E E
LOS ccc Milli dil A illl 1lIQlll lll] lo 1jáiíi1i 01, 1010 1. 0 ^7)dmuad mM
13]
Basler ahrbuch 2 1915
herausgegeben von Albert Geßler u. Auguſt Huber
Drud von Friedrich Reinhardt in Bajel.
Inbaltsverzeichnis.
W. Bilder, Carl Koechlin-Iſelin 1856—1914
R. Deri:-Sarafin, Eine iiid m im Sabre 1809
Hans Merian-Genaſt, rReiſeſkigzen von aEduard Genef Balel, 1865
Auguſt Burdhardt, Stände ih Verfaſſung in See vom 16. bis 18. Jahrhundert .
Wilhelm Degen, Gin kirhlicher Streit iii Birsed vor achtzig Jahren
Saul Meyer, Aus den Wanderjahren ei eines s Basler Stus benten bes 17. Jahrhunderts .
€. Mieſcher, Ablaßbrief von Anno 1517 zu Sunfen ber Satobusaltars in St. Leonhard .
Paul Wernle, Aus den Tagen ber franzöſiſchen Revo lution unb ber Helvetik 1789—1808 . .
Albert Geßler, C. Th. Martees, Mar riot; Das fünftleriidje Leben in Bafel
Fritz Baur: Basler Chronit vom 1. November 1913 bis 31. Oftober 1914 M re:
245
320
Carl Roedhlin -Ifelin | J856—]914. Don W. Dif det.
Su Beginn biefe8 Sabres iff bei uns ein Mann zu Grabe getragen worden, bem aufrichtige allgemeine Trauer unb ber Ausdrud der Verehrung unb des Danfes nach- folgten für ein Leben und Wirken, das in reicher Tätigkeit auf weiten Gebieten vieles Gute erftrebt und erreicht bat. Onamifden find Ereignifle eingetreten, welche in gewaltiger Weile in ale Verhältniffe und Anfchauungen eingegriffen baben und in mancher Beziehung frühere Gefichtspunfte unb den OXaBífab, ben wir anzulegen gewohnt waren, verrüdt haben. Manches, was wichtig und groß erfchien, finft zu- fammen vor der Wucht von Tatſachen, bie mit brutaler Gewalt $[nerbórte8 zur Wirklichkeit machen. Aber bie fchweren Eindrüde, unter denen wir jest fteben, follen nicht verwifchen, was von bleibendem Werte uns früher zuteil geworden ift, und gerade in diefer Zeit, wo das Streben der Völker beinahe nut nod) auf Vernichtung und Serftörung gerichtet fcheint, und allein der Ruhm Triegerifcher Erfolge bie Phantafie erfüllt, darf man daran erinnert werden, daß bie Menſchheit noch andere Ziele bat, und daß Pflichterfül- fung und Heldentum aud) ohne Schlachtenlärm möglich ift, daß felbft Eriegerifche Tugenden aud) im Zrieden zur Gel- tung fommen fónnen.
Es fol daher nicht unterbleiben, an diefer Stelle des uns zu früh entrifjenen Carl Roechlin zu gedenken, wenn aud) der Verſuch, einen Turzen Sleberblid über das Leben diefes
1 1
Mannes zu geben, ben wir gerne in fefter Erinnerung be- halten möchten, unter der Ungunſt der Zeit leiden muß, die nicht bie Muße bot, welche wünfchbar gewefen wäre. Aber daß inter arma silent musae, daß bie Ge[djidtsfdreibung zu kurz fommt, folange bie Waffen Elingen, das hätte bet, bem biefe Zeilen gelten, am erften verftanden.
Wenn wir an jemandes Leben berantreten, fragen wir gerne nad) feinem Urſprung, feiner Herkunft, um die Kräfte und Umſtände fennen zu lernen, welche für feine Art unb feine Entwidlung beftimmend gemefen fein mögen. Auch in unferm demokratiſchen Gemeinwefen fpielt die Erblichkeit feine geringe Rolle, und in den Erwartungen, bie wir in Semanden feßen, laſſen wir uns beffimmen duch die Er: fabrungen, welche wir an feinen Vorfahren glauben gemacht zu haben.
Carl Koechlin ftammte aus Streifen, in denen Handel und Onbuftrie vorwiegend vertreten waren. Die Familie Koechlin batte während drei Sabrbunberten zu Mülbaufen im Elfaß geblüht, wohin fie aus bem Zürichbiet eingewandert war. Sm Sabre 1746 bat Samuel Soed)lin in Mülhaufen bie erfte Buntdruderei von 93aummollgereben errichtet und damit den Grund zu einer Snbuftrie gelegt, welche bald zu großer Bedeutung gelangte. Seine Familie ftellte fid) damit in bie vorderſte Reihe der Vertreter der rafch auffteigenden elfäßifchen Gewerbetreibenden. Samuel Roechlin war, wie andere Glieder der Familie, durch reihen Kinderfegen aus- gezeichnet; feine Frau, Elifabeth Hofer, fchenkte ibm 17 Söhne und Töchter, von denen der ältefte Sohn ihn noch übertraf mit 20 Kindern aus einer Ehe. Die zahlreihen Otadfommen haben das Geſchäft ihres Vaters mit großem Erfolg fort- gefet unb eine ganze Anzahl von Unternehmungen auf ver- fchiedenen Gebieten ins Leben gerufen, von denen manche jest nod) in 93[üte fteben. Der Sohn Samuels, Hartmann, ebenfalls Inhaber eines großen Gefchäfts, heiratete die Tochter des Basler Ratſchreibers Iſaak Sfelin, des befannten
2
Gründers der Gefellfhaft zur Förderung des Guten und Gemeinnüßigen in Bafel, und diefe Verbindung mit einer Bürgerin unferer Stadt, zu welcher die benachbarte elfäf- fíde Reichsftadt von jeber in naben Beziehungen ftanb, führte einen Zweig der Familie hierher. Hartmann Koechlin erhielt zu Ehren feines Schwiegervaters das Bürgerrecht von Baſel geſchenkt, das damals fonft Fremden verfchloffen war. Einer feiner Söhne blieb der neuen Vaterftadt treu und ver- band fid) ebenfalls mit einer Vaslerin. Es war Samuel S8oed)fin-93urdbarbt in der St. Sohannvorftadt;, in den Er- innerungen feines GnfeI8 Carl lebte er als freundlicher, gütiger Großvater weiter. Er wandte fid) einem in feiner neuen Heimat blühenden Snöduftriezweig zu und führte mit feinen Söhnen ein Bandfabrikationsgefchäft, bem allerdings Fein langes Ge- beiben befhieden war. Gein Sohn, der Ratsherr und Ständerat Alfons Roechlin-Geigy war vollftändig Basler und Schweizer unb bat in feinem engeren und weiteren QVater- [anb eine bedeutende Stellung eingenommen als Mitglied der. oberften Behörden wie als geachteter Kenner vollswirt- Ihaftlicher Fragen und als gegebener Vertreter von Baſels Handel und Induſtrie. Er war einer der Gründer Der Basler Handelsbant und während vieler Sabre Präfident der Basler Handelstammer. Auch feine Gbefrau, Frau Adele geborene Geigy, bie Tochter des Ratsherrn Carl Geigy, Präfident des Finanzkollegiums und Inhabers eines bedeutenden KRolonialwarengefchäftes, entfproß einer Familie, bie im Basler Handel eine hervorragende Stelle einnabm.
Ihrem Sohne Earl war fo ein wertvolles Erbe zuteil geworden. Er bat es fid) burd fein Verdienft zu eigenem Beſitz neu erworben.
Aber nicht nur die Tradition erfolgreichen Wirkens fand ihm zur Ceite. Wertwolle Eigenfchaften des Geiftes und des Gemütes fonnten von frühe an auf ihn wirken. Scharfer, mit bebeutenbem Wiffen gepaarter Verftand unb
3 zd
ſchlagfertiger Wit wie warme mitteilfame Liebe waren ver- einigt im Elternhaus, in welchem ein ftarfes Gefühl der Sufammengehörigfeit und reges Pflihtbewußtfein alle An- gehörigen verband. Mit Greube hat der Sohn oft Proben der launigen Verſe zitiert, mit denen Ratsherr Koechlin Ereigniffe in der Familie zu begleiten pflegte, und bie zeigten, in welch gemütpoller Weife das Gamilienbaupt dem Haufe vorftand. Der Sohn hat e8 ftet8 banfbar anetfannt und bat fi angelegen fein faffen, durch fein Zeifpiel im eigenen Haufe die Erkenntnis zu verwerten, wie wichtig für Das ganae [pátere Leben Eindrüde und Anregungen im Eltern: baufe find.
Carl Koechlin war geboren am 5. November 1856. Es war, wie gejagt, eine gute Kinderftube, in welcher er das Licht der Welt erblidte und beranwuchs. Vorzügliche natür- [ide Gaben des PVerftandes und des Gemütes, bie ihm in bie Wiege gelegt waren, wurden butd) eine forgfältige Er- ziehung entwidelt und in der Richtung, die ihnen angemelfen war, ausgebildet. Schon der Knabe zeigte bie große 93emeg- Lichfeit des Geifte8 und des Körpers und den natürlichen Frohſinn, bie den Mann auszeichnen follten. Heiter, aud) zu luſtigen Streichen aufgelegt, war er ein belebenber, gerne gefehener Gefpiele im Kreife ber AUltersgenoflen in und außer der Schule, ein guter Ramerad bei den Kadetten, wo er bereit3 feine erften militärifchen Neigungen betätigte. Ent- fprechend der Gamilientrabition und feiner natürlichen Ver: anlagung, bie nicht auf befchauliche Forfchung, fondern auf raſches Erfaflen praftifcher Siele ging, war er für den Kauf: mannsberuf beftimmt, für deflen Ausübung bie Familien- beziehungen günftige Wege wiefen. Wie fein Vater machte aud) er das humaniſtiſche Gymnafium durch; er hat immer anerkannt, daß der Kaufmann die dort vermittelte 93ilbung nur fhäsen Tann. Die lebten Schuljahre wurden in Genf abfolviert bi8 zur Reife für die Univerſität. Diefe Sabre in Genf find Koechlin in feinem ganzen fpäteren Leben zuftatten
4
gefommen. Dort bat er nicht nur fid) gründlich und gut bie Kenntnis ber franzöfifhen Sprache angeeignet, fondern aud) Art und Weife ber welfchen Gibgenolen kennen unb verftehben gelernt und wertvolle dauernde Beziehungen ge: fnüpft. Stets erinnerte er fid) gerne an den Aufenthalt im Haufe des Pfarrers Goetz, das nad) ibm nod) manden Basler beherbergt bat, und mit den damal3 erworbenen Genfer Greunden iff er Zeitlebens in treuer Verbindung geblieben.
Nach dem Aufenthalt im Welfchland ging’s in bie Lehre. Damals konnte und wollte man nod) nicht das Studium an einer Handelshochſchule an bie Stelle einer Faufmännifchen Lehre fegen. Roechlin bat immer betont, daß bie methodifche Einführung in das praftifche Arbeiten eines faufmannes, bie er als Lehrling genoffen, und bie Kenntnis aller Details, die Damit erworben wurde, nicht durch rein theoretifche Aus- bildung zu erfegen gemefen wäre. Es war allerdings eine febr gute Lehre, bie er dDurchmachte, in bem Gefchäfte 3áslin, Baumann u. Gie. in der St. Iohannvorftadt, einem Hand- Iungshaufe, das fid) eine Pflicht daraus machte, feine Lehr- [inge wirklich etwas lernen zu laffen und zu gebildeten fvauf- leuten zu erziehen. Die Chefs, unter ihnen namentlich Emanuel Zäslin-Sulzberger, gaben fid) Mühe, ihre jungen Leute aud) auper den Gefhäftsftunden zu vereinigen unb zur Diskuffion von wirtfchaftlihen Fragen wie zum Verftändnis und Genuß von Werfen der Literatur und der funft anzu: regen. Die Lehre in diefem Haufe war daher gefucht, und bie einftigen Lehrlinge btefer Firma hielten die -Veziehungen zu ihr und untereinander fpäter nod) aufrecht. Es war Koechlins Art, einmal gefnüpfte Beziehungen treu zu pflegen, und [o bat er für feine Prinzipale und feine follegen jener Lehrzeit ffet8 ein dankbares Andenken und gute Greund- Ihaft bewahrt.
Die weitere Ausbildung erfolgte in Lyon und in Lon- don, nun [don im Hinblid auf die Stellung, welche bem
5
tüchtigen jungen Manne in ?fusfidit ftand in bem urfprüng- lid) großpäterlichen Gefchäfte, das fein beim Rudolf Geigp- Merian als einen GroBbetrieb für Serftellung von Farb— waren zu bober Blüte weiter entwidelt batte. Aus der Fremde aurüdgefebrt fonnte Koechlin in die Firma Sob. Otub. Geigy u. Cie. eintreten. Er batte den Vorzug, fid) unter der direkten Leitung feines Oheims vortrefflich ein- arbeiten zu fónnen; er erfaßte feine Aufgabe mit aller Energie und füllte feinen Plab fo aus, da er bald eine leitende Stel- lung einnehmen fonnte. Dem bod) angefebenen Unternehmen, für das er als Partner mitverantwortlich wurde, galt nun in erfter Linie die Arbeit feines Lebens; ibm hat er feine große faufmünnijd)e Begabung unb eine mit praftifcher 23il- bung vereinte bedeutende Arbeitskraft gewidmet, und er hatte bie Genugtuung, an der Geite feines Oheims unb von deſſen Söhnen ibm mit beftem Erfolge vorzuftehen und es zu ſtets weiterem Gedeihen zu führen.
Mit dem Eintritt in eine Vertrauensftellung bei Joh. Rud. Geigy u. Gie. war foed)lin ein, wie man fo zu [agen pflegt, gemachhter Mann, und dem jungen flotten Vertreter des bedeutenden Handlungshaufes, der daneben mit 26 Sahren [don in der Armee ben Grad eines Generalftabs- hauptmannes bekleidete, fanden die Türen offen zu Erfolg und Ehren.
Was zum irdifchen Glüde nod) fehlen fonnte, fand Koechlin in dem Hausftand, ben er im Sabre 1884 begründete burd) feine Ehe mit Grau Elifabeth geborener Sfelin aus dem QGeibenpof in Baſel, einer Gattin, welche, reid) an liebenswerten Gigenfdjaffen des Geiftes und des Herzens, fein eigenes Wefen in ber glüdlichften Weife ergänzte und mit ihrer imnerlihen und Doch heiteren Art dem in ungeforgten Verhältniſſen herangewachſenen lebensfrohen Manne eine nie verſagende Stütze war. Wer je in dem gaſtlichen Heim des jungen Paares verkehrt hat, ſei es in der Stadt, ſei es in Riehen, wo im Sommer ein altes
6
Landhaus zu dem allen Gäften offenen unb gemütlichen Git der glüdlich heranwachfenden Familie gemacht wurde, der wird nicht vergeffen, in welch ungezwungener, einnehmender Weife man verftand, einen Son erklingen zu laflen, der jedermann fid) bebaglid) fühlen lied. Manch größerer oder Heinerer Anlaß wurde verfchönt Durch poetifche Gaben, welche die Hausfrau mit feinem Sinn und herzlihem Humor zu bieten verftand. Koechlin genof ungemein das ihm erblübte häusliche Glüd; der Familie, der Gattin und der wachſenden Kinderſchaar, war in erfter Linie bie freie Zeit gewidmet, weld bie mit großer Pflichttreue ausgeübte Tätigkeit im Gefchäfte ließ; Daneben war ber Militärdienft fozufagen die einzige anderweitige Beſchäftigung, bie er fid geftatten fonnte. Eine große Freude und Befriedigung war die Er: richtung eines eigenen Heims in dem fohönen Bau an ber Engelgafle, der durch Künftlerhband ausgefchmüdt wurde unb dazu beftimmt fchien, ein Mittelpunkt beiterer und edler Gefelligfeit zu werden. Er wurde durch fröhliche Feſte im Kreife der Familie und ihrer zahlreichen Freunde einge- tveibt. Aber nicht nur fie follten daran teilnehmen. Es entíprad) dem Charakter des Hausherren, daß auch alle, welche als Ver⸗ treter des Handwerks am Bau mitgewirkt hatten, zu einem Weite geladen wurden, an dem man in den fdónen neuen Räumen in gemütlicher Weife beifammen faf. Yald fam aud) bie erfte Gelegenheit zu erfolgreichem öffentlichem Auf: treten. Sn bem Zeftfpiel zur VBereinigungsfeier von 1892 übernahm Koechlin bie Rolle des Herzogs Leopold von Defterreich, und es wird Manchem nod) in febbafter Grinne- rung fein, mie er auf feinem feurigen Rofle der in die Schlacht aiebenben öfterreichifchen Ritterfchar voranritt. Der Basler Liederfranz, welcher den ibm folgenden Streit: haufen ftellte, unb fid) feither feiner freundlichen Fürſorge erfreute, ernannte damals feinen Anführer zum Ehren— mitglied und iff ibm auch fpäter ftets treu geblieben. Die raſch errungene allgemeine Popularität trug Koechlin auch
7
Das erfte öffentliche Amt ein, dasjenige eines Civilrichters. Als feine Wahl, auf Vorſchlag ber liberal-fonfervativen Graftion gegenüber einem von anderen Parteien vorgelchla- genen Kandidaten im Großen Rate, ber damals nod) bie Richter wählte, erfolgt war, berichtete eine Zeitung mit nicht unrihtiger Betonung, daß gewählt worden fet Herzog Leo- pold von Defterreich, das heißt Herr Roechlin-Sfelin. Es war ein guter und vielverfprechender Eintritt ins öffentliche Leben. Über fo febr aud) Koechlin an Popularität eine Freude hatte, nad) intenfiver Betätigung in der Deffentlich- feit, gar auf politifhem Gebiete, ftanb fein Sinn nod) nidt. Gr batte genügend Arbeit in feinem Gefchäft und Ding zu febr an feiner Häuslichkeit, al daß er gewünfcht hätte, bie Muße, bie er biefer widmen fonnte, einer nad) außen Detvor- tretenden Tätigkeit zu opfern.
Da traf den zufrieden feines Glüdes fid Freuenden ein Schlag, wie er fchwerer nicht hätte fallen fónnen. Zu Beginn des Zahres 1893 ftarb an tajd) verlaufender Krankheit feine Gattin, nachdem fie ihm kurz vorher ein fechftes Rind gefchenkt batte. Der I6jährige Mann, dem bisher das Glüd fo bolb geweſen, war ins Mark getroffen. Er bat biefen unerjeglichen Verluſt nie verfchmerzt, aber bod) in tapferem Rampfe den Schmerz überwinden gelernt. Die noch unerwachſenen Rinder, für deren Erziehung er in einer älteren Schwefter feiner Gattin eine treue Hilfe fand, konnten noch nicht das Leben mit ibm teilen, mehr als vorher Tieß er fid) baber bereit finden, fich außer feinem Haufe an Aufgaben des Öffentlichen Lebens unb Gemeinmwefens zu betätigen. An Anlaß dazu fehlte es nit, wer in Baſel einmal die Meinung für [fid Dat, der follte gleich überall dabei fein. Dem allgemein beliebten, nun fo fchwer betroffenen Manne wandte fid) in aufrichtiger Teilnahme noch vermehrte Sympathie zu, bie in Gelegenheit zur Vetätigung Sroft bieten und den fo brauchbaren Helfer für irgend eine Arbeit gewinnen wollte. Wer fann es einem Manne in foldhen Umftänden verargen, wenn er, um fein
8
Leben neu zu geftalten, fid) mehr nad) außen ausgiebt, als auf bie Dauer vielleicht aut tut. Koechlin bat, wenn er es auf Roften feiner Rube tat, zuweilen mehr als feinen Nächiten lieb fein fonnte, wohl aud) Vielen damit Gutes getan, unb wenn er aud) einmal etwas übernahm, das nicht jedermann notwendig erfchien, fo bat er bod) damit irgend jemandem und damit fid) felbft eine Freude gemacht, und das war ihm aud) zu gönnen.
Bon nahhaltiger Bedeutung ift für Koechlin bie An- regung geworden, bie ihm damals von einem Manne gu. ging, der in verfchiedener Hinfiht Manches mit ihm ge- mein hatte, von Rudolf Sarafin. Diefer ebenfalls fo erfolg- reihe GroBinbuftrielle, ber fein eigenes Gefchäft bereits jüngeren Händen übergeben batte, deflen Lebbafte8 Tempera- ment aber Ginjamfeit und Untätigkeit nicht ertrug, fügte einer reihen Wirkſamkeit auf gemeinnüßigem Gebiet unb für Wohlfahrtseinrichtungen immer noch neue Unternehmungen hinzu. Damals war e$ bie FZürforge für Bruſtkranke, für bie einzutreten er fid) bereit fand. Er mar Präfident der von der Gemeinnützigen Geſellſchaft dafür eingefetten Rommif- fion; deren Schreiber wurde, wohl nicht ohne fein Sutun, Carl Koechlin, bem er feine ganze Sympathie zumandte. Es war der Anfang zu einem gemeinfamen Wirken auf verfchie- denen Gebieten. Koechlin bat das Vorbild diefes gemein: nüßigen Mannes und das teilnehmende väterlihe Wohl: wollen, das er von ibm genoß, bod) gefhäßt. Er bat ihm nad) feinem Tode ein fchönes Denkmal geſetzt in bem mit befonderer Wärme gefchriebenen Nachruf in diefem Jahr⸗ buche, wohl dem beiten Erzeuaniffe feiner Feder; er bat gewiffermaßen fein eigenes Wefen hineingelegt. Dort bat er aud) die Gntftebung und Entwidlung der Bewegung gefchildert, bie in DBafel zur Gründung des evangelilch- fozialen Vereines, des evangelifchen Arbeitervereines unb ber Gefellfhaft zum Wettfteinhof führte, an welchen Unter⸗ nebmungen er gemeinfam mit Rudolf Sarafin fid) eifrig
9
betätigte. Es war namentlich bet evangelifche AUrbeiterverein im Wettfteinbof, der ibm viel Freude machte, und es blieb ibm ftets eine Genugtuung, mitgebolfen zu haben, als deflen erften Leiter Pfarrer Guftav Benz nad) Bafel zu ziehen. Er bat oft ausgefprochen, wie ibm bie Betätigung in diefem Kreife über manche [dere Stunde binmeggebolfen babe. Er beteiligte fid) gerne an den Sitzungen und Diskuffionen; er war auch dort ftet8 gerne gejeben und gehört, und das tat ibm wohl. Die Arbeiterfchaft fühlte auch, daß ihr Wohl ibm am Herzen lag, und als im Sabre 1896, nad) der Wahl von Dr. €. Brenner zum Yundesrat, eine Erfagwahl in den Nationalrat nötig wurde unb bie Eonfervative Partei Koechlin porfehlug, wurde biefer im dritten Wahlgange, nicht ohne ftillen Zuzug aus gegnerifchen Lagern, gewählt.
Damit war ibm ein neues Zeld wichtiger Tätigkeit eröffnet. Seine Wahl wurde in Baſel allgemein begrüßt, als bie glüdliche Erfüllung des Wunfches, wieder einen Ver- treter von Handel und Snbuftrie in Bern zu haben. Soed)- [in faBte aud) feine Aufgabe durchaus dahin auf, daß e$ gelte, ben Basler Handelsftand zu repräfentieren. „Il y a une place à prendre;jelaprendrai“, fehrieb er feinem Bruder zurüd, ber ibm zur erften von ibm bejudbten Sigung einen Gruß an feinen Pla gelegt batte. Er fühlte fid) als Nach— folger feines Vaters und feines Oheims Rudolf Geigp- Merian und fam mit dem Vorſatz, deren Plat als Autori- täten auf bem Gebiete des Handels und des Verfehrs ein- zunehmen; und er nahm feinen Pla und füllte ihn aus. Koechlin war nicht Politiker und wollte es aud) nicht fein. Politiſche Fragen lagen ibm nicht und intereffierten ihn auch nicht ftark; er trat auf als Fachmann für praftifche vollswirt- ſchaftliche Gragen; bie politifche Seite fam ihm weniger in Betracht. Er wäre wohl am liebften bei feiner. politifchen Partei gemefen, und es fag ibm nicht recht, daß er, um gewählt zu werden, bod) von einer jofden vorgeichlagen werden mußte; er wäre lieber der Kandidat Aller geweſen.
10
Es freute ihn aber, als bei ben Neuwahlen im Jahre 1899, obwohl bie verfchiedenen Parteien fid nicht auf eine ge- meinfame Lifte geeinigt hatten, er die größte Stimmenzahl auf fid) vereinigte. Er genoß aud) wirflih Zutrauen auf allen Seiten. |
On Bern ſchloß Roechlin fid) bem fogenannten Zentrum an, wohin ihn gefellichaftliche Stellung und perfünliche Be— ziehbungen wiefen. Diefe Fraktion ffanb damals unter bem Opráfibium von Conrad Eramer-Srei, bem Zürcher Präfidenten des Schweizerifchen Handels: und Snbuftriepereines und all- gemein geachteten Fachmanne für Handelsfragen. Ihm bat nad) feinem im Jahre 1900 erfolgten Hinfchied Roechlin, der als berufener Vertreter vom Nationalrat zur Beerdigungs⸗ feier abgeordnet wurde, am Grabe einen Nachruf gehalten. Was er von dem als Vorbild verehrten Kollegen als map- gebenbe Eigenfchaft bervorhob, daß er ,ftet8 ber praftifchen Entwidlung der Dinge offenen Auges und Sinnes zu folgen, von ihr weiter zu lernen und aus ihr mit großer Klarheit bie ftonjequengen zu ziehen wußte”, das ließ er aud) fein Streben und feine Art fein. Man fann fagen, daß aud) er als Autorität in handelspolitifchen und wirtfchaftlichen Fragen in den Vordergrund zu treten berufen war. Doch war es ibm nicht befchieden, eine Bahn weiter zu verfolgen, bie ibm verlodende Ausficht auf Genugtuung und ehrenvolle Wirk- famfeit bot. Die Rüdficht auf fein Geſchäft nötigte ihn in Anbetracht anderer zeitraubender PVerpflichtungen, bie er votberbanb nicht zurüdftellen wollte, namentlich feiner hoben militärifchen Stellung, bei der Erneuerung des Nationalrates im Jahre 1902 auf eine Wiederwahl zu verzichten. Es tat ihm leid, wie feinen Mitbürgern und feinen Kollegen in Bern. Koechlin iff in der Bundesverfammlung in feiner fpezielen Eignung als Saufmann nicht erfegt worden; er bedauerte das und ſchied aud) fonft nicht gerne aus bem Kreife in Bern, wo er fid) wohl fühlte, und wo er aud) überall gerne gefeben war. Aber er jab, daß er etwas ab-
11
geben mußte unb wählte ben Verzicht auf das Amt, das die meifte Abweſenheit von Baſel mit fid) brachte. Es blieb ihm votberbanb nod) genug anderes.
Beinahe als abnte er, daß feine parlamentarifhe Wirk: lamfeit feine zu lange fein fünne, verlor er während ihr feine Zeit mit Warten, fondern griff ohne Zaudern ein, wo er bie ihm paffenbe Gelegenheit fand. In praf: tifcher Weife batte er, beljen Sache e8 nicht mar, in zeit: raubendes Studium von Details fid) einzulaffen, fid) bie Mitwirkung des gründlichen Kenners nationaldfonomifcher Stagen Dr. Jakob Steiger in Bern, gefichert, damit er ibm bei Beihaffung der Unterlagen an Material behilflich fei. So fonnte er wohlvorbereitet an die zu behandelnden Fragen betantreten, was er ftet3 als Grundbedingung eines Erfolges anfahb. Das ihm dargebotene Material wußte Koechlin gut fid) anzueignen, zu beberrfchen und gejchidt zu verwerten, in- dem er bie ausfchlaggebenden Punkte in prägnanter Weife bervorhbob. Auch im Drud erfchienene Arbeiten gaben davon Kenntnis und zeigten, daß ibm, der das Wort gefchidt zu handhaben wußte, der fchriftliche Ausdrud nicht minder zur Verfügung ffanb. Alle diefe Eigenfchaften, verbunden mit dem Gewicht der anerkannten praftifchen Erfahrung des er- folgreihen Broßinduftriellen fiherten ibm eine einflußreiche Stellung im Rate, welche durch den Eindrud feiner mit dem Reiz der Liebenswürdigkeit ausgeftatteten Perfönlichkeit wejentlich verftärft wurde.
Die Hauptfrucht feiner parlamentarifhen Tätigkeit, ein Refultat von bleibendem Werte, iff bie Einführung des Poftcheds in der Schweiz, nad) dem Vorbild anderer Länder. Sie iff von ibm angeregt worden burd) eine Motion, die er im Nationalrat im Jahre 1900 ftellte und nachher in einer Flugſchrift mit Belegmaterial veröffentlichte, nachdem ein Entwurf zu einem Nationalbanfgefeß, welches den Geldver- febr verbeffern follte, gefcheitert war. Das im Poftched vor- gefchlagene Mittel zur QVerminderung des Geldumlaufs und
12
zur Erleichterung von 3ablungen ift verhältnismäßig raſch als richtig anerkannt und im Sabre 1906 praftifch eingeführt worden. Dem Vater des Gebanfenà wurde in Anerfennung feines Verdienftes der bedfonto Nr. 1 eröffnet, als erfter von vielen Taufenden, die bald nachfolgten und diefe neue Einrichtung rafch populär machten. Mit ihr wird fein Name ftets in Verbindung bleiben.
Nicht denfelben Erfolg Hatte fein Eintreten für bie erfte von Forrer ausgearbeitete Vorlage für ein Bundesgeſetz für Sranfen- und Unfallverfiherung, die [ogenannte ler Forrer, die er empfahl, weil er bie darin zum Ausdrud fommenbe ein- beitfidóe Durchführung des Verficherungsgedanktens unb die Einbeziehung aller Volksklafien ſchätzte. Diefer Entwurf ift befanntlich abgelehnt worden. Der fpäteren Vorlage, die 1912 Geje& geworden ift, bat Roechlin nicht beigeffimmt. Nicht einverftanden war er mit ber Perftaatlichung der Eifen- bahnen, wie fie im Beginn feiner Tätigkeit in ber Bun— desverfammlung durchgeführt worden if. Obwohl fein pringipieller Gegner des Staatsbetriebes fürchtete er bie Ge- fahr, welche entiteben kann aus der ungeheuren Landesſchuld, wie fie bie vorgefchlagene Art der Perftaatlichung mit fi bringen mußte. Daß er in diefen Fragen, bie zu Volls- abftimmungen führten, auf der andern Geite ffanb als bie Mehrheit unferer Bevölkerung, zeigt, wie er bei aller Rüd- fit auf bie Vollsftimmung fid) die Freiheit feiner Lleber- zeugung mabrte.
Sn Hebereinftimmung mit feinen Wählern, namentlich aus Arbeiterfreifen, wußte er fid), als er warm eintrat für ben früheren Arbeitsfhluß am Samstag Nachmittag. Koechlin, ber felbft das Familienleben fo bod) fchäste, wollte damit mödglichft vielen Familien zu einem rechten Greierabenb, als bet VBorbedingung zur richtigen Verwendung des Sonntags, verhelfen.
Bei den Verhandlungen über den Solltarif von 1903 - nahm er nod) in verföühnlichem Sinne teil, in Abweichung
13
wieder von ber in Baſel herrfchenden Strömung, bie fid) auch in ben von ibm fpeziell vertretenen und beratenen reifen gegen ihn febrte. Er war davon überzeugt, baB ber bier beliebte Sreihandel einem zunehmenden Schußzoll weichen mülffe.
Ueber alle wirtfchaftlihen Fragen, bie in der 93unbes- verfammlung im Vordergrund ftanben, bat Roechlin jeweilen in der Basler Sjanbelsfammer berichtet. Seine Stellung in Bern ftanb in enger Verbindung mit feiner Tätigkeit in bieler Rorporation der Vertreter von Baſels Handel unb Onbuftrie. Koehlin war Mitglied des Q3orffanbe8 ber Handelsfammer geworden nod) vor feinem Eintritt in die ZBundesverfammlung, im Sabre 1896. 3mei Sabre nachher wurde er Vizepräfident; 1906, als er freilich bem Otationat- tate nicht mehr angehörte, Präafident. Es war ganz gegeben, daß er ein Amt übernahm, das viele Sabre mit anerkannter Autorität fein Vater, vorher fein Großvater, fpäter fein Oheim mütterlicherfeit$ innegebabt hatten. Wie Dbiefen feinen Vorgängern war ibm die Aufgabe, der Organifation für die Vertretung des Basler Handels vorzufteben, febr angelegen; ihr widmete er in intenfiver Weiſe feine Kraft, was ihm durch feinen Austritt aus ber YBundesverfammlung möglich gemaht war. Kaum eine Frage von Bedeutung für das wirtichaftlihe Leben wurde nicht von ibm in forg- fältigem, flar burd)bad)tem Vortrage beleuchtet. Auch bier gaben gründliche Vorbereitung und [fiere Grfaljung ber wejentlihen Punkte feiner Meinung Wert und Nachdrud; Daneben legte er Gewicht darauf, mit den führenden Perfön- lichkeiten in ber übrigen Schweiz in Fühlung zu bleiben und auf bem Laufenden zu fein, was fid) bei ihm dank feiner 3abl- reihen Beziehungen infolge feiner eidgenöffifhen Stellungen von felbft ergab.
Sowohl die Stellung in der Bundesverfammlung als diejenige bei ber Handelstammer hatten e8 mit fid) gebracht, daß Koehlin aud) nad) dem Austritt aus bem Nationalrat
14
nod) im anderen eidgendffiihen Behörden fap, nicht in fo vielen freilich, als ibm offen geftanden wären, wenn [eine Seit e8 erlaubt hätte. Nur Eurze Zeit war er im Bankrat bet Nationalbanf, bie er in der Kommiffion des Nationalrates batte vorbereiten helfen. Länger und von größerer Bedeutung war feine Mitgliedfchaft im Verwaltungsrat der Bundes— bahnen, in den er 1904 vom Bundesrat delegiert wurde, als Nachfolger des verftorbenen Wilhelm Heusler-VBonder Mühl. Koechlin war fein Neuling in Eifenbahnfahen. Im Sabre 1893 war ibm nad) dem Tode feines Vaters beljen Stelle im Verwaltungsrat der Schweizerifhen 3entralbabn zugefallen. Otad) feiner Wahl in den Nationalrat hatte er dort bie Gnt- laſſung genommen, da in der Bundesverfammlung der Rüd: fauf der Eifenbahnen auf den Traftanden war und er fid) feinem Vorwurf ausfegen wollte, in Eifenbahnfachen irgenb- wie andere als allgemeine Interefien zu vertreten. Er fühlte fid bann auch frei, nicht für bie Verftaatlichung zu ftimmen. Als fie einmal erfolgt war, bat er an feinem Orte nad) Kräften mitgearbeitet an einer rationellen Ausgeftaltung und Weiter: entwidlung der Schweizerifchen Eifenbahnen im Sinne einer nationalen Verkehrspolitif.
Eine Wahl in bie ftändige Rommilfion ber Yundes- bahnverwaltung, bie 1909 erfolgte, fonnte er mit Rüdfiht auf feine damals fdon erfchütterte Gefundheit nicht mehr an- nehmen. Im PVerwaltungsrate dagegen blieb er bis 1913 als einflußreiches und gern gefehenes Mitglied. Mit Erfolg bat er fid) bei Neuregelung ber Penfionsverhältnifle für die begründeten, aber zuerft nicht anerkannten Anfprüche der oberen Beamten eingefebt, feinen Grundfägen getreu, gleiches Recht für alle zu fchaffen. Diefes Vorgehen hat ihm warmen Dank in den betroffenen Kreiſen gefichert. Auch bei ben Bundesbahnen bat Koechlin ſtets die allgemeinen natio- nalen Gefichtspunfte vertreten und vorangeftellt gegenüber Somderinterefien, aud) wenn biefe anfcheinend ber engeren Heimat zugute famen. Er nahm ben höheren Ctanbpuntft
15
ein, daß der einzelne Landesteil feine Wünfche den Inter⸗ effen des ganzen Landes unterzuordnen babe. Don biefem Gefichtspuntte aus nahm er aud) in der Basler Handels- fammer zu den Verkehrsfragen Stellung, wobei ihm nicht immer bie Mehrheit ber engeren Landsleute folgte.
Seine Stellung bem Lötfchberg gegenüber, der ibm als ein Pfahl im Fleiſch des Schweizerifchen Eifenbahnnetes erfchien, fowie zum Splügen, war bemnad) eine gegebene. Auch den Gotthardvertrag hat er nicht begrüßt, da er in der Ausdehnung der Meiftbegünftigung und der unbegrenzten Zeitdauer eine nationale Gefahr (a5, und diefe fdoien ihm wich- tiger als bie Vorteile, bie man für Yafel vorausfah. Seine Anfichten über bie Stellung Baſels in ber fchweizerifchen Verkehrspolitik bat Roechlin dargelegt in einem Vortrag an ber Zahresverfammlung des Basler Handels- und Snbuftrie- vereines vom 28. Mai 1907. 9((8 Richtſchnur bezeichnete er bie Gleichſetzung unferer Verkehrspolitik mit derjenigen ber Bundesbahnen. Zhr folgend entfchied er fid) gegenüber einer Waflerfallenbahn, für bie in Baſel Stimmung zu machen gefucht wurde, febr beftimmt für bie Verbeflerung der Hauen- fteinlinie burd) einen 93aftstunnel. Für diefe Idee fette er feinen ganzen Einfluß ein; ihr galten noch feine letzten 23e- mübungen im Verwaltungsrate der Bundesbahnen, und er vornehmlich bat ihr dort zum Durchbruch und zur baldigen Berwirklichung verholfen.
Ein guter Seil von Koechlins Hffentliher Wirkſamkeit lag, wie man fiebt, auf eidgendffifchem Gebiet. Dem Yasler Großen Rate bat er nie angehört. Als er einmal dafür vor- geichlagen war, wurde er nicht gewählt. Er ließ fid) jpäter nicht mehr für eine Wahl in diefe Behörde gewinnen und verzichtete nicht ungern auf eine zeitraubende Mitwirkung in der fantonalen Politif. Nicht daß er in feiner Vaterftadt nicht auch an vielem teilgenommen báfte. Es war fchon bie Rede von ben Beftrebungen auf fozialem Gebiete, von der Zürforge für 93ruftfranfe, bei denen er fid) mit Rudolf Gata-
16
fin begegnete. Der fchöne Yau des Wettfteinhofes, in wel: chem der evangelifche Arbeiterverein fein Heim fand, und die Basler Heilftätte für Bruſtkranke in Davos find fichtbare Zeugen davon. Noechlin fonnte felbft bie Erftellung des Sanatoriums, „des fehönen Baslerhaufes im Bündnerland“, wie er es nannte, erwähnen in feinem Schlußbericht ala Vor: fteber ber Gemeinnützigen Gefellichaft für das Jahr 1896/97. Es war ganz natürlich, daß ibm aud) diefes Amt übertragen wurde, das ibn in den Mittelpunkt gemeinnüßiger Inter: nehmen ſtellte. Ginige Seit gehörte er dem Direftions- Komitee der Arbeiter-Rolonie Setbern an, bis zu feinem Ende bem KRonfiftorium ber franzöfifhen Kirche in Baſel, ebenfo dem Vorftand der Zunft zum Schlüflel, wo im Kreife der 3unfftgenoffen feine Rede gerne gehört war. Wenn er nicht allzuviel mehr übernehmen konnte, fo lag es nicht daran, daß er nicht begehrt worden wäre, fein treffendes Wort, fein guter Rat waren überall geſchätzt; bod) auch feine Kraft reichte nicht für alles. Und neben der immerhin durchaus im Vordergrund ftebenben und mit Pflichteifer und Erfolg ge- führten Leitung eines großen, fid) ftets ausdehnenden Ge- ſchäftes batte er noch eine wichtige Aufgabe, bie ihn über bie Grenzen der Paterftadt binausfübrte, unb an der er mit ganzer Seele hing. Koechlin war aud) hoher Militär und bat fid) als folcher nicht weniger ausgezeichnet al8 in feinem bürgerlichen Beruf; ja in diefer Stellung fonnten fid) manche feiner Eigenſchaften am glänzendften zeigen.
Seine Laufbahn war ein rafcher und ehrenvoller Auf- flieg. Koechlin ift aus der Hauptwaffe, der Infanterie, ber- vorgegangen; zuerft gehörte er bem von Baſelſtadt aeftellten Bataillon 54 an. Er 308 bald bie Ylide ber Vorgefesten auf fid und wurde zum Stab des Basler Regiments 18 abfommanbiert. Noch gebenff man des flotten Adjutanten, bet, ftolz auf feine roten Schnüre, feinen Dienft mit ebenfoviel Cdneib wie Liebenswürdigfeit verfah. Er fam rafch weiter. Der damalige Chef des Generalftabs, Oberft Alphons
17 2
Opfoffer, erfannte bie Fähigkeiten des jungen Offiziers unb wußte in Sleberwindung gefchäftlicher Bedenken, welche in der Familie fid) geltend machten, feinen Eintritt in den Gene- talftab zu ermirfen, auch mit dem Hinweis auf das Beifpiel des Großoheims mütterlicherfeits, des Oberſten Wilhelm Geigy, ber feine hervorragenden militärifhen Eigenjchaften ebenfalls ber Eidgenoflenfchaft zur Verfügung geftellt hatte. Nie verlegen, den richtigen Weg zu finden, um eine Aufgabe gut und ra[d) zu löfen, war Roechlin ein geſchätzter General- ftabsoffizier.
Mit 26 Sabren war Roechlin Hauptmann im General- ffab; er wurde der neunten Snfanterie-23rigabe zugeteilt, bet deren Kommandanten, Oberft Wilhelm Bifchoff, er fon als Adjutant Dienft getan batte. Er erwarb fid) die volle Zufriedenheit und das Vertrauen diefes vortrefflichen Vor⸗ gefe&ten, bem er feinerfeit8 aufrichtige Achtung entgegen- brachte, unb blieb ibm ftet8 in treuer Anhänglichkeit ergeben. Bis an ihr Ende, das für beide beinahe gleichzeitig eintrat, waren bie beiden, an Alter wie in ihrer Art febr verfchiedenen Männer, bie fid in gemeinfamer Arbeit gegenfeitig fennen und ſchätzen gelernt hatten, einander herzlich zugetan.
Auch mit allen weiteren Vorgeſetzten, denen er zugeteilt war, wenn fie auch anderer Art waren, ift Roechlin ftet8 gut ausgelommen, fchon deshalb, weil feine Dienfte nie vet- fagten, aber auch, weil feine verbindliche und bod) entfchiedene Art unb feine große Gewandtheit im Umgang jede Reibung befeitigte._ Dasfelbe war ben Intergebenen gegenüber der Gall; fein Auftreten war durchaus fameradfchaftlich, wahrte aber ftet8 bie burd) Willen und Können geficherte Autorität.
Als Generalftabsoffizier war Koechlin nod) Stabschef der 5. Divifion, in welcher Eigenfchaft er die Korps: mandver von 1897 mitmadjfe; er bat aud) den Grenz: bewachungsdienft im Divifionskreis neu und burdgreifenb geordnet. Er würde gerne in der 5. Divifion, bei deren Sruppen er befannt und beliebt war, ein Rommando über-
18
nommen baben. Als ibm aber im Jahre 1899 die Führung der erften Infanteriebrigade, eines Truppenkoͤrpers ber fran- zöſiſchen Schweiz, übertragen wurde, ergriff er lebhaft bie für einen Deutfchfchweizer etwas heifle Aufgabe und wußte fid) bei feinen welfchen Rriegsgefährten, bie neben feinen andern Eigenfhaften auch feine vorzügliche Kenntnis ihrer Sprache bewundern mußten, bald fo heimifch zu machen, daß er als Führer wie als Ramerad volles Vertrauen und allgemeine Verehrung genofB. Und während zuerft nod) die Waadt- länder bie ungewohnte Ernennung eines deutſchſchweizeriſchen 93rigabefommanbanten mit einigem Unbehagen aufgenommen hatten, wurde, als 1905 Koechlin zum Kommandanten ber damals aus Freiburg, Neuenburg, dem franzöfifhen Berner Aura und Genf refrutierten 2. Divifion befördert wurde, Diefe Ernennung aud) in.der franzöfifchen Schweiz allfeitig be- grüßt, unb eine welfche Zeitung fand fogar heraus, daß Koechlin in bezug auf Temperament und Phyfiognomie nod) mehr als fein Waadtländer Kollege, der Kommandant der 1. Divifion, Oberft Secretan, bie Stige und den Charakter des Welfchichweizers zu haben fcheine. Allerdings, Koechlin verftand es, fchon indem er bie bet franzöfilhen Sprache eigene Eleganz und Klarheit des Ausdruds zu ſchätzen und gefdjidt zu handhaben wußte, bie für Efprit empfänglichen welfchen Eidgenofien zu gewinnen. Nach feinem Hinfchied bat ein Waadtländer Blatt folgende bezeichnende Gefchichte von ihm erzählt.
Als er einmal mit Offizieren durch S)petbon fam, wurde er mit feinen 93egleitern vom Präfelten nad) Waadtländer Brauch in den Keller geladen unb vom Faß bewirtet. Koech⸗ [in dankte im Namen der anmwefenden Offiziere und ſchloß feine Anfprahe mit den Worten, bie bier wohl wieder- gegeben werden dürfen: „Messieurs les officiers! Quelques- uns d'entre vous trouveront peut-étre dröle que Mr. le Préfet nous regoive à la cave plutöt que dans son salon. Eh bien, c'est une tradition dans le canton de Vaud:
19 Sii
au salon on recoit tout le monde, tandis qu'à la cave on ne recoit que des amis."
Man fann fid) benfen, daß ſolche Worte, in bem Koechlin zu Gebote ftebenben verbindlichen unb einbringliden Ton bei einem guten Glas Dezaley gefprochen, bie Waadtländer- herzen öffneten. |
Und nicht weniger wußte Roechlin bie Gelegenheit zu benii&en, Worte vaterländifcher 93egeifterung an feine Trup⸗ pen zu richten, wie, als feine Brigade über das Schlachtfeld von Murten mar[djierte; da erließ er einen Befehl, ber an der biftorifchen Stätte zu verlefen war und, des Sieges der Gibgenoffen gebenfenb, in fnappen, eindringlichen Worten einen warmen Appell an den Patriotismus der Truppe enthielt.
Aber nicht bie für jemanden von fo ganz deutfcher Ab: ftammung ungewöhnliche Fähigkeit des Eingehens auf bie Art ber welſchen Kameraden, die Koechlin befaß, ober die Ihönen Worte, bie er zu ihnen zu fprechen verftand, fonnten allein den Erfolg berbeiführen, ben er erreichte. Koechlin vermochte nicht nur mit Worten zu glänzen. Er beſaß wirf- lid) bie militärifhen Eigenfchaften eines Führers unb bat fie gezeigt. Gründliche Kenntnis des Dienftes war bei ibm gepaart mit großer Leichtigkeit zu rafhem und zwedent- fprehendem Handeln.
Allgemein ift anerfannt worden, daß bie Führung feiner Divifion in ben KRorpsmandvern von 1907 eine vorzligliche war und in Überzeugender Weife feine Gemanbtbeit erkennen ließ, wie die nicht gewöhnliche Treffficherheit, mit der er jede Lage Sofort zu erfaflen und durch rafches unb klares Dispo- nieren zu beberrichen imftande war. Man fab, baB glüdliche natürliche Veranlagung durch vorzügliche Schulung zu hohem Können berangebilbef war. Und menn jeweilen aud) feine Liebenswürdigkeit, fein Verftändnis für bie Truppe, fein fameradfchaftliches 93enebmen, aud) gegen bie Mannichaft, bervorgehoben worden find, Pura fein einnehmendes Wefen,
20
beffen Eindrud durch eine feinem äußern Auftreten eigene atoBe Claftizität gefördert wurde, fo waren das eben aud) Eigenfchaften, die ftet8 das Anfehen unb den Einfluß eines Führers erhöht haben. Es war eine Perfönlichkeit, bie Vertrauen und Liebe wedte. Das fpricht deutlich aus allen funbgebungen bei feinem Rüdtritt vom Kommando, bei feinem Hinfchied, und es hatte feinen Grund, daß er ebenjo bie volle Achtung feines Vorgeſetzten, des Oberft-Rorpskom: mandanten Teechtermann, genoB, bie nicht jedermann zuteil geworden iff, wie die liebevolle Verehrung feiner Rameraden und Intergebenen.
Zur Zeichnung der Art und Weife, wie er auf feine Truppe in patriotifcher und militärifcher Weife einzuwirken fuchte, mag die Mitteilung eines 93efeble8 dienen, ben er an eine Rekrutenfchule richtete, als er fie bei ihrem Marſch nad) Verrieres infpizierte, bie Worte von damals dürfen gerade jet wohl wieder gelefen werden.
Officiers, sous-officiers et soldats!
La course et les exercices de ces derniers jour nous ont fait quitter le beau rivage du lac de Neuchätel et nous ont conduits à travers les montagnes à la frontiere de notre pays. —
Les Verriéres, c'est du sol historique, une page d'honneur dans l'histoire de la Suisse.
Fin Janvier 1871 la Grande Armée de l'Est aprés de courageux efforts pour libérer Belfort, vint s'échouer à noire frontiére, harcelée par l'ennemi, à bout de res- sources et d'espoir.
Le danger fut grand, que le flot de cette immense armée n'innondát notre pays, et ne portát ainsi les ter- reurs de la guerre dans nos paisibles et fertiles vallées.
Mais la Suisse avait mis son armée sur pied, pour protéger sa frontiére et pour sauvegarder sa neutralité. Dans les journées critiques des bataillons disciplinés et
21
fermement conduits furent sur place pour barrer le passage à ces masses en déroute.
Le but fut atteint et l'invasion écartée.
Une convention datée du 1*' Février 1871, conclue entre le Général Herzog au nom de la Confédération, et le Général Clinchant, successeur de Bourbaki, régla le désarmement et l'entrée en Suisse de 85000 hommes, qui furent ensuite internés en bon ordre, jusqu'à la conclusion de la paix, dans toutes les parties de la Suisse, et qui y trouvérent l'hospitalité et la sympathie dües à leur malheur. Les deux parties belligérantes nous sürent gré de notre fermeté et de notre courtoisie. —
Ces souvenirs nous disent, que, pour protéger notre pays et sa liberté à l'heure du danger, il faut une armée forte et vaillante, et que, en maintenant l'armée Suisse à la hauteur de sa täche, nous ne défendons pas seule- ment notre belle patrie, nous sommes sürs aussi d'ob- tenir la considération et le respect des nations voisines et amies.
C'est done une double honneur pour nous Suisses d'étre appelés à porter l'uniforme et à contribuer, chacun à sa place et de toutes ses forces, à ce que la patrie qui nous est chére sache à toute heure remplir digne- ment la haute mission, que sa neutralité lui confere parmis les nations, et d'aprés laquelle notre liberté ne doit pas seulement étre notre propre partage, mais aussi un abri sür pour les victimes de l’infortune. —
Voilà ce que l'histoire nous apprend en ces lieux!
Je voudrais que chacun de nous Suisses püt graver ces Souvenirs dans sa mémoire, afin de se rappeler tou- jours que d'étre soldat Suisse est à la fois un grand privi- lége et une grande responsabilité. —
Soyez-en fiers et dignes! —
Es war das Glüdlihe an Koechlins Art, daß ihr gegen- über ein Gegenfa6 von deutfch und welfch nicht auffommen
22
fonnte; das war nicht nur militärifch, fondern auch politifch von Wert und bat bewirkt, daß feine Stellung eine unbe- ftrittene war. KRoechlin war ein vorbildliches Beispiel des Offiziers, wie ihn unfere Armee braucht.
Zu feinen militärifhen Verdienften gehörte auch feine Tätigkeit in der Offiziersgefellfchaft fowohl in der allge: meinen fchweizerifchen Organifation als in derjenigen Baſels. Namentlich bier bat er belebend und antegenb während vielen Gabren mitgewirkt, auch ben jüngeren Nachwuchs in famerad- Ihaftlicher Weile zur Mitarbeit aufmunternb. Daß et aud) anderen militärifchen Vereinen feine ftet8 begehrte Kraft bei manchen Anläſſen zur Verfügung ftellte, war bei ihm felbftverftändlih. Die Schweizerifche Dffiziersgefellfchaft bat ihm feinerzeit die erfte Gelegenheit zu einer größeren patrio- tifhen Rede gegeben, bie ibm einen nicht zu unterfchäßenden Erfolg eintrug. Zu ber Zeier der Einweihung des Sell- denfmals in Altdorf im Sabre 1895 war er von der Schwei- zerifchen Offiziersgefellfchaft abgeorbnet. Im Namen ber Armee ergriff er am Bankett das Wort. Die Zeftfreude war [don ziemlich fortgefchritten, und in der Feſthalle berrfchte mehr Begeifterung als Aufmerkfamteit. Aber obſchon bie Worte des Redners wohl ben wenigften Zuhörern all- gemein verftändlich fein fonnten, hatte bie frifche, lebendige Art des Auftretens bie Wirkung, bie Zeftverfammlung zu allgemeinem Beifall fortzureißen. Es war felbftverftändlich, daß der populäre Oberft und Nationalrat aud) einmal die übliche Rede am 93asler St. Zakobsfefte hielt, deffen Präfi- bent er 1900 war; feine auf den militärifchen Ton geftimmte Anſprache fand aud) da vollen Anklang.
Koechlin batte aroße Freude an feiner militärischen Tätigkeit. Als fid) bie Ausübung eines hohen Kommandos neben der Stellung im Parlament als mit feinen gefchäftlichen Pflichten nicht mehr vereinbar erwies, wählte er den Ver: ziht auf den Nationalrat, obwohl auch diefer ibm fchwer fiel, und wahrte fid) bie Moglichkeit, zu einer höheren mili-
23
tärifchen Stellung zu gelangen, bie ibm bann aud) zuteil ge- worden ift. Das Kommando feiner Divifion bat er erft niedergelegt, al8 der Zuftand feiner Gefundheit es nicht anders zuließ. Er tat e8 mit fchwerem Herzen, 308 fid) aber aud) dann nicht mipmutig zurüd. Es wurde ibm das Plaß- fommanbo von Baſel übertragen. Seine unbeftrittene mili- tärifche Autorität, bie genaue Kenntnis der Bedürfniffe des biefigen Plabes, feine are präzife Art, welche auf rafche, einfache Erledigung ging, bat fid) auch bier bewährt. Es machte ibm nod) Freude, einmal bie Mobilmachung des Basler Infanterie-Regimentes zu leiten; es war zu Friedens: zeit. Zur Ausübung diefer Funktion im Grnftfalle iit er nicht gefommen.
Die Mandver des Zahres 1907, in welchen Koechlin an der Spiße feiner Divifion frijd und freudig eine ibm ergebene Truppe mit anerfanntem Erfolg führte, war ein äußerer Blanzpunft, den er gerne genoB. Nicht lange dar- auf fam die Seit, in welcher der fo tätige Mann lang- famer aber unaufhaltfamer Abrüftung entgegengeben mußte. Ein erfter leichter Anfall Ließ im Sabre 1908 bie Wirkung einer faum zu hebenden fchweren Allgemeinerfranfung ver- muten und nötigte ihn, der bis jegt nicht durch Ferien ver- wöhnt war, zu längerer Erholung. Auch eine an ihm fonft nicht gewohnte gemütliche Depreffion mußte befämpft werden. Ein Aufenthalt in Algier in der Gefellfchaft feiner Töchter bradhte wieder Freude und Kräftigung. Den fchmerzlichen Schritt, fein Kommando niederzulegen, batte er fid) allerdings nicht erfparen fónnen; feine fonftige Tätigkeit aber nahm er wieder auf mit gewohntem Pflichteifer und auch mit ber beiteren Lebhaftigkeit, bie ihn auszeichnete. Für fein Ge- Ihäft unternahm er noch eine Reife nad) Rußland; beffen Sprade batte er im Hinblid auf die Intereſſen, bie ihn dorthin führten, (bon feinerzeit mit feiner Gattin zu erlernen fi) angeſchickt.
Die größere Zurüdhaltung gegenüber alfgugroBer Tätig:
24
feit in weiterem Seife, zu der er fid) bod) nad) unb nad, vielleicht zu fpät, entichließen mußte, fam feinen Nächten zugute, in erfter Linie feinen Kindern. Mit ihnen und für fie lebte er, in inniger Gemeinfchaft, eben[o darauf bedacht, auf ihre Sntereflen einzugehen als fte an den feinen teilnehmen zu laffen und immer beftrebt, ihnen ein Vorbild zu fein in ernfter Auffafiung der Pflichten gegen fid) und feine Nächften. Früher zur Gefelligfeit auch in weiterem Freundeskreiſe auf: gelegt, batte er fid) feit bem Hinfchied feiner Gattin, foweit nicht Öffentlihe Anläffe in Frage famen, mehr auf feine Familie zurüdgezogen. In ihr blieb er ein belebender Mit- telpunft, ftet8 auch bereit, mitzufühlen und beizuftehen mit Rat und Tat, wo Hilfe erwünfht war. Er batte nod) bie Sreude, den Kreis der Kinder fid) erweitern zu feben und freute fid) herzlich an dem fchönen Pfarrhaus in bem freund- [iden Stein am Rhein, in das fein ältefter Sohn einge: z0gen war; gerne weilte er dort. (Sr hoffte, bet feinen Kin: dern noch ruhige Tage genieBen zu fünnen, wenn die andern Söhne, die für fein Gefchäft herangezogen wurden, ihm Erleichterung bringen würden. Erneute Berfchlimmerung feiner Gefunbbeit brachte Verzicht auf folhe Ausfichten. Schon hatte er Stellungen, bie ibm lieb waren, eine nad) der andern, aufgeben müflen, fo im Frühling des Zahres 1913 ben Vorfiß in ber Handelstammer; bald auch erklärte er ben Austritt aus der Wehrpflicht, mit Wehmut eine [dne und ibm nod) in der Erinnerung liebe Dienftzeit abſchließend. Mit diefem Entfchluß fiel ein größerer Sufammenbrud) der Kräfte zufammen, der ihn aufs franfenfaget warf. Er erhob fi davon nod) zeitweilig; die Hoffnung auf wefentliche Erholung fchwand jedoch immer mehr. Wie er ohne Klage eines nad) dem andern aus der Hand gegeben batte, [o fab er mutig dem Leiden entgegen und ertrug es mit Geduld.
Sn der Arbeit barrte er aus, folange es überhaupt ging, bis zum letzten Augenblid erfüllend, was er für feine Pflicht hielt. Mit einer lebten großen Anftrengung nod) gab er
25
feinem Sohne bie Weifungen zur Erledigung eines wichtigen Auftrages in Amerika; er fandte ihn übers Meer, nicht adfenb, daß er ihn wohl für immer entfafje. Cs iit ibm als lebte große Freude zuteil geworden, ihn nad) glücklich erfüllter Pflicht beimfebren zu fehben. Die Hoff: nung und der Wille, das nod) zu erleben, batte feine Lebens: energie aufrecht erhalten. Ruhig und ergeben und die irdifchen Sorgen hinter fid) [affenb, fab er dem Ende ent- gegen, bis zulegt bie freundliche Heiterkeit des Gemütes und bie Klarheit und Geiftesgegenwart bewahrend, bie ihn ftets ausgezeichnet hatten. „Man wird eben bei ben himmlifchen Heerfcharen bald einen Oberft brauchen”, bemerkte er einmal ſcherzhaft tröftend zu jemand, ber ihm betrübt feine Zeil: nahme bezeugte. Als zu Neujahr 1914, da man [don täglich fein Ende erwartete, der Evangelifche Arbeiterverein vor feinem Genfter einige Choräle vortrug, erhob er fid) zur Leber: rafehung feiner Umgebung von feinem Krantenbett und begeugte, noch einmal zu militärifcher Haltung fid) aufrichtend, freundlich minfenb ben alten Greunben Greube und Danf. Am 2. Februar 1914 trat ber Tod als ein Freund an ihn beran; er batte ihn mit freubiger Zuverficht erwartet. Ein reiches Leben fand einen fchönen Abfchluß.
Koechlin ift im beften Mannesalter babingegangen; ein langfames Altern, ein allmähliches Abnehmen iff bem an tätiges Handeln gewöhnten Manne erfpart geblieben. Wie man ihn bis vor Kurzem gefannt bat, als ber lebhafte, allgemein beliebte Mann, der leichten Ganges fchaffensfroh und freudig zur Pflicht fchritt, und, ſtets ein treffendes Wort auf den Lippen, für jedermann eine freundliche Begrüßung batte, fo bleibt er in der Erinnerung.
Es ift der Vorzug derer, bie in der Kraft der Sabre fterben, daß nod) viele ihren Verluft fühlen und beflagen. Die allgemeine aufrichtige Trauer, bie Carl Koechlin nad)- folgte, zeigte, bap jemand babingegangen war, ber eine Lüde hinterließ, weil er feine Aufgabe voll erfüllt batte.
26
Carl Roechlin war jemand, ber ein großes ibm anver- trautes Gut in gewiflenhafter Pflichterfüllung reich aus- genüßt hat, und wenn ibm, bem viel gegeben war, auch viel genommen worden ift, fo bat auch das zum Erfolg feines Lebens beitragen dürfen.
Gin alter Basler pflegte von Mitmenfchen, bie ibm weniger angenehm waren, zu jagen: „il n'a pas le bonheur de me plaire". Es gibt Leute, die nicht das Blüd haben, zu gefallen, oft troß, manchmal auch wegen achtungswerter Eigenfchaften. Andere haben es, und wer diefes Glüd hat, bem pflegt es treu zu bleiben. Koechlin war e$ zuteil gewor⸗ ben mit allen Eigenfchaften, bie ermöglichen, e8 zu bewahren. Er war liebenswürdig im eigentlichen Sinne des Wortes unb durfte bie Liebe, derer er wert war, auch genießen. Wer ibn gefannt hat, wird fid) eines freundlichen Wortes erinnern, das ét von ibm gehört bat, und dankbar der herzlichen Wärme gedenken, bie von ihm au$ging. Die natürliche Gabe des leichten Umgangs mit jedermann war ihm in hohem Maße eigen und bat ibm den Erfolg in allem febr erleichtert; fie hätte aber nicht ausgereicht, dazu zu verhelfen, wenn nicht aud) außerordentliche Fähigkeiten zur Bewältigung erniter Aufgaben ihr zur Seite geftanden hätten. Koechlin bejaB neben allgemeinen reichen Gaben des PVerftandes bervor- tragende Eigenfchaften, welche für die praftifche Erfaflung des Lebens von Wert find.
Gin hervortretender Zug feines Wefens war eine große Beweglichkeit. Nicht von großer Statur, aber ftets im Eben- maß bleibend unb nie zu Rörperfülle neigend, fprang er nod) al3 Familienvater im Kreife von Rameraden nad) fröhlichen Mahle über einen gededten Tiſch, ohne etwas zu berühren. Wie fein Körper, fo war und blieb fein Geift ftet8 außer- ordentlich beweglih. Seine Germanbtbeit in allen Lebens- lagen, feine Schlagfertigkeit und bie Sicherheit, mit der er in ben heifelften Situationen überrafchend einen Ausweg fand, fonnten oft Bewunderung hervorrufen. Koechlin befaß
27
bie Gabe, fofort zu erfaffen unb das Erfaßte fchnell zu ver- werten, unbefhwert von Hemmungen allzu tief gebender 23e- denklichkeit.
Die glückliche, einfache und klare Organiſation ſeines Geiſtes half ihm, auch über ſchwierige und unangenehme Dinge hinwegzukommen. Er war imftande, ein Hindernis, das er niht aus dem Wege räumen fonnte, in elegantem Schwunge zu nehmen und ohne Grübeln auch einmal fünfe gerade fein au laffen. Er fonnte auch Liebenswürdig über etwas fprechen, ohne in alle Tiefen des Gegenftandes binab- geftiegen zu fein. Das borazifche nonum prematur in an- num war mnidft für ihn gefchrieben, und bie Arbeit ging ihm leicht von der Hand. Rafch wie feine Bewegungen waren fein Denken und fein Handeln, und fchnell bereit war er in bet Rede, ohne bod) unbefonnen zu fein; davor bemabrte ihn eine faum verfagende Gegenwart des Geiftes und bie Herrfchaft, bie er über fid) felbft auszuüben gewohnt war. Denn die großen Fähigkeiten des Verftandes wurden in die rihtige 93abn gewiefen durch ebenfo fchägenswerte Eigen- Ihaften eines Charakters, der in der Schule der Pflicht gebildet war. Der Erfüllung beffen, was fid) als nádit liegende Aufgabe darftellte, galt es in erfter Stelle, und Roech- [in8 im Grunde einfache Natur, bie feine ausgefuchten 23e- bürfniffe und Liebhabereien kannte, ftand einer Beſchränkung auf das Wefentliche und Wichtige nicht im Wege.
So fonnte Koechlin als Mann der praftifchen Arbeit Hervorragendes leiften unb viel erreihen. Es wäre eine unnötige Uebertreibung, zu fagen, daß alle Werke, bie er gefördert bat, nur feiner Initiative und feinen S been ihre Entitehung verdankten. Koechlin verftanb es, aud) An— regungen, bie ibm geboten wurden, wenn er fie als richtig anerkannte, aufzugreifen, fie mit der Tat zu unterftügen und zu verwirklichen; er fonnte auch andere mitarbeiten laflen und ihre Arbeit würdigen. Deshalb batte man ihn überall gerne dabei; feine Mitwirkung, fein Name fdon fchien den Erfola
28
zu verbürgen. Alles fonnte aud) er nicht zum Gedeihen bringen. Er wußte dann rechtzeitig abzubrechen und über AUnerfreuliches ftillfehweigend megaugeben.
Unterftüßt und erleichtert wurde fein ftet8 aufs Ziel gehendes Auftreten duch bie ungemein verbindliche Art, mit der er alles und jedermann zu behandeln wußte. Es war ihm darin eine wirkliche Runft eigen. Und wenn man etwa eine Abficht merken mochte, fie verftimmte nicht, denn man fühlte, bap alles von Herzen fam. Und das war e$, was feinem Wirken folhen Wert gab. Die äußere Suporfom- menbeit war ber Ausdrud eines wirklichen innerlichen Wohl⸗ wollens und des aufrichtigen Beſtrebens, Gutes zu tun, im Kleinen wie im Großen. Einen Unterfehied in ber Sreund- lichkeit und Hilfsbereitfchaft nad) der fozialen Stellung feiner Mitmenfhen fannte er niht. Es war ibm, der felbft jo fhweres Leid erfahren mußte, ein Bedürfnis und ernites Anliegen, andern zu helfen und in Teilnahme beizuftehen.
Das bat er auch im gefchäftlichen Leben nicht außer Acht gelafien. Das Wohl feiner Arbeiter lag ihm am Herzen, und er bat die Einrichtungen, die dafür getroffen wurden, lebhaft gefördert. DBefondere Freude machte es ibm, in wohnlichen Heimftätten für eigenes ficheres Heim und damit für ba$ Gebeiben des Familienlebens zu forgen. Die fo Dübfd gelegene Giebefung von Wohnungen für Arbeiter feiner Firma, die bei der Schoren errichtet war, hat leider der Erweiterung des badifchen Bahnhofs weichen müffen. Daß die frühere patriarchalifche Fürforge mehr und mehr durch ben modernen Standpunkt ber gefeßlichen Nötigung verdrängt wurde, tat ibm leid. Er ließ fid) aber nicht abhalten, auf jozialem Gebiete für bie Erleichterung ber Eriftenz ber 9fr- beiter mitzuwirken, fowohl burd) Seilnabme an der Gefeb- gebung, wie in freiwilliger Tätigkeit in den evangelifch- fozialen Vereinen. Dielen andern gemeinnüsßigen Beftre- bungen hat er feine Mithilfe nad) Kräften gewährt, als ein würdiger Nachfolger feines Vorfahren Sfaaf Iſelin,
29
mit bem er, nach deflen Bildniffen zu urteilen, auch äußerlich eine gewiſſe Aehnlichkeit hatte.
Was er Einzelnen im Stillen erwiefen bat, das fet nur angedeutet. Geine Verhältniſſe erlaubten ihm, eine offene Hand zu haben, und er hatte fie.
Koechlin batte alle Eigenfchaften, welche allgemeine Achtung und Beliebtheit fihern. Er erfreute fid) deflen und genoB ehrlich bie ihm zuteil werdenden Erfolge. Er blieb aber aufrecht, als er verzichten mußte. Er entfagte ohne Mur: ren und bewies in der Zeit des Leidens unb der Abnahme des Wirkens nad) außen eine Ergebung, bie nur auf innerer Abgeklärtheit beruhen fonnte, und die ihn größer zeigte als alle vorangehenden glänzenden Erfolge.
Gerne hätte man diefes Leben, in bem fid) in verhält- nismäßig kurzer Seit, im vollen Mannesalter, ein fo reiches öffentliches Wirken zufammengedrängt hat, noch weiter fid) entwideln feben; man hätte von ibm noch viel erwartet und bedauert, baB e8 fo rafch geendet. Und bod) erkennen wir, daß e3 feine Aufgabe vol erfüllt bat, wie ein Geſchoß nach hohem Aufftieg aud) wieder abwärts feine Bahn befchreiben muß, um ans Ziel zu gelangen.
Co fteben wir vor diefem Leben wie vor einem füunlt- werk, das burd) feine barmonifche Abgefchlofienheit volles Wohlgefallen erregt.
Doch der es zu fchildern verfucht, muß bie Feder ablegen mit dem Gefühl, daß die Darftellung, aud) wenn fie voll- Künbiget fein könnte, unzulänglich bleiben muß. Das Beſte fann nicht befchrieben werden. Es ift der tiefe Grund, bie innere Entwidlung eines Mannes, der fid) von feinem Gott bat führen laffen und überwunden bat. Das ift das wahrhaft Große und Heldenhafte,; das foll aud) in biefer Seit, wo andere Erfolge Elein werden, ein Vorbild bleiben.
ine Baofelbieter Dorfrevolte im Jahre 1809.
Don Dr. X. Oeri⸗Saraſin.
Wie aus bem Titel zu erfeben ift, handelt es fi) bei biefer Mitteilung nicht um ein bedeutendes biftorifches Er: eignis.
Der Verfaffer glaubt jedoch, baf bie zu ſchildernde Dorf: geſchichte Eulturhiftorifches Intereſſe bieten fann, da fie einen 93[id in den ländlichen Aberglauben zu Anfang des 19. Zahr- hundert3 zu tun geftattet. Zugleich Liegt fie zeitlich noch nahe genug, um die mündliche Leberlieferung neben der aften- mäßig feftftellbaren Gefhichte zum Worte fommen zu laflen. Man wird an einem an fid) unbedeutenden Beifpiel erfeben fónnen, wie fid) diefelbe Gefchichte nach Ablauf von hundert Jahren in den zwei Verfionen darftellt.
Sur münbliden Üeberlieferung.
An der Straße, bie landaufwärts burd) Laufen führt, fand [infá am Anfange des Dorfes das Gafthbaus zum Röpli. Der Bau ber Eifenbahn machte diefem [forie vielen andern Gafthäufern des Tales ein Ende, die früher bei dem großen Wagenverkehr über ben unterm Hauenftein ihr Ge- beiben gehabt hatten und aud) von Baſel aus oft zu gefelligen Anläffen und Zamilienfeften benußt worden waren. Der Berfafler, in Laufen aufgewachſen, erinnert fid) aus feinen Kinderjahren in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahr⸗ hunderts an bie vielen Kutfchen, Omnibuffe und Güter- wagen, bie beim Rößli anbielten. Seitlich vom Gafthaus
91
war ein großer Pla&, umgeben von ausgedehnten Ställen, Scheunen und Remifen.
An ber weftlihen Ede des Gafthaufes waren merk: würdigerweife bie nächften feitlichen Fenſter des Erdgefchofles und des erften Stodes zugemauert, bie vermauerten Stellen waren noch leicht erfennbar; im erften Stod war darüber eine Figur gemalt, das Bild aber Anfang der fechziger Sabre fo verblid)en, baB es nur noch in den gröbften Zügen als Mannsgeftalt zu erfennen war. Es verfhwand zuletzt ganz, denn bie Dorfjugend übte fid) gerne darin, ben Mann mit Schneebällen oder Steinen an den Kopf zu treffen. Nachdem das Röpli feine Rolle als Gaftbaus fdon lange ausgefpielt batte, wurde in den früheren Remifen und Ställen eine Ziegelbütte, fpäter eine Toͤpferei eingerichtet, bie jeßt nod) bejteben; ber Tanzboden diente zwei Tunftfinnigen Deforationsmalern, den Brüdern Gris und Wilhelm Balmer, als Atelier.
Bon Seit zu Seit hörte man von Leuten aus dem Dorfe, bap es im Roͤßli — fo hieß das Haus immer nod) — nicht gana gebeuer fei, und man fonnte nad) einer fchwülen Gewitternacht etwa gefragt werden, „ob man fie nicht gehört babe fdjmieben". Wer follte nachts gefchmiedet haben? „He, bie zwei Schmiede.”
Es blieb vorerft bei geheimnisvollen Andeutungen, fpäter vernahm ber Verfafler mehreres, namentlich durch ben alten Drechslermeifter Sy. 3. Furlenmeyer!), einen freundlichen, geſchickten, auch mufifalifch begabten Mann, ber, wie auch feine Grau, eine Menge alter Gefhichten wußte, und dem Knaben, der fein Zutrauen gewonnen hatte, über das geheimnisvolle Schmieden im Röpli folgendes mitteilte:
Die weftliche Ede des Haufes, ba, wo die Fenſter zu- gemauert waren, batte früher nicht zum eigentlichen Gaftbaus
1) S. S. Furlenmeyer war 1803 geboren, feine Frau, eine geborene Grautmyler, 1815. Der Mann war alfo im Jahre 1809 ſechs Sabre alf:
et und feine Frau mußten das im Sabre 1772 unb 1809 Gefchehene von ihren Eltern gehört haben.
32
gehört, fonbern eine Schmiede beherbergt; man mar alfo in näch- fter Nähe darauf eingerichtet, verlorene oder [ofe gewordene Hufeifen zu erfegen und Schäden an Fuhrwerken auszubeflern.
Om Sabre 1772 batte bet dort wohnende Schmied Andreas ©. in feinem 59. Sabre fid) das Leben genommen, und fein Sohn Jakob hatte nicht nur des Vaters Gefchäft, fonbern aud) befjen Schwermut zum Erbe befommen und fid) am 1. Brachmonat des Jahres 1809, 66 Sabre alt, mie fein Vater, erhängt.
Unfere Zeit wäre barmberziger als die damalige in der Beurteilung diefer armen, augenscheinlich gemütsfranfen Leute, und befonders ber Umſtand, bap der Sohn feines Vaters trauriges Schidfal teilte, würde dafür fprechen, bap eine erb- liche franfpafte Gemütsanlage im Spiele fei. Zu jener Zeit galten aber bie Geiftesfranfen als befeflen von böfen Geiftern, unb bie Gnbfatajtropbe fchien es zu beftätigen, baB ber Böſe Meifter geworden [ei. Kein Wunder, wenn bie Leute ben Körper des Entfeelten nur mit Grauen [eben oder berühren mochten und baB man fid) fcheute, ihn auf dem Kirchhof in der Reihe ber auf natürlihe Weife Verftorbenen zu begraben. Gür mande war es ein unerträglicher Gedanke, eines feiner Angehörigen neben einem GSelbftmörder begraben zu willen, der ja nad) der damaligen volkstümlichen Auffaflung zu Stadt und Land im Grabe fchwerlid Ruhe haben fonnte fondern „wandeln” mußte.
Diele Gebilbete, befonders bie Geiftlichen, dachten fchon damals unter bem Einfluffe der Aufklärung freier und emp- fanden humaner, barmherziger.
Sedenfals war die Basler Regierung jener Seit auf- geflärter; fie muß vor 1809 eine Verordnung erlaflen haben, nad) welcher ein Selbftmörder wie andere Verftorbene öffent: [id und auf dem Gottesader begraben, nicht aber eta bei Naht im Walde verfcharrt werden follte.
Charafteriftifch für die Stellung der weltlichen und geijt- lihen Behörden zu der Frage des Erfcheinens Verftorbener
39 3
ift es, daß ber Rat am 24. September 1808 ben Verkauf der Schrift „Theorie der Geifterfunde”, verfaßt von dem aud) in Baſel viele Freunde zählenden Jung Stilling, verboten batte, „damit fhwache Gemüther nicht in bem Wahn bleiben mögen, alg wenn dergleihen Schwärmereien und Er: Dichtungen mit obrigkeitlicher Bewilligung gedrudt und ver- fauft werden”. Während bie Sache zur Begutachtung durch bie Geiftlichkeit an den Antiſtes gewiefen wurde, bielt der ftreitbare Pfarrer S. S. Güfd zu St. Theodor am 9. OF: tober eine heftige Predigt gegen ben Aberglauben und [pesiell gegen den Glauben an bie Erfcheinungen Verftorbener. Am 18. Oktober in voller Rapitelfigtung waren alle Mitglieder des Minifteriums der Meinung, bap der Kantonsrat erfucht werden folle, das ſchon vorher erlafiene Verbot nicht wieder aufzuheben. Durch das von Antiftes Merian wohl aus: geführte und gründlich abgefaBte Gutachten erwarb fid) die Geiftlichkeit den Dank des Rats. Durch) Ratsbeihluß vom 28. Dezember „blieb Stilling’s Buch allhier verboten".?)
Den älteren Schmied batte man vor 37 Zahren nad) altem Gebraud) im Walde verfcharrt. Als nun der Sohn am 1. Suni 1809 fid) entleibt batte, war man im Dorfe darüber einig, daß man der Ratsverordnung fid) nicht fügen, fonbern den Leichnam in einem entfernten Walde, bem Kohlholz, ver- lochen wolle. Zur Zegleitung wurde eine ganze Schar von Männern aufgeboten. Wie wollte man den Körper in den Wald bringen? Da war guter Rat teuer, da niemand den Entleibten tragen und auch niemand fein Fuhrwerk hergeben wollte. Schließlich famen findige Köpfe zum Vorſchlag, einen zweirädrigen Karren im Nachbardorf Sttingen zu ent- wenden. Gefagt, getan; die Begleiter fuhren bei Nacht mit ihrer unheimlihen Lat den GStodhalden hinauf, dann zwiſchen Müsbrunnen und Zurlen über den Sattel zum Kohlholz hinauf, alle innerlich bebenb.
2) Diefe Darftellung ift entnommen aus: U.v. Salis: Sung Stilling in Baſel verboten. Basler Jahrbuch 1894.
34
Als fie nun oben im Walde das Loch gegraben unb ben Leichnam hineingefenkt hatten, rief einer der Begleiter, wohl unter dem Eindrud eines Bildes feiner aufgeregten Pbhan- tafie, mit lauter Stimme: „Er dunnt". Alle, bie dabei waren, erſchraken tödlich und bald eilten fie, einer bem andern nad, den Berg hinunter, den Leichnam unbededt in der Grube, den Karren, ihre Bidel und Schaufeln im Walde [affenb. Erft in der Nähe des Dorfes gewannen fie einige Otube, zu Haufe fprachen fie gebeimnispoll von bem Erlebnis, baB der Tote auf einmal aufgeftanden fei, und manche glaubten fchliehlich, feinen Geift gejehen zu haben.
Die Cade blieb aber nicht geheim. Es wurde eine Unterfuchung wegen Unfolgſamkeit gegen bie obrigkeitliche Verordnung, wegen des Karrendiebftahls und wegen ber ganzen anftóBigen Gefchichte überhaupt angehoben, der Ge- meinderat verantwortlich gemacht und mit Gefängnis beftraft.
Herr Jakob 23urdbarbt (des Verfaflerd Großvater) war am 27. Mai 1809 nad) Laufen als Pfarrer gewählt worden, und als er einige Tage nachher, e$ mag am 11. ober 12. Suni gewefen fein, nad) feiner neuen Gemeinde fam, um jid) ben Behörden vorzuftellen, waren weder. der Präfident nod) bie Gemeinderäte noch ber Schullehrer zu finden. Er erfundigte fid) und vernahm nun aus zögernden Andeutungen den Grund ihrer Abwefenheit und den Ort ihres Aufenthalts. Am folgenden Sage ſuchte er fie in 93afel im Gefängnis auf. Man war beiderfeit3 verwundert und betrübt, fid) an diefem Orte zum erften Male begrüßen zu müflen. Auf bie feil- nebmenben Fragen rüdten nun die Leute erft recht mit bet Wahrheit heraus. Der junge Pfarrer ging darauf zum YVürgermeifter und den Ratsherren, um Fürſprache ein- zulegen, indem er den ganzen Hergang erzählte; bie Herren follen bei der Schilderung der Flucht aus dem Walde das Laden nicht unterdrüdt haben und raſch in eine gnábige Stimmung verfegt worden fein, denn bald nachher fonnte ber Geiftlihe als Zriedensbote feinen Gemeinderäten bie Q3e-
35 9
freiung anfünbigen. Pfarrer Surdbarbt amtete in Laufen bis 1816, wo er zum Oberfthelfer in Baſel gewählt wurde. Zeitlebens machte es ihm Vergnügen, daß er feinem Ge- meinderat gleich bei Beginn feines Amtes biejen Dienft batte erweifen können; er blieb mit einzelnen Gemeindegenoflen, auch über bie Revolutionszeit der dreißiger Sabre hinaus, befreundet unb auch Dadurch verbunden, bap feine in Laufen ge: borene Tochter im Sabre 1843 ebendafelbft Dfarrfrau wurde. Von ihr, feiner Mutter, hörte der Verfafler bie Befreiung der Gemeinderäte erzählen; ihre Angaben ergänzten das, was er von Dorfbewohnern, befonders von bem alten Drechsler Zurlenmeyer, gehört hatte und was er nod) weiter von beffen Erzählungen mitzuteilen bat.
Denn bie Gefchichte von den Schmieden ift noch nicht zu Ende.
Wenn man aud) annehmen fann, daß vielleicht einige Mitleidige am folgenden Sage bie unterbrochene 93eerbigung vollendeten oder daß fie von ber Behörde erzwungen wurde, fo fonnte bod) der Schmied fern im Walde feine Rube finden; bald börten einzelne, fpäter viele, ein nächtliches Hämmern in ber verlaflenen und verjchloffenen Schmiede: werfftätte im Dorf, befonders in Cfurmnádten ober wenn Wetterwechfel im Anzug war, aber aud) in ftillen Mond: nähten. Da zwei Hämmer im Saft auf ben Ambos fchlugen, fonnte es nicht anders fein: bie zwei Schmiede, der Vater und der Sohn, mußten wie in früheren Zeiten miteinander am Ambos fteben und draufichlagen. Es wurde nie erzählt, daß man die beiden gejeben habe, aber jedermann wußte, daß fie im Grabe feine Ruhe haben und Schmieden müſſen.
Als eg zu arg wurde, wandte fid) ber Hausbefiger und Wirt auf guten Rat bin nah Dornach, und eines Tages ftellte fid) ein Kapuziner in Laufen ein und übernahm die 23e- ſchwörung der Geifter, nachdem er fid) außer einer beftimmten Summe unb gutem Gffen noch täglich zwei ober drei Maß Wein ausbedungen hatte. Gr ſchloß fid) ein und es gelang ibm,
36
fid) mit ben Geiftern in Verbindung zu feben und fie ſchließ⸗ [id in zwei Glasflafchen zu bannen. Mit dem Geift des jüngeren Schmieds ging das nicht fo leiht. Der Geift fagte zum KRapuziner: „Du Fannft mich nicht bannen, ich brauche dir nicht zu gehorchen, denn du haft fchon einmal geftohlen.” Der Pater beftritt das. „Sreilich haft bu fchon einmal ge- ftohlen, weißt bu, Damals als du ftudierteft!" Nun erinnerte fi der Kapuziner eines Heinen Gelddiebftahls aus feiner Augendzeit und gab ihn zu. „Weil du aber jenes Gelb für Papier unb Schreibzeug zum Studium brauchteft, will ich bid) gewähren laſſen“, fagte der Geift und ließ fid) ebenfalls in eine Flaſche einfperren.
Daraufhin hörte das Hämmern auf, und die Nächte blieben ftill. Man legte bie zugebundenen Zlafchen oben auf einen Kaften, in die Vertiefung des Kaftenfranzes in bem Zimmer über der Schmiede, unb es iff zu vermuten, baB man damals bie Zenfter im Erdgefchoß und im erffen Stod zu⸗ mauerte und außen mit dem Bilde eines Mannes fchmüdte.
Die Geifter rubten nun viele Jahre, allerdings nicht im Grabe, fondern in den Flafchen.
Wie leicht vergißt man felbft wichtige Dinge, menn man nicht öfters, befonders etwa in unangenehmer Weiſe, daran erinnert wird. Mit der Erinnerung an den Spuf verblaßte aud) bie Erinnerung an die Flaſchen, bie mit ber Zeit unter eine bide Staubfchicht geraten waren. Nur wenige wußten, daß fie eriftierten unb wo fie lagen, und als einmal, — eg ift zu vermuten, es fei bei einer Srübjahrs- pußete gewefen oder beim Aufziehen eines neuen Wirts, — Unkundige fid) mit dem Kaften zu fchaffen machten, fielen bie Flaſchen herunter und aerbrad)en mit großem Geklirr. Wann das gefdjeben ift, kann nicht angegeben werden, bod) haben dem Zerfafler biefe Wendung ber alte Drechsler unb feine Grau erzählt, bie, wie aud) andere Leute, bie Schmiede oft wieder an der Arbeit gehört haben wollten und überzeugt waren, daß diefe armen QGeifter, aus den Flaſchen befreit,
37
nun wieder ihr Wefen trieben. Manche gingen nachts nur mit Scheu an dem Haufe vorbei und vermieden e$, ben Mann, ber beim Mondſchein aus dem zugemauerten Fenſter zu bliden ſchien, anzufchauen.
Man wird an diefe Darftelung nicht den ?[n|prud) machen, bap bem Verfafler alles genau fo erzählt wurde, wie er es nad der Erinnerung aus feiner Kindheit nieder: gefchrieben bat. Durch Leute aus bem Dorfe hörte er von dem Cpuf, durch einzelne Glieder ber eigenen Familie von dem Konflikt ber Caufener mit den Basler Behörden. Das Erzählte ift bie Summe beffen, was fid) in feiner Erinnerung feftgefegt und in der jugendlichen Phantafie zu einem Bilde vereinigt bat.
Es bot nun einiges Intereffe, nachzufehen, was fid) in den flaatlichen Alten über bie Beerdigungsgeſchichte der zwei Schmiede finden läßt. Die Herren Dr. Rudolf Wader- nagel und Dr. Auguft Huber waren fo freundlich, bem Ver⸗ faffer auf dem Archiv bie Ratsprotofolle zugänglich zu machen, bie bann wieder auf eine gerichtliche Unterfuchung wiefen. Die Alten fiber die lettere find zum Heineren Teil in Bafel, zum größeren im baſellandſchaftlichen Archiv zu Lieftal. Sie wurden alle durch Vermittlung des Basler Archivs benutzt; ihre Kenntnis ermöglicht es, bie Gefchichte vom Gelbftmord des Schmieds Safob S. im Sabre 1809 und die dadurch bedingten Unruhen in Laufen darzuftellen. Sie gibt, wenn aud) im engen Rahmen des einfachen Dorf- lebens, ein Bild von der zähen Herrfchaft alter Anſchauungen und von der Macht der Vorftellung im Empfinden und Tun des Volkes.
Otad ben Alten
läßt fi) das Folgende Feftitellen: As am Donnerstag, 1. Juni 1809, nachmittags, ber Küfermeifter Sohannes Schaffner im Keller des Gafthaufes
38
zum Rößli an feiner Arbeit war, hörte er plößlich ben Sohn des Wirts, ber ihn rief, er folle bod) berauffommen, es [fet in der Schmiede etwas pa[fiert. Zohannes Maddri, Peter Singeifen, Hans Jakob S dubi, der 93ed, und Heinrich Grieder, der Maurer, waren auf das Rufen ebenfalls, wohl aus ber Wirtfchaft, betbeigeeilt. Da die Schmiede voller Otaud) war und alle glaubten, es brenne, gingen fie um das Haus berum und die Treppe binauf. Als dann Peter Singeifen eine NRammertür im dritten Stod aufgeftoßen unb bineingeblidt batte, fam er fotenbleid) heraus, und als Schaffner und feine 93egleiter in bie Kammer fchauten, faben fie den Schmied Safob ©. halb fnieenb auf feinem Bette, regunaslos an einem Gtride hängend, ber an der Dede befeftigf war. Nach dem erften Schred fchnitt Johannes Madöðri den Strid entzwei, in der Hoffnung, den Erhängten noch zu retten; der Körper fiel rüdwärts auf das Bett unb alle Bemühungen, den Schmied zum Leben zu bringen, waren vergeblich.
Schaffner ging nun wieder ins Wirtshaus zurüd und veranlaßte, daB nad) dem Bezirksphyſikus Bohny in Lieftal gefhidt wurde, der bann aud) febr rafch, begleitet vom Ehirurgus Paulus Noerbel, nad) Laufen fam unb die Ulnter- fuhung der Leiche vornabm. Das zu Handen des Ciatt- balters verfapte Gutachten berichtet, „Daß bei der Ankunft der Körper nod) angef(eibet im Bette gelegen und der ent- zwei gefchnittene Strid nod) am Balken gebangen babe; Augenlider unb Mund waren gefchloflen, bie Gefichtsfarbe etwas blaulächt, am Hals lief tiber den Kehlkopf ringsum eine vertiefte Sigullierte?) Zurche, fo wie der Strang ge- offen. Da andere VBerlegungen fehlten, fchloffen bie beiden Unterfuchenden, daß diefer Unglückliche fid) felbften erdroflelt babe. Alle Velebungsmittel, bie von ihnen angewandt worden waren, feien erfolglos gemefen".
Om Wirtshaus hatten fid) mittlerweile viele Leute ein-
$) Sol heißen: jugillierte (blutunterlaufene).
39
gefunden, ba durch Nachbarn der Vorfall bald im ganzen Dorfe ruchbar geworden war. Jedermann war entjeßt und es nüste nichts, bap ber Phyſikus Bohny, ber fid) nun aud einfand, bie Leute wollte glauben machen, daß er am Körper des ©. nichts PVerlegtes gefunden babe und daß Derfelbe natürlih, am Stedfluß, müfle verftorben fein, auch daß der zerfehnittene Strid an der Bühne nichts bemeije. Der Rüfer Schaffner erwiderte-ihm, es feien denn bod) zu viele Zeugen dabei gewefen, als der Körper am Strid hing und berunter- gefchnitten wurde. Es nüste aud) nichts, als ber Phyſikus drohte, man werde bie folches reden zur Verantwortung ziehen, denn es entitanb fofort das Gerede, „Daß es am beften wäre, wenn man den Körper des fid) felbft entleibten gleich burd) den Wafenmeifter wegfchaffen ließe, damit bie Cade der Gemeinde fein ‚weiteres $f[nglüd und Nachteil zuziebe". Sedermann war darüber einig, daß man den Leichnam nicht auf den Kirchhof begraben wolle. Sa, als bie Nachbarn des Entleibten äußerten, „Daß biejer von den Händen weggethban werden folle, denen er fid) durch feine Handlung übergeben babe, ließ fid) ber Gemeinberatb Hans Jakob Schaffner verlauten, daß er aud) biefer Meynung fepe".
Der Statthalter Nörbel war an jenem Tage von Lieftal abmejenb, unb fo batte fid), außer den Mevdizinalperjonen, an jeiner Stelle der Bezirksſchreiber nad) Laufen begeben. Ihn beftürmten nun bie Laufener mit ihrem Begehren, ben Leichnam nicht auf bem Gottesader begraben zu müſſen und um Wegſchaffung durch den QUajenmeilter. Der oben genannte Gemeinderat Safob Schaffner drängte, nicht als Mitglied der Behörde, fondern im Namen der Nachbarn und ber Wirtin, deren Vogt er war. Da die Schmiede mit dem Wirtshaus zum Rößli eng aufammenbing, war es be- greiflich, baB bie Wirtin möglichſt raſche ———— des Entleibten wünſchte.
Der Präfident und die Gemeinderäte müſſen der
40
gleichen Anficht gemefen fein wie ihre Dorfgenofien, denn als der Bezirksfchreiber dem Statthalter über bie Sache be- richtet batte, machte diefer am folgenden Tag dem Rat in Bafel niht nur Mitteilung von dem Verkommnis, bem Refultat der ärztlihen Unterſuchung und den Familien- verhältniffen des ©., ber eine Witwe und Großfinder (Rinder einer verftorbenen Tochter) hinterlafie und ziemlich vermöglich gewefen fet, fondern er übermittelte zugleich auch bie Vitte des Gemeinderats, den Körper durch den Wafen- meifter aus dem Haufe fdaffen und an einem entlegenen Ort verfcharren zu Laffen.
Der Kleine Rat in 93afel war anderer Anficht; in der Sisung vom 3. Zuni, alfo Samftag morgen, faßte er folgenden Beſchluß:
„Bird ben Anverwandten geftattet, ben Gürper des unglüdlichen ©. in der Stille auf dem Kirchhof beerdigen zu laflen. Herr Statthalter wird dem Gemeinde Rath das Unfchicliche ihres Begehrens vorftellen, darauf feben, daß feine Hindernifie gegen bie Veerdigung ge- macht werden und das DBetragen des Joh. Madöri beloben."
Als Samstag nachmittag biefer Ratsbefchluß durch ben Statthalter dem Gemeinderat befannt gegeben wurde, war man in Laufen [don einig über bie Art, wie man die Ver: fharrung vornehmen und auch darüber, daß man fi der Beerdigung auf dem Kirchhof mit Gewalt widerfegen wolle, wenn fie von den Behörden gefordert würde. Den Trans: port und bie Verfcharrung follten, menn der Wafenmeifter nicht zu haben war, Heinrich Plattner, Heinrich Genfer und Jakob Graumiler (vielleicht als Totengräber, vielleicht als Gemeinwerchspflichtige) beforgen; ferner bewaffneten fid) auf Aufforderung des Gemeinderats zehn Mann mit Ober: und Untergewehr, „um bei dem Eörper Wache zu halten”.
Der obrigkeitliche Beſchluß mit dem Tadel der Unfchid- lichfeit an den Gemeinderat machte nun ganz böfes Blut.
41 -
Aus bem bisherigen Gemurmel, Gefchwäte, Geichimpfe klangen jetzt Drohworte, gegenfeitiges Ermahnen zum äußerften Widerftand und Worte von allgemeiner 93ervaff- nung unb Gomplott. Weiber und Kinder fchimpften unb beulten und erklärten, nicht mehr zur Kirche zu geben, wenn man bem Dorfe nicht willfahre. Andere Anfichten, aud wenn fie vorhanden waren, wagten fid) nicht hervor. Die Witwe und bie Verwandten des ©. mußten wohl ober übel fchweigen, wollten fie nicht zu ihrem Kummer nod) den Haß der Mitbürger auf fid laden. Die Gemeinderäte machten gemeinſame Sache mit ben Vürgern, unb wenn auch ber Präfident Heinrih Sidubin fpäter es als 9[berglauben be: zeichnet haben wollte, daß ein Selbſtmörder im Grabe nicht ruhen fünne, jo ift das wenig glaubhaft, denn er machte nicht den leifeften Zerfuch, die Leute zur Beſinnung zu bringen und bem Ratsbefhluß Achtung zu verfchaffen. Er will zwar „einem ganzen Trupp Bürger” QGeborjam ge- predigt haben, fonnte aber fpäter bei ber Unterſuchung feinen der Zuhörer nennen. Gin Geiftliher hätte am ebeften einigen Widerftand leiften fónnen, aber am 22. April war Herr Pfarrer Eglinger geftorben und der vor wenigen Sagen gewählte Nachfolger, Herr Safob 93urdbarbt, war nod) in Baſel.
Der Statthalter Noerbel in Lieftal war in großer Ver: legenbeit. Auf ber einen Geite das beftimmte Gebot ber Regierung, auf der andern das Dorf in vollem Aufruhr und im Begriffe fid) zu bewaffnen, was follte er ba tun? Als bie Berichte von Laufen immer brobenber Fangen, fragte er den Geiftlichen von Lieftal, Herrn Pfarrer von93runn, um Rat, unb biefer anerbot fid) gütig, mit ibm nach Laufen zu geben, um die Gemeinde zur Ruhe und Ordnung bei Q3oll- ziehbung der bochobrigkeitlihen Verfügung aufzufordern. Otoetbel nahm das Anerbieten, das ibm febr angenehm war, dankbar an, Überzeugt von dem Sutrauen der Gemeinde Laufen in biefen Geiftlihen. In einem Schreiben vom
: 42
5. Zuni an Vürgermeifter unb Rat berichtet der Statthalter über den gemeinfamen Beſuch in Laufen Folgendes:
„Nachdem alfo der Präfident benadhrichtiget worden war, die Gemeinde ordnungsgemäß zu verfammeln, fo be- gaben wir uns dahin. Ich machte bie Gemeinde auf bie irrige Stimmung, die in Dderfelben obwalte und wodurd unfere Gegenwart veranlaßt wurde, aufmerfjam, eröffnete berfefben den Inhalt des Hochobrigkeitl. Schreibens und forderte felbige auf, fid diejenigen Lehren und Zuredt- weifungen, melde ©. WohlEhrwürden Herr Pfarrer BonDBrunn ihnen ertbeilen werde, dazu dienen zu laflen, daß fie ber quäftl. Beerdigung feine Hindernifle in den Weg fegen würden. Hierauf that Herr Pfarrer VonBrunn eine lieblihe Rede an bie VBürgerfchaft, worin er berjelben zwed- mäßige 93elebrungen ertheilte und fie fodann zur Befolgung der Hochobrigkeitl. Verfügung ermabnte und aufforderte. Allein troß früftigem Zureden von Seiten des Herrn Pfarrer BonQrunn bebatrte bie VBürgerfchaft einffimmig auf ihrer Aeußerung, daß fte die Beerdigung des fid) felbft erbenften ©. auf dem Kirchhof nie zugeben werde, denn erftlich gründe fi ihre Meinung auf alte Erfahrungen und Geſchichten (welche wir vergeblich zu widerlegen verfuchten); überdieß werden fie fid) nie überzeugen, bap der Körper eines Celbit- mörders zu denjenigen natürlich Geftorbener gelegt werden folle. Endlich, und da alle gütigen Ermahnungen fruchtlos waren, bedrohte ich bie Gemeinde, baB id fie 9X. 9. ©. 9X. Herren €. G. unb W. W. Raths als Ungehorfame verzeigen werde, welches aber aud) ohne Wirkung mar."
Zur Gemeindeverfammlung waren die Leute fchnell ver: fammelt, da alle fdon baufentoeife berumftanden; fie fand abends um 7 Uhr ftatt; man hatte den ganzen Sag an- genommen, daB bod) nod) eine Abänderung des Rats: befchlufles einlaufen werde. Als nun der Statthalter unb der Lieftaler Pfarrer Gehorfam gepredigt hatten, entitand sum Schluß ein großes Getümmel und Toben, und einzelne
43
hatten ben Mut, den beiden Abgeordneten zu widerfprechen unb aud) ihre Meinung zu fagen, da man bod) zur Gemeinde: verfammlung aufgeboten worden [ei und nun auch |prechen dürfe. Der Küfer Schaffner fagte, „es werde feine Ruhe werden, bevor man der Gemeinde millfabre. Man babe das Grempel, daß GSelbftmörder nad) dem Tode feine Rube fänden, am Vater des ©. erlebt, ber fid) vor 37 Syabren ent: [eibte. Diefer fet ihm felbft einmal auf der Straße er- fchienen, fo bap fein Pferd den Reifaus genommen babe. Andern feye Dies auch begegnet, Deswegen feien bie Laufener bei biejem neuen Anlaß wieder in Beforgniß und Furt getafben". Und Zacob Kaifer war ber gleid)en Meinung, „und zwar aus felbftgemachter Erfahrung. Der Pfarrer Bon Brunn babe der Gemeinde vorgeftellt, baB es ein Aber: glauben fepe, wenn man behaupte, baB bie Gelbftmörder den Leuten erjd)einen; er wifle das aber leyder befler, denn als er 17 Zahre alt gewefen, jepe ihm einsmals ein folcher im Wald erfchienen, worüber ibm während zehn Jahren ein fallendes Wehe zugeftoßen fepe."
Daß man bei Anfchauungen, wie fie aus diefen Er: fabrungen mit ,manbelnben" Geiftern hervorgehen und die bie ganze Gemeinde teilte, bie Ruhe der Toten auf bem Kirchhof nicht geftört haben wollte, läßt fid) einigermaßen begreifen. Erfcheinungen Zerftorbener waren ja auch burd) einzelne Gefchichten des alten unb neuen Teftaments bezeugt. Die Amtsperfonen batte man, ohne fie zu ftóten, angehört fo lange fie fprachen, nun aber ging der Rumor und Lärm von neuem an. Man babe dem Toben nicht widerfprechen dürfen, faate [páter ber Präfivdent, ba die Leute in folchen Sällen feine Vernunft annehmen. Die Gemeinderäte Heinrih 93almer und Friedrich 93ufer, aud) ber Scul- meifter Rolle fprachen es im Verhör aus, baB wenn etwas auf bie verfammelten Bürger hätte Ginbrud machen follen, jo wären es bie fchönen Reden gegen ben Aberglauben ge- weſen, welche der Statthalter und Herr Pfarrer Bon Brunn
44
bielten; fie hätten das felbft einen Augenblid gehofft, aber leider babe das GStillfchweigen nur [o lange gedauert als die beiden Herren gefprochen hätten und dann fei das Lärmen gleich wieder angegangen.
Schließlih fanden bie Gemeinderäte den Weg aus der beiderfeitigen Verlegenheit. Sie drängten zwar darauf, daß der Leichnam bei dem heißen Wetter wegen ber vor- gefchrittenen Fäulnis aus dem Haus gefchafft und begraben werden müfle, zeigten fid) aber zugleich etwas gefügiger und ihienen bie Beerdigung auf dem Kirchhof aulaffen zu wollen, fofern nicht etwa bie S.’fchen Verwandten felbft hievon ab: ftrabieren würden. Der Statthalter ließ fid) auf dieſen Q3er- mittlungsporfchlag ein, weil er dachte, „Daß [o am beiten unruhigen Auftritten vorgebogen werden fónne". Er war jedenfalls frob, eine [olde Form des Rüdzugs zu finden, denn er batte gefeben, „Daß nicht ein einziger Mann in Laufen feye, der nicht gegen bie Deerdigung auf bem Kirhhof die größte Widrigfeit batte, und daß bie Be— erdigung des quäftl. Körpers auf bem Kirchhof anderft nicht hätte in Vollziehung gefeSt werden fónnen als wenn ein feines Truppencorps, jedoch feine Landmiliz, fondern von der Standescompagnie, mit etl. Ranonen gegen bie Gemeinde Laufen gezogen wäre”.
Nachdem der Statthalter in den Rompromiß mit bem Gemeinderat eingetreten war und eine bezügliche Erklärung abgegeben batte, verließ er mit feinem geiftlichen Begleiter die Gemeinde und begab fid) auf ben Heimweg, vernahm aber Ihon am Ende des Dorfes von einigen der S.'ſchen Ver- wandten, daß fie um des Friedens willen geneigt feien, von der Beerdigung auf dem Kirchhof abzuftehen, in der Hoff: nung, bap ihnen ſolches jedoch feine Verantwortung auateben werde. Am folgenden Morgen meldete ihm auch der zur Sicherung ber Orbnung in Laufen zurüdgelaffene Harfchier, daß ein freundfchaftliher Vergleich zwifchen dem Gemeinbe- rat unb den S.'ſchen Verwandten zuftande gekommen fei
45
unb ber Leichnam an einem abgelegenen Orte in bie Erde getan werde. Es brauchte einer fein Prophet zu fein, um vorausjehen zu können, daß der Rompromiß mit dem Ge: meinderat fo ausgehen werde.
On Laufen hatte man erreicht, was man wollte. So— bald bie zwei Herren weg waren, in der Nacht vom GCams- fag auf den Sonntag, 3./4. Juni, führten die drei Diegu beftimmten Männer den Leichnam in einen entfernten Wald „an den gleichen Ort, wo ſchon vor 37 Zahren ber Vater des Unglüdlichen, ebenfalls Selbftmörder, begraben worden war”. Begleitet wurde bie Fuhre von zehn 93emaffneten, námlid):
Hans Jakob Sidubin, Hirt.
Hans Safob S idubin, Weber.
Jakob Kaiſer.
Jakob Madöðri, Broſis.
Hans Tſchudin, Schuhmacher.
Hans Tſchudin, Schauben Sohn.
Peter Genfer, jung.
Jakob Tſchudin, Schuhmacher.
Jakob Schaub von Furlen.
Jakob Madöri, Jakobs.
Vom Gemeinderat ging niemand mit.
Wie es bei dem Begraben im Walde zuging, darüber wurde Schweigen beobachtet; nur einer der Bewaffneten, Jakob Kaiſer, ſagte ſpäter im Verhör aus, „daß, während ſie den Körper in die Grube gethan, ſeye deſſen Geiſt dem Jakob Schaub erſchienen, welcher Ober- unb Untergewehr ſogleich weggeworfen unb fid) unter bie verſammelte Mann- ſchaft veritedt babe". Darüber, ob unb wie das Grab zu: geldbüttet worden und wie ber Heimweg ber Mannfchaft erfolgt fei, ſchweigt bie Gefchichte, fo weit fie fid aus ben Alten belegen läßt. Wer batte überhaupt bie bewaffnete Begleitung angeordnet und wozu? Don ben Q3emaffneten
46
fagten acht, fie feien vom Gemeinderat aufgefordert worden, und zwei bemerften, „Daß die Shen Verwandten Dis: fallá mit dem Gemeinderatb abgeredt ober denfelben be: auftragt bätten”. Der Präfident Heinrih Tſchudin ſagte aus, „Diefe Leute fepen als Wächter beim Verftorbenen ge- wefen und bann vom Gemeinberatb aufgeboten worden, ben Leichnam zur Erde zu begleiten; fie hätten nicht anders als bewaffnet mitgeben wollen, weil e8 ebebem immer fo üblich geweſen feye; der Vater ©., welcher fid) vor 37 Zahren etbenft babe, fepe auf bie gleiche Art, mit bewaffneter Mannfhaft, am gleichen Ort, wo jet der Sohn liege, begraben worden. Der Gemeinderatb babe geglaubt, weil e$ ebebefen [o üblich gemefen, fo jeye es je&t aud) wieder Recht, unb babe es zugegeben”. Der Ort ber Ver:
Iharrung ftebt nirgends in den Alten. |
Bewachung und Begleitung geſchahen nicht etwa un: entgeltlih, von den zehn Mann forderte jeder anfänglich drei Nthl. Es erhielt aber jeder nur 1, Nthl., und zwar von der Vogtei der S.'ſchen Großfinder; der Gemeinderat hatte wohl befohlen, aber nicht bezahlt.
