenen Gebiete des Seelenlebens kennen ge- lehrt. Ebenso sind wir endlich klinisch imstande, in zahlreichen Fällen die Natur der Vergiftung aus ihren Zeichen zu er- kennen. Freilich ist bei den selteneren Formen, bei den meis- ten Selbstvergiftungen und bei manchen sehr schleichend ver- laufenden Giftwirkungen ein bündiger Rückschluss aus den psychischen Erscheinungen auf die Krankheitsursache heute noch nicht möglich.

Als Erschöpfung bezeichnen wir die Zerstörung der körper- lichen Träger unseres Seelenlebens infolge zu starken Verbrauches oder ungenügenden Ersatzes. Während wir uns die Ermüdung lediglich durch die Anhäufung lähmend wirkender Zerfallsstoffe im Blute zu erklären pflegen, würde die Erschöpfung dann be- ginnen, wenn der Verbrauch im Nervengewebe den Ersatz bis zur dauernden Gefährdung des Bestandes überschreitet. Die Er- müdung wäre eine Narkose, die wir zu Zwecken der Behandlung auch wohl durch andere ähnliche Narkosen ersetzen können; die Erschöpfung dagegen ist der erste Schritt zu einer Selbstver- nichtung des Nervensystems durch die eigene Tätigkeit. Die Er-

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müdung führt zum Schlafe; sie ist eine Axt Selbstschutz gegen den Eintritt der Erschöpfung.

Im Schlafe werden die Ermüdungsstoffe aus den Geweben herausgeschafft und unschädlich gemacht; ausserdem wird der Verbrauch herabgesetzt. Der Ersatz des Verbrauchten dagegen kann nur durch die Nahrungsaufnahme geschehen. So wenig wir durch Sparsamkeit allein ohne Einnahmen ein Vermögen in seinem Bestände erhalten können, so wenig vermag der Schlaf uns die verbrauchten Kräfte zu ersetzen. Als die eigentliche Ursache der Erschöpfung haben wir daher die mangelhafte Ernährung zu betrachten. Freilich tritt das Missverhältnis zwischen Verbrauch und Ersatz natürlich um so rascher hervor, je flotter verbraucht, je weniger gespart wird. So kommt es, dass die drohende Er- schöpfung durch äusserste Ruhe lange Zeit hindurch verhütet werden kann, und dass die Gefahr ihres Eintretens bei gleich- zeitiger Nahrungsverweigerung, Unruhe und Schlaflosigkeit ganz ausserordentlich gross wird. Im einzelnen Falle kann die Er- schöpfung auf sehr verschiedene Weise zu stände kommen. Rascher Verbrauch durch angestrengte Arbeit, Fieber, Blutver- luste, ungenügendes Sparen infolge von Schlafstörungen, endlich Fehlen des Ersatzes durch die Nahrung sind die drei Haupt- ursachen, welche auf die Entstehung der Erschöpfung hinarbeiten. Beim Hungern und namentlich bei der weit wirksameren Ent- ziehung des Schlafes sind an den Nervenzellen auch von verschie- denen Forschern Veränderungen beschrieben worden, die je- doch nichts Eigenartiges zu haben scheinen*); Daddi fand sie bei künstlich erzeugter Schlaflosigkeit besonders im Stirnlappen.

Es muss vor der Hand noch dahingestellt bleiben, ob die psychischen Wirkungen aller dieser Ursachen die gleichen sind. Den Einfluss des Hungerns mit und ohne gleichzeitiges Dursten hat Weygandt**) näher untersucht. Er kam zu dem Ergeb- nisse, dass die Entziehung der Nahrung, namentlich ohne Flüssig- keitsaufnahme, die geistige Arbeit des Rechnens und Lernens deutlich erschwert, die Ablenkbarkeit steigert und den Gedanken-

*) Agostini, Rivista sperimentale di freniatria, XXIV, 1. 189S; Daddi, Rivista di patologia nerv, e mentale, III, 1898.

**) Weygandt, Psychologische Arbeiten, IV, 45.

Vergiftung und Erschöpfung.

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gang durch die Begünstigung von äusseren und Klangassociationen verflacht, ohne anscheinend die Wahrnehmung erheblicher zu beeinflussen. Andererseits stellte Aschaffen bürg an mehre- ren Personen fest, welche Veränderungen die Art und Dauer gewisser psychischer Leistungen im Verlaufe einer ohne Nahrungs- aufnahme durcharbeiteten Nacht erfuhren. Dabei ergab sich eine allgemeine Abnahme der geistigen Leistungsfähigkeit, Erschwerung der Wahrnehmung mit gleichzeitigem Auftreten selbständiger Sinneserregungen, Verlangsamung des Gedanken- ganges, Entstehen ideenflüchtiger Vorstellungsverbindungen*), endlich erleichterte Auslösung von Bewegungsantrieben. Ganz dieselben Grundstörungen finden wir nun interessanterweise bei derjenigen Form des Irreseins wieder, welche wir nach ihren Ent- stehungsbedingungen besonders als Erschöpfungspsychose aufzu- fassen berechtigt sind, beim Collapsdelirium. Patrick und Gilbert**), die drei Personen neunzig Stunden lang wachen Hessen, fanden Abnahme der Muskelkraft, Verlangsamung der psychischen Zeit, eine sehr starke Störung der Aufmerksamkeit und der Merkfähigkeit, dagegen Zunahme der Sehschärfe und Auftreten massenhafter einfacher Gesichtstäuschungen. Ganz ähnliche Beobachtungen wurden bei unsinnigem, sechs Tage und Nächte hindurch fortgesetzten Radrennen in New-York gemacht.

Weniger klare Vorstellungen vermögen wir uns von den Wirkungen der chronischen Erschöpfung zu machen, wie sie durch dauernd ungenügende Ernährung bei schwerer Arbeit er- zeugt und durch Schlafmangel, schlechte hygienische Verhält- nisse, durch Kummer und Sorge begünstigt wird. Wir können kaum zweifeln, dass alle diese Ursachen in der Entstehungsge- schichte des Irreseins eine gewichtige Rolle spielen, allein wir sind zur Zeit ausser stände, ihren Einfluss im einzelnen abzu- wägen oder in bestimmten Krankheitszeichen wiederzuerkennen. Nur darauf dürfen wir vielleicht hinweisen, dass sich nach Aus- weis von Versuchen die durch Hungern und Schlaflosigkeit er- zeugten psychischen Störungen erst allmählich wieder ausgleichen. So Hess sich die Wirkung einer durcharbeiteten Nacht noch bis

*) Aschaffenburg, Psychologische Arbeiten, II, 1.

**) Patrick and Gilbert, Psychological Review, Sept. 1896.

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I. Die Ursachen des Irreseins.

zum vierten folgenden Tage in einer abnehmenden Herabsetzung der Arbeitsfähigkeit erkennen. Vom klinischen Standpunkte müssen wir daher annehmen, dass die chronische Erschöpfung einen rascheren Verbrauch des Nervengewebes bedingt und damit vielleicht die wichtigste Ursache für das vorzeitige Eintreten der Rückbildungserscheinungen und weiterhin der Greisenver- änderungen darstellt. Ausserdem aber bewirkt sie wohl sicher eine Herabsetzung der allgemeinen Widerstandsfähigkeit des Körpers und begünstigt auf diese Weise die Entwicklung von Störungen, welche ohne ihre Mitwirkung vielleicht nicht zu stände gekommen wären.

Infektionskrankheiten*). Die soeben gewonnenen Gesichts- punkte werden uns das Verständnis für eine ganze Reihe von Schädlichkeiten eröffnen, denen man im einzelnen ursächliche Be- deutung für die Entstehung des Irreseins zugeschrieben hat. So haben wir bei den Infektionskrankheiten ohne Zweifel zunächst mit Giftwirkungen zu rechnen, welche teils unmittelbar die Hirnrinde angreifen, teils durch Erzeugung allgemeinerer Krank- heitserscheinungen (Fieber) oder durch Vermittlung von Organ- erkrankungen das Seelenleben beeinflussen. Im einzelnen ge- staltet sich natürlich dieser Zusammenhang ausserordentlich ver- schieden, je nach der besonderen Beschaffenheit des Krankheits- giftes und der Art seiner Verteilung im Körper. Am wichtigsten sind von diesen Krankheiten für die Entstehung psychischer Stö- rungen Typhus **), akuter Gelenkrheumatismus, Pneumonie, akute Exantheme, Kopf rose, Influ- enza ***), Wechselfieber und Cholera.

Eine unmittelbare Einwirkung der betreffenden Krankheits- gifte auf das Gehirn ist sichergestellt bisher nur für den Typhus, die Pocken und das Wechselfieber, vielleicht auch die Influenza, weil nur bei ihnen unzweifelhafte Beobachtungen psychischer

*) K r a e p e 1 i n , Archiv f. Psychiatrie, Bd. XI und XII; Adler, Allgem. Zeitsclir. f. Psychiatrie, LIII, 740.

Friedländer, Über den Einfluss des Typhus auf das Nerven- system. 1901.

***) Jutrosinski, Influenzapsychosen, Dissertation, 1S90; Kirn, Volkmanns klin. Vorträge, Neue Folge, XIII, 1890; Fahr, Influenza som aarsag til sindssygdom. 1898; Klemm, Psychosen im ätiologischen Zusammen- hang mit Influenza. Diss. 1901.

Infektionskrankheiten.

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Störung während des fieberlosen oder doch sehr gering fieber- haften Verlaufes (im Vorläuferstadium) vorliegen, bevor andere Ursachen haben zur Entwicklung gelangen können. Beim Gelenk- rheumatismus kommt aber, wenn auch selten, eine Lokalisation des Giftes in den Hirnhäuten vor, die dann natürlich ebenfalls psychische Reizungs- und Lähmungserscheinungen hervorruft. Für den Typhus sind tiefgreifende Veränderungen in der Hirnrinde wiederholt nachgewiesen worden.

Während des fieberhaften Verlaufes der akuten Infek- tionskrankheiten könnte zunächst die Steigerung der Körper- wärme, dann aber möglicherweise auch die Kreislaufsbeschleuni- nigung in der Schädelhöhle als wirksame Ursache in Betracht kommen. Sehr häufig sieht man wenigstens die „Delirien“ dem Gange der Eigenwärme parallel gehen, ein Verhalten, welches sich namentlich deutlich bei dem regelmässigen Verlaufe der Typhuskurve herauszustellen pflegt. Eine Schädi- gung der Nervenzellen durch Erwärmung, die freilich schwerlich als eigenartig angesehen werden darf, ist von Goldscheider und Fla tau wie von Lugaro festgestellt worden. Es ist in- dessen zu berücksichtigen, dass die fieberhafte Steigerung der Eigenwärme schliesslich doch nur- als Zeichen einer stärkeren Giftzufuhr in die Blutbahn angesehen werden muss. Am wahr- scheinlichsten ist wohl, dass auch im Fieber Giftwirkungen die Hauptrolle spielen. So würde es sich auch am einfachsten erklären, dass bei manchen anderen Leiden, z. B. bei der Tuber- kulose, lange dauernde, beträchtliche Temperatursteigerungen ver- hältnismässig selten mit psychischen Störungen einhergehen.

Eine gewisse Rolle für die Entstehung der Delirien bei In- fektionskrankheiten spielt endlich zweifellos der Zustand der Kreis- lauf sorgane, vielleicht auch der Lungen, da wir jene Störungen nicht nur verhältnismässig häufig bei begleitenden Herzerkran- kungen (Gelenkrheumatismus), sondern bei den verschiedensten Formen der Herzschwäche, sogar neben kaum fieberhaften Tem- peraturen auftreten sehen (Septicämie). Wir dürfen vielleicht annehmen, dass die Kreislaufsstörungen dem Körper die Vernich- tung und Überwindung der kreisenden Krankheitsgifte wesent- lich erschweren. Wie viel gerade bei den so leicht delirierenden Säufern auf die Herzschwäche und die Gefässerkrankungen, wie-

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I. Die Ursachen des Irreseins.

viel auf die dauernden Veränderungen in der Hirnrinde zurück- zuführen ist, lässt sich schwer sagen; wahrscheinlich ist das Verhältnis in den einzelnen Fällen ein sehr verschiedenes, wie sich auch klinisch alle Übergangsformen vom ausgeprägten De- lirium tremens bis zum gewöhnlichen Fieberdelirium hier be- obachten lassen.

Das später genauer zu zeichnende Bild der Fieberdelirien setzt sich im allgemeinen aus den Erscheinungen der Hirn- reizung und der Lähmung zusammen, die sich in der verschieden- artigsten Weise miteinander verbinden können und in den schwer- sten Graden, bei denen sich wohl immer auch tiefgreifende Kreis- laufsstörungen entwickeln, endlich in völlige Lähmung der Hirn- rinde, in Zustände von Schlafsucht und Ohnmacht übergehen.

Der Wirkungsweise einiger der genannten Infektionskrank- heiten in mancher Beziehung verwandt ist diejenige der Lyssa, insofern es sich auch hier wohl um eine unmittelbare A ergiftung der Hirnrinde handelt. Emminghaus*) führt als einleitende Symptome traurige Verstimmung und Ängstlichkeit an; auf der Höhe der Erkrankung wechseln die Erscheinungen höchster psy- chischer Erregung, heftige Delirien, Sinnestäuschungen, Gewalt- taten mit vorübergehender völliger Klarheit des Bewusstseins ab, bis endlich mit dem Eintritte psychischer Lähmung das Lei- den abschliesst.

Wesentlich anders dagegen, als bei den Fieberdelirien, gestaltet sich wahrscheinlich der Zusammenhang zwischen Ur- sache und Wirkung bei jenen eigenartigen Geistesstörungen, die sich nicht auf der Höhe, sondern nach dem Ablaufe akuter Infektionskrankheiten entwickeln. Allerdings muss man auch hier wohl vor allem an die giftigen Nachwirkungen der infektiösen Krankheitsursache denken, entsprechend etwa den neuritischen Erkrankungen, welche sich an Pocken, Typhus, Influenza und namentlich an Diphtherie so häufig anschliessen. Am deutlichsten wird das bei den schweren, oft unheilbaren, nach Typhus, Pocken und Intermittens beobachteten geistigen Schwächezuständen, die mit den Zeichen gröberer Erkrankungen des Hirns, Rückenmarks oder der Nerven einhergehen. Bei anderen, günstiger und rascher

*) Archiv der Heilkunde XV, 239; Allgr. Zeitschr. f. Psychiatrie, XXXI, 5.

Infektionskrankheiten.

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verlaufenden Formen dürfte auch noch die durch schwere und an- dauernde Fieberzustände und verschiedenartige Begleiterkran- kungen bedingte Erschöpfung des gesamten Körpers eine ursächliche Rolle spielen. Nach Typhus und Gelenkrheumatismus pflegen derartige Erkrankungen sich allmählich zu entwickeln und wieder auszugleichen. Dagegen sehen wir, namentlich bei der Lungenentzündung, aber auch nach akuten Exanthemen, Ery- sipel, Influenza (Influenzapneumonie!), schweren Anginen, die psychische Störung sich vielfach unmittelbar an einen plötzlichen Abfall der Körperwärme und der Pulsgeschwindigkeit anschliessen und dann meist nach kurzer Zeit wieder schwinden. Im all- gemeinen kommt übrigens der krankhaften Veranlagung bei der Entstehung der Erschöpfungspsychosen eine weit grössere Bedeu- tung zu, als bei den Fieberdelirien. Offenbar sind die Erkrankungs- ursachen im letzteren Falle viel mächtigere; sie überwältigen ohne viel Unterschied auch ein kräftiges Nervensystem, während dort vorzugsweise die weniger widerstandsfähigen Persönlichkeiten den krankmachenden Einflüssen unterliegen.

Bis zu einem gewissen Grade spiegelt sich dieser Unterschied der ursächlichen Bedingungen auch in dem klinischen Bilde der Psychosen nach akuten Krankheiten wieder. Während die Fieber- delirien in der Plauptsache überall die gleichen Erscheinungs- formen zeigen, sehen wir hier, wo die persönliche Anlage stärker hervortritt, die einzelnen Krankheitsbilder sich weit verschieden- artiger und selbständiger entwickeln. Dies gilt natürlich nicht für die mit schweren Rindenerkrankungen (Schwellung und Zer- fall der Ganglienzellen, Pigmentembolien, entzündliche Infiltration) einhergehenden Psychosen, welche einfach eine mehr oder weniger ausgesprochene allgemeine Abnahme der psychischen Leistungen, das Bild des Schwachsinns bis zum tiefsten Blödsinn darbieten.

Wo die krankmachende Ursache mit plötzlichem Sinken der Eigenwärme und der Pulszahl hereinbricht, entstehen unvermittelt rasch verlaufende Collapsdelirien mit Sinnestäuschungen, völliger Verwirrtheit, Ideenflucht und Aufregungszuständen. In anderen Fällen verschwinden die Fieberdelirien mit dem Eintritte der körperlichen Besserung nicht, sondern spinnen sich, wenn auch in veränderter Form, noch einige Zeit hindurch fort. Es hat dabei den Anschein, als ob das geschwächte Gehirn nicht so rasch

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I. Die Ursachen des Irreseins.

die auf der Höhe der Krankheit entstandenen Störungen aus- gleichen könne. Auch hier liegt natürlich der Verdacht akuter, sich wieder zurückbildender Zellveränderungen sehr nahe. Die- jenigen Formen, die sich erst in der Genesungszeit entwickeln, schliessen sich öfters an eine mehr zufällige Schädlichkeit, na- mentlich an Gemütsbewegungen an. Sie tragen die Züge der Ver- wirrtheit mit Sinnestäuschungen, Wahnbildungen und ängstlicher oder heiterer Verstimmung. Von ihnen führen Übergänge all- mählich hinüber zu der gewöhnlichen reizbaren Schwäche der Genesenden nach einer schweren fieberhaften Krankheit.

In einer grossen Anzahl von Fällen handelt es sich bei den Geistesstörungen nach körperlichen Krankheiten um solche For- men des Irreseins, die in Wirklichkeit aus ganz anderen Ursachen entstehen. Die akute Schädigung gibt hier nur den letzten An- stoss zur Entwicklung des schon mehr oder weniger weit vorbereiteten Deidens. Das ist der Fall bei den verschiedenen Formen des manisch-depressiven Irreseins und der Katatonie, bei der Melancholie, den senilen Delirien, bisweilen auch bei paraly- tischen Erkrankungen. Gewöhnlich ist hier auch der zeitliche Zusammenhang zwischen akuter Krankheit und Irresein ein ziem- lich lockerer. In einzelnen Fällen beginnt die Psychose bei dem wTenig widerstandsfähigen Rekonvaleszenten erst Wochen oder gar Monate nach dem Ab laufe der hier eigentlich nur noch vor- bereitenden Erkrankung, ja es scheint, dass namentlich nach Typhus unter Umständen selbst jahrelang eine reizbare Schwäche Zurückbleiben kann, welche der Entwicklung späterer Geistes- störungen Vorschub leistet.

Nach ähnlichen Gesichtspunkten darf vielleicht zum Teil die ursächliche Bedeutung mancher chronischer Infektions- krankheiten beurteilt werden. Namentlich sind hier vielfach die Bedingungen zur Entstehung von Erschöpfungszuständen ver- wirklicht. Herabsetzung der Arbeitsfähigkeit, grosse Ermüdbar- keit, andererseits Reizbarkeit, Stimmungswechsel, endlich ein Gemisch von Wankelmütigkeit und Eigensinn sind so häufige Be- gleiterscheinungen solcher Leiden, dass sie gar nicht als eigent- liche psychische Störungen aufgefasst zu werden pflegen. An- dererseits spielen unter Umständen wohl auch die Krankheitsgifte selbst eine gewisse Rolle.

Infektionskrankheiten.

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Bei der Tuberkulose* **)) kommt es hie und da zu akuten Geistesstörungen mit Verwirrtheit, Sinnestäuschungen, Wahnbil- dungen, misstrauischer oder heiterer Stimmung, Schlaflosig- keit und Erregung, die den infektiösen Schwächezuständen nach Typhus oder Gelenkrheumatismus sehr ähnlich sind. Bei der ge- ringen Häufigkeit der phthisischen Geistesstörungen müssen in solchen Fällen wohl noch besondere Bedingungen mitwirken, unter denen die psychopathische Veranlagung sicherlich eine wichtige Rolle spielt. In anderen Fällen sehen wir den Alkoholismus dem Krankheitsbilde seine bestimmte Färbung geben, und endlich können natürlich gelegentlich auch meningitische Prozesse den psychischen (und nervösen) Reizerscheinungen zu Grunde liegen.

Im Verlaufe der Lepra, die ja unzweifelhaft das Nerven- system häufig in Mitleidenschaft zieht, sollen Depressionszustände mit Schlaflosigkeit und starker Selbstmordneigung Vorkommen. Genaueres ist jedoch darüber noch nicht bekannt.

Dagegen spielt die Syphilis*) bei der Erzeugung von Gei- stesstörungen verschiedenster Art eine ganz hervorragende Rolle. Kowalewsky betrachtet als die körperliche Grundlage der syphilitischen Psychosen im ersten Abschnitte des Leidens die Blutveränderungen, die in einer Abnahme der roten Blutkörper- chen und ihres Farbstoffgehaltes sowie in einer Zunahme der weissen Blutkörperchen bestehen und zur Zeit des Ausschlags ihre grösste Entwicklung erreicht haben. Späterhin kommt es dann zu den von Heubner vor allem beschriebenen Gefäss- erkrankungen und endlich zu unmittelbaren Schädigungen des Nervengewebes durch das im Blute kreisende Syphilisgift. Ausser- dem sollen in manchen Fällen Blutveränderungen durch übertriebene Quecksilberbehandlung, in anderen noch die gemütlichen Erschüt- terungen durch die Aussicht auf die möglichen Folgen der An- steckung als krankmachende Umstände in Betracht kommen;

*) Heinzeimann, Münchner Medizin. Wochenschr. 1894, 5; Char- t i e r , de la phthisie et en particulier de la phthisie latente dans ses rapports avec les psychoses. These, Paris. 1899.

**) Heubner, v. Ziemssens Handbuch, Bd. XI, 1; Rumpf, Die syphilitischen Erkrankungen des Nervensystems. 1887; Kowalewsky, Archiv f. Psych., XXVI, 2; J o 1 1 y , Berliner klinische Wochenschr. 1901, 1.

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I. Die Ursachen des Irreseins.

natürlich haben die so erzeugten Krankheitszeichen zur Syphilis selbst keinerlei Beziehung mehr.

Den klinischen Ausdruck aller dieser luetischen Krankheits- vorgänge bilden Zustände, die man zunächst unter der Bezeich- nung der syphilitischen Neurasthenie, Hypochondrie oder Hysterie zusammenzufassen pflegt. Schon zur Zeit des ersten Ausschlags sollen derartige Krankheitsbilder hervortreten können, um sich nach dem Schwinden desselben oder unter dem Einflüsse der Quecksilberbehandlung rasch wieder zu verlieren. Im weiteren Verlaufe deuten manche Begleiterscheinungen, starke Kopf- schmerzen, Schwindelanfälle, leichte, flüchtige Sprachstörungen oder Lähmungen, Doppeltsehen, halbseitige Empfindungsstö- rungen, vielleicht auch einmal eine Ohnmacht oder ein epilep- tischer Anfall neben den Zeichen von Zerstreutheit, Versagen des Gedächtnisses, Reizbarkeit, Ermüdbarkeit, Arbeitsunlust, Nieder- geschlagenheit und Willensschwäche vielfach schon auf ein ern- steres Leiden hin, dem vielleicht die allmähliche Entwicklung der Gefässerkrankungen zu Grunde liegt. Wo ausgeprägte hyste- rische Erscheinungen hervortreten, haben wir uns wohl vorzu- stellen, dass, ähnlich wie bei anderen Hirnerkrankungen, die un- mittelbaren körperlichen Veränderungen durch Vermittlung gefühlsstarker Vorstellungen Störungen herbeiführen, die mehr oder weniger weit über den Rahmen jener brsteren hinausgreifen.

Die Fortentwicklung dieser Krankheitsbilder führt, wenn sie nicht durch die Behandlung unterbrochen wird, zu geistigen Schwächezuständen. Gedächtnis und Merkfähigkeit nehmen ab, das Urteil wird schwach; die Fähigkeit zu planmässiger, geord- neter Tätigkeit geht verloren. Zugleich können sich nun eine Reihe von ausgeprägten psychischen Krankheitszeichen einstellen, reizbares, nörgelndes Wesen, Wahnbildungen, meist flüchtiger, aber oft ganz abenteuerlicher Art, Sinnestäuschungen, heitere oder misstrauisch-gereizte Stimmung, Erregung, Prahlsucht, A er- schwendungssucht. Schliesslich können die Kranken vollkommen verblöden. In der Regel ist aber diese Entwicklung von den deut- lichen Zeichen eines schweren Hirnleidens begleitet, namentlich von halbseitigen Lähmungen, Schlaganfällen mit oder ohne nach- bleibende Opticusatrophie, Augenmuskellähmungen, apliasischen

Infektionskrankheiten.

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Störungen und ähnl. Ihnen entsprechen vielfach umschriebene gummöse oder meningo-encephalitische Erkrankungen.

Von ungleich grösserer Bedeutung aber, als alle diese im engeren Sinne syphilitischen Geistesstörungen, ist die progressive Paralyse, die wir ebenfalls Ursache haben, wesentlich oder aus- schliesslich auf eine vorangegangene luetische Erkrankung zu- rückzuführen. Bei dem heutigen Stande der Frage halte ich es für das bei weitem Wahrscheinlichste, dass in der Tat alle die- jenigen Fälle, denen eine Syphilis zu Grunde liegt, eine einheit- liche ätiologische, klinische und pathologisch-anatomische Gruppe bilden, der ein ganz bestimmter Krankheitsvorgang entspricht. Allerdings sind wir heute im Leben noch nicht immer imstande, diese Fälle mit Sicherheit von denjenigen zu unterscheiden, die anderen Ursprunges sind. Es zeigt sich eben, dass einerseits die Fälle mit gleichem Leichenbefunde sehr verschiedene klinische Bilder darbieten können, während es uns auf der anderen Seite öfters unmöglich ist, aus den Krankheitszeichen auf einen be- stimmten pathologischen Vorgang zu schliessen. Die Kennzeichen, nach denen wir im Leben gruppieren, entsprechen nicht den- jenigen der pathologischen Anatomie. In der vorliegenden Frage aber scheint es, dass die letzteren bereits die zuverlässigeren sind.

Leider vermögen wir uns über die Art des Zusammenhanges zwischen Syphilis und Paralyse noch keine genauere Vorstellung zu machen. Nur soviel steht fest, dass die Paralyse der syphili- tischen Ansteckung gewöhnlich erst nach einer längeren Reihe von Jahren folgt, dass sie durch die antiluetischen Kuren nicht günstig beeinflusst, geschweige denn geheilt wird, und dass sie daher nicht geradezu als syphilitische Hirnerkrankung im engeren Sinne auf gefasst werden darf. Möbius hat daher hier und bei der offenbar sehr nahe verwandten Tabes von einer „Metasyphilis“ gesprochen. Manche Erfahrungen scheinen mir darauf hinzu- deuten, dass es sich bei der Paralyse nicht um eine örtliche Er- krankung handelt, wie bei der eigentlichen Hirnsyphilis, sondern dass wir es mit sehr tiefgreifenden und allgemeinen Störungen im gesamten Körper zu tun haben. Die häufigen Nieren- und Plerz- erkrankungen wie das Aortenatherom der Paralytiker zeugen für eine ausgebreitete Beteiligung der Blutgefässe. Ob diese letztere allein dann weiter die Brüchigkeit der Knochen und die grosse

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I. Die Ursachen des Irreseins.

Neigung zum Druckbrand bewirkt, muss zweifelhaft bleiben. Ich möchte vielmehr an Veränderungen im Stoffwechsel und in der Blutzusammensetzung glauben. Dafür würden auch die ganz ausserordentlichen Schwankungen in dem Ernährungszustände der Kranken wie die nicht selten beobachteten andauernden Tem- peratursenkungen sprechen, die wohl zuverlässiger auf schwere Störungen des Allgemeinzustandes, als auf örtliche Beeinflus- sung der Temperaturregulierungscentren zurückgeführt werden.

Stoffwechselkrankheiten. Vielleicht eines der wichtigsten, sicher aber das dunkelste Gebiet der ganzen psychiatrischen Ur- sachenlehre ist dasjenige der Stoffwechselerkrankungen. Wir dürfen ja wohl erwarten, dass jede krankhafte Änderung im Stoff- wechsel auch die Ernährung des Nervensystems mehr oder weniger stark in Mitleidenschaft ziehen und unter Umständen geradezu giftige Stoffe in die Blutbahn gelangen lassen muss. Dagegen wissen wir über die chemischen Einzelheiten dieser V orgänge leider noch ungemein wenig. Es liegen allerdings eine Reihe von Untersuchungen über die Veränderungen der Ausscheidungen und des Blutes bei Geisteskranken vor, über die Giftigkeit des Schweisses und Harns*), über die Alkalescenz, die bakterien- tötenden und giftigen Eigenschaften des Blutes, über die ,,Iso- tonie“**) der roten Blutkörperchen, ihre Zahl, ihren Hämoglobin- gehalt, ihr Verhältnis zu den Leukocythen, aber die Ergebnisse aller dieser mühevollen Erhebungen sind meist so unsicher und vieldeutig, dass aus ihnen irgendwelche zuverlässigen Schlüsse über das Wesen der Krankheitsvorgänge einstweilen nicht abge- leitet werden können. Abweichungen von dem Verhalten Ge- sunder sind übrigens vielfach festgestellt worden. So fanden Obici und Bonon, dass die Widerstandsfähigkeit roter Blut- körperchen gegen Kochsalzlösungen besonders stark herabgesetzt war in der Paralyse, beim pellagrösen Irresein und in den ersten Stadien der Dementia praecox, also in Krankheitszuständen, für welche die Annahme von Giften im Blute besonders nahe liegt.

*) Cabitto, Rivista sperim. di freniatria, XXIII, 36; Pellegrini, ebenda, 144; Massaut, Bull, de la societd de mddic. ment, de Belgique, Decembre 1895.

**) Abundo, Rivista sperim. di freniatria, XVIII, 292; Obici e Bonon, Annali di nevrologia, XVIII, 5. 1900.

Stoffwechselkrankheiten.

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In der Regel aber ist ein gesetzmässiger Zusammenhang zwischen den vorhandenen Stoffwechselstörungen und den Krank- heitsbildern gar nicht nachzuweisen. Allerdings liegt eine sehr grosse Zahl von Beobachtungen vor, in denen die Geistesstörung mit dieser oder jener Form der Selbstvergiftung in Beziehung gebracht wird. Verhältnismässig selten aber enthalten solche Vermutungen mehr als blosse Möglichkeiten. Der Grund liegt hauptsächlich in dem Umstande, dass die Krankheitsbilder selbst uns heute durchaus noch, keinen Schluss auf eine ursächliche Selbstvergiftung erlauben. Wir sind daher meist gar nicht im- stande, ein zufälliges Zusammentreffen auszuschliessen; höchstens lässt sich sagen, dass wahrscheinlich irgend eine Vergiftung oder Infektion vorliegt. Andererseits lehrt aber das Beispiel einzelner Formen psychischer Störung, die wir auf Stoffwechselstörungen zurückzuführen berechtigt sind, namentlich dasjenige des Deli- rium tremens, ganz abgesehen von den gewöhnlichen Vergif- tungen, dass dort, wo wirklich eindeutige Ursachen vorhanden sind, auch die klinischen Bilder ihre ganz ausgeprägte Färbung erhalten. Es ist daher zu hoffen, dass es allmählich gelingen wird, für diejenigen Gruppen des Irreseins, welche bestimmten Stoffwechselvergiftungen zu Grunde liegen, auch eigenartige klinische Formen aufzufinden, die ohne weiteres den Rückschluss auf die Krankheitsursache gestatten.

Im allgemeinen wird man annehmen dürfen, dass diejenigen Ernährungsstörungen, die wesentlich eine allgemeine Verschlech- terung der Blutbeschaffenheit herbeiführen, wie etwa die Chlorose, die Leukämie, dauernde Unterernährung, wiederholte Blutverluste, eine mehr oder weniger ausgesprochene Abnahme der gesamten psychischen Leistungen erzeugen, Herabsetzung der geistigen Arbeitsfähigkeit, gesteigerte Ermüdbarkeit, Zer- streutheit, Vergesslichkeit, gemütliche Reizbarkeit mit vor- wiegend depressiver Färbung, Einbusse an Willensfestigkeit und Tatkraft. Diese Störungen sind bei schweren körperlichen All- gemeinleiden so häufig, dass sie gar nicht als krankhaft aufzu- fallen pflegen. Sie entsprechen ungefähr den Zeichen einer dauernden Ermüdung, die wir ja gewöhnt sind, auf die un- genügende Beseitigung und Vernichtung giftiger Zerfallstoffe in den arbeitenden Geweben zurückzuführen.

Kraepclin, Psychiatrie. I. 7. Aufl.

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I. Die Ursachen des Irreseins.

Dazu treten aber weitere Krankheitserscheinungen, sobald irgend eine bestimmte Einrichtung im Getriebe unseres Stoff- wechsels ihren Dienst versagt. Bei chronischen Störungen werden wir allerdings deren besondere Wirkungen in dem Krankheitsbilde meist kaum nachweisen können. Bei raschem Eintritte der Ver- änderung im Körperhaushalte sind aber die Krankheitserschei- nungen oft sehr stürmische. Unzulänglichkeit des Gasaustausches, wie sie durch Erkrankungen der Lungen und der Kreislauforgane herbeigeführt werden kann, erzeugt die Erscheinungen rausch- artiger Benommenheit und heftige Angstgefühle, in höheren Graden Bewusstlosigkeit. Mangelhafte Ausscheidung durch die Nieren führt zur U r ä m i e mit deliriösen und komatösen Zustan- den, namentlich bei vorgeschrittener Schwangerschaft; infolge der Ansammlung von Gallenbestandteilen im Blute (Cholämie) kommen Benommenheit und psychische Depression, bei der akuten gelben Leberatrophie (Icterus gravis) furibunde Delirien mit starker ängstlicher Erregung und Sinnestäuschungen, im weiteren Verlaufe Sopor und Koma zur Beobachtung.

Recht unklar sind bisher noch die Beziehungen zwischen dem Krebssiechtum und den hie und da bei demselben beobachteten Geistesstörungen. Wenn auch^ die Annahme immer mehl- an Boden gewinnt, dass die Krebsgeschwülste irgendwie durch Lebewesen erzeugt werden, so fehlt doch jeder Anhalt für eine Entscheidung der Frage, ob diese Lebewesen unmittelbar oder durch giftige Ausscheidungsstone die Hirnrinde schädigen, oder ob die psychische Erkrankung erbt durch die allgemeinen Stoffwechselstörungen bedingt wird, die dem Krebssiechtum eigentümlich sind. Sehr innig ^ dürften je- doch die Beziehungen zwischen dem körperlichen Leiden und der Hirnrindenerkrankung nicht sein, da die überwiegende Mehrzahl der Krebskranken keine ausgeprägten psychischen Störungen er- kennen lässt. Die Krankheitsbilder zeigen in der Regel die Form ängstlich deliranter Zustände mit Sinnestäuschungen, Verworren- heit und lebhafter Unruhe; im weiteren Verlaufe treten immer mehr die Benommenheit und Schwäche in den Vordergrund. Eisholz*) legt Wert auf den Wechsel zwischen deliranter "Ver- wirrtheit und zeitweise fast völliger Klarheit.

*) E 1 s h o 1 z , Jahrb. f. Psycli., XVII, 144.

Stoffwechselkrankheiten.

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Endlich scheinen auch krankhafte Zersetzungen des Darm- inhaltes die Quelle von Allgemeininfektionen mit geistigen Stö- rungen bilden zu können. So hat Wagner Fälle von Irresein beschrieben, in denen er bei Darmstörungen Aceton und eine Reihe weiterer krankhafter Bestandteile im Harn, auch vermehrte Indicanausscheidung auffand. Auch von S ö 1 d e r *) sind als Ur- sache einiger von ihm beobachteten psychischen Erkrankungen Kotstauungen mit Zersetzung des Darminhaltes und Aufsaugung von Giften ins Blut angenommen worden. Die klinischen Bilder waren überall verwirrte Erregungszustände, die als Amentia oder Delirium acutum bezeichnet werden. So wenig sich die Mög- lichkeit bestreiten lässt, dass Rindenerkrankungen durch Auf- saugung giftiger Zersetzungsstoffe vom Darm aus zu stände kommen können, so schwierig erscheint es es doch, im einzelnen Falle einen derartigen Zusammenhang nachzuweisen und gar darauf ein Behandlungsverfahren zu gründen, da in den Krank- heitszeichen selbst Anhaltspunkte dafür bisher wenigstens durch- aus nicht zu erkennen sind.

Sehr eingehend sind in den letzten Jahren die Beziehungen des Diabetes und der G 1 y k o s u r i e **) zu den Geistesstö- rungen untersucht worden. Ausgeprägter Diabetes ist im ganzen bei Geisteskranken nicht sehr häufig; man hat ihn namentlich bei Paralyse, dann auch beim Alkoholismus und bei der Melancholie beobachtet. Dagegen scheinen sich leichtere Veränderungen des Seelenlebens doch vielfach bei Diabetes zu entwickeln, Abnahme des Gedächtnisses und der geistigen Leistungsfähigkeit, Reizbar- keit, Verstimmung, Vielgeschäftigkeit oder Schlafsucht und Stumpfheit. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Dia- betes sich gern im höheren Lebensalter entwickelt und dann oft mit Gefässerkrankungen verknüpft ist, deren Anteil an dem klinischen Bilde sich kaum abgrenzen lässt. Laudenheimer hat indessen auch eine diabetische „Pseudoparalyse“ beschrieben, ein Krankheitsbild, das durch die Verbindung einer ausgeprägten

*) S ö 1 d e r , Jahrb. f. Psych. XVII, 147.

**) Bond, Journal of mental Science, 1896, Januar, April; Lauden- heimer, Archiv f. Psych., XXIX, 2; Berl. klin. Wochenschr. 1898, 21; Rai- mann, Zeitschr. f. Heilkunde, XXIII, 2, 1902.

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I. Die Ursachen des Irreseins.

geistigen Schwäche mit einzelnen nervösen Storungen, Stocken der Sprache, Hemiparesen, epileptoide Anfälle, Steigerung der Sehnen- reflexe gekennzeichnet ist. Alle diese Störungen sollen der Lesse- rung durch antidiabetische Kuren zugänglich sein. Im Hinblicke auf das diabetische Koma ist die Möglichkeit schwerer Hirnstö- rungen bei Diabetes nicht wohl zu bezweifeln, doch wird es noch weiterer Erfahrungen, namentlich auch anatomischer Befunde be- dürfen, nm die klinische Deutung derartiger Fälle sicher zu

stellen. , .. ,. . , .

Glykosurie ist bei Geisteskranken sicher häufiger, als bei

Gesunden, namentlich unmittelbar nach dem _ Delirium tremens und bei lebhaften Angstzuständen; ich sah sie kürzlich m zwei Fällen, die ich als syphilitische Gefässerkrankungen auffassen möchte. Dementsprechend fand Raimann die Fähigkeit ein- geführten Zucker zu verbrennen, herabgesetzt in der Melancholie, beim Altersschwachsinn, bei der Paralyse, beim Schwinden des Delirium tremens und bei der ätiologisch unklaren Gruppe der Amentia, Es hat demnach den Anschein, dass die alimentäre Glykosurie bei denjenigen Formen des Irreseins besonders leie t zu stände kommt, bei denen wir Anlass haben, an Stoffwechsel- störungen zu denken.

Eine erhebliche Rolle ist, namentlich von französischen und eng- lischen Forschern, vielfach der Gicht*) zugeschrieben worden. Anhäufung von Harnsäure im Blute soll einerseits Neurasthenie erzeugen können, auf der anderen Seite wieder eine wesentliche Ursache von Angstzuständen sein. Lange hat auch periodische Depressionszustände mit Schwankungen der Harnsäureausscheidung in ursächliche Verbindung gebracht. Nach der Schilderung hat es sich um Anfälle gehandelt, die dem manisch-depressiven Irre- sein angehören dürften. Ob wir es hier überall mit ursächlichen Beziehungen oder mit einfachen Begleiterscheinungen zu . tun haben, muss weiterer Prüfung überlassen bleiben; für die manisch- depressiven Formen ist mir die erstere Annahme aus iie en

Gründen äusserst unwahrscheinlich. . .

Auf einem etwas sichereren Boden bewegen wir uns bei der Erörterung des Zusammenhanges zwischen Geistesstörungen

*) Kowalewsky, Centralbl. f. Nervenheilk. 1901, 693.

Stoffwechselkrankheiten.

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und Schilddrüsen erkrankungen, da uns hier zur Klärung der Tierversuch wertvolle Aufschlüsse geliefert hat. Wir wissen sicher, dass Ausfall der Schilddrüsentätigkeit die schwersten Folgen für das Seelenleben nach sich zieht. Bei jugendlichen Per- sonen bewirkt die Vernichtung oder krankhafte Umwandlung jener Drüse die kretinistische Entartung des gesamten Körpers, wie wir sie auch künstlich bei Tieren erzeugen können. Dagegen stellt sich beim Erwachsenen nach Entfernung der ganzen Schilddrüse das Bild der Kachexia strumipriva ein, dessen wesentliche Züge in einem allmählich fortschreitenden Schwachsinn mit myxödema- tösen Veränderungen der Haut und gewissen nervösen Reiz- erscheinungen (Krampfanfälle, Tetanie) bestehen. Nahe Ver- wandtschaft zu diesem Krankheitsbilde zeigt dasjenige des spon- tanen Myxödems, wie es durch Schrumpfung oder krankhafte Zerstörung der ganzen Schilddrüse zu stände kommt. Hier ge- sellen sich zu dem leichteren oder schwereren Schwachsinn öfters die Erscheinungen einer psychischen Depression, selbst lebhafte Angstzustände hinzu. Als die gemeinsame Grundlage aller dieser Störungen ist wohl die Anhäufung von Stoffen im Blute anzu- sehen, die sonst durch die Schilddrüsentätigkeit zerstört werden.

Umgekehrt dürfen wir vielleicht annehmen, dass die beim Morbus Basedowii*) beobachteten Störungen durch krank- hafte Vermehrung und wohl auch Veränderung der Schilddrüsen- ausscheidungen hervorgerufen werden; zum Teil wenigstens decken sie sich mit denjenigen, die wir nach Einführung von Schilddrüsen- bestandteilen in den Körper des gesunden und kranken Menschen auftreten sehen. Die psychischen Erscheinungen sind diejenigen einer Herabsetzung der psychischen Widerstandsfähigkeit, erhöhte gemütliche Reizbarkeit, heitere oder ängstliche Verstimmung, Stimmungswechsel, flüchtige Wahnbildungen, Eifersuchtsideen, Selbstanklagen, Unruhe, grosse Ermüdbarkeit, Schlaflosigkeit. Einzelne Zeichen der Basedowschen Krankheit, Zittern, Struma, Exophthalmus, Pulsbeschleunigung, scheinen sich häu- figer während der Entwicklung der Dementia praecox ein-

*) Buschan, Die Basedowsche Krankheit. 1894; Möbius, Die Basedowsche Krankheit. 1896, 32 ff.; Mau de, Journal of mental Science, 1896, Januar; Homburger, Über die Beziehungen des Morbus Basedowii zu Psychosen und Psychoneurosen. Diss. Strassburg, 1899.

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I. Die Ursachen des Irreseins.

zustellen, wenn mich nicht die allgemeine Neigung zu Schild- drüsenerkrankungen in unserer Gegend täuscht.

Diese Tatsachen, die uns die Wichtigkeit eines unschein- baren Organs für den Stoffwechsel auf das deutlichste dar- tun, machen es wahrscheinlich, dass wohl auch noch von anderen Seiten unter Umstanden ähnliche Selbst\ergiftungen ausgehen können. So hat bereits V a s s a 1 e gezeigt, dass Zerstörung der Hypophysis den Tod zur Folge hat, während beim Menschen Hypophysisgeschwülste bekanntlich häufig mit Akromegalie einhergehen. Auch psychische Störungen können sich hinzugesellen, Gedächtnisschwäche, Arbeitsunfähig- keit, gemütliche Stumpfheit bis zur völligen Versunkenheit, zeit- weise auch Erregung. Es muss jedoch dahingestellt bleiben, wie weit hier Wirkungen der Geschwulst als solcher oder die Zerstörung des Hirnanhanges in Frage kommen.

Es ist zur Zeit nicht abzusehen, welche Aufschlüsse uns die Verfolgung der hier sich darbietenden Fragen liefern wird. Mir scheint jedoch schon heute namentlich die grosse Gruppe der Verblödungsprozesse so manche Eigentümlichkeiten darzu- bieten, welche die Annahme einer zu Grunde liegenden Selbst- vergiftung begründen könnten. Ferner ist für gewisse Formen der Epilepsie vielfach die Vermutung eines Zusammenhanges mit der allmählichen Ansammlung und plötzlichen Ausscheidung von Stoffwechselresten ausgesprochen worden. Auch die Geistes- störungen des Rückbildungsalters dürften von Umwälzungen im Stoffwechsel und deren Folgen begleitet sein.

Vergiftungen. Von den Giften, die überhaupt unsere Hirnrinde beeinflussen, besitzt zum mindesten ein grosser Teil die Eigen- schaft, ganz bestimmte seelische Leistungen in eigenartiger V eise zu schädigen. Bei rasch tödtlich wirkenden Vergiftungen freilich verwischen sich diese Unterschiede; die ausgebreitete V ernich- tung des Hirnrindengewebes hebt sofort das Bewusstsein völlig auf. Tritt aber die Wirkung langsamer und weniger überwältigend auf, so entwickeln sich schnell einsetzende und ablaufende psj - chische Störungen, deren Gestaltung vielfach sofort einen Rück- schluss auf die giftige Ursache derselben gestattet, namentlich, wenn wir die körperlichen Begleiterscheinungen mit beachten. Da die meisten akuten Vergiftungen der Hirnrinde mit einer

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gewissen Bewusstseinstrübung verbunden sind, tragen die ent- sprechenden Geistesstörungen die Züge eines Rausches, oder, wenn sie auch mit Sinnestäuschungen verknüpft sind, eines Deliriums. Allerdings ist bei der Seltenheit der meisten derartigen Vergif- tungen unsere Kenntnis von den besonderen psychischen Wir- kungen der einzelnen Gifte noch eine ungemein dürftige. Alles aber, was wir bisher durch den Versuch über diese Frage wissen, spricht mit grosser Entschiedenheit für die Eigenart jener Wir- kungen. Genauere Untersuchungen liegen bisher vor über Alko- hol, Coffein, Trional und Brom, vorläufige über Morphium, Paral- dehyd, Chloralhydrat, Äther, Amylnitrit, Choroform, Cocain und Tabak, aber schon diese Erfahrungen haben gezeigt, dass die psychische Wirkung keines dieser Gifte derjenigen irgend eines anderen völlig gleicht, so sehr sich auch die chemische Verwandt- schaft auf diesem Gebiete geltend macht. Diese Tatsache ent- spricht durchaus dem Befunde Nissls, dass die Zellverände- rungen bei nicht allzu rascher Vergiftung je nach der Art des eingeführten Giftes ein ganz bestimmtes Gepräge zeigten.

Durch länger fortgesetzte Vergiftung, wie sie bei den giftigen Genussmitteln und manchen Gewerbegiften vorkommt, entwickeln sich dauernde psychische Schwächezustände, oft mit bestimmten nervösen Begleiterscheinungen, die ihnen dann die Bezeichnung „Pseudoparalyse“ einzutragen pflegen. Auch diese Zustände dürf- ten je nach der Art des Giftes verschieden sein, wenn wir auch über ihre kennzeichnenden Züge noch ausserordentlich wenig wissen. Im ganzen sind diese Krankheitsbilder, wenn sich nicht die Zeichen immer wieder kehrender akuter Vergiftungen hinzu- gesellen, wrenig ausgeprägt, da lie Ausfallserscheinungen in ihnen überwiegen. Es ist auch bisher nicht gelungen, bei chronischen Vergiftungen den einzelnen Giften eigentümliche Zellverände- rungen aufzufinden. Solche Gifte, die ausser der Hirnrinde auch andere Werkstätten des Körpers schädigen, können unter Um- ständen mittelbare Geistesstörungen hervorrufen, die mit der ursprünglichen Giftwirkung gar keine Beziehung mehr haben, wie urämische oder ikterische Delirien. Eine derartige Entstehung ist z. B. für- das Delirium der Trinker wahrscheinlich, welches ganz andere Züge trägt, als der Rausch.

Eine erste kleine Gruppe von Vergiftungen, die wir hier zu

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I. Die Ursachen des Irreseins.

betrachten haben, steht in nächster Beziehung zur Volksernäh- rung. Dahin gehört vor allem die hauptsächlich in Oberitalien, Südfrankreich, Nordspanien und Rumänien vorkommende Pel- lagra*). Offenbar handelt es sich bei dem Leiden, das mit sehr starken Verdauungsstörungen, Schwund der Darmschleimhaut, Abmagerung und Hautausschlägen einhergeht, um eine chronische Vergiftung, die zumeist auf den Genuss von verdorbenem Mais zurückgeführt wird; Hilfsursachen sollen Armut und Elend aller Art bilden. Wahrscheinlich haben wir es mit einem organisierten Gifterzeuger zu tun, da Übertragung von Person zu Person, übrigens auch Einfluss der Erblichkeit, beobachtet wurde, und da häufig mildere Rückfälle des Leidens eintreten, wenn alle genannten Schädlichkeiten längst weggefallen sind. Von einigen Forschern wird angegeben, dass die Krankheit durchaus nicht an den Maisgenuss gebunden sei und sich langsam ausbreite. Die psychischen Störungen zeigen das Bild erhöhter gemütlicher Reiz- barkeit, ferner Depression bis zum Stupor mit starker Selbstmord- neigung und Ausgang in Verblödung, endlich Verwirrtheit mit Erregung, die sich im sog. Typhus pellagrosus zu lebensgefähr- lichen Graden steigern kann. Ob alle diese Formen eine klinische Einheit bilden und allein auf die Giftwirkungen zurückzuführen sind, ist zur Zeit noch zweifelhaft. Im Rückenmark findet man Hinterseitenstrangsklerose, auch zerstreute Herde; der klinische Ausdruck dieser Veränderungen sind gesteigerte Kniereflexe, Lähmung und Schwäche der Beine, spastischer oder spastisch- paretischer Gang.

Durch eine Vermengung des Brotgetreides mit Mutterkorn, entsteht, bei uns glücklicherweise recht selten, der Ergotis- mus, der öfters von psychischen Störungen**) begleitet ist. Bisweilen hat man es dabei anscheinend mit Vergiftungsdelirien zu tun; in der Mehrzahl der Fälle dagegen entwickeln sich länger

*) Lombroso, La pellagra. 1892, deutsch v. Kurella, 1898; Bel- mondo, Rivista sperim. di freniatria, XV, XVI; Tuczek, Klinische und anatomische Studien über die Pellagra. 1893; Finzi, Bollettino del manicomio provinciale di Ferrara, XXIX, 1901 ; v. Zlatarovic, Jahrb. f. Psych. XIX, 283.

**) Siemens, Archiv für Psychiatrie, XI, 1 u. 2; Tuczek, ebenda, XIII, 1; XVIII, 2; Jahrmärker, ebenda, XXXV, 109.

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dauernde Krankheitszustände, die aber bei geeigneter Behand- lung wieder verschwinden können, selbst nach längerer Zeit. Die psychischen Anzeichen sind im allgemeinen Herabsetzung der Verstandesleistungen, mehr oder weniger ausgesprochene Be- wusstseinstrübung bis zur Betäubung, Verlangsamung des Den- kens, Gedächtnisschwäche, Verwirrtheit, daneben häufige Angst- zustände und tiefes Krankheitsgefühl. Bisweilen treten arti- culatorische Sprachstörungen ein; die Patellarreflexe schwinden, um bei günstigem Verlaufe wiederzukehren. Ferner kommt es regelmässig zu epileptischen Krämpfen, unter Umständen zu einer fortschreitenden epileptischen Erkrankung. Durch die Leichenöffnung ist in mehreren Fällen eine Hinterstrangsklerose des Rückenmarks festgestellt worden.

Die bei weitem grösste Rolle bei der Erzeugung von Vergif- tungspsychosen spielen die Genussmittel, von denen für uns der Alkohol*) eine ganz hervorragende Bedeutung besitzt. Die An- gaben über die Häufigkeit, mit welcher der Missbrauch dieses Genussmittels zur Aufnahme in die Irrenanstalt führt, schwanken, je nach dem Volksstamm und den besonderen Verhältnissen, zwischen 10—30, ja bis 40 Prozent aller psychisch Erkrankten. Das männliche Geschlecht ist an der Trunksucht mindestens lOmal so stark beteiligt, als das weibliche; nur in den niederen Gesell- schaftsschichten ist dieses Verhältnis für die Weiber ungünstiger.

Die germanische Rasse scheint, worauf schon die Schilde- rungen des Tacitus hinweisen, in ganz besonderem Masse zum Missbrauche des Alkohols geneigt zu sein. Zu einer rasch an- wachsenden Gefahr, ja zu einer Lebensfrage ist der Alkoholmiss- brauch geworden, seitdem die fortschreitende Technik immer grössere Mengen billigen und konzentrierten Alkohols erzeugt, so dass heute der Schnapsrausch auch dem Ärmsten leicht er- reichbar ist. Unter diesen Umständen hat der Alkoholverbrauch im Laufe der letzten Jahrzehnte fast überall zugenommen. Nur die skandinavischen Länder, welche vor etwa fünfzig Jahren infolge der ungeheuren Ausbreitung des Alkoholismus am Rande des Ab-

*) Baer, Der Alkoholismus. 1878; Die Trunksucht und ihre Abwehr. 1890; Smith, Die Alkoholfrage. 1895; Grotjahn, Der Alkoholismus. 1898; Hoppe, Die Tatsachen über den Alkohol, 2. Aufl. 1901; Matti II e 1 e n i u s , Die Alkoholfrage. 1903.

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grundes standen, haben es vermocht, durch geeignete Massregeln den furchtbaren Feind wirksam zu bekämpfen, so dass sie heute in der Trunksuchtsstatistik mit die günstigste Stelle einnehmen. In den meisten übrigen Ländern und namentlich in Deutschland lässt sich leider ein rasches Anwachsen des Alkoholismus nicht verkennen. Eine besonders verderbliche Rolle scheinen in dieser Richtung die grossen Städte mit ihrer zahlreichen Fabrikbevölke- rung und ihrem Reichtum an Kneipen aller Art zu spielen, der das ohnedies rasch steigende „Bedürfnis“ womöglich noch zu überflügeln sucht. So kommt es denn, dass in Preussen 188 < für Schnaps allein nicht weniger als 221 Millionen Mark, für geistige Getränke überhaupt aber 867 Millionen Mark ausgegeben v. urden, während die gesamten direkten Staatssteuern 150 Millionen Mark, also nur Vs bis Ve dieser Summe betrugen! Der Bierverbrauch ist im Deutschen Reiche zwischen 1872 und 1900 von 81,4 auf 125,0 Liter für den Kopf der Bevölkerung angewachsen. Es gib: nicht wenige Arbeiter in unserem Vaterlande, welche l'i bis 20 Prozent ihres täglichen Arbeitsverdienstes für Alkohol ver- brauchen. Ich kannte einen Sackträger, der jährlich etwa vier- hundert Mark für Alkohol ausgab. Als ein ganz besonders schlim- mes Zeichen muss es angesehen werden, dass in letzter Zeit auch die Beteiligung des weiblichen Geschlechtes an der Trunk- sucht erheblich zuzunehmen scheint.

Die bei weitem verderblichste Form alkoholischen Getränkes ist der Schnaps, besonders der Kartoffelbranntwein, welcher häufig ausser dem Äthylalkohol auch die noch giftigeren höheren Alkohole, namentlich den Amylalkohol, enthält, und der in Süa- frankreich und Oberitalien verbreitete Absinth (ätherisches Öl der Artemisia Absynthium). Im biertrinkenden Süddeutschland und selbst in den Weinländern spielen daher die schweren Formen des Alkoholismus auch nicht im entferntesten die Rolle, wie etwa im Nordosten, wo der Kartoffelfusel das wichtigste alkoholische Genussmittel des Arbeiters bildet. Freilich wird dei ge- ringere Giftgehalt der schwächeren Getränke zumeist durch die grösseren Verbrauchsmengen wieder ausgeglichen. Dennoch scheint die besondere Wirkung des Alkohols mit der Konzen- tration des Getränkes abzunehmen. Dafür macht sich aber bei dem in ungeheueren Mengen genossenen Bier noch eine andere

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Schädlichkeit geltend, die Wirkung der übermässigen Zufuhr kalter Flüssigkeit auf Magen, Nieren, Kreislaufsorgane und Stoff- wechsel.

Die ursächliche Bedeutung des Alkohols für die Erzeugung von Geistesstörungen beruht vor allem auf der durch ihn herbei- geführten Vergiftung der Hirnrinde. Tierversuche haben gezeigt, dass wiederholte Alkoholgaben, die einzeln noch nicht als töd- liche anzusehen sind, ausgebreitete und tiefgreifende Zerstö- rungen an den Nervenzellen der Hirnrinde herbeizuführen ver- mögen. Dieser Befund steht in Übereinstimmung mit psycho- logischen Versuchen, die von Für er*) und Rüdin**) ange- stellt worden sind. Bei denselben ergab sich nämlich, dass sich die Nachwirkung eines mässigen Rausches in dem psychischen Verhalten der Versuchsperson 12—24, unter Umständen sogar 48 Stunden lang deutlich nachweisen Hess. Sie bestand, ganz wie die akute Alkoholwirkung, in einer Herabsetzung der geistigen Leistungsfähigkeit, einer gesteigerten motorischen Erregbarkeit und der Neigung zu gewohnheitsmässigen und Klang- associationen.

Bei dauerndem Gebrauche des Alkohols müssen sich die Wir- kungen der einzelnen Gaben naturgemäss allmählich häufen. In der Tat kann es keinem Zweifel unterliegen, dass sich im Gehirne des Trinkers schliesslich Veränderungen herausbilden, welche den einzelnen Rausch weit überdauern. Bei einem Trinker konnte ich eine starke Herabsetzung der Auffassungsfähigkeit, wahr- scheinlich verbunden mit erhöhter psychomotorischer Erregbar- keit, vierzehn Tage nach dem Beginne vollständiger Enthaltsam- keit nachweisen. Wie schnell solche Veränderungen zu stände kommen, lässt sich von vornherein schwer sagen; sicherlich wird hier die persönliche Widerstandsfähigkeit eine erhebliche Rolle spielen. Immerhin hat Smith***) den Nachweis geführt, dass eine tägliche Alkoholmenge, die etwa zwei Litern Bier entsprach, bereits vom zweiten Tage an eine dauernde Herabsetzung der

*) Für er, Bericht über den V. int er na t. Kongress zur Bekämpfung des Missbrauchs geistiger Getränke in Basel, 1896, 355.

**) R ü d i n , Psychologische Arbeiten, IV, 1 u. 495.

***) Smith, Bericht über den V. internat. Kongress zur Bekämpfung des Missbrauchs geistiger Getränke in Basel, 1896, 341.

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geistigen Leistungsfähigkeit bewirkte. Sobald nach zwölf Tagen der Alkoholgenuss ausgesetzt wurde, verlor sich diese Schädigung freilich sofort; allein, als sieben Tage später von neuem Alkohol genommen wurde, trat nunmehr die Wirkung des Giftes bereits am ersten Tage mit voller Deutlichkeit wieder hervor. Ganz ähnliche Yersuchsergebnisse erhielt Kürz*). Diese nunmehr bei vier Personen übereinstimmend gewonnenen Erfahrungen sprechen dafür, dass eine dauernde Nachwirkung des regel- mässigen Alkoholgenusses schon nach verhältnismässig sehr kurzer Zeit sich einstellen kann. Freilich mag dieselbe lange äusserst geringfügig bleiben dennoch dürften die mitgeteilten Versuche geeignet sein, uns einen Einblick in die ersten leisen Anfänge des chronischen Alkoholismus zu gewähren.

Sie geben uns zugleich, wie ich denke, einen Anhaltspunkt für die Beantwortung der wichtigen Frage: Wer ist als Trinker zu betrachten? Da die dauernden Wirkungen des Alkohols sich bei regelmässigem Gebrauche desselben sehr rasch einstellen, wenn die Zwischenzeit zwischen zwei mittleren Gaben weniger als ein bis zwei Tage beträgt, so kommen wir zu dem Schlüsse, dass sich wahrscheinlich bei der Mehrzahl derjenigen Personen, welche täglich 80—100 gr Alkohol zu sich zu nehmen, Andeutungen psychischer Veränderungen werden nachweisen lassen. Dafür spricht auch die Erfahrung, dass vielfach das Aufgeben eines mässigen täglichen Alkoholgenusses bereits eine deutlich merk- bare Besserung der gesamten Leistungsfähigkeit und des All- gemeinbefindens zur Folge hat. Über die Rolle, welche der Ge- wöhnung bei regelmässigem Alkoholgenusse zukommt, ist noch wenig Sicheres bekannt. Es scheint nicht, als ob die Dauer der Enthaltsamkeit bei vorher mässigen Personen einen wesent- lichen Einfluss auf die Empfindlichkeit gegen den Alkohol hat. Dagegen steht die Abnahme der akuten Alkoholwirkungen bei regelmässigem Trinken wohl ausser Zweifel; andererseits nimmt bei alten Säufern die Empfindlichkeit gegen das Gift wieder zu. Im Hinblicke auf die bei anderen Giften noch viel ausgeprägteren Gewöhnungserscheinungen werden wir wohl annehmen dürfen, dass es sich dabei um dauernde Nachwirkungen des Alkohols in

*) Kürz und K r a e p e 1 i n , Psychologische Arbeiten, III, 417.

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unserem Nervengewebe handelt, die nicht, wie die Folgen der Übung, eine Kräftigung bedeuten, sondern, wie die Unempfind- lichkeit gegen Morphium, als krankhafte Veränderungen auf- gefasst werden müssen.

Bei schwererem und lange dauerndem Alkoholmissbrauche stellen sich regelmässig ausser den Wirkungen auf Gehirn und Seelenleben auch mehr oder weniger ausgebreitete Veränderungen in den verschiedensten Organen des Körpers ein; namentlich die Blutgefässe werden verhältnismässig früh in Mitleidenschaft ge- zogen. Es kommt auf diese Weise schliesslich zu einem schweren Siechtum, welches nur sehr langsam und nur bis zu einem gewissen Grade der Rückbildung noch fähig ist. Ganz besonders folgen- schwer wird diese Allgemeinerkrankung durch den Umstand, dass sie anscheinend einen äusserst verderblichen Einfluss auf die Nachkommenschaft auszuüben imstande ist. D e m m e *) hat zur näheren Beleuchtung dieser Frage im Laufe von zwölf Jahren die Kinder in zwei Gruppen von je zehn Familien unter- sucht. In den ersten dieser Gruppen waren die Eltern Trinker, in der anderen nüchterne Leute. Auf die Trinkergruppe entfielen insgesamt 57 Kinder; von denselben waren nur 10, also 17,5 Pro- zent, völlig normal. Die übrigen litten an verschiedenartigen, auf eine Entartung hinweisenden Leiden, Missbildungen, Zwergwuchs, Veitstanz, Epilepsie, Idiotie; 25 Kinder starben in den ersten Lebensmonaten. Aus den nüchternen Familien gingen 61 Kinder hervor. Von diesen starben nur 5; 4 Kinder litten später an Krankheiten des Nervensystems, 2 an Bildungsfehlern. Der Rest von 50 Kindern dagegen, mithin 81,9 Prozent, war und blieb völlig gesund. Diese Erfahrungen zeigen auf das schlagendste, dass die chronische Alkoholvergiftung nicht nur den Einzelnen vernichtet, sondern auch dem kommenden Geschlechte schon im Keime den Stempel der Entartung aufdrückt.

Eine weitere Erläuterung dieses Satzes gibt uns die Tatsache, dass 30 40 Prozent der Trinker von trunksüchtigen Eltern ab- stammen. Ferner lässt sich nachweisen, dass 20 30 Prozent der Epileptiker und Idioten und ein noch grösserer Anteil der Verbrecher, Zwangszöglinge und Strassendirnen trunksüchtige

*) Über den Einfluss des Alkohols auf den Organismus der Kinder. 1891.

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Erzeuger hatten. Auch die Fähigkeit zum Stillen soll nach Bunges Untersuchungen in Trinkerfamilien erlöschen. Durch alle diese Erfahrungen gewinnt die alte Behauptung, dass im Bausch erzeugte Kinder entarten, neue Stützen, ja, es ist schon darauf hingewiesen worden, dass die bekannte körperliche und o-eistige Minderwertigkeit der unehelich Geborenen zum Teil viel- leicht auf der häufigen Mitwirkung des Alkohols bei ihrer Erzeugung beruhen könne.

In seiner verhängnisvollen Einwirkung auf den Einzelnen unu sein ganzes Geschlecht wird der Alkohol zumeist noch unter- stützt durch eine Anzahl ähnlicher Schädlichkeiten, die mit aem Missbrauche jenes Genussmittels Hand in Hand zu gehen pflegen. Der Schnaps ist vorzugsweise das Getränk des armen Mannes, der von ihm Anregung und Erwärmung erwartet, ja dem er zum Teil die Nahrung ersetzen soll; die tägliche Not des sozialen Elendes, der Armut, ungenügende Ernährung, schlechte, hygie- nische Verhältnisse u. s. f. ebnen seinem Einflüsse hier den Weg. So kommt es, dass der anfangs nur aus bestimmtem An- lasse, nach starker Anstrengung, am Lohntage oder in veriuhre- rischer Gesellschaft genossene Schnaps allmählich zum Lebens- bedürfnisse wird, und der Gewohnheitstrinker nun regelmassig, Tag für Tag, bei und nach der Arbeit wie an den Sonntagen, zu Hause wie in der Kneipe zum Alkohol greift. Umgekehrt aber ist es gerade der Alkohol, der durch seine vernichtenden V irkungen auf das körperliche, geistige und soziale Wohlergehen des Trinkers mit Notwendigkeit den wirtschaftlichen Zusammenbruch herbei- führt und auf diese Weise einen Kreislauf herstellt, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt. Die Gefahr, auf diese schiefe Ebene zu geraten, ist wegen der anheiternden Wirkungen des Alkohols und wegen der überall bereiten, zur Volksunsitte gewordenen Verführung weit grösser, als gemeinhin angenommen wird. Leider können wir unserer Gesetzgebung den schweren Vorwurf nicht ersparen, nahezu untätig dem Anwachsen der Trunksucht gegen- überzustehen, ja dasselbe durch liebevolle Begünstigung der ver- schiedenen Alkoholgewerbe geradezu zu fördern. Sie folgt damit allerdings nur dem Beispiele der „öffentlichen Meinung“, welche in Deutschland das Recht auf den Trunk unter allen Umstanden gesichert wissen will. Selbst in den Kreisen dei Arzte, die aus

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vielfältiger trauriger Erfahrung die zerstörende Wirkung des Alkohols genugsam kennen sollten, wird dieser schlimmste Feind unseres Volkes in unbegreiflicher Gedankenlosigkeit noch viel- fach als Stärkungsmittel für Schwache und gar für Kinder angepriesen.

Es mag immerhin zugegeben werden, dass die nachteiligen Folgen eines mässigen Alkoholgenusses und selbst eines gelegent- lichen Übermasses von kräftigen Naturen ohne schwere Schädi- gung ertragen werden. Allein die Zahl derjenigen, welche infolge ihrer schwächeren Veranlagung oder ungünstiger Verhältnisse tagtäglich durch den Alkohol um Gesundheit und Lebensglück gebracht werden, ist wahrlich übergross ! Die Mitschuld fällt auf uns alle. Niemand wird leugnen wollen, dass in den gebildeten Kreisen kaum weniger als in den breiten Massen unseres Volkes der Alkoholmissbrauch mit einer Nachsicht geduldet, ja mit einem Wohlwollen gezüchtet wird, welches als eine der wichtigsten Ur- sachen für die gewaltige, verderbenbringende Macht jener Volks- seuche betrachtet werden muss. Alljährlich zahlen wir nicht nur an Landstreichern und Tagedieben oder ähnlich wertlosem Menschenmateriale, sondern auch an tüchtigen, ja hochbegabten Naturen dem Gifte einen reichen Tribut. Freilich sind es vor- zugsweise haltlose und schwache Persönlichkeiten, die dem Ein- flüsse des Alkohols unterliegen, aber wir dürfen dabei nicht ver- gessen, dass dieses Gift gerade selbst den Willen und die Wider- standskraft des Menschen vernichtet und sich auf diese Weise die günstigen Bedingungen schafft, welche ihm den endlichen Sieg ermöglichen.

Die psychischen Störungen, welche der Alkoholmissbrauch erzeugt, sind ausser dem Rausche und dem alkoholischen Schwachsinn vor allem das Delirium tremens, ferner die Alko- holwahnsinn, der Verfolgungswahn der Trinker und gewisse Formen der Korssakowschen Geistesstörung. Ausserdem pflegt der Alkohol bei frischen Aufregungszuständen verschie- denster Art, besonders bei manischen und paralytischen Kranken, eine rasche und sehr erhebliche A'erschlimmerung aller Erschei- nungen herbeizuführen; bei epileptischer Veranlagung können unter Umständen selbst mässige Alkoholmengen die schwersten psychischen Störungen auslösen. Zu beachten ist indessen, dass

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häufig die Neigung zum Alkoholmissbrauche nicht sowohl die Ursache, sondern vielmehr ein Zeichen des ausgebrochenen Irre- seins darstellt.

Dem Alkohol stehen chemisch sehr nahe der Äther*) und das Paraldehyd **). Der erstere ist schon seit längerer Zeit in Irland und neuerdings auch in Ostpreussen in grösserem Massstabe als billiges Ersatzmittel für den Alkohol in Gebrauch, meist mit Branntwein gemischt; hie und da wird er auch ein- geatmet. Wie S o m m e r mitteilt, wurden im Kreise Memel schon im Jahre 1897 nicht weniger als 8580 Liter Äther zu Trink- zwecken verkauft. Der Äther berauscht stärker, als der Alko- hol; er scheint gerade wie jener ein dauerndes Siechtum mit Erkrankung der Nieren, der Leber und Verfettung des Herzens herbeizuführen. Auch das Petroleum und das Benzin sind bisweilen als Genussmittel zur Erzeugung von Rauschzuständen benutzt worden, seltener das Chloroform.

Die Wirkung des Paraldehyd auf das Seelenleben ist der- jenigen des Alkohols sehr ähnlich. Nur erreicht die lähmende Wirkung auf Auffassung und Denken viel rascher sehr hohe Grade, während die psychomotorische Erregung, die beim Alkohol so stark ausgeprägt ist, verhältnismässig geringfügig bleibt. Aus diesen Gründen findet das Paraldehyd im allgemeinen nur als Schlafmittel, nicht als Genussmittel Anwendung. Es sind je- doch Fälle bekannt geworden, in denen eine allmählich ein- tretende Gewöhnung zur dauernden Anwendung sehr hoher Gaben, bis zu 30 und 40 gr im Tage, und damit zu einem dem chro- nischen Alkoholismus entsprechenden Siechtume geführt hat. Die Erscheinungen waren Schwinden der Esslust, Sinken der Ernährung, Abnahme des Gedächtnisses und der geistigen Lei- stungsfähigkeit, Zittern. Einige Male wurden . Zustände be- obachtet, die genau dem Delirium der Trinker glichen.

Eine chronische Vergiftung, die zwar weniger verbreitet ist, als der Alkoholismus, aber dafür noch immer erschreckend zu- nimmt, haben uns die letzten Jahrzehnte in der Morphium- sucht kennen gelehrt, wie sie sich bei lange fortgesetztem

*) Sommer, Neurol. Centralblatt, XVIII, 194. 1899.

**) Rein hold, Therap. Monatshefte, 1897, Juni.

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Gebrauche von Morphiumeinspritzungen entwickelt. Auch beim Morphium begegnen wir im allgemeinen einer Verbindung von lähmenden und erregenden Wirkungen des Giftes auf die Hirnrinde; wie es indessen scheint, betreffen die ersteren mehr die Willensantriebe, die letzteren mehr die Auffassung und die Verstandesleistungen. Da das anfängliche Wohlbehagen schon nach einigen Stunden einer sehr quälenden Erschlaf- fung und Niedergeschlagenheit weicht, die nur durch das Mittel selbst wieder beseitigt werden kann, so bildet sich überall dort, wo dem Kranken das Morphium zugänglich ist, ein be- ständiger Wechsel zwischen scheinbarem Wohlbefinden unter dem Einflüsse des Giftes und jenem unangenehmen Nachstadium des morphinistischen Katzenjammers heraus. Dazu kommt, dass mit der Zeit eine wachsende Gewöhnung an das Mittel eintritt, die gebieterisch eine oft ins Unglaubliche gehende Erhöhung der Gabe fordert. Auf diese Weise entsteht das Bild des chronischen Morphinismus mit seinen schweren Folgen für die körperliche, geistige und sittliche Leistungsfähigkeit, mit dessen Betrachtung im einzelnen wir uns späterhin noch sehr eingehend zu beschäf- tigen haben werden. Ihm entspricht offenbar in allen wesentlichen Zügen dasjenige der Opiophagie, wie sie in Ostasien so weit ver- breitet ist, doch scheint das Opium mehr, als das Morphium, die Entstehung heiterer, farbenreicher Traumzustände zu begünstigen.

Zur Milderung der Entziehungserscheinungen bei der Mor- phiumentwöhnung ist in neuerer Zeit das Co ca 'in vielfach in Anwendung gezogen worden. Nur zu bald hat sich indessen heraus- gestellt, dass dieses Mittel noch schlimmere Gefahren mit sich führt, als das Morphium. Der psychische Verfall des Cocainisten schreitet weit rascher fort, als derjenige des Morphinisten, ja auch des Trinkers, und führt sehr bald zu hochgradigster Ab- schwächung der gesamten psychischen Leistungs- und Wider- standsfähigkeit mit den Erscheinungen psychomotorischer Er- regung. Ausserdem aber entwickelt sich unter dem Einflüsse jenes Giftes ein eigenartiges Krankheitsbild, der Cocainwahn- sinn. In ihrem Heimatlande Peru ist die Coca ein beliebtes Genussmittel; auch dort sind die schweren Folgen des regel- mässigen Cocagebrauches für die leibliche und geistige Gesund- heit hinlänglich bekannt.

Kraepelin, Psychiatrie. I. 7. Aufl.

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In grösster Ausdehnung wird ferner in Vorderasien und Nord- afrika das Haschisch geraucht. Warnock*) berichtet, dass in die Anstalt bei Kairo von 253 aufgenommenen Kranken 80, darunter nur 5 Frauen, durch Haschisch vergiftet waren. Er unterscheidet einmal die akuten, traumhaften Haschischdelirien, dann länger dauernde ängstliche Erregungszustände und endlich Verblödungszustände mit grosser Willensschwäche und erhöhter gemütlicher Reizbarkeit. Ähnliche Erkrankungen scheint das in Nordsibirien gewohnheitsgemäss genossene Gift des Fliegen- schwammes zu erzeugen.

Von den Arzneimitteln geben vielleicht die Bromsalze am häufigsten Anlass zu psychischen Störungen. Zu lange fort- gesetzte Anwendung derselben bewirkt eine Abschwächung der psychischen Leistungen bis zur völligen Stumpfheit mit gleich- zeitigen nervösen Lähmungserscheinungen. Dazu gesellen sich Verdauungsstörungen, bronchitische Erkrankungen und die be- kannte Acne. Der hie und da beobachtete Missbrauch des S u 1 - fonals führt zu bedeutender Verlangsamung der Auffassung und des Denkens, Unbesinnlichkeit, Verworrenheit, Schläfrigkeit; zugleich stellen sich Schwindel, Ataxie, Schwäche in den Beinen, epileptiforme Anfälle, Parästhesien, ferner Übelkeit, Erbrechen und Verdauungsstörungen ein. Nach Jodoform gebrauch**) ist ängstliche, weinerliche Unruhe beobachtet worden, die sich bis zu deliranter Verwirrtheit mit Sinnestäuschungen steigern kann; ob bei den übrigen auf Jodoformwirkung zurückgeführten Krankheitsbildern der ursächliche Zusammenhang sicher ist, er- scheint mir zweifelhaft. Vereinzelte Fälle von Vergiftungsdelirien liegen ferner vor bei Atropin, Chinin, Salicylsäure, Leuchtgas, Schwefelwasserstoff, Stickstoffoxy- dul u. s. f.

Grössere praktische Bedeutung haben gewisse Vergiftungen, die als Gewerbekrankheiten auftreten. Dem Quecksilber, wie es in Bergwerken, Spiegelfabriken, unter Umständen auch bei antiluetischen Kuren, massenhaft aufgenommen wird, schreibt man Geistesstörungen zu mit sehr erhöhter Reiz-

*) Warnock, Journal of mental Science, Januar 1903, 96.

**) Schlesinger, Allgem. Zeitschr. f. Psych. LIV, 6.

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barkeit, Schreckhaftigkeit, Verlegenheit, Verwirrtheit, Sinnes- täuschungen, ängstlichen Träumen und Schlaflosigkeit. Auf dieser Grundlage sollen dann weiterhin Aufregungszustände verschiedener Art oder aber eine allmähliche Abnahme aller psychischen Leistungen zur Entwicklung gelangen, Schwäche des Gedächtnisses und Urteils, Gemütsstumpfheit und Willen- losigkeit. Die besonders bei Malern, Giessern und Schriftsetzern beobachtete „Encephalopathia saturnin a“*) erzeugt ein- mal akut verlaufende Bleidelirien mit tiefer Bewusstseinstrübung und Sinnestäuschungen, sodann aber ausgeprägte psychische Schwächezustände mit Abnahme des Gedächtnisses, gemütlicher Stumpfheit, Angstgefühlen, Verfolgungsideen, Selbstmordneigung und Ausbrüchen von Gewalttätigkeit. Dazu gesellen sich Kopf- schmerzen, epileptische Krämpfe, Muskelzuckungen, Zittern, Sprachstörung, Radialislähmung und die sonstigen bekannten Zeichen der chronischen Bleivergiftung. Die Nervenzellenverände- rungen bei rascher Einfuhr von Blei hat N i s s 1 näher verfolgt.

Die Vergiftung mit Phosphor scheint nach meinen Beobachtungen in den letzten Lebenstagen deliriöse Zustände mit Verworrenheit, Stimmungswechsel und ausgeprägt para- phasischen Reden unter Übergang in tiefstes Koma erzeugen zu können. Die Rindenzellen zeigen sich in der Weise ver- ändert, dass sich die nicht färbbare Substanz sehr stark färbt, der feinere Aufbau sich verwischt, der Umriss des Kernes undeutlich wird; schliesslich verschwinden die Zellen ganz, oder sie bleiben als schattenartige Gebilde ohne deut- liche Gliederung in ihren früheren Umrissen noch annähernd erkennbar. Das Kohlenoxydgas**), das den Sauerstoff aus dem Hämoglobin verdrängt und Stauungen, Blutungen und Er- weichungsherde im Hirn herbeiführt, erzeugt einmal schwere Ver- worrenheit mit Delirien und Erinnerungsverlust, der vielfach auf die Zeit vor der Vergiftung zurückgreift. Sodann aber kann sich einige Tage nach der Erholung aus diesem Zustande ein geistiger Schwächezustand entwickeln, der namentlich durch hochgradige Gedächtnisschwäche neben Unklarheit und Stumpfheit gekenn-

*) Jolly, Chariteannalen, XIX; Probst, Monatsschr. f. Psych., IX, 444; Quensel, Archiv f. Psychiatrie, XXXV, 612.

**) Greidenberg, Annales medico-psych., VIII, 12, 58, 1900.

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zeichnet ist und unter Umständen unheilbar wird. Halbseitige Schwäche, Erschwerung der Sprache, Unsicherheit der Bewe- gungen, Steigerung der Reflexe weisen dabei auf greifbare Ilirn- schädigungen hin.

Eine ganz besondere Bedeutung für die Entstehung von Geisteskrankheiten ist auch dem Schwefelkohlenstoff *) zugeschrieben worden, der neben Verdauungsstörungen Kopf- schmerzen, Schlaflosigkeit, Gedächtnisschwäche und neuritische Erscheinungen hervorzurufen vermag. Eine ganze Reihe ver- schiedenartiger, zum Teil selbst unheilbarer Psychosen soll durch die Einatmung der Dämpfe jenes Stoffes in Gummifabriken erzeugt werden. Abgesehen indessen von gewissen rauschartigen, raach verlaufenden Erregungszuständen, entsprechen die bisher bei Schwefelkohlenstoffarbeitern beobachteten psychischen Störungen im allgemeinen völlig solchen Krankheitsbildern, die wii auch ohne Giftwirkung auftreten sehen, namentlich der Hysterie und der Dementia praecox. Der Nachweis, dass die Schwefelkohlen- stoffvergiftung hier mehr als eine Gelegenheitsursache gewesen sei, scheint mir daher noch nicht erbracht zu sein. Endlich liegen noch einige Beobachtungen von plötzlichen rauschartigen Er- regungszuständen nach Vergiftungen durch Anilin, Binitro- toluol und To luidin**) vor.

Organerkrankungen. Einer der schwierigsten und umstritten- sten Abschnitte in der Ätiologie der Psychosen ist die Lehre von dem Einflüsse der Organerkrankungen. Hier ist der Zusammen- hang naturgemäss stets ein sehr verwickelter, selbst durch grosse Zahlen nicht immer sicher nachweisbarer, so dass die Deutung der einzelnen Erfahrung bis zu einem gewissen Grade zumeist dem persönlichen Ermessen des Beobachters überlassen bleibt. Unter den Erkrankungen der Sinnesorgane sind es namentlich Ohrenleiden, welchen ein Einfluss auf die Entstehung von Psy- chosen zuzukommen scheint. Einerseits findet man bei lange dauernden Gehörstäuschungen häufiger alte Mittelohr erkrankungen

*) H a m p e , Über die Geisteskrankheiten infolge Schwefelkohlenstoff- vergiftung. 1895; Reynolds, Journal of mental Science, XLII, 25; Lau- denheimer, Die Schwefelkohlenstoffvergiftung der Gummiarbeiter. 1899; Köster, Archiv f. Psycli., XXXII, 569, 903.

**) Friedländer, Neurol. Centralblatt, XIX, 155, 294, 1900.

Organerkrankungen.

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mit Veränderungen der elektrischen Akusticusreaktion, so dass man sich der Annahme eines gewissen Zusammenhanges nicht wohl erwehren kann; der Beeinträchtigungswahn solcher Kranker erinnert geradezu an das bekannte Misstrauen der Schwerhörigen. Sodann sieht man bisweilen bestehende subjektive Geräusche mit der Entwicklung psychischer Störungen sich verschlechtern und wieder bessern (gemeinsame Ursache?). Endlich hat man hier und da auch ängstliche Aufregungszustände bei akuteren oder bei Verschlimmerung chronischer Ohrenleiden beobachtet. Augen- erkrankungen pflegen, soweit sie nicht Teilerscheinungen eines Gehirnleidens sind, in keiner näheren Beziehung zum Irresein zu stehen.

Von den Lungenleiden haben wir die Tuberkulose und die akuten fieberhaften Erkrankungen schon oben erwähnt; es lässt sich über sie weiter nicht viel sagen, als dass die Verkleine- rung der Atmungsfläche mit ihren Folgen für den Gasaustausch, dann aber die Beklemmungsgefühle bei emphysematischen und namentlich asthmatischen Beschwerden wohl auch auf den Ab- lauf der psychischen Vorgänge einigen Einfluss gewinnen können.

Herzleiden*) scheinen bei Geisteskranken etwas häu- figer vorzukommen, als sonst; sie dürften einmal (bei Hyper- trophie des linken Ventrikels) durch gelegentliche Blutwallungen, dann aber (bei unausgeglichenen Klappenfehlern, bei Perikarditis und Entartung des Herzmuskels) durch venöse Stauungen und allgemeine Abschwächung des Blutkreislaufes von Bedeutung wer- den. Als Andeutung derartiger Einwirkungen darf wohl schon die in der Gesundheitsbreite gelegene, bekannte gemütliche Reizbar- keit Herzkranker gelten. Dass ausserdem die Beklemmungs- gefühle und das Herzklopfen nicht ohne Einfluss sind, ist sehr wahrscheinlich. Smith hat bei Angstzuständen und Verstim- mungen verschiedener Art, namentlich auch unter dem Einflüsse des Alkohols, sehr erhebliche Erweiterungen des Herzens be- schrieben, doch wird abzuwarten sein, ob seine Befunde sich bestätigen und wie weit sie ursächliche Bedeutung haben. Jeden-

*) Witkowski, Allgemeine Zeitschrift f. Psychiatrie, XXXII, 347; Karrer in Hagen, Statistische Untersuchungen über Geisteskrankheiten. 1876; Reinhold, Münchner Medizin. Wochenschr., 1894, 16.

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I. Die Ursachen des Irreseins.

falls isfc nicht ausser acht zu lassen, dass viele Störungen der Herztätigkeit nicht Ursache, sondern Begleiterscheinung oder Folge der Geisteskrankheit sein dürften. So fand R e i n h o 1 d namentlich bei Melancholischen ungemein häufig leichtere Ab- weichungen, Fehlen oder Abschwächung des Spitzenstosses, Ver- breiterung der Herzdämpfung, Beschleunigung der Herztätigkeit, Veränderungen an den Herztönen, die er als die W irkungen des körperlichen Allgemeinleidens auf fasst, welches der psychischen Verstimmung zu Grunde liegt. Er denkt dabei geradezu an \ er- giftungserscheinungen durch Stoffwechselprodukte. Auch bei der Dementia praecox ist Beschleunigung oder starke Verlangsamung der Herztätigkeit sehr gewöhnlich, während bei den psychogenen Erkrankungen besonders die Erregbarkeit des Herzens erhöht zu sein pflegt. Dass greifbare Schädigungen des Herzmuskels beim Alkoholismus, bei der Paralyse, bei den Geistesstörungen der höheren Lebensalter sehr häufig sind, lehrt der Leichenbefund.

Recht ungenügend bekannt ist bisher die Bedeutung dei Gefässerkrankungen bei Psychosen. Früher war man ge- neigt, möglichst viele Formen des Irreseins auf Lähmung oder Krampf von Hirngefässen und dadurch bewirkte Störungen der Ernährung in einzelnen Rindengebieten zurückzuführen. Neuer- dings wird mehr den eigentlichen Erkrankungen der Gefässe eine wichtige Rolle zugeschrieben, namentlich den luetischen und den arteriosklerotischen Veränderungen. Die Verdickung und Er- starrung des Gefässrohres, der Verlust der Elastizität, unter Um- ständen auch die Verengerung seines Innenraumes, die ^ er- stopfung sollen die Blutversorgung erschweren oder aufheben, während die Bildung von kleinen Ausbuchtungen, die Blutaustritte das Hirngewebe unmittelbar zerstören können. Es unterliegt keinem Zweifel, dass ausgebreitete Gefässerkrankungen verschie- dener Art bei der Hirnlues, beim chronischen Alkoholismus, bei der Paralyse, beim Altersblödsinn und bei den arteriosklerotischen Geistesstörungen regelmässig gefunden werden. Wie weit sie aber Ursachen und wie weit sie nur Begleiterscheinungen jener Krankheitsvorgänge sind, lässt sich zur Zeit noch nicht erkennen. Soweit die Intima der Gefässe mit erkrankt, ist wohl auch daran zu denken, dass der Stoffwechsel des Blutes selbst gestört wird, zumal die Veränderungen sich in der Regel über weite Gefäss-

Organerkrankungen.

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gebiete auch in anderen Teilen des Körpers zu erstrecken pflegen.

Die Zeichen erhöhter vasomotorischer Erregbarkeit, leichtes Erröten, Dermatographie bis zur Quaddelbildung, begegnen uns bei verschiedenen Formen des Irreseins, namentlich bei der Paralyse, der Dementia praecox und bei der Schreckneurose. Bei katatonischen Kranken entwickeln sich im Stupor ungemein häufig die allerstärksten Grade der Cyanose. Da diese Störung durchaus keine klaren Beziehungen zu dem Grade der Bewegungslosigkeit zeigt und bei anderen Stuporformen weit weniger hervortritt, haben wir es hier schwerlich mit mechanisch bedingten Stau- ungen, sondern wohl mit Gefässlähmung inneren Ursprunges, viel- leicht auch mit Veränderungen im Blute selbst zu tun. Lange fortdauernde Schwankungen des gemütlichen Gleichgewichtes scheinen die Entwicklung von Gefässerkrankungen zu begün- stigen, möglicherweise nach Thomas Annahme in der Weise, dass die Muskelwand der Gefässe durch die häufigen Änderungen der Gefässweite geschädigt werden. Vielleicht spielt dieser Um- stand beim manisch-depressiven Irresein und bei der Schreck- neurose eine Rolle, in deren Verlauf gern arteriosklerotische Veränderungen auftreten.

Eine sehr weitgehende ursächliche Bedeutung hat man von jeher den Erkrankungen der V erdauungswerkzeuge zu- geschrieben; namentlich in der älteren Psychiatrie spielten die Hämorrhoiden, die Stauungen im Pfortadersystem, die „Verstim- mungen“ der Unterleibsgeflechte eine sehr grosse Rolle. In der Tat ist schon der Einfluss leichter Verdauungsstörungen auf das allgemeine psychische Wohlbefinden, namentlich bei nervös ver- lagten Personen, ein ganz unverkennbarer*). Es scheint sich bei diesem Zusammenhänge einerseits um die psychische Wirkung unangenehmer, dauernder Organgefühle, dann aber um Selbst- vergiftungen oder vielleicht auch um Störungen der allgemeinen Blutverteilung durch Stauungen im Unterleibe zu handeln. Für letztere Erklärung spricht die bekannte Erfahrung von Nicolai (des „Proktophantasmisten“ aus Goethes Walpurgisnacht), dessen Hallucinationen durch eine Blutentziehung am After ver-

*) Herzog, Archiv f. Psych., XXXI, 170.

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I. Die Ursachen des Irreseins.

schwanden. Bei chronischen Magen- und Darmleiden kommt als wichtiger Umstand noch die empfindliche Beeinträchtigung der allgemeinen Ernährung hinzu. Verdauungsstörungen, namentlich Verstopfung, sind bei frischen Geisteskrankheiten ungemein häufig, besonders in Depressionszuständen aller Art, aber sie sind sicher- lich vielfach als Folge der psychisch bedingten Unregelmässig- keiten in der Nahrungsaufnahme und nicht als Ursache derselben anzusehen. Allerdings hat Wagner*) bei gewissen akuten Geistesstörungen eine Selbstvergiftung durch Zersetzungsstoffe vom Darm aus angenommen; er fand dann Aceton und eine Reihe weiterer krankhafter Bestandteile im Harn, auch Vermehrung der Indicanausscheidung. Bei schwerem Darniederliegen aller psy- chischen Leistungen scheint häufiger Herabsetzung der Salzsäure- abscheidung im Magen vorzukommen; auch starke Schwankungen des Salzsäuregehaltes im Magensafte sind bei verschiedenartigen Geistesstörungen nicht selten**). Mangelhafte Verarbeitung der Nahrung müssen wir wohl in jenen hie und da beobachteten fällen annehmen, in denen trotz massenhafter Speisenzufuhr bei wahrem Heisshunger das Körpergewicht sich durchaus nicht heben will. Meist handelt es sich um Paralytiker und Katatoniker. Parasiten im Darm können anscheinend bei Kindern deliriöse Erregungs- zustände, auch Pruritus in den Genitalien und allerlei Stimmungs- anomalien herbeiführen. Im ganzen wissen 'wir über alle diese Verhältnisse sehr wenig Sicheres.

Unter den Nierenerkrankungen ***) dürften haupt- sächlich diejenigen in Anschlag zu bringen sein, die zur Ent- stehung von akuten oder chronischen urämischen "Vergiftungen Anlass geben. Eiweiss im Harn sieht man vorübergehend oder dauernd namentlich bei Trinkern und Paralytikern auftreten. Von dem Bestehen eines klar gekennzeichneten „urämischen Irre- seins“, ausser den früher erwähnten deliriösen Zuständen, habe ich mich jedoch noch nicht überzeugen können.

*) Wagner, Wiener klinische Wochenschrift. 1896.

**) Leubuscher und Ziehen, Klinische Untersuchungen über die Salzsäureabscheidung des Magens bei Geisteskranken. 1892.

***) Hagen, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XXXVIII, 1 ; V a s s a 1 e , Eivista sperimentale di freniatria, XVI, 1890; Auerbach, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LII, 337.

Organerkrankungen.

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Weitaus die grösste Bedeutung für die Entstehung des Irre- seins ist von seiten der Irrenärzte den krankhaften Vorgängen in den Geschlechtsorganen zugeschrieben worden. Ins- besondere hat der bessernde Einfluss gynäkologischer Eingriffe auf manche nervösen und psychischen Störungen zu der Ansicht geführt, dass Lageveränderungen des Uterus, Erosionen am Mut- termund, Erkrankungen der Ovarien und Tuben, Pruritus vulvae, Vaginismus unter Umständen psychische Störungen zu erzeugen imstande seien.*) Als der klinische Ausdruck dieser Wirkungen wurde, ja wird vielfach heute noch das formenreiche Krankheits- bild der Hysterie betrachtet. Gerade hier sehen wir eben häufig genug überraschende Besserungen, wahre Wunderkuren, durch Beseitigung der verschiedenartigsten leichteren oder schwereren Störungen eintreten. Es lässt sich nicht in Abrede stellen, dass es sich bei den wohltätigen Folgen körperlicher Eingriffe öfters um die Beseitigung bestimmter schädlicher Reizwirkungen auf ein krankhaft empfindliches Nervensystem handelt. Wir wissen je- doch andererseits sicher, dass bisweilen der gleiche Erfolg durch ganz andere, selbst unsinnige Mittel erreicht werden kann. Daraus geht hervor, dass wir es in derartigen Fällen wesentlich mit psychischen Wirkungen zu tun haben. Auch die Entstehung der Krankheitserscheinungen wird damit natürlich auf das psy- chische Gebiet verlegt.

In der Tat können wir heute auf Grund unserer klinischen Erfahrung mit Sicherheit sagen, dass Erkrankungen der weib- lichen Geschlechtsorgane nur dann zum Irresein führen, wenn bereits eine krankhafte Veranlagung, den Boden genügend vor- bereitet hat. Aus diesem Grunde tragen die so entstehenden Geistesstörungen auch durchaus kein einheitliches klinisches Ge- präge; dieses letztere ist vielmehr ganz abhängig von der Kon- stitution des Erkrankenden. Meist wird es sich daher um eine der vielen Formen des Entartungsirreseins handeln. Beachtens- wert ist übrigens für diese ganze Frage auch der Umstand, dass

*) L. Mayer, Die Beziehungen der krankhaften Zustände und Vor- gänge in den Sexual Organen des Weibes zu Geistesstörungen. 1869; He gar, Der Zusammenhang der Geschlechtskrankheiten mit nervösen Leiden und die Kastration bei Neurosen. 1885; K r ö m e r , Beitrag zur Kastrationsfrage, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LII, 1.

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I. Die Ursachen des Irreseins.

die schwersten Erkrankungen der Geschlechtsorgane, die bös- artigen Geschwülste, verhältnismässig selten Anlass zu Geistes- störungen zu geben scheinen. Allenfalls beobachten wir bei ihnen jene Formen des Irreseins, die auch sonst bei schweren Ernährungsstörungen zur Entwicklung gelangen. Den Geschlechts- leiden bei Männern scheint eine irgend erhebliche ursächliche Bedeutung für das Irresein nicht zuzukommen.

Geschlechtsleben und Fortpflanzungsgeschäft. Die nahen Be- ziehungen, in welchen das Geschlechtsleben*) zu den psychischen Zuständen des Menschen steht, wird deutlich genug durch die eigentümlichen Wandlungen der Entwicklungsjahre und der Rück- bildungszeit wie durch die Schwankungen des gemütlichen Gleich- gewichtes bezeugt, die schon beim Gesunden den Ablauf der Ge- schlechtsvorgänge begleiten. Es erscheint daher begreiflich, wenn die verschiedenen Umwälzungen und Störungen auf diesem Gebiete, wie sie den gesamten Körper, insbesondere das Nerven- system, in Mitleidenschaft ziehen, auch im Bereiche des Seelen- lebens krankhafte Vorgänge auszulösen vermögen.

In erster Linie werden als Ursachen des Irreseins ge- schlechtliche Ausschweifungen und Onanie**) be- schuldigt. Aus den zum Beweise herangezogenen Erfahrungen sind natürlich zunächst alle diejenigen Fälle auszuscheiden, in welchen ängstliche, zur Selbstbeobachtung oder zur Selbstanklage geneigte Kranke Jahre oder gar Jahrzehnte zurückliegende „Jugendsünden“ als die Ursache ihrer Leiden angeben; die Lektüre einer gewissen Gattung von Schriften, welche die Folgen der Onanie in den grellsten Farben schildern, liefert dazu nicht selten die Anregung.

Dennoch lässt sich die Möglichkeit einer gelegentlichen wirk- lichen Schädigung des Nervensystems durch die hier besproche- nen Ursachen nicht ganz in Abrede stellen, zumal ja auch auf diesem Gebiete ohne Zweifel das Mass der persönlichen Leistungs- und Widerstandsfähigkeit ein äusserst verschiedenes ist. Es wäre denkbar, dass einmal (wohl nur bei Männern und im jugendlichen Alter) der Säfteverlust eine gewisse Bedeutung für die Gesamt-

*) Löwenfeld, Sexualleben und Nervenleiden, 3. Aufl. 1903.

**) v. Kraf f t-Ebing, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XXXI, 4.

Geschlechtsleben und Fortpflanzungsgeschäft.

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ernährung gewinnen kann; es wäre ferner möglich, dass die häufige starke Erregung des Nervensystems die allgemeine Reizbarkeit desselben steigert und seine Widerstandsfähigkeit herabsetzt. Dann ist aber wohl auch auf den entsittlichenden Einfluss hin- zuweisen, welchen das stete Unterliegen im fruchtlosen Kampfe mit übermächtig angewachsenen Antrieben auf die Willens- festigkeit des Menschen ausübt. Nach allen diesen Richtungen hin dürfte die Masturbation deswegen verderblicher wirken, als der natürliche Geschlechtsverkehr, weil sie ihr Ziel viel häufiger und leichter zu erreichen vermag, als der letztere. Beachtens- wert sind übrigens auch jene vereinzelten Beobachtungen, in denen (namentlich bei jungen Frauen) der erste Coitus akute Auf- regungs- oder Depressionszustände herbeiführt („Nuptiales Irre- sein“).*) Wahrscheinlich handelt es sich hier nur um die Aus- lösung schon vorbereiteter Erkrankungen, meist wohl aus der Gruppe des manisch-depressiven Irreseins. So waren in einem derartigen Fälle meiner Beobachtung die Anzeichen der beginnen- den Erregung bereits vor der Hochzeit vorhanden, ja man hoffte törichterweise, die Erkrankung durch die Heirat heilen zu können.

In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle ist die hartnäckige, unausrottbare Neigung zur Masturbation ohne Zweifel ein Zeichen, nicht die Ursache der Geistesstörung; wir haben es einfach mit einer krankhaft gesteigerten geschlechtlichen Erregbarkeit zu tun. Das gilt gewiss für jene Fälle von Idiotie und Schwachsinn, in denen die Masturbation bereits in der frühesten Kindheit be- ginnt und allen Erziehungsmassregeln trotzt; es gilt aber ferner auch für diejenige Form des Irreseins, welche man bisher als be- sondere Eigentümlichkeit der Onanisten betrachtet hat. Die Zeichen desselben sind fortschreitende Abnahme der psychischen Leistungsfähigkeit, Unvermögen zur Auffassung und geistigen Verarbeitung äusserer Eindrücke, Gedächtnisschwäche, Interesse- losigkeit, Gemütsstumpfheit; in anderen Fällen treten mehr die Erscheinungen erhöhter Reizbarkeit in den Vordergrund, barocke Ideenverbindungen, Neigung za Mysticismus und exaltierter Schwärmerei oder hypochondrische und depressive Verstimmung.

*) Dost, Allgem. Zeitschr. f. Psych., LIX, 876; Obersteiner, Jahrb. f. Psych., XXII, 313.

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I. Die Ursachen des Irreseins.

Dazu gesellen sich dann mannigfaltige nervöse Störungen, be- sonders Gemeinempfindungen, aus denen sich nicht selten un- sinnige Wahnideen von dämonischer oder geheimnisvoller physi- kalischer (magnetischer, elektrischer, sympathischer) Beein- flussung herausentwickeln. Wir erkennen darin unschwer das Bild der Dementia praecox, wie sie vorzugsweise den Entwick- lungsjahren angehört. So manche Gründe sprechen dafür, dass das Geschlechtsleben bei dieser Krankheit eine gewisse Rolle spielt, wie später näher auszuführen sein wird, aber sie v.’ird keinesfalls durch die Onanie verursacht. Es gibt zahlreiche be- geisterte Onanisten, die nicht hebephrenisch werden, und um- gekehrt fehlt die Onanie bei Hebephrenischen, namentlich bei weiblichen, nicht selten gänzlich, trotz starker geschlechtlicher Erregung.

Für jene umschriebene Gruppe der Dementia praecox, die man mit dem Namen der Katatonie bezeichnet, hat Tschisch als Ursache eine Selbstvergiftung durch geschlechtliche Ent- haltsamkeit angenommen. Er stützt sich darauf, dass seine Kranken sämtlich jugendliche Landbewohner und von blühendem Körperbau gewesen seien, zudem keine Äusserungen über früheren Geschlechtsverkehr gemacht hätten und ohne greifbare äussere Ursache erkrankten. Ohne darauf hinzuweisen, dass jene Kenn- zeichnung der Kranken schwerlich eine klinische Gruppierung gestattet, dass viele Katatoniker regelmässigen Geschlechtsver- kehr gehabt haben oder ausgiebig masturbieren, gibt es meines Wissens durchaus keine Erfahrung, die dazu berechtigte, der geschlechtlichen Enthaltsamkeit einen derartig verderblichen Ein- fluss auf das Seelenleben zuzuschreiben. Die Mädchen der ge- bildeteren Stände müssten sonst in erschreckendem Umfange katatonisch werden.

Im allgemeinen nimmt bei gesunden Menschen nach länger dauernder Enthaltsamkeit allmählich die geschlechtliche Erreg- barkeit ab. Etwas anders liegen die Dinge vielleicht bei krank- haft veranlagten Personen; hier scheint der Kampf gegen die aufsteigenden Begierden Angstzustände auslösen zu können. Er- zwungene Enthaltsamkeit, namentlich nach vorheriger Gewöhnung an geschlechtliche Befriedigung, verführt ferner leicht zur Onanie und kann auf diese Weise schädigend wirken; andererseits sehen

Geschlechtsleben und Fortpflanzungsgeschäft.

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wir freilich häufig genug die Masturbation neben geregeltem ge- schlechtlichem Verkehr sich entwickeln. Wo die Enthaltsamkeit eine freiwillige ist, muss sie wohl richtiger als Folge und nicht als Ursache einer krankhaften Anlage aufgefasst werden, die ja öfters mit unvollständiger Entwicklung des Geschlechtstriebes, unter Umständen auch der Genitalorgane einhergeht. Eine ge- wisse Rolle bei der Entstehung von Verstimmungen und Angst- zuständen scheinen endlich auch häufige sexuelle Reizungen ohne gehörige Befriedigung zu spielen, wie sie mit der Durchführung des „Zweikindersystems“ nicht selten verbunden sind.

Beim weiblichen Geschlechte pflegt schon der physiologische Vorgang der Menstruation regelmässig von einer leichten Steige- rung der nervösen und psychischen Reizbarkeit begleitet zu sein, die bei einzelnen Personen sogar fast krankhafte Grade (äusserste Verstimmung, lebhafte Erregung) erreichen kann. Diese Vor- gänge scheinen sich in der Zeit vor den Menses ganz allmählich vorzubereiten, um sich dann mit dem Eintritte derselben wieder auszugleichen, so dass man geradezu von einer „menstrualen Wel- lenbewegung“*) im Organismus des Weibes gesprochen hat, die sich auch im seelischen Verhalten wieder erkennen lässt. Beim erstmaligen Eintritte der Menses kann sich die hysterische oder epileptische Veranlagung zum ersten Male in ohnmachts- artigen Anfällen, Aufregungs- oder Dämmerzuständen äussern. Ebenso gibt diese Umwälzung nicht selten Anlass zum Auftreten der ersten leisen Andeutungen des cirkulären Irreseins in Form unmotivierter Verstimmung oder leichter manischer Erregung. Friedmann hat ferner auf jene nicht allzu häufigen Fälle hingewiesen, in denen schon vor dem Eintritte der ersten Menses in regelmässigen Zwischenzeiten kurzdauernde verwirrte Auf- regungszustände beobachtet werden, die mit der Regelung der Menstruation verschwinden und daher wohl unzweifelhaft mit den Vorboten der Geschlechtsentwicklung in ursächliche Beziehung gesetzt werden müssen. Auch bei diesen Fällen bin ich geneigt, an den Beginn cirkulärer Formen zu denken, welche später, wenn

*) S c h ü 1 e , Allgem. Zeitschr. f. Psych., XL VII, 1 ; H e g a r , ebenda, LVin, 357.

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I. Die Ursachen des Irreseins,

auch erst nach Jahren, von neuem einsetzen, um sich nun in

typischer Weise fortzuentwickeln.

Tm Verlaufe psychischer Störungen kommt dem Eintritte der Menstruation und noch mehr vielleicht den Unregelmässig- keiten derselben ohne Zweifel eine erhebliche Bedeutung zu*). Namentlich Erregungszustände aller Art pflegen sich zu diesen Zeiten einzustellen oder zu steigern. Wir kennen sogar Fälle periodischer Tobsucht, welche sich so eng an die Menses an- schliessen, dass man geradezu von einem „menstruellen Irresein sprechen kann. Klinisch handelt es sich dabei um manische oder katatonische Krankheitsbilder. Aussetzen der Menses beobachten wir öfters in cirkulären Depressionszuständen, noch häufiger während der Entwicklung der Dementia praecox. Sie pflegen dann mit der Besserung des Zustandes oder aber mit dem Ein- tritt endgültiger Verblödung wiederzukehren. Ob hier überall das Ausbleiben der Menses irgendwie eine ursächliche Bedeutung hat oder nur Begleiterscheinung des Krankheitsvorganges ist, entzieht sich zur Zeit noch unserer Kenntnis. Die letztere An- nahme dürfte indessen heute die grössere Wahrscheinlichkeit für

sich haben. .

Einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung von Geistes- störungen müssen wir endlich dem Klimakterium zuschrei- ben. Es steht fest, dass in dieser Zeit die Neigung der Frauen, psychisch zu erkranken, erheblich anwächst. Allerdings wild man für diese Tatsache in erster Linie wohl die allgemeinen Veränderungen verantwortlich machen müssen, welche das be ginnende Greisenalter, die Rückbildungszeit, einleiten. Dafür spricht vor allem der Umstand, dass wir beim männlichen Ge- schlechte, wenn auch nicht so häufig, ganz dieselben klinischen Formen des Irreseins im gleichen Lebensalter beobachten. Dahin gehört vor allem die Melancholie und das manisch-depressive Irresein, das nicht selten in dieser Zeit eist einsetzt.

Besonders deutlich zeigt sich die hervorragende Rolle, welche das Geschlechtsleben auch für die psychische Persönlichkeit des

*) v. Krafft-Ebing, Archiv f. Psychiatrie, VIII, 1 ; Powers, Bei- trag zur Kenntnis der menstrualen Psychosen, Diss. 1883; Schäfer, Allgem. Zeitschr. f. Psych., 1893.

Geschlechtsleben und Fortpflanzungsgeschäft.

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Weibes spielt, in jener Gruppe von Geistesstörungen, deren Ent- wicklung sich im Zusammenhang mit den verschiedenen Vorgängen des Fortpflanzungsgeschäftes, der Schwangerschaft, dem Wochen- bett und der Laktation vollzieht*). Die Angaben über die Häufig- keit dieser Ursachen beim Zustandekommen psychischer Erkran- kungen gehen ziemlich weit auseinander; im Mittel sind etwa 14 Prozent aller in Irrenanstalten beobachteten Geistesstörungen bei Frauen auf dieselben zurückzuführen. Davon kommen 3 Pro- zent auf die Schwangerschaftspsychosen. Der ursäch- liche Zusammenhang scheint während dieser Zeit hauptsächlich durch die Veränderungen in Mischung (Abnahme der Blutkörper- chen und der Salze, Vermehrung des Fibrins) und Cirkulation der Ernährungsflüssigkeit (Ausbildung des Placentarkreislaufs) vermittelt zu werden; vielleicht ist auch, namentlich bei erstmalig und bei unehelich Schwangeren, den psychischen Ursachen (Schwe- ben zwischen Hoffnung und Furcht vor den Gefahren der Geburt, Sorgen u. s. f.) ein gewisser Einfluss zuzuschreiben.

Unter klinischem Gesichtspunkte haben wir es hier jedoch sicherlich nicht mit einer einheitlichen Gruppe des Irreseins zu tun, sondern die einzelnen Fälle können eine sehr verschiedene Bedeutung haben. Zunächst kommt es nicht selten vor, dass ein- zelne Anfälle des manisch-depressiven Irreseins, namentlich De- pressionszustände, durch die Umwälzungen der Schwangerschaft ausgelöst werden. Hier werden wir regelmässig weitere Anfälle auch ohne diesen und sogar ohne jeden äusseren Anlass auf- treten sehen; andererseits kann sich die psychische Erkrankung in mehreren Schwangerschaften wiederholen. Zu dieser Gruppe bin ich geneigt, auch die gewöhnlich als periodische Melancholie bezeichneten Formen zu rechnen, weil die Anfälle des manisch- depressiven Irreseins nicht selten längere Zeit unter jenem Bilde verlaufen. Entschieden häufiger, als die bisher genannten Krank- heitsbilder, ist die Dementia praecox, in Form von Depression, Stupor oder Erregung. Auch diese Störungen können in wieder- holten Schwangerschaften hervortreten, nachdem sie in der Zwischenzeit mehr oder weniger vollständig geschwunden waren;

*) Fürstner, Archiv f. Psychiatrie, V, 505; Ripping, Die Geistes- störungen der Schwangeren, Wöchnerinnen und Säugenden. 1877.

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I. Die Ursachen des Irreseins.

meist bringt dann jede folgende Schwangerschaft eine deutliche Verschlechterung des psychischen Gesamtzustandes mit sich. Ebenso können alte Katatonien oder Hebephrenien unter dem Einflüsse einer Schwangerschaft frische Nachschübe zeigen. Hie und da sieht man auch Paralysen sich in der Schwangerschaft entwickeln, die hier natürlich noch weniger, als in den übrigen Fällen, die wirkliche Ursache der Erkrankung bildet. Durch die Geburt wird keine der besprochenen Formen des Irreseins er- heblich beeinflusst; vielmehr geht jene meist ohne besondere Begleiterscheinungen von statten; zuweilen sieht man eine \ er- schlimmerung des Zustandes, beim manisch-depressiven Irresein Umschlag der Depression in Erregung. In einem von mir beobach- teten Falle gebar eine stuporöse Frau ihr totes Kind in den Nacht- stuhl, ohne einen Laut von sich zu geben, so dass man erst später durch die Blutung auf das Ereignis aufmerksam wurde..

Mehr als doppelt so häufig (bei 6,8 Prozent aller in die Irren- anstalten auf genommenen Frauen; unter etwa 400 Wöchnerinnen bei je einer) wird das Wochenbett*) Ursache des Irreseins, hie und da auch ein Abortus mit starkem Blutverluste. Eict- gebärende sind stärker gefährdet. Wir haben auch hier wieder zu unterscheiden zwischen solchen Erkrankungen, die wirklich durch das Wochenbett erzeugt, und solchen, die nur durch dasselbe aus- gelöst werden. Zu den ersteren sind zunächst jene plötzlichen, äusserst heftigen, deliriösen Erregungszustände zu rechnen, die sich während der Geburt einstellen können und wegen der starken Neigung zu Gewalttaten eine grosse forensische Bedeutung be- sitzen; ihre Dauer beträgt meist nur wenige Stunden. Bei ihrer Entstehung spielen einerseits wahrscheinlich die Schmerzen, der Blutverlust, die raschen Kreislaufsänderungen sowie die psy- chischen Einwirkungen der Geburt selbst und etwaiger Störungen bei derselben eine gewisse Rolle. Eine Wöchnerin meiner Be- obachtung stürzte sich in einem derartigen Zustande aus dem Fenster durch das darunter befindliche Glasdach eines Tieib-

*) Hansen, Zeitschr. f. Geburtshilfe u. Gynäkologie, XV, 1; Hoppe, Archiv f. Psychiatrie, XXV, 1. S d a r o w , Die puerperalen Psychosen vom ätiologischen, klinischen und forensischen Standpunkt. 1896 (russisch); Aschaf- fe n b u r g , Allgem. Zeitschr. f. Psych., LVIII, 337 ; Meyer, Berl. Klin. Wochenschr., 1901, 31; Siege nthaler, Jahrb. f. Psych., XVII, 87.

Geschlechtsleben und Portpflanzungsgeschäft.

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hauses. Andere erdrosseln ihre Kinder oder lassen dieselben doch unbeachtet ohne Nahrung und Pflege zu Grunde gehen. Vielleicht handelt es sich hier, was die klinische Form wahrscheinlich machen würde, öfters um epileptische, auch wohl hysterische Dämmer- zustände, welche durch die besonderen Erschütterungen des Gebärvorganges auch bei solchen Personen ausgelöst werden können, die sonst nur geringfügige und leicht übersehene Zeichen krankhafter Veranlagung darbieten.

Eine zweite Gruppe der Puerperalpsychosen kommt durch Gifte zu stände. Hierher gehören die eklamptischen Delirien mit ihrer urämischen Grundlage, die sich schon während der Geburt oder in den ersten Tagen nachher einzustellen pflegen. Weit häufiger sind die etwa am 5. bis 10. Tage des Wochenbettes einsetzenden Geistesstörungen, denen fieberhafte Erkrankungen zu Grunde liegen, Mastitis, Endokartitis ulcerosa, Perimetritis, Sepsis, Pyämie. Die Geburtshelfer sind geneigt, einen grossen Teil der Wochenbettspsychosen auf derartige Infektionen zurück- zuführen. Es hat sich jedoch gezeigt, dass solche Erkrankungen in noch nicht Vs der Fälle nachweisbar sind und gewiss noch viel seltener die wirklichen Ursachen der geistigen Störung bilden. Wo aber letzteres der Fall ist, begegnen uns im wesentlichen die klinischen Bilder der Fieber- und Infektionsdelirien, Benommen- heit, Sinnestäuschungen, traumartige Verworrenheit, ängstliche oder heitere Erregung, Neigung zum Übergang in Schlummersucht und Koma.

Ebenfalls in näherer ursächlicher Beziehung zum Wochen- bette stehen die Erschöpfungspsychosen. Sie dürfen wohl mit den mächtigen Umwälzungen der ersten Tage des Wochenbettes (Ausscheidungen, Gewichtsabnahme) in Zusammen- hang gebracht werden, denen allerdings meist andere Einflüsse, nervöse Veranlagung, schlechte Ernährung, ungünstige Lebens- verhältnisse, schon vorgearbeitet haben. Eine erst allmählich sich ausgleichende nervöse Erschöpfung mit erhöhter gemüt- licher Erregbarkeit ist eine so gewöhnliche Begleiterscheinung des Wochenbettes, dass sie kaum als krankhaft betrachtet zu werden pflegt. Bei sehr stürmisch einsetzender Erschöpfung kann sich das in der Regel rasch verlaufende Collapsdelirium entwickeln. In welchem Umfange auch die länger dauernden

Kraepelin, Psychiatrie. I. 7. Aufl. 6

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I. Die Ursachen des Irreseins.

und sich erst nach 1—2 Wochen entwickelnden, meist als Amentia bezeichneten klinischen Formen auf eine Erschöpfung oder auf andere Ursachen zurückgeführt werden dürfen, lässt sich zur Zeit noch nicht mit Sicherheit entscheiden. Sie sind im ganzen ziemlich selten. Die äusserlich als hallucinatorische Verwirrtheit erscheinenden Fälle erweisen sich bei genauerer Beobachtung vielfach als katatonisch oder manisch.

Ungleich häufiger, als die besprochenen Formen, sind die- jenigen Erkrankungen, die durch das Wochenbett nur ausgelost werden. In allererster Linie sind hier die Katatonien zu nennen. Die Häufigkeit, mit der sich im Wochenbette katatonische Krank- heitsbilder, Erregungen wie Depressionen und namentlich Stupor- zustände, entwickeln, ist ungemein auffallend, zumal auch schon bestehende katatonische Schwächezustände sehr gewöhnlich un- günstig beeinflusst werden. Ich sah einen Fall, in dem eine in Schüben verlaufende Katatonie nach jedem Wochenbette stärker hervortrat, bis endlich der vierte Anfall zu tiefer, endgültiger Verblödung führte. Solche Erfahrungen erwecken den ^ erdacht, dass doch vielleicht noch eine besonders innige Beziehung zwi- schen dem Wochenbette und der Katatonie bestehe. Eine solche Vorstellung liegt auch deswegen nahe, weil die entschiedene Vorliebe der Katatonie für die Entwicklungsjahre und das Ruck- bildungsalter ebenfalls an dunkle Einflüsse des Geschlechtslebens auf jene Krankheit denken lässt. Auf der anderen Seite scheinen sich jedoch die Katatonien des Wochenbettes durchaus gar nicht von anderen Formen zu unterscheiden, so dass wir wenigstens einstweilen nicht berechtigt sind, aus ihnen eine eigenartige klinische Gruppe zu bilden und damit dem Wochenbette eine mehr als auslösende Bedeutung zuzuschreiben.

Zur Vorsicht in dieser Frage werden wir namentlich durch das Beispiel des manisch-depressiven Irreseins gemahnt, dem wir fast ebenso häufig im Wochenbette begegnen wie der Katatonie. Depressive Formen überwiegen, aber auch manische, fehlen durchaus nicht. Gar nicht selten sehen wir die Anfälle bei mehre- ren Wochenbetten in gleicher Weise wiederkehren, aber sie treten fast immer auch ausserhalb derselben aus anderem An- lasse oder ganz von selbst hervor, ein Zeichen für die Selbstän- digkeit der Störung gegenüber der auslösenden Schädlichkeit.

Geschlechtsleben und Fortpflanzungsgeschäft.

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Auch hier gleichen die im Wochenbette beobachteten klinischen Formen völlig den sonst bekannten. Die manischen und kata- tonischen Erregungszustände nebst den weit selteneren Er- schöpfungs- und Infektionsdelirien bilden die grosse Masse der sogenannten „Puerperalmanien“, die somit keineswegs ein einheit- liches Krankheitsbild darstellen, sondern eine Reihe von Erkran- kungen umfassen, die nach Entwicklung und Ausgang sehr ver- schieden sind. Hie und da sieht man im Wochenbette auch noch ganz andersartige Formen des Irreseins beginnen, so z. B. die Paralyse. Der Zusammenhang ist hier natürlich ebenfalls ein sehr lockerer.

In der Mitte zwischen den Geistesstörungen der Schwanger- schaft und des Wochenbettes stehen nach ihrer Häufigkeit (4,9 Prozent aller weiblichen Aufnahmen in Irrenanstalten) die psychischen Erkrankungen der Laktationszeit. Hier wird man als Schädlichkeit in erster Linie die Erschöpfung durch Wochen- bett und Säugegeschäft, vielleicht auch die durch beide hervor- gerufenen Umwälzungen im Körperhaushalte zu betrachten haben. Jedenfalls haben wir es wesentlich nur mit der Auslösung schon anderweitig vorbereiteter psychischer Störungen zu tun; dem entspricht die Tatsache, dass hier die krankhafte Veran- lagung eine besonders wichtige Rolle zu spielen scheint. Auch die klinischen Formen, die hier zur Beobachtung kommen, weisen auf derartige Zusammenhänge hin. Ganz im Vordergründe stehen die verschiedenen Krankheitsbilder des manisch-depres- siven Irreseins, vorzugsweise Depressionszustände. Fast ebenso häufig sind sodann Katatonien. Die Zeit des Ausbruchs der Störung ist meist der 3. bis 5. Monat nach der Entbindung.

2. Psychische Ursachen.

Schon wiederholt haben wir in unserer bisherigen Darstellung Gelegenheit gehabt, neben der unmittelbaren, körperlichen Ein- wirkung der besprochenen Krankheitsursachen auch ihres psy- chischen Einflusses zu gedenken. Man hat von diesem Gesichtspunkte aus auch wohl die „gemischten“ Ursachen als eine Zwischengruppe zwischen den körperlichen und den psy- chischen hingestellt. Abgesehen von der aus unserer Grund-

6*

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I. Die Ursachen des Irreseins.

anschauung sich mit Notwendigkeit ergebenden allgemeinen For- derung, dass alle Störungen der psychischen Leistungen an solche der Hirntätigkeit geknüpft sein müssen, ist die eigentliche Wir- kungsweise der psychischen Ursachen noch völlig unbekannt; nur einzelne Glieder des vermuteten Zusammenhanges können wir mit Grösserer oder geringerer Wahrscheinlichkeit namhaft machen. So geht namentlich der Einfluss der Gemütsbewegungen regel- mässig mit Veränderungen der Herztätigkeit, des Blut- kreislaufs und der Atmung einher, welche ja die sphygmo- graphische Untersuchung schon bei den leichtesten Gemüts- bewegungen ohne Schwierigkeit nachweisen lässt; auch \er- dauungs stör ungen scheinen durch psychische Ursachen sehr häufig hervorgerufen zu werden, wie die alltägliche Er- fahrung des Appetitmangels nach heftigem Ärger oder bei großem Kummer dartut. Das wichtigste Bindeglied bei der Entstehung des Irreseins aus psychischen Ursachen ist aber wohl die hier niemals fehlende Beeinträchtigung des Schlafes, um so mehr, als sie regelmässig auch eine Störung der Nahrungsauf- nahme, nach sich zieht. Wo die lebhafte Erregung des. Gehirns die Möglichkeit des Rühens und weiterhin eines gehörigen Er- satzes der verbrauchten Ernährungsstoffe ausschliesst, da müssen sich mit Notwendigkeit krankhafte Veränderungen im Sinne der fortschreitenden Erschöpfung herausbilden.

Zu der Wirkung psychischer Schädlichkeiten pflegt . sich aber fast immer noch diejenige mannigfacher körperlichei Schwächungen durch Elend, Entbehrungen, schlechte Er- nährung, unregelmässige Lebensweise, Ausschweifungen aller Art hinzuzugesellen, so dass es im Einzelfalle gänzlich un- möglich ist, den Anteil der verschiedenen Ursachen an dem Zustandekommen des krankhaften Gesamtergebnisses auch nur annähernd festzustellen. Griesinger ist der Ansicht, dass im allgemeinen die psychischen Ursachen bei der Entstehung des Irreseins ziemlich bedeutend die Rolle der körperlichen überwiegen. Demgegenüber möchte ich meinerseits den psy- chischen Ursachen, abgesehen vielleicht von ihrem Einflüsse auf die gesamte Widerstandsfähigkeit, mehr eine auslösende und beschleunigende Bedeutung zuschreiben. Bei bestehendem Irre- sein sehen wir freilich psychische Eindrücke nicht selten eine

Gemütsbewegungen.

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sehr deutliche Wirkung auf das Befinden unserer Pflegebefohle- nen ausüben; namentlich die Verschlechterungen melancholischer und cirkulärer Kranker durch Besuche ihrer liebsten Angehörigen sind dafür ein lehrreiches Beispiel.

Nirgends vielleicht spielt die persönliche Eigenart, die Empfindlichkeit des Betroffenen, eine grössere Rolle, als bei der Entstehung des Irreseins aus psychischen Ursachen. Aller- dings wissen wir, dass auch die körperliche Widerstandsfähigkeit verschiedener Menschen innerhalb recht weiter Grenzen schwankt, aber die Erfahrung lehrt, dass auf psychischem Gebiete die Unter- schiede vielleicht noch um ein beträchtliches grösser ausfallen. Sind es doch gerade diese Verschiedenheiten in der Verarbeitung der wechselnden Eindrücke des Lebens, in welchen sich uns die fast unabsehbare Mannigfaltigkeit der psychischen Persönlich- keiten, der „Naturen“, „Charaktere“ und „Temperamente“ aus- drückt ! So kommt es, dass psychische Ursachen allein im all- gemeinen bei gesund entwickelten, rüstigen Persönlichkeiten wohl nur äusserst selten wirkliche Geistesstörungen zu erzeugen im- stande sind, während sie auf dem Boden einer krankhaften Anlage zweifellos zu den wichtigsten Veranlassungen des Irreseins ge- rechnet werden müssen.

Gemütsbewegungen. Am mächtigsten wirken natürlich solche Eindrücke auf die psychische Persönlichkeit ein, die mit leb- haften Schwankungen der gemütlichen Gleichgewichtslage ver- bunden sind. Drückt sich doch gerade in der Stärke der Gefühle, die einen Eindruck begleiten, der Grad des inneren Anteils aus, welchen der Mensch an demselben nimmt 1 Die äussere Ursache der Gemütsbewegung ist dabei an sich gleichgültig; „jedes Ge- schlecht, jeder Stand, jedes Individuum“ sagt Griesinger, „holt sich seine geistigen Wunden auf dem Kampfplatze, den ihm die Natur und die äusseren Umstände angewiesen haben, und jeder hat wieder einen anderen Punkt, auf dem er am verletzlichsten ist, eine andere Sphäre, von der am leichtesten heftige Erschüt- terungen ausgehen, der eine sein Geld, der andere seine äussere Wertschätzung, der dritte seine Gefühle, seinen Glauben, sein Wissen, seine Familie und dergleichen mehr.“ Fast ausschliess- lich sind es die traurigen Gemütsbewegungen, die wir hier in Betracht zu ziehen haben; wir wissen ja auch, dass gerade sie die

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I. Die Ursachen des Irreseins.

mächtigsten und dauerndsten Stürme im Menschen zu erzeugen vermögen, während selbst die höchsten Grade der Freude rasch in das ruhige Gefühl des gesicherten Glücks überzugehen pflegen. Angst vor einem bevorstehenden Unglück, Schreck über ein unerwartetes Ereignis, Zorn über ein widerfahrenes Unrecht, Verzweiflung über einen erlittenen Verlust das sind die gewaltigsten plötzlichen Erschütterungen, welchen unser psy- chisches Gleichgewicht ausgesetzt ist, und die daher verhältnis- mässig häufig als Ursachen tieferer und länger dauernder Stö- rungen aufgeführt werden. Gerade hier dürften die regelmässig vorhandenen körperlichen Begleiterscheinungen für die Ent- stehung des Irreseins wesentlich mit ins Gewicht fallen.

Trotzdem ist es heute kaum möglich, bestimmte klinische Krankheitsformen in ursächliche Beziehung zu heftigen Gemüts- bewegungen oder gar zu den einzelnen Arten derselben zu setzen. Man hat zwar vielfach von „Emotionspsychosen“ gesprochen und denselben eine klinische Sonderstellung eingeräumt, allein ich wäre aus eigener Erfahrung nicht imstande, dieselben genauer zu kennzeichnen, da sie wegen ihres raschen Ablaufes jedenfalls äusserst selten in die Hände des Irrenarztes kommen. Wir hören indessen öfters, dass bei grossen Unglücksfällen diese oder jene Person plötzlich anfängt, irre zu reden, sinnlos davon zu laufen, die Umgebung anzugreifen; meist steht dann der Tod nahe bevor. Derartige Fälle erinnern an das Grauen, das in unheimlichen Lebenslagen die Klarheit des Blickes trüben und das Handeln lähmen kann, an die Erscheinungen der Panik, die ganze Men- schenmassen rasch zu einer Herde kopflos ins eigene V erderben rennender Tiere machen kann. Es ist indessen zu berücksichtigen, dass gerade in den rasch tödlich verlaufenden Fällen regelmässig ausser den gemütlichen Erschütterungen schwere anderweitige Schädigungen eingewirkt haben, namentlich längere Schlaflosig- keit, äusserste geistige und körperliche Überanstrengung, Hunger, Kälte, Entbehrungen aller Art. Dadurch werden die „Angst- delirien“ vielleicht mit den Erschöpfungszuständen in eine ge- wisse Verwandtschaft gebracht.

Wo dagegen wirklich nur starke Gemütsbewegungen einge- wirkt haben, trägt die psychische Störung das Gepräge der hyste- rischen Irreseinsformen ; sie ist dann auch vielfach von Lähmungs-

Gemütsbewegungen.

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und Krampferscheinungen begleitet wie jene. So sah ich ein junges Mädchen in einen mehrtägigen hysterischen Aufregungs- zustand mit allgemeiner Chorea verfallen, als sie bei einem ge- schlechtlichen Abenteuer ertappt worden war. Als besondere Gestaltung dieser psychogenen Erkrankungen ist jedoch die durch plötzliche heftige Gemütserschütterungen ausgelöste Schreck- neurose zu nennen, die zwar der Hysterie in vielen Stücken nahe steht, aber doch mit ihr nicht einfach zusammengeworfen werden darf. Ferner gehören hierher gewisse Angstzustände, die sich als mehr oder weniger klar bewusste Erinnerung an bestimmte peinliche Erfahrungen regelmässig bei bestimmten Anlässen wieder einstellen. Bei der Entstehung aller dieser psychogenen Formen spielt übrigens die krankhafte Veranlagung des Betrof- fenen eine sehr wesentliche Rolle.

Noch lockerer ist die ursächliche Verknüpfung zwischen Ge- mütsbewegungen und Geistesstörung bei den übrigen Formen des Irreseins. Die einzelnen manisch-depressiven Anfälle schliessen sich, wie an andere Anlässe, nicht ganz selten an gemütliche Aufregungen an. Dabei ist die klinische Färbung des Anfalls von derjenigen des auslösenden Affektes ganz unabhängig. Hei- tere, manische Erregung kann sich sehr wohl an einen traurigen Anlass anschliessen; umgekehrt sah ich eine Dame mit verwirrten Angstzuständen und peinigenden Sinnestäuschungen erkranken, anscheinend in der Freude über die glückliche Verlobung ihrer Tochter. Auch hier war jedoch schon vor langer Zeit eine ähnliche Erkrankung vorausgegangen. Bei der Melancholie, deren Ent- , stehung öfters an wirkliche trübe Ereignisse anknüpft, scheint eine ' engere innere Beziehung zwischen gesunder und krankhafter Ver- | Stimmung zu bestehen, doch ist auch hier Vorsicht in der j Deutung am Platze, da sich die anscheinend ursächlichen Gemüts- bewegungen bei nachträglicher Betrachtung häufig als bereits krankhafte erweisen. Überdies entsteht die Krankheit oft genug ohne jeden erkennbaren Anlass.

In höherem Grade vielleicht, als plötzliche Erschütterungen, dürfte ein dauernder gemütlicher Druck imstande sein, krank- hafte Störungen des Seelenlebens herbeizuführen. Wahrscheinlich vermag auch unsere psychische Persönlichkeit im allgemeinen den Einfluss schnell eintretender, aber kurz dauernder Schädlichkeiten

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I. Die Ursachen des Irreseins.

leichter zu verwinden, als jene langsamen, nachhaltigen Einwir- kungen, welche eine beständige Trübung des Stimmungshinter- grundes herbeiführen, mit immer stärkerem Drucke allmählich jede freiere, freudige Regung zurückdrängen und das Gefühl des Unglücks bis zur Unerträglichkeit anwachsen lassen. Schlaflosig- keit, schleichende Ernährungs-, Yerdauungs- und Kreislaufs- störungen mögen hier als die körperlichen Einflüsse angesehen werden, deren Wirkung sich an diejenige der psychischen Ur- sachen anschliesst. Hierher gehört namentlich die Sorge in ihren mannigfaltigen quälenden Formen, der Kummer über er- littene Enttäuschungen, unglückliche Liebe, Trennung von ge- liebten Personen und Versetzung in ungewohnte, peinigende Ver- hältnisse (Heimweh), endlich die Reue über begangene Fehl- tritte. Wie mir scheint, ist indessen die Wirkung auch dieser Schädlichkeiten zumeist nur eine unterstützende; sie bereiten den Boden für andere Krankheitsursachen vor. Ein besonders fruchtbares Feld für die Wirkung derartiger Schädlichkeiten bietet auch hier wieder die hysterische Veranlagung; so pflegt man einen grossen Anteil an der erschreckenden Zunahme schwerer psychischer Veränderungen nach Unfällen dem erbitternden und aufreibenden Kampfe um die Rente zuzuschreiben. Auch die übrigen Formen des Entartungsirreseins werden in Auftreten und Verlauf sehr’ wesentlich durch gemütliche Erregungen beein- flusst, insbesondere die verschiedenen Formen krankhafter Angstzustände.

Überanstrengung*). Geistige Tätigkeit und Gemütsbewegung beruhen auf den Lebensvorgängen in unserer Hirnrinde; das aus ihnen entspringende Lebensgefühl ist eine der wichtigsten Grund- lagen unseres Wohlbefindens. Dennoch kann ein Übermass jener Vorgänge unter Umständen Schädigung unserer geistigen Gesund- heit herbeiführen. Freilich haben wir hier von vornherein auf einen grundlegenden Unterschied zwischen Verstandes- und Ge- mütsleistung hinzuweisen. Die einfache geistige Arbeit führt nach einer gewissen Zeit zur Ermüdung. Die subjektive Beglei- terin derselben, die Müdigkeit, erzwingt in wachsender Stärke schliesslich Einstellung der Tätigkeit, erzeugt Schlaf und schafft

*) M a n a c 6 i n e , Le surmenage mental dans la civilisation moderne. 1890.

Überanstrengung.

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damit von selber die günstigen Bedingungen für den Ersatz des verbrauchten Nervengewebes. Demgegenüber verscheucht die gemütliche Erregung das Warnungszeichen der Müdigkeit trotz tatsächlich vorhandener Ermüdung. Die Arbeitsleistung kann daher unter ihrem Einflüsse bis zur Erschöpfung, bis zur unmittel- baren Schädigung der körperlichen Grundlagen unseres Seelen- lebens fortgesetzt werden. Bis zu einem gewissen Grade ge- schieht das schon bei jeder geistigen Arbeit, die wir mit sehr lebhaftem „Interesse“ verrichten. Hier kann die Ermüdungs- abnahme der Leistungsfähigkeit einige Zeitlang durch wiederholte starke Willensanstrengung, durch den „Antrieb“, ausgeglichen werden, ja wir sehen unter solchen Umständen in den ersten Stadien der Erschöpfung neben dem entschiedenen Sinken der Arbeitsleistung die Zeichen der psychischen Erregbarkeitssteige- rung durch gemütliche Einflüsse deutlich genug hervortreten.

Es ist demnach in erster Linie die mit gemütlicher Er- regung einhergehende Arbeit, welche die Gesundheit zu ge- fährden vermag. Je lebhafter von vornherein die Gefühlsbetonung einer Arbeitsleistung, und je ausgeprägter überhaupt die gemüt- liche Erregbarkeit des Arbeiters ist, desto grösser wird im ein- zelnen Falle die Gefahr sein, dass die Zeichen des Ruhebedürf- nisses verwischt werden und damit eine wirkliche Über- anstrengung zu stände kommt. Vollzieht sich dieser Vorgang häufiger oder gar gewohnheitsmässig, so werden die Folgen der Überanstrengung durch die alltäglichen Ruhepausen nicht mehr vollständig ausgeglichen: es kommt zu einer dauernden Steige- rung der gemütlichen Erregbarkeit, Ausbleiben der Müdig- keit und erheblicher Herabsetzung der geistigen Leistungs- fähigkeit infolge von dauernder Erschöpfung. Das klinische Bild, welches sich bei krankhafter Ausdehnung dieser Störungen ent- wickelt, ist dasjenige der Neurasthenie. Die leichtesten Formen derselben kann wohl ein jeder gelegentlich einmal an sich be- obachten, wenn irgend eine Lebenslage erhöhte Anforderungen an seine psychischen Leistungen stellt (Examen).

Im praktischen Leben können wir trotz der oben angedeuteten Übergänge die wesentlich geistige von der gemütlichen Überan- strengung einigermassen abscheiden. Der ersteren Form be- gegnen wir namentlich bei Schülern, Studenten, Gelehrten, der

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I. Die Ursachen des Irreseins.

zweiten dagegen, der Überbürdung mit Pflichten verschiedener Art, bei Krankenpflegerinnen, Ärzten u. s. f. übermässige Ver- standesarbeit birgt ernstere Gefahren wohl nur für jugendliche oder krankhaft veranlagte Personen; in der Regel pflegen sich die etwa auftretenden neurasthenischen Erscheinungen bei an- gemessener Ruhe leicht wieder zu verlieren. Wo dagegen die geistige Überanstrengung von beständiger gemütlicher Anspan- nung, vom Gefühle schwerer Verantwortlichkeit und vielleicht noch von körperlichen Strapazen und Ausschweifungen begleitet wird, begegnen wir zumeist schwereren und länger dauernden psychischen Veränderungen. Solche Tätigkeit ist es, welche den Menschen rasch verbraucht, seine Leistungs- und V iderstands- fähigkeit dauernd herabsetzt, ihn stumpf und reizbar zugleich macht. Am besten sehen wir das vielleicht bei dem V artpersonal in Irrenanstalten, welches nach langjährigem Anstaltsdienste fast regelmässig die Zeichen einer dauernden Schädigung der ge- samten Persönlichkeit darbietet. Ohne Zweifel bilden derartige Veränderungen den günstigen Boden für das Auftreten weiterer psychischer Erkrankungen, einerseits der hysterischen Formen, andererseits der Rückbildungspsychosen; auch für die Entstehung der Paralyse scheint die gemütliche Überanstrengung eine gewisse Bedeutung zu haben.

Gefangenschaft. Eine ganze Reihe von psychischen Ursachen findet sich vereinigt in der Gefangenschaft, namentlich in der Einzelhaft, die erfahrungsgemäss nicht selten Geistesstörungen erzeugt*). In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle besteht hier schon eine mehr oder weniger schwere krankhafte Veranlagung, teils auf Grund angeborener Entartung, teils durch mannigfache Lebensschicksale (uneheliche Geburt, schlechte Erziehung, Krank- heiten, Traumata, Alkoholismus) erworben. Dazu kommen die besonderen hygienischen Verhältnisse des Gefängnislebens (ein- förmige, knappe Kost, ungenügende Bewegung, Mangel frischer Luft), die Nachwirkungen der Untersuchungshaft, der \ erlust der persönlichen Freiheit und vor allem die Einsamkeit, welche dem Eingesperrten zur grübelnden Beschäftigung mit den eigenen Ge-

*) Gut sch, Allgem. Zeitscbr. f. Psychiatrie, XIX, 1; Kirn, ebenda, XLV, 1; Rüdin, ebenda, LVIII, 447.

Gefangenschaft.

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danken gründliche Müsse gibt und ihn die Angst vor der Zukunft, die Reue über das Begangene um so lebendiger empfinden lässt, je weniger ihn sein Bildungsgrad und sein Charakter zur sittlichen Selbsterziehung befähigt. Der Ausbruch der Psychose erfolgt bisweilen schon in den ersten Tagen oder Wochen (Untersuchungs- haft), häufiger nach einigen Monaten, unter Umständen erst nach Jahr und Tag oder selbst nach langjährigem Verbrecherleben mit zahlreichen, ohne geistige Erkrankung überstandenen Freiheits- strafen. Am wirksamsten ist die Einzelhaft, deren Aufhebung- vielfach, aber durchaus nicht immer, rasches Schwinden der Krankheitszeichen herbeiführt. Doch kommen auch in der Gemein- schaftshaft geistige Störungen oft genug zur* Beobachtung.

Bei weitem am häufigsten werden in der Stille der Isolier- zelle hallucinatorische Krankheitsbilder, namentlich akut auftre- tende, rasch verlaufende Formen, meist Verfolgungswahn, seltener Grössenideen, vorwiegend mit Gehörstäuschungen, heftigen Angst- zuständen und Selbstmorddrang beobachtet. Diese, zum Teil von ihm als akute hallucinatorische Melancholie bezeichneten Zustände hält Kirn für die eigenartige Psychose der Einzelhaft. Die ein- gehende klinische Betrachtung einer grossen Zahl von derartigen Fällen hat mir gezeigt, dass mindestens die Hälfte derselben vollständig die Züge der Katatonie darbietet, wie sie ausserhalb der Gefangenschaft beobachtet wird; auch der Ausgang in eigen- artige Verblödung ist der gleiche. Recht häufig war hier der akuten Erkrankung schon lange Zeit eine schleichend oder mit leichten Angstzuständen einsetzende Verblödung vorausgegangen, oder es handelte sich um frühzeitig ausgeprägte Gewohnheitsver- brecher, bei denen dann irgend eine längere Freiheitsstrafe das hallucinatorisch-katatonische Krankheitsbild zur Entwicklung brachte; seltener, und dann oft in der Untersuchungshaft, brach das Irresein bei solchen Personen aus, die bis dahin gar keine auffallenden Züge dargeboten hatten. Eine weitere Gruppe bil- den nach R ü d i n s Darlegungen die Alkoholisten mit Delirium tremens und paranoiden Schwächezuständen, sodann Hysterische, vereinzelte Paranoiker, Imbecille und namentlich Epileptiker. Bei diesen letzteren handelt es sich in der Regel um gelegentliche heftige Aufregungszustände mit Angst und deliriösen Sinnestäu- schungen oder um einfache reizbare Verstimmungen (,, Zuchthaus-

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I. Die Ursachen des Irreseins.

knall“), in einer kleineren Zahl von Fällen aber auch um lange festgehaltene und geistig verarbeitete Verfolgungsideen mit leb- haften Gehörstäuschungen.

Alle diese Krankheitsbilder lassen sich im wesentlichen ohne besondere Schwierigkeit den ausserhalb des Gefäng- nisses gemachten Erfahrungen einordnen. Sie sind höchstens durch die grosse Lebhaftigkeit der Gehörstäuschungen sowie durch die Wiederkehr gewisser naheliegender Wahnvorstel- lungen ausgezeichnet, der Vorstellung, verspottet, hingerichtet, vergiftet zu werden, oder umgekehrt, unschuldig verurteilt, begnadigt worden zu sein und nun widerrechtlich festgehalten zu werden u. s. f. Dagegen kommen ausser den klinisch ülaien Bildern auch in beschränkterer Zahl Formen zur Beobachtung, die einstweilen noch nicht befriedigend zu deuten sind und möglicher- weise eigenartige Erzeugnisse der Gefangenschaft darstellen. Hierher gehören namentlich rasch einsetzende und wieder schwin- dende hallucinatorische Erregungszustände mit ausgeprägten Be- einflussungsideen, die zwar nicht wahnhaft weiter \ erarbeitet, aber auch nicht berichtigt, sondern dauernd festgehalten werden, ohne dass jedoch weder vorher noch nachher die Zeichen einer Verblödung auffindbar sind. Leichtere derartige Fälle mögen vielfach in den Gefängnissen selbst ablaufen. Es muss der weiteren Forschung Vorbehalten bleiben, zu entscheiden, ob es sich hier um selbständige Krankheitsbilder oder nur um be- sondere Gestaltungen sonst bekannter Formen handelt. Soviel aber steht fest, dass die eigenartigen Bedingungen der Gefangen- schaft imstande sind, den klinischen Bildern verschiedener Krank- heitsvorgänge eine gewisse gemeinsame Färbung zu geben.

Krieg. Ganz besonders reich an psychischen Ursachen des Irreseins ist der Krieg. Wenn Sommer*) den Nachweis ge- liefert hat, dass der Militärdienst im Frieden wesentlich nur psy- chopathisch veranlagte Personen krank macht und keinesfalls mehr Opfer an Geistesstörungen fordert, als in der entsprechen- den bürgerlichen Bevölkerung beobachtet werden, so pflegen

*) Sommer, Allgemeine Zeitschr. f. Psychiatrie, XLIII, 13; Stier, ebenda, LIX, 1; Ilberg, Über Geistesstörungen in der Armee zur Friedens- zeit. 1903.

Krieg; Psychische Ansteckung.

