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BEITRÄGE

ZU EINER

KRITIK DER SPRACHE

VON

FRITZ MAUTHNER

ZWEITER BAND ZUR SPRACHWISSENSCHAFT

ZWEITE AUFLAGE

STUTTGART UND BERLIN 1912 J. G. COTTA'SCHE BUCHHANDLUNG NACHFOLGER

ZUR

SPRACHWISSENSCHAFT

VON

FRITZ MAUTHNER

ZWEITE AUFLAGE

STUTTGART UND BERLIN 1912 J. G. COTTA'SCHE BUCHHANDLUNG NACHFOLGER

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ALLE RECHTE VORBEHALTEN

Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart

Vorwort zur zweiten Auflage

In dem Vorworte zur ersten Auflage des zweiten, des sprachwissenschaftlichen Teiles der SprachJ<:ritik habe ich mich etwas lebhaft gegen die zünftlerische Behandlung des ersten Bandes gewandt; ich möchte jenen Zornausbruch nicht wieder abdrucken. Ich bin in den abgelaufenen zehn Jahren älter und heiterer geworden, ich habe die zweite Auflage herausgeben dürfen und habe es erlebt, daß die philosophischen und philologischen Fachmänner mein Buch gern benützen. Sehr viele Fachmänner haben die sprachkritischen Ideen meines Werkes an Kindes Statt angenommen; und wenn einige von ihnen bei dieser Adoptierung den Entschluß gefaßt haben, den Vater dieser Ideen nicht zu kennen, so ist das schlimmer für sie als für mich. Es ist eine der feinsten Freuden, zu beobachten, wie die eigenen Gedanken in fremden und wissenschaftlich guten Köpfen w^eit erarbeiten.

Ernstlich. Es ist für den geistigen Arbeiter eine reine Freude, die Anregungen, die auszugestalten über seine Kraft ging, von anderen fleißigen Arbeitern durchgeführt und ver- bessert zu sehen. Hätte ich in die neue Auflage aufnehmen können und sollen, was ich aus der wissenschaftlichen Literatur der letzten zehn Jahre etwa hinzugelernt habe, so hätte der Band leicht seinen doppelten Umfang angenommen; ich habe mich darum mit einer Feilung der Darstellung, der Heran- ziehung zwingenderer oder gesicherterer Beispiele und endhch mit einigen Zusätzen begnügt, die hoffentlich den Wert meines

VI Vorwort zur zweiten Auflage

Buches nicht vermindern werden. Eine Häufung von Bei- spielen und Zusätzen hätte die suggestive Kraft der Kapitel über die Bedeutung der Metapher und über die Geschichte der menschlichen Vernunft vielleicht verstärkt; aber was mir zumeist am Herzen liegt, die Beziehung dieser Untersuchungen zu den erkenntnistheoretischen Hauptfragen, wäre durch philologische Überfülle kaum klarer geworden.

Einen Hauptpunkt meiner sprachwissenschaftlichen Lehre, die sich der orthodoxen gegenüberstellt, die Lehre von der Wichtigkeit der Entlehnungen und Lehnübersetzungen für die Sprachgeschichte, habe ich ausführUch in der Einleitung zu meinem „Wörterbuch der Philosophie" dargestellt.

Meersburg a. Bodensee, Februar 1912.

F. M.

Inhalt des zweiten Teils

Seite

I. Was ist Sprachwissenschaft? 1

II. Aus der Geschichte der Sprachwissenschaft 31

IIF. Sprachrichtigkeit 115

IV. Zufall in der Sprache 170

V. Etymologie 186

VI. Wurzeln 222

VII. Bedeutungswandel 248

VIII. Klassifikation der Sprachen 277

IX. Tier- und Menschensprache 339

X. Entstehung der Sprache 375

XI. Die Metapher 449

XII. Schrift und Schriftsprache 534

XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie 588

XIV. Ursprung und Geschichte von Vernunft 657

. . . melius nescieudo scitur . .

Scotus Erigeua.

Nihil enim homini etiam studiosissimo in doctrina perfectius adveniet quam in ipsa ignorantia quae sibi propria est doctissimus reperiri; et tanto quis doctior erit quanto se sciverit magis ignorantera.

Nicolaus Cusanus.

Since 't is reasonable to doubt most thiugs, we should most of all doubt that reason of ours which would demonstrate all things.

Pope.

Et in hoc ostendunt se esse asinos, quod dicuut caelum esse casa helios.

Roger Bacon.

Casus enim in linguavum mutationibus magie quam consilium dominatur.

Leibuiz.

. . . e della storla delle coso sl accortasse quella delle lingue.

Vico.

Mit Namen zimmern wir keine Filcher in unserer Seele.

Herder, Metakritik.

How my soul hates This lauguage, which makes lit'e itself a lie.

Byron, Sardanapalus.

Sprache ist fossile Poesie.

Emerson.

Der Unterschied zwischen der Meinung der Grie- chen, daß die Sonnenstrahlen Pfeile des Phoebus sind, und der unsrigen, daß sie Bewegungen eines gewichts- losen Stoffes seien, ist der: daß die erste poetisch

ist und die zweite nicht.

P. N. Coßmann.

I. Was ist Sprachwissenschaft?

Wer eine Sprachwissenschaft zu geben verspricht, der vermeint wohl immer, alle Tatsachen innerhalb seines Ge- bietes gesammelt und geordnet zu haben und demnach die Gesetze der Sprache zu kennen; wer nur kritisieren will, der verspricht nur genau zu beobachten. So kann der Reisende im fremden Land die Sitten des Volkes beschreiben, ohne die Gesetze des fremden Landes zu kennen; kannte er sie, so wäre er nicht viel besser daran, denn die Sitten wären durch die Gesetze nicht erklärt. Eher umgekehrt.

Ich will aber dem deutschen Gebrauche nicht ausweichen, der an die Spitze einer Untersuchung gern eine Darstellung der HauptbegrifEe stellt, ihren Inhalt und Umfang, und für jede Spezialwissenschaft einen abgeschlossenen Kreis bean- sprucht — und wäre das Kämmerchen auch nur ideal durch einen Kreidestrich, einen Federstrich, ein Wort abgegrenzt. Was ist Sprachwissenschaft? Und welche Stelle im System der Wissenschaften nimmt die Sprachwissenschaft ein?

Da habe ich zunächst zu erwidern, daß ich nicht einsehen spruch- kann, was in aller Welt Sprachwissenschaft sein sollte, weim^^^^ ^*^ ^^ sie nicht Sprachgeschichte wäre. Die Sprachwissenschaft will die sprachlichen Erscheinungen erklären, das heißt mög- lichst genau beschreiben. Erkläre einer aber einmal einen Gebrauch anders als durch die Geschichte des Gebrauchs. Diese Art von Erklärung ist die notwendige Ergänzung jeder Beschreibung; wie bei jedem Stücke einer Naturaliensammlung hinzugefügt werden sollte, wo es herkommt.

Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache. II 1

2 I- Was ist Sprachwissenschaft?

Der gegenwärtige Gebrauch der Wortformen und Ab- leitungssilben, die gegenwärtige Bedeutung der Worte und Bildungsformen, die gegenwärtige Syntax, alle Erscheinungen der Sprache sind nur mit Hilfe ihrer Geschichte genau zu beschreiben. Und wenn die Sprachwissenschaft sonach wesent- lich Sprachgeschichte sein muß, so kann sie anderseits nicht mehr als das sein, weil all ihr Wissen mit der Erklärung des gegenwärtigen Zustandes erschöpft wäre. Hätte die Sprach- wissenschaft wirklich, wie allgemein behauptet wird, Sprach- gesetze entdeckt, so wären es eben auch nur Gesetze der Sprachgeschichte, sogenamite historische Gesetze. Die Ver- wirrung der Begriffe „Geschichte'", „Beschreibung" und „W'issenschaft" läßt sich öfter beobachten und verrät eine gewisse Unsicherheit bei den Gelehrten. Heute neigt der gelehrte Sprachgebrauch dazu, unter dem Worte Naturwissen- schaft die Gesamtheit aller Naturgeschichte ziisammenzu- fassen, von den Hypothesen über die Weltentstehung, die auf der Astronomie oder der Himmelsbeschreibung beruhen, bis zur Erzählung der durch schriftHche Denkmäler verbürgten Abenteuer der Menschen, welche wirklich allzu unbescheiden Weltgeschichte heißt. Vor wenigen Jahrzehnten noch hieß Naturbeschreibung die ArmseUgkeit, welche man den kleinsten Schuljungen aus der Naturwissenschaft darbot. Sprach- Über die Stellung der Sprachgeschichte ist damit noch nichts entschieden. Es werden die Wissenschaften gern nach den sogenannten Kräften eingeteilt, welche den Er- scheinungen des betreffenden Gebietes ich möchte fast sagen: präsidieren. Danach gibt es eine Mechanik, eine Bio- logie, eine Soziologie usw. Die Kraft, welche die Verände- rungen in einer Menschensprache veranlaßt, ist oft gesucht, aber noch nicht entdeckt worden. Sie ist möglicherweise in Beziehung mit dem berühmten Sprachvermögen. Was ließe sich nicht alles über Kraft und Vermögen zusammen- schwatzen! Es ist für die in der Sprachgeschichte tätige Kraft noch nicht einmal etwas von den Gleichmäßigkeiten aufgefunden worden, die man in anderen Wissenschaften ihre Gesetze nennt. Man achte auf diese Hilflosigkeit der Sprach-

Sprachvermögen 3

gesetzforscher, die gerne Sprachgesetzgeber sein möchten, jedesmal dann, wenn der Sprachgebrauch noch schwankt, also eine Änderung der Sprache vor unseren Augen und unter unserem Zeugnis vor sich gehen soll. Da überlegen die Forscher zunächst, ob ein Bedürfnis für das neue Wort vorhegt? Ein Narr wartet auf ihre Antwort; denn nicht ihre Entscheidung urteilt über die Bedürfnisfrage, sondern erst, nachdem das neue Wort gesiegt hat oder unterlegen ist, werden sie sich klar darüber, ob sie von einem Bedürfnis reden dürfen oder nicht. Da überlegen die Forscher weiter, ob die Neubildung mit dem Sprachgesetze vereinbar sei? Wieder wartet nur ein Narr auf Antwort; denn die Sprach- gesetze sind das Sekundäre, und die Neubildung kümmert sich nicht im geringsten darum, ob durch den kleinsten ihrer Buchstaben der ganze Bau der bisher geltenden Sprachgesetze einen Stoß bekommt oder nicht. Wie die Hebammen um die kreißende Frau, so sitzen die Forscher in solchen Zeiten um die schwangere Sprache herum; sie nähren sich gut und plappern dafür über die Gesetze und die Kraft, die Knaben oder Mädel schafft; ob es aber ^in Mädel oder ein Knabe geworden ist, das erfahren sie erst nachher.

Es ist demnach nichts mit der Kraft (Energie), welche den Erscheinungen der Sprache zugrunde liegen soll. Nach ihr kann die Sprachgeschichte nicht in das System der Wissen- schaft eingestellt werden. AVir müssen uns also an die Erschei- nungen selbst halten. Da müssen wir doch auf den ersten Bhck sehen, ob die Erscheinungen der Sprache zur Natur oder zum Geist gehören. Ich möchte gern gegen den Leser und gegen mich großmütig sein und alle diese Begriffe als wohlbekannt voraussetzen ; aber ich kann wirklich von einer leisen Berührung aller dieser abstrakten Dinge nicht absehen. Die Materialisten leugnen den Geist, die Spiritualisten leugnen die Natur; und beide haben recht mit dem, was sie sich etwa bei diesen Worten denken. Es sind langlebige Worte, in welche seit Jahrhun- derten jedes Geschlecht gewisse Unklarheiten seiner Welt- anschauung hineinwirft. Doch selbst wenn wir definieren könnten, was Natur sei und was Geist, was Naturwissenschaft

4 I. Was ist Sprachwissenschaft?

und was Geisteswissenschaft, was nützte es uns im Einzelfalle ? Wollte ich einmal den eben auf das Papier fließenden Punkt über dem i des Wortes Papier ganz genau beschreiben, ganz genau, so weit meine Kenntnis überhaupt reicht, so müßte ich alle Naturgeschichte, von der Astronomie bis zu meinem heutigen Frühstück, alle Geisteswissenschaften, insonderheit die Menschengeschichte, und nicht minder alle Philosophie, soweit ich sie kenne, zusammensuchen und käme damit zu einer leidlichen Beschreibung des Punktes auf dem i. Denn alle Wirkung ist unendlich in Zeit und Raum. Selbstverständ- lich wäre der gesamte bisherige Weltlauf ebenso die einzig genaue Erklärung für das kleine Häufchen, welches eben neben mir die Fliege an der Fensterscheibe absetzt. Und weim ich nicht jedes Geschehnis der Welt so eingehend er- klären müßte, so könnte ich doch, oder so könnte doch eine Gesellschaft von Gelehrten alles jemals von Menschen Gewußte und auf uns Gekommene vollständig und syste- matisch an den Tintenpunkt über dem i oder an das Pünktchen Fliegendreck knüpfen. Ich gestehe gern, daß dieses System bei großen pädagogischen Vorzügen doch manche Mängel besäße. Aber ernsthaft festgehalten wissen möchte ich, daß jede systematische Ordnung menschlichen Wissens, jedes System System der Wissenschaften eine Frage der Bequemhchkeit Wissen- ^^^- ^^ Unseren Lehrbüchern können wir nur deshalb die Schäften strenge Abgrenzung der Wissenschaften durchführen, weil wir jedesmal von der Wirklichkeit absehen, weil wir immer schematisieren. In der weiten Welt der unzählbaren Wirk- lichkeiten gibt es nicht 3 und nicht 4, wie in unseren Rechen- aufgaben; es gibt immer nur drei Kirschen und vier Stachel- beeren. Es gibt keine Kristallformen ohne ihr Material. Es gibt kein Licht ohne seinen Körper, von dem es strahlt. Es gibt keine formale Logik ohne Inhalt. Es gibt kein Denken ohne Sprache.

Auch die Sprachgeschichte ist doch nur die Gesamtheit der Wirklichkeitswelt, von einem beschränkten Gesichts- punkte aus gesehen. Dazu kommt, daß das Wort Wissen- schaft regelmäßig schon eine Abstraktion bezeichnet von

System der Wissenschaften 5

zahlreichen Versuchen, einzelne Erscheinungen zu beschreiben oder zu erklären. AVas dabei die Wissenschaft ausmacht, das ist die Tatsache, daß zwischen den Erscheinungen Ähn- lichkeiten bestehen und darum auch zwischen den Beschrei- bungen oder Erklärungen. Es handelt sich also in jedem ein- zelnen Falle um kleinste Erscheinungen der Sprache. Handelt es sich aber nur um die Frage, warum z. B. ein Vokal, der vor 2000 Jahren kurz ausgesprochen wurde, jetzt um den Bruchteil einer Sekunde länger ausgesprochen wird (was man dann Dehnung nennt), so muß die Sprachgeschichte zur Beschreibung alle möglichen W^issenschaften aufs Speziellste bemühen. Zuerst die Physiologie, weil ohne Kenntnis der Sprachwerkzeuge die mit der Dehnung gewöhnlich verbundene Änderung des Vokals nicht zu beschreiben wäre; dann die Psychologie und wohl auch die Philosophie, weil mit der Dehnung ein Bedeutungswandel vor sich gegangen ist, der ohne diese Geisteswissenschaften nicht zu erklären wäre ; dann wohl alle die höchst irdischen Wissenschaften, welche den höchst unklaren Begriff KUma umgeben, weil nach der jMode unserer Jahrzehnte das Klima einerseits für die Physiologie, anderseits für die Psychologie verantwortlich gemacht wird; dann wieder die Mathematik, weil die Größe der Dehnung ohne Mathematik nicht ziffermäßig festgestellt werden könnte. In dieser Aufzählung, die nur eine beispielmäßige ist, habe ich wiederum die Psychologie zu den Geisteswissenschaften gerechnet; und der Anstand schon scheint zu gebieten, daß man die Wissenschaft vom menschhchen Geiste zu den Geisteswissenschaften rechne. Nur daß die Psychologie selbst verzweifelte Anstrengungen macht, sich zu den Naturwissen- schaften hinüber zu retten, und wenn es mit dem minimalsten Gepäck auch nur auf einen Strohhalm geschähe. So müssen die SpezialWissenschaften bei der kleinsten Einzeluntersuchung förmlich frikassiert werden; und es steigt der Verdacht auf, daß ihre systematische Einteilung wirklich nur ein Armuts- zeugnis des Menschengehirns sei. Die Enge des menschlichen Bewußtseins zwingt zu solchen Auskunftsmitteln.

Man hat die Sprachwissenschaft, also die Sprachgeschichte

Q I. Was ist Sprachwissenschaft?

insbesondere darum den Geisteswissenschaften zuzählen wollen, weil die Sprache nicht eine Schöpfung der Natur, sondern des Menschen wäre. Wenn ich mir bei solchen Worten nur etwas denlcen könnte ! Doch ich will es versuchen, auch dieses Schema mitzudenken. Sprachgeschichte oder Sprachwissen- schaft steht dann neben Philosophie, Philologie und Geschichte in der Reihe der stolzen Geisteswissenschaften. Lassen wir die Philosophie beiseite, um nicht unhöflich zu werden. Was man aber gewöhnlich Philologie nennt, die Beschäftigung mit den schriftlichen Denkmälern unserer und der älteren Kultursprachen, ist dann wieder doch offenbar nur ein Teil oder eine Hilfswissenschaft der Sprachgeschichte. Und die Sprachgeschichte, das heißt die Summe aller sprachlichen Erscheinungen auf Erden, ist wieder nur ein Teil unserer Kenntnis von den menschlichen Abenteuern der aller jüngsten Zeit, der letzten zwei- bis viertausend Jahre. Es würde demnach der Begriff der Geisteswissenschaften am Ende mit dem hochmütigen MenschenbegrifE der Weltgeschichte zu- sammenfallen. AVer da nun glaubt, daß die Geschichte der Menschheit von dem Willen, von dem bewußten Willen ein- zelner Menschen abgehangen habe, der mag auch glauben, daß die Sprachgeschichte den Willen einzelner Menschen darstelle und darum eine Geisteswissenschaft sei. Wie aber, wenn die gesamte Menschengeschichte und die Sprach- geschichte dazu nur die Zeitfolge ist von BilHonen einzelner Handlungen, welche, bewußt oder unbewußt, von ebensoviel Billionen Gefühlen begleitet waren, die wir heute den Willen nennen? Wie, wenn die Geschichte der Pflanzenwelt auf der Erde sicherlich eine noch längere also darum vornehmere Geschichte als die der Menschen sich ebenfalls auffassen ließe als eine Zeitfolge von unaussprechbar vielen Lebenserschei- nungen, von Veränderungen also, die ebenfalls von irgend- welchen Lebensgefühlen begleitet gewesen sein mögen, die ja ein Schopenhauer ebenfalls den Willen genannt hat? Wie, wenn die Freiheit des Willens, die doch also die Menschen- geschichte von der Naturgeschichte als eine Geisteswissenschaft von der Naturwissenschaft scheiden soll, ein unbestimmtes,

Geistiges 7

ein nichtssagendes Wort ist? Was fangen wir dann mit der Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften an?

Ich will noch einmal umkehren und sehen, ob es doch im Geistiges Stoff der Sprache liegen mag, daß wir instinktiv geneigt sind, sie der unklaren Gruppe der Geisteswissenschaften zuzurechnen. Wir wissen schon, wie wertlos dieser letzte Begriff ist; wir haben uns aber in dieser ganzen Untersuchung daran gewöhnen müssen, die üblichen Worte mit einer ungefähren Bedeutung weiter zu gebrauchen, nachdem wir ihre landläufige Definition für unhaltbar erklärt haben.

Den Stof! der Sprachwissenschaft geben Erscheinungen ab, so recht eigentlich Erscheinungen, die wir dem geistigen Gebiete zuzuweisen pflegen; jede Spracherscheinung ist ein Schall, der in uns näher oder ferner die Erinnerung an Sinnes- eindrücke erweckt, welche Erinnerung wir die Bedeutung des Schalles nennen. Also wohlgemerkt: wir besitzen in allen Sprachäußerungen etwas, was uns in doppelter Hinsicht etwas Geistiges, das heißt etwas Immaterielles zu sein scheint, den immateriellen Schall, den wir hören, und seine Be- deutung, deren wir uns erinnern. So scheinen wir prächtig auf rein geistigem Boden zu stehen. Eigentlich ist aber das einzige „Immaterielle" daran die Erinnerung. Die Sinnes- eindrücke, an welche die Bedeutung des Wortschalls erinnert, sind nämhch doch etwas Materielles gewesen, populär aus- gedrückt. Wie sich der Sinneseindruck in unserem Gehirn als Gedächtnis bewahrt hat, das wissen wir nicht; aber wir ahnen von Jahr zu Jahr sicherer, daß auch das Gedächtnis an materielle Veränderungen gebunden ist. Das Geistigste also an der Sprache, die Bedeutung der Wortschälle, ist nur insofern psychologisch, als wir unter Psychologie die uns immer noch unbekannte Physiologie des Gehirns verstehen.

Ich glaube aber wirklich, daß auch ohne diese Bedeutungs- seite die Sprache besser den immateriellen Erscheinungen zugewiesen würde, weil ihr Stoff der Schall ist, also eine Bewegungserscheinung der Luft, nach dem Zeugnis unserer Sinnesorgane eine formelle, nicht eine materielle Änderung eines Stoffs. Es ist aber traurig, so viele Jahre nach Locke

8 I- Was ist Sprachwissenschaft?

und Kant noch darauf hinweisen zu müssen, daß auch die von den anderen Sinnesorganen beobachteten Erscheinungen psychologisch ganz sicher, und höchst wahrscheinhch auch physikalisch, Bewegungsveränderungen, formelle Änderungen unveränderlichen Stoffes sind, eines Stoffes, den wir vor- läufig, in Ermanglung eines besseren Ausdrucks, seit einiger Zeit wieder die Atome nennen. Wäre also durch irgend welche Umstände das Verständigungsmittel der Menschen eine sieht bare Sprache geworden, so würden wir nicht so sehr geneigt sein, die Sprache zu den immateriellen Dingen zu rechnen; und doch wäre an der Sache nichts geändert.

Ich will natürlich nicht ableugnen, was wirkhch ist. Der Schall der Sprache gehört ohne Frage zur Naturwissenschaft. Dieser Schall erweckt aber in uns tausenderlei Gefühle, Stim- mmigen, Erinnerungen; die heitere und traurige Welt unserer Erfahrung baut sich mit Hilfe dieses Schalls noch einmal vor uns auf. Was da in uns vorgeht, das nennen wir die Tätig- keit unseres Geistes, weil wir die Natur dieses Vorgangs nicht kennen; das Plaudern darüber nennen wir eine Geisteswissen- schaft, weil wir die Naturwissenschaft der Erscheinung nicht kennen. So sind sämthche Erscheinungen der Tonharmonien, soweit wir sie verstehen, unbedingt Gegenstand der Akustik, einer Naturwissenschaft; nur das harmonische Mittönen des feinen Instruments in unserem Ohre, das unser Hören be- gleitende Gefühl, nennen wir eine Kunst, die Musik, wie wir die Begleitgefühle aller sprachlichen Entwicklung und alles anderen menschhchen Handelns unseren Willen nennen und sie der Tätigkeit des Menschengeistes zurechnen.

Xatnr- Für uns ist also die Frage, ob die Untersuchung der mensch-

lichen Sprache zu den Natur- oder den Geisteswissenschaften

Schaft

Geistes

wissen- gehöre, von Hause aus eine Phrase, eine wohlfeile Gelegenheit, trefflich mit Worten zu streiten. Für uns ist die gesamte Sprachwissenschaft ein Kapitel der Psychologie, und da trifft es sich ganz nett, daß die Psychologie selbst, welche doch

Natur- oder Geisteswissenschaft 9

die Wissenschaft vom mensclilicheu Geiste und nichts anderem ist, so gern Naturwissenschaft sein möchte.

Um den Unterschied zwischen Natur und Geist unsere Ironie über solche Unterschiede vorbehalten dem Sprach- gebrauch entsprechend festhalten zu können, denken wir eiimial zunächst an Zoologie und Chemie einerseits, an Moral und Jurisprudenz anderseits. Zoologie und Chemie werden zu den Naturwissenschaften gerechnet, weil die Gegenstände dieser Wissenschaften in der Wirkhchkeitswelt vorkommen, das heißt weil die entsprechenden Vorstellungen von außen her in unser Gehirn hineinkommen; Moral und Jurisprudenz werden zu den Geisteswissenschaften gerechnet, weil die ihnen zugrunde liegenden Vorstellungen in unserem Gehirn ent- stehen und von da aus auf die äußere Welt übertragen werden. Als Erinnerungszeichen der Vorstellungen dienen die Worte, also die Gegenstände unserer Sprachwissenschaft, sowohl den Natur- wie den Geisteswissenschaften. Darauf kommt es aber hier nicht an. Wir müssen einmal in zweiter Potenz abstrahieren, uns die Worte unserer Lautsprache als Gegen- stände der Betrachtung vorstellen und nun fragen, ob diese Vorstellungen von außen hereinkommen oder von innen hinaus- geschickt werden. Diese doppelte Abstraktion ist nicht leicht auszuführen, und darum mag es genügen, einfacher zu fragen, ob die Lautzeichen unserer Sprache als Gegenstände unserer Wahrnehmung wirkhche Dinge oder aber Gehirnprodukte sind.

Wirkliche Dinge wie die Gegenstände der Zoologie und Chemie sind diese Lautzeichen nicht. Wenn die Sprache sich nicht so entsetzlich beschränkte Kategorien auf den Hals geladen hätte, so könnte man sagen, die Lautzeichen hätten die meiste Ähnhchkeit mit den Erscheinungen der Mechanik, sie wären Bewegungserscheinungen und darum im Gegensatze zu der Wirkhchkeitswelt totes Material. Denn wenn ims die veraltende Sprache der Wissenschaft nicht das Wort Leben für die Erscheinungsformen der Tiere und Pflanzen allein hinterlassen hätte, so müßten wir doch erkennen, daß wir in den Erscheinungen, welche wir unter der Chemie zusammenfassen, mit ihren chemischen, magnetischen und

10 I. Was ist Sprachwissenschaft?

elektrischen Kräften etwas dem Leben Verwandtes besitzen, und daß zu dieser ganzen ungeheuren Gruppe von Natur- dingen sich die Bewegungen, zu denen auch der Schall gehört, wie etwas verhältnismäßig Totes verhalten. Doch die Sprache, die hier schon den Sprachgebrauch verlassen muß, läßt mich ganz im Stich, wenn ich auch noch daran erinnern muß, daß die gegenwärtige Naturwissenschaft auf materialistischer Grundlage nicht nur die Chemie, sondern auch die Biologie auf fabelhafte Atombewegungen zurückführen möchte.

Das Material der Sprachwissenschaft besteht also ganz gewiß nicht aus wirklichen Dingen, sondern aus mechanischen Erscheinungen, aus Bewegungen, welche von den motorischen wie von den sensiblen Nerven des Gehirns zugleich als Er- innerungszeichen mit anderen Vorstellungen assoziiert werden. So simpel auch der Kern dieser Behauptung ist, so mußte sie doch besonders aufgestellt werden, weil die Unklarheit in dieser Beziehung so schwer aus den Köpfen zu bringen ist. Denn auch das Gerede von der Abstammung der Sprachen, von Stammbäumen usw., wird ganz und gar schief und irre- führend, wenn wir nicht bedenken, daß die Worte gar nicht der WirkUchkeitswelt angehören, sondern Schallbewegungen sind, die jedesmal neu erzeugt werden müssen. Dadurch wird aber am hellsten beleuchtet, daß die Geschichte der Sprache immöghch zu den übrigen Naturgeschichten gehören könne.

Da aber die menschUchen Geisteswissenschaften immer nur Meinungen betrefien, also nicht einmal in dem beschei- denen Sinne der Naturwissenschaften echte Wissenschaften sind, so wäre es eine Art Verstoßimg, wenn wir die Sprach- geschichte und Sprachwissenschaft diesen sogenannten Geistes- wissenschaften überantworten wollten. Gehen T^i^ß (Jas Kind durchaus einen Namen haben, so müßte die

Sprachwissenschaft der Kulturgeschichte eingereiht werden. Kulturgeschichte aber ist, wenn wir das pedantische imd hochmütige Wort Kultur (wie wir's zuletzt so herrlich weit gebracht) beiseite lassen, eine Geschichte der menschlichen Gewohnheiten. Der ererbten wie der erworbenen Gewohn-

Gehen H

heiten, der geistigen wie der mechanischen Gewohnheiten. Die Sprache braucht sich ihrer Nachbarn dabei nicht zu schämen. Es gibt keine mechanische Gewohnheit, die nicht für das Geistesleben Bedeutung hätte. Sicherlich hat selbst die Geschichte der Kochkunst einen Zusammenhang mit der Entwicklungsgeschichte des Menschengehirns. Sicherlich ist die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Fortbewegungs- art von ungeheurer Bedeutung für das Geistesleben gewesen. Man muß nur verstehen, es unter einen einzigen Gesichtspunkt zu bringen, daß der Mensch erst auf seinen zwei Beinen gehen lernte, dann wer weiß wie lange sich mit dieser Kunst begnügte und jetzt über Dampfschiffe, Eisenbahnen und Luftballons verfügt. Vielleicht wird es nach einer solchen Betrachtung weniger paradox erscheinen, die Entwicklung der menschlichen Sprache mit der Entwicklung des menschlichen GeheiLs zu vergleichen. Wahrhaftig, auch dieser Vergleich hinkt, schon darum , weil die meisten übrigen Erscheinungen der Kulturgeschichte in früherer Zeit sich nur langsam ver- änderten und ihr Wechsel jetzt ein schnelleres Tempo anzu- nehmen scheint, während die Sprache sich früher (namentlich vor der Erfindung der Schrift) viel rascher entwickelte als jetzt. Ich frage aber, ob die Fortbewegung des Menschen vom zweibeinigen Gehen bis zum Orientexpreßzug für die Ent- wicklung des Menschen nicht von außerordentlicher Wichtig- keit war, ob nicht beinahe von der gleichen Wichtigkeit wie die Sprache, wenn man schon Werte vergleichen soll? Ich frage weiter, ob die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Fortbewegungsmittel nicht eine neue und schöne wissenschaft- liche Disziplin wäre, würdig der gelehrtesten Bücher und einer außerordentlichen Professur? Und ich frage endlich, ob man ohne Lachen eine Untersuchung darüber anstellen könnte: gehört diese neue und schöne Diszipün, die Entwicklungs- geschichte des Gehens, zu den Natur- oder zu den Geistes- wissenschaften?

12 I- Was ist Sprachwissenschaft?

Es ist wohl keine Gewaltsamlceit, wenn man sagt, daß allein Geschichte außerhalb der strengen Naturwissenschaften stelle und daß Sprache allein Stoff der Geschichte ist. ^^- Ich meine das so : man spricht nur uneigenthch von einer

äcbicht6

Geschichte der Tiere und der Pflanzen. Sie haben eine Ge- schichte eigentlich nur, insofern sie vom Menschen entnaturt worden sind. Man spricht sonst nur von Wanderungen der Tiere und Pflanzen, das heißt von ihrer unbewußten Ge- schichte. Wo im Völkerleben unbewußte große Massen- wanderungen vorkommen, das heißt wo man keine ausreichen- den Erklärungen und Darstellungen besitzt, da spricht man ebenso von Völkerwanderungen. Insofern nun die Menschen auf der Erde ihr pflanzliches Leben wie ihr tierisches geändert haben, könnte man ihre Geschichte als bloßes Wandern auf- fassen. Dasjenige, dem seit Voltaire die neuere Geschichte der ZiviUsation zustrebt und was in Buckle den schärfsten Ausdruck gefunden hat, die nationalökonomische Entwicklung der Menschheit, das ist keine bewußte Geschichte, das ist Völkerwanderung. Dahin strebt alle materiahstische Ge- schichtsauffassung. Die rechte Kulturgeschichte der Mensch- heit (natürlich nicht die ihrer Kriege und Könige allein) ist die Geschichte der menschlichen Gedanken, der menschlichen Worte, Illusionen und Glaubenssätze (nicht allein der reli- giösen); diese wahre Geschichte der bewußten, das heißt erinnerungsfähigen Menschheit ist die Geschichte ihrer Sprache.

Fixiernns Unwillkürhch sucht man die Sprache, die in Wirklichkeit Sprache ^^^ immer der flüchtige Laut ist, dauernd zu machen, durch sichtbare Zeichen zu fixieren, wenn man sie als Gegenstand der Wissenschaft betrachtet. Nur wenige Forscher mögen sich klar darüber sein, daß diese Beschränkung auf dauernde Zeichen die Sprachwissenschaft der Sprache gegenüber so ungünstig stellt, wie es nur etwa die topographische Anatomie dem Leben gegenüber ist. Nur wenige mögen es schon als Qual empfinden, daß die Sprachwissenschaft bei allen histo- rischen Sprachen (also auch bei unseren Sprachen, wie sie

Fixierung der Sprache 13

z. B. vor zwanzig Jahren gesprochen wurden) auf die höchst mangelhaften schriftlichen Aufzeichnungen beschränkt ist. Nur wenige und diese wenigen kenne ich leider nicht mögen darüber nachgedacht haben, was alles zur Sprache gehöre und darum in einer vollkommenen Schrift verzeichnet werden müßte. Kaum daß man angefangen hat, unser schlechtes historisches Alphabet durch ein reicheres phone- tisches, beinahe physiologisches Alphabet zu ersetzen.

Man stelle sich einen höchst intelligenten, höchst gewissen- hajften und sehr feinhörigen Menschen vor, der von unserer Buchstabenschrift nichts wüßte und sich die Aufgabe gestellt hätte, unsere Sprache durch bildliche Zeichen darzustellen. Und man nehme an, er hätte sich sogar die Aufgabe gestellt, durch sein System bildlicher Zeichen nur alle diejenigen Sprach- formen zu fixieren, welche gewöhnlich unter der Bezeichnung „deutsch" zusammengefaßt werden. Ich glaube, es würde ihm vor allem nicht einfallen, sich mit armsehgen 24 Buch- staben zu begnügen. Er würde mindestens vier verschiedene a brauchen, drei ch, fünf e usw. Sodann würde er, woran in unserer Schrift gar nicht gedacht ist, Notenlinien herstellen müssen und seine Buchstaben so zwischen die Linien schreiben, daß wenigstens annähernd einerseits der Tonfall unserer Rede, anderseits das sogenannte Singen der einzelnen Mund- arten unterschieden wäre. (Denn es „singt" jede Mundart, man hört es nur in seiner eigenen nicht.) Ferner müßte durch eine Verbindung von Notenlinien imd Pausenzeichen die Funktion unserer Interpunktionen weit reicher ausgestattet werden, als es bisher der Fall war. Man achte nur darauf, was alles in der lebendigen Rede durch die wechselnden Rhythmen der Stimme ausgedrückt wird, die eben nur ganz andeutungsweise durch unsere krüppelhaften Interpunktionen bezeichnet werden. Wir haben, wenn wir „er kommt" nieder- schreiben wollen, eigentlich nur den dummen Punkt dahinter zu setzen. Zur Not einmal auch das Fragezeichen oder das pathetische Ausruf ungszeichen. Unser intelligenter Schrift- erfinder müßte Zeichen für die Freude mid den Schrecken, für die Furcht und die Hoffnung, die Warnung und die Drohung

14 I. Was ist Sprachwissenschaft?

erfinden; denn mit allen diesen Empfindungen kann gesagt werden: „Er kommt". Und darum ist es imter Umständen mit einer jeden von diesen Betonungen auszusprechen.

Nebenbei: die alte Interpunktion, wie sie vor den Ale- xandrinern von den Griechen geübt wurde, war zwar sehr ungenügend, aber doch insofern für die Betonung wichtig, als sie oratorischer Natur war und wesentlich nur angab, waim die Stimme zu senken war. Unsere neuere Interpunktion ist von alexandrinischen Schulmeistern erfunden und von Buchdruckern eingeführt. Sie wurde im wesentlichen so, wie sie jetzt ist, festgestellt, als die ersten Ausgaben der alten Klassiker gedruckt wurden. Sie wurde aber so wenig ton- malend, wurde so durchaus grammatisch, daß sie nicht einmal für die verschiedenen modernen Sprachen in gleicher Weise angewendet werden konnte. So steht im Deutschen vor und nach jedem Relativsatz ein sauberes Komma, während wir doch nicht daran denken, „wer lügt" anders zu betonen als „der Lügner"; im Französischen und Englischen ist das „logisch" geforderte Komma des Relativsatzes nicht nötig. Umgekehrt setzt der Engländer vor dem „und" ein Komma, wo es doch im Deutschen verboten ist.

Logik W^äre die Sprache eine Dienerin des Gedankens, der Ge-

danke Gegenstand anderer Wissenschaften, so wäre es genügend, in der Schriftsprache Laute, Ton und Ausdruck zu unter- suchen, dazu im Zusammenhange jeder Sprache die Worte mit ihren Umformungen und die Sätze mit ihren Gliederungen. Für uns aber ist der Gegenstand der Sprachwissenschaft damit noch nicht erschöpft.

Nach der landläufigen Ansicht ist die Logik eine Wissen- schaft für sich, eine äußerst fürnehme Wissenschaft dazu, die nur mit Formen zu tun hat und der die W^irkhchkeit nicht zu nahe kommen darf. Wir aber werden sehen, daß alle logischen Regeln nur breitgetretene Begriffe sind, Begriffe aber Worte, daß also die ganze Logik in den AVorten einer Sprache verborgen ist. Wenn nun immer wiederholt wird,

Logik 15

es gebe ganz einheitliche und für alle Menschengehirne gleicher- weise gemeingültige Kategorien der Logik, die Formen der einzelnen Sprachen seien nur verschiedene Ausdrucksweisen des gleichen Gedankens, so muß ich demgegenüber behaupten : nur dann, wenn die Worte verschiedener Sprachen Zeichen für die gleichen Vorstellungen sind (was mathematisch genau niemals der Fall sein wird), wenn in den verschiedenen Worten zweier Völker gleiche Erinnerungen der Völker gebunden sind, nur dann lassen sich die verschiedenen Worte zu gleichen Gedanken oder Sätzen aufdröseln, nur dann könnte man von der gleichen Logik zweier Völker sprechen. Nichts ist gemeinsam als das leere Gesetz der Tautologie.

Da aber die Worte nicht ewig da waren, sondern mit dem Volke sich entwickelt haben, da jedes Wort in jeder Bedeutung durch das Beobachten von ÄhnHchkeiten (aus Metaphern und Analogien) entstanden ist, da diese Vorgänge nach unserem Sprachgebrauch der Psychologie angehören, so sind außer den logischen Umständen auch die psychologischen Ent- stehungsgründe der Worte Gegenstand der Sprachwissenschaft.

Es fragt sich nur, ob es möglich ist, mit den Worten und Bildern seiner Muttersprache sich jemals Wort und Ton, Logik und Psychologie einer einzigen fremden Sprache vor- zustellen, ja ob es auch nur möglich ist, mit den Worten der heute lebendigen Sprache Logik und Psychologie der letzten Generation sich selber oder einem anderen mitzuteilen.

Sprache ist der Gegenstand dieser Wissenschaft, Sprache ist ihr Werkzeug. Und es ist nur traurig, daß dasselbe Ding als Stoff so unendlich, so allumfassend sein kann, das als Werkzeug zu klein, so wenig umfassend ist. So mußte es den Leuten zumute sein, als sie noch glaubten, das menschliche Auge erzeuge das Licht, das unendliche Licht, das die Welt erfüllt und das doch nur durch das kleine müde menschliche Auge da ist.

Unsere Grammatik ist so roh, daß sie nicht einmal der Be- Sprache beizukommen weiß. Sie hält sich eben nicht an die '°""°s lebendige Sprache, sondern an die schriftlich fixierte, an den toten Leichnam der Sprache und versteht ihren Bau so wenig,

16 I. Was ist Sprachwissenschaft?

wie der Anatomieschüler den lebendigen Organismus versteht. Der ganze Apparat der Betonung ist ihr unzugängUch. Und ich fürchte, die schriftliche Fixierung der Sprache wird die Sprachen tonlos machen, wie sie sie dialektlos gemacht hat. Wozu auch betonen? Die Bücher sind fast nie betont (hie und da nur ein Wort durch gesperrten Druck) und man ver- steht sie doch. Schon hat man sich gewöhnt, Fragen und Verneinungen durch Wortstellung tonloser zu machen. Wie wichtig die Betonung ist, und wie alle ihre Feinheiten der Grammatik entgehen, mache man sich an einem Beispiel klar.

„Ich habe dich nicht geliebt" kann heißen: „ich h. d. n. g., sondern du hast mich verführt." Oder: „I. habe d. n. g., ich liebe dich noch." Oder: „I. h. d i c h n. g., sondern deine Schwester." Oder: „I. h. d. nicht g., wenn ich es auch geglaubt habe." Oder: „I. h. d. n. geliebt, sondern dich aus anderen Gründen geheiratet."

So hat der für die Schrift identische Satz völlig ver- schiedenen Sinn, ohne daß seine grammatischen Formen sich scheinbar geändert hatten. In Wirklichkeit war das psychologische Prädikat immer ein anderes. Ausgesagt, prä- diziert wurde immer, worauf das Denken aufmerksam ein- gestellt wurde, was darum auch schärfer zu Gehör gebracht wurde, wie Bilder im Fleck des deutlichsten Sehens schärfer geschaut werden.

Es gibt in der Sprache viele Worte (besonders Ver- neinungen, wie: nichts, kein, niemand, niemals, aber viel- leicht auch Worte wie: Sein, Gott, Unendlichkeit), die betont, im musikalischen Zusammenhang des Satzes etwa noch einen Sinn haben können, die aber völlig leer werden, sobald sie tonlos, als Begriffe für sich auf dem Papier stehen.

Wir nennen die deutliche Erinnerung an einen Sinnes- eindruck, eine Beobachtung (im Gegensatze zu der undeut- lichen Erinnerung, dem Glauben), unser Wissen von einer Sache. Die Etymologie des Wortes ist ungewöhnlich klar. Es ist ein ursprüngliches Perfektum zu dem Begriffe „sehen" (Band l^, S. 294); was ich gesehen habe, das „weiß" ich. All mein „Wissen" ist „Gesehen haben", ist Erinnern. Durch

Betonung jy

die Endsilbe „schaff nun wird diese einfache Tatsache, daß wir Menschen Erinnerungen besitzen, zu einem feierhchen Abstraktum; der Begriff wird verdächtig. Wissen„schaft" will ein höheres Wissen sein, ein System von AVissen, ein in sich selbst zurückkehrender Ring von Wissen, eine wissende Schlange, die sich in den Schwanz beißt. Es ist der Grund- irrtum aller Wissenschaft, zu glauben, daß Ende und Anfang sich finden werden.

Was Wissenschaft vermag, ist doch immer nur : eine Über- sichtlichkeit über die Erinnerungen herzustellen. Das Mittel der Übersicht ist die Sprache, die ihrem Wesen nach klassi- fiziert und klassifizierend erinnert. Schlimm für den Men- schen, wenn er die Sprache selbst zum Gegenstande einer Wissenschaft zu machen wagt; Gegenstand der Erinnerung und Zeichen der Erinnerung, Stoff der Erkenntnis und Form der Erkenntnis fallen dann zusammen. Wie soll da das Gefäß den Inhalt fassen? Ist es nicht, als ob man ein Holz- feuer in einem hölzernen Ofen anzünden wollte? Muß das Innere nicht das Äußere zerstören? Oder soll ich lieber an die Zuckerbäcker denken, die in den Straßen der Stadt Gefrorenes verkaufen und dazu Tellerchen und Löffel aus Zuckerschaum? Die Kinder essen den Löffel und den halben Teller auf, bevor das Eis noch verzehrt ist.

Wie bei jeder anderen Wissen„schaft", so ist es auch bei der Sprachwissenschaft nicht in der Natur, sondern nur in unserem Interesse begründet, ob wir das Gebiet so oder so abgrenzen, ob wir unsere Beobachtungen so oder so ordnen wollen. Ist es doch sogar von unserem Interesse abhängig, ob wir an dieser Feder z. B. sehen, daß sie leicht, daß sie blau, daß sie feucht, daß sie weich oder daß sie elektrisch sei. Es wird uns nicht überraschen, daß die Erinnerung an das Sehen (das Wissen) absichtsvoll, unnatürlich, interessiert, mensch- lich sein müsse, wenn das Sehen selbst so ist. Alle guten Regungen treiben uns an, Einsicht zu suchen; aber die Ein- sichten gehen immer auf Sinneseindrücke zurück, und die immer auf Absichten. Es ist demnach auch in der Sprach- wissenschaft bloß ein Werk des augenbhckhchen Augenmerks,

Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache. II 2

18 I- Was ist Sprachwissenschaft ?

ob wir sie zu den historisclien Wissenschaften und da etwa zur Anthropologie oder Ethnographie rechnen wollen oder ob wegen der Lautphysiologie zu den Naturwissenschaften.

Dabei ist gar nicht in Betracht gezogen, daß „Sprache" selbst ein höchst vieldeutiges AVort ist. Es kann mein augen- blickliches Sprechen bedeuten („was ist das für eine Sprache?"), im Gegensatz zu allen anderen Worten, die je irgendwo ge- braucht worden sind. Es kann meine IndividuaLsprache (ein Abstraktum!) bedeuten im Gegensatze zu der Sprache meiner Horde, meiner Landschaft, meines Volkes; es ist dann offenbar eine Zusammenfassung von Äußerungsgewohnheiten. Es kann aber auch nur das sogenannte Sprachvermögen be- deuten.

Die Beschäftigung mit den Einzelsprachen (seien es nun

Individualsprachen, Volkssprachen oder selbst Sprachstämme)

gilt nicht mehr als rechte Sprachwissenschaft, seitdem die

Allgemeingültigkeit der Sprachgesetze in Zweifel gezogen

worden ist. Unsere AVissen„schaft" will zum Sprachvermögen

selbst vordringen, zum Verständnis dieser menschUchen Eigen-

„schaft", von der man nicht recht weiß, ob man sie ein Organ

nennen darf oder nicht (weil man nicht weiß, was ein Organ

ist). W^oUte ich mich durch AuLstellung eines neuen Einteilungs-

SpracL- grundes für die W^issenschaften auszeichnen, so würde ich

g^jj'^j^^^^"j^ vorschlagen, unsere Kenntnisse oder Erinnerungen zu ordnen

einzige danach, ob wir sie auf die Sinneseindrücke selbst beziehen,

eis es- ^^g dann alle Naturwissenschaften und die zu ihnen gehörigen

wissen- o &

Schaft Historien gäbe (Weltgeschichte als Fortsetzung der Geologie, als Historie vom homo sapiens), oder ob wir uns mit diesen Erinnerungen selbst als Problem beschäftigen, was dann die Geisteswissenschaft wäre oder ein System von Geisteswissen- schaften. Und je nachdem ich nun Sprachwissenschaft ober- flächlicher oder tiefer nähme, würde sie in jedem Augenblicke einem dieser Fächer zuzuzählen sein, das heißt (da Sprach- wissenschaft ein Abstraktum ist und jede einzelne sprach- wisse nschaftUche Betrachtung sich selbst legitimieren muß) es hängt von mir ab, ob ich eine einzelne Untersuchung so oder so anstellen will. Achte ich z. B. beim Aussprechen der

Sprachwissenschaft die Geisteswissenschaft 19

Laute „Stiefel" auf das Geräusch allein oder noch auf sein Werkzeug, so beteilige ich mich an physikahschen, mecha- nischen oder physiologischen Studien, achte ich auf Entlehnung des Wortes aus dem italienischen stivale (mittelalterhch- lateinisch aestivale, sommerlich, Sommerschuh), so treibe ich einen Ausschnitt Geschichte, imter Umständen auch Kulturgeschichte. Erst wenn ich den Substantivcharakter des Wortes ins Auge fasse, wenn ich dann z. B. das Adjektiv aestivale in seinen grammatischen und logischen Formände- rungen verfolge, gelange ich dazu, anstatt der Wirklichkeit und ihrer Sinneseindrücke, an die das Wort erinnert, diese Erinnerung selbst zu betrachten und mich der Frage zu nähern : wie ist Erinnerung im Menschengehirn möghch? Bedenken wir nun, daß alle sogenannten Geisteswissenschaften bei dieser Frage stehen bleiben müssen, weil sie bei ihr nicht vorbei und über sie nicht hinaus können, weil aller Werkzeug die Sprache ist und jeder Gebrauch eines AVerkzeugs mit seiner Kenntnis beginnen muß, so dürfen wir vielleicht die Sprachwissenschaft die Geisteswissenschaft par excellence nennen, d i e Geisteswissenschaft, in welcher Psychologie, Logik, Metaphysik, Moral, Ästhetik und Graphologie nebst Theologie schon enthalten sind; ja, ich wäre geneigt, alle Geisteswissenschaften, die nicht Sprachwissenschaft sind, Spaßwissenschaften zu nennen. So daß Geisteswissen- schaft als Synonym von Sprachwissenschaft übrig bhebe. Xur daß zwei Bildungsbestandteile von „Geist"eswissen„schaft" mir vollkommen unfaßbare Schälle sind, und ich schon zu- frieden wäre, wenn ich Geist mit Sprache gleich setzen und mir bei einem Wissen von der Sprache etwas Rechtes vor- stellen könnte.

Dieser Zusammenhang mußte von den neueren Sprach- Geist

. . . der

forschern schon geahnt worden sein, als sie die Forderung Sprache aufstellten, um Sprachwissenschaft zu werden, müßte Philo- logie und Linguistik sich mit dem „Sprachgeist" befassen, anstatt mit etymologischer Sprachvergleichung. Eine Zeit- lang hatte man ja diese Sprachvergleichung (weil das Spiel noch neu war) für den höchsten Geistesgenuß gehalten. Da

20 I- ^Vas ist Sprachwissenschaft?

„verwandelte" sich lateinisches f in spanisches h, li in spa- nisches j, die lateinische Endung ns in o; hatte man also die Aufgabe, filius ins Spanische zu „verwandeln", so brauchte man sich nur der Regeln zu erinnern und hatte hijo beisammen. Erst als man nach beinahe hundert Jahren des Spiels müde wurde, fingen einzelne an einzusehen, daß bei solchen Ver- gleichungen ein „Gesetz", eine Begründung nie herauskomme. Mir scheint sogar, daß die Entdeckung von der Verwandt- schaft zwischen filius und hijo nicht gar wertvoller sei, als das Bewußtsein von der Ähnlichkeit zwischen der Aussprache Wurst und der Aussprache Wurscht. Geistig kam wirklich nichts dabei heraus. Man wollte also in den Geist der Sprache eindringen, wissenschaftlich.

Ich will nicht lachen; ich will nur die Worte festhalten. Das Wissen von der Sprache kennen wir schon als unsere Erinnerung an die Erinnerungszeichen; die Sprachwissen- schaft ist also schon genötigt, sich selbst über die Achsel zu gucken. Wollen wir aber gar etwas vom „Geiste" der Sprache wissen, so suchen wir uns allerdings unter unseren Erinnerungs- zeichen gerade deren zu erinnern, deren wir uns nicht mehr erinnern, die wir uns nicht mehr vorstellen können, und die wir darum den Geist nennen.

Freilich wird die Forderung, die Sprachwissenschaft solle den Sprachgeist studieren, erst neuerdings erhoben, seitdem es auf dem alten Wege nicht mehr recht vorwärts gehen will. Man hatte die Teile in seiner Hand, es fehlte leider nur das geistige Band. Man hatte sich zu sehr um das Gegenteil von Sprachgeist gekümmert: um den Sprachkörper. Und es ist in Übereinstimmung mit der gegenwärtigen Auffassung von der Würde der Wissenschaft, daß man sich jetzt um den unkörperlichen Geist bekümmert.

Und sollte es ein Zufall sein, daß die Sprachwissenschaft bei ehrgeizigen kleinen Völkern aufkam, wie denn auch bei solchen Sprachreinigkeit und dergleichen im höchsten An- sehen steht? Die Griechen und die Römer trieben niemals Sprachvergleichung, weil ihnen die Völker, deren Sprachen sie doch verstanden und vielfach redeten, als Barbaren er-

Sprache und Wirklichkeit 21

schienen oder doch als Besiegte verächtlich waren. Sollte es ein Zufall sein, daß unsere moderne Sprachvergleichung (die etymologische sowohl wie die grammatische) zuerst, und zwar in Sajnovicz' Buche vom Jahre 1770, bei den Ungarn aufkam, die in ihrer Isolierung irgend einem anderen euro- päischen Volke verwandt sein wollten, daß das gewöhnlich nach Jakob Grimm getaufte Lautverschiebungsgesetz zuerst von einem Dänen, Rasmus Ch. Rask (im Jahre 1818), auf- gestellt worden ist, der die Bedeutung Skandinaviens für die indoeuropäischen Stämme nachweisen wollte?

Der Grundirrtum, welcher allen bisherigen philosophischen Sprache Systemen einerseits und der Volksmeinung anderseits das ucijjjeit" Leben läßt, der Grundirrtum also, welcher den Weisen wie den Toren das Leben so bequem und das Erkennen des Lebens so schwer macht, er besteht darin, daß der gesunde Menschen- verstand naiv, die Philosophie auf künstlichen Umw^egen dazu kam, ein Denken vorauszusetzen, welches den Verhältnissen oder Kategorien der W^irklichkeitswelt ähnhch oder kon- gruent sei. Da Denken nichts anderes ist als Sprechen, so sagt diese Annahme aus, die Sprache enthalte in ihren gram- matikalischen oder logischen Kategorien ein richtiges Bild der Wirkhchkeit, die Sprache sei der Wirklichkeit kongruent. So rohem Philosophieren stellte schon Thomas von Aquino, der Doctor angelicus (der doch Summa I. Quaestio 107 über die Sprache der Engel, ihre Telepathie und Subordination poetisch ungereimt wie nur Swedenborg geschrieben hat), den guten Satz entgegen: „Verba sequuntur non modum essendi, qui est in rebus, sed modum essendi, secundum quod in cogitatione nostra sunt."

Welche Rolle die sogenannte Logik in diesen Phantasien spiele, will ich im Zusammenhang mit anderen Fragen darzu- stellen suchen. Hier aber möchte ich einige Ergebnisse der neueren Sprachwissenschaft sammeln, welche beweisen, daß die einst geplante philosophische Grammatik der ganzen Menschheit, daß also eine gemeinsame Sprachphilosophie

22 I- Was ist Sprachwissenschaft?

der Menschheit ein Narrentraum ist, daß die verschiedenen Völker oder Sprachen nicht nur verschiedene AVorte oder Begriffe gebrauchen, sondern auch eine verschiedene Rede- gliederung oder Logik. Solchen Erscheinungen gegenüber sinkt die Frage nach der gemeinsamen Abstammung der Sprache zum Range einer naturgeschichtlichen Spielerei herab.

Ich will die Erscheinung, bevor ich sie mit Beispielen belege, noch einmal abstrakt ausdrücken. Es scheint natür- lich, daß verschiedene Völker für die gleichen Sinneseindrücke auch verschiedene Zeichen eingeführt haben, daß ich Stuhl sage, -wo der Franzose chaise sagen muß, wie es auch begreif- lich ist, daß der eine Trinker als Merkzeichen für die geleerten Bierseidel die Knöpfe seiner Weste aufmacht, der andere regelmäßige Figuren auf die Tischplatte zeichnet. Unbegreif- lich aber muß es dem bisherigen Denken erscheinen, daß die verschiedenen Sprachen gar nicht dieselben Kategorien be- sitzen, daß die Einteilung z. B. in Dingwörter, Handlungs- oder Zustands Wörter und Eigenschaftswörter, die uns in unserer Sprache so notwendig dünlcen, schon bei unseren Nachbarn überflüssig ist. So müßte ein ungelehrter Trinker darüber staunen, wenn irgend eine neu erfundene Maschine die Anzahl der geschuldeten Bierseidel nach der Temperatur in der Achselhöhle, nach der Röte der Wangen oder sonst nach solchen Zeichen anmerken wollte.

Genau betrachtet ist auch in unseren nächsten Sprachen die Einteilung nur eine formale. „Rot" hört nicht auf, eine Eigenschaft zu sein, wenn wir das Dingwort „die Röte" daraus machen, und die Eigenschaft wird für den Bekenner der Wellentheorie eine Bewegung oder ein Verbum. „Es bUtzt" hört nicht auf, ein Verbum zu sein, wenn wir es sprachlich in das Dingwort „das Blitzen" oder „der Blitz" verwandeln. Zwischen „es blitzt" und „ein Blitz" kann ich nicht den leisesten Unterschied ent- decken. Ebenso gibt es eine Menge adverbiale Begriffe, namentlich Zeitbestimmungen, welche von uns durch Um- standswörter ausgedrückt werden, von anderen durch Verben.

Sprache und Wirklichkeit 23

Commencer par, finir par, wo wir „zuerst" und „endlich" sagen, ähnliche griechische Worte, wo wir „immer", wo wir „zufällig" sagen würden, bezeichnen wir gewöhnlich als Über- setzungsschwierigkeiten. Jede Übersetzungsschwierigkeit aber ist ein kleiner Beweis dafür, daß Denken oder Sprechen der überall gleichen Wirklichkeitswelt nicht entspricht.

Dazu kommt, daß die Umstandswörter und Vorwörter gewöhnlich umgeformte Dingwörter sind, daß sie also auf eine Zeit zurückweisen, in welcher die Kategorie des Ver- - hältnisses noch eine Kategorie des Dings war. Unser deutsches „trotz" wird als Adverbium schulgerecht mit dem Genitiv verbunden; wer Sinn hat für seine dingliche Bedeutung, wird es den Dativ „regieren" lassen. Dahin gehört es auch, wenn z. B. im Russischen Ortsverhältnisse durch den Kasus des Dingworts allein bezeichnet werden, während wir Vor- wörter dazu brauchen. Was sich sprachlich in Adverbien und Präpositionen geschieden hat, das würde man in der Wirk- lichkeitswelt gar nicht trennen können; und es ist auch von Natur gar nicht sprachlich geschieden, nur die griechischen Grammatiker und ihre Nachfolger haben es getan. Sowohl bei dem vorgrammatischen Homeros als bei den außer- grammatischen Chinesen gibt es Worte, von denen niemand sagen kann, ob sie Adverbien oder Präpositionen sind.

Ja selbst die scheinbar unentbehrlichen Negationswörter sollen nicht in jeder Sprache vorhanden sein. Wenigstens lassen Formen des Finnischen und Spuren im Ungarischen vermuten, daß diese Sprachen die Negation nicht als etwas Subjektives auffassen wie wir. Es scheint, daß der Finne anstatt „ich gebe nicht" sagen muß : „ich bin ein Nichtgeber". Ich drücke mich so vorsichtig aus, weil solche sprachverglei- chende Studien wenn man nicht etwa alle Sprachen spricht niemals Sicherheit geben, immer an den Übersetzungs- schwierigkeiten scheitern müssen.

Die Sprachwissenschaft gerät also auf ihren Wegen zu spiach- folgendem sinnlosen Kreislauf des Denkens. Die Logik '^*'®"

^ o gonen

habe zehn Kategorien oder Redeteile anzunehmen, weil sie sich in den Sprachen nachweisen ließen. 1. Substantiv,

sisch

24 I. Was ist Sprachwissenschaft?

2. Adjektiv, 3. Verbum, 4. Adverb, 5. Präposition, 6. Pro- nomen, 7. Zahlwort (der Artikel soll entweder Pronomen oder Zahlwort sein, ist aber im Deutschen z. B. gewöhnlich keines von beiden), 8. Negation, 9. Partikel, 10. Konjunktion. Die Logik verlange es der Sprache wegen. Aber nur selten komme eine Sprache diesem Ideale nach. Gerade unsere indogermanischen Sprachen hatten ursprünglich keine Prä- positionen; und selbst richtige Adjektive sind nicht immer Chine- nachweisbar. Im Chinesischen ist nicht einmal das Verbum vom Substantiv sicher geschieden; das Wort „der Rücken" kann auch „den Rücken kehren" oder „auf dem Rücken tragen" bedeuten. Und ich mache für diesen ganzen Abschnitt ein für allemal darauf aufmerksam, daß dieses „Bedeuten" einen falschen Begrif! hineinträgt. Erst in der Übersetzung gehen die Bedeutungen auseinander. Es ist aber dieselbe Impertinenz, mit welcher der Yankee auf den eingewanderten Chinesen herabblickt, weil der Chinese anders geschlitzte Augen hat oder einen Zopf trägt oder kein Christ ist oder an seiner Kleidertracht festhält oder eine andere sexuelle Scham besitzt oder weil er bedürfnislos ist es ist dieselbe Impertinenz, wenn wir die chinesische Sprache verachten um solcher Be- sonderheiten willen. Vielleicht ist die Kategorie des Verbums nur dadurch entstanden, daß wir Wirkungen und Zustände der Dinge mythologisch mit unserem vermeintlichen Willen, mit unseren Stimmungen gleichgesetzt und dafür (wie für andere Gottheiten) besondere Namen erfunden haben ; vielleicht steht das Chinesische ohne Verbum der Wirklichkeitswelt näher. Die Auffassung, daß die flexionslose chinesische Sprache, welche wegen der Einsilbigkeit und Starrheit ihrer Worte so lange für den Typus der primitivsten Sprachen gehalten wurde, im Gegenteil eine höchst abgeschliffene Sprachstufe darstelle, daß die englische Sprache mit ihrer Tendenz, die Bildungssilben zu vernichten, einer ähnlichen Abgeschliffen- heit zustrebe, diese Auffassung scheint schon vor mehr als vierzig Jahren von dem Engländer Edkins ausgesprochen worden zu sein. Lepsius und Friedrich Müller sind zu ähn- lichen Ergebnissen gelangt.

Chinesisch 25

Es ist überhaupt ein eigen Ding um die chinesische Sprache. Wenn die Formen oder Kategorien Bedingung eines logischen Sprechens oder Denkens wären, so müßte das chinesische Volk tief unter den KafJern, den Bantu und anderen so- genannten Wilden stehen. Nun aber stimmen alle Berichte darin überein, daß die Chinesen zwar seit langer Zeit stehen geblieben sind, daß sie aber früher mit eben dieser Sprache man kann wohl sagen an der Spitze der Zivilisation marschierten. Und was ich aus Übersetzungen von der chi- nesischen Literatur kenne, das scheint mir allerdings mit den besten semitischen und indogermanischen Büchern über Religion und Philosophie etwa gleichwertig zu sein, wenn ich nur die erkenntnistheoretischen Schriften der letzten Jahr- hunderte ausnehme. In seinem wurzelisolierenden Chinesisch hat Konfutse nicht minder weise gesprochen oder geschrieben als die Verfasser der Veden, des Alten und Neuen Testaments, des Koran in ihren flexionsreichen Sprachen.

Nun ist das moderne Chinesisch übrigens etwa vom Deutschen gar nicht so arg verschieden. Auch dort hat jede Landschaft ihren eigentümlichen Dialekt, auch dort gibt es eine gemeinsame Sprache aller Gebildeten, wohl ein Beamten- chinesisch. Als ob unser gemeinsames Hochdeutsch nicht auch ein Kanzleideutsch gewesen wäre, bevor es unser Bibel- deutsch wurde! Da spricht man aber immer von dem chine- sischen alten Stil, dem „kü wen", das sich von der Umgangs- sprache wesentlich unterscheiden soll. Aber auch wir haben so einen alten Stil im Jargon der Prediger und in der Ge- richtssprache, auch wir haben die altertümelnden Romane von Gustav Fre^'tag, auch wir hören bei Reichstagseröö'nungen und Grundsteinlegungen, auch wir hören von Richard Wagner und seiner Schule wen, bewußte Archaismen, die der ein- fache Mann nicht versteht. Und neuere Kenner des Chine- sischen erklären ausdrücklich, daß das Verhältnis des wen zur Umgangssprache nicht viel anders sei als bei uns.

Ich werde behaupten und werde es bis zur Ermüdung wiederholen, daß auch in unseren Sprachen nicht die Worte den Satz oder den Gedanken erklären, daß vielmehr der Ge-

26 I. Was ist Sprachwissenschaft?

danke oder der Satz seine Worte erklärt. Ich will damit lehren und beweisen, daß alle Grammatik mit ihrer Satz- bildung, aber auch alle Logik mit ihrer Schlußbildung die Wirklichkeit buchstäbüch auf den Kopf stellt, auf das Gehirn, auf die Sprache. Diese Lehre widerspricht (und muß wider- sprechen) so sehr unserer Gehirngewohnheit, daß darüber zumeist der Leser seinen Kopf oder sein Gehirn oder seine Sprache schütteln wird. Und doch hat Konfutse seine Weis- heit (die freilich nur Ethik war) in einer Sprache geschrieben, in der zugestandenermaßen der Satz das Wort erklärt. Denn wie soll ich es anders nennen, wenn ich erfahre, daß im klas- sischen Chinesisch die sogenannten Wurzeln aneinander gefügt werden ohne jede Flexion und so der Sinn der Teile erst aus dem Sinn des Ganzen hervorgeht? Und unsere Flexions- sprache, welche anstatt „Minister Dienst Fürst" oder „Leiten Dienen Herrschen" so viel bequemer sagt „der Minister dient dem Fürsten' unsere Sprache ist nur bequemer, hand- licher, angepaßter: klüger ist sie nicht. Unser Stiefel schmiegt sich dem Fuß weicher und genauer an als der Kommißstiefel, den sich der Rekrut erst nach seinem Fuß zurecht treten muß, aber organisch ist auch unser elegantester Damenstiefel nicht. Es ist und bleibt fremdes Leder.

Daß das moderne Chinesisch langsam dazu gekommen ist, diese unbequeme Denk- oder Sprechweise durch allerlei Formwörter zu verflüssigen, während unsere Sprachen (wie das Englische beweist) dahin streben, die Formen zu verlieren, eckiger, chinesischer zu werden, das sollte uns wieder vor indogermanischem Hochmut bewahren.

Auch die strenge Ordnung der logischen Redeteile, z. B. von Subjekt, Prädikat und Objekt, wie sie den Chinesen beim Verständnis seiner Satzblöcke unterstützen soll, ist weder dem Chinesischen eigentümlich noch eine Notwendigkeit für solche flexionslose zyklopische Sprachen. Freie Wortstellung (wenn ich von der für mein Gefühl unerträglichen Freiheit der lateinischen Dichter, besonders Ovids, absehe) besitzen nicht nur das Griechische und Deutsche mit ihren reichen Formen, sondern auch das formlose Englisch, die Franzosen

Chinesisch 27

jedoch mit ihren armseligen Formen (namentlich in der Dekli- nation) sind an eine chinesische Wortordnung gebunden.

Es kann nicht wahr sein ich verstehe kein Chinesisch und folge hier nicht immer den Anschauungen, aber den Mitteilungen von Gabelentz es kann nicht wahr sein, daß der Chinese durch die Ordnung seiner Wurzelblöcke erst die grammatikalische Bedeutung und dann den Sinn der Worte erfahre. Was geht den Chinesen die Lokalgrammatik der Europäer an? Und auch wir, was hilft uns die Grammatik? Ein Schuhleisten ist sie uns, um unbequeme Stiefel aufzu- schlagen, nicht mehr. „Holzbirnen schmecken schlecht": versteht der einfache Mann diesen Satz darum irgendwie weniger, weil er nicht weiß, ob „schlecht" Adjektiv oder Ad- verb ist? Und wenn wir „Holzbirnen" sagen oder „Arbeiter- versicherungsanstalt", wissen wir dann besser als die Chinesen, ob die einzelnen Blöcke so zusammengesetzter Worte Sub- stantive, Verben, Adjektive oder sonst etwas sind?

Misteli sagt (Typen des Sprachbaus 180) : „Für die sichere Auffassung chinesischer Texte sei die Grammatik ebensowenig als irgendwo sonst ausreichend; genaue lexikalische Kenntnis und überhaupt Vertrautheit mit dem chinesischen Geiste müssen sie unterstützen"; da hat Misteli den Schlüssel schon in der Hand, ebenso wie Gabelentz, um das Tor zu meiner Lehre aufzuschließen; nur daß er den Schlüssel vor lauter Gelahrtheit nicht zu gebrauchen wagt. Lexikalische Tatsachen und den Geist eines Volkes muß man kennen, um seine Sprache zu verstehen, in Paris und London und Deutschland, wie in China. Wörterkenntnis aber muß Sachkenntrüs sein, sonst ist sie blödsinnig. Wer also eine Sprache verstehen will, wer Erinnerungen mit anderen Menschen austauschen will, der muß mit diesen anderen erst gemeinsame Erinnerungen an eine gemeinsame Wirklichkeitswelt besitzen.

Ich liebe meine deutsche Sprache, wie der Araber sein ver- Pferd hebt, ganz so, und ich habe hell auflachen müssen, "emder gemein wie alle, als ich chinesische Schauspieler ihre Sprache >^riachen gackern hörte. Aber mit Besinnung sollte man auf keine Sprache herabsehen, weil sie andere Formen hat als die unsere.

28 I- Was ist Sprachwissenschaft?

Auch die schlitzäugige Chinesin kriegt gesunde Kinder. Und das Chinesische ist ebenso witzig wie das Deutsche, wenn es hypothetische Sätze auch in der Form von Fragesätzen aus- drückt, wenn es anstatt „Wenn es trocken ist, machen wir eine Regenprozession" sagen kann: „Ist es trocken? Machen wir eine Regenprozession!" Alle Hypothesen sind Fragen, alle guten Hypothesen sind gute Fragen.

Und das Chinesische ist noch witziger, weil es „Sprechen" für einen abstrakten, ausgeblasenen Begriff hält und wohl darum ein Dutzend verschiedener Ausdrücke dafür hat.

Auch im Magyarischen scheint das Verbum sich unserer philosophischen Grammatik nicht fügen zu w^ollen, was die Magyaren nicht hindert, indogermanische Völker und Semiten zu beherrschen. Es kann ein und dasselbe Wort den ver- kaufenden Menschen und die verkäufliche Ware, wieder ein Wort den Totengräber und den Begräbnisplatz bezeichnen. Und die Leute verwechseln die Dinge dennoch nicht.

Den semitischen Sprachen rühmt man nach, daß sie allein außer den unseren ein richtiges Verbum besitzen. Man ist stolz darauf, da und dort; als ob ein Vierfüßler stolz auf seine vier Füße wäre und glaubte, er könnte den Adler einholen, weil der Adler nur zwei Beine und dazu zwei armselige Flügel habe. Das stattliche semitische Verbum ist aber so vordring- lich, daß es immer an der Spitze des Satzes stehen will, wo unsere philosophische Grammatik das Dingwort, das Subjekt verlangt. Und mit einer so verkehrten Satzbildung war man imstande, das alte Testament und den Koran zu schreiben und sogar Handel zu treiben.

Was nun unsere indogermanischen Sprachen betrifft, so sind die Gelehrten gewohnt, sie zu rühmen und den hohen Stand unserer Kultur nicht zuletzt auf den Erkenntniswert dieser Sprachen zurückzuführen. Jedem Narren gefällt seine Schellenkappe: den Griechen waren die Inder, die Römer und die Deutschen Barbaren; die Römer verachteten die ganze Welt und duckten sich nur vor den besiegten Griechen, weil sie deren Sprache brauchten. Den Reformatoren und vielen ihrer Nachfolger galt das Hebräische für die erste Sprache,

Metaphorik 29

für die Sprache Gottes, weil sie sie für ihre Bibelstudien lernen mußten. Den Juden und Arabern waren und sind alle Franken Gojim, Gesindel, solange sie ihre Begriffe nicht in sich auf- genommen haben. Und wir nennen Inder, Griechen, Römer und uns die ersten Kulturvölker, weil wir, das heißt unsere Gelehrten, den Zusammenhang unseres Sprachschatzes oder unseres geistigen Erbes nachgewiesen haben. Dabei wird zweierlei übersehen. Erstens, daß es unter den indogerma- nischen Völkern auch vollkommen unzivilisierte gibt, und zweitens, daß der Reichtum unserer Sprachen nicht ein Grund, sondern eine Folge der „Kultur" sein dürfte.

Als besonderer Vorzug der indogermanischen Sprachen Meta- wird es empfunden, daß sie ihren Dingworten ein bestimmtes p'^°'^''^ Geschlecht verliehen haben. Eine Schönheit mag es sein, wenn wir auch über Sprachschönheit so wenig urteilen können, wie über Tier- oder Pflanzenschönheit; den Vorzug sehe ich nicht. Uns ist der Mond männlich, die Sonne weiblich, den Romanen umgekehrt, und dem Kalender ist es gleichgültig. Wohl aber mag die Entdeckung, daß Sprachen mit starkem Geschlechtssinn auch gut entwickelte Verbalformen haben ich weiß nicht, ob man diese Beobachtung schon ein Gesetz genannt hat verraten, was bei der Geschlechtsfrage in die Augen zu springen scheint, daß nämlich derselbe künst- lerische, phantastische Geist, der Geschlechtsstimmimg in die Dinge hinein verlegt, eben auch wie schon oben gesagt ist auch den menschlichen Willen unter dem Namen Verbum in die Wirklichkeit hinein träumt, daß also die indogerma- nischen Sprachen sich besonders gut zum Kunstmittel eignen, weil sie nicht nur in ihrem Stoff, das heißt in ihren Worten, sondern auch in ihren Formen ganz ausgezeichnet lebhaft metaphorisch sind.

Daß Sprachen außer in ihrem Stoff auch noch in den Formen metaphorisch sein können, darf aber nur den über- raschen, der nicht mit mir dazu gelangt ist, einzusehen, daß alle Sprache Nichtwissen ist, alle Sprache ihrem Wesen nach bildlich, metaphorisch sein muß. Daß die Kategorie Verbum oder Handlung eine Metapher ist, ist aber leicht einzusehen;

30 I- Was ist Sprachwissenschaft?

es mag als Brücke dienen zu der Einsicht, daß auch die Kate- gorien „Ding" und „Eigenschaft" im Grunde nur Metaphern unseres Nichtwissens sind, daß also auch die Formen des Substantivs und Adjektivs nur bildlich zu verstehen sind. (Vgl. mein „Wörterbuch der Philosophie", Art. Substan- tivische Welt.)

Aus dem Persischen kann man sogar ein Beispiel dafür beibringen, daß die Grammatik Metaphern für das Leben und den Tod zu bilden gewußt hat, wie sie es übrigens auch in slawischen Sprachen und im Spanischen versucht. Von ähn- lichen Erscheinungen in amerikanischen Sprachen nicht erst zu reden. Im Persischen wurde der Plural für Unbelebtes anders gebildet, als für Belebtes und Vernünftiges. Der Plural für Vernünftiges und Belebtes allein endigt auf an. Und nun ist es ganz typisch für die Geschichte der Sprachen (die ihre Worte wie Scheidemünzen entwerten läßt), daß diese Pluralendung für Vernünftiges ruhig da angewandt wurde, wo ein Poet z. B. eine Blume beseelen wollte. Bei Firdusi kommen Rosen und Narzissen schon mit der Endung des Vernünftigen vor (Nargisan), bis dann später die Metapher ihren Wert ganz verlor und zur toten Form wurde.

Die Sprachwissenschaft ist aber leider nicht allein eine Wissenschaft der Sprache, sondern auch eine Wissenschaft in Sprache, So kommt sie zu der traurigen Aufgabe, die Fehler der Sprache zu potenzieren. Wenn alle Sprache daran scheitern muß , daß sie die Wirklichkeitswelt nur klassifizieren kann, anstatt sie zu begreifen, so gibt sich ihre Wissenschaft nur zu sehr damit ab, die Formen der Sprache zu klassifizieren, anstatt sie zu begreifen, was dann freilich auch schon lachende Erkenntnis der Wirklichkeits- welt wäre.

Wollte Sprachwisserischaft solche Erkenntnis werden, so mußte sie die Worte behandeln, wie die Nationalökonomie die Münzen und andere Werte nimmt. Als Mittel des Bedürf- nisses, des Interesses. Interesse oder Aufmerksamkeit hat die Sprachwissenschaft entstehen lassen; Interesse oder Auf- merksamkeit hat sich die Sprache geschaffen. Wir wissen,

Metaphorik 31

daß von unserem Interesse die Gedächtnisse abhängen. Also auch die Summe der Gedächtnisse, die Sprache.

Wenn ich mich nach einem Beispiel umsehe, um zu zeigen, wie sehr es das Interesse ist, was den Sprachschatz häuft, so finde ich nichts Besseres als die Armut oder den Reichtum einer Bantusprache, welche wenn ich die Mitteilung recht verstehe die Mehrzahl „Väter" nicht besitzt, dafür aber besondere Ausdrücke für: mein Vater, dein Vater, sein Vater. Wenn jemand also von seinem Vater spricht, so muß er dort ein anderes Wort gebrauchen, als wenn er zu seinem Bruder von dessen Vater (also bei uns von derselben Person) spricht.

Wie aber, wenn die Bantukafiern gar kein Gewicht legten auf den Begriff „Vater"? Wie wenn ihnen z. B. die Mutter das allein Gewisse und darum das allein Merkenswerte, Redens- würdige wäre?

Wenn war aufmerksam suchen , so werden wir selbst für einen so wilden Sprachgebrauch bei uns eine Analogie finden.

Eine Schafherde interessiert einen Bauern gar sehr auf ihre Vermehrung hin. Aber im Widder wird er nur die Zeugungs- kraft beachten, nicht die Vaterschaft; er kann und wird nie von Lammvätern sprechen. Von Mutterlämmern, von Mutter- schweinen, von Muttertieren spricht er aber wohl, weil die Mutterschaft ihn allein interessiert.

II. Aus der Geschichte der Sprachwissenschaft

Als das Naivste an der ganzen bibhschen Legende von der Bibel Sprachschöpfung, die doch noch immer zitiert wird, ist es mir stets erschienen, daß die Sprache da älter ist als der Mensch, weil sich doch der liebe Gott gleich am ersten Schöpfungstage einer gesprochenen Zauberformel bedient hat. „Er sprach, es werde Licht." Übrigens ist es, wenn diejenigen, welche eine ursprünghche Einheit der Sprache für alle Menschen behaupten, sich auf die Bibel berufen („Und die ganze Erde hatte eine Sprache und ein und dieselben Worte") nicht

32 II' Aus der Geschichte der Sprachwissenschaft

minder lächerlich, als wenn man sich zu Beweisen für die Ent- stehung der Kometen auf die Legenden eines Indianerstammes berufen wollte.

*

Als die Inder Sprachwissenschaft zu treiben begannen, wurden sie durch die Umstände, insbesondere durch den ver- alteten Zustand ihrer kirchlichen Texte, zunächst auf die Wortbildung geführt, dann erst auf den Laut- und den Be- deutungswandel. Die grichische Sprachwissenschaft folgte auf die kindliche Metaphysik der Griechen, kümmerte sich zunächst um die logischen Verhältnisse der Wortarten und schuf so die Sprachlogik, welche wir noch heute Grammatik nennen. Als in neuester Zeit die Sprachwissenschaft wieder aufgenommen wurde, lagen für die Sprache wie für andere Kulturerscheinungen schon weiter zurückreichende literarische Denkmäler vor, und die Sprachwissenschaft konnte zugleich historisch und vergleichend werden. Weil nun ein Zufall (die englische Herrschaft über indische Völker nämlich) die Aufmerksamkeit dieser historischen und vergleichenden Sprach- wissenschaft auf die Sprache der Inder lenkte und so auch deren alte Grammatik ans Licht brachte, wurden die Beob- achtungen des ältesten Laut- und Bedeutungswandels neu entdeckt und mit den logischen, historischen und vergleichen- den Versuchen verbunden. Aus diesem Gemisch besteht die gegenwärtige Sprachwissenschaft, die so überreich ist an hübschen und überraschenden Laut- und Wortgeschichten, die aber der Beantwortung der letzten sprachlichen Fragen auch nicht um einen Schritt näher gerückt ist. Alle Versuche, die ungeheure Menge von Tatsachen für eine Erkenntnis des Ursprungs von Sprachen und Völkern zu verwenden, sind nur Belustigungen des Verstandes und des Witzes. Und die Sprachwissenschaft kann gar nichts Besseres tun, als die alten Fragestellungen entschlossen aufzugeben und sich selbst als eine Hilfsdisziplin der jüngsten aller Wissenschaften zu betrachten, als die wichtigste Quelle der kaum noch begonnenen Psychologie.

Kategorie des Wortes 33

Der Wortaberglaube ist ganz gewiß eine notwendige Folge Kategorie der menschlichen Denlvweise. Tiefer als die anderen Kate- „.'^*!

\\ ortes

gorien des Verstandes, durch welche wir nach Kant die Welt zu betrachten gezwungen sind, steckt im menschlichen Gehirn, was ich die Kategorie des Wortes nennen möchte. Denn das sogenannte Denken ist an das Wort, als das einzige Merk- zeichen aller Erinnerungen, unlöslich gebunden (vgl. Bd. 1 2, S. 155 fi.).

Der Wortaberglaube ist unausrottbar. Der Beweis dafür ist leicht zu führen. Die Kraft eines einzelnen Menschen reicht nicht aus, um die vielen Tausende von Worten nachzu- prüfen, in denen er sein geistiges Erbe, den Schatz aller Erinnerungen seiner Vorfahren, das heißt die zusammen- fassenden Merkzeichen von Billionen von Empfindungen empfangen hat. Was der einzelne aber nicht selbst, das heißt an seinen eigenen Empfindungen nachgeprüft hat, das nimmt er auf Treu und Glauben hin; er muß also damit rechnen, daß er ungezählten Aberglauben mit in Kauf genommen hat. Auch der freieste Forscher kann sich vom Wortaberglauben nicht befreien, weil er nur auf dem engen Gebiete seiner eigenen Beobachtungen von seiner Sprache sagen kann, daß sie seine Sprache sei. Dieses ganze Buch ist der Befreiung vom AVortaberglauben gewidmet, und dennoch wimmelt es ganz gewiß von Wortgespenstern, an deren relativen AVert ich irrtümlich geglaubt habe.

Viel brutaler und naiver noch ist der religiöse Aber- glaube an die Macht des Wortes, wie er noch heute in den Besprechungen der Kurpfuscher und der Gesundbeter nachweis- bar ist. Die Inder waren darin noch konsequenter, da sie im Worte (vak, lat. vox) eine Gottheit erblickten. Der Donner (das Wort oder die Stimme xar' s^o/r^v) war die Ursache des Regens. Es finden sich in den indischen Liturgien Stellen, aus denen der vielgedeutete, eigentlich bedeutungslose Anfang des Johannesevangeliums „Im Anfang war das Wort" einfach herübergenommen zu sein scheint.

Die Personifikationslust der Inder blieb bei der Vergött- lichung des AYortes nicht stehen. Auch die Bedeutung des

Mautbner, Beitrage zu einer Kritik der Sprache. II 3

34 II- -^ur Geschichte der Sprachwissenschaft

Wortes, der Gedanlce (manisha), wurde zur Gottheit, wobei freilich nicht zu vergessen ist, daß die Alten, Inder wie Griechen, noch nicht abgerichtet waren, ihre Götter immer feierüch zu denken. Und wenn die griechische [ioutja wirk- lich identisch ist mit dem manisha, wenn musa Gedanke oder Lied bedeutet, so wäre es ganz hübsch anzunehmen, daß Homeros noch eine ganz realistische, unheilige Nebenvorstel- lung dabei hatte, wenn er sein Gedicht anfing: „Nenne den Mann mir, mein Lied."

Sanskrit Y>ie alten Sanskritgrammatiker scheinen an einem tieferen Eindringen in die Sprache hauptsächlich durch zwei Um- stände verhindert worden zu sein; so unsicher ich mich auf diesem Boden bewege, möchte ich die Bemerkungen nicht unterlassen, weil der Einfluß dieser alten vaiyäkaranas auf unsere Sprachwissenschaft so mächtig geworden ist.

Zunächst war den indischen Erklärern der Veden ebenso etwa wie den früheren orthodox jüdischen Erklärern der Bibel der Urtext als die Göttersprache (daivi vak) heilig und unantastbar. Bei Indern und Juden war die ganze sprach- liche Beschäftigung teils praktisch, teils abergläubisch, nie- mals aber eigentlich wissenschaftlich. Für den praktischen Zweck wie für die religiöse Scheu war die Aufstellung von letzten Formen der Sprache, der berühmten Sanskritwurzeln, ganz natürlich. Unbegreiflich ist es nur, wie gläubig die moderne Forschung dieses Wurzelwerk sich „methodisch" aneignen zu müssen glaubte.

Sodann aber hatten die alten Grammatiker eine bescheidene Arbeit zu leisten, die man wirklich heutzutage nicht mehr so sehr anstaunen sollte. Die Bezeichnung vaiyäkaranas auf die Grammatiker ist ganz wörtlich zu nehmen ; das Wort bedeutete, was wir heute vornehm Analyse nennen, was aber einfacher Trennung, Auflösung in die Bestandteile genannt werden könnte. Ich stelle mir die unmittelbare Aufgabe der alten Vedenerklärer so vor, daß sie die durch die Schrift versteinerte Sprache eines Geschlechts, welches einige Jahrhunderte vor

Sanskrit 35

ihnen gelebt hatte, auszudeuten hatten. Wären die alten Texte nicht zufällig durch die damals verhältnismäßig neue Erfindung oder Einführung der Schrift fixiert worden, so hätte sich wohl das alte Sanskrit langsam zugleich mit dem Volke verändert, und eine indische Philologie wäre nicht entstanden. Nun gab es aber einen Unterschied zwischen dem Sanskrit der Grammatiker mag dieses auch damals bereits eine tote Sprache gewesen sein und dem Sanskrit der Veden. Die erste Arbeit bestand also darin, in den Texten, welche unpraktischerweise nicht einmal die Worte trennten, die einzelnen Worte auseinanderzuhalten und innerhalb der einzelnen Worte die Formsilben von der sogenannten Wurzel zu trennen. Nun denke man sich, imsere ganze neue Sprach- wissenschaft wäre unter Indern betriebsam; wir wären Inder imd hätten zufällig Kenntnis erhalten von mittelhochdeutschen Texten und mittelhochdeutschen Grammatiken, wären aber übrigens ohne jede Kenntnis der alten indischen und der griechischen Sprachzergliederung. Dann wäre uns die immer- hin bescheidene Tätigkeit der ersten Erklärer des Mittelhoch- deutschen ein Wunderwerk, dann wäre uns überdies das Mittel- hochdeutsche höchst wahrscheinlich zur heiligen Mutter aller indoeuropäischen Sprachen geworden.

Die größere Reichhaltigkeit der indischen Grammatiken Wort- ich kenne nur das Werk des Panini beruht hauptsächlich auf dem Umstände, daß die Inder außer den Formen, welche wir grammatisch zu nennen gewöhnt sind, auch das große Gebiet der Wortbildung unter Regeln zu bringen versuchten und bei der einfachen Bauart ihrer Sprache auch halbwegs unter Regeln bringen konnten. Wir wissen, was es überall mit diesen Regeln und Ausnahmen und mit den Ausnahmen von den Ausnahmen auf sich hat. Es ist das Bestreben des architektonischen Menschenverstandes, Ordnung zu bringen in den freien Sprachgebrauch. Auch für uns ist jede Flexions- form jedes Verbums ein besonderes Wort. Es ist nur aus praktischen Gründen zufällig so geworden, daß die Ableitungen „Mörder" und „Mord" in unseren Wörterbüchern besonders verzeichnet stehen, daß aber Ableitungen vom Verbum „mor-

bildungs- lehie

36 II- Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

den" wie „mordetet" als selbstverständlich der grammatischen Kenntnis überlassen bleiben. Es ist zwar die Bedeutung der Tempusformen, der Modusformen und der Kasusformen nicht entfernt so gleich oder auch nur so ähnlich, wie es nach den Behauptungen der Schulgrammatiken scheinen sollte, aber immerhin muß zugegeben werden, daß die Flexionsformen des Verbums und des Nomens wenigstens äußerhch regel- mäßiger sind als die Formen, durch welche z, B. vom Verbum oder vom Nomen neue Hauptwörter gebildet werden. Der Sprachgebrauch, welcher so ungleich Mörder aus morden, Drucker aus drucken, Schlosser aus Schloß, Tischler aus Tisch werden läßt, scheint sich über eine Grammatik der Wortbil- dung lustig zu machen. Das alte Sanskrit war auch in dieser Beziehung noch regelmäßiger entstanden, und so erklärt sich dieser Unterschied zwischen den indischen und den europäischen Grammatiken.

Die alte griechische Grammatik wagte sich nach einigen verunglückten etymologischen Versuchen an die Regeln der Wortbildung gar nicht heran. Sie behandelte fast ausschließ- lich — immer in Konfusion mit der Logik die Flexions- lehre und quälte sich da mit Regeln und Ausnahmen und Aus- nahmen von Ausnahmen. Den Wortschatz der Muttersprache nahm man als ein Gegebenes imd Bekanntes, nachdem man die Lächerlichkeit der naiven Etymologie zu ahnen angefangen hatte. Als dann später die griechische oder die lateinische Sprache als eine fremde oder tote Sprache gelehrt werden sollte, fiel es gar keinem Menschen ein, den Sprachschatz mit der Grammatik zusammen zu lehren. Die Grammatik blieb eine notdürftige Ordnung der Regeln und der Ausnahmen erster, zweiter und dritter Ordnung ; auf eine Ordnung in der Wortbildung verzichtete man, indem man eben alle Bildungen des Sprachgebrauchs zuerst sachgemäß, dann alphabetisch, das heißt ungeordnet, in Wörterbüchern sammelte.

Darin bestand nun die Eigentümlichkeit der indischen Grammatik, daß sie auch die Wortbildung in Regeln zu bringen versuchen konnte. Damit hängt es zusammen, daß die Inder wohl oder übel, der angestrebten Regelmäßigkeit

Wortbildungslehre 37

wegen, eine besondere AVortart der gesamten Sprache zu- grunde legten, bekanntlich das Verbum. AVir können es uns psychologisch (erkenntnistheoretisch liegt es anders) freilich kaum vorstellen, daß in Urzeiten der menschlichen Sprache die Worte etwas anderes bedeutet haben sollen als Dinge, soweit nicht früher undifferenziert Ding, Bewegung und Eigenschaft zugleich bezeichnet waren. Doch für eine hübsche Vorstellung von der Entwicklung der Sprache war nichts geeigneter als die Zurückführung des Sprachschatzes auf Verben und die Zurückführung aller Verben auf eine verhältnis- mäßig kleine Zahl von sogenannten Wurzeln (dhatu). So wm-zein bietet die indische Grammatik für die Freunde einer sauberen Schablone eine geradezu ideale Arbeit dar. Das Wörterbuch fällt einfach fort; es wird erst langsam von Europäern aus den Quellen zusammengestellt, weil man das Sanskrit el^en mit der sauberen Schablone allein doch nicht lernen kann. An Stelle des Wörterbuchs gibt es eine kleine Reihe von Wurzeln, das heißt von Silben, welche offenbar den Kern abgeleiteter Worte bilden, und von anderen Silben, welche man sich der lieben Schablone wegen ausgedacht hat. In der Herleitung der Worte aus diesen Wurzeln besteht die seit hundert Jahren so verherrlichte indische Etymologie. Ich finde in dieser indischen Etymologie, so gering meine Kenntnisse sind, sehr zahlreiche xVbleitungen (z. B. Agni das lateinische ignis aus beinahe ebenso vielen Verben, als es Buchstaben hat), welche an Wahnsinn den berüchtigten Etymologien in Piatons Kratylos und bei Varro nichts nachgeben. Nur daß der indische Wahnsinn jedesmal Methode hat, die schöne Methode der AVurzeln.

Die Geschichte ihrer Sprache konnten die Inder unter solchen Umständen natürlich nicht weiter verfolgen als bis zu ihren Wurzelgespenstern. Für die Laute ihrer gewordenen Sprache aber hatten sie ein sehr feines Ohr, das freilich wohl zumeist wieder durch Aberglauben geschärft wurde. Wie die orthodoxen Juden heute noch glauben, daß ihre hebräischen Gebete nur durch strengstes Festhalten an der traditionellen Melodik die erforderliche Wirkung auf Jehovah ausüben, so

38 II- Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

meinten aucli die alten Inder, daß sie ihre Vedenlieder streng- stens nach der hergebrachten Betonung singen und sagen mußten. Diese Aufmerksamkeit nun führte dazu, jeden Satz mehr als eine Einheit aufzufassen, innerhalb welcher die Worte für Ton und Aussprache so aufeinander wirkten wie die ein- zelnen Buchstaben innerhalb eines Worts. Diese Aufmerksam- keit hat die europäische Sprachwissenschaft erst seit kurzem von den alten Indern gelernt. Man hat darauf unzählige niedliche Beobachtungen gesammelt. Und wenn man die Unzahl dieser Niedlichkeiten nicht mehr übersehen können wird, so wird man sie zu ordnen versuchen. Die Sprachwissen- schaft wird in solchen Büchern eine ungeheure Bereicherung erfahren. Tiefer in das AVesen der Sprache werden mecha- nische Beobachtungen und ihre mechanische Gruppierung nicht führen.