Unter dem Datum des 5. uni, alfo am Montag, be- richtete der Statthalter den Behörden in Baſel über die Verſammlung vom Samstag und den Ausweg, ben er darin gefunden habe, daß er erklärt habe, es werde von der 23e- erdigung auf dem Kirchhof nicht abgewichen, eg wäre denn, daß die C.'[den Verwandten dies felbft fordern würden; zugleich meldete er aud, er babe feithber vernommen, baB die Shen Verwandten fid) verftanden hätten, den Körper an einem abgelegenen Ort beerdigen zu laflen. Als er am Schluffe feines Schreibens bie Hoffnung ausſprach, na M. 9 G. $$. fein 93enebmen nicht mißbilligen werden, ba die erhaltene Weifung gewiß ohne Militär- gemalt nicht hätte in Vollgiehung gebracht werden fónnen", war er einigermaßen im Srrtum, denn der Ratsbeichluß vom 7. Zuli lautete:
47
„Sol $. Statthalter das 93efremben M. $. G. $$. bezeugt werden, daß er ben ibm gegebenen Auftrag nicht in Vollziehung gefegt babe. Der Präfident unb die Mitglieder des Gemeinberatb8 fowie der Schul: meifter von Laufen follen anbero in Gewahrfam ge: tiefen und tiber ihren Ungehorſam gegen einen obrigfeit- [iden Befehl burd Herrn Statthalter befprochen werden.”
Schon am 8. Zuni fehrieb der Statthalter an den Wohl: weifen Herrn Bürgermeifter und die Hochgeachteten Herren, „DaB Hochdero verebríid)em Befehl gemäß bie Gemeinde: räthe und ber Schulmeifter fid am 9. Juni im Gewahrfam in Baſel einfinden würden”. 3u feinem eigenen Benehmen bei der Perfammlung in Laufen bemerft er: „Niemals würde id) bie getbane fchließl. Erklärung gegeben haben, wenn ich nicht geglaubt hätte, bap biefelbe in Ueber: einftimmung mit der folgenden Stelle des Hochobrigfeitlichen Schreibens ftühnde, nämlich „wir wollen alfo auch den Ver: wandten des Verunglüdten überlaflen, deſſen Leichnam auf dem Kirchhof in der Stille beerdigen zu lafen", — id) meinte bierin die 3ulafjung der einzigen Ausnahme zu finden, falls nehmlich bie Verwandten von ber Veerdigung auf dem Kirchhof freywillig abiteben oder folche nicht be- gehren würden. Denn id Tann Eurer Weisheit und OX. Hochgeachteten Herren die Verficherung geben, daß id) fonft gewiß nicht in diefe Abweichung der Hochobrigkeitlichen Verfügung eingebilliget, fondern Hochdenfelben über die ob: waltenden Umſtände berichtet haben würde.” Leber ben Gemeinderat urteilt er, daß er fid) zwar nicht widerfpenftig benommen, aber fid) feine Mühe gegeben hätte, die Behörden zu unterflügen. Zwei Mitglieder bätten unvorfichtige Aeußerungen getan, Jacob Schaffner, indem er zuerft, und zwar in des Präfidenten Haus, vom Wafenmeifter fprach, und Hans Safob Tſchudin, ber zum Harfchier Ludwig Senn
48
gefagt batte, es fepe noch gut gegangen, indem es fonft ein Unglück bätte geben fónnen, weil fchon mehrere ein Eomplott gemaht hätten, fid mit Gewehren zu be- waffnen; aud) Sobann Schaffner, der Küfer, babe fid) durch widerfpenftige Reden ausgezeichnet. Die Laufener bätten fid bei ber Veerdigung ganz lächerlich benommen, indem bie 93egleitung aus 10 wohlbewaffneten Vürgern beftund, ohne bie 2 oder 3, welche eigentlich fid) mit bem Gefchäft befaffen mußten.
Die am 9. Zuni in Bafel zur Haft eingetroffenen Ge- meinderäte wurden am felben Sage von Gyfendörffer, bem Statthalter des Diftriktes Baſel, einem erften Verhör unter- worfen und das Refultat desfelben, zugleich mit bem obigen Schreiben Noerbels dem Rate vorgelegt. Der Ratsbefchluß vom 10. uni ging dahin, daB Syafob Kaifer und oh. Schaffner, der Küfer, ebenfalls in Gewahrfam zu feSen feien; durch den Statthalter von Lieftal follte in Laufen und durch Gyfendörffer bei den Gefangenen bie Namen der Bewaff— nefen unb befonders derer, bie vom Komplott gefprochen oder fonft widerfpenftige Reden geführt hatten, feftgeftellt, aud) aufgeklärt werden, wer den Befehl zur Bewaffnung gegeben babe, und warum diefer ohne Erlaubnis des Ctatt- walter8 vom Gemeinberat geduldet worden fei.
Am 12. unb 13. Zuni wurden die adt Gefangenen von Gpfendörffer zum zweiten Male und genauer verhört. Aus diefem Verhoͤr und zugleich aus einem Bericht des Statt: halters kennen wir die Namen der Teilnehmer an der be- waffneten Geforte und miffen wir aud), baf die Leute vom Gemeinderat aufgeboten waren. Dem Ilnterfuchungsrichter Gyfendörffer war es augenfcheinlich nicht barum zu tun, ge- nauere Kenntnis über bie Art unb den Ort der Verfcharrung und bie dabei zutage getretene aberaläubifche Befinnung zu befommen, dadurch hätte er bie Leute nur fopffdeu gemadit, aud) fonnte es ja an bem vollaogenen ungefeglichen Akt nichts mehr ändern; ihm war die Hauptfache bie Auflehnung gegen
49 4
bie obrigfeitfid)e Verfügung und fpeziel das fogenannte Gomplott.
... Qo vernehmen wir außer ber Erfcheinung, bie ben Safob Schaub (laut Safob Kaifers Ausfage C. 46) in Schreden verfeßte, nichts über das Verhalten der andern und be- fonders über deren laut mündlicher Tradition erfolgte und pſychologiſch wahrſcheinliche Flucht. Nichts vernehmen wir aud) über ben Karrendiebftahl in Sttingen, der dem Ver- fafler vom alten Drechsler jo beftimmt erzählt worden war. Es ift bier möglich, daß es fid) nicht um einen eigentlichen Diebftahl handelte, fondern um ein unerlaubtes Entlehnen, fo daß man den Karren wieder freiwillig zurüdzugeben die Abficht batte unb ben Vefiger in irgend einer Weife fo be- Ihwichtigen fonnte, baB er eine Klage unterlieB, um der Sache ber Landleute nicht zu fchaden.
Der müßte bie Bauern ſchlecht fennen, nicht nur bie des Baſelbiets, ber glauben wollte, baB ba bei einer Inter: fud)ung, die das ganze Dorf betrifft, viel heraustommen würde. Co viel aud) in einem Dorf zwifchen Einzelnen und Familien geftritten und progeffiert wird, fo ift gleich alles einig, wenn fid) das ganze Dorf gefchädigt ober angegriffen fühlt. Niemand will fpäter durch fein Zeugnis behaftet werden fónnen und als Angeber gelten, und jeder gibt fo un- beftimmte Antworten als es ibm möglich iff, wenn er nicht vorzieht, zu jagen, daß er nichts wife ober fid) nicht erinnere.
Co wird e8 aus ben Ulten nicht einmal völlig be- miejen, ob der Gemeinderat bie Bewaffnung befchloffen oder fie nur gutgehbeißen babe, nachdem einzelne ihre Zlinten bervorgeholt haften. Der Präfident Tfchudin glaubte, einer Erlaubnis zu bewaffneter Zegleitung vom Statthalter nicht zu bedürfen, „weil es ebbem immer fo üblich war”. Die, welche gegen die Beerdigung auf dem Kirchhof gefprochen hatten, hatten dies entweder gleid) am Anfang getan, bem Bezirksfchreiber gegenüber, oder wenigftens ehe die ftrenge obrigfeitfide Weifung eingetroffen war; unvorfichtige Ge-
meinderäte wollten ihre Aeußerungen privatim getan haben; einzelne Bürger gaben ihren Widerftand zu, hatten ibn aber in der Gemeindeverfammlung geltend gemacht, zu der fie aufgeboten waren und wo, follte man denken, man nod) reden und feine Meinung fagen dürfe.
Vom fogenannten Romplott wollte erit recht niemand etwas DBeftimmtes willen, auch nicht bie be[onber8 ver: bddjfigen Kaifer und Küfer Schaffner. Der Gemeinderat Hans Adam Tſchudin gab zu, „nach befchebener 93eerbigung fepe biefe Rede bald bier, bald dort gegangen, von Männern unb Weibern, er wifle aber nicht, ob wirklich ein folches Gomplott eriftiert babe, er babe biefe allgemein ergangene Rede blos als folhe wieder bem Harfchier Senn erzählt, ..... er verfichere, daß er Weiteres darum nicht iffe". Und der Präfident fagte aus, „es fet wohl fo ein Gemurmel von Complott im Dorf gewefen, aber er wiſſe nicht, ob ein folches beftanden habe, e8 fepe ein Weibergefhwäg gewefen, über- baupt fepe damals die ganze Gemeinde in Rumor gewejen, Männer, Weiber und Kinder”.
Man wird nicht weit nad) dem Komplott fuchen müffen, wenn es auch der Unterfuchung nicht gelang, einzelne des felben zu überführen, denn in Wirklichkeit hatte das ganze Dorf im Komplott geftanben. Gegen wen hatte man fid) be- waffnet? Doch gewiß nicht gegen ben verwefenden Gr: bängten! — alfo gegen die oberen Behörden, ben GCiatt- halter, wenn er fid)'8 etwa einfallen ließ, der Familie durch Harfchiere bei der Veerdigung auf dem Kirchhof helfen zu (affen, oder auch gegen ein militärifches Aufgebot, wenn die Regierung ihren Willen mit größerer Gewalt durchfeßen wollte. Hinter den zehn erften Bewaffneten wären in biefem Zalle, aud) ohne befonderes Aufgebot, alle waffenfähigen Männer, vielleicht fogar bie Weiber geftanden unb die ganze Aktion hätte am Gemeinderat, dem Schullehrer und ber ganzen Bevölkerung, ber öÖffentlihen Meinung, wie man je6t jagen würde, einen Rüdhalt gehabt.
51 4*
Am 12. Juni berichtete Statthalter Noerbel bem Rat über das Ergebnis feiner weiteren Unterfuchung in Laufen. Es bedt fid) mit dem, was Gyfendörffer bei den Gefangenen in 93afel erfahren batte. In ber Ratsfigung vom 14. Syuni wurde über bie Sache verhandelt. Dabei fam der beftebenbe Aberglaube, wie er in den offenen Belenntniffen von Job. Schaffner und Jakob Kaifer zutage getreten war, zur Sprache, und aud) bie Geſchichte des Schaub, bem beim Ver: lochen S.'s deſſen Geiſt fo deutlich erídbienen war, daß er Slinte und Säbel wegwarf unb fid unter der Mannfchaft verftedte.
Es iff nun wahrfheinlih, bap in diefer Sigung bie Herren des Rats mehreres über bie Verfcharrung unb mas fid) dabei ereignet batte, wußten, al8 was ihnen durch bie IInterfuchungsaften geboten wurde. Die durch mündliche Sleberlieferung — befannte Zürfprahe des neugewählten Pfarrers, an der gar nicht zu zweifeln ijt, wird wohl in die Sage kurz vor der Situng gefallen fein. Jedenfalls war der Rat jest plöglich zur Milde geftimmt; auch das „Complott“ Scheint er nicht mehr ernft genommen zu haben. Der gefaßte Ratsbeichluß Tautet:
„Sollen die Mitglieder des Gemeinberatb$ und ber Schulmeifter gegen Bezahlung der Roften der Haft entlafien und ihnen für ihr Benehmen M. $. ©. $$. Mißfallen bezeugt werden. Jakob Schaffner aber foll wegen feiner 9feuperungen von der Gemeinderathsftelle entje&t und Johann Schaffner, der Küfer, unb Sob. Raifer noch bis zum nächſten Otatbstag mit GefüngniBbaft beftraft werden. Die zehn Mann, welche den Sarg des ©. bewaffnet begleitet, follen die erhaltene Belohnung in ben Armenfedel der Gemeinde zurüdgeben. Endlich follen diefe Alten bem U. 93. Herrn Antiftes zugeftellt werden, um wegen bem herrichenden Uber: glauben burd) den Herrn Geiftlichen bie angemeflenen Be: lehrungen ertheilen laſſen.“
Hier ſchließen bie amtlichen Alten. Der Präfident, die
52
Gemeinderäte unb ber Lehrer febrten, nachdem fie vom 9. bis 12. Zuni gefeflen hatten, in bie Heimat, unb, mit Ausnahme des Sob. Schaffner, aud) in ihre amtlihe Stellung zurüd; bet Schulmeifter Rolli, der neben der Kirche beim Gottes: ader wohnte, fonte ruhig fchlafen, ohne zu riskieren, etwa burd) das Herummwandeln des verjtorbenen Schmieds et- fchredt zu werden. Jakob Schaffner, ber aus dem Gemeinde: tat ausfheiden mußte, Johannes Schaffner, der füfer, und Jakob Kaifer, welche nod) einige Sage gefangen blieben, hatten nad) unferem Gefühl eigentlich feine ftrengere Strafe verdient als die andern, hatten fie bod) nur, aufrichtiger als biefe, Anfichten ausgefprochen, bie bie ganze Bevölkerung teilte, unb fid) frei zu bem allgemein berrichenden Glauben an Erfcheinung und Serummanbeln (Wandeln) von Geiftern Berftorbener befannt. Es ijt [jon größeren Belennern nicht befier ergangen!
Zur Gtürfung des obrigfeitliden Anfehens mag die ganze Geihichte nicht gedient haben. Es war miflid), daß der Statthalter am erften Tag nicht felbft da mar; er hätte gleid unb febr energifch eingreifen müflen. Als er, an- gelpornt durch den Tadel des Rats, fefbft erfchien, fand er das Dorf in Aufruhr und zum äußerften Widerftand bereit. Da e8 ibm an Machtmitteln und aud) an Zeit fehlte, war er dann zum Paktieren genötigt; von diefem Augenblid an hatten bie Laufener gewonnenes Spiel und konnten ohne Aufſchub ihren Willen durchſetzen.
Schließlid wird der Gemeinderat Hans Adam Tſchudin wohl recht gehabt haben mit feinem Ausſpruch: „es fei nod) gut gegangen, indem es fonft ein Unglüd hätte geben können”.
Reifeftiszen von Eduard Genaſt. Bafel 1865.
Mitgeteilt von Prof. Dr. Hans Merisn-Benaft in Sran?furt a. Mein.
Sm Sabre 1866 ftarb zu Wiesbaden im Haufe feiner Tochter Doris, der Gattin des Komponiften Soadjim Raff, das Ehrenmitglied des Weimarer Hoftheaters, der ehemalige Hoffhaufpieler Eduard Genaft.
„Eduard Genaft, von der Natur begünftigt, durch Fleiß und Hebung gefördert, nehme die beiten Wünfche zum Geleit auf feine Runftreife”, fo batte im Sabre 1817 G oetbe bem Oüngling in ein Bändchen feiner Gedichte gefchrieben. Und mit der Zeit war ein tüchtiger Stünitler aus ibm ge- worden, der den Don Juan gefungen und den Wallenftein gefpielt, den Schillerfhen und Roffini’fhen Tell ver- fórpert bat. Unter Goethe war ber Vater Anton Genaft Regifleur gemejen, und deflen Erinnerungen an die große Seit bilden den wertvollften Zeil des „Tagebuchs eines alten Cdaujpielers", das Eduard nad) feinem Rüdtritt von der Bühne veröffentlicht bat. Diefe Aufzeichnungen machen aud) heute nod) das Tagebuch zu einer wichtigen Quelle für alle, bie fid) mit Goethes Theaterleitung befchäftigen. Natürlich find fie hiftorifch nicht einwandfrei; und es ift et- beiternd zu beobachten, wie das faft alle Theaterhiſtoriker etwas von oben herab verfichern, um dann die Erinnerungen bod) recht gründlich auszufchöpfen.
Bon biejem Tagebuch bat Rob. Kohlrauſch im Verlag von Luß in Stuttgart (Memoirenbibl. II. Ser. Bd. 5) zum Borteil der Wirkung eine verkürzte Ausgabe veranftaltet. So ift das Tiebenswürdige Q3ud) in weitere Kreife ge-
94
brungen; es hält fid) von ber fonft oft unangenehm bervor: tretenden Eitelkeit der Schaufpielererinnerungen frei und führt uns in bie bedeutendften Epochen des Weimarer Theaters ein.
Genaft batte ein Jahr vor feinem Tode feine jüngfte Tochter Emilie befucht, die, al8 Ronzertfängerin in den fünfziger Jahren gefchäßt, feit 1863 an den Dr. jur. Emil Merian in Baſel verheiratet war. Die Aufnahme, bie bem alten Herrn in dem angeregten Rreife des Paares Merian: Genaft zuteil wurde, erfreute ihn febr. In diefer Stim- mung bat er zur Feder gegriffen und ben begeifterten Lob- preis niedergefchrieben, ben wir hiermit zum Abdruck bringen.
Dat aud) an den alten Genaft nod) Erinnerungen in Baſel lebendig find, bewies mir vor nicht langer Seit ein Gefpräh mit einer geiffig ebenfo angeregten wie Tiebens- würdigen Freundin meiner Eltern aus jener Zeit, bie mit einer erftaunlichen Kraft des Gedächtniſſes bie auch ihr unvergeßlichen Sage vor mir aufleben ließ. Don jener Sreundesgeneration mögen nur noch wenige unter Den Lebenden fein; aber vielleicht bieten ihren Nachkommen unb ebenfo den Freunden des Basler Runftlebens die folgenden Genaſt'ſchen Aufzeihnungen einiges Sntereflante.
An bem breiten, etwas altväterifh blumigen Stil iit nichts geändert, ebenfowenig an dem uns heute ein Lächeln erwedenden Urteil, das Schöpfungen eines Brahms hinter folhe von Rubinftein und Raff ftelt und für Kirchners Albumblätter mehr anerfennenbe Worte findet als für bie fammermuft£ des großen Hamburger OXeifters. Man darf eben nicht vergeflen, baB Genaft, ber mit Liszt zufammen ben Lohengrin zum eritenmal auf bie Bühne gebracht bat, einer ber wenigen war, bie [don in den fünfziger Sahren vol echter 93egeifferung für bie ,neubeut(d)e" Mufifrichtung eintraten. So erklärt fid) die 93efangenbeit des Arteils gegenüber der ftreng formalen Mufil eines Brahms.
55
Genaft’s Bericht lautet:
„Es war im Sabre 1842, wo ich, aus der innern Schweiz gurüdfebrenb, in bie engen Gaffen der alten Bifchofsftadt Bafel einfubr. Ein ftarfer Nebel umbüllte die ganze Gegend, unb von bem romantifchen Jura-Gebirge unb feinem Gegenüber, dem Schwarzwald, war nicht ein Umriß zu er- bliden. Es war eine traurige Umgebung. Weder Klein- Baſel noch der Rhein fam uns zu Gefiht. Nur ein grauer Mantel, ber fid) endlich in einen Sprühregen auflöfte, um- gab alles, unb froh febrte id) nach wenigen Stunden biefem Stieffind der Schweiz, für welches ich das Stüdchen Erde damals hielt, den Rüden. Ich fuhr mit Dampf gen Straßburg.
Damals gab e8 nur ein funfenfprühendes Roß, das auf eifernem Geleis den Wanderer von Helvetiens Grenzen über franzöfifchen Boden nah Deutfchland führte, jest gibt es deren genug, bie ben Reifeluftigen nad) allen Himmelsgegenden in das Wunderland unb aus ibm tragen. Greilid) wird durch ſolche 93efürberung viel Zeit gewonnen, aber die Gemütlichkeit, bie Poefie des Reifelebens geht Dabei verloren. Man eilt und eilt, um nur fo fdnell als möglich bie Schneeberge mit ihren Gletfchern in Sicht zu befommen, fid) auf ben romantifchen und idyllifchen Seen zu Ichaufeln, und glaubt alles Schöne und Sehenswerte ber Schweiz in fid) aufgenommen zu haben, menn mam. bie erfteren erftiegen, bie leßteren befahren bat.
Gteilid) find es Wunderblumen, die das Auge entzüden und das Herz erheben. Uber warum das Veilchen am Wege beifeite liegen laflen, den Kelch ber Lilie nicht näher be- trachten, den beraufchenden Duft der Rofe nicht genießen? Zu ſolchen Ylumen gehört zweifellos Bafel mit feinen blühenden Tälern, duftenden Höhen und erfrifchenden Wäldern. Hier fann man mit Schiller fagen: „Und wie ein Garten i Das Land zu fdjauen."
Die meiften Reifenden begnügen fi, das herrliche
96
'drof wey 3
?fog) aaugovu 2, 1n^30 r
1 c YonmujXoblo e usanfg c anWyno:
fog: * * Lena Fach
I: E E
Hu BUM ERN MAREA. nn 2/747 LP MM Pau or d dd A
x X
A 75 EN J ir |
— — —
Panorama von ber Münferterraffe aus zu be: trachten. Hier fieht man in großer Ausdehnung die grünen Wellen des Rheins in ftürmifcher Eile dahinraufchen, Klein: 93afel mit feinen großartigen Fabrifgebäuden, umgeben von sefhmadvollen Parkanlagen, aus denen fid) die prachtvollen Landfige des Reichtums erheben. Weiter weilt das Auge auf üppigen Saatfeldern und Weingärten, deren faftgrüne Blätter aud) die nächften Höhen ſchmücken. Hinter ihnen erhebt fid) der mächtige Schwarzwald, der gleich einem Vater die zu feinen Füßen rubenben Kinder des Bacchus vor den rauhen Winden des Nordens zu [dien fucht.
Hat ber Reifende diefes entzüdende Bild, das nod) in feinem Innern [o viele einzelne Schönheiten befißt, in fid) aufgenommen, das etbabene Münfter mit feinen Rreuz- gängen und Altertümern, das Mufeum mit feinen Runft- ſchätzen betrachtet, fo glaubt er ein glänzendes Bild von Stadt und Land gewonnen zu Daben und eilt fo ſchnell als möglich in bie Berge, deren Häupter mit ewigem Schnee bebedt find.
Co ergeht es vielen und würde es auch mir ergangen fein, hätten nicht Gamilienbanbe mid) auf längere Zeit an Baſel gefeflelt. (rft im Jahre 1865 wurde mir Gelegenheit, die ganze Blütenpracht diefes Gartens zu fchauen.
Man nennt 23ajel eine der reichften Städte in ber Handelswelt,; manche fügen aber hinzu, daß ein ungemeflener Geldftolz dort berrfche, der jeden Gremben unbequem an- webe, ber bie fchönen Künfte nur als unnüge Spielerei be- trachte unb bie Wiſſenſchaft nur infofern gelten laſſe, foweit fie bem Handel unb der Snbuffrie förderlich fei. Wohl mag es aud) bier wie in jeder großen Handelsftadt folche Käuze geben, bie fid) aus ihren Geldfäden einen Thron erbauen und von ibm mit aufgeblafenen 93aden und bimmelanftür- menden Naſen auf bie herabbliden, bie weniger Millionen befigen. Doch mögen fie febr vereinzelt bafteben..
Die Familien, die id) bie Ehre gehabt habe fennen zu
o7
lernen und die man aud) zu ben Millionären zählt, find nicht folher Natur. In diefen Streifen. fühlt man fid bald heimifh. Humanität und ungeldminfte Gaftfreundfchaft, nid Hochmut und Geldftolz walten bier; bald fühlt fid) der Grembe nicht mehr beengt von den prachtvollen Räumen, in denen fid) die Ilnterhaltung um Kunft, Wiflenfchaft unb interefiante Tagesneuigkeiten dreht, Frohſinn und Heiter— feit wie ein guter Genius waltet.
Co verlebt nad) des Tages Laft und Mühen der reiche, gebildete 93afeler feinen Abend. Sich und andern weiß er das Leben angenehm zu machen; und man bedauert beim Aufbruch nur, baB bie genußreichen Stunden, bie das Herz erwärmt und den Geift erfrifcht, fo fchnell entfloben find.
Wenden wir uns nun zur Runft, zunähft der mufi- falifden.
Als id) vor 23 Zahren zum erftenmal bie Schweiz befuchte, lernte id) außer ihren Naturwundern teilweife aud) bie dortigen mufikalifchen Zuftände fennen. Es war ein Kind, das nod) in der Wiege lag. Jetzt aber, nachdem id) am 16. Suni einer großartigen Aufführung ber Mattbäi-Paffion im Münfter beigewohnt batte, konnte ich mich Überzeugen, baB das Kind zu einer fchönen, gebildeten Sungfrau berangeblüht war.
Ein waderr Mann, Kapellmeifter Reiter!) ftebt feit 25 Sabren an der Spige ber mufifalifchen KRunftpflege. Seinem Perdienft, wie mir allgemein gefagt wurde, ijt es bauptfächlich zuzufchreiben, daß der Geſchmack ber Baſeler für das wahre Schöne eine [o hohe Stufe erreicht hat. Inter feiner Leitung ift ein Enfemble entitanben, das man zu ben beiten in ber Muſikwelt zählen darf, wenn man bedenkt, mit welchen geringen Mitteln er e8 anfänglich ins Leben gerufen.
Reiters Ruf als Virtuos unb Romponift war uns bereits befannt. Dei diefer Gelegenheit follte ich ihn als
1 Ernſt Reiter. geb. 1814 in Wertheim a. Main, jeit 1841 in Baſel, wo er 1875 ſtarb. |
98
einen ausgezeichneten Dirigenten fchägen lernen. Da mir vergönnt war, mehreren Proben beizumohnen, überzeugte id) mich perfönlich, mit welcher Umſicht, mit welcher poetifch- dramatischen Auffaflung Reiter das Riefenwert leitete. Alle Gürbungen, an denen Bach, namentlich in diefer fom- pofition, fo reich ift, Schatten und Licht, befonders in den Chorälen, wußte er zur Geltung zu bringen. Nur felten babe id) in Maflen Pianos und Zortes, das An- und Ab— fhwellen der Tanggezogenen Töne fo trefflih ausführen bören. Das Orchefter beffanb aus etwa hundert Mufikern, bie zum Seil aus ber inneren Schweiz Derbeigefommen waren. Ausgezeichnete einheimifhe und fremde Kräfte waren barunter. Den Orgelpart batte der geniale Kirchner?) aus Winterthur übernommen und führte ihn mit vollendeter Meifterfhaft aus. Unwillkürlich mußte ich bei ben gewaltigen Tönen an bie Worte Goethes benfen: „Wenn’s vom Gewölbe niederfhallt, Fühlt man erft recht des Baſſes Grundgewalt.“
Der Chor beſtand aus etwa 250 Perſonen, zumeift Dilettanten, doch bewährten ſie ſich als Künſtler, und mancher großen Oper wäre ſolcher Chor zu wünſchen.
Für die Partie des Chriſtus batte man Stock— baufen,?) für die des Gpangeliften Gdneiber*) aus Rotterdamm gewonnen.
Grau Merian:-Genaf,?) die fh aus bem Künftlerftande feit einigen Zahren ins Privatleben zurüd- gezogen, hatte bie Sopranpartie übernommen, desgleichen Sräulein Rüttimann,?) eine wadere junge Klavier:
2) Theodor Kirchner geb. 1823 im Kar. Sachſen, geft. 1908 in Hamburg, war von 1843—62 in Winterthur, dann in Zürich tätig.
5) Der große Cangesmeijter ultus Stodhaufen, geb. 1826 in fBaris, damals in Hamburg, geit. 1906 in Frankfurt a. M.
4) Karl Schneider, geb. 1822 in Strehlen, feit 1872 in Köln, dort geit. 1882, ein berühmter Vertreter der Partie des Evangelien.
5) Emile Merian-Genajt geb. 1833, geft. 1905 in Weimar.
sr, Beide Künftler find vielen Baslern nod) wohlbelannt.
59
ipielerin, und eine mir unbefannte Dame bie des Alt, die Herren Gglinger?) und Kern?) bie des Senor und 93aB. Cümtíid) mit Hangvoll fchönen Stimmen begabt, führten fie ihre Parts nicht dilettantifch, fonbetn Fünft- lerifch aus.
G3 war ein wirklicher Hochgenuß, und Reiter bat fid) durch biefe alanzpolle Aufführung, an der nicht ein Jota fehlte und die ung ein vollendetes Tongemälde des unfterb- lihen 93ad) gab, ein großes Verdienft erworben. Er bat ba- durch dokumentiert, daß er nicht nur ein tüchtiger, feiner Muſiker iff, fonbern aud) als Dirigent zu ben Aus- erwählten gehört.
Bei diefer Gelegenheit war es, wo id) Gtodbaufen zum erftenmal al$ Sänger fennen lernte; und obwohl fid fein Ruf als eines einzig baftebenben Künftlers feit einer langen Reihe von Jahren über Europa verbreitet, fo wurden meine Erwartungen bod) weit übertroffen. Man muB ihn hören, um ein Urteil über feine Meifterfchaft zu gewinnen, um fid) zu überzeugen, baB er das Höchfte leiftet, was in ber Gefanastunft geleiftet werden fann. Golden Tonanfchlag, der ung gleich einem warmen Frühlingshauch antoebt, folche Bildung und Beherrſchung des Atems, fold) edlen Vortrag, welcher die ffeinfte muſikaliſche Phrafe obne alle Effekt— bafcherei zur Geltung zu bringen weiß, babe id) von einem Sänger noch nie gehört.
Man fagt, bap biefer Meifter in Hamburg eine Ge- fangsf&hule errichten wird; und wahrlich bie Zünger, die fid) feiner Leitung widmen werden, fónnen feinen befferen Lehrer noch befieres Vorbild finden.
Außer dem Part des Chriftus hatte Stodhaufen nod) einige Baß-Soli übernommen, unter anderen bie Urie „Am Abend, wo es fühle war”. Hier entfaltete er den ganzen Reichtum feiner Meikterfchaft. Kurz, er gehört zu jenen
8) Herr Eduard Kern-Werthemann, ein um feiner außergewöhn- lihen Stimmittel willen jehr gejd)übtes Mitglied des Gejangvereins.
60
Kometen, die, wenn fie am Himmel der muſikaliſchen Kunſt erfcheinen, die andern Sternbilder verbunteln.
Schneider, der fid) (don feit längerer Zeit den Ruf eines ausgezeichneten Kirchenfängers erworben bat und defien Mitwirkung man überall, wo diefes erhabene Wert zur Aufführung gebracht werden fol, zu erlangen ſucht, führte ben Part des Evanaeliften trefflich aus. Seine nod) immer fhöne, klangvolle Stimme, bie ihm erlaubt, bie böchiten Korden mit Leichtigkeit anzufchlagen, fein deklamatorifcher Vortrag mit deutlicher Ausfprache, bie jedes Teertbuch ent: behrlih macht, feine mufifalifhe Bildung und Sicherheit waren mächtige Stüten feiner gelungenen Leiftung.. Nur fand ih, daß er fid) bei einigen Stellen von feinem Gefühl zu weit fortreißen ließ. Der Evangelift ift eine ergáblenbe unb feine bandelnde Perfon, barum darf er feiner Gmp- findung nicht fo viel Raum geben, daß fie in Tränen aus: bricht; und das tat Schneider bei ben Worten „und weinete bitterfid)". Das find Theatereffelte, bie nicht in bie Kirche gehören; felbft auf ber Bühne find fie bei einer erzählenden Derfon nidt am Plate. Ich erinnere mich eines Schau: fpielers, der als fchwedifcher Hauptmann im Wallenftein feinen Beriht über Marens Tod vorfchluchzte. Was bleibt dann der armen Thekla nod) übrig? Der Künftler muß ftets bie Situation im Auge haben und das Zuviel und Zuwenig zu vermeiden fuchen.
Die andern Soliften fchloffen fid) den beiden Genannten würdig an, und das Ganze bildete ein Enjemble, wie man es nicht Leicht befler hören fann.
Aber nicht nur die in allen Teilen gelungene Aufführung bieler erbabenen Schöpfung war e$, bie fo gewaltig auf mid) wirkte, der mächtige Dom, in ber fie ftattfanb, trug vieles dazu bei, meine Stimmung auf das Höchfte zu fteigern. Die heiligen Räume waren zu diefem Zwec feftfid) geordnet. Aus bem Mittelichiff der Kirche erhob fid) eine mit Blumen und Kränzen reich gefchmücdte Eftrade, bie fid ampbi-
61
theatralifh bis an bie Emporkirche erftredte. Auf diefer Eftrade nahmen bie Sänger unb OXufifer ihre Plätze. Ob- gleich bie untergebenbe Sonne ihre Strahlen noch durch bie oberen bunten Senfterfcheiben warf, fo waren bod) bie unteren Räume, bie mit Hunderten von OXen[den gefüllt waren, bereits mit Lampenlicht erleuchtet. Das zweierlei Licht tat dem Auge nicht web, vielmehr geftaltete fid) dag Ganze zu einem magifhen Bild. Die große Unruhe, bie vor dem Beginn berrfchte, Tieß befürchten, baB der erwartete mufi- falifche Genuß nicht ungetrübt vorübergeben würde, da das Publikum faft aus allen Schichten der Gefellichaft beftanb. Aber eine heilige Sabbatftille verbreitete fid) über die unab- febbare Menge, als bie erften Töne etfíangen, und dieſe andachtspolle Aufmerkfamkeit, die beinahe drei Stunden in Anfpruch genommen wurde, bielt an bis zur letzten Note. Das war mir das befte Zeugnis dafür, wie anders fid) bie muſikaliſchen Zuftände in der Schweiz geftaltet und wie fid) der Geſchmack für das Edle und Schöne felbft bei den Laien ausgebildet batte. Mit wahrer Erbauung und Dober Be: friedigung verließ ich den Tempel Gottes.
Tags darauf fand im Saal des Winter-Cafinos eine mufiltalifhe Abendunterbaltung ftatt, bie mehr einer Smpropifation glid. Da fein beftimmtes Pro: . gramm entworfen war, fo begnügte man fid), bie Produktionen mündlich anzuzeigen. Auch war das Ganze nicht für bie Deffentlichkeit, fondern für bie Mitglieder des Vereins be- ftimmt und nur anmejenben Fremden war der Zutritt erlaubt. Den Reigen eröffnete ein neues Klavier-Ouartett von 23rab m3. Robert Schumann fagte einft — wenn id nicht irre, in der Brendel'ſchen Mufilzeitung — Brahms fei das bedeutendfte Talent der Neuzeit, denn alle feine Schöpfungen wären genial. Dem möchte ich nun nicht fo un- bedingt beiftimmen. Obgleich bie genannte Rompofition viel Schäßenswertes und Schönes enthält, jo ftebt fie bod) hinter
62
ben Werken, bie Joachim Raff unb Anton Rubinftein auf diefem Gebiete gefchaffen, zurüd, und diefe gehören aud) ber Neuzeit an.
Die Ausführung war vortrefflich zu nennen. Die Ge: brüber Friedrich?) und Emil!) Hegar, beide ge borene Bafeler, von denen ber erfte gegenwärtig als Konzert: — meifter in Zürich angeftellt iff, der andere in Hamburg lebt, bewährten fid) als Meifter ihrer Inftrumente (Geige und Cello). Herr Abel,!!) Mitglied des DBafeler Orchefters, der in ber Matthäi-Paffion das Piolinfolo ganz aus: gezeichnet vorgetragen, hatte bier die Bratichen-Stimme übernommen unb zeigte fid) aud) darin als Virtuos. Brahms felbft führte den Klavierpart vortrefflich aus; wenn man ihn aud) nicht zu ben Korpphäen diefes nftrumentes zählen fann, fo gehört er bod) gewiß zu ben Schäßenswerteften. Das Ganze war ein 93ilb. mufilalifcher Schönheit.
Ihm folgte Schumanns „Spanifheg Lieder- fpiel", von ben Damen Merian unb Rüttimann, den Herren Schneider unb Gtodbaujen vorgetragen. Kirchner hatte das AUccompagnement übernommen, wobei er befundete, daß er ebenfo meilterbaft das Klavier beberrfcht wie bie Orgel. Sd) möchte bieje Rompofition Schumanns, in der fid) Scherz und Ernft vereint, und deren Ausführung als den Gíangpunft des Abends bezeichnen. Die fchönen, ſym⸗ pathifhen Stimmen, verbunden mit Fünftlerifhem Vortrag, wobei Schatten und Licht auf das ftrengfte beobachtet wurden, fhufen das Ganze zu einem dramatifhen S&ongemálbe um. Wenn es fo ausgeführt wird, muß biefem genialen Werke überall der ungeteiltefte Beifall werden.
Ein zweites Quartett von Brahms wurde aufgeführt, an der Stelle des ftomponiften batte Kirchner ben Klavierpart übernommen, moburd) das Snterefje an der gelungenen fompofttion noch gefteigert wurde.
9) Geb. 1841, bereits 1865 Dirigent in Zürich.
10) Geb, 1843, [eit 1866 längere Seit in Leipzig tätig. 11) Ludwig bel, geb. 1834 in Thüringen, geft. 1895 in Münden.
63
Am Schluß gab uns fitdner nod) einige feiner nutfifatifen Albumblätter zum Veften. Obgleich nur Gragmente, möchte id) fie bod) Heine Erzählungen ohne Namen nennen oder mit Blitzen bezeichnen, bie eine eleftrifche Wirkung auf ung ausüben, ba ein genialer Gedanke ben andern jagt. Man wußte wahrlich nicht, ob man dem Rom: poniften oder bem trefflichen Virtuoſen mehr Beifall fpenben follte.
So ſchloſſen bie beiden mufilalifchen Abende, bie mir unvergehlich bleiben werden. Nach diefen geiftigen Genüflen verfammelte man fid in dem Lolal des Sommer- Cafinos, vor bem Aeſchentor dicht neben dem Denkmal von St. Safob gelegen. Ehe man fid) zur Tafel febte, ge: noß man ben berrlichen Abend im Grein. Damen und Herren, bie wohl faft ale Mitwirkende in der Matthäi- Paffion gewefen waren, durchwandelten bie Räume der teigenben Parfanlage.. Die Sonne felbft [dien zu zögern, den fröhlichen Gruppen gute Nacht zu jagen, ehe fie hinter den blauen Bergen der Vogeſen verfehwand.
Manche fchätenswerte und intereffante Bekanntſchaft wurde mir bei diefer Gelegenheit zuteil. Das Gefpräh drehte fid) hauptfählih um alte und neuere OXtufif; ich war nif wenig erftaunt, felbft unter einigen jungen Damen große Verehrerinnen des alten 93ad) zu finden. Froͤhlich faß man bei Tiſche; geiftreihe und humoriſtiſche Toaſte würzten die wohlfchmedenden Speifen, und den Schlußftein des Ganzen bildete ein improvifiertes Tänzchen, an dem fid die junge Welt erfreute.
Ehe id) das Gebiet der Tonkunft verlaffe, muß id) nod) Reiters Gattin gedenken, in ber id) eine ber treff- [iften Harfeniftinnen fennen lernte. (ie war fo freundlich, bei einem Heinen Abendzirkel in ihrem Haufe unfern Bitten nachzugeben und einige Piecen vorzutragen. Einen fo wobltuenben Tonanſchlag, verbunden. mit einer immenfen Technik, bie alle Schwierigkeiten überwindet, einen
64
fo reinen Sriller, der fid) ganz gleichmäßig zwilchen zwei Tönen bewegt unb fid) bis zur höchiten Schnelligkeit fteigert, babe id) nur bei den erften Meiftern diefes Inftrumentes gehört. Vor allem aber find der gefühlvolle Vortrag, der uns in das Land der Poefie führt, unb bie Sicherheit, mit ber Grau Reiter ihr Inſtrument beberricht, Vorzüge, bie man felten vereinigt findet. Auch biefer Abend wird mir unvergeßlich bleiben.”
Genaft weift bann noch auf „die trefflihen Winter- tonzerte bin, deren Dirigent Reiter ift und zu denen tüchtige Kräfte aus QGranfreid) berbeigegogen werden; fie geben bie befte Anregung. Das Snftitut befteht feit langen Fahren und bewährt fid) immer mehr.”
Kurz ftreift er bann bie Verdienfte, bie fid) „Der Reich- tum Baſels“ um bie Förderung ber bildenden Runft erworben bat, unb nennt unter ben vielen wertvollen Vildern, bie man in Privatfammlungen finde, Calames „Am Vierwaldftätter See" aus bem Beſitz des Herrn Peter Viſcher-Burckhardt, „eine Landfchaft, bie er zu ben Ihönften Schöpfungen diefes Meifters zählen möchte”.
Daß ber alte Weimarer Schaufpieler an der Pflege der dramatifhen Kunſt im damaligen Baſel manches auszufegen bat, iit begreiflihd. Genaft nennt als einen der Gründe für das Darniederliegen des Schaufpiels dag geringe Onterefje der führenden Basler Kreife, bie „nach Paris reifen, um fid) an Oper, Ballet und Schaufpiel zu ergößen“. Daflir könne freilich in 93afe( fein. Grfa& geboten werden. God) fdieBt ber Neftor der Weimarer Bühne mit bem Ausdrud der Hoffnung, daß man „auch für bie Dramatifche Kunſt ein Snftitut in Bafel fchaffen werde, das der reichen Stadt und ihrer Bewohner würdig fei."
Er fährt dann fort: „Wende ich mich nun wieder zur Natur, fo fehwelgt mein Herz nod) je6t in der Erinnerung
65 b
an al bie fdjónen Punkte, bie Baſel wie ein Blütenkranz umgeben. Diefe etwas näher ins Auge zu faflen und davon eine wenn auch nur unvolllommene Skizze zu entwerfen, fei nun meine Aufgabe. Der freundliche Lefer fürchte aber nicht, daß ich ibn an Orte führe, bie in jedem Reifehandbuch zu finden find; ich führe ihn zu jenen verborgenen Veilchen, die Seele und Herz erfrifchen.
Lenken wir unfere Schritte zunächft auf das rechte Ufer des Rheins, fo führt uns ein Weg durch Obft- und Wein- gärten einen Hligel binan bem Wentenhof!2) zu Wir gelangen aundd)ft auf ein umfangreihes Plateau, wo uns ein gefd)madboller Dart in feine Schatten aufnimmt. Mächtige Baumgruppen erheben fid) aus den ſmaragdgrünen Wiefen, bie mit den fchönften Ylumen und Sierpflanzen ge- Ihmüdt find. Die größte zeigt ein Baſſin in ihrer Mitte, in meldem Goldfifhe ihr Spiel mit ben berabfallenden Perlen einer Fontaine treiben. Schattige Lindenalleen führen ung zu beiden Seiten nad) einer Terrafle, auf ber das prachtvolle Herrenhaus ftebt, mit feiner Gronte dem Weften zugewendet. Hochftämmige Kaftanienbäume fohügen es auf bet Cübfeite famt feinen Bewohnern vor den heißen Strahlen der Mittagsfonne.. Dies traulihe Pläschen, das durch einen Kleinen Waflerfall noch mehr Kühlung gewinnt, [abet ung zur Ruhe und Erquidung ein; bier muß felbft ein Mifanthrop fid) mit ber Menfchheit und Natur verföhnen fónnen.
Aber nicht nur ber Körper, aud) das geiftige unb leibliche Auge wird durch das entzüdende Panorama, das fid uns an bieler Stelle barbietet, erfrifcht. Zu unfer Füßen breitet fid) das blühende Tal von Klein-Baſel aus mit feinen reichen Gaatfeldern, von unzähligen Obftbäumen unterbrochen, feinen Weingärten, prachtvollen Landhäufern,
12) Auf dem Wentenhbof berrichte, dankt den Familien Burd- bardt-Stephbant, Burdhardt-Hik u Burdhardt-Schridel ein ebenjo gaftfreies wie muſikaliſch angeregtes Leben.
66
in denen Gaftfreundfchaft wohnt, feinen Parkanlagen und mächtigen Fabrikgebäuden. Kunftftraßen und Eifenbahnen durchkreuzen das Gebiet und erleichtern fo den Verkehr diefer reihen Landfchaft. Jenſeits des Rheins erhebt fid) von feinen Ufern ab terraffenartig bie alte Biſchofsſtadt, deren Spite das mächtige Münfter if. Den Hintergrund des ganzen Bemäldes nad) Süden bildet das zadige Jura Gebirge mit feinen fchroffen Gelfen, grünen Matten unb Waldungen, an weldes fid die blauen Berge der Bogefen fchließen.
Betreten wir das Herrenhaus, fo empfängt uns eine große Halle, deren fleinerner Fußboden reich mit S'eppid)en belegt iit; bie Wände find mit Familienbildern gefhmüdt. An biefe Halle, bie ben Mittelpunkt des Ganzen bildet, fchließen fid) zu beiden Seiten noch mehrere prachtvoll eingerichtete Gemächer. Der obere Stod, an deflen Haupt- front fid) zu beiden Seiten offene Niefchen befinden, damit man aud) bei unglünftiger Witterung bie frifhe Luft ge. nießen fónne, gewährt uns nod) ein größeres Rundgemälde. Wenden wir unfern Ylid nad) Norden, fo tritt uns ein Tal des Schwarzwalds mit feinem mächtigen Feldberg entgegen, der das Wiefental begrenzt.
Doch ehe ich den Lefer in das reigenbe Tal einführe, das von bem kriftallhellen Bach, bie Wiefe, feinen Namen trägt, betradften wir ung bie Defonomie-Gebäude, bie fónen Gartenanfagen unb ben Wildpark, bie hinter bem Herrenhaus liegen. Ein großer Hof, ben ſüd⸗ [ide Gewächſe, Orangen, Lorbeern, Dleanderbäume u. a., Ihmüden, ihre balfamifhen Düfte mit bem Tau einer hoch- ftrebenden Fontaine mifchend, empfängt uns. Wir fchreiten weiter in die Delonomie-Gebäude, wo uns viele „braune Liefels” mit ihrem gutmütigen „Muh“ begrüßen und uns mit frifder Mil erquiden. Bon da treten wir in ben Wildpark, ein bergiges Terrain, das ein hochflämmiger Buchenwald befdjattet. In einer der Vertiefungen weiden
67 5
Hirfhe und Rebe, bie fid) aber duch unjer Kommen nicht ftören laſſen und ung nur von Zeit zu Seit mit ihren frommen, gutmütigen Augen neugierig anbliden.
Hier, lieber Lefer, haft du eine ſchwache Beſchreibung von biefem Eldorado, das eine glüdlihe Familie be: wohnt. Auch von ihr will id) ein Heines Bild entwerfen, das ich zufällig zu feben befam.
Die Schwüle des Tages bat nachgelaflen, und fchon be- ginnt bie Sonne mit ihren Strahlen bie blauen Berge der Vogeſen zu vergolden. Die Friſche des Abends [odt bie Bewohner wieder ins Freie. Da fehen wir zwei junge Srauen, mit weiblicher Arbeit befchäftigt, an der Vorder- feite des Haufes figen, zwei liebliche Rinder zu ihren Füßen mit Blumen fpielend. Die eine mit fchwarzem Haar und dunklen Augen von zartem Körperbau zeigt bie Südländerin an; bie andere mit üppigen Formen, blondem Haar und blauen Augen bie Nordländerin. Zwei lieblihe Mädchen fißen im Sande; unb Öfters finft der Mütter Arbeit in den Schoß, die Augen folgen bem DBlumenfpiel der füßen Kleinen mit zärtlichen Blicken.
Otid weit von diefer Gruppe bat ein fhöner S üng- [ing von ungefähr 15 bis 16 Sabren, eifrig in einem Bude lefend, Pla genommen. Der Hausherr muftert mit prüfendem 93lid die neuen Anpflanzungen und gibt feinen Intergebenen mit freundlicher Milde weitere Befehle. Den Vordergrund nimmt ein Greis mit weißen Haaren ein und lehrt einem beiteren, fróbliden Rnaben das preußifche Grerzieren, wie es vor mehr als hundert Jahren üblich war. Der Kleine, wilde Burſche will fid über die fteifen Be— wegungen unb die gefpreizten Beine vor Lachen ausfchütten, abmf aber alles geichidt nach.
Das Ganze war mit feiner reigenben Umgebung ein Genrebilb der Heblichften Art.
Hült fid) dann die Natur in ihr Nachtgewand, fo wendet man fid) zur erleuchteten Halle, wo beitere Ge-
68
fpráde, Dichtkunſt und Muſik bie Unterhaltung bilden. Go verlebt ber gebildete 93as[er nad) ben Mühen des Tages feinen Abend im Kreife der Familie und feiner Freunde.”
Hier briht bie „Reifeflizze" des alten Weimarer Schaufpielers ab. Die Abfiht einer Weiterführung, die uns die Stelle über das Wiefental verrät, ift Leider nicht verwirklicht worden.
69
Stände unb Derfaflung in Bafel vom Jó. bis 18. Jahrhundert.
Don Auguſt Burdhardt.
Man lieft etwa in Reifehandbüchern über bie Schweiz nicht bloß von ben ftofgen Basler Patrizierhäufern — womit 3. DB. das weiße und blaue Haus, das Haus zum Delphin, ber Ramfteinerhof, das His'ſche Haus auf bem Petersplatz gemeint find —, fonbern auch von ben alten Basler Patrizier- gefchlechtern, bie einft biefe Paläfte erbaut haben und fie zum Teil nod) bis auf den heutigen Sag bewohnen follen. Zft nun aber diefe Anfchauung von ber Weitereriftenz eines Pa- triziates in 93afel im 17. und 18. Zahrhundert wirklich be- redjtigt? Die Antwort auf diefe Frage iit nicht fo leicht und einfach, wie es auf den erften Blick wohl ben Anfchein haben mag. Das freilich willen wir ja wohl alle, baB bei uns [don feit bem erften Viertel des 16. Jahrhunderts von einem eigent- [iden Patriziat, b. b. von einer erflufiv organifierten und verfaffungsgemäß bevorrechteten Sondergruppe von Bürgern, bie allein regimentsfähig gewefen wären, nicht mehr ge- fprochen werden kann. In diefem Punkte unterfcheidet fid) aber befanntlich Baſel von allen übrigen Städtelantonen ber alten Eidgenoflenfchaft, bie entweder — wie Bern, Grei- burg, Solothurn und Luzern — einige wenige regierende unb auch allein regimentsfähige Familien befaßen, oder aber wo, wie in Zürich, neben ber weiteren, in Zünfte ein- geteilten Bürgerfchaft, nod) ein in einer befonderen Stube — bet Konftaffel — inkorporiertes Patriziat beffanb, das freilich feine politifden Vorrechte mehr befaß, außer daß es
70
— und zwar von Rechts wegen und offiziell — ben auszeidh- nenden Sunfertitel weiterführte, das aber andrerfeits, mas die Beteiligung am Regimente der Stadt anbelangte, bis 1798 ben übrigen Zünften aud) nicht nachſtand, fondern ihnen durchaus gleichgeftellt war. Aehnlich wie in Zürich lagen die Verhältniſſe in Schaffhauſen. Baſel war alfo die Stadt mit ber bem Wortlaute ber Verfaflung nad) weitaus demofratifchften NRegierungsform. Und dennoch werden wir bei náberem Sufehen auch bier ganz deutlich zwei Klaſſen von Bürgern — und zwar Qollbürgern — unterfcheiden können: eine im Regimente der Stadt tatfächlich vertretene und eine zweite, bie von bemfelben mehr oder weniger aus- gefchloffen blieb. Zroß der ftreng demofratifchen Verfaſſung, die innerhalb der eigenen Yürgerfchaft feine Unterſchiede zu fennen vorgab und [auf welcher daher auch die fremden Adelstitel, bie nicht wenige Familien aufweifen fonnten,!) nicht anerkannt wurden — im Gegenfa zu der in ben meiften anderen Orten übliden Praxis — war eben das Baſel des 16. bis 18. Sabrbunbert$ bennod) ein durchaus arifto- fratifches Staatswefen; nur war es feine Geburtsariftofratie, die berrfchte, freilich auch nicht, wie man etwa hören fann, eine bloße Geldariftofratie, fondern es war viel eher, wie wir nod) feben werden, eine Art Handelsariftofratie, b. D. richtiger eine Ariftofratie der Großfaufleute.
Obre Glieder wurden vom Q3olfe furgmeg als „Herren“ bezeichnet, aber nicht etwa aus dem Grunde, weil fie einer befonderen ober gar bevorrechteten Herrenfafte angehörten, fondern lediglich deswegen, weil fie vor allem in den vier erften, feit alters ber fogenannten Herrenzünften zum Schlüffel, zu Hausgenofien, Weinleuten und Safran faßen, die damals fchon lange feine Privilegien mehr vor ben
1) Bon altbasler Geſchlechtern find Hier zu nennen unter anderen bie Irmy, Petri, Brand, Falkner, 6605, Krug, Sed unb aus Ipäterer Zeit die Wettftein, von Refugianten namentlich) bte deBary,
be£adjenat, Curioni, D’Annone, SSertematt, Sozzini, Paravicini unb Bellizari.
71
übrigen, den fogenannten Meifter- oder Handwerferzünften, genoffen. Die Vezeichnung paBte dann freilich umfo befler, als die Betreffenden in der Tat die Regierung faft aus: fhlieglih in Händen hatten; bod) ift es, wie geſagt, mehr nur ein zufälliges Iufammentreffen, daß gerade bie Herren: zünftler zugleich auch die Herren im Regimente der Stadt gewefen find. „Patrizier" können fie daher — zwar aud) fo nod) immer nur mißbräuchlich — höchſtens genannt werden nad) Analogie ber Verhältniſſe, wie fie in den deutſchen Reihsftädten um die Mitte des 18. Zahrhunderts waren nnb monad) 3. 93. Goethe als Srankfurter Patrizier galt, bloß weil fein Vater dafelbft den Rat befeflen hatte und fein mütterlicher Großvater 93ürgermeifter gemejen war.
Es handelt fid) nun barum, in Folgendem erftens ein: mal zu unterfuchen, ob au bieler Klafle der fogenannten „Herren” ein bearenzter Kreis beftimmter Familien gehörte unb ob er ferner mit der Ausübung gewifler Berufe zu- fammenbing, und zweitens, darzulegen, in was denn eigent- lich bie politifchen Vorrechte derfelben beftanden haben und in welcher Form, beziehungsweife unter welchem Rechtstitel, oder vielleicht auch bloß Vorwand, fie diefelben ausgeübt haben. Wie wir nämlich im Verlaufe unferer Unterfuchung nod) finden werden, handelt es fid) dabei entjchieden um mehr als nur um einige im Grunde ja nichtsfagende rein äußerliche Auszeichnungen, wie fie 3. 93. die fonftaffel in Zürich nod) genoß; diefe Familien haben vielmehr, wie (on betont worden ift, von. der Mitte des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts tatfächlih bie Leitung ſowohl der inneren als auch der äußeren Politik Baſels ausfchließ- [id in Händen gehabt. Zur 93eantmortung aller biejet Fragen iff es nötig, einen kurzen Rüdblid über das Re: giment in Baſel aud) in früheren Sabrbunberten zu tun.
23i8 zum Jahre 1382 hatte dasjelbe noch durchaus beim Bifhof — alfo dem legalen Stadtherrn — geftanben, der es durch den von ihm gefe6ten 93ürgermeifter, ber dem Ritter-
72
ftande angehören mußte und gewöhnlich aud) aus ben Lehens⸗ leuten unb Minifterialen des Biſchofs genommen wurde, fo- wie durch einen Rat, bejftebenb aus vier Rittern, aht Mit- gliedern der hohen Stube — den deswegen fogenanten Acht: burgern — forie einem aus jeder der fünfzehn Zünfte durch bie bifchöflichen Kiefer gewählten Ratsherrn ausüben ließ. Erft feit 1382, als aud) die durch bie Zunftgemeinden felbft gewählten 3unftmeiffer zuerft in den Rat gelangten, kann man mit einigem Recht von einer wirklichen Beteiligung der zünftigen Bürgerſchaft am Regimente der Stadt prechen, obgleih ihre Mitwirkung vorläufig fi nod) ausfchlieplich auf Stagen ber inneren Politif und Verwaltung erftreden mochte; bie äußere Politif war nad) wie vor in erfter Linie Sache des nad) jeder Richtung bin vom Biſchof abhängigen Bürgermeiſters. Trotzdem fortan den dreißig Ratsherren unb Meiftern der 3ünffe zufammen bloß zwölf Ritter unb Achtburger gegenüberftanden, [o war bod) das fafti[de Uebergewicht im Rate auch fernerhin nod) bei le&teren, ba erftens einmal die Mitglieder ber vier erften Zünfte — der ſchon erwähnten fpäter fogenannten Herrenzünfte — ihrem gangen nterefienkreife nad) weit näher ben Achtburgern fanden, die fi, wie id im folgenden nod) an einigen Veifpielen zeigen werde, aus ihnen immer wieder ihren frifen Nachwuchs holten, als den übrigen Zünften. Zweitens wurde ber ebenfo 1382 zum erften Male genannte Oberftzunftmeifter gleichfalls aus den Achtburgern genom- men. Gerade die beiden bódjiten und wichtigften Staats- ämter waren fomit damals den Zünften noch vorenthalten; diefe mit der Zeit aber bod) nod) für fid) zu erobern, machte baber fortan ihr ganzes Beftreben aus. Doch erreichten fie ihr Ziel erft im 16. Sahrhundert. Uber menn es ihnen damals auch gelungen ift, Adel und Patriziat endgültig aus bem Regimente zu ftoßen, fo hatten fie damit, wie fid) bald zeigte, nur einer Gruppe neuer Herren den Weg zur Macht gebabnt. Deren Herrfhaft aber machte dann erft das Jahr
73
1798 ein Ende, nachdem ein erfter 1691 gewagter Verfuch, ihnen bie angemaBte Macht wieder zu entreißen, befanntlich Häglich gefcheitert war. Doch, bevor wir uns biefer neuen Ariftofratie, bie zum mindeften ebenfo abfolut herrfchte, wie es das ehemalige Patriziat getan batte, zuwenden, wollen wir vorerft noch näher unterfuchen, aus welchen Bevölkerungs⸗ fchichten denn eigentlich bie Achtburger fid) refrutierten. Wie Schon angedeutet worden ift, in der großen Mehrzahl aus den vier erften Zünften.
Dreierlei war da möglich: entweder frat ein ganzes Gefchleht ben Achtburgern bei — fucceffive vielleicht, wie 3. 23. bie von Schliengen — oder bloß eine Linie, wie dies im 15. Sabrbunbert mit ben von Brunn — Heinrich und feinem Sohn Morand — ber Gall geweſen ift, ober aber endlich aud) bloß einzelne PDerfonen, nachdem fie fid) von den Ge- Ichäften auríidgegogen unb diefelben ihren Söhnen überlafien hatten, wie wir dies namentlih bei den Sfcheggenbürlin beobachten können. Schon fett bem 14. Sabrbunbert nämlich beftand die hohe Stube außer aus ein paar uralten, noch zur urfprünglihen Hausgenoſſenſchaft bes Biſchofs gehörenden Gefchlehtern wie ben (Gina, Rot, Münzmeifter, Sfelin (älteres Gefchleht) unb aem Angen, in erfter Linie aus fogenannten Müffiggängern, b. b. folchen, bie entweder aus ihren Renten oder aus ihren Landeinkünften lebten, alfo aus GroBfapitaliiten und Großarundbefigern; dabei war es gana gleichgültig, ob ber Grundbefiß Eigen, Lehen oder Pfand war. Weiter iff es ein bloßer Zufall und ent(prad) durchaus nicht etwa einem Erfordernis, baB einige diefer ipáteren Achtburgerfamilien ungefähr gleichzeitig mit ihrem Eintritt in bie Gemeinfchaft des Patriziates aud) Wappen- briefe oder gar Adelsdiplome erhalten haben, wie a. Q3. bie Kilchmann und bie von Brunn, meld) letztere fogar zu An- fang des 16. Zahrhunderts in den Matrikeln der Orte— nauer Ritterfehaft figurierten;!) denn einerfeitS haben bie
1) Brgl. „Wappenbuch der Ortenauer Ritterfhaftsbibliothet“
74
Irmy, bie zu Ende des 15. Zahrhunderts ebenfalls geadelt worden find, deswegen doch niemals zu den Achtburgern gezählt, und andrerfeits haben bie Sürlin, die fchon feit bem 13. Sabrbunbert als Achtburger im Rate faBen, erft im 15. Zahrhundert noch einen Eaiferlihen Wappenbrief erhalten.
Verfolgen wir nun einige biefer jüngeren Achtburger: gefchlechter in ihrem Werdegang: 1359 nod) war Hartmann Stöweler Ratsherr von Hausgenofien, 1361 fißt er unter den ?[dfburgern im Rate; Sobannes$ Helbling, der 1361 Ratsherr zu Weinleuten iit, erfcheint feit 1371 unter den Achtburgern; Ronrads Sevogel, ber nod) 1370 Ratsherr zu Hausgenoflen war, Sohn Petermann fitt feit 1375 als Acht: burger im Rate; Petermann aem Asgtftein, noch 1375 Rats: bert zu Hausgenoflen, fit feit 1380 ebenfalls als Acht: burger im Rate; Safob Zyboll, Pfandherr zu Wartenberg, Schenfenberg, Rheinfelden und der Grafichaft Homberg, 1380 nod) Ratsherr zum Schlüffel, tit feit 1382 Achtburger; Niklaus Schilling, 1385 Ratsherr zu Hausgenofien unb früher vom Schlüffel, ift feit mindeftens 1403 — leider fehlen bie Ratsbefagungen von 1385 bis 1405 — des Rats von Achtburgern. Erft im 15. Sahrhundert fleigen dann — eben: fall8 aus den vier erften Zünften — ferner nod) ins Patri- ziat hinauf namentlich bie Murer, Offenburg, zem Haupt, Grieb und 3eigler. Des weiteren fei darauf bingemiefen, daß wir mit einer einzigen Ausnahme, bie bie Kilchmann betrifft, nie ein Mitglied einer eigentlichen Handwerferzunft bitelt aus diefer in den Kreis ber Achtburger übertreten feben. So waren im 15. Sahrhundert bie Hegenheim von ber Brot⸗ bedenzunft, der fie urfprünglich angehört hatten, über bie Safranzunft in bie hohe Stube gelangt, und über bie Haus: genoflenzunft, ebenfalls aus der Brotbedenzunft, freilich erft zu Anfang des 16. Zahrhunderts, bie Meyer von Balders- in des Freiherrn v. Neuenftein „Wappentunde“, Jahrgang IX (1902), Tafel 24. Wir finden von Basler Geſchlechtern ferner in bemjelben
nod) die Brand, Offenburg und Kindweiler, meld) legtere erit 1640 vom Kaijer geadelt worden find.
75
dorf; fon im 15. Sahrhundert wieder waren die Efringen — urfprüngli Spengler — über bie Schlüflelzaunft zu den Achtburgern emporgeftiegen, ebenfo bie Schlierbach und Mel- finger, beide urfprünglich zu Gerbern zünftig, endlich von ber Grautücherzunft, bie im 15. Sahrhundert mit ber Oteb. leutenzunft zu einer Zunft vereinigt war, über Weinleuten und Schlüffel bie von Laufen. Alle diefe Familien hatten drei bis vier Generationen gebraud)f, um den genannten Weg zurüdzulegen. Wir fennen weiter nod) verjchiedene Familien, deren Mitglieder um die Wende des 15. zum 16. Sahrhundert gelegentlich ebenfalls ben Syunfertitel führten, trogdem fie nicht als 9(dtburger, fondern als Sünftler im Rate faBen, aber ausfchließlich auch wieder als Vertreter der vier Serrengünfte; zu diefen Familien gehörten 3. 23. bie gem Luft — urfprünglich Sattler —, bie Eberler, Bär und Meyer zum Pfeil. Wir müffen annehmen, daß bie Betreffenden bei den Achtburgern vorerft einmal Stuben: recht bejaBen und daß fie dann in vorgerüdteren Jahren wohl felbft nod) — jedenfalls aber fpäter ihre Söhne — aud) ganz zu ihnen übergegangen wären, menn nicht durch bie Refor: mation, bie ja befanntlich nicht bloß auf Firchlichem, fondern ebenfofehr auch auf politifhem Gebiete in demofratiihem Sinne wirkte, biejer ganzen Bewegung ein vorzeitiges Ende bereitet worden wäre. Es find Leute, bie zum Teil größere Lehen in Händen hatten, wie 3. 293. bie Meyer zum Pfeil bie Herrfchaft Büren, ober bie einen berrfchaftlichen Sig als Eigen erworben hatten, wie bie Eberler Schloß Hiltelingen, oder die im Domkapitel vertreten waren, gleich den zem Luft, oder endlich bie mit bem Patriziate ſchon mehrfach verfchwägert waren, wie namentlich bie Bär — mif einem Worte alles Familien, die mitten in der Entwidlung von Herrenzünftlern zu Achtburgern fanden.
Mit diefen paar Beifpielen mag e8 feine Bewendung haben; es follte an ihnen bloß gezeigt werden, wie in der Tat fdjon im 14. und 15. Jahrhundert bie vier erften Sünfte
76
eine gewifle Sonderftellung gegenüber den anderen Zünften einnabmen, b. b. wie fie eine Art Vorftufe zur hohen Stube bildeten. Durch ihren Eintritt in die hohe Stube und ihre Permifchung mit bem Patriziate, bie gewöhnlich gleichzeitig damit erfolgte, aber etwa auch einmal demfelben voranging, waren diefe ehemaligen Zünftler für die eigentlichen ftädti- fhen Sintereffen mit wenigen Ausnahmen bald völlig verloren. Cie feßten fid mehr und mehr in Gegenfat zu der übrigen Bürgerſchaft, indem ihr Hauptbeftreben von nun an auf Hofdienft und Erwerbung bifchöflicher ober Hfterreichifcher Leben gerichtet war; damit aber wieder Fetteten fie: fid) immer enger an den Bifchof, der, obgleich Herr der Stadt, bod) — ober vielleicht gerade deswegen — der größte Feind ihrer aufftrebenden, in den Zünften verfürperten Bürger⸗ [haft war. Diefe allmáblide Entfremdung von der Stadt der ritterlichen und patrizifchen Gefchlechter, bie ja urfprüng- [id, wie wir gejeben baben, im Namen des Bifchofs bie Stadt allein regiert und dann auch noch big in die Mitte des 15. Sahrhunderts, zum größeren Zeile wenigftens, deren Leitung in Händen gehabt hatten, batte bie weitere Folge, baB von diefem 3eitpunfte an es immer fchwieriger wurde, den Rat verfaffungsgemäß mit vier Rittern und adt Glie- dern ber boben Stube zu beſetzen; fchon 1480 faßen bloß nod) zwei Ritter und fünf Achtburger im Rate. Dazu fam, bap fchon feit ungefähr der gleichen Zeit aud) ber Oberft- zunftmeifter nicht mehr ausfchließlich aus ben Achtburgern genommen wurde, fondern abwechfelnd aus ben Achtburgern und ben Zünften, allerdings mit einer einzigen Ausnahme aus den Herrenzünften; bloß in ben Stonffiftjabren 1481 und 1483 war es ber Bürgerſchaft gelungen, ihren Vertrauens: mann, ben Meifter zu Schiffleuten und Fiſchern, Oswald Holzach, als Gegenfanbibaten gegen ben vom Biſchof eigent- lid) [don ernannten , unfer", wie er fid) mit Unrecht nannte, Adam Walch!) burdaujeben.
1) Brgl. Beiträge zur vaterländifhen Geihihte N. F. V G. 498, Anmerf. 113.
77
Eine weitere wichtige Grrungen[d)aft war es bann für die Zünfte, als e8 ihnen gelang, felbft bie ausfchließliche Be⸗ fegung ber Bürgermeifterwürde durch bie Ritter zu burd- brechen, indem 1516 in ber Perfon Jakob Meyers zum Hafen ber erfte Zünftler — wenn aud) ein Herrenzünftler — gu diefem Amte gelangte, ba feine zwei Ritter mehr in der Stadt waren, die, wie es bie Verfaffung vorfchrieb, alter: nierend diefe Würde hätten beffeiben fónnen. Allerdings war Safob Meyer nod) nicht burd) bie Bürgerſchaft Telbft gewählt, fondern gleich den bisherigen ritterlihen Bürger⸗ meiftern durch den Biſchof eingefeßt worden; immerhin war feine Ernennung bod) eine recht weitgehende Konzeffion des Biſchofs an bie Bürgerſchaft. Der erfte wirklich durch bie Zünfte gewählte Bürgermeifter war bann ber 1521 au diefer Würde gelangte Adelberg Meyer zum Pfeil, gemefener Rats: bert zu Safran, feines Berufes ein „Watman” oder Sud- händler, der, troßdem er aus einer Familie ftammte, bie, wie wir gejeben baben, bei Achtburgern Stubenrecht befaß, dennoch bem Biſchof und deſſen Partei gegenüber viel unab- bängiger daftand als Jakob Meyer, welcher aus der, wie Ihon ihr Name bemeift, bem Biſchof befonders naheftehenden Hausgenofienzunft hervorgegangen war. Inter Adelberg Meyers Amtsführung wurden bann den Achtburgern bie legten Vorrechte genommen, indem fie von nun an hinficht- lich der Vertretung im Rate den Zünften gleichgeftellt wur- ben; wie dieſe follten fünftigbin auch die beiden Stuben „zum GCeufgen" und „zum Brunnen” nur noch je zwei Ver—⸗ freter in den Rat fenden. De facto aber haben fie fchon von 1523 an nur nod) einen Ratsherrn geftellt, da nicht mehr die nötige Anzahl von Achtburgern in der Stadt vor- handen war zu einer doppelten 93efegung. Bald fam eg fo weit, daß man fogar fremde Junker nad) Baſel ziehen mußte, um überhaupt noch einen patrizifchen Vertreter in den Rat fenden zu füónnen; fo jaB von 1538—1542 unter Niklaus Efcher aus Züri — durch feine Heirat
78
mit Urfula Grieb Mitbefiger von Binningen unb etit feit furgem Basler Bürger — neben Chriftof Offenburg von bet boben Stube im Rate. Gerade zwanzig Sabre [páter aber, 1543, wurde dem Patriziate —, genauer gejagt der hoben Stube — überhaupt jegliche Mitwirkung am Regimente ge- nommen, indem der lebte und nod) einzige Vertreter der: felben im Rate, der [dort genannte Junker Gbriftof Offen- burg, wegen Liederlichkeit und unregelmäßigen Befuches ber Ci&ungen feines Amtes ftille geftellt werden mußte.') Schon vorher aber batte bie gewalttätige Durchführung der Reformation, bie, wie fchon gefagt, nicht bloß eine Eirchliche, fondern aud) eine eminent politifche Bewegung geme[en war — eine Revolution der demofratifchen Elemente in der Bürgerfchaft gegen den Bifchof und feinen ariftofrati- fen Anhang in Domkapitel und Rat — ber Vorherrſchaft der bisher regierenden Gefchlechter für alle Zeiten ein Ende bereitet. Die paar patrizifchen Gefchlechter, bie ben neuen Glauben annahmen unb aud) nad) Einführung der Reformation nod) in Baſel blieben, find von feiner Be— beufung mehr für bie weitere Gefchichte ber Stadt gemefen; entweder verfchmolzen fie mit ber übrigen Vürgerfchaft, wie es mit den Meltingern, von denen, als fie zu Ende des 17. Sahrhunderts nod) einmal in einem Gliede in den Rat gelangten, wohl niemand mehr wußte, daß fie zu Anfang des 16. Zahrhunderts zu den Achtburgern gezählt hatten, unb ben fdon mehrfach erwähnten Meyern zum Pfeil der Gall gewefen iff. Oder aber, wenn fie fid) aud) fernerhin in ihrer bisherigen fozialen Stellung zu halten vermochten, wie die Offenburg, fo fuchte man fie fortan womöglich außerhalb
1) Als bloße Trintftube bes umwohnenden Adels, ohne jegliche politiidje Rechte, friftete fortan bte Stube „zum Seufzen“ nod bis ins 17. Sahrhundert ihr Dafein weiter; bte Stube zum Brunnen aber war ſchon früher, noch im 16. Jahrhundert, eingegangen. Ganz anders alſo in Zürich, woſelbſt, wie wir geſehen haben, die Kon⸗ ſtaffel das ganze 17. und 18. —— hindurch, gleich wie die Zünfte, ihre Vertretung im Rathe hatt
79
bet Stadt zu befchäftigen, indem man fie al$ Obervögte auf bie 9anbvogteien [djidte. So waren nod) von 1545—1550 Henman und von 1555—1577 fein Sohn Junker Hans Philipp Offenburg Obervögte auf Farnsburg erfterer nach- bem er vorher fogar nod) während zwei Amtsperioden Bürgermeifter gemefen war; die beiden Genannten find aber aud) bie letzten Vertreter des Patriziates gewefen, die ein öffentliches Amt in der Stadt oder deren Herrfchaftsgebieten bekleidet haben. Daß Henman nod) von 1542—1545 Bür⸗ germeifter fein fonnte, zeigt einerfeitsS wie bod) man aud) damals nod) bie mannigfachen Verdienfte biefes Gefchlechtes um feine Heimat in Bafel einfchäßte unb iff zugleich ein glänzendes Zutrauensvotum ber bod) fonft fo Demofratifch ge- finnten und auf ihre Rechte fo eiferfüchtigen Bürgerfchaft an dDasfelbe. Daß er aber nur fo furge Zeit DBürgermeifter geblieben iff und nicht, wie es ſchon damals allgemein üblich war, bis zu feinem Tode — er ftarb erft 1558 —, ift dann andrerfeits wieder ein Beweis dafür, daß man auf bie Dauer das Erperiment bod) als zu gewagt anjab; dadurch, baB man ibm 1545 die große und reiche Landvogtei Farnsburg zur Oermaltung übergab, wurde aber ber Nichtwiederwahl als DBürgermeifter der verfe&enbe Stachel genommen.
Bon den ehemaligen Basler Ritter- und? Minifterial: sefhlehtern — um aud) von ihnen nod) ein kurzes Wort zu Jagen — ift nur ein einziges fchon 1529 zur Reformation üibergetreten: das der Herren von Värenfels. Sie erfcheinen daher auch allein von allen, troSbem fie [don feit Ende des 15. Sahrhunderts nicht mehr in Baſel wohnten, fondern meift auf ihren Schlöflern zu Segenbeim und Grenzach faßen, bis zu ihrem Ausfterben 1835 — wenigftens theoretifh — als Voll: bürger,!) während 3. 23. die Herren von Eptingen zu Hagen-
1) In Wirklichkeit aber haben fie fortan, da fie eben feiner Zunft beigetreten waren, nie mehr weder das paſſive nod) das aftive MWahlreht je ausgeübt; erit zu Anfang bes 19. Jahrhunderts war
einer der febten Vertreter bes Geldjfedjts als Zunftbruder zu Haus: genofjen nod) einmal Mitglied des großen Rats geworden.
80
tal, bie Reich von Reichenftein zu Viedertal und Snalingen, fowie die Herren von Rotberg zu Bamlach unb Rheinweiler bloß ein fogenanntes Ehrenbürgerrecht genofien, defien 93or- rechte gegenüber dem gewöhnlichen Ausbürgerrecht, wie es 3. 93. bie Herren von Ernau — öſterreichiſche Religionsflücht: [inge —, bie Waldner von QGreunbftein und endlich auch die Markgrafen von Baden-Hochberg befaßen, im wefentlichen darin beftanben, Daß es erblich war und aud) nicht auf eine be- flimmte Zeitdauer befchränkt wie le&teres, das alle paar Sabre gegen Erlegung eines Schirmgeldes erneuert werden mußte. Ganz anders ging da bekanntlich Bern vot, wofelbft nicht bloß 1657 bie 93urggrafen von Dohna als Bürger ange: nommen wurden, jonbern wofelbft fie auch zu Anfang des 18. Sabrbunbert$ fogar nod) in den Großen Rat gelangten.
Wir fommen zu unferem eigentlichen Thema. Mit bem Sabre 1529 alfo batte, wie wir gefehen haben, eine neue Aera begonnen. Wer waren in ihr die Regierenden? Laut ber Verfaſſung bie ganze in bie 15 Zünfte eingeteilte Yürger- (daft, die fowohl das aktive als auch das paffive Wahlrecht für fämtliche Staatsftelen befaß und bie alljährlich auf Samstag vor St. Sobanns des Täufers Tag fämtliche Aemter — [ei es nun direkt oder indirekt, durch bie fog. Sechſer — befe6te. Wie ftellte fid) aber die Sache in der Praxis dar? Zur Beantwortung diefer Frage wird es fid) empfehlen, ein- mal die Liften aller höheren Beamtungen, wie namentlich die der Bürgermeifter, Oberftzunftmeifter und Dreizehnerberren oder geheimen Räte einer eingehenden Prüfung auf ihre 3u- fammenfegung zu unterziehen. Da finden wir nun, daß von ben 43 Bürgermeiftern, bie von 1529 bis 1798 an der Spibe des Basler Staatswefens geftanden haben, nicht weniger als 30 den Herrenzünften — die hohe Stube mit eingefchloffen — angehört haben, unb zwar waren 14 aus der Schlüflel- zunft hervorgegangen, 9 aus der Hausgenoflenzunft, nur noch je drei aus ber Weinleuten- und aus der Safranzunft, foie alfo nod) einer — Henman Offenburg — aus der hoben
81 s
Stube. Bon ben übrigen 13 93ürgermeiftern fallen je 4 auf bie Schneidern- und Spinnwetternzunft, je 2 auf bie Gart- nern- unb Otebleuten- unb nod) einer auf bie Schärernzunft. Ganz ähnlich ift das Verhältnis zwifchen den Serren- unb Handwerkerzünften bei den Oberftzunftmeiftern: von 1529 bis 1798 zählen wir 30 Oberftzunftmeifter, die fpäter nicht auch nod) Dlirgermeifter geworden find; 20 davon fallen auf bie Herren- zünfte: nämlich 8 auf bie Schlüffel-, 7 auf bie Hausgenoflen-, 4 auf bie Weinleuten- und nod) einer auf die Safranzunft. Die übrigen 10 Oberftzunftmeifter verteilen fid) auf bie Zünfte zu Gartnern (4), Schmieden (3), Webern (2) und Rebleuten (1). Don ben 73 Häuptern des Standes Baſel in den Sabren 1529 his 1798 fallen demnach 50 — b. b. mehr als zwei Drittel — auf bie Herrenzünfte, nur allein auf bie erfte derfelben, den Schlüffel, bie Zunft der Groptfaufleute, aber nicht weniger als 22 (14 + 8).
Sehen wir nun aud) nod) nad), wie es mit bem fogen. Dreizebnerkollegium in biefer Hinficht beftellt war. Diefes, urfprünglich bloß Kriegsrat und nur in Zeiten der Gefahr in Funktion tretend, wurde erft im Le&ten Viertel des 16. Sabr- hunderts zu einer ftánbigen Beamtung, weshalb wir aud) feit biefer Zeit — genauer feit 1571 — Mitgliederverzeichniffe desfelben befiten; ein regelmäßig geführtes Protokoll eriftiert fogar erft feit 1653. Grft feitbem iit das Dreizehnerkollegium vom bloßen SKriegsrat zum eigentlihen Geheimen: oder Staatsrat geworden, das beiBt zu einem engeren Ausichufle, ber zufammen mit den beiden 93ürgermeiftern und Oberft- zunftmeiftern, bie bemfelben er Officio angehörten, bie eigent- [ide Regierung bildete, namentíid) auch bie Leitung ber äußeren Politik ausfchließlih in Händen batte; aber aud) in allen Gragen der innern Politit bildeten die Dreizehner— herren fortan die lebte Inſtanz, bie bisherige Bedeutung nicht bloß des Großen-, fondern aud) des Kleinen Rates berabfeSenb. Der verfafiungsgemäße Verlauf der Ge: fchäfte wäre ja bod) eigentlich ber gemefen, bap der Kleine
82
Rat, der bie erefutive Gewalt verkörperte, alle Geſetze unb alle weiteren Verhandlungsgegenftände von großer Wichtig: feit dem Großen Rate als ber Legislativgewalt vorgelegt hätte. Doc fdon feit dem zweiten Viertel des 16. Fahr: hundert8S wurde der Große Rat außerordentlichermweife, b. b. außer an den alljährlich mieberfebrenben Schwörtagen, nur nod) bódft felten einberufen; von 1529 big zu Ende des Jahrhunderts iff es ein einziges Mal gefchehen (1585), während des ganzen 17. Jahrhunderts bis zur Revolution von 1691 im ganzen fünfzehnmal. Damals aber wurde be- fchloffen, vierteljährlich eine Situng abzuhalten, 1718 bann wenigftens alle Monate; aber ber häufigeren Einberufung des Großen Rates entíprad) nicht etwa auch eine größere Bedeutung der ihm zur 93ebanb[ung überwiefenen Gefchäfte. Sm Gegenteil: bie ihm von Rechts wegen aufommenben Obliegenheiten wurden einfad) vom Geheimen Rate über- nommen, fo daß alfo bie gefamte [egisfatipe und erefutive Gewalt im Kleinen Rate vereinigt, b. b. ausſchließlich Mit- gliedern biefer Behörde vorbehalten war, bie wichtigere legis- lative fogar bloß einem Ausſchuß von neun Ratsgliedern, denfelben, bie zufammen mit ben vier Häuptern ben Gebeimen- oder Dreizehnerrat bildeten. Es iff daher nur allzu be- greiflich, Daß bie Volksausſchüſſe 1691 bie Abfchaffung diefes alimádjfigen Kollegiums verlangt und — allerdings nur für febr kurze Zeit — auch wirklich burd)gefe&t haben. Ueber feine Wahlart babe ich nichts finden fónnen; bie Mitglieder werden fid) daher wohl durch Rooptation ergänzt haben. Wie war diefes wichtige Kollegium nun zufammengefett?! Don 1571 bis 1798 zählen wir im ganzen 128 Mitglieder des Ge- beimen Rates, natürlich bie Häupter nicht mitgezählt, von denen 71 — alfo wieder weit über die Hälfte — den Herren- zünften angehörten: 22 dem Schlüffel, 17 den Hausgenoflen, 13 den Weinleuten und 19 der Safranzunft,; bie übrigen verteilen fid) auf bie Sünfte zu Rebleuten (13), Gartnern (11), Spinnwettern (6), Webern (5), Schmieden (4), 93rot-
83 9"
beden, Himmel und Schiffleuten (je 3), Kürſchnern, Gerbern und Zifchern (je 2), endlich Schuhmachern, Schneidern unb Schärern (nod) je einer). Die Zerfplitterung auf die Hand: werferzünfte ift alfo bier eine viel größere als bei Bürger: meiftern und Oberftzunftmeiftern; wir werden noch darauf zurückzukommen haben.
93epor wir weiter geben, mögen mir nod) einige Be— merfungen mehr allgemeiner Natur geftattet fein. Bekanntlich war das 17. Zahrhundert die Zeit, in der fid) in fait allen Orten der alten Eidgenoflenfchaft — in ben €anbfantonen fo gut wie in den Stadtfantonen — die bisher bod) noch mehr oder weniger bemofratilden Regierungsformen zu immer erflufiver werdenden WUriftofratien, zum Zeil eigentlichen Dligarhien, ausbildeten. Die genannte Entwidlung erfolgte zumeift nad) zwei Richtungen bin: erftens einmal, indem, wie wir e8 foeben für Bafel nachgewiefen haben, bie oberen Kollegien alle Gefchäfte an fid) riffen und damit bie urfprüng: lich wichtigeren unteren Kollegien zu faft gänzlicher Be— deutungslofigfeit reduzierten; unb dann zweitens, indem fie zu diefen nun an Wichtigkeit gewonnen habenden höheren Aemtern bloß einen Heinen Kreis bevorzugter Familien zu- ließen. Baſel bildete aud) in diefem zweiten Punfte feine Ausnahme. In was es fid) dabei von den Übrigen Städten, wie namentlich Bern, Freiburg, Solothurn und Luzern unter- fchied, war bloß der Umſtand, daß in Le&teren dieſer Zuftand ein legitimer war, indem bier bie Verfaffung felbft zwifchen regimentsfähigen und nicht regimentsfähigen Familien unter: ſchied; in Bafel dagegen eriftierte dieſer Unterſchied theoretifch nicht, bier gab es aljo feine regimentsfähige, wohl aber de facto allein regierende „Herrengefchlechter”.
Die bisherige Darftellung bat ung gezeigt, wie diefe Familien, bie wir im einzelnen nod) werden fennen lernen, vermittelft ihrer Snforporierung in den fogenannten Herren- zünften zu biefer Stellung gelangt find. Um nun möglichſt genau und zugleich recht anfchaulich nachweifen zu können,
84
wie ganz allmählih, namentlich feit bem beginnenden 17. Zahrhundert das Regiment fid) immer ausfchließlicher auf bie Herrenzünfte befchränkte, dürfte es fid) empfehlen, den langen Zeitraum von 1529 bis 1798 in fünf Eeinere Ab- fchnitte einzuteilen, von denen ber erfte bie Jahre 1529 bis 1571, d.h. bis zur Einführung des Dreizehnerkollegiumg, umfaßt, der zweite von 1571 bis 1652, d.h. bis zur Um— wandlung diefes urfprünglich bloßen Kriegsrates zum eigent- lichen geheimen Staatsrate, reicht, der dritte, vierte und fünfte einfach je rund fünfzig Sabre umfaffen follen.
Bon ben neun Vürgermeiftern nun und den ſechs Oberft- zunftmeiftern der erften Periode gehörten bloß drei feiner Herrenzunft an; es find dies die Bürgermeiſter Theodor Brand (Oberftzunftmeifter 1534, 93ürgermeifter 1544), der als Wundarzt und Chirurg zur Schärernzunft gehörte, und Kaſpar Krug (Oberftzunftmeifter 1557, 93ürgermeifter 1559), der als Eifenhändler zu Schmieden zünftig war, forie der 1529 ein erftes Mal zum Oberftzunftmeifter gelangte — ein zweites Mal 1538 — Mare Heidelin, ber als Schürligweber bie Webernzunft befaf. Alle drei gehörten aber troßdem nicht zu den Handwerkern, Krug und Heidelin waren fogar richtige GroBfauffeute. Sm nächften Zeitabfchnitte, ber alfo bie Sabre 1571 bis 1652 umfaßt, zählen wir im ganzen 12 Bürgermeifter und ebenfoviele Oberftzunftmeifter, fowie nit weniger als 55 Mitglieder des Dreizehnerkollegiums. Sprechen wir zuerft von biefen. Wie [don früher betont wurde, hatten fie in biefem Seitraume nod) nicht bie große Bedeutung wie fpäter, Dementfprechend ift aud) — mwenigfteng im 16. Sabrbunbert — nod) fein Heberwiegen der Herren: aünfte über bie Handwerkferzünfte bei ihnen zu Eonftatieren; anders iff es dann freilich fdon in den Sahren 1601 big 1652, bie plößlich ein ftarfe8 Zurüdtreten ber letzteren auf: weifen; alfo gleichzeitig mit der zunehmenden Wichtigkeit aud) eine ftärfere 93eteiligung von feiten der „Herren”! Es iit Dies tupifch für ben herrſchenden Geift in jener Zeit. Es
85
mag genügen, auf diefe Tatfache bier Dingemiefen zu haben, ein Nachweis im einzelnen darf bier ausbleiben; für die fpäteren Perioden aber, bie das Kollegium auf der Höhe feiner Mactftellung zeigen, wird ein folcher allerdings nicht zu umgeben fein.
Bon den 12 Vürgermeiftern find 8 — alfo zwei Drittel — aus ben Herrenzünften hervorgegangen; bie übrigen vier verteilen fid) auf bie Zünfte zu Schmieden (Melchior Horn- Locher, Oberftzunftmeifter 1601, 93tirgermeifter 1609), Spinn- wettern (Gebaftian Cpürlin, Oberftzunftmeifter 1619, Dürgermeifter 1621), Gartnern (Sob. Friedrich Ryhiner Oberftzunftmeifter 1628, 93tirgermeifter 1630) unb Rebleuten (Sob. Rudolf Wettftein, Oberftzunftmeifter 1635, Bürger⸗ meifter 1645). Von ben ebenfalls 12 Oberftzunftmeiftern ge- bóten fogar drei Viertel ben Herrenzünften an, bie Übrigen ber Schmieden: (Sebaftian Bed 1609), Webern- (Sob. Heinrich Steiger 1621) und Gartnernzunft (Sofepb Socin 1636). Wir haben dabei etwas zu verweilen. Unter den Handwerfer- zünften hatten fid) nämlich einige [don früh aud) anderen Berufen geöffnet, einesteils aus dem Grunde, weil fie nicht mehr genügenben Nachwuchs aus ihren Sanbmerfen hatten, wie e8 3. Q3. mit ber Rebleutenzunft ber Fall geweſen ijt, bie Schon feit bem 16. Sabrbunbert ausdrüdlich aud) ,, Sanbels- leute unb folche, bie aus ihren Renten lebten”, aufnahm, da es in Bafel damals nur nod) febr wenige wirklihe Reb- leute gab.!) Die gleihe Notwendigkeit mag ungefähr um die gleiche Zeit auch bie Gartnernzunft, zu der übrigens außer den Gärtnern und „Kremplern” (b. b. Obft- und Gemtje- bändlern) namentlih aud) die Wirte gehörten, zu dieſer largeren Praris veranlaßt haben. So finden wir mehrfach fon im 16. Sabrbunbert andere, namentlich gelebrte Berufe, in ihr vertreten: 1530 wurde „Doctor Johannes Husfchin
1) Vrgl. Jakob Chriſtoph Bed in den Anmerkungen zu feiner beutidjen Ausgabe von Wurftifens ,Epitome historiae basiliensis“, Bajel 1757, ©. 364. |
86
genannt Ecolympadius unb Eufebius Husſchin, fin eelicher fon“ zu Gartnetn zünftig, unb [don 1517 „Heinricus Richener unb Gbriftoffel, fin eelicher fon”; Otpbiner war damals nod) Procurator der bifhöflihen Kanzlei. Bei einer weiteren Gruppe von Zünften war es vielleicht das finanzielle Inter- effe oder das 93eftreben nad) einer einflußreichen Vertretung im Rate, bie fie dazu veranlaßte, gelegentlich aud) ihrem Berufe nad S3unftfrembe in ihre Reiben aufzunehmen; leßterer 93emeggrunb bat ganz offenfichtlih 3. 93. bei ber Schneidernzunft mitgewirkt, als fie bem rebegervanbten Ad⸗ vofaten Dr. Franz Henric-Petri Zunftrecht bei fid) gewährte, dem Vater des bekannten Leiters der demofratifchen Be— wegung ber Sabre 1690 und 1691, Dr. Jakob Henric-Petri. Zu biefer Gruppe von Zünften dürften ferner aud) bie Halb- aünfte zu Sifchern und Schiffleuten gehört haben. Als dann im Verlaufe des 17. Sabrbunbert8 — hauptfächlich burd) bie immer zahlreicher nach Baſel ftrómenben Refugianten — ftetsfort neue Berufe eingeführt wurden, da genügte bie alte Zunftverfafiung nicht mehr, um biefe alle in den beftebenben Zünften unterzubringen; im Anfang bebalf man fid) damit, baB man die betreffenden Kaufleute für jeden Zweig ihrer fomplizierten Tätigkeit eine befondere Zunft anzunehmen zwang, und in der Tat waren die großen Seidenherren dann meift fowohl im Schlüffel, als aud) zu Weberen, zum Zeil aud) nod) zu Safran oder Hausgenoflen zünftig, je nachdem fte Daneben mehr auf den Detailhandel ober auf bie Spedition und das 93anfgefd)dft das Hauptgewicht legten.!) Doch auf die Dauer genügte das nicht. Ein neuer Ausweg, der dann zum Zeil auch wirklich bie gewünſchte Abhilfe brachte, war, bap einige bisher rein handwerkliche Zünfte fogenannte Parität aufftellten zwifchen,, Herren“ und Handwerkern, b. b. zur Hälfte
1) Schon zu Ende bes 16. Jahrhunderts waren einige Groß- taufleute — jo namentlidy Andreas Ryff — ſowohl beim Schlüjfel, als aud) zu Hausgenofjen und Webern zünftig gemejen; Ryff bildet aber in der Tat eines ber früheiten Beiſpiele für diefe Entwidlung.
87
»Serten" aufnahmen unb nur nod) zur anderen Hälfte Hand- wetter; fo machte es [don feit 1640 bie Schmiedenzunft, forie, ebenfalls nod) im 17. Jahrhundert, bie Webern- und bie Spinnwetternzunft. Natürlich wurden von biefen „Herren“ nun die Zünfte nicht mehr in erfter Linie nad) beruflichen Rüd- fichten ausgewählt, fonbern fie traten eben in Diejenigen ber paar paritätiihen Zünfte ein, bie nod) am wenigften vollzählig waren und wo fie Daher bie arößte Möglichkeit Garriere zu machen, vorfanben. Sa nicht felten traten fie aus ihrer ur- fprünglihen Zunft, wohin fie von Berufswegen gehörten und in der fie vielleicht aud) ſchon eine Sechferftelle befleideten, um rafcher in den Rat zu gelangen als es ihnen bier wegen der viel größeren Konkurrenz möglich war, in eine andere Zunft über; fo machte e$ Adelberg Meyer, bisher Sechfer zum Schlüffel, ber 1613 Ratsherr zu Fifchern wurde, Ema- nuel Ruffinger, Sechfer zu Weinleuten, der 1625 ebenfalls Ratsherr zu Fifchern wurde, der fhon genannte Dr. Franz Petri, Sechfer zu Hausgenoflen, der 1664 Ratsherr zu Schneidern, und Emanuel König, Sechler zu Safran, ber 1669 Ratsherr zu Schiffleuten wurde. Wie wir fhon aus diefen paar Beifpielen erfehen und wie e$ ja eigentlich begreiflich tit, wurde bielen in bie Handwerferzünfte übergetretenen Herren nie bie Meifterftelle, fondern bloß bie Ratsherrenftelle über: [ajjen. Wir werden fpäter nochmals auf dieſe paritätifchen Zünfte und ihre zunehmende Abhängigkeit oon den „Herren“ zurüdzufommen haben.
Geben wir in unferer Unterfuchung weiter! In den 48 Jahren von 1653 bis 1700 — alfo in ber Zeit des begin- nenden Abjolutismus nicht nur in Bafel — zählen wir bloß 10 93ürgermeifter und 7 Oberftzunftmeifter, forie 31 Mit- glieder des Geheimen Rats. Bon diefen 48 Männern nun ge- hörten 28 ben vier Herrenzünften an, je 6 der Gartnern- und Rebleuten-, je 3 der Schmieden- und Spinnwettern-, endlich je einer der Fifchern- und der Schiffleutenzunft an. Nur zwei unter ihnen waren feine „Herren”, nämlich Johannes 23iens,
88
ein Rebmann, [don feit 1619 Meifter zu Rebleuten, ber 1653 Mitglied des Geheimen Rates wurde, und Hans Heinrich Pfannenſchmid, gewefener Ratsherr zu Fifchern, aus einer alten, (on feit der Mitte des 16. Jahrhunderts ben Fifcher- beruf ausübenden Rleinbasler Familie ftammenb, ber 1665 in den Geheimen Rat gelangte. Don ben 10 VBürgermeiftern gehörten 3 nicht den Herrenzünften an, nämlih Niklaus Rippel, der aus der Gartnern-, Andreas Burdhardt, der aus der Cpinnmettern- und Hans Ludwig Krug, der aus der Schmiedenzunft hervorgegangen war; al(o aud) fie aber aus ben paritätifhen 3ünften. on 1701 bis 1750 zählen wir 6 Bürgermeifter, 3 Oberftzunftmeifter und 27 Geheime Räte, bie fämtlich „Herren” waren, menn fie fid) auch faft zur Hälfte — nämlich 16 von 36 — auf die paritätifchen 3ünfte ver- teilten. Um ein paar Namen berausaugreifen, waren 3. 23. bie beiden Bürgermeifter Andreas 93urdbarbt ber Züngere unb Sobann Rudolf Wettftein ber Jüngere beide zu Cpinn- wettern zünftig, troßdem der erftere bie Rechte ftubiert und der le&tere in der Kanzlei emporgeftiegen war; Geheimrat Lukas Fäſch, ber von der Schiffleutenzunft in den Rat ge: Ihidt wurde, war Bankier und Spediteur, endlich Johannes Schweighaufer, der als Meifter der Himmelzunft in den Ge: Deimen Rat gelangte, war feines Berufes Notar. Wir fommen zur Behandlung der legten Periode, bie bie Jahre 1751 bis 1798 umfaßt. Von den 8 Bürgermeiftern, 3 Oberft- zunftmeiftern und 26 Geheimen Räten diefes Zeitraums ge- hörten bie 93tirgermeifter zufälligerweife fämtlich den Serren- zünften an, von ben Oberftzunftmeiftern dagegen feiner, fon- dern fie verteilten fid) auf die paritätifchen Handwerferzünfte zu Gartnern, Rebleuten und Schmieden; auf lebterer ift 3. 23. Deter Ochs, der lebte Basler Oberftzunftmeifter, zünftig ge: weien. Was bie Dreizehnerherren anbelangt, fo dienten fie gerade zur Hälfte auf den Herrenzünften und zur anderen auf ben Handwerkerzünften; bemerkenswert aber ift, bap zwei unter ihnen — nämlih Philipp Kern unb Griebrid) Münch,
89
ber befannte Dreierherr Münch — wirkliche Handwerker, unb zwar beide merfwürdigerweife 93ádermeifter gemefen find.
Das Refultat unferer Prüfung iit nun alfo erftens, baB in ben faft 150 Sabren von 1653— 1798 im ganzen nur vier Handwerker Teilhaber ber höchften Regierungsgewalt gewefen find, nämlich bie in den Sabren 1653, 1665, 1753 und 1777 zum Dreizehnertum gelangten Ratsherren Johannes DBienz, ber Otebmann, Sob. S$einrid) Pfannenfhmid, von Beruf Gifder, und bie beiden Bäckermeiſter Philipp Kern unb Griebrid Münch; unter allen 93ürgermeiftern und Oberft- zunftmeiftern biefer Sabre aber finden wir feinen einzigen Handwerker. Ferner zweitens, daß aud) von ben in ben Handwerkerzünften inkorporierten und von biefen in ben Rat geldidten Männern bei weitem lange nicht alle deswegen auch als Handwerker anzufeben find!); das Ver—⸗ hältnis war bier vielmehr ganz ähnlich wie in bezug auf die 3ufammenfe&ung des Großen Rates im erften Drittel des vorigen Zahrhunderts zwifchen Stadt: und Landbürgern: wie bis 1830 neben bie von den Stadtbürgern aus ihrer Mitte gewählten Großratsmitglieder aud) von den Landbürgern aus den Stadtbürgern gewählte Großräte traten, fo im 17. unb 18. Sabrbunbert neben bie von ben Herrenzünften ge- wählten „Herren“ nod) folche, bie von ben Handwerkerzünften gewählt waren. Dazu fam, bap mit nur vier Ausnahmen von ben Ratsherren ber Handwerferzünfte bloß die „Herren“ in das eigentlihe Regiment gelangten.
Zu den Zünften, bie fdjon feit bem 17. Jahrhundert mit Vorliebe aud) „Herren” aufnahmen, gehörte, wie wir gefehen haben, aud) bie Webernzunft. Sntereflant iff nun, zu beob- achten, wie in biejer es biejelben verftanden, bie Handwerfer-
1) Auch in ben Aemterverzeichniffen ber paritátijen Zünfte wurde jemeilen genau unterſchieden zwiſchen „Herren“ und wir: lihen Handwerfermeiftern, jo leſen wir in einer Gedjerlifte der Spinnwetternzunft aus dem Ende des 17. Jahrhunderts: „Herr Andreas Burdhardt, Herr Lucas Burdhardt, Herr Iſaak Fäſch,
Meifter Balthafer Hüglin, Meifter Peter Schherb, Meifter Stephan Bieler.“
90
meifter mit der Zeit ganz zu verdrängen, fo daß 1787 bie legteren an den Geheimen Rat mit der Bitte um Bewilli- gung der Parität zwifchen den beiden Ständen einfamen, und zwar in dem Sinne, baB die Handwerker im Vorftande bod) wenigftens wieder bie Hälfte der Stellen erlangten! Die zu Webern von Rechtswegen zünftigen Handwerker nun waren bie Leinenweber, Bleiher, Schön: und Schwarzfärber, Paſſa⸗ mentierer, Wollenweber und GCeibenfütber. Wie biefe in ihrem Memorial fagen, find fie mit der Zeit nicht bloß durch bie ja in gemifjem Sinne nod) zu ihrer Zunft in Beziehung ftebenben Fabrikanten — als da find Indienne- unb Mouffe- Iinefabrifanten, Strumpffabrilanten uſw. — zurüdgedrängt worden, fondern haben e$ fid) fogat gefallen [affen müffen, daß fid) aud) bie anderen Herrenberufe, bie fie weiter nichts angingen, in ihrer Zunft breit machten und bie erfte Celle darin einnahmen. Bei biefem Anlaffe erfahren wir nun enb- [id) einmal von fompetenter Seite wer diefe „Herren“, von denen fchon fo viel bie Rede gewefen ift, eigentlich geweſen find, d.h. wer mit diefem Titel im 17. und 18. Jahrhundert bezeichnet worden ift. Die Handwerfermeifter der Webern⸗ zunft antworten ung: „die Offiziers, Gelehrten, Rapitaliften, Fabrifanten, Kaufleute bie en Gros handeln, Banquiers, Buchhändler und Speditoren”. Diefe alle hatten Damals feine eigene Zunft, mit Ausnahme der Großfaufleute, bie auf die Schlüfjel- und ber Banquiers, bie auf bie Hausgenoffenzunft gehörten; fie verteilten fid) baber außer auf bie vier Herren: aünffe aud) nod) auf die übrigen 3ünfte, wofelbft fie eben- falls das Uebergewicht erlangten. Eine große Rolle unter bielen fpielten bie im Memoriale an erfter Stelle genannten, aus fremden, meift franzöfifchen Dienften zurüdgefehrten Offi- ziere, ganz ähnlich wie ja bekanntlich aud) in 93ern. Von folhen find zu nennen Geheimrat Emanuel Zäfch (geb. 1646, aeft. 1693), gewefener Brigadegeneral in Eaiferlichen Dienften, fowie fein Sohn, ber fpätere 93trgermeifter Johann Rudolf Fäſch ber Züngere (geb. 1680, geft. 1762), gewefener Oberft-
91
[ieutenant in franzöfifhen Kriegsdienften, jomie die als Hauptleute ebenfalls in franzöfifhen Dienften geftandenen Geheimen Räte und Oberften der Basler Landmiliz Hans Bernhard (geb. 1645, geft. 1740), Gbriftopb (geb. 1660, geft. 1728), Iſaak (geb. 1700, geft. 1757) unb Sobann Safob 93urd- batbf (geb. 1717, geft. 1796). Sn gewiffem Sinne find btebet aud) zu zählen bie zwei Bürgermeiſter 0b. Rudolf Wett: ftein (geb. 1594, geft. 1666), ber, wie befannt ift, in feiner Ougenb al$ Hauptmann in venetianifchen Dienften geftanden batte, und Emanuel Socin (geb. 1628, geft. 1717), gewejener Dragonerrittmeifter in fóniglid) ſchwediſchen Kriegsdieniten, wenn fie beide auch [don frühe fid) ganz und ausschließlich den Staatsgefhäften zu widmen begonnen hatten.
Die bisherigen Refultate unferer Unterfuchung zufam- menfaflend, koͤnnen wir den Sa aufftellen: aud) in Baſel batte, wie anderwärts, während des 17. und 18. Sabrbunberts eine Heine Sondergruppe von Bürgern alle Gewalt an fid) gerifien, aud) bier, wie anderwärts, bat fid) in genanntem Zeitraume ein Kreis von tatfächlic allein regierenden aber nid aud) ftaatsrechtlich allein regimentsfähigen Bürgern ausgebildet; doch ift es nicht, wie in ben meiften andern Orten, eine Geburtsariftofratie, bie herrfcht, fondern vielmehr ein Cynbifat von Gropfauffeuten und Gabrifanten, zu denen nod) bie aus den fremden Militärdienften zurüdgelehrten Offiziere fommen, fowie einige wenige Gelehrte, in der Mehrzahl Zuriften, bie in der Verwaltung zu ben Aemtern aufgeftiegen find, etwa entfprechend den modernen deutfchen höheren Verwaltungsbeamten und Berufsbürgermeiftern. 3u diefen find a. 23. zu zählen bie Vürgermeifter Sob. Rudolf (geb. 1620, geft. 1683) unb Sob. Yalthafar Yurdhardt (geb. 1642, geft. 1722) und Andreas Merian (geb. 1742, geft. 1811), fowie bie Oberftzunftmeifter Niklaus Harder (geb. 1651, geft. 1730), Dietrich) Gorcart (geb. 1684, geft. 1740) unb ſchließlich aud) Peter Ochs (geb. 1752, geft. 1821). Diefe ganze Gruppe, die aljo im Sprachgebrauch des 18. Sahrhunderts
92
allgemein als „Herren” bezeichnet wurde, faß anfänglich aus- fchließlich in ben vier erften Zünften, ben von altersher foge- nannten Herrenzünften zum Schlüſſel, zu Hausgenoflen, Weinleuten und Safran; allmählich batten fie dann in einigen Sanbmerfergünften, zunächft freilich bloße Parität, bald aber aud) bie Vorherrſchaft erlangt, jo namentlich zu Gartnern, Rebleuten, Schmieden, Spinnwettern unb Webern, in denen die eigentlich von Berufswegen dorthin gehörenden Handwerker immer weniger zu jagen hatten. Ganz verfchont von den „Herren“ blieben bloß die Zünfte zu Brotbeden, Schuhmachern, Gerbern, Kürfchnern, Mebgern und Schärern.