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doch Kriegs jahre*) regelmässig mit einer mächtigen Steigerung der psychischen Erkrankungen in der Armee einherzugehen. Der Grund dieser Erfahrung liegt zum Teil in der grösseren Häufung von Gelegenheitsursachen, insbesondere von Kopfverletzungen und akuten Krankheiten, hauptsächlich aber in der mehr chronischen Schädigung durch körperliche Überanstrengungen, Schlaflosigkeit und tiefgreifende, anhaltende gemütliche Erregungen. Die kli- nischen Bilder sind demgemäss einmal schwere neurasthenische Zustände und Schreckpsychosen, andererseits Gehirnerschütte- rungspsychosen, Erschöpfungspsychosen, Epilepsie und ganz be- sonders die Paralyse, deren Entstehung wir auf Rechnung der im Feldzuge so vielfach erworbenen Syphilis zu setzen haben. Häufig genug entwickelt sich das Irresein (namentlich die Paralyse) in- folge der genannten Schädigungen erst nach längerer Zeit, um dann meist einen schleichenden und ungünstigen Verlauf zu nehmen.

Psychische Ansteckung. Zum Schlüsse haben wir noch des Vorganges der uneigentlich sogenannten „psychischen Contagion“ zu gedenken, der Ausbreitung psychischer Störungen durch „An- steckung“. Dass gewisse einfache unwillkürliche Bewegungen, das Gähnen, Lachen, Räuspern, Husten, Erbrechen, durch Nach- ahmung, d. h. durch die Erzeugung der Vorstellung dieser Be- wegungen, hervorgerufen werden, ja dass sogar Ohnmächten (Soldaten beim Impfen) und Krämpfe (Mädchenschulen) auf gleiche Weise ausgelöst werden können, ist eine sehr bekannte Tatsache. Den erregenden Einfluss des Beispiels zeigen ferner die Erfah- rungen über das Verhalten grosser Volksmassen, die durch auf- reizende Reden und Taten zu Handlungen getrieben werden können, welche jeder einzelne für sich niemals begehen würde. Endlich berichtet uns die Geschichte der Medizin von grossen geistigen Epidemien,**) vorzugsweise religiösen Gepräges, die weite Kreise ergriffen und zu widersinnigem Denken und Treiben geführt haben. Ganz ähnliche Vorgänge werden unter verschiedenen

*) Sanitätsbericht über die deutschen Heere im Kriege gegen Frank- reich 1870/71, Bd. VII.

**) Hecker, Die grossen Volkskrankheiten des Mittelalters, heraus- gegeben von Hirsch. 1865; Sergi, psicosi epidemica. 1898; Rodrigues, Annales medico-psych., VIII, 13, 19, 1901.

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I. Die Ursachen des Irreseins.

Bezeichnungen noch heute bei gewissen leicht erregbaren Völker- stämmen und religiösen Sekten beobachtet. Die letzten derartigen Epidemien in der Gegend von Kiew hat S i k o r s k i *) eingehend beschrieben. In einem Falle handelte es sich um einen Mann mit religiösem Grössenwahn, dem sich zunächst einige unzweifel- haft kranke Personen, weiter aber eine grosse Schar einfach un- wissender und leichtgläubiger Bauern hinzugesellte. Sie alle glaubten an die göttliche Sendung des Sektenstifters, an die von ihm getanen Wunder, den von ihm ausgehenden himm- lischen Geruch. In einer zweiten Epidemie, bei der eine Bäuerin die Hauptrolle spielte, kam es dazu, dass sich in vier Gruppen 25 Personen lebendig begraben liessen, weil sie den W eltuntergang für bevorstehend hielten. Auch der abenteuerliche Zug. der Duchoborzen in Kanada gehört zu diesen Erscheinungen. Bei den grossen geistigen Volksseuchen handelt es sich natürlich nui in beschränktem Umfange um wirkliches Irresein; die Mehrzahl der Teilnehmer befindet sich in Zuständen stärkster gemütlicher Er- regung, von denen wir wissen, dass sie die Besonnenheit trüben und die Selbstbeherrschung aufheben.

Es gibt aber andererseits auch gar nicht selten Fälle, in denen mehrere miteinander in Berührung lebende Personen gleich- zeitig oder kurz nacheinander unter ihrem gegenseitigen Ein- flüsse in der gleichen Weise psychisch erkranken (induziertes Irresein**), folie ä deux); ich selbst hatte Gelegenheit, im Zeit- raum von acht Tagen drei mit religiöser Aufregung und Sinnes- täuschungen erkrankte Geschwister in die Anstalt aufzunehmen. Die Geistesstörung kann dabei entweder einfach durch die ge- mütliche Erregung, welche sie bei der Umgebung erzeugt, als Gelegenheitsursache krankmachend wirken; es handelt sich dann meist um Anfälle des hysterischen oder manisch-depressiven Irre- seins. Oder aber es werden geradezu gewisse Krankheitserschei- nungen durch eine Art von Suggestion dauernd oder vorüber- gehend von einer Person auf die andere übertragen. Nur in diesem

*) Sikorski, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, L, 778; ebenda, LV, 326.

**) Lehmann, Archiv f. Psychiatrie, XIV, 1; Jako wenko, Wjestnik Psychiatrii. 1887; Werner, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XLIV, 4 u. 5; Wollenberg, Archiv f. Psychiatrie, XX, 1; Schön fei dt, ebenda, XXVI, 202.

Psychische Ansteckung.

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letzteren Falle hat man das Recht, von einer psychischen An- steckung zu reden. In erster Linie kommt dabei die Übertragung hysterischer Störungen in Betracht. Sodann aber macht man, namentlich bei religiös Verrückten und bei Querulanten, nicht selten die Beobachtung, dass sie die eine oder andere Person ihrer nächsten Umgebung gänzlich in ihre Wahnideen hinein- ziehen und von der Berechtigung ihrer Ansprüche vollständig überzeugen. Die sekundär Erkrankten sind in solchen Fällen regelmässig krankhaft veranlagte, beschränkte Personen mit sehr geringer psychischer Widerstandsfähigkeit, vorzugsweise Frauen. Meist pflegt jedoch bei ihnen keine selbständige weitere Verar- beitung der Wahnideen stattzufinden. Vielmehr* nehmen sie ein- fach urteilslos auf, was eine stärkere Persönlichkeit ihnen auf- drängt; sie kommen wieder in ihr altes Geleise, sobald sie deren übermächtigem Einflüsse entzogen werden. So werden in der Irrenanstalt oft genug unselbständigere Kranke durch die Äusse- rungen ihrer Genossen beeinflusst.

Hie und da aber sieht man auch eine wahre Geistes- störung mit den gleichen, von aussen aufgenommenen Wahn- bildungen, aber in durchaus selbständiger Entwicklung zu stände kommen. Diese Fälle sind es, wie Schönfel dt zutreffend ausgeführt hat, welche im eigentlichsten und engsten Sinne als Irresein durch psychische Ansteckung zu be- zeichnen wären. Allerdings wird man, wo es sich um Bluts- verwandte handelt, immer mit der Möglichkeit einer gleichartigen Erkrankung aus inneren Gründen zu rechnen haben. Der Aus- bruch manisch-depressiver, hebephrenischer, katatonischer oder paranoider Störungen bei mehreren Mitgliedern einer Familie, auch ohne persönliche Berührung, ist so häufig, dass wir aus der Gleichzeitigkeit noch nicht berechtigt sind, auf ursächliche Be- ziehungen zu schliessen. Wenn wir auf der einen Seite auch die erschütternde Wirkung nicht verkennen wollen, die das Auftreten einer geistigen Störung auf das gemütliche Gleichgewicht der nächsten Umgebung ausübt, so werden wir doch annehmen dürfen, dass nur solche Personen selbständig erkranken, die den Keim des Leidens schon in sich trugen.

Eine gewisse Verwandtschaft mit dem Vorgänge der psychi- schen Ansteckung zeigen die in der neueren Zeit mehr beachteten

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I. Die Ursachen des Irreseins.

Erfahrungen von geistigen Störungen im Anschlüsse an hypno- tische und spiritistische*) Sitzungen. Die Aufregungen, die damit verbunden sind, die abergläubischen Deutungen, die sich an die geheimnisvollen Vorgänge knüpfen, bilden für empfäng- liche und haltlose Naturen eine entschiedene Gefahr. Natürlich ist von ursächlichen Beziehungen nicht die Rede in den zahlreichen Fällen, in denen bei Geisteskranken einfach die Wahnvorstellung hypnotischer oder spiritistischer Beeinflussung auftaucht:; der Inhalt des Wahnes spiegelt hier nur die landläufigen Erklärungs- versuche von Fernwirkungen wider. Dagegen kann namentlich die Entwicklung von autohypnotischen Zuständen sehr ernste Folgen nach sich ziehen, wie ich in einem zum Selbstmorde führen- den Falle erlebt habe. Im allgemeinen handelt es sich um hyste- rische Aufregungs- und Dämmerzustände, weiterhin aber auch um grosse gemütliche Erregbarkeit und willenlose. Abhängigkeit vom Hypnotiseur oder Medium. Ohne Zweifel spielt auch hier die Veranlagung eine wesentliche Rolle, zumal von vornherein nur solche Menschen sich mit grossem Eifer spiritistischen oder hyp- notischen Sitzungen hinzugeben pflegen, die dafür besonders empfänglich sind. Bei wirklich sachverständiger Handhabung der Hypnose durch den Arzt lässt sich übrigens nach meiner Er- fahrung jede Gefahr mit vollster Sicherheit ausschliessen.

B. Innere Ursachen (Prädisposition).

Mit der Betrachtung der krankhaften Veranlagung betreten wir jenes zweite grosse Gebiet der ätiologischen Foi&chung, welches sich mit den in der P e r s ö n 1 i c h k e i t d e s E r k r a n k- ten selbst gelegenen Ursachen beschäftigt. Die Forderung, ein vollständiges Verständnis für die Entstehung der Erkrankung zu gewinnen, weist uns zurück auf die gesamte Entwicklungs- geschichte der gegebenen psychischen Persönlichkeit und führt uns zur Untersuchung aller jener inneren und äusseren Ein- wirkungen, welche an der eigenartigen Ausprägung derselben mit- gearbeitet haben. Der Übersichtlichkeit wegen pflegt man diese Einflüsse in zwei Hauptklassen abzutrennen, in allgemeine

*) Henneberg, Archiv f. Psych., XXXIV, 3.

Lebensalter.

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und persönliche, je nachdem sie sich auf grössere Gruppen von Menschen insgesamt erstrecken, oder je nachdem sie nur einzelne Mitglieder derselben betreffen und somit diesen letzteren eine Sonderstellung gegenüber ihrer Umgebung verleihen.

1. Allgemeine Prädisposition.

Zwei verschiedenartige Bedingungen sind es, die man zumeist unter der Bezeichnung der allgemein prädisponierenden Ursachen zusammenfasst, nämlich einmal die Herabsetzung der psychischen und körperlichen Widerstandsfähig- keit, wie sie durch die besondere Veranlagung oder die beson- deren Lebensverhältnisse einer Gruppe von Personen begründet wird, dann aber auch die von den gleichen Umständen abhängige grössere oder geringere Häufigkeit der äusseren Ursachen psychischer Erkrankung. Streng genommen kann natürlich nur im ersteren Falle von einer wirklichen Prä- disposition die Rede sein, doch empfiehlt es sich aus praktischen Gründen, auch die Betrachtung der letztgenannten Verhältnisse hier anzuschliessen.

Lebensalter. Von den anthropologischen Eigenschaften, welche die Ausbildung der psychischen Persönlichkeit ent- scheidend beeinflussen, sind die wichtigsten das Lebensalter und das Geschlecht. Das Gehirn des Neugeborenen ist in ge- wisser Beziehung ein leeres Blatt; es ist wohl die Anlage vor- handen, die dasselbe zu seinen späteren verwickelten Leistungen befähigt, und es bestehen gewiss auch Anlagen, welche die Ent- wicklung dieser Leistungen in eine bestimmte Bahn zwingen, aber der Inhalt des Bewusstseins ist noch äusserst dürftig, die Verknüpfung der einzelnen psychischen Vorgänge unvollkommen und die Erinnerungsfähigkeit infolgedessen überaus beschränkt; es ist noch keine feststehende, den Bewusstseinsinhalt und die Triebbewegungen beherrschende, von der Aussenwelt abgegrenzte psychische Persönlichkeit vorhanden.

Allerdings wird dieser Mangel sehr rasch ausgeglichen durch die grosse Leichtigkeit, mit der sich im kindlichen Gehirne jene funktionellen Verbindungen ausbilden, die wir als die Grundlage der psychischen Vorgänge anzusehen pflegen. Indessen dieses

Kraepelin, Psychiatrie. I. 7. Anfl. 7

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I. Die Ursachen des Irreseins.

Verhalten schliesst zugleich eine Gefahr für das psychische Leben des Kindes in sich. Die Möglichkeit einer so raschen Bereicherung des Bewusstseinsinhalts beruht auf einer grösseren Empfänglich- keit und Beeinflussbarkeit. Die grössere Erregbarkeit des Inter- esses geht naturgemäss mit einer leichteren Ablenkbarkeit und Zerstreutheit desselben einher; die Leichtigkeit, mit der sic die Vorstellungen aneinander knüpfen, schliesst den Hang za spielerischen Einbildungen und „märchenhafter Belebung der Aussenwelt in sich. Dazu gesellt sich eine grosse Unbestandigkei , der Gemütsbewegungen und Stimmungen sowie die Neigung zu raschem, unüberlegtem Handeln. Physiologisch drückt sich diese Eigentümlichkeit des Kindesalters, wie wir durch So ltm an ns Untersuchungen wissen, in der geringeren Ausbildung der hem- menden Einflüsse im Nervensystem aus. _

Man sollte daher erwarten, dass die geringere . V lder- standsfähigkeit des kindlichen Gehirns, wie sie auch im psy- chischen Leben hervortritt, eine entschiedene Neigung zu gei- stiger Erkrankung mit sich bringe. In der Tat spricht für diese Ansicht die tägliche Beobachtung, indem sie uns zeigt, dass. ge- wisse Schädlichkeiten, die der Erwachsene ohne Storung ertragt z B leichte fieberhafte Erkrankungen, im Kindesalter alsbald ausgeprägte psychische Veränderungen herbeizuführen pflegen. Allein die unerschöpfliche Spannkraft der kindlichen Gewebe er- möglicht offenbar einen rascheren und vollständigeren Ausg eic der Störungen, so dass die Dauer wenigstens der heilbaren Formen in der Regel nur eine kurze zu sein pflegt. Sie entgehen aus diesem und anderen Gründen meist der psychiatrischen Zählung. Dazu kommt, dass eine ganze Reihe jener Schädigungen die im Laufe des späteren Lebens als die wichtigsten Ursachen des Irreseins angesehen werden müssen (Alkohol, Syphilis, Ge- schlechtsvorgänge, Überanstrengung, Sorgen), im Kindesalter so gut wie ausgeschlossen sind. Trotz der an sich geringeien 1 ei Standsfähigkeit sind daher psychische Störungen nach der An- gabe aller Beobachter in den ersten Lebensjahren verhältnis- mässig selten*); alle genauen Zahlenangaben verbieten sich wegen der unsicheren statistischen Grundlagen von selbst.

*) Emminghaus, Die psychischen Störungen des Kindesalters. ISS-: Moreau, La folie chez les enfants, deutsch von G a 1 a 1 1 i. 1889; I r e 1 a n d ,

Lebensalter.

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Für die richtige Würdigung dieser Verhältnisse ist indessen der Umstand in Betracht zu ziehen, dass schon vor der Geburt und in den ersten Lebensjahren eine ganze Reihe von Krankheits- vorgängen einsetzen, die zwar nicht klinisch reicher entwickelte Geistesstörungen, wohl aber psychische Schwächezustände von den leichtesten bis zu den schwersten Formen in ungemein grosser Zahl erzeugen. Nur in einem Bruchteil der Fälle handelt es sich dabei um Entwicklungsstörungen; zumeist sind es Rindenerkrankungen bisher noch wenig bekannter Art, die unter mehr oder weniger ausgedehnten Zerstörungen heilen, aber natürlich die weitere psychische Ausbildung hindern. Ausser den gröberen encephalitischen, porencephalischen, hy- drocephalischen, luetischen und tuberkulösen Erkrankungen spielen wohl auch Infektionen oder Selbstvergiftungen eine Rolle, deren Spuren nur den feineren Untersuchungshilfs- mitteln zugänglich sind. Hierher würde namentlich der Kre- tinismus gehören, die Entwicklungsstörung durch Ausfall der Schilddrüsentätigkeit. Man hat ferner an Giftwirkungen vom Darm her gedacht, da Verdauungsstörungen bei kleinen Kindern so leicht Hirnreizerscheinungen auslösen. Ein Teil der in der Jugend zur Verblödung führenden Erkrankungen dürfte mit der Hebephrenie wesensgleich sein, da gewisse klinische Bilder der kindlichen Schwächezustände eine weitgehende Übereinstim- mung mit denen der Entwicklungsjahre aufweisen und überdies diese letzteren oft genug nur die Fortbildung von Krankheits- zuständen darstellen, die in früher Jugend eingesetzt haben.

Ausser der Idiotie und Imbecillität beobachten wir im Kindesalter vornehmlich Delirien bei fieberhaften Krankheiten und namentlich epileptische und hysterische Störungen. Hie und da begegnen wir in Form von leichten Verstimmungen oder Er- regungen auch wohl den ersten Vorläufern des manisch-depres- siven Irreseins. Ausserdem zeigen sich allmählich die mannig- fachen Formen krankhafter Veranlagung, die zur Entwicklung psychopathischer Persönlichkeiten führen. Endlich beginnen

The mental affections of children, idiocy, imbecility and insanity. 2. Aufl. 1900. Manheimer, Les troubles mentaux de l’enfance. 1899; Infeld, Jahrb. f. Psych., XXII, 326.

7*

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I. Die Ursachen des Irreseins.

schon jetzt gewisse familiäre Erkrankungen des Nervensystems und die vereinzelten Fälle von jugendlicher Paralyse.

Mit der fortschreitenden Ausbildung der psychischen Per- sönlichkeit und mit dem gleichzeitigen Hervortreten mannig- facher neuer Krankheitsursachen nimmt die Reichhaltigkeit der Geistesstörungen allmählich zu. Die Entstehung des Irreseins aus äusseren Ursachen wird dabei wesentlich durch deren Aus- breitung in den einzelnen Lebensabschnitten bestimmt, wahrend der Ausbruch endogener Geistesstörungen sich ganz vonüegenc an gewisse Altersstufen knüpft. Zunächst kommen hier die mäch- tigen körperlichen und psychischen Umwälzungen wahrend der

Entwicklungszeit*) in Betracht. ^ .

Ich muss es für sehr wahrscheinlich halten, dass in diesen Vorgängen wesentliche Entstehungsbedingungen für einen Teil jener Geistesstörungen zu suchen sind, die wir mit dem Namen der Dementia praecox zu bezeichnen pflegen. Dafür spricht nich nur der Umstand, dass gewisse Formen derselben gerade wahrend der Entwicklungsjahre einsetzen, sondern namentlich auch die bereits von Hecker betonte Anlehnung des klinischen Bildes an die gewöhnlichen psychischen Veränderungen in jener Zeit, Dahin gehören die lebhafte Tätigkeit der Einbildungskraft, die eigentümlichen Stimmungsschwankungen, die Reizbarkeit, die Neigung zu Schwärmerei und Empfindsamkeit, die. geschlecht- liche Erregbarkeit, die Antriebe zu allerlei unvermitteltem und unüberlegtem Handeln. Alle diese Züge finden sich in krankhafter Ausprägung namentlich bei den hebephrenischen Erkrankungen wieder. Allerdings haben wir es hier stets mit greifbaren und eigenartigen Zerstörungen in der Hirnrinde zu tun, über deren nähere Beziehungen zu den Entwicklungsvorgängen noch völliges Dunkel herrscht.

Ausser der Dementia praecox treffen wir in diesem Alter häufig auf die ersten Anfänge des manisch-depressiven Irreseins in Form von leichteren oder schwereren Aufregungs- und Depres- sionszuständen. Ihre Entstehung ist vielleicht in erbindung zu bringen mit der bekannten grösseren gemütlichen Erregbarkeit dieses Lebensalters, wie sie sich auch in der Häufigkeit \ on

*) W. Wille, Die Psychosen des Pubertätsalters. 1898.

Lebensalter.

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Leidenschaftsverbrechen, von Körperverletzungen und Wider- stand kundgibt. Ferner treten jetzt vielfach epileptische und hysterische Krankheitserscheinungen deutlicher hervor, ebenso die vielgestaltigen Formen des Entartungsirreseins.

Endlich aber beginnen nunmehr auch eine Anzahl von äusseren Schädlichkeiten ihren Einfluss zu entfalten, da allmählich der Schutz des elterlichen Hauses mit einer grösseren Selbständigkeit der Lebensführung vertauscht wird. Allerlei Verführungen und Kämpfe treten an die noch unfertige Persönlichkeit heran; die Schädigungen, welche der Kampf ums Dasein mit sich bringt, äussern ihre ersten Wirkungen. Dabei macht sich die Unzu- länglichkeit der persönlichen Anlage allmählich stärker geltend. Jene psychischen Krüppel, die dem Kampfe ums Dasein nicht gewachsen sind, beginnen durch ihre eigentümliche Entwick- lungsrichtung, durch unzweckmässige Verarbeitung der Lebens- reize und geringere Widerstandsfähigkeit sich deutlicher aus- zusondern. Für das männliche Geschlecht wird jetzt ganz be- sonders der Alkohol gefährlich, für das weibliche das Fort- pflanzungsgeschäft. Auch akute Krankheiten, heftige Gemüts- erschütterungen, gelegentlich einmal Überanstrengung können zu allerlei Schädigungen führen. Gleichwohl ist die Häufigkeit psychischer Erkrankungen hier noch keine allzu grosse.

Die grösste statistische Häufigkeit der Geistesstörungen fällt in die Zeit der vollen Kraftentfaltung vom 25. bis zum 40. Lebensjahre. Sicherlich ist der Grund nicht die besondere Verletzlichkeit der entwickelten körperlichen und geistigen Per- sönlichkeit, sondern lediglich die Zahl der von aussen auf die- selbe einstürmenden Krankheitsursachen. Die Widerstandsfähig- keit ist in diesem Alter zweifellos am grössten, aber die Schäd- lichkeiten sind in rascherem Fortschritte angewachsen, als jene. Die Schwierigkeiten der Lebensführung vergrössern sich mit der zunehmenden Selbständigkeit und der Sorge um Weib und Kind; aus der weiter reichenden Verantwortlichkeit entspringen ernstere Kämpfe und Sorgen; die höher gestellten Hoffnungen bringen Enttäuschungen mit sich, und die dauernde Anspannung aller körperlichen und geistigen Kräfte im Daseinskämpfe geht mit der Gefahr der Abnutzung und Abstumpfung einher. Dazu gesellen sich die vielfachen Erkrankungen, denen die rücksichtslose Arbeit

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I. Die Ursachen des Irreseins.

den Menschen aussetzt, die verhängnisvollen "V orgänge des Ge- schlechtslebens beim Weibe, ganz besonders auch die verderbliche Wirkung der Ausschweifungen in Trunk und Liebe nebst deren tückischer Begleiterin, der Syphilis. Eine Reihe verschieden- artiger Formen des Irreseins gewinnen daher in diesem Alter ihre weiteste Verbreitung. Entschieden im Vordergründe jedoch steht die Paralyse und der Alkoholismus, namentlich beim männ- lichen Geschlechte; bei den Frauen treten demgegenüber die einzelnen, nunmehr sich häufenden Anfälle des manisch-depres- siven Irreseins stärker hervor. Seltener sind die V erblödungs- formen geworden, doch gehören gerade die paranoiden Erkran- kungen vielfach diesem Alter an; auch die echte Paranoia pflegt hier zu beginnen.

In dem Jahrfünft vom 36. bis zum 40. Lebensjahre ist die Zahl psychischer Erkrankungen auf ihrem Höhepunkte angelangt. Von da ab wird das Irresein allmählich seltener, vielleicht des- wegen, weil nunmehr das Ziel einer gesicherten Lebensstellung in der Mehrzahl der Fälle erreicht ist und damit eine Anzahl von Sorgen und Aufregungen in Wegfall kommt, andererseits, veii das reifere Alter der Verführung zu Ausschweifungen weniger zugänglich ist und beim Weibe die Gefahren des Fortpflanzungb- geschäftes zurücktreten. Dazu kommt, dass im nunmehr be- ginnenden Greisenalter die Empfindlichkeit für gemütliche Er- schütterungen zweifellos bedeutend abnimmt. Endlich aber ist dieses Lebensalter gewissermassen bereits „durchseucht ; die grosse Mehrzahl der Gefährdeten ist schon früher den verderb- lichen Einflüssen der Krankheitsursachen unterlegen. Aus allen diesen Gründen lässt die Häufigkeit psychischer Erkrankungen mit zunehmendem Alter zuerst ein langsames, von der Mitte der 50er Jahre aber ein rasches Sinken erkennen.

Andererseits jedoch haben nicht selten die aufreibenden Schädigungen des Lebens hier eine neue, erworbene Prädisposition geschaffen, indem sie die Widerstandsfähigkeit des verbrauch- ten Gehirns untergraben. Das Alter wird selbst zur Krankheit, der bis zu einem gewissen Grade schliesslich ein jeder erliegen muss.*) Die Aufnahmefähigkeit des Greises, seine geistige Be-

*) Fried mann. Die Altersveränderungen und ihre Behandlung. 1902.

Lebensalter.

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weglichkeit nimmt ab; er beginnt allmählich, fremd in seiner Umgebung und in seiner Zeit zu werden. Sein Gedächtnis wird unzuverlässig, namentlich für die jüngste Vergangenheit; der Gesichtskreis verengt sich wegen der Unzugänglichkeit für neue Anregungen; der Vorstellungsschatz verarmt, da der fort- schreitende Verlust an Vorstellungen nicht mehr durch neuen Erwerb ausgeglichen wird. Auch auf gemütlichem Gebiete kommt es zu einer gewissen Verödung, zu einer Einschränkung der Ge- fühlsregungen auf die allernächsten und unmittelbarsten Inter- essen. Ohne Zweifel liegen dieser psychischen Umwandlung be- stimmte körperliche Veränderungen zu Grunde. Wir erinnern nur an das Klimakterium der Frauen und die entsprechenden, freilich weit weniger einschneidenden Vorgänge beim Manne, ferner an die augenfälligen Rückbildungen in den gesamten Organen des alternden Körpers. Unter diesen hat man den Gefässverände- rungen, der Arteriosklerose, eine besondere Bedeutung zugeschrie- ben; sie sind nicht nur Begleiterscheinungen des eigentlichen Greisenalters, sondern sie können auch schon früher sehr hohe Grade erreichen. Andererseits beobachten wir zu dieser Zeit im Rindengewebe selbst eine Reihe verschiedener Krankheits- vorgänge, die schwerlich als einfache Folgen der Gefässverände- rungen aufgefasst werden dürfen.

Als klinischen Ausdruck des Rückbildungsalters können wir zunächst die Melancholie betrachten. Ausserdem scheint sich die Herabsetzung der psychischen Widerstandsfähigkeit in diesem Lebensabschnitte darin zu verraten, dass jetzt noch gewisse Geistesstörungen beginnen können, die wir auf eine ursprüngliche krankhafte Veranlagung zurückzuführen pflegen. Dahin gehört namentlich das manisch-depressive Irresein; bisweilen ist schon ein vereinzelter erster Anfall im Entwicklungsalter vorher- gegangen. Sodann beginnen in diesem Lebensalter eine Reihe zur Verblödung führender Irreseinsformen, die wir jetzt noch mit unter dem Begriffe der Dementia praecox zusammenfassen. Einerseits sind es paranoide Bilder mit abenteuerlichen Wahn- bildungen und Sinnestäuschungen, andererseits die noch wenig bekannten depressiv-katatonischen Formen, die meist mit der Melan- cholie zusammengeworfen werden. Endlich haben wir auch des senilen und präsenilen Beeinträchtigungswahnes hier zu gedenken.

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I. Die Ursachen des Irreseins.

Mit dem Eintritte des eigentlichen Greisenalters gewinnen die Geistesstörungen immer mehr den gemeinsamen Grundzug der psychischen Schwäche. Abnahme des Gedächtnisses, Unfähigkeit zur Auffassung und Verarbeitung neuer Eindrücke, Verwirrtheit und Zerfahrenheit, Oberflächlichkeit der Gemüts- bewegungen, hypochondrische Befürchtungen, nächtliche Unruhe, dabei Neigung zu rascher Verblödung sind die hervorstechendsten Züge der hierher gehörigen Krankheitsbilder, unter denen neben dem einfachen, mehr oder weniger hochgradigen Altersblödsinn die senilen Depressionszustände, die deliriösen Erregungen, die Presbyophrenie und die arteriosklerotische "V erblödung im U order- grunde stehen. Vereinzelt begegnen wir noch den letzten Aus- läufern des manisch-depressiven Irreseins. Bemerkenswert ist überall die Häufigkeit von Gehirnerscheinungen, Schwindel, apha- sischen Störungen, Schlaganfällen, Krämpfen und Lähmungen.

Geschlecht. Die Frage nach der Veranlagung der beiden Geschlechter zu psychischer Erkrankung ist auf Grund statistischer Erhebungen vielfach verschieden beantwortet wor- den. Ohne weiteres Eingehen auf die Würdigung der Fehler- quellen derartiger Angaben sei hier nur bemerkt, dass die Sta- tistik im allgemeinen keine erheblichen und sicheren Unter- schiede in der Häufigkeit des Irreseins zwischen beiden Ge- schlechtern erkennen lässt. In Wirklichkeit dürfte es kaum zweifelhaft sein, dass das Weib mit seiner zarteren Veranlagung, mit der geringeren Ausbildung des Verstandes und dem stärkeren Hervortreten des Gefühlslebens weniger Widerstandsfähigkeit gegen die körperlichen und psychischen Ursachen des Irreseins besitzt, als der Mann. Allein die Bedeutung dieses Umstandes wird ausgeglichen durch die verhältnismässig geschützte Stel- lung, die das Weib dem unvergleichlich stärker gefährdeten Manne gegenüber einnimmt. Alle jene Schädlichkeiten, die der Kampf ums Dasein mit sich bringt, treffen in erster Linie und vorwiegend den Mann, dem die Sorge für die Familie obliegt, wenn auch die Mühsalen des Lebensunterhaltes für das unverheiratete Weib vielfach weit grösser sein mögen. Ferner ist vor allem auf die Wirkung der Ausschweifungen nach den verschiedensten Rich- tungen hinzuweisen, Gefahren, denen ganz vorzugsweise der Mann wegen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Unabhängig-

Geschlecht.

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keit seiner Stellung ausgesetzt ist, während das Weib, durch Er- ziehung und Sitte gebunden, stets ein eintönigeres, regelmäs- sigeres und ruhigeres Leben zu führen gezwungen ist. Wo dieser Zwang einmal durchbrochen und der Leidenschaftlichkeit der weiblichen Natur freier Spielraum gegeben ist, bei Prostituierten, sehen wir daher sofort die geringere Widerstandsfähigkeit des weiblichen Geschlechtes in erschreckenden Prozentsätzen des Irreseins und der Selbstmorde zum Ausdruck gelangen*). Aller- dings dürfte gerade hier die verhältnismässige Häufigkeit ur- sprünglicher krankhafter Veranlagung wesentlich in Rechnung zu ziehen sein.

Die Entstehung der eigentümlichen Geistesstörungen des Weibes wird durchaus beherrscht durch die Vorgänge des Geschlechtslebens. Die Bedeutung der Sexualerkran- kungen, der Schwangerschaft, des Wochenbettes, des Säuge- geschäftes ist schon früher berührt worden; sie tragen die Schuld, dass zwischen dem 16. und 35. Lebensjahre tatsächlich die Gefähr- dung des weiblichen Geschlechtes eine etwas höhere ist, als die- jenige des Mannes. Nach jenem Zeitpunkte zeigt dieselbe an sich und verhältnismässig eine Abnahme, bis mit den mannigfachen Umwälzungen und Störungen im Rückbildungsalter, etwa von Mitte der 40er Jahre bis Mitte der 50er Jahre, die Zahl der psy- chischen Erkrankungen beim Weibe wieder etwas überwiegt. Ja, zwischen dem 61. und 65. Lebensjahre lässt sich sogar ge- radezu eine Zunahme der Geistesstörungen beim weiblichen Ge- schlechte nachweisen, die allerdings im späteren Alter wieder einer rascheren Abnahme Platz macht. Dennoch erscheint das Weib von da ab dauernd mehr gefährdet, als der Mann.

Den Verschiedenheiten in den ursächlichen Verhältnissen bei beiden Geschlechtern entspricht auch das Vorwalten der einzelnen Krankheitsformen bei ihnen. Die Dementia paralytica, die Ver- giftungspsychosen, insbesondere der Alkoholismus, das epilep- tische Irresein, die Verrücktheit, die erworbene Neurasthenie, das traumatische Irresein, die Schreckneurose überwiegen beim männlichen Geschlechte. Beim Weibe begegnen wir dagegen auffallend häufig den mit lebhaften Stimmungsschwankungen

*) v. Oettingen, Moralstatistik. 3. Auflage. 1882, 767.

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I. Die Ursachen des Irreseins.

einhergehenden manisch-depressiven Geistesstörungen, für welche vielfach die periodischen Umwälzungen im Geschlechtsleben den günstigen Boden abgeben. Auch die Entwicklung ausgeprägter Formen der Hysterie wird anscheinend durch die Eigentümlich- keiten der weiblichen Anlage begünstigt. Ferner beobachten wir hier häufiger die Erschöpfungs- und Infektionspsychosen, meist im Zusammenhänge mit den V orgängen des Fortpflanzungs- geschäftes, während im Klimakterium des Weibes die Neigung zu melancholischen Erkrankungen stärker hervortritt. \ on den Verblödungskrankheiten scheinen die einfach hebephrenischen Formen das männliche, die katatonischen das weibliche Geschlecht etwas zu bevorzugen; auch hier bestehen deutliche Beziehungen zum Fortpflanzungsgeschäfte.

Volksart und Klima. Sehr wenig Sicheres lässt sich bei dem jetzigen Stande der Statistik und der grossen Schwierigkeit der Frage über die Neigung der einzelnen Volksstämme zu geistiger Erkrankung aussagen. Zunächst sind die Zählungen der Geistes- kranken in den meisten Ländern so unsicher, dass sie durchaus keine vergleichbaren Bilder geben. Sodann aber ist es unmöglich, die Wirkung der verschiedenen Einflüsse, welche die Häufigkeit des Irreseins bedingen, voneinander zu trennen, der A olksart, der Lebensgewohnheiten, des Klimas, der Ernährung, der all- gemeinen Gesundheitsverhältnisse u. s. f. Dennoch hat es den Anschein, als ob Geistesstörungen bei Völkern, die unter ein- fachen Bedingungen leben, weit seltener sind, als bei uns. Dass dabei wirklich die Eigenart der A7ölker selbst eine Rolle spielen kann, beweist das Beispiel der Juden*), die ohne gröbere Fehler mit der sie umgebenden Bevölkerung verglichen werden können. Dieser Vergleich ergibt, dass wenigstens in Deutschland und ebenso in England die Juden in erheblich höherem Masse zu gei- stiger und nervöser Erkrankung veranlagt sind, als die Germanen. Allerdings sind bei ihnen die alkoholischen Formen des Irreseins recht selten; dagegen treten ausserordentlich stark jene Stö- rungen in den A7ordergrund, die wir auf erbliche Entartung zu- rückzuführen pflegen. Vielleicht spielt dabei eine gewisse Rolle die Vorliebe der Juden für Verwandtschaftsheiraten, von denen

*) P i 1 c z , Wiener klinische Rundschau. 1901, 47 u. 4S.

Volksart und Klima.

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wir wissen, dass sie eine bestehende Krankheitsanlage in bedenk- licher Weise fortzubilden imstande sind.

Ein gewisses Licht auf die hier erörterte Frage wirft vielleicht auch die Selbstmordstatistik*). Die Unterschiede nicht nur der grossen Volksstämme, sondern auch der ein- zelnen kleineren Gruppen untereinander sind so beträcht- liche, dass sie schlechterdings nicht allein oder auch nur hauptsächlich auf die verschiedenen Lebensbedingungen zu- rückgeführt werden dürfen. Wer Gelegenheit gehabt hat, die ausserordentliche Selbstgefährlichkeit der Geisteskranken in Sachsen kennen zu lernen, wird erstaunt sein, in Bayern etwa oder in der Pfalz eine unvergleichlich geringere Selbstmord- neigung anzutreffen. Dass dieselbe bei den Romanen noch weit mehr in den Hintergrund tritt, ist bekannt. Auch hinsichtlich der Gewalttätigkeit der Kranken bestehen sehr grosse Verschie- denheiten. In Deutschland stehen nach meinen Erfahrungen Ober- und Niederbayern in dieser Beziehung bei weitem obenan, während die sächsischen Kranken im allgemeinen eine sehr geringe Neigung zu Gewalttätigkeiten zeigen; die Kranken der Pfalz zeichnen sich dagegen durch sehr grosse Unruhe aus. In sehr erheblicher Weise wird die Häufigkeit und die Eigenart des Irreseins bei den ver- schiedenen Völkern ferner durch die von ihnen bevorzugten Ge- nussmittel bestimmt. So tritt bei den germanischen Stämmen sehr ausgeprägt der Hang zum Alkohol in den Vordergrund, während die Romanen im allgemeinen weit mässiger sind und die Muhammedaner und Buddhisten jenes Gift durchaus verab- scheuen. Dafür begegnen wir in Vorderasien und Nordafrika den Geistesstörungen durch Haschisch, in Ostasien dem Opium- missbrauche, der allerdings weit weniger tief in das Seelenleben eingreift, endlich in Peru dem Cocai'nismus.

Von der allergrössten Bedeutung wäre es natürlich, einen Einblick in die Häufigkeit der einzelnen klinischen Krankheits- formen bei den verschiedenen Völkern zu gewinnen. Leider fehlen dafür heute noch die notwendigsten Voraussetzungen, da die überwiegende Mehrzahl unserer klinischen Diagnosen nur viel-

*) M o r s e 1 1 i , Der Selbstmord, deutsch von K u r e 1 1 a. 1881 ; Dürk- heim, Le suicide, etude de sociologie. 1897.

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I. Die Ursachen des Irreseins.

deutige Zustandsbilder umfasst. Höchstens die Angaben über das Vorkommen der Paralyse können vergleichbar erscheinen. Wir erfahren, dass sie in Irland, in Spanien, Nordafrika, in Bosnien, Persien, Abbessynien und Japan weit seltener ist, als bei uns, obgleich in manchen dieser Länder die Syphilis eine ungeheure Verbreitung aufweist. Dabei ist aber zu bemerken, dass die schweren Formen der Lues wenigstens in Mittelafrika fast ganz fehlen; die Krankheit beschränkt sich dort wesentlich auf Haut- ausschläge und Geschwüre und besitzt grosse Neigung zur Selbst- heilung. Bei Naturvölkern scheinen die Krankheitsbilder der Hysterie und Epilepsie nicht selten zu sein. Der ersteren zum mindesten nahe verwandt ist das unter verschiedenen Namen auch bei anderen Völkern beobachtete „Latah“ der Malayen, das sich wesentlich in Anfällen von Befehlsautomatie oder Koprolalie äussert, die durch Schreck ausgelöst werden. Dagegen dürfte das bekannte „Amok“ der Malayen in das Gebiet der epileptischen Störungen gehören. Zu erwähnen wäre etwa noch die in V est- afrika und neuerdings auch in Uganda epidemisch auftretende Schlafkrankheit der Neger, der eine diffuse, meist binnen Jahres- frist zum Tode führende Hirnerkrankung bisher unbekannten Ur- prungs zu Grunde liegt.

Höchst wahrscheinlich hat auch das Klima auf die Häufig- keit und Form des Irreseins einen gewissen Einfluss, wenn auch genaueres darüber kaum bekannt ist. Für jene Annahme sprechen indessen zunächst die Erfahrungen, die man über die Abhängig- keit der Selbstmorde und Verbrechen von Jahreszeiten und Klima gemacht hat. Ferner habe ich den Eindruck, als ob die Auf- regungszustände unserer Kranken im Sommer meist heftiger ver- laufen, als im Winter; bei cirkulären Fällen sieht man nicht selten die Depression gerade in den Winter fallen. In Italien scheinen plötzliche triebartige Erregungszustände häufiger vor- zukommen, als bei uns; andererseits sind mir bei den Esten keine wesentlichen Abweichungen gegenüber unseren Kranken aufgefallen. Rasch*) hat neuerdings über den Einfluss des Tropenklimas auf eingewanderte Europäer berichtet. Er kommt zu dem Ergebnisse, dass sich im Laufe der Jahre allmählich

*) Rasch, Allgem. Zeitschr. f. Psych., LIV, 745.

Allgemeine Lebensverhältnisse.

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Schlaffheit, Gleichgültigkeit, Abnahme des Gedächtnisses, Ver- lust der gemütlichen Widerstandsfähigkeit, Reizbarkeit und Em- pfindlichkeit („Tropenkoller“), endlich Schwinden der Tatkraft einstelle.

Allgemeine Lebensverhältnisse. Es kann nicht zweifelhaft sein, dass die gesamten Lebensbedingungen, unter denen ein Volk sich befindet, einen nachhaltigen Einfluss auch auf die Häufig- keit des Irreseins gewinnen müssen; hängt doch von ihnen nicht nur die allgemeine Widerstandsfähigkeit, sondern auch die Ver- breitung der besonderen Krankheitsursachen ab. Wie es scheint, nimmt die Zahl der Geistesstörungen mit steigender Gesittung zu. Allerdings ist es schwierig, diesen Satz sicher zu beweisen, da die Zahlenangaben über die Häufigkeit des Irreseins bei Natur- völkern oder bei Völkern von verschiedener Stufe der Gesittung aus naheliegenden Gründen keinen Vergleich gestatten. Dagegen lassen regelmässige Zählungen bei uns mit Bestimmtheit eine rasche Zunahme der anstaltsbedürftigen Geisteskranken er- kennen, welche das allgemeine Anwachsen der Bevölkerung weit übersteigt. Zum Teil ist diese Zunahme sicher durch die grössere Sorgfalt der Zählung, durch die bessere Kenntnis der Geistes- störungen bedingt; zum Teil auch hängt sie mit der wachsenden Schwierigkeit zusammen, in den verwickelteren Lebensverhält- nissen Geisteskranke ohne Gefahr ausser der Anstalt zu ver- pflegen. Je grösser die Gefahr von Unglücksfällen oder Zusam- menstössen mit der Umgebung wird, je enger das Beisammen- wohnen, je kostbarer die einzelne Arbeitskraft, desto stärker wächst die Neigung der Bevölkerung, ihre Geisteskranken der Anstalt zu übergeben.

Dennoch können wir, wie ich glaube, nicht wohl mehr daran zweifeln, dass wir tatsächlich mit einer Zunahme des Irreseins zu rechnen haben. Dafür spricht ausser dem erschreckend schnellen Anwachsen der Zahlen die gleichzeitige Steigerung der Selbstmordhäufigkeit, dann aber auch der eigentümliche Gegen- satz, der sich zwischen Stadt- und Landbevölkerung heraus- stellt. Gerade die grossen Städte mit ihren erhöhten An- forderungen an die geistige und sittliche Kraft des Einzelnen, mit ihrer Erschwerung der Lebensbedingungen und ihren mannig- fachen Verführungen zu Ausschweifungen aller Art sind es, welche

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I. Die Ursachen des Irreseins.

bei weitem den grössten Beitrag zu der raschen Vermehrung der Geisteskrankheiten und des Selbstmordes liefern. Dort sind die Umwälzungen, die unser Zeitalter in den gesamten Lebens- verhältnissen herbeigeführt hat, am schärfsten ausgeprägt. Die vollständige Umgestaltung des Arbeitsbetriebes durch Dampf und Elektrizität, die Vernichtung des Handwerks, die Entwicklung des Fabrikwesens, der ins Ungeahnte gesteigerte wirtschaftliche und geistige Verkehr stellen heute Anforderungen an die Lei- stungsfähigkeit des Einzelnen, die weit über das früher Gewohnte hinausgehen. Alle diese Wandlungen sind mit so unerhörter Schnelligkeit vor sich gegangen, dass wohl nur die anpassungs- fähigsten Naturen denselben völlig haben folgen können. Wir leben in einer Übergangszeit, in welcher sich der Kampf ums Dasein naturgemäss ganz besonders heftig und aufreibend ge- staltet. Das ist, wie ich meine, der Hauptgrund, warum die An- zahl derer so unheimlich zunimmt, die den allzu rasch gesteigerten Anforderungen unseres heutigen Lebens nicht genügen una in dem friedlichen Ringen kampfunfähig werden. Ein neues, heranwachsendes Geschlecht wird in diesen Kampf von v orn- herein mit frischer Kraft und besseren Waffen eintreten und sich damit auch den veränderten Lebensbedingungen anpassen lernen.

Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass jedem Übel am Körper der Menschheit alsbald auch das Heilmittel zu erwachsen pflegt. Das hastige Leben unserer Zeit ist gleichzeitig auch reicher geworden; die Not hat auch die Hilfsbereitschaft ver- mehrt. Allmählich werden die vielfachen Bestrebungen zur Lin- derung des Elends, zur Erziehung des Volkes für seine neuen Aufgaben ihre segensreiche Wirkung entfalten können und auch die Schwachen stützen, die aus eigener Kraft der neuen Zeit nicht zu folgen vermögen. Ja, in gewissem Sinne können wir sogar sagen, dass gerade die stärker erwachende Menschenliebe einen nicht unwesentlichen Anteil an der Zunahme oer Geistes- störungen hat, indem sie eine grosse Anzahl von geistigen Krüp- peln pflegt und erhält, die ohne sie unrettbar frühem Inter- gange anheimfallen würden. Eine kräftige Triebfeder erhält diese Fürsorge allerdings durch den Umstand, dass die besonderen Lebensverhältnisse der grossen Städte heute die häusliche Pflege

Allgemeine Lebensverhältnisse; Beruf.

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vieler Geisteskranker unmöglich machen, die sonst vielleicht der Anstalt noch gar nicht bedürfen würden.

Auf der anderen Seite ist jedoch leider nicht zu verkennen, dass einige der wichtigsten Ursachen des Irreseins auch ohne unmittelbaren Zusammenhang mit der Umgestaltung unserer ge- samten Lebensverhältnisse in rascher Verbreitung begriffen sind, vor allem der Alkoholmissbrauch und die Syphilis. Beide Ursachen werden erfahrungsgemäss besonders in den Grossstädten gezüch- tet, in denen sie, sehr mässig gerechnet, etwa die Hälfte der Geistesstörungen erzeugen. Will man die Ausbreitung der Trunk- sucht und der Geschlechtskrankheiten als Gradmesser der Ge- sittung betrachten, so müsste man allerdings zu dem trostlosen Schlüsse kommen, dass wir durch den Fortschritt unserer Kultur mit Notwendigkeit dem Untergange durch körperliche und gei- stige Entartung entgegengetrieben werden.

Mehrfach ist die Ansicht ausgesprochen worden, dass die klinischen Krankheitsformen schon im Laufe der letzten Jahr- zehnte gewisse Wandlungen durchgemacht hätten. So soll die demente Paralyse häufiger, die klassische Form seltener geworden sein, , während die Neigung zu Remissionen zugenommen habe. Andererseits soll das cirkuläre Irresein öfters beobachtet werden, als früher. Da wir selbst und unsere Diagnosen, auch auf dem anscheinend so sicheren Boden der Paralyse, fortwährendem Wandel unterliegen, ist es sehr schwer, über solche Fragen ein zu- verlässiges Urteil zu gewinnen. Es ist gewiss möglich, dass Ver- schiebungen vor sich gegangen sind. So begegnen wir der Para- lyse bei Frauen und Kindern anscheinend häufiger, während die paralytischen Anfälle seltener geworden sein dürften. Aber auch bei denjenigen Tatsachen, die einigermassen sichergestellt sind, bleibt für die Deutung noch ein weiter Spielraum.

Beruf. Die Gefährdung einzelner Berufsarten durch Geistes- störungen ist natürlich zumeist nur in der grösseren Häufigkeit und Wirksamkeit der mit ihnen verknüpften Schädlichkeiten be- gründet; höchstens könnte man aus der Wahl mancher künst- lerischer Berufsarten, z. B. des dichterischen und schauspiele- rischen, einen bisweilen zutreffenden Rückschluss auf eine stärkere gemütliche Empfänglichkeit und Erregbarkeit machen. Ferner dürfte die Berufslosigkeit (Landstreicher, Gewohnheitsver-

112

I. Die Ursachen des Irreseins.

brecher u. s. f.) vielfach durch unvollkommene oder krankhafte Entwicklung der Persönlichkeit bedingt werden. Erfahrungs- gemäss findet sich unter den Insassen der Gefängnisse, Zucht- häuser und Arbeitshäuser eine bedeutende Zahl von mehr oder weniger ausgeprägt Geisteskranken; die Angaben schwanken um 2—4 Prozent herum, gehen bei den Männern jedoch erheblich höher. Am häufigsten scheinen Trinker zu sein, die freilich nur mit Vorbehalt, als krank angesehen zu werden pflegen; inPreussen sollen sie über 40 Prozent der Straf anstaltsbevölkerung aus- machen. Auch Epileptiker sind nicht selten, besonders unter den Landstreichern und Leidenschaftsverbrechern. Bei ihnen spielt meist der Alkohol nebenbei noch eine bedeutende Rolle. Weiterhin findet sich namentlich unter den unverbesserlichen Dieben eine Anzahl von hebephrenisch oder katatonisch Schwach- sinnigen, bei denen in früherem Lebensalter, öfters im Gefäng- nisse, eine akute Geistesstörung mit ängstlicher Verwirrtheit und Sinnestäuschungen zu einer tiefgreifenden Schädigung des Ge- fühlslebens und des Willens geführt hat. Umgekehrt sehen wir gar nicht selten verwegene Verbrecher bei Gelegenheit einer längeren Freiheitsstrafe an Dementia praecox erkranken und dann entweder in die Irrenanstalt wandern oder zu harmlosen Landstreichern herabsinken.

Gerade die Landstreicher*) aber bilden eine höchst eigen- artige Menschengruppe. Sie sind fast ausnahmslos geistig, oft auch körperlich minderwertig und enthalten einen erheblichen Bruchteil von ausgeprägt Geisteskranken. Ausser angeborenem Schwachsinn und psychopathischer Veranlagung spielt nament- lich der Alkoholmissbrauch eine hervorragende Rolle; Bon- höf f e r fand seine Spuren in 63 Prozent seiner Fälle. In 12 Pro- zent bestand Epilepsie. Von den zweifellos geisteskranken Land- streichern und den ihnen so sehr nahestehenden Prostituierten gehört die Mehrzahl dem Bilde der Dementia praecox an, die sich allerdings ziemlich häufig auf dem Boden einer schon von Jugend auf bestehenden Verblödung entwickelt. Bisweilen erfolgt das Versinken in das Landstreichertum im unmittelbarem Anschlüsse

*) Bonhöffer, Zeitschrift f. d. gesamte Strafrechtswissenschaft, XXI, 1902; Wilmanns, Centralblatt f. Nervenheilk., XXV, 729, 1902.

Beruf.

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an eine akute Geistesstörung; in anderen Fällen vollzieht sich die Verblödung ganz schleichend, so dass sie schon einen sehr hohen Grad erreicht hat, wenn sie endlich als krankhaft erkannt wird. Von anderen Geistesstörungen führen hie und da die Paralyse oder leichte manische Erregungen zum Landstreichertum.

Bei einem nicht unerheblichen Bruchteile der unverbesser- lichen Verbrecher, Landstreicher und Dirnen haben wir es zwar nicht mit ausgeprägtem Irresein, wohl aber mit krankhaften Mängeln und Eigentümlichkeiten der psychischen Veranlagung zu tun, die von vornherein ihre Lebensschicksale in die bestimmte Bahn drängen. Es sind das die sogenannten „geborenen“ Ver- brecher. Bei manchen derselben, namentlich bei gewissen Sitt- lichkeitsverbrechern, Brandstiftern und Giftmischern, begegnen wir geradezu mächtigen verbrecherischen Trieben. Von den ent- schieden krankhaften Persönlichkeiten dieser Art führen flies- sende Übergänge ganz allmählich zu den einfachen Gewohnheits- verbrechern hinüber.

Im übrigen sind es entweder psychische oder körperliche Ur- sachen, welche, an eine bestimmte Art der Lebensführung sich knüpfend, eine grössere Häufigkeit des Irreseins zur Folge haben. Geistige Überanstrengung kann bei Gelehrten oder im jugendlichen Alter bei Schülern gefährdend wirken oder auf anderweitig vor- bereitetem Boden dem Ausbruche des Irreseins Vorschub leisten. So sieht man auffallend häufig junge Leute hebephrenisch er- kranken, die sich auf der Schule besonders ausgezeichnet haben. Gemütliche Erregungen spielen bei Soldaten im Kriege, bei Bör- senmännern, bei Künstlern, bei Erzieherinnen ihre verderbliche Rolle. Matrosen, Schankwirte, Prostituierte sind dem Einflüsse der Ausschweifungen, dem Trünke und der Syphilis ausgesetzt; auch Offiziere, Studenten und Kaufleute, besonders Reisende, haben darunter zu leiden. Dagegen drückt der Fluch der Not, der Entbehrung, der Nahrungssorgen, gesundheitlicher Miss- stände hauptsächlich die handarbeitenden Massen der Bevölke- rung. Körperliche Überanstrengung, Strapazen, Nachtwachen sind die Schädlichkeiten, welche der Militärdienst mit sich bringt; im Verein mit den vielleicht nicht ganz gleichgültigen bestän- digen Erschütterungen des Fahrens treffen sie den Eisenbahn- bediensteten. Wärmebestrahlung, Kopfverletzungen, Vergiftungen

Kraepelin, Psychiatrie. I. 7. Aufl. 8

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I. Die Ursachen des Irreseins.

verschiedener Art (Blei, Quecksilber) sind weitere Gelegen- heitsursachen, denen wieder andere Berufsarten vorzugsweise ausgesetzt zu sein pflegen. Der klinische Ausdruck dieser Ge- fährdung wird natürlich wesentlich durch die besondere Art der vorherrschenden Ursachen bestimmt; wir können daher in dieser Beziehung auf die frühere Besprechung der betreffenden ursäch- lichen Verhältnisse zurückverweisen.

Zivilstand. Ein nicht unerheblicher Einfluss auf die Häufig- keit des Irreseins muss, wie es im Hinblicke auf statistische Zusammenstellungen den Anschein hat, dem Zivilstande zu- geschrieben werden. Allerdings hat Hagen mit Recht darauf hingewiesen, dass die zunächst sich ergebenden Unterschiede vor allem auf die verschiedene Gefährdung des durchschnittlichen Lebensalters zurückzuführen sind, in welchem sich die Ledigen und die Verheirateten befinden. Haben wir doch oben gesehen, dass psychische Erkrankungen zwischen dem 20. und 40. Lebens- jahre überhaupt häufiger zu sein pflegen, als in späterem Alter. Auf der andern Seite ist es unzweifelhaft, dass in einer grossen Zahl von Fällen die Ehelosigkeit schon als die Folge einer un- vollkommenen psychischen Entwicklung, einer bestehenden oder (namentlich beim weiblichen Geschlechte) überstandenen Gei- stesstörung anzusehen ist. Endlich aber kann auch der Ehe selbst trotz der aus dem Fortpflanzungsgeschäfte erwachsen- den Gefahren, trotz der Sorgen, die sie mit sich bringt, dennoch wegen der grösseren Befriedigung und Sicherheit des gemein- schaftlichen Lebens und auch wohl wegen der geringeren Ver- führung zu Ausschweifungen eine gewisse schützende Bedeutung nicht abgesprochen werden. Am meisten gefährdet scheinen die Verwitweten und Geschiedenen zu sein; haben sie doch häufig fast alle Sorgen und Gefahren der Ehe zu tragen, ohne deren schützende und sichernde Wirkungen zu geniessen.

2. Persönliche Prädisposition.

Wenn uns die bisherige Betrachtung gezeigt hat, wie den verschiedenen Gruppen von Menschen entweder nach ihrer all- gemeinen Anlage eine geringere Widerstandsfähigkeit gegen schä- digende Einflüsse zukommt, oder wie sie nach ihrer eigentüm-

Zivilstand; Erblichkeit.

115

liehen Veranlagung und den besonderen Lebensverhältnissen einer grösseren oder geringeren Zahl von Gefahren ausgesetzt sind, so werden uns ähnliche Gesichtspunkte einen Einblick in das zweifache Wesen jener vielgestaltigen Krankheitsursachen ver- schaffen, die man unter dem Namen der persönlichen Prädisposition zusammenzufassen pflegt.

Erblichkeit. Die Zergliederung einer gegebenen Persönlich- keit weist uns auf ihre Entstehung und damit über das Einzel- leben hinaus auf dasjenige der Erzeuger zurück, welches uns über die erste und ungemein wichtige Frage Aufschluss zu geben hat, über den Einfluss der Erblichkeit. Bei der oft überraschenden Treue, mit der sich nicht nur körperliche, sondern namentlich auch geistige Eigenschaften von den Eltern auf die Kinder übertragen, werden wir uns nicht wundern dürfen, dass auch die Anlage zu psychischer Erkrankung in grossem Umfange der Vererbung unterliegt. Scheint doch ge- rade das Nervengewebe in besonderem Masse der Beeinflussung durch die Vererbung zugänglich zu sein. Weiterhin aber darf nach den Erfahrungen, die über die Nachkommenschaft der Trinker und Syphilitischen vorliegen, nicht bezweifelt werden, dass schwere erworbene Leiden, vielleicht durch unmittelbare Schädigung der Keimzellen, ebenfalls für die geistige Gesund- heit des kommenden Geschlechtes verderblich werden können. Auch Gicht, Tuberkulose, Diabetes, bösartige Geschwülste und dergleichen sind unter diesem Gesichtspunkte als Ursachen einer angeborenen, freilich nicht eigentlich vererbten krankhaften Ver- anlagung angeführt worden. Jedenfalls ist die Bedeutung der Abstammung in der Entstehungsgeschichte psychischer Krank- heiten immer und von allen Irrenärzten auf das einmütigste be- tont worden, so sehr auch bei den naheliegenden Fehlerquellen einer Statistik über diesen Punkt die Zahlenangaben im einzelnen auseinandergehen*) (von 4 bis 90 Prozent). Der Grund für diese grossen Unterschiede liegt hauptsächlich in der verschieden weiten

*) R i b o t , Die Vererbung, deutsch v. K u r e 1 1 a. 1895; Orschansky, Die Vererbung im gesunden und im krankhaften Zustande. 1903; Grassmann, Allgem. Zeitschr. f. Psych., LII, 960; Turner, Journal of mental Science, Juli 1896; Farguharson, ebenda, Juli 1898; War da, Monatsschrift für Psychiatrie, IV, 388, 1898.

8*

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I. Die Ursachen des Irreseins.

Fassung des Begriffes der Erblichkeit, in der grösseren oder geringeren Genauigkeit der Vorgeschichte und in der Besonder- heit des verarbeiteten Krankenmaterials. Wenn man berück- sichtigt, dass nicht nur eigentliche Geistesstörungen, sondern eine Reihe von verwandten Zuständen, Alkoholismus, Neurosen, auffallende Charaktere, verbrecherische Neigungen und der- gleichen, als Erscheinungsformen krankhafter Veranlagung an- gesehen und somit bei der Feststellung der Erblichkeitsverhält- nisse in Rechnung gebracht werden müssen, so lässt sich im Mittel bei mindestens 60 bis 70 Prozent aller psychisch Er- krankten unter den nächsten Anverwandten das Bestehen der- artiger Abweichungen nachweisen.

Für die Würdigung dieses rein statistischen Ergebnisses ist es indessen sehr wichtig, zu bedenken, dass einmal das Zusammen- treffen psychopathischer Züge bei Gliedern derselben Familie noch nicht notwendig einen ererbten Zusammenhang zwischen diesen Störungen erweist, und dass uns ferner gänzlich der zahlenmässige Nachweis für die Häufigkeit einer derartigen erblichen Veranlagung bei der grossen Masse nicht geisteskranker Personen mangelt. Allerdings hat eine auf meine Veranlassung von Jost in der Strassburger medizinischen Klinik angestellte Nachforschung über die psychopathische Belastung nicht geistes- kranker Personen überraschenderweise bei nicht mehr als 3 Prozent das Vorkommen von Geistesstörungen in der Familie ergeben. Da es sich indessen nur um etwa 200 Personen handelte, bedarf diese Feststellung weiterer Nachprüfung. Näcke fand von 80 Irrenpflegern sicher 7,5 Prozent, schätzungsweise 20 bis 25 Prozent erblich belastet. Wir haben somit die Erblichkeits- zahlen beim Irresein zunächst lediglich als Erfahrungstatsachen anzusehen, ohne in ihnen etwa den Ausdruck eines „Gesetzes“ zu erblicken, das in jedem Einzelfalle gültig wäre.

Wie die Erfahrung lehrt, kann die Vererbung entweder eine unmittelbare, von den Eltern ausgehende, oder eine mittelbare sein. Im letzteren Falle lässt sich wieder die atavistische, von den Grosseltern hergeleitete, und die c o 1 1 a t e r a 1 e unter- scheiden, die auf psychopathische Zustände in einer Seitenlinie (Onkel, Grosstante, Vetter u. s. f.) zurückgeht. Am stärksten wirkt sicherlich die unmittelbare Vererbung, namentlich wenn

Erblichkeit.

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beide Eltern (gehäufte Vererbung), und wenn sie schon bei der Zeugung des Kindes geisteskrank waren; doch kann auch auf ein vor dem Ausbruche des Irreseins erzeugtes Kind die schon früher bestehende krankhafte Veranlagung übertragen werden. Der Einfluss des Vaters scheint bei der Vererbung im allge- meinen mächtiger zu wirken, als derjenige der Mutter. Er über- trägt sich mehr auf die Söhne, während die Mutter mehr die Töchter beeinflusst. Dabei ist aber das weibliche Geschlecht überall etwas empfänglicher für die erbliche Übertragung von Krankheitsanlagen, als das männliche.

Dagegen muss es heute, namentlich im Hinblicke auf die Verhältnisse bei Tieren, zum mindesten als recht zweifelhaft gelten, ob wirklich, wie man vielfach gemeint hat, nahe Ver- wandtschaft der Eltern*) an sich schon eine Entartung der Kinder zur Folge hat. Die anscheinend in diesem Sinne spre- chenden Erfahrungen lassen sich vielmehr höchst wahrscheinlich auf eine gehäufte Vererbung von Krankheitsanlagen in bereits entarteten Familien zurückführen. Eine derartige Inzucht scheint in der Tat auf die kommenden Geschlechter ungemein verderb- lich einzuwirken, wie durch das Beispiel namentlich vieler jüdischer Familien sowie mancher Adelsgeschlechter und Für- stenhäuser dargetan wird. Wo dagegen beide Eltern völlig ge- sund sind, wird die Entwicklung der Nachkommenschaft durch die Blutsverwandtschaft schwerlich in krankmachender Weise beeinflusst.

Kommt es zu einer Häufung der krankhaften Einflüsse, so entsteht schliesslich eine „organische Belastung“, d. h. es treten bei der Nachkommenschaft die schwereren Formen psychischer Entartung**) sowohl auf geistigem wie auf sittlichem Gebiete hervor. Wir verstehen darunter alle Abweichungen, welche an sich oder in ihrer weiteren Entwicklung die Leistungsfähig- keit, das persönliche Glück oder die Tauglichkeit für das Ge- sellschaftsleben ernstlich gefährden. Morel stellt für diese

*) P e i p e r s , Allgem. Zeitschr. f. Psych., LVIII, 793, 1901.

**) Morel, Traite des degenerescences physiques, morales et intellec- tuelles de l’espece humaine. 1857; Möbius, Über Entartung, Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens, H. 3. 1900.

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I. Die Ursachen des Irreseins.

fortschreitende erbliche Entartung das folgende allgemeine Ge- setz auf: 1. Generation: nervöses Temperament, sittliche Un- fähigkeit, Ausschweifungen. 2. Generation: Neigung zu Schlag- anfällen und schweren Neurosen, Alkoholismus. 3. Generation: psychische Störungen, Selbstmord, geistige Unfähigkeit. 4. Ge- neration: angeborene Blödsinnsformen, Missbildungen, Entwick- lungshemmungen. Es würde also diese Art der Züchtung von selbst mit Notwendigkeit den Untergang des entarteten Ge- schlechtes herbeiführen. Von einer so einfachen Regelmässig- keit ist natürlich bei diesen ungemein verwickelten und nur in deu gröbsten Umrissen bekannten Verhältnissen keine Rede. 1 or allem ist dabei zu berücksichtigen, dass neben den verschlech- ternden Einflüssen überall auch entgegengesetzte Strömungen wirksam sind, welche auf den Ausgleich der Störungen und auf eine gesunde Fortentwicklung hinarbeiten. Wäre das nicht der Fall, so wäre längst das ganze Menschengeschlecht zu Grunde gegangen. Tatsächlich kommt es daher nur unter sehr ungün- stigen Umständen zu einer derartigen absteigenden Stufenleiter; in zahllosen entarteten Familien sehen wir durch die Mischung mit gesundem Blute die Spuren der krankhaften Veranlagung sich bei den Nachkommen wieder verwischen. Immerhin dürfte gerade das häufigere Auftreten angeborener Schwächezu- stände, bisweilen neben hervorragender Begabung bei anderen Familiengliedern, die schwersten Grade erblicher Belastung an- kündigen.

Von den einzelnen psychischen Erkrankungen sehen wir das manisch-depressive Irresein, die epileptischen und hysterischen Geistesstörungen, namentlich aber die mannigfaltigen Gestal- tungen des Entartungsirreseins, die verschiedenartigen Formen krankhafter Persönlichkeiten, endlich wohl auch die Verrückt- heit, sich am häufigsten auf ererbter Grundlage entwickeln. Ver- hältnismässig wenig durch die Erblichkeitswirkungen beeinflusst zeigen sich die Infektionspsychosen, die Erschöpfungszustände, das Irresein des Rückbildungsalters, die progressive Paralyse und die ihr verwandten Rindenerkrankungen, während die Dementia praecox, die Idiotie und die chronischen Vergiftungen eine Art Mittelstellung einnehmen. Es ergibt sich somit, dass erblich be- lastete Personen, bei denen wir eben die eigentliche Ursache

Erblichkeit.

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des Irreseins in der Gesamtlage suchen müssen, im allgemeinen die Neigung haben, konstitutionell, dauernd oder doch in häufiger wiederkehrenden Anfällen zu erkranken. Nicht selten erscheint dabei die Störung, rein nach ihren Erscheinungen beurteilt, als eine verhältnismässig geringe, da wir es mehr mit einem eigenartig entwickelten, aus der Art geschlagenen Menschen, als mit einem Krankheitsvorgange von umgrenztem Ablaufe zu tun haben. Gerade die Mischung ausgeprägter Krank- heitserscheinungen mit brauchbaren oder selbst bedeutenden psy- chischen Leistungen, wie sie auf diese Weise zu stände kommt, darf bis zu einem gewissen Grade als kennzeichnend für das Irresein auf erblicher Grundlage angesehen werden. Auch das Auftreten gewisser auffallender Krankheitserscheinungen, rascher Verlust der Scham- und Ekelgefühle bei erhaltener Besonnen- heit, ausgeprägte psychogene Züge, Triebartigkeit und Ver- schrobenheit im Benehmen und Handeln, Neigung zu Heimtücke und Rohheit pflegen mit mehr oder weniger Recht als Zeichen der erblichen Entartung betrachtet zu werden.

Nur bei den schwersten Formen der erblichen Entartung werden krankhafte Zustände als solche vererbt; in der Regel findet nur die Übertragung einer Krankheits a n 1 a g e , einer geringeren Widerstandsfähigkeit des Seelenlebens statt, welche erst dann zu wirklichem Irresein führt, wenn ungünstige Ein- flüsse auf dem Boden der ererbten Anlage ihre verderbliche Wirk- samkeit entfalten. So erklärt es sich, dass der Beginn der Geistesstörung bei erblich Belasteten besonders gern in jene Lebensabschnitte zu fallen pflegt, in denen aus inneren oder äusseren Gründen das psychische Gleichgewicht stärkeren Schwan- kungen ausgesetzt ist, namentlich in das Entwicklungsalter und in die Zeit der Rückbildungsvorgänge. Wenn wir diesen Er- fahrungen gegenüber bei „rüstigen“, nicht erblich belasteten Menschen im allgemeinen Geistesstörungen nur durch sehr ein- greifende Schädlichkeiten entstehen und dann entweder in Ge- nesung oder aber in mehr oder weniger schweres geistiges Siech- tum ausgehen sehen, so bedarf es kaum besonderer Betonung, dass es natürlich zwischen diesen beiden Grenzfällen alle mög- lichen Übergänge geben muss. Das erklärt sich eben aus dem sehr verschiedenen Gewichte, mit welchem die erbliche Veran-

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I. Ursachen des Irreseins.

lagung die Entstehung der einzelnen klinischen Formen des Irreseins beeinflusst. Ebenso ist es selbstverständlich, dass die Beziehungen zwischen Erblichkeit und bestimmten psychischen Krankheitsbildern zunächst nur statistische sind, dass also im gegebenen Falle die erbliche Veranlagung zweifellos auch durch eine Häufung andersartiger ungünstiger Einflüsse ersetzt werden, und dass umgekehrt auch ein hochgradig erblich belasteter Mensch an einer exogenen, nicht periodischen, heilbaren Geistes- störung erkranken kann.

Die klinische Form wie der Verlauf der psychischen Störung wiederholen in einzelnen Fällen mit grösster Treue das Krank- heitsbild des Vorfahren, von dem sich die Vererbung her leitet (gleichartige Vererbung). Mehrere Geschlechtsfolgen kön- nen auf diese Weise nacheinander mit Selbstmord endigen, oder es kann bei gleichen Anlässen, im gleichen Lebensalter dieselbe Erkrankung bei Vorfahren und Nachkommen zur Entwicklung gelangen. Sehr häufig sieht man auch Geschwister, namentlich Zwillinge,*) in ganz gleicher oder doch ähnlicher Weise erkranken, unter Umständen mit verblüffender Übereinstimmung in den Einzelheiten. Meist handelt es sich dabei um das manisch-depres- sive Irresein oder die Dementia praecox. Ferner scheinen nach Siolis sorgfältigen Untersuchungen die affektiven Formen des Irreseins einerseits und die Verrücktheit andererseits bei der \ er- erbung bis zu einem gewissen Grade einander auszuschliessen**). Ebenso fand V o r s t e r , dass die Dementia praecox und das manisch-depressive Irresein in hohem Grade die Neigung zeigen, sich in der gleichen Grundform, wenn auch in verschiedenen klinischen Spielarten, erblich zu übertragen; er betrachtet das Band der Erblichkeitsbeziehungen, das die eine wrie die andere Gruppe von oft so mannigfaltigen Zustandsbildern verknüpft, geradezu als einen Beweis für ihre innere klinische Zusammen- gehörigkeit. Ferner scheinen mir Epilepsie und Alkoholismus auch in Bezug auf die Erblichkeitsverhältnisse in näherer Ver-

*) Herfeldt, Allgem. Zeitschr. f. Psych., LVII, 25; Soukhanoff, Annales medico-psychol., VIII, 12, 214, 1900.

**) Sioli, Archiv für Psychiatrie, XVI; Vor st er, Monatsschr. für Psych., IX, 161; Tr6nel, Annales medico-psych., VIII, 11, 96, 1900.

Erblichkeit.

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wandtschaft zu einander zu stehen, ebenso die Hysterie und die verschiedenen Gestaltungen des Entartungsirreseins. Die Schwere des Leidens kann sich dabei in der Folge der Geschlechter steigern oder mildern.

Es ist jedoch nicht zu verkennen, dass die Wiederkehr der- selben oder einander näherstehender Krankheitsbilder bei Eltern und Kindern oder bei Geschwistern kein Gesetz, sondern nui eine Regel bildet. Es gibt Beispiele genug für das Vorkommen ganz verschiedenartiger Erkrankungsformen in der gleichen 1 amilie. Wir sprechen dann von einer umwandelnden Vererbung. Dabei können die mannigfachsten Erscheinungsformen des Irre- seins nebeneinander auf treten. Allerdings ist es zweiielhaft, wie weit hier wirklich von einer Vererbung gesprochen werden darf. Vielleicht sind gerade die Abweichungen von der Gleichartigkeit eben nicht auf die Vererbung, sondern auf die Einwirkung ganz anderer, zufälliger oder persönlicher Ursachen zurückzufühi en. Wir würden dann zu der Auffassung kommen, dass dort, wo die Vererbung sich ungestört und mit Nachdruck geltend machen kann, jeweils nur bestimmte Formen des Irreseins als Glieder derselben Erblichkeitskette nebeneinander auftreten. Wo aber nur eine ganz allgemeine krankhafte Veranlagung übertragen wird, da wird die besondere klinische Gestaltung der Eikiankung wesentlich durch die persönliche Eigenart und die Lebens- schicksale mit bestimmt werden.

In der Tat lehrt uns die Betrachtung der psychischen Per- sönlichkeiten aus entarteten Familien, dass einerseits die An- lage zu ganz bestimmten geistigen Erkrankungen übertragen zu werden scheint, während wir es in anderen Fällen nur mit einer allgemeinen krankhaften Minderwertigkeit zu tun haben, die sich in den verschiedensten Einzelzügen ausprägen kann. Auf dem Gebiete des Verstandes begegnen uns als psychische Entartungs- zeichen neben der Beschränktheit auffallende Unfähigkeit auf einzelnen Gebieten, bisweilen verbunden mit einseitiger Bega- bung, Dürftigkeit oder Überwuchern der Einbildungskraft, er- höhte Suggestibilität, grosse Ermüdbarkeit. Am stärksten aber pflegen die Störungen im Bereiche des Gemütslebens und des Willens ausgeprägt zu sein. Wir finden hier grosse gemütliche Erregbarkeit, Launenhaftigkeit, Gemütlosigkeit, Angstzustände,

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I. Ursachen des Irreseins.

andererseits Bestimmbarkeit, Triebartigkeit des Handelns, Wil- lenlosigkeit, krankhafte Triebe. Besonders bezeichnend für die Entartungszustände scheint die Begrenzung der Störungen auf einzelne Gebiete des Seelenlebens zu sein. Dadurch entstehen die zwiespältigen, unausgeglichenen, rätselhaften Persönlich- keiten, bei denen tiefgreifende Mängel der psychischen Veran- lagung sich mit glänzender Begabung nach anderen Richtungen hin verbinden. Gerade solche hervorragende Fähigkeiten bei Ent- arteten haben der viel vertretenen Anschauung zur Stütze ge- dient, dass auch das Genie nur ein Ausdruck krankhafter Ver- anlagung sei.

Als körperliche Anzeichen der erblichen Entartung (Stig- mata hereditatis) pflegt man manche Abweichungen zu betrachten, die sich mit einiger Häufigkeit bei erblich belasteten Personen vorfinden. Dahin gehören Verbildungen des Skeletts, des Schä- dels, der Zähne, der Kiefer, des Gaumens, der Ohren, der Augen, der Genitalien, Asymmetrien, Albinismus, gewisse Veränderungen an der Haut, Fehlen, Überreichlichkeit oder eigenartige Ver- teilung des Haarwuchses, ferner eine Reihe von nervösen Stö- rungen, Zittern, Muskelzuckungen, Stottern, Schielen, Stammeln, Nystagmus, Wiederkäuen u. dergl. Ein Teil dieser Abweichungen wird als Rückschlag und Tierähnlichkeit, ein anderer als Ent- wicklungshemmung aufgefasst. Soweit diese Deutung richtig ist, wird ihre Beziehung zur psychischen Entartung einiger- massen verständlich. Wir können uns vorstellen, dass dort, wo sichtbare Zeichen einer fehlerhaften Ausbildung des Körpers zu Tage treten, leicht auch diejenigen Gewebe gelitten haben können, die wir als die Träger der psychischen Persönlichkeit ansehen. Weit unsicherer ist dieser Schluss dann, wenn die Abweichungen durch bestimmte krankhafte Vorgänge bedingt sind. Wir werden ihnen in diesem Falle eine gewisse Bedeutung nur beilegen dürfen, wenn sie wenigstens irgend einen Abschnitt des Nervensystems betreffen.

Entwicklungsstörungen. Fast gänzlich unbekannt ist bisher der Einfluss solcher Schädlichkeiten auf die seelische Veranlagung, welche, ohne erbliche zu sein, die erste Zeit der Entwicklung betreffen, obgleich dieselben höchst wahrscheinlich bisweilen von sehr einschneidender Bedeutung sein können. So wird angegeben,

Entwicklungsstörungen.

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dass Berauschtheit während des Zeugungsvorganges Epilepsie der Nachkommen zur Folge haben, dass heftige Gemütsbewegung der Mutter während der Schwangerschaft eine psychopathische Ver- anlagung des Kindes hervorrufen könne. Dass ferner allerlei körperliche Ursachen, ungenügende Ernährung, hohes oder sehr jugendliches Alter der Eltern, endlich Krankheiten dieser letz- teren oder des Fötus für die Hirnentwicklung und damit auch für die psychische Anlage des Kindes eine grosse, wenn auch noch nicht im einzelnen bestimmbare Wichtigkeit erlangen dürften, bedarf keiner weiteren Ausführung. Von ganz besonderer Be- deutung sind ohne Zweifel für die Nachkommenschaft alle die- jenigen Krankheiten der Eltern, die tiefgreifende Umwälzungen im Gesamtzustande des Körpers herbeiführen und dadurch mittel- bar, bisweilen auch wohl unmittelbar die Keimzellen schädigen. In erster Reihe sind hier der Alkoholismus und die Syphilis zu nennen, deren verheerender Einfluss auf Lebensfähigkeit und Gesundheit der Kinder bekannt genug ist. Ähnliche, wenn auch schwächere Wirkungen werden der Tuberkulose, dem Diabetes, dem Morphinismus und vielen anderen Formen des Siechtums zugeschrieben.

Sodann sind wir berechtigt, anzunehmen, dass auch ohne Erkrankung der Mutter die Frucht selbständige Schädigungen erfahren kann, deren Ursachen wir freilich noch durchaus nicht kennen. Die Untersuchungen über die Grundlagen der Idiotie haben ergeben, dass es sich hier nur in einem kleinen Bruch- teile der Fälle um Entwicklungsfehler, zumeist aber um mehr oder weniger ausgebreitete Erkrankungen der fötalen Hirnrinde handelt. Soweit über diese Frage ein Urteil möglich ist, liegt es nahe, an Vergiftungen durch Stoffwechselerzeugnisse oder an Infektionen zu denken. Manche dieser Erkrankungen hinter lassen gar keine gröberen Veränderungen; bei anderen stossen wir auf Hydrocephalie, Porencephalie, Mikrogyrie, Mikro- cephalie und ähnliche Zerstörungen, die ohne weiteres die schwere Schädigung des Hirns erkennen lassen.

Erziehung. Unserem unmittelbaren Verständnisse leichter zugänglich erscheint die Bedeutung der Erziehung für die Ent- wicklung der psychischen Persönlichkeit. Allerdings wissen wir heute noch nicht, wie weit die Erziehung überhaupt in das Wesen

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I. Ursachen des Irreseins.

des Menschen einzugreifen und dasselbe umzugestalten vermag. Die Anschauungen über diesen Punkt schwanken zwischen achsel- zuckendem Zweifel und hoffnungsvoller Vertrauensseligkeit viel- fach hin und her. Die einfache Erfahrung scheint mir zu lehren, dass hier die verschiedenartigsten Verhältnisse in der Natur wirk- lich Vorkommen. Auf der einen Seite gibt es zweifellos ge- wisse, ganz allgemeine Eigenschaften, welche von vornherein die Eigenart des Einzelnen kennzeichnen. Dafür spricht neben vielen anderen Gründen die überraschende Deutlichkeit, mit wel- cher sich öfters schon bei ganz kleinen Geschwistern Verschie- denheiten in der Veranlagung herausstellen, die späterhin durch die mannigfachsten Lebensschicksale in keiner Weise verwischt werden. So kennen wir Menschen, die von vornherein auf die psychische Erkrankung unrettbar zutreiben, während andere schon von den ersten Kinderjahren an in Denken und Handeln eine vertrauenerweckende Sachlichkeit an den Tag legen, die sie durch das ganze Leben begleitet. Offenbar handelt es sich hier um sehr tief begründete Unterschiede, zu deren Erklärung man nach Belieben Abweichungen in den Grössenverhältnissen der einzelnen Organe untereinander, in der chemischen Zusammensetzung der Gewebe oder ähnliches herbeiziehen mag.

Andererseits aber wird man kaum in Abrede stellen können, dass dennoch die Art der Jugenderziehung für die weitere Aus- bildung der einmal gegebenen Anlagen und damit auch für die gesamte Gestaltung der Lebensschicksale von eingreifender Be- deutung werden kann. Wir erkennen das nicht nur aus der starken Beteiligung der unehelich Geborenen und Verwahrlosten am er- brechen, am Selbstmord und Irresein, sondern auch an der Aus- bildung von Menschentypen, je nach den Eindrücken der Kindheit. Die Gegensätze zwischen Stadt- und Landbevölkerung, die Eigen- tümlichkeiten der Strand-, Gebirgs- und Grenzbewohner ver- wischen sich auch dann nicht, wenn die Menschen später in ganz andere Verhältnisse hineingeworfen werden. Allerdings ist hier überall, wie bei den Verbrecher-, Gelehrten- und Künstlerfamilien, der Einfluss der Erblichkeit von demjenigen der Erziehung schwer abzutrennen.

Die allgemeinen Aufgaben der Erziehung sind einmal die verstandesmässige Ausbildung des Kindes, die dasselbe

Erziehung.

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befähigt, Erfahrungen zu sammeln und zu verarbeiten, dann aber die Begründung eines festen, das Handeln nach einheit- lichen, sittlichen Grundsätzen leitenden Charakters. Nach beiden Richtungen hin kann die Erziehung hinter den An- forderungen Zurückbleiben, die der Kampf des Lebens an die Leistungs- und Widerstandsfähigkeit des Einzelnen stellt. Ver- nachlässigung der Verstandesbildung gibt ihn allen Gefahren der Urteilslosigkeit und des Aberglaubens Preis und erschwert ihm die Überwindung jener Schwierigkeiten, welche die Er- ringung einer selbständigen Lebensstellung bietet. Andererseits kann aber auch die Überanstrengung des jugendlichen Gehirns schwere Schädlichkeiten mit sich führen, indem sie es frühzeitig erschöpft und damit seine volle Ausbildung unmöglich macht. Dies gilt namentlich für solche Kinder, die etwa schon von Hause aus grosse Erregbarkeit oder rasche Ermüdbarkeit mit- bringen. Behinderung der freien persönlichen Entwicklung durch übermässige Strenge und Peinlichkeit macht den Menschen eng- herzig und verschlossen und erstickt im Keime jene gemütlichen Regungen des Wohlwollens und der Menschenliebe, von deren Stärke vor allem die sittliche Ausbildung des Willens ab- hängig ist. Verzärtelung endlich durch weichliche Nachgiebig- keit lässt die augenblicklichen Launen und Begierden zur unbe- zwinglichen Herrschaft über das Handeln gelangen und verhindert dadurch die Entwicklung einer abgeschlossenen und einheitlichen, fest in sich selbst gegründeten Persönlichkeit.

Den Einflüssen der Erziehung schliessen sich diejenigen der späteren Lebenserfahrungen an, bald bessernd und veredelnd, bald zerrüttend und untergrabend, was jene schuf. Alle die schon früher aufgezählten körperlichen und psychischen Ur- sachen, Verletzungen, Krankheiten und Vergiftungen aller Art, erschöpfende Einflüsse, Überanstrengungen, Gemütsbewegungen, Ausschweifungen u. s. f. können hier, soweit sie nicht geradezu eine psychische Erkrankung herbeiführen, umwandelnd und vor- bereitend auf den Einzelnen einwirken. Auch hier zeigt uns die typische Gestaltung, welche die verschiedenen Stände, Berufs- arten und sonstigen gesellschaftlichen Gruppen ihren Mitgliedern in der gesamten Weltauffassung, in ihren sittlichen Anschauungen, in der Lebensführung und selbst in allen möglichen Äusserlich-

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I. Ursachen des Irreseins.

keiten aufprägen, dass nicht nur die Anlage des Einzelnen seine Lebensschicksale bestimmt, sondern dass umgekehrt auch eine Rückwirkung dieser letzteren auf die besondere Entfaltung seiner persönlichen Eigenart stattfindet. Freilich fehlt uns heute noch jeder Anhaltspunkt für die genauere Beurteilung des Einflusses, den etwa die Erziehung durch das Leben auf die Häufigkeit und die Gestaltung des Irreseins im einzelnen Falle ausübt.

II. Die Erscheinungen des Irreseins.

Die Gesamtheit der klinischen Erscheinungen, welche durch den Krankheitsvorgang des Irreseins hervorgebracht werden, be- zeichnen wir als die Symptome desselben. Von diesen Krankheits- zeichen bedürfen nur diejenigen hier einer eingehenderen allge- meinen Betrachtung, welche uns als psychische Verände- rungen entgegentreten. Die verschiedenen körperlichen Krank- heitserscheinungen, nervöse Reizungs- und Lähmungssymptome aller Art, vasomotorische, trophische Störungen u. s. f., gehören ihrer Natur nach dem Gebiete der Nervenheilkunde an. Sie be- sitzen zwar für die Erkennung des besonderen, im einzelnen Falle vorliegenden Krankheitsvorganges vielfach eine ganz hervor- ragende Bedeutung, aber sie gehören nicht zu den Erscheinungen des Irreseins als solchen und werden daher erst später, bei der Darstellung der klinischen Krankheitsformen, nähere Berück- sichtigung finden.

Drei Hauptrichtungen sind es im grossen und ganzen, in denen sich die psychischen Lebenserscheinungen bewegen, die Auf- nahme, Einprägung und geistige Verarbeitung des Erfahrungsstoffes, die Schwankungen des gemütlichen Gleichgewichts, endlich die Aus- lösung von Willensantrieben und Handlungen. Auf diesen drei Gebieten werden wir daher die Grundstörungen der psychischen Leistungen aufzusuchen haben, aus deren verschieden- artiger Verbindung wir die einzelnen klinischen Krankheitsbilder hervorgehen sehen. Bei weitem die grösste Mannigfaltigkeit der Erscheinungen bietet dabei unserer Zergliederung diejenige Gruppe von psychischen Vorgängen dar, welche die Sammlung und Auf-

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

bewabrung sinnlicher Eindrücke, die Verarbeitung derselben zu Vorstellungen und Begriffen, endlich die Ausbildung der höheren Verstandesleistungen in sich schliesst.

A. Störungen des Wahrnehmung8 Vorganges.

Die Wahrnehmung eines äusseren Sinnesreizes ist im all- gemeinen von zwei verschiedenen Bedingungen abhängig, nämlich einmal von Bau und Leistung des gesamten peri- pheren und centralen Sinnesgebietes, dann aber von dem Zustande des Bewusstseins, welches den zugeiuhr- ten Eindruck in sich aufnehmen soll. Alle Störungen, welche das eine oder das andere dieser beiden Gebiete in krankhafter Leise verändern, sind auch imstande, die Wahrnehmung der Aussen- welt in mehr oder weniger hohem Grade zu beeinträchtigen. o die äusseren reizauf nehmenden Organe leistungsunfähig geworden sind (Blindheit, Taubheit), oder wo sich Hindernisse entwickelt haben, welche die Fortleitung der Reize unmöglich macnen, fallen bestimmte Arten von Sinnesvorstellungen in dem . r- fahrungsschatze einfach aus. Hier hängt es von der allgemeinen psychologischen Wichtigkeit derselben sowie von der Möglich- keit einer Stellvertretung durch andere Sinne ab, wie weit da- durch die Gesamtausbildung der psychischen Persönlichkeit zu- rückgehalten wird. Die bei weitem grösste Bedeutung für ' die geistige Entwicklung scheint dem Gehörssinn zuzukommen, oifen- bar wegen seiner innigen Beziehungen zur Lautsprache, der wir ja in erster Linie die Übermittlung des geistigen Erwerbes ver- gangener Geschlechter verdanken. Wenn auch vereinzelte e bekannt sind, in denen durch eine überaus mühevolle Erziehung sogar der Verlust des Gesichtes und Gehörs mit Hilfe des Tast- sinnes einigermassen wieder ausgeglichen werden konnte, so bleiben doch nicht unterrichtete Taubstumme lebenslänglich auf der Stufe des Schwachsinns stehen, auch dann, wenn nicht, wie so häufig, die Taubheit nur Begleiterin einer allgemeineren Hirn- erkrankung ist. Blinde dagegen pflegen in ilnei geistigen Ent Wicklung durch den Ausfall der Gesichtswahrnehmungen durchaus nicht in höherem Grade gehindert zu werden.

Sinnestäuschungen.

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Sinnestäuschungen. Ein weit grösseres klinisch-psychiatri- sches Interesse nehmen indessen diejenigen Störungen des Wahr- nehmungsvorganges in Anspruch, welche nicht durch vollständiges Fehlen, sondern durch krankhafte Vorgänge im Gebiete der Sinnesbahn bedingt sind, durch die somit nicht ein Ausfall von Sinneserfahrung, sondern eine inhaltliche Veränderung, eine A erfälschung derselben, erzeugt wird. Jedes Sinneswerk- zeug wird durch irgendwelche Reize in einer ihm eigentümlichen, „spezifischen“ Weise erregt. Es muss daher überall, wo der Reiz, der einen Eindruck erzeugt, nicht der gewohnte, dem ge- troffenen Sinne angemessene ist, eine Täuschung über die Natur der Reizquelle entstehen. So ist, streng genommen, der Lichtblitz, die Klangempfindung bei elektrischer Durchströmung des Auges und Ohres, der Geschmackseindruck bei mechanischer Reizung der Chorda tympani als eine Trugwahrnehmung anzu- sehen, wenn wir dieselbe auch auf Grund unserer physiologischen Erfahrungen und mit Hilfe der Überlegung sogleich als solche erkennen, so dass eine weitere Verfälschung unseres Bewusst- seinsinhaltes daraus nicht hervorgeht. Dennoch können unter Umständen bei Geisteskranken (namentlich bei stärkerer Be- wusstseinstrübung) die subjektiven Lichterscheinungen infolge von Blutüberfüllung des Auges, das Brausen und Klingen in den Ohren die ^ orstellung drohender Feuers- und Wassersgefahren und dergl. wachrufen und auf diese Weise das Zustandekommen einer wirk- lichen, nicht ausgeglichenen Täuschung vermitteln. Derartige peripher bedingte Sinnestäuschungen hat man elementare genannt, weil sie eben wegen ihres Entstehungsortes in den reiz- aufnehmenden Flächen die Kennzeichen einfacher, nicht zusam- mengesetzter Sinnesempfindungen tragen. Wir könnten sie auch als Sinnestäuschungen im engeren Sinne den weiterhin zu be- sprechenden W ahrnehmungs- und Einbildungstäuschungen gegen- überstellen.

\ erfolgen wir indessen die Bahn der Sinnesnerven weiter gegen die Hirnrinde zu, so gelangen wir zu denjenigen Stätten, in denen sich die einzelnen Wahrnehmungsbestandteile, wie sie, vom Sinneswerkzeuge geliefert werden, zu einem Gesamteindrucke verbinden, der sodann als Sinnesvorstellung ins Bewusstsein ge- langt. Über die anatomische Lage dieser Centren können wir

Kraepelin, Psychiatrie. I. 7. Aufi.

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

freilich bisher nichts Sicheres aussagen; am wahrscheinlichsten ist es jedoch, namentlich im Hinblick auf die klinischen und experimentellen Erfahrungen über die „Seelenblindheit“, dass, wenigstens beim Menschen und bei höheren Tieren, die sog. centralen Sinnesflächen, d. h. die nächsten Endstätten der Sinnes- bahnen in der Rinde, als solche zu betrachten sind. Es ist ohne weiteres klar, dass auch hier nicht sinnliche Reize, also z. B. Veränderungen in der Blutversorgung, Gifte und dergl. Erregungszustände hervorzurufen vermögen, welche den ge- wohnten Reizungen durch Sinneseindrücke sehr ähnlich sind, um so leichter, wenn die Erregbarkeit der betreffenden Hirnstelle im gegebenen Augenblicke durch irgendwelche Einflüsse ohnedies gesteigert ist. Unter solchen Umständen kann daher irgend eine mehr oder weniger zusammengesetzte Sinnesvorstellung in das Bewusstsein eintreten, die nicht durch einen sinnlichen Reiz, son- dern durch physiologische oder krankhafte Erregungszustände in den höheren Abschnitten des betreffenden Sinnesgebietes hei- vorgerufen wurde. Da dieselbe gleichwohl auf einen äusseren Gegenstand bezogen wird, so haben wir es demnach hier mit einer Fälschung des Wahrnehmungsvorganges zu tun, die auf einer Täuschung über den wahren Ursprung der Sinnesreizung beruht*).

Diese Gruppe der Sinnestäuschungen, die man wegen ihrer vermutlichen Entstehung in den „Perceptionscentren“ vielleicht als Perceptionsphantasmen (Wahrnehmungstäuschungen) bezeichnen kann, ist es, welche der gewöhnlichen Wahrnehmung am nächsten steht. Allerdings pflegen diese Täuschungen beim gesunden Menschen, bei dem sie sich häufig vor dem Einschlafen einstellen (hypnagogische Hallucinationen), nur ganz ausnahms- weise eine grössere Lebhaftigkeit zu gewinnen. Unter krankhaften Verhältnissen dagegen kann die sinnliche Deutlichkeit der Trug- wahrnehmungen so gross werden, dass eine Berichtigung der

*) Johannes Müller, Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. 1816; v. Krafft-Ebing, Die Sinnesdelirien. 1864; Kahlbaum, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XXIII; Hagen, ebenda, XXV; Kandinsky, Kri- tische und klinische Betrachtungen im Gebiete der Sinnestäuschungen. 1885; P a r i s h , Über die Trugwahrnehmung. 1894; Berze, Jahrbücher f. Psychiatrie, XVI, 285; Uhthoff, Monatsschr. für Psych., V, 241, 1899.

Sinnestäuschungen.

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Fälschung nur mit Hilfe der anderen Sinne möglich ist. Wie die Bilder, die bei geschlossenen Augen im Gesichtsfelde auf- tauchen, sind sie vom Willen und vom sonstigen Gedankengange im allgemeinen unabhängig und treten auch deswegen dem Be- wusstsein als etwas Fremdes, Selbständiges, von aussen Kom- mendes gegenüber, dessen subjektive Entstehung ihm völlig ver- borgen bleibt. Aus demselben Grunde haben sie auch meist einen ziemlich gleichförmigen, wenig wechselnden Inhalt (stabile Hallucinationen Kahlbaums): Wiederholung derselben, bis- weilen sinnlosen Worte, häufiges Wahrnehmen desselben Geruches, Sehen bestimmter Muster, Blumen, Tiere u. dergl. Da sie auf centralen Erregungszuständen beruhen, so sind sie nicht an die Tätigkeit der äusseren Sinneswerkzeuge gebunden und kommen auch bei gänzlicher Vernichtung der Sinnesnerven und ihrer ersten Endigungen, der Nervenkerne, zur Beobachtung. Beson- ders klar weisen auf ihre Ursprungsstätten diejenigen Fälle mit halbseitigem Gesichtsfeldausfall hin, in denen die Lücken durch Trugwahrnehmungen ausgefüllt werden. Hier erzeugt offenbar der Krankheitsvorgang in der Hirnrinde, der die Wahrnehmung wirklicher Gesichtseindrücke aufhebt, zugleich die täuschenden Bilder. In den seltenen Fällen, bei denen Täuschungen in der erhaltenen Gesichtsfeldhälfte auftraten, fanden sich beide Hinter- hauptsrinden verändert. Auch das plötzliche Auftauchen leb- hafter Lichtempfindungen ist bei rascher Entstehung doppel- seitiger Rindenblindheit beobachtet worden.

Es hat jedoch den Anschein, dass auch periphere Ein- wirkungen bisweilen in den höheren Abschnitten der Sinnesbahn unmittelbar oder mittelbar Erregungszustände auszulösen ver- mögen, die zur Entstehung von Sinnestäuschungen führen. Dies geschieht offenbar um so leichter, je grösser die Reizbarkeit jener Hirnteile ist. Unter krankhaften Verhältnissen genügen bisweilen schon die gewöhnlichen Lebensreize, um die bespro- chenen Fälschungen des Wahrnehmungsvorganges zu erzeugen; in anderen Fällen treten sie sogleich hervor, wenn sich etwa die Aufmerksamkeit auf das betroffene Sinnesgebiet richtet und die leisen Erregungszustände in demselben über die Schwelle -des Bewusstseins erhebt, oder wenn eine Gemütsbewegung vor- übergehend die Reizempfänglichkeit steigert. Sie schwinden

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

daher auch, sobald der Kranke sich beruhigt oder durch ein Gespräch, geistige oder körperliche Beschäftigung, die Versetzung in eine neue Umgebung und dergl. abgelenkt wird. Manche Kranke sperren sich daher von wirklichen Eindrücken nach Möglichkeit ab, um ungestörter ihre Sinnestäuschungen ver- folgen zu können; andere suchen im Gegenteil lebhafte Vahr- nehmungen zu erzeugen, um jenen zu entgehen. So kannte ich einen Ingenieur, der sich mit den einfachsten Hilfsmitteln ein kleines Läutewerk herstellte, um die ihn quälenden Stimmen zu

übertäuben. _

Für die Mitwirkung äusserer Reize bei der Entstehung der

Täuschungen spricht der Umstand, dass diese letzteren mitunter verschwinden, wenn die Sinnesquelle verstopft wird. Bei Ge- sichtstäuschungen hat man Wandern mit den Augenbewegungen und Verdoppelung durch Prismen gesehen, Erscheinungen,, die auf die Beeinflussung der Trugwahrnehmung durch wirkliche, wenn auch vielleicht ganz unklare Gesichtsbilder hinweisen könn- ten Es wäre aber auch möglich, dass die feste Gewohnheit, die räumliche Lage des Gesehenen aus den Augenmuskelbewe- gungen zu erschliessen, auch die Verlegung der Täuschungen nach aussen beeinflusste, und dass die prismatische Verdoppelung nebenher wirklich gesehener Gegenstände auch auf die unab- hängig von der Netzhaut entstandene Trugwahrnehmung Über- griffe, wie es bei hypnotischen Täuschungen beobachtet worden ist. Farbige Gläser scheinen die Gesichtstäuschungen nicht mit- zufärb 6ii

Weiterhin ist bemerkenswert das gelegentlich beobachtete Vorkommen von einseitigen Gehörstäuschungen*) sowie der Nachweis, dass bei alten Gehörsnallucinanten häufiger chronische Erkrankungen des Mittelohrs und Abweichungen in der elek- trischen Reaktion des Akusticus**) vorhanden sind. Ausser der einfachen Hyperästhesie findet man hie und da paradoxe Re- aktion des nicht armierten Ohres und namentlich auch die schwerste Form der Störung, die Umkehrung der Formel für die

*) Robertson, Journal of mental Science, 1901, April, 277.

**) Jolly, Archiv f. Psychiatrie, IV; Buccola, Riviste di freniatna sperimentale, XI,’ 1885; Redlich u. Kaufmann, Wiener klinische Wochen- schrift, 1896. 33.

Sinnestäuschungen.

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einfache Hyperästhesie. Wie J o 1 1 y gezeigt hat, gelingt es hier gar nicht selten, durch elektrische Reizung des Akusticus die Täuschungen hervorzurufen. Li ep mann war imstande, bei Alkoholdeliranten durch leichten Druck auf die geschlossenen Augen selbst nach Ablauf der stürmischeren Krankheitserschei- nungen deutliche Gesichtstäuschungen zu erzeugen, welche in ihrer bunten Gestaltung durchaus den sonst bei jener Krankheit vorkommenden Trugwahrnehmungen glichen. Bonhöffe r, der ähnliches auch im Gebiete des Hautsinnes beobachtete, legt nach seinen Erfahrungen das Hauptgewicht hier auf das Einreden. Ohne Zweifel gewinnen solche Täuschungen ihre feste Gestalt nur mit Hilfe von Erinnerungsbildern. Immerhin aber dürften dabei Er- regungszustände in der Netzhaut eine Rolle spielen. Darauf weist auch der Umstand hin, dass bisweilen schon das einfache Ver- hängen des Auges mit einem Tuche genügte, um die Täuschungen hervorzurufen; anscheinend kamen durch den Lichtabschluss die leisen Eigenerregungen der Netzhaut besser zur Geltung. Wir werden durch diese Erfahrungen an den Bericht von N ä g e 1 i erinnert, welcher nach einer Verbrennung seiner Hornhaut mit heissem Spiritus vor seinen verbundenen Augen längere Zeit aus- geprägte Gesichtstäuschungen von vollkommener sinnlicher Deut- lichkeit beobachten konnte.

In der Regel pflegt es nur ein einzelnes Sinnesgebiet zu sein, auf welchem sich in dieser Weise Fälschungen der äusseren Er- fahrung vollziehen. Am häufigsten sind sicherlich solche Stö- rungen im Gebiete des Gehörs und Gesichts, seltener in demjenigen der drei übrigen Sinne und in dem dunklen Bereiche jener Wahrnehmungen, die wir unter dem Sammelnamen der Ge- meinempfindungen zusammenfassen.

Für die klinische Betrachtung hat E s q u i r o 1 und nach ihm aus praktischen Gründen die Mehrzahl der Forscher zwei Arten von Sinnestäuschungen unterschieden, solche nämlich, bei denen eine äussere Reizquelle gar nicht vorhanden ist: Hallucina- tionen, und solche, die nur als die Verfälschung einer wirk- lichen Wahrnehmung durch eigene Zutaten zu betrachten sind: Illusionen*). Im Einzelfalle ist diese Trennung nicht selten

*) S u 1 1 y , Die Illusionen. Internat, wissenschaftliche Bibliothek. 1883.

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

äusserst schwierig oder gänzlich unmöglich. So sind wir nament- lich bei den Berührungssinnen (Geruch, Geschmack, Hautsinn) fast niemals imstande, mit Sicherheit das Vorhandensein irgend einer äusseren Reizursache (Zersetzungsvorgänge in Mund- oder Nasenhöhle, Veränderungen der Blutfüllung, Schwankungen der Eigenwärme u. dergl.) auszuschliessen, noch weniger natürlich bei den Störungen der Gemeinempfindungen. Auch beim Gesicht geben, wie schon angedeutet, unter Umständen nicht nachweis- bare Reize, z. B. das Eigenlicht der Netzhaut, beim Gehör ent- otische Geräusche u. s. f. gewissermassen den Rohstoff für die Ausbildung der Trugwahrnehmungen ab. In anderen Fällen jedoch ist die verschiedenartige Entstehungsweise ohne weiteres klar. Der Furchtsame, der ragende Baumstämme, wallende Nebel für Gespenster hält („Erlkönig“), der Kranke, der aus dem Läuten der Glocken, dem Kritzeln der Feder, dem Pfeifen der Eisenbahn, dem Bellen der Hunde, dem Knarren der Wagen Schimpfworte und Vorwürfe heraushört sie haben zweifellos „Illusionen , während wir die allbekannten Gesichtstäuschungen des Alkoho- listen, die „Stimmen“, welche den Sträfling im stillen Zellen- gefängnisse quälen oder beglücken, höchst wahrscheinlich als Hallucinationen zu bezeichnen haben. Zwischen beiden Formen gibt es alle möglichen Übergänge; ist doch die Illusion im Grunde nichts anderes, als eine vielfach wechselnde Mischform von ge- sunder Sinneswahrnehmung mit täuschenden Zutaten. Vir er- innern uns hierbei der Tatsache, dass auch unsere gesunden Wahr- nehmungen regelmässig nicht eine untrügliche V iedergabe des, Sinneseindruckes darstellen, sondern von vornherein eine erheb- liche Beimischung uns selbst unbewusster Wahrnehmungsfehler enthalten.

Die gemeinsame Eigentümlichkeit dieser ganzen Gruppe \ on Sinnestäuschungen liegt in der vollkommen sinnlichen Deut- lichkeit derselben. Der Erregungszustand im Gehirn ent- spricht durchaus demjenigen beim gewöhnlichen Wahrnehmungs- vorgange, und die entstehende Trugwahrnehmung ordnet sich da- her unterschiedslos in die Reihe der übrigen Sinneseindrücke ein. Die Kranken glauben nicht nur, zu sehen, zu hören, zu fühlen, sondern sie sehen, hören, fühlen wirklich.

Ein in vieler Beziehung abweichendes Verhalten bieten da-

Sinnestäuschungen.

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gegen diejenigen nur uneigentlich so genannten Sinnestäuschungen dar, die nichts anderes sind, alsVorstellungenvonbeson- derer sinnlicher Kraft. Das Wiederauf tauchen eines früheren Eindruckes pflegt in der Regel niemals die unmittelbare Deutlichkeit der Sinneswahrnehmung selbst zu erreichen, sondern sich jederzeit ganz unzweideutig durch die geringere Lebhaf- tigkeit und Schärfe von jener zu unterscheiden. Indessen be- stehen in dieser Beziehung bedeutende persönliche Verschieden- heiten. Während von manchen Beobachtern den Erinnerungsbil- dern jede genauere Ausprägung nach Farbe und Form abge- sprochen wird, versichern andere, besonders bildende Künstler, dass dieselben bisweilen an sinnlicher Kraft der unmittelbaren Wahrnehmung nur sehr wenig nachgeben. Auch die persönliche Sinnesveranlagung spielt hier eine grosse Rolle. Wo die Gesichts- vorstellungen das geistige Leben beherrschen, werden sie natur- gemäss einen weit grösseren Reichtum an scharfen Einzelheiten aufweisen, als dort, wo Gehörs- oder Muskelvorstellungen das wesentliche Werkzeug des Denkens bilden.

Unter krankhaften Verhältnissen können offenbar auftau-> chende Vorstellungen und Erinnerungsbilder bisweilen einen so hohen Grad von sinnlicher Deutlichkeit erreichen, dass sie von den Kranken als wirkliche Wahrnehmungen besonderer Art auf- gefasst werden. Eine ganze Reihe von Forschern ist sogar der Ansicht, dass alle Trugwahrnehmungen unmittelbar als Einbil- dungsvorstellungen von aussergewöhnlicher sinnlicher Lebhaftig- keit aufzufassen seien. Allein der Umstand, dass bei Halluci- nanten durchaus nicht alle, sondern nur bestimmte Gruppen von Vorstellungen in den Sinnestäuschungen eine Rolle zu spielen scheinen, und dass neben diesen letzteren stets auch Vorstellungen von der gewöhnlichen, abgeblassten und gestaltlosen Art zu ver- laufen pflegen, deutet darauf hin, dass noch eine besondere Ursache hinzukommen muss, wenn eine Vorstellung die greifbare Deutlichkeit der Wahrnehmung erhalten soll.

Die nächstliegende und zumeist anerkannte Erklärung dieses Verhaltens ist die Annahme einer gleichzeitigen rückläufigen Erregung der Sinnesstätten im Gehirn. Wir haben früher gesehen, dass die Erregungszustände dieser letzteren die Form sinnlicher Wahrnehmung annehmen müssen, weil ja alle

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

Sinneseindrücke eben nur durch Vermittlung jener Erregungen in unser Bewusstsein eintreten können. Wenn es demnach diese Hirnabschnitte sind, durch deren Erregung die Wahrnehmung ihre sinnliche Eigenart erhält, so liegt es nahe, eine grössere oder geringere Beteiligung derselben an dem Vorgänge der lebhaften Wiedererneuerung früherer Eindrücke zu vermuten. Eine derartige Anschauung würde namentlich gut die Tatsache erklären, dass zwischen der Sinnestäuschung von vollkommenster sinnlicher Deutlichkeit und der abgeblasstesten Erinnerung eine ununterbrochene Reihe von Übergangsstufen liegt, ein Verhalten, das sich durch die Annahme einer stärkeren oder schwächeren Miterregung der Sinnesstätten am ungezwungensten erklären lassen würde. Möglich, dass sogar beim gewöhnlichen Denken die rückläufige Reizung, die „R e p e r c e p t i o n“, wie Kahl- bäum sie genannt hat, in sehr geringer Stärke immer statt- findet, und dass erst dann, wenn dieser Vorgang eine krank- hafte Ausdehnung gewinnt, oder wenn die Sinnesstätten sich in einem Zustande erhöhter Erregbarkeit befinden, die Lebhaftigkeit des Erinnerungsbildes derjenigen der sinnlichen Wahrnehmung sich annähert. Es würde somit gewissermassen ein bestimmtes Verhältnis zwischen der Stärke der Reperception und der Reiz- barkeit der Sinnesstätten bestehen: Je grösser die Reizbarkeit dieser letzteren, desto leichter würden die Erinnerungsbilder das Gepräge der sinnlichen Deutlichkeit erhalten, desto schwächer brauchte die rückläufige Erregungswelle zu sein, um dieselben auszulösen, und desto unabhängiger würden sie vom Vorstellungs- verlaufe sein. Der Grenzfall wäre in den früher besprochenen, auf örtlichen Reizungsvorgängen beruhenden Wahrnehmungs- täuschungen gegeben, die dem Kranken ganz fremdartig, als etwas von aussen sich Aufdrängendes gegenüberstehen.

Die Grenze nach der entgegengesetzten Seite bilden jene Fälle, in denen es sich deutlich erkennbar gar nicht um eigent- liche Sinnestäuschungen, sondern lediglich um Vorstellungen von grosser Lebhaftigkeit handelt. Bei genauerem Eingehen gelingt es, die zunächst auf Trugwahrnehmungen deutenden Äusserungen der Kranken dahin zu begrenzen, dass die Eindrücke nicht eigent- lich sinnliche, sondern „innerliche“ gewesen sind, die aber den- noch wegen ihrer aufdringlichen Deutlichkeit von den gewöhn-

Sinnestäuschungen.

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liehen Vorstellungen unterschieden werden. Hier würde man sich etwa die Reperception sehr stark entwickelt, aber die Reiz- barkeit der Sinnesstätten nicht erhöht vorzustellen haben. Für diese Auffassung spricht der Umstand, dass diese letztgenannte Gruppe der Einbildungstäuschungen, die man auch als psychische Hallucinationen (Baillarger), Pseudo- hallucinationen (Hagen) oder Apperceptionshal- lucinationen (Kahlbaum) bezeichnet hat, zumeist mehrere oder alle Sinnesgebiete in zusammenhängender Weise umfassen, und dass sie stets in nahen Beziehungen zu dem sonstigen Be- wusstseinsinhalte stehen, während die an der entgegengesetzten Seite unserer Stufenreihe befindlichen Wahrnehmungstäuschungen begreiflicherweise in der Regel nur einem einzelnen Sinnesgebiete anzugehören pflegen und dem Vorstellungsverlaufe gegenüber sich durchaus selbständig verhalten.

Eine bedeutsame Erläuterung erhält die Auffassung der Sinnestäuschungen durch jene eigentümliche Störung, die man als „Doppeldenken“ bezeichnet hat. Sie besteht wesentlich im „Lautwerden“*) der Gedanken des Kranken. Unmittelbar an die auftauchende Vorstellung schliesst sich eine deutliche Gehörs- wahrnehmung des gedachten Wortes. Am häufigsten tritt dieses Mithallucinieren beim Lesen, etwas seltener beim Schreiben auf, also dann, wenn eine sprachliche Vorstellung sich mit einer ge- wissen Stärke ins Bewusstsein drängt; bisweilen ist sie auch beim einfachen Denken vorhanden oder sie knüpft sich an irgend eine gleichgültige Wahrnehmung. Dem auslösenden Vorgänge kann sie vorausgehen oder folgen: Die Stimme liest vor oder spricht nach, bisweilen auch beides. Leises oder lautes Aussprechen der Worte bringt die hallucinatorischen Mitklänge in der Regel zum Verschwinden. Stets bestehen ausserdem noch anderweitige Ge- hörstäuschungen. Ich kannte einen Kranken, der seinen weit zerstreuten Bekannten mit Hilfe des Doppeldenkens zu deren Vergnügen vorzulesen glaubte und immer deren Randbemerkungen dazu hörte.

Zur Erklärung dieser Erscheinung wäre etwa eben wegen der Hallucinationen eine erhöhte Reizbarkeit der centralen

*) Klinke, Archiv für Psychiatrie, XXVI, 147.

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

Sinnesflächen anzunehmen, die sehr wohl unter dem Einflüsse der Reperception zur fortlaufenden Entstehung von Trugwahr- nehmungen führen könnte, welche dem in Sprachvorstellungen fortschreitenden Gedankengange inhaltlich Schritt für Schritt folgen. Die Ablenkung jener Erregungszustände auf Willens- bahnen scheint dann die rückläufige Reizung der Sinnesflächen durch den Vorstellungsverlauf und somit die Entstehung des Doppeldenkens bis zu einem gewissen Grade verhindern zu können. Koppen berichtet von einem Kranken, bei dem die Störung verschwand, so lange er angestrengt und mit Interesse arbeitete, während sie beim Nichtstun wiederkehrte.

Die Schwierigkeit, Einbildungsvorstellungen von fast sinn- licher Lebhaftigkeit scharf von der wirklichen Wahrnehmung zu trennen, ist die Ursache, warum bei Geisteskranken gerade die Vermischung von Sinneseindrücken mit Bestandteilen, die dem eigenen Vorstellungsschatze entstammen, eine so verhängnisvolle Quelle der Verfälschung ihrer Erfahrung wird. Dieser Vorgang, den wir als Apperceptionsillusion (Auffassungsverfäl- schung) den früher berührten Formen der Illusion gegenüber- stellen können, ist in geringerem Umfange schon unter gewöhn- lichen Verhältnissen überaus häufig. Das Übersehen der Druck- fehler ist dafür ein viel genanntes Beispiel. Die Schnelligkeit, mit der wir bekannte Formen und Laute aufzufassen vermögen, beruht eben wesentlich darauf, dass wir die rasch empfangenen all- gemeinen Eindrücke ohne weiteres durch Erinnerungsbilder ver- stärken und ergänzen, in der Hauptsache vielleicht richtig, oft genug aber auch falsch. Niemandem kann es entgehen, wie sehr auch die Wahrnehmung des Gesunden unter dem Einflüsse der vorgefassten Meinung steht, namentlich dann, wenn lebhafte Ge- mütsbewegungen die klare und sachliche Auffassung unserer Um- gebung trüben. Auch der ruhigste, naturwissenschaftlichste Beob- achter ist nicht immer ganz sicher, dass seine Wahrnehmungen sich nicht unmerklich den Anschauungen anpassen, mit denen er an seinen Gegenstand herantritt, und die Gemütsbewegungen sind bekanntlich imstande, unserer Gesamtauffassung der Ereig- nisse eine so verschiedene Beleuchtung zu geben, dass uns nach- träglich die Abweichungen von der Wirklichkeit oft ganz un- begreiflich erscheinen. Bei Geisteskranken sind aber die Be-

Sinnestäuschungen.

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dingungen für die Entstehung von Auffassungsverfälschungen häufig ausserordentlich günstige: starke gemütliche Erregungen, grosse Lebhaftigkeit der Vorstellungen und endlich ein später noch näher zu berücksichtigender Umstand Unfähigkeit zu einer verständigen Sichtung und Berichtigung der Erfahrungen. So kommt es, dass hier vielfach die sinnlichen Eindrücke in der Auffassung des Kranken ganz abenteuerliche Formen annehmen und auf diese Weise auch dort, wo keine eigentlichen Sinnes- täuschungen vorhanden sind, die Bausteine zu einer verfälschten Anschauung von der Aussenwelt zu liefern imstande sind. Dahin gehört es, wenn eine Kranke die Geräusche draussen für das Schreien ihrer zu Tode gemarterten Kinder oder für das „Knistern der Hölle“ hält.

Am leichtesten kommt natürlich eine derartige Verfäl- schung der Erfahrung dann zu stände, wenn die von den Sinnen gelieferten Eindrücke nicht klar und scharf ausgeprägt, sondern unbestimmt und verschwommen sind. Wie wir im ge- wöhnlichen Leben undeutliche Wahrnehmungen am häufigsten missverstehen, d. h. unwillkürlich durch eigene Beimischungen ergänzen und auslegen, so spielen auch bei Geisteskranken die Auffassungstäuschungen besonders dann eine grosse Rolle, wenn die Deutlichkeit der Sinneseindrücke durch irgendwelche Ur- sachen, namentlich durch Störungen des psychischen Gesamt- zustandes, beeinträchtigt wird.

Die Verfälschung der Auffassung kann unter Umständen auch durch Eindrücke von anderen Sinnesgebieten her ausgelöst werden. K a h 1 b a u m hat diesen Vorgang mit dem Namen der Reflex- hallucination belegt. Die Wahrnehmungen der einzelnen Sinne stehen miteinander in so vielfältiger Verknüpfung, dass ein lebhafter Eindruck leicht andere Sinnesgebiete mit erregen kann. Im Grunde gehört hierher schon das Auftauchen des Ge- sichtsbildes einer Katze, wenn wir ihr Miauen hören. Viel unmit- telbarer treten diese Beziehungen der einzelnen Sinne bei den sogenannten „Sekundärempfindungen“ hervor, dem Sehen von Farben bei bestimmten Klängen, Gerüchen u. s. f. Sinnliche Deutlichkeit erhalten die unangenehmen Empfindungen des Zu- schauers bei schmerzhaften Eingriffen, die Belästigung im Kehl- kopf beim Anhören eines heiseren Sängers, der Kitzel bei drohen-

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

der Berührung empfindlicher Stellen, die Wahrnehmung eines blinden, gegen uns gerichteten Stosses. Mourly Vold hat ferner nachgewiesen, dass sich auch in unseren Träumen vielfach eine derartige Umsetzung von Reizen in Vorstellungen eines an- deren Sinnesgebietes vollzieht.

In Krankheitszuständen spielen ähnliche Vorgänge oft eine bedeutende Rolle. Namentlich Bewegungsempfindungen, wie sie sich schon unter gewöhnlichen Verhältnissen so häufig an Sin- neseindi'ücke anschliessen, scheinen vielfach auf diesem Wege zu entstehen*). So gibt es Kranke, welche die in ihrer Umgebung gesprochenen Worte in ihrer Zunge fühlen, denen ein Blick, eine Berührung eigentümliche Spannungs- oder Erschlaffungsempfin- dungen im Körper erregt. Umgekehrt berichtet Juliusburger von einem tauben und blinden Kranken, der jedesmal Glöckchen eine Melodie spielen hörte, sobald er die gelähmten Augen im Rhythmus nach rechts zu bewegen suchte. Bisweilen nehmen solche Zusammenhänge sehr absonderliche Formen an; die Kran- ken fühlen sich mit der Suppe „ausgefüllt“, von ihrer Nachbarin „eingenäht“, „eingestiückt“ u. ähnl. In der Regel dürfte es sich bei allen diesen Erscheinungen übrigens nicht um einfache Über- tragungen der Sinnesreize in eine andere Bahn, sondern um die Mitwirkung von Einbildungen handeln, die lange vorbereitet sind und auf dem Wege mehr oder weniger klar bewusster Überlegung die Anknüpfung der Mitempfindungen an den ursprünglichen Ein- druck vermitteln.

Eine sehr bemerkenswerte Eigenschaft der Sinnestäuschungen, welche einmal auf ihre Entstehungsweise hindeutet, andererseits ihre Wichtigkeit als Krankheitserscheinung kennzeichnet, ist die gewaltige, unwiderstehliche Macht, die sie alsbald über den gesamten Bewusstseinsinhalt des Kranken zu erhalten pflegen. Es ist wahr, dass auch bei geistig völlig gesunden Menschen ausnahmsweise einmal eine ausgesprochene Trugwahrnehmung auftreten kann, und dass andererseits im Beginne oder am Ende einer Geistesstörung die Täuschungen wegen ihres unwahrschein- lichen Inhaltes nicht selten als solche erkannt werden. Allein man sieht fast immer, wie andauernde Sinnestäuschungen das gesunde

*) Cramer, Die Hallucinationen im Muskelsinn bei Geisteskranken und ihre klinische Bedeutung. 1889.

Sinnestäuschungen.

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Urteil überwältigen und wie schon nach kurzer Zeit selbst die un- sinnigsten und abenteuerlichsten Annahmen von dem Kranken erfunden werden, um an der Wahrheit der Trugwahrnehmungen allen besonnenen Gegengründen zum Trotz festzuhalten. Ja, wenn etwa in der Genesungszeit die Überzeugung von der krankhaften Natur der Täuschungen sich schon zu befestigen beginnt, wird der Kranke im Augenblicke ihres Auftauchens selbst doch fast regelmässig wieder von ihnen mit fortgerissen.

Diese eigenartige Erscheinung, die in der Ohnmacht der wirk- lichen Wahrnehmungen, des offenbaren Augenscheins, gegenüber der krankhaften Täuschung eine weitere Erläuterung findet, kann eben deswegen natürlich nicht etwa in der sinnlichen Deutlichkeit der Trugwahrnekmung ihren einfachen Grund haben; im Gegen- teile scheint die Erfahrung dafür zu sprechen, dass die Macht der Täuschungen mit dem Zurücktreten ihrer alltäglich sinnlichen Be- schaffenheit eher wächst, als abnimmt. Die Erklärung ist daher vielmehr in dem tiefgehenden, dem Kranken vielleicht selber un- bewussten Zusammenhang© mit den ihm geläufigen Gedanken- kreisen, in der inneren Übereinstimmung der Täuschungen mit seinen krankhaften Befürchtungen und Wünschen zu suchen. Ganz besonders sind es Gemütsbewegungen und Stimmungen, die den Täuschungen Inhalt und Färbung geben, gerade so, wie sie das Auftauchen bestimmter Vorstellungsreihen unterstützen und die wirkliche Wahrnehmung beeinflussen. Sehr häufig beobachten wir, namentlich in den Endzuständen der Dementia praecox, dass Täuschungen sich nur in Verbindung mit den hier so häufigen periodischen Stimmungsschwankungen einstellen, in den Zwischen- zeiten dagegen völlig zurücktreten. Die überwältigende Beein- flussung des Denkens und Handelns durch die Täuschungen nimmt erst ab, wenn entweder Genesung eintritt oder mit der Ausbildung fortschreitender Verblödung die gemütliche Regsamkeit schwin- det. In beiden Fällen können die Täuschungen zunächst noch f ortdauern, aber der Kranke „achtet nicht mehr so darauf“; sie hören auf, eine Rolle zu spielen. So gibt es ungezählte Blödsinnige,' die andauernd Stimmen hören, ohne den Inhalt derselben irgend weiter zu verarbeiten, ein Beweis dafür, dass die Macht der Täu- schungen ganz von dem Widerhall abhängig ist, den sie im Seelenleben des Kranken finden.

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

Diese Erwägungen sind es, welche mit grosser Entschieden- heit gegen die verbreitete Auffassung sprechen, dass die Sinnes- täuschungen regelmässig oder doch häufig die eigentliche Ursache für die wahnhaften Gedanken, die Gemütsbewegungen, das Handeln unserer Kranken bilden sollen. Freilich weisen die Kranken in ihren Erzählungen nicht selten geradezu auf die Täu- schungen als die Quelle und die Begründung ihrer Krankheits- erscheinungen hin, allein 'es kann doch keinem Zv. eifei unter- liegen, dass die Täuschungen in demselben Hirn entstanden sind wie die übrigen Erscheinungen der psychischen Erkrankung. Tat- sächlich verhalten sich die Kranken ja zu den Täuschungen auch ganz anders, als zu wirklichen Wahrnehmungen. Kein Gesunder würde die Worte eines Vorübergehenden: „das ist der Kaiser'1 sofort auf sich beziehen oder sich gar deswegen wirklich für den Kaiser halten auf den Geisteskranken, bei dem sie den Abschluss einer Kette geheimer Hoffnungen und dunkler Ahnungen bildet, kann eine derartige hallucinatorische Wahr- nehmung den allertiefsten, überwältigendsten Bindruck machen und unmittelbar die feste Überzeugung hervorbringen, nicht nur, dass jene Worte wirklich gesprochen seien, sondern dass sie auch die tatsächliche Wahrheit enthalten. Ebenso würden wk nie- manden für entschuldigt halten, wenn er die an ihn wirklich gerichtete Aufforderung „Töte dein Weib!“ etwa einfach au&- führen würde, während wir beim Kranken der Sinnestäuschung ohne weiteres eine zwingende Kraft zuzuschreiben gewöhnt sind.

Es lässt sich nun allerdings nicht von der Hand weisen, dass möglicherweise die Entstehung einer Sinnestäuschung auf sehr verschiedenem Wege erfolgen kann. Gerade unsere früheren Auseinandersetzungen deuteten schon darauf hin, dass gewisse Formen der Täuschungen vielleicht mehr in den Anfangsgebieten der Sinnesbahn, andere dagegen mehr in denjenigen Hirnteilen ihren Ursprung nehmen, welche den höheren psychischen Lei- stungen dienen. Man hat daher auch wohl von einer primären und sekundären Entstehung der Sinnestäuschungen gesprochen, je nachdem dieselben als unabhängige Einflüsse in das Seelen- leben eingreif en oder umgekehrt aus demselben hervorwachsen. Wie die Erfahrung lehrt, besitzen jedoch gerade die sogenannten sekundären Sinnestäuschungen die bei weitem grösste Macht über

Sinnestäuschungen.

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Denken, Fühlen und Handeln. Nicht die Tatsache der Sinnes- täuschung oder ihr Inhalt an sich ist es demnach, was so überwältigend auf den Kranken wirkt, sondern einzig und allein der Umstand, dass eben die Täuschung nichts anderes ist, als sein eigenstes Erzeugnis. Wir können daher, abgesehen von den oben bereits besprochenen klinischen Unterschieden, keinen be- sonderen Wert darauf legen, zu entscheiden, ob im einzelnen Falle die Wahnidee, die Stimmung oder die zugehörige Sinnes- täuschung sich zuerst geltend gemacht habe. In der über- wiegenden Mehrzahl der Fälle, und namentlich dann, wenn die Täuschungen mit dauernden Wahnbildungen einhergehen, sind alle jene Krankheitserscheinungen gewiss nur die Wirkungen einer und derselben gemeinsamen Ursache, die verschiedenartigen Zeichen des gleichen krankhaften Gesamtzustandes.

Der Inhalt und die Form der Trugwahrnehmungen zeigen auf den einzelnen Sinnesgebieten eine grosse Mannigfaltigkeit. Unter den Gesichtstäuschungen sind am häufigsten nächt- liche „V i s i o n e n“, leuchtende Gestalten, Gott, Christus, Engel, Verstorbene, Blumen, oder schreckhafte Fratzen, Teufel, wilde Tiere und dergl. Diese Erscheinungen werden bald als übersinn- liche Offenbarungen, bald als täuschende Vorspiegelungen auf- gefasst, oder aber sie ähneln in ihren fremdartigen und abenteuer- lichen Formen, in ihrem raschen Wechsel und ihrer Vielgestal- tigkeit den Trugwahrnehmungen des lebhaften, unruhigen Traumes, wie im Fieberdelirium. Mehr den wirklichen Wahr- nehmungen nähern sich die weit selteneren Gesichtstäuschungen, die bei hellem Tageslichte auftreten. Dahin gehören namentlich die Täuschungen der Alkoholdeliranten, huschende Ratten und Kobolde, zahlloses kriechendes Ungeziefer, Schmetterlinge und Flocken in der Luft, Münzen am Boden, Drähte und gespannte Fäden, lebhaft bewegte, bunte Menschenmengen. Bei andern Kranken sind es einzelne Gestalten, ein schwarzer Hund, Löwen- köpfe, die zum Fenster hineinsehen, dunkle Schatten, Gehenkte an einem Baume, Blut, ein Leichenantlitz. Bisweilen verdecken die Bilder die wirklichen Gegenstände, oder sie lassen sie gerade noch durchschimmern. Im Essen befinden sich Schimmel, kleine ab- geschnittene Köpfe mit beweglichen Augen, wimmelndes Ge- würm; die Gegenstände der Umgebung haben ein ganz anderes

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

Aussehen angenommen, zeigen bestimmte Gesichter, Totenköpfe, bewegen, verändern sich, namentlich im seitlichen Sehfelde. Hierhin gehören auch gewisse Fälle von Personenverwechs- lung, bei welchen die Kranken in fremden Personen ihre Ange- hörigen zu erblicken glauben oder umgekehrt ihre Angehörigen nicht als solche anerkennen, behaupten, dass dieselben Personen immer andere Gesichter und Gestalten annehmen, Fratzen schneiden und ähnl. Im allgemeinen sind Gesichtstäuschungen einer Aufklärung durch andere Sinne, namentlich den Tastsinn, verhältnismässig leicht zugänglich und werden daher von Ge- sunden unter einigermassen günstigen Verhältnissen auch regel- mässig als solche erkannt. Nur wo Verworrenheit, heftige Ge- mütsbewegungen, namentlich Angst, oder weit fortgeschrittene psychische Schwäche eine unbefangene Prüfung der Täuschung verhindern, werden selbst gröbere und fremdartigere Verfäl- schungen der Gesichtswahrnehmung als wirkliche Sinnes- erfahrungen hingenommen und verarbeitet.

Weit verderblicher pflegen in dieser Beziehung jene Ge- hörstäuschungen zu sein, welche als „Stimmen“ auf treten, ein Ausdruck, den der wahre Gehörshallucinant fast immer so- gleich richtig versteht. Der Grund dafür liegt offenbar in der tiefgreifenden Bedeutung, welche die Ausbildung der Sprache für unser Denken besitzt. Da wir zumeist in Worten denken, pflegen die. „Stimmen“ in sehr innigem Zusammenhänge mit dem Gesamtinhalte des Bewusstseins zu stehen, ja sie sind häufig nichts, als der sprachliche Ausdruck dessen, was die Seele des Kranken bewegt, und haben daher für ihn eine weit grössere überzeugende Gewalt, als alle sonstigen sinnlichen Täuschungen und insbe- sondere als die wirklichen Reden der Umgebung selbst. Der Kranke hört, zuerst gewöhnlich hinter seinem Rücken, allerlei Bemerkungen, die sich auf ihn beziehen, jede seiner Handlungen begleiten, die geheimsten Vorgänge seiner Vergangenheit offen besprechen, ihn beleidigen, bedrohen oder beglücken. Namentlich nicht ganz deutliche Reden, halblaute W^orte, unbestimmte Ge- räusche gewinnen Inhalt; die Wagen „knarren und ertönen auf ganz ungewöhnliche Weise und liefern Erzählungen, die Schweine grunzen Namen und Erzählungen sowie Verwunderungsbezeu- gungen, die Hunde schimpfen und bellen Vorwürfe, Hähne krähen

Sinnestäuschungen.

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solche, selbst Gänse und Enten schnattern Namen, einzelne Redens- arten und Bruchstücke von Referaten.“ Aus dem Schwirren der Stahlfedern, dem Läuten der Glocken tönen dem Kranken Rufe entgegen, oder aus der Wand, aus dem Bette, in dem er liegt, ja aus den eigenen Ohren heraus, im Kopfe, im Unterleibe ver- nimmt er die Stimmen. Nicht selten haben dieselben verschiedene Höhe und Klangfarbe und werden daher verschiedenen Personen zugeschrieben; bisweilen ist es eine ganze Schar, deren einzelne Mitglieder genau unterschieden werden, auch wohl Wechselreden führen; bisweilen sind es nur einige wenige oder eine einzige. Die Stimmen der eigenen Angehörigen, untreuer Liebhaber, bos- hafter Nachbarn, endlich diejenige Gottes oder des Teufels pflegen am häufigsten vorzukommen. Vielfach sind die Stimmen leise, flüsternd oder zischelnd, wie aus der Ferne, von oben herunter, oder dumpf, aus dem Boden heraufkommend ; weniger häufig sind sie laut und schreiend, alles andere übertönend. Sie können so vollständig den wirklichen Wahrnehmungen gleichen, dass die Kranken ihren Glauben an sie geradezu damit begründen. „Wenn Ihre Worte wirklich gesprochen werden,“ so sagen sie dem Arzte, „so muss das auch bei den anderen der Fall sein, die ich ganz ebenso höre.“ Verhältnismässig selten sprechen die Stimmen längere, zusammenhängende Sätze ; meist handelt es sich um kurze, abgerissene Bemerkungen. Ausser den Stimmen werden hie und da laute schiessende und knatternde Geräusche, Glocken- läuten, wirres Geschrei, seltener angenehme Musik, Gesang und dergl. gehört.

In anderen Fällen tritt namentlich der übernatürliche Ursprung der gehörten Stimmen stärker hervor; sie sind dann nicht selten von Gesichtstäuschungen begleitet. Gott oder Christus geben dem Kranken einen Auftrag, eine Verheissung oder klären ihn über ein Geheimnis seiner Persönlichkeit auf. Der ganze Vorgang hat hier gewöhnlich etwas Traumhaftes, Übersinnliches. Im Fieberdelirium und bei sehr verwirrten Kran- ken zeigen auch die Gehörstäuschungen den raschen Wechsel und die unklare Verworrenheit der unter gleichen Verhältnissen vor- kommenden Gesichtstäuschungen.

Als eine besondere Gruppe der Gehörstäuschungen sind die sogenannten „inneren Stimmen“, „Einflüsterungen“, die „Welt-

Kraepelin, Psychiatrie. I. 7. Anfl. 10

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

spräche“, das „Gedenk“, das „Telephonieren“, „Telegraphieren“ und dergl. zu betrachten, die von dem Kranken selbst nicht als äussere Wahrnehmungen, sondern als Eingebungen oder künstliche Beeinflussungen aufgefasst werden. „Es ist zwischen Hören und Ahnen“, meinte ein Kranker. Hier ist der Ursprung aus dem eigenen Gedankengange in der Regel ^ sehr deutlich. Bisweilen schliesst sich dieses innere Sprechen in der Art der Rede und Wechselrede im Bewusstsein des Kranken aneinander, so dass die Wahnidee einer förmlichen stillen Unterhaltung mit fernen Personen entsteht. Oder aber die „Gewissensstimmen“ begleiten jede Handlung des Kranken mit entsprechenden Bemer- kungen, feuern ihn an, erteilen ihm Befehle oder \ erböte. In allen diesen Fällen entwickelt sich ebenso wie bei dem früher beschriebenen „Doppeldenken“ leicht die Vorstellung, dass die eigenen Gedanken der Umgebung bekannt seien, oder gar, dass sie durch fremde Einwirkung gemacht und beeinflusst würden. „Ich bin durchsichtig,“ sagte mir ein derartiger Kranker.

Der Inhalt der Gehörstäuschungen ist, wie schon ange- deutet, nur selten ein ganz gleichgültiger und dann in der Regel unsinnig und eintönig. Zumeist stehen die Stimmen in sehr nahen Beziehungen zu dem Wohl und Wehe des Hörers, den sie auf- reizen und peinigen, seltener beglücken und erheben. Sie können dann einen mächtigen Einfluss auf das Handeln gewinnen. Die fortwährenden Schmähungen, Beschimpfungen und höhnischen Bemerkungen, der Jammer gemisshandelter Angehöriger machen den Kranken misstrauisch und aufgeregt und bringen ihn zu ent- rüsteter Abwehi- gegen seine vermeintlichen Peiniger; furchtbare Drohungen setzen ihn in Angst und Verwirrung und zwingen ihn zu rastloser Flucht, um den Verfolgern zu entgehen; gebieterische Befehle lassen ihn die unsinnigsten und bisweilen unnatürlichsten Taten begehen, weil er übernatürlichen Mächten gehorchen zu

müssen glaubt. .

Von weit geringerer unmittelbarer Bedeutung, als die Trug- wahrnehmungen des Gesichts und Gehörs, deren Gebiet ja vor allem der sinnliche Rohstoff unserer Vorstellungen entnommen wird, sind die Täuschungen im Bereiche der übrigen Sinne für das psychische Leben des Kranken. Der geängstigte Kranke empfindet den Geruch giftiger Dünste, die ihn töten sollen, oder

Sinnestäuschungen.

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den Schwefelgestank des Teufels, der ihn bedroht; er schmeckt allerlei unappetitliche und schädliche Dinge, Menschenfleisch, Kot, Arsenik, Canthariden in seinem Essen, die ihm von seinen Feinden beigebracht werden. Diese Trugwahrnehmungen haben ihren Ursprung zumeist in den Gedankenkreisen des Kranken, weit seltener in umschriebenen Störungen der Sinnesgebiete, wie z. B. Geruchstäuschungen bei Druck auf den Olfactorius oder bei Rindenerkrankungen in der Gegend des Gyrus hippocampi auf- treten können. In der Regel haben wir es somit hier mit dem Ausdrucke allgemeiner psychischer Umwälzungen zu tun. Ähn- liches gilt von den entsprechenden Täuschungen im Bereiche des Haut- und Muskelsinnes sowie der Gemeinempfindungen. Wo uns die Wahnideen des Elektrisiertwerdens, des Besessenseins, der Umwandlung einzelner Körperteile, der inneren Versteinerung und Eintrocknung, des Verschwindens von Kopf, Mund, Magen, After u. s. f. begegnen, da handelt es sich nicht mehr um einfache Verfälschungen der Wahrnehmung, sondern um die krankhafte Verarbeitung von Empfindungen, die an sich meist zu unbe- stimmt sein würden, um etwa in ähnlicher Weise wie die Gehörs- und Gesichtstäuschungen den Bewusstseinsinhalt beeinflussen zu können.

Die grosse Mannigfaltigkeit der Sinnestäuschungen hatte uns zu der Anschauung geführt, dass ihre Entstehungsweise eine sehr verschiedene sein müsse. Eine wichtige Bestätigung erfährt diese Meinung durch die Erfahrung, dass die Art der Täuschungen in sehr entschiedener Weise durch die klinischen Krank- heitsformen bestimmt wird. Bei den Fieber- und Infektions- delirien haben wir es mit bunten, wechselnden, traumartigen Trugwahrnehmungen zu tun, bei denen verschiedene Sinnesgebiete zur Vortäuschung verworrener, abenteuerlicher Erlebnisse Zu- sammenwirken. Ähnlich verhalten sich die Täuschungen des Trinkerdeliriums, doch ist hier der Zusammenhang der Einzel- erlebnisse meist klarer. Die Täuschungen, die ausser Gehör, Hautsinn und Muskelsinn ganz vorzugsweise den Gesichtssinn be- treffen, haben ferner eine ausserordentliche sinnliche Deutlich- keit; sie verknüpfen sich zudem so innig miteinander, dass sie die Grundlage für ein „Beschäftigungsdelirium“ abgeben können. Bemerkenswert ist endlich die Massenhaftigkeit der gleich-

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

artigen Trugwahrnehmungen und ihre vielfach lebhafte Be- wegung, das Auftauchen, Schwinden, Zerfliessen. Wie bei den Fieberdelirien knüpfen sich auch hier die Täuschungen gern an undeutlich aufgefasste Eindrücke an; sie können durch Einreden hervorgerufen und beeinflusst werden. Ihnen nahe verwandt sind die durch Cocain erzeugten Täuschungen, die sich auf Gesicht, Gehör und Gemeinempfindungen zugleich erstrecken können. Be- sonders kennzeichnend sind für dieses Gift die eigentümlichen „mikroskopischen“ Gesichtstäuschungen, die Wahrnehmung zahl- loser gleichartiger, winziger Einzelheiten, Tierchen, Löcher in der Wand, Pünktchen. Demgegenüber begegnen uns bei. den epileptischen Delirien, bei denen ebenfalls ein Zusammenwirken verschiedener Sinnesgebiete häufig ist, vorzugsweise Täuschungen mit lebhafter Gefühlsbetonung, das Sehen von Blut, Feuer, Schreckgestalten, himmlischen Erscheinungen oder das Horen von Drohungen, Schüssen, Kriegslärm, Yerheissungen und Engels- musik.

Wir dürfen wohl annehmen, dass es sich m allen diesen Fällen, da sich die Täuschungen verschiedener Sinne miteinander verbinden, um ausgebreitete Krankheitsvorgänge in der Hirnrinde handelt. Dafür spricht auch der Umstand, dass hier regel- mässig mehr oder weniger starke Trübungen des Bewusstseins bestehen. Allerdings deuten andererseits die unverkennbaren klinischen Verschiedenheiten in der Gestaltung der Täuschungen darauf hin, dass die Eigenart der einzelnen Krankheitsvor- gänge sich dennoch deutlich geltend macht, sei es in dei Verschiedenheit der Störungen selbst, sei es in der ver- schiedenen Ausbreitung und Verteilung derselben. Mehr vor- übergehende delirante Zustände mit ganz ähnlichen zusammen- gesetzten Täuschungen mehrerer Sinne kommen noch in manchen anderen Krankheiten vor, so im manisch-depressiven Irresein, beim Altersblödsinn, bei der Dementia praecox, seltener in der Paralyse, bei der die Neigung zum Auftreten, von Sinnestäu- schungen überhaupt auffällig gering ist. Wie weit den genannten Krankheitsvorgängen sonst Besonderheiten in der Gestaltung der deliriösen Sinnestäuschungen entsprechen, ist noch sehr un- genügend bekannt. Im allgemeinen darf man vielleicht annehmen, dass bei den verwirrten Erregungszuständen der Dementia prae-

Sinnestäuschungen.

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cox die Gehörstäuschungen im Vordergründe stehen, während bei denjenigen des manisch-depressiven Irreseins daneben solche des Gesichts und namentlich der Gemeinempfindungen eine grosse Rolle spielen dürften. Zudem pflegt es sich hier wie bei der Paralyse ganz vorwiegend um Illusionen, weit weniger um Hal- iucinationen zu handeln.

Eine weit enger umgrenzte Gruppe bilden diejenigen kli- nischen Formen, bei denen sich die Täuschungen auf ein einzelnes Sinnesgebiet beschränken oder doch kein Zusammenwirken der verschiedenen Sinne erkennen lassen. Ein sehr lehrreiches. Bei- spiel dafür liefert der Alkoholwahnsinn und gewisse alkoholische Schwächezustände, bei denen ganz ausschliesslich Gehörstäu- schungen auftreten können. In einzelnen Fällen zeigen sie einen taktmässigen Tonfall, so dass die Anknüpfung an das leise Ticken des Carotispulses wahrscheinlich wird. Auch bei epileptischen Geistesstörungen kommen hie und da nur Gehörstäuschungen zur Beobachtung. In den cirkulären Depressionszuständen pflegen sie in einzelnen kurzen Bemerkungen beängstigenden Inhaltes zu bestehen, während bei den Trinkern und Epileptikern oft längere zusammenhängende Reden gehört werden, in die sich mehrere Personen einmischen, und die sich fast niemals unmittelbar an den Kranken wenden.

Bei weitem am häufigsten sind Gehörstäuschungen in jener grossen Gruppe von Krankheiten, die wir einstweilen noch unter dem Namen der Dementia praecox zusammenfassen. Dauernd fehlen sie nur selten. In der Regel bilden sie eines der eisten Krankheitszeichen und bleiben oft genug die einzigen Täu- schungen, die überhaupt auftreten. In den deliranten Zuständen können sich jedoch auch Trugwahrnehmungen anderer Sinne hinzugesellen, und endlich gibt es eine grössere Zahl von Fällen, in denen sich neben den Gehörstäuschungen dauernd solche des Hautsinns und namentlich der Gemeinempfindungen, auch wohl des des Geruchs und Geschmackes entwickeln. Fast nur hier begegnet uns die merkwürdige Störung des Doppeldenkens und Gedanken- lautwerdens. Der Inhalt der Täuschungen ist oft nur im Anfänge aufregend oder erfreuend, späterhin vielleicht ganz gleichgültig oder unsinnig, im Gegensätze zu den oben angeführten Formen. Diese Erfahrungen weisen darauf hin, dass der Krankheitsvorgang,

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

der diesen Geistesstörungen zu Grunde liegt, das Zustandekommen von Gehörstäuschungen in ganz besonderem Grade begünstigt, und dass dabei gemütliche Einflüsse keine massgebende Bedeu- tung haben. Wir dürfen hier vielleicht daran erinnern, dass die Gehörstäuschungen in sprachlicher Form auftreten, und dass wir es gerade bei den Krankheiten, um die es sich hier handelt, ungemein häufig auch mit Störungen des sprachlichen Ausdruckes zu tun haben. Es wäre denkbar, dass diese beiden Krankheits- zeichen in tieferer Beziehung zu einander stünden.

