AUGUST SCHMARSOW

BEITRÄGE ZÜR AESTHETIK DER BILDENDEN KÜNSTE in.

PLASTIK MALEREI

UND

RELIEFKUNST

IN IHREM GEGENSEITIGEN VERHÄLTNIS

UNTERSUCHT VON

AUGUST SCHMARSOW

LEIPZIG

VERLAG VON S. HIRZEL 1899.

Ulrich Middeldorf

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AUGUST SCHMARSOW

BEITRÄGE ZÜR AESTHETIK DER BILDENDEN KÜNSTE

in.

PLASTIK MALEREI

UND

RELIEFKUNST

IN IHREM GEGENSEITIGEN VERHÄLTNIS

LEIPZIG

VERLAG VON S. HIRZEL 1899.

PLASTIK MALEREI

UND

RELIEFKUNST

IN IHREM GEGENSEITIGEN VERHÄLTNIS

UNTERSUCHT VON

AUGUST SCHMARSOW

LEIPZIG

VERLAG VON S. HIRZEL 1899.

Das Recht der Übersetzung ist vorbehalten

TO GFTTY CLNTER

Auf die ,, Frage nach dem Malerische?i" , die hauptsächlich durch Max Klingers Versuch, Malerei und Zeichnung als zwei verschiedene selbständig nebeneinander bestehende Künste zu erweisen, ver- anlasst war, und auf die Auseinandersetzung über das Malerische in der Architektur , die dem Be- streben fakob Burckhardts und Heinrich Wölfflins galt , den Charakter des Barockstils als eine Ten- denz zum Malerischen zu erklären, folgt hier eine letzte -kritische Abhandlung , die noch dazu gehört. Sie sticht das Wesen der Plastik im Unterschied von dem der Malerei , sowie von dem Übergangs- gebiet der Reliefkunst zu fassen und vor der Ver- ivechslung unter einem gemeinsamen ,,Problem der Form in der bildenden Kunst<( zu wahren, wie es Adolf Hildebrand unter eben diesem Titel verfolgt.

Das Ringen mit den künstlerischen Ansichten eines Bildhauers auf seinem eigenen Gebiete hat die gewissenhafte Erörterung seiner Worte und einen möglichst engen Anschluss an seine Atis- drucksweise erfordert. Wer Eigenes in eigner Form zu bieten weiss, versteht auch die geduldige Ent-

VI

sagung zu schätzen, die darin liegt, sich dem Ge- dankengang eines Andern anzuschmiegen tind auf alles Übrige zu verzichten. Aber diese bescheidnere Aufgabe, fast nur einen Kommentar zu der kleinen Schrift zu liefern, von der selbst sachkundige Gelehrte gemeint haben, sie müsse, wenn sie wirken solle, ganz und gar umgeschrieben werden, habe ich mich diesmal um so weniger verdriessen lassen, als in solcher Feuerprobe vielleicht am zwingendsten die Haltbarkeit der eignen Überzeugung erhärtet wird. Eine zwanzigjährige Lehrtätigkeit hat mir nicht allein das Bedürfnis solcher Klärung der Be- griffe, sondern auch die Fruchtbarkeit der hier ver- fochtenen so mannichfach bewährt, dass die Mei- nungen der Recensenten bisher nicht vermocht haben, mich auch nur einen Augenblick daran irre zu machen.

Nur gegen ein beliebtes Misverständnis möchte ich von vornherein noch ausdrücklich Verwahrung einlegen: es soll im Folgenden nirgends eine histo- rische Konstruktion versucht werden, so sehr den geschichtlichen Tatsachen überall Rechnung ge- tragen werden musste. Im Gegenteil, die psycho- logische Bedeutsamkeit der Erscheinungen wird be- vorzugt, kerne andre Rücksicht, wie etwa Stil, Mo- numentalität, Archaismus eher zugelassen; denn nur so war ein Ergebnis möglich , das für alle Perioden der Kunstentwicklung verwertbar bleiben muss.

Schmarsow.

INHALT

Seite

Einleitung : Kritische Vorbemerkungen . . . . i 15

I. Malerei und Plastik 16—56

E[. Mimik und Plastik 57 79

Thonbildnerei und Steinskulptur.

III. Isolierte Rundplastik 80 117

Unter freiem Himmel oder im geschlossenen Innen- raum.

IV. Die plastische Gruppe 118 141

V. Relief-Anschauung 142 165

VI. Die Relief kunst 166 187

VII. Reliefanschauung und Dekoration .... 188 217

Schlussbetrachtung: Das Reich der Kunst . . . 218 232

DRUCKFEHLER UND VERBESSERUNGEN

27 38 39 42

57

76

BAND I

10: bleibt lies bleibt für die Plastik

9 : um ist zu streichen 25 : seiner lies ihrer

3 : das den Schatten lies der . . . 1 4 : Ausdruck lies Austrag 14/15 : nicht lies Töne Töne lies nicht 16: Sie lies Die Farbe

BAND II

64 ,, I : Zeichenreich lies Zwischenreich 138 ,, 4 : wenigstens lies wenigsten 146 ,, 12: Pilasterstellung lies Säulenstellung 170 ,, 1 : sind 7 Zeilen auf S. 171 geraten und hierher zu nehmen

196 ,, 12: veränderten lies verändernden

BAND III

2

17:

war ; lies war :

10

26:

so wie lies sowie

1 1

,1 9:

sein lies ihr

66

20:

Raumvolumnen lies Raumvolumen

95

Anm. 1

Z. 5 : ausgestattet lies ausgestaltet

99 Z. 6 : streng lies scharf 174 ,, 20: in dem lies indem

211 ,, 7 f. : weiteren Recessen lies weitere Recesse

EINLEITUNG

KRITISCHE VORBEMERKUNGEN

eine Kunst ist dem modernen Menschen so ent- fremdet wie die Plastik. Selbst der Versuch eines hochbegabten Bildners, wie Adolf Hilde- brand, uns ,,das Problem der Form in der bildenden Kunst" wieder nahe zu bringen1), bezeugt nicht allein in wolbegründeten Klagen und in der Motivierung seiner Schriftstellerei, welcher Mangel an natürlichem Verständnis für die Plastik schon bei uns eingerissen, sondern er bestätigt es unbewusst auch durch den Weg, den er selbst zu deren Betrachtung einschlägt, und durch die Folgerungen, zu denen er im Verlauf dieses Weges gedrängt wird.

Was er beklagt, ist bezeichnenderweise vor allem Eins: „unter Plastik denkt sich der moderne Mensch nur noch runde Figuren, die in der Mitte eines Platzes stehen."

i) Strassburg 1893, 2. Auflage 1897. Schmarsow, Plastik, Malerei u. Reliefkunst.

2

Einleitung

Der Ausgangspunkt, den er selber wählt, liegt nicht auf dem Boden der reinen Plastik, den man beim Bildhauer zuerst voraussetzt, sondern auf dem Übergangsgebiet, der Reliefkunst, ja eigentlich ganz auf dem Boden der Malerei.

Sei es nun, dass dieser Weg aus Rücksicht auf den modernen Menschen und sein viel näheres Ver- hältnis zur malerischen Anschauung bevorzugt wird, weil von hier aus am ehesten eine Verständigung erreichbar scheint; sei es, dass eben diese Auf- fassungsweise auch dem modernen Bildner selbst schon so sehr in Fleisch und Blut übergegangen ist, weil auch er, ein Kind seiner Zeit, sich der all- gemeinen Verschiebung des Verhältnisses zu den einzelnen Künsten, die einen psychologischen Grund und eine geschichtliche Ursache haben muss, nicht zu entziehen imstande war; genug, diese Tatsache verbindet sich mit der erstgenannten zu einem Selbst- zeugnis, das nicht ausser Betracht bleiben darf.

Die Rücksicht auf den geläufigen Vorstellungs- kreis der Leser, mit dem man zu rechnen hat, dürfen wir ohne Zweifel als zweckmässig anerkennen und wollen aus diesem Grunde auch unsererseits diesem Wege nachzugehen versuchen, soweit wir dem Führer darauf zu folgen vermögen, selbst da, wo es nur der redlichen Absicht noch dienen sollte, seinen Uber- zeugungen vorurteilsfrei gerecht zu werden. Wir dürfen uns um so unbedenklicher ihm anbequemen, als wir bei früherer Gelegenheit wiederholt den ent- gegengesetzten Weg, von der Architektur zur Pla- stik, als gleichwertigen scharf genug vorgezeichnet

Einleitung

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haben3), und unserer eigenen Überzeugung vom Kern ihres Wesens als Körperbildnerin oft genug Aus- druck gegeben.

Auf die strenge Unterscheidung des innersten Wesens jeder einzelnen Kunst war dabei unser Augen- merk in erster Linie gerichtet, vor allem in der Reihe, die wir unter dem Namen der ,, bildenden" zusammen- zufassen gewöhnt sind, also auch gegen die Meinung Hildebrands, als könne der Architektur nur dasselbe Gestaltungsprineip innewohnen wie der Plastik und Malerei (S. 82). Auf der anderen Seite jedoch suchten wir dem lebendigen Zusammenhange zwischen ihnen, als Betätigungen des Menschen, das Recht zu wahren, das ihm natürlich gebührt, d. h. sie zunächst als naive Äusserungen hinzunehmen, die erst allmählich den Keim ihres besonderen Wesens vollkommen entfalten und dann erst sich deutlich voneinander unter- scheiden, stets aber durch zahllose Fäden miteinander verknüpft bleiben. Es kam uns deshalb gerade auf eine genauere Beobachtung der Übergänge von dem einen Grundprincip zum anderen an ; die Zwischen- regionen geben uns in ihren mannichfaltigen Er- scheinungen über die geschichtlich fortschreitende Verschiebung des Standpunktes und über deren ge- setzliche Beziehung zum psychologischen Charakter einer Zeit oft den wertvollsten Aufschluss. Da dieser

1) Zur Frage nach dem Malerischen, sein Grundbegriff und seine Entwicklung. Beiträge zur Ästhetik der bildenden Künste I, Leipzig 1896, S. 20 ff. Barock und Rokoko, eine Auseinandersetzung über das Malerische in der Architektur (Beiträge II, 1897), S. 7 ff.

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Einleitung

Wechsel im Verhältnis einer Generation, eines Zeit- alters zu den Hauptkünsten nicht allein die Reihe der bildenden, sondern auch ihre Schwestern auf der Seite der zeitlichen Anschauungsform, d. h. Poesie, Mimik, Musik, ebenso betrifft wie Malerei, Plastik und Architektur, so wurden auch jene, besonders als jeweilige Ergänzungen Einer Weltauffassung, mit in Betracht gezogen und das Schicksal der einzelnen stets im Zusammenhange der ganzen Reihe darge- stellt. Das liegt in unserer Überzeugung, stets, auch in besonderen Abzweigungen des Kunstlebens, mit dem ganzen Menschen rechnen zu müssen. Nur von diesem Standpunkte aus, der die Gesamtheit der Menschenkunst als Einheit überschaut, glaubten wir die Auffindung psychologischer Gesetze möglich, die den Gang der künstlerischen Auseinandersetzung zwischen Innenwelt und Aussenwelt erklären helfen, und glauben es noch, ganz abgesehen von der Frage , ob diesem wechselnden Schauspiel der Ent- wicklung ein erkennbarer Sinn oder eine natürliche Notwendigkeit innewohne, oder ob die Antwort dar- auf nur einer höheren Intelligenz gegeben sei, die über menschliche Begriffe hinausreicht.

Mit der Prüfung der Gränzen und der Vermitt- lungen zwischen Malerei und Plastik nehmen wir das Thema zugleich von der Seite auf, wo sich dieser Beitrag zur Ästhetik der bildenden Künste in die ganze Reihe einzuordnen und an die beiden voraus- gehenden anzuschliessen hat. Ebenso aber ergreifen wir damit den Faden der Erörterungen an dem Ende, wo der letzte vollauf beachtenswerte Vorgänger, ein

Einleitung

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Künstler selbst, sie gelassen hat. Tatsächlich er- kennen wir in seinem Standpunkte die charakteristi- schen Merkmale des modernen Menschen, der einer- seits durch naturwissenschaftliche Schulung längst der naiven Ausbildung seiner Vorstellungswelt ent- rückt ist, andererseits aber in dem geschichtlichen Entwicklungsgange, den unsere Sinnesorgane durch- gemacht, und in dem notwendig damit verbundenen Wechsel in der Vorherrschaft des besonderen An- schauungskreises, die sich im ganzen geistigen Leben geltend macht, ebenso befangen bleibt, wie alle anderen Kinder seiner Zeit. Dies nachzuweisen, aus den eigenen Werken wie aus dem gedruckten Be- kenntnis, wäre die Aufgabe des Historikers, der Adolf Hildebrand als Künstler des neunzehnten Jahr- hunderts charakterisiert. Wir würden uns anheischig machen, die psychologische Übereinstimmung auf- zuzeigen. Hier jedoch ist es nicht unseres Amtes. Eine Argumentatio ad hominem bleibt aus dem Spiele, wo wir es lediglich mit den ausgesprochenen An- sichten und deren sachlicher Begründung, nicht mit der persönlichen Anlage als Künstlerindividualität zu tun haben.

An einer Stelle des Büchleins begegnet uns indes ein so frappanter Ausdruck persönlichen Empfindens, dass ich mir nicht versagen darf, den überraschen- den Wink herauszuheben, ja davon auszugehen ; denn er giebt dem Leser meines Erachtens auf einmal den Schlüssel zum Verständnis der Lösung in die Hand, die Hildebrand für das Problem der Form in der bildenden Kunst uns allen angeboten hat.

6

Einleitung

„Die Plastik hat nicht die Aufgabe, den Be- schauer in dem unfertigen und unbehaglichen Zu- stande gegenüber dem Dreidimensionalen oder Kubi- schen des Natureindrucks zu lassen, in dem er sich abmüht, eine klare Gesichtsvorstellung sich zu bilden, sondern sie besteht gerade darin, ihm diese Gesichts- vorstellung zu geben und dadurch dem Kubischen das Quälende zu nehmen" (S. 78).

Der Laie, der auf diesen Ausdruck subjektiven Gefühles stösst, wird sich erstaunt darob befragen, ob auch ihn das Kubische quäle. Die dreidimensio- nale Körperlichkeit der Dinge dieser Welt sollte für uns Menschenkinder, die nun einmal hineingestellt sind, eine Qual sein? Das wäre ja neuer Zuwachs, einer ganz raffinierten Erfindung, für dies Jammertal.

Der Philosoph aber, der die dreidimensionale Raumvorstellung als die notwendige Anschauungs- form unseres menschlichen Intellekts betrachtet, wird doch eher geneigt sein, in der Klarheit und Schärfe des Kubischen die vollendete Konsequenz dieser Vorstellungsarbeit zu erblicken, d. h. die höchste Leistung der Anschauungsform, eine Errungen- schaft, die uns befriedigen muss, je mehr sie unserer Anlage entspricht.

Sollten wirklich alle Menschen, für die der Bildner schafft, ja nur alle Liebhaber der Plastik, die gern der Woltat teilhaftig würden, die nur der Künstler ihnen angedeihen lassen kann, sollten sie wirklich sich dem Natureindruck gegenüber ab- mühen, ja vergeblich abmühen, eine klare Gesichts- vorstellung zu bilden?

Einleitung

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Doch lassen wir diesen Zweifel dahingestellt. Die Voraussetzung Hildebrands ist tatsächlich die, dass der Beschauer eines dreidimensionalen Gegen- standes zunächst durch den Eindruck des Kubischen beunruhigt werde, dass er durch das Entgegendringen der dritten Dimension in einen unbehaglichen Zu- stand gerate, und dass nur die Kunst imstande sei, aus dieser Qual zu befreien, indem sie an ihrem Werke für das glatte Zustandekommen einer ein- heitlichen Gesichtsvorstellung sorgt, während die Dinge dieser Wirklichkeit allerdings so störend bleiben wie sie sind. Die erlösende Verwandlung durch die Kunst vollendet sich erst, wenn sie ,,der natürlichen gegenständlichen Vorstellung zum Trotze den Beschauer zwingt" (S. 53), zu sehen, wie der Künstler sich die Erscheinung zurecht- gelegt. „Solange eine plastische Figur sich in erster Linie als ein Kubisches geltend macht, ist sie noch im Anfangsstadium ihrer Gestaltung; erst wenn sie als ein Flaches wirkt, obschon sie ku- bisch ist, gewinnt sie eine künstlerische Form, d. h. eine Bedeutung für die Gesichtsvorstellung" (S. 79).

Es ist also nicht nur eine persönliche Empfin- dung, zu der erst der moderne Mensch durch die einseitige Ausbildung der Ansprüche seines Seh- organs herangereift ist ; sondern der Mangel an dieser Empfindungsweise bedeutet einen „Mangel an künst- lerischem Verhältnis zur Natur, eine Unfähigkeit, unser wahres Verhältnis zu ihr zu verstehen und konsequent zu entwickeln" (66). Ja, die ganze

s

Einleitung

Kunstphilosophie, die Existenzberechtigung der bil- denden Kunst ist auf diese Voraussetzung von der Qual des Kubischen gegründet.

Jedenfalls schliesst sich Hildebrand der Lehre unsrer früheren Ästhetiker an, welche die Begriffs- bestimmung der schönen Künste im Unterschied von den übrigen dadurch zu gewinnen suchten, dass diese höheren Künste sich von jeder Be- ziehung zu den sogenannten niederen Sinnen fern halten und immer reiner mit dem ausschliesslichen Kapital der höheren Sinne, Gesicht und Gehör, allein auskommen sollten. So arbeite die bil- dende Kunst lediglich für das Auge ; in Gesichts- eindrücken müssten also ihre eigensten Leistungen gesucht werden.

Indes auch Hildebrand ist bereits weiter ge- diehen. Er weiss , dass die Kunst nicht für die Wahrnehmung unsres Sehorgans , sondern vielmehr für die Vorstellung schafft. Er erklärt sich gegen ,,die sogenannte positivistische Auffassung" der Künst- ler, „welche die Wahrheit in der Wahrnehmung des Gegenstandes selber sucht, nicht in der Vorstellung, die sich von ihm in uns bildet" und demgemäss ,,das künstlerische Problem nur in der genauen Wiedergabe des direkt Wahrgenommenen sieht" (29). Er ist sich ebenso klar darüber geworden, dass ,,die Kunst gerade darin besteht einen abstrahierten Vor- stellungsbesitz wieder einzukleiden" und dass sie eben „dadurch einen Eindruck schafft, welcher beim Beschauer ohne Rest in Vorstellungswerte auf- geht, während' der Natureindruck noch kein aus

Einleitung

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diesem Gesichtspunkte gereinigtes Vorstellungsbild ist" (27).

Dennoch verfällt er, begreiflicherweise, sehr bald in das Bemühen zurück, die künstlerische Leistung, das Empfangen der Einheit, doch wieder in einem Wahrnehmungsakt zu suchen. Und der Wert, den das Fernbild für ihn gewinnt, liegt eben darin, wie er meint, dass es die einzige Einheit für den Wahr- nehmungs- wie für den Vorstellungsakt darstelle. Von der Gesichtsvorstellung kommt er doch auf den Gesichtseindruck, der sie vermittelt, zurück, weil es sich in künstlerischen Dingen immer um die sinn- liche Anschauung handelt.

Weil aber eben die psychologisch überlegene Ansicht bei ihm selber bereits vorhanden und aus- gesprochen ist, gebe ich auch die Hoffnung nicht auf, dass eine befriedigende Verständigung erreicht werden kann, und nur deshalb richte ich die folgende Auseinandersetzung so direkt darauf ein.

Lassen wir die Frage nach der wertvollen Lei- stung der Kunst und nach der Existenzberechtigung der Plastik vorerst auf sich beruhen, um vielleicht am Ende unsrer kritischen Erwägungen, von selbst darauf zurückgeführt, eine Antwort bereit zu finden. Vorerst betrachten auch wir das Problem der Form für den bildenden Künstler, wenigstens wie es sich selber stellt.

Um jenen Reinigungsprozess aller durch unser Augenpaar vermittelten Wahrnehmungen zur einheit-

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Einleitung

liehen Gesichtsvorstellung hindurch zu ermöglichen, geht Hildebrand von einer weiteren Unterscheidung aus. Den künstlerisch durchgebildeten „Flächenein- druck", in dem dies Heil gefunden wird, soll ,,das ruhig schauende Auge ohne Bewegungstätig- keit aufzunehmen im stände sein" (S. 68), also muss auch das Auge im Zustande ruhigen Schauens von der beweglichen Tätigkeit unsers sonstigen Sehens unterschieden und isoliert werden. „Das ruhig schauende Auge empfängt ein Bild , welches das Dreidimensionale nur in Merkmalen auf einer Fläche ausdrückt, in der das Nebeneinander gleich- zeitig erfasst wird" (io f.).

Gegen die Trennung unsrer Wahrnehmungen durch das Sehorgan ,,in eine rein schauende und in eine sich rein bewegende Augentätigkeit" regt sich nun aber das stärkste Bedenken, besonders wenn sie mehr bedeuten soll als eine wissenschaftliche Hilfs- konstruktion, die unser logisches Bedürfnis behufs begrifflicher Klarheit aufstellen und, solange sie ihrer nicht entbehren kann, in abstracto aufrecht erhalten mag. Zugegeben , dass der Einzelne zum Behuf experimenteller Beobachtung recht weit in dieser Scheidung auch tatsächlich gelangen könne , so bleibt sie doch im natürlichen Verkehr mit der um- gebenden Welt, so wie der freie Wechsel dieser Möglichkeiten aufgehoben und die eine bevorzugt werden soll , etwas Erzwungenes , vielleicht Unkon- trollierbares. Es erhebt sich also von vorn herein der Zweifel, ob ein gesundes Kunstschaffen auf dieses künstliche Princip gegründet werden darf, dessen

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Ergebnis allein die Lösung des Formproblems er- geben soll.

Folgen wir jedoch Hildebrand und fassen unser Auge einmal in ruhigem Zustand, ohne Bewegungs- tätigkeit schauend , dann lässt es sich wol nur mit einer photographischen Camera vergleichen, und die Retina verhielte sich wie die empfindliche Platte, das heisst rein passiv, den chemischen Veränderungen ausgesetzt, die sich ohne sein Zutun vollziehen. Aber eben deshalb kann dieser Zustand nur sehr kurze Zeit dauern , die chemische Zersetzung durch das einfallende Licht würde bei längerem Stillstand der Retina zerstörend wirken. Sie selber löst die Reflexbewegung aus, die durch neue Zufuhr das Organ rettet und wieder für chemische Einwirkung empfänglich macht. Der Moment der ,,Ruhe" wird zwangsweise durch eine Bewegung abgelöst , und diese beschränkt sich bei der sonstigen Verbindung des Augapfels mit äusseren Muskeln nicht auf das Innere, die Retina und ihre Gefässe, sondern bringt Drehungen des Augapfels hervor. Das Auge ist also nicht mehr ,,ohne Bewegungstätigkeit", wie es sein sollte.

Nun aber hinkt der Vergleich der Retina mit dem empfindlichen Häutchen der photographischen Platte und deren passivem Verhalten , das die Ein- wirkung des Lichtes nur so über sich ergehen lässt, bekanntlich, nach mehr als einer Seite. Unser Sehen ist Aktivität schon im Empfangen des Sinnesein- druckes selber. Sowie wir demgemäss das Auge etwa als verfeinertes Tastorgan zu erklären ver-

\ 2 Einleitung

suchen, mit zahlreichen vibrierenden Nervenendi- gungen in und neben den Zäpfchen der Retina , so haben wir fortwährende unausgesetzte Bewegungs- tätigkeit, nicht allein chemische Reaktion, sondern mitwirkende Empfängnis, ja ein Entgegenkommen, das bis ' zum feinsten innerlich vollzogenen Abtasten sich steigern mag. Nur so scheint sich zugleich eine Erklärung anzubieten , wie unser Sehen wieder auf die motorischen Centren übertragen zum Nach- formen des Gesehenen durch die Tastorgane der Finger zu werden vermag. 3)

Doch lassen wir diese Erklärungsversuche der physiologischen Optik, mit denen wir doch nicht auskommen , ganz aus dem Spiel , bis auf die eine Tatsache , die wir berücksichtigen müssen : bei der Kleinheit der Stelle schärfsten Sehens im Auge bleibt ja schon die Mitwirkung des beweglichen Apparates der Augenmuskeln unentbehrlich , und der Appell vom sinnlichen Wahrnehmen, mit dem sich die Physiologen beschäftigen, an den Vorstellungsakt, in dem der Psycholog die Synthesis sich vollziehen lässt, bleibt unausweichlich.

Doch sei auch dem, wie ihm wolle: die An- nahme eines ruhigen Schauens , das sich ohne Be- wegungstätigkeit vollzöge, ist eine Fiktion, und der

i) Wir haben diesen Bedenken schon in den beiden früheren Heften dieser Beiträge durchweg Rechnung getragen, soweit dazu Veranlassung war (vgl. z. B. II, 1 1 f.). Vgl. neuerdings auch E. te Peerdt, Das Problem der Darstellung des Momentes der Zeit. Strassburg 1899.

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Versuch dem alten Unterschied der simultanen und der successiven Auffassung eine naturwissenschaft- liche Unterlage zu geben, muss doch noch anders angestellt werden, wenn wir wirklich seiner be- dürfen.

„Wir stehen der Natur ja nicht nur als Augen- geschöpfe gegenüber, sondern mit allen unseren Sinnen zugleich," schreibt Hildebrand selbst einmal zu Anfang seines Weges (33). Aber beim Kunst- werk soll dies eben durchaus anders werden; da wird das Augengeschöpf möglichst isoliert, um den Gesichtseindrücken allein die Führung zu überlassen, weil wir durch ihren ungestörten Ablauf allein zu der befreienden Woltat gelangen, die uns die künstlerische Darstellung zu bieten vermag. Und diese ,, geheimnisvolle Woltat" wäre wieder nur eine klare Gesichtsvorstellung, also ein Er- trag aller vorangehenden Arbeit an dem Material, das der höhere Sinn, das Auge, allein uns liefert. Weshalb?

Wenn nun gerade durch die verborgenste Be- wegungstätigkeit unsres Auges dafür gesorgt wäre, dass die Verbindung mit unsern andern Sinnen nicht aufgegeben werde und verloren gehe, das heisst eine Isolierung der Gesichtsvorstellungen Platz greife, die nur menschliche Weisheit sich als begehrens- werten Vorzug ausgeklügelt.

Wir stehen auch den Werken der Kunst nicht allein als Augengeschöpfe gegenüber, sondern mit allen unsern Sinnen zugleich , ob sie nun bei der Wahrnehmung beschäftigt sind oder nicht. Wir

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Einleitung

dürfen nicht vergessen, „dass der Mensch gar nicht im stände ist, seine Vorstellungen ganz abzustreifen, weil er eben mit ihnen sieht", schreibt auch Hilde- brand selber (S. 30). Woher stammen sie? aus allen Sinnen. Und der Gegenstandsvorstellungen können wir ja ohnehin beim Anschauen eines Bild- werkes nicht entraten. Unsre Formvorstellungen müssen uns zu Hilfe kommen, wenn es gilt, irgend- welche ungewohnte Ansicht zu enträtseln. Sollten wir nicht froh sein, wenn zwischen Gesichtsvorstel- lungen und Bewegungsvorstellungen auch schon eine natürliche Verbindung angebahnt läge , durch die auf unsre anschaulichen Erfahrungen eine stetige und unbeirrte Übertragung aus den Erfahrungen der Tastregion stattfindet , der wir die Greifbarkeit unsrer konkreten Anschauungen verdanken ? Ohne die innige Verquickung der Tastgefühle und der mannichfaltigen , aus den Erlebnissen unsres ganzen Körpers stammenden Bewegungsvorstellungen, be- sässen wir auch wol keine bildende Kunst, in erster Linie jedenfalls keine Plastik.

Nach dieser Verwahrung im voraus dürfen wir gern die Ausdrücke Hildebrands beibehalten, um seinen Gedankengängen in ihrem lehrreichen Wert für das Einzelne gerecht zu werden. Wir teilen ja mit ihm als Kinder seiner Zeit die einseitige Be- vorzugung der höheren Sinne und des abstrakten Geisteslebens. Es gehört ein redlicher Anteil kri- tischer Selbstbesinnung dazu , wenn wir uns be- wusst werden, wo die historische Ursache zu suchen ist, dass unsre Kunst nicht plastisch gestaltet in

Einleitung

15

all ihrem Dichten und Trachten wie die der Hel- lenen, — weshalb wir nicht einmal die italienische Hochrenaissance mehr völlig verstehen, seit ihr das plastische Ideal über alles gieng. Liegt unser Mangel an natürlichem Verständnis für die Bildnerei nicht wesentlich mit an dem einseitigen Standpunkt als Augengeschöpfe , ja des geläuterten Schauens aus der Ferne?

[.

MALEREI UND PLASTIK

chon das grundlegende Experiment zur Son- derung des ruhigen Schauens und des be- weglichen, abtastenden Sehens, von dem Hildebrand ausgeht, orientiert uns über den Boden, auf dem alle seine Anschauungen erwachsen.

„Es sei ein Gegenstand mit Umgebung und Hintergrund gegeben, ebenso die Richtungslinie des Beschauers, dessen Standpunkt lediglich in Nähe und Ferne verschiebbar sein soll."

Es wird also nicht, wie wir es beim Bildner er- warten sollten, ein isolierter Körper zunächst be- trachtet , als der einfachste Fall , um den es sich handeln kann, sondern sogleich eine ganze Situation, in der sich der Gegenstand befindet. Das Objekt besteht aus Körper und Raum zugleich , die nicht gesondert für sich aufgefasst werden können oder sollen, sondern in einem optischen Zusammenhang stehen. Für den Standpunkt des Beschauers, der

Das Fernbild

17

sich nur auf einer gegebenen Richtungsaxe annähern oder entfernen kann, schränkt sich die optische Auf- fassung noch mehr ein. Als Sehgemeinschaft ent- spricht der Gegenstand in seiner Situation ,,mit Um- gebung und Hintergrund" durchaus dem Inhalt des „Bildes", als Werk der Malerei, wie wir es im ersten Teil dieser Beiträge definiert haben. Und so nennt es auch Hildebrand häufig genug selbst, allerdings ohne die Unterscheidung von „Gebilde", womit wir das Körperliche allein zu bezeichnen pflegen.

Damit ist das Problem der Form in der bilden- den Kunst schon allein auf dem Boden der Malerei gestellt, und es bleibt die Frage, wie weit aus diesen komplicierteren Bedingungen nachträglich noch der Fall der Plastik zurückgefunden werde.

„Ist der Standpunkt des Beschauers ein so ferner, heisst es weiter, dass seine Augen nicht mehr im Winkel, sondern parallel schauen, dann ist das em- pfangene Gesamtbild rein zweidimensional, weil die dritte Dimension, also alles Nähere und Fernere des Erscheinungsobjektes, alle Modellierung nur durch Gegensätze in der erscheinenden Bildfläche wahr- genommen wird , als Flächenmerkmale , die ein Ferneres oder Näheres bedeuten."

Dies Gesamtbild vom entfernten Standpunkt ist die Hauptsache, auf die es nach Hildebrand bei allem künstlerischen Schaffen ankommt : das reine einheit- liche Flächenbild, das er Fernbild nennt. Es stellt die einzige Einheitsauffassung der Form im Sinne des Wahrnehmungs- und Vorstellungsaktes

Schmarsow, Plastik, Malerei u. Reliefkunst. 2

IS

Malerei und Plastik

dar (13). Dies ist also die Erscheinungsform, welche vom Kunstwerk festgehalten werden muss (68, Anm.).

Wenn wir demnach ,,ein einheitliches Bild fin- den dreidimensionalen Komplex allein im Fernbild besitzen" (12), so muss über den Charakter dieser einzig wertvollen Erscheinungsform genaueste Rechen- schaft willkommen sein. „Erst von einer be- stimmten Distanzschicht an sehen unsere Augen parallel und nehmen die Erscheinungsobjekte mit einem Blick als einheitliches Flächenbild oder Fernbild auf. Was in der Mitte unseres Sehfeldes liegt, wird am stärksten wahrgenommen, nach dem Rande zu verschwindet der Eindruck. Ebenso wird das , wTas direkt vor der Distanzschicht , vor der eigentlichen Bühne ist, noch als Übergang mit wahr- genommen. Der eigentliche Raum aber, welcher erscheint, liegt hinter dieser Distanzschicht, fängt mit dieser erst eigentlich an" (44).

Das ist eine der physiologischen Optik ent- nommene Beschreibung des Bildes als das eigent- liche Feld der Malerei, nach unsern Begriffen wenig- stens nur dieses. Verfolgen wir also erst einmal diesen Weg und sehen, wohin er uns führt, wie weit wir damit kommen.

Betrachten wir von diesem Standpunkt aus zu- nächst die darstellende Tätigkeit des Malers, „so sind sein geistiges Material die Gesichtsvorstellungen (die aus dem ruhigen Schauen gewonnen werden) ; diese bringt er direkt auf der Fläche zum Ausdruck und gestaltet damit ein Ganzes im Sinne des Fern-

Die volle Formvorstellung

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bildes". So weit vermögen wir uns anzuschliessen. Aber es folgt sogleich ein Schritt, der vorerst zu weit geht.

Insofern diese Eindrücke jedoch Formvorstel- lungen erwecken sollen, ergiebt sich die Aufgabe, ein derartiges Flächenbild darzustellen, dass wir die volle Formvorstellung von dem Gegenstande empfangen. Dies zu leisten ist er nur dadurch im stände, dass er alle Gesichtseindrücke auf ihre plastische An- regungskraft hin prüft und zu diesem Zweck ver- wendet (d. h. die Flächenmerkmale ausbeutet, die ein Näheres oder Ferneres bedeuten). Darin liegt das Problem des Malers" (17).

Ja, insofern er durch Gesichtseindrücke Form- vorstellungen erwecken will. Dies ist aber durchaus nicht immer der Fall, wenigstens nicht derart, dass wir die volle Formvorstellung vom Gegenstande empfangen. Ursprünglich ist das Bild wie unser Sehfeld eine Fläche. Und in der Dynamik der Erscheinungsfaktoren , die darauf zum Vorschein kommen, kann eine sehr verschiedene Ökonomie walten, die in mancherlei Kombinationen sich zwischen zwei entgegengesetzten Polen bewegt, der abstrakten Idealität und der konkreten Realität, oder der geistigen Vorstellung und der sinnlichen Wahr- nehmung, deren eine im Reiche der Phantasie, deren andre im Reiche der Wirklichkeit zu herrschen pflegt.

Es giebt im weiten Gebiet der Malerei geschicht- liche Beispiele genug, die vielmehr für die geistige Vorstellung als für die sinnliche Anschauung arbeiten. Sie verwenden die Erscheinungsfaktoren des Bildes,

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Malerei und Plastik

die Gegensätze von Hell und Dunkel , also Farben in Linien oder in Flecken aufgetragen, nur noch im zweidimensionalen Sinn des Sehfeldes als Fläche. Dahin gehört das Gebiet der ägyptischen Wand- malerei wie das der mittelalterlichen Buchmalerei zu ihrem grössten Teile. Was sie auf der Bildfläche mit Strichen oder Klecksen hervorbringen , sind Zeichen, Anregungen für die Gegenstandsvorstellung.

Was ist aber ein Gegenstand ? Wie unsre Muttersprache selbst uns lehrt : etwas, das uns ent- gegensteht. Was entweder unserm Leibe als Körper im Raum, oder unsern vorgestreckten Tastorganen, oder nur unserm vorwärts gerichteten Blick, oder endlich gar der anschaulichen, über uns selbst hinaus- dringenden Vorstellung einen Widerstand leistet. Es kommt also auf ein dem Gefühl oder der Vor- stellung solches Widerhalts entsprechendes Zeichen an, das diese konstitutive Eigenschaft der Dinge im Beschauer auszulösen vermag. Was wäre das ab- strakteste Zeichen dafür? Nicht der Punkt; er be- zeichnet nur den festen Ort in der allgemeinen Weite des Sehfeldes. Nicht eine Reihe von Punkten in wagerechter Richtung ; denn wir schreiten über sie hin , wie unser Fuss über die Schwelle. Nur eine senkrecht aufsteigende Reihe von Punkten gewinnt die Intensität ; nur die aufgerichtete Gerade, die uns gegenübertritt, bedeutet ein Ding an seinem Orte vor uns , wie unsersgleichen , die Körper rings um uns selber. Und die Grade dieser aufgetragenen Intensitätswerte, die Mehrzahl der übereinander ge- reihten Punkte giebt zugleich die Abstufungen für

Das Symbol des Gegenständlichen 2 1

den Grad der Gegenständlichkeit, d. h. kurzweg die Grösse der Linien , in der Höhendimension allein, die wir ja deshalb als erste bezeichnen, weil sie uns selbst als Dominante unsres Leibes innewohnt und den Mafsstab für alle unsre Konkurrenten abgiebt.

Die Mehrzahl dieser mehr oder minder senk- rechten Linien kann sich auf der Fläche nun aber nicht anders ausdehnen, als in der zweiten Dimension, die noch übrig bleibt. Sowie es gilt , zwei , drei und mehr Gegenstände nur nach ihrem Unterschied von uns einzeln vorzustellen, so ergiebt sich auf der Fläche das Nebeneinander in horizontaler Richtung. Und soll gar das Grössenverhältnis dieser Ob- jekte unter sich bestimmt werden, so müssen sie sich vollends auf einer fortlaufenden Horizontalen, als gemeinsamer Grundlinie, aufreihen. Damit haben wir die Elemente einer Situation wieder beisammen, wie es für den primitivsten Vorwurf bildlicher Dar- stellung auf der Fläche gefordert wird. Wir durften also früher behaupten, die Wurzel der maleri- schen Schöpfung könne nur in der zweiten Di- mension gesucht werden.1) Die erste ist, wie wir soeben gezeigt, für andere Funktion vollauf in An- spruch genommen. Die dritte Dimension aber giebt es vorläufig in der Fläche nicht; nur die erste oder die zweite können als Surrogat verwertet werden.

i) Flüchtige Scribenten haben daraufhin allerdings fertig ge- bracht, zu behaupten: „dem Verfasser sei das Malerische bekannt- lich die Breitendimension!" Auf Grund solcher Verdrehung wird es ihnen dann leicht, über die Ästhetik dieses Verfassers die Achseln zu zucken.

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Malerei und Plastik

Und die Entstehung der Tiefendimension führt aber- mals auf uns selber zurück; sie geht vom Subjekt aus. Seine vorwärts gerichtete Organisation, seine ausgreifenden Arme, seine ausschreitenden Beine mit ihren Erfahrungen der Ortsbewegung, seine vorwärts gerichteten Augen, deren Sehkraft sich erprobt, in- dem der Blick in die Weite dringt, seine all dies zusammenfassende Vorstellung, die ,,in die Tiefe strebt", bringen diese Ausdehnung erst aus embryo- nalem Zustand zur vollen Entwicklung. Die Kunst der Malerei kann nur allmählich , mit verfeinerten Mitteln des Augenscheines , nacheifern , wenn das Fernbild sich für uns mit einem ,, latenten Gehalt von Bewegungsvorstellungen erfüllt hat", die es nur auszulösen gilt für unsre Anschauungsform.

Davon sind jene frühen Perioden der Malerei noch weit entfernt, eben weil sie unmittelbar für die poetische Vorstellung arbeiten. Die Gegenstands- vorstellung bleibt die Hauptsache. Ein lineares Zeichen bis zum erkennbaren Umriss, ein dunkler Fleck auf hellem Grunde, oder umgekehrt hell auf dunkel , bis zur wirksamen Silhouette genügen , um in ihrer Aufreihung und Folge , wie sie abgelesen werden, nacheinander die Beziehungen zu vermitteln,, einen Vorgang zwischen ihnen zu erzählen, einen höheren Kausalnexus aufzuweisen. Die zeitliche Auf- fassung übernimmt zu leisten, was Höhe und Breite für die räumliche Auseinandersetzung nicht ver- mögen, und die successive Anschauungsform über- wiegt noch, wie in der Dichtkunst und Mimik, den beredteren Nachbarinnen , bei weitem die simultane

Freiheit der poetischen Vorstellung

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des Bildlichen selber. Meist bringt der Betrachter des letztern schon die Kenntnis des geistigen In- halts mit oder empfängt sie daneben im Texte, so dass als Aufgabe nur die Veranschaulichung übrig bleibt, die der leicht erreglichen Phantasie allerdings auch mit wenigen Mitteln schon die mannichfaltigsten Associationen zur Stärke des eigenen Erlebnisses steigert. Ihr höchstes Anliegen bleiben die Kausal- beziehungen, so dass sie sich um räumlich -körper- liche Verhältnisse nur insoweit kümmern, als sie ihrer zum Verständnis jener bedürfen. Diese für den poetischen Zusammenhang wichtigen Relationen liegen aber fast alle wieder auf der Seite zeitlicher Vor- stellungen , im transitorischen Verlauf, oder sie be- ruhen, wo dies nicht der Fall ist, auf festgewordenen Associationen, die wieder keine räumliche und körperliche Auseinandersetzung in dreidimensionaler Vollständigkeit erheischen, sondern sich mit zwei, ja mit einer Ausdehnung begnügen. Wechselt doch ausserdem das vorstellende Subjekt, der Dichter sowol wie sein Hörer oder Leser mit ihm, beliebig den Standpunkt zu seinen Personen und Gegen- ständen, bald aussen bald innen. Ist es doch nie- mals konsequent an eine Richtungsxe , geschweige denn an einen festen Schnittpunkt der Koordinaten gebunden, sondern erlaubt sich, die Tiefe entweder als Nebeneinander in der Breite oder als Über- einander in der Höhe, ja ebensowol, von seiner Warte herab oder in leichtem Fluge dahin, als Untereinander zu betrachten, wie sein Schauplatz himmlische , irdische und höllische Regionen um-

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Malerei und Plastik

spannt. Die Wandelbarkeit und Ungebundenheit des poetischen Standpunktes, die ja Berge versetzt und durch die dicksten Mauern in das finstre Turm- verliess eindringt , wohin immer der goldene Faden der Fabel sich verliert, sie überträgt sich bis zu einem starken Grade auf die primitive Darstel- lungsweise des Malers , nämlich soweit nicht allein die Fläche, sondern auch ihr Beschauer, mit dem nötigen Wechsel seines Standpunktes den Bildern gegenüber, der Vorstellung nachzukommen vermögen. Ihre Figuren geben keine Auskunft über die dritte Dimension als Körper ; ihre Fläche bedeutet den Raum, ohne Rechenschaft über die ferneren Distanz- schichten, ohne weitere Kulissen auf der Bühne, ja ohne bestimmteren Hintergrund, als die Farbe der Wand , oder Himmelsblau , oder Goldton , oder ein Teppichmuster gar, die immer nur als Folie dienen für die Figuren, wol den Kontrast verstärken je nach dem Abstand des Beschauers, aber selbst keine Gegenstandsvorstellungen mehr erwecken sollen.

Diese und ähnliche Phasen der dekorativen Wandmalerei, wo mit der Ortsbewegung des Be- trachters wie im Bauwerk selber gerechnet wird, oder der ornamentalen Buchmalerei, wo die Beweg- lichkeit und Lage der Blätter diesen Wechsel ge- währen, sind jedoch weit entfernt von der eigen- tümlichen Aufgabe der Malerei , die sie als selbständige Kunst erfasst. Mag auch die erstere sich zur monumentalen Raumkunst, die andere zur intimeren Bildkunst entwickeln. Erst da reden wir vom specifischen Wesen einer Kunst, wo sie gerade

Rein malerische Anschauung

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diejenige Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt zu geben sucht, die keine sonstige Nachbarin so zu geben vermag oder geben will , mögen diese nun Poesie oder Baukunst heissen wie hier, oder Mimik und sonstwie.

Wenden wir unsern Blick dagegen auf diese Zeiten in der Geschichte der Malerei , wo die Annahme eines festen Standpunktes für das Bild längst zur selbstverständlichen Voraussetzung geworden war, und wo das echt malerische Streben in eigenster Ausbildung seinen Höhepunkt erreicht, um auch dort zu fragen, inwiefern sie ,,die volle Form- vorstellung von dem Gegenstand erwecken" will. Nehmen wir also ein Gemälde von Rembrandt oder eine seiner Radierungen beliebigen Inhalts; genug, wenn sein besonderes Vermögen für sich zum Aus- druck kommt. Da tauchen aus dem tiefen Dunkel die Lichterscheinungen auf und steigen zur Höhe lebendigster Wirkung, ohne dass wir nach ihrer kör- perlichen Gestalt für sich oder nach ihrem räumlichen Verhältnis genau zu forschen veranlasst werden. Ja, sobald wir die volle Formvorstellung von allen Gegen- ständen solchem Bilde abzufragen begehren, so gehen wir nicht allein der Einheit des Ganzen, sondern auch des reinen Genusses an der echt malerischen Leistung als solcher verlustig. Weshalb? Doch wol nur, weil die Ökonomie der Erscheinungsfaktoren in ein Gleichgewicht gebracht ist, das den Druck auf einen einzelnen von ihnen nicht verträgt, ohne Störung der Harmonie. Bildhauer und Baumeister haben nicht mehr dreinzureden wie einst.

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Malerei und Plastik

Oder deuten wir endlich auf ganz moderne Richtungen hin, die uns zunächst liegen, auf die durchaus malerisch gesonnenen Stimmungsbilder, in denen Körper und Raum wie durcheinander gewebt zum wesenlosen Scheine, nur Licht und Farben auf der Fläche festgehalten, so weit verschweben, dass sie kaum noch die formale Anregungskraft eines Nebelstreifs bewahren. Wie viele Übergangsstadien liegen vor diesen verschwimmenden, aus Duft nur hingehauchten Erscheinungen. Wie viele Wolken- gebilde seit Correggio, von denen die Gegenstands- vorstellung des phantasievollen Beschauers behaupten mag was sie will, wie Hamlet und Polonius, der ihm nach dem Munde redet und doch der Gefoppte bleibt, sind diesen modernsten Bildern voraus- gegangen und immer zu schwer, zu materiell, zu formbestimmt erfunden worden.

Da rühren wir von andrer Seite wieder an das Wesen der malerischen Schöpfung und kehren auf neuem Wege zu ihrer Wurzel zurück. Nicht mehr aus dem Bedürfnis der pragmatischen Phantasie ent- sprungen , nicht mehr auf Gegenstandsvorstellungen erpicht wie jene frühen Versuche sind diese Äusserungen, die ihrerseits die reinsten, eben dieses Wesens selbst zu sein behaupten. Aus den Sinnes- eindrücken des Auges allein möchten sie stammen. Sie leiten also zurück zu dem Flächeneindruck unsres Sehfeldes oder der unbezeichneten Weite des Sehraumes ringsum. Dort setzen sich die Dinge nicht mehr mit unserm eignen Körper auseinander wie die der nähern Umgebung, so aufdringlich und

Augenschein der Weltweite

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hart, da treten sie noch nicht unter sich auseinander als Stücke der Welt , die sich aus lauter Einzel- bestandteilen wie ein Theater zusammenschiebt ; son- dern der dreidimensionale Gehalt bleibt latent, noch ungeschieden, ja die Dreifaltigkeit der Axen schwebt unsichtbar wie über den Wassern , im Ocean der Luft, eben in der unendlichen Weite , die den ursprünglichsten Gegensatz zu uns selber bildet , zu dem so kleinen, aber so ausdehnungsfähigen Ich.

Wenn ein Maler es versucht, eben dieses Ge- fühl zu veranschaulichen und dem Beschauer un- mittelbar zu Gemüte zu führen, so ist es wieder die Breitendimension allein, die zum Träger dieses sicht- baren Inhalts werden kann ; eben in der Ausdehnung unsres Horizontes liegt ja der Keim dieser male- rischen Idee ; ebenda wurzelt auch die Möglichkeit ihrer Ausführung. Freilich, diese bleibt für die dar- stellende Kunst immer eine Ausnahme, und wir fragen nicht mit Unrecht weiter nach Analogieen mit einer Schwesterkunst, wie bei jenen Anfängen der Wand- und Buchmalerei, in denen das gegen- ständliche Interesse der Poesie noch die leitende Rolle spielt. ,, Stimmungsbilder" haben wir sie von vornherein genannt, ,, Gefühlsausdruck", möglichst gegenstandslos, in ihnen gesucht. Und so sind es Analogieen mit der Lyrik allein, wenn der Weg durch die Vorstellung gegangen, mit der Musik allein, wenn die Gemütslage und die Sinnessphäre den Antrieb hervorgebracht. Auch dies Symptom natürlich charakteristisch für die Zeit, in der solche Malereien entstehen.