Die Überschätzung des Sanskrit, der Glaube daran, im Sanskrit die Ursprache gefunden zu haben, stand ungefähr in der geilsten Blüte, als die altindischen Grammatiken unter den europäischen Philologen bekannt wurden. Kein Wunder, daß man die Göttlichkeit des Sanskrit auf die indische Sprach- lehre übertrug, daß man die Anregungen, welche die euro- päische Sprachwissenschaft von der so fremdartigen indischen empfangen mußte, für die Lösung aller Eätsel hielt und das Sanskrit für Jahrzehnte die wissenschaftliche Mode wurde. Griechen Auch bei den Griechen hat sich eine ernsthafte Grammatik an der Aufklärung eines heiUgen Textes entwickelt, an den Bestrebungen, die veraltete oder mundartliche Sprache des Homeros einem neuen Griechengeschlechte zu erklären. Ein Vorzug der Griechen vor den Indern und Juden war es, daß ihnen der homerische Text trotz aller Verehrung doch nichts abergläubisch Göttliches war, daß sie den Urtext sogar wer weiß in welchem Maße es geschehen ist? verändern durften. Dagegen war die griechische Sprachwissenschaft im Keime verdorben durch den unseligen, so häufig für philo- sophisch ausgegebenen Hang dieses Volkes, durch ihren Wort- aberglauben, ihre förmhche Besessenheit, das Abstraktum für die Quelle der konkreten Dinge zu halten, von denen es

Griechen 39

abstrahiert worden war. Auch die indischen Grammatiker besaßen die architektonische Neigung zu generahsieren ; sie hatten eine Leidenschaft für knappe Regeln; wenn es nur irgend möglich war, brachten sie verschiedene Formen auf eine einzige, und wenn es gar nicht mehr möglich war, so taten sie es doch. Aber immerhin lag diesen phantastischen Generalisationen eine genaue Beobachtung ihrer Götter- sprache zugrunde. Die Griechen haben sich in ihrer klassisch- sten Zeit bei der Wirklichkeit überhaupt nicht aufgehalten. Wie die halb mythischen Philosophen der älteren Zeit die ganze Welt aus irgend einem Element heraus erklärten, wie Piaton keck die Einzeldinge aus ihren Ideen entstehen ließ, wie dann Aristoteles mechanische Tatsachen aus der Form der Kreislinie erklären wollte, wie um die Sache etwas tiefer zu fassen die bis auf uns fortwuchernde Logik der Griechen Abstralctionen aas unseren Denk gewohnheiten zu bindenden Gesetzen des Denkens machte, so suchten die bedeutendsten Griechen den heimlichen Gesetzgeber, dem der offenbar vorliegende Sprachgebrauch gehorchte. Dies scheint mir der springende Punkt in dem langen Streite, ob die Sprache natürlich gebildet oder gesetzlich eingeführt sei. Die Erfinder der Logik mußten nach einem Gesetzgeber suchen. Diese Verquickung von Logik und Grammatik und der allen griechischen Wissenschaften zugrunde liegende Sprachaberglaube haben sich zäh durch die Jahrtausende erhalten. Man achte doch darauf, daß z. B. noch Moliere, wenn er sich in der genialen Schlußburleske des „Eingebildeten Kranken" über die Ärzte seiner Zeit lustig macht (Opium facit dormire . , . cjuia est in eo virtus dormitiva), immer noch die Aristoteliker zweitausend Jahre nach Aristoteles parodiert und zwar mit einem Schlage ihre Logik und ihren Wortaber- glauben.

So große Fortschritte die grammatische Erkenntnis der Sprache sodann, namentlich durch die Stoiker machte, so bheb doch die Wortbesessenheit der Griechen in der Haupt- sache bestehen. Sie spricht sich sogar in dem Worte aus, das bis auf uns gekommen ist und das den in ihm liegenden

40 II- Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

falschen Sinn noch heute nicht gänzhch verloren hat. Die Vorstellung, daß jeder Laut seine Bedeutung habe, daß dem- nach aus dem Lautbilde eines Wortes eigentlich seine Be- deutung hervorgehen müsse, führte die Griechen dazu, in den Lautgruppen, die sie zwar nicht „methodisch" auf AVurzeln, aber ebenso phantastisch wie die Inder auf andere AVorte zurückführten, den wahren, echten Sinn (eid{j,ov) zu suchen; und diese bis zum höchsten Blödsinn ausgebildete Disziplin nannten sie Etymologie.

Die Griechen der alexandrinischen Zeit fanden die schönste Übereinstimmung vor zwischen ihrer neuen Grammatik imd ihrer nicht viel älteren Logik. Merkwürdig kann diese Über- einstimmung für uns nicht sein; denn in beiden Disziphnen hatten sie doch nur einen und denselben Stoff, die Sprache, in Abstraktionen aufgelöst. Logik und Grammatik unter- schieden sich bei ihnen nicht mehr als Begriff und Wort. Also eigentlich gar nicht. Barbaren- Weil den Griechen nur ihre eigene Sprache Gegenstand der Beobachtung war, weil ihnen alle anderen Sprachen barbarisch, also in jeder Beziehung wertlos erschienen, darum fiel für sie griechische Grammatik und Sprachwissenschaft völlig zusammen. Und wie immer die Logik einer Zeit dem Stande der Sprachwissenschaft entspricht, so war die grie- chische Logik nichts anderes als griechische Grammatik. Und diese griechische Grammatik, unter logischen Gesichts- punkten geordnet, ist im wesentlichen das, was heute noch die Jugend der oberen Zehntausend als Logik lernen muß.

Die neue Sprachwissenschaft imterscheidet sich von der alten hauptsächUch durch den Umstand, daß der Begriff der Barbarei immer seltener auf fremde Völker angewandt wird. Schon die Römer, welche den Begriff' der Barbarei doch besaßen, nahmen die Griechen davon aus imd dürften wohl auch z. B. die Ägypter nicht als Barbaren betrachtet haben. Im Mittelalter betrachteten die christlichen Nationen ein- ander trotz aller Kriege nicht mehr als Barbaren; die fremde

sprachen

Barbarensprachen 41

Sprache war nicht mehr entscheidend. Die Christenheit umschloß einen Bund von Völkern, der erst die Nichtchristen als wilde Völkerschaften ansah. In neuester Zeit gar (ich möchte diese Weltanschauung für Deutschland auf Georg Forster zurückführen) bemühen sich Reisende und Ethno- graphen, die Seele auch der sogenannten wilden Völkerschaften zu verstehen, und es wird nicht lange dauern, so wird man von „AVilden" ebensowenig sprechen, als gebildete Leute heute von „Heiden" sprechen. Wenn irgendwo die Menschen- fresserei noch zu den religiösen Vorschriften gehört, so muß sich die Anthropologie mehr und mehr bemühen, diese Tat- sache zu beschreiben, anstatt sie moralisch zu beurteilen.

So gut nun die verschiedenen Völker sonst verschiedene Gewohnheiten haben, so besitzen sie auch verschiedene Stile im Bau ihrer Sprache. Unsere Sprachwissenschaft hat auf- gehört, sich auf die Grammatik unserer Muttersprache zu beschränken. Wir wissen jetzt, daß es Völker gibt, die in Sprachen reden oder denken, denen die allerprimitivsten logischen Unterscheidungen fehlen, die z. B. keine Bezeich- nimgen für Art und Gattung oder für die Wortklassen des Dings und der Eigenschaft besitzen. Es gibt ferner Sprachen, deren Verba Formen entwickelt haben, die sich ganz und gar nicht mit unserer logischen Grammatik decken, wir brauchen dazu gar nicht zu den Chinesen zu gehen; auch das slawische Verbum besitzt Formen, z. B. für die Stärke der Handlung.

Wir nennen diese Erscheinungen, über welche uns die Sprach-

wisscH"

neue Sprachwissenschaft aufgeklärt hat, gern unlogisch. In gcuaft Wirklichkeit ist aber unsere Logik stehen geblieben, während »n'i unsere Sprachkenntnis durch Sprachvergleichung unbefangener geworden ist. Wollen wir den Fehler vermeiden, die Begriffe einer veralteten Logik irrtümlich in eine neuere Sprachwissen- schaft hineinzutragen, so müssen wir ims bemühen, auch die Denkgewohnheiten der verschiedensten Völker miteinander zu vergleichen. Und die Sprachwissenschaft könnte sich gar kein höheres Ziel setzen als den Versuch, eine vergleichende Logik aus sich selbst herauszubilden, die verschiedene Art möglichst genau zu beschreiben, in welcher sich die gleichen

42 II- Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

Gedanken bei weit entlegenen Völkern assoziieren. Freilich würde sicli bei diesem Versuche sofort herausstellen, wie armselig unsere Kenntnis von dem AVortschatze und der Grammatik der meisten Sprachen noch ist. Das Ideal einer vergleichenden Logik wäre eine geordnete Sammlung der- jenigen Gehirngewohnheiten, in welchen die verschiedenen Sprachen die Erinnerungen der Menschen und Völker fest- halten und zur Reproduzierung bereit legen. Es ist mir frag- lich, ob ein einzelnes Menschengehirn imstande wäre, diese Arbeit zu leisten, Ist es schon schwer, außer in seiner Mutter- sprache noch in einer Sprache mit ähnlicher Logik denken zu lernen, so ist es vielleicht unausführbar, sich die Denk- gewohnheiten etwa der Chinesen oder der Indianer wirklich bis zur Gebrauchsfähigkeit anzueignen. Wahrscheinlich müßten dazu für jede Sprache andere Nervenbahnen (ganz abgesehen von dem verschiedenen Sprachmaterial) eingeübt werden. Wenn aber auch die Wissenschaft der vergleichenden Logik es niemals über kümmerliche Anfangsgründe hinausbringen sollte, so kann doch nicht mehr bezweifelt werden, daß unsere, auf dem Satzgebilde der indoeuropäischen Sprachen auf- gebaute Logik nicht die einzig möghche Logik ist.

Christen- Das Christentum hat von seinen ersten Anfängen an das Sprach- Unleugbare Verdienst gehabt, den beschränktesten Barbaren- wissen- begriff über Bord zu werfen. Wohl gemerkt, das Christentum, bevor es offiziell wurde. Die Hierarchie des offiziellen Christen- tums freiUch hat es von Kaiser Konstantin bis zum heutigen Tage mit den Mächtigen gehalten. In seinen Anfängen aber war das Christentum die Keligion derer, die gar nichts anderes hatten, keinen Besitz und kein Vaterland, also auch keine Hausgötzen und keine Lokalgötter. Der Pöbel hatte das Christentum angenommen; eine theologische Schöpfung ist es zuerst nicht gewesen. Den christlichen Genossen des dritten Jahrhunderts war keine Völkerschaft zu verächthch, keine Sprache zu schlecht für die Propaganda. Die Gleichheit der Menschen vor dem Vater im Himmel ließ auch die Völker

Schaft

Christentum und Sprachwissenschaft 43

und ihre Sprachen gleichberechtigt scheinen. Avus Barbaren- sprachen holten sich die Genossen ihren Glauben, in anderen Barbarensprachen wurde er weiter getragen. Christen lernten koptisch, syrisch, armenisch, ein Christ übersetzte die Bibel ins Gotische. Diese Bewegung hat bis zur Stunde noch nicht aufgehört, da die englischen Bibelgesellschaften heute noch einen Sport daraus machen, die Bibel in alle möglichen und unmöglichen Sprachen übersetzen zu lassen. Und so lächer- lich, so blödsinnig auch der Gedanke ist, den Karaiben dadurch die Gedanken Jesu Christi beizubringen, daß man ihnen einige Worte vorsagt, di« außer dem Zusammenhang eine gewisse Bedeutungsähnlichkeit mit den lateinischen Worten des Vaterunser, der Bergpredigt hätten, so ist doch bei diesem Sport eine Menge Sprachgut in Europa bekannt geworden.

Ebenso unfreiwiüig erwarb sich das Christentum ein anderes Verdienst um die Sprachwissenschaft dadurch, daß es wohl oder übel die hebräischen Schriften der Juden mit in Kauf nehmen mußte und daß es somit auf die Begründung einer semitischen Philologie angewiesen war. Es konnte natürlich nicht ausbleiben, daß der methodische Wahnsinn der klassischen Etymologie sich mit scheinbarer Wissen- schaf tlichkeit wiederholte, als nach der Reformationszeit das Hebräische von konfusen Köpfen mehr und mehr gepflegt und für die von Gott eingesetzte Ursprache der Menschheit gehalten wurde.

Wichtiger aber als die Tatsache, daß in der Christenheit die Beschäftigung mit dem Hebräischen sprachwissenschaftlich mehr Schaden als Nutzen stiftete und daß die sprachwissen- schaftliche Ausbeute der christlichen Propaganda ein geringer Ersatz für die Schäden dieser Eroberungszüge war, scheint mir ein Punkt, der vielleicht die Ähnlichkeit zwischen dem semitischen und dem indoeuropäischen Sprachbau besser aufklären hilft, als es bisher die unbeweisbare Annahme einer Verwandtschaft oder gar die vollständig schemenhafte Zu- teilung zu der gleichen Sprach k 1 a s s e zu tun vermochte. Man kann wirklich nicht ohne Hohn Sätze wiederholen wie den, daß beide Sprachfamilien darum einen ähnlichen Bau

44 II- Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

haben, weil sie beide zur flektierenden „Klasse" gehören; bescheidener müßte man sagen, daß sie beide zur flektierenden Klasse gerechnet werden, weil die Grammatik der einen und der anderen für unseren ordnenden Verstand einen ähnlichen Bau zu besitzen scheint. Wenn aber Benfey (Geschichte der Sprachwissenschaft 191) mit seiner sehr vorsichtig ausge- sprochenen Vermutung recht hat, daß die griechische Gram- matik auf dem Wege über Persien auf die Anfänge der arabi- schen Grammatik eine gewisse Wirkung ausgeübt habe, dann ist es, da doch die hebräische Grammatik eine Nachahmung der arabischen ist, gar nicht unmöglich, daß alle Ähnlichkeiten der semitischen und der indoeuropäischen Sprachen so wie wir sie sehen erst durch die Anwendung der gleichen grammatischen Kategorien in die semitischen Sprachen hineingetragen worden sind. Es ist das in der Geschichte der Wissenschaften ein gar nicht so seltener Fall, daß man die Umrißlinien, die man sucht, auch findet, nicht etwa weil sie vorhanden wären, sondern weil man sie eben gesucht hat. Es liegt das zu tief im Wesen des menschlichen Verstandes begründet, um nicht vermuten zu lassen, was niemals Sezier- messer und Mikroskop werden aufweisen können: daß die bloße Richtung der Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Vergleichspunkt diesen Punkt zum Range eines Einteilungs- grundes oder gar einer Kategorie erheben kann. Man kann diese Eigentümlichkeit des menschlichen Verstandes schreiend deutlich aufzeigen in dem Gedankengang der statistischen Forscher, welche ihre ungeheuren Ziffermassen je nach der Richtung der Aufmerksamkeit immer neu gruppieren müssen; und wer einem Statistiker einen noch so widersinnigen Ver- gleichungspunkt (z. B. Zunahme der Eigentumsverbrechen und Zunahme der kurzsichtigen Schüler) wichtig erscheinen lassen könnte, der hätte ihn auch gezwungen, seine Aufmerk- samkeit auf die Vergleichung zu richten und eine neue Tat- sache zu sehen, so wie alle Welt in einem fernen Gebirgs- zuge einen Mönch oder einen Löwen sieht, sobald die Auf- merksamkeit auf diese Ähnlichkeit gelenkt worden ist. Ähn- lich ist am Ende alles; nur auf den Grad der Ähnlichkeit

Herder 45

kommt es an. Ein Karikaturenzeichner kann mit einer geringen Zahl sehr ähnlicher Bilder aus jedem Ding jedes Ding machen.

Wie soll man da nun gar keine Ähnlichkeit zwischen den semitischen und den indoeui'opäischen Grammatiken wahr- nehmen, werm die Abstraktionen der einen denen der anderen zum Muster gedient haben? Wie soll man in einem Felsblock nicht die Umrißlinien eines Löwen erblicken, wenn der Fels- block künstlich zugehauen worden ist?

Die Sprachphilosophie des 18. Jahrhunderts war durch Heider den tausendjährigen Einfluß des Christentums so tief unter die der Griechen gesunken, daß man bei der Frage nach dem Ursprung der Sprache nicht mehr zwischen Natur und Gesetz- gebung unterschied, sondern darüber stritt, ob Menschenwerk oder Gottes Werk. Ein Mann wie Rousseau war in diesen Dingen schwankend. Der Theologe Herder hat das nicht ge- ringe Verdienst, es seinen Zeitgenossen sehr wahrscheinlich gemacht zu haben, daß die menschliche Sprache mit Gottes Hilfe Menschenwerk gewesen sei. Hätte die christliche Theo- logie es der Mühe wert gehalten, zu behaupten, daß die Mist- gabel eine Erfindung Gottes sein müsse, so wäre es ein Ver- dienst gewesen, auch diesen Wahn zu zerstören und die Ent- stehung der Gabeln im allgemeinen und der Mistgabeln ins- besondere auf natürliche Weise zu erklären.

Viel bedeutender als Herders eigene sprachphilosophische Werke sind die Anregungen, welche er mittelbar dadurch gab, daß er, leidenschaftlicher und begeisternder als irgend jemand vor ihm, auf die geheime Arbeit des Volksgeistes hinwies. Er ist nicht der Entdecker des Volksliedes, aber auf ihn geht die wissenschaftliche Pflege alles Folklore zurück, das in unserer Zeit in Recht imd Sitte, in Religion imd Kimst, vor allem in der Sprache und in der Poesie nachge\viesen wird. Diese kultm'- historische Tat Herders brach der philosophischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts die Spitze ab. Hatte man vorher ge- glaubt, das heißt hatten die freieren Geister geglaubt, alle

46 II- Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

diese Einrichtungen als Schöpfungen des menschlichen Ver- standes bewundern zu müssen, als mechanische Erzeugnisse des bewußten Verstandes, so schob man sie jetzt mehr und mehr der unbewußten Tätigkeit eines unbekannten Volks- geistes zu. Und weil der Begriff unklar war, so sprach man auch konsequenterweise nicht von dem Verstände des Volkes, sondern von dessen Geiste, wobei man sich irgend eine ver- steckte Gottheit vorstellen konnte. Die Aufklärung hatte sich eigentlich gegen die allgegenwärtige und allzu geschäftige Eindrängelei des allmächtigen Gottes gerichtet; man hatte es dem Gotte stillschweigend überlassen, den menschlichen Verstand zu schaffen, und machte diesen zum allmächtigen Erfinder. Gegen die unbefriedigende und unwahre Nüchtern- heit dieser Vorstellung wandte sich nun die Lehre von einem unbe^vußten Volksgeist. In der romantischen Poesie kehrte dieser wertvolle Protest gegen die Aufklärimg um in das christHche Mittelalter oder heuchelte wenigstens eine solche Umkehr. In der romantischen Philosophie Deutschlands, von Hegel bis Eduard von Hartmann, wurde in ähnlicher Weise die gestürzte Allmacht Gottes v\äeder hervorgesucht; es wurde links mit dem Atheismus kokettiert, während rechts die Bewegimg unbewußter Begriffe ganz mittelalterlich die zerstörte Welt göttlich wieder aufbaute. Vorher aber hatte schon für die Wissenden Kant auch den Volksgeist über- flüssig gemacht. Wenn unsere Vorstellung von der Welt mit allen aus unseren Vorstellungen abstrahierten Wissenschaften an der Erscheinung haften bleibt und bis zum Ding-an-sich nicht vorzudringen vermag, wenn jede unserer Vorstellungen in Form und Inhalt abhängig ist von der Einrichtung unserer Sinne und unseres Verstandes, dann ist die m}i:hologLsche Person „Volksgeist" überflüssig geworden und die Unwahrheit der Aufklärung ist ebenso vermieden wie die Unklarheit der Herderschen Romantik, Herder kämpfte für sein Lebens- werk, als er gegen Kant auftrat.

Diese Auffassung von Herders sprachphilosophischer Tat muß dem ungerecht erscheinen, der Herders berühmte „Ab- handlung über den Ursprung der Sprache" rein historisch

Herder 47

betrachtet. Daß diese Preisschrift jedoch so rasch historisch werden, das heißt veralten konnte, das sollte doch ihre Be- wunderer mißtrauisch machen. Selbstverständlich war er in seinen Ideen ein ungewöhnlicher Mann. Er war, durch eigenes Denken und durch Hamanns Einfluß, der vorkantischen Schulphilosophie entwachsen; er Avußte schon, in besonders hellen Augenblicken, daß es ein besonderes Seelenvermögen Vernunft nicht gibt, daß „alle Kräfte unserer und der Tier- seelen nichts sind als metaphysische Abstraktionen'"; er ahnte bereits, daß es nur Individualsprachen gibt. Aber Herder bringt sich doch um jeden Kredit, wenn er seine Preis- schrift schon 1772 (in einem Briefe an Hamann) als „Schrift eines Witztölpels" verleugnet; die Denlcart dieser Preisschrift könne und solle auf ihn so wenig Einfluß haben als das Bild, das er jetzt an die Wand nagle. Da ist es denn kein Wunder, wenn Herder in der Folgezeit den lieben Gott wieder um die Erfindung der Sprache bemüht.

Herders Wesen ist eben voll von Widersprüchen. Man liebte ihn nicht. Kant soll so weit gegangen sein, Herder den Wahrheitssinn abzusprechen. Als moralisch unwahr erscheint Herder sogar bei Goethe, wenn der vergötterte Waldteufel „Satyros" wirklich, nach Scherers Vermutung, gegen ihn gemünzt ist. Herder und Satyros spielen mit Worten und Gedanken. Es ist bereits irgendwo einmal gesagt worden, daß Herder als Poet einer prosaischen Sprache zuneige, als Philosoph einer poetischen. Darum allein ist es schwer, seine Ansichten festzuhalten, auch wenn er ihnen treuer geblieben wäre.

Das Beste, was Herder gegen Kant vorzubringen weiß, ist Hamanns Eigentum.

„Die menschliche Seele (heißt es: Metakritik, I. Teil, S. 8 u. f.) denkt mit Worten; sie äußert nicht nur, sondern sie bezeichnet sich selbst auch, und ordnet ihre Gedanken mittels der Sprache. . . . Mittels der Sprache lernten wir denken; dmch sie sondern wir Begriffe ab und knüpfen sie haufenweise ineinander. In Sachen der reinen oder unreinen Vernunft also muß dieser alte, allgemeingültige und not-

48 II- Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

wendige Zeuge abgehört werden; und nie dürfen wir uns, wenn von einem Begriff die Eede ist, seines Herolds und Stellvertreters , des ihn bezeichnenden Wortes schämen. Oft zeigt uns dieses: wie wir zu dem Begriff gelangt sind, was er bedeute, woran es ihm fehle. Konstruiert der Mathe- matiker seine Begriffe durch Linien, Zahlen, Buchstaben und andere Zeichen; ob er gleich weiß, daß er keinen mathe- matischen Punkt machen, keine mathematische Linie ziehen könne, und eine Reihe anderer Charaktere von ihm gar will- kürlich angenommen sind; wie sollte der Vernunftrichter das Mittel übersehen, durch welches die Vernunft eben ihr Werk hervorbringt, festhält, vollendet? Ein großer Teil der Mißverständnisse, Widersprüche und Ungereimtheiten also, die man der Vernunft zuschreibt, wird wahrscheinlich nicht an ihr, sondern an dem mangelhaften und schlecht gebrauchten Werkzeuge der Sprache liegen; wie das Wort Widersprüche selbst sagt." Um dieses vorzüglichen Wortes willen (man ver- gleiche zahlreiche Äußerungen Hamanns über die Weisheit des Widerspruchs, wie daß seine eigene unnatürliche Neigimg zu Widersprüchen der Tod und die Hölle der lebenden Weltweisheit sei) müssen wir freilich die Verurteilung der Herderschen Wider- sprüche zurücknehmen oder mildern. Sprechen oder Denken ist Widerspruch; wie erst ein Philosophieren über die Sprache. Ein Widerspruch ist in der Wirklichkeitswelt undenkbar. Denkbar und wirkKch ist er nur im Denken oder im Sprechen der Menschen. Die deutsche Sprache ist so ehrlich, das aus- drücklich anzuerkennen, da sie für den Begriff des Gegensatzes das Wort „widersprechen" gebildet hat. In Wahrheit ist der Widerspruch nur im Menschengehirn vorhanden, er ist ein Dagegensprechen, ein Dagegenreden, nicht ein Dagegensein. Diese Passivität der Wirklichkeitswelt bei der Behauptung eines Widerspruchs liegt auch in dem Worte „Gegensatz" ver- borgen, das eine Übersetzung des lateinischen oppositio ist. Die Wirklichkeiten sind nicht wider einander, sind einander nicht feind, nicht entgegen, sie sind einander nur entgegen- gesetzt, wider sprechen einander nur.

Sanskrit 49

Die vergleichende Sprachwissenschaft der Gegenwart ist also wie gesagt nichts anderes als die Ausführung des Apercus, daß zahlreiche Stammsilben des Sanskrit mit Stamm- silben vieler europäischer Sprachen Ähnlichkeiten haben und daß man ein Recht habe, alle diese Sprachen mit- einander zu vergleichen. Die Geschichte dieses Aper9us Ist die Geschichte der modernen Sprachwissenschaft. Solche Aper9us sind oft gemacht worden, wie z. B. bei der Verglei- chung des Hebräischen und des Lateinischen; sie stellten sich als lächerliche Einfälle heraus. Die Ähnlichkeit zwischen dem Sanskrit und den europäischen Sprachen ist zum erstenmal ebenfalls schon im 16. Jahrhundert (von Philippo Sassetti) Sassetti gesehen worden. Er bemerkte die Ähnlichkeit einiger Zahl- wörter „et altri assai". Er muß ein feines Gehör dafür gehabt haben; denn die griechischen Reisenden, Soldaten, Handels- leute oder Forscher, welche zur Zeit Alexanders des Großen vielfach von der damaligen Sprache der Inder Kenntnis erlangten, machten diese naheliegende Bemerkung nicht. Von Sassetti bis zu Ende des 18. Jahrhunderts wird die Auf- merksamkeit auf diese Ähnlichkeiten immer wieder hingelenkt, ohne daß eigentlich schon das wissenschaftliche Apergu zu- stande käme. Die Ähnlichkeit wurde bald überschätzt, bald unterschätzt. Es gab einen Mann, welcher lehrte, es hätten die alten Inder gewissermaßen lateinisch gesprochen; und es gab einen anderen, übrigens sehr geistreichen Mann, welcher das ganze Sanskrit als eine Fälschung der Brahmanen, als eine nach dem Muster des Griechischen und Lateinischen verfaßte künstliche Sprache betrachten wollte. Der Unterschied zwischen der früheren und der gegenwärtigen Zeit liegt darin, daß man früher die Ähnlichkeiten zwischen dem Sanskrit und den euro- päischen Sprachen als Kuriosität betrachtete, als einen uner- klärlichen Zufall, und daß man jetzt allgemein einen inneren Zusammenhang annimmt, den man, als ob sich das von selbst verstünde, „Verwandtschaft" nennt. Will man einen Namen besonders hervorheben, auf welchen die jetzt übliche Behand- lung der Sache zurückgeht, so muß man unseren Friedrich |-"i von von Schlegel nennen. Durch die Engländer, welche mit den

Mivuthner, Beiträge zu einer Kritik der Spryche. II «

$0 II- 2ur Geschichte der Sprachwissenschaft

Indern praktiscli zu tun hatten, war die Kenntnis des Sanskrit und damit die Möglichkeit einer genauen Vergleichung nach Europa gekommen. Mehr und mehr näherten sich die Kenner des Sanskrit dem Aper9U, daß die Zufallsvergleichung der Spra- chen keinen Wert habe, daß die innere Struktur der Sprachen erst ein Recht auf ihre Vergleichimg geben müsse. Es versteht sich von selbst, daß die Theorie erst abstrahiert werden konnte, nachdem man instinktmäßig die rechten Sprachen verghchen hatte. Man mußte neben der Ähnlichkeit der Stämme auch die Ähnlichkeit der Bildungssilben bemerkt haben, bevor man diese in den Vordergrund stellen konnte. Immerhin hat das Friedrich von Schlegel zuerst getan und zuerst den Ausdruck „vergleichende Grammatik" gebraucht, in seiner Schrift „Über die Sprache und Weisheit der Indier" (1808). Das kleine Werk gilt mit Recht für epochemachend, wenn man jedes Aper9U in jeder Disziplin für den Anfang einer Epoche hält. Die heutigen Sanskritisten lächeln über die zahlreichen Irrtümer des Meisters, der in Deutschland ihre Wissenschaft begründet hat; sie deuten Schlegels Ausspruch, daß Sanskrit die Muttersprache gewesen sei, dahin um, daß es der indo- europäischen Ursprache am nächsten stehe. Wir nehmen uns heraus, wieder über die heilige Überzeugung von der Auffindbarkeit einer indoeuropäischen Ursprache zu lächeln. Wir werden aber, wenn auch nicht die Leistung, so doch die Anregung Friedrichs von Schlegel am schönsten würdigen, wenn wir sagen, daß er mit romantischer Keckheit das Pro- gramm einer ungeheuren Sprachvergleichung aufgestellt hat, daß die folgende Zeit (sie beginnt mit Bopps Konjugations- system 1816) es mit der Gewissenhaftigkeit der historischen Methode zwar weiter geführt hat, aber für irgend welche geistige Fragen nicht bedeutender gewesen ist als der erste Anlauf Schlegels. Der wesentlichste Erfolg der indischen Philologie in England und Deutschland bestand darin, daß nach Veröfientlichung der indischen Sanskritgrammatiken die Mangelhaftigkeit unserer alten, auf griechischem Boden er- wachsenen Grammatik langsam erkannt werden mußte. Es wurde allmählich eine Unmasse Material zusammengetragen,

Sprachgesetze 51

das Fragmente wirklicher Sprachgeschichte darstellte und die logischen Kategorien der griechischen Grammatik sprengte. Die Fehler der griechischen Grammatik, welche eine Ver- legenheitslogik der Sprache war, und die Fehler der Inder, welche eine blinde Sprachgenealogie trieben, verbesserten einander so sehr, daß mancher Einblick in das Leben und das Wachstum der Sprache möglich wurde.

Die großen Meister der Sprachforschung, insofern sie Grimm eine deutsche Wissenschaft ist, sind Jakob Grimm und Bopp. "°'^ ^°^^ Jakob Grimm müßte uns, auch wenn er vergebens gearbeitet hätte, schon verehrungswürdig sein durch seine schöpferische Liebe zu unserer deutschen Muttersprache, Bopp bewunde- rungswürdig um seines Scharfsinns willen. Will aber die Sprachkritik sich mit einem Worte klar machen, was diese beiden Männer fast gleichzeitig auf ihrem Arbeitsfelde ge- schaffen haben, Grimm mit seiner historischen deutschen Grammatik, Bopp mit der vergleichenden Grammatik der indoeuropäischen Sprachen, so müßten wir sagen, daß sie zuerst eine Methode des Etymologisierens aus winzigen An- fängen zu einer stattlichen Disziplin ausgebildet haben. Die Hervorhebung der grammatischen Formen gegenüber den sinnbedeutenden Wortbestandteilen führte dazu, in den Bildungssilben mehr und mehr alte Worte zu suchen und mitunter zu finden. Allgemein anerkannt ist gegenwärtig ihre etymologische Methode. Es wurden Gesetze des Laut- wandels aufgestellt, die jeder Jünger sich zu merken hatte; wer heute Etymologie treiben will, muß diese Gesetze des Lautwandels vor Augen haben wie der Richter die Para- graphen des Gesetzbuches. Bekanntlich hat die neueste Schule, die der Junggrammatiker , diesen Anspruch noch übertrieben, indem sie von allen Lautgesetzen ausnahmslose Geltung forderte, was freilich da die bereits entdeckten Lautgesetze diesem Ideal nicht entsprechen wollten einer Auflösung djer ganzen Disziphn beinahe ähnlicher sah als einer Verbesserung.

Die neue vergleichende Methode ändert aber nichts an der Tatsache, daß ein gewisser Takt des Forschers bei allen Fragen

52 II' Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

entscheidend ist. Auch die strenge vergleichende Methode kann bis zum Wahnsinn auf die unzusammengehörigsten Sprachen ausgedehnt werden; kein geringerer als Bopp selbst hat das Musterbeispiel einer solchen Verirrung gegeben, da er die Verwandtschaft der polynesischen Sprachen mit den indoeuropäischen nachweisen wollte. Man sah nachher ein, daß zwei Sprachen erst einem genialen Instinkte als „verwandt" erscheinen müssen, bevor man die vergleichende Methode auf sie anwenden darf. Für die vergleichende Methode selbst ergibt sich daraus eine Lehre, die für die vermeintlich mathe- matische Sicherheit dieser Disziplin nicht gerade günstig ist; die Lehre nämlich, daß alle Lautgesetze immer nur die Ord- nung historisch nachgewiesener Laut Veränderungen sind, Merk- zeichen für beobachtete Ähnlichkeiten, nützliche Hilfen für die Erinnerungen des Sprachforschers, nicht aber Gesetze, weder Naturgesetze, die die Wirklichkeit beherrschen, noch logische Formeln für solche Naturgesetze, Formeln, aus denen sich weiter schließen ließe. Für unseren Sprachgebrauch würde es beinahe genügen, das so auszudrücken: es seien die sogenannten Lautgesetze eben auch nur Worte, also Erinne- rungszeichen und nicht reale Mächte. Verwandt- Auch diese abstrakte Betrachtung führte uns dahin, wohin wir auch noch auf anderem Wege gelangen werden, daß wir nätnlich nicht glauben, es lasse sich mit Hilfe der neuen ver- gleichenden Methode jemals eine natürliche Klassifikation aller Sprachen der Erde oder auch nur ein irgendwie wahr- scheinlicher Stammbaum der indoeuropäischen Sprachen auf- stellen. Läßt sich aus den sogenannten Lautgesetzen nichts erschließen, so auch nicht aus den Ähnlichkeiten, die erst durch diese Lautgesetze vermittelt werden. Achtet man auf den Gebrauch des Wortes „verwandt" in den älteren sprach- wissenschaftlichen Schriften, so wird man das Wort immer bildlich angewendet finden, nicht viel anders wie dasselbe Wort zuerst in der modernen Chemie auftritt. Allmählich schlich sich jedoch die Vorstellung ein, daß solche Sprachen wirklich verwandt seien, was genau genommen ganz unmöglich ist. Sprachen, von denen die eine unbedingt von der anderen

Verwandtschaft 53

abstammt, wie z. B. die althoclideutsche und die neuhoch- deutsche Sprache, sind ja gar nicht verwandt zu nennen; es ist vielmehr eine und dieselbe Sprache, genau so wie wir ja auch den dreijährigen und den gleichen fünfzigjährigen Menschen, die dreijährige und die gleiche fünfzigjährige Eiche nicht verwandt nennen. Wo eine Vermischung zweier Sprachen vorliegt, wie in den romanischen Sprachen und noch auffallender im Englischen, da wird das Bild von der Blutsverwandtschaft noch schiefer angewendet. Und bezüg- lich der Ähnlichkeit zwischen dem Slawischen und dem Grie- chischen ist es offenbare Willkür, eine unkontrollierbare Hypothese, wenn man von Verwandtschaft spricht und dabei, mit Zuhilfenahme irgend einer entfernteren Ursprache sich unter dieser Verwandtschaft doch etwas wie die Identität des Althochdeutschen und des Neuhochdeutschen vorstellt. Man sollte überall, wo Sprachgut auf ein jüngeres Geschlecht übergeht, von Erbschaft reden, nie von Verwandtschaft.

Die Lautgesetze der neuen vergleichenden Methode sind also keine Schlüssel für die wichtigen Fragen der Sprach- wissenschaft, solange wir nicht wissen, welche Ursache der Lautwandel im einzelnen hat. Sind diese Ursachen, wie anzu- nehmen, unendlich komplizierter Art, gehen sie auf physio- logische, auf klimatische Einflüsse zurück, spielen gar Zu- fallsunterschiede bei der Übernahme von Lehnworten mit, so ist es eine trügerische Hoffnung, in den Lautgesetzen jemals etwas anderes zu besitzen als eine übersichtliche Tabelle beobachteter Ähnlichkeiten, welche nicht das mindeste dafür beweisen, ob die ähnlichen Worte oder Wortelemente in letzter Instanz identisch sind durch sogenannte Verwandtschaft oder identisch durch gemeinsame Entlehnung, ob endlich analog durch Lehnübersetzung.

Einen so betrübenden Eindruck haben die Sprachwissen- schaftler der Gegenwart von ihren Prinzipien nicht; mit bewußtem Stolze arbeiten sie bataillonsweise daran, die Hypothese von einer Verwandtschaft innerhalb der Sprach- stämme und die weitere Hypothese von einer Verwandtschaft verschiedener Sprachstämme auszugestalten. Die Arbeiter

54 II- Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

auf diesem Felde sind von dieser festen Idee einer Vervvandt- scliaft unterjocht. Es scheint ihnen nur eine Frage der Zeit zu sein, z. B. auf dem Gebiete der indoeuropäischen Sprachen das ungeheure Sprachgut jeder einzelnen Sprache methodisch zu sammeln und bis auf die letzten literarischen Denkmäler historisch darzustellen, sodann aus diesem Material die Grund- sprache oder gar die Grundsprache der Grundsprachen zu erschließen und so endlich dazu zu gelangen, daß wir für die indoeuropäischen Sprachen mit Sicherheit den Stammbaum ermitteln, dessen Existenz so allgemein vermutet wird und über dessen Gestaltung nur bis heute nichts Gewisses bekannt sein soll. Ungeheuer wie das Material ist der Scharfsinn, der an seine Bearbeitung gewandt wird ; keiner der Forscher scheint zu begreifen, wie unsicher schon der erste Schritt ist, der über die lebendige Sprache und die Sprachdenkmäler hinaus- führt, und wie jeder weitere Schritt nur mit sich steigernder Unsicherheit gemacht werden kann. Die ersten Schritte können noch zu Hypothesen führen, die weiteren zu Phan- tastereien. Das Bewußtsein von dieser Sachlage haben die arbeitsamen Forscher kaum, wohl aber mitunter das Gefühl, für unbekannte Zwecke ihrer Wissenschaft ziellos und alexandrinisch auf irgend einem verlorenen Fleck mit Auf- bietung aller Kräfte arbeiten zu müssen. Selbst Benfey (Geschichte der Sprachwissenschaft S. 565) hat diesem Ge- fühl der Resignation einmal ahnungslos-ahnungsvoll Aus- druck gegeben.

w. von Wilhelm von Humboldt war ein reiner Charakter, der

den Dank und die Liebe des deutschen Volkes verdient. Als Preußen nach der Schlacht von Jena daran ging, auf geisti- gem Gebiete wieder zu erobern, was es sonst verloren hatte, da wTirde Humboldt zur Mitarbeit berufen. Als Gesandter wie als Unterrichtsminister blieb er seinen Überzeugungen treu. In einer seiner ersten Schriften sagt er: „Staatsver- fassungen lassen sich nicht auf Menschen, wie Schößlinge auf Bäume pfropfen. AVo Zeit und Natur nicht vorgearbeitet

W. von Humboldt 55

haben, da ist's, als binde man Blüten mit Fäden an. Die erste Mittagsonne versengt sie." Diese Anschauung von Staat und Geschichte, die er der unmittelbaren Beobachtung der großen französischen Revolution verdankte, macht ihn zum Vorläufer der historischen Schule, macht ihn zu einem der ersten Führer des aufgeklärten Liberalismus, macht ihn zum Gegner des aufgeklärten wie jedes anderen Despotismus. Humboldt war einer der wenigen, welche bei der Ankündigung der preußischen Reaktion, zur Zeit der Karlsbader Beschlüsse, aus dem Staatsdienst austraten. Als Privatmann schrieb er jetzt seine sprachphilosophischen Abhandlungen, welche in der Geschichte dieser Gedanlcen eine ganz eigentümliche Stellung einnehmen. Sie stehen ein wenig abseits von der sprachvergleichenden i\Iethode, welche um dieselbe Zeit herrschend wurde. Humboldt, welcher auf weiteren Gebieten früher als andere die Bedeutung der historischen Weltanschau- ung ahnte, trieb nicht eigentlich historische Sprachforschung. Trotzdem werden seine Schriften häufig epochemachend genannt, und wirklich kann man kaum ein neueres Werk über die Prinzipien der Sprachwissenschaft lesen, ohne die Anregungen und Ahnungen Humboldts wiederzufinden. Den- noch ist vieles Legende, was sich an den Namen Wilhelm von Humboldt knüpft. Benfey (Geschichte der Sprach- wissenschaft S. 537) wagt es, von Humboldts berühmter Einleitung zu dem Werke über die Kawisprache zu behaupten, sie sei jedem gebildeten Deutschen bekannt. In Wahrheit wissen die gebildeten Deutschen von Wilhelm von Humboldt nur, daß er der Bruder Alexanders gewesen sei, und daß er einen schwer verständlichen Kommentar zu Goethes Her- mann und Dorothea geschrieben habe; die ganz Gebildeten (Fachgelehrte ausgenommen) kennen auch noch den Titel seiner Einleitung „Über die Verschiedenheit des mensch- lichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Ent- wicklung des Menschengeschlechts"; doch selbst dieser Titel dürfte weder in seiner Bedeutung noch in seiner verräterischen Unklarheit immer richtig verstanden worden sein.

Humboldt hatte gegenüber den alexandrinischen Sprach-

56 II- ^ur Geschichte der Sprachwissenschaft

vergleicliern zugleich den Vorteil und den Nachteil, daß er mit seiner ganzen Jugendentwicklung der Aufklärung des 18. Jahrhunderts zugehörte. Es steht in Harmonie mit dem gemäßigten Liberalismus seiner politischen Überzeugungen, wenn er in Übereinstimmung mit seinen besten Zeitgenossen die Sprachen als Organismen auffaßt, die sich selbst Gesetze geben und denen man also nicht künstlich ihre Blüten mit Fäden anheften darf. Dieser Sinn für die Autonomie des Werdens, den er als Staatsmann bei der Begründung der Berliner Universität in der Wirklichjceit durchzusetzen suchte und einmal so hübsch aussprach („Man beruft eben tüchtige Männer und läßt das Ganze allmählich sich ankandieren"), dieser wahrhaft historische Sinn führt ihn bei der Betrachtung der Sprache zu viel radikaleren Einbhcken, zu Sätzen, welche erst fünfzig Jahre später von den freiesten Sprachphilosophen wieder aufgenommen worden sind. Humboldt zuerst hat gelehrt, daß die Sprachen, wenn sie auch Schöpfungen der Nationen sind, doch „Selbstschöpfungen der Individuen bleiben, indem sie sich nur in jedem einzelnen, in ihm aber nur so erzeugen können, daß jeder das Verständnis aller voraussetzt und alle dieser Erwartung genügen". In ihm steckte aber unbewußt und gegen alle bessere Einsicht noch der starre Rationalismus des 18. Jahrhunderts. So genau er in jedem einzelnen Fall sah oder so stark er es fühlte, daß kein fremder Gesetzgeber der Sprache ihre Formen diktiert habe, so ver- wechselt er dennoch immer wieder die Wertschätzung, die er selbst subjektiv an die Sprachen heranbringt, mit den An- gaben eines objektiven Wertmessers. Steinthal Eine Kritik Humboldts wird dadurch besonders erschwert, daß er eine so entsetzHch schöne Sprache schreibt ; der Freund Schillers und Goethes will hinter ihnen nicht zurückstehen, wenn es ihm aber an der Rhetorik Schillers und an der unver- gleichlichen SinnHchkeit Goethes fehlt, so ist er nicht einmal streng im Gebrauch der Worte, was einem Sprachforscher kaum zu verzeihen ist. Alle Auslegungskünste seiner Schüler können die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß er gerade die wichtigen Begriffe, die er zuerst ahnungsvoll eingeführt

Steintlial 57

hat, ohne Definition ließ, und zwar nicht, weil ihm die De- finition selbstverständlich schien, sondern weil er in seinem eigenen Denken nicht fertig geworden war. Dazu kommt, daß gerade Humboldts Ahnungen den größten Zauber auf den Leser ausüben. Man kann es Steinthal gern glauben, wenn er in dem Vorwort zu seiner Ausgabe von Humboldts sprach- philosophischen Werken sagt: „Zu allen Zeiten war meine Achtung vor diesem Denker größer als meine Kritik, und größer als meine Achtung war meine Liebe zu ihm." Hier nimmt Steinthal die Kritik vollkommen zurück, welche er in viel jüngeren Jahren an Humboldt geübt hatte. Was immer die Veranlassung dieses Widerrufs gewesen sein mag (vielleicht das Bewußtsein, mit allem Scharfsinn und mit aller Klarheit doch nicht über Humboldt hinauszukommen), wir können Steinthals erste Kritik auch gegen ihn wieder aufnehmen, wo sie uns das Rechte getroffen zu haben scheint.

Steinthals achtungsvolle Kritik ist das Ergebnis jahrzehnte- langer Beschäftigung mit Humboldts Schriften. Wenn man die offene Auseinandersetzung gelesen hat, wie sie in der „Charakteristik der hauptsächlichsten Typen des Sprach- baues" (S. 20 bis 75) enthalten ist, so erscheint einem der Rückzug in Steinthals Ausgabe der sprachphilosophischen Schriften wie ein Akt verzweifelnder Verlegenheit. In der „Charakteristik" kommt er zu dem Ergebnis, daß der Wider- spruch zwischen Genie und Verstand bei Humboldt sich in jedem Punkte zeige, sich oft in einem und demselben Satze zusammendränge. „Ein solcher Satz mag ästhetisch schön geformt sein; logisch ist er falsch gegliedert und darum auch, rein an und für sich genommen , vollkommen unverständ- lich. Das Verständnis Humboldts schließt darum zugleich die Kritik desselben in sich. Denn ein solcher Satz wird eben nur dann verstanden , wenn man erkennt , was in demselben die Theorie, und was die Empirie hat sagen wollen, wirklich aber keine gesagt hat, weil jede die andere am Reden ver- hinderte" (S. 28). Scharfsinnig führt Steinthal nun aus, wie bei Humboldt die obersten Begriffe durcheinander schwan- ken; es wird die Sprache bald mit dem Geiste, der dann wieder

58 II. Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

als eine Gottheit nach dem Muster der Hegeischen Idee auftritt, gleichgestellt , bald kommt die Sprache von außen an den Geist heran. Insbesondere das Verhältnis zwischen dem Geist und der Sprache eines bestimmten Volkes kommt bei Humboldt nicht deutlich zum Ausdruck; bald ist der Volksgeist die Ursache und die Volkssprache die Wirkung, bald soll es sich umgekehrt verhalten. Der Anreger der Sprachphilosophie hebt selbst verschwommene "Worte. Ein böses Beispiel ist es, wenn er (S. 48 der Einleitung) sagt: „Die Wahrheit ist, daß beide" (die intellektuelle Eigentüm- lichkeit der Völker und ihre Sprachen) „zugleich und in gegenseitiger Übereinstimmung aus unerreichbarer Tiefe des Gemüts hervorgehen." Da haben wir die Tiefe des Ge- müts, das Asyl der Unwissenheit; man könnte sich heut- zutage nur noch ironisch darauf berufen. All dieses Ge- rede über den Geist und die Sprache ist aber noch schlim- mer, als es Steinthal darstellt, weil der BegrifE Geist, wenn man genauer zusieht, immer wieder die Hülle für noch was anderes ist, der Fetisch, in dessen Innern sich ein Gott ver- steckt.

W^o der Geist endhch menschlich wird, wo die Sprache mit dem Denken verglichen wird, da überspringt Humboldt gerade die Fragen, auf welche alles ankommt; und weil Steinthal darin über Humboldt nicht hinausgelangt ist, so bemerkt er den Fehler in der Untersuchung gar nicht. So lange nämhch die Logik als eine Wissenschaft vom Denken Anspruch auf eine höhere metaphysische Bedeutung erhebt, solange man nicht einsieht, daß die Logik nur psychologisch verstanden werden könne, daß die Psychologie in einer erst noch zu schaffenden Geschichte der menschlichen Denk- gewohnheiten Sprachwissenschaft und Logik zu behandeln haben werde, so lange kann die Einheit von Denken und Sprechen nicht völlig einleuchten. Humboldt beachtet nur wenig die Grundlage aller Sprache, die Verbindung von Vorstellung und Sprachlaut im Gehirn, und hält sich allzu philologisch zumeist au die Verbindung von Denkform und Sprachform. Hier nun stellt Humboldt ein neues Wort-

Innere Sprachform 59

gespenst hin, den unklaren Begriff von einer inneren Sprach- innere form, den Steinthal zunächst scharf kritisiert, um ihn nachher ^g^,^ doch wäeder zu verwenden. Nach Humboldt ist die innere Sprachform einmal der Inbegriff der auf die Sprache Bezug habenden Ideen; ein andermal wieder ist die innere Sprach- form der Zweck des Sprachlautes, der Gebrauch, zu welchem die Spracherzeugung sich der Lautform bedient. Wenn also diese beiden Sätze nicht eine heillose Konfusion ergeben sollen, so müßten „die auf die Sprache Bezug haben- den Ideen" Zweckideen sein, Endursachen, und wir stehen sofort mitten in blühender Scholastik.

Tief und unklar nennt Steinthal die Sprachphilosophie Humboldts (Körner spricht einmal zu Schiller von Humboldts „schauerlicher Tiefe") und ahnt nicht, daß Tiefe nur dem mangelhaften Verständnis unklar sein darf, nicht aber dem tiefen Lehrer und seinem besten Schüler. Für Humboldt selbst aber ist die innere Sprachform fast in jedem Paragraphen etwas anderes: einmal die Logik des Denkens, wie sie in der Grammatik zum Ausdruck kommt; einmal die abstrakte Grammatik selbst, wie sie sich in den einzelnen Sprachformen äußert; einmal sogar nur das tertium comparationis, wie es bei der Bildung neuer Worte der Phantasie vorschwebt.

Humboldt hat niemals klar ausgesprochen, ob „die auf die Sprache Bezug habenden Ideen" eine einzige innere Sprachform besitzen oder ob es so viel innere Sprachformeu gibt als Völker. Da die gegenwärtige Anschauung sich den lichten Gedanken Humboldts , daß es zuletzt nur Individual- sprachen gebe, zu eigen gemacht hat, so müßten wir sogar die Forderung stellen, daß jeder einzelne Mensch seine be- sondere innere Sprachform für sich haben müsse. Und das wäre sogar ganz richtig, wenn man den unfaßbaren Begriff „innere Sprachform" durchaus in eine Definition fassen und darunter den erworbenen und ererbten Erfahrungsschatz, wie er an die Sprache gebunden ist, sich vorstellen wollte. Er ist dann immer individuell. Humboldt aber kann heim- lich den Gedanken an eine gemeinsame innere Sprachform der. Menschheit nicht los werden. Diese Neigung scheint

60 II- Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

sich mir besonders lebhaft zu verraten in der fast unabsicht- lichen Wertvergleichung der Sprachen. Ich will eine solche Stelle im Zusammenhange hersetzen, zugleich als Probe für Humboldts philosophischen Stil. „Zwischen dem Mangel aller Andeutung der Kategorien der Wörter, wie er sich im Chinesischen zeigt, und der wahren (!) Flexion kann es kein mit reiner Organisation der Sprache verträgliches Drittes geben. Das einzige dazwischen Denkbare ist als Beugung gebrauchte Zusammensetzung, also beabsichtigte, aber nicht zur Vollkommenheit (!) gediehene Flexion; mehr oder minder mechanische Anfügung, nicht rein organische Anbildung; dies nicht immer leicht zu erkennende Zwitterwesen hat man in neuerer Zeit Agglutination genannt. Diese Art der Anknüpfung von bestimmenden Nebenbegriffen entspringt auf der einen Seite allemal aus Schwäche des innerlich. organi- sierenden Sprachsinns oder aus Vernachlässigung der wahren Richtung (!) desselben, deutet aber auf der anderen dennoch das Bestreben an, sowohl den Kategorien der Begriffe auch phonetische Geltung zu verschaffen, als dieselben in diesem Verfahren nicht durchaus gleich mit der wirklichen Bezeich- nung der Begriffe zu behandeln. Indem also eine solche Sprache nicht auf die grammatische Andeutung Verzicht leistet, bringt sie dieselbe nicht rein zustande, sondern verfälscht sie in ihrem Wesen selbst. Sie kann daher scheinbar und bis auf einen gewissen Grad sogar wirklich eine Menge von grammatischen Formen besitzen, und doch nirgends den Ausdruck des wahren Begriffs einer solchen Form wirklich erreichen. Sie kann übrigens einzeln auch wirkliche Flexion durch innere Umände- rung der Wörter enthalten, und die Zeit kann ihre ursprüng- lich wahren Zusammensetzungen scheinbar in Flexionen ver- wandeln, so daß es schwer wird, ja zum Teil unmöglich bleibt, jeden einzelnen Fall richtig zu beurteilen. . . . Diese so- genannten agglutinierenden Sprachen unterscheiden sich von den flektierenden nicht der Gattung nach, wie die alle An- deutung durch Beugung zurückweisenden, sondern nur durch den Grad, in welchem ihr dunkles Streben nach derselben Richtung hin mehr oder weniger mißlingt." Steinthals Kritik

Innere Sprachform ()1

hält sich an Widersprüche im Gebrauche einzelner Worte. Wir aber fragen: Was kümmert das die Sprache, ob Wil- helm von Humboldt oder sonst wer sie von einer anderen der Gattung oder nur dem Grade nach unterscheiden will? Wer hat ihm etwas von dem Streben einer Sprache verraten? Oder etwa von dem Streben nach einer wahren Richtung? Oder gar von der Vollkommenheit einer Flexion?

In einem Punkte hat Steinthal sicherlich recht, wenn er Denken nämlich sagt, daß man die Gesetze des Denkens nicht genau gj,j!^g^',jgQ genug kenne, um aus ihnen die Gesetze der Sprache abzu- leiten ; daß die Sprache materieller, klarer sei und daß es darum ratsamer wäre, umgekehrt die Gesetze des Denkens aus der Sprache zu erschließen. Doch zu der Einsicht, daß Sprache und Denken ein und dasselbe seien, ein und derselbe wirk- liche Vorgang im Gehirn, nur eine Wirklichkeit, deren Gesetze wir nicht kennen, bis zu dieser Einsicht ist Steinthal nicht vorgedrungen, weil er zwar um vieles klarer als Hum- boldt (Charakteristik S. 74) das Wesen der Sprache ausdrück- lich als bloßen psychischen Prozeß erfassen wollte, aber da- neben oder darüber immer wieder den Geist oder das Denken oder sonst etwas als einen gesetzgebenden Fetisch erblickte.

In diesem letzten Punkte ging es ihm genau wie seinem Meister Wilhelm von Humboldt. Dieser wirkte in der Zeit des beginnenden Historismus, aber er stand eigentlich immer noch auf dem Boden des alten Rationalismus. Er hatte von Kant das Beste nicht zu lernen vermocht. Er wurde den Zwiespalt zwischen Rationalismus und Historismus auch bei seiner „inneren Sprachform" nicht los. Auch sonst ist dieser Begriff ein beachtenswertes Beispiel eines inneren Wider- spruchs; bezeichnet man doch durch Form sonst immer das Äußere. Es ist eine solche Wortbildung fast nur in der philo- sophischen Sprache der Deutschen möglich und wäre vorher nur in dem spezifisch aristotelischen Griechisch und dann im Mönchslatein der Aristotehker möghch gewesen. Wir fragen uns aber jetzt, auf welchem Wege ein so feiner und reiner Geist wie Humboldt zu diesem hölzernen Eisen gelangt ist.

Wir müssen da den berühmten Begründer der Sprach-

62 II- Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

Philosophie nicht allzu streng beim Worte nehmen. Humboldt war kein Systematiker, glücklicherweise. Es läßt sich an vielen Stellen seiner Schriften zeigen, daß er die Sprache im allgemeinen, das Gemeinsame in den menschlichen Sprachen gar wohl als eine Abstraktion erkannte, daß er aber ander- seits die Wertlosigkeit aller Abstraktion nicht ahnte und darum nach der einen Idee aller Sprache forschte. Sehr schön (für seine Zeit) definiert er die Sprache als die Arbeit des menschlichen Geistes, den artikulierten Laut zum Aus- druck des Gedanlvens fähig zu machen. Der kluge Politiker Himiboldt, der Historiker, hätte den Begrifi der Entwicklung verstehen, hätte wissen müssen, daß eine solche unaufhörliche und endlose Arbeit sich nicht an eine Idee halten kann, daß sie sich vielmehr den Umständen anpassen muß. Aber der Darwinismus war damals noch nicht in den Köpfen, was immer man auch von den vielgerühmten Vorläufern Darwins rede. Goethes sogenannter Darwinismus stellte sich noch keine Einheit der Entwicklung vor, sondern vielmehr nur eine Einheit des Typus. Goethes Urpflanze und Urtier sind nicht als die ersten in der Ahnenreihe gedacht, sondern als Schemata, als Fiktionen des Urtypus. Diese Goethesche Einheit des Typus mag wohl auch Humboldt bei seiner Einheit der Sprachidee vorgeschwebt haben. Mehr nicht.

Wenn ihm nun die Beobachtung des äußeren Sprachbaus, der äußeren Sprachform nicht genügte, wenn er dann wieder an der Erkenntnis des wirklichen Sprachlebens, der inneren Organisation verzweifelte, so bUeb ihm nichts übrig, als sein eigenes Sprachgefühl zu belauschen, um zu sehen, wie weit er damit kam. Wir legen (natürlich nur in unserer Mutter- sprache) den äußeren Sprachformen eine Bedeutung bei, wir empfinden die Endsilbe „te" als ein Zeichen für eine vergangene Zeit. Wenn ich z. B, die Laute „ich flirbte" ausspreche, so kann sich niemand etwas dabei denken, weil es ein Wort „flirben" in unserer Sprache nicht gibt; jeder Deutsche wird die Laute aber als ein Imperfektum empfinden, nach der Endsilbe te, und mancher wird wohl fragen, was das Wort „flirben" bedeute, dessen Imperfektum er eben

refiihl

Sprachgefühl ß3

vernommen hat. Was Humboldt also allzu gelehrt die innere Sprachform nannte und was zu so viel Geschwätz Veranlassung gegeben hat, das ist vorerst nicht mehr und nicht weniger, Spracu- als was wir das Gefühl für die Formen unserer Muttersprache nennen.

Wir würden uns bei diesem Ausdruck vielleicht beruhigen, wenn nicht gerade der AVert, welchen ein Mann wie Hum- boldt diesem Gefühl beilegte, uns zu weiterem Nachdenken veranlassen müßte. So viel Achtung zum mindesten sind wir ihm schuldig, daß wir annehmen, er habe nicht ohne Nötigung nach einem neuen Begriffe gesucht.

„Das Gefühl für die eigene Sprachform", dieser Ausdruck kann uns auch darum nicht genügen, weil wir mit dem Worte Gefühl regelmäßig die unklareren und unbestimmteren Ein- drücke zu bezeichnen gewohnt sind. Was wir mit den schärfsten Sinnen wahrnehmen, was wir sehen und hören, das nennen wir nicht Gefühl; nur die begleitenden dumpfen Beziehungen auf unser Interesse nennen wir beim Sehen und Hören Gefühle. Bei unseren Handlungen ist es das be- gleitende Gefühl der Beziehung auf uns selbst, was wir unseren Willen nennen. Beim Sprechen gebrauchen wir die Formen gewöhnlich unbewußt; sobald wir aber uns selbst die Frage vorlegen, aus welchem Grunde wir die Vergangenheit gerade so, die Mehrzahl gerade so, die Möglichkeit eines Urteils gerade so bezeichnen, ebenso oft glauben wir die Empfindung zu haben, daß der Geist unserer Sprache uns zwinge, die Vergangenheit, die Mehrzahl, die Möglichlvcit usw. durch diese Form und keine andere zu bezeichnen. Diese Notwendigkeit schien durchaus im Wesen der Sprache selbst zu liegen, solange jedes Volk seine eigene Sprache für die allein mögliche und jede fremde Sprache für ein barbarisches Kauderwelsch hielt, so lange es eine vergleichende Sprachwissenschaft nicht gab. Bis dahin lag die Sache im wesentlichen so, daß die Formen und Begriffe der überlieferten lateinischen Grammatik für die Formen und Begriffe der Sprache selbst gehalten \vurden; und da man in der Logik eine geradezu mathematische Wissen- schaft des menschlichen Denkens zu besitzen glaubte, so ver-

64 II- Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

glich man die Formen der Sprache, also eigentlich immer die Formen der alleinseligmachenden römischen Sprache, mit den Regeln der Logik und gab sich damit zufrieden. Als nun die Sprachvergleichung nach ihrem ersten etymologischen Raubbau langsam zu der Bemerkung vorschritt, daß man in verschiedenen Sprachen verschieden denke, wagte sie sich zwar nicht an das heilige Gebäude der Logik und hat es bis zu dieser Stunde nicht gewagt, aber sie mußte die innere Organisation einer Sprache, da die allgemeine logische Stütze fallen gelassen werden mußte, individualisieren. Der gesunde Menschenverstand hätte lehren müssen, daß es von nun an Logiken so viele Logiken gebe, wie es Sprachen mit verschiedenem Bau gibt. Für eine solche Kühnheit scheint aber die Zeit noch nicht reif gewesen zu sein. Humboldt begnügte sich damit, dieses begleitende Gefühl für die Notwendigkeit der Muttersprachformen, also für die spezielle Logik der Einzel- sprache, mit unklarer Einsicht in diesen Zusammenhang die innere Sprachform zu nennen.

Wir sind also so weit, unser Sprachgefühl als die besondere Logik der einzelnen Sprache zu erkennen. Wir haben damit jedoch nicht einen Schritt nach vorwärts gemacht, sondern viel- mehr einen Schritt nach rückwärts. Wir haben für das Wort Gefühl, welches undefinierbar wenigstens unserer Empfindung entsprach, das Wort Logik gesetzt, welches wir doch ironisch von dem bisherigen Wortsinne ablösen mußten. Denn in dem Augenblicke, wo wir die Logik als die allgemeine Gesetzmäßigkeit des menschlichen Denkens oder der Sprache preisgeben, wo wir jedem Volke seine eigenen Denkgesetze zusprechen, haben wir kein Recht mehr, das alte Wort zu verwenden. Es ist gegen die Logik, gegen das Sprachgefühl, von dem AVort Logik eine Mehrzahl zu bilden.

Was ist nun die innere Sprachform oder unser Sprach- gefühl, wenn es durch die spezielle Logik der einzelnen Sprache nicht ernsthaft erklärt werden kann? Ich habe vorhin als Beispiele für unser Sprachgefühl Bildungssilben des Sub- stantivs und des Verbums und die Form der Möglichkeits- sätze gegeben. Aber wir glauben ein viel intensiveres und

Logiken 65

ausgedehnteres Sprachgefühl zu besitzen. Das Sprachgefühl schwindet uns eigentlich nur bei Worten, die uns nicht ge- läufig sind, bei selteneren Fremdwörtern, bei gänzlich isolierten Worten, genau so wie es uns beim Radebrechen fremder Sprachen fehlt. Der Gipfel des Sprachgefühls ist eben der Glaube an die UnübertrefElichkeit, ja ich möchte sagen der Glaube an die Selbstverständlichkeit der Muttersprache, die sich am stärksten bei Kindern und phantasiereichen ungebil- deten Leuten äußert. Der Gipfel des Sprachgefühls liegt in jenem Ausrufe des Tirolers: „Was ist die italienische Sprache für eine dumme Sprache! Sie nennen ein Pferd cavallo. Wir sagen Pferd, und es i s t auch ein Pferd." Nicht ganz so stark und naiv, aber ähnlich fühlen wir alle in unserem Sprachgefühl. An anderer Stelle zeige ich, wie oft uns dieses selbe Sprach- gefühl dazu verführt, Worte unserer eigenen Sprache für Onomatopöien zu halten. Wir sind geneigt, „bellen" für eine Klangnachahmung zu halten, trotzdem es vielleicht ursprüng- lich mit dem Sanskritwort für reden (bhas) zusammenhängt. Wir sind geneigt, in „blitzen" das Augenblicksbild eines Blitzes zu sehen, trotzdem es althochdeutsch blecchazzen hieß. Wäre aber unser Sprachgefühl keck genug, es würde hier und in tausend ähnlichen Fällen ausrufen: „Es heißt nicht nur bellen, blitzen, es i s t auch ein Bellen, Blitzen."

In ähnhcher Weise erscheinen uns die gebräuchlichsten Logik Worte unserer Muttersprache natürlich und gewissermaßen innerlich notwendig und ebenso ihre Formen. Besonders auch alle Worte für weite Kategorien. Eine wissenschaftliche Klassifikation der Wirklichkeitswelt ist bis heute nicht ge- lungen und kann nach dem Wesen der Sprache niemals ge- lingen. Aber eine oberflächliche , populäre Klassifikation, ein vorläufiges System von Fächern und Kasten ist in jeder Sprache vorhanden, und wir sind geneigt, diesen Kategorien logische Notwendigkeit zuzuschreiben, sowne wir die Laute als eine sprachliche Notwendigkeit empfinden. Das Wort Pflanze ist erst aus dem Lateinischen zu den Germanen ge- kommen; das Wort Tier war ursprünglich ein Adjektiv mit der Bedeutimg „wild", so daß in alter Zeit das Tier vom Vieh,

Mauthuer, Beitrüge zu einer Kritik der Siiraclie. II O

der Sprache

66 II' Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

dem Haustier, der nutzbaren Herde, unterschieden wurde. (Engl, „deer"; man denke an unser „Tiergarten".) Beide Worte sind sonach in ihrer gegenwärtigen Bedeutung in der deutschen Sprache noch verhältnismäßig jung. Den- noch haben wir bereits ein Sprachgefühl für sie, und der ungelehrte Mann fühlt sich gedrängt, im Tierreich und im Pflanzenreich notwendige Kategorien der Natur zu erblicken. Auch sträubt sich die Sprache gegen die Bezeichnung eines Zwischenreichs, wie denn eine jede neue Einsicht, Beobachtung oder Entdeckung die gewohnte Sprache sprengt und damit das Gefühl verletzt, welches die Sprache zusammenhält. Die Sprache ist die konservativste Macht. Darin liegt viel- leicht der Hauptgrund für die Erscheinung, daß sonst ganz gute und ehrliche Menschen sich so vor jeder neuen Wahrheit entsetzen. Jede neue Wahrheit ändert die Sprache, und die Sprache will sich nicht ändern lassen. Usus tyrannus.

Wir sehen also, daß im Sprachgefühl ein doppelter Glaube enthalten ist: der Glaube an die Notwendigkeit der Laute und der Glaube an die logische Notwendigkeit der Begriffe. Wir wollen uns aber um die Zweiteilung nicht weiter be- kümmern. Worauf es allein ankommt, das ist die Beziehung eines Wortes zu den Sinneseindrücken, an welche es am Ende aller Enden erinnert. Was wir logische Beziehungen nennen, das sind doch nur Zwischenglieder in dieser Erinnerung, welche selbst wieder durch die Entwicklung der Sprache entstanden sind. Dies muß ganz besonders festgehalten werden. Es ist eine zufällige Form unserer Sprache und der ihr nächst „ver- wandten", daß wir für die Merkmale der Objekte, für ihre sogenannten Eigenschaften, einen besonderen Redeteil ge- bildet haben, das Adjektiv. Es gibt Sprachen, in denen diese Merkmale, die wir für logisch notwendig halten, anders ausge- drückt werden. Ebenso ist das Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat, das uns als die Grundlage alles Denkens er- scheint, doch nur ein Produkt der Sprache und dann wieder ein Teil unseres Sprachgefühls. Welt- Und damit wären wir wohl dort angelangt, wo wir die

Antwort auf unsere Frage finden müssen. Eine große öffent-

Weltkatalog ß7

iiche Bibliothek wird bei uns gewöhnlich nach den Autoren und zwar nach dem deutschen Alphabet geordnet; sie könnte ebensogut nach dem Runenalphabet geordnet werden und mit F anfangen; sie könnte in der Ordnung irgend eines Alphabets nach den behandelten Gegenständen geordnet werden. Und so auf hunderterlei Art. Und sie wäre immer dieselbe Bibliothek, und sie wäre immer gleich benutzbar, wenn dem Publikum nur das Einteilungsschema gelävt&g wäre. Genau ebenso scheint es mir um die Ordnimg des Wissens in einem menschlichen Kopfe zu stehen, nur freilich daß das Einteilungsschema der menschlichen Wahrnehmungen, die Sprache nämlich, mehr leistet als der Katalog für eine Bibliothek. Der Vorgang ist jedoch derselbe. Wenn wir als Kinder unsere Muttersprache erlernen, nehmen wir ein Repositorium für alle erdenklichen Notizen in uns auf, die wir zeitlebens machen werden, wir übernehmen von unseren Vorfahren ihren fragmentarischen, vorläufigen, populären Weltkatalog, um die Fächer nachher mit unseren Erfahrungen auszufüllen. Dieser fragmentarische und wissenschaftlich völlig ungenügende Weltkatalog ist alles, was wir an Intelli- genz besitzen ; er ist unser ganzes bißchen menschliche Vernunft. Er ist ganz unzureichend für die immer wieder versuchte Erkenntnis der Wir klichkeits weit, er ist aber an sich betrachtet ein ungeheures AVerk, die gemeinsame Arbeit von MilHarden, die vor uns und darum für uns gelebt haben.

Über die Anordnung dieses inneren Weltkatalogs wissen wir nichts. Michel Breal hat umsonst versucht, in einem Vor- trage am Institut de France „Comment les mots sont classes dans notre esprit" das Geheimnis aufzuhellen. „Nous sommes tous, plus ou moins, des dictionnaires vivants de la langue fran9aise," ruft er aus. Dann aber w'eiß er nichts zu sagen, als daß wir augenbhcklich immer nur ein Wort und das Wort in einer einzigen Bedeutung empfinden. Er staunt die Leistung an, ohne sie zu erklären. Der unvergleichliche Wert dieser Leistung (der Wert für uns, nicht der Wert im Verhältnis zu der Aufgabe) besteht in der Ordnung und Übersichtlichkeit, die uns gestattet, unzählige Sinneseindrücke mit einer Laut-

68 II- Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

gruppe zusammenzufassen, und so immer weiter bis an die Grenze der Abstraktion. Ein einzelner oder auch nur eine kleine Gruppe von Menschen hätte dieses Werk nicht schauen können. Eine künstliche Sprache, wie sie oft versucht worden ist, könnte unmöglich alle Billionen Sinneseindrücke unter- bringen; das vermochte nur die unbewußte Arbeit von Mil- liarden zu tun. Aber eine künstliche Sprache kann uns auch keine innere Sprachform geben, kein Sprachgefühl. Das ver- mag einzig und allein die Vererbung und das Volksmäßige in der Sprache. Nur weil wir alle Kategorien und Formen der Sprache schon als Kinder in uns aufnehmen, also zu einer Zeit, wo wir vielfach nur die leeren Fächer an ihnen besitzen, weil wir also diese Formen und Kategorien unseren Eltern abnehmen, wie den Glauben an den lieben Gott, weil wir dann später alle unsere Volksgenossen ohne Ausnahme ihre sämtUchen Sinneseindrücke und Abstraktionen in die gleichen und gleich bezeichneten Fächer unterbringen sehen, nur darum wächst mit uns von Jugend auf und mit unserem Volke das Gefühl, alle diese Formen und Kategorien seien notwendig. Die Dinge heißen nicht nur so, sie sind auch so.

Diese ungeheure allgemeine Überlegenheit jedes Sprach- erbes über die Erfahrungswelt des Einzelmenschen darf uns über den "Wert der Sprache nicht täuschen. Unersetzlich und unübertrefflich ist die menschUche Sprache für die Ord- nung aller Sinneseindrücke; auch der dümmste Mensch erhält durch sie etwas von den Erfahrungen der Menschheit über- liefert. Der Dutzendmensch erhält durch die Sprache zum Erbteil alle Erfahrungen der Vorzeit, soweit er sie für sein Gewerbe braucht. Innere Um zum Schluß zu kommen: was wir von Kind auf in

/yj-m ist unserer Muttersprache lernen, dieser oberflächlich orientierende <i«i" Weltkatalog und dazu das Gefühl für die sprachliche und

gebrauch logische Notwendigkeit dieses uns geläufigen Weltkatalogs ist der ganz gewöhnhche, uns allen so wohlbekannte Sprach- gebrauch. Wie die Sitten oder Gewohnheiten unseres Volkes zu unseren Sitten und Gewohnheiten werden, und wie

Innere Sprachform = Sprachgebrauch 59

dann diese Sitten oder Gewohnheiten schließlich unter dem Namen Moral eine höhere Weihe zu bekommen scheinen, die dem natürlichen Gefühl des nicht entarteten Herden- menschen vollkommen entspricht, ebenso erzeugt die Sprach- gewohnheit unseres Volkes, indem sie unsere Sprachgewohn- heit wird, in uns das Gefühl : das ist so notwendig, das soll so sein, das ist so richtig, das ist Sitte. Der Sprachgebrauch wird zum Sprachgefühl, zur Sprachmoral.

Es mag für die Verehrer Wilhelms von Humboldt er hat mehr Verehrer als Leser eine Enttäuschung sein, daß hinter seiner stolzen „inneren Sprachform", die Steinthal in dem Kommentar zu dem vielzitierten § 11 der Einleitung in die Kawisprache eine „Errungenschaft" nennt, nichts weiter steckt als der alte, wohlbekannte Sprachgebrauch. Aber er selbst sagt da und besonders früher „Gebrauch", wo er in der feierlichen Kapitelüberschrift die „innere Sprachform" bemüht. Es ist das nur ein Beispiel für die Unklarheit von Humboldts Stil, dem es auf seine .Vhnungen mehr anl^am als auf deren Mitteilung. Es war Humboldts Unklarheit, die ihn Kants Bestes nicht begreifen ließ; es war wieder Humboldts Unklarheit, die Kant sagen ließ, er könne sich eine Humboldt- sche Abhandlung nicht enträtseln. Humboldt wollte Sprach- kritik treiben, ohne die Kritik der reinen Vernunft; wie Kant Erkenntniskritik zu treiben versuchte, ohne eine Kritik der Sprache. Humboldt schrieb einmal : „Die Summe des Erkenn^ baren liegt . . . zwischen allen Sprachen und unabhängig von ihnen in der Mitte." Der Erfinder der inneren Sprachform, welche ihm doch nur Sprachgebrauch war, hielt also die letzte Welterkenntnis außerhalb jedes möglichen Sprach- gebrauchs für möglich.

So arm ist der vornehme Begriff „innere Sprachform", wenn wir ihn genau befragen. Nur eines bleibt übrig, was das Humboldtsche Wort bedeutungsvoll gemacht hat. Man hatte vor ihm entweder ein besonderes Sprachvermögen an- genommen, oder, wie gesagt, die Sprache auf ihre Logik hin examiniert; Humboldt zuerst wies auf das innere Leben der Sprache hin und forderte damit die Psychologie auf.

70 II- Zur Geschichte der Sprachwissenschaft .

sich mehr als bisher mit der Sprache zu beschäftigen. Wir wollen auch diese Tat nicht überschätzen. Es wurde in der großen öfEentlichen Bibliothek ein Buch etwas vernünftiger eingereiht. Es vvurde in dem vorläufigen Weltkatalog ein Begriff in das Fach gelegt, in welches er besser zu passen schien als in sein bisheriges. Mehr als so ein bißchen Um- ordnung von Worten hat freilich niemals ein Einzelmensch geleistet.

Wir sind in Deutschland gewohnt, die junge Wissenschaft, welche sich bald vergleichende Sprachforschung, bald Sprach- philosophie , bald Völkerpsychologie und Sprachgeschichte nennt, für ein ausschließliches Erzeugnis deutschen Geistes zu halten, weil die Persönlichkeit Wilhelms von Humboldt ihr Wege und Ziele denn doch zuerst gewiesen hat. Der Einfluß Englands war aber von Anfang bis jetzt ein sehr großer. Es spielen, wie überall in der Kulturgeschichte, verschiedene Einflüsse mächtig mit. Zur Überwindung der alten beschränkten Philologie gehörte die Eroberung des Sanskrit; und diese wäre wie erwähnt ohne die eng- lische Herrschaft in Indien und die englischen Vorarbeiten den Begründern der Sprachvergleichung nicht möglich gewesen. Die Schule Wilhelms von Humboldt sah die Sprache etwa so an, wie die französischen Naturforscher vor Darwin die Tiere und Pflanzen ansahen. Wohl schuf man so eine ver- gleichende Anatomie, deren idealster Standpunkt uns aus BufEons Werken und aus Goethes Bestrebungen zur Botanik und Zoologie bekannt ist. Es wurde wohl das Gemeinsame gesucht, aber nur in Typen. Es war alles nur Morphologie, wenn es sich auch M e t a morphose nannte. Es war alles man betrachte die Seltsamkeit dieser Wortbilder nur M e t a physik, wenn es auch Physik zu sein glaubte. Es fehlte noch der Begriff der Entwicklung. Man vergUch zwar gleichzeitige Schwestersprachen, man verglich auch ältere und jüngere Zustände der gleichen Sprache, man forschte nach Naturgesetzen der Umbildung, aber das Wesen aller

l'aal

Sanskrit 7 ]

dieser Gesetze mußte unverständlich bleiben, solange der Gesichtspunkt Darwins nicht auch von Sprachforschern ge- wonnen w^ar.

Der Darwinismus, insbesondere die Auffassung der Sprache n-irmann durch Herbert Spencer, hat nun die deutsche Sprachphilo- sophie, die sich aus englischen Sanskritstudien entwickelt hatte, neuerdings um einen starken Schritt vorwärts ge- bracht. Der geistreichste Kritiker des bisherigen Ver- fahrens ist Hermann Paul in seinen „Prinzipien der Sprach- geschichte". Das Werk hätte eine Revolution der Geister herbeiführen können, wenn der Verfasser die Nachbarwissen- schaften, namentlich Logik und Psychologie, ebenso selb- ständig und unabhängig studiert und geprüft hätte, wie die von ihm völlig beherrschte Sprachwissenschaft. Dies aber gerade ist die Kehrseite der deutschen Professorentüchtigkeit, daß ein jeder nur Spezialist sein will und darf auf seinem besonderen Gebiete, über dessen Grenzen hinaus er jedoch die Ergebnisse seiner Herren Kollegen vertrauensvoll hin- nimmt und benützt. Keiner scheint noch zu ahnen, daß jenseits der Grenze eine andere Sprache gesprochen wird, und daß darum sogenannte Natur- gesetze niemals ungestraft aus einer Wissenschaft in die andere, aus einer Sprachkonvention in die andere hinübergenommen werden dürfen. Es steht damit womöglich noch schlimmer als mit Münzkonventionen. Tritt man aus Italien nach Frankreich, so verHert das Geld trotz aller Verbriefungen dennoch ein w^enig an Wert.

So konnte sich Hermann Paul nicht zu der Wahrheit durch- ringen, daß Logik und Grammatik nur moderne M}i:hologien der menschlichen Sprache seien, aber die neue Stellmig, die er der Sprachwissenschaft anweist, bietet dennoch bedeutende Anregungen. Er zuerst faßte die Sprachwissenschaft rein als eine historische Disziplin, als einen Teil der Kulturgeschichte, er zuerst lelirte, daß Sprachwissenschaft immer Gesellschafts- wissenschaft sei, und zwar so, daß niemals psychische Kräfte allein, sondern auch physische Kräfte zu beobachten seien. Damit überwand er die Arbeiten Steinthals und die Geist-

72 II- Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

reichigkeit von Lazarus, die sich zusammen als Völkerpsyclio- logen etabliert hatten. Diese Völkerpsychologie hatte sich blind den alten abstrakten Gegensätzen von Natur und Geist unterworfen und war über alle Maßen wortabergläubisch. In seiner Kritik von Lazarus und Steinthal erhebt sich Her- mann Paul eimnal über seine eigene Anschauung, wenn er folgende vortreffliche Sätze niederschreibt (Pr. d. Sprachg. II. Aufl. S. 11): „Mancher Forscher, der sich auf der Höhe des neunzehnten Jahrhunderts fühlt, lächelt wohl vornehm über den Streit der mittelalterlichen Nominalisten und Realisten, und begreift nicht, wie man hat dazu kommen können, die Abstraktionen des menschlichen Verstandes für realiter existierende Dinge zu erklären. Aber die unbewußten PteaUsten sind bei uns noch lange nicht ausgestorben, nicht einmal unter den Naturforschern. Und vollends unter den Kulturforschern treiben sie ihr Wesen recht munter fort, und darunter namentlich diejenige Klasse, welche es allen übrigen zuvorzutun w^ähnt, wenn sie nur in Darwinistischen Gleichnissen redet. Doch ganz abgesehen von diesem Unfug, die Zeiten der Scholastik, ja sogar die der M}i:hologie liegen noch lange nicht so weit hinter uns, als man wohl meint, unser Sinn ist noch gar zu sehr in den Banden dieser beiden be- fangen, weil sie unsere Sprache beherrschen, die gar nicht von ihnen loskommen kann. Wer nicht die nötige Gedanken- anstrengung anwendet, um sich von der Herrschaft des Worts zu befreien, wird sich niemals zu einer unbefangenen Anschau- ung der Dinge aufschwingen."

Von diesem Standpunkt steigt der Forscher leider immer wieder hinunter, so oft er die Kategorien der Sprache im ein- zelnen behandelt. Immer wieder hält er Abstraktionen für wirksam, nachdem er vorher mit dankenswerter Deutlichkeit aasgesprochen hat, es wirke im geistigen Verkehr imter den Menschen immer nur Physisches aufeinander, der Inhalt der erzeugten Vorstellungen werde in jedem einzelnen Gehirn ausnahmslos nur durch seine eigenen physiologischen Er- regungen hervorgerufen, die Mitteilung könne immer nur die bereits in einer Seele ruhende Vorstellungsmasse erregen oder

Hermann Paul 73

auf die Schwelle des Bewußtseins lieben : der Vorstel- lungsinhalt selbst sei unübertragbar.

Daß nun trotzdem eine geschichtliche Entwicklung der Sprache, das heißt ein Fortschritt des Menschengeistes wirk- lich und möglich sei, das erklärt er etwas künstlich durch die Umwandlung indirekter Vorstellungsassoziationen in direkte. Es soll diese Umwandlung sich in der Einzelseele vollziehen und das gewonnene Resultat auf andere Seelen übertragen werden. Ich kann mir bei diesen Worten nichts denken, wenn nicht die gesamte vorausgegangene Gedankenarbeit zugleich mit übertragen wird. Es wird wohl auf eine Ein- übung und deren Vererbung hinauslaufen, wobei dann freilich unendlich viele Zwischenglieder unbewußt werden müssen.

Sehr fruchtbar ist Hermann Pauls Gedanke, daß jede sprachhche Neuschöpfung, das heißt auch die leiseste Ände- rung im Wandel von Laut oder Bedeutung, stets nur das Werk eines Individuums sei, wodurch sich die Sprache von anderen menschlichen Erzeugnissen unterscheide. Das schließe natürlich nicht aus, daß innerhalb kleiner und großer Gruppen von Individuen eine große Gleichmäßigkeit aller sprach- lichen Vorgänge vorhanden sei. So kommt Hermann Paul zu seinem wichtigen Ergebnis, daß für eine ideale Sprach- forschung das Objekt wäre: die sämtlichen Äußerungen der Sprachtätigkeit an sämthchen Individuen in ihrer Wechsel- wirkung aufeinander. Alles, was jemals ein Mensch vorgestellt, gelallt, gesprochen oder gehört hat, alle Kombinationen aller möghchen Vorstellungen, die jemals irgendwo vorhanden waren oder sind, gehören der Sprachwissenschaft an, wenn sie Sprachgeschichte sein will. Die Träger aber dieser histo- rischen Entwicklung sind ich bemühe mich um eigene Worte die unwahrnehmbaren Vorgänge in den Menscheugehirnen, nicht die wahrnehmbaren Äußerungen. Das wirkhch ausge- sprochene Wort verfliegt nach physikahschen Gesetzen wie ein Paukenschlag. Es verwandelt sich nicht ein Wort in ein anderes, eine Bedeutung in eine andere; es ist nur ein anderes Gehirn, das mit anderen Nerven ein anderes Sprach- organ in Bewegung setzt, um andere Vorstellungen zusammen-

74 II- Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

zufassen. Die tönende Sprache ist für den geistigen Verkehr der Menschen notwendig, weil die Geister nicht unphysikalisch aufeinander wirken können; aber die Sprachgeschichte muß es trotzdem versuchen, sich allein an die unwahrnehmbaren psychischen Vorgänge zu halten. Sie muß also aus den vor- handenen Sprachen die psychologischen Vorgänge zu erkennen suchen, sie beschreiben, wie der Darwinismus aus den vor- handenen Tierverschiedenheiten Naturgesetze zu erschließen sucht. Die alten Klassifikationen sind in der Naturgeschichte ebenso mangelhaft wie in der Sprachgeschichte. Das über- kommene grammatische System ist nicht fein genug für die AVirklichkeit.

Die erste Frage der Sprachwissenschaft muß also diese

sein: wie verhält sich die individuelle Sprachtätigkeit zum

ererbten Sprachgebrauch? Wir könnten sagen, es sei dieselbe

Frage, die die moderne Naturgeschichte zu stellen hatte:

wie verhält sich das Individuum zu seiner Art ? Damit kommen

wir zu Hermann Pauls (von Schleicher wird noch zu reden

sein) darwinistischer Anschauung von der Sprache.

Darwinis- Ohne Absicht, ohne Zweck verändert die Sprachtätigkeit

Sprach- jedes Individuums den bestehenden Sprachgebrauch. Dies

wissen- sieht unser Forscher theoretisch ein. Aber genau so, wie

Schaft .

Darwin trotz seiner besseren Einsicht auf Schritt und Tritt in die Teleologie zurückfällt, weil er aus seiner menschlichen Haut nicht heraus kann, genau so leugnet Hermann Paul in einem Atem jede absichtliche Einwirkung auf den Sprachgebrauch, um fortzufahren: „Im übrigen spielt der Zweck bei der Entwicklung des Sprachusus keine andere Rolle als diejenige, welche ihm Darwin in der Entwicklung der organischen Natur angewiesen hat; die größere oder ge- ringere Zweckmäßigkeit der entstandenen Gebilde ist be- stimmend für Erhaltung oder Untergang derselben" (S. 30). Also keine Absicht, wohl aber ein Zweck! Wieder wird der Sprache Gewalt angetan, indem Zweckmäßigkeit in einem zwecklosen Sinne gebraucht wird. Zweckmäßig ist und bleibt ein neuer Gebrauchsgegenstand der Menschen, wenn er nicht nur der Absicht des Erfinders entspricht, sondern

Darwinismus und Sprachwissenschaft 75

auch der Absicht der übrigen Menschen. Es ist ein feiner Unterschied zwischen der einen und der anderen Absicht. Die Absicht des Erfinders ist ein mittelbarer Zweck , die Absicht des Käufers ist ein unniittelbarer Zweck. In der Abänderung einer Tierart , in der Entstehung also eines gegen früher veränderten Organs oder auch in der Ent- stehung eines neuen Worts oder einer Wortveränderung kann von der Erfinderabsicht für uns, die wir an götthche Schöpfung nicht glauben, überhaupt nicht die Rede sein; aber doch auch nicht von der Käuferabsicht. Denn die Änderung in der Sprache und in der Natur überhaupt ist in einer Reihe von Individuen unbewußt entstanden, bis der ererbte Grad stark sienug war, um wahrnehmbar zu sein. Was wir dann an der Änderung zweckmäßig nennen, ist also auch nicht mehr der unmittelbare aber bewußte Zweck des Käufers, sondern einzig und allein die Fähigkeit, zu bestehen. Es ist also Dar- wins von Paul angenommene Definition der Zweckmäßigkeit, als einer Zweckmäßigkeit der Erhaltung, eine tief versteckte Tautologie : es erhält sich Art oder Wort, wenn es sich erhält ; es geht unter, was untergeht. Habe ich diese Tautologie an einem so wichtigen Begriffe offenbar gemacht, so wäre noch hinzuzufügen, daß der Zweckbegriff nicht gut etwas anderes sein konnte als ein leerer Wortschall. Denn die Arten der Natur und die Worte der Sprache, in welche unser Ord- nungssinn den Begriff der Zweckmäßigkeit von außen hinein- trägt, sind ja eben nur, wie wenige Zeilen vorher gesagt wurde, die wahrnehmbar gewordenen Änderungen bestehender Arten und Worte. Wir sollten daraus lernen, daß die Zweck- mäßigkeit an keiner Stelle der Entwicklung einen natürlichen Platz habe. Die wirklichen Veränderungen in Natur und Sprache sind zwecklos, weil sie minimal, sind absichtslos, weil sie unbewußt sind. Wo die Summe aller Veränderungen bewußt wird, wahrnehmbar, eine meßbare Größe, da ist sie auch schon eine Abstraktion, da ist sie nicht mehr wirklich, da kann sie kein Zweck mehr sein. (Vgl. Art. Zweck in meinem „Wörterbuch der Philosophie".)

Die Voraussetzungen einer solchen Anschauung von der

76 II- Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

Sprache teilt Hermann Paul; wenn er trotzdem wie die andere Sprachforschung darwinistisch fehl greift, so rührt das wohl von einer scheinbaren Kleinigkeit her. Er erkennt deutlich, daß alle Einteilungen der Menschensprache bis herab in die Mundarten nur Abstraktionen seien, wie ebenso der große Umschwung in der neueren Zoologie auf der Erkenntnis beruhe, daß alle Klassen, Gattungen und iVrten nur Schöp- fungen des Menschenverstandes, daß nur die Individuen wirkhch seien. Aber da entschlüpft ihm das verräterische Wort: „Daß Altersunterschiede und individuelle Unterschiede nicht dem Wesen, sondern nur dem Grade nach verschieden sind". Das klingt ganz gemeinverständlich, weil wir alle glauben, uns bei dem Gegensatz von Wesen und Grad etwas denken zu können. Das Bild vom Gradunterschied scheint beinahe eine Erklärung zu sein. Wir denken an die Skala des Thermometers und legen dem Gradunterschied sofort Wirkhchkeit bei. So verwandelt sich für die Darwinisten wie für die modernsten Sprachforscher die Abstraktion, als welche sie eben alle Klassen, Gattungen und Arten erkannt haben, sofort wieder in AVirklichkeit. Es werden nach dieser neuesten Weisheit innerhalb einer Volksgemeinschaft in jedem Augenblicke so viele Dialekte geredet, historisch entstandene Dialekte, als Gruppen, als Dörfer, als Familien, ja als Indivi- duen vorhanden sind. Die allgemein sogenannten Dialekte bedeuten der neuen Weisheit nichts anderes, als das Hinaus- wachsen der individuellen Verschiedenheiten über ein ge- wisses Maß. Es kann kein Zweifel sein, daß Hermann Paul unter dem „gewissen Maß" eine zwar unbekannte oder ungenau bekannte, aber bestimmte positive Größe versteht. Und hier Hegt ein erkenntnistheoretischer Fehler des Darwinismus und der Sprachwissenschaft verborgen.

Die Experimente der neueren physiologischen Psycho- logie haben uns darüber belehrt, daß Reizunterschiede ein „gewisses Maß" überschreiten müssen, um unseren Sinnen wahrnehmbar zu sein. Reize unter diesem Maß nehmen wir nicht etwa schwächer wahr, sondern gar nicht. So steht es um unser Tastgefühl, um das Gesicht und um das Gehör.