Einterfuchen wir nun ferner, ob nidf Hand in Hand mit diefer Vorberrfchaft der GroBfaufleute vielleicht auch ein Heberwiegen einzelner Samilien ging. Bekannt tit, daß Dr. Petri in feiner Schmähſchrift „Vaſel — Babel” im Sabre 1693 gegen bie beiden Familien 93urdbarbt unb Socin den Vorwurf erhoben bat, fie hätten allein alle 9femter auf fi und ihren Anhang vereinigt. Da finden wir denn fol- gendes: Wirklich bominierenb vertreten ift nur die Familie Burdhardt, bie im Zeitraume von 1653—1798 nicht weniger al8 7 Bürgermeiſter, 2 Oberftzunftmeifter und 16 weitere Mitglieder des Geheimen Rates aufweift!); ihr zunächſt an Zahl fommen bie Fäſch mit 2 Vürgermeiftern, 1 Oberftzunft- meifter und 5 Gebeimen Räten. Während erftere alfo mit im Ganzen 25 Mitgliedern im eigentlichen Regimente ver: treten find, zählen leßtere noch 8 in bemjelben. 5 Mitglieder fteliten in bie Regierung bie Familien Socin und Merian, je 4 bie Wettftein, Hagenbach, Stähelin und Mit, nod) 3 die 93ed, Galfner und Sfelin; bod) bat bie fe6tere Familie ihon fein „Haupt“ (feinen Bürgermeiſter ober Oberft- zunftmeifter) mehr aufzuweifen. In 2 Gliedern vertreten finden wir bie de Bary, Ryhiner, Zäslin und DBrunfchweiler, bie alle vier aud) nod) unter den eigentlichen Häuptern vor-
1) $m Jahre 1666 waren fogar beide Oberftzunftmeifter unb bet eine Bürgermeifter — b. b. drei von ben vier Standeshäuptern — Burdhardte!
93
fommen, ſowie bie Sarafin, Ote[pinger, Hoffmann, Wieland, Grey, Harfcher und Ortmann. Endlich begegnen uns nod) 36 Familiennamen bloß einmal. Die Namen verteilen fid) alfo auf 58 Familien, von denen aber nur 22 mehr als einmal in den Reihen ber Regierenden porfommen. Don den ins- gefamt 125 Namen fommt demnach gerade ein Fünftel allein auf bie Familie. 93urdbarbt, und über die Hälfte ber ganzen Regierung wird nur von den zehn Familien ber 93urdbarbt, Zah, Merian, Socin, $agenbad), Wettftein, Mitz, Bed, Stähelin und Sfelin beftritten.?) Wir müjjen daher in der Sat für bie legten 150 Sabre des alten Baſel von einer Art von Familienregiment fprechen, das aber, wie fchon betont, weniger in der Zugehörigkeit zu einer beftimmten Familie als in der Zugehörigkeit zum Kreife der Großinduftriellen wurzelt. Denn zweierlei ift nicht außer Acht zu Taflen: eritens, baB das ftarfe Sleberwiegen der beiden Familien Zurdhardt und Fäſch — zum Teil menigftens — feinen Grund aud) in ber außerordentlihen Fruchtbarkeit derfelben gehabt bat; fie find nachweislich die beiden Finderreichften Familien Baſels aus der uns befchäftigenden SZeitperiode. Ihnen am nächſten fommen dann die Merian und GSocin, bie wir aud) richtig nad) jenen am ſtärkſten in ber Regierung vertreten finden.
Zweitens begegnen ung — was befonders inftruftiv ift — zum großen Seife ganz bie gleihen Namen auch wieder unter den Sanbiverfermeiftern, bie im Sabre 1787 die vorhin
1) Unterfudt man den Anteil der einzelnen Yamilien bloß am Bürgermeifter- und OÖberftzunftmeiftertum, dafür aber in bem größeren Zeitraume von 1529 bis 1798, fo findet man wieder die Familie Burdhardt mit fieben Bürgermeiftern und drei Oberftzunft- meiftern an der Spitze ftehen; e8 folgen bie Fäſch mit drei Bürger- meiftern unb einem Oberſtzunftmeiſter, bie Merian mit zwei Bürger- meiftern unb einem OÖberftzunftmeilter, die Meyer zum Pfeil, Ober- riet, Krug, Ryhiner unb Wettftein mit zwei Bürgermeiftern, bie Gocin, Falkner und Brand mit einem Bürgermeifter und zwei Oberft- zunftmeiftern und endlid bie von Brunn mit einem Bürgermeifter
und einem Öberjtzunftmeifter jowie bte Bed mit zwei Oberitgunft: meiftern.
94
erwähnte Beſchwerdeſchrift ber Webernzunft mit unter- zeichnet haben; das Schriftftüd ift nämlich unter anderen unter: (hrieben von den DBleichermeiftern Johann Ludwig und Hieronymus Sfelin unb Niklaus Hagenbach, von ben Färber— meiftern Emanuel unb Sobann Jakob 93ifdjoff und Ehriftoph Burdhardt, von dem Paflamentierermeifter Bernhard unb den Wollenwebermeiftern Wernhard und Emanuel Fäſch. Ahr Proteft richtete fid) alfo gana offenfidbtlid) nicht gegen das Leberwiegen einzelner Herren familien in der Zunft — denn zu denen gehörten fie fe[bft ja auch, wie ihre Namen zeigen — .fondern ganz ausfchlieglih nur gegen das Domi- nieren der Herrenbetriebe und Berufe innerhalb der Zunft. Wie ein Blid in bie Aemterbücher lehrt, find in bet Sat 1787 fämtliche Sechfer-, OXeifter- und Ratsherrenftellen ber Webernzunft in den Händen ber oben bezeichneten Grop- induftriellen und Gabrifanten geweſen; bie Vleicher-, Färber- unb Webermeifter find durch fie vollftändig zurüdgedrängt worden.
Saft unbegreiflih muß einem unter diefen Umftänden zunächft bie Gutmtitigfeit der Handwerker erfcheinen, bie feit der mißlungenen Revolution von 1691 fo ohne jeden weiteren Widerftand die ihnen bod) nad) ber Verfaflung immer nod) zuflommende Mitbeteiligung am NRegimente einfach durch bie „Herren” fid) haben entreißen laflen. Die Entfchädigung dafür beftand aber erftens in bem weitgehenden Cube, ben das einheimifche Handwerk von feiten der Regierung genoB und burd) den dasfelbe vor aller ausländifchen Konkurrenz fihergeftellt wurde. Dahin gehört ferner bie immer eng. berziger werdende Bürgerrechtspolitik, bie ja auch wieder in erfter Linie den Handwerkern zugute fam, ba baburd) das Aufkommen neuer Konkurrenz verhindert wurde; war e$ ja fogar den Untertanen von der Landfchaft, die mehrfach feit Generationen ſchon ala Niedergelaflene in der Stadt wohnten, nicht erlaubt, eigene Q3efriebe zu errichten. Ein weiterer wirffamer Schuß des heimifchen Handwerks beftand in ber
95
Gotberung des Zunftziwanges, bie unter anderem aud) bie „Herren“, bie ihr Beruf eigentlich in feine Zunft mies — wie alfo bie Beamten und Offiziere —, nötigte, bei den Hand- metfern Zunftrecht zu nehmen, wenn fie politifche Karriere machen wollten. Endlich) wurden durch bie wahrhaft arop- artige und weitgehende foziale Fürforge, wie fie namentlich in bem fogenannten Armenrechte zutage trat, das außer einer reichlich bemeflenen Naturalunterftügung verarmten Bürgern aud) nod) abjofut Eoftenlofe juriftifche Hilfe in allen vor- fommenben Zällen zuficherte, bie 3ünfte zum Schweigen ge: bradt. Es waren alfo hauptſächlich KRompenfationen materieller Natur, bie bie Handwerker dazu vermochten, das verfaflungswidrige Gamiltenregiment weiter zu dulden. Da: neben aber wurde ihnen bod) ein Gebiet des Hffentlichen Lebens in recht weitgehbendem Maße referviert, wo auch fie ihrem Bedürfnis, gelegentlich einmal den Herrn beraus- aufebren, nad) Herzensluft nachgeben fonnten.
Es ift fon angedeutet worden, wie geradezu chifands oft bie meift aus der Landfchaft ffammenben Niedergelaflenen bon feiten ber Bürgerſchaft — und nicht in leßter Linie von ben auf ihre Vorrechte ftolzen Handwerkern — behandelt wor: den find. Sn nod) viel höherem Maße war dies gegenüber den Untertanen der Landfchaft felbft ber Gall. Das brutale und verlegende Gebahren, das bie bem Handwerkerftande an- gehörenden Landvögte fid) oft ben Untertanen gegenüber er: laubten, bat gewiß nicht wenig zu dem tiefgewurzelten Haß beigetragen, den die Bauern im Baſelbiet bem ftädtifchen Regimente entgegengebracht haben. In erfter Linie waren es die großen Landvogteien Farnsburg und Waldenburg, bie feit bem 17. Gabrbunbert hauptſächlich von Handwerkern, bie je für acht Sabre aufaogen, verwaltet wurden; nur ganz ver- einzelt treffen wir aud) auf Homburg und Münchenftein Handwerfermeifter als Landvögte. Auf Farnsburg faBen à. 93. bie Mebgermeifter Nillaus 93ufader und Leonhard Schardt, bie Schuhmachermeifter Safob Dietrih und Johann
96
Jakob ftpburt, fowie ber Schloffermeifter Jakob Seller als Landvögte. Die Landvogtei Waldenburg verwalteten fol- gende Handwerfermeifter: bie Zifchermeifter Rudolf Göbelin und Georg Schazmann, die Kürfchnermeifter Niklaus Gey- müller, Johann Urich Wagner und Emanuel Schmid, ber Schuhmachermeifter Safob Landis, fowie endlich bie beiden Mebgermeifter Rarl Kundig und Sohann Safob Müller. Auf Homburg finden wir als Landvogt ben Gerbermeifter Johann Safob Müller unb auf Münchenftein den Bäckermeiſter Niklaus Munzinger; die übrigen Landvdgte in diefen beiden Aemtern waren alles „Herren”. Nur „Herren” treffen wir ferner auf Ramftein, welche Vogtei aber nod) im 17. Zahr- hundert mit derjenigen von Waldenburg ift vereinigt worden; ben Häuptern referviert blieben bie beiden rechtsrheinifchen Vogteien Otieben und Kleinhüningen.
Neben den beiden Klafien ber Vürger und Nieder gelaffienen gab es in Baſel aber nun mod) eine dritte Kategorie von Einwohnern, die fowohl aus Bürgern, bezw. DVürgerföhnen, als aud) aus Landesfremden — zu fleinem Zeile fogar aus Intertanen!) — beftand, von denen jedoch aud) erftere weder das aktive nod) das paffive Wahlrecht be. faBen, da fie außerhalb der SZunftverfafiung fanden; e$ waren dies die fogenannten Cives Academici, bte akademiſchen 93ürger ober Univerfitätsverwandten, bie unter eigenem Rechte ftanden und ihre befonderen Privilegien hatten. Nur eine ganz verfehwindend Heine Zahl aus ben bei ihnen in- forporierten Bürgerföhnen tft in bie Sünffe eingetreten und bat am politifchen Leben aktiven Anteil genommen. Don Heinrih Ryhiner ift [don bie Rede geweſen; drei weitere Beifpiele find die beiden Oberftzunftmeifter Bernhard Strand (geb. 1523, geft. 1594), gewefener Profeflor der In- Ritutionen, und Sobann Rudolf 93utdbatbt (geb. 1585, geft. 1657), Profeflor der Ethik, fowie der befannte Gbronift unb
1) Sd) erinnere an die Lieftaler Familie ber Strübin, bte burdj viele Generationen hindurch bie Pfarrer zu Bubendorf und Ziefen geftellt Bat.
97 7
Stadtſchreiber Chriftian Wurftifen (geb. 1544, geft. 1588), gemejener Profefior ber Mathematik an unferer Univerfität. Ein ganz eigentümlicher Gall ereignete fid) Ende des 17. Sabt- bunbert$ mit den 93aubin, die bekanntlich ſchon 1542 in ber Derfon des berühmten Arztes Dr. Sobanne8 Bauhin aus Amiens nach 93afel gefommen waren; feine Nachkommen — durch Generationen binburd) Profefloren an biefiger 2Iniberfi- tät und bemnad) afademifche Bürger — waren infolgebeffen nie in den Fall gefommen, förmlich um das hiefige Bürgerrecht einzufommen. Gie galten — befonders da fie fid) von jeher mit DBürgerstöchtern verheiratet hatten — allgemein als richtige Vollbürger. Als nun 1691 Johann Ludwig 93aubin, €icenciat der Rechte, als 93eifi&er an das Stadtgericht ge- wählt wurde, ftellte fid) heraus, daß er gar nicht Bürger war und daß bemnad) diefe Wahl für ungültig erklärt werden mußte. Man bebalf fid) in ber Verlegenheit damit, daß man ibm unb feinen Gefchwiftern, um der großen Verdienfte ihrer Vorfahren willen, das Bürgerrecht noch nachträglich fdbenfte, wie man es 1670 aud) den 23urtorfen gegenüber fon getan hatte, bie ja gleichfalls feinerzeit als Gives Academici nad) Baſel gefommen waren.
Caf Übrigens gerade die Akademiker, alfo bie gebildeten Schichten der Bevölkerung, von der Teilnahme an ber Re- gierung mehr oder weniger ausgefchloflen bleiben follten, die baburd) eine rein merfantile Richtung erhielt, ift bod) etra bie und ba [don im 18. Sabrbunbert als LHebelftand empfunden worden. Einen intereflanten Beleg biefür be- fiten wir in einem vom Mai 1787 datierten Memorial, das Deter Ochs, der damals nod) — als Nachfolger Iſaak Sfelins — Ratsfchreiber war, zum PVerfafler bat, und in welchem derfelbe fon Damals die Errichtung einer befonderen afabemifden Zunft verlangte. Sch erlaube mir, das ziemlich umfangreihe Schriftftüd!) in feinen Hauptftüden mitzu-
1) Es findet fid) — leider nur in Kopie — jebt im Staats: archiv unter den Alten „Zünfte A"; früher war es in Band O.8*
98
teilen, felbft auf bie Gefahr bin, daß fchon Gefagte8 wieder: holt werde, unb (affe bloß bie Diftorijden Rüdblide weg, in welchen fid) der Zerfaffer hauptfächlich über bie Organi- fation der Stuben „zur Müde”, „zum Seufzen” und „zum Brunnen” ausfprad, um zum Schlufle zu fonitatieren, daß eine Wiederaufrihtung in anderer Form, wie er fie eben plante, der Verfaffung nicht entgegen fei. Das Gutachten lautete von Wort zu Wort folgendermaßen: „Wobhlweifer Herr VBürgermeifter, hochgeachtete gnädige Herren! Niemand iff vielleicht fo febr überzeugt, als ich es bin, daß in unferer Heinen Republik, bei der nicht beträchtlichen Vollsmenge bie- fer Stadt und hingegen bei der großen Anzahl der obrigfeit- lichen Derfonen, bie Vermiſchung der Stände in ber 9tegie- rung ein gutes Kennzeichen unferer Verfaflung ift. Das dient zur Pflanzung des republifanifden Geiftes und der bürget- [iden Eintracht. Dadurch tft ferners zu verboffen, bap man eine beffete Auswahl haben werde und baB die vereinigten fennt- nile verfchiedener Klafien in manchem Galle bie Gntbedung bet anwendbaren Grundfäße erleichtern werde. Allein, um biefe Vorteile zu genießen, muß nicht eine der nüßlichften Klaſſen für ben obrigkeitlihen Stand gleichfam von ber Re- sierung entfernt werden, ich meine bie Klaſſe derjenigen, bie den Studien obgelegen unb ftd) den Öffentlichen Gefchäften widmen. Nun ift leider ein folcher Ausfchluß immer mehr zu befürchten, unb nad) und nach bat fid) derfelbe im Laufe diefes Sabrbunbert$ vorbereitet. — Die erfte Veranlaflung dazu fann darin gefucht werden, daB man jener Klaſſe den Zutritt auf gewiflen Zünften gefperrt bat, wo fie ehedeſſen ohne Anftand angenommen werden mußte. Es war im 16. Jahrhundert ein allgemeiner Grunbfaó, daß wer fein
ber vaterländiihen Bibliothek enthalten. Cs ift nit unwahr- ffeiniid, daß es dahin aus bem Rachlaſſe von Bürgermeifter Wie [anb gelangt ift, von bem genannte Bibliothek aud) fonit nod) ver- ſchiedene Aufzeichnungen bejaß, jedenfalls war es einft, wie wir nod) (eben werden, im Beſitze von Wielands Schwiegervater Schweig- Baufen gewejen.
99 di
Handwerk trieb, fid) zu jeder Zunft fchlagen fonnte, bie er den Übrigen vorzog — oder, nad) der damaligen Sprache, „nda dienen mochte, wohin er mollte"". Und noch gegen Ende des vorigen 17. Zahrhunderts findet man davon ein be- fannte8 Zeifpiel in der Perfon des Doktor Heinrich Petri, ber Sechſer auf G. G. Zunft zu Schneidern war. — Die zweite Urfache des bevorftehbenden Ausfchluffes fee ich in ben Vergleich, fo bie Herren Vorgeſetzten der Ehrenzünfte zu Spinnwettern und Schmieden wegen einer fogenannten Darität unter fid) getroffen haben. Denn dadurch find bie Erledigungsfälle für jede Klaſſe feltener geworden; und wenn ein Studierter eine diefer Ehrenzünfte angenommen bat, fo fann er fid) faum träumen [affen, je vor Neige des Alters zu einer Sechfer- oder Ratsftelle zu gefangen. — Eine dritte Urfache fd)reibt man mit Grund der Einführung des Lofes zu, infonderheit bem Los zu Sechſen. Die natürliche Folge davon war fogleich, daß der Eifer für bie Studien von Jahr zu Jahr nachließ, indem die Eltern burd) bie Ungewißheit einer Beförderung von den Unkoſten ber Univerſitätsjahre ab- gefchredt wurden und täglich mehr abgefchredt werden. — Gnbíid) bat bie Zunahme und Vervielfältigung der Hand- lungszweige die Anzahl der Herren vermehrt und den Stu⸗ dierten wenige Pläße übrig gelaflen. Da nun die Herren Kaufleute arößtenteils das fremde Geld ins Land bringen und burd) ihren Aufwand oder durch Heiraten und Erbfälle unter G. E. Vürgerfchaft, bobe und niedere, nad) und nad) verteilen — des Pfundzolles!) nicht einmal zu gedenken — fo will die Billigkeit, daß fie fi in dem obrig- feitlihen Stand erhalten, und gleichfalls macht e$ das Ge- meinwefen zur Notwendigkeit; denn nicht nur ihre eigene Sicherftellung, fondern auch bie Unterftügung ber allgemeinen Anduftrie und Handelfchaft, bie Erfahrung in Berechnungs⸗ fachen, bie Berichtigung kaufmännifcher und anderer damit verwandter Anftände, bie Interhaltung duferlider Ver-
1) 3. 5. bes Eingangszolles. 100
bindungen, bie richtige unb fdleunige Kenntnis der poli- tifhen Begebenheiten anderer Staaten und die minder oder mehr anftändige Erziehung und Lebensart find fo viel Betrahtungen, bie zu gunften der Herren Handelsleute das Wort reden. — Aus diefer Lleberfiht der Urfachen, welche bie Veförderung ber Studierten erfchweren, iff. leicht zu ' fchließen, baB bie Zukunft feine befferen Ausfichten verfpricht. Wir fónnen das Gegenteil umfo weniger erwarten, ba bie Folge hierin felbft zur Urfache wird. Die fchlechten Aus- fihten machen daß immer wenigere gründlich ftubieren; unb je wenigere ftubieren, befto ſchwächer empfindet man ben Mangel und defto minder eifrig erzeigt man fid), bemfelben abgubelfen. Weil aber feine glüdliche Regierung ohne Auf- Härung, feine Aufllärung ohne Kultur des Geiftes, feine nüslihe Kultur des Geiftes ohne zwedmäßige Studien in der Länge Plaß haben fann, alfo foll es billig jeder gut- benfenbe Vürger zu Herzen faflen, wie er fein Vaterland, und infonderheit bie Nachkommenſchaft, vor den traurigen Seiten bewahren möge, wo man zwar mit gutem Wiffen unb Ge- wiflen ber beften Meinung folgen möchte, wo aber, in verwidelten oder nicht gewöhnlichen Fällen, wenige vorhanden fein dürften, um angemeflene Vorſchläge zu eröffnen unb felbige zu prüfen, zu berichtigen oder zu unterftügen. Jeder gutbenfenbe Bürger foll eingebent fein, baB feine Vaterftadt, bei Aufnahme in den eibgenóffifden 93unb, in 93etradt der bei uns blühenden Univerfität, ben Rang vor Freiburg und Solothurn erhielt; er foll. in ?fngebenfen behalten, daß bie berrlichften Zreibeiten, jo unfer Bafel in den 14. und 15. Zahr- Dunberten von den Kaiſern erlangte, baB die glüdfelige Bereinigung zur löblichen Eidgenoflenfhaft, daß bie Final⸗ verfomnis mit den Herren Bifchöfen, baB der glänzende Einfhluß in den weftfäliihen Frieden folchen Standes- gliedern zu verdanken find, die teils aus der Regierung ihren einzigen Beruf machten, teils Zöglinge der QUiffenfdjaften waren. — Solche wichtige Betrachtungen fordern mich gegen-
101
wärtig auf, bei Euer Gnaben in aller 2Intertünigfeit zu erfcheinen, und zwar „„zugunften derjenigen, bie den Gtu- bien in ihrer Jugend obgelegen, wenigftens bie academifche Stufe eines 9Dbilojopbiae Doctoris und Studiofi in einer höheren Facultät beitiegen haben, weder Kaufmannſchaft noch Küunſte, nod) Sjanbmerfe treiben, und auf den Zünften, wo Herren aufgenommen werden nur eine [páte Beförderung ober gat feine vorfehen. Zu dem Ende nehme id) bie Freiheit, um bie Erneuerung einer der fogenannten Stuben bei Hochdenfel- ben in pflichtfchuldigfter Ehrfurcht anaubalten."" — Es ift befannt, daß um die Zeiten des eidgendffifchen Bundes ber Rat aus drei Rlaffen beftanb: aus den Rittern und ben zwo Stuben (deren Vereinigung bie hohe Stube genannt wurde) und aus den Zünften, bie man ohne Unterſchied mit ber allgemeinen Benennung von Handwerkern bezeichnete; denn Handwerker und Zunftangehörige waren in bem Mittelalter gleid)bebeutenbe Wörter”. — Das Memorial fchließt bann mit den Worten: „Weil nun, wohlweifer Herr 93ürgermeifter, gnübige Herren, alle Betrachtungen der Q3illigfeit, des un- leugbaren Wohles des Staats unb ber Fundamentalver- fügungen unferer Zerfafiung fid) zu Gunften meines beft- gemeinten Vorſchlages vereinigen, fo wiederbole id) mein untertänigftes Begehren dahin, ,,bap Euren Gnaden ge- fallen möchte, bie Wiederberftellung der Stube zu gewähren, bod) mit bem Unterfchiede, daß fie zweckmäßiger eingerichtet und nur den Cfubierten eingeräumt werde."". Das wird ein unfehlbares Mittel abgeben, ohne Aufwand nod) Swang — fondern lediglich durch den natürlichen Lauf der Dinge — ben Studien wieder aufzubelfen, das Anfehen unferes Baſels zu erhöhen und eine Pflanzfchule für die Gerichte und ben obrigkeitlichen Stand zu ftiften."
Ochs fügt bann nod) einen Statutenentwurf bei, den wir, feiner oft febr charakteriftiichen 23eftimmungen wegen, eben- falls noch in der Hauptfache mitteilen wollen. Die Einleitung zu Demfelben lautet folgendermaßen: „Artikel ber zu erneuern-
102
ben Stube: fie wird heißen bie Stube oder Zunft zum Q9or- beerzweige. Ihr Wappen wird ein Andreasfreuz von zwei €otbeerameigen in einem weißen Gelbe fein, ber Ootbeergmeig als Kennzeichen ber Wiflenfchaft und bie weiße Farbe als Rennzeichen der Reinheit ihrer Abficht. Man wird anfangs fein befonderes Haus kaufen nod) unterhalten, fondern fid) mit einer geräumigen Stube im Kollegio oder anderswo begnügen.” Es folgen bie einzelnen Paragraphen, von denen id) aber nur die wictigften anführen will unb bie: jenigen mehr allgemeiner oder bloß interner Natur (über. geben: „Das academifche Bürgerrecht wird neben bem Stubenrecht befteben fónnen bis und fo lange man in ben Heinen Rat befördert werde oder eine Predigerftelle erhalten babe; Kandidaten abet werden nad) erbaltenem Gechlertum bie Kanzel nicht mehr befteigen. — [uper ben ffein- unb großen Ratsgefchäften unb ben allgemeinen Pflichten ber Borgefesten übriger Zünfte (a8 Bevdgtigungen, Abnehmen der Pogtsrechnungen, Verwaltung des Stubenſeckels, ge- wöhnlihe Publikationen) werden bie Vorgefesten bie Auf: Härung in Sachen des gemeinen Wefens befördern und tüchtige Staatsmänner und Richter zu bilden trachten. Sie werden die erlangten Ilniverfitätsfenntniffe und Fertigkeiten auf biefigen Stand und Juſtizpflege anwenden und näber richten und beftimmen. Zu dem Ende werden fie Anfangs gemeinſchaftlich daran fein, daß über jedes Fach pragmatifche und mit Erläuterungen begleitete Auszüge von ihnen gemacht werden, Damit fie in der Folge befondere Eorpora Doctrinae daraus verfertigen und um fo defto Leichter nachführen mögen. Dach diefem werden fie einen Zufammenzug aus benfelben abfaflen und jedem neuen Zunft⸗ oder Stuben- genofien ein Eremplar davon auftellen, welches ihm ber alte Ratsherr ober Meifter unentgeldlich erklären unb ihn darüber nad) Verlauf eines Sabres in Gegenwart der übrigen Vor- gefe&ten befragen wird. — Syeber Sechfer wird fchuldig fein, wenn ein Standesglied von den Übrigen Zünften einigen
103
Unterricht über unfere Regierung verlangte unb zu ibm geben wollte, ihm diefen Unterricht unentgeldlich zu geben, bod) fo daß er nicht verbunden fein folle, fid) mit mehr als einem folchen Unterrichte auf einmal zu beladen. Sollte man ibm dafür eine Belohnung antragen, fo wird er fie zwar annehmen, aber folche dem Sedel der Stube einliefern. — Die Q3orgefebten werden fid) ein Verzeichnis der außer: ordentlichen, beftrittenen unb fchweren Fälle über unfere Politik und Syuftigpf(ege nad) und nad) verfertigen, zu Seiten fid) über bie Entwidlung derfelben verabreden, und nad)bem fie die nötigen Unterfuchungen angeftellt, fid) zufammentun und ihre Gedanken einander mitteilen. — Geder neue Stuben: genofle wird verfprechen, fid) als ein aufgeflürter Menfchen- freund, ein frommer Chrift, ein biederer Eidgenofle, ein treuer Untergebener der Obrigkeit, ein eifriger Bewerber ber Ehre und des Wohles unferes Bafels, ein befcheidener und wabhrheitsjuchender Zoͤgling der Wiflenfchaften, ein fried- [iebenber und republifanifch gefinnter 93ürger unb erem- plarifcher, tätiger und vorfichtiger Hausvater in allen Zer- fallenheiten des öffentlichen und privaten Lebens zu betragen. — Wenn Parteien (fie mögen zünftig fein wo fie wollen) das Armenrecht von unferen gnädigen Herren erhalten haben, wird jeder Stubengenoß, der zugleich aud) Advofat iit, fid) willig erzeigen, felbigen unentgeldlih vor Gericht und Rat zu dienen, und zu Belohnung beffen werden ihn bie Herren PVorgefesten zu einigen Beftellungen nad) Maßgabe ber gebabten Mühe als Kiefer oder überzähligen Sechfer ziehen. — Die Stubengenofien werden abwechslungsweije dreimal des Jahres in Gegenwart der Herren Vorgeſetzten über flimulierte Anläſſe teils Reden halten, teils 23erat(d)lagungen anftellen, teif$ Prozeſſe führen.”
Es möge mir geftattet fein, nod) einige wenige An- merfungen dazu zu machen: Zunächſt glaube ich, ift dieſes Dokument ein neuer Beweis für bie Reinheit ber politifchen Abfichten von Ochs. Es atmet einerfeitS durchaus ben
104
Geift der damaligen idealen wirklichfeit3- unb meltfremben Rouffeau’fhen Aufllärung unb iff dann andrerfeitsS bod) wieder fo topifd) fchweizerifch, daB man fid) beim Durchlefen geradezu in bie Kreife der belvetifchen Gefellichaft verfebt glaubt. Beſonders das von den Stubengenoffen anftatt des fonft üblichen Zunfteides abzulegende Verſprechen gemahnt volftändig an das Gelübde, das bie Mitglieder ber bel- vetifchen Gefellfchaft bei ihrem Eintritt ablegen mußten unb iff wohl bireft dorther übernommen. Als Schüler Iſaak Sfelins ermeiff fid Ochs bann in der Forderung, bie Stubengenofien follten fid) zur eigenen unb fremden 23e. [ebrung Auszüge aus Gefchichte und ZVerfaffung der Heimat machen; die vaterländifche Bibliothek befíGt nod) ein paar Bände folher Auszüge von Sfelins Hand; und einem andern Schüler desfelben, dem bekannten Dekan Johann Jakob Huber zu Siffach, verdanken wir das wertvolle Gompenbium des GStatutarium DBafilienfe, unter anderen eine der wich- tigften Quellen aud) für unfere vorliegenden Unterfuchungen. Beſonders bemerkenswert will mir Dchfens ganz moderner Vorſchlag zur Errichtung eines eigentlichen ftaatswiflenfchaft- [iden Seminars mit obligatorifchen Debatten für bie Zunft- brüder und der Verpflichtung, unentgeltlihen Unterricht in Bürgerkunde zu erteilen, erfcheinen. Intereſſant iff dann aud) bie in der Einleitung zum Ausdrud gefommene überaus bobe Wertung und Einfhäsung des damaligen baslerifchen Saufmannsftanbe8 — alfo der „Herren“, wie er fie ja felbft auch fo bezeichnet —, der in ber Sat eben in der großen Mehrzahl feiner Glieder auf einem febr hoben geiftigen Niveau fand und fid) auf feinen nicht nur zur rein fom. merziellen, [onbern aud) zur geiftigen Ausbildung unternom- menen, nicht felten mehrjährigen Reifen einen fiheren Ylid und einen weiten Horizont erworben hatte, der ihn bod) bis zu einem gewiflen Grade dazu befábigte, fi) der Staats⸗ leitung anzunehmen. So viel ich verftehe, will Ochs bie bloß afabemifden Bürger nicht ämterfähig machen, fondern
105
will nur ben Vürgerföhnen, bie alademifche Berufe treiben — mit Einfhluß ber Sbeologieprofefloren, mit Ausfchluß aber ber Pfarrer — ermöglichen, fid) aud) politifch zu betätigen, was ihnen bisher, bei der ftarfen $[eberfüllung der [don beftebenben Zünfte durch bie Vertreter ber Raufmannfchaft unb des Handwerfs, [o gut wie abgefchnitten war. 93efannt- lich bat erft bie Verfaſſung von 1833 allen Gelehrtenberufen ohne Ausnahme den Zutritt in den Großen Rat geöffnet; 1835 ift bann bie afabemifd)e Zunft errichtet worden.
Es dürfte nun nicht unintereffant fein, bie Erforderniffe, bie $909 an den Eintritt in bie von ihm projeftierte „Stube zum Lorbeerzweig“ ftellte, zu vergleichen mit den Anfor: derungen, bie bie alademifche Zunft für ihre Mitglieder ver- langt. Erftere follte errichtet werden „ zu Gunſten derjenigen, die den Studien in ihrer Jugend obgefegen, wenigftens bie afabemi[de Stufe eines 9Dbilojopbiae Doctoris und Stu: bioft in einer höheren Fakultät beftiegen haben, weder Kauf: mannfchaft, nod) fünfte, noch Sanbmerfe treiben, und auf ben Zünften, wo Herren aufgenommen werden, nur eine fpäte Beförderung oder gar feine vorfeben." Die Statuten der alademifchen Zunft beftimmen: „Mitglieder diefer Zunft find fämtlihe Stadtbürger, welche an den öffentlichen Qebr- anftalten als Profefloren oder Lehrer angenommen oder Mitglieder des Minifteriums oder Doctores der Medizin find; aud) andere Bürger, welche eine wiflenfchaftlihe 93il- dung erworben haben, fónnen die Aufnahme in diefe Zunft verlangen.” Der Anterſchied der beiden Zaflungen ift in die Augen fpringenb, und jede charakterifiert ganz vortrefflich ihre Zeitepoche: dort noch bie änaftlihe Rüdfichtsnahme auf eine beengende Zunftverfaffung, bie nun aber doch gu- gunften eines neuen Standes burd)brod)en werden foll, und baber ber ffatfe Otad)brud, ber auf bie Zurückweiſung ber Kaufleute und Sanbmerfer gelegt wird; bier dagegen bie einfache Aufzählung aller zum Eintritt Berechtigten: eine Einladung an alle Gebilbeten ohne Ausnahme. DBegreiflich
106
if, daß Ochs auf bie Wahlart durch das Los nicht gut zu fprechen ift, ba ja gerade bie Gelehrten in erfter Linie ihre Otadjteile zu fpüren befamen; denn wenn je6t unter 6 Kan— bibaten, bie für ein Amt in Vorfchlag famen, fid) aud) ein Studierter befinden mochte, fo war feine Chance bod) um fehsmal Heiner als früher. Auch hatte bie Einführung des 9ofe8 bie fogenannten „Praftiten”, b. b. bie Beeinflufiung ber Wahl durch gróbere oder feinere Beftechung, durch: aus nicht gänzlich aus bem Wege zu fchaffen vermodt, nur befchränkte fie fid) jest auf bie Zufammenfegung der ganzen KRandidatenlifte und nicht mehr auf jeden einzelnen Be— werber um ein beftimmtes Amt.
Das Ideal, das Ochs vorſchwebte und bem er mit feinem Vorſchlag mit zum Durchbruch verhelfen wollte — die Herr: fchaft einer Geiftesariftofratie — war und blieb eine Utopie; fein Projekt ift nie von ben Räten behandelt worden; es ift überhaupt wohl nie eingegeben worden. Der fpätere Rats: bert und damalige Appellationsrat Johannes Schweighaufer, bem offenbar Ochs fein Manuffript zur Begutachtung über- geben hatte, äußerte fid) folgendermaßen über dasfelbe: „Dante für bie Mitteilung; leicht ift ber Vorſchlag, fo ſchön er fdjeint, nicht in Erfüllung zu fe&en. Die Bürger — unb befonders die Handwerker — find nod) zu eiferfüchtig ba- gegen. Den Rat zu vermehren ift [o wenig ratfam als viel- leicht dem Gtaate vorteilhaft. Wenn einmal ganze Zünfte der Handwerker — wie es bei einigen das ?[nfeben bat — ausfterben, bann werden wohl für bie Gelehrten aud) Vor: Ihläge zum Vorſchein fommen dürfen. Snbeffen rate id) ben Academicis fid) fo auszubilden, wie bie angehängten 93ebing- niffe e$ erbeifd)en, bann erfordert ihre Aufnahme das Wohl des Vaterlandes. — Doc gelebt, dDiefe Stube werde ber- malen errichtet, was wird der Gelehrten Gewinnft fein? Teuer erfaufte Ehre, bie wenige bezahlen können, obne darunter zu leiden, denn der Verfafler diefes Projects wird feine Seinesgleichen dort antreffen. Ehre ift wohl ſchön, aber
107
fie nährt nicht alle auf gleiche Weife. Darüber könnte vieles sefagt werden, mehr hier nicht. Nur follte man beim Ganzen des gegenwärtigen Zeitpunftes Rechnung tragen, ber ganz nicht für Neuerungen günftig zu fein fcheint.” — Dieler Schlußſatz zeigt ung an einem neuen Zeifpiel, wie kurzfichtig und falfch fefbft aufgeflärte Männer bie innere Lage der Schweiz nod) am Vorabend der großen Revolution im all- gemeinen zu beurteilen pflesten. Ochſens Größe dagegen liegt darin, baB er fchon frühe bie Zeichen ber neuen Zeit zu erfennen vermochte.
Als Anhang gebe id) im Folgenden noch die Liften ber Bürgermeifter, Oberftzunftmeifter und Geheimen Räte von zirfa 1650 bis 1798, mit Angabe der Zunft, aus ber fie hervorgegangen find, und des Berufes, ben fie bisher be- trieben hatten:
Lifte der Bürgermeifter.
1636—1659: Sob. Rudolf Fäſch, Spediteur; von Haus- genoflen. |
1645— 1666: Sob. Rudolf Wettftein, gewejener Hauptmann ' in venetianifchen Kriegsdienften; von Reb- leuten. | B
1660—1666: Niklaus Rippel, Stadtfchreiber, von Gartnern.
1666—1683: Sob. Rudolf ZYVurdhardt, 3. U. G., Gtabt- fchreiber, von Safran.
1667: Andreas Burdhardt, gewefener Rittmeifter in füóniglid) däniſchen Kriegsdienften; von Spinn- wettern.
1667— 1683: Sob. Ludwig Krug, Eifenhändler; von Schmie- den.
1683—1717: Emanuel Socin, gewefener Rittmeifter in fónig- [ic ſchwediſchen Krriegsdienften; vom Schlüflel.
108
1684—1690: 1690—1691: 1691 —1705: 1705—1722: 4717—1723: 1722—1731: ..1723—1734:
1731—1760: 1734— 1760:
1760—1767: 1760—1762: 1762—1777: ^ 1767 —1796: 1777 —1789: 1789—1790: 1790—1798:
1796—1798:
Joh. Safob Yurdhardt, gewefener fanglift und Kloſterſchaffner; von Sausgenoffen.
Franz Robert Vrunfchweiler, Spezerei- und Materialwarenhändler; von Gartnern.
Lucas Burdhardt, S. U. Dr., geweſener Schult- heiß des Stadtgerichts, von Hausgenoflen. Joh. Balthaſar Burdhardt, 3. U. G., gewefener KRanzlift; vom Schlüffel.
Joh. Safob Merian, Gifenbünbler; von Schmie: den.
Andreas DBurdhardt, S. U. Lic., Kanzlift; von Spinnwelttern.
oh. Rudolf Wettftein, S. U. G., gewefener fanglift; von Spinnwettern.
Samuel Merian, 93anquier; von Hausgenoflen. Emanuel Falkner, Seidenbandfabrifant; von Rebleuten.
geweſener
'Gelir 93attier, S3anquier; von Weinleuten.
Joh. Rudolf Fäfch, gemefener Oberftlieutenant in fóniglid) franzöfifchen Kriegsdienften; von Hausgenoflen.
Iſaak Sagenbad), Tuhhändler; vom Schlüflel. Sohannes be Bary, Seidenbandfabrifant, vom Schlüſſel.
Daniel Mitz, 3. U. Lic., geweſener Sani; vom Schlüffel.
Sohannes Rohiner, Indiennenfabrikant; von Hausgenoſſen.
Peter Burckhardt, Seidenbandfabrikant; von Weinleuten.!)
Andreas Yurtorf, S. U. G., gemefener fanglift; von Hausgenoflen.
1) Ein zweites Mal Bürgermeifter von 1811—1815, ſowie für 1812 Landammann der Schweiz.
109
Lifte bet Oberftgunftmeifter.
1650—1655:
1655—1661:
1656—1657: 1660—1664: 1683—1705: 1691: 1691:
1702—1730:
1731—1740: 1734—1735: 1762—1777: 1790—1798:
1796—1798:
Leonhard Wenz, Tuchhändler; vom Schlüffel. oh. Heinrih Galfner, Klofterfchaffner; von Weinleuten.
Joh. Rudolf S3urdbarbt, S. U. Dr., erit Pro: feflor der Ethik, dann Stadtfchreiber; vom Schlüfſel.
Benedikt Socin, Spediteur; von Gartnern. Chriſtoph Burckhardt, 3. U. C., geweſener Kanzliſt und Kloſterſchaffner; vom Schlüſſel. Johann Heinrich Zäslin, Eiſenhändler; von Schmieden.
Martin Stähelin, Goldſchmied, von Haus— genoſſen.
Niklaus Harder, 3. U. Dr., geweſener Kanzliſt und CdjultbeiB des Stadtgerichts; von Wein- leuten.
Dietrih Forcart, S. U. E., gewefener Ranzlift; vom Schlüffel.
Joh. Heinrih Bed, Sudbüánbler; von Gart- nern.
Johannes Fäſch, Wollenhändler unb Wollen- weber; von Garfnern.
Andreas Merian, S. U. G., Stadtfchreiber; von Rebleuten.!)
Peter Ochs, S. U. Dr., Gtabtidreiber; von Schmieden.
Lifte ber Geheimen Räte.
1645—1661 :
Sebaftian Bed, Klofterfchaffner,; von Wein-
leuten.
1) Bon 1803—1811 Bürgermeifter [orote für 1806 Landammann
der Schweiz.
110
1648—1655: 1650—1660: 1650—1656:
1653—1657: 1655—1665:
1656—16060:
1657—1666:
1660—1662: 1660—1672: 1661—1666: 1662—1675: 1663—1672: 1665—1666:
1666—1677: 1666—1707:
1667 —1670: 1669—1686:
1670—1691:
1672—1674:
Emanuel Ruffinger, Seidenhändler; von Weinleuten. |
Bonifacius Yurdhardt, Seidenhändler; vom Schlüſſel.
Wolfgang Gernler, 3. U. G., Notar; von Reb⸗ leuten. Johannes Bienz, Rebmann; von Rebleuten. Onophrion Merian, Spezerei- unb Mate— rialwarenhändler; von Safran.
Johannes Stähelin, Eiſenhändler; von Schmie- den.
Sob. Balthaſar Burckhardt, geweſener Haupt⸗ mann in markgräfl. badiſchen Kriegsdienſten; von Rebleuten.
Jeremias Gemuſeus, Buchdrucker; von Haus: genoſſen.
Johannes Dausmann, Kloſterſchaffner; von Spinnwettern.
Stanz Brunſchweiler, Spezerei⸗ unb Material- warenhändler; von Safran.
Lucas Hagenbach, Tuchhändler; vom Schlüſſel. Leonhard Felber, Tuchhändler; vom Schlüſſel. Joh. Heinrich Pfannenſchmid, Fiſcher; von Fiſchern.
Jakob Beck, Kloſterſchaffner; von Weinleuten. Daniel Burckhardt, J. U. C., geweſener Kanzliſt; von Rebleuten.
Joh. Jak. Meltinger, Marſtaller; von Gartnern. Joh. Heinrich Uebelin, Kloſterſchaffner; von Weinleuten. | Theodor 93urdbarbt, Tuch: und Seidenhändler; von Safran.
Joh. Heinrih Ryhiner, Apotheker; von Gart- nern.
111
1672—1676: 1672—1686: 1675—1691 : 1676—1706: 1683—1719: 1686—1689: 1686—1719: 1689—1709: 1690—1699: 1691—1693: 1691—1719: 1691 —1702: 1699—1714: 1701 —1713: 1701 —1708: 1706—1740:
1709—1736: 1713—1738:
Johannes König, Buchhändler; von Schiff:
leuten.
Andreas Mitz, Spezerei- und Materialwaren:
händler; von Safran.
Joh. Friedrich Wettftein, Klofterfchaffner und
Schultheiß des Stadtgerichts; von Rebleuten.
Niklaus Weib, S. U. Lic., gewefener Ranzlift
und Schultheiß des Stadtgerichts; vom Schlüflel.
Cafob Chriftoph Sfelin, Geibenbanbfabrifant;
von Gartnern.
Gregorius Brandmüller,
Sjausgenoffen.
Lucas Burdhardt, gewefener Kanzlift unb
Kloſterſchaffner; von Spinnwettern.
Joh. Rudolph Fäſch, Klofterfhaffner, von
Meinleuten.
Joh. Safob Socin, Spediteur; von Gartnern.
Emanuel Zäfch, gewefener Oberft und Brigade:
fommandant in Eaiferl. SKriegsdienften, von
Hausgenoflen.
Opeter Sarafin,Seidenbandfabrifant;von Safran.
Cob. Wernhard Huber, gewefener Lieutenant in
fónigl. franzöfifchen Kriegsdienften; von Safran.
Peter Raillard, Sudbünbler; von Haus:
genoflen.
Chriftoph DBurdhardt, S. U. Lic., gemefener
Kanzliſt; von Hausgenoflen. |
Leonhard Refpinger, Spezerei- und Material-
marenbünbler; von Safran.
30h. Bernhard Burdhardt, gewefener Saupt-
mann in Eönigl. franzöfifchen Kriegsdienſten;
von Rebleuten. |
Sofeph Gocin, Spediteur; von Hausgenofien.
Joh. Rudolf Burdhardt, S. U. E., geweſener Kanzlift; von Spinnwettern.
Goldihmied; von
112
1714—1718: 1718—1742: 1719—1727:
1719—1728:
1719—1728: 1722—1738: 1724—1725: 1725—1738: 1728—1731: 1731—1761: 1734—1751: 1735—1750: 1736—1740: 1737—1758: 1737 —1744:
1738—1757:
Joh. Jakob Hoffmann, Geibenbanbfabrifant; von Webern.
Lucas Fäſch, Wollenhändler und Wollenweber; von Schiffleuten.
Auguftin Schnell, S. U. G., gewefener Kanzliſt; von Gartnern.
Gbriftopb 93urdbarbt, gewefener Hauptmann in fünigl. franzöfifchen Kriegsdienften, von Haus⸗ genoffen. Martin Stähbelin, Goldfhmied; von Haus⸗ genoflen. | 93enebict Miß, Spezerei- und Materialwaren- händler; vom Schlüffel.
Cyob. Konrad Wieland, S. U. C., gemejenet Sanglift und Klofterfchaffner; vom Schlüſſel. Daniel Louis, Spezerei- unb Materialwaren- händler; von Safran.
Emanuel Müller, Seidenbandfabrilant; von Weinleuten.
Sohannes Schweighaufer, S. U. G., Notar; vom Himmel.
Lucas fjagenbad), Tuchhändler; von Webern. Joh. $[(rid) Paffavant, gemefener Lieutenant in fónigl. franzöfifhen SKriegsdienften; von Weinleuten. |
Joh. Balthafar 93utdbatbt, Seidenbandfabri- fant; vom Schlüffel.
Lucas Schaub, S. U. Lic., englifher Geſchäfts⸗ träger in Paris; vom Schlüflel.
Jakob Gbriftopb Grey, S. U. Lic., gemejener Kanzlift; von Weinleuten.
Saat 93urdbarbt, gewefener Hauptmann und Aidemajor in königl. franzöfifhen Kriegs⸗ dienften; von Rebleuten.
113 s
1740—1771: 1740—1754:
1740—1757:
1742—1748: 1744—1762:
1748—1750: 1750—1760:
1750—1773: 1751—1774:
1753—1769: 1754—1784:
1757 —1789:
1761—1787: 1762—1798:
1762—1765:
1765—1784:
1771—1792:
1771—1794:
1773—1777:
Sohannes Sarafin, Geibenbanbfabrifant; vom Schlüſſel.
Johannes de Bary, Seidenbandfabrikant; von Spinnwettern.
Joh. Rudolf Burckhardt, geweſener Kadett in fónigl. franzöfifchen Kriegsdienſten; von Haus: genoflen.
Abel Mis, Tuchhändler; von Schmieden. Sohannes Merian, YBanquier; von Haus- genoflen.
Niklaus Harfcher, Tuchhändler; von Gartnern. Abel Wettitein, gewefener Lieutenant in koͤnigl. franzöfifchen Kriegsdienften,; von Weinleuten. oh. Balthaſar Burkhardt, Seidenbandfabri- fant; von Rebleuten.
Joh. Lucas Sfelin, Tuchhändler; von Reb- leuten.
Philipp Kern, 93ádermeifter; von S3rotbeden. Seremias Ortmann, Banquier und Spediteur; von Weinleuten.
Cob. Heinrih 3üslin, Safran.
Benedict Stähelin, Eiſenhändler; von Webern. Lucas Fäſch, geweſener Hauptmann in bol- ländiſchen Kriegsdienſten; von Gartnern. Emanuel Hoffmann, Seidenbandfabrikant; von Webern.
Leonhard Reſpinger, Spezerei⸗ und Material- warenhändler; vom Schlüffel.
Lucas Fäſch, gewefener Hauptmann in bol: ländilchen Kriegsdienften; von Rebleuten. Hieronymus Wieland, Seidenbandfabrifant; vom Schlüfiel.
Soh. Ludwig Frey, Tuchhändler; vom Schlüffel.
Eifenpändler; von
114
1774—1798:
1777 —1796:
1777 —1784: 1777 —1798:
1784—1789:
1784:
1784—1788: 1787 —1798: 1788—1798: 1789—1798: 1789—1798: 1789—1794: 1793—1798: 1794—1798: 1794—1798:
1796—1798:
Sohannes Fürftenberger, Wollenhändler unb Wollenweber; von Rebleuten.
Joh. Jakob Burdhardt, gewefener Hauptmann in fónigl. franzöfifhen SKriegsdienften; von Schmieden.
Marcus Heußler, Papierfabrifant, von Haus: genoffen.
Friedrich Münch, Bäckermeiſter; von YBrot- becken.
Hieronymus Burchhardt, Floretſeidenfabrikant; vom Schlüſſel.
Joh. Jakob Thurneyſen, Seidenbandfabrikant; von Gartnern.
Johannes Biſchoff, Banquier; von Haus— genoffen.
Andreas Ortmann, 3. U. G., gewefener Sang: lift; von Gartnern.
Sohannes Hagenbach, Tuchhändler; von Haus: genoflen.
Abraham Iſelin, Sudbünbler; von Spinn- wettern.
Hieronymus Gemuſeus, Spezerei- und? Ma— terialwarenhändler; von Webern.
Niklaus Harfcher, Geibenbanbfabrifant; von Weinleuten.
Emanuel Falkner, Seidenbandfabrifant,; von Rebleuten.
Leonhard Burdhardt, Snbiennenfabrifant; vom Schlüſſel.
Jakob Chriſtoph Roſenburger, Papierfabrikant; von Safran.
Samuel Parqvicini, Schmieden.
Eiſenhändler; von
115
Bin Eirchlicher Streit im Birsed vor achtzig abren.
Nach ben Akten dargeftelit von Wilhelm Degen.
I.
Borbemerkungen. — Das Birsed und das proteftantifche Bafelbiet. — Die revolutionären Ideen unb bie kirchlichen Angelegenheiten. — Die Erledigung der Pfarrei Allſchwil. — Die Wahlart der Geift- lichen. — Das „Verkommnis“ von 1830.
Wenn ein Dorf von der Größe Oberwilg — es zählte bis in die neunziger Sabre des [e&ten Jahrhunderts weniger als taufend Einwohner — in feiner Geſchichte eine militärifche Okkupation wegen Auflehnung der DBürgerfchaft gegen die gefeglihe Ordnung zu verzeichnen bat, fo muß ein folches Ereignis fid) in dem Gedächtnis ber Mitlebenden und in bet Tradition etlihe Generationen hindurch tief eingegraben baben. ch erinnere mich denn auch aus meiner Sugenb- zeit, mit welch gefpannter Aufmerkſamkeit jeweilen Augen- zeugen aus den Tagen der fogenannten „Zandjäger- Gefchichte" angehört wurden, wenn der Fluß der IUnter- haltung etwa an einem Winterabend auch bie benfmirbigen Greignife von 1834 unb 1835 beríübrte. Schon der Um— ftand, bap ich eine ganze Reihe der Beteiligten nod) perfön- [id) fannte, mußte in mir den Wunfch meden, diefe Lokale Epifode gelegentlih im Zufammenhang zu erzählen. Ein auch nur oberflächliches Studium der Alten lehrte mid) bann, daß ben Vorfällen wegen ihres 3ujammenbanges mit ben liberalen Tendenzen innerhalb der Eatholifchen Kirche eine
116
tiefere Bedeutung al8 nur diejenige eines Drt(id)en Streites um bie 93efe&ung einer Pfarrftelle zulam, und biefe Grfennt- nis mußte mid in meiner Abficht beftärfen. rüber oder fpäter bätte die Affäre, das ift meine feffe Lleberzeugung, bod) einen Bearbeiter finden müflen, denn bie auf bet Kanzlei des bafellandfchaftlichen Obergerichts in Lieftal ver- wahrten diden Bände wohlgeordneter Alten fónnen nicht anders als einladend wirken; bat bod) fchon ber verftorbene Oprofeffor Albert Burdhardt-FZinsler das Thema gelegentlich mit andern den Mitgliedern feines biftorifchen Kränzchens zur Bearbeitung empfohlen.
Meine Darftelung bringt übrigens nicht bie erfte 23e- handlung der Angelegenheit, denn es ift bereits einmal ein ganzes Büchlein über fte gefchrieben worden. Aber biefe Dublikation ift [don Längft vergriffen, und ich vermochte fie froß vielfachen Nachfragen bloß nod) in zwei Eremplaren feftzuftellen.‘) Cine neue Bearbeitung des Themas redbt- fertigt fid) aber noch aus andern Gründen. Das erwähnte Büchlein erfhien wahrfcheinlich bald nad) bem Abſchluß ber Ereigniffe, bie feinen Inhalt ausmachen, und bie Ano— nymität, in die fid) allem Anfchein nach der Verfafler hüllte, weift darauf bin, daß wir es nicht mif einer von rein biftorifchen Rüdfichten geleiteten Publikation zu tun haben. Der Autor war offenbar ein Kleriker ber liberalen ober bod) fiberalifierenben Richtung — er bemüht fid) übrigens gar nicht, feinen perfönlihen Standpunkt zu verdeden — und darum hält er fid) etwas lange bei der Schilderung Kirch: licher 3uftánbe unb der Erörterung der Differenzen zwifchen der geiftlichen Behörde und ben ftaatfiden Organen auf, während das, was für ein fpäteres Geſchlecht bie Hauptfache fein dürfte, bie Zufpigung des Konflikts big zur Rataftrophe unb die Einzelheiten fiber biefe, etwas zu fura kommt.
1) Stud) diefe Eremplare weijen beide einen unliebfamen De- feft auf: das Titelblatt fehlt, und es ift weder Autor, nod) Jahr bes Cridjeinens, nod) Drudort feftzuftellen.
OMS or ee SER
117
Was fodann bie rein politifche, nicht religiöfe unb kirch⸗ [ide Bedeutung der Oberwiler Landjäger-Gefchichte betrifft, fo darf fie einigermaßen auf Beachtung Anfpruch erheben als Beitrag zur Beleuchtung der Schwierigkeiten, mit denen die leitenden Röpfe des jungen Staates Baſelland in ben erften Jahren feines Beſtehens zu kämpfen batten. In Firchlicher Beziehung machte ihnen zwar der proteftantifche €anbesteil mehr zu fchaffen, weil nämlich deflen Geiftliche der Herkunft ihrer Mehrzahl gemäß baslerifch gefinnt waren und bet Lieftaler Regierung wegen ihres revolutionären Urfprungs ben Sreueib nicht leiften wollten; man bebalf fid) mit von weiterber, aud) aus bem Ausland, bezogenen Theologen und madíe mit biefen in der Folge nicht durchweg gute Gr- fabrungen, fo daß Firchliche Händel auf eine ganze Reihe von OGabren an der Tagesordnung waren. So unruhig ging es im fatbolifden Landesteil nicht zu, aber bie Regierenden machten immerhin die Erfahrung, daß das ehemalige fürft- bifhöflihe Territorium dem fogenannten alten 23afelbiet, bem einftigen SÍntertanenfanb der Stadt, noch keineswegs affimiliert war. Gerner zeigte fid auch bier, wie eigentlich natürlich und wie man in der Folge des näheren erjehen wird, eine ftarfe Nachwirkung ber Revolutionsjahre und der von ihnen aufgebrachten Zdeen unb Anfchauungen, und zwar in einem folchen Sinne, baB den Staatsmännern ber neuen Hera das Regieren nicht erleichtert wurde.
Run lieferte zwar das Birseck, wie man bie neun Zatholifchen, bis zur franzöfiihen Revolution zum Fürft- bistum DBafel gehörenden Gemeinden des Kantons 23afel- landſchaft zufammenfaffend nennt, ber Revolution von 1830 bis 1832 hervorragende Führer, bie wefentlih zu bem ſchließlichen Refultat ber von ber Tagſatzung in Luzern aus- gefprochenen Trennung von Stadt und Landfchaft Baſel beitrugen. Doc mar auch bier die Stimmung keineswegs einheitlich; in allen Dörfern gab es außer „Patrioten” auch ſtädtiſch gefinnte „Ariftofraten”, und die Ortfchaft Reinach
i
118
mif einer überwiegend zu Baſel haltenden Bevölkerung bildete für das DBirsed das, was Gelterfinden und das Reigoldswilertal für den obern Rantonsteil barftellten. Die Religion jedoch fpielte in der Basler Revolution feine Rolle, wenigftens nicht in den Gedanken und Anfchauungen ber großen Maffe, wenn fie aud) vom hiftorifchen Gefichtspuntte aus als treibendes Motiv nicht ganz ausgefchaltet werden darf: Lebte nicht in dem im Freihof zu Aeſch niedergelaflenen Gefchlehte von 93farer ber einft öfterreichifch gefinnte unb reformationsfeindliche Landadel fort, und war nicht bie hervorragende Beteiligung diefer Familie an den Greigniffen der erften dreißiger Sabre in erfter Linie der Ausfluß einer biftorifchen Gegnerfchaft gegenüber der Stadt? Die Blarer waren bod) von Haufe aus Ariftofraten, und ihr 93ünbnis mit den Widerfachern ber bafelftädtifchen Herrfchaft trägt feinesweas den Stempel eines von einheitlichen Auffaffungen biftierten Zuſammengehens; es dürfte ihnen allerdings will- fommen geweſen fein, baB fie an Stephan Gutzwiller einen überaus tätigen und gewandten YBundesgenoflen bejaBen, der, aud) in den Künften des Demagogentums bewandert, das Bindeglied zwifchen ihnen und weiteren Bevölkerungs⸗ freifen bilden konnte.
Co wenig nun aud) religidfe Dinge und die fonfelfio- nelle Zugehörigkeit der verfchiedenen Gegenden des neuen Kantons bei der Trennung mitwirkten, ganz glatt ging es für das junge Staatswefen in ber nächſten Zeit aud) in diefer Hinficht nicht ab. Von einem fulturfampr in einer etwa ein halbes Menfchenalter hinter der Erklärung des SinfeblbatfeitSbogmas zurüdliegenden Zeit fann man aller: dings nicht reden, denn es fanden fid) nicht bie Vertreter der Gorberungen des modernen Staates und diejenigen Der bierardifchen Anfprüche gegenüber, bloß teilweife ftritf man fi um Dinge, bie in den fiebziger Jahren des legten Jahr⸗ hunderts bie prinzipielle Seite des Kampfes zwifchen Staat und Kirche ausmadten. Lofale Urfachen führten dazu, daß
119
im Bolt Unzufriedenheit mit bem Vorgehen der geiftlichen Behörden bei der Beſetzung von Pfarritellen entitand; ba lag es nahe, daß bie „Patrioten”, bie in ben unrubigen Seiten von 1830—33 für bie neuen Sbeen geftritten, bie Frage auf- warfen, warum die Souveränität des Volles vor den traditionellen Anfprüchen der fatbolifden Hierarchie Halt machen follte in Dingen, die Glauben unb Dogma nicht berühren. Das Eigentümliche an der Situation war, daß gerade die Vertreter der Staatsgewalt und die Vorfahren der fpäteren Rulturfämpfer bie Autorität des Biſchofs von 23afel verteidigen halfen, während die ftreng Klerikalen, alfo bie Ultramontanen der damaligen Zeit, den Gemeinden das Recht der Wahl ihrer Seelforger zugeftanden willen wollten. Doch war bei biefem Austaufch der Rollen nicht das Prinzip das treibende Motiv, fondern befondere Umftände in ben Derfonenverhältnifien wiefen ben Parteien ihre Stellung an.
Am 4. Auguft 1834 verzichtete Pfarrer Weber in Allſchwil auf eine weitere. Ausübung feiner geiftlihen Gunftionen. Er hatte fein Amt in dem Dorfe neun Sabre verfeben, nachdem er in dasfelbe gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung eingefeßt worden war. Webers Rüdtritt war nicht freiwillig, denn ihm drohte bie Abfegung duch den Biſchof, weil fein fittlihes Verhalten Anlaß zu Klagen lieferte. Am 12. Auguft 1834 wandte fid) nun ber Gemeinderat der Ortfchaft an bie Regierung in Lieftal und ſprach ihr den Wunſch aus, e8 möchte den Gemeinden als einem Zeil des fouveränen Volkes das Recht zugeftanden werden, ihre Geelforger felbft zu wählen, wie das bereits (laut Gefe& vom Dezember 1832) im proteftantifchen Landes: teil fowie in mehreren anderen Kantonen der Gall fei. 23e- gründet wurde das Gefuch außerdem mit bem Hinweis, daß der Gemeinde viele Inannehmlichkeiten erfpart geblieben wären, wenn fie [don neun Sabre früher das Recht bet Dfarrwahl gehabt hätte, es fei ber ungmeibeutige Wunſch der Gemeinde, baB fie als Geiftlichen ben zur Zeit in Räders-
120
dorf im Amt Pfirt wirkenden (aus Allſchwil ftammenben) Abbe Adam erhalte.
Mit der Abfendung diefer Petition nad) Lieftal war bie Stage zur Diskuffion geftellt, auf welche Weife im neuen Kanton DBafellandfhaft bie Ernennung der katholiſchen Geiftlichen zu erfolgen habe. Im Januar desjelben Jahres waren auf einer von fieben Kantonen beichidten Konferenz die fogenannten Badener Artikel vereinbart worden, die die Wahrung der ftaatlihen Hoheit gegenüber den Macht: anfprüchen der römifch-fatholifhen Kirche begmedten; fie betrafen u. a. bie Plazetfrage, bie gemifchten Ehen, bie Be: fteuerung der Klöfter, bie Verpflichtung der Geiftlichen zum Eid auf bie fantonalen Verfaffungen, unb fie erklärten ferner das Verbot der Abtretung von Kollaturen an geiftliche Körperfchaften oder Behörden. Grundfäglih mußte die Regierung des Kantons Yafellandfchaft, der den Badener Konferenzbeſchlüſſen förmlich beigetreten war, dem von Allſchwil erhobenen Begehren günftig geftimmt jein; es fragte fid) bloß, ob fid) der Staat refp. bie Gemeinden ohne weiteres das Rollaturrecht, ba8 Recht der Beſetzung erledigter Opfrünben, zumweifen fonnten. 9m Birsed übte dasjelbe big je8t ber Bifchof von 93afel aus. Er bejap es felbftverftänd: lich uneingefchräntt, fo lange er zugleich weltlicher Gebieter war, und aud) nad) der Belegung des Bistums durch bie Alliierten im Jahre 1814 nahm es Zürftbifhof Franz Xaver v. Neveu, der zu Offenburg lebte, neuerdings in Anſpruch. Als bann die Kantone Bern und Baſel fid) in ben Landbefit der einftigen Fürftbifchöfe teilten, anerkannten fie die geiftlichen Rechte des Biſchofs, unb biefer widerftand mit Erfolg bem Verfuhe Baſels, ein Uebereinfommen über bie 93efe&ung der Pfarrftellen abzufchließen. Im Jahre 1828 erfolgte dann die Otefonftruftion des Bistums Baſel, bie als bifchöflihe Refidenz Solothurn beftimmte und als erften Snhaber des bifchöflichen Stuhles Sofepb Anton Salzmann berief. Die Regierung von Baſel Inlipfte nun mit diefem
121
Perhandlungen an, und deren Ergebnis war eine vom 26. Oktober 1830 datierte Vereinbarung, ein [ogenanntes Verkommnis. Darnach mußte beim Eintritt einer Vakanz die erledigte Pfarrftelle durch den Dekan auf vier Wochen ausgefchrieben und nad) Ablauf diefer Griff von feiten des Defans eine Einladung zum Konkordats-Eramen erlaflen werden, jedoch mit ber Beſchränkung auf Schweizer Bürger. Zeugniſſe und Eramenarbeiten erhielt der Bifhof in Solo— thurn zur Senjur, bod) batte diefer vor der eigentlichen Gr- nennung die Regierung anzufragen, ob fie Einwendungen gegen bie in Ausficht genommene Perfönlichkeit zu machen babe; erfolgte feine (Gintebe, fo erteilte der Biſchof bem Pfarrer die kirchenrechtliche Einfegung, der bifchöfliche Kommiffar führte ihn in fein geiftliches und der Bezirks— ftattbalter im Namen der Regierung in fein weltliches Benefizium ein. Auf Grund diefes Verfommnifles waren nad) dem Eintritt von Vakanzen bie Pfarreien in Gttingen, Reinach, Alfhwil und Therwil beje&t worden.
Die Regierung in Lieftal erachtete nun diefes Ver: fommnis nad) der Trennung des Kantons Bafel nicht mehr für bindend und wollte mit der definitiven 23efeGung der Pfarrei Allſchwil bis nad) bem Abſchluß eines neuen Ab— fommens zumwarten. Über der Biſchof belebrte fie, daß ihre Anfchauung einer Unkenntnis der Geſetze entfpringe; es fei ein vom ofumenifden Konzil in Trient ausgefprochener Grundfag, daß das Rollaturreht aller Eirhlichen Benefizien dem Didzefan-Bifchof zukomme; im Birsed fei es immer jo gehalten worden, der Status quo ante fei geblieben, al8 das Gebiet laut Beſchluß des Wiener Ronarefies an Baſel über: ging, und die Trennung von Stadt und Landichaft babe daran nichts geändert. Auf diefen Beſcheid bin fchidte bie Regierung den Pizepräfidenten des Landrats, Stephan Guswiller, nad) Solothurn zum 3mede von Unterhandlungen mit bem Biſchof, aber ohne ein eigentlihes Refultat zu erzielen. Der Delegierte vertrat bie Auffaflung, der Stifter
122
unb Unterhalter einer Pfründe müffe aud) der follator fein (ber 93efeSer ber Pfarrei); bie Bifchöfe hätten vor ber Re: volution das Kollaturrecht als Landesherren und nicht in ihrer bierarchifchen Eigenfchaft ausgeübt. Im übrigen [ei die Regierung geneigt, ihre Rechte bei der Beſetzung er: ledigter Pfründen entweder mit einer Tatholifchen Kom- miffion oder mit den Gemeinden zu teilen. Der Biſchof anerfannte zwar das Gewicht einzelner Argumente, bod) wandte er ein, er müfle feinen Stuhl dem Nachfolger mit denjenigen Rechten binterlaffen, mit welchen er ihn an- getreten; er fei zu Unterhandlungen bereit, bod) werde ber Umftand, daß bie Lieftaler Regierung proteftantifch fei, beim Domkapitel, bem bie Entichließung auftebe, große Schwierig: feiten madjen. Als Ronzeffion brachte Gutzwiller bloß einen Zuſatz zum Verkommnis von 1830 zurüd, wonach bie Re- gierung eine Prüfung der Kandidaten durch zu bezeichnende fatholifche Geiftliche von fid aus ober in Gemeinfchaft mit dem bifchöflichen General-Provifar fónne vornehmen Iaffen. Die Allſchwiler erreichten immerhin fo viel, bap fie einft- weilen einen Rapuzinerpater aus dem Klofter Dornach als Pfarrverwefer erhielten, eine Löfung, bie noch heutzutage im Birseck beim Ableben eines Geiftlichen üblich tit. Dekan Gürtler hätte ihnen gerne feinen (unbefoldeten) Gehilfen Abbe Schmidlin, einen gebürtigen Arlesheimer, gegeben, aber fie widerfegten fid) diefer Abficht, fie wollten fid) nad Gürtlers eigenem Zeugnis „von bem Pfäfflein in Arles- beim feinen Pfarrer geben laſſen“. Was jedoch Gürtler im Sommer nicht gelang, nämlich feinen Schügling Schmidlin vorläufig unterzubringen, das jollte ibm im felben Spätjahr glüden.
123
II.
Abbe Schmidlin al8 Vikar in Oberwil. — Politifche Größen in ber
Gemeinde. — Abbe Doswald als Refleftant auf bie Pfarrftelle. —
Schwierigleiten feiner Bewerbung. — Lärmende Störung des — Gottesdienftes bei Anlaß feiner Probepredigt.
On Oberwil ftarb am 28. November 1834 in jungen Jahren Pfarrer Defchger, und bereit3 am andern Tage fand fi in der Gemeinde Abbe Schmidlin als vom Dekan ge- ſchickter Verweſer eim. Gürtler meldete bie neue Vakanz nad) Lieital, und bie Landestanzlei (nicht der Dekan, ber e3 nad dem „Verkommnis“ hätte tun follen), fdrieb am 13. Dezember die beiden erledigten Stellen auf drei Wochen im Amtsblatt aus. Lnterdeflen batte fid) in Oberwil Vikar Schmidlin bereits in den erften Wochen feiner Tätigkeit einen ftarfen. Anhang zu verfchaffen gewußt. Namentlich der weibliche Zeil der Bevölkerung war ibm faft durchweg blind ergeben, und auch bei ber jungen männlichen Ge— neration erfreute er fid) einer ausgefprochenen Beliebtheit. Er logierte in der Mühle, dem Herrenhaufe des Dorfes, und genop bie Gunft bes Müllers Andreas Hügly, ben man al3 das Haupt der fferifalen Partei bezeichnen fann, wenn fi aud) fein Einfluß mehr hinter ben Nuliffen als auf offener Bühne zu betätigen pflegte. Einen ftarfen Rüdhalt batte Hügly am Gemeinderat, denn befjen fünf Mitglieder, Jakob Sütterlin, Leonhard Seiler, Fridolin Sbürfauf, Jakob Düblin und Jakob Wehrlin, waren fämtlich feine Ge- finnungsgenofien; zudem war die treibende Kraft im Ge- meinberat der Schwiegerfohn des Müllers, Friedensrichter Sbürfauf, während Präfident Sütterlin?) einer ber bab- Lichften Bauern der Ortfchaft, fein Amt offenbar mehr feiner ökonomiſchen Stellung als hervorragenden Fähigkeiten ver- dankte, denn er bewies in den fchwierigen Situationen, bie die Folgezeit brachte, durchweg einen unverkennbaren Mangel
2) Sein Dorfname war „Zollerjoggi.“
124
an Gelbftünbigfeit. An Regſamkeit des Geiftes war ibm ohne Zweifel der Führer der Liberalen Partei überlegen — ſo— weit man beim Fehlen einer Organifation und auch bei bem ſtarken Hervortreten der perfönlichen ftatt der prin- zipiellen Gegenfäge von Parteien überhaupt reden fanm. Das war Landrat Peter Hügin, ein Mann, der fid) (don lange in Gemeindeangelegenheiten eine angefebene Stellung erworben unb aud) weiteren Kreifen moblbefannt war, denn er war Mitglied des Bezirksgerichts Arlesheim und fpäter des bafellandfchaftlichen ObergerichtS.
Dem „alten Hügin”, wie ihn die ältere Generation in meiner Zugendzeit nannte, war es nun darum zu fun, einen aufgellärten Geiftlichen in die erledigte Pfarrei zu bringen, und er wandte fid babet an ben Fatholifchen Pfarrer in Züri, ‚Robert Kälin, der als Student mehrmals feine Serien bei dem langjährigen Pfarrer Nußbaumer in Ober- Til verbracht hatte unb von jener Zeit ber einen Kleinen Bekanntenkreis im Dorfe befaß, mit der Anfrage, ob er fid) nidf um die Stelle bewerben wolle. Kälin antwortete, er: freut über das ihm bewiefene Zutrauen, bap ihn Pflichten der Dankbarkeit an feinen bisherigen QUirfungsfreis feflelten; da es ihm indeflen leid täte, wenn die Pfarrei Oberwil in bie Hände eines Lepviten fallen follte, der Judentum und Knechtſchaft ftatt ein großartiges Chriftentum und Freiheit predigen würde, fo empfehle er feinen Vikar Peter Dos— wald, einen hellen, waderen, aufgef[árten Geiftlichen, für den Hügin feinen Einfluß aufbieten folle. Der im Jahre 1809 geborene und aus Menzingen im Kanton Zug ftammenbe Doswald begab fid) mit diefem Briefe Kälins am 11. De: zember von Sürich nad) Oberwil, in der Abficht, fid) um die Stelle zu bewerben und am nächften Sonntag in ber bortigen Kirche zu predigen. Sym Dorfe angefommen, fragte er zu- nächft nad) ber Wohnung von Landrat Hügin, ber ihm riet, zu dem als Lehrer amtenben Abbe Kiefer und zum Verweſer Schmidlin zu geben. Doswald tat das, ber Vikar aber ant-
125
wortete auf feine Anfrage, ob er am Sonntag predigen dürfe, bie Erlaubnis dazu fei Cade des Defans, und biefet würde eine folche faum erteilen. Doswald verfügte fid) zu Hügin zurüd, und diefer riet ihm jest, fid an Regierungsrat Meyer in Lieftal, den damaligen Präfidenten der Kirchen: unb Schullommiffion, zu wenden, ibm den Zweck feiner Reife auseinanderzufegen und fich über die ihm in den Weg gelegten Hindernifle zu befchweren. Doswald hatte, wie er fi fpäter äußerte, die Hoffnung auf einen Erfolg feiner Reife eigentlich aufgegeben, aber Meyer fagte ibm, er wolle es [don möglich machen.
Mit einem Schreiben Meyers, worin über Schmidlins Benehmen Klage geführt unb Doswalds Erfuchen unter- fügt wurde, begab fid) biefer am 12. Dezember gegen Mittag nad) Arlesheim zu Dekan Gürtler, der zwar den Inhalt des DBriefes (überaus ungnädig aufnahm, beffen Sleberbringer aber fchlieflich bod) ein Schreiben an Vikar Schmidlin mit- gab, worin er biejem überließ, bie Erlaubnis zum Predigen zu erteilen oder zu verweigern. Doswald fam am Abend des gleichen Tages zu Schmidlin zurüd, ber zwar jebt feine Einwilligung gab, jedoch bemerkte, er [ei überzeugt, es werde unfer dem Volke einen Aufftand geben, falls ein fremder Geiftlicher am Sonntag den Gottesdienft halte; er berief fid) auf den Willen des Gemeindepräfidenten, der gegen die Erteilung der Erlaubnis fei. Am anderen Tage al3 dem Ottilientag, dem Arlesheimer Kirchenpatronsfefte, [eint man unter ben beim Dekan verfammelten 9Dfarrberren des ganzen Bezirks auf unliebfame CEreigniffe vorbereitet gewejen zu fein, wenigftens äußerte fid) Pfarrer Eueni in Therwil nad) feiner Otüdfebr gegenüber Lehrer Anaheim, er wifle nicht, wie e8 Doswald am Sonntag ergehen werde. Auh Dekan Gürtler gab im Verhör zu, er babe fid) am Dttilientag gegenüber Schmidlin (der laut Verabredung mit einzelnen Gemeinderäten gelegentlich des Feſtes die in Oberwil gefchaffene Sachlage mit bem Beazirkspfarrer be-
126
ſprechen follte) dahin geäußert, er febe ein, bap e$ eine „Sauerei“ abfegen werde; unter den Geiftlichen, fügte er hinzu, wurde gefagt, es fei eine Frechheit von Doswald, daß er prebigen wolle, ohne fid) bei der Offizialität angemeldet zu haben.
Unter biejen Umſtänden war es allerdings ein Wagnis, daß Doswald tro& allen Sinberniljen auf feinem Vorhaben beftand; er mochte fid) fagen, daß er nad) feiner Reife von Zürich nad) Oberwil unb nad) feinen Befuchen in Arles- beim und Lieftal immerhin auf einer Probepredigt beftehen dürfe; viel zu verlieren batte er ja nicht mehr. Die Nacht zum Sonntag verlief im Dorfe überaus unruhig; bie „Knaben“, bie unverbeirateten jungen Burſchen, liefen in der Ortfchaft berum, um bie Leute aufzufordern, nicht eber in bie Kirche zu geben, als bis die Predigt zu Ende fei. Schmidlin batte nämlich bei feiner Otüdfebr von Arlesheim in der Mühle mehrere Gemeinderäte getroffen und mit ihnen ausgemacht, baB er unmittelbar nad) Doswalds Predigt das Hochamt halten werde. Einen direkten Anteil der Ge- meinderäte an den Treibereien, die gegen den „fremden Priefter” gerichtet waren, vermochte bie Unterfuchung nicht nachzuweiſen, bod) war bie Gefchäftigkeit verdächtig, mit ber der Knecht des Präfidenten, Johannes Häring, fowie bie Söhne der Gemeinderäte Düblin und Geiler bie Agitation betrieben. Dem Organiften Martin Ley?) wurden Prügel angedroht, wenn er am Sonntag vor der Predigt bie Orgel Ipielen würde. Vielleicht noch in der Nacht, als fid) die jungen Leute in Privathäufern und in einer Pintenwirtfchaft zufammenrotteten, wahrſcheinlich aber erft am Sonntag Morgen, al8 man fid) unmittelbar vor bem Gottesbienfte auf bem Kirchhof wieder von neuem beriet, wurde bann eine andere Parole ausgegeben: Man follte nicht während der Dauer der Predigt einfad) der Kirche fernbleiben, fondern zum 3mede einer eindrudspollen Manifeftation die Kirche
5) Der jpätere langjährige Lehrer, T 1893,
127
beim Beginn ber Predigt in OXaffen verfajjen. Auf jeden Gall beuteten alle Zeichen auf einen nabenben Sturm bin. Der Sonntag fam. Doswald begab fid) vom Wirts- haus zum „Ochfen”, wo er logierte, nad) der Mühle, um Schmidlin abzuholen, ber ihn ziemlich unfreundlich empfing. Etwa zehn „Knaben“ riefen bald Schmidlin beifeite, der fie gebeten baben foll, ruhig zu bleiben, weil alles, was fie unternähmen, nur ihm felber fchaden würde. Gegen 9 Uhr, als bie Glode rief, machten fid) bie beiden Geiftlichen zur Kirche auf, in deren Nähe unterdeflen verfchiedene Perfonen von Anhängern Schmidlins angehalten und teilmeife fogar bedroht wurden. Auf dem Kirchhofe wurde Schmidlin von ben jungen Leuten mit demonftrativer Freundlichkeit begrüßt. Der Gottesdienft begann. Martin Ley fpielte wie ge- wöhnlich bie Orgel, nachdem ihm Lehrer Kiefer bie Furcht vor ben am Vorabend vernommenen Drohungen zerftreut batte. Schon während des Erdffnungsgefanges war es auf der Emporlirche, wo bie „Knaben“ fapen, unruhig. Dos$- wald beftieg bie Kanzel und verlas das Evangelium, das handelte vom Wort Zohannes’ des Täufers: „Ich bin die Stimme des Rufenden in ber Wüfte: NRichtet den Weg des Herrn!” Als er eben bie Predigt beginnen wollte, erneuerte fi bie Unruhe auf der Gmporfirdje und fteigerte fi, unter- ftüst von folder im Chor, fogleich zu Lärm und Getöfe; polternd fam eine ganze Schar von Klirchenbefuchern die Sreppe herunter und bewegte fid), verftärkt durch im Chor fi&enbe Männer, Grauen und Töchter, durch den Mittel- gang nad) vorn bis dahin, wo auf der der Kanzel gegenüber: liegenden Geite ein Gang zur Heinen Sire hinausführte. Durch biefe begaben fid) etwa zwei Dritteile der Kirchen- befucher, geführt vom älteften Cobne von Gemeinderat Düblin, ing Freie, während einzelne von ihnen bie Sitzen—⸗ bleibenden mit Rufen „Ujä! Nochä, nod)d, wär eppis Rächts if! Das fi Spisbuebe, wo binná blibä!“ zum Anfchluß aufforderten unb den Prediger im Weitergeben verhöhnten
128
ober fogar „auslällten“. Deſſen ungeachtet feste der amtierende Geiftliche mit Fräftiger Stimme feine ftangelrebe fort, was einzelne der Demonftranten fo ftark ärgerte, daß fie auf dem Kirchhof weiter lärmten; fie fchmetterten die Kirchtüren unaufhörlich auf unb zu und riefen dem Priefter wie feinen zurüdgebliebenen Zuhörern beleidigende und böhnifhe Worte zu: „Gang abá, bu Cord)! Abä, bu Dunnerwätter! Wollen fie nicht bald hinaus, die Spih- buben, die Sjalunfen! Seid Ihr nicht bald fertig!" Diefen empörenden Auftritten gegenüber verhielt fid Schmidlin, der fi nod) vor Beginn des Gottesdienftes in der Sakriſtei mißbilligend über Doswalds Vorgehen geäußert batte, — durchaus paffiv, obihon Dekan Gürtler ihn ausdrüdlich et- mahnt haben will, bie Leute von Unordnung abgubalten.*) Dagegen fuchte Lehrer Kiefer den fanatifierten Lärmmachern Vernunft beizubringen, er erntete jedoch für feine Be— mühungen nur Grobbeiten.
Auf bem Kirchhofe machte jemand ben Vorſchlag, man [folle wieder Dineingeben und den Prediger mit bem Beten des Rofenkranzes niederbrüllen; im Verhör wollte ber Mann dann bloß gejagt haben, man hätte es nicht fo machen, fondern einen Rofenfranz beten follen. Die meiften Demonftranten, namentlich bie ,,$Stnaben", zogen nad) dem Auszug aus der Kirche dorfabwärts; in ihrem nod) nicht völlig geftillten Satenbrang wollten fie ben beim Schulhaus errichteten Freiheitsbaum umbauen, bod) brachte fie Präfident Sütterlin von ihrem Vorhaben ab. Die Gemeinderäte waren während der Predigt nicht in ber Kirche. Sie äußerten fid) fpäter, fie hätten entweder gar nicht gehen wollen oder feien zu fpät gefommen. Unter den Leuten hieß es, fie feien während der Predigt im Haufe des Gemeinderats Wehrlin ver:
9 Der geiftlihe Anonymus jagt von Schmidlin: Unberührt von äußeren Gegenftänden, fntete er vor bem Hocdaltare, anjdjeinenb in heilige Betrachtungen vertieft, wie in Unterredung vor dem Aller: höchſten.
129
fammelt gemefen, unb tatfächlich fonnte ben meiften von ihnen bie Anweſenheit Dort nachgewiefen werden, nur wollten fie einander nicht geſehen haben und aus unverfänglicher Ur— fade zu Wehrlin, der einen Kramladen führte, gefommen fein. Präfident Sütterlin behauptete erft, der Gemeinderat babe bei feinem Mitglied Wehrlin eine amtliche Beratung namentlich wegen des Gabholzes gehabt, bod) als feine Aus- fage mit derjenigen feiner Kollegen nicht tübereinjitimmte, meinte er: „Sch muß mich überjeben haben.” Hingegen be- gaben fid) alle Gemeinderäte, nachdem nochmals mit allen vier Gloden geläutet worden war, in das von Schmidlin gehaltene Hochamt; eines der Parteihäupter, Alt-Präfident Heinrich Sütterlin, zählte beim Eintritt bie in der Kirche verbliebenen Zuhörer Doswalds böhnifch mit bem Finger ab. Auf meljen Anordnung zum Amt ertra geläutet wurde, fonnte wegen ber offenbar nicht aufrichtigen Ausfagen des Siegrift8 93annier unb feiner Grau nicht feftgeftellt werden.
Nah dem Schluß des Gottesdienites fand nahe ber Kirche Gemeindeverfammlung ftatt, an der aber offenbar bloß das Amtsblatt verlefen wurde. Hierauf begaben fid) fämtliche Gemeinderäte nad) dem im Unterdorf gelegenen „Dchfen” und fragten Doswald, den auf bem Wege nad) feinem Quartier das Gefchrei von Kindern: „Den Schmidlin wollen wir!” begleitet batte, nad) feinen Ausweiſen. Gemeinderat Geiler?) febte in Zweifel, daß er überhaupt fatbolifd)er Geiftlicher fei, und meinte, mancher trage einen Grad und fei bod) ein Spigbube; fpäter fchwächte er feine Aeußerung dahin ab, er babe gefagt, es trage mancher einen
5) Geiler fatte aud) fonjt eine ziemlich idjarje Zunge; es tjt beijpielsweije von ibm befannt, daß er, als er mit anderen Birs- edetn von Basler Herren wegen Zahlung ber alten Bodenzinje ver- flagt wurde, diefen vor Bezirksgeriht Arlesheim Prügel itatt Bo- denzins offerierte. Die Beklagten itellten fid) auf den GCtanbpuntt, die im neuen Kanton Bafellandichaft zuguniten der Allgemeinheit er- hobenen Steuern auf Bermögen und Erwerb feien an Stelle ber alten Feudallaſten getreten.
130
ſchwarzen Grad unb babe bod) darunter fein weißes Hemd an. Ferner fagte der Ochfenwirt, ber fand, bie Gemeinbe- räte feien dem Abbe jchändlich begegnet, vor bem Unter: fuhungsrichter aus, die Anwefenden bätten alle lachen míüffen, als bie Ortsgewaltigen mit dem „fremden Priefter“ hätten hochdeutfch fprechen wollen, es aber nicht fonnten.
Mit Datum vom 15. Dezember, doch erft als der Regierungsrat bereit3 den Bezirksverwalter oder Gtatt- halter) in Arlesheim mit einer Unterfuchung der Vorgänge betraut batte, erftattete der Gemeinderat diefem Beamten mittelft des folgenden, von Präfident Cütterlin unterzeich- neten Schreibens Anzeige: „Wir Präfident und Gemeinde- räte der Gemeinde Oberwiller machen Ihnen die Anzeige, daß fid verwichene Woche, als ben 11. diefes ein fremder Priefter in unfere Pfarrei begeben bat, Funktionen machen zu wollen, ohne daß er bei uns Vorftebern angefragt bat; da biefer Priefter Sonntags ben 14. biefe8 bie Kanzel betreten foll haben, fo foll fid), wie wir vernommen, ein Aufftand unter der Bürgerfhaft fid) ereignet haben, indem bie Bürgerfhaft geglaubt, der fremde und unfennbare Priefter wolle fid mit Gewalt in unfere Pfarrei eindringen und denjenigen Priefter, ber untetbefjen von der geiftlichen 23e- börde ift zugetan worden, zu verdrängen fuchen.
Wie mir in Kenntnis gefe&t worden find, foll obgefagtet Aufftand in dem beftehen, als diefer unkennbare Priefter bie Predigt foll angefangen haben, fo foll fid) beinahe bie ganze Gemeinde aus der Kirche begeben haben, indem die ganze Gemeinde, wenige ausgenommen, der wichtigen Q3e- ftellung eines Geelforgers abwarten und inbep mit bem- jenigen uns begnügen, ben bie geiftliche Behörde beftellt bat."
6) Der Name Bezirtsverwalter wurde offenbar aus Oppofition gegen bie baslerijche Bezeichnung für die Vertreter ihrer Regierung auf der Landihaft gewählt, er hat fid) aber nicht Tange gehalten, man kehrte bald wieder zum altgewohnten „Statthalter“ zurüd.
131 d
III.
Prüfung ber fanbibaten für Allſchwil und Oberwil. — Oppofition
der Gemeinden gegen bie vom Q3ifd)of getroffenen Wahlen Doswalds
unb Anaheims. — Poftulate des ganzen Birsecks. — Beichlüffe des Landrats. — Der bebrüngte Bifchof.
Auch ben geiftlihen Behörden famen bie Greignifje bald zu Ohren. Drei Sage nad) bem biftorifchen Sonntag berichtete Dekan Gürtler darüber an General-Provilar Dr. Wohnlich, Domlapitular und Propſt des Stiftes St. Martin zu Rheinfelden, und biefer wieder äußerte fid) in einem Schreiben an die Regierung in Lieftal, der Skandal fei lediglich burd) ein unüberlegtes Betragen des Herrn Doswald provoziert worden, bem die Probepredigt vor Landleuten bod) beim Biſchof und bei der Regierung nicht viel hätte nützen fönnen. Die Gemeinden (Allſchwil und Oberwil) fünnten nichts befleres tun, als Regierung und Bifchof zu vertrauen, welche fid) je&t bie Hand bieten, um ihnen Tenntnispolle und gute Geelforger zu geben. Der General-Provilar verwies damit auf die bevorftehende Prüfung, welde ein paar Wochen fpäter, nümlid am 13. und 14. Sanuar 1835, in Rheinfelden ftattfand. Als Graminatoren fungierten bie Pfarrer von Ar in Witters- wil unb Probft in Dornach, die ihren Bericht bereit3 am 15. Januar erftatteten. Die Prüfung umfapte neun Fächer, námlid) 923ibelerf(árung, Dogmatit, Moral, Kirchenrecht, Paftoraltheologie, Homiletif (Predigt und KRatechefe), Seel- forge am ftranfenbett unb Pädagogik. Das Ergebnis wurde fogleich bem Regierungsrat in Lieftal und von diefem bem Biſchof in Solothurn mitgeteilt mit der Aufforderung, unter den Bewerbern diejenigen zu bezeichnen, die er für die beiden erledigten Pfarreien in PVorfchlag bringe. Der Biſchof bielt fid) lediglich an die vorliegende Prüfungstabelle, da in Hinficht der Sitten nichts Rlagbares vorliege, und beftimmte, wer in feinem einzigen Fache die Note ber erften Klaſſe errungen babe, fónne gar nicht in Frage fommen. Da num
132
von ben adf 23emerberm — Paul Adam von Alichwil, Sofeph Anaheim von Loftorf, Sob. Berger von Gifen, Peter Doswald von Menzingen, Sofepb Kiefer von Wihl, Joh. Schmidlin von Arlesheim, 3. 93apt. Schmidlin von Arles- beim und Sofepb Gu&miller von Therwil (defien Anmeldung übrigens verfpätet einlief) — nur zwei btefer 93ebingung genligten, fprach ftd) 93ifd)of Salzmann in einem Schreiben vom 22. Sanuar für Anaheim und Doswald aus; wegen ber in Oberwil oorgefommenen Greignifje folle Doswald nad) Allſchwil geben, Anaheim alfo bie Pfarrei Oberwil über: nehmen. Der Regierungsrat erklärte, bie vom Biſchof be- zeichneten Geiftlichen feien ihm „Lieb und angenehm”, und erfuchte den Bifchof, unverweilt deren Einführung in die ihnen beftimmten Pfarreien anzuordnen. Mit einer ber- artigen Mafnahme hatte es jedoch nod) gute Wege.
On Oberwil batte ber am 14. Dezember 1834 in der Kirche angerichtete Skandal bie Geifter definitiv in zwei fi in etbitterter Feindſchaft gegenübertretende Lager geteilt. Die Mehrheit der VBürgerfchaft, deren Leiter auch terroriftifche Mittel zugunften ihrer Sache nicht verfd)mábfen, wollten alles daran fe&en, um Schmidlin als Geeljorger behalten zu fónnen, während bie Minderheit, unter Führung von Land- rat Hügin, in eine immer entfchiedenere Oppofitionsftellung gegenüber dem Vikar unb bem ihn protegierenden Gemeinbe- rat gedrängt wurde. Am 7. Sanuar 1835 richtete bie Mebhr- beit an den Regierungsrat von Bafelland eine Petition für Schmidlin, bie nicht weniger als 132 Unterfchriften trug unb u. a. für bie Gemeinde das Recht ber freien Pfarrwahl in Anſpruch nahm. Der bisherige Verwefer, fo fchrieben bie Gefuchfteller, fei ihnen lieb und treu geworden, er würde mit überwiegender Mehrheit gewählt werden. Gegen biefen Willen der Gemeinde fuche eine Partei eine ſchwache Kon— furrenz auf gewaltfame Weife herbeizuführen, welchem Ver⸗ fahren bie beim Auftreten des Herrn Doswald in ber Kirche vorgefallenen Auftrifte allein beigumeffen feien. Es
133
ffebe zu befürchten, bap bie Gegenpartei bie Gemeinde ver- unglimpfe, wie es fürzlich in den Öffentlichen Blättern (don geſchehen fei") ferner, bap bie QCanbesfinber bintangeleót würden. An der Spite der Unterfchriebenen ftand ber Ochfen- wirt Matthias Stödlin, am Schluffe der ganze Gemeinderat. Am 24. Zanuar, nachdem die getroffenen Wahlen in den Gemeinden befannt geworden waren und Diele Nachricht feinesweos zur 93erubigung der Gemüter beigetragen batte, folgte eine Petition von Allſchwil, unterfchrieben vom firdenrat und vom Gemeinderat, bie verlangte, es jolle weder Schmidlin nod) Doswald die dortige Pfründe er- halten. Schmidlin fei eine Kreatur Gürtlers, „welcher unfere Pfarrei fdon gefd)dnbet bat mit der Aufdrängung des Pfarrers Weber und unter melden Dantoffel wir nur gezwungen aurüdfebren würden”. Doswald fei nod) jung, man babe noch feine 93etveije für guten Wandel unb Sitten; ungefe&lid)e Empfehlungen und fremdartige Papiere jeien öfter unterfchoben, auch Weber babe folche mitgebracht, Doc waren in fie bloß feine Lafter eingewidelt. „Wir verwahren uns feierlich gegen folche Leute, Abbe Adam verdient vor allen anderen den Vorzug.”
Die Oppofition von Allſchwil batte alfo einen weſent— fid) andern Charakter als diejenige von Oberwil. Die Stimmung der Bevölkerung war ebenfalls für die Berufung eines ihr (don befannten Priefters, aber fie war bem Schüß- ling des Defans, für ben die Oberwiler jid) einje&ten, gar nicht hold. Das von ben Allichwilern verfochtene Prinzip, bie Förderung ber freien Wahl, batte einen ficheren Unter- grund, denn feine Vertreter fonnten die Erfahrungen der
7) Sm „Unerfhrodenen Rauracher“ wurde eine Polemik wegen einer gegen den Lehrer Abbe Kiefer injgenterten Hege ausgefodhten, bei der bte Gemeinde ſchlecht wegkam; ferner wurde diefe in einem Bericht über den gegen Doswald aufgeführten Standal als moraltjd) tief gejunfen bezeichnet. Bon „Hottentotten und Heiden,” wie aud) pud „Schmidlianern“ behauptet wurde, babe id) in bem Artikel nid)ts gefunden.
134
Bergangenheit zu deſſen Gunften anführen, während in Oberwil die Anrufung der Vollsfouveränität bloß Mittel zu dem Zwed war, bem aus einer perfönlichen Vorliebe für ben Pfarrverwefer entfprungenen Anfpruh mehr Kraft zu ver: leihen. Die Abneigung ber Allſchwiler gegen Gürtler bin- berte fie allerdings nicht, in der Folge feine Bundesgenoſſen zu werden. Wer bei biefer unnatürlichen Allianz bie minbere Rolle fpielte, ob bie Alfchwiler, bie fid) mit ihrem Vorgehen ausdrüdlich ber 93epormunbung burd) den Dekan entzogen, oder der VBezirkspfarrer in Arlesheim, ber fid) in einen auf- fallenden Gegenfat zum Bifchof ftellte und fid) nicht fcheute, gemeinfame Cade mit ben Allihwilern zu machen, bie fo defpeftierlih von ihm geredet, das ift leicht auszumachen. Aber freilih, des Dekans heiter Wunſch, Schmidlin nad) Oberwil zu bringen, fonnte eben nur bann in Erfüllung geben, wenn bie birsedifchen Gemeinden das Recht der Pfarrwahl erhielten, und fo ftieß er, gedämpfter zwar, in das gleiche Horn wie bie Allichwiler, von deren adber Ent- ſchloſſenheit er offenbar viel erwartete.
Die Regierung ſchritt zwar tiber bie beiden Eingaben zur Tagesordnung, aber ihrem Vertreter im Bezirk Arles- beim, Statthalter Stummler, gab bie widerfpenftige Stimmung in den Gemeinden bod) zu denken. Am 28. Sanuar erfchienen bei ibm die Allfchwiler Gemeinderäte Haufer und Werden- berg und erklärten ibm bündig, die Kirche fei Eigentum der Gemeinde, und biefe werde das Gotteshaus nur Adam öffnen. Sn einem an die Regierung gerichteten Schreiben fieht Rummler die Lage für überaus ernft an; er will zwar den ganzen Gemeinderat von Allſchwil vor fid) berufen, bod) erwartet er nicht viel von den Mahnungen, denn die Leute feien furchtbar fanatifiert. Es ftánben Auftritte zu befürchten, wie man fie vielleicht noch nie erlebt habe, denn man babe e3 mit dem ganzen Fatholifchen Landesteil zu tun. Dann Hagt der Statthalter über die Gerichte: Hätte das Ober:
135
gericht ſchnell eingefchritten in der Muttenzer Geichichte,?) fo hätte es wahrfcheinlich feine QGalbenburger?) — unb wer weiß, was fonft nod) bevorfteht — gegeben. Wegen der Religionsftörung in Oberwil fei noch nicht eine einzige Perſon verhört worden (vom Obergericht nämlich, deſſen Verhör⸗ fommiffion fid) erft am 2. Februar zur Spezialunterfuchung in Oberwil einfanb). Bei der Regierung fand der Statthalter fein fonderliches Gehör, denn fie wies den Beamten bloß an, auf bem Wege der Belehrung bie Unzufriedenen von ihrem Irrtum abzubringen, zur Ruhe unb Ordnung bin- zuleiten und zu verhüten, daß Graefje entitehen.
On dem Stadium, in das die Pfarrwahlangelegenheit zu biefer Zeit geraten war, konnte des Regierungsrats Wille leider bloß ein frommer Wunſch bleiben, denn, wie bereits der Statthalter angedeutet, hatten es die beiden Gemeinden verftanden, den ganzen Eatholifchen Landesteil für ihre Sache zu intereffieren. Eine vom 29., 30., 31. Sanuar und 1. Hornung 1835 datierte und an den Landrat gerichtete Opetition, die von einer Verfammlung „aller gut benfenben Bürger aus dem Birsed” in Reinadh!?) ausging, machte das Begehren der beiden Gemeinden zu einer Angelegenheit des ganzen Bezirks. Das Virsed, beiBt es darin u. a., fühlt
8) In Muttenz fam es im Sabre 1833 zu [djmeren Unruben, weil fid) bei Anlaß ber von Regierungsrat und Landrat befd)fojjenen Abberufung des Pfarrers tyebr zwei einander heftig befehdende Par⸗ teien gebildet hatten. Es wurde ſogar ein militärtfches Einfchreiten notwendig,
9) Die Regierung Hatte Pfarrer Jäck in Waldenburg die Aus: übung geijtlicher Funktionen unterjagt, unb als er verhaftet wurde, befreiten ihn im Auguft 1834 bie Waldenburger, was ebenfalls zu einem Truppenaufgebot führte.
10) Nach bem geijtfidjen Anonymus las Verweſer Schmidlin am Tage ber Berfammlung extra eine Frühmeſſe, zu dem Zwede und in der Meinung, auf fie den Gegen des Himmels unb ben hl. Geijt Herabzurufen; vor der Wahl, namentlich zur Zeit der Prüfung in Rheinfelden, habe er Wallfahrten für eine „gute Wahl“ begün- figt unb zum gleiden Zwede oftmals die Kinder feiner Partei zum Rofenfranz verjammelt.
136
ben Mangel an gefe&lid)en Beſtimmungen binftcbtlid) feiner firhlihen ?íngelegenbeiten. Während DBafel, biefe fonit berrfchfüchtige Stadt, bem fatbolifden Landesteil eine eigene PVerwaltungstommiffion zugeftand und bie Rechte der Be: fenner des fatbolifd)en Glaubens nie antaftete, warten die Birseder nod) immer vergebens auf bie Ausführung von S 25 der Verfaflung (in biefem wurden bem Birseck bie burd) ben Wiener Kongreß zugeficherten Rechte gewährleiftet); fte baben wohl nod) eine eigene Kirchenguts-Verwaltungs: fommi[fion, aber ihre Ausfchüfle werden in Kirchen: und Schulangelegenbeiten nicht zu Rate gezogen, und die 23e. lebung ber religiöfen Elemente ift Männern anvertraut, bie weder bie fatbolifd)e Religion noch bie befonderen Firchlichen und traditionellen Rechte des Birsecks fennen. Im pro: teftantifchen Landesteil hingegen bat der Staat den Ge: meinden das freie Wahlrecht abgetreten, ohne auf bie Reklamation des Basler KRonfiftoriums zu hören. Die Volksſtimme fpricht fid) laut und börbar für die Gleich: ftellung aus; auch in Uri und Unterwalden werden bie Geijt- lichen feineswegs auf Lebenszeit, fondern immer bloß auf eine gewifle Anzahl Sabre vom Volke erwählt. Der Bilchof bat etit neulich bem Regierungsrat gefchrieben, er wolle ibm das Beftätigungsrecht übertragen; fonnte er das fun, [o fann er nod) viel natürlicher biefes Beſtätigungsrecht ben Gemeinden überlaffen. Die Gemeinden müflen bie Priefter erhalten, ihr Fonds ift das weltliche Benefizium, das fie ihnen erteilen, und dafür gehört den Gemeinden das Wahl: reht. Der Landrat möge entweder neue Verhandlungen mit dem Biſchof anknüpfen oder von fid) aus Liberale Gefebe erlaflen, bie dem Volke bie Souveränität nicht fchmälern. Sodann wird dem Regierungsrat die Kompetenz zum Abſchluß eines Verkommniſſes beftritten, biefe fomme bloß dem Landrat zu; ferner fei beim Abfchluß allfälliger SLeberein- fommen, welche das Birseck und den Katholizismus be: treffen, ein Ausſchuß aus diefem Landesteil zu Rate zu
137
ziehen, unb ſchließlich fei bei allen Wahlen den Kantons- bürgern ein Vorrecht zu gewähren, wenn gleiche Befähigung ba iff oder bie erforderliche Prüfung beftanben iit, mit Aus: nahme jedoch derjenigen Kantone, welche Gegentecht halten.
Der Streit gelangte alfo vor den Landrat, während Bifhof Salzmann vergebens verfjuchte, den renitenten Ge- meinben fowohl bie Tadellofigkeit wie bie Gefegmäßigfeit der von ihm getroffenen Wahlen beizubringen. Es gefchah dies in einem vom 30. Sanuar 1835 datierten Hirtenbrief; darin wird darauf verwiefen, wie der Biſchof nad) Vorſchrift der Kirchengefebe gehandelt babe, welche es ibm zur Pflicht machten, unter den geprüften Bewerbern bie würdigften zu wählen, unb es wird den Pfarrangehörigen verfichert, fie würden gute Ceelenbirten erhalten, denen fie ihr volles 3u- trauen fchenten dürfen. Am Schluffe feines Hirtenbriefs ſchrieb Biſchof Salzmann, der Präfident unb bie Gemeinbe- räte möchten das Schreiben fämtlihen Pfarrangehörigen befannt geben. Dies ift nun in Oberwil nicht gefchehen, zum mindeften nicht in einwandfreier Weife. Der Hirtenbrief fand fid) nämlich faft ein volles Zahr fpäter, als der ganze Gemeinderat wegen Fahrläſſigkeit in Unterfuhung fand, unter den Papieren des Präfidenten Cütterlin vor; als dann bie Bürgerfehaft angefragt wurde, ob das Schreiben an einer Gemeindeverfammlung verlefen worden fei, verneinten das 52 Bürger, während 41 andere, darunter der Gemeinderat und feine Anhänger, entweder behaupteten, es fei verlejen . worden oder fie hätten fonft davon Kunde erhalten. Wann jedoch bie fragliche Gemeindeverfammlung follte ftattgefunden haben, darüber fonnte niemand beftimmte Auskunft geben; es wurde bloß behauptet, e8 fei das in früher Morgenftunde in des Präfidenten Haus gefchehen, um ben in Baſel Arbeitenden Gelegenheit zur Teilnahme an der Verſamm— [ung zu geben. Sm Protokoll der Gemeindeverfammlungen findet fid) fein Vermerk.
Ein paar Tage nad) dem Abgang diefes Hirtenbriefs,
138
am 4. Zebruar, wurde von Oberwil aus ein Schreiben an den Landrat gerichtet, worin 29 Bürger, an ihrer pibe Landrat Hügin, erklärten, „alle vom Biſchofe getroffenen oder nod) zu treffenden Anordnungen als Katholiken achten und ehren zu wollen”, und fid gegen bie Schritte unb OfeuBerungen ber 132 verwahrten, weil fie die bifchöfliche Autorität verfannt und verhöhnt hätten. Hügins Anhänger biegen bald im Hinblid auf ihre geringe Anzahl Acht: undzwanziger, bisweilen findet fid) aud) ber Cpottname „Bottsnamler”, weil ihre Erklärung begann mit: „Im Namen Gottes. Amen.” Diefe Oberwiler Minderheit et- hielt aud) Sukkurs, allerdings nicht aus Allſchwil, wo fid) nod) feine Gegenbewegung angebahnt zu baben fcheint, fondern aus bem näher gelegenen, aber nicht direkt beteiligten S bettvil, von wo aus fid) 85 Bürger in einer Sufchrift an bie Regierung gegen bie Erklärung der Gemeinden des Birsecks ausfprahen. Vermutlich hängt biefe Stimmung in Ser. wil damit zufammen, daß der für bie Oberwiler Pfarrei dDefignierte Geiftliche Anaheim in dem erftgenannten Dorfe als Lehrer wirkte. Die Therwiler galten übrigens als in firhlihen Dingen nicht Leicht trätabel, denn fie hatten fid) ein paar Syabre vorher des Pfarrverwefers Schaub, jeSigen Pfarrers in Reina, einfach dadurch entledigt, daß fie ihn zum Dorf binausfübrten.
Der Landrat überwies zunädhft am 2. Februar bie Detition aus bem Birsed an eine Rommiffion von fünf Mitgliedern, worauf das Plenum des Rats das Trak—⸗ tandum am 23. Februar behandeln konnte. Die Mehrheit bet Rommiffion, beftebenb aus Landratspizepräfident Stephan Guswiller, Obergerichtspräfident Frey und Anton v. Vlarer, war der Meinung, fowohl das Verkommnis vom 26. Of: tober 1830 wie ber von Stephan Gutzwiller ermirfte 3uja6 vom 10. November 1834 feien gültig, bie getroffenen Pfarr- wahlen alfo rechtskräftig, bie vier übrigen Begehren ber dirsedifhen Gemeinden hingegen — Beiziehung eines fatbo-
139
lifden Ausfchufles bei ber Abfchließung von das Birseck be- rührenden $[ebereinfommen, freies Wahlrecht mit der Ein- ſchränkung, daß dem birsedifchen Ausfhuß bie Kompetenz zur Beftätigung ber von ben Gemeinden getroffenen Wahlen guftebe, Aufhebung der Lebenslänglichkeit der Pfarritellen und Vorrechte ber Rantonsbürger — feien gerechtfertigt; ba jedoch vertragsmäßige Verhältniffe mit bem Biſchof befteben, fo folle ber Regierungsrat mit Verhandlungen zur Verwirf- fidjung biefer 93egebren beauftragt werden. Die Minder- heit, .beftebend aus Landratspräfident Aenishensly und Oberrichter Vogt, beftritt dem Regierungsrat die Befugnis, durch eine Abänderung des Verkommnifles von 1830 diefem felbft eine Art von Beſtätigung zu erteilen, daber folle das Abkommen vom 10. November 1834 ben Birseckern nicht binderli fein, ihren Wünfchen mnadgumerben; in ben. übrigen Punkten pflichtete fie ber Mehrheit bei. Der Land: rat befchloß nun aunddft am 23. Februar nad den Vor— ſchlägen ber Rommiffionsminderbeit, bie Fatholifch-Firchlichen Angelegenheiten feien einer befonderen Rommiffion aus bem Birseck zu übermeijen; die gegenwärtigen Eatholifchen Geift- [iden feien als proviforifch erklärt und bei ber einftigen MWiederbefegung nicht mehr wählbar. Am 24. Zebruar jedoch, alſo am Sage nachher, erkannte bie Mehrheit des Rates bie unberechenbare Tragweite diefes DBefchlufles!!) unb fchwächte deſſen Bedeutung dadurch ab, daß bie Stelle, welche bie amtierenden Geiftlichen für proviforifch und [püter nicht mehr wählbar erklärte, al8 Redaktionsfehler wieder geftrichen wurde. Zugleich wurde beftimmt, bap bie Rom: miffion für bie Eatholifch-Firchlichen WUngelegenheiten aus
11) Der geiltliche Anonymus behauptet, der Landrat jet einiger: maßen von der Tribüne beeinflußt worden, von wo aus ganze Scha- zen von Birsedern, mit tüchtigen Stöden bewaffnet, ben Verhand⸗ lungen folgten. Landrat Hügin wurde, wie fid aus Prozeßakten ergibt, an biejem Tage auf der Straße vor bem Rathauje von Ge: meinderat Geiler, der in Begleitung mehrerer Gefinnungsgenojjen war, mit ber Fauſt bedroht.