2S

Malerei und Plastik

Jedenfalls also giebt es in der Malerei beachtens- werte, weder historisch noch theoretisch wegzuläug- nende Gebiete, in denen die Gesichtseindrücke, die das Bild gewährt, nicht die volle Formvorstellung von Gegenständen erwecken sollen. Licht und Farben sind die mächtigen Faktoren, die uns die sichtbare Erscheinung des All zu vermitteln im stände sind, ohne irgendwie zur Raumform oder zum Körper- volumen zu konkrescieren. Sie bestimmen die Ökono- mie eines Bildes als Kunstwerk mit demselben Recht, wenn nicht mit grösserem, wie die linearen Elemente der Zeichnung, die monochrome Silhouette, die schon gar nicht ohne die Hilfe jener beiden zu bestehen und weiterzukommen vermögen. In unsrer Alltags- erfahrung verbinden sich allerdings die Farben zu- nächst mit den Körpern, und das Licht erfüllt den Raum, noch ohne sich als Medium geltend zu machen, indem es ihn für uns erhellt. So ist es nicht anders als natürlich, wenn die Malerei von jenem gegen- ständlichen Interesse poetischer Erzählung aus, auch zur Schärfe und Bestimmtheit in der Wiedergabe der Dinge und ihres Schauplatzes weiter drängt. Die Körperlichkeit mit ihrem materiellen Vollgewicht heraufzubeschwören und die Räumlichkeit mit all ihren Konsequenzen in den Rahmen des Bildes aufzu- nehmen, ist aber ein kühnes Unterfangen, das die Ein- heit der Flächenwirkung als solche zersprengen muss. Die elementaren Mächte der Wirklichkeit zu bändigen und in solchem Ausschnitt für den lautern Genuss des Schauens zu beruhigen, dazu gehört eine sichere Herrschaft über sie alle, und mehr als ein feinsinnig

Monumentaler Stil

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empfindendes Auge. Es sind andre Zeiten, die das durchführen, und der natürlichen Leibhaftigkeit der Dinge, der allseitig klaren Auseinandersetzung mit der Welt zur Befriedigung ihres höchsten künstleri- schen Bedürfnisses nicht entbehren wollen.

Ist es noch nötig, an den weitern Gang der monumentalen Wandmalerei in Italien zu erinnern, an die perspektivische Folgerichtigkeit des Quattro- cento und die plastische Entfaltung aller Körper in der Hochrenaissance, der die Wiedergabe der vollen Formvorstellung, sei es bei organischen Geschöpfen, sei es bei tektonischen Gebilden, im klar umschriebe- nen Räume auch für Gemälde als Hauptaufgabe er- schien? Diese Leistungen der grossen Meister des Cinquecento hat offenbar Hildebrand im Auge, wenn er den Forderungen der Raum- und Körperdarstellung nachgeht und auf sie das Problem des Malers zu gründen sucht.

Die künstlerische Darstellung darf nicht ver- absäumen, die Grundlagen räumlich-körperlicher Exi- stenz mitzugeben, die uns so selbstverständlich vor- kommen, aber eben deshalb so notwendig sind ; sie muss die elementaren Wirkungen, die uns den all- gemeinen Formbegriff lebendig machen, aus der Ge- samtheit der Erscheinungen und trotz dieser zu stände bringen, wenn sie stark und natürlich sein soll (26). ,,Denn erst dadurch wird das Kunstwerk zu einem wahren Ausdruck unsres Verhältnisses zur Natur, wie es sich in unsrer räumlichen Vorstellung natur- gemäss bildet." Und je stärker der Maler „den Raumgehalt, die Raumfülle im Bilde zur Anschauung

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Malerei und Plastik

bringt, je positiver durch die Erscheinung für die Raumvorstellung gesorgt ist, zu desto stärkerm Er- lebnis wird uns das im Bilde Dargestellte, desto wesenhafter stellt sich das Bild der Natur gegen- über" (34).

Der Künstler soll den Einzelfall, den er als Vor- wurf wählt, aus dem Gesichtspunkte der allgemeinen Gesetzmässigkeit auffassen und darstellen, deren Ge- samtvorstellung uns aus unendlichem Erfahrungs- austausch unsrer Gesichts- und Bewegungsvorstel- lungen erwächst. ,, Indem er die Natur von diesem Gesichtspunkte auffasst, stellt er der jeweiligen Natur- erscheinung eine Bilderscheinung gegenüber, bei der das Zurückführen auf diese Gesetzmässigkeit die Naturerscheinung verarbeitet und geklärt hat, und welche dadurch unserm Vorstellungsbedürfnis ent- spricht" (18).

Man kann das Grundprincip der realistischen Malerei, die für ihr Werk den Glauben an die Wirk- lichkeit fordert, auch ohne sich mit dieser zu ver- wechseln, nicht energischer betonen. Es klingt wie die Überzeugung eines Malers, der mit den grössten Meistern der Raumkunst in der Renaissance, wie Masaccio und Piero della Francesca, Melozzo da Forli und Rafael, gelebt hat, und selbst als äQ%iTexTcov ävi'iQ wie diese zu denken gewohnt ist. Deshalb haben seine Erörterungen über die Kunstmittel, die der Malerei hierfür zu Gebote stehen, zur Grundlage einer zusammenfassenden Charakteristik der „klassi- schen Kunst" Italiens dienen können.

Ihm ist es nicht entgangen, dass dazu eine ganze

Konstituierung des Bildraumes

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künstlerische Psychologie" gehört, die von den un- bewussten Regionen unsers Körpergefühls auszugehen hat und mit ihren alltäglichsten unbeachteten Er- fahrungen rechnet (56).

Für den Maler ist die Konstituierung des Bild- raumes in seinem Verhältnis zum Beschauer sozusagen das Lehrgerüst. „Es liegt in unsrer senkrechten Stellung zur Erde, andrerseits in der horizontalen Lage unsrer beiden Augen, dass die senkrechte und wagerechte Richtung, als Grundrichtungen aller andern, uns eingeboren sind. Enthält das Bild der Natur diese zwei Hauptrichtungen, so haben wir so- fort das beruhigende Gefühl eines klaren räumlichen Verhältnisses zur Bilderscheinung" (37 f.) . „Um das einfachste Beispiel zu geben, so denke man sich eine Ebene. Es ist einleuchtend, dass sie deutlicher zur Anschauung kommt, wenn irgend etwas darauf gestellt ist, z. B. ein Baum, also ein Senkrechtes. Dadurch, dass etwas auf ihr steht, spricht sich so- fort die horizontale Lage der Fläche, man könnte fast sagen, als räumlich sich betätigend, aus. Um- gekehrt wirkt aber der Baum, in seiner anstreben- den senkrechten Formtendenz durch die horizontale Fläche gesteigert. Kommt nun noch die Wirkung von Schatten und Licht hinzu, so dass der Baum einen Schatten auf die Erdfläche wirft, so wird das räumliche Verhältnis beider nochmals erwähnt, noch- mals der Vorstellung aufgezwungen. Ziehen am Horizonte ein paar Wolkenstreifen den Blick nach hinten, so schreiten wir auf der Ebene nach der Tiefe vor und erleben somit durch die einfachsten

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Malerei und Plastik

Erscheinungsmittel alle Raumdimensionen als eine gemeinschaftliche Anregung. Damit lässt sich aber auch verstehen, wie die Einzelgegenstände durch die Stellung und Anwendung an der Darstellung des Ge- samtraumes arbeiten und je nach ihrer Verwertung die Raumanregung des Ganzen verstärken, andrer- seits durch die Verwendung an sich als Einzelgegen- stände stärker zum Ausdruck kommen, weil sie eben im Ganzen eine bestimmte räumliche Funktion haben, eine bestimmte räumliche Rolle spielen" (36 f.).

Unsre Vorstellung erfasst nämlich den im Seh- felde erscheinenden Raum, indem sie in der vollen Ausdehnung jenes eine Bewegung nach der Tiefe ausführt, nach der Tiefe strebt also auch beim Bildraume des Gemäldes. ,,Wenn wir uns Einzel- körper in diesen Raum gestellt denken, so bilden sie sozusagen Widerstände gegen diese allgemeine Tiefenbewegung, Flächenerscheinungen, die nicht weichen. Durch die allgemeine Tiefenbewegung er- halten sie jedoch Volumen und, je nachdem diese Flächenerscheinung bestimmt präcisierte Merkmale besitzt, an denen die Tiefenbewegung hingleitet, erhalten sie ein präcisiertes Volumen, d. h. plastische Form."

„Auf diese Weise werden alle räumlichen Be- ziehungen und alle Formunterschiede von einem Standpunkte aus, sozusagen von vorn nach hinten, abgelesen. Die Gesamterscheinung leistet dieser ein- heitlichen Tiefenbewegung, je nach ihren Teilen, nur einen frühern oder spätem Flächenwiderstand. Die erste und zweite Dimension steht als Flächenerschei-

Dynamik des Bildes

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nung der dritten Dimension als Tiefenbewegung ent- gegen. Bei dieser allgemeinen Tiefenbewegung er- fassen wir den Raum als Einheit" (45 f.).

Darin wäre mithin eine Art Dynamik in der ästhetischen Aufnahme des Bildraums aufgezeigt. Damit sie richtig ausgelöst werde, kommt es also einerseits auf die klare Gegenüberstellung der bei- den Faktoren , der Flächenerscheinung und der Tiefenwirkung, an und andrerseits auf die unfehlbare Anregung zum Vollzug der Einheit in der Tiefenbewegung.

Demgemäss könnte , was zunächst die Fläche betrifft, unmittelbar an das früher über die Gegen- standsvorstellung Gesagte angeknüpft werden, da die Zeichen für diese sich schon in der Flächenpropor- tion auszusprechen pflegen (51). Dabei wird der Wert der zwei Grundrichtungen, nach der wir alle andern verstehen, beurteilen und messen, der Senkrechten und der Wagrechten sich von selbst geltend machen. Im « Grossen und Ganzen vertritt ja alles , was auf der Erde steht und wächst also alle Körper die Senkrechte ; dagegen überwiegt in der Natur im all- gemeinen die horizontale Richtung, in der sich also die Gegenstände ausbreiten (58). Hier aber kommt es vor allen Dingen darauf an, dass die Einzel- erscheinungen auf der Fläche möglichst als all- gemeiner Flächeneindruck geeinigt werden, um der Tiefenbewegung gegenüber den nötigen Zusammen- halt und die fühlbare Widerstandsfähigkeit zu ge- winnen. Diese Einigung ist dadurch möglich, dass die einzelnen Flächenbilder gruppenweise in möglichst

Schmarsow, Plastik, Malerei u. Reliefkunst. o

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Malerei und Plastik

gemeinhaftliche Distanzpläne geordnet werden. Ein zweites Mittel liegt in der Überschneidung, die einen Teil des Dahinterliegenden verdeckt, aber zugleich zu ihm überleitet, also z. B. Figuren verschiedener Distanzschichten zu einer einheitlichen Flächenwir- kung verbindet. Drittens kommt im selben Sinne die Lichtführung zu Hilfe , die Flächenbilder von verschiedenem Abstand doch als einheitliche Licht- massen zusammenzuhalten. Indes ist ja das Licht, das den Raum durchdringt, ebendadurch zugleich eine auseinandersetzende Macht , die Tiefenwerte schafft. Und ebenso steht es mit den Farbentönen, die als letztes Mittel der Einigung zum Flächen- schein in Betracht kämen, durch ihr Haften an den Körpern sowol wie durch ihre Helligkeitsgrade je- doch ebenso trennend als verbindend wirken können. Da gehen also die beiden Faktoren Flächeneinheit und Tiefenwirkung ineinander über (54 60).

Dieser zweite Faktor wird von Hildebrand als unerlässlich gefordert. Von der Erscheinung im Bilde selbst muss die Anziehungskraft ausgehen, welche die Vorstellung stark nach der Tiefe zieht (46). „Es darf nichts aus dem Bilde auf uns zu- kommen, sondern wir müssen in das Bild hinein- schreiten, um eine einheitliche Tiefenbewegung zu behalten," schreibt der Künstler (53) in lebendiger Ubertragung der eigenen Ortsbewegung auf den still stehenden Beschauer an seinem fest vorgeschriebenen Standort, und bekennt so unwillkürlich, wie selbst „im Erfassen des Bildes in einem Blick", das unser „ruhig schauendes Auge ohne Bewegungstätigkeit"

Dynamik des Bildes

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vollziehen soll , ein starkes Ingrediens von Körper- gefühlen wirksam wird , die aus den verpönten Regionen unsrer Tastempfindungen stammen.

Auf diese unläugbare Tatsache wird gar das Zustandekommen der ästhetischen Bildeinheit gebaut. „Das Wesen der einheitlichen Darstellung liegt darin, dass ihr eine einheitliche Anziehungskraft nach der Tiefe innewohnt-' (46). Da muss selbst unsre Gegenstandsvorstellung , die z. B. eine Verkürzung, wo sie eine vornüber gebeugte Person erkennt, als aus dem Bilde uns entgegenkommend aufzufassen trachtet, gezwungen werden, sich der höhern Macht des Tiefendranges gefangen zu geben ! Das Auf- rechterhalten der einheitlichen Tiefenbewegung soll freilich dadurch gelingen, dass hinter jeder Ver- kürzung noch etwas ist , was den Blick und die Tiefenvorstellung stark nach hinten zieht, also irgend eine Ferne (53). Aber wenn einmal ein Konflikt von Gegenstandsvorstellung und Gesichts- oder Bewegungsvorstellung ausgebrochen ist, so kann wol nur eine höhere Instanz, die in der Vorstellungs- tätigkeit selber wirkt, die Ausgleichung zur Ein- heit entscheiden. Doch folgen wir dem Führer, die wertvollen Errungenschaften seiner Analyse zu sichern.

Es ist ausserordentlich wichtig, zu der Erkennt- nis durchzudringen, dass solche Bilderscheinung dann ,,aus einem Komplex von Gegensätzen besteht, welche alle gegenseitig und wiederum im Ganzen An- regungen für die plastische und räumliche Vor- stellung in uns bewirken müssen, wenn wir ein

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Malerei und Plastik

wahrhaft lebendiges Bild der realen räumlichen Natur erhalten sollen. In diesem gegenseitigen Bedingen der Erscheinungsgegensätze und in ihrem gemeinschaftlichen Hervorrufen eines Raumganzen besteht eine Einheit der Erscheinung, welche nichts gemein hat mit der organischen oder der Vorgangs- einheit in der Natur" (39).

„Gerade durch diese Koncentration und Zu- sammenfassung im Bilde vermag die Kunst die zer- streute Anregung der Natur zu übertreffen. Der Künstler beobachtet auf diesen Zweck hin die Natur- erscheinung in ihrem ewigen Wechsel, er scheidet alle schwächlichen, nichtssagenden (!) Konstellationen aus." „Durch die Wirkungsgestaltung des Einzel- falles," heisst es an andrer Stelle (28), „giebt er die Vorstellung, die sich an tausend Einzelfällen ge- bildet hat." ,, Durch dies Reinigungssystem ver- mag er dem Bilde die Kraft einzuverleiben, die es der Natur gegenüber wertvoll macht."

Darin liegt also die ideale Seite der italienischen Malerei bei den Meistern der Hochrenaissance aus- gesprochen, die den Realismus des Quattrocento, auf dem sie einig weiter bauen, durch diese Konsequenz im Sinne des menschlichen Intellekts zu der Über- legenheit eines Systems gesteigert haben, vermöge deren eben diesen Leistungen der Wert para- digmatischer Bedeutung gesichert wird.

Auch so aber bleibt dieser „klassische Stil" der italienischen Malerei eine historisch bedingte Er- scheinung, und es dürfte nicht ratsam sein, die Theorie der Malerei als Kunst auf sie allein so aus-

Zeichnung und Farbe

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schliesslich zu gründen. Das Problem des Malers darf als solches doch nicht darin gesucht werden, dass er alle Gesichtseindrücke auf ihre plastische, oder sagen wir umfassender räumlich-körperliche, Anregungskraft hin prüft und zu diesem Zwecke verwendet. Es ist nur ein Teil desselben, der so- gar nicht immer zu den Hauptbestandteilen ge- rechnet wird. Und Hildebrand selbst bevorzugt auf dieser Seite des Problems wieder erklärtermafsen die ,, zeichnerischen Mittel". ,, Diese bilden den eigent- lichen Kern der Wirkung des Bildes als eines Raum- ganzen, sozusagen die Architektur des Bildes." ,,Es ist auf der Hand liegend , dass die Farbe in einem dienenden Verhältnis zur räumlichen Vor- stellung steht und nur insofern beim Bilde von einer innern Einheit der Farbe die Rede sein kann , als diese an der grossen Arbeit, ein Raumganzes zu bilden, teilnimmt. Nicht um den Reiz der Farbe an sich , wie beim Teppiche , sondern um ihr Er- scheinungsverhältnis als Distanzträger handelt es sich in erster Linie" (60). Das ist für den grossen Ab- schnitt der geschichtlichen Entwicklung, als dessen Hauptvertreter wir die italienischen Meister der Hochrenaissance gewählt haben, unzweifelhaft richtig. Das Helldunkelverfahren eines Rembrandt, so sehr es sich auch bei ihm um raumentwickelnde Er- scheinungsfaktoren handelt, beweist jedoch den Weg zu einer malerischen Einheit, die auf ,, zeichnerische Mittel" im eigentlichen Sinne verzichten und all- mählich von der Absicht, Gegenstandsvorstellungen zu erwecken, zurückkommen kann.

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Malerei und Plastik

Diese letztern aber sind das Gemeinsame der ganzen historischen Entwicklung vorher. Hildebrand kennt selber das unauflösliche Band, das jede auch noch so künstlerisch vollendete Raum- und Körper- darstellung im Bilde mit unsern Gegenstandsvor- stellungen verknüpft. „Die Erscheinungsgegensätze, die der Maler auf seiner Fläche verwenden kann, sie bewirken doch erst dadurch einen Raumwert, werden erst dadurch wirksam für die Formvor- stellung , dass sie sich mit gegenständlichen Vor- stellungen associieren, dass wir sie auf gegenständ- liche Natur beziehen" (46 f.).

Daraus aber geht hervor, dass es sich bei der konstitutiven Arbeit des Malers selbst nicht allein um ein ,,In Beziehungsetzen der Gesichtsvorstellungen und Bewegungsvorstellungen" handelt, nicht nur zwischen ihnen ein gesetzmässiges Verhältnis ge- funden und vermittelt wird , sondern dass es auf eine viel kompliziertere psychologische Synthese hinausläuft. Und deshalb dürfte auch der Wert des Fernbildes ,,als reiner Gesichtseindruck" über- schätzt sein.

Wo immer jedoch die letzte Einheit des Kunst- werks, ob schon in der sinnlichen Wahrnehmung selbst oder erst in der geistigen Vorstellung gesucht werde , es muss nach dem Bisherigen einleuchten, „welch' unendlich anderes Ding so ein Bild ist, als das Dargestellte in natura" (41).

Die Antwort auf die Frage nach dem Problem der Form in dieser bildenden Kunst, der Malerei, kann also nur lauten : es liegt in der Herstellung der

Das Problem des Malers

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Bildeinheit, und zwar zunächst für den Gesichts- sinn oder die Gesichtsvorstellung. „In dem gegen- seitigen Bedingen der Erscheinungsgegensätze be- steht eine Einheit, die nichts gemein hat (oder richtiger : nicht identisch ist) mit der organischen oder der Vorgangseinheit in der Natur" (39).

Die einzelnen Form-Probleme für das Dar- gestellte ergeben sich erst mit den Anforderungen, die von Gegenstandsvorstellung und Weltvorstellung überhaupt an das Bild gestellt werden, oder mit den Ansprüchen an Vollständigkeit des Weltbildes im Einzelnen (also auch in plastisch körperlichem Sinne) oder im Ganzen (also auch in räumlich konsequentem Sinne), die der Maler selbst erhebt und herausfordert.

Das Problem des Malers aber im allgemeinen oder das specifisch malerische Problem, der Vorwurf der Malerei als Kunst im Unterschied von ihren Nachbarinnen, worauf es uns ankam, ist etwas ganz anderes.

Das Hauptproblem der Malerei ist die Wiedergabe des Zusammenhangs zwischen den Dingendieser Welt, also der Einheit des Ganzen, das uns umgiebt, und zwar zunächst, soweit wir im Augenschein allein seiner habhaft werden können.

Nicht ein Gegenstand an sich also, sondern in, mit und unter einer Situation, interessiert sie. „Viele Gegenstände sind ja an eine bestimmte Situation gebunden ; so kennen wir sie nur als bestimmte Wirkungsform , und durch die Änderung der Situa- tion scheint sich ihre Daseinsform zu ändern," schreibt

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Malerei und Plastik

auch Hildebrand gelegentlich (24). Das ist aber ein einfacher Fall für den Maler. „Auf diese Weise nimmt der Gegensatz , in dem der Gegenstand zu seiner Umgebung steht, Teil an seiner Charakterisie- rung;" aber auch umgekehrt, charakterisiert der Gegen- stand durch seine Gegenwart die Umgebung mit. Das heisst sie treten beide in einen Zusammenhang. Und zwar giebt es, wie Hildebrand selber ausführt, normale Wirkungsaccente, typische Situationen, die sich in unsrer Vorstellung festsetzen , und zufällige, exceptionelle , transitorische Zusammenhänge. ,,Der Künstler bereichert, je nach seiner individuellen Be- gabung unser Verhältnis zur Natur, indem er die Daseinsform in Situationen bringt, die ihr neue Wir- kungsaccente verleihen. Je normaler und typischer die Wirkungsaccente in einem Kunstwerk fallen, desto objektivere Bedeutung besitzt es." Je transi- torischer, exceptioneller die Erscheinungseinheit, dürfen wir hinzufügen, desto subjektiver wird sie uns vorkommen , auch wenn wir in der Malerei ihre Berechtigung gar nicht beanstanden.

Nicht die isolierte Körperform also , aber auch nicht die Raumform als solche ist der Vorwurf des Malers, sondern wieder nur der Zusammenhang, der innerhalb der dargestellten Gränzen herrscht. Im Nebelschleier, in dem sich die scharfe Auseinander- setzung der Abstände ausgleicht und die Form ver- schwimmt, im schimmernden Duft der feuchten, lichterfüllten Atmosphäre wird auch ein klarer Archi- tekturprospekt malerisch, also Darstellungsgegenstand für den Maler. Dieser sucht eben den Zusammen-

Der Augenschein des Zusammenhangs der Dinge

4 I

hang, der die organische und die unorganische Natur verbindet, durch beide hin waltet, über alle Einzel- bildung, und Distanzteilung hinweg geht, zu fassen. Die Veränderungen, die alle Formen und Farben unter dem vorübergehenden Einfluss der Tages- und Jahreszeiten, des Wetters und des Alters erleiden, die Abhängigkeit von den allgemeinen Gesetzen des Alls, da liegt sein Feld, auf dem keine andre Kunst mit ihm wetteifern kann. Begreiflicherweise mischt sich im Interesse des Menschen mit diesem sicht- baren Zusammenhang sehr leicht der unsichtbare, der nur durch andre Sinne vermittelt wird, wie der hörbare des Wortes , oder erst in der Vorstellung einleuchtet, wie der Kausalnexus. So dringen, be- sonders auf dem Wege der mimischen Beziehungen zwischen den Figuren, aber auch zwischen Personen und Schauplatz , zwischen Dingen und ihrer Um- gebung, — poetische Beziehungen in den Darstel- lungskreis des Malers, und der Zusammenhang mi- die Phantasie verbindet sich mit dem Zusammenhang für den Gesichtssinn, nicht selten in einem Grade, der die selbständige Existenz des Bildes als eines Kunst- werks für sich, als malerische Schöpfung gefährdet. Für die Malerei als Kunst bleibt natürlich die Bild- einheit des Augenscheines das Kriterium ihrer Er- scheinungsform, und nur mit der Darstellung eines Zusammenhanges, den unser schauendes Auge zu erfassen, zu gemessen und zu vermitteln vermag, befinden wir uns im Mittelpunkt ihres Reichs , wo keine Nachbarin ihre Hand im Spiele hat.

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Malerei und Plastik

Nun aber haben wir die darstellende Tätigkeit des Malers für sich allein verfolgt, ohne uns um die weitere bildende Kunst zu kümmern, die Hildebrand damit zusammenfasst. Er geht von der Voraus- setzung aus, die Aufgabe, wie er sie formuliert, ,,das Zutagefördern einer allgemeinen Raumvorstel- lung durch die Gegenstandserscheinung" sei fin- den Bildhauer ganz dieselbe wie für den Maler. „Die Arbeit Beider wird durch dasselbe Vorstellungs- bedürfnis geleitet, mögen auch die zu verwendenden Mittel noch so verschieden sein." Auch für die Plastik ist nach seiner Uberzeugung das ,, Fernbild", das reine einheitliche Flächenbild von entferntem Standpunkt, wie es erst von einer gewissen Distanzschicht an auf unserm Sehfeld sich dar- bietet, das einzige Mittel zur Lösung des Form- problems.

Nach unsrer Ansicht vom Wesen der Malerei kann ihr aber unmöglich dasselbe Gestaltungsprincip innewohnen wie der Plastik ; wir müssen auch für diese zu einem abweichenden Ergebnis gelangen, so schwer es werden mag, der Ansicht eines Bildhauers von seiner eigenen Kunst entgegenzutreten.

Wir müssen, um mit ihm die künstlerische Tätigkeit des Bildners zu verfolgen, zu dem grund- legenden Experiment zurückkehren , wo als Objekt für die Gesichts Wahrnehmung ein Gegenstand (in bestimmter Situation) mit Umgebung und Hinter- grund gegeben, die Richtungslinie des Beschauers fest gelegt, und nur der Abstand auf ihr verschieb- bar gelassen war.

Abtastendes Sehen

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Vom entfernten Standpunkt ergab sich für das ruhige Schauen das Fernbild. Tritt der Beschauer aber näher hinzu , so dass er verschiedene Augen- akkomodation braucht, um das gegebene Objekt zu sehen , dann hat er die Gesamterscheinung nicht mehr in Einem Blick, und er kann sich das Bild nur durch seitliche Augenbewegungen mit verschiedener Akkomodation zusammensetzen. Es teilt sich also die Gesamterscheinung in verschiedene Gesichts- eindrücke, welche durch Augenbewegung verbunden werden. Je näher der Beschauer dem Objekte tritt, desto mehr Augenbewegungen braucht er und desto kleiner werden die einheitlichen Gesichtseindrücke. Zuletzt vermag er den Gesichtseindruck so zu be- schränken, dass er nur immer einen Punkt scharf in den Sehfocus rückt und die räumliche Beziehung dieser verschiedenen Punkte in Form eines Be- wegungsaktes erlebt ; alsdann hat sich das Schauen in ein wirkliches Abtasten und in einen Be- wegungsakt umgewandelt und die darauf fussenden Vorstellungen sind keine Gesichtseindrucksvorstel- lungen (von nun an kürzer : Gesichtsvorstellungen), sondern Bewegungsvorstellungen, und bilden das Material des Form-Sehens und Form- Vorstellens."

„Das geistige Material des Bildhauers sind also seine Bewegungsvorstellungen, welche er teils direkt aus der Bewegungstätigkeit des Auges selbst, teils aus den Gesichtseindrücken gewinnt, und diese bringt er, indem er sie mit der Hand wirklich ausführt, an einem stofflichen Material zur Darstellung. Diese

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Malerei und Plastik

so dargestellten Bewegungsvorstellungen geben als- dann wieder einen Gesichtseindruck ab und sollen in diesem Gesichtseindruck als Fernbild ihre Einheitsform gewinnen."

Wir überlassen es billig der Psychologie zu entscheiden, wie weit das geistige (oder psychische) Material des Bildners sich als Bewegungsvorstellungen, wie das des Malers als Gesichtsvorstellungen be- stimmen , und , wie es hier geschieht , zur Unter- scheidung beider Tätigkeiten beschränken lässt. Das Schachtelsystem , in das man so gern wieder verfällt, tut hier nichts zur Sache, wenn wir ohne diese doch immer noch variablen Etiquetten auf den Schubfächern auszukommen versuchen. Nur auf Eins muss aufmerksam gemacht werden, dass wieder die Beziehung zu den ,,niedern Sinnen" sorgfältig ver- mieden wird, obgleich anfangs vom Abtasten des Auges geredet worden.

Lassen wir auch das ,, Fernbild", das weiterhin noch einer genaueren Auseinandersetzung bedarf, zu- nächst bei Seite, und betrachten den vollrunden plastischen Körper erst einmal ganz isoliert.

Dann steht die Grundtatsache wenigstens ausser Zweifel, dass auch die Plastik in erster Linie für das Sehorgan des Menschen arbeitet. Sie stellt für das menschliche Subjekt ein sichtbares Gebilde hin. Der Gesichtseindruck oder die Gesichtseindrücke, die wir von dem Werk des Bildhauers empfangen, werden also stets eine Hauptrolle spielen. Sie beanspruchen in dem Wahrnehmungsakt jedenfalls das Recht der Priorität. Das ist nicht anders, wie beim Gemälde,

Luft und Licht in der Plastik

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nicht anders auch beim Bauwerk, und jeglichem Gegenstande, dem wir irgendwo begegnen, d. h. am hellen Tage. Es ist das Licht des Tages , unter freiem Himmel oder im Innenraum, oder gar künst- liche Beleuchtung , die uns das Bildwerk sichtbar machen. Während aber der Maler die Beleuchtung aller Gegenstände , die er uns zeigt , im Gemälde selber mit darstellt, vermag der Bildhauer sie nicht zu geben, wie er will, sondern muss sie sein Werk hinnehmen lassen, wie sie kommen. Er kann sie keiner künstlerischen Behandlung unterziehen , son- dern ihnen höchstens , wo er für einen festen Be- stimmungsort gestaltet, einen weitergehenden Ein- fluss auf die Art seines Verfahrens und die An- wendung einzelner Kunstgriffe gestatten, er kann der wolvertrauten Macht sozusagen in die Hände arbeiten , wie einer Bundesgenossin , mit der er ständig zu rechnen gewohnt ist. Er kommt durch lange Erfahrung vielleicht dahin , den wechselnden Zufälligkeiten des Lichtes so weit Rechnung zu tragen, dass sie seine Formgebung nicht wesentlich zu ent- stellen vermögen. Aber von einer „Darstellung des Gegenstandes als Erscheinungsprodukt seiner selbst und des ihn umgebenden allgemeinen Raum- oder Luftkörpers" (43) kann doch wol nur bei der Malerei , nicht aber bei der Plastik die Rede sein, da die Erhellung dieses Raum- oder Luftvolumens um ihn her notwendig dazu gehört.1)

1) Vgl. hierzu auch Guido Hauck , Die Gränzen zwischen Malerei und Plastik. Preuss. Jahrbücher 1 885.

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Malerei und Plastik

Schon in der Dämmerung wird die Hegemonie unsres Auges unsicher, und im Dunkel der Nacht verliert es sein Vortrittsrecht vollends. Da ist das Gemälde auf der Wand für uns überhaupt nicht vor- handen, das Ölbild im Rahmen nur eine Holztafel oder eine Leinwand, kein Bild. Beim Werk der Plastik aber bleibt das Gebilde des Künstlers auch ungesehen ein reales Ding, dessen Beschaffenheit durch andre Sinne wahrgenommen werden kann. Wir können seine Formen mit den Händen abtasten und herumgehend von allen Seiten die Existenz, den Standort und das Volumen des Körpers konstatieren. Ob wir dabei auch eine deutliche Formvorstellung gewinnen, ist eine andre Frage, die nur mit Hülfe der experimentellen Psychologie beantwortet werden kann. Wenn bereits Erinnerungsbilder des vorher gesehenen Gegenstandes mitspielen, liegt die Sache natürlich schon anders, als wenn dies nicht der Fall ist.1) Jedenfalls aber kommt bei dem vollrunden Körper der Wechsel des Standpunktes , die Orts- bewegung mit ihren Beiträgen ebenso zu Statten, wie dies bei einem Architekturwerk der Fall ist, in dessen Innenraum wir ausserdem noch tastend umher- schreiten können. Und daran eben liegt uns hier. So wenig eigentlich solche Orientierung über ein Kunstwerk im Dunkeln für die ästhetische Aufnahme

i) Ganz ungenügend sind natürlich die Untersuchungen über die sozusagen passiven Erfahrungen bei der Berührung der Haut- oberrläche unsers Körpers. Vgl. z. B. te Peerdt a. a. O. 24 f. Für die Kunstpsychologie kommt es auf die aktiven Äusserungen des Getasts an.

Konstitutive Faktoren des Körpers

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in Betracht zu ziehen sein mag, ihre Möglichkeit ge- mahnt uns doch an wichtige Eigenschaften, die das Werk des Bildners als Körper mit dem Bauwerk und mit der Wirklichkeit teilt, während das Werk des Malers , das Bild als solches J sie nicht besitzt, sondern nur das Substrat , die Fläche , an der es haftet , und das Bischen Farbenmaterial , die Mittel zum Zweck also, die nicht an sich selber das Kunst- werk ausmachen. Beim Gebilde des Plastikers ist aber das kubische Ding gerade der unentbehrliche räumlich-körperliche Grundstock für alle Gesichts- eindrücke, — der dreidimensionale Komplex, der mit den Augen des Laien angesehen sich unbequem geltend machen soll , mit künstlerischem Blick be- trachtet, durch die Hand des Bildners vermittelnd und ausgleichend bereitet, dagegen als woltuende Augenerscheinung glatt eingeht und befriedigt.

Bezeugt nun aber der feststellbare Sachverhalt nicht soviel , dass nur ein Teil des geistigen Ma- terials, mit dem der Bildhauer arbeitet, aus den Ge- sichtseindrücken gewonnen ist, wie auch Hildebrand anerkennt, ein andrer Teil direkt aus der Bewegungs- tätigkeit des Auges , wie er ebenfalls angiebt , ein dritter Teil aber überhaupt nicht auf Errungen- schaften des Sehapparates oder dem Einfluss seiner äussern Muskulatur beruhen kann, sondern anders- woher stammen muss , und dass gerade dieser Teil die konstitutiven Faktoren des Körpers im Räume liefert ? Es sind Beiträge der Tastorgane und sonstige Erfahrungen des Körpergefühls , die den grund- legenden Raumwert des Gebilds erzeugen, indem sie

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Malerei und Plastik

sich durch die formende Hand und ihre Werkzeuge auf das bildsame Material übertragen oder schon in diesem selber gegeben sind.

„Das geistige Material des Bildhauers sind Be- wegungsvorstellungen", auf denen auch unser Form- Sehen und Form-Vorstellen beruht (10). Diese aber werden nicht von dem entfernten Standpunkt zu dem Objekt gewonnen, auf dem nach Hildebrand die Erscheinungsform, die das Kunstwerk festhält, allein beruhen soll (68, Anm.), sondern von dem nahen Standpunkt, der innerhalb unsrer Tastregion gelegen ist. Auf diesem Standpunkt in greifbarer Nähe wird das Auge selbst zum Tastorgan, wie an den oben an- geführten Stellen beschrieben steht. Wenn dies schon bei jedem Beschauer eines dreidimensionalen Kör- pers der Fall ist, wie viel mehr Bedeutung wird dieser Process beim Bildhauer während der Arbeit an dem „stofflichen Material" gewinnen, auf das er sein „geistiges Material überträgt". Wo immer in greifbarer Nähe unter unsern Händen eine Form entsteht , da arbeitet ja das tastende Auge mit der tastenden Hand und ihren Werkzeugen , in die sich das Gefühl gleichsam miterstreckt, auf das Innigste zusammen. In diesem Gestaltungsprocess bei un- mittelbarer Berührung muss doch , so sollten wir meinen , das innerste Geheimnis des plastischen Bildens gelegen sein ; denn die Hauptsache, die er- reicht werden muss , bleibt doch die , dass das Er- gebnis ein Körper werde , bleibt eben die Kon- stituierung des dreidimensionalen Komplexes , der die Unterlage aller sonstigen Sinneseindrücke aus-

Psychische Mächte

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macht bis hinauf zum reinen Augenschein. Und es fragt sich, ob der Bildner bei dieser geheimnisvollen Hervorbringung der festen Form mit seinem geistigen Material von Vorstellungen auskommt, welcher Kate- gorie auch sie angehören mögen; es fragt sich, ob hier nicht viel elementarere psychische Mächte mit- wirken, die sich kaum anders als bei physischer Be- rührung, unmittelbar im leiblichen Verkehr, durch die liebevolle Mühe der Tastorgane selbst übertragen lassen.

Im dem Kapital der Bewegungsvorstellungen, als unerlässlicher Hülfe alles Formvorstellens und Form- sehens, liegt ohne Zweifel auch die Verbindung mit den Motiven des künstlerischen Schaffens. Aber diese Antriebe der Seele, die dazu führen, dem organischen Geschöpf der Natur ein Ebenbild aus bildsamer , aber dauerhafter Masse gegenüber zu stellen, sind für den Künstler das „Selbstverständ- liche" ebenso, wie die Herstellung der körperlichen Grundlage für die eigentlich plastische Form. Über Beides hat uns der Meister, gewiss zum Bedauern aller seiner Leser, keine Rechenschaft gegeben. Über die psychischen Erlebnisse, die ihn den Schritt zur darstellenden Kunst versuchen Hessen, die sich bei der Konception jedes neuen Werkes bis zu gewissem Grade wiederholen, liebt es nicht jeder, zu „raison- nieren". Das Problem der Form aber beginnt für den Meister, der über die Möglichkeiten des Ver- fahrens nachdenkt, erst da recht aufzutauchen, wo es darauf ankommt, das unbewusst hervorgehende Gebilde der Hand mit den Anforderungen des Auges

Schmarsow, Plastik, Malerei u. Relief kunst. a

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Malerei und Plastik

zu vergleichen, in dem Augenblick jedesmal, wo das schöpferische Subjekt sich aus dem Vollzuge einer angeborenen Gestaltungskraft zurückzieht, um da- zwischen zum geniessenden Subjekt zu werden. Ist es nicht hier grade, wo das tastende Sehen aufhört und das ruhige Schauen beginnt?

,, Der Bildhauer gestaltet also indirekt," so schreibt er selber, ,,an einem Gesichtseindruck oder einer ein- heitlichen Erscheinung. Die dargestellte Form oder die realisierten Bewegungsvorstellungen prüft er an dem Gesichtseindruck, den er empfängt, wenn er genügend zurücktritt, um das Fernbild der Form zu empfangen. Solange dies einheitliche Bild nicht ent- steht, ist die reale Form noch nicht zu ihrer wahren Einigung gelangt ; denn die letzte Wahrheit ihrer Einigung liegt eben darin, dass das entstehende Bild die volle Ausdrucksstärke für die Form besitzt. Hierin liegt das plastische Problem des Bildhauers."

In diesen Worten ist eigentlich, schärfer als Hildebrand bei der erstrebten Analogie mit dem Werke des Malers zulassen möchte, der entschei- dende Unterschied ausgesprochen. Nicht in der Einigung zur Bildeinheit, zum Augenschein liegt die letzte Wahrheit wie beim Gemälde, sondern darin, dass das entstehende Bild (oder nach unsrer Aus- drucksweise : der Augenschein des Gebildes) die volle Ausdrucksstärke für die Form besitzt, d. h. die klare Formvorstellung des Gegenstandes erwecke.

Wie gewinnen wir aber diese aus dem einheit- lichen Flächenbilde, das sich dem schauenden Auge auf entferntem Standpunkte darbietet? Erinnern wir

Gegenständlichkeit und Körperlichkeit des Bildwerkes 51

uns, was Hildebrand selbst über die Auslösung des gemalten Bildes gesagt hat, damit die latenten Be- wegungsvorstellungen im reinen Gesichtseindruck so- zusagen losgehen. Alle Erscheinungsgegensätze wer- den erst dadurch wirksam für die Formvorstellung, dass sie sich mit Gegenstandsvorstellungen asso- ciieren, dass wir sie auf gegenständliche Natur be- ziehen. ,,Hell und dunkel bekommt erst die model- lierende Kraft als Licht und Schatten durch ihre gegenseitige Lage, aus der wir die Form eines Gegenstandes erkennen" (46 f.).

Also die Gegenstandsvorstellung, das Erkennen auf den ersten Blick eines organischen Geschöpfes als Urbild des vom Bildhauer hingestellten Gebildes, ist das Erste, das verlangt wird. Damit aber ver- knüpfen sich aufs Engste alle Forderungen, die wir an einen Gegenstand als Körper im Räume zu stellen gewöhnt sind. Er muss die Eigenschaften besitzen, die uns einen Widerstand entgegenstellen. Und zwar sind diese Leistungen nicht wie beim Gemälde in seinem Rahmen nur dem uneigentlichen Augen- scheine nach zu verstehen, sondern dem eigentlichen Sinne bei wirklichen Gegenständen gemäss. Die Statue auf ihrem Postament bleibt ein realer Körper, trotz aller Vorliebe für die einheitlich geläuterte Ge- samtwirkung, die sie uns als Erscheinung aus der Ferne gewähren mag. Und sollen wir diesen Körper als das Abbild eines organischen Leibes gleich uns anerkennen, so wenden wir die Kriterien darauf an wie bei den Lebewesen, die wir neben uns oder da draussen stehen sehen. Das plastische Bildwerk

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Malerei und Plastik

muss sich durch eine Reihe unerlässlicher Überein- stimmungen bewähren, und zwar für unser eignes Körpergefühl. Was über den Wert der beiden Grundrichtungen, die Senkrechte und die Wagrechte, gesagt worden ist, gilt hier nur noch unmittelbarer. Das Höhenlot, das unser Blick einsetzt, muss sich als aufrechte Grade, d. h. als grade Haltung ausweisen, und wo diese nicht gezeigt wird, doch als Richtungsaxe des Wachstums vorhanden sein, also die Möglichkeit zu solcher Haltung erkennen lassen. Die Horizontale bildet schon in der Basis die notwendige Ergänzung und wird an verschiedenen, uns wol bekannten Stellen des Leibes eingelegt, um das Gleichgewicht der Massen zu beurteilen, wie die Abweichungen davon, die sich als willkürliche Bewegungen des Ge- schöpfes erklären. Das Alles geschieht mit einer fast unkontrollierbaren Schnelligkeit vermittelst unsrer Augenbewegungen ; aber auf dieser summarischen Orientierung beruht die Entscheidung, dass das mar- morne Ding da ein Lebewesen bedeute.

Die Kontrolle des Formbildens durch den Ge- sichtseindruck vom entfernten Standpunkt, diese Probe auf das Zusammengehen der realen Körper- form zu einem glatt verlaufenden Wahrnehmungs- akt, im Ganzen und im Einzelnen, und auf die letzte Forderung, dass diese reine Erscheinung auch ein deutliches Ausdrucksbild der Form abgebe und ihren Wert als klare Gesichtsvorstellung bewähre, diese ganze Begutachtung des taktilen Verkehrs zwischen dem Künstler und seinem bildsamen Substrat rückt doch wol wie zeitlich, so auch sachlich in der dar-

Das plastische Problem des Bildners

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stellenden Tätigkeit des Bildhauers an den zweiten Platz. So sehr der Gesichtseindruck, das Gesamt- bild beim Wahrnehmungsakt des Beschauers dem fertigen Kunstwerk gegenüber die Priorität behauptet, und so sehr der gewiegte Meister stets unter dem leitenden Einfluss dieses vorschwebenden Gesamt- bildes arbeiten, ja schon erfinden mag, und bei der ersten Anlage wie bei der fortschreitenden Ökonomie seiner Tätigkeit diesem Endziel zu sich einzurichten und abzurichten gewöhnt, es bleibt der Über- gang vom schöpferischen zum geniessenden Subjekt, von Aktivität zur Kontemplation übrig, der nicht übersehen werden darf.

Fassen wir diese Erwägungen zusammen, so muss die Behauptung gewagt werden, das ,, plastische Problem des Bildhauers" kann in der sinnlich wahr- nehmbaren Einigung der realen Form für den Augen- schein doch nicht allein gesucht werden. Wir ver- mögen darin nur eine sehr wichtige, die ästhetische Aufnahme des Kunstwerkes ausserordentlich för- dernde Vorsorge zu erkennen. Die letzte Einigung des Ganzen geschieht ja doch nicht in dem Sinnes- eindruck, in der optischen Empfindung unsres Seh- organs, sondern in der Vorstellung. Und die plasti- sche Anregungskraft der Erscheinung beruht doch wol noch auf andern Eigenschaften, die selbst dem reinen Augenscheine noch die volle Ausdrucksfähig- keit der Form gewähren, indem die Gegenstands- vorstellung sonst dabei zu Hülfe kommt.

Unsrer Oberzeugung nach kann das „plastische Problem des Bildhauers" als solches, mithin das

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Plastik und Malerei

eigenste Anliegen der Plastik als Kunst, nur in der schöpferischen Darstellung des Körpers selbst gesucht werden ; denn das ist ausschliesslich ihres Amtes als „Körperbildnerin", wie wir sie kurz definiert haben.

Damit aber bestünde die Woltat, die wir durch das Kunstwerk empfangen, gerade in der Erschaffung des Kubischen und der überzeugenden Wirkung der dritten Dimension, durch die sich die volle Wirk- lichkeit der Dinge dieser Welt zu behaupten pflegt, oder, anders ausgedrückt, in der Klarheit räumlich- körperlicher Vorstellung, die das Gebilde erweckt, d. h. in vollster Ubereinstimmung des Kunstwerkes mit der dreidimensionalen Anschauungsform unsres menschlichen Intellekts. Und diese Übereinstimmung mit dem Hausgesetz des Menschenhauptes wäre eben die Ursache, dass wir das Kunstwerk als Woltat begrüssen und mit Genuss uns ihm hingeben. Wenn uns aber das Kubische nicht belästigt mit seiner vollen Konsequenz, als höchstens indem wir es mit malerischem Sinn betrachten ; wenn nicht der lautere Augenschein allein, der flächenhafte, uns befriedigt, sondern auch die dritte Dimension, die uns entgegen- drängt, — dann kommen wir freilich bei einem mo- dernen Bildhauer in den Verdacht, wir hätten eigent- lich gar kein künstlerisches Verhältnis zur Natur und somit kein Recht, überhaupt mitzureden.

Und dennoch glauben wir uns nicht zu täuschen, auch die Überzeugung dieses Bildners zutreffend zu verstehen und auslegen zu können, vorausgesetzt, dass die Abgezogenheit des Augenscheines, die Ge-

Normalbildung des organischen Körpers

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sichtsvorstellung als Ergebnis des höhern Sinnes allein, nicht mehr als ausschliessliche Formel für die Seligkeit des Kunstgenusses und des Kunstschaffens festgehalten wird.

Handelt es sich in der reinen Plastik anerkann- termafsen um die Darstellung des organischen Men- schenkörpers in erster Linie , so kann den echten Bildhauer auch Nichts mehr beleidigen, als wenn an einer vollrunden Statue z. B. ein Glied des organi- schen Gewächses misraten und verkümmert ist. Berufen wir uns nur auf das klassische Beispiel bei Michelangelo, wo ein Oberarm verhauen ward und seine volle Form nicht aufwies ! Die Plastik kennt keine Krüppel bis auf die seltensten Ausnahmen. Nachträgliche Ver- stümmelung beleidigt nicht. Wer, unter Künstlern nur, genösse nicht die Venus von Milo ohne ihre Arme, um die sich die Gelehrten streiten? Warum aber erhebt sich der geniessende Betrachter, dessen Blick immer wieder über die Ansatzstellen hingleitet, mit immer geringerm Anstoss über diese gewalt- same Abstraktion in concreto ? Eben weil die Vorstellung arbeitet und die ganze Seele, nicht der Augenapparat allein. ,,Es stellt sich heraus, dass wir die Vorstellung darstellen," sagt Hildebrand selbst einmal bei Gelegenheit des Wagenrades, das ,, rollend" wirken soll, aber in normaler „Daseins- form" gezeigt wird. Sollte die Plastik auf die Be- währung aus der Nähe , die Prüfung von verschie- denen Seiten verzichten, die allein imstande ist, das Normale und Typische, das ihr am Herzen liegt, von dem Zufälligen und Bedingten, Einseitigen und

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Malerei und Plastik

Abhängigen, das die Ferne bieten mag, zu unter- scheiden ?

Ist es so unerlaubt und ketzerisch, den Genuss der Bildwirkung vom Werk des Malers, den Genuss der Körperwirkung aber, in ihrem vollen Umfang zunächst, vom Werk des Bildhauers zu erwarten?

II.