Danvinismus und Sprachwissenschaft 77

Dahin gehört es auch, daß wir auf- oder absteigende Töne ohne bestimmte Intervalle nicht mehr als Musik empfinden. „Der Wolf heult," sagten die alten Musikanten von solchen Tonfolgen. Alles das muß uns klar machen, daß die Grad- unterschiede, auf denen unsere Klassifikationen von Natur und Sprache beruhen, durchaus nichts Positives sind, nichts Objektives, sondern subjektiv in unseren Sinnen, den Grund- lagen unserer Erkenntnis, begründet. Man halte dazu, was ich Trauriges über die Relativität von subjektiv und ob- jektiv zu sagen hatte (vgl. Bd. 1 2, S. 415 ff. und Art. o b- j e k t i V in meinem „Wörterbuch der Philosophie"), und wird begreifen, wie armselig mir selbst diese Bemerkung zu der darwinistischen Sprachwissenschaft erscheinen muß. Und dennoch war sie notwendig.

Darwinismus und Sprachwissenschaft werden von der gleichen Kritik betroffen, weil die Ähnlichkeit zwischen der Entstehung von Individualsprachen und von Tierindividuen noch weit größer ist, als selbst die Darwinisten unter den Sprachforschern anzunehmen scheinen. Es ist bekannt oder allgemein angenommen, daß die Entwicklung eines Organis- mus, eines tierischen oder pflanzlichen Individuums, von zwei Faktoren abhängt, von der Erblichkeit durch die Eltern und von der Anpassung an das Älilieu. Die Erblichkeit soll kurz ausgedrückt die Konstanz, die Anpassung die Ver- änderlichkeit erklären. Wenn nun Hermann Paul die Ver- kehrsgenossen eines Measchen für die Erzeuger seiner Indivi- dualsprache hält, ihren Einfluß mit der Erblichkeit gleichstellt, mid anderseits die Veränderungen den übrigen Eigenheiten und Erregungen seiner geistigen und leiblichen Natur zu- schreibt, so hat er das eigentliche Verhältnis ein wenig ver- schoben. Wir können bis heute die minimalen, sich zu Art- unterschieden summierenden Veränderungen in den mensch- lichen Sprachorganen, deren motorischen Nerven und den Sprachzentren des Gehirns nicht so aufzeigen, wie es die Physiologen mit der Entwicklung z. B. des Auges bereits vermochten. Wir können es uns aber nicht anders vorstellen, als daß sich das alles ebenso vererbt wie Hand und Fuß und

78 II. Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

Auge, und daß demnacli die Sprache als eine Äußerung des Sprachorgans genau so wie das Leben als Äußerung des ein- zelnen Tierorganismus sich vererbt. Konstant, wenn man das Wort schon gebrauchen will. Und jede Veränderung, jede Anpassung wird dann erzeugt von den Verkehrsgenossen, von Eltern, Mitschülern usw. Es ist eben die Sprache eine Lebensäußerung wüe eine andere; in diesem Sinne erst gibt es nur Individualsprachen, wie es nur individuelle Organismen gibt. Alle Unterschiede, auf welche man hingewiesen hat, sind darum unerheblich; ererbt hat der Mensch sein Sprach- organ in allen seinen feinen Wirklichkeitsnüancen, wie er ebenso seine übrigen Organe, wie er sein Leben ererbt hat; ist doch das Leben auch nur wieder eine Abstraktion für alle Äuße- rungen aller seiner Organe. Schwächer oder stärker um- geändert wird dieses Sprachorgan, wenn man Gehirn und Nerven dazu rechnet, von allen seinen Beziehungen zur Außen- welt, unaufhörlich bis zur Stunde seines Todes, und unauf- hörlich bis zur Stunde seines Todes wirkt die Persönhchkeit des Einzelmenschen mit an der Entwicklung der Sprach- organe der anderen Menschen, zunächst der ihm nahe stehenden. Genau so Avechselseitig, wenn auch noch so minimal beeinflußt der Gesamtorganismus des einen die Lebensäußerungen aller anderen. Ich kann kein Stück Brot essen, ohne daß ich un- endlich klein beitrage zum Stande der Nahrungsmittelmasse und zu ihrem Einfluß auf die Menschen. Und mein Nachbar kann kein Huhn aufziehen, ohne daß diese Vermehrung der Nahrungsmittelmasse unendüch klein auf meine Lebensführung zurückwirkt. Aus Milliarden solcher Einzelerscheinungen sum- miert sich dann etwa die Erscheinung, welche in der Natur sich einmal als Hungerempfindung äußert, in der Sprachge- schichte darin, daß ich z. B. das Wort „teuer" mit einem ge- steigerten Vorstellungsinhalt ausspreche. Was die Sache so unendlich komphziert, das ist nicht ein Unterschied zwischen Individualsprache und Tierindividuen, sondern nur die uner- gründliche Tatsache, daß die einzelne Sprachäußerung zuerst immer eine Lebensäußerung ist, eine Wirklichkeit des Augen- bUcks, und daneben auch eine Vorstellung, eine Erinnerung.

Darwinismus und Sprachwissenschaft 79

Hermann Paul sieht nun sehr scharfsinnig, daß die Schwie- rigkeit der Sprachgeschichte nicht darin liege, die Spaltung einer Muttersprache in ihre Dialekte zu erklären. Denn die Verschiedenheit ist ja das SelbstverständUche, weil es über- haupt nur verschiedene Individualsprachen gibt. Er sieht die Schwierigkeit ganz richtig in der Frage, woher es komme, daß die Verschiedenheit dennoch zu einer größeren oder ge- ringeren Übereinstimmung führe, daß es Einheiten wie I^Iund- arten, Muttersprachen usw. gebe. Die alte Frage beiseite zu schieben, die Frage nämlich nach der Zerspaltung höherer Spracheinheiten in niedere, das war gut, das kann alle Irr- tümer der vergleichenden Sprachwissenschaft endUch zer- stören. Die neue Frage jedoch, die Frage nach der Entstehung der Mundarten aus den Individualsprachen, ist doch nur v/ieder eine scharfsinnige Schwäche.

Denn wir bewegen uns doch im glühenden Kreise der Abstraktionen, wenn wir der Gemeinsprache, der Mutter- sprache, der Mundart, oder wie wir immer das geistige Ver- kehrsmittel einer Menschengruppe nennen wollen, wenn wir der zwischen den Menschen bestehenden Sprache die Indivi- dualsprachen der einzelnen Menschen gegenübersetzen. Wirk- lich, individuell, lebendig sind doch nur die Sprachorgane der Einzelmenschen, Gehirn und Nerven immer wieder zum Sprachorgan mitgerechnet. Diesen individuellen Sprach- organen steht allerdings nichts Gemeinsames als wirkHch gegenüber, höchstens ein Typus, eine Art, eine ererbte Gleich- mäßigkeit. Die Individual spräche jedoch, das heißt die jeweilige Äußerung des individuellen Sprachorgans, ist ja nicht wirklich, wäre ja ohne Vorbereitmig des hörenden Mitmenschen ein Paukenschlag im luftleeren Raum. Sprache wird das physikalische Erzeugnis des individualen physio- logischen Sprachorgans erst dadurch, daß die Laute zwischen den Menschen einen Tauschwert erhalten haben. Wir sehen jetzt erst, was es für eine Bedeutung hatte, wenn die Sprache für uns von Anfang an etwas zwischen den Menschen war. Wir dürfen also nicht fragen: wie entsteht Sprache oder eine Mundart aus den Individualsprachen? W^ir müssen erkennen,

80 II- Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

daß die erste und älteste unförmliche, lallende Äußerung eines urzeitliclien individuellen Sprachorgans beim ersten Laute bereits nicht mehr bloß Individualsprache, sondern Sprache, das heißt etwas zwischen einem sprechenden und einem hörenden Menschen war.

Ganz vorsichtig möchte ich hier nur noch fragen, ob man nicht auch in der lebendigen Natur eine solche Unterscheidung vermuten oder gar aufstellen könnte. Ohne Zweifel gibt es im Tier- und Pflanzenreich keine wirkUche Gattung, keine wirkHchen Arten. WirkUch sind nur die Individuen. Wie aber, wenn es uns erlaubt wäre , den vielumstrittenen Art- begriff als etwas zwischen den Individuen aufzufassen? Arten erkennen wir nach wie vor, wenn wir uns bei dem Worte über- haupt noch etwas vorstellen, an ihrer gegenseitigen Beziehung, an der Fortpflanzungsfähigkeit. Diese Tatsache, diese Äuße- rung der Individualorganismen bleibt bestehen, auch wenn der alte Artbegriff abgeschafft ist. Hund und Katze verstehen einander nicht zur Schaffung neuer Individuen. Dogge und Schäferhund verstehen einander. Wer weiß, vielleicht ist die Art doch etwas Wirkliches, etwas zwischen den Individuen.

.lang- Hermann Paul ist das geistige Haupt der Partei, die

matikcr gegenwärtig die Arbeit der Grimm und Bopp fortzuführen

sucht; es lebt in ihm etwas von der Frische und Jugend des

Romantikers Fr. Schlegel. Von der Jugend nahm die Partei

den Namen.

Als die Herren, welche gegenwärtig die Sprachwissen- schaft fördern, sich zuerst der älteren Generation kritisierend gegenüberstellten, waren sie noch jung und hießen darum die Junggrammatiker. Als Spitzname wurde das Wort zuerst von Zarncke scherzhaft gebraucht, dann (1878) von Brug- mann in die Gelehrtensprache eingeführt. Ein Spitzname wurde stolz angenommen , wie von den Geusen. Man kann nicht sagen, daß dieser Name irgendwie den sachhchen Gegen- satz bezeichnete. Wohl aber ist er charakteristisch für die Geschichte jedes wissenschaftlichen Betriebes. Immer kommt

gesetze

Junggrammatiker 81

ein neues Geschlecht, Avelches da und dort besser beobachten gelernt hat. Die deutschen Junggrammatiker waren wahr- haftig nicht bedeutender als Jakob Grimm, aber sie hatten einzelnes besser als er gesehen und konnten darum seine Ge- setze verbessern.

Sie haben das aber mit einer Feierlichkeit getan, die in ^piach- keinem rechten Verhältnis steht zu dem positiven Werte ihrer Leistung. Bevor wir näher betrachten, wie ihre schärfere Bestimmung der Lautgesetze die Anschauung über die Ge- schichte der Sprache verändert hat, wollen wir einmal für einen Augenblick im allgemeinen betrachten, was der Begriff „Sprachgesetz" eigentlich besagt.

Es will mir scheinen, als ob der Streit um die Gesetze der Sprache Ähnlichkeit habe mit den Streitigkeiten über das Gesetz der Trägheit, welche zur Zeit Galileis die Mechaniker beschäftigten. Heute könnten wir das Gesetz der Trägheit aus den mechanischen Gesetzen fortlassen, wie die Null aus der Reihe der Ziffern. Wir brauchten nur ihre Stelle leer zu lassen. Der allgemein anerkannte Glaubenssatz lautet: es vollzieht sich keine Veränderung ohne Ursache, das heißt natürlich, keine ohne die zureichende, genau bestimmende und zu bestimmende Ursache. Liegt zu einer Änderung keine Ursache vor, so kommt es eben zu keiner Änderung, weder in der Ruhe noch in der Bewegung der Körper. Da nun die Sprache, insofern als wir sie beschreiben können und erklären wollen, eine durchaus mechanische Erscheinung ist, so läßt sich gewiß dieses banale Grundgesetz der Mechanik auch auf sie an- wenden. Hätte man Jakob Grimm oder Georg Curtius aus- drücklich danach gefragt, so hätten sie wohl ebensowenig wie die Junggrammatiker gezögert, zuzugeben, daß auch innerhalb der Sprache eine Veränderung ohne Ursache nicht möglich sei. Der ganze Unterschied besteht darin, daß die älteren Sprachforscher noch zu viel mit dem Zeichnen des Grundrisses zu tun hatten, daß erst ihre Nachfolger und Schüler den kühnen Plan fassen konnten, die genau bestimmenden und genau zu bestimmenden Ursachen jeder Sprachveränderung untersuchen zu wollen. Ach, nur zu

Mauthiu'i-, Beitiiige zu einer Kritik der Sprache. 11 6

82 II- Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

wollen! Die Junggrammatiker erweiterten das Programm ihrer Lehrer.

Beide Parteien hatten sich die Aufgabe gestellt, sogenannte Gesetze der Sprache aufzufinden. Es sollten die Gesetze sein, nach denen die Sprache sich in historischer Zeit verändert hatte. Wir wissen, wie arm der Begriff Gesetz selbst auf dem Gebiete der Mechanik ist. Aber die mechanischen Gesetze haben, wenn auch durchaus keinen erklärenden Wert, so doch einen eminent praktischen, weil sie durch gute Induk- tionen erworben sind und über die Erfahrung hinaus Geltung haben, das heißt über die historische Zeit hinaus. Die Wir- kungen des Hebels und die Fallgeschwindigkeit sind so aus- nahmslos, daß wir ein Recht haben zu sagen: diese Gesetze werden unverändert auch in tausend Jahren bestehen und waren ebenso zu einer Zeit wirksam, als es noch keine beob- achtenden Menschen auf der Erde gab. Es ist zum mindesten willkürlich, es ist eigentlich naiv, wenn man an die sogenannten Sprachgesetze ähnliche Ansprüche stellt, wenn man aus ihnen die künftige Entwicklung der Sprache vorhersagen will, was noch kaum geschehen ist, oder wenn man mit ihrer Hilfe vorhistorische Sprachzustände rekonstruieren will, was leider diejenigen getan haben, welche die indoeuropäische Ursprache entdecken wollten. Die Gesetze der Sprache sind historische Allgemeinheiten.

Die Veränderungen, welche an einigen Sprachen in historischer Zeit beobachtet worden sind, zerfallen in zwei Gruppen: die Wandlungen der Wortbedeutungen und die Wandlungen der Wortformen. Der Bedeutungswandel ent- zieht sich durch seine außerordentliche Kompliziertheit und Geistigkeit einer eigentlich gesetzmäßigen FormuHerung. Der Kampf um die Sprachgesetze betrifft darum namentUch den Lautwandel, das Wort im weitesten Sinne genommen. Es darf nun nicht übersehen werden, daß die historische Be- trachtung dieser Veränderungen überhaupt jüngeren Datums ist. Die Philologie der Alten hatte den historischen Stand- punkt noch nicht gewonnen. Wenn die alexandrinischen Gelehrten sich mit der Sprache von Sophokles oder Homeros

Sprachgesetze 83

bescliäftigten, so erschienen ihnen veraltete Formen eigent- lich weniger alt als falsch. Es scheint beinahe, als ob die alten Sprachen erst hätten tote Sprachen werden müssen, bevor die Philologie anfangen konnte, sich mit ihnen historisch zu beschäftigen.

Will man scharf unterscheiden zwischen der Philologie und der Sprachwissenschaft, so muß man sagen, daß die moderne Sprachwissenschaft nichts anderes sei, als die An- wendung der Philologie auf lebende Sprachen und infolge dessen auf das Leben der Sprache selbst. Sie ist eine ganz neue Geistestätigkeit der Menschen; man hatte früher, was äußerst banal klingt, nur die Vergangenheit historisch be- trachtet und die Gegenwart als eine Tatsache hingenommen, die man auch noch im 18. Jahrhundert vernünftelnd kritisierte, anstatt sie nach ihrer Herkimft zu fragen. Erst im 19. Jahrhundert ist nacheinander auf allen Wissensgebieten eine geschichtliche Betrachtung der Gegenwart entstanden. Wir besitzen jetzt Versuche, die gegenwärtige Erdmasse geologisch zu erklären, das gegenwärtige Leben auf der Erde darwinistisch. Dahin gehören auch die Versuche der älteren und jüngeren Grammatiker, eine Entwicklungsgeschichte der Sprache zu schreiben. Für diese Geschichte ist die neuere Geologie, die mit der Hypothese von Kant-Laplace beginnt, nur vorbildlich gewesen.

Der Unterschied zwischen der älteren Schule und der- Jung- jenigen, welche gegenwärtig als die der Junggrammatiker die Sprachwissenschaft beherrschen will, besteht weder in der Methode, noch wesentlich im Stoff, sondern hauptsächlich darin, daß die ältere Schule bescheidener nach einigen „Ge- setzen" des Lautwandels suchte, während die Junggrammatiker die gefundenen weniger bescheiden für Naturgesetze ausgaben. Wie gesagt: auch Jacob Grimm wußte, daß jede Änderung in der Welt ihre bestimmte und bestimmende Ursache habe; er glaubte nur nicht, das Netz dieser Ursachen zu kennen. Die Junggrammatiker bilden sich das ein oder hofien doch, diese Kenntnis erreichen zu können, weil sie die Arbeit ihrer Vorgänger ein wenig weiter gefördert haben. Die xVrt dieser

gram- luatiker

84 II. Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

Selbsttäuschung wird scharf beleuchtet, wenn wir nun aus Hermann Pauls „Grundriß der germanischen Philologie", der völlig auf junggrammatischem Standpunkt steht, einige fast unfreiwillige Zugeständnisse zusammenstellen. Der Aus- gangspunkt ist, daß Jakob Grimm mit bewundernswerter Arbeit zwar das Material für die neue Wissenschaft gesammelt, aber die richtigen Gesetze noch nicht gefunden habe. Ähn- liches erfahren wir über größere und kleinere Forscher, die der Zeit der Junggrammatiker vorausgingen. Von Schleicher wird gesagt: es bleibe ihm zwar das Verdienst, daß er das Ziel zuerst klar vorgezeichnet habe; aber es haben sich seine Aufstellungen später in vielen Hinsichten als irrig erwiesen. Gleich darauf heißt es von Holtzmanns Abhandlungen: sie waren gleichfalls mehr durch die von ihnen ausgehende An- regung als durch ihre positiven Resultate von Bedeutung. Die neue Zeit datiert der „Grundriß" vom Jahre 1868, weil damals Scherers „Zur Geschichte der deutschen Sprache" erschien. Wer nun aus diesem Buche selbst nicht viel lernen konnte, der hofft von solchen Verehrern Scherers zu erfahren, daß dieser Forscher die so lange gesuchten Gesetze endlich entdeckt habe. Der Grundriß aber sagt: „Er wollte in raschem Anlauf mit Mitteln, die uns jetzt als durchaus unzureichend erscheinen müssen, gleich die letzten Fragen der germanischen, ja der indogermanischen Sprachgeschichte lösen, ein Unter- nehmen, welches notwendigerweise scheitern mußte ... So war das Ganze nicht etwa eine neue Grundlegung von bleiben- dem Werte, sondern nur ein allerdings höchst kräftiges Ferment in der Entwicklung, durchaus anregend, auch da, wo es zum Widerspruch reizte." Also erfahren wir, daß die Geistesarbeit der Sprachforscher niemals bleibenden wissen- schaftlichen Wert hatte, immer nur anregend war, bis Leskien (1876) den berühmten Satz aufstellte, daß man keine Aus- nahme von den Lautgesetzen gestatten dürfe. Da wurde die Schule der Junggrammatiker gegründet. Ihr oberster Satz von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze, denen man Nachsicht „nicht gestatten dürfe", spricht nicht eben ge- schmackvoll den einfachen Gedanken aus, daß nur ausnahms-

Junggrammatiker 85

los ähnliche Erscheinungen sich nach unserem Sprachgebrauch unter dem Namen eines Gesetzes zusammenfassen lassen, daß nur aus solchen Beobachtungen sich eine Wissenschaft zu- sammenstellen lasse. Es ist nur die Frage, ob es solche strenge Übereinstimmungen, ob es solche Gesetze gibt. Sicherlich sind die Genusregeln der lateinischen Grammatik mit ihren Ober- und Unterausnahmen keine Gesetze. In ähnlichem Lichte erschienen den jüngeren Forschern die Lautgesetze Grimms und seiner Nachfolger, solange unerklärte Aus- nahmen zu verzeichnen waren; so oft aber eine Ausnahme mit viel Witz und Gelehrsamkeit wieder in eine Rubrik gebracht v^ar, glaubten sie den Stein der Weisen gefunden zu haben. Es ging damit wie mit anderen Wissenschaften. Der Ehrenname Gesetz wurde jedesmal der jeweilig jüngsten Beobachtung verliehen. So stellen die Junggrammatiker ideale Forderungen auf, die sie selbst niemals erfüllen können. Auch ihre Bedeutung beruht nur in der Kritik ihrer Vor- gänger.

Das beinahe lachende Eingeständnis der eigenen Hilf- losigkeit hat ein französischer Junggrammatiker mit den Worten ausgesprochen: es liege (in den Worten mortel und loyal, bei denen das a der lateinischen Endung einmal in e verwandelt wird und einmal nicht) nicht eine Regel und ihre Ausnahme vor, sondern zwei Regeln. Vorsichtigere Gelehrte betrachten die Forderung einer ausnahmslosen Geltung der Lautgesetze wie Regnaud zu hübsch sagt als Sammel- punkt für die Besonnenen, als Damm gegen die Skeptiker und als Brustwehr (garde-fou) gegen die Abenteurer. Er fügt ganz richtig hinzu, daß die Wahrheit nicht vom bewußten Irrtum ausgehen dürfe; die Unbedingtheit der Lautgesetze ist eine Hypothese, an welche ihre Erfinder selbst nicht glauben.

Ich finde die Lehren der Junggrammatiker nirgends so Osthoff klar zusammengestellt, wie in dem Aufsatze Osthoffs über „Das physiologische und psychologische Moment in der sprachlichen Formenbildung". Osthoff stellt an die Spitze seiner Darlegung folgende zwei Grundsätze: erstens, der historische Lautwandel des formalen Sprachstoifes vollziehe

II. Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

sich innerhalb derselben zeitlichen und örtlichen Begrenztheit nach ausnahmslos wirkenden Gesetzen; zweitens, alle Un- regelmäßigkeiten der Lautentwicklung seien nur scheinbar solche ; sie beruhen nämlich darauf, daß die Gesetze des Laut- wandels zahlreiche Durchkreuzungen und Aufhebungen er- fahren von dem psychologischen Triebe, daß Sprachformen mit ihnen naheliegenden anderen Sprachformen in unbewußte Verbindung gebracht und von diesen letzteren lautlich um- gestaltet werden.

Die mühsam verklausulierte Form macht diese Gesetze verdächtig. Es ist aber auch schlimm, daß ihr Inhalt, in schlichten Alltagsworten ausgedrückt, keinen ganz ernsten Eindruck machen würde. Man könnte nämlich einfach sagen : die Geschichte der Sprache vollzieht sich teils regelmäßig, teils unregelmäßig; und diese ebenso richtige wie unbrauchbare Beobachtung haben schon die Alten gemacht, da sie die ihnen bekannte Bildungsweise der Sprache in die Wirkungen der Analogie und der Anomalie zerlegten. Analogie und Anomalie waren für die Alten allerdings so etwas wie Personifikationen, Götter, besondere Kräfte; unsere modernsten Forscher wissen sich von solchem Irrtum frei, haben aber in die bewegenden Kräfte der Sprache, die sie Prinzipien nennen, arge Ver- wirrung gebracht. Im Grunde waren die Alten viel vor- sichtiger, wenn sie gleichmäßige Erscheinungen unter den Falsche Begriff der Analogie brachten, das heißt unter den Begriff der Ähnlichkeit, weshalb denn auch die Lateiner Analogie mit comparatio übersetzten. In dem richtigen Gefühle, daß eigentlich nur unerklärte ähnliche Tatsachen vorliegen, also nur Analogien, wo sie von Lautgesetzen sprechen, in dem weiteren richtigen Gefühle, daß auch die kreuzende Tätigkeit der Anomalie fast niemals isoliert sei, fast immer durch psychologisches Anschließen an andere Gruppen zustande komme, haben nun die Junggrammatiker besonders von Scherer angeregt die nach ihrer Anschauung ungesetzlichen Bildungsformen „falsche Analogien" genannt. Es ist den Herren beim Gebrauche dieses Wortes nicht behaghch zu- mute. Osthoif schlägt dafür den Ausdruck „Assoziations-

Falsche Analogie 87

bildungen" vor, weil der Terminas „falsche Analogie- bildung" mit der Sache ein nicht zu rechtfertigendes Odium verknüpfe. Auch ich glaube, daß es ebensowenig angehe, seit Jahrhunderten gebrauchte Sprachformen falsch zu nennen, wie eine neugezüchtete Art von Rosen falsche Rosen zu nennen. Aber die Gefahr im Gebrauch des Wortes Analogie liegt viel tiefer; es wird einfach mit Erlaubnis der ge- lehrten Sprachforscher ein Fremdwort von ihnen falsch angewendet.

Als die alten Griechen das Wort Analogie auf solche Gleichmäßigkeiten anpaßten, da sprachen sie fast möchte ich sagen: deutsch. Das Wort ihrer Muttersprache war ihnen kein gelehrter Terminus. Analogie hieß ihnen die Ähnlichkeit zweier Formen, noch allgemeiner: das Verhältnis zweier Formen. Die Lateiner nannten das, wie gesagt, comparatio, aber auch proportio. Nun wurde aber von dem großen Schul- meister Aristoteles das Wort Analogie immer noch ganz unpedantisch auf diejenigen Schlüsse angewendet, die nichts beweisen, die nur von einer Ähnlichkeit ausgehen. Dieser vollkommen unwissenschaftUche Schluß würde in kurzen Worten lauten: wenn zwei Dinge in vielen bekannten Eigenschaften übereinstimmen, so werden sie wohl auch in den unbekannten Eigenschaften übereinstimmen; noch kürzer und noch klarer wäre die Unsinnigkeit: wenn zwei Dinge einander ähnlich sind, so werden sie wohl einander gleich sein. Viele Irrtümer in der Geschichte der Wissenschaften beruhen auf den Analogieschlüssen. Die Sonne und der Mond bewegen sich ähnlich um die Erde herum; sie werden also beide die Eigenschaften der Planeten haben. In Wirklichkeit ist weder Sonne noch Mond ein Planet. Es gehört die Lehre vom Analogieschluß gar nicht in die Logik hinein, sondern nur in eine Darstellung der Schwächen des menschlichen Verstandes, also insofern doch in die Logik oder Pathologie des Denkens. Die Lehre vom Analogieschluß ist jedoch tat- sächhch mit der übrigen Logik in die Gelehrtenlcöpfe hinein- geraten; man könnte sie die Lehre vom falschen Vergleichen nennen. Hatte man nun aber erst einen gelehrten Terminus

88 II. Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

für das nachfolgende Schließen aus Ähnlichkeiten, so wandte man diesen Terminus technicus auch auf das Entstehen solcher Ähnlichkeiten an. Wie, so oft redeten da die modernen Ge- lehrten griechisch, wo die Griechen ungelehrt das Wort ihrer Muttersprache gebrauchten.

Die beiden Gesetze Osthoffs, welche an die Stelle der alten Begriffe „Analogie und Anomalie" die neuen Begriffe physiologisches Gesetz und psychologische Durchkreuzung setzen möchten, sind also nichts anderes als: Analogie und falsche Analogie oder einfacher: richtiger und unrichtiger Sprachgebrauch, wobei ich allerdings gleich bemerken muß, daß unter unrichtigem Sprachgebrauch jede kleinste Änderung zu verstehen ist, die später selbst zum sogenannten richtigen Sprachgebrauch wird. Analogie ist es und nebenbei sicherlich das Ende einer langen lautgesetzlichen Entwicklung, wenn wir das Imperfekt der Zeitwörter mit der Endsilbe te bilden, liebte von lieben usw. Falsche Analogie ist es, wenn gegen- wärtig die Form buk von backen verschwindet und für die transitive wie für die intransitive Bedeutung die Form backte aufkommt. Es ist bekannt, daß die Kinder unaufhörlich den Versuch machen, diese falsche Analogie zu einem ausnahms- losen Gesetze zu erheben. Hat das Kind erst die Kategorie des Imperfekts und die Endsilbe te begriffen, so sagt es auch gewiß „ich trinkte". Ein Prachtstück falscher Analogie im Kindermund ist „er hat geseit" anstatt „er ist gewesen". Das Kind bildet „er hat geseit" von „sein" nach der Analogie von „er hat gefragt".

Der Fehler in der Anwendung der logischen Analogie auf die Geschichte der Sprache wird noch klarer, wenn wir dasselbe Wort auf die Geschichte der Organismen anzuwenden suchen. Ist nämUch wirklich die Entstehung der differenzierten Tier- formen aus den niedersten oder einfachsten durch die einander kreuzenden Wirkungen der Erblichkeit und der Anpassung zu erklären, so könnte man ja die Erblichkeit, das heißt die Tendenz, das Kind den Eltern identisch zu schaffen, Analogie nennen, die Anpassung jedoch, das heißt die Tendenz, kleine Unterschiede zu häufen und zu konservieren, die falsche

Falsche Analogie g9

Analogie. Sofort wäre damit die Sprache, welche durch die Worte Vererbung und Anpassung erklärende Gesetze auf- zustellen versucht hat, zu der Banalität zurückgekehrt, daß die Tiere einander teils ähnlich, teils unähnlich sind. Aber die Worte der menschlichen Sprache sind nicht einmal Orga- nismen, sondern nur Bewegungen oder Tätigkeiten von Organen. Man darf die Sprache nicht mit den lebenden Tieren vergleichen, sondern nur mit ihren anderen Tätigkeiten, z. B. mit der Fortbewegung der Tiere. Das wäre wie schon einmal hervorgehoben eine recht fruchtbare Vergleichung, weil ja doch das Schwimmen, Fhegen und Gehen der Tiere zuerst und zuletzt eine Annäherung entweder an Nahrungsmittel oder an den Gegenstand der Geschlechtsvereinigung bezwecken, und weil wohl die menschhche Sprache außer den Zielen der Eitelkeit zuerst und zuletzt ebenfalls die Annäherung des Nahrungsmittels und des Weibchens beziehungsweise Männ- chens will. Ich wage es nicht, da ich mich auf keine physio- logische Vorarbeit berufen könnte, eine Vergleichung durch- zuführen zwischen der Entwicklung der Sprache und zwischen dem Wege, welcher vpn den zuckenden Bewegungen der Seeanemone (um ein auffallendes Beispiel zu nennen anstatt den weniger bekannten Bewegungen der Moneren, die hier richtiger stünden) in unendlichen Zeiträumen bis zum Fluge des Adlers und zum Gang und Tanz des Menschen geführt haben mag. Die Entwicklung des Organismus wäre dabei eine Sache für sich. Aber der Gebrauch des Organs, der dann freilich wieder die Entwicklung beeinflußt haben wird, dürfte doch wohl dem Gebrauch des menschlichen Sprachorgans entsprechen. Und es ist kein Zufall, wenn man befreundete Menschen ebensogut an der Sprache wie am Gang erkennen kaim, ja sogar am Schall der Tritte kann man sie erkennen. Das ist nicht wunderbar; „Sprache" ist ein Abstraktum, es gibt nur Individualsprachen, eigentlich nur Augenbhcksworte ; „Gang" ist ein Abstraktmn, es gibt nur individuelle Gang- arten, eigentlich nur ähnliche Schreitbewegmigen.

Ich kehre zu den Gesetzen des Junggrammatikers zurück. Der kleine Ausflug, den wir eben gemacht haben, läßt uns

90 II- Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

vielleicht freier atmen und denken. Wenn es nur Ähnlich- keiten und Unähnlichkeiten sind, was wir auch in der Sprache Gesetze nennen, so spricht aus der Lehre von der Ausnahms- losigkeit der Lautgesetze doch nur der lobenswerte Wunsch: Wir wollen künftighin nur solche Ähnlichkeiten durch eine Formel zusammenfassen, die durch ihre Kegelmäßigkeit den Gedanken an einen Zufall verscheuchen. Es ist also das berühmte Wort dieser neuen Schule nicht so sehr schon eine Entdeckung als vielmehr eine Warnung vor der törichten Anwendung des Wortes Gesetz. Weil die Herren das aber nicht zugeben, w^eil sie doch gern im kleinen etwas Entdecker- wollust genießen möchten, darum haben sie ihr großes Gesetz verklausuliert und begnügen sich zur Not mit kleinen Gesetz- chen, die dann innerhalb einer begrenzten Zeit und eines be- grenzten Raums gelten sollen. Damit scheint es mir zu- sammenzuhängen, daß die Junggrammatiker mehr und mehr (und sehr verdienstvoll) die Mundarten moderner Sprachen zu Hilfe genommen haben, um wenigstens die Wahrscheinlich- keit ihrer Lehre zu beweisen. Von einem zwingenden Beweise sind sie nach eigenem Geständnis weit entfernt. Und ihre Aufstellungen, so erstaunhch auch die aufgewandte Gelehrsam- keit ist, und so überzeugend oft ihre Gruppenbildung, erinnern dennoch an die Ausnahmen der lateinischen Genusregeln; sie sagen allerdings, daß die Gesetze einander kreuzen, wo aber für das kreuzende Gesetz die sichere Erklärung fehlt, da hat es doch eine verzweifelte Ähnlichkeit mit einer gut be- schriebenen Gruppe von Ausnahmen. Man darf sich nur von dem feierlichen AVorte Gesetz nicht verblüffen lassen. Ob die kreuzende Regel gegenüber den allgemeinen Genus- regeln sich auf Endungssilbe und auf Bedeutung beruft oder ob nach dem viel gerühmten Vernerschen Gesetz die ger- manische Lautverschiebung durch die Betonung durchbrochen wird, so daß wohl „Vater" dem lateinischen pater, aber „Bruder" dem lateinischen frater entspricht, beidemal liegen doch nur Ausnahmsgruppen vor, welche mehr oder weniger gut beschrieben, aber gar nicht erklärt sind. Auf den scheinbar wichtigen Gegensatz zwischen dem psychologischen Einfluß

Lautgesetze 91

der Bedeutung (bei den Genusregeln) und dem physiologischen Einfluß (bei den Lautgesetzen) werde ich gleich näher zu sprechen kommen.

Immerhin wird Georg Curtius recht behalten, wenn er in seiner Kritik der neuesten Sprachforschung sagte, der Grundsatz der Ausnahmslosigkeit der Lautbewegung habe mehr die Bedeutung eines selbsterziehenden Prinzips für die Philologen. In sehr vielen Fällen haben die besser geschulten Forscher auf Grund ihrer strengeren Beobachtungen Ety- mologien wieder zurückgewiesen, w^elche von der Sprach- vergleichung im ersten Taumel nach der Heranziehung des Sanskrit aufgestellt worden waren. Man schrieb solche kritische Leistungen der Konstanz der Lautgesetze zugute. Es gibt aber auch Fälle, in denen ganz offenbar eine Ver- wandtschaft vorliegt, trotzdem die Junggrammatiker sie leugnen müssen. Das germanische „haben" und das lateini- sche „habere" ist denn doch gar zu identisch, als daß man sie nicht miteinander vergleichen sollte, wenn auch alle Jung- grammatiker lehren, einem lateinischen h müßte ein germanisches g entsprechen. Müßte! Wo war denn das Lautgesetz angeschlagen, wo war denn seine Übertretung mit Strafe bedroht, als das germanische Wort „haben" ge- bildet wurde? (Vgl. D. W. IV. II. Sp. 45 f.)

Nun aber zum Hauptpunkt. Ich habe hier wieder daran erinnert, was an anderen Stellen ausführUch gesagt ist, daß der BegrifE Gesetz nicht ernsthaft auf Vorkommnisse in der Entwicklung der Sprache angewendet werden dürfe, daß der BegrifE Analogie nur tatsächliche Ähnlichkeit bedeute, daß also das Vorhandensein von Gruppen ähnlichen Laut- wandels — ob sie einander nun kreuzen oder nicht nur bildlich mit der Bezeichnung Lautgesetz zu beehren sei. Nun geben aber die Jmiggrammatiker den Tatsachen gegenüber natürlich zu, daß die angeblich ausnahmslosen physiologischen Gesetze des Lautwandels durch psychologische Einflüsse durchbrochen werden. Sie stellen sich das entweder gar nicht vor oder vielleicht so, daß das Mechanische unwider- ruflich feststeht, es aber im Willen des Menschen liege, das

92 II- 2ur Geschichte der Sprachwissenschaft

Mechanische nach seinem Interesse umzugestalten. Wenn es z. B. regnet, so wird man naß, ausnahmslos; aber der psychologische Wille des Menschen kann gegen den Regen ein Haus bauen mit einem schützenden Dach, oder er kann einen dicken Mantel um die Schultern legen, oder er kann einen Regenschirm aufspannen, oder er kann gegen die Nässe sich abhärten. So kann der Lautwandel, der an sich nach dem allgemeinen Glauben rein mechanisch ist, beeinflußt werden durch irgendeine gelehrte Richtung, durch irgendeine ästhe- tische Mode, durch den Nutzen, welchen die Beibehaltung alter Formen unter Umständen gewährt, oder endlich kann der mechanische Lautwandel geradezu als ein Vorzug emp- funden und künstlich beschleunigt werden. Aber nach allen diesen Abzügen soll doch immer der mechanische, der physio- logische Lautwandel als wichtigstes Ereignis in der Ent- wicklung der Sprache bestehen bleiben. Gesetz Sobald man aber fragt, warum die Sprache ihren Laut-

Bequem- bestand verändert, nicht viel langsamer als einst die Mode ihre lichkeit Formen, warum die Sprache sich nicht durch Jahrtausende damit begnüge, die alten Worte und die alten Formen zu konservieren und nur für neue Begriffe und neue Kategorien neue Worte und neue Formen zu bilden, kurz: wenn man nach dem Grunde des mechanischen, des physiologischen Lautwandels fragt, so lautet die Antwort, daß die Bequemlich- keit (gelehrter ausgedrückt: die geringere Arbeitsleistung) das Sprachorgan dazu veranlasse, z. B. aus dem Althochdeutschen langsam das Neuhochdeutsche zu machen. Wo es sich dabei um Vereinfachimg der Formen handelt , da liegt es auf der Hand, daß die Bequemlichkeit dem Gedächtnisse zugute kommt, also einem psychologischen Faktor, wie man so niedlich sagen könnte, wüßte man nicht, daß im Gedächtnis das ganze Rätsel der Psyche steckt. Selbst diese Bequemlich- keit des Gedächtnisses ist wiederum so bequem, sehr langsam zu arbeiten. Es gab eine Zeit, in welcher die ursprünglichen Zeitwörter in der Einzahl des Perfektums anders flektiert wurden als in der Mehrzahl. Diese Unbequemlichkeit für das Gedächtnis ist bis heute nicht vollständig abgeschafft.

Gesetz der Bequemlichkeit 93

Im Mittelhochdeutschen sagte man „wir stürben, ich starb"; Luther noch sagte „wir bissen, ich beiß"; wir können heute noch sagen „wir wurden, ich ward".

AVo aber nicht eine formale Ausgleichung stattfindet, wo nicht das Gedächtnis durch Zusammenfließen verschieden- artiger Formen entlastet wird, wo bloß Laute verändert, Vokale assimiliert, harte Konsonantengruppen erweicht werden, da ist man geneigt, die Bequemlichkeit als etwas Mechani- sches aufzufassen. Und dieser Glaube, daß nämlich die Laut- veränderungen auf mechanischen Naturforderungen beruhen, hat ganz gewiß mit dazu beigetragen, daß überhaupt von Laut g e s e t z e n gesprochen wird, und daß diesen natür- lichen Gesetzen ausnahmslose Wirkung zugeschrieben wird. Man läßt die Lautgesetze, die man physiologisch nennt, von psychologischen Einflüssen kreuzen und besinnt sich nicht darauf, daß Sprache nicht ein Organismus sei, sondern Tätig- keit, daß Tätigkeit oder Arbeit so lange psychologischer Natur sei, als man den Begriff Psychologie in der Sprache fortdauern lassen wird. Es braucht nicht hinzugefügt zu werden , daß die Einwirkung der Bequemlichkeit auf die Arbeitsleistung erst recht psychologisch sein muß. Wenn sämtliche Bauern eines Dorfes den Weg z. B. zur nächsten Kirche oder zum nächsten AVirtshause am bequemsten da zu finden glauben, wo sie eine bestimmte Wiese kreuzen, so wird dieser nächste und bequemste Weg mit der Zeit nicht mehr ein gedachter sein, sondern es wird sich ein ganz mechanischer ausgetretener Pfad bilden, auf welchem kein Gras mehr wächst. Auf den Raum dieses Pfades wird der BegrifE Wiese am Ende nicht mehr anwendbar sein. AVenn der Besitzer der AViese sich gegen diese mechanische Veränderung nicht durch einen festen Zaun oder durch sonstige körperliche Gewalt zu schützen weiß, so wird unweigerlich die Veränderung statt- finden, es wird das Dorf im Kampf ums Dasein den kürzesten AA^'eg durchsetzen. Ja sogar die Aufrichtung eines festen Zaunes, wird höchst wahrscheinlich auf die Dauer nichts hindern können. Man wird dann bildlich ganz hübsch von einem Naturgesetz sprechen können, welches den Weg vom

94 II- Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

Dorf zur Kirche oder zum Wirtsliaus die Wiese durchkreuzen ließ. Ja sogar höhere Abstraktionen, Rechte und Prozesse, werden auf dieses mechanische Wegbereiten zurückzuführen sein. Man wird sagen: aus der naturgesetzHchen Tatsache sei das rechtliche Institut einer Servitut entstanden. Und es ist nicht unmöglich, daß die Gerichte, wenn der nötige Zeitraum verstrichen ist, dem „Dorfe" das „Recht" zusprechen, die Wiese mechanisch zu kreuzen.

Wie steht es aber um das Mechanische des Vorgangs? Es gibt vor allem freilich kein aktives Naturgesetz, welches das Dorf auf den nächsten Weg trieb: es gibt ferner in der WirkHchkeit nichts, was nahe oder nächst war; es gibt kein Dorf, sondern nur Bauern; es gikt keinen Weg, weder im Sinne des materiellen Pfades, noch im Sinne einer Weg- richtung , es gibt nur einerseits fester gestampfte Lehm- klumpen, anderseits die Tritte der schreitenden Bauern oder vielmehr den rammenden Fall der Bauernkörper. Nur daß jedesmal, wo der höchst individuelle Bauer sein individuelles Bein augenblicklich zu einem Schritte in einer bestimmten Richtung hebt, ein psychologischer Faktor mit tätig ist, der je nach Umständen Wille oder Gewohnheit heißt.

Physio- Man kann also beim Gang des Menschen nur physio- oder logische Bedingungen und psychologische Motive unter-

Psycho- scheiden. Ganz ebenso steht es um diejenigen Bewegungen des Menschen, die unter dem Namen Sprache zusammen- gefaßt werden. Physiologisch sind nur ihre Bedingungen, die in allen historischen Zeiten die gleichen waren, oder deren Veränderungen wenigstens zu fein waren für menschliche Beobachtung. Die Veränderungen der Bewegungen oder Sprachlaute jedoch können gar nicht anders als auf psycho- logische Motive zurückgeführt werden. Wenn man nun mit OsthofE zwischen einem physiologischen und einem psycho- logischen Moment der Formenbildung unterscheidet, so gesteht man nur die schmerzliche AVahrheit ein, daß wir auch sonst physiologisch zu nennen pflegen, was wir gar nicht mehr zu erklären wissen.

Schon Schuchardt („Über die Lautgesetze" 1885, also

Physiologie oder Psychologie 95

im gleichen Jahre mit Brugmanns selbstbewußter Schrift „Zum heutigen Stand der Sprachwissenschaft") hat die Jung- grammatiker und zugleich ihren Logiker und Psychologen Wundt auf die Unmöghchkeit aufmerksam gemacht, das regelmäßige Lautgesetz eine physiologische und die störende Anomalie eine psychologische Wirkung zu nennen. Er weist zunächst darauf hin, daß es im Gegensatz zu der gewöhn- lichen Annahme auch Fälle gebe, wo die angebhch psychische Analogiebildung durch den sogenannten mechanischen Laut- wandel gestört werde. Er sagt ferner, was viel einschneidender ist, daß heterogene Kräfte einander nicht berühren und nicht beeinflussen können, so wie ja auch der menschliche ^yille in seinem Körper nicht die rein physiologischen Vorgänge (wie die Verdauung) hemmen könne, wohl aber die Wirkung psycho- logischer Motive und Gewohnheitshandlungen. Darum kann in der Sprache des Individuums, sobald wirklich rein mecha- nische Einflüsse vorliegen (Zungenfehler und dergleichen), die psychologische Analogie die physiologische nicht kreuzen. Es sei also gewissermaßen a priori zu vermuten, daß auch die Lautgesetze psychologischer Art seien.

Allen diesen Bedenken gegenüber konnten sich die Jung- grammatiker allerdings darauf berufen, daß sie die Begriffe Physiologie und Psychologie nicht erfunden, sondern aus dem allgemeinen Sprachgebrauch der Wissenschaft ver- trauensvoll aufgenommen haben. Und wirklich ist für uns, denen auch die Xamen der Wissenschaften nur unverständ- liche, fetischartige Abstraktionen sind, der Streit um Worte immer unerheblich. Man nennt Physiologie die Lehre von den Lebenserscheinmigen, das heißt die Lehre vom Zusammenhang derjenigen Erscheinungen, welche lebendigen Organismen eigentümlich sind. Es steht also die Physiologie in der Mtte zwischen der Mechanik, als der Lehre von den leblosen Dingen, die man seit Jahrhunderten oder vieiraehr seit jeher zu ver- stehen glaubte, und der Psychologie als der Lehre vom Geistesleben, das zugestandenermaßen heute noch nicht erklärt ist. Wir aber wissen und behaupten, daß bloß die Bedingungen der mechanischen Erscheinungen besser be-

96 II- Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

obachtet sind als die Bedingungen der geistigen Erscheinungen, daß aber die Erklärung auf beiden Gebieten gleicherweise fehlt, daß z. B, die Schwerkraft ebenso unverständlich ist wie irgendein Vorgang des menschlichen Denkens. Physiologie ist also diejenige Disziplin, welche unerklärhche Lebens- erscheinungen dadurch verstehen zu können hofft, daß sie sie auf ebenso unerklärliche mechanische und chemische Er- scheinungen zurückführt. Seitdem man die Bedingungen, das heißt die körperlichen Organe des Lebens ein wenig besser beobachtet hat, spricht man von einer Physiologie, hinter der naturgemäß der Wunsch einer mechanischen Erklärung des Lebens steckt. Wären die Bedingungen des Denkens ebenfalls besser beobachtet, besäßen wir eine Physiologie des Gehirns, die nur einigermaßen der Physiologie des Herzens entspräche, so würde die Psychologie unter die Physiologie fallen und gedankenlose Gelehrte würden dann mit Recht behaupten: daß sie das menschliche Denken mechanisch er- klärt hätten. Mit demselben Rechte wenigstens, mit dem die Physiker das Mechanische erklärt zu haben glauben und mit dem die Materialisten das Leben einen Mechanismus nennen.

Das alles wäre nur ein Wortstreit, wenn die Junggramma- tiker nicht ganz gewiß dadurch zu ihrer Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze geführt worden wären, daß sie ursprünglich (sie wollen jetzt nichts mehr davon wissen) die Lautgesetze für ebenso mechanische Gesetze hielten wie die der Ent- wicklung. Und in diesem Sinne ist sicherlich Schleicher der Anreger der naturalistischen Junggrammatiker, wie immer es auch mit der Prioritätsfrage bestellt sein mag : ob Schleicher oder Leskien sich rühmen dürfe, den falschen Satz zuerst aufgestellt zu haben.

Ein Beispiel mag zeigen, wie wenig Sinn die Unter- scheidung zwischen physiologischen und psychologischen Ein- flüssen besagt. Im Altfranzösischen wird die neue romanische Form des lateinischen Verbums so konjugiert: (j')aime, (tu) aimes, (ils) aiment ; aber (nous) amons, (vous) amez. Der Grund der Verschiedenheit liegt in der hergebrachten Be- tonung der lateinischen Wortformen. Es kommt auch sonst

Physiologie oder Psychologie 97

vor (faim aus fames, pain aus panis), daß unter gewissen Umständen vor einem Nasal aus dem lateinischen a ein französisches ai wird, wenn die Silbe betont ist; ist die Silbe unbetont, so bleibt im Französischen a erhalten (ami aus amicus). So entstand also auch aime und aimes aus ämo und amas; aus amämus und amatis jedoch wurde wie gesagt amons, amez. Diesen regelmäßig zu beobachtenden Wandel des a in ai nennt man eben ein Lautgesetz, also doch wohl ein mechanisches Lautgesetz. Im Neufranzösischen hat sich's die Sprache bequemer gemacht, unterscheidet nicht mehr die verschiedenen Formen und konjugiert bekannthch: nous aimons, vous aimez, was dann von Rechts wegen eine falsche Analogiebildung genannt werden müßte und sicherlich ein psychologischer Vorgang ist. Der Unterschied zwischen dem mechanischen oder physiologischen Lautgesetz und der psycho- logischen Analogiebildung ist aber doch auch wieder nur der Umstand, daß wir bei der Änderung des Neufranzösischen die größere Bequemlichkeit für das Gedächtnis sofort einsehen, daß wir bei dem Lautwandel des Altfranzösischen die größere Bequemlichkeit für die Sprachorgane das heißt für das Gehirn, welches die Sprachorgane in Bewegung setzt, nicht so leicht einsehen. Für den wirkUchen Vorgang ist aber unsere Er- kenntnis von ihm gleichgültig. Wenn der wandelnde Mensch beim Umbiegen um eine scharfe Ecke lieber und bequemer einen Bogen macht (und es tut es jeder), wenn der Fußgänger auf einer frisch geschotterten Landstraße Schritt für Schritt den ebenen Wagenspuren folgt, so mag man dies mechanische Handlungen nennen, weil sie gut eingeübt sind und darum keine besondere Aufmerksamkeit, kein Erwecken des Be^^^ßt- seins nötig machen; aber ofienbar ist jeder einzelne Schritt eine Handlung, ein Willensakt der sogenannten Freiheit, also eine psychologische Tätigkeit. Der Weg ist ein Abstractum, wie gesagt, der Schritt ist schon wirklicher, und der Schritt ist doch psychologisch. Der Lautwandel ist ein Abstraktum, jedes einzelne Aussprechen eines ai anstatt a ist schon wirklich und ist psychologisch. Die psychologische Analogie, aimes und amez durch Verwandlung des zweiten a in ein ai einander

Mauthner, Beitrag»' zu i'iiur Kritik iler Spraclie. II i

98 II- Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

ähnlicher zu machen, ist ein psychologischer Zwang, das heißt kein unbedingter Zwang. Werden die Worte sehr häufig gebraucht, so werden auch unähnliche als zusammengehörig eingeübt wie z. B. „ich bin" und „wir sind". Mehr als ein solcher psychologischer das heißt nicht unbedingter Zwang konnte auch nie und nirgends den physiologischen Laut- gesetzen zugrunde liegen.

Ich glaube, daß sowohl den physiologischen Lautgesetzen als ihren psychologischen Störungen durch falsche Analogie dieselbe Erscheinung zugrunde liegt, die bei gewissen Ge- dankenassoziationen zum einfachen Versprechen führt. Ich lebte dreißig Jahre in Berlin, und doch konnte es mir bis zum letzten Tage passieren, daß ich statt Berlin „Prag" sagte, wenn ich von dem Wohnorte sprechen wollte; es konnte mir ferner passieren, daß ich anstatt Berlin „Wien" sagte, wenn ich die Reichshauptstadt im Sinne hatte und mit dem Begriff Hauptstadt aus alter Gewohnheit Wien assoziierte. Es kommt vor, daß solche Namensübertragungen bleiben, wenn nicht ein einzelner, sondern ein ganzes Volk in eine neue Heimat gelangt. Dieses Versprechen, dieser Sprachfehler muß jeder Lautveränderung nahe verwandt sein; man verspricht sich so lange und so allgemein, bis der Sprachfehler zum Sprach- gebrauch ward. Und das ist doch gewiß psychologisch.

In die Kämpfe der Junggrammatiker spielt noch etwas anderes hinein, was helfen kann, den Gegensatz zwischen dem physiologischen und dem psychologischen Moment auf- zuklären. Wir haben gesehen, daß physiologisch diejenigen Veränderungen genannt werden, von deren Gründen wir gar nichts wissen, psychologisch diejenigen Veränderungen, von deren Gründen wir etwas ahnen. Nun ist es kein Zufall, wenn gerade ein klassischer Philologe, wie der verdienstvolle Georg Curtius, von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze nichts wissen will und sich resigniert, be«?pnders in seinem Spezial- fach das Vorkommen von Ausm uefällen und Ausnahme- gruppen festzustellen. Seine Geg-^er haben vielleicht ganz recht, wenn sie solch einen sporadischen Fall gern durch Analogiebildung erklären möchten, nur daß jeder eine andere

Physiologie oder Psychologie 99

* Erklärung hat, daß sie also von dem eigentlichen Grunde nichts wissen. Das sprachgeschichtliche Material ist einfach für die ältere Zeit nicht reich genug. Es gibt freilich auch im Griechischen Analogiebildungen, die ganz genau den zum Sprachgebrauch gewordenen Fehlern im Deutschen ent- sprechen. Wir bilden in Liebesgram, Geburtstag usw. von den weibUchen Worten Liebe und Geburt ganz sprachwidrig Genitive auf s, weil uns dieses s einfach die Funktion irgend- einer Zusammensetzung auszuüben scheint; genau ebenso wird im Griechischen (und dieser Gebrauch ist auf unsere wissen- schaftlichen Ausdrücke übergegangen) von Worten, die nie ein o am Ende besaßen, eine Zusammensetzung mit o gebildet. Nach dem Vorbild von Aristo-kratie wird Timo-kratie gebildet, trotzdem das Grundwort Time heißt ; ebenso wird der Mutter- möder (jLr|Tpo-XTovo!; genannt , was einem deutschen „Mutters- mörder" entsprechen würde. Und wir besäßen wahrscheinlich diese Form, wenn es zufällig auch „Vatersmörder" hieße. Doch im älteren Griechisch, das den Sprachvergleicher zunächst beschäftigt, liegen so klare neue und falsche Bildungen nicht vor. Je mehr wir uns der Gegenwart nähern, desto besser können wir Übergänge feststellen und selbst den Übergang vom Sprachfehler zum neuen Sprachgebrauch beobachten. Auf die Neigung der gegenwärtigen deutschen Sprache, die sogenannte starke Konjugation durch die schwache zu ersetzen, ist auch von mir schon oft hingewiesen worden. „Bellte, backte" ist so sehr Sprachgebrauch geworden, daß die einst richtigen Formen „boll, buk" ungelehrten Leuten bereits als Sprachfehler erscheinen müssen. Bei „fragte und frug" (wo übrigens die schwache Form die ältere ist; Luther kennt noch kein „frug", dem das häßliche „fragt" folgte) schwankt der Sprachgebrauch noch. AVieder in anderen Fällen scheint es, als ob die künftige Form im Werden begrifien sei ; „gewunken" anstatt gewinkt erscheint ans fehlerhaft, aber wer weiß wie lange noch? „Geschumpf^.n" anstatt geschimpft erscheint uns kindisch oder scherzhaft, „ich trinkte" gehört völhg der Kindersprache an. Und dennoch sind uns diese Fehler oder Versprechungen schon so vertraut, daß sie eines Tages recht

100 II- Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

gut Sprachgebrauch werden können. Wir hätten dann den ganzen Weg der psychologischen Analogiebildung verfolgt, wie es für die Erscheinungen alter Lautgesetze niemals möglich wäre. Nun ist aber gar nicht ausgeschlossen, daß nach Jahren oder Jahrhunderten, wenn die Uniformierung des deutschen Zeitwortes vollendet wäre, und wenn dann die Zeugnisse der Zwischenstufen vernichtet wären, Übereinstimmungen vor- handen sein könnten, die der Nachwelt nur noch als Lautgesetze erschienen. Es ist also ganz wohl möglich, daß die Erschei- nungen, welche wir für alte und für vorhistorische Zeiten Lautgesetze nennen, und die Erscheinungen, welche wir im gegenwärtigen Sprachleben so gut als Analogiebildungen beobachten können, nicht nur beide der gleichen psychologi- schen Art, sondern beide überhaupt derselben Art sind. Nennen wir doch auch die kleineren Veränderungen, welche wir an unseren gezüchteten Haustieren wahrnehmen, Kenn- zeichen von Varietäten, während wir ebensolche Verände- rungen aus alter Zeit, deren Übergangsform wir nicht kennen, für Kennzeichen fester Arten ausgeben.

Unter dieser Annahme gewinnt der von den Junggramma- tikern verkündete Gegensatz zwischen mechanisch physio- logischen, ausnahmslosen Lautgesetzen und ihren psycho- logischen und darum unkontrollierbaren Durchkreuzungen eine ganz veränderte Bedeutung; wir erblicken in den un- regelmäßigen Analogiebildungen eine wenig formelhafte aber sichtbare Tätigkeit, wie den Ausbruch eines unterirdischen Vulkans, während die formelhaften und starren Lautgesetze wie die toten Schlacken solcher Ausbrüche erscheinen. Und wir erinnern uns, daß Georg Curtius die skeptische Bemerkung gemacht hat, es habe die junge Schule nur eine neue Hypo- these an die Stelle der alten gesetzt. Er hatte vollkommen recht. Wollten die Junggrammatiker wirklich erklären, anstatt sich mit dem Anblick der toten Schlacken zu be- gnügen, so müßten sie immer wieder jede einzelne Lavaschicht durch ältere und immer ältere Ausbrüche des unterirdischen Vulkans nach Lage, Stärke usw. begründen. So hat z. B. die Curtius- Generation der Sprachvergleichung, von der Be-

Psychologische Handlung 101

schäftigung mit dem Sanskrit verführt, gern angenommen, es habe die legendäre indoeuropäische Ursprache nur den Vokal a gekannt, wo die sogenannten Tochtersprachen die Vokale a, 6 und o besitzen. Die Junggrammatiker nehmen die Vokale a, e und o schon für die älteste Zeit an. Was heißt ihnen aber „die älteste Zeit"? Es bleibt ihnen ja doch nichts übrig, als nach ihren eigenen Lautgesetzen dahinter eine urälteste Zeit anzunehmen, in welcher doch wieder a, e und o durch a allein vertreten waren. Zur Ruhe bringen, befriedigen kann also auch keine Hypothese der Junggrammatiker, weil ihr Fragen nicht zur Ruhe kommen kann.

Psychologische Arbeit, Gedächtniswerk sind sowohl die Psycho-

. . . lo^'isclic

konservativen Lautgesetze als die fortschrittlichen Analogie- Handlung bildungen. Bei den Lautgesetzen scheint uns, den Rück- schauenden, das Gedächtnis nur Ererbtes bequem fest zu halten; bei den Analogiebildungen sehen wir deutlicher, daß das Gedächtnis es sich langsam bequemer macht, um fort- schreitendes Wissen in bequemerer Form konservieren zu können. In der Bezeichnung „Gedächtniswerk" liegt zweierlei: erstens, daß jedes ausgesprochene Wort und nur das aus- gesprochene Wort ist verhältnismäßig wirklich, kann wirklich verändert sein, während die Veränderung an sich nie und nirgends in der Wirklichkeit zu finden ist eine psycho- logische Handlung ist, und zweitens, daß sie eine psycho- logische Handlung ist, das heißt, daß es mit allen großen und kleinen und mikroskopischen Unterschieden gegen seine letzte Aussprache im Augenblicke des Sprechens erst ge- schaffen wird. Es ist ein Verdienst der Junggrammatiker, diesen Gedanken Wilhelms von Humboldt deutlicher gemacht und durch Beobachtung der lebendigen Sprache bereichert zu haben. Wenn ich z. B. einmal des Morgens dazu käme, ärgerlich zu meinen beiden Hunden zu sagen : „Ihr belltet mich ja an, als ich um Mitternacht die Haustür aufschloß!" so hätte ich wahrscheinlich ein Wort ausgesprochen, das ich vorher noch nie gebildet und noch nie gehört hatte, nämlich die zweite Person der Mehrzahl vom Imperfekt des Wortes bellen. Die Gelegenheit „ihr belltet" zu sagen ist selten. Ich

102 I^- Z"'" Geschichte der Sprachwissenschaft

habe wahrscheinlich nie eine andere Form benutzt als „bellen", „er bellt" und ähnliche. Will ich nun die Kategorien, die sich in der zweiten Person der Mehrzahl vom Imperfekt ver- einigen, mit allen Bequemlichkeiten der Sprache kurz aus- drücken, so bilde ich fast unbewußt eine Analogie. Es ist zufällig eine falsche Analogie, weil doch der richtige Sprach- gebrauch früher „er boll" lautete. Ich sage aber „er bellte" und trage damit ein winziges Teilchen zur Einübung der neuen Form bei. Ich bilde ferner ebenso unbewußt die zweite Person der Mehrzahl durch die wohlbekannte Endung „tet". Man könnte das richtige Analogiebildung nennen. Jedenfalls ist es schulmeisterlich, mein „belltet" nur in Verbindung mit sämt- lichen anderen Konjugationsformen des Wortes bellen zu- sammenzudenken. Ich habe „belltet" als ein neues Wort neu geschaffen. Nicht nur außerhalb meines Bewußtseins, sondern auch außerhalb der lebendigen Sprache ist es, daß in alten Zeiten der Wortstamm (englisch: to bell) eine weitere Be- deutung hatte und auch „schreien, tönen" umfaßte ; außerhalb meines Bewußtseins und außerhalb des Sprachlebens ist es, daß das b vielleicht durch psychologische Tätigkeit, die man jetzt Lautgesetze nennen will, aus bh (im Sanskrit heißt bellen bhas, reden bhäs) entstanden ist, wenn nicht umgekehrt. Und wer weiß, ob ich nicht in meiner tonlosen Aussprache der Endsilbe tet einen unendlich kleinen Teil zu der Übung beitrage, die heutzutage alle Welt die Endsilbe tet tonlos aussprechen läßt? Wer weiß, ob nicht einmal die zweite Person der Mehrzahl vom Imperfekt, ähnlich wie im Englischen, einfach „ihr bellte" oder „ihr bellt" lauten wird? Dann hätte ich jedesmal bei der Aussprache das heißt bei der Schöpfung eines analogen Wortes durch die psychologische Tat der Tonabschwächung eine winzige Handlung vollführt, die in der AViederholung durch die Millionen von Landsleuten zu einem Formwandel führt, welcher nachher unter ein Lautgesetz subsumiert werden wird.

Wären die Lautgesetze nicht ebenso psychologischer Natur wie ihre Durchkreuzungen, so könnten sie allerdings blind und dumm in der Sprache walten, innerlich verwandte Formen

gram- matiker

Psychologische Handlung 103

trennen und fremde annähern. Es geschieht das wohl mit- unter durch die Volksetymologie, die aber doch ein psycho- logischer Faktor ist. Wenn aber die Junggrammatiker lehren, daß die verheerende Wirkung der mechanischen Lautgesetze durch die sinnvollere Analogie aufgehalten werde, so scheinen sie mir die Entstehung der Sprachformen auf den Kopf zu stellen; eben weil damals, als die sogenannten Lautgesetze erstarrten, einzig und allein psychologische Vorgänge vor- handen waren, darum mußten von selber die angeblichen Ausnahmen entstehen, die man nun von außen her durch analogische Hemmungen erklärt. Auch die flüssige Lava strömt nur bergab, nur auf den Wegen, die die Natur ihr weist.

Dabei soll nicht geleugnet werden, daß die Junggramma- jun tiker das vorhandene Sprachmaterial weit sorgsamer be- obachtet haben als alle ihre Vorgänger, was übrigens der selbstverständliche historische Gang ist. Ihr Fanatismus für ihren obersten Grundsatz der Ausnahmslosigkeit hat sie zu vielen hübschen und neuen Beobachtungen geführt. Sie geben zu, daß ihr Satz nicht zu beweisen ist; aber sie suchen von seiner Wahrheit dadurch zu überzeugen, daß sie möglichst viele von den hergebrachten Ausnahmefällen gruppieren und die neuen Gruppen mit neuen Namen zu besonderen Gesetzchen machen. Das ist eine sehr reizvolle und geistreiche Be- schäftigung. Sie haben darauf aufmerksam gemacht, daß Konsequenz in der Aussprache vorhanden sei, wo die Schreib- weise inkonsequent ist, wie sie nicht nur an gelehrten Beispielen, sondern auch an unserem „das" und „daß", „man" und „Mann" zeigen. Sie haben die Wirkung einander kreuzender Laut- gesetze nachgewiesen. Sie haben die immer noch phantasti- schen Etymologien aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts strenge gesichtet. Aber es ist ein Irrtum, wenn sie glauben, die Grundfrage: „Wie ist die Sprache entstanden, die wir reden?" besser beantwortet zu haben als ihre Vorgänger. Ja, es verbirgt sich hinter der gelehrten Arbeit dieser Schule ein Alexandrinismus, der trotz vieler klarer Einsichten wie Handwerk erscheint gegenüber der kühneren Arbeit von Humboldt und auch von Steinthal. Wahrhaftier nicht %iel

104 II. Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

besser als eine Fabriksordnung klingt, was Brugmann in der akademischen Antrittsvorlesung „Sprachwissenschaft und Philologie" zum besten gibt. Es sei angemessen und nützlich, daß eine Gruppe von Philologen sich ausschließlich dem Studium der indogermanischen Sprachen widme. Arbeits- teilung sei nötig, weil eine vollständige Kenntnis der bis jetzt gewonnenen Resultate von selten eines einzelnen nur ein Idealbild sei. Seitenlang wird darüber gesprochen, daß sich die Indogermanisten doch auch Philologen nennen dürfen. Brugmann bemerkt fein, daß es sich schlecht mit dem Wesen der Wissenschaft verträgt, wenn ein Spezialist beim anderen Arbeit bestellt, ohne sie selbst auf ihren Wert und ihre Zu- verlässigkeit prüfen zu können; er ahnt also wohl den Fehler unseres wissenschaftlichen Betriebes, wo nicht nur hier und da durch nichtswürdige Kameraderie, sondern auch überall bona fide durch die herrschende Arbeitsteilung eine Assekuranz auf Gegenseitigkeit zu finden ist. Er ahnt die Gefahr, aber dennoch verteilt er die Geschäfte wie ein tüchtiger Zwischen- meister an die Detailarbeiter. Er ist kein Sprachphilosoph, weil er ein Spezialist ist. Er wendet die letzten Grundsätze nicht an, die sich ihm bei größerer Unbefangenheit ergeben müßten. Er ist dicht daran zu begreifen, daß alle die Gesetze, die wir in den alten und neuen Sprachen nachweisen, nur in den Köpfen der Sprachforscher stecken, aber nicht in den . Sprachen selbst ; aber dieses Begreifen ist in ihm nicht lebendig geworden. Er erkennt aus Bosheit, daß von den älteren Philologen die methodischen Grundsätze aus einer konstruierten Ursprache geschöpft wurden, zu der sie doch wieder erst durch Anwendimg eben dieser Grundsätze gekommen waren. Aber er sagt es nicht ausdrücklich, daß die gesamte Sprachwissen- schaft sich in einer ähnlichen Lage befindet, daß sie nämlich Prinzipien aus Sprachgesetzen herleitet, zu deren Aufstellung sie durch ihre Prinzipien geführt worden ist. Die seit einigen Jahren verfaßten und lesenswerten Bücher, welche sich selbst „Prinzipien der Sprachgeschichte" oder ähnlich nennen, haben darum auch einen recht unklaren Titel; ich gestehe wenig- stens, daß ich niemals weiß, ob mit den „Prinzipien" die

Johannes Schmidt 105

allcemeinsten und nicht erst zu beweisenden Grundsätze der methodischen Forschung oder umgekehrt die letzten und darum wieder allgemeinsten Ergebnisse dieser Forschung gemeint sein sollen.

*

Etwas abseits von den eigentlichen Junggrammatikern Johannes hielt sich mit skeptischer Vorsicht und vorsichtiger Skepsis ™* * der kritische Joharmes Schmidt. Ich kann seiner Gelehr- samkeit kaum folgen, geschweige denn sie kontrollieren. Es liegt aber eine überzeugende Kraft in seinem ruhigen Häufen von Einzelbeweisen. Seine kleine Schrift über „Die Verwandtschaftsverhältnisse der indogermanischen Sprachen" wirkte in dem engen Kreise, der sich die Erforschung der Ursprache, Urheimat usw. zur Lebensaufgabe gesetzt hatte, wie eine Katastrophe. Johannes Schmidt war der skeptische Geist unter den Junggrammatikern und darum ihr Geist überhaupt. Aber auch er war zu sehr von der Zunft, um skeptisch genug zu sein. Er sagt einmal: „Zwischen den bekannten Lautgesetzen und der falschen Analogie gibt es noch ein Drittes, auf dessen Eingreifen man überall gefaßt sein muß, nämlich unbekannte Lautgesetze." Und die ge- scheiteren Junggrammatiker stimmen ihm bei. Fühlt denn niemand von ihnen, welch eine Selbsttäuschung darin liegt, weim man von unbekannten Gesetzen redet? Nennt man doch in der Sprachwissenschaft so voreilig und so gefällig jede Gruppe von ähnlichen Erscheinungen schnell ein Gesetz; der Erklärung für die Erscheinungen bedarf es ja nicht. Was kann also der Begriff eines unbekannten Gesetzes anderes besagen, als daß man nicht einmal die Gruppe ähnlicher Er- scheinungen beisammen habe, die man zusammenfassen will. Denn hätte man sie nur äußerlich beisammen, so würde man auch schon von einem bekannten Gesetze sprechen. Der Skeptiker Johannes Schmidt hat bei diesen Worten den Mut des Nichtwissens nicht gehabt. Er wollte doch wohl nur sagen: Es gibt in der Sprache unaufgeklärte Erscheinungen, von denen wir jedoch annehmen, daß sie ihre Gründe haben.

106 II- Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

Dann hätte er das allgemein gültige Wort aller Skepsis aus- gesprochen. Die Sprache wie alle andere Wirklichkeitswelt ist eine unaufgeklärte Erscheinung, von der wir annehmen und hoffen, daß sie ihre Gründe haben werde.

Die Kritik, welche Johannes Schmidt bereits in dem Büchlein „Die Verwandtschaftsverhältnisse der indogermani- schen Sprachen" (1872) an der offiziellen Sprachwissenschaft geübt hat, ist viel einschneidender, als die Wissenschaft zugesteht und als dieser Gelehrte selbst deutlich verrät. Wer vermag zu sagen, ob es große Vorsicht ist oder der ehrliche Zweifel an der Berechtigung der eigenen Skepsis, was Johannes Schmidt hinderte, seine Bedenken zu Ende zu denken?

Er fand den festen Glauben vor an die wissenschaftlich erwiesene Existenz eines Stammbaums der indoeuropäischen Sprachen. Im einzelnen bewies er nun, daß es vollkommen unwissenschaftlich war, einen so bestimmten Stammbaum aufzustellen. „Wir müssen die Idee des Stammbaums gänzlich aufgeben." Fast gegen jede der allgemein angenommenen Gruppen hatte er Gegenbeweise erbracht; nicht nur die nord- europäische, die graeco-italische, die italisch-keltische Gruppe erwiesen sich als unzuverlässig, selbst die große europäische Gruppe wurde zu einem Phantom. In der Vorrede nennt er den „gegenwärtig als gültig anerkannten Stammbaum" nur „unsicher". Dann aber setzt er (ohne es so ausdrücklich zu sagen) die Wirkung von Tatsachen, von geographischen Tatsachen, an die Stelle von Sprachgesetzen und gelangt (S. 24) zu dem Spruche: „Daß es keine gemeinsame euro- päische Grundsprache gegeben hat, bewies uns schon das Slawische ; jetzt sind auch die südeuropäische und die graeco- italische Grundsprache unhaltbar geworden, und wir sehen überall nur stufenweisen, kontinuierlichen Übergang von Asien nach Europa."

Viel schüchterner ist Johannes Schmidt gegenüber der indo- germanischen Ursprache. „Die Ursprache (S. 31) bleibt b i s auf weiteres, wenn wir sie als Ganzes be- trachten, eine wissenschaftliche Fiktion." Er wagt

Johannes Schmidt X07

es nicht, seinen Kollegen die Kollegienhefte unbrauchbar zu machen, „Bis auf weiteres"; die winzigen Bereicherungen der Forschung sollen die Fiktion zur Wirklichkeit machen. „Als Ganzes betrachtet"; die indogermanische Ursprache ist also Fiktion, aber einzelne Urworte werden nicht ver- schmäht. So vergißt sich Joh. Schmidt weit genug, um den Satz zu wagen (S. 29): „Daß eine einheitliche indogermanische Ursprache einmal vorhanden gewesen sei, ist höchst wahr- scheinlich, ja ganz sicher, wenn sich erweisen läßt, daß das Menschengeschlecht von einigen wenigen Individuen seinen Anfang genommen hat;"

Nun ist doch der Wert eines ganzen Stammbaums sofort auf eine Null heruntergesunken, wenn auch nur ein einziges der älteren Glieder herausgebrochen wird. Johannes Schmidt befand sich in der Lage eines Mannes, der Kritik geübt hat am Stammbaum einer vornehmen Familie. Die Familie hat zu einer Zeit, wo man sich nichts Arges dachte bei solchen genealogischen Märchen, ihre Herkunft von einem sogenannten Gelehrten bis auf Herkules zurückführen lassen und so auch auf Zeus, den Vater der Götter und Menschen. Nun kommt der besonnene Kritiker und weist nach, daß da und dort die Abstammung Lücken aufweise. Anstatt zu sagen: Herkules hat niemals gelebt, die Zurückführung der Familie auf ihn wäre ein Trug, selbst wenn Scheinbeweise für alle Zwischen- glieder vorhanden wären; anstatt dessen sagt er bescheident- lich: Die Beweise für die Abstammungsglieder sind nicht so zwingend, daß man aus ihnen zu einer Gewißheit vom Leben des Herkules gelangen könnte.

Der Herkules ist in unserem Falle die legendäre indo- sprach- europäische Ursprache. Joharmes Schmidt äußert seine ^•^•'^»"dt- Zweifel an den Ergebnissen des bisherigen Bemühens, diese Ursprache zu rekonstruieren. Aber er vergißt daran zu denken, daß jedem solchen Versuch eine Klarlegung des Begriffs der Sprachverwandtschaft vorausgehen müsse. Nun scheint mir, daß man die Tatsachen der Verwandtschaft von unserer Kenntnis dieser Tatsachen nicht genügend geschieden habe. Es kann wohl vorkommen, daß man weiß, der oder jener sei

108 II. Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

mit einem irgendwie verwandt, ohne den Stammbaum dieser Verwandtschaft zu kemien; aber abgesehen von unserem Wissen, der Sache nach, kann es keine derartige unbestimmte Verwandtschaft geben. In der AVirklichkeit ist entweder eine bestimmte Abstammung vorhanden oder es liegt gar keine Verwandtschaft vor. Und diese Frage, ob nämlich gewiß Verwandtschaft vorliege zwischen den einzelnen indoeuropäi- schen Sprachen, diese Frage wagt Johannes Schmidt gar nicht zu stellen, da er wie alle anderen von der unsterblichen Tat Bopps, das heißt von der Aufstellung des indoeuropäischen Sprachstammes ausgeht. Und doch findet sich bei Johannes Schmidt ein Satz, der wenn man ihn immer im Auge be- hielte — jede Gewißheit über irgendwelche Verwandtschaft zweier indoeuropäischer Sprachen aufheben müßte. Es handelt sich um das Vorkommen der Lehnworte. Lehnworte sind bekanntlich solche Fremdworte, deren ferne Herkunft vom Sprachgefühl nicht mehr empfunden wird. Wir hören z. B. aus „Advokat" noch deutlich das lateinische Wort advocatus heraus; wir hören dasselbe advocatus aus seiner älteren ins Deutsche übergegangenen Form Vogt nicht mehr heraus. So mögen wir Advokat ein Fremdwort, Vogt ein Lehnwort nennen. Es ist selbstverständlich, daß eine noch so große Zahl von Lehnworten nichts für die Verwandtschaft der Völker und ihrer Sprache beweist. Nun sagt Johannes Schmidt, daß es „bis jetzt" noch unmöglich sei, „die ältesten vor- historischen Entlehnungen zwischen zwei nahverwandten Sprachen von den urverwandten Worten scharf zu scheiden" ; er fügt ganz richtig hinzu, daß man wohl unter gewissen Umständen zur Annahme einer Entlehnung hinneigen k ö n n e, daß aber der Beweis für die Urverwandtschaft niemals zu erbringen sei. Das „bis jetzt" halte ich bloß für eine stilistische Verzierung, da kaum anzunehmen sein dürfte, daß auf diesem Gebiete die Sicherheit wachsen wird. Aber der Satz ist in der Form, in der er uns entgegentritt, bezeichnend für Schmidts Abhängigkeit von der populären Lehre. Man sollte doch denken, daß die Urverwandtschaft zweier Sprachen fraglich werde, wenn jede Entsprechung zweier ähnlicher

Sprachverwandtschaft 109

Worte ebenso gut Entlehnung wie Verwandtschaft sein könne; denn Verwandtschaft zweier Worte muß in Wirldichkeit eine bestimmte Verwandtschaft sein. Werm man nun ent- lehnte und verwandte Worte in zwei Sprachen niemals mit Sicherheit unterscheiden kann (und das gilt durchaus für die vorhistorische Zeit), so hat es keinen Sinn, die beiden verglichenen Sprachen dennoch verwandt zu nennen. Das aber tut Johannes Schmidt, wenn er in einem Atem die Sprachen für verwandt erklärt, an der Verwandtschaft der einzelnen Worte aber zweifelt. Das heißt doch ganz gewiß die Sache auf den Kopf stellen und von einer Abstraktion anstatt von der Wirklichkeit ausgehen. Wenn man sagt, zwei Familien seien miteinander verwandt, so ist das doch inmier nur ein kurzer Ausdruck für die Tatsache, daß zwischen den einzelnen Menschen der beiden Familien Blutsverwandt- schaft bestehe, und auch die nicht allgemein, sondern höchst bestimmt. Nach dem Satze von Schmidt müßte man jedoch auch sagen können: man wisse nicht, ob die einzelnen Mit- glieder zweier nahverwandter Familien miteinander verwandt wären. Es wäre vielleicht mehr als ein Scherz, wenn man die Beziehungen der Worte, welche durch Entlehnung zu- sammenhängen, eine Art von Verschwägerung nennen würde. Die Chancen einer sicheren Aufstellung; von Verwandt- Schaftsgraden liegen demnach so ungünstig darum, weil (geht man von einer Sprache aus) die Entlehnung eines Wortes aus einer anderen Sprache mitunter überzeugend nach- gewiesen werden kann, die Verwandtschaft mit einem Worte der anderen Sprache jedoch eigentlich niemals. Genau ge- nommen — und ich bitte auf diesen Punkt zu achten ist der Fehler Schmidts, wenn er zu gleicher Zeit nahe Ver- wandtschaft der Sprachen voraussetzt und an der Verwandt- schaft jedes einzelnen Wortpaares zweifelt, doch nur der Grundfehler der gesamten Sprachvergleichung. Es ist nicht anders : es wird regelmäßig die Verwandtschaft zweier Sprachen nach oberflächlicher Vergleichung angenommen, provisorisch, gewissermaßen vorwissenschaftlich; nachher wird diese Ver- wandtschaft durch wissenschaftliche Wortverdeichung er-

110 II. Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

wiesen, aber diese Vergleichung hat immer schon die Ver- wandtschaft zur Voraussetzung. Wäre diese Voraussetzung nicht vorhanden, die die Wissenschaft seit hundert Jahren beherrscht, so dürfte man ohne besondere Nachweise in keinem einzigen Falle von Verwandtschaft reden. Es sind doch die Sprachen erst dann verwandt zu nennen, wenn die Hauptmasse ihrer Worte verwandt ist; die Sprachwissenschaft jedoch geht davon aus, daß die Abstraktionen, die Sprachen verwandt seien, vor den Worten, außer den Worten. Die Legende von der Abstammung der Völker bildet den Hintergrund.

Schmidt ist im einzelnen äußerst scharfsinnig. Er macht einmal (S. 35) die Bemerkung, daß die als solche noch nicht erkannten Lehnwörter wahrscheinlich häufiger versteckt sind in den entsprechenden Wörterverzeichnissen der nahverwandten Sprachen als in denen der entfernt verwandten; ich glaube aber, daß man deutlicher die Unsicherheit auf diesem Gebiete nicht verraten kann, als durch den Satz, hinter der Nähe der Verwandtschaft verberge sich eine Fülle von Lehnworten.

An einer anderen Stelle bemerkt Schmidt ausdrücklich, daß z. B. die graeco-italischen Sprachen nur gemeinsame Eigentümlichkeiten haben, daß aber dieser Kollektivbezeich- nung („graeco-italische Sprachen") keine nachweisbar histo- rische Realität zukomme, daß die Existenz einer gemeinsamen Grundsprache nicht erwiesen sei. Auch bei dieser Frage scheint es mir deutlich, daß Schmidt in einem Falle besonders naher Verwandtschaft von der Art der Verwandtschaft keine Vorstellung habe und dennoch, auf bloße Ähnlichkeiten hin, weiter von Verwandtschaft darauf los rede. Auch ihm fällt es nicht ein, den Begriff der Sprachverwandtschaft erst einmal vorurteilslos zu untersuchen, bevor er ihn anwendet. Schieiciifci- Es ist darum nicht wunderbar, daß eine ausreichende Definition des Begriffes der Sprachverwandtschaft auch bei minder modernen und minder skeptischen Forschern als Schmidt nicht zu finden ist. Ich habe mich wenigstens ver- gebens nach einer wissenschaftlich brauchbaren Definition um- gesehen. Diejenige, welche in ihrer hilflosen Formulierung die Tatsachen am besten wiederctibt und für die Praxis der

Schleicher 111

Sprachvergleicher auszureichen scheint, steht bei Schleicher (Die deutsche Sprache S. 26) : „Wenn zwei oder mehr Sprachen so stark übereinstimmende Laute zum Ausdruck der Be- deutung und Beziehung verwenden, daß der Gedanke an zufälliges Zusammentreffen durchaus unstatthaft erscheint, und wenn ferner die Übereinstimmungen sich so durch die ganze Sprache hindurch ziehen und überhaupt derart sind, daß sie sich unmöglich durch die Annahme einer Ent- lehnung von Worten erklären lassen, so müssen die in solcher Weise übereinstimmenden Sprachen von einer gemeinsamen Grundsprache abstammen, sie müssen verwandt sein." Sieht man sich diesen Definitionsversuch genauer an, so bemerkt man, daß Schleicher doch nicht sehr weit über den Begriff der Ähnlichkeit hinausgelangt. Wenn zwei Sprachen einander so ähnlich sind, daß die Annahme eines Zufalls „unstatthaft", das heißt wohl unwahrscheinlich, daß die Annahme einer Entlehnung „unmöglich", das heißt wohl wieder unwahr- scheinlich ist, dann nennt Schleicher diese Ähnlichkeit Verwandtschaft. Und wir alle stehen mit ihm so sehr unter dem Banne der sprach vergleichenden Disziplin, daß wir bis zur Stunde glauben, die Verwandtschaft von Sprachen sei uns ein klarer Begriff. Offenbar aber wird der Begriff der Verwandtschaft nur bildlich auf das Verhältnis der ,ver- Sprachen untereinander angewendet. Diese letzte Bemerkung ist so einfach und unschuldig, daß ihr kritischer Wert für die vergleichende Sprachwissenschaft nicht gleich in die Augen fällt. Ich muß darum etwas pedantisch werden. Im Fran- zösischen fällt die Bezeichnung parent so deutlich mit dem lateinischen parens (der oder die Erzeugende, Gebärende) zusammen, daß der wahre Sinn der Verwandtschaft auf der Hand liegt. Parents sind einzig und allein diejenigen lebendigen Wesen, die durch einen Alct der Zeugung miteinander zu- sammenhängen. Unser deutsches „verwandt" ist glücklicher- weise ebenso gebildet. Es ist das Partizip zu dem mittel- hochdeutschen „verwenden" in der seltenen Bedeutung von „verheiraten". Früher war im Deutschen das Wort Sippe oder Sippschaft häufiger, welches nichts als Blutverwandt-

wandt"

112 11- Zur .Geschichte der Sprachwissenschaft

Schaft bedeutete. Es braucht nicht besonders darauf hin- gewiesen zu werden, daß in jedem Stammbaum einer Familie der Zusammenhang ebenfalls nur durch Akte der Zeugung herzustellen ist, wobei üblicherweise außer acht gelassen wird, daß bei der Abstammung der Menschen, wie bei allen höheren Tieren, zwei parentes nötig sind, daß der verwandte Teil sich mit einem unverwandten verbinden konnte; es braucht auch nicht darauf hingewiesen zu werden, daß die Stammbäume, wie sie von den Schülern Darwins für das Tierreich aufgestellt worden sind, einzig und allein auf Akten der Zeugung beruhen. Es wird also der Begriff der Verwandtschaft von mensch- lichen Familien ganz gut auf die angenommenen Stamm- bäume der Darwinisten übertragen. Ganz schief aber ist die bildliche Übertragung desselben Begriffs auf das Verhältnis der Sprachen. Und gerade Schleicher, der Darwins Theorie zuerst auf die Sprachwissenschaft anwandte, hätte den Begriff der Sprachverwandtschaft, der bis dahin von den Sprach- vergleichern naiv gebraucht worden war, als einen meta- phorischen erkennen müssen. Denn er hat in seinem Send- schreiben an Ernst Häckel („Die darwinische Theorie und die Sprachwissenschaft") einmal vorsichtig darauf hingewiesen, daß die bezüglichen Ausdrücke, deren sich die Sprachforscher bedienen, von denen der Naturforscher abweichen. Er brauchte nur einen Schritt weiter zu tun, um zu bemerken, daß der Begriff der Blutsverwandtschaft auf die Sprachsippe keine Anwendung finde. Er bemerkt es jedoch nicht und hilft sich weiter mit metaphorischen Redewendungen, denen ein gutes Sprachgefühl die Verlegenheit ansehen müßte. In einem einzigen Satze spricht er zuerst von den aus dem Lateinischen „hervorgegangenen" romanischen Sprachen und sodann von den aus dem Sanskrit „gewordenen" neueren indischen Sprachen. Er hätte es nur wagen sollen, anstatt hervor- gegangen und geworden „gezeugt" zu setzen, und die Wahr- heit hätte ihm nicht verborgen bleiben können.

Die Wahrheit ist, daß der Begriff der Verwandtschaft nur bildlich auf die Sprachen anwendbar ist. Und diese Wahrheit scheint mir wichtiger, als ihre unscheinbare Form vermuten

Verwandtschaft 1 1 ;]

läßt. Es ist keine Zeugung, welche die Verbindung zwischen «iner jüngeren und einer älteren Sprache herstellt; das ist selbstverständlich. Es gibt aber auch kein sprachliches organisches Wesen, welches mit einem anderen vorher- gegangenen organischen Wesen in Verbindung zu setzen wäre. Es sind immer nur Worte, welche mit früheren Worten Ähnlich- keiten haben, Bewegungen also, welche mit früher üblichen Bewegungen Ähnlichkeiten haben. Die Metapher, welche den BegrifE der Verwandtschaft auf die Sprachen anwendet, wird also immer unverständlicher. Die ganz unklare Vorstellung, daß die Sprachen, wenn sie schon nicht durch die zwei- geschlechtliche Zeugung der höheren Tiere entstanden sind, doch in ähnlicher Weise auseinander hervorgehen wie etwa die Protozoen durch Teilung, Sprossung usw., auch diese unvorstellbare Vergleichung muß fallen gelassen werden. Denn auch bei den Protozoen liegt ausgesprochene Zeugung vor, eine Vererbung, gegen welche die verändernde Anpassung nur eine bescheidene Rolle spielt. Es ist mir wenigstens nichts davon bekannt, daß man Geißelschwärmer, Labyrinthläufer und Radiolarien bloß miteinander zu vermischen brauche, um neue Tierarten zu gewinnen, wie doch ohne Frage Sprachen entstanden sind (Englisch, Neupersisch) und wie ganz gewiß jeden Tag neue Sprachen entstehen können und entstehen. Historische Fakta wie der Einfluß Englands in China haben z. B. Äum sogenannten Pidgin-Englisch geführt (pidgin ver- dorben aus business). Wir können das so ausdrücken, daß die Worte oder Sprachbewegungen sich zwar von Menschen auf Menschen übertragen, nicht durch Fortpflanzung, sondern durch Nachahmung, und daß eine konservative Tendenz vorhanden ist, daß jedoch neben dieser Tatsache (die man meinetwegen bildlich eine Vererbung nennen mag) das An- passungsvermögen der Sprachen, das heißt die Willkür des Menschen seine Bewegungen zu ändern, unbegrenzt ist. Nur ein Narr könnte den linearen Zusammenhang einer jüngeren Sprache mit ihrer älteren Form leugnen; nur ein Blinder könnte leugnen, daß außer diesem offenbar und historisch sichtbaren linearen Zusammenhang auch seitliche Verknüp-

Miiutliner, Beitrage zu einer Kritik der Sprache. II 8

114 II- Zur Geschichte der Sprachwissenschaft

fungen mit gleichzeitigen Sprachen bestehen. Es sei auch zugegeben, daß alle solche seitlichen Verknüpfungen und Verbindungen schließlich auf die Form von einem linearen Zusammenhange zurückgeführt werden können. Ich be- haupte aber, daß es völlig unzulässig ist, diesen linearen Zusammenhang eine Verwandtschaft zu nennen. Ich glaube auch beobachtet zu haben, daß die Sprachforscher für den historisch nachweisbaren Zusammenhang den Begriff der Verwandtschaft gar nicht anzuwenden lieben. Man sagt nicht gern, die neuhochdeutsche Sprache sei mit der alt- hochdeutschen „verwandt", noch weniger gern, es sei das heutige Französisch mit dem Vulgärlateinischen „verwandt". Man kann da den wirklichen linearen Zusammenhang ziemlich genau verfolgen und fühlt instinktiv, daß der Begriff der Verwandtschaft die Tatsache der Identität (die gleiche wie bei dem jungen imd demselben alten Menschen) mehr verdunkle als erkläre. Erst da, wo die historische Kenntnis aufhört, wo der lineare oder der seithche Zusammenhang unterbrochen ist, erst da wird der Begriff der Verwandtschaft hervorgeholt: das Neuhochdeutsche ist mit dem Gotischen, das Latein mit dem Griechischen verwandt.

Und so komme ich zu der allerdings sehr unbequemen Behauptung, daß bei der unbegrenzten Anpassungsfähig- keit der menschlichen Sprachbewegungen ein Artunterschied zwischen seitlich entlehnten "Worten und linear überkom- menen Worten gar nicht zu statuieren sei, daß da nur ein Gradunterschied sei. Es wäre im 17. Jahrhundert möglich gewesen, daß durch furchtbare politische Ereignisse Deutsch- land vernichtet worden wäre und daß die infame Invasion romanischer Worte in unsere liebe Muttersprache noch weiter um sich gegriffen hätte; dann wäre eine neue romanische Sprache entstanden, für unser Gefühl ekelhaft, objektiv be- trachtet ebenbürtig dem Spanischen und Französischen. Und wenn wir keine schriftsprachlichen Belege für den Zusammen- hang des Spanischen und des Französischen mit dem Lateinischen hätten, so würden wir auch in diesen Sprachen linearen und seitlichen Zusammenhang nicht auseinanderhalten können.

Verwandtschaft 115

Johannes Schmidt war kühn genug zu verlangen, man müsse die Idee des Stammbaums gänzlich aufgeben. Er ver- suchte dafür bald die unklare Wellentheorie zu setzen, bald das etwas bessere Bild von einer schiefen Ebene, auf welcher sich die Sprachen von ihrer ältesten Form bis zur jüngsten herab bewegen und in welcher sie, durch politische, religiöse, soziale Verhältnisse gedrängt, Treppen bilden. So glaubt Schmidt hübsch die Tatsache bildüch auszudrücken, daß die Sprachen trotz Wellentheorie und schiefer Ebene doch nicht allmählich ineinander übergehen, sondern scharf begrenzte Absätze bilden. Es kommt dem überaus verdienstvollen Manne darauf an, zu zeigen, daß die uns erreichbare Grundform einer Lautgruppe immer nur das jeweilige Ergebnis der augen- blicklichen Forschung ist, nur für die Sprachgeschichte von einigem Wert, daß aber die Zusammenstellung solcher Grund- formen zu einer angebHchen Ursprache sinnlos sei. Schon chronologisch schwinde aller Boden unter den Füßen. Damit hat Johannes Schmidt ein Phantom der Sprachwissenschaft vernichtet, das Streben nach Entdeckung der Ursprache; den weiteren Schritt hat er nicht getan, das andere Phantom mit seiner gründlichen Kenntnis völlig aus der Welt zu schaffen, den unhaltbaren Begriff einer Sprachverwandtschaft.

in. Sprachrichtigkeit

In der Schöpfung jeder Schriftsprache liegt grobe Arbeit vor, ein brutales Hinwegschreiten über die wirklich vor- handenen Sprachgewohnheiten der einzelnen. Alle Disziplinen, die sich dann mit einer solchen Schriftsprache befassen, besonders die Grammatik, können keine besseren Ergebnisse haben, als etwa die alte Naturbeschreibung, die sich anstatt an die Natur selbst an die groben Zeichnungen hielt, welche in Wort und Strich aus älterer Zeit vorlagen. So lernt heute noch der schlechtere Student der Medizin den Bau der menschlichen Netzhaut aus der Betrachtung von immer sche- matischen Abbildungen kennen, als ob das Mikroskop für ihn nicht erfunden worden wäre.