140
fieben Mitgliedern befteben und bereits am 1. März, an der Faſtnacht, vom Volle gewählt werden jollte.
Diefe Wahl fand in Arlesheim wirklich ftatt. Es ſcheint an diefem Sage im Vezirkshauptort recht Lebbaft zugegangen zu fein, denn, wie dem „Unerſchrockenen Rauracher” zu ent- nehmen ift, fchleppten die Allichwiler drei Böller oder „Katzenköpfe“ mit, bie jedesmal, wenn wieder ein Mitglied ber Rommiffion gewählt war, auf dem Domplatz eine Salve abgaben, [o baB an ben Häufern des Herrn Süry und der Zungfrauen Geigy an ber 9plaófeite faft alle Scheiben fprangen. Die Kanoniere meinten alsdann, bie Leute hätten eben während des Schiefens bie Fenſter öffnen und die Läden fchließen follen. In Oberwil gab es beim Auszug der Schmidlianer zur Arlesheimer Verfammlung einen Auf: lauf, weil Schmied Häring eine von ibm feit ber Revolutions⸗ zeit verwahrte Fahne des patriotifchen Vereins nicht beraus- geben wollte. Zu Tätlichkeiten fcheint es indeflen nicht ge- fommen zu fein. An bem Wahlakt in Arlesheim beteiligten fi 412 Stimmen; es wurden gewählt Friedensrichter Simon und Landrat Paulus Vogt in AMlihwil, Friedens: tidfer Thürkauf in Oberwil, Landrat Schaub in Gttingen, Präfident G[d)minb in Therwil, Landrat Nebel in ?fefd) und Dekan Gürtler in Arlesheim. Diefe Rommiffion beauf- fragte einen aus Simon, Vogt und Gürtler beftehenden engeren Ausfhuß mit der Erledigung der Gefchäfte, der fid dann aud) eifrig an die Arbeit machte, ibm lag nun haupt: fächlich bie Auseinanderfegung mit bem Biſchof ob.
Diefer erklärte allerdings ben Abgeordneten des Virseds, als fie bei ibm in Colotburn vorfprachen, er fühle fid) ge- brungen, vorerft eine Zufchrift an den Landrat zu richten, ehe in Interhandlungen eingetreten werden fónne; aber ba der Landrat fid) an bie birsedifche Rommilfion hielt, jo befam bod) dieſe bie Weiterführung der Angelegenheit in ihre Hände. Zn feinem vom 22. März datierten Schreiben be- merkt der Bifchof u. a., e8 fei ihm gleichgültig, welche 23e-
141
hörde das Recht der Genehmigung der von ibm getroffenen Pfarrwahlen ausübe, ob Regierungsrat oder Landrat oder birsedifche fommijfion; nur müffe er beftimmt willen, woran er fid) zu halten babe. Beim Antritt des Bistums babe er fi zum Grundfag gemacht, als ein wahrer Vater des Friedens zu allem, was möglich fei, gefällige Hand zu bieten, nur dürfe der Landrat nicht das Unmögliche von ibm er- warten. Daß 3. 3. fämtlihe fatbolifde Pfarrer als proviforifch erklärt werden, widerftreite allem Rechte, und bie Beſtimmung der Verfaſſung Über die Zeitdauer poli- tifher 93eamtungen auf Fatholifche Pfarrer anwenden zu wollen, das bedeute einen Eingriff in bie Rechte ber Kirche. Er, der Bischof, finde an der Firhlihen Disziplin und an dem Wiener Friedensihluß eine Schranfe, bie er bei all feinem bewährten DNachgiebigkeitsfinn nicht überfchreiten dürfe.
Diefes Schreiben wurde der birsedifchen fommijfion zur Begutachtung überwiefen, bie zur Erledigung des Auf- trags mehrere Wochen brauchte. Unterdefien wandte fid) der Regierungsrat, bei bem der Statthalter von Arlesheim auf eine Befeitigung der in Oberwil unbaltbar gewordenen Situation drängte, an den Landrat mit der Aufforderung, fid) genau und deutlich darüber auszusprechen, ob bie auf Grund des Berfommnifles vom 20. November 1834 vorgenommenen Wahlen Anaheims und Doswalds gültig feien oder nicht. Am 22. April gab bie birsedifche Kommiſſion ihr Gutachten babin ab, daß der Biſchof fid) nicht auf ben Wiener Friedens⸗ Ihluß berufen fónne, weil er ben Statusquo butd) das Verkommnis von 1830 verändert habe. Wegen Verlegung der Formen — Ausfchaltung des Defanats bei der Aus— fchreibung der vafanten Stellen — feien bie Wahlen Ana- heims unb Doswalds ungültig. Als Letter unterfchrieb das "Gutachten Dekan Gürtler, auf ben offenbar das ganze Schriftftüd, in der Hauptfache ein Plädoyer für Schmidlin und Adam, zurüdgeht. Am 18. Mai beftätigte der Landrat
142
feinen Befhluß vom 24. Zebruar, mit der näheren Er: läuterung jedoch, daß die beiden Verkommniſſe fo lange als rechtskräftig anzufehen feien, bis ein anderes Verkommnis an beffet Stelle gefegt und vom Landrat janftioniert fein werde. Ein folches fam mit Ratifilationsporbehalt bereits ein paar Tage fpäter, am 22. Mai, zuftande; darin wurde beftimmt, daß bie Eanonifche Snftitution feinem neu erwählten Pfarrer erteilt werden dürfe, ehe bie birsedifche Kommiſſion ihre Genehmigung ausgefprochen, fowie daß fähigen Be: werbern aus dem Dirsed der Vorzug vor Nichtkantons- bürgern folle zuerkannt werden. Diejes Ergebnis der Be: mühungen der Rommiffion fonnte nun nicht anders als dürftig genannt werden, denn dem Biſchof follte nad) wie vor das Wahlrecht verbleiben, und er mußte bloß mit der Firchenrechtlichen Einfeßung eines Geiftlid)en warten, big bie birsedifche Rirchenfommiffion ihre Genehmigung erteilt hätte. Der Entwurf wurde aud) nie dem Landrat vorgelegt, ba die Delegierten fid) gegenüber dem Regierungsrat den An- fhein gaben, es werde nod) etliches an ben Beftimmungen abgeändert unb erweitert. So fam es, daß diefer Entwurf zu einem Verkommnis auf ben weitern Gang der Dinge nicht im geringften einwirkte.
Als ber Otegierungsrat von Baſellandſchaft den Biſchof vom Landratsbefchluffe vom 18. Mai in Renntnis feste und ihn um die Snftallation der beiden Pfarrer erjuchte, ant- wortete diefer am 23. Mai, wegen ber in den beiden Ort: ſchaften herrfhenden Stimmung trage er je6t Bedenken, den zwei Pfarrern die Eirchenrechtlihe Einfeßung zu erteilen; aud) ift er fid Über den legten Landratsbefhluß nidt ganz Har (offenbar batten die Delegierten ibm eine ihren Wunſchen entfprechende Auslegung gegeben), denn ber bud)- ftäblihe Sinn fale bie Deutung zu, bie Anerkennung der beiden neuernannten Pfarrer fei nur vorübergehender Natur. Es bleibe ihm alfo nichts anderes übrig, als in Geduld abzuwarten, wie fid) der Landrat hierüber näher und
143
beftimmter ausfprechen werde. Der Biſchof hatte wohl das Gefühl, bie Situation bedürfe in Anbetracht ber von Baſel⸗ [anb ber an ihn gelangten widerfprechenden amtlidhen und privaten 9feuperungen zunächſt einer Klärung.
IV.
Scharfe Parteigegenfäge in Oberwil. — Unficherheit unb Otaufereten. — Ger Zuror der Weiber. — Schlägerei an einer Gemeindeverfamm- lung. — Nachficht des Gemeinderats.
Schon bie Nachrichten über bie innere Lage der beiden Gemeinden berechtigten Biſchof Salzmann zu feiner ab- wartenden Haltung. Speziell in Oberwil geftaltete fich die Situation geradezu bedrohlich; bie PDarteigegenfäte Tpisten fid) derart zu, daB mande Leute für ihre perfönliche Sicher: heit fürchten mußten. Am 26. Februar 1835 abends wurde eine Anna Maria Wittlin, als fie ihren Vater in das Haus von Landrat Hligin begleitete, mit Steinen beworfen und am Hals gefährlich verlegt, fo baB fie drei Wochen arbeits- unfähig war. Fünf junge Burſchen wurden als Täter eruiert und zu 16 Granfen Schadenerfab fowie zur De: zahlung der Roften verurteilt. In der Nacht vom 8. auf ben 9. März foll auf das Haus von Gemeinderat Düblin ein Schuß abgegeben worden fein, bod) wurde bie Sache burd) die Unterfuchung nicht aufgeklärt, denn es fand fid) in einer Zenfterfcheibe ein rundes Loch von einem halben Zoll Durch: mefjer vor, aber in der ganzen Stube nicht bie mindefte Spur von einem Geſchoß; wahrfcheinlich wurde nur blind gefeuert. Nett muB es bann am 17. März in der Kirche zugegangen fein, denn Statthalter Rummler fchreibt unter bem 28. März an die Regierung: „Zaft táglid laufen Klagen über Raufereien aus Oberwil ein. Am Gt. Sojepbstage!?) gerieten Sungfrauen und junge Weiber in der Kirche ber- geftalt miteinander in Streit, daß fie einander Rappen, „Strähle" und felbit Haare vom Kopfe berunterrifien,
12) Der damals nod) Feiertag war.
144
einander mit Fäuſten fchlugen, fid zu Boden warfen ufw. Daß man fid in der Kirche mit Fußtritten begegnet, daß man DPerfonen der andern Partei mit Gewalt aus den Stühlen verdrängt ober ausftößt, das find Auftritte, bie in Oberwil ganz zur Tagesordnung geworden find. Und folche Auftritte ereignen und wiederholen fid) meiftenteils im An- gefidót des dafelbft funktionierenden Geiftlihen! Ich will nicht fagen, baB es in deflen Macht ftebe, fie zu verhindern, aber fo viel iff gewiß, daß nichts Ruhe und Ordnung in bieler Gemeinde herzuftellen unb den gegenwärtigen traurigen Zuftand zu befeitigen imftanbe ift, als fofortige definitive 93efe&ung diefer Pfarrftelle. Es iff unmöglich, eine Ilnter- fuhung einzuleiten; bie Raufereien finden gewöhnlich bann ftatt, wenn eine oder einzelne Perfonen der einen Partei einer größeren Anzahl der anderen Partei in die Hände ge- raten. Don 3eugenabbüren fann nicht wohl bie Rede fein, weil in Oberwil alles Partei ift." Am 10. Mai fodann, nachts 10 Uhr, wurde ein Joſeph Wittlin, als er fi vom Wirts- baufe weg nad) feiner im 3ollbaus im $[nterborf gelegenen Wohnung begeben wollte, dergeftalt mit Steinen beworfen, daß ibm das Blut über Geficht und Kleider beruntertann. Als mutmaßliche Täter famen drei halbwüchfige Yurfchen in 93etrad)f, darunter der Sohn eines Gemeinderats, bod) mußten fie mit Verdacht von der Inſtanz entlaffen werden.
Die fchlimmfte Szene ereignete fid aber im Sommer, am 5. Zuli 1835, bei Anlaß einer Gemeindeverfammlung. Diefe Verfammlung wurde Sonntag abends 6 Ihr nicht wie gewöhnlich im Schulhaufe, fondern im Garten vor bem Haufe des Präfidenten Sütterlin abgehalten. Die Anhänger Anaheims behaupteten nachher, man babe fie abfichtlich fern- halten wollen; Zatfache ift jedenfalls, daß den Leuten nicht regelrecht zu der Verfammlung „geboten wurde, denn der Wächter fagte aus, er habe nur diejenigen an bie Gemeinde eingeladen, bie er gerade auf ber Straße traf, fowie bie- jenigen, deren Haus er wegen Einzug des Wachtgeldes be-
145 10
treten mußte. Ferner ftebt feft, baB fib aud) entgegen allem 93raud) Weiber fowie nod) nicht majorenne „Knaben“ in anjebnfider 3abl zu ben Verhandlungen einfanden, um feineswegs bie Rolle von müßigen Zufchauern zu fpielen. Zu einer eigentlihen 93eratung fam es überhaupt nicht, denn ein 3mifdenfall artete in einen müffen Sumult und in eine regelrechte Schlägerei aus. Als Gemeinderat Geiler das Amtsblatt (das damals u. a. aud) bie gerichtlichen Urteile enthielt), verlefen batte, fragte Peter Degen Beden, warum beute über fremde Perfonen ergangene Urteile mit- geteilt würden, während vor adi Sagen die Verurteilung eines Bürgers wegen eines Diebftahls mit Stillſchweigen übergangen worden fei. Diefe Interpellation, bie auf ben Konflikt eines eifrigen „Schmidlianers” mit den Gerichten anfpielte, wurde das Signal zu einem wirren Durcheinander: Mehrere Gefinnungsgenoflen des Betroffenen drangen auf Degen ein, miBbanbelten ihn und zerriflen ihm Gilet und Hemd; eine Anna Maria Degen padte ihn mit beiden Händen am Badenbart und zerrte ibn, fo arg fie fonnte. Nur mit Mühe vermochte ber Angegriffene fid) fchließlich aus dem Gedränge zu winden unb die Flucht in das Haus feines Bruders Niklaus zu ergreifen, der Bäder und Pinten- wirt am „Pfaffenrain” war.
2308 ging es aud) Alt-Präfident Johannes Häring, Schmied, der Degen belfen wollte, denn eine ganze Anzahl von Männern ber Gegenpartei fchlugen auf ihn ein und drängten ihn unter Hohn und Spott, woran aud) Weiber ihren Anteil batten, zum Haufe von Kirchmeier Häring, wo ber OXtiBbanbelte mit zerrifienem Hemd unb Gilet und defekten Hofen anfam. Gemeinderat und Griedensrichter Sbürfauf wollte zwar bem Ilnterfuchungsrichter gegenüber Schmied Häring aus dem Getümmel geleitet und in Schuß genommen haben unb ftellte bie Sache nur als eine „Haarrupfete” bar, bei der nicht gefchlagen wurde, von der Gegenfeite aus wurde jedoch mit Beſtimmtheit erklärt, er jet
146
einer ber tätigften unter ben Beteiligten gerefen. Doch ber S'umult befchräntte fid) nicht auf das Vorgehen gegen Degen und Häring; „es famen bann", erzählte ein Zeteiligter, „ale hintereinander und „trolten” (fugelten) den Rain hinunter”; es ging halt zu wie in einem Bienenforb, meinte ein anderer. Die Prügelei, an ber fid) auch etliche, gerade von einer Mufterung auf der „Munimatte” bei Muttenz beim- febrenbe Bürger in Uniform beteiligten, batte bann nod) ein drittes unb am fchwerften betroffenes Opfer: Heinrich Laub Nazis fam in bem Getümmel im Graben zwifchen des Präfidenten Garten und der Straße zu Fall und trug eine Verrenkung des Ellbogens unb einen Bruch der Speiche davon, beffen Heilungsfrift fid alsdann wegen zweckwidriger Behandlung auf fünfzehn Wochen ausdehnte. Alt-Präfident Heinrih Sütterlin, Ochfenwirts, wurde [páter überführt, fid) gerübmt zu haben, er babe den Laub jdn übers Bord binuntergeftoßen, und, nachdem er fid) fchließlich zu dieſer OfeuBerung und zur Sat felber befannt, zur Bezahlung einer Geldbuße von 20 Zr. und der fämtlihen Prozeß: und Arzt: foften mit Inbegriff einer Entichädigung von 180 Gr. an Heinrih Laub verurteilt.
Die Unruhen fanden übrigens im Unterdorf fein Ende, denn als Deter Degen beimgeben wollte, erfuhr er, daß vor feinem Haufe (an ber Hohlen Gaſſe) ein großer Auflauf ftattfanb und daß die Anführer einer gegnerifchen Rotte ihn fortwährend zum Serausfommen aufforderten: „Heraus, Ihr ſchlechten Kerle, wir fürchten bie Achtundzwanziger nicht! Heraus, Sbr Anaheim-Zeufell" Auf bie Aufforderung des in Therwil ftationierten Landjägers 93runner, ber auf einem Rundgang begriffen war, fam fchlieglih Präfident Sütterlin an den Ort des Speftafels mit, um Ruhe zu ftiften, und bie beiden fanden, bap bie Anfammlung vom Haufe Peter Degens bis zu demjenigen von Landrat Hügin reichte, aud) biefer wurde mit Zurufen wie: „Rommt heraus, Ihr Spiß- buben, Ihr Halunken!“ berausgeforbert, während Degens
147 10°
Sjauptgegnet Aloys Bannier bie Drohung ausftieB, Degen müfle bod nod) petr.....
On feiner Zeugenausfage zu ber Schlägerei am ber Gemeindeverfammlung bemerkte Landrat Hügin u. a., er babe ſchon oft, fchriftlih und mündlich, bie Behörden darauf aufmerkffam gemacht, daß bie Ortsporgefeßten in Oberwil bie meifte Schuld an folchen Auftritten fragen; wenn e3 (mit dem langfamen Prozeßverfahren) jo fortgebe, jo müßten traurige Folgen entfteben. Ebenſo batte fid) bereits im Grebruar ein anderer Anhänger Anaheims, Syofepb Sütterlin, Gerihtsamtmann, in der Unterfuchung wegen der ſtandalöſen Auftritte während der Predigt Doswalds geäußert: „Ich trage befonders darauf an, daß ber jegige Gemeinderat ab- berufen wird, denn fo lange er funktioniert, gibt's feine Ruhe und Ordnung in der Gemeinde.” Gtatthalter Kummler ftanb alfo mit feinem Wunſche nad) größerer Strenge nicht allein ba, wenn er auch mehr die Gerichte als bie Adminiftrativbehörden im Auge batte. Bezeichnend für bie im Gemeinderat herrſchende Stimmung gegen das gericht- liche Einfchreiten war auch der Umſtand, bap bie am 2. Fe— bruar 1835 in Oberwil zu einer Spezialunterfuchung wegen der Gtörung des Gottesdienftes eingetroffene Verhör—⸗ fommiffion des Obergerichts im Dorfe fein geeignetes Lokal für ihre Sigungen fand; der Gemeinderat wollte ihr das unbewohnte Pfarrhaus — Abbe Schmidlin Iogierte in der Mühle — nicht einräumen, und bie KRommiffion verfügte fi zunähft nad Benken. Da fam jebod) Präfident Sütterlin und bat um ihre Otüdfebr nad) Oberwil, er wolle ihr dort ein Lokal im „Rößli“ anmweifen. Das Zimmer war jedoch duBerit „ringhörig”, nur eine Wand trennte es bon der Gaftftube, und des Wirtes Brüder gehörten zu den Onfufpaten. Ein Sohn von Gemeinderat Düblin foll ftd) über bie Bedenken der Verhörrichter nicht gerade Tiebens- würdig geäußert haben: „Man wird den Kerlen zuerft ben Buckel vollihlagen müfjen, bevor ihnen ein Zimmer gefällt.“
148
Die Rommiffion ging bann in ben „Ochjen”, aber niemand binberte das Horchen an ben Türen (gebürte bod) ber Wirt zu den eifrigften „Schmidlianern”), unb fo verlegte fie fchlieglich bie Verböre in ben Binninger „Schlüffel”.-
V.
Ende des bipfomatijd)en Streits zwifchen Regierung unb Biſchof. — Neue Bermittlungen infolge ber drohenden Haltung ber Gemeinden. — Verſuch einer Inftallation von Pfarrer Anaheim Durch bie welt-
lide Behörde. — Die „Schmidlianer“ brauchen Gewalt.
Bevor jebod) der Prozeß wegen der Störung des Gottesdienftes (am 14. Dezember 1834) zum Abfchluß ge- langte, zeitigte der Streit um bie 93efeGung der erledigten Pfarreien Greignifje, bie den Gerichten nod) viel mehr Arbeit verurfachen follten. Die Behörden fanden es an der Zeit, bem feit Monaten andauernden Proviforium in Ober: wil unb Allſchwil ein Ende zu machen, und fo zögerte der Regierungsrat nicht, bem Biſchof auf beffen Zufchrift vom 23. Mai zu antworten, er halte dafür, daß die Ernennung der beiden Pfarrer (Anaheim und Doswald) ald unter bem gewährleifteten Statusquo erfolgt, in fortdauernder Gültig: feit beftehe; ber Bifchof dürfe ihm, als bem gejeglichen Aus- leger der Landratsbefchlüffe, wohl trauen. Der Biſchof be- fand jedoch am 6. Juni auf einer Erläuterung durch ben Landrat felbft: Hier tritt augenfcheinlich bie Wirkung bet Schritte hervor, welche Abgeordnete von Allſchwil und Ober: wil perfönlih in Solothurn unternahmen. Wenn folche, fo wurde fpäter im Verhör gefagt, von Solothurn famen, fo behaupteten fie, der Biſchof wolle es auf bie Mehrheit an- fommen [affen. Ferner erzählte Präfident Sütterlin, er fei mit Friedensrichter Thürkauf beim Biſchof gemefen, als bie Prüfung der Afpiranten fchon ftattgefunben hatte; ber Biſchof fagte, bie von ibm Ernannten hätten das Eramen am beften beftanden, bod) wolle er feben, ob es fid) machen faffe, daß Schmidlin in Oberwil bleibe. Offenbar pflegte Biſchof
149
Salzmann, eine milde, gütige Natur, feinen Ctanbpunft im perfönlichen QSerfebr den Delegierten gegenüber weniger ent: fhieden zu vertreten als im Notenaustaufh mit ber Re- sierung in Lieftal, und fo fonnten bie Abgeordneten jeweilen feine Ueußerungen in dem ihnen genebmen Sinn deuten. Es fam fogar dazu, baB die birsedifehe Kommiſſion in einer Eingabe vom 15. Zuni zu Handen des Landrat behauptete, ber Biſchof babe ihrer Deputation erklärt, er wolle die Be— dürfniffe und Wünfche der beiden Gemeinden berüdfichtigen und bie gegen ben Volkswillen und das Volksrecht ge- troffenen Pfarrwahlen abändern, wenn der Landrat damit einverftanden fei. Selbftverftändlih machte diefe Behauptung feinen Eindrud, bie Regierung beeilte fid) vielmehr, beim Biſchof auf bie endliche Einfegung der beiden Geiftlichen zu dringen, unfer der Androhung, vom 15. Zuli ab bie 23e- zablung der Verweferkoften zu fiftieren. Das wirkte, denn ber Vifchof erteilte am 2. Zuli dem General-Provifar von neuem bie Weifung, den beiden Pfarrern bie feit vier Mo: naten in Rheinfelden liegenden GinleSungsSurfunben aus- zubändigen und die Einführung in eigener Perfon vor- zunehmen. Diejenige Doswalds gedahte Wohnlih in Allſchwil am 13. Zuli und diejenige Anaheims in Oberwil am 14. Zuli vorzunehmen, was er ſowohl der Regierung in €ieftal als dem Dekan in Arlesheim anzeigte. Allein aud) jest war man nicht fo weit.
Unter bem 8. Zuli fchrieb nämlich der General-Provifar an den Regierungsrat, er babe an diefem Sage zwei fürm- liche, mit allem Nachdrud verfaBte Proteftationen der Ge— meinden Oberwil und Allſchwil erhalten, bie fo abgefaßt feien, daß jeder Unbefangene bie Unmöglichkeit einjehen müſſe, eine geiftliche Snftitution aud) nur zu verfuchen, ohne bie unangenehmften Auftritte bervorzurufen. Es jei feine Ausfiht, baB die Inftallation ohne Anrufung der Staats: gemalt erfolgen fónne; ein folder Schritt aber müßte für bie zukünftigen Geelforger in den Gemeinden von unberechen-
150
baren, fchlimmen Folgen fein, daher fónne er fein Vorhaben nicht ausführen. Mündlich hatten bie Abgeordneten ber Ge- meinden Wohnlich erklärt, daß fie fid) ebenfomenig durch etwa zu erfolgende Kirchliche Strafverfügungen des Biſchofs als durch bie Gewalt des Staates zur Aufnahme der ihnen zugewiefenen Geiftlichen bewegen und zwingen laflen würden; der General-Provikar folle es verfuchen, wenn er es nicht glaube. Mit ähnlichen Proteften wandten fid) die beiden Gemeinden an den Landrat. Derjenige von Oberwil war von 128 Bürgern unterzeichnet; bie Partei der „Schmid- [ianer" war alfo nicht mehr gana fo ftarf wie ein halbes Fahr früher, wo fie 132 Unterfchriften aufbrachte, wobei aud) nod) zu bedenken iit, daß fid) unterdeflen vorher noch Unent- fhiedene bem einen oder andern Haufen angefchloflen baben dürften.) 9n ihren gleichlautenden Schreiben nahmen bie Befchwerdeführer namentlich den Regierungsrat aufs Korn, ber bem deutlihen Vollswillen zuwider immer nad) Solothurn fchreibe und jetzt entgegen den gerechten Wünfchen ber Vürgerfchaft bie Snftallation der beiden Geift- [iden durchfegen wolle, bie unbeilbringenb wäre für bie Volksrechte unb verderblih für die beiden Gemeinden. Durh ben Beſchluß, bie Synftallation der beiden Pfarrer vorzunehmen, hätte man J3unber in ein Pulverfaß ge- fchleudert oder das Meffer an eine heilende Wunde gefebt. Könnte man nid ebenfo gut bie Statthalter und bie alte Regierung wieder einfe&en, wenn das Volk auf fein Wahl⸗ recht unb feine Freiheit verzichtete und in trägem Schlummer dahinſchnarchte?
Trotzdem wandte fid) bie Regierung angeſichts dieſer neuen Verwicklung wieder an den Biſchof und ſchrieb ihm unter bem 14. Juli, bie Proteſte bezwedten lediglich eine ——— 9) Die Ahtundzwanziger waren übrigens wohl von Anfang an ftürfer, als ihr Name befagt; ba aber die Erklärung vom 4. Yebruar 1835 aud) im Namen ihrer familien abgegeben war, jo unter[d)rteben
loídje nicht, deren rauen „Schmidlianerinnen“ waren. Ein foldes Verhältnis beitand beifpielsweife in ber (yamilie meines GroBoaters.
151
Verzögerung ber Inftallation, unb bie in ben Gemeinden berr[d)enbe Parteiung, durhaus nur von perjón(id) De: teiligten angeregt, fei nicht von der Art, daB man bedenkliche tumultuarifche Auftritte zu fürchten babe. Darauf meinte ber Vifchof, es möchte wohl am beiten fein, wenn der Re- gierungsrat durch einen Kommiflär eine Perfammlung beider Gemeinden abhalten unb fid) ein ruhiges Betragen verfprechen laſſe. Zu diefem 3mede legte er einen bei diefer Gelegenheit zu verlefenden Hirtenbrief bei, worin ber. Biſchof nochmals bie Erwartung ausſprach, die Allihwiler und Ober- wiler würden in ihrem echt religiöfen Sinn und Geifte ben ihnen zugewiefenen Geiftlichen, al8 welche er pflichtgemäß bie Würdigften bezeichnet habe, jobalb fie ihnen vorgeftellt feien, alle Achtung und Liebe und volllommenen Gehorfam ermeijen. Statthalter Rummler wurde nun beauftragt, bie Gemeinden zu verfammeln, ihnen den SHirtenbrief vor- zulefen und auf die bevorftehenden Snitallationen bin mit allem Nahdrud zur Ordnung zu mahnen. Er entledigte fid) feiner Miffion am 19. Juli und berichtet darüber (von anderer Seite liegen feine Meldungen vor):
„Zn Oberwil fonnte ich den Auftrag bei zahlreich ver- fammelter Gemeinde durchführen, ohne daß fid) eine einzige Stimme gegen die bevorftehende Snftallation bören ließ. Ein einziger Bürger, Safob Häring, Gattfer, ein eifriger „Schmidlianer”, fagte ganz leife: „Wir beten halt einige PBaterunfer weniger, wenn Schmidlin fort if." Mit ber Bemerkung, daß die Gemeinde, bie ben Entſcheid des Biſchofs unb der Regierung fenne, der Synftallation feine Schwierigkeiten in den Weg legen werde, ſchloß ich bie Ge- meindeverfammlung. Anders in Allfchwil. Gemeinbepráfibent Vogt jagfe fd)m vor Beginn der Verfammlung: „Wir achten weder auf Beſchlüſſe der Regierung, nod auf Gaufeleien des Bifchofs, wir haben nicht dafür geftritten, um einigen Röpfen auf den Thron und einigen Pfaffen zu Stellen zu verhelfen.” Ebenſo äußerten fid) bie Gemeinde:
152
räte Werdenberg unb Chriftoph Saujer. Sm „Rößli“ (mo Kummler abftieg) bat Vogt nod) gefagt: „Der Biſchof iit ein elender Tropf, der miferabelfte „Zittel”, den es auf der Welt gibt; er ift ein Srautfopf, ein Wafchweib; er follte nidf Salzmann, fondern Salzfrau beißen; fura, er ift ber fchlechtefte „Zittel”; id) fage das Öffentlich unb menn ich auch in den Bann komme.” Doswald nannte er wiederholt einen Schurfen. Mittlerweile verfammelte fid) bie Bürger: fhaft auf bem Gemeindeplag. Wie id) das bifchöfliche Schreiben zu verlefen begann, entitand allgemeines Ge: murmel: „Darf ber noch fo reden, ja ber ift ein Cauberer." Ale Lippen waren in Bewegung, ebenfo am Schluß. In Oberwil batte id) nur leife auf bie Folgen aufmerffam ge: madt; bier verwies id) mit allem Nachdrud auf bie Folgen ber QOiberfelidbfeit. Die Matadoren riefen: „So darf bie Regierung zu uns reden, bie Regierung, die uns ihre Eriftenz zu verdanken bat. Haben wir dafür geftritten?” Sriedensrihter Simon behauptete, der Biſchof babe es ibm am Abend vorher um 6 hr felbft gefagt, baB er bie Regie: rung erfucht babe, durch einen Kommiſſär eine Abftimmung vornehmen zu lafien, ob bie Mehrheit Dosmwald wolle oder nicht.” — Der Statthalter fonnte nicht aus bem Gedränge ber ihn umgebenden Leute und mußte zufeben, wie eine Ab— fiimmung vorgenommen wurde: Keine Hand erhob fid) für Doswald. Wer ibn aber nicht wolle: Alle Hände gingen in die Höhe, wenigftens berjeingen, bie um den Statthalter berumftanben. Immerhin eriftierte jebt eine Gegenpartei, denn Rummler nennt mit Namen mehrere Anhänger Dos$- walds, bie er an der Verfammlung vermißte. Auch aus ber Filiale Schönenbud,!t) bie fid nie gegen Doswald aus- gefprochen, war niemand zugegen. Am anderen Sage be- Hasten fid) bie Allfchwiler in einer Zufchrift an bie Regie- tung über bie unangemeflene Art, wie Rummler die Bürger über bie Stimmung verhörte, und ebenjo befchwerten fid) bie ſchonenbuch wurde erft im Sabre 1861 felbftändige Pfarrei.
153
Oberwiler, weil er nur ben Brief des Biſchofs verlefen und dann bie Gemeindeverfammlung wieder aufgelöft babe.
Nun wandte fid) bie Regierung am 21. Zuli neuerdings an ben Biſchof mit bem Erfuchen, er möge den beiden Geift- [iden bie kanoniſche Inftitution erteilen, und diefer erließ eine babingebenbe Weifung nad) Rheinfelden; die öffentliche Einführung falle aus, die Geiftlihen mögen fid) entweder felbft einführen oder fid) durch bie Regierung einführen faffen. Doswald erhielt am 26. Zuli bie fanonifd)e Snftitution für Allſchwil, Anaheim am folgenden Tage diejenige für Ober: wil. Am 28. Zuli nahm die Regierung in Lieftal den beiden ben Amtseid ab; zugleich ermächtigte fie den Statthalter, in Gemeinfhaft mit dem Dekan, oder nötigenfalls allein, den Zeitpunkt zu beftimmen, an welchem die Pfarrer ihren Ge- meinden vorgeftellt werden follten. Als jedoch Rummler jein Anfuhen Gürtler vortrug, erklärte diefer, er fónne Der Snftallation nur in feiner Eigenſchaft als bifchöflicher fom- miſſar beimohnen, bod) babe er dazu keinen Auftrag und könne baber dem Gefuch nicht Folge leiften. So befchloß denn ber Statthalter, gemäß ber regierungsrätliden Weifung die Gin- führung von fid) aus vorzunehmen, und zwar gedachte er ben Anfang am 30. Zuli mit Oberwil zu machen, wo er am . 19. Juli nicht auf namhaften Widerftand geftoßen war.
Daß bie geiftlihen Behörden mit ihrer Befürchtung wegen eines Aufruhrs bie Sachlage nicht zu [dara anjaben, dafür gab e8 in jenen ereignisfchweren Zulitagen gerade in Oberwil auffallende Symptome. Zunächſt bewies bie [don im letzten Kapitel erzählte Prügelei an der Gemeinde: verfammlung, baB man von einem Appell an bie Waffen nicht mehr weit entfernt war. Sodann wurde Martin Thürkauf, Gejdeibsridter, fo viel als überwiefen, daß er fid) in Therwil, bem Wohnorte Anaheims, dahin geäußert babe, wenn Anaheim nad) Oberwil fomme, fo ftänden feine Söhne mit den Waffen in der Hand bereit, ihn fortzutreiben. Diefe, vier an der Zahl, patrouillierten jede Nacht mit Ge:
154
wehren im Dorf berum. Anaheim würde erfchoflen werden, unb mit ibm nod) vier Männer, nämlich Landrat Hligin, Alt-Prafident Häring, Gerichtsamtmann Sütterlin und Kirhmeier Grana Sofepb Häring. Die Eorreftionelle Ab— teilung des Obergerichts verurteilte Thürkauf au fechs Wochen Gefängnis unb den Roften, bod) eine vom gefamten Dbergericht angeordnete nochmalige Verhandlung verlief für den Angeklagten alimpflicher; er mußte bloß durch zwei „an- nebmbare" 93ürgen Gt. 1200 Kaution leiften, daß die aus- gefprochenen Drohungen nicht ausgeführt werden. Ferner fagte Deter Hügin Jakobs im Wirtshaufe, menn Schmidlin fort müfle, fo würden fünf ,9[nabeimer" totgefchlagen werden; Heinrih Erismann meinte fogar, alle Achtund- zwanzig müßten umgebracht werden. Nach Ausfage von Land- jäger Brunner foll dann Sob. Thürkauf im Wirtshaufe von Jakob Löw in Viel gejagt haben, menn Anaheim nad) Ober- wil fomme, jo müfle es noch ärger geben, al8 am 3. Auguft (Gefeht von Pratteln 1833). Einen neuen Strauß batte Opeter Degen, 93eden, zu befteben, als er einige Tage vor der erftmal8 geplanten Inftallation Anaheims (14. Zuli) am Bade, wo er filchte, mit einer Rotte Gegner zufammentraf, bie gerade aus dem Verhör von Arlesheim wegen ber Störung des Gottesdienftes bei der Predigt Doswalds zurüdfehrten. Degen und fein 93egletter, Sofeph Schweizer von Reinach, wurden gefragt, warum fie filchten, worauf Degen antwortete: „Wit Ihr nicht, baB am Dienstag ber Pfarrer vorgeftelt wird? Da müffen wir bod) eine Platte Gifde haben." Da fam bie Gntgegnung: „Das wird nicht gefchehen, eher wird es in Oberwil ein 93lutbab geben, fie werden bie Gemeinde nicht zwingen; Ihr müßt bod) nicht glauben, Ihr Achtundzwanziger, bap Ihr bie Gemeinde zwingen werdet.” Degen wurde zum Bache berausgefordert, wo ihn bie Rotte umringte und mit Drohungen nicht geiate; zu Zätlichleiten fam es nicht, bloß wollte der bereits in Kapitel IV genannte Aloys Bannier feinem Sauptfeinb ben
155
Kübel [amt ben Zifchen in den Bach werfen, wurde jedoch von feinem Vorhaben burd) den Sohn von Landrat Hügin abgehalten. „Das find die Früchte ber pflichtvergeflenen Vorgeſetzten in Hier”, fchrieb Degen in feiner Beſchwerde an den Statthalter.
Die Naht vom 29. auf den 30. Zuli verlief in Oberwil wieder unruhig, ganz wie diejenige, bie bem Sonntag mit der Prediot Doswalds vorangegangen war. Am Abend hatte Schmidlin das Dorf verlaflen, und feine Anhänger fhlofien daraus, daß etwas im Werke fei, das ihre Hoff: nungen definitiv zunichte machen würde. Zei ber herrichenden Aufregung war es den Agitatoren ein leichtes, das Feuer des Widerftands gegen das Kommende zu ſchüren. In den Galen fammelten fid Gruppen von Männern und weib- [iden Perfonen, und im Haufe des Präfidenten ging es Ieb- haft zu; ein Vorübergehender hörte, wie jemand erklärte, es wäre eine Schande, wenn bie Achtundzwanziger Meifter würden, man werde jest zeigen, wer Herr fei. Wieder wurden Anhänger Anaheims herausgefordert oder e8 wurde ihnen bedeutet, fie follten fid) in acht nehmen und nicht auf der Straße erfcheinen. Als bie Landjäger Brunner und Schäublin fid) auf einem Rundgang, der fie einerfeitsS nad) 23enfen unb anbrerjeit8 bis ins Oteubab nad) Binningen führte, bem Dorfe Oberwil näberten, fonftatierten fie Lärm und 3ujammentottungen; auf ihre Gtage nad) der Arſache wollte Präfident Sütterlin nichts miffen. Auf bie Mab- nung zur Ruhe wurde den Landjägern geantwortet, fie hätten nichts zu befeblen. Bei ber Mühlebrüde waren Wachen ausgeftellt, und als bie Hliter der Ordnung fragten, was das su bedeuten habe, hieß es, man gebe bloß fpazieren. Auf eine QVermahnung wurde mit Drohungen geantwortet, bie fih zu Püffen und Schlägen fteigerten, fo daß bie beiden, Durch das ganze Dorf verfolgt, biefe8 auf der Seite nad) 23ott- mingen zu verlaflen mußten. Joh. Häring, Huffchmied, der Sohn eines ber Häupter der „Anaheimer”, fam gerade von
156
Sbermil ber unb mußte fid zur Seite machen, um der fanatifierten Rotte nicht in bie Hände zu fallen.
Unter diefen Umftänden alfo unternahm es Statthalter Rummler, am 30. Zuli den Pfarrer Anaheim in Oberwil einzuführen. Er verfügte fid) morgens 8 Uhr mit diefem in einem Chaischen nad) der Ortichaft, bie bet der Ankunft ber beiden menfchenleer fchien. „Wir fliegen”, fchrieb Rummler in feinem Bericht an den Regierungsrat, „beim „Ochſen“ ab; das Haus war gefchloflen, ein Kind fagte, alles fei auf bem Gelbe. Wir verfügten ung nun zum Gemeinde: präfidenten, waren aber faum einige Minuten dort, als das Haus fid) mit Leuten anfüllte, welche riefen: „Entfernt Euch auf der Stelle, wir wollen ihn nicht und dulden ihn nicht, unb zwar feinen Augenblid, wir wollen den Schmidlin!" Cd) bemerkte, davon fónne feine Rede fein, Anaheim fei jest ihr Pfarrer, er babe als folcher der Regierung den Eid ge: leiftet. Er werde das Pfarrhaus in Beſitz nehmen und dort wohnen; wer fid) gegen ibn verfehle, werde ber geſetzlichen Strafe nicht entgehen. „Sperrt uns ein, macht mit uns, was Sr wollt, aber wir wollen ihn nicht, fort muß er!” Od) forderte vom Präfidenten bie Schlüffel zum Pfarrhaus, er fuchte fie. Snbeffen wurde das Haus dicht angefüllt. Sch babnte mir einen Weg und lief mit Anaheim dem Pfarr: baufe zu. Uber gewaltfam zurüdgedrängt, bin ich faum zehn Schritte weit gefommen. „Zum Dorf hinaus mit Euch!“ hieß es. Man padte uns, ferte uns und führte ung zum Dorf hinaus. Ich wollte bie NRädelsführer notieren, bie Gemeinderäte zögerten aber, ihre Namen zu nennen. Nach: dem ich fie an Eid und Pflicht gemahnt, gelang es mir, drei oder vier aufzuzeichnen, aber das Papier wurde mir aus den Händen geriflen, es war nicht mehr möglich, nur einen ein: zigen aufzuzeichnen. Endlich, nachdem wir lange hin- und betgeftopen unb mit Schimpfworten tiberhäuft waren, gelang e3 uns, uns zu entfernen. Anaheim erhielt nidt nur Stöße und Schimpfworte, fondern aud) von hinten einen tüchtigen
157
Streich auf ben Kopf. Es fielen Schimpfworte: „Schlechter, miferabler Kerl! 93rotbieb! Du ftiehlft bem Herrn Schmidlin das Brot weg; Ihäme Sid" Ein Zubelgefchrei tiber den et- rungenen Gieg, das wohl ftundenweit hätte gehört werden fónnen, wurde ung von der Menge nachgefchidt, bie aus 70 bis 80 Männern und beinahe doppelt fo viel Weibern beftand. Die Gemeinderäte haben anfangs gezögert, die Namen ber Rädelsführer zu nennen; aber dann haben fie alle Mühe angewendet, um uns vor Mißhandlungen zu fhüten, ohne fie wären wir fchwerlich mit beiler Haut Davongefommen.”
Dies der Bericht des Statthalters, defien Inhalt in den weſentlichen Punkten nachher burd) die gerichtliche Unter⸗ fud)ung beftätigt wurde. Zur Ergänzung muß nod) beigefügt werden, daß Pfarrer Anaheim fdon beim „Ochſen“ einen Mann bemerkte, der burd) das Dorf lief unb bie Leute zufammentrommelte mit bem Ruf: „Sebt gilt’s!" Um bie Bauern vom Gelbe ins Dorf zu rufen, wurde Sturm ge- läutet, wie bei einer Geuersbrunit. Unter den in Baſel arbeitenden Leuten war am Sage vorher bie Lofung aus: gegeben worden, man müfle am Donnerstag zu Haufe bleiben; der Gemeinderat follte es fo befohlen haben. (Wir erfahren bei diefer Gelegenheit, daß rund 40 Mann aus Oberwil tagtäglich des DVerdienftes wegen in die Stadt gingen; das Dorf wies al(o bereits damals einen ziemlichen Prozentfa von Snduftriearbeitern auf.) Der Dorfwächter erhielt vom Präfidenten den Auftrag, bie Kirchenbücher in der Mühle (mo Schmidlin fogiert hatte) zu holen und ins Pfarrhaus zu fragen, bod) in der Mühle befam er den 23e- fheid, bie Bücher würden erft ausgeliefert werden, wenn ein Mitglied des Gemeinderates fomme. Als der erfte und vorderfte ſtieß Rößliwirt Sütterlin den Statthalter zurüd; fein Bruder Johannes entriB Rummler das Papier, auf dem diefer bie Rubheftörer aufgezeichnet hatte.
158
VI.
Maßnahmen von Regierung unb Bezirksverwalter gegen bie Reni- feng ber Oberwiler. — Die Miffton ber fech8 Landjäger. — Die Entichloffenhelt zum Widerftand gegen Arreftationen. — Die gewalt-
fame Befreiung eines Verhafteten. — Eine ftataftropbe.
Statthalter Rummler, der unter diefen Umftänden ben Verſuch einer SInftallation in dem wenigftens ebenfo fhwierigen Alfchwil gar nicht machte, eritattete über den Mißerfolg feiner Sendung in Oberwil fofort Bericht an bie Regierung in Lieftal, und diefe beauftragte ihn mit der Ein- leitung einer Unterfuchung über bie Widerfeglichleiten vom Donnerstag vormiftag; bie Hauptteilnehmer feien fofort zu arretieren und nad) Cieffal zu verbringen. Wegen der In— ftallation fei ein nod am gleichen Tage zu erlaflfendes Schreiben des Regierungsrat3 an gebotener Gemeinde: verfammlung zu verlefen, das bie 93ürger in Oberwil auf: fordern folle, fid) den gejfegmäßigen Anordnungen und De: [hlüffen des Regierungsrats zu fügen, widrigenfalls gegen bie Widerfeglichen nad) S 50 des Kriminalgefeßbuches ver: fahren würde. KRummler zitierte fofort bie Hauptbeteiligten auf Freitag früh nad) Arlesheim, aber als ihnen der Land- jäger bie Vorladung brachte, erhielt er zur Antwort, fie würden ihr feine Zolge leiften, fie nábmen von foldhen €umpenbunben von Regierungsrat und Statthalter feine Befehle an. Nur einer, Seinrid) Gutzwiller, verfprach, fid zu ftellen, ließ fid) jedoch ebenfo wenig in Arlesheim bliden. Nun ging Rummler energifch vor. Er beauftragte bie Land⸗ jäger Brunner (ftationiert in Sbermil), Schäublin (Ober: Toi, Hägler (Arlesheim) 9Xafgad) (?fejd und Dil (Lieftal), unter Führung des Korporals Meyer, fid) fofort nad) Oberwil zu begeben und bie Widerfpenftigen mit polizei- licher Gewalt nad) Arlesheim zu führen, es waren das Sofepb Sütterlin, Wirt zum ,,Otopli", Matthias Sütterlin, Martin Häring, fowie einen Geiler unb einen Düblin, die
159
ber Gemeindepräfident näher bezeichnen [ol[te.1») Kummler gab ben Landjägern nod) ein Schreiben an den Gemeinbe- rat mit, worin er den Zweck ihrer Sendung anzeigte unb die 93ebotbe bei Eid und Pflicht aufforderte, bie Diener der öffentlichen Gewalt bei der Ausführung ihres Auftrags mit allen ihr zu Gebote ftehenden Mitteln zu unterftüGen und denjenigen Perfonen, bie fid) etwa unteriteben follten, ihnen Hindernifle in ben Weg zu legen, mit allem Nachdruck vor: auftellen, daß fie fid) Dadurch des in ben SS 50 unb 51 des Kriminalgefegbuches verzeichneten Verbrechens (des fort: geſetzten Aufruhrs) ſchuldig machten.!!) Ein Eremplar diefes Gefetbuches wurde dem Schreiben beigelegt.
Die Landjäger machten fid) auf den Weg. Auf ber Höhe des Bruderholzes angefommen, beredeten fie fid) über das Vorgehen bei der Ausführung ihres Auftrags. Rorporal Meyer und Brunner follten fi) voraus zum Gemeinde: präfidenten verfügen, während Hägler unb Malzach mit ber Berbaftung des Röpliwirts Joſeph GSütterlin, Dil unb Schäublin mit derjenigen von Matthias GSütterlin (der wie Joſeph Sütterlin im Ilnterdorfe wohnte) betraut wurden. Aber Matthias Sütterlin war nicht zu Haufe, er hielt fid) in den Grasgärten hinter dem „Ochſen“ verborgen, während andere von ben gu Qerbaffenben fid) nad) der Allmend flüchteten, die in ber Richtung nad) bem elſäſſiſchen Dorfe Oteumil ber Landesarenze nahe liegt. Dil und Schäublin begaben fid) nun ebenfalls ins Rößli, von wo aus Malzach bereit3 mit ber Meldung zu ihnen gefommen war, Sofepb Sütterlin fei daheim. Bald ftellten fid) aud) Meyer und Brunner ein, bie von den Gemeinderäten begleitet waren. Diefe waren in einer fatalen Lage. Cie waren eifrige DParteigänger auf ber Seite der „Schmidlianer”, fie hatten 3) Gpüter ftellte fid) heraus, bap die beiden Joſeph Geiler, Färber und Mathias Düblin, Gemeinderats Sohn waren.
16) Das Schreiben fand fid) nachher nicht mehr vor, aber daß es
eriitierte und an feinen Beftimmungsort gelangte, unterliegt feinem Zweifel.
160
nichts getan, um bie Entwidlung des Konflikts zu feiner jegigen gefährlichen Geftalt zu verbüten, fie fannten bie Stimmung der fanatifierten Bevölkerung, bie aus Solidarität mit ben Erzedenten des vorhergehenden Tages diefe den Be: bótben nicht ausliefern wollte, aber es bámmerte ihnen aud) die Erfenntnis auf, daß ihnen ein anfehnlicher Teil der Verantwortung für die Folgen eines SZufammenitoßes zwifchen der Polizei und den ertremen „Schmidlianern” zu: gefchrieben werden müßte. Der Gemeinderat fuchte fid) nun um eine Entfcheidung zu brüden und wollte e8 der Gemeinde: verfammlung anbeimftellen, ob bie von der Polizei gefuchten Fünf ihr überantwortet werden follten; er vertrat bie An— fibt, es wäre beffer, angefichts der gereizten Stimmung feine Arreftationen vorzunehmen, während bie Landjäger auf bie erhaltenen ftriften Befehle hinwiefen. Gegen die Gin- berufung einer Gemeindeverfammlung hatten fie nichts ein- zuwenden, und eg wurde aud) zu einer jolchen geläutet, ebenfo wurden Leute vom Felde ins Dorf geholt, und u. a. wurde bezeugt, daß eine Frau bie Männer mit den Worten aufrief: „Wer etwas Rechtes ift, fommt an die Gemeinde!”
Das Volk fammelte fid) vor dem Roöpli!”) an, und wieder bewies das weibliche Gefchlecht fein befonderes Intereſſe an der Angelegenheit durch [ebDafte Zeteiligung an der erregten und lauten Diskuffion, bie unter dem Haufen bin- und berging. Don einer eigentlichen Gemeindeverfamm:- Iung konnte unter diefen Umftänden feine Rede fein, und Opráfibent Cütterlin fcheint aud) feinen Verfuh gemacht zu haben, eine regelrechte 93eratung zu pflegen; feine Rolle beſchränkte fid) darauf, den Landjägern das Gefährliche einer Wegführung ber Manifeftanten des vorhergehenden Tages auseinanderzufegen und jemeilen dem Volke wieder Mit:
1?) Das Röpli fteht nod, tft aber längſt nift mehr Wirtshaus; es iit bas dritte Haus lints am Eingang des Dorfes von Bottmingen ber. Der Haupteingang bes Haufes fag vor achtzig Jahren gegen das ſchmale GüBdjen auf der Güboftfelte zu.
161 11
teilung von bem Stand ber Verhandlungen zu machen. Diefe fanden in ber Wirtsftube ftatt, und durch das offene Genfter drang von Seit zu Zeit eine nicht mißverftändliche Drohung oder eine Infulte an bie Adreſſe der Poliziften ein, bie die fiebetbafte Erregung der Volksmenge verrieten. Enter biefer war nun einmal die Parole ausgegeben, man müſſe den mit der Verhaftung Bedrohten beifteben und dürfe ihre Wegführung nicht dulden. Es nüste aud) nichts, daß KRorporal Meyer das Schreiben der Regierung verlas, worin bie Gemeinde unter Hinweis auf das KRriminalgefeb- bud) zum Geborfam gegen bie Verfügungen der Behörden aufgefordert wurde; die Menge fchrie: „Zerreißt e8 bod) (das Geſetzbuch); wir fragen dem nichts nah, mir ..... pfeifen auf bie Landjäger, den Verwalter, bie Regierung und das Gefegbuch; lieber laſſen wir das Leben, als daß wir einen wegführen Iaffen.” Ein Zeil ber in der Wirts- ftube befindlichen Leute fuchte bie Landjäger zu beruhigen mit der Verficherung, fie hätten nichts zu befürchten, bin- gegen fonnte ihnen bei dem Toben der Menge vor dem Haufe bennod) nicht gebeuer fein, denn fie hörten Drohungen wie: „Rommt nur heraus, bier müßt Shr verr.... unter unferen Händen, Ihr Salunfen."
Die Landjäger waren fid) alfo bewußt, welch gefährliche Miffion ihnen übertragen war, und fie erklärten fid baber auch zu Konzeffionen bereit. Sie machten dem Gemeinderat ben Vorſchlag, er folle bie Schuldigen berzitieren und ihnen ans Herz legen, in welch unberechenbares Unglück fie die ganze Ortſchaft burd) bie Widerfeslichkeit gegen bie Be— bórbe flürzten; bie Arreſtanten würden gar nicht geführt werden, fondern follten ben Landjägern voraus in Begleitung von Gemeinderäten nad) Arlesheim gehen. Es half alles nichts, bie Kluft zwifchen dem Standpunkt des Gemeinbe- rats, daB das Volk niemand zum Dorfe binaustaffe, und demjenigen der Poliziften, bap fie unbedingt bie Schuldigen, deren fie habhaft werden fónnten, dem Statthalter vorführen
162
müßten, biefe Kluft war nun einmal nicht zu überbrüden. Möglich, baB Bezirksverwalter Rummler nicht bie Verant- mwortung für eine in folcher Lage zu bewerfftelligende Ar- reftation übernommen bätte, wenn er zur Stelle gewefen wäre; den Landjägern jedoch fann man feinen Vorwurf mahen, daß fie als untergeordnete Organe den erhaltenen gemeljenen Befehl nicht wegen der Beſorgnis vor Gewalt: tätigfeiten für babingefallen betrachteten. Es wurde auch be- bauptet, bie Landjäger hätten getrunken, fie feien deshalb zu hitzig vorgegangen, und es iff auch nicht wahrfcheinlich, baB fie während des mehrere Stunden dauernden Aufenthalts im Otopli ihren Durft bloß mit Waſſer gelöfcht haben; hingegen bat unzweifelhaft auch bei den Dorfbewohnern der Pier: unddreißiger, einer der beften Sahrgänge des ganzen ver: flofienen Sabrbunberts, redlich zur Aufftachelung der gefähr⸗ lichen Leidenfchaften beigetragen. Ein Symptom für bie Stimmung kann man darin feben, daß zur Seit, als fid) im Dorfe bie Runde von der Ankunft der Landjäger verbreitete, ein Heißfporn der „Schmidlianer” einen etwa 14jábrigen Zungen nad) Binningen fchidte, um dortige Einwohner um 93eiftanb anzugehen, bod) bat man dort über das Anfinnen bloß gelacht. Auch foll der Knecht von Gemeinderat Thürkauf (an der Hohen Straße) mittags nad) Allſchwil geritten fein, um von dort Hilfe zu holen, bod) iit auf feinen Fall jemand gefommen.
Nun, aud) ohne auswärtigen Zuzug wurden bie Ober: wiler über bie Landjäger Meifter, wie fid) bald zeigen [ollte. Nah mehr als dreiftündigem Zuwarten, als eine Einigung definitiv ausgefchlofien erfcheinen mußte, machten fid) bie Landjäger auf, um ben Röfliwirt Zofeph Sütterlin, ber einzig von allen Manifeftanten in ihrer Gewalt war, nad) Arlesheim zu verbringen. Sütterlin will fowiefo bie Abficht gebabt haben, fid am Nachmittag bem Bezirksverwalter zu ftellen; am Qormittag hätte er es bloß deswegen unterlaflen, weil er Getreide in der Scheune hatte, das gedrofchen werden
163 n*
mußte. Auf jeden Fall zeigte er fid) willig, eine Haltung, die ffarf von feiner Aktivität am vorhergehenden Tage ab- ftiht. Er wußte offenbar, daß ibm nicht viel geſchehen könne, unb es berichtete denn auch fpäter ein Zeuge von einer fton- ferenz des Rößliwirts mit feinem Schwager Schweig- baufer!$)) und feinem Nahbarn Laub in einem oberen Zimmer des Wirtshaufes, wobei bie Genannten — es war zu Beginn der Anfammlung vor dem Haufe — fid) äußerten, man dürfe den Röpliwirt nicht fortlaflen, man müſſe zu- fammenbalten, gebe es, was es wolle, während Gütterlin bemerkte, er fei dann heraus, b. b. er fei gegen die Anklage ber Widerfeglichkeit gebedt, wenn feine Mitbürger ihn nicht fortführen Tießen.
An der Mitte ber Landjäger machte fid) ber Rößliwirt, das Ramifol der heißen Jahreszeit wegen über eine Schulter gehängt, auf den Weg, und zwar zu der Haustüre auf der Stüdoftfeite hinaus, von wo ein Weglein burd) die Obftgärten nad) dem fogenannten „Hofmattfteg” führte. Er war aber mit der Eskorte faum vor das Haus getreten, da machten fih Grauen feiner Verwandtichaft, namentlich eine Schwä- gerin,!?) an ihn heran, riffen ihm das Ramifol ab und riefen: . „Du barfft nicht fort!" Auf der Stelle drängte bie Volks— menge, bie fid) in bem Raum zwifchen bem Wirtshaufe unb ber Schmiede pon Jak. Stödlin angefammelt batte, gegen bie 9anbjáger vor, wobei namentlich bie Weiber ein aufreizendes Gefchrei erhoben, während bie Männer zu Tätlichkeiten übergingen. Dem Landjäger Dill wurde der Tſchako vom Kopfe gefhlagen, und als er den Säbel zu ziehen verfuchte, wurde ibm biefer entrifien. Der Röpliwirt wurde befreit, bie Landjäger hierhin und dorthin gezerrt, und es hätte wohl
18) Die Schweighaufer find vor etwa fünfzig Jahren in Oberwil ausgeftorben. Der ftarfe Zweig bes Geſchlechtes in Bottmingen foll nad der Tradition auf Einwanderung zur Zeit ber Gegenreformation zurüdgeben.
d i Die tyrau feines Bruders Tohannes; er felber war Jung: gejelle.
164
nicht ber Aufmunterung burd) bie Weiber bedurft, bie brauf- los fdrien: „Hauet fie, bauet fiel" um der angejammelten und bis je6t gurüdgebaltenen Erbitterung der fanatifterten Menge einen Abfluß auf das Haupt ber Abgefandten des Statthalters unb der Regierung zu weifen. Sn dem dichten Gedränge vermochten fid) bie Landjäger faum zu verteidigen, fie waren den Streichen der zum Zeil wenigftens mit Reb- fteden bewaffneten Gegner faft wehrlos ausgeſetzt, fo daß fie zu Boden fielen. Die meiften konnten fid) bald wieder auf: rihten und fuchten fid) aus bem Getümmel heraus in bie Obftgärten zu flüchten, um einigermaßen freie Vewegung zu befommen. Schäublin leiftete Dil 93eiffanb, der im erften Augenblid ber Wut der Menge am meiften ausgefe6t war und ber infolge eines auf den Kopf erhaltenen Schlages viel Blut verlor, und bieb mit dem Karabiner [inf$ und rechts brein. Auch DiN babnte fid) mit bem Karabiner einen Weg burd) das Volk, und als er fab, bap ein Mann aus ber nadjbrüngenben Menge — bie Landjäger zogen fid) rüdwärts gehend zurüd — feinem Kameraden Hägler den Karabiner entreiBen wollte, gab er jenem, Matth. Thürkauf Ctrápis, mit bem Kolben einen Streih in den Naden, daß er ohnmädtig niederftürzte unb wie tot bafag. Der Gall eines der Sbrigen fteigerte natürlich bie Wut der Angreifer, fie drängten, mit Gabeln, Hauen und Kärften bewaffnet, mit erneutem Grimm auf die Landjäger ein und fchlugen Rorporal Meyer fowie Brunner nieder; aud) Hägler vermochte fid) zunächſt dem Gedränge nicht zu entwinden. Die übrigen drei, alfo Dil, Schäublin unb Malzach, ge- langten, weniger mitgenommen als ihre Kameraden, ins Greie, nümlid aus dem Raum zwifchen den eingezäunten Gemüfegärten in bie Wiefen, und dort fchoffen fie, um fid) der Verfolger zu erwehren, ihre Karabiner ab. Ein Jo— bannes Hügin Frieds fiel, von zwei Kugeln getroffen, (mer verlegt zu Q3oben; nad) ber fpäteren Ausfage der Land: jäger war Hügin, einer ber vorderften und wütendften
165
aus ber Menge, mit einem Karft auf fie eingedrungen, während ber Verwundete dies beftritt und behauptete, er babe bloß dem Matthias Thürkauf Hilfe leiften wollen. fleber Hügins Rolle im kritifchen Moment liegt von anderer Seite feine 3eugenausfage vor, bloß fab ihn jemand, wie er beim Röoßli ffanb und bie Hände in den Hofen batte, als bie Maſſe fid burd den Raum zwifchen den Gemüjegärten drängte, bann fei er dem Schwarm nad) und etwa drei Minuten fpäter feien die Schüffe gefallen.
Nah bem Abfeuern der Karabiner ergriffen die drei €anbjáger die Flucht dem Bruderholz zu, während bie Menge unter fteten Todesdrohungen ihnen nachſetzte. ALS Schäublin den Birſig durchwatete, wurde ihm eine foge- nannte Schußgabel?°) nachgeworfen, die ein paar Fuß von ihm ins 93orb hineinfuhr; eine zweite durchlöcherte ibm den Tſchako. Im Bruderholz verftedten fid bie drei Ent: ronnenen, bod) fie waren nod) nicht in Sicherheit, weil bie Verfolger fie auch dort hartnädig fuchten. Dill hörte fte nod) fagen: „Er muß da drinnen fein, wenn wir ihn aber haben, muB er taufendmal burd)bobrt werden.” Als fie fchließlich weg waren, machte fid) Dill auf, fiel aber, als er eben in bie Nähe von mit der Ernte befchäftigten Leuten gelangte, in Ohnmacht; bieje labten ihn mit Waffer und Wein unb wufchen ihm das Blut ab. Er wurde nad) Reinach geführt, wo er feinen Kameraden Malzach traf; beide machten bann ben Rüdweg nad) Arlesheim auf einem Wägelein des Ochfenwirts Scherer in SDornad. Ebenfo war Schäublin genótigt, fid von Reinach nad) Arlesheim auf einem Gefährt führen zu laflen; er batte ftarfes Blutſpucken.
Während diefe drei Landjäger, die immerhin mit Aus- nahme von Malzach von ben Mißhandlungen ziemlich ſtark mitgenommen wurden, nur relativ furge Zeit der Gefahr des Erfchlagenwerdens ausgefeßt waren, ging es den drei anderen,
?0) Eine Gabel mit langem Stiel, wird hauptſächlich beim Laden non Garben verwendet.
166
‚polyvxg qun uy oqanai -qnn(o NG aobplquvg aoq ↄꝛnoꝛ "G uobvj ꝙlabaoqoꝛu sbuiqaonou qun Udqs usq aoaiuiq goajluauuving °F
noqobuio aauuna; 0m 99 '8 "805 wn? enoóeruQp '€ “3695 inp abu 39319Q4€ ^/ "jpoo enoc 7 '£23l33bitlo Gs ^9 PM sui(u133O '[
"SEgI HRS 'I£ 89q uoDup$1og; uoq n? upjdeuoptmio
bie bem fie bebrüngenben Volkshaufen nicht zu entrinnen vermochten, wefentlich fchlimmer. Brunner wurde gleich zu Beginn ber Tätlichkeiten zu Boden gefchlagen, jo daß er wie tot balag. Er richtete fid) jedoch fpäter wieder auf unb lief ohne Waffen und barhaupt, bloß den Weidfad an der Seite, bem Hofmattftege zu, verfolgt von einem ganzen Haufen Volkes. Er hatte bereits Löcher im Kopfe, unb aud) ein Arm foll ibm (mit Brunners eigenem Karabiner) ab- sefhlagen gewefen fein. Der Zlüchtige gelangte auch über den Gteg auf bie [ogenannte Hüslimatte, wurde jedoch, wahrfcheinlich von halbwüchfigen Burſchen, bei der Wieſe von Martin Schweighaufer, bie man aud) ,'$ Schneider: banjen Matte” nannte, „Dort, wo ein Waflergräblein den Pfad durchfchneidet”, eingeholt und von neuem zu Boden geichlagen, worauf es nochmals über ibn berging. Die beiden Oberwiler, die fpäter wegen unvorfäglider Tötung DBrunners zu langjähriger Kettenftrafe verurteilt wurden, wollten ihn nur mit einem SKmüttelein refp. mit einem weidenen GCteden gefchlagen haben; immerhin fchlugen fie nad) ber Ausfage eines Zeugen zu wie bie Dreſcher. „Ich babe ibm", fagte ber eine, „einen Streich auf den Kopf ge- geben, fo ang Ohr, aber er bat davon fein Blut vergoljen unb iff nicht davon tot geblieben. Ich babe auch feinen Laut von ihm gehört und nicht gejeben, daß er fid) firedte; von unferem Schlagen ift er nicht tot geblieben.” Und der andere: „Sch babe gewiß feinen Karſt gehabt, nur einen Steden; aber zu unterft zu oberft babe ich ihn gemacht mit meinem Gteden ..... . Er bat gewiß feinen Tropfen Blut davon verloren. a, ich geftehe ein, ich babe ihn mit meinem Steden niedergefchlagen. Einen Laut babe id) von ihm nicht gehört, aber er richtete das Geficht auf bie Seite unb [uote mid) an. Daß er fid) geftredt, babe ich nicht gefeben." All⸗ gemein war bie $[ebergeugung, daß Brunner dort den Tod gefunden hat, mo die bejd)riebenen Mifhandlungen beobachtet wurden, aber feine Leiche wurde viel weiter oben auf den
168
Wieſen, gegen Therwil zu, in ber Nähe des fogenannten Heinen Bielgrabens beim ,, Zelgenſteg“ aufgefunden; dort ſahen nod) gleichen Abends Porübergehende bie Leiche, und am folgenden Morgen wurde fie nah Therwil verbracht. Zu erwähnen ift nod) bie Anficht von Dr. Herbft, ber die Leiche des Erfchlagenen ſchon vor dem Eintreffen der kantonalen Wundfchau befichtigte, es fcheine aus der Art einiger Ver: fe&ungen bervorzugehen, daB auf Brunner nod) nad) bem Tode dreingefchlagen worden fei. Nah bem Erfund ber Sektion waren fowohl bie KRopfverlegungen — bie Hirn- ſchale war an zwei Stellen gebrochen — als bie Verlegungen des rechten Oberarms — Serfplitterung der Knochen, 3er: reißen und 3erftörung der Ylutgefäße, Bänder und Muskeln am Gelent — als unbedingt tödlich zu bezeichnen.
Wie Brunner, fo wurde wahrfcheinlich auch Hägler bie todbringende Wunde mit einem Karft beigebracht; auch fie — „eine etwa einen Fünfbätzner große, eingedrüdte Stelle am [infen Seitenwandbein, wobei fid) mehrere Knochenbrüche vorfanden” — war unbedingt tödlich. Hägler wurde eben- falis (bon hinter bem Roöpli zu Boden gefchlagen, er fonnte fid) jedoch wieder erheben und bem Bache zulaufen, ben er einige Schritte links vom Hofmattfteg Durchwaten wollte; bod) die Verfolger waren [don jenfeit8 auf der „Hüslimatte”, und dort fielen fie aufs neue, mit allerlei Werkzeug be: waffnet, über ihn ber. Die Unterſuchung vermochte nicht mebr feftzuftellen, ob Hägler den tödlichen Streich im Bache jelber ober auf ber Wiefe am jenfeitigen Ufer erhielt. Eine Zeugin, Katharina Hügin Mathifen, behauptete, fie habe ihn in den Bach ftürzen feben unb ibn mit Hilfe anderer Per- fonen herausgezogen; wie fie ihn erreichte, fei niemand bei ibm gemefen. Damit ftimmt nicht, was eine diefer Per: jonen, Sob. Dannacder, Bäder, ausfagte, denn diefer be- hauptete, Matthias Thürkauf Elfelis habe bloß etwa einen Schritt von Hägler weg mit einer „Scheie”" von einem Gartenbag am Birfig geftanden, etwa zehn oder zwölf
169
Schritte vom Steg am Üfer gegen Therwil zu. Sm übrigen ftellte der Zeuge, ber vor dem Tumult im Otópli war und dort mit Hägler angeftoßen batte, den Verlauf folgenber- maßen dar: „Außer ein paar Weibsbildern war niemand mebr bier (in den Obftgärten binter dem Rößli, wo Matthias Sb5ürfauf Sträßis wie tot unter einem Baume lag) zugegen, alles Volk lief den flüchtigen Landjägern nad. Od) eilte nun dem Volt nad) unb rief, fo faut ich fonnte, daß man bod) abgeben folle. Nun bemerkte ich, daß €anb- jäger Brunner über den Steg lief. Jenſeits machte ibm ein Srupp Leute Plab, und id) dachte, Gottlob, ber ift gerettet; aber bald fab id) aus ber Gerne, daß mehrere ibm nacheilten. Nun ging id zurüd, um nad) den Toten (Thürkauf unb KRorporal Meyer, bie er tot glaubte) zu feben, aber fie waren wegtransportiert worden. Nun hörte id) plöglich furchtbaren Lärm in der Nähe des Stegs. Ich eilte bin und fab, daß man auf einen Landjäger dreinfhlu. Mit den Fäuften drängte ich mich durch das Volt und nahm den Landjäger in Schuß. ch ftieB diejenigen, welche um ihn berum waren, von ihm, erhielt aber bei diefem Anlaß drei Streiche auf das Genid, bap es mir finfter vor den Augen ward. Snbeffen ge- lang es mir bod), ihn aus dem Volk berausgubringen und mit Hilfe der Katharina Laub ins Rößli zu transportieren. Gr batte ungebeuren Blutverluſt; indeflen glaubte id) bod) nicht, baB es ibm etwas fun werde, denn er war nod) gut bei Berftand, er fagte immer zu mir: „Dannacher, Sbr habt mir das Leben gerettet." Auf bem Wege gum Rößli wollte eine Rotte, mit Hebeln und Latten bewaffnet, auf uns dar; ich rief aber, fo laut id) fonnte, und minfte mit Häglers MWeidfad, baB fie nicht kommen follten, worauf fie eine andere Richtung einfchlugen. Wie wir zum Röpli famen, wollten wieder zwei auf Hägler los, id) verhütete aber, bap ibm nod) mehr Leides gefchehe.” Auch im Röpli war er nod) Inſulten ausgefeßt, denn zwei weitere Fanatiker hielten ihm dort bie Fauſt unter bie Nafe und fluchten ibn an.
170
Dannachers Vermutung, daß Hägler nicht gefährlich ver- wunbef ei, beitätigte fid allerdings nicht, denn er ftarb morgens 2 Uhr im Rößli troß der ibm durch Dr. Seyffert aus Binningen zuteil gewordenen ärztlichen Pflege.
Beſſer als Brunner und Hägler erging e8 Korporal Meyer. Er ging als letter mit Malzach aus bem Röpli und erhielt einen Schlag, bald nachdem die Menge den Röpliwirt den Händen der Polizei entriffen hatte; von diefem Schlag ftürzte er ohnmächtig zu Boden und fab daher bom weiteren Verlauf des Zumultes nichts mehr. Gegen die Ausfage eines Zeugen, baf er Meyer bloß etwa zehn bis zwölf Schritte vom Bach entfernt gefunden, daß der Rorporal alfo faft den ganzen Weg über bie fog. Hofmatt gemacht babe, fpricht das Zeugnis Dannachers ausdrüdlich, ber fagte, et babe gefeben, wie Meyer etwa fünf Schritte von bem ebenfalls verwundeten Sob. Hügin im Grafe lag, alfo in ben Baumgärten unweit des Rößli. Meyers Wunden beftanden in einer Quetfchung des rechten Ohrs, einer folchen des linken GuBgelenf8 forie in Rontufionen am rechten Ober- arm und am rechten Schenkel; er muß demnach nicht bloß einen Schlag auf den Kopf erhalten haben.
VII. | Rapporte ber Landjäger. — Eine Darftellung aus bem andern Lager. — (in parteiifches Schreiben des Gemeinderats.
Es wird fid) lohnen, bier noch bie Darftellung der Vor: sänge im Wortlaut zu wiederholen, wie fie mehrere Augen- zeugen, in erfter Linie zwei Landjäger, fpäter zu Protokoll gaben. Korporal Meyer erzählte: „Brunner und id) gingen zum Gemeinbepráfibenten; er fagte, er müfje querit den Ge- meinderat zufammenberufen, ehe er etwas in biefer Cade tun fónne. Und der Gemeinderat, im Röpliwirtshaus zu- fammenfigend, äußerte fid) dahin, daß er nicht einzig handeln dürfe, fondern vorerft bie Gemeinde verfammeln unb fie an-
171
fragen müfje, ob bie verlangten Bürger verabfolgt werden dürfen. Der Gemeinderat fragte mich, ob man an die Ge- meinbe läuten dürfe. Ich bemerkte, baB man bie Gemeinde auf gewöhnliche Weife unb auf bem Gemeindeplaß ver- fammeln follte, nicht etwa bier vor bem Röpliwirtshaufe unb von einer Menge Weibsbilder umgeben. Diefe Be: merfung half aber nichts. Statt auf gewöhnlihe Art zu läuten, wurde ,geffürmt" 2!) und bie Gemeinde vor bem Röpli verfammelt, wo nahezu 100 Weiber teilnahmen. Es wurde ein ernftes Schreiben der Regierung und die darin angezogenen Paragraphen des Kriminalgeſetzbuches verlefen; das Refultat der Gemeindeverfammlung ging troßdem da- bin, daß man feinen Bürger zum Dorf hinaus [affe. Ich machte den Antrag, nicht darauf zu bebarren, daß die Be— treffenden mit ung geben, fondern wenn fie verjprechen, ftei- willig zu geben, daß ich mich damit begnüge, wenn nur ein Mitglied des Gemeinderats fie begleite. Da fam Röfliwirt Sütterlin: „Sch fürchte mid) nicht, mit Gud) zu geben, ich gebe mit Euch." Ich bemerkte ihm, dies fei ganz recht, er folle fid nur bereit machen, einen Rod anziehen u. f. f. Er 309 andere Kleider an, nahm den Rod auf die Schulter und fagte, jet fei er bereit. Auch wir waren bereit; wir ftellten uns in Reih und Glied und marfchierten, je zwei und zwei beifammen und den. Arreftanten in der Mitte, zum Haufe hinaus. Eine Menge Weibsbilder entrifjen uns mit furcht- barem Gebrül ben Arreftanten, aud) Mannsbilder fingen nun an dreinzufchlagen. Ich bemerkte feine Waffen, außer daß bier unb ba einer einen Garbentnebel in den Händen bielt.
Wir wanden uns nun aus ber Volksmenge beraus; mir gelang dies, ohne daß id) in ben Gall fam, von meinen Waffen Gebraud) zu mahen. Wie wir aus dem Volks— haufen heraus waren, wollte id) meine Landjäger in Ord-
2) Das ijt ein Irrtum, denn am 31, Juli wurde nicht „geitürmt“, bloß am 30.
172
nung ftellen unb mit ihnen den Seimmeg antreten, obne auf ben ?[rreftanten, der uns gewaltfam entriffen worden, nod) . Rüdfiht zu nehmen. Wie ich mid) aber umfebrte gegen das Volk, bemerkte ich, baB der Haufe, mit Gabeln, €atten und allem Möglichen bewaffnet (Rärfte und Schußgabeln be- merkte ich bier noch feine) wütend auf uns bergog. Ich ging diefem Volkshaufen entgegen, ohne mich zur Wehr zu ftellen. Den Karabiner und den Säbel an der Seite hängen laffend, wie gewöhnlich, trat ich zu diefen Leuten und forderte fie mit ernften Worten, aber guten, nicht rauben, auf, fid) bod) ruhig zu verhalten unb fein Unglüd anzuftellen; wie ich aber jo zu ihnen fprach, erhielt id) unverfehens einen Streich auf den Kopf, daß id) bewußtlos zu Boden ftürate. Von diefem Augenblid an weiß id) nichts mehr. Ganz dunkel, es fchwebt mir wie ein Traum vor den Augen, glaube ich mich erinnern zu können, baB ein großer junger Mann, während ich auf ber Wiefe lag, mit einem Lattenftüd auf mich dreingefchlagen babe. Syd) fam erft wieder zur Beſinnung in der Wohnung des Präfidenten, der mir ein Glas Wein reichte und wo mir meine Wunden ausgewafchen wurden. Hier fam Joſeph Ley, Küfer, zu mir und fagte: „Bift Du ba, Cpi6bube, Du bift der Chef, Du wirft wohl Feuer fommandiert haben, Du mußt jest fommen, und menn Du nicht freiwillig gebft, reißt man Sid) an den Haaren bin, Du mußt den Per: wundeten anfehben und Dich unterfchreiben, daß Ihr an- gefangen habt." Ich fagte, er möchte mid) bod) ruhig faffen, bis meine Wunden verbunden feien, dann wolle ich ja gerne fommen. Er ging nun fort, und nachdem meine Wunden verbunden waren, führten mid) die $.5. Dr. Gepffert und Mivile ins Röpliwirtshaus, wo ich Hägler bewußtlos in einem Bette liegend antraf. Ich wurde ebenfalls in ein Bett gelegt. Nun fam Küfer Ley noch mehrere Male und war jebt fo höflich unb fo gefällig, baB er zu mir fagte, id) möge bedürfen, was id) wolle, ich müfle es haben. Dann fagte ih zu dem Rößliwirt, dies fei bod) ein fo artiger
173
Mann, wer e8 aud) fei. Da bemerkte er, es fei ihr Nachbar, der Küfer Sofepb Ley. Sm Röoßliwirtshaus bat Ley gefagt, es fei ihm nur nicht ums Springen gewefen, fonft wäre fein Landjäger bapongefonunen. Noch am gleichen Nachmittag wurde ich nach Arlesheim transportiert.” j Und Landjäger Sofepb Malzach fagte aus: „An der Spige derjenigen, welche mit den Gemeinderäten ing Wirt3- haus traten, war ein Schmidlin, 93ruber von Abbe Schmid- lin, der unaufhörlic zum Volk prebigte, daß man der Re- sierung fid) ja nicht unterwerfen folle. Ich bemerkte ibm, et folle fid) nicht einmifchen, er entgegnete: „Sch bin von Arlesheim, ein aktiver Bürger des Birsecks und babe alo aud) dazu zu reden. Wir laſſen niemand fort" uf. nd er fuhr fort, das Volk aufzumwiegeln und es in feiner Wider: feßlichkeit zu beffürfen. Dann begehrte aud) des Rößliwirts Bruder (er bat einen bunten Gied an der linten Yade) furchtbar auf. Er fchimpfte auf die Regierung, den Ver— walter unb bie Landjäger, baB man nicht fagen fann, wie arg. Halunken, Spisbuben ufw. waren noch bie gelinbeften Aus- drüde. Auch er be&te das Volt unausgefebt auf. Nach langem Hin- und Herreden, welches menigitens drei Stunden dauerte, während welcher Zeit wir alles aufboten, um bie Leute eines 93efferen zu belehren und fie zur Nachgiebigkeit zu bewegen, entfchloffen wir uns, beimaugeben. Röpliwirt Sütterlin hatte fi anders angeffeibet, feßte den Hut auf, nahm das Ramifol auf bie Schulter unb fam mit uns. Wer im Hausgang und in der Stube war, machte uns Plaß, baB wir ganz bequem vorbeimarfchieren fonnten. Als wir aber zum Haufe binausfamen, ba ging'$ anders. Mir ward ber Tſchako zwar nicht ab-, aber ganz tief in den Kopf ins Genid hineingefchlagen. Sch war ber hinterfte und fief neben Kor- poral Meyer einher. Nun ward ich gepadt und zufammen- gebrüdt am Unterleib und zurüdgerifien. Sch hielt mid) an Meyer feft, ward jedoch überwältigt unb zu Boden gebradt. Cd) ftanb jedoch fogleid) wieder auf und brad) Bahn durch
174
bie Volksmenge mit bem Stuben, indem id) Links unb rechts ausmebrte. So machten’s aud) meine ftameraben.
Wie wir uns aus ber Volksmaſſe berausgewunden hatten, kehrten wir ung um, daß wir den Rüden frei hatten. Aber mit Erftaunen bemerkten wir, daß die Bürgerſchaft, mit Kärften, Schußgabeln, Hebeln u. f. f. bewaffnet, auf uns berftürmte. Brunner pürzelte zu Boden unb ftredte fih.2?) Meyer und Hägler waren fchon verfchwunden; wie fie fielen, weiß ich nit. Als nun wir drei, Schäublin, Dill unb id, noch einzig daftanden und diejenigen, welche bie andern zu Boden gemacht, mit Kärften auf uns berftürmten, fagte einer von meinen Kameraden, id) glaube Schäublin: „Gebt Geuer." Ich drüdte ab, ohne lange zu (eben auf men. Sch glaube, id) babe denjenigen getroffen, welcher, mit einem aufgezogenen Karft in der Hand, der vorderfte war unb der aud) von Dil einen Schuß erhalten haben fol. Er ftürmte wie ein Löwe mit feinem Karft auf den Dill los. Nun ergriffen wir die Flucht dem Bruderholz zu, wurden aber von einer Menge Menfchen verfolgt. Ich verftedte mich im Gebüfh. Als e8 wieder fill war, ging id) bem Bruderholz entlang bem Therwiler Bann zu. Hier verließ ich den Wald und ging wieder auf Matten von Oberwil ganz nahe bis zum Dorf, um nachzufehen, ob etwa nod) einer von meinen Kameraden, welche niedergefchlagen wurden, vielleicht balb- tot auf der Matte liege. Sch fab niemand, mußte aber gleich wieder zurüd, indem zwei Männer gegen mid) berliefen, von denen der eine eine Art und der andere eine Miftgabel bei fid) trug. Sd) ging nun nad) Reinach zu und traf nahe am Dorfe den Dil, mit dem ich dann auf dem Wägelein des Herrn Scherer bieber fuhr. Wunden trug id) feine davon als eine Quetfchung an der Bade; aber Stöße und „Renne” erhielt ich genug, daß ich nachher einmal über das andere mid) etbreden mußte.“
2) Wie man jebod) weiß, vermodte fi Brunner wieder zu erheben. -
175
Bon der Gegenpartei liegt als zufammenhängende Dar: ftellung eigentlich nur bie Ausſage vor, bie Friedensrichter und Gemeinderat Fridolin Sbürfauf im Derhör machte: „Als bie Landjäger angefommen waren, um Verbaftungen vorzunehmen, rief mich der Wächter zum Präfidenten. Als id) dahin fam, war diefer bereits im Otópli Jamt den übrigen Gemeinderäten, wohin id) mid) nun ebenfalls begab. Es batte fid) fd)on viel Volk dort verfammelt, weil durch das Suchen nad) denen, bie verhaftet werden follten, bie Abficht ber Landjäger befannt geworden war. Das Vol verlangte nun, bap dieſe Leute nid burd Landjäger fortgeführt würden, fondern baB fie fid) follten frei vor die Obrigkeit ftellen dürfen. Wir (die Gemeinderäte) ftellten den €anb- jägern vor, fie follten von der Verhaftung ablaflen, da leicht ein Unglüd entfteben fónne, weil das Volk in großer Auf: regung fei, und boten ihnen dagegen an, baB wir die Be: treffenden des folgenden Tages felbft zum Herrn Verwalter führen wollen unb mit unferer Perfon für fie einftehen.??) Daß fid) dies fo verhält, haben der Wächter Geiler, Ge- meindefchreiber Bannier, Sofepb und Heinrih Sütterlin unb nod) zwei oder drei andere gehört. Zwei oder drei von den Landjägern wollten fid) hiezu verfteben, die übrigen aber fagten, fie fónnen und dürfen niht. Das Herz zerfprang mir faft im Leibe, als bie Landjäger durchaus darauf beftanden, ben Röpliwirt fortzunehmen, unb auf unfer Anerbieten, das gewiß vernünftig war, nicht eingingen. Denn das Volt war febr in Aufregung und daher ein Unglüd zu befürchten, wenn fie wirklich verfuchen würden, den Röfliwirt ab- zuführen.
Cd) befand mid) nod) im Haufe, als bie Landjäger das- jelbe verließen; auf den Lärm aber, ber entftand, als fie draußen waren, eilte ich vor die Tür und fab, bap bte 9anb- jäger in einem Vollshaufen brin waren, der ihnen eben den
33, C'anbjüger Shäublin Beitritt entidjieben, daß bte Gemeinbe: tüte mit ihrer Perſon für bie Arreitanten haften wollten.
176
Röpliwirt abgenommen hatte; fie hatten den Säbel gezogen, aber id) fab nicht, daß jemand damit befchädigt worden wäre. Als bie Landjäger aus dem Gäßlein heraus in die Gärten famen, fonnten fie aus bem Vollshaufen fid) berausminben. Cie entfernten fid etwas vom Volk unb fchoflen. Der Wächter Seiler will gehört haben, wie Feuer fommanbierf wurde. Das Volt ftob auseinander und ich flüchtete ins Haus. Nach) einer Viertelftunde verließ ich das Haus, fand Meyer verwundet, halb figend, halb liegend im Grafe und half ihn ins Röpli führen. Er wollte aber nicht bableiben, ba er einen neuen Angriff befürchtete, fondern verlangte in des Präfidenten Haus. Dorthin wurde er gebracht, jedoch bald wieder in das Roßli zurüd, weil man in des Präfidenten Haus fein 93ett für ibn hatte.“
Hier mag bann nod) das Schreiben Pla finden, mit welchem der Gemeinderat dem Verwalter Rummler Mit- teilung von ben Zorfällen des 31. Juli machte. Noch in der Nacht, zwifchen 1 und 2 Uhr, brachten es drei bewaffnete Männer, Küfer Ley, Joſeph Laub, Mebgers unb Aloys Bannier, nad) Arleshbeim. Die gleichen erfuhten Dekan Gürtler, bem bifchöflihen Offizial Wohnlih Kenntnis von ben Vorfällen des Tages zu geben. „Heute gegen Mittag”, fo beiBt es in dem Schreiben, „erfchienen ſechs Landjäger der Bafellandfhaft in unferer Gemeinde, beauftragt, wie fie fagten, einige S3ürger biefiger Gemeinde gefangen fort: zuführen; obdem fie in bie Wohnung des Präfidenten ein: gekehrt und bie Abwefenheit desfelben vernommen hatten, verfügten fie fid) fofort in das Gafthaus zum Rößli. Die DVevölkerung des Dorfes, von der Ankunft der Landjäger und ihrer Abficht in Kenntnis gefebt, verfammelte fid in Maſſe vor und um befagtes Haus zum Rößli. Dafelbft be- fand fid) ohne Verzug ber E. Gemeinderat ein. Auf bie Heußerung der Landjäger, bap fie nicht aus bem Dorfe fid) entfernen würden, bis fie wenigftens einen ber zu Arretie- renden, nämlich den Eigentümer des genannten Gaftwirts-
177 12
haufes zum Röͤßli, würden gefangen mit fid) führen fünnen, — bie übrigen zu Wrretierenden waren abwejend, — da ftelte ihnen der G. Gemeinderat wiederholt bie traurigen, daraus zu befürchtenden Folgen vor unb bot fid) an, für ben fid) freiwillig ftellenden Gaftwirt Raution zu leiften, mit bet Verſicherung, daß fid) derfelbe morgen freiwillig vor der be- treffenden Behörde ftelen werde. Ale Bitten, alle Er- mabnungen, alle PVorftellungen blieben fruchtlos. Die befagten €anbjáger brachen auf und führten den Arreftanten einige Schritte mit fi. Die Volksmaſſe, bie feinen ihrer redlihen Bürger wie einen Kriminalverbrecher aus ihrer Mitte wollte fortführen laflen, wurde durch folche Verwegen- heit aufs böchite empört, — und wagte es, benjelben den Händen ber Landjäger zu entreißen. Es geſchah; bie Land- jäger entfernten fid) einige Schritte von bem Vollshaufen — unb feuerten in denfelben. Ein Bürger biefiger Gemeinde wurde gefährlich durch zwei Schüfle verwundet. Nun über: nahm bie Wut das Voll, — Bitten und Drohungen von feiten der Gemeinderäte achtete es nicht mehr. Zwei von ben fíiebenben Landjägern??) fielen in feine Hände und wurden verwundet zurüdgebraht zur Verpflegung. Das find nun bie Refultate des heutigen Vorfalls. Wer fie hervorgerufen, ift leicht zu ermitteln.” Unterzeichnet war biefe Zufchrift von fämtlichen Gemeinderäten, gejchrieben von der Hand des Gemeindefchreibers Seraphin Bannier.
VIII.
Bezirksverwalter unb Regierung zur neuen Lage. — Truppenauf-
gebot durch den Landrat. — Militärifche Befesung des Dorfes Ober-
tvi, — Die Rüdwirkung auf Allſchwil. — Die fchließliche Inftallation Doswalds.
Vor dem Eintreffen des Schreibens des Gemeinderats
ſchon war Statthalter Kummler durch bie drei über das
34 Von Brunner wußte alſo ber Gemeinderat nichts ober tat, als ob er nichts wiſſe, da ſeine Leiche nicht im Dorfe ſelber lag.
178
93ruberbofa entfommenen 9anbjáger von ben ernften Greig- niflen des 31. Zuli unterrichtet worden. Auch Dekan Gürtler erfuhr bald davon, denn Andreas Hügly, ein Sohn des Müllers, ritt am Abend (alfo vor den drei bewaffneten Boten des Gemeinderats) nad) Arlesheim und bat den Dekan, einen Öeiftlihen zu bezeichnen, um einen Schwerverwundeten (Sob. Hügin) mit ben Gterbefaframenten zu verfeben; Gürtler wies ihn an Pfarrer Eueni in Therwil, und diefer übernahm die Funktion, nachdem er vorerft nod) Pfarrer Anaheim angefragt hatte. Rummler machte fofort burd) einen Erprefien dem Regierungsrat Mitteilung von dem Ge: ſchehenen und begab fid) nod) am gleichen Abend nad) Sber- wil, um Grfunbigungen über das Schidfal der Übrigen drei €anbjdger einzuziehen. Er erfuhr, Brunner [iege tot auf ben Wiefen amijden Oberwil und Therwil, und ließ bie Leiche durch mehrere Bürger von Therwil nad) der dortigen Sriedhoffapelle verbringen; bie beiden andern Vermißten, et- fuhr Rummler weiter, lägen fehwerverwundet im Rößli unb würden von Dr. Gepffert behandelt. Am folgenden Tage Ihidte bie Regierung ihr Mitglied Sórin als Kommiſſär nad) Arlesheim; mit ibm follte fid) Rummler in eine Oberwil zunäcdhftgelegene Gemeinde begeben und von den Bürgern der renitenten Gemeinde eine unummundene GErflärung ver: langen, ob fie wieder zur gefeglihen Ordnung zurüdfehren unb bie Verbrecher ausliefern wollte. Don Therwil aus wurde die Aufforderung burd) einen Erpreflen nad) Oberwil gefdjidt; innert zwei Stunden follte der Gemeinderat die Erklärung perfünlich nad) Therwil bringen. In der geftellten Grift erfolgte feine Antwort, erit am nächſten Morgen fchrieb der Gemeinderat, er werde die Gemeinde zufammenberufen und das „Desfallfige Refultat” übermitteln. Später wurde von einzelnen feiner Mitglieder gefagt, bie Friſt fei nicht innegebalten worden, weil der Präfident und bie meiften Gemeinderäte mit der Getreibeernte befchäftigt und in ver- fhiedenen Richtungen vom Dorfe abmejenb waren; der Prä-
179 12°
fibent babe eben nad) Therwil geben wollen, als ibm Dr. Gepffert fagte, Sórin und Rummler feien [bon fort. 9fud) jebt begriff der Gemeinderat den Ernft der Situation nod) immer nicht, denn fonft hätte er fid) nicht neuerdings wieder hinter die Notwendigkeit einer Einvernahme der Ge- meindeverfammlung verfchangt.
fnterbeffen fchrieb der Statthalter neuerdings nad) Cieftat, Hägler fei geftorben, mit Meyer ftebe es b03; warum aud) das Militär fo lange nicht fomme; fónne bod) der Re: gierungsrat in Fällen der Gefahr nad) S 60 ber Verfaſſung von fid) aus Militärgewalt anwenden. Kummler befürchtete zwar feine weiteren Gewalttaten mehr, denn bie Schuldigen fähen ihr Verbrechen ein, wohl aber bejorgte er, daß ein großer Seil von ihnen bie Flucht ergreife (wohl über die franzöfifhe Grenze). „Landjäger muß ich haben, bie noch lebenden liegen alle im Bett.” Am gleichen Sage, am 1. Auguft, verlangten zwölf Landräte, darunter Hügin und der aus ber Revolutionszeit befannte ,, General" 93ujer, die fofortige Einberufung einer außerordentlihen Sitzung des Landrats, während von der Regierung die Weifung am Oberftleutnant Rohrdorf erging, Lieftal nicht zu verlaflen; fie rechnete alfo mit der Wahrfcheinlichkeit eines Sruppen- aufgebots, aber fie wollte diesmal ein folches nicht von fid aus befchließen, nachdem ihr Vorgehen bei den Unruhen in Muttenz und Waldenburg vielfah Tadel erfahren batte. Der Landrat verfammelte fid) am 2. Auguft, einem Sonntag. Die Regierung gab Kenntnis von ihren an den Z23egirfe- verwalter in Arlesheim erlaffenen Weifungen und von ihren eigenen nad) Oberwil ergangenen Befehlen; auf Verlangen wurde aud) die Rorrefpondenz amijd)en Regierungsrat einer- feit8 unb 93ifd)of Salzmann und General-Provilar Wohnlich andrerfeits wegen der Synftitution der beiden Pfarrer Do$- wald und Anaheim befannt gegeben; auf den Antrag, daß das gefamte Altenmaterial vorzulegen jei, ging der Rat ba- gegen nicht ein, ba e$ fid) gegenwärtig bloß um bie Bei—
180
legung der Unruhen handle. Auf ben Antrag von Vogt (Allſchwil) gelangte auch ber bifchöflihe Sirtenbrief vom 18. Zuli (Rap. V) zur Perlefung. Darauf wurde ein Sruppenaufgebot befchloffen, um in Oberwil die Herrfchaft bet beftebenben Geſetze wieberberauftellen; e8 folle bem Auf- gebot eine von der Regierung zu ernennende Deputation bei- gegeben werden, und nad) Bezahlung der Ofkupationskoften hätten bie Truppen den Ort wieder zu verlaffen. Endlich wurde nod) eine Kommiſſion von fünf Mitgliedern ernannt, um zu unterfuchen, inwiefern der Regierungsrat in der Opfarrangelegenbeit der beiden Gemeinden gemäß ben et. gangenen Landratsbefchlüflen verfahren fet und in was der Grund beftehe, daß im Kanton Aufftände gegen bie gefetliche Ordnung fid) erneuern. Die Snffallation der beiden Pfarrer fei dem Biſchof zu überlaffen.
Der erhaltenen Weifung gemäß ordnete ber Regierungs: rat nod) am Sonntag das Aufgebot eines Bataillons In- fanterie, einer Rompagnie Scharfihüsen und zweier Piecen Artillerie mit gebüriger Beſpannung an; an Kavallerie wurden bloß jeds$ Mann beigegeben. Kommandant der etwa 700 Mann ftarfen Truppen wurde Oberftleutnant Rohrdorf, der Befehl erhielt, das Einrüden in Oberwil nüfigenfall8 mit Waffengewalt zu erzwingen. As Re- sierungsfommifläre wurden bezeichnet Regierungsrat Syórin und Landrat Rummler-Hartmann (von Münchenftein, wegen feiner aktiven Rolle in der Revolutionszeit bekannt), bie die DOberauffiht über den Sruppenfommanbanten zu führen batten. Die Verpflegung und 93ejolbung der Truppen wurde ber Gemeinde Oberwil tiberbürbet; mit der Ginquattierung folten diejenigen 23türger nicht bebelligt werden, die feinen Anteil an den Widerfeslichkeiten genommen hatten.) Schon am 3. Auguft festen fid) bie Truppen von Lieftal aus in 23e-
25) Das wurde nicht fo gehalten, und fonnte e8 wahrſcheinlich aud) nidjt, weil bie 700 Mann mehr Pla braudten, als ihnen bie direkt Beteiligten zu bieten vermodten.
181
wegung. Gie rüdten über Muttenz, wo fie einige Snfulten zu hören befamen,?°) unb über Münchenftein, wo fie bie Birs paffierten, nad) Reinach; bier erfuhren bie Kommiſſäre vom Drtsgeiftlihen, bie Oberwiler würden fehr wahrjcheinlich Miderftand leiften, jo bap Zörin und Rummler-Hartmann bie Möglichkeit eines Truppennahfchubs ins Auge faßten.
Am Nachmittag des 3. Auguft 1835, des zweiten Jahres⸗ tages des Gefechts bei Pratteln, ließen bie Kommiſſäre amifden Sbermil und Oberwil Halt machen und [didten durch zwei Chaſſeurs ein Schreiben an den Gemeinderat von Oberwil mit der Aufforderung, fid) vor das Dorf zu begeben und zu erklären, ob bie Gemeinde zur gejeglichen Ordnung gurüdfebren molle. Nah Verfluß von etwa zwei Stunden, nadbem die Truppen unterdefien am Fuße des 93ruberbolaes 9fufftellung genommen, famen die Reiter zurüd und über- brachten die fchriftliche Sintermerfungserflürung des Ge: meinderats nebft der Einladung, ing Dorf einzurüden. Der Gemeinderat fam den Truppen bis über bie fogenannte ,Keinerne Brüde” 27) an der Straße nad) Bottmingen ent: gegen und wiederholte feine Bereitwilligfeit zu unbedingter Unterwerfung, worauf die Truppen zwifchen 6 und 7 Uhr in die Ortfchaft einrüdten. Sie wurden zu je zehn bis zwanzig Mann einquartiert, und bie Nacht verlief durchaus ruhig; man Eagte über mangelhafte Verpflegung, Doch batte fie ihre Urſache nicht im fchlechten Willen der Dorfbewohner, fondern in dem leicht erflärlihen Mangel an Fleiſch für die etlichen hundert Soldaten.
On der Grrübe des 4. Auguft wurde bie Gemeinde in der Kirche verfammelt, wo nad) einer Auseinanderfegung der Rommiffäre über den Zweck der Erpedition ohne weiteres bie Erklärung abgegeben wurde, man werde der gefeßlichen Ord-
*$) Offenbar von foídjen, die noch wegen ber militári[den Be⸗ jegung ihres Dorfes ergrimmt waren.
77) Diefe aus bem Jahre 1779 ftammende Brüde, ein überaus
ſolides Wert, ijt feiber ber im Jahre 1911 durchgeführten ftorref- tion zum Opfer gefallen.
182
nung nichts mehr in ben Weg legen. Zugleich erhielten die Landjäger Dil, Malzach und Schäublin Gelegenheit, unter den verfammelten Bürgern Nahfhau nah ihren Un: greifern zu halten, aber der Lebelftand lag, wie Rummler in feinem Bericht an die Regierung bemerkte, darin, daß die überlebenden Poliziften Feine Orts- unb Cperfonen- fenntni$ hatten; der einzige, ber fie befaß, nämlich der von Therwil gebürtige SOrunner?5) war am 31. Zuli tot auf bem Platz geblieben. Unter militärifcher (sforte wurden bie Verdächtigen, 23 Mann an der Zahl, nad) Lieftal gebracht, wo bereits am 5. Auguft im Regierungsgebäude die erften Verhöre ffattfanben. Am 6. Auguſt begab fid) Pfarrer Anaheim nad) Oberwil und Iogierte fid) im Pfarrhaus ein; am gleiden Tage waren die verlangten 3000 Gr. Ofku- pationskoften erfegt, und am 7. Auguft, acht Sage nad) ben blutigen Ereigniffen hinter dem Roßli, rüdten bie Truppen wieder ab, nachdem fie ber Untätigkeit in dem Dorfe bald überdrüffig geworden waren.2?) Weil fämtliche Gemeinde: räte derart belaftet erfchienen, daß der Statthalter fie eben- falls in Haft feSen Tieß, richtete diefer das Gefud) an bie Regierung, er möge einen proviforifchen Gemeinderat be- ftellen. Das gefdjab; bie neue Behörde beftand aus Land- taf Hügin als Präfident, bem als weitere Mitglieder bei- gegeben wurden Joſeph Gütterlin, Gerichtsamtmann, Benedikt Degen, Niklaus Degen, Bäder, und Hans Martin Wehrlin. Gemeindefchreiber wurde Peter Degen.
Den von Lieftal her wehenden fcharfen Wind bekam je8t aud) General-Provitar Wohnlih in Rheinfelden zu fpüren. Diefem war nämlich von Dekan Gürtler mitgeteilt worden, der Landrat babe am 2. Auguſt bie Aufhebung der
2, Schäublin [djeint erft kurze Zeit in Oberwil ftattoniert ges wejen zu fein.
:9) Sm „Unerfhrodenen 9tauradjer" ftellten bie Gemeinderäte am 2. September den Truppen zur Widerlegung eines Gerüchtes das Zeugnis aus, fie hätten fid) jederzeit jo betragen, wie es wahren Baterlandsfreunden geziemt.
183
Ernennung der Geiftlihen Anaheim und Doswald be. fhlofien und ben Birsedern die Perftändigung mit bem Biſchof über bie Vefegung der beiden Pfarrftellen anbeim- gegeben. Daraufhin batte Wohnlih Anaheim angewiefen, einftweilen in Sbermil zu bleiben und die Funktionen in Oberwil Pfarrer Eueni zu überlaffen. Die Regierung for: derte nun den General-Provifar energifch auf, bie Weifung zurüdzunehmen, denn fie werde in diefer Sache feine weiteren KRolifionen dulden und allenfalls jeden anderen, ber in Oberwil ober Allſchwil Funktionen ausüben würde, polizei: [id) megfübren lafien. Mit Gürtlers Hoffnung, nun neuer- dings Verweſer in bie Gemeinden jchiden zu können, war es aljo nichts. Die Regierung befchwerte fid) über Wohnlich aud) beim Biſchof, ber den General-Provilar zur 3urüd- nahme feiner Anordnung veranlaßte.
Am 4. Auguft fchrieben bie Regierungstommifläre von Oberwil aus nad) Lieftal, es wäre vielleicht gut, fid) über Allſchwil zu informieren, ehe bie Truppen abgezogen feien; zweifellos forrefponbiere Allſchwil im geheimen mit Ober: mil. Nachdem bann Pfarrer Doswald am gleihen Tage wie fein Kollege Anaheim fid) in feine Pfarrei begeben batte, [uben die Kommiſſäre den Gemeinderat von Allſchwil nad) Oberwil vor, um fie zu belehren, aber bie Miffion batte anjdeinenb feinen Erfolg, denn Doswald wurde von ben Gemeindebehörden nicht anerkannt, Kirche und Pfarrhaus blieben ibm verfchlofien, troßdem der Verweſer Pater Sigisbert am 30. Zuli, am gleid)en Sage wie Schmidlin, bie Pfarrei wieder verlaflen hatte. Immerhin vergrößerte fid Doswalds Anhang bod) zujehends, denn am 7. Auguft verlangten 49 Allichwiler, an ihrer Cpi&e Turmwirt Gürtler, bie Deffnung von firde und Pfarrhaus und bie Heraus- gabe ber Pfarrbücher an den rechtmäßigen Geiftlichen; in ihrer Zufchrift beffagten fie fid) über den von der Partei Adams ausgeübten Terrorismus. Einige Sage fpäter ſchloſſen fid) 15 weitere Bürger an, aber der Gemeinderat
184
d A
—T
d
be der Oemeinde Oberwyler
tu
den oU"
3 c. E „m X > (* x X
WS de — IPS m
an die Gruppen von rer uf 1835. m
7 — Junge, or
bebatrte auf feinem Standpunkt, daß Doswalds Wahl un- gefetlich fei, und wollte erft auf einen fürmlichen Beſchluß des Landrats nachgeben. Un diefen richtete er unter bem 22. Auguft nochmals eine geharnifchte Zufhrift: „Man will uns”, fo beißt es darin, „einem lebenslänglichen Pfaffentum unterjohen (wegen der auf Lebenszeit übertragenen Opfrünben) und fomit unfere befchworene Landesverfaffung auf fträfliche Art verlegen. Daber findet fid) bie Gemeinde verpflichtet, gegen jede ariftofratifche, defpotifche ober will- fürliche Unterjochung, gegen jede Pfarrwahl und amtliche Pfarreinfegung förmlich zu proteftieren, indem unfere ber- gebrachten fränfifchen kirchlichen birsedijd)en Rechte gar feine Pfarrherren zulaflen, fo daB wir auch während der Seit, ba wir Franzoſen waren, nie feine Pfarrherren, fondern immer nur Pfarrgebilfen, Deffervants, gehabt haben." Der Grund, warum auf die franzöfifche Seit gurüdgegriffen wird, liegt darin, baB die Deflervants nach bem im Sabre 1801 zwifchen bem Erften Konful Bonaparte mit Papft Pius VII. abgefchlofienen Stonforbate eine überaus ptefüte Stellung inne hatten. Es gab in einem 93egirf nur einen regelrechten, auf Lebensdauer beftellten Pfarrer; die übrigen Geiftlichen mußten als bloße Grilial- ober Hilfspriefter bem Staate feinen Eid leiften, weil fie von ihm nichts erhielten, und waren ganz der Gnade des Biſchofs ausgeliefert, ber fie jederzeit ab- berufen fonnte, und dem guten Willen der Gemeinden, bie für eine Wohnung famt Garten auffommen mußten. Die Aufchwiler glaubten alfo damit am ebeften ans Ziel zu fommen, wenn fie ein „lebenslängliches Pfaffentum” als mit der Rechtslage unvereinbar darzuftellen fuchten, da ja der Wiener Kongreß bie Fortdauer der kirchlichen Rechte der franzöfifchen Seit gewährleiftet habe.