MIMIK UND PLASTIK

THONBILDNEREI UND STEINSKULPTUR

enn es darauf ankäme, unter den künstlerischen Betätigungen des Menschen Eine als die ur- sprünglichste zu bezeichnen oder, wie Mnemo- syne die Mutter der Musen, nicht allein als die älteste Schwester, sondern als die Mutter aller übrigen Künste anzusehen, so würden wir uns unbedingt für die Mimik entscheiden. Sie enthält in ihren primitiv- sten Äusserungen noch ungetrennt die zeitliche und die räumliche Anschauungsform, die in der letzten Vereinigung aller Künste, der dramatischen Auffüh- rung wieder mit ihrer Hülfe zusammentreten. Wir haben uns früher erklärt, dass wir ,,als älteste Form der bildenden Künste" nicht mit Hildebrand die Zeichnung anzusehen vermögen , sondern höchstens die Bildgebärde , die den Umriss des Dinges oder den charakteristischen Zug seiner Bewegung in die

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Mimik und Plastik

Luft malt (I, 101), indem wir damit freilich hinter die Form der Äusserung zurückgriffen, die man als bildende Kunst wird anerkennen wollen. Aber der Ausgangspunkt aller ausdrucksvollen [Betätigung liegt zweifellos in der Mimik (I, 25). Jeder Ver- such konkreter Gestaltung aus bildsamem Stoff, d. h. die ersten dunkeln Regungen der Körper- bildnerin, sind ebenso als Hantierung des Menschen an dem ungeformten Substrat schon Gebärdung, d. h. Bestandteile mimischer Äusserung, und Aus- druck unsers innern Nacherlebens und Mitgefühles mehr, als Nachahmung der Dinge vom Standpunkt objektiver Beschaulichkeit.

In dem Gesamtgebiet der Gebärdung und der Ausdrucksbewegung liegen auch die Antriebe zur künstlerischen Gestaltung, die allmählich zum plasti- schen Schaffen gedeihen. Dort sind sie aufs Engste verknüpft mit unserm Körpergefühl , das aus dem Innern nach Aussen dringend, nur die Extremitäten in Bewegung setzen, als physische Tätigkeit zu Tage treten kann. Die Übertragung der innern Er- regung auf den motorischen Apparat ist die Haupt- sache für alle schöpferische Betätigung , und erst im weitern Gange scheiden sich die Wege , ob die Körperbewegung allein den mimischen Verlauf nehme, oder ob sie zu konkreter Gestaltung, zur Hervor- bringung eines plastischen Gebildes übergehe.

Die Kenntnis unsers Leibes als organisches Ge- wächs , die Beobachtung unsrer Körperformen im Sinne eines Abbilds liegt viel ferner, als die Kennt- nis dieses Leibes nach seinen natürlichen Funktionen

Gebrauchsfähigkeit und Ausdrucksfähigkeit unsres Leibes 59

und die Beobachtung unsrer Glieder als Werkzeuge bei ihrem praktischen Gebrauch. Lange bevor sich eine Gesamtvorstellung der menschlichen Gestalt als organischer Einheit ausbilden kann, sind die Glied- mafsen in ihrer Verwendbarkeit geläufig, ja selbst die Ausdrucksfähigkeit des ganzen Bewegungsappa- rates für die mannichfaltigen Äusserungen des Willens wol vertraut. Wie das Kind der Mutter, der Knabe dem Vater die Bewegungen seiner Glieder und die Handhabung der Werkzeuge zu jeglichem Zwecke des Alltagslebens absieht, in innerer Nachahmung die Innervation des ererbten gleich organisierten motorischen Apparates vollzieht und wiederholend oder verstärkend unwillkürlich dazu gelangt, die nämliche Tätigkeit auch wirklich auszuüben, so ler- nen wir Alle, von hier aus, jede wahrnehmbare Ver- änderung an verwandten Wesen verstehen und ge- winnen den gangbaren Vorrat von Kenntnissen, die uns den ,, Funktionsausdruck" menschlicher Körper- formen, sei es im Gesamtzug der Haltung, im In- einandergreifen zweckmässiger Bewegungen oder gar im ruhenden Zustand des Einzelgliedes vermitteln. Unter rein praktischen Gesichtspunkten, die noch jeder künstlerischen Anwandlung fremd scheinen, bildet sich der Scharfblick des Jägers und des Hir- ten, wie noch heute des Indianers für die Wahr- zeichen zweckentsprechender Bildung in allen For- men des organischen Gewächses aus.

Mit ihrer Wahrnehmung stellt sich die Vorstel- lung des Vorganges, der möglichen Bewegung und ihres zeitlichen Verlaufes ein. Der ganze Körper

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Mimik und Plastik

„wird als Komplex von Formen aufgefasst, die das Gepräge bestimmter Funktionsmöglichkeiten tra- gen", längst ehe dieser nämliche Körper als ein- heitliches Gewächs um seiner selbst willen, ge- schweige denn durch das Ebenmafs seiner Gliederung, durch die Rundung und Fülle seiner Formen, durch den woltuenden Fluss seiner Umrisslinien irgend welches Wolgefallen erregt. Die Auffassung alles Sichtbaren unter der zeitlichen Anschauungsform vermittelt zunächst jeden innern Anteil , den wir an den Erscheinungen nehmen. Und diese be- lebende Kraft unsrer Vorstellung erstreckt sich nicht allein auf die gleichorganisierten und alle ähnlich ausgestatteten Lebewesen, sondern von hier aus auf die gesamte Natur.

So wird es auch begreiflich, dass für die mi- mische Kunst die Erscheinung als Funktionswert der notwendigste , elementarste Ausdruck , der Körper als Bewegungsapparat allein die unentbehrliche Grund- lage ihres Schaffens ist, während die vollrunde Kör- perlichkeit dieses Substrates, die menschliche Gestalt als Erfüllung eines Raumvolumens nur untergeord- nete Bedeutung behält. Die Form als räumlich körperliche Ausdehnung in ruhigem Zustand ist für die Mimik eine Vorstellung von sekundärem Wert. Nicht der Raumwert, sondern der Funktionswert ist ihr die Hauptsache.

i) Hildebrand, dessen VI. Kapitel zum grössten Teil hierher gehört und am besten bei der Lektüre seiner Schrift vorausgenom- men wird.

Plastische Schönheit

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Auf diesem Grunde der Ausdrucksfähigkeit aller Formen für die successive Auffassung in Tätigkeit oder die Vorstellung eines solchen zeitlichen Ver- laufes , die auch von der Form in Ruhe ausgelöst wird, erwächst, erst recht viel später jedenfalls, der Sinn für das, was wir die „plastische Schön- heit" des Menschenleibes nennen,1) bei der die simultane Anschauung der räumlich körperlichen Form des Ganzen eine Hauptrolle zu spielen ver- möchte. Scheint es doch, als wäre diese simultane Auffassung , die aufs Ganze geht , zu Anfang nicht im Stande mehr festzuhalten, als die Vertikalaxe, das nackte Symbol , das etwas von Unsersgleichen bedeuten soll. Die aufgerichtete Stange mit oder ohne Wahrzeichen darauf, höchstens mit dem sum- marischen Abbild des Kopfes, oft nur ein schlanker Steinblock, befriedigt den Antrieb, das Wertvolle zu ergreifen und fest zu bannen, das im Dasein des Körpers gegeben ist, aber im Leben gefährdet und vergänglich bleibt.

Diese Aufrichtung des Höhenlotes , wenn auch noch so abstrakt und schematisch, ist doch schon die Sicherstellung der Grundtatsache , um die es

i) Vgl. hierüber auch den Aufsatz von Th. Lipps, in Nord und Süd, 1888, S. 226 ff. Die Analyse der Körperschönheit in lauter Vorstellungsassociationen geht aber psychologisch meines Erachtens noch nicht weit genug , wenn sie bei Vorstellungen stehen bleibt, sondern muss auf das Gefühl zurückführen, das Körpergefühl (Form- sinn), das im naiven Schaffen wie Geniessen entscheidet. Darin liegt das Recht von Fr. Merkel (Dtsche Rundschau 1888, p. 423 f.), der dieser psychologischen Seite der Frage freilich allzu fern bleibt.

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Mimik und Plastik

der Körperbildnerin zu tun ist, die Heraushebung des bleibenden Bestandes aus all dem mimischen Wechsel und all der Beweglichkeit der Gliedmafsen in ihren besonderen Funktionen. Der Kern des menschlichen Einzelwesens als eines selbständigen Körpers im Raum wird damit konstituiert, das ist der Anfang der Plastik.

Deshalb haben wir uns früher schon gesagt, die Wurzel der plastischen Schöpfung liege in der Höhendimension, die wir gemäss dem eignen Körper- gefühl die erste nennen. *) Mit der Annahme oder Aufrichtung eines Höhenlotes als Dominante des dreidimensionalen Komplexes beginnt die konkrete Gestaltung in irgendwelchem Material. Wo der rohe Steinblock als Surrogat eines eigenen Ge- schöpfes angenommen wird, da ist es ja die Natur, die ,,das Selbstverständliche", d. h. die konstitutive Grundlage des Körpers liefert. Von der eigen- händigen Behandlung des bildsamen Materials da- gegen , das nichts als einen formlosen Brei oder Teig darbietet, von dem primitivsten Kneten und Formen in Thon und Wachs oder dergleichen dürfen wir also viel deutlicheren Aufschluss über die Ent- stehung der konstitutiven Faktoren der Körperlich- keit erwarten, auf die es ankommt. Für die plastische Herstellung grösserer Figuren in Thon wird ja der Haltbarkeit wegen zuerst ein Gerüst aufgebaut und

i) Das Wesen der architektonischen Schöpfung, Leipzig 1893. Der Wert der drei Dimensionen im menschlichen Raumgebilde, Leipzig (Berichte der k. sächs. Gesellschaft der Wiss., 1896 und Heft I dieser Beiträge zur Ästhet, d. bild. Künste. 1896. S. 33.

Thonbildnerei

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dann mit Thon bekleidet, bis es mehr und mehr dem Menschenkörper entspricht. Bei mindergrossen genügt vielleicht eine Mittelstange , d. h. die wirk- liche Aufrichtung des Höhenlotes auf einer Unter- lage, der Basis, die ebenso abstrakt den Boden be- deutet, auf dem dies Abbild stehen soll. Bei noch kleineren fungiert die erste Dimension rein ideell als Richtungsaxe des Wachstums von unten nach oben, die Kopf und Fufsfohlen mit einander ver- bindet, noch ehe das Rückgrat und das paarige Bein- gestell sich geltend machen und voneinander ab- setzen.

„Ich gehe also, so schildert Hildebrand den Vorgang des Modellierens in Thon (S. 1 1 5) selber, dabei vom Gegenstande a) allein aus und ent- wickle ihn allmählich nach aussen und mir entgegen. Da mir von vornherein kein Raumkörper gegenüber steht (wie bei der Bearbeitung des Steinblocks), sondern ich ihn allmählich erzeuge , und zwar nur insoweit als ihn das Bild (Gebild) selber einnimmt, so gehe ich nicht von einer allgemeinen, sondern von einer gegenständlichen Raumvorstellung aus. Ferner, da ich den Thon rings um das Gerüst auf- baue, so bewege ich mich in meiner Vorstellung immer um den Gegenstand herum , d. h. ein be- stimmter Standpunkt dem Gegenstande gegenüber

1) Das heisst eigentlich Gegenstandsvorstellung oder Idee des darzustellenden Gegenstandes. Man lese hier einmal statt Gegen- stand: ,, Höhenlot" oder Mittelaxe", auf die es im obigen Zusam- menhang ankommt.

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Mimik und Plastik

ist mir von Seiten der Manipulation nicht gegeben, noch erzwungen. Im Gegenteil, sie hebt diese Not- wendigkeit auf."

„Der Vorstellungsakt dieser Manipulation fusst und beharrt stets auf der realen Gegenständlichkeit des Bildes (Gebilds), auf der gegebenen Naturform, die sie rund nach allen Seiten hin darstellt, führt aber nicht zu einer ausserhalb des Naturgegen- standes liegenden Gliederung oder Raumvorstellung."

Und warum muss dies geschehen, fragen wir, um den Naturgegenstand, den wir nun einmal, auch in jedem stereometrischen Gebilde unsrer Hand, kraft unsrer verschiedenen Sinne anzuerkennen haben, erst zu einem Kunstwerk zu erheben? Warum darf die künstlerische Durcharbeitung des Körpers auch für das Auge , d. h. die befriedigende Gliederung und klare Raumvorstellung nicht an dem körper- lichen Gebilde haften bleiben, sondern muss „ausser- halb des Naturgegenstandes" liegen? Diese Forde- rung wäre ganz unerklärlich, wenn der Künstler, der hier spricht, nicht die Scheu vor dem Kubischen bekannt hätte, und die reine, von den materiellen Dingen ablösbare, Gesichtsvorstellung allein als die eigentliche Leistung der Kunst betrachtete.

Hier tritt unser Gegensatz zu ihm notwendig am stärksten zu Tage. Gerade diesen Vorgang des Modellierens, wie er selbst ihn schildert, halten wir für den eigentlich entscheidenden und grundlegenden Process der Bildnerei , von dem aus in erster Linie das Problem der Form in der Plastik erklärt werden kann , während bei der Steinskulptur z. B. die

Thonbildnerei

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Schwierigkeiten der Arbeit in härterem Material an mehr als einem Punkt den natürlichen und unmittel- baren Weg des schöpferischen Verfahrens verbieten, zu Kompromissen nötigen und nur auf Umwegen zum eigentlichen Ziel gelangen lassen.

Der mafsgebende Unterschied , durch den wir zum eigensten Wesen der Bildnerei geführt werden, das ihre besondere Bestrebung ein für allemal von dem der Schwester Malerei trennt, liegt grade darin, dass die Manipulation zunächst dem schöpfe- rischen Subjekt, dem Bildner selbst keinen be- stimmten Standpunkt aufzwingt, sondern vielmehr die Notwendigkeit der Wahl und Beschränkung auf einen festen Gesichtspunkt aulhebt; denn dieser vorgeschriebene Standpunkt ist für das ruhige Schauen allein, er ist, wie wir uns gesagt haben, der specifisch malerische Standpunkt. Ihn kann der Bildner bei der Arbeit selbst nicht einnehmen, sondern immer nur nachträglich, sozusagen in Inter- vallen zu kontrolierenden Wirkungsproben. Im Her- vorbringen der realen Form selber ist sein Stand- punkt der des nahen beweglichen und abtastenden Sehens, ja noch mehr des Hantierens, innerhalb der Tastregion, wobei er sich ,,in seiner Vorstellung immer um den Gegenstand herum bewegt". So eben, und nur so allein entsteht unter seiner Hand der dreidimensionale Körper aus dem formlosen Brei. Diese stereometrische Grundlage , an der dann all- mählich der Schein des organischen Gewächses nach unserm Ebenbild gedeihen soll, dieses unentbehr- liche Substrat kann auch der Blinde kraft seines

Schmarsow, Plastik, Malerei u. Relief kunst. c

66 Mimik und Plastik

eigenen Körpergefühls wie der Beschaffenheit und Stellung seiner Hände zueinander hervorbringen. r) Damit steht der Beitrag des Getasts für das plastische Gebild ausser allem Zweifel. Und was Hildebrand als einen Mangel oder eine Schattenseite des Modellierens in Thon ansieht, erscheint uns grade als ursprünglichstes Charakteristikum der Plastik als Kunst. Nicht allein der modellierende Bildner, son- dern das echte bildnerische Schaffen überhaupt „geht nicht von einer allgemeinen Raumvorstellung aus, sondern von der gegenständlichen", d. h. von der Mittelaxe des dreidimensionalen Komplexes, und diese ist das Höhenlot, als gewohnte Dominante unsres eigenen Leibes , nach der wir alle Kreatur beurteilen, der unveräusserliche Grundstock des Einzelwesens. Und von der Vertikalaxe aus ent- wickelt sich die Gestalt allmählich weiter nach aussen, nach allen Seiten ihrem Schöpfer entgegen, wie der Baum sein Gezweig ringsum ausstreckt und sozusagen in das umgebende Raumvolumnen ein- greift, um es zu erfüllen als seinen Raum.

Der specifisch plastische Standpunkt ist also nicht der entfernte , sondern der nahe ; er ist nicht der optische in erster Linie, sondern der taktile, und setzt die Beweglichkeit voraus , die unsere mensch- lichen Tastorgane, an erster Stelle natürlich die Hände , an unsern beiden , im Elbogengelenk aber-

i) Es wäre ausserordentlich lehrreich festzustellen, wie weit die Modellierung unter den Händen Blindgeborener, wie weit noch bei Erblindeten zu gelangen vermag.

Thonbildnerei

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mals und im Schultergelenk wieder relativ dreh- baren , Armen besitzen. Als Ergänzung zu dieser schon ziemlich vielseitigen Behandlung durch den selbst ruhig an seinem Standort oder auf seinem Sitz gar verharrenden Bildner tritt dann, besonders bei grösseren Körpergebilden, die Ortsbewegung um die Vertikalaxe des entstehenden Werkes hinzu ; damit aber vollzieht sich sofort der Übergang zu den Bedingungen der Tektonik und weiter der Architektur, wo die Ortsbewegung des Subjekts die Hauptrolle spielt und das Raumgebilde als Ganzes stets ausser ihm bleibt.

Solange beim Modellieren in Thon oder Wachs die leibliche Berührung mit unsern Tastorganen dauert, ist auch der Vollzug der ästhetischen Grund- tatsache, die Selbstversetzung in das Gebild ein selbstverständlicher, wenn auch noch so unbewusster Vorgang, und eben darin liegt ja der Antrieb zum künstlerischen Schaffen selber, die Erklärung, wes- halb zur konkreten Darstellung eines Abbilds über- gegangen wird.

Deshalb wird diesen frischweg modellierten, mehr oder minder improvisierten und aus Weiterbildung mimischen Gebarens erwachsenen Thonfiguren vor allen Dingen eine Eigenschaft gesichert sein , die ausser der konstitutiven Grundlage menschlicher Konfiguration wol als wichtigste zur Anerkennung des Gebilds als Menschengestalt gelten darf : das ist das Motiv. Die durchgehende Bewegung einer wolbekannten Tätigkeit zu irgend einem Zweck, oder die ausdrucksvolle Haltung in verständlicher

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Mimik und Plastik

Situation, üben schon beim ersten Anblick einen Reiz auf den Beschauer aus, der ihn sofort als un- verkennbare Äusserung innern Lebens in den Um- kreis organischen Daseins, menschlich vertrauter Regungen versetzt. Wie die Gestalt rein körperlich sich von der Mittelaxe nach aussen entfaltet, so dringt der Komplex von Bewegungen in den Glied- mafsen dem Betrachter entgegen. Damit wird auch für den fremden Ankömmling, dem das Bildwerk ins Auge fällt, die Bedingung für die ästhetische Auffassung und für den Genuss als Kunstwerk er- füllt, die für den Urheber selbst die Veranlassung seines bildnerischen Schaffens war. Liegt doch die Woltat, die uns der Künstler dadurch vermitteln kann , nicht sowol in der kühlen Klärung unsrer Gesichtsvorstellung, als vielmehr in dem Zuwachs an Daseinslust und Lebensgefühl , den die Heraus- hebung und Verewigung dieses Wertes als Stärkung und Bestätigung der eignen Selbständigkeit gewährt.

Diese Entfaltung vom Mittelpunkt, dem Sitz des Lebens her, der Abstand eines oder mehrerer Glieder von der Vertikalaxe, in der wir die Einheit des Organismus zu suchen gewohnt sind , scheinen uns wichtiger für den Glauben an das Gebilde von Menschenhand, als die Vollständigkeit des körper- lichen. Ganzen und seine räumliche Klarheit in allen Teilen. Die Lebensäusserung , auf die unser Blick trifft, ruft in uns sofort Erinnerungsbilder, Inner- vationsgefühle wach, die das Wahrzeichen da zum eignen Erlebnis ergänzen. Sie bezieht sich auf so viele Erfahrungen unsrer Tastregion, dass die leib-

Wert des Motivs

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liehe Unterlage als notwendige Voraussetzung, als gewohnter Schauplatz des Vollzugs sich von selbst in unsrer Vorstellung hinzufindet, auch wenn sie in Wirklichkeit nur teilweis, nur andeutungsweise, vor- handen ist. Erst allmählich stellt das Auge, bei er- neutem Verfahren, die Forderung, dass sich die volle Daseinsform ausweise , wie unsre Vorstellung sie vom dargestellten und wiedererkannten Gegen- stande mitbringt. Dieser geläufige Begriff kann selbst noch sehr summarisch und für genaue Rechen- schaft im Einzelnen ganz unzulänglich sein. Erst wenn wir darüber hinausgelangen, wenn konkrete Formeindrücke sich mit dem eignen Körpergefühl erfüllen, erst dann erwächst der plastische Genuss im eigentlichen Sinne. „Und unmittelbar nach jener blitzschnellen Auffassung des Motivs als Äusserung eines organischen Lebewesens leitet sich die Er- scheinung aus der Möglichkeit mimischen Ver- laufes entscheidend über in den Gesichtskreis der plastischen Beharrung",1) wo das ruhig schauende Auge und das beweglich abtastende vollauf gemeinsame Arbeit haben und immer un- ersättlicher sich wetteifernd ablösen.

Nun gelangt die Körperbildnerin unter den Künsten in ihr volles Recht. Damit ist die Schwelle überschritten, die all ihr Dichten und Trachten von der beweglichen Schwesterkunst scheidet. Denn mit dem Übergewicht der räum- lichen Anschauungsform und dem Drang nach Ge-

i) Heft I, S. 32.

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Mimik und Plastik

staltung des Körpers zu bleibendem Bestehen sinken alle Vorstellungen , die sich auf ein zeitliches Ge- schehen , auf den successiven Fortgang einer Tätig- keit beziehen, d. h. die Funktionswerte der Form zu sekundärer Rolle herab. Die Selbständigkeit des auf sich allein beruhenden Körpers wird das Haupt- anliegen, damit er sich zwingend und sicher behaupte im allgemeinen Raum.

Das Alles vermag die Modellierung in Thon so gut zu leisten, wie die andersartige Ausgestaltung in dauerhafterm Material. Und mit Befremden sehen wir, dass Hildebrand diesem primitiven Ver- fahren, in dem wir die unmittelbarste, durch kein Hindernis der Bearbeitung abgelenkte Äusserung des plastischen Sinnes erkennen, nur eine unter- geordnete Stelle anweisen möchte : ,,Das Modellieren in Thon hat seinen Wert beim Studium der Natur, um Bewegungsvorstellungen zu gewinnen und alle Einzelkenntnis der Form zu fördern"; aber? ,, entwickelt aber nicht die künstlerische Einigung des Ganzen als Bild Vorstellung" (120).

,,Beim Modellieren in Thon fehlt positiv im Raum , was nicht modelliert ist , es existiert ausser dem modellierten kein allgemeiner Thon-Raum. Das Modellierte tritt ausserdem in Gegensatz zu der Luft und dem wirklichen realen Raum, so dass das un- fertige Thonbild dadurch noch mehr Positivität er- hält, d. h. als fertiges Bild auftritt. Der Phantasie wird dadurch das Unfertige als Fertiges vorgesetzt. Beim Stein tritt dagegen das unfertige Bild immer nur im Gegensatz zum Steine auf zu einem un-

Thonbildnerei und Steinskulptur

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geformten Element , aus welchem das Unfertige als ein Gewachsenes hervordämmert, weshalb die Fort- setzung seines Wachstums als natürliche Zukunft anmutet. Das Bild gestaltet sich aus dem Räume selber weiter und wirkt nur immer relativ fertig zum Steinhintergrund" (i 1 7).

Es giebt kaum eine Stelle, die so wie diese be- zeugt, dass des Bildhauers persönliches Empfinden durchaus von malerischen Anschaungen ausgeht. Immer die Bildvorstellung, der Augenschein, die Helldunkelwirkung. Selbst der Ausdruck ,,wie ein Gewachsenes" und ,,die Fortsetzung des Wachstums" sind hier nicht in dem Sinne zu verstehen, der sonst dem Plastiker am nächsten liegt, sondern ganz un- eigentlich1), im Sinne eines Hervortauchens, Empor- quellens eines Hellen, deutlich Sichtbaren aus einem Dunkel, das unser Auge nicht durchdringt, oder des Geformten aus dem formlosen Brei , aus dem ,, Nebelraum", wie er weiterhin sich ausdrückt. Das heisst, es ist ein Vergleich, der dem Augengeschöpf, dem feingebildeten, empfindlichen, durch und durch malerisch gewöhnten Sinn des modernen Künstlers geläufig ist, dem die Raumwerte der Erschei- nung, der entfernten, das Vertraute geworden, die Funktionswerte der Glieder, der nahen, tastbaren dagegen entfremdet sind. So begreifen wir, dass

1) Aus der organischen Natur wäre wol am ehesten an Knospen und Blüten auf dem Busch, d. h. die farbigen auf der grünen Folie, oder wenigstens an frischgewachsene hellgrüne Blätter auf der dun- keln Masse des Gewächses zu denken, also auch Farbenkon- traste oder Hell und Dunkel.

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Mimik und Plastik

ihm das Kubische unbehaglich wird , wo es unver- arbeitet durch die harmonische Ausgleichung des malerischen Geschmackes sich selber leibhaftig ihm entgegendrängt.

Da freilich erscheint die Arbeit des Bildners in Stein, wie er sie schildert, ausserordentlich objektiv, nur wie die kühle, klare Wiedergabe einer exakten Beobachtung in ungestörter Ferne, kaum wie Berüh- rung, sondern nur geläutertes" Schauen. Die dar- zustellende Figur soll vor allen Dingen für jede Ansicht die Vorstellung einer einheitlichen Raum- schicht erwecken und somit einen Gesamtraum von klarer Flächeneinheit beschreiben. Wie aber ist dies zu erreichen , wenn der Steinblock in sich diesen Gesamtraum der Figur , oder wie gesagt den mas- siven Raumkörper darbietet?

Dann ist für die eine Hauptsache, die der Thon- bildner erst konstituieren musste , den dreidimen- sionalen Komplex , bereits durch das natürliche Substrat gesorgt, und man begreift, dass vor den eingreifenden und durchgreifenden Händen hier das schauende Auge die Führung für sich beanspruchen mag. Handelt es sich doch gewiss darum, die vor- schwebende Figur in den Steinblock hinein zu schauen. Aber sowie dies vom luftigen Phantasie- akt zur konkreten Rechnung mit dem vorhandenen Volumen übergeht, so stellt sich die Schwierigkeit heraus :

Wenn die freibewegte Figur auch als „enthalten in einem Gesamtraume" gedacht werden kann, „so ist es doch unmöglich von vornherein festzustellen,

Steinskulptur

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wie und wo für jede Ansicht die Figur im Stein zu stehen kommt, da das dreidimensionale Verhältnis der verschiedenen Ansichten untereinander im vor- aus nicht zu bestimmen ist. Deshalb ist ein vor- läufiges Anhauen der Gesamtform unmöglich" (no).

„Es lässt sich nur der eine Weg einschlagen, von einer Ansicht auszugehen und die andern als ihre notwendigen Konsequenzen entstehen zu lassen. Damit ist der Bildhauer gezwungen, seiner kubischen oder Bewegungsvorstellung eine Gesichts- oder Bild- vorstellung zu Grunde zu legen und von dieser aus- zugehen.

„Es wird nötig, dies Bild auf die Hauptfläche des Steines aufzuzeichnen. Indem ich dies Bild in den Stein eingrabe und sowol von der Steinfläche das ausserhalb der Kontouren Liegende entferne, als auch im Innern die Form abstufe, fange ich zu- gleich an , bei den Formen auf das reale Tiefen- mafs , welches der runden Figur zukommt , zu achten . . .

„Das Auslösen des Bildes geschieht beständig nur nach dem Augenbedürfnis , und die Phantasie, die dabei tätig ist, ist stets eine schauende, wie von einem fernen Standpunkt. Es wird sich von selber ergeben, dass das Bild in jedem Stadium ein einheitliches ist, und zwar in dem Sinne einheitlich, als es eine Flächengemeinschaft hat , und die Ein- heit einer Sehgemeinschaft von einem Standpunkte aus trägt, während es eine reale Einheit, als materielle Form, für die verschiedenen Standpunkte noch nicht gewonnen hat" (110 113).

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Mimik und Plastik

„Indem die Figur, als Bildeindruck gefasst, auf diese Weise in die Tiefe fortschreitet, ergeben sich dann auch die Seitenansichten und zuletzt die Rück- ansicht als die notwendigen Konsequenzen."

„Man sieht aus dem so beschriebenen Verlauf der Steinarbeit, dass der Bildhauer dabei von einer Bildvorstellung ausgehen muss und deren Form- vorstellung in wirkliche Bewegungsvorstellung um- setzt" (119).

Bei diesem Bericht über sein Verfahren ver- gisst Hildebrand nur eine Tatsache ausdrücklich an- zuerkennen, auf die wir sogleich im Voraus hin- gewiesen, eben die, dass für diese Steinarbeit der Steinblock selbst das räumlich-körperliche Substrat und damit den dreidimensionalen Komplex geliefert hat. Das ist aber vor allen Dingen die Aufrichtung der Mittelaxe, auf die sich von allen Seiten die An- sichten zubewegen, es ist die Festlegung des Ko- ordinatensystems in diesem Centrum. Das „Selbst- verständliche", das beim Modellieren in Thon erst sozusagen erschaffen werden muss, ist hier gegeben, bereits fertig adoptiert. Das Modellieren in Thon ist im Wesentlichen Additionsverfahren , die Stein- skulptur dagegen ausschliesslich Subtraktion. Die Methode der Letzteren setzt also an einem viel späteren Punkt erst des ganzen Weges ein !

Mit dieser unläugbaren, selbstverständlichen Tatsache hängt aber eine andre zusammen, die einen grundsätzlichen Einwand gegen rein optische Zurechtlegung des Problems der Form in der bil- denden Kunst veranlasst. Erfüllt nun wirklich die

Steinskulptur

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Steinskulptur, fragen wir, die Bedingung, die Hilde- brand beim Modellieren in Thon vermisst, dass der Bildner „von einer allgemeinen Raumvorstel- lung ausgehe", wie dies etwa vom Maler gesagt werden kann? Nur wenn dies wirklich der Fall ist, wie Hildebrand annimmt, können wir ihm auch weiter folgen zu seiner Behauptung, dass die Aufgabe des Bildhauers und des Malers durch dasselbe Vorstel- lungsbedürfnis geleitet werde, und dass in beiden Künsten nur ein und dasselbe Gestaltungsprincip walte" (82).

Auf Grund der Tatsache , dass der Steinblock als massiver Raumkörper von vornherein dem Bild- hauer gegenübersteht, glaube ich, muss die Antwort auf unsere Frage „Nein" lauten. Er geht nicht von einer allgemeinen Raumvorstellung aus, sondern von einem konkreten, durch den gedachten und allmäh- lich auszuhauenden Körper erfüllten Raum oder richtiger gar von einem Massenvolumen. Das Ko- ordinatensystem ist ja bereits im Marmorblock fest lokalisiert und mit demjenigen der darin entstehen- den Figur identisch. Insofern könnte grade vom Thonbildner mit grösserm Recht gesagt werden, ei- gene von einer allgemeinen Raumvorstellung aus und konstituiere darin durch Aufrichtung seines Ge- rüstes den Einzelraum, der wieder nicht ausserhalb der Statue existiert, sondern von vornherein an den darzustellenden Gegenstand gebunden ist. Es ist in beiden Fällen ein Sonderraum , ein allseitig um- gränztes Raum- oder Massen- Volumen, das für den Bildner, der die Gestalt hineinsieht, an diesem Kör-

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Mimik und Plastik

per haftet, von ihm erfüllt und innerlich gegliedert wird. Und deshalb wäre es richtiger zu sagen : die Plastik geht überhaupt nicht von einer Raumvorstel- lung sondern von einer Körpervorstellung aus. Das entspricht ihrem Wesen als Körperbildnerin. Wir sprechen deshalb doch bei dem fertigen Bildwerk von seinem „ästhetischen Raum". Vergegenwärtigen wir uns diesen etwa wie eine Glasglocke , die über die Figur gestülpt, die äussersten Spitzen ihrer Glied- mafsen kaum noch berührt, dann erhellt aus diesem handgreiflichen Experiment wenigstens so- viel, dass die Gestalt durch dies Gehäuse bis auf die Basis von dem allgemeinen Raum isoliert wird. Ihr ästhetischer Raum besteht für sich ; er wird ausser der Gestaltung des plastischen Körpers selbst, den er beherbergt, gar nicht für sich als Raum an- erkannt , übt also auch keinen Einfluss auf die Figur, die sein Träger ist. Ein umgebender Schau- platz , ein Hintergrund , mit eigener Bedeutung für sich neben der Statue , ist nicht vorhanden. Der allgemeine Raum wird von der Behand- lung der Skulptur ausgeschlossen.

Damit aber ergiebt sich zugleich, dass die Raum- vorstellung des Bildhauers nicht dieselbe ist, wie die des Malers. Der Raum, den er mit seiner Gestalt erschaffen und erfüllen soll , wird nicht von dem entfernten Standpunkt gesehen, wie der des Malers, der eben dadurch zur selbständigen Bedeutung als Raumgrösse gelangt und eine Welt für sich be- deutet. Der Gestaltungsraum des Bild- hauers ist ein andrer als der Bildraum

Der Gestaltungsraum des Bildners

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des Malers. Hier liegt unsres Erachtens ein ent- scheidender Irrtum bei Hildebrand vor ; entweder eine Selbsttäuschung beim Beobachten, oder eine Verwechslung zweier Begriffe durch die Bezeichnung mit demselben Wort (Fernbild), genug die Ursache für die ganze Identifizierung der plastischen und der malerischen Aufgabe.

Beschränken wir uns an dieser Stelle , da das Fernbild uns noch weiterhin beschäftigen muss, auf die Charakteristik des Gestaltungsraums, wie er vor dem Bildhauer steht, im Unterschied von dem Bild- raum des Malers, der erst jenseits der Distanzschicht beginnt , wo nur noch unser Auge in die Weite dringt , aber jede körperliche Berührung mit den Dingen aufhört. Dieser Gestaltungsraum, mögen wir dabei an den in Arbeit befindlichen , am besten schon ziemlich weit ausgehauenen , Marmorblock denken, oder an den Autbau der Thonfigur, die mehr oder minder ihre Gliedmafsen uns entgegenstreckt, - dieser massive Raumkörper, also auch das zu- gehörige Raumvolumnen ist, trotz allem Zurück- treten des Bildners zur Kontrole seiner formenden Tätigkeit nach ihrer Wirkung für das Auge, doch unläugbar für die Herstellung der realen Körperlich- keit vorerst ein naher. Er liegt innerhalb der Tast- region und bleibt darin, solange die Arbeit der Hände mit ihren Werkzeugen dauert. Treten wir aber von der angefangenen Figur zurück, soweit es Hildebrand beliebt, so dass die „Bildvorstellung" walten kann, und dass die Ansicht des Fertig- gewordenen „eine einheitliche Raumschicht" dar-

TS

Mimik und Plastik

biete : dann bleibt doch immer die Natur dieses Raumvolumens eine andre als z. B. der Blick in die Landschaft draussen vor dem Fenster. Dieser Gestaltungsraum ist bis zum massiven Kern der dargestellten Formen ringsum durchdrungen vom Tastgefühl des Bildners ; er ist ihm vertraut ge- worden, jemehr er ihn bewältigt. Und dieser Cha- rakter der lebendigen Gliederung, der Durchdringung mit menschlich eigenem Empfinden bleibt auch be- stehen, wenn im Fortschritt zur Vollendung der persönliche Anteil sich auf den Standpunkt des reinen Schauens zurückzieht , wo die Klarheit und Konse- quenz der Gesichtsvorstellung allein, die wir abzu- lösen glauben von ihrem körperlichen Substrat, schon für sich befriedigen und als Woltat genossen werden mag, wo aber zugleich, so sollten wir meinen und so denkt auch Hildebrand selbst , der innigere Genuss des Formgefühls nicht aufhört sein Recht zu behalten. Für den Schöpfer bleibt doch dieser Körper das Geschöpf seiner Hand, bleibt dessen Raumvolumen das Ergebnis seiner verwirklichenden Arbeit, seiner Uebertragung von Bewegungsvor- stellungen und mimischem Gebaren auf den Stein, als wärs ein Stück von ihm.

Die Plastik allein vergleicht sich so nah mit dem Zustand der Gebärerin, mit dem Verhältnis der Mutter zu dem ungeborenen Kinde in ihrem Schofs. Und auch wenn das neue Wesen ausgetragen ist und selbständig werden kann, so gehört es doch immer zum eigenen Stamme, lebt in einer verwandten Sphäre, die sich unserer Tastregion nicht völlig eilt-

Der Gestaltungsraum des Bildners

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fremden kann, so wahr unser eigenstes Körpergefühl das Vehikel unsres Anteils an dem gleichorgani- sierten Gebilde bleibt. Wir können ja nicht sagen, es sei des Bildners eigen „Fleisch und Blut" ; denn die Plastik vermeidet grade diese Bedingungen des organischen Leibes, die Merkmale des Stoffwechsels und der Vergänglichkeit, aus denen sie den bleiben- den Wert befreien will ; aber es besteht zwischen dem Gestaltungsraum des Bildners und seinem lebens- warmen Gefühl doch nicht die Schranke , die der Rahmen des Gemäldes zwischen uns und dem Bild- raum jenseits errichtet.

Die Plastik ist Darstellung unseres organischen Körpers nach seiner bleibenden Bedeutung, also auch ohne Beziehung zu einem umgebenden Raum, der diesen Körper bedingen, beeinträchtigen und in die Abhängigkeit vom allgemeinen Strom des Geschehens hineinziehen könnte. Ihre reinste Aufgabe sollte somit in der statuarischen Kunst anerkannt werden, d. h. im Gebiet der isolierten Rundplastik zunächst.

in.

ISOLIERTE RUNDPLASTIK

UNTER FREIEM HIMMEL ODER IM GESCHLOSSENEN INNENRAUM

ein optische Auffassung des Problems der Form war es , die zur Geringschätzung des Modellierens in Thon gegenüber der Bild-

hauerei in Stein geführt hat, d. h. zu einer Be- urteilung, die schon an sich die Einseitigkeit eines solchen theoretischen Standpunktes verraten muss. Die selbe Scheu des malerisch gewöhnten Blickes vor dem Kubischen, das „zu der Luft und dem wirk- lich realen Raum in Gegensatz tritt", behindert den Künstler auch angesichts der wichtigsten Aufgabe, die heutzutage der Plastik gestellt zu werden pflegt, der runden Figur in der Mitte eines Platzes, das Problem überhaupt so eingehend in Angriff zu nehmen, wie er sollte.

,, Diese unglücklichen Monumente sind gegen- wärtig fast die einzige Bühne, auf der der Bildhauer

Denkmal und Platz

81

seine Phantasie ausleben darf", um so mehr Ver- anlassung, sollten wir meinen, ihm hier vollends zur Klarheit über die verschiedenen Möglichkeiten der Lösung zu verhelfen. In der Mitte eines Platzes sollte jedoch nach Hildebrands Meinung die Statue überhaupt nie stehen, und zwar weil alle Richtungen gleichwertig sind , weil es kein vorn und hinten giebt (S. 100). „Der Beschauer kreist um das Stand- bild herum," heisst es, also ganz ähnlich wie der Bildner selbst beim Modellieren in Thon, „und hat vier Ansichten zu schlucken , was nur bei sehr wenigen Statuen ein Vorteil ist und immer nur bei nackten Figuren ein Genuss sein kann."

„Was ist aber schuld an diesem Aberglauben von der Mitte eines Platzes?" eifert er. „Wiederum die unentwickelte Vorstelluug, welche sich einen Platz gleichsam als organisches Gebilde denkt und damit das Gefühl von organischer Sym- metrie verbindet. Sie fasst ihn als ein an sich Existierendes auf, anstatt ihn sich als gesehen vorzustellen , als ein Ding , was seine künstlerische Existenzberechtigung nur in Bezug auf den Be- schauer hat und von diesem Gesichtspunkte aus behandelt werden muss."

Aber, ohne Zweifel ist doch der Platz zunächst etwas an sich Existierendes, d. h, ein Bestandteil unserer Wirklichkeit, der wir ja nicht ausschliesslich ,,als Augengeschöpfe , sondern mit allen unsern Sinnen" gegenüberstehen. Und es bleibt somit die Frage offen, von wo aus die künstlerische Behand- lung einzusetzen vermag.

Schmarsow, Plastik, Malerei u. Relief kunst. ß

82

Isolierte Rundplastik

Um uns darüber zu verständigen, möchten wir im Voraus eine kleine Berichtigung des obigen Wortlauts vorschlagen , weil ein Missgriff im Aus- druck hier grade den Unterschied der Vorstellungs- kreise verwirrt, auf deren genaue Auseinanderhaltung es ankommt. Statt „organisches Gebilde" sollte es vom Platz wol richtiger „planimetrisches" oder ,, stereometrisches" Gebilde heissen. Das Erstere ist der Platz jedenfalls als mehr oder minder ebene Horizontalfläche von bestimmter Umgränzung, d. h. als Ausschnitt der Erdoberfläche gefasst. Besteht diese Umgränzung aber nicht allein aus Linien, son- dern aus senkrecht aufgerichteten Körpern, von ein- fachen Gränzsteinen (Termini) bis zu Häusern oder sonstigen Bauwerken , die ihn vielleicht mit Strassenmündungen dazwischen - ringsum ein- schliessen, so ist er jedenfalls ein Innenraum unter freiem Himmel , wir denken ihn aber auch oben horizontal begränzt, am ehesten als „stereometrisches" Gebilde. Bei der erstem wie bei der andern Auf- fassung aber waltet keine „organische Symmetrie", bei der es eben ein „vorn und hinten" giebt, son- dern grade die der unorganischen Natur besonders geläufige „centrale Symmetrie", wie in einem krystalli- nischen Gebilde, und wir denken sie am ehesten wol planimetrisch wie im flachen Schneestern oder stereometrisch allseitig gerichtet wie im regelmässigen Polyeder, wie im Diamanten.

Künstlerisch aufgefasst ist der Platz zunächst ein Raumgebilde und gehört als solches der Archi- tektur an. Diese fasst ihn mit vollem Recht als

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Der Platz als Raumgebilde §3

„ein an sich Existierendes" auf, d. h. als etwas, das sich nicht allein als Gesehenes , sondern auch für andre Sinne noch als ausser uns Vorhandenes be- währen kann, indem wir mit unsern Füssen darauf stehen, mit unsern Beinen darüber hin schreiten, das Gerassel der Wagen darauf hören usw. Die Be- ziehung des menschlichen Subjekts zu diesem Raumgebilde wird nur dann eine vollständige sein, wenn es den Standpunkt einnimmt, den ihm die centrale Symmetrie, wo sie vorhanden ist, oder der Schnittpunkt der Koordinatenaxen anweist, d. h. wenn es sich selbst in den Mittelpunkt versetzt, ob nun allein in der Vorstellung oder in Wirklichkeit. *) Im letztern Falle zeigt sich aber wiederum der Unter- schied der ,, organischen Symmetrie", die der Be- schauer mitbringt mitsamt dem Vorn und Hinten seines eigenen organischen Leibes. Durch Drehung um die Vertikalaxe muss er das Hindernis seiner Organisation mit ausgemachter Vorderseite aufheben, um wenigstens nach einander alle Seiten des Platzes ringsum zu erschauen. Das heisst, damit wird die simultane Anschauung aufgehoben und die successive tritt an die Stelle. Diese herrscht auch überall sonst, wohin immer das menschliche Subjekt in seiner Ortsbewegung sich begebe. Immer wird dann ausser- dem nur ein Teil des ganzen Raumgebildes von ihm erfasst, und erst die Vorstellung vollzieht die

i) Vgl. Gottfried Semper, Der Stil, Prolegomena, bei Be- sprechung der Symmetrie und ,,Eurhythmie" (nach seiner Definition, auf deren Zulässigkeit es hier nicht ankommt).

6*

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84 Isolierte Rundplastik

Synthesis dieser mit Bewegungsvorstellungen ver- knüpften Teilanschauungen zu einem Ganzen. Die Auffassung des menschlichen Subjekts mit seiner ausgesprochenen Vorderseite, nach der sich die Richtung seines Sehens nicht nur, sondern auch seines Gehens und jeglicher. Hantierung gewohn- heitsmässig bestimmt, wirkt weiter. Sowie die eine Ausdehnung des Platzes über die andre überwiegt, so verlegen wir die entscheidende Richtungsaxe gern in die grössere Axe, und es ergiebt, wie wir sehen werden, für die optische Auffassung einen wesent- lichen Unterschied, wenn in solchem Oblongum die Richtungsaxe mit ihrem Vorn und Hinten nicht in die längere, sondern in die kürzere Axe verlegt wird.

Nehmen wir zunächst jedoch einen mehr oder minder vollkommen symmetrisch angelegten Platz mit annähernd gleichen Durchmessern an und stellen in der Mitte ein Standbild auf. Dann räumen wir diesem statuarischen Ebenbild des Menschen den Standpunkt ein, der dem menschlichen Subjekt in diesem Raumgebilde zukommt, sowie wir es als künstlerische Schöpfung, d. h. als Werk der Städte- bauerin Architektur auffassen. Jedenfalls gestehen wir der dargestellten Person das Vorrecht zu , den einzigen Ort einzunehmen , wo eine vollständige Orientierung über die innere Gesetzmässigkeit der Platzanlage möglich ist, von wo aus allein der Be- trachter den ganzen Umkreis beherrscht. Alle leben- digen Menschen werden dadurch in Wirklichkeit auf die Seite gedrängt, in die zweite Kategorie herab- gedrückt, auf die transitorische Teilauffassung des

Das Mal als Körper

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Platzes beschränkt. Der Platz selbst wird für sie zum Durchgangsraum, sie mögen noch so lange dort herumstehen ; er wird zum Kreuzweg des Verkehrs auf den ein- und ausmündenden Strassen. Es sei denn, dass sie sich in der Vorstellung auf den über- legenen Standpunkt der Mittelfigur erheben, oder vielmehr noch über das Haupt der Statue hinaus, zur Vogelperspektive. In dieser Verbesserung , die wir soeben anbringen, prägt sich schon ein wich- tiger Unterschied aus. Versetzen wir uns in die Statue, die menschliche Gestalt, so ziehen wir damit auch die feste Richtung ihrer Vorderseite wie ihrer Rückseite an ; sie kann die Drehung um die eigne Axe nicht mitmachen , die der Lebende vollziehen würde. Erst der ideale Standpunkt darüber ge- währt diese Beweglichkeit wieder. Das rein ideale Vorrecht, die Möglichkeit künstlerischer Auffassung des Platzes als Raumgebilde , geht also nicht ver- loren , wenn die Mitte tatsächlich durch ein Monu- ment eingenommen wird, sie wird sogar betont, er- leichtert , ja erzwungen durch diese Aufrichtung eines Mals an dieser Stelle. Ein solches Mal, denken wir zunächst an irgendwelchen ringsum gleichmässig , d. h. polygonal oder gar cylindrisch behauenen Stein, oder an einen Obelisken; einen tektonischen Körper ohne figürliche Zutat und ohne jede Andeutung einer bevorzugten Vorderseite, es ist ein krystallinisches allseitig gerichtetes Gebilde, wie der Platz selbst, und versinnlicht eben dadurch die allseitige Korresponsion mit der Umgränzung dieses Platzes. Es ist der verkörperte Ausdruck

86

Isolierte Rundplastik

des Verhältnisses , das , so simultan nur in unserer Vorstellung, zwischen dem menschlichen Subjekt und dem beharrlichen Raumgebilde ringsum existiert. Es erfüllt so die Forderung Hildebrands, der Platz müsse „als ein Ding vorgestellt werden, was seine künstlerische Existenzberechtigung nur in Bezug auf den Beschauer hat und von diesem (hier allerdings noch ganz abstrakten) Gesichtspunkt aus behandelt werden muss". Das Mal weist dem menschlichen Subjekt auf dem Platze den entscheidenden Punkt an, den idealen Standpunkt, der die Auffassung des Ganzen als Raumgebilde vermittelt.