Trübungen des Bewusstseins. Ausser den Vorgängen in den verschiedenen Abschnitten der Sinnesgebiete ist für die Erwer- bung von Erfahrungen noch ein weiterer Umstand von hervor- ragender Wichtigkeit, nämlich das Verhalten unseres Bewusst- seins. Äussere Reize erzeugen in unserem Innern gewisse eigen- tümliche, nicht näher erklärbare Zustandsveränderungen, die wir unmittelbar auffassen und als Vorstellungen, Gefühle, Antriebe u. s. f. auseinanderhalten. Diese allgemeinste Tatsache der inneren Erfahrung bezeichnen wir im Anschlüsse an Fechners Anschauungen als das Bewusstsein. Überall, wo äussere Eindrücke in psychische Vorgänge umgesetzt werden, ist Be- wusstsein vorhanden, denn dasselbe ist eben nichts anderes, als ein Ausdruck für das Stattfinden dieser Umwandlung. Das Wesen des Bewusstseins ist für uns völlig dunkel, doch wissen wir, dass der Bestand desselben nicht nur im allgemeinen von den Verrichtungen der Hirnrinde abhängig ist, sondern dass auch die einzelnen Erscheinungen des Bewusstseins höchst wahrscheinlich an bestimmte, bisher noch unbekannte Vorgänge in unserem Nervengewebe gebunden sind.

Wie von der Beschaffenheit der Sinneswerkzeuge die Um- setzung der äusseren Reize in Sinneserregung abhängig ist, so sind weiterhin die Zustände der Hirnrinde für die Umwandlung der physiologischen Erregungen in Bewusstseinsvorgänge von entscheidender Bedeutung. In welchem Masse eine solche Um- wandlung jeweils stattfindet, das ist bisher im Einzelfalle oft äusserst schwierig zu erkennen, da uns die innere Erfahrung eines Anderen nicht durch unmittelbaren Einblick, sondern nur durch einen Rückschluss aus seinem äusseren Verhalten zugäng- lich ist. Aus diesem letzteren allein entnehmen wir mit

Trübungen des Bewusstseins.

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grösserer oder geringerer Wahrscheinlichkeit, ob dasselbe als Ausdruck psychischer Vorgänge zu betrachten ist odei nicht.

Denjenigen Zustand, in welchem die Umsetzung körpeilichei in seelische Vorgänge gänzlich aufgehoben ist, bezeichnen wir als Bewusstlosigkeit. Jeder Reiz, der die Schwelle des Bewusstseins überschreiten und damit einen psychischen Eindruck hervorrufen soll, muss eine gewisse Stärke besitzen, die nicht unter einen bestimmten Wert, den sogenannten Schwellen- wert, heruntersinken darf. Allein die Grösse des Schwellen- wertes wechselt je nach den Zuständen unserer Hirnrinde ausser- ordentlich. Während sie bei gespannter Aufmerksamkeit ihre niedrigsten Werte erreicht, kann sie in tiefster Ohnmacht un- endlich werden, d. h. es genügen hier bisweilen selbst die allei- stärksten Reize nicht mehr, um Bewusstseinsvorgänge auszu- lösen. Man kann demnach, je nach der Grösse des Schwellen- wertes, verschiedene Helligkeitsgrade des Bewusstseins unterscheiden. Sinkt die Helligkeit des Bewusstseins unter ein gewisses Mass, so entsteht ein mehr oder weniger tiefer „Däm- merzustand“, in dem sowohl äussere wie innere Reize nur uoch schwache und unklare psychische Gebilde erzeugen. Als vorübergehende, sich oft ungemein scharf gegen das gesunde Leben absetzende Störung beobachten wir derartige Bewusstseins- trübungen bei der Epilepsie und Hysterie. Als lange dauernde Dämmerzustände können wir dagegen gewisse Erschwerungen der Seelenvorgänge betrachten, bei denen sich der psychophysische Schwellenwert wesentlich erhöht. Unter Umständen kann an- scheinend der Schwellenwert für äussere und für innere Reize in ungleichmässiger Weise verändert werden; während die Ein- wirkung äusserer Eindrücke erheblich erschwert ist, können den- noch durch innere Erregungen lebhafte Bewusstseinsvorgänge aus- gelöst werden. Das ist der Fall bei denjenigen Zuständen, die wir als Delirien zu bezeichnen pflegen. Umgekehrt sehen wir bei den Verblödungen nicht selten äussere Reize noch verhältnis- mässig leicht Empfindungen erzeugen, während sich innere Vor- gänge fast gar nicht mehr im Bewusstsein geltend machen. Hier handelt es sich aber in der Regel gar nicht um eine Steigerung des Schwellenwertes, sondern um ein dauerndes Sinken der psycho-

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

physischen Erregung. Gerade dadurch unterscheidet sich die Verblödung vom Dämmerzustände.

Der häufigste, auch dem Gesunden wohlbekannte Dämmer- zustand ist der Schlaf. Bei ihm ist es gelungen, durch Feststellung der Reize, die in den einzelnen Abschnitten der Nacht genügen, um das Aufwachen herbeizuführen, die Schwankungen der Schlaf- tiefe, also die Helligkeitsgrade des Bewusstseins im Schlafe, durch den Versuch genauer zu verfolgen. Dabei hat sich gezeigt, dass die „Weckwerte“ im allgemeinen nach dem Einschlafen zu- nächst rasch zunehmen, dann ebenso schnell wieder sinken, um mit allerlei Schwankungen gegen Morgen ihre niedrigsten Werte zu erreichen. Bei Morgenarbeitern liegt die grösste Schlaftiefe am Ende der ersten Schlafstunde und ist nach wenigen Stunden bereits ungemein gering. Dagegen scheinen Abendarbeiter ihre grösste Schlaftiefe, die zudem erheblich geringer bleibt, als die- jenige der ersteren Gruppe, viel später zu erreichen. Sie sinkt dann auch langsamer und hält sich bis zum Erwachen auf einer beträchtlicheren Höhe. Ohne Zweifel erfährt die Schlaftiefe bei Geisteskranken die allereingreifendsten Veränderungen. Nament- lich in Depressionszuständen pflegt der Schlaf oberflächlich und häufig unterbrochen zu sein, während er bei manischen Kranken von kurzer Dauer, aber sehr tief sein kann. Leider fehlen uns über diese wichtigen Störungen noch genauere Untersuchungen.

Auch im Schlafe dürfte sich das Verhältnis des äusseren Schwellenwertes zum inneren zu ungunsten des ersteren verschie- ben. Dafür spricht die Erscheinung des Traumes, die allerdings im Tiefschlafe fehlen oder doch spurlos werden kann. Die Träume haben vielfach grosse Ähnlichkeit mit den Dämmerzuständen. De Sanctis*) weist insbesondere darauf hin, dass die Träume der Epileptiker und Hysterischen denselben Inhalt haben können wie die Delirien der Kranken, dort schreckhafte Wahrnehmungen von Blut, Flammen, andrängenden Ungeheuern, himmlische Er- scheinungen oder wollüstige Erlebnisse, hier theatralische Ereig- nisse, Auftreten Verstorbener, einzelner drohender, mahnender oder rührender Gestalten. Er meint sogar nicht mit Unrecht, dass Träume dieser Art zuweilen geradezu Äquivalente der im Wachen auftretenden ähnlichen Störungen bilden könnten.

*) De Sanctis, I sogni. 1899, deutsch von 0. Schmidt. 1901.

Störungen der Auffassung.

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In Depressionszuständen pflegen die ängstlichen und er- schreckenden Träume der Verstimmung im Wachen zu entsprechen. Auch Wahnbildungen können sich in den Träumen fortspinnen. Namentlich begegnen wir häufig der Angabe nächtlicher feind- seliger Beeinflussung. Die Kranken erzählen von nächtlichen Be- gattungen, beklagen sich darüber, dass man ihnen die „Natur abgezogen“, Veränderungen an ihrem Körper vorgenommen habe. Es ist allerdings zweifelhaft, wie weit derartige Angaben wirklich auf Traumerlebnisse zurückgehen; Pilcz fand geradezu, dass paranoische Kranke nicht von ihren Wahnvorstellungen träumen. Gar nicht selten aber vermengen die Kranken Traum und Wirk- lichkeit; ich erinnere mich eines Kranken, der fast täglich dem Arzte über das Vorwürfe machte, was er ihm wieder im Traume angetan habe. Bei fortschreitender Verblödung schwindet mit dem Verluste der geistigen Regsamkeit auch die Häufigkeit und Lebhaftigkeit der Träume.

Störungen der Auffassung. Das Anwachsen der Wirkung eines äusseren Reizes erfordert eine gewisse Zeit. Wie der Versuch lehrt, wird die grösste Klarheit einer Sinnes- wahrnehmung erst nach Verlauf einiger Sekunden erreicht. Dieser Vorgang kann unter Umständen eine erhebliche Ver- langsamung erfahren. Die Kranken vermögen dann Reize, die sich ihnen nur kurze Zeit darbieten, gar nicht oder doch nur höchst unvollkommen aufzufassen, während sich unter ge- wöhnlichen Verhältnissen keinerlei Erschwerung der Auffassung geltend zu machen braucht. Ist aber die Verlangsamung im An- wachsen der Sinnesempfindungen eine sehr bedeutende, so kann das Verblassen derselben, das nach kurzer Zeit beginnt, die volle Entwicklung der Auffassung gänzlich verhindern; die Wahr- nehmungen versinken schon wieder, bevor sie noch volle Deut- lichkeit und Stärke erlangt haben. Natürlich werden einzelne von vornherein sehr kräftige Eindrücke doch aufgefasst werden können, aber sie bleiben mehr oder weniger zusammenhangslos, weil die Zwischenglieder und die begleitenden Ereignisse nur in unklarer und verschwommener Form dem Bewusstsein über- mittelt werden. In ausgeprägtester Gestaltung begegnen wir dieser Auffassungsstörung bei der Presbyophrenie und beim Korssako w sehen Irresein, doch dürften sich leichtere Andeu-

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

tungen derselben wohl auch bei manchen anderen Erkrankungen, namentlich deliriöser Art, auffinden lassen.

Die Auffassung eines äusseren Eindruckes erfordert indessen ausser dem Anwachsen der Wahrnehmung zu einer gewissen Stärke noch die Eingliederung derselben in unseren Erfahrungsschatz. Die grosse Mehrzahl der Eindrücke, die wir tagtäglich in uns aufnehmen, ist an sich ziemlich undeutlich und verschwommen; sie werden erst dadurch zu klaren und verwertbaren Erfahrungen, dass sie in den bereitliegenden Erinnerungsbildern gewissermassen einen Widerhall finden, welcher den sinnlichen Reiz verstärkt. Durch diesen Vorgang, den W u n d t als „Apperception“ bezeich- net, bildet sich auch sofort die Verknüpfung der einzelnen V ahr- nehmung mit unserer Gesamterfahrung, ein Zusammenhang mit zahlreichen anderen Vorstellungen und damit das erständnis des vorliegenden Eindruckes. Dabei finden ungenau erfasste Ein- drücke ihre Ergänzung durch auftauchende Erinnerungsbilder, ein Vorgang, der die Empfindlichkeit unserer Auffassung bekannten Eindrücken gegenüber ausserordentlich steigert, zugleich aber auch die Gefahr der Wahr nehmungs Verfälschung in sich schliesst. Gerade die Beobachtungen über die alltäglichen Illusionen zeigen uns am besten, in wie hohem Masse die sinnliche Erfahrung immer- fort durch die Anklänge in unserem Erinnerungsschatze beein- flusst wird.

Sobald diese Mitwirkung unseres früheren geistigen Er- werbes beim Wahrnehmungsvorgange fortfällt, wird dieser un- klar und inhaltlos. Es können sich wohl einzelne stärkere Ein- drücke in unser Bewusstsein eindrängen, aber sie haften nicht und werden nicht verstanden, da ihnen die Einordnung in den Zusam- menhang unserer Vorstellungen und Begriffe mit allen ihren Folgen für die weitere geistige Verarbeitung fehlt. In dieser Lage befinden wir uns z. B. gegenüber dem völlig Unverständ- lichen, sofern nicht etwa besondere Nebenumstände, Erwartung und dergl. die Anregung bestimmter Vorstellungen durch die Wahrnehmung vermitteln. Die Einzelheiten einer Ma- schinenausstellung, eines auf dem Kopf stehenden Landschafts- bildes können uns vollkommen entgehen, obgleich die sinnlichen Eindrücke an sich ebenso lebhaft auf uns wirken, wie auf den Fachmann, oder wie das aufrechtstehende Bild. Einsilbige und

Störungen der Auffassung.

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selbst zweisilbige Wörter lesen wir sehr viel schneller, als sinn- lose Silben von weit geringerer Buchstabenzahl.

Die häufigste Form der Auffassungsstörung ist die Erhöhung des Schwellenwertes für äussere Reize, die verminderte Ansprech- barkeit unseres Bewusstseins. Je stärker die Reize sein müssen, um überhaupt Empfindungen zu erzeugen, desto verschwommener und lückenhafter wird das Bild, das die Aussenwelt in unserem Innern entwirft. Die Kranken fassen nur einen mehr oder weniger beschränkten Teil der Eindrücke auf, die auf sie einwirken; sie bemerken und verstehen nicht mehr, was um sie herum vor- geht. Wir bezeichnen diesen Zustand, in dem die Besonnenheit schwindet, als Un b e s i n n 1 i c h k e i t. Kann hier zunächst noch vorübergehend oder durch besonders kräftige Reize eine Wahr- nehmung erzwungen werden, so löst sich bei den stärkeren Graden der Benommenheit die Verbindung mit den äusseren Gescheh- nissen mehr und mehr. Die allmähliche Entwicklung dieser Auffassungsstörungen begegnet uns bei der einfachen Ermüdung und ihren Übergängen zum Schlafe, ebenso aber auch bei den krankhaften Zuständen schwerer geistiger Erschöpfung. Mit grösster Gewalt und Schnelligkeit geschieht die Absperrung unseres Bewusstseins von der Aussenwelt durch die Betäubungs- mittel Äther und Chloroform. Ganz ähnlich sind, soweit die Prüfung durch den psychologischen Versuch reicht, die Beein- trächtigungen der Wahrnehmung zu beurteilen, die durch eine Anzahl von Schlafmitteln erzeugt werden; genauer nachgewiesen wurde eine schwerere Auffassungsstörung bis jetzt bei Alkohol, Paraldehyd und Trional. Nach unseren klinischen Erfahrungen ist sie ferner bei den Fieber- und Vergiftungsdelirien sowie bei den epileptischen und hysterischen Dämmerzuständen vorhanden, vielfach auch in den verschiedenen Zuständen des manisch-depres- siven Irreseins, besonders im depressiven und manischen Stupor wie in den stärkeren Graden der manischen Erregung.

Auf der Stufe der einfachen Wahrnehmung bleibt die gesamte Sinneserfahrung in der ersten Zeit der geistigen Entwicklung stehen. So lange die Einwirkungen der Aussenwelt noch keine bleibenden Erinnerungsspuren zurückgelassen haben, ist auch jenes Netz von psychologischen Beziehungen noch nicht geknüpft, welches alle kommenden Lebenserfahrungen sofort mit dem gei-

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

stigen Erwerbe der Vergangenheit in Verbindung setzt. In den schwereren Formen der psychischen Entwicklungshemmungen dauert dieser Zustand unverändert fort; die Möglichkeit einer fortschreitenden Aufhellung dieses geistigen Dämmerlebens ist für immer abgeschnitten. Das Bewusstsein bleibt von einem un- klaren Gemisch einzelner verschwommener Vorstellungen und dunkler Gefühle erfüllt, in welchem keine deutliche Auffassung, keine übersichtliche Ordnung und Gruppierung möglich ist.

Störungen der Aufmerksamkeit. Die Tatsache, dass nur eine beschränkte Zahl von psychischen Gebilden jeweils in unserem inneren Blickfelde vorhanden ist, bezeichnen wir als die „Enge des Bewusstseins“. Indem die ganze Kette unserer psychischen Ereignisse diese Enge durchwandert, stellt sich unser inneres Leben als ein fortwährendes Kommen und Gehen, als ein Auf- tauchen und Versinken von Seelenvorgängen dar. Zunächst noch undeutlich und schwach, tritt ein inneres Erlebnis nach dem anderen aus dem Dunkel des Unbewussten empor, um nach kurzer Zeit die höchste Klarheit und Stärke zu erreichen, dann aber wieder zu versinken und dem nächsten Platz zu machen. Auf dem Plöhepunkte seiner Entwicklung wird dieser Vorgang be- stimmend für die Richtung jener inneren Willenstätigkeit, die wir Aufmerksamkeit nennen; unsere Sinneswerkzeuge wen- den sich dem lebhaft sich aufdrängenden Eindrücke zu, und es tauchen solche Vorstellungen auf, die den V organg verstärken, der unsere Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hat. Diese Anspannung der Aufmerksamkeit, die sehr verschiedene Grade und Richtungen aufweisen kann, ist von gewissen körperlichen Erscheinungen begleitet, die deutlich genug ihre Eigenschaft als Willenshandlung erkennen lassen, Innervationsempfindungen in Auge und Ohr, ja ausgesprochene Bewegungen, Veränderungen der Atmung und des Pulses wie des Blutdruckes.

Die Tätigkeit der Aufmerksamkeit dient aber nicht nur dazu, den auftauchenden Seelenvorgang zu verstärken, sondern sie übt auch einen sehr entschiedenen Einfluss auf die weitere Gestaltung der Bewusstseinsvorgänge aus. Das Anwachsen und Schwinden einer Vorstellung nimmt eine gewisse Zeit in Anspruch. Nach den Erfahrungen, die über die Einwirkung einer Sinnes- wahrnehmung auf die Stärke einer ihr folgenden vorliegen, dürfen

Störungen der Aufmerksamkeit.

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wir annehmen, dass die grösste Deutlichkeit für die einzelnen Glieder einer Vorstellungsreihe erreicht wird, wenn sie in einem zeitlichen Abstande von etwa 2 Sekunden sich aneinander an- schliessen. Diese Zeit scheint somit für die volle Entwicklung einer Vorstellung erforderlich zu sein. In Wirklichkeit folgen jedoch die einzelnen Wahrnehmungen und Vorstellungen weit rascher aufeinander. Das ist deswegen möglich, weil die Enge des Bewusstseins nicht nur für ein einziges psychisches Ge- bilde, sondern für eine ganze Anzahl derselben Raum lässt, von denen allerdings immer nur eines jeweils am hellsten be- leuchtet ist, während die übrigen entweder erst in der Entwicklung begriffen sind oder schon wieder verblassen. Wir haben es, wie man es auszudrücken pflegt, nicht mit einem inneren Blick punkte, sondern mit einem Blick f e 1 d e zu tun, in welchem neben einer Stelle von höchster Deutlichkeit der inneren Wahrnehmung die verschiedensten Abstufungen bis zum Unbewussten zu finden sind.

Die Verstärkung eines auf tauchenden Eindruckes durch die Aufmerksamkeit hat ohne Zweifel die Wirkung, sein Abblassen zu verzögern. Er gewinnt dadurch einen Einfluss auf die nach ihm entstehenden psychischen Gebilde, deren Entwicklung er je nach seinen inneren Beziehungen zu ihnen hemmen oder fördern kann. Auf diese Weise wird die ursprünglich passive, ziellose Aufmerksamkeit zur aktiven, auswählenden. Nicht die Stärke der äusseren Eindrücke, sondern weit mehr ihre Begünstigung oder Unterdrückung durch die Aufmerksamkeit werden für die innere Erfahrung massgebend.

Der Bewusstseinsinhalt des Kindes steht in hilfloser Ab- hängigkeit von der zufälligen Umgebung; es nimmt nur die jeweils stärksten Reize wahr, ohne Rücksicht auf den inneren Zusam- menhang der Dinge, weil ihm jene allgemeinen Vorstellungen fehlen, welche auch die weniger aufdringlichen Wahrnehmungen als wesentliche Glieder in der Kette der Erfahrungen hervortreten lassen. Beim Erwachsenen dagegen wird der Wahrnehmungs- vorgang mehr und mehr durch die besonderen Neigungen be- herrscht, die sich allmählich aus der persönlichen Lebenserfahrung heraus entwickeln. Wir üben uns darin, einzelne Eindrücke vor- zugsweise zu beachten, indem sich die Ansprechbarkeit unseier Vorstellungen für sie fortschreitend verstärkt, so dass schon

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II. Die Erßcheinungen des Irreseins.

leise Anklänge genügen, um in unserem Innern lebhaften Wider- hall zu finden. Andererseits gewöhnen wir uns daran, all- tägliche Reize unbeachtet zu lassen und ihnen keinen Einfluss auf den Ablauf unserer psychischen Vorgänge mehr einzuräumen. Diese Ausbildung bestimmter „Gesichtspunkte“, gewisser Rich- tungen unseres „Interesses“, führt zu einer ausserordentlichen Veränderlichkeit des Schwellenwertes, so dass wir im gleichen Augenblicke sehr starke Reize völlig unbeachtet lassen können, wo wir die feinsten Veränderungen irgend eines Gegenstandes mit der grössten Schärfe auffassen.

In krankhaften Zuständen kann das Verhalten der Aufmerksam- keit die mannigfachsten Störungen darbieten. Überall, wo die psy- chische Ansprechbarkeit überhaupt herabgesetzt ist, in allen vor- geschrittenen Verblödungszuständen, finden vir auch eine Ab- stumpfung der Aufmerksamkeit. An die Wahrneh- mungen knüpfen sich nicht rasch und lebhaft verstärkende Erinne- rungsbilder an ; sie gewinnen keine Beziehungen zu den Erfahrungen des Kranken und veranlassen ihn daher auch nicht, aus eigenem Antriebe den Ereignissen weiter zu folgen. In der Umgebung eines verblödeten Paralytikers können sich die aufregendsten Vorgänge abspielen, ohne dass sie ihn berühren, auch wenn er vielleicht Aufforderungen und Fragen noch aufzufassen vermag. Etwas anders ist die sehr ausgeprägte Störung der Aufmerksamkeit zu beurteilen, die wir in der Dementia praecox so ungemein häufig beobachten, in der Regel schon vom ersten Abschnitte der Krankheit an. Auch hier erweisen sich die Kranken, namentlich in den Stuporzuständen, vielfach gegen alle Versuche, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, völlig unzugänglich, so dass selbst Nadelstiche und Berührungen der Hornhaut keinerlei Wil- lensbewegung auslösen. Allein man kann sich leicht davon über- zeugen, dass keine Abstumpfung der Aufmerksamkeit, sondern eine krankhafte Unterdrückung derselben vorliegt. Die Kran- ken nehmen oft recht gut wahr, was um sie herum vorgeht, aber sie sträuben sich unwillkürlich gegen jede Beeinflussung ihres Denkens und Handelns durch diese Wahrnehmungen. Auch die äusseren Zeichen der Aufmerksamkeitsspannung, das Hinwenden des Kopfes und Blickes, das Einstellen der Blickrichtung, an- scheinend auch die Veränderungen von Atmung und Puls, fallen

Störungen der Aufmerksamkeit.

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vollständig fort. Wir wollen diese Störung, die durchaus den negativistischen Vorgängen auf anderen Willensgebieten ent- spricht, als Sperrung der Aufmerksamkeit bezeichnen.

Ausser lieh ähnlich, aber dem Wesen nach verschieden ist die Hemmung der Aufmerksamkeit, der wir in gewissen Stuporzuständen des manisch-depressiven Irreseins begegnen. Auch hier ist es schwer, sich mit dem Kranken in geistige Ver- bindung zu setzen, aber nur deswegen, weil bei ihm der innere Widerhall fehlt, der die Verknüpfung der äusseren Eindrücke mit dem eigenen Erfahrungsschätze herstellt und dadurch die aus- wählende Tätigkeit der Aufmerksamkeit anregt. Das Auftauchen von Vorstellungen ist erschwert, aber nicht durch Verödung des geistigen Lebens, sondern durch Hemmungsvorgänge, so dass die Wahrnehmungen keinen weiterreichenden Einfluss auf das innere Leben gewinnen können. Dagegen pflegen die äusseren Zeichen der Aufmerksamkeitsspannung, im Gegensätze zu den Erfahrungen bei der Dementia praecox, erhalten zu sein; die Kranken blicken fragend, wenn auch verständnislos, um sich, betrachten die dar- gebotenen Gegenstände, wenden den Kopf bei Geräuschen u. s. f.

Eine unmittelbare Folge der Erschwerung psychischer An- knüpfungen, sei es durch Abstumpfung oder Hemmung der Auf- merksamkeit, ist der Verlust ihres bestimmenden Einflusses auf die Wahrnehmung. Dabei kann sehr wohl der einzelne Eindruck noch die Aufmerksamkeit erwecken und durch sie verstärkt werden, aber es fehlt die Fortdauer dieser inneren Bewegung über den Augenblick hinaus mit ihren Folgen für die Auswahl der kommenden Wahrnehmungen. Die Kranken verweilen vielleicht längere Zeit bei dem einmal dargebotenen Eindrücke, aber sie können ohne weiteres durch einen neuen Reiz abgezogen werden, sofern er nur kräftig genug ist. Diese Bestimmbarkeit der Aufmerksamkeit beobachten wir namentlich bei der Paralyse und beim Altersblödsinn, aber auch bei den erwähnten Stuporformen des manisch-depressiven Irreseins und bei manchen infektiösen Schwächezuständen. Die Kranken gleichen in gewisser Beziehung dem Kinde ohne Erfahrung, bei dem eben darum keine Vorstellungen und Erinnerungen geweckt werden, die auf die Richtung der Aufmerksamkeit richtunggebend wirken könnten. In denjenigen geistigen Schwächezuständen, in denen sich die

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

geistige Entwicklung dauernd auf der Stufe des Kindes erhält, bleibt auch die Aufmerksamkeit zeitlebens unselbständig und be- stimmbar.

Eine wesentlich andere Entstehungsweise dürfte diejenige Aufmerksamkeitsstörung haben, die man gewöhnlich als er- höhte Ablenkbarkeit bezeichnet. Es handelt sich dabei um einen häufigen Wechsel in der Richtung der Aufmerksam- keit aus inneren und äusseren Beweggründen. Während die Be- stimmbarkeit der Aufmerksamkeit wesentlich durch das Fehlen solcher Vorstellungen bedingt wird, die den Auffassungsvorgang zu beeinflussen vermöchten, haben wir es hier vermutlich mit einer grösseren Flüchtigkeit der psychischen Vorgänge zu tun. Dafür spricht der Umstand, dass hier die Aufmerksamkeit auch dann rasch von einem Eindrücke zum anderen abspringt, wenn man sich bemüht, sie in derselben Richtung zu erhalten. Zudem finden wir diese Störung ganz vorzugsweise in solchen Zuständen, die mit den Zeichen einer erhöhten Erregbarkeit einhergehen. Wir dürfen uns daher wohl vorstellen, dass bei der erhöhten Ab- lenkbarkeit der Aufmerksamkeit die einzelnen Eindrücke rasch wieder verblassen und daher keinen richtunggebenden Einfluss auf die kommenden Wahrnehmungen gewinnen. Sie bilden keine engverschlungene Kette, sondern eine lockere Reihe innerlich unverbundener Einzelvorgänge.

Die leichtesten Grade dieser Störung begegnen uns in jenem Zustande von Zerstreutheit, der sich neben den Zeichen einer gewissen Unruhe bei der Ermüdung einzustellen pflegt. V ir bemerken dabei, dass die aufgenommenen Eindrücke eine sehr geringe Nachhaltigkeit besitzen, rasch versinken und den inneren Zusammenhang verlieren. Trotz aller Anstrengung sind wir nicht mehr imstande, einer Reihe von Ereignissen planmässig zu folgen, sondern ertappen uns immer wieder darauf, dass wir durch zu- fällige Nebendinge abgezogen werden und unsere Aufgabe nur bruchstückweise erfassen. Bei der chronischen nervösen Er- schöpfung kann diese Unfähigkeit längere Zeit andauern, ebenso in der Genesungszeit nach schweren geistigen oder körperlichen Erkrankungen. Weit stärker ausgeprägt ist die erhöhte Ablenk- barkeit in den Erregungszuständen der Paralyse, bisweilen auch der Katatonie, im Collapsdelirium und bei den infektiösen Geistes-

Störungen der Aufmerksamkeit.

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Störungen, besonders aber in der Manie. Hier genügt oft schon ein Zwischenruf, ein einzelnes Wort, das Vorzeigen irgend eines Gegenstandes, um sofort die Richtung der Aufmerksamkeit zu ändern. Es muss allerdings einstweilen dahingestellt bleiben, ob es sich in diesen verschiedenartigen Erkrankungen überall um dieselbe Aufmerksamkeitsstörung handelt.

Als dauernde Eigentümlichkeit findet sich erhöhte Ablenk- barkeit der Aufmerksamkeit bei gewissen Formen der psycho- pathischen Veranlagung. Es liegt auf der Hand, dass diese Stö- rung auf die gesamte geistige Ausbildung einen weitreichenden Einfluss ausüben muss. Je ablenkbarer ein Mensch ist, je mehr seine Auffassung durch die Zufälligkeiten der äusseren Reize statt durch innere, der eigenen Erfahrung entspringende Beweg- gründe geleitet wird, destoweniger ist er imstande, sich eine zu- sammenhängende und einheitliche Anschauung von der Aussen- welt zu erwerben. Bruchstückweise und unvermittelt werden sich die einzelnen verschiedenartigen Wahrnehmungen aneinander schliessen, ohne jenes innere Band, welches durch die planmässige Auswahl nach Massgabe leitender Allgemeinvorstellungen gebildet wird. Die Auffassung haftet daher immer nur an Einzelheiten, ohne einen Überblick über das Ganze zu vermitteln; sie wird ober- flächlich und flüchtig und dringt nirgends in den tieferen Zusam- menhang der Erscheinungen ein. So kann es kommen, dass zwar die Auffassung des einzelnen Eindruckes keine wesentlichen Stö- rungen darbietet, während doch die Unstetigkeit der Wahrneh- mung, die vollkommene Unfähigkeit, zu beobachten, ein tie- feres Verständnis der Aussenwelt und damit die höhere geistige Ausbildung überhaupt unmöglich macht.

Man hat bisweilen die erhöhte Ablenkbarkeit als eine Stei- gerung der Aufmerksamkeit, als „Hyperprosexie“, aufgefasst. Da aber die eigentümliche Leistung der Aufmerksamkeit gerade in der Beschränkung der Auffassung auf einzelne, dann freilich mit höchster Klarheit erkannte Eindrücke liegt, trifft jene Be- zeichnung das Wesen der Störung nicht. Tatsächlich können wir uns auch leicht davon überzeugen, dass die ablenkbaren Kranken durchaus nicht mehr oder besser, sondern im Gegenteil weniger und schlechter auffassen. Jeder gesunde Zuschauer nimmt in der gleichen Zeit noch ausserordentlich vieles wahr, was dem

Kraepelin, Psychiatrie. I. 7. Aufl. 11

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

Kranken völlig entgeht, aber er nimmt die Mehrzahl der Ein- drücke einfach zur Kenntnis, während bei dem ablenkbaren Kranken jede neue Wahrnehmung sofort die Richtung der Auf- merksamkeit und des Gedankenganges entscheidend beeinflusst. Die Ablenkbarkeit ist somit nichts, als ein Zeichen geringerer psychischer Widerstandsfähigkeit.

Weit eher könnte man als Hyperprosexie jene Fesselung der Aufmerksamkeit durch einzelne äussere oder innere Vorgänge bezeichnen, die uns für andere Wahrnehmungen unzu- gänglich macht. Dahin gehört die fälschlicherweise sogenannte Zerstreutheit des Gelehrten, soweit sie auf höchster Einseitigkeit der Aufmerksamkeitsrichtung beruht. Vielleicht haben wir es auch in manchen Krankheitszuständen mit derartigen Vorgängen zu tun. So sind namentlich deprimierte Kranke bisweilen derart mit ihren traurigen Vorstellungen beschäftigt, dass sie dadurch für die Eindrücke der Aussenwelt gleichgültig werden, auch wenn die Auffassungsfähigkeit an sich keine erheblichen Störungen dar- bietet. In manchen deliriösen und stuporösen Zuständen dürfte die schwere Beeinträchtigung der Auffassung zum Teil vielleicht auch durch die Lebhaftigkeit der inneren Vorgänge mit bedingt werden, durch die Sinnestäuschungen und Einbildungsvorstel- lungen, welche die Aufmerksamkeit ganz in Anspruch nehmen. Am wenigsten scheint das im katatonischen Stupor der Fall zu sein, bei dem übrigens auch die Auffassungsfähigkeit gar keine oder doch verhältnismässig unbedeutende Störungen darzu- bieten pflegt.

B. Störungen der Yerstandestätigkeit.

Der von den Sinnen gelieferte und durch die Aufmerksamkeit geklärte Erfahrungsrohstoff bildet die Grundlage aller weiteren geistigen Arbeit und somit auch des gesamten Vorstellungs- schatzes des Menschen. Man begreift daher, dass die aufgeführten Störungen der Sinneserkenntnis, wie sie durch die Sinnestäu- schungen, durch Verdunkelung des Bewusstseins, endlich durch die Unfähigkeit zu planmässiger Auswahl der Eindrücke erzeugt werden, nicht ohne die weitreichendsten Folgen für die Gestal-

Störungen der Aufmerksamkeit; Störungen des Gedächtnisses.

tung des Bewusstseinsinhaltes und der psychischen Persönlich- keit bleiben können. Je unvollkommener und verfälschter die Nachrichten von der Aussenwelt zur Wahrnehmung gelangen, desto lückenhafter und unzuverlässiger wird die Anschauung bleiben, welche sich im Bewusstsein des Menschen von seiner Umgebung, vom eigenen Ich und von der Stellung dieses letzteren zu seiner Umgebung entwickelt. Dazu kommt, dass zu jenen Störungen, welche die Sammlung des Erfahrungsstoffes beeinträch- tigen, fast ausnahmslos sich noch solche gesellen, die eine weitere Verarbeitung desselben in krankhafter Weise beeinflussen.

Störungen des Gedächtnisses- Die allgemeinste Grundlage aller geistigen Tätigkeit ist das Gedächtnis*). Jeder einmal ins Bewusstsein getretene Eindruck hinterlässt auch nach seinem Schwinden aus demselben eine allmählich schwächer werdende Spur, die seine Wiedererneuerung durch eine zufällige Vorstel- lungsverbindung oder durch eine Willensanstrengung, das Be- sinnen, erleichtert. Diese bleibende Spur, welche die einmal ge- machte Wahrnehmung auf längere Zeit hinaus dem Erfahrungs- schätze des Menschen einreiht und sie seinem Gedächtnisse zur Verfügung stellt, erhält sich im allgemeinen um so stärker und länger, je klarer der ursprüngliche Eindruck aufgefasst worden und je allseitiger er zu dem übrigen Bewusstseinsinhalte in Be- ziehung getreten war, je mehr er, mit anderen Worten, das Interesse des Menschen erregt hatte. Ferner aber wird die Festigkeit, mit welcher frühere Eindrücke haften, in hohem Masse durch Wiederholungen derselben verstärkt. Die ungeheure Mehrzahl unserer Vorstellungen und selbst ein grosser Teil der Vorstellungsverbindungen, mit denen wir tagtäglich arbeiten, ist uns so geläufig, dass sie ohne irgendwelches Besinnen, von selbst, in uns auftauchen, sobald sich irgend eine Anregung dazu bietet.

Die Betrachtung der Gedächtnisstörungen hat daher zwei ganz verschiedene Leistungen auseinanderzuhalten, die unab- hängig voneinander beeinträchtigt sein können. Die erste der- selben ist die von Wernicke so bezeichnete Merkfähig- keit**), die Einprägung und das Festhalten bestimmten, neu

*) R i b o t , Das Gedächtnis und seine Störungen. 1882.

**) Kraepelin, Monatsschr. f. Psychiatrie, VIII, 245. 1900; Ransch- bürg, ebenda, IX, 241, 1901.

11*

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

dargebotenen Erfahrungsstoffes. Diese Merkfähigkeit ist im all- gemeinen am grössten für Eindrücke, die mit möglichster Klar- heit aufgefasst und, noch besser, mit Hilfe der auswählenden Aufmerksamkeit nach bestimmten Gesichtspunkten verfolgt wur- den. Alle Bedingungen, die geeignet sind, die Stärke und Schärfe der Eindrücke sowie den Widerhall derselben in unserem Seelen- leben abzuschwächen, werden somit die Merkfähigkeit herab- setzen. Dahin gehören Erschwerungen der Auffassung einerseits, Ablenkbarkeit und Gleichgültigkeit andererseits. Wir beobachten daher jene Störung bei allen ausgeprägteren Bewusstseinstrü- bungen, in geringerem Grade schon bei der einfachen Zerstreut- heit infolge von Ermüdung, bei Behinderung der Nasenatmung, ferner bei manischer Erregung, endlich bei vorgeschrittener Ver- blödung, in der Paralyse, beim epileptischen Schwachsinn und in denjenigen Endzuständen der Dementia praecox, die mit einer Abstumpfung der Anteilnahme an der Aussenwelt einhergehen. Die höchsten Grade der Merkstörung aber treffen wir in der Korssakow sehen Krankheit und beim Altersblödsinn, insbeson- dere bei der Presbyophrenie an, auch wenn hier die geistige Reg- samkeit und die Auffassungsfähigkeit noch ganz gut erhalten ist. Nach den bisher bei solchen Kranken vorliegenden Versuchen scheint es indessen, dass sich bei ihnen die Wahrnehmungen un- gemein langsam entwickeln, so dass bei Reizen, die nur sehr kurze Zeit einwirken, eine bedeutende Herabsetzung der Auf- fassungsfähigkeit hervortritt. Zugleich vollzieht sich das Ver- blassen der Bewusstseinsvorgänge unverhältnismässig schnell. Gerade dieser Umstand dürfte für die geringe Erneuerungsfähig- keit der Erfahrungen bei den genannten Kranken in erster Linie ' verantwortlich zu machen sein.

Auch bei den manischen Kranken scheint, wie die erhöhte Ablenkbarkeit dartut, das Verblassen der Vorstellungen sich rasch zu vollziehen. Wenn trotzdem ihre Merkfähigkeit verhältnismässig wenig gestört ist, könnte das darauf beruhen, dass die Wahr- nehmungen sich vorher mit genügender Geschwindigkeit ent- wickeln. Auf der anderen Seite ist es vielleicht nicht unnütz, darauf hinzuweisen, dass im gesunden Leben auch unsere Traum- erinnerungen eine sehr geringe Festigkeit darbieten. Sie er- reichen ja an und für sich keine grosse Lebhaftigkeit und ver-

Störungen des Gedächtnisses.

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sinken in der Regel ausserordentlich schnell. Namentlich Worte und Reden aus dem Traume sind wir gewöhnlich auch dann nicht imstande, wirklich zu behalten, wenn wir sie uns schon im Halb- wachen durch mehrfache Wiederholung einzuprägen versucht haben.

Da schwere Bewusstseinstrübungen in der Regel zeitlich ziem- lich scharf umgrenzt zu sein pflegen, so kann auch die Merk- fähigkeit nur für einen bestimmten Zeitabschnitt herabgesetzt oder aufgehoben sein. Auf diese Weise entstehen Erinnerungs- lücken, aus denen meistens auf eine Aufhebung des Bewusstseins während des betreffenden Zeitabschnittes zurückgeschlossen wird. Ja, streng genommen ist die Erinnerungslosigkeit, die Amnesie, fast der einzige Anhaltspunkt, welcher uns mit einiger Sicherheit die Annahme einer vorangegangenen Bewusstlosigkeit gestattet. Allein die tägliche Erfahrung des Vergessens von Träumen, an die wir bisweilen nur durch einen zufälligen Eindruck wieder erinnert werden, zeigt uns, dass sehr wohl ein psychisches Leben, also Bewusstsein, bestehen kann, ohne dass doch die Spuren der Eindrücke und Vorstellungen fest genug im Gedächt- nisse haften, um ohne Schwierigkeit eine Wiedererneuerung zu gestatten. Ganz ähnlich sind sicherlich jene Bewusst- seinsstörungen der Epilepsie, vieler Delirien, des schweren Rau- sches, des Hypnotismus zu beurteilen, in denen die klinische Be- obachtung häufig genug unzweideutige Anzeichen psychischer Tätigkeit aufzufinden vermag, obgleich nachher nicht die mindeste Erinnerung an dieselbe besteht oder wachgerufen werden kann. Für diese Auffassung sind besonders wichtig die bisweilen beobachteten Fälle, in denen unmittelbar beim Ab- klingen der Störung noch eine gewisse, späterhin rasch schwin- dende Erinnerung an das Vorgefallene möglich ist, oder in denen sie durch die Hypnose wieder wachgerufen wird. Endlich aber kann durch gewisse krankhafte Vorgänge nachträglich auch noch dauernd oder vorübergehend die Erinnerung an Zeiten ausgelöscht werden, in denen zweifellos keine Bewusstseinsstörung bestand. Eine solche „retrograde Amnesie“*), ein rückschreitender Erinne- rungsverlust, wird nach epileptischen, hysterischen, eklamp-

*) Paul, Archiv f. Psychiatrie, XXXII, 251. 1899.

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

tischen, paralytischen Anfällen, nach Kopfverletzungen, Er- hängungsversuchen und Vergiftungen beobachtet. Die Kranken wissen sich nicht nur an den betreffenden Vorfall, sondern auch an die Ereignisse in den Stunden, Tagen und selbst Wochen vorher nicht mehr zu erinnern. Bisweilen taucht späterhin allmählich die Erinnerung mit oder ohne suggestive Nachhilfe wenigstens teilweise wieder auf; in anderen Fällen ist sie für immer verloren gegangen.

Wesentlich verschieden von der Merkfähigkeit für gegen- wärtige ist die Erinnerungsfestigkeit vergangener Eindrücke. Sie hängt nicht nur von der Merkfähigkeit in früheren Zeiten, sondern auch von der Häufigkeit der voraufgegangenen Wieder- holungen, endlich von der Zähigkeit des Gedächtnisses im allge- meinen ab. Wir pflegen die Gedächtnisfestigkeit zumeist nach der Sicherheit zu beurteilen, mit welcher früher gut eingelernte Kenntnisse noch zur Verfügung stehen, Lernstoff aus der Schule, wichtige persönliche Erinnerungen und ähnl. Wie die Erfahrung lehrt, pflegt Herabsetzung der Gedächtnisfestigkeit, Gedächt- nisschwäche, gewöhnlich mit einer Verminderung der Merk- fähigkeit einherzugehen, nicht aber umgekehrt. Die Merkfähig- keit ist beeinträchtigt ohne Gedächtnisschwäche bei den vorüber- gehenden Bewusstseinstrübungen. Ferner beobachten wir ein Missverhältnis zwischen starker Störung der Merkfähigkeit und weit geringerer Gedächtnisschwäche namentlich im höheren Alter. Die Auffassung neuer Eindrücke geschieht hier gewohnheitsmässig ohne rechte innere Anteilnahme, und die Erneuerungsfähigkeit bleibt daher für sie eine beschränkte, während so oft die Erinne- rungen aus vergangener Zeit, nicht mehr verdrängt durch frischen Erwerb, mit erstaunlicher Lebhaftigkeit und Treue im Vorstel- lungsverlaufe wiederkehren. Mit dieser Erfahrung steht die Tat- sache in bestem Einklänge, dass von allen Vorstellungsverbin- dungen, mit denen wir zu arbeiten pflegen, etwa 70 Prozent aus der Jugend stammen. In den krankhaften Störungen des Greisen- alters tritt das geschilderte Verhalten oft recht auffallend hervor, wenn auch mit fortschreitender Verblödung mehr und mehr die früheren Erinnerungen gleichfalls verblassen. Ähnlich kann in der Paralyse die Merkfähigkeit zunächst sehr viel stärker gestört sein, bis sich später auch eine rasch zunehmende Gedächtnis-

Störungen des Gedächtnisses.

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schwäche hinzugesellt. Bei der Korssakow sehen Geistes- störung kann die Erinnerungsschwäche sich bis zu einem be- stimmten Lebensabschnitte zurückerstrecken.

Nur kurz erwähnt soll hier noch werden, dass ausser den zeitlich begrenzten Erinnerungslücken bekanntlich auch der Verlust bestimmter Gruppen von Vorstellungen aus dem Gedächtnisse beobachtet wird, ein Vorgang, dessen best- gekanntes Beispiel die amnestische Aphasie, die Unfähig- keit zur Wiedererzeugung einzelner oder aller sprachlicher Klang- bilder darstellt, und der sich, wie es scheint, in ähnlicher Weise auch auf anderen Gebieten abspielen kann. So hat W o 1 f f Fälle beschrieben, in denen anscheinend ganze Klassen sinnlicher Er- innerungsbilder verloren gegangen waren, während die Allgemein- vorstellungen fortbestanden. Äusserst merkwürdige Beispiele ganz umschriebenen Vorstellungsausfalls hat ferner Ri eg er bei der Untersuchung eines Falles von schwerer Hirnverletzung be- obachtet. Die Deutung solcher Erfahrungen ist ausserordentlich schwierig. Zumeist pflegt man sie auf die Unterbrechung be- stimmter Leitungsbahnen zu beziehen, doch reicht diese Er- klärung höchstens für gewisse sehr grobe Störungen aus. Be- achtenswert erscheint es, dass auch unter gewöhnlichen Ver- hältnissen das Gedächtnis für verschiedene Gruppen von Vor- stellungen bei einzelnen Personen sehr verschieden entwickelt ist. Das Orts-, Zahlen- und Namen-, Farben-, Tonhöhen-, Formen- gedächtnis sind anscheinend in hohem Masse voneinander unab- hängig. Manche Erfahrungen sprechen ferner dafür, dass auch die motorischen und sensorischen Bestandteile der einzelnen Vor- stellungen, die sprachliche Bezeichnung und die sinnlichen Ele- mente mit verschiedener Festigkeit haften können, so dass schliesslich auch eine allgemeinere Störung je nach der besonderen Zusammensetzung der gegebenen Vorstellung eigentümlich be- grenzte Ausfallserscheinungen zur Folge haben könnte. Für die Psychiatrie im engeren Sinne sind jedoch derartige Störungen noch nicht nutzbar gemacht worden.

, Dagegen sind von grosser Bedeutung jene mannigfaltigen und erheblichen Störungen, welche die Treue der Erinne- rung, die inhaltliche Übereinstimmung des Gedächtnisbildes mit der vergangenen Erfahrung bei Geisteskranken darbieten

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

kann. Wir wissen aus Versuchen wie aus alltäglichen Er- fahrungen, dass selbst die allereinfachsten Erinnerungsbilder schon unter gewöhnlichen Verhältnissen niemals vollständig den Wahrnehmungen gleichen, sondern sofort, eben durch die Auf- bewahrung im Gedächtnisse und die Einordnung in den sonstigen Bewusstseinsinhalt, sehr beträchtliche Wandlungen durchzu- machen pflegen. Man denke nur daran, wie klein dem Er- wachsenen nach langer Abwesenheit die Grössenverhältnisse er- scheinen, die ihm als Kind Eindruck machten. Mit der Ver- änderung des allgemeinen Grössenmassstabes ist hier auch das Erinnerungsbild unvermerkt gewachsen, so dass dann der Wider- spruch desselben mit der Wirklichkeit völlig überraschend wirkt. Aber auch schon die einfache Schilderung eines und desselben Erlebnisses durch verschiedene Personen oder durch dieselbe Person zu verschiedenen Zeiten*) lehrt, dass die Erinnerung nichts weniger ist, als ein treues Abbild der Wirklichkeit. Sehr wichtig ist dabei der Umstand, dass die innere Sicherheit der Wieder- gabe durchaus nicht von der Übereinstimmung mit dem Urbilde abhängig ist. Völlig frei erfundene Züge können von dem Ge- fühle der zuverlässigen Erinnerung begleitet sein, während wirk- liche Gedächtnisspuren vielleicht unsicher erscheinen. Ja, nicht selten lässt sich nachweisen, dass gerade solche Einzelheiten, die mit besonderer Klarheit in der Erinnerung hervortreten, nicht der Wirklichkeit entsprechen. Diese Erfahrung mahnt zur Vor- sicht bei der Annahme einer „Hypermnesie“, einer krankhaften Steigerung der Erinnerungsfähigkeit. Wenn sich auch einzelne Ereignisse mit sehr starker Gefühlsbetonung unter Umständen sehr fest einprägen und mit quälender Deutlichkeit -nieder her- vortreten können, wird man bei auffallend ins einzelne gehender Erinnerung in der Regel mit Fälschungen zu rechnen haben.

Durch die krankhaften Veränderungen der psychischen Per- sönlichkeit werden sehr häufig nachträglich auch die Erinnerungen aus der Vergangenheit verfälscht. In besonders hohem Masse ge- schieht das durch gemütliche Einflüsse, namentlich durch die Regungen der Eigenliebe. Bei Menschen mit lebhafter Einbildungs- kraft und ausgeprägtem Selbstgefühl erfahren die früheren Erleb-

*) Stern, Zur Psychologie der Aussage. 1902.

Störungen des Gedächtnisses.

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nisse ganz unvermerkt sehr tiefgreifende Wandlungen in dem Sinne, dass allmählich die eigene' Person immer mehr in den Vorder- grund rückt. Die Schatten verwischen sich, und das Licht der eigenen Vortrefflichkeit strahlt heller und heller. Unter Umständen kann es bei diesem unwillkürlichen Bestreben nach Selbstverherrlichung geradezu bis zur Erfindung oder doch sehr freien Ausschmückung wirkungsvoller Geschichten kommen, die am Ende vom Erzähler selbst nahezu für wahr gehalten werden, wie bei den Münch- hausiaden und dem Jägerlatein. Sehr hübsch hat Daudet diesen Vorgang bekanntlich in seinem „Tartar in“ geschildert. An- dererseits erscheint dem deprimierten Kranken sein ganzes Vor- leben als eine Kette von trüben Erfahrungen oder schlechten Handlungen; der Verfolgungs- und der Grössenwahn werfen ihren Schatten zurück auf frühere Zeiten und lassen den Kranken schon in der Jugend die Andeutungen eines feindseligen Verhaltens seiner Umgebung, auffallender Beachtung durch hochgestellte Personen oder hervorragender Leistungsfähigkeit auf den ver- schiedensten Gebieten menschlichen Könnens ausfindig machen.

In der Regel handelt es sich dabei nur um „Paramnesien“, um teilweise Vermischung wirklicher Erlebnisse mit eigenen Zutaten, also um einen Vorgang, der in gewissem Sinne etwa den Illusionen entsprechen würde. Bisweilen jedoch kommt es auch zu „Hallucinationen der Erinnerung“ (Sully), zu völlig freier Erfindung scheinbarer Reminiscenzen, denen gar kein Vorbild in der Vergangenheit entspricht*). So können wir uns im Traume an Vorkommnisse mit voller Deut- lichkeit erinnern, die niemals stattgefunden haben; ferner sind wir imstande, derartige Erinnerungsfälschungen durch Einreden in der Hypnose zu erzeugen; hie und da gelingt es auch in epi- leptischen oder hysterischen Dämmerzuständen. Sehr abenteuer- liche Erinnerungsfälschungen pflegen jene Kranken vorzubringen, die ich unter dem Namen der Dementia paranoides beschrieben habe. Sie erzählen von fabelhaften Reisen, die sie gemacht, wunderbaren Erlebnissen, gewaltigen Kämpfen, die sie über-

*) Kraepelin, Archiv f. Psychiatrie, XVII u. XVIII; Behr, Allgem. Zeitschr. f. Psych., LVI, 918; Bernard-Leroy, l’illusion de fausse re- connaissance. 1898.

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

standen, schrecklichen Verwundungen, die sie erlitten haben, und lassen sich durch Zwischenfragen und Einwürfe zu allen möglichen, vielfach einander widersprechenden Einzelangaben ver- leiten. Meist liegen solche Erlebnisse Jahre, selbst Jahrhunderte oder Jahrtausende zurück. Auch bei Paralytikern ist das „Fabu- lieren“, die Schilderung frei erfundener Erlebnisse, gelegentlich stark ausgebildet, namentlich aber bei der Korssako w sehen Geistesstörung und der ihr in vielen Punkten so ähnlichen Pres- byophrenie. Hier werden die Lücken, welche die starke Merk- störung bedingt, aus freien Stücken oder auf Anregung glatt durch Erinnerungsfälschungen ausgefüllt, die sich demgemäss bis in die jüngste Vergangenheit hinein erstrecken können.

In manchen Fällen werden die Erinnerungsfälschungen nicht frei erzeugt, sondern sie schliessen sich an irgendwelche zu- fällige äussere Eindrücke an (associierende Form). Die Kranken glauben einzelne Personen oder Gegenstände ihrer Umgebung früher schon einmal gesehen oder von ihnen gehört zu haben, ohne sie doch auf wirkliche Erinnerungsbilder zu beziehen. Sie verkennen daher jene Objekte keineswegs, wie das bei den Auf- fassungsverfälschungen, bei der Beeinflussung von Wahrneh- mungen durch die Erinnerung der Fall war, sondern es vollzieht sich hier der umgekehrte Vorgang: an die vollkommen scharf aufgefasste Wahrnehmung knüpft sich eine durchaus erfundene Erinnerung, deren vermeintliches Vorbild gewöhnlich einige Mo- nate oder seltener Jahre zurückdatiert wird. Dabei pflegt das frühere Erlebnis meist erst nach einigen Stunden oder selbst Tagen aufzutauchen, dann aber rasch volle Deutlichkeit zu ge- winnen. Bisweilen wird das Urbild in den Traum zurückverlegt, so dass die Wirklichkeit wie eine Erfüllung des Traumgesichtes er- scheint. Behr weist darauf hin, dass in solchen Täuschungen die Erklärung für manche „Wahrträume“ liegen könne.

Die letzte Form der Erinnerungsfälschung, der wir hier noch zu gedenken haben, ist am besten von Sander beschrieben worden. Schon im gesunden Leben begegnet es uns bisweilen, namentlich in der Jugend und im Zustande einer gewissen Ab- spannung, dass sich uns in irgend einer Lage plötzlich die Vor- stellung aufdrängt, als hätten wir dieselbe schon einmal in ganz derselben Weise erlebt. Zugleich haben wir eine dunkle Ahnung

Störungen des Gedächtnisses.

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dessen, was nun voraussichtlich kommen wird, ohne uns jedoch ein klares Bild davon machen zu können. In der Tat scheint uns irgend ein alsbald eintretendes Ereignis wirklich unsere Ahnung zu erfüllen. Auf diese Weise stehen wir eine kurze Zeitlang gewissermassen als untätige Zuschauer dem eigenen Vorstellungsverlaufe gegenüber, der in unbestimmten Andeu- tungen dem wirklichen Gange der Dinge vorauseilt, bis plötzlich die ganze Erscheinung verschwindet. Gefühle einer peinlichen Unsicherheit und Spannung pflegen sich regelmässig mit derselben zu verknüpfen.

In selir ausgeprägter Weise wird diese Störung hier und da unter krankhaften Verhältnissen, besonders bei Epileptikern im Zusammenhänge mit den Anfällen, beobachtet. Was dieselbe von den früher genannten Formen der Erinnerungsfälschung unter- scheidet, ist die völlige Gleichheit der gesamten Si- tuation, unter Einschluss der eigenen Person, mit einer an- scheinenden Erinnerung (identificierende Form). Während dort einzelne Eindrücke als von früher her mittelbar oder häufiger unmittelbar bekannt aufgefasst werden, ist hier die ganze Lage mit allen Einzelheiten vermeintlich nur das getreue Abbild eines völlig gleichen Erlebnisses aus der eigenen Vergangenheit. So kommt es, dass in den recht seltenen Fällen, in denen sich diese Fälschung Wochen, Monate, ja durch Jahrzehnte hindurch f ort- spinnt, mit einer gewissen Notwendigkeit in dem Kranken die Vorstellung erzeugt wird, dass er ein sich selbst wiederholendes Doppelleben führt. Pick hat sogar einen Fall beschrieben, bei dem eine Vervielfachung der Erinnerung ein trat. Die Grundlage dieser Störung ist durchaus dunkel. Möglich ist es, dass bis- weilen wirkliche verschwommene Erinnerungen, namentlich aus Träumen, auf Grund entfernter Ähnlichkeiten mit der vielfach nur in allgemeinen Umrissen aufgefassten gegenwärtigen Situa- tion fälschlich in Verbindung gebracht werden, doch dürfte diese Erklärung schwerlich für alle Fälle zutreffen. Die unangenehmen Erwartungsgefühle lassen sich wohl am wahrscheinlichsten auf das vergebliche Ringen nach einer deutlichen Auffassung des ver- schwommenen Bewusstseinsinhaltes zurückführen.

Störungen der Orientierung. Die fortlaufende geistige Ver- arbeitung der Lebensereignisse hat die Folge, dass wir uns

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

dauernd über die jeweilige allgemeine Lage, in der wir uns be- finden, und über die Entwicklung derselben aus vergangenen Ereignissen Rechenschaft zu geben vermögen. Diese Klarheit der Beziehungen zur gegenwärtigen Umgebung wie zur Vergangen- heit bezeichnen wir als Orientierung*). Natürlich haben wir es dabei mit einer recht verwickelten geistigen Leistung zu tun, an deren Zustandekommen die verschiedensten Gebiete unseres Seelenlebens beteiligt sind. Zunächst entwickelt sich die zeit- liche Ordnung unserer Erfahrungen aus der ununterbrochenen und allseitigen Verknüpfung, welche durch das Gedächtnis zwi- schen allen gleichzeitigen und unmittelbar aufeinanderfolgenden Vorgängen in unserem Bewusstsein stetig hergestellt wird. Auf diese Weise ordnet sich die ganze Summe unserer Erinnerungen in eine fortlaufende Reihe ein, deren Endpunkt der gegenwärtige Augenblick bildet, während das Anfangsglied mehr oder weniger weit in die Vergangenheit zurückreicht. Nur die jüngsten Be- standteile dieser Reihe sind jeweils in grösserer Vollständigkeit und Klarheit Inhalt unseres Gedächtnisses; je weiter wir nach rückwärts gehen, desto mehr verwischen sich die Einzelheiten, und desto rascher schrumpft die Reihe auf vereinzelte, besonders bedeutsame Erinnerungstatsachen zusammen, an welche sich ein Gemisch von Einzelreminiscenzen in mehr oder weniger lockerer Weise anknüpft. Jene Marksteine sind es, welche sich in bestimmte Beziehungen zu allgemeineren Ereignissen, insbesondere zur Zeitrechnung, setzen und uns damit eine wenigstens annähernde zeitliche Ordnung unserer Erfahrungen in der Vergangenheit ermöglichen.

Auch die Klarheit über den Ort, an dem wir uns befinden, ist zum Teil an die Leistungen des Gedächtnisses geknüpft. Einer- seits vermögen wir mit Hilfe früher erworbener Erinnerungs- bilder die Einzelheiten unserer augenblicklichen Umgebung wieder- zuerkennen; andererseits können uns die vorangegangenen Ereig- nisse auch über eine uns sonst ganz unbekannte Umgebung Klar- heit verschafft haben, wenn eben durch jene die Ortsveränderung in eindeutiger Weise vorbereitet und von uns vorausgesehen wurde. Allerdings werden wir weiterhin für die örtliche Orien-

*) F i n z i , Rivista di patologia nervosa e mentale, IV, 8. 1899.

Störungen der Orientierung.

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tierung vielfach auch der Auffassung eine wesentliche Rolle bei- zumessen haben. In allen Lebenslagen, in denen wir nicht vorher wissen, wohin wir kommen, oder durch irgendwelche Umstände in unserer Erwartung getäuscht worden sind, klärt uns die Wahr- nehmung regelmässig bald über die wirkliche Lage auf, indem sie in irgend einer Weise die Anknüpfung der neuen Eindrücke an frühere Erfahrungen herstellt. Freilich wird es sich dabei öfters nicht um eine einfache Deckung der gegenwärtigen Um- gebung mit Erinnerungsbildern handeln, sondern das Verständnis der Umgebung wird vielleicht erst durch mehr oder weniger umständliche Überlegungen und Schlüsse gewonnen. Ganz dasselbe gilt für die Orientierung über die Personen, bei der ebenfalls Gedächtnis, Auffassung und Urteil Zusammenwirken müssen.

Aus diesen Darlegungen geht hervor, dass die Orientierung unserer Kranken durch sehr verschiedene Störungen beeinträch- tigt werden kann. Es empfiehlt sich daher vielleicht, ganz all- gemein drei Hauptformen der Desorientiertheit auseinanderzu- halten, je nachdem die Ursache wesentlich in krankhaften Ver- änderungen der Auffassung, des Gedächtnisses oder des Urteils liegt. Im einzelnen Falle kann sich dabei recht wohl die Wirkung mehrerer dieser Störungen miteinander verbinden. Ferner kann sich der Umfang der Störung entweder auf alle Gebiete der Orientierung erstrecken oder sich auf einzelne Beziehungen be- schränken, so dass wir gänzliche und teilweise Desorientierung auseinanderhalten können.

Das Bild der Störung ist demnach ein sehr verschiedenes, um so mehr, als die Beeinträchtigung der psychischen Leistungen, aus der die Unklarheit der Kranken hervorgeht, sehr mannig- facher Art sein kann. So kann die Auffassung der Umgebung dadurch behindert sein, dass die Kranken nicht die genügende geistige Regsamkeit besitzen, um die äusseren Eindrücke zu ver- arbeiten, durch eine Denkhemmung, durch Trübung des Bewusst- seins mit oder ohne Verfälschung der Wahrnehmung. Der erste Fall ist sehr häufig in der Dementia praecox. Bei dieser apa- thischen Desorientierung fehlt den Kranken, obgleich sie ohne Schwierigkeit wahrnehmen, jede Neigung, sich über die Bedeutung dessen, was sie sehen und hören, Rechenschaft zu geben, so dass sie sich nach Wochen oft noch nicht darum gekümmert haben,

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

wo sie sich befinden, wer die Personen ihrer Umgebung sind, wie lange Zeit verflossen ist. Nur scheinbar ähnlich ist die Wirkung der Denkhemmung, wie sie uns im manisch-depressiven Irresein begegnet. Hier wird die zusammenhängende Auffassung der Umgebung durch die Erschwerung der Denkarbeit verhindert, so dass der Zustand der Ratlosigkeit entsteht. Die Kranken nehmen wohl Einzelheiten wahr, vermögen sich aber aus ihnen kein Bild ihrer Lage zusammenzusetzen. Ähnlich ist vielleicht die Desorientierung bei heftiger manischer Erregung zu beurteilen, die ebenfalls regelmässig mit starker Erschwerung der Auffassung und der Verarbeitung äusserer Eindrücke einhergeht. Auch die verschiedenen Formen der Bewusstseinstrübung, wie sie bei Herderkrankungen, bei der Epilepsie, im Rausche beobachtet wer- den, bedingen mehr oder weniger ausgeprägte Beeinträchtigungen der Orientierung. In den deliriösen Zuständen, die uns als selb- ständige Krankheitsbilder hauptsächlich bei Infektionen und "Ver- giftungen sowie bei der Epilepsie und Hysterie begegnen, tragen ausser der Unklarheit der Auffassung noch wirkliche Trugwahr- nehmungen dazu bei, das Bild der Umgebung zu trüben und zu verfälschen. Wenn man will, kann man alle diese Formen der Desorientiertheit als stuporöse, deliriöse, hallucina- to rische auseinanderhalten, doch wird man immer zu bedenken haben, dass im einzelnen Krankheitsfalle die Entstehung der Störung gewiss niemals ganz einheitlich, sondern stets durch das Zusammenwirken verschiedener Ursachen bedingt ist.

Ein gutes Beispiel dafür gibt die Desorientiertheit im Delirium tremens. Hier bestehen Sinnestäuschungen und eine Auffassungs- störung. Dennoch ist das Missverhältnis zwischen der Besonnenheit der Kranken und ihrer völligen Unklarheit über ihre ganze Lage höchst auffallend. Zum Teil mag hier wohl der Umstand eine Rolle spielen, dass die Auffassung der Lautsprache weit weniger gestört ist, als diejenige von Gesichtseindrücken, die eben bei der Orientierung von besonderer Wichtigkeit sind. Allein die Kranken kommen auch dann nicht zur Klarheit, wenn man sie über ihre Lage eingehend unterrichtet, obgleich sie diese Aus- einandersetzung ganz gut verstehen. Die inneren deliriösen Er- lebnisse verdrängen rasch wieder die Wirkung der aufklärenden Worte. Dazu kommt, dass der Inhalt dieser letzteren, wie der

Störungen der Orientierung.

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wirklichen Wahrnehmung überhaupt, nicht haftet, sondern sehr bald einfach vergessen wird. Durch diesen letzteren Umstand wird besonders die kennzeichnende Unklarheit über die Erlebnisse und die zeitlichen Verhältnisse der jüngsten Vergangenheit erzeugt.

In denjenigen Fällen, in denen sich an das Delirium tremens die K o r s s a k o w sehe Krankheit anschliesst, tritt die amne- stische Desorientiertheit, wie wir sie etwa bezeichnen können, immer mehr in den Vordergrund, da die Störung der Auffassung, die Sinnestäuschungen, die Delirien, sich ganz oder bis auf geringe Reste verlieren können. Demgemäss werden die Kranken meist über ihre Umgebung und ihre Lage klar, vermögen sich aber durchaus nicht in der Zeit zurechtzufinden. Sie wissen nicht, wann sie in die Anstalt gekommen sind, wann sie zuletzt Besuch gehabt, ja wann sie zu Mittag gegessen haben, da die Eindrücke bei ihnen zu locker haften, um sich zu jener festgegliederten Reihe aneinanderschliessen zu können, welche dem rückschauenden Blicke die Abschätzung der Zeitlichen Entfernung von der Gegen- wart gestattet. Ähnlich wie wir uns nach einförmigen, reizlosen Wochen des letzten bedeutsamen Ereignisses entsinnen, als sei es „erst gestern“ gewesen, so erscheinen diesen Kranken die Monate, die keine bleibende Spur in ihrer Erinnerung1 zurückgelassen haben, wie wenige Tage. Oder aber die Bilder der letzten Vergangenheit verblassen so schnell, dass sie ihnen weit zurückzuliegen scheinen und sie sich schon Monate in der Umgebung glauben, in die sie gerade erst eingetreten sind. Das gewohnte Mass des Wechsels der Tageszeiten, das uns vor dem unwillkürlichen Schätzungs- fehler bewahrt, hinterlässt hier keine Spuren, welche eine zeitliche Entfernungsschätzung ermöglichen könnten. Auf der anderen Seite wird sie durch das Auftauchen von Erinnerungs- fälschungen noch ganz besonders erschwert.

Noch stärker ausgeprägt kann die amnestische Desorien- tierung in denjenigen Formen des Altersblödsinns sein, die wir mit Wernicke als Presbyophrenie bezeichnen. Die überaus starke Merkstörung macht hier, wohl in Verbindung mit einer Erschwerung der Auffassung, gewöhnlich auch die geistige Ver- arbeitung der augenblicklichen Eindrücke unmöglich, so dass die Kranken von ihrer Umgebung kein klares Bild zu gewinnen ver- mögen, obgleich sie Einzelheiten ohne erhebliche Schwierigkeit

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

verstehen. Auch die bekannte zeitliche Desorientierung der Paralytiker ist wesentlich amnestischen Ursprungs, wenn auch hier die Merkstörung nur ausnahmsweise die allerhöchsten Grade erreicht. Sie erscheint in der Regel grösser, als sie wirklich ist, weil sich zu ihr die Gleichgültigkeit, der Verlust der geistigen Regsamkeit hinzugesellt, der die Kranken zu willkürlicher Ein- prägung der äusseren Eindrücke mehr oder weniger unfähig macht.

Als eine besondere Form der amnestischen Desorientierung können wir endlich noch jene Unklarheit über Zeit und Umgebung betrachten, die durch eine Erinnerungslücke erzeugt wird. Beim Erwachen aus dem Schlafe oder aus einer Ohnmacht empfinden wir sofort das lebhafte Bedürfnis, uns über unsere gesamte Lage klar zu werden und damit die Anknüpfung an die früheren Er- lebnisse wieder zu gewinnen. Haben sich inzwischen eingreifende Veränderungen abgespielt, so kann die Lösung dieser für gewöhn- lich so einfachen Aufgabe recht schwierig werden, zumal wenn zunächst vielleicht noch gewisse Behinderungen der Auffassung oder des Denkens f ortbestehen. Aus diesen Gründen sehen wir nach länger dauernden Zuständen schwerer Bewusstseinstrübung und dadurch bedingten Erinnerungslücken sehr gewöhnlich eine Zeitlang mangelhafte Orientierung andauern. Unter Umständen kann dabei auch die Nachwirkung von Täuschungen und Delirien aus der abgelaufenen Störung mitspielen.

Eine ganz andere Bedeutung, als die bisher besprochenen Formen, hat endlich die wahnhafte Desorientierung. Hier ist es nur die geistige Verarbeitung der an sich richtig auf- gefassten und eingeprägten Eindrücke, die nicht zu einer Un- klarheit, sondern zu einer falschen Ansicht über Zeit und Um- gebung führt. Eine bewusste Überlegung braucht dabei nicht stattzufinden; es handelt sich nur darum, dass sich die Kranken in ausdrücklichen Gegensatz zum Augenschein und zu den Aus- sagen ihrer Umgebung stellen. Unter Umständen können jedoch wohl illusionäre oder hallucinatorische Wahrnehmungen den be- sonderen Anstoss zu der wahnhaften Deutung geben. Hierher gehören namentlich viele Personenverkennungen, die Angaben deprimierter Kranker, sie seien im Gefängnis, in der Hölle, in einem schlechten Hause, die hartnäckigen \ erschiebungen von Tag oder Jahreszahl bei paranoiden Kranken u. s. f.

Störungen in der Bildung der Vorstellungen und Begriffe.

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Störungen in der Bildung der Vorstellungen und Begriffe.

Die einfachsten Vorstellungen enthalten nur Bestandteile aus einem einzigen Sinnesbereiche. Mit dem Fortschritte der gei- stigen Ausbildung jedoch entstehen immer verwickeltere Gebilde, deren einzelne Glieder den verschiedensten Gebieten der Sinnes- erfahrung entstammen. Meistens ist dabei wohl der Anteil, welchen die einzelnen Sinne liefern, ein sehr verschiedener. Nicht nur kommt gewissen Gruppen von Wahrnehmungen für die Vorstel- lungsbildung überhaupt eine weit grössere Bedeutung zu, als anderen, sondern es hat auch den Anschein, als ob je nach der persönlichen Anlage bald mehr diese, bald mehr jene Gebiete der Sinneserfahrung bei diesem Vorgänge bevorzugt würden. Während im Vorstellungsleben des Einen diejenigen Bestandteile überwiegen, die durch das Auge aufgenommen wurden, treten bei Anderen die vom Gehör oder durch die Bewegungsempfindungen gelieferten Eindrücke besonders in den Vordergrund. Bei völligem Ausfall ganzer Sinnesgebiete werden auch die Vorstellungen eine eigentümliche Einseitigkeit darbieten müssen, ja, es kann der Fall eintreten, dass sich die gesamten Vorstellungen ausschliess- lich aus den Wahrnehmungen des Tast- und Bewegungssinnes zusammensetzen müssen. Auch in diesem Grenzfalle ist übrigens noch eine hohe Entwicklung des Vorstellungslebens möglich.

Es ist erklärlich, dass unvollkommene Ausbildung und ge- ringe Nachhaltigkeit der sinnlichen Eindrücke die Entwicklung zusammengesetzter Gestaltungen unserer Vorstellungstätigkeit in hohem Grade beeinträchtigen müssen. Die einzelnen Wahr- nehmungsbestandteile treten in keine näheren Beziehungen zu einander und zu den früheren Erfahrungen; vereinzelt und ohne An- knüpfung nach irgend einer Richtung hin, gehen sie in dem unter- schiedslosen Gemenge rasch und vollständig wieder verloren. Der- artige Zustände haben wir wohl bei den schwersten Formen des angeborenen und erworbenen Blödsinns tatsächlich anzunehmen. Hier findet vielfach eine engere Verknüpfung der einzelnen Wahr- nehmungen überhaupt nicht statt. Die Glieder der Erfahrungs- kette schliessen sich nicht aneinander, sondern jeder Eindruck fällt rasch, wie er entstanden war, ungenutzt wieder dem Ver- gessen anheim.

Mit der reicheren und vielseitigeren Ausbildung der Vor-

Kraepelin, Psychiatrie. I. 7. Aufl, 12

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

Stellungen wird der Bau derselben notwendigerweise immer verwickelter. Die Zahl und die Verschiedenartigkeit der mit- einander verknüpften Bestandteile nimmt zu, so dass schliesslich der ganze Umfang eines derartigen psychischen Gebildes sich nicht mehr ohne weiteres, sondern nur bei der Betrachtung von den verschiedensten Seiten her vollständig ermessen lässt. Gleich- zeitig verlieren auch die einzelnen Bestandteile mehr und mehr ihre sinnliche Bestimmtheit, da sie nicht einem einzelnen Sinnes- eindrucke, sondern vielfach wiederholten Wahrnehmungen ent- sprungen sind. Das Zufällige und Nebensächliche der Einzel- erfahrungen verwischt sich, während das Wesentliche, immer Wiederkehrende sich stärker ausprägt und befestigt. Auf diese Weise werden eben die ursprünglichen Erinnerungsbilder zu wirk- lichen Vorstellungen; sie sind nicht mehr der einfache Nachklang einer bestimmten Sinneserfahrung, sondern der allgemeine Aus- druck sämtlicher Erfahrungen einer gewissen Art, die überhaupt auf das Bewusstsein eingewirkt haben.

Dieser Punkt der Entwicklung ist es, an welchem die sprachlichen Bezeichnungen ihren Einfluss auf das geistige Leben zu entfalten beginnen. Der Umfang und die ä iel- seitigkeit der Sachvorstellungen macht es unmöglich, im Ge- dankengange überall den gesamten Niederschlag einer Erfahrungs- reihe nach allen Bichtungen hin ins Bewusstsein zu rufen. ä iel- mehr tauchen beim Denken zunächst immer nur die am kräftigsten entwickelten Bestandteile eines derartigen psychischen Gebildes auf, wenn nicht durch besonderen Anlass andere Seiten der Vor- stellung mehr in den Vordergrund gedrängt werden. Bei häufiger Wiederholung dieses Vorganges werden am Ende jene stärker ausgebildeten Teile dauernd zu wirklichen Vertretern der Ge- samtvorstellung. Mit ihrer Hilfe sind wir dann auch jederzeit imstande, die verschiedenen anderen Seiten des ganzen psychischen Gebildes ins Bewusstsein zu ziehen und deutlicher zu beleuchten.

Die Vertretung der Gesamtvorstellung im abgekürzten Denk- verfahren kann an sich natürlich jedem beliebigen Bestandteile derselben zufallen. Auch hier bestehen ohne Zweifel sehr weit- gehende persönliche Verschiedenheiten. Zunächst werden wohl überall einzelne sachliche Erinnerungsbilder, bald aus diesem, bald aus jenem Sinnesgebiete, diese Rolle übernehmen, ein Ver-

Störungen in der Bildung der Vorstellungen und Begriffe.

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halten, welches um so länger und ausgeprägter fortbestehen bleibt, je besser die sinnliche Einbildungskraft entwickelt ist. Im all- gemeinen aber treten an die Stelle der sachlichen Erinnerungen immer mehr die sprachlichen Zeichen derselben. Je umfassender die einzelne Vorstellung wird, je allgemeiner ihr Inhalt, desto mehr verblasst ihre sinnliche Färbung, desto grösser wird das Gewicht, welches in ihr die immer in gleicher Form wiederholte sprachliche Bezeichnung gewinnt. Die höchsten Entwicklungs- formen der Verstandestätigkeit pflegen sich daher zum guten Teile ganz ausserhalb der schwerfälligen Sachvorstellungen zu vollziehen und nur hie und da einmal das Gebiet der sinnlichen Erinnerungen flüchtig zu streifen.

Unter krankhaften Verhältnissen kann der hier geschilderte Entwicklungsgang an irgend einem Punkte zum Stillstände kom- men. Bei unvollkommener geistiger Veranlagung bleibt die Aus- bildung der Vorstellungen auf der Stufe der sinnlichen Erinne- rungsbilder stehen. Die Kranken haften an der Einzelerfahrung, ohne das Gemeinsame aus verschiedenen gleichartigen Eindrücken herausschälen zu können. Sie gewinnen keinen kurzen, geschlos- senen Ausdruck für grössere Erfahrungsreihen; das Unwesent- liche scheidet sich ihnen nicht vom Wesentlichen, das Allgemeine nicht vom Besonderen. Das gesamte Denken vermag sich daher nicht über das Gebiet des unmittelbar sinnlich Gegebenen hinaus zur Erfassung höherer und weitblickender Gesichtspunkte zu er- heben. Daraus ergibt sich notwendig die Beschränkung der ge- samten Lebenserfahrung auf den nächsten und engsten Kreis, die Unfähigkeit zur Ausbildung allgemeiner Begriffe, welche als Grundlage einer abstrakteren Gedankenarbeit zu dienen vermöchten.

Bei der grossen Bedeutung, welche das vorhandene Wissen für die Sammlung neuer Erfahrungen besitzt, muss die mangelhafte Ausbildung von Allgemeinvorstellungen das Anwachsen des Vor- stellungsschatzes in sehr ungünstiger Weise beeinflussen. Frühere Erfahrungen schärfen unseren Blick für andere ähnliche Ein- drücke; Neues wird weit leichter auf genommen und festgehalten, sobald es sich an Bekanntes anknüpfen, in bestehende Gedanken- kreise einordnen kann. Je reicher der Vorstellungsschatz ist, desto aufnahmefähiger wird er für jede neue Bereicherung, weil

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

die Beziehungen des Seelenlebens zur Aussenwelt immer zahl- reichere und vielseitigere werden. So kommt es, dass die unvoll- kommene Entwicklung der Vorstellungen selbst zugleich die Empfänglichkeit für neue Eindrücke herabsetzt. Sie finden keine Anknüpfung im Erfahrungsschätze, werden nicht fest eingegliedert und gehen daher rasch und leicht wieder verloren. Zu der sinn- lichen Beschränktheit des Gedankenganges gesellt sich daher regelmässig Enge des Gesichtskreises, Vorstellungsarmut und Ge- dächtnisstumpfheit.

Natürlich treten alle diese Störungen in ausgeprägter Form nur dort hervor, wo die krankhafte Grundlage von Jugend auf besteht. Beim erworbenen Schwachsinn wird der Vorrat früherer Erfahrungen die Unfähigkeit zur Aufnahme neuer Eindrücke, zur Bildung neuer Vorstellungen lange Zeit hindurch mehr oder weniger vollständig verdecken können. Im weiteren Verlaufe freilich wird man jene Störungen allmählich immer deutlicher sich geltend machen sehen. Bei der Paralyse, bei der Dementia praecox, beim Altersschwachsinn beobachten wir in gleicher Weise, wie der Vorstellungskreis sich einengt, wie die allgemeineren, begriff- lichen Gedankengänge zurücktreten gegenüber dem Greifbaren, Alltäglichen und Naheliegenden. Neue Eindrücke werden nicht mehr aufgenommen und verarbeitet, und die jüngsten Erfah- rungen werden schnell vergessen, auch wenn die Erinnerungen aus vergangenen Tagen noch mit überraschender Festigkeit und Treue haften.

Kaum weniger verderblich, als die mangelnde Ausbildung der Vorstellungsverbindungen, pflegt für das Seelenleben die krank- hafte Beweglichkeit der psychischen Gebilde zu werden, welche mit verwegener Leichtigkeit die verbindende Brücke zwischen den verschiedenartigsten Erfahrungen zu schlagen weiss. Hier genügen schon entfernte Ähnlichkeiten und teilweise Überein- stimmungen, um zwei Vorstellungen in nahe Beziehungen zu setzen; der Mangel an Zwischengliedern wird rasch durch immer bereite Vermutungen ergänzt, und die Widersprüche werden in mehr oder weniger freier Umgestaltung verwischt. So entwickelte mir ein kranker Ingenieur einmal an der Hand umfangreicher und sehr eingehender Zeichnungen die Idee, durch die verschieden- artige Anordnung gewisser schmückender Bauglieder ganze Musik-

Störungen des Gedankenganges.

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stücke in übertragener Form wiederzugeben und auf diese Weise Auge und Ohr gleichzeitig künstlerisch anzuregen. Eine solche Willkürlichkeit der Ideenverbindung macht natürlich bei der Be- griffsbildung eine Auswahl des Zusammengehörigen und die Aus- scheidung des Unwesentlichen, Entlegenen, fast gänzlich unmög- lich. Die Begriffe müssen auf diese Weise durchaus jener Schärfe und Klarheit entbehren, welche sie zur Grundlage höherer Geistes- arbeit tauglich macht ; sie werden verschwommene und un- klare psychische Gebilde, mit deren Hilfe nur einseitige und verschrobene Urteile von zweifelhaftem Werte sowie unbestimmte und unsichere Analogieschlüsse zu stände kommen können, sobald sich der Gedankengang aus dem Bereiche der unmittelbaren Sinnes- erfahrung entfernt. Als klinischen Ausdruck der hier geschil- derten Störung können wir den Hang zum Schwärmen und Träu- men, den Mangel des Sinnes für Tatsachen und Einzelheiten, die Verzettelung der geistigen Arbeitskraft in unausführbaren Plänen und Hirngespinsten betrachten. Diese Eigentümlichkeiten bilden das Kennzeichen gewisser psychopathischer Persönlichkeiten; wir begegnen ihnen ferner auch bei Verrückten und in den paranoiden Zuständen.

Störungen des Gedankenganges. Die Verbindung der fertigen Vorstellungen untereinander vollzieht sich nach bestimmten Ge- setzen, die uns wenigstens in ihren allgemeinen Zügen bekannt sind. Wir können zunächst zwei grosse Gruppen von Vorstel- lungsverbindungen auseinanderhalten, die äusseren und die inneren. Bei jenen ersteren wird die Verknüpfung der beiden Vor- stellungen nur durch eine rein äusserliche, zufällige Beziehung vermittelt, während wir es bei den inneren Associationen mit sachlichen, aus dem Inhalte der Vorstellungen selbst hervor- wachsenden Zusammenhängen zu tun haben. Im einzelnen gliedern sich beide Hauptgruppen noch weiter in Unterformen je nach der Art des verknüpfenden Bandes*). Eine äusserliche Verbindung kann zunächst hergestellt werden durch häufige Vergesellschaf- tung derselben Eindrücke. Dies geschieht z. B. dann, wenn zwei Wahrnehmungen oft oder regelmässig in nahe räumliche oder

*) Aschaffenburg, Experimentelle Studien über Associationen, Psychologische Arbeiten, I, 2; II, 1; IV, 2.

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

zeitliche Beziehung zu einander treten. Haus und Fenster, Blitz und Donner entsprechen dieser Bedingung. Ein ganz ähnlicher, aber noch äusserlicherer Zusammenhang kann sich durch die sprachliche Einübung herausbilden. Bestimmte Wort- und Satz- verbindungen befestigen sich bei uns durch häufige Wiederholung derart, dass jeder Bestandteil derselben die übrigen regelmässig auch ins Bewusstsein ruft. Dahin gehören die Wortzusammen- setzungen, die stehenden Redensarten, die Citate. Vielfach hat sich in diesen Verbindungen die Denkarbeit früherer Geschlechter niedergeschlagen; dem sprachlichen entspricht zugleich ein sach- licher Zusammenhang. Für uns aber ist diese innere Verbindung längst in den Hintergrund getreten gegenüber der einfachen, gedankenlosen sprachlichen Gewöhnung. In noch höherem Grade ist das der Fall, wenn der einzelne Bruchteil, wde nicht selten, völlig sinnlos ist und nur durch die mechanische Anfügung des Fehlenden zu einem sinnvollen Ganzen wird. Diese letztere Form der äusseren Vorstellungsverbindungen bildet bereits den Über- gang zu den für die Psychiatrie besonders wichtigen Klang- associationen. Bei diesen handelt es sich um die Verknüpfung zweier Vorstellungen lediglich auf Grund des sprachlichen Gleich- klanges. Übereinstimmung einzelner Buchstaben oder besser Sprachbewegungen, nicht selten in der Form des Reims, genügt hier, die verbindende Brücke zu schlagen, ganz ohne jede Rück- sicht auf den Inhalt. Auch hier wird die Eigenart des Vorganges am klarsten in jenen Beispielen, in denen der associierte Gleich- klang überhaupt keinen sprachlichen Inhalt mehr besitzt, sondern völlig sinnlos ist.

Bei der zweiten grossen Gruppe von A^orstellungsverbin- dungen begegnet uns zunächst die Verknüpfung nach Über- leben- und Unterordnung. Der Entwicklungsgang der Vorstel- lungen vollzieht sich ja in der Weise, dass wir von sinnlichen Einzelerfahrungen durch Eingliederung ähnlicher Eindrücke all- mählich zu einer Stufenleiter von immer allgemeineren Vor- stellungen gelangen. Alle einzelnen Glieder dieser Entwicklung stehen naturgemäss miteinander in näherer oder fernerer Ver- bindung, so dass unser Gedankengang jederzeit den Schritt vom Besonderen zum Allgemeinen wiederholen kann, mit dem er einst- mals seine Ausbildung begonnen hat. Der gleiche Weg ist aber

Störungen des Gedankenganges.

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auch in umgekehrter Richtung gangbar, und endlich vermögen wir dauernd den Vorgang zu erneuern, der uns von Anfang an die Verknüpfung innerlich übereinstimmender Erfahrungen unter- einander ermöglichte. Alle diese Verbindungen bilden zusammen die psychologische Grundlage derjenigen Urteile, welche das gegenseitige Verhältnis unserer Vorstellungen zu einander von den sinnlich einfachsten zu den verwickeltsten und allgemeinsten Formen zum Ausdrucke bringen.

Demgegenüber können wir eine andere Form der inneren Associationen wohl als die Vorstufe jener Urteile auf fassen, bei denen es sich um die Bereicherung unserer Vorstellungen durch neue Bestandteile handelt. Wir bezeichnen diese Vorstellungs- verbindungen vielleicht am besten als prädikative. Sie fügen zu einer gegebenen Vorstellung irgend ein Merkmal hinzu, welches nicht notwendig zur Begriffsbestimmung gehört, sondern eine mehr oder weniger eng begrenzte Gruppe von Einzelerfahrungen aus der Gesamtzahl der Vorstellungsbestandteile heraushebt. Diese beschränkte Aussage kann dabei sowohl gegenwärtigen Ein- drücken wie der Erinnerung entnommen werden. Die prädikativen Associationen enthalten demnach meist Eigenschaften, Zustände, Tätigkeiten, durch welche die vorauf gehende Vorstellung nach irgend einer Richtung hin näher bestimmt wird. Es werden ge- wisse Bestandteile derselben, seien sie längst oder gerade erst erworben, heller beleuchtet, die an sich beim Auf tauchen jener Vorstellung nicht mit ins Bewusstsein getreten wären. So wird etwa die Vorstellung Hund in uns neben der sprachlichen Be- zeichnung durch die allgemeinen Umrisse des Tieres vertreten; vielleicht werden wir uns dabei noch dunkel dessen bewusst, dass der Hund ein Tier, dass er schwarz gefärbt ist, dass er läuft. Alle diese unklaren Bestandteile der Hauptvorstellung können durch den weiteren Verlauf des Gedankenganges zur deutlichen Ausprägung gebracht werden. Nur der erstgenannte aber ist ein notwendiges Glied der Vorstellung Hund; die beiden letzteren und zahllose andere ähnliche enthalten eine nähere Bestimmung, die nicht auf alle Hunde ohne Ausnahme zutrifft. Folgt daher auf die Vorstellung Hund die Vorstellung Tier, so haben wir es mit einer Association nach Überordnung zu tun, während die beiden anderen Anknüpfungen prädikative Bestimmungen enthalten.

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

Die inhaltlichen Störungen des Vorstellungsverlaufes lassen sich, wie mir scheint, am einheitlichsten auf fassen als Verschie- bungen in dem Verhältnisse zwischen den Zielvorstellungen und den einzelnen Gliedern unseres Gedankenganges. Leider sind wir hier überall in erster Linie auf die Prüfung der sprachlichen Äusserungen unserer Kranken angewiesen, die naturgemäss nur ein sehr unvollkommenes und häufig verzerrtes Bild ihres wirk- lichen Vorstellungsverlaufes gehen.

Das gesunde Denken wird regelmässig von gewissen allge- meinen Vorstellungen beherrscht, welche jeweils die Richtung des Vorstellungsverlaufes angeben. Von den auf tauchenden Vor- stellungen werden daher immer diejenigen Bestandteile besonders kräftig angeregt, die mit den Leitvorstellungen in näherer Be- ziehung stehen. Aus der grossen Zahl möglicher Anknüpfungen werden auf diese Weise nur diejenigen wirklich zu stände kommen, welche in einer bestimmten, durch die allgemeinen Ziele des Ge- dankenganges bedingten Richtung liegen. So entsteht die innere Einheit und Geschlossenheit unseres Denkens, die geistige Frei- heit, welche uns in den Stand setzt, unseren Vorstellungsverlauf nach Gesichtspunkten zu lenken, die aus der Entwicklungs- geschichte unserer gesamten psychischen Persönlichkeit hervor- gegangen sind.

In Krankheitszuständen kann der einheitliche Fortschritt des Gedankenganges, wie er durch kräftige Ausbildung der Zielvor- stellungen gewährleistet wird, auf verschiedene Weise gestört sein. Am häufigsten kommt es vor, dass einzelne Vorstellungen oder Gedankenrelhen mit besonders lebhafter Gefühlsbetonung immer wieder den durch die Zielvorstellungen vorgezeichneten Gedankengang durchbrechen. Die Erinnerung an irgend ein trübes Ereignis, eine Erwartung oder Befürchtung kann uns so sehr beherrschen, dass unsere Gedanken trotz aller Bemühungen, sie in andere Richtungen zu zwingen, immer wieder zu demselben Gegenstände zurückkehren. Andererseits können aus Stimmungen peinliche Vorstellungen hervorwachsen, die eine aufdringliche Macht über den Gedankengang gewinnen. Wir erinnern hier an die Erfahrung, dass wir uns in gewissen Lagen bisweilen trotz besserer Einsicht des Auftauchens von allerlei Schauer- und Ge- spenstergeschichten nicht zu erwehren imstande sind. Sie er-

Störungen des Gedankenganges.

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wachen im Gegenteil oft um so lebhafter, je angestrengter wir sie in den Hintergrund zu drängen versuchen.

Diese Beeinflussung des Gedankenganges durch gefühls- starke Vorstellungen ist natürlich um so stärker, je leichter Schwankungen des gemütlichen Gleichgewichtes zu stände kom- men. Handelt es sich, wie gewöhnlich, um Unlustgefühle, deren Macht auf Denken und Handeln überall am grössten ist, so wird die Störung durch das Vordrängen derselben Gedanken bald als peinigend empfunden. Gerade dadurch aber wächst ihre Macht. Das Bestreben, sich ihrer zu erwehren, rückt sie immer mehr in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit. Unter diesen Umständen kann sich zu der Unlust, die sich an den Inhalt der Vorstellung knüpft, noch das quälende Gefühl der Ohnmacht gegenüber ihrer zwingenden Aufdringlichkeit gesellen. Auf diese Weise entsteht jene Störung, die wir mit v. Krafft-Ebing als Zwangs- vorstellung*) bezeichnen, weil sie regelmässig mit dem leb- haften Gefühle des Unterliegens gegen einen übermächtigen Zwang einhergeht.

Die Furcht vor ihrer Wiederkehr und die dadurch bewirkte Fesselung der Aufmerksamkeit sind der Nährboden und das Kennzeichen der Zwangsvorstellung. Sie entwickelt sich daher häufig auf dem Boden ängstlicher Verstimmungen, so bei melancholischen und cirkulären Depressionszuständen, bisweilen auch im ersten, depressiven Abschnitte einer Dementia praecox. Der Inhalt der Zwangsvorstellung ist hier überall von vornherein ein unangenehmer, quälender. Die Kranken müssen unausgesetzt an irgend einen erschütternden Eindruck denken, den sie gehabt haben, sich ein Unglück ausmalen, das sie betreffen könnte, gotteslästerlichen oder unanständigen Gedanken nachhängen. Die tiefe Verstimmung, die solchen Gedanken zu Grunde liegt und durch sie neue Nahrung erhält, verbindet sich hier mit dem Gefühle der zwangsmässigen Überwältigung des Denkens. Bei weiterer Entwicklung gewinnt die erstere meist ganz die Ober- hand, zumal, wenn der Widerstand des Kranken gegen die auf-

*) Westphal, Berl. klin. Wochenschr. 1877, 46; Wille, Archiv f. Psychiatrie, XII, 1; Löwenfeld, ebenda, XXX, 679; Meynert, Wiener klin. Wochenschr. 1888. 5—7 ; Tuczek, Berl. klin. Wochenschr. 1899, 6; Friedmann, Psychiatr. Wochenschr. 1901, 40.

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

dringlichen Vorstellungen allmählich erlahmt, so dass der innere Kampf und damit das Gefühl des Unterliegens fortfällt. Die ur- sprünglichen Zwangsvorstellungen wandeln sich dabei mehr und mehr in Wahnideen um. Der Gedanke an das gestorbene Kind wird für den Kranken zur Gewissensmahnung wegen versäumter Fürsorge; die Schreckbilder künftigen Unglücks bedeuten wirk- lich drohende Strafen; die wüsten Gedanken sind der Ausdruck einer von Grund aus verdorbenen Seele.

Viel reiner tritt das Wesen der Zwangsvorstellungen dort hervor, wo der Stimmungshintergrund nicht durch selbständige krankhafte Gemütsbewegungen beeinflusst wird. Hier liegt das Quälende an sich nicht in dem Inhalte, sondern nur in der zwangsmässigen Wiederkehr der Vorstellung. Die ausgebildet- sten Formen dieser Zwangsvorstellungen im engeren Sinne ent- wickeln sich in gewissen angeborenen krankhaften Zuständen, die wir als Ausdruck der Entartung betrachten. Erhöhte gemüt- liche Empfindlichkeit sowie die Neigung zu peinlicher Selbst- beobachtung liefern die Vorbedingungen für die Entstehung der Zwangsvorstellungen. Am leichtesten setzen sich auch hier Vor- stellungen fest, die schon durch ihren Inhalt unangenehm wirken, namentlich solche geschlechtlicher oder religiöser Art. Bis- weilen heftet sich der peinliche Gefühlston auch erst durch Über- legungen an die auf tauchende Vorstellung, wie bei einer von Löwenfeld erwähnten Dame, die sich Vorwürfe darüber machte, dass sie immer an einen ihr* sonst ganz fernstehenden Herrn denken musste.

Während hier die Zwangsvorstellung von vornherein durch begleitende Unlustgefühle in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit gerückt wird, vermitteln in einer weiteren Gruppe von Fällen gewisse allgemeine Denkgewohnheiten das Auftreten jener Ge- dankengänge, die dann später durch das vergebliche Bestreben, ihrer Herr zu werden, so zwingende Macht gewinnen. Jeder Ge- sunde legt Wert darauf, die Namen der ihn umgebenden Personen zu kennen. Bei dem krankhaften „Namenzwange“ kann das Be- dürfnis, sich die Namen anderer Menschen ins Gedächtnis zu rufen, so stark und so quälend werden, dass die Kranken zur Befriedigung desselben grosse Verzeichnisse anlegen und am Ende den Namen jedes beliebigen Menschen zu erfahren suchen,

Störungen des Gedankenganges.

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der ihnen begegnet. Der „Zahlenzwang“ knüpft an die Rechen- künste an, die wir zur Beherrschung der Zahlenreihe in der Jugend üben müssen. Er veranlasst den Kranken, alle möglichen unsinnigen Zählungen der sich ihm darbietenden Dinge auszu- führen oder mit den Zahlen, die ihm aufstossen, zwangsmässig Rechnungen vorzunehmen. Als „Ausdruckszwang“ kann man die krankhafte Neigung bezeichnen, denselben Gedanken unter klein- lichster Abwandlung aller Einzelheiten immer in eine neue Form zu kleiden, ohne dass doch jemals die befriedigende Lösung gefunden würde. Dadurch entsteht eine merkwürdige Häufung von Wiederholungen, die jeden Fortschritt des Gedankens aufhalten. Endlich lässt sich die krankhafte Gr übel- oder Frage sucht mit der Neigung des Kindes zu ausschweifenden und läppischen Fragen in Verbindung bringen. Dem Kranken drängen sich in nie endender Folge unfruchtbare und zwecklose Fragen auf, die ihn beunruhigen und in Atem halten, ohne dass er sich ihrei zu erwehren vermöchte.

Für diese letztgeschilderten Fermen der Zwangsvorstellungen, bei denen der Inhalt an sich ein gleichgültiger ist, passt ohne Zweifel die von Friedmann durchgeführte Betrachtung, dass wir es mit „unabgeschlossenen“ Vorstellungen zu tun haben, die eben deshalb erregend wirken. Überall handelt es sich um das Gefühl der Ungewissheit, das die Kranken zu ihren Anstrengungen anspornt und doch niemals ganz beseitigt werden kann, weil jede vor ihnen auftauchende Aufgabe sofort eine Reihe anderer nach sich zieht. Der Namen, der Zählungen, der Ausdrucksformen, der Fragen ist kein Ende, und die endgültige Beruhigung ist, sobald überhaupt dem bohrenden Drange nachgegeben wurde, nicht zu erreichen. Die tiefste Wurzel dieser Zwangsvorstellungen liegt also in denselben Unlustgefühlen, die uns dazu treiben, Klarheit und Wahrheit zu suchen, aber sie sind nicht mehr die Diener, sondern die Herren der geistigen Persönlichkeit, weil dieser letzteren die Kraft fehlt, sie zu unterdrücken, wo sie den Fluss des Denkens hindern.

Eine dem Zwangsdenken nur äusserlich ähnliche Störung ist das einfache Haften einzelner Vorstellungen. Das- selbe wird dadurch gekennzeichnet, dass irgendwelche, einmal angeregte Vorstellungen von ganz beliebigem Inhalte, aber regel-

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

massig in sprachlichen oder lautlichen Ausdrucksformen, sich immer wieder in den Gedankengang einschieben. Auch im ge- sunden Leben ist dieser Vorgang nicht gerade selten. Im ge- wöhnlichen Flusse der Gedanken vermag sich keine einzelne Vorstellung längere Zeit hindurch auf voller Höhe zu erhalten, wenn sie nicht durch besondere Ursachen immer von neuem an- geregt wird. Unablässig drängen sich neue Eindrücke und Vor- stellungen ins Bewusstsein, um das Übergewicht zu gewinnen, sobald die Lebhaftigkeit vorangegangener Bilder zu verblassen beginnt. In diesem Kampfe können sich einzelne Vorstellungen mit besonderer Hartnäckigkeit erhalten, die aus irgend einem Grunde lebhaft angeregt worden sind. Namentlich Vorstellungen von rhythmischer Gliederung, ein Vers, ein Citat, eine Melodie, können wir bisweilen durchaus nicht wieder loswerden, sondern müssen, vielleicht zu unserem grössten Verdrusse, in steter Wie- derholung darauf zurückkommen, bis sie endlich durch andere Vorgänge wieder in den Hintergrund gedrängt werden.

Einem eigentümlichen Kleben an sprachlichen Bezeichnungen begegnen wir ferner sehr häufig bei gröberen Hirnerkrankungen. Die Kranken versprechen sich vielfach im Sinne der kurz vorher gebrauchten Wörter und Wendungen; sie belegen Gegenstände fälschlich mit einer Benennung, die sie gerade gehört oder aus- gesprochen haben oder mischen richtige und verkehrte Wort- bruchstücke durcheinander. Namentlich unter dem Einflüsse der Ermüdung kann dieses Haften rasch so störend werden, dass man keine richtige Antwort mehr erhält, sondern nur wechselnde oder einförmige Wiederholungen der früheren Angaben. Wie v. S ö 1 d e r *) betont hat, handelt es sich hier nur um die krank- hafte Ausbildung einer Erscheinung, die auch beim gewöhnlichen Versprechen, beobachtet wird. Uns kommen dabei nicht nur die- selben Wörter und Wendungen leicht wieder auf die Zunge, sondern das Vorhergegangene bewirkt auch vielfach bestimmte Sprechfehler.

Im Gegensätze zum Zwangsdenken bemerken wir jene fortwährenden Wiederholungen vielfach erst nachträglich; das Gefühl des Zwanges, der Überwältigung trotz unseres Wider-

*) S ö 1 d e r, Jahrb. f. Psychiatrie, XVIII, 479, 1S99.

Störungen des Gedankenganges.

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strebens, fehlt vollständig, so unangenehm wir vielleicht auch von der Zähigkeit der Vorstellungen berührt werden. Mir scheint hier die Ermüdung eine gewisse Rolle zu spielen. Wo die geistige Regsamkeit herabgesetzt ist, nimmt die Mannigfaltig- keit und Lebhaftigkeit der neu sich darbietenden Vorstel- lungen ab, so dass die Wiederholung früherer Vorgänge be- günstigt wird. Allerdings hat Aschaffenburg bei seinen Nacht versuchen keine Zunahme des Haftens mit fortschreitender Ermüdung gefunden, doch ist es zweifelhaft, ob es sich in seinen Beispielen nicht um eine andersartige Erscheinung gehandelt hat.

Auch andere Bestandteile der Vorstellungen, allerdings vor- zugsweise oder ausschliesslich motorische, können haften. Die Kranken gebrauchen vorgezeigte Gegenstände fälschlich so, wie sie es kurz vorher richtig mit anderen gemacht haben. N e i s s e r hat diese Störung treffend mit dem Namen der Perseveration gekennzeichnet. In einigen Fällen von Altersblödsinn mit aus- geprägtem Kleben konnte Schneider nachweisen, dass die Entwicklung der angeregten Vorstellungen ungemein verlangsamt war. Die Bezeichnung eines Bildes wurde vielfach erst dann, aber nun richtig, vorgebracht, wenn inzwischen schon ein oder zwei andere Bilder gezeigt worden waren, so dass also eine regel- mässige, erhebliche Verspätung anzunehmen war. In der Tat hat man bei der Perseveration vielfach den Eindruck, als ob die Kranken zunächst der neuen Wahrnehmung völlig verständnislos gegenüberstehen und auf das Drängen daher einfach das Voran- gegangene wiederholen. Ist diese Anschauung richtig, so würde nicht die besondere Hartnäckigkeit einzelner Vorstellungen, son- dern die erschwerte Auslösung anderer, sie ersetzender und ver- drängender Vorgänge die Störung bedingen.

Sorgfältig von der Perseveration zu unterscheiden ist die Neigung, dieselben Vorstellungen „zu Tode zu hetzen“, wie sie uns in ausgeprägtester Form bei der Dementia praecox begegnet. Sie ist hier nur ein Ausfluss der allgemeinen Stereotypie der Willensvorgänge. Andeutungen dieser Erscheinung kommen auch bei Kindern gelegentlich vor. Sie besteht in der triebartigen, oft ins Ungemessene fortgesetzten Wiederholung derselben sprachlichen Äusserungen, bald für sich allein, bald unter Ein- flechtung in andere, mehr oder weniger zusammenhangslose Ge-

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

dankenreihen. Der Inhalt dieser stereotypen Vorstellungen ist dabei ein ganz zufälliger und wird nicht, wie beim Haften, durch das Voraufgegangene bestimmt. Vielmehr kann eine Vorstellung über kurz oder lang von einer anderen abgelöst werden, die dann ebenso zähe haftet, oder es schieben sich durcheinander in einen längeren Gedankengang eine Reihe verschiedener, immer wieder- kehrender Vorstellungen ein. Offenbar spielt demnach bei dem Vorgänge nicht die besondere Eigenschaft der einzelnen Vor- stellung, sondern der Gesamtzustand des Seelenlebens die ent- scheidende Rolle. Da wir wohl annehmen dürfen, dass die Stereo- typie nur beim Fehlen einer zielbewussten Willensrichtung zu stände kommt, werden wir uns nicht wundern, dass sich auch die triebartige Wiederholung derselben Vorstellungen regelmässig mit einer Zerfahrenheit des Gedankenganges verbindet, die auf ungenügende Ausbildung von Zielvorstellungen hinweisen dürfte. Sehr deutlich tritt das in dem folgenden Beispiele hervor:

„Herr Vetterlieb, es war nicht so, Herr Vetterlieb, es war nicht so, es war nicht so, A Lauer für S Lauer, A Lauer für S Lauer, nur das einzige, A Lauer für S Lauer, Herr Vetterlieb, weil ich für Ihr einziges Kind gebetet habe, wie ich in Tauberbischofsheim. Herr Vetterlieb, lieber Herr \ etterlieb, mein einzig Vetterlieb, ich will sagen, wie es gelebt hat, ein gutes, ein böses, Herr Vetterlieb, M, R, I, S. Herr Vetterlieb, Schnaps gegen Brannt- wein, Vergiftung gegen Vergiftung. Ich hänge meine Zunge bald so, bald so, hinten hinaus, bald vorn hinaus. Herr Vetter lieb (5mal wiederholt), das war Wucht, Herr Vetterlieb, eine Kupferschlange, durchlöchert, Herr Vetter- lieb, wegen des wahren, wegen des wahren, wegen des wahren Willens“ u. s. f.

Wiederum eine andere Bedeutung, als die häufige Wieder- kehr derselben Vorstellungen in einem bestimmten Gedanken- gange, hat die gewohnheitsmässige Erneuerung gleich- artiger Vorstellungsreihen bei den verschiedensten Gelegenheiten. Während dort der Inhalt der stereotypen Vorstellungen von Fall zu Fall wechseln kann, haben wir es hier mit dem erstarrten und darum fast unveränderlichen Niederschlage früherer Erfahrungen zu tun.

Unsere ganze geistige Ausbildung beruht auf dem Umstande, dass sich unsere Vorstellungsverbindungen durch häufige Wieder- holung allmählich mehr und mehr befestigen. Das Ergebnis früher geleisteter Gedankenarbeit steht uns auf diese Weise schliesslich fast mühelos jederzeit zu Gebote, so dass wir auf

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der einmal erarbeiteten Grundlage ohne weiteres fortbauen können. Ja, auch der gesamte Erfahrungs- und Gedankenschatz vergangener Geschlechter wird uns in den festen Formen der Muttersprache als fertiges Werkzeug für jederlei Denkarbeit überliefert. Die Bedeutung dieser gegebenen Formeln im Vor- stellungsverlaufe ist natürlich je nach der persönlichen Be- fähigung zu eigenem Schaffen eine sehr verschiedene; sie kann jedoch kaum überschätzt werden. Wir alle wissen, dass wir beständig mit einer grossen Zahl von stehenden Wendungen und festen Ideenverbindungen arbeiten, die mit erstaunlicher Unver- meidlichkeit bei gegebenem Stichworte auftauchen und ablaufen, ohne unser Zutun, ja selbst gegen unseren Willen. Ich konnte nachweisen, dass von einer grösseren Gruppe eingeübter Asso- ciationen nach fast zwei Jahren noch etwa 70 Prozent in völlig gleicher Form wiederkehrten.

In Krankheitszuständen wird dieses Verhältnis ohne Zweifel vielfach noch sehr bedeutend überschritten. Namentlich dann, wenn die Fähigkeit zur Sammlung und Verarbeitung neuer Ein- drücke durch das Irresein vernichtet wird, pflegen die Vorstel- lungsüberreste aus gesunden Tagen allmählich in steter Wieder- holung zu erstarren. So sehen wir beim Greise, in der Paralyse und bei verschiedenen anderen Verblödungsformen den Vorstel- lungsverlauf mehi- und mehr auf einzelne, immer wiederkehrende Gedankenreihen einschrumpfen, welche keinerlei neue geistige Arbeitsleistung mehr enthalten. Es entwickelt sich auf diese Weise eine mehr oder weniger hochgradige Einförmigkeit der Bewusstseinsvorgänge. Selbstverständlich verbindet sich damit stets eine beträchtliche Verarmung des Vorstellungsschatzes. Was nicht in festgeschlossener, unveränderlicher Verbindung er- halten bleibt, geht rettungslos verloren. Schliesslich können sich die gesamten sprachlichen Äusserungen einer früher reich ent- wickelten Persönlichkeit auf die Abwandlung einiger weniger dürftiger Gedanken zurückziehen.

Die folgende Nachschrift von einer altersblödsinnigen Kran- ken mag das erläutern:

„Wir haben den ganzen Tag nichts gegessen Kaffee und Brot Kaffee die Frau würde gern kochen, wenn sie etwas kriegte, aber den ganzen Tag hat sie nichts, als Kaffee und Brot aber das geht nicht; die Frau

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

muss etwas zu essen haben das geht nicht; der Mann muss aufhören, zu essen, die Kinder müssen essen ei, ei, ei, das ist doch stark; die Kinder nichts mehr zu essen, nichts wie Kartoffeln der Vater hat die Kartoffeln gegessen; die Mutter hat nichts, die Kinder haben nichts so ist es fort- gegangen von einem Tag zum andern, haben die Kinder nichts gegessen wie Kartoffel und Kaffee ach Gott, da sind wir fertig, da haben wir nichts gegessen, gar nichts, gar nichts; das darf nicht sein wo wir hin sind, haben wir den Kaffee fort und die Kartoffeln das ist gar nichts nichts wie Kaffee, Kaffee, Kaffee“ u. s. f.

In nahen inneren Beziehungen zu der Einförmigkeit des Ge- dankenganges steht eine andere, ihr äusserlich ziemlich unähn- licüe Störung, die Umständlichkeit. Wir verstehen darunter jene Gestaltung des Vorstellungs verlauf es, bei welcher nicht nur die wesentlichen und notwendigen Glieder eines Gedankenganges, sondern auch eine grössere Anzahl nebensächlicher und zufälliger Begleitvorstellungen mit voller Deutlichkeit erzeugt werden. Da- durch wird einerseits der Abschluss der Vorstellungskette, die Erreichung des vorgesteckten Zieles, immer wieder hinaus- geschoben und verzögert; andererseits wird der ganze Gedanken- gang unübersichtlich, da die Nebendinge sich ebenso in den Vordergrund drängen wie die Hauptsachen. Diese Störung beruht demnach auf einer unvollkommenen Sichtung der Vorstellungen nach ihrer Bedeutung für den jeweiligen Gedankengang. Darum beschränkt sich der Fortschritt des Denkens nicht auf die gerade Richtungslinie, sondern er berührt auch alle möglichen gleich- gültigen Nebenumstände. Dennoch pflegt er sein Ziel schliess- lich zu erreichen, weil die Zielvorstellung über den Einzelheiten nicht ganz verloren geht.

Den einfachsten Formen der Umständlichkeit begegnen wir in der Gesundheitsbreite bei ungebildeten Menschen, bei denen die Ordnung der Vorstellungen nach ihrer Wichtigkeit nur un- vollkommen durchgeführt wird. v. d. Steinen beobachtete sie in ausgeprägtester Weise bei den Naturvölkern Centralbrasiliens. Je weniger das begriffliche Denken entwickelt ist, je stärker auch in den allgemeineren Vorstellungen noch die sinnlichen Be- standteile hervortreten, desto grösser wird die Neigung sein, im Gedankengange am Einzelnen und Nebensächlichen festzu- kleben. Daher die grosse Schwierigkeit, von ungebildeten Leuten knappe, sachliche Antworten zu erhalten, ihre Unfähigkeit, das

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Unwesentliche aus ihren Erzählungen auszuscheiden, Gesehenes und nur Gedachtes oder Vermutetes scharf zu trennen. Nicht minder bekannt ist ferner die Umständlichkeit des Greisenalters. Durch den Verlust der Aufnahmefähigkeit und Regsamkeit kommt es hier zu häufigerer Wiederholung der gleichen Gedankengänge, die sich allmählich mehr und mehr befestigen und daher immer grössere Bedeutung für die gesamte Denkarbeit gewinnen. Längere Reihen von Vorstellungen laufen ganz gewohnheits- mässig ab, sobald sie durch irgend einen Anlass angeregt wer- den. Diese erstarrten Ketten von Erinnerungsbildern, Lieblings- gedanken, allgemeinen Lebenserfahrungen schiessen überall an die einzelnen Glieder des jeweiligen Gedankenganges an und verhindern den raschen, zielbewussten Fortgang, da sie nicht unterdrückt werden können, sondern erst erledigt werden müssen.

Grosse Ähnlichkeit mit dieser Störung, die natürlich beim krankhaften Altersblödsinn am stärksten entwickelt zu sein pflegt, zeigt die Umständlichkeit der Epileptiker. Die Einengung des Gesichtskreises macht es solchen Kranken unmöglich, ein fernes Ziel als Richtpunkt dauernd klar im Auge zu behalten; nur an der Hand des Einzelnen und Nächstliegenden finden sie gleich- sam tastend ihren Weg. Darum müssen sie auch immer die gleichen Umwege an den gleichen Merkzeichen vorüber machen, wenn sie überhaupt ihr Ziel erreichen sollen. Ein Beispiel dafür gibt folgende Stelle aus einer sehr umfangreichen Lebens- beschreibung:

„Ehe man etwas glauben tut, was einem andere Leute erzählt haben, oder wa3 man in den Kalendern gelesen hat, man muss sich da erst fest überzeugen und selbst nachsehen, ehe man sagen kann und glauben, die Sache ist schön, oder die Sache ist nicht schön, erst untersuchen und selbst mit- machen und nachsehen, und dann, wenn der Mensch alles untersucht hat und selbst mitgemacht hat und alles nachgesehen, dann kann der Mensch erst sagen, die Sache ist schön, oder sie ist nicht schön, oder nicht gut; deshalb sage ich auch selbst, wenn man über eine Sache eine Auskunft geben oder etwas ganz genau feststellen will, oder der Wahrheit gemäss sprechen will, die Sache ist richtig oder die Sache ist nicht richtig, so muss ein jeder Mensch die Sache so untersuchen, wie er es vor dem dreieinigen Gott und vor seiner Majestät, dem Könige von Preussen, Wilhelm der Zweite, und Kaiser von Deutschland, zu verantworten gedenkt. Ich will nun wieder an der Erzählung, welche mir die Soldaten mitgeteilt haben, weiter schreiben.“

Kraepelin, Psychiatrie. I. 7. Aufl.

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Eine letzte grosse, eigenartige Gruppe von Störungen des Gedankenganges ist durch das Fehlen oder die ungenügende Aus- bildung der Zielvorstellungen gekennzeichnet. Die nächste Folge einer mangelhaften Beherrschung des Vorstellungsverlaufes durch bestimmte Gesichtspunkte ist naturgemäss ein häufiger, unver- mittelter Richtungswechsel. Die Anregung neuer Vorstellungen wird nicht mehr durch den vorhandenen Bewusstseinsinhalt, son- dern durch das launenhafte Spiel des Zufalls bestimmt. Der Gedankengang verliert seine Einheitlichkeit; er steuert nicht plan- mässig einem bestimmten Ziele zu, sondern gerät immerfort in neue Bahnen, die ebenso schnell wieder verlassen werden. Den Anstoss zu solchem Richtungswechsel können äussere und innere Vorgänge geben. Jeder beliebige Eindruck genügt, um den ^ or- stellungsverlauf zur Entgleisung zu bringen; es besteht eben wegen des Mangels an Leitvorstellungen eine ausserordentliche Ablenkbarkeit des Gedankenganges.

Unter den klinischen Gestaltungen der hier besprochenen Störung sind wir vielleicht imstande, zwei Hauptformen von wesentlich verschiedener Bedeutung auseinander zu halten. Bei der ersten derselben sind wohl Zielvorstellungen vorhanden, aber sie sind ausserordentlich flüchtig und lösen einander sehr rasch ab. Die unmittelbar aufeinanderfolgenden Glieder des Gedanken- ganges stehen daher regelmässig noch in einer gewissen, wenn auch nicht immer klar erkennbaren Verbindung, während aller- dings der Gesamtverlauf infolge äusserer und innerer Anstösse die verschiedensten und überraschendsten Richtungsänderungen darbieten kann. Wegen der grossen Flüchtigkeit der angeregten Vorstellungen gelingt es meist nur, auf einfachere Fragen kurze Antwort zu erhalten, auch wenn die Auffassung an sich nicht so sehr gestört ist. Verlangt man die Leistung schwierigerer Denk- arbeit, so ist es in der Regel unmöglich, den Kranken genügend lange bei der Aufgabe zu „fixieren“, da die angeregten ^ orstel- lungen sofort wieder von anderen in den Hintergrund gedrängt werden. Es sei uns gestattet, diese Form der krankhaften Zu- sammenhangslosigkeit des Gedankenganges, dieses planlose Um- herschweifen des Vorstellungsverlaufes „vom hundertsten ins tausendste“ mit dem besonderen Namen der Ideenflucht*)

*) Aschaffenburg, Psychol. Arbeiten, IV, 235.

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zu belegen, der allerdings meist in weiterem Sinne gebraucht wird.

Die Gründe für diese Einengung liegen in der eigenartigen klinischen Bedeutung dieses Krankheitszeichens. Dasselbe ist ein Grundzug der Manie, findet sich allerdings ausserdem auch bei manchen anderen Erregungszuständen, namentlich in der Paralyse. Vielleicht können wir Andeutungen eines Versagens der Zielvorstellungen schon im gesunden Leben auffinden, wenn wir im süssen Nichtstun unseren Gedanken freien Lauf lassen, die Fessel lösen, welche sie beim „Nachdenken“ in bestimmte Bahnen zwingt. Noch deutlicher wird die Erscheinung im wirk- lichen Traume. Hier empfinden wir ja gerade die Unmöglich- keit äusserst peinlich, einen Gedanken weiter zu verfolgen, eine auftauchende Vorstellungsreihe festzuhalten. Daher die vielen überraschenden Wendungen in den Traumbildern, die sprunghaften, unvermittelten Änderungen des ganzen Bewusstseinsinhaltes. Viel- leicht trägt auch diese Eigentümlichkeit unseres Traumbewusst- seins mit dazu bei, den wechselnden Bildern das Gepräge wirk- licher Erlebnisse zu geben; sie sind unabhängiger von unserem Gedankengange, als es sonst die Schöpfungen unserer Einbil- dungskraft sein könnten.

Es kann zweifelhaft erscheinen, ob diese Erfahrungen wirk- lich der Ideenflucht verwandt sind. Dagegen dürften wir in der Ermüdung nicht selten wirklich leichte Grade jener Störung vor uns haben. Auch hier verlieren wir bis zu einem gewissen Grade die Herrschaft über unseren Gedankengang. Wir vermögen das Ziel nicht mehr fest im Auge zu behalten und ertappen uns immer häufiger auf Abschweifungen nach den verschiedensten Kichtungen hin, von denen wir uns erst zwingen müssen, zu unserem Ausgangspunkte zurückzukehren. Schliesslich sind wir ganz ausser stände, länger bei dem gleichen Gegenstände zu bleiben; gleichzeitig geht das zusammenhängende Verständnis für unsere Aufgabe mehr und mehr verloren. Ein ganz ähnlicher Vorgang vollzieht sich unter dem Einflüsse des Alkohols. Die ziellosen Faseleien Betrunkener sind ja zur genüge bekannt. Der Berauschte vermag nicht, einer Auseinandersetzung zu folgen, und er bleibt auch in seinem Denken und Reden keinen Augenblick bei der Stange, sondern verliert immer von neuem den

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Faden, selbst wenn man ihn durch wiederholte Hinlenkung auf den Ausgangspunkt im Zusammenhänge zu erhalten sucht.

Mit der Bezeichnung Ideenflucht verknüpft sich gewöhnlich die Vorstellung einer beschleunigten Aufeinanderfolge der ein- zelnen Gedanken. Man hat geradezu von einer Überstürzung der Vorstellungsbildung, von einer so massenhaften Erzeugung neuer Vorstellungen gesprochen, dass die Zusammenhangslosigkeit lediglich durch das Ausfallen zahlreicher Zwischenglieder bedingt sein soll, die nicht schnell genug ausgesprochen werden können. Diese Auffassung erweist sich bei genauerer Prüfung als völlig unhaltbar. Zunächst ist der Vorstellungsreichtum des Ideen- flüchtigen nichts weniger, als gross, sondern wir begegnen jener Störung sogar häufig genug bei ganz auffallender Gedanken- armut. Sodann aber ist die Geschwindigkeit der Vorstellungs- verbindungen niemals beschleunigt, meist im Gegenteil deutlich verlangsamt. Die Zusammenhangslosigkeit der Kranken beruht also einfach auf dem Mangel jener einheitlichen Beherrschung der Gedankenverbindungen, die alle Nebenvorstellungen unter- drückt und den Fortschritt nur in bestimmter Richtung zulässt. Infolgedessen können sich hier alle möglichen zufällig aufschies- senden Vorstellungen Geltung verschaffen, die im gesunden Be- wusstsein durch die Macht der Zielvorstellungen gehemmt sein würden. Nicht die rasche Aufeinanderfolge der A orstellungen ist es demnach, welche die Bezeichnung Ideenflucht rechtfertigt, sondern die Flüchtigkeit der einzelnen Ideen, die keinen nach- haltigeren Einfluss auf den Ablauf des Gedankenganges zu ge- winnen vermögen.

Die Richtung des Gedankenganges bei der Ideenflucht wird im einzelnen durch äussere Eindrücke, ferner durch auftauchende Vorstellungen, endlich aber, wo derartige Durchbrechungen fehlen, durch die associativen Beziehungen der aufeinanderfolgen- den Glieder bestimmt. Da keine dauernden Zielvorstellungen die Verknüpfung nach innerem Plane regeln, so können die ver- schiedensten Bestandteile der Vorstellungen ihren Einfluss auf die Anregung neuer Bewusstseinsvorgänge geltend machen. So kennen wir Zustände, in denen die Ideenverbindung ganz vorzugs- weise durch einzelne sinnliche Erinnerungsbilder vermittelt zu werden scheint, im Traume, in gewissen Vergiftungsdelirien,

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namentlich im Opiumräusche. Lebhafte Einbildungsvorstellungen schliessen sich hier in bunter Folge aneinander, entwickeln sich auseinander, losgelöst von dem festgefügten Gerüste der ab- strakten Vorstellungen. Infolgedessen entsteht eine lockere Reihe reiner Hirngespinste ohne inneren Zusammenhang und ohne Klärung durch die allgemeineren Lebenserfahrungen, deren schär- feres Hervortreten in unserem Bewusstsein sofort die zahlreichen Widersprüche und die innere Unwahrheit der abenteuerlichen Erlebnisse deutlich erkennen lassen würde.

Dieser deliriösen Form der Ideenflucht steht die hypo- manische Weitschweifigkeit nahe, bei der die Kianken sich überall durch Nebenvorstellungen, Erinnerungen, Einfälle ablenken lassen, jeder Versuchung zu Zwischenbemerkungen, Ein- schiebungen und Ausschmückungen unterliegen, immeifoit auf Abwege geraten und nur durch unausgesetzte Einwirkungen zu ihrem Gegenstände zurückgeführt werden können. Ein Beispiel dafür gibt folgendes Bruchstück einer Antwort auf die Frage: „Sind Sie krank?“

„in M. hat meine Mutter noch einen Bruder, ein reicher, an- gesehener Mann; er hat jetzt seine zweite Frau, ja, ich bin nicht so wie Sie meinen; meine Geschwister haben mich um meine Sache immer gebracht, ich bin verkürzt; den Mann, den ich habe, haben sie nicht gemocht; ich bin die älteste, aber auch die kleinste. Von zwölf Jahren an habe ich viel schaffen müssen bis 48; ich habe es am härtesten gehabt. Mein Mann lässt mich nach Mariä Einsiedeln wallen, ein rechter Dummer! Wenn ich gewusst hätt\ ich käm da herein, nicht für 2000 Mark war’ ich da herein; nach Mariä, Einsiedeln hab’ ich gewollt; darum ist hier so ein Altar erschienen; ich hab’ Äpfel und Birnen haben wollen vom Paradies; der Dr. K. hat von dem Kuchen gegessen und süssen Wein getrunken. Ich habe schwarze Trauben, die sind auf geplatzt und heruntergefallen; jetzt hab’ ich sie ausgedrückt in einem sauberen Tuch und in einen irdenen Krug hinein; jetzt hat es süssen Most gegeben. Es ist Samstag gewesen; auf den Sonntag muss man doch Kuchen haben; früh hab’ ich Teig gemacht, das hat unser Bäcker S. in K. ge- backen und hat nichts zu backen gekostet, denn ich hol’ als meine Weck beim Bäcker. Da hat der Dr. K. gesagt, seine Frau könnt’ nicht so backen; er hätte so ein Luder“ u. s. f.

Bisweilen macht sich in den Abschweifungen deutlich der Einfluss gewisser Gedankenrichtungen geltend, die zufällig an- geregt werden, aber nicht auf eine Zielvorstellung lossteuern. Es kommt dann zur Aufzählung verwandter Vorstellungsreihen, die erst durch irgend eine Nebenassociation wieder unterbiochen

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

wird. Aschaffenburg hat dafür sehr merkwürdige Bei- spiele eines manischen Kranken angeführt, der einmal bei der Aufzählung seiner Bekannten 589 Namen hintereinander nieder- schrieb. Ein anderes Mal lieferte er 49 Ortsnamen, unter denen sich die folgende Gruppe befand:

Coburg-Go tha-Eisenach-Gastein-Ems-Mainz~Mayence-Mayonnaise-H ummer-Stock- fisch-Enterich-Pfau-Truthahn-Erfurt-Apolda-

Man erkennt hier deutlich die planlose Aneinanderreihung der Städtenamen, die Unterbrechung der Reihe durch eine Klangver- wandtschaft, das Entstehen einer neuen Aufzählung ganz anderen Inhaltes und die unvermittelte Rückkehr zu der ersten Reihe. Das verknüpfende Band ist hier in der Hauptsache noch der Inhalt der Vorstellungen, anscheinend deswegen, weil bei den schriftlichen Aufzeichnungen der Klang gar keine Rolle spielen konnte. Immerhin ist ein gewisser Einfluss der sprachlichen Übung „Coburg-Gotha“ und des Gleichklanges „Mayence- Mayonnaise“ angedeutet. Je stärker aber der Einfluss der motorischen Sprachvorstellungen und der Sprachlaute für den Gedankengang anwächst, beim Sprechen und Hören, desto mehr kommt es an Stelle des inhaltlichen Zusammenhanges zu einer Häufung sprachlich eingeübter Associationen, gewohnheits- mässiger Wortverbindungen, endlich zur Verknüpfung der Vor- stellungen nach reiner Klangähnlichkeit. Diese Störung ist es, die man auch wohl im engeren Sinne als Ideenflucht bezeichnet; vielleicht könnte man sie der durch inhaltliche Bestandteile der Vorstellungen vermittelten „inneren“ Ideenflucht als „äussere“ gegenüberstellen.

Die Bedingungen für ihr Zustandekommen sind überall ge- geben, wo wir es mit einer Steigerungder motorischen Erregbarkeit zu tun haben. Gerade diese Form der Ideen- flucht ist es, die sich unter dem Einflüsse von körperlichen An- strengungen, Nachtwachen und Hungern sowie im Alkohol- rausche einzustellen pflegt. Daher beobachten wir hier be- sonders das Einlenken des Gedankenganges in die Bahnen ein- geübter Wendungen und stehender Redensarten, in denen der Einfluss der Sprachvorstellungen deutlich genug über denjenigen des Gedankeninhaltes überwiegt. In Krankheitszuständen kann der Redeschwall den Gedankengang gewissermassen vollständig

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mit sich fortreissen. „Der Nagel an der Wand,“ begann eine solche Kranke, auf einen Nagel zeigend, fuhr aber sodann fort: „hört seine eigene Schand.“ Gleichklänge, Anklänge, Reime, Citate überwuchern hier schliesslich mehr und mehr alle anders- artigen Bindeglieder zwischen den einzelnen Vorstellungen. Ein Beispiel für diese völlige Auflösung des inhaltlichen Zusammen- hanges bietet die folgende, bei einem manischen Kranken ge- wonnene Nachschrift:

Flut-Maul-Mammut-schwarzweiss-slip-abgehaut den Kopf-schmpp, schnapp schnipp, schnapp, schnurr-Orsowa und Gradisca-Pump-Devrient-Kersowa-Kousso- Odessa-Carmen-Grossmann-Ernestin-zick, zack, zuck-Decluse-Levit-Trier-Treviran

Tribites-Trevianda-Demimonde-Mandeck-Hirschdreck-Jod-Wasser-Apolhnans-Edm-

burg - Gries- Aumüller- Abel - Babel-Babylon-Schlauch-Mauer - Respirator-Barenfemd-

Schuwaloff-Rechberg-Cicero-Manuta-Mantua-Kalakaua-Sendelbachergasse-Nauplia

nobel-Adria-Licht-nach Belt-Grindach-Tegernbach-hintennaus-Sedelmayer-Meer-Au-

Ringseis-linksum-horch, der Lump hat seine Mutter umgebracht-schwarz werden- ja sehr schön-Kakao-Mumps-Kaiser und Eeich-Zoroaster-Hansa-38 Kopf-Nicaea-

Constanz-Verbrennung-Huss-Schwager-Dreck-Theriak-pereatmundus-ans-Hansa etc.

An einigen Stellen (Wasser-Apollinaris, Nicaea-Constanz-Ver- brennung-Huss) erkennt man noch eine innere Beziehung der auftauchenden Vorstellungen. Meist aber spielen Anklänge die Vermittlerrolle, so weit überhaupt noch eine Verbindung ersicht- lich ist. Da die Reihe in ziemlich langsamem Zeitmasse vor- gebracht wurde, kann natürlich auch manches Bindeglied un- ausgesprochen geblieben sein.

Der eigentlichen Ideenflucht möchten wir hier als zweite Form einer Lockerung des Gedankenganges die Zerfahren- heit gegenüberstellen, wie sie der Dementia praecox im wei- testen Sinne eigentümlich ist. Da wir von den tieferen Grund- lagen dieser Störung noch nichts wissen, so ist es recht schwierig, ihr Wesen genauer zu kennzeichnen. Wir haben es hier bei leidlich erhaltener äusserer Form der Rede mit einem mehi odei weniger vollständigen Verluste des inneren und äusseren Zusam- menhanges der Vorstellungsreihen zu tun. Der Gedankengang zeigt durchaus keinen Ariadnefaden, wie bei der inneren Ideen- flucht, sondern die verschiedensten Vorstellungen reihen sich völlig ziellos und unvermittelt aneinander an. Dort waren wir imstande, zwischen den einzelnen Gliedern der V orstellungsi eihe einen Zusammenhang, wenn auch oft nur sehr äusserlicher Art,

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

aufzufinden, durch den wir allmählich auf immer andere Gedanken- ketten hinübergeleitet werden, bis wir unseren Ausgangspunkt völlig ausser Augen verloren haben. Hier dagegen sind fast nirgends Bindeglieder zwischen den aufeinanderfolgenden Vorstel- lungen erkennbar, so häufig sich auch die Gedankengänge längere Zeit hindurch in ähnlichen Wendungen bewegen, freilich meist in ganz unklaren und widerspruchsvollen Formen. Während der Vor- stellungsverlauf bei der Ideenflucht immerfort wechselnden und daher nie erreichten Zielen zustrebt und stets neue Kreise zieht, findet hier ein Fortschreiten des Gedankenganges nach irgend einer Richtung überhaupt nicht statt, sondern nur ein planloses Herumfahren in denselben allgemeinen Bahnen mit zahlreichen, verblüffenden Entgleisungen. Die Ablenkbarkeit durch innere und äussere Einflüsse ist hier ebenfalls sehr gross, aber die neu erweckten Vorstellungen dienen nicht sofort als Anknüpfung für andere, sondern schieben sich einfach zusammenhangslos in die zerfahrenen Gedankengänge ein. Es gelingt oft ohne Schwierig- keit, durch Fragen mitten in dem Wirrwarr von \ or Stellungen eine Reihe vollständig geordneter Antworten zu erzielen. Die folgende Nachschrift von einer katatonischen Kranken mag dazu dienen, diese Eigentümlichkeiten näher zu erläutern; in Klammern sind die Fragen des Arztes eingefügt.

(Warum sind Sie hier?) „Weil ich Kaiserin bin. Die lieben Eltern waren schon da, und alles war schon da und hat mir die Erlaubnis gegeben; ich habe auch stenographieren gelernt. Na, David, wie geht’s denn? Ja, so, als Ersatzreservist. Grössenwahn. Kaiserin. (Gefällt es Jhnen gut?) 0, danke, ganz gut, weil die Herrschaft die Erlaubnis dazu gegeben hat, ja, wir wollen wieder die besten Freunde sein. Ach Gott, mein Bruder Karl David der erste und Olga von Mühlhausen. Ach, lasst mich doch auch einmal schreiben. (Warum sind Sie hier?) Irrsinnig, Grössenwahn. (Was?) Altes Fass, von Hei- delberg, Studiosus als Kaufmann, für unsern Willy, Kaufmann dürfe auch dazu. Ja so, weiter. Ich will ja nicht schuld sein; ich habe ja niemand dazu auf gef ordert; ach Gott, von damals abends, wie wir beisammen waren, ja. (Was war da?) Nichts, gar nichts. Heilbronn (lacht) gar nichts. Um Gottes willen, so genau wird das alles genommen. Ja, so. (Wie alt sind Sie?) 22. VII. 1872. (Wollen Sie wieder fort?) Ich weiss nicht; wenn er kommt, bin ich da; ich werd’ ihm doch nicht nachlaufen. (Lacht.) Ich muss immer knappen (klappt mit den Zähnen). Ihr dürft mich auch noch einmal über die Backen streichen; ich hab’ nichts dagegen. (Greift nach der Uhrkette.) Die Kette ist aber nichts. Jetzt will ich doch einmal nach der Uhr sehen. Ich will mir die Freiheit erlauben; unter Verwandten ist alles erlaubt. Adam

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und Eva, o, die ist aber nicht von Gold. Was ich gesagt habe, es wäre alles wahr, alles, was zur Verwandtschaft gehört; ich habe ja gesagt von a bis tz; ich kann doch nicht alles mit einmal essen; die war auch nicht schuld; ich will an allem schuld gewesen sein“ u. s. w.

Die Ablenkung durch Anreden, Klänge, Gesichtseindrücke lässt sich hier leicht verfolgen. Eine Wiederkehr einzelner Wen- dungen ist nur angedeutet; stärker tritt dieselbe schon in dem folgenden Beispiel hervor, das einer langen Nachschrift bei einem katatonischen Kranken entnommen ist.

„Gehen Sie weg, so kommt die Kaufmanns f r a u und sagt, sie ist reich und ich bin arm; da meint sie, ich wäre der Weinstock; da geht sie hin und betet an den Weinstock. Unter Beten verstehen die Katho- liken„oren“. Die Frau handelt aber nicht im Bewusstsein der tat- sächlich bewussten Handlung. Die haben das Walzertempo in sich; sie hören und hören nicht, weil alles durcheinander ist; der eine spricht französisch, der andere lateinisch. Ich werde in ganz Heidelberg als der grösste Sünder angesehen, bin aber nicht der, für den mich die katholische Kirche hält. Sie verehrt mich als zu ideell. Die Dame, die nach Amerika geflohen ist auf dem untergegangenen Schiff, hat das Eisen und den Farb- stoff genommen durch den Händedruck, aber nicht durch den blu- tigen Händedruck, durch das pulsierende Blut, sondern durch den eisernen Händedruck. Meine Kraft ist vom Eisen abhängig“ u. s. f.

In der ganzen, etwa achtmal so langen Unterredung kehrten in ähnlicher Weise ungezählte Male die Ausdrücke Eisen, Gold, Stahl, Messing, Phosphor, Silber, Geld, Elektrizität, Kraft, Thermometer, Handgelenk, Meeresgrün, Topfpflanze, Wurzel, Religion und einige andere wieder, aber nicht unmittelbar hinter- einander, sondern an ganz verschiedenen Stellen. Die langsam vorgebrachten Äusserungen schienen zunächst einen gewissen Sinn zu haben; erst bei genauerer Prüfung stellte sich die gänzliche Zerfahrenheit deutlich genug heraus.

Die Anknüpfung der Vorstellungen nach dem Klange macht sich hier weniger geltend, als bei der Ideenflucht. Nicht selten aber zeigt sich ein Einfluss des Sprachklanges auf den Gedanken- gang in der Form der „Wortspielerei“. Es handelt sich dabei um gewaltsam witzelnde Verdrehungen und Verzerrungen einzelner Wörter oder Redensarten. Diese Klangassociationen bilden jedoch hier nicht einfach die Überleitung von einer Vorstellung zur anderen, sondern sie sind gesuchte Abwandlungen der einfachen Redewendungen und demgemäss als ein Ausfluss jener Störung

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zu betrachten, die wir späterhin als Manieriertheit kennen lernen werden. So sang eine Kranke stundenlang: „Undank ist der Welt Lob“. Ein anderer sprach von „Fromage de Brüh“, als er Suppe und Käse erhalten hatte, verlangte Häringssalat gegen seine „Katertonie“, meinte, er leide nicht an Katatonie, sondern an Miezetonie, erwiderte, als von einem Douceur gesprochen wurde, es sei noch nicht zwölf Uhr (douze heures). Derselbe Kranke witzelte aber auch ohne Beziehung zum Mortklange. „Sie sind wohl Moltke; Sie sagen ja gar nichts“; „ich bin bald zweimal neun Monate hier; jetzt schicken Sie mich doch mal in die Frauenklinik, dass ich endlich niederkomme.“ Diese Reden erinnern an die bei Hirngeschwülsten beobachtete „Mitzelsucht . Andere Kranke gefallen sich in eigentümlich verblüffenden Vor- stellungsverbindungen. Eine meist ganz klare und besonnene Kranke äusserte: „Da oben haben Sie einen echten Hemden- knopf, der pflegt erst durch mich in Bereitschaft zu kommen. Der Feldwebelgeist liegt in dem Geschmeiss. Ist es nicht rund, auch in den Kastengeist zu drehen. Ich habe der sechsjährigen Ehepflicht genügt. Sie nehmen ja schon aus dem Mund die Kinder heraus.“

Auch bei der Zerfahrenheit können Klang und Rhythmus die Äusserungen der Kranken vollständig beherrschen; das ge- schieht bei wachsender Erregung. Allerdings trägt das Er- gebnis ein ganz anderes Gepräge, als in der Manie. Ein Beispiel gibt die folgende Reimerei:

„Lieber, lieber Retter mein rette doch nur Dich allein Liebste Lieb', wie kann ich sein allein was ich schein’ Lieber Hand ist doch nur Land Lieber Gott, ich wache bald wieder wenn Du nur gibst die Mutter wieder Lieber Gott, was will ich haben als nur die alte Gaben In Dir nur allein ist Mutter gänzlich ein lieber Gott, ich kann ja warten ich will ja nichts als Mutterle halten Liebe, Liebe, Liebe mein kann nimmer ein Gedanke sein Gedanken raten tu ich nicht Die Hand allein ist Pflichtespflicht*' u. s. f.

Schliesslich können sich die sprachlichen Äusserungen der Kranken in eine Reihe von Silben, Buchstaben oder Lauten auf- lösen. Während aber bei den schwersten Formen der Ideen- flucht die Kette der Gleichklänge einen fortschreitenden Wechsel erkennen lässt, während dort immer noch die Mehrzahl der vor- gebrachten Sprachgebilde wirkliche Wörter darstellen, kommt es hier zu einer völlig sinnlosen "Wiederholung derselben Bestand-

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teile mit ganz geringfügigen Abänderungen, zu „Klangspielereien nach Art des folgenden Beispiels:

„ellio, ellio, ellio altomellio, altomellio selo, elvo, delvo, helvo f, f, f, lieber Vater f , f , f lieber Vater e, e, f alte und neue f, f f, f, f katholische Kirche w, e, f katholische Kirche w, e, f,“ und so zahl- lose Male in eintöniger Wiederholung.

Der Gedankengang schreitet hier durch den Sprachklang nicht zu neuen Vorstellungen fort, sondern klebt an ihm fest, ohne jede begleitende Sachvorstellung. Kennzeichnend sind namentlich die sinnlosen Reime.

Die gemeinsame Folge aller Störungen, welche den inneren Zusammenhang der Vorstellungen lockern oder zerstören, ist das Auftreten eines sehr häufigen Krankheitszeichens, der Ver- wirrtheit. Die Entstehungsweise dieser Erscheinung ist, wie wir gezeigt haben, eine vielfach verschiedene. Wo die Lockerung des Gedankenzusammenhanges wesentlich durch Flüchtigkeit der Zielvorstellungen bedingt wird, da entsteht die ideenflüch- tige Verwirrtheit mit ihrer Neigung zu äusseren und vielfach zu sprachlichen Associationen. Unvermitteltes Auftauchen ganz verschiedenartiger Vorstellungen ohne Ordnung und Führung durch bestimmte Zielvorstellungen erzeugt die zerfahrene Verwirrtheit, die vielfach mit Andeutungen von Stereotypie und Wortspielereien einhergeht. Vielleicht können wir ferner eine traumhafte Verwirrtheit unterscheiden, wie sie den deliriösen Zuständen eigentümlich ist. Bei ihr dürfte neben der Auffassungs- störung und dem raschen Verblassen der Wahrnehmungen das starke Hervortreten einzelner rein sinnlicher Bestandteile, die nur teilweise Beleuchtung der Vorstellungen, eine gewisse Rolle spielen, insofern sie uns bunte, abenteuerliche Erlebnisse vor- spiegelt, ohne dass wir imstande wären, die inneren Widersprüche aufzufassen.

Überraschendes Auftauchen massenhafter, locker sich an- einander schliessender, neuer Gedankenreihen kann, wie es scheint, zu einer „kombinatorischen“ Verwirrtheit führen; uns schwindelt der Kopf, weil wir nicht imstande sind, die plötzlich aufschiessenden Vorstellungen zu ordnen und zu überblicken. Diese Form der Verwirrtheit findet sich in jenen Krankheitsformen, in deren weiterem Verlaufe die rasch entstandenen Einbildungen

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zu einem dauernden Wahngebäude verarbeitet werden, ähnlich, wie auch wir eine uns anfangs verwirrende neue Idee allmählich in unsere Gedankenkreise hineinarbeiten und dadurch die innere Einheit und den Zusammenhang derselben wiederherstellen. Ein solcher Kranker bezeichnete mir dieses verwirrende Anstürmen von Ahnungen und Vermutungen als eine wahre „Hunnenschlacht des Geistes“. Vielfach wird ferner das Auf tauchen massenhafter Sinnestäuschungen als Ursache einer hallucinatorischen Verwirrtheit betrachtet, ähnlich wie beim Gesunden die Orien- tierung verloren geht, wenn er sich plötzlich in ein unentwirr- bares Gemisch neuer, rätselhafter Sinneseindrücke versetzt sieht. Bei alten Hallucinanten sehen wir indessen, dass vollkommene Ordnung der Gedanken trotz zahlreicher Sinnestäuschungen be- stehen kann.

Auch die psychische Hemmung, welche das Verständnis und die geistige Verarbeitung äusserer Eindrücke erschwert, scheint eine eigenartige Form der Verwirrtheit erzeugen zu können, die wir wohl am besten als „stuporöse“ Verwirrtheit bezeichnen. Vielfach handelt es sich dabei allerdings ohne Zweifel um die Verbindung von Stupor mit Ideenflucht. Endlich spielen eine sehr wichtige Rolle bei der Entstehung der verschiedenen Formen der Verwirrtheit die Gemütsbewegungen. Den gewaltigen Einfluss derselben auf den klaren Zusammenhang der Gedanken lehrt uns schon die gesunde Erfahrung, von den leisesten Regungen der Ver- legenheit und Befangenheit an bis zu den mächtigen Gefühls- schwankungen der Angst, des Zornes und der Verzweiflung. In Krankheitszuständen mit ihren heftigen Erschütterungen des ge- mütlichen Gleichgewichtes ist dieser Einfluss natürlich noch un- vergleichlich viel mächtiger, so dass wir es wahrscheinlich sehr häufig mit Hemmungen und Störungen des Gedankenzusammen- hanges durch Gemütsbewegungen zu tun haben. Im einzelnen vermögen wir heute freilich das Wesen und Zustandekommen dieser Wirkungen noch nicht zu zergliedern.

Störungen der Einbildungskraft. Der Schatz unserer früher erworbenen Erfahrungen gewinnt erst dadurch seinen vollen Wert für uns, dass wir imstande sind, aus ihm willkürlich V orstellungen und Erinnerungen in den Blickpunkt des Bewusstseins zu heben und sie in die mannigfachste Verknüpfung zu bringen. Wir dürfen

Störungen der Einbildungskraft.