So mußte Doswald noch einige Wochen warten, bis nämlich 93egirfSpermalter Rummler auf bie Bitte angefehener Bürger fid) am 19. September nach Allichwil begab, um dafür zu forgen, daß ber Gottesdienft am Bettag in ber:
185
fónunfider Weife gefeiert werden fónne. (Gr fette es beim Gemeinderat burd), daß zu einer Gemeindeverfammlung ge: läutet wurde, und an biefer verlag er zwei Schreiben, nämlich ein folhes von Biſchof Salzmann, worin der Regierungsrat aufgefordert wurde, bie Gemeinde zur Herausgabe der Schlüfiel angubalten, und ein zweites von der Regierung in Lieftal, worin der Vezirksverwalter mit der Inftallation Doswalds betraut wurde. Kummler hielt fodann eine Anfprache, worin er ben entfchiedenen Willen der geiftlichen und weltlichen Behörden betonte, den gefe&mápigen Zuftand in der Pfarrei wieder berzuftellen; hoffentlich werde nicht Allſchwil die ein- zige Gemeinde fein, bie den Bettag nicht feiere. Als fid) dann feine Oppofition gegen des Gtatthalters Begehren geltend machte, fagte Präfident Vogt: „Set verlange id) meine Demiffion”; gleichzeitig 309 er bie Schlüffel aus der Safde und übergab fie Rummler, worauf diefer Doswald in bie Kirche und in das Pfarrhaus einfübrte. Am DBettag habe der Pfarrer bann, wie ber Vezirksverwalter von Augen- und Obrenzeugen vernahm, eine fo herzdurdpdringende Pre: bigt gehalten, daß drei Viertel der Zuhörer meinten und nachher ausriefen: Sft es auch möglich, daß man dieſen herr⸗ lichen, frommen Mann fo verleumden und als einen fchlechten Menichen bezeichnen Eonnte! — Ungefähr um die gleiche Zeit, nämlih am 22. September, bejchloß der Landrat auf ben Antrag des Regierungsrats, der den gefamten Pfarrftreit in Allſchwil und Oberwil für erledigt anjab, fowohl bie auf ©. 151 erwähnten Protefte der beiden Gemeinden, als die Allſchwiler Beſchwerde vom 22. Auguft ab acta zu legen. Hingegen erklärte er eine Zuſchrift mehrerer patriotifcher Ofereine vom 13.September 1835, worin die Aufhebung der Lebenslänglichkeit der geiftlichen Stellen im Birseck verlangt wurde, für erheblich und überwies fie dem Regierungsrat zur Begutachtung.
186
IX.
Die beiden Prozeffe wegen Störung des Gottesdienfte® unb wegen
ber Mißhandlung und Tötung ber Landjäger. — Ausreden und
Widerfprüche. — Die Entfhädigungen an bie Opfer. — Segnabigungé- aft des Landrats.
Selbftverftändlich hatten nun bie Gerichte neuerdings einen Zuwachs an Arbeit zu verzeichnen, bie Oberwiler Affären nahmen auf Monate hinaus die Tätigkeit ber Unterfuchungsbehörden in Anſpruch, und ihre gerichtliche Er- ledigung Eonnte erft gegen Ende des Jahres 1836 ftattfinden. Am 5. Auguft 1835 begannen, wie bereits mitgeteilt wurde, im Regierungsgebäude zu Cieftal bie Verhöre wegen der tödlihen Mißhandlung der Landjäger, und am 19. Auguft wurde auch bie Unterfuchung wegen der Störung des Gottes- Dienftes bei Anlaß der Predigt von Pfarrer Doswald wieder aufgenommen. Man fann aber nicht fagen, daß in der letzt⸗ genannten Angelegenheit mehr Derausfam als vorher. Es wurde bereits erzählt, daß bie Gemeinderäte zum mindeften eine verdächtige Rolle fpielten, als fie während der Predigt Doswalds nicht in der Kirche waren, fondern fi, mit Aus- nahme von Düblin, zu ihrem Kollegen Wehrlin begaben, wenn aud) der Nachweis nicht gelang, baB fie dort am Komplott gegen ben ,unfennbaren DPriefter” mithalfen. Stimmten fchon die Ausfagen der Gemeinderäte nicht miteinander über- ein, jo war es nod) weniger möglich, aus dem Chaos der von den übrigen Dorfbewohnern gemachten Angaben über ihr Benehmen in der Kirche Hug zu werden. Einige fagten zur Begründung ihres demonftrativen Hinausgebens, fie hätten geglaubt, bie Basler feien ausgerüdt (nümfid) um die Landſchaft wieder mit Waffengewalt zurüdzuerobern); andere wollen ber Anficht geme[en fein, e8 brenne irgendwo, oder es fei jemand zu Tode gefallen, und wieder andere wollen einfad) den übrigen nachgegangen fein. Den einen plagte im Eritifhen Moment YBauchgrimmen, dem er durch ein Bläschen Schnaps abhelfen mußte, den andern ein
187
franfe8 93ein, ben dritten ein Zurunfel am Obr, während ein vierter, ein Maurer, Ratenjammer von einer am Sams: fag mitgemachten „Aufrichte” ber verfpürte und ein fünfter bie Sabafebofe zu Haufe vergeflen hatte. Einer will gehört haben, wie fein Kind auf dem Kirchhofe meinte, einem andern foll ein Stüd Zieh feine Ruhe gelaffen haben, dem Tags zuvor eine Kartoffel im Halfe fteden geblieben war; etliche verfpürten plößli das Bedürfnis, einen verfchwiegenen Ort aufzufuchen, und wieder andere meinten, fie [eien eben feine Liebhaber von Predigten. Merkwürdig viele wollen fid) verfpätet haben und gerade zur Kirchtüre gefommen fein, als bie Demonftranten berausftrömten. Auch der Setroris- mus der Schmidlianer wurde als Grund angeführt: Einer ging mit hinaus aus Beſorgnis, verfolgt zu werden, denn man bätte ibm Fenſter einwerfen fónnen; ein anderer, der während der Revolution als „Ariftofrat” verfchrien wurde, wollte fid diesmal neutral halten, um niemand zu ärgern; ein Schreiner fürchtete, er würde feine Arbeit mehr befommen haben, wenn er in der Kirche geblieben wäre, und ein Färber wußte nicht, ob er nicht darunter zu leiden hätte, wenn er nicht machte wie bie anderen. Einen ausgefprochen ideellen Grund gab ein früherer Gemeindepräfident an, der an dem Texte der Predigt Anftoß nahm: Er fei jest ſchon 55 Sabre alt und brauche feine Bußpredigt mehr, während ein Mebger viel materialiftifcher dachte mit der Behauptung, er habe ein unmwiderftehliches Bedürfnis nad) dem ,3nüni" empfunden, weil er überhaupt ein durftiger 93ruber fei.
Ommerbin, unter den vielen, bie fid) derart ausredeten oder einfach fagten, fie feien den andern nachgegangen, gab e8 auch einige, bie in ihren Ausfagen den wahren 3u- fammenbang durchfcehimmern Tießen; wurden fie nämlich vom Verhörrichter auf das Widerfinnige ihrer Depofition auf: merfjam gemacht, fo entfiel ihnen ein Tadel gegen Landrat $jügin; diefer hätte Doswald ohne der Gemeinde Willen unb Wiffen fommen laffen und man hätte Lieber den gehört,
188
ben der Dekan gefchidt batte. Unummunden [prad) fid) in diefem Sinne eine Jungfrau, Katharina Häring, aus: „Sch bin nicht fchuldig und verbunden, einen Pfarrer anzuhören, den uns ber Hügin bat kommen [affen, fondern nur einen folhen, den uns bie geiftlihe Obrigkeit gefebt bat." Im übrigen bildeten bie Ausfagen der weiblichen Angeklagten ein Pendant zu denen der männlichen, denn es rüdte eine ganze Reihe von Ausreden auf, wie falte Füße, Winter: gefrörne, Uebelkeit ufm.; mitunter fommt auch bie Beſorgnis vor einem Ausrüden ber Basler unb einmal bie Furcht vor ben Wriftofraten vor. Kein fchmeichelhaftes Zeugnis ftellte eine Barbara Degen, Männlis, ihren Mitbürgern aus: „Das achte Gebot, bu follft fein falfches Zeugnis geben, ift bei uns in Oberwil babinten geblieben.” Daß mit bet Wahrheit zum mindeften nicht gewiflenhaft umgegangen wurde, das erhellt auch daraus, daß vielfach, fo vom Sohne des Gemeinderats Düblin, al Grund, warum die Leute von der Emporfirche weg ftatt zur näheren großen Kirchtüre fid) zur Heinen Geitentüre zwifchen Chor und Schiff hinaus: begeben hätten, geäußert wurde, e8 wäre dort eine „Drudete” gewefen, während zahlreihe Zeugen, darunter aud) aus: gefprohene „Schmidlianer”, erklärten, fie hätten ohne ben mindeften Anftand zur hinteren Züre hinausgehen fónnen. Auch vermochte niemand Angaben darüber zu machen, wie er fid) vergewiflert babe, ob die Vermutung wegen ber Basler ober wegen einer Feuersbrunft richtig fei oder nicht.
Unter folchen Umftänden war es allerdings für bie Ge- richte ſchwer, bie Grenze zu ziehen zwifchen denen, bie wegen tatfähhliher Störung des Gottesdienftes beftraft werden fonnten, und denen, bie bloß dem Zuge des Augenblids nad). gegeben und den treibenden Elementen faft unwillfürlich Gefolgſchaft geleiftet hatten. So verurteilte denn das Ober: gericht bloß vier Perfonen als ſchuldig des Verbrecheng der Religionsftörung, und zwar gleichzeitig in Anwendung von S 81 unb 82 des Kriminalgefegbuches zu einer einjährigen
189
3udjfbausfirafe. Der Verteidiger Dr. Herold ftellte fid) auf ben Standpunkt, es liege gar feine Religionsftörung vot, denn Doswald fei von der geiftlichen Behorde nicht et- mädtigt worden, alfo könne man feine Predigt nicht als Gottesbienft betrachten. Das Gericht folgte jedoch biefen Deduktionen nicht, nahm aber an, zum Grfordernis der Religionsftörung gehöre allgemeines Wergernis, unb ein ſolches fei nicht erregt worden, ba bei den ftatbolifen das Hinaus- und Hineinlaufen aud) während der Predigt nichts Ungewöhnliches fei; fo wurden nur Diejenigen Perfonen wegen Störung des Gottesdienftes verurteilt, bie ,biefe Ab⸗ fibt burd Sumultuieren in der Kirche, burd) Auf: unb Zufchlagen ber Kirchtüren, burd) Hineinrufen ufw. zu er- fennen gegeben.” Die übrigen Angeklagten, nicht weniger als 93 an der Zahl, wurden der forreftionellen Abteilung des Obergerichts überwiefen und von biefer zur gemeinfamen Sragung der Koſten mit ben vier friminell beurteilten verfällt.
Das Urteil des bafellandfchaftlichen Obergerichts gegen bie Otubeftórer in der Kirche ift vom 16. Dezember 1837 datiert, dasjenige gegen bie an den Gemalttütigfeiten gegen- über den Landjägern Beteiligten vom 16. und 17. Dezember desielben Sabre8. Hier waren im ganzen 33 Perfonen an- geklagt, unter biefen alle früheren Gemeinderäte; in Unter⸗ fuhungshaft befanden fie fid von 9 bis zu 122 Sagen. Am 13. September 1835 verwandte fid) eine nach Arlesheim einberufene Berfammlung aus dem ganzen Bezirk dafür, bie Behörden möchten die feit adt Wochen im Gefängnis Ihmachtenden Leute ihren Familien zurüdgeben; wenigftens neun Zehntel feien am Totſchlag unfhuldig.e Die von bet Verſammlung beſchloſſene Petition trägt aud) verfchiedene Unterfchriften aus den proteftantifhen Gemeinden, wie Binningen und Muttenz; aus Therwil und Arlesheim find bie Präfidenten der dortigen patriotifchen Vereine vertreten. Darauf beſchloß das Obergericht, es feien einige Angeklagte
1%
-
ohne Kaution und dreizehn andere, darunter bie Mitglieder des früheren Gemeinderats, gegen Kaution aus ber Haft zu entlaflen; der Verhörkommiſſion wurde empfohlen, bie Unterfuhung zu befchleunigen.e Dennoch zog fid diefe, bie zwifchenhinein auch wieder im „Schlüflel” in 93inningen ge: führt wurde, tief in das Jahr 1836 hinein.
Wie eigentlich felbftverftändlich, fuchten fid) bie An- geffagten aud) in biefem Prozefle nach Kräften zu entlaften, unb wenn ihnen ZTätlichleiten nachgewiefen wurden, [o räumten fie fie bloß gegenüber den mit dem Leben davon: gefommenen Landjägern ein; einer geffanb zwar zu, auf der Hofmatt mit einem (mabr[deinfid) Brunners) Karabiner Hägler einen Streich verfegt zu haben, aber auf den Rüden, nit auf den Kopf. Ziele wollten nur abgewehrt haben, was Landjäger Malzach während einer Konfrontation zu der Anklage veranfapte: „Es bat niemand abwehren wollen, es war fein barmberziger Menſch ba, fondern bie ganze Mafle fchrie (auf der Hofmatt): „Macht fie bin, macht fie bin!” Der 3anf darüber, wer mit ben Tätlichkeiten begonnen habe, war eigentlich ziemlich müßig, denn bie Luft war mit Konfliktſtoff überladen und es mußte zur Kataſtrophe fommen, fobald bie Landjäger auf der Ausführung ihres Auftrags beftanden; aud) bie Gemeinderäte fagten aus: drüdlich, das Volk fei entfchloffen gewefen, niemand zum Dorfe hinauszulaſſen. So ergaben fid) faft von ſelbſt Tät- lichkeiten der Volksmenge, die allerdings kaum fo ſchwere Folgen nad) fid) gezogen hätten, wenn nicht butd) das Niederftürzen Matthias SbürfaufS und bie Verwundung Sob. Hügins durch bie Schüffe ber Fanatismus veranlaft worden wäre, fid) gründlich auszutoben. Etwa einmal wird über bie hetzeriſche Tätigkeit ber Weiber geklagt, noch mehr fiber bie Rolle bet Allfchwiler, bie bie Gemeinde ins Unglüd gebracht hätten dadurch, Daß fie den Obermwilern rieten, nicht nadjgugeben, fowie dadurch, daß ihre von Solothurn ber: fommenben Delegierten den Willen des Biſchofs nicht richtig
191
übermittelten, fonbern fagten, es fomme auf bie Mehrheit in ben Gemeinden an. Auch der Bifchof babe ben Oberwilern Hoffnung gemacht, daß fie verlangen fónnten, was fie wollten; hätte er den Delegierten fein Gehör gefchenkt, fo hätte man fid) bei der getroffenen Wahl beruhigt und das Unglück wäre nicht entftanden. Etliche erklärten ihre Stellungnahme einfad) damit, bap fie gewohnt feien, zum größeren Haufen zu halten, und viele gaben am, fie feien deswegen zu einer fehroffen 9Darteinabme gelangt, weil fie fanden, da bie Verfafiung bie Souveränität des Volles aus- fpreche, komme es aud) in Firdjliden Dingen auf bie Mebr- heit an.
Der Gemeinderat war bireff weniger belaftet, feine Mit- glieder zeigten fid) aber viel zu febr als Partei, als daß fie von ber Mitfchuld an ben tief bedauerlichen Vorgängen frei- geiprochen werden fonnten. Landjäger Dil erzählte u. a., während des Parlamentierens im Rößli babe ibn ein junger Mann aus Oberwil auf bie Seite genommen und ihm gejagt, er folle fid) bod) mit bem Gemeinderat feine Mühe geben, denn er babe eben gehört, wie ber Präfident zum Röpliwirt gefagt babe, er folle nur ftandhaft bleiben und nicht geben, wenn fchon fie, bie Gemeinderäte, ihn hießen, denn vor den Landjägern müßten fie anders reden, als fie benfen. Das Zeugnis ift nicht einwandfrei, denn der junge Mann wollte feinen Namen nicht nennen, aber das ganze Verhalten des Gemeinderats läßt die Annahme zu, daß er bie Wahrheit ſprach. Ein arger Mißgriff war das Schreiben, in welchem bem Bezirfsverwalter offiziell Anzeige von den Ereigniflen des 31. Zuli 1835 gemacht wurde; es ftammt eigentlich nicht vom Gemeinderat ber, fondern beruhte auf einem Konzept, das ein Sohn des Müllers, der Student der Theologie Stanz Hügly, bem Gemeindefchreiber Bannier diktiert hatte. Rummler verfehlte nicht, darauf aufmerfjam zu machen, wie unangebrad)f. der Ausdrud von der „Verwegenheit“ der 9anbjáger war, und die Gemeinderäte geftanden auch felber
192
zu, daß bie Poliziften mit ber Ausführung ihres Auftrags nur ihre Pfliht taten.
Defters fommt in ben Ausfagen der Angeflagten der Gedanke zum Ausdrud, man babe fid) zum Widerftand be- rechtigt geglaubt, weil bem Fatholifchen 9anbesteil nad) bet Verfafſſung ebenfo viele Rechte zuftänden, wie ben pro- teftantifchen 93egirfen; haben wir das verdient am 3. Auguft? wurde u. a. aus bem vor dem Röpli zur fogenannten Ge- meindeverfammlung vereinigten Volke gerufen. Auch fonft wirkten bie Ereignifle ber aufgeregten, faum hinter den ban- belnben Perfonen liegenden Revolutionsjahre nad) Land⸗ tat Hügin und Peter Degen, Beden, führten bie Renitenz der „Schmidlianer” auf ihre heimliche Gegnerfchaft gegen die neue Ordnung der Dinge zurüd; „fie willen wohl”, fagte Hügin, „DaB das Heberhandnehmen folder Unordnungen in unferm Staat zulegt deffen Auflöfung herbeiführen unb fie wieder in den Schoß der lieben Basler verjegen würde.” Opeter Degen wird feine Rolle in der Revolutionszeit?") zum Vorwurf gemacht; „ich baBte ihn halt”, fagte einer ber ausbrüdlid) als „gute Patrioten” bezeugten 93rüber Thür⸗ fauf, Elfelis, von ibm, „weil er früher während der Re- volution niemals unjerer Meinung tar." Während Degen allerdings nur unter dem Zwang ber Umftände zu ben Gegnern der Stadt gehalten hatte, waren Landrat Hügin und Alt-Präfident Häring, ein anderes Haupt der „Anaheimer”, von jeber erklärte „Patrioten” gewefen. .
3abíreid) find bie Widerfprüche, bie in den Konfron- tationen amifden Landjägern und Angefchuldigten zutage traten; fie dürften außer in der mangelhaften Perfonenfenntnis bet ortsfremden Poliziften auch in der Aufregung des Augen: blid$ und in bem allgemeinen Durcheinander neben dem Rößli ihre Erklärung finden. Bezeichnend ift, daß erft bie Denunziation eines im Übrigen ftarf Verdächtigen die
9) Siehe darüber Bernoulli, Bajel in ben Dreißigerwirren, Neujahrsblatt 1908, S. 30 und ©. 54.
193 *
Eruierung der beiden ermöglichte, bie Brunner auf der [o- genannten Hüslimatte mißhandelten, während niemand wegen des an Hägler begangenen Totſchlags überführt werden fonnte, weil der gleihe Denunziant nur zu fagen wußte, wer im Dorfe als derjenige galt, ber gegen Hägler den tödlichen Streich, wahrfcheinlich im Bach, geführt babe, wo er von ben Obftgärten, bem Standort des Denunzianten aus, nicht beobachtet werden fonnte. Als charakteriftiich für bie Art, wie bie Verdächtigen ihre Mittäterfchaft abzuleugnen ober bod) abzufhwächen fid) bemíübten, darf bie Ausfage eines Walch gelten. Diefer fchlug, wie einer feiner eben. falls ftatf belafteten Mitbürger begeugte, fon auf Dill ein, als bie Landjäger das Haus verließen; ber Angefchuldigte wollte jebod) nur mit einem 23obneniteden „jo auf den Tſchako geftupft" haben, und in der Konfrontation meinte er Ihließlih, er babe Dil fo auf ben Sjdafo „bepperlet”. Anfangs wollte er nicht einmal „geftupft”, fondern bloß einen Steden zu feiner Verteidigung in die Hand genommen haben: „Man fann nicht immer willen, was für Feinde man bat." Und der fdon mehrfach genannte Aloys Bannier, den bie Landjäger Malzach und Dil mit 93eitimmtbeit be- Ichuldigten, fd)on vor dem Rößli mit einem Hebel ober dergleichen dreingefchlagen zu baben, leugnete zuerft, über: haupt etwas in den Händen gehabt zu haben, bequemte fid) aber fchlieflich zu dem Geftändnis, er habe ein Cid von einer Stange in den Händen gehabt, damit jedoch nicht ge- ſchlagen. Auch auf der Hofmatte wollte er fid) nicht agareffiv verhalten haben, obſchon auper einem Landjäger ein Mit- angefíagter darauf beftand, 93annier babe auch dort einen Steden gehabt. Zugeben mußte er, daß er über bie Hofmatt bis über ben Bach lief, aber er habe den Steden zwiſchen dem Bache unb dem Dorfe fallen fafjen; Malzach und Schäublin wollte er nur deshalb nadgejebt haben, damit fie nicht mehr follten laden fónnen: „Sch hätte fie vielleicht gefragt, warum fie gejchoflen haben, aber getan hätte id)
194
feinem etwas." Niemand wollte bem Landjäger Dill neben bem Roͤßli den Säbel abgenommen haben; als 9peter Degen, Ceibentveber,?!) defien befchuldigt wurde — im Volk galt er allgemein als der Täter — bebauptete er, andere hätten bem Landjäger bie Waffe entriffen. Da er jedoch überführt werden fonnte, daß er den Säbel nad) Haufe mitgenommen babe, fuchte er feine Rolle damit zu erklären, er babe ihn Dil, der - vielleiht damit nur bie Weibsbilder (bie ben Otbplimirt feftbieffen) erfchreden wollte, deswegen ab- genommen, um ein Unglüd zu verhüten. „Er liegt nun daheim in meinem Haufe. Ich dachte, menn ich ihn dort babe, fei er gut aufgehoben; id) wollte ihn dann fpäter ab- liefern.“
Auch zu bem, was mit Schimpfen, insbefondere gegen ben Bezirksverwalter gefündigt wurde, wollte nachher nie- manb fteben, und bod) ift fonnenklar, daß in diefer Be— ziehung namentlich während der Verhandlung zwifchen Ge- meinderat und Landjägern vor bem Rößli ganz Erhebliches geleiftet wurde. Vom Knecht des Präfidenten Gütterlin, Joh. Häring, fagte Malzach, er babe gewaltig auf bie Re- sierung gefhimpft und wie ein Löwe gebrüllt, Doch ber Belchuldigte ftellte es in Abrede. Als dann Schäublin feinen Rameraden Malzach unterftüßte und erklärte, Häring habe niht nur „furchtbar aufbegebrt", fondern auch drein- gefchlagen, ba fam das feilmeife Geftändnis: „Das Maul babe ich gebraucht, aber gefchlagen gewiß nicht.” Gin Matthias Degen batte fid vor dem Röfli geäußert, ber Verwalter, der Spisbube, folle nur felber nad) Oberwil fommen, um bie Sache auszumachen, und menn Regierung$- tat Meyer fid) ins Virsed wage, fo müſſe er totgefchlagen werden. Diefe lebte Aeußerung wurde ſchließlich zugegeben, er babe es eben „in der Dummheit” gefagt. Und ein Joſeph Wittlin entfchuldigte fid) mit feinem „dummen Charakter”,
81) Nicht zu verwedjeln mit dem „Anaheimer“ Peter Degen Beden.
195 18
ben jedermann fenne, als ibm vorgeworfen wurde, er babe am Sage nad) den Vorgängen beim Rößli zum Widerftand aufgefordert: „Segt muß man fid) wehren und zufammen- halten und nicht abgeben, frijd) gewagt iit halb gewonnen.”
Wieder fchied das Obergericht den größeren Teil ber Angeklagten aus und Überwies fie feiner Forreftionellen Ab- teilung zur Aburteilung, während es gegen bie am ftärkiten 93elafteten außer dem Tatbeftand des Widerftands gegen die Obrigkeit denjenigen der unvorfäßlichen Tötung und ber ge- waltfamen Zerlegung für binlänglich fonftatiert erachtete. Co wurden fieben Angeklagte zu (trafen verurteilt, die zwilchen achtzehnjähriger reſp. fiebzehnjähriger Kettenftrafe erften Grades (wegen des an Brunner begangenen er: bredhens) bis herab zu anderthalbjähriger Zuchthausftrafe variierten.3?) Bier Angeklagte wurden mit hohem Verdacht, achtzehn weitere, darunter acht weibliche, mit entferntem Verdacht „der Inſtanz entlaffen” und zufammen nebft den übrigen, wobei fid) auch bie fünf Mitglieder des alten Ge- meinbetat8 befanden, wegen Widerfeblichkeit refp. Fahr⸗ läffigkeit dem Eorreftionellen Gericht zur Beurteilung über- wiefen. Sämtliche PVerurteilten, Verdächtigen und ver Snftanz Entlaffenen wurden in folidarifcher Verbindung zu den Prozeß: und Ofkupationskoften verurteilt. Als Ent- Thädigungen fe&te das Obergericht feft: Sr. 120 für Korporal Meyer, Zr. 60 für Landjäger Dil, Gr. 1600 für Witwe und Kinder Brunners, Sr. 400 für die Eltern Häglers unb je Gr. 20 für Schäublin und Malzad).
Die forreftionelle Abteilung, bie nun neben ben nicht bireft an ber Mißhandlung der Landjäger beteiligten Per: fonen auch die Erzedenten gegen ben Bezirksverwalter be- urteilen mußte, ftellte fid) in ihrem Erfenntnis vom 11. Ja—
83) Sch verzichte darauf, die Verurteilten mit Namen aufzuzählen. Mer Orts- unb Perſonenkenntnis befibt, weiß vom Hörenjagen, um welche Berfonen es fid) Handelt, und wer fid) font dafür intereffiert,
findet im bajellandichaftlichen Amtsblatt Nr. 3 des Jahrgangs 1837 viele Details der Unterſuchung und das ausführlide Urteil.
196
nuar 1837 auf den Standpunkt, bie von Kummler verfuchte Onftallation Anaheims habe, weil fie von der geiftlichen 23e- bórbe nicht gebilligt war, ben Kirchgenofien von Oberwil als ein Eingriff in bie Rechte der römifch-tatholifchen Kirche erfcheinen müflen, und darum feien bie bei diefer Gelegen- heit begangenen Erzefle bloß als Vergehen wider Privat: perfonen angufeben; fo wurden nur die drei Brüder Gütterlin, unter ihnen ber Röpliwirt, zu je achttägiger Ginfpetrung verurteilt, ferner Sofepb Ley, Rüfer, wegen feiner Drohungen gegen den verwundeten Korporal Meyer zu dreitägiger Ein- fperrung, während bie übrigen Angellagten, unter ihnen bie ehemaligen Gemeinderäte, freigefprodhen wurden. Auf bie Appellation der Regierung änderte jedoch das Plenum des Obergerihts am 26. Januar 1837 diefes Urteil in dem Sinne ab, die drei GSütterlin hätten fid) tatfächlich ber Widerfeglichkeit ſchuldig gemacht; in Anbetracht jedoch, daß fie 65—67 Tage in Unterfuchungshaft gefeflen und ihnen diefe Haft billigerweife al8 ein Seil der Strafe angerechnet werden dürfe, wurde bie Strafe von adj Tagen Einfperrung belaffen, während Sofeph Ley ftatt bloß drei, ſechs Tage zu- diktiert erhielt. Ferner befam der (von Dill hinter bem Röpli niebergefcblagene) Matthias Sbürfauf, Sträßis, weil er Landjäger Hägler den Karabiner hatte entreißen wollen, ebenfalls ſechs Tage (er batte zudem 115, Ley 71 Sage in Unterfuchungshaft geſeſſen). Sämtlihen Gemeinderäten wurde bie ausgeftandene Interfuchungshaft (bei den meiften betrug fie 56 Sage) als Strafe angerechnet. Alle An— geffagten, mit Ausnahme von zweien, wurden in folidarifcher Verbindung mif den Friminell Veurteilten zu den Okku— pation$-, Entfhädigungs- unb Prozeßkoſten verfällt.
Die vom Obergericht verfällten Sreiheitsftrafen fommen uns heute überaus hart vor, namentlich bie wegen des an Brunner begangenen PBerbrechens ausgefprochenen — fang: jährigen Kettenftrafen erften Grades; die beiden von ihnen betroffenen Graebenten hatten eben das LUnglüd, daß ihnen
197
bie Teilnahme an ben Mißhandlungen — gleichviel ob gerade biefe ober bie von anderer Geite ausgegangenen DBrunners Tod betbeifübtten — genau nadjgemte[fen werden fonnten, während die nähere Art und Weife, wie Hägler in der Ausübung feines Berufes bie tödliche Verwundung er: hielt, ftatf umftritten war. Diefe Erwägung mag wohl der Grund gewefen fein, daß der Landrat des Kantons Baſel— landfchaft, als er gegenüber den an der Oberwiler Landjäger: Affäre Beteiligten von feinem Begnadigungsrecht Gebrauch machte, ohne Rüdfiht auf bie Höhe ber ausgeiprochenen Strafen, fämtlihe Verurteilte, neben ben ber unvorfäßlichen Tötung Überwiefenen aud) bie wegen ber Störung des Gottesdienftes vom 14. Dezember 1834 ins Zuchthaus ge- fommenen, [don nad) einigen Monaten wieder in Grei- beit fegen ließ. Aus zwölf Gemeinden des Kantons waren mehrere hundert Unterfchriften mit dem Gefud) um Amneftie für bie Verurteilten eingelangt, und die vom Landrat mit der Vorberatung des Sraftanbums betraute Rommiffion be- zeichnete in ihrem Bericht bie ganze Affäre als das „Er: gebnis einer Reihe durch mehrere Mißgriffe der 93ebütben begleiteter, aus gefteigertem Sro& und religiófem Fanatis— mus bervorgegangener, immerhin aber frafbarer Hand— lungen.” Die wenigften Mitglieder ber Sommijfion waren für bie fofortige Freilaſſung der Zerurteilten, aber nad) langer Diskuffion wurde in diefem Sinne befchlofien. Es geſchah das am 2. Mai 1837, unb zwar mit ber Vedingung, daß bie an Witwe Drummer zu zahlende Entfchädigung von 1600 auf 2000 Gt. erhöht wurbe.?®)
8 Ein nod) jebt lebender Zeitgenofje ber Ereigniſſe jagte mir einmal, es jei für bas Dorf ein wahres Feſt geweien, als fid) die Kunde verbreitete, bte Verurteilten ſeien begnabigt; fie hätten, als fie fid) von ber Mübhlebrüde her ins Dorf begaben, einen Empfang gefunden, der fa|t einem Triumph glidh. Ueber bie Distuflion tm Ple- num des 9anbrats verzeichnet bas Protokoll leider feine Einzelheiten. Bon Zeitgenofjen wurde erzählt, &anbratspigeprüjibent Stephan Guß-
willer habe mit allem Nahdrud auf einen vollitändigen Erlaß ber Sreiheitsitrafen gebrungen und fogar gedroht, im Falle ber Ablehnung
198
Man darf immerhin nicht überfehen, daß das Geld — e3 waren ja nod) alte Franken — damals einen bedeutend höheren Wert batte als heutzutage. Doch war eine größere Entihädigung an bie Witwe Brunners in jedem Falle wohl angebracht, denn der etwa 44 Sabre alt gewordene Landjäger hinterließ mehrere Kinder. Man hätte aud) den Eltern Häglers, deren Entſchädigung nad) heutigen Vegriffen eben- fals mehr als befcheiden genannt werden muß, eine ent. fprechende Erhöhung gönnen mögen, namentlich) wenn man erfährt, daß ber auf fo traurige Weife mit 21 Sabren Um- gefommene der einzige Sohn feiner Eltern war und daß biefe in Maiſprach wegen eines bem Vater zugeftoßenen Unfalles in dußerft dürftigen Zerhältniflen lebten.
X.
Die finanziellen Folgen ber Landjäger-Affäre in Oberwil. — Die
Drahtzieher Hinter den Auliffen. — Die Stimmung in ber Gemeinde.
— Das fpätere Schidfal ber beteiligten Kleriker. — Die Weffen- bergianer. — Schluß.
Nah ber Q93efeifigung der ftrafrechtlichen Folgen der Affäre blieben für bie beteiligten Oberwiler nod) immer bie finanziellen beffeben, unb biefe waren für eine große Anzahl von ihnen fdymer genug. In mehreren Familien trugen fie zur Befchleunigung des Ökonomifchen Niederganges bei, bet allerdings fchon vorher eingefett batte, oder fie brüdten bod) bie Leute [ange Jahre hindurch empfindlih. Mit der 93e- zablung der Okkupationskoſten preffierte es allerdings ben dazu Derpflichteten nicht, wie fid aus einer mir vor- liegenden, von meinem Großvater infolge eines Auftrags im Mai 1849 aufgeftellten Verteilungslifte ergibt. Darnach hat des Antrags den ihm vom Suit 1837 ab aufommenben Borfig im Landrat nit zu Übernehmen, Ferner wurde beridjtet, aud) ein Landrat aus Pratteln habe fid) der Verurteilten mit bejonberem Eifer angenommen, weil er fie beim Neubau einer Straße im Gebiete
feiner Gemeinde Hatte Frondienſte verrichten feben unb fo auf ihr trauriges Geſchick aufmerkſam geworden war.
199
Andreas Hügly, Müller, der Gemeinde am 6. Auguſt 1835 den Betrag von 3000 Zr. vorgefhoflen; dazu famen 13 SZahreszinfe bis 1848 à 4% — 1560 Qr. Marchzins vom 6. Auguft 1848 bis 23. Mai 1849 à 4% — 95.62, von zwölf Sabresainfen bie Verzugsinterefien à 4% — 373.60, ferner von Hügly ausgelegte Gerichtskoften und Advofaten- gebühren — Gr. 50.05. 3u diefen Sr. 5079.27 treten nod) neue Schreibgebühren von Zr. 19.75, fo daß Gr. 5099.02 auf bie PVerurteilten zu verteilen find. Dieſe waren ur: fprünglich 41 Perfonen, fie wurden jedoch burd) Konkurs und Auswanderung auf 30 reduziert, für die je Gr. 169.97 als Betreffnis ausgefegt wurden. Die in demfelben Schriftftüd enthaltene Anleitung zur Anfertigung fogenannter „Doppel” für bie Ronkursbetreibung läßt erfennen, daß die als 93ürgen für bie Schuld vom 6. Auguft 1835 haftenden Gemeinderäte refp. deren Erben aud) jet nod) Mühe hatten, das Geld von den Schuldnern einzutreiben. Möglicherweife waren bie Perurteilten der Meinung, der reihe Müller werde die Folgen des Anglücks wenigſtens teilweife mittragen helfen, nachdem in der Mühle, wo Schmidlin fein Quartier hatte, bie Fäden der Partei des Vikars ihren Vereinigungspunft gefunden hatten; galt bod) Hügly als derjenige, ber moralijd) niht am wenigften für die fchlimme Wendung der Dinge verantwortlich war. Er bielt fid) zwar vorfihtig im Hinter: grund, bod) fann außer feinem Einfluß auf feinen Schwieger- fobn Gemeinderat Thürkauf, feiner Freundfchaft mit Schmidlin und dem verdächtigen fonpentifel der Gemeinbe- räte mit bem in ben Ferien weilenden Theologieftudenten Hügly am Abend des 31. Zuli nod) ein direfter 93emeis bafür angeführt werden, daß von der Mühle aus das Feuer der Leidenfchaft gefchürt wurde: Einer ber fieben friminell Perurteilten, ein Nachbar des Müllers, fagte námlid im Verhör aus, er fei am fritijden Nachmittag von einem Sohn Hüglys überredet worden, zum Otopli zu geben, um bie Ver— haftungen hindern zu belfen, da man zulammenbalten und
200
ftanbbaft fein müfle; er, ber Nachbar des Müllers, wollte gerade aufs Feld, um Getreide zu fchneiden, er wäre ohne Hüglys 3utun nicht in das Unglück Dineingefommen.
Nicht bloß finanziell, aud) in anderer Hinficht wurden bie fchweren Folgen des unglüdlichen Pfarrwahlftreits in Oberwil nur langfam überwunden. Zwar der neue Geift- [ide Anaheim widerlegte durch feine Wirkfamkeit das von der Mehrheit in ihn gefette und von ben Rädelsführern an. baltend genábrte Miftrauen, nod) ehe die Unterfuchung abgefchloffen war, wandte fid) ibm (wie fid) aus den Alten ergibt) ein Seil der früheren Gegner vertrauenspoll zu. „Run find mir", äußerte fid) [don zu Beginn des Winters einer der in den Prozeß wegen Religionsftörung Der: widelten, „aufs befte mit ibm zufrieden, ich und meine Fa- milie geben bei ibm fo fleißig in bie Kirche wie bei Herrn Schmidlin. Er iff ein herrlicher, braver Herr." Den treibenden Elementen ber „Schmidlianer” bebagten aller- dings folhe Zeugniffe nicht. Als die drei Brüder Thürkauf, die feilveife an den Vorfällen vom 31. Zuli ftarf beteiligt waren, aber nod) vor Beendigung des Prozefles ihre Gegnerfchaft gegen Anaheim aufgaben, fid) dagegen aus: fprachen, daß das bifhöfliche Schreiben vom 30. Sanuar 1835 je an einer Gemeindeverfammlung verlefen worden fei, machte ihnen Sriedensrichter Ihürfauf den Vorwurf, fie ſtänden jetzt aus Leidenfchaft plöglich gegen ihre frühere Partei auf. Deren Häupter und die meiften der in die Unterfuhung Berflochtenen bebarrten aud) fpäter in ihrem Widerftand gegen den Pfarrer, denn fie zogen es vor, den fonntäglichen Gottesdienft in Therwil zu befuchen.3®)
Man darf annehmen, daß die anhaltende Oppofition eines Teils feiner Pfarrkinder mit ein Grund dafür war,
*4) Der geiftlide Anonymus ſchreibt bte Schuld an diefer beharr⸗ lien Renitenz Dekan Gürtler zu, ber es entgegen ben Kirchengeſetzen zulafje und fogar fürdere, bag Anhänger Schmidlins ftatt in ihrer Pfarrkirche beim Dekan zur öfterliden Kommunion geben.
201
daß Anaheim Oberwil ſchon nad) ſechs Zahren verließ, um einen Ruf nad) feinem Heimatfanton, nad) bem an der Grenze nad bem Elfaß zu liegenden Rodersdorf anzunehmen; nur ungern fab ihn bie Mehrheit ber Kirchgenoflen fcheiden. Später, im Sabre 1852, fiedelte Anaheim nad) Wolfwil im Gäu über, und dort iff er im Frühjahr 1883 im Alter von 77 Jahren geftorben. Aus feiner fpäteren Tätigkeit bleibt hervorzuheben, daß er in den fünfziger Sabren ein eifriger Anhänger ber fogenannten roten Partei Vigiers war, aber zur 3eit der Erklärung des Infehlbarfeitspogmas eine Schwenkung machte und beifpielsweife gegen bie Revifion ber DBundesverfaflung auftrat. Anaheims perfünliche Q3e- liebtheit in feiner lebten Pfarrgemeinde wurde durch feine politifhe Tätigkeit Feineswegs erfchüttert. Sein Freund Doswald blieb von 1835 bis 1848 in Allſchwil, wo bie ganze Gemeinde mit geringen Ausnahmen dem tüchtigen Geel- forger in Verehrung zugetan war; er ging bann nad) Aarau, weil er, wie er in der Anmeldung fchrieb, für feine religidfen Vorträge eine Kanzel in der Stadt fuchte, bei mehr gebildeten Zuhörern, am liebften in einem paritätifchen Ort, ähnlich wie fein Freund Pfarrer Kälin in 3ürid. Auch in Aarau erfreute fid Doswald als Priefter von bervorragendem Willen, weitgehender Toleranz und fittlich ftrengem Wandel großer Beliebtheit, unb allgemein wurde fein verhältnis: | mäßig früber Tod im Sahre 1860 bedauert. Der Wider: facher Anaheims und Doswald, Abbe Schmidlin, fiedelte bald nad) feinem Wegzug von Oberwil nad) Dugaingen im Kanton Bern über, wo er erft Lehrer, dann Vikar und zulebt Pfarrer war. In der Rulturfampfzeit mußte er als Mit- unterzeichner des Proteftes ber 97 juraffiihen Geiftlichen gegen bie Amtsentfegung des Biſchofs Lachats den Kanton verlaffen und foll in Frankreich geftorben fein.
Wenn wir gerade unter Würdigung der daran be- teiligten Perfonen geiftlihen Standes ben Vorfällen von 1834 unb 1835 näher zu treten fuchen, fo ijt ohne weiteres
202
Har, baB wir hinter bem Gtrei£ um zwei erledigte Pfarr- ftellen nicht bloße Lokalhändel fuchen müflen, fondern daß fid) hinter ihm Dinge von prinzipieller Bedeutung verbergen. Defien waren fid) die Führer auf beiden Seiten ziemlich Klar bewußt, weniger natürlich ihr Anhang im Volke. Die Schmidlianer glaubten bie Religion in Gefahr, und fo fagte einer ber Brüder Sütterlin zur Rechtfertigung feiner Anteil- nahme an ber Widerfeglichkeit gegen Statthalter Rummler: „Dh weiß, daß in ben neuen Schulen, wie es nun in Ther—⸗ til und Oberwil ber Gall ift, biefelben Bücher gebraucht und gelefen werden, wie in den Gemeinden des reformierten Landesteils. Den alten Katholizismus, fagen bie neuen Lehrer, fónne man nicht mehr brauchen. Auch bat unfer Lehrer in Oberwil?5) den Englifhen Gruß, der früher in der Schule gebetet wurde, abgefdjafft; nichts mehr läßt er beten als das Vaterunfer. Sn folhen Sachen [oll man nichts ver- befiern, man [oll es beim Alten bewenden laflen; wer ver- beffern will, glaubt fid) ja weifer als Gott." Auf der andern Seite fprad) Landrat Hügin in einem Schreiben an bie Unterfuchhungsbehörde davon, wie Leute wie bie fünf Ge. meinderäte jeweilen „bei ihren Pfaffen und anderen ihrer Führer” fragen, wie fie fid) zu benehmen hätten, weil fie nicht felbftändig handeln könnten und deswegen zu bedauern feien. Hügin wollte eben einen Mann feiner Richtung als Pfarrer in Oberwil haben, deswegen wandte er fid an Kälin in Züri, bei bem er volles ZVerftändnis für feinen Wunfch fand. Dies beweift nicht nur Kälins Antwort auf Hügins Anfrage (f. ©. 125), Jondern wir willen auch fonft von des damaligen Eatholifchen Sürcher Pfarrers Denkart und Ge- finnung [o viel, daß wir ihn herzhaft als einen der aus- gefprochenften Vertreter des Tiberalen Katholizismus jener Sage bezeichnen dürfen, jener freien und dabei national ge-
8) Offenbar ber bereits in Kap. II genannte Abbe Kiefer, der aud) mit dem vorherigen Pfarrer Oeſchger Differenzen wegen ber Art der Einteilung bes Schulunterridhts hatte.
203
finnten Richtung, bie im ehemaligen Genetalpifat des Bis- tums Ronftanz, Weflenberg, ihr Haupt verehrte. Zur Gba- rakteriftif Rälins follte eigentlich genügen, baB er es wagte, an der Seite des nad) dem zweiten Sreifcharenzug in Luzern eingeferkert gemefenen und von Freunden aus bem Keſſel⸗ turm geretteten Dr. Robert Steiger in Zürich einzuziehen, nachdem er das meifte zur Sammlung des für die Befreiung nötigen Geldes getan hatte. Doch fei noch bemerkt, daß Kälin Gegner der Ohrenbeichte war und biele Snftitution lieber burd) gemeinjame Bußandachten erje&t hätte; ferner las er nicht mehr Meſſen um Geld und äußerte fid) nament- ich Scharf über den Zölibatszwang. Daß Kälin wegen jeiner freien Anficht viel angefeinbet wurde, ift nichts als natürlich. Deifpielsweife fdrieb ibm im Sahre 1847 fein Freund Anaheim von Rodersdorf aus, im Kloſter Mariaftein be- finde fid) ein elfäffifcher Priefter, der als Vikar nad) Zürich geben werde, um einen anderen Geift unter bie bortigen fatbolifen zu bringen; man wolle, heißt es weiter, jedem freifinnigen Geiftlichen einen Laufcher und Spion an bie Seite feßen, damit bann ein KRebergericht das Verdammungs- urteil fprechen fónne.59)
Der Unterfchied zwifchen den beiden Richtungen im Katholizismus drüdte fid namentlich in der abweichenden Wertihägung der Zeremonien einerfeits und der Ilnter- meijung im Evangelium durch Gbriffenfebre und Predigt anbrerjeit8 aus. Der geiftlihe Anonymus gebt jedenfalls zu weit, wenn er von den Oberwilern und den Birsedern der damaligen Zeit — fein Büchlein ift offenbar noch vor 1840 entftanden — überhaupt fast, fie Fännten von bert fatbolijd)en Religion im allgemeinen wenig mehr als einige Aeußerlichkeiten, aber er dürfte damit recht haben, daß er Schmidlins Beliebtheit auf Vorzüge zurüdführte, die für den innern Wert eines Menfchen, und fpeziell eines
96) Diefe Angaben find entnommen ber Brojhüre von Biſchof Dr. Herzog: Robert Kälin, 1830—1863 fatbolij[djer Pfarrer in Zürid).
204
Prieſters, nicht viel bedeuten. In ben 3eugenausfagen ver: mipt man Hinweife auf hervorragende Eigenfchaften, bie feine ungewöhnliche Weliebtheit hätten erklären können; man vernimmt eigentlich nicht mehr, als daß er, wie ein Anhänger fid) im Verhör ausdrüdte, feine Funktionen fo machte, daß die Leute Freude daran hatten. Der Uno: nymus behauptet, Schmidlin babe feine Parrfinder oft ge- fragt: „Hab id)'$ recht gemaht? Befehlet nur, id) mach's Gud, wie Ihr wollt." Hingegen babe er monatlich bloß zweimal gepredigt und während feiner achtmonatigen An- wefenheit in Oberwil bloß dreimal Chriftenlehre gehalten. Wie bem aud) fei, bie unbebingte Ergebenheit namentlich der weiblichen Dorfbewohner an feine Perfon läßt bie Annahme zu, baB er vorzugsweife mit äußeren Mitteln einen guten Eindrud zu machen unb fo einen zuverläffigen Anhang zu bilden fuchte. Charakteriftiich ift auch, baB der Anonymus Schmidlin vorwirft, er babe bie Schule in Oberwil bfop zweimal befucht, denn nichts lag den Weflenbergianern außer den rein geiftlichen Funktionen fo febr am Herzen wie bie Sorge um die Volksbildung, bie fie als bie Vor—⸗ bebingung für bie Pflege eines echten religiöfen Sinnes be- trachteten.
Die Partei der „Schmidlianer” beberrfchte in Ober: wil aud) ferner das Feld, was fchon daraus hervorgeht, daß im Spätherbft 1836 ber im Auguft 1835 im Beiſein von Statthalter Kummler gewählte proviforifche Gemeinderat mit Landrat Hügin als Präfident wieder befeitigt wurde; bei 102 Wablteilnehmern erhielt der neue Gemeinde: vorfteber, Müller Hügly, nicht weniger af$ 81 Stimmen. Der gleihfam im Zeichen der 93ajonette zum Präfidenten gewordene Hügin wurde auch (bereits im Mai 1836) als Landrat bejeitigt, ba fid) bie in Oberwil gegen ihn berr- fhende Stimmung offenbar im ganzen Wahlkreis bemerkbar machte; damals waren Alfchwil und Schoͤnenbuch nebft Therwil und Oberwil zu einem Wahlkreis vereinigt. Erft
205
CHE NES 07M — — —
im Sabre 1841 fand er wieder Gnade bei ben Wählern. Hügin, ber gegen Ende der vierziger Sabre ftatb, blieb zeit: lebens eine ftark beftrittene Perfönlichkeit; die Befähigung zu einer führenden Stellung innerhalb der Gemeinde und über ihr Gebiet hinaus ftritten ibm jedoch auch feine Gegner nid ab, wenigftens erinnere id) mich, mehrmals Urteile über feine Perfon von Leuten aus dem gegnerifhhen Lager (von jüngeren allerdings, bie ihn jedoch nod) perfönlich gekannt hatten) gehört zu haben, bie durchaus zu feinen Gunften [auteten. Nah Pfarrer Anaheims Weggang wurde ein Zirseder fein Nachfolger, der von Therwil gebürtige Hr. Sofepb Gutzwiller, ber aud) ſchon unter ben Bewerbern ^on 1834/35 gemefen war. Er war fein. Weffenbergianer der Gefinnung nad, aber jener Schule bod) durch angeborene Milde und Toleranz verwandt.
Auch bei der burd) Anaheims Weggang entftandenen Vakanz übte 93ifdjof Salzmann feine im Sturmjahr 1835 behaupteten Rechte aus, aber bie Virseder hatten tro&bem nicht vergeblich für bie Erweiterung ihrer Rechte in Firch- [iden Angelegenheiten geftritten. Dank ihrem Drängen rubten in den nächſten Sabren bie durch den Streit um bie Dfarrftellen in Oberwil unb Alfchwil aufgeworfenen Fragen nie ganz, und im Sommer 1842 fam ein neues „DBerkomm: nis" zwifchen dem S3ifdjf von DBafel unb dem Kanton Bafelland zuftande, das am 25. Oktober desfelben Zahres vom Landrat ratifiziert wurde. Als birsedifche Abgeord- nete batten an den Verhandlungen Pfarrer Weber in Opfeffingen und Landrat Hügly in Oberwil teilgenommen. Das Abkommen beftimmte, baB ben birsedifchen Kirchen- gemeinben bloß Pfarrverwefer, nicht Pfarrer vorftehen; ein folcher ift allein der Dekan, defien Amt indes nicht an eine beftimmte Pfarrei gebunden ift, denn der Bifchof fann Diele Würde übertragen, wem er will, nur darf es feine der Re— gierung unangenehme Perfönlichkeit fein. Dem Biſchof ver- bleibt aud) das Wahlrecht unb dem Regierungsrat das 23e-
206
fätigungsrecht für bie Pfarrverwefer. Neu ift jedoch, baB bie Gemeinden auf Verlangen bie über bie Grgebnifje der Prüfung abgefaBten CDrotofolle einjeben und daß fie bem Bifhof ihre Wünfche wegen ber zu treffenden Wahl über: mitteln dürfen; jedoch müflen fie nie weniger als zwei ftan- didaten als ihnen erwünfcht bezeichnen. Die Amtsdauer eines Pfarrverwefers ift nicht unbedingt lebenslänglich, er fann jedoch nur durch den Bifchof abberufen werden, ber fid) dazu bei begründeten Klagen zum Heil ber Pfarrangehörigen verftehen wird. Wie man fieht, fteden in biefem Verkomm⸗ nis ftatfe Anfänge zu einem Wahlrecht der Gemeinden, unb e8 ift in mehr. als einem Punkt dem Verlangen der Allfch- wiler nad einem Zurüdgreifen auf die Verhältnifle der Sranzofenzeit Rechnung getragen. Das vollftändige Wahl- recht brachten jedoch erft bie fiebziger Sabre, nicht ohne daß der Klerus durch einen Spezialbefhluß des Landrats zur Anerlennung des neuen gefetlihen Zuſtands angehalten werden mußte. ]
Nicht unerwähnt darf wohl in biefem SZufammen- bang bleiben, bap im Kampfe für und wider bie Ideen Weſſenbergs fid) aud) ein Literat aus unferer Gegend, menn aud) nicht aus dem Birseck felbft, Dat vernehmen laflen: Dr. Syofepb Gihr von Witterswil, ber Verfafler der „Volks: seihichten aus dem Schwarzbubenland” unb von „Zwiſchen braunen und fchwarzen Kutten”. In dem legtgenannten Buche [djilbert Franz von Somnenfeld — das ift fein Schriftftellername — neben vielen anderen Einzelepifoden, wie bie Leute von Lohnftetten, von ben Rapuzinern in 23on- Dorf (Sornad) und ben DBenediktineen in Marienberg (Mariaftein) bearbeitet, den ihnen zugedahhten Pfarrer Faber . nit annehmen wollten, weil er fid) gegen Wallfahrten und Klöfter ausgefprodhen babe und Sonjur und Soutane ver: achte, wie bem erften Bezirksbeamten die Einführung des Pfarrers nicht gelang und wie die Zuhilfenahme der Polizei diefer fe[bft zum Unheil ausfchlug. Die Oberwiler Landjäger-
207
geſchichte mit ihrer tieferen Bedeutung als Kampf zwifchen den zwei Strömungen im damaligen Katholizismus ift alfo bier literarifd) verwertet, wenn aud) zu der Geftalt des Pfarrers Faber, der an einem Sängerfeft in der Zeit zwifchen Sreifcharenzügen und Sonderbundsfrieg eine Rede gegen die Sefuiten hielt, Faum Pfarrer Anaheim Modell geftanden Dat, fondern ber in Kap. III als Eraminator bei ber Konkurrenz⸗ prüfung in Rheinfelden genannte Johann von Arr, von 1830—1881 Pfarrer in Witterswil.?”)
87) Dies ergibt jid) mit aller Deutlichkeit aus bem gefühlswarmen Nachruf, den Franz von Gonnenfelb in ben „Basler 9tadjridten"
vom 6. unb 9. Juli 1881 feinem Yreunde und Gefinnungsgenofjen Pfarrer von Arz widmete.
208
Aus den YDanberjabren eines Basler Studenten des J7. Jahrhunderts.
Don Paul Meyer. (dgl. Basler Jahrbuch 1013: Kin Basler Gtammbud des 17. Jahrhunderte.)
Unter bem Titel „Manufcripta Bibliothecae Bau: mianae” beherbergt bie Eaiferliche Univerfitäts- und Landes: bibliotbef in Straßburg fünf Faszikel eines Briefwechſels von Gliedern der Familie Meyer zum Hirzen in Bafel.) Diefer umfangreihe Briefwechſel wanderte im 18. Zahrhundert mit einem Zweig der Familie nad) Mül: haufen, wo ihn der dortige Pfarrer Matthias Graf in ben 1825 erfchienenen ,,23eptrágen zur Renntniß der Gefchichte der Synode von Dordrecht“ nebft einem von Wolfgang Meyer binterlaffenen Ctammbud) vermertete. ?Ím die Mitte des 19. Sabrbunberf8 ging er burd) Kauf in ben 93efi& des Kirchenhiftorikers 3. W. Baum über und fand endlich feinen bleibenden Aufenthalt in der Straßburger Iniverfitätsbibliothet. Weitaus den größten Anteil an der genannten Korrefpondenz haben bie Briefe von unb an Wolfgang Meyer aus feiner Studienzeit in Cam-
1) Band 1 enthält Briefe und Aufzeihnungen von Jakob Meyer dem ältern (1524-1604) und feinen Söhnen Jonathan und Jakob aus den Fahren 1564-1633, Band 2 Briefe an Jakob Meyer den ältern, Band 3-5 Briefe an Prof. Wolfgang Meyer (1577— 1653), ferner Briefe non Jakob Meyer (1590—1622), Sonathans Sohn, an Sonatban und Wolfgang aus den Jahren 1608-1618, ferner folde von ftajpar Wafer an Jakob den ältern, Jonathan und Wolf: gang Meyer, endlich nod) foldje von Jakob Meyer (Wolfgangs Sohn) aus den Jahren 1628—1632 u. a. m.
200 14
bridge, andernteils von feiner Teilnahme an der Dordrechter Synode 1618 unb von feiner Tätigkeit in Mülhaufen ber, wofelbft ibm vom Basler Rat 1621 big 1622 bie Organi- fation des Kirchenwefens übertragen war.
Wir greifen aus biefem reihhaltigen Material haupt: fählih bie Korrefpondenz zwifhen Sonatban Meyer (1557—1633) und feinem Sohn Safob (1590 —1622) heraus, bem fein Vater das im Basler Sabrbud) 1913 be- fprochene Stammbuch gefchenkt bat, und es foll der Verſuch gewagt werden, an Hand der genannten KRorrefpondenz unb befonbet8 ber von Syafob Meyer gefchriebenen und an ihn gerichteten Briefe ein annähernd anſchauliches Bild über Reifen und Studiengang eines VBaslers im Ausland zu Ve: ginn des 17. Zahrhunderts zu gewinnen.
Die allerorten drohende Gegenreformation trieb aud) allerorten die Proteftanten zu engem Zufammenfchluß, der u. a. im gegenfeitigen Beſuch der proteftantijden Uni- verfitäten zum Ausdrud fam. Ein 93lid in die Liften der Basler Univerfitätsmatrifel vom Ende des 16. und zu 23e- sinn des 17. Zahrhunderts weift Namen aus allen evan- gelifchen Ländern, der Schweiz, Polen, Ungarn, Defterreich, Deutichland, Dänemark, den Niederlanden und Groß: britannien auf, und die Beziehungen, die fid) da zwifchen den Studierenden der verfchiedenen Nationen anbahnten, verftand man aud) für fpätere Zeiten fruchtbringend zu ge- falten. So ſchreibt 1591 ber viel gereifte Gborberr am Großmünfterftift in 3üri, Kaſpar Wafer (1565— 1625) an Pfarrer Safob Meyer zu St. Alban: „Adhyemem speramus in Angliam abire et sequente aestate redire Basileam.^?) Er fügt Grüße an Jonathan und deflen Bruder Jakob (1563—1604), den Schaffner des Prediger- Fofters, und an deren Schweftern Magdalena und Verena bei. Der erfte Brief Safob Meyers des jüngern datiert von
2) Auf den Winter hoffen wir nad) England abzugehen und im folgenden Sommer nad) Bafel zurüdzufehren.
210
1595 unb ift natürlich bem Fünfjährigen in bie Feder diktiert. Gr fchreibt feinem SO beim Wolfgang über Fortſchritte im Lateinifchen, über bie bevorftehende Erlernung des Griedi- fhen (das Pater Jonathan gewandt las und fchrieb) und über bie ihn fördernde treue Nachhilfe des Vaters.
Das Zahr 1597 führte den Studiofus der Theologie Wolfgang (häufig aud) Wollgang gejdrieben) Meyer auf bie Univerfität Cambridge, wofelbft ihm das Bucer'ſche Gamilienftipenbium zur Verfügung ftanb. Rönig Eduard VI. hatte nämlich, die Verdienſte des Reformators Bucer ebrenb, in einem Gnadenbrief allen feinen 9tadjfommen, wann fie wollten und wünfchten, in England zu wohnen, bie Privilegien englifher Bürger ge[d)enft. Trotzdem waren fpezielle Empfehlungen feineswegs zu verachten; man ſuchte fih folche vielmehr allenthalben, nicht aule&t bei Bürger: meifter und Rat zu verfchaffen, und lettere Behörde betonte ausdrüdiih, Baſel müffe mit ber englifchen Kirche Fühlung haben. Ein typifches Beiſpiel eines Empfehlungsbriefes bietet dasjenige eines jungen Emanuel Näf vom Jahr 1618, ben ber Vater allentbalben zu freundlicher Aufnahme emp- Reblt; denn er möchte „fremde Länder und Schulen nad) Art gebildeter junger Leute um des Lernens willen einiger- maßen feben, befuchen, prüfen und etwas fennen lernen.” Gerne ift der Vater bereit, vorkommendenfalls Gegenrecht zu halten. Go wurde denn aud) Wolfgang dem Schuge Ihrer Majeftät der Königin Elifabetb angelegentlich anbefohlen. Gerne nahm er aud) die IInterftügung Rafpar Wafers an, ber fid) nod) 1591 in Cambridge aufgehalten hatte und fi nun in einem Brief anheifhig mahte, Wolfgang an feine dortigen Freunde zu empfehlen. Voll Selbſtgefühl gab er in feinem Schreiben zu verfteben, es werde dasfelbe von großem Gewicht fein, und man folle dafür forgen, bap es auf zuverläffige Weife an feinen Beftimmungsort gelange. Wolf: gang folle eg domino Castello übergeben, der werde ihn bann den andern Freunden empfehlen, deren er febr viele und an-
211 *
gelebene, fefbft am Hofe, babe, fo ben Georgius Hunger- fortus, einen vornehmen Engländer, bem er Wolfgang fráftig berausftreichen werde. Geben wir uns zur Abwechs⸗ [ung eine damalige Q3riefabrefje an. Da lefen wir 3. 23. „Bonae spei Adolescenti Magistro Wollgango Meiero, Orthodoxae Theologiae studioso Filio dilecto“.?) Aus: nahmsweife fchwingt fid) aud) einmal bie Mutter, bie das Schreiben gewiß fauer ankam, zu einem rief auf und unter: zeichnet „Agnes Capito din mutter." — Gefiegelt find bie Driefe meift mit dem Familienwappen. Mit dem Beftellen batte e8 oft feine guten Wege. Die Unficherheit und öfter aud) Unberechenbarkeit der oft bloß bei günitigen Gelegen- heiten durch reifende fauffeute, Buchdruder, aud) Studenten ermöglichten Briefbeförderung gab häufig Anlaß zu mancher: lei Sorge und Reklamation, indem bald auf der einen, bald auf der andern Seite ein Brief, wenn nicht geradezu ver- loren ging, fo bod) unheimlich lang unterwegs war. Wolf: gangs Brüder unterzeichnen ungefähr fo: „Jonathan und Oafob Meyer Gebrieder monasteriorum Clingenthal und praedicatorum quaestores“*) Der Verkehr mit den aus: wärtigen Buchdrudern erleichterte auch bie Reglierung von Gelbangelegenbeiten. So erfuhen 3. Q3. bie genannten Brüder ben Buchhändler von Cambridge um einen Vor: hub an Wolfgang, der bann offenbar von zureijenden Basler DBuhdrudern — begliden wurde. Sonatban Meyer Eorrefpondiert mit Bruder und Sohn häufig la- teinifd), bin und wieder aud) griehifh. (Gr batte 1569 bie Univerſität 93afel bezogen; TZonjola erwähnt feine pere- grinationes und bezeichnet ihn ausdrüdlich als typographum wofür auch feine beiden Heiraten mit YBuchdruderstöchtern fprechen. Vermutlich war er in der Offizin feines Schwieger- pater8 Ambrofius Froben und befen Bruders
5) Dem zu guter Hoffnung beredjtigenben Züngling Wollgang Meyer, dem Studenten ber orthodoren Theologie und geliebten
Cobne. 4) Schaffner ber Klöfter im Klingental unb zu Predigern.
212
AYurelius Erasmus Froben tätig. Diefer feiner Verwandtſchaft mit der Froben'ſchen Familie verbanfte Oonatban Meyer ein wertvolles Andenken an Erasmus von Rotterdam, deflen er im Stammbuch mit bewußtem Stolze gebenft mit den Worten: Ambrosii Frobenii gener; ejusque in custodia literati monumenti, dignissimi Cra- teris Erasmici, legitimus successor per Annam priorem conjugem.?) Diefen vergoldeten Becher, ein Gefchent des furfürffert von Mainz, Albrehts von Branden- burg, legierte Erasmus dem großen Hieronymus Groben, nad) deſſen Tod er an Ambrofius Froben und ber- nad) an Jonathan Meyer fam. — Geitber iff er verfchollen.®) Om Teftament des Erasmus iff er bezeichnet wie folgt: XStem — unter der Rubrik Silbergefhirr — ein zwifacher vergulter ftouff, mit des Garbinal8 zu Men zeichen” und im Opus Epiftolarum Defiderii Erasmi (C. 420 der ?[u$g. von 1529) ift uns noch die liebenswürdige Dankfagung des Empfängers erhalten.
Aus dem Zahr 1598 ift ung ein Brief Jonathans an feinen Bruder Wolfgang in griechiſcher Sprache unb präch- tiger Steilfchrift erhalten. Er nennt fid) darin „Iwrddas Mevegos 6 toU KAwyyevráAov äyvevinglov, 10 eoriv &v Baoí- Ana ®Adooovı, Eyybs Pivov norapo, tamevs,”) und adreffiert folgendermaßen an Wolfgang: „Serenissimae Regiae Maje- statis Tooplup?) und fehüttet dem Bruder das Herz aus, ibm fei das Glüd entgegen, Wolfgang folle feine Zeit wohl anwenden und etwas Tüchtiges leiften, er fet dag der ganzen Familie fhuldig, die unverdienterweife vom Mißgeſchick
6) „Des Ambrofius Frobenius Schwiegerjohn und defjen in ber Bewahrung feines gelebrten Nachlaſſes, bes [o wertvollen Bechers von Erasmus, rehtmäßiger Nachfolger burd) Anna, feine erfte Gattin.“
6) Vgl. €. Sieber: Inventarium über bie Hinterlaffenichaft bes Erasmus vom 21. Juli 1636 unb Teftament des Erasmus nom 24. Sanuar 1527.
7) Sonathan Meyer, Schaffner des Klofters Klingenthal, bas im mindern Bafel nah dem Rheinftrom liegt.
8) Seiner Durdjfaudt der Königlihen Majeftät Zögling.
213
barniebergebalten werde, ,... ut taceam Jacobulum no- strum octennem, jam in Castris Oleierianis?) militantem, qui si ita pervexerit, habebis sexdecim annorum magister- culum et doctoratum tuum unice flagitantem.!?) Von eben Diefem unferm Sacobulus fpriht aud) in einem Brief an Wolfgang vom 24. Auguft 1598 Leonhard Näf von Roöteln: „Quod attinet Nepotem tuum ex fratre tuo Jo- natha genitum, Jacobum Meierum, discipulum meum privatum studiosissimum, noveris, illum esse diligentissi- mum inter suos consodales, ille divinum habet ingenium, ille omnia capere et percipere potest, quaecunque illi praeponuntur, ille perfectissime optimeque legit Graeca, de Latinis nihil dicam: ille hac futura Autumnali pro- motione D. O. M. juvante promovebitur ex classe Secunda à D. M. Petro Schockio ad D. M. Theobaldum Oleje- rum in tertiam classem, qua in elasse etiam suum offi- cium diligentissime perficiet Deo sic permittente . . .!!) Näf bat fein Schreiben einem Brief Jonathans beigefügt und wohl deshalb das Lob feines Zöglings mit [o vollen Pofaunenftößen verfündigt.
Und nun folgen allerhand familiäre Grürterungen, Gr- mabnungen und Zurechtweifungen, man ftößt da und dort
9 Theobaldus Dleyer war Lehrer der 2. Gymnaſialklaſſe. (Burd- hardt-Biedermann: Geſchichte bes Gymnafiums, Geite 63.)
10) Nicht zu reden von unjerm adjtjábrigen Jaköbli, ber ich ion im Oleyers Lager tummelt, und an dem du, wenn er fo fort- fahren wird, ein Magiiterlein von 16 Jahren haben wirft, bas fid) einzig nad) deiner Gelehrtenwürde jehnen wird.
1) Was deinen Neffen, deines Bruders Jonathan Sohn, Jakob Meyer, betrifft, meinen jebr eifrigen Privatſchüler, jo jollft du willen, DaB jener unter feinen Mitichülern der fleigigite iit, er hat eine göttliche Begabung, er vermag alles zu erfajlen und zu begreifen, was ihm vorgelegt wird, er liejt perfelt und trefflich Griechiſch, um pom Latein zu [djmeigen: er wird bei ber beporjitebenben Herbft- prüfung, jo Gott will, aus der zweiten Klafje vom Magiſter Peter Schock zum Magiiter Theobald Dleyer in die 3. Klafje befördert werden, in welcher er, wenn es Gottes Wille ijt, jeine Pflicht aufs fteiBigite erfüllen wird.“
214
aud) auf Unftimmigkeiten zwifchen ben Brüdern ober zwifchen Pater unb Sohn, oder e8 bat ben Anfchein, als ob alt und jung fid) nicht mehr recht verftünden, oder es bewegt fid) der Sohn in der Fremde mit freiern Schwingen al$ dem Ver: ſtändnis des Heinftädtifch fühlenden Basler Bürgers paflend er[deinen will, und vollends ftößt das allzu fd)nelle Ser- fließen des väterlihen Mammons in des Sohnes Händen feineswegs auf volles Verftändnis des Elternhaufes. Und in biefes Gejammer ftimmt auch der 93ruber Jonathan ein und bedauert, daß Wofgangs Krankheit viel Geld Eofte, unb daß er überhaupt zu viel Geld brauche. „Mußteft nit alle triumph und fchomwfpiel fähen”, heißt es 1598. Immerhin [deinen dabei dank der SKlatfchfucht durchreifender Mit- bürger mancherlei Uebertreibungen mit untergelaufen zu fein. Anderfeits ging es aber im Pfarrhaus zu St. Alban bei Wolf: gangs Vater oft recht fnapp zu, und wir begreifen, bap der 78jábrige Vater fehnfüchtig ber nach der Heimkehr des Sohnes ibm in Ausficht ftebenben Unterftügung entgegenfab. Darum bie erneute Mahnung, Wolfgang möge ja bie 3eit recht aus⸗ faufen; er folle fid) body, fügt bie Mutter Agnes in liebevoll ernfter Mahnung bei, das Schuldenmachen abgewöhnen unb fid) etwas mehr in der Demut üben, auch der Sorgen feines Bruders Jonathan gedenken, der ohne Amt fei, und fid daher bemühen, fobald wie möglich feines alten Vaters Stüße zu werden, der fid) fchon genug wegen feines Tochtermanns Heiß: mann mit feinen zwölf Kindern forge. 93alb tönt e8 wieder nad) unverfieglihem Stadtklatih: diesmal bringt Vetter Adelberg Meyer (ftudiert 1605 in YVafel) den Wolf: gang mit ebrbaren Vürgerstöchtern ing Gefchwäß oder breitet böswilliges Gerede über ibn aus. Dann meldet fid) bie Mutter wieder zum Wort und hält dem Sohn feine Groß: fuerei vot; er gebe zu viel aus, ſchwänze KRollegia, bummle, hänge fid an jeden Landsmann; er fole in der Burs in Paris wader Sranzöfifh lernen und fid vor unfauberer Geſellſchaft in acht nehmen.
215
Nun treten aud) bie Beziehungen ber Familie OXteper zu den Brüdern Gebeon und Efaye be Montmartin in den Vordergrund. 1601 wendet fid) Sonatban an Gedeon de Montmartin und fchreibt: „Domino Gedeoni du Matz Britanno," bet allem Anfchein nach abwechjelnd in Cambridge und in Frankreich lebte, in frübern Sabren offenbar aud) in 23afel, wo er 1602 einem Gnfelfinb des alten Jakob Meyer zu St. Alban *Datenftelle vertrat (, generosus dominus herr Gedeon Montmartin”); er fónnte febr wohl im Pfarrhaus zu St.. Alban in Penfion gelebt haben. Der Brief foll ibm in Paris eingehändigt werden. Der Schreiber verdankt darin alle feinem Bruder Wolfgang erwiefene Förderung in der franzöfifhen Sprache und ergeht fid) in weitfchweifigen Bitten und beboten Dankjagungen an den hoben Herrn, was er in Anbetracht der jahrelang anftebenben Schulden des- felben an feine Basler Freunde durchaus nicht nötig gehabt hätte. In einer Antwort aus dem Sabre 1602 nimmt Herr Gedeon den Wolfgang gegen das böfe Geſchwätz fíatid- füchtiger Landsleute in Schug und rühmt feinen foliden unb fparfamen Lebenswandel. 1603 tritt in der Korreſpondenz Andreas Knuthius PVefalius (aus Wefel) auf; er be- juchte nachweislich 1602 die Basler Univerfität, lebte als Denfionär bei Sonatban Meyer und fcheint deflen Söhnlein Jakob zeitenweife unterrichtet zu haben; daher bie Anrede: „discipule amanter colende“!?); er ftellt ibm die Vorfahren als Teuchtende Beifpiele zur 9tadjabmung bin und abtej- fiert: „Dem Ehrenachtparen, fürfichtigen und fürnemmen Hr Jonathae Meyero, meinem großgünftigen Herren und Freundt wonende Ihn Klein Bafel im Tennier Hoff zu Baſell.“ Knuthius gebenft feiner Abreiſe von Baſel ad patrios lares!5); er erkundigt fid) nad) ben Fortfchritten des jungen Jakob und hofft, biejer werde „columen et insigne decus Familiae Vestrae et Patriae suae“ werden; ibn werde
1) Mit Liebe zu umfajjenber Schüler. 18) zu den väterlihen Hausgöttern.
216
Jakob, fei' in 9epben, fei'8 in England finden, fobald er einmal auf Reifen gebe. 1605 trifft wieder ein Brief von Gedeon de Montmartin aus Paris an Wolfgang ein, worin der ZDrieffchreiber die Hoffnung ausfpricht, nad) Otupella (9a Rocelle) zu reifen, von wo aus er 1606 nad) 23afel forrefpondiert; bald nachher fchlägt ihm das Gewiflen wegen feiner immer noch nicht bezahlten Schulden; er vertröftet bie Meyerſchen damit, bap fein. Bruder eine abfolut zuverläffige 3abígelegenbeit abwarten wolle: „Er dachte an einen aus: führlichen 93rief und hatte 150 coronatos (Kronen) zur Ab- fendung an Gud) bereit, zögerte aber aus Aengftlichkeit wegen günftiger Gelegenheit und entſchloß fid) endlich, bie Cade nod) ein paar Monate zu verfchieben, wobei ibm bann mög- fid) wäre, mit Gottes Hilfe die ganze Summe und nod) anderes zu begleichen.”
Mittlerweile war nun aud) Sonatban Meyers Sohn Gafob betangemadfen; er batte fid) 1604 an der Univerſität immatrifulieren laſſen und im Sommer 1608 den Masgifter: grad erworben. Bald bernad) begab er fid) auf Reifen, zu- nádit na Saumur, wo er mit Hilfe der Familie be Montmartin Fuß faffen, das Studium der Theologie an der dortigen hugenottifchen Akademie und bie Erlernung der franzöfifhen Sprache betreiben follte. An Hand der et- baltenen Briefe vermögen wir ihn auf feiner Reife einiger- maßen zu begleiten. Unterm 14. Auguſt 1608 meldet Jakob Meyer nad) Haufe, er fei per Schiff glüdlich in Straßburg angefommen, babe bafelbft feine 23afe Katharina aufgefucht unb eine günftige Grabrgelegenbeit nad) Paris gefunden. Schon im Geptember weilt er in Saumur, im November wiederum in Paris, unb am 23. November traf er von €a Rochelle her in Saumur per Schiff ein. (Salmurium appulisse. Die herrſchende S&eurung fcheint einem Briefe Sonathans zufolge Jakobs Reiferoute, bie Efaye be Mont- martin von Paris nad) La Rocelle für ihn entworfen hatte, beeinflußt zu haben. In Saumur gebe es ibm orbent-
217
fid. Aber ſchon fíagt er über Geldfnappheit, es berrfche „tanta in Gallia caritas annonae" !*) baB man eben ohne Geld nit ausfomme; er braude im Monat adt „coro- natos" und hoffe mit einem „florenus“ (Gulden) per Woche auszufommen. Gin gewifler Cominus Ambrofius ftredt ibm 30 florenos (Gulden) vor. Sechs Pfund verausgabf er „pro elegantissima testudine quae me alli- ciebat, aliqua commoda occasione data’)... Laudabile enim judico hoc studium, quod senium delectat, juvenibus ornamento est... $Ílebrigen$: sin vero aliud mens mea subierit consilium, quovis tempore instrumentum sine ullo damno vendere possum ... Rupellae (ovv des — mit Gott) ita me geram, ut me tuam prolem sis experturus*. 23efannt- lid) pflegte auch Felix Platter fid) in Montpellier bie Zeit mit Lautenfpiel zu vertreiben. Offenbar wurde von Baſel aus damit gerechnet, es werde Jakobs Aufenthalt in Saumur burd) Abtragung der Schulden der Familie Montmartin fid) bezahlt machen; bod) meldet Safob nod) 1608 kleinlaut bem Vater: Die Montmartinfchen, „wie ich nod) von allen shört bab, follen gar arm fein unb febr viel ſchuldig und vaft das irig alles fammen verfeat."
Am 27. November ſchreibt Safob: „Viro honorando variisque animi dotibus conspicuo, Domino Jonathae Mejero, parenti meo summa qua decet observantia colendo. Basileam^.!9) Syonatban merft an: „Sind fünff wochen auf der Straß gſin.“ Danach wäre Safob von
M) Cine jo große Getreideteurung.
1) Für eine febr feine Laute, bie mid) gelüftete, indem eine günftige Gelegenheit fid) bot... Denn id) Halte bas für einen löb⸗ lien Zeitvertrieb, der bas Alter erfreut unb der Jugend wohl an- ftebt ... Sollte id) übrigens hierin andern Ginnes werden, fo kann id) bas Inſtrument jederzeit ohne irgendweldhen Verluft verfaufen. In La Rochelle, jo Gott will, werde id) mich fo benehmen, daß bu mid als deinen Sohn erkennen ſollſt.
16) Dem verehrten, ob manderlei Geiftesgaben angejehenen Herrn Jonathan Meyer, meinem burd) bódjite Achtung zu verehrenden Bater, Bafel.
218
La Rocelle auf bem Waflerweg bie Loire hinauf nad Saumur gefommen; begleitet von einem Fährmann (nuncius) des Herrn von Montmartin, ber für feine Bemühung fünf aureos (Connenftonen) erhielt; in Angers gab'8 nod) einen Aufenthalt von zwei Tagen; dann wurde der junge Reifende pon einem andern nuncius vollends nad) Saumur geleitet und während einer Nacht von ibm beherbergt. „Die von der Reformirten Religion haben in der Statt einen gar Ihönen Tempel und Collegium, unnd in biefem eine be- rühmbte Schule, fo fi eine Academi nennen. Und halten fid) bey folcher nicht allein wegen Luftbarkeit beB orths, und baf allba wolfeil zu aebren; fondern auch allerhand Erercitien halber, bie man da haben fann, gemeinlich viel Zeutfche, Otiber- und Engelländer, auf." (Matth. Merian, Topogr. Galliae.) Am folgenden Sag galt fein erfter Gang bem Rektor der Schule, b e 8 Ot odes, bem er ein Empfehlungs: Ichreiben abgab, unb bei bem er monfieur Boudhereau, Ecclesiae minister und derzeitigen Otector magnificus der 9ffabemie, traf; al8 Geiftlihder war er „un des plus grands orateurs de son temps.“ Syafob fand freundliche Aufnahme und Geneigtheit zu mancherlei Entgegentommen, was ibn ermutigte, ben des Roces, ber aud) fonft Stu— dierende beherbergte, um gaftliche Aufnahme für eine Woche zu erfuchen, damit er mittlerweile überlegen könne, was er weiter anfangen wolle. Bon dem Treiben bei des Roches meldet er: „Er bat noch fieben andere weniger burd) Wiffen als burd) Anftand und auffallende DBefcheidenheit hervor: tragende Koftgänger, mit ihnen babe id) große Freundſchaft geſchloſſen, bod) nicht dergeftalt, bap einer bem andern beim Studieren binderlich wäre, durchaus nicht, ba ein jeder fein eigenes Cfubiergimmer (Mufaeum) bat... Es berricht eine folche Zucht in biefer Wohnung, daß ich heilig verfichern fann, baB ich nirgends frömmer und muóbringenber leben fónnte. feine heiligen Verſammlungen werden vernad)- [áffigt, fondern von allen aufs fleifigfte befucbt. Es finden
219
ihrer zwei in ber Woche ftatt, bie eine am Mittwoch; bie andre am Sage des Herrn. Gebete und Dankfagungen werden aufs fleißigfte dargebracht. Mein gebildeter Gait- freund begegnet mir unb den andern mit väterlicdher Hin: gebung. Wir halten unfere mehr frommen als praftifchen Ererzitien. Nach bem Abendeſſen lieft einer franzöfifeh ein Kapitel des Neuen Teftaments vor, nachher bringen wir duch Anftimmen eines Pfalms des königlichen Propheten dem bimmlifchen Vater unfern Dank für feine unzähligen uns ermiejenen Wohltaten. Ich felber lefe an einigen Abenden meinem Gaftgeber franzöfifch vor; er iff bei Einzel- beiten, bie ich nicht verftebe, ein freundlicher Erflärer und bittet oft feine Frau, ebenfo feine Kinder, mit mir zu fon- verfieren, fo daß ich unbedingt in kurzem hierin großen Ge- winn baben werde. So wird mir zu meinem Porteil in der ganzen Stadt feine paflendere unb für meine Studien geeignetere Stätte geboten. Denn id) wohne im Kollegium felber, in welchem alle Vorlefungen, aud) alle privaten Ber: fammlungen ftattfinden, welche man propofitiones nennt, deren zwei per Woche abgehalten werben." Sm weitern erwähnt ber Briefſchreiber, es feien drei Theologieprofefloren da, e8 gebe Burſen (Rofthäufer), in denen man 51% bis 6 Kronen per Monat bezahle; in den billigern fei aber auch die Gefellfhaft danach.
Jakob Meyer weif in Saumur fein Stammbuch fofort (am 24. November) dem Gouverneur der Stadt, dem bir nobilis unb um bie Hugenottenfache bochverdienten Philippe Mornaye be Bleffys vor; ber ibm mit befonderer Höflichkeit begegnet, fobald er inne wird, „quam honesto loco natus“’?) er fei, „und er bulbete unter feinen Umftänden, baB id) ihn mit entblößtem Haupt anrebete". Sodann berichtet er, Gebeon be Montmartin, das Haupt unb bie Sierde ber Familie, fet fchwer erfranft. Weiter folgen nod) fanfte Winke in Bezug auf ben unentbehrlichen 9) Bon was für angefebener Abftammung.
220
nervus rerum. Schwerlich werde er mit biefen feinen Kleidern ben harten Winter praeftieren fónnen; denn von Tag zu Tag werden fie flidbedürftiger . . . „dem Schneider babe id) ben Thorar (Wams) zum Ausbeflern gegeben; wie- viel er dafür verlangen wird, weiß id) nod) nicht.” Dann rechnet er den Eltern alle feine Ausgaben vor und bittet, nicht alle über ibn in Umlauf gefe6ten Klatfchereien zu glauben.
Om Frühjahr 1609 berichtet Jakob dem Vater über feine Fortſchritte im Franzöſiſchen, Hagt aber auch, er müſſe punkto Kleidung fchofel auftreten. „Wenn unfere englifchen Maecenaten fid) nicht einigermaßen auporfommenb. erwiefen hätten, [o wäre es beſſer geweſen, Daheim zu bleiben." Aus— führlich ergeht er fid) in einer Antwort auf einen Brief Jonathans, der mehr als fieben Wochen nad) Saumur ge: braucht batte. Auch bier betont er feine zunehmende Sicher: beit im Franzöſiſchen, wovon fid) der Vater in Bälde werde überzeugen können. (ein Greunb Georg Wyß befíage fid über bie Anrempeleien ber deutfchen Studenten und babe Herrn Montmartin befragt, wie er fid ihnen entziehen fónne. Der riet ibm, die Bude zu wechleln, damit er „ab irruptione Germanorum“!8) ficher fei, und in Meyers Kollegium zu fommen. Jakob bat zwar aud) Bedenken, e$ fónnte ibm das fdaben. Doch bat ibm Wyß gefchworen, ih fleißig unb anftändig aufzuführen und feine Zeit bem Studium zu widmen, weshalb er im Rollesium Aufnahme findet. Wyß hat das in ihn gefe&te 3utrauen vollauf ge- rechtfertigt und wurde fo befreit, „ab omni molestia Ger- manicae turbae.“!) Doch nun mußte Jakob Gtellung nehmen gegen gewifle Zuträgereien, als ob Wyß auf ibn feinen guten Einfluß hätte, darauf erwiderte er: „Derartiges iff nicht au befürchten, fowohl wegen feines als meines Naturells, das niemals fid) vom Weg zum Rechten unb
18) Vor einem Überfall der Germanen. 19) Bon jeder Beläftigung ber germaniſchen Rotte.
221
Guten ablenfen ließe.” Zudem würde fchlimmftenfalls das wachſame Auge ber Profefloren ihn raſch auf den rechten Weg zurüdführen.. Er beruft fid ausdrüdlih auf ben Dominus hospes, auf ben fleifigen Beſuch der Lektionen und erwähnt, wie er daheim unverdroflen fid) der Qeftüre widme und in Gefellihaft nur „gallice“ rede. Das Gu- bicufum??) teile er mit dem Freund und gemeinfam freuen fie fid) einer febr angenehmen Studierbude. Schon ftedt ibm England im Kopf; im Oktober hoffe er dorthin reifefertig zu fein und „familiae Mejerianae decus“ zu werden.
Ende Auguft 1609 treffen wir Safob in Paris, von wo er fpäter wieder nad) Saumur aurüdfebrt; ob er nur die Serien in Paris zubringen, ob er fid bier mit guten Empfehlungen nad) England verfeben wollte, ober was fonft ber 3med feiner Reife bieber war, gebt aus feiner Kor: refpondenz nicht zur Genüge hervor. Sm „Eifernen Kreuz” (fchreibt er dem Vater) fliegen wir (als Reifegenofie wird ber Dominus Ambrofius genannt) ab und blieben dafelbft zwei Tage. Dann mieteten wir in der Nähe des Eifernen Kreuzes ein Zimmer im „Goldenen Schlüflel”, wo wir per Monat „quatuor coronatos cum francone“?!) auslegen müffen; punfto Koft find wir mif ber Wirtin überein- gefommen, bap fie uns für wöchentlich 49 23a6en „quod libet eogatur dare“??) womit fie febr zufrieden ift." Mit ber Klage, es fei alles fo teuer, follte wohl der gute Vater auf erneute Attentate auf feinen Geldbeutel vorbereitet werden. „Anterwegs waren wir genötigt, für bie Maß Wein 8, ja neun Baten zu bezahlen. Wollte fid) jemand mit Waſſer begnügen, fo wäre es ohne Nachteil für die Gefundheit nicht möglich." Defter babe er mehr nad) Wafler als nad) Wein gelechzt, was ber Dr. Ambrofius dem Vater nad) ber Rüd- febr bezeugen fónne. Sobald fein Gepäd nachfolge, werde
30) Das Schlafzimmer. 21) In Saumur braudte er monatlih adt Kronen. 22) Alles zu geben verpflichtet fei.
222
et fid alsbald zu Herrn Gebeon (be Montmartin) begeben. Den Efajas (be Montmartin) babe er nirgends auftreiben können, er fcheine auswärts zu weilen, und als Grund biefür werde — wohl nur Hatfchweife — angegeben, er bätte „in matrimonium petiisse praestantissimam ac nobilissi- mam quandam foeminam“?®) und weil er einen Korb erhalten, fei er aus Zorn nad) England perbuftet. Sollte er in Paris auftauchen, fo würde er ibn fofort befuchen. „Dies erzählte mir der Schweizer des Duc de Rony, ber mir aud) beffen Palaft gezeigt bat. Der Herzog felber ift abwefend, weil mit Aufträgen des Königs befchäftigt. Sch babe mein „pallium“ gewechfelt und mußte hiefür 2 aureos coronatos?*) ausgeben, babe mir aud) Schuhe ange[dafft. Dem Kutfcher (aurigae) mußte ih 7% f (florenos) zahlen, fo baB mir kaum genug bleibt, um bie Wirtin zu befriedigen, befonders wenn id) wegen WUusbleibens des Gepäds länger bei ihr [ogieren müßte. Herr Ambrofius wird mit, wenn er von bir biegu Auftrag bat, gut an die Hand geben können. Seine Majeftät der König (Heinrich IV.) mit ber Rönigin und feinem Gefolge begegnete uns am 21. Auguft bei ber feften Burg (Name unleferlih), — fie liegt eine Tagereiſe von der Stadt entfernt —; dafelbft vermochten wir ibn felbft zu fehen. Und als der König bemerkte, bap unfere 23lide auf ihn gerichtet waren (als er eben über das Waller fegen wollte unb fchon bei der Königin im Boot fap), redete er uns freundlich an unb fragte ung, ob wir uns nach Paris begádben. In unferm Namen antwortete Cn. Ambrofius: „Gewiß, erlauchter König”; jener fuhr fort zu fragen, ob wir ben Mufen zuliebe dorthin reiften, und als erwidert wurde, das fei der Fall, wünfchte er ung viel Heil. — Unterwegs batte id) ein paar vornehme Nürnberger zu Begleitern.
=) Er Hätte eine vortreffliche unb vornehme Dame ehelichen
wollen. *4) Gold-Kronen.
223
Ausführlih unb gelehrt mid) auszudrüden ift mir wegen Mangels an Zeit niht möglich." Der DBrieffchreiber bittet um Zufendung einer lateinifchen Bibel und anderer Bücher und trägt viele Grüße auf an alle Freunde, an bie verehrte Großmutter, an Wolfgang, feinen beim Jakob und ihre Grauen, an bie Schweftern, Vettern und Baſen, bie er nicht namentlich aufzählen fónne, befonders aud) an Dr. Ryff,' „patrono ac cognato meo summe colendo“?°) und hofft, feinem Heimweh möge ein frohes Wiederfehen folgen, Gott möge alle bie Seinen bebüten und ihnen Neftorios annos?®) fdenfen.
Einige Wochen fpäter fíagt Safob von Saumur aus über das lange Schweigen der Eltern und benüßt die Ge- legenbeit, einem beimreifenden Schweizer einen Brief an fie mitzugeben; ferner erbittet er fid von Dr. Swinger”) Empfehlungen nad) England, wohin er im September zu ge- langen bofft, wenn ibm der Vater rechtzeitig Geld fchidt. On Saumur beginnen je&t ohnehin die Ferien, Franzoͤſiſch fónne er nun genug, und das Leben [ei teuer. So fuche 3. 99. feine Philifterin, Eoftbare Gefchenfe — 6 filberne Löffel — zu ergattern und entpuppe fid) überhaupt als bab- fühtiges Weib, deren Gier er, falls er nod) länger in Saumur bleiben müffe, nur burd) Budenwechſel entrinnen fónne. Seber des Vaters Cparjamfeit fcheint ber lebens: Iuftige Syafob gelegentlich Dritten gegenüber den Kropf ge: [eert zu haben; das trug ibm von Heinricus Scalihius aus Glepe, ber 1609 in Baſel ftudierte, eine Zurechtweifung ein, in welcher der Schreiber ibm, wie es jdeint, triffige Gründe für des Vaters Sparfamkeit und Strenge ins Feld führte und ihn aud) an beffen liebevolle Treue erinnerte, die ihn, als er vom Sohne Gutes vernahm, nicht in Ruhe ließ,
2) Meinen bod) zu verehrenden Gönner und Verwandten ; Peter Ryff (1552—1629) war Dr. med. und Profeſſor ber Mathematit.
26) So hohe Jahre wie Neftor.
71) Sat. Zwinger geb. 1569, Sohn bes Arztes Theodor Zwinger.
224
bis et digitos in lyram resolveret“?) In einem bem viro Clarissimo consultissimoque Domino principali des Rosches Salmurium“??) zugedachten Brief dankt ber Pater Jonathan für bie Empfehlung eines amicus do- mesticus und läßt e8 in einem weitern an den Sohn nicht an Grmabnungen und moraliihen Grórterungen fehlen; damit freuste fid ein vom 24. September aus Saumur batierfer 93rief des Sohnes an den Vater „ex Musaeo raptim^,9 in welchem er in dringender Weife ben Wunſch äußert, bald nad) England reifen zu füónnen. Ob er des Vaters 3uftimmung zu diefem Plan abgewartet bat, ijt nicht erfihtlih, wohl aber, daß er am 2. Oktober in 9'itré (Dep. Ille et Zilaine) weilte, von wo er fid nad Ct. Malo wandte und im Dezember in London eintraf. Wohl zu fpät, um ihn in Qranfreid) noch zurüdhalten zu fónnen, traf neuer Bericht vom Vater ein mit ber Weifung, Jakob folle fuchen, durch Vermittlung des Efajas de Mont: martin eine vornebme Sjauslebrerítelle zu erhalten, dann könnte er auch ordentlich [paren und aufhören, auf des Vaters Kredit Geld aufzunehmen. Offenbar brauche er zu viel; auch folle er die Zeit beſſer ausfaufen, früh auffteben und ih das Bummeln abgewöhnen. Ungefähr gleichzeitig gratuliert Sonatban dem Efajas de Montmartin de fa Tur- piniere zur Hochzeit, verdankt einen aus Terchant (unweit Vitré) erhaltenen Brief, fowie alle feinem Syafob erwiefene Steundlichkeit, fann es aber nicht faffen, Darüber zu jammern, daß fein Sohn bie Reife nah 9a Rochelle anftatt auf Schufters Rappen bod) zu Roß zurüdgelegt bat.
Was nun fofgt, iff ein im Dezember 1609 in London abgefaßter und via Paris nad) Baſel fpedierter rief Jakobs an ben Vater, in weldhem von ben Verbindlichkeiten der Familie Montmartin gegenüber der Familie Meyer 3) Mit den Fingern in die Leier griff.
29) Dem angejehenen, gelehrten unb vorzüglidden Herrn bes
9todjes. Saumur. % Aus bem Studiergimmer in Eile.
225 T
und feinen Reifeabenteuern bie Rede ift. Jakob fchreibt diesmal franzöfifh, um fid) über feine Fortfchritte in der Sprache und über das Recht, nad) England zu reifen, aus- zumweifen und um zu berichten „des adventures qu'il a pleu & Dieu de m’envoyer en l’espace de mes voyages . eterreurs.^ Er war von Saumur nad (dem Schlofle?) Terchant unweit Vitre geteilt, um den alten Herrn be Mont- martin aufaufuden unb an die finanziellen Verpflichtungen der Familie zu erinnern; aber er fam fid) bei bem vornehmen Herrn „pourtant mal venu et assez froidement recu“ vor. Da ibm vor allem England im Kopf ftedt, wandert er zunähft zu Fuß nad) Vitré, um fid bernad in St. Malo einzufchiffen. Aber in Vitroͤ trifft er den Gouverneur des Schloſſes an, den Herrn von Serdant, 93ruber des Gfape be Montmartin, unb der erzählt ibm nad) ber Rückkehr aus der Predigt feine Schidfale und eröffnet ibm, der Bruder weile mit dem Vater „en Poitou, pour tracter d’un mariage entre lui et une Damoiselle bien opulente.“ Auf den Rat des Herrn Zerchant wartet Safob Meyer die Heimkehr ber Montmartins ab; es erfcheint aber nur ber alte Herr und läßt Meyer zu fid bitten. Diefer ftellt fich ein. Der alte Herr gibt Auftrag „de me faire bonne chere“, worauf ber Geladene „des trippes bien sal&es“ erhält, „que jay mangées en la chambre de la despense.“ Sm übrigen fiebt er fid) gefoppt und febrt unverrichteter Dinge und ärgerli zu Fuß nad) Vitré zurüd, um dort auf den jungen Herrn de Montmartin zu warten „en un temps auquel (je vous asseure) ni la terre ni les hommes deman- daient de l'eau céleste pour &tre arronsés et rafraichis.“ Offenbar rohen bie Montmarting bie Q9unte. Nun be- ſchwerte fid) Safob beim Herrn von Serdjant, ber ibm feinen Zelter entgegenfendet, damit er nad) Terchant gelangen fónne. Hier wird ibm ein fchönes Zimmer [amt Bibliothek überlaffen und franzöfifche Gaftfreundfchaft feinfter Art an ibm geübt, [o daß Meyer nicht genug Rühmens von aller
226
ibm erwiefenen Eourtoifie madjen kann. So lebt er vierzehn Sage in Abrahams Schoß, bis er nochmals zum alten Herrn de Montmartin entboten wird. Der empfängt ihn, da die Söhne nod) auf ber Sagb find, ,honorablement" und weift ibm ein Arbeitszimmer an. Hier kann er fid) nod) weitere vier Sage im Warten üben. Eine weitere Ver- zögerung verurfacht der feierliche Empfang der Madame be [a Trémoille, bie nah Vitré reift, um an bem in allen Kirchen Frankreichs ffattfinbenben universel jeusne“ teil- zunehmen. „On faisait donc un grand appareil pour 1a recevoir, laquella arriva avec son fils au soir et soupait et disnait le jour suivant à Terchant.^ Dieſem Sohn „henrycus Tremolius Dux Thuartij anno 1609“ begegnen wir im Stammbudh. In Vitré, wohin der bobe Gaft von den Herren von Montmartin gebracht wird, darf Meyer neuerdings drei Sage warten. Doch endlich bietet fi) Gelegenheit, die Montmartins daran zu mahnen, „de satisfaire à mon hoste (Hrn. des Roches in Saumur) et que luy m'eust accepté en sa maison sur 8a recom- mandation... Au reste il m'a baillé encore 82 € Gallicas, plus encore qu'il ne falloit, pour laquelle somme je luy ay baillé un recepisse. Auch verfpricht er zudem, meinem Oheim (Wolfgang M.) 200 escus en or. zu fdjiden und mir 50 bis 60 escus. „Si feroit cela nous aurions suject de le remercier. Ses affaires de mariage se portent fort bien.“ Diefe unerwartete Vereitwilligteit zum Zahlen fam offenbar auf Rechnung der mit der „Damoiselle bien opu- lente" geglüdten Heirat! Vor der Abreife von Zitre teilte Meyer feinem Gaftgeber in Saumur den günftigen Stand ber Dinge mit; bann bricht er gegen Bezahlung eines Saler8 zu Pferd (des fchlechten Wetters wegen) nad Ct. Malo auf, wo er nad) drei Tagen eintrifft, „oü est le plus prochain port de la mer“. Big er Zahrgelegenbeit findet, vergehen 15 Sage, und als endlich günftiger Wind einfeßt, ftibf er auf einem englifhen Schiff in See. Raum
997 15*
find 15 Meilen aurüdgelegt, [o müſſen fie des ftürmifchen Wetters wegen umkehren (e8 war November!) und nod) weitere 4 Tage in St. Malo Srübfal blafen. Endlich fonnte man bie Meerfahrt riskieren, und nachdem man einen Sag und eine Naht auf dem Wafler zugebracht batte, erreichte man einen Heinen Fleden und legte 7 Meilen bis zur nächften srößern Ortfchaft zu Fuß zurüd. Am folgenden Tag fonnte fi Jakob Meyer einer Gefellihaft von englifchen Kauf: leuten anfchließen und mit ihnen in die zunächſt gelegene größere Stadt reiten, wo er einen Boten fand, der ihn gegen Bezahlung von 5 Talern für Roß und Reiter mit nad) London nahm. Eſaye be Montmartin hatte ibm eine Emp- fehlung an ben Geiftlichen der dortigen franzöfifchen Ge- meinde, einen gewiflen Aurelius, mitgegeben, bie ihm von Nußen mar; ferner trug er ein Empfehlungsfchreiben von Mr. be Pleffisan Serm dela Fontaine, ben Senior ber bugengttifchen Geiftlichkeit in London, bei fidh. Diefe beiden Herren bittet er, „de me presser la main pour avoir quelque entrée chez Mr le Grand Thrésorier, qui m'adressoient aux ministres de l'Eglise Flamenne“, ba ber Gefretär des Threforier ein Flamländer mar. Durch Vermittlung des Grand Threforier hoffte er auf Gelegen- beit, bem König felber vorgeftellt zu werden, um ihn daran erinnern zu fónnen, mit welchem Recht er Anſpruch auf einen Greiplag an ber Univerfität zu Cambridge erheben dürfe. Otebenber laufen dann freilich noch andere, geichäft- [ide Ungelegenbeiten, fo a. Q3. der Auftrag des Vaters, einen Magifer Laurentius, ministre de l'eglise Francaise, an Erfüllung alter Verbindlichkeiten zu mahnen, wobei fid) ihm deflen Better, der Arzt Dr. Clement, ber 1596 als „Guilhelmus Clemens Anglus" in der Basler Univerſitätsmatrikel figuriert, febr hilfreich erweift. Dr. Cle- ment nimmt Meyer zu einem gemijlen Suded mit, der, wie e8 fcheint, im Falle war, auf ben faumfeligen Laurentius einen Drud zu üben. Allein zu Haufe tft Suded [o wenig
228
aufzutreiben wie an ber Börſe, „ou les marchands ont leur assemblée à midy“, unb Meyer fcheint beide, Lau- rentius und Suded, im Verdacht gemeinfam verabredeter Srülerei gehabt zu haben. Sicher war nur das Eine, daß des Laurentius Gläubiger in Baſel das Nachfehen hatten.
Ein anderes Mitglied der flämifchen Geiftlichkeit in London, Symeon Ruytind (er nennt fid im Stamm- buch „Ecclesiae Londino-belgicae pastor“), der uns 1599 unfer der Bezeichnung „Simeon Rutingius Anglus“ in ber Basler Univerfitätsmatrifel begegnet, führte Meyer beim Gefretár des Grand Threforier ein, der ihn „honorable- ment“ aufnimmt. Nun bittet Meyer dringend, dem Thre- forier vorgeftellt zu werden, „pour obtenir quelque faveur de luy profitable à mes affaires.“ [ber der Geltetär gibt ibm deutlich zu verfteben, daß ber Q3ittfteller vor allem feine Empfehlungsſchreiben abzugeben babe, vorher dürfe er auf Feinerlei Gefälligfeiten zählen; andernfalls hingegen werde er ihn „tout droit chez Monsieur“ führen. Den Schluß des Briefes bildet das alte Lamento tiber des Vaters Knorzerei, bie den ungenügend ausgeftatteten Sohn zwinge, Drittperfonen angupumpen. Zum Glüd babe Efajas be Montmartin ibm aushelfen können, aber einen einzigen Sohn follte man nicht in der Fremde fo fteden faffen.
Auf der andern Geite hielt nun freilich der Sohn ben Vater aud) nicht immer auf dem Laufenden. Wenigftens fab fid) anfangs Februar 1609 der Vater Sonatban ver: anlaft, bei Gebeon de Montmartin nachzufragen, ob eg richtig fei, baB Safob fdon im Oktober nad) England ver- reift fei, und ihn zu bitten, ibm über Jakobs Auslagen Rech: nung zu ftellen; gleichzeitig empfiehlt er ibm feinen Sohn zu freundlicher Aufnahme und fügt bei, er fei leider durch Amt und Gefchäfte zu früh ben Wiffenfchaften entfremdet worden. Auf mancherlei bange Fragen, bie den befümmerten Vater beunrubigten, gibt nun ein fehr ausführliches Schreiben des Sohnes vom 4. Februar 1610 aus Cambridge
229
in lateinifcher Sprache eingehende, menn auch nicht febr er- freulihe Auskunft. Er verleiht zunächft feiner Ungeduld über das [ange Ausbleiben von Nachrichten aus der Heimat Ausdrud. Nicht einmal Zantalus könne mehr nad dem von den Lippen zurüdweichenden Wafler geſchmachtet haben als er, Safob, nad) Nachrichten aus der Heimat; denn feit fünf Monaten babe ibm „nil patriorum radiorum“®!) gefchienen, er fei von Trauer und Trübfinn heimgefucht, und es mögen nun bie Seinigen aus dem Folgenden die Summe feines Mißgeſchicks erfahren. Zunächft wehrt er fid) gegen ben Vorwurf, als ob er fid) unverantwortlic lange in London berumgetrieben hätte; nicht länger als ad) Tage hätte er fid) bier aufgehalten, b. b. nur fo lange, bis ibm Freunde für fein Austommen in Cambridge geforgt hätten. Denn mit ber Zreiftelle an der dortigen Univerfität batte es, wie wir nod) feben werden, feine Häkchen. Ohnehin wäre es ibm übrig geblieben, zum bloßen Zeitvertreib bier zu bleiben, ba er von allen Mitteln entblößt gewefen fei. Zum Glüd babe ibm Dominus Laurentius mit 50 englifden Minen aus- geholfen unb fonnte auf bieje Weife feinen Verbindlichkeiten gegen die Basler Freunde wenigftens teilweife nach— fommen; fodann erwies fid) Dr. Clemens als getreuer Not- helfer, fonft, meint Salob, wäre er ärmer als weiland König Gobrus. Aber Clemens babe ihn an einen 23ürger von Cambridge gewiefen und der babe ibm 3 ,coronatos Gallicos“ gepumpt; freilich fei ihm aud) Geld geftohlen worden, „ich weiß zwar nicht, warn und mo. Aus bem geliebenen Geld taufchte id) meinen weißen Mantel gegen einen fchwarzen um, damit id) nicht „Marti potius quam - Arti Minervae“®?) ergeben [djeinen möchte. Mit einem ge- wöhnlichen Gubrmann fam ich mübhfelig und unter Schwierig: keiten bei heftigem Sturm und fcharfer Kälte und Schnee- ‚geftöber nad) Cambridge, wogegen id) mich wegen Mangels 81) Nichts von den (Liebes)itrahlen des Vaters.
$$) Mehr dem (Kriegsgott) Mars als Minervas Kunft.
230
an ordentlicher Kleidung nicht genügend wehren fonnte." An Cambridge bezog Jakob Meyer vorerft eine dem Gollegium Trinitatis gegenüberliegende Herberge beim näm- [iden Wirt, bei bem fdon Onkel Wolfgang zu Gafte ge- wefen war. „Bei ibm haufen einige Magiftri artium,?2) ferner Studenten der Theologie, Gelehrte, mit denen id) in ber erften Nacht zu Abend fpeifte.e Sie beftätigten, Lau- rentius fei in Cambridge, und fandten einen Famulus zu ihm. Das führte zu einem Beſuch Meyers bei Laurentius, ber ben jungen Basler freundlich aufnahm und behauptete, feinen Verpflichtungen gegen Sonathan Meyer nad)gefommen zu fein. „Er ver[prad) mir aureas monetas,?*) bod) war er, wie gewohnt, halb betrunfen. Am folgenden Tag... gedachte id) Digniffimum D. Ratcleif zu befuchen, an ben id) von bir empfohlen war, unb ihn in Sachen um guten Rat anzugeben. Der fam mir mit väterliher Güte ent- gegen und rief mir, in der zuerft befuchten Herberge zu bleiben, und verfchaffte mir beim Wirt Kredit. Laurentius fuhhte mid) mit fchönen Redensarten bingubalten, er werde mid) nicht im Stiche faffen; er verduftete aber nad) London, während Dr. Ratcleif mir burd Zreunde beigufteben verfuchte.“
Nun kommt bie Rede auf einen Brief des jungen Aerander Henric Petri) den diefer aus London an Jakob Meyer gefchrieben batte; Petri mar ein Studiengenofle Meyers und gleich ibm 1604 in 93afel immatrifuliert. Im eben erwähnten Brief befchwert fid) der Schreiber über bie Zer- dächtigung von Jakobs Vater, als habe er, Petri, bem Jakob feinen Mammon burdjagen helfen, aufs bitterfte. Immerhin geht aus bem Mitgeteilten hervor, baB die beiden in London fröhlich gelebt und auf einen Si 12 coronatos verjubelt hatten, zum großen Verdruß des haushälterifchen Sonatban.