Dies ist also der architektonische Stand- punkt. Ihm entspricht auch durch die allseitige Be- ziehungsmöglichkeit ein andres vielleicht noch primi- tiveres Symbol : die aufgerichtete Stange mit dem runden Topf darauf. Es erinnert durch die Ana- logie dieser bekrönenden Form schon zwingender an den menschlichen Kopf, giebt indess den Körper darunter sozusagen nur in abstracto, doch aber das Wichtigste davon, das hier entscheidet, die Mittel- axe, das Höhenlot als Dominante. -Und diese wird, wenn sie nur in richtigem Verhältnis zu der Um- gebung auftritt, hier auch zur Dominante des Platzes.. Die gleichartige Rundung des Topfes erhöht die Be- deutung des Korrelats nach allen Seiten ringsum, da poetische Phantasie willig ergänzend zu Hilfe kommt. Sowie wir statt dieses neutral gerundeten Topfes eine Gesichtsurne auf die Stange setzen, oder auf den Bauch des vorhandenen Gefässes ein Augen- paar malen, so wird die Analogie mit dem mensch-

Tektonischer und plastischer Bestandteil

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liehen Kopf nicht nur bestimmter herausgefordert, sondern auch die Gränze der Tektonik überschritten. Die einseitige Orientierung durch die Herübernahme des Vorn und Hinten vom Menschenkopf bringt für die wirklichkeitsgemässe Auffassung zunächst auch das Bedürfnis der Drehbarkeit hervor, und insofern ist für den naiven Menschen der drehbare Topf aut seiner Stange ,, vollkommener", als der einseitig ge- richtete festsitzende Kopf der Statue auf dem ebenso nach vorn gerichteten Körper. Denn der naive Mensch weiss poetische Illusion und anschauliche Darstellung noch nicht zu trennen.

Damit haben wir die beiden Bestandteile , aus denen ein solches Monument in der Mitte eines Platzes zu bestehen pflegt, den teklonischen und den figürlichen (im engern Sinne plastischen), Sockel und Statue, jeden für sich in ihrem innersten Gegensatz charakterisiert. Der Sockel sorgt, so lange er allseitig gerichtet, wie ein krystallinisches Gebilde behandelt ist, für die architektonische Auffassung des Platzes ringsum. Dieser stereometrische Unter- satz leistet aber ausserdem der Plastik einen Dienst, indem er ihr menschenähnliches Gebilde , das den Eindruck eines organischen Wesens gleich uns her- vorrufen will , doch über das Niveau des daher- kommenden Beschauers hinaushebt und damit grade jene naive Verwechslung des Standbildes mit Unsers- gleichen verbietet, die vom Kopfe wie vom Topfe die Drehbarkeit um die Vertikalaxe verlangt. Der Sockel weist also dem Beschauer den richtigen Stand- punkt an , der ihn zur ästhetischen Auf-

SS

Isolierte Rundplastik

fassung der Statue zwingt. Dieser Standpunkt liegt zunächst nur unter dem Niveau der Basis , auf der sich die Figur erhebt. Er ist auch nicht fest- gelegt, sondern ringsum verschiebbar. Auch der ästhetische Betrachter des rundplastischen Werkes mag um das Standbild kreisen, und hat, wie Hilde- brand spottet, „vier Ansichten zu schlucken", ja vielleicht noch mehr, wie in den Tagen Berninis deren acht. Vor allen Dingen aber hat er nicht allein mit seinen Augen Wahrnehmungsakte von verschiedenen Seiten zu vollziehen, oder sich abzu- mühen, eine klare Gesichtsvorstellung zu gewinnen, sondern wieder einen Akt der reinen Vorstellung, wie beim Platze selbst, indem er alle wirklichen, für seinen eignen Körper möglichen Standpunkte rings um das Monument aufhebt und sich mitten hinein- versetzt in die Vertikalaxe des Gebildes , in das Centrum des Gesamtkörpers , das wir Denkmal nennen. Versetzt er sich , auf dem eigenen Niveau verharrend, kraft seiner Vorstellung in den Sockel, so nimmt er zu dem Platz zunächst den architek- tonischen Standpunkt ein. Ueber seinem Niveau aber steht die Statue, ein zweites Subjekt, Seines- gleichen, nur mit dem Unterschied eben der Hinaushebung über die Bedingungen der Erd- oberfläche , wie sie in Wirklichkeit für alle Körper auf dem Platze, vor allen für die Lebewesen wie der Beschauer, bestehen. Es ist ein Aufschwung, und zwar aus diesen Bedingungen menschlicher Leiblich- keit, aus der Befangenheit im Stoffwechsel und Allem, was er mit sich bringt, wie Notdurft und

Die plastische Auffassung

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Nahrung der geborenen Kreatur , wenn die Vor- stellung nun aus der Höhe des Sockels hinaufsteigt auf die Basis der Figur und sich hineinversetzt in diese menschliche Gestalt. Dann ist die Gefahr allzu vollständiger Illusion überwunden , die Ver- wechslung mit der alltäglichen Menschennatur für dies Abbild abgestreift ; immer aber ist es ein orga- nisches Gewächs nach unserm Ebenbilde, in das die Vorstellung eingeht. Das heisst : der ästhetische Standpunkt, den wir mit diesem Akt der Selbstver- setzung einnehmen, ist der plastische Stand- punkt.

Die plastische Auffassung allein erschliesst uns die körperliche Entfaltung von der Mittelaxe aus, die durch den Kopf geht und das aufrechte Rück- grat darunter; sie lässt uns die Stellung der Glied- mafsen zu dem Rumpfe kraft unsers eignen Körper- gefühls nachfühlen, und verstehen, was grade dieser festgehaltene Bewegungskomplex bedeutet , den die Künstlersprache das Motiv der Statue zu nennen pflegt. Unter dem plastischen Gesichtspunkt herrscht hier auch die organische Symmetrie mit der be- stimmten Unterscheidung des Vorn und Hinten, zwischen denen die beiden Seiten, links und rechts, vermittelnd die organische Einheit aufrechterhalten, als deren Wahrzeichen uns am sichtbarsten jeden- falls der Kopf zu sprechen scheint. Die plastische Auffassung der Gestalt als organisches Gebilde be- ruhigt sich aber, jemehr sie von dieser summarischen Anerkennung der wirksamsten Kennzeichen zu der Versenkung in den ganzen Körper übergeht und die

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Isolierte Rundplastik

Zusammengehörigkeit aller seiner Teile zum Ganzen nacherlebt, grade nicht bei der einen bevorzugten Vorderseite , sondern fordert auch die andern drei als mehr oder minder unentbehrliche Ergänzung. Je stärker die Richtung des Willens oder des Aus- drucks nach vorn betont, die Gliedmafsen und das Antlitz in lebhaftem Spiel zusammenwirken, desto entschiedener wird auch der Anspruch an die Rück- seite , die Einheit des organischen Gewächses in seiner Selbständigkeit zu betonen , das Bestehen in ruhiger Beharrung als Einzelwesen gesichert darzu- tun, und desto notwendiger wird zwischen diesen Gegensätzen gesteigerter Bewegtheit und nachdrück- lichen Zusammenhalts, zwischen Vorder- und Rück- seite , die ausgleichende und überzeugende Ver- bindung auf der rechten wie der linken Hälfte des Körpers. Die vier Ansichten, die wir von einander sondern mögen, wenn wir uns darum bemühen, einigen sich aber nicht allein , indem sie auf dem Grunde des eignen Körpergefühls unvermerkt und notwendig zusammenfliessen , sondern werden auch in der Region geläuterter Vorstellungen sicher von der stillen Arbeit dieser zu einem Ganzen zusammen- gewoben, das in seiner überlegenen Synthesis auch Bewegungsvorstellungen und Gesichtsvorstellungen unter Aufhebung jeder quälenden Diskrepanz zu ver- binden weiss.

Nur eine Schwierigkeit ist in den tatsächlichen Bedingungen eines weiten Platzes gegeben, der vom Bildwerk selber entgegengewirkt werden muss, da- mit der Verlauf dieser Vorstellungsreihe sofort richtig

Sichtbarkeit der organischen Form

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einsetze. Die plastische Auffassung verlangt , wie wir uns gesagt haben, den näheren Standpunkt, den wir Körpern gegenüber einzunehmen pflegen , die der Sphäre unsers menschlichen Mafsstabes ange- hören , und dessen wir nicht entraten können, wo es gilt uns über das Verhältnis ihrer Grösse , ihres Volumens und ihrer sonstigen Beschaffenheit im Ver- gleich zu uns Rechenschaft zu geben. Stellen wir uns doch den Menschen selbst, auch wo er uns in weiter Ferne, also in sehr verjüngtem Mafsstab er- scheint , stets in normaler Lebensgrösse vor. Ist nun der Platz mit dem Denkmal in der Mitte von beträchtlichem Umfang , so nimmt der Beschauer, der ihn soeben betritt, nicht den der Plastik eigen- tümlichen Standpunkt in angemessener Nähe ein, sondern einen entfernteren, von dem aus er zunächst nur ein Flächenbild der Figur empfängt. Nur wenn dieses sofort die richtige Gegenstandsvorstellung aus- löst, d. h. die entscheidenden Merkmale der Men- schengestalt vermittelt, und keine Verwechslung mit andern Dingen zulässt, vermag auch die ästhetische Auffassung von der Körpervorstellung auszugehen und alle Associationen unseres Körpergefühls wach- zurufen , deren sie zur Auslegung des Bildes im plastischen Sinne bedarf. Deshalb gehört es zu den unentbehrlichsten Eigenschaften eines Standbildes unter freiem Himmel , dass es auch für weiten Ab- stand noch die Wahrzeichen der Form unseres orga- nischen Leibes auf den ersten Blick erkennen lasse. „Diese Klarlegung kann durch eine deutlich spre- chende Begränzung, durch ein Silhouettbild ge-

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Isolierte Rundplastik

schehen. Das klare Silhouettbild ist das weitest tragende Gegenstandsbild. Aus dem Bedürfnis der Fernwirkung haben die Griechen meistens ein klares Silhouettbild zur Gegenstandsklärung gebraucht", bemerkt Hildebrand gelegentlich an andrer Stelle (S. 79) und hebt hervor, dass dies Verfahren bei Bronzewerken erstrecht notwendig ist, weil in Folge der dunkeln Farbe die innere Form zu schwach spricht. Sowie aber die innere Gliederung zu wir- ken beginnt , sind es die Gelenke , über die wir Rechenschaft verlangen. Für den Gesamtumriss wie für die Hauptgliederung wird es also auf die frap- pante Klarheit des Motivs ankommen , das uns mit einem Schlage in die Sphäre des persönlichen Da- seins versetzt.

Nun aber bilden die Statue und der Sockel zu- sammen ein Ganzes , das ein Gesamtumriss um- schreibt, und dessen beide Bestandteile sich demge- mäss mit einander ausgleichen mögen, sei es mehr im tektonischen Sinne nach Mafsgabe des Sockels, sei es mehr im plastischen Sinne nach Mafsgabe der Statue. Die stereometrische Grundform des Unter- satzes wird auch den organischen Körper darauf im Sinne dieser gesetzmäfsigen Bildung beeinflussen und seine Bewegung in dem Umriss einer pyramidalen Bekrönung zusammenhalten, und zwar je weiter der Platz, je höher seine Umgebung, also auch das Mal in seiner Mitte. Unzweifelhaft hat die Architektur als Gestalterin des ganzen Raumgebildes das Recht, die Durchbildung des Monumentes im Einvernehmen mit ihrem Hausgesetz zu verlangen; denn es ist und

Sockel und Statue

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bleibt in erster Linie ein tektonischer , von allen Seiten sichtbarer Körper. Die Architeklur ist also nicht nur „ein blos dienendes Glied für die Plastik" (S. 97), indem sie den Sockel liefert, sondern sie leistet schon durch diesen Aufbau der Schwester- kunst einen viel höhern ästhetischen Dienst, wie ihn nur die Bundesgenossin zu leisten vermag, und wo immer der architektonische Standpunkt für das Ver- hältnis des Beschauers der mafsgebende bleiben muss, da bleibt sie die Herrin der Situation. Mit dem Zusammenhalt des Umrisses auch im Stand- bild, den sie verlangt, kann aber auch der Plastiker nur einverstanden sein unter freiem Himmel, wo das Licht in der Höhe sonst so leicht die Formen auf- zehrt, sobald sie sich vereinzeln, wo also nur die Masse sich behaupten kann ; vorausgesetzt bleibt freilich, dass dadurch sein Hauptanliegen die Kennt- lichkeit der Gestalt als Ebenbild des Menschen nicht leide.

Das Verhältnis zwischen dem menschlichen Sub- jekt und dem Platze ändert sich jedoch mit der ab- nehmenden Grösse, indem sich der Abstand zwischen Monument und Umgebung ringsum den Bedingungen wenn auch immer noch grosser Innenräume nähert. Je niedriger die Bauwerke oder die sonstige Ein- fassung umher, desto weniger braucht auch das Mal in seiner Mitte über die Köpfe der Vorübergehen- den hinaufzusteigen ; desto absehbarer bleibt die Höhe der Figur. Nicht allein das Auge vermag sich eingehender auf die Einzelheiten der Form und des Ausdrucks einzulassen, sondern das organische

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Gebilde rückt auch der Tastregion des Betrachters näher und gestattet damit dem Körpergefühl , sich vertraulicher einzuleben , als wenn es sich bei der summarischen Erscheinung aus der Ferne mit ein paar entscheidenden Merkmalen und energisch her- ausgetriebenen Hauptzügen bescheiden muss. Je stärker dies Mitgefühl mit dem gleichorganisierten Wesen dort oben durch die Annäherung an die lebenden Besucher sich geltend machen kann, desto grösser wird das Anrecht des plastischen Stand- punktes neben dem architektonischen. Rücken die Bauwerke der Umgebung , auch nur einzelne , dem Monument so nahe, dass wir auch sie nicht über- wiegend als fortlaufende Wand in einer Reihe, son- dern als Einzelkörper aufzufassen veranlasst, oder durch Gruppen von solchen erst zur innern Um- gränzung des Platzes übergeleitet werden, so wird sogar die Plastik die vollberechtigte Herrin der Situation in dem innern Umkreis der tektonischen und der specifisch plastischen Körper, die dort den Gesetzen der unorganischen, hier der organischen Natur gemäfs vorgestellt sein wollen. Und zwar, je mehr diese tektonischen Körper durch die pla- stische Ausarbeitung ihrer Bauglieder ,, durchorgani- siert" sind, desto mannichfaltiger wird auch die Verwandtschaft mit dem Standbild sich, gestalten. Das heisst, auch der allseitig gerichtete Sockel wird sich dem Einfluss des organischen Wesens darauf nicht entziehen. Er mag sich durch weichere Pro- file und Kurven im Aufstieg den Umriss- und Be- wegungslinien des menschlichen Körpers beträchtlich

Sockel und Statue

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nähern. Der Unterschied des Vorn und Hinten, der in der Statue vorhanden ist, mag sich gar auf den Untersatz ausdehnen. Und diese Bevorzugung einer Vorderseite wird um so leichter und berechtigter sich einstellen , wenn die Form des Platzes schon eine Hauptaxe vorwalten lässt, d. h. sich dem Ob- longum nähert und durch die Richtung des Ver- kehrs mehr als Fortsetzung einer, sich zeitweilig nur verbreiternden , Strasse , denn als Sammelplatz zu längerem Aufenthalt erscheint. Verlangt aber dieser Verkehr auch die Rücksicht auf die entgegengesetzte Richtung, also auf die zuströmenden Menschen, die das Mal zuerst von der Rückseite des Standbildes gewahren , so wird unter der Vorherrschaft plasti- scher Auffassung bei den sonstigen Verhältnissen auch das Bedürfnis gespürt werden, an dieser ruhige- ren Rückseite der Figur lebendigen Ersatz zu schaf- fen , und je weniger sie selber einen Zuwachs an Bewegung vertragen mag, getrost am Sockel die Ergänzung zu bieten, lassen wir vorerst dahin gestellt, ob dies in starkem Relief oder in voller Rundplastik geschehen könne. x)

Damit aber berühren wir schon einen andern Anspruch des vorübergehenden Betrachters, der wieder durch eine andre Grundform des Platzes vollends hervorgetrieben wird. Wenn die Hauptaxe

i) Damit man aber dies Offenhalten der Möglichkeiten nicht als Verteidigung aller modernen Lösungen auslege, muss ich schon hier erklären, dass ich mit Hildebrands Verurteilung des Grabmals von Canova (S. 95 f.) ganz übereinstimme , eben weil die Idee nur als Relief künstlerisch befriedigend ausgestattet werden konnte.

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Isolierte Rundplastik

des Verkehrs nicht mit der Hauptaxe des Platzes zusammen fällt, oder wenn die Hauptader in der Mitte der einen Langseite des Oblongum mündet, während die gegenüberliegende Parallelseite ge- schlossen, keinen nennenswerten Durchgang ge- stattet, dann überwiegt die Breitenausdehnung, und die Aufforderung, auch während die Menge sich nach beiden Seiten verteilt schon, zu ruhigerem Ver- weilen wird fühlbar. Das Monument, das in der Mitte eines solchen Breitenplatzes steht, mit dem Hintergrund von Baulichkeiten in mäfsigem Abstand, oder deren zwei inmitten der seitlichen Abschnitte links und rechts von der Richtungsaxe des Zugangs, sie alle unterliegen nun auch andern Bedingungen. Dem Betrachter wird ein fester Standpunkt, mehr oder minder zwingend schon durch die Verhältnisse des Platzes, dem Monument gegenüber angewiesen. Sein verweilendes Schauen umfasst Körper und Raum zugleich; Bildwerk und Hintergrund gehen zu einem Gesichtseindruck zusammen, wie ein Bild.

Nun erst sind wir auf dem Standpunkt an- gelangt, den Hildebrand seiner Betrachtung zu Grunde legt. Dies aber ist weder der architekto- nische noch der specifisch plastische Standpunkt, son- dern seinem Wesen nach, so lang er fest bleibt, sicher der Standpunkt der malerischen Auffassung1). Jetzt stellen wir den umgebenden Ausschnitt des Platzes , den der Hintergrund abschliesst , eben nur

i) Vgl. hierzu Heft II dieser Beiträge p. 15 ff. und Beispiele in Rom, S. 234. 240 ff.

Malerischer Standpunkt

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als ,, gesehen" vor und verlangen seine künstlerische Behandlung mitsamt dem darinstehenden Monument ,,von diesem Gesichtspunkt aus", d.h. als Bild. Aber es ist doch nicht zu läugnen, dass diese gemeinsame Behandlung, die über Beides hingeht, schon die Existenz des Platzes als Raumgebilde, d. h. als archi- tektonische Schöpfung, und die Existenz des Stand- bildes als Körper, d. h. als plastische Schöpfung, voraussetzt und nur darauf ausgehen kann , beide Faktoren unter sich auseinanderzusetzen resp. mit- einander auszugleichen, beide nach den Forderungen einer dritten Instanz, des ,, ruhig schauenden Auges", im Sinne der Bildwirkung zu modificieren, gleich gut, ob dies bei der Entstehung schon oder erst nachträglich wenigstens für den Platz gewöhnlich erst dann geschehen könne.

Damit erst wäre ,,der Bann der isolierten Rund- plastik" aufgehoben, den Hildebrand als einen un- glaublichen Zustand der modernen Denkmalstiftung geisseif, weil ,,ihr jeder Anschluss an Architektur, an irgend eine Situation verboten sei, wie in Einzel- haft, die reine Sträflingsarbeit!" ,,Das, was aber der Kunst immer neues Leben zuführt und sie immer freudig macht, ist die neue Situation." Die gegebene Situation der Wirklichkeit , sei diese durch die Natur entstanden und den Zufall, oder durch menschliche Ordnung also durch die Schwesterkunst Architektur geschaffen, ,,zu einer künstlerischen Gestalt weiter zu formen, führt immer zu Neuem innerhalb der künstlerischen Gesetze."

Nach unsrer obigen Betrachtung muss es jedoch

Schmarsow, Plastik, Malerei u. Relief kunst. y

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Isolierte Rundplastik

klar sein, dass dieser Ausgleichungsprocess zwischen einer vorhandenen Situation und einem neu hinzu- kommenden Bestandteil, zwischen Architektur und Standbild, oder die Weiterformung beider zu einer künstlerischen Erscheinung, wie Hildebrand sie im Auge hat, nicht mehr vom architektonischen Stand- punkt aus das Ganze des Platzes umfasst , sondern nur eine Teilbehandlung ist, die sich allein auf den Hintergrund des Monumentes , oder auf den Aus- schnitt in seiner Nachbarschaft mit erstreckt, soweit es gewissermafsen eingerahmt wird. Diese Weiter- formung zu künstlerischer Gestalt geschähe dann vom plastischen oder vom malerischen Standpunkt aus, die wir unterscheiden, während Hildebrand nur einen und den selben, der bildenden Kunst, der Malerei und Plastik gemeinsamen erkennt.

Der Unterschied liegt unsres Erachtens eben darin, ob die Körpervorstellung, von der die Plastik ausgeht , das Übergewicht behält , oder ob dem ge- meinsamen, die Körper in sich aufnehmenden Räume die Macht einer sie alle beeinflussenden Sphäre zu- gestanden wird , also die Bildvorstellung die Ober- hand bekommt. Wie wir am Schluss des vorigen Kapitels ausgeführt , zieht die statuarische Kunst den umgebenden Raum nicht mit in ihre Behandlung hinein, macht ihn nicht ausser und neben ihrer plastischen Gestalt zum Gegenstand der Darstellung. Es kann sich, wo dies verlangt wird, also nur um einen Ubergang in andere Bedingungen handeln. Es ist ein weiteres Problem der Form.

Das gemeinsame Problem

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Nachdem wir so die verschiedenen Möglich- keiten, dem Platz mit seinem Monument künstlerisch beizukommen, mit Hülfe strenger Unterscheidung dreier dabei entscheidender Standpunkte nachge- wiesen, und uns bemüht haben, die architektonische, die plastische und die malerische Auffassung streng auseinander zu halten, drängt sich die Frage nach befriedigendem Ausgleich zwischen diesen geson- derten Ansprüchen auf. Wie ist überhaupt eine einheitliche Lösung des Problems für alle denkbar?

Stellen wir uns neben das Monument, so er- fassen wir den Platz ringsum als Raumgebilde , als architektonische Schöpfung. Das Kunstwerk in seiner Mitte wirkt neben uns nur als Mal, als tektonischer Körper, wie die Säule des Tempels, wenn ich neben ihr auf dem Stylobat des Peristyls, im Intervall der Reihe stehend, hinausschaue ins Land. Ein Körper rechts, ein Körper links neben mir kommt zum Ge- fühl ; aber seine Ausgestaltung kommt nicht voll in Be- tracht, ob stereometrisch regelmässig, ob organischer nach unserm Ebenbild. Drehe ich doch dem Monu- ment bei der Umschau über den Platz ebenso un- bedenklich den Rücken, so dass es nur als Rück- halt, als fester Ausgangspunkt der räumlichen Orien- tierung noch hinter mir gefühlt werden mag. Seine Form ist gleichgiltig : ein Prellstein wirkt ebenso wie ein Obelisk, und ein Standbild nicht mehr, so- bald sich mein Blick von ihm abgezogen und gegen die Weite hinaus gerichtet hat. Je mehr ich aber auf einem dieser Standpunkte des innersten Um- kreises verweile , und , statt ringsum zu blicken , im

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Isolierte Rundplastik

Ausschauen der einen, vor mir liegenden Seite des Platzes ausruhe, desto mehr beginnt die [begränzende Häuserreihe drüben, oder welche Körpermassen sonst dort gegenüberstehen, sich als Flächenbild geltend zu machen, desto fühlbarer wird der Übergang vom architektonischen zum malerischen Schauen.

Wende ich mich dagegen um, auf das Monu- ment zu, so fällt mir der plastische Körper zuerst ins Auge, und das plastische Sehen, das Abtasten der Form mit den Blicken tritt in sein Recht. Vom Sockel steigen wir auf die Höhe des Standbildes, und im Streben, die Bildung des organischen Ge- schöpfes vollends durchzufühlen, erweitern wir den Abstand vom Male, bis wir es ganz überschauen. Der Umkreis dieses Abstandes wird uns ,wol durch eine horizontale Abstufung ringsum schon vor- gezeichnet, durch Einfriedigung des unbetretbaren innersten Bezirks noch zwingender anheimgegeben. So nehmen wir von diesen Gränzen her die vor- gesehenen Ansichten der Statue nach einander auf. Aber diese Entfernung ist immer noch relativ ge- ring. Es ist kein Fernbild , das sich darbietet , wie das der Malerei. Es fehlt vor allen Dingen die feste Umrahmung an den Seiten der Figur, und vollends oben darüber. Es ist also keine Bildansicht, die in diesen Gränzen ihrer Ausdehnung auch die Bildeinheit als Forderung erhübe, wie beim Werk des Malers.

Wird aber die Entfernung noch grösser, kommen wir also von der äussersten Umgränzung des Platzes her, durch eine der einmündenden Strassen etwa, zum ersten Anblick des Standbildes, so macht sich

Das gemeinsame Problem

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der Platz als Raumgebilde jedenfalls neben dem monumentalen Körper geltend, - - je weiter er sich ausdehnt, desto überlegener gar als umfassende Grösse. Dann ordnet sich das Standbild wieder ein in die Umgebung, wird ein Teil der Gesamtheit, die wir als Bild sich vor uns ausbreiten sehen. Dann aber kommt seine Wirkung als plastische Schöpfung zu kurz. Es gewinnt sie erst wieder, Schritt für Schritt , indem wir uns nähern , bis zu dem Umkreis des geheiligten Bezirkes, der auf dem gemeinsamen Boden schon dem durchlaufenden Ver- kehr entzogen ward , oder von unserm Auge leicht als die Schwelle des plastischen Genusses gefunden wird. Der Abstand ist nah genug auch für tastendes Sehen, aber schon entfernt genug, um die wirkliche Auseinandersetzung mit unsern Tastorganen oder gar Druck und Stoss unsers Leibes nicht mehr heraus- zufordern. Die ästhetische Aufnahme des Kunstwerks, das die Plastik geschaffen, vollzieht sich mit Hülfe unsrer Augen allein; aber die ästhetische Aufnahme des Kunstwerks, das die Architektur geschaffen, braucht als Hülfe jedenfalls die Ortsbewegung unseres Leibes. Und das Monument, das durch die Aufstellung auf dem Platz zu einem Bestandteil dieses Raumgebildes geworden , appelliert als Körper in der architekto- nischen Schöpfung jedenfalls, wie der Sockel unter der Statue selbst, an die nämliche Hülfe vom leben- digen Subjekt, und damit zugleich an die Erfah- rungen des eigenen Leibes , an die Grundlagen unserer räumlich körperlichen Orientierung innerhalb der Tastregion, die uns umgiebt.

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Isolierte Rundplastik

An der Gränze, wo wir uns über diese hinaus- heben, liegt das gemeinsame künstlerische Problem, um das es sich handelt. Aber wir dürfen nie ver- gessen, dass wir zu diesem Aufschwung des reinen Schauens eben der festeren Unterlage bedürfen, die dabei gleichsam als Sprungbrett dient , also sicher vorhanden sein muss.

Das Gemeinsame für alle möglichen Standpunkte der künstlerischen Verarbeitung ist nicht, wie Hilde- brand meint, die Bildvorstellung, sondern allein der Vollzug der Tiefenbewegung, die auch ohne ein- rahmende Begränzung, wie das Bild sie fordert, im freien Raum des Platzes, in der ganzen Weite unse- res natürlichen Sehraumes sich ausdehnen kann. Im Vollzug der Tiefenbewegung vollzieht sich die ästhe- tische Aufnahme des Raumes und der Körper über- haupt, durch sie erst wird das Werk des Künstlers zum Erlebnis des Betrachters. So weit hat Hilde- brand das Richtige sicher gefühlt , wenn er sie als Vehikel der Einheit erkennt; aber seine Verwechs- lung des plastischen Problems mit dem malerischen des Fernbildes brauchen wir deshalb noch nicht mit- zumachen.

Das Geheimnis liegt in der Entstehung der dritten Dimension für den Menschen selber be- schlossen. Ortsbewegung und Tasterfahrung, die Auseinandersetzung mit den Dingen um uns her im nächsten Umkreis unserer Tastregion, sind die Grundlage , auf der auch der Anspruch des Auges auf eine weitere Konsequenz der Raumtiefe über die Gränze dieser Region hinaus erwächst. Bei der

Entstehung der Tiefenschau

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Ortsbewegimg auf unsern Füssen nehmen wir ja das Raumvolumen unseres Körpers mit von Ort zu Ort, wie die Schnecke ihr Gehäuse. Deshalb geben wir auch unserm körperlichen Ebenbild, der Statue, ihr zugehöriges Raumvolumen mit als ihren ästhetischen Raum und anerkennen dies unsichtbare Gehäuse als Gränze des isolierten Gebilds. Durch kontinuier- liche Wiederholung unseres Raumvolumens entsteht ja Schritt für Schritt auch das Raumgebilde , das der Mensch als sein Gehäuse, seinen Spielraum um sich herstellt : die architektonische Schöpfung. Ihre natürlichste Mafseinheit ist das eigne Raumvolumen des Menschenleibes selber. Bei unsrer Ortsbewegung auf dem gemeinsamen Boden hin nehmen wir aber noch ein weiteres Raumvolumen mit, unsere Tast- sphäre , die sich ringsum ausdehnt , soweit unsere Arme reichen. Auf diesen Umkreis beschränkt sich die nächste grundlegende Auseinandersetzung mit den Dingen der Aussenwelt, in ihm erwachsen die Grundbegriffe unsrer räumlichen Orientierung, also auch die Elemente der dreidimensionalen Auffassung. Hier objektivieren sich die beiden ersten Dimen- sionen ; die Höhe als Merkmal jedes Objekts neben uns , ausser uns ; die zweite Dimension als Weite über unsern eignen Leib hinaus, also auch sie neben uns, dann ausser uns. Der Gegenstand, der ausser der unentbehrlichsten Eigenschaft der Höhe auch noch Breite hat , drängt uns diese Ausdehnung, so lange wir nicht sehen, nur auf, wenn wir mit unsern tastenden Händen daran nach beiden Seiten hinaus- fahren , oder aber , indem wir mit unserm ganzen

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Isolierte Rundplastik

Körper also in Ortsbewegung daran entlang gleiten. So wird aus der Breite schon im Vollzug nach einer Richtung die Länge, d. h. indem wir die gewohnte Vorwärtsbewegung darauf anwenden. Und diese Vorwärtsbewegung ergiebt eigentlich die dritte Di- mension, die vor uns liegende Tiefe. Weil wir ge- wohnt sind, vorwärts zu gehen , vorwärts zu tasten nach etwa entgegenstehenden Hindernissen auf dem Wege, die wir als Gegenstände anerkennen müssen, eben w7eil sie uns Widerstand leisten, ebendeshalb postuliert auch das Auge , sowie es über den Wir- kungskreis der Tastorgane hinaus als weiteres Hülfs- mittel der Orientierung hinzukommt, die weitere Er- streckung in der nämlichen Richtung, vor uns hin. Die dritte Dimension geht also immer vom Subjekt aus und bleibt als Bewegung nach vorwärts auch im Schauen fühlbar; deshalb erleben wir in ihr erst die bis dahin zweidimensionale Auseinandersetzung der Gegenstände vor uns in vollem räumlichen Sinne. Deshalb übersetzen wir Alles, was wir ermessen wollen, in die Richtung vor uns her, selbst die Aus- dehnung in der Breite , die quer vor uns zu liegen scheint, indem wir sie von einem Ende bis zum andern mit unserm Blick verfolgen, sie absehen, in- dem wir uns punktuell an den Anfang versetzen und den Weg des Punktes in der Linie durchmachen wie eigene Ortsbewegung unsres Leibes nach vorn zu, auf das Ziel hin.

Deshalb müssen wir auch jedes räumlich-körper- liche Kunstwerk, also den Platz als Raumgebilde der Baukunst, wie das Standbild darauf als Körper-

Dynamik der ästhetischen Aufnahme

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gebilde der Plastik, im Vollzug der Tiefenbewegung erst an uns erleben , um es geniessen zu können. So erklärt sich psychologisch als natürlicher Akt, was der Künstler fordert : wir sollten alle Raum- und Körperwerte von vorn nach hinten ablesen. Die Tiefenbewegung, die von uns ausgeht und nach vorwärts dringt, entspricht also dem innewohnenden Bedürfnis des menschlichen Subjekts , ist ein An- spruch der ästhetischen Aufnahme als solcher. Aber diese Tiefenbewegung, wenn sie im reinen Schauen schon zum Erlebnis werden soll, setzt, ebenso im Objekte selbst einen bestimmten Grad des Wider- standes, d. h. die konstitutiven Eigenschaften kubi- bischer Körperlichkeit ausser uns voraus; denn sonst könnte die psychische Dynamik des Erlebens und Geniessens nicht entstehen. Die Gegenstände , an denen unser Blick , die Tiefe postulierend , entlang gleitet, müssen sich fühlbar an ihrem Ort im Raum behaupten, und zwar nicht nur zweidimensional als Silhouetten, etwa wie ausgeschnittene Pappdeckel und Kulissen auf der Bühne, nicht flach erscheinen, obgleich sie kubisch sind, sondern eher umgekehrt, womöglich kubisch wirken, selbst wenn sie flach sind; denn was bedeutet der Ausdruck ,, entlang gleiten", den der Künstler selber wählt, anders, als den Vollzug der Bewegung an einer Gränze hin, die sich wie die Richtung des Vorwärtsdringens selber in der dritten Dimension erstreckt , grade in der Tiefe selbst eine Reihe von Intensitätswerten, steigenden und wieder absetzenden Widerstands im Nacheinander geltend macht?

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Isolierte Rundplastik

Im Ausgleich des objektiven Entgegenstehens, ja Entgegendringens und des subjektiven Vorwärts- dringens zum fühlbaren Vollzug des Tiefendranges, darin liegt die Einheit der Lösung für das künst- lerische Gesamtproblem, das den ganzen Raum des Platzes als „ideelle Raumeinheit" und die volle Kör- perlichkeit des Standbildes darin umspannt. Ob für den schweifenden Blick oder das ruhige Schauen, es ist ein rhythmischer Verlauf der Bewegung, und die Lösung des künstlerischen Problems ist Eurhyth- mie der Raum- und Körperwerte für das menschliche Subjekt.

Gehen wir zur Klärung weiterer Möglichkeiten zunächst zur Betrachtung der isolierten Rundplastik im Innenraum über. Mannichfaltige Vermittlungen liegen zwischen dem Platz unter freiem Himmel und dem geschlossenen Innenraum. Ein Binnenhof nähert sich schon den Verhältnissen eines grossen Sales, indem er noch immer Licht und Luft der Aussenwelt teilt; die Cella eines Hypäthraltempels drängt diese Bedingungen schon sehr in die Enge; Galerien, deren Arkaden sich ins Freie öffnen , verbinden die Be- leuchtung unter freiem Himmel mit den dämpfenden Schatten ihrer Wölbung oder Decke. Der ge- schlossene Innenraum aber bietet je nach der An- lage die verschiedensten Grade der Helligkeit und nicht selten mehr als eine Richtung der Lichtzufuhr, die den Charakter bestimmen und bei der An-

Im geschlossenen Innenraum

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bringung jeglichen Bildwerks in Betracht kommen müssen.

Die Kunst des Bildners übernimmt wol auch hier wie am Aussenbau ,,die Rolle von Füllungen oder Krönungen des architektonischen Ganzen und wird zu einem architektonischen Teil desselben," wie Hildebrand sich ausdrückt. Ihre Beiträge zum Ganzen gehören also in die nämliche Region wie die Bau- glieder, die Säulen und Pfeiler, die Arkaden und Simse selbst, nur dass diese abstrakter gebildet sind und in ihrer Grundform die Darstellung organischer Geschöpfe als Ganzes vermeiden. Wir nennen des- halb dies ganze Gebiet, das den Gesetzen der Archi- tektur unterworfen ist, tektonische Plastik, oder gar Bauskulptur.

Ausserhalb dieses notwendigen Zusammenhanges mit der Raumbildung und der plastischen Organi- sation ihrer Glieder kann indessen der Innenraum noch zur Aufstellung plastischer Bildwerke dienen, die als solche den Anspruch selbständigen Bestehens erheben und damit in erster Linie nicht vom archi- tektonischen , sondern vom echt plastischen Stand- punkt aufgefasst sein wollen. Es ist die ästhetische Betrachtung organischer Lebewesen, die sie er- heischen und mit Recht verlangen dürfen. Durch ihre Aufstellung im architektonischen Raumgebilde jedoch geraten sie in ein Verhältnis zu diesem, dem Innenraum, gleich dem Menschen, der darin eingeht oder darin wohnt. Mehr als das Ganze jedoch ist es die nächste Nachbarschaft, die an ihrer festen Stelle eine Beziehung zu ihnen gewinnt, sei es

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Isolierte Rundplastik

nur als Folie, von der sie sich abheben, oder als Hintergrund , der zu ihnen zu gehören scheint , sei es gar von mehreren Seiten , oder endlich als Aus- schnitt aus dem Ganzen , der sie wie ein Hohlraum mit offener Vorderseite oder gar als vollständiges Gehäuse umgiebt. Da scheiden sich wieder die verschiedenen Standpunkte. Der architektonische fasst sie nur als Körper im ganzen Innenraum auf und fragt, wie weit sie den Gesamteindruck der Raumschöpfung als solcher alterieren, oder sich künstlerisch , d. h. architektonisch mit diesem um- gebenden Raumgebilde auseinandersetzen. Sowie es sich um Teilauffassung gegenüber dem Raumganzen handelt, nur ein Ausschnitt des Innern mit in Rech- nung kommt , so treten die andern Standpunkte in ihr Recht. Unserer Überzeugung nach ist eben der specifisch plastische der nähere Standpunkt, immer geneigt das Bildwerk als Einzelgebilde oder Gruppe zu isolieren , der specifisch malerische Standpunkt dagegen der umfassendere, auf den Raumausschnitt zuerst und dann erst auf die Körper als Bestandteile darin gerichtete, d. h. entferntere. Auch der Archi- tekt selber vermag sie einzunehmen : als Tektoniker ist ihm der plastische, als Raumschöpfer der male- rische ja leicht zugänglich, zumal da, wo es sich auch um farbige Gesamtwirkung handelt.1)

Er wird die Bildsäule, die in seinem Raum auf- gestellt wird , zunächst nicht anders betrachten als

I) Vgl. hierzu Max Klinger, Malerei und Zeichnung. 3. Auf- lage. S. 18 ff. und Heft I dieser Beiträge S. 85 ff.

Standort des Bildwerks

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die Säule oder ein anderes tektonisches Gebilde, nur dass sie nicht als dienendes Glied sich der Ord- nung des Aufbaues selber einfügt, sondern frei auf- ragend auch etwas für sich bedeuten will. Aber die Wahrzeichen des organischen Geschöpfes , der Menschengestalt mit all ihrem Anspruch an das lebendige Gefühl, sind doch ein neuer Faktor, der diese Zutat zu seinem Raum in die Kategorie des Bewohners treten lässt , und da begegnet sich die Auffassung mit derjenigen der plastischen Kunst. Das Standbild des Menschen, oder gar eines Gottes, misst den Raum nach dem Mafsstab seines eigenen Körpers. Man denke sich den olympischen Zeus, wie er in seinem Tempel tronte , und daneben die vornehme Römerin oder einen von den Komödien- dichtern auf ihrem Stul im zugehörigen Sale, und versuche die Bildwerke miteinander auszutauschen, um auch des Unterschieds inne zu werden, den ihre Wirkung auf die Räumlichkeit mit sich bringt. Das liegt aber nicht allein an Kolossalität und Normal- grösse, sondern auch an der dynamischen Äusserung des Charakters.

In dem Mittelpunkt oder überhaupt in der Rich- tungsaxe des Innenraumes vertragen wir ein tekto- nisches Gebild mit seiner allseitigen Richtung oder unpersönlichen Neutralität auch eher, als eine Statue von einigermafsen menschlicher Proportion. Und zwar wird dieses Gefühl um so stärker sich geltend machen, je mehr der Raum zum lebendigen Ver- kehr, zum Wohnen gar bestimmt ist. Ward die Halle selbst für die Lebenden geschaffen, so müssen

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Isolierte Rundplastik

auch die Bildwerke aus der Mittelregion , aus dem Bannkreis der Lebensaxe weichen. Damit aber rücken sie naturgemäss aus den Bedingungen der isolierten Rundplastik heraus, die wir vorerst allein betrachten, und treten in die Wandregion, die ihren Einfluss, wenn auch nur als Folie, auf sie ausübt.

Sowie wir aber in dem näheren Umkreis des Bewohners, den solch ein Innenraum darbietet, die Bildwerke unter das Menschenmafs verkleinern, so mindern sich auch alle Ansprüche der Körper als Unsersgleichen, und sie stören nicht mehr.

,,Im geschlossenen Raum, wo der Standpunkt ein näherer ist, sagt deshalb auch Hildebrand, wird die Sachlage eine andere (als unter freiem Himmel). Hier kann die innere Form den Gegenstand ver- deutlichen" (S. 80). ,,Bei geringerer Distanz besitzen wir ein kleineres Sehfeld, und da es nach dem Rande zu verschwommen ist, und seine Kraft im Centrum liegt, so darf das, was den Gegenstand verdeutlicht, nicht am Rande, sondern muss nach der Mitte des Sehfeldes zu liegen. Das Mittel der klaren Silhouette verlangt einen weitern Standpunkt, wo wir sie leicht überblicken können. In der Nähe aber, wo die Figur mehr und mehr das ganze Sehfeld einnimmt oder gar überragt, dürfen wir nicht der Auskunft, welche die Begränzung uns giebt , benötigen , son- dern wir müssen umgekehrt sie entbehren können. Das hat dazu geführt, in solchem Fall die Begrän- zung möglichst ruhig eine Gesamtmasse umschliessen zu lassen", damit die Figur desto einheitlicher er-

Plastisches Sehen

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scheine. „Der näher angenommene Standpunkt spricht sich deshalb in der Gestaltung der Figur dadurch aus , dass das Silhouettbild zu einer ganz beruhigten allgemeinen Begränzung wird."

„Bei den Bronzen, bei denen die Innenformen niemals so deutlich reden , um die Silhouette ent- behren zu können, treibt der künstlerische Instinkt dazu, den Mafsstab soweit zu verkleinern, dass die Silhouettwirkung noch klar ins Sehfeld falle. Die Bronze als Silhouettbild verlangt für den nahen' Standpunkt einen kleinern Mafsstab als die Marmor- figur von geschlossener Begränzung."

Aus allen diesen lehrreichen Beobachtungen Hildebrands selbst geht aber hervor, dass der eigent- lich plastische Standpunkt, für den es auf die volle Ausdrucksfähigkeit der Körperform ankommt , eben im näheren Umkreis gesucht werden muss und nicht jenseits der Distanzschicht, von der unser Auge nur an sich flächenhafte Bilder empfängt ; denn die Ent- fernung ist es immer, im Freien wie im Innenraum, die Gegenmafsregeln erheischt.

Rücken wir dagegen auf den entfernteren Stand- punkt, den Hildebrand allein als den künstlerischen anerkennen will, so erscheint uns, solange wir im Innenraume selber bleiben, immer nur ein Teil mit seinen plastischen Bildwerken darin als ein Raum- ganzes für sich , wie der Architekt und der Maler es anzuschauen gewohnt sind , und von denen we- nigstens der Erstere gefragt sein will , wie weit er dem Bildhauer gestatten kann, die umgebende Situa- tion seines Bildwerks mit in seine künstlerische Be-

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Isolierte Rundplastik

handlung hineinzuziehen. Unser Führer selbst zeigt uns freilich den Weg, wie wir diesen Gesichtsein- druck des Raumausschnittes mit Bildwerk wieder in einen eminent bildnerischen verwandeln können, indem wir ihn nicht als Raumgebilde, wie der Ar- chitekt, nicht als Bildraum, wie der Maler, auslegen, sondern als Gestaltungsraum, dessen Charakter wir oben darin gesucht haben, dass er mit bildnerischen Bewegungsvorstellungen durchdrungen und mit deren Niederschlag, der plastischen Gliederung, durch- setzt sei.

,, Unter einem Raumganzen verstehen wir den Raum als dreidimensionale Ausdehnung," schreibt Hildebrand, »das nach den drei Dimensionen sich bewegen können oder bewegen« unserer Vorstel- lung; sein Wesentliches ist die Kontinuität. Stellen wir uns deshalb das Raumganze vor wie eine Wassermasse , in die wir Gefässe senken und dadurch Einzelvolumina abgränzen als die bestimm- ten geformten Einzelkörper, ohne die Vorstellung der kontinuierlichen Wassermasse zu verlieren." Dieses Raumganze müssen wir uns also vorstellen „als einen Hohlraum, welcher zum Teil durch die Einzelvolumina der Gegenstände, zum Teil durch den Luftkörper erfüllt ist.1) Er existiert nicht als ein von aussen begränzter, sondern als ein von innen belebter." Wir könnten Hildebrands Absicht

i) S. 34 lautet es allerdings „so müssen wir vorerst dieses Naturvolumen plastisch vorstellen als einen Hohlraum", sollte jedoch wol richtiger „Stereo metrisch" heissen.

Im geschlossenen Innenraum

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vielleicht noch damit zu Hülfe kommen, dass wir uns den Innenraum selbst zunächst möglichst ab- strakt, etwa als Raumgebilde von Glaswänden, d. h. als gläsernes Parallelepipedon, oder auch mit einer vollends offenen Seite nach vorn , wie in kleinerm Mafsstab eine krystallene Puppenstube dächten; denn an einem Bauwerk kommt für den Menschen im Innenraum nicht sowol die äusserliche Begränzung in Betracht als vielmehr die Beschaffenheit der innern Gränzen, d. h. der Wandflächen, der Decke, des Fussbodens in ihrer Undurchsichtigkeit, Färbung und stofflichen Wirkung sonst, und grade diese Be- gränzung nach aussen für das Auge gilt es aufzu- heben für das Verfahren, in dem wir dem Führer folgen.

,,Wenn nun die Begränzung oder Form des Gegenstandes auf sein Volumen hinweist, so ist es möglich, durch die Zusammenstellung von Gegen- ständen die Vorstellung eines durch sie begränzten Luftvolumens zu erwecken. Denn im Grunde ist die Begränzung des Gegenstandes auch eine Be- gränzung des ihn umgebenden Luftkörpers. Es frägt sich alsdann, wie die Gegenstände angeordnet werden, damit die Bewegungsvorstellung,1) welche durch sie angeregt wird, nicht ver-

I) Bewegungsvorstellungen beruhen aber, nach Hildebrand S. 10, auf dem abtastenden Sehen vom nahen Standpunkt und bil- den das Material des Form-Sehens und Form- Vorstellens ; sie sind keine Gesichtsvorstellungen. Und die Intention, Bewegungsvorstel- lungen anzuregen , die hier vorausgesetzt wird , entspricht demnach sicher dem Interesse des plastischen Formgefühls.

Schmarsow, Plastik, Malerei u. Relief kunst. 8

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einzelt bleibt, sondern fortgeleitet wird und, sich mit einer andern verbindend, weiter und weiter nach allen Dimensionen hin den allgemeinen (= gemein- samen) Raum durchwandert , so dass wir an der Hand solcher Bewegungsvorstellungen das ganze Volumen oder den allgemeinen Raum durchleben und als Ganzes und Lückenloses auffassen. Es handelt sich also darum , mit den Gegenständen einen Gesamtraum aufzubauen, sozusagen ein Be- wegungsgerüst zu schaffen, welches, obschon durch- brochen, uns dennoch ein kontinuierliches Ge- samtvolumen deutlich macht. Dadurch wird der Einzelgegenstand zu einem Bauteile und erhält seine Stelle im Hohlraum aus dem Gesichtspunkte der allgemeinen Raumentwicklung und seiner Fähig- keit, die Raumvorstellung zu erwecken und weiter zu leiten."