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diese Fähigkeit, die eine Reihe von Leistungen in sich schliesst, hier wohl vorläufig als Einbildungskraft kennzeichnen. Sie setzt natürlich auf der einen Seite erneuerungsfähige Spuren früherer Seelenvorgänge voraus; auf der anderen Seite aber ist sie es, die uns befähigt, aus den einfachen Erinnerungsresten neue psychische Gebilde zusammenzusetzen, uns über die Sinnes- erfahrung zu erheben und schöpferische Geistesarbeit zu leisten. So bildet die sinnliche Einbildungskraft die Grundlage des male- rischen oder musikalischen Schaffens, und auch die Entdecker- arbeit des Erfinders oder Forschers wie die Gedankengänge des Weltweisen nehmen ihren Ausgang von der willkürlichen Ver- bindung getrennt erworbener Erfahrungsbestandteile.

Die freie Verfügung über die schlummernden Vorstellungen wie ihre Verknüpfung kann in Krankheitszuständen sehr beträcht- lich erschwert sein. Vor allem ist das der Fall bei der geistigen Lähmung, wie sie sich in leichteren Graden schon bei der ein- fachen Ermüdung, sodann bei Vergiftung mit betäubenden und schlafmachenden Mitteln, namentlich aber bei den schweren Verblödungen der Paralyse, des Altersirreseins und anderer Hirn- erkrankungen entwickelt. Bei diesen letzteren Störungen ver- bindet sich das Versiegen der Einbildungskraft regelmässig mit einer Abnahme der Gedächtnisleistungen; die Vorstellungen stehen nicht nur nicht mehr zu Gebote, sondern sie gehen in weitem Umfange völlig verloren. Wo dieser Verlust weniger ausgedehnt ist, wie zumeist beim epileptischen Schwachsinn, entwickelt sich eine einfache „Schwerfälligkeit“. Die Kranken sind wohl noch imstande, über ihren Vorstellungsschatz zu verfügen, aber sie bedürfen dazu einer unverhältnismässig langen Zeit und leb- hafter Anregung.

Der Schwerfälligkeit äusserlich ähnlich ist die Denk- hemmung, der wir namentlich in den depressiven und gewissen Mischzuständen des manisch-depressiven Irreseins begegnen; viel- leicht ist auch die Denkstörung in manchen hysterischen und epileptischen Dämmerzuständen hierher zu rechnen. Während es sich bei der Schwerfälligkeit um eine dauernde Verlangsamung und Unbeholfenheit der geistigen Leistungen handelt, haben wir es bei der Denkhemmung mit einer vorübergehenden Erschwerung durch starke Widerstände zu tun. Sie ist regelmässig begleitet

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

von Änderungen des Stimmungshintergrundes, deren Bedeutung für die Tätigkeit der Einbildungskraft uns ja aus dem gesunden Leben geläufig ist. Die Verarbeitung äusserer Eindrücke ist erschwert, unter Umständen bis zur völligen Ratlosigkeit, weil der Widerhall rasch auf tauchender Erinnerungsbilder fehlt; die Kranken können sich auf nichts besinnen, finden nicht die An- knüpfung an frühere Erlebnisse, wissen bisweilen nicht mehr die Namen ihrer nächsten Angehörigen anzugeben. Ihnen fällt auch durchaus nichts ein; die Gedanken scheinen geradezu still zu stehen. Solche Kranke können den Eindruck ausgeprägtesten Blödsinns machen. Als Hemmung wird aber die Störung dadurch gekennzeichnet, dass unter gewissen Bedingungen alle diese schweren Störungen ziemlich plötzlich verschwinden können. Ausserdem wird von den Kranken selbst der Widerstand, mit dem sie zu kämpfen haben, deutlich empfunden. Es fehlt ihnen nicht an der geistigen Regsamkeit; sie sind nicht stumpf und gleich- gültig wie die verblödeten Kranken, aber sie vermögen trotz der grössten Anstrengungen nicht, die Gebundenheit und Un- freiheit ihres Denkens zu überwinden.

Ganz anders liegt die Sache bei der krankhaften „Inter- esselosigkei t“, wie sie jenen Krankheitsformen eigentüm- lich ist, die wir als Dementia praecox zusammenfassen. Hier ist die geistige Beweglichkeit an sich nicht wesentlich behindert; dagegen fehlt mehr oder weniger vollständig die Triebfeder der Gedankenarbeit. Auf bestimmte Anregungen hin vermögen die Kranken ohne Schwierigkeit beliebige Vorstellungen wachzu- rufen, aber sie werden nicht aus eigenem Antriebe zu geistiger Tätigkeit gedrängt, geben sich keine Rechenschaft über das, was mit ihnen geschieht, denken nicht nach, machen sich kein Bild von der Zukunft. Da auf diese Weise das geistige Leben mehr und mehr stockt und die Erneuerung alter Vorstellungen aus- bleibt, vollzieht sich allmählich auch eine Einschrumpfung des Erfahrungsschatzes, eine Art Verkümmerung durch Nicht- gebrauch. Man kann sich jedoch bei diesen Kranken, im Gegen- satz etwa zu den Paralytikern, nicht selten davon überzeugen, dass gelegentlich noch überraschend viel mehr Vorstellungen bei ihnen auftauchen, als man bei ihrer völligen Gedankenleere er- wartet hätte. Daraus geht hervor, dass es sich hier in erster

Störungen der Einbildungskraft.

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Linie um den Verlust der geistigen Regsamkeit gehandelt haben muss.

Krankhafte Erregungen der Einbildungskraft geben sich vor allem in besonderer Lebhaftigkeit der Einbildungsvorstellungen kund, die unter Umständen fast sinnliche Stärke gewinnen können. Wir sehen das vor allem in den verschiedenartigen deliranten Zuständen; damit verbindet sich dann regelmässig eine ausge- prägte Auffassungsstörung. Wenn man will, kann man auch gewisse Angstzustände bei Melancholischen, Cirkulären, Psycho- pathen hierher rechnen, in denen die Kranken sich ihie Be- fürchtungen mit peinlicher Deutlichkeit und Ausführlichkeit aus- malen. Es handelt sich hier offenbar um eine ganz ähnliche Er- regung der Einbildungskraft, wie wir sie bei den entsprechenden Gemütsbewegungen der Gesunden beobachten.

Zweifelhaft muss es bleiben, ob wir es auch in den mani- schen, paralytischen oder katatonischen Erregungszuständen mit einer Steigerung der Einbildungskraft zu tun haben. Am ehesten würde man vielleicht noch für die Manie eine solche Annahme machen können, doch ist der wirkliche Gedankenreichtum selbst hier schwerlich vermehrt, oft genug sogar geradezu herabgesetzt. Allerdings behaupten einzelne Kranke, dass ihnen so viele Ge- danken zuströmten, und auch in den cirkulären Depressionszustän- den hört man hier und da trotz ausgeprägter äusserer Hemmung derartige Angaben. Es sprechen jedoch manche Gründe .dafür, dass es sich dabei mehr um eine erhöhte Ablenkbarkeit und Flüchtigkeit der inneren Vorgänge, als um eine gesteigerte Er- zeugung von Vorstellungen handelt.

Dauerndes Überwuchern der Einbildungstätigkeit über die nüchterne Verarbeitung der Erfahrung findet sich bei einer grossen Gruppe von psychopathischen Persönlichkeiten. Dahin gehören zunächst die krankhaften Erfinder und Abenteurer, die bei der Verfolgung ausschweifender Pläne vollständig den sicheren Boden der Wirklichkeit verlieren und nur den Erfolg, aber nie die Schwierigkeiten und die Unzulänglichkeit ihrer Mittel vor Augen haben. Ihnen verwandt sind die Träumer, die sich ge- wohnheitsmässig in willkürlich erdachte Lebenslagen versenken und sie liebevoll mit feinsten Einzelheiten ausmalen. Endlich haben wir hier der krankhaften Lügner und Schwindler zu ge-

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denken, die in den wechselnden Gebilden ihrer geschäftigen Ein- bildungskraft höchste Befriedigung finden und dadurch zu immer neuen, kühnen Erfindungen und Ausschmückungen getrieben wer- den, so dass ein unentwirrbares Gemisch von Wahrheit und Dich- tung entsteht*).

Grosse Lebhaftigkeit der Einbildungsvorstellungen geht in der Regel mit erhöhter Beeinflussbarkeit der Gedankenwelt durch äussere und innere Ursachen einher, da sie der Ausdruck einer gesteigerten Beweglichkeit der psychischen Gebilde überhaupt zu sein pflegt. In der Gesundheitsbreite zeigt sich das beim kindlichen und beim weiblichen Seelenleben. Krankhafte Sugge- stibilität und Autosuggestibilität ist die Begleiterscheinung vieler psychopathischer Zustände, namentlich der hysterischen Veran- lagung. Sie äussert sich hier nicht nur in der Zugänglichkeit des Denkens und Empfindens für lebhafte Eindrücke und Einreden, in der Herrschaft unvermittelt auftauchender Einbildungen, son- dern namentlich auch in dem Auftreten von allerlei körperlichen Folgeerscheinungen, die durch Vermittlung von Gemütsbewe- gungen ausgelöst werden.

Störungen des Urteils und der Schlussbildung. Die höchsten und verwickeltsten Leistungen auf dem Gebiete des Verstandes sind Urteil und Schluss. Da sie sich aufbauen auf der Vorarbeit der Wahrnehmung, des Gedächtnisses, der Bildung und Verbindung von Vorstellungen, so ist es natürlich, dass alle Beeinträchtigungen irgend eines dieser Vorgänge regelmässig in mehr oder weniger nachhaltiger Weise das in Urteil und Schluss sich darstellende Endergebnis der geistigen Arbeit in Mitleidenschaft ziehen müssen. Abgesehen davon kann jedoch die verstandesmässige Verar- beitung der Vorstellungen selbst gewissen krankhaften Stö- rungen unterliegen, welche für das ganze geistige Leben in der Regel äusserst verhängnisvoll werden.

Zwei Wege sind es vornehmlich, auf denen menschliche Er- kenntnis zu stände kommt, durch unmittelbare Angliederung der Erfahrung und durch freie, selbständige Erfindung. Freilich laufen diese beiden Wege vielfach nebeneinander her. Auch die strengste

*) Delbrück, Die pathologische Lüge und die psychisch-abnormen Schwindler. 1891.

Störungen des Urteils und der Schlussbildung.

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Erfahrungswissenschaft vermag sich von der Beeinflussung durch bestehende Anschauungen und Erwartungen nicht völlig frei zu halten, und andererseits arbeitet die Einbildung auch in ihren unabhängigsten Schöpfungen immer mit Einzelheiten, die ur- sprünglich der Erfahrung entstammen. Indessen zeigt uns die Geschichte der "V erstandesentwicklung beim Einzelnen wie bei der Menschheit, dass mit zunehmender Reife immer schärfer die- jenigen Erkenntnisse, die ein getreues Abbild der Welt liefern, sich abscheiden von jenen, die aus der freien Umgestaltung der Erfahrung hervorgegangen sind. Die ersteren bilden den Inhalt unseres Wissens, die letzteren denjenigen unseres Glaubens, soweit sie überall noch als Spiegel der Wirklichkeit betrachtet werden. Wie uns die Völkerpsychologie lehrt, erscheinen ur- sprünglich die beiden verschiedenen Erkenntnisquellen wesent- lich gleichwertig. Naturvölker halten ihre frei erfundenen und ausgeschmückten Überlieferungen für ebenso buchstäblich wahr und glaubhaft wie die Erfahrungen ihrer Sinne. Auch bei Kindern können wir bisweilen die unvollkommene Trennung zwischen Er- lebtem und Erdichtetem noch deutlich beobachten. Späterhin jedoch vollzieht sich mehr und mehr die oben angedeutete Schei- dung, namentlich auf jenen Gebieten, auf denen eine stete und zuverlässige Berichtigung der Erkenntnis durch immer neue Er- fahrung möglich ist. Auch hier können allerdings Abweichungen zwischen Wirklichkeit und Anschauung entstehen, die auf den natürlichen Unvollkommenheiten unserer Auffassung und unserer Denkgewohnheiten oder auf zufälligen Fehlervorgängen beruhen. V ir nennen sie I r r t ü m e r. Sie werden bekämpft mit den Waffen der Erfahrung und der verstandesmässigen Überlegung. Ihre Herrschaft beruht auf der Beweiskraft der fehlerhaften Wahrnehmungen oder Gedankengänge; ist diese Beweiskraft er- schüttert, sind die zu Grunde liegenden Fehlervorgänge aufge- deckt, so fällt damit der Irrtum von selbst.

Dagegen bleibt das übergrosse Gebiet unserer Erkenntnis, auf dem die Erfahrung uns keine oder nur unsichere und strittige Ergebnisse zu liefern vermag, dem Glauben Vorbehalten, der das- selbe mit seinen Schöpfungen ausfüllt. Die ganze Belebung und \7ermenschlichung der äusseren Natur ist nur sehr langsam der nüchternen Auflösung in Erfahrungswissenschaft gewichen; sie

KraepeUn, Psychiatrie 1. 7. Aufl.

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lebt bei Naturvölkern, beim Kinde, ja auch in dem mancherlei Aberglauben des naiven Volkes noch heute fort. Allein während ein Teil dieses Glaubens nur die Vorstufe des Wissens bildet und freudig für die Sicherheit der Erfahrung hingegeben wird, bewähren andere Glaubensgrundsätze eine Macht, die durch kein Wissen, keine von aussen herantretende Beweisführung erschüt- tert werden kann. Es sind das jene Wahrheiten, die uns „ans Herz gewachsen“ sind, die wir „mit der Muttermilch eingesogen“ haben. Hier handelt es sich um Erkenntnisse, deren Einfluss auf unser Denken nicht in ihrer besonders einleuchtenden Begrün- dung durch die Erfahrung, sondern wesentlich in ihren tief- greifenden Gefühlsbeziehungen zu unserer gesamten Per- sönlichkeit liegt. Bis zu einem gewissen Grade ist das wohl mit jeder von uns oft verfochtenen und darum liebgewonnenen Lehrmeinung der Fall, aber es sind doch bestimmte Gebiete, auf denen die durch Überlieferung, Erziehung und Gewöhnung fest- gewurzelten Anschauungen einen besonders hohen Gefühlswert und damit eine hervorragende Widerstandsfähigkeit gegen die Einflüsse der Erfahrung erlangen. Leichter wird die Erfahrung durch sie gefärbt, als sie selbst durch jene umgewandelt werden; sie gewinnen dadurch vielfach die Eigenschaft von „V orurteilen".

Gemeinsam ist allen diesen im Gemüte wurzelnden Überzeu- gungen die nahe Beziehung zu den allgemeinen Lebens- interessen. Den Naturmenschen treibt das Gefühl der steten Abhängigkeit im guten und bösen Sinne von den Kräften und Mächten ringsherum zur freien Ausmalung seiner Beziehungen zu Sonne, Blitz und Donner, zu Erde und Meer, zu Tier und Pflanze; den Nährboden des Aberglaubens bildet die Unsicherheit und Un- freiheit gegenüber dem Verborgenen, Unerklärlichen und Ge- heimnisvollen, mag es Gefahren drohen oder Glück verheissen. Deutlich erkennen wir hier überall in der strengen Scheidung zwischen gut und böse, feindlich und freundlich die massgebende Rolle der Gefühle bei der Erfindung. Gerade daraus erklärt sich die ausserordentliche Zähigkeit dieser durch ungezählte Ge- schlechter sich fortpflanzenden Überlieferungen, die trotz ihrer Unsinnigkeit oft augenscheinlich im Herzen des Volkes noch immer ihre uralte Glaubwürdigkeit bewahren.

Das Hilfsmittel, das dem Naturmenschen wie dem Kinde zu

Störungen des Urteils und der Schlussbildung.

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einer Erklärung der Aussenwelt verhüllt, ist der willkürliche Ana- logieschluss. Die auf diese Weise gewonnene Erkenntnis besitzt, wie Friedmann*) überzeugend nachgewiesen hat, von vorn- herein den gleichen, ja einen weit höheren Grad von Gewissheit für uns, als die mit allen Hilfsmitteln der Wissenschaft ge- prüfte Erfahrung. Ein beliebiger Einfall, eine entfernte oder ganz äusserliche Beziehung wird ohne weiteres als Ausdruck der Wirklichkeit hingenommen und trotz der gröbsten inneren Wider- sprüche festgehalten. Mit dem Haarbüschel eines klugen Mannes erlangt man auch seinen Verstand; den Feind tötet man durch Vernichtung seines Bildes; Krankheit und Tod entstehen und schwinden durch Zauber; der allwissende und allmächtige Fe- tisch wird versteckt, um nicht Zeuge einer verbotenen Handlung zu sein. Das ursprüngliche Denken wird somit nur durch Furcht und Hoffnung, Wunsch und Erwartung geleitet; es kennt nicht die Triebfeder aller höheren geistigen Entwicklung, den Zweifel. Wie wir heute den durch Sachkenntnis nicht beirrten Laien zuversichtlich, aber falsch, über die schwierigsten Fragen urteilen sehen, so begleitet auch die Meinungen der Naturvölker das unmittelbare Gefühl der Sicherheit. An Stelle dieser naiven Gewissheit des Glaubens tritt erst nach einem langen, dornen- vollen Erkenntniswege diejenige des Wissens, die freilich kaum jemals ihren unzertrennlichen Begleiter, den Zweifel, gänzlich überwindet.

Auch bei uns fliesst die Quelle der unmittelbar fest- stehenden, nicht aus Verstandesarbeit hervorgegangenen An- schauungen noch reichlich genug. Aus ihr entspringt vor allem der Aberglaube, dessen Verwandtschaft mit den Einbildungen der Naturvölker keines Beweises bedarf. Weiterhin aber gehören hierher beim entwickelten und geschulten Menschen die poli- tischen und religiösen Überzeugungen, deren wesentlichste Grund- lage auch überall der Glaube ist, mag im einzelnen auch die verstandesmässig verarbeitete Erfahrung den Inhalt vielfach be- einflusst haben. Es sind die gemütlichen Bedürfnisse, welche die Stellung des Menschen zu höheren Mächten und zur Gesell- schaft bestimmen. Daraus erklärt sich die geringe Zugänglich-

*) Friedmann, Über den Wahn. 1894; Monatsschr. f. Psych., I, 455.

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

keit jener Überzeugungen gegenüber Einwänden und Beweis- gründen, die Leidenschaftlichkeit, mit der sie verfochten zu werden pflegen, und ihre gleichartige Färbung in bestimmten Ländern, Gegenden und Ständen, wie wir sie bei rein verstandes- mässigen Überzeugungen schwerlich wiederfinden.

Diese Ausführungen sind vielleicht geeignet, uns bis zu einem gewissen Grade ein Verständnis für jenen äusserst merk- würdigen und wichtigen Krankheitsvorgang zu eröffnen, den wir als Wahnbildung bezeichnen. Wahnideen sind krankhaft ver- fälschte Vorstellungen, die der Berichtigung durch Beweisgründe nicht zugänglich sind. Gerade diese Eigentümlichkeit weist uns darauf hin, dass Wahnideen nicht aus Erfahrung oder Überlegung, sondern aus dem Glauben entspringen. Allerdings knüpfen sie sich nicht selten an wirkliche Wahrnehmungen oder Sinnes- täuschungen an. Im letzteren Falle ist ihr Ursprung aus den inneren Zuständen trotz der V erlegung der Täuschung nach aussen augenscheinlich genug. Aber auch dann, wenn der V ahnvor- stellung ein natürlicher Sinneseindruck zu Grunde liegt, ist ihre eigentliche Quelle immer die aus der eigenen Einbildung hervor- gehende krankhafte Deutung. Auch im gesunden Leben tritt vielfach die Versuchung an uns heran, an geringfügige und viel- deutige tatsächliche Anhaltspunkte zu weitgehende Wahrschein- lichkeitsschlüsse zu knüpfen oder ohne zureichenden Grund ur- sächliche Beziehungen zwischen zufällig zusammenfallenden Er- eignissen zu vermuten. Unter krankhaften V erhältnissen aber kann sich mit unwiderstehlicher Gewalt die Überzeugung von Beziehungen der Dinge hervordrängen, wo die Vorstellungen in Beziehung getreten sind, die Vermutung eines sachlichen Zu- sammenhanges der Erscheinungen auf Grund des leicht geschürz- ten psychologischen Bandes. Der harmloseste äussere V or- gang kann zum tiefsinnigen Wahrzeichea verborgener Ereignisse werden; in die nüchternsten Tatsachen wird ein versteckter und entlegener Sinn hineingeheimnisst. Der Flug eines A ogels ist ein verheissungsvoller Wink für die Zukunft; eine zufällig be- obachtete Gebärde kündet drohende Gefahr; der Fund einiger Kastanien bedeutet die Zusicherung künftiger Weltherrschaft.

Der Ursprung der Wahnbildung aus inneren Zuständen zeigt sich auch in dem Umstande, dass sie regelmässig in nahem Zu-

Störungen des Urteils und der Schlussbildung.

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sammenhange mit dem eigenen Ich des Kranken steht. Die Vorstellungsgruppe der eigenen Persönlichkeit, das Selbst- bewusstsein, bildet schon unter gewöhnlichen Verhältnissen den Mittelpunkt unseres Denkens und Fuhlens; darum knüpfen sich die wahnhaften Einbildungen gerade an diesen Kern an und setzen das Netz geheimnisvoller Zusammenhänge und willkürlicher Be- ziehungen in unmittelbare Verbindung mit dem eigenen Wohl und Wehe. Die Entstehung von Wahnideen ist daher stets von mehr oder weniger lebhaften Gefühlen begleitet, die erst mit der Verblödung der Kranken allmählich in den Hintergrund treten. Es giebt keine Wahnvorstellungen, welche dem Kranken von vornherein gleichgültig wären, sondern sie sind, zunächst wenig- stens, immer auf das engste verknüpft mit der eigenen Peison, mit seiner Stimmung und mit seiner Stellung zur Umgebung.

Aus diesen Entstehungsbedingungen der Wahnidee wird uns auch ihre wichtigste Eigenschaft einigermassen erklärlich, ihre Widerstandsfähigkeit gegen alle, auch die schlagendste^ Beweisgründe. Da sie nicht in der Erfahrung wurzelt, kann sie durch Erfahrungen erst dann erschüttert werden, wenn sie gar kein Wahn mehr ist, sondern nur noch die Erinnerung, die Nach- wirkung eines solchen, in der Genesungszeit. Auf der Höhe dei Krankheit ist die Wahnidee durch Einflüsse gestützt, die mäch- tiger sind, als alles verstandesmässige Wissen. „Ich will’s schon nicht mehr meinen,“ sagte mir eine Kranke, die darüber jammerte, dass ihr Mann und ihre Kinder ins Wasser geworfen worden seien, „aber es kommt mir immer auf einmal wieder in den Kopf“.

Wir sehen daher, dass der Wahn regelmässig trotz der nächst- liegenden und anscheinend unausweichlichsten Einwände unbeirrt festgehalten wird, so lange seine inneren Entstehungsursachen wirksam sind. Wird er auf gegeben oder durch einen anderen er- setzt, so bringt das nicht unsere Überredung oder das Gewicht der Tatsachen zu stände, sondern ein Wechsel des psychischen Zustandes. Treiben wir den Kranken in die Enge, so erreichen wir freilich mitunter vorübergehend oder in nebensächlichen Punkten einige Zugeständnisse, aber die Ausser lichkeit einer solchen Bekehrung zeigt sich regelmässig darin, dass sich das Wahnbedürfnis sehr rasch wieder Luft macht, bald in den alten, bald in neuen Formen. Selbst in jenen Fällen, in denen die

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

Kranken ihre Wahnideen mit wirklichen Wahrnehmungen in Ver- bindung bringen, bestehen die krankhaften Schöpfungen unver- ändert fort, auch wenn ihre Erfahrungsstützen nachträglich zu- sammenbrechen. Überzeugt man den Kranken, dass seine Wahr- nehmungen falsch waren, was bisweilen möglich ist, so hat er sofort andere Begründungen bei der Hand, und sei es auch nur die einfache Behauptung, dass er eben seiner Sache gewiss sei. „Da drin spür’ ich’s eben, dass es so ist,“ sagte mir, auf sein Herz deutend, ein Kranker, der im Gesangbuche sein ganzes Schicksal geweissagt fand, und auf den Einwand, dass ich mir das ja ebenso gut einbilden könne, erwiderte er: „Sie spüren’ s aber nicht!“

Durch alle diese Betrachtungen werden wir zu der An- schauung geführt, dass die Wahnbildung in erster Linie durch, das Auftauchen lebhafter Gefühlsregungen begünstigt wird. In der Tat wissen wir, dass schon im gesunden Leben Gefühle die gefährlichsten Hindernisse sachlicher Erkenntnis sind. Unter dem Einflüsse des Zorns, der Angst, der Begeisterung mischen sich der Betrachtung der Dinge Verkennungen, Befürchtungen, Hoff- nungen hinzu, die mit der nüchternen Erfahrung nichts mehr ge- mein haben. Aber auch die leiseren Schwankungen des Stim- mungshintergrundes, die Gefühle der Trauer, der Erwartung, Bangigkeit, des Misstrauens, der Sehnsucht, geben dem Spiegel- bilde der Wirklichkeit ihre bestimmte Färbung. Wir werden uns daher nicht wundern, wenn in Krankheitszuständen lebhaftere Gefühlsregungen ungemein häufig von Wahnbildungen begleitet sind. Namentlich die traurigen und ängstlichen Verstimmungen pflegen, wie beim Gesunden, den stärksten Einfluss auf die Ver- fälschung der Vorstellungen und Gedankengänge auszuüben.

Indessen die Entstehungsbedingungen der Wahnideen können damit noch nicht erschöpft sein. So weit wir das zu beurteilen vermögen, sind die Gefühle bei der Wahnbildung keineswegs immer von so leidenschaftlicher Stärke, dass sie allein den Vor- gang erklärlich erscheinen Hessen. Zunächst kann in deliriösen Zuständen, z. B. im Trinkerdelirium, eine abenteuerliche Fülle von Wahnbildungen beobachtet werden, ohne dass die Stimmungs- schwankungen über das Mass einer gewissen Lustigkeit oder geheimer Angst hinausgingen. Offenbar vermag hier der Kranke

Störungen des Urteils und der Schlussbildung.

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die deliriösen Erlebnisse einfach nicht mehr von der Wirklichkeit zu trennen. Allein wir würden fehl gehen, wenn wir etwa die Lebhaftigkeit der Sinnestäuschungen für das Auftreten der Wahn- vorstellungen verantwortlich machen wollten. Die Erfahrung, dass die Kranken die unsinnigsten Täuschungen ohne stärkeres Erstaunen oder doch ohne entschiedenen Widerspruch hinnehmen, während sie am nächsten Tage bereits nicht den geringsten Zweifel mehr an der Unwirklichkeit des Erlebten hegen, deutet darauf hin, dass hier der Gesamtzustand des Bewusstseins während der Krankheit eine Veränderung erlitten haben muss, welche die Berichtigung der Wahnbildungen unmöglich machte. Wii ver- weisen hier auf das Beispiel des Traumes. Im Traume sind es sicherlich nicht starke Gefühle und nicht die Lebhaftigkeit der Bilder allein, die uns zu wahnhafter Auffassung unserer Lage veranlassen, sondern es ist die Unfähigkeit, jene Widersprüche zu entdecken und zu berichtigen, die uns beim Erwachen sofort mit voller Klarheit vor Augen stehen. Würde uns wirklich ein so toller Spuk vorgemacht, wie im Delirium oder im Traume, so würden wir ihn sofort als Possenspiel erkennen. Auch im Traume regt sich bisweilen der Widerspruch, aber wir empfinden dabei deutlich, dass es uns unmöglich ist, volle Klarheit zu gewinnen. Ohne Zweifel ist daher in deliriösen Zuständen die Bewusst- seinstrübung eine wesentliche Vorbedingung für die eigen- artige Wahnbildung, wenn auch die gleichzeitige Lebhaftigkeit der Sinnestäuschungen und Einbildungen reichlichen Stoff dazu liefert.

Endlich aber ist darauf hinzuweisen, dass auch in der Paralyse, im Altersblödsinn, bei der Dementia praecox Wahnbildungen Vor- kommen, bei denen weder Gefühle noch stärkere Bewusstseins- trübungen eine wesentliche Rolle spielen. Augenscheinlich haben die Wahnbildungen bei diesen Krankheiten viele gemeinsame Züge aufzuweisen. Die Annahme liegt daher nahe, dass die psy- chische Schwäche, die sich hier überall entwickelt, das Zustandekommen von Wahnideen besonders begünstige. Wir kennen allerdings auch viele Schwächezustände ohne Wahnbil- dung. Der angeborene Schwachsinn zeigt nur geringe Neigung zur Entwicklung von Wahnideen, und ebenso verlaufen zahl- reiche Fälle von Paralyse, Dementia praecox und Altersblöd-

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sinn ohne derartige Erscheinungen. Der eigentliche Grund für das Auftauchen von Wahnvorstellungen kann daher nicht in der psychischen Schwäche an sich, sondern nur in begleitenden Er- regungszuständen liegen, welche allerlei wahnhafte Einbildungen im Innern des Kranken aufschiessen lassen. Tatsächlich lässt sich unschwer feststellen, dass die Entstehung des Wahns fast immer in Zeiten heiterer oder trauriger Abstimmungen am reichsten vor sich geht. Namentlich deutlich wird diese Rolle der Gefühlsschwankungen in solchen Fällen, in denen über- haupt nur zeitweise Wahnideen hervortreten; man wird sie hier stets von mehr oder weniger ausgesprochener gemütlicher Er- regung begleitet sehen.

Ängstliche Vermutungen, Ahnungen abergläubischer Zusam- menhänge, Luftschlösser und Zukunftsträume sind auch bei Ge- sunden häufige Erscheinungen, aber sie gewinnen keine weiter- reichende Macht; sie schwinden bei ruhiger Überlegung, wie sie gekommen sind. Bei den Kranken aber tragen sie vielfach von vornherein nicht nur den Stempel der unerschütterlichen Gewissheit, sondern sie nisten sich dauernd ein, ohne einer Berichtigung zugänglich zu sein, ja ohne auch nur das Be- dürfnis einer näheren Prüfung oder Begründung zu wecken. Wir sind es gewohnt, alle auftauchenden Einbildungen an dem Massstabe unserer Wirklichkeitserfahrung zu messen und als Erfindung zu kennzeichnen, was sich nicht widerspruchslos dem festgefügten Bau unseres Wissens eingliedern lässt. Der Kranke dagegen empfindet die Widersprüche seiner Einbildungen mit der sonstigen, eigenen oder fremden Erfahrung gar nicht, oder er missachtet sie, verschleiert sie wohl auch durch immer unwahrscheinlichere und unmöglichere Annahmen. Offenbar ist demnach für ihn die Nötigung, ja auch die Möglichkeit verloren gegangen, den auftauchenden Wahnvorstellungen Widerstand ent- gegenzusetzen, sie zu berichtigen und zu unterdrücken. Dafür spricht namentlich auch die in den psychischen Schwächezustän- den regelmässig beobachtete völlige Unsinnigkeit der AArahnvor- stellungen, deren Unhaltbarkeit anscheinend dem besonnenen Kranken ohne jedes Nachdenken klar sein müsste.

Die Ursache für diese Unfähigkeit hat man in früheren Zeiten in den besonderen Eigenschaften der einzelnen A’orstel-

Störungen des Urteils und der Schlussbildung.

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lungen gesucht. Die Lehre von den „Monomanien“ nahm an, dass die „fixe Idee“ nur eine umgrenzte Störung des Seelen- lebens bei sonst völlig erhaltener geistiger Gesundheit darstelle. Gerade daraus ergaben sich jene törichten Heilbestrebungen, welche durch irgend einen besonders überzeugenden Eingriff die anscheinend ganz vereinzelte Wahnidee zu beseitigen und damit die Krankheit selbst zu heben trachteten. Der Erfolg bei der- artigen Versuchen ist im günstigsten Falle die Ersetzung einer Wahnvorstellung durch eine oder mehrere andere.

Eine Art Wiederbelebung dieser Monomanielehre hat in neuerer Zeit Wernicke versucht, indem er annahm, dass in manchen Fällen die Wahnbildung durch das Auftreten einzelne! , besonders mächtiger, „überwertiger* Ideen zu stände komme. Nach meinem Dafürhalten sind weder seine Beobachtungen noch seine Erörterungen, die ihn weiter zur Annahme „untei- wertiger“ Ideen bei der Manie geführt haben, überzeugend. In dem Kommen und Gehen der Vorstellungen kann eben nui dann ein einzelnes Glied übermächtig werden, wenn es nicht durch neu auftauchende Vorgänge wieder in den Hintergrund gediängt wiid. Lebhafte Gefühlsbetonung vermag somit wohl eine Vorstellungs- gruppe „überwertig“ zu machen, aber alle Gefühle schwinden allmählich und werden durch andere verdrängt; sie können daher auf die Dauer das Übergewicht nicht erhalten, wenn nicht eine Umwandlung der Gesamtpersönlichkeit oder eine krankhafte Ver- ödung des geistigen Lebens diesen Vorgang unterstützt. Wir kommen somit zu dem Schlüsse, dass der Ausbildung von Wahn- ideen regelmässig eine allgemeine Störung des psy- chischen Gesamtzustandes zu Grunde liegt. Angeregt wird die Wahnbildung wohl immer durch Gefühlsschwankungen, welche schlummernde Hoffnungen und Befürchtungen in Ein- bildungsvorstellungen umsetzen. Dass aber diese V orstellungen zum Wahne werden, eine Macht gewinnen, gegen die am Ende selbst der Augenschein ohnmächtig ist, kann nur durch das Ver- sagen unserer Urteilsfähigkeit zu stände kommen, wie es im einen Falle durch leidenschaftliche gemütliche Erregung, im anderen durch Trübung des Bewusstseins, im dritten durch die Verstandesschwäche bedingt wird.

Man wird indessen hier mit Recht die Frage aufwerfen,

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

warum denn die Wahnvorstellungen gerade so enge Beziehungen zum eigenen Wohl und Wehe aul'zuweisen haben, wenn ihre Ent- stehungsursachen in allgemeinen Veränderungen des psychischen Zustandes zu suchen sind. Der Grund dafür liegt, wie mir scheint, in der starken Gefühlsbetonung derjenigen Vorstellungen, die mit unserem Ich in naher Verbindung stehen. Die landläufige Tatsache, dass ausgeprägte Stimmungen und Gemütsbewegungen das klare Urteil trüben, und dass daher kein Gebiet des mensch- lichen Denkens gröberen Täuschungen ausgesetzt ist, als die Selbsterkenntnis, wird auch durch das Verhalten der Wahn- ideen bestätigt, nur in vergrössertem Massstabe. Nach dem Bei- spiele des Splitters im fremden und des Balkens im eigenen Auge sehen wir daher oft unsere Kranken die Wahnideen Anderer ohne weiteres richtig erkennen, während es ihnen unmöglich ist, die anscheinend selbstverständliche Nutzanwendung auf den eigenen, durchaus gleichartigen Fall zu ziehen. Man wird in- indessen darum die geistige Störung, welche diesen „partiellen“ Wahnbildungen zu Grunde liegt, mit demselben Rechte eine all- gemeine nennen müssen wie z. B. die Kreislaufssteckung infolge eines Herzfehlers, auch wenn hier die Stauungserscheinungen zu- nächst nur an den entferntesten Teilen zur Ausbildung kommen. Wenn demnach überhaupt Einbildungsvorstellungen durch gemüt- liche Erschütterungen erzeugt werden, so werden sie sich natur- gemäss in erster Linie auf die Lage der eigenen Persönlichkeit und deren nächste Beziehungen erstrecken. Sie wurzeln rascher, fester und mit grösserer Überzeugungskraft in unserem Innern, als fernliegende, gleichgültige Erfahrungen. Zudem sind diese Vorstellungen einer Berichtigung bei weitem am schwersten zu- gänglich, schon im gesunden Leben. Wo wir etwa in deliriösen Zuständen einmal falsche Vorstellungen über entlegene Dinge auftauchen sehen, können sie immer nach Art der Irrtümer ohne Schwierigkeit durch den Augenschein beseitigt werden, sobald die Bewusstseinstrübung geschwunden ist.

Es bedarf kaum noch der Ausführung, dass nach der hier vertretenen Anschauung über die Entstehung der Wahnideen von einer strenger begrenzten Ursprungsstätte dieser letzteren im Gehirn nicht nur heute, sondern grundsätzlich nicht die Rede sein kann. Die Wahnidee an sich ist zunächst eine Einbildungsvor-

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Stellung wie jede andere, wie etwa die Traumvorstellungen auch, bei denen wir ja ebenfalls gewisse häufig wiederkehrende Gestal- tungen beobachten. Ihre besondere Stellung im Seelenleben des Kranken aber und ihre eigenartige Ausbildung erhält sie durch das augenblickliche oder dauernde V erhalten der gesamten psy- chischen Persönlichkeit. Sie ist also nicht sowohl die Wii kung eines umschriebenen Krankheitsvorganges, als vielmehi das Zeichen einer allgemeinen krankhaften Veränderung der gesamten Hirnleistung. Man hat allerdings versucht, jeder einzelnen Vor- stellung eine besondere Rindenzelle als Sitz anzuweisen, so dass etwa die Aufnahmefähigkeit des Hirns einfach durch die Zahl jener Zellen bestimmt würde, und man könnte von diesem Stand- punkte aus immerhin die Erkrankung gewisser Ganglienzellen- gruppen oder Fasersysteme für das Auftreten von Wahnideen verantwortlich machen. Allein jene Annahme ist im Hinblicke auf psychologische und klinische Tatsachen ebenso unhaltbar wie etwa die Anschauung, dass die Zahl der möglichen Gesichtsbilder von der Menge der empfindenden Einheiten in unserer Netzhaut abhängig sei. Zudem sehen wir tatsächlich Wahnideen nicht etwa bei Herderkrankungen, sondern vielmehr bei solchen allgemeinen Störungen (Vergiftungen, Verblödungen, Paralyse, krankhaften Gemütsbewegungen, auf treten, welche zweifellos die \ errich- tungen der ganzen Hirnrinde in Mitleidenschaft ziehen.

Der verschiedenen Entstehungsweise der Wahnideen ent- spricht ihr mannigfaltiges klinisches Verhalten. Gemütsbewe- gungen sind im allgemeinen veränderliche Vorgänge; daher sehen wir die wesentlich auf dieser Grundlage entstehenden Wahnbil- dungen in der Regel kommen, gehen und vielfach wechseln, je nach Stärke und Färbung der Verstimmung. Nur wo diese selbst durch längere Zeit hindurch eintönig ist, werden auch die gleichen Wahnideen zäher festgehalten. Die deliriösen Wahnbildungen ähneln durchweg denjenigen des Traumes; es sind bunte, aben- teuerliche, wechselnde Bilder mit einzelnen durchgehenden Grund- zügen, die oft in mannigfacher Gestalt wiederkehren. Je nach dem grösseren oder geringeren Zusammenhänge der Gedanken- gänge überhaupt können dabei auch die Wahnideen ganz unver- mittelt, abgerissen nebeneinander stehen oder eine gewisse gei- stige Verarbeitung zeigen, Begründungen, Schlussfolgerungen,

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

einheitliche Färbung. Schwindet die gemütliche Erregung oder die Bewusstseinstrübung, so werden gewöhnlich die während der- selben entstandenen Wahnideen berichtigt, auch wenn im übrigen noch keine volle Genesung eingetreten ist.

Ganz anders verhalten sich diejenigen Wahnbildungen, bei denen die geistige Schwäche eine wesentliche Rolle spielt. Die wahnbildende Kraft wird wohl auch hier von Gemütsbewe- gungen geliefert, aber die krankhaften Vorstellungen sind mit dem Verblassen der Stimmungsschwankung nicht ohne weiteres verschwunden. Zwar können sie nach und nach in den Hinter- grund treten, aber nur dadurch, dass sie vergessen werden, nicht durch verstandesmässige Berichtigung. Wir beobachten das oft in der Paralyse, bei der Dementia praecox und bei den senilen Geistesstörungen. Nicht selten tauchen hier später die alten, verschollenen Wahnideen ganz vorübergehend unter dem Ein- flüsse einer Stimmungsschwankung von neuem auf. Oft genug werden sie aber auch dauernd festgehalten und sogar weiter ver- arbeitet. Die Dementia paranoides und manche Fälle von Paralyse lehren uns, wie auf dem Boden des erworbenen Schwachsinns dauernde Stimmungsschwankungen unter Umständen sehr aus- giebige Wahnbildungen anzuregen imstande sind.

Auch die länger haftenden Wahnbildungen zeigen indessen wichtige Verschiedenheiten. Entweder verblassen sie allmählich, um schliesslich doch mein’ und mehr zu versinken. So ist es hauptsächlich bei der Dementia praecox und bei der Paralyse. In anderen Fällen treten sie zwar in den Hintergrund, werden aber nicht berichtigt, sondern bleiben als ,, Residualwahn“ dauernd erhalten, ohne weiteren Einfluss zu gewinnen. Oder aber sie werden in ganz einförmiger Weise immer wieder vorgebracht und verknöchern gewissermassen zu stehender Formel ohne Fort- entwicklung, aber auch ohne Rückbildung. Auch dieser Verlauf stellt offenbar eine Form der Verblödung dar; doch ist die kli- nische Stellung derartiger Fälle vielfach noch zweifelhaft. Das- selbe gilt von denjenigen Beobachtungen, in denen die Wahn- ideen sich allmählich verändern, unsinniger und zusammenhangs- loser werden, neue Bestandteile in sich auf nehmen, während andere langsam zurücktreten. Sie bilden die grosse Masse ge- wisser, meist der Verrücktheit zugerechneten Formen, die

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Störungen des Urteils und der Schlussbildung.

indessen viele Berührungspunkte mit der Dementia praecox darbieten.

Endlich haben wir noch derjenigen Fälle zu gedenken, bei denen im Verlaufe von Jahrzehnten eine unmerkliche, mehr oder weniger einheitliche Fortentwicklung ohne stärkeren gei- stigen Verfall stattfindet. Bei dieser Krankheitsform, der Para- noia im engsten Sinne, erzeugt die freilich oft recht dürftige geistige Verarbeitung der Wahnvorstellungen eine Art ver- fälschter Weltanschauung. Der krankhaft veränderte Vorstel- lungsinhalt wird zum dauernden Bestandteile des Er- fahrungsschatzes und übt auf die gesamte weitere Vei- arbeitung der äusseren Eindrücke wesentlichen Einfluss aus. Die Stellung des Kranken zur Aussenwelt verschiebt sich allmählich in bestimmter Richtung; die psychische Persönlichkeit mit ihren früher gewonnenen Anschauungen erleidet eine durchgreifende Umwandlung. Gerade diese vollständige Einverleibung des Wahnes, die Gruppierung um den Mittelpunkt des eigenen Ich ist es, welche den inneren Zusammenhang seiner einzelnen Bestandteile, die geistige Verarbeitung derselben vermittelt. Man pflegt daher vorzugsweise hier von einem „Wahnsysteme“ zu sprechen, wenn auch bisweilen ähnliche, inneilich zusammen- hängende Wahnbildungen, jedoch von kürzerer Dauer, in der Para- lyse und der Dementia praecox, bei Alkoholisten und Epileptikern zur Beobachtung kommen. Fortschritte in der Wahnbildung scheinen durch das stark gehobene Selbstgefühl, durch Angst- zustände oder zornige Erregungen vermittelt zu werden, die so entstandenen Einbildungen werden dann nicht berichtigt, sondern festgehalten und weiter ausgesponnen. Auch hier ist nach meiner Erfahrung regelmässig sehr bald eine deutliche Urteilsschwäche erkennbar.

Wie die klinische Betrachtung lehrt, zeigt die Ausbildung der Wahnideen im einzelnen eine Reihe verschiedener Formen, welche bei unseren Kranken vielfach mit bemerkenswerter Gleich- förmigkeit wiederkehren. Gewöhnlich pflegt man zunächst Kleinheits- und Grössenideen, depressive und expan- sive Wahnbildungen, voneinander zu unterscheiden. Unter den mannigfachen Gestaltungen des depressiven Wahnes steht dem gesunden Leben wohl am nächsten der Versündigungs-

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

wahn; gibt es doch zahlreiche Menschen, die bei jedem Miss- erfolge, ja bei jedem Unglücksfalle sogleich bereit sind, in ihrer eigenen Handlungsweise die Ursache zu suchen und sich mit dem Gedanken zu quälen, dass sie dieses oder jenes hätten anders machen sollen. In krankhaften Depressionszuständen kann sich diese Idee der Verschuldung an jede Äusserung oder Handlung des Kranken anknüpfen. Er glaubt, immerfort Andere zu schä- digen, zu täuschen, ins Unglück zu bringen, bittet um Verzeihung für seine schrecklichen Taten. Auch die eigene Vergangenheit wird durch den Wahn in das schlimmste Licht gesetzt. Alle möglichen, selbst ganz gleichgültigen Handlungen erscheinen dem Kranken als scheussliche Untaten; er klagt sich der grässlichsten Verbrechen an, oft nur in allgemeinen Ausdrücken, bisweilen aber auch in ganz bestimmter Erzählung, hält sich für ein schlech- tes, verworfenes, gemütloses Geschöpf, für von Gott verstossen und verdammt. Darum fürchtet und wünscht er zugleich eine schreckliche Strafe, um seine Sünden zu büssen, und lebt in der beständigen Erwartung, dass er nunmehr von den Polizisten geholt, hingerichtet, verbrannt, zur Pdchtstätte geschleift, leben- dig begraben werden solle. Wir begegnen solchen Vorstellungen namentlich in der Melancholie wie in cirkulären und paralytischen Depressionszuständen.

Diesen Wahnideen nahe verwandt sind gewisse Befürch- tungen allgemeiner Art, die häufig mit ihnen sich vergesell- schaften, die Idee, zu verarmen, arbeitsunfähig zu werden, ein grosses Unglück erdulden zu müssen oder über die Angehörigen heraufzubeschwören. Ähnliche Vorstellungen, dass irgend etwas Schreckliches passiert, die Familie erkrankt und gestorben sei, oder dass etwas Furchtbares bevorstehe, finden wir als vorüber- gehende „Ahnungen“ bekanntlich häufig genug im täglichen Leben wieder. Den gemeinsamen Hintergrund derselben bildet überall eine gemütliche Verstimmung. In ihren schwersten Formen führen sie zu dem sogenannten nihilistischen Wahn: Alles ist vernichtet, zu Grunde gegangen; die Welt steht nicht mehr. Alle sind längst gestorben; auch der Kranke selbst lebt nicht mehr, hat keinen Namen mehr, ist überhaupt nichts, weniger als nichts.

Eine weitere, sehr grosse Gruppe bilden diejenigen Wahn-

Störungen des Urteils und der Schlussbildung.

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Vorstellungen, die man unter dem Namen des Verfolgungs- wahnes zusammenzufassen pflegt. Andeutungen desselben fin- den wir im gesunden Leben bei jenen argwöhnischen und miss- trauischen Naturen, die bei ihrer Umgebung überall niedrige und feindselige Beweggründe voraussetzen und im Zusammenhänge damit eigenes Missgeschick regelmässig auf Neid und Hass An- derer zurückzuführen bereit sind. Gewöhnlich verbindet sich damit eine bedeutende Überschätzung der eigenen Persönlich- keit und missgünstige Verkennung fremden Verdienstes. Bei unseren Kranken bildet den Ausgangspunkt in der Regel eine Zeit der Verstimmung, inneren Unbehagens und geheimei Angst. Ahnungen und Vermutungen steigen auf; einzelne Wahrnehmungen erscheinen verdächtig; es geht etwas Besonderes vor. Dei Kranke beginnt, die Vorgänge in seiner Umgebung mit wachsendem Miss- trauen anzusehen, gleichgültige Äusserungen und Erlebnisse, zu- fällige Gebärden wahnhaft zu deuten und seine Wahrnehmungen unter neuen, vorurteilsvollen Gesichtspunkten zu verarbeiten. Zeitungsartikel, Gassenhauer, Predigten enthalten versteckte Ver- höhnungen und den Hinweis auf seine verzweifelte Lage. Alle Absicherungen der Liebe und Freundschaft sind eitel Heuchelei, um ihn desto sicherer in die Falle zu locken. Diese Entwicklung beobachten wir häufig bei der Abrücktheit und bei der . De- mentia praecox, aber auch in cirkulären und anderen Depressions- zuständen.

Sehr gewöhnlich ist der Abfolgungswahn von mehr oder weniger zahlreichen Sinnestäuschungen begleitet, namentlich auf dem Gebiete des Gehörs. Der Kranke sieht sich demnach von einem Netze geheimer Feindseligkeiten, drohender Gefahien um- geben, dem er nicht zu entrinnen vermag. Alles ist gegen ihn verbündet, weidet sich an seiner Angst. Überall findet er sofort die untrüglichen Zeichen dafür, dass man eingeweiht ist, dass er durch Spione beobachtet und verfolgt wird. Er ist Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit; man blickt ihn sonderbar an, ruft ihm nach, zischelt einander Bemerkungen zu, weicht ihm aus, spuckt vor ihn hin. Speisen und Getränke haben einen absonder- lichen Geschmack, als ob etwas drin wäre; offenbar ist ihnen Gift, Kot, Sperma, Menschenfleisch beigemischt. Nach ihrem Ge- nuss treten Magenbeschwerden, Wallungen zum Kopfe, ge-

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

sclilechtliche Erregungen auf. Im eigenen Zimmer werden die Spuren fremder Tätigkeit bemerkt; Gegenstände sind verschwun- den, beschmutzt, verdorben, das vorher geschlossene Fenster plötz- lich offen; der Schlüssel zur Türe schliesst nicht.

Eine grosse Rolle spielen auch Eifersuchtsideen*). Die Kranken bemerken ein Erkalten der ehelichen Beziehungen, fangen glühende Blicke, geheime Zeichen auf; in Briefen finden sich ver- steckte Aufforderungen zum Stelldichein. Die Frau wird bei unver- mutetem Nachhausekommen verlegen, sucht etwas zu verbergen, hustet bedeutungsvoll; es ist noch dunkel im Zimmer. Draussen poltert jemand aus der Tür; eine Gestalt huscht am Fenster vorbei; das letzte Kind gleicht dem Vater nicht. Gerade der- artige unzureichende Begründungen ermöglichen es uns, die be- greiflicherweise öfters recht schwierige Unterscheidung von ge- sunder oder gar berechtigter Eifersucht zu treffen. Am häufig- sten ist der Eifersuchtswahn bei Alkoholisten und Coca'inisten sowie bei senilen Geistesstörungen.

Bei fortgeschrittener geistiger Schwache nehmen die Ver- folgungsideen oft ganz abenteuerliche Gestaltungen an. Die feind- lichen Beeinflussungen gewinnen Formen, die nicht nur über das W ahrscheinliche, sondern sehr bald auch über das Mögliche hinaus- gehen. Ganz besonders in den Vordergrund treten nunmehr die Einwirkungen auf den eigenen Körper, die in der verschiedensten Weise ausgemalt werden. Vielfach handelt es sich um Verände- rungen, die im Schlafe oder auf übersinnliche Weise herbeigeführt werden (Telepathie). Die Annahme des Behextwerdens, des Besessenseins, die ja in den Hexenprozessen des Mittelalters eine so grosse sittengeschichtliche Bedeutsamkeit erlangt hat, liegt hier dem abergläubischen Kranken äusserst nahe; sie wird ge- stützt durch krankhafte Gemeingefühle, fremdartige, ihm auf- steigende Gedanken und Reden, die Wahrnehmung von Stimmen im eigenen Körper, lebhafte Träume. Ein etwas anderer Bil- dungsgang macht den Kranken mehr zur Annahme magischer, magnetischer, elektrischer, physikalischer, hypnotischer Ferne- wirkungen geneigt, die durch allerlei Maschinen, Telephone, gal-

*) Vi Ilers, Bull, de la societö de mdd. ment, de Belgique, 1899; Schüller, Jahrb. f. Psych., XX, 292.

Störungen des Urteils und der Schlussbildung.

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vanische Batterien, sympathetische Beziehungen von unsichtbaren Feinden vermittelt werden. Die Ausbildung derartiger Wahnvor- stellungen ist bisweilen eine äusserst eingehende und spitzfindige. Besonders häufig sind geschlechtliche Beeinflussungen, Durchströ- mung und Reizung der Geschlechtsteile, Abtötung derselben, ge- heimnisvolle Begattungen mit ihren weiteren Folgen bis zur Geburt in nächtlicher Betäubung. Als Urheber der Verfolgungen und Beeinflussungen werden entweder bestimmte Personen angesehen, Vorgesetzte, Nachbarn, Freunde, Gatten, Liebhaber oder gewisse Parteien mit sehr absonderlichen Zielen und Hilfsmitteln, die Geistlichen, Freimaurer, Sozialdemokraten, der Mörderbund u. s. f. Die Idee der körperlichen Umwandlung findet ihre weitere Entwicklung in dem ebenfalls sittengeschichtlich wich- tigen Wahne der Verzauberung in Tier gestalt (Wehr- wölfe), des Abgestorbenseins, der Verwandlung in andere Per- sonen, namentlich solche anderen Geschlechts, in leblose Dinge u. s. f.

Diese letzten Formen der Wahnbildung leiten uns hinüber zu den hypochondrischen Ideen, bei denen die körper- liche Beeinträchtigung nicht auf fremde Einwirkung, sondern auf eine schwere, unheilbare Krankheit zurückgeführt wird. Wie der angehende Arzt die Anzeichen so mancher der gerade von ihm studierten Leiden an sich zu entdecken glaubt, so werden hier ganz harmlose, durchaus normale Erscheinungen am eigenen Kör- per für die Folgen der Syphilis, der Hundswut, mannigfacher Ver- giftungen, schwerer Blutstockungen, geschlechtlicher Ausschwei- fungen und dergleichen angesehen. Bei Ärzten sind Tabes, Para- lyse, Phthise der häufigste Inhalt hypochondrischer Wahnideen. Psychopathische Zustände, ferner cirkuläre, paralytische, hebe- phrenische, senile Depressionen geben den günstigen Boden für die Entwicklung solcher Wahnbildungen ab. Mit dem Eintritte der Verblödung gewinnen dieselben, namentlich unter dem Ein- flüsse krankhafter Empfindungen aller Art, nicht selten ganz unsinnige Formen. Ein lebendiges Tier sitzt im Körper, Würmei: unter der Haut; Mund und After sind verschlossen, die Einge- weide verdorben oder herausgenommen, alle Glieder gelähmt, der Atem und das Blut vergiftet, der Kopf ausgehöhlt, die Zunge verfault, der Leib zu einem winzigen Klümpchen zusammen-

Kraepelin, Psychiatrie I. 7. Aufl. 15

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

geschrumpft; der ganze Körper ist mit Gestank erfüllt, in einen Kikerikihahn verwandelt, von Eisen und ähnliches.

Auch die Grössenideen können unmittelbar den eigenen Körper zum Gegenstände haben. Hier gewährt uns die Hoff- nungsfreudigkeit der Schwindsüchtigen und die Selbsttäuschung Betrunkener ein alltägliches Beispiel für jene Störungen des Selbstbewusstseins, bei denen das Gefühl erhöhter Leistungsfähig- keit in Widerspruch mit dem wirklichen Verhalten gerät. So rühmen gebrechliche Paralytiker ihre Körperkräfte, ihre aus- gezeichneten Lungen, ihre Manneskraft, sprechen von ihrer schönen Stimme, von ihren gymnastischen Fertigkeiten, während sie keinen musikalischen Ton hervorbringen und nicht auf den Füssen stehen können. Den hypochondrischen Ideen inhaltlich verwandt sind die Grössenvorstellungen, dass der eigene Kot Gold, der Urin Rheinwein sei und ähnliches. Zuweilen gewinnen auch Wahnvorstellungen depressiven Inhaltes durch die Art ihrer Verwertung die Bedeutung von Grössenideen. Die Kranken erzählen, dass sie sofort sterben würden, um dann in den Himmel zu fahren; sie laden zu ihrer Hinrichtung ein, die mit grosser Feierlichkeit stattfinden werde. Andere hören wir mit Genug- tuung sich dessen rühmen, dass ihnen schon 30 OOOmal das Haupt abgeschlagen worden sei, dass sie den schrecklichsten Kopfkrank- heiten ausgesetzt gewesen seien, jeden Tag einen Zentner Strych- nin eingeblasen bekämen. Hier dienen die unerhörten Gefahren oft dazu, die eigene Kraft und Wichtigkeit in ein um so glän- zenderes Licht zu setzen.

Sehl* häufig ist die Idee geistiger Gesundheit trotz tief- greifender psychischer Störung, der Mangel des Krank- heitsbewusstseins. Wir treffen in der Irrenanstalt immer nur eine kleine Zahl von Kranken an, die sich für geistig gestört halten; die meisten betrachten sich als völlig gesund, nicht wenige als ganz besonders gescheidt und leistungsfähig. Bei manischen und namentlich hypomanischen Kranken geht die erleichterte Aus- lösung von Bewegungsantrieben mit der Vorstellung grosser gei- stiger Frische einher. Ebenso halten sich Paralytiker in ihrer gehobenen Stimmung oft für gesunder, als je in ihrem Leben. Paranoiker, deren Einbildungskraft nicht durch schwerfällige Überlegungen gehindert wird, fühlen sich als besonders begnadete

Störungen des Urteils und der Schlussbildung.

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Menschen, berufen, die erhabensten Grosstaten des Geistes zu vollenden. Oft genug geben derartige Kranke die Vermutung einer geistigen Störung entrüstet ihrer Umgebung zurück. Schliesslich führt das Gefühl erhöhter geistiger Leistungsfähig- keit dahin, dass sich der Kranke für ein Universalgenie, für einen grossen Entdecker und Weltverbesserer hält, für den es keine Schwierigkeiten und keine unlösbaren Fragen mehr gibt; er ver- steht alle Sprachen, kennt alle Geheimnisse der Natur und er- gründet die tiefsten Rätsel des Daseins mit spielender Leichtig- keit. Wer wird dabei nicht an die erstaunliche Gewandtheit er- innert, mit der wir bisweilen im Traume die schwierigsten Auf- gaben überwältigen, um nachher beim Erwachen zu entdecken, dass unsere Erzeugnisse barer Unsinn gewesen sind!

Die äusseren Verhältnisse des Kranken, seine gesell- schaftliche Stellung, sein Besitz, werden durch Grössen- wahnideen in ähnlicher Weise umgewandelt. Er ist von hoher Abkunft, Fürstenkind, Thronerbe, oder er steht wenigstens in nahen Beziehungen zu weltlichen und geistlichen vornehmen Per- sönlichkeiten, ja er hat Verbindungen mit überirdischen Mächten, Verkehr mit der Jungfrau Maria, mit Christus oder Gott selbst. In weiterer, sein* häufiger Steigerung ist er selbst Bismarck, König, Kaiser, Papst (sogar beides in einer Person); er ist ein Heiliger, Christus, Braut Christi, Gott, die verkörperte Dreieinig- keit und Obergott. Andererseits rühmt der Kranke seine schönen Kleider, seine Pferde und Schlösser; er besitzt grosse Lände- reien und ungeheuer viel Geld, Millionen mal Milliarden; ihm ge- hört Deutschland, Europa, alle fünf Erdteile, ja schliesslich die ganze Welt. An diese Vorstellungen der Macht und des Reich- tums knüpfen sich sehr gewöhnlich mannigfache Pläne, welche mit Hilfe der zur Verfügung stehenden Mittel zur Ausführung gebracht werden sollen. Uom einfachen Ankäufe allerlei un- nützer Dinge geht es zur Planung gewaltiger Bauten, grossartiger Feste, zur Austrocknung ganzer Meere, Durchbohrung der Erde, Reisen nach dem Monde und durch das Weltall. In dieser ver- schiedenartigen inhaltlichen Ausprägung des „Grössenwahns“ macht sich der Einfluss der persönlichen Erfahrung geltend. Die allgemeine Richtung ist offenbar in dem zu Grunde liegenden Krankheitszustande vorgezeichnet, aber die Ausgestaltung und

15*

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

Ausschmückung des Wahns wird durch den Vorstellungsschatz des Einzelnen geliefert und gibt somit ein bisweilen sehr tref- fendes Bild von seinen Anschauungen, Interessen und Wünschen. Immerhin zeigen die Wahnideen gleichartiger Kranker oft genug eine überraschende Ähnlichkeitt, ein Beweis für die allgemeine Einförmigkeit menschlichen Strebens und Denkens.

Grössen- und Kleinheitsidean sind durchaus nicht etwa als gegensätzliche und einander ausschliessende Richtungen der Vor- stellungstätigkeit zu betrachten, sondern sie verbinden sich sogar sehr gewöhnlich. Oft stehen sie ganz unvermittelt nebeneinander; hie und da jedoch lässt sich ein gewisser innerer Zusammenhang beider Vorstellungskreise aufdecken. Der ver- meintlich Verfolgte sieht die Ursache der gegen ihn gerichteten Feindseligkeiten in seinen besonderen Vorzügen, in seinen na- türlichen Ansprüchen auf ein grosses Besitztum, in seiner An- wartschaft auf einen Fürstenthron, und umgekehrt glaubt der wahnhafte Sprössling aus hohem Hause, der Besitzer eingebildeter Reichtümer die Nichtanerkennung seiner Rechte auf die Machen- schaften geheimer Feinde und Neider zurückbeziehen zu müssen, betrachtet seine Zurückhaltung in der Irrenanstalt als das Werk erbschieicherischer Verwandten oder auch als eine von Gott auf- erlegte Prüfung, nach deren glücklichem Überstehen das ganze Füllhorn des Glückes sich über ihn ergiessen werde. Ohne Zweifel haben wir dabei übrigens nicht an eine logische Entwicklung der einzelnen Gedankenkreise auseinander, sondern vielmehr an eine nachträgliche Verbindung derselben zu denken, da jeder Wahn ursprünglich selbständig aus den inneren Zuständen des Kranken hervorgeht. Bei der Dementia praecox bedeutet das Auftauchen von Grössenideen neben dem Verfolgungswahn regel- mässig ein stärkeres Fortschreiten der psychischen Stärke.

Störungen in der Schnelligkeit des Vorstellungsverlaufes. Die Verknüpfung von Vorstellungen und Begriffen miteinander nimmt, wie sich durch Messungen zeigen lässt, eine bestimmte, nicht unbeträchtliche Zeit (etwa 0,5 1,0" und mehr) in Anspruch, deren Dauer bei der gleichen Person je nach der Leichtigkeit wechselt, mit welcher sich die Glieder aneinanderfügen. Sie ge- stattet umgekehrt Rückschlüsse auf die innigeren oder ent- fernteren Beziehungen der psychischen Vorgänge zu einander. Bei

Störungen in der Schnelligkeit des Vorstellungsverlaufes.

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verschiedenen Personen zeigt die Geschwindigkeit der Vorstellungs- Verbindungen schon in der Gesundheitsbreite sehr erhebliche Unter- schiede, die bis auf das Dreifache schwanken können, ohne dass sich bis jetzt für diese dauernden persönlichen Eigentümlich- keiten bestimmte Gründe auffinden Hessen. Durch diese Er- fahrung wird natürlich auch die Beurteilung krankhafter Ab- weichungen insoweit erschwert, wie nicht im einzelnen Falle Ver- gleichswerte aus gesunden Tagen zu Gebote stehen. Dazu kommt noch der Umstand, dass die notwendigen Messungen mit allerlei Schwierigkeiten umgeben sind, welche nur durch völlige Ver- trautheit mit dem Massverfahren überwunden werden können. Darin liegen die Gründe, warum die Kenntnisse von den Störungen des zeitlichen Ablaufes unserer Gedankengänge verhältnismässig noch recht ungenügende sind. Immerhin verfügen wir auch jetzt schon über Zehntausende brauchbarer Messungen an Kranken.*) Zunächst steht soviel fest, dass eine Verlangsamung des Vorstellungsverlaufes durch eine ganze Reihe von Ursachen*schon beim Gesunden herbeigeführt werden kann. Vor allem ist es die Ermüdung, die regelmässig den Gedankengang verzögert, schliesslich bis zur völligen psychischen Lähmung. Körperliche und geistige Ermüdung haben diese Wirkung miteinander gemein- sam. Ähnlich wirken eine Anzahl von Vergiftungen, namentlich diejenigen mit Alkohol, Äther, Chloroform, Chloralhydrat u. a., in schwächerem Grade der Tabak. Auch gewisse Gemütsbewe- gungen unangenehmer Art scheinen den Ablauf der Vorstel- lungen zu verlangsamen.

In Krankheitszuständen vermag man die Verlangsamung des Gedankenganges nicht selten schon mit einer einfachen Uhr oder auch ohne jede Messung nachzuweisen. Namentlich in den stu- porösen und gewissen Mischzuständen des cirkulären Irreseins pflegt die Störung ungemein deutlich zu sein. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass bisweilen nicht sowohl die AAerbindung der Vorstellungen, sondern wesentlich nur die Auslösung der Ant- wort stark verlangsamt ist. Ich kenne Fälle von cirkulärer Hem- mung, bei denen der Vorstellungsverlauf nur unbedeutend oder

*) Reis, Psycholog. Arbeiten, II, 587 ; Aschaffenburg, ebenda, IV, 235.

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

gar nicht, die Entstehung der Sprachbewegung dagegen ungemein stark erschwert war, wie sich durch Versuche zweifellos nach- weisen Hess. Melancholische pflegen eine massige Verlangsamung des Gedankenganges darzubieten. Eei der Dementia praecox, namentlich in den Endzuständen, ist regelmässig eine geringe Erschwerung in der Verbindung der Vorstellungen vorhanden, die allerdings infolge des Negativismus weit grösser erscheinen kann. Recht bedeutend pflegt die Verlängerung der psy- chischen Zeiten in der Paralyse zu sein, bis im weiteren Ver- laufe die Messung völlig versagt. Beim angeborenen Schwach- sinn wird ebenfalls Verlangsamung des Vorstellungsverlaufes be- obachtet. Mit einer Verlängerung der Associationszeiten sieht man regelmässig auch die Sc awankungen der gemessenen Werte zunehmen, die Buccola mit Recht als das Dynamo- meter der Aufmerksamkeit bezeichnet hat. Während sonst die psychischen Vorgänge gerade bei langsamerer Arbeit gleichmässiger zu verlaufen pflegen, werden hier die Lei- stungen nicht nur geringer, sondern auch unregelmässiger; zugleich lässt sich vielfach noch eine Abnahme ihres inneren Wertes nachweisen.

Beschleunigung des Vorstellungsverlaufes kommt jeden- falls ungleich seltener zu stände, als Verlangsamung. Sehen wir ab von der allmählich eintretenden Verkürzung der psychischen Zeiten durch Übung, so scheinen im gesunden Leben wesentlich gewisse Formen der gemütlichen Erregung einen rascheren Ab- lauf des Gedankenganges herbeiführen zu können. Höchstens wäre hier noch der Einfluss der Anregung durch fortdauernde, gleich- mässige Gedankenarbeit zu erwähnen, der ebenfalls erleichternd auf die geistige Tätigkeit wirkt. Von Arzneistoffen ist bisher nur für das Morphium, das Coffein und die ätherischen Öle des Tees eine anregende Wirkung auf die Verstandesleistungen wahr- scheinlich. Bei Geisteskranken sind unzweifelhafte erkürzungen der psychischen Zeiten überhaupt noch nicht nachgewiesen. Er- warten könnte man diese Erscheinung nach der allgemeinen An- schauung etwa bei manischen Kranken, namentlich in den leich- teren Formen, in der sogenannten Hypomanie. Drückt sich doch schon in dem Namen der hier so deutlichen „Ideenflucht“ die Vor- stellung einer Beschleunigung der Gedankenverbindungen aus.

Störungen der geistigen Arbeitsfähigkeit.

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In der Tat hat Marie Walitzkaja bei manischen Kranken Verkürzungen der Associationszeit bis auf die Hälfte, ja bis auf ein Drittel der gewöhnlichen Dauer gefunden. Der Annahme einer derart erheblichen Beschleunigung der Vorstellungsverbm- dungen widersprechen indessen die in unserer Klinik, nament- lich von Aschaffenburg, gesammelten, sehr ausgedehnten Erfahrungen durchaus. Meist lässt sich sogar bei Ideenflüchtigen geradezu eine Verlangsamung des Gedankenganges nachweisen. Ich bin nicht mehr im Zweifel darüber, dass die entgegenstehen- den Ergebnisse durch die hier sehr naheliegende und nur schwierig zu vermeidende Fehlerquelle der vorzeitigen Reaktion getrübt worden sind.

Störungen der geistigen Arbeitsfähigkeit. Der zeitliche Ab- lauf des einzelnen psychischen Vorganges liefert uns nur ein sehr unvollkommenes Bild der eigentlichen geistigen Leistungs- fähigkeit. Es können tiefgreifende und ausgebreitete Störungen in der gesamten geistigen Veranlagung bestehen, übei die wir durch die einzelne Messung nicht das geringste erfahren. Dagegen wird uns durch die Untersuchung der Arbeitsleistung während längerer Zeit*) und unter verschiedenen Verhältnissen ein Ein- blick in eine Reihe von Abweichungen eröffnet, deren Bedeutung für das genauere Verständnis der Schwachsinnsformen, namentlich der angeborenen, kaum überschätzt werden kann. Wii leinen hier geradezu gewisse Grundeigenschaften der einzel- nen Persönlichkeit kennen, von deren krankhaften Ge- staltungen wir sonst nur höchst unbestimmte und verschwommene

Vorstellungen zu haben pflegen.

Zunächst stellt sich heraus, dass die Arbeitsleistung beim gesunden Menschen gewisse dauernde Spuren hinterlässt, die für später eine Erleichterung der gleichen Arbeit vermitteln. Diese dauernde, nur sehr allmählich wieder verschwindende Arbeits- erleichterung bezeichnen wir mit dem Namen der Übung. Die Grösse des Übungseinflusses ist bei verschiedenen Personen sehr verschieden. Weit grösser aber sind die Schwankungen auf krank- haftem Gebiete. Wenn wir absehen von den erworbenen Schwach- sinnsformen, insbesondere dem paralytischen Blödsinn, bei denen

*) K r a e p e 1 i n , Die Arbeitskurve, Philosophische Studien, XIX, 459.

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

die Übungsfähigkeit häufig vollkommen vernichtet ist, so leuchtet ohne weiteres ein, dass jene Eigenschaft bei Idioten fast ausschliesslich die ganze Zukunft des Kranken bestimmt. Bildungsunfähigkeit ist im wesentlichen nichts, als Mangel der Übungsfähigkeit. Natürlich kommt es aber ausser der Arbeits- erleichterung durch die Übung selbst auch auf die Festigkeit an, mit welcher diese bleibende Spur im Gedächtnisse haftet. Wo die erworbene Übung sich rasch wieder verliert, wird sie nur ein sehr unzuverlässiges Hilfsmittel für die geistige Ausbildung abzugeben imstande sein. Auch in dieser Beziehung finden sich schon bei Gesunden sehr bedeutende Unterschiede. In krankhafter Ausbildung begegnen wir raschem Schwinden der vielleicht ebenso rasch erworbenen Übung namentlich bei jenen Formen des an- geborenen Schwachsinns, bei denen eine gewisse oberflächliche geistige Regsamkeit zunächst über die tief begründete Unzuläng- lichkeit der geistigen Begabung täuscht.

Mit der Übungsfähigkeit steht vielleicht in innerer Beziehung die Anregbarkeit. Es hat sich herausgestellt, dass durch fortgesetzte geistige Arbeitsleistung rasch eine Erleichterung eben dieser Arbeit zu stände kommt, die sich von der Übung durch ihr schnelles Verschwinden nach dem Auf hören der Arbeit unterscheidet. Die grössere oder geringere Leichtigkeit, mit der sich diese Zunahme der Leistung während der Arbeit einstellt, bezeichnen wir als Anregbarkeit. Aus der täglichen Erfahrung ist genugsam bekannt, wie verschieden die Geschwindigkeit ist, mit welcher sich der Einzelne in eine Arbeit hineinfindet. Unter unseren Kranken bieten die Gehemmten, Stuporösen denjenigen Grenzfall dar, bei welchem die Anregbarkeit ihre niedersten Werte erreicht, während uns manische Kranke anscheinend gerade die entgegengesetzte Störung in ihrer höchsten Ausbildung zeigen. Namentlich bei feineren Untersuchungen über die Schrift hat sich herausgestellt, dass in der Manie während des Schreibens die Ge- schwindigkeit der Bewegungen und der Druck der Feder ausser- ordentlich rasch anwächst. Weniger augenfällig, aber als dau- ernde persönliche Eigentümlichkeiten, treten uns die beiden ent- gegengesetzten Störungen in jenen Formen des angeborenen Schwachsinns entgegen, die man, nicht ohne Beziehung auf das verschiedene Verhalten der Anregbarkeit, als stumpfen und er-

Störungen der geistigen Arbeitsfähigkeit.

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regbaren Schwachsinn auseinandergehalten hat. Vielleicht ist auch die Nachhaltigkeit der Anregung, die Geschwindigkeit, mit der sich die innere Bewegung wieder beruhigt, von Bedeutung für das Verständnis dieser oder jener Krankheitszustände. Leider ist über diese Verhältnisse bisher nichts bekannt.

Eine weitere, grundlegende Eigenschaft der geistigen Per- sönlichkeit ist die Ermüdbarkeit. Durch die Ermüdung wird die Höhe der Arbeitsleistung je länger, je mehr herabgesetzt, wahrscheinlich nicht nur in ihrer Menge, sondern auch in ihrem Werte. Grosse Ermüdbarkeit beeinträchtigt daher auf das em- pfindlichste die Fähigkeit zu längerer und anstrengender Arbeits- leistung. Bei Geisteskranken ist diese Störung ungemein ver- breitet. Wir finden sie zunächst bei der nervösen Erschöpfung und in der Genesungszeit nach verschiedenen Formen psychischer Erkrankung. Sehr ausgeprägt pflegt sie in den Depressions- zuständen nach manischen Anfällen zu sein; die durch die Er- regung verdeckte Ermüdung tritt mit der Beruhigung in ähnlicher Weise hervor wie die Abspannung nach aufregenden Erlebnissen beim Gesunden. Sodann begegnen wir erhöhter Ermüdbarkeit vielfach bei der Dementia praecox, namentlich aber bei den senilen Hirnerkrankungen und in der Paralyse, wo sie häufig genug das erste auffallende Krankheitszeichen bildet. Endlich ist sie eine häufige Begleiterscheinung des angeborenen Schwach- sinns. Sie kann hier, zum grossen Schaden des Kranken, un- erkannt bleiben, wenn sie sich mit erhöhter Anregbarkeit ver- bindet. Es kommt dann leicht zu einer Anspannung der geistigen Arbeitskraft über das zulässige Mass hinaus, die zu einer dauern- den Ermüdung, vielleicht auch zu einer Steigerung der Ermüd- barkeit führen kann.

Ausgeglichen wird die Ermüdung durch die Erholung und namentlich durch den Schlaf. Wahrscheinlich unterliegt auch die Schnelligkeit, mit der sich die Erholung vollzieht, krankhaften Störungen. Melancholische, Nervöse, Genesende sehen wir un- gemein langsam die Folgen einer geistigen, gemütlichen oder auch körperlichen Anstrengung wieder ausgleichen; wir haben daher bei ihnen vielleicht eine Abnahme der Erholungsfähig- keit, der geistigen Spannkraft, zu verzeichnen. Eine wesentliche Rolle spielt dabei ohne Zweifel das Verhalten des Schlafes. Nach

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

den vorliegenden Untersuchungen darf es als wahrscheinlich gel- ten, dass wir es beim Irresein vielfach mit schweren Störungen nicht nur der Schlafdauer, sondern namentlich auch der Schlaf- tiefe zu tun haben. Für Zustände einfacher Überarbeitung ist eine V erf lachung des Schlafes, langsameres Erreichen der grössten Tiefe und vollkommener Nachlass der Schlaftiefe gegen Morgen bereits nachgewiesen.

Kaum weniger häufig, als der krankhaften Ermüdbarkeit, begegnen wir auf unserem Gebiete einer Steigerung der Ab- lenkbarkeit. Dieselbe kann entweder durch geringe Stärke der Leitvorstellungen, durch ungewöhnlich lebhaftes Hervor- treten einzelner Vorstellungsbestandteile oder endlich durch er- höhte Empfindlichkeit für ablenkende Einwirkungen zu stände kommen. Den ersten Fall haben wir im gesunden Leben beim wachen Träumen vor uns, wenn wir planlos unsere Gedanken schweifen lassen und dabei durch ganz zufällige innere und äussere Einflüsse bald hierhin, bald dorthin abgelenkt werden. Auf ähnliche Weise kommt vielleicht die Ablenkbarkeit beim Schwachsinn, insbesondere bei der Paralyse und der Dementia praecox, zu stände; hier fehlen dauernd jene Leitvorstellungen, die dem Gedankengange seine bestimmte Richtung vorzeichnen und das Anwachsen aller ausserhalb der Bahn liegenden Eindrücke und Vorstellungen schon im Entstehen hemmen.

Für die zweite Form der Ablenkbarkeit finden wir vielleicht gewisse Anknüpfungspunkte in den Begleiterscheinungen ange- strengter Tätigkeit. Wir haben schon früher gesehen, dass mit wachsender Willensspannung die sprachliche Gewohnheit einen ganz besonderen Einfluss auf unseren Vorstellungsverlauf gewinnt. Am deutlichsten wird das nach Entziehung des Schlafes und nach körperlicher Arbeit. Die motorischen Bestandteile unserer Vor- stellungen scheinen dabei ein deutliches Übergewicht zu erlangen. Zugleich verlieren allerdings wohl auch die Leitvorstellungen durch die Ermüdung wesentlich an Kraft. Infolgedessen sind wir nicht mehr imstande, bei der Stange zu bleiben, ertappen uns fortwährend auf Nebengedanken und sind genötigt, immer von neuem durch eine besondere Anstrengung unsere Aufmerksamkeit in die alte Richtung zurückzubringen. Diese Erscheinung ist uns aus den Erörterungen über die Ideenflucht wohlbekannt; sie be-

Störungen des Selbstbewusstseins.

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gegnet uns bei sehr verschiedenartigen Erregungszuständen, vor allem im manisch-depressiven Irresein.

Erhöhte Empfindlichkeit gegen ablenkende Einwirkungen ist endlich eine regelmässige Begleiterscheinung der allgemeinen Nervosität. Sie geht Hand in Hand mit einer Herabsetzung der Gewöhnungsfähigkeit. Für den gesunden Menschen pflegt jede Ablenkung bei längerer Einwirkung allmählich ihren. Ein- fluss mehr und mehr zu verlieren; er gewöhnt sich an die Störung und lernt, dieselbe unbeachtet zu lassen. Bei gesteigerter ner- vöser Reizbarkeit kann diese Gewöhnungsfähigkeit mehr oder weniger erheblich herabgesetzt sein, so dass also die ablenkende Wirkung einer Störung mit der Zeit immer wächst, anstatt sich abzuschwächen. Auf diese Weise können schliesslich ganz un- bedeutende Reize in einem Grade . störend einwirken, der dem Unbefangenen unbegreiflich erscheint. .

Störungen des Selbstbewusstseins- Als Selbstbewusstsein be- zeichnen wir die Summe aller jener Vorstellungen, aus denen sich für uns das Bild unserer körperlichen und geistigen Persön- lichkeit zusammensetzt. Diese Vorstellungsgruppe bildet den dauernden Hintergrund unseres Seelenlebens und übt. daher auf den Ablauf unserer gesamten geistigen Vorgänge . einen mass- gebenden Einfluss aus. Sie verknüpft einerseits die Eindrücke jedes Augenblickes zu einem einheitlichen Bilde unserer ge- samten Lage, und sie verkettet andererseits die Reihe unserer Lebenserfahrungen zu einer fortlaufenden Lebensgeschichte, deren Endergebnis jeweils das gegebene Ich darstellt.

Störungen des Selbstbewusstseins können zunächst die innere Einheit der Persönlichkeit aufheben. Wir kennen aus dem Traume die Erscheinung, dass wir Zwiegespräche führen können, ja dass wir über irgend eine schlagende Wendung unseres Gegners ver- blüfft sind. Hier ist anscheinend die Einheitlichkeit des Selbst- bewusstseins, die uns im Wachen gestattet, alle Gedanken und Regungen unseres Innern gleichzeitig zu übersehen, aufgehoben. Eine solche „Teilung“ oder „Spaltung“ des Selbstbewusstseins be- gegnet uns in Krankheitszuständen häufig. Die ersten Ansätze dazu haben wir vielleicht schon in jenen Fällen zu sehen, in denen Sinnes- täuschungen dem Kranken als fremde Erscheinungen äusseren Ursprungs entgegentreten. Wenn ein Trinker hört, dass übei

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

ihn spottende Zwiegespräche geführt und gefahrdrohende Pläne verabredet werden, so bleibt ihm dabei völlig verborgen, dass diese Täuschungen nichts, als der hallucinatorische Ausdruck seiner eigenen Gedanken und Befürchtungen sind; er selbst spielt, ohne es zu wissen, die Rolle zweier verschiedener Parteien. Nament- lich bei der Dementia praecox kann diese Spaltung des Selbst- bewusstseins sehr deutlich werden. Die Kranken sprechen dann von den fremden Mächten, Feinden, die sich in ihrem Körper ein- genistet haben, und unterscheiden sehr deutlich ihre eigenen Ge- danken und Handlungen von denen ihrer Inwohner. Auch zur Erklärung gewisser hysterischer Störungen hat man eine ähn- liche Annahme vorgeschlagen. Da sich nachweisen lässt, dass auch solche Reize psychisch verwertet werden können, die auf empfindungslose Körpergegenden einwirken, und dass gelähmte Glieder auf Umwegen in Bewegung gesetzt werden können, liegt die Annahme nahe, dass es sich hier um eine Spaltung des Selbst- bewusstseins handle, die einzelne Körpergebiete aus dem Zusam- menhänge des Persönlichkeitsbewusstseins ausschliesst.

Der zeitliche Zusammenhang der Persönlichkeit mit ihrer Vergangenheit kann dadurch gestört werden, dass die Spuren kürzerer oder längerer Lebensabschnitte verlöschen. Hat in diesen Abschnitten eine Fortentwicklung nicht stattgefunden, so findet sich das Selbstbewusstsein nachher unverändert auf dem früheren Standpunkte; die Zwischenzeit wird dann durch Schlussfolge- rungen oder durch Erinnerungsfälschungen überbrückt. Ersteres ist der Fall bei den Lücken, die durch Bewusstseinstrübungen, den Schlaf, Ohnmächten, Dämmerzustände, Delirien, bedingt wer- den; letzteres geschieht, wo der Verlust der Erinnerung durch eine Merkstörung verursacht war, wie bei der K o r s s a k o w sehen Krankheit. Ein wesentlich anderes Bild bieten dagegen die Fälle von sogenanntem „doppeltem Bewusstsein“ dar. Hier handelt es sich um den mehr oder weniger regelmässigen Wechsel verschiedener Zustände, in denen jeweils nur die Erinnerung an die Erlebnisse des gleichartigen Zustandes erhalten bleibt. Es schieben sich also gewissennassen zwei verschiedene Persönlich- keiten durcheinander, von denen jede nur über einen Teil der Gesamterfahrungen verfügt. In der Regel pflegt die eine der- selben einer früheren Entwicklungsstufe anzugehören und dem-

Störungen des Selbstbewusstseins.

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gemäss allerlei Kenntnisse und Fertigkeiten nicht zu besitzen, welche die andere beherrscht. Bisweilen lässt sich nachweisen, dass geradezu eine Rückversetzung in ein bestimmtes, durch be- sondere Ereignisse ausgezeichnetes Lebensalter stattgefunden hat. Diese Erscheinung, die man bei geeigneten Personen durch hyp- notisches Einreden künstlich erzeugen kann, gehört dem Gebiete der Hysterie an; sie ist von den Franzosen als „Ekmnesie“ be- zeichnet worden.

Das Selbstbewusstsein ist kein feststehendes psychisches Ge- bilde, sondern es wird durch die Lebenserfahrungen fortwährend verändert. Auch Krankheitsvorgänge vermögen es in der nach- haltigsten Weise zu verfälschen, freilich in sehr verschiedenem Grade. Worauf diese Unterschiede beruhen, ist noch völlig un- klar. So sind die Verfälschungen des Selbstbewusstseins bei cirkulären Depressionszuständen oft sehr ausgeprägt, während sie in der Melancholie trotz weitgehendster wahnhafter Umge- staltung der Umgebung sehr gering sein können. Auch im Trinker- delirium spielen sich mit den Kranken die abenteuerlichsten Er- lebnisse ab, ohne dass ihr Selbstbewusstsein verfälscht würde. Da die schwersten Umwandlungen des Selbstbewusstseins in der Paralyse, in der Dementia praecox und im manisch-depressiven Irresein beobachtet werden, könnte man auf den Gedanken kommen, dass jenes Krankheitszeichen in irgend einer Beziehung zu den Störungen des Willens stände, die den genannten Formen eigentümlich sind; pflegen wir doch auch den Willensregungen einen besonders grossen Anteil an dem Aufbau der psychischen Persönlichkeit zuzuschreiben.

Im einzelnen erhält die Verfälschung des Ichbewusstseins ihre Färbung namentlich durch die krankhafte Stimmung. So wächst beim manischen Kranken die eigene Persönlichkeit bis zum Auftreten von Grössenideen, die freilich in der Regel nur als halb scherzhafter Ausdruck des gehobenen Selbstgefühls vorgebracht werden. In den cirkulären Depressions- und Stupor- zuständen kommen sich die Kranken nicht nur schlecht und ver- worfen vor, sondern sie fühlen sich oft genug auch körperlich verändert, versteinert, verzogen, gestorben, glauben sich in ge- schichtliche Personen verwandelt, sind zum Teufel, zum Tiere geworden. Auch dem Paralytiker kann im Zusammenhänge mit

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

den Grössen- und Kleinheitsideen sein Körper in der mannig- fachsten Weise verändert erscheinen; ebenso empfindet er viel- fach in seinem geistigen Leben eine völlige Umwandlung, die ihn seiner eigenen Vergangenheit entfremdet und ihn zu einem ganz neuen Wesen macht, das je nach der Färbung der Stimmung bis ins Ungemessene gewachsen oder zum Nichts zusammen- geschrumpft ist. Ganz ähnliche, wenn auch weniger stürmische Wandlungen können sich in der Dementia praecox vollziehen. Sie sind jedoch im ganzen hier ungleich seltener, und sie ver- knüpfen sich, im Gegensatz zur Paralyse und zum manisch-depres- siven Irresein, immer mit der Vorstellung äusserer Beeinflussung in irgend einer Form, ohne dass freilich die P eränderung der eigenen Persönlichkeit gerade als Folge solcher Einwirkungen gedeutet werden müsste. Bei denjenigen Formen des Irreseins, die wir der V errücktheit zurechnen, pflegt die Störung des Selbst- bewusstseins verhältnismässig gering zu sein; sie beschränkt sich in. der Kegel auf eine wahnhafte Überschätzung der eigenen Fähig- keiten, die unter Umständen durch Erinnerungsfälschungen in die Vergangenheit zurückgeführt wird und die Anknüpfung für eine Umdeutung der äusseren Lebensstellung bilden kann.

Mit dem Fortschreiten der Verblödung kommt es schliess- lich auch zu einer Vernichtung des Selbstbewusstseins. In den Endzuständen der Dementia praecox und namentlich der Paralyse kann, wie es scheint, die Vorstellungsgruppe der körperlichen und geistigen Persönlichkeit und damit das innere Band völlig zerfallen, das die Kette der Erfahrungen zusammenkält. Es muss jedoch betont werden, dass dieser Vorgang nicht eine einfache Folge der Verblödung ist, sondern eine besondere Teilerscheinung der genannten Erkrankungen bildet. Auch bei der epileptischen Verblödung sehen wir hochgradige geistige Verarmung und schwere Gedächtnisstörungen zur* Entwicklung kommen. Trotz- dem bleibt hier in der Regel den Kranken ein klares, geordnetes Bewusstsein ihrer Persönlichkeit. Selbst bei der Presbyophrenie, bei der wegen der starken Merkstörung die Lebensereignisse sofort spurlos aus der Erinnerung schwänden, um durch freie Erfindungen ersetzt zu werden, pflegt das Selbstbewusstsein wohl erhalten zu bleiben; höchstens kommt es zu einer Rückversetzung in längstvergangene Zeiten.

Störungen des Gefühlslebens.

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C. Störungen des Geliililslebeiis.

Jeder Sinneseindruck, der die Schwelle des Bewusstseins über- schreitet, erzeugt in unserem Innern ausser der Wahrnehmung eine eigentümliche Veränderung unseres Seelenzustandes, die wir als Gefühl bezeichnen. Die Gefühle sind nicht, wie die Wahr- nehmungen, ein Abbild der Aussenwelt, sondern sie kennzeichnen unmittelbar die Stellung, welche das Ich gegenüber den äusseren Einwirkungen einnimmt; es sind diejenigen Seelenzustände, aus denen sich auch tatsächlich die Willensregungen entwickeln. Nach Wundts*) Darlegungen kann man drei gegensätzliche Gefühlsrichtungen auseinanderhalten, die jedoch nur selten allein, sondern fast immer in mannigfaltigen Mischungen die geistigen Vorgänge begleiten, die Lust und Unlust, die Erregung und Be- ruhigung, vielleicht besser Hemmung, endlich die Spannung und Lösung. Diese Zerlegung der Gefühlsmischungen in ihre ein- fachsten Bestandteile lässt sich nicht nur an passend gewählten Beispielen durch die innere Erfahrung unmittelbar durchführen, sondern sie wird auch gestützt durch die eigenartigen Wirkungen, die den verschiedenen Gefühlsarten auf Atmung, Puls und Blut- druck zuzukommen scheinen.

Da die Gefühle die empfindlichsten Zeichen aller inneren Veränderungen sind, ist es bei den Geistesstörungen regelmässig gerade die Gefühlsbetonung, das „Gemütsleben“ der Kranken, welches zunächst die auffallendsten Störungen darbietet. Die Beurteilung dieser Krankheitserscheinung stösst jedoch des- wegen auf gewisse eigentümliche Schwierigkeiten, weil uns hier weit weniger, als auf dem Gebiete des Verstandes, eine feststehende Richtschnur gegeben ist, mit Hilfe derer wir die gradweisen Abweichungen vom gesunden Verhalten sicher be- stimmen könnten. Verfälschungen der Sinneserfahrung, Ver- stösse gegen die Grundsätze des logischen Denkens werden auch vom Laien ohne weiteres als krankhafte Erscheinungen erkannt; die Lebhaftigkeit der Gefühlsäusserungen zeigt aber schon bei Gesunden unter verschiedenen Verhältnissen so weitgehende persönliche Verschiedenheiten, dass die Abgrenzung des Krank-

*) W u n d t , Physiologische Psychologie. II, 284, 5. Aufl. 1902.

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

haften gerade auf diesem Gebiete häufig recht schwierig wird. Der Laie (in forensischen Fällen der Richter) ist stets weit eher geneigt, Mängel des Verstandes, besonders Wahnideen, für krank- haft zu halten, als die eingreifendsten Störungen im Gemüts- leben.

Herabsetzung und Steigerung der gemütlichen Erregbarkeit.

Die einfachste und wohl auch häufigste Abweichung im Bereiche der Gefühle ist die Herabsetzung ihrer Stärke. Während sich im Gemüte des Gesunden der innere Anteil, den er an seinen vielfachen Beziehungen zur Umgebung nimmt, in bestän- digen, leiseren oder stärkeren Schwankungen des Stimmungs- hintergrundes widerspiegelt, bedeutet die Abnahme dieser Ge- fühlsbetonung Gleichgültigkeit und Teilnahmlosig- keit gegenüber den Eindrücken der Aussenwelt. Diese Störung ist eine allgemeine Begleiterscheinung der meisten Schwachsinns- formen. Unter Umständen werden dabei die äusseren Erfahrungen noch recht gut aufgefasst und selbst verstandesmässig verarbeitet, ohne allerdings irgend einen bemerkbaren gemütlichen Widerhall in dem Kranken wachzurufen. Dieses auffallende Missverhält- nis zwischen Verstandes- und Gefühlsstörung tritt uns am aus- geprägtesten bei der Dementia praecox entgegen. Erst in den schwersten Krankheitszuständen pflegt hier auch die Auffassung und die Vorstellungstätigkeit eine tiefgreifende Einbusse zu er- leiden. Bei der Paralyse dagegen sehen wir einerseits die Ver- standesleistungen in verhältnismässig höherem, die gemütlichen Regungen dagegen in geringerem Grade durch die Krankheit zerstört werden.

Die Abnahme der Gefühlsbetonung pflegt sich in der Regel nicht auf alle Gebiete des gemütlichen Lebens gleichmässig zu erstrecken, sondern es kommt vielmehr zunächst zu einer Ein- schränkung der inneren Beziehungen des Kranken. Der Kreis der Vorgänge, die ihn noch innerlich berühren, wird enger, während nach gewissen Richtungen hin die Lebhaftigkeit der Gefühle die alte bleibt, ja sich unter Umständen sogar noch steigern kann. Am leichtesten gehen dem Kranken natürlich solche Gefühle verloren, welche nicht unmittelbar an die Ver- änderungen des eigenen Ich anknüpfen, sondern sich auf die Ver- hältnisse der weiteren Aussenwelt beziehen, und ferner diejenigen.

Herabsetzung und Steigerung der gemütlichen Erregbarkeit.

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welche die Eigenschaft des Sinnlichen verloren haben und als Begleiter gewisser allgemeiner Vorstellungen und Grundsätze nur durch die höheren geistigen und sittlichen Leistungen wach- gerufen werden. Wie der Gedankenkreis sich auf das Einfachste, Nächstliegende und persönlich Wichtigste beschränkt, so behalten auch die Gefühle ihre sinnliche Einfachheit und erstrecken sich nur auf jene Eindrücke, die in dem unmittelbarsten und einleuch- tendsten Zusammenhänge mit dem eigenen Wohl und W ehe stehen. Mit anderen Worten: die Anteilnahme des Kranken zieht sich wesentlich auf die Zustände der eigenen Person zurück, wird eine ausschliesslich selbstsüchtige, und er verliert die Freude an der geistigen Tätigkeit, an edleren künstlerischen Genüssen, das Ge- fühl für die höheren Anforderungen des Anstandes, der Sittlich- keit, der Religion. Fremdem Schicksale steht sein Herz kalt und gleichgültig gegenüber; allgemeinere und höhere Bestre- bungen vermögen weder Verständnis noch Teilnahme in seinem Innern anzuregen. Es fallen also für ihn wesentlich alle jene Beweggründe und Hemmungen fort, welche dem Gesunden aus der Rücksicht auf seine Umgebung, aus seinen Beziehungen zur Familie, zu seinem Volke, endlich zur gesamten Menschheit und ihren Aufgaben entspringen. Die Folgen dieser Umwandlung sind ungemein auffallende. Der Kranke hat kein Gefühl mehr für seine Angehörigen, sein Geschäft, seine Arbeit, seine Pflicht; er verliert das Schamgefühl, wird rücksichtslos im persönlichen Verkehr, macht sich keine Gedanken über seine Lage, keine Sorgen für die Zukunft.

In mildester Form sehen Avir eine derartige Veränderung schon im gesunden Greisenalter, stärker im krankhaften Alters- schwachsinn sich vollziehen. Die gemütliche Empfänglichkeit und Begeisterungsfähigkeit verblasst, während die Regungen der Eigenliebe sowie die Freude am Besitz und am sinnlichen Genüsse sich lebhafter geltend machen. Weiterhin bilden die Zeichen der gemütlichen Verblödung häufig die ersten auffallenden Erschei- nungen der Paralyse und namentlich der Dementia praecox, in deren Verlaufe sie sich immer schärfer ausprägen. Endlich aber spielt das Fehlen der gemütlichen Ansprechbarkeit auch eine wichtige Rolle bei manchen epileptischen und angeborenen Schwachsinnsformen. Mit der Verkümmerung des Gemütslebens

Kraepelin, Psychiatrie I. 7. ^ufl. 16

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

verträgt sich hier recht wohl eine gewisse Findigkeit in der Verfolgung des sinnlichen Genusses, eine handwerksmäßige Ge- wandtheit in der Erreichung selbstsüchtiger Vorteile, durch welche sich die Umgebung häufig über die tiefe geistige und gemütliche Unfähigkeit der Kranken hinwegtäuschen lässt. Aus der Gesundheitsbreite gehören hierher jene gemütsrohen und selbstsüchtigen Naturen, die fremden Gefühlen teilnahm los gegenüberstehen, durch keine Regung der Menschenliebe aus ihrer Ruhe aufgerüttelt werden und planmässig berechnend nur von den Antrieben des gröbsten Eigennutzes sich leiten lassen.

Ein höchst bedeutsamer Unterschied zwischen den niederen, sinnlichen und den höheren, allgemeinen (logischen, sittlichen, künstlerischen, religiösen) Gefühlen wird durch den Umstand be- zeichnet, dass die ersteren wohl eine weit grössere augenblick- liche Stärke, aber eine ungleich geringere Erneuerungs- fähigkeit besitzen, als die letzteren. Ein sinnlicher Genuss oder Schmerz kann uns für kurze Zeit in sehr lebhafte Eiregung versetzen, aber er blasst in der Erinnerung rasch ab, während z. B. die leiseren, aber andauernden sittlichen Gefühl unsCi Denken und Handeln durch das ganze Leben hindurch fast un- ausgesetzt begleiten und bestimmen, wo sie nicht durch leiden- schaftliche Gemütsschwankungen übertönt werden. Gerade die höheren Gefühle aber sind es, die unserem Stimmungshintergrunde jene gleichförmige Ruhe, unserer geistigen Persönlichkeit jene Festigkeit und innere Geschlossenheit zu gewähren vermögen, die man mit Recht als die Eigenschaften eines gesunden, voll ent- wickelten Mannes betrachtet. Da ferner die höheren Gefühle eine Art Dämpfung für die raschen Gefühlsregungen des Augen- blickes darstellen, pflegen sich mit dem Wegfalle dieser Dämpfung plötzliche Leidenschaftsausbrüche von auffallender Heftigkeit, aber geringer Nachhaltigkeit einzustellen.

Auch nach dieser Richtung hin wird sich daher das Fehlen der höheren Gefühle im Krankheitsbilde des Schwachsinns geltend machen müssen. Wo nicht hochgradige Stumpfheit alle Gefühls- regungen überhaupt begräbt, sehen wir einerseits in der Ungleich- förmigkeit der Stimmung, andererseits in ihrer Abhängigkeit von äusseren Zufälligkeiten, in ihrer Beeinflussbarkeit, den

Herabsetzung und Steigerung der gemütlichen Erregbarkeit.

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Mangel der dauernden, höheren Gefühle sich kundgeben. Wo die festen Grundlagen für die Stimmung fehlen, genügt oft eine Kleinigkeit, ein Wort, der Ton der Stimme, um den Kranken aus glückseligster Selbstzufriedenheit in masslose Verzweiflung zu versetzen. Diese Erscheinung pflegt namentlich in der Paralyse sehr deutlich zu sein.

Unvermittelte Aufwallungen des Gefühls finden sich ge- legentlich bei den verschiedensten Formen des angeborenen und erworbenen Schwachsinns. Aus der gesunden Erfahrung schon sind die Leidenschaftsausbrüche beschränkter Menschen, die Lau- nenhaftigkeit und Reizbarkeit der Greise bekannt. Ausser ge- wissen Formen des angeborenen Schwachsinns zeigen ferner na- mentlich die Endzustände der Dementia praecox regelmässig neben weitgehendster gemütlicher Stumpfheit rasch entstehende, kurz- dauernde Erregungen von oft sehr grosser Heftigkeit.

Besondere Lebhaftigkeit der Gefühlsregungen ist zu- nächst eine Eigentümlichkeit des kindlichen und des weiblichen Seelenlebens. Sie bedingt einmal eine erhöhte Beeinflussbarkeit des Stimmungshintergrundes durch augenblickliche Ursachen, anderer- seits wieder eine grosse Vergänglichkeit der Gefühlswallungen. So entwickelt sich die bekannte Unstetigkeit und Launenhaftig- keit der Gemütslage. Bei gewissen Formen der psychopathischen Veranlagung tritt die Leichtigkeit, mit der lebhafte Gefühle entstehen und vergehen, sehr auffallend hervor. Wir erinnern hier an die krankhafte Weichlichkeit und Empfindsamkeit, die einer- seits durch unangenehme und schmerzliche Eindrücke sofort auf das tiefste erschüttert wird, andererseits sich bei jeder An- regung edlerer Gefühle in hell lodernde, freilich auch bald wieder verlöschende Begeisterung versetzen lässt. Diese Veranlagungen leiten über zu dem eigenartigen Krankheitsbilde der Hysterie. Dasselbe ist dadurch gekennzeichnet, dass hier die starke Ge- fühlsbetonung den Vorstellungen einen weitreichenden Einfluss nicht nur auf den Willen, sondern auch auf solche körperliche Vorgänge verleiht, die dem Eingreifen der Willkür im allgemeinen entzogen sind. Starke Gemütsbewegungen beeinflussen Atmung und Kreislauf des Blutes, Blutdruck, Plerztätigkeit, Gefäss- spannung, Darm-, Blasen- und Haarmuskeln, Drüsenausschei- dungen, die Sicherheit und Kraft der Bewegungen, die Klarheit

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

und Stärke der Empfindungen. Nach allen diesen Richtungen hin gewinnen die unwillkürlichen Gefühlswirkungen bei der Hysterie eine ungeahnte Ausdehnung, deren besonderes M esen sich jedoch durch die ganz ähnlichen Wirkungen der hypnotischen Beeinflussung einigermassen aufklären lässt.

Als vorübergehendes Krankheitszeichen begegnet uns eine allgemeine Steigerung der gemütlichen Erregbarkeit in gewissen Erregungszuständen der Paralyse, der Katatonie und namentlich der Manie. Mit der Stärke der Gefühlsschwankungen, die sich in stürmischen Ausdrucksbewegungen kundgibt, verbindet sich auch hier die wichtige Erscheinung des Stimmungs- wechsels, da die lebhafte Färbung der jeweiligen Gemüts- lage den dämpfenden und ausgleichenden Einfluss der höheren Gefühle völlig in den Hintergrund drängt. Wir werden dadurch an die Erfahrungen des Rausches erinnert, bei dem ebenfalls die Ausgiebigkeit der Gefühlswallungen so häufig mit . jähem Um- schlagen der Gemütslage einhergeht. Die Leichtigkeit und Plötz- lichkeit, mit der überall die verschiedenen Gefühlstöne wechseln können, zeigt uns deutlich, dass ihre Entstehungsbedingungen miteinander nahe verwandt sein müssen. Die Stärke der Gefühls- äusserungen pflegt sich durch äussere Anregung rasch noch zu steigern, eine Erscheinung, die auch dem gesunden Leben, na- mentlich bei der gemütlichen Beeinflussung von Volksmassen, wohlbekannt ist und uns ähnlich im Rausche begegnet. In der Regel vermögen wir auch auf die Färbung der Stimmung ein- zuwirken, oft in ganz überraschender Weise; nur bei den kata- tonischen Erregungen steht solchen Versuchen der Negativis- mus der Kranken entgegen.

Krankhafte Gemütsarten. Die Bedeutung der Gefühle als Ausdruck der inneren Stellungnahme zu den Lebenserfahrungen wird vielleicht am klarsten in der Tatsache der persönlichen Ge- mütsarten. Dasselbe Ereignis bringt ganz verschiedene Seelen- zustände hervor, je nach der Eigenart des Betroffenen, je nach der tief in der Veranlagung wurzelnden Neigung zu bestimmten Gefühlsbetonungen. Bei der unerschöpflichen Mannigfaltigkeit der Gefühlsmischungen erscheint es unmöglich, alle verschiedenen Gestaltungen der Gemütsart zu kennzeichnen. Auf krankhaftem Gebiete ist die Schwierigkeit aus naheliegenden Gründen eher noch

Krankhafte Gemütsarten.

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grösser; wir müssen uns daher mit einer flüchtigen Skizzierung einzelner Formen begnügen.

Da die Unlustgefühle im allgemeinen einen stärkeren Ein- fluss auf unser Seelenleben zu gewinnen pflegen, als die weniger stürmisch ablaufenden Lustgefühle, spielen sie auch bei den krank- haften Gemütslagen eine grössere Rolle. Die gesteigerte Unlustempfindlichkeit führt zu der Neigung, an allen Lebensereignissen nur das Unangenehme und Peinigende heraus- zufinden, sich den frohen Genuss des Erfreulichen durch die kleinen Mängel und Störungen oder durch den Ausblick auf allerlei trübe Möglichkeiten zu verkümmern. Die Vergangenheit wird zu einer Kette von traurigen Erinnerungen, die Zukunft eine Quelle von Sorgen und Unheil, die Gegenwart eine schwere, müh- sam ertragene Bürde. Namentlich das eigene Wohl und Wehe wird gern zum Mittelpunkte der düsteren Betrachtungen; jede unbedeutende Störung des körperlichen Befindens erscheint der misstrauischen Selbstbeobachtung als das Anzeichen drohender un- heilbarer Leiden. Während im gesunden Leben die Niedergeschla- genheit, wie sie sich an traurige Erfahrungen anschliesst, alsbald durch den wieder erwachenden Lebensmut verscheucht wird, ver- mögen bei der krankhaften Schwarzseherei auch freudige Eindrücke nicht den Druck der Unlustverstimmung zu beseitigen, ja sie können ihn unter Umständen noch steigern. Ein Teil der Fälle steht in engeren Beziehungen zum manisch-depressiven Irresein; die trübe Gemütslage verbindet sich dabei in der Regel mit Ent- schlussunfähigkeit.

Wo die krankhafte Unlustbetonung von den Gefühlen der inneren Spannung begleitet wird, gewinnt die Gemütslage den Stempel der Ängstlichkeit. Den Kranken fehlt infolge- dessen die innere Sicherheit und Freiheit, das Vertrauen auf die eigene Kraft und Leistungsfähigkeit. An jede Handlung knüpft sich ihnen die bange Erwartung ihrer Folgen oder der Zweifel über ihre Berechtigung und Zweckmässigkeit. Auch hier sind es die Zustände des eigenen Körpers, die einen besonders frucht- baren Boden für die Entwicklung aller möglichen Bedenklichkeiten abgeben. Es kommt auf diese Weise zu peinlichen Selbstquäle- reien und Grübeleien, zu einem gesteigerten Verantwortlich- keitsgefühl, das die schüchternen Regungen zuversichtlichen

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II. Die Erscheinungen de6 Irreseins.

Lebensmutes im Keime erstickt. Diese Gemütsart bildet die Grundlage der krankhaften Befürchtungen; ferner habe ich in der Vorgeschichte von Melancholikern öfters ähnliche Züge gefunden.

Verbindung von gesteigerter Unlustempfindlichkeit mit Er- regung kennzeichnet die grosse Gruppe der reizbaren Na- turen. Unangenehme Eindrücke, die uns zum Handeln heraus- fordern, erzeugen die Gemütsbewegungen des Ärgers und des Zornes; sie entstehen besonders leicht, wenn wir uns im Zustande stärkerer Willensspannung befinden, in oder nach aufreibender, unsere ganzen Kräfte in Anspruch nehmender Tätigkeit oder nach heftigen Gemütserschütterungen. Bei der krankhaften Reizbar- keit überwiegt nicht nur die Unlustbetonung der Lebenserfah- rungen, sondern sie löst auch sofort eine gemütliche Erregung aus, die zur Entladung drängt und nur in steten inneren Kämpfen unterdrückt werden kann. Dieses Fehlen der Dämpfung bedingt dauernde Schwankungen des gemütlichen Gleichgewichtes, Ln- ruhe und Unstetigkeit mit gelegentlichen heftigeren Gefühls- ausbrüchen, die bald mehr die Färbung der Verzweiflung, bald mehr diejenige des Zorns annehmen können. Die erstere Form begegnet uns am häufigsten bei der angeborenen Nervosität, die krankhafte Zornmütigkeit (Iracundia morbosa) vorzugsweise bei der epileptischen und hysterischen Veranlagung.

Die krankhafte Empfindlichkeit gegen die Aussenwelt führt indessen nicht immer zu leidenschaftlichen Entladungen, sondern bisweilen auch zu einer Art von innerer Absperrung. Dadurch entsteht diejenige Gemütsart, die wir als Verschlossenheit bezeichnen. Dieselbe verknüpft sich in der Regel nicht mit dem zornigen Kraftgefühl, das den Trotz des Gesunden begleitet, sondern bedeutet ein scheues Zurückweichen vor den Eindrücken des Lebens mit dem mehr oder weniger deutlichen Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeit. Der Verkehr mit Fremden, das Heraustreten in eine ungewohnte Umgebung, besondere Anforde- rungen, auftauchende Schwierigkeiten erscheinen den Kranken sofort als unüberwindliche Hindernisse, denen sie nur durch völlige Abschliessung zu entgehen, nicht aber durch tatkräftigen Ent- schluss zu begegnen wissen. Diese Störung bildet den Schlüssel zum Verhalten so mancher „Sonderlinge“. Ganz ähnliche Züge

Krankhafte Gemütsarten.

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werden uns häufig in der Vorgeschichte der Dementia praecox berichtet, nicht selten verbunden mit übertriebener Frömmig- keit und der Neigung, sich aus dem Leben ins Kloster zurück- zuziehen. Es scheint jedoch, dass hier nicht oder doch nicht allein eine gesteigerte Unlustempfindlichkeit zu Grunde liegt, sondern dass auch wohl negativistische und verschrobene Stre- bungen dabei eine Rolle spielen.

Verstärkte Lustbetonung der Lebensreize finden wir zunächst bei den glücklichen, „sonnigen“ Naturen, die stets in heiterster Laune sind, allen Ereignissen die beste Seite abzu- gewinnen wissen, an jedes Unternehmen die grössten Hoffnungen knüpfen und ihr ganzes Leben in der sicheren Erwartung irgend eines unerhörten Glücksfalles verbringen. Verbindet sich damit, wie nicht selten, ein lebhafter Betätigungsdrang, der mit nie versiegender Zuversicht wechselnden Zielen nachjagt, so werden die inneren Beziehungen, die dieser Gemütsart zum manisch- depressiven Irresein zukommen, besonders deutlich. Mir scheint, dass solche Beziehungen auch dann anzunehmen sind, wenn aus- geprägte Krankheitsanfälle vollständig fehlen, dass also eine dauernde übermässige Lustbetonung mit innerer Unstetigkeit ebenso eine Vorstufe jenes Leidens darstellt wie die grundlose Gedrücktheit mit Entschlussunfähigkeit.

Einer anderen eigenartigen Abtönung des Gefühlslebens be- gegen wir bei den Schwärmern. Hier sind einzelne Gefühls- richtungen, namentlich religiöse oder geschlechtliche mit mehr oder weniger verhüllter sinnlicher Färbung, zu besonderer Über- schwänglichkeit entwickelt und beherrschen Denken und Handeln. Aus der leidenschaftlichen Hingabe an die schwärmerischen Nei- gungen erwachsen Lustgefühle von ausserordentlicher Stärke, die alles äussere Leid und Ungemach aufwiegen können. Die Grund- lage dieser Gemütsart bildet in der Regel die hysterische Ver- anlagung. Den Schwärmern nahe stehen gewisse krankhafte Schwindler, bei denen die unausrottbare Lust am Aben- teuer, am Ungewöhnlichen und Aufregenden, die übermütige Freude an der eigenen Erfindungsgabe alle bedächtigen Über- legungen in den Hintergrund drängt. Auch hier lassen sich in der Regel hysterische Züge nachweisen.

Von hier führen fliessende Übergänge hinüber zum krank-

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

haften Leichtsinn, der eine erhöhte Empfänglichkeit für die seichten Zerstreuungen des Lebens besitzt, aber auch ernste Dinge nicht ernst zu nehmen versteht, sondern das Leben im wesentlichen als einen recht guten Witz betrachtet. Es handelt sich hier wohl wesentlich um Oberflächlichkeit der Gemüts- regungen überhaupt. Tief, nachhaltig und gestaltend vermögen auf unser Seelenleben nur die ernsten oder mit Ernst gemischten Eindrücke einzuwirken; nur sie sind geeignet, dem Stimmungs- hintergrunde Einheitlichkeit und Stetigkeit zu geben. Mangelnde Tiefe und rasches Verfliegen der Gemütsbewegungen wird daher am einschneidendsten in der Verkümmerung der richtunggebenden ernsten Gefühle zum Ausdrucke kommen. Darum verknüpft sich mit dem. krankhaften Leichtsinn, der eine wesentliche Begleit- erscheinung gewisser Schwachsinnsformen bildet, regelmässig unvollkommene Entwicklung der höheren Gefühle, Selbstsucht und Haltlosigkeit des Willens.

Eine gemeinsame Eigentümlichkeit der zuletzt gekennzeich- neten krankhaften Gestaltungen der Gemütsart ist ein lebhaft gesteigertes Selbstgefühl. Die eigenen Eigenschaften und Lei- stungen erscheinen den Kranken in besonders günstigem Lichte und gewinnen für sie um so höhere Bedeutung, als die Regungen des Mitgefühls mit fremdem Leide in der Regel sehr unvollkommen bei ihnen entwickelt sind. Wir sehen daher häufig nicht nur, dass die Kranken ihre eigene Person inasslos überschätzen, son- dern dass sie auch jede leise wirkliche oder vermeintliche Beein- trächtigung als schwere Unbill empfinden, während ihre Ein- griffe in fremde Rechte ihnen als völlig harmlose und erlaubte Handlungen erscheinen. Diese selbstsüchtige Einseitigkeit der Gefühlsbetonung finden wir bei vielen geborenen Verbrechern, ferner bei den Pseudoquerulanten, bei denen sie mit grosser Reizbarkeit einhergeht. Vielleicht gibt sie auch den günstigen Boden ab für die Entwicklung des echten Querulantenwahnes und der ihm verwandten Formen der Verrücktheit.

Krankhafte Gemütsbewegungen. Die krankhaften Gemüts- bewegungen unterscheiden sich von denjenigen der Gesunden im allgemeinen hauptsächlich durch den Mangel einer verständlichen Begründung sowie durch ihre Stärke und Nachhaltigkeit, während ihre Färbung in der Regel irgend einer der sonst bekannten

Krankhafte Gemütsbewegungen.

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Gefühlsmischungen entspricht. Auch im gesunden Leben sehen wir freilich Stimmungen kommen und gehen, ohne dass wir uns immer über ihren Ursprung Rechenschaft zu geben vermöchten, aber wir sind imstande, sie zu beherrschen und zu verscheuchen, während die krankhaften Stimmungen allen Beeinflussungsver- suchen trotzen. Andererseits schliessen sich krankhafte Gemüts- bewegungen bisweilen an bestimmte äussere Anlässe an, aber sie verblassen dann nicht wieder, wie die Gefühlswallungen des Gesunden, sondern sie gewinnen Selbständigkeit und weichen auch dann nicht, wenn der scheinbare Anlass beseitigt ist.

Die bei weitem häufigste Form der unangenehmen krank- haften Gemütsbewegungen ist die Angst, die wir vielleicht als eine Verbindung von Unlust mit innerer Spannung betrachten können. Sie pflegt wie keines der anderen Gefühle den gesamten körperlichen und geistigen Zustand in Mitleidenschaft zu ziehen. Die innere Spannung macht sich in der Körperhaltung, den Aus- drucksbewegungen, der krampfhaften Muskelinnervation geltend, oder sie entladet sich in Jammern und Schreien, heftigen Abwehr- und Fluchtversuchen, in Angriffen auf die Umgebung oder das eigene Leben. Dazu gesellen sich alle jene schon aus der gesunden Erfahrung bekannten nervösen Begleiterscheinungen der Angst, ihre Wirkung auf die Herztätigkeit (Herzklopfen), auf die Gefässnerven (Blasswerden), die Atmung, die willkürlichen Mus- keln (Zittern, Schlottern), endlich auf Schweiss-, Harn- und Darmabsonderung. Die Beeinflussung der Atmung und des Herz- schlags wird von den Kranken sehr lebhaft als Druck und Be- klemmung in der Herzgegend empfunden (Präkordialangst); sel- tener überwiegen unangenehme Spannungsempfindungen im Kopfe. Im Anfänge ist die Angst gewöhnlich gegenstandslos; der Kranke fühlt sie, ohne zu wissen, warum, weiss sogar oft ganz genau, dass er gar keinen Grund hat, sich zu fürchten. Hecker hat darauf hingewiesen, dass die unbestimmte Angst ganz eigentüm- liche Formen annehmen kann, deren ursprüngliche Bedeutung nicht immer leicht zu erkennen ist, als Gefühl des Heimwehs, der veränderten Auffassung, der Betäubung und ähnl. In der Regel freilich verdichten sich allmählich die unbestimmten ängst- lichen Ahnungen zu mehr oder weniger klar ausgemalten Be- fürchtungen. In den höchsten Graden der Angst pflegt jedoch

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

das Bewusstsein mehr oder weniger stark getrübt zu sein; sehr starke gemütliche Erregungen lassen nur ganz unklare und ver- worrene Vorstellungen zu stände kommen.

In der Regel überfällt die Angst den Kranken in Anfällen, oder sie zeigt doch wenigstens deutliche Nachlässe und er- schlimmerungen, letztere besonders in der Nacht. Nur aus- nahmsweise hält die ängstliche Spannung Tage, Wochen, ja selbst Monate lang in voller Stärke an. Als eigentlich kennzeichnende Krankheitserscheinung darf die Angst für die Melancholie be- trachtet werden; man wird sie hier selten oder nie vermissen. Auch in den Depressionszuständen des cirkulären Irreseins ist sie häufig, doch gibt es hier zahlreiche Fälle, in denen sie gänzlich fehlt. Ausserdem begegnen wir lebhafter Angst in den Dämmer- zuständen der Epileptiker, bei Alkoholdeliranten, im Beginne kata- tonischer Erkrankungen und bisweilen in den quälendsten Formen bei Paralytikern.

Eine besondere, weit ausgedehnte klinische Gruppe von Angst- zuständen bilden endlich jene Störungen, die man als Zwangs- befürchtungen oder „Phobie n“ zu bezeichnen pflegt. Die Angst knüpft sich hier jeweils an bestimmte Erlebnisse oder orstel- lungen an, die zu verschiedenartigen quälenden Befürchtungen Anlass geben. In ihren leichtesten Formen sind diese Befürch- tungen auch dem gesunden Leben nicht fremd; den Stempel des Krankhaften gewinnen sie zunächst durch ihre Hartnäckigkeit und Aufdringlichkeit, weiterhin aber auch durch die peinliche Lebhaftigkeit, mit der sich die erregte Einbildung alle erdenk- lichen Einzelheiten der gefürchteten Vorgänge ausmalt. Die Er- wartung von unangenehmen Eindrücken, von Gefahren und Unannehmlichkeiten, sodann die Unsicherheit im persönlichen Auftreten, die Verantwortung Im Handeln sind die Quellen, aus denen auch die Zwangsbefürchtungen fliessen. Ihre Bezeichnung haben sie daher, weil sie Überlegung und Willen immer wieder überwältigen und die geistige Freiheit auf das schwerste beein- trächtigen, obgleich ihre Haltlosigkeit deutlich erkannt wird. Die Kranken umgeben sich daher, um sich gegen die be- ständigen Einengungen durch zwangsmässige Unlustgefühle einigermassen zu schützen, nicht selten mit einem ganzen Netze absonderlicher Vorsichtsmassregeln, welche der äusseren Ein-

Krankhafte Gemütsbewegungen.

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Wirkung ebensowenig Spielraum lassen wie der eigenen freien Entschliessung. Das Auftreten der Zwangsbefürchtungen ist kennzeichnend für gewisse Krankheitsbilder des Entartungsirre- seins; vorübergehend werden sie auch beim manisch-depressiven Irresein beobachtet.

Die weit verbreitete, lächerliche, aber schwer ausrottbare Furcht vor Spinnen, Fröschen, Mäusen gibt uns ein Beispiel dafür, wie harmlose Anlässe lebhafte Beunruhigung hervorrufen können. Als weitere Entwicklungsstufe haben wir die Angst vor dem Hineinblicken in einen Spiegel, vor dem Öffnen von Briefen, vor dem Anziehen neuer Kleidungsstücke zu verzeichnen. Das leise Unbehagen, das bei solchen Anlässen wohl auch einmal der Gesunde verspürt, kann sich bei Kranken zu den heftigsten Angst- anfällen steigern. Dasselbe gilt von der Furcht vor allerlei Ge- fahren und peinlichen Erlebnissen. Wir begegnen der Angst, vom Blitz erschlagen, von einem herabstürzenden Gegenstände ge- troffen, von Betrunkenen angefallen, von durchgehenden Pferden überrannt zu werden, bisweilen im Anschlüsse an persönliche Erlebnisse, aber auch in freier Entstehung. Dahin gehört auch die Angst vor dem Alleinsein, die Angst vor grossen Menschen- mengen, die Befürchtung, in Gesellschaft von plötzlichem Un- wohlsein, von Harn- oder Stuhldrang überfallen zu werden, beim Anreden oder bei verfänglichen Bemerkungen erröten zu müssen, namentlich aber die bei allen diesen Zwangsbefürchtungen sich herausbildende Angst vor der Angst. Da die Kranken im- stande sind, die Unsinnigkeit ihrer Befürchtungen klar zu über- blicken, sind es sehr bald gar nicht die ihnen vorschwebenden Zwischenfälle selbst, die sie beunruhigen, sondern die quälende Nötigung, sich damit zu beschäftigen; sie fürchten nicht den Ein- tritt jener Ereignisse, sondern das Auftauchen der Angst vor ihnen.

Einen sehr ergiebigen Boden für die Erzeugung von Zwangs- befürchtungen bilden die Regungen der Unsicherheit und Ver- legenheit, die uns im Verkehr mit Anderen und in noch stärkerem Grade bei besonderen Leistungen, namentlich in der Öffentlich- keit, befallen. Sobald wir Fremden gegenübertreten und deren Aufmerksamkeit auf uns gerichtet wissen, werden auch wir ver- anlasst, an unsere äussere Erscheinung und den Eindruck zu

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

denken, den sie hervorrufen mag. Kleine Mängel, deren wir uns dabei bewusst werden, können ein peinliches Gefühl der De- mütigung hervorrufen, das unser Selbstvertrauen in empfindlicher Weise lähmt. Bei krankhafter Veranlagung kann die Befürch- tung irgend einer Unzulänglichkeit in der Kleidung, mangelnder Sauberkeit, der Gedanke, etwas Auffallendes, einen unangenehmen Geruch an sich zu haben, ohne irgend einen Anhalt auftauchen und trotz aller Bemühungen, ihn zu verdrängen, solche Macht erlangen, dass er die Unbefangenheit und Sicherheit des Auftretens ver- nichtet. Der Versuch, des unbehaglichen Gefühls Herr zu werden, richtet die Aufmerksamkeit des Kranken erst recht auf das- selbe und verstärkt es; je mehr er sich damit beschäftigt, desto grösser wird der Raum, den es in seinem Seelenleben ein- nimmt.

Wenn wir ein besonderes Unternehmen vor uns haben, so überfällt uns leicht der Zweifel, ob alles nach AVunsch gehen wird, und damit eine gewisse innere Beunruhigung. Wir sprechen vom Eisenbahnfieber, vom Lampenfieber, von der Prüfungsangst, uno wissen, dass diese Gemütsbewegungen oft genug mächtiger sind, als jede ruhige "Überlegung. Bei Kranken können sie nichx nur eine ausserordentliche Heftigkeit zeigen und damit die Leistungs- fähigkeit schwer schädigen, sondern sie treten vielfach auch bei Anlässen auf, die den Gesunden völlig gleichgültig lassen. Das bekannteste Beispiel dafür ist die Platzangst oder Agora- phobie, das Gefühl der Unfähigkeit, allein über einen freien Platz, durch eine menschenleere Strasse zu gehen. Jeder A er- such kann die Beängstigung bis zu ohnmachtähnlichen Anfällen steigern. Bei der Angst, sich zu verschlucken, wird der einfache Vorgang des Schluckens durch die Einmischung unzweckmässiger und krankhafter Nebenbewegungen in ähnlicher Weise erschwert wie etwa das Gehen, sobald es nicht unwillkürlich abläuft. Für eine entsprechende Störung beim Urinlassen hat man die schöne Be- zeichnung des „Harnstotterns“ erfunden. Ganz besonders verstärkt werden diese Behinderungen, wie schon im gesunden Leben, durch die Aufmerksamkeit Anderer. Wie wir beim Singen oder Spielen das Zuhören Dritter störend empfinden, so werden manche Men- schen schon beim einfachen Schreiben behindert, sobald ihnen je- mand auf die Finger sieht. Auch die Regungen des Schamgefühls

Krankhafte Gemütsbewegungen.

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können solche Macht gewinnen, dass die Befriedigung der natür- lichen Bedürfnisse in Gegenwart Anderer oder schon bei dem Gedanken an fremde Beobachtung unmöglich wird.

Eine lebhafte Beeinträchtigung des Handelns entwickelt sich aus der Befürchtung, Andere zu gefährden oder zu schädigen. Aus der gesunden Erfahrung ist uns das Unbehagen bekannt, das uns beim ungewohnten Hantieren mit geladenen Gewehren, sehr scharf geschliffenen Messern ergreift, in dem Gedanken, dass wir damit irgend ein Unheil anrichten könnten; es kann auch dann auftreten, wenn wirkliche Gefahr vollkommen ausgeschlossen ist. Bei Kranken nehmen derartige Befürchtungen die mannigfaltigsten Gestaltungen an. Besonders häufig ist die Angst, irgendwie Nadeln oder Glasscherben ins Essen zu bringen und auf diese Weise Andere zu töten. Auch die Furcht, Krankheitskeime oder Giftstoffe mit den Kleidern oder Händen aufzufangen und weiter zu verbreiten, spielt eine ähnliche Rolle; ihr verwandt ist die ganz abenteuerliche Idee, den Abort möglicherweise mit Samen- fäden zu beschmutzen und dadurch die Schwängerung eines Frauenzimmers herbeizuführen. Eine besondere Gruppe bildet die Furcht vor der unwillkürlichen Ausführung verbrecherischer Handlungen. Manche Kranke werden gepeinigt von der Vor- stellung, sie müssten ein bereitliegendes Messer ergreifen und damit jemanden töten, eine begegnende Frauensperson vergewal- tigen, ein Kind unzüchtig berühren, einen Menschen anfallen, beissen, von einer Brücke herunterstossen.

Sehr oft beziehen sich die Befürchtungen auf die Vergangen- heit. Die Kranken leben in der Angst, dass sie bei dieser oder jener Gelegenheit ein wichtiges Papier achtlos vernichtet, ein Stückchen der Hostie beim Abendmahl verstreut, dass sie sich beim Herausgeben von Geld zum Nachteil eines Andern geirrt haben könnten, dass sie bei der Fällung eines Urteils nicht mit der nötigen Gewissenhaftigkeit verfahren, durch unvorsichtiges Umgehen mit Feuerzeug zu Brandstiftern geworden seien. Daran knüpfen sich dann endlose Grübeleien über die Einzelheiten der Vorgänge, Selbstverteidigungen und Selbstbeschuldigungen in immer spitzfindigeren Formen. Während sonst bei den Zwangs- befürchtungen das klare Bewusstsein ihrer Grundlosigkeit und Krankhaftigkeit erhalten bleibt, kann bei diesen Formen zeitweise

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

die bündige Berichtigung der quälenden Vorstellungen versagen. Die Kranken sind nicht sicher, ob sie nicht doch eine der sie beunruhigenden Handlungen ausgeführt haben, ja sie können sogar überzeugt sein, dass es wirklich geschehen sei, und sich den Vorgang mit allerlei Einzelheiten ausmalen, allerdings nie- mals mit der unantastbaren Gewissheit, die wir bei den eigent- lichen Wahnbildungen beobachten.

Der Unlust mit Spannung, wie wir die Angst bezeichnet haben, dürfen wir vielleicht als Unlust mit Hemmung die ein- fache Niedergeschlagenheit gegenüberstellen, den Seelen- schmerz mit dem Gefühle der Unfähigkeit. Den Grundton dieser Verstimmung bildet die aus dem eigenen Innern herauswachsende Traurigkeit, die den gesamten Lebensereignissen ihren Stempel auf- drückt. Infolgedessen erscheint die Vergangenheit als eine Kette von schlimmen Erfahrungen oder gar Verfehlungen, die Gegen- wart grau und trübe, die Zukunft hoffnungslos. Allerlei schwere Gedanken und Ahnungen steigen auf, die sich zu ausgeprägten Wahnbildungen im Sinne der Versündigung und Verfolgung ver- dichten können. Am schmerzlichsten aber empfindet der Kranke die Öde und Leere im eigenen Innern. Er fühlt weder Freude noch Leid; die Eindrücke der Aussenwelt finden in seiner Brust keinen Widerhall. „Ich bin wie ein Kinematograph“, sagte mir eine Kranke; „ich sehe wohl, dass es schön ist, aber ich empfinde es nicht.“ Die gesunde Befriedigung am Dasein hat einem Ge- fühle schmerzlichen Lebensüberdrusses Platz gemacht; die frühe- ren Lieblingsneigungen sind erloschen, und selbst die nächsten Herzensbeziehungen scheinen in der gemütlichen Erstarrung unter- gegangen zu sein. Ja, aus den Quellen des früheren Glückes fliesst jetzt am reichlichsten die traurige Verstimmung, da die Un- lustbetonung um so lebhafter wird, je stärker das Gemüt in Anspruch genommen wird. Frohe Eindrücke steigern nur die Verstimmung, die eben nicht, wie ein gesunder Seelenschmerz, durch äusseres Glück gemildert wird, sondern umgekehrt den freudigen Anlass im Sinne der krankhaft veränderten Gefühls- betonung färbt. So sah ich einen Knaben mit trauriger Verstim- mung beim Anhören heiterer Musik in bitterliches V einen aus- brechen.

Diese Umwandlung der Gefühlsbetonung, die für gewisse

Krankhafte Gemütsbewegungen.

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Formen der cirkulären Depressionszustände kennzeichnend ist, geht in der Regel mit einer Hemmung des Denkens und Wollens einher. Die Kranken empfinden ihren Zustand äusserst qualvoll; sie fühlen sich innerlich abgestorben, herzlos geworden und knüpfen daran sehr häufig die Vorstellung der sittlichen Ver- ödung oder der körperlichen Veränderung. In Wirklichkeit sind sie keineswegs gefühllos, wie gelegentliche Leidenschaftsausbrüche beim Verkehr mit ihren Lieben sowie die starke Selbstmordneigung deutlich genug dartun. Die Hemmung kann dabei unvermittelt in Erregung übergehen, so dass dann die ganze Lebhaftigkeit der Gemütsbewegung nach aussen hervortritt.

Eine Unlust mit Erregung beobachten wir ebenfalls nicht selten im manisch-depressiven Irresein, bald als selbstän- digen Krankheitsanfall, bald als Übergangszustand zwischen An- fällen von verschiedener Färbung. Die Verstimmung ist dabei bald eine mehr traurige, bald ängstlich oder zornig; sie äussert sich je nachdem in Jammern und Klagen, in Befürchtungen oder in Ausbrüchen von Gereiztheit. Gerade diese letztere Form ist besonders häufig. Die Kranken sind verdriesslich, missmutig, mit allem unzufrieden, zerfallen mit sich und ihrer Umgebung, ärgern sich über jede Kleinigkeit und nörgeln, oft gegen ihre bessere Einsicht, in der unerträglichsten Weise, um bei dem ge- ringsten Anlasse zu heftigen Entladungen überzugehen. Ganz ähnliche Verstimmungen, verbunden mit gehobenem Selbstgefühl und Witzelsucht, sind mir wiederholt bei syphilitischen Hirnerkran- kungen begegnet; auch manche Gemütsbewegungen der Hyste- rischen zeigen eine Mischung von Unlust und Erregung mit zor- niger Reizbarkeit.

Eine besondere Gruppe bilden vielleicht die V erstimmungen der Epileptiker. Wir beobachten bei ihnen einmal einfache Nieder- geschlagenheit mit Lebensüberdruss. Hie und da scheint sie mit dem Gefühle der Hemmung einherzugehen; meist aber hat sie eine „heimwehartige“ Färbung, ist also mit einer unbestimmten Sehnsucht und inneren Unruhe verknüpft, die zu Selbstmordver- suchen, zum Trinken oder zu planlosen Wanderungen führen kann. Noch häufiger ist Gereiztheit mit plötzlichen gewalttätigen Entladungen von ausserordentlicher Heftigkeit. In den eigent- lichen Dämmerzuständen überwiegen ängstliche Spannungen, eben-

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

falls vielfach mit starker Reizbarkeit. Merkwürdigerweise können sich in alle diese Unluststimmungen auch geschlechtliche und ekstatische Lustgefühle hineinmischen.

Die Besprechung der krankhaften Lustgefühle knüpft vielleicht am besten an gewisse Erfahrungen an, die über die Wirkung einiger Arzneimittel auf die Stimmung vorliegen. Vor allem ist es der Alkohol, der bekanntlich ausgeprägte Lustgefühle von bestimmter Färbung hervorbringt, das Gefühl erhöhter Kraft, Begeisterung, Unternehmungslust. Als die Wurzel dieser heiteren Stimmung kann höchstwahrscheinlich die Erleichterung der Aus- lösung von Bewegungsantrieben angesehen werden, wie sie sich im weiteren Verlaufe der Alkoholwirkung immer deutlicher durch das Auftreten von Reizbarkeit, lärmender Unruhe und planlosem Tatendrang kundzugeben pflegt. Die gleiche Grundlage der heiteren Verstimmung werden wir auch wohl dort vorauszusetzen haben, wo uns auf krankhaftem Gebiete die Verbindung von leb- haften Lustgefühlen mit grosser Reizbarkeit und starkem Be- wegungsdrange begegnet, bei den manischen Aufregungszustän- den. Die Ähnlichkeit dieser letzteren mit dem Rausche ist oft genug betont worden, und sie ist nach dem Ausweise psycholo- gischer Versuche, trotz tiefgreifender Unterschiede, doch eine mehr als äusserliche. Auch bei der Manie haben wir es mit einer erleichterten Auslösung von Bewegungsvorgängen zu tun, die sich klinisch in den gleichen Erscheinungen äussert wie der Rausch. In beiden Zuständen fehlt nahezu oder vollständig das Bewusstsein der Störung. Der Berauschte hält sich höchstens für ein wenig angeheitert, und der leicht manisch Erregte kann sich überaus frisch und leistungsfähig, ja so gesund fühlen wie niemals. Die Stimmung trägt in beiden Fäilen den Stempel der übermütigen Lustigkeit; das Selbstgefühl ist sehr gesteigert.

Die gehobene Stimmung des Rausches wird bei fortgesetztem Alkoholmissbrauche ebenso zu einer dauernden Eigenschaft des Trinkers wie die übrigen Wirkungen jenes Giftes. Sie nimmt jedoch dabei die Form eines gemütlichen, seichten Humors an, wie er den Verkehrston der Stammtische kennzeichnet. Sehr deutlich ist diese eigentümliche Stimmungslage regelmässig im Delirium tremens, hier mit heimlicher Angst gemischt; sie pflegt aber auch sonst beim ausgeliildeten Trinker unverkennbar zu

Krankhafte Gemütsbewegungen.

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sein und sich erst bei dauernder Enthaltsamkeit allmählich zu verlieren. Sie unterscheidet sich von der Angeregtheit des leich- ten Rausches durch das Fehlen der Tatkraft. Diese unbekümmerte Missachtung der Sorgen, die leichtherzige Versenkung in den Genuss des Augenblicks, wie sie in den Trinkliedern gefeiert wird, steht in nächster Beziehung zu der Willensschwäche und sitt- lichen Unfähigkeit des Trinkers. Wie der wahre Humor einer- seits die Selbstverlachung, andererseits die Unverwundbarkeit durch das kleine Leid des Lebens in sich schliesst, so dürfte auch dem Humor des Trinkers das tiefe Gefühl der eigenen Ohn- macht zu Grunde liegen, das jeweils durch die alkoholische An- heiterung gemildert wird. Freilich haben wir es dort mit der sittlichen Selbstüberwindung zu tun, mit der Erreichung der höchsten inneren Freiheit, hier aber mit dem willenlosen Auf-. geben der eigenen Persönlichkeit, dem Versinken in eine fidele, aber schmähliche Knechtschaft.

Auch in gewissen Formen der Paralyse kann das Ge- sundheits- und Glücksgefühl sehr stark hervortreten ; es nimmt hier bisweilen ganz überschwängliche Gestaltungen an. Der Kranke fühlt sich so unaussprechlich selig, dass er oft gar keine Worte zur Schilderung seines namenlosen Entzückens finden kann. Dieses überquellende Glücksgefühl er- innert an gewisse spätere Abschnitte des Rausches, in denen bereits die Lähmungserscheinungen deutlicher geworden sind. Ihm fehlt trotz aller Grössenideen die Ausgelassenheit, das frische, unmittelbare Kraftgefühl, das der flotten manischen Stimmung ihre besondere Färbung gibt. Im weiteren Verlaufe schrumpft das Glücksgefühl des verblödenden Paralytikers immer mehr zu einer lächelnden, gedankenlosen Zufriedenheit ein, die keine Spur jener Reizbarkeit zeigt, wie sie auch die letzten Stufen der alko- holischen Seligkeit noch auszeichnet. Ihr ähnelt die behagliche Zufriedenheit des Altersblödsinns, der sich allerdings öfters noch eine gewisse alberne Vergnügtheit beimischt.

Im Verlaufe der Dementia praecox begegnen wir ebenfalls eigenartigen krankhaften Lustgefühlen. In den Erregungszustän- den ist es eine läppische, gegenstandslose Heiterkeit und Aus- gelassenheit mit unbändigen Lachausbrüchen, die sehr an die krampfhafte Lustigkeit übermüdeter Kinder erinnert. Sie steht

Kraepelin, Psychiatrie I. 7. Aull. 17

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

in gar keiner Beziehung zu dem Vorstellungsinhalte oder den Vorgängen in der Umgebung, wie die übermütige Fröhlichkeit des Manischen, und ist anscheinend auch nicht von wirklichem Mucks- gefühl begleitet, wie die freudige Erregung des Paralytikers. Bei den mit Grössenideen einhergehenden Formen kann eine ungemein hochmütige, selbstbewusste Stimmung auf treten, . die meist mit erhöhter Reizbarkeit einhergeht. Dagegen entwickelt sich mit fortschreitender Verblödung vielfach eine unbekümmerte Vunsch- losigkeit ohne Erwartungen und Hoffnungen, aber auch ohne

Sehnsucht, Furcht oder Reue.

Ausser dem Alkohol und dem in seiner Wirkung nach dieser Richtung verwandten Cocain ist namentlich noch das Morphium geeignet, Wohlbehagen zu erzeugen. Man pflegt diese V mkung des Morphiums zumeist einfach auf seine schmerzstillende Eigen- schaft zurückzuführen, allein der Umstand, dass jenes Mittel auch dann das Gefühl des Wohlseins herbeiführt, wenn keinerlei Schmerz und Unbehagen vorher bestanden hat, spricht mit genügender Deutlichkeit dafür, dass die Wirkung nicht allein in der Be- seitigung von Unlust, sondern vielmehr in der Erzeugung von Lust bestehen muss. Es wäre auch sonst wohl undenkbar, dass Morphium und Opium in dem genugsam bekannten Masse Ge- nussmittel geworden wären. Möglicherweise knüpft sich das Wohlbehagen bei der Morphiumwirkung an die hier eintretende Erleichterung der Gedankenverbindungen an. Dafür würde auch die Erfahrung sprechen, dass Morphinisten sich nach der Ein- spritzung geistig frischer und leistungsfähiger fühlen, sowie dass die Opiumraucher sich mit Wonne den bunten Bildern hingeben, welche ihnen die lebhaft angeregte Einbildungskraft vorgaukelt. Vielleicht ist dem Traumleben des Opiumrausches jener Zustand verwandt, den wir als Vor zückung oder Ekstase zu be- zeichnen pflegen. Auch hier fehlt gänzlich der Bewegungsdrang, die Erleichterung des Handelns. Vielmehr zieht sich das Seelen- leben auf einzelne traumhafte Trugwahrnehmungen und Gedanken- gänge zurück, die von Gefühlen des höchsten Glückes beg ^^et und fast immer religiösen Inhaltes sind. Wir beobachten solche Zustände namentlich bei Epileptikern, bisweilen auch bei Hyste- rischen

Wieder ein wenig anders scheint sich das Wohlgefühl des

Krankhafte Gemütsbewegungen.

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Tabakrauchers zu verhalten. Die bis jetzt darüber vorliegenden Versuche würden etwa für eine ganz leicht betäubende Wirkung des Tabaks sprechen. Dadurch könnte das Gefühl behaglicher Beschaulichkeit entstehen, welches nicht durch lebhafter sich auf- drängende Vorstellungen oder Willensantriebe gestört wird. Dem- gegenüber haben wir es beim Brom, dessen beruhigende Wir- kungen genauer untersucht worden sind, höchst wahrscheinlich gar nicht mit der Erzeugung wirklicher Lustgefühle, sondern wohl ausschliesslich mit der Beseitigung innerer Spannungs- zustände zu tun. Dem würde auch die Tatsache entsprechen, dass für das Brom gar keine oder doch nur eine sehr geringe Gefahr gewohnheitsmässigen Missbrauches besteht, da es eben kein Ge- nussmittel darstellt, sondern ausschliesslich dann ein Wohlgefühl herbeiführt, wenn vorher eine unbehagliche innere Erregung bestand.

Mit den hier angedeuteten Formen der krankhaften Lust- gefühle ist die Mannigfaltigkeit derselben nicht im entferntesten erschöpft. Wir stehen nur überall vor der grossen Schwierigkeit, die einzelnen Schattierungen dieser Zustände richtig zu kenn- zeichnen und womöglich auch auf ihren Ursprung zurückzuver- folgen. Vielfach ist diese Entstehungsweise überhaupt keine ein- heitliche, sondern es mischen sich Gefühle verschiedenen Ur- sprungs miteinander. Insbesondere können auch Gefühle verschie- dener Färbung gleichzeitig vorhanden sein oder doch sehr rasch aufeinander folgen. So haben wir schon die Mischung von Angst und Humor beim Delirium tremens erwähnt; in epileptischen Dämmerzuständen verbinden sich häufig ekstatische Wonne- gefühle mit Angst und Zorn; im manisch-depressiven Irresein wie in der Paralyse wechseln ganz gewöhnlich unvermittelt Glücks- gefühl, Zorn und Verzweiflung.

Bisweilen mögen auch krankhafte Überlegungen und Vor- stellungen die Stimmung beeinflussen, so dass die Störungen dieser letzteren nicht ursprüngliche, sondern Folgen von Wahn- bildungen sind. Im ganzen allerdings ist es mir bei weitem am wahrscheinlichsten, dass Stimmung und Vorstellung einen ein- heitlichen Vorgang bedeuten, dessen verschiedene Seiten sich uns nur in verschiedener Weise darstellen.

Störungen der Gemeingefühle. Als Gemeingefühle bezeichnen

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

wir vor allem diejenigen Gefühlsregungen, welche in engen und unverbrüchlichen Beziehungen zur Selbsterhaltung stehen. Sie haben die gemeinsame Eigentümlichkeit, dass sie stets mit leb- haften Willensregungen verknüpft sind; ihre bestimmende Wich- tigkeit für das Triebleben tritt dadurch klar zu Tage. Am besten dürfen wir die Gemeingefühle als Mahnungen und Warnungen auffassen, die sich aus der Erfahrung zahlloser Geschlechter all- mählich zu unwillkürlich wirkenden Beweggründen des Handelns herausentwickelt haben. Im gewöhnlichen Leben .unterrichten uns diese Gefühle mit unfehlbarer Sicherheit über die jeweiligen Bedürfnisse unseres Körpers, und sie fordern gebieterisch die- jenigen Handlungen, welche der Sachlage angepasst sind. Die Ausführung jener Handlungen kann durch den bewussten W ulen zumeist gehindert werden, wenn auch oft nur unter starker Selbstverleugnung; die Gefühle selbst dagegen werden nur da- durch, aber dann auch mit Sicherheit, zum Schweigen gebracht, dass dem angezeigten Bedürfnisse auf irgend eine Weise abge- holfen wird. Allerdings beobachten wir auch im gesunden Leben bisweilen, dass ein Gemeingefühl wieder schwindet, wenn wir demselben trotz längerer Mahnung keine Folge geben. Wir sind imstande, die Müdigkeit zu überwinden, wenn wir mit Auf- gebot unserer Kräfte weiter arbeiten; der Hunger lasst nach, sobald wir längere Zeit ausser stände sind, ihn zu befriedigen. Tritt nun endlich die Möglichkeit ein, dem Ruhe- oder Nahrungs- bedürfnisse nachzugeben, so vermissen wir zunächst peinlich Müdigkeit und Hunger, die uns die Wiederherstellung unserer Kräfte so leicht machen. Erst dann, wenn wir längere Zeit ge- ruht haben, kehrt die Müdigkeit wieder bei uns ein,, und auch der Hunger beginnt erst mit dem Essen allmählich sich wieder

zu melden.