Magiiter ber (freien) fünfte,
94 Gold.
9$) Sebaftian Henric⸗Petri; es ijt fonft nichts über ihn befannt; vgl. Familiengeſchichte der Petri 1891—1918. Nürnberg 1918.
231
Der junge Henric Petri fcheint bem Vater Meyer deswegen auf der Basler Pfalz eine ffanbalófe Szene aufgeführt zu haben, die beim Sohn noch nachzittert, wenn er plößlich aus dem Lateinifchen in die Heimatfprache fällt und fortfährt, „mit meldem Web id) das vernahm, fann ich nicht fagen, zumal id) hiezu Urfache mar." — Am Neujahrstag 1610 [ub ihn der Genefhall (Oberhofmeifter) auf Geheiß des Dr. Ratcleif zu einer Mahlzeit ein, bei ber er gerade . aud) die Feierlichkeiten des Collegiums S. Srinitati8 zu leben befam; die Bewirtung bezeichnet er als einfad) unb feineswegs köftlih. „Sch wurde”, fügt er bei, „aufs freunb- lichfte von ben Genoffen des Collegiums aufgenommen wegen meines Oheims Wolfgang, ber bier in fo gutem Rufe ftebt, daß felbit Heigmann (Wolfgangs ZTochtermann) feinen Ruhm nicht verbunfelr fann. Ic bentüte auf das freiefte bie Bibliothek des Collegiums ZTrinitatis. Da id) aber bei meinem Wirt fein bequemes Studierzimmer und Bett fand, mietete ich auf den Rat des Dr. Ratcleif ein Zimmer bei einem Bürger, das id) mit bem Franzoſen Capellus ?9) teile, defien Bruder Geiftlicher an der Kirche von Géban ift; jener iff ein gebildeter und verftändiger Mann.” Mit ibm fonverfiert Safob häufig. Unter der Winterfälte [itt unfer Studiofus nicht wenig und war baber bem Dr. Clemens febr dankbar, als er ibm zur 23efdjaffung eines Anzugs be- bilffid war. Bei einem Londoner Tuchhändler wurde der gewünfchte Stoff für Wams (thorax), Mantel (superindu- mentum) und Rniehofen (foemoralibus) gefunden. Sud) und Macerlohn famen auf 3 englifhe Pfund unb 10 As zu feben. Dr. Clemens bewies feine Anbhänglichkeit an Baſel duch Wohlwollen und herzliche Freundlichkeit gegen Jakob Meper.
Aber freili in der Hauptfache, b. b. für den Bezug des DBucerfhen Stipendiums, fchlugen feine Hoffnungen fehl. Er fam bald zur Ueberzeugung, daß er unter allen
35) Vgl. Jahrbuch 1913. ©. 89.
232
Umſtänden gewichtiger Empfehlungsichreiben bedürfe; nicht bloß die hohe Regierung, fondern aud) bie Verwandtichaft (Wolfgang) und bie amicitia Magnatum waren erwünfcdt, und nicht eine Empfehlung für fid allein, [onbern eine ganze Reihe von folhen vermöchte allenfalls den gewünſchten Gin- brud bervorzurufen. Da baben wohl bange Ahnungen den Srobfinn des jungen Mannes niebergebalten, auch ver: ftimmte ihn bie Spärlichkeit der Meldungen aus dem Eltern: haus und vor allem die Knappheit der Mitte. Dur Privatunterricht fuht er aus der Klemme zu fommen unb beinahe wäre e8 ibm gelungen, duch Vermittlung von Dr. Ratcleif bei einem Herten von Mel eine Hauslehrer: ftelle zu befommen, bie ihn allerdings zum Leben auf bem Land gendtigt hätte, aber es fam ihm ein anderer zuvor, ebenfo batte er mit feinen Verfuchen, durch Unterrichten im Stanzöfifchen fid) durchzufchlagen, nur Pech. Kurz, er ver: fteigt fid) zu bittern Vorwürfen gegen den Vater, der ibm zumute, in Cambridge von Geldern zu Leben, bie er fchon le&te8 Jahr in Frankreich aufgebraucht babe. Wohl kenne er das Gebot „Ehre Vater und Mutter”; es heiße aber aud): „Ihr Väter, reizet eure Kinder nicht!" Und menn Gott von den Kindern Gehorfam gegen die Eltern fordere, fo fchreibe er eben auch diefen vor, fid) gegen bie Kinder [o zu benebmen, daß fie des Eindlichen Geborjams würdig er- (einen. Er molle ja gerne die Auslagen für oft unb Kleider verdienen, aber wenn das nicht gerade auf bet Stelle möglich fei, fo follte ibm der Vater die Mittel zum Leben und zum Studium nicht verweigern und amaden, er fei ja bod) der einzige Sohn. Hoffentlich treffe fein Brief rechtzeitig genug daheim ein, daß er die Antwort durch bie an bie Srankfurter Meſſe reifenden YBuchhändler (biblio- polae) erhalten könne. Sm übrigen babe er fid) divina gratia immer fo aufgeführt, baB er den Unterfchied zwifchen Gut unb 9308 fenne unb Gott immer bitte, ihn vor bem Böſen zu bewahren und das etfannte Gute erftreben zu laflen. In
233
biefem Ton geht es weiter. „Sch erinnere mid), mie ungern bu es (abeft, wenn (deine Studenten und Hauslehrer) Knuthins und Pfifter mir nicht bie größere Hälfte des Tages widmeten. Dem Laurentius habt Sbr Gutes ermiejen in Hoffnung auf Bezahlung und Rüderftattung . . . Grfenne barum endlich, baB es Zeit iit, denen Gutes zu erweifen, die mir Geld [eiben." Nun hätte freilich Laurentius ber Fa- milie Meyer Schulden abzuzahlen, fo lange das aber nicht geſchehe, folle nicht ber Schreiber e8 büßen müffen; auf jenen fónne man nun einmal nicht zählen und noch weniger einen Drud auf ibn ausüben. Er, Safob, babe verfucht, mit Hilfe des Dr. Ratcleif in das Kränzchen (calculus) der Theologie- ftudenten aufgenommen zu werden, wodurd ihm das Recht zur Seilnabme an den Disputationen aufiele; aber Ratcleif hielt ibm indigentiam nummorum?") vor; nut wer im Golfegium wohne, werde zu ben Disputationen zugelaflen. Satalerweife babe Obeim Wolfgang ihn nicht genügend auf diefe Schwierigkeiten aufmerfjam gemadt. Dem Dr. Gry- naeus und Polanus läßt er für ihre 93emübungen danken. Sollte er bod) nod) im Collegium Aufnahme finden, fo müßte er fid) eine Toga anfchaffen. Noch ein le6ter Stoß: feufzer entringt fid) dem jugendlichen Dulder: wie gut hätten e8 bod) die Studenten, bie, von feinen Sorgen bedrüdt, immer rechtzeitig ihr Gelb vorfänden; fie könnten in erjprieß- lider Weife arbeiten, ruhig und unbeirrt ihren Kon— templationen nad)büngen, er aber fühle jid) in feinem Senfen und Sinnen geftórt. Wolle ihn der Vater ftudieren laflen, fo müfle er ibm aud) die Mittel dazu an bie Hand geben. Durch bie Gefülligfeit des Petri, ber via Paris nad) Granf- furt reife, gebe diefer Brief ab, und durch ihn oder einen andern Buchhändler erwarte er Antwort.
Gleichzeitig mit biefem Brief ging ein Schreiben an Polanus ab, in weldhem Jakob dringend um Fürſprache beim Rat für ein Empfehlungsichreiben an den König
8) Den Geldmangel.
234
bittet. Der Q3ittfteller möchte „eadem studiorum subsidia in Anglia“ finden, „quae olim patruus meus.“?®) Er be- nötige gar mancherlei Empfehlungen, „praecipue autem In- clyti nostri Magistratus, quae plurimum haberent momenti ad Regis animum emolliendum.^??)
Ob Safob$ Lamentationen beim Vater Eindrud machten, möchten wir bezweifeln, menn man in einem Brief des le&tern, im März 1610 an Safob ad Nundinas (auf bie Srühlingsmefle) gerichtet, Tief, wie er dem Sohn vom nobilis juvenis Bernhardus Brand‘) berichtet, biefer babe auf Reifen 1000 Gulden gewonnen, Safob da- gegen ebenfoviel verbrauht. So febrt die leidige Geld- frage in allen nur denkbaren Variationen wieder. Serm 93artbolomé PBincent gegenüber erwähnt Sonatban, Monfieur Efaye de Montmartin fei „nostre vieil debiteur“ von „trois cents Escus“, unb es wird bem Jakob vor- gehalten, er babe Bezahlungen verfprochen beffen „que nous avons déboursé désja sept ans.“ Und ba Mon— fieur be Montmartin den Safob in Saumur ,aupreés de Monsieur des Roches“ einquartiert babe, [o möchte er num aud) in Sonatbans Auftrag biefem das Koftgeld für Jakob ausbezahlen und auf biefe Weife feine alten Basler Schulden abtragen. Sod) Montmartin drüdte fid) um diefen Auftrag, ba er gerade Hochzeit feierte, fo daß fid Sonatban fpäter bitter über bie „ingratitude et négligence de Mr de Mont- martin“ befchwerte. Er babe ibn feinerzeit überredet, Jakob nad) Granfreid) reifen zu [affen; wegen der franzöfiichen Sprache hätte e8 Genf aud) getan. Beide Montmartins lohnten bie in Baſel ihnen erwiefenen Wohltaten mit fhnödem Undank. Sm Oftober 1610 meldet Sonatban, die
88) Die nümlidje förderung feiner Studien in England, wie mein Obeim.
8) Beionders aber unjerer Erlaudten Obrigkeit, welche (fc. Em: pfehlungen) am meiften Einfluß auf die Umftimmung des Königs haben dürften.
49) Geb. 1586, Oberftzunftmeiiter.
235
Opeft regiere in 23afef, aud) Wolfgang babe einen bubo. Jakob ermibert, fie breite fid aud) in Cambridge aus, fie baufe (fchreibt er am 4. Auguft 1610) in 3 bis 4 Häufern in ber Nähe der Golfegien; „nostra platea ov» 9e adhuc libera^*!) QGinige Genioren des Collegiums — Srinitatis feien deshalb aufs Land gezogen und würden vor Michaelis nicht gutüdfebren. Aus 23afel lauteten bie Nachrichten über bie Peſt düfter genug. ,?ínbertbalb Sabre lang (ses- quiennium) ſchreibt Jonathan Meyer am 3. Zuli 1611 an Dr. Ser. Ratcleif, „bat uns bie Peft beimgefudbt"; nur aus biejem Grunde babe er fo [ange nicht gefchrieben, 4000 Menfchen jeien daran geftorben;??) allein in ber engern Familie beflage man 34 Tote. Inter dem Drud der er: fchütternden Ereignifle erklärt fid) auch einigermaßen die Schwarzfeberei des Vaters in bezug auf das lange Schweigen des Sohnes. Am Ende fei er unter dem Einfluß leicht: finniger Freunde auf Abwege geraten, wie fhon in Franf- reich. Auf ben Sohn fcheint des Vaters gedrüdte Stimmung nicht ohne Ginbrud geblieben zu fein. Schon in einem 93rief vom 4. Auguft 1610 aus Cambridge fucht er, nachdem er eines Totſchlags bei einer ftudentifchen Rauferei erwähnt, den Pater aufzubeitern mit dem Dichterwort: „Tu ne cede malis, sed contra audentior ito“*°) er hält für befler, ibn zu tröften als zu bemitleiden, und muntert ihn auf, bei allen Anfechtungen und Kränkungen aufrecht zu bleiben. Ihm rate man, fid) in Cambridge ins Collegium Zrinitatis auf- nehmen zu laflen, „utpote opulentissimum"**) e$ fei liberal gegen Fremde, und man [ei dort nicht teurer als anderswo, auch finde er dort noch viele Freunde aus Wolfgangs Zeit, bie ibm gewogen feien, fodann ftebe eine reich ausgeftattete Bibliothek zur Verfügung Gurd Haringtonii S'ermitt- 4) Unfere Straße iit Gott jet Dant nod) frei.
2) Genau 3968 nad) Felix Platters Zählung (Vgl. Basler Uni- verfitätsprogramm 1908 von 9f. (€. Burdhardt.)
49) Weiche bem Mißgeſchick nicht, tritt ibm nur fiibner entgegen! 4) Gewißermaßen bas pornehmifte.
236
[ung befam Jakob zunächſt ein jährlihes Stipendium von 10 Pfund. Wenn er aber von daheim fein Geld befomme, fo müſſe er eben heimfliegen. „Don der englifchen Sprache babe id) mir [o viel angeeignet, baB id) bas Gelefene meiftens perftebe unb zu fprechen anfange; aber id) finde bie Aus: fprache biefet Sprache febr fchwierig; ber Obeim wird meiner Meinung beipflichten.”
Dem Arzt Dr. Arthur Dee in London, der 1609 in Baſel ftubiert batte, Hagt Jonathan in refignierter Stimmung, Hauptfache bleibe das Ignorieren des nun hinter ihm liegenden Lebens und ein gedeihliches Studium feines Sohnes, über deflen Verbleiben er feit mehr als 2 Jahren nichts erfahren babe (?). Ebenſo fchüttet er bem Buch— händler Otimaeus in London fein Herz aus: „Er (Safob) wurde bod) bochverehrter patrone, auf bie bochberühmte Schule von Cambridge gefchict, nicht aber nad) London, mwofelbft er leider öfters unb nur allzu lange foll bangen ge: blieben fein." Er babe fdjon in Frankreich allzu viel vertan und fei von einem andern Basler verführt worden, ber fid) nun leider aud) in London herumtreibe. Ein paar Wochen fpäter bittet Jonathan den Sekretär: „des Suisses du roi“, Sebaftian Ramfped in Paris, er möchte bod) möglichkt verhindern, daß, wie verlaute, fein ungehorfamer Sohn mit dem Schlingel Alerander Petri nad) Mailand durchbrenne, und ihn vielmehr — Jakob war alfo fdon in Paris — zur ORüdfebr nad) England veranlaffen.
Saktifh Lehrte Safob aus feiner faum zu leugnender Sturm: und Drangperiode im September 1611 nad) Baſel zurüd und trat dann im April 1612 neuerdings die Reife nad) England an. In ber Zwifchenzeit amtierte er in der PBaterftadt ale Gemeinhelfer. Unterm 24. Suni 1612 fchreibt Safob aus Cambridge lateinifh dem Pater: „Nun follft du wiflen, daß ich nad ber Durchwanderung von Holland und Geeland in Pliffingen ein Lazarettichiff (valetudinariam navem) beftiegen habe (denn es plagte mid)
237
anhaltend ein fchleichendes Zieber) unb bei günffigem und erwünfhten Wind nad England gefommen bin. Diefe Seberfahrt war mir einigermaßen zuträglich, denn fie be. feitigte viele in meinem Leib verborgene fchlechte Säfte.” Otad) feiner Ankunft in London übergab er fofort dem König auf den Rat unb nad) der Anleitung des hochverehrten Rates (praesulis) Bathon fein Empfehlungsichreiben. Wie es fcheint, ohne Erfolg. „Das Schreiben wurde vom König gelefen und aurüdbebalten, aber ohne irgenbmeld)en Nuten oder irgendwelche Erfprießlichkeit für mich; es erfolgte von feiten des Königs feinerlei Antwort, feine Wohltat, und ich fann aud) fürberbin auf feine zählen.” Meyer Eonferierte in Saden mit Dr. 9(rtbur Dee. Swifchenhinein taucht dann ber unvermeidliche Laurentius auf, bem Syafob keinerlei Geftändnis bet dem Pater Sonatban fehuldigen Summe entwinden zu fónnen hofft. Da es nun bod) zu feinem Sti⸗ pendium reichen wird, fo entfchließt fid) Safob, nur [o lange in England zu verweilen, als die vorhandenen Mittel es geftatten. Während feines vierwöchentlichen Aufenthalts in London bat er fid) einen „nicht gewöhnlichen Schag von engliihen Büchern“ erftanben, mit denen er daheim zu paradieren hofft. Hierauf iff er nad Cambridge zurüd- gekehrt und dafelbft früheren Verpflichtungen nadgefommen ; leider bat er auch erfahren, daß „patronus noster, Doctor Radcliffus“ geftorben jei, und überhaupt manches während feiner Abwefenheit fid) geändert babe. Er gebenft nun noch, Orford zu befuchen und fo lange dafelbft zu verweilen, als bie Mittel reichen werden. Das Eöniglihe Stipendium fchlägt er fid aus dem Sinn und beabfichtigt, im September nad) Haufe zu reifen, falls er nicht von daheim zur Ver—⸗ längerung feines Aufenthalts aufgemuntert wird.
Der gleichzeitig an den Oheim Wolfgang aufgegebene Brief ergänzt und erweitert den obigen in verfchiedenen Punkten, jo befonders im Reifeberiht. Was er unterwegs bis nad) Köln erlebt, werde man feinen aus Frankfurt und
238
f ín batierten Briefen entnommen haben. In Heidelberg fei er von feinem Verwandten Rodolphus, ben die Eltern kurz hielten, angepumpt worden; unter Tränen babe er ihm einige Gulden entlodt und ihn mit der Entfchädigung ber Eltern vertröftet, er aber habe vorgezogen, ibm ein Geld- sefhent zu mahen „Am 16. April verließ id) in Be— gleitung ber 93rüber Zfelin Frankfurt, um Köln zu er- reihen, wobei mich unabläffig jenes effe (pallida) Fieber begleitete, das id) nicht einmal duch eine Purgaz mit 22 Ci&ungen in Köln los werden konnte (purgatione viginti duarum sedium). Auf alle Dertlichkeiten, bie ihm Wolf: gang im Reifeplan notiert, gab er acht, mußte aber aud) bie befannte Wahrnehmung machen, bap manchem Studien- freund feines Oheims Wolfgang, an ben er Grüße aus: richten follte, defien Name entfallen war per injuriam tem- poris,*) wohl aber hätte fid) feiner der Geiftlihe Joh. Le Marie in Amfterdam nod) febr wohl erinnert. „Ebenda nahm id einen Aderlaß vor und wurde von Emanuel Gfelin freundlich aufgenommen. Am 7. Mai neuen Stils brad) id) von Amfterdam nad) Harlem auf, und von da ge- langte id) nad) Leyden, unb da fann id) nicht genug bie Leutfeligkeit unferes Arnold (,Soannes Arnoldus Lug- buno Batavus“ ftudierte 1603 in Baſel) rühmen und bie Rechtſchaffenheit jenes einäugigen Bürgers, bem wir in Bafel nicht ebenfo mit Wegzehrung beigeftanden hatten. Bon ibm war D. Arnold von meiner Ankunft unterrichtet, unb er zeigte mir nicht bloß alle Sehenswürdigfeiten, fondern bedachte mich obendrein aufs gütigfte mit einer Mahlzeit, einem Bett und einem Frühſtück und nahm mich, mas id am höchſten fchäße, unter die Zahl feiner Freunde auf. Jener aber (der Einäugige) [ub mich nicht nur in fein Haus ein, fondern wollte aud) unfer Trinkgeld zurüderftatten; als . id) es nicht zuließ, übergab er’s bem D. Arnoldus zur Ver: teilung an die Armen, gewiß ein nicht gewöhnliches Beiſpiel ) Durch bie Unbilden der Zeit. |
239
außerordentlicher Noblefle . . . Yon Leyden fam id nad bem Haag (des Grafen), wo id ben Mauritius (von Oranien, 1567—1625) frübftüden (ab, von bier aus nad) Delft (Delphos), Rotterdam, Dordreht unb endlich nad) Dliffingen, und zwar fo günftig, baB ich gerade ein zur Abfahrt bereites Schiff traf, auf welchem wir nad) 21 Stunden oi» de (mit Gott) in Grapefinba (Gravesend an der Sbemjemünbung) lanbeten: ber Wind ent[prad) durchaus unfern Wünfchen, und zwar fo, daß er einen gewaltigen Waſſerſchwall in das Schiff warf, fodaß viele ben Namen des Erlöfers anzurufen begannen. Es war ber 13. Tag des Mai, da mir von neuem England zu erbliden zuteil ward. Nach meiner Ankunft in London gab ich meine Briefe ab.
Seiner Majeftät dem König (Safob I. von England 1566—1625) gab ich den ihrigen fofort am folgenden Tag eigenhändig, als fie ad sacellum**) ſchritt, dem Biſchof Bathon den feinigen, bem O. Harington den feinigen, ebenfo den andern die ibrigen." Jakob Meyer war auf den Rat des Biſchofs 93atbon fo vorgegangen, der König hatte das Schreiben genommen, „und als er aus ber Verſamm— [ung fam, hielt er es in der Hand und trug es mit fid) auf fein 3immer. Ich wartete in London ungefähr einen Monat auf Antwort, drängte, fuchte den Biſchof auf, bat ihn, er möchte den König an bie Antwort mabnen und ibm meine Perſon empfehlen; endlich, als ich nichts ausrichtete, beſchloß id) nad) Cambridge zu meinen Freunden und Studien zurüd- gufebren. Der Biſchof machte vielerlei Gründe geltend, warum er ©. Majeftät den König nicht wohl auffuden fónne, und ich muß gefteben, daß er durch febr viele Sorgen unb Geichäfte in 9[nfprud) genommen war. Es waren nämlich [don vor meiner Ankunft am Hofe anmefenb bie Gefandten des Königs von Frankreich, der Herzog von 23ouillon (Bullioneus) zufammen mit bem Serm von Tre- — mouille, Herzog von Thouars; beide unterhandelten mit
49) In die Kapelle.
240
bem nig, baB er feine Zuftimmung zu ber Heirat des Stanzofen mit der Spanierin erteilte, (Ludwigs XIII. mit der Tochter Philipps III. von Spanien, der Infantin Donna Anna) unb aud) feine Tochter Elifabeth dem Pfalz: srafen (Zriedrih V. von der Pfalz, bem fog. Winterfönig) zur Ehe gäbe; fie follen beides durchgefegt haben. Als bie Gefandten nad Frankreich zurüdgelehrt waren, fühlte fid) der König mehrere Tage nicht febr wohl; bald nachher wird ibm ber Zod des Großfchagmeifters (Magni Thesaurarii) gemeldet, der ihn mit neuen Sorgen erfüllte. (o fam es, daß ich wegen diefer febr wichtigen Staatsangelegenheiten mit meinen Privatangelegenheiten ignoriert wurde. Weil id) fomit allem Anfchein nad) mich vergeblich bemühte, reifte id) nad) Cambridge ab; zuvor aber fah ich mich nad) jemand um, ber in meiner Abwefenheit den König und ben Biſchof beeinfluflen fónnte. Denn ber Bifchof batte veriprochen, bei erfter Gelegenheit vom König eine Antwort zu erbeten. Anderfeits batte Meddus (Medufius — ftubierte 1595 in 93afef) verfprochen, den Bifchof zu drängen . . ." „Leber die Angelegenheit des Carlyle”, (Laurentius „Carleil“ Londinenfis Anglus ftudierte 1608 in 93afef), ber allem Anfchein nah in 93afef. Schulden binterlaffen batte, „Tann id) bir nichts Beſtimmtes fchreiben, außer das eine, daß id) zuerft mit den Freunden verhandelte, baB ich feine Eltern auffuchte und nachfah, ob fie ihren Sohn von ihren Schulden befreien wollten, daß ich ferner, da diefer Weg nicht zum Ziel führen wollte, über den Rechtsweg nachfann und meine Freunde in biefer Sache um Rat fragte. Endlich merkte ich fo viel, daß ich felber der Sache wegen zu Fall fommen Eünnte, menn Garlyle burd) einen Eid verficherte, er fei niemanden etwas fchuldig, und er babe jenes Schrift: ftüd (offenbar einen Schuldbrief) nicht ausgefertigt und mit feinem Giegel verfehen, und feine Vergleichung weder ber Schrift nod) der Cdulbanfprüd)e gelte bierin etwas; id) merkte ferner, bap ich überhaupt in der Cade nichts gegen
241 16
ibn ausrichten fónne, fobald er alles beftreiten wolle, ba mir feine lebenden Zeugen zur Hand feien, bie allein in biejem Königreih von Gewicht und Geltung find. Endlid wurde erfannt, daß in „curia Conscientiae", in elder bert Kanzler den Vorſitz bat, der Mann vor bie Geridtsfdranfen zu rufen fei, wo die (Cade leichter in fürgerm Verfahren, aud) mit geringern Auslagen zu Ende geführt werden könne, wobei ich felber aber aud) den fürgern ziehen kann, falls Carlyle einen Meineid leiften follte.” An anderer Stelle be- merkt der Driefichreiber: „Die Leute wollen an derartiges nicht gern erinnert fein und find in biefem Punkt febr ver- geBlid) . . . in bezug auf Erwerbung englifher Bücher habe id) befanntlich weder Zeit, nod) Mühe, nod) Koften gefcheut und fcheue fie aud) jetzt nicht.”
Mit diefem ausführlichen Brief, aus bem die Erfolg- Lofigfeit aller Bemühungen Jakob Meyers, einen Zreiplat in Cambridge zu gewinnen, deutlich hervorgeht, Ereuzte fid) ein am 15. Suni 1612 gefchriebener des Vaters, ber erneute dringende Mahnungen über ben Ernft des Lebens enthält und ibn, wenn er bie Rüdreife über Genf antrete, bem Henrico Wottonio (vgl. Sabrb. 1913, S. 98), ehemaligen Gefandten in Venedig, zur Zeit in Savoyen, empfiehlt und ibm nebenbei wieder einmal bie Verfchleuderung des väter: [iden Vermögens vorhält. Der letzte Bettelbrief Safobs fam hinter des Vaters Rüden von Genf aus im September 1612 an den Oheim Wolfgang, der wohl aus eigener Er: fabrung für bie Geldnöten eines jungen Mannes ein beljeres Perftändnis befaB als ber Vater. Jakob fchreibt da, er würde gerne länger in Genf bleiben, wenn er Zutritt in Familien bátte. Gott felber babe ibm in diefer Stadt alle Schäße feiner Güter ausgebreitet, nur folle man ibm, ohne bap es die Eltern erfahren, bod) Geld zur Heimreife fenben, etwa 14—15 cotonatos.
Damit fdlieBt bie auf Jakob Meyers Wanderjahre bezügliche Rorrefpondenz. Was wir nod) als Nachtrag bei-
242
fügen, find ein paar Briefe, bie entweder geeignet find, ein Licht auf bie 93eberbergung junger Herren von Stand in Basler Gelehrtenfamilien jener Zeit zu werfen, oder bie durchreifende Studenten oder Glaubensgenofien zu gaft- freundlicher Aufnahme zu empfehlen. Am 19. September 1614 fenbet Agnes, BGräfinzu Solms, an Wolfgang Meyer ein Dankfchreiben dafür, dag Wolfgangs Familie bie Vettern der Solms, bie Yenburg, gaftfreundlich aufgenommen und „denfelben viel liebs unb gutt8 ermiffen, fonderlich aber mit unferm Sohn (Conrad — ftudierte 1614 in 33afel) in feinem zugeftandenen Unfall großes mittleiden getragen, und ftattliche Handtreichung getban . . . Und follet Ot hiernechft in ber Thatt fpürren, baB wir folche ung und ben Unßerigen erzeigte guttbaten zuvergelten ung wollen an- gelegen fein IaBen." Ganz ähnlich brüdt fid) am 2. Oktober 1614 der Gemahl, Albrecht, Graf zu Solms, in einem Drief an Wolfgang Meyer aus; auch er verdankt alle feinem Sohn Gonrabt Ludwig, Graf zu Solms, bei feinem Unfall erwiefene Hilfe und Freundlichkeit wie aud) bie feinem Better, Grafen von 9)fenburg bezeigte Gaft- freundſchaft und verfpricht, fid) erfenntlich zu zeigen, verdankt aud) bie Bürgſchaft für das von bem jungen Herrn in Baſel aufgenommene Geld.
Sn die Zeiten der Inquifition berfebt uns ein Brief des alten Kaſpar Wafer aus Zürich vom 13. Auguft 1615 an Wolfgang Meyer; er lautet: „Der Leberbringer vorliegenden Schreibens ift zu euch gefommen, ein Staliener von Geburt, wegen feines evangelifhen Glaubens verbannt. Gr durchreiſte mehrere Fahre fang verfchiedene Gegenden Deutfchlands wie aud) Englands. Als er aber vernahm, daß feine Eltern geftorben feien, begab er fid) in fein Vaterland, um fein väterliches Erbe zu beanfpruchen. Aber dafelbft er- bielt er mit Mühe einen Sebrpfennig und wurde wegen der Snquifition jofort zur Abreiſe genötigt, nicht ohne Lebens- gefahr." Wolfgang wird erfucht, ibm zur Weiterreiſe nad)
243 16*
Heidelberg behilflich zu fein. — Ueber bie Aufnahme des Marcus Antoniusde Dominis in 23afel bat das Cabrbud) 1913 (C. 98) berichtet. Der bier zum Schluß noch folgende Brief des englifchen Gefandten in Venedig, Henry Wotton, an Wolfgang Meyer vom 13. September 1616 mag als Beleg dafür dienen, mit welcher Klugheit und PBorfiht man zu Werke geben mußte, um einen ber rümi[cben Rurie Verdächtigen gíüdíid) über bie Grenze zu bringen. Der Gefandte fchreibt: „Ich empfehle Deiner freundlichen Aufnahme (melde im eigentlichften Sinn zu allen Greunb- fchaftsleiftungen geneigt iff) biefen Mann. Wer er fei, wirft bu duch unfern Landsmann, Herrn Robert DBarnefiusg, ben id ihm als 93egleiter beigeorbnet babe, erfahren. Bon bier werden fie zu euch reifen (durch Grau- bünden), um dann den Rhein binabaufabren, wobei fie beim Beſchaffen eines Fahrzeugs fid) gerne deines Zeiftandes bedienen werden. Was mich betrifft, fchien es mir unferer Steundfhaft nicht unmtürbig, in diefer Gelegenheit deine Hilfe anzurufen . . . Sd fchreibe jet etwas dunkler, weil bie Sache geheimnisvol if. Nichte, bitte, deinem wohl- weifen und geftrengen Bruder in meinem Namen einen Gruß aus. Gbenfo dem erlauchten Grafler (a. a. . ©. 78), an den ich burd) eben denjenigen gefchrieben habe, ber mit bir verhandeln wird... Gott wird mitten im Waffen: getöfe feinem Evangelium den Weg bahnen.
Venedig, 13. September 1616. Dein Henry Wotton.“
244
Ablaßbrief von Anno 1517 zu Bunften
des Jakobusaltars ín St. Leonhard. Don Pfarrer ££. Mieſcher.
On unferm biftorifhen Mufeum befindet fi, unter Glas ausgeftellt, ein fchon durch Fünftlerifche Ausftattung, aber aud) durch feinen Inhalt bedeutfames Aktenftüd, das wohl bem einen oder andern Mufeumsbefucher im Vorüber⸗ geben aufgefallen, wahrfcheinlich aber von den wenigften einer genaueren Betrachtung ift unterzogen worden.
Unferes Wiffens iff das Dokument vor dem Hinweis darauf, zu bem ein im Chriftlichen Volksfreund abgedrudtes und nachher aud) als Broſchüre erfchienenes Stüd Geſchichte von Ct. Leonhard uns Anlaf gab, nod) von feiner Seite einer befonderen VBefprehung!) gewürdigt worden, unb bod) verdient e8 diefelbe in mehrfacher Hinficht. Wir haben darum der Aufforderung der Herausgeber diefes Jahrbuchs gerne Folge geleiftet, ben Sert der Urkunde unter Beifügung einer &eberfegung bier mitzuteilen und benfelben mit einigen Worten der Einleitung zu verfeben. Wir freuen uns, daß wir burd) bie, ungefähr auf den vierten Zeil des Umfangs des Originals reduzierte, Wiedergabe des Dokuments ?) unfere Ausführungen zu unterftügen imftande find.
Es handelt fid) um einen Ablaßbrief, wohl einen der legten, wenn nicht wirklich den lebten, ber für das vor-
1) R. 9Badernagel in Mitl. über R. Peraudi. Basl. Zeitſchr. f. Geld. u. 9I[t.-Stunbe II, erwähnt die Urkunde ©. 221. Siehe i. Staats- ardjio, St. Leonh. 856 a.
3) Sinfautotypie, auf Grund einer Photographie des Serm 3B. Anutty angefertigt von der Kunftanftalt Yrobentus U. ©.
245
reformatorifche 93ajel ift ausgeftelt worden. (ein Datum ift der 29. November 1517 und der Tag der Veröffentlichung butd) bie bifchöfliche Kanzlei der 27. Zuni 1518. — Am 31. Oktober 1517 batten bereits bie Hammerfchläge, womit bet Auguftinermöndh bie 95 Theſen an der Schloßfirdhe zu Wittenberg anfchlug, das erfte Signal zur gewaltigen Be— wegung gegeben, aus ber bie im Geift und in der Wahrheit des Evangeliums erneuerte Kirche hervorging, der Kirche, für welche mit fo vielem andern, was im Lichte des Wortes Gottes nicht beftand, aud) bie Abläſſe der päpftlichen Kirche ihren Wert endgültig verloren haben. |
Ungefähr aus derfelben Seit ftammt ein ber Sankt OXagnusSfirde in St. Gallen gewidmeter Ablaß— brief,?) den im Namen des Papſtes Leo ber damalige Nuntius Antonius Puccius (Pucci)?) am 18. Auguft 1518 noch, alfo nur viereinhalb Monate, bevor Zwingli daſelbſt ſeine Tätigkeit begann, in Zürich gefertigt hat. |
Dergleichen Ablaßbriefe waren in ben lebten Syabr- zehnten des 15. Zahrhunderts und im Beginn des 16. Sabr- bunderts überaus zahlreid. Man erwarb und holte fie in Rom oder gewann fie gelegentlich ber Anweſenheit von pápft- lichen 9egaten; bald für diefen, bald für jenen 3med.
Bei aller Unmöglichkeit ben fittlihen Verfall auf: zubalten, hatte doch in jener Zeit der, allerdings vielfach recht äußerliche, Eifer für die Kirche einen mächtigen Aufihwung genommen, bie Devotion, bie für die GSicherftellung des eigenen Heils und deflen der lebenden und verftorbenen Fa— milienglieder beforgt unb den in mancherlei Heimfuchungen empfundenen göttlichen Grimm zu befhwichtigen bemüht war, eine auffallende Steigerung erfahren. R. Wader:-
9) Karl Peſtalozzi. Die St. 9'tagnustirdje i. St. Gallen während 1000 Jahren. Berl. b. Fehrſchen Buchh. S. 66.
9 Bon 1531 bis zu feinem Tode 1541 Kardinal. Brgl. Konr. &ubel. Hier. cath. med. aevi. Ueber Buccius Tätigkeit in der Schweiz f. Egli. . Schweiz. Ref.Geſch. I. ©. 122.
246
nagel weift das in feinen Mitteilungen über Raymundus ODeraubi^) big in alle Details überzeugend nad). (S8 berrichte ein vor den größten Unternehmungen nicht zurüdicheuender 93augeift. Unglaublich viel gefd)ab zur Ausfchmüdung ber Kirchen und Altäre, zur Stiftung und Bereicherung von kultiſchen Handlungen, zur Erlangung von Reliquien, in Aus- führung von Wallfahrten, in Suwendungen aud) an wohl: tätige Anftalten wie Pilgerherbergen, Spitäler ufw. Es lag burdjau$ im Intereſſe der Hierarchie, zumal bem fid et: bebenben Humanismus gegenüber, diefen Eifer zu unter: ftügen. Durch bie von ihr zu gemährenden Abläſſe aber ver: mochte fie für die Unternehmungen Eoftfpieligerer Art der Gläubigen mit Leichtigkeit bie Mittel flüffig zu machen unb dabei erft noch für ftd felber ben entiprechenden Anteil ab- gubefommen.
Co beſitzt das Staatsarchiv von St. Gallen, außer bem obenerwähnten nod) einen, ebenfalls für St. Magnus be- ftimmten Ablaßbrief vom Sabre 1467, defien Vorteile allen zugute fommen follten, bie an gewiflen Seiligentagen bie Kirche befuchten und für fie beifteuerten. An der Spiße der zehn Rardinäle, die fid) mit ihrer Vollmacht an dem Gnaben- erlaß beteiligt haben, fteht ber befannte Gelehrte 23effarion, Bifhof von Tusculum, ber die gründliche Kenntnis ber griechifchen Sprache nad) bem Abendlande gebracht bat.9)
Gin für Bern beftimmter Ablaßbrief diefer Art ift jüngft veröffentlicht worden.) 1421 hatte Bern ben Bau feines St. Vincenzmünfters begonnen. Anfangs der fiebziger Sahre waren bereit8 40000 Goldgulden darauf verwendet worden, und noch war der Bau nicht zur Hälfte vollendet.
5) Basl. Zeitſchr. f. Geih. u. Altertumstunde II. ©. 171.
6, Der Wortlaut des Briefes bei Karl Peſtalozzi a. a. Ort. ©. 188.
7) Ablaßbulle Sixtus IV zu Guniten bes Vincenzmünfters 1473. Eriter im Auftrag Berns ausgeführter Suid durh Martin Flach in Bafel. iyacjimiles9Reprobuftion nad) dem einzig befannten Ex. des Keſtner Mujeums in Hannover, berausg. unter Mithilfe von Staats- ardivar Tine v. U. Flur. Bern, Buchdr. Bühler & (o. 1918.
247
Da nahm man feine Zuflucht aud) zu dem ergiebigen Werbe- mittel der 3eit. Am 18. Sanuar 1473 wurde der Stadt: fohreiber Meifter Sbüring Srider burd) Rat und Burger: Ihaft von Bern nad) Rom gejanbt, um bie Gewährung eines Ablafjes zu ermirfen, der das Aufbringen der noch fehlenden 60 000 Goldgulden erleichterte. Ende April oder anfangs Mai beimfebrenb, brachte er nicht nur eine, fondern gleich zwei Bullen nad) Haufe, bie eine mit Geltung vom 29. Sep: tember 1476, bem Feſte des Erzengel3 Michael, an. Gie verfpricht den an diefem Zeft unb den darauffolgenden Tagen bie Kirche andächtig befuchenden und zum Ausbau derjelben ihre Unterftügung darreichenden Gläubigen volllommenen Ablaß und Vergebung ber bereuten und gebeichteten Sünden, und dies viermal von drei zu drei Jahren. Dabei wird, um bei dem offenbar erwarteten größern Zudrang den fid) häufenden Beichtbegehren genügen zu können, geftattet, daß Dazu geeignete weltliche und DOrdensgeiftliche aus jedem be- liebigen Orden al8 DBeichtiger durften zugezogen werden. Dieſe follten berechtigt fein, alle Gelübde, mit Ausnahme derjenigen für Pilgerfahrten übers Meer (Serufalem), nad) Rom und Gompoftella abzuändern und davon [oszufprechen. Der dritte Teil aber der eingegangenen Gaben muß aum Schuße des ortboboren Glaubens zu Handen des apoftolifchen Stuhles abgegeben werden. — Diefe 93ulle erfchien nachher im Drud, und zwar burd) bie Offizin des Martin Flach in Bafel, der biegu von Bern den Auftrag erhalten batte. —
Die zweite Yulle (von Sanct Vincengien unferes hu$- herren boupts wegen) gewährt denen Ablaß, welche an des Heiligen Tag die Kirche, bie deſſen Haupt vermabtte, frequentieren und zu ihrem Unterhalt beitragen. —
Aber aud Baslerfirhen werden reichlich mit Ablaß bedacht, befonders St. Theodor. Wlerander von Forli fpendete 1477 einen folchen für St. Theodor und St. Nico- laus, 1487 Nicolaus von Tripolis ebenfalls für St. Theodor. Der Verwendung des eifrigen Pfarrer8 Dr. Surgant, ber
248
I E ce ^w XI 'líbiner — pt - bjwmac 4€: sl etre e |n 6. té 4 Ales tt [nun Maren loca: AUS [ts cinj Mazcue fa tc e3t Darie "ATI n "ad ^ rürtonc & A E crofande — PD omn ccc airvma ali "YT —— m e mar Ba xc! ug» 1nay futi ip^! we piece 198 AC, A luec Jj av queo ut aca pur te Mero Lauoabilue rel crue X e " "htuta exif & ^ aqru t js "ntetuz bou ibus cc dq xv K P e COR tar code netu: 7" manneeneatuz nccaon ub | Ov —X n vu mbi eier. * Dictum tax cr du cop: aíoncm sen ie zuatlonen“ cuiua ut domtricce Quoc: by doces Teure ticis geane ula 5 uilibet nin e fugy'icatomb:s vla nobie m xpo ift ne; T omumen nobıs fi fur: bo: kumilı 01 fad pli: v5 Auct irit coufi fi Wee 3 fr "rt au chin LM Cad. WI finguhr vieler lan - ott Ira ta ma ex OQuatun: tempori ib? ami ge F ————— t jn atatibue et Tichus a Primus Defferie uf et ad prenaſſa anus porem ** qe * jaqulue |
"Y mn mg evt ym mx d$ mue ihn
wüc nm: pino
u! ih TO T ee Tr Sow sc MS rn i J * — 8 Maren au ap gx «jos Seen yay AS - a coe — NE DUM CD — MV Lr o3 dei
In — vow s de as Is —— —8 XX Me Kun om RE e LR * cw tv * N donus po VER Min
I heme s Tess, Sun 4 ya vt vire Valete Bas el N
BMae Tas 2 n M NS bir et —— i:
Myers SN X buds — — M — — Su xX — 3b gue Mw i SNC URN
ellos 3 T en
* € p N Bit. : | X fe A A das ne 1e loztucr fef ug ade Jconaiouc & pow Deest dL Re af lern et Jaurentuus t£. facto CQuatuos Foronurox bia Ou [ dam ac i^7Wugif maious [anac Maru piae i C. | OX ninesfie et figuli: xpiftdelib pute Ie imperi 7 "n — d? oera —— mouriImug tgnto falub-- Ite tte acob t fitum io juszochiali caclia fand.) conatw 9 > »jilen nb. Anm É onfrate: imtuüe m honoren fanaox acobi ec JH o: An Rechib-- - Mater uenezctus ac : | ius. | trudurıs er 7f te-
3 — annnar; bus ouw nentie erclia fee ac vebus- n viefimslao an co lilentuie weuorene ca a
ntionem cc miatoncr^ b voi manuec pom ptus D:xupant- agmine B reftave Los - azbimalce! pie T Witelien- xnerabılus Viri jdanme . Amgler poni aie e —»ut- «ctus melhnan x3 omm ydeenne xeimia ac brator fektrı di; : lw tiu ftc Ie [eue xpifieclibue ucic peritennbue et con feſſis
nudioie s andi 2 in ncecnop vum Oonmmcax ——
Septenbris er Decembris ac Umex menfzh? nuncdiate " ao counts — tas mel fine brun de itauermt diaatim
RR
— — te 1* — Ó( “er um“ ab Xv quos fem - hod Aaliuitaie om H iini iv xpo pr we
9e a 9. Uu
ek RER — " k EDU APO m *
* qu cc i FAM — — Ee MS IM C "Hess m M A prb a —
T. E. — — ver HER er t pee a Caci. —— — dus v y —— ipie iA SS Ia Nt, sn cuml — X o AAA — UR DNI dil 4 ta à LAS xa a. * I is meis d XEM ty Das ET abdo Dat — Mis
BETEN
felber in Rom war, um Reliquien ber 10000 Ritter für feine Kirche zu gewinnen, bat diefe den im Staatsarchiv nod) vorhandenen, von nicht weniger al8 16 Kardinälen aus: geftellten Ablaßbrief von 1490 zu verdanken) Auf feiner Durchreiſe burd) Deutfchland fam ber von Ulerander VI. als Ablaßkommiſſär gefandte Kardinal Raymundus Pe— taubi — e$ handelt fid) babet um ben Ablaß des Zubel- jahres 1500, beffen Ertrag teilweife für einen Türfenfeldzug beftimmt war — aud) nad) Baſel. Schon 1502 von Straß: burg aus erhielt durch ihn die bei den Dominifanern be- ftebenbe Bruderſchaft der Schuhmashermeifter zu Ehren ber Heiligen Erifpinus und Grijpinianus einen Ablaßbrief?), ebenjo wurde durch benjelben auf Begehren von Bürger: meifter und Rat denen Ablaß zugedacht, bie an bem von bet 23ebbtbe felbft in etlichen Kirchen eingeführten Gefang der Antiphonie Media vita und dem Credo „mit ausgeipannten Armen” teilnahmen.!!) Uber nod) reichlicher erfolgten bie Gnaben, als 1504 der Kardinal wohl ein Vierteljahr bier fid) aufhielt.e Da wurden mit erwünfchten Abläſſen beglüdt bie Schiltbruderfchaft am Münfter, bie Wolfgangsbruderfchaft an St. Leonhard, bie an gewiflen Sagen fid) einfindenden Beſucher ber Predigerficche, fofern fie der Abfingung des „Salve regina" beimohnen und vor einzelnen Ultären ihre Gebete verrichten, ebenfo die bei beftimmten Anläſſen in der Klofterfiche des Klingentals ihre Andacht Q3erridtenben. St. Leonhard erfreute fid) fpezieller Gunft des Starbinals, da er im Stift Wohnung genommen und demfelben auch feine einfaffierten Wblaßgelder in Verwahrung gegeben batte. Wie bie Wolfgangsbruderfchaft bedacht worden ift, wurde Ihon erwähnt. (9 wurde aber überdies nod) ein Ablaß be- willigt für die bei Anlaß der jährlich einmal flattfindenden
8) R. Wadernagel. Mitl. über Raym. Ber, Basl. Zeitſchr. f. 6. u. A. II ©. 199.
9) bito ©. 231.
10) dito 232.
249
Ausftellung ber fämtlichen Reliquien von St. Leonhard ein- treffenden Andächtigen. —
Diefe Ablaßbriefe, fomeit uns folche zu Geficht ge- fommen find, baben alle ähnlichen Charakter und find in breitfpurigem Stil mit vielen ftereotppen Ausdrüden ab- gefaßt. Dies gilt auch von demjenigen, dem wir bier unfere befondere 9[ufmerffamfeit zuwenden. Bei feinem aber von den uns befannt gewordenen ijf auf bie Ausführung fo viel Kunſt verwendet worden, als bei dem unfrigen. Die Koſten biefür haben wohl die 93efteller aufbringen müflen. '
Wer find bier bie Vefteller gewejen? 9 war, wie wir aus dem Brief felbft erfahren, bie Löbliche aus Gläubigen beiderlei Geſchlechts beftebenbe Bruderfhaft zu Ehren der Heiligen Sacobus (des älteren) und Rochus unb der ehrwürdige Priefter Joh. Ringler, wohl der Beichtvater der Bruderſchaft.
Die Bruderfhaften,!!) die burd das ganze Mittelalter vorhanden waren, aber namentlich feit dem Schluß des 14. Jahrhunderts in Auffchwung famen, waren freie Vereinigungen zur Erreichung religiöfer und häufig, damit verbunden, humanitärer 3mede. Es gab Bruder: fhaften von Geiftliden, wie bie Ct. Sobannisbruber- fchaft auf 93urg, zu welchen bie Sapláne unfres Münfters und außer diefen etliche Klerifer der benachbarten Gemeinden gehörten. Diefelbe batte ihre eigene, eben bie St. Sobanns- Kapelle, mit mehreren Altären. Viel zahlreicher hingegen waren die Laien bruderfchaften. Sie ftanben im Anfchluß an eine Kirche und dienten der Verehrung eines befonderen Heiligen. Man errichtete aus den Mitteln der Vereinigung die betreffenden Altäre, unterhielt deren Bedienung, forgte für Altarzier und nötige Kerzen und lief fid) bie Andachts- übung an diefen heiligen Stätten, namentlich an den Heiligen: tagen, angelegen fein. Manche biefer Bruderfchaften waren
11) R. Wadern. Bruderfhaften u. Zünfte zu Bafel i. Mittelalter. Basl. Jahrb. 1883 ©. 220 ff.
250
zugleich Berufsgenofjenfchaften, wie bie ber obengenannten Schildfnehte am Münfter und der Schuftermeifter zu Dre: . bigern, und ebenfo bie der Schloflerfnechte zu St. Leonhard unb ber Gerber zu St. Oswald. Andere fannten diefe 93e- * fóránfung nid. Das Verbindende war bier das 3utrauen au einem beftimmten Heiligen. (Sine folche war die bereits erwähnte Ct. Wolfgangsbruderfchaft, bie dem Patron ber €abmen Dulbigte, und diejenige, für bie ber ung befchäftigende Ablaßbrief erlangt worden iit, bie Sacobusbruderfchaft.
Was diefe leStere anbetrifft, fo Fällt ihre Gründung ins Jahr 1481. Die Urkunde ihrer 93effütigung burd) Biſchof Cafpar befindet fid) im Staatsarhiv.1?) Sm weitern liegt bier in Doppel der Entwurf zu einem ihr geltenden Schreiben von Seiten des Priors Sobann (von ZTeffenter) und des Kapitels St. Leonhard, datiert 1486, vor. Darnach waren bie Meifter der Bruderfchaft „genannt bie ellende Bruder: Tchaft fant Sacob$" mit dem Begehren an das Stift gelangt, daß durch dasfelbe täglich eine Meſſe an ihrem Altar gehalten werde unter Ginfügung einer Fürbitte für bie Yrüder und Schweftern ihrer Genoflenfchaft, ſowohl die lebenden als bie verftorbenen. Ebenſo wünfchten bie Petenten, daß an ben vier Grobnfaften 9 igilien unb je Tags darauf zwei Seelenmeflen, bie eine gelefen, bie andere gefungen werden, zum Beften ber abgefdjiebenen Seelen. Dem Begehren ift das Verſprechen beigefügt, folhen Dienft mit jährlich 5 Gulden, zu 25 Schilling gerechnet, fällig je an Syacobi zu lohnen.
Der vorliegende Entwurf zeigt nun an, daß Prior und Gapitel befchloflen hätten, der Bitte zu entfprechen, unter ber Bedingung, 1) daß bie Bruderfchaft ihr Grab und den 93aum (fie befaß aljo in Verbindung mit ihrem Altar ein heil. Grab und einen Stammbaum Chrifti) auf eigene Koſten bebiene unb beleuchte, 2) daß der feſtgeſetzte Lohn richtig bezahlt werde. In ber einen Handfchrift tff noch bemerkt, daß wenn
15) Bruderſchaften Urf. 4.
251
bie Verhältniffe ber 93ruber[djaft fid) verbeflern follten, bann ‚auch eine beffere Belöhnung des Firchlichen Dienftes erwartet werde.
Aus diefem Dokument ift deutlich zu erkennen, was die Bruderſchaft vornehmlich bezwedte, nämlich für ihre lebenden wie ihre verftorbenen Mitglieder burd) Sufammenfteben die Heilsvorteile zu verfchaffen, bie 23egüterte vermöge ihres Reichtums fid) ohne bie Hilfe anderer gugumenben imftande waren. Ein Mathis Eberler 3. B. — feine Mittel erlaubten eg — verfügte 1499, daß zu feinem und feiner Frau Seelen: heil drei Meſſen wöchentlich geleſen und nach jeder Meſſe auf den Gräbern vor dem Altar eine Miferere und eine Rol- lefte mit Weihwaſſerbeſprengung gefprochen werde.13) Be— Icheidenern Leuten war folches verjagt, aber durch bie Ver: bindung mit andern fonnte man aud) das Nötige für folche fegenbringenbe Meilen aufbringen. — Zu gleicher Zeit er: fährt man aus der Urkunde, von welcherlei Art die Leiftungen der Genofienfchaft beichaffen waren.
Offenbar beftand unfere YBruderfchaft aus ärmeren Leuten. Sie wird die ,ellenbe" genannt. So wurden aller- dings häufig aud) Bruderſchaften bezeichnet, bie der Unter⸗ ftügung landfahrender Perfonen, wie etwa von Pilgern, fid) widmeten. Allein bier in Baſel handelte es fi um eine Bruderfchaft ber Elenden, der fremden Landfahrer felbft. Hatte bod) diefes Landfahrervolk feit alter Zeit eine Grei- ftätte auf bem Kohlenberg, wo es Haus und Scheune befaß unb wo jährlich am Safobstag eine 3ufammenfunft ftattfanb, zu der bis auf eine Entfernung von 10 Meilen im Umkreis von Baſel jedes Mitglied ber Bruderſchaft bei drei Pfund Buße fid) einzufinden batte. Die Bruderſchaft hielt etwas auf ih. Wer unehrbarlich fid) aufführte, follte ausgeſchloſſen werden und die ungerechtfertigte Beſchimpfung eines Ge- noflen wurde gebüßt.!*)
13 R. Wadern. Mitteil. über Raym. Peraudi. a. a. O. ©. 178.
M) Urkunde von 1481.
252
Zu beachten ift, baB in bem oben erwähnten Schreiben von 1486 nur von bem Zwölfboten Jacobus bie Rede ift, bagegen ber im Ablaßbrief von 1517/18 erwähnte Rochus fehlt. Daraus iff zu fchließen, daß erft in den auf 1486 folgenden Seiten ber Peftheilige Rochus neben Jacobus zum Heiligen der DBruderfchaft iff erforen worden. Es mochte das in bem in diefer Epoche wiederholten Auftreten der Deft feinen Grund haben. 1488, 1494 und 1502 waren Opeftjabre.15)
Aus ben wohl befcheidenen, durch GintrittSgebübren unb regelmäßige 93eifteuern, aud) allfällige Gaben und Legate zufammenfließenden Mitteln waren die Ausgaben für die eigenen Altäre und deren Dienft — neben bem Zacobusaltar bejaß bie Bruderſchaft noch einen bem Thomas getveibten!?) — zu beftreiten.. Daneben aber batten die Genofien in Krankheits- und Zodesfällen den Brüdern oder Schweftern zu Hilfe zu fommen mit zwei Schillingen zu Gbr und Lob des b. Sacobus.!7) Das mag in Peftzeiten eine den armen Leuten keineswegs leichte Verpflichtung gewefen fein, daber es im Intereſſe ber Genoffenidjaft war, den Heiligen, der im Rufe ftanb, Peftkranten wunderbare Hilfe zu bringen, durch befondere Verehrung günftig zu flimmen.
Es ſcheint aber, daß deß ungeachtet bie Genoflenfchaft Mühe batte, ihren Verpflichtungen nadjgufommen. Wir dürfen nicht vergeflen, daß die großartige Umbaute und Er: weiterung des Gotteshaufes um die Wende des Jahr— hunderts auch außerordentlihe KRoften für die Wieder: berftellung der einzelnen Altäre bat mit fid) bringen müffen. Co verfiel man bier auf den Gedanken, in Rom um die Gewährung von bejonberem Ablaß eingufommen, moburd)
15) Ds V ©. 214 redet von ,j|terbenben Läuffen” im Jahre 1488 u. Groß, Chronik ©. 131 meldet, daß anno 1494 4000 u. ©. 136, daß 1502 5000 der Peſt erlegen feien. Siehe aud) Basl. Chron. IV ©. 86.
16) Urt. v. 1481, Bruderichaften.
1) Starb der Kranke, jo hatte bie Bruderjchaft, genas er, der Gejundgewordene dem Geber 1 Schilling zurüdzuvergüten.
253
viel Volks nicht nur zum Beſuch, fondern aud) zu Opfer: gaben für benjelben veranlaft würde.
Ob ber genannte Priefter Sob. Ringler, wie einft bet bernifche Stadtjchreiber Thüring Grifer unb ber Pfarrer von St. Theodor Dr. Surgant, felber in Rom gewejen, das Be— gebren durchzufegen, ift nicht berichtet, aber wohl möglich. Jedenfalls beweift der vorhandene Brief, daß die quu zum Ziel geführt bat.
Zwölf Rardinäle fanden fid) in biefem Falle bereit, ihre Vollmacht zu gunften ber Petenten auszunügen. Zu den zirta 70 farbindfen, die es gab, gehörten bie ſechs Biſchöfe ber Metropolitanprovinzg Rom, 50 Priefter, welche ben Sjauptfirden Roms, und 14 Diakone, welche ber römifchen Armenpflege vorftanden. Die obigen zwölf find wohl nicht zufällig beteiligt, — andere Male find es allerdings, wie wir gejeben haben, nur zehn oder dann wieder mehr, nämlich ſechzehn —; fie bildeten ohne Zweifel bie fpezielle Behörde, die für die Behandlung der Ablaßſachen geordnet war. Seit Clemens IX. (1689) gibt e$ jedenfalls eine offizielle con- gregatio indulgentiarum et reliquiarum, der bie Ablaß- und Reliquienangelegenbeiten unterftellt find.
Die im Brief genannten Rardinäle finden fid) alle in der „Hierarchia catholica mediiaevi“von Conrad Eubel ver- zeichnet. Es find bie vier Biſchöfe Raphael (Riario), 1 1521, von Oftia; Dominicus be Grimanis, T 1523, von Porto; Sranciscus (Soderinus), T 1523, von Praenefte ober Poaleftrina, und Franciscus (Remolinus), T 1518, von Albano; bie fünf Priefter: Thomas (Bakocz), T 1521, von San Martino ai Monti auf dem Esquilin; Leonardus (Großius be Rovere), F 1520, von San Pietro ad vincula, ber ebenfall auf bem Esquilin liegenden Kirche, mo bie fetten des Apoftels Petrus follen aufbewahrt fein unb wo das Denkmal Zulius II. mit der gewaltigen Mofesftatue fid) befindet; Petrus (de Uccoltis), FT 1523, von San Eufebio, einer [don im 5. Sabtbunbert erwähnten, feither allerdings
254
erneuerten Kirche, bie wenig mehr von ihrem einitigen Gba- rafter zeigt; Achilles (de Graßis), T 1523, von ©. Maria in Traftevere, b. b. im Stadtteil jenjeit8 der Tiber, nad) ber Sage [don im 3. Jahrhundert durch Papft Ealirt banf einem wunderbar entfprungenen Delquell gegründet; Laurentius (Duccius), T 1524, von ©. ©. quattro coronati, einem zwilchen bem Koloffeum und bem Lateran gelegenen Gottes- haus, das feinen Namen von vier Brüdern trägt, welche 304 unter Diofletian den Märtyrertod follen erlitten haben; endlich nod) drei von ben vierzehn Kardinaldialonen: 9 fferanber (Farneſius), T 1519, von ©. Euſtachio, einer ber älteften Diakonien Roms, 1196 von Cöleſtin IIT. reftauriert; Marcus (ornatus), T 1523, von ©. Maria in via fata, ebenfalls uralte römifche Diakonie, deren Kirche über bem Hochaltar ein angeblich von Lucas gemaltes Marienbild be- fit und bem Künftler famt bem Apoſtel Paulus einft zur Wohnung foll gedient haben, und endlih: Sigismundus (Gonaaga), tr 1525, von ©. Maria Novicella, welche wegen einer an gleicher Stelle geftanbenen ältern Kirche gewöhnlich Gbieja nuova genannt wird und von weitläufigen und prád- tigen Rloftergebäulichkeiten umgeben ift.!°)
Da fämtliche Rardinäle, jeder für fib, wie es in ihrer Vollmacht fand, 100 Tage Ablaß bewilligen, der Biſchof Chriftof von Lttenheim in Baſel nad) feinem Recht nod) 40 Sage hinzufügte, jo umfaßt bie Gnade des vorliegenden Driefs 1240 Tage. Der Ablaß iff bemnad, im Unterſchied von einem plenaren, ben zu erteilen allein bem Papft vor: behalten ift, ein befchränfter. Er bezieht fid) auf die zeitlichen Strafen der Sünde, wozu aud) bie €áuferung im Feofeuer zu zählen ift. Vorausgeſetzt iit Dabei aufrichtige Reue und Buße. Durch ſolche wird allerdings bie göttliche Ver— gebung, Sreifprehung unb ber Erlaß der ewigen Gtrafe bereits erlangt. Allein damit find einem die zeitlichen Strafen nicht erfpart. Der göttlichen Gerechtigkeit muB Genugtuung
18) Ernit Platner unb Ludw. Ulrihs. Beichreibg. Roms.
255
werden. Das ge[djiebt butd) Pönitenzien, fog. gute Werke, durch welche das begangene Unrecht ausgeglichen wird. Da fann nun aber die Kirche auf Grund des von ihr ange: nommenen unendlichen Schaßes ber Verdienfte Ehrifti, der Gottesmutter und aller Erwählten, deflen Verwaltung zu: nähft bem Papft als dem Nachfolger Detri zuiteht, ftell- vertretend einfteben, und das Fann fie tun ſowohl für Lebende als für Tote. Seit der Mitte des 15. Sabrbunberte ijf bie Ausdehnung des Ablaſſes auch auf Verftorbene in Aufnahme gefommen. Ausdrüdlich wird in unferm Brief bemerkt, daß es fid) nit um einen temporären Ablaß handelt, wie er offenbar im oben erwähnten Vernerbrief gewährt ift, ſondern um einen fortdauernd geltenden. Solche indulgentia per- petue galten für alle Zeiten, fofern fie wenigftens nicht wider- rufen wurden.
Auf bie weitere Gefchichte des Ablaſſes und. allen Miß— brauch, ber mit dem Ablafhandel verbunden gewefen, können wir ung bier nicht einlaffen. Es erübrigt uns nur nod), auf die in unferm Brief geftellten Forderungen Dingumeifen.
Perlangt wird für Erlangung des Ablaffes der an: dächtige 93e[ud) des betreffenden Altars an den Feſttagen des b. Zacobus am 25. Zuli und des Rochus am 16. Auguft, und an je einem Sonntag nad) ben Quatemberfaften im Sep- tember, Dezember und nad) dem Afchermittwoch. Schon zur Zeit Leos des Großen, der bie Quatemberfaften (von quator tempora) als eine auf göttlicher Eingebung berubenbe Anord- nung ber Apoſtel erklärt, galt das Zaften im eriten Monat eines jeden Vierteljahres an einem Mittwoch, Freitag unb Samstag als Pfliht. Der SQuatemberfafttag im September war ber Sag der Kreuzerhöhung, der 14. des Monats, im Dezember der Tag der b. Lucia, der Märtyrerin von Syrakus, b. b. ber 13. des Monats. Cpfingften war ebenfalls einer der Quatemberfafttage. Der fällt hinweg, weil in dem be- treffenden Quartal bie Sage des Zacobus und des Rochus in Betracht fommen. Die Andacht dauerte von der erften
256
bis zur zweiten Vefper, diefe mit eingeſchloſſen. Gewöhnlich ift bie Vefper ber um 6 Uhr beginnende Abendgottesdienft, der durch feine Zeremonien, Schriftleftionen, Gebete, Ge- länge bie Heilsgefchichte von der Schöpfung bis zur Geburt Jeſu ſymboliſch darftellt. In ben Klöftern aber nennt man Beipern bie ben Zeften Tags vorher vorausgehenden Feier: lichkeiten, und zwar Vesperae primae, eríte Veſpern, bie- jenigen, bie von nachmittags 3 Uhr bis Sonnenuntergang ftattfinben, und vesperae secundae die, welche nad) Sonnen: untergang beginnen. So find wohl aud) im Stift St. Leon: hard folche Veſpern, und zwar doppelte, zelebriert worden, und ber Ablaßſuchende batte dabei fid) zu beteiligen, Daneben aber aud) — darauf war es ja namentlich abgejehen — durch eine Geldgabe den Altarfchmud und -dienft zu unter- ftügen. Und jedesmal, wenn er es tat, und zwar Jahr für Sabt, gewann er nad) der früfffiden 3ujage des mit ben Sigeln fämtlicher zwölf NRardinäle und des Hochwürdigen Biſchofs befräftigten 93riefe8 feine 1240 Tage Nachlaß an den fchuldigen Pönitenzien. —
Co unevangelifch ung alle dieſe Vorftelungen erfcheinen und fo dankbar wir der Reformation find, bte uns aus deren Bannkreis berausgeführt bat, fo begreifen wir bod vom Standpunkt der mittefalterfid)en Frömmigkeit aus, was für eine Anziehungskraft und Wirkung auf den Geldbeutel ein mit folchen Heilsverfprechungen ausgeftatteter Altar haben mußte. Uber bier bieft die Wirkung nicht mehr lange an. Sie mußte ein Ende haben, jobalb man wieder den Chriftus des Evangeliums fannte und aus feiner Fülle ohne Entgelt Gnade um Gnade nahm, aud) bie Lehre vom Fegfeuer als eine fchriftwidrige menfchliche Erfindung erkannt hatte. Und das trat (don nach wenigen Zahren ein. —
Wir laſſen nun ben Tert des Briefes ſelbſt ſamt der Ueberſetzung folgen unb bitten, dabei bie hinten angefügte Abbildung ins Auge zu faſſen.
257 2
On ben Eden des YBlumengewindes bemetfen wir bie vier Evangeliftentiere. Oben in ber Mitte das Wappen ber St. Jacobsbruderſchaft, vier Mufcheln zwifchen ben ge- kreuzten Pilgerftäben, das Wappen, wie man es heute nod) in der St. €eonbarbsfird)e über bem Gborlettner gegen den Kichplag zu am Gewölbe gemalt findet. Ueber dem Wappen mit fegnenden Händen der Heilige; zur Seite in bet Weife, wie auf Q3otipbilbern die Stifter erfcheinen, in Iniender Stellung ein Beter, wohl als Repräfentant ber 93rubetidjaft. In einiger Entfernung, für den Beſchauer rechts, der Schild mit bem 23afelftab — und zwar dem von Dapft Zulius II. den Baslern zuerfannten goldenen, wie er fid) auch oben im mittleren Chorfenfter von St. Leon- batb findet. Gegenüber linf$ das Wappen Leos, des mediceifchen Papftes. Sm beruntergebenben Gewinde Links St. Zacobus, fenntlih an Muſchel und Pilgerftab, drunter der eine Rirchenpatron St. Leonhard, den Biſchofsſtab in ber einen, die Kette, fein Emblem, in der andern Hand, rechts St. Rochus, ber Peftheilige, bem ein Engel das franfe 93ein berührt, und drunter der zweite Rirchenpatron St. 93artfolo- mäus, in der einen Hand das Mefler, in der andern die fopf- baut tragend, als Hinweis darauf, bap ibm foll bei lebendigem Leib die Haut abgezogen worden fein. —
Schade, daß in der Reproduktion die zarte Farben: gebung, in der das Kleine Kunſtwerk ausgeführt ilt, ver- borgen bleibt.
Der Tert felber lautet:
Raphael Ostiensis Dominicus Portuensis Franciscus Penestrinus et Franciscus Albanensis epistoli, Thomas tituli sancti Martini in montibus Leonardus tituli sancti Petri ad vincula Petrus tituli sancti Eusebii Achilles tituli sancte Marie trans Tiberim et Laurentius tituli sanc- torum quatuor coronatorum presbyteri, Alexander sancti Eustachii Marcus sancte Marie in via lata ac Sigismundus sancte Marie nove diaconi, miseratione divina sacrosancte
208
Romane ecclesie cardinales universis et singulis Christi fidelibus presentes literas inspecturis salutem in domino sempiternam. Quanto frequentius fidelium mentes ad opera caritatis inducimus tanto salubrius animarum suarum saluti consulimus. Cupientes igitur ut altare sancti Jacobi situm in parrochiali ecclesia sancti Leonardi Basiliensis ad quod ut accepimus quedam laudabilis utriusque sexus Christi fidelium confraternitas in honorem sanctorum Jacobi et Rochi instituta existit congruis frequentetur honoribus et a Christi fidelibus jugiter veneretur ac in suis structuris et edificiis debite reparetur conservetur et manuteneatur nec non libris calicibus luminaribus ornamentis ecclesiasticis ac rebus aliis divino cultu inibi necessariis decenter munia- tur atque Christi fideles ipsi eo libentius devocionis causa confluant ad dictum altare et ad reparationem conserva- tionem manutentionem ac munitionem hujusmodo manus promptius porrigant adjutrices quo ex hoc ibidem dono celestis gratie uberius conspexerint se refectos, nos car- dinales prefati videlicet quilibet nostrum per se suppli- cationibus dilectorum nobis in Christo venerabilis viri Johannis Ringler presbyteri Basiliensis et dicte confraterni- tatis nobis super hoc humiliter porrectis inclinati de om- nipotentis dei misericordia ac beatorum Petri et Pauli apostolorum ejus auctoritate confisi omnibus et singulis utriusque sexus Christi fidelibus vere penitentibus et con- fessis qui dictum altare in singulis videlicet beati apostoli Jacobi majoris et sancti Rochi nec non trium dominicarum post tria tempora ex quatuor temporibus anni videlicet de septembris et decembris ac cinerum mensibus imme- diate sequentium festivitatibus et diebus a primis vesperis usque ad secundas vesperas inclusive devote visitaverint annuatim et ad premissa manus porrexerint adjutrices pro singulis festivitatibus seu diebus predictis quibus id fecerint centum dies de injunctis eis penitentiis misericorditer in domino relaxamus presentibus perpetuis futuris temporibus
259 *
duraturis. In quorum fidem literas nostras hujusmodi fieri nostrorumque sigillorum jussimus appensione communiri. Datum Rome in domibus nostris anno a nativitate domini millesimo quingentesimo decimo septimo die vero vigesima nona mensis novembris pontificatus sanctissimi in Christo patris et domini nostri Leonis divina providentia pape decimi anno quinto. —
Un das Dokument angeheftet, ber bifchöfliche Confens:
Christophorus dei et apostolice sedis gracia episcopus Basiliensis notum facimus universis quod nos ad omnes et singulas indulgencias per reverendissimos dominos sacrosancte Romane ecclesie cardinales in literis quibus presentes per transfixum sunt annexe descriptas et ad altare sancti Jacobi situm in parrochiali ecclesia sancti Leonardi civitatis nostre Basiliensis concessas nostros ut loci ordinarius consensum et assensum dandum duximus prout easdem confirmando et approbando ipsis consentimus et assentimus presentium per tenorem. Verum ut Christi fideles eo libentius devocionis causa confluant ad dictum altare quo majoribus donis et graciis videlicet spiritualibus conspexerint se refectos, nos de omnipotentis dei miseri- cordia necnon beatorum Petri et Pauli apostolorum ejus auctoritate confisi onmibus et singulis utriusque sexus hominibus vere penitentibus et confessis qui ea que in hujusmodi affixis literis contenta sunt fecerint totiens quotiens quadraginta dies criminalium peccatorum de in- junctis eis penitentiis in domino misericorditer relaxamus presentibus nostris literis perpetuis futuris temporibus dura- turis. In quorum testimonium sigillum nostrum per trans- fixum duximus appendendum sub anno domini millesimo quingentesimo decimo octavo die vero vicesima septima mensis junii, indictione sexta.
fleberfegung. Die Bifchöfe Raphael von Oftia, Oominifus von Porto, Franzistus von Pränefte und Sranzistus von Albano; bie Priefter Thomas von St. Martin in Montibus, Leonhard von
260
St. Peter ab vinculas, Petrus von St. Eufebius, Achilles von St. Maria, jenfeits des Tiber und Laurentius von den Vier heiligen Gefrönten; bie Dialone Alerander von St. Guftadjius, Markus von St. Maria in via lata und Sigismund von St. Maria nuova, bant ber göttlichen Barmherzigkeit Rardinäle ber heil. römifchen Kirche, wünfchen ber Gefamtheit ber Chriftusgläubigen, wie allen Einzelnen, bie von biefem Brief Einficht nehmen, ewiges Heil.
Oe Häufiger wir bie Gedanken ber Gläubigen zu Liebeswerfen anleiten, um fo heilfamer beraten wir fie zum Beften ihrer Geelen. Demgemäß ift unfer Anliegen, baB ber Altar des 5. Sacobug, in ber Gemeinbefirde von St. Leonhard in Bafel befindlich, für welchen laut Bericht eine Löbliche Bruderfchaft von Chriftusgläubigen beiderlei Gefchlehts, geftiftet zu Ehren des Heiligen Jakobus und Rochus, beftebt, mit gebührenden Ehrenbezeugungen befucht und von ben Chriftusgläubigen ohne Unterlaß verehrt, und, was feinen Unterhalt anbetrifft, geziemend repariert, bewahrt und unterhalten, aud) mit den nötigen Büchern, Relchen, Leuchtern und kirchlichen Gdymudgegen- ftänden würdig ausgeftattet werde. Und damit bie Chriftusgläubigen felbft umfo lieber andachtshalber zu befagtem Altar fid) herbeifinden und umfo bereitwilliger zu Unterhalt unb Ausftattung besfelben Sanb- reidjung tun, als fie fid) durch ber himmlifchen Gnade Gefchent befto reichlicher entfchädigt fehen, gewähren wir vorgenannte Rardinäle, nämlich jeder von uns für fi, ben Bitten unferer Geliebten in Chrifto, des ebrtotirbigen Herrn Sob. Ringler, Priefters von Bafel, unb der erwähnten Brüderfchaft entfprechend, im Vertrauen auf des allmächtigen Gottes Barmherzigteit und in Vollmacht feiner feligen Apoftel Petrus und Paulus ber Gefamtheit der Chriftusgläubigen wie den Einzelnen, bie in aufrichtiger Buße Beichte ablegen — fofern fie den genannten Altar an den jeweiligen Feften und Sagen des fe- ligen Apoſtels Jacobus des ältern und des heiligen Rochus unb Dreier Sonntage, welche unmittelbar nad) breien von ben vier Quatember- faften, nämlich denen vom September und Dezember unb von Denen des Afchermittwochmonats folgen, von ber erften bi$ zu der zweiten Veſper, biefe eingefchloffen, andächtig Sabr für Jahr befuchen und zu bem Obenerwähnten hilfreiche Hand bieten — für die einzelnen Grefte unb vorbezeichneten Tage, an denen fie folches tun, batmberaig im Herrn hundert Tage Ablaß von den ihnen auferlegten Büßungen, unb Das fol für alle Seiten gelten. Zu beffen Gültigkeit haben wir unfern Brief burd) Anhängen unjerer Siegel zu beglaubigen befohlen. Ge- geben zu Rom in unferm Haufe anno 1517 nad) Gor. Geburt, ben 29ten November; im 15ten Sabr des heiligen Pontifilats unferes Baters und Herrn in Chrifto, Des Herrn Leo, Pabftes nad) der Vorſehung Gottes. —
Biſchöfl. Eonfens.
Wir, Chriftophorus, durch Gottes und des apoftolifchen Stuhles Gnaben Bifchof zu Bafel, tun aller Welt funb, daß wir zu allen
261
unb ben einzelnen AUbläffen, welche Durch bie verehrungswürdigen Rardinäle ber heiligen römifchen Kirche in bem Brief, bem Gegen- wärtiges angeheftet ift, befchrieben und bem in ber Parochiallirche Gf. Leonhard in Bafel gelegenen Altar des heil. Sacobus gewährt find, als Ordinarius des Orts unjern Gonfenà unb Affens zu geben verfügt baben, wie wir in Beftätigung unb Billigung berfelben es burd) den Inhalt des Gegenwärtigen ausfprechen. Sn ber Tat, damit bie Ehriftusgläubigen umfo lieber verehrungshalber zum be- fagten Altar berzuftrömen, als fie mit fo viel größeren geiftlichen Gaben und Gnaben ftd) entjchädigt finden, erfaffen wir, von Gottes, des Allmächtigen, unb ber jeligen Apoftel Petrus und Paulus Gnaden mit ber Vollmacht Dazu betraut, fämtlichen wie ben ein- zelnen Menfchen beiderlei Gefchlechts, bie in wahrhafter Buße Beichte ablegen und Das, was in bem angefügten Brief enthalten ijt, fun, ebenfo oft vierzig Tage von ben ihnen für friminelle Vergehen auf- erlegten Büßungen gnädig im Herrn Durch unjern Brief, ber für alle Zufunft Geltung haben foll. Deffen zum Zeugnis haben wir verfügt, baB unfer Siegel angehängt werde. Im Sabre des Herrn 1518 am 27 ften des Zunimonats, in der fechften Sinbiftion. —
262
Aus den Tagen der franzöfifchen Revolution und der Helvetif.
Berichte der Dor(teber der Brüder-Sosietät in Baſel 1789—1803.
Don Paul Wernle
Sm Folgenden fol aus den Berichten der Basler Sozietätsvorftehber Graßmann und Bridenftein nad Herrnhut alles, was bie politifchen Vorgänge der bewegten Seit von 1789—1803 berührt, im Auszug dargeboten werden mit Slebergehung des Privaten und Sntimen, das der Ge- fhichte der 93rüber-Cogietát in Baſel vorbehalten bleiben muß. Die 93asler Sozietät war in den Sabren 1739 unb 1740 begründet worden innerhalb der Landeskirche, im Ein- verftändnis mit einzelnen Pfarrern, zur Pflege eines engeren Gemeinfchaftslebens nad) ben Spealen ber Herrnhuter. War fie in ihrer erften Zeit von ber fchwärmerifchen Erregung, welche damals bie 93rübergemeine wie eine Verfuchung über: fallen batte, nicht unberührt geblieben und batte fie deshalb zu Zeiten gegenüber ber Yasler Obrigkeit feine leichte Pofi- fion, fo nahm aud) fie im Lauf einiger Jahrzehnte an bet allgemeinen Ernüchterung und inneren 93efeftigung der beutfden Q3rüber-S[nitüt teil und batte fid) zu Stadt und Landfehaft nicht nur Duldung, fondern aud) Anſehen und Anhang erworben. Bei Beginn der franzöfifchen Revolution zählte man in der Stadt Yafel 330 erwachfene Sozietät3mit- olieder und dazu gegen 50 Kinder, auf der Landichaft 598 Brüder und Schweftern, im ganzen alfo 928 Mitglieder; die Zahl fteigt in ben nádjften Sabren big gegen 1000, eingerechnet
263
Heine Gruppen in Mülhaufen unb in Weil. Auf der 93asler Landfhaft hatten fid in Binningen und DBottmingen, in Biel-Benken, in Muttenz und in Pratteln, in Lieftal unb Laufen, in Bubendorf, 3iefen und Arboldswil, in Otüm- fingen, in Diepflingen, endlich in Riehen, fog. „Verbundene Häuflein” gebildet, bie unter der Leitung von Caien-Gebilfen und Gebilfinnen ftanben und regelmäßig von ben Vorftehern in der Stadt befucht zu werden pflegten. Die Gebilfen hatten dann wieder mit den Vorftehern apart ihre Gebilfengufam- menfünfte. In einzelnen Gemeinden beteiligten fid) herrn⸗ butifch gefinnte Pfarrer an der Arbeit unter den Brüdern; eine Reihe von ihnen trat 1785 zu einer Predigerfonferenz zufammen, die in Herrnhut ihren geiftigen Mittelpunkt fab und dorthin ihre jährlichen 93eridbfe einfanbte. Es waren Andreas Battier, Pfarrer in Binningen, feit 1790 in Bafel zu St. Leonhard (11793), Simon Eglinger, Pfarrer in Laufen, Alerander Preiswert Adjunkt in Bubendorf, feit 1797 Pfarrer in Rümlingen, Eman. Raillard, damals Kandidat der Theologie, von 1790 an Pfarrer in Binningen; im folgenden Jahr ſchloß fid) Nic. Sfelin, der Pfarrer in Rümlingen (feit 1797 in Winter: fingen) an, 1789 aud) Andreas Edlin, Pfarer in Dltingen; in den Mer Sabren traten diefer Herrnhuter Oprebigerfonfereng aud) zwei ältere Basler Stadt: Pfarrer, Gob. Griebr. Meyenrod zu St. Alban unb Sob. Rud. Burckhardt zu St. Peter bei, melde beide ein Jahrzehnt vorher fid) an der Gründung ber fog. Chriftentums- gefellfchaft beteiligt hatten, nun aber gerne aud) bie Gemein- Ihaft mit den Herrnhutern auffuchten. Ohne der Prediger: fonferenz beizutreten, zählte in Lieftal ber alte Dekan Zwinger zu den treueflen Greunben der Sozietät. So wertvoll aber auch der Beitritt unb die Mitarbeit mancher Pfarrer den Herrnhutern fein mochte, fie änderten nichts an dem entihiedenen Qaiendjarafter der brüderifchen Gemein- ſchaft. Daß bier Laien, vornebme wie einfache Leute, in
264
mannigfaltigen Gottesdienften und ernfter jeelforgerlicher Ausiprahe fid) zufammenfanden wie eine größere Familie unb fid) wirklich als Brüder und Schweftern untereinander fühlten in fráftiger Gemeinfchaftlichkeit, wie bie Staatsfirche fie nicht gab und geben fonnte, das war der hbauptjächliche Anziehungspunft. So beftand auch die „Heine Gefellichaft”, welche bie Basler Sozietät gefchäftlich leitete, aus lauter Laien, und die Vorfteher, bie von Herrnhut aus nad) Baſel geihidt wurden und das gottesdienftliche Leben dirigierten, waren ebenfalls Laien deuticher Herkunft, von 1787—1796 Sobann Chrifian Graßmann, von 1796—1816 Joh. Gbriftof Bridenftein aus Magdeburg. Dieſe deutſchen Vorſteher hätten nad) ber dem Buchſtaben nad) geltenden Kirchenordnung eigentlich in Baſel nicht geduldet werden dürfen, denn die Rirchenordnung erlaubte wohl reli- siöfe 3ujammenfünfte privater Art, jedoch nicht unter fremder Leitung. Seit ben letten Jahrzehnten des 18. Sahrhunderts hatten fie jedoch inoffiziell Duldung erhalten; fie machten fura nad) ihrer Ankunft dem Antiftes und den Häuptern Beſuch unb legitimierten fid) dabei. Won diefen beutiden Vorftehern find bie jährlichen ober auch halbjährlihen 93erid)te nad) Herrnhut gefchrieben, aus denen die folgenden Mitteilungen ftammen!); gewöhnlich wurden bie wichtigften Ereignifle tage- budjattig notiert. Man muß es bei der Lektüre im Auge behalten, daß nicht Stadtbasler, fondern Ausländer über die unjre Stadt fo nahe angehenden Greignifle berichten.
Zur Würdigung des Inhalts aber genüge eine einzige Bemerkung. Das Bedeutſame diefer Berichte liegt vor allem darin, baB fie ung Runde geben von bem ftórenben unb ver- wirrenden Einbruch der Politik in eine gänzlich unpolitifche, rein auf die Snmerlichkeit der Seele konzentrierte Gemein: ſchaft. Man muß fid) daran erinnern, bap den Herrnhutern
1) Es jet aud) bier dem Borfteher des Archivs ber Brüder- unität in SerrnDut, Herrn Dr. Sof. Müller, für die Vermittlung biefer Berichte ber wärmfte Danf ausgeiproden.
265
allenthalben noch aus ber Zeit des Grafen unb von ibm felbit jedes Kritifieren der Obrigkeit, fo gut als der Kirche, in deren Bereich fie fid) aufbielten, ftreng verboten war. Diefes Ver- bot war nicht bloß Klugheit. Es war innere Logik, bap, wer gang in der Liebe zum Heiland und zur Gemeine aufging, nicht Zeit batte zur Kritik ober zur Reform der Außenwelt und durch alle Sorgen um Welt und weltliche Dinge nur abgelenft werden fonnte von dem Einen, was not fat. Nach diefen Prinzipien hätten fid) bie Herrnhutifchen Brüder und Schweftern überall rein indifferent zu der großen Revolutions- bewegung verhalten follen; fie hätten bann durch diefe In— differenz zur Unterftügung des 93eftebenben beigetragen. Die folgenden Erzählungen beweifen aber, wie mächtig der Strom bet Revolutions- und Kriegsereigniffe auch das Heine enge Leben ber Herrnhutifchen Kreife ergriff. Gar viele unter ihnen wurden fo in das Welttreiben verflochten, daß fie der Gemeinfhaft dauernd oder bod) vorübergehend den Rüden febrten. Die Geſchwiſter in der Stadt gingen von 1797 auf 1799 von 293 Perfonen auf 278 zurüd, die Mitglieder auf ber Landfchaft in berfelben Zeit gar von 578 auf 465 Per- fonen. on 1799 fteigt bie Mitgliederzahl dann wieder [angjam. Die Krifis wurde fchliehlich überitanben und e$ folgte ihr im nächiten Zahrzehnt eine Periode immer mad) fenden Einfluffes der Herrnhuter auf bie Basler Landes: fire. Das Ganze dient zur Slluftration, wie diefe Kräfte des alten Chriftentums burd) die Revolution zwar fchwer erfchüttert, aber nicht überwunden worden find.
Aus Berihten GraBbmanns. 1789.
Den 20. Zuli trafen der Eöniglich franzöfifche Minifter Oteder wie auch nod) mehrere Herren von Paris auf ihrer Retirade bier ein, bie fi) einige Seit mit obrigfeitlicher 23e- willigung bier aufbielten. In diefen Sagen liefen die trau- rigſten und erfchredlichften Nachrichten von bem in Paris
266
und bem ganzen Königreich Frankreich entftanbenen Tumult und Aufruhr und von ben Verheerungen der Bauern in bem benachbarten Elfaß ein. In ben legten Sagen Zuli waren febr viel vertriebene Juden aus dem Eljaß mit Weib und Kindern hieher geflüchtet, denen bann die hiefige Obrigkeit unb bie Bürger einige Wochen unb bis fie wieder ficher an ihre Orte gurüdfebren fonnten, viel leiblihe Wohltaten hatten zufließen laſſen. Beim Abzug ließ ein Rabbiner ein mwohlabgefaßtes Lob- unb Dankgebet im Drud erfcheinen unb dasfelbe der hiefigen Bürgerfchaft hinterlafien: , Gebet, welches ein jeder Vorfinger an jedem heiligen Sabbath nad) bem Gebet für den König, fo anfängt: Du Herr gibft Heil den fünigen (Pf. 114,10) . . . für bie Wohlfahrt der (0b- [iden Stadt Bafel und ihrer Angehörigen mit Andacht beten fon“.
30. Zuli. Tod des regierenden Q3ürgermeifters Mi sb, der nod) Tags zuvor dem geheimen Kriegsrat beigewohnt batte und bei gegenwärtiger unruhiger Zeit mit vielem Eifer und Klugheit die Wohlfahrt und Sicherheit der Stadt unb Landſchaft 93afel beraten hatte.
1790.
(Sommer.) Auf bem Rüdweg Gehilfengefellfhaft in Lieftal. Zn derfelben wird angezogen, daß verfchiedene von ben biefigen Bürgern mißvergnügt find und in gewiflen Punkten von der Obrigkeit bie Reftitution ihrer ehemaligen Rechte begehren. Man nahm die Abrede, bap bie Gefell- fchaftshalter ihre Brüder in Liebe warnen möchten, fid) nicht mit dergleihen Dingen zu befaflen, fonbern fid) vielmehr fti und genügſam zu beweifen und vor jedermann zu zeigen, wes Geiftes Rinder fie find.
1791.
(Sanuar.) In der erften Sitzung der „Heinen Gefell- ſchaft“ bittet Graßmann die Brüder, mehr den Heiland und
267
die Angelegenheiten der Sozietät im Auge zu halten und nicht, wie ſchon gefchehen, politifche Begebenheiten und Neuigkeiten anzuziehen. |
9. Februar. Im bielen Sagen wurden wegen vor: banbener Unruhen im Bifchöflichen auf weife Vorkehrung unferer I. Obrigkeit fowohl die Stadt als aud) bie Grenzen des Kantons mit binlänglicher Landmiliz beſetzt und bie Stadttore und Rheingrenzen mit doppelten Bürgerwacen.
Den 18. März paffierten burd) unfern Kanton dicht bei den Stadtgräben vorbei 350 Mann Eaiferliche Infanterie unb 50 Mann Kavallerie, nebft Bagagewagen ins Bilchöf- fide nad Pruntrut in aller Stille und Ordnung Da man bei diefer feltenen 93egebenbett unangenehme Auftritte befürchtete und im Gegenteil nichts Bedenkliches darauf er- folgte, jo gereichte uns die heutige Zufage in der Lofung: „Fürchte bid) nicht, ich bin dein Schild und dein febr großer Lohn”, zu befonderem Troft.
1792.
Den 22. Zebruar geben in der Stadt bie tollen und elenben Faftnachtsfreuden an, wozu heuer nod) das Bacchus— feft und der fiefertang fam. Die Geichwifter werden ermabnt, vor der Welt zu zeigen, was für ein großes OXtiBfallen fie an fofd)en ausfchweifenden Sreuden und beidnifchen Gemobn- heiten haben. Manche ließen fid) aber bod) von der Oteu- gierde hinreißen und find nicht unbermunbet bavongefommen. Eine verheiratete Schwefter, welcher meine Grau eine Grin- nerung deswegen gab, bap fie ihre Tochter, welche unfere KRinderverfammlung befucht, erpreß an einen fofd)en Ort geführt, wo fie die in einen wilden Mann oder Vogel Greif oder Löwen verkleideten Perſonen befchauen konnte, wurde empfindlich barüber und ift nachher aus unferer Gemeinschaft abgetreten.
2.—6. Mai. WUufforderung an alle Sozietätsgefchwifter in den Chorverfammlungen aus Anlaf des Rriegsausbruchs
268
zwiſchen Granfreid) und Defterreich zu beten um Bewahrung vor Leichtfinn, Parteigeift und Fleifchestuft und um Gottes Beiftand für die Obrigkeit, bie zur Cidjerftellung der Stadt und Grenzen alle Anftalten trifft, um der fünftig zu befürch- tenden Raubfuht und Mordbrennerei ber Stanzofen zu wehren. Die Repräfentanten von Zürich und Luzern er- feinen in Baſel für ein Vierteljahr, um mit der Basler Obrigkeit das Beſte der Schweiz zu beraten.
3. Suni. Der erffe Zuzug aus dem Kanton Zürich rüdt ein mit Ober: und Untergewehr, einigen Kanonen und Pulverwagen in gebóriger Stille und Ordnung Etwa in Zeit von 8—10 Tagen war der ganze bewaffnete Zuzug von 1375 Mann aus der ganzen Schweiz beifammen; bie eine Hälfte von 700 Mann wurde in die Stadtquartiere, bie andern in bie benachbarten Dorfichaften einquartiert, und alle 14 Sage wechfeln diefe mit ber Ginquartierung. Es war ein feltener rührender Anblid, diefe unfere Eidgenofjen mit [o frobem Mut zu unferm Schuße berbeifommen zu fehen, unb jedermann machte fih’s zur Pflicht, ihnen mit freundlicher Begeanung und liebreiher Bewirtung auborgufommen.
6. September. Dank-, Buß: und Bettag. Beſuch in Lieftal und Laufen. Diele Hagten fid) darüber an, bap fie in biefen Seiten, da bald täglich Truppen bier durd)- marfchierten und einquartiert würden, viel Zerftreuung hätten unb fid) ihr Gemüt fo leicht unb zu viel vom Kriegswefen ein- nehmen ließen, daß fie barüber den Genuß am Heiland ver- [óren. Doch wär der Heiland fo treu und brächte fie wieder in die Stille und gäbe es ihnen zu erfahren, daß nur die Stunden felig find, bie fie im Umgang mit ihm zubringen.
Den 16. September hatte fid) in der ganzen Stadt ein allgemeines Gerücht verbreitet, daß der faijerfide General Gfterbaft von Rheinfelden ber in diefer Nacht über ben Schweizerboden bei Augft ins Elfaß einfallen würde mit 20 000 Mann Infanterie und weil man deswegen eine Plün- derung befürchtete, fo padten viele Kaufleute in Eile ihre
269
Waren und transportierten fie zur Sicherheit tiefer in bie Schweiz. Da es aber diesmal gottlob nur bei einem blinden Lärm und Cdreden geblieben, unb man betnad) vernommen bat, daß fid) bie Eaiferlihen Truppen Tags darauf weiter am Rhein hinunter nad) 93reifad) gezogen, fo beftätigte fid) an uns die Wahrheit herrlich: baB, menn bie Not am arößten, Gott mit feiner Hilfe am nádften.
Am 2. Dezember war in einer Gefellfdjaff von Brüdern bie Rede davon, baB man bei gegenmürtigen unrubigen Seiten in Gefahr fei, fid) zu tief ing Politifche einzulaffen, und vom Parteigeift hingeriffen zu werden, fo daß man dadurch) Schaden an feiner Seele nehmen und gleichgültig gegen bie Zerfammlungen und brüderliche Anfaffung werden koͤnne. Diefe Anmerkung gab Anlaß zu offenberaigen Aeußerungen. Ein Bruder fagte: „ich muß e8 zu meiner Schande befennen, bap id) mid) ganz troden und unempfindlich fühle und id) mich oft über bie Veftrafung des heiligen Geiftes in meinem Herzen weggefett habe. Ruhig bin ich nicht babet, befonders wenn ich zurüddenfe, wie felig id) fonft meine Zeit im Um— gang mit dem Heiland zugebracht habe unb wie falt id) gegen alles andere gewefen bin." Gin anderer fagte: „Sch bin [o zerftreut in meinem Gemüt, daß id) wenig unb manche Sage gat nicht an den Heiland denke, ja fogar der Mordgeift ift in mir tege geworden, als ich bie fchredlichen und unmenfchlichen Geihichten, bie in Frankreich vorgeben, in den Zeitungen gelefen, fo daß id) duBerff erbittert in meinem Geifte bin, wenn id) nur Sranzofen fehe. Ich habe mir zwar vorgenom- men, feine Zeitungen mehr zu halten, aber auch das hilft mir nichts, indem id) als Gaftwirt bod) im Fall bin, allerlei anzu- hören von meinen Gäften, denen ich mich nicht wohl entziehen fann. Es bleibt mir daher nichts übrig, al8 mich in bie Fürbitte meiner lieben Brüder zu empfehlen, daß fid) der Heiland über mid) erbarme und mid in Gnaben vor allem Schaden bewahre.“
270
1793.
1. Januar. Gürbitfe für alle Anfchläge unb Sleber- legungen unferer lieben Obrigkeit und ber von ung geſchätzten Repräfentanten, bie zum Beſten des ganzen Schweizerlandes gefaßt werden.
Am 17. März wurden in ben 4 Hauptlirchen bie Abend⸗ predigten ausgefeßt, weil eine Kriegsübung follte vorgenom- men werden. Es wurde fodann um 2 Uhr Generalmar[d) gefchlagen. Alle Bürger, Schirmverwandte und fremde Hand- werksgeſellen eilten alsbald auf ihren Sammelplatz und in einer Viertelftunde war die ganze Stadt unter den Waffen. Man nahm bei jedem Bataillon ben namentlichen Aufruf vor, um fid dadurch zu Überzeugen, ob alle erforderlichen Per⸗ fonen zugegen wären. Sowohl die obrigfeitlid)en Perfonen famt den Herren Repräfentanten als aud) der fämtliche Kriegsrat nahmen alle Pläge in Augenfchein und bezeugten über die verfügten Anſtalten völlige Zufriedenheit. Um 7 Uhr abends wurde bann die Retraite gefchlagen.
22. März. Benten, auf der einen Geite ans Biſchöf⸗- liche, auf der andern ans GljaB grengenb, von denen beiden Ländern bie Sranzofen die Grenzen ftatf befegt halten, ift bis daher durch Gottes Güte und Wache von Schreden unb Unfug bewahrt worden.
4. 9fuguft. Beſuch in Lieftal, wo mande zu ihrem Schaden der Neugierde nach politifchen Begebenheiten zu viel eingeräumt batten. In Muttenz ernfter Verſuch neuer Auffaffung. In Binningen und DBottmingen, bier sroßes Lob.
Der 17. September war bier ein unrubiger Tag, indem bie Nachricht einging, bap die Sranzofen oberhalb der Zeitung $üningen und längs bem jenfeitigen Rheinufer im 23e- Griff wären, um irgendwo auf ber markgräflichen Seite an- aufabren. Es wurde dann vormittags um 10 Uhr General: marſch geihlagen und die nötige Zeranftaltung zur Be—
271
fóü&ung ber Stadt getroffen. Indeſſen eilten bie in ben deutfhen Grenzorten einquartierten deutfhen Truppen in aller Gefchwindigfeit herbei, fhoffen ihre (— der Franzofen) mit Mannfchaft befeste und mit 93alfen und Brettern über- bauten Schiffe zufammen, ba bann viele entweder getötet ober gefangen wurden oder erjoffen und nur wenige fid) durch Schwimmen retten konnten. Nach vollbradbter glüdlicher Aktion und bergeftellter Ruhe wurde bann nachmittags um 3 Uhr Retraite gefchlagen, und wir banften Gott in unferm Herzen für feine gnädige Bewahrung und Abwendung alles zu befürdhtenden Unglücks. 1794.
Den 10. März vernahm man, daß geftern im Großen Rat ein Schreiben von Bern behandelt worden, darin gemeldet wird: daß dortige gnábige und weile Herren in bero Landen einen allgemeinen Bettag angelegt und zwar ben 16. März und biegu alle Stände ber lieben Eidgenoflen- ſchaft, auch bie katholifchen, einladen, um Gott gemeinfchaft- lid) wegen ben abgewandten Gefahren zu danken, um fernere Schonung zu bitten, aud) den Zerfall der Religion zu be- bergigen. Unfere G. W. $5. und Oberen hätten nun folchen genehmigt und viel Schönes darüber geäußert.
16. März. Allgemeiner 93ettag in der Stadt mit drei Predigten. Wir Hatten große Urſache, Gott von Herzen zu danken für unfere liebe Obrigkeit, indem fie viele An— gelegenbeit zeigte, baB der heutige 93ettag im Segen begangen werden möchte. Beſonders einer von unfern teuern Regenten war darum bemüht, indem er an verfchiedene Orte auf dem Lande eine zum Dank gegen Gott erwedliche Piece: Suruf an die freien Helvetier, austeilen ließ. Ueberhaupt machte es uns einen lieblichen Eindrud, bap fi) bie Landespäter aller Kantone vor Gott bemütigten und der fummerpollen Sorge ungeachtet, bie fie bisher für das Land getragen, bod) nicht fih, ihrer Klugheit und Borfichtigkeit, fondern Gott allein bie Ehre gaben.
272
1795.
f[ngebeure Rälte in der Stadt, bis 31 Grab unter Null am 27. Sanuar. Vielen erfrieren ihre vorrätigen Gemüfe. Es wird der Anlaß zu befonderem Gebet, wobei das Danken nicht ver- geflen wird. Bei der ftrengen Kälte legten manche bemittelte Bürger aus Baſel ihre Teilnahme und Wohltun Tieblich zu- tage. Man batte bie Herren, bie Pferde haben, faum auf- gefordert, ben Armen das Holz, fo ihnen bie Obrigkeit wohlfeil gibt, mit ihren Equipagen zu fahren, fogleich rollten bie ftofaen Pferde und Wagen vor bie Häufer der Armen, ihnen Teuerung gratis zuzuführen. Und fo konnte man manche Züge der Wohltätigkeit bemerken, indem aud) in den fogenannten Räm- merlein Cub[friptionen und Kollekten für bie Armen ge- Tchahen, und dies fam aud) einigen unferer armen Gefchwifter zugute.
27. Sanuar. Nachricht von der Vereinigung Hollands mit Granfreidj. Sorge um die Gemeine in 3epft. Heute wurde der bier angefommene franzöfifhe Ambafladeur Bar- thelemy mit der großen Zeierlichkeit nad) dem höchften Rang fomplimentiert; er, wie aud) ber preußifhe Minifter Golz hatten ihre Grebitipen ausgewechſelt. Des Herrn Stadtfchreiber Och ſens Anrede an Serm Varthelemy, ba er ihn mit dem ogefamten heimlichen Rat fomplimentierte, war febr erbaben und zierlih, bie franzöfiihe Republik iit darin förmlich anerkannt worden. Des Ambaffadeurs Ant- wort war fura, fimpel und freundfchaftlich: in beiden war bie Rede vom Frieden.
11. März. Nachricht von Lieftal, daß geftern Nacht in bafiger Kirche das Gewölbe, worinnen die Gelder ber Pflegereien aufbewahrt werden, erbrochen und jämtliches Geld, 1009 Louis d'Or, geftoblen worden ijt. Am darauf: folgenden Tag bat unfer lieber Bruder Oefan Zwinger in feiner Predigt ben in der Lieftaler Kirche begangenen Dieb- ſtahl überaus herzdurchſchneidend angezogen und u. a. gejagt:
273 1
Es fei ibm dadurch eine Wunde gefchlagen worden, bie in feinem Leben nie mehr ganz geheilt werden könne, denn fie werde ihm jedesmal, wenn er die foangeltreppe Dinauf- ober berabfteigen werde, wieder aufgerifjen werden, weil ibm da bie forcierte Thüre in die Augen falle. Er wünfche nie- mandem nichts Lebles; den Thätern aber wünfche er, daß fie in ihrem Gewiſſen nie Ruhe nod) Raſt finden mögen, bis fie bie begangene teuflifche Höllentat befennen, uf. In furzer Zeit darauf wurden bie Kirchenräuber, bie mit ihrem Anbang 7 Perfonen ausmachten, entdedt, bie Haupttäter aber waren der Bürger und Ziegler Strübi in ieftal und ein fremder Töpfergefelle aus dem Raiferlichen, der in Lieftal in Arbeit ftanb. Diefelben find bann auf hohen obrigfeitlichen Befehl gefänglich eingezogen und zeitlebens in das biefige Zuchthaus verbannt worden.
Den 5. April als am heiligen Oftertage wurde bier der Sriede zwifchen der franzöfifhen Otepublif und dem König von Preußen geſchloſſen. Wir banften Gott, baB nun ber erfte Schritt zum Friedenmachen gefcheben.
Der Bericht von 1796 ift nicht vorhanden.
Berichte Sob. Saf. Bridenfteins. 1797.
1. Februar. Nachdem wir ſchon 3 Nächte wegen des erfkaunlichen Ranonierens ber Franzoſen aus der Zeitung $üningen auf bie Eaiferlihen Arbeiter in den Lauf: gräben nicht gefchlafen hatten, indem nicht nur unfere Senfter in einer immerwährenden Erfchütterung blieben — fondern aud) Durch das Peloton euer, bei denen 3- bis 4maligen Ausfällen ber Grangojen in einer Nacht und beftändigem Leuchtkugelwerfen ganz erleuchtet waren, fo fam heute eine Kapitulation zuftande, wodurch fid) des Krieges Schauplaß ganz von unfern Grenzen 30g, wofür wir unferm lieben Herrn mit gerührten Herzen banften und es al8 einen neuen Be—
274
weis feiner gnábigen Aufficht tiber unfere Stadt unb Land annahmen. |
Den 6. März waren bier die fogenannten jährlichen £Im- züge zum Andenken des Schweizer Yundes, wobei diesmal befonders viel Unordnung und Ausgelaſſenheit vorfam.; fie waren feit Anfang des Krieges von der Obrigkeit verboten gemejen, baber bie Sache denen Leuten je6t um fo mehr lieb und neu war. Uns fam fie völlig heidnifch vor. Schon feit 14 Sagen war vom Morgen bis in bie fpäte Nacht in ber ganzen Stadt und auf allen Gaffen nichts als trommeln und Ihießen zu hören, Rinder von 5, 6 Sabren gingen trüpplein- weis zu zehn, zwölfen, ein jedes mit einer fo großen Srommel als e$ nur tragen konnte, Straß auf, Straß ab, unb größere ſchoſſen Dabei aus Heinen Büchfen und Piftolen, fodaß jchredhafte Gemtitber fid) faum aus dem Haufe zu gehen getrauten; zwifchen inne famen bann die Umzüge ſelbſt, mit unzähligen Trommeln von Großen und Kleinen begleitet, bald der Wilhelm Doll (T) mit feinem Heinen Sohn in alt-- fhweizerifcher Tracht, erfterer mit einem Bogen und Pfeil unb lebterer mit einem Apfel auf dem Kopf, dann wieder einige alte Schweizer mit Gtrettfofben und Spießen, bald von denen zwei verfleideten Thieren, der Löwe und Vogel Greif, hernad der wilde Mann, unb fo ging'$ den ganzen Tag; heute nun, da das traurige Feft am berrlichften war, wurde fhon 4 hr morgens dazu mit [depen und trommeln in finfterer Nacht gemedt, bie ganze Stadt war in Alarm und nun famen die Umzüge und unzählige Gaufeleien, unter anderem der Tod, von 12 geharnifchten Männern feftgebalten, auf einem Wagen mit 4 Ochfen be[pannt, nebft noch einigen Wagen fo ganz Heiner in Schweizertracht gekleideter Kinder noch zum leßtenmal durch jede Straße, und nachher waren für groß und Klein angeftellte Bälle bis den andern Morgen; ben andern Tag konnten wir uns endlich mal wieder befinnen unb gleihfam von unferer Betäubung erholen, e8 war uns, als wenn nad) einer anhaltenden größten Windsbraut, wofür
275 18°
man weder hören nod) feben fann, nun eine gänzlihe Wind- ſtille herrſcht.
Das traurigſte war noch dabei, daß der Mann, ſo in den Vogel Greif verkleidet war, durch einen Fall ſich den Daumen ſehr verſtauchte und weil er nichts darauf gab, kam der Brand dazu und ſchon den andern Tag gegen Abend
war er tot. Ein ähnliches ſoll das letztemal mit dem Menſchen, fo im Löwen war, durch Erhitzung geſchehen fein.
1798.
Den 5. Januar blieben bie Landgehilfen, welche ge- wöhnlich von ben nächſten Orten in bie Chorverfammlungen fommen, nod) etwas beieinander, wo ich denn zuvörderſt von bem Beſchluß des alten unb Wiederanfang des neuen Jahres Gelegenheit nahm, berzlih mit ibnen zu reden, und fie befonders zu neuer Treue in ihrem Auftrag ermunterte.
Nächſt bem redete id) mit ihnen wegen denen bieljer Sage auf dem Lande fid) beroorgetbanen Unruhen, daß weder fie noch von ihren Häuflein, unter was auch immer für einem guten Schein ober Vorwand, daran Antheil nehmen, Ton- bern es je&t vielmehr zu beweifen fuchen möchten, daß fie der Obrigkeit um des Herrn willen untertban feien, und es alauben, daß wer fid) wider bie Obrigkeit fe8e, Gottes Ord nung miberftrebe. Dies veranlafte eine [ange Unter⸗ redung, nach welcher mehrere Brüder bezeugten, wie frob fie wären, daß darüber fo umständlich gefprochen worden, weil fie zum Theil bod) nicht recht gewußt hätten, wie fie fid) Dabei benebmen follen, und einer geftand offenberzig, Daß et fhon ganz für bie Sache geftimmt gewefen, aber nun über- zeugt fei, bap ihn feine Vernunft betrogen babe, weshalb er fid nun mit feinem Gedanken mehr deshalb einlaflen wolle.