„Soweit haben wir uns diesen Gerüstbau pla- stisch klar gemacht," schliesst Hildebrand diese wich- tige Darlegung. Richtiger dürfte er allerdings vor- erst den Ausdruck ,, tektonisch " statt plastisch brauchen, da er von Bauteilen redet, bei denen es zunächst noch unentschieden bleibt , wie weit sie sich den Formen der organischen Natur nähern oder wirklich plastische Bildwerke im engern Sinne dar- stellen. Das Wichtigste an dem geschilderten Ver- fahren ist aber das beiden Kategorieen Gemeinsame, die Körperlichkeit dieser Gegenstände, und das Aus- gehen der ganzen künstlerischen Ökonomie von diesen plastisch-tektonischen Körpern, durch deren Anordnungen im Verhältnis zu einander die Vorstel-

Ein Innenraum als Gestaltungsraum

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lung des mit ihnen besetzten Gestaltungsraumes ge- wonnen wird. Es ist dies der umgekehrte Weg, den die Architektur als Raumschöpferin einschlägt, und wird zum Unterschied von diesem Hervorgehen des ganzen Processes aus der Raumvorstellung sel- ber, am besten als tektonisches Verfahren, tekto- nischer Aufbau bezeichnet. Es ist der zweite , der Plastik zugewandte Teil der Architektur , den man mit der Definition der Baukunst als ,,die Kunst kör- perlicher Massen" fälschlich auf das Ganze ausge- dehnt hat, dessen schöpferischer Kern und psycho- logische Begründung damit nicht getroffen werden. Gilt es aber die Eigenart dieser künstlerischen Auf- fassung mit einem Worte zu bezeichnen, die von der Körperlichkeit der Dinge ausgehend, nach Ana- logie des eigenen Körpergefühls allein die räumliche Ausdehnung und deren Kontinuität erfasst , so ist Hildebrands Ausdruck plastisch" durchaus ent- sprechend, besonders wenn es sich um die Formen- welt unsres organischen Leibes, um Gestalten nach dem Ebenbild des Menschen handelt. Es ist die specifische Auffassung des plastisch fühlenden und denkenden Menschen, die Eigenart der Körperbild- nerin unter den Künsten , und das Verfahren der „Artes plasticae" im engern Sinn damit charakteri- siert. Das Raumganze, von dem hier die Rede ist, wird damit zum Gestaltungsraum des Bildners. Fra- gen wir uns aber, worauf dies eigentlich beruht, so lautet die Antwort : es geschah, indem wir den ent- fernten Standpunkt des ruhigen Schauens, den wir einnahmen, kraft unsrer Vorstellung mit dem nähe-

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Isolierte Rundplastik

ren Standpunkt des abtastenden Sehens vertausch- ten, durch das allein wir Bewegungsvorstellungen gewinnen und das Material für unser Formsehen, für unser plastisches Formgefühl erlangen. Es müsste also auch mit dieser Grundlage zunächst auszukommen sein, wenn es gilt, das eigenste Ver- fahren der Plastik in Übereinstimmung mit sich selbst zu finden.

Grade hiervon jedoch wendet Hildebrand sich ab. ,,Da wir ihn (diesen Gerüstbau aus Körpern) aber als Erscheinung fürs Auge erfassen sol- len, so handelt es sich dabei um eine Anordnung der Gegenstände, insofern diese als Erscheinung die Bewegungsvorstellung fortführen. So tritt das, was beim Einzelkörper als Modellierung fürs Auge geschieht, auch wieder durch die Einzelkörper fürs Ganze in Kraft. Dadurch wird das Ganze ein ebenso zusammenhängender modellierter Raumkör- per, wie der Einzelkörper an sich", (35) d. h. lediglich durch den Augenschein.

Soweit vermöchten wir zu folgen, wenn es nun erlaubt würde , auf den geschlossenen Innenraum anzuwenden, was oben über die Lösung des gemein- samen Problems auf dem Platz unter freiem Himmel gesagt worden ist. In der Tiefenbewegung des Blickes vollzieht sich auch hier der rhythmische Ausgleich zwischen dem Widerstand der Körper und dem Vorwärtsdringen des schauenden Subjekts mit seiner Raumvorstellung.

Indess dem Künstler, der hier redet, ist mehr an der Analogie mit dem malerischen Problem gelegen :

Gestaltungsraum und Bildraum

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„Bei der Darstellung handelt es sich ja grade dar- um, durch die hervorgebrachte Erscheinung und nur durch sie diese Vorstellung des Raumes zu er- wecken. Bei dem engen Rahmen des Bildes, den spärlichen und stabilen Mitteln, die nur durchs Auge und nur in beschränkter Weise wirken kön- nen, muss der Künstler" wir denken gewiss in erster Linie beim eingerahmten Bilde nur an den Maler ! ,,sich klar sein, was es für Konstellationen in der Erscheinung sind, die am unfehlbarsten, am zwingendsten im Beschauer dies Raumgefühl, diese elementarste Wirkung der Natur erzeugen."

Das ist freilich wieder ein Appell an das Gefühl des Künstlers wie des Beschauers, also bis in die Regionen des Unbewussten hinab ; damit ist aber auch die Aufgabe der Malerei, und zwar im Sinne des Realismus, klar ausgesprochen, und es handelt sich nicht mehr um den Gestaltungsraum des Bildhauers , geschweige denn um das Volumen der isolierten Rundfigur, sondern um den Bild räum des Malers, oder was mit diesem zu wetteifern ver- sucht, der Reliefkunst.

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IV.

DIE PLASTISCHE GRUPPE

^ra wischen dem Standpunkt des Bildners und dem des Malers , wie wir sie heute klar auseinander zu halten und begrifflich scharf zu definieren vermögen, indem wir bei jedem das entwickelte Stadium seiner Kunst ins Auge fassen, wo diese ihrer eigenen Natur bewusst geworden und ihre besondre Aufgabe kennt wie ihre besondern Mittel handhabt, liegt selbstverständlich ein ganz allmählicher Übergang. Das ist beim naiven Schaffen zumal , das wir stets in erster Linie berücksichtigen müssen, nicht anders als notwendig. Vielleicht hat sich dieser Übergang sogar, wie geschichtliche Tat- sachen nahe legen, von beiden Seiten her vollzogen. Und es kann sowol für den Ästhetiker, der ehrlich zu verstehen sucht, wie für den Kunstrichter, der zu urteilen drängt, nur heilsam sein, beide Möglich- keiten des Weges an der Hand von Beispielen ein- mal genauer zu verfolgen.

Wesen der Plastik

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Wir halten uns vorerst an den plastischen Künstler, der von der Körpervorstellung ausgeht. Es fragt sich, wie kann seine Auffassung der mensch- lichen Gestalt allein ganz natürlich, fast unmerklich in die malerische Anschauungsweise übergleiten?

Dem Schöpfer des isolierten Standbildes , wie wir es soeben betrachtet haben , liegt nur die Dar- stellung der menschlichen Körperform am Herzen. Die organische Einheit dieses selbständigen, der freien Bewegung teilhaftigen Geschöpfes wiederzu- geben, und den Wert dieses körperlichen Daseins in seiner Unabhängigkeit festzuhalten , ist sein Ver- langen. Deshalb streift er Alles ab , was Notdurft und Nahrung unseres Leibes an Symptomen weiterer Zusammenhänge mit der umgebenden Natur und an Kennzeichen des inneren Stoffwechsels , der Ver- änderung und Vergänglichkeit mit sich bringen. Er bevorzugt das dauerhafte Material, um desto sicherer die volle Schönheit des Gewächses , sei es in dem Reiz der knospenden Jugend , sei es in der Blüte der eben erreichten Vollendung, sei es in der Voll- kraft des Lebenskampfes, heraus zu retten aus dem unaufhaltsamen Wandel aller Kreatur und aus dem forteilenden Strom des Geschehens umher. Deshalb versteht es sich für das gesunde und einfache Ge- fühl ganz von selbst, dass dies Einzelwesen in glück- lichster Befriedigung dem Künstler eine Welt für sich allein bedeutet , die nichts , garnichts mit einer weitern Umgebung zu schaffen hat, sondern völlig auf sich selber beruht. Das Auge dieses plastischen Schöpfers kennt also keinen Raum , als den der

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Die plastische Gruppe

Träger des leiblichen Daseins , die Menschengestalt selber entfaltet. Eine schmale Basis bedeutet den allgemeinen Grund und Boden, ihr höheres Niveau über dem unsrigen nur die Aufhebung der ,,dira necessitas", der wir alle unterliegen. So wird sein reines Abbild unabhängigen Selbstgefühls , im wol- geförmten Körper von unsrer Art, zum erquickenden Vorbild unserer gleichen Sehnsucht, unseres ver- wandten, aber bedingten Strebens , wird zum Ideal der Befangenen , Ringenden , Gehemmten im Men- schendasein selber, ja zum Gotte derer, die den Wert gekostet haben und wieder entweichen sehen.

Sowie dieser Gott, zu dem die Gläubigen im Tempel wallen, ihren Gebeten Gewährung winkt, sowie nur eine leise Neigung verrät, dass die olym- pische Selbstgenügsamkeit einer menschlichen Rüh- rung zugänglich geworden, so tritt wie beim Lebenden im Blick des Auges schon die Be- ziehung zu Tage , und im Marmorbilde prägt ein dauerndes Verhältnis zu andern Wesen, ja zu den Ansprüchen zeitlichen Geschehens sich aus. Die Statue erscheint sofort an eine bestimmte Situation gebunden , die unsre Phantasie hinzuergänzen muss um ihr wertvolles Dasein nachzuerleben, und solche Association ist schon ein Übergang zu dem weiteren Postulat , auch die andre Hälfte des Verhältnisses mit dargestellt zu sehen.

Nicht allein die Haltung, die ein Ziel voraus- setzt , die Gebärde , die aus der isolierten Sphäre des Einzelwesens hinausgreift in die Gemeinschaft andrer , auch die Tätigkeiten , die sich auf einen

Übergang zum Malerischen

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andern Gegenstand richten, wie das Bearbeiten des Bodens mit dem Spaten, das Pflücken einer Frucht vom Baum, das Haschen einer Eidechse am Fels, bringen die Gestalt in solche Verbindung, die ihre Unabhängigkeit beeinträchtigen kann. Schon der Baumstamm oder Felsblock, der neben der Figur aus der Basis aufragt, um vielleicht nur Halt zu ge- währen, erweitert durch seine Gegenwart den sonst un bezeichneten Raum der Statue und lockt die Anschauung über diese selbst hinaus in die um- gebende Welt, die sich die Vorstellung bereitwillig „ausmalt".

Selbst im Gewände giebt es einen durch- greifenden Unterschied. Die rein plastisch gedachte Bekleidung unterstützt die Unabhängigkeit der Figur; sie wird so lange wie möglich der Einheit des organischen Geschöpfes sich unterordnen, dieser für sich allein zu zeugen gestatten, indem sie vom Boden zurückweicht , wo es gilt auf eignen Füssen zu stehen. Wo das Gewand , auch das leichteste Manteltuch nachschleppt über die Basis hin, da lässt es nicht nur eine voraufgegangene Bewegung nach- wirken, also ein zeitliches Moment hineinspielen, das wir hinzudichten, sondern auch den Zusammenhang mit dem Erdboden hervortreten, an dem so ein Teil der Erscheinung haften bleibt. Ein nachflatternder Zipfel oben, oder gar eine schwebende Blähung des Schleiers stellen, als Wirkungen der Luftbewegung oder des entgegenkommenden Windes, die Gestalt vollends in die Bedingungen der umgebenden Welt hinein, die leicht ihre weiteren Konsequenzen, erst

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Die plastische Gruppe

in der Phantasie, dann in der Darstellung selber, nach sich zieht. Das heisst : nur das zusammen- gehaltene, dem Gesetz des selber sich bewegenden Leibes allein folgende und seiner Form sich an- schliessende Gewand ist rein plastisch , das weiter wallende, sich selbst oder andern Einflüssen als dem des Trägers anheimgegeben , wird unfehlbar erst zum unorganischen Stoff und dann zur malerischen Draperie.

So liegt in der Statue als Ebenbild des Menschen selber nach allen Seiten hin der Antrieb , in Be- ziehungen zur umgebenden Natur oder zur mensch- lichen Gesellschaft überzutreten, deren Zuwachs die Mittel der Plastik bald zu Nebenzwecken in An- spruch nimmt, deren Erfüllung wieder den Sinn ihrer ursprünglichen Aufgabe gefährdet. Am zahl- reichsten sind diese Verlockungen auf dem Gebiet der Motive, wo die Schwesterkunst Mimik mit ihrem Drang nach ausdrucksvoller Bewegung und nach dem ganzen Beziehungsreichtum des processierenden Lebens sich so nah mit der Plastik berührt und die beharrliche vollends ausgestaltende Körperbildnerin zum Wettstreit herausfordert. Da stellt sich denn das Übergreifen aus einem Moment in einen vorauf- gehenden oder nachfolgenden ein, oder die „Prägnanz des dargestellten Augenblicks", die zeitlicher Vor- stellungen zur Mitwirkung bedarf und die Wieder- gabe des Wandels selbst in das Problem des Bildners aufnimmt. Davon ist oft genug gehandelt worden.

Die Gewohnheit plastischen Denkens und Schaf- fens, von der Körpervorstellung auszugehen und in

Entstehung der Gruppe 123

vollrunder Körperform allein sich auszudrücken, mag sich lange noch bei solchen Anwandlungen be- haupten. Aber grade sie drängt über die poetische Ergänzung durch die Phantasie hinaus zur leib- haftigen Darstellung auch des fehlenden Faktors der Handlung oder zur Vervollständigung der Situation durch einen zweiten oder gar einen dritten Körper. So entsteht die Gruppe, die notwendig einen weitern Schritt über den ureignen Boden der plastischen Schöpfung hinaus bedeutet, so sehr sie dem Bildner als Steigerung seines eigenen Erfolgs erscheinen mag. In wessen Bereich der Übergriff, der dazu helfen muss, vollzogen werde, ist eine andre Frage.

Wir sprechen ja von Gruppe im ästhetischen Sinne nicht allein bei der Plastik, sondern ebenso in der Architektur und in der Malerei. Die land- läufige Definition freilich geht vom Standpunkt der Poesie oder der Mimik aus , wie so manche Be- stimmung sich von dort auf die Ästhetik der bilden- den Künste übertragen hat, die sich ihrerseits nur lang- sam auf sich selber besinnt. Die gewohnte Definition versteht unter Gruppe eine Mehrzahl von Einzel- wesen , die zu einander in Beziehung stehen. Sie geht also von der Tätigkeit dieser Lebewesen aus, die auf einander gerichtet ist, d. h. von den Kate- gorieen zeitlicher Anschauungsform, die vom mimi- schen Ausdruck flüchtigster Relationen bis zum poetischen Kausalnexus einer Fabel aufsteigen.

Dagegen erhebt mit Recht auch Hildebrand Einspruch, wenn er ('S. 98) erklärt: ,,Eine Gruppe

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Die plastische Gruppe

im künstlerischen Sinne beruht nicht auf einem Zu- sammenhang, der durch den Vorgang entsteht, sondern muss ein Erscheinungszusammen- hang sein, welcher sich als ideelle Raumeinheit gegenüber dem realen Luftraum behauptet." Damit ist sicher das Hauptinteressse der bildenden Kunst gewahrt , dass es sich auf ihrem Gebiet stets zuerst um die räumliche Anschauungsform handelt. Nach dieser müssen sich ihre Definitionen bestimmen, nicht nach dem sekundären Moment transitorischen Scheines.

Unter seinem Ausdruck „ideelle Raumeinheit" versteht aber Hildebrand selbst nicht die allein in der Vorstellung vorhandene Synthesis , die wir für das Gesamtgebiet der bildenden Künste als sehr erwünschte Formel annehmen könnten, sondern wie wir wissen, ,,das einheitliche Flächenbild vom ent- fernteren Standpunkt, wie es das ruhig schauende Auge ohne Bewegung aufnimmt." Jedenfalls wider- strebt ihm die kubische Auffassung des Architekten, der eine ,, ideelle Raumeinheit" aus dreidimensio- nalen Körpern aufbaut, bei der den Anforderungen unseres Führers an den „Erscheinungszusammen- hang" noch keine Rechnung getragen wäre. Zwischen der Auffassung des Malers und des Architekten in der Mitte läge jedoch die des Bildhauers zunächst, nach der Auslegung seines Schaffens als Körper- bildner, die wir bisher versucht haben. Und wenn jeder dieser bildenden Künste ein andersartiges Ge- staltungsprincip innewohnt, so muss das Wesen der

Definition

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Gruppe" auch in jeder von ihnen eine Modifikation erfahren.

Wir verstehen unter Gruppe einen Komplex von Körpern, wenn es erlaubt ist, dies Fremdwort zunächst in voller Dehnbarkeit des Begriffes zu ge- brauchen. Je nach dem Standpunkt aber, von dem wir diesen Komplex auffassen, ändert sich die Be- deutung des Wortes.

Am freiesten wechselt dieser Standpunkt in der Architektur, da bei ihren Schöpfungen die Beiträge der Ortsbewegung und des Getasts ebenso mit- sprechen wie die des Gesichts , die ihrerseits ent- weder mit jenen verbunden sind oder darüber hinaus- gehen. So können die Baukörper, die eine ,, archi- tektonische Gruppe" bilden, ziemlich weit von- einander abstehen, wie etwa die Umgebung des Platzes, von dem wir im vorigen Kapitel gesprochen, oder die Türme, die Bastionen einer Festung, wenn nur die Vorstellung des menschlichen Subjekts sie vom Mittelpunkt aus oder aus der Vogelperspektive als zusammengehörige Teile eines Ganzen erfasst. Es ist eine ,, ideelle Raumeinheit", aber eben nur mi- die Vorstellung, in der sich die Synthesis vollzieht, nicht für das Auge allein; denn die Vogelperspek- tive bleibt ja für gewöhnlich ausgeschlossen und erst der Aufstieg auf eine hohe Warte, von der die Um- schau möglich ist, vermag sie zu ersetzen. Viel- leicht wäre es richtiger eine solche Konstellation von Baukörpern, deren Gesetz nicht von einem der ge- wöhnlichen Standpunkte des Beschauers aus deut- lich erschaut werden kann, vielmehr als ,, Syst e m "

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Die plastische Gruppe

zu bezeichnen. Sowie sie jedoch soweit zusammen- rückt, dass sie dem Beschauer auf der Erdoberfläche schon übersichtlich erscheint, stellt der Ausdruck Gruppe sich unbedenklich ein, wie bei einer Veste, einem Fort, einem Schloss von gleicher Anlage. Die Gesetze architektonischer Gestaltung mögen im ersten Falle ebenso walten , wie im letztern , d. h. Proportionalität in der Höhen- , Symmetrie in der Breiten- und Rhythmus in der Tiefen-Dimension.

Betrachten wir darnach etwa die Chorpartie einer spätromanischen Kirche von reichster Ent- wicklung, z. B. in den Rheinlanden, so haben wir die festere Zusammenfassung im Sinne des Kom- plexes noch mit der systematischen Aufstellung im Lufträume zusammen vor uns. Legen wir durch die Drei-Konchenanlage mit ihren Turmtrabanten am Chorhaupt, ihrem Vierungsturm dazwischen, eine Horizontalebene in der Höhe, wo jeder dieser Bau- teile als selbständiger Körper heraustritt , so haben wir ein gesetzmäfsig gegliedertes System im obigen Sinne, eine Gruppe, aber ohne körperlichen Zusam- menhang, — jedoch für jede natürlich sich bietende Ansicht einen ,, Erscheinungszusammenhang" für das Auge. *) Erst wenn wir den untern Teil dieser Chorpartie mit überschauen, wo die genannten Einzel- glieder eng mit einander verbunden sind , kommt auch der körperliche Zusammenhang hinzu und be- rechtigt uns von einer „tektonischen Gruppe" im strengeren Sinne zu reden. Ja, wenn wir die

i) Man vergleiche hiermit z. B. das Lutherdenkmal in Worms.

Modalitäten des Zusammenhangs

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Entwicklung der selbständigen Bauteile nach oben aus dem gemeinsamen Baukörper unten nach Ana- logie des organischen Wachstums auffassen, als seien sie wie aus einem Stamm oder Grundstock er- wachsen", sosteilt auch die Benennung „plastische Gruppe" sich ein, obwol die Analogie mit dem organischen Gebilde nicht genauer zutrifft.

Nehmen wir, wie es bei weiterem Abstand von dieser Chorpartie sich darbietet, jenseits der Vierungs- kuppel noch das Paar von hohen Westtürmen hinzu, so kommt in den Charakter dieser Gruppe von Bau- körpern wieder ein neues Moment, oder wird wenig- stens fühlbarer als bisher : die perspektivische Ver- kürzung der weiter zurückliegenden Teile. Und diese Verschiebung des Augenscheins gegenüber der architektonischen Vorstellung macht sich bemerklich eben darin, dass wir uns beim Gesichtseindruck allein nicht mehr sofort klare Rechenschaft geben können über den systematischen und körperlichen Zusammenhang der letzten Glieder, die nur in Ver- kürzung noch zum Vorschein kommen. Die Gesetze der Proportionalität, der Symmetrie, ganz besonders aber die des Rhythmus , d. h. der räumlichkörper- lichen Entfaltung in der dritten Dimension', liegen nicht so offen vor uns , wie bei den Turmspitzen um die Vierung am Chore. So können wir bei diesem letzten Turmpaar im Verhältnis zum Ganzen nur von einem „Erscheinungszusammenhang" reden, d. h. die Gruppe bekommt einen „malerischen" Sinn, weil die Einheit in der Bildvorstellung gesucht werden muss, nachdem sowol die Körpervorstellung

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Die plastische Gruppe

als die Raumvorstellung , die wir zur Rechenschaft aufgefordert, versagt haben. Wir vermögen uns aus dem Bilde allein , ohne weitere Hülfsmittel , keine klare Auskunft mehr über die Gesamtausdehnung des Kirchenkörpers zu verschaffen ; besonders die Grösse des Langhauses zwischen Vierung und West- türmen fehlt.

Verlassen wir deshalb unsern bisherigen Stand- punkt in der Mittelaxe vor der Chorpartie, und suchen das Bauwerk von seiner Langseite zu über- schauen, so giebt der Augenschein abermals keine vollständige Vorstellung, so lange wir nach dem architektonischen Zusammenhang und der gesetzmäfsigen Anlage des Ganzen fragen. Die auf- steigenden Spitzen oder selbständig heraustretenden Baukörper sind unter sich von verschiedener Höhe, und das westliche Paar ist von dem östlichen Kom- plex soweit entfernt, dass ihre steilere Vertikale erstrecht den Anforderungen der Symmetrie und Proportionalität zu widersprechen scheint, also wie ein irrationaler Faktor beurteilt wird , weil wil- den Sinn für das Ganze nicht absehen können. Das Breitbild der romanischen Basilika bietet also eine Gruppe dar, die ebenfalls nur als „malerisch" genossen werden kann , weil sie weder architek- tonisch noch plastisch befriedigt. Erst wenn wir sie als ,, ideelle Raumeinheit" mit Hülfe der Vorstellung, d. h. den Anblick nach der andern Seite zum System ergänzen, eröffnet sich der Weg zum ästhe- tischen Wolgefallen auch unter diesen Gesichts- punkten der Raumbildung und der Körperbildung.

Malerische und architektonische Auffassung

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Und verzichten wir darauf, um dem malerischen Genuss allein zu folgen, so bedarf der lineare Ge- samtumriss von der Langseite und die Modellierung der Glieder dieses Baukörpers wiederum einer Er- gänzung, die erst die Bildeinheit herstellt : wir fühlen uns instinktiv gedrängt, den umgebenden Raum, den Erdboden darunter, wie die Luftregion darüber, in grösserem Umfang mit aufzufassen , begrüssen wol andere Körper, wie Häuser und Bäume in der Nach- barschaft, ja die landschaftliche Ferne dahinter als Woltat, weil sie dazu helfen, den „Erscheinungs- zusammenhang" zwischen dem Kirchenkörper und seiner gegebenen Örtlichkeit zu vermitteln.

Der architektonischen Schöpfung als Ganzem werden wir aber so nicht besser gerecht , und sie bleibt doch die Hauptsache dieses Kunstwerks. In Wirklichkeit muss das menschliche Subjekt sich, als Körper auf eigenen Füssen, schon in das Innere des Raumgebildes begeben, um hier in mannichfaltigem Wechsel des Standpunktes die Idee des Ganzen zu er- fassen, die wieder als Vorstellung auf einer Synthesis von Wahrnehmungen beruht, und zwar weder Gesichts- vorstellung noch Bewegungsvorstellung allein genannt werden kann. Hier im Innern liegt der entscheidende und zugleich der ursprünglichste Standpunkt, eben im Mittelpunkt des dreidimensionalen Komplexes selber. Und nehmen wir ihn ein , indem wir uns selber mit der Dominante dieses Koordinatensystems identificieren , so entfaltet sich auch ringsum die Raumgruppe, d. h. der Komplex von Raum- körpern, - Hohlräumen, die wir als Krystalle

Schmarsow, Plastik, Malerei u. Relief kunst. q

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Die plastische Gruppe

fassen können , die wir vom grössten in der Mitte, in dem wir uns befinden, durchschauen. Hier aber wird sich der Ausdruck ,, plastische Gruppe" gewiss nicht einstellen, wie bei der Aussenansicht der näm- lichen Chorpartie, und zwar deshalb nicht, weil die Raumvorstellung mit ihrer Weite die Körpervorstel- lung überwiegt, weil nicht die äussere, sondern die innere Form uns erscheint, und weil unser Körper- gefühl der kompakten Rundung, der gewachsenen Gliederung, der näheren Analogie mit den Erfah- rungen der Tastregion entbehrt. Viel eher wird der Augenschein mit der Abstufung des Helldunkels in diesen Räumen dazu veranlassen, auch den Genuss malerischer Gruppierung und perspektivischer Durchblicke zu suchen. Das Unsystematische , also auch das Disproportionierte , das Unsymmetrische sind grade das Malerische; es fragt sich, wie weit auch schlechthin das Arhythmische?

Im Werk des Malers verstehen wir unter Gruppe immer einen Komplex von Figuren oder andern Gegenständen, die für den Augenschein eine Einheit bilden. Aber diese Einheit ist wieder keine abso- lute, sondern nur eine relative ; denn die Gruppe ist nur ein Teil des Ganzen , das sie und alle andern desselben Bildes umfasst. Auch sie enthält also einen sozusagen irrationalen Faktor, der nicht völlig in ihrer Rechnung aufgeht, sondern darüber hinaus- weist und so weiterleitet zur Nachbarin oder zum korrespondierenden Gliede gegenüber. Aus dem- selben Grunde können wir von einer solchen Gruppe im Gemälde nicht sagen, sie sei ein Komplex von

Gruppe in der Malerei

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Figuren, die unter sich in Beziehung stehen oder deren Tätigkeit auf einander gerichtet sein müsse. Sie können ebenso gemeinsam nach aussen auf das gleiche Ziel gerichtet sein. Ja, es braucht überhaupt kein geistiger Zusammenhang, keine mimische Rela- tion, keine poetische Kausalität zwischen ihnen zu walten, ebensowenig wie dies bei einer „malerischen Baumgruppe" der Fall ist. Die Bildeinheit ist für das Gemälde die höchste Instanz und auf den ,, Er- scheinungszusammenhang" eines Teiles dieser Ein- heit bezieht sich der Ausdruck Gruppe allein, so- lange wir den Augenschein ausschliesslich für sich selber betrachten.

Die Plastik dagegen, das kann nach diesen Erörterungen nicht mehr zweifelhaft sein erkennt, solange sie auf ihrem eignen Grund und Boden waltet, als höchste Instanz die Einheit des mensch- lichen Organismus, soweit sich diese in der äussern Körperform ausprägt , der sichtbaren und tastbaren Gestalt, bis an die Gränze der Ortsbewegung aussen und die Gränze des Stoffwechsels innen. Für ihren Anschauungskreis ist also die Definition Hildebrands, die Gruppe sei ein „Erscheinungszusammenhang", zu weit. Sie müsste als Lösung dieses Problems zunächst die Herstellung eines organischen Zusam- menhangs fordern. Eine „organische Einheit" zwi- schen zwei oder mehreren Geschöpfen giebt es je- doch nur bei der Mutter mit dem ungeborenen Kind in ihrem Schofs. Wollten wir auf die Tierwelt übergreifen , kämen wir bis zum Känguruh , das seine lebendigen Jungen wieder in der Tasche mit

9*

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Die plastische Gruppe

sich herumträgt. Dies musste aber ausgesprochen werden, da die Mythe von der Geburt des Bacchus uns gar in die Pflanzenwelt führt, und als plastischer Vorwurf für solche Einheit gedient hat. Es galt zu zeigen, dass unter ungesuchten Verhältnissen die höchste Forderung der specifisch plastischen Kunst von der Gruppe schon nicht mehr erfüllt werden kann. Auf die Darstellung der organischen Einheit muss verzichtet werden, wenn die Skulptur den Fort- schritt zu einer Mehrheit von Einzelwesen erreichen will. Sie kann also nur andre Auffassungs weisen substituieren, die von der ihrigen mehr oder minder abweichen. Eben deshalb bezeichnet die Gruppe für die Plastik bereits einen Abweg nach der einen oder nach der andern Seite.

Sucht sie an dem Umkreis der Bedingungen organischer Geschöpfe festzuhalten, so vermag sie als ihre Aufgabe nur die Herstellung eines möglichst nahen Zusammenhangs zwischen den organischen Körpern zu erstreben, der durch die natürliche Be- weglichkeit des menschlichen Leibes und seiner Gliedmafsen entstehen und aufrecht erhalten werden kann. Uniäugbar geraten also die organischen Ge- schöpfe, die so miteinander verbunden werden, ent- weder einzeln oder insgesamt in Abhängigkeit von einander. Das höchste Anrecht des Individuums muss preisgegeben oder geschmälert werden, wieder eine Einbusse des echt plastischen Empfin- dens , ein Opfer des Selbstgefühls , das die Seele ihres Schaffens ausmacht ! Nur grosse Vorzüge andrer Art vermögen sie aufzuwiegen. Die innigste

Die Einheit der Gruppe

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Verschlingung aller Körper, wo alle als Teile eines Ganzen von einander abhängig und in ihrer Haltung gegenseitig bedingt erscheinen, wäre die letzte Kon- sequenz ; aber sie enthält auch die grösste Gefahr, dass die Körpervorstellung, die klare Rechenschaft über die ganze Gestalt des Einzelwesens, die der Plastiker verfolgen muss , bei diesem körperlichen Zusammenhang nicht mehr zu ihrem Rechte komme. Die Ringergruppe in Florenz wäre darnach eine der vollkommensten Lösungen dieses plastischen Pro- blems. Die Verschlingung der Körper hat auch Lionardo von der Gruppenbildung gefordert. Aber es ist bezeichnend, dass die zahlreichen Darstellun- gen der Madonna, der heiligen Familie oder S. Anna selbdritt , die wir ihm selbst oder seinem Einfluss auf die italienische Kunst am Anfang der Hoch- renaissance verdanken, doch fast ausnahmslos ge- malt sind , nur selten einmal in Rundplastik auf- treten, - - Beweis genug für die Schwierigkeit. Im Gemälde allerdings wirkt solche Gruppe in eminent plastischem Sinne. *)

Das Princip der möglichsten Annäherung an die organische Einheit verbindet sich in diesen Leistun- gen der Hochrenaissance, zu denen ja auch Rafaels

i) Ebendeshalb ist es aber ein Irrtum , wenn man sich Lio- nardos Karton zur Reiterschlacht , also ein Breitbild vom Umfang der „badenden Soldaten" von Michelangelo, allein mit dem Knäuel von Reitern und Fussgängern im Kampf um eine Fahne ausgefüllt denkt. Was die Überlieferung bewahrt hat, ist nur die Mittelgruppe, der es an seitlichen Vermittlungen sicher nicht gebrach. Vgl. Heft I, S. 57, wo allerdings „Austrag" statt „Ausdruck" gelesen werden muss.

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Die plastische Gruppe

und Fra Bartolommeos Madonnen gehören, mit einem zweiten : der Einordnung der Gruppe in die Form des regelmässigen stereometrischen Körpers oder mindestens der Umschreibung durch eine geo- metrische Figur. Damit rühren wir an die zweite Möglichkeit der Auffassung , die sich auch bei pla- stischer Gruppenbildung darbietet. Es ist der Auf- bau nach Art tek tonischer Körper. Die Plastik sucht ihr Wesen als Körperbildnerin auch bei der Behandlung einer Mehrzahl wenigstens da- durch zu befriedigen, dass sie diese Einzelkörper unter das gemeinsame Gesetz eines Koordinaten- systems bringt und einen sie alle zusammenfassenden dreidimensionalen Komplex aus ihnen herstellt. Es ist also die Einheit der Körperbildung, die sie zu erreichen sucht, und zwar nach Analogie der Ge- setze , die in der unorganischen Natur besonders klar hervortreten. Aber, da sie Ebenbilder orga- nischer Geschöpfe, Menschengestalten, zusammen- ordnet, die diese stereometrische Form eines regel- mäfsigen Körpers nicht massiv ganz ausfüllen, son- dern nur innerlich gliedern und durchsetzen, so bleibt die Körpereinheit, die erreicht wird, doch eine ideelle, nur in der Vorstellung hervorgebrachte. Betrachten wir das Volumen, das die zur Gruppe vereinigten Körper einnehmen, als den ästheti- schen Raum dieser Gruppe, der zunächst nichts anderes ist als ihr Gestaltungsraum, so könn- ten wir auch hier Hildebrands Ausdruck, freilich nicht seinen Sinn , verwertend von der ,, ideellen Raumeinheit" sprechen.

Monumentale Körpereinheit

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Der tektonische Charakter des Aufbaues solcher Gruppen bewährt sich auch darin, dass ein tektonischer Körper nicht selten als Äquivalent des organischen Menschenleibes verwertet wird, wie z. B. der Baumstumpf neben S i 1 e n mit dem Bacchus- knaben auf den Armen (Louvre und sonst). Mit diesem Abweg vom rein plastischen Wesen ver- bindet sich aber ein grosser Vorzug in dieser tek- tonischen Körperbildung : es ist die Verwertung der Gestaltungsprincipe, der Proportionalität, der Sym- metrie und des Rhythmus im Aufbau, die dem Gan- zen wieder die bleibende Existenzberechtigung, den Wert selbständiger Beharrung sichern, der den ge- setzmäfsigen Gebilden der Tektonik eigen ist, wie den regelmäfsigen Gebilden der Krystallisation.

Gelingt es diese Eigenschaften des tektonischen Aufbaues auf die echt plastische , nur aus Ebenbil- dern des Menschen bestehende Gruppe zu über- tragen, so erreicht diese die höchste Vollendung des monumentalen Stils. Nach allen drei Dimensionen ist dies bei der berühmten Gruppe des Menelaos mit der Leiche des Patroklos der Fall. Das erhobene Haupt des behelmten Helden wirkt nicht allein als Gipfel des pyramidalen Gesamtkörpers, sondern auch als Dominante der symmetrischen Ab- wägung der Massen zu beiden Seiten der Mittelaxe. Das Eigentümliche ist aber die starke Entfaltung der dritten Dimension, besonders durch die nach- schleppenden Beine des nackten Leichnams, die zwischen den ausschreitenden Beinen des Trägers hindurch gehen. Die Tiefe wird jedoch ausschliess-

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Die plastische Gruppe

lieh durch die plastischen Körper selbst erreicht, wie es grade dieser Gegenstand gestattete.

Sowie dagegen diese Tiefe nicht dem plastisch erfüllten Gestaltungsraum selber angehört, sondern leer bleibt und nur als Schattentiefe für den Augen- schein erzeugt wird, da geht die Gruppenbildung selbst auch unfehlbar in die Rechnung des male- rischen Bildraums über. Wir unterscheiden deshalb von der rein plastischen, mit den Mitteln or- ganischer Körperbildung auskommenden Gruppe, wie auf der einen Seite Abweichungen nach dem Gebiet der Architektur, die wir unter dem Namen tektonische Gruppe zusammenfassen wollen, nun auf der andern Seite Abweichungen nach dem Ge- biet der Malerei, die wir als speeifisch malerische Gruppe bezeichnen dürfen.

Das Wesentliche aller Abweichungen nach dieser Seite liegt eben darin , dass der Bildhauer auf die eigenste Auffassung der Plastik als Körperbildnerin verzichtet und, statt der Gesetze organischer oder wenigstens tektonischer Körper, die Gesetze des Augenscheines zum leitenden Princip erhebt. Er- geht von der Raumvorstellung als solcher aus und erstrebt für sein Figurengebilde die Bildeinheit. Das Ergebnis ist ein ,, Erscheinungszusammenhang", also für das schauende Auge, wenn wir Hildebrands Sinn aeeeptieren, und damit für einen festen Stand- punkt in gewisser Entfernung. Wir mögen auch von ihr sagen, sie „behaupte sich als ideelle Raum- einheit gegenüber dem realen Luftraum", dürfen dann aber nicht vergessen, dass dies nur unter ganz

Tektonische und malerische Gruppe

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bestimmten tatsächlichen Bedingungen geschieht, nämlich in fühlbarer Umrahmung. Die malerisch gedachte Gruppe verträgt die Aufstellung im freien Luftraum nicht , sondern will mit dem Hintergrund und seinen Schatten in Beziehung treten und min- destens zu beiden Seiten von der realen Räumlich- keit, die nicht mehr zu ihrer Situation gehört, deut- lich geschieden sein. Hinter der Distanzschicht, die diese Rahmung einschliesst , beginnt ihr Bildraum. Damit werden alle übrigen Ansichten bis auf die eine Vorderansicht ausgeschlossen ; die Behandlung dieser Vorderansicht selbst aber soll ganz den An- forderungen der Bildanschauung entsprechen. Das ist wenigstens das Streben des malerisch denkenden Künstlers , der auf Bildeinheit ausgeht. Hier aber steht ihm ja die wechselnde Beleuchtung des Tages entgegen, die er hinnehmen muss, die er durch die Aufstellung wol einzuschränken und zu dämpfen ver- mag, niemals jedoch selber allein herstellt wie der Maler auf seiner Fläche.

Das heisst, auch hier bleibt das Ganze nur ein Kompromiss , bleibt hinter dem einheitlichen Ziel zurück. Es sind freilich sogleich die letzten Kon- sequenzen, die wir mit diesen Aufstellungen gezogen haben , und es versteht sich von selbst , dass zahl- reiche und allmähliche Übergänge bis dahin vor- handen sind.

Das allbekannte Beispiel für den Ubergang zu malerischer Auffassung der plastischen Gruppe ist der Laokoon mit seinen Söhnen unter der Schlangen- umstrickung, nur darf an dieser Stelle nicht un-

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Die plastische Gruppe

betont bleiben , dass die malerische Auffassung hier nicht allein in dem Erscheinungszusammenhang, sondern auch in der dargestellten Handlung nach- weisbar ist, und zwar in der Aufnahme zeitlicher Momente , ja in der Erweckung des dringendsten Anspruchs an den poetischen Kausalnexus , der unsere Phantasie in die Sphäre tragischer Dichtung versetzt. Noch ist allerdings der Zusammenhang durch organische Körper hervorgebracht ; indess die Windungen der Schlangenleiber haben für unser Körpergefühl etwas so Fremdes , Unberechenbares, dass sie unheimlich wie elementare Naturkräfte hereinbrechen. Die drei menschlichen Wesen er- liegen dieser furchtbaren Überrumpelung trotz aller vcrzweifelten Gegenwehr, in der sich die Haupt- person — die Dominante des symmetrischen Systems soeben zu erschöpfen droht. Der Zusammen- hang aber, der so zur vollen Abhängigkeit von der Umgebung geworden ist, und im letzten Aufbäumen der eigenen Kraft den tragischen Widerspruch auf den eigensten Darstellungsgegenstand der Plastik überträgt, wird durch diese tierischen Leiber nicht vollständig versinnlicht. Uber das Grässliche eines blos zufälligen Unglücks hinaus verlangt unsere Vor- stellung nach einer weitern Motivierung, um in der tragischen Auffassung eine Lösung des ethischen Konflikts zu suchen, der beim Anblick der brutalen Gewalt als Siegerin über drei unschuldige Opfer sich in jeder Menschenbrust bis zum Abscheu steigert. Der poetische Kausalnexus allein, der hinter dem Geschauten liegt, vermag die Wirkung als Kunst-

Laokoon

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werk zu retten , also ein Zusammenhang , der nicht einmal Vorgangseinheit ist, sondern an eine weitere unsichtbare Ferne appelliert, und so erst aus dem Unglück der Menschen eine Strafe der Götter macht. Daran musste erinnert werden , um auch von unserm Standpunkt in der Reihe der hier an- gestellten Beobachtungen das Richtige zu treffen. So erst gewinnt auch der Raum, der plastisch nicht durchgeformte darüber und dahinter , die Schatten- tiefe der Nische, für die das Werk gearbeitet ist, eine Übermacht über den Vollzug des Geschehens, nach dessen Anfang und Ende zu fragen, wir durch die Prägnanz des dargestellten Momentes selber ge- drängt werden. Die Aufgabe , die sich der Bildner gestellt hat, ist, wenn sie einmal für die räumliche Anschauung gestaltet werden sollte, ihrem innersten Wesen nach malerisch ; ja sie gehört darüber hinaus der Historienmalerei an , die schon mit poetischen Beziehungen und zeitlichen Vorstellungen durchsetzt ist. Aber auch die Behandlung der Körper selbst strebt nach malerischen Wirkungen und rechnet mit malerischen Bedingungen, kraft deren wir berechtigt sind, die ursprüngliche Aufstellung des Bildwerks in einer schattenden Nische zu behaupten und im Interesse seiner künstlerischen Wirkung zurück- zuverlangen. Dann erst wird sich die Gruppe in dem Medium des Helldunkels als Bild entfalten vor unserm Blicke, der verweilend und zusammenfassend notwendig in die Tiefe dringt, wo der Schlüssel des Ganzen , den das Körpergebilde selbst nicht giebt, allein gesucht werden kann.

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Die plastische Gruppe

Während in der Gruppe des Laokoon der Schattenraum seine Wirkung bis in das Innere der Erscheinung hinein erstreckt, will er sich bei der ,, Gruppe des Farnesischen Stieres" nirgend recht ergeben, und sie bleibt ein tektonischer Aufbau, der sogar durch die Wucht des daherstürzenden Stieres in seinem zufälligen Bestand gefährdet erscheint. Nur die poetische Vorstellung kann mit Hülfe der Fabel die Einheit des Vorgangs zusammenlesen. Es ist keine künstlerische Gruppe zu Stande gekommen, trotz aller Schönheit der Gestalten im Einzelnen.

Ganz anders aber liegt die Sache bei den Giebelgruppen an der Front griechischer Tempel. Hier ist es grade der entstehende Schattenraum, der die klare , scharfe Auseinandersetzung mit der tek- tonischen Fläche, der Giebel wand dahinter, hervor- bringt. Auch hier bildet die sogenannte Gruppe von Figuren oder sonstigen Gegenständen ursprüng- lich nur eine Zusammenschiebung vollausgerundeter Körper, nach mehr oder minder tektonischen Prin- cipien, wie z. B. bei den „Ägineten". Erst allmäh- lich schieben sich die Figuren mit deutlicher Rech- nung auf die Vorderansicht zurecht. Aber ein freies Gehaben nach dem Gesetz unserer Körperbewegung allein wird schon in den engen Winkeln vollends ausgeschlossen. (So die thronenden Götter, der so- genannte Theseus, auftauchende Pferdeköpfe ab- geschnitten !) Die Einheit müsste, solange wir solche Zusammenstellung in bequemer Nähe , wie jetzt in unsern Museen erblicken, auch hier immer mit Hülfe der Poesie, d. h. als Einheit des Vorgangs oder der

Giebelgruppen

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Situation , oder gar als Einheit der Idee , gesucht werden. Aber alle drei Einheiten, der Handlung, der Zeit, des Ortes, die man im höchsten poetischen Kunstwerk sucht , sie helfen bekanntlich nicht zur Einheit in der bildenden Kunst. Da kann nur noch Eins erreicht werden, nämlich die Einheit der Wir- kung, — freilich nur für den entfernten Standpunkt, für den sie gedacht sind , und von dem sie allein betrachtet werden dürfen. In der Tat wirken sie an ihrer Stelle am ganzen Bauwerk wie ein starkes Hochrelief vollkommen befriedigend, und zwar nicht ausschliesslich in der Richtungsaxe , die grade auf die Mitte der Front geht, sondern in ziemlicher Breitenausdehnung der parallelen Standlinie, nach links und rechts, so lange die Giebelseiten nicht eigens durch ihren Vorsprung den seitlichen Anblick verschliessen.

Sie tragen also ihren Namen ,, Gruppe" nur noch in uneigentlichem Sinne , was die Plastik als solche angeht , können aber , ihres kubischen Be- standes wegen, auch zur Reliefkunst noch nicht ge- rechnet werden. Sie zeigen uns nur den Ubergang zu dieser, auf den die dekorative Skulptur im Ein- vernehmen mit der Baukunst selber gekommen war.1)

i) Vgl. zum Folgenden E. H. Toelken, Über das Basrelief und den Unterschied der plastischen und malerischen Komposition. Berlin 1815. Weiteres schon Heft I, S. 2, Anm. 3.

V.

RELIEF- ANSCHAUUNG

as*>X8^:achdem Hildebrand im vierten Kapitel seiner Kj$vFb Schrift über ,, Flächen- und Tiefenvorstellung" .Kakraa gehandelt und gezeigt hat, wie der Künstler ,,bei seiner Aufgabe, für die kompilierte dreidimen- sionale Vorstellung eine einheitliche Bildvorstellung zu schaffen, zu einer immer koncentrierteren Gegen- überstellung der gegenständlichen (d. h. gegenständ- lich auslegbaren) Flächenwirkung zu der allgemeinen Tiefenvorstellung gezwungen wird", kommt er im folgenden Kapitel auf das Ergebnis. „Mit dieser Gegenüberstellung gelangt der Künstler zu einer einfachen Volumenvorstellung, also der einer Fläche, die er nach der Tiefe fortsetzt."

„Um sich diese Vorstellungsweise recht deutlich zu machen , denke man sich zwei parallel stehende Glaswände und zwischen diesen eine Figur, deren Stellung den Glaswänden parallel so angeordnet ist, dass ihre äussersten Punkte sie berühren. Alsdann

Relief - Anschauung

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nimmt die Figur einen Raum von gleichem Tiefen- mafs in Anspruch und beschreibt denselben, indem ihre Glieder sich innerhalb desselben Tiefenmafses anordnen. Auf diese Weise einigt sich die Figur, von vorn durch die Glaswand gesehen, einerseits in einer einheitlichen Flächenschicht als kenntliches Gegenstandsbild , andererseits wird ihr Volumen durch das einheitliche Tiefenmafs des allgemeinen Volumens, welches sie im Ganzen einhält, aufgefasst. Die Figur lebt sozusagen in einer Flächenschicht von gleichem Tiefenmafse, und jede Form strebt, in der Fläche sich auszubreiten, d. h. sich kenntlich zu machen. Ihre äussersten Punkte , die Glaswände berührend , stellen , auch wenn man sich die Glas- wände wegdenkt, noch gemeinsame Flächen dar.

„Diese Vorstellungsweise beruht also auf der Auffassung des Gegenständlichen als eine Flächen- schicht von gleichem Tiefenmafse. Das Gesamt- volumen eines Bildes besteht aber, je nach der Art des Gegenständlichen , aus mehr oder weniger solchen hintereinander gereih- ten imaginären Flächen schichten, welche sich wiederum zu einer Erscheinung von einheitlichem Tiefenmafs einigen."

„Diese Vorstellungsweise ist also das notwendige Produkt des Verhältnisses unsrer dreidimensionalen Vorstellung zum einheitlichen Gesichtseindrucke und wird zur notwendigen künstlerischen Auffassung von allem Dreidimensionalen , gleichviel , ob es sich um die Darstellung einer Einzelform oder einer weitern Gesamtheit handelt , gleichviel , ob wir diese Er-

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Relief - Anschauung

scheinungsweise als Bildhauer oder als Maler er- reichen" (65).

„Diese so entwickelte allgemeine künstlerische Vorstellungsweise ist aber nichts Anderes" , wie Hildebrand erklärt (66), „als die in der grie- chischen Kunst herrschende Reliefvor- stellung." Sie preist er als das allgemeine künst- lerische Verhältnis zur Natur, das einzige, das es überhaupt geben kann und darf. Da liegt also der Kern seiner ganzen Kunstlehre beschlossen.

„Diese Reliefvorstellung markiert das Verhältnis der Flächenbewegung zur Tiefenbewegung oder das der zwei Dimensionen zur dritten. Sie setzt uns in ein sicheres Verhältnis als Schauende zur Natur. Die allgemeinen Gesetze unseres Verhält- nisses zum sichtbaren Raum werden durch sie erst in der Kunst festgehalten und durch sie wird die Natur erst für unsere Gesichtsvorstellung geschaffen. So formt sich in dieser Vorstellungs- weise gleichsam das Gefäss, in welches der Künstler die Natur schöpft und fasst. Eine Anschauungsform, die in allen Zeiten das Kennzeichen der künst- lerischen Empfindung und der Ausdruck ihrer un- wandelbaren Gesetze ist. Ein Mangel an dieser Empfindungsweise bedeutet einen Mangel an künst- lerischem Verhältnis zur Natur, eine Unfähigkeit, unser wahres Verhältnis zu ihr zu verstehen und konsequent zu entwickeln. In dieser Vorstellungs- weise findet die tausendfältig bewegte Anschauung erst ihren Schwerpunkt, ihr stabiles Verhältnis, ihre Klarheit. Sie wird notwendig für alles künstlerische

Prinzipielle Bedenken

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Formen, sei es bei einer Landschaft oder einem Kopfe ; überall ordnet sie die Wahrnehmung , ver- bindet und beruhigt sie. In allen bildenden Künsten ist sie dieselbe , ist sie Führer , wirkt sie in der- selben Weise als ein allgemeines Verhältnis und Be- dürfnis, dem sich Alles unterordnet, in dem sich Alles schichtet, vereinigt."