116 III. Sprachrichtigkeit

Mikro- Doch nicht allein die rohe Schulgramniatik weiß nichts

slvOuiß

^er von dem wirklichen Leben der Sprache, welches ja nur im Sprache unendlich Kleinen zu finden Aväre, sondern auch die intimere Sprachforschung quält sich immer wieder mit unzulänglichen schematischen Abbildungen. So wie die farbigen genauen Abbildungen eines Auges in einem anatomischen Atlas von heute ungleich mehr enthalten als etwa die Holzschnitte in den Prinzipien des Descartes, aber am Ende doch nur tote Präparate bieten, am Ende doch nur Illustrationen sind zu der Grenze menschlicher Instrumente, so sind die gegen- wärtigen Studien über die Mundarten unserer Hauptsprachen ungleich feiner als die alten Grammatiken, aber bis zur Be- obachtung des Sprachlebens dringen sie nirgends vor. Der aufnehmbaren Masse sowohl wie der Kleinheit des Be- obachtungsmaterials ist eine Grenze gesetzt. Das menschliche Hirn arbeitet oft noch viel präziser als ein Mikroskop, aber es ist und bleibt ein unvollkommenes menschliches Instrument. So wie mundartliche Studien heute betrieben werden, kommt die Erkenntnis, daß es in der Natur nur Individual- sprachen gebe, noch nicht zur Anwendung. Hunderte von kleinen Forschern sammeln Eigenheiten der Abstraktionen, die sie Mundarten nennen. Schwebend und ungenau wird die Mundart irgendeiner Landschaft herausgeschnitten und bewußt oder unbewußt oft übersehen, daß einerseits die Grenzen zu den Nachbarmundarten fließend sind, daß anderseits innerhalb des behandelten Gebiets die minimalsten Abstufungen von Ort zu Ort, von Haus zu Haus, von Mensch zu Mensch zu beob- achten wären. Und an solchen sublimierten Abstraktionen üben dann andere kleine Forscher ihre vergleichenden Künste, wie mittelalterliche Realisten, welche eine Klassifikation der Natur auf die Beschreibungen des Aristoteles aufbauen wollten. Dichter- Dieselbe Grobheit der Beobachtung verrät sich auch in spräche ^gj, Verwertung der Mundarten, wie sie in der neueren realisti- schen Literatur immer allgemeiner wird. Fritz Reuter kultiviert die Mundart seiner Vaterstadt. Seitdem geht diese Sprache als Mecklenburger Plattdeutsch und ist doch eigentlich nur die Sprache Fritz Reuters. Andere plattdeutsche Dichter

Dichtersprache 117

kommen nach dem Gebrauclie ihrer Vaterstadt zu anderen Mundarten und darum zu einer anderen Schreibart. Immer häufiger geschieht es, daß auf dem Titelblatt die Mundart anstatt nach einer Landschaft nur nach einer Stadt genannt wird. Noch genauer wäre es, wenn der Dichter auf das Titel- blatt setzte, er habe in der Mundart seiner eigenen Familie geschrieben, ganz genau nur „in meiner eigenen Sprache". Und dieser Zusatz wieder wäre überflüssig, denn in seiner eigenen Sprache sollte jeder Dichter schreiben. Der junge Goethe hat's getan.

Die grobe Behandlung der Mundarten in ihrer literarischen Verwendung ist nun aber ein notwendiges Übel. Es fällt von da ein Licht auf das Verhältnis zwischen Individualsprache und Gemeinsprache. Sicherlich ist die Gemeinsprache nur ein abstralvter Begriff, sicherlich ist nur die Individualsprache wirklich. Würden aber die Individualsprachen innerhalb einer Familie, eines Orts, einer Landschaft, eines Volkes nicht sehr nahe aneinander grenzen, so wäre der einzig mögliche Gebrauch der Sprache nicht möglich. Wir stehen vor einer Erscheinung, die ich Antinomie nennen könnte, wenn ich ge- lehrt tun wollte. Einerseits ist die Sprache nur Individual- sprache ; anderseits ist die Sprache nur etwas „zwischen den Menschen", also zum mindesten etwas zwischen zwei Individuen. Es ist jedoch nur ein scheinbarer Gegensatz. Wir haben da jedesmal bei dem Wort Sprache eine andere Vor- stellung. Zwei Individuen verständigen sich miteinander, weil die Sprachgewohnheiten eines jeden von ihnen denen des anderen ähnlich sehen. Die Sprache des Dichters nun ist eigentlich der Keim aller Gemeinsprache; es ist eine Indi- vidualsprache, die nicht nur den Nachbarindividuen, sondern möglichst vielen Volksgenossen da und dort verständlich sein soll. Der Zweck heiligt da die Mittel. Durch Brutalität der Behandlung, durch Rücksichtslosigkeit gegen die intimen Formen wird die Verständlichkeit für die Masse erzeugt; Armut ist es, was die Dichtersprache zur Gemeinsprache macht. Durch persönlichen Reichtum wiederum wird die Gemeinsprache zur Dichtersprache.

118 III- Sprachrichtigkeit

Was so in der literarischen Anwendung ein notwendiges Übel ist, das ist in der Wissenschaft ein Übel ohne Not, ein Selbstbetrug, der zum Bankrott führt. So wenig wir mit Hilfe des Mikroskops das Leben im tierischen Organ oder in der Pflanzenzelle beobachten können, ebensowenig können wir den Vorgang belauschen, durch welchen in einem Menschen- gehirn der Laut und die Bedeutung eines Wortes sich un- merklich verwandelt. Während aber die Physiologen wohl die Arbeit nicht gescheut haben, die Entwicklung eines Embryo von Stunde zu Stunde mikroskopisch zu beobachten, um wenigstens genauer zu beschreiben, was sie nicht erklären können, haben die Sprachforscher bis zu diesen Tagen kaum eine Ahnung von der Pflicht zu solchen mikroskopischen Untersuchungen .

In einem glücklichen Augenbhck hat G. v. d. Gabelentz (Sprachwissenschaft S. 277) den Einfall ausgesprochen, er stelle sich drei Menschen vor, Großvater, Vater und Sohn, die ihr Gebirgsdorf niemals verlassen haben und deren Individualsprache alle paar Jahre mit phonographischer Treue festgelegt wird, um erstens die Unterschiede der drei Gene- rationen und zweitens die Veränderungen beobachten zu können. Gabelentz selbst nennt seinen Einfall ein wenig überspannt. Er hat also doch nicht gesehen, daß nur eine solche mikroskopische und unaufhörlich wiederholte Reihe von Beobachtungen ernsthaftes Material für die Erforschung des Sprachlebens bieten würde. Ich will aber gern zugestehen, daß eine solche wissenschaftliche Tätigkeit der Sprache gegen- über ebenso unausführbar wäre wie der lebendigen Natur gegenüber; das wirkliche Leben mit seiner unendlichen Mannig- faltigkeit nebeneinander und nacheinander hat im Menschen- gehirn keinen Platz. Da die mikroskopische Sprachunter- suchung unausführbar ist, so ist eine ernste Erkenntnis des Sprachlebens unerreichbar. Nur Stichproben lassen sich aus der ungeheueren Menge herausholen, die aber wissenschaftlich nur höchst mangelhafte Induktionen bieten. So betrachtet ein Wanderer wohl einmal die Zeichnung einer Blume genauer als sonst, lächelt erfreut und geht dann weiter. Er ist reicher

Mikroskopie der Sprache 119

geworden um einen Blick der Naturfreude, nicht um einen Gedanken Naturerkenntnis.

Immerhin sind solche Stichproben, wie sie seit einigen Jahren namentlich in Deutschland aufgehäuft werden (bei- nahe schon unübersehbar), sehr dankenswert. Aber sie sind immer noch nicht mikroskopisch genug. Ich glaube, die gelehrten Herren sollten das Feld ihrer Tätigkeit noch enger abgrenzen; je stärker die Vergrößerung des Mikroskops, desto kleiner das Sehfeld. Haben sie sich schon auf kleine Land- schaften zu beschränlcen gesucht, so möge jeder einmal die Geschichte der Sprache in seinem eigenen Hause studieren. Ich verspreche ungeahnt reiche Ausbeute. Die minimalen Wirkungen von Kindern auf Eltern, von der Scheue auf das Haus, von der Küche auf die Wohnstube usw. lassen sich viel häufiger feststellen, als man glauben sollte. Ich selbst besitze eine Menge solcher Notizen. Ich habe meinen Groß- vater noch sehr gut gekannt, der vor dem Jahre 1770 geboren war. Er gebrauchte noch hundert Jahre später mitunter unberührt von der Sprachentwicklung Ausdrücke, die uns bei Schiller als Archaismen berühren, z. B. „itzo". Wenn er sich bemühte, modern zu scheinen und „jetzt" zu sagen, so gelang es nicht recht. Meine Mutter, die etwa fünfzig Jahre später geboren war, hatte im Verkehr mit ihrem Vater gewisse sprachliche Formen des 18. Jahrhunderts beibehalten. Sie gebrauchte ihm gegenüber alamodische Worte des 18. Jahr- hunderts, die ihr in der Unterhaltung mit uns Kindern nicht einfielen. So nannte sie ihn in Briefen nicht anders als Sie, während sie ihn im Gespräch duzte. Als kleiner Knabe sprach ich selbst dem Großvater manches seiner veralteten Worte nach; jetzt habe ich sie wieder neu lernen müssen.

Bei den alten Grammatikern, also bei den Stoikern Anomalie zuerst, ist der Begrifi der Anomalie ausgebildet worden. Sie untersuchten (vgl. Steinthal, Gesch. d. Spr. 316) den Parallelis- mus zwischen sprachlichem Ausdruck und Gedanken mit großer Sorgfalt und vielem Scharfsinn und kamen zu dem End-

120 lU- Sprachrichtigkeit

ergebnis, daß die Sprache nicht den Gedanken analog gebildet sei, sondern anomal.

Nun wissen wir nicht, wie die Stoiker diese Behauptung bewiesen haben, und können nur annehmen, nach den übrigen Proben ihres Sprachgefühls, daß ihre Beweise Kindereien waren. Sie scheinen die auf der Hand liegenden Zweideutig- keiten ins Treffen geführt zu haben. Sehr mit Unrecht. Diese Zweideutigkeiten haben nur selten den Wert der Sprache herabgedrückt; der Zusammenhang ergibt immer, ob „Bauer" einen Käfig oder einen Landmann bedeutet. Die wahre Zwei- deutigkeit beginnt eben erst da, wo die Menschen einander ganz gut zu verstehen glauben und dennoch zwei Sprachen reden, also da, wo man es nicht ahnt: immer.

Eine immerhin witzige oder selbst geistreiche Bemer- kung eines dieser Stoiker zeigt, was ihnen an der Sprache nicht analogisch, also unlogisch, was ihnen anomal erschien. Sie fanden nämlich, daß mitunter positive Dinge durch Nega- tionen ausgedrückt würden und umgekehrt. In der Negation werde ein Mangel ausgedrückt; unsterblich, was doch der höchste Vorzug der Götter sei, bedeute eigentlich einen Mangel, das Nichtsterbenkönnen. Nun, das Beispiel vom ewigen Juden lehrt uns, daß „unsterblich" allerdings einen Mangel, eine Negation, ja eine Strafe bedeuten könne. Aber freihch hatten die Alten von ihrem Standpunkt recht, nach solchen Sprachbeobachtungen zu sagen: es seien Anomahen in der Sprache vorhanden. Schon ihnen mag etwas wie ein Volapük (-ö-easi) als Ideal vorgeschwebt haben.

Der kluge Sextus Empiricus fand es seinerseits anomal, daß dieselben Worte nicht in allen Mundarten dasselbe Ge- schlecht hätten, daß ferner die Tiernamen ganz willkürlich bald mit einem weiblichen, bald mit einem männUchen Worte beide Geschlechter bezeichneten, wie ja auch wir von einer männlichen Schlange, von einem weiblichen Schmetterling reden müssen.

Die Sprache selbst ist weder analogisch, noch anomalisch. Nun kommt der Mensch von zwei Seiten an die Sprache heran; einmal selbst als Natur, indem er sie spricht, und einmal als

Anomalie 121

Unnatur, als Gelehrter, indem er sie mustert. Sofern er sie, als seine Muttersprache, spricht, fühlt er keine Anomalie. Sofern er sie aber wissenschaftlich zu fassen sucht, kann er gar nichts anderes tun, als ihre Analogie aufsuchen. Er wird also alles, was er begrifflich zusammenfassen kann, für Analogie erklären und alles, was er nicht fassen kann, für Anomalie. Er will mit einem Maßkrug den Ozean ausmessen. Und so nennt er die Lache, die er mit dem Maßkrug im Lauf von ein paar Tagen schöpfen konnte, Analogie, Logik, Wissenschaft, Ver- nunft; alles übrige, das heißt den ganzen unverkleinerten Ozean, nennt er Anomalie.

Es ist aber gar nicht daran zu zweifeln, daß im Laufe Urzeit der Jahrhunderte die Sprache durch diese grammatische Beschäftigung allmählich noch analogischer geworden ist. Ich glaube, ohne mich hier auf den Streit um den Ursprung der Sprache und um die Frage, ob das Huhn oder das Ei früher war, einzulassen, daß man sich die Sprache in der Urzeit nicht anomalisch genug vorstellen kann.

Ich habe eben gesagt : Urzeit der Sprache. Was ich darunter verstehe, kann ich unmöglich positiv aussprechen. Ich kann weder eine Jahreszahl angeben, noch ein Zeitalter der Geologie; ich kann nicht einmal die Sprachwurzeln sprechen lassen, denn ich bin nicht dabei gewesen, wie andere Leute dabei gewesen zu sein scheinen, wenn sie von einer Ursprache reden. Aber ich kann andeuten, was alles damals die Sprache noch nicht beeinflußt haben darf, als sie noch im Stande der Urzeit war. In der Urzeit wußte man noch nicht, daß die Sprache sich auch schreiben läßt, nicht, daß die Worte aus Buch- staben bestehen, aus artikulierten Lauten, ferner w^ußte man in der Urzeit noch nicht, daß es außer der eigenen Spraclie noch andere Sprachen gibt; die Barbaren, die Gojim waren stumm, nemci, wie die Affen für uns stumm sind. In dieser Urzeit waren die Geräte und Tätigkeiten des Menschen noch wenig differenziert, also auch mit wenigen Begriffen oder Worten zu bezeichnen; ebenso waren die Gefühle und Ab- sichten noch nicht zahheich. Verkehr imter den Gruppen gab es nicht, weil .sie füreinander stiimm waren. Und eine

122 III- Sprachrichtigkeit

Sprache zum Zeitvertreib, ein Schwatzen, gab es noch nicht häufig, weil es wohl noch außerordentlicher Gelegenheiten brauchte, um den tiefen Atemzug so streng zu artikulieren.

Damals nun muß die Sprache ganz anomalisch gewesen sein.

Wenn so ein Kerl plötzlich ausrief ich erfinde natürlich die Urzeitsprache, aber es gibt noch gegenwärtig solche Sprachen : „Bär freß Sohn!", so verstand ihn wohl jeder, obwohl vielleicht „Bär" noch kein Artname war, „Sohn" viel- leicht noch ein Eigenname und „freß" ganz gewiß noch kein Verbimi, weder mit regelmäßiger noch unregelmäßiger Kon- jugation. „Freß", was vielleicht zugleich fressen. Fraß, Fresser usw. bedeutete, war dem Kerl vielleicht ganz besonders der Ausdruck für die Nahrungsaufnahme des Bären. Es konnte Jahrhunderte dauern, bis dies Wort dann die analoge Tätigkeit anderer Tiere bezeichnete. Ganz anderswo, an anderen Verben, v/erden sich die Zeitkategorien in den Endungen ausgeprägt haben: fresse, fraß. Und wieder an anderen Worten zu anderen Zeiten mag die Änderung nach erster, zweiter und dritter Person, nach Einzahl und Mehrzahl entstanden sein. Es lag für den Urzeitmenschen gar keine Veranlassung vor, ein Imperfekt von „fressen" zu bilden, weil vielleicht eins von „waten" bestand. Es lag keine Veranlassimg vor, in der zweiten Person „du hast gefressen" zu sagen, weil er den Einfall gehabt hatte, „du hast geboren" zu sagen.

Vielleicht mußte so eine Gruppe erst Fremde aufnehmen, als Sklaven z. B., mußte die Stummen erst sprechen lehren, bevor diese Fremden in der fremden Sprache die unwill- kürlichen Analogien herausfanden und sich gewöhnten, nach Regeln das heißt analogisch alle Formen aller Worte zu bilden.

Wir jetzt sind freilich am entgegengesetzten Ende an- gelangt. Wir lernen die Muttersprache in der Schule zum zweitenmal, nach Regeln; da belästigen uns die Selbständig- keiten, die Anomalien, die sogenannten Ausnahmen, und nach siebzig Jahren werden wir vielleicht anstatt „ich fraß" „ich freßte" sagen. In der Nürnberger Spielschachtel sind die Bäume kreisrund gedrechselt.

Die starken Formen haben die Tendenz zu verschwinden.

Analogie 123

Es ist natürlich, daß die Worte, die am allerhäufigsten gebraucht werden, am längsten ihre Anomalie bewahren. Ich bin wir sind I am we are. Sollte die Sozial- demokratie einige Utopien wahr machen, z. B. die Kinder von der Geburt an den Müttern fortnehmen und sie in Er- ziehungshäuser stecken, so wird es keine Muttersprache mehr geben, keine Anomalie mehr und nach aber siebzig Jahren wird es vielleicht heißen: ich bin wir binnen.

Steinthal (Gesch. d. Spr. 436) nimmt an, daß Analogie in der Organisation und Desorganisation der Sprache eine mächtig treibende Kraft sei. Sie sei ein Prinzip der Sprach- bildung, ein Realprinzip, darum sei sie auch ein Erkenntnis- prinzip, das den Grammatiker in seinem Nachdenken leiten dürfe.

Der Sinn dieser philosophisch klingenden Gedanken ist mir völlig unfaßbar. Kann man die Analogie mit Recht ein Realprinzip nennen, wenn sie nichts ist als die Wirkung eines Irrtums? Und wenn die Sprachbildung kraft der Analogie, wie ich glaube, eben darin besteht, daß die Frechheit der aufgestellten Regel wirkb'ch Gesetz wird, daß ein Sprach- fehler ein Gesetz, zur Kulturmacht w^rd, heißt es da nicht den Fehler potenzieren, wenn man mit Hilfe dieser Analogie weitere Gesetze aufstellt?

Es ist also ganz in der Ordnung, daß der berühmteste ^ri- Philologe des Altertums, den noch Lessing mit Andacht nennt, der große Kritiker Aristarchos, einer der Verehrer der Analogie war. Aristarchos war ein so zuverlässiger Freund des Konventionellen, daß er es für Philologie hielt, wenn er im Homeros „unschickliche" Stellen tadelte.

Wenn dieser Aristarchos und seine Schule nun die Analogie zur Herrscherin der Sprache machte, wenn die alten Schrift- steller dahin verbessert wurden, daß man Ausnahmefälle nach der Regel, das heißt nach den häufigen Fällen, um- gestaltete, wenn man dann vom Gebildeten verlangte, daß er sprach und schrieb, wie die großen .rUten der Regel nach, das heißt in der Mehrheit gesprochen hatten: was ist es denn anders, als die Majorität über die Sprache entscheiden lassen?

starchos

124 III- Sprachrichtigkeit

Und wohlgemerkt, nicht etwa die Majorität der gleichsprachigeu Menschen, sondern die Zufallsmajorität der Fälle.

Allen Ernstes haben griechische Analogisten vorgeschlagen, den Genetiv von Ze-);; regelrecht Zso? zu bilden anstatt anomal Z-rjvo?; als ob man uns raten würde, lieber „guter" zu sagen anstatt „besser". Solcher Albernheit gegenüber waren die griechischen Anomalisten, die Gegner des Aristarchos, die Vertreter der Ehrlichkeit, der sprachlichen Anständigkeit.

Die Torheiten, welche der römische Grammatiker Varro darüber sagt, auch nur Spaßes halber anzuführen, widert mich an, so gelehrt sich auch seine eigensiimige lateinische Orthographie hier ausnehmen würde.

Das Ende vom Liede, das heißt vom Streite zwischen den alten Analogisten und Anomalisteu, war der faule Friede, der lateinische Grammatik heißt, und mit dem die Jugend heute noch gequält wird.

Hätten die Analogisten gesiegt, so hätten sie eine einzige Art der Deklination (ohne Ausnahme) für das Hauptwort, nur eine einzige Art der Konjugation (ohne Ausnahme) für das Zeitwort aus der Mehrheit der Fälle abstrahiert, als Regel aufgestellt und durchgesetzt, und wir hätten ein bequemes lateinisches Volapük erhalten. Hätten die strengen Anomalisten gesiegt , so hätten wir überhaupt keine Grammatik. Der faule Friede, der natürlich der Wirklichkeit Zugeständnisse machen mußte, schuf die bekannten Regeln und Ausnahmen, deren logische Lächerlichkeit auch ohne Gedächtnisverse jedem zehnjährigen Knaben einleuchten müßte.

Auf diesem Hauptwerk der alten Grammatiker liegt nun der Fluch, daß unsere modernen Sprachforscher die doch der Sache gern ganz anders zu Leibe gehen möchten die alten Begriffe der einmal eingeführten Gruppen vorgefunden und sich jahrzehntelang mit ihnen abgequält haben, anstatt alle die Kanones beiseite zu werfen und das Leben der toten Formen zu begreifen.

Zum Streite zwischen Analogisten und Anomalisten, der die ganze kleine Sprachwissenschaft der Alten beherrscht, möchte ich noch einen wichtigen Gesichtspunkt hinzufügen,

Einführung der Schrift 22')

der bisher übersehen worden ist und der doch vielleicht alles deutlicher übersehen läßt.

Wir wissen nicht genau, um welche Zeit in Griechenland Ein- die Erfindung der Schrift Eingang fand. Jedesfalls gehen wir ^^j. nicht fehl, wenn wir sagen, daß die Griechen zur Zeit Piatons Schrift der Einführung der Schrift und damit auch der Heraus- bildung einer gemeinsamen Schriftsprache ziemlich nahe standen. Es kommt dabei gar nicht darauf an, ob die Schrift 100 oder 300 Jahre vorher Eingang gefunden hatte. Die Kultur änderte sich damals langsamer, und wir sehen, daß die Erfindung der Buchdruckerkunst unter uns auch jetzt, nach mehr als 400 jähriger Wirksamkeit, die Umformung unseres Denkens und Forschens noch immer nicht ganz abgeschlossen hat. Durch das Zeitungswesen verändert die Buchdrucker- kunst unser Geistesleben weit mehr, als man gewöhnlich an- nimmt.

Noch weit tiefer mußte die Einführung der Schrift in einem Kulturlande die Sprache und damit das Denken ver- ändern. Man stelle sich vor, daß vor Einführung der Schrift kein Mensch Veranlassung und Gelegenheit hatte, die mensch- liche Sprache in Silben und Buchstaben aufzulösen, ja oft kaum in Worte. Vor Erfindung der Schrift war die Sprach- wissenschaft so unmöglich, wie eine Anatomie des tierischen oder menschlichen Körpers vor dem Einfalle, tierische oder menschliche Körper zu zerschneiden und zu untersuchen. Weshalb die Anatomie auch ganz richtig vom Zerschneiden ihren Namen hat. Aus der verhältnismäßigen Neuheit der Schrift erklärt es sich auch, daß Piaton und Aristoteles die ersten sein konnten, die überhaupt einzelne Redeteile in der Sprache entdeckten und dann auf die Artikulation hin- wiesen.

Weiter aber mußte wegen der Neuheit der Sache die Sehnsucht nach einer gemeinsamen Sprache alle wissenschaft- lichen Gemüter aufregen. Solange es keine Schrift gab, gab es nur Mundarten. Jetzt konnte zum erstenmal der Begriff der Richtigkeit aufkommen. Das bloße Sprechen war nicht kontrollierbar. Das gesprochene Wort hielt der Untersuchung

126 III- Sprachrichtigkeit

niclit stand. Das geschriebene Wort aber hätte man doch gern so vor sich gehabt, wie es einzig und allein das richtige war. Über die gewiß langen Kämpfe dieser Art besitzen wir be- greiflicherweise nicht die kleinste Aufzeichnung. Aber ich glaube, der spätere Streit um den Hellenismus, das heißt um ein mustergültiges Griechisch, war nur das Ausklingen des Streites, in welchem wenn wir die gebildete Welt und ihre Literatur allein in Betracht ziehen die Schrift bis zum heutigen Tage über die Sprache siegreich blieb. An dem Tage, da die Schrift eingeführt wurde, gelangte in die lebendige Sprache der Keim, der sie zu einer toten Sprache machen konnte. Eine lebendige Sprache ohne Schrift kann sich ändern, kann aber nur mit ihrem Vollce sterben. Die Schrift- sprache allein, weil sie bleibt, während die lebendige Sprache sich ändert, kann zur toten Sprache werden. Das aber ahnten die Alten nicht und sahen von ihrem Standpunkt mit Recht in der Einführung der Schrift, in dem Aufkommen einer Schriftsprache ganz gewiß einen ungeheuren Fortschritt, wie wir in der Einführung der Buchdruckerkunst einen un- geheuren Fortschritt sehen. Wir werden darum im Rechte sein, wenn wir im ganzen und großen die Analogisten als die Diener der Schriftsprache, die Anomalisten als die Ver- teidiger der lebendigen Sprache auffassen.

Das kam den Alten natürlich niemals zum Bewußtsein. Wir aber können von diesem Standpunkt aus manches besser verstehen. Wenn Aristophanes sich z. B. in den „Wolken" über die Sprache des Sokrates weidlich lustig machte, so kämpfte er ofienbar instinktiv als Dichter, also als geborener Anwalt der lebendigen Sprache, gegen die pedantischen Neuerungen von Sokrates und den anderen Sophisten, mit denen er ihn zusammenwarf. Er sträubte sich dagegen, daß man durch Analogie beliebig neue Worte und neue Wortformen schaffen könne. Auch die Tätigkeit der späteren Hellenisten hat viel Ahnhchkeit mit der Ziererei derjenigen unter unseren Sprachreinigern, welche geschmacklos sich dem lebendigen Sprachgebrauch zu widersetzen suchen. Ebenso war die Ent- deckung grammatischer Regeln insofern bloß eine Erfindung

Einführung der Schrift 127

zu nennen, als von Anfang an eine Neigung bestand und be- stehen mußte, nach Analogie der beobachteten Regelmäßig- keiten die vorhandenen Unregelmäßigkeiten einzuschränken. Auch diese Bewegung dauert bis zur Gegenwart fort. In diesem Sinne war der berühmte Sextus, den man den Empiriker nannte, im Altertum der verdienstvollste Verteidiger der Anomalie oder des lebendigen Sprachgebrauchs. Seine Gründe sind sophistisch, seine Beispiele sind kindisch, aber er steht dennoch auf der richtigen Seite. Wie es Wahnsinn wäre, in einem Staate anstatt der kursierenden Münze eine unge- bräuchliche zu schlagen, so wären auch künstliche Neuerungen in der Sprache zu tadeln. Es gäbe keine Analogie als eine solche, die durch den Sprachgebrauch begründet würde. Wozu also überhaupt den BegrifE der Analogie? Dieser letzte Gedanke verdiente auch heute noch festgehalten zu werden.

Die Römer traten um Jahrhunderte später in die Literatur Römer ein. Aber auch sie fanden anfangs keine feste Schriftsprache vor. Instinktiv stellten sich dann Leute wie der Dichter Lucretius und der Grammatiker Varro mehr auf Seite der Anomalie, des lebendigen Sprachgebrauchs. Letzterer ist deut- lich. Die Sprache sei des Nutzens wegen da. Im alltäglichen Leben sei die L^ngleichheit nützlich, warum nicht auch in der Sprache? Aber auch Schönheit und Eleganz werde durch Ungleichheit besser erreicht als durch Gleichheit. Darum unterläßt es Varro auch nicht, den Sprachgebrauch als die letzte Instanz hinzustellen. Analogie, das heißt Schriftsprache, mag angehen, aber nur so lange, als sie dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht widerstrebt. „Analogia est verborum similium declinatio similis non repugnante consuetudine communi."

Sehr interessant ist es, daß ein ]\Iann wie Julius Cäsar Zeit fand, sich recht leidenschaftlich mit diesen Fragen zu beschäftigen. Als richtiger Staatsmann konnte er gar nicht anders als glauben, es ließe sich eine Uniformierung der Sprache auf dem Wege des Gesetzes herstellen, eine allgemeine Schriftsprache. Vielleicht stammen einige Regeln der lateini- schen Grammatik von ihm her. Nur leise will ich daran

128 in. Sprachrichtigkeit

erinnern, daß auch unter dem Fürsten Bismarck der Versuch gemacht worden ist, die gebräuchliche deutsche Orthographie etwas regebechter zu machen.

In der späteren Römerzeit finden wir aber bereits . die Schriftsprache so siegreich, daß ihre eleganten Vertreter gar nicht mehr wissen, wie töricht sie sind, wenn sie zwischen Schriftsprache und Volkssprache einen Kompromiß zu schließen suchen. Quintilianus sagt schon mit schönen Worten, was ungefähr der heute in halbgebildeten Kreisen herrschenden Meinung entsprechen dürfte. Er fordert von einer braven Sprache, daß sie sich zugleich nach Verstandes- regeln, nach der Sprache der Vorzeit, nach der Übung der besten Schriftsteller und nach dem allgemeinen Sprach- gebrauch richte. Das ist so hübsch, daß es noch heute in jedem Schulaufsatze stehen könnte. Aber der alte Herr salviert sich. Was er den Sprachgebrauch nennt (consuetudo sermonLs), das definiert er ausdrücklich als die Übereinstimmung der Ge- bildeten (consensus eruditorum). Da die Gebildeten aber nach seiner Meinung gewiß daran zu erkennen sind, daß sie eine reine Schriftsprache sprechen, -so läuft seine Definition wohl gar darauf hinaus: eine schöne Sprache ist diejenige Schrift- sprache, die noch regelrechter als die Grammatik ist und mit altertümlichen Ausdrücken und Zitaten ausgeziert wird. So wurde der gewöhnliche Schulaufsatz zum Ideal der Sprache erhoben.

Es wäre darum, da diese Anschauung bis zur Stunde fortwirkt, gar nicht so übel, wenn der alte Streit wieder ent- brennen wollte und endlich grammatische Anomalisten den Kampf gegen die siegreichen Analogisten aufnehmen wollten. In der Poesie wenigstens beginnt es zu dämmern. Wie vor mehr als 100 Jahren das Volkslied sich gegen die Kunstpoesie erhob, der junge Goethe mit seiner individuellen Sprache gegen die Konvention, so beginnt in unseren Tagen die Mund- art ihre Rechte auch in der Sprachwissenschaft geltend zu machen gegen die Schriftsprache.

Alte Analogien 129

Es kann allerdings nicht zweifelhaft sein, daß die Sprache Alte durch Analogiebildungen wächst, i n Analogien eigentlich ' °* °^^^^ mehr als durch Analogien. Die Untersuchung dieser Analogien ist aber besonders dadurch erschwert, weil das Wort selbst etwas ganz Verschiedenes bedeutet, je nachdem wir die Analogie als den inneren Vorgang oder als sein äußeres Ergebnis betrachten. Wir sind es nur nicht gewohnt, überall diese Unterscheidung zu machen. Unsere wissenschaftliche Sprache ist noch zu sehr an die Oberflächlichkeit der Um- gangssprache gebunden. Und doch ist offenbar z. B. die Elektrizität als Energie, deren Wesen wir eben suchen, etwas anderes als die Elektrizität als die Erscheinung, die wir be- schreiben können; es ist die Vererbung als das Geheimnis der Natur, das wir ergründen möchten, etwas anderes als die Vererbung, die wir beobachten. Wie immer: wir geben einer Beobachtung sofort einen Namen, nachdem wir sie tappend halbwegs festgestellt haben; wir haben für ihr Wesen, das wir ergründen sollen, nur denselben Namen; nur darum beruhigen wir uns so leicht bei dem Worte.

Wäre die Analogie, die doch offenbar zunächst eine Stütze für unser Gedächtnis bildet und Sprache ist ja eben das Gedächtnis unserer Sinneseindrücke mit klarem Bewußt- sein den Zwecken der Mitteilung dienstbar gemacht, könnten wir uns die sogenannten Regeln einer Sprache, das heißt die Sammlung ihrer Analogiebildungen, durch Gesetz oder Verabredung entstanden denken, so wäre die Analogie für die Sprache nicht mehr als Spalier und Bast, womit das üppig wuchernde wilde Gezweig gezwungen wird, die Wand gleichmäßig zu überziehen. Aber wir müssen festhalten, daß die Regeln, die wir nachträglich bemerken, nur Niederschläge der Analogie sind, ohne deren Mitwirkung die Sprache gar nicht entstanden wäre. Die Stütze des Gedächtnisses ist nicht durch Gesetz oder Verabredung hinzugetreten. Um im Bilde fortzufahren: Die Analogien sind wie die Tatzen des wilden Weins, der der Selbstkletterer heißt, weil er förmliche Hände mit Saugapparaten aussendet und sich mit ihnen selbst an der Mauer anklammert. Die organischen Gesetze, die wir

Mauthuer, Beitrage zu einer Kritik der Sprache. II 9

130 m* Sprachrichtigkeit

verhältnismäßig zufällig nennen müssen, entscheiden dann im einzelnen über den Weg, den die Ranken nehmen. Aber auch die Stützen selbst sind organisch, wie die Analogie in der Sprache. Jede neue Analogiebildung war zunächst falsch, ein falsches Sprechen, falsch wie wenn ein Kind mit falscher Analogie sagt : „ich habe getrinkt" ; jede solche falsche Analogie kann zum Sprachgebrauch und damit zum Gesetz werden, wenn der Hörer sie vernommen, angenommen und zurück- gegeben hat.

Die Analogie als Stütze des Gedächtnisses mag die Sprache von ihren ersten Anfängen begleitet haben. Es ist aber protzenhaft, vom sicheren Standpunkte unserer reich- gegliederten, komfortablen Sprachen aus gedacht, wenn man sich das Verhältnis der Analogie zur Sprache in irgend einer Urzeit so ausschlaggebend vorstellt, wie es heute ist. Gewiß, nur durch die Analogiebildungen ist unser Sprechen so über- sichtlich und so leicht erlernbar, wie wir es kennen. Wenn die Formsilben der Deklination und Konjugation, wenn die Formen der Neubildungen nicht analogisch von statten gingen, welcher Mensch körmte sich in den Tausenden von Worten und in den Hunderttausenden von Wortformen (die alle nur dank der Analogie nicht als selb- ständige Worte empfunden werden) noch zu- recht finden? Es ist aber unausdenkbar, daß auch in irgend einer Urzeit die Sprachen so übersichtlich, ihre Erlernung so leicht war. Außerordentliche Übung mochte da im engsten Kreise allein durchhelfen; so kennt ein Dorfkind Weg und Steg seiner Gemarkung, bevor es die Begriffe Berg, Bach, Straße usw. oder gar den Begrifi Geographie versteht. Was heute bei der furchtbar konservierenden Macht der ana- logischen, schriftlich fixierten, weite Völker umfassenden Sprachen für eine Ausnahme gilt, das mag in einer Urzeit, als die Sprachen noch nicht fixiert waren, nur einen Stamm umfaßten und sich erst analogisch komfortabel zu machen begannen, der regelmäßige Vorgang gewesen sein. Heute erleben wir es selten, daß eine falsche Analogie (z. B. „ge- wunken" nach „getrunken" usw.) sich anschickt, Regel

Alte Analogien 131

zu werden; daß nach Analogie gebräuchlicher AVorte neue Worte mit „-keit" oder „-heit" gebildet werden; daß mit echter oder falscher Lautsymbolik das „i" in „spitz", aber auch in „niedlich", „lieb" usw. für eine Metapher des KJeinen angesehen wird; wie ein Kind oder eine geniale Schauspielerin wohl einmal sagt „wiwiwinzig" ; daß Ähnlichkeit des Klanges oder Anlauts einen entstehenden Bedeutungswandel unter- stützt, wie wenn im Englischen to want (bedürfen) den Sinn von to wish (wollen) erhält, was genau dem Wandel des Chinesischen yao zu der Bedeutung von yuen entsprechen soll; heute erlebt nur der aufmerksame Linguist solche Wir- kungen der Analogie. Die alten Analogien haben das ganze Gebiet der Sprache mit einem so dichten Netze überzogen oder vielmehr sie haben es so durcheinanderwuchern lassen, daß für neue Analogien wenig Raum und Luft mehr vorhanden ist. Denken wir uns aber in eine Zeit zurück, in welcher ich möchte sagen die Erfindung der Analogie noch jimg war, in welcher die Menschen noch nicht daran gewöhnt waren, daß man ungefähr gleiche Beziehungen durch gleiche Deklina- tions-, Konjugations- und Kompositionsformen, daß man gar ungefähr gleiche Gefühle durch gleiche Satzbildungen äußern könne, ja dann haben wir eine Anwendung der Analogie vor unserem geistigen Auge, gegen deren Üppigkeit das, was jetzt als grammatische Regel etwa vorhanden ist, ärmlich und pedantisch erscheinen muß. Auch von dieser wilden Analogie haben wir vielleicht noch Beispiele in einigen fernen Sprachen. Das Tibetische besitzt einen Instrumentalkasus, der verbalen Sinn hat. Auch unsere Kultursprachen können noch solche Erinnerungen festhalten. Im Itahenischen ist die Verbal- endung (nach Analogie von vogliono z. B.) an das Pronomen gefügt in eglino, elleno; in deutschen Mundarten kann die Verbalendung gar an die Präposition gefügt werden, z. B. obst hergehst zu mir; wannst wiederkommst. Es sind das Rudimente alter Bildungen, prähistorische Reste einer noch jungen, starken Analogie.

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132 III. Sprachrichtigkeit

Unbewußte Das Verhältnis der Schriftsprache zur lebendigen Sprache "^ oder das Verhältnis der Grammatik zur Sprachentwicklung ergibt sich aus dem Eifer der Sprachgelehrten, aus Über- legung, also mit vollem Bewußtsein dasselbe zu tun, was die sprechende Menschheit seit jeher unbewußt getan hat. Man könnte nicht nur die Lehren unglücklicher Sprachreiniger, sondern sogar vielfach die Wissenschaft verständiger Gramma- tiker als eine Übertreibung, als eine Parodie auf das unbewußte Walten der Analogie betrachten. Und wir werden geneigt sein, in ein erlösendes Gelächter auszubrechen, wenn wir erkannt haben, daß alle die Gleichmäßigkeiten, welche die Sprachentwicklung allmählich aus Gründen der Nachlässigkeit und Bequemlichkeit in Stofi und Form der Sprache hinein- getragen hat, nachträglich die Grundlage geworden sind für die sogenannte Logik, und daß nun diese auf der unbe^vußten Analogie beruhende Logik wieder zu den Forderungen der bewußten Analogie geführt hat. Die Griechen und Römer, die von einer unbewußten Geistestätigkeit noch nichts ahnten, mußten freilich vor Freude aus dem Häuschen geraten, als sie in der Sprache überhaupt Analogien entdeckten; so ist es ihnen weiter nicht übel zu nehmen, daß sie sich aus ihnen eine Logik konstruierten, wie die ersten Beobachtungen von Gleichmäßigkeiten in der Natur anstatt zu unbewußten Naturgesetzen zu der Aufstellung von bewußten Gottheiten führten.

Wir aber, die wir in den Naturgesetzen überall nur eine neue Mythologie erkennen, wir werden auch mißtrauisch sein selbst gegen die Gesetze, welche aus unbewußten Analogie- bildungen der Sprache hervorgehen. Daß der Einfluß un- bewußter Analogie die ganze Sprachentwicklung beherrscht, ja daß wir den Einfluß der Analogie bis in die unzugänglichen Urzeiten der Sprache zurück annehmen müssen, das ist gewiß. Wieder aber müssen wir uns davor hüten, Gleichmäßigkeiten darum für Gesetze zu erklären, weil jeder dieser Vorgänge für sich genommen bis ins Kleinste hinein psychologisch oder selbst mechanisch notwendig ist. Ich wiederhole das Bild von den Wagenspuren der Straße. Wenn eine Reihe von

Unbewußte Analogie 133

Wagen in näheren oder weiteren Abständen hintereinander über eine frisch geschotterte Straße fährt, so wird der zweite Wagen mit psychologischer, das heißt von Kutscher und Pferden ausgeübter, und ebenso mit mechanischer Notwendig- keit ungefähr in die Spur des ersten Wagens einlenken, der dritte noch genauer in die Spur des zweiten Wagens usw.; je tiefer, breiter und bequemer die Spur geworden ist, desto notwendiger wird für die Wagen ein analoges Fahren werden. Nicht leicht aber wird ein Philosoph unter den Fuhrleuten diese Analogie ein Naturgesetz nennen. Es wird immer un- ruhige Pferde, betrunlvcne Kutscher und zufällige Steine geben, welche die Analogie aufheben.

Wenn wir bedenken, daß es hoch entwickelte Sprachen gibt, welche heute noch gewisse formale Analogiebildungen wie unsere verschiedenen Redeteile nicht kennen, daß ein Wort im Chinesischen zugleich die Funktion des Verbums, des Nomens und des Adjektivs haben kann, so werden wir um so leichter begreifen, daß diejenigen analogischen Gruppen, welche uns als die grammatischen Formen so geläufig sind, in den Uranfängen der Sprache gar nicht bekannt oder auch gar nicht vorhanden waren. Aus solchen formalen Analogie- bildungen ist die Trennung der Kedeteile, in den einzelnen Redeteilen die weitere Gruppenbildung hervorgegangen. Das Verbum teilte sich nach Zeiten, nach Personen, nach Ein- und Mehrzahl, das Substantiv teilte sich in Gruppen nach Ein- und Mehrzahl und später nach den Kasusformen, das Adjektiv schuf sich analoge Gruppen nach der Steigerung. Wir können gar nicht abmessen und unter dem Banne unserer Sprachgewohnheit uns auch beinahe nicht vorstellen, wie viel der Zufall bei diesen scheinbar so philosophischen Kate- gorien der Sprache mitgewirkt hat. Ich will nur ein einziges Beispiel anführen, das ich allerdings wieder nur als eine phantastische Möglichkeit gebe. Ich denke mir also, daß zu irgendeiner frühen Zeit der indoeuropäischen Sprachen, als sie noch nicht feste Formen der Deklination und Komparation besaßen, aber schon in Redeteilen auseinander gingen, daß damals durch eine zufällige Geistesrichtung die Komparation

134 III- Sprachrichtigkeit

der Adjektive und die Zahlbezeichnung der Substantive ganz wohl hätte zusammenfallen können. Es ist doch un- zweifelhaft eine Analogie vorhanden zwischen dem Positiv, dem Komparativ und dem Superlativ einerseits, dem Singular, dem Dual und dem Plural anderseits. Ein einzelner Mensch kann groß sein, nur unter zwei Menschen kann einer größer sein, nur unter einer Mehrzahl von Menschen kann einer der größte sein. Ich phantasiere also, daß damals eine Analogie- bildung, welche Singular und Positiv, Dual und Komparativ, Plural und Superlativ, und dann dieses Ganze wieder in eine besondere grammatische Kategorie zusammenfaßte, recht wohl möglich gewesen wäre. Wir haben in unserer Grammatik all- gemein bekannte Analogiebildungen, welche nicht zwingender sind. Die Funktionen der Frage oder der Bedingungspartikel umfassen analogisch größere Gegensätze, als der zwischen Steigerung der Adjektive und Zahlbezeichnung der Sub- stantive ist. Wäre meine Phantasie Wirklichkeit, so würde sie jedem selbstverständlich scheinen.

Daß aber in alten Zeiten die Begriffe noch weniger analogisch gebildet wurden als heute, das sieht man aus einer Menge gerade der gebräuchlichsten Worte. Und es ist kein Zufall, daß gerade die gebräuchlichsten Worte in vielen Sprachen den alten Zustand erhalten haben. Sie waren den redenden Menschen immer zu geläufig, um sich der Analogie zu fügen. Man achte auf das Hilfszeitwort sein. Der Infinitiv lautet „sein", der Indikativ der Gegenwart „ich bin", das Im- perfektum „ich war". Diese Worte werden so oft gebraucht, selbst schon von kleinen Kindern, daß die Analogiebildung ich seie und ich seinte oder ähnlich niemals festen Fuß fassen konnte. Man halte dagegen ein Verbum, das selten gebraucht wird, wie z. B. pflücken. Es hat vielleicht kein einziger von uns sämtliche Formen, die nach dem grammatischen Paradigma von „pflücken" abgeleitet werden können, also alle Formen von „ich pflücke" angefangen bis „ich würde gepflückt gehabt haben" schon gebraucht. Kommen wir aber im Zusammen- hang der Rede dazu, irgend eine noch niemals von uns ge- brauchte Ableitungsform von pflücken anzuwenden, so steht

Unbewußte Analogie 135

uns fast unbewußt das Paradigma zu Gebote, das heißt wir bilden das Wort nach Analogie anderer Zeitwörter, insbesondere nach der Analogie der schwachen transitiven Verben. Es scheint mir ganz einleuchtend, daß von den Uranfängen der Sprache an solche Analogiebildungen wirksam waren. Ein vollständiges Wörterbuch müßte auch alle Neubildungen von jedem Verbum mitenthalten. Wir stehen aber so un- bedingt unter dem Banne der Analogie, daß wir „pflücke, pflückte, gepflückt" gar nicht als selbständige Worte emp- finden, was sie doch ebenso gut sind wie die abgeleiteten Substantive und Adjektive, daß wir sie vielmehr als gelegent- liche Lautveränderungen eines sogenannten Stammwortes empfinden. „Sein bin war" sind oSenbar ursprünglich ganz verschiedene Worte gevv-esen; wir empfinden aber auch sie als Ableitungen, weil uns die Analogie nicht losläßt. Ebenso steht es um die Komparation von „gut" in „besser". Vielleicht könnte man es dahin auch rechnen, wenn wir im Deutschen das Wort Geschwister haben und damit auch mehrere Brüder bezeichnen können.

Wir können uns mit den Gewohnheiten unserer Sprache in eine Zeit gar nicht mehr zurückdenken, deren Sprach- material ohne jede Analogie aus lauter selbständigen Be- griffen und Formen bestand. Oder vielmehr, wir erhalten bestenfalls die Vorstellung von den Tierstimmen auf einem großen Bauernhofe; wenn da die Pferde wiehern, die Ochsen brüllen, die Ziegen meckern, die Hunde bellen, die Katzen miauen, die Hähne krähen, die Hühner gackern und die Gänse schnattern, so ist dieses Durcheinander vielleicht nicht nur ein Bild von der uranfänglichen, noch nicht analogischen Sprache, es ist vielleicht dieser Zustand selbst. Zwischen der Sprache des Hahns und der Henne gibt es etwas wie Analogie, also auch eine Verständigung ; der Hahn kräht nur, wenn er etwas spezifisch Männliches ausdrücken will; mit den Kücken spricht er in Tönen, die den Tönen der Henne analog sind. Zwischen den Sprachen von Pferd und Gans aber ist keine Analogie, also auch kein Verständnis. Höchstens die Jammerrufe äußersten Schmerzes scheinen unter verschiedenen

136 III- Sprachrichtigkeit

Tieren etwas Analoges zu haben und darum Verständnis zu wecken. Wir können uns die Anfänge der Sprache nicht arm- selig genug ausdenken. Wir wissen jetzt, daß den späteren Reichtum zwei Geistestätigkeiten erzeugt haben: die meta- phorische und die analogische Anwendung der vorhandenen Sprachlaute. Es läßt sich hinzufügen, daß jede neu vollzogene Metapher den Stoff der Sprache durch eine Art von Kunst - Schöpfung bereicherte, zu deren Verständnis zuerst selbst eine künstlerische Geistestätigkeit des Hörers notwendig war. Die Bereicherung durch Analogie bedarf weit weniger dieser künstlerischen Geistesrichtung. Durch die Analogie wird der Sprachschatz eben fabrikmäßig vermehrt. Und wenn ich behaupte, daß die zahlreichen Bildungsformen jedes einzelnen Substantivs oder Verbums im Augenblicke der Anwendung jedesmal neu geschaffen werden, so meine ich damit ein mechanisches Schaffen nach der Schablone; wohl haben wir alle möglichen Deklinations- und Konjugationsformen eines Worts im Gedächtnis bereit liegen, aber nicht als eine Er- innerung an diese Einzelformen, sondern nur als Erinnerung ihrer Analogien. Wir haben es alle mit erlebt, wie zum ersten- mal das Fahren auf dem Zweirad mit dem neu gebildeten „radeln" Worte „radeln" bezeichnet wurde. Die Bildung selbst erfolgte analogisch, aber doch wieder rein zufällig. Denn für das Laufen auf Schlittschuhen hat sich z. B. das Wort schlittern weil es nämlich schon eine anders nuancierte Bedeutung hatte nicht eingeführt. Wer aber das Wort radeln zum erstenmal so verstand, daß er es nachzusprechen bereit war, der zögerte auch nicht einen Augenblick, davon die noch nicht gehörten oder gesprochenen Konjugationsformen zuverlässig zu bilden, wie etwa vom Verbum tadeln. Es entstand sofort eine Analogiegruppe, trotzdem radeln ganz gewiß nicht nach der Analogie von tadeln gebildet worden war. Aber jeder sagte und verstand auf der Stelle z. B. „du radelst".

Für das Wesen der Analogie scheint es mir wichtig, darauf hinzuweisen, daß solche Bildungssilben niemals auf den rein formalen Wert ihrer Buchstaben herabgesunken sein können. Man sollte den Unterschied wohl beachten. Sicherlich hat

„raciela" 137

unsere Buchstabenschrift sich aus uralter Bilderschrift ent- wickelt. Wenn aber der Buchstabe S sich ich wähle zur Erläuterung ein ideales Beispiel so entwickelt hat, daß zuerst das Bild der Schlange an eine Schlange erinnerte, dann dasselbe Zeichen außer der Schlange auch ihren Anfangslaut malte, bis daß nach langer Entwicklung die Schlangenlinie einfach den Laut S in Erinnerung brachte, so vollzog sich allmählich ein Bruch im Gedankengang. Der Laut S hat mit dem Begriff Schlange nicht das allermindeste mehr zu tun. Und selbst in den seltenen Fällen, wo man aus der heutigen Form des Buchstabens noch irgendwie eine Erinnerung an die alte Bilderschrift wachrufen kann, ist diese Ähnlichkeit nur noch eine Kuriosität, aber keine Verbindung mehr. Die Verbindung ist zerbrochen. Anders in den hörbaren Sprach- lauten als Bildungselementen. Wenn das S als Suffix bei einem Zeitwort die zweite Person der Einzahl bezeichnet, so ist die Identität des Lauts mit der Bezeichnung für die zweite Person unserem Sprachgefühl zwar nicht mehr gegenwärtig, aber es hat in der Sprachentwicklimg niemals einen Bruch gegeben und von der alten Zeit, wo das S bewußt die zweite Person aussprach, bis zum heutigen Tage haben die Menschen in leisen Übergängen des Lautwandels immer so die zweite Person gebildet. Wir sehen daraus vielleicht, daß es nicht angeht, den Vorgang der analogischen Anwendung der Sprachformen einfach mathematisch durch Proportionen zu erklären, wie Hermann Paul das getan hat. Nach ihm wird die Unbekannte gesucht, z. B. die zweite Person Singularis vom Indikativ des neuen Verbums radeln. Gemeint i^t (Prinzip, d. Sprachg.- S. 97) etwa die Gleichung: tadeln : du tadelst = radeln : X. Daraus soll hervorgehen X = du radelst. In den selten- sten Fällen nur mag eine solche Besinnung möglich und notwendig sein. Der Vorgang im Menschengehirn ist viel einfacher. Die Bildungssilbe ist uns in ihrer Bedeutung genau so geläufig wie das Wort Apfel in seiner Bedeutung, und das Wesen der Analogie scheint mir nur darin zu bestehen, daß solche Bildunwssilben in Millionen Fällen unaufhörlich ge-

138 III- Sprachrichtigkeit

braucht werden und daß die entwickelte Sprache mit einer verhältnismäßig kleinen Zahl solcher Bildungselemente für die Millionen Fälle bequem auskommt. Ich wiederhole: eigentlich wird durch Hinzufiigung jedes Bildungselements ein neuer komplizierter Begriff gebildet. „Tadelst" ist ebenso ein selbständiges Wort wie „Mandelbaum". Unsere Eander sind gewohnt, den Baum, auf welchem die Kirsche wächst, Kirschbaum zu nennen usw. Einen Mandelbaum haben sie wahrscheinlich noch nie gesehen. Sagt man ihnen aber, daß die Mandel eine ähnliche Baumfrucht ist, so bilden sie analog von selber und richtig den BegriS Mandelbaum als selbständiges AVort. Ob solche Neubildungen richtig oder falsch sind, das ist ganz gleichgültig für das Wesen der Sprache. Wenn jemand glaubt, die Tomate oder die Kartoffel wachse auf einem Baum, so bildet er ebenso richtig die Analogie: Tomatenbaum, Kartoffelbaum. Die Analogie ist richtig, nur die Vorstellung ist falsch. Von hier aus werden wir zu der Unterscheidung geführt zwischen solchen Fehlern im Wortgebrauch, die nur dem Sprachgebrauch w^idersprechen, und solchen Fehlern, die den Sinneseindrücken widersprechen, auf welche jede Sprache doch zurückgehen soll. Gram- Die unbewußte Erlernung unserer Muttersprache be-

steht in der eingeübten Gewohnheit, alle diejenigen Analogien zu gebrauchen, welche sich in dieser Sprache unbewußt ent- wickelt haben. Grammatik ist dazu nicht notwendig. Nicht die Grammatik schafft eine Volkssprache, vielmehr ist es die Volkssprache, die Gleichmäßigkeiten schafft, welche man nachher Grammatik nennt. Aber auch bei der Erlernung einer fremden Sprache ist es nur ein Irrweg unserer Gelehrtenschulen und der unter ihrem Einfluß stehenden Lehrer, wenn der Grammatik ein so großer Raum gegönnt wird. Was wir die grammatischen Regeln einer fremden Sprache nennen, sind nur die ihr eigenen Analogien; nur durch Einüben dieser Analogien (neben dem Einüben des fremden Sprachstoffs) kann die fremde Sprache gelernt werden. Und nur die An- fänger, die die Regeln vor der Anwendung auswendig lernen müssen, sind in den ersten Stunden so unglücklich, ihre Sätze

matik

Grammatik 139

nach Hermann Pauls Proportionslehre ausrechnen zu müssen. Der Schweizer, der aus dem deutschen Kanton in den fran- zösischen geht, um Französisch zu lernen, lernt die fremde Sprache schneller und besser ohne Grammatik. Freilich aber wird er sich des Unterschieds zwischen den französischen und den deutschen Analogien nicht bewußt werden und vielleicht dadurch zu zahlreichen Germanismen oder Gallicismen ver- führt werden. Das scheint mir aber das gleichgültigste Ding von der Welt zu sein. Und wenn sich daraus irgendwo eine neue Mundart entwickeln sollte, ja sind denn die Sprachen überhaupt anders entstanden, als durch Analogien, welche anfangs Fehler waren?

Der hohe Reiz grammatischer Studien besteht aber eben darin, daß auch eine ganz ungelehrte, wenn nur aufmerksame Vergleichung der grammatischen Regeln im Deutschen und im Französischen z. B, sofort erkennen läßt, wie die Analogien in der einen und in der anderen Sprache sich im kleinen und im großen verschieden entwickelt haben; auch ohne ver- gleichende Sprachforschung kann da der erste Blick lehren, daß die Sprachentwicklung nicht das Werk der Logik ist, daß es eine philosophische Grammatik nicht gibt, daß es eine ebenso wilde Chimäre ist, einen Stammbaum aller mensch- lichen Sprachen zu suchen, wie wohl auch einen logischen Stammbaum des Tierreichs aus den zufällig gewordenen Ge- schöpfen herzustellen.

Dieser Blick auf ähnliche Vorgänge in der Naturgeschichte Fehler muß uns übrigens lehren, weniger hart zu sein gegen das, was Schulmeister Fehler nennen und was bestimmte Volks- gruppen an dem Sprachgebrauch anderer Gruppen fehlerhaft finden. Der fehlerhafte Sprachgebrauch von Kindern hat damit nichts zu tun; der mag von Eltern und Lehrern nach wie vor verbessert werden, weil ja Eltern und Lehrer nichts weiter wollen, als den Kindern das überliefern, was sie für den richtigen Sprachgebrauch halten. Einzelne ihrer angeblichen Fehler werden die Kinder schon später durchsetzen. Aber das fehlerhafte Sprechen erwachsener Menschen ist etwas ganz anderes. Wenn der Schulmeister den Sprachgebrauch ganzer

140 III- Sprachrichtigkeit

Volksstämme oder ganzer Gegenden fehlerhaft nennt und am liebsten mit roter Tinte ankreuzen möchte, so liegt darin eine Unverschcämtheit der Schriftsprache gegen die Volkssprache, eine Unverschämtheit der Naturwissenschaft gegen die Natur ; nebenbei eine ziemlich ohimiächtige Unverschämtheit. Wir sind in Deutschland von einer bureaukratisch geregelten Schriftsprache glücklicherweise verschont geblieben. Aber auch in Frankreich, wo seit Jahrhunderten eine Akademie sich abmüht, eine fehlerlose Sprache zu erreichen, geht das Leben oder die Natur über die Akademie hinweg. Die französische Sprache hat sich scheinbar seit 200 Jahren weniger verändert als die deutsche; man kann Bücher aus jener Zeit besser verstehen. In Wirklichkeit schreibt heute kein Mensch in Paris mehr wie Corneille. Das Wort Unverschämtheit wird vielleicht weniger hart erscheinen, wenn ich die Tätigkeit einer solchen Akademie etwa auf die Entwicklung des Tier- reichs angewandt denlce. Es hat doch ein Volk neue Analogie- bildungen gewöhnlich dann aufrecht erhalten, wenn es sie brauchen konnte; andere Analogiebildungen sind daneben wie zum Spiele entstanden und harren oft ihrer difierenzierten Benutzung. Genau ebenso sind im Tierreich langsame Ver- änderungen entstanden, bald durch Zufall, bald durch Absicht des Züchters. Hier ist eine Taubenvarietät entstanden mit einem hübschen Schopf auf dem weißen Köpfchen. Dort hat ein Landwirt eine neue Varietät von Schafen aufgezogen, die sich durch feinere Wolle auszeichnet, oder eine neue Varietät eines besonders muskelreichen Rindes. Man denke sich nun eine wissenschaftliche Akademie, welche sagt: bisher hat es keine Tauben mit einem Schopf auf dem weißen Köpfchen gegeben, also ist diese Spielart ein strafbarer Fehler; bisher hat es solche Ochsen und solche Schafe nicht gegeben, also ist diese Züchtung bei Strafe zu vermeiden. Das ist kein Scherz, das ist kein Bild. In einer gewissen Beziehung ist die menschliche Sprache in ihren Äußerungen ebenso wirklich wie unsere Haustiere wirklich sind. Ob durch Anpassung und Vererbung neue Spielarten zufällig oder absichtlich hervor- gebracht werden, das tut nichts zur Sache; die neuen Arten

Fehler 141

entsprechen ja doch als Naturerzeugnisse den neugebildeten Analogiegruppen der Sprache; Neubildungen von Worten und grammatischen Formen Fehler zu nennen, ist ebenso lächerlich, wie in neuen Tierarten Fehler zu erblicken. Man denke sich auf dem Schiff Tasmans oder Cooks, als der eine oder der andere Australien entdeckte, einen Akademiker, der zuerst ein Känguruh zu Gesicht bekommen und in seiner Weisheit ausgerufen hätte: das ist ein Fehler. Nur wer über diesen Mann nicht zu lachen vermöchte, kann unser Ge- lächter mißverstehen über eine Akademie der Sprache.

Ich will die Vergleichung nicht zu Tode hetzen. Aber es gibt wirkliche Fehler in der Natur wie in der Sprache. Wer eine fremde Sprache falsch spricht, das heißt ihre Analogien nicht kennt oder gar gegen die Natur ihres Wortschatzes sündigt, der spricht die fremde Sprache allerdings fehlerhaft. Seine Fehler erinnern dann an die Mißgeburten im Tierreich, in denen wohl auch die Analogie durch fremde Elemente umgestoßen worden ist.

Die Ähnlichkeit zwischen der Entstehung neuer Worte Metapher und neuer Organismen ist zu groß, als daß es nötig wäre, die paggung Vergleichung weiter durchzuführen. Eher wäre ich geneigt, mir selbst neue Schwierigkeiten zu bereiten und darauf hinzuweisen, daß denn doch für das naive Bewußtsein ein Unterschied besteht zwischen dem handgreiflichen, durch eine körperliche Haut von der Außenwelt abgegrenzten tierischen oder pflanzlichen Einzelwesen einerseits und den flüchtigen, mit den Schallwellen der Luft entstehenden und vergehenden Worten anderseits. Uns aber ist es geläufig, auch die einzelnen Tiere und Pflanzen als flüchtige, mit den unsichtbaren Gruppierungen der „Atome" entstehende und vergehende Welt der sogenannten Materie aufzufassen. Und ich fürchte, mich in Mystik zu verlieren oder doch wenig- stens den Eindruck der Mystik hervorzurufen, wenn ich die treibenden Kräfte der Sprachbildung, Metapher und Ana- logie, mit den treibenden Kräften der Natur zasaramen- stelle, mit Anpassung und Vererbung. Es ist aber vielleicht mehr als Mvstik, es ist vielleicht in den unnahbaren kleinsten

142 III- Sprachrichtigkeit

Veränderungen identische Wirklichkeit. Es ist vielleicht ganz iinbildlich und tatsächlich die Trägheit oder die Ver- erbung, welche die alten Formen in den alten Spuren analogisch wiederholt, es ist die Arbeit neuer Einflüsse, neuer Beobach- tungen, welche als Anpassung metaphorisch neue Gebilde erzeugt. Ja selbst die Illusionen der Liebe sind Äußerungen derselben Phantasietätigkeit, ohne welche die Metapher nicht möglich ist.

Noch schwieriger wird der Blick in die Sprachbildung, wenn wir nicht nur die Schöpfung neuer Worte, sondern auch die neuer grammatischer Formen, also die Analogiebildungen der sogenannten Grammatik, als Naturgebilde empfinden sollen. Um das genau zu begreifen, müssen wir uns wieder erinnern, daß auch der einzelne Tierorganismus nicht so einfach ist, wie er dem naiven Bewußtsein erscheint. Es fällt uns nicht schwer, uns ein kompliziertes Tier, in welchem die verschiedenen Zellen sich mit differenzierten Funktionen zu verschiedenen Organen unter einer formenden Einheit ver- einigen, als einen Tierstaat vorzustellen. Es gibt ja glücklicher- weise in der Natur Tierkolonien, von welchen man nicht recht sagen kann, ob sie Tierstaaten oder Einzelorganismen sind. Uns ist es geläufig, das allerdings rätselhafte Gedächtnis als das einigende Band sowohl der Tierstaaten (natürlich auch der menschlichen Vereinigungen) als der Tierkolonien und der Einzelorganismen aufzufassen. Dieses rätselhafte Ge- dächtnis ist natürlich auch bis auf weiteres die einzige Er- klärung für alle Analogiebildungen in Natur und Sprache, ist aber auch in jedem Augenblicke seiner Bereicherung die vor- läufige Erklärung für sprachbildende Metaphern und fort- wirkende Anpassungen. Dieses Gedächtnis führt uns aber schließlich von der analogischen Wortschöpfung zu der ana- logischen Bildung der neuen Sprachformen, mit denen die Grammatik sich beschäftigt. Sätze und Ist das richtig, so gilt es natürlich auch für die komplizierten ^°^^^ Satzgefüge der Redekünstler, für die Periode Ciceros und für die kaum entwirrbaren, seitenlangen Satzeinheiten Hegels. Die einfache Wahrheit ist aber leichter einzusehen, wenn wir

Sätze und Worte 143

sie zunächst an den einfachsten Satzgebilden prüfen. Und da ist zu beachten, daß noch kein Grammatiker und noch kein Logiker zu einer beruhigenden Definition des Begriffes Satz gelangt ist, daß ferner der Satz ganz gewiß ein späteres Erzeugnis der menschlichen Sprache war, ein Luxuserzeugnis, daß endlich heute wie in urältester Zeit die einzig wirkliche Sprache, die Individua Isprache des einzelnen Menschen, die Worte, wie sie im Wörterbuch stehen, nur in abstracto kennt, jedesmal aber einen Satz, das heißt einen Gedanken ausspricht, wenn sie in concreto ein Wort hervorbringt. Wir müssen dabei von unserem ererbten Schwatzbedürfnis, von unserer Schul- bildung und der angelesenen Sprache absehen. Wenn in Urzeiten der Sprache einer aus dem Volke „Baum" sagte, so teilte er dem Genossen vollkommen verständlich je nach den begleitenden Umständen mit: „Unter diesem Baum werden wir nach dem langen Wege Schatten finden" oder „dieser Baum wird uns, wenn wir ihn gefällt haben, Holz zu unserem Feuer liefern" oder „dort steht der Baum, von dem man uns als einem Wahrzeichen der Gegend gesprochen hat". Es scheint mir fast banal, auf ähnlichen Gebrauch inmitten unserer anderen Bildung aufmerksam zu machen. Wenn ich „Feuer" sage, so kann ich je nach den begleitenden Umständen ganz deutlich und eindeutig dadurch mitteilen: „Sei doch so gut, mir für meine Zigarre Feuer zu bringen" oder „in meinem Hause ist Feuer ausgebrochen" oder „ich bitte, in meinem Kamin ein Feuer anzumachen".

Weiter enthalten die abgeleiteten Formen der Haupt- wörter und Zeitwörter unter Umständen ganze Sätze. „Des Vaters" ist nur in der Abstraktion der Genetiv von „der Vater"; in der wirklichen Anwendung sagt es mehr, und auf die Frage „wessen Stock ist das?" gibt die Antwort „des Vaters" einen vollständigen Gedanken, der einfach durch die Art der Betonung noch viel mehr enthalten kann: einen Rat, eine Bitte, eine Warnung. Durch den Ton, der doch wahr- haftig ganz hervorragend mit zu dem Schallbild „des Vaters" gehört, kann man ausdrücken: „Der Stock gehört keinem Fremden, du kannst ihn für eine Weile gebrauchen" oder

144 III- Sprachrichtigkeit

„hüte dich, Vater ist streng". Ebenso kann das Wort „du radelst" (welches doch ohne Zweifel ein ganzer Satz ist) durch den Ton eine recht komplizierte Bedeutung gewinnen, z. B. : „Ich habe es dir ja verboten" oder „du wagst es bei deiner Erkältung oder bei so schlechtem Wetter dich im Freien zu bewegen" oder „das wundert mich, daß du zum Radeln die Zeit oder die Geschicklichkeit hast". Ich brauche wohl nicht erst daran zu erinnern, daß der Artikel vor „Vaters" und das Pronomen vor „radelst" nur zufällige Flickworte in der deutschen Sprache sind, daß es sehr viele Sprachen gibt, die zu jedem der beiden Gedanken nur ein Wort nötig haben, daß also der Einwoirf, ich hätte zwei Worte nötig gehabt, von selber wegfällt. Auch läßt der richtige Berliner den Artikel vor Vater sogar im Deutschen fort und selbst die Pronomina werden ja in manchen Kreisen gern fortgelassen.

Nun gibt es dem gegenüber bekanntlich viel häufiger oder fast ausschließlich Sätze, die aus mehreren oder vielen Worten bestehen; ich neige zwar zu der Meinung, daß die Mode, welche in der Literatur nach griechischem oder chinesi- schem Vorbild vielfach komplizierte Satzgefüge bevorzugte, ihrem Ende entgegengeht, daß die kurzen Sätze, wie sie die lebendige Sprache des Volkes allein kennt, namentlich in der natürlichen Sprache der Poesie wieder zur Herrschaft kommen werden. Ich glaube sogar, daß heute schon ein moderner Roman bei einer statistischen Zählung mehr Schluß- punkte auf der Seite ergeben würde, als etwa ein Roman von Paul Heyse. Aber immerhin ist es nicht zu leugnen, daß die Sprache, soweit wir sie historisch zurückverfolgen können, sich von den einwörtigen Sätzen den mehrwörtigen zugewandt hat, und daß heutzutage die Aneinanderreihung vieler ein- wörtiger Sätze einen abgeschmackten oder einen lächerlichen Eindruck machen würde. Das ist auch nicht rein Modesache, sondern liegt tief in der Entwicklung der Sprache begründet. Wir haben nicht vergessen, daß es die begleitenden Umstände waren, welche das Wort „Baum" oder „Feuer" einen kom- plizierten Gedanken ausdrücken ließen, und daß es die Be- tonung war, welche den Gedanken noch weiter ausführte. Auf

Gemeinsame Seelensituatioa |45

die begleitenden Umstände konnte dann das sprachliche Aus- drucksmittel der hinweisenden Gebärde, die deiktische Zeichen- sprache sich beziehen.

Nun ist es klar, daß nur im engsten Kreise der Genossen Regieit- die begleitenden Umstände von allen Hörern angeschaut "'»stände und die Betonung von allen empfunden werden konnte. Der kompliziertere Verkehr unter den Menschen und schließlich als seine Schöpfung die Schriftsprache löste das Wort von den anschaulichen begleitenden Umständen los und erst recht von seiner Betonung, Da mußte dann ohne Gnade jeder der be- gleitenden Umstände und ebenso wo möglich der feine Unter- schied in der Betonung durch besondere Worte an den Haupt- begrif? angeschlossen werden, es mußte der mehrwörtige Satz entstehen. Es ist uns klar geworden, daß der Genetiv von Vater die analogische Bildung eines neuen Wortes war, welches wir nur aus Bequemlichkeit eine Umformung des Nominativs nennen; es ist uns klar geworden, daß „radelst" ebenso ein neues Wort war, das wir nur aus Bequemlichkeit eine Um- formung des Infinitivs nennen. Nominativ und Infinitiv sind nur die konventionell gewählten Grundformen; man hätte ebensogut oder vielleicht besser in der Grammatik vom Vokativ und von der ersten Person des Präsens ausgehen können. So gut nun wie die Analogie zu denjenigen Gruppen führte, die als selbständige Worte, als Neubildungen, Genetiv und zweite Person heißen, genau ebenso mußte, als die be- gleitenden Umstände und die Betonung durch Begriffe er- setzt werden sollten, die Analogie zu der Bildung syntaktischer Formen führen. Es würde hier zu weit führen, die begleitenden Umstände nach Zeit und Raum zu klassifizieren. Begrifflich mußte man an den HauptbegrifE anschließen: wo das Ding, z. B. der Baum, stand, daß er in naher Zukunft zu erreichen sei, daß er ein schattenspendender Baum sei, daß man sich zu ihm hin begebe und nicht von ihm fort, und dergleichen mehr. Aus der Betonung mußte sich begrifflich der Befehl, die Bitte, die Frage u. dgl. loslösen. Versetzen wir uns mit unserer komplizierten Sprache in die einfachsten Verhältnisse zurück, wo die begleitenden Umstände allen gemeinsam anschaulich

Jlauthner, Beitrage zu einer Kritik der Sprache. II 10

146 III- Sprachriclitigkeit

sind, wo die Betonung unmittelbar wirkt, und wir gebrauchen von selbst wieder einwörtige Sätze. Man achte darauf, wie in ganz eng geschlossenen Gruppen die Verständigung erfolgt. Das einwörtige Kommandieren beim Militär ist allerdings Abrichtung, aber eine kluge Abrichtung, die der Natur folgt. Auf einem kleinen Schifi verständigt sich der Führer mit seinen paar Leuten fast immer durch einzelne Worte. Zwischen Bauer und Knecht gibt es vielfach einzelne Worte der Ver- ständigung. Nur die Vieldeutigkeit unseres Kulturlebens hat die analogische Bildung kompHzierter syntaktischer Formen notwendig gemacht. Wie das Auge der sogenannten höheren Organismen beweglich geworden ist, um nacheinander die einzelnen Punkte des dem Interesse entsprechenden Sehfeldes auf den Fleck des deutlichsten Sehens zu bringen. Das Ge- dächtnis ist es dann, welches die einzelnen Flecken (scheinbar!) zu dem Bilde vereinigt; das Gedächtnis ist es, welches den Hauptbegriff eines Satzes mit den Worten in Zusammen- hang bringt, die die unmittelbare Wahrnehmung der be- gleitenden Umstände und des Tons ersetzen.

Die neuere Sprachwissenschaft mußte zu diesem Er- gebnis führen, als sie mit der Kritik der grammatischen Formen Ernst machte. Herman Paul durchschaut sehr gut die Künstlichkeit unserer Satzgefüge. Er sagt (Pr. d. Sprachg. S. 99): „Der Satz ist der sprachliche Ausdruck, das Symbol dafür, daß sich die Verbindung mehrerer Vorstellungen oder Vorstellungsgruppen in der Seele des Sprechenden voll- zogen hat, und das Mittel dazu, die nämliche Verbindung der nämlichen Vorstellungen in der Seele des Hörenden zu er- zeugen." Vortrefflich gesagt, und wegen des harmlosen Ge- brauchs von „Seele" will ich Hermann Paul nicht schikanieren. Wie viele abgetane Begriffe muß nicht die Kritik der Sprache doch wieder anwenden, will sie nicht sprachlos bleiben. Aber Hermann Paul bleibt sich selbst nicht ganz treu. Immer wieder scheint er unter einem Satz eine bewußte Verbindung von Begrifien zu verstehen, während seine Erklärung nur gut ist, wenn er sie als eine unbewußte Verbindung von Vorstellungen verstanden hat. Das wird recht deutlich da,

Negation 147

wo er an die Schwierigkeit herantritt, die Sprachkategorie der Negation in ihrer Entstehimg zu erklären. Er meint (S. 107): Die Negation finde zwar in allen ihm bekannten N>;gation Sprachen einen besonderen Ausdruck; es ließe sich aber sehr wohl denken, daß auf einer primitiven Stufe der Sprach- entwicklimg negative Sätze gebildet worden wären, in denen der negative Sinn an nichts anderem zu erkennen war als an dem Tonfall und dem Gebärdenspiel. Dabei behauptet er aber, der negative Satz müsse jünger sein als der positive. Er gelangt dahin durch die doch rein scholastische Vorstellung, daß der Satz eine Verbindung zweier BegrifTe sei, ein negativer Satz also im Gegensatz dazu eine Trennung dieser Begriffe oder die Erkenntnis, daß die Verbindung nicht statthaben könne. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er sich das denkt. Die analogische Bildimg der Sprach- kategorie der Negation wird aufgehoben, wenn dem ersten negativen Satze schon der Begriff der Negation, eine Tren- nung, ein Nicht-statt-haben vorausgehen muß.

Ich kann dem geistreichen Forscher eine Sprachgewohn- heit nennen, in welcher noch heute der negative Satz keinen besonderen sprachlichen Ausdruck besitzt. Es ist typisch für das Mauscheln lebhaft erregter Juden, daß sie die Ne- gation häufig durch Ton und Gebärdenspiel allein ausdrücken. Wenn so ein Mensch sagen will, ein geschäftlicher Vorschlag scheine ihm kein gutes Geschäft zu sein, und dies ausdrückt mit: „Ein schönes Geschäft!", so mag man das noch mit der Figur der Ironie erklären. Es gehört in ein anderes Kapitel, wie weit die Figur der Ironie überhaupt durch den Ton oder die Stimmung der Negation zu erklären sei. Der mauschelnde Jude sagt aber auch: „Stöcker ein Gottesmann!" oder „Heißt ein Geschäft!" oder „Ich werde nach Amerika fahren!" Er drückt dabei durch Achselzucken und Augenspiel die Meinung aus, ja er scheint durch die positive Form Gott den Gerechten zum Zeugen dafür aufzurufen, daß Stöcker kein Gottesmann sei, daß der Antrag kein gutes Geschäft zu heißen verdiene, daß er nicht daran denke, ein Schiff zu besteigen. Wir tun der ältesten Sprache schwerhch ein Unrecht, wenn wir ihr

148 in. Sprachrichtigkeit

ebenso lebhafte Betonungen und Gestikulationen zutrauen wie dem Mauscheln.

Wollen wir diesen Ton mit dem heutigen Wortvorrat in die Schriftsprache übertragen, kommt uns nun allerdings immer ein Negationswörtchen zu Hilfe. Wir müssen aber versuchen, die analogische Bildung der Negation vor der Existenz des Negationsbegrifis zu erklären. Das scheint mir aber ganz einfach und auf der Hand liegend, wenn wir be- achten, wie die sogenannte Negation im Grunde immer nur eine Antwort ist. Wir haben gelernt, daß die menschliche Sprache sich nicht monologisch entwickelt hat, sondern immer etwas zwischen den Menschen war. Und selbst dann, wenn der sprechende Mensch allein der Natur gegenüber zu einer Negation gelangt, so ist diese eine Art Antwort auf eine Vorstellung, die die Außenwelt ihm aufzudrängen gesucht hat. In dem zweiten Falle befindet sich beispielsweise der Mensch, dem eine Baumfrucht fälschlich den Eindruck ge- macht hat, sie sei zu seiner Nahrung geeignet. Er beißt hinein und sieht sofort seinen Irrtum ein. Der vorsprachliche Ausdruck dafür ist ein energisches Ausspucken, wenn ihn nicht schon vorher der Mißgeruch veranlaßt hat, mit einem heftigen nasalen Ausstoßen der Luft seinen Ekel zu bezeigen. Mit der Negation äußert der Mensch den Ekel, den Schrecken, den Widerwillen, kurz die Beobachtung, daß etwas in der Natur seinem Interesse schädlich sei. Schädlichkeit ist freilich noch keine Negation. Übler Geruch, zusammenziehender Ge- schmack oder gar Bauchgrimmen als Folge des Genusses sind keine Negationen. Es mag ein recht weiter Weg sein von der Gebärde des Ekels bis zu dem sauber gebildeten negativen Begriff „ungenießbar". Man achte aber auf die lebendige Sprache. Nur eine gewisse Übung in der Schrift- sprache, das heißt Schulbildung, wird auch heute den Menschen dazu bringen, das wohlbekannte Wort „ungenießbar" wirklich zu gebrauchen. Der einfache Mann und das Eänd wird heute noch der sich ihm schädlich aufdrängenden Natur mit einer Gebärde des Widerwillens oder einer Interjektion antworten..

Im ersten Falle, wo nämlich die Antwort zwischen den

Negation 149

Menschen erfolgt, ist es bei lebhaften und ungebildeten Menschen nicht viel anders. Natürlich ist im Laufe der Jahr- tausende auch die Ablehnung von Schädlichkeiten begrifElicli geworden, und so lassen sich durch unsere Negations- partikeln schließlich auch Schädlichkeiten ablehnen, die nicht so handgreiflich sind wie ungenießbare Früchte. Wir lehnen mit einem „nein" oder „nicht" die Schädlichkeiten ab, die uns als Vorstellungen von weniger unmittelbaren Gefahren (das Besteigen des Schiffs), als Vorstellungen eines Vermögensverlustes (heißt ein Geschäft!) oder selbst als Vorstellungen unzutreffender Urteile (Stöcker ein Gottes- mann!) zu bedrohen scheinen. Es gibt immer noch Leute, die sich so sehr im Naturzustande befinden, daß sie diese Sätze durch Ausspucken negieren. Und die Sprachgewohn- heiten des Mauscheins bringen mich sogar auf den unvor- greiflichen Gedanken, daß selbst der Sprachstoff, aus dem sich eine gemeinsame Negation der indoeuropäischen Sprachen entwickelt hat, in seinem Ursprung sich vielleicht nachweisen lasse. Die stärkste Reflexbewegung, durch welche wir den Widerwillen gegen eine Schädlichkeit ausdrücken, ist das Ausspucken. Wir wollen offenbar die Schleimhäute säubern, die durch eine Schädlichkeit chemisch bereits berührt worden sind. Etwas weniger stark ist es, wenn wir nur die Luft, welche um unsere Geruchsnerven zu spielen beginnt, heftig durch die Nase ausstoßen. Ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich behaupte, daß der mauschelnde Jude, wenn er ein derartiges ihm schädlich erscheinendes Urteil heftig ablehnt, dabei zugleich sehr häufig eine Gebärde des Widerwillens macht, die von einem Laute begleitet ist. Diesen Laut möchte ich beschreiben als ein ganz kurzes, dem Stöhnen sehr ähn- liches Geräusch, welches die Luft ähnlich durch die Nase hinaus- treibt, wie bei schädlichen Reizen des Kehlkopfes z. B. ein kurzes Husten die Luft zum Munde herausstößt. Dieser Laut des Widerwillens ist durch unsere Buchstaben schwer zu fixieren. Aber wir haben nicht umsonst gelernt, daß auch die scheinbar zuverlässigsten Naturnachahmungen bildlich ent- standen sind, daß z. B. der Ruf Kuckuck eine Metapher der

und Zweifel

150 III. Sprachrichtigkeit

Klangnachbildung ist, wie wir später noch ausführlich er- fahren werden. Der Laut des Widerwillens bei mauschelnden Juden sieht, als Vokal betrachtet, am meisten einem kurzen „Ae" gleich, natürlich nur bei geöfinetem Munde. Aber er hat ohne Gnade einen nasalen Ton, und in diesem Nasalton mag es stecken, daß unsere Sprachen ein N zu hören glaubten oder wirklich hörten, als sie in urältesten Zeiten die analogische Bildung der Kategorie des Widerwillens, der Ablehnung einer Schädlichkeit, der Negation bildeten. Was über die Negation zu sagen ist, wenn wir diese Phantasien über Urzeiten ver- lassen und gesicherten Besitz aufsuchen, das gehört schon in die Kritik von Grammatik und Logik. Eine wertvolle kleine Sammlung dazu enthält Prantls Vortrag „Über die Sprachmittel der Verneinung". Frage Ich knüpfe an meine Untersuchung die merkwürdige und

vielleicht überraschende Bemerkung, daß die Bildung eines sprachlichen Ausdrucks für die Negation, so unendlich wichtig diese Kategorie für die hergebrachte Logik sein mag, doch wieder nur ein Werk des Zufalls sein muß, wenn man bedenkt, daß eine ebenso wichtige Kategorie bis zur heutigen Stunde einen sprachlichen Ausdruck vermissen läßt. Es ist der positive Satz eine Aussage, das Zeichen ■"'on Gewißheit; der negative Satz ist die bestimmte, gewisse Ablehnung einer Aussage; zwischen beiden steht nun der Zweifel, die Ungewißheit, welche sich in der Sprache zwischen den Menschen als Frage äußert. Als logische Kategorie ist der Zweifel oder die Frage ebenso wichtig wie Aussage und Ne- gation; ich will gar nicht darauf eingehen, um wie vieles wichtiger sie für den Fortschritt in der Erkermtnis ist. Für die Frage aber haben die Sprachen keinen besonderen Aus- druck gefunden. Sie helfen sich da und dort durch Wort- stellungen, in denen allerdings eine Analogiebildung der Fragekategorie nachzuweisen ist; in erster Linie aber gibt der Ton die Mitteilung darüber, daß der Kedende die Ver- bindimg zweier Begriffe noch in Zweifel zieht. Im Deutschen z. B. läßt sich jeder einfache Satz durch die einfache Frage- betonung zu einer Frage machen. „Das Wetter ist schön?"

Frage und Zweifel 151

Wir haben also den Fall, daß eine der wichtigsten Kategorien der menschlichen Geistestätigkeit noch immer nicht dazu gelangt ist, analogisch eine feste Form zu finden, wie die Negation in den Fragepartikeln: nein, nicht usw. Die vor- handenen Fragepartikeln wie z. B. wie? nicht wahr? sind überall nur Zutaten. Wir haben aber in der wirklichen lebendigen Sprache bei sehr vielen Menschen und oft in ganzen Gegenden eine wirkliche Fragepartikel, aus der sich vielleicht noch einmal eine feste Frageform entwickeln kann. Im Französischen wird diese Partikel häufiger angewendet, sie gehört sogar schon der Schriftsprache an und wird hein oder heigne geschrieben. Mau nennt sie fälschlich eine Interjektion. Im Deutschen gehört sie der Schriftsprache nicht an, aber jeder natürliche Schauspieler mrd von diesem eigentüm- lichen, musikalisch deutlich unterschiedenen, hoch gezogenen „hn?" mitunter Gebrauch machen.

Es ist für unser Denken oder Sprechen eine beschämende was ist Einsicht, daß die Wirklichkeitswelt ebenso ein ewig Werdendes imd darum nicht Festzuhaltendes ist, wie die Gedankenwelt oder die Sprache, die ihrerseits wieder nie imd nirgends zu «inem wissenschaftlichen Präzisionsinstrumente geworden ist. Es geht der Sprache, die mit fließenden Formen ein fließendes Sein erkennen will, wie e-s der Geschichte der Philosophie geht, die in das Netzwerk der zufällig gegenwärtigen Philo- sophensprache die Gedanken von unzähligen veralteten Sprachen einfangen will, wobei es oft zugeht, als vne. wenn man mit Heringsnetzen Walfische oder mit Harpunen Heringe erbeuten wollte. Der gegenwärtig sprechende Mensch, der die fließende Wirklichkeitswelt erkennen will, ist wie ein Mann, der mit einem Sieb nicht nur Wasser schöpfen, sondern einen Fluß ausschöpfen wollte. Oder das Verhältnis ist auch so, wie wenn ein Blinder einen Läufer verfolgen wollte; die Sprache ist der bhnde Nachläufer, und die Wirklichkeitswelt ist der Vorläufer, der freilich ruhig ebenfalls blind sein kann, weil ihm nichts im Wege steht.

152 III- Sprachrichtigkeit

Die Tatsache, daß die Mensclien einander . nicht verstehen können, wird wissenschaftlich am besten so ausgedrückt, daß es wirkend nur Individualsprachen gebe. Für unsere Sprachen ist es uns ein ungewohnter und unbequemer Gedanke, daß Sprachlehre, Wörterbuch und Grammatik, genau genommen immer nur die Sprachlehre eines einzelnen Menschen sei, z. B. die Sprachlehre Goethes, und daß auch diese In- dividualsprache sich historisch entwickle. Es gibt keine allgemein gültige Sprachrichtigkeit, am wenigsten in den freien germanischen Sprachen. ,w'as ist Seltsam mutet es mm an, daß diese strenge Auffassung Sanskrit ?'ggj,^^g der ältesten Sprachwissenschaft gegenüber mit Er- folg durchgeführt worden ist. Was man gegenüber unseren Kultursprachen noch gar nicht recht zu untersuchen gewagt hat, das hat man dem Sanskrit gegenüber erreicht. Was ist Französisch? Was ist Deutsch? Das hat so recht gewissen- haft noch niemand gefragt. „Was ist Sanskrit?" hat aber 0. Franke (in Bezzenbergers Beiträgen 17. Band S. 54) als eine offene Frage hingestellt. Hat der altindische Gram- matiker Pänini seine berühmte Grammatik auf eine lebendige Sprache gegründet, auf welche, oder hat er seine Kegeln aus Literaturwerken abstrahiert? Es scheint, nach Franke, als ob Pänini nach seinem subjektiven Ermessen eine zu seiner Zeit noch geredete Sprache (Bhasa), die aber doch schon nicht mehr Vulgärsprache, sondern Schriftsprache war, zur Grund- lage genommen hätte. Es scheint, daß die jeweilige indische Schriftsprache, während das Ansehen eines berühmten Gram- matikers bei seinem Nachfolger in ungeschwächtem Ansehen stand, als Schriftsprache erstarrte, so daß wir ohne Bosheit zu der Tautologie gelangen müßten: das Sanskrit Päninis sei das Sanskrit Päninis gewesen. Es scheint, daß Pänini den gebildeten Bhasa von ganz Aryavarta (dem Lande der Arier) zur Quelle hatte, aber unter den Worten und Formen von Aryavarta nach subjektivem Ermessen entschied und nach seinem Geschmack oder der Mode seiner Zeit auch Archa- ismen als Bestandteile der Bildungssprache mit aufnahm. Franke kommt zu dem Ergebnis, daß das Sanskrit Päninis

Was ist Sanskrit? 153

im genauesten Sinne „nicht mit der Bhasa identisch und keine lebende Sprache ist, denn in dieser Form hat sie nirgends und zu keiner Zeit existiert". Panini habe den Ausdruck Sanskrit wahrscheinlich noch gar nicht gekannt.

Dieser Sachverhalt, der in dem langjährigen Gebrauch der homerischen Sprache für epische Dichtungen der Griechen vielleicht ein Gegenstück hat, ist für uns darum so bedeutungs- voll, weil wir eben auch gern die Frage stellen möchten: Was ist Deutsch? Wir erfahren mit Verwunderung, daß die klassi- schen Dramatiker Indiens ihre vornehmen Personen das gelehrte Sanskrit reden lassen, die schlichten Menschen dagegen Prakrit. Wir wundern uns, weil wir nicht beachten, daß wir es ebenso machen. In den Dramen Shakespeares imterscheidet sich die Sprache des Blankverses von den Prosastellen nicht viel anders als Sanskrit und Prakrit, wie mich Sanskritkenner versichern. Einen ähnlichen Unterschied finde ich bei Goethe ; je älter er wird, desto mehr Sanskrit schreibt er. Schillers Versdramen sind durchaus Sanskrit. Und die große Bewegung der Sturm- und Drangperiode und des jüngsten Naturalismus ist nur ein Versuch, über unser gelehrtes Sanskritdeutsch hinwegzukommen. So müßten wir, indem wir die Frage nach der Sprachrichtigkeit mit starker Hand fortschieben, zu der Entscheidimg kommen : das in unseren Schulen gelehrte Hoch- deutsch ist das in unseren Schulen gelehrte Hochdeutsch.

Die Grammatik wurde in Griechenland erfunden oder uie eingeführt, als die Sprache anfing alt zu werden; die großen g^,*^..*'P Dichter der Griechen hatten noch keine Grammatik ge- eine Ab- kannt. Wir können uns in diesen Zustand deshalb kaum ^'"'^'',°° mehr hineindenken, weil bei uns einerseits die Grammatik von frühester Jugend an geübt wird, anderseits Sprach- richtigkeit mit Schriftgrammatik venvechselt wird. Es klingt paradox, ist aber doch wahr: grammatikalische Fehler konnten vor der Erfindung der Grammatik gar nicht ge- macht werden. Sophokles konnte unmöghch gegen die Grammatik verstoßen, so wenig als ein plattdeutscher Dorf-

154 III- Sprachrichtigkeit

junge gegen die innere Grammatik seiner Sprache sündigt. Goethe konnte grammatikalische Schnitzer machen, seine Mutter nicht.

Es ist vom Standpunkt unserer Sprachkritik selbst- verständlich, ja es ist nur einer ihrer unwesentlichsten Aus- gangspunkte, daß die Gemeinsprache eines Volks, die richtige Sprache, oder wie man die Sache nennen will, nur eine leere Abstraktion sei. Die richtige Sprache ist für die Gedanlcen, die doch selbst wieder nur Sprache sind, nicht wichtiger als etwa die Orthographie. Bevor die Schrift erfunden war, konnte es keine Orthographie geben; und bevor man über die Sprache nicht nachdachte, konnte es keine richtige und keine fehlerhafte Sprache geben. So gibt es auch nur für Schreiber und Pfaffen eine Orthodoxie, eine Rechtgläubigkeit. Der einzelne Mensch hat immer nur seinen individuellen Glauben, seine individuelle Weltanschauung, und es ist pfäffisch, da von richtig und falsch zu sprechen.