Unser ganzes bewusstes Leben ist begleitet von einem Lustgefühl, welches sich an die Ausführung geistiger oder kör- perlicher Beschäftigung knüpft. Die tiefere Begründung, des- selben mag in dem Umstande liegen, dass nur durch Tätigkeit die Erhaltung und Ausbildung der Persönlichkeit möglich ist. Fehlt jenes Gefühl, so entsteht diejenige Form der Langenweüe, die aus dem Nichtstun entspringt und uns zu irgend einer Be- tätigung antreibt. Wie quälend die Langeweile für den Gesun-

Störungen der Gemeingefühle.

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den werden kann, wissen wir namentlich aus den verzweifelten Anstrengungen, die bei erzwungener Untätigkeit, z. B. von Ge- fangenen, gemacht werden, um ihr zu entgehen. Beim Irresein fehlt die wirkliche Langeweile in der Regel gänzlich, vor allem deswegen, weil die Kranken, auch wenn sie sich nicht beschäf- tigen, durch die krankhaften Vorgänge in ihrem Innern voll- kommen in Anspruch genommen sind. Es kann daher als ein günstiges Zeichen angesehen werden, wenn die Langeweile auf- tritt, doch darf man sie nicht mit dem Gefühle der Unbefriedigt- heit verwechseln, das von niedergeschlagenen Kranken öfters als Langeweile bezeichnet wird, ebensowenig mit dem ungestümen Tätigkeitsdrang des Manischen. Als ein überaus wichtiges, wenn auch sehr wenig in die Augen fallendes Krankheitszeichen haben wir aber ferner das vollständige Fehlen der Langenweile bei der Dementia praecox zu betrachten. Hier handelt es sich um den Verlust der Willensregungen, aus denen das Tätigkeitsbedürfnis seinen Ursprung nimmt. Die Kranken können trotz völliger Be- sonnenheit und Klarheit Wochen und Monate daliegen, ohne das Aufhören jeder Betätigung irgendwie peinlich zu empfinden. Dabei sind sie auf äussere Anregung hin imstande, ohne weiteres selbst schwierigere Aufgaben zu lösen. Dieses Fehlen der Langenweile bei innerer Ruhe deutet immer auf eine sehr tiefgreifende Stö- rung im Seelenleben hin; wir finden es sonst nur bei vorgeschrit- tener Verblödung.

Eine ganz andere Bedeutung, als die Langeweile bei Un- tätigkeit, hat das oft mit demselben Namen belegte Unlust- gefühl, welches als Warnungszeichen nach übermässig lange fortgesetzter Arbeit auftritt. Hier haben wir es mit einer Form der Müdigkeit zu tun, die beim Gesunden im allgemeinen ziem- lich genau die Grösse des wirklichen Ruhebedürfnisses, der Er- müdung, anzeigt. Bei unseren Kranken kann sich auch dieser Zusammenhang vollständig lockern. So sehen wir in vielen Er- regungszuständen, namentlich bei manischen Kranken, ein dauern- des völliges Fehlen der Müdigkeit trotz hochgradigsten Kräfte- verbrauches, also schwerster Ermüdung. Mit dem Nachlassen der Unruhe sehen wir dann freilich auch die Müdigkeit häufig mit voller Gewalt den Genesenden überfallen. Umgekehrt pflegt in den Depressionszuständen das Gefühl der Müdigkeit dauernd

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

vorhanden zu sein, auch dann, wenn von einer wirklichen Er- müdung keine Rede sein kann, wie bei bettlägerigen Kranken ohne jede Beschäftigung. Vielfach handelt es sich hier indessen nur um das Gefühl einer Erschwerung jeder geistigen und körper- lichen Regung und nicht um jenes besondere Gefühl der Schläf- rigkeit, das wir als die Einleitung der vollkommensten Erholung so hoch schätzen. Beide Störungen, Müdigkeit ohne Ermüdung und Ermüdung ohne Müdigkeit, finden sich nicht selten bei Neurasthenikern und namentlich im Entartungsirresein in selt- samer Weise vereint. Die Kranken fühlen sich dauernd oder anfallsweise ohne irgend genügenden Anlass matt, abgespannt, arbeitsunfähig, finden aber andererseits keine Ruhe, weil sich ihnen abends, beim Schlafengehen, die den Schlaf vorbereitende

Müdigkeit nicht einstellen will.

Die gleichen Erfahrungen fast gelten auf gesundem wie auf krankhaftem Gebiete von dem Begleiter des Nahrungsbedürf- nisses, dem Hunger. Auch der Hunger schweigt bei unseren auf- geregten Kranken trotz dringendster Notwendigkeit des körper- lichen Ersatzes. Schon nach kurzer Nahrungsverweigerung scheint er vollständig zu schwinden, um sich allerdings dann oft mit grösster Gewalt wieder Geltung zu verschaffen, wenn einmal das Fasten durchbrochen ist. Andererseits sehen wir bei para- lytischen und katatonischen Kranken häufig eine sinnlose Ge- hässigkeit sich einstellen, obgleich bei den wohlgenährten und trägen Kranken von einem wirklichen Nahrungsbedürfnisse an- scheinend keine Rede sein kann. Im Entartungsirresein und bei der Hysterie endlich begegnet uns nebeneinander ohne ersicht- lichen Zusammenhang mit dem Ernährungsstande des Körpers dauernder Mangel des Hungergefühls und ebenso unvermittelter plötzlicher Heisshunger.

In nahen Beziehungen zur Nahrungsaufnahme stehen die Ekelgefühle, die uns vor dem Genüsse unverdaulicher, übel schmeckender oder riechender Dinge warnen. Schwerere Stö- rungen auf diesem Gebiete sind in der Regel das Zeichen eines weit gediehenen geistigen Verfalles. Wir beobachten Kranke, welche die ekelhaftesten Dinge verzehren, sogar ihre eigenen Aus- leerungen; auch Nägel, Steine, Glasscherben, Tiere werden nicht selten verschluckt, sowohl in selbstmörderischer Absicht, also

Störungen der Gemeingefühle.

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mit bewusster Überwindung des Ekels, als auch aus reiner Ge- hässigkeit. Bei sehr erregten oder tief verblödeten Kranken schwinden ferner nicht selten jene Gefühle, welche uns schon die blosse Berührung mit Schmutz und Unrat unangenehm machen und uns zur Sauberhaltung unseres Körpers und unserer ganzen Umgebung antreiben. Wir sehen daher solche Kranke sich rück- sichtslos beschmutzen, ja sich absichtlich mit ihren Speisen, mit dem eigenen Speichel, mit Urin oder gar mit Kot einsalben ! *) Ein weiteres Warnungszeichen, dessen Fortfall wir oft genug bei Geisteskranken beobachten, ist der körper liehe Schmerz. In Aufregungszuständen, namentlich bei starker ängstlicher Erregung, werden selbst schwere Verletzungen trotz voller Besonnenheit bisweilen gar nicht empfunden. Die gleiche Erfahrung wird bekanntlich vom Soldaten auf dem Schlachtfelde gemacht. Auf diese Weise wird es erklärlich, dass manche Kranke sich die scheusslichsten Verletzungen beibringen können, ohne durch den Schmerz in ihrem Treiben gestört zu werden. Aus- reissen der Zunge, des Kehlkopfes, der Augen, Aufschneiden des Bauches, Durchstemmen des Kehlkopfes und ähnliche bereits vor- gekommene Selbstverstümmelungen wären ja offenbar für einen Menschen mit gesunder Schmerzhemmung schlechterdings un- möglich. Auch bei blödsinnigen Kranken findet sich diese Un- empfindlichkeit gegen körperliche Schmerzen häufig. Die verblüf- fendsten Beispiele dafür liefert die Paralyse, bei welcher freilich die Zerstörung der Leitungsbahnen wesentlich mit in Betracht kommen kann. Knochenbrüche, ausgedehnte V erbrennungen, Druckbrand, Einschnitte, Ätzungen, alles pflegt von diesen Kran- ken ohne jede oder doch ohne stärkere Schmerzensäusserung er- tragen zu werden. Eine wesentlich andere Bedeutung hat die Aufhebung der Schmerzempfindlichkeit bei Hysterischen und jipi- leptikern. Hier scheint, ähnlich wie es in der Hypnose erreichbar ist, die Schmerzschwelle allein eine sehr bedeutende Erhöhung zu erfahren.

Wir haben hier endlich noch einer Gruppe von Gefühlen zu gedenken, die zwar nicht mit der Selbsterhaltung, wohl aber mit der Arterhaltung in Beziehung stehen. Dahin gehört zunächst das allerdings erst durch das gesittete Zusammenleben künst-

*) Manheimer, Le gätisme au cours des etats psychopathiques. 1897.

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

lieh anerzogene geschlechtliche Schamgefühl. Bei erregten und verwirrten Kranken kann dasselbe völlig in den Hintergrund treten, doch sieht man deutliche Zeichen von Schamgefühl nicht selten noch in sehr schweren manischen Zuständen, wenn nicht die gesteigerte geschlechtliche Erregung es überwindet. Sehr auf- fallend ist dagegen vielfach das rasche Schwinden des Scham- gefühls in der Dementia praecox, auch ohne geschlechtliche Er- regung. Wir sehen solche Kranken sich rücksichtslos entblössen, ohne Scheu über geschlechtliche Dinge reden, vor aller Augen und in der hartnäckigsten Weise masturbieren. Auch die in derselben Krankheit vielfach beobachtete Neigung zu gesucht unflätiger Ausdrucksweise (Koprolalie) und schamlosen Gebärden wäre hier zu erwähnen.

Beim gesunden Menschen ist das Anwachsen des geschlecht- lichen Bedürfnisses und ebenso die Befriedigung desselben von bestimmten lebhaften Gefühlen begleitet, die bei unseren Kran- ken fehlen, gesteigert oder auch in falsche Bahnen gelenkt sein können. Geschlechtliche Kälte beobachten wir bei manchen Formen des Entartungsirreseins, namentlich auch bei der Hysterie. Ebenso pflegen bei Morphinisten die Geschlechtsgefühle allmählich zu schwinden. Weit häufiger aber ist die Steigerung der ge- schlechtlichen Erregbarkeit; sie findet sich bei gewissen Idioten, ferner sehr ausgeprägt in der Dementia praecox, endlich in den manischen und paralytischen Erregungszuständen sowie beim Altersblödsinn. Ganz besondere Beachtung hat in neuerer Zeit das Auftreten geschlechtlicher Gefühle ausserhalb des gesunden Geschlechtsverkehrs gefunden, ihre Anknüpfung an Personen des eigenen Geschlechts, an gewisse Gegenstände, ihre \erbindung mit der Ausübung oder Erduldung von Misshandlungen. Da alle diese Störungen in engster Beziehung zu krankhaften Richtungen des Geschlechtstriebes stehen, werden wir ihrer am besten später im Zusammenhänge mit diesen letzteren selbst gedenken.

D. Störungen des Wollens und Handelns.

Ihren letzten und wichtigsten Ausdruck finden alle Stö- rungen, die das psychische Leben beeinflussen, im Wollen und

Herabsetzung der Willensantriebe.

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Handeln des Kranken. Den Ausgangspunkt einer Willenshand- lung bildet die Vorstellung eines bestimmten Zweckes, einer Ver- änderung an uns selbst oder an unserer Umgebung. Diese Vor- stellung wird von Gefühlen begleitet, die sich in Antriebe zur Erreichung jenes Zweckes umsetzen. Die Richtung des Han- delns ist demnach durch den Inhalt jener Vorstellung, die Kraft und Nachhaltigkeit desselben durch die Stärke und Dauer der begleitenden Gefühle bestimmt.

Die krankhaften Störungen desWollens und Handelns können in der verschiedensten Weise und an den verschiedensten Punkten des Willensvorganges angreifen. Die Stärke der Willensantriebe kann herabgesetzt und erhöht, ihre Auslösung durch ver- schiedenartige Störungen erschwert oder erleichtert sein. Die Richtung des Wollens sehen wir durch äussere und innere Beeinflussungen krankhaft abgelenkt werden, bald in vielfachem Wechsel, bald in einseitiger Starrheit. Krankhafte An- triebe können gewaltsam das gesunde Wollen unterdrücken, triebartige Regungen können zu unüberlegten und zweck- losen Handlungen drängen; die natürlichen Triebe sehen wir krankhafte Formen annehmen. Endlich aber wird natür- lich das ganze Handeln unserer Kranken durch alle jene Stö- rungen beeinflusst, die sich auf anderen Gebieten ihres Seelenlebens abspielen, auch wenn der Ablauf des Willens- vorganges an sich dabei keine Abweichungen darbietet. Eine besondere Besprechung werden die Ausdrucksbewegungen erfordern, da sie es sind, die uns in erster Linie die Kenntnis der inneren Erlebnisse unserer Kranken vermitteln.

Herabsetzung der Willensantriebe. Dem gesunden Verständ- nisse am nächsten liegt jene Lähmung des Willens, die durch die einfache Ermüdung herbeigeführt wird. Das Anwachsen der inneren Widerstände bedingt zunächst eine Steigerung der Willens- spannung, eine erhöhte „Anstrengung“, die dann weiterhin zum Erlahmen führt. Da auch die Gedankenarbeit Willenstätigkeit ist, schwindet mit der Zunahme des Ruhebedürfnisses die geistige Regsamkeit ebenso wie die Neigung zu raschem und ausgiebigem Handeln. Wir fühlen uns nicht mehr aufgelegt zu geistiger Tätig- keit, und die Beweggründe müssen immer zwingendere werden, wenn sie uns zu kräftiger Tat antreiben sollen. Ähnliche Wir-

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

kungen werden durch manche Gifte erzeugt. In den höchsten Graden des Alkoholrausches, unter dem Einflüsse des Chloro- forms, des Chloralhydrates erlöschen alle Willensantriebe, nach- dem allerdings vielfach eine Steigerung derselben voraufgegangen ist. Während aber diese Mittel gleichzeitig in noch höherem Grade Auffassung und Denken lähmen, kennen wir im Morphium und vielleicht auch im Tabak Giftstoffe, die ganz vorzugsweise die Entstehung und Auslösung von Willensantrieben zu hindern scheinen. Beim Alkohol, Morphium und dem beiden verwandten Coca'in wird die Willenslähmung durch dauernden Missbrauch sehr deutlich; es entwickelt sich ein folgenschwerer Mangel an Tat- kraft. Die schwachen Antriebe verpuffen regelmässig, ohne weiterreichenden, richtunggebenden Einfluss auf das Handeln zu gewinnen; auch die sonst stärksten Beweggründe, die sittlichen Forderungen, die Rücksicht auf die Familie, auf das eigene Lebens- glück, vermögen den kraftlosen Willen nicht zu nachhaltiger An- spannung anzuspornen.

Eine ganz ähnliche Verödung des Wollens sehen wir viel- fach in den Endzuständen ungeheilter Geistesstörungen sich ent- wickeln. So verlieren beim Altersschwachsinn zunächst die all- gemeineren Vorstellungen und Gefühle ihren Einfluss auf das Handeln. Die Spannkraft des Willens, die Schaffensfreude, die schon im gesunden Greisenalter merklich abzunehmen pflegt, erlahmt völlig; das Streben richtet sich auf das Nächstliegende und verzichtet leicht auf die Überwindung von Hindernissen. Statt dessen gewinnen jene Triebfedern das Übergewicht, die aus den niederen Begierden entspringen. Habsucht, Geiz, Ge- frässigkeit, unter Umständen auch geschlechtliche Gelüste sind allein noch imstande, kräftigere Willensantriebe auszulösen. Oder die Kranken dämmern wunschlos und tatenlos dahin, von ihrer Umgebung gelenkt und geschoben, ohne in zweckmässigem Han- deln oder Widerstreben die Spuren einer selbständigen Willens- entschliessung erkennen zu lassen. Am auffallendsten pflegt die Willenslähmung bei der Dementia praecox hervorzutreten, weil daneben manche anderen psychischen Leistungen noch ver- hältnismässig gut erhalten sein können. Die Abstumpfung der Ge- fühle führt hier, namentlich in den Endzuständen, gewöhnlich auch zu einer mehr oder weniger ausgesprochenen ^ ernichtung der

Steigerung der Willensantriebe.

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Willensregungen. Die Kranken verlieren die Fälligkeit, aus eigenem Antriebe nachzudenken oder sich zu beschäftigen. Sich selbst überlassen, sitzen sie träge herum; weder in ihrem Innern spielen sich Vorgänge ab, noch lösen äussere Einwirkungen Hand- lungen aus; nur die unmittelbaren körperlichen Bedürfnisse, be- sonders das Essen, vermögen sie noch in Bewegung zu bringen. Dennoch können sie durch geduldiges Antreiben und durch das Beispiel oft noch zu ganz brauchbaren Leistungen gebracht wer- den; freilich versiegt ihre Tätigkeit sofort, wenn der Anstoss dazu aufhört. Gerade dadurch wird es deutlich, dass die Kranken nicht die Fähigkeit zur Arbeit und zum Handeln, sondern nur den Antrieb dazu verloren haben. Am weitesten schreitet die Zer- störung des Willens in der Paralyse fort. Mit dem Schwinden der geistigen und gemütlichen Ansprechbarkeit verlieren sich auch die Willensregungen; der Kranke empfindet kein Leid und kein Bedürfnis mehr, das ihn zu einer Handlung antreiben könnte. Schliesslich können sich alle Lebensäusserungen auf die Fort- dauer der unwillkürlichen und einiger reflektorischer Bewegungen beschränken.

Was hier überall durch den Krankheitsvorgang zerstört wird, kann auch von Jugend auf unentwickelt bleiben. Schon in der Breite der Gesundheit ist die Stärke der Willensantriebe, die Leichtigkeit, mit der sich Denken und Fühlen in Handeln umsetzt, ausserordentlichen Schwankungen unterworfen. Von den trägen und schwerfälligen Naturen führen uns Übergänge allmählich zu den stumpfen Formen des angeborenen Schwachsinns und der Idiotie, bei denen nur mühsam und selten ein Willensantrieb zu stände kommt und zum Handeln führt. Selbstverständlich sind es auch hier die sinnlichen Gefühle, Hunger und Schmerz, die das Begehren am stärksten erregen und daher in erster Linie die Richtung der Willensäusserungen bestimmen.

Steigerung der Willensantriebe. Das allgemeine Zeichen einer Steigerung der Willensantriebe ist die motorische Erreg- ung. Im einzelnen freilich haben wir uns das Zustandekommen derselben in sehr verschiedener Weise zu denken. Zunächst kann die Erregung sich einfach aus Vorstellungen oder Gefühlen herausentwickeln. Dahin gehören die durch bestimmte Anlässe hervorgerufenen Leidenschaftsausbrüche gesunder und kranker

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

Menschen, die plötzliche Entladung überstürzter Willenshand- handlungen in einer bestimmten Lebenslage. In diesen Fällen ist offenbar das Handeln nur die notwendige Folge der gegebenen psychologischen Vorbedingungen; eine Störung liegt daher auch nicht auf dem Gebiete des Wollens selbst, sondern höchstens auf denjenigen, die dasselbe vorbereiten. Es sind eben mächtige Be- weggründe vorhanden, die naturgemäss auch besonders lebhafte Willensantriebe zur Auslösung bringen müssen.

Von einer wirklichen Steigerung der Antriebe sind wir dagegen zu sprechen berechtigt, wenn ein Missverhältnis zwi- schen dem Gewichte der Beweggründe und der Heftigkeit der Erregung besteht. Vielleicht ist das bis zu einem gewissen Grade schon bei vielen delirierenden Kranken der Fall. Bei ihnen, namentlich bei Alkoholdeliranten, entwickelt sich meist eine deutliche Unruhe, die sich nicht genügend durch die Wahn- vorstellungen, Sinnestäuschungen und Gemütsbewegungen er- klären lässt, sondern auf krankhafte Willenserregung hinweist. Die Kranken bleiben nicht im Bette, drängen zur Türe hinaus und zeigen einen ausgeprägten Tätigkeitsdrang, allerdings in Be- ziehung zu ihren Täuschungen. Dass sie aber trotz ihrer oft grossen Hinfälligkeit überhaupt die lebhafte Neigung haben, sich im Sinne ihres Berufes zu beschäftigen, macht die Annahme einer selbständigen motorischen Erregung durchaus wahrscheinlich.

Eine weitere Form der hier besprochenen Störung lässt sich am besten durch die Betrachtung des Alkoholrausches erläutern. Wir sehen hier die Steigerung der Willensantriebe von der er- wachenden Lebhaftigkeit in Reden und Ausdrucksbewegungen all- mählich zum Lärmen, Schreien und schliesslich zu allen jenen zwecklosen Handlungen anwachsen, die den Berauschten so häufig mit der öffentlichen Ordnung und dem Strafgesetze in Wider- streit bringen. Ganz ähnliche Störungen scheint das Cocain zu erzeugen; wenigstens entsteht bei dauerndem Missbrauche des Mittels zwecklose Unruhe, Geschwätzigkeit, Schreibseligkeit, die kaum anders gedeutet werden können. Gerade diese Erregungs- zustände der Coca'inisten bilden den Übergang zu jener eigen- artigen Steigerung der Willensantriebe, wie sie dem Bilde des manischen Irreseins eigentümlich ist, sich aber auch bei den In- fektionspsychosen und bei der Paralyse vielfach entwickelt. Wir

Steigerung der Willensantriebe.

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haben es hier mit einem krankhaften Beschäftigungs- drange zu tun, der sich bei den leichteren, hypomanischen Zu- ständen zunächst in unstetiger Yielgeschäftigkeit, grosser Ge- sprächigkeit, lebhaften Gebärden kundgibt, im Sammeln und Zu- sammenkaufen unnützer Dinge, in der Einmischung in fremde An- gelegenheiten, der Verfolgung aller möglichen Pläne, in unsinni- gen Ausschweifungen, in zwecklosem Herumtreiben und Reisen.

Bei stärkerer Erregung werden die Antriebe zum Handeln immer zahlreicher und mannigfaltiger. Da zugleich die Zweck- vorstellungen flüchtiger werden, lockert sich der Zusammenhang zwischen den einzelnen Handlungen. Der Kranke ist nicht mehr imstande, einen bestimmten Plan durchzuführen, sondern fängt alles nur an, indem seine ursprüngliche Absicht sofort durch neu aufsteigende Antriebe in den Hintergrund gedrängt wird. Schliesslich ist ein Zweck der einzelnen Handlung kaum mehr erkennbar; wir bemerken nur noch eine bunte Reihe wechseln- der Kraftäusserungen. Es kommt zu beständigem Schreien und Singen, Laufen, Tanzen, zum Entkleiden, Zerreissen der Kleidungs- stücke mit mannigfacher Verwertung der Fetzen, Schmieren und Malen mit Kot, Waschen mit Urin, Zerstören aller erreichbaren Gegenstände, Trommeln und Klopfen mit Händen und Füssen.

Ein wesentlich anderes Bild, als der manische Beschäftigungs- drang, bietet die katatonische Erregung dar. Dort ist auch in den unsinnigsten Handlungen eine psychische Verursachung wenigstens ungefähr erkennbar; alle Antriebe führen doch immer zu Handlungen, so zwecklos und unsinnig dieselben auch erscheinen mögen. Hier dagegen haben wir es wesentlich mit Bewegungen zu tun, die meist durchaus keinen bestimmten Erfolg haben. Auf diese Störung passt daher am besten die Bezeichnung „Bewegungsdrang“, die sonst gerade für den manischen Beschäftigungsdrang gebraucht zu werden pflegt. Obgleich die eigentliche Erregung beim Katatoniker oft weit geringer ist, sind seine Bewegungen völlig planlos und dienen nicht der Verwirklichung dieser oder jener Absicht. Vielmehr bestehen sie einfach in Gesichterschneiden, Verdrehungen und Verren- kungen der Glieder, Auf- und Niederspringen, Purzelbäumen, Wälzen, Händeklatschen, Herumrennen, Klettern und Tänzeln, in dem Hervorbringen sinnloser Laute und Geräusche. Von eigent-

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

lichem Wollen kann Mer kaum noch die Rede sein, insofern wir es nicht mehr mit der Umsetzung von Zweckvorstellungen in Handlungen zu tun haben. Auch die Kranken selbst versichern uns nicht selten auf das bestimmteste, dass sie nicht wissen, wie sie dazu kommen, solche Bewegungen auszuführen. Vielleicht dürfen wir hier an die Erfahrungen erinnern, die man nach starken körperlichen Anstrengungen bisweilen macht. Dabei kann sich eine Muskelunruhe entwickeln, die sich in allerlei zwecklosen Bewegungen entladet; wir können nicht still sitzen, springen alle Augenblicke auf, spielen mit den Fingern, wechseln die Stellung. Auch hier handelt es sich um Antriebe, die nicht der Ausdruck von Vorstellungen sind.

Erschwerte Auslösung der Willensantriebe. Die Kraft und Schnelligkeit, mit der sich ein Willensantrieb in Handeln umsetzt, ist ausser von seiner eigenen Stärke auch von der Grösse der Widerstände abhängig, die er zu überwinden hat. So wissen wir, dass Schreck und Furcht der Ausführung unserer Absichten innere Hindernisse entgegensetzen können, die wir nur mit der grössten Willensanstrengung zu überwinden imstande sind. Eine derartige Steigerung der Widerstände, eine psychomo- torische Hemmung, ist vielleicht die wichtigste Grund- störung in gewissen Depressionszuständen des cirkulären Irre- seins. Die Kranken werden unfähig zu den einfachsten Ent- schlüssen, müssen sich zu jeder Handlung mühsam auf raffen, vermögen sich nicht auszusprechen, sondern geben nur kurze, einsilbige Antworten. Natürlich entsteht dadurch eine sehr aus- geprägte Verlangsamung und Abschwächung des Handelns. Nur ganz fest eingelernte Tätigkeiten gehen bisweilen noch ohne Hemmung von statten; ebenso kann auch einmal eine heftige Gemütserschütterung die Widerstände plötzlich durchbrechen. Ferner lässt sich in der Regel nachweisen, dass bei fortgesetzten Bemühungen die Hemmung allmählich geringer wird. In schweren Fällen kann die Auslösung selbständiger Willenshandlungen fast gänzlich unmöglich sein. Trotz aller ersichtlichen Anstrengung bringen die Kranken kein Wort mehr hervor, sind unfähig, zu essen, aufzustehen, sich anzukleiden. Regelmässig empfinden sie dabei deutlich den ungeheuren Druck, der auf ihnen liegt und den sie nicht zu überwinden imstande sind.

Erschwerte Auslösung der Willensantriebe.

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Zumeist pflegt man diese Störung unter dem Namen des „Stupor s“ mit einigen anderen, nur ausser lieh ähnlichen Zu- ständen zusammenzufassen, von denen wir als wichtigsten den katatonischen Stupor herausheben wollen. Bei ihm ist die Auslösung der Bewegungen an sich keineswegs erschwert, wie wir aus gelegentlichen, sehr rasch und kräftig erfolgenden Hand- lungen leicht erkennen. Allein jeder Antrieb löst hier sofort einen Gegenantrieb aus, der mindestens ebenso stark, öfters sogar weit kräftiger ist. Auf diese Weise wird jede Bewegung im Ent- stehen unterdrückt, namentlich wenn ihr eine äussere Anregung zu Grunde liegt. Nicht selten sehen wir daher die beabsichtigte oder verlangte Bewegung wohl angefangen, aber sofort wieder unterbrochen und unter Umständen durch die entgegengesetzte abgelöst werden. Hier wird demnach nicht der Antrieb durch innere Widerstände gehemmt, sondern er wird durch einen Gegen- befehl einfach ausgelöscht. Während die Kranken mit psychischer Hemmung immer noch bemüht sind, den Widerstand zu überwinden, bis sie endlich erlahmen oder durchdringen, kehrt sich beim ka- tatonischen Stupor der Antrieb selbst von vornherein oder doch sehr bald in Widerstreben um. Man kann daher im Vergleiche zu der Hemmung dort von einer „Sperrung“ hier sprechen. Sobald die Sperrung fortfällt, der Gegenbefehl ausbleibt, geht die Handlung ohne die geringste Schwierigkeit von statten. Wie wir bei jeder Muskelbewegung immer auch den Antagonisten in Tätig- keit setzen, so entsteht anscheinend hier neben der Vorstellung der angeregten Bewegung sofort auch diejenige der entgegen- gesetzten und verhindert deren Auslösung.

Durch diese Willenssperrung werden zahlreiche Reaktionen im Entstehen erstickt, die sich beim Gesunden gewohnheitsmässig, ohne ausdrückliches Eingreifen der Willkür, vollziehen. Die Kranken blicken nicht auf, wenn man sie anredet, erwidern den Gruss nicht, ergreifen nicht die dargebotene Hand. Bedroht man sie mit dem Messer oder sticht sie in das Augenlid, so weichen sie allenfalls zurück, machen aber keine planmässigen Abwehr- bewegungen; sie bleiben in äusserst unbequemen Stellungen liegen, ohne sich behaglich zurechtzulegen, setzen sich stunden- lang glühenden Sonnenstrahlen aus, obgleich wenige Schritte sie in den Schatten bringen würden. Vielleicht ist auch das Auf-

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II. Die Erscheinungen dos Irreseins.

hören des Lidschlages, des regelmässigen Speichelschluckens, das Zurückhalten der Entleerungen auf die Willenssperrung, auf die Unterdrückung der natürlichen, unwillkürlichen Antriebe zu- rückzuführen. Das gesamte Verhalten der Kranken gewinnt durch diese Störungen ein höchst absonderliches Gepräge. Indem die erwarteten und dem Gesunden selbstverständlichen Willens- äusserungen ausbleiben, erscheint das Benehmen unnatürlich, unfrei und gezwungen.

Da es sich bei der Willenssperrung nicht um ein A ersagen der Antriebe, sondern um das Gleichgewicht entgegengesetzter Antriebe handelt, so bemerken wir hier bei der Ausführung von Handlungen nicht die müde Kraftlosigkeit, die der Willenshem- mung eigentümlich ist, sondern eine starre Spannung, die uns das Spiel widerstrebender Einflüsse verrät. Die Bewegungen ge- schehen mit einem Übermass von Anspannung, die sich auf alle beteiligten Muskelgruppen in nahezu gleichmässiger Weise er- streckt; das Ergebnis entwickelt sich aus einem verhältnis- mässig geringen Übergewichte einer Gruppe über die entgegen- gesetzte. Daher erscheinen Haltung und Bewegung steif und gespannt. Nicht selten beobachten wir ein Schwanken in der Kraft der Antriebe und Gegenantriebe; bald gewinnen die einen, bald die andern die Oberhand. Es kommt zu plötzlichem Still- stände und ebenso plötzlicher Fortsetzung der eingeleiteten Be- wegung; sie läuft stossweise a.b, wird eckig und ungeschickt. Vielleicht ist es das Gefühl aller dieser Behinderungen, das die Kranken zu einer gleichzeitigen Anspannung weiter Muskelgebiete veranlasst. Auch bei der Ausführung geringfügiger Bewegungen werden gern die ganzen Glieder mit in Anspruch genommen. Auf diese Weise werden die Bewegungen plump und masslos.

Erleichterte Auslösung von Willensantrieben. Die Eindrücke der Aussenwelt wie unsere inneren Erlebnisse erzeugen in uns dauernd einen mehr oder weniger hohen Grad von Willens- spannung, der sich in mannigfachen Äusserungen zu entladen strebt. Ein Teil dieser Wirkungen ist dem Einflüsse der W illkür entzogen; den grössten Teil derselben vermögen wir jedoch durch Willensanstrengungen zu hemmen. Von der Ausbildung dieser Hemmungen, über die wir verfügen, hängt demnach die grössere oder geringere Leichtigkeit ab, mit der auftauchende Antriebe

Erleichterte Auslösung von Willensantrieben.

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sich in Handlungen umsetzen. Unsere geistige Entwicklung be- deutet im allgemeinen eine Zunahme der Hemmungen; das Kind handelt am raschesten und unmittelbarsten, während die wach- sende Selbstbeherrschung den Mann befähigt, zahlreiche An- triebe zu unterdrücken, bevor sie zur Tat werden. Die weibliche Eigenart mit ihrer erhöhten gemütlichen Erregbarkeit pflegt in dieser Hinsicht derjenigen des Kindes näher verwandt zu bleiben.

Die eindämmende Macht der Hemmungen wird natürlich um so früher versagen, je stärker die Antriebe, je heftiger die Ge- mütsbewegungen sind, aus denen sie hervorgehen. Auf der andern Seite kennen wir Einflüsse, welche geradezu die Auslösung von Willensantrieben erleichtern und damit die Widerstandsfähigkeit gegen die Umsetzung von Antrieben in Handlungen vermindern. In geringerem Grade scheint das schon für jede psychomotorische Tätigkeit zu gelten. Durch fortgesetzte Ausführung von Bewe- gungen geraten wir in eine gewisse Erregung, die eine Ver- ringerung der Hemmungen bedeutet. Wir haben bereits früher darauf hingewiesen, dass auch die krankhafte Willenshemmung durch die Betätigung selbst allmählich abnimmt. Noch deutlicher vielleicht ist das Anwachsen der Erregung bei manischen oder katatonischen Kranken, sobald sie ihrer Unruhe freien Lauf lassen können. Die ungehinderte Entladung ihrer Antriebe macht sie immer unfähiger, sich zu beherrschen; darauf beruht hier der überraschende Erfolg der Bettbehandlung gegenüber dem „Aus- toben“. Nach den Ergebnissen psychologischer Versuche be- günstigt die Entziehung des Schlafes ebenfalls den Wegfall der Willenshemmungen. Dem würde die Erfahrung entsprechen, dass andauernde Schlaflosigkeit die Erregung bei unseren Kranken zu steigern scheint, doch ist hier auch die umgekehrte Deutung möglich.

Eine sehr verhängnisvolle Abnahme der Willenshemmungen wird in grösstem Umfange durch die Wirkung des Alkohols her- beigeführt. Wenn auf der einen Seite das Verhalten Angetrun- kener dafür spricht, dass wir es hier mit einer wirklichen Er- regung zu tun haben, so deutet doch andererseits die Leichtig- keit, mit der auch ohne Erregung die unbesonnensten und bedenk- lichsten Handlungen zu stände kommen, auf den Verlust jener Widerstände hin, die den Nüchternen befähigen, seine Antriebe

Kraepelin, Psychiatrie I. 7. Aufl. 18

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

im Zaume zu halten. Alle die Beweggründe, die aus der sitt- lichen Erziehung eines ganzen Lebens entspringen, verlieren plötzr- lieh ihre Macht; alle Bedenken und Überlegungen schweigen, so- bald der Alkohol die Selbstbeherrschung vernichtet hat. In ab- geschwächtem Grade lässt sich diese Wirkung des Alkohols auf den Willen auch dauernd beim Trinker nachweisen, in der ver- ringerten Widerstandsfähigkeit gegen Verführungen aller Art. Ähnliche Veränderungen erzeugt bei einmaligem wie bei gewohn- heitsmässigem Gebrauche der Äther und wohl auch das Cocain.

Als dauernde Eigenschaft tritt uns ferner die erleichterte Auslösung von Willensantrieben bei gewissen Formen krank- hafter Veranlagung, namentlich bei der Hysterie, entgegen. Die Lebhaftigkeit der Gefühlsbetonung lässt hier der verstandes- mässigen Vorbereitung der Handlungen keinen grossen Spiel- raum; daher kommen rasch und unvermittelt nicht selten Hand- lungen zu stände, die den Stempel des Unbegreiflichen und Zweck- widrigen tragen, Diebstähle, Schwindeleien, Selbstverletzungen. Auch hier befinden sich die Kranken oft in einem eigentümlichen Zwiespalte zwischen den gesunden Regungen und den triebartigen Einflüssen, die ihren Willen überwältigen.

Erhöhte Beeinflussbarkeit des Willens. Zwei Quellen sind es, aus denen die Beweggründe unseres Handelns entspringen, aus äusseren Anstössen und aus feststehenden allgemeinen Willens- richtungen, deren Inhalt ursprünglich allerdings auch durch die Lebenserfahrung erworben wurde. Beim gesunden Menschen führt jeder Anlass nur soweit wirklich zum Handeln, als ihm nicht wichtige, der eigenen Persönlichkeit angehörende Gegenströ- mungen im Wege stehen. Diese verhältnismässige Unabhängig- keit des Wollens von äusseren Anstössen bildet die psychologische Grundlage der „Willensfreiheit“. Nur Kinder und in ge- ringerem Grade auch wohl Frauen, ferner die „leichtsinnigen Naturen lassen sich mehr von den Einflüssen des Augenblickes, als von festen „Grundsätzen“ leiten, weil sie solche noch nicht erworben haben oder überhaupt nicht zu erwerben imstande sind. Auf krankhaftem Gebiete wird der bestimmende Einfluss dauern- der Willensrichtungen auf das Handeln beeinträchtigt oder ver- nichtet durch einfache Abschwächung des Willens, durch Stei- gerung der psychomotorischen Erregbarkeit und durch das Auf-

Erhöhte Beeinflussbarkeit des Willens.

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treten krankhafter Antriebe. Der erste dieser Fälle ist verwirk- licht in allen jenen Formen des angeborenen oder erworbenen Schwachsinns, die mit einer Herabsetzung der Tatkraft einher- gehen. Wo keine kräftigen Triebfedern des Handelns vorhanden sind, wird dasselbe nicht durch die allgemeinen Eigenschaften der Persönlichkeit bestimmt, sondern durch zufällige Einflüsse. Es entwickelt sich also eine hilflose Abhängigkeit des Wollens von allen möglichen Einwirkungen, eine krankhafte Bestimmbar- keit. Da kein selbständiger Plan den festen Grund des Handelns bildet, geht seine innere Einheit und Folgerichtigkeit verloren. Am reinsten pflegt uns diese Störung in der Paralyse entgegen- zutreten. Ein Wort genügt hier nicht selten, um den leicht lenksamen Kranken ohne weiteres zu den widersprechendsten Entschlüssen zu veranlassen.

Einen vorübergehenden Zustand von Willenlosigkeit mit erhöhter Beeinflussbarkeit vermögen wir durch die Hyp- nose*) zu erzeugen. Es gelingt bekanntlich bei einer sehr grossen Zahl von Menschen (80 90 o/o), durch verschiedenartige Hilfsmittel, namentlich durch lebhafte Erweckung der Vorstellung ■des Einschlafens, eine Veränderung des Bewusstseins in dem Sinne kerbeizuführen, dass die Seelenvorgänge in eine mehr oder weniger vollständige Abhängigkeit von dem Willen des Versuchsleiters geraten. Bei den allerdings nicht sehr häufig erreichbaren höch- sten Graden dieses Zustandes kann durch Suggestion, d. h. durch kräftiges Anregen von Vorstellungen, Gefühlen und Antrieben mit Hilfe des Wortes oder geeigneter Handlungen, der Inhalt der Wahrnehmungen ganz nach Belieben frei erzeugt oder ab- geändert werden. Ferner können frei erfundene Erinnerungen mit allen Einzelheiten dem Beeinflussten eingepflanzt werden, um bei ihm weitere selbständige Verarbeitung zu finden, und endlich stehen auch seine Handlungen, ja sogar viele seiner un- willkürlichen Verrichtungen, gänzlich unter dem Einflüsse der gebieterisch die eigenen Willensregungen knebelnden Eingebungen. Der Hypnotisierte vermag kein Glied zu rühren ohne Erlaubnis des Hypnotiseurs; er verharrt in den Stellungen, die dieser ihm

*) Forel, Der Hypnotismus und die suggestive Psychotherapie, 4. Auf- lage. 1902.

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

gibt und begeht auf sein Geheiss unbedenklich unsinnige, unter Umständen vielleicht sogar verbrecherische Handlungen. In ein- zelnen Fällen dauert dieser nur mangelhaft durch den Ausdruck Befehlsautomatie gekennzeichnete Zustand auch nach dem Erwachen aus der Hypnose noch kürzere oder längere Zeit hin- durch fort (Möglichkeit posthypnotischer Suggestionen), bis der eigene Wille wieder die Herrschaft über den Ablauf der Seelen- vorgänge gewinnt; zuweilen aber kann trotz völliger Rückkehr des Wachzustandes im voraus für einen fernliegenden Zeitpunkt (an- scheinend selbst bis zu einem Jahre) das Eintreten suggerierter Wahrnehmungen und Handlungen erzwungen werden (Suggestion ä echeance). In allen diesen Fällen erscheint dem Beeinflussten selbst die pünktlich ausgeführte Handlung als das Ergebnis eigenen Entschlusses; meist macht sich zu der bestimmten Zeit der immer klarer werdende Drang nach Erfüllung der gestellten Aufgabe geltend, ohne dass jedoch die Entstehung desselben durch äussere Anregung irgendwie zum Bewusstsein käme. Hie und da kann die hypnotische Willensstörung sogar ohne eigentliche Hyp- nose, wenigstens ohne irgend tiefere Bewusstseinstrübung, in an- scheinend wachem Zustande erzielt werden.

Wenn uns das Wesen dieser vielumstrittenen Erscheinungen zur Zeit noch in vielen Beziehungen rätselhaft ist, so lässt sich ein psychologisches Verständnis für dieselben immerhin durch die Annahme gewinnen, dass es sich dabei um die vorübergehende Be- seitigung jenes leitenden Einflusses handelt, welchen der V ille durch Unterdrückung dieser und Begünstigung jener Bewusst- seinsvorgänge fortdauernd auf unser Seelenleben ausübt. Die Ähn- lichkeit der hypnotischen mit den Traumzuständen ist gerade unter diesem Gesichtspunkte eine so handgreifliche, dass wir kaum erst des so häufig beobachteten Überganges zwischen Hypnose und Schlaf oder umgekehrt bedürften, um eine tiefere Verwandtschaft beider anzunehmen. Auch im Traume nehmen wir urteilslos die widerspruchsvollsten Wahrnehmungen und "V orstellungsverbin- dungen als bare Wirklichkeit hin; wir erfinden Erinnerungen und vergessen die alltäglichen Erfahrungen; vir begehen ohne Ge- wissensbisse die zwecklosesten und schändlichsten Handlungen, um uns andererseits auf das peinlichste in der Ausführung unserer einfachsten Absichten immer und immer wieder gehemmt zu

Erhöhte Beeinflussbarkeit des Willens.

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sehen. Nur ist es hier das unwillkürliche, höchstens zeitweise durch äussere Reize angeregte Spiel unserer eigenen Vorstellungen und Gefühle, welches durch die Ausschaltung der bestimmenden Einflüsse freie Bahn gewinnt, während bei der Hypnose der fremde Wille gewissermassen in unser entfesseltes Seelenleben hinein- greift und nunmehr als unumschränkter Machthaber in dem herren- losen Gebiete schalten kann. Ein solcher Versuch, den Träumen- den von aussen her zu beeinflussen und dadurch ohne weiteres die Hypnose herzustellen, gelingt freilich nur unter besonders günstigen Umständen. Zumeist pflegt der Schläfer dabei zu er- wachen, wenn er überhaupt der Einwirkung zugänglich ist. Die Hypnose dagegen dauert trotz der Wahrnehmungen von aussen fort: sie ist nichts, als ein leichter Schlaf mit der Autosuggestion, nicht ohne fremde Hilfe erwachen zu können.

Einer ähnlichen vorübergehenden Ausschaltung des Willens begegnen wir in gewissen Krankheitszuständen. Namentlich häufig lassen sich die Glieder der Kranken ohne den geringsten Wider- stand in jede beliebige Lage bringen und behalten dieselbe so lange bei, bis man ihnen einen anderen Anstoss gibt oder bis sie infolge hochgradiger Muskelermüdung zitternd dem Gesetze der Schwere folgen. Wir bezeichnen diese Störung als wächserne Biegsamkeit (Flexibilitas cerea) oder Katalepsie. Seltener gelingt es, die Kran- ken durch die Einleitung einfacher, regelmässiger Bewegungen zur fortgesetzten Wiederholung derselben zu veranlassen oder die Nachahmung lebhaft vor ihren Augen ausgeführter Gebärden (rasches Erheben der Arme, Händeklatschen) zu erreichen (Nach- ahmungsautomatie, Echopraxie). Hie und da sieht man auch wohl einen Kranken peinlich alles nachahmen, was sein Nachbar tut, dieselben Bewegungen machen, ihm in gleichem Schritte folgen. Häufiger beobachtet man willenloses Nachreden vorgesagter, Ein- flechten zufällig aufgefangener Worte (Echolalie). Überall lässt sich hier übrigens zeigen, dass die anscheinend maschinenmässig handelnden Kranken die Eindrücke dennoch verarbeiten. Der Kranke, der zugerufene Zahlen echolalisch wiederholt hat, löst in derselben zwangsmässigen Weise eine ebenso vorgesagte Rechen- aufgabe, oder er verzieht das Gesicht zu kläglichem Weinen, während er auf kräftiges Geheiss immer wieder die Zunge heraus- steckt, damit sie ihm durchstochen werden solle. Andeutungen

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

dieser Erscheinungen, besonders der wächsernen Biegsamkeit, werden bei den verschiedenartigsten Krankheitszuständen ge- legentlich beobachtet. Ich sah sie bei Hysterischen, Epileptischen, Manischen, Paralytikern und Alkoholisten, bei traumatischem Hirnabscess und bei einem mächtigen Hydrocephalus mit Hemi- plegie, hier aus begreiflichen Gründen nur auf der nicht gelähmten Seite. Bei weitem am ausgesprochensten aber findet sich die ganze Gruppe von Störungen bei der Dementia praecox, insbesondere bei jenen Formen, die wir als Katatonie kennen lernen werden.

Auch die krankhafte Erleichterung der Willensantriebe pflegt mit erhöhter Beeinflussbarkeit einherzugehen. Die Leichtigkeit, mit der sich Gedanken in Handlungen umsetzen, lässt jeden neuen Eindruck, jeden Einfall sofort zu einer Macht werden, die ihren Einfluss auf den Willen siegreich geltend macht, um freilich als- bald durch andere Antriebe wieder verdrängt zu werden. Auf diese Weise entsteht das Krankheitszeichen einer erhöhten Ab lenk- bar k eit des Willens. Gemeinsam ist dieser und den bisher be- sprochenen Störungen die Ohnmacht der dauernden M illemmich- tungen. Während aber bei der Bestimmbarkeit und der Willen- losigkeit wesentlich nur äussere Einflüsse für das Handeln mass- gebend sind, hängt hier das Wollen ebenso sehr von den stets wechselnden inneren Zuständen und Einfällen ab. Mir begegnen dieser Störung, deren Gegenstück wir in der Ablenkbarkeit des Vorstellungsverlaufes kennen gelernt haben, namentlich in ge- wissen manischen und deliriösen Erregungszuständen. Als dauernde persönliche Eigentümlichkeit begleitet die Ablenkbarkeit des Wollens ferner die hysterische Veranlagung und die ihr nahe stehenden Formen des Schwachsinns. Auch hier wird jeder An- trieb, da er sich rasch und leicht in Handlung umsetzt, sehr bald durch neue Entschlüsse wieder verdrängt. Das Tun und Treiben der Kranken erhält dadurch den Stempel der U n s t e t i g k e i t und Planlosigkeit. Plötzliche Entschlüsse und sprunghafte Anläufe kommen und gehen; sie bleiben auf halbem Wege stecken und werden leicht durch neue Anregungen verdrängt. Das Beispiel in gutem und bösem Sinne, die gesamte Umgebung gewinnt grossen, aber ganz vergänglichen Einfluss. Aon liier führen stetige .Eber gänge zu jenen leicht erregbaren Persönlichkeiten hinüber, die mit Begeisterung, aber ohne Nachhaltigkeit alles Neue ergreifen und

Verschrobenheit und Stereotypie.

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nichts zu Ende führen, weil ihr Eifer lange vor Erreichung des Zieles bereits verraucht ist.

Verschrobenheit und Stereotypie. Die Ausführung einer ein- fachen Handlung ist im allgemeinen durch die Zweckvorstellung ziemlich eindeutig bestimmt. Da unsere Bewegungen von dem Grundsätze der Sparsamkeit beherrscht zu werden pflegen, suchen wir das Ziel mit dem Mindestaufwand von Kraft, Weg und Zeit zu erreichen. Wird dieser Grundsatz in augenfälliger Weise durch- brochen oder trägt die Ausführung der Handlung offenkundig den Stempel der Zweckwidrigkeit, so entsteht eine Störung des Handelns, die wir vorläufig mit dem Namen der Verschroben- heit belegen wollen, weil bei ihr die Deckung von Absicht und Erfolg durch die unangemessene Einstellung der Antriebe ver- hindert wird. Offenbar haben wir es hierbei mit der Einmischung von Nebenantrieben in den natürlichen Ablauf des Handelns zu tun. Auch bei der Willenssperrung waren wir zu einer ähnlichen An- nahme gekommen. Wenn man will, kann man sie als denjenigen besonderen Fall betrachten, in dem die Nebenantriebe dem ur- sprünglich angeregten Antriebe gerade entgegengesetzt sind, während wir uns hier mit solchen Nebenantrieben zu beschäf- tigen haben, die jenen ersteren in den verschiedensten Richtungen durchkreuzen. Die Willenssperrung wäre dann nur eine Unter- form der allgemeineren Störung, die wir als Willensdurchkreu- zung bezeichnen könnten. Beide Krankheitserscheinungen ge- hören dem Gebiete der Katatonie an.

Die Nebenantriebe können die Handlung in der mannigfaltig- faltigsten Weise beeinflussen. Als der einfachste Fall ist viel- leicht die vielfache Wiederholung der auftauchenden Willens- regungen zu betrachten., Im gesunden Leben wird jeder Antrieb, sobald sein Ziel erreicht ist, durch andere Willens- regungen verdrängt, die der Fortsetzung des zweckbewussten Handelns dienen. Wo aber die planmässige Verfolgung be- stimmter Ziele gestört ist und dennoch der allgemeine Drang zu motorischen Äusserungen besteht, hat ein einmal aus- gelöster Antrieb grosse Aussicht, immer wieder erneuert zu werden, so lange die noch lebendigen Spuren nicht durch neue Beweggründe verwischt werden. Er wird gewissermassen zum Nebenantrieb, der die nicht durch feste Ziele geleitete Fort-

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

führung der Willensarbeit unterbricht und mit jeder Wie- derholung unwiderstehlicher wird. Andeutungen dieses Vor- ganges geben uns aus dem täglichen Leben vielleicht die gewohn- heitsmässigen Gebärden, Flickwörter, Wendungen, die sich immer dann einstellen, wenn das Handeln stockt, das Tothetzen derselben, mehr oder weniger albernen Witze und Handlungen durch Be- trunkene und Kinder. Überall handelt es sich hier um Willens- erregung ohne Ziel. Auf krankhaftem Gebiete bezeichnen w L diese Störung nach Kahlbaums Vorgänge mit dem Namen der S t e r e o t y p i e. Je nachdem derselben die Willenssperrung oder die Willensdurchkreuzung das Gepräge gibt, kommt es ent- weder zu lange dauernder Anspannung bestimmter Muskelgruppen oder zu vielfacher Wiederholung derselben Bewegungen. Im ersteren Falle halten die Kranken trotz aller äusseren Einwir- kungen eine und dieselbe Stellung Wochen, Monate, Jahre lang fast unverändert fest; sie stehen in der gleichen, oft sehr un- bequemen Haltung stets in derselben Ecke, knieen auf einer be- stimmten Stelle oder liegen mit gespannten Gliedern und er- hobenem Kopfe im Bette, so dass man sie ohne Schwierigkeit an dem starr gekrümmten Anne in die Höhe heben kann. Andere halten dauernd einen Bettzipfel mit den Zähnen fest, pressen mit gespreizten Fingern ein Ohrläppchen zusammen, umklammern krampfhaft einen Brotrest oder einen abgerissenen Knopf. Der Gesichtsausdruck ist ebenfalls starr, maskenartig, die Stirne ver- wundert in die Höhe gezogen, der Lidschlag fast aufgehoben, die Augen sind bald weit geöffnet, bald fest zugekniffen, die Aug- äpfel oft seitwärts gedreht, die Lippen rüsselförmig vorgeschoben („Schnauzkrampf“).

Weit mannigfaltiger gestalten sich naturgemäss die Be- wegungsstereotypen (Zwangsbewegungen). Dahin gehören Pur- zelbäume, rhythmisches Klopfen, Herumgehen in absonderlichen Stellungen, Hüpfen, Aufspringen, Niederfallen, Herumrollen und Kriechen am Boden, regelmässige, gezierte und gespreizte Arm- bewegungen, Wippen, Wiegen, Schöpfen, Strudeln, Zupfen an den Kleidern oder Haaren, Knirschen und Klappen mit den Zähnen. Alle diese Bewegungen können sich zahllose Male hin- tereinander wiederholen, bisweilen Wochen und Monate lang. Dabei ist es meist ganz unmöglich, die Kranken in ihrem Be-

Verschrobenheit und Stereotypie.

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ginnen zu hindern; sie strengen sich dabei rücksichtslos an und verletzen sich sogar nicht selten. Gerade die Umbildungen all- täglicher, gewohnheitsmässiger Bewegungen und Handlungen durch Nebenantriebe zeigen wie im gesunden so im krankhaften Leben eine grosse Neigung, stereotyp zu werden. Namentlich pflegt auch die Sprache sie zu zeigen. Die Kranken lispeln, grunzen, sprechen in geziertem Hochdeutsch oder übertriebener Mundart, in Fistelstimme, in bestimmtem Tonfalle, mit rhyth- mischer Gliederung, verdrehen und vertauschen einzelne Laute, gebrauchen massenhafte Verkleinerungswörter, eigentümliche Beiwörter, wiederholen mündlich und schriftlich ungezählte Male dieselben Wörter und Wendungen, pfeifen oder zwit- schern einzelne Sätze, weinen in Melodien. Wir bezeich- nen diese Schrullen als Manieren, Sprechmanieren, Ess- manieren, Gehmanieren, Begrüssungsmanieren u. s. f. So un- übersehbar ihre Mannigfaltigkeit ist, kehren sie doch bei den verschiedensten Kranken oft mit verblüffender Übereinstim- mung wieder; andererseits ist auch ihre Entstehung aus einer gemeinsamen Grundstörung unverkennbar. Sie bilden bei der grossen Masse der abgelaufenen Fälle die letzten auffallenden Reste der ehemaligen Krankheitserscheinungen und gestatten oft ohne weiteres den Rückschluss auf die Zustände der Ver- gangenheit.

In den Endzuständen der Katatonie begegnet uns hie und da eine Form der Stereotypie, die mit der bisher betrachteten schwerlich ganz wesensgleich ist. Es sind das die eigentümlich rhythmischen Bewegungen, namentlich Wiegen des Kör- pers im Sitzen oder Stehen, Nicken oder Anschlägen des Kopfes, Händeklatschen, Ausstossen von Lauten, Pfauchen, Blasen. Diese Erscheinungen sind immer die Anzeichen einer völligen Verödung der Willensregungen. Sie werden in gleicher Weise bei tief stehen- den Idioten beobachtet. Wir dürfen hier wohl an die ähnlichen rhythmischen Bewegungen gewisser Raubtiere erinnern. Man kann danach etwa vermuten, dass sie der Ausdruck gewisser niederer Einrichtungen unseres Nervensystems sind, die durch die Ver- nichtung der höheren Leistungen selbständigen Einfluss auf die Bewegungen erlangen.

Bei der Stereotypie schreitet die Entwicklung der Willens-

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

Handlungen nicht vorwärts. Auch wenn die Kranken in lebhafter Tätigkeit sind, drehen sie sich gewissermassen immerfort im Kreise, ohne ein Ziel zu erreichen. Demgegenüber entstehen bei einer weiteren Form der Willensdurchkreuzung Nebenantriebe, die nur Verzierungen oder Verschnörkelungen der beab- sichtigten Handlung bedeuten; diese letztere kommt schliesslich zu stände, aber auf Umwegen und mit allerlei Zutaten und Abwand- lungen. Die Kranken gehen trippelnd oder feierlich, ruckweise, hüpfend, auf den Zehen oder ganz hintenübergebeugt, schleifen mit einem Fusse; sie reichen die Hand in weit ausholendem Bogen, mit plötzlichem Schwünge oder steifem Ruck, berühren die dargebo- tene Hand nur mit dem kleinen Finger, mit der Rückenfläche, spreizen dabei die Finger oder verdrehen die Arme. Beim Essen erfassen sie den Löffel am äussersten Ende, zerlegen das Gemüse in kleine Häufchen, reiben den Teller am Augenrande hin und her, stochern mit der Gabel zwecklos herum, zählen zwischen je zwei Bissen bis 7 oder sagen einen Vers auf; die Milch wird in winzigen Schlückchen und mit langen Pausen getrunken. Die Bettstücke werden in eigentümlicher Weise angeordnet, die Decke als Unterlage, das Kopfkissen oder die Matratze zum Zudecken benutzt; die Kleider werden verkehrt angezogen, absonderlich verknotet, das Hemd über der Weste getragen, die Röcke über den Kopf geschlagen. Vielleicht ist auch das Gesichterschneiden, „Grimmassieren“ der Kranken hierher zu rechnen.

Von diesen Verschnörkelungen des Handelns führen fliessende Übergänge zu jenen Störungen hinüber, die man nach Schüles treffender Bezeichnung als „Entgleisungen des Willens“ auffassen kann. Die beabsichtigte Handlung kommt hierbei über- haupt nicht zu stände, weil die Antriebe vor der Vollendung eine ganz andere Richtung einschlagen. Der Kranke, der den Löffel ergriff, um zu essen, dreht ihn einige Male im Kreise, um ihn dann wieder hinzulegen; die zum Trinken an den Mund geführte Tasse wird plötzlich umgestülpt und auf den Tisch gestellt; die zum Grusse gebotene Hand weicht auf halbem Wege aus und fährt in die Tasche; der jammernde Kranke, dem die Tränen über die Wangen laufen, verzieht dabei das Gesicht zu fröhlichem Grinsen („Paramimie“).

Verschrobenheit und Stereotypie.

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Auch bei den Reden lässt sich öfters erkennen, dass die Kranken im Anlaufe stecken bleiben, immer von neuem vergeblich ansetzen und das Ziel schliesslich ganz aus den Augen verlieren. Sie beginnen irgend einen Satz, unterbrechen sich plötzlich, fahren in wechselnder Satzform und mit ganz anderen Gedanken fort, kommen halb auf den Ausgang zurück, um wieder neue Wege ein- zuschlagen u. s. f. Auf diese Weise entsteht eben jene Störung, die wir früher als Zerfahrenheit kennen gelernt haben. Vielfach ist dabei die Anknüpfung an eine bestimmte Vorstellung oder Frage noch ungefähr erkennbar. Die Kranken bringen immer wieder Wendungen, die dazu in einer gewissen Beziehung stehen, ohne allerdings zu einem klaren Gedankenausdruck zu kommen. Dieses „Drumherumreden“ möge durch das folgende Beispiel er- läutert werden. Ein Kranker antwortete auf die Frage, was mit ihm sei:

„Ich habe lange Zeit nicht bemerkt, was > es ist und was es war; da habe ich gesehen, dass es die Humbertgeschichte ist, wissen Sie, Herr Dr., und das hat bisher angehalten. Wissen Sie, ich weiss auch nicht, wie das ist; es ist eigenartig; es ist eine grosse Portion Mutwillen dabei; es wird etwas zu stark vorgeschoben in der Erleuchtung, und da hat man immer darunter zu leiden. Und dann diese Aufmerksamkeit in dieser Affäre, die wird einem geschenkt und fällt einem zu: das schleicht sich dann so ein.“

Die das Wollen durchkreuzenden Antriebe können ganz fremd- artigen Inhalts sein und ausser jedem Zusammenhänge mit irgend- welchen Zweckvorstellungen stehen. Der Kranke hebt plötzlich seinen Nachbarn von hinten in die Höhe, setzt sich wie ein Vogel auf den Rand der Badewanne, greift mit dem Finger in den After, stellt sich auf den Kopf, entleert seinen Kot auf den Tisch. Nicht selten werden diese unter Umständen sehr gefährlichen Einfälle mit triebartiger Gewalt ausgeführt. Durch dieses Gemisch der mannigfaltigsten Antriebe entsteht die eigentümliche Unbegreif- lichkeit des katatonischen Handelns, der oft vollkommene Mangel eines inneren Zusammenhanges der einzelnen Willensäusserungen untereinander und mit der ganzen Sachlage, die Unsinnigkeit und Zwecklosigkeit des gesamten Treibens und Redens bei nahezu völliger geistiger Klarheit.

Bei diesen Entgleisungen hat man vielfach den Eindruck, als ob die ursprünglichen Zweckvorstellungen durch den Anlauf zur Ausführung des Entschlusses selbst in den Hintergrund gedrängt

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

würden. Wir sehen die Kranken mit grösster Anstrengung ihren Willen einsetzen, wo sie auf einem kleinen Umwege mühelos zum Ziele gelangen könnten. Der Katatoniker, der sinnlos gegen die geschlossene Türe drängt, verlässt das Zimmer nicht durch den weit geöffneten Nebenraum, ja, er benutzt meist nicht einmal den Schlüssel, den man ihm in die Hand gibt, sondern wartet, bis die Türe von irgend jemandem geöffnet wird. Aus derartigen Erfahrungen möchte man den Schluss ziehen, dass hier nicht der von uns vermutete Zweck, sondern nur das Mittel selbst gewollt wird. Das kann aber wohl schwerlich von vornherein der Fall sein. Weit näher liegt jedenfalls die Annahme, dass der erste Antrieb zur Erreichung des Zweckes die Richtung des Wollens sofort festgelegt hat. Der Kranke verrennt sich, wie es scheint, in seine erste Absicht, so dass keine späteren Überlegungen ihn mehr von dem einmal eingeschlagenen Wege abzubringen ver- mögen.

Die hier vertretene Auffassung der katatonischen Verschro- benheit bringt sie in eine gewisse Beziehung zu den Erschei- nungen der Paraphasie und namentlich der Parapraxie, insofern es sich auch bei diesen Störungen um eine Art Entgleisung der Antriebe handelt, die unsinnige und unverständliche, zweck- widrige Äusserungen zur Folge hat. Allein dort ist es nur die Ausführung der Handlung, die misslingt; die Kranken wollen das Zweckmässige, finden aber nicht den richtigen Weg zur Ver- wirklichung. Bei der Verschrobenheit dagegen liegt die Stö- rung nicht auf dem Gebiete des Handelns, sondern auf demjenigen des Willens selbst. Das Werkzeug gehorcht den Antrieben ohne Tadel, aber die Antriebe selbst werden verdrängt und durchkreuzt, bevor das Ziel erreicht ist; die Kranken sind ausser stände, das Zweckmässige zu wollen.

Verminderte Beeinflussbarkeit des Willens. Bei der Be- sprechung der Willenssperrung haben wir gesehen, wie unter Umständen jeder Bewegungsanstoss sofort durch einen entgegen- gesetzten Antrieb wirkungslos gemacht werden kann. Die Wil- lenssperrung ist indessen nur die Teilerscheinung einer viel all- gemeineren Störung, des triebartigen Widerstrebens gegen jede äussere Beeinflussung des Willens, des von Kahlbaum so bezeichneten Negativismus. Er äussert sich in der Ab-

Verminderte Beeinflussbarkeit des Willens.

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Sperrung gegen äussere Eindrücke, in der Unzugänglichkeit für jeden persönlichen Verkehr, in dem Widerstande gegen jede Aufforderung, der bis zur regelmässigen Ausführung gerade ent- gegengesetzter Handlungen gehen kann (Befehlsnegativismus), endlich in der Unterdrückung natürlicher Bedürfnisse.

Auf diese Weise entsteht ein Handeln, welches in allen Stücken das Gegenteil von dem erstrebt, was durch die gesunden Beweggründe gefordert wäre. Die Kranken schliessen sich gegen die Untersuchung starr ab; sie pressen die Zähne zusammen, wenn sie die Zunge zeigen sollen, kneifen die Augen zu, sobald man die Pupillen prüfen will, sehen zur Seite, falls man anfängt, sich mit ihnen zu beschäftigen. Sie erwidern den Gruss nicht, weichen bei der Annäherung zurück, verstecken sich, kriechen unter die Decke, hüllen sich ein, reichen die Hand nicht oder ziehen sie vor erfolgter Berührung wieder zurück. Allen Fragen gegenüber bleiben sie stumm (Mutacismus) oder sie bringen völlig beziehungslose Äusserungen vor, eine Störung, die man als „Vorbeireden“ (Paralogie) zu bezeichnen pflegt. Äusseren Eingriffen setzen sie den kräftigsten, aber fast immer rein passiven Widerstand entgegen, lassen sich nicht ankleiden oder ausziehen, nicht baden, nicht pflegen. Auch beim Essen sträu- ben sie sich auf das äusserste, lassen alles stundenlang stehen und kalt werden, um dann plötzlich wieder aus freien Stücken mit Gier über die Nahrung herzufallen; sie verlangen kläglich nach Wasser, um es auszuschütten, sobald es1 ihnen gebracht wird, öfters wird Kot und Harn mit der grössten Anstrengung zurückgehalten, besonders, wenn man die Kranken auf den Nacht- stuhl bringt; sobald sie dann aufgestanden oder wieder ins Bett gegangen sind, erfolgt sofort die Entleerung.

Es unterliegt nach meiner Überzeugung keinem Zweifel, dass dieses negativistische Verhalten der Kranken durchaus nicht auf bestimmte, verstandesmässig erfasste Beweggründe zurückgeführt werden kann. Abgesehen von seltenen Ausnahmen, in denen nach- träglich irgendwelche Vorstellungen oder Täuschungen als ganz unzulängliche Triebfeder für das unsinnige Benehmen vorgebracht werden, hört man von den Kranken regelmässig, dass sie sich selbst keine Rechenschaft über dasselbe zu geben vermögen, son- dern einfach so handeln mussten. Anscheinend haben wir es dem-

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

nach hier mit einer ganz unmittelbaren krankhaften Veränderung der Willensantriebe zu tun. Dennoch ist die Störung des Handelns nur eine unwillkürliche, nicht eine unbewusste. Das geht aus der geistigen Verarbeitung der äusseren Beeinflussung hervor. Die Kranken legen sich in fremde Betten, während sie aus dem eigenen hinausdrängen; sie verschmähen ihr eigenes, vielleicht besseres Essen, um sich mit List oder Gewalt desjenigen ihrer Nachbarn zu bemächtigen. Am deutlichsten wird die triebartige, psychische Entstehung der Störung durch die freilich nicht allzu häufigen Fälle von Befehlsnegativismus. Solche Kranke bleiben liegen, wenn man ihnen befiehlt, aufzustehen, kehren um, wenn sie fortgehen sollen, schweigen sofort still, sobald man sie singen heisst und umgekehrt.

Das Verständnis dieser höchst auffallenden Krankheits- erscheinungen wird vielleicht durch die Erfahrung erleichtert, dass Negativismus und Willenlosigkeit sich nicht nur in der Regel bei denselben Kranken finden, sondern sich auch nicht selten durch kleine Kunstgriffe rasch ineinander überführen lassen. Es gelingt, Katalepsie in Starre, negativistisches Widerstreben in Nach- ahmungsautomatie umzuwandeln; dazwischen hinein schieben sich dann oft plötzliche, unvermittelte Antriebe. Die Annahme liegt daher nahe, dass die zunächst so verschiedenen Erscheinungen doch eine tiefere gemeinsame Wurzel haben. Überall erscheint der regelnde, richtunggebende Einfluss dauernder Zwecke und Willensneigungen auf das Handeln herabsetzt. Dadurch ist ein- mal äusseren Anstössen, das andere Mal auftauchenden Einfällen der Weg zur Einwirkung auf den Willen geöffnet. Auch das Ein- treten der Willenssperrung, die an das Störrischwerden der Kinder und mancher Tiere erinnert, wird jedenfalls durch die Schwächung der gesunden Willensregungen begünstigt. Vielleicht haben wir in diesem triebartigen Widerstreben einen tiefer begründeten Zug unseres Seelenlebens vor uns, der durch eine höhere Entwick- lung verdeckt wird, aber in der Krankheit wieder die Herrschaft

gewännt.

Bei weitem am häufigsten sind die hier geschilderten V illens- störungen bei der Katatonie. In geringerer Ausbildung treffen wir sie hie und da bei der Paralyse, gelegentlich auch wohl beim Altersblödsinn an, also durchweg bei solchen Formen des Irre-

Verminderte Beeinflussbarkeit des Willens.

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seins, denen schon nach unseren heutigen Kenntnissen schwerere Zerstörungen in der Hirnrinde zu Grunde liegen.

Der katatonische Negativismus darf nicht verwechselt werden mit dem Widerstreben ängstlicher Kranker. Auch bei diesen letzteren entstehen Widerstände, sobald äussere Eingriffe er- folgen. Indessen das ängstliche Widerstreben geht aus bestimm- ten Gefühlen und Vorstellungen hervor. Es führt daher immer zu mehr oder weniger zweckmässigen Abwehr- und Schutzbewe- gungen, zum Entfliehen, Zurückweichen, Verkriechen oder selbst zu verzweifelten Angriffen. Bei ängstlichen Kranken sind wir imstande, durch freundliches Zureden allmählich den Widerstand zu überwinden; dieser letztere beginnt schon vor der körperlichen Einwirkung und wird um so stärker, je verdächtiger unsere An- näherung dem Kranken erscheint. Auf den negativistischen Kran- ken übt Zureden nicht den geringsten Einfluss; sein Widerstand beginnt erst dann, aber auch unfehlbar, sobald irgend eine Be- wegung angeregt wird, ohne jede Beziehung zu einer möglichen Gefährdung. Im Gegenteil lassen sich die Kranken einfache, auch unsanfte Berührungen selbst sehr empfindlicher Teile, z. B. der Augen, meist ohne Sträuben gefallen, weil eben nicht die Angst, überhaupt keine bestimmte Überlegung, sondern eine ganz ur- sprüngliche Willensstörung die Grundlage ihres Verhaltens bil- det. Daher pflegen auch die selbständigen Bewegungen ängst- licher Kranker weit freier und zweckmässiger zu sein, als die- jenigen beim Negativismus.

Näher schon dürfte dem Negativismus der Eigensinn stehen, dem wir ebenfalls in Krankheitszuständen, besonders bei der Imbecillität, bei der Epilepsie und Hysterie', bei der Paralyse und beim Altersblödsinn, nicht selten in stärkster Entwicklung begegnen. Auch hier wird an einem Entschlüsse zähe festgehal- ten, obgleich die veränderten Bedingungen ihn dem weiter blicken- den Beobachter als sehr unzweckmässig, vielleicht als verderb- lich erscheinen lassen. Ja, wir sehen bisweilen, dass selbst trotz besserer Einsicht die Fähigkeit fehlt, von der einmal festgelegten Willensrichtung abzugehen. Immerhin pflegt das eigensinnige Handeln ursprünglich von gewissen Überlegungen seinen Aus- gangspunkt zu nehmen, wenn dieselben auch späterhin mehr in den Hintergrund treten. Ferner ist der krankhafte Eigensinn

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

meist doch bis zu einem gewissen Grade dem Zureden, der Beein- flussung durch Vorstellungen und Gefühlsregungen zugänglich, wenigstens vorübergehend, und endlich ist er regelmässig von einer ärgerlichen, gereizten Stimmung getragen, die nicht nur zum Widerstande, sondern auch zu kräftiger Abwehr gegen ge- waltsame Eingriffe führt. Sehr deutlich wird gerade dieser Unter- schied vom Negativismus in jenen Fällen, in denen die Kranken sich mit grösster Hartnäckigkeit gegen jede, auch die ver- nünftigste und wohltätigste Massregel sträuben. Bei dieser all- gemeinen Unlenksamkeit sind die Kranken stets zum Schimpfen und zum Kampfe geneigt und werden vielfach von feindseligen, wenn auch verworrenen Wahnvorstellungen beherrscht, im Gegen- sätze zu dem Gleichmute des negativistischen Kranken, der nur widerstrebt, selten abwehrt und noch weit seltener angreift.

Bei der Ausbildung einer selbständigen psychischen Persön- lichkeit entwickeln sich, wie wir gesehen haben, gewisse dau- ernde Willensrichtungen, die uns unabhängig machen von zu- fälligen Einflüssen. Erstarren diese Willensrichtungen zu sehr, so können sie eine vollkommene Bindung des Willens und damit eine Unfreiheit der Entschliessung bedingen, die unter Umständen bis in das Gebiet des Krankhaften hineinreicht. Die unbeugsame Hartnäckigkeit des Querulanten ist dafür ein Bei- spiel. Sie lässt ihn in ähnlicher Weise seinem Willen Hab und Gut, Ehre und Freiheit zum Opfer bringen, wie es bei den überzeugungstreuen Vorkämpfern grosser Ideen der Fall ist, aber die Kleinlichkeit des Zweckes steht für die verständige Überlegung in keinem Verhältnisse zu dem Aufwande an Kraft. Eine mehr äusserliche Einschränkung der geistigen Freiheit wird durch die Pedanterie, die Erstarrung der Lebensgewohn- heiten, herbeigeführt. Die peinliche Selbstzucht zwingt hier auch dann zur strengen Beobachtung enger Regeln, wenn höhere Ziele eine Vernachlässigung derselben fordern würden. In krank- hafter Gestaltung gedeiht diese Eigenschaft besonders auf dem Boden epileptischer Veranlagung.

Zwangshandlungen. Mit diesem Namen bezeichnen wir solche Handlungen, welche nicht aus dem gesunden Denken und Fühlen hervorwachsen, sondern von dem Kranken gegen seinen W illen und trotz lebhaften inneren Widerstrebens ausgeführt werden.

Zwangshandlungen.

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Einen gewissen Anhalt für das Verständnis dieser Störungen gibt uns allenfalls die bekannte Erfahrung aus dem gesunden Leben, dass uns bei gewissen Gelegenheiten, am Rande eines Abgrundes, auf einer Brücke, der Gedanke auftaucht, uns selbst oder unsere Begleiter hinabzustürzen, bei feierlichen Anlässen irgend eine lächerliche oder unpassende Handlung zu begehen, im Theater plötzlich „Feuer“ zu rufen und ähnliches. In Wirk- lichkeit kommt es niemals zur Ausführung. Vielmehr bleibt es bei der mehr oder weniger klaren Ausmalung dessen, was geschehen würde, wenn wir eine derartige Handlung begingen.

Bei krankhafter Veranlagung kann sich zu der Vorstellung die quälende Befürchtung gesellen, dass die Handlung möglicher- weise zu stände komme. Solche Befürchtungen, wie wir sie früher geschildert haben, veranlassen dann allerhand Schutz- handlungen, deren Durchführung sich die Kranken auf keine Weise zu entziehen vermögen. Die Mannigfaltigkeit solcher Mass- nahmen ist womöglich noch grösser, als diejenige der Befürch- tungen. Die Kranken weichen jeder noch so entfernten Mög- lichkeit aus, die gefürchtete Handlung zu begehen, entfliehen dem daliegenden Messer, um nicht damit sich selbst oder ihre Kinder umzubringen, lassen sich festbinden, sammeln schriftliche Zeugnisse, dass sie nichts begangen haben, und lernen sie aus- wendig. Aus der Berührungsfurcht geht das zwangsmässige Waschen und Reinigen hervor, das einen ganz ungeheuren Um- fang annehmen kann, aus der Kleiderangst das Aufträgen der alten Kleider bis zum äussersten, aus der Papierangst das An- sammeln von allen möglichen Zetteln und Fetzen. Eine meiner Kranken, die immer fürchtete, irgend etwas versprochen zu haben, musste sich beständig in ihren Gedanken oder flüsternd dagegen verwahren; ein anderer musste alle möglichen Schutz- sprüche und abergläubischen Hilfsmittel gegen seine Beängsti- gungen in Anwendung bringen.

Es ist leicht ersichtlich, dass wir es bei allen diesen Hand- lungen, welche die Kranken gegen ihre Überzeugung und gegen ihren Willen ausführen müssen, nicht eigentlich mit einem ein- fachen Zwange zu tun haben. Der Antrieb zum Handeln ent- steht nicht unmittelbar als solcher, sondern er entwickelt sich erst als Folge der krankhaften Befürchtung. Es sind gewisser-

Kraepelin, Psychiatrie I. 7. Aafl. 19

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

massen Notwehrhandlungen, deren Lächerlichkeit und Unsinnig- keit den Kranken meist deutlich zum Bewusstsein kommt; dennoch werden sie immer wiederholt, weil sie erfahrungsgemäss wenig- stens für den Augenblick Beruhigung bringen.

Wie es scheint, kommen aber hier und da auch Zwangs- handlungen im engeren Sinne zur Beobachtung, bei denen der Antrieb ohne Zusammenhang mit Befürchtungen selbständig zwingend auftaucht. Zum Teil allerdings handelt es sich dabei wohl um die Überbleibsel früherer Schutzhandlungen, denen die Beziehung zu den Befürchtungen allmählich verloren gegangen ist. Dahin gehört das Ausstossen gewisser Beschwörungsformeln, absonderlicher Bewegungen und Gewohnheiten, symmetrischer oder wiederholter, gradzahliger Berührungen, denen ursprüng- lich irgend eine Bedeutung beigelegt wurde. Bei anderen An- trieben scheinen jedoch solche Anknüpfungen zu fehlen, wie bei dem Drange, Schimpfworte, Unflätigkeiten auszustossen. Sind aber die Handlungen, zu denen sich der Kranke gedrängt fühlt, gefährliche, so rufen die Antriebe ihrerseits Befürchtungen her- vor; es ist dann in der Regel unmöglich, zu entscheiden, ob es sich zunächst um Angstzustände oder um Zwangsantriebe ge- handelt hat. Es können aber auch ganz gleichgültige Hand- lungen, wie das Fortbewegen irgend eines Gegenstandes, sich mit Ungestüm aufdrängen. Das Unterdrücken des Antriebes führt dann zu lebhafter Beunruhigung, die erst bei der Ausführung der Handlung schwindet, um durch die Beschämung über das Unterliegen abgelöst zu werden. Bei wirklich bedenklichen Hand- lungen scheint eine zwangsmässige Überwältigung des wider- strebenden Willens nicht oder doch äusserst selten vorzukommen. Alle diese Störungen gehören den Krankheitsbildern der psy- chopathischen Veranlagung an.

Gar nicht selten hört man auch katatonische Kranke davon reden, dass sie sich zu ihren absonderlichen Handlungen ge- zwungen gefühlt hätten. Sie haben dies und jenes nicht tun wollen, aber sie konnten nicht anders; sie vmrden dazu getrie- ben; es wurde so gemacht, dass sie es tun mussten. Indessen hier unterliegen die Kranken den Antrieben in der Regel ohne Kampf, ohne inneres Widerstreben. Dadurch fällt eine wesent- liche Eigentümlichkeit der Zwangshandlungen, der innere Zwie-

Triebhandlungen.

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spalt und das Gefühl der Überwältigung, vollständig fort. Auch wenn die Kranken meinen, die Handlung sei ihnen eingegeben, nicht aus ihrem eigenen Willen hervorgegangen, so empfinden sie ihr Tun doch nicht als eine Niederlage.

Triebhandlungen. Die Macht eines Willensantriebes hängt im allgemeinen von der Lebhaftigkeit der Gefühle ab, die seine Triebfedern bilden. Am kräftigsten wirken sinnliche Gefühle, die uns oft gebieterisch zu bestimmten Handlungen drängen, Schmerz, Hunger, Durst, geschlechtliche Gefühle. Je heftiger aber die gemütliche Erschütterung, je stärker der Drang zum Handeln, desto geringer ist der Einfluss der Überlegung, desto schwieriger die Hemmung der sich vorbereitenden Tat. Sehr leidenschaftliche Erregungen führen bekanntlich schon beim ge- sunden Menschen unter Umständen zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Trübung des Bewusstseins. Immerhin sind wir zumeist imstande, die allzu grosse Heftigkeit der Gemütsbewe- gungen, wie sie noch dem Kinde eigentümlich ist, zu dämpfen und damit die Herrschaft unseres Verstandes über das Handeln auf- recht zu erhalten.

Bei Geisteskranken nehmen, entsprechend der Häufigkeit lebhafter Gefühle und eingreifender Willensstörungen, die Trieb- handlungen mit grosser Stärke der Antriebe und Unklarheit der Zweckvorstellungen einen sehr viel breiteren Raum ein („Im- pulsivität“); wir begegnen ihnen in den verschiedenartigsten Erregungszuständen. Schon der Beschäftigungsdrang der mani- schen Kranken ist vielleicht unter diesem Gesichtspunkte auf- zufassen. Sicher sind hierher gewisse Handlungen der Epilep- tiker zu rechnen, der mit vielen Namen belegte ziellose Wander- trieb (Dromomanie, Poriomanie, Fugues, automatisme ambulatoire), die geschlechtlichen Vergehen (Exhibitionismus, geschlechtliche Angriffe), das Trinken der Dipsomanen. Ähnliches gilt wohl von dem mannigfachen krankhaften Treiben vieler Hysterischen, von ihren Selbstbeschädigungen, ihren Diebstählen und Schwindeleien. Von den Zwangshandlungen unterscheidet sich das Tun aller dieser Kranken durch den wesentlichen Umstand, dass die auftauchen- den Antriebe im Augenblick durchaus nicht als aufgezwungene, sondern als die natürlichen Äusserungen ihres psychischen Ge- samtzustandes empfunden werden.

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Als Triebhandlungen sind wohl auch am richtigsten die oben erwähnten Willensentladungen der Katatoniker aufzufassen, obgleich ihnen kein bestimmtes Lust- oder Unlustgefühl, sondern ein mächtiger, ursprünglicher Bewegungsdrang zu Grunde liegt. Der Kranke ist hier von dem Bewusstsein beherrscht, dass er nun dieses oder jenes tun müsse, ohne klare Begründung, ohne Nachdenken, wenn auch bisweilen mit dem deutlichen Gefühle der Unsinnigkeit des eigenen Treibens. Hie und da taucht auch wohl die Vorstellung auf, dass die Glieder von einer unsicht- baren Macht, von Gott, dem Teufel, durch elektrische Beein- flussungen in Bewegung gesetzt werden. V on . einem V ider- stande gegen den Antrieb, von einem Kampfe ist jedoch gar keine Rede; vielmehr folgt der Kranke blindlings seinen Einfällen. Auf diese Weise entstehen zahllose verkehrte, absonderliche und oft recht gefährliche Handlungen, die bei aller Mannigfaltigkeit doch gewisse gemeinsame Züge darbieten. Dahin gehören die eigentümlichen Kraftleistungen, die Purzelbäume und Luftsprünge, das Singen, Schreien, Zerstören, Entkleiden, die plötzlichen An- griffe, das Kotessen, die sinnlosen Versuche, sich zu erdrosseln, den Mund aufzuschlitzen, die Augen auszubohren, Zunge und Kehlkopf herauszureissen. Kennzeichnend für diese Triebhand- lungen ist ausser dem Mangel jedes verständlichen Beweggrun- des die ungemeine Schnelligkeit und Heftigkeit der Ausführung, welche auf das rücksichtsloseste jedes Hindernis überwindet, während umgekehrt bei den Zwangshandlungen schon eine geringe Unterstützung des lebhaft sich regenden gesunden Wider- standes genügt, um diesem letzteren zum Siege zu verhelfen.

Krankhafte Triebe. Der für die Selbsterhaltung wichtigste Trieb, das Nahrungsbedürfnis, weist bei Geisteskranken sehr häufig Störungen auf. Die Nahrungsverweigerung ist in allen traurigen oder ängstlichen Verstimmungen, ferner im ka- tatonischen Stupor eine ganz gewöhnliche Erscheinung; freilich beruht sie in den erstgenannten Zuständen nicht immer auf einem Schweigen des natürlichen Triebes, sondern auf Wahnvorstel- lungen oder dem Wunsche, zu sterben. Andererseits werden von Idioten, Paralytikern, Katatonikern vielfach nicht nur unglaub- liche Mengen von Nahrungsmitteln, sondern bisweilen die un- geniessbarsten und ekelerregendsten Dinge, Sand, Steine, See-

Krankhafte Triebe.

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gras, Kot, lebende Tiere verschlungen. Hier kann man nicht wohl von einer einfachen Steigerung gesunder Triebe sprechen, sondern es handelt sich zweifellos bereits um gleichzeitige Ab- weichungen in Art und Richtung des Begehrens. Dasselbe gilt von den bekannten, plötzlich mit grosser Heftigkeit auftauchenden Essgelüsten der Schwangeren und Hysterischen. Bernstein hat eine Kranke beschrieben, die triebartig Papier und später Sand verzehrte und einer förmlichen Entziehungskur unterworfen werden musste. Wir werden hier erinnert an die verschiedenen „Suchten“, das triebartige Verlangen nach Arznei- und Ge- nussmitteln. Bei den meisten derselben sind es die angenehme Wirkung oder das Auftreten von Entziehungserscheinungen, die das Begehren erzeugen; es gibt aber auch Suchten, bei denen derartige Umstände gar keine Rolle spielen. Zu ihrer Erklärung dient die Erfahrung, dass die Neigung zum Missbrauche von Mit- teln in der Regel eine allgemeine ist und sich gleichzeitig nach verschiedenen Richtungen erstreckt, also eine persönliche An- lage darstellt.

Bei weitem am mannigfaltigsten gestaltet sich die Reihe der krankhaften Abweichungen auf dem Gebiete des Geschlechts- triebes, wie sie in neuerer Zeit von verschiedenen Seiten her auf das eingehendste bearbeitet worden sind. Einfache Herab- setzung der geschlechtlichen Begehrlichkeit findet sich in den Depressionszuständen, bei Morphinisten, bei manchen Formen des angeborenen Schwachsinns und der hysterischen Veranlagung. Dagegen erwacht der Geschlechtstrieb in anderen Fällen von Idiotie und angeborener Entartung schon sehr früh und in grosser Stärke; er führt dann regelmässig zur Onanie. Steigerung des Geschlechtsbedürfnisses begleitet auch in mehr oder minder aus- gesprochenem Grade die manische und katatonische Erregung; sie drückt sich seltener geradezu in geschlechtlichen An- griffen, meist in zweideutigen Reden, unflätigen Schimpfe- reien und Beschuldigungen aus, in mehr oder weniger rück- sichtsloser Masturbation, bei Weibern auch in schamlosen Entblössungen, äusserster Unreinlichkeit oder beständigen Wa- schungen mit Wasser, Speichel, Urin, Kämmen und Auflösen der Haare, in leichteren Formen durch Putzen und Schön- tun, Wechsel zwischen herausforderndem und verschämtem

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

oder empfindsamem Wesen, durch Händedrücken, Briefschrei- ben, verständnisvolle Blicke. Zu diesen gradweisen Abstu- fungen kommt nun aber eine fast unübersehbare Menge von verschiedenartigen Entgleisungen des Geschlechtstriebes, bei denen die Befriedigung auf zweckwidrigen Wegen gesucht wird. Die bekannteste derselben ist die sogenannte con- träre Sexualempfindung*), jene Störung, die das ge- schlechtliche Fühlen und Begehren in unversöhnbaren Gegen- satz zu der körperlichen Veranlagung des Menschen bringt und ihn die geschlechtliche Befriedigung nur beim eigenen Ge- schlechte finden lässt. Wir werden im klinischen Teile Gelegen- heit haben, auf diese meist sehr früh sich zeigende Erscheinungs- form des Entartungsirreseins ausführlich zurückzukommen.

Dagegen ist schon hier jene höchst eigentümliche Störung des Geschlechtstriebes zu besprechen, die man nach dem be- rüchtigten französischen Romanschriftsteller Marquis de Sa de**) als „Sadismus“ bezeichnet hat. Es handelt sich dabei um das Auftreten von geschlechtlichen Wollustempfindungen bei Handlungen der Grausamkeit. Die betreffenden Personen suchen entweder den Reiz der geschlechtlichen Vereinigung durch mehr oder weniger ernste Misshandlungen zu erhöhen, oder die gra^ same Handlung erweckt schon an sich die volle sinnliche Befrie- digung, auch beim Fehlen aller gesunden Vorbedingungen für die geschlechtliche Erregung. Der letztere Fall stellt offenbar nur eine weitere krankhafte Entwicklungsstufe des ersteren dar. Was dort nebensächliches, vielleicht sogar entbehrliches Hilfs- mittel war, ist hier zur Hauptsache geworden, neben welcher die eigentliche Hauptsache, die geschlechtliche Vereinigung, vollständig in den Hintergrund getreten ist. Tatsächlich finden sich zahlreiche Übergangsformen von den leichtesten, noch in der Gesundheitsbreite liegenden Anwandlungen bis zu den schwer- sten, das Leben der Opfer fordernden krankhaften Verirrungen.

Unter den sadistischen Handlungen selbst kommen in erste t Linie Geisselungen auf den entblössten Körper in Betracht, die

*) Havelock Ellis u. Symonds, Das conträre Geschlechtsgefühl, deutsch v. Kurella. 1896; Raffalovich, uranisme et unisexualite. 1896; Bloch, Beiträge zur Ätiologie der Psychopathia sexualis. 1902.

**) D Uhren, Der Marquis de Sade und seine Zeit 1900.

Krankhafte Triebe.

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häufiger zur Unterstützung und Vorbereitung der geschlechtlichen Erregung benutzt werden. Als wirklicher Ersatz des Beischlafs dienen sie weit seltener und wohl nur in zweifellos krankhaften Fällen. Ähnlich mag es mit der Neigung zum Kneifen undBeissen stehen. Das Stechen und Schneiden tritt bei den von Zeit zu Zeit einmal beobachteten „Mädchenstechern“ geradezu als Form der geschlechtlichen Befriedigung auf. Die Kranken suchen sich an hübsche junge Mädchen heranzudrängen und ihnen mit Dolch oder Messer, deren sie bisweilen eine grosse Auswahl besitzen, eine blutige, aber nicht gefährliche Wunde beizubringen, was ihnen lebhafte Wollustgefühle verursacht. Noch einen Schritt weiter gehen jene Kranken, welche sich die geschlechtliche Be- friedigung durch Quälen und Töten von Tieren zu verschaffen suchen. Dann kommen die Lustmörder, die ihr Opfer vor oder nach dem Geschlechtsakte erdrosseln und dann womöglich auf- schneiden, zerreissen, zerstückeln. Gerade in solchen Fällen zeigt sich bisweilen ein buchstäblicher „Blutdurst“, der zum Aus- saugen des Opfers und zur wirklichen Menschenfresserei führen kann. Überall können eigentlich geschlechtliche Handlungen trotz heftigster geschlechtlicher Erregung vollkommen fehlen. Als eine Abart der Lustmörder sind wohl die glücklicherweise recht seltenen Leichenschänder zu betrachten, unter denen der fran- zösische Sergeant Bertrand eine traurige Berühmtheit erlangt hat, da er, von unwiderstehlicher geschlechtlicher Begierde ge- trieben, mit grösstem Geschicke frisch bestattete Leichen wieder ausgrub, schändete und zerstückelte.

Gewissermassen das Gegenstück zum Sadismus bildet die von v. Krafft-Ebing unter dem Namen des „Masochismus“ beschriebene Sucht, sich die geschlechtliche Befriedigung durch Erduldung von Schmerzen zu erhöhen oder überhaupt erst zu verschaffen. Die Bezeichnung ist hergenommen von dem Schrift- steller Sacher-Masoch, der in seinen Romanen mit Vor- liebe diese eigentümliche Erscheinung schilderte. Wegen der bei beiden bestehenden Verbindung von Schmerz und Wollust hat v. Schrenk-Notzingfür Masochismus und Sadismus die gemeinsame Bezeichnung „Algolagnie“ (Schmerzgeilheit) vor- geschlagen; jener ist tätige, dieser duldende Algolagnie.

Auch beim Masochismus begegnen wir vor allem der ge-

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

schlechtlichen Erregung durch Geisselung, aber hier durch Er- dulden derselben. Die unliebsamen Nebenwirkungen erzieh- licher Züchtigungen, namentlich der Schläge auf das Gesäss, sind lange bekannt, ebenso die Auffrischung der gesunkenen ge- schlechtlichen Leistungsfähigkeit durch ähnliche Massregeln. Auch das Flagellantentum hat vielleicht eine seiner Wurzeln in der sinnlich aufreizenden Wirkung der Geisselhiebe gehabt. In das Gebiet des Krankhaften gehören die Fälle, in denen die ge- schlechtliche Erregung durch wirklich rohe Misshandlungen, Ge- bissen-, Gestochen-, Getretenwerden und ähnliches ausgelöst wird. Meist werden hier andere Personen vorher zur Ausführung der gewünschten Handlungen angelernt.

Aus naheliegenden Gründen führt die Algolagnie nur ver- hältnismässig selten, bei ausgebildetem Schwachsinn und grosser sittlicher Stumpfheit, zu jenen wirklich gefährlichen Hand- lungen, welche in der Entwicklungsrichtung des krankhaften Triebes liegen. Vielfach sind die Handlungen, welche ausgeübt oder gewünscht werden, mehr Andeutungen, in der Weise, wie schon das Ritzen der Haut ein Sinnbild des Tötens, das Einpressen der Zähne ein solches des Auffressens darstellt. Der sadistische Trieb kann sich in Handlungen Luft machen, welche ganz all- gemein nur die unbeschränkte Herrschaft über das geschlecht- liche Opfer ausdrücken (Beschimpfen, Beschmutzen, Fesseln), während der Masochist sich befriedigt fühlt, wenn er in möglichst lebhafter Weise die völlige Unterwerfung unter einen fremden Willen empfindet (Erdulden von Beschimpfung, Bedrohung, Miss- achtung, ekelhafter Besudelung, Urintrinken). Bei der regen Mitarbeit der Einbildungskraft ist die Mannigfaltigkeit der Kunst- griffe, welche diese Kranken zur Vorbereitung oder zum Ersätze des Beischlafes anwenden oder von Anderen fordern, trotz mancher Gleichförmigkeit eine ausserordentlich grosse.

Wir sind im Vorstehenden wiederholt der Erscheinung be- gegnet, dass bei unseren Kranken ein ursprünglich das Zustande- kommen der geschlechtlichen Erregung nur unterstützender ^ or- gang schliesslich ganz allein schon und ohne V erbindung mit eigentlichem Geschlechtsverkehre die angestrebte Befrie- digung herbeizuführen vermag. In der Regel sind es Handlungen, welche in irgend einer Weise die Vorstellung der Geschlechts-

Krankhafte Triebe.

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beziehung lebhaft wachrufen. Einerseits können wollüstige Be- tastungen, das Zusehen beim Geschlechtsverkehr Anderer, ja das Beobachten der natürlichen Entleerungen, ferner das Lesen von unzüchtigen Schriften, das Besehen oder Zeichnen derartiger Bilder, endlich auch die Ausmalung geschlechtlicher Abenteuer in Gedanken oder in schriftlicher Darstellung („psychische Onanie“) diese Wirkung haben. Für die letztere Form der geschlechtlichen Entladung geben gerade die verschiedenen sadistischen und masochistischen Schriften merkwürdige Bei- spiele. Dieses ganze Gebiet gehört der Entartung an; es scheint aber, dass Ausschweifungen und geschlechtliche Übersättigung, die freilich auch auf dem Boden der Entartung am besten ge- deihen, hier eine gewisse Rolle spielen. Eine etwas andere Be- deutung hat vielleicht der E x h i b i t i o n i s m u s , die geschlecht- liche Befriedigung durch Vorzeigen der Geschlechtsteile gegen- über Kindern oder Personen des anderen Geschlechtes. Er findet sich, wie die meisten dieser Verirrungen, vorwiegend bei Männern. Meist handelt es sich um Epileptiker in Dämmer- zuständen oder um Altersschwachsinnige, seltener um einfache Psychopathen.

Zur Erklärung dieser absonderlichen Erscheinungen liegt die Annahme nahe, dass bei einer krankhaften Steigerung der ge- schlechtlichen Erregbarkeit bereits der begleitende Vorgang ge- nügt, um dieselbe Wirkung zu erzielen, welche er im gesunden Leben höchstens in Verbindung mit den wirklichen Geschlechts- reizen erreichte, ähnlich wie dem Empfindlichen schon die Probe- signale bei der Feuerwehrübung unangenehme Gefühle erwecken. Allein schliesslich kann es so w'eit- kommen, dass nur noch der nebensächliche Reiz, nicht aber mehr der natürliche, oder doch jener unvergleichlich viel stärker, als dieser, die geschlecht- liche Befriedigung zu erzeugen imstande ist.

Ganz besonders häufig macht sich eine solche Verschiebung in verschiedenartiger Entwicklung dahin geltend, dass es ein- zelne, bestimmte Körperteile oder Kleidungsstücke sind, welche zunächst geschlechtlich anregend wirken, dann bei der Aus- führung des Beischlafes eine herrschende Rolle spielen und end- lich für sich allein in ganz absonderlicher Weise den Geschlechts- genuss vermitteln. Man bezeichnet diese Störung als ,,F e t i -

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

schismus“* **)). Von körperlichen Reizen dienen als Fetische bald Hände oder Füsse, bald Augen, Mund, Ohr, Haare, besonders Zöpfe. Die einfache Betrachtung, Berührung, Liebkosung der betreffenden Teile gewährt dem Fetischisten eine weit höhere geschlechtliche Befriedigung, als der wirkliche Beischlaf. Unter den Kleidungsstücken sind Schuhe und Stiefel sehr bevorzugt, nach v. Krafft-Ebings Ansicht wegen der an sie sich knü- pfenden masochistischen Wollust der Unterwerfung, ferner Ta- schentücher und Unterkleider, endlich Sammet- und Pelzstoffe. Wie die Erfahrung lehrt, werden solche Dinge von den Kranken aus geschlechtlicher Begierde öfters unter den schwierigsten Um- ständen massenhaft gesammelt (Zopfabschneider !) und zu ein- samen masturbatorischen Vergnügungen verwendet. Auch sadi- stische und masochistische Handlungen können sich an den Fetisch knüpfen. Die Kranken zerreissen, zerknittern oder beschmutzen die Wäschestücke, drängen sich an Mädchen an, um ihre Kleider mit Tinte oder ätzenden Säuren zu übergiessen, oder sie hüllen sich in uringetränkte Tücher, stopfen sich schmutzige Lappen in den Mund und dergl.

Mehl- dem Grenzgebiete zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit gehört die geschlechtliche Befriedigung durch un- züchtige Handlungen an Kindern an. Wir treffen sie einmal in epileptischen Dämmerzuständen, dann aber bei Personen, denen der gesunde Geschlechtsverkehr erschwert ist, bei Greisen und Schwachsinnigen. Eine ganz ähnliche Bedeutung hat auch die Sodomie, die Unzucht mit Tieren. In welchen Beziehungen endlich die krankhafte Zuneigung zu Tieren, die Z o o p h i 1 i e , mit dem Geschlechtstriebe steht, ist noch unklar. Da es sich meist um Frauen handelt, die mit der grössten Zärtlichkeit und Auf- opferung sich ihren Katzen, Hunden oder ögeln widmen, möchte man hier an eine Verirrung des Brutpflegetriebes glauben.

Als die Quelle des Sammeltriebes, der ebenfalls bis- weilen krankhafte Formen annehmen kann, ist wohl die Freude am Besitze, die Habsucht, anzusehen. Ihm schliesst sich der namentlich beim weiblichen Geschlechte, in der Schwangerschaft,

*) Garnier, Les fetichistes pervertis et invertis sexuels. 1896.

**) S e i f f e r , Archiv für Psychiatrie, XXXI, 405. 1899.

Krankhafte Triebe.

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während der Menses oder bei hysterischer Veranlagung, auftre- tende Stehltrieb (Kleptomanie) an, die unwiderstehliche Neigung, sich ohne Not selbst ganz unnütze, wertlose Dinge durch Diebstahl anzueignen. Ob es sich dabei um etwas anderes handelt, als um die Herabsetzung der Widerstandsfähigkeit gegen eine augenblickliche, lockende Verführung, ist schwer zu ent- scheiden. In hysterischen Dämmerzuständen kommt allerdings ein wirklicher Trieb vor, alle möglichen Gegenstände einzustecken und zu verbergen. In manchen Fällen von Stehltrieb hat sich übrigens ein überraschender Zusammenhang mit geschlechtlichen Verirrungen herausgestellt, bei solchen Personen, die Taschen- tücher, Wäsche, Kleidungsstücke, Stiefel in grossen Mengen zu- sammenstehlen, um sie als Fetisch zu benutzen.

Ganz ausser Beziehung zu den natürlichen Trieben scheint der Brandstiftungstrieb („Pyromanie“) zu stehen, der ein- mal in epileptischen und hysterischen Dämmerzuständen, dann aber namentlich in den Entwicklungsjahren ohne sonstige erhebliche Krankheitszeichen Vorkommen kann. Die mehrfache Wiederholung derselben Tat, das Fehlen jedes vernünftigen Beweggrundes, die Befriedigung beim Ausbrechen des Brandes, die spätere Reue, die häufig beobachtete auslösende Wirkung des Alkohols weisen auf krankhafte Grundlagen dieser noch recht rätselhaften Erfah- rungen hin. Bisweilen spielt dabei das Heimweh, der Wunsch, fort- zukommen, dem wir schon bei den epileptischen Verstimmungen begegnet sind, eine Rolle. Ein junger Mensch meiner Beobach- tung begründete eine von mehreren, rasch aufeinanderfolgenden Brandstiftungen mit dem plötzlich bei ihm auftauchenden Ge- danken, den Vater dadurch zum Ausziehen aus der aussichts- losen und verbauten Wohnung zu veranlassen. Ähnlich ist es bei jenen vereinzelten Beobachtungen von jungen Mädchen, die in den Entwicklungsjahren ihre Pflegekinder ohne anderen Grund ermorden, als weil sie ihrer Stelle überdrüssig sind. In einem mir bekannt gewordenen Falle von mehrfacher Kindestötung hatte die jugendliche Täterin Tieren und schliesslich auch kleinen Kindern den Finger gewaltsam in den After gebohrt, so dass sie daran starben ; hier bestanden wohl Beziehungen zum Geschlechts- triebe. Endlich sind hier noch gewisse Formen der Giftmi- scherei zu erwähnen, die fast ausschliesslich beim weiblichen

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

Geschlechte Vorkommen. Es sind das jene grauenhaften Fälle, in denen ohne erkennbaren Beweggrund wahllos zahlreiche Personen der nächsten Umgebung, oft auch Kinder und geliebte Angehörige, vergiftet werden. Die Täterinnen beobachten dabei mit innerer Befriedigung die Wirkung ihres Tuns, empfinden aber lebhafte Trauer beim Tode ihrer Opfer, ohne dem Drange nach weiterer Betätigung widerstehen zu können. Die nahe psychologische V er- wandtschaft mit dem Brandstiftungstriebe liegt auf der Hand; in beiden Fällen werden heimlich mit unscheinbaren Mitteln ge- waltige Wirkungen erzielt.

Alle dauernden Abweichungen auf dem Gebiete der Triebe deuten auf eine angeborene Entartung hin; sie sind insgesamt nur Teilerscheinungen einer krankhaften Veranlagung, feie bilden besondere persönliche Eigentümlichkeiten, die von ihren Trägern nicht unmittelbar als etwas Fremdartiges, Krankhaftes empfunden werden, auch dann nicht, wenn dieselben durch Erfahrung und Überlegung den Gegensatz kennen gelernt haben, in welchem sie zu ihren gesunden Mitmenschen stehen. Die Ausnahmestellung, die sie einnehmen, die daraus entspringenden Demütigungen sind es vielmehr, was sie niederdrückt, als das Gefühl, krank zu sein. Insbesondere werden die zweckwidrigen Gestaltungen des Geschlechtstriebes von ihren Trägern vielfach der ge- gesunden Betätigung desselben als gleichwertig an die Seite gestellt. Hier liegt die allerdings im einzelnen fliessende Grenze zwischen Zwangshandlungen und den Äusserungen krankhafter Triebe. Der Zwangsantrieb erscheint dem Kranken immer als etwas ihm innerlich Fremdes, Auf gedrungenes; seiner Aus- führung folgt nur im Augenblicke das Gefühl der Befreiung von dem inneren Drucke, dann aber dasjenige einer erlittenen Kie- derlage. Dagegen bedeutet die Befriedigung des krankhaften Triebes für den Kranken selbst zunächst nur die Deckung eines natürlichen Bedürfnisses, und sie kann die gleichen, oft sogar weit stärkere Lustgefühle hervorrufen, als die Betätigung der gesunden Triebe. Erst durch die Einflüsse der Erziehung wird dieser ursprüngliche Sachverhalt verwischt.

Störungen der Ausdrucksbewegungen. Eine der wichtigsten Quellen für die Erkennung krankhafter Seelenzustände bilden die Ausdrucksbewegungen im weitesten Sinne des Wortes, da wir

Störungen der Ausdrucksbewegungen.

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aus ihnen vor allem unsere Schlüsse auf die psychischen Vorgänge zu ziehen haben, die sich in unseren Kranken abspielen. Eine genaue Schilderung aller dieser Bilder würde indessen die äusser- lich erkennbaren Hauptzüge sämtlicher klinischer Krankheits- formen wiedergeben müssen; wir beschränken uns daher hier auf wenige Andeutungen, die in der späteren Einzelbeschreibung näher ausgeführt werden sollen.

Die Kranken mit Dementia praecox pflegen sich gar nicht um ihre Umgebung zu kümmern, auch wenn sie tatsächlich recht gut auf fassen; sie sind unzugänglich, beachten den Arzt nicht, liegen teilnahmlos, oft in starrer, verzwickter Haltung da, geben keine Antwort, befolgen keine Aufforderung, oder sie machen einförmige, zwecklose Bewegungen, grinsen und lachen ohne Anlass, werfen plötzlich irgend einen Gegenstand ins Zimmer, rasen unaufhaltsam durch den Saal, drängen sinnlos zur Türe hinaus u. s. f. Die verblödeten Kranken werden oft ganz ab- lehnend, kauern oder stehen in irgend einer Ecke herum und entziehen sich unter unverständlichem Gemurmel jedem Ver- suche, sich mit ihnen in Beziehung zu setzen.

Sehr auffallend sind die Veränderungen, die der Ablauf der Bewegungen in der Dementia praecox erfährt. In der Hauptsache können wir sie als Verlust der Grazie kennzeichnen. Die Anmut der Bewegungen ist das Ergebnis einer ganzen Reihe von Einzel- vorgängen, die vielleicht am besten unter dem Gesichtspunkte der Ersparnis zu betrachten sind. Die anmutige Bewegung erreicht ihr Ziel mit möglichst geringem, aber ausreichendem Aufwande von Kraft und Weg. Demgegenüber werden die katatonischen Bewegungen entweder steif und hölzern infolge von übermässiger Anspannung der Antagonisten oder schlaff und lässig wegen un- genügenden Kraftaufwandes. Während die Anmut nur diejenigen Muskeln in Bewegung setzt, die unmittelbar an der Handlung be- teiligt sind, werden die katatonischen Bewegungen plump und massig durch die Beteiligung grosser und ferner gelegener Mus- kelgruppen. Die einfache Natürlichkeit, die geradeswegs dem Ziele zustrebt, geht ihnen verloren durch Verschnörkelungen und Entgleisungen, die ihnen den Stempel der Geziertheit und Ver- schrobenheit aufdrücken. Auch die Abrundung fehlt ihnen, das langsame Anwachsen und Abnehmen der Geschwindigkeit, wie

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

es einer haushälterischen Verwendung der Kraft entspricht; die Bewegungen gehen ruckweise und eckig von statten, oft auch in Absätzen, von plötzlicher Sperrung unterbrochen. Endlich ist der Mangel an innerer Einheitlichkeit in den Ausdrucksbewe- gungen bemerkenswert. Arme und Gesicht können die lebhaf- testen Gebärden zeigen, während Rumpf und Beine starr sind und die Zunge ruht, oder der Kranke tanzt mit starrem Aus- druck und steifen Armen herum; er spricht lebhaft, antwortet, verwebt das Gehörte in seine Reden, ohne doch seine Umgebung anzublicken.

Die Kranken mit Wahnbildungen putzen sich mit allerlei bunten Lappen heraus und suchen sich durch geheimnisvolle Ge- bärden und Vorrichtungen vor feindlichen Beeinflussungen zu schützen, oder sie ziehen sich mürrisch zurück, um gelegentlich stürmisch ihren Groll zu entladen. Insbesondere die Gehörshal- lucinanten stehen vielleicht mit lauschendem Gesichtsausdrucke in einer Ecke und bewegen nur hier und da zur Antwort die Lippen oder rufen einige abgerissene Worte. Die vorgeschrittenen Paralytiker erkennt man an ihren schlaffen Gesichtszügen und oft an einer gewissen täppischen Freundlichkeit, an dem strahlen- den Ausdrucke, mit dem sie ihre schwachsinnigen Grössenideen Vorbringen. Späterhin sieht man sie in tiefster V erblödung stumpf daliegen, ohne jede Spur des Verständnisses oder der Anteil- nahme für ihre Umgebung.

Der Niedergeschlagene sitzt, schlaff in sich zusammen- gesunken, mit bekümmerten Zügen da und vermag oft nur mit der grössten Anstrengung den Blick zu erheben, die Hand zu geben oder eine leise, zögernde Antwort hervorzubringen. Ängstliche Kranke kauern sich zusammen, wie um dem drohenden Unheil möglichst wenig Angriffspunkte zu gewähren, pressen die Zähne aufeinander, schliessen die Augen, machen sich steif, setzen jedem Annäherungsversuche verzweifelte Gegenwehr entgegen. Oder sie wandern ruhelos herum, an den Nägeln kauend, das Ge- sicht zerzupfend, die Hände ringend, drängen fort, klammern sich laut jammernd an ihre Umgebung an. Dagegen läuft der Manische mit lebhaften Ausdrucksbewegungen schwatzend, lachend, singend, geschäftig herum, sammelt alles Mögliche in seinen Taschen an, redet überall drein, treibt Schabernack und

Störungen der Ausdrucksbewegungen.

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sucht auf jede Weise dem Gefühle erhöhter Leistungsfähigkeit Luft zu machen. Die Hysterische bemüht sich, durch Kleidung und Haartracht, durch Sprödigkeit, Ausgelassenheit oder Hilfs- bedürftigkeit Eindruck zu machen; sie beobachtet scharf, be- herrscht sehr bald ihre Umgebung und weiss allerlei kleinen Schmuck des Lebens um sich anzuhäufen. Der Paranoiker endlich trägt mit einer gewissen Würde die „Gefangenschaft“ der Irren- anstalt, in der Tasche die selbstverfassten Beweisstücke für seine hohe Stellung, die Abschriften seiner Beschwerden oder die Akten seiner Rechtsstreitigkeiten. Aus allen diesen, in grösster Mannigfaltigkeit wechselnden und dennoch vielfach wie- derkehrenden Bildern vermag der erfahrene Irrenarzt oft schon beim ersten Anblicke die ungefähre Art der Störungen zu er- kennen. Zahlreich aber sind die Fälle, die für die oberflächliche Beobachtung gar keine auffallenden Erscheinungen darbieten, ein Verhalten, welches die bekannte Erfahrung erklärt, dass laien- hafte Besucher der Anstalt und selbst Wärter bei vielen Kranken das Vorhandensein einer Geistesstörung gar nicht aufzufinden vermögen.

Von grosser Wichtigkeit sind namentlich die durch die Geistesstörung bedingten Veränderungen in Sprache*) und Schrift. Abgesehen von dem Inhalt, der natürlich vielfach die Wahnideen oder Stimmungen des Kranken erkennen lässt, prägt sich oft schon in der Form der Grundzug der Psychose aus. Der Rededrang des Manischen äussert sich in unaufhörlichem, überstürztem Schwatzen mit sehr gelockertem Zusammenhänge und der Neigung zu rhythmischer Gliederung und sprachlichen Reminiscenzen, zu Wortspielen und Reimen. Dieselben Züge fin- den wir bei erregten Paralytikern wieder, verbunden mit den mehr oder weniger ausgeprägten Zeichen der Sprachstörung. In beiden Krankheitsformen wird nicht selten ein ganz unverständ- liches Kauderwälsch unter der Bezeichnung der verschiedensten fremden Sprachen Vorgebracht. Bei den gehemmten Kranken ist die Sprache leise, mühsam und zögernd. Auch die Melan- choliker sind meist wortkarg, vermögen sich aber ohne Schwierig-

*) Liebmann und Edel, Die Sprache der Geisteskranken. 1903.

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keit zu äussern; sobald lebhafte Angst vorhanden ist, kann es sogar zu ununterbrochenem, eintönigem und sehr störendem

Jammern kommen. _

Ganz besondere Eigentümlichkeiten pflegen die sprachlichen Äusserungen der Katatoniker darzubieten. Die Kranken sind oft Wochen und Monate lang völlig stumm, um dann ganz unver- mittelt geläufig zu sprechen oder einen Gassenhauer zu singen. Bisweilen geben sie verblüffend unpassende Antworten oder knüpfen an einfache Auskünfte eine Menge unverständlicher, ver- schwommener Redensarten. In der Erregung kommt es häufig zu völlig sinnlosen Reimereien und Klangspielereien, bei denen beliebige Silben in der mannigfaltigsten Weise verdreht und ab- gewandelt werden. Vielfach mischen sich geordnete Sätze mit durchaus beziehungslosen Wendungen. Namentlich bei längerem Sprechen sieht man oft den anfänglich klaren Zusammenhang völlig schwinden und jene merkwürdige Störung hervortreten, die wir als Sprachverwirrtheit bezeichnen. Da die Kran- ken vollkommen besonnen und orientiert sind, auch in ihrem Benehmen und Handeln vielfach gar keine auffallenderen Ab- weichungen darbieten, liegt die Vermutung nahe, dass wir es hier wesentlich mit einer Sprachstörung zu tun haben. Die Kranken sprechen leicht und fliessend, aber der Inhalt ihrer Reden ist ein fast völlig unverständliches Gewirr von zum Teil sinnlos zusammengewürfelten Wörtern, deren allgemeiner Inhalt sich höchstens ungefähr aus einzelnen, halbwegs verständlichen Anklängen erraten lässt. Forel hat diese Reden sehr treffend als „Wortsalat“ gekennzeichnet. Ein Beispiel dafür gibt die folgende Nachschrift:

.Ich frage in welches gegenüber der Persönlichkeiten. Was wollen Sie eigentlich gegenüber der Versammlung in dem Bild geschlossen, meine ich, so herzlos, dass meiner der Persönlichkeiten, die Impflege in meiner^ des Körpers. Was wollen Sie eigentlich mir gegenüber Vertretung. Ich frage jetzt nur ganz einfach. Hergebracht hat man mich wegen Jugend, und da hat man Versammlung geschlossen im Bund. Von der Person gegenüber memer Anhaltverpflegung, grossmütig der Erhaltungen der Führungen der Grafte der Lebensmittel mir gemacht worden sind. Irrititionen der Dunkelheiten wozu sind denn eigentlich die Gesetze geschlossen worden nach Stadt und Land von Ulfiterinen und die früheren Jahreszeiten und die Hypotheken. Die Erzählungen der Bürgerschaften gegenüber sagen die Mitglieder Mut und Jugend anhold sein der Kräfte der Personen stehender Körper Freundlich-

Störungen der Ausdrucksbewegungen.

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keiten und alle, der gesund es macht nach den Hippliationen die Führung aller der Kräften der Verfolgnissen gelegt zu werden. Warum schliesst man hier eigentlich den Kittoll, was soll nun dem Kittoll verfallen an meinem Körper, sein Abbild meine ich der Verfolgnissen“ u. s. w.

Hier ist auch der Satzzusammenhang völlig zerstört, was keineswegs immer der Fall zu sein braucht. Die ersten Andeu- tungen der Sprachverwirrtheit begegnen uns in den unbegreiflich sinnlosen Sätzen, die unsere Kranken oft schon im Beginne der Erkrankung mit voller Seelenruhe Vorbringen. Sie erinnern in hohem Grade an die vielfach ganz ähnlichen Reden, die wir im Traume zu halten pflegen. Anscheinend handelt es sich dort wie hier um den dauernden oder vorübergehenden Verlust der Fähigkeit, Vorstellungen und deren sprachliche Zeichen in rich- tiger Weise miteinander zu verknüpfen.

In den Reden katatonischer Kranker tritt die Neigung zur Wiederholung derselben Wendungen und Wörter ebenso hervor wie die Stereotypie in ihrem sonstigen Handeln. Man beachte oben die Ausdrücke: „Ich frage“, „gegenüber“, „Persönlichkei- ten“, „was wollen Sie eigentlich“, „Körper“, „Pflege, Verpfle- gung,“ »Jugend“, „Führung“, „Kräfte“, „geschlossen“, „Verfolg- nissen“, „Kittoll“, „Versammlung“, „Bild, Abbild“, „eigentlich“. Vielfach aber wird diese Sterotypie so stark, dass dieselben Sätze ununterbrochen stunden- und selbst tagelang wiederholt werden. Es entsteht damit das von Kahlbaum zuerst beschrie- bene Krankheitszeichen der Verbigeration. Solche Sätze sind z. B. folgende:

„Ihr Kinderlin, Vögelin, Tüpfelin, der Ahnherr ist jetzt da, die Türe ist auf; führ mich jetzt in den Eisgarten. Die ganze Nacht hab’ ich im Bett gesessen und habe nichts gegessen; die Weck ist gefressen Ihr Kinderlin, Vögelin, Tüpfelin“ u. s. f.

„Ich muss ins Innum, ins Innum, ins Innum; lasst mich ins Innum. Ich muss im Innum mit der Matratze herumfahren; ich muss ins Innum“ u. s. f.

Sehr häufig findet dabei eine stark rhythmische Be- tonung statt, wie in den folgenden Beispielen:

„Im Sätzerich, im Sätzerich, im Kimmichum“ u. s. f. „Was söil ich jetzt sägen, Zwidneikopf, was soll ich jetzt sägen, die Wäschschüssel holen“ u. s. f. „Mütterle, Späarmatz, ich müde und kränk und hungrig; ich bin verfroren und wätschel-watschelnäss“ u. s. f.

Bisweilen löst sich der Inhalt solcher Reden in ein einfaches

Kraepelin, Psychiatrie I. 7. Aufi.

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Silbengeklingel auf, z. B. „Ka, ka, metsch, metsch, ka, ka, metsch, metsch“ u. s. f. Es lässt sich jedoch zeigen, dass solche sinn- losen Äusserungen hie und da nur Umbildungen ursprünglich ver- ständlicher Wendungen darstellen. So rief eine Kranke tagelang: „I me zeh, i me zeh“ u. s. f. Das war eine allmählich entstandene Abkürzung von: ,,Ich will mal sehen“ (ob ich nicht heim darf). Im Anfänge war dieser Sinn noch deutlich, ging aber bei den zahllosen Wiederholungen nach und nach verloren. Überhaupt sind die verbigerierenden Reden trotz aller Stereotypie durchaus nicht unbeeinflussbar. Wir 'sehen oft, dass die Kranken im Laufe der Zeit nicht nur selbst kleine Veränderungen hineinbringen, sondern auch aufgefangene beliebige Eindrücke in ihre Sätze einflechten. Eine Kranke wiederholte drei Stunden lang den Satz.

„Liebe Emilie, gib mir einen Kuss; wir wollen gesund werden, einen Gruss und ’s war’ nichts. Wir wollen brav sein und schön folgen, folg” Mutter, dass wir bald heimkommen. Der Brief war für mich; sorg , dass ich ihn bekomm’.“

Nach dem inzwischen erfolgten Abendessen hatte sie hinter „heimkommen“ eingeschoben: „Linsen und zwei Wurscht .

Eine wichtige Krankheitserscheinung, die besonders stark bei der Sprachverwirrtheit entwickelt zu sein pflegt, ist die Neubildung von Wörtern* **)). Auch dieser Vorgang ist uns aus dem Traumleben wohlbekannt. Genau wie dort bald kleine Buchstabenveränderungen an richtigen Wörtern angebracht, bald sinnlose Silbenzusammenstellungen als geläufige W örter hinge- nommen werden, treffen wir auch bei unseren Kranken alle Stufen der Wortneubildung an. Leichtere Abweichungen finden wir in den obigen Ausdrücken Impflege, Anhaltverpflegung, Irrititionen, Tüpfelin, schwerere in Ulfiterinen, Hippliationen, Kittoll, Innum, Sätzerich, Zwidneikopf, Kimmichum. Man hat dabei den Ein- druck, als ob die Kranken mit den Neubildungen gewisse, aller- dings nicht immer feststehende Vorstellungen verbinden und sich der Ungeheuerlichkeit ihrer Ausdrücke ebensowenig bewusst sind wie wir Im Traume. Unsere Annahme, dass es sich bei der Sprach- verwirrtheit um eine Lockerung des Zusammenhanges zwischen

*) T a n z i , Rivista sperimentale di freniatria, 1889, 4.

**) S ö 1 d e r , Jahrbücher für Psychiatrie, XVIII, 479, 1899.

Störungen der Ausdrucksbewegunge>n.

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Vorstellung und sprachlicher Bezeichnung handelt, gewinnt durch diese Erfahrungen eine neue Stütze.

Ein weiteres Beispiel solcher Wortneubildungen gibt die folgende, von einem Apotheker stammende Nachschrift:

„Der möchte gern als Student dicker gewidmet sein dem Volke, als dem Liefronten, dem Lieferanten der Deutschen Unschuld, der sie glücklich erreicht hat in den kleinen Kinderfüsschenanstalten der hiesigen Ober. Werden Sie mir die Zuckerliebhaber dicker ereignen, so erkundigen Sie sich in dem Dasein des Glücks und Sie frieren weiter keinen exceptablen Borophon oder Kleinekinder- anstalten des Unglücks. Sie werden lieber gesetzmässiger Körper in den natingalen Gefühlen der Unschlittpartei und werden fragen nach dem Gesetze der Unschuld. Dr. Dominus, Arsenalhengst, Dr. Schnidiceps, das brauchen Sie gar nicht zu notieren, sondern Sie werden etwas höher schreiben. Doktrinäre Eminenz als Weik der Deutschen Omnibuspartie, das ist ein Glazimmer, d. h. ein Gedanke, das Glied der Deutschen Lappländigkeit, das sind rotseidene Sonnen- schirmrouleaux geworden in der Unschuld des Herzens“ u. s. f.

Einzelne Wörter sind richtig gebildet, aber unsinnig, wie Unschlittpartei, Arsenalhengst, Lappländigkeit, Kinderfüsschen- anstalten; andere zeigen nur geringfügige Abweichungen von bekannten Wörtern, so Liefronten, exceptabel; den Liefronten folgen überdies unmittelbar die „Lieferanten“. Endlich aber fin- den sich auch hier eine Anzahl völlig erfundener Wörter, Borophon, natingal, Schnidiceps, Weik, Glazimmer. Die Wiederkehr be- stimmter Wendungen „dicker gewidmet, dicker ereignen“, „Deutsch“, „kleine Kinder“, „Unschuld“, „Glück, glücklich, Un- glück“, „Gesetz“, „das ist, das sind“, ist auch hier sehr deutlich. Die Zwischenbemerkung über das Schreiben bezieht sich auf den Nachschreiber, ein Zeichen, dass der Kranke den Vorgang gut auffasste; er war übrigens auch in seinem Handeln vollkommen geordnet. Bisweilen kann man bei den Wortneubildungen sehr deutlich den Einfluss bestimmter Vorstellungskreise erkennen. Ein anderer kranker Apotheker bezeichnete seinen Napf voll Kartoffelmus als den „siliciumsauren Porzellannapf mit solaneen- saurem Futterwickelmus“, als „futterwickelmussaure Haubitz“, „kerlsaures Kopfmus“, sprach von seiner „kammersauren“ oder „stangensauren“ Wurst, vom „apfelsauren Seidenkranz“ u. s. f.

In der Schrift*) der Geisteskranken finden sich inhaltlich und äusserlich ganz entsprechende Störungen wie in der Sprache.

*) Köster, Die Schrift bei Geisteskrankheiten. 1903.

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

Hie und da, namentlich bei gröberen Hirnerkrankungen, aber auch bei der Paralyse und Katatonie, besteht ein auffallendes Missverhältnis zwischen den Veränderungen auf beiden Gebieten, das auf umschriebene Schädigungen hinweist. Der manische Kranke beschreibt Bogen über Bugen mit anspruchsvollen, mäc -- tigen, in kühnem Schwünge, aber flüchtig ausgeführten, me und mehr bis zur Unleserlichkeit sich beschleunigenden Schrift- zügen. Der Inhalt zeigt Weitschweifigkeit und Ablenkbarkeit; dagegen treten die Klangassociationen weniger deutlich hervor, als in der Rede ; sie werden durch Aufzählungen und W iederholungen ersetzt. Die paralytische Schrift ist gekennzeichnet durch Aus- lassungen, Fehler, Versetzungen der Buchstaben und V orte, Kleckse, unsaubere Verbesserungen, Unsicherheit der einzelnen Linien; dazu gesellen sich unter Umständen noch die geschilder- ten Zeichen der Erregung. Der Querulant zeigt eine unheimliche Leistungsfähigkeit in der Erzeugung von Schriftstücken, die m endlosen Wiederholungen seine Klagen, Beschwerden, Schimpfe- reien enthalten und meist von dicken Unterstreichungen, Aus- rufungs- und Fragezeichen, Anmerkungen und Randbemerkungen wimmeln, auch wohl in verschiedenfarbigen Tinten ausgeführt werden. Überreichliche Anwendung der schriftlichen Betonungs- mittel pflegt auch von den Hysterischen geübt zu werden. Traurige Verstimmungen verringern die Lust zum Schreiben; die Schriftstücke derartiger Kranker sind daher kurz, ab- gerissen, die Buchstaben meist klein, zusammengedrängt. Bei stärkerer psychischer Hemmung vermögen die Kranken nur sehr langsam und mit grösster Anstrengung einige Worte zu Papier zu bringen. Katatonische Kranke liefern vielfach nur ein un- entzifferbares Gekritzel, zeigen sich aber plötzlich imstande, flott und ohne Störung zu schreiben. Andere bedecken viele Bogen mit unverständlichen Zeichen und einzelnen Wörtern in endloser Wie- derholung mit geringen Abwandlungen (schriftliche ^ erbige- ration). Auch verzwickte Zeichnungen, Abbildungen von fabel- haften Wesen, rohe, obscöne Bilder werden von ihnen angefertigt, oft ebenfalls in ungezählten gleichen oder ganz ähnlichen Exem- plaren. Kranke mit Verfolgungsideen sieht man auch bisweilen Zeichnungen von den geheimnisvollen Maschinen entwerfen, mit denen sie gequält werden.

Störungen der Ausdrucksbewegungen.

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Leider ist die Schrift Geisteskranker mit feineren Hilfsmitteln noch wenig untersucht worden. Nur mit der von mir ange- gebenen „Schriftwage“, die neben der Form der Schriftzüge auch in jedem Augenblicke Druck und Geschwindigkeit des Schrei- bens zu messen gestattet, sind einige Ergebnisse gewonnen wor- den.*). Dabei hat sich gezeigt, dass bei manischen Kranken der Schreibdruck erheblich gesteigert, die Schrift vergrössert ist, während die Schnelligkeit der Bewegungen erst im Laufe des Schreibens eine nennenswerte Beschleunigung erfährt. In den cirkulären Depressionszuständen findet sich meist Verlangsamung und Verkleinerung der Schrift mit Abnahme des Schreibdruckes, doch gibt es auch zahlreiche Fälle dieser Art mit sehr aus- geprägter Verstimmung, bei denen jene Schriftstörungen fehlen, ein Zeichen dafür, dass die Zusammensetzung des psychischen Krankheitsbildes trotz äusserer Ähnlichkeit doch eine recht ver- schiedene sein kann. Im manischen Stupor liess sich Verlang- samung der Schrift neben gesteigertem Drucke nachweisen. Bei katatonischen Kranken sahen wir Schreiben ohne Störung regel- los mit Schwächung der Antriebe ohne Verlangsamung wechseln; ferner wurde allmähliches Versiegen des Druckes und schrullen- haftes Überspringen einzelner Aufgaben beobachtet. Jedenfalls ist es mit Hilfe dieser Untersuchungen möglich, noch eine Reihe feinerer Schriftstörungen aufzudecken.

Bei solchen Geisteskrankheiten, die mit gröberen Rin- denveränderungen einhergehen, begegnen uns häufig auch die- jenigen Störungen der Sprache und Schrift, die man in der Hirnpathologie zu behandeln pflegt, Aphasie und Paraphasie, Agraphie, Paragraphie, Perseveration, Unfähigkeit, zu lesen, die Buchstaben zu Silben und Wörtern zusammenzusetzen, undeut- liche und erschwerte Aussprache, Skandieren, Eintönigkeit der Rede, Ataxie der Schrift. Soweit diese Störungen auf unserem Gebiete, bei der Paralyse, der arteriosklerotischen Hirnerkrankung u. s. f., besondere Züge aufweisen, werden sie im klinischen Teile Besprechung finden.

Es hat nicht fehlen können, dass die Geisteskranken auch an der Literatur und Kunst einen gewissen Anteil genom-

') Gross, Psychologische Arbeiten, II, 450.

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

men haben. Unter den Schriftstellern*) treten am meisten hervor Verrückte, insbesondere Querulanten, Manische und Katatoniker. Die Leistungen der ersteren sind meist Verteidigung*- oder An- klageschriften in eigener Sache, Flugblätter, . die sich an die Öffentlichkeit wenden, um für vermeintlich erlittene Unbill Ge- nugtuung zu erlangen, Notschreie im Kampfe gegen wahnhafte Gefahren Auch die manischen Erzeugnisse richten sich häufig, aber mehr mit Spott und Witz, als in Verzweiflung und Entrü- stung, gegen bestimmte Personen, namentlich Irrenärzte, schil- dern in humoristischem Tone Anstaltserlebnisse, gewandt und ideenflüchtig, mit Wortspielen und Versen gewürzt. Andere manische Kranke liefern Gedichtsammlungen in blühendstem Stil; ich selber besitze ein derartiges Büchelchen voll ideenflüchtigen Reimgeklingels von einem einfachen Bauern, der sich später m der Depression erhängte. Die katatonischen W erke, die immer auf Kosten ihrer Verfasser gedruckt werden, enthalten meist in verzwicktem Druck und eigenartiger Rechtschreibung unver- ständliche Sätze über die höchsten Fragen, das „Weltproblem“, „Natur, Seele, Geist“ und ähnliches. Neben den Spuren guten Gedächtnisses und grosser Belesenheit kann man hier die schön- sten Beispiele der Sprachverwirrtheit durch ganze Bände hin- durch finden.

Auf der anderen Seite lehrt uns die Geschichte des mensch- lichen Geisteslebens, dass eine Reihe der hervorragendsten Per- sönlichkeiten entweder einzelne krankhafte Züge dargeboten haben oder in ausgesprochene Seelenstörungen verfallen sind. Nament- lich die erstere Gruppe, die sich freilich je nach der Abgrenzung des Krankhaften beliebig weit fassen lässt, hat der Auf- fassung zur Stütze dienen müssen, dass die geniale Begabung vielfach eine Erscheinungsform abnormer V eranlagung darstelle. Unter den klinisch bestimmbaren Geisteskrankheiten grosser Geisteshelden scheint das manisch-depressive Irresein am häu- figsten zu sein; ferner kennen wir Fälle von Paralyse, Epilepsie, Alkoholismus, paranoiden und senilen Erkrankungen. Möbius hat sich der ausserordentlich verdienstlichen Arbeit unterzogen, planmässig die Unterlagen für die psychiatrische Beurteilung her-

*) Behr, Volkmanns klinische Vorträge, Neue Folge, Nr. 134.

Handeln aus krankhaften Beweggründen.

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vorragender Persönlichkeiten zu schaffen; bei Goethe und Schopenhauer hat er die krankhaften Züge aufgedeckt, bei Rousseau und Nietzsche eine klare Krankengeschichte ge- liefert*). Leider bietet die Durchführung solcher Untersuchungen, namentlich über längst Verstorbene, aus naheliegenden Gründen ausserordentliche Schwierigkeiten.

In der bildenden Kunst spielen Geisteskranke im allgemeinen eine geringere Rolle, schon deshalb, weil es für sie kaum möglich ist, ihre Werke an die Öffentlichkeit zu bringen. Nichtsdesto- weniger sind sie auch hier tätig, wie die Erfahrung dartut, dass bei jedem grösseren künstlerischen Wettbewerbe immer auch eine Reihe von Entwürfen einzulaufen pflegen, die sofort krank- haften Ursprung verraten. Ein sehr eigenartiges Beispiel krank- hafter Kunstübung sind die schon von Goethe beschriebenen Bildwerke in der Villa Palagonia bei Palermo, abenteuerliche Zwittergeschöpfe der verschrobensten Art, die durchaus an ge- wisse Zeichnungen unserer Katatoniker erinnern. Einzelne krank- hafte Züge finden sich wohl bei den leicht erregbaren Künst- lern noch häufiger, als bei Gelehrten und Schriftstellern. Als Beispiel möge der belgische Maler W i e r t z genannt werden.

Handeln aus krankhaften Beweggründen. Die Umwälzungen, welche das Irresein in dem gesamten Seelenleben herbeiführt, müssen das Handeln unserer Kranken notwendigerweise auch dann nach vielen Richtungen hin in Mitleidenschaft ziehen, wenn die eigentlichen Störungen zunächst auf ganz anderen Gebieten ge- legen sind. Ist doch das Handeln nichts anderes, als das End- ergebnis des jeweiligen seelischen Gesamtzustandes! Wir sehen daher in der Tat, wie sich in der Beeinflussung des Handelns durch die verschiedenartigsten und fernliegendsten Störungen die innere Einheitlichkeit und Untrennbarkeit unseres Seelenlebens auf das deutlichste offenbart. Bei keiner einzigen Handlung eines Geisteskranken, wenn wir die alltäglichsten, rein gewohnheits- mässigen Verrichtungen etwa ausnehmen, lässt sich mit einiger Sicherheit die Bedeutung abschätzen, welche das Irresein für ihr Zustandekommen und ihre besondere Gestaltung ge- wonnen hat.

*) Möbius, Ausgewählte Werke, Band 1 4.

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

Die Art und Richtung der krankhaften Handlungen wird in der Regel durch Wahnvorstellungen bestimmt. Versündigungs- ideen und traurige oder ängstliche Verstimmungen sind es, die den Kranken zu Taten der Verzweiflung, zum Kampfe gegen die eigene Person, zu Selbstanklagen, Selbstverstümmelung, Abhacken der Geschlechtsteile, zu Nahrungsverweigerung oder zu Buss- übungen treiben. Vor allem aber haben wir hier die Selbstmord- neigung zu fürchten, die überaus häufig das Leben der Kranken bedroht. Der Verfolgungswahn führt zu Wutausbrüchen, zu An- griffen aller Art, zum Verfassen von Zeitungsanzeigen, Flugschrif- ten, Beschwerden, zu Mord und Totschlag oder zurErsinnung der mannigfachsten Schutzmassregeln gegen die vermeintlichen Ver- folger, zu Beschwörungen, geheimnisvollen Massnahmen und Ein- richtungen, zu menschenfeindlicher Absperrung oder zu unstetem Herumwandern in der Welt. Bei hypochondrischen Wahnvorstel- lungen wiederum sind peinliche Eingriffe am eigenen Körper nicht selten. Salben mit Urin und Kot, Verschmieren wunder Stellen mit Brotbrei und ähnlichen Verbandmitteln, Herumstochern in Nase und Ohren, Durchbohren der Ohrläppchen zur Ableitung der schlechten Säfte vom Kopfe gehören noch zu den harmloseren Massnahmen. Dagegen habe ich auch Versuche erlebt, sich den Leib aufzuschneiden, um ein vermeintliches lebendes Tier heraus- zuholen, ferner das Essen von Nägeln, um durch die „Schärfe“ das Blut zu reinigen. Ähnliche Handlungen Hysterischer, das Verschlucken von Nadeln, Verletzungen und Einführen von Fremdkörpern in die Geschlechtsteile, theatralische Selbstmord- versuche, fortgesetztes Hungern, gehen in der Regel aus ganz anderen Beweggründen hervor, zumeist wohl aus der krankhaften Sucht, aufzufallen und das allgemeine Mitgefühl zu erwecken.

Die psychische Erregung führt zunächst sehr bald zu Strei- tigkeiten und Kämpfen mit der Umgebung, zu Verfehlungen gegen die öffentliche Ordnung, nicht selten auch zum Widerstande gegen die Staatsgewalt. Die Kranken benehmen sich auffallend, rück- sichtslos, werden unlenksam, reizbar, störend, schliesslich gewalt- tätig, sobald man ihnen entgegentritt. Das alles entwickelt sich um so leichter, als die Erregung sehr häufig den vermehrten Genuss geistiger Getränke zur Folge hat, durch den die Kranken

Handeln aus krankhaften Beweggründen.

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rasch noch unruhiger und gefährlicher werden. Dazu kommt meist auch die Neigung zu geschlechtlichen Ausschweifungen, die sich ohne Rücksicht auf Anstand und Sitte Luft zu machen pflegt. Tolle Streiche aller Art, Zerstörungen, abenteuerliche Fahrten, Prügeleien, öffentliches Ärgernis sind die regelmässigen Begleitereignisse derartiger Erregungszustände. Gesellen sich Grössenideen hinzu, so kommt es zu sinnlosen Einkäufen und Bestellungen, zur Einleitung fabelhafter Unternehmungen, zur Verschleuderung grosser Geldsummen in unglaublich kurzer Zeit. Die zuversichtliche Vorstellung, über unerschöpfliche Mittel zu verfügen, kann den Kranken veranlassen, ganz harmlos von allem Besitz zu ergreifen, was ihm gefällt, Unterschlagungen, Zech- prellereien, Betrügereien zu begehen.

Andere Kranke mit Grössenideen bereiten planmässig und von langer Hand alles vor, um vermeintliche Ansprüche zu ver- wirklichen. Sie richten Briefe an hochgestellte Persönlichkeiten, suchen sich denselben zu nähern, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, veröffentlichen Flugschriften, erscheinen plötzlich mit Orden oder in Uniform. Selbst die Erregung öffent- lichen Ärgernisses, Missachtung der Polizeivorschriften oder gar Angriffe auf Geistliche, Beamte, Fürsten dienen ihnen mitunter, um ihre Lage und ihre Ansprüche allgemein bekannt zu machen. Sehr häufig sind die Annäherungsversuche an hochgestellte Per- sonen des anderen Geschlechtes, an die vermeintlichen heimlichen Verlobten. Fensterpromenaden, Blumensendungen, Liebesbriefe, Heiratsanträge, Nachreisen, persönliche Ansprache werden zur Erreichung des Zieles ins Werk gesetzt, wenn sich der Kranke nicht, was häufig der Fall ist, mit geheimnisvollen, über- sinnlichen Beziehungen zu dem geliebten Gegenstände begnügt. Religiöse Grössenideen führen öfters zu dem Bedürfnisse, eine Gemeinde zu gründen, die Satzungen der herrschenden Kirche zu bekämpfen, die Märtyrerkrone zu erwerben. Auffallende, an Christus erinnernde Tracht mit ungeschorenem Haupthaar, ge- suchte Einfachheit der Lebensgewohnheiten, öffentliche Pre- digten und Vorträge, Auflehnung gegen die kirchlichen Gebräuche bis zur Beschimpfung derselben, Heranziehung gleichgesinnter Schüler pflegen die Schritte zu sein, die von solchen Kranken nach und nach unternommen werden.

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

Es würde natürlich zu weit führen, wollten wir hier auch nur annähernd alle die verkehrten Handlungen aufzählen, die im Ein- zelfalle aus Wahnvorstellungen hervorgehen können; so ver- schieden die Beweggründe, so verschieden die Persönlichkeiten sind, so mannigfaltig gestaltet sich die Handlungsweise, wie sie sich als Ergebnis aus dem Zusammenwirken dieser beiden Be- dingungen schliesslich herausentwickelt. Nur darauf sei zum Schlüsse noch hingewiesen, dass die geistige, oft auch die kör- perliche Leistungsfähigkeit bei Fortdauer des Irreseins unter allen Umständen eine schwere Einbusse erleidet. Es ist wahr, dass es geisteskranke Künstler und Schriftsteller gibt, die auch nach ihrer Erkrankung noch imstande sind, ihre Tätig- keit fortzusetzen. Allein wir sehen dabei ausnahmslos, dass der Wert des Geleisteten bedeutend gesunken ist. Fast immer leidet auch die Stetigkeit und Nachhaltigkeit der Arbeitskraft. Sehr häufig aber erlischt die Fähigkeit, Neues zu schaffen, mehr oder weniger vollständig. Nur das handwerksmässig Eingelernte er- hält sich; im übrigen bleibt es bei Wiederholungen oder Ver- zerrungen früherer Schöpfungen. Mannigfache ausgesprochen krankhafte Züge mischen sich hinein, unbegreiflich absonder- liche oder geradezu wahnhafte Zutaten neben einzelnen Resten aus gesunder Zeit. Auf dem Gebiete der körperlichen Arbeit pflegt die Veränderung bei weitem weniger eingreifend zu sein. Wir sehen zahlreiche Geisteskranke in den Anstalten nach dem Ablaufe der stürmischeren Krankheitserscheinungen äusserst brauchbare und selbst erfinderische Arbeiter werden. Dennoch sind auch hier die Fälle recht selten, in denen ein nicht genesener Geisteskranker dauernd die volle Arbeitskraft des Ge- sunden zu entwickeln imstande ist.

Aus den angeführten Gründen werden Geisteskranke regel- mässig sehr bald unfähig zu verantwortungsvoller Tätigkeit. So lange indessen die Störung nicht erkannt ist, können sie durch ihre Handlungen die schwersten Schädigungen über sich und ihre Umgebung herbeiführen. Besonders gross ist natürlich diese Ge- fahr bei Personen mit grosser Machtfülle und namentlich bei Herrschern. Krankhafte Seelenzustände von Machthabern sind daher oft genug für die Schicksale von Völkern und Staaten von einschneidender Bedeutung gewesen, von den Cäsaren der

Handeln aus krankhaften Beweggründen.

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Julisch-Claudischen Familie*) bis zu Johanna von Kastilien und zu jenem unglücklichen Bayernkönige, dem sein Arzt als Opfer seines Berufes mit in den Tod folgte.

Der praktischen Rechtspflege, die es ja gerade mit dem Handeln der Menschen zu tun hat, haben die Störungen desselben bei geistigen Erkrankungen nicht entgehen können. Das Bedürfnis jener Wissenschaft hat daher zur Aufstellung ge- wisser allgemeiner Eigenschaften der Persönlichkeit geführt, welche als Grundlage für die rechtliche Tragweite menschlicher Willensäusserungen angesehen werden. Diese Eigenschaften, die dem Gesunden ohne weiteres zageschrieben werden, sind die Geschäftsfähigkeit und die Zurechnungsfähigkeit. Die psychologischen Voraussetzungen für die Geschäftsfähigkeit sowohl wie für die Zurechnungsfähigkeit liegen zum Teil auf dem Gebiete des Verstandes, zum Teil aber in dem Bereiche des Wollens. Beide Zustände erfordern einmal eine klare Auf- fassung der tatsächlichen Verhältnisse, einen Einblick in die rechtliche oder sittliche Bedeu- tung der einzelnen Willenshandlung, anderei seits die Möglichkeit einer freien Entschliessung in der Richtung jener Beweggründe, die der eigenen selbstbewussten Persönlichkeit angehören. Wie man leicht sieht, werden bei Geisteskranken in der Regel die beiden aufgestellten Bedingungen unerfüllt sein. Wo Wahnideen die Stellung des Ich zur Aussenwelt in krankhafter Weise ver- ändern, ist für die richtige Beurteilung des eigenen Handelns durch den Kranken keine Gewähr- mehr gegeben, während der Verlust der dauernden, grundlegenden Willensrichtungen oder die Überwältigung derselben durch krankhafte Gefühle und . Triebe dem Menschen zweifellos die Freiheit eigener Entschliessung im gebräuchlichen Sinne des Wortes rauben. Sowohl die Fähig- keit, Rechtshandlungen zu vollziehen, wie die Zurechnungsfähig- keit und damit die rechtliche Verantwortlichkeit für gemein- gefährliche Taten sind demnach bei Geisteskranken grundsätz- lich als aufgehoben zu betrachten. Eine allgemeine „Einsicht in die Strafbarkeit der begangenen Handlung“, ja auch bisweilen

*) wiedemeister, Der Cäsarenwahnsinn der Julisch-Claudischen Im- peratorenfamilie. 1875.