So warm und freudig uns dieser Siegespäan über die Lösung des Problems der Form in der bildenden Kunst auch anmutet, so kann doch der Historiker nicht ohne starken Zweifel zuhören, wenn die griechische Reliefvorstellung, also doch immer eine historisch bedingte Errrungenschaft, als einzig gültiges künstlerisches Verhältnis zur Natur für alle Zeiten gefeiert wird. Und mag ihr für die Reliefkunst als solche auch noch so klassische Bedeutung bei- gemessen werden, so ist doch die Ausdehnung ihres Princips auf alle bildenden Künste wol nicht minder Veranlassung zu ernstlichen Bedenken des Ästhe- tikers.

Im Verfolg unserer Erörterungen haben wir aber vor Allem die Pflicht, auf einen innern Widerspruch dieser Lehre aufmerksam zu machen, oder doch auf die Tatsache , dass ein wesentlicher Unterschied zwischen der vorher erörterten Bildvorstellung und der klassischen Reliefvorstellung der griechischen Kunst übergangen wird.

Man lese einmal die beiden Sätze, die in Hilde- brands Besprechung des „plastischen Reliefs" nahe aufeinander folgen, unmittelbar im Zusammenhang, den Inhalt der Aussagen vergleichend durch :

Schmarsow, Plastik, Malerei u. Reliefkunst. jO

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Relief - Anschauung

„Die Reliefvorstellung fusst auf dem Eindruck eines Fernbildes. Aus der Nähe geschaute Natur ist nicht als Relief gesehen" (S. 70).

„Für die Plastik ergiebt sich die Reliefvor- stellung vom ganz flachen Relief bis zum vollständig runden, wo zuletzt das einheitliche Tiefenmafs dem realen Tiefenmafs der Figur entspricht," d. h. „alle Abstufungen vom Flachrelief bis zum Hoch- relief" (S. 71).

Damit wird zutreffend die Gränze des klassi- schen Hochreliefs in der griechischen Kunst be- zeichnet : „wo das einheitliche Tiefenmafs dem realen Tiefenmafs der Figur entspricht." Das heisst, es handelt sich für diese plastische Reliefvorstellung immer um die Auffassung des Gegenständlichen als einer Flächenschicht von gleichem Tiefenmafse, und zwar um eine solche einheitlich durchorganisierte Flächenschicht, deren Tiefenmafs hier dem realen Tiefenmafs der Figur entspricht. Das Gesamtvolumen eines Bildes dagegen besteht, wie wir soeben ge- lesen haben, „aus mehr oder weniger solchen hinter- einander gereihten imaginären Flächenschichten", d.h. nach Hildebrand selbst , immer aus einer Mehrzahl, die sich freilich wiederum zu einer Erscheinung von einheitlichem Tiefenmafs einigen müssen, ima- ginär aber jedenfalls über das reale Tiefenmafs der Figur resp. der neben einander gereihten Figuren der ersten Flächenschicht (des Vordergrundes) weit hinaus reichen darf. Das Fernbild , auf dem die Bildvorstellung des Malers fusst, geht also über die Gränze der klassischen Reliefvorstellung hinaus und

Innerer Widerspruch der Formel

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kann eine Tiefenbewegung anregen, die sich an das Normalvolumen der Figuren nicht bindet. Wir unterscheiden eben deshalb einen Vordergrund vom Mittelgrund und Hintergrund. Die Bildvorstellung des Malers verwertet auch das Fernbild, ,,das alles unter Lebensgrösse zeigt" (S. 68 Anm.). Da liegt der Unterschied, den Hildebrand übergeht oder in seinem Ausdruck ,, Fernbild" für zwei verschiedene Dinge unvermerkt verschleift.

Es hängt freilich ganz von der Schärfe des Auges ab, wie er selbst (68) hervorhebt, auf welche Distanz es die Gegenstände scharf und präcis sieht, und ,,die Entfernung, welche das Fernbild erfordert, hat an und für sich nichts mit der Deutlichkeit oder Undeutlichkeit des Bildes zu tun, wenn sie auch auf die Härte oder Weichheit der Erscheinung Ein- fluss nimmt." Aber es müsste doch ein Durch- schnittsmafs zwischen diesen Extremen kurzsichtiger und weitsichtiger Beschauer angenommen werden, also eine Durchschnittsdistanz für den Künstler. Und wenn andrerseits ,,der Mafsstab einer Darstel- lung auch nicht mit einer Distanzvorstellung ver- knüpft ist, wenn die perspektivische Verkleinerung in natura von uns garnicht empfunden wird", so ist uns Hildebrand doch die Bestimmung der An- fangsgränze für sein „Flachrelief" schuldig geblieben. Tatsächlich giebt es ja in der italienischen Renais- sance ein Flachrelief, das den umgebenden Raum in beträchtlicher Tiefe mit darstellt , wie etwa der Drachenkampf des heiligen Georg unter dem Stand- bild dieses Helden an Orsanmichele, eine Arbeit

IO*

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Relief - Anschauung

des Donatello. Das ist ein andres Flachrelief als der Christus im Grabe von demselben Meister in London. Noch glücklicher nähert sich jedoch Luca della Robbia dem klassischen Vorbild der Griechen sowol in flachem als im höheren Relief. Bedürfen wir also, um das Wesen des klassischen Reliefstils zu bestimmen, nicht für die Anfangsgränze des Flach- reliefs eines festen Mafsstabes ebenso , wie für die letzte Gränze des Hochreliefs, die nach dem realen Tiefenmafs der Figur bestimmt ward? Ist es nicht die Übereinstimmung des Höhenmafses ,,der Figur" mit dem realen Höhenmafs der vordem Relieffläche, d. h. der ersten Distanzschicht selber? Oder , anders ausgedrückt : die möglichste Ausbeu- tung der ganzen Vertikalausdehnung des Vorder- grundes für die plastische Gestaltung? Und was be- deutet dieses feste Verhältnis zwischen Reliefrand und Figur andrerseits für den verschiebbaren Ab- stand des Beschauers von diesem Objekte, also für die reale oder die imaginäre Distanz vom Darge- stellten ?

Damit kommen wir auf einen andern Unter- schied zwischen Malerei und Plastik, der die Be- stimmung Hildebrands , die Reliefvorstellung fusse auf dem Eindruck eines Fernbildes, aus der Nähe gesehene Natur sei nicht als Relief gesehen, sehr ins Schwanken bringen muss.

Die perspektivische Raumdarstellung im Bilde, wie wir sie besonders deutlich auf Gemälden italie- nischer Quattrocentisten als Linearkonstruktion auf- gerechnet finden, weist dem Beschauer seinen festen

Das Fernbild des Malers

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Standpunkt an, indem sie nicht allein die Rich- tungsaxe , auf den Centraipunkt dieser perspekti- vischen Konstruktion zu, sondern auch die normale Distanz zwischen der Bildfläche und dem Auge des Beschauers bestimmt. Die dargestellte Raumtiefe, die im Gemälde vor dem Beschauer liegt, ist ebenso gross wie die wirkliche vom Beschauer bis an die Bildfläche , d. h. die innere Distanz des Centrai- punktes von der Oberfläche in ihrem Rahmen ist gleich der äussern Distanz des Rahmens vom Auge des Betrachters. Wenn dagegen nicht von der Raumdarstellung, sondern von der Figurendarstel- lung ausgegangen wird , und der Mafsstab der Nor- malfigur des Vordergrundes möglichst gleich der Höhe der Bildfläche angenommen ist, so rückt mit dieser umgekehrten Rechnung auch der Beschauer aus der früher angewiesenen Entfernung in viel grössere Nähe. So weit auch faktisch sein Abstand von der Bildwand sein möge , imaginär ist er den Gestalten, oder sind die Gestalten ihm näher als bei jenen Musterstücken perspektivischer Raumdarstel- lung. Man vergleiche als solches etwa Peruginos Schlüsselübergabe in der Cappella Sistina mit Mantegnas Triumphzug aus M a n t u a.

Noch weiter belehrt uns aber Rafaels Teppich- karton mit dem Hinweis des guten Hirten auf seine Herde ,, Pasee oves". Jedermann wird sagen, dass Rafaels Bild sich der Reliefvorstellung nähert, obwol eine ziemlich umfassende Landschaft als Schauplatz bei der Erscheinung des Auferstandenen mitwirkt. Die Gestaltenreihe ist aber weit mehr ,,aus der Nähe ge-

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Relief- Anschauung

sehene Natur" als die Ferne dahinter. Nehmen wir diesen landschaftlichen Hintergrund vollends weg und beschneiden den Karton oben so weit, dass die Höhe der Hauptfigur das Mafsgebende wird für die neben- einander gereihte Schar der Jünger, so ist damit das malerische Interesse sozusagen auch beschnitten und das plastische gewinnt die Oberhand, zumal wenn wir von dem poetischen Interesse an dem dargestellten Vorgang und an der Charakteristik der Individuen noch ganz absehen. Wir können auf diese Reihe von menschlichen Körpern das Experiment mit den bei- den Glasplatten vorn und hinten anwenden und sagen, diese Figuren leben in einer einheitlichen Schicht von gleichem Tiefenmafs, und dieses entspricht un- gefähr dem realen Tiefenmafs der Figur Christi. Das heisst, das Gemälde ist in die klassische Relief- vorstellung übertragen. Da diese Gestaltenreihe je- doch gemalt ist, d. h. Schatten und Licht in fester Verteilung darbietet, so kann sie befriedigend für unser Auge nur für den bestimmten Standpunkt wirken, für den sie berechnet ist.

Denken wir uns dagegen die nämliche Gestalten- reihe plastisch ausgeführt, etwa in Marmor- oder Stuck- relief, so enthält sie nicht selbst mehr die bestimmte Verteilung von Licht und Schatten, sondern muss diese vom wechselnden Tageslicht erwarten, sei dies unter freiem Himmel oder unter der vorherrschend einseitigen Beleuchtung in einem Innenraum. Je nach der stärkeren oder schwächeren Verschiebung , die im Verhältnis der Schatten und Lichter eintreten kann, wird auch der Standpunkt des Betrachters variabel.

Gemälde und Relief

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Der Gegensatz der Bedingungen zwischen Ma- lerei und Plastik in diesem Fall ist klar : das ge- rahmte Bild ist selber verhängbar ; aber es weist dem Beschauer stets, je bestimmter die Modellie- rung der Gestalten durch Hell und Dunkel oder die perspektivische Darstellung des Raumes durchgeführt sind, desto zwingender seinen Standort an , von dem es als Ganzes betrachtet sein will. Das Relief dagegen hat als tektonischer Bestandteil einer Wand seinen festen Standort, während der Beschauer seine Stelle wechselt, wie das Tageslicht mehr oder min- der erheischt; je stärker die Modellierung, je höher das Relief, desto abhängiger ist er von der Beleuchtung am Orte, je flacher das Relief, je ,, durch- gängiger es das Licht auffängt", desto freier auch die Verschiebbarkeit des Standpunktes , und zwar nicht allein in der Parallele zum Bildwerk, sondern auch in der Distanz.

Damit sind wir zu einem neuen Widerspruch zu Hildebrand geraten, der auch für das Relief wie für das Gemälde verlangt, dass alle räumlichen Be- ziehungen und alle Formunterschiede von einem Standpunkte aus, sozusagen von vorn nach hinten abgelesen werden.

Was wir von Rafaels Komposition in Relief- übertragung behauptet haben, gilt unseres Erachtens auch von dem klassischen Relief der Griechen , mit dem wir sie verglichen. Dagegen giebt es in der Geschichte der Reliefkunst, sowol im Altertum wie in neueren Zeiten Beispiele genug, in denen die For- derung Hildebrands, d. h. die Anweisung eines festen

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Relief - Anschauung

und entfernten Standpunktes für den Beschauer er- füllt ist. Nennen wir als besonders schlagend für die Darstellung sowol eines Innenraumes wie einer Landschaft nebst andern Kombinationen nur die Kanzelreliefs des Benedetto da Majano mit Geschich- ten des heiligen Franciscus in Sta Croce zu Florenz. An jeder Seite des Polygons der Kanzelbrüstung be- findet sich ein stark eingerahmtes und dadurch selb- ständig gemachtes Bild, das durch seine Raum- und Formenperspektive dem Beschauer seinen Stand- punkt, besonders in den Reliefs der Hauptaxen ganz bestimmt, anweist. Grade diese und alle verwandten Reliefs, wie sie etwa in der Alexandrinischen Kunst mit Einbeziehung des landschaftlichen Schauplatzes vorkommen, entsprechen sonst aber keineswegs mehr den Principien der klassischen Reliefkunst. Denn ein mehr oder minder entfernt gedachter Hinter- grund kehrt sich nicht mehr an das Tiefenmafs der Figuren u. s. w. Dagegen entsprechen grade sie dem Charakter des Fernbildes nach Hildebrands Definition, deren Gültigkeit wir für die realistische Malerei unbedingt anerkannt haben.

Es kann also nicht richtig sein, wenn Hilde- brand für das plastische Relief der Griechen erklärt, die Reliefvorstellung fusse auf dem Eindruck eines Fernbildes. Aus der Nähe gesehene Natur sei nicht als Relief gesehen.

Die Differenz kann nur in der relativen Be- deutung des Ausdruckes Nähe und Entfernung lie- gen, und es käme darauf an, die Schwelle zu be- zeichnen oder doch eine Gränzregion zu finden, wo

Nähe oder Ferne

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der Übergang aus der einen in die andre Auffassung sich vollzieht.

Unzweifelhaft richtig bleibt Hildebrands Be- hauptung, aus der Nähe gesehene Natur sei nicht als Relief gesehen, solange unter Nähe die unmittel- bare unsrer Tastregion verstanden werden soll und unter Natur in erster Linie die Dinge um uns her. Denn in diesem Umkreis führt auch das Sehen zur kubischen Auffassung der Einzelkörper und über diese hinaus höchstens zu einer Orientierung über das Verhältnis unseres eigenen Leibes zu dieser Nachbarschaft. Aber unser Gesichtskreis erweitert sich bald, da das Auge dem Antrieb zur vollen An- spannung seiner Sehkraft folgt und die Vorstellung ebenso nach der Tiefe strebt. Unser Blick um- spannt in seiner notwendigen Abwechslung , ob tastend noch, ob schweifend oder ausruhend, je nach der Breite dieses Spielraums ein Nebeneinander, und dies ist entweder ein Körper mit einem Stück der weiteren Umgebung dahinter oder eine Mehr- zahl von Körpern mit solchem gemeinsamen Grunde, mag diese Gränzfläche hinten auch noch so nahe stehen, dass auch eine Mehrzahl von Körpern sich nur in einer Distanzschicht auszubreiten vermag, also noch keine Verschiebung hinter einander aufweist. Dies wäre doch wol schon eine Entfernung, bei der die Reliefauffassung eintreten könnte , aber noch lange nicht das Fernbild , wie wir es als Domäne der Malerei betrachtet.

Auch das Relief giebt, wie die Malerei, haben wir uns früher gesagt Körper und Raum zu-

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Relief - Anschauung

gleich. Es behandelt also , wird man meinen , den selben Gegenstand, den wir der Malerei zugewiesen. Aber es versucht diese Aufgabe noch ganz mit den Mitteln der Plastik, d. h. als Sache der Körper- bildnerin zu lösen. Die Reliefkunst gehört also in ein Zwischenreich zwischen Malerei und Plastik, wie die tektönische Körperbildung ein solches zwischen Plastik und Architektur erfüllt. So weit hatten wir die Unterscheidung, wo es auf die Bestimmung des Malerischen sozusagen in der Malerei selber ankam (Heft I, 40), zunächst geführt, zumal ,,da die kritische Beleuchtung dieser Mittelregion selbst erst Erfolg versprach, wenn vorher das Wesen der beiden Nach- barinnen im Innersten erfasst war."3)

Wenn es nun aber darauf ankommt, die Gränzen der Malerei und der Plastik zu bestimmen, indem wir grade dies Übergangsgebiet genauer auf seine Zugehörigkeit zur einen oder zur anderen Nach- barin prüfen, so greifen wir am besten auf Hilde- brands eigene Limitation des Fernbildes zurück.

,,Erst von einer bestimmten Distanzschicht an sehen unsre Augen parallel" mögen sie nun kurzsichtig oder weitsichtig sein, es giebt eine Durch- schnittsmitte für diese Gränzregion ,,und nehmen die Erscheinungsobjekte mit einem Blick als einheit- liches Flächenbild oder als Fernbild auf. Was in

1) Trotzdem hat ein Berliner Recensent, der nicht einmal den Gesamtplan dieser Beiträge beachten wollen, schon von jenem ersten Heft verlangt, es müsste doch auch über den malerischen Charakter gewisser Reliefs z. B. am Kaiser Wilhelmsdenkmal in Berlin Rechenschaft geben.

Sehfeld und Tastregion

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der Mitte unseres Sehfeldes liegt, wird am stärksten wahrgenommen, nach dem Rande zu verschwindet dieser Eindruck. Ebenso wird das, was direkt vor der Distanzschicht, vor der eigentlichen Bühne ist, noch als Übergang mit wahr- genommen. Der eigentliche Raum aber, welcher erscheint, liegt hinter dieser Distanzschicht oder fängt mit dieser erst eigentlich an."

Dieser eigentliche Raum , der als Fernbild im engern Sinne erscheint, ist der Bildraum, sagen wir einmal des Landschaftsmalers vorzugsweise. Wir müssen ihn hier ausscheiden, wo es gilt den Spiel- raum für die Plastik zu finden. Wenn nun jener „Übergang", der noch mit wahrgenommen wird, eben die Übergangsregion wäre , die wir suchen, d. h. grade die Zone, wo unsere Tastregion noch in das Sehfeld hineinragt und direkt vor der Distanz- schicht auftritt, mit der oder hinter der das Reich des Fernbildes beginnt?

Hier liegt der Rahmen des Bildes , der mehr oder minder reliefmäfsig ausgeführt zu sein pflegt, und eben als Übergang zwischen dem wirklichen dreidimensionalen Raum , in dem wir stehen , und dem idealen Raum des Bildes , in den wir hinaus schauen, zugleich vermittelt und scheidet. Er ist für die Bildfläche eine positive Instanz , die ihr das selbständige Schalten und Walten im Innern dieses Ausschnittes sichert und den Aufbau der Welt, die der Maler darin ertäuschen kann, als eigne, für sich bestehende garantiert. Er ist für den Be-

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Relief - Anschauung

schauer dagegen eine negative Instanz , die ihm die Verwechslung mit dem wirklichen Raum und der vollen Körperlichkeit um ihn her verbietet. Der Be- schauer kann nicht tatsächlich „in den Raum hinein schreiten" x), durch eigne Ortsbewegung seines Körpers das Tiefenvolumen durchmessen, ebenso wenig wie sich stossen an den andern Körpern darin ; sondern das Gefühl der einheitlichen Tiefenbewegung beruht ganz auf der Vorstellung, die der optische Schein in uns anregt.

Das ist es, jener Bildraum liegt jenseits unsrer Tastregion und wird uns ausschliesslich durch das Auge als Gesichtseindruck übermittelt; er ist nicht greifbar , wie der Rahmen des Bildes und wie die andern ,, wirklichen" Gegenstände um uns her, die ausser ihm vielleicht noch in unser vom entfernteren Standpunkt sich bietendes Sehfeld hineinragen. Der Rahmen selbst aber sagt uns durch seine Relief- behandlung, dass er sich an der Stelle befindet, wo nach alter Erfahrung Relief am Platze ist. Aber nicht immer wird er reliefmässig profiliert oder als glatte Leiste doch, von aussen nach innen verlaufend, als schräge Übergangsfläche gegeben ; sondern es kommt auch die glatte Leiste als senkrechte Ebene behandelt vor, oder mit einem First in der Mitte nach beiden Seiten absteigend profiliert, ja ganz umgekehrt, von innen nach aussen abgeschrägt, so dass die Bildfläche als Parallelebene vor die Wand-

i) Vgl. oben die Stelle aus Hildebrand und die Erklärung, S. 34-

Rahmen und Bildregion

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fläche hinaustritt. Es muss also mit dem Rahmen ausserdem noch eine andre Bewandnis haben. Jeden- falls wirkt bei seiner Behandlung noch eine andre Mafsnahme mit als der Abstand des Beschauers allein, der sich verändern und bis zur Greifbarkeit dieses untern Rahmens annähern lässt. Es ist dies die Höhe, in der wir Gemälde anzubringen pflegen, und damit kommen wir auf einen andern ausserordent- lich wichtigen Punkt für die Bestimmung der Gränzen zwischen Fernbild und Relief, oder zwischen male- rischer und plastischer Auffassung überhaupt.

Diese Höhe ergiebt sich schon bei der physio- logischen Bestimmung unseres Sehfeldes aus dem natürlichen Bedürfnis der bequemen Funktion unserer Organe in ihrer normalen Lage. Die horizontale Lage der beiden Augäpfel im oberen Teil unseres Kopfes würde beim Anblick einer vor uns , nicht allzu entfernt stehenden Wand eine Neigung des Kopfes nach vorn nötig machen, sobald wir auch den untersten Teil dieser senkrechten Fläche und weiter die daranstossende Horizontalebene des Fuss- bodens überblicken wollen, wenn diese Neigung nicht schon von Natur vorgesorgt wäre. Um so mehr gilt es, wenn wir nach oben über eine gewisse Höhe hinausschauen, erst die leise natürliche Inklination unseres Augenpaares aufzuheben und dann weiter noch eine Neigung des Kopfes nach rückwärts zu Hülfe zu nehmen. In dem letztern Fall, nach oben zu, ist das entstehende Muskelgefühl also stärker bemerklich als im erstem Fall, nach unten zu. Ähn- liche Organgefühle entstehen aber ausserdem noch

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Relief - Anschauung

bei der seitlichen Drehung im Verfolg einer Strecke nach rechts oder links herum.

Vor allen Dingen aber bildet unser Sehraum als Ganzes eine innere Kugel fläche, deren Mittel- region nur unser Sehfeld nach jeder Seite, wohin wir grade schauen, in eine senkrechte Ebene überzugehen scheint und als solche vorgestellt wird. Ausserhalb dieser mittleren Ebene, die vor uns steht, liegen nach unten, wie nach oben, und nach beiden Seiten dieses Sehfeldes, Übergänge von sphärischer Kurvatur, bei deren Verfolg mit unsern Augen not- wendig Bewegungsgefühle entstehen, die aus dem begleitenden Muskelapparat, der dabei in Anspruch genommen wird , herstammen , aber gewiss in der weiteren motorischen Region nachzittern und zu Bewegungsvorstellungen disponieren.

Zwischen unsern Fussfpitzen und dem Anfang des bequem sich darbietenden Sehfeldes liegt sozu- sagen ein Anlauf. Die reliefmäfsige Behandlung des Rahmens unten giebt also den letzten Teil der untern Kurvatur der Kugelfläche unseres natürlichen Sehraums wieder. Die glatte Leiste, die sich in der selben Richtung von aussen nach innen abschrägt, ist nur die Reduktion dieses Ausdrucks auf eine ebene Fläche , also eine Assimilation an unsre Auffassung des Sehfeldes oder an die regelmäfsige Form der Wand , die die Architektur bereits in diesem Sinne behandelt hat. Legen wir die Horizontale des untern Rahmens genau in diese Höhe der Wand über dem Boden, auf dem wir stehen, so funktio- niert er ganz exakt als Gränze zwischen Tastraum

Relative Höhe der Bildzone

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(oder realem Schauplatz) hier und Bildraum (oder idealem Schauplatz) dort, oder, bleiben wir im Reiche der Kunst, zwischen der architektonischen Schöpfung hier und der malerischen dort.

Legen wir diesen untern Rand des Bildes oder der Bühne auch nur etwas tiefer, so fällt der vordere Streifen dieses sich öffnenden Raumes, wie etwa von der Lampenreihe und dem Souffleurkasten bis an das erste Koulissenpaar auf unserm Theater , noch ebenso unter den natürlichen Zwang der von aussen nach innen zurückweichenden Reliefanschauung, wie vorher der Rahmen selbst sich dieser Kurvatur unseres Sehens bequemte. Das kann besonders in Wandgemälden geschehen, die den Eindruck er- wecken wollen, als blickten wir in anstossende Räum- lichkeiten hinaus. So ist bei Rafaels Disputa und Schule von Athen der ziemlich tief herabreichende Vordergrund eben deshalb für die plastische Behand- lung, die ihn auszeichnet, berechtigt und trägt nicht wenig dazu bei, die Illusion der Raumentfaltung im Anschluss an die Bedingungen der vorhandenen Archi- tektur hervorzubringen. Im Parnass erhöht sich der Boden, links und rechts vom einspringenden Fenster, und die Stirnseite des Podiums wird gar mit grau in grau gemalten Reliefbildern geschmückt; aber durch das ansteigende Terrain des Musenhügels wird grade die plastische Auffassung der vordersten Ge- stalten als voll sich rundende Körper wieder energisch herausgefordert. Drüben endlich, unter der Justitia, sondern sich die Bestandteile auch in selbständige Ganze von zweierlei Charakter. Unten links und

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Relief - Anschauung

rechts auf gleicher Höhe ein schmälerer und ein breiterer Einblick in anstossende Gemächer, wo der Kaiser mit seinen Räten, der Papst mit seinen Kar- dinälen in leibhaftiger Gegenwart vor Augen stehen. Droben über dem verbindenden Architrav in der Bogenöffnung, durch die der blaue Himmel herein- schaut, die plastisch körperhaft auf den Terrassen- stufen aufgebaute Gruppe der drei Tugenden mit ihren Genien dazwischen, Alles gemalt, aber aus dem sichern Gefühl heraus in voller kubischer Stärke, weil in dieser Höhe vor dem Deckengewölbe wieder die günstige Region für plastische Rundung beginnt. Nur verläuft hier die Kurvatur des Übergangs zwischen den Ebenen, die aufeinanderstossen, zwischen Wand und Decke also , sozusagen in umgekehrter Richtung als der Übergang zwischen Fussboden und Wand unten. Deshalb bewegt sich das Profil des Simswerks ebenso wie das des Rahmens, die wir in dieser Höhe anzubringen pflegen, in aufsteigender Richtung und kragt immer weiter vor, wo immer eine Ausgestaltung dieser Kurvatur mit tektonischer Plastik versucht wird.

In dem folgenden Zimmer des Vatikans , der Stanza d'Eliodoro liegt der vordere Bühnenrand aller Gemälde höher ; ihre Gestalten rücken auch im Vordergrund dem Beschauer nicht so nah; sein Abstand, tatsächlich nur im gleichen Spielraum sich bewegend, wird für das Auge freier, und weiter für die Vorstellung. Es sind historische Ereignisse, die in der Vergangenheit liegen ; aber die Gegenwart des Papstes und seiner Begleiter bringt sie dem Be-

Das Reich des Plastischen und des Bildlichen \ß\

schauer, und brachte sie dem damals Lebenden erst- recht, noch immer ^n den Umkreis des Selber-Er- lebten. Unzweifelhaft ist hier ein weiterer Schritt zum malerischen Standpunkt getan.

Aber , bei der wechselnden Unbestimmtheit im Abstände, die durch das subjektive Ermessen und durch die objektive Beschaffenheit des Platzes un- vermeidlich wird, kann erst in ziemlicher Höhe über dem Boden die Erscheinung des Bildes in optischer Reinheit wirken und von der Einmischung unsrer Tastgefühle sozusagen frei gehalten werden.

So sondern wir in einem Innenraum , je mehr wir täglich darin verkehren, die untere Region der Wände durch Holzvertäfelung oder andre mehr oder minder plastisch-tektonische Behandlung von der oberen Region , wo die bildliche Anschauung allein regieren soll. Auch dafür sind die Stanzen des Vatikans lehrreich, besonders das Zimmer des Burg- brands , wo die Sockelfiguren durch ihre plastische Malerei gradezu den Raum verengern. Ganz unten am Boden ist ja der Platz für die Postamente der Statuen und andre tektonische Körper, die vor der Wand stehen oder aus ihr hervortreten, d. h. eine eminent plastische Region, soweit es das Gefühl des Besuchers oder gar Bewohners ihr gestattet sich auszudehnen. Es ist der Bannkreis des Gestaltungs- raumes für kubische Gebilde gleich uns selbst. Hier blicken wir den Sachen, schon durch die natürliche Stellung unsres paarigen Sehorgans veranlasst, sozu- sagen zuerst auf den Kopf, sie nach ihrem Ver- hältnis zu uns nach Höhe, Umfang und Abstand zu

Schmarsow, Plastik, Malerei u. Relief kunst. jt

162

Relief - Anschauung

fragen. Es ist ein Abtasten der Körper mit den Augen, von dem wir uns erst allmählich zu ruhigerer Anschauung zurückziehen.

Die Zone dagegen, in der unser Schauen dem Körperdrange vollends enthoben wird, wo das Fern- bild in voller Freiheit sich vor uns ausbreiten mag, liegt über der realen Höhe unserer Augen oder gar unsres Kopfes , d. h. über der Horizontale zwischen unsern Augäpfeln oder gar über unserm Scheitel, also an der Wand gemessen etwa in Manneshöhe, wo wir der Wandbekleidung wol gar ein abschliessen- des Sims verleihen, vorgekragt, um die Gränze gegen das idealere Obergeschoss zu markieren, wo unsre Gesichtsvorstellungen allein walten. Diese Zone reicht hinauf bis zum Ende des Sehfeldes, wo wieder die Kurvatur unseres Sehraumes sich geltend macht, indem wir, durch die Anlage unseres Sehapparates gezwungen, Alles, was sich zeigt, zunächst wieder aul seine Vertikalaxe prüfen.

Nach den Seiten zu bestehen aber, wie wir uns gesagt, ähnliche Übergänge von dem Sehfeld vor uns, oder der Bildfläche , die wir grade betrachten, zu den folgenden links und rechts, wie sie etwa im Innenraum rechtwinklig aufeinanderstossen. Die archi- tektonische Raumbildung führt hier für gewöhnlich die regelmässige stereometrische Form durch , be- tont eben im rechtwinkligen Aufeinanderstossen der Wände die Gesetzmässigkeit ihrer Schöpfung nach den Anforderungen der abstrakten Raumvorstellung. Für das lebendige Gefühl des menschlichen Subjekts in solchem Räume walten hier ebensogut die natür-

Gestaltungsräume und Bildflächen

163

liehen Bedingungen unseres Sehens ; die Muskel- empfindungen, die unsere Augenbewegung begleiten, erregen die verwandte Sphäre der Tastregion und qualificieren auch diese Stelle der überleitenden Kurvatur als Spielraum für unsere Bewegungsvor- stellungen und die Formvorstellungen nach Analogie unsres organischen Leibes.

So finden wir den Bildraum des Malers an den Wänden ringsum, nach unten und oben, nach links und rechts umgeben von Gebietsteilen des bildsamen Gestaltungsraumes und kommen zu dem Schluss:

Wo der nahe Umkreis um uns selbst, in dem wir dreidimensionale Körper gleich dem unseren er- warten und anzutreffen gewohnt sind, also das Be- reich der Rundplastik, aufhört und sich der ent- fernteren Distanzschicht des Fernbildes nähert, da liegt, zum Teil noch in dieses Sehfeld hineinragend oder doch häufig noch mit wahrgenommen, die Übergangssphäre, wo die Reliefanschauung waltet. Hier ergiebt sie sich für unsere menschliche Organisation ganz natürlich ; denn hier gleitet für unser Auge wie für unser Körpergefühl die Auffas- sung der Einzelkörper für sich in die Auffassung ihres Zusammenhanges über, sei es unter einander, sei es mit ihrer räumlichen Umgebung. So erklärt sich die Entstehung der Reliefkunst aus der Natur dieser in unserem Verhältnis zur Aussenwelt vorhandenen Übergangssphäre und zugleich ihr Charakter als Zwischenreich zwischen Plastik und Malerei.

Ihr Gestaltungsraum unterscheidet sich von dem der Rundplastik dadurch, dass er nach hinten von

1 1 *

164

Relief - Anschauung

einer festen und undurchsichtigen Gränzfläche ab- geschlossen wird und an dieser tektonischen Scheide- wand des bildsamen und durchschaubaren Raumes haftet. Diese tektonische Fläche, mag sie (wie bei Grabstelen) frei aufgerichtet stehen oder als Bestand- teil zu einer massiven Mauer gehören, schneidet die Möglichkeit ab , das Bildwerk anders als von der Vorderseite zu betrachten. Im Übrigen jedoch lässt sie den Wechsel des Standpunktes gegenüber dieser vorderen Parallelebene ebenso offen, wie sonstige tektonische Gebilde, die an einer Fläche haften, d. h. sowol seitliche Verschiebung auf der Standlinie des Beschauers als auch Veränderung des Abstandes selber. Die tektonische Scheidewand hinten hebt jedoch, für diese Betrachtung selbst, das Vordringen des Blickes in die Tiefe dadurch auf, dass sie den weitern Raum abschneidet. So wirkt sie als nega- tive Instanz, indem sie die Konsequenz des Schauens von einem festen und entfernten Stand- punkt verbietet. Eben dadurch hält sie positiv die freie Wahl seitlicher Bewegungen und die Be- rechtigung des tastenden Sehens aus der Nähe zur Ergänzung offen. Sie wirkt als positive Instanz ferner dadurch, dass sie selbst wie den weiteren Raum auch den weiteren Zusammenhang überhaupt, die Garantie aller sonstigen Bedingungen räumlich- körperlicher Existenz bedeutet. So zwingt sie die Anwandlungen zu fortschreitender Tiefenbewegung, die unsre Vorstellung vollzieht, zurückzustauen und in der einen Schicht des Gestaltungsraumes sich auszubreiten, damit aber zur Körpervorstellung, von

Das Zwischenreich der Reliefkunst

165

der die Gestaltung ausgegangen, immer als zur Haupt- sache heimzulenken.

Die Reliefvorstellung fusst also auf dem Eindruck eines Fernbildes ebenso wenig, wie sie auf dem nahen Standpunkt kubischer Körperschau allein beruhen kann. Das wenigstens glauben wir grade vom klassischen Relief der Griechen aussagen zu dürfen.

VI.

DIE RELIEFKUNST

us diesen Erwägungen über die verschiedenen Faktoren, die zur Reliefvorstellung zusam- menwirken und die Übergangssphäre charak- terisieren, wo deren künstlerische Behandlung sich ergehen kann , muss aber noch Eins hervortreten : Die Beziehungen der Reliefkunst erstrecken sich nicht allein nach der Seite der Malerei, deren Pro- blem, den räumlichen Zusammenhang zwischen den Körpern darzustellen, sie aufnimmt und mit den Mitteln der Plastik zunächst zu lösen versucht, son- dern sie erstrecken sich auch ebenso nach der Seite der Tektonik. Ja diese müssen ihr näher liegen, so lange sie ihre Gestaltung vorerst als Körperbildnerin fortzusetzen trachtet. An die Nachbarin Tektonik lehnt sie sich an, an die Bedingungen ihrer regelmä- fsigen Formen, an ihre stereometrische Gesetzmäfsig- keit knüpft sie die Darstellung organischer Körper, wo diese nicht mehr auf sich selber allein beruhen

Darstellung des Zusammenhangs

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können, wo nicht deren Körperlichkeit, sondern deren Zusammenhang im Räume zum Hauptanliegen geworden ist. Zu den Errungenschaften der Kry- stallisation und zum Glauben an die Beharrung ihrer Gebilde muss die Plastik ihre Zuflucht nehmen, wenn der dreidimensionale Komplex in ihrer eige- nen Organisation nicht stark genug mehr ausfällt, um sich selber aufrecht zu erhalten, oder wenn die Bewegung, die sie zu fassen sucht, den Grundstock ihrer Körperbildung ins Schwanken bringt. Das heisst also , das Zwischenreich , das die Reliefkunst für sich gründen mag, liegt nicht zwischen Malerei und Plastik im engeren Sinne , sondern wir müssen Plastik hier in dem weiteren Sinne verstehen, den wir für die ,, Körperbildnerin" aufgestellt haben, ver- möge dessen sie auch den verwandten Charakter der Tektonik mit umfasst ; dies Zwischenreich be- rührt also die Gränze des tektonischen Schaffens und' übernimmt die Handhabung seiner Gesetze, so- weit sie selber sich dadurch zu sichern oder son- stige Vorzüge zu gewinnen vermag. Die eigentlich plastische Behandlung aber , die Körpervorstellung nach dem Ebenbilde des Menschen , also die Orga- nisation und Belebung in diesem Sinne, bleibt doch der Mittelpunkt, wo der Kern ihres Wesens zu suchen ist. So stellt also in der Reliefkunst sich ein ähnliches Verhältnis heraus, wie in der Gruppen- bildung, als deren weitere Fortsetzung wir ihre Be- strebungen nach Wiedergabe eines Zusammenhangs auffassen dürfen. Auch hier giebt es eine specifisch plastisch gesonnene Mittelregion und zwei Abzwei-

1G8

Die Reliefkunst

gungen davon : einmal nach der Seite der Tektonik, das andre mal nach der Seite der Malerei. Inso- fern aber das Relief über die Gruppe hinausstrebt auf das nämliche Ziel hinüber, muss auch die Ten- denz zum Malerischen überwiegen, und zwar, so weit dies nicht in der Natur des Problemes selber liegt, jedenfalls durch den Erfolg und den Fortgang der geschichtlichen Entwicklung, der die Zukunft gehörte.

So gelangen wir dazu, im Unterschied von der bisher üblichen Bezeichnung nach den beiden Ex- tremen der plastischen Rundung Flach- und Hoch- Relief, und im Unterschied von Hildebrand, der das klassische Hochrelief der Griechen lieber als Tief- Relief definieren möchte (S. 71), eine erste grund- legende Dreiteilung aufzustellen, die sowol den na- türlichen Bedingungen unsres Sehraumes , unsrer Tastregion und unsrer Ortsbewegung auf der einen Seite, wie dem Charakter der künstlerischen Auf- fassung, der sich ebenso natürlich nur auf solcher psychologischen Grundlage entwickeln kann, gerecht zu werden versucht. Wir unterscheiden als Haupt- klassen das Flachrelief, das Hochrelief und das Tiefrelief von einander, indem wir unter dem letzten etwas ganz anderes, als Hildebrand vorschlägt, verstehen müssen. Es liegt auch hier in der Natur der Sache, dass der Zweck solcher Einteilung nur die Klärung der Begriffe und die Übersichtlichkeit des historischen Materials oder der künstlerischen Richtungen sein kann, nicht aber die Aufrichtung starrer Gränzen, zwischen denen es keine

Drei Hauptarten

169

Vermittlung gäbe. Im Gegenteil, wir werden schon im Interesse der Ästhetik hier auf solche Mittelstufen ausdrücklich eingehen. Unsere Auffassung der Relief- kunst als ein Ubergangsgebiet bestätigt sich grade durch den Sachverhalt, dass die Gränzen der ver- schiedenen Stadien in einander fliessen , also nur relativ bestimmt werden können. Das Gestaltungs- princip ist jedoch in den drei Hauptklassen so grund- sätzlich von einander verschieden, dass eine genaue Definition versucht werden muss. J)

Das Hochrelief bestimmt sich nicht allein nach dem äussersten Mafs der Erhebung, von dem der Name ausgeht, indem es die dritte Dimension der dargestellten Körper bis zur Ubereinstimmung mit der Wirklichkeit ausdehnen kann. Denn mit diesem Mafsstab wäre ja zunächst auch die Forderung der Lebensgrösse gegeben, an die sich die Relief kunst jedoch ebensowenig bindet wie die Rundplastik. Es gehört als ergänzende Bestimmung vielmehr hinzu, dass die Normalhöhe der Figuren die Gesamthöhe der Bildfläche für sich in Anspruch nimmt, über den Köpfen also keinen leeren Luftraum übrig lässt. Damit ist die Wirkung unter Lebensgrösse für die Vorstellung ausgeschlossen, mag das Mafs in Wirk- lichkeit sein, welches es will. Es giebt keinen Raum ausser dem durch die Körper selbst erfüllten, also auch weder in der Höhe noch in der Tiefe eine

i) Ich gebe sie, wie seit Anbeginn meiner Lehrtätigkeit, im Sinne meiner ganzen Kunstlehre, darf also anderweitige Versuche, die von fremden Gesichtspunkten ausgehen, ausser Betracht lassen.

170

Die Reliefkunst

Macht, die diese dargestellten Wesen herabdrücken oder verkürzen, gefährden oder irgendwie beeinflussen könnte. Nur gleich organisierte Geschöpfe treten mit ihnen auf, sei es als Gefährten, sei es als Gegner; also der Mensch und sein Ideal, der Heros oder gar der Gott, dazu das bodenständige Tier in seiner Gemeinschaft, das Ross, der Hund, das Rind u. s. w., oder im Kampfe wie der Löwe, der Hirsch, der Eber u. s. w., während der Adler aus der Luftregion nur als Körper unter gleichen Bedingungen zugelassen wird und selbst der Drache, die Schlange sich zum gleichwertigen Gebilde zusammenballt. Das Höhen- mafs des Menschen überträgt sich gar auf die andern organischen Geschöpfe, die grösser sind als er, auf die Tiere sowol wie auf den Baum, indem es sie herabmindert, oder auf die kleineren, indem es sie vergrössert. Der Wert des Hochreliefs aber besteht grade in diesem Festhalten der Körpervorstellung im Sinne der echten Plastik, also des organischen Menschenleibes vor allen Dingen. Nur Einer Macht, die über sie alle hingeht, haben sie ausserdem sich anzubequemen, das ist die des Bundesgenossen, durch den sie als Formgebilde sichtbar werden, das Licht. Die Gliedmafsen der Vorderseite mögen sich in voller Rundung vom Rumpfe abheben ; aber sie dürfen keinen Schatten werfen auf die Nachbarformen, so dass diese dadurch zerrissen oder unkenntlich werden, - also die Deutlichkeit der Erscheinungsform für die Erkennung des Gegenstandes ist die erste Forderung. Eine gewisse freie Entfaltung jedes Einzelkörpers, die dabei unsrer Vorstellung entgegenkommt, wird

Das Hochrelief

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die Komposition beherrschen. Sie ist auch für die weitere Durchbildung der Leiber in der dritten Di- mension von Vorteil , indem sie alle schwierigen Komplikationen vermeidet. Da kommt es auf wirk- lichkeitsgemäfse Verhältnisse in der Dicke wenig an, wenn nur die volle Wirkung ihres Scheines erreicht wird, und auch dieser verläuft am sichersten ohne Überschneidungen und Unterbrechungen bis zur ge- lungenen Rechenschaft über die Gegenseite der Ge- stalt im Grunde. Dient doch diese offene Haltung und freie Uberschau des ganzen Körpergebildes auch am besten dem innersten Anliegen des plastischen Künstlers, die „plastische Schönheit" der Kreatur zu zeigen und dem Genuss des Beschauers aufzutischen. Aber freilich der Reliefbildner geht nicht auf die Wiedergabe der organischen Schönheit des Einzel- wesens allein aus ; er will sie im Zusammenhang mehrerer zeigen, wo die Reize der Bewegung und Beziehung sich so viel reicher entfalten.

Wo kann also bei einer Vielheit von Organismen, die nebeneinander ausgebreitet werden, die Einheit liegen, die das Kunstwerk erst zum Ganzen erhebt? Die Frage liegt ähnlich wie bei der Gruppe. Aber die Ant- wort wird schon durch die grössere Anzahl von Figu- ren, die das Relief zu enthalten vermag, noch eher von der Aufrechterhaltung des organischen Gesichtspunktes oder der möglichsten Annäherung an diesen zurück- stehen und die einheitliche Zusammenfassung anderswo suchen als in der Komposition allein. Verschliesst sich nicht dieser die Möglichkeit eines strengeren Koncentrierens durch die Abschneidung der Tiefen-

172

Die Relief kunst

dimension, die über das Volumen des Einzelkörpers nicht hinausreicht? Da bleiben nur die erste und die zweite Dimension übrig, die zusammen in der Fläche liegen. Wieder die tektonische Scheidewand, die den Figuren ihren Rückhalt gewährt? Nein, sie garantiert schon den wirklichen Zusammenhang als Ding der Wirklichkeit oder höchstens, wenn ein Rahmen an der Vorderseite hinzukommt, als Sache der Schwesterkunst Tektonik. Aber eben die Vorder- seite, an der dieser Rahmen schon die Hand der Kunst bezeichnet, sie muss es sein, die auch das plastische Schaffen zuerst durch seine Behandlung zur Einheit zu entwickeln strebt. Die vordere Pa- rallelebene muss auch die Einheit des Zusammen- hangs darbieten, die dem Bildwerk als künstlerischer Schöpfung das Recht des Daseins gewährt. Die Höhendimension aber ist bereits der organischen Einheit gewidmet, kein Versuch darüber hinauszugehen möglich. In der Breite reihen sich diese organischen Einheiten nebeneinander. Hier allein könnten die ersten Versuche gemacht werden, und hier werden sie in der Tat angestellt. Zuerst können sie nur wieder auf die Anordnung der Einzeigrössen im Nebeneinander verfallen, also die zweite Dimension als Länge von einem Ende bis zum andern auffassen, für den entlang schreitenden oder blickenden Be- trachter, oder aber als Breite von der Mittelaxe aus nach beiden Seiten, also für den stillstehenden Be- schauer auf seinem festen Standpunkt. Die Erste führt zu den Gesetzen der regelmäfsigen oder alter- nierenden Reihung, die Andre zu den Gesetzen der

Das Hochrelief

173

Symmetrie auf beiden Seiten der ideal eingelegten Mittelaxe oder einer körperlich ausgebildeten Do- minante. Das sind aber Beides nur Übertragungen der Gliederungsprincipe , die aus der Ornamentik stammen, und deren letztes erst zur Einheit führen mag, indem es mit gleichwertigen organischen Ge- bilden eine Gruppierung ermöglicht, die in der Fläche schon zum Ausdruck kommt. Eben damit ist aber auch ausgesprochen, dass sie keine specifische Lei- stung des Hochreliefs bedeutet, das seine Figuren voll ausrundet. Sie erscheint bei solchem Aufwand von Mitteln der Körperlichkeit wie ein Surrogat; diese Einheit kann durch andre Verfahren auch schon, vielleicht gar vollkommener geleistet werden. Also muss auch die charakteristische Eigenschaft des Hoch- reliefs, die grade in der adäquaten Entwicklung der Tiefendimension seiner Gestalten liegt, zu der Einheit wenigstens soweit mitwirken, wie sie gegeben wird. Nicht in der Vorderfläche allein, sondern in der Flächenschicht, die den Gestaltungsraum ausmacht, muss die Einheit erreicht werden. So tritt zur Aus- breitung der organischen Gebilde in ihrer gegebenen Höhe und ihrer gewählten Aufreihung noch ein Drittes hinzu, das auch den Zusammenhang in der dritten Axe der Körper vermittelt, das ist die Entfaltung dieser Figuren nach hinten zu. Aber nicht direkte Betonung dieser Koordinate in ihrer senkrechten Stellung zur Breiten- und Höhenaxe ist das Ver- mittelnde , also nicht die volle Vorderansicht und Rückansicht der Körper oder die scharfe Profilstellung, sondern die diagonale Richtung erfüllt diese aus-

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Die Reliefkunst

gleichende Verbindung, also die Schrägstellung der Figuren. Diese Dreiviertelansicht ist aber grade der offenen Haltung und freien Überschau günstig, von der wir gesprochen. Indess die Leitungsbahn, auf der sich allein die Vermittlung bewegen kann, die Körperform selbst, versagt ja bald, da die Gränz- fläche hinten, wie gesagt, die weitere Raumtiefe schliesst. Nicht sie also, die Raumvorstellung als solche, vermag die Trägerin der gesuchten Einheit zu werden, sondern nur die innigste Gemeinschaft der Gestalten und ihres eigensten zugehörigen Raum- volumens, in der gegebenen Flächenschicht.

Hier aber waltet als Medium, das sich über alle ergiesst , die selbe Macht , durch die sich die Ge- schöpfe des Bildners dem Auge darstellen, das Licht. Es dringt wie die Formen selber, die des Bildners Hand gerundet, bis an jene Scheidewand und um- giebt die festen Bestandteile der Masse mit dem Hell und Dunkel , das sie fürs Auge ,, modelliert", in dem wir ein Ergebnis unsrer tastenden Hände auf den Gesichtseindruck übertragen. Sollen wir Rechen- schaft ablegen , was im Relief wirklich vorliegt , so können wir nur auf Ausdrücke verfallen, die an zeitliche Vorstellungen appellieren, wie ,, Flächen- bewegung", die also mehr auf die Frage nach dem Werden als nach dem Sein antworten. Oder wir verbinden diese Stadien künstlich, indem wir von der ,,Undulation der Masse" behaupten, sie müsse plötzlich ,, geronnen" sein. Dabei aber übergehen wir ganz die Gegenstandsvorstellungen , die dies Substrat erweckt, und deren weitere Associationen.