Den 9. Januar brachen querit in Arisdorfdie Unruhen aus, indem eine Anzahl Bauern in ber Nacht das Schloß zu Farnsburg beftürmten: es befand fi aud ein Bruder dabei, der jedoch nur aus Furcht, weil man ibm das
276
Leben zu nehmen brobete, mitging; ber arme 93ruber, ber ein einfáltiger Menſch, aber fonft ein treues Herz iit, war auf bem Weg dahin mehr tot als lebendig, bod) ba es zu feinen Gewalttätigfeiten fam, fo batte er weiter nichts als ben Schred und die fchlechte Behandlung von biefen böfen Leuten zu erbulben.
Einige Tage darauf wurden die Unruhen allgemein, bod) bei weitem in Lieftal am fohlimmften, und man fahe nun erit, daß es auf eine gänzliche Staatsumwälzung ab- gefehen fei; leider war auch hier ein S3ruber, und zwar nicht gezwungen, babet, der fid noch dazu an bie Cpite der un: ruhigen Landleute ftellte, freilich, nach feiner Aeußerung, in der guten Abficht, bap, indem er die billigen Forderungen feiner Mitbürger unterftüße, er zugleich ihr Vertrauen dahin zu benugen fuche, fo viel möglich Gewalttätigkeiten ab- zuwenden, unb man muß (agen, daß nächſtdem, baB Gottes Ginger in der ganzen Sache gleid) vom Anfang an zu fpüren war, et wirflich vieles dazu beigetragen bat, daß alles fo gut ablief, denn e$ ift doch merkwürdig, daß bei dem ganzen Umfturz der Staatsverfaffung des Kantons Baſel aud) nicht eines Menſchen Ylut vergofien worden; indeflen für feine Derfon fann ihn ebenfowenig Dies — als das tedt- fertigen, daß er nun, unb alle die, welche für bie Revolution waren, jest fagen, ja ſo war's nicht gemeint, das haben wir nicht gedacht, daß es f o geben follte.
Mitte Sanuar. Da in diefen Tagen bier febr viele beuntubigenbe Gerüchte gehört wurden, jo nahm ich beute Gelegenheit, mit den Gefchwiftern deshalb zu reden unb fie zu ermuntern, ihre Gemüter bod) davon nicht fo ganz ein- nehmen und zerftreuen zu laflen, vielmehr fid) jolches dahin zu benuten, daß fie ihren Ruf und Gnadenwahl, ein Eigen: tum Syefu zu fein — nur befto fefter zu machen fuchten, als⸗ dann würden fie fid) aud) die tröftlichen Worte Jeſu ganz zueignen können, daß nicht ein Haar uns ohne feinen Willen entfallen folle; was Gr aber tiber uns gefchehen ließe, würde
277
unferm Herzen zum Beſten gereid)en müflen, wenn’s uns gleich äußerlich befchwerlich und drüdend werden könnte.
Den 22. Januar hatten wir einen febr unrubigen Tag, da, nachdem unfere Obrigkeit denen Forderungen der Land- leute nachgegeben, heute Nachmittag unter Abfeuerung der Kanonen und Läutung aller Gloden ber Zreiheitsbaum auf bem Münfterplab gefeSt wurde: je wilder und ausgelaflener fib fowohl von Stadt als Land eine Anzahl Menfchen dabei bezeugten, befto gedrüdter und niedergefchlagener war ber bei weitem größte Teil ber Bürger, die ruhig zu Haufe blieben unb über das Unglück ihres Vaterlands manche ftille Träne weinten..
Den 1. März wurden wir am frühen Morgen mit der Nachricht erfchredt, baB bie Feindfeligfeiten zwifchen den Schweizern und Grangofen bei Solothurn wirklich ihren. Anfang genommen; obwohl aus unferm Kanton gar feine Truppen gegeben worden, jo [abe man nun zum voraus, daß ber Durchmarfch ber Franzoſen durch unfere Stadt nun nicht mehr zu vermeiden ei.
Den 13. erklärte fid) einer unferer Landgehülfen- Brüder vor mehreren Gefchwiftern, „die jeSigen Zeitumftände find mir für mein Herz febr gefegnet, der Heiland macht mich von vielem los, woran id) bisher noch geklebt babe, und barum fühle id) mich auch jeßo jo Leicht, ihn zu fuchen und angu. bangen und fann ruhig und Findlich abwarten, was er über mid) fommen faffen will. Aber manchen Menichen”, fette er hinzu, „machen diefe Umſtände nur noch widriger gegen ben Heiland, bod) weiß er fie aud) zu finden, wovon ich letzthin ein Erempel gejeben babe." Er erzählte darauf folgenden anmerklichen Umftand: „Sch war kürzlich Gefchäfte wegen in einem andern Dorf und mußte dort bei einem 93efannten ‚übernachten, bei bem ich auch nod) einige andere zur Herberge antraf. Das Gefpräh fam, wie gewöhnlich, gleich auf bie jegigen Umftände; ich fagte nicht viel dazu, bis mid) der Hauswirt geradezu frug, wie id) denn bie Sache anfähe?
278
Ich fagte ihm: „ich verftehe wenig davon, fann aber glauben, was unfer lieber Heiland (hierbei fagte id) ihm, baB ich meinen Gott meinen Heiland nenne) tbut und läßt gefchehen, das nimmt ein gutes End; für meine Perfon aber verlafle id) mid ganz auf ihn, daß er mid) in allen nod) fo fchweren Umftänden gnábiglid) unterftüßen und durchhelfen wird.” Hier fuhr der Mann ganz hisig auf und fagte: „ich babe feinen Heiland und brauche aud) feinen und will bod) durch: fommen. Ihr Pietiften feid bod) recht arme elende Troͤpfe, daß ihr fold) närrifh Ding glaubt." Sch antwortete ihm: ,9 da habt ihr ganz recht, daß ich ein armer elender Tropf bin, aber eben darum brauche id) einen Heiland, barum muß id) einen haben und fann anders unmöglich zurecht fommen, unb mir iff Gott Lob unb Dank ganz wohl dabei, aber euch iit nicht wohl. Sap das aber fein närrifches Ding ift, fónntet ihr wohl nod) einmal mit Schreden erfahren.” Hierauf brad) id) ab und redete mit den andern Leuten. Der Mann wurde wie vor den Kopf geichlagen, jchwieg ftille und redete fait nichts mehr, bis wir wollten fchlafen geben, da fing er mit einmal an, ich wollte einen Louisdor brum geben, wenn ich das nicht gefagt hätte, was ich gefagt babe." Weil die andern nichts darauf antworteten, fo fagte ich nur fo viel zu ihm, daß ich für meinen Seil feinen ihm nachteiligen Gebraud) davon machen würde; er bezeugte, „Darum fei es ihm nicht”, fchwieg aber wieder und erklärte fid) nicht weiter. Am Morgen fabe ber Mann ganz verftört aus, redete nichts, und beim Abſchiednehmen war’s ibm faft nicht mdalih, nur ein einziges Wort verftändlich zu reden, da feine Zunge fonft fo febr geläufig war, welches auf mich unb alle übrigen Leute einen gar eigenen Eindrud machte.”
Den 15. waren wir auf einem Landbefuh in Vin- ningen, wo wir nad ber Verfammlung den Gefchwiftern Geſellſchaft hielten. Sie äußerten fid) offenbergig und [ünber- haft, nur find ihnen bie jeBigen Umftände immer oben auf und benebmen ihnen viel Genuß. Doc war dies weniger
279
bei den ledigen Schweitern der Gall, bie fid) dadurch zum Zeil mehr zum lieben Heiland treiben faffen, und in einem recht bübfchen Herzens-Gang find; der hiefige Herr Pfarrer Rapp fährt fort, Freundfchaftlich gegen bie Gefchwifter zu bleiben und bat fid) Eürzlich bie Gemein-Nachrichten aus- gebeten. Bei unferer Nachhauſekunft fanden wir einen Ge- hülfen-Bruder von Diepflingen auf uns warten, der über Verfhiedenes wegen der dortigen Häuflein in Abficht der jetzigen Lage mit uns fprad). Für feine Perfon, fagte er, babe ibm der liebe Heiland Klarheit gefchenkt, zu erkennen, daß alles eine Verwirrung und Verführung vom böfen Geift fei, er hätte daher, al8 man ibn letzthin genbtiget, fi vor der ganzen Gemeine zu etf(üren, ob er aud) willig fei, wenn ihre Forderungen nicht bewilligt würden, fogleich gegen Baſel zu marfchieren, fid) ganz freimütig erklärt, baB das wider fein Gemiffen fet und gegen den Eid, welchen er feiner Obrig- feit gefchworen, und darüber möchte es ibm geben wie es wolle. Raum batte er die legten Worte ausgeredet, als alles über ihn ber wollte, unb nur mit größter Not brachten ibn 10d) ein paar vernünftige Männer zur Stube hinaus. Nach— bet durfte er bei allen oft febr tumultuarifchen Sufammen- fünften zu Haufe bleiben, welches weiterhin gar manche wünfchten und für feine Aeußerungen und Benehmen aldann großen Reſpekt hatten. Durch einen faft ähnlichen Vorfall unb 93etragen bat fid) aud) ein anderer Bruder in Lieftal bei vielen legitimiert.
Den 17. April waren wir bei der Pfarrer-Interredung, wo es ben anme[enben Pfarrer-Brüdern und uns vor: züglich zum befonderen Vergnügen und Dank gegen unfern lieben Heiland gereichte, baB wir bet der jebigen Zeit uns nod) fo in Ruhe wieder beifammen finden und einander zur Aufmunterung fein fónnten.
Den 26. April famen die erften franzöfifhen Truppen zum Slebernachten bier an; es ift über alle Befchreibung, in was für Furcht und ängftliher Erwartung alles in der Stadt
280
war. Sch muß gefteben, e8 war uns aud) ganz eigen zu Mute, doch fonnten wir mit Zuverficht auf den Heiland fehen, und e$ blieb uns fo; wir find in feiner Hand, was will uns fdjaben? Meine Frau, die fid) zu Anfang der fran- zöfifhen Revolution in Neufalz fürchtete, bie Franzoſen fónnten bis dahin fommen, war jest ruhig und überlaflen, ba bie ganze Stadt davon wimmelte und wir felbft 4 Mann im Haufe hatten. So fann der liebe Heiland alles in feinen armen Kindern, bie fid) Ihm überlaffen.
Den 5. Mai magten wir e8 im Vertrauen auf ben Heiland, unerachtet der — durch bie fortwährenden Durch: märfche ſowohl zu Stadt und Land noch dauernden — Un— ruhe und Unficherheit, warum wir bisher feine weitern 23e- fude unternehmen fonnten, einen nötigen Beſuch zu Bubendorf, 3iefen, Arboldswil uf. zu machen. G3 iff dies ber Diftrikt, in welchem der liebe Bruder Preis- werk 13 Sabre Pfarradjunctus war.
Den 9. Mai gefchahe einem unferer jungen ledigen Brüder ein febr vorteilhaftes Anerbieten, bei den Staats: gefchäften in Aarau angeftellt zu werden. Anfänglich lehnte er es aus treuem Sinn und Mißtrauen gegen fid) ſelbſt gleich ab, nad)ber aber wurde er durch Zureden und baB man ihm die fünffigen Erwartungen davon fo vorteilhaft fchilderte, wanfend, und hätte es angenommen, wenn feine Eltern unb id) nicht geradezu ihm folches widerraten müflen. Einige Tage drauf äußerte er fid febr fünderhaft, wie er fid) von Herzen fchäme, daB nur der Gebanfe in ihm Pla greifen fónnen, fid) auf fo eine Art in bie Welt hinein zu wagen, ba et bod) dem Heiland fo oft verfprochen, fein ganzes Eigen: fum zu fein und alles in der Welt um ihn fahren zu falfen; er dankte nun gar herzlich, daß man ihm fo ganz beitimmt davon abgeraten, das habe ibn erfchredt, ſonſt würde er nicht fo bald von feinem Vorhaben abgefommen fein.
Den 12. Auguft wurde von den biefigen Bürgern bie neue Ronftitution auf bem Münfterplag befchworen, und da
281
zur Greier diejes Tages von ber Obrigkeit, bie bier fonft nicht für gewöhnlich, gefehweige an einem Sonntag, erlaubte Luft: barkeit von Mufif und Tanzen angeordnet war, [o hörte man, daß viele, fonft ganz natürliche Leute damit unzufrieden waren unb weder für fid) nod) ihre Rinder daran teilnahmen.
Reife ins Baſelbiet, 18. Auguft.
Zuleßt famen wir denn aud) nad) Lieftal und fanden gegen Erwarten faft alles nad) unferem Beſuch febr ver- langend. Es zeigte fid) freilich, baB die 3eitumftánbe an den Herzen viel Schaden getan, bod) war bei ben meijten eine große Sehnfuht zu fpüren, aus bem Gewirre wieder berausgufommen, worüber fid) einzeln und in den Gefell- fhaften geäußert und viele Tränen vergoflen wurden. In ber Verfammlung war alles gedrängt voll und mußten nod) vor die Tür fiten, ohngeachtet das Sälchen wohl 100 Per: fonen fapt. Ziele bezeugten nachher, wie fühlbarlich ihnen der Heiland nahe gemefen und wieder mit neuer Gnade an- gefaßt babe; möchte Er fie ihnen bod) auch erhalten Finnen!
Wir waren nicht fobald in Baſel angefommen, als wir vernahmen, daß 2000 Mann franzöfifcher Truppen nod) heute bier einrüden und morgen weiter ins Ober-Vafelbiet geben würden; wie [rob und dankbar waren wir nicht ba bem lieben Heiland, daß mir unjere 93ejudje grade nod) jo ungeftört hatten machen fónnen.
Den 26. Oftober befamen wir bier mit einemmal, nadbem die Ginquartierung und der Sruppenmarjd) der Sranzofen durch unfere Stadt täglich noch fortgewähret batte, eine bleibende Garnifon, bie Tore wurden befe&t und ſowohl die Schlüffel hiervon als die.vom Zeughaus mußten fogleich dem franzöfiihen Rommandanten überliefert werden, : zu: gleich fam das Gerücht, bap fofort einige Taufend unferer jungen Leute zum Kriegsdienft ausgehoben werden follten; das alles, bejonders aber le$tere8 verbreitete einen außer: ordentlichen Schreden in der Stadt, und viele von den jungen Leuten, worunter aud) 5 Söhne unferer Gefchwifter waren,
282
machten fid) gleich in ben erften Tagen davon, fe6tere nahmen ihren Weg nad) Ebersdorf und zwei davon famen bald bernad) zur Gemeine, ber ledige Bruder Wilhelm Wenk zum Wohnen nad) Neufalz, und der Süngling 30h. Saf. Senn auf eine Probe nad) Neu-Dietendorf.
Uns ijt hierbei auch ganz eigen zumute, ba wir ung jest wie in Baſel eingefchlofjen befinden, bod) je bebenflid)er und trüber e$ um uns berum wird, je mehr erfahren wir, bap der Heiland unfere Herzen fröftet und die Zuverfiht zu ihm. ſtärkt.
Den 1. November kamen die Landgehülfen-Brüder zu einer Unterredung hier zuſammen, 17 an der Zahl, welches dieſes Mal um ſo mehr Freude und Ermunterung gewährte, als es ber Umſtände wegen gar nicht zu erwarten geweſen, daß fo viele ſich würden einfinden können. Zwei, die fehlten, ſchickten fdriftfid und machten mit ihrer fo amed- als berz- mäßigen Erklärung von fidy und ihrem Auftrag fo viel Ein- drud, daß es die Lieblichfte Veranlafiung für alle andern gab, dem nachzufolgen. Die jebigen Zeiten machten bei ein und andern nod) mande Störung, bod) waren fie durchgängig darauf geftellt, dabei nicht mehr auf Menfchen, fonbern nur auf den Heiland zu fehen und verbanden ft aufs neue, fowohl ihren Ruf und Gnadenwahl für fid) felbit immer fefter machen zu laflen, als aud) mit Angelegenheit die Ge- fchwifter dazu herzlich aufzumuntern zu fuchen.
179.
Den 3. April war bier in der Nacht bie AUrretierung mehrerer Bürger, bie fid) wegen politifcher Meinung zu viel geäußert haben follten, welches, da es morgens befannt und zugleich an diefen und den folgenden Tagen noch mehrere Sut[den mit dergleichen Perfonen von Zürich, Bern unb Solothurn u. a. teils bier, teils nad) Frankreich in Der: wahrung gebracht wurden, ein folch allgemeines Erjchreden in der Stadt verbreitete, bap alles zitterte. Lange ließ fid)
283
eine über alle Beſchreibung drüdende bumpfe Stille ver- fpüren, und in den erften Tagen getraute ftd) faft niemand nur mit den andern zu reden. Furcht war auf allen Gefichtern, und bie fernern Maßregeln der Regierung, unter anderm die häufige Eröffnung der Briefe, trugen dazu bei, daß folche nod) länger unterhalten wurde. Da bei erftern Erempel vor: famen, daß auf bloße [ügenbafte Angabe fchlechter Leute mitten in der Naht Perfonen aus dem Bett geholt und arretiert wurden, [o verurfachte anfangs die Vorftellung, wie leicht auf bie Art aud) uns fo etwas begegnen könnte, ung eine gang eigene Verlegenheit und machte mehr Ginbrud auf uns als alle noch bisherigen Erfahrungen bei diefen Umſtänden. Doch erfüllte ber liebe Heiland unfere Herzen bald wieder mit getrofter Zuverficht, fo daß wir uns feine Verheißung, „daß ohne feinen Willen nicht ein Haar von unferem Haupte entfallen fónne" mehr als je vorher gläubig zueignen fonnten.
Den 6. Nachdem alle Tage eine Nachricht fürchterlicher als bie andere, wegen erlittenen Verluften und dem gänzlichen Rüdzug der Franzoſen von Shaffhbaufen, bier einge: troffen und das Aufgebot zum Marfchieren an unfere jungen Leute ergangen war, fo bieß es heute mit einemmal, bie Raiferlichen wären nur noch auf 2 Stunden von Klein-Baſel, weshalb fogleich angefangen wurde, bie Rheinbrüde zwiſchen unfrer und der Heinen Stadt abzubrechen: es befanden fid) aber einige Gefchwifter aus Klein-Bafel zum Beſuche bei uns. Sie erfchrafen allerdings über diefe Nachricht gar febr, aber der Gedanke, von uns und allen bieftgen Gefchwiftern fo mit einemmal getrennt zu werden, ging ihnen doch noch tiefer; fie wurden äußerft bewegt, und beim Abſchied, ben fie ungefäumt machen mußten, brachen fie in ein lautes Weinen aus; wir weinten mit ihnen und empfablen fie und alle dortigen Gefchwifter mit der innigften Herzensangelegenbeit unferm treuen Heiland in feinen allmächtigen Schuß und Bewahrung.
Inzwiſchen wurde nicht bie eine Hälfte ber Rheinbrüde,
284
wie e8 im erften Augenblid hieß, gana abgetragen, fondern nur die eine DVreite vom mittleren Zoch, fobap noch für's erfte bie 93reite für einen Wagen blieb; bod) war man in ben erften Sagen feinen Augenblid ficher, baB bie andere 93reite aud) abgenommen wurde; unterbefjen flüchtete. man Sag unb Naht Menfhen unb Vieh unb Sachen nad) Groß: Bafel.
Den 9. wagte ich es mit meiner Grau nod) zu einem Beſuch unferer Gefchwifter in Klein-Bafel zu geben. Gie freuten fi), wie wir Dinfamen, als wenn fie uns fdon ein ganzes Fahr nicht mehr gefehen hätten; aber wir waren nur noch bei wenigen gewefen, als uns ein neuer außerordentlicher Lärm vom abermaligen Anrüden der Kaiferlihen — und diesmal waren fie wirklich nad) Riehben, eine Stunde von ung, gefommen, wo fie in der Gefchwindigkeit eine Kaiferliche Proflamation an bie Schweiz anhefteten und den Freiheits— baum umbauen liefen — nötigte, eiligft nad) Groß-Bafel wieder zurüdzufehren; Ravallerie, Infanterie, Menfchen und Vieh Tief auf den Gaffen alles fo durcheinander, daß man feinen Augenblid feines Lebens fid)er war, und wir banften Gott, da wir glüdlich wieder zu Haufe waren.
So ging es wohl über 4 Wochen, einen Tag mehr, den andern weniger unruhig zu, bis die Kleine Stadt burd) eine hinlängliche Anzahl franzöfifcher Truppen befeßt und nad) und nad) eine Kette von Batterien vor derfelben angelegt wurde; . feitbem haben bie Kaiferlichen fi von der Seite nur wenig mehr feben laſſen, und die Gefchwifter von KRlein-Bafel fom- men bor wie nad) wieder in unire Verfammlung.
Ende April. Sn diefen Tagen erfuhr einer unfrer ver- heirateten Brüder eine befondere Bewahrung Gottes; es batte nämlich berjelbe noch [pdt abends auszugehn und mußte vor einem Haus vorbei, wo an bemjelben Tag eine fran- zöfifche friegsfaffe einlogiert worden war. Die Schildwache rief ihn zweimal an, ohne daß er, weil er febr übel hört, es eigentlich vernahm; auch zum dritten mal wußte er nicht,
285
was e8 zu bedeuten hatte, aber indem bet Soldat das Ge- mebr in die Hand fallen ließ, um Feuer auf ibn zu geben, fo war’s, als wenn ibm mit einemmal das Gehör aufging, er börte es und hatte fogleich bie Befinnung, auch zu antworten, wodurch er febr wahrfcheinlich fein Leben rettete.
Den 20. Zuni erzählte einer unfrer Landgehilfen- Brüder von fid) folgenden merkwürdigen Umftand. Der liebe. Hei: land babe ibm bisher bei ber jeßigen Kriegsnot auf eine gana vorzügliche Weife in allem febr gnábig durchgeholfen, unb befonders babe Er es mit der Einquartierung fo geleitet, daß er bis dato mit feinen Soldaten immer gut ausgefommen unb die meiften ihn febr ungern und mande mit Tränen in den Augen verlafien haben; dafür wäre er dem Heiland als Grbórung feiner Vitte anfangs gar von Herzen als für die größte Wohltat dankbar geme[en, nad) und nad) aber babe er fid)'8 fo genommen, als fónnte das nicht fehlen, unb darüber die Dankbarkeit vergelfen.
Bor einigen Tagen babe er dann zwei franzöfiihe Dra- goner befommen, die fid) ibm beim erften Eintritt gezeigt, es Geiftes Rinder fie feien; er babe fie aufs böflichtte empfangen, und wie gewöhnlich alles gegeben, was zu geben fei und noch mehr, aber bie waren mit nichts zufrieden, fie taten, was fie wollten; er ließ es ihnen zu und waren bod) nicht zu- frieben. Den dritten Tag hatte er in ein naheliegendes Dorf zu geben und ging vor Tage, um zur rechten Seit zur Grüt- terung feiner beiden Kühe wieder ba zu fein, indeilen fam er bod) etwas fpäter, unb feine Kühe b(óften ihm hungrig entgegen. Er lief in bie Scheune, das grüne Futter, welches er tags vorher weit geholt, ihnen zu geben; aber fiebe bie Grangofen battens derweil ihren Pferden zum Freſſen und zur Spreu gegeben. Das bradte ihn fo auf, daß er fi vergaß unb mit vielem Ernft bie FSranzofen darüber zur Rede fette. Dies war wohl, was fie fuchten. Sie fuhren wie rafend auf ihn zu, zogen beide ihre Säbel, und nod) heute weiß er nicht, was fie abgehalten als Gottes Engel, daß fie
286
ibn nicht in taufend Stüde bieben; er eilte aber unbefchädigt von ihnen davon und fuchte ein Winfelchen, fein Herz vor ben lieben Heiland auszufchütten, denn nun ftanb ihm alles vor Augen, wo et'8 beim Heiland verjebu unb fid) aud) hierbei nicht als ein Kind Gottes betragen hatte; er fchrie von ganzem Herzen zum Heiland und nebte bie Stätte, wo et fag, mit vielen Tränen, unb befonders ging aud) fein Flehen dahin, daß ihm der Heiland bod) von diefen Menfchen Los helfen wolle, weil bod) fein Recht zu fuchen fei. Er wollte darauf in den Stall zurüdgeben, als ihm der Sergeant begeg- nefe und ihm fagte, baB er morgen andere Ginquartierung und nur einen Mann befommen würde, welches ihn dann, wie leicht zu erraten, außerordentlich befchämte unb [o vor dem Heiland beugte, daß ihm diefer Umftand gewiß auf feine ganze Lebenszeit was austragen wird.
Den 22. Zuli erhielt der Bruder Stephens aus Oteftenbad) nad) einem fiebenwächigen Gefängnis bier in unfrer Stadt zu feiner und unfer aller großen Freude wieder feine Gntfafjung. Er mar von den Qrangolen bei einem Alarm in feinem Orte, wo die Einwohner fid) gegen erftere mit Gewehr verteidigt hatten, nebft noch 8 andern gefangen, bet Gegenwehr befchuldigt und zur Veftrafung hierher geführt worden; fie wurden anfangs ftreng bewacht, welches erwarten ließ, daß es ihnen fchlimm ergeben würde. Ciner unirer ledigen Brüder befam bald in den erften Sagen bie Wacht vor dem Gefängnis, worinnen Stephens mit feinen Stame- taben war, Stephens fab ibn, und es wurde ibm fo: das ijt ein Bruder; er wagte es, ihm durchs eiferne Gitter zuzu- tufen unb zu fragen, ob er mit Pfarrer Raillard in 23e- kanntſchaft ftünbe, auf bie Antwort ja, ob er ibm wohl ein Setteld)en an denfelben beforgen wolle? und als er auch bat- auf ja erhielt, fo brachte ibm Stephens bald ein paar Zeilen, bie er mit DVleiftift auf ein leeres Blatt aus feiner Loſung, die ibm die Granaofen auf vieles Bitten gelaflen, gefchrieben batte; der Inhalt war, daß er in Bekanntſchaft mit der
287
Brüdergemeine ftünde, feinen (Raillards) Namen mal im Protokoll ber Prediger-Konferenz gelejen und ibn bäte, weil er von den Gefchwiftern hier niemand kenne, fid) feiner anzu- nehmen, da er mit aller Wahrheit verfichern fónne, bap er wegen der ihm befchuldigten Gegenwehr gänzlich unfchuldig fei. Nach gefchehener Üeberlegung fuchte man allervörderft ibm felbft zuzuſprechen, welches auch einem unfrer verheirateten Brüder nad) einigen Schwierigkeiten, bod) nur von außen butdjs Gitter, zugelaflen wurde. Durch den vernahmen wir dann, baB er ber Schulmeifter von Neftenbach jei und in feinem Haus bisher bie Verfammlungen gehalten worden, weshalb ibn fowohl Bruder Müller als ehedefien Bruder Mofel wohl kenne, übrigens fei er ein armer Mann und ein Vater von 16 Rindern, davon nod) 9 unverforgt zu Haufe und vielleicht jeßt mit feiner Grau ohne Brot wären; et babe fie nicht mehr gejeben, fondern wie er gegangen und seftanden, ohne Kleider unb Wäſche, auf ber Gtelle fort . gemupt.
G3 ift nicht zu fagen, wie fid) auf biefen Bericht bie Teil- nahme derjenigen Gefchwifter, denen man'$ im erften Augen- blid willen laſſen fonnte, regte. Kleider, Wäſche und Geld waren gleich [o binlánglid) beifammen, daß er fid) mit erfteren beiden mehr als nötig beforgt fahe, und von leóterem ibm nicht nur bie ganze Zeit hindurch eine gute Soft verfchafft, [onbern bei feiner Abreife ein nicht unbedeutender Reft davon ibm noch mitgegeben werden fonnte. Zu mehrerer Sicher: gebung wurde denn bod) erit nod) an Bruder Müller ge- Ichrieben, unterdeflen ein 93ruber bewirkte, daß er weniger ftreng gehalten, auch zugelaflen wurde, daß man ihn einige- mal allein fprechen fonnte, wo er fid) bann gar fünderhaft und dahin erklärte: „ich bin wohl in der Sache, marum ich hier gefangen bin, vor Menfchen unfchuldig, aber id) bin es nicht vor bem lieben Heiland. Er hat Urſache genug, marum Er biefe8 tiber mich zugelaflen bat; ich finde alles in meinem bisherigen Herzensgang; ich war troden und gleicheiltig und
288
in manchen Untreuen vor Ihm, aud) in ber, bap id mid) gegen das Erinnern in meinem Herzen viel zu viel mit den politifchen Umftänden abgegeben, oft ziemlich unzufrieden und [aut zum Schaden anderer, bie auf mich faben, Darüber gedacht batte, überhaupt Er war nicht mehr mein Ein und Alles; 0 wie danke id) Ihm, bap er mich gedemütigt und wiederum auf mein Herz gebracht hat. Er fue nun mit mir, was ihm gefällt. Zreilich meine arme Frau und Kinder liegen mir bei Tag und Naht im Sinn, aber der Heiland wird auch mein Gíeben für fie erhören und fid) nad) Notdurft ihrer annehmen.”
Diefes bat der Heiland auch wirklich getan, wie man bernad) vernommen, denn obwohl bie Franzoſen den Ort geplündert unb feine Frau und Rinder mit allen Einwohnern flüchtig werden mußten, fo ift ihnen bod) fein Leids wider: fahren, haben fid) bie und da bei Gefchwiftern aufgehalten und endlich alle bis auf eine erwachſene Tochter, bie fid) ihres Vaters Unglüd fo zu Herzen nahm, daß fie darüber ftarb, wieder nad) Neftenbach auríidfebren können.
Nachdem nun das Zeugnis von Bruder Müller ein- gegangen und, wie man erwartete, gut ausgefallen war, [o verwendete man fid) fogleich feinetwegen öffentlich. Anfäng- lich (dien bie Sache bedenklich und Längerhin febr weitläufig zu werden, aber ganz unvermutet lenkte der Heiland die Herzen zweier Menſchenfreunde, daß fie fid) aud) der übrigen 8 Kameraden des Stephens mit großer Angelegenheit an- nahmen, und in Verbindung mit denen gelang es endlich unfern Brüdern, bie Loslaflung des guten Stephens und mit bet auch bie für bie übrigen zu bewirken; es war aber dabei für ung und ibn die unangenehme Bedingung, daß er fid) jogleich mit feinen Kameraden nad) erhaltener Freiheit aus 23ajel begeben und er uns und fid) baburd) das Vergnügen, jest erft einander zu feben und zu genießen, berauben mußte, und dennoch fam er wegen damaliger Stellung der Armeen noch nicht jo bald nad) Haufe, fondern wurde, ba er endlich
289 19
durch viele Umwege zu ben ruffifhen Qiorpoften gelangte und feinen Paß vorzeigte, für einen Spion angefeben, ge- fangen genommen und nad) Zürich gebracht, wo er aber auf Verwendung der dortigen Gejchwifter, auf deren Belannt- fchaft er fid) berief, bald wieder freigelaflen wurde und enb- [id) zu feiner, feiner Frauen und Kinder großen Freude in Oteftenbad) anfam.
Den 17. Auguft empfingen wir nad) 7 Monaten wieder die erften Gemein-Nahrichten mit der Poft über Sranf- furt a. M., worüber alle Gefchwifter in große Greube verfebt wurden. Da feit einiger Zeit ftare Briefe und Pakete wegen verbotener politifcher Rorrefpondenz bier viel geöffnet wur: ben, fo refolvierte man, zuerft unferm Herrn Statthalter bie Anzeige zu machen, daß ein Paket Schriften für uns eingehen würde, welches Nachrichten aus dem Reich Gottes enthalte, unb daß, wenn folches zu eröffnen nötig wäre, man ihn Dof- ich erfuche, baB folches durch ibn gejdbeben möchte. Er nahm folches gat gut auf, ließ aufs freundfchaftlichfte für das gute Sutrauen danken und zugleich verfichern, baB mann wir auch einen ganzen Schublarren voll diefer Nachrichten fommen laſſen wollten, bier fein Siegel daran verle&t werden follte.
Dei meiner Nachhauſekunft (von der Beſuchsreiſe ing Bafelbiet) am 27. September, hörte ich bie fid) beftätigende Nachricht, daß Zürich wieder von den Franzoſen erobert worden, weshalb nun auf der obern Straße alles gar unruhig unb fid) jet vieles Militär wieder herabzöge. Wie froh unb dankbar war ich bem lieben Heiland, wieder ruhig zu Haufe zu fein!
Anfangs November. Zn biefen Tagen erfüllte die For⸗ derung über 11, Millionen 9o franzöfifcher Anleihe von der Stadt Baſel faft alle Gemüter; bei den bisher und nod) immerfort zu tragenden vielen Koften und Laften des Krieges wollte es dem größten Seil der Einwohner fait zu ſchwer fallen, fid) nod) zu einer fo harten Buße zu verftehen, und batte vielen Anfchein zu einer Bärung ing Ganze, aber unfer
290
lieber Herr, ber bisher vorzüglich unferm Kanton bie Ge- müter aum Nachgeben zu ftimmen wußte, fonnte auch diesmal den größten Seil dahin lenken, und [o wurde gegeben, was fein mußte, wobei unfere Gefchwifter, die mebriten mit ihrer baldigen Ergebung und Willigfeit, ein gutes Grempel gaben.
1800.
Den 8. Mai gingen ih und meine Frau zu einem Beſuch unferer Gefchwifter im weitern Zeil vom Ober- Bafelbiet und waren erfreut, diefelben größtenteils in einem lieblichen Gang zu finden, nur in Rümlingen famen zu unferer Betrübnis nur drei in bie Verfammlung, und es hat feine andere Ausficht, als daß biefe8 Häuflein fomie das Zeglinger ganz eingebet.
Qn Diepflingen waren wir über Sonntag wie gewöhnlich mit Vergnügen, weil wir immer nod) bie alte Herzlichleit und CEinfalt hier wieder finden. Don ben 3 Orten, jo zu bem Oltinger Häuflein gehören, ijt fürz- fid von Anwil ein lediger Bruder namens Johannes Schaffner nad Neuwied Erlaubnis fuchen gegangen, die er auch fpäterhin dort erhalten bat; fonft waren die Ge- fhwifter bier erfreut über unferen Befuh und machten fid) folchen für ihre Herzen zunuße.
Die Geſchwiſter in Lieftal nehmen nad) und nad ziemlich ab, ba, wie überall auf dem Lande, gar feine neuen Leute dazu fommen und bie jungen Leute fid) auch nicht mehr wie bisher noch nachnehmen faffen; wir fanden hier ein paar Sachen zu fchlichten, bie mit vieler Mühe, aber endlich bod) durchs Heilands Gnade ganz abgemaht wurden, fonft waren ung bie Herzens-Erflärungen der Gefchwifter arößtenteils zur Steude, wenn fdon mandem mehr GSelbfterfenntnis, fowie andern das ununterbrochene Bleiben beim Heiland noch zu wünfchen gemefen wäre.
Diesmal hatten mit auf unferer ganzen Reife faft feinen Franzoſen gefehen und nirgends bei unfern Gefchwiftern Ein-
291 19*
quartierung getroffen, welches uns febr wohl tat. Auch hier in Dafel geht es damit febr erträglich, fo daß es gegen ber vorigen Laft ein leichtes Bündelchen zu fein fcheint, wo- für unfere Gefchwifter gar herzlich dankbar find, wenn einem nur nicht bie armen Menfchen einfielen, bie bie Laft jet nur nod) in einem weit höhern Grab zu tragen haben.
Den 8. Zuni machten wir einen vergnügten 93e[ud) bei unfern Gefhwiftern in Binningen; es find dort 2 Ge bülfen, von welchen ber eine bei den jeSigen Umftänden ganz aufs neue — ba et fid) zu feinem Schaden eine ziemliche Zeitlang darinnen fehr zerftreuet hatte — auf fein Herz ge- fommen, welches einen lieblichen Einfluß aufs Häuflein gehabt, daß Verfchiedene baburd) mit angefapt und ermuntert worden, bem lieben Heiland aufs neue Treue zuzufagen.
Am 31. Auguft hatten bie ledigen Brüder in Baſel aud) bie Nachfeier ihres Chor-Feftes, wozu fid aber vom Sande diesmal nur wenige einfanben. Die äußeren Um— fände haben auch auf manchen von denfelben einen gar jchäd- [iden Einfluß gehabt, daß ihre obnebin nod) wenig ge- gründeten Herzen von bem Geift diefer Zeit zur Ungebunden- beit bingeriffen worden, bie fid) nun aus bem Wirrwar nicht mehr herausfinden fünnen.
Aus unferm Ober-Bafelbiet vernahnten wir in diefen Sagen allerlei bedenkliche Aeußerungen wegen ber von ber Obrigkeit wieder hergeftellt werdenden Abgabe des Boden: zinjes und 3ebnten auf dem Lande, welches auch unjere armen Gefchwifter mehr oder weniger. in neue Serftreuung brachte.
Wegen leótern fchrieb einer unferer ledigen Brüder auf dem Lande folgendes an mid: „Was mir jet obenauf [iegt, iff bie Wehmut, baB alle Gemüter, und teild aud) unfere Gefchwifter, von ber befannten Sache erfüllt find; das Evangelium fann nur noch bei wenigen wirken und fein Totes läßt fid) mehr ins Leben rufen. . . ."
September. Nachdem wir am 18. unfere Gefchwifter
292
in Viel und 93enfen bejudjf, bie wir über ibre äußere Ruhe, daß fie jet feine Einquartierung hatten, febr pergnügt und fonft größtenteils den Genuß am Heiland fanden, fo gingen wir am 27. zum andern Seil unferes 23e- fuhs ins Ober-Vafelbit. Wir fanden insg Ganze viel Urfache, bem Heiland zu danken, daß Er fein Werk unter denen nod) immer beträchtlichen Häuflein in Qubendorf, Ziefen und Arboldswil ferner gnábiglid) fortfübrt, die treuen Seelen mehr auf fid) gründet und manche andere aus Not und Liebe mehr nad) ihm bliden macht, aber bod) faben wir aud) mit DBetrübnis, baB ber Geift diefer Zeit bei den ungegründeten Gemütern immer mebrem Einfluß erhält, fie entweder mit vergeblicher Hoffnung von beffern Seiten blenbet oder ihre Herzen mit Sorgen der Nahrung für jet und für die 3ufunft fo befchwert, baB das Fünkchen Glaube und Liebe zum Heiland nad) unb nad) verweht und erftirbt, welches bie Urfache war, daB wir auch diesmal Diet einen ftarfen Abgang fanden.
Den 26. Oktober erzählte mir ein Bruder von Aris- Dorf, der unlängft evít fid an das dortige Häuflein an- gefchloffen, Folgenden Umftand, welcher ibm bei denen zu An: fang biefe8 Monats vorgemefenem Aufftand der Landleute wegen von der Obrigkeit wieder geforderten 3ebnfen und Bodenzins vorgefommen. „Sch war ganz der Meinung”, fagte er, „Die Obrigkeit babe Unrecht, bap fie biefe Abgabe wieder forderte, und als man die Gemeine in unferem Ort sufam- menfommen ließ und diejenigen aufrief, welche den Zehnten und Bodenzins nicht geben wollten, aus dem großen Haufen berauszutreten, damit: man fie gleich auf ber Gtelle biet niebermad)en und ihre Familien von Haus und Hof jagen fönnte, und fid) aus Furcht niemand meldete, fondern viel- mehr alle beim zweiten Aufruf, wer nun deshalb gegen bie Obrigkeit marfchieren und Leib und Leben für bie Cade wagen wollte, willig waren, fo war ich ohne 23ebenfen von ber Partei. Als wir nun aber bald darauf nad Lieftal
293
gingen, vor bem Haufe des Gehülfen- Bruders vorbeifamen, der mit vieler Mühe im Ort auf der Wache zu bleiben er- langt hatte, fahe mich ber febr betrübt und nachdenklich an; das fuhr febr in mich, fonnte aber in dem Getümmel unb Lärmen, ber auf dem Weg und immerfort bei Tag und Naht währte, feine Leberlegung anftelen. Da wir aber nad) 2 Sagen einftweilen wieder ung nad) Haus zu begeben beordnet wurden, fo ging ich gleich zu ihm und fragte ihn bieferbalb; da erfuhr id) nun, bap er gar nicht meiner Mei- nung fei, unb er fagte: „Sünger und Nachfolger Sefu follen unter keinerlei Umftänden, wenn's nicht ihr Gewiſſen betrifft, widerftreben, und wer befonders der Obrigkeit widerftrebt, würde über fid) ein Urteil empfabn."
Od) fonnte ibm gar nicht beiffimmen und verlieh ibn ziemlich unzufrieden, aber nun wurde id) febr unruhig, unb je mehr id) mit jemand anderem von der Sache redete, je mehr nahm folche zu; ich wußte mich nicht zu laſſen, Tief aufs Gelb, im Haus überall berum, meine Frau, Vater, Mutter unb viele Leute fragten mich, ich gab feine Antwort, endlich ſchrie id) aus aller Macht: „Herr Jeſu, erbarme dich meiner”, und gleich war’s mir fo: „der Gebilfe bat recht, du darfit nicht widerftreben, bu biff dem Heiland zur Cdmad) und Schande damit gewefen, aber nun will ich’S für aller Welt befennen und wenn id) gleich mein Leben laſſen müßte.“ Ich
fagte es darauf gleich in meinem ganzen Haufe, bie fid) alle
höchlich über bie Veränderung wunderten, der Gebilfe aber fid von Herzen mit mir darüber freute, id) wurde aber bod) nicht eber ganz ruhig, als bis nad) einigen Tagen bie Nach— richt fam, daß die Sranzofen in Giffad wären, und welche von ben Landleuten nicht fogleich ihre Waffen ablieferten, folíten als Rebellen behandelt und ihr Srt mit Geuer ver- brannt werden, ba trug ich mein Gewehr mit Sreuden bin, nun war ich ganz ruhig und nun Ffonnte ich aud) erft recht glauben, bap mir der liebe Heiland alles vergeben habe.”
Den 2. November befuchten wir bie Gefchwifter in
294
Riehen Wir fanden bie alten Gefdwifter Went wiederum von ihrer fürglid) gebabten Krankheit hergeftellt und voll Lobes und Dankes über alles, was der Heiland in ihrem Alter und bei ben febr drüdenden äußern Umſtänden, ba befonders diefer Ort vom franzöfifhen Militär duperft mitgenommen worden, an ihnen getan bätte.
1801.
Den 18. Februar fam aud) bier die fröhliche Botſchaft des zu Lunöville geichloflenen Friedens an, aber die Freude darüber währte nur die erften Tage, denn es zeigten fid) bald bebenflide Spuren von Unruhen auf dem Lande, bie bei einer abermalig veränderten Regierungsverfaflung unver- meiblid) ausbrechen würden, menn bie Schweiz, wie es hieß, fid) dabei felbft überlaflen fein follte!
Den 11. April Landbefuh in Diepflingen Die Erwartung wegen einer neuen Regierungsform befchäftigt nun wieder bie armen Landleute und unfere Gefchwilter fommen dabei teils in abermalige Zerftreuung, teils in neue Berlegenheit, menn fie von den Drtsbeamten um ihre Meinung dieferhalb befragt werden; ber hiefige Gebülfe bat ihnen indes abermals febr weislich geantwortet: „Ihr wißt wohl”, fagte er zu ihnen, „Daß ich bei ber neuen Ordnung der Dinge nichts babe helfen aufbauen, barum iff meine be- flimmte Meinung, daß id aud) nichts will helfen niebet- reißen”, und damit fam er zur Verwunderung der ganzen Gemeine ohne weitere Anfechtung durch.
1802.
Qiom 11. bis 13. Mai machte id) einen erfreulichen Beſuch in Lieftal. Sn der Gefellichaft der verheirateten Brüder fielen diesmal gat offenherzige Erklärungen; unter andern äußerten fid) drei davon, welche anfangs, wenn nicht jeldft tätig, bod) ziemlich laut Für bie neue Ordnung ber Dinge waren, einer wie der andere darüber febr fünderhaft,
295
fie begeugten, daß fie an ihren Herzen, befonders bei Sanb- babung des obrigkeitlichen Amts, welches fie feitdem befleidet, viel Schaden gelitten, denn fowohl der Umgang mit fo vielen andern Menfchen, als die fortwährende ungewohnte 3et- ftreuung bätte fie je länger je mehr vom Heiland entfernt, und bie beftändige Uneinigkeit und Zwift, bie mit der Ausführung einer jeden neuen Verordnung an ihre Mitbürger verbunden gemejen und immer fchlimmer werde, fei ihnen gleichfam ein nagender Wurm an ihren Herzen; wiederholendlich dringend hätten fie fchon einzeln und gemeinfchaftlich um die Ablöfung von ihren Aemtern, aber immer noch vergebens gebeten, nur gang Fürzlich hätten fie endlich Hoffnung dazu, fie fähen aber voraus, daß fie ganz zulett Lostommen würden, welches fie fich inbelfen als eine gerechte und die Eleinfte Strafe dafür nähmen, daß fie fid mit einer fofd)en Sache befaßt und manchen Gefchwiftern baburd) Anftoß gegeben hätten; bod) wären fie dem lieben Heiland mit Tränen dankbar, daß Er es ihnen nut recht [der werden Laflen, weil E t ihnen dadurch wieder auf ihr Herz unb zu einem ganz andern 93lid in die jeßigen Zeiten verholfen.
Da aud) in Lieftal feit Jahr und Sag eine Art von Kantonsſchule errichtet und den Teilnehmern große Ver— beiBungen in Abficht des Unterrichts in allen nötigen Wiffen- ſchaften und Religion gemacht worden, fo haben fid) aud) einige von unfern Geſchwiſtern belieben laſſen, ihre Kinder dahin zu fdiden, aber fie feben mit Betrübnis, daß ihre Kinder leibli und geiftlich Schaden leiden und fie das Engagement von 3 Zahren nicht werden ausdauern können. „Man füllt den Kindern”, fagte einer von den Eltern, „den Kopf mit lauter Dingen, bie, wenn nicht ſchädlich, bod) für fie größtenteilg unnüß find, und wobei felbft bie gute Abficht des lieben Bruders Pfarrer Eglinger, ihnen gratis felbft ben Religionsunterricht zu geben, wenig Nuten bat.”
Den 14. September Befuh in Binningen, bie Ge- fhwifter äußerten fi), daß fie jeit 5 Sabr gar viel mehr
296
wieder an ihrem Herr Pfarrer (Rapp) bütten, welcher aud) gegen uns aufs neue wieder recht freundfchaftlih und auf die Einladung des einen Gebülfen, mit feiner Grau mit ung zu Mittag zu effe, gefommen war, bod) ift er nod) nicht gang von feiner politifhen Meinung und dem in fo vielerlei Irrtum verführenden Geift der Zeit Tog.
Den 16. traten wir unfere nod) übrigen Landbefuche ins Ober-Vafelbiet, ungeachtet ber bie und da fid) fdon zeigenden Unruhen, in Gottes Namen an und fonnten bie- felben mit der Hülfe unferes Lieben Herrn am 27. aud) un- geftört beenbigen, unb aller Orten waren bie Gefchwilter über unfern 93efud) umfo erfreuter, a[8 er ihnen wegen den Um- ftánben unverhofft, aber fonft befto nótiger fam.
Sn Lieftal, aufen, Ober- unb Niederdorf fanden wir die Gemüter freilih mit denen Gebanfen unb Wünfchen für bie Wiederhberftelung der alten Regierung mehr oder weniger eingenommen, bod) nicht mit folcher gänz- lichen 3erffreuung wie bei der Revolution vor 4 Jahren, gegenteils trieben diefe Imftände mehrere von unfern Ge- fhwiftern zum Heiland, daß Er das faff unvermeidlich fcheinende große Blutvergießen ber gegen einander fo duBerft erbitterten Parteien im Lande aus Gnaden verhüten molle. Sn Lieftal war es zwar wie gewöhnlih am unruhigften unb in der Nacht vom 18. auf den 19. ftürmte ein Srupp von mehr als 40 jungen mutwilligen Leuten das Haus des Statthalters und hatten wohl bie böfefte Abficht, er batte fid) aber auf dringendes Anhalten feiner Stau, welche eine legitimierte Schwefter ift, nod) zu rechter Seit davon gemacht, und fo mußten fie unverrichteter Sache wieder abziehen, in- deflen zogen fie mit einem wütenden Gefchrei und Gefang bie ganze Nacht in der Stadt berum und niemand war, der ihnen Einhalt tun mochte; wir hatten ziemlich den größten Seil des Lärmes verfchlafen, ba unfer Logis diesmal an einer abgelegenen Seite des Städtchens bei unferm lieben Bruder Pfarrer Eglinger war.
297
27. September. Bei unferer 3urüdfunft in Baſel trafen wir in Abficht der Regierung alles febr verändert und voller Freude an, daß faft niemand mehr zweifelte, daß bie alte Zerfaflung wieder fo gut als bergeftellt war, als bie Proflamation Bonapartes am 7. Oktober, daß bie revo- [utiondte Regierung wieder eingefeßt werden follte, bie ganze Cade unb alle froben und guten Ausfichten mit einem Mal umwarf; es machte bei den Greunben ber alten Verfaflung eine erflaunende Alteration, wie verfteinert wußte niemand, was er fagen follte; bod) war fein ander Mittel, als fid) zu beugen.
1803.
Den 17. und 18. Auguft befuchten wir in Lieftal und fanden zu unferm Schmerz viele unter dem dortigen Häuflein, und was das fchlimmfte war, auch bie Gebülfen, in neue poli- tide Händel verwidelt, wodurch denn mehr als je zuvor Lieb- [ofigfeit und Swietracht unter ihnen herrſchte; wir machten verfchiedene Verfuche, fie auf bie Art zu vereinigen, daß wir uns weder mit bem einen fein Recht, noch mit dem andern fein Unrecht zur Unterfuchung einließen, fondern fie nur auf ihr Herz und wie ein jedes für feinen Seil damit vor bem Heiland ftehe, zu führen fuchten, aber wir faben mit großer Wehmut, daß e8 wenig oder gar feinen Eingang fand unb daß für bie Zeit nun gar nichts zu machen fei; wobei ung denn befonders um mehrere treue Seelen unter ihnen leid unb bange war, daß fie zuletzt auch nod) mehr oder weniger Schaden nehmen und von ber Einfalt in Gbrijto verrüdt werden möchten.
Sn Arisdorf ift in bielem Jahr das Häuflein bis auf 8 Derfonen vermindert worden, 2 Ehepaare, bie ziemlich bemittelt waren, find mit Kind und Kindeskindern nad) Amerika ausgewandert, bloß um, wie fie fagten, ihre Greibeit wieder zu erlangen, keine PVorftelungen fonnten fie auf andere Gedanken bringen, fie verficherten, daß ihr Sinn fei,
298
nicht nur Dort aud) bem Heiland zu leben, fondern fid) nit- gends anders als nahe bei einem PBrüder-Etabliffemente niederzulafien und der Brüder Gemeinfchaft zu fuchen, und mußten wir fie bann mit vielem Bedauern in einer Gefellfchaft von mehr als 200 erwachfenen Perfonen von hier zu affer abreifen fehn; bei einem dritten Transport iff ihnen nod) ein Ehepaar mit 2 Kindern von unfern Gefchwiftern in Laufen nachgefolgt.
Befuh in Rieben. Sonſt hatten wir nicht viel Steude bier; ba feit mehreren Zahren nicht eine Seele zu dem Häuflein bingugefommen, fo wird dasfelbe immer Heiner, bie wenigen alten und reellen Gefchwifter fterben weg und die übrigen find mehr oder weniger in einem ziemlich [chläf- rigen und gleihgültigen Gang, wozu wohl auch ber bierortige Gebilfe, welcher feit ber Revolution von feinem ganzen Sinn für den Heiland verloren unb fid auch nicht wieder retten fann, das Geinige beigetragen haben fann; es blieb uns nichts übrig, als fie insgefamt bem erbarmenden Herzen Jeſu zu neuer Belebung und Anfaflung zu empfehlen.
299
Das Zünftlerifche Leben ín Baſel.
Dom J. November ]9J3 bis sum 3J. Oktober J9J4.
Ein Rüdblid auf Theater, Mufil und bildende Runfe.
Don Albert Gefler, ££. Cb. Markees und Mar Alioth.
A. Sheater.
Sollen wir jammern? Der Theaterbefuh bat im De: rihtsjahr immer mehr abgenommen; der Finanzausweis zeigt auf allen Punkten Otüdgang. Das Inftitut bat Gr. 95 885.42 Verluſt erlitten. Inter folchen Umſtänden war ber Entihluß der Theaterkommiſſion begreiflich, auf: zubören, wenn nicht große ftaatlihe und private Hilfe fomme. Iſt das nicht zum Weinen?
Aber e8 gibt aud) in biejem Unglüd Lichtftrahlen. Erftens ift ein Sheaterverein gegründet worden, zweitens find Weltereigniffe hereingebrochen, welche einen Theater: betrieb unmöglich zu machen fchienen; aber gerade daraus it eine neue Hoffnung erwaht. Die Verträge auf die Saifon 1914/15 hatten zwar gelöft werden müffen, da taten ft aber Männer aus ber Theaterfommiffion unb bem S beatet- verein zufammen und berieten eine Hilfsaftion, um dem Künftlerperfonal Gelegenheit zu geben, auch während der Kriegszeit fid zu betätigen. Einftweilen wurde auf zwei Monate ein Theaterbetrieb gefichert, allerdings ein be- Iheidener. Opern werden nicht gegeben; Schau: und Luft: fpiele follen den Hauptteil des Repertoirs bilden; nur drei- mal in der Woche foll gefpielt werden. Und fiebe ba: das Theater füllt fid) wieder; frühere beffere Zeiten jcheinen
300
wiederzufehren. Das ift ein Segen in biefer trüben Zeit und eine Hoffnung auf die Zukunft.
Cod) nun vom lebten Sabre.
Die Spielzeit begann am 22. September 1913 und dauerte bis zum 29. Mai 1914. Es wurden 276 Vor— ftellungen gegeben.
Unter biefen war eine raufführung: Felix Möſ chlins Schauſpiel „Diamanten“.
Schau: unb Luſtſpiele wurden 35, Opern 32, Operetten 12, ein Ballett unb vier franzöſiſche Vorſtellungen gegeben. Das Schaufpiel bradyfe vier Stüde zum erftenmal auf bie Basler Bühne, nämlih: „Ein idealer Gatte" von Bernard Shaw, „Die Arlefierin” von Alfonſe Daudet, mit Muſik von Bizet, „Candida”, abermals von Shaw, „Kampf“ von Galsworthy und ,93elinbe" von QGulenberg. Erſtauffüh—⸗ rungen von Luftfpielen waren: „Die heitere Refidenz” von Guftav Engel, „Der getreue Edehardt”" von Hans Sturm und „Lyfanders Mädchen” von 3. Q3. Widmann. An Dpern ftanben „Der Schmud der Madonna” von Wolf: Serrari, „La serva Padrona“ von ©. B. Pergolefi und „Don Pasquale“ von Donizetti zum erftenmal auf den Basler Brettern, an Operette „Srühlingsluft” von Grnft Reiterer, „Alt: Wien” von Emil Stern, „Suſi“ von 9f. Renyi unb „Polenblut” von Oskar Nedbal. Ein YBalletdivertiffement . fieferten ung die Gefchwifter Wiefenthal.
Neu einftubierf waren folgende Gchaufpiele: „Die Braut von Meffina” von Schiller, „Sappho” von Grill parzer, „Der Erbförfter" von Otto Ludwig, „Das Glüd im Winkel” von Sudermann, „Ein Sommernadtstraum” von GChbafe[peate, „Ein Falliffiement”" von 93jórnfon. Im Luftfpiel wurde ein biftorifcher Cyklus geboten, welcher Stüde von Hans Sachs, Goethe, fo&ebue, Körner, Kleift, Gutzkow, Anzengruber und Freytag umfaßte. — In ber Oper waren Verdis „Othello”, Mozarts „Entführung aus bem Serail" und „Don Juan”, Humperdinds „Hänfel und
301
Gretel”, Wagners „Rienzi”", Maſſenets „Manon” und Aubers „ra Diavolo“ neu wiederaufgenommen, in ber Operette „La Mascotte”" und „Die Puppe” von Edm. Audran.
Als Güffe traten auf: der Basler Schaufpieler Otto Eppens vom Stadttheater in Hamburg im „Tell“, im „Erb- förfter” unb im „Zalliffement”, Silla Durieue vom Leifing- theater in Berlin in Wedefinds „Erdgeift" und in Brieur’ „Roter Robe”. Zn ber Oper faben wir Marguerite Sylva in „Carmen“, in „Cavalleria rufficana" und im „Bajazzo“, Gri& Vogelſtrom als „Lohengrin“, Gácilia Ruefche-Endorf in der „Walküre“, Georg Baklanoff als Gauft und Heinrich Henfel als Siegfried.
Die Basler Dramatiihe Gefellidjaft gab „Alt-Heidel- berg" und „Stein unter Steinen”.
Die vier franzöfifchen Vorftellungen waren meift wert- Iofe, aber gut ge[pielte Sentimentalitäten. — Un der Spiße des Theaters ftand Herr Direktor Leo Meliß.
B. Konzerte.
Die Ronzerte bet Allgemeinen dteritssfetbs haft nahmen wie gewohnt ihren Anfang im Oftober 1913 und dauerten bis Ende März 1914. An Otovitáten brachten bie Cgmpbonieabenbe u. a. eine DBallet-Suite von Mar Reger, eine „Suitefympbonique” („Prin- temps”) von Debuffy, ein Violinkonzert von Zulius Weismann, ben „Lebenstanz” von Fr. Delius unb Guftav Mabhlers „Lied von ber Erde. Daß außerdem die großen Meifter ber Haffiichen unb ber romantifchen Richtung ausgiebig zu Wort famen, if felbftverftändlich; biefe Konzerte follen ja jedem etwas bieten. Auch die Rammermufifabende, deren Programme der Hauptſache nad) bie Herren des Basler Streihquar- tetts Kötſcher, Krüger Küchler unb Treid-
302
Ler) beftreiten, ateben, wo fid) Gelegenheit dazu bietet, gute Erfcheinungen der neueren Literatur heran, wenn fie auch, wie e8 in der Natur diefer intimen Kunſt liegt, mehr auf den ebernen Beſtand klaſſiſcher Meifterwerke angemiefen find. Soliftifeh betátigten fid) in den Symphonie- und Kammer: muftfabenben eine Reihe ausgezeichneter Rünftler und Künſt⸗ lerinnen, von denen wir bier indeflen nur einige aufführen: Rudolf Gana, Sofepb Szigeti, Alfred Gor- tot, Gerard Helling Paul Otto Mödel, Paul Zuon Frau Noordewier Grau Du- rigo, Unna Hegner und einige andere unfrer einhei- mifchen Künftler. Geleitet wurden die N von Rapellmeifter Hermann Suter.
Der unter gleicher Direktion ftebenbe Basler Ge- fangverein bradte am 5. und 6. Dezember 1913 ein neues geiftlihes Chorwerf von Hans Huber, „Weis- fagung und Erfüllung” (Soliften: Grau Mühle: mann- Did, Gt. $. Brenner Hr. Rühlborn, H.R. Q8 9 B). Sodann erinnerte er fid) im März (14. und 15.) nach längerer Zeit wieder des Requiems von Verdi. Hier waren die mitmirfenben Soliften bie Damen 9t. Zacques-Dalcroze Nahm-Fiaurx, ſowie die Herren Plamondon unb Boepple. Sum Ab— Ihluß eines Saifonprogrammes hatte der Gefangverein ben Händel’fhen „Meffias” beftimmt; das Werk erfíang denn auch am 6. und 7. Juni im Münfter. Das Golilten- quartett ftellten bie Damen Noordewier, Philippi, und die Herren Ot. Jung und Th. Denys. An biele Aufführung ſchloß fid) am 8. Sunt ein Vollsliederfongert, in dem fowohl der Chor wie aud) bie eben Genannten eine An- zahl von Volksliedern verfchiedener Nationen zum Vortrag brachten.
Voͤllig auf kirchliche Kunſt beſchränkt bat fid aud) in diefer Saifon wieder ber 33a dj - Gb or (Dirigent: Adolf Hamm); feine Programme enthielten einen Teil des
303
93ad'íden Weihnahtsoratoriums (bie Kan- taten 4—6; Soliften waren Grf. € Homberger, Gi. 9. Brenner, H. Richard Fifher und Hr. Nahbm); bie G-bur-OXeffe von Mozart, eine Motette unb eine Kantate von Bad. Goliften: Grau Wesler, Gi. 9. Gautſchy, Hr. &ron unb Hr. Deutſch. Das erfte Konzert fand am 21. Dezember 1913, das zweite am 7. April 1914 ftatt.
Die Liedertafel vereinigte fi am 18. unb 20. Sanuar 1914 mit bem Gefangperein zu einer Auf- führung ber „Damnationde Fauſt“ von Berlioz. Die Coliften waren Grau Cahnbley-Hinken und bie Herren Plamondon, v. Raab-Brodmann unb QUpfB. Das übliche Soliftenkonzert folgte am 19. Januar. — Das Frühlingsktonzert des Vereins (9. und 10. Mai) war ausihlieglih Werken Friedrich Hegars gewidmet. Es wirkten dabei foliftifh mit Frau Lobftein-Wirz unb Hr. Willemde 93oer.
Der Basler Männerhor (Direktion: G. Zul. Schmidt) hielt am 9. November 1913 ein Orchefterkongert ab unb bob eine febr beifällig aufgenommene Novität aus ber Saufe: „Belfazars Gefidjt" vn Hans Huber (Mitwirkende Ooliftin: Frl. €. Huber). — Mas Lieder- fonzert fiel auf den 17. Mai 1914. Gofijtin war Fräulein A. Hegner.
Der Basler Volkschor, der unter der Leitung von G. f$ id) Ler ftebt, batte fid) eine Aufführung von Men- delsſohn's „Daulus” zum Ziel gefebt und trat mit bielem Werk im April vor das Publitum. Als Soliſten hörten wir bie Damen Zaeslin und Gaut[d y, fowie die Herren Ernft und Reiner.
Aus der Zahl ber übrigen Konzerte erwähnen wir einen Liederabend von Frl. M. Philippi mit Walter Courvoifier und einen folden von Grau Durigo. Einen glänzenden Verlauf nahm am 22. Februar ein Ertra-
304
tonzert der Allgemeinen Muſikgeſellſchaft mit Eugen d'Albert. Die Orgelfongerte, bie Adolf Hamm im Münfter veranftaltete, erfreuten fid) eines [febr zahlreichen
Beſuches. Ernſt Th. Markees.
C. Malerei unb Plaſtik.
Der erſte Kunſtanlaß im Berichtsjahr war die ſo— genannte Jubiläumsausſtellung. Der Kunſtverein feierte feinen fünfzisften Geburtstag und hatte deswegen Die Basler Künftler zu einer befonderen Schauftellung ihrer Werke eingeladen. Es war aber wenig mehr als eine gembbn- fide Weihnahtsausftellung. Hervorragende 93ilber waren ein fitendes Mädchen von Paul 93. Barth, eine Grablegung Ehrifti von Numa Donze unb ein Bildnis von Hermann Meyer. Alle drei hatten aud) originelle Landſchaften zu zeigen. Figürliches boten ber in Zeichnung und Farbe ftarfe Eugen Ammann, ferner Paul Altherr, Wilhelm Balmer, Theodor Barth, Creszentia Bächler, Walther Bär, Ida 23au- mann, Emil Beurmann, Rarl Did, Hans Garnjobft, Mar von Geymüller, Frau Haßler-Ernft, Frau Hedwig Reerl-Thoma, Marie Lob, Albreht Mayer, Frau Mons- Smbof, Gitber Mengold, Fritz Mod, Heinrih Müller, Eduard Niethammer, Chriſtoph Debler, Otto Plattner, Rarl Pflüger, Arthur Riedel, Augufta Roßmann, Hedwig Schenermann, Alfred Soder, Gertrud Stüdelberg, Marie Gtüdelberg, Eſther Socin, Marguerite Tiffot, Hans Beat Wieland und E. QU. Wolf. Die meiften ber Genannten hatten aud) Landfchaften au$geftellt. In diefem Fache waren teils gute, teils febr idivade Gemälde vorhanden. Wir nennen Paul M. Artaria, Charles Bernoulli, Grnft 93reitenftein, Paul 93urd- bardt, Mar Bucherer, Ernft Yuchner, Luife David, QU. be Goumois, 9. Diſchler, Rud. Dürrwang, Walther Gnbols, Paul Flury, Arnold Fiechter, Gottfried Herzig, Albert
305 20
Kohler, Franz Krauß, Adolf Kron, $. U. Kündig, Maria 9a Roche, Alfred Leite, Rudolf Löw, Otto Mähly, 23utt- hard Mangold, Alfred Meyer, Carl Theodor Meyer, Mar Müller, Hans Portmann, Karl Reber, S. €. Rüdifühli, Regnault Sarafin, Grnjt Schieß, Emil Schill, Maria E. Schultheh, Gertrud Schwabe, Q3. Seefeld, Ernft Seifert, W. Siegrift, Hermann Sondermann, Carl Speifer, D. Gfaiger, Fri Voirol, Albert Wagen, Charlotte Weiß unb Grau Martha Wittwer. — Plaftit gab'$8 von Hans Grei, Auguft Herr, Hanns Zörin, Otto Meyer, Jakob Drobfl, Dtto Roos unb Auguft Suter.
. Nach diefer Zubiläumsfhau, melde im Grunde nichts Zubilierendes an fid) hatte, jonbern eher unter bem Grid) des Gemwöhnlichen war, fam eine äußerft fehenswerte Aus- ftellung von nur vier Künftlern. Erftens war der Nachlaß des Thurgauers Hans Brühlmann zu fehen: flotte Akte, figürlide KRompofitiosnen von großem Wurfe, Porträts, Landfchaften und namentlich Stilleben von einer Zeichnung und farbigen Pracht, bie an die beften modernen Sranzofen denken ließen. Sweitens der Basler Heinrich Altherr, Profeffor an der Stuttgarter Stunitid)ule. Auch er gab be- beutenbe Rompofitionen, unter welchen ein „Orpheus und bie Mänaden” bie gemaltigite war, ferner fchlichte, groß: empfundene Porträts, fchlieflih Landfchaften. Alles dies erregte Intereffe und Greube. — Carl Gafpar in München Ihafft refigiófe 93ilber, welche burd) den Naturalismus bindurchgegangen find, aber weit über ibm ftehen. Ein „Ehriftus am Delberg” ragte weit hervor. Als vierten lernte man ben Ruſſen Robert Genin kennen, den Maler traum- bafter, aber innig empfundener Figuren und Landfchaften. Cafpar und Genin erregten Kopfſchütteln; aber fie zeigten eine Richtung der modernen Runft, in der manches Neue und feltfam Schöne erreicht wird.
Im Februar fam eine Ausftelung, bie mehrfach an die alten „Permanten” im fehlimmeren Sinne gemahnte. Emit
306
Dreitenftein, 3. €. Raufmann (Luzern), Charles Flach (Srigels) batten viel zu viele 93ilber, auch folche von minderem Werte, ausftellen dürfen, als daß ihre Kollektionen irgendwie oder irgendwen hätten anziehen fónnen. Die Mit- telmäßigfeit ber Ausftellung wirkte fo drüdend, bap Walther Bär mit farbig und zeichnerifch originellen finberbilbern, ja daß nicht einmal Mar 93urgmaier (?larau) mit gtof- artigen AJuralandfchaften, feinen Blumenftüden und 2[qua- rellen den Befchauer reftlos erfreuen fonnten. Auch Marie 90$, bie fid) als farbenftarfe Porträtiftin zeigte, und Plinio Gofombi, der bod) fonft mit feinen Winter- und Verner- landfchaften einzufchlagen pflegt, fonnten den Gejamteinbrud der Ausftellung nicht heben; noch weniger vermochten dies Ettore Burzi (Lugano), Felice Desclabiffae (Gmunden), Joſeph Schönenberger, Albert Schweizer und U. 98. Züricher (Ringoldswil), trogdem auch fie, namentlich in Landfchaften, Gutes gebracht hatten.
Om März wurden wir dann reichlich entſchädigt. Da ftellte der Maler und Bildhauer Carl 93utdbarbt Modelle und Entwürfe für bie Sandfteinrelief am Kunſthaus in Zürih aus: Fünf gewaltige Metopen, die Hälfte eines Amazonentampfes; fie riefen mit ihrer prächtigen Verteilung im Raum, ihrer antifen Ruhe und ihrer Einfachheit im Aus— drud bet Künftlern und Laien Bewunderung hervor. Dazu waren eine Menge Rötel-, Kohlen- und DVleiftiftftudien zu feben, welche das Können Earl 93urdbarbts ebenfalls ins befte Licht fetten. Ueber den ganzen Eyflus, das bebeut- famfte Bildhauerwerf eines Gchweizers, wird in der Münchener „Runft für Alle” (29. Sabrg. 22. Heft, ©. 526 ff.) berichtet. — Im untern Saale waren Arbeiten des 93asler Malers Gbriftopb Oehler ausgeftellt: große Figuren: fompofitionten, Portraits und Landichaften. — Gleichzeitig waren wieder einmal eine Anzahl Originalzeichnungen aus dem „Simpliziffimus” und franzöfifhe Otabierungen (von M. Achener in Paris) zu feben.
307 20°
Die April-Ausftellung brachte ungefähr fünfzig alt- bolländifche Gemälde zur Schau, bie recht gute Bilder und noch beljere Namen aufwies. Daneben gab'$ wieder einmal eine Carl Theodor OXteper-Galerie. Der in München lebende Basler Landfchafter, der Sohn des gemütvollen Dichters Dr. Theodor Meyer-Merian, ift immer nod) in Q9anb- Ihaften, Paftellen, farbigen Zeichnungen, €itbograpbien und Radierungen jo frijd und tief wie vor fünf Luftren und fand darum unter alten und jungen Yasler Runftfreunden verdiente Anerkennung. Neben feinen Bildern bingen farbige Suralandfchaften von Albert Kron. Ein Basler, der felten bei uns erfcheint, ift Carlo Bödlin, ber jüngfte Sohn des Meifters. Er batte eigenartig aufgefaßte fonnige italie- nifhe 9anbidaften ba. — Ein ausgefuchtes Ertra diefer April-Ausftelung waren Handzeichnungen und Skizzen⸗ bücher von bem verftorbenen Karl Stauffer-Vern, bem großen Künftler und [der vom Schidfal beimgejudbten Menſchen (1857—1891).
Sm Mai beftritt ein junger Basler Figuren- und Landſchaftsmaler, Arnold Fiechter, den Hauptteil der Aus— ftellung. Er leiftete den Beweis — wenn ein folcher über- haupt nötig wäre — dab in Baſel eine Anzahl junger Maler am Werk tit, welche, nicht im Geleife ber jogenannten „Modernen Schweizer” wandelnd, eine Runft hervorbringen, die in Form, Farbe und Auffaffung originell, ja ftellenmeije groß ijt. Neben Fiechter batte Lucien Mainffieur in Paris ausgeftellt, römifche, Dauphine- und Bugey⸗Landſchaften, welche treffliches franzöfiiches Können zum Ausdrud einer eigentümlihen Melancholie verwenden. — Daneben gab Pablo Picaffo in mehr als vierzig Bildern und 3eid- nungen bem Basler Publitum fubiftifd)e und futuriftifche Rätfel auf. Trotz biejen Verkleidungen mar der virtuofe Zeichner unb Farbenzauberer wohl zu erfennen. — Bilder von Julius Moos in Birsfelden und von ber Baslerin Grau Martha Wittwer-Gelpfe füllten, zufammen mit
308
Werfen von bem Münchner Rudolf Cief unb dem Ham- burger W. p. Rudtefchell den übrigen Raum der vier Säle.
Sm Zuni fam ein alter treuer Freund zu uns in bie funftballe, Hans Thoma, der Karlsruher Meifter, als ge- botener Schwarzwälder unjer guter Nachbar. Der ganze otoBe Oberlichtfaal war ihm referviert worden. Die Aus— ftellung zeigte neben manchem alten vorzüglichen Bild eine Reihe neuer unb neuefter Gemälde, bie barfaten, daß ber nahezu fünfundfiebzigjährige Künftler immer nod) an ber Arbeit iff unb dann und mann Dinge fchafft, welche einem ungen und Züngften zur Ehre gereichen würden. Auch von Thomas verftorbener Gattin war einiges in der Austellung zu feben. — Ein Geiftesverwandter Thomas, nicht fein Schüler, aud) nicht ein Nachahmer, ijt ber pbantafie- und gemütvolle tüchtige Basler Radierer Arthur Riedel. Er gab Figürliches, fowohl ganze Rompofitionen wie Porträts, und Landſchaftliches; an allem fonnte man berzlihde Freude haben, weil in allem, neben gutem Können, Seele lebt. — G. W. Wolf, Baſel, batte Plaftifen ausgeftellt, an denen Reinheit der Form und der Empfindung wahrgenommen werden fonnte. Sn Zeichnungen unb Radierungen puljterte eigenartig ruhiges unb bewegtes Leben.
Sm Zuli und Auguft tit die Runfthalle gefchloffen. Sie sing aud) im September nicht auf; die Kriegsereignifle bringen den Künften und den Rünftlern harte Tage. Uber aud) bier taten fi, wie für das Theater, Freunde zufammen, b. b. ber Runftverein arrangierte zwei außerordentliche Aus- ftellungen, die eine für Malerei, die zweite für Plaftit und Graphit. Die erfte bat ftattgefunden unb fällt, ba fie im Dftober eröffnet wurde und bis zum 1. November gedauert bat, nod) in unfer Berichtsjahr. Site umfapte 235 Nummern unb bot einiges ganz Ausgezeichnete. Das Hauptſtück barin war ein Dedenbild „Sommertag” von Hermann Meyer, eine lebensfreudige, farbenftrablende Rompofition. Indiſche Land- haften, von einer Fürafid) vollbrachten Reife ber, hatte Paul
309
Burckhardt aufzumweifen, ftarkfarbige, raufchende Bilder voller Zropenpradt. 3. S. Lüfcher batte ſüdfranzöſiſche Gegenden zu zeigen: fonnige Landichaften von üppiger Fülle. Dtto Roos, der Bildhauer, bat fid) in einigen fimplen Land- ſchaften als Maler von trefflichen Eigenfchaften ermiefen. Die übrigen Bilder ftammten ebenfalls von Basler Künſtlern unb Künftlerinnen, bie meift (don Eingangs, bei Gelegenheit der fogenannten Zubildäumsausftellung genannt worden find. Dort Hatten bie Paftelliftin Sophie 93urdbarbt-Dipp, bie Figuren: und Landichaftsmalerin Frau Guftava Sfelin- Häger, bie Landfchafter Paul Rammüller und Mar Kind— baufet, der Porträtift und Stillebenmaler Werner Koch, bie €anbfdjafter $. Morftatt und Zulius Moos, der Figuren: maler Alfred Peter, bie Landfchafter Joſeph Schönenberger und Albert Schweizer, der Figurentomponift Paul Schweizer, bie Stillebenmalerin Selma Siebenmann, der Porträtift und Landfchafter Robert Strüdel gefehlt, die in biefer Le&ten Aus- ftellung mit zum guten Seil vorzügliden Bildern vertreten geweſen find.
D. 9 rdjiteftur.
Om Anſchluß an bie legtes Sabr gemachten Andeutungen müflen wir auch jetzt wieder vor allem unjere Blicke dem Rheinufer ber Altftadt von Großbafel zuwenden.
Nah dem jahrelangen bedauerlihden Vorhandenfein von Srünmerfelbern und leeren Baupläßen an der Schifflände iff nun bier endlich ein Gebäude entftanben, das den Kopf der mittleren Otbeinbrüde würdig beberricbt. Auf einfache und glüdliche Art haben bie Architekten ber Basler Bau— geſellſchaft unter einer durchgehenden Barodarditektur drei Häufer zu vereinigen gewußt. Das Edhaus hat ben Otamen „zum Lällenkönig" erhalten, das mittlere foll in Erin- nerung an das ehemalige Wirtshaus „zum Kopf" genannt . werden. Es ift eine gute Basler Tradition, diefe angeftamm-
310
ten Häufernamen aud) bei modernen Neubauten nicht unter- geben zu lafien. Leber alle drei Häufer fpannt fid) das große, mit alten Ziegeln gebedte Dach, von zwei Segmentgiebeln belebt. Seine äußere Form unb die Anordnung ber Kamine auf der Zirft find ben Dächern vom blauen und weißen Haus nachgebildet, was wefentlich zur Ruhe und Einheit des ganzen Städtebildes beiträgt.
Die Gleichmäßigkeit der Form der Dächer ift befannt- fid) eine Grundbedingung für bie gute und harmoniſche Gr- fheinung von Stadtteilen und ganzen Drtfchaften. Ein Gemifch von flachen, fteilen und halbfteilen Dächern, womög⸗ fid) nod) mit verfehiedenem Material bebedt, wirkt auf den Beſchauer immer ftörend und unangenehm. Wie durch das Zufammenftimmen der Dachformen ber genannten Häufer- gruppe an der Schifflände mit alten dominierenden Dächern bier eine wohltuende Wirkung erzielt worden ift, fo erregt in dem fonft fo herrlichen Stadtbild auf der andern Geite des Münfters ber flachgededte Rloß ber untern Realfchule immer noch ben Aerger unb die Unzufriedenheit des Betrachters. Es iff baber erfreulich, baB das Baudepartement einen Sadauf- bau beabfichtigt, um bem Raummangel der Schule abaubelfen und die Harmonie mit der Umgebung fo gut wie möglich mieberberaujtellen. Es wird allerdings eine beiffe Aufgabe fein, die ohnehin (don maßlofen Höhendimenfionen fo zu behandeln, daß fie nicht beeinträchtigend auf bie Größe des Münfters wirken. |
Wenden wir uns von ber Schifflände gegen ben Blumenrain, jo [haut ung das hohe Manſardendach des Haufes „zum Korb” entgegen, erbaut von Architet Rudolf Linder Die ganze Gafjabe ift in einem lebhaft farbigen gelben Hauftein ausgeführt. Zu ben glatt gehaltenen Mauer- flächen Eontraftiert angenehm der in Gechsedform vor- [pringenbe Erfer. Die Details find modern, wenngleich das Ganze Anklänge an die deutfhe Renaiffance bat. Das Hinterhbaus an ber Cpiegefgalje iff mit rubigem Sad) und
911
gelbverpugten Mauerflächen als GefdjüftSbaus mit großen Senftern ausgebildet. Zwiſchen beiden ift gefchidt ein flach: gebedter niedriger Verbindungstraft eingefügt. Gegenüber an der Spiegelgafle find burd) Otieberlegung alter Häufer vor Kurzem wieder Ruinenfelder entffanben, die ihrer Neu: geftaltung harren; hoffentlich nicht allzulange.
Auf bem Marftplag iff ber bem Rathaus gegenüber: liegenden Gruppe bie Ede an der Hutgafle beigefügt worden. Sie ift nach dem feinerzeit mit einem erften Preis bedachten Konkurrenzentwurf der Herren Widmer unb Erladher in freier Symmetrie zur andern Ede an der GSattelgaffe von Architekt Lodewig ausgeführt worden. Schräg gegenüber bat bie Nationalzeitung ihren Schalterraum umgebaut und die Faſſade für bie Bemalung hergerichtet, bie der junge Basler Künftler Numa Donze anbringen fol. Wenngleich äußere Bemalungen unferem Klima nicht zu troßen vermögen, fo behalten gute Farben bod) auf bie Dauer eines Menfchen- alters ihre Leuchtkraft, und es ift erfreulich, wenn Verſuche gemacht werden, biefe in unferer Stadt einftmals beimifche Kunſt zu neuem Leben zu erweden. Es fei hier anfchließend erwähnt, daß bie Abficht vorhanden iit, aud) bie Kirche von Gt. Safob mit einer äußern Bemalung zu verfeben und daß zurzeit ein freier Wettbewerb unter Basler Künftlern zur Erlangung von Entwürfen hiefür ausgefchrieben if. Mögen biefe 93eftrebungen dazu beitragen, daß Architekten und Maler wieder lernen, zufammen zu arbeiten, wie einft im goldenen 3eitalter ber Renaiffance!
Kehren wir nad) biefer Abfchweifung zu unferem Rund- gang in bie Stadt zurüid, wo auf bem Barfüßerplatz an Stelle des alten heimeligen Wirtshaufes „zum braunen Muß” unter der Leitung von Arhitet R. Sandreuter ein Neubau entftanben iff. Auch bier ift durch Farbe, allerdings nur ſchwarz und grau, bie Galfabenardjiteftur in gelungener Weiſe bereichert worden. Man fieht, wie der Architelt be- müht war, das Dach fo niedrig als möglich zu halten, um
312
bie darüber ftebenben malerifchen Partien des Lohnhofs bem 93(id tunlichſt offen zu Laflen.
Wenn wir ben Gteinenberg aufwärts geben, fo in- tereffiert uns vor allem das neue Edhaus Aefchenvorftadt- Elifabethenftraße, von Architekt Heinrih Flügel, mit feinen pier rythmiſch fid) mieberbolenben Grferm im Stil moderner Gefchäftshäufer. Man hätte es wahrjcheinlich mehr begrüßt, bier eine Edlöfung in der Art der Handelsbanf ent- Keben zu feben, wie fie aud) von ber Handwerferbant und vom Bankverein verfucht worden find, bod) fcheint dies mit einer rationellen Grunbriplófung unvereinbar gemefen zu fein. Auch bie gegenüberliegende Handwerkerbant bat unter der Leitung bet Arhitelten Suter und Burdbhardt ihre Geftalt etwas verändert. Die beiden Portale am St. Alban- graben find in gewöhnliche Fenſter verwandelt und beide Eingänge an bie Freieftraße verlegt worden. Sm Innern find dadurch ein großer Schalterraum und gutbelichtete 93ureaur entftanden. Die gleichen Architekten haben aud) das Edhaus Albangraben-Dufourftraße für bie Zwecke ber Schweizerifchen Eifenbahnbanf umgebaut und Die Fable Giebelwand mit Zenftern durchbrochen, unter Beibehaltung des anfpruchslofen altmodifchen Stile.
Zwei größere Neubauten im Innern der Stadt mögen nod) erwähnt fein: Der Mufeumsumbau auf bem Rollerhof- areal und am Schlüffelberg, von ben Architekten Viſcher und Söhne, unb die Frauenarbeitsfhule an der Kohlen berggaffe, von ber Basler Baugefellfhaft. Beide find noch unvollendet und werden erft das nächfte Zahr aus- führlicher befchrieben werden fünnen.
Wenn wir uns von der innern Stadt ben Außen: quartieren zuwenden, fo bemetfen wir, wie im Ct. Alban: und WUefchenquartier befonders Architekt Fritz Stehlin eine rege Tätigkeit entfaltet hat. In feinen gediegenen alten Barodformen bat er vier größere Privathäufer erftellt, wovon
313
wohl das befte unb umfangreichfte in der St. Albanvorftadt. Das Haus ftebt ein gutes Stüd hinter der Straßenflucht zurüd, wodurch ein geräumiger Vorhof entftanden iff, ben gegen bie Straße ein einfaches Gitter abfchließt. Zwei alte fteinerne Zürpfoften aus dem 18. Sabrbunbert find babet zu Ehren gezogen worden. Das breitgelagerte einftódige Wohn- haus wird von einem hoben Manfardendach gekrönt, die Verhältniſſe find bei aller Einfachheit vornebm und ruhig: bie Mitteltravee ift als Rifalit vorgezogen, und durch bie offene Haustüre dringt ber Blick in den Garten, in deflen Grund in ber Hauptare des Gebäudes ein altes barodes Gartenbáusd)en einen vortrefflihen Abfchluß bildet. Der Oteubau St. Safobsitrape 25 läßt fid) fofort als Werk des gleihen Architekten erfennen; aud) bier ein einftödiges Oprivatbaus mit Manfardendah, die Mittelpartie vor- gezogen, mit einer Freitreppe gegen den Garten. Der Heinere DBauplag und wohl aud) bie Rüdfiht auf bie vorhandene Bepflanzung geftatteten eine weniger freie Entwidlung, fo mußte das Gebäude an den daneben liegenden 23lod an- gelebnt und bie Schmalfront der Straße zugefehrt werden, während die Sauptfaljabe ſenkrecht dazu ftehbt. In ungefähr gleicher Stellung ijt das nod) unvollendete Haus an der Rapellenftraße 25 in Architektur und Dachform den beiden vorigen ähnlich. Bei bem beidfeitig eingebauten Reiben: haus WUefchengraben 5 find die Verhältniffe etwas anders: Die Faſſade iff ameiftódig, ganz mit hellem Hauſtein ver: Heidet, mit achtedig vorgegogenem Mittelbau; darüber, wie bei den andern, das mit 3iege[n gebedte Manfardendad).
Sn bet Parkftraße 12—18 haben bie 9(rdjiteften Suter unb Burckhardt eine Reihe einitódiger Einfamilien- häufer erbaut in anfprechender Putzarchitektur und von ruhig wirfender fymetrifcher Gliederung.
Om übrigen war die Bautätigkeit in diefem Quartier eine febr befchränfte, und wir willen einzig nod) das anfpruchslofe, aber hübſche Haus Hardtitraße 131 von ben
314
9(rdjiteften La Roche, Gtábelin u. Gie. zu nennen, bevor mir unfere Schritte bem neuen Zeughaus zumenden, einem Werk von Architekt Ceifinger vom 23aubepatte- ment. Es iff in feiner großzügigen und flaren Gliederung ein Öffentlicher Bau, an dem jedermann feine Freude haben fann. Die guten Verbältnifie von Fenſtern und Flächen find von nobler Wirkung, der Aufbau und die Profilierungen fráftig und berb, aber keineswegs tob. Ueber dem kompakten Sodelgefhoß verbinden durchgehende Lifenen die beiden oberen Ctodmerfe. Darauf liegt bebábig das Manfarden: bad) mit weit ausladendem Gefims. In etwas reicherer 93arodardjiteftur als das übrige tif ber Vorbau in der Mitte mit dem Portal gehalten. Wenn es möglich gewefen wäre, bie Architelturformen des Zeughaufes aud) in ben SOefonomie- gebäuden im Hof zur Anwendung zu bringen, fo hätte die Wirkung der ganzen Anlage nod) gefteigert werden können.
On ber Breite find an verfchiedenen Orten neue Miet- häufer entftanden; wir führen bie Gruppe Ede Redingftraße- Lehenmattweg an, von Arhitet Eugen Tamm. Als er- freulihes Zeichen für die induftrielle Entwidlung der Stadt wollen wir bie neue Fabrik an der Weidengafle auffaflen, erbaut von Preiswerf u. Cie. |
Sm Gundoldingerquartier ift das Schulhaus, welches den ganzen Rompler zwifchen Güter: und Dornacerftraße, Bärſchwyler- und Liesbergerftraße ausfüllt, fo weit vorgerüdt, daß über feine äußere Erfcheinung gefprochen werden fann. Die Gebäude find an die Güter: und Bärfchwilerftraße ge: tüdf, während an der andern Ede der Hof fid) ausdehnt. Der große 93aupla6 bat es ermöglicht, bie Gebäulichkeiten mebr in bie Breite als in bie Höhe auszudehnen, wodurch fie fid ungezwungen ihrer Umgebung anpaflen. Den ver- fhiedenen Zweckbeſtimmungen des Innern entfprechend, ift aud) das Aeußere febr mannigfaltig gegliedert und zu einer malerijden Baugruppe mit reizenden Cinzelbeiten aus- gebildet worden. Etwas fompligiert geftalten fib Dabei
315
ftellenweife bie Dachverfchneidungen. Architekt ift Herr Th. Hünermwadel vom VBaudepardement.
Unter den meift drei- big vierftódigen Spekulations bäufern, bie in jener Gegend neu entflanden find, befinden fid mitunter fünftleri[d) nicht unintereffante Faffadenlöfungen, fo bat an weithin fichtbarer Stelle oben am Thierfteinerrain Arhitet Emil Dettwiler eine Gruppe von drei Häufern in fymmetrifcher Anordnung erbaut.
Somit find wir auf dem Bruderholz angelangt, wo vor: läufig am Ausbau des neuen Straßenneges gearbeitet wird, während im Gebiet des Hochbaues bie Tätigkeit in letzter Zeit nod) ſchwach war. Es ift hier im weiteren nur die im Bau begriffene Villa zwifchen Amfel- und Droffelftraße, in einem günftig am oberen Rand des Abhanges gelegenen Garten von den Architekte Widmer Erlaher und Gafininambaft zu mahen. Es verfpricht eine tntereffante Leiftung zu werden in modernen Formen mit ftarfer 23e- tonung der Horizontalen.
Hatten im Innern der Stadt und auf dem Oftplateau einige fertige oder in Ausführung begriffene Monumental: bauten vornehmlich unfere 9fufmerffamfeit auf fid) gezogen, fo iff dem nichts ähnliches auf dem Weftplateau entgegen zu ſtellen. Abgeſehen von Eeineren Gegenftänden fann Diet nur von Projekten gefprochen werden, bie fchon feit Jahren auf: unb untertauchen, nun aber bod) greifbare Form an- zunehmen verfprehen. Wir meinen damit die heiß um- ' friftene Frage des Kunſtmuſeums. — Gnbgültig ift fon im vorigen Sabr burd) Großratsbefchluß der Schützenmattpark als Bauplatz beftimmt worden. Eine Planfonfurrenz unter fhweizerifhen Architekten mit Termin auf Ende März 1914 lieferte eine ftattliche Anzahl bedeutender Projefte. Das Preisgericht bat dabei zwei gleichwertige erfte Preife an Herrn Emil Fäſch und an bie Basler Bau— gefellfhaft (Architekte BVernoulli und Grü- ninger) erteilt unb ben Fäſchiſchen Entwurf als Grund-
316
lage für bie Ausführung empfohlen. In biejem ijt ein in bie Axe des Bauplatzes gefteltes Mufeum mit Hauptfaſſade gegen ben Ring vorge[eben, während 93ernoulli ben Bau mehr pom Ring zurüd unb in feiner Längsausdehnung an bie Seite des Weiherweges ftelt. Wie in der Situation, fo find aud) in der Grundrißausbildung die beiden Vorjchläge gänzlich verfchieden. Die Parteien find von der Regierung eingeladen worden, auf Grund ihrer Seen neue Projelte vorzulegen, und es wird mit Spannung erwartet, wem fchließlich bie Ausführung aufallen fol.
Während biefer Rampf ftd) einftweilen auf dem Papier abfpielt, ift auf der Ede des gleichen Areals am Wielands- pla6 der Rohbau für den Polizeipoften von den Architekten Widmer Erlacher und Calini nahezu vollendet ‚worden; feine Beſprechung müſſen wir indes für fpäter ver- fchieben. | Auf der Mitte des 93unbesplate8 hat das S3aubeparte-
ment den Verſuch gemacht, einen der fonft meift fo banal ausfehbenden eifernen DBeleuchtungsmaften in äſthetiſche Gormen zu Heiden, was burd) einen Sodel aus Kunftitein erreicht worden iff, mit ringsumgehender Sitzbank und bat- über einem Sigurenfries von Bildhauer Auguft Heer. Am Steinenring 15—21 haben bie Gebrüder Stamm eine Reihe anmutiger Einfamilienhäufer erftellt, daran an- fchließend (Wr. 25) ift ein Privathaus der Architekten Guter unb Burckhardt im Bau.
Geben wir ftadteinwärts, fo entbeden wir, bap bie ehemals freiftehende Zaflade der Marienkirche von zwei Flügelbauten eingerahmt worden if, die als Pfarr: und Gigriftenwohnung dienen. Der Architekt Guftav Doppler bat baburd) einen anmutigen gefchloffenen Vor: bof gefchaffen, was dem Eingang zum Gotteshaus mehr Reiz und Stimmung verleiht, als der frühere 3uftanb. Vom gleihen Architekten iff an der GSocinftraße 42 das neue Sinzenzianum in einfacher, gut gegliederter Putzarchitektur.
317
Weiter innen, an derfelben Straße Nr. 8, iit ein Eleines, ein- ftödiges CDripatbaus von Architekt Pfrunder zu er: wähnen. |
Om äußeren Spalenquartier ift ftellenweife febr eifrig gebaut worden; es handelt fid) aber ausſchließlich um Miet- báufer. Don ben verfchiedenartigen Typen nennen wir als gute Veifpiele für eine Reihe dreiftödiger Wohnbauten ben Block an der Ede Eichen: und Buchenftraße, vom Verband fchweizerifher Ronfumvereine mit neunundneunzigjährigem Pachtrecht auf Staatsboden erftellt. Als gute, ganz einfach gehaltene zweiftöcdige Typen führen wir bie Cerie an der Stöberftraße 19—31 und Ede Otufadjer- und Schlettftadter: firaBe von der Basler BDaugefellfhaft an. Von der gleihen Firma find an ber gebogenen Flucht ber Sierenzerftraße 47—63 und 44—62 zwei Reiben Heiner Einfamilienhäufer, bie nur aus Erdgeſchoß mit bobem Manfardendach befteben.
Auch find im äußeren St. Sobannquartier da und dort neue Spefulationsbauten entffanben; bod) wenige davon fónnen einen Fünftlerifchen Wert beanfpruchen. Innerhalb dem St. Sobanntor an der Ede SobanniterftraBe und St. 3o- bannvorftadt ift ein großer Häuferblod durch die Architekten Burdhardt, Wenk u. Cie. erbaut worden. Dem Schlachthaus bat das 93aubepartement im Stil ber alten Ge- bäulichfeiten ein neues Sreibank- und Portierhaus zugefügt.
Es erübrigt uns nun, aud) dem Kleinbafel unfern jähr- [iden 93efud) abauftatten:
. Qüt bie Neugeftaltung des großen Areals des alten Badifhen Bahnhofs ift zurzeit unter Basler Architekten ein Ideen⸗Wettbewerb ausgefchrieben; unterdeffen ift an der Schwarzwaldallee, gegenüber dem neuen Bahnhof, bie Bebauung in erfreulicher Weife fortgefchritten: Es Tann jest faft als gefichert betrachtet werden, daß es gelingen wird, den größten Teil des Plabes mit einer einheitlichen Architektur einzurahmen. In den zum Zeil ausgeführten und
318
zum Seil nod) im 93au befindlihen Häufern haben bie Architekten Gebrüder Stamm es meifterlich verftanden, unter Beibehaltung der gleichen Gefims- und Gefdopbóben und des durchgehenden Lifenenfyftems, burd) Vor⸗ und Zurüdjegen einzelner Partien, fowie burd) die Variation im Detail bem Aufnahmegebäude der Bahn ein gutes, groß: zügiges Vis-a-vis zu fchaffen. Bis jest find ausgeführt: Der ganze Block zwifchen Riebenftraße und Rofentalftraße, bie fommetrifch angeordnete Reihe zwifchen Rofental- und Riehenteichftraße, ohne den Mittelbau, fowie Rojental: ftraße 68.
Auh in Kleinbafel find, befonders in der Richtung gegen SWeinbüningen und ben 93abnbof, neue Miethäufer aus bem Boden gewachfen, auf bie wir ung aber ein näheres Eingehen aus den gleichen Gründen wie am andern Rhein— ufer erfparen fónnen. Die ſchon legtes Jahr genannte Ede Unterer Rheinweg-Floraftraße, von Achitet Ernft Mutſchler, ift unterdeflen vollendet worden; nicht fern davon iff das Haus Unterer Rheinweg 118 bemerkbar mit feinem balbrund vorjpringenden Verandenbau, von Architekt Pfrunder. Die St. Sofepbsfitdje bat an ber Ammerbach- ftraße 9 ein neues Pfarrhaus erhalten, das in Form und Gatbe der Kirche gut angepaßt ift. Architekt tit Herr Guftav Doppler.
Bon mehr wirtfchaftlichem als Fünftlerifchem Intereſſe find die Vergrößerung ber Zärberei in der Gärtnerftraße, fowie einige induftrielle Neubauten in Rleinhüningen.
3um Schluß wollen wir einem Wert von Architelt G. Mutfchler, der Heinen Villa am Schaffhaufer 9tbein- weg 101, das verdiente Lob fpenden. Gegen den Rhein zu fhaut ein traulicher Giebel mit einer tiefen €oggia in ber Mitte, eine Bogenhalle verbindet den Hauptbau mit bem Gärtnerhäuschen an ber Allemannengafle. Durch Liebevolle, forgfältige Behandlung ift hier in befcheidenen Dimenfionen aus Haus und Garten ein reigoolle8 Ganzes gefchaffen worden.
319
Basler Cbroníit. Dom J. November J9]3 bis 3]. Oktober 7914. Don Srít Baur.
November 1913.
2. Das Rirhenopfer wird in ben Gottesbieniten bet evangelifch-reformierten Kirche für evangelifche Schulhaus: bauten in 93ulle und Gíamatt erhoben und wirft 5043 Zr. ab.
6. Der Große Rat beſchließt mit Dringlichkeit Er- werbung der Liegenfhaft Schlüffelberg 5 (S3ud)bruderei Widmer) und Abtretung eines Areals am Blumenrain, ge- nehmigt mit einer von der Regierung akzeptierten Aenderung ben neuen Bebauungsplan für Rleinbafel und befchließt ent- gegen einem Antrag auf Heberweifung an eine Rommilfion Eintreten auf den Entwurf der Regierung für einen Der: faljungsartifel betr. Erhebung eines Schulgeldes von aus: wärtigen Schülern bafelftädtifcher Schulanftalten.
On Greiburg in der Schweiz ftirbt plöglich in feinem 60. 9[(ter$jabr Dr. Fritz Speifer, früher Zivilgericht: fchreiber in feiner Vaterſtadt Baſel, nad) feinem Lebertritt zum Katholizismus Abbe und Profeſſor des Kirchenrechts an der Univerfität Freiburg.
12. Die Synode ber epang.-ref. Kirche von 93afel berät in erfter Lefung eine Befoldungs- unb Penfions- ordnung ber Kirchenbeamten, bewilligt einige Nachtrags: frebite für 1913, nimmt das Yudget für 1914 an, beſchließt den Ankauf eines Stüdes Land im äußern St. Sobann- quartier zum Bau einer Kirche und beauftragt den Rirchen- tat, bei ben ftaatlichen Erziehungsbehörden für 93eibebaltung
320
des Religionsunterrihts in der Volksſchule nachdrüdlich einzutreten.
13. Der Große Rat nimmt einen Verfaflungsartifel an, ber bem vom Volk angenommenen Grundjaß der Gr- bebung eines Schulgeldes von Auswärtigen Rechnung trägt; er befchließt bie Rorrektion ber 93abnbofítrape, genehmigt bie Staatsrechnung von 1912 und befchließt Eintreten auf bie von einer Rommiffion vorberatenen Gefe&e betr. eine offent- lide Sranfenfaffe und betr. obligatorische Rrantenverficherung.
14. Zei ber Reftoratsfeier der Univerfität in ber Martinskirche Spricht ber abtretende Rektor Prof. Karl 3081 über bie philofophifche Krifis der Gegenwart. Daran Schließen fid) das Rektoratseflen, ein $[maug der Studenten- fdjaff und ein Kommers in der 93urgvogtei.
15. 16. Die Rihterwahlen famen im erften Wahlgang nur teilweife zuftande. Die Sozialiften hatten nur die Richter ihrer Parteifärbung auf die Liften ge- nommen. Dies veranlaßte die bürgerlichen Parteien, von dem Vorſchlag fozialiftifcher Randidaten abzufehen und die entiprechenden Stellen frei zu laflen. So famen zuftande bie Wahlen von je drei Appellations-, Zivil- und Gtraf- gerichtspräfidenten, von ſechs Appellations-, vier Zivil- und fünf Strafrichtern, ſämtlich Beftätigungswahlen; von Sozial: bemofraten wurde nur das fozialiftifhe Mitglied des Appellationsgerichtes beftätigt. Für einen zweiten Wahl— gang bleiben zu wählen ein Präfident des Zivilgerichts, bet Statthalter des Strafgerichts, je drei Zivil: und Strafrichter. Die Beteiligung betrug nur etwa 25% ber Stimmberech- figten.
Zum Geelforger der Elifabethengemeinde wird etnbellig gewählt Pfr. W. Merz (freif.), derzeit in Baden, an Stelle des aus Gefundheitsrüdfichten zurüdtretenden 3. (9. Birn— ftiel. Die pofitipe Richtung batte feinen Kandidaten vor- seichlagen.
16. Der Fußballklub Baſel feiert feinen 20-
321 21
jährigen 93effanb mit einem für ihn glänzend verlaufenen Math gegen den 5. G. Zreiburg i. 293. und mit einem Herrenabend.
22. 9n feinem 82. Altersjahr ftirbt, bis in feine lebten Sage nod) beneidenswert rüftig, Wilhelm Biſchoff, der in ben mannigfaltigften Aemtern feinem Vaterland gedient bat. Von Beruf war er Landwirt. Schon in den 1860er unb 70er Zahren wurde er in richterliche Stellungen unb in den Großen Rat berufen. Nach der Neuordnung der bafel- ftädtifchen Dinge burd) bie Verfaffung von 1875 fiel ihm als Statthalter des Stadtrates nad) dem Tode des Präfidenten Minder vor allem die Arbeit ber Ausfcheidung zwifchen Bürger: und Einwohnergemeinde zu, und er wurde bann der erfte Präfident des Engern Bürgerrats. Bon 1878 bis 1905 faß er in der Regierung als Vorſteher teils des Departe- ments des Innern, teil des Sanitätsdepartements. Als Militär flieg er zum Range des DBrigadefommandanten. Bis in feine legten Lebensjahre bat er al8 Mitglied des Weitern Bürgerrates nod) regen Anteil am öffentlichen Leben genommen. Ohne im eigentlihen Sinne des Wortes populär zu fein, genoB er allgemeine Hochachtung und un- befchränttes Zutrauen feiner Mitbürger.
22. 23. Sm zweiten Wahlgang ber Rihterwahlen wurden die Stellen befeót, bie vor acht Sagen bei ber Herr- ſchaft des abfoluten Mehrs nicht zuftande gefommen waren. Dabei wurden die bisherigen fozialdemokratifhen Mit: glieder der Gerichte beftätigt, ber von freifinniger Geite unterftüßte Liberale Kandidat für die Statthalterftele am Strafgericht gegen den fatbolijcen Anwärter gewählt, ferner neu ein fozialiftifcher Sivilrichter, ein fiberaler und ein frei⸗ finniger Strafrichter.
23. Der langjährige Mädchenfetundarlehrer 3.G.&rei- Scherrer, aud) in Stenographenkreifen wohlbefannt, ftirbt im 68. Altersjahr.
On einem von Stennern als febr intereffant gerühmten
322
GuBbalímatd befiegen die Young Boys Bern ben Gootball-R(ub Bafel mit 2:1 Goal.
25. Der Weitere Bürgerrat bewilligt einen Kredit von 70000 Zr. auf Rechnung des Spitalvermögens für Ankauf zweier Häufer in der bintern Opitalftraße und an ber Davidsgaffe und erledigt eine Reihe Begehren um Aufnahme ins Bürgerrecht.
Sum Rektor ber Univerfität für 1914 wählt bie Regenz Prof. Otto Eger.
Sn einer Sitzung in der Aula des Mufeums Eonftituiert fi ber Shweizerifhe Bund Für Naturfhus, gibt fid) Statuten unb beftellt feinen Vorftand aus Dr. Paul Sarafin, Präfident, Dr. St. Yrunies, ?(ftuat und Prof. F. Zſchokke.
26. Die Poſitiven Gemeindevereine ver— anftalten ihre gemeinſame Verſammlung in der 93urgvogtei. Miſſionsinſpektor 3. Frohnmeyer ſpricht über Theoſophie und Chriſtentum. Nachher wird das Spiel vom Sterben des reichen Mannes, „Jedermann“, von Hugo von Hof— mannsthal, aufgeführt.
27. Der Große Rat beſchließt den Bau eines chemiſchen Laboratoriums und nimmt bie neue Quartier: einteilung an, nad) ber bie Stadt in drei große Wahlkreiſe zerfällt; das Geſetz betr. WUenderung der 88 57—59 des Strafgefeges (Schuß ber freien Ausübung von Snitiative und Referendum) wird, nachdem ein Rüdweifungsantrag zu einer feiner wichtigften Beſtimmungen beliebt bat, auf eine fpätere Ci&ung vertagt. Hierauf wird fortgefahren in ber Beratung des Gefetes über eine Öffentliche Krankenkaſſe.
28. Die Freiwillige Schulfynode befpridt die Frage der Fürſorge für die fchulentlaffene männliche Jugend und nimmt nach ftark benüster Diskuffion eine Reihe Thefen darüber an.
30. Die italienifhbe Handelsfammer in der Schweiz hält in 93afel ihre Generalverfammlung ab.
323 21°
Nah ben gefchäftlichen Verhandlungen vereinigen fid) bie Teilnehmer zu einem Bankett, bem der italienifche Gefandte in der Schweiz, Marchefe Paulucci di Calboli, der italie- nifhe Generalfonful in Bafel, Gommanbatore Nagra, unb als Vertreter der Basler Regierung Reg.-Rat. Speiſer anmwohnen.
Am Eup-Match ftegt F. E. Bafel über F. €. Old Boys mit 7 :2.
Das KRirhenopfer des Miffionsfonn- tages ergibt 6178 Fr. und zwar für bie Basler Miffion 5037, für den Allg. Prot. Miffionsverein 574 und für bie Miſſion Romande 567 Gr.
Witterung. Die meteorologifchen Hauptwerte des Monats November find: Mittel der Temperatur 8,3, mittl. Zemp.-Marimum 11,2, mitt. Zemp.- Minimum 62 C, Mittel des €uftbrude 739,6, Summe ber Niederfchlagsmenge 109 mm, Summe der Sonnenfcheindauer 52 Std. Der Mo- naf fiel zu warm, zu reich an Niederichlägen und zu trübe aus, verglichen mit dem langjährigen Mittel und war ein durchaus unerfreulicher Zeitabfchnitt.
Dezember 1913,
2. Prof. Julius Peterfen hält feine Antritts- vorlefung über bie Literaturgefhichte als Wiflenfchaft.
3. Das vom Regierungsrat ausgearbeitete Budget für 1914 fieht vor an Ausgaben 22 369 450, an Einnahmen 19 084 600 Gr., fomit ein Defizit von 3 284,850 Gr.
Die evangelifh-reformierte Synode er- lebigt in zweiter Lefung bie Vefoldungsordnung, bereinigt das 93ubgef und nimmt den Bericht des Kirchenrats über die rüdftändigen Aufträge entgegen. Weiter beauftragt fie ben Kirchenrat, über das Wahl: und Stimmrecht der Frauen zu berichten.
4. Dr. Eugen Bernoulli erhält die venia legendi an der medizinischen Fakultät für Pharmakologie.
324
5. Der QGenofenfdafts$rat des Allg Konſum— vereins befchließt eine Unterſtützung von 10000 Zr. für bie Arbeitslofen und Verzicht auf ein Taggeld zu demfelben Zweck.