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II. Die Erscheinungen des Irreseins.

die Möglichkeit, verbrecherische Antriebe bis zu einem gewissen Grade zu bekämpfen, kann trotzdem recht wohl vorhanden sein. Die eingehendere Würdigung dieser rechtlichen Beziehungen der Irren bildet den Gegenstand einer besonderen Wissenschaft, der gerichtlichen Psychopathologie*).

*) v. Krafft-Ebing, Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie, 3. Aufl. 1892; Maschkas, Handbuch der gerichtlichen Medizin, Bd. IV. 1882; Cramer, Gerichtliche Psychiatrie, 3. Auflage. 1903; Delbrück, Gerichtliche Psychopathologie. 1897; Ho che, Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie. 1901.

III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.

Wie die Erscheinungen, so werden auch Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins im allgemeinen durch jene zwei grossen Gruppen von Ursachen bedingt, die wir in der Entstehungs- geschichte der Geistesstörungen kennen gelernt haben, einerseits durch die Art und Wirkungsweise der kriankmachenden Einflüsse, andererseits durch die körperliche und geistige Eigenart der erkrankenden Person. Diese beiden Be- dingungen sind es, die das Wesen und die klinischen Eigen- tümlichkeiten des einzelnen KrankheitsVorganges bestimmen; je genauer daher der Anteil eines jeden derselben an der Ent- stehungsgeschichte des gegebenen Falles bekannt ist, mit desto grösserer Sicherheit wird es möglich sein, die zukünftige Gestaltung desselben vorauszusagen. Da uns indessen meist ein tieferer Ein- blick in den inneren Zusammenhang zwischen Ursache und Wir- kung noch nicht möglich ist, sind wir vor der Hand darauf an- gewiesen, unser Urteil über den voraussichtlichen Verlauf einer Erkrankung aus Anzeichen abzuleiten, die sich rein erfahrungs- mässig zur Lösung dieser Aufgabe bewährt haben.

A. Verlauf des Irreseins.

Nach ihrem Verlaufe scheiden sich die Geistesstörungen vor allem in krankhafte Vorgänge und in krankhafte Zustände. Im ersteren Falle handelt es sich um den Ablauf bestimmter Veränderungen in einer umgreuzten Zeit, im letzteren dagegen um ein dauerndes, sich gleichbleibendes Verhalten der psychi- schen Persönlichkeit, das entweder angeboren (z. B. Idiotie, hysterische Veranlagung) oder als Wirkung einer vorauf-

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III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.

gegangenen Geisteskrankheit erworben sein kann („End- zustände“)- Bei diesen krankhaften Zuständen kann entweder nur die Höhe oder auch die Art der seelischen Leistungen verändert sein. Zu beachten ist übrigens, dass sie vielfach den Boden für die Entwicklung vorübergehender, abgegrenzter Krankheits- erscheinungen abgeben.

Den Vorgang der psychischen Störung fasste Griesinger im Anschlüsse an seinen Lehrer Zeller als einen einheit- lichen auf, dessen einzelnen Abschnitten die verschiedenen klini- schen Formen des Irreseins (Melancholie, Manie, Verrücktheit, Verwirrtheit, Blödsinn) entsprechen sollten. Die Grundlage dieser Anschauung hat anscheinend namentlich die Dementia praecox, in gewissem Sinne wohl auch das manisch-depressive Irresein und die Paralyse geliefert. Allein die Erfahrung hat die Annahme eines regelmässigen Ablaufes „der Geisteskrankheit in bestimm- ten Abschnitten nicht bestätigt und zunächst durch den Hinweis auf die Tatsache einer „primären“ Verrücktheit das künstlich erdachte Gesetz durchbrochen. In der Tat lässt die Beobachtung der Formen psychischer Störung durchaus nicht den nach der angeführten Auffassung erwarteten einheitlichen, sondern einen überaus verschiedenartigen Verlauf derselben erkennen.

Beginn der Erkrankung. Der Beginn einer Geisteskrankheit ist in der Regel ein allmählicher; weit seltener bricht die Störung plötzlich, ohne alle Vorboten über den Menschen herein. Der Grund für dieses Verhalten liegt in der allgemeinen Entstehungsweise des Irreseins. Es gibt hier nur verhältnismässig wenige Ursachen, die ganz rasch eine durchgreifende Schädigung der körperlichen Grundlagen unseres Seelenlebens hervorzubringen vermögen (Gifte, Gemütserschütterung, Schädelverletzung, Fieber, Gebär- akt); meistens haben wir es mit stetig, aber langsam wirkenden Einflüssen zu tun, die erst nach und nach stärkere Veränderungen erzeugen. Namentlich dort, wo die Bedingungen der Krankheit wesentlich in der eigentümlichen Anlage der Person liegen, kann die Entwicklung des Leidens Jahre und selbst Jahrzehnte dauern, wenn kein heftiger Anstoss im Kampfe ums Dasein den Ausbruch beschleunigt. Der Beginn der Erkrankung knüpft sich dann gern an bestimmte Lebensalter, die wir anscheinend als Zeiten ge- ringerer Widerstandsfähigkeit betrachten dürfen. Dahin gehören

Höhe der Erkrankung.

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in erster Linie die Entwicklungsjahre, ferner der Beginn des Greisenalters und bei Frauen das Klimakterium.

Bemerkenswert ist es, dass regelmässig kleine Veränderungen im Gefühlsleben die ersten und bisweilen Wochen, Monate, selbst Jahre lang einzigen Anzeichen einer herannahenden Geistes- krankheit zu bilden pflegen. Überall, wo überhaupt eine Zeit der einleitenden Krankheitserscheinungen sich abgrenzt, spielen unter denselben erhöhte gemütliche Reizbarkeit und Launenhaftig- keit, Unruhe, unbegründet heitere, ganz besonders häufig aber niedergeschlagene Stimmung die Hauptrolle, selbst wenn später- hin die Störungen der Gefühle ganz in den Hintergrund treten. Ausserdem sind Zerstreutheit, Interesselosigkeit oder auffallende Geschäftigkeit häufige Vorläufer der Krankheit. Zugleich lässt sich regelmässig eine mehr oder weniger tiefgreifende Beeinträch- tigung des Schlafes, häufig auch eine Störung der Esslust und fortschreitendes Sinken der allgemeinen Ernährung beobachten. Bei den sehr langsam zur Entwicklung gelangenden Geistesstö- rungen ist der eigentliche Anfang häufig schwer festzustellen; der Zeitpunkt, an welchem von der Umgebung die erste Verände- rung an dem Kranken wahrgenommen wurde, bietet oft nur einen sehr unzuverlässigen Anhalt für die Beurteilung dar.

An die Zeit der ersten Andeutungen schliesst sich bisweilen eine solche des eigentlichen Krankheitsbeginnes an, in welcher zwar das Irresein bereits deutlich hervortritt, aber doch erst nach und nach zu jener vollständigen Ausbildung sich steigert, die man als die Höhe der Krankheit bezeichnen kann. In anderen Fällen erfolgt der eigentliche Ausbruch der Geistesstörung nach den vorangegangenen unbestimmten Erscheinungen mehr oder weniger plötzlich, besonders im Anschlüsse an irgend eine äussere Veran- lassung, welche die schon angebahnte Störung rasch zu ihrer vollen Höhe anwachsen lässt.

Höhe der Erkrankung. Der weitere Verlauf lässt je nach der Krankheitsform erhebliche Verschiedenheiten erkennen. Die Krankheit kann sich lange Zeit auf derselben Höhe erhalten: gleich mässiger V erlauf ; oder sie kann vielfache Schwan- kungen in der Stärke ihrer Erscheinungen darbieten: schwan- kender Verlauf. Dies letztere Verhalten ist bei weitem das häufigste. Die Nachlässe der Störung schliessen sich öfters mit

320

III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.

einer gewissen Regelmässigkeit an den Ablauf der Tageszeiten an. Die Unruhe und Unklarheit der Greise beschränkt sich nicht selten ganz auf die Nacht, während die Kranken am Tage vielleicht ge- ordnet sind; ebenso sehen wir Alkoholdeliranten in der Nacht regelmässig erregter und verwirrter werden. Dass epileptische Anfälle bei vielen Kranken nur oder doch vorzugsweise nachts auftreten, ist längst bekannt. In cirkulären Depressionszustän- den, seltener in der Melancholie, ist der Wechsel der Stimmung vom Morgen zum Abend oft sehr auffallend; meist sind die Kranken abends sehr viel freier, als morgens, seltener umgekehrt. Hie und da beobachtet man auch einen regelmässigen Wechsel von Tag zu Tag, selbst Monate und Jahre hindurch. Zur Zeit der Menses stellt sich meist eine vorübergehende Verschlechterung des Zu- standes ein, bisweilen auch dann, wenn die Blutung ausbleibt. Andererseits pflegt das Wiedererscheinen der versiegten Menses mit einer günstigen Wendung des Krankheitszustandes einher- zugehen.

Eine sehr grosse Zahl von Geistesstörungen verläuft in ein- zelnen, durch längere freie Zwischenzeiten unterbrochenen An- fällen. Sehr begreiflich ist ein solcher anfallsweiser A erlauf, wo dieselbe Gelegenheitsursache immer von neuem wirkt. Dahin ge- hören die Aufregungszustände der Trinker. Bei den epileptischen Bewusstseinsstörungen beruht das anfallsweise Auftreten in dem eigentümlichen Kreisläufe der zu Grunde liegenden, noch nicht näher bekannten Umwälzungen; ähnlich steht es mit den seltenen, den Fieberverlauf nachahmenden und an seiner Stelle einsetzenden Geistesstörungen infolge von Malaria Vergiftung. Der Erkrankte ist jedoch hier überall auch während der freien Zwischenzeiten nicht als gesund zu betrachten, sondern die Krankheitserschein- ungen sind nur zurückgetreten. Die psychische Entartung der Trinker und Epileptiker, die Unsicherheit ihres inneren Gleich- gewichtes bildet ebenso das Bindeglied zwischen den einzelnen Ausbrüchen des Irreseins, wie die Malariavergiftung mit ihren Zeichen die einzelnen Fieberanfälle überdauert.

Ganz ähnlich sind diejenigen Geistesstörungen zu beur- teilen, welchen man wegen ihres ausgesprochen anfallsweisen Verlaufes den Namen des „periodischen“ Irreseins beigelegt hat. Es handelt sich dabei um einen mehr oder weniger regelmässigen

Höhe der Erkrankung.

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Wechsel krankhafter mit nahezu gesunden Zuständen; die ein- zelnen Abschnitte können Wochen, Monate, ja selbst eine Reihe von Jahren dauern. Ebenso kann die Dauer der Zwischenzeiten („Intermissionen“) von einigen Wochen bis zu vielen Jahren schwanken. Die wesentliche Ursache der Krankheit liegt hier offenbar in der Person des Erkrankten selber, da sich häufig gar kein oder doch nur ein sehr geringfügiger Anlass für den Aus- bruch des Anfalles auffinden lässt; gelegentlich spielen die Menses eine solche auslösende Rolle. Es gibt indessen auch Formen, in denen die einzelnen Erkrankungen wesentlich oder ausschliess- lich im Gefolge ungünstiger äusserer Lebensereignisse (Gemüts- erschütterungen, Wochenbett, körperliche Leiden) auf treten, die allerdings bei rüstigem Gehirn schwerlich eine solche Schwankung des psychischen Gleichgewichts herbeigeführt haben würden; hier sind die Anfälle seltenere und unregelmässigere. Endlich aber be- gegnen uns manche Fälle, in denen die Krankheit sogar nur zwei- bis dreimal im Leben auftritt. Von einer eigentlichen Periodicität kann man hier nicht mehr sprechen, doch wird der innere Zusam- menhang der einzelnen Anfälle durch die Zugehörigkeit zu dem- selben klinischen Formenkreise dargetan. Aus dieser Überein- stimmung der Krankheitsbilder leiten wir auch die Berech- tigung ab, jene ganz vereinzelten Fälle dieser Gruppe zuzu- rechnen, in denen nur ein einziger ausgeprägter Anfall zu stände kommt.

Allerdings ist der klinische Aufbau der Anfälle beim perio- dischen Irresein nicht immer ein so gleichmässiger, dass jeder folgende genau das Bild der früheren wiederholt; häufiger sehen wir verschiedenartige Gestaltungen miteinander abwechseln. Nicht nur kann die Dauer und Stärke der Krankheitserscheinungen eine sehr verschiedene sein, sondern auch die klinische Eigenart der einzelnen Krankheitsabschnitte kann bei demselben Falle grosse Verschiedenheiten zeigen. Am auffallendsten ist der mehr oder weniger regelmässige Wechsel zwischen manischen und Depressionszuständen, dem man den besonderen Namen des cirkulären Irreseins gegeben hat. Aber auch die Abschnitte von gleicher Färbung bieten in dem stärkeren oder schwächeren Hervortreten von Erregung und Hemmung oder der Mischung beider, in dem Auftauchen oder Fehlen von Wahnideen und Sinnes-

Kraepelin, Psychiatrie I. 7. Aufl. 21

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III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.

täuschungen noch mancherlei Verschiedenheiten. Dennoch ist es immer ein bestimmter Formenkreis, innerhalb dessen sich alle diese Bilder bewegen, so dass ihre innere Einheit unschwer erkannt und damit von dem gegebenen Anfalle auf die Wiederkehr anderer Anfälle aus derselben klinischen Gruppe geschlossen werden kann.

Die Zahl und Dauer der Anfälle pflegt im Verlaufe der ganzen Krankheit ganz allmählich zuzunehmen. Die gesamte geistige Per- sönlichkeit erleidet dabei eine gewisse, wenn auch zunächst viel- leicht nicht sehr stark bemerkbare Einbusse. Namentlich bei Häufung schwerer Anfälle mit kurzen Zwischenzeiten können sich tiefergreifende Schwächezustände herausbilden. Auch in leich- teren Fällen sind übrigens die periodisch Kranken während der anfallsfreien Zeiten oft nicht völlig gesund; gewisse Eigentüm- lichkeiten, verschlossenes oder sehr aufgeregtes V esen, auf- fallende gemütliche Reizbarkeit oder Stumpfheit, Schwäche oder Einseitigkeit in den geistigen Leistungen, namentlich aber der Mangel einer ganz klaren Einsicht in die eigenen Krankheits- zustände lassen sich vielfach auch dann nachweisen, w enn der anscheinend Genesene wieder voll in seinen früheren Wirkungs- kreis eingetreten ist.

Eine wesentlich andere Bedeutung, als den Zwischenzeiten beim periodischen Irresein, müssen wir wohl endlich jenen Nach- lässen („Remissionen“) der Krankheitserscheinungen zuerkennen, die wir so häufig bei der Paralyse und ganz ähnlich bei der De- mentia praecox sich einstellen sehen. Hier haben wir es mn Krankheiten zu tun, die meist sehr entschieden fortschreiten. Trotzdem kann das Leiden zeitweise zum Stillstände kommen, währenddessen die ausgeprägteren Krankheitszeichen ganz oder doch nahezu vollständig zurück treten. Offenbar müssen also die -zu Grunde liegenden Schädlichkeiten sich vorübergehend wieder aus- gleichen können. Indessen es handelt sich hier in der ganz über- wiegenden Zahl der Fälle doch um einen Rest von bleibenden Störungen, die eine Veränderung der gesamten geistigen Persön- lichkeit bedeuten. Namentlich aber stellt sich bei der Paralvte fast unfehlbar, bei der Dementia praecox wenigstens in der Regel, früher oder später ein neuer Nachschub der Krankheit ein, der nunmehr eine erhebliche Verschlechterung des Gesamtzustandes, oft genug tiefe Verblödung herbeiführt. In welchem Umfange

Genesungszeit.

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daneben bei beiden Krankheiten auch dauernde Stillstände oder gar völlige Genesungen Vorkommen, bedarf noch weiterer Unter- suchung.

Genesungszeit. Am häufigsten finden sich Schwankungen des Krankheitszustandes beim Schwinden der einzelnen Anfälle; sie sind daher im allgemeinen als ein günstiges Zeichen anzusehen. Allerdings kommt auch, besonders bei den sehr rasch entstandenen und sehr kurz dauernden Geistesstörungen (alkoholisches Irresein, epileptische Erregungszustände, Collapsdelirien, Fieberdelirien), ein fast plötzliches Verschwinden der ganzen Krankheitserschei- nungen vor, z. B. nach einem tiefen Schlafe. In der übergrossen Mehrzahl der Fälle jedoch geschieht die Abnahme einer psy- chischen Störung ganz allmählich, im Laufe von Wochen und Monaten. Zuerst verlieren sich, wie es scheint, Erschwerungen der Auffassung und des Denkens; die Kranken beginnen sich in ihrer Umgebung zurechtzufinden, Arzt und Mitkranke richtig zu bezeichnen, verstehen besser, sprechen zusammenhängender. Weit später schwinden die Zeichen gemütlicher Erregung, die heitere oder traurige Stimmung; die Kranken werden ruhiger, freier, gleichmässiger in ihrem Benehmen. Anfangs besteht diese Bes- serung vielleicht nur für kurze Zeit, Tage oder Stunden, um einem abermaligen Hervortreten der Krankheitserscheinungen bald wie- der zu weichen. Nach und nach werden dann die Besserungen ausgiebiger und gewinnen längere Dauer; die Rückfälle verlieren an Stärke, bis schliesslich nur noch leichte Verschlimmerungen bei besonderen Anlässen den fortschreitenden Gang der Genesung unterbrechen.

Am längsten pflegt sich von den Krankheitserscheinungen die Empfindlichkeit des gemütlichen Gleich- gewichts und die Abstumpfung der Gefühlsregungen zu erhalten, auch wenn die Störungen der Verstandestätigkeit und die dauernden Verstimmungen sich schon längere Zeit aus- geglichen hatten. So lässt sich der Verlauf der Krankheit in seinen einzelnen Abschnitten vielleicht am genauesten nach dem Verhalten der Gemütsregungen beurteilen. Sind es doch aber auch gerade die Gefühle, in denen sich unmittelbar die augen- blickliche Stellungnahme der Person zu den Eindrücken und Vor- stellungen ihres Bewusstseinsinhaltes kundgibt, die uns somit über

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III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.

den Zustand derselben jeweils am besten aufzuklären vermögen, während die Verstandesarbeit weit mehr von dem Erwerbe ver- gangener Tage, dem Schatze früher gebildeter Vorstellungen, Begriffe und Urteile beherrscht wird. Eine Störung der Ver- standesleistungen kommt daher erst verhältnismässig spät zu stände, und sie gleicht sich unter dem Einflüsse der gesammelten Erfahrung früher wieder aus, als die Veränderungen im Bereiche des Gefühls.

Sehl- klare und darum praktisch überaus wichtige Be- ziehungen zu dem Gesamtverlaufe des Irreseins pflegt das Körpergewicht unserer Kranken darzubieten. Während alle krankhaften Zustände nur insoweit erheblichere Schwankungen des Körpergewichtes erkennen lassen, wie greifbare Ernährungs- störungen oder etwa vorübergehende Erregungen dasselbe beein- flussen, beginnt jeder eigentliche psychische Krankheitsvorgang mit einem entschiedenen Sinken des Körpergewichtes, welches unter Umständen 20, 30 Pfund und noch mehr in wenigen Monaten und selbst Wochen betragen kann. Während des Krankheits- verlaufes schreitet die Abnahme langsam fort; im übrigen pflegen ohne besonderen Anlass nur geringfügige Schwankungen vorzu- kommen.

Der weitere Gang des Körpergewichtes gestaltet sich je nach der Art der Erkrankung verschieden. Jede wirkliche Genesung geht mit einer bedeutenden Hebung der allgemeinen Ernährung einher. Vielfach kündigt sich diese Wendung des Krankheits- verlaufes im Verhalten des Körpergewichtes schon zu einer Zeit an, in der die sonstigen Krankheitserscheinungen noch keinerlei Besserung erkennen lassen. Umgekehrt sehen wir bisweilen den Krankheitszustand sich günstig gestalten, ohne dass die Er- nährung sich in entsprechendem Masse bessert. Derartige Wen- dungen sollten stets so lange mit äusserstem Misstrauen betrach- tet werden, bis die unbedingt notwendige, aber zuweilen verzögerte Körpergewichtszunahme endlich eingetreten ist. Am schönsten zeigt sich dieses gesetzmässige Verhalten bei den Infektions- und Erschöpfungspsychosen sowie bei den einzelnen Anfällen des manisch-depressiven Irreseins.

Bei ungünstigem Ausgange des Leidens stellt sich mit der Beruhigung der Kranken, wie sie die Verblödung mit sich bringt,

Genesungszeit.

325

oft ebenfalls eine Zunahme des bis dahin stark gesunkenen Körper- gewichtes ein. Unter diesen Umständen kann die Entscheidung, ob die Wendung eine günstige oder ungünstige Bedeutung hat, im einzelnen Falle zunächst recht schwierig werden. Meist werden allerdings die allmählich deutlicher hervortretenden Zeichen der Genesung oder des Schwachsinns bald das Urteil ermöglichen. Bei manchen Altersblödsinnigen und Melancholischen, vielleicht auch bei einigen anderen Formen des Irreseins, kann übrigens die Ernährungszunahme während der Verblödung ausbleiben.

Ganz besondere Beachtung verdient vielleicht die Erfahrung, dass wir fast die stärksten überhaupt vorkommenden Schwan- kungen des Körpergewichtes bei der Paralyse und der Dementia praecox beobachten. Hier stellt sich häufig mit dem Eintritte einer gewissen Beruhigung eine ungeheure Gefrässigkeit ein, die mit ausserordentlichem Ansteigen des Körpergewichtes einher- geht. Die Kranken werden unförmlich dick; ihre Gesichtszüge verändern sich vollständig. An den plumpen, glänzenden Backen wie an den umfangreichen Oberarmen finden sich im Unterhaut- zellgewebe wulstige Einlagerungen, die oft in ganz auffallender Weise an das Myxödem erinnern. Späterhin sieht man diese Körperfülle meist schneller oder langsamer wieder schwinden. Ich kann mich mit dem Gedanken nicht befreunden, dass es sich hier um eine einfache Folge der gesteigerten Nahrungsaufnahme handelt, zumal wir andere derartige Kranke trotz grösster Esslust durchaus nicht dicker werden sehen. Vielmehr bin ich geneigt, die Schwankungen des Körpergewichtes hier für Teilerscheinungen der allgemeinen Stoffwechselerkrankung zu halten, die mir jenen Erkrankungen zu Grunde zu liegen scheint. Der Heisshunger könnte dabei, wie beim Diabetes, etwa nur eines der Zeichen der krankhaften Umwälzung in den Ernährungsvorgängen dar- stellen.

B. Ausgänge des Irreseins.

Von denjenigen Formen des Irreseins, die der Ausdruck be- stimmter Krankheitsvorgänge sind, dürfen wir erwarten, dass sie nicht nur einen im allgemeinen gesetzmässigen Verlauf, sondern

326

III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.

auch einen bestimmten Ausgang nehmen. Allerdings wird das End- ergebnis einer Erkrankung ohne Zweifel sehr wesentlich durch die persönliche Widerstandsfähigkeit wie durch den Grad des Leidens beeinflusst; auch zufällige Umstände können natürlich mit hinein- spielen. Aus diesen Gründen wird unserer Vorhersage über den mutmasslichen Ausgang einer Geistesstörung auch im besten Falle ein erheblicher Grad von Unsicherheit anhaften. Insbesondere werden wir darauf gefasst sein müssen, dass Krankheiten, die im allgemeinen heilbar sind, unter Umständen doch einmal in geistiges Siechtum ausgehen oder mit dem Tode abschliessen können.

Dennoch ist die Stellung einer bestimmten Prognose*), eine der wichtigsten ärztlichen Aufgaben, auch auf unserem Gebiete innerhalb gewisser Grenzen erreichbar. Wir kennen einerseits Krankheiten, deren Erscheinungen sich regelmässig nach kürzerer oder längerer Zeit wieder verlieren, andererseits solche, die ihrem Wesen nach immer oder doch fast immer zum Tode führen. Zwi- schen ihnen stehen diejenigen Leiden, die mit der Gefahr des Ausgangs in Siechtum verknüpft sind. Hier liegen die grössten praktischen Schwierigkeiten für die ärztliche 'Vorhersage. Zum Teil sind sie bedingt durch unsere noch sehr unvollkommene Kennt- nis des endgültigen Ausganges der bisweilen über Jahrzehnte sich erstreckenden Erkrankungen, zum Teil durch den Mangel an Er- fahrung über diejenigen Zeichen, aus denen sich prognostische Schlüsse ableiten lassen. Wir sind aber, wie ich glaube, zu der Annahme berechtigt, dass auch auf diesem Gebiete sich mit der Zeit sichere Gesetzmässigkeiten werden auffinden lassen. Ins- besondere dürfen wir annehmen, dass der Endzustand, den ein ungeheilter Krankheitsvorgang hinterlässt, Züge darbieten wird, die für ihn in irgend einer Weise kennzeichnend sind. Wenn das Wesen der einzelnen Formen des Irreseins ein verschiedenes ist, wenn wir sie nach ihren Äusserungen voneinander zu trennen ver- mögen, so werden voraussichtlich auch die krankhaften Verände- rungen, die sie nach ihrem Ablaufe zurücklassen, nicht die gleichen sein. Es muss daher möglich sein, aus den Endzuständen Schlüsse auf den voraufgegangenen Krankheitsvorgang zu ziehen, anderer- seits aber im Beginne des Leidens diejenigen Möglichkeiten be-

*) 1 1 b e r g , Die Prognose der Geisteskrankheiten. 1901.

Heilung.

327

stimmt zu umgrenzen, mit denen man für den Ausgang zu rechnen hat. Die immer vollkommenere Lösung dieser Aufgabe ist nur eine Frage der fortschreitenden Erfahrung.

Heilung. Der Vorgang der Genesung geht ohne scharfe Grenze in den Zustand der vollendeten Heilung über. Die wenigen Reste der überstandenen Krankheit, vereinzelte Wahnideen oder Sinnestäuschungen, grundlose Verstimmungen, erhöhte Reizbar- keit, verlieren sich allmählich; die gesunden Anschauungen und Neigungen treten neu hervor; die gewohnten Beschäftigungen werden wieder aufgenommen: die psychische Persönlichkeit mit ihrer ganzen Eigenart knüpft über den krankhaften Zeitraum hin- über an die vor demselben liegende gesunde Vergangenheit an, ganz ähnlich wie wir nach wirrem Traume beim Erwachen sogleich, vielleicht auch erst nach einigem Besinnen, mit den Erlebnissen vor dem Einschlafen wieder Fühlung zu gewinnen suchen. Ist die Wiedereinsetzung der psychischen Persönlichkeit in die Herrschaft über ihren Erfahrungsschatz an allen Punkten vollzogen, wird der Ablauf der psychischen Vorgänge nirgends mehr durch krank- hafte Gefühle oder Vorstellungen beeinträchtigt, dann haben wir das Recht, von einer völligen Genesung zu sprechen. Dieses Ereignis ist nach der gewöhnlichen Annahme in etwa 30 bis 40 Prozent jener Erkrankungsfälle zu verzeichnen, welche in die Anstaltsbehandlung kommen. Zur Würdigung dieser Zahlen ist zu beachten, dass einerseits viele chronisch verlaufende, unheil- bare Fälle niemals in die Irrenanstalten gelangen, und dass an- dererseits zahlreiche leichte Erkrankungen ebenfalls in Familien- pflege ihren günstigen Ablauf finden.

Unter Berücksichtigung dieser Verhältnisse würde es sich ergeben, dass die Prognose der Geistesstörungen sich nicht er- heblich ungünstiger stellt, als diejenige schwerer körperlicher Erkrankungen. Erwägt man die beträchtlichen Zahlen der Schwindsüchtigen, Herzfehler, Krebskranken, der unheilbaren Hirn-, Nerven- und Nierenkranken auf grossen medizinischen Ab- teilungen, so scheint der Unterschied der wirklichen Heilerfolge zwischen den letzteren und den Irrenanstalten wesentlich auf dem Umstande zu beruhen, dass man sich eben zum Eintritte in ein Krankenhaus auch schon bei geringfügigeren Anlässen zu ent- schliessen pflegt.

328

III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.

Allein eine genauere Kenntnis der Geistesstörungen lehrt uns, dass dieselben leider nicht nur immer schwere, sondern auch ihrer überwiegenden Mehrzahl nach unheilbare Krankheiten dar- stellen. Wirklich ganz vollständige Heilungen im strengsten Sinne des Wortes sind verhältnismässig sehr selten. Eigentlich können wir von solchen nur bei den Fieberdelirien, bei Vergiftungen und thyreogenen Geistesstörungen, ferner bei den Erschöpfungs- psychosen und allenfalls bei einer Anzahl von Rückbildungs- psychosen sprechen, während wir es bei allen anderen Formen des Irreseins mit unheilbaren Erkrankungen zu tun haben. Aller- dings sehen wir überaus häufig sämtlichere auffallendere Krank- heitserscheinungen für lange Zeit, selbst für viele Jahre, voll- ständig verschwinden, so dass derartige Fälle unbedenklich zu den wahren Heilungen gerechnet zu werden pflegen. Wir denken hier namentlich an das epileptische und das manisch-depressive Irresein sowie an die Katatonie, auch an einzelne Beobachtungen von Paralyse. In der Regel setzt hier überall die Krankheit früher oder später wieder ein, sei es in einfacher Wiederholung des früheren Anfalles, sei es unter Fortschreiten des schleichenden Grundleidens. Praktisch kommen die Zwischenzeiten oft einer Heilung ganz oder nahezu gleich; von wissenschaftlichem Stand- punkte aber müssen wir leider bekennen, dass bei genauer Sich- tung der Beobachtungen nur ein sehr kleiner Bruchteil von Fällen übrig bleibt, in welchen wir nach dem heutigen Stande unseres Wissens überhaupt mit der endgültigen und vollständigen Hei- lung rechnen dürfen. Dabei soll jedoch ausdrücklich bemerkt werden, dass die Aussicht keineswegs ausgeschlossen erscheint, vielleicht einmal für gewisse Formen des Irreseins Heilung zu finden, die heute noch jeder wirksamen Behandlung unzugäng- lich sind.

Das wichtigste Kennzeichen der eingetretenen Genesung ist ausser dem Schwinden der wahrnehmbaren Krankheitserschei- nungen die E i n s i c h t in die krankhafte Natur des überstandenen Leidens und damit zumeist das Auftreten einer gewissen Dankbar- keit für die genossene Behandlung und Pflege. Jene Einsicht ist es ja gerade, welche uns die Gewähr dafür bietet, dass der Genesende die krankhaften Veränderungen seines psychischen Lebens als etwas Fremdartiges empfindet, dass er mit andern Worten auf

Heilung.

329

den Boden der Beurteilung zurückgekehrt ist, auf dem er vor der Erkrankung, in gesunden Tagen stand. Mangel der Krankheits- einsicht deutet stets auf die Unmöglichkeit einer richtigen Beur- teilung der während der Geistesstörung gesammelten Erfahrungen hin. Dieselbe hat ihren Grund entweder in der Fortdauer von Sinnestäuschungen und Wahnbildungen, krankhaften Stimmungen, oder aber in der Unfähigkeit zu durchgreifendem Gebrauche der gesunden Urteilskraft, deren Betätigung einerseits Ruhe und Gleichgewichtslage des Gemütes, andererseits aber eine gewisse Anstrengung und geistige Regsamkeit erfordert. Kein Kiankei ist als wirklich genesen zu betrachten, der nicht klare und volle Einsicht in seine Krankheit besitzt, während umgekehrt ganz wohl ein Verständnis für die krankhafte Natur der psychischen Störung bestehen kann, ohne dass darum immer die Heilung zu erwarten wäre. Ja, gerade in manchen Fällen unheilbaren, tief in der ganzen Anlage des Menschen wurzelnden Irreseins ist eine der- artige Selbsterkenntnis nicht so selten vorhanden. Bei den an- fallsweise verlaufenden Störungen aber bleibt die Krankheits- einsicht immer ein sehr günstiges Zeichen, namentlich wenn gleichzeitig die stürmischeren Erscheinungen zurücktreten. In manchen Fällen kommt die Krankheitseinsicht erst sehr spät und zögernd zu stände, nachdem sich bereits alle übrigen Zeichen der Geistesstörung vollkommen verloren haben. Wir werden darin immer den Ausdruck einer angeborenen oder erworbenen Unfähig- keit zu raschem Ausgleiche krankhafter Störungen erblicken müssen.

Ganz regelmässig, wenigstens bei allen länger dauernden Geistesstörungen, geht mit der fortschreitenden Genesung auch eine körperliche Erholung einher, ausser Zunahme des Gewichtes Besserung der Esslust, des Schlafes und das Gefühl des Wohlseins, Anzeichen, die bei gleichzeitigem Hervortreten günstiger psychi- scher Veränderungen einen bedeutenden prognostischen Wert be- sitzen und hauptsächlich mit einer Abnahme der gemütlichen Erregung in innerem Zusammenhänge zu stehen scheinen.

In einer kleinen Anzahl von Fällen hat man das Eintreten psychischer Genesung während oder nach einer fieberhaften Er- krankung (namentlich Typhus, Erysipel, Intermittens), seltener nach stärkeren Blutungen, schweren Eiterungen oder Kopfver-

330

III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.

letzungen beobachtet.*) Am häufigsten handelt es sich dabei natürlich um verhältnismässig frische Erkrankungen, Melancholie, Manie, Amentia der Autoren, aber bisweilen tritt die günstige Wendung auch nach längerer Dauer und in anscheinend aussichts- losen Fällen ein; so werden weitgehende Besserungen nach Eite- rungen bei der Paralyse berichtet. Freilich wird man in der Deu- tung solcher Beobachtungen stets mit äusserster Vorsicht ver- fahren müssen, da überraschende Genesungen oder doch Besse- rungen auch sonst nicht gerade selten sind, eine einfache Folge unserer mangelhaften klinischen Kenntnis der Geisteskrankheiten. Andererseits aber kann man ohne Zweifel selbst bei längst verblö- deten und Verwirrt gewordenen Kranken hie und da während einer gelegentlichen fieberhaften Erkrankung die Wahnideen zu- rücktreten und einer unerwarteten geistigen Regsamkeit Platz machen sehen, hier allerdings immer nur für kurze Zeit. Die Er- klärung derartiger Erfahrungen ist dunkel; wir müssen uns mit der Erwägung begnügen, dass sich hier, wie ja auch die Entstehung geistiger Störungen aus den gleichen Anlässen dartut, offenbar mächtige Umwälzungen in der Ernährung der Hirnrinde vollziehen.

Vollständige Heilung einer Geisteskrankheit wird im all- gemeinen am leichtesten in den rüstigen Lebensaltern und dort zu stände kommen, wo ein vorübergehender, äusserer Anlass die Ursache des ganzen Leidens bildete. Je weniger die Bedingungen der Erkrankung in dem erkrankten Körper selber liegen, desto rascher und vollständiger wird derselbe unter sonst gleichen Umständen befähigt sein, die Störungen auszugleichen und in den gesunden Zustand zurückzukehren. In der Tat sehen wir daher namentlich diejenigen Gruppen des Irreseins die gün- stigsten Genesungsaussichten darbieten, welche durch stark wir- kende, aber gewöhnlich keine dauernde Veränderung hervor- bringende Ursachen erzeugt werden (Vergiftungen, fieberhafte Krankheiten, Wochenbett). Weit ungünstiger liegen die Verhält- nisse, wenn die Krankheitsursachen entweder bleibende körper-

*) Fiedler, Deutsches Archiv für klinische Medizin, 1880, XXVI, 3; Lehmann, Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie, 1887, XLIII, 3; Wagner, Jahrb. für Psychiatrie, VII, 1887 ; Friedländer, Monatsschr. für Psych., VIII, 60, 1900.

Unvollständige Heilung.

331

liehe Veränderungen hinterlassen (Kopfverletzungen, Syphilis, Typhus bisweilen), oder aber, wenn sie durch längere Zeit hindurch stetig auf den Menschen einwirken und somit durch Häufung ihres Einflusses nach und nach eine dauernde Umwandlung in seinem Gesamtzustande herbeiführen (chronische Gemütsbewe- gungen und Krankheiten, Alkoholismus, Morphinismus, Stoff- wechselvergiftungen).

Unvollständige Heilung. Von der Grösse dieser dauernden Störung und den Einflüssen, denen der Kranke weiterhin aus- gesetzt ist, hängt es hier ab, wieweit eine Wiederherstellung des früheren gesunden Zustandes jeweils möglich ist. Nimmt auch ein ausbrechender Krankheitsvorgang zunächst einen gün- stigen Ablauf, so bleibt doch häufig genug eine „Dis p o s i t i o n“, eine Neigung zu weiteren Erkrankungen zurück, die namentlich dann ihren verderblichen Einfluss geltend macht, wenn der Ge- nesene sich in den Bereich der alten Schädlichkeiten zurück- begibt, Er fällt jetzt weit leichter, bei dem ersten gegebenen Anlasse, in die überstandene Krankheit zurück. Jeder Rückfall setzt wiederum die Widerstandsfähigkeit für die Folgezeit hei ab, so dass immer geringfügigere Anstösse genügen, um die krank- haften Zustände aufs neue herbeizuführen.

Ganz ähnliche Verhältnisse, wie sie sich auf diese Weise unter dem Einflüsse dauernder oder häufig wiederkehrender Ur- sachen herausbilden können, finden sich bei ursprünglich krank- haft veranlagten Menschen als angeborene Schwächen der Persönlichkeit vor. Da hier die Krankheitsbedingungen in der Person selber zu suchen sind, so kann von einer Heilung geistiger Störungen in dem Sinne einer völligen Rückkehr zur Gesundheit nicht wohl die Rede sein, da ja eben der Ausgangszustand selbst nicht als ein wirklich gesunder anzusehen war. Das wichtigste Erfordernis einer jeden Heilung, die Entfernung der Krankheits- ursache, bleibt unerfüllbar, wo diese letztere eben durch die ganze Eigenart des Menschen dargestellt wird. Trotzdem sehen wir bei solchen Personen nicht selten ausgeprägte und schwere psy- chische Krankheitserscheinungen mit derselben Geschwindigkeit sich wieder verlieren, mit welcher sie aus unbedeutenden Anlässen hervorgegangen sind.

Das eigentlich Auffallende ist dabei mehr die letztere, als

332

III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.

die erstere Erscheinung. Die krankhafte Ausgiebigkeit der Gleich- gewichtsschwankung auf geringfügige Reize lässt die ganze Er- krankung weit bedenklicher erscheinen, als sie wirklich ist. Würde es doch auch verfehlt sein, etwa aus dem Herzklopfen eines Herz- kranken auf den gleichen Grad gemütlicher Erregung schliessen zu wollen, den wir unter denselben Verhältnissen beim Gesunden vorauszusetzen hätten! Wir würden dann erstaunt sein, dort so rasch völlige Beruhigung zu beobachten, wo wir glaubten, es mit einer tiefen, dauernden Gemütsbewegung zu tun zu haben. Um- gekehrt aber wird in diesem Beispiele der leiseste Anstoss ge- nügen, das Anzeichen der Krankheit sogleich in voller Stärke hervorzurufen, so dass es schliesslich vielleicht durch die blosse Lebensarbeit dauernd fortbesteht, während sonst ein Leiden bis- weilen lange Zeit vorhanden sein kann, ohne auffallende Störungen zu verursachen. Ganz ähnlich haben wir es beim psychischen Krüppel mit einer Verminderung der Widerstandsfähigkeit zu tun, die schliesslich ohne besonderen Reizanstoss zur Entwicklung geistiger Leiden führen kann, die aber auch dann eine krankhafte Veränderung der ganzen Persönlichkeit bedeutet, wenn sie nicht gerade lebhaftere Erscheinungen verursacht. Die Heilung der vorübergehenden Störungen ist daher etwa mit der Beseitigung eines Anfalles von Herzklopfen bei einem Herzkranken auf gleiche Stufe zu stellen; das eigentliche Grundleiden besteht dabei unver- ändert fort.

Die vorstehenden Erörterungen haben uns somit den Aus- gang des Irreseins in unvollständige Heilung kennen gelehrt, die „Besserun g“ oder „Heilung mitDefek t“. Die eigent- lichen Krankheitserscheinungen treten auch hier im wesentlichen zurück; die Stimmung wird ruhiger und gleichmässiger; Wahnideen und Sinnestäuschungen verschwinden nach und nach, aber es machen sich die mehr oder weniger ausgeprägten Anzeichen einer Herabsetzung der psychischen Leistungs- und Widerstandsfähig- keit, der Schwäche, bemerkbar. Der Genesende denkt zwar der Form nach richtig und hat auch eine gewisse Einsicht in seine Krankheit, aber er ist nicht mehr derjenige, der er früher war; er hat einen Teil seiner Persönlichkeit eingebüsst. „Gerade das Beste und Wertvollste ist,“ wie Griesinger sich treffend ausdrückt, „von der geistigen Individualität abgestreift.“ Die

Unteilbarkeit.

333

geistige Regsamkeit und Frische, die gemütliche Tiefe, die selb- ständige Tatkraft sind unwiederbringlich verloren gegangen. Oft genug bleibt indessen der volle Umfang der psychischen Schwäche im Schutze des Anstaltslebens unbemerkt, weil an den Kranken in dem ruhigen, geregelten Tageslaufe gar keine besonderen An- forderungen herantreten. Der Versuch einer Entlassung aus der Anstalt ist daher die entscheidende Probe, die häufig genug schon nach kurzer Zeit die nur „Gebesserten“ von den völlig Genesenen abzutrennen gestattet, auch wenn vorher ein abschliessendes Ur- teil noch nicht möglich war.

Allerdings kommt hier wieder sehr viel auf die äusseren Umstände an. Ist die Häuslichkeit eine glückliche, die Vermögens- lage und die Lebensstellung günstig, so vermag der Kranke viel- fach wieder in seinen früheren Wirkungskreis zurückzukehren und in geordneten Verhältnissen leidlich seine Stellung auszufüllen. Allein die zielbewusste Festigkeit seines Willens hat er verloren;, schwierigen Lebenslagen und drängenden Kämpfen ist er nicht mehr gewachsen; leicht schieben sich Schwankungen des psy- chischen Gleichgewichts ein, welche die Stetigkeit der Leistungen unterbrechen. Dieser Zustand pflegt den Ausgängen des Alters- irreseins, der Schreckneurose, namentlich aber den Besserungen der Paralyse und der Dementia praecox eigentümlich zu sein. Viele in unbegreiflicher Weise gescheiterte Lebensgänge,, die schliesslich in bescheidenstem Wir kungskr eise enden, dürften auf so entstandene Schwächezustände zurückzuführen sein. Als ganz natürlicher Abschluss endlich ist die unvollkommene Wieder- herstellung dort zu betrachten, wo der ganze Kr ankheits Vorgang sich schon auf dem Boden einer von vornherein unzulänglichen Persönlichkeit abspielte. Hier pflegt meist selbst die frühere Höhe nicht wieder erreicht zu werden, sondern der Gebesserte geht noch mehr geschwächt aus dem Anfalle hervor, so dass bei häufigerer Wiederholung der Erkrankungen auch der psychische Verfall jedesmal eine gewisse Steigerung erfährt.

Unheilbarkeit. Schon die unvollständige Heilung bedeutet die Entstehung einer unheilbaren Veränderung in dem Gesamt- zustande der Person, aber diese Veränderung besteht in einer einfachen, mehr oder weniger hochgradigen Herabsetzung der psychischen Leistungs- und Widerstandsfähigkeit, ohne eine Um-

334

III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.

wälzung in dem wesentlichen Inhalte des Denkens, Fühlens und Handelns zu bedingen. Man kann daher weiterhin noch einen Aus- gang in Unheilbarkeit unterscheiden, der entweder das un- veränderte Andauern der einmal vollzogenen krankhaften Wand- lung oder aber den Fortschritt derselben bis zum völligen Zerfall der psychischen Persönlichkeit bedeutet. Das erstere ist der Fall bei manchen Kranken mit manisch-depressivem Irresein sowie bei der Verrücktheit, bei der ein langsam entwickeltes Wahnsystem ohne wesentliche Zunahme der psychischen Schwäche dauernd festgehalten wird. Von einem völligen Stillstände der Krank- heit kann freilich auch hier nicht die Rede sein. ^ ielmehr v ird einem aufmerksamen Beobachter die Abnahme der psychischen Leistungsfähigkeit innerhalb längerer Zeiträume kaum entgehen, schon der abstumpfende Einfluss des einförmigen Anstaltsaufent- haltes muss sich vielfach in dieser Richtung geltend machen. Auch nach der Dementia praecox beobachtet man sehr häufig die Rückkehr zu einer Art dauernden Gleichgewichtszustandes mit den Erscheinungen der psychischen Schwäche und einzelnen sonstigen Überbleibseln aus der Krankheitszeit. Sie bilden ge- wissermassen den Übergang zu den unvollständigen Heilungen. Diese Kranken sind fähig, sich in einfachen ^ erhältnissen ohne er- hebliche Schwierigkeit zurechtzufinden, sich zu beschäftigen, und besitzen auch eine gewisse oberflächliche Krankheitseinsicht, so dass sie von ihrer Umgebung gelegentlich für nahezu gesund ge- halten werden können. Von Zeit zu Zeit jedoch treten die alten Sinnestäuschungen wieder hervor, und nun lassen sich die Kranken vorübergehend gänzlich von ihnen beherrschen, bis nach einigen Stunden oder Tagen die Aufregung vorüber und alles rasch wieder vergessen ist, ohne irgendwie wahnhaft verarbeitet zu werden.

Allen diesen, nur sehr langsam sich ändernden Zuständen kann man den eigentlich fortschreitenden Krankheits- verlauf gegenüberstellen, wie er bei gewissen Formen des manisch- depressiven und epileptischen Irreseins, bei der Dementia praecox, namentlich aber in der Paralyse regelmässig zur Beobachtung gelangt. Diese Entwicklung wird meist dadurch eingeleitet, dass zunächst die Stärke der dauernden gemütlichen Erregung ab- nimmt, während sich die begleitenden Störungen des Verstandes überhaupt nicht oder doch nicht vollständig zurückbilden, sondern

Tod.

335

in Form tiefgreifender Urteilslosigkeit und geistiger Stumpfheit, widerspruchsvoller und zusammenhangsloser Wahnideen oder völliger Verwirrtheit bis zum tiefsten Blödsinn bestehen bleiben. Natürlich vollzieht sich dieser Vorgang einer fortschreitenden Vernichtung der ursprünglichen Persönlichkeit, den man mit dem Namen der V e r b 1 ö d u n g zu bezeichnen pflegt, je nach der Form der Geistesstörung, welche er abschliesst, in etwas verschie- dener Weise und namentlich in sehr verschiedenen Zeiträumen. Bei den melancholischen Erkrankungen erhält sich die Klein- mütigkeit und Verzagtheit, beim manisch-depressiven Irresein die Entschlussunfähigkeit oder der Betätigungsdrang und der Stimmungswechsel auch in den unheilbaren Endzuständen. Die Verblödung nach Dementia praecox ist durch die mehr oder weniger hochgradige Stumpfheit und Gleichgültigkeit der Kranken neben einzelnen besser erhaltenen Fähigkeiten und Kenntnissen ausgezeichnet. Zugleich finden sich gewöhnlich An- deutungen katatonischer Erscheinungen, Manieren, albernes Lachen, Katalepsie, Stereotypen. Häufig sind auch Sinnestäu- schungen, zusammenhangslose Wahnbildungen, Sprachverwirrtheit sowie zeitweise wiederkehrende, kurzdauernde Erregungen. In- dessen schwindet hier wie bei der Paralyse oft genug auch die letzte Spui- solcher früher vielleicht in Überfülle gelieferten Krank- heitsäusserungen, die von dem unaufhaltsamen geistigen Verfalle selbst mit vernichtet werden. Demgegenüber sehen wir bei ge- wissen paranoiden Formen und der Verrücktheit die einmal ent- wickelten Wahnideen nicht selten Jahre und selbst Jahrzehnte haften.

Tod. Die letzte Form des Ausganges, den die Geistesstörung nehmen kann, ist der Tod. Ohne Zweifel wird die Sterblichkeit durch die psychische Erkrankung beträchtlich gesteigert; sie ist bei Irren etwa fünfmal so gross wie bei der erwachsenen geistes- gesunden Bevölkerung. Diese Zahl wird verständlich, wenn man zunächst bedenkt, dass eine Reihe der dem Irresein zu Grunde liegenden Hirnerkrankungen sehr schwere körperliche Schädi- gungen erzeugen, die dann ihrerseits unmittelbar oder mittelbar zum Tode führen können. Der bei weitem wichtigste dieser Krank- heitsvorgänge ist derjenige der Paralyse. Derselbe kann geradezu unter den Erscheinungen des tiefsten Marasmus und äusserster

336

III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.

Herzschwäche dem Leben ein Ende machen. Häufiger erliegen die Kranken im paralytischen Anfalle. Der tötliche Ausgang erfolgt hier entweder unmittelbar durch Hirnlähmung oder durch die Ent- stehung von Druckbrand, Schluckpneumonien, Verletzungen, Blut- vergiftungen u. dergl. Vereinzelt kommen neben der Paralyse die ihr verwandten Hirnerkrankungen als Todesursachen in Be- tracht, Gliose, Arteriosklerose, syphilitische Veränderungen, Ge- schwülste, Embolien, Blutungen, Thrombosen.

In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle ist indessen das Leiden, welches die Geistesstörung erzeugt, an sich kein tötliches. Dagegen wird immerhin nicht allzu selten der Tod dadurch ver- anlasst, dass sich einzelne gefahrdrohende Krankheitserschei- nungen entwickeln. Dahin gehört vor allem die Neigung zum Selbstmorde, wie sie sich so häufig an traurige Wahn- ideen oder Stimmungen anschliesst. In ihr haben wir es mit einer äusserst verhängnisvollen und praktisch überaus wichtigen Er- scheinung des Irreseins zu tun, die bei schlechter Überwachung zahlreiche Opfer fordert. Nächstdem ist es die Nahrungs- verweigerung, dann die bis zur äussersten Erschöpfung an- dauernde Unruhe und Schlaflosigkeit mancher Kranker, schwerer Verlauf chirurgischer Verletzungen wegen der Unmöglichkeit einer geeigneten Behandlung, die als Todesursachen bei Geisteskranken genannt werden müssen.

Endlich aber ist es eine sehr bemerkenswerte Tatsache, dass auch die Ausbildung gewisser körperlicher Erkrankungen durch das Irresein begünstigt wird. Namentlich die Tuberkulose forderte früher in Irrenanstalten die fünffache Zahl von Opfern wie bei Geistesgesunden. Das kasernenhafte Leben, die häufig bestehende Überfüllung, die ausgiebige Gelegenheit zur An- steckung, sodann namentlich die Stumpfheit so vieler Kranker und die damit verknüpfte Herabsetzung der Atmungs- und Kreislaufstätigkeit sind wohl in erster Linie für dieses Verhalten verantwortlich zu machen. Durch Besserung der allgemeinen Lebensbedingungen, vor allem aber durch rechtzeitige Ab- sperrung der Erkrankten ist es in der letzten Zeit gelungen, die Tuberkulosegefahr in den Anstalten erheblich einzuschränken. )

*) Oswald, Allgem. Zeitschr. f. Psych., LIX, 437.

337

C. Dauer des Irreseins.

Die Dauer psychischer Störungen bietet sehr weitgehende Verschiedenheiten dar. Wo die Entstehungsbedingungen des Irre- seins im Menschen selbst gelegen sind, da dauert dasselbe durch das ganze Leben an; je mehr sie dagegen von äusseren Ursachen abhängig sind, und je rascher und vorübergehender dieselben ein- wirken, desto kürzer ist die Dauer der Krankheit. Fieberdelirien, Vergiftungsdelirien, Collapsdelirien können nach wenigen Tagen, Stunden, ja Minuten schon wieder verschwinden. Aber auch bei krankhafter Veranlagung, bei Epileptikern, Hysterischen werden „Anfälle“ von psychischer Störung beobachtet, die nur eine äusserst kurze Dauer aufzuweisen haben. Hier ist jedoch, wie schon früher ausgeführt, zu beachten, dass dieselben gewisser- massen nur vorübergehende Verschlimmerungen eines an sich schon krankhaften, andauernden Zustandes darstellen, wenn dieser auch für gewöhnlich nicht in auffallenden Krankheits- erscheinungen hervortritt. Im allgemeinen zeigen die Psychosen trotz der genannten Ausnahmefälle eine beträchtlich längere Dauer, als durchschnittlich körperliche Krankheiten, so dass hier die Abgrenzung der akuten und chronischen Formen nach einem anderen Massstabe zu geschehen pflegt. Selbst bei frischen Er- krankungen zieht sich der Verlauf in der Regel über eine Reihe von Monaten hin; Fälle bis zur Dauer eines Jahres und selbst da- rüber werden daher häufig noch als akute oder subakute be- zeichnet. Immerhin pflegt die überwiegende Mehrzahl der über- haupt heilbaren Psychosen innerhalb des ersten Jahres den gün- stigen Ausgang zu nehmen. Heilungen nach mehr als zwei- jähriger Dauer der Krankheit sind schon ziemlich selten, doch kommen solche Ausnahmefälle in sinkender Zahl selbst nach fünf, acht und zehn Jahren noch vor, ja es werden ganz verein- zelte Beobachtungen berichtet, in denen nach einem Anstalts- aufenthalte von zwei Jahrzehnten noch eine unerwartete Genesung sich einstellte*). Einzelne solcher „Spätheilungen“ betreffen manisch-depressive Kranke, bei denen gelegentlich Anfälle von

*) Kreuser, Allgem. Zeitschr. f. Psych., LVII, 771, 1900.

Kraepelin, Psychiatrie I. 7. Aofl. 22

338

III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.

mehr als zehnjähriger Dauer Vorkommen. Die Hauptmasse der Fälle gehört indessen höchst wahrscheinlich in das Gebiet der Katatonie. Hier schliessen sich bisweilen die überraschenden Besserungen nach langwierigem Krankheitsverlaufe an eine fie- berhafte Erkrankung, an die Versetzung in eine andere Umgebung an. Ohne Zweifel handelt es sich aber in allen diesen Fällen nicht um völlige Genesungen, sondern um „Heilungen mit Defekt“', wenn sie auch die Rückkehr in die Familie und unter Umständen sogar in die Berufstätigkeit ermöglichen.

Ausser der Form der Psychose und der Persönlichkeit des Erkrankten ist auf die Dauer derselben zweifellos auch die Behand- lung von Einfluss. Je früher Geisteskranke in eine geeignete Umgebung, in die Anstalt gebracht werden, desto rascher vollzieht sich unter sonst gleichen Umständen der Ablauf der psychischen Störung, und desto günstiger sind gleichzeitig die Aussichten auf eine möglichst vollständige Genesung.

IV. Die Erkennung des Irreseins.

Die Beantwortung der Frage nach dem Vorhandensein einer Geistesstörung im einzelnen Falle setzt vor allem die Kenntnis der Tatsachen voraus, die uns von der Geschichte und dem Zu- stande der gesamten Persönlichkeit ein möglichst klares und vollständiges Bild zu vermitteln geeignet sind. Die Gesichts- punkte für die Verarbeitung dieser Tatsachen liefert uns dann die klinische Erfahrung. Sie lehrt uns, ob und inwieweit sich die vorliegenden Beobachtungen mit den gesicherten Errungen- schaften der Wissenschaft zur Deckung bringen lassen. Auf diese Weise gelangen wir zu einer Diagnose des einzelnen Falles und durch Häufung der Beobachtungen zu einer umfassen- den Formenlehre der Geisteskrankheiten. Erst der so gewonnene Überblick über das klinische Gesamtgebiet wird uns gestatten, die Grenzlinien desselben gegenüber der Gesundheits- breite zu ziehen. Er gibt uns zugleich die sichere Eichtschnur für die Vermeidung jener eigentümlichen Fehlerquellen psychia- trischer Beurteilung, die aus der Vortäuschung und aus der Ver- leugnung von Krankheitszeichen entspringen. Von allen diesen, miteinander in inniger Verbindung stehenden Aufgaben, die bei der Erkennung des Irreseins zu lösen sind, werden uns hier zu- nächst die Durchführung der Krankenuntersuchung, die Absteckung der Grenzen des Irreseins und die Aufdeckung der Verstellung und Verleugnung beschäftigen, während die Einordnung der Beobachtungen in die klinischen Formenkreise späteren Ausführungen Vorbehalten bleiben muss.

A. Krankenuntersuchung *).

Den nächsten und wichtigsten Anhaltspunkt für die Er- kennung einer Geistesstörung geben uns naturgemäss die Er-

*) Morselli, Manuale di semeiotica delle malattie mentali. 1885 u. 1895; Sommer, Diagnostik der Geisteskrankheiten, 2. Aufl. 1901.

22*

340

IV. Die Erkennung des Irreseins.

scheinungen und der Verlauf derselben; für ein weiter- o-ehendes Verständnis ist aber immer auch die Kenntnis der äus- seren und inneren Ursachen erforderlich, aus denen heraus sich die Erscheinungen entwickelt haben. Das Endziel der klinischen Untersuchung ist daher nicht nur die Feststellung der etwa vorhandenen Anzeichen geistiger Störung, sondern auch die Auffindung derjenigen Anhaltspunkte, die in ursächlicher Be- ziehung von Bedeutung sein könnten. Die Hilfsmittel, die ihr für alle diese Zwecke zu Gebote stehen, sind einmal die rück- schauende Betrachtung des Vorlebens bis in frühere Ge- schlechter hinein, die Anamnese, weiterhin die eingehende Prüfung des gesamten körperlichen und psychischen Verhaltens in einem gegebenen Augenblicke, die Aufnahme des Status praesens, ferner die fortgesetzte Beobachtung und endlich in gewissen Fällen auch die Erhebung eines Lei- chenbefundes.

Vorgeschichte. Die erste Frage richtet sich auf die Erblich- keitsverhältnisse im weitesten Sinne. Wer hier zuverlässige An- gaben erhalten will, wird gut tun, mit seiner Prüfung möglichst in das Einzelne einzugehen und sich nicht mit allgemeinen Ant- worten zu begnügen. Ausser nach wirklichen Geisteskrankheiten, zu denen von den Laien regelmässig nur die allerschwersten An- staltsfälle gerechnet werden, vergesse man nicht, über das A or- kommen von Nervenleiden, auffallenden Persönlichkeiten, Trunk-

sucht, Verbrechen Erkundigungen einzuziehen und sämtliche Familienglieder unter diesen Gesichtspunkten durchzugehen. Ausserdem empfiehlt es sich, verschiedene Angehörige, viel- leicht auch den Untersuchten selbst, gesondert auszufragen, da oft genug unabsichtlich, aus Unkenntnis oder Mangel an \er- ständnis, bisweilen sogar absichtlich, wichtige Tatsachen ver- schwiegen werden. In nicht wenigen Fällen gibt die persönliche Bekanntschaft mit den verschiedenen Familiengliedern (absonder- liche Vornamen!) dem geübten Beobachter schon an sich ge- nügenden Stoff zur Beurteilung der Erb lichkeits Verhältnisse an die Hand. Völlige, dauernde Einsichtslosigkeit mit rührender Hoffnungsfreudigkeit bei den tiefgreifendsten Störungen ihrer Kranken, Urteilslosigkeit gegenüber deren Wahnideen, übertrie- bene oder zur Schau getragene Ängstlichkeit, unsinniges Miss-

Vorgeschichte.

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trauen gegen die Anstalt und deren Einflüsse, Neigung zu allen möglichen Quacksalbereien und kindischen Einmischungen in die Behandlung, auf der anderen Seite Gleichgültigkeit, ja Rohheit sind nicht selten kennzeichnende Züge bei den „Angehörigen“ entarteter Kranker.

Bei der geschichtlichen Verfolgung des einzelnen Lebens wird man naturgemäss sein Augenmerk der Reihe nach auf alle jene Schädlichkeiten zu richten haben, die wir früher als mögliche Ursachen des Irreseins kennen gelernt haben. Namentlich kommen zunächst Syphilis oder sonstige Allgemeinleiden der Eltern in Betracht. Für die Zeit des intrauterinen Daseins haben wir auf schwere Gemütsbewegungen, erschöpfende Krankheiten oder son- stige Schädigungen des mütterlichen Körpers Rücksicht zu nehmen. Weiterhin sind von Wichtigkeit der Verlauf der Geburt, Infektionskrankheiten oder Gehirnleiden (Krämpfe, Lähmungen) im ersten Kindesalter, Entwicklungsstörungen, die Einflüsse der Erziehung und für das spätere Leben die ganze Reihe jener per- sönlichen Schicksale, die das psychische Gleichgewicht zu er- schüttern oder dauernd zu vernichten imstande sind, vor allem die mannigfachen physiologischen und krankhaften Umwälzungen auf körperlichem Gebiete, die Entwicklung der Geschlechtsreife, das Fortpflanzungsgeschäft, Erkrankungen aller Art, endlich die Ausschweifungen, die Entbehrungen, die niederdrückenden Ge- mütsbewegungen. Oft genug freilich bleibt das Forschen nach einer bestimmteren Ursache vollkommen ergebnislos, sei es, dass überhaupt kein greifbarer äusserer Anstoss zur Entwicklung des Irreseins vorhanden war, sei es, dass er nicht beachtet wurde oder doch für die Erklärung sich als durchaus ungenügend er- weist. So werden von der Umgebung nicht selten solche V or- kommnisse als Ursache der Psychose angesehen, die sich bei näherer Betrachtung unzweifelhaft als die Anzeichen der bereits ausgebrochenen Störung darstellen, z. B. die Ausschweifungen des Paralytikers, die Streitigkeiten des Hypomanischen, die Selbst- beschuldigungen des Melancholikers, die Trägheit oder die Onanie des Hebephrenen.

Ausser den Ursachen sind selbstverständlich die etwaigen Erscheinungen des Irreseins in der Vergangenheit und weiterhin deren Verlauf und Dauer festzustellen. Auch zu diesem Zwecke

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IV. Die Erkennung des Irreseins.

wird man bis in die erste Jugendzeit zurückgreifen. Die Schnel- ligkeit der körperlichen und geistigen Entwicklung (Gehen, Sprechen, Lesen), die geistige Befähigung (Schulzeugnisse) und sittliche Veranlagung, die Gemütsart, der Wille, die persönlichen Neigungen und deren Ausbildung, namentlich auch das Verhalten im Entwicklungsalter (Masturbation) haben unter diesem Ge- sichtspunkte für uns Wichtigkeit. Von der grössten Bedeutung aber ist natürlich die Feststellung desjenigen Zeitpunktes, an dem eine unverkennbar krankhafte Veränderung im Seelenleben sich einstellte. Gerade in dieser Hinsicht ist der Arzt den allergröbsten, zumeist unabsichtlichen Täuschungen ausgesetzt. Fast bei allen langsam verlaufenden Psychosen wird die Er- krankung längere Zeit hindurch verkannt und ihr Beginn daher viel später angenommen, als er wirklich stattfand. Erst bei ein- gehendem Befragen erfährt man dann, dass doch auch vor dem bezeichneten Zeitpunkte, oft Monate und Jahre vorher, schon diese oder jene, nicht weiter beachteten Anzeichen der Störung vorhan- den waren, dass die ersten krankhaften Spuren vielleicht schon bis in die früheste Jugend zurückreichen. Gebildete Leute sind in dieser Beziehung vielfach nicht bessere Beobachter als Ungebildete.

Besonders wichtig ist die Feststellung, ob die vorliegende Erkrankung die erste im Leben ist oder ob schon früher ähnliche oder andersartige Anfälle voraufgingen. Der Nachweis solcher Vorläufer grenzt die Zahl der Krankheitsformen, mit denen man zu rechnen hat, sofort sehr erheblich ein. Allerdings ist es nicht immer leicht, über diese Frage Klarheit zu erhalten. Die Kranken selbst sind oft nicht imstande, Auskunft zu geben, und von der Umgebung sind leichtere Erregungen oder Verstimmungen viel- fach gar nicht als krankhaft aufgefasst, auf irgendwelche zu- fälligen Ereignisse zurückgeführt oder ganz vergessen worden. Die Nachforschungen sind namentlich auf die Entwicklungs- oder Rückbildungsjahre zu richten. Epileptische Verstimmungen wer- den oft durch die Frage aufgedeckt, ob schon einmal Lebens- überdruss bestand, und namentlich, ob Zeiten mit grosser Reiz- barkeit vorhanden waren. Haben sich frühere Anfälle ergeben, so ist sorgfältig festzustellen, ob seither völlige Genesung ein- trat, oder ob diese oder jene Störungen von der ersten Erkrankung zurückgeblieben sind.

Zustandsuntersuchung.

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Die genauere Aufklärung der Vorgeschichte des Irreseins setzt natürlich eine vollständige Kenntnis der einzelnen Krank- heitsformen voraus. Schon aus den ersten allgemeinen Angaben über die ursächlichen Verhältnisse, über die langsame oder schnelle Entwicklung des Leidens, über das Bestehen von Sinnes- täuschungen, Wahnideen, Gedächtnis- und Verstandesstörungen, traurigen und heiteren Verstimmungen, Abweichungen im Be- nehmen und Handeln, körperlichen und besonders nervösen Krank- heitszeichen, über den gleichbleibenden, fortschreitenden, anfalls- weisen, cirkulären Verlauf ergibt sich zumeist bald der Verdacht auf eine bestimmte klinische Erkrankungsform, der dann durch. Eingehen auf das Einzelne weiter begründet oder widerlegt werden kann. Für praktische Zwecke und in der Hand des Erfahrenen ist diese zunächst nach einem allgemeinen Überblick suchende Auf- rollung der Vorgeschichte ungleich zweckmässiger, als die plan- mässige Erledigung eines bereiten Fragebogens, welcher alle überhaupt möglichen Erscheinungen des Irreseins umfasst. Weniger belangreich für die Erkennung, dafür aber um so wich- tiger für die Behandlung der Krankheit sind endlich die nie zu unterlassenden Fragen nach der Neigung zu gemeingefährlichen Handlungen, zur Nahrungsverweigerung und namentlich zum Selbstmorde.

Zustandsuntersuchung. Wenn auch die Vorgeschichte viel- fach schon hinreichende Anhaltspunkte liefert, um mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht nur eine Geistesstörung überhaupt, son- dern die besondere Form derselben feststellen zu können, so ist doch für die Abgabe eines ärztlichen Urteils die persönliche Unter- suchung auch in den anscheinend einfachsten Fällen ebenso u n - abweisliches Erfordernis wie bei irgend einer körper- lichen Erkrankung. Der innige Zusammenhang zwischen psychi- schen und körperlichen Störungen wird uns dabei zu sorgfältiger Berücksichtigung auch dieser letzteren veranlassen, da wir in ihnen nicht selten Aufschlüsse über die Ursachen des Irreseins oder aber klinisch wichtige Begleiterscheinungen desselben auf- zufinden erwarten dürfen.

Die körperliche Untersuchung wird zunächst den allge- meinen Zustand des Körpers ins Auge zu fassen haben. Missverhältnis zwischen Lebensalter und Aussehen (jugendlichei

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IV. Die Erkennung des Irreseins.

Habitus, vorzeitiges Greisentum), das Verhalten des Körper- wachstums (Zwergwuchs, Kyphosen, schmächtiger Bau, Akro- megalie), der Ernährung (Anämie, Fettpolster, Hautfarbe), der Kräfte (Muskulatur), Kropfbildung, Hautverdickungen, Spuren alter Rhachitis (Zähne, Rippen, Epiphysen) oder Syphilis (Kno- chenauftreibungen, Hautnarben, Drüsenschwellungen), können wertvolle Fingerzeige für die ursächliche Beurteilung des Falles abgeben. Ferner pflegt man aus dem Vorhandensein gewisser Entwicklungsstörungen (Albinismus, Spina bifida, Hasenscharte, Wolfsrachen, sehr steiler oder sehr flacher Gaumen, Kryptorchis- mus, Polymastie, Polydaktylie, Syndaktylie, Missbildungen der Augen, Ohren, Zähne, Geschlechtsteile), die man als Entartungs- zeichen*) betrachtet, den Schluss auf eine psychopathische Veran- lagung zu ziehen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Be- ziehungen zwischen jenen Bildungsfehlern und dem Hirnzustande nichts weniger als eindeutige und klare sind. Man wird daher bei der Verwertung solcher Befunde mit grösster Vorsicht zu ver- fahren haben. Dasselbe gilt in noch höherem Masse von den Täto- wierungen, denen man ebenfalls eine gewisse kennzeichnende Be- deutung für den Zustand des Seelenlebens zugeschrieben hat. Hier sind in erster Linie die Lebensgewohnheiten der Stände und Berufe massgebend, aus denen die Kranken stammen.

Unzweifelhaft der wichtigste Teil der körperlichen Unter- suchung ist die Prüfung des Nervensystems, insbesondere des Gehirns, das freilich am Lebenden unserer Beurteilung nur wenige Angriffspunkte darbietet. Von der Grösse des Ge- hirns kann uns die Schädelmessung, namentlich nach dem von Rieger**) ausgebildeten Verfahren, ein ungefähres Bild ver- schaffen, dem indessen alle jene Fehlerquellen anhaften, welche in dem unvollkommenen Parallelismus der Schädel- und Hirnober- fläche ihren Ursprung haben. Unmittelbare psychiatrische Wich- tigkeit besitzen daher nur diejenigen Verbildungen des Schädels in Form und Grösse, die unzweifelhaft über den Bereich jener Fehlerquellen hinausgehen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass

*) Knecht, Allgem. Zeitschr. f. Pßychiatrie, LIV, 876; Ganter, eben- da, LV, 495; Giuffrida-Ruggeri, atti della societh Romana di antro- pologia, IV, 2, 3, 1896.

**) Rieger, Eine exakte Methode der Craniographie. 1885.

Zustandsuntersuchung.

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es nicht allein auf die Schädel- oder Gehirngrösse an sich, sondern wesentlich auf das Verhältnis derselben zu der Grösse und Masse des ganzen Körpers ankommt. Unter Berücksichtigung dieses Umstandes können bisweilen Missverhältnisse aufgedeckt werden, die der einfachen Betrachtung entgehen. Im übrigen vermögen allerdings alle feineren, erst mit Hilfe genauer Messungen fest- stellbaren Abweichungen höchstens die allgemeine Vermutung zu begründen, dass mit ihnen vielleicht auch Störungen in der Hirnentwicklung einhergehen. Sehr beachtenswert sind dagegen die Spuren früherer Verletzungen, Narben, Eindrücke und dergl., da sie bisweilen den einzigen Schlüssel für das Verständnis sonst rätselhafter Krankheitsbilder abzugeben imstande sind.

Über die Kreislaufsverhältnisse des Gehirns vermag uns bis zu einem gewissen Grade die Betrachtung benachbarter Gefäss- bezirke, des Gesichtes und vor allem des Auges, Aufschluss zu geben; in vereinzelten Fällen gestatten Schädellücken auch eine unmittelbare Untersuchung.*) Für die Hirnpathologie ist die Augenspiegeluntersuchung bekanntlich ein überaus wichtiges Hilfsmittel geworden. Bei Geisteskranken dagegen sind ihre Er- gebnisse leider noch allzu unsichere geblieben, als dass man ihr heute einen wesentlichen Wert für die Diagnostik zuerkennen könnte. Ob hier andere Verfahren, die Thermometrie**) und die Ausculation des Kopfes, bessere Ergebnisse liefern werden, muss der Zukunft überlassen bleiben.

Von durchschlagender Bedeutung für die Beurteilung des Gehirnzustandes ist dagegen die Prüfung seiner Äusserungen. Sehen wir zunächst ab von den psychischen Erscheinungen, so werden wir in erster Linie die Sinnesgebiete zu untersuchen haben. Freilich ist es hier, namentlich beim Gehör, oft recht schwierig, ja unmöglich, Störungen in den reizaufnehmenden Sinneswerk- zeugen von denjenigen der zugehörigen Hirnabschnitte zu trennen. Ausser eingehender Prüfung der Sinnestätigkeit und der Besich- tigung mit dem Spiegel kann insbesondere beim Ohr noch die elektrische Untersuchung der Gehörnerven***) in Frage kommen,

*) Berger, Zur Lehre von der Blutcirkulation in der Schädelhöhle des Menschen. 1901.

**) M o s s o , Die Temperatur des Gehirns. 1894.

***) Chvostek, Jahrb. f. Psychiatrie, XI, 3.

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IV. Die Erkennung des Irreseins.

die bisweilen bemerkenswerte Abweichungen von der Brenner- schen Normalformel zu Tage fördert. Bereits weit in das geistige Leben hinein reichen jene Störungen der höheren Sinnestätig- keit, die man als „Worttaubheit“ und „Seelenblindheit“ bezeich- net hat. Noch mehr ist das der Fall bei den aphasischen und den ihnen verwandten Störungen*), deren Zergliederung indessen nicht in den Rahmen unserer Darstellung fällt.

Auf motorischem Gebiete beschäftigt uns zunächst Grösse und Beweglichkeit der Pupille, für deren feinere Untersuchung neuerdings Sommer und Bumke besondere Verfahren ausgebildet haben. Ferner werden wir das Spiel der Augenmuskeln, der Ge- sichtsmuskeln und der Zunge zu beachten haben ; auch das ^ er- halten der Mimik (Starrheit, Zuckungen, Grimmassieren) ist von Wichtigkeit. Mehr oder weniger bindende Rückschlüsse auf die Art des Krankheitsvorganges im Gehirn ermöglichen uns gewisse Formen des Krampfes (Rindenepilepsie, Athetose, Chorea) des Zitterns (Senium, Alkoholismus, Delirium tremens) und der Läh- mung (schlaffe oder spastische Lähmung, Contractur), dann manche Goordinationsstörungen verwickelter Willkürbewegungen, des Gehens, Stehens, namentlich aber des Sprechens und Schrei- bens. Auch die epileptischen und hysterischen Krämpfe wie die hysterischen Lähmungen weisen uns geradezu auf eine bestimmte, freilich auch nur symptomatische Krankheitsauffassung hin.

Der Untersuchung des Gehirns schliesst sich eng diejenige des Rückenmarkes, des Sympathicus und endlich der peripheren Nerven an, um so enger, als ja selbst heute noch nicht immer die Ursache einer krankhaften Erscheinung mit Sicherheit in einen der grossen Abschnitte des Nervensystems ver- legt werden kann. Die Prüfung des Haut- und Muskelsinnes im weitesten Umfange, der Reizempfindlichkeit in ihren ver- schiedenen Gestaltungen, der Schmerzempfindlichkeit (Druck- punkte), der elektrischen und mechanischen Erregbarkeit der

*) Ballet, Die innerliche Sprache und die verschiedenen Formen der Aphasie, deutsch v. Bongers. 1890; Freud, Zur Auffassung der Aphasien. 1891; Bastian, Über Aphasie und andere Sprachstörungen, deutsch v. Ur- stein. 1902; Wolff, Zeitschr. f. Psychologie und Physiologie der Sinnes- organe, XV, 1; Liepmann, Das Krankheitsbild der Apraxie. 1900; Heil- bronn er, Über Asymbolie, Wernickes Psychiatr. Abhandlungen. 1897.

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Nerven (Facialisphänomen) und Muskeln, der Ausgiebigkeit, Sicherheit und Kraft der Bewegungen, der Reflexe, endlich der vasomotorischen (Dermatographie), trophischen, sekretorischen Vorgänge (Speichelfluss) wird daher regelmässig die Untersuchung des allgemeinen Hirnzustandes za vervollständigen haben.

Nur mittelbar, auf dem Wege vielgliedriger Schlussfolge- rungen, kann uns natürlich die Untersuchung des übrigen Körpers zu einer Erkennung krankhafter Vorgänge im Bereiche des Nervensystems verhelfen. So werden wir uns erinnern, dass schwere allgemeine Ernährungsstörungen (fieberhafte Krank- heiten, Blutentmischungen, chronische Infektionen und Vergif- tungen) häufig genug die Grundlage psychischer Erkrankungen bilden, andererseits aber, dass jede rasch einsetzende Geistes- störung mit durchgreifender Beeinträchtigung der Esslust, des Schlafes und des gesamten Stoffwechsels einherzugehen pflegt.

Selbstverständlich kann aber die körperliche Veränderung im einzelnen Falle auch ganz zufällig mit dem Irresein zusammen- fallen. Gleichwohl wird zur vollen Würdigung der Sachlage eine möglichst sorgfältige Untersuchung aller zugänglichen Organe und ihrer Verrichtungen stets unerlässlich sein. Besondere Bedeutung hat man bisweilen der Form des Puls- bildes*) beigelegt, aus der man die weitgehendsten Aufschlüsse über Diagnose und namentlich Prognose des Irreseins überhaupt herauslesen wollte. Leider haben sich diese Hoffnungen nicht erfüllt. Vielmehr hat sich gezeigt, dass die Gestaltung des Pulsbildes im Verlaufe einer und derselben Erkrankung durch verschiedenartige Einflüsse (Gemütsbewegungen, Gefässspannung, Herztätigkeit) auf die mannigfaltigste Weise verändert werden kann. Dagegen scheinen die Schwankungen des Blutdrucks **) in der Tat gewisse Beziehungen zu der Art der Krankheitsvorgänge aufzuweisen. Wenn sich bei manischer Erregung eine Herab- setzung, bei trauriger Verstimmung und ebenso in Angstzuständen eine Steigerung des Blutdruckes nachweisen lässt, so haben wir

*) Ziehen, Sphygmographische Untersuchungen an Geisteskranken. 1887 ; Sokalski, Untersuchungen über Puls und Blutdruck in akuten Geisteskrank- heiten. 1897; Patrizi, Rivista sperim. di freniatria, XXIII, 1.

**) Craig, Lancet, Juni 1898; Pilcz, Wiener klinische Wochenschrift, 1900, 12; Rosse, Centralblatt f. Psych. 1902, 517.

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IV. Die Erkennung des Irreseins.

es hier wohl unmittelbar mit den vasomotorischen Begleiterschei- nungen der krankhaften Stimmungen zu tun. Dagegen dürfte die von Pilcz gefundene Senkung des Blutdruckes in der Paralyse und namentlich in den letzten Abschnitten der Krankheit kurz vor dem Tode einfach auf das allmähliche Versagen der Herztätig- keit zurückzuführen sein. Näheren Aufschluss über diese gewiss sehr wichtigen Verhältnisse verspricht vor allem auch das ple- thysmographische Verfahren, wie es namentlich von Lehmann*) ausgebildet worden ist. Da dasselbe die körper- lichen Begleiterscheinungen der Gefühle mit grosser Genauigkeit wiedergibt, wird es einerseits bei den Geistesstörungen mit leb- haften Gemütsbewegungen, andererseits gerade bei denjenigen Formen das Krankheitsbild vervollständigen, bei denen die Schwankungen des Stimmungshintergrundes in krankhafter Weise aufgehoben sind. Leider liegen bisher erst sehr wenige Unter- suchungen an Geisteskranken mit diesem Verfahren vor.

Noch ganz in den ersten Anfängen befinden wir uns hinsicht- lich der Untersuchung und Deutung der B lu t Veränderungen**) bei Geisteskranken. Wir besitzen freilich bereits eine ganze Reihe von Arbeiten über diese Fragen, allein zu bestimmten Schlüssen im einzelnen Falle reichen die vorliegenden Ergebnisse noch nicht aus. Es scheint mir jedoch zweifellos, dass wir gerade in dieser Richtung noch wichtige Entdeckungen zu erwarten haben, um so mehr, als die Bedeutung der allgemeinen Stoffwechselerkran- kungen für einige der verbreitetsten Formen des Irreseins mir immer klarer sich herauszustellen scheint. Ganz ähnlich steht es mit den Harn Untersuchungen. Aus den Ausscheidungen wer- den wir zwar immer nur ein sehr unvollkommenes Bild von den Störungen in der chemischen Zusammensetzung der Körpergewebe erhalten***), aber die Möglichkeit einer häufigen Untersuchung

*) A. Lehmann, Die körperlichen Äusserungen der seelischen, Zustände. 1899; R. Vogt, Centralblatt f. Psychiatrie, 1902, 965; Gent, Philosophische Studien, XVIII, 715; Brodmann, Journal f. Psychologie u. Neurologie I, 10, 1903.

**) Vor st er, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, L., 3 u. 4r Ago- stini, Rivista sperimentale di freniatria, XVIII, 483; Ceni, Revue de Psychia- trie, März 1901; Pugh, Journal of mental Science, Jan. 1903, 71.

***) B e 1 m o n d o , Rivista sperim. di freniatria, XXII, 657 ; S t e f a n i , ebenda, 1900, 4; S o u r y , Annales medico-psychologiques, VIII, 8, 427, 1898.

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wird uns doch zu einer eingehenden Berücksichtigung jenes Hilfs- mittels veranlassen. Bisher wissen wir freilich wenig mehr, als dass neben Eiweiss und Zucker gelegentlich noch eine Reihe an- derer ungewöhnlicher Stoffe im Harn Vorkommen können, ohne dass sich einstweilen eine genauere Beziehung zu bestimmten Erkrankungen feststellen Hesse*). Auch die Untersuchungen des Magensaftes haben die an sie geknüpften Erwartungen noch nicht erfüllt; immerhin kann man ihren Ergebnissen vielleicht gewisse Gesichtspunkte für die Behandlung entnehmen.

Hat uns die körperliche Untersuchung gewisse Anhaltspunkte für die ursächliche Auffassung eines Falles oder Beweise für das Bestehen von Störungen in diesen oder jenen Abschnitten des Nervengewebes zu liefern, so muss das eigentliche Krankheits- bild durch die Prüfung der psychischen Tätigkeit**) festgestellt werden. Leider gehen die Hilfsmittel, die uns für die Klärung dieses wichtigen Teiles des Krankheitszustandes zu Gebote stehen, bisher nur wenig über diejenigen hinaus, die uns die gewöhnliche Lebenserfahrung an die Hand gibt. Die Unter- suchung des psychischen Zustandes liefert uns zumeist keinerlei Zahl- und Massbestimmungen. Sie begnügt sich vielmehr mit der ursprünglichsten Art der Beobachtung und mit dem einfachsten psychologischen Versuche, der Stellung von Fragen; sie hält sich in ihrem Gange nicht an einen vorherbestimmten Plan, sondern sie schreitet nach Belieben vom unmittelbar Vorliegenden und Auf- fallenden zum Verborgenen und schwerer Auffindbaren fort. Ge- rade gewisse motorische Äusserungen sind es daher, die zumeist den Ausgangspunkt für die Untersuchung zu bilden pflegen.

Aus der Körperhaltung, den Ausdrucksbewegungen, den Ge- sichtszügen können in der Regel schon von vornherein einige Aufschlüsse über das Verhalten der Aufmerksamkeit (Teil- nahmlosigkeit, Interesse, Neugier) und die Stimmung des Kranken gewonnen werden (Ausgelassenheit, Zufriedenheit, Angst, Verzweiflung, Ruhe oder Stumpfheit). Durch einige einfache Fragen über Namen, Alter, Vorleben wird weiterhin festgestellt,

*) Koppen, Archiv f. Psychiatrie, XX, 3; Schäfer, Monatsschr. f. Psych. n. Neurol., II, 157.

**) Sommer, Lehrbuch der psychopathologischen Untersuchungs- methoden. 1899.

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IV. Die Erkennung des Irreseins.

ob das Bewusstsein getrübt oder klar, ob die Besonnenheit, die Fähigkeit der Auffassung und unmittelbaren Verwertung von Sinneseindrücken, erhalten ist. Zugleich wird sich dabei auch ein annäherndes Urteil über die Schnelligkeit des Vorstellungs- verlaufes sowie über das Gedächtnis für die frühere Ver- gangenheit ergeben. Im Fortgange unserer Unterhaltung werden wir festzustellen suchen, ob die Erinnerung an die jüngste Zeit, die Orientierung über Zeit und augenblickliche Umgebung (Aufenthaltsort wie Personen) und ob Krankheitsbewusst- sein oder gar Einsicht vorhanden ist; wir gewinnen dabei die Aufklärung, ob wir es mit einem geordneten oder mit einem ideen- flüchtigen, zerfahrenen, deliriösen, verwirrten, umständlichen, einförmigen Gedankengange zu tun haben. Inzwischen wer- den sich zumeist schon allerlei weitere Anhaltspunkte für die Beurteilung der übrigen psychischen Leistungen ergeben haben, die uns als Wegweiser für die Auffindung weniger unmittelbar zu Tage tretender Störungen dienen können.

Nicht ganz leicht ist es bisweilen, über das Bestehen von Sinnestäuschungen ins klare zu kommen. Die einfache Frage über diesen Punkt wird uns vielfach nicht zum Ziele führen, sei es, dass sich dem Kranken die Trugwahrnehmungen unterschiedslos der sonstigen Sinneserfahrung einordnen, sei es, dass er aus irgendwelchen Gründen über dieselben eine miss- trauische Zurückhaltung bewahrt. Gleichwohl pflegen die Be- zeichnungen „Stimmen“ und „Bilder“ vom Hallucinanten in der Kegel sofort auf seine Täuschungen bezogen zu werden. Bisweilen sind die Trugwahrnehmungen trotz alles Ableugnens des Kranken mit ziemlicher Sicherheit aus seinem Benehmen zu erschliessen, aus der horchenden Stellung, in der er längere Zeit verharrt, grundlosem Auffahren oder Lachen, lauten Selbstgesprächen, plötzlicher Gereiztheit und dergl. Umgekehrt ist aber die Ge- fahr recht gross, zu der Annahme von Sinnestäuschungen zu kommen, wo es sich nur um eigentümlich aufgefasste und wieder- gegebene wirkliche Wahrnehmungen handelt. Die Erfahrung hat mir gezeigt, dass Vorsicht in dieser Beziehung sehr am Platze ist.

Auch die Erkennung von Wahnideen ist nicht immer ganz leicht. Bisweilen treten dieselben bei der V ersetzung in eine neue Umgebung zeitweise in den Hintergrund. Eine ganze Zahl

Zustandsuntersuchung.

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von Kranken pflegt ferner ihre Wahnideen, namentlich im Be- ginne der Erkrankung und vor Fremden, sehr sorgfältig geheim zu halten und jedem Versuche tieferen Eindringens auszuweichen, bis irgend ein Punkt getroffen wird, der sie in Erregung versetzt, oder bis es gelingt, durch allerlei verfängliche Fragen eine An- knüpfung zu finden, mit Hilfe deren sich anscheinend absichtslos das ganze zusammenhängende Netz krankhafter Vorstellungen entwickeln lässt. Nicht zu selten leitet auch hier schon das äussere Benehmen des Kranken auf die Spur. Scheues, miss- trauisches Wesen wird uns geheime Feinde und Verfolgungen, schroffes Zurückweisen der Nahrung Vergiftungsideen vermuten lassen; eine gewisse gespreizte Selbstgefälligkeit, die sich bis- weilen schon in der Tracht ausspricht, deutet auf Grössenideen, während häufiges Knieen, Händefalten, weinerlich verzagter Ge- sichtsausdruck das Bestehen von Versündigungswahn mit reli- giöser. Färbung wahrscheinlich macht u. s. f. Trotz aller Mannig- faltigkeit im einzelnen pflegen dabei die Grundzüge solcher Wahn- bildungen doch vielfach eine so weitgehende Übereinstimmung miteinander aufzuweisen, dass ein erfahrener Beobachter auf Grund seiner aus Äusserlichkeiten gezogenen Schlüsse dem ver- blüfften Kranken öfters mit überraschender Schnelligkeit das Zugeständnis seiner krankhaften Ideen zu entwinden vermag.

Ganz besondere Schwierigkeiten aber können dann erwachsen, wenn der Inhalt der Wahnideen nicht ohne weiteres, sondern nur auf Grund einer genaueren Kenntnis aller Verhältnisse als krank- haft erkennbar ist, z. B. beim Wahne rechtlicher Benachteiligung, ehelicher Untreue. Hier kann vielfach das Urteil erst nach längerer Beobachtung und auch dann bisweilen nur mit grösster Zurückhaltung abgegeben werden. Zudem pflegen gerade diese Kranken sehr geschickt ihre Wahnideen zu verbergen oder schein- bar vollkommen zutreffend zu begründen. Andererseits kann die Erkennung bestimmter Wahnideen auch dadurch erschwert wer- den, dass der Kranke benommen, verwirrt, ängstlich und dadurch ausser stände ist, seine Gedanken zusammenhängend zu äussern. Hier können Monate vergehen, bevor sich einigermassen klar er- kennen lässt, welche Vorgänge sich in seinem Bewusstsein ab- spielen. Wir sind bei dieser Beurteilung ganz auf die nicht immer zuverlässige Deutung jener unwillkürlichen Äusserungen an-

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IV. Die Erkennung des Irreseins.

gewiesen, in denen sich die Seelenzustände nach aussen kund- geben.

Die Untersuchung auf das Bestehen von Wahnideen bietet gleichzeitig Gelegenheit, in den Zustand der Verstandes- tätigkeit und des Gedächtnisses überhaupt einige Ein- blicke zu gewinnen. Das urteilslose Festhalten an widerspruchs- vollen Vorstellungen ohne gleichzeitige Bewusstseinstrübung oder gemütliche Erregung, ferner die Vermischung von Erinnerungen mit erfundenen Einzelheiten werden in dieser Richtung zu ver- werten sein. Im übrigen müssen uns hier die Regeln der alltäg- lichen Menschenkenntnis darüber belehren, wie die allgemeine geistige Veranlagung und Leistungsfähigkeit des Kranken be- schaffen ist. Unter Berücksichtigung seiner Vergangenheit, seiner Erziehung und Bildungsmittel werden wir im Gespräche un- gefähr den Umfang seiner Kenntnisse, seines Gesichtskreises, sei- ner Neigungen und seiner gegenwärtigen Urteilsfähigkeit zu er- messen haben. Natürlich kann der so erreichte allgemeine Über- blick die Gewinnung brauchbarer Gruppen und Abstufungen immer nur in den allergröbsten Umrissen gestatten. Unter Lmständen kann die Lösung bestimmter Aufgaben, der Versuch der Beschrei- bung eines bis dahin unbekannten Gegenstandes, die mündliche oder schriftliche Schilderung und Beurteilung der neuen Eindrücke in der Anstalt, die Ausdauer bei einer bestimmten geistigen Beschäftigung zur Krankenuntersuchung mit herangezogen werden.

Leider stösst eine tieferdringende Prüfung der ^ erstandes- leistungen unserer Kranken zur Zeit noch auf Schwierigkeiten, die im Hinblick auf die Vielseitigkeit der Frage sowie auf den weit- reichenden Einfluss der Erziehung und Bildung kaum überwindlich erscheinen. Einen wesentlichen Fortschritt unseres psychischen Untersuchungsverfahrens bedeuten jedoch die von verschiedenen Forschern unternommenen Versuche, die geistigen Leistungen unserer Kranken auf bestimmten Gebieten planmässig und unter einheitlichen Gesichtspunkten aufzuzeichnen. Sommer vor allen ist bemüht gewesen, diese Prüfungen zu vervollkommnen. Er hat dabei besonderen Wert auf die „Gleichheit der Reize“ gelegt, indem er eine beschränkte Zahl von Aufgaben den verschiedensten Kranken vorführte und andererseits dies Verfahren bei denselben

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Kranken zu verschiedenen Zeiten wiederholte. Diesem Zwecke dienten vorgedruckte Fragebogen mit verschiedenartigem In- halte.*) Einmal kam es ihm darauf an, Auskunft über die „Orien- tierung“ der Kranken zu erhalten; die Fragen beziehen sich demnach auf Namen, Heimat, Alter, Zeit und Ort, Personen der Umgebung, zeitliche Ordnung der letzten Erlebnisse; angeschlos- sen werden einige Fragen über Stimmung, Krankheitsgefühl, Sinnestäuschungen und Wahnvorstellungen. Ähnliche Fragebogen behandeln die Schulkenntnisse und die Rechenfertigkeit; endlich hat Sommer noch einige Gruppen von Reizworten für die Aus- lösung von Associationen nach verschiedenen Gesichtspunkten zu- sammengestellt. Die grossen Vorzüge dieses bereits in mehreren grösseren Versuchsreihen angewendeten Fragebogenverfahrens liegen in der Vergleichbarkeit der Ergebnisse. So manche kli- nische Eigentümlichkeiten der einzelnen Krankheitsformen ge- winnen dadurch greifbare Gestalt; namentlich aber lässt sich unter Umständen sehr deutlich der Verlauf der Krankheit mit seinen Verschlimmerungen, Besserungen oder periodischen Schwankungen verfolgen.

Einen etwas anderen Weg hat Möller**) eingeschlagen. Ihm kam es hauptsächlich auf die Untersuchung Schwachsinniger an, bei denen er einmal den Umfang des gedächtnismässig fest- gehaltenen Vorstellungsschatzes, sodann aber die Fähigkeit zu geistiger Verarbeitung prüfen wollte. Für den ersten Zweck entwarf er ebenfalls Fragebogen, die indessen jedem einzelnen Falle angepasst und demgemäss sehr umfangreich waren. In ihnen wurden die besonderen Lebensverhältnisse des Einzelnen, der Lernstoff der von ihm besuchten Schulklassen, die Erwerbs- und Berufstätigkeit eingehend berücksichtigt. Dadurch ist der Einblick in den Gedächtnisstoff ungleich vollständiger geworden, die Vergleichung verschiedener Personen aber sehr erschwert. Als Massstab für die Verstandesfähigkeit benutzte Möller die „Fabelmethode“, das heisst, er erzählte seinen Kranken einfache Fabeln von abgestufter Schwierigkeit und forderte die Ableitung

*) Zu beziehen von der Brühl sehen Universitätsdruckerei in Giessen.

**) Möller, Über Intelligenzprüfungen, ein Beitrag zur Diagnostik des Schwachsinns. Diss. 1897; Archiv f. Psychiatrie, XXXIV, 284.

Kraepelin, Psychiatrie I. 7. Aufl.

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IV. Die Erkennung des Irreseins.

der Nutzanwendung aus denselben, die Auffindung einer passen- den Überschrift und womöglich die Angabe eines Sprichwortes mit ähnlicher Lehre. Ohne Zweifel ist dieses Verfahren geeignet, eine gute Vorstellung von dem Urteile und Schlussvermögen zu liefern, doch stösst auch hier der Vergleich auf erhebliche Schwie- rigkeiten.

Auch das Bedürfnis, die Erscheinungen der Aphasie und verwandter Störungen genauer zu zergliedern, hat vielfach zur Aufstellung bestimmter Untersuchungspläne geführt. Vorbild- lich ist hier die Aufnahme des geistigen Besitzstandes durch R i e g e r *) gewesen, der bei einem Kranken mit schwerei Hirnverletzung auf das sorgfältigste den Umfang des V orstellungs- schatzes und der Verstandesleistungen bestimmte. Ist die von ihm durchgeführte Prüfung auch zunächst für die Aufdeckung der durch gröbere Hirnerkrankungen bedingten Lücken geeignet, so wird sie sich doch ohne Zweifel auch auf eine Reihe von anderen Formen geistiger Störung, namentlich von Schwächezu- ständen, übertragen lassen. Dabei wird sich voraussichtlich all- mählich das besonders Wichtige von dem weniger Bedeutsamen abscheiden und damit das jetzt noch ungemein mühsame und zeit- raubende Verfahren praktisch verwendbarer werden.

Als äusserst unvollkommen muss unsere ärztliche Prüfung der Gefühle, Gemütsbewegungen und Strebungen bezeichnet werden. Was wir bei der einmaligen Untersuchung auf diesen Gebieten überhaupt zu erkennen vermögen, zeigt sich meist bereits bei der äusseren Betrachtung, in den Ausdrucksbewe- gungen. In ihnen offenbaren sich die gehobene Stimmung, der Be- tätigungsdrang und die Redelust der manischen, die Unruhe und Angst der deliriösen oder melancholischen, der Bewegungsdrang, die Manieren und Stereotypien der katatonischen, die Empfind- lichkeit und Unstetigkeit der hysterischen Kranken. Auch über die Herabsetzung oder Steigerung der psychomotorischen Erreg- barkeit, die Hemmung, die Sperrung und Entgleisung des Willens werden sich bei der Beobachtung der Kranken allmählich mein

*) Rieger, Beschreibung der Intelligenzstörungen infolge einer Hirn- verletzung, nebst einem Entwurf zu einer allgemein anwendbaren Methode der Intelligenzprüfung. 1889.

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oder weniger klare Aufschlüsse gewinnen lassen. Bei dem Ver- suche körperlicher oder psychischer Einwirkung zeigt sich die wächserne Biegsamkeit, der Negativismus, das ängstliche Wider- streben, die Unlenksamkeit, der Eigensinn, die Bestimmbarkeit. Über diese Erfahrungen hinaus sind wir wesentlich auf die nicht immer ganz zuverlässigen Selbstschilderungen angewiesen, die uns von dem Zustande des eigenen Innern entworfen werden. Natürlich vermag uns aber der Verlauf der Untersuchung über die grössere oder geringere gemütliche Reizbarkeit, über Gleich- mässigkeit oder häufigen Wechsel der Stimmung, endlich über auffallende Gefühlsäusserungen nach bestimmten Richtungen hin, grundlosen Hass, religiöse Schwärmerei, überschwängliches Glücksgefühl, Gleichgültigkeit, Stumpfheit mannigfache gewich- tige Aufschlüsse zu liefern. Auf etwa vorhandene krankhafte Neigungen, Selbstmorddrang, gesteigerte geschlechtliche Begierde, Sucht zu kaufen, zu trinken, werden wir ebenfalls bei unserer Prüfung Rücksicht nehmen müssen. Was sich aber hier nicht schon unwillkürlich in dem gesamten Benehmen verrät, werden wir häufig genug durch Ausfragen der Kranken auch nicht er- fahren; wir müssen daher zur Vervollständigung unseres Bildes nach dieser Richtung hin die Berichte der Umgebung mit zu Hilfe nehmen.

Es wird kaum in Abrede gestellt werden können, dass für die wissenschaftliche Betrachtung und auch im Vergleiche mit anderen medizinischen Gebieten das Verfahren, nach dem wir den Seelenzustand unserer Kranken feststellen, ein recht rohes genannt werden muss; es hat fast mehr Ähnlichkeit mit dem Vorgehen des Untersuchungsrichters, als mit einer naturwissen- schaftlichen Erforschung. Leider ist es weniger schwer, diesen Mangel zu erkennen, als ihm abzuhelfen. Nicht nur setzt das Gebiet der psychischen Vorgänge an sich der Einführung wirk- lich zuverlässiger Beobachtungshilfsmittel den grössten Wider- stand entgegen, der nur allmählich überwunden werden kann, sondern es ist auch nur allzu häufig gar nicht möglich, einen Geisteskranken der Reihe nach planmässig allen den Prüfungen zu unterwerfen, die man etwa für wünschenswert erachtet. Oft genug ist unsere Versuchsperson eine widerwillige, unzugäng- liche oder fast unverständliche, so dass selbst eine ungefähre

23*

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IV. Die Erkennung des Irreseins.

Erkenntnis derselben nur durch sehr grosse Geduld, ein fein- fühliges Geschick und eine genaue Vertrautheit mit allen den mannigfachen Erscheinungsformen erreicht werden kann, in denen sich krankhafte Vorgänge zu offenbaren pflegen. Die mit den gewöhnlichen Hilfsmitteln erreichbaren Ergebnisse leiden alle an dem wesentlichen Nachteile, dass die erhobenen Befunde vieldeutig sind und dass sie keine zuverlässigen Massbestim- mungen gestatten. Die untersuchten Leistungen sind schon za verwickelte, und die festgestellten einzelnen Abweichungen sind so verschiedenartig, dass eine einfache zahlenmässige ^ erwer- tuug unmöglich wird. Es drängt sich unter diesen Umständen ganz von selbst die Forderung auf, diejenigen Verfahren für die psychiatrische Untersuchung nutzbar zu machen, die \ on der Psychologie zur feineren Zergliederung der Seelenvorgänge und zur Gewinnung genauer, vergleichbarer Zahlenworte aus- gebildet worden sind. Allerdings wird sich aus naheliegenden Gründen die Durchführung zuverlässiger psychologischer Ver- suchsreihen bei Geisteskranken nur in beschränkterem Umfange ermöglichen lassen. Trotzdem oder vielmehr gerade deswegen will ich es nicht unterlassen, hier, wenn auch nur in kurzen Andeutungen, auf einige der Wege hinzuweisen, die uns in ab- sehbarer Zeit voraussichtlich gestatten werden, wenigstens bei manchen chronischer verlaufenden Formen des Irreseins Mes- sung und Zählung psychischer Grössen zur Gewinnung eines tieferen Einblickes in die Aid der Störungen zu verwerten. Alle diese Wege sind bereits betreten und praktisch erprobt worden*).

Als Gang für eine feinere psychische Untersuchung würde sich im allgemeinen die Verfolgung jener Bahn empfehlen, welche unsere gesamte Erfahrung gegangen ist. Zuerst wären somit der Wahrnehmungsvorgang, das Gedächtnis, dann die er- bindungen der Vorstellungen, Urteile und Schlüsse, das Selbst- bewusstsein, kurz die Verstandestätigkeit, endlich die niederen und höheren Gefühle, die Stimmung, die Gemütsbewegungen und deren Umsetzung in unwillkürliches und willkürliches Handeln

*) Vergl. Kraepelin, Der psychologische Versuch in der Psychiatrie, Psychologische Arbeiten, 1, 1, 1895. Eine Reihe von weiteren Arbeiten über diese Fragen enthalten die folgenden Hefte; vgl. Weygandt, Centralbl. f. Psych. XXVI, 1, 29, 1903.

Zustandsuntersuchung.

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zu berücksichtigen. Von allen diesen Abschnitten sind es nur einige wenige, welche für jetzt einer genaueren Prüfung bei Geisteskranken zugänglich erscheinen; sie liegen fast sämtlich auf dem Gebiete der Verstandesleistungen.

Für die Lösung der hier gestellten Aufgaben wird es not- wendig sein, vor allem die Untersuchung so zu gestalten, dass sie mit möglichst einfachen Hilfsmitteln durchgeführt werden kann, und dass sie recht geringe Anforderungen an die Mit- wirkung der Versuchsperson stellt. Die Vereinigung dieser Be- dingungen mit dem Streben nach genauen, zahlenmässigen Ergeb- nissen erscheint fast unmöglich, doch lässt sich ein grosser Teil der entgegenstehenden Schwierigkeiten sicherlich überwinden. Für manche Zwecke freilich vermögen wir heute die Anwen- dung feinerer und schwieriger zu handhabender Werkzeuge noch nicht zu entbehren; ebensowenig wird man erwarten können, dass sich alle oder doch viele Geisteskranke zu eindringenderen Untersuchungen ihres Seelenlebens werden heranziehen lassen. Immerhin kann man auch so eine Fülle von neuen Tatsachen ge- winnen, deren Kenntnis weiterhin auch dort das Verständnis erleichtern wird, wo die unmittelbare Untersuchung nicht durch- führbar erscheint.

Die nächstliegende geistige Leistung, mit welcher wir uns zu beschäftigen hätten, ist die Auffassung äusse- rer Eindrücke. Zur Prüfung dieses Vorganges haben wir uns mit gutem Erfolge grosser, mit Wörtern oder sinnlosen Silben beklebter Trommeln bedient, die sich mit gleichmässiger Geschwindigkeit vor einem engen Spalte um ihre Axe drehten. Bei einer bestimmten Drehungsgeschwin- digkeit ist man gerade noch imstande, durch den Spalt eine Anzahl der vorüberziehenden Eindrücke zu erkennen, während bei längerer Dauer der Leseübung die einzelnen Wörter all- mählich verschwimmen oder falsch aufgefasst werden. Man kann demnach auf diese Weise nicht nur ein Mass für die Auffassungs- geschwindigkeit finden, sondern namentlich auch einen Einblick in die Art der begangenen Fehler gewinnen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass gerade diese letzteren uns vielfache Aufschlüsse geben, über die Grösse des inneren Blickfeldes, über die Zuver- lässigkeit der Auffassung, die Neigung zu willkürlicher Er-

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IV. Die Erkennung des Irreseins.

gänzung und zu kritischer Sichtung der Wahrnehmungen, über die Rolle der Gesichtsbilder und der Bewegungsempfindungen in den Sprachvorstellungen. luch die Verhältnisse der Übung und Ermüdung auf dem Gebiete der Wahrnehmung können nach dem angegebenen Verfahren festgestellt werden.

Einen ähnlichen Weg hat Ranschburg*) eingeschlagen, der strahlenförmig mit Reizen verschiedener Art bedruckte Scheiben in bestimmbarem Zeitmasse hinter einer mit Aus- schnitt versehenen Platte sich drehen liess; die ruckende Be- wegung konnte durch die Schläge eines Metronoms geregelt und abgeändert werden; ein elektrischer Strom gestattete, da.-? Merk nach Belieben in Gang zu setzen und anzuhalten. Die ganze Einrichtung eignet sich vortrefflich zur Ausführung von Auf- fassungs- und Einprägungsversuchen, bei denen Umfang und Zuverlässigkeit dieser Leistungen festgestellt werden kann. Auch Zeitmessungen lassen sich leicht mit diesen Prüfungen verbinden.

Zu Zwecken der Untersuchung am Krankenbette haben wir in den letzten Jahren eine Platte mit veränderlichem Spalte be- nutzt, die mit Hilfe einer Feder vor den Gesichtsreizen (Zahlen, Buchstabengruppen, Silben, Wörter, Bilder) vorbeigeschnellt wurde. Die Anzahl der erkannten Reize gibt ein Mass für die Auffassungsfähigkeit; die Fehler sind in ähnlicher M eise zu ver- werten wie bei den früher angeführten Verfahren. Noch ein- facher sind die von Bonhöffer bei Deliranten benutzten Hilfsmittel, die sich an die gewöhnliche neurologische Unter- suchung anlehnen, Prüfung der Berührungs- und Schmerzempfind- lichkeit mit Hilfe von Nadeln, des Gehörs durch Flüsterstimme, des Gesichts durch Schriftproben und Perimeter, der Farbenwahr- nehmung durch Wollproben und gefärbte Quadrate, des Orts- sinnes der Haut mit dem Zirkel. Das Vorlegen von einfachen und verwickelteren Bildern gewährt Einblick in die weitere geistige Verarbeitung der Wahrnehmungen und deckt unter Um- ständen auch das Vorkommen von illusionären orgängen auf. Bei schweren Auffassungsstörungen kann das Erkennen der Zahl rasch vorgehaltener Finger, die Zählung schnell aufeinander

*) Monatsschrift für Psychiatrie, X, 321, 1901.

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folgender Klopfgeräusche als Aufgabe für den Kranken gewählt werden.

Ein anderer Weg zur Untersuchung des Wahrnehmungsvor- ganges ist uns in den sogenannten psychischen Zeitmes- sungen gegeben. Das Verfahren bei solchen Messungen, für die das Hipp sehe Chronoskop ein unvergleichlich bequemes und zuverlässiges Hilfsmittel darstellt, ist nach den verschie- densten Richtungen hin auf das sorgfältigste durchgearbeitet, so dass sie in der Hand des Erfahrenen eine sehr wertvolle Bereicherung unseres wissenschaftlichen Rüstzeuges bilden. Leider sind allerdings viele der bisher veröffentlichten Ver- suche an Geisteskranken wegen mangelhafter Anordnung voll- kommen wertlos. Dagegen haben mir zahllose bei uns ausgeführte Messungen gezeigt, dass sich auch bei Geisteskranken ohne nennenswerte Schwierigkeit auf diesem Wege wichtige Ergebnisse erzielen lassen. Man kann so z. B. die Auffassungszeit für zu- gerufene oder gelesene Worte und Buchstaben bestimmen. Auch bei diesem Verfahren stellt sich ausser der Verlängerung oder Verkürzung der Zeiten das Auftreten von Wahrnehmungs- verfälschungen heraus, die geeignet sind, ein besonderes Licht auf den Ablauf des gemessenen Vorganges zu werfen.

Bei allen Auffassungsversuchen wird das Ergebnis sehr wesentlich durch das V erhalten der Aufmerksamkeit be- einflusst. Die Schwankungen der gewonnenen Werte geben daher auch ein gewisses Mass für die grössere oder geringere Gleichmässigkeit der Aufmerksamkeitsspannung. Genauer lassen sich dieselben bei fortlaufender geistiger Arbeit (Addieren) mit Hilfe einer kleinen Schreibfeder verfolgen, die beim Unter- streichen jeder addierten Zahl einen elektrischen Strom schliesst und auf diese Weise die Dauer jeder einzelnen Rech- nung aufzuzeichnen gestattet. Wir erhalten so ein genaues Bild von den Schwankungen in der Rechengeschwindigkeit, na- mentlich auch, wie sich herausgestellt hat, von dem Einflüsse, den das Eingreifen des Willens auf die Lösung der Aufgabe ausübt. Für gröbere Prüfungen hat sich ebenfalls das fort- laufende Addieren oder Subtrahieren derselben Zahl zweck- mässig erwiesen. Lässt man z. B. von 100 fortlaufend 7 ab- ziehen, so gewähren die Schwankungen in der Geschwindigkeit

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IV. Die Erkennung des Irreseins.

und besonders die Entgleisungen ein gutes Bild von der Stetig- keit der Aufmerksamkeitsspannung. Durch willkürlich hinein- getragene Störungen kann man zugleich ein Urteil über die äussere Ablenkbarkeit gewinnen.

Die Untersuchung des Gedächtnisses hat sich einmal auf die Festigkeit zu erstrecken, mit welcher früher erworbene Vorstellungen in unserem Innern haften, dann aber auf die Fähigkeit, jetzt noch neue Vorstellungen aufzunehmen und auf- zubewahren. Auf Störungen in der ersteren Richtung pflegen wir gewöhnlich zu fahnden durch die Frage nach gewissen, als selbstverständlich vorausgesetzten Kenntnissen, seien es persön- liche Erlebnisse, seien es anderweitig erlernte Vorstellungs- reihen, namentlich die Rechnungsarten. Man kann hier durch reihenartig fortlaufende, planmässige Rechenversuche ein Mass für die Leichtigkeit gewinnen, mit welcher der Kranke noch über die in der Kindheit erlernten einfachen Zahlenverbindungen verfügt. Ich bediene mich seit vielen Jahren zu diesem Zwecke des fortlaufenden Addierens einstelliger Zahlen in besonders dazu gedruckten Heften. In regelmässigen kürzeren Pausen wird auf ein Glockenzeichen durch einen Strich das bis dahin Gearbeitete abgegrenzt, so dass die Grösse der Leistung in den einzelnen Zeitabschnitten unmittelbar aus der Menge der addierten Zahlen erkannt werden kann. Am Krankenbette wird man kür- zere derartige Reihen, z. B. das fortlaufende Addieren oder Sub- trahieren von 3, 7, 12, ausführen lassen und die Zeiten mit einer Sportuhr messen können.

Auf ganz ähnliche Weise lässt sich die augenblickliche Auf- nahmefähigkeit des Gedächtnisses, die „Merkfähigkeit“, durch Auswendiglernen langer Zahlen- oder sinnloser Silben- reihen ohne erhebliche Schwierigkeit prüfen. Dabei ergibt sich, dass verschiedene Personen die zu lernenden Reihen mit per- sönlich bestimmter, aber sehr verschiedener Geschwindigkeit auf sagen. Wahrscheinlich handelt es sich hier um Abweichungen in der Art des Lernens. Berücksichtigt man, dass sich beim Lernen einer Zahlenreihe die Auffassung des Sinneseindruckes mit dem Aussprechen der Bezeichnungen verbindet, so liegt die noch durch allerlei andere Beobachtungen gestützte Annahme nahe, dass sich bei langsamem Hersagen die Aufmerksamkeit

Zustandsuntersuchung.

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vorzugsweise auf die sinnlichen und associativen, bei schnellem Hersagen dagegen besonders auf die motorischen Bestandteile der Gesamtvorstellung richtet. Erstere werden bei langsamer Einprägung, letztere bei häufiger Wiederholung besser in unserem Gedächtnisse befestigt. Die Geschwindigkeit des Her- sagens gestattet demnach einen Schluss auf die gewohnheits- mässige Bevorzugung dieser oder jener Seite unserer Vorstel- lungen, zunächst bei der vorliegenden Arbeitsleistung. Es ist indessen nicht . unwahrscheinlich, dass diesen Verschiedenheiten eine weit über das einzelne Gebiet hinausreichende Bedeutung zukommt.

Versuche über die Merkfähigkeit lassen sich überall in be- quemer Weise mit solchen über die Auffassungsfähigkeit ver- knüpfen, indem man zwischen Darbietung des Reizes und Wieder- gabe desselben beliebig lange Zwischenzeiten einschiebt. Wählt man diese Zeiten recht kurz und wechselt man mit ihnen in vielen Abstufungen, so ist es möglich, die Entwicklung des Wahrnehmungs vor ganges bis zu voller Ausdehnung, dann aber auch das Verblassen der Bilder und das Auftreten von behler- vorgängen in allen Einzelheiten zu verfolgen. Wir bedienen uns für solche Zwecke der bereits erwähnten Spaltplatte, mittelst deren man die verschiedenartigsten Gesichtseindrücke für kurze Zeit sichtbar machen kann. Auch der Ranschburg sehe Apparat und jedes beliebige andere „Tachistoskop“ lässt sich in gleicher Weise verwerten.

Einfachere und daher für die Untersuchung Geisteskranker brauchbarere Verfahren zur Prüfung der Merkfähigkeit sind von anderen Forschern, so von Bonhöffer, in Anwendung ge- zogen worden. Den Kranken wurde die Aufgabe gestellt, mehr- stellige vorgesagte Zahlen, Silbenzusammenstellungen, unbe- kannte Wörter nach einer gewissen Zeit mündlich oder schrift- lich zu wiederholen, aus einer Anzahl vorgelegter Bilder ein bestimmtes wiederzuerkennen. Ranschburg *) hat nach ähn- lichen Grundsätzen einen umfangreichen Versuchsplan zusammen- gestellt und an Gesunden, Neurasthenischen und Paralytikern durchgeführt. Bei demselben muss von Wortpaaren, die duich

*) Monatsschrift für Psychiatrie, IX, 241, 1901.

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IV. Die Erkennung des Irreseins.

den Sinn oder durch den Klang in Verbindung stehen oder ganz ohne Beziehungen aneinander geknüpft sind, auf Nennung des Stichwortes das zweite wiedergegeben werden. Ferner hat die Versuchsperson aus einer Sammlung von Brustbildern diejenigen herauszusuchen, die ihr vorher gezeigt wurden; sie hat sich dann auch Namen zu merken, die damit verknüpft werden. Unter verschiedenen Farbentönen sind früher eingeprägte auszulesen; aus einer grossen Zahl willkürlich angeordneter Quadrate sind einzelne zu merken und später wieder aufzufinden; endlich wer- den Zahlenangaben aus dem Bereiche des täglichen Lebens vor- gesprochen und abgefragt. Leider haftet derartigen V ersuchs- plänen, die sich in der mannigfaltigsten Weise anordnen lassen, immer der grosse Übelstand an, dass die Zahl der gleichartigen Versuche sehr klein und daher zufälligen Störungen in erheb- lichem Grade ausgesetzt ist, dass aber eine Zusammenrechnung der verschiedenen Versuchsformen, wie sie Ranschburg vor- genommen hat, kaum zulässig erscheint. Dennoch tritt übrigens in seinen Zahlen die Abnahme der Merkfähigkeit, namentlich für Wortverbindungen, bei Neurasthenischen deutlich hervor, ebenso die schwere Beeinträchtigung des Umfanges wie der Sicherheit der Einprägung bei seinen Paralytikern, besonders auf dem Ge- biete des Wort- und Namengedächtnisses wie der räumlichen Orientierung.

Die Prüfung der Vorstellungsverbindungen *) lässt sich nach sehr verschiedenen Richtungen hin ausdehnen. Zu- nächst wird es möglich sein, die Geschwindigkeit zu messen, mit welcher sich die einzelnen Glieder aneinander knüpfen. Ein sehr annäherndes Urteil über diesen Punkt Hesse sich allenfalls schon aus den oben erwähnten Rechenversuchen gewinnen. Genauere Aufschlüsse aber, auch über die grossen A erschiedenheiten je nach der Art der Verbindung, liefert uns die Messung mit Hilfe des Chronoskopes. Eigenartige Ergebnisse erhält man ferner, wie mir umfangreiche Versuchsreihen gezeigt haben, bei der Untersuchung der Associationszeiten unter planmässiger Wie-

*) Aschaffenburg, Psychologische Arbeiten, I, 209; II, 1; IV, 235; Van Erp Taalman Kip, Psychiatr. en neurolog. Bladen, 1899, 634 ; 1903, 1.

Zustandauntersuchung.

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derholung derselben Versuche mit denselben Reizworten. Na- mentlich der Einfluss der Übung auf die Schnelligkeit und Festig- keit der Vorstellungsverbindungen lässt sich dabei sehr gut ver- folgen. Allein auch ohne Zeitmessungen sind Associationsver- suche nicht nur von mannigfachem Interesse, sondern auch un- gemein leicht ausführbar. Indem man einfach irgend ein Wort ausspricht und die erste daraufhin im Kranken auftauchende Vor- stellung niederschreibt, kann man in kurzer Zeit die Unterlagen für eine Statistik der Associationen sammeln, die Aufschlüsse liefert über das gewohnheitsmässige Verhältnis der inneren zu den äusseren Vorstellungsverbindungen, die Häufigkeit der ein- gelernten, der Klangassociationen und der „Fehlassociationen , die in gar keiner Beziehung zu der A_rt des Reizwoites mehi stehen. Auch auf diese Weise lassen sich Werte für die Festig- keit der einzelnen Associationsgruppen gewinnen. Als Mass für dieselbe habe ich das Verhältnis der bei einer Wiederholung neu auftretenden Associationen zur Gesamtzahl der Versuche benutzt.

Weiterhin kann man der Versuchsperson die Aufgabe stellen, eine bestimmte Zeitlang die in ihr auftauchenden Vorstellungen mit oder ohne Anknüpfung an ein gegebenes Ausgangswort nie- derzuschreiben. Hier erhält man einen Durchschnittswert für die Geschwindigkeit der Vorstellungsbildung, die regelmässig ge- ringer ist, als diejenige des Schreibens. Dann aber lässt sich auf diese Weise ein Urteil über die Neigung zu einzelnen Arten der Vorstellungsverbindungen gewinnen, namentlich zu den psychiatrisch so wichtigen sinnlosen und Klangassociationen. Endlich aber ergibt sich bei diesem Verfahren ein Urteil über die Einheitlichkeit oder Zerfahrenheit des Gedankenganges, über die Reichhaltigkeit des Vorstellungsschatzes, die Neigung zu sprunghaftem Abbrechen, zu zähem Festhalten oder zu bestän- digem Wiederholen.

Beschränkt man der Versuchsperson die Auswahl der nie- derzuschreibenden Worte auf bestimmte Gruppen, etwa solche Gegenstände, die durch das Auge, durch das Ohr wahrnehmbar sind, die Lust oder Unlust erregen, allgemeine Begriffe u. s. f., so ist man imstande, aus den Leistungen einer gegebenen Zeit Schlüsse auf die grössere oder geringere Bereitschaft aller der

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IV. Die Erkennung des Irreseins.

genannten Vorstellungsgruppen und damit auf die Gestaltung des Vorstellungsschatzes überhaupt zu ziehen. Wie mir Ver- suche gezeigt haben, lassen sich diese Ergebnisse nach verschie- denen Richtungen hin verwerten. Schwierigere associative Leistungen, die Bildung von Urteilen und Schlüssen, kann man in ganz ähnlicher Weise untersuchen, hinsichtlich ihrer Richtigkeit, ihrer Schnelligkeit, ihrer Festigkeit.

Zur Untersuchung der Auslösung von Willensantrie- ben steht uns zunächst die Messung der Wahlzeiten zu Gebote. Wenn man die Aufgabe stellt, dass auf einen Reiz durch eine Bewegung mit der rechten Hand geantwortet werden soll, auf einen andern dagegen mit der linken, so enthält dieser \ or- gang ausser der Unterscheidung zwischen den beiden Reizen noch denjenigen der Wahl zwischen zwei Bewegungen. Wie die Er- fahrung gelehrt hat, besitzen wir in diesen „Wahlreaktionen“ ein sehr wertvolles Mittel zum Nachweise solcher Erregungs- zustände im Gehirn, welche mit einer Erleichterung der Aus- lösung von Willensbewegungen einhergehen. In diesem Falle nämlich erfolgt sehr leicht die verlangte Bewegung, bevor der Reiz noch recht aufgefasst, bisweilen sogar, bevor er über- haupt erzeugt wurde. Dabei wird die ausgelöste Bewegung na- türlich vielfach unrichtig ausf allen: es kommt zur Entstehung von „Fehlreaktionen“, deren Zahl ein gutes Mass für den Grad der Bewegungserleichterung abgibt. Weitere Aufschlüsse über den gleichen Punkt erhalten wir durch Prüfung der Lese-, Schreibe- oder Sprechgeschwindigkeit, die man nach einem ähn- lichen Verfahren feststellen kann wie die Schnelligkeit des Rechnens, durch Lösung fortlaufender, sich reihenweise aneinan- der schliessender, gleichartiger Aufgaben.

Für die Untersuchung der Schrift habe ich seit längerer Zeit auch die genauere Messung des Schreibweges und der Geschwin- digkeit einzelner Schriftzüge sowie des in jedem Augenblicke auf die Unterlage ausgeübten Druckes mit Hilfe einer dafür ge- bauten „Schriftwage“ herangezogen. Dabei ergeben sich sehr deutlich die Zeichen der psychomotorischen Erregung und Hem- mung sowie der Willenssperrung. Die ausserordentliche Feinheit und Vielseitigkeit dieser Prüfung rechtfertigt die Erwartung, dass sie uns allmählich einen klaren Einblick in die Beeinflussung

Zustandsuntersuchung.

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der Schrift durch Gemütsbewegungen und Willensantriebe er- möglichen wird. Leider macht aber die Empfindlichkeit des Verfahrens die Messung der einzelnen Grössen sehr mühsam und zeitraubend.

Eine vielseitige Verwendung zur Untersuchung von Willensv .Störungen gestattet ohne Zweifel der von Mosso angegebene Ergograph, der allerdings gewisser Verbesserungen bedarf, um für unsere Zwecke verwertbar zu sein. Zunächst gibt der Ergograph Aufschluss über die Kraft, mit der eine Bewegung .ausgeführt wird, sodann über das raschere oder langsamere Ver- sagen des Kraftaufwandes, das durch Ermüdung, Hemmung oder Willenssperrung herbeigeführt werden kann. Versuche in lang- samem Zeitmasse oder die Wiederholung der Ermüdungskurven nach verschieden langen Pausen geben uns ein Bild von der Er- holungsfähigkeit des Willenswerkzeuges. Dabei scheint die Höhe der einzelnen Ziehungen wesentlich von der Leistungsfähigkeit des Muskels selbst, die Zahl der Hebungen in der Ermüdungs- kurve dagegen mehr von dem Zustande des Nervengewebes ab- hängig zu sein. Dafür spricht wenigstens unter anderem die Steigerung der Hubhöhen unter dem Einflüsse des Coffeins, die Vermehrung der Ziehungen durch Alkohol und körperliche Arbeit. Endlich lässt sich durch die Zergliederung des Anstiegs und Ab- falles der einzelnen Ziehung noch die Geschwindigkeit messen, mit der die Verkürzung und Erschlaffung des Muskels unter dem Einflüsse des Willensantriebes erfolgt.

Schwerere Störungen in der Auslösung von Willensantrieben lassen sich schon in der Verlangsamung einfacher Bewegungen, ■des Handgebens, Armhebens, mit der Uhr messen; auch das Aus- sprechen geläufiger Reihen, der Zahlen oder des Alphabets, ist für diesen Zweck geeignet.

Der Zerlegung von Bewegungen in die drei Richtungen des Raumes hat Sommer besonders seine Aufmerksamkeit gewid- met. Er hat Hilfsmittel hergestellt, die es gestatten, die Be- wegungen des Armes wie des Beines in ihre Richtungsbestandteile .aufzulösen. Besonders wertvoll hat sich dieses Verfahren bis- her erwiesen für die Darstellung schneller unwillkürlicher Be- wegungen, namentlich des Zitterns und Zuckens. Die verschie- denen Formen des Zitterns können nach Richtung und Geschwin-

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IV. Die Erkennung des Irreseins.

digkeit genau verfolgt werden; die leichten Änderungen in der Muskelspannung, die den Ablauf von Seelenvorgängen und ins- besondere das Auftreten von Gemütsbewegungen begleiten, lassen sich ohne Schwierigkeit darstellen. Auch für die Unterscheidung gewisser funktioneller Bewegungsstörungen von solchen, die aul- gröberen Erkrankungen des Nervengewebes beruhen, verspricht das So mm er sehe Verfahren brauchbare Anhaltspunkte zu

liefern.

Auch mit der Wiedergabe und Zerlegung von Ausdrucks- bewegungen hat sich Sommer vielfach beschäftigt. Zur ge- naueren Erforschung des Gesichtsausdruckes hat er das stereo- skopische Bild, neuerdings auch die Aufzeichnung der mimischen Muskelbewegungen herangezogen. Für die Darstellung und Zer- gliederung der Haltung und der gesamten Körperbewegungen mag sich neben der Stereoskopie wohl auch die Kinematographie verwenden lassen, die jedoch, wie ich mich überzeugt habe, für unsere wissenschaftlichen Zwecke noch verschiedener Vervoll- kommnungen bedarf. Dasselbe gilt wohl von dem Phonographen, der allerdings von Sommer nicht nur zur Festhaltung kenn- zeichnender Äusserungen, sondern auch zur genaueren Er- forschung sprachlicher Eigentümlichkeiten und Störungen be- nutzt worden ist.

Aussichtsreich sind endlich noch die Untersuchungen, die Sommer im Anschlüsse an Rieger über den Ablauf des Knie- sehnenref lexes angestellt hat. Die Aufzeichnung der Bewe- gungen, die der ins Gleichgewicht gebrachte Unterschenkel aus- führt, ergibt eine überraschende Mannigfaltigkeit von V erlaufs- arten, von denen manche offenbar einen tieferen Zusammenhang mit bestimmten Krankheitszuständen darbieten. Dahin scheint besonders die Steigerung und das Nachlassen der dauernden Spannung, ferner die Vermehrung der Ausschläge bis zum fort- gesetzten Pendeln zu gehören, die Hornung beim einfachen Herabfallen des Unterschenkels auch durch Alkoholwirkung künstlich erzeugen konnte.

Wir haben in dieser Aufzählung die Gemütsbewegungen ganz beiseite gelassen. In der Tat vermögen wir bisher kaum, diese Seite unseres Seelenlebens irgendwie der Messung zugäng- lich zu machen. Allerdings sind wir imstande, künstlich Stirn-

Zustandsuntersuchung.

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rnungen zu erzeugen. Wir können Unlustregungen durch kör- perliche Schmerzen und widrige Eindrücke aller Art, ebenso Lust- gefühle, Heiterkeit, Schreck, Spannung, Zorn auf verschiedene Weise herbeiführen. Besonders leicht gelingt das in der Hyp- nose durch Eingebungen. Diese Wege sind vielfach, namentlich von Lehmann, betreten worden, um die Beeinflussung der Atmung, der Pulswelle und der Blutfüllung durch Gemüts- schwankungen zu erforschen. Derartige Versuche haben be- reits zu einer Reihe von wichtigen Feststellungen geführt, die nunmehr eine Übertragung des Verfahrens auf krankhafte Ge- mütszustände nicht mehr aussichtslos erscheinen lassen. Auch die übrigen Hilfsmittel, die uns ein feineres Verständnis der Willensäusserungen ermöglichen, der Ergograph, der Som- m ersehe Zitterapparat, sein „Reflexmultiplikator“, die Schrift- wage, wären verwendbar, um wenigstens die äusseren Zeichen gemütlicher Erregungen aufzuzeichnen und zu messen. Inner- halb gewisser Grenzen würden wir dadurch auch wohl Auf- schluss über die Stärke und Art der inneren Erschütterungen erhalten.

Weiterhin aber kann darauf hingewiesen werden, dass ge- wisse Gifte ausgeprägte Stimmungen erzeugen, die vielleicht mit deren messbaren Wirkungen auf das Seelenleben in irgend einer Beziehung stehen. So haben wir früher gesehen, dass bei der Alkoholwirkung etwa die Erleichterung der Bewegungsauslösung, beim Morphium die Anregung der Einbildungskraft die Grundlage der Stimmungsänderung bilden könnte, während die vom Thee er- zeugte Behaglichkeit mit der Erleichterung der Verstandestätig- keit bei gleichzeitiger motorischer Beruhigung, die stille Be- friedigung des Rauchers mit der leicht lähmenden und beruhigen- den Wirkung des Tabaks Zusammenhängen dürfte. Auch hier wäre überall eine Ausdehnung der Untersuchungen auf diejenigen Ge- biete wünschenswert, auf denen erfahrungsgemäss die Gemüts- bewegungen ihren Ausdruck finden. Kennten wir die Wirkungen der Gifte nach allen diesen Richtungen hin genauer, so wäre mög- licherweise daran zu denken, aus den Veränderungen, die ein Gift im einzelnen Falle herbeiführt, Schlüsse auf die besondere Art des bestehenden Gemütszustandes abzuleiten. Die ganz ver- schiedene Wirkung, die z. B. Alkohol und Brom auf die Ver-

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IV. Die Erkennung des Irreseins.

■Stimmung des Epileptikers ausüben, berechtigt uns dazu. Der Unterschied zwischen der Erregung des Manischen und des Epilep- tikers wird durch die gänzlich abweichende Beeinflussung Beider durch Brom in helles Licht gesetzt. Tatsächlich ist das Hilfs- mittel der Giftwirkung zur genaueren Zergliederung gegebener Seelenzustände bereits mit gutem Erfolge von uns in Anwendung gezogen werden. -

Wir kommen nunmehr noch zu einer letzten, aber gewiss nicht der unwichtigsten Seite der psychischen Untersuchung, zur Feststellung der psychischen Grundeigenschaften. Mit Hilfe der fortlaufenden Lösung gleichartiger Aufgaben sind wir nämlich imstande, die Änderungen unserer geistigen Lei- stungsfähigkeit auf verschiedenen Gebieten dauernd zu verfolgen. Aus den Schwankungen der Arbeitsfähigkeit können wir abei ein Mass gewinnen für die früher besprochenen Giundeigen- schaften der geistigen Persönlichkeit. Genauere derartige Mes- sungen erfordern allerdings umfangreiche Versuchsreihen und ganz besondere, dem jeweiligen Zwecke angepasste Anord- nungen.*) Immerhin wird sich die Übungsfähigkeit durch die Zunahme der Leistungsfähigkeit unter dem Einflüsse der Arbeit messen lassen. Man wird etwa die Anfangsleistung zweier, in gewisser Zwischenzeit aufeinanderfolgender V ersuche vergleichen. Allerdings kann dabei der inzwischen erfolgte Übungsverlust nicht mit berücksichtigt werden, obgleich er wahrscheinlich für ver- schiedene Personen nicht gleich gross ist. Die Übungsfestigkeit lässt sich aus der Erhöhung der Arbeitsleistung erkennen, die nach längerer Zwischenzeit von der früher festgestellten t bungswirkung noch übrig geblieben ist. Die Anregbarkeit kann gemessen weiden durch die Abnahme der Leistungsfähigkeit, die durch kürzere Arbeitspausen gegenüber dem ununterbrochenen Fortarbeiten herbeigeführt wird. Als annäherndes Mass der Ermüdbarkeit darf die Abnahme der Leistungsfähigkeit nach bestimmter, längerer Arbeitszeit gelten. Über die Erholungsfähigkeit gewinnt man ein Urteil aus dem Stande der Leistungsfähigkeit nach einer Pause im Anschlüsse an ermüdende Arbeit. Zur Bestimmung der .Schlaftiefe stellen wir für jeden Abschnitt der Nacht die Stärke

*) Kraepelin, Archiv f. die gesamte Psychologie, I. 9. 1903.

Beobachtung.

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der Reize fest, die gerade genügt, um den Schläfer zu erwecken. Die Ablenkbarkeit messen wir aus der Herabsetzung der Lei- stungsfähigkeit unter der erstmaligen Einwirkung bestimmter Störungen, während die Gewöhnungsfähigkeit aus der Änderung der Leistungsfähigkeit während längerer Einwirkung jener Stö- rungen erkannt wird.

Mit diesen kurzen Andeutungen muss ich mich an dieser Stelle begnügen. Eine ausführlichere Darlegung und Begründung der hier erwähnten Messungen psychischer Grössen findet sich in den angeführten Arbeiten. Umfassende Einzeluntersuchungen haben den Beweis erbracht, dass die Mehrzahl dieser Bestim- mungen schon mit den heute zur Verfügung stehenden Hilfs- mitteln, und dass sie in grösserem oder geringerem Umfange auch an so manchen Geisteskranken ausführbar sind. Wenn es zur Zeit auch nur unbedeutende Anfänge sind, die hier vorliegen, so liefern sie doch immerhin den Beweis, dass es möglich jst, selbst auf unserem Forschungsgebiete für genauere natur- wissenschaftliche Beobachtungsverfahren allmählich Boden zu gewinnen.

Beobachtung. Es ist leicht verständlich, dass in einigermassen schwierigen Fällen die einfache Untersuchung eines Kranken niemals ausreicht, sondern zur grösseren Sicherheit immer eine mehr oder weniger lang bemessene Beobachtungszeit gefordert werden muss. Die Befangenheit bei der ungewöhnlichen Prüfung, der Eindruck der Versetzung in neue Verhältnisse kann das Bild für einige Zeit völlig verändern, ganz abgesehen von jenen Krank- heitsformen, die ihrer .Natur nach mit freieren Zwischenzeiten verlaufen oder nur anfallsweise hervortreten. Als Ort für die Beobachtung dient am besten die Irrenanstalt, weil nur in ihr eine dauernde, sachverständige Überwachung gesichert erscheint. Sehr häufig fördern hier die ersten Tage der Einbürgerung, die man ohne besonderen Eingriff verstreichen lässt, gar keine auffallen- den Beobachtungen zu Tage; erst nach und nach treten die krank- haften Erscheinungen, falls solche überhaupt vorhanden, deut- licher hervor. Alle jene einzelnen Züge des psychischen Bildes, die bei der einmaligen Untersuchung nur angedeutet waren, prägen sich nun bei längerer Beobachtung deutlicher aus: 4as Wesentliche sondert sich vom Unwesentlichen und Zufälligen.

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Kraepelin, Psychiatrie I. 7. Aufl.

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IV. Die Erkennung des Irreseins.

Der ausserordentliche Unterschied zwischen einmaliger und wie- derholter Prüfung eines Geisteskranken wird ganz besonders deutlich, wenn man sich daran gewöhnt, in jedem Falle schon bei der ersten Untersuchung eine bestimmte Diagnose zu stellen. Man begreift dann oft nach wenigen Tagen die Schwierigk eiten nicht mehr, die man anfänglich mit der Beurteilung gehabt hat. Dazu kommt, dass sich der Beobachtete Seinesgleichen gegen- über und bei längerer Bekanntschaft mit dem Arzte unbefangene? gibt, sich mehr gehen lässt und achtlos Eigentümlichkeiten, Ge- danken, Gefühle verrät, mit denen er bei der einmaligen Unter- suchung zurückhielt. Von besonderer Bedeutung in dieser Be- ziehung pflegen Briefe und andere Schriftstücke zu sein, die oft mit einem Schlage ein kaum erwartetes Licht über den Zustand ihres Verfassers ausbreiten.

Weiterhin aber ist man nun in den Stand gesetzt, sein Handeln kennen zu lernen, freilich nur in dem engen Rahmen der Anstaltsverhältnisse, der aber für den Untersuchten doch noch Gelegenheit genug zu krankhaften Willensäusserungen darbietet. Lebhaftigkeit oder Gleichgültigkeit, Zerstreutheit oder Versunkenheit, Leistungsfähigkeit oder Schwäche, Selbstüber- schätzung oder Kleinmut, Reizbarkeit oder Stumpfheit, Tatkraft oder Unentschlossenheit, Bestimmbarkeit oder Unlenksamkeit, Arbeitslust oder Trägheit alle diese Eigenschaften und viele andere werden sich in den täglich beobachteten kleinen Zügen nach und nach auf das unverkennbarste herausstellen müssen. Endlich ist es nur auf dem Wege fortgesetzter Beobachtung mög- lich, den fortschreitenden oder gleichbleibenden ^ erlauf des ver- mutlichen Leidens, das Vorkommen von Besserungen, Verschlim- merungen, „Anfällen“ aller Art, das Verhalten des Schlafes, der Esslust, der Verdauung und vor allem des Körpergewichtes in gesicherter Weise festzustellen. Soweit daher im einzelnen Falle überhaupt eine Aufklärung über das körperliche und psychische Verhalten möglich ist, wird sie durch die mannigfachen Er- fahrungsquellen, welche die klinische Beobachtung gewährt, in der Regel erreicht werden können.

Leichenbefund.*) Wenn wir in der übrigen Medizin gewöhnt

*) Juliusburger und Meyer, Monatsschr. f. Psych., III, 316; A 1 z- heimer, Monatsschr. f. Psych., II, 82; Allgem. Zeitschr. f. Psych., LA II, 597,

Leichenbefund.

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sind, als letzte Bestätigung unserer Krankheitsauffassung den Leichenbefund anzusehen, so können wir in der Psychiatrie der Untersuchung nach dem Tode bis jetzt nur einen sehr beschränkten Wert zugestehen. Wo das Vorhandensein einer Geistesstörung bei ausreichender Beobachtung nicht aus den Erscheinungen am Lebenden sicher gestellt werden konnte, vermag die Hirnunter- suchung heute ganz gewiss keine Entscheidung herbeizuführen. Der Grund dafür liegt indessen nicht darin, dass etwa das Irresein zumeist gar nicht auf körperlichen Veränderungen beruht. Viel- mehr stellt sich mehr und mehr heraus, dass auch kürzer dauernde und wenig beachtete Störungen, wie die Bewusstseinstrübungen des Todeskampfes, fast immer mit erkennbaren Veränderungen in den Hirnrindenzellen einhergehen. Es ist aus diesem Grunde ungemein schwer, menschliche Hirnrinden mit durchaus gesun- den Zellen zu bekommen. Gerade diese Empfindlichkeit der Rin- denbestandteile ist es, die uns die Deutung der Bilder bei Geistes- kranken so schwierig macht; es lässt sich im einzelnen Falle zunächst oft kaum entscheiden, ob die aufgefundenen (akuten Veränderungen die Grundlage des Irreseins gebildet haben oder erst durch die tötliche Erkrankung erzeugt wurden.

Aber auch dort, wo aus diesen oder jenen Gründen die innere Zugehörigkeit der aufgefundenen Zellveränderungen zu dem psychischen Krankheitsvorgange sichergestellt ist, ver- mögen wir aus ihnen allein doch keine Schlüsse über die Eigenart jenes Vorganges abzuleiten. Schon bei der Erfor- schung der Giftwirkungen auf die Nervenzellen kam Nissl zu dem Ergebnisse, dass zwar die subakute maximale Ver- giftung bei einer Reihe von Giften an gewissen Rinden- zellen ganz bestimmte Veränderungen hervorbringe, dass sich aber die Besonderheit dieser Wirkungen bei den für die Psy- chiatrie namentlich in Betracht kommenden chronischen Ver- giftungen vollkommen verwische. Wenn das für die scharf ge- kennzeichneten und noch dazu dem Versuche zugänglichen Hirn- störungen durch Gifte zutrifft, so wird man von vornherein die

Nissl, Archiv f. Psych., XXXII, 656; Heilbronner, Erlebnisse der all- gemeinen Pathologie und pathol. Anatomie, VI, Suppl. 555; Robertson, a text-book of pathology in relation to mental diseases, 1900; Meyer, Die pathologische Anatomie der Psychosen, Orth Festschrift. 1902.

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IV. Die Erkennung des Irreseins.

Aussicht für sehr gering halten müssen, bei der grossen Masse der Geisteskrankheiten mit ganz unbekannter Entstehungsweise eigenartige Zellveränderungen aufzufinden. N i s s 1 hat es daher auch unumwunden ausgesprochen, dass alle die von ihm beschrie- benen Formen der Zellerkrankung nichts weniger, als kennzeich- nend für bestimmte klinische Krankheitsbilder sind, ja nicht ein- mal das Bestehen einer geistigen Störung überhaupt anzeigen. Ebensowenig lassen sich feste Beziehungen zwischen Ausdehnung und Schwere der Zellerkrankungen und Ausprägung der klini- schen Krankheitserscheinungen nac-hweisen.

Allerdings leidet unsere Kenntnis dieser Verhältnisse noch an dem Übelstande, dass einerseits vielfach nur ganz bestimmte Zellformen, meist die grösseren, genauer untersucht zu werden pflegen, während über die Erkrankungen der übrigen, vielleicht für das Seelenleben weit wichtigeren Formen sehr viel weniger bekannt ist. Sodann aber ist es bei dem heutigen Stande unseres Wissens gar nicht möglich, ein irgend zuverlässiges Urt-eil über die Ausdehnung und örtliche Umgrenzung der Krankheitsvorgänge in der Rinde zu gewinnen. Bei der ausserordentlichen Mannig- faltigkeit der Organe, aus denen sich die Hirnrinde ohne Zweifel zusammensetzt, können einige Stichproben unmöglich genügen, um uns über die Verbreitung der Zellveränderungen Klarheit 'zu verschaffen. Es wäre daher an sich sehr wohl möglich, dass uns eine Berücksichtigung aller Zellgattungen und eine sorg- fältige Durchmusterung der gesamten Rinde zwar nicht in der Art der Zellerkrankungen, abey doch in ihrer Ausbreitung auf die einzelnen Zellarten und Rindenbezirke gewisse Besonderheiten der verschiedenen Krankheitsvorgänge aufdecken würde.

Auf der anderen Seite werden wir jedoch immer annehmen dürfen, dass es sich bei allen Geistesstörungen um weit ver- breitete Veränderungen handeln wird; wissen wir doch zur ge- nüge, dass recht umfangreiche Rindenzerstörungen vielfach ohne irgend erkennbare Beeinträchtigungen des Seelenlebens verlaufen können. Dem entspricht auch die Erfahrung, dass wir bei den- jenigen Formen des Irreseins, die bisher Zellveränderungen dar- geboten haben, diese letzteren in sehr grosser Ausdehnung an- treffen. Ob aber dieser Befund irgend eine Beziehung zu dem psychischen Krankheitsbilde hat, müssten wir auch dann dahin-

Leichenbefund.

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gestellt sein lassen, wenn er für jede klinische Form verschie- den wäre, da wir keine Ahnung davon haben, ob und wie die Rindenzellen im einzelnen an dem Ablaufe der seelischen Vor- gänge beteiligt sind. Gerade deswegen sind die Zellveränderungen für uns heute nichts, als ein einzelnes Glied in der Kette des gesamten Krankheitsvorganges, der sich jeweils in der Rinde ab- spielt.

Wenn daher auch diese Teilerscheinung nicht kennzeichnend für die besondere Art des Leidens ist, so wissen wir ja, dass wir auch aus einem einzelnen Krankheitszeichen niemals eine klinische Diagnose ableiten können. Wie aber der Gesamtzustand eines Kranken zumeist doch ein Urteil über die vorliegende klinische Form erlaubt, so dürfen wir auch hoffen, aus dem Gesamtbilde der Hirnrinde bestimmte Schlüsse über die Zugehörigkeit des Einzelfalles zu dieser oder jener Krank- heitsgruppe ziehen zu lernen. Diese Erwartung hat sich für eine Reihe von Erkrankungen bereits erfüllt. Berücksichtigen wir nicht nur die Zellen und Fasern, sondern auch die gliösen Gebilde und die Gefässe, so sind wir schon heute imstande, be- stimmte anatomische und klinische Erscheinungen miteinander in Beziehung zu bringen und aus dem Leichenbefunde Schlüsse auf das Krankheitsbild im Leben abzuleiten. Das gilt vor allem von der Paralyse, einigen Formen des Altersblödsinns, den Erkran- kungen mit Arteriosklerose oder luetischen Gefässerkrankungen, in geringerem Umfange aber auch von gewissen Gruppen der Idiotie, von der Dementia praecox und einer Reihe weiterer Er- krankungen. Nicht ganz selten hat uns dabei die anatomische Untersuchung gezeigt, dass anscheinend leicht verständliche Krank- heitsbilder bestimmt nicht der klinischen Gruppe angehörten, der sie zugeteilt worden waren. Auf der anderen Seite hat sich, namentlich bei den akut verlaufenden Geistesstörungen, oft genug die befriedigende Einordnung des Leichenbefundes in klar ge- kennzeichnete Krankheitsvorgänge einstweilen als unmöglich er- wiesen.