Das Hochrelief

175

Genug, die Einheit besteht nicht etwa in einer ge- läuterten Gesichtsvorstellung allein , nicht in dem optischen Genuss , wie ihn harmonische Verteilung der Schatten und Lichter zu gewähren vermag, sondern auch hier in einer Synthese, die unsre Vor- stellungstätigkeit auf Grund aller Anregungen leistet, die der Künstler ihr zuführt.

Unsere Erörterung der Möglichkeiten bei Ge- legenheit des Hochreliefs muss schon die Punkte hervortreten lassen, wo die Abweichungen anzusetzen vermögen. Es wäre darnach leicht, die Umbildung nach ihren verschiedenen Richtungen hin als all- mähliche Verschiebung des Princips zu schildern ; doch wird es an dieser Stelle ratsam , auch die Gegensätze scharf hervortreten zu lassen.

Wenn das Hochrelief als die eigentlich plastische Lösung des Problems , den Zusammenhang orga- nischer Körper in den Gränzen ihres Gestaltungs- raumes selber mit Hülfe nur eines festen unbezeich- neten Hintergrundes darzustellen, betrachtet werden muss, und auch seine stärkste Modellierung durch die entstehenden Gegensätze von Hell und Dunkel zunächst nur als Äusserung des nämlichen eminent plastischen Sinnes aufgefasst werden darf, dem es um die vollrunde Körperlichkeit seiner Gebilde zu tun ist, so fragen wir uns, bis zu welcher Gränze dieses Princip der Gestaltung auf der andern Seite aufrecht erhalten werden kann, wo es gilt, der vollen Modellierung durch Schatten und Licht zu entsagen. Ihre kräftigen Kontraste beschränkten, wie wir sahen, die Darstellung der Figuren auf offene Haltungen

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Die Reliefkunst

und freie , durch keine Überschneidungen gestörte Ansichten des Ganzen, die selbst kontrastierende Be- wegung der korrespondierenden Glieder eines Leibes, den sogenannten Kontrapost, nicht leicht verträgt. Der Ubertritt aus den Bedingungen im Freien zu der einseitigen oder durch Reflexe zerstreuteren Beleuchtung im Innenraum kann ebenso dazu bei- tragen, auf die volle Rundung zu verzichten.

Da begegnen wir zunächst einer Übergangs- klasse, die zwischen dem Hochrelief und dem Flach- relief in der Mitte liegt, und deshalb von den Italienern ,,mezzo rilievo" genannt wird. Wir können es , dem Gesichtspunkt , den wir verfolgen , ent- sprechend , nach der andern Bedeutung des selben Wortes, als Halbrelief bezeichnen, weil seine charakteristische Eigenschaft darin besteht, dass es die Hälfte des menschlichen Körpers, von der jedes- maligen Schauseite bis an die Vertikalaxe, wieder- giebt und für diese den natürlichen Eindruck zu er- reichen sucht, so dass es sich zuweilen zu wirklicher Übereinstimmung herausmodelliert. Die vordersten Formen, die dem Beschauer am nächsten liegen, erhalten auch hier die stärkste Erhebung, aber sie lösen sich nirgends wie im Hochrelief zu freier Rundung los. Noch immer kommt es dem Bildner darauf an, die Gliederung der Formen in ihrem Reichtum zu vermitteln ; aber die starken Kontraste der Lichter und Schatten gleichen sich aus, und ihre mildere Auseinandersetzung eignet sich besonders für Innenräume mit seitlichem oder zerstreutem Licht, die dem Hochrelief widerstreben.

Das Halbrelief

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Dies Halbrelief pflegt auch bei Münzen, Medaillen und geschnittenen Steinen angewandt zu werden , wo es sich also um kleinen Mafsstab und nähere Betrachtung handelt, solange der Beschauer sie in die Hand nimmt, um sie zu begucken. Hin- kommt die Beweglichkeit des Verhältnisses , die zwischen ihm und dem Bildwerk eben durch die wechselnde Verschiebung der Lage sich einstellt, begünstigend hinzu, um die natürliche Beweglich- keit der Oberfläche organischer Formen zu ge- messen, wie sie im Spiel der zufälligen oder will- kürlichen Beleuchtung zu erscheinen pflegt.

Und in der Tat, die Grundfläche wirkt immer wie ein schimmerndes Medium, das uns die weitere Form entzieht , um so entschiedener natürlich , je mehr von der Fläche über und neben den Figuren stehen bleibt. Im Verein mit der weichen fliessen- den Ausgleichung der Formen für den darüber hin- gleitenden Blick unsrer Augen vermag dieser Hinter- grund, weiss oder gar blau getönt, vielleicht auch in zarter Vergoldung, zum Luftraum zu werden, der lichtdurchtränkt und duftig keine scharfe Durch- schneidung der Raumaxen mehr erkennen lässt und keine stereometrische Härte mehr duldet.

Noch einen weitern Schritt im Verzicht auf den nahen Genuss der Schönheit organischer Formen bedeutet das Basrelief, das die eingehendere Model- lierung und innere Gliederung aufgiebt, indem es die Schatten hier zu Gunsten des Umrisses aussen unterdrückt. Indessen, diese Ableitung aus dem Halbrelief entspricht sicher nicht der Entstehung des

Schmarsow, Plastik, Malerei u. Relief kunst. 12

178

Die Reliefkunst

Flachreliefs, das von dieser raffinierteren Übergangs- stufe grade weit entfernt liegt. Es kommt vielmehr auf die andre Seite seines Charakters an, die es der Tektonik nähert.

Das Flachrelief bewahrt das Wesen der tektonischen Flächenschicht auch für seine künstle- rische Existenz als bildliche Darstellung fast immer in mafsgebender Stärke. Es empfängt die Abbilder der lebendigen Geschöpfe ursprünglich nur zur Be- lebung seiner Schauseite, wie jede sonstige Flächen- ornamentik, als Zutat von sekundärer Bedeutung. Auch die menschlichen Gestalten sind an sich nicht mehr als die geläufigen Tier- und Pflanzenmotive, ja als stereometrische und planimetrische Elemente, die zur einfachsten, von allen Gegenstandsvor- stellungen vielleicht noch freien Rhythmisierung der Flächendimension dienten. Ihre ästhetische Funktion ist so lange gewiss nur die : den simultanen Ein- druck der tektonischen Form in successive Auf- fassung zu übertragen ; denn so allein vermögen wir Menschen die starre, an sich aller Bewegung fremde Raumgrösse zu ermessen, also auch die ,, Aus- dehnung" — unsere Sprache übersetzt ja mit diesem Wort schon die Ruhe in Tätigkeit nachzufühlen, an uns zu erleben. Es ist also eine Durchdringung von Beharrung und Bewegung, die hier stattfindet, wie in aller künstlerischen Behandlung. Aber im tektonischen Körper will die Beharrung weit über- wiegen. Es wird also der feste Bestand der Stein-, Thon- oder Erzplatte nur an der Oberfläche ein wenig aufgelockert. Nur wie ein Hauch des Lebens

Das Flachrelief

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haftet die einfache Bemalung oder Zeichnung darauf; etwas weiter dringen Einritzung und Auskerbung, bis zur Gränze der ersten dünnen Flächenschicht, wo wir von Basrelief reden. Der feste Charakter des tektonischen Bestandes prägt sich auch in dieser konservativsten aller Reliefarten aus , wo immer sie zum plastischen Bildwerk ausgestaltet wird. Der Künstler sucht die Einheit in dem massiven Volumen, dessen Vorderseite er bearbeitet, selbst. Die reale Fläche mit ihren zwei Dimensionen überwiegt ja so stark. Sie repräsentiert den Raumkörper , aus dem auch die Figuren sich nur wie leise Protuberanzen hervorheben, die den Gesamteindruck der Ebene kaum alterieren. Die dritte Dimension ist also nur latent in dieser Masse , noch ungetrennt von den beiden andern Ausdehnungen , vorhanden , und nur das geringe Quantum, das zwischen der tektonischen Fläche und der ideellen Parallelebene vorn liegt, das niedrige Mafs der Erhebung, mit dem die Figuren aus dem Grunde vorspringen, gehört dieser dritten Richtung als wirklicher Spielraum, in dem sie ihre Kraft versuchen kann.

So wird jede weitere Konsequenz der vollen Körperlichkeit für die organischen Gebilde , sofern sie nicht schon in der flächenhaften Erscheinung ihrer Gesamtform gegeben liegt , von vorn herein abgewiesen. Dem Umriss allein fällt die Aufgabe zu, beim ersten Blick schon die zutreffende Gegen- standsvorstellung zu erwecken. Das Höhenlot oder doch die Wachstumsaxe bleibt das unentbehr- lichste Wahrzeichen, das uns nicht vorenthalten

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Die Relief kunst

werden darf, wo immer es gilt, Unsresgleichen zu erkennen. Und die nämliche Richtungsaxe des Wachstums brauchen wir bei den Tieren, bei denen sie anders liegt, nämlich mit der Rich- tungsaxe der Ortsbewegung zusammenfällt, wie beim Vierfüssler und beim Fisch. Bis an das Rückgrat muss der Körper des Löwen erscheinen, wenn die Auffassung des organischen Gewächses die Haupt- sache bleiben soll. Um diese Mittelaxe des Wachs- tums reihen sich die Paare homologer Glieder. Sie wenigstens muss der Umriss bieten, den das flache Relief zu seinem wesentlichsten Mittel der Dar- stellung ausbildet. Von der Wachstumsaxe geht des- halb auch die Körperauffassung des Bildners wie des Beschauers aus und folgt der Entfaltung von der Grundfläche bis an die vordere Parallelebene , mit der wir die Schauseite wie mit einer Glasplatte be- deckt denken mögen. Sie gewinnt den Schein der Rundung, weil die Erhebung aller vor der Mittelaxe gelegenen Körperteile, wie der Schultern, der Arme oder was sonst dem Betrachter am nächsten steht, grade die geringste bleibt. Die Andeutung dieser inneren Gliederung begnügt sich mit den einfachsten Hauptsachen, unterdrückt, wie gesagt, die Schatten zum grossen Teil, um den äusseren auf der Grund- fläche keine Konkurrenz zu machen ; denn diese sind die unerlässliche Voraussetzung der Deutlichkeit. Um den Umriss auch auf hellem Grunde noch hin- reichend sich abheben zu lassen, wird er so be- handelt , dass die Erhebung unvermittelt und senk- recht gegen den Grund abtällt, und wo auch dieses

Das Flachrelief

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nicht hinreicht , wird sie wol gar unterschnitten, so dass eine kräftige Schattenlinie den Rand der Form begleitet. Grade der Verzicht auf genauere Detaillierung im Innern sichert auch dem Umriss den Schein der Rundung.

Mit diesem Verzicht gewinnt aber das Flach- relief ausserdem einen Zuwachs an Körperhaltungen und Bewegungsmotiven, die dem Hochrelief versagt blieben. Der Kontrapost z. B. und mancherlei Ver- kürzungen oder Überschneidungen lassen sich mit voller Klarheit wiedergeben, und mit ihrer Hülfe eröffnet sich ein Reichtum von Beziehungen, der mit dem starken Schattenschlag des höheren Reliefs versucht nur Verwirrung zerrissener Formen dar- bieten würde.

Freilich die tektonische Herkunft und Zurück- haltung des Flachreliefs erhält auch in der Kompo- sition lange eine ausgesprochene Neigung zu strenger Gesetzlichkeit. Sie versucht wol gar mit den Gliederungsprincipien der regelmäfsigen oder alter- nierenden Reihung und der symmetrischen Grup- pierung der Körper im schlichten Nebeneinander auszukommen, d. h. sie begnügt sich mit einer einzigen Figurenreihe und vermeidet jede Anwand- lung zu weiterer Tiefenbewegung. Aber die histo- rische Entwicklung im engen Bunde mit der Tek- tonik und der Baukunst selbst , in denen diese Ge- setze walten , hat auch die plastische Behandlung und die Komposition des Flachreliefs weiter ge- trieben, wie es schon das unvergleichliche Meister- stück, der P a r t h e n o n f r i e s , in der verschiedenen

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Die Reliefkunst

Ökonomie vereinzelter oder zusammengeschobener Figuren je nach dem Bestimmungsort am Bauwerk erkennen lässt.

Ein andrer Ansatzpunkt für weitere Abwei- chungen der Reliefkunst liegt sowol im Flachrelief, wie im Hochrelief und deren Mittelglied, dem Halb- relief, an der Stelle, wo die Grundfläche sich dem Fortschreiten der Tiefenbewegung, die unser Auge und unsre Vorstellung zu vollziehen trachten, ent- gegenstellt. Diese Gränze zwischen der durchgestal- teten Schicht und dem unbezeichneten tektonischen Rückhalt weiter hinauszuschieben, ist ein natürlicher Antrieb , der sich bei jedem der bisher erwähnten Gestaltungsgrundsätze einstellen mag. Wie nahe der Drang nach dem Hintereinander mehrerer Er- scheinungen liegt, selbst im Flachrelief, lehrt ein Blick auf das soeben genannte Beispiel vom Par- thenon. Bei der Höhe, in der dieser Zug der Panathenäen die Cella des Tempels schmückte, und dem verhältnismäfsig nahen Standort der Betrachter im Peristyl, hat sich von selbst ergeben, die Höhe des Frieses statt der Tiefe auszubeuten : die Reiter besonders steigen, wo die Bewegung staut, zum Teil übereinander hinaus. Unter andern Verhältnissen muss ebenso noch die Grundfläche selber für eine weitere Figurenschicht herhalten, aber schon wirk- lich hinter der vorderen Reihe. Dies kann nur da- durch erreicht werden, dass man zwei Principien der Gestaltung, einen stärkeren und einen schwächeren Mafsstab der Erhebung, mit einander verbindet, wie an den Triumphalreliefs im Titusbogen, die für die

Mischung der Gestaltungsprincipe

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vorübergehende Betrachtung beim Durchschreiten des Tores gedacht, auch nur unter diesen Be- dingungen der successiven Auffassung die volle Lebendigkeit und plastische Berechtigung gewinnen. In späteren Versuchen kühnster Art steigert sich die Verbindung wol zu drei verschiedenen Abstufungen des Hoch-, Halb- und Flachreliefs, freilich stets mit dem Zwang , die Höhendimension des Grundes an Stelle der Tiefe mitfungieren zu lassen. Wenn es auf einen gemeinsamen Namen für diese Kombina- tionen ankäme , so würde sich wol die Bezeichnung als gemischtes Relief am natürlichsten anbieten. Denn sie bedeuten allesamt keine einheitliche Lösung im Sinne eines neuen Gestaltungsprincipes und ver- tragen deshalb fast nie eine längere eingehende Be- trachtung, ja nicht einmal ein dauerndes Verweilen auf dem günstigsten Standpunkt, wo die wirksame Erscheinung doch beim ersten Anblick machtvoll genug überraschen mag.

Schon der Aufbau einer Gruppe von Körpern, deren Zusammenhang auch nach der dritten Dimen- sion sich aussprechen soll , lässt ohne locker hinzu- geordnete Lückenbüsser eben unausgefüllte Lücken offen, wo der Raum als solcher mit seinem eigenen Anspruch hineinschaut. Die reichen Motive der Verbindung und Durcheinanderschlingung , die den sichtbaren Zusammenhang organischer Geschöpfe vor- wiegend im Nebeneinander von einem Ende bis zum andern verfolgen, sind schnell erschöpft. Es wird also leicht zu Beziehungen und Verknüpfungen innerer Art vorgeschritten, die sich nicht völlig,

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Die Reliefkunst

sondern nur teilweise veranschaulichen lassen, also der ergänzenden Nachhülfe der Phantasie bedürfen. Damit aber wird die an sich schon successive Auf- fassung im Verfolg des durchgehenden Zuges noch transitorischer , ja sozusagen kryptopoetisch. Nicht allein Verkürzungen und Überschneidungen rechnen mit einer Stärke der dritten Dimension, die sich nicht im Relief selber bewährt, sondern auch der Kausalnexus giebt uns Anweisungen auf eine da- hinter liegende Welt, die wir nicht gewahren. Das Alles drängt weiter und findet eine gemeinsame Möglichkeit der Befriedigung erst dann , wenn die Einheit nicht mehr in der Körpervorstellung, im Sinne des plastischen Schaffens gesucht wird , son- dern in der Raumvorstellung, nach Art der Malerei. So entsteht die dritte Hauptklasse des Reliefs , die wir aufgestellt haben :

Das T i e f r e 1 i e f ist es , das die künstlerische Einheit von den Körpern auf den Raum verlegt und diesem räumlichen Zusammenhang die tonangebende Rolle im Ganzen überlässt. Wenn aber die Einheit nicht in der ersten und zweiten Dimension, die schon die Fläche bietet, sondern erst in der dritten erreicht werden kann und soll, so muss diese Tiefen- dimension mächtiger werden, als sie im Gestaltungs- raum der Reliefschicht bisher in allen Fällen ge- wesen ist. Nicht mehr das reale Tiefenmafs der Körper ist der entscheidende Faktor, noch der Körperschein im Nebeneinander einer gemeinsamen Flächenschicht, sondern eine Mehrzahl von solchen Gründen schiebt sich hintereinander, die obere Luft-

Das Tiefrelief

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region über den Köpfen der Figuren gewinnt einen Zuwachs, der den Einfluss einer unbezeichneten Region der weitern Welt fühlen lässt, und erst hinten im Centraipunkt, in dem alle Parallellinien nach der Tiefe zu zusammenzugehen scheinen , d. h. in der letzten Konsequenz des perspektivischen Raum- scheines wird auch die greifbare Einheit wieder er- reicht. Damit ergiebt sich als Gesetz dieser Klasse die sogenannte Reliefperspektive, die den natür- lichen Bestand organischer Körper zurechtdrückt, ver- kürzt und auflöst nach dem Bedürfnis des optischen Scheines. Die ganze Rechnung nähert sich also, soweit dies irgend im plastischen Material erreichbar wird, dem Bildraum der Malerei, und die malerische Aufgabe ist es , die dies Relief zu lösen versucht. Und zwar kann hier , da es sich nicht wie bei den Anfängen der Malerei um eine Projektion auf die Fläche handelt, sondern um einen Hohlraum, in dem körperliche Elemente nach Art der Koulissen auf unsrer Bühne und mehr oder minder flachgequetschte Figuren dazwischen disponiert sind , auch für den Beschauer nur um einen festen und entfernten Stand- punkt handeln , der noch enger als unser Theater jede seitliche Verschiebung ausschliesst, weil sie so- fort einen Teil der illusionären Wirkung aufhebt. Diese Klasse des Reliefs muss also nach dem Grund- princip, das darin waltet, als das speciflsch male- rische bezeichnet werden, während bei andern immer nur von einzelnen „malerischen Wirkungen" oder in die andersartige Gesamtrechnung aufgenom- menen Kunstmitteln der Malerei die Rede sein darf.

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Die Relief kunst

Hier stellen sich auch im Fortgang der histo- rischen Entwicklung alle Folgerungen ein, die sich unter der Herrschaft der Raumperspektive ebenso für die körperlichen Bestandteile ergeben : die Ver- kleinerung ihres Mafsstabes schon im Vordergrund, die Gleichstellung der organischen Geschöpfe mit den Baugliedern der Architektur oder mit andern Gegenständen, die zur Bezeichnung des Schauplatzes, der umgebenden Welt dienen. Nur dieses Tief- relief entspricht also allen Bedingungen und allen Anwartschaften des Fernbildes, wie es unser Seh- feld eröffnen mag. *) Aber es setzt sich im Inter- esse der Bildvorstellung" auch über die letzten Rücksichten auf annähernde Übereinstimmung mit der Körperform in natura, besonders in der Dicke, vollends hinweg. Ebendeshalb haben alle Verehrer des klassischen Reliefs der Griechen stets Einspruch dagegen erhoben , und auch Hildebrand sollte wol vor dieser Konsequenz seines Princips zurück- schrecken.

Eine ganze Entstehungsgeschichte dieses male- rischen Tiefreliefs aus verschiedenen Anläufen stellt uns die Reihe von zehn ,,Erzbildern" an der Porta del Paradiso von Ghiberti am Baptisterium zu Florenz vor Augen. Ein weiteres lehrreiches Beispiel sind die Kanzelreliefs von Benedetto da Majano, die wir sogleich eingangs erwähnten. Diesseits der Alpen

i) Ob diese Art des Tiefreliefs aber die Forderungen erfüllt, die Hildebrand mit der „einheitlichen Tiefenvorstellung" in der Reliefanschauung vom entfernten Standpunkt geleistet glaubt (S. 67), das ist eine andre Frage.

Perspektivisches Flachrelief

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mag auf das typisch malerische Verfahren am Grab- mal Maximilians in Innsbruck hingewiesen werden, das dem ganzen Norden geläufig wird. Die folgenden Jahrhunderte bis zum Ausgang des Rokoko sind über- reich an den mannichfaltigsten Leistungen solcher Art.

Wie wir aber ein ausgeführtes Gemälde in der Zeichnung gleichsam auf einen linearen Auszug zu reducieren versuchen, so kann das Grundprincip des Tiefreliefs auch auf die Bedingungen des Flach- reliefs eingeschränkt werden, um auch hier die malerische Anschauung, bei der die Raumeinheit überwiegt , durchzuführen. So entsteht eine Misch- art zwischen den beiden äussersten Extremen, die wir als „perspektivisches Flachrelief" kurz- weg bezeichnen. Donatello hat in seiner Schlüssel- übergabe (im South Kensington Museum zu London) ein Beispiel geliefert, das über den malerischen Cha- rakter der Intention keinen Zweifel lässt. Seine Ge- hülfen in Padua treiben die perspektivische Kon- struktion noch weiter.1) In der ganzen Reliefkunst des Quattrocento spielt es eine wichtige Rolle. Das allerflachste Relief nähert sich dann selbstverständ- lich im Grunde der Gravierung und Zeichnung, be- sonders der einritzenden Vorbereitung damaliger Fresken und der Silberstiftarbeit auf farbig grundier- tem Papier in ihren Studien, d. h. auch den technischen Verfahrungsweisen der Malerei als Kunst.

i) Vgl. Schmarsow, Donatello, Breslau 1886, p. 16. 27. 33 fr. 37. 41. 49. M. Semrau, Donatellos Kanzeln in S. Lorenzo. Bres- lau 1891 , besonders das aus unsern Seminarstudien erwachsene Kapitel über Donatellos Reliefkunst.

VII.

RELIEF ANSCHAUUNG UND DEKORATION

enn die Unterscheidung dreier Hauptarten von Relief, die wir zugleich im Hinblick auf Misch- arten und Übergangsstufen von häufig nicht minder ausgebreiteter Verwendung entwickelt haben, im künstlerischen Charakter jeder Einzelnen begrün- det war und in der Lösung des Problems einen Fortschritt vom Tektonischen zum echt Plastischen und von da weiter zum Malerischen erkennen Hess, den die normative Ästhetik sich veranlasst fühlen könnte, sogleich als Aufstieg zur Höhe und Abstieg zu bezeichnen, und gewiss, so lange sie den Standpunkt der Bildner ei als mafsgebend festhält, mit einigem Recht, so erhebt sich für den Weiterblickenden doch die Frage, ob die praktische Verwendung dieser verschiedenen Reliefarten an der Hand geschichtlicher Beispiele und theoretischer Erwägung dieser Tatsachen nicht auch noch zur Erklärung beizutragen vermöge.

Tektonische Wandgliederung

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Wurden wir doch beim Aufsuchen der Übergangs- region zwischen der kubischen Nachbarschaft des menschlichen Subjekts hier und der Distanzschicht des eigentlichen Fernbildes dort, wo die Reliefanschau- ung 'sich von selbst, als Übergang zwischen Rund- plastik und Flächenbild ergab, schon auf solche praktischen Beispiele, wie den Rahmen des Bildes, geführt.

Wir fanden den Rahmen reliefmässig profiliert entweder nach innen gegen die Bildfläche, oder nach aussen gegen die Wandfläche schräg verlaufend ; wir fanden ihn aber auch von beiden Flächen ansteigend mit einem First in der Mitte überhöht; wir fanden ihn endlich als glatte Leiste nur als Gränze, mehr als andersfarbenen Intervall, denn als selbständiges Glied, in der gleichmäfsig durchlaufenden Fläche behandelt. Jedesmal unter andern Bedingungen; und nur die Relief behandlung, die bis zur vollen Aus- rundung vortretender Säulen auf den Seiten, wie Sockel unten und Sims oben, fortschreiten mochte, haben wir verfolgt. Die Analogie mit den tektoni- schen Gliedern des Raumgebildes selbst leuchtet ein und damit der Zusammenhang aller dieser Möglich- keiten mit der Behandlung der Dekoration des Innen- raumes oder des Aussenbaues, wie die Architektur als Kunst sie in ihrer Rechnung verwertet,

Es ist die Frage, wie weit die Reliefanschauung sich auf die Ausgestaltung des Raumgebildes im Innern oder des Raumkörpers nach Aussen übertragen muss oder darf, in deren Zusammenhang wir auch die Frage nach der Wahl dieser oder jener Reliefart und damit

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Reliefanschauung und Dekoration

zugleich die ebenfalls berührte Frage nach der An- bringung rundplastischer Werke, Statuen oder Gruppen an der Wand, zu beantworten hätten.

Das Kriterium, nach dem wir zu befinden haben, ist bereits aufgestellt, wo es galt den Ursprung und das Wesen der Reliefvorstellung selber zu erklären. Es ist in der Natur des menschlichen Sehraumes als einer innern Kugelfläche gegeben. Diese hat sich mit der regelmäfsigen stereometrischen Form des architektonischen Raumgebildes, dessen Wände als senkrechte, dessen Boden und Decke als horizontale Ebenen rechtwinklig aufeinander stossen, sei es als Ganzes im Innern, oder gegenüber jeder Aussenansicht eines Bauwerks, wenigstens nach einer Seite hin künst- lerisch auseinander zu setzen. Gewisse Bauwerke, deren Innenraum sich der Form der Sehsphäre annähert, so- weit es die Statik auf dem Erdboden als notwendiger Unterlage gestattet, wie das Pantheon und verwandte Kuppelbauten, nehmen diesen Ausgleich in den Bau- gedanken selber auf und geben somit eine architek- tonische Lösung des Problems, die gewisse Zeiten als Ideal beherrscht. Im Grossen und Ganzen der geschichtlichen Entwicklung sind sie jedoch Aus- nahmen, und die Auseinandersetzung des natürlichen Sehraums mit den rechtwinkligen stereometrischen Raumformen der Architektur bleibt die Regel, die wir ins Auge zu fassen haben. Jene Centraibauten negieren sogar, da sie fast nie weiträumig genug sein können, eine Tatsache, wo Sehraum und Raum- form sonst übereinstimmen, nämlich die Auffassung des Sehfeldes, das von einer gewissen Distanz an

Sehraum und Bauwerk

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nicht mehr als Ausschnitt einer innern Kugelfläche, d. h. als Kalotte, in die wir hineinschauen, sondern als senkrechte Ebene, die vor uns steht, genommen wird. Zwischen den vier senkrechten Ebenen des Innenraumes ringsum, wie zwischen ihnen und den horizontalen Ebenen des Bodens unten und der Decke oben, liegen indess, wie wir besprochen haben, die Übergangskurven des Sehraums, die sich für unser Gefühl auch gegenüber der rechtwinkligen Form des Aufbaues geltend machen, und in der künstlerischen Ausgestaltung dieser Zonen ihr Recht behaupten. Dies Gefühl wird in unsern gewohnten Raumverhält- nissen, besonders in Wohnungen grade in der untern Region zwischen Fussboden und Wand sehr ein- geschränkt, und zwar durch die Höhenlage des Fuss- bodens zu unserm Augenpaar, so dass nur der oberste Teil der Kurvatur gegen das Sehfeld ansteigt. In seiner ganzen Stärke aber meldet es sich in weiten hohen Räumen, zumal wenn wir in deren Mitte ein Podium besteigen oder eine Kanzel, die den Fuss- boden für unser Schauen ringsum tiefer legt als ge- wöhnlich, die Lage unsres Augenpaars dagegen höher , dem Centrum des Axensystemes der Räum- lichkeit näher rückt. Ähnlich ist es bei offenen Treppenanlagen der Fall , bei deren Anstieg etwa ein Podest die Überschau nach unten frei legt.

Eben dieses Beispiel selbst giebt die erste starke Bewährung unsres Princips in dem nach unten vor- springenden, nach oben zurückweichenden Stufen- lager , etwa bei der Frontansicht eines Tempels, oder im grösseren Mafsstab beim Aufgang zur Akro-

192 Reliefanschauung und Dekoration

polis, zum Kapitol, zur Walhalla. Die Säulen auf der letzten Stufe, dem Stylobat selber, sei es mit Fussplatte und Wulst oder ohne sie in einfacher Ausladung des dorischen Schaftes nach unten, sie beweisen, dass hier die Kurvatur des Übergangs vor dem entschieden senkrechten Aufsteigen zur Höhe wirksam genug waltet. Wo statt der Säulen, dieser eminent plastischen voll ausgerundeten Bauglieder, dagegen die massive Mauer aufsteigt, wie am Unterbau des Mausoleums von Halikarnass oder der Altarstätte von Pergamon, da bietet die Wandfläche, wol gar durch Stufengang daneben erstrecht herausgefordert, eine Zone des Anlaufs für unsern Blick, der in vorquellen- den Formen nach unten, in zurückweichenden nach oben seinen bildnerischen Ausdruck sucht, und ent- weder in analogen Kurven tektonischer Profile oder vollends in plastischer Gestaltung befriedigt wird. Jemehr wir durch die leise Neigung unsres Augen- paares nach abwärts dazu kommen, den Erscheinungen dieser Sockelregion sozusagen auf den Kopf zu sehen, da nähert sich dieses Sehen der abtastenden Prüfung ihres Volumens , die das Vorhandensein dreidimen- sionaler Körper ausser uns konstatiert. „Vorhanden sein" heisst im ursprünglichsten Sinne unsrer Mutter- sprache ja ,,vor Händen sein", d. h. in greifbarer Nähe, im Umkreis der Tastregion.

Grade im untersten Streifen des monumentalen Raumkörpers dicht über dem Fussboden liegt also ein Bereich für die Gestaltung, wo ihr die mächtig- sten Associationen mit den Erfahrungen unsres eigenen Leibes entgegenkommen, wo überall die Analogieen

Sockelregion Hochrelief

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leiblicher Berührung hervordrängen, d. h. für uns die natürliche Disposition zu vollplastischer Auffassung entsteht. Tektonik und Plastik aber setzen sich klar auseinander , indem der Erstem die stereometrische Form des Postaments bis zur Ausladung in Stufen- absätzen zufällt, der Letztern aber die Darstellung organischer Körper selbst. Und so bestimmt sich der Charakter des untersten Sockelreliefs als ein besonders starkes Hochrelief, in dem der For- mendrang sich noch elementarer und urwüchsiger regen darf als in den höheren Regionen , wo auch die reinem Formen wohnen. Je tiefer die Plastik herabgreift, desto mehr quellen ihre Gebilde nach unten vor nach Analogie des ablaufenden tek- tonischen Profils, das an ihre Stelle treten müsste. Da ist es denn ein erdgeborenes Geschlecht, das sich wuchtiger und massiger noch daherwälzt , als der leichtfüssigere Menschensohn auf den heiteren Gefilden , wo die Ordnung der Olympischen sich ausbreitet. Der Titanenkampf am Unterbau von Pergamon ist das schlagende Beispiel für unser ästhetisches Verhältnis zu diesem untern Bezirk, das natürlich erst zu einer Zeit so klar zum Austrag kommen konnte, in der die Plastik sich frei zu be- wegen, nicht nur dem strengen Gesetz der Archi- tektur sich zu bequemen gelernt hatte, ja gelegent- lich auch aufgelegt war, der altern Schwester ihren Boden abzuringen für den plastischen Drang nach Organisation.

Ringsum am Anstieg eines cylindrischen Bau- werks, turmartig, oder bei weiterer Reduktion des

Schmarsow, Plastik, Malerei u. Reliefkunst. 13

194

Reliefanschauung und Dekoration

Hohlraums als einzeln aufragende Ehrensäule, wäre die nämliche Behandlung am Platze, nur unter be- stimmender Herrschaft natürlich des architektonischen Gesamtprofils.

Denken wir uns aber die selbe Reliefart in das Innere einer Tempelcella, eines Säles versetzt, so wird sie sich sofort, bei nicht sehr weiten Dimen- sionen als Verengerung des untern Spielraums er- weisen. Sie dringt dem menschlichen Subjekt so mächtig mit dem Anspruch gleichorganisierter Körper entgegen, dass es sich beunruhigt fühlt, als rückten diese Wesen ihm auf den Leib. So verbietet es sich, je mehr der Raum zum dauernden Aufenthalte dient, und je mehr andrerseits die besondern Bedingungen der Beleuchtung aus dieser untern Region auch eine dunklere Region machen, in der die Ausgestaltung nur als einheitliche Masse zu wirken vermöchte. So hat gegossene Erzarbeit noch länger Berechtigung als die Bildhauerei, in Marmor gar, kann aber durch monochrome, vielleicht direkt bronzefarbene Malerei ersetzt werden, da sie in der Gesamtrechnung doch nur dekorativen Wert besitzt.

So steigt die Reliefanschauung im Innern über tektonischem Sockel etwas mehr in die Höhe und gewinnt hier kurz vor dem Übergang in das Sehfeld die bequem sichtbare, aber nicht mehr angetastete Zone der eigensten Berechtigung, die wir als Ursprungs- bereich anerkannt haben. Nur die Bedingtheit der Beleuchtung zwingt im Innenraum das Hochrelief auf diese Stelle zu verzichten, die es am Aussenbau so glücklich behauptet. Es ist die Höhe der attischen

Innenraum Mezzorilievo

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Grabstelen mit ihren vollausgerundeten Figuren vor einer Rückwand, frei oder auch von beiden Seiten durch schmale Wandstücke eingeschlossen , die noch den Bedingungen der plastischen Gruppe ganz nahe stehen. Etwas höher hinauf gewinnt die Tendenz zur Ausbreitung in der Fläche schon mehr die Ober- hand. Wo aber im Innern eines Gemaches seitliche Lichtzufuhr die Schlagschatten der ersten Figuren am Fenster auf die Nachbarn wirft , und wol gar weiter in der Reihe, da muss schon das Hochrelief verschwinden und wird durch das nächstverwandte, das Halbrelief, ersetzt.

In der Tat gewinnt an dieser Stelle das Mezzo- rilievo seine eigentümlichste Ausbildung, und zwar in beträchtlichem Umfang. Es eignet sich vorzüglich für den Innenraum durch die intimste Eigenschaft seines Wesens, da es nämlich vom tektonischen Grunde aus, in dem die Höhenaxen seiner Figuren liegen, sich plastisch entfaltet, wie im leisen Hervor- schieben der organischen Gestalt, die sich gegen die vordere Parallelebene , wie gegen eine Glasfläche drängt, die ihrerseits als Gränze der obersten und nur noch schwächsten Erhebung den Charakter der Wand als Fläche oder des darüber hin sich aus- breitenden Sehfeldes aufrecht erhält. Am Aussen- bau dagegen räumt ihm das Hochrelief sein natür- liches Vorzugsrecht, in dieser Region unter freiem Himmel zu gedeihen, nur da ein, wo es gilt, den architektonischen Gesamtumriss nicht durch Aus- ladung und Auflockerung zu beeinträchtigen, sondern ihn am ganzen Bauwerk geschlossen zusammenzu-

13*

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Relief an schauung und Dekoration

halten. So z. B. am choragischen Monument des Lysikrates und an Ehrensäulen, wo man darauf ver- fallen, sie oberhalb des Sockels und der Basis noch figürlich zu schmücken, oder an festen Marmorvasen, wo ähnliche Bedingungen vorhanden sind.

Je mehr aber in dieser Höhe, die wir prüfend mustern, der Charakter der tektonischen Fläche be- wahrt wird, also die Wand in durchgehender Eben- heit sich ausbreitet , desto stärker macht sich an dem Ende des Sehfeldes links und rechts, oder gar in den Ecken des Sales , wo die Wände aneinander stossen, dies bewegliche Wesen der überleitenden Kurvatur unseres sphärischen Sehraums bemerkbar. Es ist, als ob die Schärfe des architektonischen Ge- setzes, die diese Stelle schweifender Bewegung im rechten Winkel einschliesst , grade den Drang nach Rundung und Schwellung organischer Formen her- vortriebe. Hier treten nicht nur die Pfeiler als Ein- fassung der Wandflächen und als Träger des hori- zontalen Gebälks gern sichtbar heraus , sondern nehmen zu zweit wol gar die volle Säule in ihre Mitte, so dass sie, gleichwie die Genossin am andern Ende der Wand gegenüber, als kräftigste plastische Bildung den Winkel erfüllt. Und wo die tektonische Gliederung des Architekten nicht zu solchem Grade plastischer Organisation des Innenraums vorgeht, da ersieht sich der Bildhauer den günstigen Platz für eine Statue oder gar eine Gruppe, je nach der Breite, zu der er sich im Verhältnis zu den beiden an- stossenden Wänden hervorwagen darf. Sei dies Bild- werk aber auf eigenem Sockel nur in die Ecke ge-

Vor der Wand oder in der Ecke

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schoben oder mit Hülfe des Baumeisters durch eine Nische mit den Wänden vermittelt , immer spielt der Schattenraum für die Wirkung mit und verschafft dem figürlichen Wesen darin eine ziemlich selbstän- dige Existenz und Bedeutung. Das liegt nur an dieser Stelle unseres Sehraums , in dessen Natur wir die Erklärung gesucht haben, wie wir uns sofort über- zeugen , wenn wir dasselbe Bildwerk vor die Mitte einer Wand aufstellen. Sofort wirkt es einerseits mehr als tektonisches Mal, indem es die Beziehung zum Axensystem des Raumes erhält und körperlich signalisiert ; andrerseits aber fordert es reliefmäfsige Ausgleichung mit der tektonischen Fläche, büsst also an selbständigem Wert ein, indem es mit Baugliedern in einen Rang tritt, die sich dem baulichen Zu- sammenhang einordnen, also notwendig zum deko- rativen Faktor herabsinken, in eine Reihe mit Wandsäulen, Pilastern, seitlichen Rahmenstücken und dergleichen, d. h. als Teil von einer Gesamt- heit abhängig werden.

Damit kommen wir zu den Cäsuren und Inter- vallen, die das Sehfeld, wo seine Breitenausdehnung zu gross erscheint, in sich zerteilen und in eine Reihe von mehr oder minder gleichberechtigten Ausschnitten auflösen.

Wie aber kommen wir dazu? Wir nähern uns bei der Betrachtung der verschiedenen Höhen- lagen des Raumes der Gränze, wo das menschliche Sub- jekt sich vorwiegend nur noch als Augengeschöpf be- währen kann. Ortsbewegung und Tastbewegungen be- haupten nicht mehr den Vortritt, sondern die Gesetze

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Reliefanschauung und Dekoration

unsres Sehapparates werden mafsgebend. Da stellt sich bald eine Scheidung ein zwischen dem schwei- fenden Blick, der jenen Körperbewegungen sich an- zuschliessen vermochte, und dem ruhiger verweilen- den Schauen , das sich von dieser Verbindung los- zumachen im Stande wäre, sowie einmal die Mög- lichkeit zum Gefühl gekommen. Erst wenn auch der Beschauer selbst stillsteht , vollzieht sich die Scheidung wirklich , je nachdem die relative Ruhe oder die Bewegung in der rastlosen Tätigkeit des Auges die Oberhand erhält oder das Ergebnis cha- rakterisiert. Dem schweifenden Blick, dem wechseln- den Standpunkt, dem entlang gleitenden Tastorgan wie der Hand, so des Auges bleibt die Wand und das Sehfeld darauf eine Fläche oder wenigstens ein Zweidimensionales, dessen ebene Ausdehnung alle etwaigen Protuberanzen überstimmt. Sowie der Beschauer jedoch auf einem festen Standpunkt be- harrt, macht sich auch die Neigung des Sehfeldes bemerkbar, sich zur sphärischen Fläche einzurunden, oder unser Auge fängt an, in die Tiefe zu streben, d. h. auch auf die Ebene der Wand die Forderung der dritten Dimension zu übertragen. Nun aber giebt es in dem rechtwinkligen Raum , den wir als Paradigma behandeln, bevorzugte Grundrichtungen, in denen sich die Bewegung des menschlichen Sub- jekts vollzieht, also auch bevorzugte Richtungsaxen des vorwärtsschauenden Blickes , der in die Tiefe dringt. Sind die vier Wände nahezu gleich , der Grundriss also fast quadratisch, so sind die Mittel- punkte der vier Wände gleich berechtigt und als

Schweifender und ruhiger Blick

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fünfter kommt noch die Höhe über uns hinzu , die sich zur Dominante aufzuschwingen vermag. Die Diagonalen fungieren daneben ja schon für die Raum- bildung entscheidend und bieten in dieser zum Voll- zug der Tiefe Gelegenheit. Sind die Seiten des Planes ungleich , der Raum ein ausgesprochenes Oblongum , so herrscht auch die längste Richtungs- axe vor und wird ohne Weiteres als Tiefe dieses Raumes angesehen. Dann sind ihre Endpunkte, in der Mitte der Eingangs- und der Schlusswand also die Hauptstellen , während an den Langseiten die transitorische Betrachtung des entlangwandelnden Subjektes vorwaltet und nur in der Mitte noch ein Ruhepunkt, hüben und drüben, von geringerm Werte sich darbietet, der nur durch besondere Vorkehrungen, die zum Verweilen auffordern, gesteigert werden kann. So scheiden sich in dieser ganzen Region des Sehfeldes ringsum die Stellen simultaner von denen successiver Auffassung, und die Diagonalen in die Winkel des Raumes hinein stehen dazwischen wie Intervalle , in denen der Aufbau selber sich aus- spricht.

Stellt sich also, wie wir vorhin versucht, in der Mitte der Schlusswand, grade in der Richtung des stärksten Tiefenvollzuges für unsern Blick, eine Statue dar, so muss sie im Bunde mit der Baukunst, die den Raum nach diesem Axensystem geschaffen, zum Widerhalt gegen den Anspruch an weitere Aus- dehnung der dritten Dimension gefestigt werden. Sie muss als Mal ihm Halt gebieten wie die Wand. Schieben wir sie wieder bei Seite oder vollends in

200 Relief anschauung und Dekoration

die Ecke, wo sie viel selbständiger auftritt, dann zeigt sich sofort , dass das leere Wandfeld geeignet ist, kraft des Tiefblickes zum raumöffnenden Faktor zu werden, d. h. sich als Fenster ins Freie oder in einen Nachbarraum durchbrechen oder wenigstens zur Nische erweitern lässt. Das ist auch ein Platz für ein Gemälde , das den Bildraum im Sinne eines eigenen Raumganzen entwickelt , oder für ein Relief und zwar ohne Zweifel für das Tiefrelief mit der selben Eigenschaft der Raumentfaltung, ja der Perspektive. Die nächsten Wandflächen zu beiden Seiten dieses Mittelstückes etwa, entsprechen der örtlichen Voraussetzung schon nicht mehr so vollauf, werden besser nicht im selben Sinne be- handelt, ob gemalt oder gemeisselt. Die Ökonomie ihrer Gestaltung wird sich mehr auf den wandern- den Gesichtspunkt verlassen, also zu den tektonischen Reliefarten greifen , die sich der successiven Auf- fassung darbieten , und selbst im Flachrelief mehr dekorativen Charakter bewahren. So vollends an den Langseiten, an denen wir vorüberschreiten, be- sonders wenn ihre Ausdehnung nicht so gross ist, dass sie in sich wieder stärkere Abwechslung zwischen Ruhepunkten und Fortschritt nahe legt.

Als eigentliche Region der Bildanschauung für die Malerei haben wir die nächsthöhere anzusehen gelernt, wo das Hineinragen unsrer Tastempfindungen und unsrer Ortsbewegung ganz aufhört bis auf An- klänge, die unser aktives Schauen allzeit hervorruft. In dieser freien Bilderzone ist auch kein Platz mehr für Statuen, Gruppen und Reliefs von stärkerm

Bildregion Flachrelief

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Anspruch an unser Körpergefühl. Je nach der Stärke der Organisation, die der Architekt dort hinaufführt, erhält sich allerdings dieser Anspruch auch für die Plastik ; wo aber die Architektur sich mit dem schlich- ten Bestand ihrer Wände oder mit Pilastern von schwachem Relief begnügt, da sinkt auch die organi- sche Gestalt nach unserm Ebenbild, die an diese Stelle tritt, zu dekorativer Durchschnittsbedeutung herab. Dazwischen aber eröffnen sich die Bildflächen zu freier Behandlung des Malers im Anschluss an den Grad der Bestimmtheit, der durch die konstitutiven Faktoren der Raumbildung oder schon vorhandene Bestandteile der Dekoration noch verlangt wird. Der Unterschied zwischen simultaner und successiver Auffassung gleicht sich aus, und zwar je höher diese Bilderzone hinaufreicht, desto entschiedener im Sinne der gleichmäfsig umlaufenden Bewegung. Dass die Malerei mit ihren Farben auch ein Zusammenwirken des übrigen Raumganzen nach ihren Bedingungen fordern mag, soll hier ausser Betracht bleiben, um die Frage nicht zu komplicieren.

So sondert sich hier bei andrer Rechnung des Gesamtschmuckes unmittelbar vor dem letzten zu- sammenfassenden Gesims der Wand ein ebenso ver- bindender Streifen für Reliefbehandlung aus. Es ist der Fries. Gehört er den Höhenverhältnissen nach vorwiegend zur Wand, so dass er als ihre oberste Lage vor dem Abschluss betrachtet werden muss, so kann auch nur das Flachrelief verwendet werden, das diesen tektonischen Charakter der Flächeneinheit aufrecht erhält. Gehört dieser Streifen jedoch schon

202 Reliefanschauung und Dekoration

zum bekrönenden Abschluss der Wand, nur als breiteres Kranzgesims, so stellt sich die umgekehrte Auffassung ein wie beim Fussgesims, aber ebenso in eminent plastischem Sinne. Es ist die Übergangs- kurve zwischen dem senkrechten Sehfeld der Wand und dem horizontalen der Decke, die sich für unser Augenpaar fühlbar macht, und zwar um so stärker, je grössere Anstrengung der Auf blick kostet. Sofort stellt sich die Beurteilung nach den Eigenschaften vollerer Körperlichkeit ein, also auch ein stärkeres Relief, ebenso wie im ausladenden, nach oben immer stärker hervorspringenden Profil der Kranzgesimse mit ihrer rein tektonischen Bildung.

In beiden Reliefarten herrscht aber für den Fries die nämliche Kompositionsweise, nämlich der fort- laufenden Reihung mit ihren Variationen. Nur wird sich beim Flachrelief der einheitliche Verlauf ringsum um so lieber zur Geltung bringen, als das Gesims darüber nur schwach profiliert ist. Beim stärkern Hochrelief dagegen wird, wo immer es auftritt, auch eine vielfache Teilung nach Einzelkörpern überwiegen, also auch entschiedenere Abteilung oder gar Grup- pierung sich einstellen. Beim Erstem wirkt der Zusammenhang in der Horizontale, beim Letztern dagegen in der Vertikale der Gestalten selbst. Und so findet sich nicht selten der Übergang auch archi- tektonisch fortgesetzt, im Sinne aufwärts strebender Kräfte, indem statt der flachen Decke die Wölbung zwischen den Wänden vermittelt und selbständigen Aufschwung gewinnt. Tritt auch an diesen Stellen die Malerei statt der Plastik ein, so bringt sie doch

Fries Kranzgesims Decke

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die nämliche Auffassung zum Ausdruck und durch- dringt sich mit den nämlichen Gesetzen, sei es der Dekoration , sei es der Raumbildung selber. Die plastische Malerei wie die Stuckplastik des Barock haben hierfür ja viele Beispiele geliefert, aber auch in seiner Weiterbildung zum Rokoko das richtigere ästhetische Gefühl betätigt , dass dort oben über unsern Häuptern der plastische Drang leibhaftiger Kreaturen gleich uns oder gar gigantische Verkör- perungen elementarer Kraft nicht lange vertragen werden, dass sie das menschliche Subjekt bedrängen, ihm den Aufenthalt in solchem Raum, wenn nicht verleiden, doch so lange zu stören drohen, bis es sich gegen die Illusion abstumpft.