Im Tun und Treiben der Menschen gibt es Recht und Unrecht, das dann in moralischen und juristischen Gesetz- büchern kodifiziert wird. Die Kodifizierung schützt aber nicht vor Änderungen. Insbesondere die Gesetzbücher, welche die Rechte an Sachen und Personen regeln wollen, sind ja doch nur grobe Umrisse, an welche sich die Pfafien des Rechts für kurze Zeit in ihren brutalen Entscheidungen zu halten haben, und die immer wieder durch den Wandel von Recht und Sitte gesprengt werden. Glaube, Sitte und Recht sind aber alles nur Abstraktionen innerhalb kleiner Gebiete der menschlichen Sprache.

Der Hauptunterschied zwischen dem Recht eines Ge- setzbuches und der richtigen Sprache besteht darin, daß die Sprache (seltene Fälle bei wilden Völkerschaften und bei den Franzosen ausgenommen, wo der Gebrauch eines Wortes wirklich mitunter von den vierzig Tyrannen der Akademie verboten wurde) gar nicht mit Erfolg kodifiziert werden kann. Unsere Wörterbücher und Grammatiken sind Privatarbeiten. Sie fassen die Regeln der augenblicklich gesprochenen Sprache zusammen, wie zur Zeit des Gewohnheitsrechts diese Regeln bereits von

Richtige Sprache eine Abstraktion 155

privaten Sammlern zusammengestellt worden sind, in den älteren Coutumes der Franzosen, in unserem Sachsenspiegel usw.

Wir wissen das alles, wir wissen ferner, daß selbst unter den Auserwählten eines Volkes, die sich wie die Schauspieler, Prediger und Abgeordneten besonders ihrer richtigen Sprache rühmen, niemals zwei genau die gleiche Sprache reden, wir wissen, daß die richtige Sprache eine ungefähre Gewohnheit ist, die Resultierende des allgemeinen Gebrauchs, mit der keine einzige Linie des wirklichen individuellen Gebrauchs vollkommen zusammenfällt. Wir wissen, daß die richtige Sprache zu jeder einzelnen, wenn auch noch so peinlichen Sprache sich verhält, wie die ideale, niemals noch geschaute, mathematische Kreislinie zum Blelstiftkreis auf dem Papier. Und selbst dieser Vergleich erweist der richtigen Sprache zu viel Ehre. Den idealen Kreis kann sich der Mathematiker wenigstens begrifflich denken. Die ideal richtige Sprache können wir uns nicht einmal denken, weil sie sich nicht aus BegrifEen konstruieren läßt, sondern immer auf ein Ungefähr zwischen den Menschen zurückgeht.

Wir müssen aber doch zugeben, daß wir uns da in einem Gemein- kleinen Widerspruch bewegen. Wir erkennen keine richtige spräche Sprache an, keinen feststehenden und tyrannischen all- gemeinen Sprachgebrauch, sondern nur unzählige Sprach- gebräuche, deren es so viele gibt als Menschen eines Volkes. Diese individuellen Sprachgebräuche sind niemals identisch; auffallende, für jedes Ohr unmittelbar wahrnehmbare Ver- schiedenheiten wird nicht nur der Dialekt, sondern auch die richtige Sprache, selbst die sogenannte Schriftsprache ver- schiedener Landschaften aufweisen. Die Zeitungssprache z. B. ist nicht genau die gleiche in Wien und in Graz, in München und in Stuttgart. Das aufmerksame Ohr wird aber auch noch feine Unterschiede wahrnehmen in der richtigen Sprache zweier Zwillinge, die nie im Leben lange voneinander getrennt gewesen sind. Jeder von ihnen hat einen leise nuancierten Sprachgebrauch, den er für den richtigen hält. Wir wissen das alles, und wir sagen darum: jeder Sprachgebrauch ist richtig, es gibt keinen falschen Sprachgebrauch.

156 III- Sprachrichligkeit

Dieser selbe Sprachgebrauch aber, der also für uns richtig ist, -wendet die Begriffe und die Worte richtiges Sprechen und falsches Sprechen an. Es versteht sich von selbst, daß ich zwischen einem richtigen Sprechen und einem der Wirk- lichkeit analogen Sprechen unterscheide. Das Wort „Gemein- sprache" oder richtiges Sprechen kann fehlerlos sein und braucht darum dennoch keiner Wirklichkeit zu entsprechen. Was stellen sich aber die unzähligen Individuen dabei vor, wenn sie alle ohne Ausnahme von einer Gemeinsprache reden, an sie glauben und gewisse Abweichungen von ihr als falsches Sprechen tadeln? Wohl gemerkt, nur gewisse Abweichungen. Wir hören vieles anders sagen, als wir es gewöhnt sind, ohne es einen Fehler zu nennen.

Wenn wir von richtiger Sprache reden, so denken wir an zweierlei: an die richtige Aussprache und an die richtige Grammatik. Richtige Wenn wir in Deutschland darüber streiten, welches die spräche richtige Ausspräche eines Worts oder eines Lauts sei, so kommen wir gewöhnlich zu einer Instanz, die im Lande der Schulmeister und Professoren recht verwunderlich ist. Wir pflegen diejenige Aussprache als Muster hinzustellen, die auf unseren besseren Bühnen im Drama gebraucht wird. Ich füge gleich hinzu, daß es mit diesem Muster eine eigentümliche Sache ist. Denn wenn einer von uns genau so sprachen wollte, wie der beste Sprecher des Wiener Burgtheaters, so würde sofort an ihm getadelt werden, daß er wie auf dem Theater rede; wenn einer also das Master genau nachahmt, so wäre es wieder nicht das richtige Sprechen. Dieser Fehler der Bühnensprache und ihre sonstige Musterhaftigkeit fließen aber aus derselben Quelle.

Die neuere Wissenschaft hat sich daran gewöhnt, die Dialekte als das Ursprüngliche anzusehen und die Gemein- sprache als ein bequemes Verständigungsmittel, das sich durch politische und wirtschaftliche Einigungen der kleineren Stämme entwickelt hat. Die Gemeinsprache braucht nicht weiter zu gehen als das Bedürfnis der Verständigung; ob einzelne Silben unverstanden blieben, ob in der einen Gegend

Richtige Aussprache 157

Über die Lautbehandlung der anderen Gegend gelächelt oder gelacht wurde, war im ganzen und großen gleichgültig. Der Hamburger Senator und der Züricher Patrizier gebrauchen so ziemlich die gleiche Schriftsprache; auch wenn sie (anstatt ihres Dialekts, den sie daneben beherrschen) im Gespräch die deutsche Gemeinsprache reden, verstehen sie einander ganz gut, nur daß die Aussprache des einen den anderen ein wenig stört. In der Rede des Schauspielers aber darf nichts Störendes vorkommen, darf keine Silbe unverstanden bleiben, darf vor allem nicht unabsichtlich Heiterkeit erweckt werden. So konnte es kommen, daß die Zunft der Schauspieler sich an eine Sprache gewöhnte, die in einem gewissen Sinne so tot ist wie die Schriftsprache; sie duldet nichts Undeutliches, nichts relativ Lächerliches, nicht gern etwas Individuelles. Wo auf der Bühne heutzutage viel mehr als früher, weil auch die flüchtige Sprache und Dialektanklänge bürgerlicher Kreise nachgeahmt werden von der Musteraussprache ab- gewichen wird, da herrscht immer charakterisierende oder komische Absicht. Wir stehen also vor dem verblüffenden Ergebnis , daß die Gemeinsprache , soweit es sich um die Aussprache handelt, sich nach einem Muster richtet oder wenigstens kein höheres Muster kennt als eines, das außer- halb der lebendigen Sprache steht und notwendig Fehler einer toten Sprache an sich haben muß. Am deutlichsten wird das, wenn der Wunsch nach Deutlichkeit dazu führt, gewissermaßen orthographisch zu sprechen. Man denke nur an das stumme E unserer Worte, das von den Schauspielern wie ein klingendes E ausgesprochen wird. Unser Gehirn arbeitet so kompliziert, daß wir in diesen Dingen nicht leicht etwas experimentell nachweisen können. Ich glaube aber nicht fehl zu gehen, wenn ich vermute, das mitunter das auf der Bühne allzu deutlich gesprochene Wort zuerst die Schriftzeichen in unserem Ge- dächtnis auslöst und auf diesem Umwege erst das Lautbild. Beim Anhören von Theatervorstellungen in fremden Sprachen, die ich besser lese als rede, habe ich diese Erscheinung öfter an mir beobachtet. Habe ich recht beobachtet, so ist die Musterhaftigkeit unserer Bühnensprache gewiß nicht einwand-

158 III- Sprachrichtigkeit

frei. Außerdem erinnere ich daran, daß es aucli hier wieder keine zwei Schauspieler gibt, deren Aussprache vollkommen gleich wäre. Und daß es außerhalb der Bühnensprache keine Autorität für eine richtige Gemeinsprache gibt, dürfte nament- lich in Deutschland ohne weiteres zugestanden werden. Die führenden Männer der verschiedenen Stände sprechen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist; und er ist ihnen sehr ver- schieden gewachsen. Unsere Offiziere haben und nicht nur in der Aussprache ihre besonderen kleinen Gewohn- heiten, die die Herrscherhäuser vielfach mit ihnen teilen, wo die Zufallssprache von Herrschern nicht das Muster war. Unsere Beamten sprechen, wie gebildete Leute anderer Stände, jeder eine Individualsprache, die je nach der Heimat, der Eitelkeit und der Mode irgendwo zwischen der richtigen Gemeinsprache und der Volkssprache liegt. In unseren Parla- menten hört man jedem Redner seine Heimat an; erst wenn die Dialektfärbung eine gewisse Grenze überschreitet, emp- finden die Zuhörer das als komisch oder als eine Störung.

Soweit also die Aussprache in Betracht kommt, streben alle sogenannten Gebildeten eines Volkes dahin, sich einer Gemeinsprache zu nähern, deren Muster nie und nirgends lebendig gewesen ist. Die affektierten Gesellschaftskreise, die dieser Gemeinsprache am nächsten kommen, wissen gar nicht, daß sie komisch wirken auf die Träger der lebendigen Sprache, auf das Volk; und doch lacht dieses Volk wieder, sobald die Mustersprecher auf der Bühne von der künstlichen Gemeinsprache absichtlich oder unabsichtlich abweichen. So ist zunächst immer in bezug auf die Aussprache das „richtige Sprechen" ungefähr so unwirklich wie der Artbegriff für das Individuum, oder wie der griechische Kanon für die einzelnen Statuen. Es gibt in der Natur nichts, was der Art entspräche, und doch befremdet uns jedes Individuum, das anders ist. Der regelrechte Kanon wäre kein Kunstwerk, aber wir würden jede Statue fehlerhaft finden, die sich vom Kanon wesentlich unterschiede. Die richtige Aussprache ist eine tote Abstraktion, die dennoch auf uns alle eine Macht ausübt. Dieser toten Abstraktion sich zu unterwerfen ist das

Richtige Aussprache 159

Bestreben des kunstbeflissenen Mädels, das in der Theater- schule für die Prostitution der Sprache abgerichtet wird; das ist auch das Bestreben des Pfarrers auf der Kanzel, des Redners auf der Tribüne; bis herunter zum dümmsten Dorf- jungen geht das, dem der Dorf Schulmeister durch endlose Prügel beizubringen sucht, er habe anstatt der Laute seines Dialekts neue Laute zu sprechen, gewöhnlich Phantasielaute, die irgendwo zwischen dem Dialekt und der toten Abstraktion stehen. „Man sagt nicht: me sogt; me sogt: man sagt." Wäre die Natur nicht stärker als die schulmeisterliche Absicht, die tote Abstraktion einer musterhaften Aussprache könnte am Ende zur Wirklichkeit werden; wer weiß aber, ob dann die ideale Sprache nicht die unerfreulichste Ähnlichkeit mit einer toten Sprache hätte. Wenigstens würde sie sich von der Schriftsprache kaum mehr unterscheiden.

Das richtige Sprechen fällt so ziemlich mit der Schrift- Wann spräche zusammen, wenn man nicht die Aussprache beachtet, ^La^gj^^f sondern die Worte und die Satzbildung. Und da besitzen wir ein historisches Beispiel dafür, wie \virklich gerade durch die Richtigkeit oder Musterhaftigkeit eine lebendige Sprache zu einer toten Sprache werden kann.

Wann ist das Latein zu einer toten Sprache geworden? Sicherlich nicht mit dem Untergang des römischen Reichs. Es blieb noch beinahe 1000 Jahre lang die Umgangssprache und die Schriftsprache der Gebildeten in den Kulturländern Europas. Daß es dabei seine klassische Form verlor, daß es sich einerseits durch die widerlichsten Abstraktionen den scholastischen Spitzfindigkeiten anpaßte, daß es anderseits für den Alltagsgebrauch des Klosters barbarisch neue Worte schuf, daß es mit einem Worte in ein Mönchslatein und Küchenlatein verwandelt wurde, das ist gerade ein Beweis dafür, daß es im Mittelalter noch eine lebendige Sprache war. Es war nicht weniger lebendig, als die griechische Sprache im Neugriechischen lebendig geblieben oder wieder lebendig geworden ist. Wann also starb die lateinische Sprache? Doch offenbar in jener vielgerühmten Zeit, als die Humanisten auf den Einfall kamen, klassisches Latein zu schreiben. Dieser

160 III- Sprachrichtigkeit

Einfall selbst war natürlich nur der Gnadenstoß für die alte Sprache. Er konnte nur kommen, weil das Mönchslatein schon zu sterben angefangen hatte, weil auch die Gelehrten der Zeit in den modernen Nationalsprachen zu reden und zu schreiben angefangen hatten; das Seltsame ist nur, daß diese Männer das Latein wieder zu beleben glaubten, als sie ihm den Todesstoß gaben. Die letzte Betätigung des Latein als einer lebendigen Sprache war eine Parodie. Als die Humanisten in den Briefen obscurorum virorum das Mönchslatein ihrer Zeit verspotteten und ihm, dem einzigen Erben des alten Latein, den Garaus machten, war die lateinische Sprache tot. Die Humanisten konnten dann noch so bewunderungswürdig in der Manier Ciceros weiter schreiben, sie schrieben in einer toten Sprache. Zwischen den Stilübungen des Erasmus von Rotterdam und denen eines heutigen Primaners besteht ein großer Unterschied an Feinheit; der geistige Vorgang ist der- selbe. Nur Gedanken oder Sätze, die sich im Gesichtskreise der Zeitgenossen des Cicero bewegen, lassen sich mit den Worten und der Satzbildung des Cicero ausdrücken ; nicht der einfachste Wunsch eines deutschen Arbeiters deckt sich mit diesen alten Formen, und die Gedankenwelt unserer studierten Herren muß unter die Gedankenwelt des Arbeiters herabsinken, wenn sie sich ciceronianisch aussprechen lassen soll. Der verhängnisvolle Irrtum der Humanisten, auf eine veraltete starre Form zurückzugreifen, quält heute noch die Söhne unserer wohlhabenden Kreise, die mit Latein gepeinigt werden, anstatt in ihrer Muttersprache die Wirklichkeit kennen lernen zu dürfen, die sie umgibt. Naturalis- Weim uuu zwischen der richtigen Gemeinsprache eines Volkes und seiner Schriftsprache immer noch ein Unterschied besteht und instinktiv wahrgenommen wird, so geht das auf einen ähnhchen Irrtum zurück, wie der der Humanisten war. Ich will ganz von der Schmach absehen, daß die lateinische Satzbildung und der widernatürliche Periodenbau Ciceros auf die Satzbildung der modernen Sprachen eingewirkt hat, und daß diese angeblichen Schönheiten, die von aller Welt als Schriftsprache empfunden werden, einfach Sprachfehler sind.

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Naturalismus \Q\

Latinismen im Satzbau. Aber auch abgesehen davon sind die meisten unserer Schriftsteller, die begabten wie die un- begabten, darin Humanisten, daß sie veraltete erstarrende Formen ihrer Sprache für Muster halten. Die naturalistische Bewegung der letzten zwanzig Jahre hat sich manches Verdienst erworben um die Freiheit des Geistes und um die Behandlung sozialer Fragen; ihr größtes Verdienst aber scheint mir, daß sie bewußt und rücksichtslos für die heutige Sprache das Recht verlangt hat, als Schriftsprache gebraucht zu werden. Es sind arge Geschmacklosigkeiten und aiich Gemeinheiten mit unterlaufen, weil im Kampfe gewöhnlich die unflätigsten Worte für die lebendigsten gehalten werden. Aber das Ziel der Bewegung ist dennoch das richtige, weil es in der Natur der Sprache liegt, sich zu verändern, und jede starre Form Totenstarre ist. Man kann nicht zweimal in denselben Fluß hinabsteigen. Ein Volk kann nicht zweimal in der gleichen Sprache denken.

Die Sprachmeisterer verwechseln da wieder die historische Betrachtung mit der Beschreibung der Wirklichkeit; eine genaue Beschreibung der Wirklichkeit (was man dann eine Erklärung nennt) muß immer die Geschichte zu Hilfe nehmen. Aber die Geschichte allein ist wertlos. Wer ein Wörterbuch seiner Sprache zusammenzustellen unternimmt, der muß den Gebrauch belegen, und er wird begreiflicherweise die Belege aus Schriftstellern nehmen, weil er nur so alle seine Behaup- tungen beweisen kann. Und es kann ihm nicht übel ge- nommen werden, wenn er irgendwo abschließt und die Beleg- stellen nur aus solchen Schriftstellern nimmt, die bereits seit vielen Jahren als gute Schriftsteller anerkannt werden vmd über deren Fähigkeit kein Streit mehr herrscht. Aber gerade solche Wörterbücher, so nützlich sie sonst sein mögen und so unersetzlich für die Sprachforschung, also indirekt für die Sprache, sind vielleicht auf der ganzen Welt die einzigen Bücher, welche unfruchtbar sind für eine lebendige Weiter- entwicklung der Sprache. Man findet in ihnen alles, nur gerade nicht den Sinn, zu welchem sich das Wort heute entwickelt hat, und der morgen der Gemeinsprache angehören wird. Für

Mauthner, Beitrage zu einer Kritik der Sprache. II H

152 III- Sprachrichtigkeit

die Weiterentwicklung seiner Sprache tut nicht nur jeder kleine Schriftsteller mehr, indem er unbewußt die Änderungen weiter verbreiten hilft, die die Sprache um ihn herum erfährt; nein, jeder schlichteste Mann aus dem Volke erhält seine Muttersprache lebendiger als Grimm, Littre oder Murray^ abgesehen natürlich von dem indirekten Werte der Wörter- bücher und von der persönlichen Bedeutung Grimms. Wer uns heute auffordert, uns in der Anwendung starr an Goethe zu halten (an welchen Goethe? den 25jährigen? oder den 75jährigen?), der wiederholt den Irrtum derer, die cicero- nianisch schreiben wollten, der vergißt, daß Goethe ein Re- volutionär sein mußte, um von konservativen Sprachmeistern als Muster hingestellt zu werden. Solche Revolutionen sind von Zeit zu Zeit nötig, wenn sich die Schriftsprache nicht allzu weit von der Gemeinsprache entfernen soll, die doch von uns allen als die richtige Sprache empfunden wird. Eine solche Revolution war vor 25 Jahren der Naturalismus. Ich halte es aber wohl für möglich, daß die Schriftsprache einmal als ein der Gemeinsprache entgegengesetzter Begrifi vollkommen überwunden wird. Es würde dazu nichts weiter gehören, als daß es keine schlechten Schriftsteller mehr gäbe. Die schlechten Schriftsteller sind es, die sich nach irgend einem bereits fertigen, also sterbenden Vorbild richten und sich von der natürlichen Sprache um so weiter entfernen, je mehr sie ihr Vorbild mechanisch nachahmen. Dabei wirken übrigens Moden mit, welche in der Sprache nicht seltener wechseln, als in den Kleidern. Klassisch ist ein Schriftsteller nur, wenn er die höchsten Anschauungen seiner Zeit in der Gemeinsprache seiner Zeit auszudrücken weiß, die dann für seine Nachahmer zur starren Schriftsprache wird. Hat eine Zeit erst lange keinen solchen klassischen Schriftsteller besessen, droht die gesamte Literatur in Schriftsprache zu erstarren, dann können sich auch kleinere Talente ein Verdienst dadurch erwerben, daß sie der Gemeinsprache wieder zu ihrem Rechte verhelfen. Und die Natur der Dinge sorgt dafür, daß sie dann regelmäßig zu weit gehen und jedes Rülpsen und Stottern und Spucken für Schönheiten der Gemeinsprache halten.

Wer spricht richtig? 163

Wir haben gesehen, daß es eine allgemein gültige Aus- Wer spräche nicht gibt, daß die musterhafte Aussprache guter rhhug' Schauspieler nur von der Bühne herunter als ein Vorzug hingenommen, im Umgang aber von gesunden Ohren selbst als Fehler empfunden wird. Wir sehen jetzt, daß die muster- gültige Sprache, wie sie uns an den klassischen Schriftstellern eines Volkes anempfohlen wird, nur beim Lesen dieser Schrift- steller selbst klassisch ist, sofort aber zum Fehler wird, wenn wir sie wirklich als Gemeinsprache nachahmen wollen. Wie von der Bühnensprache müssen wir von der Schriftsprache sagen, daß sie ein Muster sei, dem sich die sogenannten Ge- bildeten eines Volkes zu nähern suchen, das sie aber niemals in der Gemeinsprache erreichen dürfen, ohne unangenehm oder lächerlich zu werden. Was ist also nun die Gemeinsprache, die richtige Sprache der Gebildeten, wenn ihr Muster selbst ein falsches Muster ist? Wer spricht richtig, wenn es keinen Maßstab gibt, die Richtigkeit zu beurteilen, wenn es weder für die Aussprache noch für den Wortgebrauch noch für die Satzbildung ein Muster gibt? Wir sind allerdings geneigt, die Frage cavalierement zu beantworten. Wir antworten -.wir sprechen richtig, wir Gebildeten, wir Leute von der guten Gesellschaft, die wir übrigens auch Kleider nach dem neuesten Schnitt tragen und den Fisch nicht mit dem Messer zerlegen. Ich fürchte, die Antwort wird nicht weit führen. Sie wird die weitere Frage heraufbeschwören: wer denn eigenthch zu uns gehöre? Wer gehört zu den Gebildeten? Am Ende gar nur der, der seine Muttersprache richtig spricht? Da würde sich aber die Schlange denn doch empfindlich in den Schwanz beißen.

Stellen wir die Frage einmal anders. Wann sprechen wir unsere Muttersprache richtig? Warm? Die Frage selbst kann eine zweifache Bedeutung haben. Wir die Gebildeten des Volks haben eine andere natürliche Sprache, die wir dann immer für die richtige Sprache halten, in unserer Jugend und im Alter. Wann sprechen w i r also richtig : früher oder später? Wir gebrauchen femer verschiedene Näherungsgrade an die Schriftsprache, je nachdem wir den Hörer einschätzen;

164 III- Sprachrichtigkeit

wir reden nach Kräften Schriftdeutsch, wenn wir eine Vor- lesung halten, auf der Kanzel oder auf der Bühne stehen, wir reden aber dieselben „wir" irgendeine der Mundart sich nähernde Sprache, sobald wir auf dem Markte, im Ge- dränge, auf dem Lande usw. mit ungebildeten Leuten zu tun zu haben glauben. Man wird mir einwenden, das eine Mal werde eben die Gemeinsprache geredet, das andere Mal die Mundart. Das mag meinetwegen bei einem beschränkten Pfarrer zutreffen, der auf der Kanzel sein (wohlgemerlrt : sein) Hochdeutsch spricht, mit den Leuten sein Plattdeutsch ; er beherrscht dann eben nur zwei Sprachen, die Gemein- sprache und die Mundart seiner Gegend. So spricht vielleicht der Älissionar auf einer fernen Insel nur sein Hochdeutsch und außerdem nur noch karaibisch. Das ist aber nicht die Regel bei „uns". Wir haben eine Menge Abstufungen in unserer Sprache, in der Aussprache sowohl wie im Satzbau. Der beste Sprecher unter unseren Schauspielern, Joseph Kainz, redete auf der Bühne völHg dialektfrei; im intimen Gespräch, wenn er sich unbefangen gehen ließ, redete er die Gemein- sprache, mit deutlichen Anklängen an die österreichische Heimat und zwar mit einem Stich in den slawodeutschen Beamten] argon; ließ sich derselbe Schauspieler scheinbar noch mehr gehen, das heißt spielte er sich selbst, so wie er selbst gern gefallen wollte, so sprach er sehr gut und rein die Wiener Mundart. Er redete also nur dann richtig, wenn er seine künstliche Sprache sprach; wir denken da wieder zunächst an die Aussprache, weil er als Künstler den Satzbau nur aus- wendig zu lernen hatte, wie „wir", die hochgebildete Zierde des Volks, sie ihm als Dichter vorgeschrieben haben. Wie aber wir selbst? Wann sprechen wir denn eigentlich richtig? Wenn wir mit der Feder in der Hand und mit den Mustern vor uns Literatur machen, oder wenn wir wir, diese selben Dichter und mustergültigen Schriftsteller, unter uns sind und, ohne von Ungebildeten gestört zu werden, plaudern? Unser Literaturdeutsch muß was selbst fehlerhaft erscheinen, wenn wir es an unserer doch so fehlerfreien Umgangssprache messen; unsere Umgangssprache ist falsch, wenn wir unser

spräche

Wer spricht richtig? 1G5

Literaturdeutsch für riclitig halten. Ans dieser Stimmung heraus mochte ich einst geneigt sein, das masterhafte Deutsch manches berühmten Schriftstellers lächerlich zu finden und zu parodieren; notabene jedes Muster für sich, denn es gibt so wenig eine gemeinsame Literatursprache, daß jeder in ihr seine eigenen Fehler macht.

Und so kehren wir zu unserer Frage zurück. Wer spricht scUrift- richtig? Niemand oder jeder. Es kommt ganz auf den Sinn der Frage an. Wann sprechen wir richtig? Niemals oder immer. Denn es gibt keine mustergültige Gemeinsprache, sie ist eine Abstralction, wie die Sprache außerhalb der Individualsprache überhaupt eine Abstraktion ist. Da man aber geneigter sein wird, mir für die gedruckte Schrift- sprache als für die gesprochene Gemeinsprache zuzugestehen, daß sie eine tote Abstraktion sei, so muß noch mit einem Wort gesagt werden, wie es gerade ohne die Druckschrift vielleicht niemals zu unseren umfassenden Gemeinsprachen gekommen wäre. Es ist aber eine einfache Tatsache, daß es im Mittelalter eine gemeinsame Schriftsprache nicht gab; jede Landschaft schrieb ungefähr, wie sie ungefähr sprach. Es läßt sich wohl denken, daß (was auch nachgewiesen ist) die Schriftsprache bei Gelegenheit von Abschriften für ent- fernte Landschaften geändert wurde, so wie der Schwabe etwa seine Mundart zu ändern bemüht war, wenn er auf fränkischem Boden stand. Erst wenn der Oberdeutsche unter Niederdeutsche geriet, glaubte er wohl unter fremden Menschen zu sein.

Das wurde anders, als die bequeme Maschine ein Literatur- produlct in vielen tausend Exemplaren für ganz Deutschland auf einmal herstellen konnte. Was heißt das : für ganz Deutsch- land? Jetzt heißt es: für alle hochdeutsch redenden und ver- stehenden Menschen von Riga bis Basel. Was hieß es aber damals, als die Buchdruckerkunst erst erfunden worden war? Damals hieß es : zu der Buchdruckerkunst, die unzählige gleiche Abdrücke machen konnte, die Schriftsprache hinzu erfinden, die von Unzähligen verstanden wurde. Das soll natürlich nicht heißen, daß die Erfinder planmäßig darauf ausgingen.

IQQ III. Sprachrichtigkeit

Aber es war nicht anders. Volksbediirfnis und Geschäfts- interesse der Drucker wirkten zusammen, daß man sich langsam auf eine verstandene (passiv geübte) Schriftsprache einigte, die dann endlich, aktiv geübt, zur geredeten Gemeinsprache wurde. Auf die Gefahr, unsere Sprach- philosophen zu kränken, will ich den Vorgang mit Geschäfts- unternehmimgen aus unseren Tagen vergleichen. Als das Petroleum von großen Unternehmern als neues Leuchtmaterial in den Handel gebracht wurde, gab es in den verschiedenen Volksgruppen viele andere Beleuchtungskörper im Grebrauch. Nur die Leute, welche die Moderateur- Öllampen besaßen, kamen nun mit einer leichten Anpassung davon; die Unter- nehmer erfanden Petroleumbecken, die sich bequem gegen die ölbecken umtauschen ließen. Auf dem Dorfe aber, wo noch der Kienspan brannte oder das offene ÖUämpchen, ging es nicht mit der Anpassung. Man behielt das alte Licht bei, bis man sich eines Tages aber nur für den Sonntag zur Anschaffung einer ganz neuen Petroleumlampe entschloß, als sie wohlfeil geworden war. Was ist nun gegenwärtig „das" Licht? Ist es die Petroleumlampe, die in allen Hütten leuchtet? oder ist es das elektrische Licht der Städter? oder ist es das Ideal, Teslas Licht der Zukunft?

Wer spricht nun aber diese richtige Schriftsprache richtig? Die Geistlichen nicht, denn ihr Jargon geht offenkundig noch viel weiter zurück, ist entweder lateinisch oder ein geziert er- neuertes Lutherisch. Die gelehrten Geschäftsleute unter den Ärzten und Juristen nicht, da sie vom Volk nicht mehr ver- standen werden, sobald sie ihre Geheimsprache reden. Die Redner nicht, da sie längst von den Dichtern gelernt haben, der Umgangssprache ihre Wirkungen abzulauschen. Endlich die Dichter selbst nicht, weil nur noch wenige unter ihnen sich für Pfaffen genug halten, um sich das Eecht auf besondere Freiheiten zuzusprechen. Niemand spricht die Schriftsprache, sie ist gar nicht in Wirklichkeit vorhanden. Sie ist wieder nur die Resultierende aus den tausend Eigenheiten, die die un- zähligen belesenen und beschriebenen Volksgenossen sprechen und schreiben. Sie ist wieder nur eine Abstraktion.

Meine individuelle Sprachentwicklung 167

Noch einmal: wann sprechen wir richtig? Und wieder ge- Beispiel nauer: wann spreche ich richtig? Oder: wie bin ich zu der jn^ivi- Sprache gekommen, die ich j e t z t f ür richtig halte, so wie ich zu Quellen jeder anderen Zeit meine Sprache für richtig gehalten habe? entwick- Das Beispiel wird belehrend sein, weil es ein ganz alltägliches i^ng Beispiel ist und ganz persönlich und darum sicher gut beoachtet.

Ich bin Ende der vierziger Jahre im Nordosten Böhmens geboren. Dort lernte ich nach Landesbrauch zuerst ein paar tschechische Worte; mit den Kindern bis zum dritten Jahre sprechen auch deutsche Eltern tschechisch, weil die Amme Tschechin ist. Dann lernte ich Deutsch; von meinem Vater, der ohne eigentliche Sachkenntnis sehr viel auf gebildete Sprache hielt, ungefähr die Gemeinsprache der Deutsch- böhmen mit einem leisen Zug nachgeahmter österreichischer Armeesprache; von der Mutter das Deutsch meines Groß- vaters: viele veraltende Wort- und Satzformen prächtiger altfränkischer Prägung (er stammte aus dem 18. Jahrhundert), dazu einige jüdische Worte und Klanggewohnheiten, endlich alamodisches Einflicken französischer Zierformen. Wir hatten dann einen Hauslehrer; er lehrte uns in harter Aussprache ein charakterloses „reines Deutsch", das in Böhmen übliche. Ich sagte : „ohne dem", „am Land", ich zweifelte nicht daran, daß „Powidl" ein deutsches Wort sei. Es folgte die Zeit des Gymnasiums; die Lehrer imseres Piaristengymnasiums waren im ganzen unwissend, ungebildet, überdies fast ohne Aus- nahme Tschechen, die uns ein abscheuliches Slawischdeutsch bewußt imd unbewußt beizubringen suchten. Ich bemerke, daß ich hier natürlich es wäre ebenso unmögHch wie lang- weilig — unterlassen habe, alle die Dienstmädchen und Straßen- kinder, oder auch nur die Geschwister und Verwandten auf- zuzählen, die meine Individua Isprache mit gebildet haben; ebenso unterlasse ich es, auf die Schulkameraden einzeln hinzuweisen, die jetzt und später selbst durch mich be- einflußt — mich ^vieder beeinflußten. Nur um die großen Züge ist es mir zu tun, und schon da wird man spüren, daß die Individualsprache unbeständig ist, wie ein Luftatom in der Atmosphäre und doch immer an seiner richtigen Stelle ist.

168 III- Spracbrichtigkeit

Inzwischen hatte ich literarische Neigungen gefaßt, etwa seit meinem 16. Jahre. Seitdem bis auf den heutigen Tag habe ich tausende und abertausende Bücher gelesen, oft mit dem bewußten Streben, die richtige Sprache aus ihnen zu lernen. Jedes Buch muß auf mich gewirkt haben wie jeder Mensch, mit dem ich je ein Wort gewechselt habe.

Ich habe seit derselben Zeit, teils allein teils mit anderen, fremde Sprachen gelernt ; jeder fremde Satz muß mein Sprach- gefühl beeinflußt haben.

Ich habe auf dem Gymnasium wie alle mich bemüht, aus dem Lateinischen genau, das heißt falsch, ins Deutsche zu übersetzen, imd mir so gewiß wie alle anderen die lateinische Periode noch mehr angewöhnt, als ich sie schon in den deutschen Mustern vorfand.

Ich habe auf der Universität Jura studiert imd eine große Anzahl Worte in ihrer juristischen Bedeutung vornehmlich zu verstehen mir angewöhnt, dazu eine gewisse Sicherheit im Distinguieren.

Ich habe um diese Zeit angefangen, autodidaktisch Philo- sophie zu treiben, und habe oft jähre- oder monatelang den Gedankenkreis und damit den Sprachgebrauch eines be- stimmten Philosophen unbewußt zu dem meinigen gemacht.

Ich bin nach Berlin übersiedelt, habe da eine ost- preußische Frau genommen und ein Kind erzogen, das berlinisch sprach. Von beiden habe ich unbewußt und bewußt Worte und Wortfolgen angenommen. Vorher war es in Prag ein KJreis von Professoren und ihren Frauen gewesen meine LiebUnge stammten zufällig aus der Rheingegend, die sich bewußt und unbewußt meiner Sprache annahmen.

Ich habe als Schriftsteller eine Zeitlang die Geschichte der deutschen Sprache studiert, und so weit Historie wirksam ist, war sie wirksam. Ich trieb als Vorstudium zu diesem Werke jahrelang Sprachwissenschaften; und während ich Stoff sammelte, mußte die Form notwendig von dem Inhalt selbst beeinflußt werden. Ja, während des Niederschreibens wuchs die Skepsis gegenüber der Sprache so sehr, daß die Form am Ende wohl wieder das Ergebnis beeinflußt hat und umgekehrt.

Meine individuelle Sprachentwicklung 169

Endlich ist sogar die Sprache dieses Buches nicht ein Monolog, sondern auch wieder etwas „zwischen den Men- schen". So mag jeder Schriftsteller bei jedem Buche anders reden, weil er zu anderen zu sprechen träumt.

Es geht diesem Buche also, wie es schließlich jedem ein- fachsten Satze der lebendigen Sprache geht: es gibt keine allgemeine Richtigkeit für beide, es gibt nur eine individuelle Richtigkeit, wie es nur Individualsprachen gibt. Und am letzten Ende aller Enden ist doch wieder diese Individual- sprache selbst noch abhängig von anderen, weil alle Sprache etwas Gegenseitiges ist.

Ich hoffe, klar gemacht zu haben, was mir noch die Richtig- keit der Sprache sein kann. Die Richtigkeit unserer Gedanken- welt i:^t nur dann vorhanden, wenn wir von der Wirklichkeits- welt richtige Sinneseindrücke hatten und so in unseren Begriffen einen Vorrat richtiger Erinnerungen besitzen. Wir wissen, daß es schlecht bestellt ist um diese Richtigkeit der Gedankenwelt, daß jeder einzelne Begrifi notwendig etvras Schwankende?, Nebelhaftes hat, und daß dieser Fehler sich bei der Verbindung der Begriffe nur noch steigern muß. In diesem Sinne allein ist uns Richtigkeit der Sprache eine ernsthafte Angelegenheit. Die richtige Sprachform nach Laut und Grammatik ist zwar Gegenstand besonderer Wissenschaften; sie ist aber für den Fortschritt der menschlichen Erkenntnis im allgemeinen so gleichgültig, wie die Frage des Gigerls, ob „man" in diesem Frühjahr weite oder enge Hosen trage. Der Gigerl meint sich und seine Genossen, wenn er „man" sagt: jeder Mensch ist so der Mittelpunkt wirklich der jMittelpunkt eines besonderen Kieises, in welchem „man" richtig spricht. Und wir alle stehen daneben noch in anderen Kreisen richtiger Sprachform, und nicht nur, daß wir jeder richtig sprechen: wir sprechen sogar jedesmal richtig, so oft wir auch ver- schieden sprechen.

Ist aber ein „richtiges Sprechen" schon im Sinne der Erkenntnistheorie nicht vorhanden, so wird dieser Fehler gewiß noch potenziert dadurch, daß es nicht einmal im volks- tümlichen Sinne ein richtiges Sprechen gibt. Richtig ist so

170 ^V. Zufall in der Sprache

viel wie gesetzmäßig. Und hat man sich erst von dem Wort- aberglauben befreit, nach welchem Notwendigkeit immer Gesetzmäßigkeit sein muß, wird man den Zufall in der Sprach- geschichte begreifen.

IV. Zufall in der Sprache

Zufall . Die Silbe oder der Stamm oder die relative Wurzel, welche Sprache »g®^®^" ^^^^ »^^^^ bewegen" bedeutete, konnte mit der Zeit so vielerlei Bedeutungen annehmen, daß der Zufall in der Sprachgeschichte beinahe lustig wird. Das griechische Wort Trpoßata mag wirklich einmal „vorwärtsgehende" Wesen bedeutet haben; dann kam es zu dem Sinn von zahmen Herdentieren und wurde endlich zum Begriffe von Schafen und Ziegen, wofür andere Sprachen einen gemeinsamen Begriff gar nicht besitzen. Aus der relativen Sanskritwurzel für gehen (sar) entstand wiederum nicht die Bedeutung Fuß- gänger oder Vieh, sondern „Fluß"; in etwas veränderter Gestalt hieß das Wort dann „Saft". Ein anderer Sanskrit- stamm für gehen entwickelte sich einerseits zu „schnell", anderseits zu „Tropfen", welche Bedeutung sich wieder mit Saft berührt. Der lateinische Stamm für gehen (i) führte wiederum, wie es scheint, zu dem Worte und Begriffe, welches in unserem „ewig" vorliegt und welches auch lautlich mit dem griechischen Aeon (alwv) zusammenhängen mag, und das lateinische Wort für „bewegen" entwickelte sich über das Französische hinweg zu unserem „Möbel".

Ist schon der Lautwandel trotz aller vermeintlichen Gesetze eine Zufallsgeschichte (wer wäre mit allen Lautgesetzen ohne Kenntnis der Zufallsgeschichte dazu gelangt, das englische „tear" und das französische „lärme" etymologisch zu ver- gleichen?), so ist der Bedeutungswandel niemals gesetzlich, sondern immer nur historisch, das heißt zufällig zu begreifen (vgl. Art. Geschichte in meinem „Wörterbuch der Philosophie").

Hionipa Die Sachlage, daß der Bedeutungswandel in „der" Sprache oder in irgend einer Sprache nicht nach „Gesetzen" vor sich

Hlonipa 171

geht, sondern historisch, also zufällig entsteht, das heißt jedesmarseine zureichende Ursache hat, nicht aber Gesetzen ge- horcht, wird eigentümlich beleuchtet durch die Erscheinung des Hlonipa, die bei so vielen abergläubischen Völkern von Australien, der Südseeinseln, Südafrikas und Südamerikas beobachtet worden ist, daß man sie wohl als eine allgemeine Einrichtung unlcultivierter Völker betrachten kann; um so mehr als der Hlonipa auch unter uns besteht, und um so mehr als wir %virklich glauben müssen, daß der Aberglaube in Ur- zeiten doch noch sinnloser war als heute. Der Hlonipa, wie er besonders bei den Zulukafiern zu Hause ist, von wo auch, wenn ich nicht irre, das Wort stammt, besteht darin, daß nach dem Tode eines Stammesgenossen der Name dieses Toten und alle zufällig ähnlich klingenden Worte aus dem Sprach- gebrauch verschwinden müssen. Ist z. B. der König oder die Königin Pomare auf der Insel Tahiti gestorben, so wird mit dem Worte Pomare auch das Wort Po (Nacht) für den Umkreis der Insel verpönt. Wir wollen dahingestellt sein lassen, ob in der Tat diese Laute vermieden wurden, damit der Tote nicht gerufen werde und sich nicht als Geist bei den Mahlzeiten einstelle; wir wollen nicht fragen, ob wirklich, wie es von da und dort berichtet ^vird, die Frauen des Stammes herkömmlich die Aufgabe gehabt hätten, neue Worte zu er- finden. Wir wollen nur festhalten, daß in alten Zeiten ganz gewiß jede Sprache auf kleine Stämme oder gar auf Familien beschränkt war und daß nun dort, wo der Hlonipa herrschte, nach einigen Generationen das geringe Sprachgut allmählich einem neuen Platz machen mußte.

Es liegt auf der Hand, daß im Verfolge der Zivilisation, als eine Sprache weitere Stämme imd größere Völkerschaften umfaßte, der Hlonipa seine Wirksamkeit verlieren mußte; gerade aber in uralten Zeiten konnte er in kurzer Zeit den Wortbestand einer Familiensprache teilweise ausrotten.

Von den Bewohnern der Insel Tahiti ^vird ferner (hofEent- Tepi lieh glaubhaft) berichtet, daß sie aus ihrer Sprache jedes- mal diejenigen Worte oder Silben weglassen, welche an den Namen ihres regierenden Königs oder an die Namen seiner

172 IV. Zufall in der Sprache

nächsten Anverwandten erinnern. Dieser Gebrauch wird dort Tepi genannt. Er wird uns weniger befremdlich er- scheinen, wenn wir uns dabei erinnern, daß z. B. die ortho- doxen Juden den Namen ihres Gottes („Jahve"; Jehova, von Juden nicht gebraucht, ist schon durch die Vokale des Ersatz- wortes Adonai unlienntlich gemacht) nicht aussprechen dürfen, daß in unseren Flüchen sehr häufig der Name Gottes und der des Teufels durch sinnlose Silben ersetzt wird (Potz- tausend, sacrebleu, Hol dich der Geier), daß sogar das Aus- sprechen des königlichen Namens vermieden wird, indem man das Abstraktum „Majestät" dafür setzt. Wer den Kaiser mit „Vv'ilhelm" oder gar „Willem" anredete, würde sich wohl einer Beleidigung schuldig machen. Wir haben also ebenfalls unser Tepi.

Wir können uns trotzdem in diese tahitische Sprach- veränderung kaum hineindenken. Von dem Tage an, da ein König Namens Tu den Thron bestiegen hatte, war die Silbe tu aus der Sprache verbannt, und das Wort Fetu (Stern) z. B. hieß von da ab Fetia.

Ein ähnHcher Sprachgebrauch soll bei den Kafijweibern herrschen, die mit keinem ihrer Worte an den Klang des Namens ihrer nächsten männlichen Anverwandten örinnern dürfen. Stirbt nachher der König oder der männliche Ver- wandte, so stünde der Wiederaufnahme der Laute in die Sprache des Volks oder der Weiber nichts mehr im Wege. Hat aber der König oder der Mann lange genug gelebt, so ist die Sprachveränderung wohl bleibend geworden. Stärker kann sich die Macht des Zufalls über die Sprache sicherlich, nicht mehr äußern.

Wir sollten uns hüten, solche Sprachgewohnheiten als Eigentümlichkeiten von Wilden zu verachten. Auch wir haben unseren Namensaberglauben, haben unsere Euphe- mismen. Was war es denn anders als Hlonipa oder Tepi, wenn nach dem Attentate auf den alten Kaiser Wilhelm mehrere Familien Nobiling ihren Namen änderten? Hlonipa ist es, wenn unsere Kinder oft klassenweise irgend ein Lieblings- wort plötzlich aufgeben, weil sich durch irgend einen Zufall

Tepi 173

der Begriff der Schande daran geknüpft hat. Hlonipa endlich scheint mir mitzuwirken, wenn in den europäischen Haupt- städten die Umgangssprache den Namen für die Prostituierten von Zeit zu Zeit ändert, weil ihr das bisherige Wort zu gemein geworden ist.

Ein echt menschlicher Instinkt aber, der Drang zu forschen und sich dennoch bei der ersten Generalisation oder Personi- fikation zu beruhigen, hat zu der Einteilung unserer Welt- erkenntnis in Wissenschaften und zu der Ausrufung sogenannter Gesetze geführt. Auch in der Sprachwissenschaft soll es Ge- setze geben, nicht nur die Gesetze des Lautwandels, sondern auch Gesetze der Begriffsentwicklung. Selbst Lazarus Geiger, dessen Hauptwerk eine vortreffliche kritische Tat ist, verrät an vielen Stellen, daß er Gesetze gefunden zu haben glaubt. Man traut seinen Augen nicht, wenn man bei ihm zum Beweise dafür, daß trotz aller Zufälligkeiten der Sprachgeschichte und trotz der Masse der Entlehnungen dennoch die Ursprüng- lichkeit der Wurzeln nachgewiesen werden könne, den un- geheuerlichen Satz liest: „Hinter der Sanskritsprache liegt keine zertrümmerte alte." Woher weiß er das so genau? Woher weiß er denn, daß (um in dem sinnlosen Bilde von Mutter- und Tochtersprache zu bleiben) nicht irgend eine unbekannte alte Sprache die zertrümmerte Mutter des Sanskrit gewesen sei? Woher weiß er denn, ob nicht irgend eine andere Sprache, deren Ähnlichkeit durch Zertrümmerung vernichtet worden ist, als Muttersprache hinter dem Sanskrit liege? Woher weiß er denn etwas aus einer Zeit, aus der es keine Über- lieferung gibt?

In diesem ungeheuerlichen Satze: „es liege hinter der Sanskritsprache keine zertrümmerte alte", in dieser sinn- losen Behauptung, die eines Max Müller würdiger gewesen wäre als eines Lazarus Geiger, verbirgt sich etwas, was man nur herauszuholen braucht, damit es auf dem Pranger stehe. Es verbirgt sich nämlich dahinter immer noch die erz- philologische Vorstellung, daß die Saaskritsprache eine Ur- sprache sei, so wie Erztheologen einmal annahmen, es sei das Hebräische die Ursprache. Und in dieser Vorstellung

174 IV. Zufall in der Sprache

steckt wieder ohne Gnade die andere, daß das älteste Sanskrit, das der ältesten Vedenstücke nämlich, dessen Wurzeln den Erzphilologen so bequem zur Euhe kommen lassen, identisch sei mit jener Sprache, welche die Menschheit oder wenigstens der legendäre indoeuropäische Menschenstamm schuf und sprach, als er sich aus dem Zustand der Tierheit befreite, um in den Stand der sprechenden Menschen aufgenommen zu werden. Aus dieser ungeheuerlichen Vorstellung entwickelt sich dann der Widerspnich, den wir bei Geiger finden, daß nämlich einerseits die Bedeutung der Sanskritwurzeln gern bis zur primitivsten Vorstellung von tierischen Bewegungen zurückgeführt wird, daß anderseits alle unsere sittlichen, reli- giösen und ästhetischen Begriffe in den vedischen Schriften schon nachgewiesen werden. Es mußten also die Inder der Vedenzeit eine seltsame Sprache geredet haben, eine Sprache, hinter welcher keine zertrümmerte alte lag und welche zu- gleich an die Ausdrucksmittel der Tiere grenzte und an die Ausdrucksmittel einer reifen Kultur. Die Ursprache der indoeuropäischen Menschheit wäre zugleich die Sprache des Affen und Hegels gewesen.

Der heimliche Grund, der die Linguisten zu einer so ver- zweifelten Annahme führte, war nur der, daß man sich bei Gesetzen beruhigen wollte, wo die Wirklichkeit nur das Walten des Zufalls darbot. Ich habe an zahlreichen Stellen versucht, den Begriff Gesetz zu analysieren und ihn als einen rein menschlichen, der Wirklichkeit fremden, auf die Welt- erkenntnis nicht anwendbaren Begriff nachzuweisen. Ins- besondere in der Geschichte gibt es keine Gesetze, auch nicht in der Sprachgeschichte. Ich möchte hier auf die Gefahr der breitesten Wiederholung durch einen Hinweis auf die astronomischen Gesetze noch einmal die Armut der Sprach- gesetze zeichnen. Astro- Nach jahrtausendelangem Beobachten und Vergleichen ist

es erst dem Genie Newtons gelungen, die Bewegungen der Sterne oder vielmehr die Stellungen der Sonne zu den Planeten und den Monden auf eine einzige Formel zurückzuführen, und wir sind es gewohnt, diese Formel das Gesetz der Gravitation

nomie

Astronomie 175

ZU nennen. Es ist eine schöne und die menschliche Wissens- sehnsucht beruhigende Hypothese, wenn wir dieses sogenannte Gesetz der Gravitation nun auf die gesamte Sternenwelt an- wenden. Es ist eine weitere schöne Hypothese, wenn Kant und Laplace angenommen haben, dieses Gesetz habe seit jeher geherrscht, und wenn sie mit Hilfe dieses Gesetzes die gegen- wärtigen Bewegungen des Sonnensystems formulierten, das heißt mit den einfachsten Worten beschrieben, zugleich aber auch die Entstehung dieser Bewegungen zu erklären suchten. Bekanntlich ist in dieser Geschichte des Sonnensystems noch alles unsicher und die Losreißung der einzelnen Planetenmassen von der Zentralmasse bleibt nach wie vor eine Sache des Zufalls. Nun denke man sich, es wolle ein kühner Geist die Entstehung des Himmels schreiben und zwar so, daß er aus der durchaus unerklärten und durch nichts als den Zufall zu erklärenden Entstehung der Sonnenplaneten historische Gesetze, Gesetze einer Geschichte des Himmels erschlösse. Es wäre ein luftiges Phantasiegebäude. Aber diese Gesetze wären wenigstens unkontrollierbar. Solche historische Gesetze für die Weltgeschichte, die politische oder die Kulturgeschichte aufzustellen, ist noch weniger gelungen, weil sie sich an den harten kontrollierbaren Tatsachen stoßen. Nun betrachte man gar diejenigen Erscheinungen der Analogie, welche man Gesetze der Sprachgeschichte zu nennen großmütig oder eitel genug war. Die astronomischen Gesetze, die schon vor Newton entdeckt waren, haben ihre Probe so weit bestanden, daß man den Kalender nach ihnen einrichten, das heißt die Jahres- einteilung voraussagen konnte. Das konnte man aber schon nach dem Ptolemäischen System, dessen Fiktioncharakter doch selbst den Arabern bekannt war. Das höhere Gesetz der Gravitation hat nicht einmal zu einer einstimmigen Ansicht von der Zukunft des Sonnensystems geführt. Die paar Sprach - gesetze gar haben nur rückwirkende Kraft, was schon darauf schließen lassen sollte, daß sie nicht einmal nach dem be- scheidenen Sprachgebrauche wirkliche Gesetze sind. Wenn wir erfahren, daß im Französischen das lateinische t zwischen zwei Vokalen und unter gewissen anderen Umständen imaus-

176 IV. Zufall in der Sprache

gesprochen bleibt, daß „darum" pere, mere, frere, larron, pierre, chaine aus pater, mater, frater, latro, petra, catena ent- stehen, so sind wir in der Erkenntnis der Ursache nicht um einen Schritt weiter gekommen. Wir haben doch nur die Analogie aus einer Anzahl von Fällen herausgehoben, aber wahrhaftig diese Analogie nicht unter eine allgemeinere Formel gebracht, die auch nur menschlich für ihren Grund gelten könnte, so wie etwa die allgemeinere Formel Gravi- tation für den Grund der fallähnlichen Bewegungen gilt. Es können die Gesetze des Lautwandels nur höchst uneigentlich Gesetze genannt werden, aber selbst wenn die Lautgesetze den chemischen oder physikalischen Gesetzen ebenbürtig wären, so besäßen wir in ihnen immer noch keine Sprachgesetze, weil die Sprache doch nur um der Wortbedeutungen willen Sprache ist, und der Lautwandel in gar keinem erkennbaren Zusammenhange steht mit dem Bedeutungswandel der Worte. Von Gesetzen des Bedeutungswandels ist zwar viel gefabelt worden, aber mehr als den Zufall hat man in der Geschichte des Bedeutungswandels bis zur Stunde nicht finden können. Man halte doch nur eine Tatsache fest: auf die Bildung der modernen Kultursprachen, der einzigen, deren Geschichte wir ein wenig kennen, ist die politische Geschichte von entscheidendem Einfluß gewesen. Die englische Sprache wäre nicht zustande gekommen ohne die Ereignisse, welche nacheinander Sachsen, Dänen und Normannen zu den früheren Bewohnern Englands führten; die romanischen Sprachen wären nicht entstanden ohne die politischen Ereignisse, welche die römische Macht und ihre lateinische Sprache hin und her führten. Selbst im alten Italien wäre etwas anderes als das klassische Latein zur Kultursprache geworden, wenn nicht gerade Rom und dort ge- rade der Adel die Macht erlangt hätte. In jedem Falle lagen die Verhältnisse anders. Die politische Geschichte erst kann uns lehren, bei welchem der aufeinander stoßenden Völker die einzelnen Kulturerscheinungen (Sitte, Recht, Armee, Religion, Handel) siegreich waren. Das besiegte Volk konnte den Siegern einen Teil seines geistigen Besitzes aufdrängen. So ist die Sprache jedesmal von der politischen Geschichte

Geschichte 177

abhängig und doch wieder im einzelnen unabhängig. Und da die politische Geschichte schon ein Werk des Zufalls ist, so wirkt auf die Sprache der Zufall in zweiter Potenz, wenn man den negativen Begriff des Zufälligen überhaupt noch steigern kann. Jedes Wörterbuch jeder Sprache bietet lustige Beispiele für das Wirken des Zufalls. In unseren Worten stecken bald veraltete wissenschaftliche oder religiöse An- schauungen, bald Erinnerungen an vergessene Eigennamen. Neben der großen Masse der Entlehnungen, die aus dem Zufall der Geschichte zu erklären sind, laufen glückliche und unglückliche Übersetzungen und Mißverständnisse her. Launenhaft wie die Stile der Kleidertrachten sind die Über- einstimmungen, welche man Gesetze nennt. Die einzelnen Worte gar sind unberechenbar.

Die französische Bezeichnung für Wort und Sprechen ist ein Beispiel für das Walten des Zufalls. Es kommt her von zutaii parabola, das Gleichnis, die Parabel, der Spruch. Es scheint, daß man im Mittelalter das lateinische Wort verbum aus Hochachtung für das Wort Gottes nicht auf weltliche Dinge anwenden wollte und daß sich parabola, spanisch palabra, italienisch parola, französisch parole dafür einstellten. Es mußte also das Christentum mit der jüdischen Bibel nach den Provinzen des römischen Reichs kommen, um dieses Wort entstehen zu lassen.

Wir können aber auch ohne Beispiele die größte Gruppe von Wortentstehungen aus dem Zufall erklären. Es ist eine bekannte Erscheinung der Ideenassoziation, daß von zwei gleichzeitigen Sinneseindrücken eine die Erinnerung an die andere hervorruft. Da nun Worte in den allermeisten Fällen von irgendeinem besonderen Sinneseindruck des Gegen- standes hergenommen sind, dessen Erinnerung dann das ganze Bild hervorruft, so läßt sich das Walten des Zufalls vielleicht auf diese Formel bringen. Namentlich alle feinen Nuancen zwischen Ähnliches bedeutenden Worten dürften ßo auf den Zufall gemeinsamer Ausdrücke, auf Erlebnisse der einzelnen und des Volkes zurückzuführen sein. Nur so können wir uns den höheren und tieferen Rang von Roß und Mähre,

Maut Im er, Beitriise zu einer Kritik der Spraclie. II 1-

178 IV. Zufall in der Sprache

von Maid und Magd erklären. Dahin gehört am Ende auch das Ansehen einzelner Philosophen, Religionsstifter und Dichter, welche Worte zufällig in einem bestimmten Satze so und nicht anders gebrauchten; alle Neuschöpfungen durch ursprüngliche Zitate, geflügelte Worte usw. sind Zufalls- wirkungen einzelner Menschen.

Da haben wir auch im Deutschen das Wort Azur, das freilich fast nur noch von schlechten Dichtern gebraucht wird; im Französischen gehört es aber dem Sprachschatz an und bedeutet zunächst den blauen Stein, den wir Lasurstein oder Lapislazuli nennen, sodann das dunkle Blau und endlich die Lasurfarben der Maler. Wir bemerken sofort, daß im Deutschen außer in dem poetischen Worte Azur, das aus Frankreich kam, ein L erhalten worden ist. Dieses L ist im Französischen fortgefallen, offenbar nach dem Vorgang eines einzelnen Gelehrten, der es für den Artikel hielt und zwar vielleicht nicht für den französischen, sondern für den arabi- schen Artikel, da das Wort aus Persien über Arabien nach Europa kam. Begriff und Laut wären anders geworden, wenn der Lasurstein anderswo als in Asien zuerst beachtet worden wäre, wären anders geworden, wenn die Handelsverbindungen von Persien z. B. über Rußland nach Europa geführt hätten, wieder anders geworden, wenn die Araber Konstantinopel um einige Jahrhunderte früher erobert hätten, und was der unaufzählbaren Möglichkeiten mehr sind. Wenn nun aber gar das persische Wort lazvard (woraus lasur) wirklich auf das indische ragavarta zurückgehen sollte, so würde der Edelstein in Indien seinen Namen von einem religiösen Märchen erhalten haben und die ganze Religionsgeschichte Indiens wäre die zufällige Veranlassung, daß unsere schlechten Dichter von einem Azur des Himmels reden.

Allgemein bekannt ist, daß unser „genieren", das in der Bedeutung veränderte französische gener, eine Abschwächung der Qualen bedeutet, die nach der christlichen Religion in gehenna, der Hölle, erlitten werden. Gehenna aber ist ge hinnom oder ge ben hinnom, das Tal der Söhne hinnom; ich weiß nicht, warum die alten Juden von Jerusalem gerade

Volksetymologie 179

in das Tal der Söhne hinnom die Hölle verlegten. Aber einen Zufall wird man es wohl nennen können.

Derartige Zurückführungen auf entlegene Kulturen sind freilich oft unsicher. Zuverlässige Entstehungen von Worten aus Eigennamen (z, B. Mansarde nach dem Baumeister Mansard, Cicerone nach Cicero) sind verhältnismäßig selten. Aber die etymologische Beschäftigung mit den Worten muß nach meinem Gefühl die Überzeugung hervorrufen, daß jedes einzelne Wort eine solche Zufallsgeschichte habe, deren An- fänge sich in dem Abgrund der Zeiten verlieren. Ich bemerke hier wieder, daß die Volksetymologie, diese unbewußte Ein- ordnung entlehnter Worte in die Muttersprache, dieses Ver- stehenwollen, dessen ungeheure Ausdehnung niemals in seiner ganzen Macht gewürdigt worden ist, uns wahrscheinlich sehr häufig irre führt. Es ist ein Ausnahmefall, wenn die Geschichte der Worte so deutlich vorliegt, daß wir über die Volks- etymologie hinweg den Zufall der Herkunft erkennen, wenn wir erfahren, daß unser Falter oder Zwiefalter vielleicht aus dem lateinischen papilio entstellt ist, unser Mehltau aus dem griechischen (jLtXxo? (Rotbrand) , unser Meerkatze aus dem indischen markata (Affe), unser Hängematte, holländisch hangmak, französisch hamac, aus einem indianischen Worte.

Der Wert aller dieser Beispiele wäre gering, wenn man dabei nicht versuchte, sich jedesmal die Wirrnis der Wande- rungen vorzustellen, welche der Zufall jedesmal von Osten oder Westen veranstaltete. Man könnte einwenden, daß in solchen Fällen das Ding es war, was der Zufall mit dem Worte aus den Bergwerken Indiens oder aus den Wäldern Süd- amerikas zu uns brachte. Aber dann hat man nicht begriffen, daß solche Beispiele nur den Zufallsweg besonders grell be- leuchten, daß aber die alltäglichsten Worte ebenso ihre Zufalls- geschichte haben. Die Entlehnungen z. B., die der deutsche Sprachschatz im Laufe der Jahrhunderte vollzog, sind stoß- weise vor sich gegangen infolge von zufälligen historischen Ereignissen. Die Invasionen erfolgten aus dem Lateinischen in vorsprachhistorischer Zeit, sodann wieder ins Althochdeutsche, ins ^littelhochdeutsche usw., und es ließen sich recht amüsante

180 IV. Zufall in der Sprache

Wortromane schreiben über die Wanderungen unserer ge- läufigsten und echt deutsch klingenden Wörter. Es wäre endlich Zeit, daß die falschen Vorstellungen von Völker- wanderungen und Sprachwanderungen abgelöst würden von einer bestimmteren Zufallsgeschichte der Wörterwanderung. (Vgl. Einleitung meines „Wörterbuchs der Philosophie".) Nicht minder zufallsreich ist die Geschichte derjenigen Wortgruppen, die ebenfalls stoßweise durch Übersetzungen in unsere Sprache hineinkamen. Politische und kulturelle Weltereignisse brachten es z. B. mit sich, daß ein bisher unbekanntes Werk des Aristoteles nach Europa kam. Re- ligiöse Streitigkeiten üeßen es den Wortführern wichtig erscheinen, man übersetzte es ins Lateinische; Kämpfe inner- halb der Kirche ließen irgend einem Manne eine deutsche Übersetzung nützlich erscheinen, und jede Köchin gebraucht heute Ausdrücke wie Umstand, Gewissen, Entschuldigung, die durch solche Mächte eines Tages in Deutschland neu geprägt wurden. Aus Luthers Bibelübersetzung sind eine Menge Worte und Bilder in die Volkssprache übergegangen; und doch war die ganze Weltlage und der Zufall von Luthers Zeit und der Zufall seiner Geburt in Mitteldeutschland die Veranlassung, daß Luther die Bibel überhaupt übersetzte und daß er sie gerade so übersetzte. Das Paradestück der ^Keusch- Zufallsübersetzungen ist das Wort Keuschlamm (Vitex agnus castus). Im lateinischen Beinamen agnus steckt das grie- chische «Yvo? , das noch besonders durch castus (keusch) übersetzt worden ist. Der Strauch heißt auf deutsch richtig Keuschbaum. Der gelehrte Herr, welcher agnus für ein lateinisches Wort hielt, für Lamm, und der darum die Pflanze Keuschlamm nannte, beging natürlich einen groben Schnitzer. Die zufällige Entstehung des Wortes Keuschlamm wird dadurch handgreifüch. Wir aber sehen das Walten des Zufalls deutlich, wenn auch unnachweisbar selbst in der Zeit vor dieser falschen Übersetzung. Wahrscheinlich verwechselten schon die Griechen dabei zwei ähnlich klingende Worte (ayvo;; keusch und aYVO(; Keuschbaum) und wir wissen nur nicht mehr, von welcher Weltgegend der Strauch den Ruf

„timbre'" 181

mitgebracht hatte, den Geschlechtstrieb zu mäßigen, darum religiöse Verwendung fand und durch seinen Gebrauch zu der falschen Übersetzung die Veranlassung gab.

Für die menschliche Sprache ist es gewiß ein Zufall, daß der Epileptiker Mohammed sich getrieben fühlte, aus religiösem Fanatismus ein Stück Welt zu erobern. Und dieser Zufall hat einen arabischen Strom in die persische und in die türkische Sprache gelenkt, dieser Zufall hat eine Zeitlang in die romanischen Sprachen und infolgedessen auch in die germanischen arabische Worte hinüberfluten lassen. Um- gekehrt hat der Zufall, daß die englische Seemacht so groß geworden ist, sächsische Worte nach den Südseeinseln ge- führt; so werden heute wieder deutsche Worte von den ostafrikanischen Negern nachgesprochen.

Das deutsche Eichhöfechen ist doch wohl, trotzdem es Kluge leugnet, eine sinnlos volksetymologische Entstellung des französischen ecureuil, das wieder ebenso wie das englische squirrel ohne Zweifel aus dem griechischen o'/Hoo^jo:; her- stammt. Früher beruhigte man sich dabei, daß das griechische Wort „schattenschwänzig" bedeute ; man fand keine Schwierig- keit in der Vorstellung, die Griechen hätten das Tierchen davon benannt, daß es sich mit seinem Schwänze beschatte, was wohl das Eichhörnchen, seitdem die Welt steht, noch nicht getan hat. Griechische Volksetymologie also.

Ein Prachtbeispiel zur Zufallsgeschichte der Wörter ist das französische timbre. Es kommt unmittelbar von dem lateinischen Worte tympanum (Trommel) her, dem griechischen roaravov, welches wieder nach Ding und Wort orientaKsch ist. Timbre kann heute noch eine bestimmte Art von Trommel bedeuten. Die Trommel lernten die Römer erst im Kriege mit den Parthern kennen. Sie wunderten sich nicht wenig, daß die Parther nicht Hörner und Trompeten sondern Pauken gebrauchten, und waren, wie Plutarch erzählt, ganz entsetzt über den schreckhchen Ton, „ähnhch zugleich 'dem Gebrüll eines wilden Tieres und dem Schalle des Donners". xVus tympanum wurde mit der Zeit timbre, und das bedeutete ungefähr so viel, wie wir heute mit Gong ausdrücken, eine

182 IV. Zufall in der Sprache

Glocke, die mit einem Hammer angeschlagen wird. Der Begriß des Tons entwickelte sich in einer Richtung bis zu dem der Klangfarbe hin, wofür wir im afiektierten Deutsch mitunter timbre sagen. Das Anschlagen mit dem Hammer führte in anderer Richtung zu dem Begriff des Aufschiagens mit einem Stempel, und so bedeutet timbre jetzt vor allem die Stempelmarke und die Briefmarke.

Die Werke von Max Müller, L. Geiger und W. Wundt wimmeln von Beispielen für den Zufall in der Sprach- geschichte. Nur daß die Herren immer wieder die Begriffe Ursache und Gesetz verwechseln. Ganz naiv meint Wundt (Völkerpsychologie IP, 462), er habe einen gesetzlichen Bedeutungswandel entdeckt, weil ihm die Herkunft des Wortes Münze aus dem Naijien der ersten römischen Münz- stätte (moneta, nach einem Beinamen der Juno, der in der Nähe ein Tempel geweiht war), „begreiflich" geworden ist. Mir aber scheint jede Wortgeschichte, die wir begriffen haben, ein Beleg mehr für das gesetzlose Walten des Zufalls. Ich könnte alle neueren Wörterbücher ausschreiben und tausend Seiten mit anregenden Beispielen füllen zu dem Satze: es gibt keine Philosophie der Geschichte, es gibt keine Gesetze der Sprachgeschichte. Besonders belehrend scheinen mir die Fälle, wo der Bedeutungswandel sich in zwei entgegen- gesetzten Richtungen bewegt hat. Da sind z. B. die Worte minus und magis, geringer und mehr. Aus minus oder minor, der Geringere oder der Diener, wird am fränkischen Hofe der Titel eines höheren Beamten; noch heute bedeutet Minister in allen Kulturländern den höchsten Staatsdiener nach dem Fürsten oder Präsidenten, in einigen den geistHchen Diener am Worte. Aus magis wird Magister und dieses Wort sinkt im Deutschen pessimistisch zu einer fast verächthchen Be- zeichnung der ärmsten Lehrer hinunter, während es als „Meister" (auf dem Umwege über maestro und maitre) zu einer geziert ehrenvollen Anrede für hervorragende Künstler wird. Noch schlagender ist die Gegenbewegung in Marschall und Leutnant; Marschall (etymologisch so viel wie Pferdeknecht) bezeichnet bei den Franken nachher den Aufseher über Pferde

Militärische Ausdrücke 183

und Troß und wird zum höchsten Titel in der militärischen Hierarchie; Leutnant (etymologisch so viel wie Statthalter, noch in Königsleutnant, lieutenant du Roi, daß heißt Platz- kommandant) wird zum Titel des niedrigsten Offiziersgrades. Eine Geschichte der militärischen Ausdrücke wäre über- haupt für meinen Satz besonders nützlich. Wir haben die Stufenfolge Division, Brigade, Regiment, Bataillon und Kompanie. Das ist geschichtlich so geworden, gewiß, im hellen Lichte der neuesten Geschichte sogar. Es hätte aber ebenso gut die umgekehrte Ordnung sich einbürgern können, worauf schon Michel Breal (Essai de Semantique 39) hin- gewiesen hat. Und da habe ich eben das Wort „einbürgern" gebraucht. Welch eine Zufallsgeschichte bis zur Anwendung auf militärische Fachausdrücke!

Ich könnte diese Beispiele durch unzählige andere ver- ^^■elt der

mehren, wenn es mir darum zu tun wäre, den Scharfsinn \ ^™°" ' ' logie

der Etymologen hervorzuheben. Max Müller ist darin nicht besser als seine gelehrteren Quellen, wenn er solche Wort- geschichten häuft nur um den Ruf der Sprachwissenschaft zu erhöhen. Geiger erkennt freilich genauer, daß hier der Zufall mitspielt, er wird aber die fixe Idee nicht los, daß diese zufälligen Erscheinungen nichts beweisen, daß über der Begrifisgeschichte der Worte in der Regel ein höheres Gesetz walte. Mir aber ist es darum zu tun, den nachweisbaren Zufall als Beispiel zu benützen für die Art, wie am Ende aller Enden jedes Wort seine Zufallsgeschichte haben körme und müsse. Meine Absicht ist dabei, die falschen Vorstellungen von dem Werte der Etymologie zu beseitigen. Wer sich ganz durchdringt mit meiner Anschauung von der Sprachgeschichte, der wird von der Etymologie niemals auch die leiseste Unter- stützung beim Forschen nach dem Ursprung der Sprache erhoffen, der wird vielmehr durch jedes fröhliche Ergebnis der Etymologen nur bestärkt werden können in seiner Über- zeugung, daß die Geschichte der Worte bestenfalls zwei Perioden hat: die neuere Zufallsgeschichte, die wir kennen, und die ältere, ausgedehnte Zufallsgeschichte, die wir nicht kennen. Ich wiederhole: in der neuesten Greschichte der

184 IV. Zufall in der Sprache

Worte, wo wir so häufig durch niedergeschriebene Sprach- denkmäler und durch mundarthche Formen unterstützt werden, ist eine zufällige Aufklärung der Zufallsgeschichte möghch; aber nur solche durch Dokumente belegte Wort- geschichten haben wissenschafthchen Wert, gerade weil sie nicht etymologisch erschlossen sind; wo die Geschichte auf etymologischen Kombinationen beruht, da sollten wir auch der scheinbaren Gewißheit gegenüber zweifeln. Bei mir zu Hause heißen z. B. die Kartoffeln Erdäpfel. Nichts scheint gewisser zu sein als die Entstehung dieses Wortes. Adelung hält den Erdapfel sogar für das Stammwort der Kartoffel. Die Herleitung von Kartoffel aus terrae tuber aber und das Vorkommen der mundartUchen Formel Ertufi'el und Herdapfel läßt es möghch erscheinen, daß Erdapfel über Kartoffel oder ein ähnliches Wort von terrae tuber herkommt. Volks- Immer wieder möchte ich darauf hinweisen, daß die

jQgjg Irrtümer der sogenannten Volksetymologie einem Vorgang entstammen, der in der Geschichte der Worte eine weit größere Rolle spielt, als man gewöhnlich annimmt. Wo immer wir Anfänge von Etymologie beobachten, da treiben auch die vermeinthchen Gelehrten eine haarsträubend naive Volksetymologie. Einige solche Ungeheuerhchkeiten aus der römischen Etymologie sind sprichwörthch geworden; wir finden dieselben Kindereien schon in Piatons Kratylos, wir finden sie womöglich noch entsetzlicher in solchen Schriften, wo ein geistreichelnder Mann einen Dichter etymologisch zu erklären versucht. So der märchenhaft lächerhche Ful- gentius, der im 6. Jahrhundert eine allegorische Paraphrase über Virgils Aeneis schrieb. Die schhmmsten Wortver- drehungen unserer Witzbolde sind von derselben Art, wollen aber wenigstens nicht ernst genommen werden. Es scheint mir auf der Hand zu hegen, daß in vorlitterarischen Zeiten das Volk jedes neu entlehnte Wort mit der gleichen Naivetät sich etymologisch anzueignen suchte. Selbstverständlich karm ich diese Behauptung nicht belegen, weil es aus einer vorhtterarischen Zeit keine Litteraturproben gibt. Und den-

Volksetymologie 185

noch will ich es wagen, noch einen Schritt weiter zu gehen und zu sagen, daß die Aneignung von Worten und ich sehe in der massenhaften Aneignung von Worten eine bessere Erklärung der Sprachähnlichkeiten als in den legendären Volkswanderungen überall und zu jeder Zeit mit einer unaufhörlichen Volksetymologie verbunden gewesen sein muß, die ich beinahe Selbstetymologie der Sprache nennen seibst- möchte. Und dieser Selbstetymologie der Sprache liegt die ^tymo- Tatsache zugrunde, die man meinetwegen ein psychologisches Gesetz nennen mag: es verwächst nämlich im Gehirn des Sprechenden Laut und Begriff so sehr zu einer Einheit, daß man nicht nur in zusammengesetzten Worten wie Erdapfel heimische Laute, sondern auch in ursprüngUchen Worten etwas zu hören glaubt, was eine Schallnachahmung des be- zeichneten Gegenstandes ist. Wir empfinden dieses Gefühl ungefähr wie ein Eecht, wie eine innere Richtigkeit imserer Muttersprache. Man achte nur einmal darauf, wie wir bei „spitz" und „rund" die Schallnachahmung räumlicher Be- griffe wirklich zu empfinden glauben. Wie wir glauben, etwas Rundes könne nicht spitz heißen und umgekehrt. Und doch haben auch diese Worte sicherlich, und für einige Jahrhunderte nachweisbar, ihre Zufallsgeschichte, die weit abliegt von den Begriffen spitz und rund.

In einzelnen Fällen ist es gelungen, mit ziemlich sicherer Etymologie ein altes Wort, das zwei verschiedene Bedeutungen zu haben schien (z. B. avi>o- Blume und Farbe) aus zwei verschiedenen sogenaimten Wurzeln herzuleiten. Die psycho- logische Selbstetymologie der Sprache hat daim aber die beiden Bedeutungen ineinander übergeleitet, und so hat der Zufall sogar das gewisse Schweben veranlaßt, das in solchen Fällen beim Gebrauche der Worte mittönt. Um wieviel stärker wirkt diese Selbst etymologie da, wo ein Wort geradezu einen Klang bedeutet. Da ist wenn die Etymologen recht haben ein Wort sehr lehrreich, welches mit dem lateinischen sermo und sonus, mit dem deutschen Schwören zusammen- hängen soll und in verschiedenen Formen als surren, schwirren oder auch summen wiederkehrt. Jedenfalls klang den Griechen

186 V. Etymologie

ihr a'jpus'.v (zischen, pfeifen), mag es nun mit dem deutschen surren zusammenhängen oder nicht, als eine sehr gute Klang- nachahmung. Es dürfte aber doch von aoptv^ (Pfeife) her- kommen, und dieses Wort bedeutet ursprünglich nicht einen Ton sondern eine Röhre, einen hohlen Raum, und mag mit spelunca. Höhle, zusammenhängen.

Alle diese Dinge haben einen vorurteilslosen Sprach- forscher wie Geiger längst dazu geführt, daran zu verzweifeln, daß die Lautgeschichte der Worte jemals zu sichern Er- gebnissen für die letzten Fragen führen könnte. Trotz der berühmten Lautgesetze sieht er zu deutlich das Walten des Zufalls in der äußeren Wortgeschichte; es bleibt ihm nur die Hoffnung, daß die innere Wortgeschichte, die Geschichte des Begrifiswandels, zu besseren Gesetzen führen werde. Wie ein eigensinniges Kind ruft er aus (I, S. 252): „Während es daher keine Wissenschaft geben kann, welche den Zusammen- hang zwischen Laut und Begriff gesetzlich feststellt, so muß (!) auf der anderen Seite eine wissenschaftliche Methode gefunden werden, welche die Entwicklung der Begriffe aus- einander ohne Rücksicht auf die Laute, in welchen sie er- scheinen, ebenso wie die der Laute unabhängig von ihren Bedeutungen bis zu ihrem Anfange verfolgt." Sie muß ge- funden werden! Aber die Methode ist weder für die neue Semantik noch für die alte Etymologie gefunden worden.

V. Etymologie

Etymo- Wer sich jemals mit der Geschichte der Sprachforschung ^°Ai^ abgegeben hat, kennt den durchaus spielerischen Charakter der alten Etymologie. Als das Wort und die Spielerei bei den Griechen aufkam, stritt man dort noch nicht über die heutigen Fragen der Sprachwissenschaft. Das Sprachgefühl war noch ganz naiv, und da man eigentlich nicht daran zwei- felte, jedes Wort „bedeute" die von ihm bezeichnete Sache, 80 suchte man ganz kindlich nur zu ergründen, woher die Dinge die ihnen einzig gebührenden schönen griechischen Namen erhalten hätten. Ob ein weiser Gesetzgeber oder die

Etymologie der Alten 1^7

Natur dieses Meisterwerk, die griechische Sprache, gelehrt habe, nur darüber war man im unklaren. Auf dieser Grund- lage konnte eine Etymologie in unserem Sinne nicht entstehen. Und wenn man genau zuschaut, so haben die Griechen niemals wie wir die sogenannten Wurzeln der Worte gesucht, sondern nur die nach ihrer Meinung ursprünglichen oder echten Be- deutungen. Daraus erklärt es sich von vornherein, weshalb es ihnen gleichgültig war, ob sie um deutsche Beispiele einzusetzen Schneider von schneiden ableiteten oder um- gekehrt. Der Begriff der Sprachwurzel fehlte ihnen, damit auch der Begriff der rein sprachlichen, der lauthchen Ab- stammung. Erblickten sie die echte Bedeutung in dem Kleiderverfertigen, so war das Substantiv Schneider das ursprüngliche Wort und die Tätigkeit des Zerschneidens davon abgeleitet.

Die Etymologie oder die Lehre von den Wortwurzeln ist scheinbar die Grundlage aller historischen Wissenschaft; besonders seitdem das Sanskrit in den Kreis der heihgen Sprachen getreten war, war dem Philologenhochmut wieder der Kamm geschwollen, und lastige, luftige Wortfäden zogen von einer Wissenschaft zur anderen. Die älteste Kultur- geschichte ist so zur Etymologie geworden.

Man beginnt einzusehen, wieviel Spielerei dabei war und wie augenbückhch nur eine Fülle von Details, die historische Methode, nicht aber der Geist, diese moderne Spielerei von dem etymologischen Spiel der alten Philologen, der Stoiker, scheidet.

Was uns die Et}Tnologie der Alten so rührend albern er- scheinen läßt, das ist ihre Naivetät. Wenn Varro medicus von medicina ableitet, volo von voluntas (als ob wir sagen würden: das Ding heißt Schuh, weil der Schuster es gemacht hat), so ist das natürlich kindisch. Wenn wir aber hinter unseren Worten Wurzeln suchen und jeder Wurzel eine Tun-Bedeutung geben, wenn wir diese Wurzeln als einen mystischen Ur- bestandteil unserer Sprache ansehen, trotzdem wir Beispiele von Sprachen besitzen, wo die Worte noch ungrammatisch etwas bedeuten (unbestimmt ob Nomen, Adjektiv oder

188 V. Etymologie

Verbum): so sind wir natürlich gewöhnlich (nicht immer) innerhalb einiger Jahrhunderte auf dem richtigen Wege, aber vollkommen phantastisch, wo unsere sichere historische Kenntnis uns verläßt. Und so klug waren die Alten eben auch.

Die etymologischen Wörterbücher unserer Zeit sind in ihrer Art bewundernswerte Arbeiten, aufgeschlossene Fund- gruben für die Wortgeschichte. Wir können mit ihrer Hilfe die Worte unserer Kultursprachen fast immer um einige Jahrhunderte, sehr oft um mehr als zwei Jahrtausende zurück- verfolgen und auf Grund der sogenannten Lautgesetze eine sogenannte Verwandtschaft da annehmen, wo ein quellen- mäßiges Zurückverfolgen nicht nachweisbar ist. Wir haben gesehen, daß freihch auch unsere hoch entwickelte Etymologie da aufhört, wo die eigentlichen Fragen beginnen. Das Gerede über die Sprachwurzeln wird bald verstummen, und die phantastischen Hoffnungen, die man auf die Hereinziehung des Sanskrit stellte, haben sich als Täuschungen erwiesen. Im 16. und 17. Jahrhundert hielt man das Hebräische oft für die Ursprache und suchte alle lateinischen Worte höchst lächerHch aus dem Hebräischen abzuleiten. Lächerhch sind unsere Sanskritforschungen nicht. Aber auch mit Hilfe des Sanskrit wissen wir vom Ursprung der Worte noch nicht einmal so viel, wie wir durch die Geologie vom Innern der Erde wissen. Alles haftet an der Oberfläche. Wie die Wurzeln der Bäume nicht tiefer gehen, als ihre Krone in die Luft ragt, so können wir die Wurzeln der Worte auch nur einige Spaten- stiche tief zurückverfolgen. Unserer Etymologie gegenüber, Etymo- die ihre geistreiche Spielerei wenigstens mit Tatsachen treibt, logie und jg^ ^jg Etymologie der Alten eine so kindische Albernheit,

Mytho- . .

logie daß sie einer ernsthaften Beachtung nicht wert wäre, wenn nur die Alten ihre Etymologie nicht ebenso ernst genommen hätten wie wir die unsere, und wenn die Etymologie der Alten nicht weit stärker auf die Entwicklimg ihrer Sprache und ihrer Religion eingewirkt hätte. Ihre Etymologie war durchaus falsche Etymologie, Volksetymologie. Man kann es nicht

Etymologie und Mythologie 139

Überall nachweisen, aber es kann kein Zweifel sein, daß sehr viele von den Götterlegenden der Griechen, wie sie heute noch unsere armen Jungen auf dem Gymnasium auswendig lernen müssen, törichte Schöpfungen einer solchen Volks- etymologie waren. Um das ganze Elend dieses viel bewunderten Zustandes deutlich zu machen, möchte ich ein Beispiel aus der Gegenwart wählen.

Man weiß, daß trotz Schriftsprache und Schulunter- richt auch heute noch die Volksetjrmologie geschäftig bei der Arbeit ist. Aus Sintflut (allgemeine, große Flut) hat sie Sündflut gemacht. Nun entstand ebenso während der Be- lagerung von Paris aus dem Namen des Forts „Mont Valerien" bekanntlich im Munde der deutschen Soldaten das bequeme Bullrian oder Baldrian. Nun stelle man sich vor, wir hätten keine Schriftsprache, keine Zeitungen und auch kein General- stabswerk über den großen Krieg. Die Geschichte pflanzte sich nur durch Erzählungen der Soldaten fort. Dann besäßen wir wahrscheinhch nach 100 Jahren einen wahrhaften Bericht über einen französischen General Bullrian, der die deutschen Bataillone mit Baldrian übergössen hätte oder was man sonst aus den Worten heraus erfunden hätte. Und die Schüler müßten nach 100 Jahren solchen Blödsinn auswendig lernen, die Lehrer würden ihn am Sedantage begeistert ausschmücken, und von den Kanzeln herunter würde der General Bullrian als ein Feind der göttlichen Weltordnung verdammt werden. Ganz und gar nicht anders steht es um viele der schönsten Sagen aus dem Altertum. Wirkhch nicht anders.

Es geht uns hier nichts an, daß auch in der alten Bibel solche Volksetymologien zu finden sind. Bei den Griechen war es die Regel, daß die Stammsilben alter Götter- und Heroennamen willkürlich gedeutet, aber auch die Endsilben der Namen zu einer neuen Sage umgedeutet wurden. Und niemand kann wissen, ob diejenige Bedeutung der Stamm- silbe, die der heutigen Forschung als die ursprüngliche er- scheint, nicht ihrerseits wieder eine uralte Volksetymologie war. An der griechischen M}i^hologie ist dieser Umstand oft sichtbar geworden, weil die unendliche Arbeit der Philologen

190 V. Etymologie

seit zwei Jakrtausenden mögliclist viel Licht auf diese Worte gesammelt hat; wir können aber die Vermutung nicht unter- drücken, daß auch die übrige Geschichte der Sprachworte voll und übervoll ist von solchen falschen Etymologien. Griechen Beispiele aus Homeros und Hesiodos (siehe Lersch, Sprach- philosophie der Alten I, S. 3 18) lassen sich schwer wieder- geben, ohne eine genauere Kenntnis des Griechischen voraus- zusetzen, als bei den sonst gegebenen Proben der Fall war. Aber schon die Tatsache, daß Dichter in ihren Werken ernst- haft Etymologie trieben, ist sehr belehrend. Goethe hat ähnliche Spielereien im zweiten Teil des Faust versucht (einmal in direkter Nachahmung des Hesiod, Vers 270), ohne die beabsichtigte komische Wirkung zu erreichen. Homeros und Hesiodos aber wollten ganz ehrlich religiös-poetische Wirkungen erzielen.

Auch die Beschäftigung der griechischen Philosophen mit der Etymologie hat für uns etwas Fremdartiges. Wir dürfen eben nicht vergessen, daß das griechische Wort Etymon nicht etwa „Stamm" oder „Wurzel" bedeutet, sondern viel- mehr das Wahre, das Echte, daß also allerdings zunächst die Philosophen berufen schienen, hinter dem Laut der Götternamen die Wahrheit zu suchen. Es wirkte hier die aben- teuerhche Vorstellung mit, daß den Dingen ihre Namen durch eine höhere Macht gegeben seien und daß diese Macht die Wahrheit in den Laut hinein geheimnist habe. Wir werden an anderer Stelle sehen, wie unsicher, halb im Ernst halb im Scherz, Sokrates oder vielmehr Piaton diesen Bemühungen gegenüberstand.

Bei Aristoteles müssen wir von seinem Gerede über den schlecht beobachteten Unterschied zwischen Tier- und Menschenlauten absehen, um zu seiner Etymologie zu ge- langen. Und da ist das Ergebnis ziemlich negativ; er ver- steht unter Etymologie jede Ableitung eines Wortes aus einem anderen, aber bei aller Nüchternheit hat er doch das Verdienst, auf die Bedeutung der Metapher für die Wort- bedeutung schon hingewiesen zu haben. Er und seine Nach- folger aber, bis zu den phantastischen Neuplatonikern hinauf.

Griechen 191

mußten sich bei ihren Anstrengungen, die Bedeutung aus dem Wortlaute zu erklären, immer im Kreise herum be- wegen, weil sie bei allen ihren Gegensätzen doch immer an eine verstandesmäßige Herstellung der Sprache dachten. Das 18. Jahrhundert machte dann in seinem Rationalismus den- selben Fehler. Man sah nicht ein, daß der menschliche Ver- stand, soweit er besonders als das Denken bezeichnet wird, mit der Sprache zusammenfällt, und ließ den Verstand den Schöpfer der Sprache sein. Man leitete wie sich das ewig in der Geschichte der Philosophie wiederholt die große Armut von der großen pauvrete her. Man erkannte und benannte schon die beiden Hauptqucllen der Sprachbildung: die Metapher und die Onomatopöie. Aber ganz abgesehen von der Schülerhaftigkeit der gewählten Beispiele ahnte niemand, wie tief das Metaphorische die Sprachbildung be- herrsche, und konnte noch viel weniger ahnen, was uns erst zum Bewußtsein gekommen ist, daß nämlich auch die offen- barsten Klangnachahmungen ohne Mitwirkung der Metapher nicht zustande gekommen wären. Auf die sogenannten etymologischen Regeln der Griechen einzugehen liegt keine Veranlassung vor. Dilettantismus wäre der höflichste Aus- druck für ihre Bemühungen, die zufällig beobachteten Ver- änderungen der Laute in Gesetze zu bringen.

Dieses ganz unwissenschaftliche Treiben einer kindlichen Phantasie war es ja eben, was für die Etymologie ebenso un- fruchtbar wurde wie fruchtbar für die Legendenbildung. Unsere Volksmärchen mögen mitunter so entstanden sein in den Köpfen poetischer Kinder und Weiber. Da hatte z. B. die sogenannte Göttin Athene von altersher den Beinamen Tritogeneia. Niemand verstand das Wort, also wurde tapfer darauf los etymologisiert. Es hätte „die von einem Triton Geborene" heißen können. Also wurde etwas, was wie Triton klang, zu ihrem Vater gemacht. Dann hieß wieder in einer Mundart der Insel Kreta Triton so viel wie Kopf. Man nannte sie also dort die aus dem Kopf geborene Göttin. Und aus dieser kindlichen Volksetymologie, die doch für unser Empfinden etwas Orientalisch-Ekelhaftes hätte, wären wir an die Vor-

102 V. Etymologie

Stellung nicht gewöhnt, scheint die schöne Göttersage ent- standen zu sein, die unsere armen Jungen heute noch lernen müssen. Aus dem Kopfe war sie entstanden, also natürlich aus dem Kopf des Zeus. Dazu mußte der Kopf auseinander geschlagen werden, mit einem Hammer, den Hammer schwang Hephaistos. Ganz ähnlich mag die Sage von Dionysos ent- standen sein. Die Bedeutung einer Silbe in irgend einem Dialekt wurde ausgedeutet; und wenn das Märchen gefiel, 'v%Tirde es von ganz Griechenland angenommen. Ganz sichtbarlich ist auch die Sage, daß die Amazonen sich die eine Brust ab- geschnitten hätten, so eine Volksetymologie. Und ein deutscher Dichter vom Range Heinrich von Kleists liegt so sehr im Banne der Antike, daß er diese Greuel in seiner Penthesilea mit allem Zauber der Poesie wieder zu beleben sucht. Wer weiß, wie viele solche etymologische Gespenster noch unter uns umgehen. Unsere slawischen Nachbarn schimpfen uns heute noch die „Stummen" (nemci), nach einer falschen Volksetymologie . Eömer Ohne einen Schimmer der griechischen Phantasie trieben

die Römer es ebenso. Darum haben ihre Sagen oft den dummen Charakter nachgemachter Märchen. Aus der Endsilbe heraus wurde das Kapitol durch den Kopf eines sonst völlig un- bekannten Herrn Olus erklärt. Man glaubt einen parodierenden Spaß vor sich zu haben, wie die alte Wiener Geschichte vom Matschakerhof, der nach einem dort vergrabenen kleinen Matschakerl so heiße, nur, daß man nicht wisse, was ein Matschakerl ist. Aber es war dem Altertum mit diesem wüsten Etymologisieren ernst, so weit ernst freilich nur, als ihnen ihre Götterlegenden überhaupt ernst waren.

Das Beispiel vom Kapitol hat gezeigt, wie schlechte Dichter die römischen Etymologisten im Verhältnis zu den Griechen ^waren. Aber auch wissenschaftlich stehen sie womöglich noch tiefer. Das Abschreiben der Griechen war ihnen auf diesem Gebiete besonders gefährlich, weil sie in ihrer lateinischen Sprache immer nach den griechischen Beispielen hinüber schielten. Deshalb fanden sie sich in der Onomatopöie niemals zurecht. Anderseits machte es ihnen gar nichts, das Ver-

Römer 193

hältnis der Abstammung umzukehren und etwa das Verbum bauen von Gebäude abzuleiten. Bekannt ist, daß sie was uns wie Übermut oder Verrücktheit erscheint Worte, die sie nicht anders erklären konnten, durch den Gegensinn ent- stehen ließen, durch eine Art ironischer Anwendung. Den Gegensinn, wie ihn neuere Sprachwissenschaftler verstehen, meinten sie natürlich nicht. Was heute in Gymnasien als Witz vorgetragen wird, um schlechte Etymologien lächerlich zu machen, das trugen die Römer als Wissenschaft vor. Bellum (der Krieg) sollte so heißen, weil er nicht schön (bellum) war. Lucus a non lucendo (der Wald, weil dort nicht hell ist) erschien den römischen Gelehrten als eine erträgüche Etymologie. Wenn wir bei den Römern eine grammatische Richtung finden, die konsequent die griechische Sprache zur Erklärung herbeizieht, so dürfen wir auch das mit der modernen Sprachvergleichung nicht verwechseln.