7. Ser Fußballklub Baſel befiegt ben F. G. Bern auf bem Landhof mit 7:1 Goal. |
8. Die Freiwillige Shulfynode führt in einer Nachmittagsfisung, bie am 28. November begonnene Beratung mit Referat und Diskuffion über bie fchulentlaffene weibliche Zugend zu Ende.
10. Die AUrbeitslofigkeit mad fid früher und empfindlicher geltend als in den le&ten Wintern. Die ftaat- liche Arbeitslofentommiffion fteht in Tätigkeit. Daneben bat bie „National Zeitung” eine Sammlung durchgeführt, bie in verhältnismäßig furger Zeit über 10000 Gr. abwarf.
11. Der Große Rat befchließt nad) 9tatififation einer Anzahl Aufnahmen ing Bürgerrecht und ber Richterwahlen vom 22./23. November ben Verkauf ber Liegenfchaft G[ifabetbenftraBe 1 und WUenderung ber Baulinie dafelbft unb Erwerbung ber Liegenfchaft St. Albanvorftadt 1; da- gegen verzichtet er auf den Umbau des „Großen Gollmar" unb beauftragt bie Regierung, Studien vorzunehmen über definitive Unterbringung der ftaatlichen Verwaltungen; Diet- auf bewilligt er eine Reihe von Nachtragkrediten, ferner 88000 Qr. für Aufftellung einer Umformer⸗Gruppe im Elektrizitätswert am Dolderweg und 290 000 Gr. für Aus- bau der eleftrifchen Kraftübertragung von Augft nach Baſel; endlich führte er bie 93eratung der Vorlage über die Öffent- [ide Krankenkaſſe in erfter Lefung zu Ende.
12. Sn der erften Sigung ber Gemeinnüßigen Gefellfhaft diefes Winterd wird an Gtelle der bis dahin üblichen fchriftlihen bie mündliche Berichterſtattung über die einzelnen Unternehmungen der Gefellfchaft durch: geführt.
325
13. Drof. Alb. Geßler wird von ber Regierung ge- mäß feinem Anfuchen aus feiner Lebrverpflichtung an der Aniverſität entlaffen, unter 93eibebaltung von Zitel und Rechten eines a. o. Profeff ors.
13./14. Die Wahl ber gewerblichen Schieds— gerichte wird bei mäßiger Beteiligung für eine neue Amtsdauer von ſechs Jahren vorgenommen.
15. Die Frequenz ber Aniverſität im lau: fenben Winterjemefter beträgt 935 immatrifulierte Studenten (darunter 48 Damen) und 221 (132) Hörer, total alfo 1156 (180) Schüler. Davon fallen auf die tbeologiid)e Fakultät 76, auf die juriftifche 77, bie medizinifche 325, Pbhilofophie I 222, Philofophie II 285. Aus der Schweiz ftammen 673 (42), aus dem Ausland 262 (6) Smmatrifulierte, Davon aus dem europäifchen Rußland 140. Von ben 335 (25) immatri- fulierten Bafelftädtern ftubieren Theologie 16, Zurisprudenz 48, Medizin 54 (6), Philofophie I 108 (15) unb Philo- fopbie II 109 (4).
18. Der Große Rat wählt bie Erfagrichter zu ben verfchiedenen Gerichten, nimmt eine Revifion des baulichen Heimatfchuges vor, nimmt das (GinfübrungSgefe& zur eid- genöffiichen Kranken: und Infallverfiherung an, ferner bie Vorlage betr. Einrichtung einer Klinik für Dermatologie und Venereologie, bewilligt einen Kredit von 40 000 Zr. für Um— bau des Schügenhaufes unb tritt ein in bie 93eratung ber Vorlage betr. obligatorifehe KRrankenverficherung.
20./21. Der zweite Wahlgang zur Wahl dergewerb- [iden Schiedsgerichte vervollitändist den Beſtand diefes Richterförpers mit Ausnahme des Arbeitgebers einer Gruppe, von der fid) Fein Wähler eingefunben hatte.
23. Der Weitere Dürgerrat genehmigt ben PBerwaltungsbericht des Engern Bürgerrats für 1912 und erledigt eine Reihe Begehren um Aufnahme ins Bürgerrecht.
24. Der Regierungsrat beglüdwünfcht bie Witwe 9f. Simmerli- Schweizer, bie heute ihr hundertftes Lebens-
326
jahr vollendet, zu ihrem Geburtstag und läßt ihr ein Geſchenk überreichen.
Otad) langem Leiden ftirbt alt Stadtförfter Sr. Vär- DPlattner, geb. 1846 in Zürich, ber bie Waldungen ber Stadt- gemeinde, zumal die Hardt, und zum Zeil aud) die des Staates jahrzehntelang mufterhaft bewirtfchaftete.e. Der Stadt 93ajel leiftete er wertvolle Dienfte als langjähriger Kommandant der Feuerwehr, ber Gibgenoljenicbaft als tüch- tiger Artillerieoffizier.
27. Ein gewaltiger Sturm richtet trot feiner furgen Dauer von wenigen Stunden an Gebäuden und namentlich aud) in den Anlagen beträchtlichen Schaden an.
31. Witterung. Die meteorologifchen Hauptwerte des Monats Dezember find: Mittel der Temperatur 22, mittl. Temp. -Marimum 5,0, mittl. Temp. Minimum 0,25, Mittel des Luftdruds 740,4, Summe ber Niederfchlagmenge 54 mm, Summe der Sonnenfcheindauer 61 Stunden. Die Temperatur des Monats war zu hoch, der ganze Monat fehr mild, menn auch feine Werte fid) meift in ber Nähe der lang- jährigen Durchſchnittszahlen bewegten.
Januar 1914.
1. Der Zivilftandsverfehr Bafels im Sabre 1913 weift folgende Hauptzahlen auf: Srauungen 1086 (1912: 1185). Lebendgeburten 3338 (3304), wovon abgeben 553 (553) 9paffantengeburten; S&otgeburten 104 (91); von ben Lebendgeborenen find 1758 $naben, 1580 Mädchen; von auswärts wurden angezeigt 28 lebendgeborene Knaben und 19 lebendgeborene Mädchen biefiger Einwohner. Todesfälle wurden verzeichnet 1820 (1770), darunter 203 9paffanten- Todesfälle; in diefen Zahlen find bie S&otgeburten nicht in- begriffen. Nach dem Gefchlecht teilen fid) bie Geftorbenen in 932 männlichen und 888 weiblichen Gefchlechts; außerdem wurden 67 Anzeigen gemacht über den auswärts erfolgten Sob biefiger Einwohner. Es waren 669 Neugeborene und
327
586 Geftorbene biefige Rantonsbürger, 1109 unb 557 Schweizer aus andern Kantonen und 1560 und 677 Aus: länder. Durch Ueberſchuß ber Geburten über bie Todesfälle vermehrte fid) bie ortsanwefende Bevölkerung um 1518 Seelen. Nah Abzug ber Paflanten-Lebendgeburten und der Paflanten-Zodesfäle und nad) Hinzurechnung der auswärts geborenen unb verftorbenen biefigen Einwohner ergab fid) ein Geburtenüberfhuß ber Wohnbevöllerung von 1148 9perjonen, 645 männlichen unb 503 weiblichen, unb zwar 63 Rantonsbürgern, 378 Schweizern anderer Kantone und 707 Ausländern.
Om Alter von 75 Syabren ftirbt Dr. med. W. Ber: noulli-Gartorius, eine Autorität auf dem Gebiete bet epidemifchen Krankheiten und ein gewiegter Botaniker, deſſen Herbarium in Fachkreiſen weit befannt war. Vereinigt mit bem von Dr. Herm. Chrift bildet es, Schon bei Lebzeiten ber beiden Sammler abgetreten, eine Zierde des botanifchen Inſtitutes.
Reg.Rat Dr. F. Mangold lehnt einen ehrenvollen Ruf als Vorſteher des eidgenöſſiſchen ſtatiſtiſchen Bureaus ab.
6. Die älteſte Bürgerin und Einwohnerin von Baſel, Witwe M. Hetzel-Wunderlich, ſtirbt im Alter von 10015 Jahren.
7. Zum ordentlichen Profeſſor an der theologiſchen Fa— kultät wird ernannt Albrecht Alt, derzeit außerordentlicher Profeſſor in Greifswald.
8. Der Große Rat beauftragt im Anſchluß an die Oprüfung ber Wahlakten vom 13./14. unb 20./21. Dezember 1913 bie Regierung mit einer Revifion der Vorſchriften betr. bie Wahl der gewerblichen Schiedsgerichte und tritt dann ein auf den Bericht der Prüfungstommiffion über den 1912er Verwaltungsbericht.
10. Der Regierungsrat nimmt ein von 1955 Stimm- berechtigten unterſtützes Referendumsbegehren gegen das Geſetz betr. die Einteilung der Stadt Baſel in
328
brei Wahlquartiere (Gr. Rat vom 27. Nov. 1913) entgegen.
12. Der Landratvon Bafelland überweift eine Motion von Blarer und Konſ. betr. Maßnahmen zu einer zielbewußten Wirtfchaftspolitit an eine Rommilfion. Die Motion geht aus von Vorgängen in Bafelftadt: Erhebung von Schulgeld von Auswärtigen, ftädtifcher Zentralfriedhof auf Landihäftler 93oben in der Hardt, einander gegenüber: ftebenbe 9tbeinbafenprojefte, Trambahnen von der Stadt auf die Landfchaft u. dgl. m.
14. Sm Alter von 66 Zahren ftirbt Arnold Refardt- Biſchoff. Ein geborener Hamburger, bat er feiner zweiten Heimat in verfchiedenen chriftlichen und gemeinnüßigen Unternehmungen treu gedient.
15. Der Große Rat bewilligt einen weitern Nach: fredit von 10000 Zr. an die Koften der Auslieferung des Bankiers 93auber, fowie 176625 Gr. für Liegenfchafts: anfáufe, die teils bem Gaswerf, teils der Erftellung eines Braufebads im äußern St. WUlbanquartier dienen follen. Dann wird fortgefahren in der Befprechung des Prüfungs: berichts für 1912.
17. Bon ber Eleftrizitätsausftellung des legten Sommers bleibt nad) Tilgung aller Unkoſten, fowie nad) Ausrichtung verfchiedener Gratififationen und Ge- ſchenke ein Otettoertrag von 30 000 Zr. Der Regierungsrat befchließt nad) Antrag der Kommiffion zur Ausftellung, ihn je zur Hälfte bem phyſikaliſchen Snftitut der Univerfität und zur Anfhaffung von Radium für 93ebanb(ung von Krebs: leiden im Frauenſpital zu verwenden.
18. Die Delegierten-Berfammlung der Union Shweizerifhber Volkskrankenkaſſen Ton: ftituiert fid) mit Sentralfiß der Union in Baſel.
19. Die Abftinenz- Vereinigungen Bafels feiern in einer äußerft zahlreich befuchten Verfammlung in ber Burgvogtei— balle den fiebzigften Geburtstag des Gründers der
329
wiflenfchaftlichen Abftinenzbewegung in Europa, Prof. ©. v. Bunge, ber feit Jahren als Lehrer der phyfiologifchen Chemie an der Univerſität 93afel wirkt.
20. Lic. theol. Otto Schmitz hält feine Sabilitations- vorlefung als Privatdozent ber Theologie über ben Qrreibeits- gebanfen bei Paulus.
20. Die Altiengefellfhaft Bell erhöht ihr Aktienkapital auf 2600 000 Gr. Diefe Transaktion büngt zufammen mit der Sntereffengemeinidjaft, die bie Gefellfchaft mit bem Verband GSchweizerifher Konfumvereine ein- gegangen iif. Schon am 19. hat der Auffichtsrat des 9f. G. 2. Baſel, des einzigen ſchweizeriſchen Ronfumvereins, ber fid) zurzeit mit Schlächterei befaßt und alfo bei der Angelegen- beit direkt intereffiert ift, feine 93illigung des Gefchäftes aus- geiprochen.
24. Die Regierung nimmt von Freunden und Schülern von Prof. G. v. Bunge einen zur Erinnerung an deflen 70. Geburtstag geftifteten Brunnen entgegen.
28. gm Mufitfaal wird ein Zeffinerabend ver- anftaltet, ber den Hauptzwed verfolgt, ähnlich wie verwandte Peranftaltungen in Genf und Zürich mehr Fühlung zwifchen bem Zeffin und der übrigen Schweiz berzuftellen. Im Mittel: punft ftebt, umrahmt von mufikalifchen und pantomimifchen Darbietungen, eine Rede von Prof. Bovet aus Zürid).
29. Der Große Rat verwendet den größten Zeil feiner heutigen Sigung auf drei Snterpellationen. Die eine betr. den Schuß von auswärts beftellten Arbeitswilligen burd) bie Polizei nimmt die Zeit bis in den Nachmittag hinein in Anfprud. Hierauf wird in ber Beſprechung des Verwaltungsberichts fortgefahren.
30. Dr. med. R. Maffini hält feine Habilitations- vorlefung: Neuere Anfchauungen über bie Entftehung der Zuberfulofe.
31. Dr. 9. &urían erhält bie venia legendi an der Univerfität für Otationalüfonomie unb Gtatiftif.
330
Witterung. As meteorofogi[de Sauptmerte des Monats Zanuar 1914 notieren wir: Mittel der Temperatur — 29, mitt. Semp.OXarimum — 0,3, mittl. Semp.- Minimum — 5,5%, Mittel des Luftdruds 740,7, Summe ber Niederfchlagmenge 51 mm, Summe der Sonnenfchein- dauer 64 Stunden. Der Monat war feit mehreren Sabren wieder ein richtiger Wintermonat, ohne allzu harte Kälte. Bloß die Schneedede hätte höher fein dürfen.
Sebruar 1914.
31. San./1. Febr. In ber Vollsabftimmung wird bei 23015 Stimmberechtigten ber ber Abftimmung vom 28./29. Sept. 1912 entfprehende Verfaffungsartifelbetr. Grbebung eines Schulgeldes von Aus- wärtigen mit 4714 gegen 4703 Stimmen und das von der freifinnigen Partei vor das Referendum gezogene Gefeß betr. Einteilung der Stadt in drei Wahl: quartiere mit 5990 gegen 3387 Stimmen angenommen. Gür den Verfaflungsartifel batte die fortfchrittliche Bürger: partei geftimmt und die freifinnige Partei bie Stimme frei- gegeben, gegen das Quartiergeſetz ftimmte allein die frei- finnige Partei. Go lautete bie erfte Nachricht. Eine Nach: prüfung der Stimmzettel durch das ftatiftiiche Amt ergab aber am 5. Gebr. nadbem die Abftimmungstommentare längft gefchrieben und veröffentlicht waren, baB bie Schulgeld- initiative mit einer Mehrheit von fehs Stimmen ver- worfenift. Gin Wahlbureau batte irrtümlich ein Pädchen verwerfende Stimmen zu den annehmenden gezählt.
1. Der Skiklub Baſel veranftaltet in CLangenbrud fein V. Sfi-Rennen. (G3 nimmt bei febr günftiget Witterung einen glänzenden Verlauf. — Die beut(d)e fto- [onie feiert im Mufilfaal ben 55. Geburtstag Staifet Wilhelms II. Der deutfhe Gefandte bei der Eid- genoflenfchaft, v. Romberg, hält dabei bie Feſtrede.
331
2. Sym Alter von 57 Zahren ftirbt Oberſt Karl Köchlin— Sfelin nad) ſchwerem Leiden. Neben feiner Stellung als fommerzieller Leiter der Firma S. X. Geigy u. Cie. fand er Zeit, der Deffentlichkeit in mannigfacher Weife zu dienen. Er war Sivilrichter, fünf Sabre lang Mitglied des National: rats, über ein Jahrzehnt Präfident der Basler Sjanbels- fammer, Mitglied des Verwaltungsrates der Schweiz. Bundesbahnen u. f. f.; im Militär erwarb er den Oberften- grab und fommanbierte bie 2. Divifion. Köchlin war in allen Klaſſen ber Basler Bevölkerung einer ber populárften Männer.
5. Großer Rat. Es werden Kredite bewilligt für den Ankauf der Liegenfhaft Münfterplag 2/3 (St. Johann: fapelle), fowie Petersberg 28/32 und es wird dem Theater auch für 1914/15 die gewünfchte Subvention zugefichert. Der Rat fährt fort in der Behandlung des Verwaltungsberichts für 1912.
Mit dem Ankauf der Liegenfchaft OX ünfterpla& 2/3 bat es folgende Bewandtnis: das Haus enthält eine unihäß- bare Sammlung alter, meift deutfcher und niederländifcher Gemälde, die laut aroßherziger Stiftung ber 23efiSerin Frau 2. Bahofen-Burdhardt zum Andenken an ihren verftorbenen Gemabl als Prof. Sob. Jak. Bachofen-Burck— barbt-Ctiffung bereinft der Basler Runftfammlung zufallen wird. Um der Sammlung ein vorläufiges Heim zu fihern, faufte der Große Rat bie Liegenfhhaft. Am 10. Gebr. bejucbten bie Mitglieder des Rates bie Galerie.
5. ffg. Nachdem im vorigen Sabr bie Aerzte und die Pro- fefioren der medizinifchen Fakultät unter ber 9fegibe ber Anti- Zuberfulofe-Liga den Bewohnern Bafels das Wefen der Suberfulofe durch Vorträge unb eine Ausftellung nahe ge- bracht hatten (j. Basl. Chron. zum 26. April 1913), fo wurde dDiefes Zahr durch die Schweiz. Vereinigung für Krebs: befämpfung das gleiche für ben Krebs unternommen. Sn Borträgen unb in Demonftrationen wurde Aufklärung ge-
332
boten über das Wefen und die Heilungsmöglichkeiten bielet Krankheit.
6. Das Ordefterber Allgem. Mufilgejell- Saft wird zur Mitwirkung bei den bevorftehenden Genfer Aubiläumsfeftlichkeiten verpflichtet.
Der Genoffenfhaftsrat des Allg Kon- fumvereins befchlieft, fi dem Schokoladekrieg anzu- fchließen und billigt das Vorgehen des Verbands Schweiz. Konfumvereine bei der Intereflengemeinfchaft mit der Firma Bel A. ©. (©. zum 20. Sanuar d. 3.)
7. Prof. R. Herzog erhält einen Ruf nad) Gießen als Nachfolger Rörtes. |
8. Der neue Pfarrer zu St. Elifabethben, W. Merz, wird in fein Amt eingeführt.
Eine auBetorbentlide Delegiertenverfammlung des VBerbands Schweiz. KRonfumpvereine billigte das Vorgehen feiner Leitung in Sachen des Schokoladefriegs und ber Snterefiengemeinfhaft mit Zell (f. oben zum 6. Sebr.).
10. Der Flieger Theodor Borrer landet glatt auf der St. Jakobsmatte, nachdem er die GCtrede Solothurn: Baſel in 19 Minuten zurüdgelegt bat. Er wird in ben nádjiten Wochen Schau: und Paflagierflüge ausführen.
12. Großer Rat. Nah der Gewährung eines Nachtrags zum Budgets wird in erfter und zweiter Lefung eine fantonale Erziehungsanftalt für ſchwachſinnige bilbungs- fähige Jugendliche befchloffen, was die Verftaatlichung der bisher privaten Anftalt zur Hoffnung in Riehen bedeutet. Hierauf Üüberweift ber Rat im Anfchluß an den 1912er Ver: waltungsbericht das Poftulat betr. Erweiterung der Fried- matt und lehnt das betr. Vereinheitlichung des Gaspreifes ab. In zweiter Lefung wird bie Vorlage betr. Vermehrung des Perſonals ber Erziehungstanzlei und 23ejolbung bet Schulfelretäre in der Faſſung der Regierung genehmigt, b. D. e3 werden bie in erfter Lefung befchloffenen erhöhten 23e.
333
foldungen abgelehnt. Ein Anzug betr. Bau eines Volks— haufes mit Schwimmbad wird überwiefen, in bie Behandlung eines zweiten, betr. Einführung ber Polizeiftunde und einer Petition von 25000 Grauen zu gleihem Ziel wird ein- getreten.
13. Die theologifhe Fakultät ernennt zum Doktor der Theologie hon. causa den Lic. Prof. Heinrih Hadmann in Amfterdam.
15. Die evangel. Stadtmiffion hält ihre Sahresverfammlung ab. Die Hauptanfprahe hält Pfr. D. 93ufd) aus Grranffurt a. 9X.
Die Kollekte in ben Gottesdienften der evangelifch- reformierten Kirche zugunften ber Bibelgefellfchaft, fpeziel zur Anſchaffung von Sraubibeln, wirft 1863 Sr. ab. . 17.19. 9teg.-9tat. G. Chr. Burdhardt hatte in der Großratsfigung vom 27. Nov. 1913 gegen Dr. 2. €. Scherer ben Vorwurf erhoben, biefer babe in einem Straf: ptogep, ben er zu führen batte, einen Hauptzeugen zu falfchem Zeugnis zu verführen verfucht. Gr hatte ben Vorwurf nad- fráglid) in einer Weife wiederholt, daß ihm bie parla- mentarifche Immunität nicht zu ftatten fam und ber An— gegriffene Hagen fonnte. Am 24. Dez. 1913 reichte Dr. Scherer Klage ein. Am 17. und 19. Gebr. 1914 fam bie Cade vor Strafgericht zur Verhandlung. Das Urteil lautete gegen Reg.Rat DBurdhardt wegen übler Nachrede auf 60 Fr. Buße, ev. 6 Tage Gefängnis, gegen den wieder: beflagten Dr. Q3. €. Scherer wegen Beſchimpfung durch bie Prefle auf 10 Gr. Buße, ev. 1 Sag Gefängnis.
20. Die von den Basler Behörden gewünfchte Aus- lieferung des 93anfier8 Hans 93auber war von ben amerifanifhen Gerichten nad) langen Verhandlungen ab- gelehnt worden. Dafür hatten fie befchloflen, ihn als Läftigen Ausländer abzufchieben. Bei feiner Ankunft auf bem Boden Europas in Gberbourg wird er unter Mithilfe von Basler Polizeibeamten feftgenommen und vorläufig in ein fran-
334
zöfifches Gefängnis gebraht. Die franzöfiichen Behörden haben zu entjcheiden, ob die ibm zur Laft gelegten Be— frügereien nad) franzöfiihem Recht bie Auslieferung recht- fertigen.
Prof. Bieberbad hält feine Antrittsporlefung über die Grundlagen der modernen Mathematif.
23. Auf ber Durcdreife nad) Aegypten bält fid) die Berliner Liedertafel einen Tag in 23ajel auf, von der befreundeten hieſigen Liedertafel empfangen und gefeiert. Es waren etwa 300 Mann, darunter 150 Aktive. Am Abend gibt der Verein im überfüllten Münfter ein Wohl: tätigfeitsfongert mit ftarfem fünftferijdem und äußerem Erfole. |
24. Das vom Faſtnachtkomitee wie üblich arrangierte OXonfre-Srommelfongert findet im Pariete- theater Rüchlin, anftatt wie in den legten Jahren im Muſik⸗ faal, ftatt. -
26. Der Große Rat genehmigt nad) zwei Snter: pellationen nicht ohne lebhafte Diskuffion das berichtigte Abftimmungsergebnis vom 31. Jan./1. Gebr, fapt einen Beſchluß betr. Anwendung ber neuen Quartiereinteilung auf bie bevorftehbenden Wahlen und tritt ein auf bie zweite Leſung des Gefees betr. die Öffentlichen Krankenkaſſen.
28. Die Regierung erteilt dem Lehrer des Griechifchen an der Univerfität, Prof. Rud. Herzog, der einem Rufe nad) Gießen folgt, bie gewünfchte Entlaffung.
Witterung. As meteorologifhe Hauptwerte des Monats Februar 1914 notieren wir: Mittel der Temperatur 37, mittl. Semp.-OXtarimum 7,7, mittl. Zemp.-Minimum 0,50, Mittel des Luftdruds 737 1, Summe ber Niederfchlagmenge 29 mm, Summe der Sonnenfheindauer 109 Stunden. Die erften 11 Sage des Monats waren winterlich hell, ber Reft früb und regnerifch; bie Niederfchläge fielen weit geringer aus als der langjährige Durchſchnitt.
3839
März; 1914.
1.—3. Die Vereinigung für ffaatsSmijfen- ſchaftliche Studien in Berlin tritt in Baſel eine Studienreife burd) bie Schweiz an. Die Statiſtiſch-volks⸗ wirtfchaftliche Geſellſchaft bietet den Herren theoretifche 23e- lehrung; bei den Beſuchen verfchiedener Großbetriebe, u. a. Des Waſſerwerks Augſt-Wyhlen wird ihnen bie Praris vor Augen geführt.
2.—4. Die &aftnad t geht im üblichen Rahmen vor fij, von der Witterung wenig begünftigt.
3. Der Kirchenrat erteilt Prof. p. Böhringer die mit Gefundheitsrüdfichten begründete Gntlajjung aus bem 37 Sabre in Baſel verfehenen Kirchendienft auf den Herbft 1914.
6. Dr. Eugen Bernoulli hält feine Habilitations- vorlefung als Privatdozent ber Medizin über das Thema: Zur Theorie ber Narkoſe.
8. Sn Bafel wird ein fogtialbemofrati[der Srauentag abgehalten, wobei redend auftreten Grau Pfr. Reichen (Winterthur) und Nat.:Rat Gugfter-3üft.
12. Der Große Rat beenbigt bie zweite Lefung der Krantenverficherungsvporlagen und nimmt fie mit großer Mehrheit an, genehmigt den Bebauungsplan für Klein- büningen und erledigt einen großen Teil des Budgets für 1914. — Der aus den Vereinigten Staaten ausgewiefene unb in Cherbourg verhaftete gewefne Bankier Hans Bauder, dem zahlreiche Schwindeleien zur 9ajt gelegt werden, trifft in 23afel ein und wird im Lohnhof feſtgeſetzt.
13. Der erfte Gdleppaug der 1914er Schiffahrts- fampagne trifft von Straßburg bier ein.
. 14. Die Regierung ernennt zum außerordentlichen Pro- feflor an ber philojophifchen Fakultät ber Univerfität, II. Ab- teilung, Dr. Aug. Burtorf, bisher Privatdozent.
16. Prof. Dr. Ernft Heidrich bat einen Ruf nad
336
Straßburg aí$ Nachfolger Dehios erhalten unb wird ibm auf den Serbft Folge leiften.
18. Eine ftatf befuchte Verfammlung zu Rebleuten, ein- berufen von fieben Großratsmitgliedern verfchiedener Par: feien, bie fämtlih aus dem Kanton Bafelland ftammen, faBt nad einem Referat von Ing. R. Gelpfe eine ber Wiedervereinigung von Bafel-Stadt und Land günftige Refolution und fett zur Förderung des Gedanfens eine 15gliedrige Rommiffion nieder.
20. Eine von biefigen Modefirmen im Mufitfaal veranftaltete Modefhau mit Übendtee und Tango— tänzen vereinigt ein großes Publikum und wird zu einem eigentlichen gejellfchaftlichen Erfolg.
22. Während auf bem Landhof bie 93asler O[b 93098 nad) ritterlicher Gegenmebr von ben Berner Young Boys befiegt werden, an die jetzt bie Meifterfchaft für bie Zentralſchweiz übergeht, produzieren fid in einem Schau- fliegen auf ber Ct. Safobsmatte ber franzöfifhe Sturz: flieger Montmain und der GSolothurner 23orrer. Leider ftürzt ber le&tere, noch nicht 20 Sabre alt, gegen Abend in der Nähe des Hofes Rüttihard und findet einen plößlichen Tod. Ein Zufchauer erliegt infolge des jáben Schredens einem Herzſchlag.
24. Der Weitere Bürgerrat weit bie Vorlage bett. einen Neubau an der Stadthausgafje gegenüber bem Stadthaus, auf welcher Liegenfchaft bie VBürgergemeinde eine Servitut befit, an eine Kommiſſion, nimmt bie Budgets der bürgerlichen Verwaltungen für 1914 entgegen, wählt bie Prüfungstommiffion für 1913 und erledigt eine Reihe 23e- gebren um Aufnahme ing Bürgerrecht.
25. Der Genoflenfchaftsrat des Allg Ronfum: vereins genehmigt Jahresbericht und Rechnung der Ge- fhäftsleitung für 1913 und damit eine Dividende von 8% und überweift bem Verwaltungsrat verfchiedene Aufträge.
26. Der Große Rat nimmt den Beriht der Re-
337 "
sierung über bie Prüfung des Abſtimmungsergebniſſes betr. bie Schulgeldinitiative entgegen, beenbigt bie Beratung des 93ubget8 für 1914, das ein Defizit von weit über brei Millionen vorfieht, und nimmt ben Bericht des Regierungs: rats entgegen über Maßnahmen zur PVereinfahung des Staatshaushalts.
27. Die neu gegründete Univerfität Frankfurt a. 9X. beruft an ihre juriftifche Fakultät Dr. Hans Planig für Rechtsgefchichte, und an ihre philofophifche Fakultät Dr. W. Otto für Haffiihe Philologie.
28. Das Appellationsgericht verurteilt t. ©. Dr. 95. G. Scherergegen Reg:-RatE. Chr Burdhardt- Shazmann in Abänderung des Urteils erfter Inſtanz Reg. Rat 93urdbatbt wegen übler Nachrede zu 30 Sr. Buße und wies deffen Widerklage auf Beichimpfung burd bie Prefle ab. Die Koften find von beiden Parteien zur Hälfte zu tragen (f. zum 19. Grebr.).
29. Sn der Aula des Mufeums findet die diesjährige Schlußfeierder Faufmánnifden Lehrlings— prüfungen ftat. — Der Sturz: und Schleifen: flieger Montmain veranftaltet auf den Gt. Syafobs- matten ein von der Witterung in hohem Grad begünftigtes ſtark befuchtes Schaufliegen. Der Nettoertrag iit für die Hinterlaflenen des vor adt Sagen verunglüdten 93orrer be- fimmt. Für biefe, forie für die Witwe und bie Waifen des bei jenem Anlaß vom Herzichlag betroffenen Arbeiters ift in Bafel und auch in weitern Kreifen der Schweiz eine Öffent- lihe Sammlung im Gang.
31. Die Generalverfammlung des Runftvereing, von 200 Mitgliedern befucht, ergänzt bie Rommilfion und wählt zum Präfidenten den bisherigen Gtatthalter Fritz Stäbelin- Vernoulli.
Witterung. Das Mittel der Temperatur im Mo: nat März 1914 betrug 7,1, das mittl. Temp. -Marimum 11,3, das mitt. Temp.-Minimum 3,7% C., das Mittel des
338
Luftdruds 733,5, bie Summe ber Niederfchlagmenge 84 mm, die Summe der Sommenfheindauer 115 Ofunden. Das Wetter zeigte während des ganzen Monats Unbeſtändigkeit und Lnficherheit, viel Wind bei ftarfer Bewoölkung und häufige Niederſchläge. Die Entwidlung ber — wurde glücklich zurückgehalten.
April 1914.
1. Die Regierung wählt zum Verwalter der öffentfichen Krankenkaſſe unter Vorbehalt des Referendums Alfred Geiger von Bafel.
2. Der Große Rat tritt nad Erledigung einer Petition ein auf die Vorlage betr. Lehrerbefoldungen und nimmt fie in erfter Lefung mit wenigen Uenderungen an. 5. Die Delegiertenverfammlung des Schweiz Shügenvereins tagt in Baſel und be- ſchließt u. a., das auf 1914 vorgeſehene eidgenöſſiſche Schüßen- feit in Laufanne angefichtS der duch zwei Mißernten veran- laßten Notlage in ber Waadt auf 1916 zu verfchieben.
6. Der Allg. Ronfumverein fchließt mit dem Verband nordweftjchweizerifcher Milchproduzenten einen Pertrag betr. Milchlieferung ab, der bem [feit längerer Zeit an- dauernden fogenannten Milchkrieg ein Ende mad.
8. Der Fürzlich verftorbene Hans Vondermühll vermadte teftamentarifch feine wertvolle Galerie nieder: ländifher und vlämifher Meifter der öffentlichen Kunſt⸗ fammlung.
13. Das Rarfreitagopfer in ben Gottesbtenften der evangelifch-reformierten Kirchen für das bürger!. Armen- amt und die Allgem. Armenpflege ergibt 2086, das Dfter- fonntagopfer für den Proteftantiich-firhlihen Hilfs- idi 4364 Sr.
. Sn der Morgenfrühe erliegt einem Herzſchlag Dr. 2 Zulius Masinger, Direktor der Hypotheken:
339 22*
banf, vormals Redakteur ber ,Grenapoft" unb Gerichts- beamter, ein in ber Gemeinnü&igfeit viel verdienter Bürger.
Prof. Dr. Q8ifb. Bruckner nimmt feine Tätigkeit an ber Univerfität wieder auf. — Zum a. o. Profefior für griehifche Sprache und Literatur wird berufen Dr. Werner Jaeger, derzeit Privatdozent in Berlin.
12. 9tad) ſchwerem Leiden ftirbt, erft 47jährig, Dr. Serm. Rey, Direktor der „Geſellſchaft für Chemiſche Induſtrie“, früher Präfident des fchweizerifchen Landfturmfchießvereins.
15. 16. 3u bem Wettbewerb für ein Sunft- mufeum waren 71 9projefte eingelaufen. Das Preis- gericht erteilte zwei Preife von je 3000 Fr., an Architekt Emil Fäſch und an die Basler Baugeſellſchaft (Architekten Hans Bernoulli und Rob. Grüninger); zwei Preife von je 2000 Gr. , an Gebr. Bräm in Züri) unb Architekt Albert Maurer aus Zürich, in Düffeldorfz zwei Preife von je 1000 Fr., an Architekt Karl Moſer in Karlsruhe und Willi Meyer, Alfiftent an ber technifchen Hochfchule in Dresden. — Die Pläne werden auf einige Seit im Gewerbemufeum aus- geftellt.
16. Der Große Rat hört zunächſt eine Snterpellation über ben Flugtag vom 29. o. M. Diefer hatte in der Stadt viel zu fprechen gegeben, weil man dem Veranſtalter vor- warf, er babe den wohltätigen Zweck — Unterftügung ber Angehörigen des verunglüdten 93orter — zu eigener 23e- reicherung benüßt. Die Beantwortung der Snterpellation mußte übrigens im wefentlichen abgewiefen werden, weil die beanftandete Veranftaltung auf bafellandichaftlihem Boden vor fid) ging. Der Rat befchloß hierauf den Ankauf ber Liegenschaft zur Meerlage am Petersberg, nahm den Bericht des Resierungsrats über feine rüdftändigen Aufträge und feiner Rommiffionen entgegen, nahm in zweiter ejung das Lehrerbefoldungsgefeß an und ging Über einen Anzug zur Einführung der Polizeiftunde zur Tagesordnung. Der Prä- fibent fprad) bem nad) langjähriger erfolgreicher Tätigkeit aus
340
bem Öffentlichen Leben fcheidenden Reg.-Rat Dr. P. Speifer den Dank des Gemeinme[ens für jein Wirken aus und ſchloß damit bie Amtsperiode des Rates. |
22. Zum 9[nbenfen an eine Verftorbene war der evan- gelifchen Kirche fd)on vor geraumer Zeit eine Summe von 15000 Gr. für efeftri[de Beleuchtung Des Münfters übergeben worden. Der Kirchenvoritand der Münftergemeinde befchließt nach lángeren zeitraubenden Studien, diefe Beleuchtung durch in ben Geitenarfaden hängende Bronzeleuchter durchzuführen.
25. An einer Lungenentzündung ftirbt, 69jährig, Konrad Merk, feit 1881 als Lehrer in Baſel tätig, feit über zehn Sahren Rektor der Töchterfchule. — Während eines vorübet- gehenden Aufenthalts in Männedorf ftirbt ber 1843 ge- borene Ed. 933urdbarbt- Zahn, in chriftlihen und ge- meinnügigen Werfen vielfach tätig.
27. Die Generalverfammlung des Allg Ronfum- vereins befchließt definitiv für 1913 eine Rüdvergütung bon 8%.
29. Die Delegiertenverfammlung ber Allg. Kranken— pflege bringt ihre Statuten mit der eidgenöffifchen und fantonalen PVerficherungsgefeggebung in Einklang und be- ſchließt Erhöhung des Zahresbeitrags auf 21 Gr.
30. Die Zahresverfammlung der Freiwilligen Akademiſchen Gefellfhaft wählt zum Vorſteher an Stelle des nad) 25jáDriger Verwaltung diefes Amtes zurüdtretenden Oberft Iſaak Sfelin neu Dr. Aug. Sulger. Aus bem Zahresbericht vernimmt man, bap Frau Prof. Miefher-Rüfh zum Andenken an ihren verftorbenen Sohn der Geſellſchaft 100 000 Zr. gefchenkt bat.
Witterung Im Monat April 1914 betrug das Mittel der Temperatur 12,0, das mittl. Temp.-Marimum 179, das mittl. Temp.-Minimum 6,4° C., das Mittel des €uftoruds 739,7, bie Summe ber Niederfchlagmenge 41 mm, bie Summe ber Sonnenfcheindauer 230 Stunden. Der
341
Monat zeichnete fid) entgegen der Regel aus durch gleich- mäßig [höne Temperatur, durch Ausbleiben fchroffer Witte: rungsumfchläge und von Froſt. Dem entfprechend entwidelte fi bie Natur vielverfprechend.
Mai 1914.
1. Der Maifefttag der organifierten Arbeiterfchaft leidet unter ber Ungunſt der Witterung.
2. 3. Die Großratswahlen werden für eine neue Operiobe von drei Jahren vorgenommen, und zwar in ben drei neu gefchaffenen großen Wahlkreifen der Stadt. Die Beteiligung der Wählerfchaft betrug 65% ber Gtimm- berechtigten. Die Wahlbureaur fonnten am Abend des Dienstags, 5. Mai, das Gefamtergebnis der Wahlen vor- legen. Es lautet wie folgt: Sozialdemokraten 44 (im ab- tretenden Großen Rat 47), Sreifinnige 27 (35), Liberale 20 (21), Ratholiten 17 (17), Fortfchrittliche 93trgerpartei 17 (6), Demofraten 2 (0), Dorflifte Otieben (von den Liberalen empfohlen) 2 (2), Dorflifte 93ettingen (von Greifinnigen unb Liberalen empfohlen) 1 (1). — Bei ben Regierungs: ratswabhlen fam mit einem abjoluten Mehr — 7698 von fieben Wahlen nur eine zuftand: Der von Liberalen und Sozialdemokraten empfohlene Reg.-Rat Dr. F. Mangold wurde mit 8483 Stimmen gewählt. Die übrigen aus- fcheidenden Regierungsräte wurden nur von ihren Parteien empfohlen. Außerdem lagen zum Erſatz für den zurüd- tretenden Reg.-Rat Speifer vor bie ftanbibaturen bet Liberalen (Dr. Rud. Miefcher, Vorfteher des Betreibungs- amtes), der fatbolifen (Advokat Dr. E. Zeigenwinter) und der Fortfchrittlichen Bürgerpartei (Polizeiinfp. 93. Müller, freifinnis). Es mahten Stimmen: Reg.-Rat. Wullichleger 7161, Blocher 5849, Uemmer 4859, Gtüdlim 4723 und 93urdbatbt 4706, ferner Dr. Miefcher 3736, Dr. Zeigen- winter 3302, Onfpeltor Müller 2431. Vereinzelt fielen 703 Stimmen.
342
5. Prof. Dr. Aug. Schovetenfad hielt feine öffent: fiche Antrittsporlefung über den Rechtsſatz.
8. Der beutid)e Raifer fährt auf ber Rückreiſe von Korfu, von Genua fommend, in feinem Hofzug obne Aufenthalt über Bafel. |
9./10. Sm zweiten Wahlgang ber Regierung: ratswahle.n werden bei einer Beteiligung von 58% ber Stimmberecdhtigten gewählt bie noch nicht beftätigten Aus: fheidenden: QWWullfchleger mit 7234, Aemmer mit 6292, Blocher mit 6261, Stödlin mit 5741 unb Burckhardt mit 5469, unb neu an Gtelle des zurüdtretenden Reg.-Rat Speifer Dr. Rud. Miefcher mit 4896 Stimmen. Die Re: gierung befteht fomit wie bisher aus je zwei Sreifinnigen, Liberalen und Sozialiften und einem Parteilofen (Mangold). Die freifinnige Partei batte ihre bisherigen Vertreter 9femmer und Stödlin, bie katholifche Partei fämtliche Aus- fheidende und neu Dr. Feigenwinter, der 3929 Stimmen machte, bie fozialdemofratifehe Partei ihre bisherigen Ver: trauensmänner Blocher und Wullichleger vorgefchlagen; die forticbrittfide Bürgerpartei hatte bie Stimmen freigegeben nahdem ihr Kandidat, CDoligetinfpeftor Müller, zurüd: getreten war. — Mit diefer Wahl fcheidet Reg.-Rat Dr. Paul Speifer aus der aktiven Politik, nachdem er ber Regierung von Bafelftadt mit wenigen Unterbrechungen mehr als drei Zahrzehnte mit größter Auszeichnung ange- hört bat.
10. Sn einem GuBballmatd des ZFootballclub gegen bie engliihen 93eruffpieler des Bradford Eity Club fiegen bie leßteren mit 4:2 Goals. — 9n dem benachbarten Haufen t. W. findet das Hebelmähli ftatt unter zahl: reicher Beteiligung von 23aslern.
13. In Neu-Mfchwil, alfo auf bafellandfchaftlichem Boden, läßt fid) feit einigen Sagen W. Hagenbeds Tierfhau nieder, ein großes Unternehmen mit zahl:
343
teidjem eigenem Perfonal unb großem Parf, das fid) [eb- bafteften Zufpruches erfreut.
14. Der neu gewählte Große Rat hält feine kon— fituierenbe Sitzung ab, eröffnet burd) Elias Weiß (93et- fingen) als Alterspräfidenten. Er wählte zu feinem Prä- fibenten G. 9[ngft (Soz.), zum Statthalter Dr. R. Nieder: baufer (Rath.) und beftellt die ftánbigen Ausſchüſſe (Bureau, Wahlprüfungs-, Rechnungs- unb CDetitionsfommijfton).
15. Die philofophifche Fakultät der Ilniverfität Dat Reg.-Rat Dr. Paul Speifer am heutigen Sage, da er von feinen Öffentlichen Aemtern zurüdtritt, Durch eine De- putation bie Urkunde feiner Ernennung zum Ehrendoftor ber Philoſophie überreichen Laffen. — Der neue Profektor Prof. Dr. Eugen Ludwig bält feine Antrittsporlefung über „das morphologiſche Subftrat der Vererbung”.
19. Der Große Rat hört in einer Nachmittagsfigung - eine Snterpellation betr. bie Hagenbedfchau (f. 3. 13. ds.) und deren Beantwortung an, validiert bie Wahlen des Großen Rates und des Regierungsrates, wählt zum Präfidenten der Regierung Dr. Mangold, zum Pizepräfidenten Dr. G. Chr. Burckhardt, wählt den Bankrat, bewilligt eine Reihe Nachtragstredite und nimmt die Anträge ber Otegie- rung betr. Rorreftionslinien der Greifengafle und betr. Sauf der Häufer Ochfengafle 1 unb 3 an.
20. Die Regierung überträgt bie Leitung des durch den Rüdtritt Reg.-Rat Speijers erledigten Finanzdeparte- ments Reg.-Rat Wullfchleger, an deflen Stelle übernimmt das Departement des Innern Reg.-Rat. Blocher; das von dDiefem bisher geleitete Polizeidepartement wird bem neu gewählten Reg.-Rat Miefcher übertragen. Außerdem nimmt Reg. Rat Miefher Reg.- Rat Aemmer die Militärdiref: tion ab. In der Leitung ber übrigen Departemente tritt feine Uenderung ein. Es bleiben Reg.:Rat ?femmer am Sanitäts-, Oteg.Otat 93urdbarbt am Juſtiz-⸗,, Reg.Rat
344
Mangold am Erziehungs- unb Reg.-Rat Stödlin am Bau- Departement. |
23. Das bafelftädtifche und das bafellandfchaftliche Ko— mitee für Wiedervereinigung beider Baſel halten unter bem Vorfig von Ing. R. Gelpfe ihre erfte ge- meinjame Sitzung zu Safran ab. Gie befichließen Die Gründung eines Verbandes zur Förderung und Verbreitung des Gedankens ber Wiedervereinigung.
24. Als Pfarrer der St. Petersgemeinde zum Erſatz von Prof. P. Böhringer wird ohne Gegenfanbibaten ge- wählt Pfr. Son € pa, zurzeit in Filifur, freifinnig.
25. Die Sntetpellation im Großen Rat am 19. d3. batte fi) darauf bezogen, daß dem bisherigen Vorfteher des Polizeidepartements, Reg.Rat Blocher, vorgeworfen wurde, er babe burd) fein Verhalten bie $5agenbedidau ge: zwungen, jenfeit3 der Kantonsgrenze ihre Selte aufzu- ftellen. Auf die Snterpellationsberatung im Großen Rat erwidert Hagenbed in ber Prefle, Reg.-Rat Blocher du- pliziert, und dag Ende iit eine Klage Hagenbeds und Wider: f(age Blochers.
26. Der Weitere Bürgerrat enticheidet über bie Verteilung des für 1914 ber Bürgergemeinde zufallenden Anteil3 am Ertrag der br. Merian’fchen Stiftung an bie bürgerlichen Armenanftalten, bewilligt den Verkauf von 10600 m? Gtiftungslanb beim Wolfgottesader an den Staat für Anlegung einer Tramremife, befchließt auf Grund des Berichts feiner Rommiffion im Sinne der Anträge des Engern Bürgerrats (j. zum 24. März) feine Einwilligung zu einem Neubau auf ber dem Stadthaus gegenüberliegenden Liegenfhaft an der Ctabtbausgafje und erledigt eine Reihe Begehren um Aufnahme ins Bürgerrecht.
27. Die evangelifbh-reformierte Synode genehmigt ben Zahresbericht des Kirchenrats für 1913 und nimmt eine Gehaltsordnung für Sigriſte, Organiften unb Orgeldiener an.
345
On feinem 75. Altersjahre ftirbt Dr. Theophil Burck— barbt-Q3iebermann, gewejener Gpmnafiallebrer, viel ver- dient um. bie baterlánbi[d)e unb vaterftädtifche Gefchichte, namentlich als Renner des römifchen Altertums (Augſt) unb der Humaniftenzeit. Auch als Schriftfteller ift Theophil Burdhardt wiederholt mit Erfolg aufgetreten. In Fach— reifen geno er einen bochangefehenen Namen.
28. Der Große Rat beftellt auf eine neue Amts- dauer den Erziehungsrat, nimmt das Geſetz betr. Zulafiung von Ausländerinnen als Studierende an, beichließt eine Landerwerbung in Kleinhüningen, genehmigt einige Aende— rungen am WÜrbeitslojfengefeß, gebt zur Tagesordnung über einen Anzug betr. Uenderung eines Artikels des Rantonal- banfgeleSe8 und erklärt zwei andere betr. Tramverkehr auf ber Sobanniterbrüde und betr. Aenderung der Sitzungszeit des Großen Rates erheblich.
29. Sn ber Schlüffelzunft findet zu Ehren des von feiner politifchen Wirkſamkeit zurüdtretenden Prof. «D. Speifer ein Feſtmahl ftatt, wobei dem Genannten von feinen Ge- finnungsgenofien der Dank für feine erfolgreiche öffentliche Wirkſamkeit ausgefprochen wird.
30./31. Sn Bafel tagt eine interparlamentariihe Kon - ferenz für eine beut[íd-franabDjifde Ver— ſtändigung. Sie ift befucht von zahlreichen franzöfifchen Senatoren und Deputierten einer- und Mitgliedern des deutfchen Neichstages anderfeits. In ber Deffentlichkeit macht fie fid) nicht bemerkbar, wie auch ihre Verhandlungen ent|pred)enb der diskreten Natur nicht Öffentlich waren. An einem Schußbanfett nahm Reg. Rat Blocher teil. Die Regierung batte bie Herren fchriftlich willlommen gebetpen.
31. Witterung Im Monat Mai 1914 betrug das Mittel der Temperatur 11,7, das mittl. Temp. -Marimum 159, das mitt. Temp. - Minimum 8,1° C., ber mittlere Barometerftand 738,5, bie Summe ber Niederfehlagmenge 124 mm, die Summe der Sonnenfcheindauer 126 Stunden.
346
Seit mehr als 30 Zahren batte 93ajel nicht mehr einen [o falten, fonnen[deinatmen und regenreihen Monat Mai. God) iff dank dem günftigen April in der Vegetation unb in der Landwirtfchaft noch nichts verdorben. Zum Glüd brachte der Monat feine Srofttage, obwohl die Gefahr ee nabe zu liegen j&hien.
Suni 1914.
5. Zum 3ivilgerichtfchreiber an Stelle des in bie Re- sierung gewählten Dr. Rud. Miefher wurde gewählt Dr. Saf. Trott, zum Gubftituten Dr. Serm. Siegrift.
9. Prof. Alt hält feine Antrittsporlefung über den firíprung der Meffiashoffnung.
10. Der Große Rat fi6t des Sronleichnamfeftes wegen am Mittwoch ftatt am Donnerstag. Der Anzug betr. Bereinbarung mit Baſelland wegen Vereinigung der Ver: waltung wird überwiefen. Bei biejem Anlaß präzifiert Oteg.- Rat WUemmer den zumartenden, von Fall zu Fall fid richtenden Ctanbpunft ber Regierung von Baſelſtadt. Weiter nimmt der Rat eine Uenderung des Geſetzes betr. das Loöſchweſen an, genehmigt Beriht und Rechnung ber Kantonalbank für 1913, erledigt bie Revifion der Geſetze betr. Gewerbejchule und Gewerbemufeum unter Verzicht auf eine zweite Lefung und befchließt Eintreten auf das Geſetz bett. das IIniverfitätsgut, bie Sammlungen und Anftalten ber Univerfität.
Nah fchwerer Krankheit ftirbt, erft 42 Jahre alt, Dr. Hans Buſer, f. 3. Lehrer an der Untern Real- Ihule, dann Redakteur der „Basl. Nachr.“, feit 1909 Lehrer am Seminar in Kreuzlingen, ein vielverfprechender Hiftoriker.
11. Die Regen; ber Iniverfität erteilt die venia legendi an ber medizinifhen Fakultät Dr. Sal. Schön: berg für allgemeine Pathologie und für patbologifche Anatomie und Dr. S. Louis Burckhardt für Hygiene unb 93afteriofogie.
947
13. Die Regierung beruft zum außerordentlichen Pro- fefjor an der theologischen Fakultät ber Univerfität Lic. theol. Gerd. Heinzelmann, derzeit Privatdozent in Göttingen.
13.—15. Der Otánnerdor Goncorbia Bafel geftaltet die Feier feines 75jährigen Beſtehens aus zu einem Snternationalen Sängerwettftreit. Es be- teiligten fid) daran zahlreiche Vereine aus bem In- und Aus- land, fogar ein ungarifcher aus bem entlegenen 23ubapelt. Das Zeft, beffe Sauptafte fid) in Kleinbafel auf dem Areal des alten badifchen Bahnhofs abfpielten, nahm unter der Gunft der Witterung einen in allen Zeilen befriedigenden Berlauf.
15. Die Staatsrehnung für 1913 jdlieBt bei 20478937 Qr. (93ubgef 18337 037) Einnahmen und 20 921 627 Fr. (21120743) Ausgaben mit einem Defizit von 442690 (2633 688) Zr. Doch find für PVerzinfung und Amortifation der Staatsichulden 510172 Zr. mehr ausgegeben als budgetiert.
16. Die Frequenz der Univerfität im Sommerjemefter 1914 beträgt 940 Studierende (59 Damen), und zwar 85 Theologen, 78 Zuriften, 327 Mediziner, 229 Philofophen I und 221 Philofophen II. Schweizer find 665 (50), davon Bafelftädter 352 (31), und zwar Theo: [ogen 20, Zuriften 54, Mediziner 54 (5), Philofophen I 224 (26), Philofophen II 105 (6).
18. Der Große Rat befchließt zur Durchführung des Baues Ginger zwifhen Marktgaſſe und Stadthausgaſſe Verkauf feiner Liegenfhaft an biejer Stelle und Ankauf ber Liegenfhaft Fifchmarft 12 unter gleichzeitiger Aenderung ber Baulinien an Markt: und Stadthausgaſſe; er bewilligt die nötige Summe zum Landerwerb beim Wolf für Anlage eines weitern Straßenbahndepots und befchließt, fi mit 250000 Qr. an einer zu gründenden „Schweizerifchen Rheinfchiffahrt-Aktiengefelfchaft in 93afel" zu beteiligen.
Der Regierungsrat bat bie ergiebige Unterſtützung des
348
Stadttheaters aus Hffentlihen Mitteln davon abhängig ge- macht, daß von privater Seite entfprechende Subventionen geleiftet werden. Um dies zu ermöglichen, fonftitutert fid) nach längerer intenfiver Propaganda heute ein Theater: verein mit Oberftleutnant W. Dietfchy- Furſtenberger als Präſidenten.
19. Der Genoſſenſchaftsrat des Allgem. Konſumverein beſtellt fein Bureau und beſchließt, in Zukunft bei dieſem Geſchäft das proportionale Wahl— verfahren anzuwenden. |
20. Sm Alter von 33 Jahren [ftirbt Dr. Rud. Dietſchy, Chefarzt des fantonal folothurnifchen Sana— toriums Allerheiligenberg.
21. Sn Lieftal findet die fonitituierenbe Verfammlung der Gefelfhaft zur Wiedervereinigung beider Baſel flatt. Vorträge hielten Dr. Aug. Heine. Wieland aus Bafel und Gemerbejefretár Sidubin aus Siffah. Ein Statutenentwurf wurde angenommen und zum Präfidenten des Verbandes Ing. R. Gelpfe gewählt.
Der Basler Ruderflub hält auf dem Staufee bei Ausft eme Snternationale Ruderregatta ab, ver: bunden mit feinem 30. Gtiftungsfef. Die PVeranftaltung nahm bei großer Beteiligung der Ruderer und des Publi- hnn$ den beften Verlauf.
Die Saubftummenanftalt in 9tieben be geht mit bejcheidener Feier bie Erinnerung an ihr 75jähriges 23efteben.
22. QGefunbatlebrer Walter Bader-Nitter ver- unglüdt tödlich burd) Sturz mit bem Fahrrad im Alter von 60 Syabren.
24. Die evangelifd-rteformierte Synode faßt eine Refolution zugunften der fogenannten Spielbant- Snitiative (Urt. 35 der Yundesverf.), ferner befchließt fie, das Gunbelbinger Quartier füblid) vom Bahnhof unb alter Surababníinie mit der St. Elifabethengemeinde zu ver-
349
einigen und biefer außer bem (Gt. Elifabethenpfarrer zwei neue Geiftliche zu geben. — Die Regierung beruft als ordentl. Profeflor der Kunſtgeſchichte den Privatdozenten Dr. Sriedr. Rintelen in Berlin.
25. Der Große Rat bewilligt einen Kredit von 126 000 Zr. für die öffentlichen franfenfaljen und berät in erfter Lefung 25 Paragraphen des Gefetes über das Univerfitätsaut.
26. Die Gemeinnützige Gefellfhaft wählt zu ihrem neuen Vorſteher Dr. €. 5. W. Burdhardt, zum Schreiber Dr. Zelir Iſelin. — Die außerordentl. Hauptverfammlung der Allg Rranfenpflege ge- nebmigt bie Verträge mit den Werzten und Apothefern und bie bereinigten Statuten, bie den Forderungen des Yundes- amtes für Sogialverficherung ent[pred)en. Die Statuten treten mit dem 1. Zuli 1914 in Kraft; baburd) wird bie Krankenpflege des Yundesbeitrages für 1914 teilDaftig.
27. Der Verband für Schiffahrt auf bem Dberrhein genehmigt in feiner Generalverfammlung Beriht und Rechnung für 1913 und wählt in ben Vorftand Prof. Gejare Bolla in Bellinzona unb Ing. Bitterli in Rheinfelden. An die Verhandlungen fchloß fid) als zweiter At eine Dampferfahrt nad) Rheinweiler.
27. Suni bis 5. Juli. Das VI. Shüßenfef beider Bafel wird in Siffach abgehalten. Bei ber Sahnenübergabe am 28. fprachen für Baſelſtadt Dr. €. Stödlin, für 93afellanb Gewerbeſekretär Tſchudin; febteter mit ausdrüdlicher Befürwortung des Wiedervereinigungs- gebanfeng. Der gleichen dee dient das wiederholt mit größtem Beifall aufgeführte Zeftfpiel von E. A. 93ernoulli in Arlesheim: „Die Umkehr der Stäbe”. Gleichzeitig feiert der Genannte Sriumpbe an ber Landesausftellung in Bern mit feinem Feſtſpiel „Die Bundesburg“. |. 209.ffg. Die Woche ber religidfen Jahres— fefte geht in üblicher Weife vor fid.
350
Witterung Das Mittel der Temperatur im Monat Suni 1914 betrug 15,3, das mittl. Temp.- Minimum 11,0, das mitt. Temp.-Marimum 20,0° C., dag Mittel des Luftoruds 737,2, die Summe der Niederſchlagmenge 110 mm, die Summe der. Sonnenfcheindauer 207 Stunden. Diefe Zahlen entiprechen ziemlich genau den Normalwerten. Es fommt dies zum großen Seil daher, daß ber Monat zwifchen ben Grtremen bin und ber jchwanfte. WUußer: gewöhnlich groß war die Getittertátigfeit.
Suli 1914,
3. Der Vorftand des Verbandes zur Wiedervereinigung beider 93afel wählt zum Präfidenten Ing. Rud. Gelpke. — Die venia legendi für das Lektorat ber franzöfifchen Sprabe an ber LUniverfität wird erteilt an Hubert Matthey von Vallorbe.
4.ffg. Das Quodlibet führt am Heimatfchuß:- theater in Bern unter großem Beifall bafeldeutfche Schwänte von Dominit Müller auf, nachdem [don zu Anfang des Monats Zung-Bafel mit wiederholter Aufführung des Schaufpiels „Laupen” von Caefar von Arr bie Berner ent: zückt bat und während das gleichfalls aus einer baslerijcben Geber (CE. U. DBernoulli) entftammende Zeftipiel „Die Bundesburg“ zu immer neuer Freude zahllojer Zufchauer über die Bretter gebt. |
5. Der Relegationsmatch Ser. A. der Schweiz. GuBball- vereinigung in 93ern gebt mit 7:0 zugunften von Old Boys Bafel gegen Fußballklub Viel aus. — In Baſel finden bie zentralfchweizerifihen Vorbereitungs- fámpfe für das große fchweizerifhe Leichtathletik— Sportfeft am 19. ds. in Bern ftatt.
7. Der Weitere Bürgerrat behandelt eine Reihe Begehren um Aufnahme ins Bürgerrecht.
9 Der Große Rat erledigt in erfter Lejung das Gefe& über das Iniverfitätsgut, geht über einen Anzug betr.
351
Verlegung des Bauplages des Kunftmufeums hinter ben Schützenmattpark, b. b. auf bie Feſtwieſe, zur Tagesordnung, weift das revidierte Hochbautengefe an eine Rommilfion, beginnt die zweite Cejung des Gefebes betr. Organifation des Zrauenfpitals unb nimmt eine 9[fenberung am Ein- führungsgefe für Kranken: und Unfallverficherung an.
Die Rommiffion für populäre Vorträge ver: anftaltet zur Feier des 5Ojährigen Beſtehens diefer Gin- rihtung ein Feſtmahl auf ber Otebleutengunft; es werden dazu fämtliche noch lebenden von ben 368 Vortragenden ein- geladen, bie fid) in den Dienft ber Rommiffion geftellt haben. Es fanden fid) zu bem Feftchen über 70 Teilnehmer ein.
11. 12. Das 10. bafelftädtifhe ftantonal- turnfeft wird auf dem Platz des ehemaligen badifchen Bahnhofs abgehalten. Zeftgebende Sektion war ber Turn- verein Horburg, Feftpräfident Reg.-Rat Wullfchleger. Das Seit erfreute fid) großer 93eteiligung der Turner aus bem Kanton und der Umgebung und verlief ohne Unfall bei prächtiger Sommerwitterung.
14. ffg. Die erfte Ferienwoche wird benüßt zur Ab: haltung ber üblien Quartier-Zugendfefte
14. Sm Alter von 52 Sabren ftitbt Grau €. Zell— weger-Steiger, Präfidentin des Verbandes ber fchwei- zerifchen Vereine zur Hebung der Cittlidfeit. — Die fran- zöſiſche Kolonie hält ihr Nationalfeft in üblicher Weife im Sommerfafino ab bei febr günjtiger Witterung.
15. Der Regierungsrat ernennt zum außerordentlichen Drofeflor für deutfhe Rechtsgefchichte und deutſches Privat- reht an der Univerfität Dr. Edard Meifter, Privat- Dozenten in Leipzig.
19. Ein vom Wafferfahrverein Horburg veranftaltetes interfantonales DWettfahbren auf dem Rhein verläuft bei prachtvoller Witterung und zahlreicher Beteiligung äußerft gelungen und ohne jeden Unfall. — Im Alter von 61 Zahren ftitbt ber Sournalift S. D. Hager,
352
eine in Pereinen und Gefellicaften Bafels, fomie in Künftlerkreifen durch bie fleißige Ausübung feines Berufes befannte Perfönlichkeit.
27. Der Privatdozent Johannes Strour in Straß: burg nimmt einen Ruf als ordentlicher Profeflor für alte Philologie in Baſel an. |
29. Zum Gubftituten des Grundbuchverwalters wählt bie Regierung Dr. Gb. Wenk von Bafel.
31. Witterung Das Mittel der Temperatur im Monat Zuli betrug 17,4, das mittl. Temp.-Marimum 22,0, das mitt. Temp. -Minimum 13,4? C., das Mittel des Luft- druds 736,2, die Summe der Niederfchlagmenge 111 mm, die Summe der GConnen[deinbauer 194 Stunden. Der Monat weift ein Manko an Wärme, einen Ueberſchuß an Niederfchlägen und bei weitem nicht bie normale Sonnen: jheindauer (228 Stunden im 25jährigen Mittel) auf. Er bat alfo, wie der Zuli 1913, feiner Pflicht als Hochfommer- monat nicht genügt.
Der Ausbrubh der Feindfeligteiten zwi— hen Defterreih und Serbien am 28. Juli zieht aud) bei uns feine Folgen nad) fid). Die Börſe wird für einige Tage gefchloffen. Der Allg. Ronjumverein erklärt, Migros-Beftelungen auf Lebensmittel vorläufig nicht mehr ausführen zu fónnen. Die Lebensmittelgefchäfte follen zum Seil durch die Anfchaffungen der Haushaltungen aus: verkauft fein. Einzelne Sparbanten haben Runs ihrer Ein- leger. fandzuhalten — all dies, ebe noch irgend ein ernft- baftes Anzeichen vorlag, daß unfer Land bei ben Wirren irgend in Mitleidenschaft fónnte gezogen werden. In den folgenden Sagen wuchs die Aufregung zur fopffofen Angft an. Schon am 30. Zuli richtete bie Regierung eine 93efannt- machung an die Bevölkerung. Darin warnte fie vor über- triebener Aengftlichkeit und mahnte insbefondere vor preis- Heigernden großen Lebensmitteleinfäufen und vor Bezügen von Bargeld aus den Banken, wodurch dem Handel und Ver-
353 23
febr das Nötige entzogen werde. Als am 31. das Aufgebot des Landfturms zur Grenzbeobachtung und die Pilett- ftellung der ganzen 9[rmee durch den Bundesrat verfügt wurde, trug dies zur Beruhigung nicht bei. Die Banken mußten Polizei zu Hilfe holen, um bie Menge ihrer Runden, bie weit in bie Straßen hinein den Verkehr bemmte, einiger: maBen in Ordnung zu halten. Diele Lebensmittelgefchäfte, auch von den größten am Plab, mußten zeitweilig fchließen, weil ihre Vorräte in den Läden erfchöpft waren. Auch vom Allg. Ronfumverein geſchah dies in einzelnen Verkaufs— Lofalen troß der erwähnten Maßregel, wenn aud) die Zentral- lager hinreichend verfehen waren. Sn allen Perbältnifien wurde ein empfindlicher Mangel an Hartgeld füblbar. Don Bern wurden die längft für [olde Fälle bereit liegenden 20 Fr.Noten ausgegeben.
An ber Grenze gab es freilich nod) andere Be— weife des Krieaszuftandes als bloß bie Aufregung des Ein- zelnen. Der badifche Bahnhof wurde am 31. gefperrt. Die Grenzfperre wurde an allen Slebergängen ins deutfche Gebiet, namentlih links vom Rhein, fireng durchgeführt. Der Sram nad) St. Ludwig und nad Hüningen verkehrte nur noch bis zum Lisbüchel. Auf allen Straßen bis in die ab- gelegenften Cunbgduerbürfd)en hinderten ftarfe Barrikaden ben Verkehr zwifchen ben Nachbarftaaten. Alle 93rüden waren militärifch bewacht. An ben erften Sagen wurde das Verbot der Lebensmittelausfuhr aus dem Reich peinlich durchgeführt. Bald wurde jedoch bie Gemüfeverforgung aus Neudorf, mit bem 1. September bann aud) die Einfuhr aus dem Badiſchen wieder geftattet. Das OXatrfgrafenfanb bot, foviel man erfahren fonnte, den gewöhnlichen friedlichen An- blid. Dagegen wimmelte es in den elſäſſiſchen Grenzorten von deutſchem Militär, Zußfoldaten und Reitern, in ben neuen grauen Felduniformen.
On der Stadt wurden die abenteuerlichiten Gerüchte berumgeboten und bereitwillig geglaubt.
354
Auguft 1914.
1. Die Bundesfeier nimmt, wo fie überhaupt n0d) begangen wurde, einen ernften Gbarafter an. Man vernahm feinen Feuerwerklärm. Nur das feierliche Gloden- geláute erinnerte an den vaterländifchen Feſttag.
12. Die Regierung befchließt, von der Abhaltung der auf dieſes Sabr fallenden ftaatlihen St. Safobs:- Shlahtfeier Umgang zu nehmen.
15. Zn ber Regierungsratsfigung wir ben Departementen bie Weifung erteilt, die budgetierten Aus- gaben zu bezeichnen, bie für das Gabr 1914 unterbleiben fónnen, unb in das Budget des Zahres 1915 nur bie un- vermeidlichen Ausgaben aufzunehmen.
17. Der Recdtsftreit zwiſchen Reg.-Rat Dr. 9. Blocher unb W. $agenbed (f. zum 25. Mai 1914) wird durch einen Vergleich erledigt.
18. Der Genoffenfhaftsrat des Allgem. Ronfumvereins läßt fid) durch feine Verwaltung be- richten über bie durch den Krieg notwendig gewordenen Aenderungen im Betrieb. Ein Beſchluß erfolgt aber erft in der Sigung vom 21. in dem Sinne, daß der Verwaltung ein Kredit bewilligt wird von 70 000 Zr. für eine teilmeije €obnaablung der unter die Fahnen gerufenen Angeftellten und Arbeiter, vorläufig auf drei Monate.
22. Der Regierungsrat befördet den interimiftifchen Kommandanten des Landfturmbataillons 51, Hauptmann G. Röhlin, zum Major. — Der PVerband Schweiz. Konfumvereine, ber Allg. KRonfumverein Baſel und die Bel A. G. tun fid) zufammen zur Gründung einer Volks- fü de, bie zum Preife von 25 Ets. eine genügende, nahr- bafte Mahlzeit liefern mill. Ein etwaiger Ueberſchuß foll der Regierung eingebünbigt werden. — Die von ber Regie- tung eingefegte itaattide Hilfstommiffion (Präf. Pfr. G. Benz) tritt mit einem Aufruf zur Spendung von —
355 28”
Gaben an bie Deffentlichkeit. Ihr Auftrag ift, aller burd) den Krieg bervorgerufenen Not im weiteften Sinne nad) Möglichkeit abaubelfen.
On ber mit bem 22. Auguft zu Ende gehenden Woche bat ber Schulbetrieb wieder eingefegt mit mannig- faden burd) die Verhältniſſe gebotenen Hemmungen und Gin[dránfungen. Diele Lehrer tun Militärdienft, viele Schulhäufer find mit Truppen belegt oder als Cagatette u. drgl. hergerichtet. So nimmt vielfach der Unterricht den Charakter eines Kinderhortes an, wird zum Seil im Greien gehalten und fommt wohl oft mehr den Eltern als den Kindern zugut.
22. Das Polizeidepartement tritt mit einer War- nung bervor, in der namentlich bie Ausländer gemahnt werden, fid) überflüffigen und aufreigenben Redens zu ent- balten.
25. Sm Alter von 52 Zahren ftirbt Red. Sob. Frei- Grether von ber „Nationalzeitung”. Er gehörte längere Sabre dem Großen Rat und der Synode an und war im Vereinsweſen Bajels tätig.
26. Das St. Safobsfeft geht fozufagen unbeachtet vorüber (f. zum 12. b. M.). Zwei Kränze werden mit be- fcheidener Feier am Denkmal niedergelegt, ber eine von einer Abteilung des Landwehrbataillong 144, der andere vom Bataillon 53. Die Abendgottesdienfte der evangelifch- reformierten Kirche waren ftarf bejudbt. Das für bie ftaat- lide Hilfstommilfion erhobene Opfer warf 2350 Gr. ab. Am Abend fanden fid) bie dienftfreien Truppen der Grenz- befegung in ber Burgvogtei zufammen.
31. Witterung Das Mittel der Temperatur im Auguft 1914 betrug 17,8, das mitt. Semp.-OXtarimum 23,0, das mittl. Temp. - Minimum 13,50 C., das Mittel des Luft: druds 7390, bie Summe ber Niederfchlagmenge 141 mm, die Summe der Sonnenfcheindauer 219 Stunden. Der Monat verhielt fid) im ganzen normal mit Neigung zu
356
ichöner Witterung. Bloß bie Menge des Niederfchlags erreichte 168% des Normalwerts, wie denn der Monat an Gewittern außerordentlich reich war.
Schon bie obigen nad) ben Tagen geordneten Aufzeich- nungen bemeijen, wie ausjchließlich Baſel während diefes ganzen Monats Auguft vom europäifhen Rriege beberr[dt wurde. Es muß als befannt vorausgejegt werden, daß bis Ende des Monats der größte Teil unferes Erdteils in zwei Lager ge[palten war, auf der einen Seite Defterreich- Ungarn und Deutfchland, auf der andern Rußland, Grant- reich, England, Belgien, Serbien, Montenegro, endlich auch Sapan. Baſel unb die Schweiz interefliert vor allem das Verhältnis Deutfchland-Franfreih. Während bie Saupt- fhläge in 33elgien und im Norden Frankreichs fielen, hatten wir einen fefunbdten Kriegsichauplag in unferer Nähe im Oberelfaß. So viel zur allgemeinen Orientierung.
Am Samstag, 1. Auguft, vormittag, erfolgte der 23e- Ihluß des Bundesrats über bie Mobilifation ber sanzenfhweizerifhen Armee auf den 3. unb 4. Am 1. ?fuguft Schon hatten bie Landfturmbataillone bet Grenzbezirke einzurüden, u. a. Bataillon 51 Baſelſtadt unter bem interimiftifchen Kommando von Hauptmann E. Köchlin. Am Nachmittag 2 Uhr verfammelte es fid auf ber Margarethenwiefe und wurde organifiert. Hernach legte es ben Fahneneid ab und bezog bann bie Wache an Bahn— höfen und Brüden und an der Grenze von St. Chrifcehona bis Allſchwil. Auf der Schligenmatte, dem Schellenmättli unb der Luftmatte wurden zum Teil erit am 2. und 3. bie Pferdemufterungen vorgenommen.
Durh die Stadt bewegte fid) ein ununterbrochener Strom von aus ber innert Schweiz heimmwärtsftrebenden Sommerfrifhlern aller Nationen Da bie Bahnftrede Bafel-St. Ludwig, YBafel-Leopoldshöhe, 93afel- Lörrach, Bafel-Grenzah und umgekehrt nicht mehr betrieben wurden, fo berrfchte, namentlich zwifchen dem Bundes⸗
357
bahnhof unb St. Ludwig (über bie Rinoftraße auf zum Teil febr abenteuerlichen Zuhrwerfen ein äußerft lebhafter Zer- febr. Eine fcharfe Kontrolle der deutfchen Behörden wurde über die Einwanderung an der deutfchen Grenze geübt. Es fam deshalb vielfad) zu Stauungen. Die Gafthöfe in der Stadt, namentlich bie in der Nähe des Bahnhofes, waren mit Reifenden fo überfüllt, daß Hunderte in den Warte- fälen und auf ben Perrons des Bahnhofs übernadbteten. Mit biefem Zuge ber heimftrebenden Ausländer freuaten fid) aus bem Auslande agurüdfebrenbe Schweizer Webhrpflichtige. Aber bie große Einwanderung in die Schweiz beftand in diefen erften Rriegstagen in Zehntaufenden von aus Deutfchland beimfebrenben oder aus Frankreich über bie Elfäfler Grenze gefhobenen Italienern, die den Heimweg über den Gotthard fuhten. Die armen Leute benützten die gleiche Straße, wie jene aus der Schweiz nad Haufe flüchtenden Erholungsbedürftigen. Die auf dem Bahnhof für burd- wandernde Staliener bereit geftellten Räume genügten dem Andrang von ferne nicht. Es wurden auf dem Zußball- fpielplag an der Margarethenftraße und fonft in der Nähe unter freiem Himmel Maflenlager eingerichtet. In den fol- genden Tagen bot diefer unvermutete Zuzug ernfte Verlegen: beit. Da das italienifche Ronfulat der Menge hilflos gegen- überftand, fo mußten öffentliche und private Wohltätigfeits- unternebmungen in ben OB treten, um wenigftens die allernotwendigften Lebensbedürfniffe zu befchaffen. Es war dafür geforgt, bap Baſel feine alte Aufgabe, ein Hort ber Notleidenden zu fein, nicht vergaß. Das Militär mußte herangezogen werden zur Bewachung der nicht immer be- quemen GBäfte. Die Menge fämtlicher durchreifender Staliener, Männer, Weiber und Kinder, wurde auf weit über 40 000 geſchätzt. Man fab fid) genötigt, zeitweiſe die Grenze bei St. Ludwig für diefe Zuwanderung zu fchließen. So bildete fid) dort auf deutfchem Boden aud) ein Lager von Taufenden, ein Gegenftüd zu dem auf ber OXatgaretben-
358
wiefe. Erft nachdem jámtíid)e in Baſel lagernden, jomie 2—3000 bisher in 93afel Aufenthalt babenbe Italiener nad) Chiaſſo abgefchoben waren, wurden aud) bieje bereingelalfen unb wie ihre Vorgänger in Gonbergügen an bie Grenze ihres Heimatlandes befördert. Sm Gegenfa zu 1870/71 famen mit Ausnahme diefer Italiener in der erften Zeit des Krieges feine Flüchtlinge in größeren Mengen nad) 23ajel. Die dichte Ubfperrung der Grenze ließ es nicht zu. Conit würden bie Ereigniffe im Sundgau wohl dazu Anlaß ge: boten haben.
On den Verkehr bradte die ftrenge Abfchließung der deutfchen Grenze nad) allen Richtungen viele Störungen. Die Schnellzgüge in Deutfchland wie in Granfreid) liefen der Mobilifation wegen nicht mehr. Dazu fam die Unter: bredjung des internationalen und die Beſchränkung des binnenländifhen Zelegraphen: und Telephonverkehrs, bald aud) der bie Reifemöglichkeiten auf ein lächerliches Mindeft- maß zurüdichraubende Kriegsfahrplan. Erft gegen Ende des Monats wurden die regelmäßigen Fahrten der YBundes- bahnen wenigftens in befchränftem Umfange wieder auf: genommen. Dergeftalt befamen wir, obwohl nicht unmittel- bar in den Krieg verwidelt, bod) viele feiner Unannehmlich- feiten [don in biefen etffen Sagen reichlich zu fchmeden.
Der 3. Auguft fand unter bem Zeichen ber Mobili- fation Des Auszugs unb ber Landwehr von Bafelftadt, von der Infanterie des Auszugsregiments 22 (Oberftlt. Senn) mit Bataillon 54 (Major Senn) und Ya: faillon 97 (Major Alioth) und des Landwehrbataillons 144 (Major Lichtenhahn), fowie fämtlicher Spezialwaffen. Die Snfanterie rüdte mehr als Friegsftarf ein, fo daß bald drei KRompagnien Auszug als Depotmannfhaft ausgefchieden und in bie innere Schweiz geführt werden konnten. Die Leute tüdten um 2 Uhr nachmittags ein und brachten bie folgenden. Wochen in unferer Stadt und deren unmittelbarer: Nähe zu. Bataillon 144 wurde am 4. September entlaffen,
359
nachdem [don Ende Auguft Auszugregiment 22 in unferer Stadt durch andere Truppen abgelöft und in neue Rantonne- mente gelegt worden war. Genaues kann hierüber nicht mit- geteilt werden, ba die militärifchen Inſtanzen über bie Standorte der Truppen fchwiegen und auch bie Prefie durch eine militärifehe Senfur in Saum gehalten wurde. Immer: ‚hin, fo viel iff fein Geheimnis, daß in Baſel und in beffen nächſter Umgebung febr ftarfe Truppenmaflen aller Waffen lagen. Gegen Ende des Monats wurden den Gtädtern wiederholt größere Rolonnen Infanterie, Kavallerie, Ar- tillerie und Parf vorgeführt, was immer eine Menge Volk auf die Straßen lodte und manchmal zu abfonderlichen Huldigungen führte. So pflegten bie Marktfrauen unfere PBaterlandsverteidiger jeweilen mit Obftfpenden zu bewerfen. Während all diefer Zeit bewegte fi in unfern Straßen bedeutend mehr Militär als in gewöhnlichen Tagen und gab der Stadt ein befonderes Ausſehen.
Die Stimmung ber Bevdlferung, bie Phy- fiognomie der Straße, bie [d)mirrenben Gerüchte gehören aud) zum Bilde diefer Wochen. Aber fie Laffen fid) nur fchwer er- faflen, vor allem nicht auf ein beftimmtes Datum feftlegen. Es mag erwähnt werden, bap am 4. Auguft bie Beeidigung ber bafelftädtifchen Infanterie des Auszugs unb der Land- wehr bei ftrömendem Regen erfolgte. Die Mobilifation bat Rd) auch bei uns ruhig und ohne Reibung vollzogen. Neben der Regierung übernahm ein Plaglommando mit Oberft Büel an der Cpi&e bie militärifehe Leitung der Stadt. Es richtete fid mit feinen 93uteaur im Schulhaus der Ge- werbefchule am Petersgraben ein. Ueber die Truppen: bewegungen und die Standorte der Einheiten erfuhr man nidts. Mancher hätte unferer Bevölkerung nicht fo viel Surüdbaltung zugetraut. Die Schweigfamkeit machte einen - febr guten Eindrud.
Die Bevölkerung war während ber fchwülen eriten Kriegstage wie begreiflich jebr aufgeregt. Die Ab—
360
fperrung ber Landesgrenze vermehrte bie Aengſtlichkeit. Es war unmöglich, von jenfeits irgend eine annähernd verbürgte Nachricht zu erhalten. Dies beförderte bie Gntitebung der wildeften Gerüchte. Allgemein war bie Befürchtung, daß Granfreid) von Belfort ber einen Vorftoß verfuhen und daß Deutichland mit einem Gegenftoß antworten werde. Glaub: haft wurde verfichert, wie fid) fpäter auch betätigte, baB in ber elfäffifchen Nachbarfchaft einzeln ftehende Geböfte und ODappelteiben am Rhein und am Kanal, bie das Schußfeld von Sftein ber ftórten, zerftört und umgebauen worden waren, [oie daß ber Viaduft bei Dammerficch gelprengt war. Die Räumung ganzer, mit Namen genannter Dörfer, ſowie bie meiften der mit allen Einzelheiten gefchilderten ſtandrecht⸗ [iden Erſchießungen dagegen erwiefen fid) in der Folge als Slebertreibungen. Diele behaupteten, im Wiefen- und im Randertal lägen ganze Armeekorps, darunter ein öfter- reihifches. Dagegen iit wahr, bap unmittelbar nad) Aus- brud) des Kriegs ein ganzes Neft Franzöfiicher Spione von der Polizei ausgenommen wurde, und daß ein feit Sabr- zehnten in Yafel niedergelaflener Deutjcher wegen Spionage im Dienfte Deutfchlands ausgewiefen werden mußte.
Die militärifhben Maßnahmen in der Stadt wurden zum Seil fchon erwähnt. Es jei weiter ge- meldet, baB außer den Bahnhöfen auch Brüden und Straßenfreuzungen VBewahung erhielten. Die Opitäler wurden zu Lazaretten eingerichtet und mit der Fahne des Roten Kreuzes bezeichnet. Die Schulhäufer wurden bereit- geftellt zur Aufnahme von Soldaten. Private wurden auf: gefordert, fid) für Einquartierung zu rüften. Die Minen- fammern ber Yrüden wurden geladen, bie 93rüdenfópfe mit 93arrifaben zur Perteidigung eingerihtet. Auf ber Straße berrfchte der Fußgängerverfehr vor. Viele Pferde und die meiften Automobile waren ausgeboben. Dagegen verihwand nad den eriten Mobilmachhungstagen das Militär fait vollftändig. Unter den Ziviliften trugen mande
361
bie rote Armbinde. Es waren Hilfskräfte für bie Militär: verwaltung. Der ftädtifche Tram führt nur noch reduzierten Betrieb aus, weil ein großer Seil des Perfonals in den Dienft berufen if. Daß ber Bahnverfehr nad) dem Aus: land unterbrochen, im Inland außerordentlich eingejd)rántt iit, wurde jchon erwähnt. Auf ber Landftraße nad) Lörrach bewegt fid ein ununterbrodenerer 3ug von deutlichen Stellungspflichtigen. Ihnen fommen Schweizer aus bem Ausland entgegen, bie bem Ruf unter die Sahne folgen. Sn der Stadt bemerkt man zahlreiche Engländer, bie aus bet Sommerfrifche heimfehren möchten und denen es dazu an OReifegelegenbeit fehlt. Diele von ihnen find darum übel daran, weil fie zwar Geld befiSen, aber bloß ausländifches. Solhes wird gegenwärtig im täglichen Verkehr aud) zu hoben Rurfen faum angenommen.
Die Behörden, Regierung wie Platzkommando, erlafien 93efanntmad)ungen aller Art, betr. Unterſtützung von notleidenden Familien Wehrpflichtiger, betr. Erhebung von Nahrungsmittelbeftänden, betr. Hilfe für bie Landwirt: Schaft burd) in der Stadt brad) liegende Kräfte, ebenfo die Ronfulate ausmürtiger Staaten für ihre bedürftigen An— gehörigen. Mannisfache private Unternehmungen und Ge: felffd)aften treten ihnen belfend zur (eite. Das Rote Kreuz trat am 7. Auguft mit einem Aufruf zur Spendung von Gaben in bar oder in natura in die Linie.
On ben Tagen vom 6. bis zum 10. Auguft laftete auf der Stadt ein ſchwüler Drud. Senfeit8 der Grenze gingen Dinge vor, bte um fo ſchwerer auf bie Stim- mung DBafels wirkten, al8 man Genaues darüber nicht wußte. Am Abend des 7. Auguft erfchien eine Bekannt— madung des Platfommandos. Sie fprad) von der Mög: lichkeit, „Daß nod) heute ober in ben nächſten Tagen in unferer Nähe Zufammenftöße zwifchen deutfchen und fran- aófiíden Truppen ftattfinben" füónnten und mahnte bie 23e- völferung zur Ruhe. Auf den Ernft ber Lage wies ferner
362
bie farfe Anfammlung fchweizerifcher Truppen in und um Baſel bin. Bei ber ftrengen Zurüdhaltung, die darüber beobachtet wurde, läßt fid Genaues nicht melden. So viel fteht feit, baB rings um Baſel, namentlich auf bem 93ruber- bolz unb auf ber Anhöhe weftfid vom Birfigtal ftarfe Artillerieftellungen bezogen unb mif entjprechendem infante- riftifchem Schuß verfehen wurden. Auch fab man die Stäbe häufig die Stellungen befuchen.
Zu biefer Seit hatten nach unbebeutenben Gefechten an ber deutich-franzöfifchen Grenze weftlih von Altkirch bie Deutfhen das oberfte Elſaß geräumt und waren über den Rhein zurüdgegangen, eine arößere franzöfifche Macht von Belfort bis zur Höhe von Volkensberg hinter fid) her atebenb. Durch den Rhein getrennt, fanden einander bie Feinde gegenüber. Die Cade fab für 93afel in der Tat gefährlich aus. Daß bie Gefahr nicht bloB auf Ginbilbung berubte, das bewies der gelegentlich bis zu ung dringende Ranonen- donner und das nächtliche Spiel ber Scheinwerfer von den badifhen Höhen. Gegen das Ende der Woche — ber Samstag fiel auf ben 8. Auguft — fdienen bie Grangofen fi mehr nad) Norden zu ziehen. Am Sonntag fam bie Nachricht, fie feien, ohne auf Widerftand zu ftopen, in Mülhaufen eingerüdt und hätten als nádftes Siel Colmar gewählt. Auf der ganzen Linie waren bie Deutfchen zurüdgegangen. Auch ihre Poften an der Schweizer Grenze hatten fie eingezogen. In der Naht vom 9. auf den 10. wurden aber in heftigen Rämpfen, deren Lärm deutlich nad) Baſel hinein dröhnte, bie Franzoſen wieder zurüdgewiefen. Die unmittelbare Gefahr war befhworen. Man atmete in Baſel erleihtert auf. Die Berichte fprachen von außer: ordentlih blutigen Kämpfen und vielen Toten. Für bie Lazarette in 93abenmeiler wurde ärztliche Hilfe in Baſel erbeten und gewährt. Acht Tage fpäter wiederholte fid) nod) einmal das gleiche Spiel. Wieder zogen die Franzofen in Mülhaufen ein und wurden wieder hinausgewiefen, dies:
363
mal unter befonders mörderifchen Kämpfen, bei denen u. a. der Vorort Yurzweiler [der mitgenommen wurde.
Gür den Krieg felber hatten bieje fümpfe im Oberelfaß wenig Vedeutung. Die Entfcheidung fällt im Norden, an der belgifchen Grenze. Auch (deinen Ende des Monats franzöfifche Truppen diefes füdlichen Krieasfchauplages nad) Lothringen gezogen worden zu fein.
AN dies wurde in Baſel mit einer verbaltenen Bangigkeit vernommen. Man börte feine lauten Aus: brüche ber Angſt und feine Klagen. Über es unterblieben aud) alle 93eluftigungen, wenn man nicht bie 93ejudje der Soldatenfrauen, Rinder und Mütter bei ihren Wache haltenden Gatten, Vätern und Söhnen als jofde rechnen mill. Der Ernft gewann die Oberhand. Über es ift ibm nicht gelungen, der allgemeinen Aufregung Herr zu werden. Als am Montag, 10. Auguft, unter den Augen einiger hoben Offiziere eine Probe mit ber Wbfperrung ber mittleren Rheinbrüde vorgenommen wurde, was nicht eine Piertel- ftunde erforderte, fo entitanb daraus fofort das Gerücht, Kleinbaſel müſſe geräumt werden. Handel und Wandel liegen batnieber. Alle Internehmungsluft wird duch bie $f[nfid)erbeit ber gegenwärtigen Verhältniſſe und bie trübe Zukunft erftidt. Der Mangel an barem Geld geht nur langfam zurüd. In den Kirchen werden regelmäßige abendlihe Andahtftunden abgehalten und zahl- reich befucht.
September 1914.
1. Dur) Verfügung des deutfchen Reichsfanzlers wird die Einfuhr von frifhem Obft und Gemüfe aus bem OXarfgrafenfanb bis auf weiteres wieder geftattet. Mit Ausnahme der erften Tage der Grenzfperre war diefer Verkehr aus dem Elfaß nie formell unterbrochen, wohl aber zeitweife tatfächlih unmöglich gemefen, weil Pferde und Fuhrwerke requiriert waren u. dgl.
364
5. Die Regierung befördert zum Hauptmann ben Snfanterie-Oberleutnant Samuel Burckhardt.
8. Sn ?farau ftirbt, 73jährig, Placid Weißenbach, gewefener Generaldireftor der Schweiz. Bundesbahnen, neben Bundesrat Zemp der Hauptförderer der ZPerftaat- fidung der Schweiger 93abnen. Sn den 1880er und 90er Oabren wohnte er als Mitalied der Direktion der Zentral: babn in Baſel und beteiligte fid) als freifinniger Politiker lebhaft an unferm Hffentlihen Leben. Er bat 1890 ben Großen Rat präfidiert.
9. Der Regierungsrat befchließt, diefes Sahr wohl bie üblide Verkauf⸗, aber niht bie Schaumeffe abhalten zu [affen.
11. Der auf Ende Geptember für Baſel geplante internationale KRongreß für ſoziales Chriftentum kann laut Mitteilung des Komitees wegen des Krieges nicht ftattFinben.
11. Sn Grabs ftirbt, 82 Sabre alt, Prof. Hermann Schieß, früher Lehrer ber Augenheillunde an ber Basler niverfität und bochgefchäßter SOperateur, auch als namhafter Freund und Förderer der bildenden Kunft, injonbetbeit ber Malerei, weit befannt.
12. An einem Herzichlag ftirbt Wilhelm Arnold, 66 Zahre alt, Redakteur des ſozialiſtiſchen, Vorwärts“. Arnold aus bem Kanton Lri flammend, war der erfte Sozial: demofrat, ber 1888 in den Großen Rat fam.
14. Der neu gegründete TSheaterverein befchließt, für einen befchräntten Sbeaterbetrieb im Winter 1914/15 einzutreten und dafür auch einen Zeitrag zu leiften, mit Rüdfiht auf das fonft arbeits- unb verdienftlofe Perfonal.
15. Der Weitere Bürgerrat behandelt eine An- zahl Begehren um Aufnahme ins Bürgerrecht.
19. Die Regierung ernennt zum Vorfteher der bermato- Iogifch-venereologifchen Klinik und 9potiffinif Prof. Dr. £. Blood.
365
20. Das Bettagopfer in ben Gottesdienften bet evangelifch-reformierten Kirche iff zu amet Dritteln für bie Kaatfide Hilfstommiffion, zu einem Drittel für bas Rote Kreuz beftimmt und wirft 8672 Zr. (1913 : 6006) ab.
25. Die Generalverfammlung der ?fftionüre Des Stadtthbeaters befchließt übereinftimmend mit dem Theaterverein (f. a. 14. d8.) befchränkten Sbeaterbetrieb im beporftebenben Winter.
30. Unter ben gabíreien Prämierungen bad lerifcher Ausfteller an der Landesausftellung in Bern, die im Laufe des Monats September befannt geworden find, feien bier hervorgehoben bie Gemeinntütige Gefell- fóaft unb ba$ Shweizerifhe Wirtfhafts:- archiv, bie beide mit ber bód)ften für Unternehmungen bieler Art erreichbaren Auszeichnung, der Urkunde für ver- dienftvolle Beftrebungen auf bem Gebiete ber Volkswohlfahrt ausgezeichnet wurden.
Witterung. Im Monat September 1914 wurden beobachtet eine mittlere Temperatur von 13,9, ein mittl. Semp.-OXarimum von 18,6 unb ein mittl. Temp.- Minimum von 10,2° C., ein Mittel des Luftdruds von 740,1 und eine Summe der Niederfchlagsmenge von 79 mm, und eine Son- nenfcheindauer von 159 Std. Wie diefe zahlenmäßigen Werte fid) alle in ber Nähe des Iangjährigen Durchſchnitts halten, fo war aud) ber allgemeine Witterungscharakter des Monats normal.
Die Stimmung der Stadt hat fid) gegenüber dem vorangegangenen Monat wefentlich beruhigt. Es ift nicht anders denkbar unb wohl begreiflich, baB der Krieg fortfährt, in allen. Dingen fein Machtwort mitzufprechen. Ueberall nimmt man auf ihn Rüdfiht, jedermann läßt fid) durch ibn beeinfluffen. Aber im ganzen fängt man an, fid) Darauf einzurihten. Man fucht, den gewöhnlichen Gang ber Gefchäfte fo viel wie möglich wieder aufzunehmen. Frei- lich greift da bie Stodung, bie bie Unterbindung des Welt-
366
verfehrs, fowie des Verkehrs mit unfern Nachbarn jenfeits der Grenze verurfacht, fowie bie Abwefenheit Saufenber von unfern Einwohnern, die teils unter bie Fahnen der Schweiz, teils zu den Heeren der Kriegführenden einberufen find, viel- fad) bemmenb ein. . Doch bat die Stadt wenigftens am Tag ihr gewohntes Geficht wieder angenommen. Erſt am Abend pflegt fichtbar zu werden, daß Baſel jest eine Garni[on ift. Dann wimmelt es von Uniformen. Die Zivilbevölferung freut fi), daß die regelmäßige Roblenverforgung und bie Getreideeinfuhr aus dem Ausland wieder einfegen, bap über- haupt bie nötigften Beziehungen zu unfern Nachbarn, wenn auch nicht ohne Schwierigkeit wieder angefnüpft werden.
Was das Militäriſche anbetrifft, fo wurde am 12. September die 4. Divifion in unferm Grenzabfchnitt durch bie 6. erfe6t. Un Stelle der Luzerner, bie in den lebten Wochen in und um Baſel gelegen hatten, traten nun Thur: gauer und St. Galler. Die Nacht vom 15. zum 16. brachte die Luzerner Infanteriebrigade gleichzeitig mit ber neuen Oftfchweizer Befagung in unferer Stadt zu, wobei bie Schul- häufer als KRantonnemente befte Dienfte leiffeten. Die 4. Divifion bezog neue Stellungen im Baſelbiet. Das bafel- ftädtifhe Landwehrbataillon 144 war am 4. September ent- laſſen worden und rüdte am 21. wieder ein. Es verreifte am 22. nad) dem Gotthard. Zum Glüd genoflen bis Ende des Monats unfere Wehrmänner im Hochgebirge bie Gunft der Witterung, nachdem fie unfre Stadt bei abfcheulichem Hudel⸗ wetter verlaflen hatten. Am 17. hatten wir ben 93efud) des Bundesrats. Er befuchte in Begleitung einiger ber höchften Offiziere die Stellungen an der Grenze von Pruntrut big Baſel.
An den Krieg wurde man in Baſel immer unmittelbar erinnert durch bie fortwährenden Scharmützel im oberſten Elſaß. Immer wieder vernahm man die Stimmen der Kanonen. Lange fab man über Volkensberg einen Feſſel⸗ ballon ſchweben. Während des ganzen Monats gingen bald
367
größere, bald f(einete Transporte franzöfifcher ober deutfcher Sanitätsmannfhaft mit Aerzten durch unfere Stadt, bie auf bem Kriegsſchauplatz von ihren Heeren abgefchnitten worden unb in bie Hände des Zeindes gefallen waren. Sie wurden jeweilen gemäß den Beftimmungen des Roten Sreuges nad) fürgerm oder längerm Aufenthalt hinter der Front des Gegners über neutrales Gebiet ihrer Macht ‚wieder aus— geliefert. Derartige Durchzüge pflesten viele Schauluftige anzuziehen. Einmal fam es aud) zu einem gemeinjamen Mahl deutfcher und franzöfifcher Aerzte mit Offizieren des Platzkommandos.
Im öffentlichen Leben ſetzt eine kräftige Nei— gung zur Sparſamkeit ein. Ihre wichtigſten Anzeichen werden hier erſt zu erwähnen ſein, wenn im Laufe des Monats Oktober ber Große Rat feine Tätigkeit wieder auf- nimmt. Einſtweilen ſei der Beſchluß der Regierung notiert, vom 1. April 1915 an das ſogenannte weltliche Geläute mit Ausnahme des Silveſter⸗ und Bundesfeierläutens, voie aus- drücklich bemerkt wird, aus Sparfamlkeitsrüdfichten einzuftellen, fowie ber Beſchluß vieler Sunftvorftände, auf die gemein- famen Mahlzeiten zu verzichten und den baburd) frei werden⸗ den Betrag zur Unterftüßung ber Notleidenden zu verwenden.
Oftober 1914.
8. Sn feiner erften Sitzung nad) den Ferien unb nad) bem Kriegsausbruch befchäftigte fid ber Große Rat nad Er- ledigung einiger Bürgerrechtsaufnahmen und Nachtrags: freditbegehren mit ben Maßnahmen des Regierungsrat, die burd) Krieg und Mobilmachung erforderlich geworden find. Er beißt fie fämtlich gut mit Ausnahme der Vorlage betr. Lohnzahlung an das Perfonal der öffentlichen Verwaltung während des Militärdienftes. Diefe wird an bie Regierung zurüdgewiefen mit Direktiven. Für Notflandsarbeiten wird ein Kredit von 604,000 Wr. bewilligt und für Vergehen
368
gegen bie bundesrätliche Verordnung wegen Verteuerung der Lebensmittel das Strafgericht zuftändig erklärt.
11. Ein &uBballmatd) des Zußballliubs Baſel gegen bie Old Boys bleibt mit 2:2 Goals unentſchieden.
13. Einem Lungenfchlag erliegt 60 Sabre alt ber Fabri- fant Werner Rumpf :v. Salis, der in mannigfacher gewerb- fider und gemeinnüßiger Tätigkeit fid) hervorgetan Dat.
14. Sm benachbarten Riehen ftirbt Sljährig Paulin Gſchwind, der f. 3. als Pfarrer von Starrfirch und von Raifer-Augft in der fchweizerifchen altkatholifchen Bewegung eine führende Rolle fpielte, auch einige Zeit bifchöflicher Vikar war.
18. Pfr. Son Eya wird zu St. Peter in fein Amt eingeführt.
19. Die Hiftorifhe Geſellſchaft beſtätigt ihre &ommi[fton mit Dr. Aug. Yurdhardt als Präfidenten.
21. Der Regierungsrat beauftragt bie Verfaſſer der im erften Range prämierten Pläne für ein neues Runft- mufeum, 9. 23ernoullt und R. Grüninger und E. Fäſch mit einer Umarbeitung ihrer Projekte gemäß den Bemer— tungen ber Runftlommiffion.
22. Der Große Rat genehmigt bie nad) feinen Direftiven vom 8. b3. umgearbeitete Vorlage betr. Lohn- gablung an das Perfonal der öffentlichen Verwaltung wäh- rend des Militärdienftes, erklärt fid) einverftanden mit ber ratenweifen Bezahlung ber Wirtfchaftspatenttaren im Jahre 1915, befchließt Errichtung eines Daches auf bem Schulhaus der Untern Realſchule an ber Rittergaffe und nimmt in zweiter Lefung das Geje& betr. Organifation des Frauen: Ipitals an.
25./26. Die Wahlen in ben National: und in ben Ständerat für eine neue Amtsdauer von drei Sahren vollzogen fid in Yafelftadt wie in den meiften andern Kantonen in Anbetracht ber Eriegerifchen Ereigniffe auf Grund einer Verftändigung ber Hauptparteien, der Liberalen, ber
369 24
rabifalen unb ber fozialdemofratifchen — fortfhrittlihe 93ür- gerpartei und Katholiken hatten Ctimmentbaltung profla- miert — im Sinne ber 23effütigung. Den Milizen war Gelegenheit gegeben, in ihren Rantonnementen zu ftimmen. Die Beteiligung war ſchwach, wie aud) fein Wahlfampf porausgegangen war. Gewählt wurden bei einem abjoluten Mehr von 3343 9teg.-Otat GG. Wullſchleger mit 5754, Reg. Rat G. Gbr. Burckhardt mit 5252, Oberft S. Sfelin mit 5123, S. G rei mit 5068, 3. 3äg gi mit 5061, Dr. €. Göttisheim mit 4608 unb Dr. Chr. Rothen:- berger mit 4509 Stimmen. Als Ständerat wurde be- ftätigt mit 5622 Stimmen Dr. Paul Scherrer.
Zugleich wurde abgeftimmt über bie Revifion von Art. 103 der DBundesverfafiung und Aufnahme eines neuen Para- graphen 114 bis (Gefhäftsverteilung des Bun- desrats unb eidgendffifhes Verwaltungs- und Disziplinargeriht) Die Vorlage wurde mit 6000 Sa gegen 775 Rein angenommen. In ber gefamten Schweiz erfolgte gleihfalls mit großem Mehr Annahme.
26. Das Programm der populären Vorträge fiebt für den Winter 1914/15 folgende populäre Rurfe vor: Bor Neujahr Ing. 9X. Knapp über „Altes und Neues aus ber Aftronomie” und Dr. Emil Dürr über „Grundlagen der auswärtigen Politik ber alten Eidgenoflenfchaft”; nad) Neu- jahr Phyſikus Dr. $. Hunziker über „Der Rampf gegen die Krankheit”, und Dr. Aug. Otüegg über Homer.
27. Die 9X ef fe läutet ein wie gewohnt. (ie befchränkt fid) aber laut einem Regierungsbefehluß auf bie Warenmeſſe des DPetersplages. Schauftellungen und Luftbarkeiten find . dies Sahr ausgefchloflen.
28. Der Regierungsrat fest für bie Mebgereien maß: gebende Fleiſchpreiſe fef. Die Mebgereien erheben Dagegen Einfpruh und erklären, dabei nicht befteben zu konnen. |
370
29. Das 3ibilgerid)t wählt zu einem Cubftituten des Zivilgerichtiehreibers Dr. Karl Huber, b. 3. in 23ern. .31. Die Regierung beftätigt die vom Erziehungsrat getroffene Wahl von Dr. Albert Barth, Seminardireftor in Schaffhaufen zum Rektor der Töchterfchule. Witterung. Die meteorologifhen Hauptwerte des Monats Oktober find: Mittel der Temperatur 9,4, mittl. Temp. -Marimum 13,0, mitfl. Zemp.- Minimum 0,1° C., Mittel des Luftoruds 7371. Summe der Niederfchlags- menge 22 mm, Summe der Sonnenfcheindauer 108 Std. Hatte der Monat gegenüber dem langjährigen Durchſchnitt ein Manko an Gonnen[dein, jo blieb er aud) in der Regen- menge, unb zwar bedeutend, hinter dem Durchſchnitt zurüd, jo daß er im ganzen bod) ein gutes Andenken hinterläßt. Curd) den anhaltenden KRriegszuftand nimmt Baſel nad)gerabe das Ausfehen einer Garnifonsftadt an. Es ift überflüffig, bier den Wechfel in ben Mannfchaften zu tegi: ftrieren, ber in längeren Zwiſchenräumen erfolgt; jeweilen bezeichnet durch großen Zapfenftreich, Verdankung der guten Aufnahme in den Öffentlichen Ylättern unb dgl. Ab unb zu forgt ein größerer Zufammenzug irgend welcher Art für Be— friedigung der Schauluft. Sn den Monat Oktober fällt (2. bi$ 12.) ber erfte gemeinfame längere Urlaub ber 4. Divifion, der unfere 54et unb 97er für einige Tage dem SZivilleben wiedergab. Am 12. fam das €anbmebr-Snfanterie-Q3ataillon 144 von feinem mehrwöchigen, durch bie Witterung befonders begünftigten Dienft am Gotthard zurüd. Der Gebanfe an eine Entlaflung der Truppen fommt in Baſel nicht auf. Die Kriegslage im Sundgau erinnert ffet8 eindringlich an Die Notwendigkeit des Grenzfchußges. So bonnerten am 13. bie Kanonen vernehmbarer als je über bie Grenze. Der Verkehr mit dem Eljaß wird erfchwert. Die Regierung warnt in amtlicher 23efanntmadjung zu Ende des Monats vor un- nötigem Betreten des Nachbarlandes wegen der damit ver- bundenen Unannehmlichleiten und Gefahren. Dagegen ,
371 | 24
nimmt der Verkehr mit Baden weitern Aufſchwung, obfchon er noch weit hinter dem normalen Zuftand zurüdbleibt. Der Güterverkehr iff wenigftens wieder aufgenommen. Greilich Ihafft der Rriegszuftand auch bier nod) mande Schwierig: feiten. Cie find bod) lange nicht fo Läftig, wie beim Reifen: benberfebr. Noch immer fahren bie Perfonenzüge nur bis Leopoldshöhe, Lörrah und Grengad. Ein burdgebenber Fahrverfehr über die Grenze iff ber 93arrifaben wegen aus- geſchloſſen. Wenn aud) Baden nicht bireft mit Krieg über: zogen ift, fo find doch, foviel man zuverläffig vernimmt, bie Zeiten dort nicht gewöhnlich. Sahlreich find in unferm Grenzgebiet namentlih in den Ortfchaften am Rhein, bie Einquartierungen geflüchteter Elſäſſer. Da bie Franzofen bei ihren Befuchen in den Sundgauer Dörfern wiederholt die waffenfähige Mannfchaft mit fid) genommen hatten, fo waren die Deutfchen bem entgegengetreten und hatten aus den bedrohten Ortichaften alle Männer etwa von 17 big 45 Gabren mitgeführt und jenfeits des Rheins einquartiert. Die Dörfer in ber Umgegend von Müllheim follen 3. S. eine Ginquartierung von Elfäflern haben, die ihre gewöhnliche Einwohnerzahl weit übertrifft. Die Leute ftehen unter mili- tärifhem fommanbo und werden einererziert.
Die Durchzüge aus Frankreich fommenber deutſcher Sanitätsmannfhaften nehmen fein Ende. Gie pflegen mit den Abendzügen von Genf eingutreffen. Dann bringen fie bie Nacht bier zu. Am folgenden Morgen werden fie von ben militärifchen Behörden unferes Landes am Otter: bad) ben Sbrigen ausgeliefert. Bei ihrem Marſch burd) bie Stadt ermeift ihnen bie Basler Bevölkerung, allen voran die deutfche Kolonie, burd) Spendung von Genufßmitteln aller Art fo viel Liebes als in ihren Kräften ftebt. Seltener find in Bafel bie Durchzlige von Grangofen. Dieſe werden meift in der Gegend des Bodenſees an bie Schweizer Grenze ge- ftellt und verlaflen dann bei Genf unfer Land.
ge mehr Opfer der Krieg fordert und je mehr Notflände
372
aller Urt durch ihn gejdjaffen werden, defto mehr regt fich aud) in 93afel ber Drang zur Hilfe. Wir reden nicht bom fchweizerifchen Roten Kreuz und von der flaatlichen Hilfskfommiffion, deren Sammlungen erfreulich marjchieren. Dagegen muß erwähnt werden, daß in den lebten Tagen des Monats ein Hilfskomitee für bie notfeibenben Belgier an die Deffentlichleit trat und daß ein anderes für bie von hüben und drüben gemachten Geifeln und für die Vermittlung von deren Verkehr mit ihren Angehörigen in Bildung begriffen ift.
A
979 .