Die Decke schliesst ja zunächst nur das Reich der Lüfte über uns von dem eigenen Raum, in dem wir leben und weben, aus. Damit bestimmt sich auch das Gewicht, das sie verträgt, sobald sie nicht mehr als tektonisches Gefüge allein , sondern als plastisches Gebilde oder als Bild gar weiter aus- geführt werden soll. Die Tendenz zur Wölbung oder gar Durchbrechung ist aber bezeichnend für die Kraft, die die natürliche Form unsres Sehraumes auch hier bewährt.

Wir begnügen uns mit diesem Fingerzeig für die zahlreichen Versuche befriedigender Lösung ihres künstlerischen Formproblems, die der geschichtliche Fortschritt der beteiligten Künste selber aufweist. Hier kommt es nur noch darauf an, einen verglei- chenden Blick zum Aussenbau hinüber zu werfen, zu dessen Bedingungen wir sofort zurückkehren,

204

Reliefanschauung und Dekoration

wenn wir die Decke wegdenken und den Innenraum des Hypäthraltempels dafür ins Auge fassen.

Das von oben einfallende Licht bringt in dieser Cella um so schärfer alle Besonderheiten solcher Be- leuchtung mit sich, als der verhältnismäfsig geringe Abstand der Langwände eine breitere Verteilung zerstreuten Lichtes ausschliesst. Darin unterscheidet sich wesentlich jede weiträumigere Anlage eines Binnenhofes, die wir sonst zunächst damit vergleichen müssten. Das Innere des Tempels ist als letztes Stück des Processionsweges gedacht und ausgestattet, deshalb nur eine schmale Strasse, und nur eine Richtung herrschend. So kommen die Seiten links und rechts, mögen die Umfassungsmauern der Cella selbst oder Säulenstellungen davor dem Eintretenden gezeigt werden , vollständig unter das Gesetz der successiven Betrachtung, der Ortsbewegung auf das Ziel hin, die sich rhythmisiert, und in dieser künst- lerischen Fassung stehen bleibt. Nur der Anblick des Zieles selber, der Gottheit an ihrem Platz, bietet sich der simultanen Anschauung vom entferntem Standpunkt, der sich aber mit jedem Schritt vorwärts dem Gegenstande der Verehrung nähert, bis auch die- ser ganz kubisch wirkt, wie das Säulenpaar zur Seite, in leibhaftiger Gegenwart. Der Einfall des Lichtes von oben aber gestattet, ja fordert ein starkes Hoch- relief überall, wo die Organisation durch plastische Bauglieder auch ins Innere getreten ist, während ohne diese die Innenseite der Mauern natürlich den tektonischen Charakter der Wand als einheitliche Fläche bewahrt und darnach für die Horizontalstreifen

Binnenhof Aussenbau

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je nach ihrer Höhenlage die Gesetze walten lässt, die wir aufgewiesen (vgl. z. B. Phigalia).

Der Binnenhof eines Palastes , eines Klosters dagegen unterliegt andern Bedingungen, die seine Anlage schon hervorbringt. Bei annähernd quadrati- schem Grundriss ergiebt sich die Gleichberechtigung aller Seiten, wie die Bedeutnng des Mittelpunktes, der als Standpunkt des idealen Subjektes sich auch praktisch geltend zu machen drängt. Erst beim Überwiegen einer Axe wird auch diese Richtung des Verkehres zum tonangebenden Faktor, dessen Wirkung wir soeben berührt haben, während die Eingangs- und die Ausgangsseite, die schmälern des Rechtecks, den ruhigen Anblick gewähren.

Unter diesen Modifikationen gilt, was Hildebrand für die Einigung zum Relief bild aufstellt, auch da, wo unsres Erachtens nicht das ruhige Schauen vom entfernten Standpunkt, sondern ein näheres Verhältnis zum schweifenden Absehen und zur Körperbewegung anzuerkennen wäre. ,,Bei allen Stilunterschieden, welche die Architektur aufweist," schreibt er, ,, bleibt ihre Aufgabe die, ihre Formen als Reliefwirkung zu einigen. Der romanische Stil z. B. führt die Relief- auffassung konsequent und selbständig durch, und fasst jede Öffnung als ein Durchbrechen von hinter- einander gereihten Raumschichten auf, welche er durch die Profilierung der Öffnung zur Anschauung bringt" (62). Damit aber hat er, wie sich von selbst versteht, nur die tektonische Aufgabe der Durch- gliederung des Baues oder der sogenannten „Organi- sation" im Auge , deren Wesen im Charakter der

206 Reliefanschauung und Dekoration

Wand oder der Säulenreihe als Raumgränze gelegen ist, mag auch unter dieser Hauptinstanz wieder von raumschliessenden und raumöffnenden Faktoren im engern Sinne die Rede sein. Wenn er aber behauptet, durch diese Reliefbildung allein ,, erhalte der Bau erst seine künstlerische Einheit", so vergisst er das Wesen der Architektur als Schöpferin kubischer Raumgebilde, und zwar in erster Linie für ein Subjekt, das nicht Augengeschöpf allein ist , sondern als dreidimensionaler Körper in die Raumform ein- gehen will

Am Aussenbau des griechischen Tempels bewährt sich wieder die natürliche Entstehung unsres Seh- raumes unter Einfluss der Augenlage und ihres um- gebenden Bewegungsapparates, indem wir von den Säulenstämmcn zur Kapitellzone aufblicken. Ein wenig höher noch begegnet die alternierende Reihe der Metopen und Triglyphen oder der durchlaufende Fries mit seinem rhythmisch aufgereihten Relief- schmuck. Bei der Erstem waltet der vertikal durchgreifende Zusammenhang zwischen Oben und Unten, beim Letztern überwiegt die horizontale Bindung; das hängt von der Gesamtökonomie der beiden verschiedenen Stile allein ab. Unser Er- klärungsprincip aber bewährt sich bei Beiden durch- aus. Die Metopen haben starkes Hochrelief mit ausgesprochener Neigung, nach oberhalb auszuladen; dunkle Färbung des Grundes hebt das Gebilde erst-

i) Was die Stelle über den griechischen Tempel S. 81 betrifft, vgl. Heft II dieser Beiträge S. 24 f.

Kapitellzone, Metopen und Triglyphen, Friese 207

recht. Im Gegensatz zu den senkrechten Spalten der Triglyphen bevorzugt ihre Komposition die Diagonalen; der Zug der organischen Formen ver- mittelt also in die Breite. Der Fries des ionischen Tempels hat einheitliches Licht, also flacheres Relief, aber auch hier, als Gegenmittel gegen verdunkelnde Schatten von oben her, den Kontrast der Farben zwischen Grund und Figuren. Bei der Komposition aber spielen ausser dem durchgehenden Gesamtzuge der Bewegung von einem Ende zum andern grade die Vertikalaxen aller dargestellten Körper die wich- tigste Rolle; denn sie halten im Reich der Horizontal- bindung grade den durchgreifenden Zusammenhang zwischen Unten und Oben aufrecht.

Wie wichtig dieser Antagonismus des organischen Zusammenhanges im Einzelkörper, den die Plastik verfolgt, und des architektonischen Zusammenhanges, den die Baukunst will , im gemeinsamen Wirken beider Künste auf dem Gebiet der Dekoration zu werden vermag, zeigt ein Seitenblick wenigstens auf den berühmten Fries des Parthenon, der sich rings um die Tempelcella unter dem Schatten des Peristyls hinzog, also nur von unten und durch Reflexe be- leuchtet. Vom durchgehenden Charakter dieser Reliefs ist oben schon gesprochen worden ; auf die Unter- schiede der Komposition kommt es hier an. Auf den Langseiten herrscht der fortlaufende Zug, Bewegung von einem Ende bis zum andern, nur ein Unterschied im Tempo des fliessenden oder sich stauenden Fort- schrittes, — der successiven Auffassung des Subjektes, die hier allein walten kann, entsprechend. Auf den

208

Reliefanschauung und Dekoration

Schmalseiten aber vereinzeln sich die Gestalten, lockern sich die Glieder, zur Betonung der Vertikale, des organischen Zusammenhanges im Gewächs, von Unten nach Oben. Warum dies? An der Stirnseite, wie an der Rückseite ist der Abstand der Säulen von der Wand weiter, also die Entfernung des Beschauers grösser und die Richtung seiner Bewegung nicht die transitorische des Entlangschreitens, sondern die stetige dem Ziel entgegen ; die Tiefenaxe dominiert, und das ruhige Verweilen auf einem Standpunkt stellt sich ein.

Von allen Tiefenaxen auf einzelne Gestalten zu unterscheidet sich wieder die mittelste auf den Ein- gang zu als die Herrscherin, die Axe der Symmetrie, der Diremtion nach beiden Seiten, und sie weist weiter in das Innere des Heiligtums. Oder treten wir vom Parthenonfries zurück, vor die Front des griechischen Tempels überhaupt. Auch da meldet sich die Scheidung zwischen dem schweifenden Über- blick über das Ganze und der festen Richtung des Vorwärtsschreitens auf seine Mitte zu früh genug. Die Spitze des Giebeldreiecks kündigt ja schon von ferne, dass hier die Dominante des Ganzen liegt. Nicht umsonst bildet die Mitte der Säulenreihe nicht eine Säule, sondern ein Intervall. Es handelt sich nicht um eine allgemeine Tiefenbewegung des Be- schauers zwischen den Säulen durch, sondern um eine besondere Tiefenbewegung des Besuchers selbst in ganzer Person : er soll wirklich hineinschreiten in den Raum, wo er sich öffnet! Und droben ge- hört zum verbindenden Gebälk , zur wechselnden

Giebelfeld Statuenschmuck

209

Reihung von einem Ende zum andern, eben auch der Giebel, der von beiden Enden ansteigend zur Mitte, beide Hälften in einem Höhepunkt vereinigt. Die Stirnseite des Daches aber, das Giebelfeld drinnen, verkündet wieder in Gestalten nach dem Ebenbild des Menschen das höchste Gesetz, das hier gelten soll. Symmetrische Gruppierung breitet sich nach beiden Seiten, von einer Dominante in der Mittel- axe beherrscht. Es ist, für den entfernten Standpunkt der ruhigen Zusammenfassung gedacht und durch- geführt, eine Aufreihung mehr oder minder vollrunder Gestalten vor der Scheidewand, die jeden weitern Ver- such des Auges in die Tiefe zu dringen abschneidet, aber auch so nicht als Gruppe, sondern an die Wand gedrückt, als stärkstes Hochrelief wirken muss und soll. Noch liegt ja der ganze Baukörper des Daches dahinter, und erst auf seiner Firsthöhe wird der Luft- raum frei für die isolierte Rundplastik, die für ihr höchstes Ideal, die göttliche Gestalt selber, keinen näher definierten Raum als zugehörige Umgebung duldet. Zwischen der Freiheit des Äthers und der ersten ,, Situation", wo ihr Fuss die Erde berührt, bewegt sich ihre ganze Geschichte, von den Olympi- schen selbst bis zur Nike des Paionios.

Warum aber stellt der Grieche den Gott, dem der Tempel geweiht ist, nicht auf die Zinne des Daches, sondern in die Umwandung der Cella, unter freiem Himmel noch lange, aber doch als Ziel der Wallfahrt, am Ende des zurückgelegten Weges, auf den Boden nicht, sondern auf geweihten Grund, aber doch auf Erden vor sich hin? Ohne Zweifel

Schmarsow, Plastik, Malerei u. Relief kunst. 14

210 Reliefanschauung und Dekoration

in keinem andern Gedanken vorerst als dem Zweck der ganzen Verkörperung: der überzeugenden Nähe des Daseins, der sinnlich wahrnehmbaren Gegenwart. Ob das Bild seines Zeus sich zur Reliefanschauung einige an seinem Standort, ist eine Frage, die dem Phidias ebensowenig gekommen sein dürfte , wie seinen Landsleuten, für deren Glauben er das Ko- lossalbild erschuf, und die Athene Promachos, die zwischen Baukörpern aufragte . will sich erstrecht nicht mit dieser Situation zu harmonischer Gesamt- erscheinung für den malerischen Sinn des objektiven Beschauers ausgleichen, noch als Teil einer Gesamt- heit aufgefasst werden, wie die Reliefanschauung es fordert, sondern sich selber behaupten, trotz all dem kleinen Menschenwerk, das sie beschirmt, wie die Herrin der Stadt, die mit ehernem Fuss die Akro- polis bestiegen hat und dasteht, schon von Ferne dräuend für den Feind, der begehrlich von Meer oder Land herüberschaut.

Und warum stellt die plastisch denkende Kunst der Griechen auch die kleineren Götter an der Front ihrer Tempel nicht als Einzelstandbild auf, sondern nur in vorübergehender historischer Situation, wenn auch von bleibender Bedeutung, d. h. im Reliefbild? Warum macht sie es nicht wie die christliche Kunst an ihren Kirchenfassaden? Wir können die Antwort aus einem künstlerischen Ganzen holen, das zeitlich da- zwischen liegt, aus dem Pantheon des Agrippa in Rom. Mit der Verschleifung der selbständigen Seh- felder auf jeder Seite zu einer einzigen cylindrischen Flächenbewegung ringsum ist auch das Schicksal der

Monumentale und dekorative Statuen

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Götter entschieden. Die Innenfläche dieser Raum- form muss sich nach dem Bedürfnis des mensch- lichen Subjekts darin natürlich wieder rhythmisieren für die successive Auffassung, die allein möglich ist, sobald der Centraipunkt eingenommen wird , von dem es das Ganze versteht. Aber diese architek- tonische Gliederung durch Wandnischen und weiteren Recessen entwickelt nur relativ Ruhepunkte, relativ selbständige Stellen, die sich alle dem fortlaufenden Zusammenhang einordnen. Auf diese Standorte ringsum werden die Götter verteilt. Einer dem Eingang gegenüber , am Ende der Tiefenaxe , zwei andre an beiden Enden der Breitenaxe gewinnen höheren Wert, aber keinen, der es mit dem Kuppel- centrum, wo in kreisrunder Öffnung das Himmelslicht eintritt, irgendwie aufzunehmen vermöchte. Alle sind abhängig geworden, auch Jupiter selbst, von einer höheren Gemeinschaft , die über sie alle hin- geht. Erst als Gesamtheit bedeuten sie vollauf, was sie vorstellen können. Die Mehrzahl geht ein in Reliefanschauung ; aber sie sind keine Standbilder im Sinne der isolierten Rundplastik mehr, deren jedes ein Monument für sich, die Einheit der organischen Gestalt als Ausdruck persönlichen Wesens allein verkündigt, sondern Bestandteile eines Ganzen, dekorative Plastik.

Das sind auch die Heiligen des christlichen Himmels an den Kirchenfassaden der Renaissance und des Barock, trotz aller Kraft des plastischen Sinnes ; das sind die unzählbaren Statuen, Statuetten und Halbfiguren an gotischen Kathedralen, von halb tektonischen, noch nicht einmal in der Hauptsache

14*

212

Reliefanschauung und Dekoration

völlig durchorganisierten Gebilden romanischer Bau- skulptur nicht zu reden. Die Kirche anerkennt ja das Einzelwesen überhaupt nur als abhängigen Be- standteil, als einverleibtes Glied des grossen Gottes- reiches. Mit der Entwöhnung von diesem Princip erst erschliesst sich auch der Weg zur selbständigen Bedeutung des Individuums wieder, die der Grieche von seinem Gott, vom geringsten Götzen, wie für sich selber voraussetzt und als erstes Erfordernis einer Person zu sehen verlangt. Wie eng reihen sich noch die gotischen Nischen am Campanile zu Florenz mit Donatellos Statuen darin! Wie weit wehren sich diese gegen den Zusammenhang , unter dem sie der Blick begreifen will, oder wie abhängig sind sie schon im Gedanken noch, im Grundmotiv, von weitergehender Beziehung? Erst an Orsanmichele rücken die Nischen weiter von einander, so dass wir kaum noch mit einem Blick mehrere zugleich um- spannen; sie bilden sich, als Raumöffnungen in der wuchtigen Masse gedacht, zu selbständigeren Taber- nakeln aus und bereiten so den eigenen Raum auch für die Statue darin. Aber welch ein Weg von der Bedingtheit des Täufers Johannes von Lorenzo Ghiberti bis zur Wucht des selbstbewussten Wertes im Auf- treten eines ganzen Mannes, wie der Marcus des Dona- tello! Freilich, sie alle stehen gegen die Rückwand ihrer Nische, die sich als solche geltend macht, oder gegen den Schattenraum ihrer Tiefe, und wir fragen unwillkürlich im Erfassen des Motivs auch nach der Situation, die es veranlasst. Und Verrocchios Gruppe, Thomas und Christus, will sich freilich mit ihrer

Statuen in bestimmender Situation

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Nische nicht recht vertragen, wirkt aber grade so, wie an zufälliger Stelle sich ergebend , auch desto transitorischer in ihrer Handlung, und da sie Beide, der Meister wie der Jünger, nur für einander da sind, als Erscheinung eines innern Zusammenhanges, der höch- stens malerisch seinen Ausdruck hätte finden können.1)

,, Figuren mit einem architektonischen Hinter- grund," lesen wir auch bei Hildebrand gelegentlich des Grabmals von Canova, dessen vollplastische Ausiührung er mit Recht tadelt, ,,das ist im Grunde eine Bildvorstellung. Sie kann als ein Ganzes nur als Relief dargestellt werden" (95). Vollkommen ein- verstanden; nur ziehen wir auch umgekehrt die Folgerung : Rundplastik in einer bestimmten Situation, die einen weiteren Zusammenhang um sie anspinnt, Figuren, die nur als Teil einer Gesamtheit aufgefasst werden können , in der sie erscheinen , sind nicht mehr als selbständige Schöpfung der Plastik allein anzuerkennen, sondern fallen zugleich unter das Problem der Malerei oder der Reliefkunst.

Der feste und entfernte Standpunkt, den der Beschauer einnimmt, drängt seine Vorstellung zum Vollzug der Tiefe, und wenn der Blick in" der Mitte, an Stelle des Augenpunktes, gleichsam einbohrt, so ergreift die Tiefenbewegung die organischen Körper oder sonstigen Gegenstände ebenso wie den archi- tektonischen Hintergrund und die Scheidewand der vordersten Raumschicht mit. Sie wandelt den Ge-

1) Vgl. Schmarsow, Donatello S. 17 fr. u. Festschrift zu Ehren des kunsthistorischen Instituts zu Florenz, Leipzig 1897 p. 36 53.

214

Reliefanschauung und Dekoration

staltungsraum in den Bildraum, der sich selbst in der Ferne verliert. Solch ein Tiefrelief aber hat dringend der festen Umrahmung nötig, damit dem Drang in die dritte Dimension ein Widerhalt ge- geben sei , der wenigstens die Nachbarschaft der tektonischen Fläche vor der weiteren Ausdehnung dieses Wandels sichert. Wir brauchen diesen körper- lichen Widerstand für die Dynamik des psychischen Erlebens der Raumweite, die sich innerhalb des Rah- mens eröffnet; er ist der sicher gefühlte Ausgangs- punkt des Einströmens und Endpunkt des Aus- strömens, dieGränze der rhythmisch sich vollziehenden Systole und Diastole ästhetischen Schauens.

Allermodernste Beispiele haben allerdings ge- zeigt, dass auch dafür der Sinn abhanden kom- men kann. Eine Bronzemasse von Würfelform als Postament benutzt , auf den Aussenflächen aller- wärts auftauchende Gebilde , wie im gemeinsamen Element auch bereit, wieder zu verschwinden, dieser Anblick des Werdens und Zerrinnens ohne irgendwelchen tektonischen Rahmen, verläugnet voll- ends den widerstandsfähigen Charakter des Blockes, also die konstitutiven Eigenschaften, die er als Untersatz für eine Statue am allernotwendigsten braucht. Auf Grund der historischen Beispiele aus guter Zeit aber , die wir bis an den Aus- gang des achtzehnten Jahrhunderts verfolgen dür- fen, kann als Regel angesehen werden, dass das Tiefrelief im Sinne der malerischen Perspektive am Aussenbau wie im Innenraum nur an solchen Stellen Aufnahme findet, wo im tektonischen Gan-

Gerahmte Relief bilder

215

zen auch eine Raumöffnung durchgebrochen werden könnte. Die wirksame, zugleich vorbereitende und widerstandsfähige Umrahmung wird nie verabsäumt. Ja, selbst das perspektivische Flachrelief fordert diese entschiedene Trennung zwischen dem realen Raum, wo es sich befindet, und dem idealen Raum, den es eröffnet, überall so gut wie das Gemälde, mag es einen festen Platz an der Wand erhalten oder einen veränderlichen. Und diese beliebige Verhängbar- keit ist es, die auch ein kleines Bild wol den Be- dingungen der graphischen Blätter überantwortet.

An der Härte oder an der Weichheit des Materials scheitert schliesslich jeder Versuch, die Bildvorstellung in der bildsamen Masse mit den Mitteln der Plastik allein herzustellen. So kehrt die perspektivische Reliefkunst, nach dem äusser- sten Bemühen in der Auflockerung der tektoni- schen Schicht oder in der Abstufung der feinsten Nuancen des Vor- und Zurücktretens , am Ende zur Oberfläche selbst zurück, lässt die Ebene als solche unangetastet, und versucht es, statt mit mini- maler Subtraktion mit ebenso minimaler Addition, mit dünnen Pigmenten den Schein der Körper und des Raumes zu ertäuschen. Nicht, als wäre das der Ursprung der Malerei. Davon sind wir weit entfernt. Aber es gilt , sich zu erinnern , dass auch von der Seite dieser Nachbarkunst die Eroberungszüge ins Land der Plastik nicht fehlen , noch der Wetteifer, das plastische Problem mit Hülfe der Farbstoffe allein zu lösen. Bildet doch die Darstellung der

216

Reliefanschauung und Dekoration

Körper selbst einen Teil des malerischen Problems, und nicht allein die Darstellung des Raumes , nur dass Beides nicht in kubischer Realität, sondern als Augenschein auf der Malfläche hervorgebracht werden soll. Weite Strecken im Reich der Malerei, als ent- wickelte Kunst schon , scheinen nur zu beweisen, dass auch hier die Reliefanschauung der Schlüs- sel all ihrer Erfolge sei.

Doch dem ist nicht so ; dieser Schlüssel liegt auch hier nicht in der sinnlichen Wahrnehmung, sondern in der Vorstellung, oder in der Organisation des mensch- lichen Intellekts, die auf Entwicklung der räumlichen Anschauungsform ebenso wie auf die der zeitlichen an- gelegt ist. Man denke sich einen Menschenkopf mit den einfachsten Mitteln nur soweit auf die weisse Fläche , eines Papiers etwa , skizziert , wie es grade hinreicht, die Erkennung zu gewährleisten, also beim Beschauer unter Unsresgleichen die Gegenstands- vorstellung auszulösen , so sieht dieser nicht allein den Kopf in der gegebenen Ansicht plastisch ge- rundet, obgleich das Bild flach ist, sieht diese ge- wohnte kubische Formvorstellung in die Fläche hinein, sondern der Rest des weissen Blattes be- deutet auch das zugehörige Raumvolumen , ja nicht der einen Hälfte des kugligen Kopfes, die gezeigt wird , allein , sondern auch der andern nicht sicht- baren Hälfte dahinter. Die geringste Andeutung des Schattens , das leiseste Zeichen einer Modifikation des weissen Blattes durch den Kopf sei vermieden; trotzdem glaubt der Beschauer an den Schein, den nicht vorhandenen , des erforderlichen Raumquan-

Zeichnung Malerei

217

tums , das den Kopf beherbergen könnte. Dafür giebt es wol nur die eine Erklärung, dass die Pro- jektion des dreidimensionalen Kopfes auf die Fläche, wie die Skizze sie , noch so primitiv vollzogen hat oder bedeutet, auch weiterwirkt auf die leere weisse Umgebung. Da diese aber tatsächlich nicht das ge- ringste Symptom objektiv aufweist, so kann die Ur- sache nur in dem Zwang unserer Anschauungsform gesucht werden , die auch da die dritte Dimension ergänzt, wo sie nicht vorhanden ist.

Aber die Malerei geht ja von diesen Anfängen weiter. Mit Hell und Dunkel ertäuscht sie nicht allein den Schein gerundeter Körper, sondern auch der Raumtiefe zu starker Illusion. Und für die Ab- stufungen der Farbstoffe , für die Kunstgriffe der Linearperspektive ist die Bildfläche geduldiger und empfänglicher als die bildsame Masse für die müh- samsten Operationen des Bildhauers. Mit den zarte- sten Nuancen der Arbeit eröffnet sich die ganze Weite des Horizonts ; der Bildraum vertieft sich in die Ferne , wie es das gewagteste Tiefrelief nicht annähernd erreichen kann. Erst dadurch lernt die Kunst der Malerei selber ihr eigenstes Problem in seinem rechten Sinn und Umfang verstehen , den Zusammenhang zwischen Körpern und Raum, die sichtbare Einheit zwischen den Dingen dieser Welt, das Walten der durchgehenden Abhängigkeit aller Teile vom Ganzen, eben eine Ansicht dieser Weite, ein Weltbild zu geben, wie es weder die Architektur noch die Plastik vermögen, und uns so das Allgefühl zu vermitteln, das uns erhebt, indem es uns entkörpert.

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SCHLÜSSBETRACHTUNG

DAS REICH DER KUNST

o bewährt sich das Princip, das mensch- liche Subjekt, sowol als schöpferisches wie als empfangendes, nicht allein als ein Augen- geschöpf, sondern mit dem weitern Zusammen- hang seiner Organisation auch da in Rechnung zu setzen, wo wir es mit der Ästhetik der Künste zu tun haben. Die Rücksicht auf die Körper- lichkeit unsres Leibes, die Ortsbewegung, die Tast- empfindungen im ganzen Umkreis der Aktivität uns- rer Arme und Hände , und das Körpergefühl , das nicht allein diese physischen Betätigungen begleitet, sondern auch von Gesichtseindrücken wie von Vor- stellungen mit erregt wird, all Das kam uns zu Statten und führte zu der Erkenntnis , dass unmög- lich allen bildenden Künsten ein und dasselbe Ge- staltungsprincip innewohnen könne, dass unmöglich der Antrieb, der zu ihrer Entstehung und Weiter-

Das Reich der Kunst

219

bildung führt, in einem gleichen Problem, in der nämlichen Aufgabe gesucht werden dürfe.

Die Lehre des alten Griechen , das Mafs aller Dinge sei der Mensch, ist aus dem Geiste der künst- lerischesten Nation entsprungen. Der Satz gilt im Reich der Künste ohne Widerspruch ; ja er ist die Grundlage für ihr Verständnis.

So betrachten wir die Kunst als eine Aus- einandersetzung des Menschen mit der Welt, in die er gestellt ward , gleichwie deren ethische Be- handlung und deren wissenschaftliche Erkenntnis es auch sind. Aber die Kunst unterscheidet sich von diesen Nachbarinnen durch ein glückliches Vorrecht. Sie allein befriedigt das natürliche Verlangen nach dem Einklang zwischen dem Menschen und seiner Welt, bei dem allein auch der Einklang mit sich selber gedeihen kann, oder richtiger, sich von selbst ergiebt ; denn die Übereinstimmung mit der mensch- lichen Organisation, der innern wie der äussern, ist die Voraussetzung all ihrer Probleme und der Schlüs- sel all ihrer Lösungen.

Der Antrieb zum künstlerischen Schaffen kann ebensogut von der Innenwelt des Menschen wie von der Aussenwelt, entweder von der Vorstellung oder von den Sinneseindrücken ausgehen. Jedes wahre Kunstwerk ist an seinem Teil eine solche Auseinander- setzung mit der Welt, von welcher Seite immer es eine Aufgabe in Angriff nehme. Und die Gesamtheit der Einzelkünste, die wir mit vollem Recht als ein Reich menschlichen Geisteslebens unter dem Namen ,, Kunst" zusammenfassen , schafft an einer umfassenden und

220

Schlussbetrachtung

vollständigen Auseinandersetzung, die als Ganzes die Natur des Menschen und die der Welt erschöpfend, ein Spiegelbild darstellt, das in glücklichster Har- monie mit dem eigensten Wesen des Menschen, ihn als Schöpfer durch seine eigene Schöpfung be- seligt, mögen jene Nachbarinnen Ethik und Wissenschaft dabei einzuwenden haben , was sie wollen.

Dies Spiegelbild, das Menschenkunst zu weben weiss , muss aber notwendig den Faktoren ent- sprechen , die das Urbild aufweist , mögen wir sie vom schöpferischen und geniessenden Subjekt aus be- zeichnen oder von dem naiven Standpunkt des Glaubens an ihre Objektivität ausgehen. Da stehen sich die beiden Anschauungsformen , die zeitliche und die räumliche, einander gegenüber. Bewegung dort, Be- harrung hier heissen die beiden Pole, zwischen denen sich eine gegenseitige Verbindung vollzieht, wie ein objektiver Ausgleich, während das menschliche Sub- jekt weder absolute Beharrung, noch absolute Be- wegung kennt, sondern nur gradweise sich beiden Polen anzunähern vermag, sei es mit Sinnesempfin- dungen , sei es mit Vorstellungen. Und zwischen diesen Extremen, Zeit und Raum, erscheint als dritte Kategorie die Kausalität. Mag auch der Philosoph noch weiter fragen , ob und wieweit sich unsre Kausalvorstellung noch auf jene des Raumes und der Zeit zurückführen lasse , bei deren Durchdringung erst sie selber auftritt, so behauptet sich doch im rein menschlichen Gebiete des künstlerischen Schaf- fens die Notwendigkeit unsrer geistigen Organisation,

Das Reich der Kunst

221

und die Ursächlichkeit gilt als dritter Faktor in der Welt sogut wie in uns.

Darnach gliedert sich schon das Reich der Künste von den beiden Polen her, nach räumlicher und zeitlicher Anschauung und stuft sich ab unter dem Gipfel des Geistigen , wo Bewegung und Be- harrung einander am innigsten durchdringen, wo im Vorwärts oder Rückwärts die Frage nach Ursache und Wirkung oder nach Grund und Folge gestellt wird, das heisst, wo das Princip der Kausalität in mannichfaltigsten Beziehungen waltet, gleichwie im Menschenleben selber.

Wo die Bewegung, die zeitliche, in abstraktester Form fast allein regiert, da suchen wir nur Analo- gieen unsrer Innenwelt. Dort liegt am einen Ende dieser Reihe das Reich der Töne und ihre Kunst, die Musik. Sie scheinen wol Manchem nur wie eine Färbung eine Stimmung des leeren Zeitverlaufes selber , aber bald wie eine Sprache innerer Er- regungen, die wenn nicht unmittelbar wie der eigene Laut, doch bald geläufig und vertraut durch diesen Mittler, zur Ausdrucksform unsrer Gemütsbewegungen wird. Das Gemeinsame zwischen Laut und Ton, zwischen Vokal- und Instrumentalmusik liegt aber völlig in der Sphäre rhythmisierter Bewegung unsres eigenen Organismus, bis in Atemzug und Herzschlag hinein, der Systole und Diastole unsres Lebens, wie sie Goethe genannt hat.

Gegenüber am andern Ende der Reihe, wo die Beharrung im Räume feste Form für sich gewinnen will, da suchen wir die Baukunst, die Raumgestalterin

222

Schlussbetrachtung

selber. Auch sie rechnet überall mit der Rhythmik menschlicher Bewegungen, wie mit dem eigenen Körper des Subjektes , die allein den Mafsstab für die Ausdehnung gewähren, während auf der andern Seite die Aufrichtung der Raumform nach ihrem Willen zur Sicherung ihres Bestandes der Verkör- perung in dauerhaftem Material bedarf, je mehr ihr darum zu tun ist, die Grundlagen des Menschen- daseins, die sie darstellt, gegen den ewigen Wechsel des Zeitlichen zu behaupten.

So stehen schon Innenwelt und Aussenwelt in ihren elementarsten Voraussetzungen vor uns da, um im nächsten Paar der Künste, Mimik und Plastik, die unmittelbarste Verbindung mit dem Menschen, wie er leibt und lebt, zu bewähren. Ist doch die Eine nur seine Darstellung für die successive, die Andre seine Darstellung für die simultane Anschau- ungsform, wenn auch wieder Beide der Ergänzung durch den zweiten Faktor bedürfen 1).

Im letzten Paare, Poesie auf Seite der zeitlichen, Malerei auf Seite der räumlichen Vorstellung, nimmt das Schaffen des Menschen es mit dem Zusammen- hang der Dinge auf, der sichtbaren Aussenwelt hier, der hörbaren Innenwelt dort in erster Linie, die sich wieder gegenseitig ergänzen und durchdringen. In der Darstellung der Kausalität, nach der unser Er- klärungsbedürfnis verlangt, erreichen sie den Gipfel der geistigen Auseinandersetzung mit der Welt. Mit dieser Vermittlung eines Vorstellungsinhaltes, eines

I) Vgl. femer Heft I, S. 21 ff., 24 ff.

Das Reich der Kunst

223

Denkprocesses aber rühren sie auch an die Gränze des Abstrakten, wo der Zauberstab künstlerischer Gestaltung versagt.

Dass auch im Reich der Künste solche Abstufung vom Elementaren, von den Grundmächten des Daseins zu den Höhen des Geistigen hinauf anerkannt werden muss, wenn wir uns nur bewusst bleiben, dass das Werturteil, das diese Bezeichnungen gestempelt hat, anderswoher stammt und sachlich garnichts damit zu schaffen hat, diese Tatsache lehrt uns auch eine andre Erwägung einsehen, die das einfachste Gebild ins Auge fasst, das jede dieser Künste hervorbringt, um daraus immer kompliciertere Schöpfungen zu- sammen zu setzen. Bei der Musik ist es der natür- liche Laut oder der künstlich erzeugte Ton, bei der Mimik die Gebärde, unter der wir vorwiegend Körper- bewegung verstehen , und die Miene , die wir auf Bewegung der Gesichtsmuskulatur beschränken. Die Poesie aber verbindet die Elemente beider Schwester- künste zu einem neuen Element, der Lautgebärde, dem Wort, in dem beide Grundlagen, der Laut sowol wie die Gebärde , miteinander verwachsend, einen Teil ihrer ursprünglichen Kraft aufgeben, um so zu einem „konkretem" Ausdrucksmittel für die Mannichfaltigkeit der Dinge selbst, ihre Äusserungen und ihre Beziehungen zu werden. In dem Vokalis- mus der Sprache ist die elementare Gewalt der Töne auf eine kleine gedämpfte Scala eingeschränkt, im Konsonantismus die ausgreifende Gebärdensprache des ganzen Körpers und das sichtbare Mienenspiel zu einer verhaltenen Kryptomimik um den Atmungs-

224

Schlussbetrachtung

traktus herum gemäfsigt; aber das Neue, das so erwächst, das Wort erobert die Welt1). Auf der andern Seite liegt ein ganz ähnliches Verhältnis vor, das die Malerei über ihre beiden Schwesterkünste hinausgehen lässt. Die Architektur ist Raumgestalterin, so dass das kleinste Element, das sie verwertet, schon eine dreidimensionale Raumgrösse ist, und zwar ein Hohlraum, dessen Koordinatensystem nicht indifferent, eine beliebige Vertauschung der Axen gestattet, auch wo sie gleiche Ausdehnung haben, sondern sozusagen accentuiert ist, indem die Richtung vom Menschen aus die treibende Kraft enthält, also die Tiefenaxe2). Die dritte Dimension ist Dominante auch im embryo- nalen Zustande, im ersten Keim der architektonischen Schöpfung. Die Plastik ist Körperbildnerin ; das kleinste Element, das sie verwertet, ist Körper, ein Molekül von drei Dimensionen, ein konkreter Punkt. Aber auch hier ist das Koordinatensystem nicht ohne ausgesprochene Richtung: die erste Dimension, die Vertikalaxe ist Dominante, die Richtungsaxe unsres eigenen Wachstums die erste Bedingung, einen Gegen- stand ausser uns als Körper für sich anzuerkennen. So kann die Wurzel der plastischen Schöpfung nur in der Höhe gesucht werden. Das einfachste, wie das reichste Werk der Malerei dagegen dürfte wol nicht anders

1) Vgl. Zur Frage nach dem Malerischen (Heft I dieser Bei- träge 1896) S. 105.

2) Das Raumvolumen, mit dem die architektonische Schöpfung eigentlich vor sich geht, ist der „ästhetische Raum" des leib- haftigen Menschen selber, dies also die natürliche Mafseinheit, die wiederholt wird.

Das Reich der Kunst

225

definiert werden, denn als flächenhafter Auszug aus Raum und Körper zugleich, den wir „Bild" nennen. Auch hier ist das neue Mittel zur Eroberung des räumlich -körperlichen Ganzen als Einheit, d. h. der sichtbaren Welt, zur Darstellung des Zusammenhangs der Dinge nach seinem Augenschein, nicht anders möglich , als durch Verzicht der beiden Elemente auf einen Teil ihrer vollen Existenz. Körper und Raum büssen in ihrem Abbild auf der Fläche tat- sächlich die dritte Dimension ein, aber nur, um sie, im Augenscheine wenigstens, bald desto reiner wieder zu gewinnen und sie desto unmittelbarer unsrer Vor- stellung zu vermitteln, im ,, Fernbild" als „reinem Gesichtseindruck von sozusagen latenten Bewegungs- vorstellungen" (H. 12).

Bezeichnen wir demgemäfs zu klarer Zusammen- fassung des Ergebnisses die vollkräftigen Elemente der „Wirklichkeit" Raum und Körper hüben, Laut und Gebärde drüben , einmal mit ihrem Anfangsbuchstaben, so liesse sich für das Bild die Formel |/(R-j-K)~, für das Wort die entsprechende Formel (/(L -f- G) aufstellen, die selbstverständlich jeden mathematischen Anspruch ausschliessen, uns aber nützlich werden können, um innerhalb der Malerei hier, wie der Dichtung dort, noch Zonen mannichfaltiger Ökonomie mit diesen Grundelementen zu unterscheiden. Hier kommt es vorerst nur darauf an, das notwendige Verhältnis der Malerei und Poesie als eines oberen Paares zu je zwei andern Künsten als ihren natürlichen Vorstufen zu charakterisieren. Das mag etwa in diesem Schema veranschaulicht werden :

Schmarsow, Plastik, Malerei u. Relief kunst. k

226

Schlussbetrachtung

Räumliche Anschauungsform

Kausalität

(C)

Zeitliche Anschauungsform

Malerei [/ (R -f K)

Plastik (K) Architektur (R) Raum. Beharrung. -<

Poesie

V (L + G)

Mensch

Mimik (G)

Musik (L) >- Bewegung. Zeit.

Dann schliessen sich Poesie und Malerei wieder uriter dem höhern Princip der Kausalität (C) zu- sammen, in dem sich die Darstellungen des innern und des äussern Zusammenhangs begegnen. Archi- tektur und Musik dagegen erscheinen als die weitest- gehenden Gestaltungen des Elementaren, der Grund- faktoren dieser Welt, Raum und Zeit, weswegen man sie wol vom objektiven Standpunkt aus als ,, kos- mische Künste" bezeichnet, oder als die konsequen- testen Erfolge der räumlichen Anschauungsform dort, der zeitlichen hier, weswegen sie vom Subjekt aus den Vorzug des „systematischen" Charakters gewinnen. Beide Paare jedoch, das unterste, Baukunst und Musik, wie das oberste, Malerei und Dichtkunst, erweisen sich als Erweiterungen des künstlerischen Schaffens, als Auseinandersetzungen mit der weiten Welt da draussen, sowie wir sie mit dem innersten Paar, Plastik und Mimik, vergleichen, in denen es sich zunächst ausschliesslich um den Menschen selber handelt. Von dieser Beschäftigung des Menschen mit sich selbst und Seinesgleichen als seiner nächst- gelegenen Sphäre, nach den beiden Seiten, die wir Leib und Seele nennen, also vom centralen Stand- punkt des Ich aus betrachtet, bedeuten alle vier

Das Reich der Kunst

227

Nachbarinnen ringsum ebensoviel verschiedenartige Eroberungszüge in die Welt hinaus , bis an die Gränzen der Unendlichkeit, des Unerreichbaren, des Unermesslichen, des Unabsehbaren, und wie die negativen Ausdrücke unsrer Sprache sonst lauten, die, klüger als unser begriffliches Denken, keinen positiven Namen dafür ausspielt.

Damit haben wir den Standpunkt gewonnen, von dem die Betrachtung der ganzen Reihe dieser Künste als schöpferische Betätigungen des Menschen am natürlichsten ausgeht. Es ist der Mittelpunkt und Ausgangspunkt alles künstlerischen Schaffens und Geniessens selber , das Mafs aller Dinge : der Mensch.

Die ursprünglichste Äusserung des künstlerischen Triebes , die nicht mehr wie die Ausdrucksgebärde im Augenblick zerrinnt, sondern dauernd wahrnehm- bare Form hinterlässt, ist sicher die Ornamentik. Sie ist in ihrem eigentümlichen Wesen nichts Anderes als Wertbezeichnung. Sie prägt also mit ihren Zeichen nur den Sinn alles künstlerischen Schaffens aus , das die Werte des Daseins und des Lebens dem Strom des Werdens und Vergehens zu entrücken trachtet und sie verewigen will , zu bleibendem Genuss. Aber sie selbst ist noch keine Kunst, wie die andern sechs ; denn sie vermag diese Werte nicht selber darzustellen und wiederzugeben, sondern nur auszuzeichnen durch den Niederschlag des mimischen Spieles um sie herum. Eben- deshalb aber ist sie allen Schwestern ohne Aus- nahme gleich vertraut und schlingt um das Ganze

15*

228

Schlussbetrachtung

der Kunstwelt das Band, das diesen heiligen Bezirk mit den profaneren Bestrebungen der Kunstgewerbe vermittelt. Treten wir aber in den Umkreis der Auserwählten, so stehen dem gemeinsamen Aus- gangspunkt zunächst Mimik und Plastik; von da zweigen die Andern ab , die das Problem um- fassender zu stellen wagen. Versuchen wir auch hier statt der sphärischen Darstellung in drei Dimen- sionen , die das Spiegelbild unsrer Welt eigentlich erfordert , uns mit einem Flächenschema zu be- gnügen , das ja nur zur übersichtlichen Veranschau- lichung unsres Ergebnisses dienen soll, so steht die Reihe der Künste am besten in einem Kreise. Da- bei kommen allerdings, eben weil wir auf die dritte Dimension verzichten, die nachbarlichen Berührungen der Einzelgebiete nicht vollständig zum Ausdruck. Und ferner darf das früher festgestellte Verhältnis der Poesie zu ihren beiden Vorgängerinnen auf der einen und der Malerei zu den ihrigen auf der andern Seite nicht vergessen werden. Zumal, wenn es sich etwa um die Frage nach dem Zuwachs der Bewegung- oder der Abnahme der Beharrung handelt, ergiebt sich schon aus jenem Verhältnis des Wortes zur Gebärde und zum Laute hier, des Bildes zum Körper und zum Räume dort, dass an keinen einfachen Fort- schritt rein quantitativer Art durch die ganze Reihe hin gedacht werden darf1) , sondern dass qualitative Modifikationen stattfinden. Und wieder ist es das

i) So hat z. B. Schasler, System der Künste , die Sachlage zu sehr vereinfacht.

Das Reich der Kunst

229

mittlere Paar , Plastik und Mimik , das durch die engere Beziehung zum Menschen allein und seinem Körper als Bewegungsapparat hier, als organisches Gewächs dort, die Möglichkeit des Fortschrittes sehr einschränkt. Dagegen macht unser Schema den Gegensatz beider Hemisphären , der zeitlichen und

der räumlichen Anschauungsform , besonders deut- lich und besagt , dass die wirkliche Bewegung , die auf der einen Seite stattfindet, z. B. in der Mimik, auf der andern Seite dieser Mittelaxe sofort in den Schein der Bewegung umschlagen muss , weil hier die Beharrung im Räume herrscht, wie z. B. in der Plastik , wo erst das menschliche Subjekt , der Be- trachter, den Schein der Bewegung am unbeweg- lichen Marmor aus dem Bann erlöst und in das zeit- lich verlaufende Erlebnis zurück übersetzt. Ebenso

230

Schlussbetrachtung

gilt dies aber für Architektur und für Malerei , wie das umgekehrte Verhältnis für Musik und Poesie. Das heisst zugleich für unser Schema, dass die ein- geschriebenen Zeichen immer nur das Grundelement berücksichtigen , dass eine Formel für jede Kunst aber auch diese Faktoren der Bewegung und Be- harrung, der Kraft und des Stoffes nicht unbenannt lassen dürfte. Doch nicht darauf kommt es uns an, noch auf irgend eine Befürwortung äusserlichen Formelkrams , sondern nur auf eine Erleichterung, die Leistungsfähigkeit unsres Princips zu über- blicken.

So ist schon in unserer Bezeichnung des zweidimensionalen Auszuges aus Raum und Körper, welchen das Bild auf der Fläche zu geben hatT

|/(R~+~Kj ^ie Stellung der beiden Faktoren variabel, je nach dem man von Plastik (K) oder Architektur (R) ausgeht, d. h. die K ö r p e r Vorstellung oder die Raum Vorstellung als leitendes Interesse verfolgt. Stellen wir K voran, so entspricht die Formel mehr dem Ubergang, der sich mit plastischen Mitteln allein auch in der Reliefkunst vollzieht, die wir als Zwischenreich zwischen Plastik und Malerei ein- tragen könnten. Dies Verhältnis würde noch ein- leuchtender, wenn man den körperlichen Bestandteil als stark überwiegenden mit dem grossen Buch- staben , den räumlichen mit dem kleinen benennt, also K + r , wo es sich um Hochrelief handelt. Da- mit können aber auch die Gebiete der Malerei selbst unterschieden werden, nach dem wichtigen Fort-

Das Reich der Kunst

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schritt, den die Raumdarstellung über die Körper- darstellung, oder gar die summarische Andeutung dieser durch Umriss und Silhouette, als Hieroglyphen der Gegenstandsvorstellung, kurz und schlagend aus- gedrückt werden. Den nämlichen Verdeutlichungs- wert allein beansprucht die Formel für das Gebiet der Poesie, wo das Überwiegen des Lautlichen oder Tonelements natürlich die Neigung zum reinen Ge- fühlsausdruck, d. h. das Lyrische, ja das Eindringen musikalischen Strebens bedeutet, während die Hege- monie der Gebärdung , des Motorischen , der Akti- vität, auch den Charakter der Dichtung dem Epischen zutreibt, das auf der ausschliesslichen Bevorzugung des Mimischen beruht, da wir als Gebiet der Mimik alle ausdrucksvolle Betätigung des Menschenkörpers verstehen. Doch leuchtet von selber ein , dass im Gesamtreich der geistigen Vorstellung , wo das un- sichtbare Innenleben regiert, jeder Versuch zur Ver- anschaulichung eine Gefahr mit sich bringt , durch dies Erleichterungsmittel mehr zu schaden als zu nützen , eine Gefahr , der selbst unsre experi- mentelle Psychologie nicht entgangen ist, indem sie die ,, Dimensionen" des Raumes auf die ,, Charak- teristik" der psychischen „Erscheinungen" lauter Ausdrücke der räumlichen Auffassung und deshalb der bildenden Künste überträgt.

Wäre dieser Missbrauch nicht zu fürchten, würde ich in das obige Schema auch die Farben des Spek- trums eintragen, und zwar das Feld der Architektur als Violett, das der Plastik als Blau, das der Malerei als Grün, auf der andern Seite das der Poesie als

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Schlussbetrachtung

Gelb, das der Mimik als Orange, und das der Musik als Rot erscheinen lassen, um so wenigstens noch eine Analogie zur Anschauung zu bringen, nämlich die Beziehung zwischen je zwei Künsten der ent- gegengesetzten Vorstellungsform, wie zwischen den Paaren der Komplementärfarben. Wie je zwei von diesen, Violett und Gelb, Grün und Rot, Blau und Orange einander fordern und zusammen zur Her- stellung der ursprünglichen Einheit im weissen Licht verbinden, so fordern und ergänzen einander je zwei Künste und geben zusammengenommen erst einen zureichenden Ausdruck für eine künstlerisch ver- arbeitete Weltanschauung. Deshalb war schon früher von Komplementärwirkungen zwischen Mimik und Plastik, Malerei und Musik, Architektur und Poesie die Rede (I). Doch sei diese Spektralanalyse der Kunst, die in den wolfeilen Verdacht eines Farben- spiels kommen könnte, nur den Wenigen anvertraut, die auch im Spiel den tiefen Sinn zu finden und auch im künstlerischen Drang des Schaffens wie des Geniessens der Sophrosyne treu zu bleiben wissen.

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