Auch in ihrer Rechtswissenschaft trieben die Römer mitunter Etymologie. Es soll ihnen aber zugestanden werden, daß sie sich dabei durch die elendesten Wortableitungen im systematischen Aufbau des Werks nicht beirren ließen. In der Wissenschaft der Sprache und in der Wissenschaft des Denkens waren sie noch kindhcher als die Griechen.

Die wissenschaftliche Tat der griechischen Etymologen bestand einzig und allein in der Bemerkung, daß gewisse Worte von mehr oder weniger verwandter Bedeutung auch in ihren Lauten ähnlich sind. Ich bin in einem zweisprachigen Lande geboren und hielt in meinen ersten Kinderjahren wie das in solchen Ländern immer vorkommt die deutsche und die tschechische Sprache nicht immer auseinander. So weiß ich noch genau, daß ich Handtuch (gesprochen hantuch), weil das tschechische Kindermädchen das Wort gebrauchte, und ebenso „bitte noch" (als dreisilbiges Wort ausgesprochen), die liturgische Formel für nochmahges Verlangen der Zu- speise, ich weiß nicht warum, für rein tschechische Worte hielt. Ich war etwa fünf Jahre alt, als ich von selbst zu der aufregenden Entdeckung kam, „hantuch" sei höchst merk- würdigerweise etwas (Tuch hielt ich noch für etwas anderes),

Mauthner, Beitrüge zu einer Kritik der Sprache. II 13

194 V. Etymologie

womit man die „Hand" abtrocknet und „bittenoch" enthalte so etwas wie eine Bitte. leb habe solche Irrtümer bei Kindern zweisprachiger Länder häufig feststellen können*). Die griechischen Etymologen wunderten sich über den Zusammen- hang verwandter Worte ungefähr so , wie ich mich zu fünf Jahren wunderte, als ich das deutsche Wort Hand in hantuch entdeckte. Zugunsten der griechischen Etymologen läßt sich höchstens vorbringen, daß sie ihre Kindereien selber glaubten, daß sie beim Spiele nicht betrogen. Hebräisch Nachher wurde desto mehr gemogelt. Es kam in der Bibel eine Autorität auf, und wie ihr zuliebe das christhche Mittelalter die Begriffe fälschte, so fälschte eine Kichtung des Humanismus die Etymologie. Hatte Gott mit Adam hebräisch gesprochen, so war Hebräisch die älteste Sprache; und stammten alle Sprachen von einer ab, wie alle Menschen von Adam, so waren die Wurzeln unserer europäischen Sprachen im Hebräischen zu finden. War die Etymologie der Alten (lucus a non lucendo sollte ja eine ernst gemeinte Erklärung sein) methodischer Wahnsinn, so war die alttestamentarische Etymologie der Renaissance Wahnsinn ohne jede Methode. Eines aber müssen wir den Alten sowohl wie den Hebräisch- Gelehrten der Renaissancezeit zugute schreiben: die Griechen und nach ihnen ihre römischen Plagiatoren forschten nach dem Etymon, nach der echten Bedeutung, in dem Kinder- glauben, auf diesem Wege zu erfahren, ob die Natur oder ein weiser Mann den Griechen respektive den Römern ver- raten habe, wie die Dinge wirkhch heißen und von Rechts wegen heißen sollen. Den Griechen oder Römern, welche doch ganz unleidhche Chauvinisten waren, erschien ihre Sprache als d i e Sprache ; während sie nach dem Ursprung ihrer Sprache forschten, glaubten sie nach dem Ursprung der Sprache zu fragen. Mit ebenso untauglichen Werk- zeugen arbeiteten die Männer der Renaissance; aber sie hatten doch bei ihrer Zurückführung auf die Sprache Adams

*) Lilli Lelimann erzähhe mir einmal , sie hätte ebenfalls in Prag ziemlicli spät die Entdeckung gemacht, daß „küß't'hant" nicht ein zweisilbiges tschechisches Wort wäre.

Moderne Etymologie 195

den Ursprung der menschlichen Sprache überhaupt im Sinne.

Unsere heutige Etymologie schenkt uns eine ganze Menge Moderne ernsthafter Ergebnisse; wer aber glauben könnte, daß wir ^q^^' uns mit ihrer Hilfe dem Ursprung der Sprache nähern können, der ist nicht klüger als die Griechen und die Bibeletymologen. Neben die Leistungen der griechischen Sprachphilosophen gehalten ist z. B. Kluges etymologisches Lexikon der deutschen Sprache oder auch Körtings lateinisch-romanisches Wörter- buch ein Wunderwerk an Wissen imd Fleiß. Das Gehirn eines Aristoteles würde ein solches Buch nicht fassen können, auch wenn es alle deutschen Mundarten, Mittelhochdeutsch, Althochdeutsch, Gotisch und Sanskrit dazu vorher auf- genommen hätte. Was aber ist für die ernsthafte Aufgabe aller Sprachwissenschaft die Leistung eines solchen W^under- werks? Es wird die deutsche Sprache geschichtlich um etwa 500 Jahre zurückverfolgt, es werden sehr viele Worte um ganze tausend Jahre sogar zurückbeobachtet; häufig wird die Verwandtschaft mit anderen germanischen Sprachen glaubhaft nachgewiesen; nicht selten auch die „Verwandt- schaft" mit der lateinischen oder mit der griechischen Sprache. Und ab und zu gelingt es auch, die Lautverwandtschaft mit dem Sanskrit überzeugend zu belegen. Das Interesse an solchen kleinen Nachweisungen ist allgemein und man kann dümmere Interessen haben. Das Aufsuchen der Ähnlichkeiten ist für die Spezialforscher eines der geistreichsten Spiele, die je erfunden worden sind. Und wer, ohne sich an der Forschung zu beteiligen, diese Disziplin wenigstens versteht, sieht dem geistreichen Spiele sicherlich mit vielem Vergnügen zu. Ja es kann ihm, wenn er Sinn dafür hat, dabei zumute werden wie dem junkerlichen Erben hoher Ahnen, der in der Waffensammlung seines Hauses von einem kundigen Be- gleiter umhergeführt wird und erfährt: diese Steinaxt wurde in einem Graben gefunden, zehn Schritte vom Burgtor, mit dieser Armbrust ging dein Ahnherr vor zwanzig Generationen auf die Jagd, mit dieser Hakenbüchse wurde dein Wall vor zehn Generationen verteidigt, und dieses Feuersteingewehr

Schaft

196 V. Etymologie

trugen noch die Leute, die dein Großvater in den Freiheits- kriegen kommandierte. So ist Etymologie eine ganz aristo- kratische Disziplin. Wer nicht weiß, wer oder was sein Ur- großvater gewesen ist, erblickt plötzlich in der Sprache einen Ahnensaal, dessen Bilder doppelt so weit zurückgehen, als die der stolzesten Geschlechter Europas. Die Etymologie gewährt also ohne Frage ein großes Vergnügen. Was aber trägt die Etymologie zur Welterkenntnis bei oder auch nur bescheident- lich zur Erkenntnis vom Wesen der Sprache? Was lehrt sie über den Ursprung der menschlichen Sprache? Was lehrt sie auch nur über den Ursprung einer Einzelsprache? Ver- Natürlich ist es uns erfreulich zu erfahren, wo und wie

„Verwandte" von uns auf der Welt leben. Es schmeichelt unserer Nationaleitelkeit mit Verwandten darüber zu plaudern. Nicht zu vergessen, daß eben nur die Tatsache der Ähnlichkeit wirklich festgestellt ist, daß aber selbst auf dem engen Gebiet der indoeuropäischen Sprachen der Grad. und die Linie der „Verwandtschaft", der eigentliche Stammbaum, niemals er- schlossen werden wird. Da hat auf einer gemeinschaftlichen internationalen Gesellschaftsreise ein Engländer entdeckt, daß ein brauner Mann aus Indien ein Sprachverwandter von ihm sei. Der Inder ist also auch mit den französischen und deutschen Vettern des Engländers sprachverwandt. Großer Jubel und allgemeines Händeschütteln. Nur irgendeine Sprachverwandtschaft steht fest; der Versuch, sich in der Genealogie unter all den Basen und Tanten und Großvätern zurechtzufinden, mißhngt. Man plappert dennoch darüber und langweilt damit die wenigen Reisegenossen, welche noch die Natur beobachten wollen.

Ich weiß wohl, welcher Gewinn die Auffindung des ver- wandten Sanskrit für die arme europäische SprachAvissenschaft war. Der Vetter aus Indien verfügte über einen reichen Schatz. In der technischen Sprache des Gelehrtenbetriebes ausgedrückt war der Erfolg der, daß wieder eine neue Sprache zur Vergleichung herangezogen werden konnte, daß das Material sich vermehrte, daß endlich der Masse wegen eine Spezialwissenschaft sich abtrennen konnte. Es gab auf den

Verwandtschaft 197

deutschen Universitäten einen Lehrstuhl mehr. Das war der Gewinn für die Welterkenntnis.

Um das ganz einzusehen, überlege man einmal, daß nur die Sprachähnlichkeit an sich offenbar ist, die Abstammung jedoch nicht. Es war nur eine Hypothese, und eine herzhch schlecht begründete Hypothese, daß das Sanskrit die Ur- sprache unserer europäischen Sprache sei, oder auch nur, daß es da die Annahme der Ursprache nicht lange vorhielt eine vorgermanische Sprache sei. Vielleicht wird einmal die neue Hypothese besser als bisher begründet werden, daß die Ursprache unseres Gesamtstammes germanisch gewesen sei und daß man das Sanskrit von diesem Urgermanischen ableiten könne. Warum nicht? Die Hypothese wäre wissen- schaftlich so gut zu begründen wie eine andere, und dem Chauvinismus wäre noch mehr geschmeichelt als jetzt.

Nach der jetzt herrschenden Auffassung beruhigen sich unsere Etymologen dann, wenn sie das Wort einer indo- europäischen Sprache bis auf eine sogenannte Sanskritwurzel zurückgeführt haben. Und niemand scheint zu wissen, daß die Aufstellung der Sanskritwurzeln ein ebenso kindliches Werk der Phantasie war, wie etwa die biblische Schöpfmigs- geschichte. Früher führte man die Abstammung bis auf das Griechische zurück, etwa so wie wir nach der Lehre der Theologen alle von Noah herkommen, der als Stammvater der Menschen allein aus dem Kasten kam. Jetzt gehen wir bis auf das Sanskrit zurück, bis auf Adam. Und lustig wäre es, wenn im Hebräischen Adam so viel geheißen hätte wie der Mensch, das heißt der Mensch par excellence, das heißt der erste Mensch. Wir würden dann aus der Bibel erfahren, daß die Menschen vom ersten Menschen abstammen. Ebenso bedeuten die Wurzeln des Sanskrit bestenfalls, daß die Unter- suchung nicht weitergeführt werden kann. Weiter nichts.

Auf diesem Standpunkt der Wurzelet}Tnologie steht die Wissenschaft heute noch trotz der zurückhaltenden Äuße- rungen der Junggrammatiker. Auf diesem Standpunkt stand die Naturgeschichte von Aristoteles bis zu Darwin. Da nahm man die Arten, also gewissermaßen die Wurzeln aller lebendigen

198 V. Etymologie

Tier- und Pflanzenindividuen, einfach als gegeben an; und wer die Entstehung der Arten hätte erklären wollen, wäre für einen Ketzer angesehen worden. Es fiel aber fast keinem Menschen ein, nach der Entstehung der Arten zu fragen, fast ebenso wie man heute nicht nach der Herkunft der Sanskrit- wurzeln fragt. Zeit- Man sieht sofort, daß die Verschiedenheit des Stand-

Horizon» punkts von dem Zeitraum abhängt , auf welchen man die Beobachtung der Sprachgeschichte ausdehnen will. Sah man für die Existenz der Welt nur auf die paar Jahrtausende der Bibel zurück, so erschien eine Erklärung der Arten durch allmähliche Umformung ganz aussichtslos. Denn wenn sich eine bestimmte Tierform binnen zweitausend Jahren nicht verändert, so war auch ihre Entstehung in den voran- gegangenen drei Jahrtausenden nicht zu erklären. Seit Darwin oder vielmehr seit den geologischen Forschungen von Lyell stehen dem Geschichtsschreiber der Natur ungemessene Zeiträume zur Verfügung. Er will durch minimale Ver- änderungen alle Verschiedenheiten erklären; nur den Anfang der Organismen nicht, vielleicht weil die Frage nach dem Anfang falsch gestellt ist.

Auf diesem vordarwinischen Standpunkt steht also trotz der Ideen von Schleicher und der sicherlich darwinistischen Weltanschauung der meisten Sprachforscher die Tätigkeit der Etymologen noch immer. Dadurch, daß infolge der größeren Flüssigkeit des Sprachlauts die Worte sich auch in den paar tausend der Beobachtung zugänglichen Jahren merklich verändert haben, daß Änderungen in der Stellung der Sprachorgane, so winzig, daß die entsprechenden Ände- rungen im Skelett des Tieres kaum bemerkt würden, in den Schriftzeichen festgehalten worden sind, dadurch ist es mög- lich geworden, jene Unzahl von Tatsachen zu sammeln, welche Gegenstand der heutigen Etymologie sind. Diese Sammlung ist nicht nur für die Sammler selbst eine Beschäfti- gung von höchstem Reiz, sondern wie gesagt auch ein Ver- gnügen für jeden Laien. Ein Blick auf die Zeitdauer, in welcher die menschliche Sprache sich entwickelt hat, wird

Zeitlicher Horizont 199

uns zeigen, wie nichtig die Ergebnisse für die Frage nach dem Ursprung der Sprache sein müssen.

Halten wir uns die Ziffern klar vor Augen. Die Ver- änderungen, welche unsere eigene Sprache von den ältesten germanischen Denkmälern bis heute erlebt hat, umfassen, immer von Vater zu Sohn gerechnet, eine Reihe von höch- stens 50 Geschlechtern; und man muß schon recht großmütig sein, um zu behaupten, daß die Weiterführung der Etymologie, bis zurück auf das Griechische und auf das Sanskrit, weitere 50 Geschlechter umfaßt. Nehmen wir aber als Tatsache an, daß wir wirklich die Sprachgeschichte der letzten 100 Genera- tionen überbUcken können. Halten wir dagegen die Zeit, in welcher Menschen auf der Erde gelebt haben, in welcher also die Sprache sich entwickelt hat, in welcher also auch ohne Frage die Vorgeschichte der sogenannten Sanskritwurzeln liegt, so werden wir wohl ohne jede Phantastik zu einer Reihe von z. B. einer Milhon Generationen kommen. Wir wissen also von der Geschichte der Sprache nicht viel mehr als von der Geschichte der Menschheit im allgemeinen. Wir kennen das letzte Zehntausendstel der Geschichte; und wenn bei dieser Zahl um die Hälfte geirrt sein sollte, so kennen wir ein ganzes Fünftausendstel. Wir keimen so viel als die Wurzel- länge eines Baumes vom Wege zum Mittelpunkte der Erde. Wir müßten eigentlich die gesamte Weltgeschichte, die wir übersehen, die Geschichte der Gegenwart nennen, die wir dann wie zum Spotte in das Altertum, das Mittelalter und die Neuzeit einteilen können. Auch unsere paar prähistorischen Kenntnisse, soweit sie nicht allzu sehr auf Hypothesen beruhen, gehören noch zu dieser Gegenwart. Und da fährt die Ety- mologie fort, gewisse Sanskritformen, die selbst wieder Ab- straktionen sind, als Wurzeln der Sprache zu bezeichnen.

Einige der sichersten Ergebnisse der Etymologie werden uns, wenn wir unseren Standpunkt festhalten, Beispiele dafür geben, wie eng der zeitliche Horizont dieser Disziplin ist.

Vor allem müssen wir uns davor hüten, ihr Hauptergebnis, weil es mit Hilfe von positiven Worten sich in einen respek- tabelu Satz einkleiden läßt, auch für eine positive Leistung zu

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halten. Dieses Hauptergebnis würde für unseren Sprach- stamm ungefähr so lauten: jedes unserer Worte hat nicht bloß eine Wurzel, sondern es ist eine durch Umformung ver- änderte Wurzel; jedes Wort tritt in der Sprache als geformtes Wort auf, so daß es zugleich einen Begriff und eine Beziehung zu unseren übrigen Begriffen ausdrückt; imd zwar ist das Formelement eines jeden Worts, sei es auch nur eine Silbe, ein Laut oder gar nur eine Lautveränderung wie z. B. der Umlaut, gewöhnlich der Rest oder die Wirkung eines anderen Wortes. Die Etymologie lehrt einerseits die Geschichte des Wortstammes, anderseits die Geschichte der Wortzusammen- setzungen, die zu Wortformen verblaßt sind.

Dieses letzte Ergebnis sieht sicherhch nach etwas Rechtem aus. Aber es ist erstaunlich und bezeichnend für den Schneckengang der wissenschaftlichen Errungenschaften, daß diese Einsicht erst durch eine Unfülle von einzelnen Be- obachtungen erreicht wurde. Diese armselige Langsamkeit, diese Abhängigkeit von zufäUigen Beobachtungen wd ge- lehrterweise auch die Herrschaft der Induktion genannt. Die einfachsten Negationen des Unsinns, also die einfachsten Wahrheiten, die noch nichts Positives geben, müssen immer induktiv erkannt werden. Die Negation des Unsinns, daß eine Bewegung ohne jeden Grund sich ändern könne, ist unter dem Namen des Trägheitsgesetzes der Ruhm Galileis geworden. Die Negation des Unsinns, daß Kraft oder Stoff aus nichts entstehen könne, ist unter dem Namen der Er- haltung der Energie der Ruhm des 19. Jahrhunderts. Und so scheint mir auch das große Ergebnis der Etymologie, daß die Bedeutungen unserer Flexionssilben nicht aus bedeutungs- losen Lauten herkommen konnten, nur die Negation eines Unsinns zu sein. Als diese Flexionssilben sich bildeten oder an die Wortstämme angefügt wurden, hatten sie entweder eine Bedeutung oder sie hatten keine. Hatten sie keine, so wären unsere Sprachen aus einem alten Volapük entstanden, was doch nur ein auf volapükisch redender und denkender Mensch annehmen kann. Hatten aber diese Silben und Laute schon vor der Anfügung einen Sinn, so mußten sie eben Worte

Zeitlicher Horizont 201

sein. Nicht solche Banahtäten kann die Etymologie lehren, sondern höchstens die Geschichte dieser Suffixe. Nicht ein- mal das beste Ergebnis der Etymologie verdient also den Namen eines Gesetzes, so verschwenderisch auch in den verschiedenen Wissenschaften jede Gruppe ähnlicher Be- obachtungen ein Gesetz genannt zu werden pflegt.

Dem entspricht es auch, wenn die Tatsachen der Sprach- wissenschaft, insbesondere die Tatsachen der Etymologie untauglich sind, irgendein künftiges Sprachereignis mit Sicher- heit vorauszusagen. In der Astronomie, in der Mechanik, in der Chemie usw. führen die beobachteten Gesetze dazu, ein künftiges Ereignis mit immer größerer Sicherheit voraus- zuwissen. Eine Sonnenfinsternis wird jetzt bis auf den Bruch- teil einer Sekunde genau, das Gewicht eines chemischen Produkts bis auf den Bruchteil eines Grammes genau voraus- bestimmt. Die Etymologie mit all den Gesetzen, welche von der neuesten Schule sogar noch genauer genommen werden als früher, kann auch nicht die kleinste Wortveränderung für die Zukunft vorhersagen; das allein scheint mir zu beweisen, daß ihre Rückwärtsprophezeiungen mit dem Wesen von Gesetzen nicht viel zu tun haben. Ein hübsches Beispiel bietet mir das neuerdings aufgekommene Wort „stilvoll". Die Schulmeister belehren uns darüber, daß ein anständiger Schriftsteller das Wort überhaupt nicht anwenden dürfe; denn ein solches Ding sei nicht „voll von Stil". Also: in .stilvoll" einem Fall, wo die Etymologie für jeden Kommis auf der Hand liegt und wo das Wort bereits lebendig ist, das heißt von der großen Masse der halbgebildeten Städter bereits allgemein und allgemein verständlich gebraucht wird, erklärt die Wissenschaft das W^ort für falsch, das heißt für ungebräuch- lich. Die Wissenschaft handelt dabei wie der gelehrte Arzt, der seinen Patienten aufgegeben hat und, da er ihn einige Tage später wohl und munter auf der Straße trifft, ausruft : Wissenschaftlich ist er tot. Auch nach meinem Sprachgefühl ist „stilvoll" noch ein ganz abscheuliches Wort; mein Sprach- gefühl, das auch ich für das bessere halte, kann mich jedoch nicht abhalten, die Existenz des W^ortes anzuerkennen. Ich

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gebrauche es nicht gern, wie ich Wasserriiben nicht gern esse; aber die Wasserrüben existieren auch gegen meinen Ge- schmack. Die Sache liegt nämlich so. Selbst in diesem Falle täuschen sich die Etymologen über das Werden der Sprache. Das Adjektiv „voll" und die Endsilbe „voll" sind für dieses Sprachgefühl nicht identisch. Wundervoll heißt nicht „voll von Wunder", ebensowenig wie das englische beäutiful so viel heißt wie „voll von Schönheit". Das Wort stilvoll ist wahr- scheinlich von Möbelfabrikanten und Aussteuerkäufern nach der Analogie von ehrenvoll, wundervoll usw. gebildet worden. Die ganze Kulturgeschichte spielt in solch ein einzelnes Wort hinein. Es mußten als Ergebnis unzähhger Ereignisse der Kronprinz Friedrich und seine Frau während der langen Regierungszeit des Kaisers Wilhelm die Hebung des BerUner Kunstgewerbes zum Felde ihrer Tätigkeit machen. Es mußte zur selben Zeit im Geschmack der Alexandrinismus unserer Tage zur Herrschaft kommen, der ein ganzes Dutzend ver- schiedener Stile, benannt nach Völkern, Zeiten und französi- schen Königen, nebeneinander gelten ließ. Dann richtete sich jeder Nachttisch mit seinem Inhalt nach einem Stil. Ein Möbelmagazin war voll von Stilen. Ein einzelnes Möbel- stück mußte demnach einem dieser vielen Stile entsprechen. Die Möbelfabrikanten und ihr Pubhkum hätten ebensogut „stilig" sagen können. Da aber „voll" inzwischen vielfach zu einer bloßen Endsilbe geworden war, wurde das Wort „stilvoll" erfunden, und so ist es da für solche Dinge. Genau ebenso hätten die Etymologen vor 1000 Jahren wenn diese Gelehrtenklasse damals schon beachtensw^ert gewesen wäre das neue Wort „solch" verbieten können, welches im Begriffe war, sich aus „so" und der Endsilbe „lieh" zu bilden, „lieh" (engüsch Uke, im heutigen Deutsch noch im Worte Leiche erhalten) bedeutete den Körper, den Leib oder die Gestalt; für das Sprachgefühl, welches in lieh (gotisch leiks) noch die volle Bedeutung empfand, war das Wort soHch ebenso abscheulich wie uns das Wort stilvoll. Und heute ist dieses Sprachgefühl für „lieh" so untergegangen, daß wir in dem Worte „solchergestalt" den Begrifi „Gestalt" zweimal haben.

Endsilben 203

Das Beispiel ist sehr belehrend. Es zeigt einerseits, wie bisher dargetan, die Unfähigkeit der Etymologie, durch Gesetze in das Leben der Sprache einzugreifen oder auch nur die kommende Bildung vorauszusagen, es zeigt ander- seits, wie die historische Etymologie, weil sie des Sprach- gefühls für ältere Zeiten entbehren muß, noch mehr als die Etymologie der Gegenwart nur totes Material beherrscht. In dem letzten Beispiel ist es uns vollkommen unmögUch an- zugeben, wann das Sprachgefühl in dem alten Worte leiks anfing eine bloße Formsilbe zu sehen. Ich mache darauf aufmerksam, daß die so beliebte etymologische Erklärung aller Eigennamen höchst wahrscheinhch niemals mit dem Sprachgefühl der früheren Zeiten zusammenfällt. Als die Namen mit der Endsilbe rieh, hild usw. gebildet wurden, empfand man diese Silben wahrscheinhch schon als Bildungs- silben ; „Friedrich" war dann ebensowenig der Friedreiche, wie „stilvoll" voll von Stil bedeutet ; „voll" wird gegen- wärtig langsam zur Bildungssilbe. So erscheinen mir die etymologischen Spielereien, die Richard Wagner in seinen Nibelungen sogar in Musik gesetzt hat, vollkommen absurd, weil sie nicht dem Sprachgefühl irgendeiner deutschen Zeit, sondern nur dem Sprachgefühl von ein paar hundert Ger- manisten entsprechen.

Wieder auf ein anderes Gebiet gehören diejenigen Unter- suchungen, die der wissenschaftlichen Etymologie gar keine Schwierigkeiten bieten, die von jedem dreijährigen Kinde in ihre Bestandteile zerlegt werden können, z. B. Birnbaum; oder die in gebildeten Kreisen immer wieder aufs neue zu- sammengesetzt werden, wie z. B. Unzusammengehörigkeit. Auch bei solchen Worten möchte ich zeigen, daß die Etymologie mit totem Material arbeitet, soweit Etvmologie derlei Selbst- Verständlichkeiten nicht unter ihrer Würde sieht.

„Birnbaum" wird wohl von jedem Etymologen so erklärt ,Birn- werden, daß der höhere Begriff Baum durch Birn als durch den Bestimmungsbegriff begrenzt werde. Es gehört zu den unlösbaren Aufgaben der Sprachwissenschaft, die Bedeutung des Bestimmungsbegriffs zu definieren; es gibt kaum eine

bauin"

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Beziehung, es gibt kaum eine Kategorie, welche nicht durch den Bestimmungsbegrifi ausgedrückt werden könnte. In unserem Falle wird die Etymologie sagen, das Wort bedeute einen Baum, der Birnen trägt. Auch das dreijährige Kind wird zu einer solchen Erklärung geneigt sein, das Kind jedoch aus dem tieferen Grunde, weil die Birnen am Baume es am meisten interessieren. Nach meinem Sprachgefühl jedoch liegt das logische Verhältnis der beiden Silben nicht ganz so. Nach meinem Sprachgefühl ist Baum eine Endsilbe, durch welche das Wort Birne, die Frucht, zur Bezeichnung für eine Pflanze umgeformt wird. Im Französischen wird so aus poire viel einfacher poirier. Der Unterschied ist nur, daß die Kultur solcher Fruchtbäume in romanischen Ländern älter ist als in germanischen und daß darum die Endsilbe „bäum" noch nicht abgeschliffen worden ist. Daraus nun schließe ich : wenn die Et}Tnologie schon bei den durchsichtigsten Wort- zusammensetzungen der neuesten Sprache ohne feineres Sprachgefühl arbeitet, wie groß mögen die Fehler gegen den Geist der Sprache sein, die sie bei der Herleitung des alten Bestandes begeht.

Gebrauche ich wiederum in der Rede oder in einem Auf- satz das Wort „Unzusammengehörigkeit", so ist mein Sprach- gefühl durchaus nicht an die Frage gebunden, ob dieses Wort schon vorher einmal gebraucht worden sei. Ich maße mir das Hecht an, es in jedem Augenblicke neu zu bilden, und bin überzeugt davon, von jedem Zuhörer oder Leser verstanden zu werden, auch wenn er das Wort niemals vorher gehört oder gelesen hat.

Grenzen Eine Geschichte der menschlichen Sprache wäre, streng Etymo- geiiommen, eine Geschichte der menschlichen Welterkenntnis, logie eine Entwicklung der menschhchen Weltanschauung, dazu die einzige vollständige und ernst zu nehmende Geschichte der Philosophie. Wir haben schon gelernt, daß eine solche Geschichte der Philosophie, selbst in beschränktem Sinne dieser Disziplin, aus einem sehr einfachen Grunde umnögHch

Grenzen der Etymologie 205

ist: weil die Sprache des Geschichtsschreibers nicht mehr die Sprache der von ihm behandelten Philosophen ist, und zwar eo, daß die Sprache des Geschichtsschreibers sich von jeder Individual- und Zeitsprache jedes behandelten Philosophen anders unterscheidet. Es ist, als ob ein Uhrmacher von heute alle Turm-, Stand -und Taschenuhren seit der Erfindung der Uhr mit einem und demselben Schlüssel aufziehen wollte oder gar mit dem Remontoirwerk, das immer nur zu der eigenen Uhr gehört. Es ist, als ob der Fischer, der sein Netz in die Donau taucht, hoffen wollte, die Fische zu fangen, die im untern Laufe schwimmen. Es ist, als ob die zitternde Hand eines laufenden Menschen den Faden in die Nadel einfädeln wollte, die die zitternde Hand eines an ihm vorüberlaufenden anderen Menschen hält.

Ist so eine tiefer gehende Geschichte der Sprache oder des menschlichen Denkens schon für die letzten paar Jahr- tausende eine Unmöglichkeit, so wird das Streben, den Ur- sprung der Sprache zu ergründen, vollends phantastisch. Man muß sich nur die Länge des von der Sprache seit ihrem Ursprung zurückgelegten Weges wie gesagt lang genug vorstellen, um die Unmöglichkeit jedes wissenschaftlichen Versuches zu erkennen.

Was wir bei allen solchen Versuchen tun, das ist ein Bemühen, zwei Punkte miteinander zu verbinden, die un- endlich weit voneinander abstehen und die beide überdies imaginäre Punkte sind. Der eine Pimkt ist jedesmal eine unbeweisbare Hypothese über den Ursprung der Sprache; der andere Punkt ist die verschwimmende Grenze, bis zu welcher wir die lebende Sprache etymologisch noch mit An- stand zurückverfolgen können. Dieser letzte Grenzpunkt liegt nach den Anschauungen der gegenwärtigen Sprach- wissenschaft höchstens viertausend Jahre hinter der Gegen- wart zurück. Die Sicherheit der geschichtlichen Entwicklung verläßt uns eigentlich schon im 15. Jahrhundert, in der Zeit vor dem Buchdruck. Je weiter wir in der Sprachgeschichte zurückgehen, desto geringer wird die Sicherheit, desto dichter drängen sich die Einzelhypothesen. Die Zurückführung

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des Althochdeutschen auf eine indoeuropäische Ursprache, die Aufstellung von indoeuropäischen Wurzeln, die immer noch in der Nähe der Sanskritwurzeln gesucht werden, ist ein kleiner Berg von Hypothesen und an diesem Berge endet für uns die kurze Strecke der nach rückwärts schauenden Sprachgeschichte. Am äußersten Endpunkt in dieser Richtung liegt dann irgendeine durchaus hypothetische Theorie über den Ursprung der Sprache. Zwischen dieser äußersten Hypo- these und dem uns so viel nähern Hypothesenberge der Ety- mologie klafft der Abgrund des absoluten Nicht- Wissens.

Es ist darum ein ganz aussichtsloses, ja törichtes Unter- nehmen, eine Theorie über den Ursprung der Sprache als gewiß, ja auch nur als wahrscheinlich beweisen zu wollen. Worauf es mir an dieser Stelle ankommt, das ist der Nach- weis, daß wir uns bei der Frage nach dem Sprachursprung nicht mehr an die Worte unserer entwickelten Sprache, nicht mehr an irgendeine ältere Form derselben, nicht mehr an irgendwelche noch so primitive, aus unseren Sprachlauten komponierte Wurzeln halten dürfen, daß wir vielmehr ein- sehen müssen: nicht nur die Sprachen, sondern auch die Sprach- laute haben eine endlose Entwicklung durchgemacht; wir wissen nichts mehr über die Sprachlaute einer uralten Zeit und über deren Artikulation. Wir müssen uns bei diesen Vorstellungen befreien von der europäischen und sprach- wissenschafthchen Beschränktheit, nur unsere, das heißt die historischen menschüchen Sprachlaute für artikuhert an- zusehen. Wir sind es leider gewöhnt, den Seufzer und den Laut des Absehens, welche z. B. den artikulierten Interjek- tionen ach und pfui vorausgegangen sind und sie in der er- regten Sprache heute noch ersetzen, unartikuliert zu nennen. Doch davon bald mehr.

Für diese Entwicklung der Sprachlaute liegen vielleicht Belege aus historischer Zeit vor. So jung dieser Zweig der Sprachwissenschaft ist und so vorsichtig auch (wegen der UnZuverlässigkeit der Schrift) die Ergebnisse aufzunehmen sind, so scheint doch einzelnes gesichert. Es scheint z. B., daß die Laute 1 und r sich erst spät im Indoeuropäischen

Grenzen der Etymologie 207

differenziert haben, daß die Vokale ü und ö und der Nasal- laut jüngeren Ursprungs sind und daß selbst ganze Gruppen der uns so vertrauten Konsonanten erst in historischer Zeit entstanden sind, daß z. B. die Kehllaute älter sind als die diesen entsprechenden Gaumenlaute. Dabei mag die Frage unentschieden bleiben, ob die Sprache in historischer Zeit an Lauten reicher oder ärmer geworden sei, unentschieden, ob die Laute wirklich die Neigung besitzen (man nennt es ihr Gesetz) sich abzuschwächen, sich niemals zu verstärken. Es mag freilich der Begriff des Reichtums, der Begriff der Abschwächung viel subjektiver sein, als man glaubt.

Die Tragweite dieser Anschauung ist nicht gering. Der ^^''»■ndei

.... der Laut-

Begriff Lautwandel bekommt durch sie emen ganz neuen eiemente

Sinn. Was man gewöhnlich unter Lautwandel versteht, das . ist der Übergang eines Buchstabenlauts in einen anderen Buchstabenlaut. Die Unwandelbarkeit dieses mehr oder minder reich angenommenen Alphabets wird dabei unklar vorausgesetzt. Man kann diese unbewußte Beschränkung auf das immerhin erweiterte Alphabet der modernen Phonetik wahrnehmen an den Versuchen, die mit Pott begonnen haben, die Wurzeln des Sanskrit in ihre weiteren Bestandteile auf- zulösen, indem man die buchstabenreichern Wurzeln auf gut Glück für zusammengesetzte Wurzeln erklärt. Das heißt wahrhch mit dem Spiele spielen. Unser erweiterter Begriff des Lautwandels müßte zu einer neuen Phonetik führen, freilich leider zu einer Phonetik, die sich niemals wissen- schaftlich herstellen ließe.

Noch eine andere historische Tatsache kann uns in dem Glauben bestärken, daß dieser weitere Lautwandel sich voll- zogen hat, daß die Lautelemente der Sprache selbst sich ver- ändert haben. Ich denke an die höchst wahrscheinliche Tat- sache, daß die früher literarisch fixierten Sprachen, das Sanskrit und das Griechische, Laute besitzen, welche in den später literarisch fixierten Sprachen, dem Deutschen und Slawischen, gar nicht oder abgeschwächt vorhanden sind. Man braucht an keine Abstammung zu denken, man kann mit mir die ähnhchen Worte für entlehnt halten, und wird dennoch die

Michel Br6al

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Tatsache eines Lautwandels (in weiterem Sinne) annehmen können. Der direkten Beobachtung steht im Wege, daß durch die literarische und grammatische Fixierung einer Sprache, durch die Herrschaft einer Schriftsprache der Wandel der elementaren Sprachlaute verlangsamt worden ist. Es ist doch klar, daß eine neue Kindergeneration anders sprechen lernt, wenn in jeder Kinderstube eine Individual- sprache sich bilden kann, und wieder anders, wenn in einem ganzen Lande die in bestimmten Seminaren gedrillten Schul- meister die gleiche Aussprache nach Kräften zu lehren suchen. Vollständig freilich kann dieser Wandel der Elementarlaute nicht verschwinden. Wir würden wahrscheinHch höchst überrascht sein, weim wir plötzHch die hochdeutsche Aus- sprache von vor hundert, vor zweihundert und vor drei- hundert Jahren vernehmen könnten. In Zukunft wird der Phonograph das Studium dieses höheren Lautwandels einiger- maßen gestatten.

Solche Beobachtungen an den lebenden und an den toten Sprachen führen uns zu der Überzeugung: wir haben nicht die entfernteste Vorstellung von der Artikulation derjenigen Laute, welche in irgendeiner Urzeit bei. der Schöpfung der Sprache verwandt wurden. Wir haben kein Recht, jene Ur- laute unartikuhert zu nennen; wohl aber würden sie unserer Artikulationsgewohnheit als unartikuliert erscheinen. Ein französischer Forscher, Michel Breal, der Übersetzer Bopps, ist schon nahe zu diesen Gedanken geführt worden.

In einem Aufsatze über „die indoeuropäischen Wurzeln" (Melanges de Mythologie et de Linguistique S. 375 usw.), einer der feinsten und reifsten Arbeiten, denen ich auf dem Gebiete der Sprachwissenschaft begegnet bin, kritisiert Älichel Breal die Versuche, eine indoeuropäische Ursprache zu kon- struieren. Sein Leitmotiv ist so klar und überzeugend, daß es für die Wissenden allein genügen müßte. „Es heißt die Logik auf den Kopf stellen, wenn man unsere Sprache mit Hilfe der indoeuropäischen Ursprache aufhellen will." Denn diese Ursprache, von der uns die Geschichte der Menschheit nicht ein Sterbenswörtchen verrät, sei ja selbst nur eine

Michel Breal 209

Hypothese, ein bequemes Schema, um die ÄhnUchkeiten der angeblichen Tochtersprachen zu erklären. Mit demselben Rechte könnte man etwa so verfahren: man läßt von einem gefälligen Maler den Urahn eines Geschlechts (nach den Köpfen der lebenden FamiliengHeder und nach den Porträts der Väter und Großväter) schematisch konstruieren und schließt nachher, es sei die Blutsverwandtschaft der lebenden Glieder des Geschlechts aus der Ähnlichkeit mit dem kon- struierten Urahn zu beweisen. Mit bemerkenswerter Freiheit läßt Breal den gesunden Menschenverstand gegenüber den sogenannten Lautgesetzen zu seinem Rechte kommen, wenn er z. B. die schreiende Ähnlichkeit zwischen ^eo;; und deus für durchaus nicht zufällig hält, trotzdem die neuere, an die Lautgesetze gebundene Sprachwissenschaft nichts mit ihr anzufangen weiß. Es hege in der Natur der Beobachtungs- wissenschaften, von Tag zu Tag anspruchsvoller gegen sich selbst zu werden; ... in der Sprachwissenschaft wie anderswo erfahren wir, daß die Welt nicht dort angefangen hat, wo unser Blickfeld endet. Und in seiner Untersuchung selbst kommt Breal zu dem Schlüsse, es sei aus den Wurzeln keine Be- lehrung zu ziehen für die Frage nach dem Ursprung der Sprache. „Das erste Stammeln des Menschen hat nichts gemein mit den in ihrer Form so fest begrenzten und in ihrer Bedeutung so allgemeinen Lautzeichen wie dha (stellen), vid (sehen, wissen), man (denken). Der Irrtum wäre ungefähr derselbe, wenn man die alten griechischen Münzen mit ihrer reinen Prägung für das erste von den Menschen erfundene Tauschmittel ausgeben wollte."

Ich kann unmögüch hoffen, mit meiner rücksichtslosen Skepsis Eindruck auf die Fachleute der Sprachwissenschaft zu machen, wenn ich sehe, wie selbst die höflichen und rück- sichtsvollen Zweifel Breals leichter Hand beiseite geschoben worden sind. Und doch will es mir scheinen, daß schon seine I\j:itik der indoeuropäischen Ursprache zu einer richtigeren Bewertung der sogenannten Lautgesetze hätte führen müssen. Sein Hinweis auf die Phantasterei in den etymologischen Versuchen, die über das Sanskrit hinaus zu den indoeuio-

-Mauthuer, Beiträge zu einer Kritik der Sprache. II 14

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päischen Wurzeln geführt haben, hätte in dem Streite darüber aufklärend wirken können, ob die Lautgesetze unbedingt gültig seien oder nicht. Wir haben gesehen, daß die ideale Forderung nach ihrer unbedingten Gültigkeit nur ein logisches Spiel mit Worten ist. Es sind nämUch die Lautgesetze eben keine wirküchen Gesetze, wenn man sich auf sie nicht wie auf andere Naturgesetze verlassen kann. Man muß sie als unbedingt gültig definieren, will man sie als Teile einer Wissen- schaft anerkennen. Da aber die Erfahrung dieser unbedingten Gültigkeit widerspricht, so bleibt nichts anderes übrig als schließUch immer kleinere und kleinere Gruppen und zuletzt alle einzelnen Fälle Gesetze zu nennen. Die behauptete Ge- setzlichkeit der Sprachgeschichte würde für uns erst dann einen größeren Wert haben, wenn der Bedeutungswandel gesetzlich zu ordnen wäre. Dessen Gesetzhchkeit steht aber doch noch tiefer als die des Lautwandels , wenn ich hier von dem vorhistorischen, von dem weiteren Lautwandel ab- sehe. Bei dem historischen Lautwandel mag die Gesetz- losigkeit durch individuelle Einflüsse hervorgerufen sein; es mag in der physiologischen Herstellung der Sprachlaute wirklich die Tendenz (eine immer wieder gestörte Tendenz) zur Gesetzlichkeit vorliegen. Wollte man nun wogegen ich nichts einzuwenden habe auch die Grundlage des Bedeutungswandels, die Gedankenassoziation, einen physio- logischen Vorgang nennen, so ist doch das Werkzeug dieses Wandels um so viel kompUzierter als das verhältnismäßig grobe Sprachwerkzeug, daß natürhch selbst die Tendenz zur Regelmäßigkeit kaum zu beobachten sein dürfte. Es wäre vermessen, wenn die Fachleute den Lautwandel so be- trachteten, als ob sich seine Gesetze a priori hätten erkennen lassen, als ob es möghch wäre, den künftigen Lautwandel aus der Gegenwart vorauszusagen; immerhin läßt sich so etwas in der Phantasie ausdenken, immerhin ließe sich a priori z. B. ein Schema für die Abschwächung, das heißt für die bequemere Aussprache der Konsonanten aufstellen. Beim Bedeutungswandel ist eine solche Gesetzmäßigkeit nicht einmal denkbar, weil wir nicht ausdenken können, was

Bedeutungswandel 211

dem so unbekannten Werkzeug Gehirn bequem ist und was nicht. Man vergegenwärtige sich den Weg des Bedeutungs- wandels an einem den Fachleuten wohlbekannten Beispiele (P, S. 296). Es gibt da etwas wie Wurzeln, welche die Be- deutung „scheinen, glänzen" besitzen, und es läßt sich der Weg von dieser Bedeutung in verschiedene Richtungen verfolgen. Der erste Weg führt über glänzen, leuchten, brennen, stechen, verwunden bis zur Verursachung von moralischen Leiden; ein anderer Weg führt über brennen, Hitze empfinden, austrocknen zur Empfindung des Durstes; ein dritter Weg führt über brennen oder leuchten, beleuchten, sehen, wahr- nehmen zum geistigen Erkennen. Ich möchte wohl den Wetter- propheten kennen lernen, der einen solchen Bedeutungs- wandel in Gesetze bringen könnte.

Regnaud, der zu allen Theorien über den Ursprung der Gesetz Sprache gläubig eine neue hinzugefügt hat, sagt einmal, als ^vendig- ob es ein üchtvoller Ausspruch wäre: „Tout se tient dans keit les mots comme tout se tient dans la nature." Die Bemerkung ist ganz richtig. Nur daß wir mit ihr nichts anzufangen wissen. Alles auf der Welt steht miteinander in Zusanmienhang. Daß ich in diesem Augenblicke den letzten Vokal des Wortes „Augenblicke" so und so ausspreche, das ist so absolut not- wendig und von einer Unzahl verketteter Ursachen so un- bedingt abhängig, wie daß in diesem selben Augenblicke auf diesem in der Schweiz vor dreihundert Jahren gedruckten und wer weiß wo gebundenen Exemplar des Aristoteles gerade dieses mikroskopische Stäubchen niederfällt, in dieser meiner aus diesen Ziegelsteinen hergestellten Stube, daß dieses Stäub- chen in diesem Augenblicke von der Sonne bestrahlt wird imd daß dazu der Wind so und so bläst. Sicherhch fällt kein Sonnenstäubchen auf eines meiner Bücher ohne die Ursächhch- keit, die wir Notwendigkeit nennen; sicherhch verketten sich die näheren und weiteren Ursachen in einer Weise, die sich gesetzlich auflösen heße. Und es widerspricht auch nicht unseren Denkgewohnheiten, diese ungeheuerhche Verkettung von Ursachen wieder in eine einzige Ursache zurückzuphanta- sieren, die endlose Verkettung der Naturerscheinimgen in eine

212 V. Etymologie

meinetwegen von Gott ursprünglich eingesetzte Anziehung der Moleküle, den bunt verketteten Bedeutungswandel zurück- zuphantasieren in eine einzige letzte meinetwegen unartikulierte Wurzel. Nur darf man nicht glauben, daß diese Überzeugung, daß dieser urmenschUche Glaube an eine ursächliche Ver- kettung irgendwie dazu beitragen könne, die Ketten zu lösen, die Ursachen aufzulösen. Seit jeher fielen die Steine auf die Erde und hafteten die Menschen an der Erde, ohne es Schwer- kraft zu nennen; sie haben die Schwerkraft nicht aufgehoben, weil sie sie benannt haben. Wieder sind wir einmal, wie so oft, an der Grenze unseres Denkens da angekommen, wo wir er- kennen, daß wir im Denken die Narren der Sprache sind. Es ist ein gleichgültiger Nebenumstand, daß dies durch die Sprache genarrte Denken die Sprache selbst betrifit. Der menschliche Begriff der Ursache ist der Götterbildner im Menschen.

Noch einmal: Es hat von jeher einen großen Reiz für die Menschen gehabt, etwas über die Geschichte ihrer Sprache zu erfahren. Die Sammeltätigkeit, zu welcher dieser Reiz geführt hat, heißt Etymologie. Vergleicht man etwa die Beispiele, welche Piaton in seinem Kratylos scherzweise oder ernsthaft von der Etymologie seiner Zeit gibt, mit unseren etymologischen Wörterbüchern von Diez und Kluge, so mag man allerdings bewundern, wie wir es so herrlich weit gebracht haben. Die griechischen und römischen Ety- mologen behaupteten Unsinn ohne Methode. Als in der Zeit der Humanisten die Lust an etymologischen Forschungen neu erstarkte, als man eine Zeitlang besonders alles auf das Hebräische als die angeblich älteste Sprache der Menschheit zurückführen wollte, wurde Methode in die Untersuchung gebracht, aber der Unsinn wurde wo möglich noch größer. Die vergleichende Sprachforschung, wie sie namenthch in Deutschland seit hundert Jahren getrieben wird, hat die Methode verbessert und den Unsinn auszumerzen gesucht. Eine Zeitlang hat man freiüch im Sanskrit nicht viel anders

Wert der Etymologie 213

als einst im Hebräischen die Muttersprache zu sehen geglaubt ; da man aber vernünftigerweise vorwiegend die offenbare Ähnlichkeit mit den anderen indoeuropäischen Sprachen be- handelte, gelangte man zu einer Unmenge von sichern und hübschen Ergebnissen. Dazu kam ein gemeinsamer Sammel- eifer, eine mechanische Arbeitsteilung, so daß in der Tat die glaubhafte Geschichte von einer großen Zahl von Worten aus den schrifthchen Quellen festgestellt werden konnte. Aber die Sprachvergleichung konnte dem Reize nicht widerstehen, die Geschichte der Worte weiter zurückzuverfolgen, als die Quellen gestatteten. Die Geschichte begab sich auf vor- historisches Gebiet und ahnte gar nicht, daß sie mit ihren Lautgesetzen nur Hypothesen aufstellte und daß die Ver- bindung mehrerer Hypothesen jedesmal die Wahrscheinlich- keit der Behauptungen mehr und mehr verkleinerte. Die Einsicht in die Mangelhaftigkeit der Lautgesetze hat die strengere Schule der Junggrammatiker aufkommen lassen; deren Arbeit dürfte aber, wie so oft bei Reformatoren zu beobachten ist, in ihren negativen Leistungen wertvoller sein als in den positiven.

Soll die Etymologie in unserem Sinne wertvoll werden, so müssen ihr zwei Tatsachen mehr als bisher bewußt und geläufig werden. Die eine ist die, daß alle Etymologie wie gesagt nur eine lächerlich kurze Zeit aus der Sprach- geschichte umfassen kann, höchstens einen Zeitraum von etwa vier Jahrtausenden, daß also die Etymologie nur Beispiele für die jüngste Entwicklung der Sprache liefert, sonst aber zur alten Frage nach der Entstehung der Sprache nichts bei- tragen kann.

Die zweite Tatsache möchte ich so aussprechen, daß voiks- die Volksetymologie in der wirklichen Entwicklung unend- j^gig lieh einflußreicher gewesen sein muß, als die Sprachwissen- schaft sich träumen läßt. Seitdem der Begriff der Volks- etymologie aufgekommen ist, seit den reizvollen Unter- suchungen von Förstemann also, versteht man darunter immer nur Ausnahmsfälle, genauer ausgedrückt solche Fälle, in denen die wissenschaftliche Et}Tnologie die Geschichte eines

214 V. Etymologie

Wortes anders erklärt hat, als die gegenwärtige Form des Wortes den Laien vermuten ließ. Wir besitzen eine ganze Anzahl klassischer Beispiele für die deutsche Volksetymo- logie. Als das Volk vergessen hatte, daß das althochdeutsche „sin" so viel wie „allgemein" bedeutete und in der Bibel- stunde wie von der Kanzel nach wie vor das Wort „Sintflut" hörte, erklärte es sich schon im frühen Neuhochdeutsch dieses Strafgericht aus der Sündigkeit der Menschen imd sprach und schrieb von da ab „Sündflut". Aus dem mittel- alterlich lateinischen Wort „arcubalistus" oder „arbalista" (Bogenwurfmaschine) wurde durch falsche Deutung der Laute unser „Armbrust". Unser „Bockbier" oder „Bock" entstand durch Verkürzung aus Einbock oder Eimbeckerbier. Unser „Friedhof" entstand aus dem mittelhochdeutschen „vrithof", welches nicht den Frieden, sondern einen einge- friedigten Platz um die Kirche herum bedeutete. In allen diesen Beispielen hat die schriftliche Sprache sicherlich viel zur dauernden Festsetzung der Volksetymologien beigetragen. Die Anstrengungen der Gelehrten, die gegenwärtige Schreibung durch eine etymologisch richtige zu ersetzen, müssen un- verständig genannt werden. Sollen wir uns gewöhnen anstatt Sündflut wieder Sintflut zu schreiben, so müßten wir auch nachholen, was die lebendige Sprache versäumt hat, und lautgesetzlich richtig Freithof schreiben, endlich auch Arbalist anstatt Armbrust.

Für den psychologischen Vorgang ist es nicht gleichgültig, ob die historische Etymologie der Volksetymologie gänzlich widerspricht oder nicht. Bei „Friede" haben wir, auch wenn wir den wirklichen Zusammenhang kennen, . gar nicht nötig, dem Worte einen anderen Vorstellungsinhalt zu geben. Das Wort „Friede", das jetzt in unserem „Friedhof" mit enthalten ist, ist etymologisch mit einem eingefriedigten Platz nahe verwandt und bedeutet so viel wie „Schonung", das ja in beiden Bedeutungen vorhanden ist. Nachdem wir aber aus „Arbalist" „Armbrust" gemacht hatten, was doch eine ganz grausame Wortzusammenstellung ist, mußten wir bei dem Worte an eine Körperstellung denken, also ein Bild festhalten, welches

Volksetymologie 215

vorher mit dem Worte nicht verknüpft war. Sprechen wir das allgemein aus, so werden wir sofort die Wichtigkeit be- greifen, welche die Volksetymologie in der Sprachgeschichte gehabt haben muß.

Wir werden erfahren: neue Worte und neue Bedeutungen sind dadurch entstanden, daß (durch Metapher und Analogie) Ähnhchkeiten im Sprachschatz oder in der Wirklichkeits- welt wahrgenommen wurden. Die Beherrschung unseres ungeheuren Vorstellungs- und Sprachmaterials wäre nun gar nicht mögüch, wenn wir nicht für Stammsilben und Bildungssilben analogische Gruppenbilder in uns entwickelt hätten, die eigentlich Abstraktionen sind, die aber, etwa wie die Namen der Tierarten, die Ordnung erst mögüch machen. Wir fassen unter der sogenannten Stammsilbe „schneid" viele verwandte Begrifie zusammen: die Schneide des Schwertes, das Schneiden, das Schneidern, den Schneider, und werden auch bei schnitzen und schnitzeln und Schnitt, Schnittlauch, Brotschnitte u. dgl. an den Stamm erinnert. Dann wieder bildet das Imperfektum „schnitt" eine Gruppe mit litt, ritt, glitt usw. „Schneider" bildet eine andere Gruppe mit Räuber, Segler usw. Diese Gruppen bleiben so lange bestehen, bis eines Tages durch zufälhgen Laut- oder Be- deutungswandel eine Wortform sich von ihrer Gruppe loslöst und nun Anlehnung an eine andere Gruppe sucht. Auf die Länge kann sich ein Wort ohne Analogie schwer behaupten. Wir sahen, wie das Wort „sin" verloren ging und wie die erste Silbe von „Sündflut" darum in der Gruppe „Sünde" Unterschlupf suchte und fand. Umgekehrt entstand das deutsche Wort „Schuster" aus dem lateinischen „sutor"; als es aber nicht mehr als Fremdwort empfunden wurde, lehnte es sich an die Gruppe „Schneider" an und wird von uns so empfunden, als ob es ganz regelrecht dazu gebildet ■wäre. Nun scheint es mir doch unzweifelhaft zu sein, daß mit der Zeit die meisten Worte einmal durch Lautwandel oder Bedeutungswandel den deutlich empfundenen, ety- mologisch empfundenen Zusammenhang mit ihrer natürlichen Gruppe verlieren müssen und dann eine neue Gruppe auf-

216 V. Etymologie

suchen, so wie Menschen, die auswandern, bald einen neuen Kreis finden. Man muß nur erkennen, daß es auch Volks- etymologie ist, wenn die Endsilbe von „Schuster" als eine Analogie der Endsilbe von „Schneider" empfunden wird. Dann wird man schon fühlen , ein wie ungeheures Gebiet die Volksetymologie umfaßt. Mir scheint es auch innere Volks- etymologie, wenn alle Welt „ich war" als das Imperfektum, „ich bin" als das Präsens von „sein" empfindet. Auch Kasus- formen können so volksetymologisch neu verwendet werden; so ist uns der Genitiv als Form der Zeitbestimmung im all- gemeinen verloren gegangen , nur in einigen , den gebräuch- lichsten zeitbestimmenden Worten haben wir noch den alten Gebrauch erhalten; wir sagen noch des Morgens, des Abends, eines Tages, eines schönen Tags. Es hat sich daraus eine Gruppe für sich entwickelt; die Volksetymologie sieht im „s" das Wesentliche und bildet (ohne an den falschen Genitiv zu denken) auch das Wort „Nachts". Unser geheimnisvoll- schönes Wort „mutterseelenallein" bedeutete im Mttelhoch- deutschen so viel wie „getrennt von der Seele der Mutter"; „allein" konnte in diesem Sinne mit dem Genitiv verbunden werden; diese Vorstellimg ist uns verloren gegangen, und wer ein feines Ohr für unsere Muttersprache hat, wird be- merkt haben, daß wir die neue Volksetymologie für „mutter- seelenallein" noch nicht besitzen, daß jeder Dichter, der das Wort gebraucht, gewissermaßen seine eigene Volksetymologie damit verbindet. Ein anderes Wort, welches seine ganz ofienbare Etymologie verloren hat, ist unser „Eitter". Es ist in mancher Beziehung interessant. Würde man einen ein- fachen Mann aufmunternd fragen, wo das W^ort herkommt, und wüßte dieser einfache Mann (was durchaus nicht sicher ist) von der alten Bedeutung, so würde er sich allerdings für einige Minuten in einen etymologischen Forscher verwandeln, an „reiten" denken und die beiden Worte in einen halbwegs richtigen Zusammenhang bringen. Wäre aber der einfache Mann nicht nachdenklicher Natur oder wüßte nicht, daß man sich früher unter Ritter einen berittenen Maim vorstellte, so würde er nicht auf die Ableitung kommen, wie sie auch nicht

Volksetymologie 217

mehr in unserer Vorstellung ist, sobald wir Ritter rein als Standesbezeichnung gebrauchen oder z. B. Kittergut sagen. Wer aber schon auf eigene Faust etymologisiert und „Ritter" von „reiten" ableitet, der beruhigt sich dabei und fragt nicht mehr, wie das Wort „reiten" zu seiner Bedeutung gekommen ist. Nun aber ist diese Bedeutung selbst für unsere kurze historische Zeit noch ziemlich neu. Die ältesten Deutschen scheinen die Fortbewegung auf dem Pferderücken so werüg gekannt zu haben wie die Helden des Homeros und wie die Indier, die das alte Sanskrit sprachen. Nirgends finden wir ein Stammwort für „reiten". Auch das deutsche Wort bedeutete nur „reisen", sich auf der Erde fortbewegen. Der Reiter oder Ritter war also ein „Reisiger", ein „Reisender" gewesen. Als das Wort dann ganz besonders das Reisen zu Pferde zu bedeuten anfing, bildete es für die Volksetymologie einen neuen „Stamm". Und während das dei;itsche Wort in der Form „reitre" ins Französische überging und dort schließhch so herunter kam, daß es einen zerlumpten Weltläufer mit bedeutete, drang das romanische Wort „rutarii", welches eine Art Räuber bezeichnete, in der Form „Reuter" nach Deutschland, und die Volksetymologie setzte es so unmittelbar neben unser „Reiter", daß die Schreibung „Reuter" eine Zeitlang allgemein wurde. Hätte sich nun dieser Vorgang in der vorschriftlichen Zeit der Sprache abgespielt, so besäßen wir vielleicht nur das Wort „Reuter" und dazu das Verbum „reuten" und müßten es gründlich falsch erklären.

Ich muß auch Bildungsformen, und wären es nur einzelne Buchstaben, für volksetjTnologisch erklären, die in historischer Zeit, also nachweisbar, zu ihrer Formbedeutung gekommen sind. So ist vielleicht z. B. das „n" in den Worten der so- genannten schwachen Deklination im Deutschen ursprüngUch dem Stamm zugehörig; als es aber im Nominativ fortgefallen war und man „Name", „Frau" (schon ahd. frouwa) sagte, hielt man volksetymologisch dasselbe „n" für einen kasus- bildenden Laut. Von ähnhchen Vorgängen in der vor- historischen Zeit können wir keine Ahnung mehr haben. Ebenso halten wir das „r" in der Mehrzahl „Kälber" für einen

218 V. Etymologie

Formlaut, der die Mehrzahl bezeichnet; es ist dieses „r" aber nur in der Einzahl fortgefallen. Die Volksetymologie hat dieses r als Zeichen der Mehrzahl analogisch festgehalten und so der wissenschaftlichen Etymologie zu tun gegeben. Macht Darauf aber kam es mir an: durch einige Beispiele aus der

^®^" historischen Zeit das Wesen der Volksetymologie richtig etymo- ZU Stellen. Denke ich mich in eine weit entrückte Zeit zurück, logie -j^ welcher nur kleine Landschaftsgebiete ihre gemeinsame Sprache hatten imd in welcher einerseits die lebhafte Berüh- rung und anderseits das Bedürfnis nach rascherer Sprach- bereicherung unaufhörlich neue Worte und neue Formen schuf, etwa so, wie es heute noch bei den Polynesiern der Fall sein soll, so glaube ich einen Zustand zu sehen, den ich als Alleinherrschaft der Volksetymologie bezeichnen möchte. Damals mag das Bewußtsein der Entlehnung oder Neubildung eines Wortes nicht einmal bei einer ganzen Generation erhalten geblieben sein, was doch heute bei dem Gebrauch von Fremd- worten und Neuschöpfungen ungefähr der Fall ist. Damals mag das Bewußtsein schon nach kurzer Gewöhnung erloschen sein. Und was in diesem Frühjahr noch Entlehnung oder Neubildung war, gehörte im nächsten Frühjahr dem Sprach- schatz an und wurde durch Volksetymologie irgendeiner be- stehenden Gruppe gutgläubig einverleibt. Im zweitnächsten Frühjahr hätte ein wissenschaftlicher Etymologe die wahre Herkunft vielleicht nicht mehr erkennen können. Versetzen wir uns nun in eine Zwischenzeit, etwa in die Epoche, in welcher nach der landläufigen Annahme die Schwestersprachen der indoeuropäischen FamiUe entstanden sind, so wird es wohl nicht gar viel anders gewesen sein. Bei der noch weit jüngeren Entstehung des Spanischen oder des Französischen können wir die Mischung und volksetymologische Einverleibung sehr häufig nachweisen. Bei der so viel älteren Entstehung der germanischen Sprache (um eine gemeingermanische Sprache anzunehmen) können wir eine solche Mischung und volks- etymologLsche Einverleibung nur ahnen. Es wird aber auch da der Sachverhalt wohl so sein, daß die wissenschaftliche Etymologie sich alltäglich über Worte den Kopf zerbricht,

Macht der Volksetymologie 219

die einst volksetymologisch entstanden sind. Ich erinnere, um diesen Gedanken recht eindringlich zu machen, an die Ortsnamen. Wir brauchen nur anzunehmen, daß an der Stelle ""'*^"

namen

einer heutigen Stadt und das wird gewiß oft zutreffen schon in weit zurückhegenden, vorhistorischen Zeiten eine Ansiedlung bestanden habe, daß diese Ansiedlung irgend einen Namen trug und daß der alte Name, wenn auch noch so verändert, in dem heutigen Ortsnamen noch enthalten ist. Nun ist es offenbar volksetymologisch, in der kleinlichen Bedeutung des Worts, wenn man z. B. den Namen „Berlin" auf einen Bären zurückführt und darum sogar dieses Tier in das Berliner Wappen gesetzt hat. Wenn neuere Gelehrte, um deutsch zu bleiben, den Namen von „Wehr" ableiten, also von einem Damm, so scheint mir diese Erklärung ein Zwitter- ding von Volksetymologie und wissenschaftlicher Etymologie zu sein. Andere Forscher wieder lehren, daß die Gegend früher von Slawen bewohnt gewesen sei imd der Name „Berlin" von einem slawischen Worte herstamme, das den und den Sinn gehabt habe. Bestand aber an den Ufern der Spree noch früher auch schon eine Ansiedlung, so ging der Name aus einer Vor- zeit auf jene Slawen über, und das slawische Wort mit der und der Bedeutung war selbst wieder eine Schöpfung der Volks- etymologie wie der Bär im Wappen von Berlin.

Noch älter als unsere Städte sind jedenfalls die großen Gebirge und Flüsse. Unsere Gelehrten leiten den Namen der Alpen von „Alp" oder „Alm" ab, was heute bei deutsch redenden Alpenbewohnern einen hochgelegenen Weideplatz bedeutet. Wer wird aber behaupten, daß der Name dieses weithin bis in die italienische Tiefebene sichtbaren Gebirges nicht schon in Urzeiten festgestanden hätte ? Wer wird leugnen wollen, daß man in der Gegend von Mailand dieses Gebirge schon benannt hat, lange bevor sich dort irgend etwas fest- setzen konnte, was einer indoeuropäischen Sprache ähnlich sah?

Ein sehr hübsches Beispiel liefert Max Müller, und es bliebe ein vorzügliches Beispiel selbst dann, wenn es erfunden wäre, das heißt wenn es ein Irrtum der Etymologie wäre. Er meint, daß von demselben Worte, welches in Indien glänzen

220 V. Etymologie

bedeutete, einerseits die Sterne, die glänzenden, ihren Namen erhalten hätten, riksha, anderseits die Bären. Ich lasse es dahingestellt, ob wirklich irgendeine Sprache der Welt den Bären den Glänzenden zu nennen Veranlassung hatte; man wird über solche Zwangsanleihen der Phantasie dereinst ebenso lachen, wie wir heute über die Etymologien des 17. Jahr- hunderts lachen. Nehmen wir es aber als einen Zufall hin, daß Stern und Bär den gleichen Namen hatten, setzen wir anstatt der Abstammung der Griechen und des Griechischen von den Ariern und dem Arischen eine Entlehnung, stellen wir uns vor, daß die Griechen die Astronomie von den Indern entlehnten und dazu den Namen des Bärengestirns, so ist die Vermutung Müllers sehr ansprechend, daß die Griechen, weil sie den Namen nicht verstanden, die Gruppe der sieben Sterne, welche bei den Indern die Glänzenden hießen, volks- etymologisch als den Bären, Arktos, zusammenfaßten und so weiter geführt wurden, noch einen kleinen Bären hinzu zu erfinden und allerlei Metamorphosenfabeln daran zu knüpfen. Die Metamorphosen sind heute vergessen, trotzdem es noch immer Gymnasien gibt, auf denen man sie den armen Jungen eintrichtert. Wenn wir aber heute noch von einer arktischen Zone, von einem arktischen Klub reden, so ist dieser Ausdruck des gebildeten Sprachgebrauchs wahrscheinlich der letzte Niederschlag einer Volksetymologie, welche vor Jahrtausenden Bären und Sterne miteinander verband.

Nur der Kuriosität wegen noch einige Leistungen der Volksetymologie. Eine gewisse Suppe wird Palästinasuppe genannt, weil sie aus Artischocken bereitet wird und zwar aus Jerusalem- Artischocken. Dieses „Jerusalem" ist aber nur eine Umformung des italienischen girasole, „was sich nach der Sonne wendet", eines Namens der Sonnenblume, zu welcher Gruppe imgefähr die Artischocke gehört. Es gibt in der Dauphine einen tour sans venin, einen Turm ohne Gift, einen Wunderturm, dessen Nähe giftige Tiere nicht ver- tragen sollen. Der wahre Name des Turmes und der zu ihm gehörigen Kapelle ist aber San Verena.

Es ist damit wie mit dem Beispiele „Alpe".

Metapher und Analogie 221

Wie ein Stückchen Gold unzähligemal in den Händen des Künstlers eingeschmolzen und neu geformt worden ist, seitdem es die Erzstufe verlassen hat, ja noch mehr, wie ein und dasselbe Sauerstoffatom einmal im Wassertropfen über ein Mühlrad hinweg dem Meere zufloß, dann in einem Nebeltröpfchen eine Wolke bilden half, dann zur Bildung einer Weizenähre beitrug und in diesem Augenblicke viel- leicht in meiner Lunge das Blut wieder herstellen hilft, so sind die Worte der alten Ortsbezeichnungen wohl durch ungeahnt viele abenteuerliche Volksetymologien hindurch- gegangen, bevor sie ihre heutige Verwendung fanden. Die wissenschaftliche Etymologie kann besten Falls die aller- letzten Schritte zurückverfolgen ; dann stößt sie ahnungs- los auf Bildungen der unbewußten Volksetymologie. Bisher hat man unter Volksetymologie nur die Ausnahmsfälle zu-* sammengefaßt, in denen zufällig eine falsche Etymologie nachweisbar war. Habe ich aber recht mit meiner Erweiterung des Begriffs, so gehen alle unsere Worte, alle Bildungsformen mit ihrem angeblich so bedeutungsvollen Lautwandel auf urzeitliche Volksetjonologie zurück, die zu entwirren der „Wissenschaft" nie und nimmer gelingen kann. Wir können uns nur damit trösten, daß auch bei diesen unsichtbar ge- wordenen Einwirkungen der Volksetymologie dieselben Mächte tätig gewesen sein müssen, die wir heute als sprach- bildend erkennen: die Metapher und die Analogie. Auch die Volksetymologie mußte sich an die von ihr beobachteten Ähnlichkeiten halten, und mich dünkt beinahe, daß es für alle Zeiten der Sprachentwicklung recht gleichgültig ge- wesen sein mag, ob der sogenannte Sprachgeist auf richtige oder auf falsche Ähnlichkeit verfiel. Die wissenschaftliche Etymologie kann nur die Bausteine der Sprache unter- suchen; die Volksetymologie hat diese Bausteine geformt und zusammengefügt. Von den Fällen zu schweigen, wo gelehrte Spielerei den Anstoß zu Volksetymologie gegeben haben mag.

222 VI. Wurzeln

Wüßten wir mehr von den Sprachen, wir würden in unzähligen Fällen beobachten, wie Scherz und Ironie neue Wortbildungen und neue Bedeutungen schaffen. Was man so gelehrt Volksetymologie genannt hat und für eine un- bewußte Tätigkeit der unpersönlichen Volksmasse ausgegeben hat, läßt sich häufig als die Aufnahme eines sehr bewußten Witzwortes nachweisen.

In unseren Hauptstädten taucht alle paar Wochen so ein neues Wort auf; es war zuerst vielleicht der Witz eines Possendichters, hatte sich eingebürgert, und ist der Scherz dann so abgestanden, daß man ihn nicht mehr empfindet, dann heißt das Wort ein Erzeugnis der Volksetymologie.

Wie Religion oft eine Wissenschaft von gestern, so ist Volksetymologie oft ein Bonmot von gestern oder eine ge- lehrte Hypothese von gestern.

VI. Wurzeln

Was ist Max Müller hat ganz richtig gelehrt, daß eine Wurzel Wurzel? dasjenige sei, was sich in den Wörtern irgendeiner Sprache nicht auf eine einfachere oder ursprünglichere Form zurück- führen lasse. Die weitere Zurückführung der Sprach wurzeln auf einzelne Buchstaben oder Laute gehört sozusagen nicht mehr in die sprachliche Betrachtung der Sprache. So gliedert der Architekt einen Bau in seine vertikalen und horizontalen, in seine tragenden und getragenen Teile; die Werksteine aber, aus welchen Mauern und Säulen, Spitzbogen und Rundbogen bestehen können, gehören auf ein anderes Gebiet. Besteht eine Wurzel nur aus einem einzigen Laut, so ist das ein gleich- gültiger Zufall.

Die negative Definition daß nämlich eine Wurzel das sei, was sich nicht weiter erklären läßt sollte uns aber im Gebrauche des Wortes vorsichtig machen. Der ungeheure Mißbrauch des Wortes stammt aus der Zeit, wo die Sanskrit- grammatiker Einfluß auf unsere Sprachwissenschaft ge- wannen. Die Inder wendeten das Wort Wurzel (dhätu, Er-

Was ist eine Wurzel? 223

nährer) auch auf ihre fünf Elemente des Weltganzen an, als welche bei ihnen Feuer, Wasser, Luft, Erde und Äther galten. Dieser Umstand ist bezeichnend für den unklaren Irrtum, in welchem sich unsere Sprachwissenschaft noch heute befindet, sobald sie etwa von den Wurzeln der Sprache als von etwas Wirklichem, als einem letzten Elemente redet. Max Müller spricht (Vorlesungen II, S. 75) vollendeten Unsinn, wenn er den Wurzeln ahnungsvoll zwar die Realität abspricht, aber nur darum , weil sie die „Ursachen" der Sprache wären. Er nimmt die geahnte Wahrheit auch wenige Seiten später wieder zurück: die Wurzeln werden ihm zu historischen Tat- sachen, an welche er sich in der Not klammert, um rühmen zu können, wie wir es in der Etymologie so herrlich weit gebracht haben.

Niemand wird den erstaunlichen Fleiß und Scharfsinn leugnen wollen, mit welchem die neuere Sprachwissenschaft die W^orte von Sprache zu Sprache verfolgt und in un- zähligen Fällen ihren Laut- und Bedeutungswandel historisch belegt hat. Es sind aber doch nur Brücken, welche ins Leere führen. Am Ende der historischen Betrachtung steht die prähistorische Zeit; und es ist nicht so banal, wie es klingt, wenn ich nun sage, daß die prähistorische Zeit diejenige ist, von der wir gar nichts wissen. Auf dem Gebiete der Sprache insbesondere fängt die Wurzel da an, wo wir gar nichts mehr wissen. Unsere ausgezeichneten etymologischen Werke enden jede historische Zurückführung mit einer der sogenannten Wurzeln der Sanskritgrammatiker. Diese Wurzeltafeln werden auf Treu und Glauben angenommen, wie von den Juden die Tafeln der Zehngebote. In unseren Tagen, wo man selbst die Zahl der etwa siebzig chemischen Elemente nicht für das Ende aller W^eisheit hält und überall an die Möglichkeit ihrer Re- duktion glaubt, sollte man nicht so blindlings einer Gedanken- richtung folgen, welche in Feuer, Wasser, Luft, Erde und Äther die Wurzeln des Seins zu erkennen glaubte und ihnen die Wurzeln der Sprache gleichstellte.

Ich will zugeben, daß die grobsinnhche Vorstellung, als wachse ein AVort in der Fülle seiner Formen aus der

224 VI. Wurzeln

Sprachwurzel hervor wae der Baum aus seiner Wurzel, die Gedanken unserer Sprachforscher nicht mehr so beherrscht, wie die Wiederkehr dieses Bildes seit der Zeit des Horaz uns vermuten lassen sollte. Mit vollem Bewußtsein wird kein Gelehrter diesen Fehler mehr begehen. Die Herren würden, wollte man sie zu einer Wahl zwingen, das Bild heutzutage gewiß lieber von dem Keime der Pflanze hernehmen, um so gewisser, wenn sie darüber belehrt würden, wie doch die Wurzel nicht das einzige ernährende Organ der Pflanze ist. Aber auch das Bild vom Keime oder von ursprünglichen Elementen wird schief und falsch, wenn man es nicht auf eine phantastische Urwurzel der Sprache, auf irgendeinen viel- deutigen oder gar alldeutigen Schrei bezieht, sondern auf die paar hundert sauber abgeschälten Silben, welche man als die sogenannten Sanskritwurzeln verehrt. Diese Silben, welche die Grammatiker einer hoch entwickelten Sprachzeit durch Abschälen, Glätten und Ordnen künstlich hergestellt haben, als historische Wurzeln, als letzte Keime der Sprache anzu- sehen und zu gleicher Zeit etwas über den Ursprung der Sprache zu phantasieren, das ist ebenso unsinnig wie ein Versuch, in einem Atem über die biblische Schöpfungslegende und die Entwicklungstheorie des Darwinismus zu sprechen. Am un- besonnensten hat Max Müller es zustande gebracht, einen solchen Mischmasch für möglich zu halten und in den Sprachen zweier Weltanschauungen zu reden, also doppelzüngig. Gerade in dem Kapitel, in welchem er den Ursprung der Sprache be- handelt und nach leichtfertiger Ablehnung der Schallnach- ahmung, der Wauwau-Theorie, und der interjektionalen oder Pah-Pah-Theorie zu seiner mystischen Lehre gelangt, der Mensch sei ein sprechendes Musikinstrument, gerade in diesem Kapitel (Vorlesungen I, S. 319) verrät er ganz un- befangen seinen Glauben an die Ursprünglichkeit der legen- dären Sanskrit wurzeln. Er sagt da : „Wir gelangen schließlich zu Wurzeln, und jede derselben drückt eine generelle, nicht eine individuelle Idee aus. Jedes Wort enthält, wenn wir es zer- gliedern, eine prädikative Wurzel in sich, nach welcher der Gegenstand, auf den es bezogen wurde, uns kenntlich wird."

Max Müller 225

Nach dem, was über Müllers philosophische Fähigkeiten (P, 182) gesagt worden ist, kann seine Unsicherheit nicht über- raschen. Je älter, desto wurzelgläubiger wurde er. Sein Buch „Denken im Lichte der Sprache" ist gar schlimm. S. 76 meint er , die Urkunden der Sprache reichen „in ununterbrochener Reihenfolge von unserem spätesten Denken bis zu dem ersten Worte (!), das je unsere Vorfahren ausgestoßen haben". S. 160: „Diese Wurzeln stehen wie Grenzmarken zwischen dem Chaos und dem Kosmos der menschlichen Rede". Dabei wird es ihm und dem Leser niemals klar, ob Müller er selber war bei diesen hohlen Deklamationen oder an anderen Stellen, wo er (S. 191, 201) in den Wurzeln Residuen, künstliche Gebilde der Gram- matiker sieht. Müllers Aberglaube an die Sprache macht ihn blind. Der Darwinist Schleicher hat im Scherze gesagt: „Wenn ein Schwein jemals zu mir sagen könnte ,Ich bin ein Schwein'', so würde es ipso facto aufhören, ein Schwein zu sein". Das wird bei Müller zu blutigem Ernst; Sprache kann nicht „geworden" sein, eher noch das Auge. Ganz komisch, scholastisch schließt er daraus, daß der Begrijff Mensch die Sprachfähigkeit einschließe, auf einen besonderen Schöpfungs- akt beim Menschen (S. 542).

Lassen wir nun (in dem oben zitierten Satze) die Be- zeichnung „prädikativ" als zu unbestimmt beiseite, denken wir nur an die generelle Idee, so wäre die Bemerkung schon richtig, sobald wir jedes Wort auf dasjenige zurückführen, aus dem es zunächst hervorgegangen ist. Wir gelangen so zu einem relativen Begriff der Wurzel, der nur freilich nicht viel besagt. Heiative Nehmen wir z. B. ein recht konkretes Wort, wie „Rent- meisterin". Dafür mag meinetwegen das sehr moderne und sehr wenig elementare Wort Rentmeister die relative Wurzel sein; „in" ist dann die Bildungssilbe. In Rentmeister mag man „meister" wie eine Bildungssilbe betrachten, „Rent" für die relative Wurzel erklären und sie dann weiter auf das spätlateinische renta, auf das italienische rendita imd dieses wieder auf das lateinische reddere (rendre) und weiter auf dare zurückführen. Jedes ist die relative Wurzel des Vor- hergehenden. Ebenso wird man „Meister" auf magister,

Mauthncr, Hoitiilj,'' zu eiinr Kritik der Sprache. II 1^

226 VI. Wurzeln

dieses auf den Begriff des Höheren zurückführen können, immer auf relative Wurzeln. Nun gelangen die Etymologen also schließlich auf Sanskritwurzeln, welche den lateinischen Worten re, dare und magis lauthch und begrifElich ent- sprechen. Angenommen, es wären für diese Wurzeln noch etwas ältere sogenannte indoeuropäische Wurzeln nach- weisbar und von ihnen die Herkunft der lateinischen Worte belegt, so gut wie die zufällige Herkunft des Wortes „Rent- meisterin" von den relativen lateinischen Wurzeln, so wäre es doch der offenbarste Aberglaube, an dieser Stelle inne- zuhalten, den relativen Begriff aufzugeben und die Sanskrit- wurzeln für die Urelemente zu halten. Müssen wir uns die Sprache als aus solchen hoch entwickelten Anfängen her- stammend denken, so müßte sie allerdings durch ein Wunder auf die Erde gekommen sein. Dann täten wir freilich am besten, einem außerweltlichen Gotte die Erfindung einer fix- undfertigen Sprache zuzuschreiben. Nur daß wir uns diesen Gott, der jeden Gegenstand durch eine prädikative Wurzel kenntlich machte, nicht ganz außerweltlich vorstellen dürfen, sondern als ein indoeuropäisches Wesen, das überdies abend- ländische Logik und abendländische Grammatik studiert hätte.

Man verzeihe mir einen rohen Vergleich. Es käme der Bewohner einer Insel, auf der wohl Vierfüßler, Fische und Pflanzen gegessen würden, auf der es aber keine Vögel und keine Eier gäbe, nach Europa und erhielte da ein Rührei oder eine Omelette vorgesetzt. Unser Insulaner würde nun glauben, der Gott von Europa habe für den Genuß seiner Europäer direkt die Eierspeisen geschaffen. Dieser Glaube scheint mir nicht törichter zu sein als der an die Ursprünghch- keit der Sanskrit wurzeln.

Unter den aufmerksameren Sprachforschern begann aus allen diesen Gründen die Erkenntnis aufzudämmern, daß der Begriff der Sprachwurzel ein Abstractum sei, mit welchem die Geschichte der Sprache bei weitem nicht so viel anzu- fangen wisse, als man jahrzehntelang geglaubt hatte. An verschiedenen Arbeitsstätten zugleich war einst der b i 1 d-

Relative Wurzeln 227

liehe Ausdruck geläufig geworden, die Herkunft der Worte wie das Entstehen eines Krautes oder einer Staude auf eine Wurzel zurückzuleiten. Die Sprachwurzel ist unsichtbar wie die Pflanzenwurzel und für das Leben der bezüglichen „Organismen" ebenso notwendig. Das Bewußtsein der Bild- lichkeit des Ausdrucks ging dann verloren, wie so oft, und innerhalb der Gilde der Sprachvergleichung glaubte man in der Wurzel einen wissenschaftlichen Begriff zu besitzen, der so selbständig schien, daß man an die Ähnlichkeiten mit der Pflanzenwurzel nicht mehr zu denken brauchte.

Zunächst muß festgehalten werden, daß eine richtige Wurzel kein Wort ist; wo der Sprachforscher noch ein Wort vorfindet, da ruht er nicht eher, als bis er dem Worte wie einem unglücklichen Maikäfer Beine, Flügel, Kopf und Ein- geweide herausgerissen hat, wonach er den Rest die Wurzel des Maikäfers nennt. Wie es aber niemals in der Natur einen Maikäfer ohne seine Organe gegeben hat, wie niemals ein lebendiger Maikäfer aus Überresten seiner Leiche entstanden ist, so dürfte wohl auch die Wurzel niemals der lebendigen Sprache angehört haben, ihr auch niemals vorausgegangen sein. Es ist fürs erste gut, wenn wir wissen, daß die Wurzeln tote Hilfskonstruktionen der Grammatiker sind, daß die Wurzeln niemals lebendige Teile einer Sprache sein konnten, weil sie niemals Worte waren.

Ich möchte an dieser Stelle einige übereinstimmende w. Wundt Sätze einschalten, die ich nach getaner Arbeit bei neueren Forschern gefunden habe. Da ist zunächst Wilhelm W^undt zu nennen, der in diesem Punkte sich den freiesten Sprach- wissenschaftlern angeschlossen hat. Er sagt klipp und klar (Völkerpsychologie IF, S. 632): „Die Wurzeln sind Produkte der grammatischen Analyse, nicht Urwörter der wirklichen Sprache. Die ihnen beigelegten Bedeutungen sind Resultate logischer Abstraktion, nicht ursprünghche Begriffe; und das Kulturbild, welches diese angeblichen Bedeutungen von dem Zustand des Menschen in der Zeit der hypothetischen Wurzel- sprache gewähren, ist ein innerlich unmögliches, weil es die wirkliche Entwicklung, soweit wir sie aus der Erfahrung

228 VI. Wurzeln

kennen, vollständig auf den Kopf stellt, indem es die Wurzeln selbst als die Produkte einer Kultur deutet, die nur auf Grund einer lange vorausgehenden, ohne die Sprache gar nicht denkbaren Entwicklung möglich wäre." Brugmann, Wundts Gewährsmann, will das Wort Wurzel (Grundriß I, S. 38) bereits nur im psychologischen Sinne gebraucht wissen. Und E. Wechßler in seiner vielfach sehr konservativen Abhand- lung „Gibt es Lautgesetze?" wendet sich wenigstens in einer Anmerkung (S. 58) gegen die alte Wurzeltheorie von Bopp, Max Müller, Schleicher, Curtius und Misteli. Er sagt mit äußerster Zurückhaltung: „Der Sprachgebrauch des Wortes Wurzel ist heute überhaupt ein zweifacher : man meint darunter entweder, wie Brugmann, den hypothetischen Kern der synthetischen Worte der indogermanischen Ursprache (?), oder, wie hier Misteli, das, was für den Sprechenden nach Abzug der Endung übrig bleibt. Man wird besser tun, das Wort auf den ersten Begriff zu beschränken." Semiti- Man muß sich das oben Gesagte vollkommen eigen Wurzeln Diachen, um nicht gelegentlich in den alten Fehler zurück- zuverf allen. Er ist nirgends so deutlich wie in der semitischen Philologie, wo von alters her das System herrschend ist, drei Konsonanten ohne Vokal als Wurzel eines an Begriffen reichen Stammes anzusehen. Ich lasse es dahingestellt, wie weit die Aufstellung eines solchen Gerippes von Wurzeln gerade dem wissenschaftlichen Geiste der Semiten entspricht, ich lasse es ferner dahingestellt, wie weit die jahrhundertelange Tätigkeit semitischer Grammatiker die scheinbare Geltung des Systems erst verallgemeinert hat ; mir genügt hier der Hinweis darauf, daß die drei vokallosen Konsonanten schon wegen ihrer Un- aussprechbarkeit niemals ein Wort sein, niemals eine Vorstel- lung erwecken konnten. Die semitische Wurzel so gut wie die Sanskritwurzel ist nachträglich von Grammatikern erfunden worden, so gut wie die Entstehung der Menschen aus Steinen in der griechischen Sage. Die Sprach wuizel gehört zu der Legendenbildung der Wissenschaft, so überraschend es auch für die Wissenschaft sein mag, daß sie Mythen bilde wie das kindliche Griechentum. Man achte aber nur auf die

Semitische Wurzeln 229

Ähnliclikeit des Gedankengangs. Denkt man an die Ab- stammung des Menschen, so wird kein Beobachter der Natur etwas Anderes für möglich halten, als daß immer ein Organis- mus durch einen vorangegangenen Organismus erzeugt worden sei. Die Darwinisten setzen endlose Zeiträume voraus, in denen die heutigen Menschen von minder entwickelten, diese wieder von affenähnlichen, diese wieder in irgendwelchen Urzeiten von reptilienähnlichen erzeugt worden seien und so fort zurück ins Unendliche. Die Altgläubigen, die den Begriff einer Artveränderung noch nicht gefaßt hatten, ließen ein Geschlecht der Measchen immer von einem anderen ab- stammen und so ebenfalls ins Unendliche zurück, wenn sie nicht gerade mit den fünftausend biblischen Jahren sich be- gnügten. Die neue Legende des Darwinismus fängt an, sich um die Entstehung des ersten organischen Atoms zu bilden. Die Legende der alten Anschauung war da die Schöpfung des ersten Menschen, dort die Sage von Deukalion. Die gleiche Legende in der Geschichte der Sprache ist die Wurzel.

Man hüte sich davor, die Sprachwurzeln, die toten Kon- Worte struktionen indischer und arabischer Grammatiker, zu ver- ^^ym-y^piu wechseln mit ururalten Sprachgebilden, wie sie teils vor- gefunden, teils rekonstruiert, teils phantastisch angenonmien worden sind. So ein ururaltes Lautzeichen konnte wohl, mit den Mitteln unserer Sprache dargestellt, materiell einen außerordentlich weiten Umfang besitzen und ähnlich wie die aufgestellte Wurzel viele Begriffe zugleich bezeichnen, die wir heute durch immer wieder neue Worte ausdrücken. Ebenso kormte jenes alte Wort, mit den Mitteln unserer heutigen Sprache definiert, in formeller Beziehung die Kate gorien des Nomens, des Verbums, des Adjektivs usw. um- fassen, während wir uns heute für jede Kategorie besondere Bildungsformen angewöhnt haben. Es ist aber doch offenbar ganz willkürlich, wenn wir die Differenzierung der Begriffe unserer Vorstellungswelt, die Trennung der Kategorien imserer Analogiewelt au.- jene alte Zeit anwenden. Jenes Lautzeichen konnte mit der Weite unserer Begriffe ge- messen — noch so 'jTntas-ende oder unklare Vorstellungen

230 VI. Wurzeln

erwecken, die Sprecher jener Zeit glaubten dennoch fest- uinrissene Vorstellungen auszudrücken, genau so wie wir mit unseren Differenzierungen und Kategorien genau definierbare Vorstellungen auszudrücken glauben. Es war jenes Laut- zeichen ein Wort und keine Wurzel.

Die sogenannten W^urzeln, mit welchen die eigentliche Sprachwissenschaft zu tun hat, sind nie und nirgends im Sprachgefühl redender Menschen vorhanden gewesen; sie sind Hypothesen der Grammatiker, Fiktionen der Wissen- schaft, die eine gewisse Ähnlichkeit haben mit den Urtypen der Tiere und Pflanzen, welche von Zoologen und Botanikern angenommen und von ihnen nachher vergebens unter den Resten ausgestorbener Tiere gesucht werden. So wollte sich mit den Wurzeln eine besondere Paläontologie der Sprache beschäftigen, eine hypothetische Wissenschaft, die sich am liebsten Sprachphilosophie nennt.

Es sind die Gelehrten dieser Richtung, welche sich namentlich mit der Frage beschäftigt haben, ob die Wurzeln ursprünglich die konkreten Dinge selbst benannten oder ob sie ursprünglich Eigenschaften beziehungsweise Tätigkeiten bezeichneten, die erst später zur Namengebung für konkrete Dinge dienten. Wir wollen diese Forscher nicht dadurch in Verlegenheit bringen, daß wir auf ja und nein Antwort darauf verlangen, ob ihre Wurzeln schon Worte gewesen seien oder nicht. Wir wollen auch an dieser Stelle nicht untersuchen, wann und wo in dem kurzen Abriß der mensch- lichen Sprachentwicklung, den wir an der Kindersprache vor uns haben, Wurzeln gesehen oder gehört worden sind. W^ir können aber nicht die Frage umgehen, was wohl diese Forscher unter dem Begriff der Entwicklung verstehen, wenn sie eine so ausgebildete Sprachform, wie sie z. B. in den Wurzeln des Sanskrit vorhanden war, an den Anfang setzen. Konkrete In dem Streit um die Bedeutung der Wurzeln steckt strakte" ^^^ ^^^^ noch eine andere philosophische Naivetät, die es Be- uns unmöghch macht, von unserem Standpunkte aus auch eu ung ^^^^ Stellung zu dem Streite zu nehmen. Es gehen nämlich die Herren, welche den Sinn der Wurzeln konkret auffassen,

Konkrete otler abstrakte Bedeutung 231

von der Überzeugung aus, die Objekte der Wirklichkeitswelt wären das Erste, das Gewisse, wären uns wohl bekannt, während wir doch höchstens von ihren Eigenschaften oder Tätigkeiten etwas wissen. Die Anschauung dieser Herren ist also eine vorphilosophische. Ihnen gegenüber sind natür- lich die Gegner im Recht, sobald sie behaupten, es sei uns von den konkreten Dingen überhaupt nur das Abstrakte bekannt, eine Eigenschaft oder eine Tätigkeit. Aber diese Gegner sind wieder so naiv, die letzte Abstraktion von der Wirklichkeit, die seit etwas mehr als hundert Jahren erst in einigen Dutzend Köpfen vollzogen worden ist, dem Sprachgefühl jener Menschen unterzuschieben, die vor einigen tausend Jahren eine wurzel- hafte Sprache gesprochen haben sollen.

Es ist eben schwer, m das Sprachgefühl urzeitlicher Menschen mit den Mitteln unserer Sprache hineinzuleuchten. Jede Zeit glaubt mit Faustens Wagner, sie habe es herrlich weit gebracht; jede Zeit hält ihr Sichzurechtfinden in der Welt für Welterkenntnis, ebenso wie wir miser Zurechtfinden Erkenntnis nennen und sie gar hübsch in Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften einteilen. Es kann uns aber bei einiger Bescheidenheit nicht verborgen bleiben, daß auch das Tier, selbst das niederste, sich in seiner Welt zurechtfindet, daß auch das Tier dieses Sichzurechtfinden seine Welt- erkenntnis zu nennen berechtigt wäre. Das Weltbild der Amöbe (I-, S. 388) ist vielleicht wahrer, unmittelbarer als das Weltbild des mittelbar erkennenden, sprechenden Menschen. Diese praktische Gewohnheit des Lebens ist durchaus nicht an ein Denken oder Sprechen gebunden. W^ir nehmen an, daß der Hund z. B. ein paar Dutzend Begriffe besitze , die er in seiner Sprache ausdrücken oder verstehen kann. Wenn der Hund jedoch von einem Spaziergange nach Hause zurück- kehrt, die nächsten Straßen w^ählt, den Leuten ausweicht, den Wagen und Reitern nachläuft, bei seinen Artgenossen stehen bleibt, Hündinnen beschnuppert, wenn er sich im Vorübergehen für jeden Laden interessiert, wo es Lebens- mittel gibt, ja dann findet er sich in einer ganz komplizierten Welt zurecht, und er würde zugrunde gehen, wenn er es nicht

232 VI. Wurzeln

könnte. Der Hundefänger würde ihn fangen und schlachten, wenn der Hund trotz aller auf ihn einstürmenden und ihn abziehenden Reize diese praktische Orientierung nicht besäße. Wir können außerordentlich weit in der Stufenreihe der Tiere hinabsteigen und stoßen immer auf die geheimnisvolle Fähig- keit der Lebewesen , sich zurechtzufinden. Nach den neuesten Untersuchungen orientiert sich sogar das mikroskopische weiße Blutkörperchen auch außerhalb des lebendigen Körpers so gut, daß es sich dem ihm zusagenden Nahrungsstofi ent- gegenbewegt, daß es also auf einen ihm nützlichen Reiz reagiert. Sprache j)ie Schwierigkeit wächst für uns, wenn wir erwägen, innerung ^^ß ^^^ solches Reagieren auf einen bestimmten Reiz nicht vorstellbar ist ohne die Annahme, daß auch das niederste Lebewesen den bestimmten Reiz als solchen erkennt. Dieses Erkennen, das dem menschlichen Denken oder Sprechen un- endlich lange vorausgeht, ist ohne irgendeine Art des Erinnerns nicht möglich. Das Denken oder Sprechen aber ist doch auch nur ein Erinnern an die Wirkung bestimmter Reize. Es bleibt uns also nichts übrig, als in unserer Phantasie die Entwicklung der Sprache zurückzuverfolgen bis zum Erkennen von Reizen, wie wir das bei den niedersten Lebewesen beobachten. Ich brauche wohl nicht besonders darauf aufmerksam zu machen, wie drollig einer solchen wahrhaft unendlichen Entwicklung gegenüber die Frage erscheint, ob vor einigen tausend Jahren die hypothetischen Wurzeln konkrete Dinge oder ihre ab- strakten Merkmale bezeichnet haben.