Ein wesentliches Hindernis für die Fortentwicklung unserer anatomischen Diagnostik ist zur Zeit ohne Zweifel noch die Un- sicherheit, die in der Gruppierung der klinischen Krankheits- bilder herrscht. Mag auch der Leichenbefund später einmal das

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IV. Die Erkennung des Irreseins.

sicherste Mittel sein, die Diagnose des Klinikers zu bestätigen oder zu berichtigen vor der Hand bedarf der Anatom noch dringend seiner Hilfe, um an der Hand eindeutiger klinischer Bilder das Wesentliche von dem Zufälligen und Nebensächlichen in seinen Befunden abtrennen zu lernen.

B. Grenzen des Irreseins.

Das Bedürfnis nach einer strengen Begriffsbestimmung der Geisteskrankheit, nach einer Abgrenzung dieser letzteren von der Breite des Gesunden, ist in der Geschichte der Psychiatrie der Ausgangspunkt zahlloser, angestrengter Bemühungen, scharfsin- niger Auseinandersetzungen und spitzfindiger Beweisführungen gewesen, bis endlich die unvermeidliche Erkenntnis sich immer mehr Bahn zu brechen begann, dass die Fragestellung von vorn- herein eine falsche war, dass es hier wirklich scharfe Grenzen und unfehlbare Kennzeichen der Natur der Sache gemäss ebenso- wenig geben kann wie bei der Unterscheidung von körperlicher Gesundheit und Krankheit. Die Anzeichen des Irreseins sind eben durchaus nicht gänzlich fremdartige und durch das Irresein neu erzeugte Erscheinungen, sondern sie haben ihre Wurzeln in ge- sunden Vorgängen und verdanken ihre Eigenartigkeit nur der einseitigen, masslosen Ausbildung oder dem Untergange dieser oder jener Verrichtungen sowie der besonderen Verbindung der verschiedenartigen Einzelstörungen.

Verhältnismässig leicht wird indessen die Erkennung einer Geistesstörung dann, wenn es gelingt, den Nachweis zu führen, dass die verdächtigen Erscheinungen nicht von jeher bestanden haben, sondern etwas Gewordenes sind. Zwar kommen auch wohl im gesunden Leben Wandlungen vor, die bis in das innerste Wesen der Persönlichkeit umgreifen, aber im allgemeinen legt dennoch die Beobachtung einer auffallenden Veränderung im Denken, Fühlen und Handeln eines Menschen den Gedanken an eine krank- hafte Natur derselben sehr nahe. Zur Gewissheit wird diese Ver- mutung, wenn die hervortretenden Erscheinungen sich wider- spruchslos in eines der bekannten klinischen Krankheitsbilder einord nen, und wenn vielleicht auch

Grenzen des Irreseins.

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Ursachen sich auffinden lassen, die erfahrungsgemäss jene Gruppe von Störungen häufiger zu erzeugen pflegen.

Es darf mit allem Nachdrucke betont werden, dass in solchen Fällen die genaue Erhebung der Vorgeschichte, sorgfältige Aus- nutzung aller Untersuchungshilfsmittel und eine gewisse Zeit fort- laufender Beobachtung bei wirklichem Sachverständ- nis regelmässig zum Ziele führen wird. Die Psychiatrie ist in der Erkennung von Krankheitsvorgängen, auch solchen sehr lang- samen Verlaufes, in keiner Weise hilfloser, als etwa die innere Medizin oder die Nervenheilkunde, die ja ebenfalls oft genug erst nach längerer Beobachtung ein sicheres Verständnis schwie- riger Krankheitsfälle erreichen. Nur die kühnste Unwissenheit kann sich daher zu der häufig wiederholten Behauptung ver- steigen, dass der Irrenarzt wegen der Unvollkommenheit der Psychiatrie vielfach Geistesgesunde als krank betrachte und. sie daher widerrechtlich ihrer Freiheit beraube. Allerdings sieht der Sachverständige auch hier überall tiefer, als dei meist von ganz abenteuerlichen Vorstellungen über das Irresein er- füllte Laie.

Die unerbittliche Forderung, uns niemals mit dem Nachweise einer Geistesstörung im allgemeinen zu begnügen, sondern unter allen Umständen zu einer bestimmten klinischen Diagnose zu gelangen, wird uns namentlich vor dem ver- hängnisvollen Fehler bewahren, einzelne Erscheinungen als ent- scheidend zu betrachten und darüber das Gesamtbild des vorlie- genden Falles ausser Acht zu lassen. Früher hat man z. B. viel darüber gestritten, ob Sinnestäuschungen auch bei geistiger Ge- sundheit Vorkommen könnten, und ob der Selbstmord unter allen Umständen als Krankheitserscheinung aufgefasst werden müsse; jetzt wissen wir, dass beides Ereignisse sind, die im einzelnen Falle nur durch den Zusammenhalt mit anderweitigen Beobach- tungstatsachen richtig gewürdigt werden können. Wenn z. B. Esquirol den Selbstmord einfach als eine besondere I orm des Irreseins beschrieb, so habe ich in Übereinstimmung mit den Er- fahrungen Anderer durch die Beobachtung geretteter Selbst- mörder feststellen können, dass nur etwa 30 Prozent derselben wirklich klinisch ausgeprägte geistige Störungen darboten..

Recht schwierig kann sich die Entscheidung über psychische

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IV. Die Erkennung des Irreseins.

Gesundheit oder Krankheit gestalten, wenn nicht über das Be- stehen eines krankhaften Vorganges, sondern über das Vorhanden- sein eines krankhaften Zustandes entschieden werden soll. Im ersten Falle war uns die Richtschnur der Beurteilung in dem Verhalten des Kranken selber vor der eingetretenen Veränderung gegeben; hier dagegen sind wir gänzlich auf die Abgrenzung nach den allgemeinen Begriffen angewiesen, die sich in der Wissenschaft als Gradmesser des Krankhaften niedergeschlagen haben. Dazu kommt, dass wir ein ausgedehntes Übergangsgebiet zu verzeichnen haben, auf dem es sich lediglich um die Ab- schätzung gradweiser Unterschiede handelt, so dass es vielfach dem Belieben und dem Standpunkte des Beobachters überlassen bleibt, wie weit oder wie eng er die Grenze der Geisteskrankheit stecken will. Dies ist der Grund, warum so häufig die Gutachten selbst wissenschaftlich hochstehender Sachverständiger bei der Beurteilung solcher Fälle vollständig auseinandergehen; die all- gemeinen Grundsätze versagen hier bisweilen durchaus und lassen einzig dem persönlichen Ermessen die Entscheidung zufallen.

Der Irrenarzt ist demnach hier etwa in derselben Lage wie der Kassenarzt bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit, nur mit dem Unterschiede, dass die Tragweite seines Ausspruches eine häufig viel grössere ist. Es erscheint daher ganz unvermeidlich, dass gelegentlich sein Urteil als Härte empfunden und von Kranken oder Angehörigen angefochten wird, zumal den ersteren immer, den letzteren häufig das Verständnis für die in Betracht kommenden Zustände völlig abgeht. An diesem Punkte liegt wohl die Hauptquelle für die namentlich in neuerer Zeit mit ebenso viel Unkenntnis wie Gehässigkeit betriebene Bewegung gegen die Tätigkeit der Irrenärzte.*) Natürlich würde niemand froher sein, als diese letzteren selbst, wenn man sie von der leidigen Verantwortlichkeit für die Beurteilung der Übergangsformen zwi- schen geistiger Gesundheit und Krankheit befreien wollte. Lei- der ist dazu wenig Aussicht, da sich schwerlich jemand finden dürfte, der ihnen diese undankbare Aufgabe dauernd abnimmt.

Das grosse, sicher noch viel zu wenig gekannte Gebiet kli-

*) Man vergleiche nur die durch ihre naive Unwissenheit und Unverfroren- heit geradezu erfrischenden Bücher des Herrn E. A. Schröder: Das Recht im Irrenwesen. 1890; Zur Reform des Irrenrechtes. 1891.

Grenzen des Irreseins.

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nischer Formen, mit dem wir es hier zu tun haben, ist haupt- sächlich dasjenige des angeborenen Schwachsinns. Die Erschei- nungen desselben treten uns in allen Richtungen des psychischen Lebens entgegen, und wir müssen daher wenigstens einen kurzen Blick auf die Grenzgebiete werfen, nicht sowohl, um die ivor- handenen Schwierigkeiten zu lösen, sondern um auf die Unmög- lichkeit einer grundsätzlichen Lösung derselben hinzuweisen.

Im Bereiche des Verstandes lassen sich der Hauptsache nach, zwei Formen der psychischen Schwäche auseinanderhalten, unge- nügende geistige Regsamkeit einerseits, dann aber Urteilslosigkeit infolge von Überwuchern der Einbildungskraft. Der ersteren Form, die sich durch das Fehlen allgemeinerer Begriffe, Enge des Gesichtskreises, Gedankenarmut, Stumpfheit kennzeichnet, ent- spricht in der Gesundheitsbreite jene Form der Dummheit, die man als Beschränktheit zu bezeichnen pflegt. Die höchsten Grade dieser Beschränktheit fallen aber mit den leichteren Fällen des Schwachsinns unterschiedslos zusammen: es gibt kein einziges Merkmal, welches eine andere als gradweise Abtrennung gestattete.

Auch die zweite Form der psychischen Schwäche findet ihr Gegenstück in der Gesundheitsbreite. Es sind das die erregbaren, leichtgläubigen Geister, die überall die Welt mit eigenen Augen ansehen, Luftschlösser bauen und sofort Beziehungen und Zu- sammenhänge ahnen, abenteuerlichen Gedanken und Plänen nach- jagen. In gewissem Sinne können wir sogar den Aberglauben unmittelbar als eine gesunde Form der Wahnbildung bezeichnen, insofern er aus derselben Wurzel des Gemütsbedürfnisses heraus- wächst. Es kann daher unter Umständen ungemein schwierig werden, bei unseren Kranken Aberglauben und Wahnbildung von- einander zu trennen. Den Übergang zum Krankhaften bildet die Gruppe der Schwärmer und Schwindler, bei denen sich vielfach geradezu die Züge der Entartung, namentlich der epileptischen und hysterischen Veranlagung, nachweisen lassen. Den vereinzelten Beispielen einseitiger Begabung bei Schwachsinnigen und Idioten lassen sich manche der sogenannten verkannten Genies, Erfinder und Entdecker, Religionsstifter an die Seite stellen, bei denen die mangelnde Einheitlichkeit der Gesamtanlage auch den her- vorragenden Eigenschaften ihrer Persönlichkeit die freie und segensreiche Entfaltung verkümmert.

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IV. Die Erkennung des Irreseins.

Man ist endlich vielfach so weit gegangen, auch das wirkliche Genie als eine krankhafte Erscheinung, als eine Form der Ent- artung, zu betrachten.*) Diese Anschauung schiesst ohne Zweifel weit über das Ziel hinaus. Es ist allerdings richtig, dass sich in den gleichen Familien nicht selten krankhafte Veranlagung und höchste Begabung nebeneinander finden. Ferner ist es erklär- lich, dass die hervorragende Entwicklung gewisser geistiger Eigenschaften leicht eine Verkümmerung anderer mit sich bringen wird. Wir sehen daher auch bei genialen Menschen häufig genug neben glänzenden Leistungen unbegreifliche Schwächen. Wenn man aber weiterhin bei allen möglichen Helden der Menschheit diese oder jene Züge herausgefunden hat, die ihnen den Stempel des Krankhaften aufdrücken sollen, so übersieht man dabei die Tatsache, dass es wenige Gesunde geben dürfte, die bei ziel- bewusster Zergliederung nicht ebenfalls irgendwelche Anklänge an krankhafte Störungen aufzuweisen hätten. Wir werden also durch eine derartige Beweisführung durchaus nicht dazu genötigt wer- den, die höchsten Offenbarungen des Menschengeistes als den Ausfluss krankhafter Entartung anzusehen. Gewiss finden wir beim Genie Züge, die uns auch im Bereiche des Krankhaften begegnen, die überraschende Kühnheit der Gedankenverbindungen, die Lebhaftigkeit der Einbildungskraft, den Blick auf das Ganze bei Vernachlässigung der Einzelheiten. Allein diese Eigentüm- lichkeiten werden beim Genie durch die gleichzeitige Ausbildung des abwägenden, prüfenden Verstandes in sicheren Grenzen ge- halten, während sie dort die ungezügelte Herrschaft über das geistige Leben an sich reissen. Mag sich daher auch unter den hohen Begabungen eine gewisse Zahl finden, in denen die Ein- seitigkeit der Ausbildung oder die gesteigerte Empfänglichkeit nach gewissen Richtungen hin das gesunde Gleichgewicht des Seelenlebens gefährden, so werden wir dennoch das Genie im ganzen als den höchsten Ausdruck der voll entwickelten geistigen Persönlichkeit anzusehen haben.

Von grosser Tragweite und darum von jeher am eifrigsten versucht worden ist die Abgrenzung des Krankhaften von der

*) Lombroso, Genio e degenerazione: 1S97 ; Regnard, Annales

mödico-psyehologiques, VIII, 7, 10. 1898; Löwenfeld, Über die geniale

Geistestätigkeit. 1903.

Grenzen des Irreseins.

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Gesundheitsbreite auf dem Gebiete des Gefühlslebens und des Handelns, die wir gemeinsam ins Auge fassen wollen. Hier gilt es ganz besonders, jene Handlungen, die aus krankhaften Voraussetzungen hervorgegangen sind, abzutrennen von den- jenigen, die ihre Quelle in unsittlichen Beweggründen haben. Man wird hier nicht lange im Zweifel sein, wenn es gelingt, eine Wahnidee, eine Sinnestäuschung oder auch ein unklares Angst- gefühl, einen triebartigen Drang als die Ursache der Tat auf- zufinden. Die allergrössten Schwierigkeiten indessen beginnen sofort, sobald nicht Veränderungen in der Art der Gefühle, sondern nur gradweise Abstufungen der ärztlichen Be- urteilung unterliegen. Jede menschliche Handlung kommt da- durch zu stände, dass die Triebfedern das Übergewicht über die hemmenden Gegengründe erlangen. Eine unsittliche Handlung kann somit entweder auf einer starken Ausbildung der unsittlichen Antriebe oder aber auf einem Mangel der sittlichen Hemmungen beruhen, und endlich kann sowohl jene übermässige wie diese ungenügende Entwicklung aus krankhaften Ursachen hervor- gegangen sein. Nun geht aber die krankhafte Zornmütigkeit ganz allmählich in die Erregbarkeit des Leidenschaftsverbrechers über, und die wechselnden Verstimmungen des geborenen Psy- chopathen sind nur Steigerungen der oft ebensowenig sachlich begründeten weltschmerzlichen Anwandlungen des Schwarzsehers, die ihn an dem Werte des Daseins verzweifeln lassen. Der Selbstmord in den letzteren, der Mord in den ersteren Fällen sollte je nach der Krankhaftigkeit oder der gesunden Beschaffen- heit des Gemütszustandes eine gänzlich verschiedene sittliche Beurteilung erfahren, aber auch die genaueste Zergliederung ver- mag hier oft die Grenze nicht zu finden, aus dem triftigen Grunde, weil eine solche überhaupt nicht vorhanden ist.

Noch überzeugender tritt uns diese Schwierigkeit entgegen, wo der krankhafte Mangel der sittlichen Gefühle von der „sittlichen Schlechtigkeit“ abgegrenzt werden soll. So wenig wie das Fehlen einer Niere in einem Falle krankhaft sein kann, im andern nicht, so wenig geht es an, eine gesunde sittliche Verwilderung neben einer krankhaften aufzustellen. Bei der Beurteilung der Unzulänglichkeit einer Leistung kann es nicht in erster Linie massgebend sein, ob sie angeboren, erworben oder

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IV. Die Erkennung des Irreseins.

wie immer sie entstanden ist; nur nach der Ausdehnung derselben kann man gesunde und krankhafte Grade unter- scheiden, wie ja auch die Kleinheit der Niere erst unter einer gewissen, ziemlich willkürlichen Grenze anfängt, krankhaft zu werden. Wenn der Verlust der höheren sittlichen Gefühle als Teilerscheinung gewisser Krankheitsvorgänge vorkommt (z. B. der Trunksucht, der Paralyse), so schliesst dieser Umstand nicht aus, dass auch der durch sittliche Verwahrlosung erzeugte Ausfall, sobald er ein gewisses Mass erreicht hat und nicht beseitigungsfähig ist, als krankhaft zu betrachten sei. Jedes Werkzeug unseres Körpers bedarf der Übung und Aus- bildung, um die von ihm geforderte Arbeit leisten zu können: der unerzogene Taubstumme bleibt anerkanntermassen auf der geistigen Entwicklungsstufe des Schwachsinns stehen sollte allein der sittlich Unerzogene eine Ausnahme machen, sollte nicht bei ihm ebenfalls eine Unvollkommenheit der ge- mütlichen Ausbildung vorhanden sein, die unter Umständen eine krankhafte Ausdehnung erlangen kann? Eine naturwissenschaft- liche Betrachtung der Unsittlichkeit führt uns unabwendbar zu dem Schlüsse, dass auch der Mangel sittlicher Gefühle nicht nur zweifellos der Begleiter bestimmter klinischer Krankheitt'*- formen ist, sondern in seinen höheren Graden überhaupt ohne scharfe Abgrenzung in das Gebiet des Krankhaften hinüber- spielt und als eine Entwicklungshemmung im Gemütsleben zu betrachten ist, welcher nach anderer Richtung die Unzuläng- lichkeit der Verstandeskräfte genau entspricht.

Es bleibt daher in derartigen Fällen bei der gerichtlichen Feststellung der Geistesstörung bis zu einem gewissen Grade häufig Sache der persönlichen Ansicht, ob die gestellte Frage bejaht oder verneint werden soll. So zuverlässig es fast stets gelingen wird, wenigstens bei längerer Beobachtung das Be- stehen einer Manie, Melancholie, Verrücktheit, einer Dementia praecox oder paralytica mit Sicherheit zu erweisen oder aus- zuschliessen, so ratlos steht selbst der ausgezeichnetste Scharf- sinn den gradweisen Abstufungen des angeborenen Schwachsinns gegenüber. Die Schuld dafür trifft gewiss nicht die Psychiatrie, sondern lediglich die richterliche Fragestellung, die nur scharfe Grenzen zwischen Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfähig-

Verstellung und Verleugnung.

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keit kennt, alle die zahllosen Übergangsformen aber wesentlich vernachlässigt. Vielleicht wird auch uns noch eine eingehendere Erforschung des Schwachsinns zu einer schärferen Umgrenzung der krankhaften Erscheinungen verhelfen; die Überwindung der grundsätzlichen Schwierigkeiten aber und die Gewinnung brauchbarer Gesichtspunkte für die Beurteilung kann sicherlich nur durch eine andere Fassung der richterlichen Fragen an den ärztlichen Sachverständigen erreicht werden.

C. Verstellung und Verleugnung.

Erheblich einfacher liegt die Aufgabe dort, wo nicht all- gemein die Entscheidung über das Bestehen geistiger Gesund- heit oder Krankheit gefällt werden soll, sondern wo es sich um die Aufdeckung einer V erstellung*) handelt. Hier ist eine sichere Richtschnur der Beurteilung durch die Erwägung ge- geben, dass die vorliegende Gruppe von Erscheinungen sich mit unseren sonstigen irrenärztlichen Erfahrungen decken muss. Allerdings sehen wir auch bei den unzweifelhaft Geisteskranken vielfach Zustandsbilder, die nicht in einen der gewohnten Rahmen hineinpassen; darauf beruht ja jeder Fortschritt unserer klinischen Formenlehre. Indessen derartige, zunächst unklare Beobachtungen enthalten doch niemals innere Widersprüche. Wir wissen ganz genau, dass gewisse Krankheitszeichen einander aus- schliessen, dass z. B. ein ruhiger Kranker ohne Bewusstseins- trübung und Merkstörung nicht dauernd desorientiert sein kann, dass Fehlen einfachster Schulkenntnisse nur mit Blödsinn und tiefer Gedächtnisstörung vereint sein oder durch Negativismus vorgetäuscht werden kann. Wir vermögen uns somit auch dann, wenn ein Krankheitsbild sich nicht ohne weiteres deuten lässt, doch meist recht bald ein Urteil über seine innere Einheitlichkeit und Wahrscheinlichkeit zu bilden.

Ein solches widerspruchsloses Krankheitsbild selbst zusam- menzusetzen, erfordert weitgehende fachmännische Kenntnisse. Ausserdem ist aber noch eine ganz ungewöhnliche Geschicklich- keit und Ausdauer nötig, um die angenommene Rolle wirklich

*) Fürstner, Archiv f. Psychiatrie, XIX, 3; Fritsch, Jahrb. f. Psychiatrie, VIII, In. 2; Raimann, ebenda, XXII, 443, 1902.

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IV. Die Erkennung des Irreseins.

durchzuführen und festzuhalten. Die Anschauungen über Geisten krankheiten unter Laien weichen fast durchgehends so sehr von dem wahren Verhalten ab, dass es in der Regel für den Irrenarzt ein Leichtes ist, die Verstellung zu erkennen und zu entlarven. Am häufigsten werden tiefer Blödsinn oder AufregungszaisUL.de („Tobsucht“) nachgeahmt; dabei ist es überall die Sucht der Simulanten, zu übertreiben und ihre Geisteskrankheit möglichst glaubhaft zu machen, die sie widersprechende Erscheinungen durcheinander mischen lässt und auf diese Weise die Unter- scheidung von wirklichen Kranken ermöglicht. Häufig gelingt es auch, durch allerlei Vexierversuche, durch hingeworfene Be- merkungen gewisse Krankheitserscheinungen zu suggerieren, namentlich völlige Unempfindlichkeit gegen Nadelstiche, Läh- mungen, Ohnmächten und dergl. Überaus selten sind die Fälle, in denen selbst bei längerer Beobachtung die Herstellung nicht zweifellos festgestellt werden kann.

Indessen, so leicht und sicher die absichtliche Täuschung als solche erkannt zu werden pflegt, so schwierig ist es oft genug, das Bestehen einer Geistesstörung ausser der Herstel- lung auszuschliessen. Neumann fordert mit Recht, dass überhaupt kein Arzt jemals das Zeugnis geistiger Gesundheit ausstellen solle; bei Simulanten ist in dieser Hinsicht doppelte Vorsicht geboten. Die erfahrensten Irrenärzte teilen mit, dass wirklich geistig gesunde Menschen unter den Simulanten nur in verschwindend geringer Zahl verkommen, wenn auch die eigentliche Störung eine ganz andersartige ist, als die nach- geahmte. Namentlich Katatoniker, Querulanten, Hysterische,. Schwachsinnige sind hierher zu rechnen. Ich selbst kann nur sagen, dass ich mit der Annahme reiner Verstellung ohne ander- weitige Geistesstörung im Laufe meiner Erfahrung immer zu- rückhaltender geworden bin, nachdem ich eine ganze Anzahl meiner ehemaligen Simulanten nachträglich habe verblöden sehen. Darum kann ich nur dringend raten, nach Jahren immer wieder einmal die Reihen derer zu prüfen, die einst als Simulanten „ent- larvt“ wurden. Man wird übrigens auch bei ruhiger Überlegung finden, dass für den Gesunden triftige Beweggründe zur Hortäu- schung von Irresein naturgemäss recht selten sein müssen. Ich will indessen einräumen, dass in Grossstädten mit ihrer ganz

Verstellung und Verleugnung.

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andersartigen Verbrecherbevölkernng die Verhältnisse etwas anders liegen mögen, als bei uns. Die Mittel und Verfahren, welche die Aufdeckung von Verstellung im einzelnen Falle er- möglichen, die Schlüsse, die man aus dem Benehmen eines Men- schen vor, während und nach einer verbrecherischen Tat auf seinen Geisteszustand ziehen kann, und eine Reihe ähnlicher Punkte müssen wir hier übergehen, da sie den Aufgaben der gerichtlichen Psychopathologie angehören.

Wir haben endlich noch der Verleugnung von Krank- heitserscheinungen zu gedenken, die namentlich von Trinkern, Cirkulären und Kranken mit Verfolgungswahn bisweilen mit grosser Gewandtheit geübt wird, um die Entlassung aus der Irrenanstalt oder die Aufhebung- der Entmündigung zu erreichen. Es gibt unheilbare Irre, die jahrelang ihre äussere gesellschaft- liche Haltung zu bewahren wissen und das Nest ihrer Wahnideen tief in ihrer Brust verschliessen, bis eine unbedachte Äusserung, eine gelegentliche gemütliche Erregung plötzlich der erstaunten Umgebung die Augen öffnet und ihr die Erklärung für so manche Sonderbarkeiten des Benehmens gibt, die man so lange für per- sönliche Eigentümlichkeiten gehalten hatte. Wer nicht mit dem geheimen Zusammenhänge und den Anknüpfungspunkten der Fäden bekannt ist, aus denen sich das Wahngewebe zurecht- spinnt, dem kann die tiefe Störung manches Verrückten völlig verborgen bleiben, auch wenn sie gar nicht besonders verleugnet wird. Selbst dem Arzte begegnet es bisweilen, dass er trotz seines allgemeinen, bestimmten Verdachtes sich lange vergebens abmüht, in das Innere eines Kranken einzudringen, und dass ihm erst die Nachrichten über das Vorleben, das Benehmen in der Freiheit eine klare Einsicht in die wirkliche Ausdehnung der krankhaften Störung verschaffen. Manche Kranke zeigen sich dem Arzte gegenüber ungemein harmlos und ungefährlich, stellen alle Berichte der Angehörigen, alle Wahnideen völlig in Abrede und wissen ihre auffallenden Handlungen so ungezwungen und schlau zu begründen, dass es recht schwierig wird, die krank- haften Züge klar zu erfassen. Unerfahrene lassen sich daher oft vollständig von ihnen täuschen. Auf diese Weise pflegen die Gesundheitszeugnisse zu stände zu kommen, die sich gewisse Geisteskranke von Halb- und Nichtsachverständigen zu ver-

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IV. Die Erkennung des Irreseins.

schaffen wissen. Kein erfahrener Irrenarzt wird in strittigen Fällen nur auf Grund einiger Unterredungen, ohne genaueste Kenntnis aller Verhältnisse und ohne Anstaltsbeobachtung, das Urteil abgeben, dass eine geistige Störung nicht vorhanden ist, schon deswegen, weil er weiss, dass fast ausnahmslos nur solche Personen das Bedürfnis haben, sich ihre geistige Gesundheit be- scheinigen zu lassen, die wirklich krank sind.

Man wird daher gut tun, jene die öffentliche Meinung immer wieder beunruhigenden Flugschriften mit grösster \orsicht auf- zunehmen, in denen das Justizunrecht der willkürlichen Freiheits- beraubung, die Gefahren der geistigen Ermordung in den grell- sten Farben ausgemalt zu werden pflegen. Allerdings ist die Aufklärung derartiger Fälle häufig nicht leicht, sondern erfordert höchste Sachkenntnis und vollkommenen Überblick über alle ein- schlägigen Tatsachen und Persönlichkeiten. Wir dürfen es aber nicht verschweigen, dass hie und da von Ärzten, die mit Lnrecht als Sachverständige gelten, auch Personen als geisteskrank be- zeichnet worden sind, die es im strengsten Sinne nicht waren; namentlich hat man mehrfach streitsüchtige Menschen fälschlich für Querulanten gehalten. Ein ganz alltägliches ^ orkommnis aber ist es, dass zweifellos geisteskranke Personen, unter Umständen zu ihrem grössten Schaden, für gesund erklärt werden. Solche Missgriffe verschuldet indessen nicht die Psychiatrie, die sich nach Kräften bemüht, ihr schwieriges Gebiet zu bearbeiten, son- dern wesentlich der Staat, der fast überall nicht nur die Ent- wicklung der klinischen Psychiatrie, sondern vor allem die psy- chiatrische Ausbildung der Ärzte, auch der beamteten, in dei verhängnisvollsten Weise vernachlässigt hat. Erst in der aller- letzten Zeit ist hier eine gewisse Besserung zu verzeichnen.

Schliesslich sei noch auf die Krankheitsverleugnung be- sonnener selbstmordsüchtiger Kranker hingewiesen, die bisweilen mit grossem Geschick ihre krankhaften ^ orstellungen und Ge- fühle zu verbergen, Besserung und heitere Stimmung vorzu- täuschen wissen, um den stillen Vorsatz des Selbstmordes bei weniger sorgfältiger Überwachung zur Ausführung bringen zu können. Selbst die genaueste Vertrautheit mit dieser höchst beachtenswerten Gefahr und unausgesetzte Wachsamkeit \er- mag nicht immer vor bitteren Erfahrungen zu schützen.

V. Behandlung des Irreseins*).

Leitende Gesichtspunkte für eine zweckmässige Behandlung sind die Bekämpfung der Ursachen und die Beseitigung oder wenigstens Milderung der Erscheinungen. Die erstere Aufgabe beginnt schon mit der Vorbeugung.

A. Vorbeugung.**)

Die Verhütung der Geisteskranken steht bei der grossen Be- deutung der Erblichkeit für die Verbreitung des Irreseins zunächst vor der Frage, ob ein Geisteskranker heiraten darf oder nicht. Namentlich in manchen Formen der hysterischen Psychosen hat man wegen ihrer vermeintlichen Entstehung aus unbefriedigtem Geschlechtsbedürfnisse bisweilen die Ehe geradezu für ein Heilmittel gehalten. Die Erfahrung hat indessen gezeigt, dass zwar gesunde Eheleute anscheinend eine etwas geringere Neigung zu Geistesstörungen besitzen, als Ledige, dass aber bei schon bestehender Krankheit die Ehe zum mindesten auf das weib- liche Geschlecht vielfach geradezu schädlich wirkt. Dazu kommt die Gefahr einer Vererbung der krankhaften Anlage auf die Nach- kommenschaft. So erscheint denn der ziemlich allgemein ange-r

*) Penzoldt und Stintzing, Handbuch der speziellen Therapie, Bd. V, Abt. IX: Behandlung der Geisteskrankheiten, von Emminghaus-Pfister (Allgemeiner Teil) und Ziehen (Spezieller Teil). 1896; Bleuler, Die all- gemeine Behandlung der Geisteskrankheiten. 1898; Garnier et Colo- 1 i a n , Traite de therapeutique des maladies mentales et nerveuses. Hygiene et prophylaxie. 1901; Pelman, Über die Behandlung der Geisteskranken, Deutsche Klinik. 1902.

**) Fuchs, Die Prophylaxe in der Psychiatrie in Nobiling-Jankau, Handbuch der Prophylaxe, V. 1900; M o r e 1 , Psychiatrische Wochenschrift, I, 380, 1899.

Kracpelin: Psychiatrie I. 7. Aufl.

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V. Behandlung des Irreseins.

nommene Grundsatz gerechtfertigt, vom ärztlichen Standpunkte aus bei bestehender oder überstandener Geistesstörung, besonders bei jenen Formen, die auf eine psychische Entartung hinweisen, die Ehe unter allen Umständen zu widerraten, während der einfache Ursprung aus einer belasteten Familie, wenn nicht bereits Krankheitserscheinungen zu Tage treten,^ trotz der immerhin drohenden Gefahren, doch kein unbedingten \ erbot der Ehe begründen kann. Nur, wenn Blutsverwandtschaft vor- handen ist oder in beiden Familien Geistesstörungen, nament- lich solche von gleicher Form, aufgetreten sind, wird man sehr ernste Bedenken geltend zu machen haben.

Allerdings lehrt die Erfahrung, dass Ratschläge über be\ er- stehende Ehen zwar gesucht und angehört, aber äusserst selten befolgt werden. Die Bedürfnisse der Rassenkräftigung, der ge- schlechtlichen Zuchtwahl unter dem Gesichtspunkte der körper- lichen und geistigen Gesundheit, treten regelmässig weit zurück hinter anderen, kurzsichtigeren Beweggründen. Auch das Ein- greifen des Staates durch Eheverbote oder Forderung von Gesund- heitszeugnissen würde wenig Erfolg haben, da es zwar die Ehen, nicht aber die Kindererzeugung einschränken könnte. Näcke hat sich daher für den im Staate Michigan durchberatenen ^ or- schlag erwärmt, gewisse Gruppen gemeingefährlicher und ent- arteter Männer durch teilweise Ausschneidung der Samenleiter zeugungsunfähig zu machen; bei Frauen soll in schweren Fällen zur Entfernung der Gebärmutter von der Scheide aus geschritten werden. Ohne Zweifel wäre die Massregel wirksam, doch erscheint die Bestimmung darüber schwierig, bei wem sie Halt zu machen hätte.

Im werdenden Keim können eine Reihe von Allgemeinleiden der Eltern schwere Schädigungen hervorrufen, vielfach auch ge- radezu die Anlage zum Irresein erzeugen. Wir nennen hier vor allem den Alkohol, das Morphium, Cocain und die Syphilis. Ein schwacher Trost ist es, dass bei Trinkern und Morphinisten die geschlechtliche Leistungsfähigkeit allmählich abzunehmen pflegt; dafür steigert der Rausch, dem man eine unmittelbar verderbliche Wirkung auf den Samen nachsagt, wiederum die Begierde. Wie lange der verhängnisvolle Einfluss der Lues auf die Nachkommen- schaft trotz gründlicher Behandlungsversuche fortdauern kann,

Vorbeugung.

387

ist zweifelhaft. Will man daher einer Entartung des kommenden Geschlechtes Vorbeugen, so wird man vor allem der Verbreitung / der genannten Gifte oder doch der Kindererzeugung durch ihre Träger entgegenzuwirken haben, sei es durch Belehrung und Auf- klärung, sei es durch geeignete Absperrung.

Wie weit es möglich sein wird, die Schädigungen des kind- lichen Gehirns durch Asphyxie, Druck oder Verletzungen bei der Geburt einzuschränken, steht dahin; vielleicht wird bessere Aus- bildung der Hebammen, regelmässige Zuziehung von Ärzten in schwierigen Fällen, Vermehrung der Entbindungsanstalten hie und da die Entstehung einer Idiotie durch die Geburt zu verhindern imstande sein. Auch die Förderung des Stillens der Frauen dürfte für die Gesunderhaltung des jugendlichen Gehirns nicht ohne Bedeutung sein. Wir sind längst davon zurückgekommen, die Krämpfe der Säuglinge, die „Gichter“, als eine harmlose Erschei- nung zu betrachten. Vielfach sind sie jedenfalls die Anzeichen von leichteren oder schwereren Hirnerkrankungen, die dauernde Spuren für das spätere Leben zurücklassen können, allgemeine Nervosität, Epilepsie, Schwachsinn bis zur ausgesprochenen Ver- blödung. Da aber die Eingangspforte für Krankheitserreger hier wahrscheinlich vor allem im Darme liegt, wird die Ernährung mit Muttermilch diese Gefahren sehr wesentlich vermindern können, zumal sie auch sonst die allgemeine Widerstandsfähigkeit des Kindes gegen krankmachende Einflüsse steigert. Der im Säug- lingsalter drohenden Gefahr des Kretinismus kann durch Ent- fernung aus der verseuchten Gegend oder durch Darreichung von Thyreoidin begegnet werden.

Die Verschiedenartigkeit unter gleichen Bedingungen auf- gewachsener Geschwister zeigt uns vielfach, wie zwingend die Entwicklung der psychischen Persönlichkeit durch die ursprüng- liche Veranlagung und Mischung bestimmt wird. Dennoch werden wir auch den Einflüssen der Erziehung in der Vorbeugung des Irreseins eine gewisse Bedeutung nicht absprechen können. Gerade etwas absonderlich angelegte Eltern vermögen häufig nicht die rechte Mitte zwischen grillenhafter Strenge und weich- licher Verzärtelung zu halten, Einflüsse, die nur ein sehr kräftig geartetes Kind ohne dauernden Schaden für die Entwicklung seiner Persönlichkeit zu ertragen imstande ist. Der ärztliche

25*

388

V. Behandlung des Irreseins.

Berater findet hier nicht so selten Gelegenheit zu warnendem Eingreifen. Im allgemeinen wird jedes Kind am wirksamsten durch den Verkehr mit seinesgleichen erzogen. Darum ist sorg- fältige Auswahl der Gefährten, Ausschliessung von verdorbenen oder entarteten Kameraden besonders für psychopathisch ver- anlagte Kinder wichtig. In vereinzelten Fällen, bei sehr empfind- lichen und erregbaren Kindern, wird zeitweise eine abgesonderte Erziehung am Platze sein.

Allgemeine Aufmerksamkeit hat in letzter Zeit die Über- bürdungsfrage*) der Schuljugend erregt. Es darf als wahr- scheinlich gelten, dass kein jugendliches Gehirn wirklich in strengem Sinne das zu leisten imstande ist, was zahlreiche Stun- denpläne fordern. Wenn schon ein Erwachsener einer sehr ein- fachen geistigen Arbeitsleistung nicht länger als etwa eine Stunde zu folgen vermag, ohne deutliche, sich rasch steigernde Ermüdungserscheinungen zu zeigen, so tritt in jüngerem Lebens- alter und bei den schwierigeren Aufgaben des Schulunterrichtes die Erschlaffung natürlich noch sehr viel rascher ein. Allerdings ist die Ermüdung an sich noch keine Gefahr, da jede Tätigkeit notwendig einen Verbrauch von Arbeitskraft mit sich bringt, andererseits aber durch Übung die Leistungsfähigkeit steigert und die Ermüdbarkeit herabsetzt. Wir wissen indessen, dass ein t ber- mass von Ermüdung zur Erschöpfung und damit zu Störungen führen kann, die sich erst langsam und in längerer Ruhe wieder ausgleichen. Wann die schädigende Wirkung der Ermüdung im einzelnen Falle beginnt, entzieht sich heute noch unserer Kenntnis. Wir können nur allgemein sagen, dass dieser Punkt erreicht ist, sobald sich die Arbeitsermüdung nicht mehr regelmässig von einem Tage zum anderen wieder ausgleicht. Es kann zugegeben werden, dass die grosse Mehrzahl der gesunden und kräftig ver- anlagten Schüler Spannkraft genug besitzt, um auch über unge- wöhnlich hohe Anforderungen ohne bleibende Nachteile hinweg- zukommen. Ebenso sicher ist es aber auch, dass sich in jeder Schule eine Reihe von Kindern befinden, die bei sonst guter Be- gabung eine ganz besonders hohe Ermüdbarkeit besitzen, leicht die Zeichen von Dauerermüdung aufweisen und daher der sorgfäl-

*) Ben da, Nervenhygiene und Schule. 1900.

Vorbeugung.

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tigen Beobachtung durch den Arzt bedürfen. Überall haben wir nicht nur mit Kindern aus krankhaft entarteten Familien, sondern auch mit solchen zu rechnen, die späterhin selbst mehr oder weniger schwer psychisch erkranken. Eines der Zeichen der Entartung aber ist zweifellos grosse Ermüdbarkeit, die sich, wie es scheint, vielfach mit grosser Übungsfähigkeit verbindet und durch sie bis zu einem gewissen Grade verdeckt werden kann.

In der Schule werden die Gefahren der Übermüdung durch das Einschieben von Erholungspausen zwischen die einzelnen Unterrichtsabschnitte einigermassen wieder ausgeglichen. Frei- lich ist die Dauer dieser Pausen wahrscheinlich viel zu kurz be- messen, als dass sie eine ausreichende Erholung bieten könnten, namentlich gegen Ende des Tagesunterrichtes. Glücklicherweise indessen gibt es ein Sicherheitsventil, welches verhindert, dass infolge der geistigen Überanstrengung schwere Gefahren für das heranwachsende Geschlecht heraufgeführt werden das ist die Unaufmerksamkeit, die gerade dann hilfreich ein- tritt, wenn die Anspannung notwendig zu einer Erholung drängt. Leider versagt dieses Ventil, sobald von dem Schüler nicht bloss Stillsitzen, sondern wirkliche Arbeitsleistung gefordert wird. Das ist der Fall einmal bei der Hausarbeit, die eben überwältigt werden muss, gleichgültig, ob sie dem Schüler viel oder wenig Zeit kostet, ob er müde und erschöpft oder frisch ist. Sodann aber ist es bekanntlich möglich, durch kräftigen Antrieb das Gefühl der Müdigkeit zu unterdrücken und den Schüler zu einer An- spannung seiner Kräfte zu veranlassen, die sonst durch das Schutz- gefühl der Müdigkeit unbedingt verhindert würde. Gerade die guten, tüchtigen Lehrer können daher unter Umständen für ihre Schüler schädlich werden, weil sie deren Aufmerksamkeit auch dann noch zu fesseln verstehen, wenn im Laufe der ausgedehnten Unterrichtsstunden die Ermüdung schon lange das zulässige Mass überschritten hat.

Wir werden aus diesen Gründen vom Standpunkte des Irren- arztes aus eine Umgestaltung des Unterrichtes nach verschie- denen Richtungen hin anzustreben haben. Vor allem ist zu berück- sichtigen, dass die Ermüdungseinflüsse eine fortschreitende Ab- nahme der geistigen Leistungsfähigkeit und schliesslich auch ein Sinken des Übungswertes der Arbeit bedingen. Darum müssen

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V. Behandlung des Irreseins.

wir vor einer Häufung der Arbeitsstunden warnen; viel besser würde die Verteilung derselben auf zwei tägliche Hauptabschnitte sein, deren erster bald nach dem Erwachen aus dem Schlafe gelegen sein muss, während der zweite etwa zwei Stunden nach der Hauptmahlzeit zu beginnen hätte. Das sind die beiden Tages- zeiten, zu denen die Ermüdbarkeit am geringsten ist. Jeder dieser Abschnitte soll durch Pausen von verschiedener Länge in Unter- abschnitte zerlegt werden, in denen ein Wechsel zwischen schwererer und leichterer Arbeit stattfindet, der ein zeitweises Nachlassen der geistigen Anspannung ermöglicht. Die schwierig- sten Lehrstoffe werden dabei zuerst zu behandeln und die häuslichen Arbeiten bei der Bemessung der Gesamtarbeitszeit sorgfältig mit zu berücksichtigen sein.

Da das mechanisch Erlernte, wie der Versuch lehrt, sehr rasch wieder aus unserem Gedächtnisse schwindet und zudem nur in äusserst geringem Masse begrifflich verarbeitet wird, so ist das einfache Auswendiglernen zielbewusst und unerbittlich aus dem Lehrplane zu verbannen. Jene Arbeitsleistung ist nicht nur völlig unnütz, sondern zugleich ungemein anstrengend. Es darf sogar als nicht unwahrscheinlich bezeichnet werden, dass massen- haftes Auswendiglernen geradezu ein Hemmnis der höheren gei- stigen Ausbildung werden kann, sowohl dadurch, dass es die Arbeitskraft in Anspruch nimmt und damit die Empfänglichkeit nach anderen Richtungen hin vermindert, als auch durch allzu starkes Betonen der motorischen Sprachvorstellungen und der rein gewohnheitsmässigen Ideenverbindungen in unserem Seelenleben.

Eine besondere Belastung des jugendlichen Gehirns wird durch die hochnotpeinlichen Prüfungen bewirkt. Hier gilt es nicht nur, einen umfangreichen Gedächtnisstoff aus den ver- schiedensten Wissensgebieten zu einer bestimmten Stunde ver- wendungsbereit zu halten, sondern dazu kommt noch die gemüt- liche Erregung im Hinblicke auf einen möglichen Misserfolg. Kein Wunder, dass noch nach langen, langen Jahren das Schreck- gespenst der Abschlussprüfung im Traume wieder aufzutauchen pflegt. Diese Kraftprobe kann in den Entwicklungsjahren für Einzelne gewiss eine Gefahr bedeuten und zum Anknüpfungs- punkte für schwer sich ausgleichende Zustände von Nervosität werden.

Vorbeugung.

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Bei alledem darf selbstverständlich nicht ausser Acht ge- lassen werden, dass nur in einem gesunden Körper eine gesunde Seele wohnen kann. Sorge für einfache, aber ausreichende Er- nährung, richtige Verteilung von Arbeit und Erholung, aus reichenden Schlaf, Fernhaltung von aufregenden Vergnügungen, namentlich am Abend, endlich gänzliches Meiden aller Nerven- gifte, vor allem des Alkohols*), sind daher . selbstverständliche Erziehungsregeln. Ausserdem wird die ausgiebigste Pflege und Entwicklung der körperlichen Kraft und Gewandtheit durch Leibesübungen aller Art, reichliche Bewegung im Fteien, Wan- dern, Baden, Handfertigkeitsunterricht das beste Gegengewicht gegenüber den Gefahren abgeben, die aus der einseitigen unc übertriebenen Anspannung der geistigen Kräfte erwachsen können. Zu berücksichtigen ist dabei indessen,, dass auch körper- liche Ermüdung die geistige Leistungsfähigkeit herabsetzt, dass daher anstrengende körperliche Übungen nicht in die Mitte, sondern nur an das Ende des eigentlichen Schulunterrichtes

gelegt werden dürfen.

Eine Reihe dieser Forderungen finden sich vielfach, an- nähernd wenigstens, bereits erfüllt, oder ihre Durchführung wild doch von einsichtigen Schulmännern planmässig erstrebt. Was aber am wichtigsten, leider auch am schwersten erreichbar er- scheint, wäre eine immer weitergehende Sonderung der ver- schiedenen Schülergruppen nach ihrer Eigenart, namentlich nach ihrer Ermüdbarkeit. Durch diese Massregel könnten die Ge- fahren der Überbürdung sehr wesentlich vermindert werden. Wollte man sich einmal dazu entschliessen, über diesen Punkt umfassende Untersuchungen anzustellen, so würde die Wichtig- keit einer solchen Abtrennung für alle Teile klar vor Augen liegen. Durch die Einrichtung von besonderen Klassen, für Un- befähigte ist übrigens in einer Reihe von Städten schon ein erster Schritt in der Aussonderung der durch den Unterrichtsbetrieb gefährdeten und zugleich diesen selbst hemmenden Schüler getan.

Die Lösung der hier kurz angedeuteten Fragen kann nur durch das planmässige Zusammenwirken von Lehrer und Arzt

*) Kraepelin, Alkohol und Jugend. 1902.

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V. Behandlung des Irreseins.

1 erreicht werden. Die Anstellung von Schulärzten*), mit der jetzt vielfach begonnen worden ist, erscheint daher auch für die Vorbeugung des Irreseins von Bedeutung. Vor allem wird der Schularzt imstande sein, alle diejenigen Kinder, die nach ihrem körperlichen und geistigen Zustande den Anforderungen der Schule nicht gewachsen sind, von vornherein auszuscheiden oder doch der besonderen Berücksichtigung zu empfehlen; sie ent- gehen dadurch den Gefahren, welche die Durchführung der Schul- arbeit und der Schulzucht sonst für sie mit sich bringen würde. Zugleich wird der Schularzt rechtzeitig die Behandlung solcher körperlicher Leiden veranlassen können, welche leicht zu gei- stiger Verkümmerung, Erschöpfung oder Erregbarkeitssteigerung 1 führen, Ohrenerkrankungen, Wucherungen im Nasenrachenraum, Blutarmut, Bleichsucht, Menstruationsstörungen.

Besondere Aufmerksamkeit ist vor und in den Entwücklungs- jahren auf die Überwachung der geschlechtlichen Regungen zu richten. Wenn auch für gesunde Kinder die Klippen dieser Zeit nicht allzu gefährlich sind, gewinnt bei krankhafter Veranlagung das Geschlechtsleben sehr oft einen unverhältnismässig grossen Spielraum. Die Begierden erwachen früh und bei geringfügigen Anlässen; sie beschäftigen die Einbildung auf das lebhafteste und führen leicht zu leidenschaftlicher und hartnäckiger Mastur- bation, namentlich unter dem Einflüsse der Verführung. Er- ziehungsanstalten, in denen sich gern derartige Gewohnheiten ausbilden, sind daher für geschlechtlich erregbare Kinder eine ^ entschiedene Gefahr. Sehr häufig wird auch durch besondere geschlechtliche Erlebnisse in der Jugend bei psychopathischen Kindern der Keim zu jenen mannigfaltigen Verirrungen des Ge- schlechtstriebes gelegt, die wir früher geschildert haben. Ver- nünftige, rechtzeitige Aufklärung, Fernhaltung von schlechtem Umgang und schlüpfriger Lektüre, planmässige Erziehung zu reichlicher körperlicher Betätigung sind die Mittel, die uns zur Bekämpfung aller dieser Gefahren zu Gebote stehen.

Im späteren Leben fällt der Vorbeugung des Irreseins die doppelte Aufgabe zu, einmal den Einzelnen vor den nach seiner besonderen Anlage drohenden Gefahren zu schützen, andererseits

*) Weygandt, Münchener Medizinische Wochenschrift. 1900, 5.

Vorbeugung.

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jene allgemeineren Ursachen zu bekämpfen, die erfahrungs- gemäß bei der Entstehung geistiger Erkrankungen eine her- vorragende Rolle spielen. Nach der ersteren Richtung hin wird ein einsichtsvoller Hausarzt ohne Zweifel sehr segens- reich wirken können. Hier gilt es vor allem, die persön- liche Eigenart zu berücksichtigen. Da die Leistungs- und Widerstandsfähigkeit der Menschen überaus ungleich verteilt ist, so wird es Sache des Arztes sein, unter sorgfältiger Ab- schätzung dieser beiden Eigenschaften die Wahl des Berufes und die gesamte Lebensführung nach Möglichkeit zu über- wachen. Namentlich dort, wo eine krankhafte Veranlagung be- steht, sind alle Berufsarten, welche die Gefahren geistiger oder gemütlicher Überanstrengung, grosser Verantwortlichkeit in sich schliessen, auf das entschiedenste zu widerraten. Hier passen nur Beschäftigungen, die ein ruhiges, gleichmässiges Leben ohne Aufregungen und Kämpfe, am besten mit reichlichem Aufent- halte im Freien gestatten. Ebenso muss bei gefährdeten Per- sonen von vornherein auf die Fernhaltung von Ausschweifungen, auf die Sorge für ausreichende Erholung und Ernährung sotvie für guten Schlaf in besonderer Weise Bedacht genommen werden. Natürlich kann sich das ärztliche Handeln im einzelnen Falle hier überaus mannigfaltig gestalten; die zuverlässigste Richt- schnur desselben wird dabei immer aus einer genauen Kenntnis der ursächlichen Verhältnisse des Irreseins zu entnehmen sein.

Die allgemeine Vorbeugung der Geisteskrankheiten bietet zwar ebenfalls vielfache Angriffspunkte, aber zumeist sehr weitaussehende und über den Bereich der ärztlichen Tätigkeit hinausgehende Aufgaben. Alle Massregeln, welche die aufreibende Gewalt des Daseinskampfes zu mildern, welche Not, Elend und Krankheit zu lindern vermögen, dienen auch zugleich der Ver- hütung des Irreseins. Eine besondere ärztliche Wichtigkeit haben von denselben vor allem der Kampf gegen Trunksucht und Syphilis, der gerade vom ärztlichen Stande mit allen zu Gebote stehenden Mitteln geführt werden müsste. Die Gleichgültigkeit, mit welcher die grosse Masse der Ärzte, der berufenen Hüter der Volksgesundheit, den hier erwachsenden Aufgaben gegenüber- steht, trägt einen wesentlichen Teil der Schuld an dem namen- losen Unglück, das alljährlich durch Alkoholsiechtum und Para-

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V. Behandlung des Irreseins.

lyse über unser Volk gebracht wird. Könnten wir Trunksucht und Syphilis aus der Welt schaffen, so würden wir die Zahl der Geisteskranken mindestens um ein Viertel, in den Grossstädten um die Hälfte uM noch mehr verringern. Leider aber tragen wir Ärzte, abgesehen von Unterlassungssünden, auch noch un- mittelbar zur Vermehrung des Irreseins bei. Die erschreckende Ausbreitung des Morphinismus, des Cocainismus und anderer ähnlicher Vergiftungen, welche uns die letzten Jahrzehnte ge- bracht haben, ist ausschliesslich auf Rechnung des ärztlichen Standes zu setzen. Wir haben jene Geissein der Menschheit ge- flochten und geben sie ihr noch heute Tag für Tag in die Hand wir haben daher auch die heilige Verpflichtung, alles zu tun, was in unseren Kräften steht, um das von uns verschuldete Unheil wieder aus der Welt zu schaffen!

Eine weitere Aufgabe, zu deren Lösung wir Ärzte in erster Linie beizutragen berufen sind, ist die Einrichtung und Fortbil- dung einer schnell und umsichtig arbeitenden Irrenfürsorge, die nicht nur die Übertragung der psychischen Entartung auf die Nachkommenschaft bis zu einem gewissen Grade beschränken kann, sondern sicherlich auch vielfach imstande ist, die Entwick- lung schwerer Krankheitsformen durch rechtzeitiges Eingreifen zu verhüten. Ungeheures geradezu hat das letzte Jahrhundert nach dieser Richtung hin geleistet, aber es gibt doch noch immer genug und übergenug zu tun, um dem unheimlich anwachsenden Bedürfnisse wenigstens einigermassen gerecht zu werden. ^ er- breitung richtiger Vorstellungen über Geisteskranke und Irren- anstalten*), verständige Hilfe bei der ersten Fürsorge in Krank- heitsfällen, rechtzeitige Erkennung der Gefahr, Mitwirkung bei der Heranziehung geeigneter Kräfte zur Pflege unserer Kranken das alles sind Richtungen, in denen auch derjenige Arzt für die Verhütung und Bekämpfung des Irreseins eine segensreiche Tätigkeit entfalten kann, der nicht die Behandlung Geisteskranker zu seinem Lebensberufe gemacht hat.**)

Ganz besondere Aufgaben stellen der vorbeugenden Fürsorge

*) Fürstner, Wie ist die Fürsorge für Gemütskranke von Ärzten und Laien zu fördern? 1899.

**) F u c h s , Der Hausarzt als Psychiater, Volkmanns Vorträge, Innere Medizin, 74.

Vorbeugung.

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diejenigen, die in Gefahr sind, geistig zu erkranken, und diejenigen, die es schon einmal waren. Für die ersteren gilt es, aussei halb des Rahmens der eigentlichen Irrenanstalten Heilstätten zu schaffen, in denen sie sachverständigen Rat und angemessene Behandlung finden. Diesem Ziele dient die in lebhaftem I lusse befindliche Bewegung zur Errichtung von Nervenheilanstal- ten. Da ihnen jede Freiheitsbeschränkung fehlt, werden sie nicht mit den Vorurteilen zu kämpfen haben, die dem Eintritte in eine Irrenanstalt noch immer entgegenstehen. Es ist daher zu erwarten, dass die neue Einrichtung wesentlich dazu dienen wird, den leichteren Formen psychischer Erkrankung rechtzeitig Hilfe zu bringen und damit der Entwicklung schwerer Störungen vorzubeugen. Dem Schutze der Entlassenen vor Rückfällen dienen dagegen die Hi lfs vereine für Geisteskranke, die mit ihnen Füh- lung behalten, ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen und auf diese Weise nach Möglichkeit die Rückkehr in geordnete Lebens- verhältnisse erleichtern. Es liegt auf der Hand, dass durch dieses Eingreifen die Gefahr von Rückfällen für die noch wenig wider- standsfähigen und hilfsbedürftigen Kranken wesentlich vermindert werden kann.

Bei der grossen Tragweite, die jede Geistesstörung nicht nur für den Erkrankten selber, sondern für seine ganze Um- gebung, seine Gemeinde, seine Nachkommen besitzt, ist die Verhütung des Irreseins eine öffentliche Angelegen- heit. Der Staat*) hat dringendsten Anlass, den Kampf gegen die Geisteskrankheiten mit allen ihm zu Gebote stehenden Macht- mitteln aufzunehmen. Er allein ist auch in der Lage, die grossen Aufgaben erfolgreich in Angriff zu nehmen, die dieser Kampf ihm stellt. Neben dem Bau und dem Betriebe von Anstalten ist es ganz besonders die Ausbildung eines leistungsfähigen und arbeitsfreudigen irrenärztlichen Standes, die ihm obliegt, sodann die Förderung der psychiatrischen Wissenschaft, ohne die das Werk hiemals gedeihen kann, endlich die Ausbreitung von Kenntnissen in der Seelenheilkunde bei den von ihm ausgebil- deten beamteten und praktischen Ärzten durch klinischen Unter- richt und Fortbildungskurse. Grosses ist nach allen diesen Rich-

*) Kraepelin, Die psychiatrischen Aufgaben des Staates. 1900.

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V. Behandlung des Irreseins.

tungen hin schon erreicht worden; vieles aber bleibt noch von der Zukunft zu fordern und zu erhoffen.

B. Körperliche Behandlung.

Arzneimittel. Unter den Arzneimitteln sind es besonders die Narkotica, die wegen ihrer beruhigenden Wirkung eine her- vorragende Stelle in dem Heilapparate der Geistesstörungen ein- nehmen. Seit alter Zeit ist das Opium im Gebrauch. Es wirkt auf gewisse Verrichtungen unseres Grosshirns lähmend, beson- ders, wie es scheint, bei ungenügender Blutzufuhr zu demselben. Eine genaue Kenntnis seines Einflusses auf die verschiedenen psychischen Leistungen fehlt bisher noch. Wie die Erfahrung lehrt, sind Aufregungen, vor allem Angstzustände oder solche, die durch schmerzhafte Reizungen erzeugt oder unterhalten wer- den (Neuralgien, krankhafte Empfindungen, Präkordialangst), seiner Einwirkung am meisten zugänglich; hier wird (durch nicht zu kleine Gaben) Beruhigung und mittelbar Schlaf erzielt. Nicht am Platze ist das Opium bei starken Stauungen im Gehirn (an- dauerndes hohes Fieber), grosser körperlicher Hinfälligkeit und namentlich Herzschwäche. Als unangenehme Nebenwirkungen sind die Verdauungsstörungen (Appetitlosigkeit, hartnäckige Ver- stopfung) zu beachten. Meist wird das Opium von Geisteskranken recht gut vertragen. Es gibt jedoch zweifellos Fälle, in denen bei sehr hohen Opiumgaben die bekämpften ängstlichen Auf- regungszustände geradezu schlimmer werden; Vorsicht ist also unter allen Umständen geraten. Das gebräuchliche Präparat ist Tinctura Opii simplex innerlich (oder eine Lösung von Extr. Opii aquos. 1 : 20 subcutan, zur Vermeidung von Abscessen oft frisch zu bereiten), bei planmässiger Anwendung in steigender Gabe von 10 20 Tropfen (0,05 0,1 Extrakt) 2 3mal täglich, bis zum doppelten oder selbst dreifachen, wenn nicht schon früher die erstrebte Beruhigung eintritt; später allmähliches Herunter- gehen mit der Gabe.

Wegen der grösseren Gleichmässigkeit der Wirkung, der sichereren Abmessung und der bequemeren (subcutanen) Hand- habung ist an Stelle des Opiums in neuerer Zeit vielfach das

Arzneimittel.

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Morphium getreten, welches im übrigen wesentlich dieselben Vorzüge und Nachteile besitzt wie jenes Mittel. Das Morphium erzeugt nach den bisher vorliegenden Versuchen in massigen Gaben wesentlich eine Herabsetzung der centralen Schmerz- empfindlichkeit sowie eine Lähmung des Willens bei gleichzeitiger Erleichterung des Vorstellungsverlaufes. Es ist kein Schlaf-, sondern nur ein Beruhigungsmittel; bei dauerndem Missbrauche stellt es vorübergehend die verloren gegangene geistige Frische und Leistungsfähigkeit wieder her.

Die Morphiumbehandlung ist ebenfalls zu einer planmässigen Kur ausgebildet worden, die bei chronisch-melancholischen, be- sonders ängstlichen Zuständen mit Parästhesien oder Schmerzen bisweilen gute Dienste zu leisten scheint. Unser Bestreben muss indessen durchaus dahin gehen, den Gebrauch des Morphiums so- weit wie nur irgend möglich einzuschränken. Abgesehen davon, dass bei einzelnen Kranken, namentlich bei Frauen, schon auf sehr kleine Gaben Morphium (0,01 und weniger) recht unan- genehme Störungen (Erbrechen, Aufregung, Ohnmächten, Harn- verhaltung) auftreten, und dass bei Anwendung grösserer Mengen auch nach Stunden noch unvermutet schwere, selbst tötlich aus- gehende Vergiftungserscheinungen sich einstellen können, ist vor allem an die kaum hoch genug anzuschlagende, schwere Gefahr des chronischen Morphinismus zu erinnern, mit der wir uns später eingehend zu beschäftigen haben werden.

Von den näheren Verwandten des Morphiums sind noch das Dionin, Codein und Peronin*) für psychiatrische Zwecke empfohlen worden. Sie sollen ähnlich, aber schwächer wirken, als das Morphium, und selbst bei längerem Gebrauche nicht die schwere Allgemeinerkrankung erzeugen wie jenes. Im wesent- lichen handelt es sich um minderwertige Ersatzmittel des Mor- phiums, für deren Anwendung bei uns kaum Anlass vor liegen dürfte.

Dagegen können wir als ein für die irrenärztliche Behandlung recht wertvolles Mittel das von Gnauck**) zuerst bei Geistes-

*) Fischer, Korrespondenzbl. f. Schweizer Ärzte. 1888, 19; Winter- nitz, Monatsschr. f. Psych., VII, 38, 1900; Meitzer, Therap. Monatsschr. 1898, Juni; Ransohoff, Psychiatr. Wochenschr. 1899, 20.

**) Gnauck, Charite-Annalen, VII; Sohrt, Pharmakotherapeutische-

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V. Behandlung des Irreseins.

kranken angewandte Hyoscin (Ladenburg) bezeichnen. Dieses Alkaloid (Chlor-, Brom- oder Jodverbindung) erzeugt in subcutaner Gabe von 0,0005—0,001 gr mit nicht übertroff ener Sicherheit einen nach 10—15 Minuten eintretenden tiefen Schlaf. Bei innerlicher Anwendung, die wegen der völligen Geschmack- losigkeit des Mittels keine Schwierigkeiten hat, kann die Gabe auf das doppelte steigen. Die Nebenerscheinungen sollen dabei schwächer ausfallen, als bei der Einspritzung unter die Haut, Die Vergiftung wird eingeleitet durch Eingenommenheit des Kopfes, Trockenheit im Halse, Schwere der Zunge, Unsicherheit beim Gehen und eine mehrere Tage, selbst Wochen lang an- dauernde, hochgradige Pupillenerweiterung. Bei grösseren Gaben scheinen Übelkeit, Unregelmässigkeit des Pulses, Atmungsbehin- derung, Gesichtstäuschungen, selbst Delirien und Collapszustände auftreten zu können, doch haben hier vielleicht gelegentlich \ er- unreinigungen eine gewisse Rolle gespielt. Ich selbst konnte wenigstens niemals bedrohlichere Erscheinungen beobachten, ob- gleich ich wegen ungünstiger äusserer Verhältnisse das Mittel durch eine Reihe von Jahren überaus häufig habe in Anwendung ziehen müssen. Nur besteht nach dem Erwachen gewöhnlich das Gefühl von Abgeschlagenheit und ein leichter Druck im Kopfe, der sich meist bald verliert. Das Hyoscin ist demnach ein äusserst kräftig wirkendes Mittel, welches überall dort, wo die dringende Notwendigkeit besteht, rasch Beruhigung und Schlaf zu verschaf- fen, zuverlässig und meist ohne erhebliche Nachteile seine V ir- kung tut. Schwere tobsüchtige oder deliriöse Erregungszustände bei manisch-depressivem Irresein, Paralyse, Epilepsie, Katatonie, unter Umständen auch im Delirium tremens oder Gollapsdelirium, kommen hauptsächlich in Betracht. Gegen die Angst leistet das Hyoscin nichts. Dagegen scheint hier bisweilen eine Verbindung kleiner Gaben von Hyoscin mit Morphium gute Dienste zu tun. Bei längerem Gebrauche tritt allmählich eine gewisse Gewöhnung ein, die zu langsamer Erhöhung der Gabe führt. Besondere Stö- rungen, wie etwa Appetitlosigkeit, Rückgang der Ernährung oder

Studien über das Hyoscin. Diss. 1886; Konrad, Centralbl., f. Psych., 1SSS. 18; Klinke, ebenda, 1889, 7; Dornblüth, Therap. Monatshefte, 1889, 8, 361; S erg er, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XLVII, 308; Bumke, Monatsschr. f. Psychiatrie, Januar 1903.

Arzneimittel.

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dergl., haben sich mir dabei niemals herausgestellt; ebensowenig führt das Aussetzen des Mittels zu Entziehungserscheinungen. Da aber auf der anderen Seite auch keine dauernde Beruhigung er- zielt wird, sondern nach dem Verschwinden der Ermattung die Aufregung in alter Weise wiederzukehren pflegt, so dürfte sich das Hyoscin wegen seiner gewaltigen Wirkung nur für die ge- legentliche, wurfweise Anwendung eignen. Ferner wird man gut tun, bei sehr heruntergekommenen Kranken und beim Bestehen von Kreislaufsstörungen das Mittel zu vermeiden oder doch mit grosser Vorsicht zu handhaben.

Zum Ersatz des Hyoscins ist mehrfach das Duboisinum sulfuricum*) empfohlen worden, da es weniger gefährlich sei. Es wird in Gaben von 0,5—2 Milligramm unter die Haut ge- spritzt, scheint ziemlich sicher zu wirken, aber nach den vorliegen- den Berichten doch nicht so ganz harmlos zu sein. Ein wesent- licher Vorteil vor dem gut erprobten Hyoscin lässt sich bisher nicht erkennen.

Über das Haschisch sind nur wenige verwertbare Beob- achtungen bekannt geworden, ein Umstand, der seinen Grund hauptsächlich in der Unsicherheit und Verschiedenheit der zugäng- lichen Präparate haben dürfte. Von den Bestandteilen desselben hat das Cannabinon**) noch am meisten praktische Ver- wertung gefunden. Leider ist das gebräuchliche Präparat keines- wegs rein. Man gibt dasselbe als Schlafmittel in Dosen von 0,1 bis 0,2 gr, am besten in Pillen oder mit fein zerriebenem Kaffee- pulver. Da die schlaf machende Wirkung, die nach etwa 2 3

Stunden eintritt, nicht sehr sicher und öfters von unangenehmen Nebenerscheinungen begleitet ist, wird das Mittel wenig mehr gebraucht. Auch dem Pel lotin (0,02—0,04 g), einem Alkaloid aus gewissen Cactusarten, das Schlaf, aber auch Schwindel- erscheinungen erzeugt, scheinen keine nennenswerten Vorzüge eigen zu sein.

Eine zweite Gruppe von Arzneimitteln, welche in der Behand-

*) Ostermeyer, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XL VII, 278, Prei- n i n g e r, ebenda, XLVIII, 134; B e 1 m o n d o, Rivista, sperimentale di freniatria, 1892; Sk een, Journal cf Inental science, 1897, July.

**) Richter, Neurolog. Centralblatt, III, 21; IV, 1.

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V. Behandlung des Irreseins.

hmg des Irreseins hervorragende Wichtigkeit erlangt haben, ist diejenige der eigentlichen Schlafmittel*). Vor mehr als zwei Jahrzehnten wurde von Liebreich das Chloralhydrat**) empfohlen, welches mit grosser Sicherheit in Gaben von 2 3gr, meist ohne andere Nachwehen, als eine gewisse Benommenheit des Kopfes, einen länger dauernden, ruhigen Schlaf herbeiführt. Da es ebensowenig wie die übrigen Schlafmittel Schmerzen stillt, so hat man es bisweilen mit Morphium verbunden. Wegen seiner ätzenden Eigenschaften und seines unangenehmen Geschmackes gibt man das Chloralhydrat in stark verdünnter, schleimiger Lösung als Klysma, oder innerlich unter Zusatz von Aqua Menthae piperitae, Syrupus Liquiritiae oder corticum Aurantii. Seine An- wendung findet das Mittel bei schwerer Schlaflosigkeit in den verschiedensten Formen des Irreseins. Leider pflegt sich bei längerem Gebrauche nach und nach eine wachsende Unempfindlich- keit gegen das Mittel einzustellen, die zur Darreichung höherer Gaben verführt. Nach dieser Richtung hin ist indessen grosse Vorsicht geboten, da die fortgesetzte Anwendung des Chloral- hydrats Verdauungsstörungen und Gefässlähmungen nach sich zieht. Das häufigste Zeichen der chronischen Chloralvergiftung ist der sog. „Rash“, eine namentlich beim Genüsse von Alkohol oder heissen Flüssigkeiten auftretende fliegende Röte und Hitze mit starker Pulsation, besonders am Kopfe und Halse; ferner hat man Hautausschläge, Neigung zu Ödemen und Druckbrand, endlich Zustände von dauernder stumpfer Benommenheit infolge des Chloralmissbrauches beobachtet, die erst nach dem Aus- setzen des Mittels langsam wieder schwinden. Gefährlich und darum gänzlich zu vermeiden ist die Anwendung des Chloralhydrats bei Herz- und Gefässerkrankungen (Fettherz, Myokarditis, Klap- penfehler, Atherom u. s. f.); schon nach 5 gr wurden plötzliche Todesfälle gesehen.

Einen ausgezeichneten Ersatz für das Chloralhydrat, der das immerhin bedenkliche Mittel völlig entbehrlich macht, haben uns

*) Würschmidt, Über einige Hypnotica, deren Anwendung und W ir- kung bei Geisteskranken. 1888; v. Krafft-Ebing, Wiener Klinische V ochen- schrift. 1890, 2 u. 3.

**) Schüle, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XXVIII, 1; Archiv für Psychiatrie, V, 271 ; Arndt, ebenda, III, 673.

Arzneimittel.

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Cer vello und Morse 1 1 i im Par aldehyd*) kennen gelehrt. Das Mittel bewirkt in mittleren Gaben von 5 gr, die man ohne Bedenken auf das Doppelte und selbst Dreifache steigern kann, schon nach 10 12 Minuten sehr regelmässig einen tiefen, ruhigen, dem natürlichen durchaus gleichenden, mehrstündigen Schlaf. Die Müdigkeit tritt mit fast unwiderstehlicher Gewalt ein, geht aber, wenn äussere Störungen, Schmerzen und dergl. vorhanden sind, rasch wieder vorüber, so dass wesentlich das Einschlafen, weniger der spätere Schlaf unter dem Einflüsse des Mittels steht. Unangenehme Nachwirkungen, Eingenommenheit des Kopfes sind hier äusserst- selten, wirkliche Gefahren anscheinend ausgeschlos- sen, (da 50, ja selbst 105 gr des Mittels bereits ohne schädliche Folgen genommen wurden. Muss demnach das Paraldehyd als ein überaus wertvolles Schlafmittel bezeichnet werden, so hat es den recht störenden Nachteil eines sehr widerlichen, kaum zu verdeckenden Geschmackes und Geruches, der wegen der Aus- scheidung durch die Lungen noch 12 24 Stunden nach dem Ein- nehmen zurückbleibt. Die verhältnismässig angenehmste Form der Darreichung ist die Vermischung mit Wein oder mit einer aromatischen Tinktur, Syrup und Wasser (Umschütteln 1). In sehr vereinzelten Fällen wird es übrigens vom Magen in jeder Form zurückgewiesen; 'man wird dann allenfalls die Verabfolgung im Klysma (in Ölemulsion) oder als Stuhlzäpfchen (mit 20% Paraf- fin im Wasserbade vereinigt) versuchen können. Bei längerem Gebrauche kann der Appetit leiden.

Das letzte Jahrzehnt hat uns in rascher Folge noch mit einer Reihe mehr oder weniger brauchbarer Schlafmittel bekannt ge- macht. Das von v. Mering zuerst empfohlene Amylen- hydr at**) (2—5 gr) belästigt den Magen weniger, als das Paral- dehyd, und riecht auch nicht unangenehm, während der Geschmack nach meinen Erfahrungen bei den Kranken mindestens auf den gleichen Widerwillen stösst. Die Wirkung tritt langsamer ein und ist weniger sicher.

“*) Morselli, Gazetta degli ospedali. 1883, 4, 5, 6; Referat im Neurolog. Centralblatt, II, 9; Gugl, Zeitschr. f. Therapie. 1883; v. Krafft-Ebing, ebenda, 1887, 7; Raimann, Wiener Klin. Rundschau. 1899, 19—21; Bumke,

Monatsschr. f. Psych., XII, 489, 1902.

**) Lehmann, Neurolog. Centralblatt. 1887, 20; Schlöss, Jahrb. f. Psychiatrie. 1888, 1, 2; Avellis, Deutsche Medizin. Wochenschr. 1888, 1.

Kraepelin, Psychiatrie X. 7. Aufl. 96

402

V. Behandlung des Irreseins.

Eine Verbindung von Amylenhydrat und Chloralhydrat hat Fuchs unter dem Namen „D o r in i o 1“*) in den Handel gebracht. Das Mittel, das ähnlich schmeckt wie Amylenhydrat, wird zu

0,5 2 oder 3 gr gegeben in einfacher lOprozentiger Lösung oder

in Kapseln, auch im Klysma. Die Wirkung tritt meist nach l/2 bis 1 Stunde ein und scheint im ganzen befriedigend zu sein. Besondere Nachteile des Mittels sind bisher nicht bekannt ge- worden.

Grössere Verbreitung hat das von Käst eingeführte S u 1 - fonal**) gefunden. Das Mittel ist geruchlos, fast geschmack- los und beeinträchtigt die Verdauung erst bei längerem Gebrauche. Dagegen wird es wegen seiner Schwerlöslichkeit verhältnismässig langsam aufgesogen und wirkt darum nach, so dass grosse Müdig- keit und Schwäche in den Beinen am folgenden Tage nicht seltene Erscheinungen sind. Diese Nachwirkung, die bisweilen noch in der nächsten Nacht Schlaf bringt, kann unter Umständen, bei dauernd erregten Kranken, die man an die Bettruhe gewöhnen will, geradezu erwünscht sein. Bei fortgesetzten hohen Gaben tritt nach anfänglich sehr geringer Wirkung bisweilen plötzlich tagelange Schlafsucht auf, wahrscheinlich durch raschere Lösung angesammelter Mengen des Mittels; es sind auch schon eine Reihe von Todesfällen nach einmaliger wie nach fortgesetzter Darreichung bekannt. Es kommt dabei zu Magen- und Darmblu- tungen, Verfettung von Herz, Leber und Nieren, namentlich aber zu einer schweren chronischen Blutzersetzung. Grosse Schläfrig- keit, Unsicherheit der Bewegungen, Blässe, Übelkeit, Erbrechen, Durchfälle und besonders Rotfärbung des Harns durch Hämato- porphyrin***) sind wichtige Warnungszeichen. Es erscheint daher dringend geraten, das Sulfonal, namentlich bei ^ erstopfung, nie- mals längere Zeit hintereinander und nicht in Gaben über 2 gr

*) Wederhake, Allgem. Zeitschr. f. Psych., LVIII, 778; Schnitze, Neurolog. Centralblatt. 1900, 249; Meitzer, Psychiatr. Wochenschr. 1902, 50.

**) Käst, Berl. Klin. Wochenschr. 1888, 16; Therapeutische Monatshefte, 1888, Juli; Cr am er, Münchener Mediz. Wochenschr. 1888, 24; Therapeutische Monatshefte, 1888, 8; ebenda 1888, 24; 0 1 1 o, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XLV, 4; Vorster, ebenda, XLII, 1; Schedtler, ebenda, XL, 3 u. 4.

***) Schulz, Neurol. Centralblatt. 1896, 866; Stokvis, Zeitschr. f. kli- nische Medizin, XXVIII, 1; Hoppe-Seyler u. Ritter, Münchener Me- dizin. Wochenschr., XLIV, 14; Frankel, Allgem. Zeitschr. f. Psych., LIX, 9o3.

Arzneimittel.

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in Anwendung zu bringen. Am besten gibt man das Mittel 1 2

Stunden vor dem Schlafengehen in grösseren Mengen heisser Flüssigkeit (Thee, Suppe) gelöst.

Vor dem Sulfonal hat das Trional*) den Vorzug etwas leichterer Löslichkeit. Es wirkt daher schneller und nicht ganz so lange nach, doch lässt sich sein Einfluss durch ^feinere Mes- sungen am Abende des nächsten Tages noch deutlich nachweisen. Die psychischen Wirkungen des Trionals bestehen wesentlich in einer bedeutenden Erschwerung der Auffassung und in einer Störung der Bewegungsantriebe, während die Vorstellungs- verbindungen und die Muskelkraft nicht beeinflusst werden. V iel- leicht haben wir in der angeführten Verbindung von Wirkungen eine gemeinsame Eigentümlichkeit der Schlafmittel überhaupt \oi uns; manche Erfahrungen bei den schon genauer untersuchten Mitteln würden dafür sprechen, ebenso die Tatsache, dass auch das beste Schlafmittel, die Ermüdung selbst, die Auffassung wie die Auslösung von Bewegungsantrieben erschwert. Der Blutdruck wird durch das Trional herabgesetzt. Die Wirkung des Mittels ist in Gaben von 1—2 gr (in heisser Milch oder warmem Rot- wein) eine recht sichere. Die unangenehmen Folgeerscheinungen sind verhältnismässig geringe, doch scheinen nicht nur Belästi- gungen des Magens und Darms, sondern in vereinzelten Fällen auch ernstere Vergiftungen** ***)) vorzukommen, über deren Zeichen (Ataxie, Zittern, Unbesinnlichkeit, Depression, Reizbarkeit, Blut- zersetzung) allerdings noch wenig bekannt ist.

Eine ganze Reihe weiterer Schlafmittel, die sich im ganzen wenig bewährt haben, noch zu wenig erprobt oder durch andere, bessere ersetzbar sind, sollen nur noch kurz erwähnt werden. Dahin gehört das schwach wirkende Urethan (3 5 gr

in Pfeffermünzwasser), das leidlich brauchbare Hedonak ■*)

*) Schäfer, Berl. Klin. Wochenschr. 1892, 29; Schul fcze, Thera- peutische Monatshefte, 1891, Oktober; Hänel, Psychologische Arbeiten, H, 326; v. Mering, Therap. Monatshefte, 1896, August; Kornfeld, Wiener Medi- zinische Blätter, 1898, 1.

**) Gier lieh, Neurol. Centralblatt, 1896, 770; Vogel, Berliner Klin. Wochenschr., 1899, 40; Fischer, Trionalgebrauch und rationelle Verwendung der Schlafmittel. 1901.

***) Müller, Münchener Med. Wochenschrift. 1901, 10.

26*

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V. Behandlung des Irreseins.

n 4 gr in Oblaten, heisser Milch oder Kognak) und V e r o n a 1*)

(0,5 gr), das unzuverlässige und ätzende Hy p non (5 10

Tropfen mit Spermacet in Gelatinekapseln), das Ural (2—3 gr), das Chloralamid (2—3 gr), das Tetronal, das Somnal (4 6 gr), I s o p r a 1 (0,5 gr), die Chloralose (0,5 1 gr), endlich das Methylal, das zwar den Vorzug der subcutanen Anwendbarkeit besitzt, sich aber bisher noch keine weitere Ver- breitung in der Behandlung der Schlaflosigkeit zu erschallen vermocht hat.

Dagegen haben wir als eines sehr milden, in gesunden wie krankhaften Zuständen häufig genug in Anwendung gezogenen Schlafmittels endlich noch des Alkohols zu gedenken. In nicht zu kleinen, beim Einzelnen natürlich sehr verschiedenen Gaben (etwa 40—60 gr) erzielt er dort, wo die Schlaflosigkeit durch erhöhte Reizbarkeit und Übermüdung des Gehirns bedingt wird, nicht selten recht befriedigende Erfolge. Auch bei Zuständen innerer Spannung und Niedergeschlagenheit werden die ei leich- ternden und beruhigenden Wirkungen des Alkohols den Eintritt des Schlafes zu unterstützen geeignet sein. Bei hysterischer, neurasthenischer, bisweilen auch bei der Schlaflosigkeit des Greisenalters ist daher zunächst ein V ersuch mit diesem Mit- tel am Platze, doch ist dabei die Gefahr- einer dauernden Gewöhnung sehr im Auge zu behalten. Man kann je nach den Neigungen des Kranken die Form von Bier, Grog oder Schlummerpunsch wählen. Ausgezeichnete Dienste leistet der Alkohol bisweilen in verwirrten Erregungszuständen, die mit Nahrungsverweigerung, schwerer Unruhe und schwachem Pulse einhergehen. Hier passen stärkere Lösungen, wenn nötig, als Zusatz zur künstlichen Fütterung.

Sehr heftige, allen anderen Mitteln "widerstehende Auf- regungszustände, die aus irgend einem Grunde 0 eiletzungen, Notwendigkeit eines Eingriffes und dergl.) rasche Beruhigung verlangen, können gelegentlich auch zur Anwendung des Chloro- forms führen. Schwächere, nervöse Personen, Hj^sterische, Trinker sind jedoch davon ausgeschlossen, weil bei ihnen der Zweck einer Beruhigung nicht erreicht zu werden pflegt und die

*) w ü r t h , Psychiatr. Wochenschr. 1903, 100.

Arzneimittel.

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Betäubung nicht selten gefährlich ist. Weniger bedenklich, aber auch weniger wirksam ist der Äther. Eine planmässige An- wendung dieses Mittels bei erregten Kranken ist zwecklos, da die erzielte Beruhigung die eigentliche Betäubung kaum zu über- dauern pflegt. Auch die von Berger zur Bekämpfung von Ei - regungszuständen empfohlene Einatmung von Bromäthyl (täg- lich 5 10 gr) hat wegen des unsicheren Erfolges und des ab- scheulichen Bromgestankes keine weitere Verbreitung gefunden.

Eine letzte Gruppe das Gehirn unmittelbar beeinflussender Arzneimittel wird durch die Bromsalze (Bromkalium, -natrium, -ammonium, -rubidium, -Strontium) gebildet. Die eigentliche Wir- kungsweise derselben ist noch recht dunkel. Umfassende, bei uns ausgeführte Versuche*) haben gelehrt, dass der Einfluss des Broms auf psychische Vorgänge jedenfalls ein ungemein scharf abgegrenzter ist. Entgegen der von mir gehegten Erwartung scheint der Vorstellungsverlauf wenig, die Auslösung von Wil- lenshandlungen gar nicht beeinflusst zu werden, ebensowenig der Ablauf von Muskelarbeit. Dagegen wird die Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses entschieden herabgesetzt. Vor allem aber wurden innere Spannungszustände gemildert oder beseitigt, die im Versuche absichtlich erzeugt worden waren. An diesem Punkte scheint die noch näher aufzuklärende psychische Hauptwirkung des Broms zu liegen. Mit diesem Ergebnisse steht auch in all- gemeiner Übereinstimmung die Erfahrung, dass die Bromsalze namentlich auf dem Gebiete der Epilepsie und Neura- sthenie sehr wertvolle Dienste leisten. Bei der Epilepsie wirken sie allerdings in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nur während der Dauer ihrer Anwendung, indem sie die Zahl und Stärke der Anfälle verringern; mit dem Aussetzen des Mittels pflegt die Krankheit in der früheren Heftigkeit, bisweilen sogar in verstärktem Masse, wieder hervorzutreten. Der Erfolg wird öfters mit der Sicherheit des wissenschaftlichen Versuches er- reicht; verhältnismässig selten bleibt das Leiden gänzlich un- beeinflusst. Ausserdem gibt es indessen, wie ich wiederholt er- fahren, auch vereinzelte Fälle, in denen eine sehr entschiedene und sogar gefahrdrohende Verschlimmerung und Häufung der

*) L ö w a 1 d , Psychologische Arbeiten I, 489.

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V. Behandlung des Irreseins.

Anfälle sich einstellt; schon aus diesem Grunde sollte die An- wendung der Mittel nicht ohne dauernde ärztliche Überwachung durchgeführt werden. Die sorglose Versendung derselben im grossen an beliebige Laien, wie sie von der Bielefelder An- stalt aus geschieht, ist jedenfalls in hohem Masse gefährlich.

Sehr ausgedehnte Anwendung finden die Bromsalze 1 einer bei der einfachen Neurasthenie und der sie so oft begleiten- den „nervösen“ Schlaflosigkeit; die Beseitigung der inneren Spannung genügt hier oft, um eine dauernde Beruhigung und Erholung zu stände kommen zu lassen. Man gibt die einzelnen Salze oder die drei erstgenannten in gleichem Verhältnisse ge- mischt (Er lenm ey er sches Gemisch) entweder als Schlaf- mittel in einmaliger voller Gabe (3 6 gr) oder aber planmässig steigend und wieder fallend zu 2 6 gr täglich (Pulver in Oblaten oder Lösung). Eine sehr bequeme, den stark salzigen Geschmack verdeckende Form der Anwendung haben wir in dem kohlensauren Bromwasser gewonnen, welches gewöhn- lich in einer Flasche 10 gr Bromsalz enthält. Wo die Anfälle zu bestimmten Zeiten (Menses) hervorzutreten pflegen, wird man zweckmässig die höchsten Gaben gerade in diesen Abschnitt fallen lassen, um während der Zwischenpausen herunterzugehen und womöglich ganz auszusetzen (intermittierende Anwendung). Grössere Gaben der Bromsalze können nämlich bei längerer, ununterbrochener Anwendung schwere Gehirnerscheinungen her- vorrufen (Abnahme des Gedächtnisses, Unsicherheit der Bewe- gungen, Stumpfheit). Das Auftreten von Acneknötchen und Furunkeln sowie starker foetor ex ore gibt das Zeichen zur Unterbrechung; sonst folgen Verdauungsstörungen, fortschrei- tende Abmagerung, Bronchitis und allmählich die übrigen Er- scheinungen des Bromismus. Allerdings hat Fere von Kranken berichtet, die seit Jahren täglich nicht weniger als 16—21 gr Brom zu sich nehmen; auf diese Weise sollen sogar besondere Heilerfolge erzielt worden sein. Ich würde ein derartiges Vor- gehen keinesfalls verantworten mögen; vielmehr bin ich der Ansicht, dass auch der Gebrauch mittlerer und kleinerer Gaben nicht länger als einige Monate lang ohne Unterbrechung fort- gesetzt werden sollte.

Neuerdings ist statt der gebräuchlichen Bromsalze das

Arzneimittel.

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Bromäthylformin („Bromalin“) und das Bromsesamöl („Bro- mipin“) empfohlen worden, welche weder Furunkel erzeugen noch die Verdauungsorgane schädigen sollen. Die Gabe ist dort die doppelte, hier die dreifache der übrigen Bromsalze. Das Bromipin, das auch im Klysma, unter Umständen sogar sub- cutan verwendbar ist, scheint sich besser zu bewähren, als das Bromalin.

In ähnlicher Weise wie die Krampfanfälle vermögen die Bromsalze auch bisweilen periodisch auftretende Aufregungs- zustände zu unterdrücken, namentlich dann, wenn sie mit den Menses in Beziehung stehen und von kurzer (1 2 wöchentlicher)

Dauer sind. Der Erfolg tritt nicht überall, in einzelnen Fällen aber mit grosser Sicherheit ein. Von Wichtigkeit ist hiei na- mentlich die rechtzeitige Darreichung bei den ersten Anzeichen des beginnenden Anfalles, dann aber die Anwendung sehr grosser Gaben. Man gibt 12—15 gr pro die eine Reihe von Tagen hintereinander und geht dann langsam herunter, natürlich unter beständiger Überwachung des Zustandes, im Hinblicke auf die Gefahr plötzlicher Collapse oder bronchitischer Er- krankungen.

Die Bedeutung der Blutversorgung für die Entstehung von Geistesstörungen hat auch einigen Mitteln in die Behandlung des Irreseins Eingang verschafft, die vorwiegend auf das Herz und die Gefässe wirken. So hat man das Amy lnitrit wegen seines auffallenden Einflusses auf das Gefässgebiet des Kopfes in solchen Zuständen angewendet, in denen man einen Gefäss- krampf vermutete. Leider hat das Mittel die gehegten Erwar- tungen nicht gerechtfertigt, da die Wirkungen selbst im gün- stigsten Falle sehr rasch vorübergehen. Ferner kommt der Digitalis, namentlich in V erbindung mit Opium oder Mor- phium, nicht selten dort eine beruhigende Wirkung zu, wo Auf- regungszustände mit unregelmässigem, frequentem Pulse und Herzschwäche einhergehen (Herzfehler, alte Perikarditis u. s. f.). Wichtiger freilich noch wären Mittel, welche die Beschaff fenheit des Blutes zu verbessern vermöchten. Bis heute haben wir von solchen nur djas Thyreoidin zu nennen, welches sich durch seine geradezu zauberhafte Wirkung auf das Myxödem und den Kretinismus rasch so grossen Ruf verschafft hat. Bei

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V. Behandlung des Irreseins.

anderen psychischen Störungen sind die Erfolge des nicht un- gefährlichen Mittels bis jetzt zweifelhaft geblieben. Ich wenig- stens habe trotz sehr ausgedehnter Versuche keine ermutigenden Ergebnisse zu verzeichnen*); höchstens beobachtet man einige verkleinernde Wirkung auf manche Kröpfe. Die psychischen Zu- stände werden nicht entscheidend beeinflusst, vielleicht bis- weilen etwas verschlechtert (Aufregungen), doch lassen sich hier Zufälligkeiten zu schwer ausscheiden.

Brauchbare Erfahrungen über die Behandlung mit anderen Organbestandteilen liegen auf dem Gebiete der Geistesstö- rungen bis jetzt nicht vor; versucht worden ist die Darreichung von Kuheierstöcken bei Frauen und von Nebennierenextrakc. Dagegen sollen an dieser Stelle kurz die Bestrebungen V ag- il er s**) erwähnt 'werden, durch künstlich erzeugtes Fieber Besserung oder Heilung von Geistesstörungen zu erreichen. Die Versuche knüpfen an die Erfahrung an, dass bisweilen Psychosen durch zufällige fieberhafte Erkrankungen, namentlich das Ery- sipel, auffallend günstig beeinflusst werden. Um diese gelegent- lichen Erfahrungen planmässig nachzuahmen, wurden an einer grösseren Reihe von Kranken Einspritzungen mit fiebererregen- den Toxinen, vor allem mit Tuberculin, vorgenommen. Meistens soll es sich um Amentia gehandelt haben. Die Erfolge schienen einigermassen ermutigend. Allerdings werden alle derartigen Versuche wenig Beweiskraft haben, so lange wir über die Auf- fassung der behandelten Psychosen und besonders über ihren mutmasslichen Weiteren Verlauf noch so im unklaren sind wie heute. Dasselbe dürfte von den neuesten Bemühungen Bins- w a n g e r s und seines Schülers Friedländer gelten, „Er- schöpfungspsychosen“ durch Bakteriengifte (abgetötete Bouil- lonkulturen von Bakterium coli und Typhusbazillen) zu heilen, ebenso von Albertottis Vorschlag, durch Einspritzungen von Terpentinöl Abscesse und Fieber zur günstigen Beeinflussung gei- stiger Störungen zu erzeugen. Er erinnert an die einst so be- liebten ableitenden Mittel (Blasenpflaster, Unguentum tartari stibiati, Drastica), die jetzt fast völlig veraltet sind. Wenn es richtig ist, dass bei der Paralyse langdauernde, starke

*) Amaldi, Rivista sperim. di freniatria, XXIII, 311.

**) B o e c k , Jahrbücher für Psychiatrie, XIV, 1 und 2.

Operative Eingriffe.

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Eiterungen überraschende Besserungen bringen können, feiern sie vielleicht noch einmal ihre Wiederauferstehung.

Operative Eingriffe. Der Spielraum für operative Eingriffe*), soweit es sich nicht um zufällige Begleitstörungen handelt, ist bei Geisteskranken aus naheliegenden Gründen kein sehr grosser. Immerhin werden sie dort in Betracht kommen, wo etwa die Ursache des Irreseins der Hand des Chirurgen zugänglich ist. Das ist vor allem der Fall bei den Geistesstörungen nach Schädel- verletzungen, bei Geschwülsten und Abscessen im Gehirn, soweit sie erreichbar sind. Dagegen dürfte der Lumbalpunktion**) mehr Wert für die Erkennung, als für die Beseitigung von Krankheits- zuständen zukommen. Als völlig verfehlt hat sich die Kraniek- tomie bei Idioten erwiesen. Ob es der Durchschneidung des Sympathicus bei Epilepsie wesentlich besser ergeht, steht dahin. Eher kann man noch gewisse Hoffnungen an die Beseitigung von Einknickungen des Schädels oder Knochennarben bei Epileptikern knüpfen; leider ist der Erfolg häufig genug nur ein vorüber- gehender.

Ein grosses Gewicht hat man oft auf die operative Beseitigung von Erkrankungen der weiblichen Geschlechtsorgane gelegt. So sind von H o b b s Eierstocks- und Gebärmutterleiden, Lageverän- derungen, Geschwülste, alte Dammrisse bei weiblichen Geistes- kranken in grosser Zahl behandelt worden. Seine Erfolge waren erstaunliche, eine Zunahme der Heilungen bei den Frauen um 15 %. Leider scheinen die Bedingungen anderswo nicht so gün- stig zu liegen. Wir sehen nach gynäkologischen Operationen zwar auch hie und da eine Besserung, meist jedoch gar keine wesentliche Änderung, bisweilen aber auch Verschlimmerung des psychischen Zustandes. Ich kann daher nur raten, solche Ein- griffe auf diejenigen Fälle zu beschränken, in denen sie der körperliche Zustand erforderlich macht, die Hoffnungen auf eine günstige Beeinflussung des Irreseins aber nicht zu hoch zu spannen. In dieser Beziehung sind namentlich auch die Erfahrungen über die Heilung der Hysterie durch Ausschneidung der Eierstöcke, Brennen der Clitoris und ähnliche Massnahmen lehrreich. So viele Ovarien auch der lockenden Aussicht, mit einem Schlage gesund

*) Picque et Dagonet, Chirurgie des alienes, I. 1901.

**) D e v a u x , Centralbl. f. Psychiatrie XXVI, 384, 1903.

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V. Behandlung des Irreseins.

zu werden, zum Opfer gefallen sind, so unbefriedigend war das Ende, weil die Behandlung das Wesen des Leidens völlig ver- kannt hatte.

Das Auftreten von Geistesstörungen in der Schwangerschaft musste den Gedanken nahe legen, eine Genesung durch Abkürzung oder Unterbrechung derselben herbeizuführen. Indessen die Er- fahrung lehrt, dass die Geburt selbst in der Regel keinen gün- stigen Einfluss auf den Verlauf des Irreseins ausübt. Dement- sprechend habe ich auch nach der Einleitung des Abortes oder der künstlichen Frühgeburt, die mir einige Male vorgekommen ist, niemals einen Heilerfolg feststellen können. Im Gegenteil dauerte die Störung ganz unverändert oder sogar in verstärkter Form weiter. Berücksichtigen wir ausserdem, dass häufig genug geistige Erkrankungen gerade im Wochenbette oder nach einem Aborte einsetzen, so werden wir uns schwerlich dazu entschliessen können, beim Irresein in der Schwangerschaft einen Eingriff zu empfehlen, zumal öfters auch die anfänglich auftretenden Stö- rungen sich nach einigen Monaten ganz von selbst wieder ver- lieren. Ich kann mich daher der Ansicht J o 1 1 y s *) keinesfalls anschliessen, dass Melancholie die Anzeige zur Einleitung des Abortes bilden könne. Die „Melancholien“ der Schwangerschaft- sind fast ausnahmslos cirkuläre oder katatonische Depressions- zustände, die ihren gesetzmässigen Verlauf und Ausgang nehmen. Die Rücksicht darauf, dass man einer Kranken vielleicht die ^ er- bringung in die Anstalt ersparen könne, dürfte übrigens auch dann nicht in dieser Frage massgebend sein, wenn man von dem Eingriffe wirklich Erfolg erwarten dürfte.

Hie und da werden Fälle berichtet, in denen durch Ohren- operationen, Entfernung cariöser Zähne, Anbohrung der Ober- kieferhöhle, Ausbrennen der Nase Besserung psychischer Stö- rungen bewirkt wurde. Bei Kindern stellt sich nach Entfernung von Wucherungen aus dem Nasenrachenraume öfters eine ganz überraschende Besserung ihres Geisteszustandes ein, schnelles Schwinden ihres halb stumpfen, halb reizbaren Wesens, ihrer Un- aufmerksamkeit und Vergesslichkeit. Teilweise Ausschneidung der Schilddrüse kann für das Irresein bei Basedow scher Krank-

*) J o 1 1 y , Centralblatt für Psychiatrie. 1901, 684.

Physikalische Heilmethoden.

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heit in Frage kommen. Endlich werden wir noch kurz der Blut- entziehungen zu gedenken haben, die früher das Hauptmittel bei Erregungszuständen bildeten, während sie jetzt durch unsere' vei- änderten Anschauungen über die Entstehungsursachen des Iire- seins ganz verdrängt worden sind.

Dagegen spielen die Infusionen unter die' Haut eine nicht un- wichtige Rolle. Das Verfahren ist das gewöhnliche: 5—700 gr 0,5 prozentiger, auf 37 39° C. erwärmter, sterilisierter Koch- salzlösung oder isotonischer Flüssigkeit*) lässt man unter ge- ringem Druck mittels Hohlnadel oder Troikart in die subcutanen Lymphräume oinfliessen. Meist sind zwei Einstiche (Brust, Rücken, Oberschenkel) erforderlich, die jedoch auch mehrmals wiederholt werden können; die Geschwulst wird durch vorsichtiges Kneten verteilt. Wir greifen zu Kochsalzinfusionen vor allem bei sehr entkräfteten Kranken mit Versagen der Herztätigkeit ziemlich häufig mit vortrefflichem Erfolge; neuerdings sind auch Ölinfu- sionen zur Ernährung bei Kranken mit Nahrungsverweigerung in Anwendung gezogen worden. Französische Forscher haben Koch- salzinfusionen mit Brombeimischung bei Epileptikern, mit Jod- zusatz bei Paralytikern ins Auge gefasst.

Physikalische Heilmethoden. Unter den physikalischen Heil- verfahren, die in die irrenärztliche Tätigkeit Eingang gefunden haben, steht obenan die Wasserbehandlung, insonderheit die Anwendung der Bäder. Zwar sind die barbarischen Douchen und die kalten Sturzbäder, wie sie früher als „revulsive“ Mittel beliebt waren, lange ausser Gebrauch gekommen. Dagegen haben im Laufe der letzten Jahre die warmen Bäder **) in der Behandlung der Geisteskranken eine ausserordentliche Verbreitung gewonnen und geradezu eine Umwälzung im Betriebe der unruhigen Ab- teilungen herbeigeführt. Die beruhigende Wirkung warmer Bäder von 34—35° C. ist seit alter Zeit bekannt. Sie wurden zur Er- zielung des Schlafes bei Nervosität, Hysterie, leichten Verstim- mungs- und Angstzuständen abends 1 2 Stunden lang angewendet

*) Donath, Allgem. Zeitschr. f. Psych., LX, 583, 1903; Wickel, Psychiatr. Wochenschr. 1903, 181.

**) Thomsen, Allgem. Zeitschr. f. Psych., LV, 721; B e y e r , Central- blatt f. Psychiatrie. 1899, Januar; Kraepelin, ebenda 1901, Dezember; Alter, ebenda 1903, März; Würth, Allgem. Zeitschr. f. Psych., LIX, 676.

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V. Behandlung des Irreseins.

und mit einer kühlen Überrieselung und Abreibung abgeschlossen. Auch bei erregten Kranken sind diese verlängerten Bäder von jeher mit gutem Erfolge in Gebrauch gewesen; hier pflegte man sie wohl mit kalten Umschlägen oder der Anwendung des Eis- beutels auf den Kopf zu verbinden. Dagegen bestand eine weit verbreitete Scheu vor einer längeren Ausdehnung der Wasser- behandlung, von der man vor allem ungünstige Wirkungen auf das Herz fürchtete.

In einzelnen Fällen haben jedoch schon die alten französi- schen Irrenärzte erregte Kranke mehrere Tage und selbst wochen- lang im warmen Bade behandelt. Trotz der günstigen Erfolge hat sich dieses Verfahren nur sehr allmählich eingebürgert, offen- bar hauptsächlich deswegen, weil der ganze Anstaltsbetrieb dafür noch nicht reif war. Erst mit der Beseitigung aller Zwangs- mittel, der Einrichtung von Wachabteilungen und dem Bestreben, der Irrenanstalt immer mehr den Stempel des Krankenhauses aufzudrücken, wurde die Badebehandlung allmählich in immer grösserem Umfange angewendet, da sich herausstellte, dass sie ausserordentlich wohltätig wirkte, ohne von nennenswerten Nach- teilen begleitet zu sein. In Deutschland wurde sie namentlich von Scholz warm empfohlen und viel geübt. Allerdings ver- schloss er die Wannen mit Segeltuchdeckeln, aus denen nur der Kopf der Kranken heraussah; anderwärts waren Holzdeckel in Gebrauch. In diesen Bädern blieben die Kranken viele Stunden, auch ganze Tage.

Meine eigenen Erfahrungen über „Dauerbäder“ reichen etwa 1V2 Jahrzehnte zurück. Die Beobachtung, dass verwirrte, sehr her- untergekommene Kranke im Bade bald anfingen, sich zu beruhigen, Nahrung zu sich zu nehmen und einzuschlafen, veranlasste mich, hie und da die Bäder über mehrere Tage auszudehnen; nachts kamen die Kranken wieder ins Bett. Da die anfangs gefürchteten bedrohlichen Zufälle gänzlich ausblieben, habe ich das Verfahren immer weiter ausgebildet und bin endlich dazu geschritten, die Bäder auch des Nachts fortzusetzen, da der grelle Unterschied in dem Abteilungsbetriebe am Tage und in der Nacht von selbst dazu drängte. So kam es, dass einzelne Kranke viele Monate lang ohne jede Unterbrechung im warmen Wasser zubrachten. Frei- lich mussten zur Durchführung dieser Massregel erst besondere

Physikalische Heilmethoden.

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Einrichtungen geschaffen werden. Es wurden in möglichst un- mittelbarer Verbindung mit den Wachsälen helle, behagliche Bade- säle mit englischen Steingutwannen hergestellt, denen jederzeit reichliches warmes Wasser zur Verfügung stand; sodann musste für ausreichende Überwachung der Kranken bei Tag und bei Nacht Sorge getragen werden. Endlich aber wurde den Kranken duich kleine Tischchen, durch Luftkissen zum Auflegen des Kopfes, durch gespannte Tücher zur bequemeren Lagerung der Aufenthalt im Bade, das Essen und Schlafen in demselben nach Möglichkeit angenehm gemacht.

Die Wirkungen dieser ganzen Massregeln sind äusserst be- friedigende gewesen. Es hat sich unzweifelhaft ergeben, dass die Behandlung erregter Kranker im warmen Dauerbade jedem anderen bisher bekannten V erfahren unvergleichlich über- legen ist. Namentlich manische und paralytische, aber auch katatonische Erregungszustände, ebenso das Delirium tremens, eignen sich vorzüglich dafür; weniger trifft das für die ängstlichen Erregungen der Epileptiker und Melancholischen zu, doch hat uns auch hier das Bad oft sehr gute Dienste geleistet. Alle diese Kranken werden im Bade ruhiger, essen und schlafen besser, sind weniger in Gefahr, sich zu verletzen. Da keinerlei Gewalt gegen sie angewendet wird und das warme Wasser für sie ein behag- licher, ihre Freiheit nicht beengender Aufenthalt ist, den sie schon wegen des rasch auftretenden Frostgefühls nur ungern verlassen, geraten die Kranken mit ihrer Umgebung nicht in Zwiespalt und werden weit weniger gereizt und gewalttätig. Zerreissen und Zerstören fällt ganz fort; höchstens können die Frauen die Badehemden zerschlitzen, die man ihnen gibt, falls sie dieselben nicht verschmähen. Ebenso ist der Unreinlichkeit auf die einfachste Weise ein Ziel gesetzt, da es ein leichtes ist, das schmutzige Badewasser zu erneuern.

Auf diese Weise sind eine Reihe- der widerwärtigsten übel- stände aus dem Anstaltsbetriebe mit einem Schlage beseitigt oder doch bis auf ein sehr bescheidenes Mass gemildert. Es gibt kein Schmieren und planmässiges Zerstören mehr, keine unzerreissbaren Kleider, keine Schraubenschuhe oder festen Strohsäcke; auch das hässliche Blechgeschirr, die Schüsseln und Nachtgeschirre aus Pappe und Gummi können getrost abgeschafft werden. Die Isolie-

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V. Behandlung des Irreseins.

rungen haben trotz sehr ungünstiger Belegungsverhältnisse voll- kommen aufgehört. Endlich aber hat der gesamte Geist der Behandlung entschieden gewonnen. Kranke wie härter erblicken in der Anwendung des Bades nicht, wie so leicht in der Isolierung, eine Strafe, sondern eine wohltätige ärztliche Massregel. E.^ fällt demnach ein sehr grosser Teil der Kämpfe fort, die sonst dem erregten Kranken oft nicht erspart werden konnten, um ihn und seine Umgebung zu schützen. Insbesondere aber sieht der Wärter deutlich die beruhigende Wirkung des Bades und wird dadurch unmerklich weit rascher zu einer richtigen Auffassung der Erregungszustände gebracht, als es durch die Belehrung allein jemals gelingen kann.

Wie die beruhigende Wirkung der Dauerbäder zu stände kommt, bedarf noch weiterer Untersuchung. Jedenfalls spielt dabei die Erweiterung der Hautgefässe und das Sinken des Blui- druckes wohl eine gewisse Rolle. Ich möchte aber auch die psychischen Wirkungen nicht gering schätzen, die behagliche Wärme des umgebenden Wassers, die Abwesenheit aller beengen- den Kleidungsstücke, die völlige Freiheit der Bewegung, das For i- fallen der Reibungen mit der Umgebung, die unausgesetzte Über- wachung.

Die Übelstände der Dauerbäder treten gegenüber ihren \ or- zügen sehr in den Hintergrund. Zunächst sind sie ziemlich kost- spielig, da sie nicht nur gute Anlagen, sondern auch viel warmes Wasser und ausreichendes Personal erfordern. Wieweit der Mehr- aufwand durch die Verminderung der Kosten für Reinigung und Ersatz des Zerstörten ausgeglichen wird, hängt wohl von örtlichen Bedingungen ab. Sodann entwickeln sich in der quellenden Ober- haut leicht übertragbare Hautkrankheiten, die durch Pilzwuche- rungen (Trichophytonarten) erzeugt werden. Vorbeugend wirkt Einreiben der Haut mit Vaselin. Rechtzeitiges Pinseln der be- fallenen Stellen mit Jodtinktur oder Resorcinlösung beseitigt diese übrigens harmlosen Ansiedelungen sofort. Bedenklichei ist es, dass alte Ohreneiterungen sich im Bade anscheinend leicht verschlimmern; in solchen Fällen ist daher \orsicht geboten. Während der Menses können die Bäder unbedenklich fortgesetzt werden.

Die Kranken durch irgendwelche Anwendung von Gewalt im

Physikalische Heilmethoden.

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Bade festzuhalten, ist, wie ich glaube, verfehlt, weil dadurch der wesentliche Zweck des Bades, die Beruhigung, vereitelt wird. Man lässt daher die zahlreichen Kranken, die nicht im Bade bleiben wollen, zunächst ruhig gewähren, erneuert aber den Versuch, sie ins Bad zu bringen, in kurzen Pausen immer wieder. Man wird dann in der Regel sehen, dass der Kranke sich an die neue Massregel ge- wöhnt. Erleichtert wird das durch die anfängliche Anwendung von Sulfonal oder Hyoscin, im schlimmsten Falle durch vorher- gehende feuchte Einpackungen, die hei einiger Geduld immer zum Ziele führen. Ist aber ein Kranker einmal einige Stunden im Bade geblieben, so ist damit in der Regel sein Widerstreben dauernd geschwunden; man erreicht nun fast immer ganz leicht, was anfangs schier unmöglich schien.

Besondere Vorteile bieten die Dauerbäder noch bei sehr schwachen oder gelähmten Kranken, die man am besten auf durchgespannte Tücher legt, unter Umständen mit Stopf kissen von nicht entfetteter Watte. Die Verringerung des Körperdruckes und die Möglichkeit peinlichster Sauberhaltung verhütet auch in den schwierigsten Fällen das Durchliegen und erleichtert dadurch die gesamte Pflege ausserordentlich.

Am häufigsten stösst die Durchführung der Badebehandlung auf Schwierigkeiten in katatonischen Erregungszuständen. Glück- licherweise steht uns hier ein Mittel zu Gebote, welches eine vor- zügliche Ergänzung der Dauerbäder bildet, die feuchtwarmen Ein Wicklungen. Ein in warmes Wasser getauchtes, leicht ausgerungenes Leintuch wird um den ganzen Körper bis zum Halse gelegt und dann eine grosse Wolldecke mässig fest herumgewickelt. In dieser Packung, die durch einige Sicherheits- nadeln befestigt wird, bleiben die Kranken zwei Stunden. Zu einer längeren Ausdehnung des Verfahrens kann ich mich nicht entschliessen, da einerseits die Gefahr der Wärmestauung be- steht, andererseits grundsätzlich jeder Anschein einer beabsich- tigten körperlichen Beschränkung vermieden werden sollte. Aus beiden Gründen lasse ich Kranke, die dauernd widerstreben, nach kurzer Zeit wieder aus der Wicklung befreien, allerdings, um später den Versuch zu wiederholen. In der Regel sträuben sich jedoch gerade die erregten Katatoniker höchstens bei der Aus- führung der Einpackung, um nachher ganz überraschend still zu

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V. Behandlung des Irreseins.

liegen. Meist hält die Beruhigung so lange an, dass es nachher gelingt, die Kranken für einige Zeit im Bade zu halten. Versagt diese Massregel, so wird von neuem zur Wicklung gegriffen.

Von den sonstigen Formen der Wasserbehandlung empfehlen sich sanfte Regendouchen, kalte Abreibungen für nervöse und hysterische Kranke, besonders auch für Onanisten, bei denen noch kalte Sitzbäder hinzugefügt werden. Bei Neigung zu Blutwal- lungen nach dem Kopfe vermögen Packungen der Füsse oder Senffussbäder bisweilen einen schlafmachenden Einfluss auszuüben. Auch die örtliche Anwendung der Kälte am Kopfe in der Form des Eisbeutels ist noch vielfach im Gebrauch. Die Einfachheit und Volkstümlichkeit dieser Massregel spricht entschieden zu ihren Gunsten, wenn man auch gerade in der Psychiatrie vielleicht häufiger von ihrem psychischen (Zwang der Bettlage), als von dem physikalischen Einflüsse Erfolg hoffen darf.

Verhältnismässig beschränkte Anwendung hat die Elektro- therapie*) in der Behandlung der Geisteskrankheiten gefun- den. Die vorliegenden Erfahrungen sind daher sehr lückenhaft und kaum zur Aufstellung allgemeiner Grundsätze geeignet. Der faradische Strom scheint vorzugsweise als Erregungs- mittel zu wirken. Demgegenüber erwartet man von der Gal- vanisation des Rückenmarkes, des Sympathicus, des Gehirns (schwache Ströme, kurze Sitzungen, grosse Elektroden, Leitung längs oder schräg durch den Kopf) namentlich eine „kataly- tische“ Einwirkung auf die feineren Vorgänge im Nervengewebe und einen Einfluss auf das Gefässsystem. Man hat daher vor- geschlagen, bei Zuständen mit erhöhter nervöser Reizbarkeit, Ge- fässkrampf und dergleichen die Anode (absteigende Ströme), bei bestehenden Lähmungserscheinungen, Stauungen, Ödemen da- gegen die Kathode (aufsteigende Ströme) auf Hirn und Rücken- mark einwirken zu lassen.

Im allgemeinen werden es natürlich vorzugsweise die mit nervösen Beschwerden einhergehenden Fälle sein, in denen man von der elektrischen Behandlung Erfolg hoffen darf. Hier mag

*) Arndt, Archiv f. Psychiatrie, II; Allgemeine Zeitschr. f. Tsych., XXVIII, XXXIV; Erb, Elektrotherapie, II, 2. Aufl. 1886; Tigges, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XL, 543.

Diätetische Massregeln.

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es bisweilen gelingen, durch Beseitigung peripherer Reizursachen, durch Herabsetzung der Erregbarkeit zu nützen. Hysterische Dämmerzustände werden unter Umständen durch planmässige Fa- radisation günstig beeinflusst; es empfiehlt sich die Anwendung stärkerer Ströme an verschiedenen Stellen der Körperoberfläche oder die allgemeine Faradisation. Galvanisation und Faradisation des Kopfes (elektrische Hand) können wegen ihrer hypnotischen Wirkung auch zur Bekämpfung der Schlaflosigkeit gelegentlich in Anwendung gezogen werden. Die besten Dienste leistet die elektrische Behandlung (Galvanisation des Kopfes, allgemeine Fa- radisation mit der Rolle, elektrische Bäder) unzweifelhaft bei hysterischen und neurasthenischen Kranken. Gerade hier aber wird die Ausscheidung des sicherlich nicht geringen Anteils, wel- cher dem psychischen Einflüsse des Verfahrens zugeschrieben wer- den muss, vollkommen undurchführbar.

Die zeitgemässeste unter den physikalischen Heilmethoden, die Massage, hat sich ebenfalls nur ein kleines Gebiet der irrenärztlichen Tätigkeit zu erobern vermocht, das sie zudem noch mit der Elektrizität bis zu einem gewissen Grade teilen muss. Bei der grossen Mehrzahl der Geistesstörungen passt die Massage nur dort, wo eine selbständige körperliche Anzeige für sie vor- liegt. In gewissen Formen des hysterischen und neurasthenischen Irreseins indessen, sowie nach manchen Erschöpfungs- und De- pressionszuständen vermag die Massage, am besten in Verbindung mit der allgemeinen Faradisation, durch Kräftigung der Musku- latur und Anregung des Stoffwechsels oft recht schätzbare Dienste zu leisten. Ihre Rolle in der sogenannten Mastkur wird weiter unten Erwähnung finden.

Diätetische Massregeln. Zwar von langsamerer und weniger durchgreifender, aber darum nicht weniger wertvoller Wirkung, als die aufgeführten Arzneien und Heilverfahren, sind jene all- gemeinen diätetischen Massregeln, die keinem besonderen Behand- lungszwecke dienen, sondern die Befriedigung der täglichen Lebensbedürfnisse zum Ziele haben. Obenan steht die Sorge für eine passende Ernährung. J eder Geisteskranke, auch der anscheinend „Vollblütige“, bedarf einer regelmässigen, gut be- messenen Zufuhr kräftiger Nahrungsmittel, die nicht selten den wichtigsten Punkt des Behandlungsplanes bildet. Durchaus in

Kraepelin, Psychiatrie I. 7. Aufi. 27

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V. Die Behandlung des Irreseins.

den Vordergrund tritt diese Rücksicht, wo schwächende Ursachen, Wochenbett, Blutverluste, fieberhafte Krankheiten der geistigen Störung vorausgegangen sind, und wo Wage und körperliche Untersuchung gesunkene Ernährung, Blutleere, Schwäche, Ab- magerung erkennen lassen. Namentlich ist es von Wichtigkeit, schon im Anfänge des Leidens, wo der Kranke, von lebhaften Gemütsbewegungen beherrscht und ohne Esslust, die Nahrungs- aufnahme vernachlässigt, auf ein regelmässiges Einhalten der Mahlzeiten zu achten und jeder beginnenden Verdauungsstörung sogleich entgegenzuarbeiten.

Diese Sorge erstreckt sich oft in gleicher Weise über den ganzen Verlauf der Krankheit fort, wo Verstimmung, Unruhe oder Negativismus den Kranken hindern, das Nahrungsbedürfnis selbst zu befriedigen. Geduldiges, häufig wiederholtes Anbieten des Essens, wenn auch immer nur kleine Mengen genommen werden, führt hier meist zum Ziele. Stets muss die Kost leicht verdaulich und, namentlich in schwierigeren Fällen, möglichst nahrhaft sein, um durch ihren Nutzwert die Unmöglichkeit einer reichlicheren Zufuhr auszugleichen (Fleischbreisuppen). Unter Umständen ist aus diesem Grunde der Znsatz von Pepton, Nutrose, Somatose, Hygiama, Tropon oder ähnlichen Stoffen angezeigt. Bei sehr schwachen Kranken mit schweren verwirrten Erregungszuständen empfiehlt sich zeitweise eine Überernährung durch reichliche Zu- fuhr leicht verdaulicher Nahrungsmittel in kürzeren Pausen; man wird hier freilich in der Regel zur Sonde greifen müssen. Die so überaus häufige Verstopfung bekämpft man nur durch ganz milde Mittel, namentlich durch Klystiere (Glycerin, Öl), Eingies- sungen, nach Umständen durch Massage und Faradisation des Bauches. Unterstützt werden diese Massnahmen durch sorgfältige Regelung der gesamten Lebensweise, mässige Be- wegung in frischer Luft, körperliche, keine geistige Anstrengung erfordernde Beschäftigung, vorzüglich Gartenarbeit. Schwache Kranke lässt man bei warmem Wetter zweckmässig den ganzen Tag auf Bettstühlen im Freien liegen.

Von wesentlicher Bedeutung für das Getriebe der Irrenanstalt erscheint mir die grundsätzliche Verbannung des Alkohols als Genuss mittel. Es ist ja von vornherein selbstverständlich, dass ein so stark wirkendes Nervengift auf die geschädigte Hirn-

Diätetische Massregeln.

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rinde unserer Kranken nur einen ungünstigen Einfluss haben kann. Die Erfahrung lehrt uns aber auch unzweideutig, dass in jeder Irrenanstalt eine grössere Zahl von Kranken lebt, die des Schutzes vor dem Alkohol mehr oder weniger dringend bedürfen, namentlich Trinker und Epileptiker, aber auch Para- lytiker, Hypomanische, Hebephrene. Ich habe reichlich Ge- legenheit gehabt, die Erregungen zu beobachten, die durch das Bier, im gewöhnlichen Tageslaufe wie bei Festen, erzeugt wurden, manchmal auch durch die Entziehung desselben aus ärztlichen Gründen. Gegen diese Übel gibt es nur ein Heil- mittel, die völlige Ausschliessung des Alkoholgenusses für Kranke und Personal aus der Anstalt. *) Nach meinen etwa, zehn- jährigen Erfahrungen kann ich jene Massregel nur auf das wärmste empfehlen; sie ist leicht durchführbar und wirkt günstig auf den ganzen Geist der Anstalt.

Eine eigenartige Ausbildung hat die Sorge für die Körper- ernährung in der von Weir Mitchell und Play fair**) ein- geführten „Mastkur“ (feeding-cure) erhalten. Den leitenden Gesichtspunkt dieses Verfahrens bildet die möglichste Beschleu- nigung des Stoffumsatzes durch überreichliche Ernährung bei gleichzeitiger lebhafter Muskelarbeit ohne eigene Anstrengung. Den in Bettruhe gehaltenen Kranken werden in sehr kurzen Zwischenräumen grosse Mengen nahrhafter, leicht verdaulicher Esswaren (Milch, Fleisch, kräftige Suppen) zugeführt, während durch regelmässige, ausgiebige Massage und faradische Reizung die gesamte Körpermuskulatur bearbeitet wird. Dazu kommt als wich- tigster Punkt des Heilplanes die völlige Entfernung des Kranken aus den gewohnten Verhältnissen und die bedingungslose Unter- ordnung unter den ärztlichen Willen. Zweifellos spielt dieser psy- chische Eingriff bei der ganzen Kur eine äusserst bedeutsame Rolle. Die Erfolge sind in geeigneten Fällen staunenswerte; man darf solche aber nur auf dem Gebiete der eigentlichen Hysterie und zwar dort erwarten, wo keine tiefgreifende psychische Stö-

*) Hoppe, Neurolog. Centralblatt, XVII, 1074.

**) Weir Mitchell, fat and blood, 3. Aufl. 1884; Playfair, Die systematische Behandlung der Nervosität und Hysterie, deutsch v. Tischler. 1883; Burkart, Volkmanns Klinische Vorträge, 245.

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V. Die Behandlung des Irreseins.

rung, sondern wo wesentlich dauernde grosse Willensschwäche (Lähmungen) besteht und die Ernährung tief gesunken ist.

Ganz besondere Berücksichtigung erfordert die diätetische Behandlung der frisch Erkrankten. Hier handelt es sich vor allem um Beruhigung. Das beste Mittel zur Erreichung dieses Zweckes ist die Bettlagerung, die bisweilen schwierig, unter einigermassen günstigen Verhältnissen (ausreichendes, gut geschultes Personal) aber doch meistens durchführbar ist, in manchen Fällen erst nach einer vorbereitenden Badebehandlung. Bei einiger Geduld kann man durch diese harmlose Massregel, welche die Unterschiede in der Behandlung psychisch und körper- lich Kranker mehr und mehr verwischt, ganz ausserordentliche Er- folge erzielen. Dennoch hat sie sich merkwürdigerweise nur sehr langsam Bahn gebrochen. In Deutschland hat sich namentlich N e i s s e r *) in dieser Dichtung verdient gemacht. Bei uns ist es jetzt wohl überall anerkannt, dass alle frisch Erkrankten zu- nächst und unter Umständen für längere Zeit ins Bett gehören. Ferner wird man jene blutleeren und schwächlichen Kranken, die durch ängstliches Herumlaufen ihre Kräfte zu erschöpfen drohen, die Nahrungs Verweigerer, endlich die Unruhigen so lange wie irgend möglich im Bett zu erhalten suchen, natürlich sämtlich unter dauernder Überwachung. Jede Anwendung von Gewalt ist dabei vom Übel, weil sie die Erregung nur steigert. Gedul- diges Zureden und vorübergehendes Gewährenlassen führen weit besser zum Ziel. Niemand wird sich der augenfälligen Erfahrung entziehen können, dass die Aufregungszustände aller Art weit milder im Bette verlaufen, als ausserhalb desselben. In schwie- rigeren Fällen sinnloser Unruhe, namentlich im Collapsdelirium, in epileptischen, katatonischen und paralytischen Dämmerzustän- den, erweisen sich die Betten mit hohen gepolsterten Seitenwänden als ungemein zweckmässig. Ruhige Kranke, die der Bettruhe bedürfen (Melancholische, Gehemmte, Negativistische), wird man nach einiger Zeit für Stunden täglich aufstehen, in den Garten gehen, im Freien ruhen lassen, um ihnen den Genuss frischer

*) Neisser, Berliner klin. Wochenschr. 1890, 38; Allgem. Zeitschr. f. Psych., L, 1893; Zeitschr. f. praktische Ärzte. 1900, 18' u. 19; Sdrieux et Farnarier, Annales mddico-psyckol., VIII, 11, 61, 1900; Wizel, ebenda, VIII, 13, 56, 1901; Bernardini, Rivista sperim. di freniatria, XXVI, 233.

Diätetische Massregeln.

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Luft zu gewähren und den erschlaffenden Wirkungen langen Bett- liegens entgegenzuarbeiten. Ganser lässt solche Kranke regel- mässig massieren.

Als letztes Auskunftsmittel bei der Behandlung unruhiger Kranker gilt die Separierung in offenem oder die Isolie- rung in geschlossenem Einzelzimmer. Die erstere, die ja nur mit Einwilligung des Kranken möglich ist, hat sehr häufig eine günstige Wirkung, da sie äussere Reize bis zu einem gewissen Grade abschliesst. Sie ist bei sich selbst gefährlichen Kranken nur unter besonderer Aufsicht durchführbar und scheitert oft genug daran, dass der erregte Kranke eben nicht in dem ihm angewiesenen Raume bleibt oder sich dort unmöglich macht. Schliesst man nunmehr die Türe, so verzichtet man damit auf die weitere Überwachung, wenn man nicht die hässliche Ein- richtung der Gucklöcher oder Beobachtungsfensterchen aus dem Gefängnisse herübernehmen und eine ständige Wache vor die Türe stellen will. Tatsächlich pflegen sich in den Isolierzimmern oder „Tobzellen“ alsbald eine Reihe der schwersten Übelstände zu ent- wickeln. Die Kranken zerreissen rücksichtslos ihr Bettzeug und ihre Kleidung, bis man am Ende genötigt ist, sie nackt mit einem Haufen Stroh oder Seegras auszustatten; sie zertrümmern ihr Essgeschirr und zerkratzen mit den Bruchstücken die Wände, so dass man zu Schüsseln aus Leder, Pappe oder Brotteig, zu Nacht- geschirren und Bechern aus Gummi oder Leder greift, ohne doch damit wirkliche Abhilfe zu schaffen. Alle möglichen Trümmer, zusammengedrehte Leinwandtücher mit Steineinlagen, verknotete Wolldecken, abgebrochene Löffelstiele, wuchtig geschwungene Nachtgeschirre, ohne oder mit Inhalt, werden zu Waffen, die den eintretenden Arzt oder Pfleger sehr unangenehm überraschen können; ein eingeschmuggeltes Streichhölzchen gibt die Möglich- keit gefährlicher Brandstiftungen, denen schon mehr als ein Kranker erlegen ist. Absichtliche oder unabsichtliche Selbstver- letzungen, Verschlucken von Scherben, Erdrosselung mit Bett- tuchstreifen, Schnittwunden durch Glassplitter, Aufreissen des Skrotums, Anrennen des Kopfes gegen die Wand und ähnliche Dinge vollziehen sich in der Abgeschiedenheit des Isolierzimmers,, ohne dass es bemerkt wird, namentlich, wenn noch Doppeltüren eingerichtet sind, damit kein Laut nach aussen dringt. Endlich

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V. Die Behandlung des Irreseins.

beginnen die Kranken meist sehr bald, zu onanieren und zu schmieren. Nicht nur ihr Essen, sondern auch ihre Ausleerungen, die sie längere Zeit, nicht zur Verbesserung ihrer Zimmer luft, bei sich beherbergen müssen, dienen ihnen dazu, sich selbst, die Wände und Decke ihres Zimmers derart einzusalben und zu be- malen, dass der Eintretende aus dieser Genesungsstätte zurück- prallt.

Rechnet man dazu, dass längerer Aufenthalt im Isolierzimmer auch den Eintritt der Verblödung begünstigt, dass auf diese Weise jene „Anstaltsartefakte“ zu stände kommen, die durch ihre V er- wilderung den Schrecken ihrer Umgebung bilden, so kann darüber kein Zweifel sein, dass die Isolierung ein Übel ist, welches man sobald wie möglich beseitigen sollte. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Leider aber stellen sich der Durchführung jener Forderung vielfach ernste Hindernisse entgegen. Will man die Absperrung einzelner Kranker aus dem Anstaltsgetriebe gänzlich vermeiden und den einzig richtigen Grundsatz unausgesetzter Beaufsichtigung und Pflege jedes Einzelnen restlos durchführen, so bedarf es dazu einer ganzen Reihe von Einrichtungen, die zum Teil erheb- liche Mittel erfordern, genügende Kräfte an Ärzten und V art- personal, zweckmässige Wachabteilungen und reichliche Gelegen- heit zu Dauerbädern bei Tag und bei Nacht. Wattenberg, Hoppe und Andere haben allerdings gezeigt, dass auch unter den schwierigsten Bedingungen die „zellenlose“ Behandlung*) ver- wirklicht werden kann. Allein es muss doch immer die Frage aufgeworfen werden, ob man unter allen Umständen berechtigt ist, von der Isolierung eines erregten Kranken abzusehen, auch dann, wenn dadurch ernste Gefahren und Schädigungen für die ebenfalls unserer Obhut übergebenen Mitkranken verbunden sind. Dass unter günstigen Verhältnissen die Isolierung grundsätz- lich aufgegeben werden kann, und dass damit ein unvergleich- licher Fortschritt in unserer Krankenbehandlung herbeigeführt wird, steht für mich fest. Dennoch würde ich in einem beson- deren Ausnahmefalle, namentlich bei gefährlichen V erbrechern,

*) Wattenberg, Allgem. Zeitschr. f. Psych., LII, 928; Heil- bronn er, ebenda, LIH, 717; Hoppe, ebenda, LIV, 910; Psychiatr. Wochen- schrift, III, 30; IV, 13; Kalmus, ebenda, II, 49; Wattenberg, eben- da, 1903, 1; Mercklin, ebenda, 1903, 81.

Diätetische Massregeln.

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nicht zögern, zur Isolierung zu greifen, sobald es keinen anderen Weg mehl* gäbe, der Umgebung diejenige Sicherheit zu. verschaf- fen, auf die sie gegründeten Anspruch hat.

In dem Heilapparate der älteren Anstalten spielte zur Un- schädlichmachung der Kranken und zur Bekämpfung der Auf- regung eine grosse Rolle die mechanische Beschränkung durch Zwangsjacke, Zwangsstühle, Zwangsbetten, Gürtel mit Hand- schuhen u. s. 1, alles Vorrichtungen, die dazu dienten, den Kran- ken an dem freien Gebrauche seiner Glieder zu hindern und ihn in einer bestimmten Lage festzuhalten. Es ist namentlich das Verdienst des Engländers Conolly*), auf die Unzweckmässig- keit, ja Gefährlichkeit dieser Zwangsmassregeln mit allem Nach- drucke hingewiesen zu haben. Sie steigern die Unruhe und Auf- regung des Kranken, der sich abmüht, sich frei zu machen; sie erbittern ihn gegen seine Ärzte und Pfleger, die meist erst nach hartem Kampfe die verhasste Beschränkung durchzuführen ver- mögen, und sie verderben das Pflegepersonal, welches im Ver- trauen auf die rohe Gewalt kein Bedürfnis empfindet, selbst engere Fühlung mit den Kranken zu gewinnen und dieselben nicht sowohl durch die Furcht, als vielmehr durch die kleinen Kunstgriffe des hilfsbereiten Wohlwollens beherrschen zu lernen. Aus diesem Grunde spielt das „Restraint“, die mechanische Beschränkung, zwar* in schlecht eingerichteten Krankenhäusern und in den häus- lichen Verhältnissen, zumal bei der weit verbreiteten übertrie- benen Angst vor Geisteskranken, leider noch eine gewisse Rolle das mustergültige Anstaltsleben kennt sie nicht mehr. Wir dürfen heute ohne weiteres sagen, dass die häufigere Anwendung von Zwangsmitteln irgendwelcher Art in einer Anstalt mit Be- stimmtheit entweder auf schlechte Einrichtungen oder aber auf schlechte Ärzte zurückweist. Nur dort, wo die peinliche Durch- führung des No-restraintverfahrens ein grösseres Übel bedeuten würde, als die Beschränkung selbst, wo z. B. das Leben des Kranken in Gefahr schwebt, wie bei schweren chirurgischen Er- krankungen, unter Umständen auch bei schwierigen Reisen mit sehr gefährlichen und aufgeregten Kranken, kann die menschliche

*) C o n o 1 1 y , Die Behandlung der Irren ohne mechanischen Zwang,, deutsch von Brosius. 1860; Klinke, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie,. XLIX, 5.

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V. Die Behandlung des Irreseins.

und ärztliche Berechtigung der Zwangsmittel nicht zweifelhaft sein.

In der Regel wird man mit dem einfachen Festbinden durch Betttücher, Handtücher und dergl. auskommen. Bei wirklich grosser Gefahr wird man endlich nicht zögern, zur Anwendung der Zwangsjacke zu greifen, doch kann ich z. B. mitteilen, dass ich in den letzten sechzehn Jahren keinen Fall mehr erlebt habe, in dem diese Massregel notwendig geworden wäre. Nur ein einziges Mal während dieser Zeit war ich genötigt, einen sehr unruhigen Kranken wegen lebensgefährlicher Blutungen nach einer Operation mit Tüchern im Bett festbinden zu lassen. Die Zwangsjacke ist eine vorn geschlossene, hinten verschnürbare Jacke von starkem Segeltuche mit langen Ärmeln ohne Öffnungen, mit Hilfe deren die Arme über der Brust gekreuzt festgehalten werden können. Bei sehr fester Anlegung und langem Liegen derselben entstehen leicht Hautabschürfungen und Druckbrand an den gefährdeten Stellen; sie muss daher öfters gelockert und womöglich täglich einige Stunden abgelegt werden. Kein mechanisch be- schränkter Kranker darf ohne beständige Auf- sicht gelassen werden; es kommt vor, dass er sich selbst befreit oder gar erdrosselt.

C. Psychische Behandlung.

Besonders der Kampf um die Anwendbarkeit der mechanischen Beschränkung ist es gewesen, der die Ausbildung einer planvollen .psychischen Behandlung*) der Geisteskranken angebahnt hat. Je weniger Arzt und Pflegepersonal gegenüber den Auf- regungszuständen ihre Zuflucht zur nackten Gewalt nehmen konn- ten, desto mehr mussten sie darauf bedacht sein, sich durch das Mittel der psychischen Einwirkung Macht über ihre Pflege- befohlenen zu verschaffen. Die Aufgaben dieser Behandlungsweise sind es, einerseits die Krankheitserscheinungen zurückzudrängen,

*) Reil, Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttungen. 1803; Löwenfeld, Lehrbuch der gesamten Psycho- therapie. 1897; Ziehen, Psychotherapie. 1898; v. Sch renk- Notzing, Psychotherapie in Eulenburgs Realencyklopädie der gesamten Heilkunde.

Psychische Behandlung.

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andererseits die gesunden Vorstellungen und Gefühle zu kräftigen und ihnen schliesslich zum Siege über die krankhaften Störungen zu verhelfen. Es liegt auf der Hand, dass sich für die Lösung dieser Aufgaben bei der Mannigfaltigkeit der Persönlichkeiten, die den Angriffspunkt des irrenärztlichen Handelns bilden, ins Einzelne gehende Vorschriften nicht geben lassen, sondern dass jenes Ziel in jedem Falle wieder auf anderem Wege erreicht werden muss, dessen Auffindung und geschickte Verfolgung je- weils der Einsicht und Erfahrung des Arztes überlassen bleibt.

Mit Recht wird daher wegen dieser grossen persönlichen V er- antwortlichkeit vom Irrenarzte noch eine Summe besonderer gei- stiger Eigenschaften gefordert: „wohlwollender Sinn, grosse Ge- duld, Selbstbeherrschung, eine besondere Freiheit von allen Vor- urteilen, ein aus einer reichen Weltkenntnis geschöpftes Ver- ständnis der Menschen, Gewandtheit der Konversation und eine besondere Neigung zu seinem Beruf, die ihn allein übei dessen vielfache Mühen und Anstrengungen hinwegsetzt“*). So ausgerüstet, wird er imstande sein, dem Kranken nicht nur ein Arzt, sondern zugleich ein Erzieher und Freund zu werden, nicht nur den körperlichen Grundlagen der Geistesstörung seine Aufmerksamkeit zuzuwenden, sondern durch die Macht seiner Persönlichkeit verständnisvoll auch die krankhaften psy- chischen Erscheinungen selbst zu bekämpfen. Wir kt schon bei körperlicher Erkrankung der Arzt häufig genug eben- so sehr* durch seine persönlichen Eigenschaften wie durch di© Arznei, so erweitert sich hier das Feld der psychischen Behandlung selbstverständlich in ganz ausserordentlichem Masse.

Gerade aus diesem Grunde hat Ludwig**) wiederholt mit besonderer Wärme die Verwendung weiblicher Ärzte für die weiblichen Geisteskranken empfohlen. Er ist der Meinung, dass einerseits die Frau ein viel tiefer dringendes Verständnis für das Seelenleben ihrer Geschlechtsgenossinnen besitzen wird, und dass andererseits diese weit leichter ihr© innersten Regungen einem Weibe vertrauen würden, also mehr Trost und Erleichterung bei ihr finden könnten. Dazu kommt, dass ja vielfach das Er-

*) Griesinger, Pathol. u. Therapie der psych. Krankheiten, 4. Aufl., 533.

**) Ludwig, Centralblatt f. Psychiatrie, 1899, 129.

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V. Die Behandlung des Irreseins.

scheinen des Mannes auf der Frauenabteilung stark erregend wirkt, und dass sich in der Krankheit Auftritte abspielen können, deren Erinnerung für die Genesene doppelt peinlich ist, wenn der Arzt Zeuge derselben war. Endlich lässt sich nicht verkennen, dass die nötigen körperlichen Untersuchungen, namentlich bei geschlecht- lich erregten weiblichen Kranken, sehr viel zweckmässiger durch weibliche Ärzte vorzunehmen wären. Da man andenvärts mit dieser Einrichtung gute Erfahrungen gemacht hat, wird sie sich voraussichtlich auch bei uns einbürgern, sobald einmal brauchbare Kräfte zur Verfügung stehen.

Der oberste Grundsatz in der psychischen Behandlung der Geisteskranken ist Offenheit und unbedingte Wahr- heitsliebe. Gerade hier wird von Laien und Ärzten immer wieder schwer gefehlt. Man scheut sich in ganz unsinniger und ungerechtfertigter Weise, einem Geisteskranken zu sagen, dass man ihn für krank hält, während diese Erkenntnis doch die erste Grundlage für die ganze Behandlung und nicht selten für den Leidenden selbst geradezu eine Erlösung bedeutet. Freilich gibt es viele Kranke, die sich für völlig gesund halten, aber auch hier hat das unselige Versteckspiel, welches so häufig mit ihnen ge- trieben wird, schlechterdings keinen Nutzen, da die Kranken ja doch durch die Art, wie man sie behandelt, zn der Erkenntnis kommen müssen, dass man bei ihnen eine geistige Störung ver- mutet. Es muss unter allen Umständen für verwerflich erklärt werden, einen Geisteskranken, in welcher Absicht immer, zu täuschen, um ihn zu irgendwelchen notwendigen Massregeln zu bewegen (Einnehmen von Arzneien, Verbringung in die Anstalt), zu denen man seine Zustimmung nicht erreichen zu können glaubt. Weit besser ist es, ihm ruhig und freundlich, aber fest zu erklären, was man von ihm will und zu welchem Zwecke. Man wird dabei fast immer sein Ziel schliesslich erreichen. Im äussersten Not- fälle greife man lieber zur Gewalt, der sich besonnene Kranke regelmässig fügen, wenn sie keinen andern Ausweg sehen. Sie werden ein derartiges Vorgehen stets leichter verzeihen, als die List, deren unvermeidliche Aufdeckung sehr gewöhnlich ein un- ausrottbares Misstrauen im Gefolge hat. Ebenso notwendig ist es, dem Kranken niemals eine Versprechung zu machen, die man nicht zu halten gesonnen oder imstande ist. Andernfalls ver-

Psychische Behandlung.

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scherzt man dauernd sein Vertrauen und verliert damit die Grund- lage jeder weiteren Behandlung.

Den Wahnideen der Kranken gegenüber wird sich der Arzt stets einfach ablehnend verhalten. Er wird ihnen weder durch scheinbares Zustimmen neue Nahrung geben, noch sie in langen Auseinandersetzungen ausführlich bekämpfen, noch viel weniger aber etwa sie ins Lächerliche ziehen und dadurch die Kranken erbittern. Der Beantwortung in gereiztem Tone gestellter, her- ausfordernder Fragen weiche man in ruhiger Weise aus, ohne aber dabei den ärztlichen Standpunkt irgendwie zu verleugnen. Ich brauche kaum hinzuzufügen, dass der Grundsatz unbedingter Offenheit durchaus nicht dahin führen darf, ohne zwingenden An- lass hartnäckig jeder krankhaften Äusserung zu widersprechen, die der Kranke etwa fallen lässt. Vielfach, namentlich bei schwachsinnigen (paralytischen) oder sehr gereizten Kranken wild man sich auf die gelegentliche Feststellung der Krankhaftigkeit des Zustandes beschränken, die geäusserten Wahnideen übergehen, unbeachtet lassen und nur die krankhaften Handlungen verhindern, soweit sie eine Schädigung des eigenen oder des Wohles der übrigen Kranken in sich schliessen.

Auch in Bezug auf diesen letzteren Punkt wird es sich in der Hauptsache darum handeln, nach Möglichkeit die schlimmen Wirkungen derjenigen Krankheitsäusserungen abzuschwächen, die man durch die Behandlung nicht verhüten kann. Zu diesem Zwecke versetzt man den Kranken in eine Umgebung, in welcher die Ge- fahr des Selbstmordes, der Selbstbeschädigung, der Gewalttätig- keit, der Zerstörungssucht, Unreinlichkeit u. s. f. durch Über- wachung und besondere Einrichtungen, so weit irgend angängig, eingeschränkt ist. In der Abgeschlossenheit einer Wachabteilung ist der Kranke in Wirklichkeit viel freier, als zu Hause, wo jeder seiner Handlungen wegen der möglichen schweren Folgen sogleich Widerstand entgegengesetzt werden muss. Abgesehen von der Durchführung unumgänglicher ärztlicher Massnahmen lasse man den Kranken recht frei gewähren und erbittere ihn nicht durch kleinliche Bevormundung oder häufige Ermahnungen. Nur die Rücksicht auf ernstere Missstände oder Gefahren wird den Arzt veranlassen, dem Treiben des Kranken freundlich, aber mit Ent- schiedenheit entgegenzutreten. Er wird dann, wenn es durchaus

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V. Die Behandlung des Irreseins.

sein muss und alles gütliche Zureden umsonst geblieben ist, auch vor der Anwendung der Gewalt nicht zurückschrecken, um eine als notwendig erkannte Massregel durchzuführen. Natürlich soll auch jetzt so schonend wie irgend möglich vorgegangen und jede Anknüpfung zu gütlicher Erreichung des Zieles benutzt werden.

Unter keinen Umständen soll irgend eine vom Arzte angeord- nete oder durchgeführte Massregel den Anschein der Diszipli- nierung tragen. Die Versetzung auf eine andere Abteilung, die Entziehung des Ausganges, die Absonderung soll durchaus immer nur aus rein ärztlichen Gründen geschehen, um drohendem Unheil zu begegnen. Sobald diese Gründe hinfällig geworden sind, wer- den auch die durch sie bedingten Anordnungen fallen müssen. Gerade darum ist es verwerflich, die Gewährung kleiner harm- loser Vergünstigungen, die Verabreichung von Tabak oder be- sonderen Verordnungen aufgeregten Kranken zu entziehen oder gar sie mit kalten Bädern und Douchen zu behandeln, um sie zu geordneterem Benehmen zu veranlassen. Solche Erziehungs- versuche nützen gar nichts, erbittern aber die Kranken und nähren im Personal die ohnedies noch allzu fest wurzelnde Vorstellung, dass die Kranken schon artig sein könnten, wenn sie nur wollten.

Bei allen mehr oder weniger rasch sich abspielenden Formen der Geistesstörung ist die Aufgabe der psychischen Behandlung wesentlich eine abwartende. Überall handelt es sich hier um krankhafte Erregungszustände des Gehirns, die vor allen Dingen Ruhe und immer wieder Ruhe fordern. Der Arzt hat daher in erster Linie für die möglichste Fernhaltung aller äusseren und inneren Reize zu sorgen. Dahin gehören namentlich der Verkehr mit den nächsten Angehörigen, die lebhaften Gefühlsbeziehungen, die aus der täglichen Umgebung, dem Berufe der Kranken, aus langen Unterredungen, Vorhaltungen, ja oft auch aus wohlgemein- ten Trostworten entspringen. Darum werden in der ersten Zeit der Krankheit, so lange lebhafte gemütliche Erregbarkeit besteht, die Besuche auf das äusserste einzuschränken sein, während sie späterhin sehr wertvoll sein können, um das Band zu den früheren Lebensbeziehungen wieder anzuknüpfen. Auf jede eigentliche Tätigkeit muss verzichtet werden, da das erkrankte Gehirn zu seiner Genesung durchaus der sorgfältigsten Schonung bedarf. Vielfach erfüllt sich diese Vorschrift ganz von selbst, wreil der

Psychische Behandlung.

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Kranke zu jeder geordneten oder andauernden Beschäftigung un- fähig ist. Bei manischen und erregten paralytischen Kranken, bei denen man die Äusserungen des Betätigungsdranges nicht ab- schneiden kann, hat man wenigstens dafür Sorge zu tragen, dass alle jene Reibungen und Kämpfe wegfallen, die mit der Berufs- tätigkeit unzertrennlich verbunden sind.