Ganz gewiß haben die Menschen immer mit ihren Worten die Vorstellung von konkreten Dingen verbunden. Auch Kant stellte sich bei dem Worte Knopf einen konkreten Knopf vor, trotzdem er die Transzendenz des Dings-an-sich lehrte. Ebenso gewiß ist es aber, daß die Menschen auch in Urzeiten unbewußt nur ihre Sinneseindrücke ausdrückten, wenn sie mit irgendwelchen ursprünglichen Worten, meinetwegen mit Wurzeln, konkrete Dinge zu bezeichnen glaubten. Ein Bewußt- sein davon, daß wir nichts wissen oder erkennen als die Wirkung von Reizen auf uns, ein solches Bewußtsein war früher selbstverständlich noch seltener als heute. Aber selbst

Sprache ist Erinnerung 2 33

zu jener unergründlich fernen Zeit, in welcher die neuen, als Menschen differenzierten Geschöpfe Menschensprache zu reden begannen, die etwas reicher und beweglicher war als die Sprache ihrer Vorgänger, selbst damals hatte das Erkennen, das heißt die Vergleichung von Eeizwirkungen schon eine lange Entwicklung hinter sich. Wir wissen jetzt, daß das Sehorgan des Menschen sich „aus" viel einfacheren licht- empfindlichen Hautstellen entwickelt hat, wir wissen ebenso, daß das Gehörorgan des Menschen „aus" ganz primitiven Gehörkörperchen entstanden ist; und wir können uns von der Seh- und Gehörempfindung derjenigen Tiere, die heute noch so einfache Instrumente besitzen, nicht die entfernteste Vorstellung machen. Wir können durchaus uns kern Bild davon machen, wie unsere farbige und helle Außenwelt auf den lichtempfindlichen Hautfleck augenloser Tiere wirkt; vielleicht empfinden sie als Wärme, was uns Licht und Farbe ist. Weiter hmauf ist uns auch das Weltbild der intelligentesten Tiere völlig unbekannt, vielleicht nehmen wir nur darum so gerne einen Instinkt bei ihnen an, weil ihr Weltbild von dem unseren so verschieden ist. Nicht in so hohem Grade, aber in derselben Art verschieden muß auch die Welterkenntnis, das heißt die Orientierung urzeitlicher Menschen von unserer Orientierung gewesen sein. Und da wagen wir es, von der Bedeutung dieser sogenannten Sprachwurzeln zu reden.

Es ist möglich, daß viele indoeuropäische Ausdrücke für eine Arbeit und dergleichen auf irgendein sehr altes Wort (ar) zurückgehen, das ungefähr „ackern" bedeutete; um dieses ar aber eine Wurzel zu nennen, müßte man ja den Ackerbau für älter halten als die Anfänge der menschlichen Sprache. Zum mindesten ebenso gut möglich ist es, daß das Wort, welches später metaphorisch die Bedeutung ackern eroberte, vorher das Arbeiten oder das Schwitzen bezeichnete.

Noch bedenklicher ist das witzige Spiel mit Wurzeln, wenn es sich auf abstraktere Vorstellungen bezieht. Ich habe als Student mit Vergnügen gelesen, daß die Worte Mann imd Mensch ein denkendes Wesen bedeuten, von der abgeleiteten Sanskritwurzel „man" herstammen, welche wieder

234 VI. Wurzeln

auf die echte Wurzel „ma" zurückgeht ; diese bedeutete messen mid war in dem Worte Mond erhalten. Das war vor dreißig bis vierzig Jahren zuverlässige Etymologie. Man entdeckt immer, was man unbewußt sucht. Heute ist die Neigung vorhanden, den Menschen vom Tiere weniger zu unterscheiden, und so hat man auch in den indischen Quellen entdeckt, daß es vielleicht mit der Etymologie „man" nicht ganz richtig sei, daß im Sanskrit der Mensch vielleicht zum Vieh gerechnet wurde. Man sieht, auch Wurzeln sind der Mode unterworfen.

Der Mode unterliegt sogar die angenommene Zahl der Wurzeln. Seit einiger Zeit besteht die Neigimg, nur ganz wenige Wurzeln anzunehmen. Unter diesem Einfluß hat ein Engländer alle indo-europäischen Worte auf saubere neun Wurzeln zurückgeführt, ein Deutscher gar alle griechischen "Worte auf eine einzige Urwurzel, auf e.

Die alten Sanskritgrammatiker wiederum beschränkten die Zahl ihrer Wurzeln nicht weiter, als es ihrem Scharfsinn Spaß machte. Sie blieben bei etwas über 1700 Wurzeln stehen. Wenn die Sanskritsprache damals schon eine tote Sprache gewesen ist, so sind die Ableitungen dieser alten Grammatiker nicht einmal subjektiv zuverlässig, da ihnen dann die Stammsilben nicht einmal so vertraut sein konnten wie uns etwa, ich meine den Nichtphilologen, die relativen Wurzeln unserer Sprache. Man versuche einmal, ohne den modernen historisch-philologischen Apparat ein Wurzel- verzeichnis der Muttersprache herzustellen, und man wird die notwendige Hilflosigkeit der Sanskritgrammatiker be- greifen, die doch ebenfalls keine historisch-philologische Methode besaßen. Da wir nun das Wurzelgraben der alten Sanskritisten nur in Ausnahmefällen nachkontrollieren können, wird es zu einer potenzierten Spielerei, zu einem Spiel mit dem Spiele, wenn z. B, Max Müller (weil das Hebräische auf etwa nur fünfhundert Wurzeln zurückgeführt worden ist) auch die relativen und vermeintlichen Sanskritwurzeln auf die Zahl von etwa fünfhundert beschränken möchte. Erheiternd ist es, wenn er dieser unbewiesenen Behauptung das unendlich schnurrige Selbstlob hinzufügt: „Dies offen-

stilmme

Wortstämme 235

hart einen Geist weiser Beschränkung von seiten der Ur- sprache."

Ich habe vorhin denjenigen Teil des geformten Wortes, wort- der nach unserem Sprachgefühl durch Ablösung der Bildungs- silben isoliert wird, den Stoff des Wortes genannt. Es war ein vorläufiger Ausdruck, der an jener Stelle notwendig schien, weil doch nicht alles auf einmal gesagt werden kann. Jeder von uns keimt auch ohne Gelehrsamkeit eine große Zahl von solchen Wortteilen, welche oft einer sehr großen Gruppe von geformten Worten gemeinsam sind. Der einfachste Mann wird imstande sein, zu solchen Wortteilen, welche ge- wöhnlich Wortstämme heißen, aus dem Stegreif eine Menge abgeleiteter Worte zu finden, z. B. zu dem Stamme „lieb" die Worte Liebe, lieben, lieblich, Liebling, Geliebte, Liebhaber usw. Diese Tatsache lehrt nichts weiter, als daß unsere bis zur Gegenwart entwickelten Sprachen es bequem gefunden haben, mit einer verhältnismäßig geringen Zahl von Laut- gruppen sich ip. der weit größeren Zahl von Weltbeziehungen zurechtzufinden. Die Bildungssilben , die an den Wortstamm herantreten, haben die Funktion, z. B. in unserem Falle bald die Tätigkeit des Liebens, bald das Objekt dieser Tätigkeit, bald das Subjekt, bald die Eigenschaften des geliebten Gegen- standes usw. usw. zu bezeichnen. Diese Einrichtung der Sprache ist so bequem, daß die Menschheit notwendig auf sie geraten mußte. Die Tatsache aber, daß es solche gemein- same Wortstämme von ganzen Wortgruppen gibt, schwebt wohl sowohl den Gelehrten als den Schülern vor, wenn sie weiterhin von den Wurzeln der Sprache reden. Es ist ein bloßer Zufall, wenn die Wissenschaft für die eine Art von Silben die Bezeichnung Stamm, für die andere Art die Be- zeichnung Wurzel gefunden hat. Es würde sich wahrschein- lich ganz hübsch lesen, wenn ich diese technischen Ausdrücke hier zur Unterlage oder zur Wurzel oder zum Stamm eines bilderreichen Exkurses machen wollte. Ich will mich aber darauf nicht einlassen und nur schärfer hinzusehen suchen, welche Art von Stämmen eigentlich mit dem Namen Wurzeln belegt worden sind. Denn das scheint mir sofort klar, daß

236 VI. Wurzeln

„Stamm" der höhere Begriff sei, gewissermaßen der Stoff vor aller Form, der Stoff, aus dem sich dann die Krone mit ihren Zweigen reich entwickelt. Wir müssen aber bald das Bild vom Baume fallen lassen. Denn es ist offenbar, daß man unter Wortstämmen (z. B. in unseren modernen Sprachen) auch diejenigen Stämme versteht, die sich etymologisch gar wohl auf mittelalterliche oder antike oder orientalische Worte zurückführen lassen. Der Stamm ist also ein relativer Begriff, bei dem sich unser Sprachgefühl eben deshalb ganz wohl etwas denken kann. Die Sprachwissenschaft stellt sich nun vor, daß man den Stamm nur in die Tiefe zu verfolgen brauche und dann an einen Punkt gelange, wo der Organismus an- fängt, wo die Wurzeln ein Ende haben. Danach wäre also Wurzel kein relativer Begriff mehr. Dort, wo die Welt mit Brettern verschlagen ist, da lassen sie die Sprachen mit Wurzeln anfangen. Sie wollen nichts ahnen von der endlosen Entwicklung bis zurück zum einfachsten Organ des Er- kennens, sie wollen nicl^ts ahnen davon, daß der „Organismus" der Sprache, wollte man ihn historisch erklären, zurückverfolgt werden müßte in das nächtliche Dunkel der Urzeit, daß immer und überall die Wortstämme, wie sie den redenden Menschen etv/a erschienen, nur im Sprachgefühl jeder ein- zelnen Zeit lebten, in Wirklichkeit jedoch immer wieder Kronenteile älterer Stämme waren und so zurück ins Un- absehbare. Die Wurzeln des Denkens oder der Sprache lassen sich nicht ausgraben; die Wurzeln des Denkens oder der Sprache sind ein jämmerliches Bild, wenn man bei ihnen an die Wurzeln der Bäume denkt, denn die Wurzeln des Denkens oder der Sprache senken ihre unsichtbaren Fäden tiefer und tiefer hinüber m unausdenkbare Zeiten, in eine Dauer, die wir sonst Ewigkeit nennen. Die wurzelgläubige Sprachwissenschaft jedoch zittert vor der Ewigkeit wie ein Tier vor dem Tode. Stämme Einige Beispiele mögen zeigen, wie die Sprachwissen- wurzein schaft bei diesem Bretterverschlagen unter dem Beifall der gebildeten Welt verfährt. Sie sieht in „lieb" den Wortstamm einer deutschen Gruppe, vergleicht dann diese Silbe mit ähnlichen englischen und slawischen Silben, um plötzlich wie

Stämme und Wurzeln 237

ein Ochse vor dem Berge bei der sogenannten Sanskritwurzel „lubh" stehen zu bleiben. Wer dann in einem etymologischen Handbuche liest, daß die Sanskritwurzel lubh ein heftiges Verlangen ausdrücke, freut sich dieses Ruhepunktes in seinem historischen Denken, wie sich ja wohl auch der Ochse freuen mag, wenn der Berg ihm Halt gebietet. Vergleicht man dazu jedoch Wörterbücher des Sanskrit, so findet man zu seiner nicht geringen Enttäuschung, daß diese Wurzel lubh ursprüng- lich „irrewerden", „in Unordnung geraten" bedeutet, in der entsprechenden Verbalform sodann „in Unordnung bringen" oder „verwischen". Will uns wirklich irgendein geistreichelnder Sprachforscher einreden, daß er da die Wurzel unseres Liebens ausgegraben habe, weil das deutsche „Lust", das lateinische „lubido", das slawische „Ijubiti" ähnlich sind? Will er gar witzig das Irrewerden mit den Wirkungen der Liebe zu- sammenbringen? Eine Ähnlichkeit ist aufgefunden, aber keine Wurzel.

Für unser Sprachgefühl ist „Arzt" der Stamm des neu gebildeten Wortes „Ärztin" und, um das t verkürzt, der Stamm des Wortes „Arznei". Die Sprachgeschichte lehrt darüber, daß Arzt aus dem mittellateinischen „archiater" (griechisch äpyiatpo?) entstanden sei , die Stammsilbe „arz" also vollkommen identisch sei mit der Vorsilbe „erz" oder „archi", wie sie uns in den Worten Erzbischof, Erzspitzbub, Archipelagus (im Mittelalter falsch gebildet), Architektur usw. geläufig ist. „Archiater" war ein Titel, der von spätrömischen Kaisern ihren Leibärzten gegeben wurde, und er bedeutete so viel wie Erzmedikus oder Erzdoktor; aus dieser Vorsilbe ist unser Wortstamm „Arzt" geworden. Ich weiß nicht, bis zu welcher Sanskritwurzel man diesen Stamm zurückzuver- folgen liebt. Es stehen mehrere zur Verfügung, von denen immer eine das Gegenteil von der anderen bedeutet.

Das französische Wort gene ist der Wortstamm geworden für einige französische iind auch für deutsche Worte; wir „genieren" uns und finden allerlei Dinge „genant" oder „genier- lich". Die Sprachgeschichte erzählt uns, daß dieser Wortstamm ganz besonders viel wie schon gesagt von seiner ur-

238 VI. Wurzeln

sprünglichen Kraft eingebüßt habe. Wenn nun der alt- hebräische Ausdruck für die echt hebräische Hölle scheol war, wenn das Wort Gehenna nur euphemistisch eine Art Abdeckerei bedeutete, das Ge-Hinom bei Jerusalem, das Tal Hinom, wohin man das Aas und die Leichen von Ver- brechern geworfen haben soll, so würde der Stamm gene zunächst von der hebräischen „Wurzel" ge, welche Tal be- deutete, herrühren. Und wenn es den Orientalisten gelänge oder vielleicht gelungen ist (ich weiß das nicht), die Wurzel des Eigennamens Hinnom zu finden, so wäre für sie die Welt auch auf orientalischem Boden da mit Brettern ver- schlagen.

Diese Beispiele, die sich mit jedem Artikel eines etymo- logischen Wörterbuches vermehren ließen, zeigen nur, daß die Etymologie eine anregende Beschäftigung ist, die inner- halb der jüngsten Sprachgeschichte die Wortstämme be- obachtet und die, sobald sie mit ihrer Weisheit zu Ende ist, die letzten Stämme feierlich für Wurzeln erklärt. Sie macht es so wie ein Kind, welches z. B. bis zwanzig zählen gelernt hat und dann sagt: weiter geht's nicht. Das Kind meint nämlich, es gehe in Wirklichkeit nicht weiter. Während es doch nur subjektiv nicht weiter kann. Ebenso geht es kindischen Familien, welche ihre Ahnen um drei bis sechzehn Generationen zurückverfolgen können und den letzten Ahn- herrn — weiter geht's nicht mit irgendeinem legendären Helden der Geschichte in Verbindung bringen; die Römer und Griechen waren konsequenter und ließen den letzten Ahnherrn einfach von einem zeugungskräftigen Gotte ab- stammen. Noch ein anderer Vergleich liegt nahe. Die Sprach- forscher verfolgen die Generation von Worten eine hübsche Strecke zurück. Das Ei kommt ihnen von der Henne, die Henne aus einem Ei, dieses Ei wieder aus einer Henne und so zurück über das Mittelalter und das Altertum zum Sanskrit, bis sie dort ernsthaft vor der alten Scherzfrage stehen: ob das Ei früher war oder die Henne. „Das Ei", antworten sie sinn- los und meinen damit die Wurzeln. Weiter geht's nicht. Die Entwicklungslehre hätte statt ihrer geantwortet: Jawohl, das

Stämme und Wurzeln 239

Ei steht am Anfang der Hennengenerationen, aber nicht das Hühnerei, sondern irgendeine mikroskopische Eizelle.

Selbst Whitney lehrte noch sehr beredt die Realität der Wurzeln und begnügte sich damit, die Bildungsformen der Suffixe in zwei Klassen einzuteilen, in sekundäre und in primäre. Die sekundären Suffixe sollen an die Worte heran- treten, die schon in historischen Sprachen auftreten; so werden fast alle unsere Worte gebildet, „lieblos" aus „Liebe". Die primären Suffixe aber sind früher an die Wurzeln heran- getreten, es entstand das lateinische lubido aus der Sanskrit - Wurzel lubh. Mit einem bemerkenswerten Musterbeispiel logischen Fehlschließ ens sagt er dann: „Halten wir also die Stämme, an die sekundäre Endungen angetreten sind, für historische Realitäten, für Wörter, die vor ihrer Zusammen- setzung zu anderen W^örtern schon für «ich gebraucht wurden, so können wir auch nicht umhin, dasselbe in betreff der Wurzeln anzunehmen, an die die primären Endungen an- getreten sind; auch ihnen müssen wir geschichtliche Wirklich- keit zusprechen." (Sprachwissenschaft, S. 385.)

Umgekehrt. Wogegen Whitney sich in diesem Kapitel wendet, das ist die Annahme, die Wurzeln der Etymologen seien bloß Abstraktionen, unwirkliche Gebilde, die zur Er- klärung der Sprachgeschichte dienen. Und doch ist eine Sprachwurzel nur als eine solche Abstraktion, als eine hypo- thetische Hilfskonstruktion für uns faßbar. W^aren die an- geblichen Wurzeln, wie die Sprachwissenschaft gegenwärtig lehrt, einmal Worte, wenn auch vorgrammatische Worte, Worte vor der Einteilung der Redeteile, so waren sie nicht vom Monde heruntergefallen, wie nach Dubois-Reymond das Leben auf die Erde gekommen ist, so waren sie nicht von einem Gesetzgeber der Sprache erfunden oder von einem Gotte gesetzt; wenn die Wurzeln einmal Worte waren, so hatten sie auch damals schon eine Geschichte.

Will man ganz scharf in Worte fassen, wie unsere Sprach- forscher zu der Phantasie gelangt seien, am Anfang, das heißt am Bretterverschlag unserer Sprachwelt habe es einen Zu- stand gegeben, in welchem unsere Vorfahren in einsilbigen.

240 ^^I- Wurzeln

grammatisch nicht unterschiedenen Wurzeln sprachen, so liegt die Sache ungefähr so. Die Grammatiker hatten ab- strakte Sprachwurzeln angenommen, für welche sie ein Land oder eine Zeit nicht bestimmen konnten; dazu erfand man dann einen abstrakten Ort in einer abstrakten Zeit, wo die abstrakten Sprachwurzeln sich wie lebendige Wesen herum- tummeln konnten.

Hat es eine Zeit gegeben , in welcher irgendein indo- europäisches Volk, meinetwegen das legendäre Urvolk selbst, Bedeutungswurzeln besaß, welche in imbestimmter Weise be- zeichneten, was wir jetzt durch verschiedene Bildungssilben in substantivische, verbale und adjektivische Begriffe trennen, so war jene angebliche Wurzel eben schon ein Wort, ein Wort mit einem an Inhalt ärmeren, an Umfang darum weiteren Begriff. Ist z. B. unser deutsches „Wolf" nicht entlehnt, sondern wirklich ererbt aus einem indoeuropäischen varkas, wobei das s ein wortbildendes, diesmal substantivbildendes Suffix wäre, so muß es nach der Anschauung der Wurzel- verehrer eine noch ältere Zeit gegeben haben, in welcher die reine Wurzel „vark" einen Begriff ausdrückte, der zugleich unser Verbum „reißen", unser Substantiv „Raubtier" und unser Adjektiv „reißend" umfaßte. Man hat bekarmtlich versucht, die Wurzelsprache des indoeuropäischen Urvolks auf ein paar Hundert solcher weitmaschiger Begriffe zurück- zuführen. Dazu kämen dann noch ein Dutzend Beziehungs- wurzeln, welche in ebenso weitmaschigen Begriffen unsere Adverbien, Pronomina und wie ich glaube auch Zahl- wörter umfassen. Auch diese Beziehungs wurzeln mußten in der Zeit ihres weitesten Umfanges schon Worte sein. Warum aber sollen wir so alte Worte um ihres Umfanges willen Wurzeln neimen? Wir haben heute noch im Chinesischen und im Englischen zahlreiche einsilbige Worte, welche ent- weder verschiedene Begriffe der gleichen Redeteilklasse oder nah verwandte Begriffe verschiedener Klassen umfassen. Für die ersteren bedarf es keiner Beispiele, weil alle Sprachen voll von ihnen sind, ja weil es eigentlich kaum ein Wort gibt, mit welchem sich nicht verschiedene Begriffe aus der gleichen

Stämme und Wurzeln 241

Redeteilklasse bezeichnen ließen. Für die zweite Gruppe häufen sich die Beispiele auf jeder Seite eines englischen Wörterbuchs. Wish heißt in der Sprache der Grammatik sow^ohl Wunsch als wünschen, pardon sowohl Verzeihung als verzeihen, und so in unzähligen Fällen; gold heißt sowohl Gold als golden, und so in zahlreichen Fällen. Wir lassen uns von unserer Grammatik täuschen, wenn wir glauben, daß wir Deutsche so weite Begriffe nicht hätten. Nach meinem Sprachgefühl wenigstens beruht die Besonderheit unserer zusammengesetzten Worte zum Teil darauf, daß wir die sogenannten Bestimmungsworte ohne Vorstellung ihrer Rede- teilklasse gebrauchen. In Goldfisch und dergleichen hat das Substantiv adjektivischen Charakter, in Raubtier, in Reise- tasche begreife ich unter dem Bestimmungswort etwas, was weder Substantiv noch Verbum ist. Doch wenn selbst diese Vergleichung falsch wäre müssen wir die englischen Begriffs- worte, die im Sprachbewußtsein des Engländers, der von keiner Grammatik irregeführt worden ist, Substantiv und Adjektiv oder Substantiv und Verbum umfassen, müssen wir die Worte wish imd gold darum für Wurzeln erklären?

Schleicher selbst hilft sich so, daß er primäre und sekundäre Wurzeln unterscheidet. Es ist aber nur ein Unterschied des Alters. „Wolf" und „Stand" wären Wurzeln, weim wir in unserer Umschau beschränkt wären; sie werden zu sekundären Wur- zeln, wenn wir bis zu den primären Wurzeln vark und sta vorgedrungen sind. Man muß aber mit sprachwissenschaft- licher Blindheit geschlagen sein, wenn man nicht einsieht, daß auch vark und sta zu sekundären Wurzeln, das heißt zu Sprachstämmen würden, sobald wir nur ältere Sprachen als Sanskrit und Griechisch vergleichen könnten. Man hat eben, wie so oft, den Endpunkt unseres Wissens zum Anfangspunkte der Entwicklung gemacht.

An einem drastischen Beispiele will ich zeigen, wie unsere ^vurzein Kenntnis der Geschichte der Sprachen von dem Zufall der ,isch Erhaltung älterer Sprachen abhängt. Wir haben im Deutschen das Wort „kosten", welches bekannthch zwei sehr auseinander- gehende Bedeutungen hat, nämlich „schmecken" und „im

Mauthuei', Beiträge zu einer Kritik der Sprache. U ItJ

242 VI. Wurzeln

Preise stehen". Ein ähnliches Wort finden wir im Englischen, im Französischen und im Italienischen. Wäre uns nun von der lateinischen Sprache zufällig nichts erhalten und man wird mir zugeben, daß die Erhaltung der lateinischen Sprache für die Sprachwissenschaft ein Zufall ist , so wäre „kost" eine Wurzel, die nicht geringe Schwierigkeiten machen würde. Wie würden die Philologen die Logik auf den Kopf stellen, um den Preis und den Geschmack einer Ware unter einen gemeinsamen höheren Begriff zu bringen! Wahrscheinlich würden sie zu dem Schlüsse kommen: Was viel kostet, das kostet man gern, das heißt: was teuer ist, schmeckt gut. Nun reicht aber unsere Kenntnis von der Sprachgeschichte weit genug zurück, um das eine „kosten" mit dem Worte „kiesen" in Zusammenhang zu bringen und es schließlich von dem lateinischen gustare (gusto, goüter) abzuleiten. Das andere „kosten" (coüter) ist aber nachweisbar aus dem lateinischen costare und dieses aus constare entstanden, so daß unser kosten und konstatieren (französisch coüter und constater) aus den gleichen Wurzelsilben fast identisch entstanden sind. Ich wiederhole: man muß mit sprachwissenschaft- licher Blindheit geschlagen sein, um nicht zu begreifen, daß die sauber geordneten Wurzeln des Sanskrit jedesmal aus älteren zusammengesetzten Worten entstanden sein können, wie unser „kosten" aus „constare". Und es ist eine Tat sprachwissenschaftlicher Verzweiflung, wenn einzelne Ge- lehrte sich mit der Phantasie geholfen haben, die lautreichereu Sanskritwurzeln wären abgeleitet, nur die einfachsten, die bloß aus einem Konsonanten und Vokal bestehen, wären echte Wurzeln. Auch nicht der Schimmer eines Beweises oder nur eines Wahrscheinlichkeitsbeweises existiert für diese Behauptung. Sie steht wissenschaftlich auf der Höhe der alten Lehre, die Bahnen der Planeten müßten Kreislinien sein, weil der Kreis die einfachste oder die vollkommenste Linie sei, oder auf der Höhe der Physiologie des Aristoteles. Die Sanskritgelehrten sollten niemals vergessen, daß das Sanskrit in keiner historischen Zeit anders als eine tote Sprache er- scheint, daß wir und sie nichts wissen von dem Sprachgefühl

Wurzeln vorhistorisch 243

sanskritredender Menschen, daß also das lebendige Sanskrit bereits einer vorhistorischen Zeit angehört, seine angeblichen Wurzeln also einer Vorgeschichte in zweiter Potenz. Alles, was man uns über Form und Inhalt der indoeuropäischen Wurzeln erzählt, ist im allgemeinen apriorisch konstmiert, im einzelnen phantastisch und unwahrscheinlich. Phantastisch und unwahrscheinlich sind in den meisten Fällen die witzigen Versuche, den Wurzeln eine sinnfällige, den kindlichen Vor- stellungen angemessene Bedeutung zu geben. Phantastisch und unwahrscheinlich sind die Beweise dafür, daß die an- geblichen Wurzeln der angeblichen indoeuropäischen Ur- sprache sich aus drei Vokalen und zwölf (eigentlich nur zehn) Konsonanten gebildet hätten. Da sollen die Vokale e und o und der Konsonant 1 noch nicht vorhanden gewesen sein. Das lehrten über eine vorhistorische Zeit Männer, die über die Aussprache des Lateinischen und selbst des Mittel- hochdeutschen im unklaren sind. Das Volk der Sanskrit- wurzelsprache soll diese Laute noch nicht zustande ge- bracht haben, während der ontogenetische Abriß der Ent- wicklung, die Sprache unserer Kinder, zeigt, daß die Säug- linge vor Ablauf des vierten Monats e, o und 1 schon deut- lich artikulieren.

Dieses Märchen von den mondgefallenen Wurzeln war für den ruhebedürftigen Menschengeist eine hübsche Hypo- these, solange die Überzeugung herrschte, also ungefähr zwei Generationen hindurch, daß das Sanskrit die leibliche Großmutter aller indoeuropäischen Sprachen sei. Dann hatte man die Urahne-Henne und in den Wurzeln das Ei dieser Henne und konnte Amen sagen. Seitdem aber in den letzten Jahrzehnten die Mutterschaft oder Großmutter- schaft des Sanskrit aufgegeben worden ist, seitdem zwischen allen indoeuropäischen Sprachen für den vorurteilslosen Kritiker nur eine Anzahl von Ähnlichkeiten, von größten- teils unaufgeklärten Ähnlichkeiten übrig geblieben ist, scheint mir die Erscheimmg verschwunden zu sein, für deren Er- klärung die Wurzelhypothese einen Sinn hatte. Und seitdem hätte man sich mehr mit den historischen Tatsachen be-

244 VI. Wurzeln

schäftigen sollen, die der Wurzelhypothese schnurstracks widersprechen. Einfach- Es ist nämlich einfach nicht wahr, daß wir beim Zuriick- Wurzeiu verfolgen der Wortgeschichte auf immer einfachere Formen stoßen und daß wir so durch einen Wahrscheinlichkeits- schluß auf die Wurzeln geführt würden. Beinahe das Gegenteil ist wahr. Unsere indoeuropäischen Kultursprachen streben offenbar einer Vereinfachung der Laute zu und würden, ohne Kenntnis ihrer Vorgeschichte, sehr häufig den Eindruck wurzelhafter Sprachen machen. Das ist am auffallendsten im Englischen. Das springt in die Augen, wenn wir unsere einfachsten deutschen Verbalformen mit dem Altdeutschen vergleichen. Wir sagen in der ersten Person der Mehrzahl liegen, wo man einst ligamasi sagen mußte. Denselben Weg haben die romanischen Sprachen zurückgelegt. Das fran- zösische füt (in der Aussprache die reinste Sanskritwurzel) ist viel einfacher als seine lateinische Form fuisset, und diese wieder einfacher als die entsprechende Sanskritform wäre. Nie und nirgends stoßen wir beim Nachgraben in der Sprach- geschichte auch nur annähernd auf so einfache Formen, wie unsere Sprachen sie darbieten; denn die Wurzeln des Sanskrit hat niemals ein lebendiger Mensch gehört oder gesehen, es wäre denn als eine Leistung konstruierender Sanskritgram- matiker. Und so unsicher sind alle angebhchen Gesetze der Sprachgeschichte, daß auch dieser Verfall der modernen „analytischen" Sprachformen wieder nicht allgemein zu beobachten ist. Die slawischen Sprachen z. B. übertreffen in Wortbildung und Flexion ganz entschieden die Sprachen der Römer und Griechen.

Und da wagt es selbst ein Mann wie Whitney von einer Gewißheit zu reden, „daß wir mit unseren Wurzeln" (das heißt mit den Wurzeln der indischen Grammatiker) „den Ur- anfängen der Sprache mindestens sehr nahe kommen, vielleicht sie schon ganz erreichen". (Sprachwissenschaft, S. 397.) semi- Auf einen wichtigen Umstand muß ich noch einmal auf-

Wurzein merksam machen, um das Spiel aufzudecken, das mit dem Be- griff der Wurzeln getrieben worden ist. Man hat nämlich die

Semitische Wurzeln 245

Wurzelhaftigkeit der Ursprache zu einem Dogma der ge- samten Sprachwissenschaft gemacht. Der indoeuropäische Sprachforscher gleicht dem Fuchs der Fabel, der seinen Schwanz in der Falle gelassen hat und nun den anderen Füchsen rät, ihre Schwänze gleichfalls abzuschneiden. Es wollte aber der Zufall, daß die orientalische Sprachwissen- schaft ebenfalls von Wurzeln der semitischen Sprachen redete, so daß man für die beiden großen Gruppen der flek- tierenden Sprachen saubere Wurzelkata'oge aufstellen konnte. Nun kann man die lautliche Grundlage der semitischen Worte immerhin als Wurzeln bezeichnen, die Bezeichnung ist nicht schlechter als eine andere; aber der erste Blick zeigt, daß die semitischen Wurzeln mit den indoeuropäischen nicht viel mehr als den Namen gemein haben. Es wird bekanntlich gelehrt, das die semitische Wurzel regelmäßig aus drei Kon- sonanten bestehe, deren Bedeutung dann durch die Vokale gebildet werde. Es bezeichnet z. B. im Arabischen die Kon- sonantengruppe q 1 1 irgend etwas Unbestimmtes, was mit dem Töten zu tun hat; aus der Wurzel entsteht dann qatala (er tötete), qutila (er wurde getötet), uqtul (töte), iqtal (töten lassend), qutl (Mord) usw. Es ist also ganz offenbar die semitische Wurzel nicht vorstellbar, nicht hörbar zu machen, nur auf dem Papier vorhanden.

Mit demselben Rechte, mit welchem man in den semiti- schen Sprachen je drei Konsonanten als Wurzel anerkennt, könnte man das auch im Deutschen tun, sobald das pe- dantische Bedürfnis sich einstellt, einen Namen zu finden für den Maikäfer ohne Beine und Flügel. „Band", „bände", „binde", „Bund", „Bünde" lassen deutlich erkennen, daß die drei Konsonanten b n d unverändert bleiben, während die Vokale sich ändern. Kann aber irgendein lebendiger Deutscher sich vorstellen, das bnd irgendwie einer W^urzel gleiche, aus welcher dann erst Worte hervorgeschossen seien? Was den genannten Worten und hundert anderen voraus- ging, das war nicht bnd, sondern irgendein Wort, aus dem sich dann die anderen weiter bildeten. Und es scheint mir ohne jede Begründung klar zu hciu, daß für den sogenannten

246 VI. Wurzeln

indoeuropäischen Sprachstamm gilt, was hier innerhalb der deutschen Sprache deutlich empfunden worden ist. Ist überhaupt eine leibliche Verwandtschaft anzunehmen, so liegt den späteren Gebilden nicht eine gemeinsame Wurzel zugrunde, sondern ein lebendiges Wort.

Die angeblichen Sanskritwurzeln (sta usw.) nehmen sich viel hübscher aus, und man kann sich wenigstens vorstellen, daß sie Worte waren, daß sie einmal ausgesprochen wurden. Die semitischen Wurzeln verraten auf den ersten Blick, daß sie Konstruktionen semitischer Grammatiker sind, vielleicht durch die eigentümliche Schreibart der semitischen Sprachen veranlaßt. Während also die Hypothese von einer indo- europäischen Wurzelsprache wenigstens vorstellbar ist, bleibt es ganz unmöglich, sich eine semitische Wurzelsprache aus- zudenken. Es widerspricht also die semitische Wurzel der indoeuropäischen Wurzellehre, anstatt sie zu unterstützen. Und darum ist es unserer Sprachwissenschaft gar nicht zu verdenken, wenn sie die semitische Wurzellehre kritischer beleuchtet hat als ihre eigene; man hat sehr gelehrte und sehr geistreiche Anstrengungen gemacht, aus dem Vorkommen von Doppelkonsonanten, von angeblichen Hilfskonsonanten, und aus der Ähnlichkeit je zweier Konsonanten in drei- konsonantigen Wurzeln den für die Indoeuropäer erfreulichen Schluß zu ziehen, auch die semitischen Sprachen seien aus ursprünglich einfacheren, idealeren Wurzeln hervorgegangen. Wurzeln jifur jj^it Hilfe der Schrift, nur in Wörterkatalogen läßt Gram- sich nach Wurzeln spüren. In der lebendigen Sprache weiß matik unser Sprachgefühl immer nur von relativen Wortstämmen, niemals von Wurzeln. Und wie die Sprache der Wirklich- keit nicht in Wörterbüchern enthalten ist und nicht in den Regeln der Grammatik, wie vielmehr selbst die Einheit einer Volkssprache nur eine Abstraktion ist, wie ein wahrhaftes Sprachleben nur da atmet, wo von einem lebendigen Menschen momentan ein lebendiges Wort in allen Beziehungen seiner lebendigen Formen ausgesprochen wird, so dürfte eine vor- urteilslose Sprachwissenschaft nur im einzelnen momentan aus- gesprochenen, lebendigen Worte etwas Wirkliches sehen. Nur

Wurzeln und Grammatik 247

«in Blödsinniger oder ein vom Monde gefallener Mensch könnte glauben und sagen, die Lilie habe aus ihrer Zwiebel, der Weizeuhalm aus dem Weizenkorn den ersten Anfang genommen; wer nur ein paar Jahre auf der Erde gelebt hat, der weiß, daß das Weizenkorn wiederum die Frucht des Weizen- halms war. Wollen wir der Sprachwissenschaft eine würdige Aufgabe geben, so müssen wir sie darüber befragen, nicht nur wie die Wortstofie sich gebildet haben, sondern auch wie die Wortformen, die grammatischen Analogien entstanden sind. Man hat die Geschichte der jüngsten Worte und die Ge- schichte der jüngsten grammatischen Formen mit Fleiß und Ausdauer eine kurze Strecke zurückverfolgt. Für die Ge- schichte des menschlichen Denkens oder Sprechens aber wäre es viel wichtiger, sich die Entstehung der Vorformen der Grammatik ausdenken zu können, sich vorzustellen, wie es im menschlichen Gehirn aussah, als der Mensch mit seiner jüngeren Sprache die undifferenzierten Ausdrücke bezeichnete, aus denen später die sogenannten Kategorien, die schablonen- haften Menschenbegriffe: Ding, Tätigkeit und Eigenschaft hervorgegangen sind, MenschenbegrifEe, denen in der Natur nichts entspricht. Und diesem Versuch einer psychologischen Forschung stellt sich die brutale Lehre von den Wurzeln frech entgegen. Anstatt psychologisch bei Tieren und Natur- völkern anzufragen, wie sich in ihren Köpfen die Sprache aufbaue, hat man eine Ahnung von diesem Urzustände in den Wurzeln zu versteinern gesucht und ihnen rein grammatisch eine Summe von Redeteilen untergeschoben. Die Wurzel ist eher das letzte Wort der Grammatik als das erste Wort der Sprache. Wir kennen keine alte Zeit, in welcher der Nominativ des Dingworts und der Infinitiv des Zeitworts nicht seine be- sondere Form hatte, trotzdem der Nominativ und der In- finitiv nach unserem Sprachgefühl dem Wurzelbegriff am nächsten kommen; gerade erst moderne Sprachen sind (viel- leicht durch Logik und Grammatik bestimmt) dazu gelangt, Nominativ und Infinitiv zu einer Art von Wortstamm zu ver- einfachen.

So gefährdet die Hypothese von einer Wurzelsprache

248 VII. Bedeutungswandel

die würdigste Aufgabe der wissenschaftlichen Sprachge- schichte. Kindlich wie die Bibel oder die griechische Mytho- logie hält die Sprachwissenschaft auf ihrem Wege still und sagt plötzlich: weiter geht's nicht, da muß eine Gottheit aushelfen, da nehmen wir Wurzeln an. Kein Forscher, der diese Gottheit nicht einmal unbewußt anrufen würde. Der arme Menschengeist will ausruhen. Das Ruhebedürfnis verleitet den Menschengeist, in der Wüste seines Erkenntnis- strebens die Fata Morgana eines Ruheplatzes zu sehen; die Forscher glauben an ihre Wurzeln. Immer und überall ist die Wissenschaft einer Zeit der Ausdruck für das sehnsüch- tige Ruhebedürfnis des armen Menschengeistes. Nur die Kritik, wo sie in einem noch ärmern Kopfe lebendig ist, darf nicht ruhen, weil sie nicht ruhen kann. Sie muß die Wissen- schaft aus ihrem Schlafe reißen, ihr die Illusion der Oase nehmen und sie weiter treiben auf dem heißen, mörderischen und vielleicht ziellosen Wüstenwege.

TU. Bedeutungswandel

Jung- Die Nachfolger der Grimm und Bopp ließen sich Jung-

^Tk* grammatiker nennen und nannten sich gelegentlich selbst so, wie sich eben jedes Geschlecht dem altern gegenüber mit Recht jung fühlt und auf der richtigen Höhe zu stehen glaubt, weil es zufällig gerade lebt. Wenn ich das Wort „jung" mit irgend einer Richtungsbezeichnung verbunden sehe, so glaube ich immer den Druck eines Volksbuches vor mir zu haben mit dem bekannten Vermerk „gedruckt in diesem Jahre".

Die wichtigste Bemerkung, zu welcher sich diese neuern Bestrebungen verdichteten, hängt aufs innigste zusammen mit der Einsicht, daß alle Vorstellungen von Spracheinheiten bis herab zu den Mundarten nur bequeme Abstraktionen sind, daß es in concreto immer nur Individualsprachen gibt. So kann sich denn auch der Lautwandel in concreto nicht inner- halb der abstrakten Sprache vollziehen, sondern nur in In- dividuen. Unter dem Einfluß physiologischer und psycholo-

Junggrammatiker 249

gischer Veränderungen vollziehen immer nur Individuen mehr oder weniger merkliche Veränderungen der Laute, und nicht die Übertragung der Laute auf neue Individuen vollendet den Lautwandel, sondern immer wieder die Tätigkeit dieser neuen Individuen.

Was die Junggrammatiker wollen, ist nur eine genauere Beschreibung der Sprachgeschichte; und sie haben darauf hin die Revision der altern Arbeiten mit erstaunlichem Fleiße vorgenommen. Sie sahen ganz richtig, daß jede Veränderung, die mehr regelmäßige wie die mehr ausnahmsweise, ihre not- wendige Ursache haben muß, sei es die Einwirkung der um- gebenden Laute, sei es ein Wechsel in der Betonung, sei es die Stellung der Silben oder die Stellung im Satzgefüge. Das ganze neue Lehrgebäude läßt sich auf den Satz zurückführen: auch in der Sprachgeschichte müsse jede Wirkung ihre not- wendigen Ursachen haben. Dann freilich kann man stolz von einer ausnahmslosen Konsequenz der Lautgesetze reden; wenn man nämUch vorher für jede Ausnahme ein Spezialgesetz gefunden oder das Aufsuchen eines Spezialgesetzes wenigstens zum Gesetz gemacht hat. Das eigentliche Ideal dieser neuen Sprachwissenschaft ist eine makroskopische Untersuchung der gröbern Gesetze. Wobei sich dann wie in der Biologie heraus- stellen muß, daß die Schärfe des Mikroskops eine Grenze hat und daß das Atomisieren der Erscheinungen an der Unerkenn- barkeit des Atoms scheitert.

Das große Wort von der Konsequenz der neu entdeckten Gesetze und neu zu entdeckenden Lautgesetze ist also nichts weiter ^j^-ggu- als eine edle Sehnsucht, das allgemein waltende Kausalitäts- heif. piinzip hier und da auch in der Sprachwissenschaft wieder- zufinden. Wir glauben an die ausnahmslose Herrschaft der Kausahtät; ich glaube daran, daß jede AVirkung ihre Ursache habe, und in diesem Glauben kann mich nicht einmal die Überzeugung stören, daß der Begrif? Ursache genau so mytho- logisch ist wie der Gott, der Begriff der letzten Ursache. Es scheint mir aber klar, daß dieses neuere Ideal der Sprach- wissenschaft nur von diesem Gotte selbst, von der Allwissen- heit, erreicht werden könnte. Der ideale Sprachforscher

250 VII. Bedeutungswandel

müßte sämtliche Simieseindrücke aller unzählbaren Menschen, die in unzählbaren Jahren auf der Erde gelebt haben, voll- ständig, übersichtüch und gleichzeitig in seinem Gehirn ver- einigen, um das Entstehen aller Worte und Satzgefüge be- schreiben zu können, die am heutigen Tage irgendwo auf Erden gesprochen werden. Es würde sich für diesen Ideal- forscher aber sofort die merkwürdige Schwierigkeit heraus- stellen, daß er vor lauter Reichtum an Tatsachen gar nicht auf den Einfall kommen könnte, Gesetze abzugrenzen. Ich möchte kühn behaupten, daß nur die Armut an Tatsachen Gesetze zuläßt, wie sie Gesetze fordert. Die Wirklichkeit in der Sprache wie in aller Natur ist gesetzlos, trotzdem sie notwendig ist.

Für ganz überzeugte und ganz aufmerksame Leser muß ich freilich hinzufügen, daß unser Gehirn oder unsere Sprache mich gar nicht in den Stand setzt, mir einen solchen idealen Sprachforscher, eine solche Allwissenheit vorzustellen. Über einen höchsten Grad unserer Fähigkeiten können wir nicht hinausdenken. Nun aber hegt es im Wesen unserer Gehirn- tätigkeit, daß wir Unterschiede nicht wahrnehmen, bevor sie nicht eine gewisse endliche Größe überschritten haben. Schen- ken wir also der Allwissenheit nicht ein Denken über das Wesen des Menschengehirns hinaus und das sind doch nur sinn- lose Worte , lassen wir sie die Tatsachen der Sprachgeschichte in MilUarden von Sekunden an Milliarden von Menschen nur an Unterschieden wahrnehmen, die bereits eine endüche. wenn auch noch so kleine Größe erlangt haben, dann haben wir wieder nur Bruchstücke, dann haben wir \vieder Gesetze, dann haben wir aber keine Allwissenheit mehr. Man halte diese Spekulation nicht für überstiegen und überflüssig. Man muß sie anstellen, um einmal mit ganzer Schärfe die Ironie zu empfinden, mit welcher wir allein den Begriff Gesetz an- wenden dürfen. Laut- Dagegen könnte eine ausdenkbare V^ielwissenheit immer-

und Be- yj^ gjj^g andere Schwierigkeit überwinden. Man hat den

deutuDgs- . °

waiidei Lautwandel immer isoHert betrachtet, und auch da gab es genug zu tun. Es kann aber gar nicht in Frage gestellt

Laut- und Bedeutungswandel 251

werden, daß es einen isolierten Lautwandel gar nicht gibt, daß der Wandel der Laute und der Wandel der Wortbedeu- tungen einander kreuzen und also auch bedingen müssen. Für den Erweis der Tatsache müssen, da gute Vorarbeiten nicht vorhanden sind, die ersten, die besten Beispiele genügen. Man denke daran, wie Götternamen gleichzeitig in Laut und Bedeutung sich verändern mußten, während ihr Gebrauch allgemeiner wurde, würdevoller und dann wieder würdelos. Der Weg von Zeus zu Dieu oder gar (sacre-) bleu ist doch unmöghch als bloßer Lautwandel aufzufassen. Ebensowenig der von mir nachgewiesene Weg von „Götze" zu „Gott". Auf Schritt und Tritt ging der Bedeutungswandel mit. Man hat längst die Wichtigkeit des Akzents oder der Betonung füi' den Lautwandel erkannt. Der Akzent aber ist durchaus abhängig von der Vorstellung, die wir mit einem Worte ver- binden. Das Wort „Herr" mußte mit einem ganz anderen Akzent oder Nachdruck ausgesprochen werden, da der Herr über Leben und Tod des Küechtes verfügte, als später, da der Herr nur mehr G«ld hatte als der selbstbewußte Arbeiter. So verwandelte sich mouseigneur schließüch in monsieur (aus- gesprochen m'siö), was doch ohne Bedeutungswandel nicht mögUch gewesen wäre, weshalb denn auch monseigneur neben monsieur ungefähr in der alten Bedeutung und der alten Aus- sprache stehen gebUeben ist. Man denke an tmsere Inter- jektion „herrje". Der Name des Gottessohns (Jesus) war ganz ähnlich wie der des Gottes im französischen sacrebleu zu einer bedeutungslosen Schwurformel herabgesunken, der Schwur zu einem fast bedeutungslosen Ausdruck von Interesse oder Lebhaftigkeit, und so büeb nur die erste Silbe des Namens zurück. Und das „Herr" davor hatte so sehr allen Sinn verloren, daß es auch den Akzent einbüßte und in einzelnen Mundarten (z. B. acherje) noch mehr eingebüßt hat.

Eine einfache Besinnung muß uns lehren, daß eine solche Kreuzung von Lautwandel und Bedeutungswandel, wenn auch weniger stark, immer und überall auf jedes Wort jeder Sprache eingewirkt haben muß. Wir pflegen einen Felsen das Bild der Unveränderlichkeit zu nennen. Aber die Verwitterungen,

252 VII. Bedeutungswandel

die er im Laufe der Jahre erfährt, belehren uns darüber, daß er sich, wenn auch noch so unmerkhch, unaufhörHch verändert. Von der Menschensprache können wir sagen, daß es nicht zwei Menschen gibt, die das gleiche Wort mit absolut mathe- matischer Gleichheit aussprechen, daß ferner nicht ein und derselbe Mensch das gleiche Wort mit absolut mathematischer Gleichheit zweimal ausspreche. In dieser Tatsache liegt sicher- lich das Grundphänomen des Lautwandels. Wir müssen aber Minimaiei hinzufügen, daß niemals noch zwei Menschen mit dem gleichen ^®" Worte vollkommen genau die gleiche Vorstellung verbanden. ■Wandel Wir müssen endlich einsehen, daß ein Mensch gar häufig nicht zweimal mit demselben Worte die ganz gleiche Vor- stellung verbunden hat.

xlls ich z. ß. zum letztenmal das Wort Pferd gebrauchte, bestand meine Vorstellung aus der Summe aller Erinnerungen, die mein Volk mit diesem Worte verband (soweit diese Er- innerungen mir übermittelt worden waren) und die ich selbst im Laufe meines bisherigen Lebens an die Sinneseindrücke von Pferden knüpfte. Zwingt mich nun ein neuer Sinnes- eindruck oder eine neue Gedankenassoziation, das Wort Pferd abermals zu gebrauchen, so wird der Erinnerungsschatz meiner diesbezüglichen Vorstellungen eben in diesem Augenbhcke um einen neuen Eindruck oder eine neue Assoziation vermehrt, mein Vorstellungsinhalt wird im Augenbhcke des neuerhchen Aussprechens abgeändert. So minimal abgeändert, daß ich nur in seltenen Fällen den Wandel in meiner Sprache empfinde. Aber der weite Weg, den das Wort in der einen Richtung zur intimsten Kenntnis des Pferdes, in der andern Richtung zum beinahe vorstellimgslosen Gebrauch des Begriffs ge- nommen hat, dieser ganze Weg ist durch endlos ungezählte Wiederholungen des Gebrauchs bei Einzelmenschen gegangen, und das hoffe ich dargetan zu haben nicht einmal die Wiederholung des Worts durch den Einzelmenschen ist ohne einen Minimalbedeutungswandel möglich gewesen.

Die Sprachwissenschaft hat den Bedeutungswandel der Worte untersucht und hat auf seinen Unterschied vom Laut- wandel hingewiesen; auch auf die Ähnlichkeit. Nur nicht

IMinimaler Beclculungsuaiidel 253

auf die Durchkreuzung, was doch eigentlich wieder nur ein Bild für den wirklichen Vorgang ist. Solange wir den Laut- wandel und den Bedeutungswandel isoliert betrachten, können wir die beiden Linien in ihrem Treffpunkt nur als eine Kreuzung dieser Linien auffassen. In Wirkhchkeit aber entsteht die minimale Änderung doch wohl anders. Sowohl der Laut- wandel als der Bedeutungswandel geht ja wie wir eben gesehen haben auf eine und dieselbe Erscheinung zurück, auf die Notwendigkeit der Menschensprache, jedes Wort bei jedem Gebrauch nach der jeweiligen Seelensituation in Laut und Bedeutung zu ändern, wenn auch noch so minimal. Wenn man nun den Grund von Laut- und Bedeutungswandel in dem Gegensatz von okkasioneller und usueller Sprache sucht, das heißt doch wohl im Gegensatz von der jeweiligen Sprach- anwendung und dem allgemeinen Sprachgebrauch (wie es Her- mann Paul tut), so steht man ahnungslos auf dem schwanken- den Boden einer Abstraktion, die nur durch die bequeme Anwendung von Fremdworten verwischt worden ist. Man stellt nämüch, genau betrachtet, den Sprachgebrauch dem Sprach- Sprachgebrauch als Gegensatz gegenüber; man fühlt nicht "^^^^^' so leicht, daß die scheinbare Sinnverschiedenheit in der einen Spracii- und der andern Anwendung gar nicht so weit her ist. Sprach- *'*"*^' gebrauch erweist sich als ein gar sehr unbrauchbarer Be- griff. Wenn ich in diesem Augenblicke das Wort Pferd mit dem veränderten Vorstellungsinhalt dieses Augenblicks ge- brauche, so habe ich (minimal) meinen Sprachgebrauch ge- ändert ; mein vorletzter Gebrauch des Worts war mein Sprach- gebrauch gegenüber dem letzten Gebrauch des Worts. In ähnlicher Weise ist der Durchschnitt der Wortbedeutung meiner Volksgenossen etwa der Sprachgebrauch gegenüber meiner individuellen Wortbedeutung, die doch nur wieder der Durchschnitt meiner verschiedenen Anwendungen ist. Ebenso ist ein Wort, wie mein Volk vor einem Jahre es verstand, der Sprachgebrauch gegenüber dem heutigen Vorstellungs- inhalt. Der Bedeutungswandel ruht nicht und rastet nicht, so wenig die lebendige Natur in irgend einem Zeitteilcheu ruht oder rastet. Freilich, so wenig wir das Gras wachsen

254 ^'II- Bedeutungswandel

hören, so wenig hören wir den Bedeutungswandel der Sprache^ der den ewigen unhörbaren Lautwandel ausnahmslos begleitet.

Auf dem Wandel des Vorstellungsinhalts, wie er unweiger- lich im Gebrauch der Sprache sich einstellt, bald als ein un- merklicher Wandel, bald sprunghaft, beruht die Erscheinung, daß ein und dasselbe Wort in derselben Sprache verschiedene Bedeutungen zu haben scheint. Wir müssen von den seltenen Fällen absehen, in welchen gänzlich unzusammenhängende Begriffe durch Zufälle des Lautwandels dazu kamen, das gleiche Wortbild für Auge oder Ohr zu bieten; so z. B. wenn das Wort acht die Ziffer, den Bann imd einiges andere be- deutet, wenn kosten an den Geschmack und an den Preis erinnert. Das ist dann nicht mehr als ein Naturspiel, wie wenn ein Gebirgszug aus der Entfernung die Gestalt eines ruhenden Löwen zeigt.

Wenn aber ein Wort, welches ursprüngUch nur einen ein- zigen Sinn hatte, in unserer Umgangssprache zu so verschie- denen Bedeutimgen gekommen ist, wie z. B. Mal, Fuchs, Bauer, so ist der wirkhche Vorgang für das Wesen der Sprache sehr bezeichnend. Es gibt Fälle, in denen der Einzelmensch vielleicht niemals auch nur zum Bewußtsein des Gleichklangs konamt; ein Student, der seinen jungen Kommilitonen Fuchs nennt, hat wahrscheinlich keine andere Bedeutung des Wortes in seiner augenblickhchen Vorstellung ; ebenso denkt der Kut- scher bei Fuchs nur an sein rotbraunes Pferd, der Jäger nur an das Raubtier. Auf dem entgegengesetzten Ende dieser Reihe dürfte der Gebrauch solcher Worte stehen, die im all- gemeinen einen Gattungsbegriff bedeuten, im besonderen Falle ihrer konkreten Anwendung aber fast immer einen Spezial- begriff. Wir kommen damit zu der weitern Erscheimmg, daß jeder Spezialtechniker seine Sprache für sich hat; und es ist kein Zufall, daß die realistische Dichtung der neunziger Jahre diese technischen Ausdrücke aufzunehmen suchte. Jeder Handwerker benennt sein Handwerkszeug mit Namen, die nicht der allgemeinen Sprache angehören. So gibt es Spitz- bohrer und Zentrumbohrer, Metallbohrer und Holzbohrer, Schneckenbohrer und Spiralbohrer, Rollenbohrer und Drill-

Sprachgebrauch und Sprachgebrauch 255

bohrer , Brustleiern und Eckenbohrer. Ebenso nennt der Schlosser seine Zangen mit verschiedenen Namen , die ein anderer Handwerksmann nicht kennt. Ebenso hat der Fischer Netze oder Garne, von deren Verschiedenartigkeit der Gebirgs- bewohner keine Ahnung hat. Ruft nun der Schlosser dem Jungen zu „die Zange", so denkt er in seiner Vorstellung an eine bestimmte Zange; durch die Sachlage, die gemeinsame Seelensituation, wird dem Jungen die gleiche Vorstellung er- weckt, und er reicht dem Meister die richtige Zange. Ebenso schnell versteht das Dienstmädchen, ob die Frau, die eine „Nadel" verlangt, eine Haarnadel, eine Stecknadel, eine Näh- nadel usw. in ihrer Vorstellung habe.

Beim speziellen Gebrauche solcher Gattungsbegrifie wie Nadel, Zange, Garn usw. können durch Unaufmerksamkeit oder durch Unbestimmtheit der Sachlage Mißverständnisse vorkommen, und sie kommen alle Tage vor; bei Worten wie Fuchs usw. sind Mißverständnisse schwer, dafür Wortspiele und andere Scherze leicht. Wenn man abet glaubt, den Unterschied dieser beiden Wortgruppen dadurch erklären zu können, daß man bei der einen eine wirkhch verschiedene Bedeutung annimmt, bei der andern aber nur eine momentan verschiedene Anwendung, so trifft das nicht das Wesen des Bedeutungswandels .

Bei der einen Gruppe, bei den Worten Fuchs usw., liegt offenbar das vor, was wir noch als den Grund aller Sprach- entwicklung erkennen werden: eine Metapher. Es gab eine Zeit, vielleicht eine sehr lange Zeit, in welcher der Sprechende, wenn er ein rotbraunes Pferd oder ein rotgoldenes Geldstück Fuchs nannte, sich der bildhchen Anwendung oder einer scherz- haften, witzigen Ausdrucksweise bewußt war. Dann ging dieses Bewußtsein verloren, und die verschiedenen Bedeutungen von Fuchs trermten sich im wirkhchen Denken, genau so, wie die Worte acht (die Ziffer) und Acht (der Bann) immer noch getrennt sind; wobei nicht ausgeschlossen bleibt, daß einmal zwei Worte durch den zufäUigen Gleichklang im Bewußtsein zusammenfließen, wie oft in den Erzeugnissen der Volks- etymologie, z. B. Ziehgarre, Zanktippe usw.; im Bewußtsein

256 ^'^II* Bedeutungswandel

eines eingefleischten Philologen wieder wird die ursprüngliche Bedeutung Fuchs bei jeder Anwendung im Bewußtsein mit auftauchen. Und so möchte ich behaupten, daß es auch in diesem besondern Falle nicht zwei Menschen gibt, bei denen das mehrdeutige Wort Fuchs genau den gleichen Vorstellungs- inhalt hat. Man sollte also nicht sagen: in der deutschen Sprache hat sich das Wort Fuchs in mehrere Bedeutungen gespalten.

Witz Insofern Witz ein geistreiches Erkennen von entlegenen

Ähnlichkeiten ist, ist er natürhch eine Metapher, je nach Umständen eine Metapher, die sich durch Neuheit oder Keck- heit auszeichnet. Wie man das Wort Witz im 18. Jahr- hundert gebrauchte, war der Witz oder der vergleichende Verstand der eigentliche Vater der Sprache. Wie wir das Wort jetzt gebrauchen, beeinflußt der Witz die Sprache immer noch weit mehr, als es den Anschein hat. Würden wir die Geschichte der Sprachen genauer übersehen und wären wir gar imstande, in die Seele der Zeiten hineinzubhcken, welche Sprachveränderungen vornahmen, so würden sich uns un- endlich viele Scherze als Anreger von Bedeutungswandlungen ergeben. Eine der mächtigsten von diesen Kräften ist der- jenige Scherz, der in der Rhetorik unter dem Namen Ironie bekannt ist. Sagen wir von jemandem, dessen Intelligenz wir z. B. beurteilen sollen, er sei ein guter Mensch, so ist für jeden Hörer die komplizierte Ironie verständlich, welche un- gefähr darin hegt, daß wir auf die Frage gar nicht antworten und, indem wir ihn in einer Beziehung loben, einen Tadel in anderer Beziehung durchblicken lassen. Diese Redensart „ein guter Mensch" wird immer noch als Ironie empfunden. Kommt es aber eines Tages dazu, daß diese Redensart die jetzige Bedeutung von „gut" überdauert, so würden wir unter „ein guter Mensch" ohne jede Ironie „ein Dummkopf" verstehen, und nur die Sprachgeschichte könnte uns lehren, daß der Witz den Bedeutungswandel veranlaßt habe.

Von dilettantischer Seite ist der Versuch gemacht worden,

Witz 257

so manche Schwierigkeit dadurch zu erklären, daß in irgend einer uralten Zeit die Worte einen Gegensinn gehabt hätten, daß z. B. eine und dieselbe sogenannte Wurzel „kalt" und „warm" bedeutete. Daraus sollte dann begriffen werden, warum im Deutschen z. B. „kalt" bedeutet, was im Italie- nischen (caldo) „warm" bedeutet. Nie und nirgends kann in einer bestimmten Umgrenzung ein Wort zugleich seinen Gegensinn bedeutet haben; die Konfusion wäre zu groß ge- wesen; wohl aber können wir uns vorstellen, daß irgend ein- mal, Spasses halber, mit einem Wort durch Ironie sein Gegen- satz ausgedrückt wurde und daß dieser ironische Gebrauch sich durch einen der Zufälle der Sprachgeschichte festsetzte.

Aber auch der Gebrauch von Gattungsworten in spezieller Worte Bedeutung ist durch eine Metapher zu erklären, wenn auch Situation durch eine Metapher ohne Witz, ohne große Gedankensprünge, durch eine Art pars pro toto. Der Gehirnvorgang ist im kleinsten wie im größten der gleiche. Wir wissen, daß jede Bereichertmg der Menschensprache, das heißt jedes Anwachsen der wissenschaftlichen Welterkenntnis auf einer neuen Beob- achtung beruht. Der Vorgang, der die Entdeckungen eines Newton oder auch eines Röntgen erklärt, wiederholt sich bei jedem Bedeutungswandel. Wer zuerst die Ähnlichkeit der Farbe eines rotbraunen Pferdes beobachtete und daraufhin den Witz machte, ein solches Pferd einen Fuchs zu nennen, bereicherte die Sprache um eine Metapher, wie Newton, als er die Ähnlichkeit zwischen dem Lauf des Mondes und dem Fall irdischer Körper beobachtete. Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß ich im übrigen Newton für wichtiger halte als jenen witzigen Pferdehändler. Aber auch der Tischler, welcher „Bohrer" ruft und einen bestimmten Zentrumbohrer meint, vollzieht unbewußt einen Gedanken, der sich nur metaphorisch aufklären läßt. Er hätte unter Umständen ebensogut anstatt Bohrer ausrufen können „na" oder „wird's bald" oder „schläfst du?" oder er hätte einfach mit dem Fuße aufstampfen können.

Muuthuei , Btitrage zu ^iniT Kritik der Sjiraclie. II 1"

258 VII. Bedeutungswandel

Jede dieser Äußerungen sollte nur die Aufmerksamkeit des Jungen auf das richten, was im Augenblicke zu der Arbeit des Meisters stimmte. Soweit der ganze Vorgang praktisch ist, ist er außersprachlich. Iimerhalb der Sprache ist er metaphorisch.

So erscheint uns die Mehrdeutigkeit gewisser Worte oder der Bedeutungswandel nur als ein besonders frappierender Fall der ausnahmslos überall vorhandenen Tatsache, daß die Sprache allein zum Verständnis der Menschen untereinander unbrauchbar wäre, daß jedes Wort in jedem Menschengehirn einen anders nuancierten Vorstellungsinhalt wachruft. Wir müssen als unbedingt sicher annehmen, daß das in den Urzeiten der menschüchen Sprache in außerordentlich hohem Maße der Fall war. In den Urzeiten der Sprache konnten sich die Menschen ganz gewiß nur über dasjenige verständigen, was im Bereiche ihrer Augen war. Wir müssen annehmen, daß sehr lange ihre Worte nur den Gesten zu Hilfe kamen, bis das Verhältnis sich umkehrte und die Gesten den Worten zu Hilfe gekommen sind. In ihrer Fortentwicklung hat die Sprache sich unsäghch bemüht, die Geste zu überwinden, das heißt sich von der unmittelbaren Anschauung zu befreien. Es entstand in vielen Sprachen der bestimmte Artikel, der sehr häufig die ausgestreckte Hand ersetzen kann. Es wird dann eine BequemHchkeitsfrage oder größere oder geringere Sprachfaulheit sein, ob der Förster die einzelnen Bäume, die durch einen Beilhieb als zum Fällen bestimmt bezeichnet werden sollen, mit seinem Zeigfinger bestimmt oder durch die Wiederholung „d e r Baum, der Baum".

„8ta" Eines der Urworte ist vielleicht der Stamm sta. Die psycho-

logischen Etymologen erklären sehr schön, wie der Urmensch zum Wort und Begriff stehen gekommen sei. Sein Freund wollte an ihm vorüberlaufen, vielleicht mit seiner Frau oder mit seinem Brot oder vielleicht auch nur ohne die neueste Neuigkeit der Höhle erzählt zu haben. Da streckte der Ur-

.-sta" 259

mensch die Hand nach ihm aus und erfand nach der inneren Sprachform den Ruf st. Wir sagen heute pst nach derselben inneren Sprachform oder Halt oder auch ein andres Wort, und der Kerl bleibt doch stehen. Immerhin: aus dem sta hat sich das Verbum stehen „entwickelt". Ein paar Bei- spiele aber werden zeigen, wie vollkommen zufällig die innere Sprachform sich weiter entwickelt hat. Unser Wörterbuch kennt ein Wort Stabat für ein bestimmtes Kirchenhed, welches mit dem lateinischen Worte stabat, sie stand, anfängt. Wir sagen auch Stehbierhalle. Beidemal ist der alte Stamm un- verändert erhalten. Nun hat aber das Französische das scheinbar unumgänghch nötige Wort so vollkommen ver- loren, daß es gar keinen Ausdruck für „stehen" hat. Dagegen hat es später auf dem Umweg übers tote Latein das Wort Station erhalten, außerdem die Worte „statisch, Statue, Statut" usw. Alle diese Worte sind ja in ähnHcher Bedeu- tung auch deutsch. Wir wollen uns nur an „Station" halten. Es kann bedeuten: die aufrechte Haltung, den Rastort, die Eisenbahnstation, den Droschkenhalteplatz, den trigonometri- schen Ort, die Grenzwache, den Stillstand eines Sternes, den Meeresstrich, in dem ein Schiff kreuzen soll, die Abteilung in einer Klinik, ferner eine der Kapellen an einem Wallfahrtsort und das Gebet bei einer dieser Kapellen. Dem Franzosen ist also das Stammwort mit seinen natürhchen Ableitungen ver- loren gegangen, dagegen besitzt er ein abgeleitetes Fremdwort in zwanzig verschiedenen Bedeutungen. Wenn er es aber in einer dieser Bedeutungen gebraucht, so weiß der Hörer immer, was gemeint ist, weil die Mitteilung zwischen den Menschen nur zum unwesentüchen Teil auf der Sprache beruht, weit mehr aber darauf, daß die Menschen überflüssig beschwatzen, was sie ohnehin wissen oder einander mit dem Finger weisen könnten.

Mit Hilfe der Erinnenmg ersetzt die Sprache nicht nur J^gj^^j. die Gesten, die auf Gegenwärtiges zeigten, sondern auch den Gebrauch Ton, der auf Vergangenes wies. Aber alle diese Bedeutungs- ^^^

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wandel konnten niemals m der abstrakten Sprache entstehen, u.irter sondern mußten immer im engsten Kreise einer kleinern Ge-

260 VII. Bedeutungswandel

meinschaft ihre Wirkung ausüben. Hermann Paul, der mir Idee und Beispiele bietet, vergißt, daß solche G-attungsworte in spezieller Anwendung eben nur in dieser speziellen An- wendung wirklich gebraucht werden und als Gattungsbegriff entweder reine Abstraktionen sind oder wieder spezielle Be- griffe eines total verschiedenen Gedankenkreises. Wenn ich sage „ich habe Samstag Brief erhalten" oder „ich werde Samstag Brief erhalten", so meine ich jedesmal einen ganz bestimmten Samstag, das eine Mal den letzten, das zweite Mal den nächstfolgenden. Weim nun der Rabbiner vom Samstag im allgemeinen spricht, an dem man keine Arbeit verrichten dürfe, so ist das durchaus nicht eine Verallgemeine- rung der Samstage, an welchem ich Brief erhalte, sondern ein ganz anderer Vorstellungsinhalt. Werm ich „die Küche" sage, so meine ich die Küche in meiner Wohnung ; wenn meine Schwester „Küche" sagt, so meint sie die Küche in ihrer Wohnung. Gebraucht der Architekt das Wort, so liegt wohl eine Abstraktion darin, aber doch zugleich ein anderer Vor- stellungsinhalt, der die Anlage des Hauses in Betracht zieht. Verspricht der großstädtische Händler mit Kücheneinrich- tungen eine „Küche" zu liefern, so verbindet er wieder mit einer andern Abstraktion einen besonderen Vorstellungsinhalt. Ebenso geht es mit allen Verwandtschaftsbezeichnungen, mit Worten wie: Kaiser, König, Pfarrer, Bürgermeister usw. In einer bestimmten Gegend ist „der Graf" (in slawischen Sprachen auch ohne Artikel z, B. hrabe) eine bestimmte Person. In einem bestimmten Umkreis verstehen die Bewohner unter „Stadt" immer eine bestimmte Stadt, die bedeutendste ihres Kreises, den Ort des Gerichts, des Marktes usw. Man achte besonders auf das letzte Beispiel. Kein Wörterbuch der Welt kann so weitläufig sein, um alle Individualsprachen zu ver- merken. Kein Wörterbuch der Welt kann auch nur darauf aufmerksam macheu, daß das Wort König schlechtweg für den Württemberger den König von Württemberg bedeutet, für den Sachsen den König von Sachsen usw., daß das Wort Stadt für den jeweihgen Umkreis jede Stadt bedeuten könne, oder gar, daß das Wort Buch in seiner besondern Anwendung

Individueller Gebrauch der Gattungswörter 2(31

einmal zufällig jedes bestimmte Buch bezeichnen könne. Jedes lateinische Wörterbuch aber teilt dem Schüler mit, daß urbs erstens die Stadt bedeute, zweiteiLs insbesondere die Stadt Rom, daß ä^ro bald die Stadt überhaupt bezeichne, bald die Stadt Athen. Freilich beweist meine Bemerkung weiter nichts als daß der Bedeutungswandel der Worte nicht in die Wörterbücher hinein gehört, sondern in ein Lehrbuch von den Metaphern.

Unsere Wörterbücher der lebenden Sprachen werden mit Wörter- Recht um ihres Reichtums und ihrer Übersichtlichkeit willen '^"° ^^ gerühmt; die beiden Teile des französisch-deutschen und deutsch-französischen Wörterbuchs von Sachs-Vilatte z. B. lassen uns nicht so leicht im Stiche, wenn wir die „Bedeutung" eines eben gelesenen französischen Wortes suchen oder für einen deutschen Ausdruck das entsprechende französische Wort finden wollen. Man braucht aber nur die beiden Au.^- drücke, die in einem Elementarwörterbuch einander decken, wie faire tun, main Hand, bon gut einmal in beiden Teilen eines so großen Werkes zu vergleichen, um sofort zu sehen, daß selbst zwischen diesen zwei Sprachen, die etymolo- gisch nahe „verwandt" sind und überdies von ungefähr gleich kultivierten, gleichzeitigen Nachbarvölkern gesprochen werden, eine deckende Übersetzung nicht immer möglich ist. Überall erregt dasjenige Wort, welches in der andern durch eine andre Gewohnheit ersetzt wird, besondre Nebenvorstellungen. Fast jedes Wort wäre ein Beispiel. In hundert Fällen können wir main mit Hand wiedergeben; nicht aber die Wortgruppe a la main. Sagen wir nun für nouvelles ä la main ziemlich richtig „Tagesneuigkeiten", so haben wir die Nebenvorstellung u la main durch eine davon ganz verschiedene doch wieder ungenau wiedergegeben.

Eigentlich gehört diese Bemerkung in die Grammatik ; denn ich sehe nicht ein, warum die Wortbildung mains, die Mehr- zahl, oder de la main, oder der Dativ ä la main tmselbständiger heißen soll als das adverbiale ä la main; und ich sehe nicht ein, warum „Tages" in „Tagesneuigkeit" nicht ebenso gram- matikahsch festgelegt wird als der einfache Genitiv „des

262 ^'il- Bedeutungswandel

Tages". Im Grunde sind ja die Bedeutungen der Casus um nichts klarer als die Wortbildungskategorien. Wenn solche Kategorien auch aufgestellt worden sind, es ist eben auch nur ein Spiel mit Worten.

Wir sagen, daß in unserer Sprache die Silbe „er" die han- delnde Person bedeute; der Reiter reitet, der Schneider schneidet usw. Aber diese Weisheit ist eben eine grammatische und ist schon darum nicht sehr tief; es kommen die Aus- nahmen. Immer bietet die Regel nur einen Aufbewahrungs- kasten, nicht eine Hilfe. Ohne Kenntnis der Sprache weiß ja doch niemand, warum es das eine Mal „Reiter" heißt, das andre Mal „Ritter", einmal „Schneider", dann wieder „Schnit- ter", warum „Bauer" den Landmann bezeichnet und nicht den Maurer oder Baumeister; Schuster (von lat. „sutor", unter Einwirkung des etymologisch unerklärten „Schuh") und Gärtner khngen für unser Sprachgefühl gleichgebildet und sind doch ganz anders entstanden.

In fremden Sprachen liegen diese Dinge, sobald nur die Etymologie klar ist, viel deutlicher zutage. Im Sanskrit be- zeichnet „in" den Besitzer eines Gegenstandes: agvin einen Pferdebesitzer, hastin einen Handbesitzer; diese Kenntnis hilft uns aber nichts, wenn wir nicht durch direkte Mitteilung erfahren haben, daß agvin „Reiter" heißt, hastin „Elefant". „Handbesitzer" für das Rüsseltier hätte an sich nur den Wert eines Rebus.

Wie sehr, wie völlig der Bedeutungswandel auf der Me- tapher beruht, das wird noch klarer, wenn wir einsehen, daß es eigenthch im lebendigen Gebrauch der Sprache die all- gemeine Bedeutung des Worts, die Bedeutung, welche zuerst im Wörterbuch steht, gar nicht gibt, sondern immer nur die individuelle Bedeutung, welche der Augenbhck ergibt, das heißt, welche die Anschauung erkennen läßt. „Band" bedeutet jedesmal etwas anderes, wenn das Wort von einem Schrift- steller gegen seinen Verleger, von einem Faßkäufer in der Böttcherei, von einem Mädchen im Putzgeschäft, von einem Prediger bei der Eheschheßung gebraucht wird. Die allgemeine Bedeutung, die Abstraktion vom Verbum „binden", existiert

Wörterbücher 2G3

einzig und allein in der Theorie. Und wenn wir, was wohl gewöhnhch geschieht, den Vorstellungsinhalt des Wortes Band beim Schriftsteller, beim Böttcher und beim Prediger als Metaphern des Bandes im Putzgeschäft auffassen, so liegt darin eine Willkürlichkeit. Das tiefere Wesen der Metapher, der bildhchen Anwendung von Worten, scheint mir vielmehr gerade darin zu liegen, daß das Bild der umgebenden Wirk- hchkeit, daß die Anschauung oder die Erinnerung dem Wort- klang erst seine Bedeutung gibt, daß also ohne Ausnahme jedes Wort in seinem individuellen Gebrauch metaphorisch ist.

Daß jedes Wort etwas „bedeute", ist ganz richtig, wenn ^'je- man nur erst beachtet hat, was Bedeuten eigentlich „be- deute". Es heißt nämlich soviel wie: auf etwas hindeuten, an etwas erinnern, ein Bild von etwas sein. So liegt auch in diesem ganz vulgären Ausdruck bei welchem die alltäg- liche Sprache an irgend eine Kraft der Worte denkt im Grunde das Geständnis, das Wort habe nur den Zweck, zu erinnern, die Sprache nur den Wert von Erinnerung. Für uns, denen Sprache soviel ist wie Bewußtsein und Bewußtsein so wenig wie Gedächtnis (wobei wieder der ähnliche Gebrauch von „viel" und „wenig" auffallen muß), für uns ist dann die Philosophie des Unbewußten nichts weiter als eine Philosophie des Vergessenen. Und daß etwas Vergessenes oder Verlorenes darum noch nicht aufhöre, zu sein, das braucht wohl keines Beweises.

Auch der Ursprung der Sprache und der Metapher wird durch das Wort „bedeuten" hell beleuchtet.

Wenn ich am Meeresufer stehe und in trüben Gedanken die breiten Wellen, die mit Kraft und Lärm den Strand hinauf- laufen, dann immer auf der gleichen Höhe innehalten, lang- sam zurückrollen (ohne sich umzudrehen) und so von dem neuen Wasserberg gepackt und überwogt werden, der mit Kraft und Lärm und Jugend dieselbe Strecke Strand hinauf- läuft — wenn ich infolge trüber Gedanken diese Wellen mit den aufeinanderfolgenden Geschlechtern der Menschen ver- gleiche, so kann ich wohl sagen, die Wellen „bedeuten" m i r die Geschlechter. Aber das will doch nur sagen: sie erinnern

264 ^'II- Bedeutxingswandel

daran. Mich und dann vielleicht andere, denen ich das Bild mitteile.

So geht es mit allen Worten. Alle sind einmal Bilder gewesen, zuerst für den Bildner der Metapher, dann für andere ; alle Worte, auch wenn sie scheinbar nicht mehr Bilder sind, erinnern doch nur, summieren sich endhch zu dem, was wir unser und der Menschheit Gedächtnis nennen, das heißt unsere oder der Menschheit Sprache oder Geist.

In sehr vielen Fällen freilich ist ein bestimmtes Bild der umgebenden Wirkhchkeit, ist eine bestimmte Metapher so alltäghch geworden, daß wir uns gewöhnt haben, sie für die Urbedeutung des Wortes anzusehen. Wir sind geneigt, die Zunge an der Wage für eine Metapher zu erklären, die Zunge im Munde für die ursprünghche Bedeutimg, das Blatt einer Zeitung für eine Metapher, das Blatt am Baume für die ur- sprüngliche Bedeutimg. Aber Zunge und Blatt haben den betrefienden Teil des Tieres und des Baums ursprünglich ebenso metaphorisch bezeichnet, und nur die Erinnerung daran ist bei den meisten Menschen geschwunden. Als in vorhisto- rischer Zeit die sogenannte Welle zur Fortbewegung benutzt wurde und besonders unter einem Fahrzeug den Namen Rad erhielt, war das eine Metapher, deren Bildlichkeit unserer Erinnerung verloren gegangen ist. Seit einigen Jahren be- zeichnet man mit einer neuen Metapher das Bicycle am ge- läufigsten mit Rad; vorläufig denkt bloß der fleißige Rad- fahrer nicht mehr, daß das ihm geläufige Rad eine Metapher sei; sollte aber der allgemeinere Begriff etwa aus dem Ge- brauch verschwinden, so würde schheßhch Rad im Sinne von Bicycle die allgemeine Bedeutung werden, aus der sich dann wieder neue Metaphern loslösen könnten. Meta- Die Entstehung des gesamten Sprachschatzes aus Meta-

phorische phem läßt sich nur darum nicht mehr nachweisen, weil die

Neu-

biidungen Etymologie nur auf eine kurze Spanne Zeit zurückreicht und die ganze ungeheure Vorgeschichte in Dunkel gehüllt ist. So wenig wir aber in der Naturwissenschaft annehmen, daß in Urzeiten völHg andere Kräfte wirksam waren als heute, 80 wenig dürfen wir in der Entwicklung der Sprache etwa»

Metaphorische Neubildungen 265

voraussetzen, was heute nicht mehr wahrnehmbar ist. Und in den Neubildungen der lebendigen Sprache sehen wir nicht in einem einzigen Falle etwas anderes am Werk als die Me- tapher, das heißt den Einfluß des Bildes von einer neu be- obachteten Wirkhehkeit. Wir werden später einsehen, weshalb die Neubildungen des Bedeutungswandels auf die Metapher zurückzuführen sind; freilich muß dabei die Metapher weiter gefaßt werden, als die Rhetorik der Alten es zu tun vermochte. Neubildungen sind beinahe nur in den drei Hauptwortarten zu bemerken. Im Verbum, im Nomen und im Adjektiv; alle andern Wortarten deuten auf Verhältnisse zwischen Menschen und Dingen, die sich nicht ändern, solange die Welt steht. Die Zahlworte, die Fürworte, die Verhältnisworte können sich nur für die feinste Spekulation anders als bisher gestalten. Ich und du imd er, ich und wir, über und unter, eins, zwei drei usw. haben nicht das Zeug in sich, sich metaphorisch zu vermehren.

Von den Hauptkategorien ist das Verbum zimächst darauf Vorbum angewiesen, sich mehr durch Bedeutungswandel als durch Neuschöpfungen zu erweitern. Der Begriff „fahren" ist un- verändert geblieben; der Vorstellungsinhalt ist für den Hand- lungsreisenden, für den Amerikafahrer, für den Radfahrer ein wesentlich anderer geworden. Das Fahrzeug steht im Vorder- grund des Wirklichkeitsbildes, und so betrachtet ist das Fahren auf dem Dampfschiff, auf der Eisenbahn usw. eine ]Metapher des alten Begriffs fahren, der doch wieder nur die Metapher eines noch älteren Begriffs war. Aber ab und zu wird das Bild des Fahrzeugs für die Vorstellung so wichtig für einzelne Menschengruppen, daß Neubildungen wie „radeln" entstehen, zuerst im Scherz, und dann in die Umgangssprache aufgenom- men werden.

Viel häufiger sind, namenthch in unserer Zeit der sich ^"b- diängenden Erfindungen, Bedeutungswandel und Neubildung beim Hauptwort. Man denke an das Beleuchtungswesen und an den Verkehr. Jedes Jahr bringt neue Namen für Be- förderungsmittel, jede AVoche beinahe einen neuen Namen für Leuchtkörper. Einfach metaphorisch wurde vor einem

stantiv

266 ^'11- Bedeutungswandel

Vierteljahrtausend (zugleich mit Lautwandlung) ein hollän- disches Wort zu unserem „Gas", das damals luftartige Körper zu bezeichnen anfing. So versteht es noch heute der Chemiker, der Städter versteht darunter Leuchtgas, der Senne kennt es nicht. Ganz neue Beleuchtungsarten müssen sich vorläufig mit einer Zusammensetzung begnügen wie Auerlicht oder Meteorglühlicht; das sind vorläufig noch gar keine Worte, sondern Beschreibungen. Zu Worten werden solche Namen erst, wenn das Bewußtsein der Beschreibung geschwunden ist, wenn z. B. eines Tages der Name Auer allein metaphorisch für seine Lampe gebraucht werden sollte. Wir können gerade in unserer Zeit des Erfindereifers und des Patentschutzes den Kampf der Metapher um ihre Existenz täghch beobachten. Aber genau ebenso ging es vor 60 Jahren bei der Einführung der Eisenbahnen. Das Wort „Eisenbahn" selbst war doch sichtbarlich zuerst eine Beschreibung, bis es zu einem bild- lichen Worte wurde, wo es nicht schon durch die stärkere Metapher „Bahn" verdrängt worden ist. Sämtliche Worte dieser großen Vorstellungsgruppe sind metaphorisch entstanden und nur innerhalb dieser Vorstellungsgruppe im Sinne dieses neuen Verkehrsmittels verständlich. Man denke an: Wagen, Klasse, Station, Signal, Weiche, Schaffner usw.

„Schwe- Die Ausdehnung eines Begriffs läßt sich nicht erzwingen. ^^^^ So hat der Zufall der Ausbreitung des Christentums in Deutsch- land dazu geführt, daß das uralte Wort „Schwester" den metaphorischen Sinn einer Genossin erhalten hat, die in einer Klostergemeinschaft wie in einer Familie lebt. Als dieser Gebrauch in den ersten Zeiten des Christentums aufkam, lag ihm wohl ein tiefes Gefühl dafür zugrunde, daß alle Menschen, insbesondere fromme Menschen, Kinder eines Vaters, also Brüder beziehungsweise Schwestern seien. Dieses Gefühl ging wieder verloren, und gerade im Lande des lebendigsten Katho- lizismus differenzierte sich wenigstens für die männliche Ver- wandtschaft im Geiste fratello von der metaphorischen An-

„Schwester" 267

Wendung des Brudernamens; Bruder im Sinne von Ordens- bruder heißt frate oder fra, aus frate wurde fratesco, und das heißt geradezu mönchisch.

Als nun im Protestantismus die Klostergemeinschaft in Genossenschaften von Krankenpflegerinnen künstlich nach- gebildet wurde, schuf man für die Krankenpflegerinnen die etwas affektierte Anrede Schwester. Hier scheint mir von einer Vorstellung des Geschwister Verhältnisses keine Rede mehr zu sein. „Schwester" ist da zu einem metaphorischen Titel geworden. Im Kloster war die gegenseitige Anrede Bruder und Schwester noch vertraulich; redet ein Laie das Mitglied des Ordens mit Bruder Martin oder Schwester Martine an, so geht der Sprachgebrauch schon ins Titelhafte über. Im Diakonissenhause ist die Anrede Schwester im Verkehre der Damen untereinander titelhaft und wird ganz zum Titel, wenn der reiche Kranke seine Pflegerin so Schwester anredet, wie er seinen Arzt Herr Geheimrat nennt. Er nennt sie Schwester, aber er duzt sie nicht.

Noch weiter zu dem Wesen der Bedeutungsmetapher ge- Adjektiv langen wir, wenn wir neugebildete Eigenschaftswörter be- trachten. Hier scheint es mir ganz außer Frage, daß alle Neubildungen, auch die seit Jahrhunderten gebrauchten, fast immer mit Bewußtsein eine Metapher aussprechen. In die Augen springt diese Tatsache bei Eigenschaftswörtern, die aus Eigennamen gebildet werden. Dantesk, Goethisch, Fritzisch (von Goethe für Bewunderer Friedrichs d. Gr. gebraucht) sagen deutlich, daß ein Mensch oder ein Werk oder ein Stil mit einem berühmten Manne in Vergleichung gesetzt werde. Genau so steht es um Worte wie löwengleich, wo die Sprache ganz naiv die Metapher andeutet, anstatt sie auszuführen. Aber auch alle Eigenschaftswörter auf -isch, -lieh (ganz ähnlich in anderen Sprachen) sind offenbar Formeln für eine Metapher. Eine Sache ist rein, ein Mensch, den man mit ihr vergleichen will, heißt reinlich. Ein anderer Mensch, den man mit dem

268 VII. Bedeutungswandel

schmutzigen Schwein vergleichen will, heißt schweinisch. Eine genaue Durchsicht unserer Adjektive würde ergeben, daß alle diejenigen, deren Etymologie noch nachweisbar ist, solche Metaphern sind; und die Vermutung, daß alle Eigenschafts- wörter auf bewußter Vergleichung mit Dingen ursprünglich beruhen, liegt nahe. Für unser heutiges Sprachgefühl liegt in „bläulich" eine Metapher von blau; wir wissen nur nicht mehr, was für eine bewußte Metapher in Urzeiten zu der Wortbildung blau Veranlassung gab.

In einen andern Zusammenhang gehört es, daß die Sprache auch hier die Wirklichkeit auf den Kopf stellt. In der wirk- lichen Geschichte unseres Denken«; müßten wir zuerst Eigen- schaften wahrgenommen und dann erst die Dinge ihnen unter- geschoben haben; die Sprache dagegen macht Adjektive aus Substantiven. (Vgl. Wörterbuch der Philosophie , Artikel Adjektivische Welt.)

Für mich ergibt sich aus all dem, daß die Entwicklung der Sprache zum größten Teil eine Art Ernüchterung ist. Die Phantasie arbeitet viel lebhafter und schöner, solange sie die Worte metaphorisch gebraucht ; haben wir erst die Erinnerung an das Metaphorische verloren, wird erst der Gebrauch der Metapher zur bewußtlosen Gewohnheit, so können wir uns leichter mitteilen, aber unsere Sprache hat an Vorstellungs- inhalt verloren. Die Ursprachen müssen sich zu den unseren verhalten wie die wildeste Liebesleidenschaft zur ehelichen Ge- wohnheit. Eine Sprache ohne Eigenschaftswörter zwingt die Phantasie zu unaufhörlicher und heiterer Tätigkeit, zu Poesie. Kinder- Innerhalb der lebendigen Sprache könnten wir den meta- sprac e pjjorischen Bedeutungswandel der Worte am besten da beob- achten, wo auch die Lebhaftigkeit und Heiterkeit am größten ist: bei den Kindern. Nur daß wir ims bemühen müssen, auf den wirklichen Seelenvorgang zu achten. Denn das Kind lernt sprechen, nicht wie die Erwachsenen eine fremde Sprache erlernen, sondern vielmehr ähnlich so wie die Menschheit sprechen gelernt hat, seitdem sie nicht bloß wahrnimmt, seit- dem sie spricht. Es wird uns dabei nicht überraschen, daß das Kind in zwei bis fünf Jahren den Weg zurücklegt, zu deni

Kindersprache 2 (3 9

die Menschheit ungezählte Jahrtausende gebraucht hat. Nimmt doch die Entwickkingslehre auch an, daß das Kind in den neun Monaten vor der Geburt ebenso die Entwicklungs- geschichte der Menschheit durchmacht.

Der erwachsene Mensch lernt die Worte einer fremden Sprache falsch und abstrakt aus dem Wörterbuche. Er lernt z. B., daß im Französischen der Klang arbre denselben Vor- stellungsinhalt bezeichne wie das deutsche Baum. Hat er sich das fremde Wort erst eingeprägt, so wird er es richtig oder falsch immer da anwenden, wo er im Zusammenhang seiner deutschen Rede Baum gesagt hätte. Erst ganz zuletzt, wenn er den lebendigen Gebrauch der fremden Sprache lebendig anzuwenden versteht, kann er sich von dieser Abstraktion befreien und das fremde Wort jedesmal mit dem etwas ver- änderten Vorstellungsinhalt des fremden Volkes benutzen. Das Kind aber geht beim Sprechenlernen immer vom kon- kretesten Gebrauch aus. Wenn es zum erstenmal der Mutter das Wort Nadel nachspricht, so kann es gar nicht auf den Gedanken kommen, das Wort sei ein Gattungsbegriff und umfasse Nähnadeln, Stecknadeln, Stricknadeln, Tannennadeln usw. Es versteht unter Nadel etwa beim ersten Begreifen nur die Stricknadeln, die augenblicklich in der Hand der Mutter sind. Nadel ist ihm also ein Eigenname, genau so wie ihm Wauwau ein Eigenname ist für den Haushund, Papa ein Eigenname für seinen Hausvater. Also ähnlich wie Kaiser ein Eigermame ist für die Bürger eines bestimmten Staates, Stadt ein Eigenname für einen bestimmten Landbezirk. Nun ist es Sache der kindlichen Phantasie die allerdings durch den unaufhörlichen Umgang mit seiner Umgebung in den Sprachgebrauch hineingelenkt wird , das neu gelernte Wort metaphorisch auf ähnliche Gegenstände anzuwenden. Nadel hört auf, ein Eigenname zu sein, und bedeutet bald jede Strick- nadel, später andere Nadeln und vielleicht auch durch kühne, den allgemeinen Sprachgebrauch verlassende Bedeutungs- wandel andere spitze Gegenstände. Ich hörte einmal ein Kind sagen, es wolle nicht mit der Nadel essen. Es meinte die Gabel. Der Unterschied zwischen falsch sprechen und

270 VII. Bedeutungswandel

richtig sprechen beruht nur darauf, daß das Kind bald die gewohnten Metaphern seiner Umgebung nachahmt, bald seine eigene Phantasie arbeiten läßt. Dasselbe Dorchen, das ein- mal die Hühner, die es zum erstenmal sah, als etwas Zappelndes von der bewegungslosen Natur unterschied und darum Wau- wau nannte, hatte den Namen meiner Tochter sprechen ge- lernt: Deta. Das war dem Kinde natürlich ein Eigenname wie Wauwau und Nadel. Eines Tages führte sie die Phantasie zu der Eingebung, daß Deta zu mir gehöre und sofort wurde Deta zum Familiennamen. Ich selbst hieß Deta; aber auch mein Haus hieß Deta, mein Hund hieß Deta- Wauwau. Das Kind sprach falsch vom Standpunkt des Schulmeisters der Sprache, aber es vollzog sich in ihm einfach der regelmäßige Übergang vom Eigennamen zum Gattungsnamen. Derselbe Vorgang führt zum Falschsprechen, wenn das Kind jeden bärtigen Menschen auf der Straße mit Papa anruft; unauf- merksame Mütter und Ammen meinen dann, es verwechsle den fremden Herrn mit seinem Papa, das Kind aber dichtete bloß, es erfand sich eine Metapher. Ebenso nennt man es falsch gesprochen, wenn das Kind das Wort Hut gelernt hat und nun die Haube der Großmutter einen Hut nennt. Ein Schriftsteller aber oder das Volk, wenn es die Wolke auf einem Berggipfel seine Kappe nennt, wird gelobt. Die Metapher ist da und dort die gleiche. Sie ist die gleiche beim sogenannten Richtigsprechen, Avenn das Kind den Eigennamen Wauwau plötzlich mit jubelnder Phantasietätigkeit auf fremde Hunde anwendet und so sich jedesmal zu seinem Privatgebrauch den Eigennamen zum Gattungsnamen umschafEt. Wie weit im frühesten Kindesalter ein wirkliches Verwechseln im Geiste mitspielt, wird sich nicht immer ausmachen lassen; es ist aber auch gleichgültig, denn das Verwechseln ist doch nur eine Übertreibung des Vergleichens. Auch der Dichter in seiner leidenschaftlichsten Geistestätigkeit kann das meta- phorische Vergleichen so weit treiben, daß sich ihm das Bild an die Stelle des verglichenen Gegenstandes schiebt. Die besten Homerischen Gleichnisse vergessen oft für mehrere Verse den An- laß der Vergleichung, den bloß vergleichenden Zweck des Bildes.