Ferner versteht es sich ganz von selbst, dass alle aufregen- den Auseinandersetzungen und Mitteilungen in dieser Zeit voll- ständig vermieden werden müssen. Auch ohne dass man den Kranken geradezu täuscht, wird es fast immer möglich sein, ihn vor allen Nachrichten zu bewahren, die voraussichtlich eine stärkere Erschütterung seines gemütlichen Gleichgewichtes her- beiführen könnten. Man wartet mit solchen unliebsamen Er- öffnungen bis zum Eintritte der Beruhigung, um auch dann den Boden vorher sorgfältig und schonend vorzubereiten. Nur dann, wenn dringende Gefahr besteht, dass dem Kranken eine schmerz- liche Nachricht auf keine Weise vorenthalten werden kann, ist es natürlich angezeigt, ihm dieselbe rechtzeitig in der richtigen Form zu überbringen, um einer unvorhergesehenen Entdeckung durch einen unglücklichen Zufall vorzubeugen.

Völlig unmöglich ist es, woran man zunächst denken könnte, den krankhaften Gefühlen und Vorstellungen auf demselben Wege beizukommen, auf dem man die Verstimmungen und Irrtümer der Gesunden bekämpft. Der Traurige, den man auf Bällen und Kon- zerten, auf Reisen oder in lustiger Gesellschaft aufzuheitern ver- sucht, wird nur desto schmerzlicher und peinvoller von allen äusseren Eindrücken berührt; die Bemühungen, aufsteigende Wahnideen durch Vernunftgründe zu widerlegen, bleiben ohn- mächtig gegenüber der Gewalt der inneren Vorgänge, aus denen jene letzteren sich immer von neuem erzeugen. Versetzung des Kranken in eine fremde, ihm gleichgültige und darum reizlose, ruhige Umgebung, in der man ihm Verständnis ohne Neugier, Wohlwollen ohne Aufdringlichkeit entgegenbringt, ist daher das erste Erfordernis für die Besserung seines Zustandes.

Auch im weiteren Verlaufe ist ein entscheidender Einfluss der psychischen Behandlung auf den Verlauf der Krankheit meist nicht erkennbar. Dennoch steht es fest, dass freundlicher, ver- ständiger Zuspruch das Herz des Ängstlichen und Niedergeschla-

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V. Die Behandlung des Irreseins.

genen erleichtern, geduldiges, gleichmässiges Entgegenkommen den Gereizten und Erregten beruhigen kann, wenn auch immer nur vorübergehend, ohne Nachhaltigkeit. Vielleicht sind aber diese fortgesetzten Bemühungen nach Ausgleichung der psychi- schen Schwankungen doch bis zu einem gewissen Grade geeignet, den natürlichen Heilungsvorgang zu unterstützen. Wir dürfen das wenigstens schliessen aus der Erfahrung, dass verkehrte psychische Behandlung, wie sie bisweilen durch Angehörige, schlechtes Personal oder andere Kranke geübt wird, ohne jeden Zweifel die Krankheitszustände nachhaltig verschlimmern kann. Geduld, liebevolles Eingehen auf die einzelne Persönlichkeit, Nach- giebigkeit ohne Schwäche auf der einen, gleichmässige Festig- keit ohne Starrheit auf der anderen Seite müssen die leitenden Gesichtspunkte für die ärztliche Tätigkeit abgeben.

Erst mit dem Beginne einer deutlichen Beruhigung des Kranken erfährt die Aufgabe der psychischen Behandlung eine gewisse Änderung. So lange die Aufmerksamkeit desselben zwangsweise durch die Störung selbst in Anspruch genommen wird und nur für krankhafte Gefühle und Vorstellungen im Bewusstsein Raum ge- geben ist, pflegt er für die Vorgänge der Aussenwelt meist wenig Sinn zu haben. Trotzdem er, der früher vielleicht keine Stunde müssig sein konnte, nun wochen- und monatelang die Hände in den Schoss legt oder sich in zwecklosem Bewegungsdrange er- schöpft, empfindet er doch keine Langeweile, da ihm mit der Fähigkeit auch der Antrieb zu nützlicher Tätigkeit verloren ge- gangen ist. Jeder Versuch, ihn in diesem Zustande wieder den gesunden Vorstellungen und Bestrebungen zugänglich zu machen, bleibt in der Regel ergebnislos und kann sogar durch die Eiregung, in die er den Kranken versetzt, geradezu schädlich wirken. All- mählich indessen tauchen auch die früheren, gesunden Gefühle und Gedankenkreise wieder hervor, und es gilt daher, ihnen die Aufmerksamkeit des Kranken mehr und mehr zuzuwenden. Je nach seiner Persönlichkeit gestalten sich dabei die Hilfsmittel und die Richtung der Heilbestrebungen natürlich äusserst ver- schieden.

Vor allem handelt es sich um die Auswahl einer passenden, wohl anregenden, aber nicht anstrengenden Beschäftigung, da sie am meisten geeignet ist, die Gedanken des Kranken von den

Psychische Behandlung.

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Zuständen des eigenen Innern abzuziehen und in ihm die Teilnahme an der Aussenwelt, an der gewohnten Tätigkeit wieder zu er- wecken. Unterhaltender Lesestoff, die Lösung leichter geistiger Aufgaben, Spiele aller Art, Musikübungen, andererseits körper- liche Arbeit, die sich den früheren Beschäftigungen möglichst anpasst, Handwerkerei, Garten- und Feldarbeit, Leibesübungen, bei Weibern Nähen, Waschen, Kochen und dergl. in mannigfachster Abwechselung, dienen in gleicher Weise der Erfüllung des Be- handlungszweckes. Damit können sich weiterhin Zerstreuungen, Besuche, Spaziergänge, gelegentliche kleine Festlichkeiten in vor- teilhafter Weise verbinden, während geräuschvolle Vergnügungen, Bälle, Theateraufführungen nach meiner Erfahrung weit mehr Schaden als Nutzen stiften und zu dem Wesen eines Kranken- hauses herzlich schlecht passen.

Eine besonders hervorragende Bolle spielt die Anleitung zu einer passenden Beschäftigung bei den sehr langsam verlaufenden Geistesstörungen und bei der krankhaften Veranlagung*). Wenn dort der eigentliche Krankheitsvorgang einigermassen zum Still- stände gekommen und eine gewisse Beruhigung eingetreten ist, finden wir in der geregelten Tätigkeit das Mittel, die gesunden Vorstellungskreise und Strebungen wieder anzuregen. Nament- lich in den Endzuständen der Dementia praecox, die unsere An- stalten füllen, liegt bei dem Verluste der Willensregsamkeit die Gefahr des geistigen Versinkens ungemein nahe. Ihr wirkt die Heranziehung zu den früher gewohnten Beschäftigungen erfolg- reich entgegen; sie erweckt in den anscheinend völlig stumpfen und unfähigen Kranken oft noch eine überraschende Menge von Fertigkeiten, deren Übung und Pflege wenigstens einen beschei- denen Rest von Selbständigkeit und geistigem Leben zu retten er- möglicht. Gilt es hier, die fehlende Tatkraft durch äussere An- regung zu ersetzen, so haben wir bei vielen Psychopathen das mangelnde Selbstvertrauen, das krankhafte Gefühl der Unfähig- keit und Schonungsbedürftigkeit durch die Anleitung zur Arbeit zu bekämpfen. Während das Nichtstun und Erholen diese Zu- stände entschieden verschlechtert, räumt die planmässige Er-

*) Grohmann, Technisches und Psychologisches in der Beschäftigung von Nervenkranken. 1899.

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V. Die Behandlung des Irreseins.

Ziehung zur Arbeit und die Übung nach und nach die Hindernisse aus dem Wege, weckt die Freude am Schaffen und hebt das Gefühl der eigenen Leistungsfähigkeit. Auch für die Schreck- neurose gelten dieselben Gesichtspunkte.

Weit weniger Erfolg kann man sich von dem Versuche \er- sprechen, durch besondere psychische Einwirkungen das Zurück- treten der krankhaften Störungen zu beschleunigen und die ge- sunden Vorgänge zu unterstützen. Durch scharfsinnige Über- redungskünste wird man dabei kaum mehr erreichen, als durch das Leuretsche „Intimidations-System“, welches einstmals jede krankhafte Äusserung durch die Douche zu unterdrücken und so das Irresein zu heilen suchte. So pflegte Gudden von einem Kranken J a c o b i s zu erzählen, der sich für Gott hielt und durch planmässige Einschüchterung zur Ableugnung dieses Wahnes gebracht worden war. Als er „geheilt“ die ersten Schritte aus der Anstalt getan hatte, drehte er sich um und bedrohte alle seme Peiniger mit den furchtbarsten Strafen, die auf seinen, Gottes, Wink unfehlbar hereinbrechen würden. Wo die Fähigkeit einer gesunden Beurteilung durch die Krankheit dauernd^ oder, vorüoer- gehend aufgehoben ist, wird natürlich selbst die Verweisung auf den Augenschein machtlos, da sie ja eben das Urteil anruft.. Aus diesem Grunde beruhen denn auch die in der Jugend der Psychiatrie bei Hypochondern bisweilen vorgenommenen Scheineingriff e, . um ihnen Tiere und dergl. aus dem Leibe zu holen, durchaus auf einer naiven Verkennung des Wesens der Geistesstörung.

Ein überaus verführerischer Ausblick schien sich in neuerer Zeit der psychischen Behandlung des Irreseins durch die staunen- erregenden Tatsachen der suggestiven Beeinflussung in der Hyp- nose*) eröffnen zu wollen. Wenn es auf dem angedeuteten V ege gelingt, über die Wahrnehmungen, die Gedanken, den Willen eines Menschen nicht nur für den Augenblick, sondern auch für längere Zeit und sogar ohne sein Wissen eine fast unumschränkte Herr-

*) Wetterstrand, Der Hypnotismus und seine Anwendung in der praktischen Medizin. 1891; Bernheim, Neue Studien über Hypnotismus, Suggestion und Psychotherapie, deutsch von Freud. 1893; Hecker, Iljp- nose und Suggestion im Dienste der Heilkunde. 1893; Lloyd Tuckey, Psychotherapie oder Behandlung mittelst Hypnotismus und Suggestion, deutle von Tatzel. 1895; Löwenfeld, Der Hypnotismus. 1901.

Psychische Behandlung.

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schaft zu erlangen, so muss ein solches Verfahren gerade für den Irrenarzt, dem die Beseitigung krankhafter Erscheinungen auf allen jenen Gebieten anheimfällt, von kaum hoch genug zu schät- zendem Werte sein. Leider hat die Erfahrung diese Erwartung bisher nur in geringem Masse gerechtfertigt. So leicht es ge- wöhnlich gelingt, geistig gesunde Menschen dem Einflüsse der Hypnose zu unterwerfen und sie dabei von allem möglichen Schmerz und Unbehagen zu befreien, so wenig zugänglich er- weisen sich zumeist Geisteskranke für jenes Heilmittel. Die Macht der Suggestion ist hier, wahrscheinlich wegen der häufigen Aufmerksamkeitsstörungen und lebhaften Eigensuggestionen, eine weit geringere, als unter gewöhnlichen Verhältnissen. Aus diesem Grunde fällt es nicht nur im allgemeinen schwerer, Geisteskranke zu hypnotisieren, sondern der Einfluss des Arztes wird auch fast niemals ein so wirksamer und namentlich nachhaltiger. So ist es z. B. nicht möglich, in der Hypnose etwa eingewurzelte Wahnideen auszureden, die wir ja gewissermassen als dauernde Eigensugge- stionen auf fassen können. Dagegen scheinen Sinnestäuschungen, Appetit- und Schlafstörungen immerhin der hypnotischen Behand- lung bis zu einem gewissen Grade zugänglich zu sein. Ebenso ver- mag sie bei der Befreiung von Alkohol und Morphium öfters gute Dienste zu leisten.

Am nächsten liegt es natürlich, die Suggestionen bei jenen Formen des Irreseins in Anwendung zu bringen, bei welchen er- fahrungsgemäss psychische Wirkungen ohnedies eine herrschende Rolle im Krankheitsbilde spielen, bei der Hysterie und der Ner- vosität. Ohne Zweifel ist es hier möglich, gelegentlich über- raschende Erfolge zu erzielen, wie schon die Paradefälle der „Heilmagnetiseure“ lehren; im ganzen aber scheinen doch vor- zugsweise diejenigen Formen jener Erkrankungen Vorteil von der hypnotischen Behandlung zu ziehen, bei denen die eigentlich psychopathischen Erscheinungen gegenüber den nervösen Be- schwerden zurücktreten. Zudem sind gerade hier hindernde Eigen- suggestionen sehr häufig, und es besteht immerhin die Gefahr der Entwicklung autohypnotischer Zustände, wenn dieselbe auch durch grosses Geschick des Arztes und geeignete Handhabung des Verfahrens meiner Überzeugung nach völlig vermieden werden kann. Auch bei der Schreckneurose sind die Erfolge der hyp-

Kraepelin, Psychiatrie I. 7. Aufl. 28

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V. Die Behandlung des Irreseins.

notischen Behandlung weniger glänzend, als man vielleicht hätte hoffen dürfen; dagegen ist die sogenannte monosymptomatische Hysterie, der ich auch aus diesem Grunde eine Sonderstellung einräumen möchte, dem heilenden Einflüsse der Suggestivbehand- lung in sehr erfreulicher Weise zugänglich. Bei den übrigen Formen des Entartungsirreseins, namentlich den Angstzuständen und dem Zwangsirresein, sind wohl oft vorübergehende, aber nur hie und da und nur bei grösster Geduld und Sachkenntnis dauernde Erfolge zu erzielen; auch die bis dahin für unheilbar geltende konträre Sexualempfindung ist in neuerer Zeit nicht ohne Nutzen auf diese Weise behandelt worden.

Wenn nach diesen Erwägungen der Wirkungsbereich der hyp- notischen Beeinflussung bei Geisteskranken heute auch ein weit beschränkterer genannt werden muss, als zunächst erwartet wer- den konnte, so liegt in dem bisher Erreichten doch die dringende Mahnung für den Irrenarzt, sich mit der Anwendung dieses Heil- verfahrens auf das eingehendste vertraut zu machen, sei es auch nur, um nicht durch unsachgemässes Vorgehen Schaden anzurichten. Die zweckmässigste und anscheinend ungefährlichste der bisher bekannten Anwendungsformen des Hypnotismus ist ohne Zweifel diejenige der mündlichen Suggestion, wie sie von Bernheim und seinen Schülern geübt wird. Von einer eingehenderen Be- schreibung derselben muss hier unter Hinweis auf die angeführten Werke abgesehen werden, vor allem deswegen, weil das ganze Verfahren nicht unbedeutende Anforderungen an die persönliche Gewandtheit und Geistesgegenwart des Arztes stellt und deshalb im einzelnen nur durch die Anschauung erlernt werden kann.

D. Behandlung einzelner Krankheitserseheinungen.

Ein Rückblick auf die ganze Reihe der Behandlungsmittel so verschiedener Art, die dem Irrenarzte zu Gebote stehen, lässt leicht erkennen, dass seine Tätigkeit sich im wesentlichen gegen die Krankheitszeichen richtet, wie das ja bei der ungenügenden Ausbildung unserer Ursachenlehre und den Schwierigkeiten, die Ursachen, selbst wo wir sie kennen, zu beseitigen, kaum anders erwartet werden darf. Nur in den wenigen Fällen, in denen als

Behandlung einzelner Krankheitserscheinungen.

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Entstehungsbedingungen des Irreseins Fieber, örtliche oder allge- meine Krankheiten, Vergiftungen, Neuralgien, Magen- und Darm- leiden, Erkrankungen der Nieren oder Geschlechtswerkzeuge, der Schilddrüse, Syphilis u. s. w. gegeben sind, kann unter Umständen von einer wirklich ursächlichen Behandlung die Rede sein, auf deren Einzelheiten wir hier natürlich nicht einzugehen haben. Dagegen ist es von Wichtigkeit, noch die Behandlung gewisser besonderer, bei verschiedenen Formen des Irreseins wiederkehren- der Krankheitserscheinungen einer kurzen Besprechung zu unterziehen.

Zunächst haben wir der p s y c h i s c h e n E r r e g u n g *) zu ge- denken, deren nachdrückliche Behandlung namentlich dann not- wendig wird, wenn sie eine Erschöpfung des Kranken herbeizu- führen droht. Vor allem wird man hier versuchen, die dauernde Bettruhe unter fortgesetzter Überwachung durchzuführen. Erweist sich das als unmöglich, so wird man bei den meisten Kranken durch die Anwendung warmer Dauerbäder ohne weiteres zum Ziele kommen, namentlich, wenn man im Anfänge die Durchführung dieser Massregel durch Arzneimittel (Trional, Sulfonal, Hyoscin) unterstützt. Stösst die Badebehandlung auf Schwierigkeiten, was namentlich bei katatonischen Erregungszuständen vorkommt, so schreitet man, unter Umständen ebenfalls unter Mitwirkung einer Arzneigabe, zu feuchtwarmen Wicklungen, an die sich der Kranke regelmässig sehr rasch gewöhnt, auch wenn er sich im Anfänge lebhaft sträubt. Dauert die Unruhe in der Wicklung fort, so wird der Kranke nach kurzer Zeit wieder befreit und versuchsweise ins Bad gebracht, um wieder in die Wicklung zurückzukehren, sobald die Behandlung auch dort nicht möglich ist. Eine regelmässige, geduldige Wiederholung dieses Wechsels hat mich, seitdem ich in der Lage war, ihn auch die Nacht hindurch fortsetzen zu können, selbst in den schwersten Fällen binnen wenigen Tage zum Ziele, d. h. dahin geführt, dass die Kranken ohne Schwierigkeit im Bade blieben. Die Anwendung von Betäubungsmitteln kann von diesem Augenblicke an fortfallen. Meist bleiben die Kranken nach einigen misslungenen Versuchen ganz ruhig in der Wicklung. Sie werden dann nach spätestens zwei Stunden ausgepackt und ins Bad ge-

*) Gross, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LVI, 953, 1899.

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V. Die Behandlung des Irreseins.

bracht; die nächste Wicklung folgt, sobald sie wieder aus dem Bade herausdrängen. Mit dem Eintritte einer gewissen Beruhigung wird immer von neuem der Versuch gemacht, die Kranken im Bett zu halten, aus dem sie dann nur noch zeitweise, bei vorüber- gehender Verschlimmerung des Zustandes, ins Bad zurückkehren. Dieses ganze, planmässig ausgebildete Verfahren, die Verbindung von Bettruhe, Bad und Packung, hat sich mir im Laufe der Jahre so vorzüglich bewährt, dass die Erregungszustände unserer Kran- ken ihre Schrecken für uns wesentlich verloren haben. Sollten indessen einmal, etwa bei einer schweren epileptischen Erregung, alle jene Hilfsmittel und ebenso die schon angeführten Arznei- mittel versagen, so würde nichts übrig bleiben, als den Kranken in einem mit Matratzen ausgelegten Zimmer unter beständiger Auf- sicht abzusondern, bis der Zustand die Rückkehr zu dem geschilder- ten Verfahren ermöglicht.

Bei der Behandlung ängstlicher Erregungen ist Opium und Morphium am Platze, besonders wo unangenehme Empfin- dungen, Schmerzen und dergl. bestehen. Die Bromsalze eignen sich mehr für die Zustände innerer Beunruhigung und er- höhter gemütlicher Reizbarkeit (epileptische Verstimmungen, Nervosität); bei der reizbaren Depression der Cirkulären leistet öfters die Verbindung von Brom mit Opium recht gute Dienste. Wo der allgemeine Kräftezustand sehr gesunken ist, wirkt bisweilen als bestes Beruhigungsmittel möglichst reichliche Ernährung, wenn es sein muss, durch die Schlundsonde. Ist die Erregung hauptsächlich die Folge von äusseren Einwirkungen, so hilft oft schon die Versetzung in eine andere Umgebung, das Zurückziehen in ein Einzelzimmer; in leichteren Fällen kommt man vielleicht mit der einfachen Ablenkung der Aufmerksamkeit, ja unter Umständen mit einem scherzhaften Worte, der Gewährung einer kleinen Vergünstigung über drohende Ausbrüche hinweg. Sehr wichtig ist es für Arzt und Pflegepersonal, derartige Kranke genau zu kennen und sie nach ihrer Eigenart zu behandeln. Bei den meist rasch verlaufenden Erregungen verblödeter Kranker genügt in der Regel die sofortige Bettlagerung oder die A er- bringung ins Bad; nur ausnahmsweise wird einmal eine Hyoscin- einspritzung nötig.

Für die Behandlung der Schlaflosigkeit wird man regel-

Behandlung einzelner Krankheitserscheinungen.

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massig zunächst mit diätetischen Massregeln auszukommen suchen. Bei chronischen Erkrankungen und kräftigem Körper ist aus- giebige Bewegung im Fteien (Holz- und Gartenarbeit), Turnen, Massage am Platze, während bei frischen und leicht erregbaren Kranken stärkere körperliche Anstrengungen meist gerade un- günstig auf den Schlaf wirken. Hier wird man verlängerte warme Bäder mit gleichzeitiger Abkühlung des Kopfes, feuchte Ein- packungen, Galvanisation des Kopfes, in geeigneten Fällen vielleicht hypnotische Beeinflussung ins Feld führen können. Mitunter ist auch schon durch Einführung einer Nachmittags- ruhe, Sorge für leicht verdauliches, frühzeitiges Abendessen, Ver- meidung des Lesens am Abend, Beseitigung von Thee und Kaffee, abendliche Darmentleerung, rechtzeitiges Schlafengehen, ausgie- biges Lüften des Schlafzimmers und dergl. viel zu erreichen. Muss man zu Arzneien greifen, so versuche man zuerst den Alkohol, dann die Bromsalze in mittleren Gaben. Nur im äussersten Not- fälle und nur bei acuten Erkrankungen darf ganz vorübergehend zu anderen Schlafmitteln, bezw. bei grosser Angst oder lebhaften Schmerzen zum Morphium oder Opium übergegangen werden, da es sehr schwierig werden kann, die viel mit Betäubungsmitteln behandelten Kranken wieder an den natürlichen Schlaf zu ge- wöhnen und ihnen die Arzneien zu entziehen.

Sehi* sorgfältige Beachtung seitens der gesamten Umgebung erheischt die Neigung zum Selbstmorde, die so häufig bei Angstzuständen, besonders bei gleichzeitiger Bewusstseins- trübung, aber auch bei ganz einfachen Verstimmungen ohne auf- fallendere Störung der Besonnenheit, in den Vordergrund tritt. Namentlich die letzteren Fälle sind es, welche die höchsten An- forderungen an die Wachsamkeit und Umsicht des Anstaltspersonals stellen. Die Gelegenheiten, die dem bisweilen mit voller Be- rechnung handelnden Kranken zur Ausführung seines selbstmör- derischen Planes dienen können, sind so überaus zahlreich und mannigfaltig, dass nur eine gereifte und mit allen Möglichkeiten vertraute Erfahrung die Aussicht hat, mit Erfolg dem krankhaften Streben entgegenzuarbeiten. Jeder Nagel, jede Glasscherbe, jedes Stück Blech kann zum tötlichen Werkzeuge in der Hand des ver- zweifelten Kranken werden; jeder unbewachte Augenblick kann Erhängen, Zusammenschnüren des Halses, Herunterspringen, Ver-

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V. Die Behandlung des Irreseins.

schlucken gefährlicher Gegenstände, kann die schwersten Ver- stümmelungen, Herausreissen der Augen, der Zunge, der Hoden zu stände kommen lassen, ja ich habe das Abbeissen der Zunge und ferner Bruch der Halswirbelsäule infolge eines mächtigen Stosses mit dem Kopfe gegen die Wand in Gegenwart des Pflege- personals erlebt. Glücklicherweise sind derartige Vorkommnisse nicht häufig, ja es scheint, dass durch die Anstalt 90 o/o und sogar noch mehr der sonst wahrscheinlichen Selbstmorde verhütet wer- den, aber es ist wünschenswert, sich der Unglücksfälle zu erinnern, damit sie auch nicht häufiger werden. Am gefährlichsten sind Melancholiker und Cirkuläre in der Depression ohne stärkere Hem- mung, da sie ihr Ziel oft mit grösster Hartnäckigkeit und vieler Überlegung zu erreichen suchen; aber auch Paralytiker und na- mentlich Katatoniker können, unter Umständen ganz unvermutet, schwere Selbstmordversuche machen. Bei den letzteren pflegen diese Versuche mit ausserordentlicher Tatkraft und ohne jede Rücksicht auf die Umgebung, bisweilen wochenlang fast ununter- brochen, ausgeführt zu werden, während die Paralytiker gewöhn- lich ohne Nachdruck und sehr unüberlegt ans Werk gehen. Die Selbstmordversuche der Hysterischen führen ebenfalls nur aus- nahmsweise zum -Ziel, da sie in der Regel schwächlich und thea- tralisch angelegt sind.

Die Neigung zum Zerstören entspringt bei unseren Kran- ken meist aus innerer Erregung, bisweilen aber auch aus der Langenweile und dem Mangel an zweckvoller Tätigkeit. Im letz- teren Falle soll durch Anleitung und Gelegenheit zu nützlicher Arbeit Abhilfe geschaffen werden. Da das am besten in grossen Anstalten mit genügender Mannigfaltigkeit der Bedürfnisse und Betriebe durchführbar ist, müssen arbeitsfähige Kranke sobald wie möglich in derartige Anstalten überführt werden. Bei erregten Kranken wird die Zerstörungssucht glatt und leicht durch die Be- handlung im Bett und im Dauerbade bekämpft. Hier fehlt den Kranken einerseits jeder Angriffspunkt; andererseits bietet das Wasser ein unerschöpfliches Mittel zur Befriedigung des Betäti- gungsdranges im Spritzen, Wirbeln, Klatschen, Tauchen. Bei einer Kranken, die uns durch ihre Zerstörungen in einem früheren manischen Anfalle ein kleines Vermögen kostete, habe ich den wirtschaftlichen Nutzen greifbar feststellen können, den die Dauer-

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bäder durch das Fortfallen jenes Krankheitszeichens gebracht haben. Die wahren Zerstörungskünstler, denen durchaus nichts widersteht, denen jeder Stein, jedes Drahtstückchen, jeder ab- gebrochene Löffelstiel zum vielseitigsten, vernichtendsten Werk- zeuge wird, bildet nur die Isolierung aus. Ihnen gegenüber sind alle „unzerreissbaren“ Kleider, alle „unzerstörbaren“ Geschirre und Einrichtungen gänzlich nutzlos. Mit der Durchführung der zellenlosen Behandlung werden sie aus unserem Anstaltsleben ver- schwinden.

Ganz Ähnliches gilt von einem weiteren Schrecken der irren- ärztlichen Tätigkeit, der Unreinlichkeit. Soweit wir es mit gelegentlichen Vorkommnissen zu tun haben, die bei gelähmten, gebrechlichen oder unruhigen und verwirrten Kranken eintreten, bietet die Verhütung und Beseitigung nichts Besonderes. Er- ziehung des Wartpersonals zur Aufmerksamkeit, geduldiges An- halten der Kranken zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse, unter Umständen regelmässige Eingiessungen zu vollständiger Ent- leerung des Darmes, endlich rasche Beseitigung jeder geschehenen Verunreinigung werden im allgemeinen zum Ziele führen. Weit schlimmer für den Kranken wie für seine Umgebung ist die scheussliche Gewohnheit des Schmierens. Da sie mit der Iso- lierung in innigstem Zusammenhänge steht, wird sie durch das Dauerbad, in dem die Sauberhaltung nicht die geringsten Schwie- rigkeiten bietet, ohne weiteres beseitigt. Auch bei der sonst recht mühsamen Behandlung sehr unbehilflicher unreiner Kranker leistet das Dauerbad die vorzüglichsten Dienste. In Ermanglung dessen pflegt man auch wohl die Lagerung auf Holzwolle oder Mooswatte anzuwenden.

Besondere Mühe hat man sich vielfach gegeben, die Mastur- bation zu bekämpfen. Oft verschwindet dieselbe mit der Ab- nahme der psychischen Erregung von selbst; in anderen, chro- nischen Fällen bleibt meist jede Behandlung erfolglos. Nicht ohne Wert ist vielleicht die Anwendung des Bromkalium; wichtiger bleibt indessen die diätetische Behandlung, Sorge für ruhigen Schlaf, Vermeidung müssiger Bettruhe, Regelung der Darmentleerung, ablenkende Beschäftigung, ausgiebige Bewegung im Freien bis zur Ermüdung, ferner kalte Waschungen, besonders Sitzbäder, end- lich eine aufmerksame, geduldige Überwachung und Erziehung.

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V. Die Behandlung des Irreseins.

Zum Schlüsse haben wir noch einer äusserst wichtigen Krank- heitserscheinung zu gedenken, deren Behandlung nicht selten recht grosse Schwierigkeiten verursacht, der Nahrungsverweige- rung*) (Sitophobie). In erster Linie wird man hier nach kör- perlichen Ursachen zu suchen haben, namentlich Magen- oder Mundkatarrhen oder Darmträgheit, die man durch geeignete Mass- regeln, Auswahl der Speisen, Ausspülen des Magens, Mundes oder Darmes, unter Umständen auch durch Arzneimittel zu bekämpfen hat. Nicht viel Erfolg habe ich von dem anscheinend auch nicht ganz ungefährlichen Orexin gesehen, welches zur Anregung der Esslust empfohlen worden ist.

Wenn wir absehen von der durch schwere Benommenheit bedingten Unfähigkeit, zu schlucken, hat die Nahrungsverweige- rung am Läufigsten ihren Grund in mannigfachen Wahnideen, Ver- giftungsfurcht, Glauben, nicht bezahlen zu können, das Essen nicht wert zu sein, Wunsch zu verhungern. Der beste Bundes- genosse ist immer der Hunger, der bisweilen nach einigen Tagen der Nahrungsverweigerung sein Recht so stark geltend macht, dass der Kranke dann mit wahrer Gier über die Vorgesetzten Speisen herfällt. Er wirkt am verführerischsten, wenn man sich um den Kranken scheinbar gar nicht kümmert, ihn mit dem Essen allein lässt und seine Nahrungsverweigerung möglichst wenig beachtet. Vieles Zureden oder gar Versuche, die Nahrung einzu- geben, pflegen den Widerstand rasch sehr erheblich zu verstärken. In anderen Fällen ist es mehr eine gewisse Willenlosigkeit, die den Kranken hindert, die wahnhaften Gegenvorstellungen zu über- winden; er isst, sobald man ihm den Löffel an den Mund führt. Anwendung von Gewalt dabei ist hier wie dort regelmässig vom Übel. Noch andere Formen der Nahrungsverweigerung kommen durch den Negativismus der Katatoniker sowie durch die Unruhe erregter Kranker zu stände, welche die Arbeit des Essens fort- während mit andersartigen Bewegungsantrieben durchkreuzt. Bis- weilen wechseln diese Zustände sehr rasch, und derselbe Kranke, der jetzt auf keine Weise zum Essen zu bringen war, nimmt vielleicht nach einer Viertelstunde freiwillig seine Nahrung zu sich, um kurze Zeit darauf wieder allen Versuchungen eigensinnig

*) Pfister, Die Abstinenz der Geisteskranken und ihre Behandlung. 1S99.

Behandlung einzelner Krankheitserscheinungen.

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zu widerstehen. Unermüdliche Geduld und genaue Ausnutzung aller kleinen Vorteile (z. B. Anregung der Nachahmung und des Appetits durch Mitessen) sowie möglichst sorgfältige Auswahl und Abwechselung der Speisen helfen meist über die aufgezählten Schwierigkeiten hinweg.

Allein es gibt Fälle, in denen alle Bemühungen des Arztes nach dieser Richtung hin fehlschlagen, und in denen schliess- lich, um der drohenden Gefahr der Erschöpfung und des Hunger- todes zu begegnen, zur künstlichen, zwangsmässigen Einbringung der Nahrung geschritten werden muss. Der Zeitpunkt, an welchem man zu diesem Auskunftsmittel greift, wird am besten durch die Körperwage bestimmt, weil sie den zuver- lässigsten Anhaltspunkt für die Beurteilung des Ernährungszustan- des liefert. Alle Kranken, die ungenügende Nahrung zu sich nehmen, müssen daher häufig, am besten jeden Tag, gewogen werden, damit man die Schnelligkeit der Gewichtsabnahme über- wachen kann. Am schlimmsten sind diejenigen Fälle, in denen die Kranken von langer Hand anfangen, immer weniger und weniger zu essen, um allmählich ganz aufzuhören; hier ist rasches Einschreiten dringend geboten, weil sonst leicht ein unaufhalt- samer Zusammenbruch erfolgt. Je nach dem Zustande des Kranken wird man spätestens 2 3 Tage nach Beginn der völligen Nahrungsverweigerung, bisweilen auch schon noch früher, mit der künstlichen Ernährung vorzugehen haben. Ist der Kranke kräftig, gut genährt und hört er plötzlich auf, zu essen, so kann man ruhig 6 8 Tage zuwarten. Der grimmige Hunger, der aller- dings bei langem Fasten schliesslich ausbleibt, wird dann dem- selben häufig ohnedies ein Ende machen. Ist die Nahrungsver- weigerung keine vollständige, geniesst der Kranke wenigstens noch Wasser, so hat man unter steter Berücksichtigung seines Ernährungszustandes selbst 10 12 Tage ohne Gefahr Zeit, bevor Zwangsmassregeln notwendig sind.

Ist man über die Notwendigkeit eines Eingriffes im klaren, so schreite man ohne weiteres zur Sondenernährung, die in den Händen des geübten Arztes eine sehr einfache und völlig harm- lose Massregel darstellt, nicht gefährlicher, als eine Einspritzung unter die Haut. Das gewaltsame Einschütten von Nahrung in die Backentaschen, das Eindringen in die Zahnreihe mit Löffeln

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V. Die Behandlung deß Irreseins.

und Schnabeltassen, das immer noch gelegentlich wieder em- pfohlen wird, ist bei widerstrebenden oder gar besinnungslosen Kranken durchaus zu verwerfen und unter Umständen sehr be- denklich. Das einzig richtige Verfahren ist die Eingiessung lau- warmer, passend zusammengesetzter Flüssigkeiten mittelst Trichter und Sonde in den Magen. Die Sonde wird durch den Mund oder besser durch die Nase eingeführt, die vorher möglichst von Krusten und Schleim gereinigt werden. Das erstere Verfahren zwingt bei starkem Widerstande des Kranken zu gewaltsamer Eröffnung und Offenhaltung der Zahnreihe durch keilartige Werk- zeuge (He ist ersehe Mundsperre), die sogar zu Verletzungen führen kann; letzteres Vorgehen macht den Arzt vom Widerstande des Kranken wesentlich imabhängig, misslingt aber leichter. Bei jeder Fütterung muss der Kranke durch sichere Hände zuverlässig festgehalten werden, um unvermutete störende Bewegungen zu verhindern; das Vorschieben der aus weichem, biegsamem Stoffe bestehenden Sonde (Jacques Patent oder dickwandiger Gummi- schlauch mit Endöffnung) geschieht langsam und ohne die mindeste Gewalt. In der Regel gleitet dieselbe mit Hilfe einer reflektorisch ausgelösten Schluckbewegung glatt in die Speiseröhre hinein; bei sehr widerstrebenden Kranken kann es indessen Vorkommen, dass sie von ihrer Bahn nach vorn zu abgelenkt wird und sich im Munde zusammenknäuelt. Hier muss man geduldig wiederholt von neuem versuchen, zum Ziele zu kommen; im Notfälle bleibt dann immer noch der Weg durch den Mund unter der sicheren Führung des durch eine Metallhülse vor Bissen geschützten Fingers.

Von grosser Wichtigkeit ist es, sich davon zu überzeugen, dass die Sonde den richtigen Weg genommen hat und nicht in den Kehlkopf gelangt ist. Bei gelähmten und sehr unempfindlichen Kranken können nämlich die sonst das Eindringen eines Fremd- körpers in die Luftwege begleitenden Erscheinungen der höchsten Atemnot und der stürmischen Reflexbewegungen gänzlich fehlen; die Sonde gleitet ohne Störung bis an die Gabelung der Luftröhre, wo sie auf Widerstand stösst. Man hört nun die Atemluft durch die Sonde streichen, doch können bei Luftansammlung im Magen auch Ausatmungsgeräusche entstehen, wenn das Rohr glücklich in diesen letzteren gelangt ist. Das unfehlbare Mittel, sich über

Behandlung einzelner Krankheitserscheinungen.

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die Lage der Sonde zu vergewissern, ist die A u s c u 1 a t i o n des Magens beim Einblasen von Luft.

Bevor man nun die Nahrung eingiesst, ist es vielfach zweck- mässig, den Magen auszuspülen, um die in ihm angesammelten Mengen von zersetztem Schleim und Speichel zu entfernen. Man lässt nun die Nährflüssigkeit langsam und mit möglichst geringem Drucke zufliessen. Das Zurückziehen der Sonde geschieht anfangs langsam, in der Gegend des Kehlkopf einganges schnell; zugleich wird die obere Öffnung des Rohres verschlossen gehalten, damit nicht unten anhängende Tropfen bei dieser Gelegenheit in die Luft- röhre gelangen. Nach der Fütterung muss der Kranke einige Zeitlang, im Notfälle mit Gewalt, in Ruhelage gehalten werden.

Als Nahrungsflüssigkeit wählt man zweckmässig Milch oder Fleischbrühe mit gequirlten rohen Eiern, Zucker und Butter, nach Umständen Zusätze von Kakao, Fleischpepton, Fleischsaft, Soma- tose, Fruchtsäften, Citronensäure; auch Arzneien, Alkohol, Kaffee können natürlich auf diese Weise mit eingeführt werden. Im allgemeinen wird man bestrebt sein, der Nahrung ungefähr die- jenige Zusammensetzung von Kohlehydraten, Eiweiss und Fett zu geben, die nach den Grundsätzen der Ernährungslehre erfor- derlich ist. Es zeigt sich indessen, dass bei längerer Dauer der künstlichen Ernährung eine sehr gleichmässige Zusammensetzung der zugeführten Flüssigkeit schlecht ertragen wird, unter Um- ständen sogar das Auftreten von Skorbut zur Folge haben kann. Aus diesem Grunde empfiehlt es sich, in solchen Fällen mit einer Reihe verschiedenartiger Gemische zu wechseln, namentlich aber auch Zusätze von frischem Fleisch und Gemüsen zu machen. Bei der Weite der Sonden gelingt es auch ohne Schwierigkeit, derartige Beimengungen in fein zerriebener Form mit in den Magen zu bringen. Namentlich Leber eignet sich wegen ihrer Zusammensetzung wie wegen der Leichtigkeit der Verarbeitung dazu recht gut. Wir pflegen mit sechs verschiedenen Mischungen regelmässig abzuwechseln, in denen bald Leber und Fleischbrühe, Milch und Zucker, Milch und Erbsenmehl, Milch, . Mondamin und Öl, Milch, Zucker und Kakao, mit oder ohne Hinzufügung von

Eiern, die Hauptbestandteile bilden.

Die künstliche Ernährung wird täglich wenigstens zweimal vorgenommen, am besten mittags und abends; jedesmal führt man

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V. Die Behandlung des Irreseins.

anfänglich etwas weniger, später aber ungefähr einen Liter Flüs- sigkeit ein. Meist vollzieht sich dieser Vorgang bei einiger Ge- wöhnung sehr leicht und einfach. Es gelingt auf diese Weise, nahrungsverweigernde Kranke monate- und jahrelang am Leben zu erhalten und allmählich auch wieder eine Zunahme ihres Kör- pergewichtes zu erreichen. Dennoch ist damit natürlich nur ein unvollkommener Notbehelf für die freiwillige Nahrungsaufnahme gewonnen. Man wird daher nebenbei immer fortfahren, auf alle Weise die Beseitigung der Nahrungsverweigerung anzustreben.

Eine sehr unangenehme Begleiterscheinung der Fütterung ist das bisweilen auftretende Erbrechen. Schleunige Entfernung der Sonde ist hier wegen der Gefahr des Erstickens durch die neben dem Rohr her auf ge würgte Nährflüssigkeit durchaus not- wendig. Durch Verringerung der eingeführten Flüssigkeitsmenge, Verlangsamung des Zuflusses, häufigere Wiederholung des Ver- fahrens, im Notfälle durch Abstumpfung der Rachenempfindlich- keit mit Hilfe von Narkoticis (Bromkalium, Bepinseln mit Coca'fn- oder Morphiumlösung), Voranschicken von Eiswasser, Chloroform- tropfen oder Kognak kann man diese Schwierigkeit meist über- winden. Man begegnet indessen, allerdings glücklicherweise selten, nahrungsverweigernden Kranken, die willkürlich erbrechen können und so schliesslich jede Fütterung unmöglich machen.

In solchen Fällen und dort, wo aus irgend einem Grunde (Verengerungen, Geschwüre, Geschwülste) die Ernährung durch den Magen nicht möglich ist, kann man noch einen Versuch mit Nährklystieren machen, die indessen auf die Dauer ein sehr unvollkommenes Auskunftsmittel darstellen. In den gründlich ge- reinigten und durch ein Opiumzäpfchen beruhigten Darm werden möglichst hoch kleine Mengen Flüssigkeit von grossem Nähr- wert, nach bekannten Vorschriften, gebracht, wie sie der Darm aufnehmen kann, Milch mit Eiern, Mehl mit Eiern, Traubenzucker- lösung mit Eiern und Fleischpepton u. s. f. Widerstrebende Kranke werden freilich nur schwer am Herauspressen verhindert werden können.

In neuerer Zeit ist die Reihe unserer Kampfmittel gegen die Nahrungsverweigerung noch durch die Einführung der subcutanen Kochsalzinfusion bereichert worden*). Dieselbe ist an-

*) Ilberg, Allgem. Zeitsclir. f. Psychiatrie, XL VIII, 620; Jacquin,

Behandlung einzelner Krankheitserscheinungen.

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gebracht, wo die Zufuhr anregender Nahrungs- und Arznei- mittel aus körperlichen Gründen (schwere Mund- oder Magenleiden) unmöglich oder wo eine sehr rasche und er- giebige Füllung des Gefässsystems notwendig erscheint. Bei den Versuchen mit diesem Eingriffe hat sich herausgestellt, dass im Gefolge der Kochsalzinfusion mit der regelmässigen Besserung des Allgemeinbefindens auch ein erhöhtes Hunger- und Eurstgefühl aufzutreten pflegt, welches die Kranken unter Umständen zu freiwilliger Nahrungsaufnahme veranlasst, namentlich dann, wenn die Verweigerung nicht durch klar ver- arbeitete Wahnideen, sondern nur durch Verwirrtheit und Unruhe bedingt war. Auf Grund solcher Erfahrungen haben wir in Fällen, in denen keine grosse Gefahr im Verzüge war, statt der Infusionen auch schon Kochsalzklystiere in Anwendung gezogen. Der Erfolg ist kein so plötzlicher und durchgreifender, dafür aber das Ver- fahren ein wesentlich einfacheres. Kleine Mengen gut erwärmter physiologischer Kochsalzlösung, etwa ein viertel Liter zur Zeit, lässt man unter geringem Drucke langsam möglichst hoch in den Darm hineinlaufen; die Aufsaugung geschieht dann seitens des wasserarmen Körpers regelmässig rasch und vollständig. Auch bei diesem Verfahren pflegt sich ein lebhaftes Durst- und Hunger- gefühl einzustellen, welches die Besiegung des Widerstandes gegen die Nahrungsaufnahme bisweilen sehr erleichtert.

Die Einfuhr wirklicher Nahrungsstoffe unter die Haut ist bisher nur in beschränktem Umfange versucht worden. Am besten geeignet haben sich die Öleinspritzungen erwiesen, die von 1 1 b e r g * *) warm empfohlen werden. Unter den nötigen asep- tischen Vorsichtsmassregeln werden Ölmengen von 200 300 gr mit Hilfe einer dicken, gefensterten Hohlnadel unter die nach Schlei chs Verfahren unempfindlich gemachte Haut gebracht und dort anscheinend ohne Störung aufgesogen. Wir besitzen demnach in verzweifelten Fällen, in denen die übrigen Hilfsmittel versagen, hier noch einen Weg, das Leben für einige Zeit, unter Umständen bis zu einer günstigen Wendung, zu verlängern.

Annales medico-psychol. VIII, 11, 361, 1900; Marie und Pactet, ebenda, VIII, 14, 278, 1901.

*) 1 1 b e r g , Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LX, 278.

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V. Die Behandlung des Irreseins.

E. Die Irrenanstalt.

Die Gesamtheit aller körperlichen und psychischen Heilmittel findet sich zu einheitlichem Zusammenwirken vereinigt in den mannigfaltigen Einrichtungen der Irrenanstalt. Die Irren- anstalt in ihrer heutigen Gestaltung ist eine Eirungenschaft unseres Zeitalters*). In früheren Jahrhunderten Hess man harm- lose Kranke einfach herumlaufen und begnügte sich damit, die störenden Irren über die nächste Grenze zu treiben oder in Ge- wahrsam zu pehmen; sie wurden dann in Klöstern, häufige.. in Gefängnissen und Zuchthäusern, zusammen mit allem möglichen Gesindel untergebracht, in Käfigen („Dorenkisten“) oder aber auch in eigenen, menagerieartigen „Narrentürmen“ eingesperrt, welche meist in der Stadtmauer lagen und an gewissen Tagen von der Menge zur Belustigung besucht wurden. So mancher Kranke end- lich fiel wohl auch den Hexenprozessen zum Opfer und wurde auf die grausamste Weise zu Tode gemartert oder verbrannt **)•

Leider besserte die Überwindung dieses finsteren Aber- glaubens mehr als ein Jahrhundert lang in dem Lose der unglück- lichen Geisteskranken nur wenig. Da man das Irresein im all- gemeinen für unheilbar hielt, so waren die Irren nichts, als eine Last, deren man sich auf möglichst einfache Weise zu entledigen suchte. Allerdings wurden in manchen Spitälern schon Geisteskranke ganz sachgemäss verpflegt; meist aber dienten die an Kranken-, Siechenhäuser und dergl. angebauten „Tollhäuser“, „Narrenhäuslein“, „Gefängnisse der Angefochtenen“ nur zur Aufbewahrung. So wurden die Kranken denn vielfach in schmutzigen, licht- und luftlosen V erliessen, auf Strohlagern, zusammengepfercht, an Ketten geschlossen, hungernd und ohne Kleidung der Willkür und der Peitsche roher Wärter (vielfach entlassener Verbrecher!) schutzlos preisgegeben, bis der Tod, barmherziger als die Mitwelt, sie von ihren Leiden erlöste. Selbbt nachdem gegen die Mitte des achtzehnten Jahrhundei ts in England

*) Kirchhoff, Grundriss einer Geschichte der deutschen Irrenpflege. 1900; S n e 1 1 , Zur Geschichte der Irrenpflege. 1896; R i e g e r , Über die Psychia- trie in Würzburg seit 300 Jahren. 1899.

**) S n e 1 1 , Hexenprozesse und Geistesstörung. 1891.

Die Irrenanstalt.

447

die erste eigentliche Irrenanstalt zur Behandlung von Geistes- kranken eingerichtet worden war, fand dieses Beispiel nur lang- same Nachahmung. Noch um die Wende des Jahrhunderts, als P i n e 1 in Paris das Schicksal der verwahrlosten Geisteskranken zu lindern bemüht war, herrschten fast überall, auf dem Fest- lande wie in England, in den Narrenhäusern die entsetzlichsten Zustände. Ja, noch 1817 sah sich Hayner, der ehrwürdige Vorkämpfer für die menschliche Behandlung der Irren in Deutsch- land, veranlasst, auf das feierlichste gegen die Ketten, die Zwangs- stühle, die körperlichen Züchtigungen öffentlich Verwahrung ein- zulegen*). Eine gute Vorstellung davon, wie es bis in die zwanziger Jahre in alten Irrenanstalten aussah, gibt das bekannte Kaul- bachsche Bild des Narrenhauses.

Nach und nach jedoch kam die Erkenntnis von der Not- wendigkeit einer völligen Neugestaltung der Irrenfürsorge auf ärztlicher Grundlage mit immer wachsender Gewalt zum Durch- bruch, und es trat daher in den ersten Jahrzehnten dieses Jahr- hunderts in den meisten vorgeschrittenen Ländern an Stelle der einfachen Aufbewahrung die Errichtung wirklicher Heilanstalten, die endlich auch den unglücklichen Irren die Wohltaten einer ärztlichen, auf die Beseitigung ihres Leidens ge- richteten Behandlung zu vermitteln bestimmt waren.

Diese Wandlung stand in der innigsten Beziehung zu dem Fortschritte der wissenschaftlichen Erkenntnis von dem Wesen der Geistesstörungen. Vielleicht sind wenige Gebiete menschlichen Strebens so geeignet wie die Irrenheilkunde, den ungeheuren Ein- fluss klarzulegen, den die rein wissenschaftliche Forschung auf das Wohl und Wehe der Menschen ausübt. So vermochte die praktische Irrenfürsorge zunächst den richtigen Weg nicht zu finden, weil ihr die Leitung durch das wissenschaftliche Verständ- nis des Irreseins mangelte.

Zwar hatte vielfach die tägliche Erfahrung schon zu einer Behandlung der Geisteskranken geführt, die unseren heutigen Anschauungen gar nicht so sehr fern steht. Dennoch konnte es

*) Hayner, Aufforderungen an Regierungen, Obrigkeiten und Vorsteher der Irrenhäuser zur Abstellung einiger schweren Gebrechen in der Behandlung der Irren. 1817.

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V. Die Behandlung des Irreseins.

nicht fehlen, dass der Einfluss gewisser spekulativ-psychologischer Auffassungen des Irreseins sich in allerlei Absonderlichkeiten geltend machte, so namentlich in der Anwendung einer Reihe von ausgesuchten Marterwerkzeugen, des Sackes, der Dreh- scliaukel, des Tretrades, des Sarges, der kalten Douchen u. s. f., durch die man bestimmte heilsame psychische Wirkungen auszu- üben gedachte. Die Kranken wurden in der verschiedensten Weise gemisshandelt und gequält, aber nicht mehr aus Rohheit, sondern in der wohlgemeintesten Absicht ärztlicher Beeinflussung *).

Glücklicherweise ist diese Verirrung verhältnismässig rasch überwunden worden, und die Behandlungswerkzeuge wanderten bald in die Rumpelkammern; dagegen erschien die Anwendung einfacher mechanischer Beschränkung zum Schutze gegen erregte Kranke oder auch zu ihrer psychischen Beeinflussung noch Jahr- zehnte hindurch als selbstverständliche Massregel. Lange und schwere Kämpfe hat es gekostet, bis allmählich C o n o 1 1 y s kühne Neuerung mit ihren weitreichenden Folgen für die gesamte Ge- staltung der Irrenanstalten überall als selbstverständliche For- derung betrachtet wurde.

Wir dürfen es aber mit Stolz aussprechen, dass die Wider- stände gegen den Fortschritt weit weniger bei den Irrenärzten gelegen haben, als in den äusseren Verhältnissen, in der Ver- ständnislosigkeit und Gleichgültigkeit der Massen, in dem Mangel an verfügbaren Hilfsmitteln. Jahrhunderte lang haben Regie- rungen und Volk dem Elende der Geisteskranken teilnahmlos zu- gesehen, und erst, seitdem es Irrenärzte gibt, ist endlich die Be- wegung in Fluss gekommen, die uns auf die jetzige Höhe geführt hat. Was wir heute noch hie und da etwa an Missbräuchen und Übelständen sehen, ist zumeist nicht das Ergebnis von sträflicher Pflichtvergessenheit und Vernachlässigung, sondern es sind die letzten Überreste eines kaum überwundenen Zeitalters, in welchem nur die höchsten und erleuchtetsten Geister für die Menschenrechte der Geisteskranken eintraten. Dieselben Irrenärzte, die man bis- weilen in merkwürdiger Verkennung der geschichtlichen Ent- wicklung gewissermassen als die geborenen Feinde der Kranken

*) Schneider, Entwurf zu einer Heilmittellehre gegen psychische Krankheiten. 1824.

Die Irrenanstalt.

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und Gesunden zu brandmarken beliebt, sind es gewesen, welche in mühseliger, aufopferungsreicher Berufsarbeit ihren Pflege- befohlenen die Ketten gelöst haben, in welche sie Rohheit und Unkenntnis so lange geschmiedet hatte.

Die heutige Irrenanstalt ist ein Krankenhaus wie jedes andere, mit dem einzigen, durch den Zustand ihrer Bewohner geforderten Unterschiede, dass Eintritt, Behandlungsart und Austritt nicht vom Belieben des Kranken, sondern unter gewissen Einschrän- kungen vom Urteile des sachverständigen Arztes abhängen. Jede Einrichtung der Anstalt dient daher in erster Linie dem Heilzwecke, dessen Erreichung mit allen durch Wissenschaft und Erfahrung gelieferten Hilfsmitteln erstrebt wird. Diese Aufgabe sucht die Anstalt zu lösen, indem sie zunächst den Kranken mit einem Schlage der Einwirkung jener täglichen Reize ent- zieht, wie sie nur allzu oft in seinem Berufsleben, in der Sorge für das tägliche Brot, in der verfehlten und verständnislosen Behandlung seitens der Angehörigen und Freunde, ja in dem Spotte und den Neckereien einer rohen Umgebung auf ihn ein- stürmen. Er findet sich wieder in einem geordneten, vom Geiste der Menschenliebe und des Wohlwollens durchdrungenen Haus- wesen, in dem ihn teilnehmendes Verständnis für seinen Zustand, liebevolle Fürsorge für seine Bedürfnisse und vor allen Dingen Ruhe erwartet. Sehr häufig ist daher auch eine sofortige Be- ruhigung der rasche Erfolg seiner Versetzung in die Anstalt.

Leider verhindern auch heute die immer noch in der Menge und selbst bei Ärzten bestehenden Vorurteile gegen die Anstalt vielfach die rechtzeitige Durchführung dieser segensreichen Mass- regel. Es erscheint kaum glaublich, wenn trotz der jetzigen Ent- wicklung unseres Irrenwesens in weiten Kreisen die ebenso un- sinnige wie verhängnisvolle Vorstellung fortlebt, dass ein Kranker erst „reif“ für die Irrenanstalt werden müsse, dass sein Zustand sich bei vorzeitiger Aufnahme verschlechtern, dass ihn die Er- kenntnis, in der Anstalt zu sein, das Zusammensein mit anderen Kranken rasend machen werde. Damit verbindet sich dann weiter die aller Erfahrung Hohn sprechende Meinung, dass ein Gesunder, der etwa versehentlich in eine Anstalt eingesperrt werde, nun in- folge der schrecklichen Eindrücke sehr bald in Geisteskrankheit verfallen müsse u. s. f. Von einsichtslosen Kranken hören wir

Kraepelin, Psychiatrie I. 7. Aufl. 29

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V. Die Behandlung des Irreseins.

diese Überlegungen alle Tage Vorbringen; sie sind nur der Wider- hall jener verderblichen Bestrebungen, die das glücklicherweise schwindende Misstrauen gegen die Irrenanstalten durch urteils- lose Schauergeschichten von neuem aufzuregen suchen. Indem sie dahin drängen, die Aufnahme in die Anstalten durch weit- läufige Förmlichkeiten, ja durch Anstrengung eines eigenen „Irrenprozesses“ mit Instanzenzug nach Möglichkeit zu erschwe- ren, betrügen sie Tausende hilfsbedürftiger Kranker um die Wohl- tat rechtzeitiger Behandlung, ja um die Möglichkeit der Genesung. Denn das hat die Erfahrung auf das unzweifelhafteste erwiesen, dass die Aussicht auf Heilung oder doch Besserung bei Geistes- störungen sich um so günstiger gestaltet, je früher die Ver- bringung in eine geeignete Anstalt stattfindet.

Nur bei ganz leichten Formen psychischer Verstimmung, bei vielen Formen des Entartungsirreseins, schleichend verlaufenden oder abgeschlossenen Verblödungen und dergl., und wenn die häus- lichen Verhältnisse eine sehr gute Überwachung und Pflege ge- statten, ist es geraten, von der Anstaltsbehandlung abzusehen. In allen schwereren, namentlich akuten Erkrankungen jedoch, und ganz unbedingt dann, wenn in der Umgebung des Kranken selbst Schädlichkeiten gelegen sind, oder wenn sich Selbstmord- ideen, Nahrungsverweigerung, stärkere Aufregung, Unreinlichkeit, Neigung zu Gewalttätigkeiten einstellen, ist die schleunigste "Ver- setzung aus der Familie in die Irrenanstalt geboten. Das, was die Irrenanstalt derartigen Kranken bietet, kann in der Häus- lichkeit nur dann wenigstens annähernd erreicht werden, wenn diese letztere selbst zu einer Irrenanstalt im kleinen umgestaltet wird, wie das vielleicht bei sehr grossen Mitteln ausnahmsweise einmal möglich ist.

Sehr dringend muss vor den vielfachen unverständigen er- suchen gewarnt werden, die herannahende Geistesstörung durch „Zerstreuungen“, anstrengende Reisen, Entziehungs- und Kalt- wasserkuren abschneiden zu wollen, bevor man sich zu dem einzig richtigen, lange verworfenen Schritte der Verbringung in die An- stalt entschliesst. Die beste Zeit zum erfolgreichen ärztlichen Handeln ist dadurch verloren gegangen, das Fortschreiten des Krankheitsvorganges zu immer schwereren und vielleicht nicht mehr ausgleichbaren Störungen begünstigt worden, so dass der

Die Irrenanstalt.

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Kranke nach allen den missglückten Versuchen schliesslich schon als geistige Ruine in die Hände des Irrenarztes gelangt. Obgleich der Schwerpunkt der Behandlung Geisteskranker in der Irren- anstalt gelegen ist, bleibt es daher eine überaus wichtige Auf- gabe des Hausarztes, rechtzeitig die Entwicklung der Störung zu erkennen und ohne viel Zeitverlust mit nutzlosem und häufig schädlichem Herumprobieren die Versetzung des Kranken in die für ihn geeignete Umgebung zu' veranlassen*). Von besonderem Werte wird es dabei sein, wenn er durch eine sachverständige Krankengeschichte dem Anstaltsarzte Aufschlüsse über den Be- ginn und bisherigen Verlauf des Leidens zu geben vermag, da ja die Aussagen des Kranken und selbst der Angehörigen über diesen Punkt nicht selten recht wenig zuverlässig sind.

Über die Förmlichkeiten, unter denen die Verbringung des Kranken in die Anstalt zu geschehen hat, bestehen in den ein- zelnen Ländern verschiedenartige Bestimmungen. Abgesehen von den freiwilligen Aufnahmen, die glücklicherweise vielfach schon möglich sind, wird dabei regelmässig die Einwilligung der nächsten Angehörigen oder die Einweisung durch eine Behörde verlangt, ausserdem ein oder mehrere ärztliche oder amtsärztliche Zeug- nisse über das Vorhandensein einer Geistesstörung und die Not- wendigkeit der Anstaltsbehandlung. Vielfach besteht dabei der Grundsatz, dass in Notfällen die Aufnahme des Kranken durch das Fehlen eines oder des anderen schriftlichen Nachweises nicht verzögert werden soll, sondern der Anstaltsarzt nach Befinden das Recht hat, den Kranken fürsorglich, gegen Nachlieferung der Papiere, aufzunehmen. Das ist namentlich deswegen notwendig, weil sonst die erregten Kranken zunächst unfehlbar ganz formlos in irgend einem ungeeigneten Gelass, bestenfalls in der Tobzelle eines Krankenhauses, eingesperrt, im Bette geknebelt, festgebun- den und gebändigt werden, wenn sie nicht davonlaufen, sich um- bringen oder allerlei Unheil anrichten. Im grossen und ganzen geht das Bestreben aller Einsichtigen dahin, die Aufnahme in allen unzweifelhaften Fällen geistiger Störung nach Möglichkeit

*) Hocke, Die Aufgaben des Arztes bei der Einweisung in die Irren- anstalt. 1900; Gastpar, Die Behandlung Geisteskranker vor ihrer Auf- nahme in die Irrenanstalt. 1902.

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V. Die Behandlung des Irreseins.

zu erleichtern, da die „papierenen Ereignisse“ die Wirkung, die man ihnen zuschreibt, nämlich widerrechtliche Freiheitsberau- bungen zu verhindern, in keiner Weise ausüben, sondern nur die Hilfeleistung verzögern. Die Sicherung vor Missbrauchen beruht, abgesehen vom Strafgesetze, genau wie bei der Rechtspflege, auf der persönlichen Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit der Irren- ärzte. Es ist in dieser Hinsicht bezeichnend, dass trotz aller Schauergeschichten, die sogar in den Volksvertretungen vorge- bracht worden sind, in Deutschland noch niemals ein Irrenarzt wegen widerrechtlicher Freiheitsberaubung verurteilt wurde. Tat- sächlich habe ich selbst Gelegenheit gehabt, 6 Jahre hin- durch alle meine Kranken ohne irgendwelche Papiere aufzunehmen, und ich habe keine nennenswerten Unzuträglichkeiten daraus er- wachsen sehen. Freilich ist die Verantwortlichkeit für den Ii * en- arzt selbst unter diesen Umständen eine viel grössere, als wenn er sich überall auf gesetzliche Vorschriften berufen kann, aber er ist als Sachverständiger auch am meisten dazu befähigt, sie zu tragen, und die Kranken befinden sich dabei ohne Zweifel am wohlsten.

Trotzdem ist natürlich in allen schwierigeren Fällen die vor- herige Erledigung aller Förmlichkeiten gerade dem Anstaltsarzte dringend erwünscht, damit wenigstens ein Teil der Last auf fremden Schultern ruht, die ihm aus dem unerquicklichen und undankbaren Festhalten widerstrebender, besonnener Kranker in der Anstalt regelmässig zu erwachsen pflegt. Wir Irrenärzte würden daher vom Standpunkte unserer Bequemlichkeit gegen eine Erschwerung der Aufnahmen in die Anstalten nicht das Geringste einzuwenden haben. Man versuche aber die Durch- führung einer solchen „Reform“ auch nur ein einziges Jahr lang wirklich in irgend einem Landesteile, so würden die papierenen Verbesserungsvorschläge schneidiger Juristen und ihrer sach\er- ständigen Halbirrenärzte von einem Sturme der Entrüstung über die mangelhafte Irrenfürsorge hinweggefegt werden. Es bedarf nur eines Blickes in unsere Tageszeitungen, um einen klaren Be- griff von der Grösse des Unheils zu gewinnen, welches noch jetzt tagtäglich Geisteskranke in der Freiheit über sich und ihre Um- gebung heraufbeschwören. Rechtzeitige Fürsorge für diese Un- glücklichen könnte ohne Zweifel einen grossen Teil der sich immer

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wiederholenden Selbstmorde, Familientötungen, Angriffe, Brand- stiftungen, der Geldverschleuderungen und geschlechtlichen Un- geheuerlichkeiten verhüten, die wir als etwas ganz Selbstver- ständliches hinzunehmen pflegen. Wer den traurigen Mut findet, diese unerschöpfliche Summe menschlichen Elends noch ver- grössern zu wollen, der beweist dadurch nur, dass er keine Ahnung von dem zerstörenden Einflüsse besitzt, den schon ein einzelner Geisteskranker auf die Familie ausübt, die für ihn zu sorgen ge- zwungen ist. Gewiss sind nicht alle Geisteskranken gefährlich, aber es gibt wenige, die es nicht einmal werden können. Ich habe daher auch überall die Schwierigkeiten grösser gefunden, un- heilbare, halbwegs entlassungsfähige Pfleglinge wieder loszu- werden, als gemeingefährliche Kranke gegen ihren Willen in der Anstalt festzuhalten.

Für die Behandlung des weiteren Verlaufs der gei- stigen Störung bedarf die Anstalt aller Hilfsmittel, die irgendwie auf eine günstige Entwicklung desselben hinzuwirken imstande sind. Dahin gehören in erster Linie die in ihrem Fache besonders ausgebildeten Ärzte, über deren sonstige notwendige Eigen- schaften wir schon oben gesprochen haben. Wir dürfen nicht verhehlen, dass wir in diesem Punkte das Erstrebenswerte noch nicht erreicht haben*). Der Beruf des Irrenarztes, insbesondere des Anstaltsleiters, ist ein recht schwerer und entsagungsvoller. Die Vereinsamung in den meist fern vom Verkehr gelegenen Anstalten, die grosse Verantwortlichkeit, der aufreibende, un- ausgesetzte Verkehr mit Geisteskranken, die Hoffnungslosigkeit des ärztlichen Tuns in der Mehrzahl der Fälle, die unbefriedigende wirtschaftliche Lage, endlich die Überhäufung mit reinen Ver- waltungsaufgaben stellen sehr bedeutende Anforderungen an die Berufsfreudigkeit und die geistige Spannkraft. Neigung und Fähigkeit zu wissenschaftlicher Fortbildung, zur Anregung und Erziehung der jüngeren Ärzte werden dadurch in empfindlicher Weise beeinträchtigt. Dazu kommt, dass fast überall die Zahl der an den Anstalten vorgesehenen Ärzte viel zu gering ist, dass ein einziger Arzt nicht selten für 150 200, ja noch mehr Kranke zu sorgen hat. So ist es denn erklärlich, dass auch die vorhandenen

*) Hoppe, Die Stellung der Ärzte an den öffentlichen Irrenanstalten. 1902.

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V. Die Behandlung des Irreseins.

Stellen vielfach nur ungenügend oder gar nicht besetzt sind. Überlastung des Einzelnen, Ertötung der Eerufsfreudigkeit und rascher Verbrauch sind die unausbleiblichen Folgen.

Da die Weiterentwicklung unserer Irrenfürsorge durchaus ab- hängig ist von dem Verständnisse und der Leistungsfähigkeit des irrenärztlichen Standes, erwachsen hier dem Staate wichtige Auf- gaben. Der Hauptnachdruck ist darauf zu legen, dass einmal die Zahl der selbständigen und behaglichen Lebensstellungen, die dem Irrenarzte erreichbar sind, erheblich vergrössert wird, sodann aber, dass mit allen Hilfsmitteln auch den Anstaltsärzten die stetige, lebendige Fühlung mit den wissenschaftlichen Bestre- bungen erhalten wird, durch Entlastung von Verwaltungs- geschäften, Beschaffung wissenschaftlicher Hilfsmittel, Büche- reien, Fortbildungskurse, Ermöglichung von wissenschaftlichen Reisen. Es ist eine äusserst kurzsichtige Anschauung, wenn man bisweilen geglaubt hat, dass durch die wissenschaftliche Beschäf- tigung dem Krankendienste Zeit und Arbeitskraft entzogen werde; gerade das Gegenteil ist der Fall. Nur die wissenschaftliche Be- trachtung seines Gegenstandes ist imstande, den Irrenarzt einiger- massen für die Schattenseiten seines Berufes zu entschädigen, ihm die Frische zu erhalten und ihn vor einer handwerksmässigen Erledigung der Tpgesgeschäfte zu bewahren. Rechnet man hinzu, dass allein die Möglichkeit zu wissenschaftlicher Vertiefung der Berufstätigkeit auf die Dauer tüchtige Kräfte heranziehen wird, so kann darüber kein Zweifel sein, dass die Förderung wissen- schaftlicher Bestrebungen die reichsten Früchte auch für die praktische Krankenfürsorge trägt. Allerdings ist dabei voraus- gesetzt, dass es sich wirklich um die Beschäftigung mit psychia- trischen Fragen und nicht um entlegene Liebhabereien handelt. Sache der Kliniken wird es. sein, für diese Tätigkeit die Anregungen zu geben, wie umgekehrt viele klinische Aufgaben von aller- grösster Wichtigkeit nur durch die Anstaltsärzte in Angriff ge- nommen und gelöst werden können.

Fast noch brennender, als die Frage einer genügenden ärzt- lichen Fürsorge für unsere Kranken, ist diejenige der Beschaffung eines geeigneten Pflegepersonals*). Alle Irrenärzte sind darin

*) Hoppe, Centralbl. f. Psych. 1892, Dezember; 1895, Febr.; Lud- wig, Allgem. Zeitschr. f. Psych., LIV, 108.

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einig, dass die Lösung dieser Aufgabe zur Zeit ebenso dringend wie schwierig ist. Dem Pflegepersonal müssen wir unsere Kranken dauernd anvertrauen, ohne dasselbe doch mehr, als immer nur vor- übergehend, überwachen zu können. Mit Recht hat daher West- p h a 1 es als das grösste Übel im Berufe des Irrenarztes bezeichnet, dass er niemals sicher weiss, was mit seinen Kranken geschieht, sobald er den Rücken wendet. Der Beruf des Irrenpflegepersonals erfordert nicht nur ein hohes Mass geistiger und körperlicher Ge- sundheit, sondern auch ausserordentlich viel Geduld, Opferwillig- keit, Selbstbeherrschung und Verstand. Es ist sicher, dass nur ein sehr kleiner Teil des vorhandenen Personals diesen Anforderungen wenigstens annähernd entspricht, zumal die äussere Entschädi- gung, die man zu bieten pflegt, in gar keinem Verhältnisse zu der Schwierigkeit der auferlegten Pflichten steht. Aber auch die wirklich tüchtigen und dienstwilligen Kräfte sehen wir regelmässig nach kürzerer oder längerer Dienstzeit erlahmen und sich in der überaus aufreibenden Tätigkeit verbrauchen. Einzelne erfahrene Irrenärzte halten es daher für unzweckmässig, die Irrenpflege überhaupt zu einem Lebensberufe zu gestalten, sondern verlangen die Heranziehung immer neuer Kräfte an Stelle der nach einer Anzahl von Jahren abgenutzten Personen. Ausserdem aber muss jedenfalls die gesamte Lebensstellung des Pflegepersonals er- heblich günstiger gestaltet werden, als heute1, damit eine weiter- gehende Auswahl nur der geeignetsten Kräfte möglich ist. Sodann wird die grösste und unausgesetzteste Sorgfalt auf die be- rufliche Einübung*) und die sittliche Erziehung des Ein- zelnen zu verwenden sein, wenn wir allmählich auch beim Durch- schnitte dasjenige Mass von Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit er- reichen wollen, welches die Pflege unserer Kranken durchaus erfordert.

Jede Irrenanstalt gliedert sich naturgemäss in eine grössere oder kleinere Zahl verschieden ausgestatteter Abteilungen für die einzelnen Gruppen der Kranken (Unruhige, Plalbruhige, Ruhige, Gebrechliche, Überwachungsbedürftige u. s. f.) ; sie enthält ausser-

*) Mercklin, Centralbl. für Nervenheilk. u. Psychiatrie 1896, 457; Snell, Grundzüge der Irrenpflege. 1897; Leitfäden von Schröter (1897), Tippei (1897), Schloss (2. Aufl. 1901), Scholz (3. Aufl. 1902).

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V. Die Behandlung des Irreseins.

dem die allgemeinen Einrichtungen sonstiger Krankenhäuser. Im übrigen aber drängt die Verschiedenartigkeit der Aufgaben, welche die Irrenanstalt je nach der Eigenart ihrer Bewohner zu erfüllen hat, mit Notwendigkeit auf eine Arbeitsteilung hin, auf eine ver- schiedene Ausbildung der Anstalten nach ihren besonderen Zwecken. Freilich ist die früher meist aufrecht erhaltene Trennung derselben in Heil- und Pflegeanstalten als unzweckmässig und un- durchführbar fast überall verlassen worden. Anstatt dessen be- ginnt sich immer mehr die Scheidung zwischen kleineren, leicht erreichbaren, für rasch verlaufende Fälle, vorläufige Lnter- bringung und nach Umständen auch für den Unterricht geeigneten Stadtasylen*) und den grösseren, auf längere Pflege oder dauernde Versorgung eingerichteten, mehr abseits gelegenen Irrenanstalten herauszubilden. Den Stadtasylen fällt dabei die Aufgabe zu, aus dem ganzen fortwährend zufliessenden Kran- kenmateriale die für die Anstalten passenden Fälle auszuwählen und sie denselben zu überweisen.

Die Einrichtung des Stadtasyls ist wegen der Eigenart der ihm zufliessenden Kranken beherrscht von der Rücksicht auf eine möglichst vollständige und unausgesetzte Überwachung. Dieser Grundsatz ist zuerst von Parchappe in den sogenannten Wachabteilungen verwirklicht worden, in denen das Wart- personal die Kranken Tag und Nacht unter Augen hatte, um jeder- zeit Hilfe zu leisten oder Unglück zu verhüten. Einer derartigen Überwachung bedürfen nach unseren heutigen Anschauungen sehr viele Kranke, die sich selbst Gefährlichen, die Nahrungsverwei- gerer, die Unreinlichen, die körperlich Kranken und Gebrechlichen, endlich die Unruhigen und Gewalttätigen. In einem Stadtasyl bilden diese Klassen von Kranken meist etwa die Hälfte bis zu zwei Drittel des Bestandes. Es liegt indessen auf der Hand, dass diese so verschiedenartigen Kranken sich nicht ohne die grössten gegenseitigen Störungen in einer Abteilung unterbringen lassen. Vielmehr werden für jedes Geschlecht mindestens zwei Wachabteilungen notwendig sein, eine für ruhige, eine andere für

*) Griesinger, Archiv f. Psych., I, 8; Sioli, Allgem. Zeitschr.. LV, 826; LVII, 600; Dannemaiin, Bau, Einrichtung und Organisation psychia- trischer Stadtasyle. 1901.

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unruhige Kranke. Kann man noch weiter gehen und namentlich die Gebrechlichen und Unreinlichen abtrennen um so besser.

Jede Wachabteilung wird zweckmässig aus mehreren, an- einanderstossenden, aber leicht übersehbaren Räumen bestehen, damit man auch im einzelnen noch eine gewisse Sonderung der sich störenden Kranken vornehmen kann. Demselben Zwecke dienen auch 1 2, an die Haupträume anstossende und von da zu überwachende Einzelzimmer für Kranke, die aus irgendwelchen Gründen abgetrennt werden sollen oder wollen. Steht keine be- sondere Abteilung für körperlich Kranke zur Verfügung, so wer- den in solchen Einzelzimmern namentlich auch tuberkulöse Kranke zu behandeln sein, deren Absperrung in Irrenanstalten besonders wichtig ist. Die Selbstmordverdächtigen sind unter allen Um- ständen so unterzubringen, dass sie keinen Augenblick ausser Acht gelassen werden; nach Bedarf muss für einzelne Kranke eine be- sondere Wache eingestellt werden. Die Unterbringung solcher Kranker in einzelnen Zimmern mit eigener Aufsicht, wie sie von den Angehörigen besserer Stände oft gewünscht wird, bietet weit geringere Sicherheit und ist daher in bedenklichen Fällen durchaus zu widerraten. Ich habe es übrigens oft erlebt, dass besonnene Kranke selbst die Verlegung von der Wachabteilung ablehnten, weil sie sich dort geborgener fühlten. Die für Selbstmordverdäch- tige bestimmten Räume sollten unbedingt zu ebener Erde liegen. Ist das nicht durchführbar, so halte ich die Vergitterung der Fenster, obgleich man sich zumeist dagegen zu sträuben pflegt, für unerlässlich, da mir die Erfahrung leider mehrfach gezeigt hat, dass ohne diese Sicherung gefährliche Selbstmordversuche nicht zuverlässig verhütet werden können.

Die Hauptforderung der Übersichtlichkeit lässt das früher beliebte Korridorsystem für Wachabteilungen unzweckmässig er- scheinen. Alle für Kranke bestimmte Nebenräume müssen un- mittelbar von den Sälen aus zugänglich sein. Dazu gehört ausser Abort, Waschraum und Theeküche vor allem der Baderaum, dem nach den Erfolgen der Dauerbäder eine ganz andere Wichtigkeit zukommt, als früher. Derselbe soll möglichst geräumig, hell, freundlich, von äusserster Sauberkeit, behaglich eingerichtet sein und an den Hauptwachsal anstossen; zwei Zugänge zu ihm sind aus verschiedenen Gründen erwünscht. Zulauf und Ablauf des

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V. Die Behandlung des Irreseins.

Wassers soll der Einwirkung der Kranken entzogen werden. Aus dem Bade für unruhige Kranke sind alle Gegenstände, die zur Waffe werden könnten, sorgfältig fernzuhalten; hier empfiehlt es sich auch, Fensterscheiben von dickem Glase zu wählen. Ist die Zahl der Bäder ausreichend, nächtliche Fortsetzung derselben möglich und genügendes Wartpersonal vorhanden, so kann auch die Ein- richtung der unruhigen Wachabteilung völlig derjenigen der ruhigen entsprechen; beide werden sich dann in nichts, als durch die geschlossenen Türen, von gewöhnlichen Krankensälen unter- scheiden. Insbesondere bedarf es keines Zellenkorridors mehr; nur für Ausnahmefälle (Verbrecher) vrird man etwa noch einen fester gebauten Raum zur Verfügung halten. Für die zeitweise ausser Bett befindlichen Kranken kann man noch je einen Tage- raum hinzufügen.

Die Nachtwachen werden, wenigstens in kleineren Anstal- ten, am zweckmässigsten nach dem sogenannten schottischen A er- fahren geregelt. Bei demselben wmcht derselbe Wärter, den man unter den älteren und erfahreneren auswählt, einige Zeit hindurch, etwa vierzehn Tage lang, die ganze Nacht und ist tagsüber dienst- frei. Die Vorzüge dieser Einrichtung gegenüber dem beständigen Wechsel der Wache mit Zweiteilung der Nacht sind sehr er- hebliche; sie liegen namentlich auch darin, dass mit geringer A^ermehrung des Personals eine viel ausgedehntere Überwachung erzielt werden kann. Selbstverständlich erfordert jeder nächt- lich benutzte Baderaum eine besondere Wache. Alle Wachen be- dürfen, wenn sie überhaupt einen Zweck haben sollen, der sorg- fältigsten Kontrolle.

Neben den Wachabteilungen spielen in einem Stadtasyle die Räume für ruhige Kranke und Genesende eine verhältnismässig geringe Rolle. Sie brauchen auch in ihren Einrichtungen gar nichts Besonderes zu bieten. Zweckmässig ist es, über einige Arbeitsräume zu verfügen, in denen sich je nach Umständen ein- mal ein Schumacher, Schneider, Anstreicher oder dergleichen ein- richten kann. Ausserdem sollten nicht nur Gärten zur Erholung, sondern auch etwas Land zur Beschäftigung in frischer Luft vorhanden sein.

In den grossen Irrenanstalten bilden die AA^achabteilungen ebenfalls den Kern des Ganzen, aber sie umfassen nur einen

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verhältnismässig kleinen Bruchteil der Kranken. Man wird hier in der Trennung der Wachabteilungen für die verschiedenen Gruppen von Kranken sehr viel weiter gehen können und dem- nach die einzelnen Einrichtungen ihren besonderen Zwecken noch mehl- anpassen. Im übrigen aber tritt in der grossen Anstalt die Sorge für die Beschäftigung und Unterhaltung der zu- meist ruhigen und arbeitsfähigen Kranken in den Vordergrund. Die Abteilungen nehmen daher das Gepräge grosser gemeinschaft- licher Wohnhäuser an; wir finden Spiel- und Gesellschaftsräume, Bibliothek, Werkstätten aller Art, grosse Gärten, Viehwirtschaft, Ländereien.

Je grösser in einer Anstalt die Zahl der chronisch Kranken ist, desto mehi- Freiheit der Bewegung wird man ihren Insassen zu gewähren imstande sein. Mit der Dauer des Irreseins treten meist die heftigeren Erregungen mehr und mehr zurück; die Kranken werden ruhiger, gleichmässiger in ihrem Verhalten, frei- lich auch schwachsinniger. Gegen die nunmehr drohende Ge- fahr weiteren geistigen Verfalles gibt es kein besseres Mittel, als die Freiheit, da der eintönige Anstaltsaufenthalt mit seinen abstumpfenden Einflüssen den Fortschritt der Verblödung ent- schieden begünstigt. Leider ist es nicht immer möglich, die un- geheilten Kranken in ihre früheren Verhältnisse zurückkehren zu lassen. Man wird ihnen daher wenigstens im Rahmen der Anstalt, so weit wie irgend angängig, freie Bewegung und Be- schäftigung zu verschaffen suchen. Dieser Wunsch hat allmäh- lich dahin geführt, dass die Mehrzahl wenigstens der neueren Irrenanstalten grundsätzlich auf die früher durchgeführte strenge Absperrung der Kranken verzichtet hat. Überall sucht man schon dem Äusseren der Anstalten in der Umgrenzung durch einfache Hecken, in der Verteilung der Kranken auf einzelne, als freundliche Villen erbaute Häuser mehr den Anschein etwa einer Arbeiterniederlassung, als eines Irrengefängnisses zu geben. Vielfach hat man grosse Abteilungen der Kranken, bis zur Hälfte oder gar zwei Drittteilen, ganz frei, bei offenen Türen wohnen und nach ihrem Belieben auf dem Anstaltsgebiete sich bewegen lassen (Offen-Tür-System). Die günstige Wirkung solcher Ein- richtungen auf das Wohlbefinden, die Arbeitsfähigkeit und das gesamte Benehmen der Kranken ist eine ganz ausserordentliche.

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V. Die Behandlung des Irreseins.

Gerade der weitere Ausbau solcher offenen Abteilungen wird in erster Linie dazu beitragen, die Irrenanstalten volkstümlicher zu machen und die aus vergangenen Zeiten fortgeerbten Vor- urteile gegen diese Krankenhäuser allmählich zu mildern. Na- mentlich werden sie auch der Unterbringung so mancher Kranker dienen können, die des irrenärztlichen Rates bedürfen und ihn auch gern einholen würden, aber vor der Einschliessung und vor den Aufnahmeförmlichkeiten zurückscheuen. Die Zu- lassung freiwilliger Aufnahmen wird diese Entwicklung be- günstigen.

Einen überaus bedeutsamen Fortschritt hat die Ausbildung der grossen Anstalten in der neueren Zeit erfahren durch die Entwicklung der sog. Kolonien*), in welchen man, soweit wie irgend möglich, die Kranken zu einer freien Beschäftigung mit ländlichen Arbeiten heranzuziehen sucht. In dieser besten und verhältnismässig billigsten Verpflegungsart dürfte die ganze Frage der Irrenfürsorge auf lange Zeit hinaus ihre endgültige Lösung gefunden haben. Den ersten, von Koppe in grösserem Mass- stabe durchgeführten, überraschend günstig ausgefallenen und bereits vielfach nachgeahmten Versuch einer derartigen Anstalt bietet das Rittergut Alt-Scherbitz in der Provinz Sachsen dar, welches gänzlich durch geisteskranke Arbeiter bewirtschaf- tet wird. Selbstverständlich ist hier zur Behandlung der frischen Fälle und der vorübergehenden Aufregungszustände noch eine kleinere Centralanstalt mit den für diese Zwecke geeigneten Einrichtungen notwendig. Wertvoll vor allem ist die koloniale Verpflegungsart für die Unterbringung jener zahlreichen gei- stigen Krüppel, denen die Krankheit die Möglichkeit einer selb- ständigen Lebensführung genommen hat. Sie können durch die stete Anregung, welche die Arbeit gibt, lange Jahre hindurch in einem Zustande leidlichen Wohlseins erhalten werden, während sie ohne dieselbe vielleicht rettungslos einer raschen \ erblödung anheimgefallen wären. Ich selbst habe Gelegenheit gehabt, Kranke, die Jahre lang in einer grossen geschlossenen Anstalt gelebt hatten, unter dem Einflüsse der freieren Bewegung und

*) Pätz, Die Kolonisierung der Geisteskranken in Verbindung mit dem Offen-Tiir-System. 1893.

Die Irrenanstalt.

461

selbständigeren Beschäftigung in der Kolonie auf geradezu über- raschende Weise geistig auf leben zu sehen.

Auch noch nach einer anderen Richtung hin haben die Besserungsbestrebungen der letzten Jahrzehnte die praktische Lösung der Irrenfrage wesentlich gefördert. Indem man aus- ging von dem Muster der belgischen Ortschaft G h e e 1 , deren Bewohner sich seit alter Zeit aus ursprünglich religiösem An- lasse (Kultus der heiligen D y m p h n a) mit der häuslichen Pflege Geisteskranker beschäftigen, hat man, wie in einer Reihe anderer Länder, namentlich in Schottland, auch in Deutschland (Ilten, Bremen, Berlin, Zwiefalten und anderwärts) den glücklichen Versuch gemacht, eine familiäre Verpflegung*) von Irren unter ärztlicher Aufsicht in ausgedehnterem Masse ein- zurichten. Die Kranken werden dabei gegen eine bestimmte Entschädigung als Hausgenossen in geeigneten Familien unter- gebracht und geniessen dadurch alle die mannigfachen Anre- gungen und Freuden, welche die selbständige Lebensführung in der Freiheit und die Zugehörigkeit zu einer kleinen Gemein- schaft mit sich bringt. Diese Familienpflege dient entweder als Übergang in die volle Freiheit, um die Kranken zunächst wieder an eine geregelte Tagesarbeit zu gewöhnen und ihnen Gelegen- heit zur Aufsuchung von Verdienst zu geben. Oder aber sie bildet eine eigenartige Form der dauernden Irrenversorgung. Bei uns in Deutschland gliedert sie sich regelmässig an grössere Anstalten an und wird von ihnen überwacht. In Uchtspringe sind eine Anzahl von Kranken geradezu in Wärterfamilien unter- gebracht. Im allgemeinen wird es sich dabei wesentlich um solche Kranke handeln, die nur deswegen der Anstaltsbehandlung bedürfen, weil sie keine eigene Familie haben, die imstande oder geeignet wäre, sich ihrer anzunehmen. Alt schätzt die Zahl der für die Familienpflege passenden Kranken auf 15°/o. Dem- gegenüber befindet sich in den belgischen Orten G h e e 1 und Lierneux die weit überwiegende Menge aller Kranken in der Familienpflege, deren Mittelpunkt eine verhältnismässig sehr

*) Bothe, Die familiäre Verpflegung Geisteskranker. 1893; Falken- berg, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LIV, 553; Nawratzki, ebenda, LIX, 411; Alt, Uber familiäre Irrenpflege. 1899.

462

V. Die Behandlung des Irreseins.

kleine geschlossene Abteilung für unruhige und überwachungs- bedürftige Kranke bildet. Derartige Einrichtungen dürften je- doch nur dort möglich sein, wo einerseits die Kranken selbst sehr leicht zu behandeln sind, und wo sich andererseits eine Bevölkerung findet, die für die eigenartige Aufgabe ganz be- sonders geeignet ist.

Innerhalb gewisser Grenzen, als Vorbereitung zur vollen Frei- heit und als Ersatz für die eigene Familie, wird die an sich bestechendste Form der Irrenfürsorge auch für unsere Verhält- nisse ein unersetzliches Glied in der Kette jener Einrichtungen bilden, die berufen sind, das schwere Schicksal unserer Kranken zu erleichtern. Es darf aber nicht übersehen werden, dass sie auch gewisse Mängel hat, die namentlich in der Schwierigkeit der ärztlichen Überwachung liegen. Soll sie den Anforderungen entsprechen, die wir heute als Ärzte stellen müssen, so besitzt sie ferner keineswegs den Vorzug der Billigkeit. Allerdings ist vielfach die Familienpflege ursprünglich aus den Bedürfnissen der Armenfürsorge hervorgegangen, die aus Mangel an geeig- neten Anstalten in irgend einer Weise die Kranken unterzu- bringen suchte. Es liegt indessen auf der Hand, dass sich im allgemeinen keine Familie die Last der Verpflegung eines ihr völlig fremden Geisteskranken aufbürden lassen wird, wenn sie dafür nicht angemessen entschädigt wird. Soll das Entgelt also geringer sein, als die Kosten der Anstaltsverpflegung, so wer- den auch die Leistungen entsprechend sinken. Auf der anderen Seite fühlen sich freilich die Kranken meist in den weit ein- facheren Verhältnissen der Familienpflege wohler, als im Gross- betriebe der Anstalt.

Die Häufigkeit des Irreseins bei Gefangenen hat schon seit längerer Zeit zu besonderen Einrichtungen für geistes- kranke Verbrecher im Anschlüsse an Strafanstalten geführt. Die erste derartige Abteilung in Deutschland wurde in Bruchsal geschaffen; neuerdings ist Preussen in grossem Massstabe diesem Beispiele gefolgt. Die erkrankenden Gefangenen kommen hier sehr rasch in fachärztliche Behandlung. Sobald ihre Strafzeit abgelaufen oder, in Preussen, ihre Unheilbarkeit fest- gestellt ist, werden sie in die gewöhnlichen Irrenanstalten über- führt. Da sie öfters recht unangenehme und gefährliche Eigen-

Die Irrenanstalt.

463

schäften haben, die sich mit der Freiheit des sonstigen Anstalts- betriebes schlecht vertragen, ist man mehrfach dazu geschritten, einzelnen Anstalten mit besonderen Sicherungen versehene Bauten für „verbrecherische Irre“ anzugliedern, in denen auch sonstige sehr gefährliche Kranke untergebracht werden. Im ganzen sind jedoch bisher die Erfahrungen mit der Anhäufung solcher In- sassen in einer Abteilung nicht sehr befriedigende gewesen.

Die Aufgabe des Irrenarztes schliesst zunächst ab mit der Entlassung des Kranken aus der Anstalt. In der Regel soll dieselbe nur nach erfolgter Genesung geschehen, aber es gibt nicht so gar selten Fälle, in denen der langsame Gang der Genesung und ein sehr lebhaftes, allerdings noch krank- haftes Heimweh oder 'das Drängen der Angehörigen zu einer etwas vorzeitigen Entlassung zwingen, wenn man nicht die Ge- fahr einer Verschlechterung oder gar eines unvermuteten Selbst- mordes auf sich nehmen will. Bei vorsichtiger Auswahl der Kranken und unter günstigen häuslichen Verhältnissen pflegt sich dann die weitere Heilung meist ungestört zu vollziehen. Nament- lich katatonische Kranke erfahren bisweilen durch einen Ent- lassungsversuch eine verblüffende Besserung. Oft genug jedoch kommen baldige Rückfälle vor, besonders wenn des Genesenden zu Hause wieder Not und Sorge, lieblose, rohe Behandlung oder die Gelegenheit zu Ausschweifungen wartet. Gerade für ihn ist aber Schonung, Vermeidung jeder Überanstrengung und eine nur ganz allmähliche Einführung in die alltäg- liche Berufslast dringend notwendig. Wohlhabendere schieben daher zweckmässig zwischen die Genesungszeit und den vollen Eintritt in ihre früheren Pflichten einen kurzen Badeaufenthalt, Besuch in befreundeter Familie und dergl. ein.

Jede Entlassung aus der Irrenanstalt ist zunächst eine ver- suchsweise und wird erst nach einigen Monaten eine end- gültige, um die Rückversetzung im Falle einer Verschlimmerung zu erleichtern. Auch ungeheilte und sogar unheilbare Kranke werden aus der Anstaltsbehandlung entlassen, wenn sie keine Angriffspunkte für die Behandlung mehr darbieten und sich für häusliche Pflege eignen oder sich psychische Selbständigkeit genug bewahrt haben, um in günstigen äusseren Verhältnissen kürzere oder längere Zeit ohne besondere ärztliche Aufsicht leben

464

V. Die Behandlung des Irreseins.

zu können. Es gibt sogar gewisse Gruppen von Kranken, denen an sich der Anstaltsaufenthalt geradezu schadet, wenn auch andererseits mit Rücksicht auf die Umgebung ihre Einschliessung unumgänglich erscheint. Namentlich in solchen Fällen wird jede Wendung zum Bessern, soweit das ohne Gefahr geschehen kann, dazu ausgenutzt werden, dem Kranken die Wohltaten des Lebens in der Freiheit für längere oder kürzere Zeit wieder zugänglich zu machen.

Die Schwierigkeiten, die sich dem genesenen und noch mehr dem nur gebesserten Geisteskranken bei der Rückkehr in seine früheren Verhältnisse entgegenstellen, haben schon vor vielen Jahrzehnten zur Gründung der Hilfsvereine *) für entlassene Kranke geführt. Deren Aufgabe ist es, einmal dem Kranken durch reichlich bemessene Geldunterstützungen über die ersten Sorgen hinwegzuhelfen, sodann aber ihm bei der Wiedergewinnung einer selbständigen und sorgenfreien Lebensstellung mit Rat und Tat an die Hand zu gehen. Manche dieser Hilfsvereine, von denen derjenige in Hessen unter Ludwigs Leitung vorbildlich geworden ist, haben ihre Aufgabe noch viel weiter gesteckt. Sie suchen durch ein Netz von Vertrauensmännern im ganzen Lande nicht nur stete Fühlung mit den entlassenen Kranken zu behalten, sondern auch weite Kreise der Bevölkerung zur werktätigen Mit- arbeit an der Fürsorge für die Geisteskranken zu erziehen und damit einerseits das Irrenwesen volkstümlicher zu machen, an- dererseits eine wohlunterrichtete öffentliche Meinung zu schaffen, die durch ihren Druck stetig weiteren Verbesserungen den W eg bahnt.

Noch nach anderen Richtungen reicht das Gebiet der Irren- fürsorge über den Bereich der eigentlichen Anstalten hinaus**). Es gibt ganze Gruppen von Kranken, die der irrenärztlichen Be- handlung bedürfen, sich aber nicht recht für die Unterbringung in den Irrenanstalten eignen. Für sie gilt es, besondere, ihren Bedürfnissen angepasste Einrichtungen zu schaffen. Am dringend- sten ist die Notwendigkeit, für Trinkerheilstätten zu sorgen. Während die unheilbaren Trinker recht wohl in die Irrenanstalten

*) Scholz, Irrenfürsorge und Irrenhilfsvereine. 1902.

**) Fischer, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LV, 39.

Die Irrenanstalt.

465

gehören, würde das ebenso wichtige wie aussichtsreiche Werk der Trinkerrettung im Anfänge scheitern, wenn man nicht für die heilbaren Fälle eigene Anstalten schaffen und dadurch den möglichst frühzeitigen und freiwilligen Eintritt in die planmässige Behandlung erleichtern wollte. Gerade durch die Errichtung ärzt- lich geleiteter Trinkerheilanstalten wird allmählich dem Volke immer klarer zum Bewusstsein gebracht werden, dass die chro- nische Alkoholvergiftung eine Krankheit ist, die man mit ärzt- licher Hilfe zu bekämpfen hat. In zweiter Linie stehen wir vor der dringenden Aufgabe, Heilstätten für jene unbemittelten Nervenkranken zu schaffen, die nicht in den Rahmen der Irren- anstalten passen, unter Umständen durch einen Aufenthalt dort geradezu geschädigt werden. Hierhin gehören alle jene beson- nenen und geordneten Kranken, die eine Zeitlang der Ruhe und Befreiung von dem Druck der Tagesgeschäfte, oder die der zielbewussten Anleitung zu regelmässiger Beschäftigung be- dürfen. Die Bewegung zur Gründung solcher Nervenheilstätten ist besonders durch Möbius*) angeregt worden; ihr erstes Ergebnis ist das Haus Schönow in Zehlendorf bei Berlin; weitere ähnliche Schöpfungen werden über kurz oder lang folgen.

Ein sehr erheblicher Teil der Geisteskranken ist endlich überall in Spitälern, Pfründen, Pflege- und Siechenanstalten aller Art untergebracht, meist ohne fachärztliche Fürsorge. In der Tat bieten namentlich die angeborenen geistigen Schwächezustände einer derartigen Verpflegung meist gar keine Schwierigkeiten. Etwas anders liegt die Frage bei den erworbenen Verblödungen. Hier ist immer die Gefahr der Verwahrlosung, gelegentlicher Ver- schlimmerungen des Zustandes und unter Umständen sehr bedenk- licher Handlungen gegeben. Es erscheint daher durchaus unrichtig, derartige Kranke dem Bereiche der geordneten Irrenfürsorge zu entziehen; die Entwicklung gröblicher Missstände ist dabei kaum zu vermeiden**). Auch die besonderen Anstalten für Idioten und

*) B e n d a , öffentliche Nervenheilanstalten? 1891; Möbius, Über die Behandlung von Nervenkranken und die Errichtung von Nervenheilstätten. 1896; Fuchs, Deutsche Praxis. 1902, 8; Neumann, Ärztliche Mitteilungen für Baden. 1901.

**) Ludwig, Allgem. Zeitschr. f. Psych., LVIII, 1.

Kraepelin, Psychiatrie I. 7. Aufl.

30

466

V. Die Behandlung des Irreseins.

Epileptiker, die jetzt noch vielfach ausserhalb der eigentlichen Irrenfürsorge stehen, bedürfen unbedingt der fachmännischen Leitung und Überwachung, schon deswegen, weil nur auf diese Weise die in ihnen gesammelten Erfahrungen wissenschaftliche Verwertung finden und damit zu Fortschritten im Verständnisse und in der Behandlung der Kranken führen können.

Register.

A.

Aberglaube 211. 377.

Ablenkbarkeit als Symptom 160. 194. 234. des Willens 278.

Messung ders. 360. 369. Abortus, Irresein nach dems. 80.

künstlicher als Heilmittel 410. Abreibungen als Heilmittel 416.

Absinth als Ursache des Irreseins 58. Ängstlichkeit 245.

Äther als Beruhigungsmittel 404. Äthermissbrauch als Ursache des Irre- seins 64.

Ätiologie, allgemeine 12.

Affekte s. Gemütsbewegungen. Agoraphobie s. Platzangst. Akusticusreaktion, elektrische 132. 345. Akusticus, Hyperästhesie dess. 132. Algolagnie 295.

Alkohol als Ursache des Irreseins 57.

als Schlafmittel 404.

in Irrenanstalten 418.

Kampf gegen denselben 393. Alkoholintoleranz b. Hirnerkrankungen 21. Alkoholwahnsinn 65.

Altersblödsinn 104.

Altscherbitz 460.

Amnesie 165.

retrograde 165.

»» bei Erhängten 19.

Amok der Malayen 108.

Amylenhydrat als Schlafmittel 401. Amylnitrit al3 Arzneimittel 407. Anamnese 340.

Angehörige Geisteskranker 340.

Angina als Ursache des Irreseins 43. Angst als Symptom 249.

Behandlung derselben 436. Angstdelirien 86.

Anilindelirien 68.

Anregbarkeit 232.

Anstaltsartefakte 422.

Ansteckung, psychische 93. Anthropophagie 295.

Aphasie,, amnestische als Symptom 167. Apoplexie, Schwachsinn nach ders. 21. Apperception 154. Apperceptionshallucination 137. Apperceptionsillusion 138. Arbeitsfähigkeit, geistige 231. 314. Arteriosklerose 18. 21. 70. 104. Arzneimittel 396.

Arzt, weiblicher 425.

Association s. Vorstellungsverbindung. Associationscentren 27. Associationsfestigkeit 363. Atropindelirium 66.

Auffassungsfähigkeit, Untersuchung der- selben 357.

Auffassungsstörungen 153. Auffassungstäuschung 138. Aufmerksamkeit 156.

Ablenkbarkeit ders. 160.

Abstumpfung ders. 159.

aktive 157.

Bestimmbarkeit ders. 159.

Dynamometer ders. 230. Fesselung ders. 162.

passive 157.

Aufmerksamkeitsschwankungen, Unter- suchung derselben 359. Aufnahmeverfahren 451.

Aufzählungen 197. Augenspiegeluntersuchung 345. Auscultation des Kopfes 345. Ausdrucksbewegungen, Störungen der- selben 300.

Untersuchung ders. 366.

Ausdruckszwang 187.

Ausgänge des Irreseins 325. Ausschweifungen, geschlechtliche als Ursache des Irreseins 74. Autohypnose, Gefahr derselben 96. 433.

30*

468

Register.

Automatie als Symptom 276. Automatisme ambulatoire 291. Autopsie 370.

B.

Bäder als Heilmittel 411.

elektrische 417.

verlängerte 411.

Bakterium coli als Heilmittel 408. Balkengeschwülste als Ursache des Irre- seins 23.

Basedowsche Krankheit als Ursache des Irreseins 53.

Beeinflussbarkeit, gemütliche 242.

des Willens, erhöhte 274.

verminderte 284.

Befehlsautomatie 2/6. Befehlsnegativismus 285.

Begriffsbildung 177.

Störungen ders. 177.

Begrüssungsmanieren 281.

Behandlung des Irreseins 385.

körperliche 396.

psychische 424.

symptomatische 434.

zellenlose 422.

Belastung, erbliche s. Erblichkeit.

organische 117.

Benzin als Ursache des Irreseins 64. Beobachtung der Geisteskranken 369. Berauschtheit während der Zeugung als Ursache des Irreseins 122. Berührungsfurcht 289.

Beruf als Ursache des Irreseins 111. Berufslosigkeit als Zeichen d. Irreseins 111. Berufswahl als Vorbeugung des Irreseins 393.

Beschäftigung als Heilmittel 430. Beschäftigungsdelirium 147. Beschäftigungsdrang 268. Beschleunigung der psychischen Vor- gänge 230.

Beschränktheit, Abgrenzung ders. von geistiger Störung 377.

Beschränkung, mechanische 423. Besonnenheit 350.

Besserung der Geisteskrankheit durch körperliche Krankheit 329. Bestimmbarkeit des Willens 275. Bettbehandlung 420.

Bewegungen, rhythmische 281. Bewegungsdrang 269. Bewegungsstereotypen 280. Bewusstlosigkeit 151.

Bewusstsein 150.

doppeltes 236.

Enge dess. 156.

Helligkeitsgrade dess. 151.

Schwelle dess. 151. Bewusstseinstrübung als Symptom 150. Biegsamkeit, wächserne 277. Binitrotoluol als Ursache des Irreseins 68. Blasenpflaster als Heilmittel 408. Blattern s. Variola.

Bleivergiftung als Ursache des Irre- seins 67.

Blickfeld, inneres 157.

Blickpunkt, innerer 157.

Blutandrang als Ursache des Irreseins 16. Blutdruckuntersuchung 347. Bluterkrankungen als Ursache des Irre- seins 48.

Blutleere als Ursache des Irreseins 17. Blutstauungen 17.

Blutveränderungen bei Geisteskranken 348.

Blutverluste 17. 49.

Brandstiftungstrieb 299. Brechweinsteinsalbe als Heilmittel 408. Bromäthyl als Heilmittel 405. Bromäthylformin 407.

Bromalin 407.

Bromipin 407.

Bromismus 406.

Bromsalze als Heilmittel 405. Bromvergiftung als Ursache des Irreseins 66.

Bromwasser, kohlensaures als Heilmittel 406.

Bromwirkung, psychische 259.

C.

Cäsarenwahn 314.

Cannabinon als Heilmittel 399. Chininvergiftung als Ursache des Irre- seins 66.

Chloralamid als Schlafmittel 404. Chloralhydrat als Schlafmittel 400. Chloralose 404.

Chloralrash 400.

Chloroform als Beruhigungsmittel 404. Chloroformmissbrauch als Ursache des Irreseins 64.

Chlorose als Ursache des Irreseins 49. Cholämie als Ursache des Irreseins 50. Cholera » 40.

Chorea » 32.

hereditäre 32.

Huntingtons 32.

Register.

469

Chronoskop 359.

Civilstand, Einfluss desselben auf das Irresein 114.

Cocain als Ursache des Irreseins 65. Codein als Arzneimittel 397.

Coitus, erster als Ursache des Irre- seins 75.

Collapsdelirium 43.

Contagion s. Ansteckung.

D.

Dämmerzustand als Symptom 151. Dannleiden als Ursache des Irreseins 51. 72.

Dauerbad 412.

Dauer des Irreseins 337.

Deckelbad 412.

Degeneration s. Entartung.

Delirium im Dunkelzimmer 36.

eklamptisches 81.

nervosum 34.

traumaticum 34.

tremens 63.

urämisches 81.

Denkhemmung 205.

Depression s. Verstimmung. Desorientierung 1734

amnestische 175.

apathische 173.

deliriöse 174.

hallucinatorische 174.

stuporöse 174.

wahnhafte 176.

Diabetes als Ursache des Irreseins 51. Diätetik des Irreseins 417.

Diagnose, anatomische 370.

Diagnostik, allgemeine 339.

Digitalis als Heilmittel 407.

Dionin 397.

Disciplinierung 428.

Dispositionsfähigkeit 315.

Dissimulation 383.

Doppeldenken als Symptom 137. Dormiol 402.

Douchen als Heilmittel 411.

Drastica als Heilmittel 408. Drehschaukel als Heilmittel 342. Dromomanie 291.

Drucksteigerung in der Schädelkapsel als Ursache des Irreseins 17. Druckvisionen 133.

Duboisinum sulfuricum 399. Dunkelzimmer, Delirium in demselben 36. Dysphrenia neuralgica 34.

E.

Echolalie 277.

Echopraxie 277.

Ehe, Beziehungen derselben zum Irre- sein 114.

Eifersuchtswahn 224.

Eigenbeziehung, krankhafte 213. Eigensinn 287.

Einbildungskraft 205.

Störungen derselben 204. Einbildungstäuschungen 137. Einförmigkeit des Denkens 191. Einwicklungen, feuchtwarme 415. Einzelhaft als Ursache des Irreseins 90. Eisbeutel als Heilmittel 416.

Eiterungen, bessernder Einfluss ders. auf das Irresein 329.

Ekelgefühle, Verlust ders. als Symptom 262.

Eklamptisches Irresein 81.

Ekmnesie 237.

Ekstase 258.

Elektrotherapie beim Irresein 416. Emotionspsychosen 86.

Empfindlichkeit, gesteigerte gegen Al- kohol 21.

Encephalitis als Ursache des Irreseins 21. Encephalopathia saturnina 67. Endzustände 318.

Entartung, erbliche 117. Entartungszeichen 344.

körperliche 122.

psychische 121.

Entgleisung des Willens 282. Enthaltsamkeit, geschlechtliche als Ur- sache des Irreseins 76.

Entlassung aus der Anstalt 463. Entwicklungsjahre, Einfluss ders. auf das Irresein 100.

Entwicklungsstörungen als Ursache des Irreseins 122.

Epidemien, geistige 93.

Epilepsie als Ursache des Irreseins 33. Epileptikerfürsorge 466.

Erblichkeit als Ursache des Irreseins 115. atavistische 116.

collaterale 116.

gehäufte 117.

gleichartige 120.

mittelbare 116.

umwandelnde 121,

unmittelbare 116.

Erfinder, krankhafte 207. Ergographenversuche 365.

Ergotismus als Ursache des Irreseins 56.

470

Register.

19. Flexibilitas cerea s. Biegsamkeit, wäch-

Erhängte, Geistesstörung bei dens. Erholungsfähigkeit 233. 368. Erinnerungsfälschung 167.

associierende 170.

identificierende 170.

Erinnerungshallucination 169. Erinnerungslosigkeit 165. Erinnerungslücke 165.

Erkennung des Irreseins 339. Erlenmey ersches Gemisch 406. Ermüdbarkeit, Messung ders. 368.

als Krankheitszeichen 233. Ernährung der Geisteskranken 417.

künstliche 441.

Erregbarkeit, gemütliche Herabsetzung ders. 240.

Erregbarkeit, gemütliche Steigerung ders. 243.

Erregbarkeit, psychomotorische Herab- setzung ders. 270.

Erregbarkeit, psychomotorische Steige- rung ders. 272.

Erregung, Behandlung ders. 435.

katatonische 269.

manische 268.

motorische 267.

Erscheinungen des Irreseins 127. Erschöpfung als Ursache des Irreseins 36. 43.

Erschöpfung, chronische nervöse 39. Erysipel als Ursache des Irreseins 40. Erysipel, bessernder Einfluss desselben auf Geistesstörungen 329.

Erziehung als Ursache des Irreseins 123. Vorbeugung des Irreseins

387.

Essmanieren 281.

Euphorie als Symptom 257.

der Morphinisten 258. Exhibitionismus 291. 297.

F.

Fabelmethode 353.

Fabulieren 170.

Familiäre Erkrankungen 21. Familienpflege 461.

Faradisation, allgemeine 417. Fehlassociationen 363.

Fehlreaktionen 364.

Fesselung der Aufmerksamkeit 162. Fetischismus 297.

Feuerarbeiter, Irresein bei dens. 16. 18. Fieberdelirien 41.

Flagellanten 296.

serne.

Fliegenschwammvergiftung als Ursache des Irreseins 66.

Folie ä deux 94.

Forensische Psychiatrie 316. Formenlehre, psychiatrische 339. Fragebogen 353.

Fragesucht 187.

Frühgeburt, künstliche als Heilmittel 410.

Fütterung, künstliche 441.

Fugues der Epileptiker 291. Fortpflanzungsgeschäft und Irresein 74.

G.

Galvanisation des Gehirns 416. Gedächtnis 163.

Festigkeit dess. 166.

Schwäche dess. 166.

Störungen desselben 163.

Untersuchung desselben 352.

360.

Gedankengang, Ablenkbarkeit dess. 194. Beschleunigung dess. 230.

Einförmigkeit dess. 191.

Hemmung desselben 205.

Störungen desselben 181.

Umständlichkeit dess. 192.

Verlangsamung dess. 229.

Weitschweifigkeit desselben

197.

Gefässerkrankungen als Ursache des Irre- seins 16. 21. 70.

Gefangenschaft als Ursache des Irre- seins 90.

Gefrässigkeit als Symptom 292.

Gefühle 239.

geschlechtliche 264.

krankhafte Lebhaftigkeit dersel- ben 243.

Störungen derselben 239.

Stumpfheit derselben 243.

Gehmanieren 281.

Gehörstäuschung 144.

einseitige 132. Gelenkrheumatismus als Ursache des Irre- seins 32. 40.

Gelüste der Schwangeren 293. Gemeingefühle, Störungen derselben 259. Gemütsart 244.

krankhafte 244. Gemütsbewegungen als Ursache des Irre- seins 85.

Register.

471

Gemütsbewegungen, Untersuchung der- selben 366.

Gemütsbewegungen, krankhafte 248. Genesungszeit 323.

Genie, Abgrenzung desselben vom Irre- sein 12a 310. 378.

Genitalorgane, Erkrankungen ders. als Ursache des Irreseins 73.

Gereiztheit, krankhafte 255.

Gerichtliche Psychopathologie 316. Geschäftsfähigkeit 315.

Geschlecht, Beziehungen desselben zum Irresein 104.

Geschlechtsleben und Irresein 74. Geschlechtstrieb, Perversitäten desselben 294.

Geschwülste des Hirns 19. 23. Gesichterschneiden 212. Gesichtstäuschung 143.

mikroskopische 148. Gewöhnungsfähigkeit 235. 369. Gewohnheitsverbrecher 111.

Gheel 461.

Gicht als Ursache des Irreseins 52. Gichter der Säuglinge 387.

Giftmischer, krankhafte 299. Giftwirkungen auf Rindenzellen 25.

psychische 54. Gleichgültigkeit als Symptom des Irre- seins 240.

Glücksgefühl, krankhaftes 257. Glykosurie beim Irresein 51.

Gravidität s. Schwangerschaft.

Grazie, Verlust ders. 301.

Greisenalter als Ursache des Irreseins 104.

Grenzen des Irreseins 374. Grimassieren 282.

Grössenwahn als Symptom 221. 226. Grübelsucht 187.

Grundeigenschaften, psychische 231.

Unter-

suchung ders. 368. Gynäkologische Eingriffe als Heilmittel 409.

H.

Hämatoporphyrin bei Sulfonalvergiftung 402.

Häufigkeit des Irreseins 10. 109. Haften der Vorstellungen 187. Hallucination 133.

der Erinnerung 169.

hypnagogische 130.

psychische 137.

Hallucination, stabile 131.

Handeln, Störungen desselben 264. Harnstottern 252.

Harnuntersuchungen bei Geisteskranken 348.

Harnveränderungen bei Geisteskranken 48.

Haschisch als Heilmittel 399.

als Ursache des Irreseins 66. Hebephrenie 100.

Hedonal 403.

Heilanstalten 456.

Heilung des Irreseins 327.

mit Defekt 332.

unvollständige 331.

Heiraten Geisteskranker 385.

Hemmung, psychomotorische 270. Herderkrankungen als Ursache des Irre- seins 19.

Heredität s. Erblichkeit.

Herzleiden bei Geisteskranken 69. Hexenprozesse 446.

Hilfsvereine für Geisteskranke 395. 464. Hirnanämie als Ursache des Irreseins 117. Hirnblutung als Ursache des Irreseins 18. 19.

Hirndruck als Ursache des Irreseins 17. Hirnerkrankungen, Irresein bei dens. 15. Hirnerschütterungen 17. 19. 21. Hirngeschwülste als Ursache des Irre- seins 17. 19. 23.

Hirnhyperämie als Ursache des Irre- seins 16.

Humor der Trinker 256.

Hunger, Einfluss dess. auf psychische Vorgänge 38.

Hydrotherapie 411.

Hyoscin als Heilmittel 398. Hypermnesie 168.

Hyperprosexie 161.

Hypnon als Heilmittel 404.

Hypnose 275.

als Behandlungsart 432. Hypnotica s. Schlafmittel.

Hypnotische Versuche als Ursache des Irreseins 96.

Hypophysis 54.

Hysterie als Folge von Genitalleiden 73.

I. J.

Jahreszeiten in Beziehung zum Irre- sein 108.

Icterus gravis als Ursache des Irre- seins 50.

472

Itegister.

Idee, fixe 217.

überwertige 217.

unterwertige 217.

Ideenflucht als Symptom 194.

äussere 198 deliriöse 197.

innere 198.

sprachliche 198. Idiotenbewegungen 281.

Idiotenfürsorge 465.

Illusion 133.

Impulsivität 291.

Induciertes Irresein 94. Infectionskrankheiten als Ursachen des Irreseins 40.

Influenza als Ursache des Irreseins 40. Infusion, subcutane 411. Intelligenzprüfung 353.

Interesse 206.

Interesselosigkeit 206.

Intermission 321.

Intermittens als Ursache des Irreseins 40. bessernder Einfluss dess. auf das Irresein 329. Intimidation 432.

Intoleranz s. Empfindlichkeit. Intoxikationen s. Vergiftungen. Jodoformvergiftung als Ursache des Irre- seins 66.

Iracundia morbosa 246.

Irrenanstalt 446.

Irrenarzt 425. 453.

weiblicher 425.

Irrenfürsorge als Vorbeugung 394. Irrenkolonien 460.

Irresein, cirkuläres 321.

endogenes 14.

exogenes 14.

induciertes 94.

menstruelles 78.

periodisches 320.

Irrtum 209.

Isolierung 421.

Isopral 404.

Isotonie des Blutes 48.

Juden, Veranlagung derselben zum Irre- sein 106.

K.

Kachexia strumipriva 53.

Kälte als Behandlungsmittel 416. Karcinom s. Krebskachexie.

Kastration als Ursache des Irreseins 35. Katalepsie 277.

Kataraktoperationen als Ursache des Irreseins 36.

Kinder, Irresein derselben 97.

Kindsmord 299.

Kinematographie 366.

Klangassociationen 182.

Klangspielerei 203.

Kleiderangst 289.

Kleinheitswahn 221.

Kleptomanie 299.

Klima, Beziehungen dess. zum Irresein 108.

Klimakterium als Ursache des Irreseins 78. 102.

Klimakterium, künstliches, als Ursache des Irreseins 35.

Klinische Formenlehre 339.

Kochsalzinfusion als Heilmittel 411. 444

Körpergewicht bei Geisteskranken 324

Kohlenoxydgasvergiftung als Ursache des Irreseins 67.

Kohlensäurevergiftung als Ursache des Irreseins 50.

Kolonie 460.

Kopfrose s. Erysipel.

Kopfverletzungen als Ursache des Irre- seins 19. 21.

Kopfverletzungen, bessernder Einfluss derselben auf das Irresein 329.

Koprolalie 264.

Koprophagie 262.

Korssako wsche Psychose 63.

Kotstauungen als Ursache des Irreseins 36. 51.

Kraniektomie 409.

Krankenuntersuchung 339.

Krankheiten, körperliche als Ursache des Irreseins 40.

Krankheiten, körperliche, bessernder Ein- fluss auf das Irresein 329.

Krankheitsbewusstsein 350.

Mangel dess. 226.

Krankheitseinsicht als prognostisches Zeichen 328.

Krebskachexie als Ursache des Irre- seins 50.

Kretinismus 53.

Krieg als Ursache des Irreseins 92.

Kultur und Irresein 109.

Künstler, Irresein bei denselben 111.

Kunst, krankhafte 311.

L.

Lactation als Ursache des Irreseins S3.

Lähmung des Willens 265.

Register.

473

Landstreicher, Irresein derselben 112. Langeweile 260.

Latah der Malayen 108.

Launenhaftigkeit, krankhafte 243. Lebensalter, Beziehungen desselben zum Irresein 97.

Lebensverhältnisse, allgem. Beziehungen derselben zum Irresein 109. Leichenbefund 370.

Leichenschändung 295.

Leichtsinn, krankhafter 248. Leistungsfähigkeit s. Arbeitsfähigkeit.

der Geisteskranken 314.

Lepra als Ursache des Irreseins 45. Leuchtgasvergiftung als Ursache des Irreseins 66.

Leukämie als Ursache des Irreseins 49. Literatur, krankhafte 309.

Localisation der psychischen Störungen

22.

Localisation der Wahnideen 218.

zeitliche 172.

Störungen ders.

172.

Lüge, krankhafte 207.

Lues s. Syphilis.

Lumbalpunktion 409.

Lungenentzündung s. Pneumonie. Lungenkrankheiten als Ursache des Irre- seins 69.

Lustgefühle, krankhafte 256.

Lustigkeit 256.

Lustmord 295.

Lyssa als Ursache des Irreseins 42.

M.

Mädchenstecher 295.

Magenerkrankungen als Ursache des Irre- seins 72.

Magensaft, Verhalten desselben 349. Malaria s. Intermittens.

Manieren 281.

Mann, Veranlagung dess. zu Geistes- störungen 104.

Masern als Ursache de3 Irreseins 40. Masochismus 295.

Massage als Heilmittel 417.

Mastkur 419.

Masturbation als Ursache des Irre- seins 74.

Masturbation, Behandlung derselben 439.

psychische 297.

Mathematik, Anlage zu derselben 26. Medikamente s. Arzneimittel.

Meningitis als Ursache des Irreseins -1.

Menschenfresserei, krankhafte 295. Menstrualpsychosen 78. Menstruationsstörungen als Ursache des Irreseins 77.

Menstruationsstörungen, Einfluss derselb.

auf den Verlauf des Irreseins 78. Merkfähigkeit 163.

Untersuchung derselben 360. Metasyphilis 47.

Methylal als Schlafmittel 404.

Migräne als Ursache des Irreseins 33. Mimik der Geisteskranken 300. Monomanie 217.

Morbus Basedowii 53.

Morphium als Heilmittel 397.

als Ursache des Irreseins 64.

Morphiumeuphorie 258.

Moosbetten 439.

Muskelbewegungen, Untersuchung der- selben 365.

Mutacismus 285.

Myxödem als Ursache des Irreseins 53.

N.

Nachahmungsautomatie 277. Nachtwachen 458.

Einfluss derselben auf das

Seelenleben 39.

Nährklystiere 444.

Nahrungsverweigerung als Krankheits- zeichen 292.

Nahrungsverweigerung, Behandlung der- selben 440.

Namenzwang 187.

Narkotica als Heilmittel 396. Narrentürme 446.

Nationalität, Beziehungen ders. zum Irre- sein 106.

Nebenantriebe 279.

Nebennierenextrakt als Heilmittel 408. Negativismus 284.

Neologismen 306.

Nervenheilanstalten 395. 465. Neivenkrankh eiten als Ursache des Irie- seins 31.

Neurasthenie 89.

syphilitische 46.

Neuritis, multiple als Ursache des Irre- seins 32.

Niedergeschlagenheit 254. Nierenerkrankungen als Ursache des Irie-

seins 50. 72.

No-restraint 423.

Nuptiales Irresein 75.

474

Register.

0.

Offen-Tür-System 459.

Ohrenleiden als Ursache des Irreseins 68. Olivenölinfusionen 445.

Onanie s. Masturbation.

Operationen als Ursache des Irreseins 34.

als Heilmittel 409.

Opium als Ursache des Irreseins 65.

als Heilmittel 396.

Opiumrausch 258.

Ophthalmoskopie als Untersuchungs- methode 345.

Organerkrankungen als Ursache des Irre- seins 68.

Organsaftbehandlung 408.

Orientierung 171.

örtliche 172.

Störungen ders. 171.

Untersuchung ders. 353.

zeitliche 172.

, Störungen dersel-

ben 172.

Ovariotomie als Heilmittel 409.

P.

Papierangst 253. 289.

Paraldehyd als Schlafmittel 401.

als Ursache des Irreseins 64. Paralogie 285.

Paramimie 282.

Paramnesie 169.

Parasiten im Darm als Ursache des Irre- seins 72.

Pedanterie 288.

Pellagra als Ursache des Irreseins 56. Pellotin als Schlafmittel 399. Perceptionsphantasmen 130.

Peronin 397.

Perseveration 189.

Personenverwechslung 144.

Petroleum als Ursache des Irreseins 64. Pflegeanstalt 456.

Pflegepersonal 454.

Phobien 250.

Phonographie 366.

Phosphorvergiftung als Ursache des Irre- seins 67.

Phthise als Begleiterin des Irreseins 336.

als Ursache des Irreseins 45. Platzangst 252.

Plethysmographie 348.

Pneumonie als Ursache des Irreseins 40- Pocken s. Variola.

Polsterbett 420.

Polyneuritisches Irresein 32.

Poriomanie 291.

Präkordialangst 249.

Prädisposition zum Irresein 96.

allgemeine 97.

persönliche 114. Presbyophrenie 104.

Prodromalsymptome 318.

Prognose des Irreseins 326.

Prophylaxe des Irreseins 385. Prostituierte, Irresein ders. 112. Pseudohallucination 137.

Pseudoparalyse 55.

diabetische 51.

Psychogene Störungen bei Hirnerkran- kungen 19. 21.

Psychose s. Irresein.

Pubertätsalter, Geistesstörungen des- selben 100.

Puerperium s. Wochenbett. Puerperalmanie 83.

Pulsbild beim Irresein 347. Pupillenuntersuchung 346.

Pyromanie 299.

Q.

Quecksilbervergiftung als Ursache des Irreseins 66.

R.

Rasse, Beziehung derselben zum Irre- sein 106.

Ratlosigkeit 174.

Rausch, psychisches Bild dess. 30. Rechtspflege, Beziehungen des Irreseins zu derselben 315.

Reconvalescenz 323.

Reflexhallucination 139. Reflexmultiplicator 366.

Reflexpsychosen 34.

Reinlichkeit, Störungen derselben 262. Reizbarkeit, gemütliche, Erhöhung der- selben 246.

Remission 322.

Reperception 136.

Residualwahn 220.

Restraint 423.

Rindenzellen, örtliche Verschiedenheit derselben 24.

S.

Sadismus 294.

Salicylsäurevergiftung als Ursache des Irreseins 66.

Register.

475

Salzsäuregehalt im Magensafte von Gei- steskranken 72.

Sammeltrieb, krankhafter 298. Säugegeschäft s. Lactation.

Schädellehre Galls 26.

Schädelmessung bei Geisteskranken 344. Schamgefühl, Verlust dess. 264. Scharlachdelirien 40.

Scheinoperationen bei Hypochondern 432. Schilddrüsenerkrankung als Ursache des Irreseins 53.

Schilddrüsenausschneidung als Heilmittel 410.

Schlafkrankheit der Neger 108. Schlaflosigkeit, Behandlung ders. 436.

Einfluss derselben auf

psychische Vorgänge 39.

Schlafmittel 400.

Schlaftiefe, Gang derselben 152.

Störung derselben 234.

Messung derselben 368. Schluckangst 252.

Schmerz, Fehlen desselben 263. Schmerzdelirien 34.

Schmerzgeilheit 295.

Schnauzkrampf 280.

Schnelligkeit des Vorstellungsverlaufes 228.

Schreck als Ursache des Irreseins 17. 86. Schreckneurose 87.

Schriftsteller, krankhafte 310. Schriftstörungen 307.

Schriftwage 309. 364.

Schrullen 281.

Schulärzte 392.

Schutzhandlungen 289.

Schwärmer, krankhafte 247. Schwangerschaft als Ursache des Irre- seins 79.

Schwefelkohlenstoffvergiftung als Ur- sache des Irreseins 68. Schwefelwasserstoffvergiftung als Ur- sache des Irreseins 66.

Schweiss, Giftigkeit dess. beim Irre- sein 48.

Schwellenwert 151.

Schwerfälligkeit 205.

Schwindler, krankhafte 247. Sectionsergebnisse bei Geisteskranken 370.

Sekundärempfindungen 139. Selbstbewusstsein 235.

Spaltung desselben 235.

Störungen desselben 235. Verdoppelung dess. 236. Selbstgefühl, gesteigertes 256.

Selbstmord als Symptom 375. Selbstmordneigung 312.

Behandlung ders. 437.

Selbstvergiftung 48.

Separierung 421.

Septicämie als Ursache des Irreseins 41. 81.

Serumbehandlung 411.

Sexualempfindung, conträre 294. Siechenanstalten 465.

Simulation 381.

Sinnescentren 27.

Sinnestäuschungen 129.

elementare 129.

Nachweis ders. 350.

Sitophobie s. Nahrungsverweigerung. Sklerose, multiple 21.

Sodomie 298.

Somatiker 2.

Somnal als Schlafmittel 404. Sondenernährung 441.

Sonnennatur 247.

Spaltplatte 358.

Spätheilung 337.

Spannung, ängstliche 249. Sphygmographie bei Geisteskranken 347. Spiritismus und Irresein 96. Sprachstörung 303.

Sprachverwirrtheit 304.

Sprechmanieren 281.

Staatliche Aufgaben der Psychiatrie 395.

Stadtasyl 456.

Städte, grosse, Irresein in denselben 109.

Status präsens, körperlicher 343.

psychischer 349.

Stehltrieb 299.

Sterblichkeit der Geisteskranken 335. Stereoskopie 366.

Stereotypie des Willens 280.

der Vorstellungen 190. Stickstoffoxydul als Ursache des Irre- seins 66.

Stigmata hereditatis 122.

Stimmen 144.

Stimmungswechsel 244. Stirnhirngeschwülste, psychische Stö- rungen bei denselben 23. Stoffwechselkrankheiten als Ursache des Irreseins 48.

Stupor 271.

katatonischer 271.

Suchten 293.

Suggestion, hypnotische 275. ä öcheance 275.

476

Register.

Suggestion, posthypnotische 276.

Sulfonal als Schlafmittel 402.

Sulfonal als Ursache des Irreseins 66. Sympathicusdurchschneidung als Heilmit- tel 409.

Symptomatologie des Irreseins 127. Syphilis als Ursache des Irreseins 21. 45. bei Paralyse 47.

Kampf gegen dieselbe 393.

T.

Tabes als Ursache des Irreseins 31. Tachistoskop 361.

Tätowierung 344.

Tartarus stibiatus 408.

Teilnahmlosigkeit als Symptom 240. Telepathie 224.

Terpentinöleinspritzungen 408.

Tetanie als Ursache des Irreseins 33. Tetronal als Schlafmittel 403.

Therapie s. Behandlung.

Thermometrie des Kopfes 345. Thyreodin 407.

Tierverwandlung, Wahn ders. 225. Tobzellen 421.

Tod als Ausgang des Irreseins 335. Todesursachen bei Geisteskranken 336. Toluidinrausch 68.

Träumer, krankhafte 207. Traubenzuckerinfusionen 340.

Traum bei Geisteskranken 152.

Trauma s. Kopfverletzungen.

Tretrad als Behandlungsmittel 448. Triebe, krankhafte 292.

Triebhandlungen 291.

Trinker 60.

Trinkerheilstätten 464.

Trional als Schlafmittel 403. Tropenklima, Einfluss desselben auf das Irresein 108.

Trugwahrnehmungen s. Sinnestäuschungen. Trunksucht s. Alkohol.

Tuberculin als Heilmittel 408. Tuberculose als Ursache des Irreseins 45.

bei Geisteskranken 336. Tumoren s. Geschwülste.

Typhus als Ursache des Irreseins 40.

bessernder Einfluss desselben auf Geistesstörungen 329.

Typhus pellagrosus 56.

Typhustoxine als Heilmittel 408.

U.

Überanstrengung als Ursache des Irre- seins 88.

überbürdung der Schuljugend 388. Überernährung als Behanulungsmethode 418.

Übung 231.

Übungsfähigkeit, Messung ders. 368.

Störungen ders. 231.

Übungsfestigkeit 232. 368. Umständlichkeit 192.

der Epileptiker 193.

Unbesinnlichkeit 155.

Unheilbarkeit 333.

Unlenksamkeit 288.

Unlustempfindlichkeit, gesteigerte 245. Unlustgefühle, krankhafte 249. Unreinlichkeit, Behandlung ders. 439.

als Krankheitszeichen 262. Unruhe 268.

Unsittlichkeit, Abgrenzung ders. vom Irresein 379.

Unstetigkeit 243. 278.

Unterricht, psychiatrischer 395. Untersuchungshaft als Ursache des Irre- seins 90.

Untersuchungsmethoden, klinische 352. Urämie als Ursache des Irreseins 50. 72. Ural als Schlafmittel 403.

Urethan als Schlafmittel 403.

Ursachen des Irreseins 12.

äussere 14

., gemischte 81.

innere 96.

., körperliche 15.

psychische 83.

rohe 13.

wahre 13.

Urteilsstörungen 208.

V.

Vagabunden, Beziehungen ders. zum Irre- sein 112.

Variola als Ursache des Irreseins 40. Verantwortlichkeit 315.

Verbalsuggestion 434.

Verbigeration 305.

Verblödung 335.

Verbrecher, geborene 113. 379.

geisteskranke 462. Verdauungsstörungen als Ursache des Irreseins 71.

Vererbung s. Erblichkeit. Verfolgungswahn als Symptom 223.

physikalischer 224. Vergiftung als Ursache des Irreseins 30. 36. 54.

Register.

477

Verlangsamung der psychischen Leistun- gen 229.

Verlauf des Irreseins 317.

anfallsweiser 320.

cirkulärer 321.

fortschreitender 334.

gleichmässiger 319.

periodischer 320.

schwankender 319.

Verleugnung 383.

Veronal 404.

Verrücktheit, primäre 318. Verschlossenheit 246.

Verschrobenheit 279. Verstandestätigkeit, Störungen derselben 162.

Verstandestätigkeit, Prüfung ders. 352. Verstellung 381.

Verstimmung, epileptische 255.

,. heitere 256.

traurige 254.

Versuche, psychologische bei Geistes- kranken 356.

Versündigungswahn 222. Verwandlungswahn 225.

Verwandtschaft der Eltern als Ursache des Irreseins 117.

Verwirrtheit als Symptom 203.

hallucinatorische 204.

ideenflüchtige 203.

,, kombinatorische 203.

.. stuporöse 204.

traumhafte 203.

zerfahrene 203.

Verzückung 258.

Vision 143.

Volksart, Beziehungen derselben zum Irresein 106.

Vorbeireden 285.

Vorbeugung 385.

Vorboten 318.

Vorgeschichte 340.

Vorstellungen, Haften derselben 187.

unabgeschlossene 187.

Vorstellungsschatz, Untersuchung dess. 353.

Vorstellungsverbindungen, äussere 181.

,. Festigkeit ders.

363.

innere 181.

,. prädikative 183.

,. Statistik dersel-

selben 363.

Störungen in der

Bildung dersel- ben 177.

V orstellungsverbindungen, Untersuchung derselben 362. Vorstellungsverbindungen, zeitlicher Ab- lauf ders. 228.

Vorstellungsverlauf s. Gedankengang.

W.

Wachabteilung 456.

Wärmebestrahlung des Kopfes als Ur- sache des Irreseins 16. 18. Wahnbildung 212.

partielle 218.

Wahnidee als Symptom 212.

,. deliriöse 219.

depressive 221.

exaltierte 226.

fixe 221.

Localisation derselben 218.

hypochondrische 225.

Nachweis derselben 350.

nihilistische 222.

systematisierte 221.

wechselnde 220.

Wahnsystem 221.

Wahlreaktionen 364.

Wahlzeit 364.

Wahrnehmung, Störungen ders. 128.

,, Untersuchung ders. 357. Wahrnehmungstäuschungen 130. Wandertrieb 291.

Wasserbehandlung 411.

Wechselfieber s. Intermittens.

Weib, Disposition desselben zum Irre- sein 104.

Weitschweifigkeit 197.

Wicklungen, feuchte 415.

Widerstreben 287.

Wille, Störungen desselben 264.

,. Ablenkbarkeit desselben 278.

Beeinflussbarkeit desselben, er- ,, höhte 274.

Beeinflussbarkeit desselben, ver- minderte 284.

Bestimmbarkeit desselben 275.

Bindung desselben 288.

,, Durchkreuzung desselben 279.

Entgleisung desselben 282.

Stereotypie desselben 280.

Unstetigkeit desselben 278. Willenlosigkeit 275.

Willensantriebe, Auslösung, erleichterte derselben 272.

Willensantriebe, Auslösung, erschwerte- derselben 270.

478

Register.

Willensantriebe, Herabsetzung derselben 265.

Willensantriebe, Steigerung derselben 267.

Willensantriebe, Untersuchung derselben 279.

Willensfreiheit 274.

Willenshemmung 270.

Willenssperrtmg 271.

Witzelsucht 23. 202.

Wochenbett als Ursache des Irreseins 80. Wortneubildungen 306.

Wortsalat 304.

Wortspielerei 201.

Wucherungen, adenoide, Entfernung der- selben 410.

Z.

Zahl der Geisteskranken 10. Zahlenzwang 187. Zeichnungen, krankhafte 308.

Zeitmessungen, psychische 228. 359. Zellenlose Behandlung 422. Zerfahrenheit 199.

Zerstörungssucht, Behandlung ders. 438. Zerstreutheit 160. 162. 164. Zielvorstellungen 184.

Zitterapparat 365.

Zoophilie 298.

Zopfabschneider 298.

Zommütigkeit, krankhafte 246. Zuchthausknall 92.

Zunahme des Irreseins 109. Zurechnungsfähigkeit 315.

Zustände, krankhafte 317. Zustandsuntersuchung 343. Zwangsbefürchtungen 250. Zwangsbewegungen 280. Zwangshandlungen 288.

Zwangsjacke 423.

Zwangsvorstellungen 185. Zwillingsirresein 120.

Verlag von JOHANN AMBROSIUS BARTH in LEIPZIG

Früher erschien von demselben Verfasser:

EINFÜHRUNG

IN DIE

PSYCHIATRISCHE KLINIK.

DREISSIG VORLESUNGEN

VON

DR. EMIL KRAEPELIN,

PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT HEIDELBERG.

VIII, 328 Seiten. 1901. Preis M. 8.40, gebunden M. 9.60, gebunden und durchschossen M. 11. .

Therapeutische Monatshefte. 1901. September:

Kraepeliu, der rühmlichat bekannte Heidelberger Irrenarzt, hat allen Studierenden und Ärzten mit der Abfassung des vorliegenden Buches einen grossen Dienst geleistet. Ein der- artiges Werk füllt tatsächlich eine seit lauge vorhandene Lücke aus. Sicherlich werden Viele, die ,,der Not gehorchend, nicht dem eigenem Triebe“ an das Studium der Geistes- krankheiten herangehen, durch dasselbe Anregung und Interesse für das ihnen bisher so fremde und dunkle Gebiet bekommen. In 30 Vorlesungen werden klar und deutlich die Elemente der Psychiatrie abgehandelt und an der Hand von geeigneten Beispielen finden wir in Kürze er- läutert, was für das Verständnis der Geisteskrankheiten ein unerlässliches Erfordernis ist. Dabei sollen diese Vorlesungen nichts weniger als ein Lehrbuch sein. Ihr Zweck ist vielmehr, als eine Anleitung zur klinischen Betrachtung Geisteskranker zu gelten. Wie in der Klinik üblich, wird der diagnostische Gesichtspunkt in den Vordergrund gestellt, typische Fälle werden in geeigneter Weise analysiert und ihre Prognose und Heilbarkeit erörtert.

An dieser Stelle können wir zu unserem Bedauern nicht weiter auf Einzelheiten ein- gehen, aber mit Nachdruck müssen wir hervorheben, dass es dem Verfasser meisterhaft gelungen ist, wiederum ein verdienstvolles Bach geschaffen zu haben, das den Anfänger geschickt in das Gebiet der Geisteskrankheiten einführt, „bei deren Beurteilung uns auf Schritt und Tritt Un- klarheiten und Zweifel aufstosseu11. Dies neue Kr a e p eli n sehe Buch bedarf keiner weiteren Empfehlung. Es verdient von Lernenden und Lehrenden als eine dankenswerte Erscheinung begrüsst zu werden. Rabow.

Zeitschrift für Psychologie. Band 27, Heft 1/2:

An der Hand prägnant geschilderter und vortrefflich ausgesuchter Krankheitsbilder er- örtert Verfasser die Kliuik der verschiedenen Psychosen und legt ganz besonders Wert auf die Stellung der Diagnose und die eingeheude Begründung der Differential diagnose. In anziehender Weise and anregender Form, mit didaktischem Geschick, mit einer feinen Beobachtungsgabe, die auch ganz unscheinbare Züge zu verwerten weiss, begründet Kraepelin in jeder der mitgeteilten Krankheitsgeschichten die Diagnose und berichtet über das weitere Schicksal des Kranken. Re- ferent glaubt nicht fehlzugehen in der Annahme, dass sich auch vorliegendes Buch bald einer ebenso grossen Beliebtheit und Verbreitung erfreuen wird wie des Verfassers Lehrbuch. Jedenfalls ist heute wohl kaum ein Buch geeigneter, dou Studenten in die Klinik einzuführen, ihm Interesse für die Psychiatrie einzufiössen und ihn zu selbständigem Denken anzuregen.

Ernst Schultze, Andernach.

Berliner klinische Wochenschrift. 1901. No. 49:

Die eigenartige Zergliederung des manchem so spröde erscheinenden Stoffes verbunden mit der dem Verfasser eigenen klaren und fesselnden Darstellungsart hat unzweifelhaft für die Stu- dierenden, besonders natürlich für die eigenen Schüler Kraepelin s, ihre grossen Vorzüge: sie wird ihnen das Verständnis für psychische Krankkeitsbilder erleichtern und sie psychiatrisch denken und urteilen lehren ; nicht minder wird aber auch dem praktischen Arzt eine ihm in so anregender Form gebotene Auffrischung dessen, was er früher einmal in der Klinik selbst be- obachtet hat, willkommen sein.

Verlag von JOHANN AMBROSIUS BARTH in LEIPZIG.

Möbius, Dr. P. J., Ausgewählte Werke.

Der geschlitzte Leipziger Neurologe schickt sieh an, seine „Ausgewkhlten Werke" in ein- heitlicher vornehmer Ausstattung erscheinen zu lassen. Die ersten 5 Lände werden folgende Titel haben: I. Band : Ilousseau. IX. und III. Band : Goethe. IV. Baud: Schopenhauer. V, Band: Nietzsche. Jeder Band ist einzeln käuflich. Preis M. 3. , geh. M. 4.50.

Band I: J. J. Rousseau. XXIV, 311 S. mit Titelbild und Handschrift- probe. 1903. M. 3. , geb. M. 4.50.

„Das vorliegende Buch, in dem uns M. die Entwicklung der Geistesstörung J. J. Koutseaug schildert, wird von jedem Gebildeten von Anfang bis Ende mit warmem Interesse, ja mit Spannung gelesen werden, denn die Lösung der Aufgabe ist M. in mustergültiger Weise gelungen.

Prof. E. Kraepelin.

Band II und III: Goethe. 260 und 264 S. mit Titelbildern. 1903.

Je M. 3. , geb. M. 4.50.

Literarisches Centralblatt: M. unternimmt eine umfassende Darstellung des Patholo- gischen hei Goethe in den Werken und der Person selbstverständlich unter Bevorzugung der Abnormitäten geistiger Art. Dieser Aufgabe, deren ausserordentliche Wichtigkeit noch von der Schwierigkeit ihrer Behandlung übertroffen scheint, ist der ausgezeichnete Nenrologe in so hervorragendem Masse gerecht geworden, dass es vielleicht nicht zu kühn ist, wenn wir sein Buch als die inhaltreichste Frucht der Goetheforschung der jüngsten Jahre auffassen . . .

Über Schopenhauer. VIII, 264 S. mit 12 Porträts. 1899.

M. 4.50, geb. M. 5.50.

Der 1. Teil ist ein Gutachten über den Geisteszustand Schopenhauers. In ihm wird auf Grund der Familiengeschichte und der Biographie gezeigt, dass Schopenhauer eine „pathologische Mehrwertigkeit“ war.

Der 2. Teil des Buches enthält eine Kritik der Philosophie Schopenhauers vom Stand- punkte des Verfassers aus, die bei aller Schärfe des Urteils den Kern der Lehre als gesund an- erkennt, und die Freunden wie Gegnern Anregung gewähren wird.

Über die Anlage zur Mathematik. VIII, 332 S. mit 51 Bild- nissen. 1900. M. 7. , geb. M. 8.50.

Nach M.’s Darstellung wird das mathematische Talent nicht erworben, sondern mit zur Welt gebracht; es iBt nicht proportional, den anderen geistigen Fähigkeiten, sondern kann bei grosser Intelligenz klein Bein und umgekehrt .... Der besonderen Geistesbeschaffenheit des Mathematikers entspricht auch eine körperliche Besonderheit: eine ungewöhnlich starke Ent- wickelung des oberen äusseren Angenhöhlenwinkels.

Über Kunst und Künstler. VKI, 296 S. mit 8 Tafeln. 1901.

M. 7.—, geb. M. 8.50.

Verfasser kommt bei seinen Untersuchungen zu der Annahme bestimmter einzelner Kunst- triebe, deren fünf unterschieden werden. Er zeigt, dass einzelne dieser Triebe bei einzelnen Menschen von Geburt an besonders stark entwickelt sind und dass der ungewöhnlich starke Trieb oder das Talent den Künstler zu seiner Tätigkeit nötigt.

Neurologische Beiträge. 4 Hefte. 1894 1896. M. 14 .

Inhalt: 1. Heft: Über den Begriff der Hysterie und andere Vorwürfe vorwiegend psychologischer Art. VI, 127 S. 1894. M. 4.

2. Heft: Über Akinesia algera. Zur Lehre von der Nervosität, über Seelenstörungen

Chorea. IV, 137 S. 1894. M. 3.—

3. Heft: Zur Lehre von der Tabes. IV, 154 S. 1895. M. 3.

4. Heft: Über verschiedene Formen der Neuritis. Über verschiedene Augenmuskel-

störungen. IV, 216 S. 1895. M. 4.

Vermischte Aufsätze. IV, 176 S. 1898. M. 4.—.

In dem vorliegenden Hefte ist Altes und Neues abgedruckt. Die wichtigsten dieser Studien betreffen die augenblicklich im Vordergrund stehende Bewegung zur Änderung unserer sogenannten „Nervenheilanstalten“ in Arbeitsanstalten für Nervenkranke und vor Allem die Neugründung von Volksbeilstätten für solche Patienten. Auch was wir über den Kampf gegen den Alkobolismuß, den Kampf gegen die Tuberkulose und gegen die venerischen Krankheiten erfahren, das sollte in breiteren Schichten des Publikums bekannt werden.

Stachyologie. Weitere vermischte Aufsätze. VIII, 219 S. 1901.

M. 4.80, geb. M. 6. .

Diese „Ährenlese setzt sich aus folgenden Arbeiten zusammen: 3 Gespräche über Meta- physik. 3 Gespräche über Religion. Psychiatrie und Literaturgeschichte. Über J. .T. Bosseaus Jugend und W. A. Freund. Über die Heilung des Orest. Über das Studium der Talente. Über die Vererbung künstlerischer Talente. Über einige Unterschiede der Talente. Über einige Unterschiede der Geschlechter. Über den physiologischen Schwachsinn des Weihes. Über Ent- artung. Über Massigkeit und Enthaltsamkeit.

Nervenkrankheiten. Ein kurzes Lehrbuch. VTH, 188 S. 1893.

geb. M. 4.50.

Deutsche Medizinal - Zoltung : Das gediegene kleine Buch wird sich schnell überall ein- bürgern. Es enthält bei aller Kürze das Wissenswerteste aus dem Gebiete der Nervenkrankheiten und zwar in so ansprechender origineller Form, dass es das Interesse des Lesers stets fesselt.