Kindersprache 271

Immer aber muß festgehalten werden, daß das Kind, wenn es ein Wort von seiner Mutter oder vom Vater gelernt, den Begriff mit vollem Recht nur in der individuellen Bedeutung auffaßt, denn Vater oder Mutter gebrauchen das Wort wie wir wissen in der lebendigen Rede selbst nicht nach der Definition des Wörterbuchs, sondern individuell. Wenn Vater oder Mutter dem Kinde sagt „Nimm das Glas in beide Händchen", so ist der Vorstellungsinhalt von Händchen der eines Eigennamens; sie denken einzig und allein an diese von ihnen geliebten beiden Händchen ihres Kindes. Ebenso ist „Glas" ein Eigenname für das Trinkgefäß in diesen Händchen. Der weitere Schritt zwischen den Eltern und dem Kinde dehnt die Bedeutung von Glas auf andere Trinkgefäße aus. An den Stoff Glas, woraus- diese Trinkgefäße gefertigt sind, denken die Eltern in keinem Augenblick. Wie sollte das Kind dazu kommen, Glas als einen Stoff aufzufassen? Der histo- rische Weg ging allerdings vom Stoff' auf das Kunstprodukt, das aus dem Stoffe gebildet wurde. Das ist in diesem be- sondern Falle sonnenklar. Auch kann im Wörterbuch „Glas" Augenglas, Opernglas, Fensterglas usw. bedeuten. Das Kind aber, welches diesen Weg rückwärts verfolgen müßte, neigt natürlich dazu, 'das Trinkgefäß zunächst als alleinigen Vor- stellungsinhalt zu betrachten. Man kann daraus sehen, wie im Laufe von Generationen ein vollständiger Bedeutungs- wandel entstehen und die ursprüngliche Bedeutung vergessen werden kann. Bei dem Worte Feder ist es schon so weit .F^der" gekommen, daß ein richtiges Stadtkind mit Feder fast nur noch den Vorstellungsinhalt der Stahlfeder verbindet. Es sagt nicht mehr Stahlfeder, weil es keinen Anlaß mehr hat, sie von dem Gänsekiel zu unterscheiden, mit dem. der Urgroß- vater noch schrieb. Die Schreibfeder ist ihm bekannter und näher als die Vogelfeder; und es wird eines Tages ganz über- rascht sein zu erfahren, daß Feder auch etwas anderes be- deuten kann als eine Schreibfeder. Das Volk hat die hübsche Metapher von der Vogelfeder zu der Schreibfeder gemacht; das heutige Stadtkind muß die Metapher in entgegengesetzter Richtung vollziehen, von der Schreibfeder zur Vogelfeder und

272 VII. Bedeutungswandel

dann zur Uhrfeder usw. Aber der Gänsekiel als Schreib- werkzeug ist doch noch wenigstens in der Erinnerung des Volkes so nahe, daß leicht an ihn erinnert werden kann. Daß man einst mit dem Rohre schrieb, wissen nur noch die Ge- lehrten. Wenn der Italiener für Tintenfaß calamajo sagt, so hat er keine Ahnung mehr davon, daß es Rohrständer be- deutet, wenn er es auch leicht erraten könnte; der Tscheche, der dafür kalamar sagt, kann es auch nicht einmal mehr erraten. Ebenso hat in kühnem Bedeutungswandel der Stoff des Buchenholzes sich zu dem Begriff „Buch" gestaltet. Auch die Buchstaben werden jetzt mit bleiernen Lettern gedruckt, ohne daß man darum an den Buchstaben etymologisch Anstand nimmt. Wenn aber das Kind den StoS Glas nicht kennt, sondern nur das Trinkgefäß und darum ganz richtig sagt, es wolle heute aus seinem silbernen Glase trinken, so nennt man das ein falsches Sprechen. Es braucht aber nur das Wort Glas als Stoffbezeichnung sich irgendwie durch Laut- wandel oder sonst zu verändern, so wird gegen ein silbernes Glas nichts mehr einzuwenden sein, so wenig wie heute schon gegen eiserne Balken, gegen Buchstaben von Blei, gegen Gold- feder (goldne Stahlfeder) u. dgl.

So wenig zwei Menschen das gleiche Leben gelebt haben, so wenig sprechen sie die gleiche Sprache. Nun werden wir dazu noch aufmerksam gemacht auf den Umstand, daß das Kind jedes Wort zuerst in einer individuellen Anwendung er- fährt, als einen Eigennamen, wie wir es nannten. E? kann kein Zweifel daran sein, daß dieser Eigenname, daß dieser erste Anlaß für zeitlebens, wenn auch noch so abgeschwächt, den Vorstellungsinhalt des Wortes nuanciert. Und noch eins erkennen wir jetzt. Je nach dem Bildungsgrade einerseits, je nach der Kraft seiner Einbildungskraft anderseits wird der einzelne Mensch den Bedeutungswandel der gleichen oder ähnhchen Worte, also die historische Entwicklung der Sprache im Bewußtsein tragen oder nicht. Es macht für die Gedanken- welt eines Menschen sehr viel aus, ob er sich des metaphorischen Bedeutungswandels seiner Worte bewußt ist oder nicht. Für sich und für andere beherrscht eigentlich nur derjenige die

Metaphorischer Bedeutungswandel 273

ganze Fülle und die ganze Schönheit seiner Muttersprache, in dessen Gehirn die unendlich verwickelten Metaphern wenig- stens leise anklingen. Der Dichter und das Kind sprechen darum am besten, am natürlichsten; der gewöhnliche Sprach- gebrauch ist darum so unnatürlich, so nüchtern. Ich möchte an dieser Stelle nur leicht darauf hindeuten, daß bei den obersten Begriffen der sogenannten Geisteswissenschaften das Bewußtsein vom metaphorischen Bedeutungswandel ganze Weltanschauungen trennt. Wer ganz bewußtlos unter dem Guten, unter dem Schönen das zu verstehen glaubt, was seine Amme oder der Sprachgebrauch darunter zu verstehen glauben, der steht gewiß auf einem ganz andern Boden als wir, die wir durchschaut haben, daß auch solche Begriffe nur Me- taphern sind, daß sie einen Bedeutungswandel durchgemacht, eine Geschichte gehabt haben.

Ebenso leicht und oberflächlich möchte ich an dieser Stelle Ton- noch einmal wiederholen, daß kein Bedeutungswandel ohne einen leisen Lautwandel vor sich geht. Dem scheint zu wider- sprechen, daß in allen angeführten Beispielen das Wortbild auf dem Papier das gleiche gebheben ist. Das liegt aber nur daran, daß wir weder Zeichen noch Ohren haben für die mikroskopischen Unterschiede des Akzents. Man achte aber auch auf ein Kind, wie es den Ton verändert, wenn es ein neu gelerntes Wort einmal als Gattungsbegriff und einmal als Eigennamen ausspricht. Es ruft Papa, wenn es meta- phorisch einen bärtigen Mann auf der Straße bezeichnen will; es ruft die Silben fast tonlos, wie sie im Wörterbuch stehen. Meint es aber seinen eigenen Papa, dann schmettert es die zweite Silbe ordentlich heraus. Die Phonetik hat noch nicht daran gedacht, auf solche Unterschiede zu achten. Wohl aber weiß jeder gute Schauspieler, daß er oft einen Bedeutungs- wandel durch veränderte Betonung klar machen muß; und die Phonetik weiß, daß die veränderte Betonung einen Laut- wandel verursacht. So ist z. B. ein geläufiges Wort für Abend- brot zum Eigennamen geworden für das letzte Abendbrot von Jesus Christus. Im Deutschen sagt man jetzt dafür Abendmahl oder gar das heilige Abendmahl. Früher sagte

Mauthuer, Beitrüge zu einer Kritik der Si)ratlio. II 18

274 VII. Bedeutungswandel

man einfach Nachtmahl für den Spezialnamen wie für den Gattungsbegriff. Wenn nun der Geist von Hamlets Vater dem Sohn erzählt, er sei ohne Nachtmahl gestorben, das heißt ohne heiliges Abendmahl, so wird selbst im Süden, wo das Abendbrot allgemein Nachtmahl heißt, kein Mensch im Theater lachen, sobald nur der Schauspieler das gefährliche Wort mit besonderem Nachdruck ausspricht. Freilich sind solche Ton- veränderungen von der Phonetik nicht in Lautzeichen zu fassen, bevor sie nicht im Laufe der Zeit die Grenze über- schritten haben, innerhalb deren unsere tauben Sinne keine Veränderung wahrnehmen.

Phonetik Eine der neuesten Wissenschaften ist die Phonetik. Wir sind alle Alexandriner genug, um uns an den hübschen Er- gebnissen dieser Trompetenlehre zu erfreuen. Wenn wir aber prüfen, zu welchem Zwecke diese Unterabteilung geschaffen wurde, so sieht es mit seiner Erreichung traurig aus.

Die Sprachwissenschaft stand vor der Tatsache, daß die menschlichen Sprachlaute, die man als die genialste Schöpfung des anonymen Autors Seele bewundert, einerseits die aus der Physik bekannten Schallwellen sind, daß anderseits die Trom- pete (Lunge, Luftröhre, Kehlkopf, Mund- und Nasenhöhlen) ein physiologisches Instrument ist. Da die Sprachwissenschaft auf geschichtlichem und psychologischem Wege ihre beiden Kreuzfragen, die nach dem Ursprung und die nach der Ent- wicklung der Sprache, nicht beantworten konnte, so versucht sie es nun wie die andern Geisteswissenschaften mit der Natur- wissenschaft. Der ägyptische König bei Herodot, der Kjnder ohne menschlichen Umgang unter Ziegen aufwachsen ließ, um den Ursprung der Sprache zu studieren, und der eine Art ägyptisches Ziegenmeckern zur Antwort bekam, dieser König experimentierte wenigstens kühn. Unsere Phonetiker experimentieren vorsichtig mit dem Kehlkopfspiegel und keck mit der tausendfach vergrößerten Stanniolplatte des Phono- graphen, aber sie werden es nicht einmal bis zu einem sicheren Meckern bringen. Gute kleine Nutzanwendungen niedlicher

Phonetik 275

kleiner Beobachtungen sind da, aber sie erhöhen nicht unsere Kenntnis der Sache.

Die Schwierigkeit liegt genau dort, wo sie jedesmal in der Entwicklungslehre liegt. Wir haben auf der einen Seite die längst nicht mehr neue Erfahrung, daß auch Tiere hörbare Töne von sich geben können, auf der andern Seite haben wir menschliche Völkerstämme, deren Mitglieder sich unter- einander mit Hilfe solcher Töne über Gegenstände ihres Hungers, ihrer Liebe und ihrer Eitelkeit unterhalten. Dazwischen liegt nun die Entwicklung ungezählter Hunderttausende von Jahren, ja wir könnten sagen, dazwischen liege die Ewigkeit, weil man ja doch schließlich die Weltschöpfung ohne unendliche Zeiträume nicht wird begreifen können. Denken wir uns nun, die Phonetik hätte zu der Erfindung einer idealen Sprech- maschine geführt; wir besäßen eine künstliche Nachahmung der menschlichen Trompete mit künstlichem Blasebalg, künst- lichem Kehlkopf, künstlichen Rachen-, Nasen- und Mundhöhlen und anpassungsfähigen Artikulationslappen; angenommen, wir besäßen dazu ein vollkommenes iUphabet aller menschhchen Laute und durch eine Klaviatur könnte unsere Maschine dazu gebracht werden, nicht nur mit reiner Aussprache hotten- tottisch, französisch und chinesisch, mit den echten Schnalz- lauten, Nasaltönen und Sinnakzenten zu sprechen, sondern unsere Maschine wäre auch imstande, durch bequeme Ände- rung der .\rtikulationsbasis die Geschichte der Worte zur Darstellung zu bringen, z. B. die Aussprache des Mittelhoch- deutschen zu Gehör zu bringen. Eine solche Maschine ist wohl kaum ausführbar, aber denkbar. Was wäre mit ihr gewonnen?

Man könnte mit ihrer Hilfe die paar sogenannten Laut- gesetze, welche die Momentbeobachtung der letzten drei Sprach- jahrtausende wahrscheinlich gemacht hat, augenscheinlich machen und hörbar zugleich. Es wäre eine epochemachende Spielerei für Prinzen und höhere Töchter, aber wie aus aller Sprache könnte aus der idealen Sprechmaschine nur ein Echo zurücktönen, nur das Echo der alten Philologie. Bis zu den Wurzeln kann die Phonetik die lebendigen Sprachen zurück-

276 VII. Bedeutungswandel

verfolgen. Sie nennt eben Wurzel clas letzte, was sie weiß, so wie ein adeliges Geschlecht den letzten seines Namens, bis zu welchem es nach rückwärts vordringen kann, seinen Ahnherrn nennt. Doch auch Gottfried von Boui'lon dürfte einen Vater gehabt haben und dieser seine Ahnen, und hinter den ältesten Wurzeln des Sanskrit stehen unerforschte Sprach- zeichen. Für uns müßte die Vorstellung von Sprach wurzeln so sinnlos werden, wie die Erzählung von Adam, dem ersten Menschen, der 3761 Jahre vor Christi Geburt die Sache anfing, aus heiler Haut. So kann die Phonetik zu den Belustigungen der älteren Sprachwissenschaft physikalisch und physiologisch viel hinzufügen, sie kann weiter mit dem in Verwesung be- griffenen Material der ewig sterbenden, das heißt lebenden Sprache experimentieren, kann Verwandtschaften aufspüren, kann kuppeln und scheiden, sie kann am andern Ende der Entwicklung wieder wie die Chemie die Urelemente der Sprache auslösen, kann darwinistisch die allmähliche Verbesserung des menschlichen Hörrohrs und der menschlichen Trompete stu- dieren; die ungeheure Brücke von da, wo das erste Wort gesprochen und verstanden wurde, bis dahin, wo der Gott- fried von Bouillon unserer Menschensprache fortzuzeugen anfing, wo unsere Sprachwurzeln stehen, diese endlose Brücke ist von der Phonetik nicht zu betreten.

Abgesehen von den Hilfen, welche die Phonetik in allen Arten von Sprachunterricht praktisch gewähren kann, ist ihr negativer Wert für die Erkenntnis nicht zu unterschätzen. Ihre Versuche, die menschlichen Laute natürlich zu ordnen, mußten dahin führen, die uralte Schulmeisterlehre von den selbstherrlichen Silben und Buchstaben umzuwerfen, und es ist gut, wenn wir erfahren, daß die alten Meister der Gram- matik nicht einmal die Lautelemente der Sprache richtig be- obachtet haben. So ' werden wir zweifeln lernen an ihren Redeteilen und an ihrer ganzen Analyse des Denkens.

Die als wissenschaftliche Tatsachen verkündeten Beob- achtungen und Gesetze der Phonetik erscheinen erst in der richtigen Beleuchtung, wenn man ihnen die ebenso berech- tigten Gesetze des Klavierspielens an die Seite stellt. Es läßt

Phonetik 277

sich docli nicht leugnen, daß seit Erfindung des Klaviers große Veränderungen sich vollzogen haben. Vielleicht würde ein Klavierspieler aus dem 17. Jahrhundert das Spiel von Liszt ebensowenig verstanden haben, wie wir die Sprache eines Landsknechts aus dem Dreißigjährigen Kriege. Die Ver- änderungen verteilen sich auf die Komposition, auf das In- strument und auf die Fingertechnik des Spielers. Die Physio- logie des Klavierspiels müßte also in ihrer geschichtlichen Darstellung die Entwicklung der Musik, die Entwicklung des Instruments und die Entwicklung der Fingertechnik bieten. Diese letztere müßte wieder zerfallen in eine Geschichte der Fingerbewegungen und in eine Geschichte der Klavierfinger selbst, an denen die Entwicklung doch gewiß nicht spurlos vorübergegangen ist. Aber die Geschichte der Finger bewe- gungen ist nicht Physiologie, und von der Entwicklung der Klavierfinger selbst wissen wir nichts.

So steht es auch mit der Lautphysiologie. Die Bewegungen der Sprachwerkzeuge sind keine Physiologie, und von der vor- auszusetzenden Entwicklung der Sprachwerkzeuge wissen wir nichts.

yni. KLassifikation der Sprachen

Bevor wir zusehen, welchen Wert die vorläufig vorgenom- Morpho- mene morphologische Klassifikation der Sprachen für uns ^°^'® haben könne, wollen wir uns erinnern, daß der Begriff der Morphologie nur bildlich, also mit einem Gedankenfehler be- haftet, auf die Sprache angewendet wird. Diese Übertragung gehört zu der ausgedehnten Gruppe der Metaphern, welche vom Sichtbaren zum Hörbaren führen. Der Betriff gehört ursprünglich in die Beschreibung des Tier- und Pflanzen- lebens und ist da auch nicht völlig klar. Morphologie heißt da die Lehre von den Gestaltungen, von den sichtbaren Or- ganen des Tiers oder der Pflanze. Da aber ein Individuum außer der Summe seiner Organe nichts besitzt, da von einem Baum z. B. nichts weiter übrig bleibt, wenn mau die morpho-

278 VIII. Klassifikation der Sprachen

logischen Teile seiner Wurzeln, seines Stammes und seiner Krone, von den Wurzelfasern bis zu den Atmungsorganen der Blätter, genau beschrieben hat, so würde in der Natur- geschichte Morphologie und Physiologie die Beschreibung eines identischen Objekts sein und nur der Gesichtspunkt wäre verschieden. Unter dem Gesichtspimkte der äußern Ähnlich- keit oder Entwicklungsverwandtschaft kommt dann freilich eine neue Klassifikation zustande, welche z. B. die Vorder- füße der Säugetiere und die Flügel der Vögel morphologisch zusammenfaßt.

In jeder Beziehung ist die Sprache als Objekt von dem Tierreiche oder dem Pflanzenreiche verschieden. Vor allem sind die Bildungssilben einer Sprache, die man mit den Ge- staltungen eines Tiers oder einer Pflanze vergleicht, nur in- direkt für das Auge zu fixieren; sie gleichen vielmehr in der Tat den platonischen Ideen, insoferne sie als Matrizen irgendwo vorhanden sind, die dem Sprechenden die Form aufnötigen, in welcher er spricht. Dabei ist aber die Freiheit des Sprechen- den eine so große, daß bekaimthch unaufhörlich Sprechfehler begangen werden, die dem Leben der Sprache nicht schaden, die vielmehr unaufhörlich die Sprache fortbilden helfen. Wir wissen aber, daß auch in der Entwicklung der Organe ebenso unaufhörlich mikroskopisch kleine „Fehler" angenommen werden müssen; es ist also dieser Unterschied nur einer in der SchneUigkeit des Tempos.

Sodann aber sind die Worte unserer Sprache nicht bloß die Summe ihrer Organe. Es bleibt von unseren Worten, wenn man die morphologischen Gestaltungen abzieht, die Hauptsache übrig, der Begriff oder Stamm oder die sogenannte AVurzel. Es beschäftigt sich also die Morphologie der Sprache nicht mit den ganzen Worten, sondern nur mit ihren äußersten Teilen; es ist, als ob die Morphologie eines Tiers sich nur mit den Extremitäten befassen wollte, um Kopf und Rumpf einer andern Wissenschaft zu überlassen. Dies tut die sogenannte Morphologie der Sprache.

Sie will, was alle Sprachwissenschaft will: die Gesetze finden und darstellen, nach denen die Wortformen sich unserem

Morphologie 279

Denken angepaßt haben. Sie will die Geschichte der Sprache schreiben oder dichten. Man kann nun abstrakt die Sache so einteilen, daß man sagt: wir trennen die Wortstämme von den Wortformen, wir untersuchen die Entstehung der Wort- stämme besonders und nennen alles, was wir über die Ent- stehung der Wortformen wissen, ihre Morphologie. Und so geraten wir plötzlich in den gefährUchen Zirkel hinein, von w.elchem die Logik spricht. Um die Gesetze der Forraen- bildung zu erkennen, müssen wir vorher eine Klassifikation der Formen, der Bildungssilben u. dgl. aufgestellt haben; um eine solche Klassifikation aber aufstellen zu können, müssen wir vorher die Gesetze der Bildungsformen haben. Man hilft sich, wie immer in solchen Fällen, mit einer provisorischen Übersicht, die man gern eine Hypothese nennt.

Mit gutem Gewissen kann die Sprachwissenschaft doch Morpho- nur von einer Morphologie zweier Sprachgruppen reden, der ^fassi-*^ semitischen und der indoeuropäischen. Und auch von diesen fikation beiden Gruppen sind wieder nur einige indoeuropäische Sprachen historisch so genau durchforscht, daß eine ernsthafte Geschichte ihrer Bildungsformen begonnen werden körmte. Unsere Nachrichten über die unzähligen andern Sprachen der Erde stammen von so verschieden vorgebildeten Beobachtern her, sind an Zahl und Zuverlässigkeit so ungleich, sind in den meisten Fällen so lückenhaft und entbehren überdies zumeist so vollständig einer historischen Unterlage, daß schon darum ihre morphologische Klassifikation eher einem Kartenhause als einem sohden Gebäude gleicht. Man lehrt, daß die for- malen Bestandteile der Worte sich aus ursprünghch selb- ständigen Worten entwickelt haben; daß also auch den Bil- dungssilben die sogenannten Wurzeln zugrimde liegen; daß (und dieses vermuten bloß die vorurteilslosesten Forscher) die Bedeutungen jener Wurzeln nicht den Kategorien unserer heutigen Grammatik entsprochen haben; daß endlich in irgend einer alten Zeit jede Sprache in der formlosen Zusammen- fügung solcher W^urzeln bestand.

Mit Hilfe solcher Allgemeinheiten kann man noch nicht klassifizieren. Ordnen kann man nur nach bestimmten Merk-

280 VIII. Klassifikation der Sprachen

malen. Haben nun die Sprachen keine fixierbaren Merk- male, so gibt es doch Ähnlichkeiten im Lautmaterial, welche zu einer ersten Klassifikation dienen können. Französisch „homme" und lateinisch „homo", englisch „man" und deutsch „Mann" sind einander nicht unähnlicher als ein Wolf und ein Hund. Solche Ähnlichkeiten verwischen sich in den Be- ziehungen, die man die weitere Verwandtschaft nennt, zwar für den Ungelehrten, der die Zwischenstufen nicht kennt; für den Kenner aller Zwischenstufen aber ist die Ähnlich- keit (die sogenannte Verwandtschaft) zwischen „Tochter" und dem slawischen „dci" nicht minder wahrnehmbar. Nun hätte man allerdings eine derartige Ordnung der bekannteren indo- europäischen Sprachen nach der Ähnlichkeit ihres Laut- materiales die morphologische Ordnung nennen sollen. Man hat aber zufällig vorgezogen, alle diese Ähnlichkeitsfälle unter den Begriff der etymologischen Sprachverwandtschaft zu sammeln und den Begriff der Morphologie auf diejenigen Fälle anzuwenden, in denen von irgend einer Ähnlichkeit des Lautmaterials nicht die Rede sein kann. Also auch diejenigen Übereinstimmungen, wo z. B. das Lautmaterial des Verbums „haben" oder „tun" aus der einen Sprache sich in einer Bil- dungssilbe der Verben einer andern Sprache wiederfindet, gehören noch der Etymologie an und nicht der Morphologie. Die reine Morphologie beschäftigt sich mit denjenigen Über- einstimmungen, welche grammatische Kategorien betreffen und ohne greifbare oder nachweisbare Lautähnlichkeit einzig und allein als Ähnlichkeit grammatischer Analogien gedacht werden können.

Dennoch hat man sich nicht gescheut, eine morphologische Klassifikation auf diesen Schatten eines Lufthauchs zu be- gründen, ja sogar aus solcher Klassifikation den Nachweis von Verwandtschaften zu führen. Nicht die allgemeine Ver- wandtschaft, welche die Entwicklungslehre voraussetzt, hat man behauptet, sondern einen bestimmten näheren Verwandt- schaftsgrad. Ebensogut könnte man nach einem speziellen Ahnherrn der Fliege und des Elefanten suchen, weil beide die morphologische Erscheinung eines Rüssels besitzen. Der

Morphologische Klassifikation 281

Grund dieser Liebe zu phantastischen Annahmen liegt nicht nur in der weit verbreiteten dichterischen Neigung der Men- schennatur, sondern wohl auch darin, daß das Objekt der Sprachwissenschaft so schwer festzuhalten ist. Wie der Flug der Vögel unendhche Zeiten hindurch nicht verstanden wurde, wie man erst jetzt, seit Erfindung der Momentphctographie, mit seiner Beobachtung beginnt, wie der Naturbeschreiber des Mittelalters gewöhnlich ohne Kenntnis der Tiere aus den schlechten Berichten älterer Schriftsteller seine Schlüsse zog, so bearbeitet heute noch der Sprachforscher an seinem Schreib- tisch häufig diejenigen Zufallsworte und -wortformen, die viel- leicht ein abergläubischer Missionar oder ein ehrgeiziger Afrika- reisender gelegentlich einmal aufgeschnappt hat.

Aber auch die in großen Zügen vorgenommenen morpho- Eiu- und logischen Klassifikationen der Sprachen sind wertlos für unsere sju^j^e Erkenntnis. Man hat früher die ganze Masse in zwei form- spracheu lose Haufen geteilt, indem man alle Sprachen in einsilbige und in mehrsilbige einteilte. Man dachte sich das ungefähr so, daß die Einsilbigkeit die älteste Sprachform sei und einen Zustand darstelle, in welchem das Volk noch nicht imstande ist, logische Beziehungen durch das Wort auszudrücken, weder durch Zusammensetzung der Worte noch durch Umbildung des Wortstammes; zu dem Ungeheuern Haufen der mehr- silbigen Sprachen würden dann alle diejenigen gehören, in denen irgendwie logische oder grammatische Kategorien for- mell ausgedrückt werden können. Ich will beiseite lassen, daß diese Einteilung, welche doch auch die Existenz von Übergängen zugeben muß, geneigt sein müßte, z. B. das Eng- lische wegen seiner auffallenden Zahl einsilbiger Worte zu den primitivsten Sprachen zu rechnen, während es doch offen- bar zu seiner Einsilbigkeit auf dem Wege der längsten Ent- wicklung gelangt ist. Hervorheben möchte ich aber, daß diese Einteilung höchst unpsychologisch vom Standpunkte unserer historischen Grammatik vollzogen worden ist. Die besten Kenner des Chinesischen und Chinesisch ist immer das Musterbeispiel für einsilbige Sprachen behaupten, daß in dieser Sprache der psychologische Vorgang der Kategorien-

282 VIII. Klassifikation der Sprachen

bildung gar wohl beobachtet werden kann. Und umgekehrt scheint es mir gewiß, daß ein chinesischer Gelehrter, der vor- urteilslos, das heißt ohne sich durch unsere Grammatik und Logik irre machen zu lassen, eine unserer Sprachen analysieren würde, leicht dazu gelangen könnte, die meisten unserer Worte, die aus Zusammensetzungen entstanden sind, für eine Summe einsilbiger Worte oder Wurzeln zu halten. Selbst für uns wäre es nicht schwer, z. B. das Wort „gottgleich" in zwei Worte getrennt zu denken und zu schreiben, wobei freilich „Gott gleich" sich um eine Nuance von der bloßen Ähnlich- keit entfernte und der Identität näherte. Diese Trennung ist uns bei dem Worte „göttlich" schon schwerer 7U denlcen und zu schreiben. Es gab aber eine Zeit, wo das adjektivi^sche Suffix „lieh" noch nicht existierte, wo „leiks" (gotisch) noch so viel wie Körper bedeutete, in der Bedeutung von „Gestalt" zu Vergleichungen diente (englisch like) und wo, was jetzt zu „göttlich" geworden ist, noch deutlich in zwei Worten unterschieden war. Der chinesische Gelehrte hätte aho gar nicht so unrecht. Id ähnlicher Weise dürfte er Worte wie „herrschaftlich" mit Recht in drei Worte trennen. Es will mir scheinen, daß diese Einteilung ungefähr ebenso wissen- schaftlich ist, wie die Neigung unserer Volksgenossen, die Menschen in Weiße und in Farbige einzuteilen ; es sind die so- genannten Farbigen untereinander mehr verschieden, als einige von ihnen es von uns sind, und überdies sind wir nicht weiß.

Die Einteilung in einsilbige und mehrsilbige Sprachen gilt für veraltet. Ihr Grundfehler jedoch steckt auch in derjenigen teiiung Einteilung, die jetzt vielfach für die richtige gehalten wird, die in isolierende, agglutinierende und flektierende Sprachen. Diese saubere morphologische Klassifikation entspricht ganz wohl dem menschlichen Bedürfnis, vorläufig zu schematisieren, wo man nicht endgültig ordnen kann. Diese Einteilung ist jedoch in ihrem Hintergedanken unnachweisbar und wahr- scheinlich falsch, und selbst in der Definition ihres Einteilungs- grundes ungenau und unhaltbar.

Für jede dieser Gruppen lassen sich Beispiele aus den buntgemischten Sprachen der Erde herbeiholen. Isolierend

Gegenwärtige Einteilung 283

ist das Chinesische vielfach, so wie die Sprache unserer zwei- jährigen Kinder. „Onkel Dorchen Ei schenken." Flektierend sind die Sprachen, die eine so schöne Grammatik haben wie die griechische oder die deutsche Grammatik. Wie steht es aber mit der Agglutination? Agglutinierende Sprache nennt die Wissenschaft die Hauptmasse aller Sprachen der Erde darum, weil nach Ansicht eben dieser Wissenschaft die einzelnen Worte nicht mehr isoliert nebeneinander stehen wie in „Onkel Dorchen Ei schenken", auch die Bildungssilben noch nicht zu bloßen Flexionsformen geworden sind wie etwa in „der Onkel schenkte usw.". Es soll vielmehr eine Art Ver- klebung zwischen den Bildungsworten und den Stoffworten eingetreten sein, und es soll diese Verklebung der organischen Verbindung vorausgehen müssen. Der bildliche Ausdruck Agglutination ist hergenommen von dem Zusammenkleben einer Wimde, welche ihrer organischen Zusammenheilung vor- ausgeht. Unser Satz hätte in der agglutinierenden Periode etwa heißen können „Dorchen-Ei Onkel-Geschenk" oder viel- leicht auch „Onkel-Ei Dorchen-Geschenk", wo allerdings vor- ausgesetzt würde, daß durch irgendwelche geistige Operationen je eines dieser Worte zu einem Form wort geworden wäre.

Doch selbst die bloße Unterbringung der Sprachen unter die drei Rubriken stößt auf Schwierigkeiten. Namentlich den richtigen Einteilungsgrund zwischen agglutinierenden und flektierenden Sprachen hat niemand definieren können, weil er in der Natur nicht vorhanden ist. Man umfaßt wohl auch beide Gruppen gemeinsam unter den Namen der flektierenden und nimmt dann eine flektierende Klasse im besonderen für die indoeuropäischen und semitischen Sprachen an. Doch selbst das genügt noch nicht. Die flektierenden Sprachen im engeren Sinne sollen sich dadurch auszeichnen, daß die Stammsilbe in der Flexion ihren Vokal ändert (binden, band, gebunden); diese Vokaländerungen aber haben in den semi- tischen Sprachen einen gänzlich andern Charakter. Kümmert man sich nicht um das Schema der Agglutination und um unsere europäische Auffassung von der Einsilbigkeit des Chine- sischen, so gibt es wichtige Gesichtspunkte, von denen aus

284 VIII. Klassifikation der Sprachen

das isolierende Chinesisch, das agglutinierende Ungarisch unserem Sprachgefühl näher stehen als das so schön flektierende Hebräisch. Aggiuti- Die wenigen Sprachen, welche der isolierenden und flek- Sriachen tierenden Klasse zugerechnet werden, lassen sich immerhin noch deutlich überbhcken; bei ihnen erscheinen die Fehler der Klassifikation geringer, weil man sie gar nicht übersehen kann. Die sogenannte Klasse der agglutinierenden Sprachen jedoch bildet eine so ungeordnete Masse unvergleichbarer Sprachen, es ist alles in ihr so sehr nur wie im Ramsch auf- gespeichert, daß die ganze Klasse wirklich kaum länger auf- recht erhalten werden sollte. Die Unhaltbarkeit wird immer klarer, je schärfer man versucht hat die Bedeutung dieser Gruppe festzustellen. Die ganze morphologische Klassifikation ist von Wilhelm von Humboldt angeregt worden. Die heutige Auffassung geht zurück auf den verzweifelt energischen Ver- such Schleichers, die beiden Größen, die er noch gar nicht kannte, auf einen übersichtlichen algebraischen Ausdruck zu bringen. Jedes Wort der agglutinierenden Sprachen ist ihm R s (bzw. p R oder R i), das heißt die unveränderte Wurzel (R = radix) vermehrt um ein Suffix, bzw. Präfix oder Infix. Jedes Wort einer flektierenden Sprache ist ihm R x s, das heißt die veränderte Wurzel, vermehrt um ein Suffix. Max Müllers leichtfertige Art hat dann die Konfusion vollendet, von Avelcher ich einzelne Züge nun nachweisen möchte.

Zunächst geht man der einfachen Dreiteilung zuliebe wohl gar zu achtlos an einer Unterscheidung vorüber, welche Wil- helm von Schlegel, indem er die Ideen seines Bruders aus- führte, sehr scharfsinnig aufgestellt hat. Ich gebe seine Namengebung vollkommen preis; die Bezeichnung synthe- tische und analytische Sprachen ist zum mindesten nichts- sagend und stützt sich offenbar auf unphilosophischen, fran- zösischen Sprachgebrauch. In der Sache selbst jedoch hat er einen der wichtigsten Punkte der modernen Sprachgeschichte berührt; die neuesten Forschungen haben sich hundertfältig mit den einzelnen Erscheinungen dieser Art beschäftigt, ohne jedoch auf den Kern der Frage einzugehen.

Agglutinierende Sprachen 285

Man ist es nämlich gewohnt, außer im Sanskrit, im Grie- chischen und Latein die vollendeten Muster organischer, jflektierender Sprachen anzustaunen, die modernen Sprachen jedoch als die Fortbildungen der antiken anzusehen, ohne zu beachten, daß sie in morphologischer Beziehung mehr und mehr einer ganz andern Klasse sich genähert haben. Wilhelm von Schlegel hat auf einige Erscheinungen hin- gewiesen, die sich deutlich bei einer Vergleichung zwischen dem Lateinischen und den sogenannten romanischen Tochter- sprachen ergeben. Was das Lateinische durch Bildungs- formen allein aussprach oder was es unausgesprochen ließ, dazu brauchen die Tochtersprachen besondere Worte; sie setzen z. B. den Artikel vor das Substantiv und das per- sönliche Fürwort vor das Verbum, sie konjugieren durch Hilfszeitwörter, sie bilden die Kasusform mit Hilfe von Prä- positionen, sie steigern die Eigenschaftswörter durch Adver- bien usw. Wollen wir diese Erscheinung, die ein wenig anders, zum Teil aber noch auffallender, auch im Deutschen und im Englischen zu beobachten ist, in der Morphologie ausdrücken, so müssen wir sagen, daß die Kultursprachen seit anderthalb Jahrtausenden deutlich das Bestreben haben, sich teils den isolierenden, teils den agglutinierenden Sprachen anzunähern.

Nähert sich nun, wie es scheint, die Formenbildung unserer Kultursprachen mehr und mehr der agglutinierenden Periode oder der agglutinierenden Mangelhaftigkeit, so dürften doch sowohl die historische Stellung als der Wert fraglich sein. die man nachbetend unseren „organischen" Sprachen zu- schreibt.

Ein anderes Bedenken gegen die Aufstellung einer agglu- tinierenden Klasse deutlich gemacht zu haben, ist das un- freiwillige Verdienst Max Müllers. Er wollte wieder einmal etwas entdecken, und da entdeclcte er die Verwandtschaft der agglutinierenden Sprachen. Wohl gemerkt die leibliche Verwandtschaft auf Grund morphologischer Klassifikation. Die Sprachwissenschaft hatte zur Not Ähnlichkeiten, das heißt stoffliche, lautliche Ähnlichkeiten zwischen einer Anzahl von Sprachen ermittelt, die sie die ural-a Itaische Gruppe nannte.

286 VIII. Klassifikation der Sprachen

Dazu gehörten überraschend genug Sprachen der Finnen und der Ungarn, der Samojeden und der Türken, die mongolischen und die Mandschusprachen. Es wäre Arbeit genug gewesen, Arbeit für Generationen von Sprachforschern, die bloßen Ver- mutungen zur Gewißheit zu erheben und womöglich die Frage zu imtersucheu, die selbst in der indoeuropäischen Sprach- wissenschaft so gerne umgangen wird: ob die nachweisbaren Ähnlichkeiten auf Erbschaft oder auf Entlehnung beruhen. (Denn da die Sprache ein Besitz ist und nicht auf Zeugung beruht, sollte überall nur von Erbschaft anstatt von Verwandt- schaft die Rede sein.) Max Müller jedoch dehnte willkürlich diese Sprachfamilie aus rein morphologischen Gründen fast über ganz Asien und über einige umliegende Gebiete aus, wie z. B. über den Kaulcasus und über Polynesien. Er nannte diesen Mischmasch die turanische Sprache. Der Name soll uns nicht weiter aufhalten, da er von der Sprachwissenschaft wieder fallen gelassen worden ist. In einem berühmten Ge- dichte des persischen Dichters Firdusi kommt der Name Tur vor; so heißt der feindliche Bruder eines Mannes, von welchem man ganz bequem die Perser oder Iranier abstammen lassen kann. Nichts ist wohlfeiler, als nun von Tur alle andern Völker abstammen zu lassen, welche auf einem kleinen Kärt- chen von Asien um die Perser herum wohnen, diese Völker für blutsverwandt und ihre Sprachen für sprachverwandt zu erklären. Ich mache nebenbei darauf aufmerksam, daß der Name Arier, welcher die sogenannten indoeuropäischen Völker bezeichnen sollte und eine Wortmacht errang, die bis zu Ohr- feigen in Berliner Kneipen führte, daß der Name Arier genau ebenso legendarisch ist wie der Name Turanier oder Hamiten. Der Protest gegen die unbewiesene Behauptung Max Müllers führte aber endlich dazu, daß die agglutinierenden Sprachen genauer daraufhin angesehen wurden, ob in dem Schema, das zu ihrer einheitlichen Klassifikation geführt hatte, wirklich auch nur der Grund zu einer Vergleichung liege. Und das Ergebnis dieser genaueren Untersuchung möchte ich allerdings schärfer, als es die verlegenen Gelehrten tun, in dem Satze zusammenfassen: die sogenannte Agglutination ist

Agglutinierende Sprachen 287

an sich überhaupt kein Vergleichungsgrund, bietet an sich keine ÄhnHchkeit zwischen sonst verschiedenen Sprachen. ^Vhitney sagt, daß man die Grade der Agglutination un- berücksichtigt gelassen habe, wie sie z. B. zwischen dem kahlen imd nahezu isolierenden Mandschu auf der einen und dem reich gegliederten Türkischen auf der andern Seite bestehen; er fragt, ob die Verwandtschaft zwischen den scythischen (ural-altaischen) Sprachen und den indoeuropäischen nicht näher sei als zwischen den scythischen Sprachen und den ebenfalls agglutinierenden malaiischen. Friedrich Müller (Grund- riß I, S. 70) macht besonders darauf aufmerksam, daß die Sprachwissenschaft die verschiedenen kaukasischen Sprachen, die Max Müller allesamt für turanisch erklärt, noch nicht in Zusammenhang bringen konnte.

Gegen die Aufrechthaltung der agglutinierenden Klasse Einver- als einer Vorstufe (einer Vorstufe nach Geschichte und Wert) leii^ende

n 1 m Sprachen

unserer flektierenden Sprachen würde auch eine Tatsache sprechen, mit der sich die morphologische Klassifikation ein- mal gründlich abfinden müßte. Soviel ich weiß, werden jetzt die Indianersprachen Amerikas nicht mehr zu den agglu- tinierenden Sprachen gerechnet. Pott, vielleicht der gelehr- teste unter den Begründern der vergleichenden Sprachwissen- schaft, hat sehr gewissenhaft den drei Gruppen der morpho- logischen Klassifikation noch eine vierte hinzugefügt, die der einverleibenden Sprachen. Die Mundarten der jetzt lebenden Indianer sind solche einverleibende Sprachen, die nach den Berichten englisch sprechender Menschen den Unterschied zwischen Wort und Satz so gut wie aufheben. Über die histo- rische Entwicklung dieser Sprachen wissen wir buchstäblich nichts, weil die europäischen Eroberer, als sie auf die hoch entwickelte Kultur Mittelamerikas stießen, sich darauf be- schränkten, das Christentum einzuführen und Gold auszu- führen; weder zum Morden und Taufen, noch zum Rauben brauchte man die Sprache der Eingeborenen zu studieren. So stehen die Amerikanisten einer historisch unerklärHchen Erscheinung gegenüber. Das Wesentliche dieser Indianer- sprachen — über deren Verwandtschaft oder Ähnlichkeit man

288 VIII. Klassifikation der Sprachen

übrigens völlig im unklaren ist scheint darin zu bestehen, daß durch Einverleibung des Objekts und der adverbialen Bestimmungen in das Verbum (in welchem zugleich das Sub- jekt enthalten ist) ein einziges Wort ausdrücken kann, was wir in einem kürzern oder längern Satz auseinander legen. Die phantastischen Erzählungen von Missionaren, daß man dergestalt aus einer einzigen Verbalwurzel zweimalhundert- tausend oder nach einer andern Zählung siebzehn Millionen Wortbildungen machen könne, erwähne ich nur, um den Ein- druck zu beleuchten, den solche Indianersprachen auf Indo- europäer machen konnten. Die Ziffern selbst sind offenbar nicht gezählt, sondern aus unfruchtbaren Kombinations- und Permutationsrechnungen hervorgegangen. Aber auch die Wirk- lichkeit ist für uns noch sonderbar genug. Ich gebe einige wenige Beispiele nach Whitney. Es lassen sich nämlich in den Indianersprachen Beziehungen von Tätigkeiten und Um- ständen, die wir durch ganze Worte oder Nebensätze aus- drücken, einfacher durch einverleibte und einverleibende Par- tikeln bezeichnen. Das einfachste Beispiel ist, daß der Indianer das Objekt einer Handlung dem Verbum einverleibt. Unsere drei Worte „ich esse Fleisch" werden bei ihm dadurch zu einem einzigen Worte, daß er sagt „ich-Fleisch-esse". Unser Satz aus sechs Worten „ich gebe meinem Sohn das Brot" heißt im* Indianischen „ich-es-ihm-gebe-Brot-mein-Sohn". In einer indianischen Bibelübersetzung ist der Satz „er fiel auf die Kniee nieder und betete ihn an" mit einem einzigen Worte wiedergegeben, welches zwölf Silben hat und welches ich nicht nachmalen mag, da ich es nicht verstehe und darum nicht nachprüfen kann.

Aus ähnlichen Gründen verzichte ich darauf, die Ein- teilung abzuschreiben, Avelche nach dem augenblicklichen Stande der Kenntnis die Indianersprachen in morphologische Gruppen teilt. Für uns muß es genügen, daß man auf Grund einer morphologischen Ähnlichkeit eine Verwandtschaft aller amerikanischen Sprachen angenommen hat, trotzdem unter ihnen Sprachen von ganz anderem, selbst von isolierendem Bau gefunden worden sind und trotzdem auch in Europa

Einverleibende Sprachen 289

die Einverleibung gar nichts Seltenes ist, wie denn im Unga- rischen und Türkischen wenigstens die Pronomina in jedem Kasus dem Verbum einverleibt werden können. Ist doch sogar das Passivum des Lateinischen in ähnlicher Weise ent- standen, wenn anders z. B. „amor" richtig aus „amo-se" er- klärt wird. Endlich hat man schon seit langer Zeit in der baskischen Sprache, diesem Kreuz der Sprachwissenschaft, Wortungeheuer beobachtet, die mit den sätzefressenden Worten der Indianer eine auffallende ÄhnUchkeit haben.

Linguistische Märchenerzähler mögen diese Umstände dazu Indianer benutzen, um eine Verwandtschaft der Indianersprachen mit den Sprachen der alten Welt zu beweisen, aus morphologischen Gründen. Hat man doch ebenso den archäologischen Märchen- erzählern das Vergnügen gegönnt, die Kultur des originalen Amerika aus den Kulturen Ägyptens oder Phönikiens herzu- leiten oder gar die Indianer Abkömmlinge der ins Exil ge- führten Stämme von Israel sein zu lassen. Von unserem Stand- punkt, die wir für das Alter der menschlichen Kultur weit größere Zeiträume annehmen, als die vorsichtige Wissenschaft zuzugeben wagt, wäre gegen die Möghchkeit auch nur eines dieser Märchen historisch nichts einzuwenden. Warum sollen die Indianer nicht zu einer Zeit, als die Nordhälfte der Erde wärmer war, aus Asien über die jetzige Beringsstraße nach Amerika gewandert sein? Warum sollen sie nicht zu einer Zeit, als Südamerika mit Afrika zusammenhing, von Afrika nach Amerika gewandert sein? Warum nicht? Warum nicht ein Dutzend andere Möglichkeiten? Nur daß die Bevölkerung der Alten Welt ebensogut aus Amerika stammen kann und daß die sprachwissenschaftliche Voraussetzung all dieser Träu- mereien, die morphologische Verwandtschaft, gänzüch unzu- reichend ist.

Wir werden gegen das Ende dieses Bandes erfahren, wie kurzsichtig es war , die Fragen der Ethnographie sprach- wissenschaftlich beantworten oder gar (wie auf dem Umschlag von Demolins' „Les grandes routes des Peuples") saubere Wanderkarten entwerfen zu wollen.

Es ist aber von allen Seiten bisher ein Umstand unbeachtet

Mauthuer, Beiträge zu eiuer Kritik der Sprache. II 19

290 VIII. Klassifikation der Sprachen

geblieben, der es zweifelhaft erscheinen läßt, ob die morpho- logische Klassifikation der Sprachen überhaupt auch nur als eine vorläufige Orientierung einen Sinn habe. Man denke sich einen Naturforscher, der diejenigen mineralischen Formen, welche Dendriten heißen, weil sie infolge chemischer Prozesse zarte bäum- oder moosartige Gestalten bilden, dem Pflanzen- reiche zuweisen wollte. Alle Welt würde lachen und den un- glücklichen Botaniker belehren, daß diese Dendriten kein Pflanzenleben führen, daß sie mineralogisch entstanden sind und mineralogisch leben. Nun will es mir scheinen, daß man auch die Verschiedenheiten der morphologischen Form ebenso rein äußerlich verglichen und den psychologischen Vorgang in dem Sprechenden gänzlich übersehen habe. Über diesen Punkt überzeugend zu sprechen ist darum überaus schwierig. Sprach- weil das Sprachgefühl entscheidend sein müßte. Nun aber hat selbst der begabteste Sprachkenner geschweige denn ich in meiner Unwissenheit unmöglich zugleich die Sprach- gefühle eines Chinesen, eines Türken, eines Indoeuropäers und eines Indianers. Und wenn einer dieses vierfache Sprach- gefühl in sich vereinigte, so müßten wir hinzufügen, daß das Sprachgefühl ein Abstraktum ist, mit welchem wir ehrlicher- weise nichts anzufangen wissen. Lassen wir uns für einen Augenblick dazu herbei, solche abstrakte Worte zu verwenden, so kommen wir dennoch zu einem negativen Ergebnis. Das Sprachgefühl entspricht doch nur der negativen Kraft der sogenannten Trägheit, welche z. B. in der Naturgeschichte zur Folge haben Avürde, daß jedes Tier völlig unverändert die Eigenschaften seines Muttertiers auf die Welt brächte. Das Sprachgefühl kann nur die Unveränderlichkeit zur Folge haben. Es ist keine Ursache zu einer Änderung vorhanden, und so kann diejenige Abstraktion ungestört wirken, welche wir in der Naturgeschichte Erblichkeit, welche wir auf dem Gebiete der Sprachen Gewohnheit nennen. Das Sprachgefühl des einzelnen, das man dann wieder und noch schöner den Geist der Sprache nennt, ist doch nichts anderes als der ganz simple Sprachgebrauch, wie er sich mehr oder weniger be- wußt im Gehirn des Einzelmenschen reflektiert. Man könnte

Sprachgefühl 291

mit dem gleichen Rechte in jedem Frauenzimmer, welches sich bewußt oder unbewußt der Mode ihrer Zeit unterwirft, ein besonderes Modegefühl annehmen, jedes könnte sich auf den in ihr mächtigen Geist der Mode berufen.

Weiß ich also für meine Zwecke mit den Abstraktionen Sprachgeist und Sprachgefühl nicht viel anzufangen, so ist doch in meinem Individualbewußtsein irgend etwas vorhanden, was ich mit einem solchen Abstraktum zu benennen geneigt bin. Mein individueller Sprachgebrauch unterscheidet sich wie wir es ausdrücken müssen etwa von der individuellen Erscheinung einer Tier- oder Pflanzenart dadurch, daß ich mir bewußt bin, in Übereinstimmung mit meinen Volks- genossen zu sprechen. Wie ich es eben ausdrücJctc: der all- gemeine Gebrauch reflektiert sich in meinem Privatgebrauch. Wie wir aber immer auf das Gedächtnis als die letzte halb- wegs begreifliche Form des Bewußtseins gestoßen sind, so auch hier. Wir erinnern uns beim richtigen Sprachgebrauch, daß die von uns angewandten Formen die unserer Volks- genossen sind; wir erinnern uns also, welche Funktion eine jede Form grammatikalisch und syntaktisch hat. In diesem bescheidenen Sinne wird es wohl weiter gestattet sein, von unserem Sprachgefühl zu reden.

Und mm fragt es sich, ob diese Erinnerung oder dieses Gleiches Bewußtsein oder dieses Sprachgefühl anders ist beim Ge- „^f^i' brauch der isolierenden, der agglutinierenden, der flektieren- bei Ver- den und der einverleibenden Sprachen. Ich habe mir rechte Klassen Mühe genommen, darüber etwas Zuverlässiges von Leuten zu erfahren, die zwei Sprachen aus diesen verschiedenen Klassen redeten. Ich habe Chinesen darauf geprüft, die chinesisch und französisch sprachen, also eine isolierende und eine flek- tierende Sprache. Ich habe wissenschaftlich gebildete Ungarn befragt, denen Ungarisch und Deutsch, also eine agglutinierende und eine flektierende Sprache fast gleich geläufig waren. Das Ergebnis dieser vorsichtig geführten Beobachtung denn die Sprachi'orm der iVntwort war mir oft wichtiger als die Antwort selbst war jedesmal: für das Sprachgefühl dieser Menschen unterscheiden sich zwei Sprachen aus so verschie-

292 VIII. Klassifikation der Sprachen

denen Klassen nicht anders, als sich für uns zwei so ähnliche Sprachen wie Deutsch und Französisch unterscheiden.

Ich will noch an einigen kleinen Beispielen zeigen, daß auch unsere eigene Muttersprache nach dem Sprachgefühl zu allen vier morphologischen Klassen nacheinander und durch- einander gehören kann. Kinder- Zuuächst scheint eine Beobachtung der Kindersprache der morphologischen Klassifikation recht zu geben und auch der sprachhistorischen Hypothese, die man auf sie begründet. Ganz offenbar lernen die Kinder zuerst isolierte Worte ge- brauchen, sodann eine Art der Wortzusammensetzung, die mit der mangelhaften Flexion, mit der Agglutination also, große Ähnlichkeit hat. Im Zusammenhang mit der onto- genetischen Sprachentstehung, das heißt mit der Entstehung der Kindersprache, werden wir sehen, daß die verschiedenen Stufen der kindlichen Sprache an die pathologischen Er- scheinungen erinnern, welche den Sprachen von Paralytikern und Idioten eigentümlich sind, daß also die kindliche Sprache eine „fehlerhafte" Sprache ist. Und hoffentlich geht unser indoeuropäischer Hochmut nicht so weit, auch die Sprachen der Chinesen und der Ungarn für fehlerhaft oder krankhaft zu halten. Hier genügt es mir, darauf hinzuweisen, wie zwischen der Isoliertheit und Agglutination der Kindersprache und zwischen isolierenden und agglutinierenden Kultursprachen der entscheidende Unterschied besteht, daß die Kinder es empfinden, ihr unfertiges Weltbild noch nicht ausdrücken zu können, und darum angestrengt die Sprachformen der Er- wachsenen zu erlernen trachten, daß dagegen Chinesen und Ungarn ihr durchaus fertiges Weltbild vollkommen ausreichend ausdrücken. Es ist also nur das gewissermaßen pathologische Sprachgefühl der Kinder, was ungefähr der morphologischen Klassifikation entspricht, nicht aber das Sprachgefühl der Chinesen und Ungarn. Das sehen wir am besten in den Fällen, in welchen auch unsere Sprache isolierend oder agglutinierend wird. ^ Deutsche^ Einen isolierenden Charakter scheint mir unsere Sprache 80 lerung jj^^j^gj. ^^^ anzunehmen, wo von ihr ich möchte sagen

Deutsche Isolierung 293

der ursprünglichste Gebrauch gemacht wird: bei den Mit- teilungen, die Befehle sind. Man darf dabei nur nicht zuviel Gewicht legen auf die Einsilbigkeit, die übrigens in der ge- wohnten Aussprache dennoch beinahe erreicht wird. Es läßt sich das sowohl in der offiziellen Kommandosprache des Heeres bemerken als in den Befehlen, die man in diesen Kreisen auch privatim seinem Diener erteilt. „Marsch", „Aug'n rechts!" „Lad'n", aber auch: „Flasche Wein bringen" anstatt „Bringen Sie mir eine Flasche Wein". Wie immer auch dieser Jargon in der preußischen Armee entstanden sein mag (ich möchte vermuten, daß ursprünglich eine beabsichtigte Un- höflichkeit oder ein Ausweichen vor der höflicheren Anrede der Grund war), sein bekannter Gebrauch beweist, daß unser Sprachgefühl gerade in wichtigen Fällen der Mitteilung auch ohne Flexion aaskommt.

Für die Agglutination in unserer Sprache will ich nur ein Deutsche einziges Beispiel geben, das mir sehr belehrend scheint. Wie „^^^"1^^ empfindet unser Sprachgefühl die Anrede „Herr Oberappel- lationsger ichtsrat" ?

Zunächst möchte ich den pedantischen Einwurf ablehnen, daß in den Teilen dieses Wortes auch Flexionen vorkommen, in der Vorsilbe ge und in der Form s, das gar zweimal vor- kommt. Ich will selbstverständlich nicht leugnen, daß jeder- mann, wenn er gefragt würde, sofort die Ableitung des Wortes „Gericht" von Recht oder richten erkennen wird. Aber wenn diese Ableitung z. B. in dem Sinne von „angerichtete Speise" schon ganz verblaßt ist, so ist sie auch in dem Sinne von „Gerichtsversammlung" dem Sprachgefühl nicht leicht gegen- wärtig, namentlich nicht in einer Zusammensetzung oder gar in einer so langen Zusammensetzung. Daß aber das s in den Teilworten „Appellations" und „Gerichts" keine flexivische Form sei, das hat bereits Jakob Grimm gelehrt; und eine große Zahl deutscher Zusammensetzungen (Arbeitslust, Ge- burtstag, Liebeszeichen, Religionskrieg) zeigen deutlich, daß wir dieses s auch da verwenden, wo der Genitiv des Worts (davon Wortbruch) ein s weder hat noch jemals gehabt hat. (Vgl. Andresen, Sprachgebrauch, 7. Auflage, S. 97.) Solche

294 VIII. Klassifikation der Sprachen

Wortänderungen kommen übrigens auch im Chinesischen vor, und wir brauchen sie nicht weiter zu beachten.

Fragen wir den logischen Grammatiker nach der Ent- stehung und Deutung des Wortes „Oberappellationsgerichts- rat", so wird er lehren, „Rat" werde durch Oberappellations- gericht näher bestimmt, „gericht" ebenso durch Oberappel- lation, „Appellation" in ähnlicher Weise durch Ober. Be- fragen wir aber unser Sprachgefühl etwas genauer, so wird es uns bald einleuchten, daß das grammatische Gerede vom Bestimmungswort für die Funktion dieses Wortteils nicht aus- reicht, daß die Beziehungen außerordentlich kompliziert sind, welche durch das Voranstellen eines sogenannten Bestimmungs- wortes ausgedrückt werden, daß kurz gesagt eine Fülle von Beziehungen oder Erinnerungen durch das bloße Neben- einanderstellen von Worten bezeichnet wird. Gerade in den zusammengesetzten Dingwörtern der deutschen Sprache schei- tert jeder Versuch, den Sinn der Zusammensetzung durch noch so ausgiebige Zergliederung der Kasusbedeutungen und der Satzkategorien zu erklären. Die einzelnen Worte oder Begriffe bezeichnen eben gewisse Vorstellungen, und diese Vor- stellimgen darauf kommt es mir an verbinden sich im Gehirn nach den Assoziationen, die der subjektiven Ent- stehung der Vorstellungen entsprechen, und nicht nach irgend- welchen Bildungsformen. Das aber ist auch das Wesen der sogenannten agglutinierenden Sprachen wie der Sprache über- haupt.

Man erschrecke nicht darüber. Auch das Sanskrit (darin dem Deutschen viel ähnlicher als den romanischen Sprachen) hat solche agglutinierende Composita, das heißt Zusammen- setzungen, deren Assoziation sich keiner grammatischen Kate- gorie fügen will. Selbst M. Breal glaubt das noch beinahe tadeln zu müssen (Ess. d. Sem. 179): „La composition est pour le sanscrit comme une seconde voie ouverte, qui lui permet de c o n t o u r n e r, ou peu s'en faut, toute syntaxe." Deutsche Die Analyse der Anrede „Herr Oberappellationsgerichtsrat" leibung führt uns aber noch einen Schritt weiter. Man hat den In- dianersprachen vorgeworfen, sie hätten die Unterscheidung

Deutsche Einverleibung 295

zwischen Satz und Wort eingebüßt. Nun behaupte ich aber, daß die Anrede „Herr Oberappellationsgerichtsrat" für uns ein einziges Wort und zwar ein einverleibendes Wort ist. Zu- nächst wird man mir gerne zugeben, daß „Herr" in diesem Falle wie so häufig nur eine Vorsilbe der Höfhchkeit ist, wie sie wohl in manchen Negersprachen auch vor dem Verbum zu finden ist. Dieses Heruntersinken eines bedeutsamen Wortes zu einer Vorsilbe der Höflichkeit ist fast noch auffälliger im Französischen, wo monsieur in der gebildeten Rede zu m'siö verkürzt wird und in der Konversation der Straße beinahe zu einer kurzen Silbe von zwei Lauten zusammenfließt.

Zu dieser Vorsilbe der Höflichkeit tritt nun als Hauptteil der Anrede das letzte Glied des Wortungeheuers. Die Anrede hat den Rahmen „Herr Rat". Der Rahmen wird ausgefüllt mit der ausführlichen Beschreibung der Stellung, welche der Herr Rat in der Hierarchie der Justiz einnimmt; diese Be- schreibung wird dem Haupttitel einverleibt. Die Tatsache der Einverleibung äiißert sich dadurch, daß wie in den Indianer- sprachen ein entscheidendes Hauptwort in der j\Iitte stehen kann. Der Ton hegt auf dem einverleibten Worte „Appel- lation", unter Umständen auf „Ober", wenn z. B. der An- redende dem Angeredeten die Mitteilung machen will, daß er vom bloßen Appellationsgerichtsrat zum Ober appellations- gerichtsrat befördert worden ist, und der letzte Fall erspart mir wieder eine Beantwortung des Einwurfs, daß „Herr Ober- appellationsgerichtsrat" nur eine Anrede und kein Satz sei. Das eine Wortungeheuer kann, je nachdem die Betonung bittend, vorwui'fsvoll oder drohend ist, vollkommen eindeutig besagen: „Ein Herr in Ihrer Stellung wird doch einen armen Schreiber nicht um ein paar Groschen verkürzen wollen!" oder „Ein älterer Herr in Ihrer Stellung sollte sich doch schämen, eine arme junge Bittstellerin wno. die Hüfte zu fassen!" oder „Diensthch bin ich zwar Ihr Untergebener, Herr Oberappella- tionsgerichtsrat, aber als Mann würde ich für jede Beleidigung Genugtuung fordern."

Einen etwas andern Charakter haben die Wortungeheuer, zu welchen regelmäßig wiederkehrende Formeln, Grebete oder

296 VIII. Klassifikation der Sprachen

Liturgien im Dienste der sogenannten Religion vereinigt wer- den. Dahin gehört das sich überhastende Gemurmel, mit welchem katholische Greisthche oft die Messe lesen, mit welchem hungernde Juden am Versöhnungstage das letzte Gebet her- unterleiern. Dahin gehört die Art und Weise, wie kleine Schüler die zehn Gebote aufsagen und Luthers „Was ist das" dazu. Dahin gehört die Artikulation des Vater Unser, wie sie Rosegger in seiner Heimat gehört und schriftlich fixiert hat. „Va druns erd bis nim gal werd nam gums reich wilg sehe niml al sauf erseht ; gims heit ste brod gims un schul alsa mir va gen schul gern fir nit vers an les al nibl, amen."

„Habt Ihr ein Wort verstanden?" fragt der Pfarrer bei Rosegger einen Bauern. „Verstanden, dasselb just nicht," antwortet dieser, „aber das Vaterunser ist's gewesen, dasselb weiß ich."

Man wird vielleicht sagen, daß diese Zusammenziehung eines langen Gebetes in eine Art von Wortungeheuer eben daher rührt, daß der mechanisch Betende sich nichts dabei denke, sich vielleicht niemals etwas dabei gedacht habe. Wer aber kann uns versichern, daß der Missionar, der die Sprachen der Chinesen und die der Indianer zuerst morphologisch klassi- fizieren half, das Sprachgefühl der Chinesen oder des Indianers verstand?

Es ist also die Agglutination ein Übergang, ein historisches Stadium zwischen dem isolierenden und dem flektierenden Zu- stand. Ganz allgemein wird nun sofort einzusehen sein, daß es eine fest umgrenzte Gruppe agglutinierender Sprachen nicht gibt und nicht geben kann; die geschichtliche Entwicklung geht nicht so ordentlich vor sich, wie die Ordnungszahlen der Jahre es verlangen. In unserer gesamten Kultur liegen Äuße- rungen und Produkte von mehr als zwanzig Jahrhunderten nebeneinander; ein Geisthcher, der mit einem Feudalherrn zusammen in einer elektrischen Eisenbahn fährt, um- faßt gleich ein halbes Jahrtausend. In der Sprache hegen die Kulturen natürhch ebenso nebeneinander. Nah verwandte Sprachen haben nicht die gleiche Entwicklung durchgemacht, und innerhalb einer Sprache waren einzelne Worte schneller

Deutsche Einverleibung 297

als die andern. Bei uns ist die allgemein verständliche Kinder- sprache isolierend, die Gemeinsprache flektierend; aber eine Unzahl von Worten, deren Komposition noch stark gefühlt wird, kann man als agglutinierende bezeichnen. Man ver- gleiche einmal das zusammengesetzte Wort „Königreich" einer- seits mit „Königtum" oder „königlich", anderseits mit „hilf- reich, huldreich". Und gleich hier scheint es klar zu werden, daß die Agglutination als rein historische Erscheinung kein guter Einteilungsgrund ist, selbst wenn die Tatsache dieses Hergangs über allen Zweifel erhaben wäre. Entscheidender ist wohl das, was man seit Wilhelm von Humboldt die innere Sprachform genannt hat. Auf das Bewußtsein kommt es an, auf die Empfindung des sprechenden Individuums, ob es ein umgeformtes Wort in seinen beiden Bestandteilen überblickt oder nicht, ob es (wie in Königreich) noch deutlich an das Reich eines Königs denkt oder (wie in huldreich) nur ein Synonym für hold sieht. Man mache sich klar, wie etwa ein gelehrter Australneger unsere Sprache beurteilen würde, wäre er z. B. als Der

. "elehrte

Missionar der Australnegerreligion nach Deutschland gekommen "^ustrai- und hätte hier (ohne die Möglichkeit, unsere Bücher zu befragen) neger die Sprachstudien unter den barbarischen Christen etwa so vor- genommen, wie es unsere Missionare und Sprachforscher in Australien tim. Ich bin so großmütig, vorauszusetzen, daß er z. B. den Satz „ich habe Dorchen ein Ei geschenkt" ganz richtig gehört und verstanden und die einzelnen Worte ganz richtig mit andern Bildungsformen der gleichen Worte in Zu- sammenhang gebracht hätte. Wie wird er nun diesen Satz auffassen, vorausgesetzt, daß sein Geist reif und bereit ist für die tiefe Weisheit unserer sprachwissenschaftlichen Begriffe? Als erstes Wort wird er die Laute empfinden „ichhabe" oder, wie er es wohl schreiben Avird, „ichabe". Da wird er doch wohl das „e" am Ende eine Bildungssilbe nennen, wenn er es mit „haben", „gehabt" und ähnlichen Bildungen ver- gleicht. Das wird ihm eine Flexion sein, weil die selbständige Bedeutung des „e" nicht mehr empfunden wird. Die selb- ständige Bedeutung des „ich" aber wird er richtig erkennen und darum das „ichabe" als ein Musterbeispiel der Aggluti-

298 VIII. Klassifikation der Sprachen

nation hinstellen. Denn so albern wird mein Australneger mcht sein, irgendeinen Wert darauf zu legen, ob bei Schrift und Druck zwischen „ich" und „habe" ein Zwischenraum steht oder nicht. In der lebendigen Sprache ist „ichhabe" auch wirklich nur ein einziges Wort.

Den verkleinernden Begriff „Dorchen" wird er wahrschein- lich zu den Flexionen rechnen und ebenso das „geschenkt", wobei ihm der Zusammenhang zwischen „ich habe" und „ge- schenkt" recht große Schwierigkeiten machen wird.

„Einei" wird ihm wieder die reine Agglutination sein. Er wird vielleicht sogar erraten, daß die agglutinierte Silbe „ein" ursprünghch ein Zahlwort war, welches in diesem Zu- sammenhang niu: seinen Alczent verloren hat.

Sollte also mein gelehrter Australneger die Meinung unserer Sprachwissenschaft teilen, daß die Agglutination eine historisch notwendige Vorstufe der Flexion sei, so wird er schheßlich zu dem Urteil gelangen, es sei der Prozeß der Agglutination oder Verklebung in der deutschen Sprache noch nicht abgeschlossen. Ich kann mich seiner Meinung nur anschheßen; ich finde es eine Überhebung unserer Linguisten, wenn sie den andern Sprachen einen höheren Titel verleihen wollen als z. B. den sogenannten ural-altaischen, welche sie mit VorHebe die agglu- tinierenden nennen. Man nehme einmal ein Prachtbeispiel türkischer Agglutination: sev-isch-dir-il-e-me-mek. Es ist ein Infinitiv von so reicher Nüancenfülle, daß wir mit all unseren Sprachkünsten kaum heranreichen können ; wir müßten es un- gefähr übersetzen „nicht genötigt werden können einander zu lieben"; das alles hat man durch Ankleben von Silben aus der sogenannten Wurzel „sev" gemacht. Man nennt es nur darum nicht Flexion, weil die einzelnen Bildungssilben sauber und stolz nebeneinander stehen geblieben sind, ohne sich nach- einander zu richten, wie das in unseren Sprachen übhch ist. Nun halte man einmal daneben ein deutsches Wort wie „Ge- sellschaftsvertrag", das doch gewiß im wirkhchen Leben häu- figer gesprochen und geschrieben wird als die eben angeführte türkische Grausamkeit. Ich will meinetwegen zugeben, daß die Vorsilbe „ge" und das „s" in „schafts" bloß der Bildungs-

Agglutination 299

form angehören und damit einer besser gekneteten Sprache. Alles andere scheint mir die reine Agglutination zu sein. In „seil" steckt für unser Sprachgefühl noch wahrnehmbar die Vorstellung, die (unbekümmert darum , ob Nomen oder Ver- bum) in „Gesell" und „sich gesellen" vorhanden ist. Auch für „Schaft", ebenso für „ver" besitzen wir noch so viel Sprach- gefühl, daß wir mit jeder dieser Silben neue Worte zusammen- zusetzen wagen Icönnen. Ein deutlicher Beweis, wie mir scheint, daß wir es noch nicht als reine Formsilbe empfinden. In „trag" endhch ist uns der Begriff ganz geläufig; er wird aber eben durch das Zusammenkleben mit „ver" wesentlich verändert.

Man wird mir hoffenthch nicht einwenden, ich hätte bei Gesellschaft und Vertrag irrtümlich von Flexionssilben ge- sprochen, die nur der Deklination zukommen. Solchen Streit überlasse ich Abcschützen. Ist doch für mein Sprachgefühl durchaus nicht ausgemacht, ob Vertrag mehr nach der Ana- logie eines Nomens oder Verbums gebildet sei.

G. V. d. Gabelentz hat darum die agglutinierende Sprachen- klasse bereits eine Rum^pelkammer der Wissenschaft genannt, einen Verlegenheitsbegrifi'. Aber er hat diesen Begriff doch zu retten versucht durch Unterabteilungen und hat die Komik nicht gefühlt, die darin liegt, in einer solchen Unterabteilung einer großen Klasse die ural-a Itaischen Sprachen mit den grön- ländischen und den hottentottischen zusammenzuwerfen.

Ich habe vorhin die agglutinierenden Sprachen mit der KngUsch flektierenden deutschen Sprache verglichen. Hätte ich die englische Sprache herangezogen, so wäre das Ergebnis noch viel merkwürdiger gewesen. Nicht nur lassen sich leicht eng- lische Sätze zusammenstellen, welche vollkommen den Cha- rakter isolierender Sprachen haben und deren Sinn durch die Wortstellung modifiziert wird; auch aus Dichtern und Historikern solche Beispiele herauszufinden wäre nicht schwer. Ich bin damit bei einer Lieblingsvorstellung wieder angelangt, bei der Annahme nämUch , daß unsere Kultursprachen durch Aufgeben ihrer Flexionssilben nach dem Muster des Eng- lischen sich dem Zustand der chinesischen Sprache in un-

300 VIII. Klassifikation der Sprachen

gleichem Tempo nähern, während seltsamerweise zugleich das Chinesische selbst Agglutinationen und sogar Flexionen an- zunehmen beginnt. Ist diese Anschauungsweise richtig, so stößt sie allerdings die Vorstellung der Sprachwissenschaft, daß die Agglutination eine Zwischenstufe zwischen Isolation und Flexion sei, insofern über den Haufen, als dann die so- genannte Flexion unserer Kultursprachen nicht mehr die höchste Sprachform genannt werden könnte, als dann für möghch angenommen werden müßte, daß z. B. das Chinesische vor unserer historischen Kenntnis irgend eine reich flektierte Sprache war. Wir wollen aber schon zufrieden sein, wenn wir nur den einen negativen Gedanken gewonnen haben, daß die Einteilung der Sprachen nach ihrer äußeren Gestaltung nichts sei als eine ohnmächtige Spielerei der Forscher, deren wirklichem Leben nichts entspricht als etwa das, was nach- träglich durch die Grammatiker in die Sprachen hinein- getragen worden ist. Wollte die Wissenschaft die Tiere da- nach einteilen, ob ihr Fell längsgestreift oder quergestreift ist, die Pflanzen danach, ob sie rot oder blau blühen, so wäre das ein offenbarer Unsinn; und doch wäre es möghch, daß jahr- hundertelang insbesondere quer- oder längsgestreifte Tiere, rote oder blaue Blumen allein Mode würden und so durch die Züchtung der entgegengesetzten Arten der Eindruck des Gegensatzes in der Natm* sich vermehrte. Im Menschen- leben haben wir ein Beispiel, das keine Hypothese ist. Der erste Januar spielt keine Rolle innerhalb der Haut eines menschlichen Individuums. Die Festsetzung des ersten Januar als des Anfangs für den Jahresabschnitt ist eine rein zu- fälhge, historische, künsthche Tatsache. Und dennoch hat die Einrichtung der Gesellschaft es dahin gebracht, daß dieses Datum durch Zahlungen, Verträge, Kündigungen usw. von entscheidender Wichtigkeit für Leben und Gesundheit der Individuen werden kann. Ähnlich mag es um den Anteil stehen, den das Sprachbewußtsein auf die Ausbildung gram- matischer Analogien oder Regeln und dann wieder das Vor- handensein solcher Analogien auf die Weiterentwicklung der Sprache nimmt. Unter dem Einfluß solcher unnachweislichen

Englisch 30 j

Strömungen mag es gekommen sein, daß das Deutsche einer Verschärfung analogischer Flexionsformen zustrebt, das Eng- lische einer möglichst flexionslosen Isolierung, das Chinesische (wenn die Berichte mich nicht täuschen) den Anfängen dessen, was man Agglutination genannt hat.

Diese Einteilung in Isolierung, Agglutination und Flexion Einteilung ist vielleicht sanz willkürlich, vielleicht aber auch (für un- "**^'^ '^^''

® . ^ SchUtzung

endliche und unausdenkbare Zeiträume betrachtet) nicht mehr und nicht weniger Entwicklung als der Kreislauf der Jahres- zeiten; dennoch hat man seit Wilhelm von Humboldt ver- sucht, den Menschensprachen nach dieser Einteilung mehr oder weniger Hochachtung zu bezeigen, ihnen mehr oder weniger Wert beizumessen. Wäre man mutig genug dazu, man müßte die Begriffe gut imd schlecht auf die Sprachen anwenden, damit ich doch eine Anzahl freier Menschen wüßte, um mit ihnen lachen zu können. In einer Zeit, wo die Be- grifie gut und schlecht anfangen, aus der relativistischen Welt- anschauung hinausgejagt zu werden, will man sie in die Natur- beschreibung einführen ! Wo doch der Tiger gut ist für Hagen- beck, dem er Geld einbringt, und schlecht für den Indier, dem er den Arm zerfleischt hat.

Aber man drückt den Gedanken vorsichtiger aus, leerer, vornehmer, dümmer. Es soll der Wert einer Sprache in einem regelmäßigen Verhältnis stehen zur Kultur des Volkes , das sie spricht. Je höher eine Kultur, desto wertvoller seine Sprache. „Der Kultur wert der Sprachen folgt aus dem Kultur- werte der Völker", sagt einer der weisesten unter diesen The- banern. Es ist fast schmerzlich, allein lachen zu müssen über so abgründige Banahtät. Das photographische Bild steht in einem gewissen Verhältnis zu dem photographierten Gegen- stande! Es sieht ihm mitunter sogar ähnhch. Die Kultur eines Volkes ist ja die Gesamtheit alles Wirkhchen, und die Sprache ist nur die Erinnerung an alles dieses WirkUche.

Es liegt in dieser Abschätzimg der Sprachen, in dieser ge- ringeren oder stärkeren Verachtung der sogenannten flexions- losen Sprachen, ein indoeuropäischer Hochmut, der verwandt ist mit dem griechischen Begriff barbarisch. Wir schütteln

Schrift

302 VIII. Klassifikation der Sprachen

den Kopf über alles, was anders als wir sich räuspert und spuckt. Wenn es noch bei der stolzen Wiederholung der Tat- sache bliebe, daß in unseren Ländern der flektierten Sprachen seit einigen Jahrhunderten infolge hübscher Erfindungen der Komfort gestiegen ist, so wäre gegen die bloße Behauptung nichts einzuwenden, obgleich es schwer wäre, zwischen der Konjugation des Verbums und der Erfindung der Dampf- maschine eine ernste Verbindung herzustellen. Obgleich ferner die Engländer, die besten Erfinder unseres komfortablen Zeit- alters, bekanntlich die Flexionsformen sträfhch vernachlässigen. Es sind aber gerade ethische Begrifie, die man mit der Ein- teilung der Sprachen in Verbindung bringt, und dabei hört beinahe das Lachen auf. Ich bin, bei sehr mangelhafter Keil- Keimtnis, recht skeptisch gegen die Ergebnisse der Keilschrifc- forschung. Wenn aber diese Zeichen nicht bloß eine künst- liche Schrift, sondern eine wirkliche Natursprache bewahrt haben, wenn "diese Sprache wirklich agglutinierend war , so hätten wir außer dem Chinesischen ein neues Beispiel dafür, daß Urweisheit, diesmal die Weisheit der Chaldäer, die ja heute noch im Katechismus gelehrt wird und im Kalender, in flexionslosen Sprachen gefaßt worden ist.

Doch will ich mich hüten, ernsthaft und vertrauensvoll von Keilschrift oder Hieroglyphen zu sprechen, solange ich nicht in der Lage war, diese Forschungen selbst genauer nach- zuprüfen. Ich werde das Gefühl nicht los, daß über die erste dieser Wissenschaften einmal ein furchtbarer Bankrott herein- brechen werde. Man stelle sich einmal vor, wir besäßen vom Chinesischen nichts als ein paar Schriftdenkmäler, es gäbe auf der Welt keinen chinesisch sprechenden Menschen. Und ich frage, was würden dann die Chinologen aus diesen Denkmälern wohl haben entziffern können? Wer würde dann entscheiden, ob ein paar solcher Schriftzeichen den „heihgen König" oder „fünfmalhunderttausend Säue" bedeuten?

Chaldeos ne consulito! sagte der alte Cato. A. von Gut- schmid hat in seinen „Neuen Beiträgen zur Geschichte des alten Orients" das Wichtigste zusammengefaßt, was sich gegen die mangelhaft kontrollierte Assyriologie vorbringen läßt. Eine

Keilschrift 303

Mode deutscher und englischer Theologen habe Inschriften mit alttestamentlichen Namen zu Paradestücken gemacht; ein großer Teil der Könige besitze die Namen nur auf Kündi- gung (S. VIII); man könnte froh sein, wenn unter den geo- graphischen Namen drei vom Hundert sich mit leidlicher Sicherheit verifizieren ließen (S. 36); eigentümlich sei der assy- rischen Schrift, das heißt ihrer Deutung eine lange Reihe von Schikanen (S. 7), wozu außer Polyphonie, Allophonie auch die subsidiären Schreibfehler gehören; die Tradition der ersten Entzifferer spiele eine gefährliche Rolle (S. 10); der Unter- schied der einzelnen Entzifferungsversuche falle in die Augen (S. 37); am Ende steht das furchtbare Wort: „bei der Ent- rätselung einer unbekannten Schrift und Sprache sei En- thusiasmus schlimmer als Schwindel" (S. 142). Gutschmid tadelt allgemein (S. 141), daß zwischen dem was sicher, und was nicht sicher ist, nur in sehr ungenügender Weise geschie- den wird. Und bei alledem ist Gutschmid kein radikaler Kritiker; er wendet sich nicht so sehr gegen die Entzifferung selbst, als gegen die historische Deutung des Entzifferten. Gutschmids Schrift (aus dem Jahre 1876) wird totgeschwiegen oder als Schrulle belächelt. Als ob es seitdem besser gewor- den wäre.

Eine sehr gerühmte Übersicht „Die Entzifferung der Keil- schrift" von Messerschmidt (1903) führt die Entwicklung bis zur Gegenwart, lehrt einige Entdeckungen von imgleichem Grade der Wahrscheinhchkeit, löst mir aber das Rätsel nicht: mit welchem Rechte die heutigen Assyriologen zuversichtlich behaupten können, daß sie Keilschrift lesen und übersetzen könne wie man CorneHus Nepos liest. In der kleinen Gram- matik von Ungnad (1906) finde ich Bemerkungen über die Lautwerte des Babylonischeu, so mikroskopischer Art, wie sonst nur in Dialektstudien lebender Sprachen. Und nun die Grade der Wahrscheinlichkeit!

Aus dem Abriß von Messerschmidt habe ich recht fleißig und genau siebenundzwanzig Hypothesen zusammengestellt, auf deren Wahrscheinhchkeit der Wert der Entzifferungsver- suche (seit 100 Jahren) beruht. JÖan bedenke, daß auch der

304 VIII. Klassifikation der Sprachen

scharfsinnige erste Deutungsversuch von Grotefend nur den Wert einer Hypothese hatte. Nun steht jedesmal die neue Hypothese mit ihrem Wahrscheinlichkeitswert auf der Tradition der vorangegangenen. Wenn ich nun großherzig zugebe, daß der durchschnittliche Wahrscheinlichjkeitswert jeder einzelnen Hypothese gleich sei 1:2, so ist bei der Zahl von sieben- vindzwanzig aufeinandergestellten Hypothesen der Wahrschein- lichkeitswert der letzten Ergebnisse wirklich klein genug, um meine Skepsis zu rechtfertigen.

Mein Vorwurf nun, daß die Abschätzung der Sprachen nach ihrem angeblichen Werte auf ethischen Begriffen beruhen müsse, trifft freilich nicht die bewußte Absicht der Herren Taxatoren, wohl aber ihre naive geistige Tätigkeit. Sie wer- den leugnen, daß sie den einzelnen Sprachen die moralischen Prädikate gut und schlecht gegeben hätten, sie werden sich hinter die Nützlichkeit flüchten, die die einzelnen Sprach- formen angeblich im Gebrauche zeigten; oder sie werden gar ästhetisch zu werden suchen und die Schönheit unserer Fle- xionen bewundern. Darin aber ist die Schönheit der Nütz- lichkeit ähnlich, daß beide höchst subjektive Begriffe sind. Man muß ein Kiot sein, um eine Kröte schön zu finden. Und wenn außer der Tigerin auch der Mensch den Tiger schön nennt, so ist das ein Zufall. Nützhchkeit und Schönheit einer Sprache ist einzig und allein von innen heraus zu be- greifen, wenn die beiden Eigenschaften nicht gar auch dann noch Selbsttäuschungen sind. Man braucht nur aus der Art zu schlagen, um plötzlich Formen der eigenen Muttersprache zu tadeln, die die Gewohnheit der Volksgenossen sehr nützhch und sehr schön findet. So findet der Mann die Form der weibHchen Brust schön, und ich bin darin nicht aus der Art geschlagen; ich kann mir aber denken, daß die Ästhetik eines schlanken Hechtes oder eines schlanken Engels dieselbe Form unschön findet und unnütz dazu, wenn er den Begriff der Säugetiere nicht versteht. Aus Nützlichlceit und Schönheit braut sich aber am Ende die Wertschätzung zusammen, die schließlich moralisch und unklar zu den Begriffen „besser" oder „schlechter" führt.

Einteilung nach der Schätzung 305

Bei Bayle (Art. Charles V, Anm. D) findet man einige Scherze über die Schönheit der damahgen Kultursprachen. Bekannt ist daraus die angebliche Äußerung Karls, er spreche mit den Damen italienisch, mit Männern französisch, mit Pferden deutsch, mit Gott spanisch. (Variante: deutsch ist für Soldaten, französisch füi" die Frauen, itahenisch für die Fürsten, spanisch für Gott.) Recht hübsch ist die Antwort eines deutschen Gelehrten, der am Hofe von Polen von einem Spanier damit geneckt wird, man donnere, wenn man deutsch spreche, und Gott habe sich sicherlich der deutschen Sprache bedient, als er Adam und Eva zum Paradiese hinausjagte; er erwiderte: „Und die Schlange redete die süße spanische Sprache, als sie Eva betrog." Hübsch ist auch die Variante dieses Scherzes: Gott sprach spanisch, als er dem ersten Menschen die Frucht des einen Baumes verbot, die Schlange überredete Eva auf italienisch, und Adam sprach französisch, um sich herauszureden. Wollen wir uns wirklich solche Necke- reien und die ihnen ebenbürtigen Nützlichkeitsschätzungen als Wissenschaft aufschwatzen lassen?

Dazu kommt nun aber, daß wir, wenn wir der eigenen Muttersprache und ihren nächsten Anverwandten so urteils- los gegenüberstehen, für die sogenannten wilden Sprachen durchaus gar keinen Maßstab haben. Wir verstehen ihre innere Sprachform nicht, könnte ich in dem gelehrten Jargon sagen, den ich bekämpfe. Die schönsten Blüten unserer eignen Sprachformen finden sich bei tief verachteten Sprachen, ohne daß wir begreifen könnten, wie sfe dort auf das Sprach- gefühl wirken.

Die Kongruenz zwischen Substantiv und Adjektiv usw., zwischen Subjekt und Prädikat usw., die den Stolz des Latein- lehrers ausmacht und die doch von den modernen legitimen und illegitimen Nachkommen des Latein, besonders dem Eng- lischen, mehr und mehr fallen gelassen wird, findet sich prächtig in den Negersprachen der Bantu. Es wird nämhch das Sub- stantiv je nach seiner Klasse (es gibt deren acht bis fünfzehn) durch eine bis zwei Vorsilben gekennzeichnet, und diese Vor- silben stehen dann, wie die Livree einer Herrschaft, vor dem

Mautliner, Beitrilge zu einer Kritik der Sprache. II ~^

306 VIII. Klassifikation der Sprachen

Prädikat oder Attribut, das sich auf das Substantiv bezieht. Ferner: die poetische Unterscheidung der Substantive nach Greschlechtern, die ebenfalls im Englischen beinahe bis auf den letzten Rest fallen gelassen worden ist, eine höchst schmückende Metapher, ist im Hottentottischen vorhanden und im Assam am Ufer des Brahmaputra. Dazu besitzen amerikanische Mundarten wiederum die feine Unterscheidung der Substantive in belebte und unbelebte, wovon wir ja auch im Persischen Spuren gefunden haben. Flexion durch Vokalwandel besitzt eine Algonkinsprache (im Nordwesten von Amerika) und das Lappische. Die eigentümliche Verbindung unseres Verbs mit dem Fürwort, die erst durch die neuere Sprachwissenschaft überhaupt herausgefunden worden ist, läßt sich ähnlich und deutlicher bei den armen Mafoor in Neuguinea nachweisen. Unser unklarer Nominativkasus ist in geringgeschätzten Spra- chen grammatisch besser ausgebildet.

So kommt G. v. d. Gabelentz, der sich frei und geistreich seine Unabhängigkeit zu wahren sucht, bezüglich der Wert- schätzung der Sprachen zu einem unerwarteten Urteil (Sprach- geschichte S. 380) : „Betrachte ich die freie unendlich reiche Bildsamkeit etwa einer ural-altaischen oder philippinischen Sprache, die Menge und die feinen Bedeutungsverschieden- heiten etwa in den Konjugationsformen des Santal und dann wieder die Einfachheit der Mittel, mit denen alles dies er- reicht wird: dann ist es mir, als hätten wir mit viel größerem Kraftauf wände doch nur recht Mäßiges zuwege gebracht." Es ist bezeichnend, daß gerade jetzt, wo in der Ethik die Umwertung aller Werte gefordert worden ist, auch die Sprach- bewertung solche Sprünge macht. Eine skeptische Zurück- haltung wird wohl vorzuziehen sein, die Unterwerfung unter die Möglichkeit, daß wir dem Chinesischen zustreben, wie wir vielleicht schon einmal vor Jahrtausenden Chinesen waren, die Annahme einer Pendelbewegung der Sprache zwischen Isolierung und Flexion, einer Bewegung, für deren Schwingungs- zeit uns die längsten Zeiträume zur Verfügung stehen. So- lange wir nicht wissen, in welcher Weise die lebendige Gehirn- masse ihre Sinneseindrücke aufbewahrt, so lange erscheint es

Wertschätzung der Sprachen 307

mir recht kindisch, darüber zu streiten, ob die äui3eren Laut- zeichen dieses Gedächtnisses vereinzelt oder verklebt stehen oder ineinander geflossen sind.

Dazu kommt, daß wir unsere flektierenden Sprachen ety- mologisch doch zwei bis drei Jahrtausende oder auch ein Stündchen weiter zurückverfolgen können, nicht aber die agglutinierenden Sprachen, daß wir also, ich möchte sagen, die Geologie unserer eignen Sprache so weit verfolgen können, wie sich die Wurzellänge eines Grashalms zum- Erdhalbmesser verhält, die der agglutinierenden Sprache jedoch nicht tiefer, als der Eindruck eines Regentropfens auf die Erdoberfläche ist. Wir müssen also bedenken, daß wir völlig unkontrollier- baren Sprachgefühlen gegenüber stehen. Im Sanskrit gehen wir bis zu den imaginären Sprachwurzeln, die Pänini und andere indische Schulmeister aufgestellt haben. Wer bürgt uns dafür, daß die angeklebten Worte der agglutinierenden Sprachen nicht sämtlich auf einem falschen Sprachgefühl jener Völker beruhen, auf unwissenschaftlicher Volksetymologie?

Auf die Versuche einer Abschätzung ganzer Völker nach Phauta- den Bildungsformen ihrer Sprache will ich mich lieber nicht y,?,.!^!^. einlassen. Ebensogut könnte ich eine neue Mythologie oder chungen eine neue Schöpfungsgeschichte schreiben. G. v. d. Gabelentz z. B. entdeckt einen mystischen Zusammenhang zwischen Juristerei und Übersichtlichkeit der Sprache. Die Bantuneger, welche das Substantiv mit seinem Prädikat oder Attribut, wie ich es nannte, in gleiche Livreen kleiden und dadurch die Kongruenz des Lateinischen noch weit übertrefEen, sollen in ihrer Art hervorragende Juristen sein, wie die Römer es waren. Man wäre fast geneigt, den Schluß umzukehren und im Corpus juris der Römer etwas Negerhaftes zu finden, schmutzige Hab- gier mit vollkommener Schamlosigkeit in Charakterfragen. G. V. d. Gabelentz beobachtet ferner einige Ähnlichkeit (nicht Verwandtschaft) zwischen den malaiischen und den semitischen Sprachen und baut darauf Betrachtungen über die Geschichte dieser beiden Völker, die ihm niemals in den Sinn gekommen wären, hätte er diese Geschichte nicht gekannt. Es handelt sich nur um eine Übung des Witzes. Dieser Witz müßte

308 VIII. Klassifikation der Sprachen

eigentlich seinen scherzhaften Charakter eingestehen, wenn z. B. aus der Bemerkung, daß beide Sprachstämme das Ver- bum dem Subjekte vorauszusetzen lieben, der Schluß gezogen wird, die Denkweise dieser Menschen sei eine egoistische. „Es fällt ein Stein" soll psychologisch so entstanden sein, daß der betreffende Malaie oder Semite mit nichtswürdigem Egoismus zuerst denkt „i c h sehe etwas fallen" und nachher erst „es ist ein Stein". Angenommen, dieser Gedankengang wäre nach- weisbar (ich freilich höre kein „ich" heraus aus „es fällt ein Stein"), so könnte ich immer noch keine Gemeinheit darin finden; man könnte ebenso geschichtsphilosophisch diesen Zug philosophisch, kantisch, naturwissenschaftlich, anschaulich, gegenständlich, poetisch, oder sonst was nennen.

Auch die Wertabschätzung der Sprachen nach ihrer Fähig- keit zu einem Periodenbau, wie er am schönsten in chine- sischen Ansprachen, in den Reden des Cicero und in den deutschen Aufsätzen unserer Schuljungen zu finden ist, ist ein gefährliches Ding. Ob man äußerlich die einzelnen Sätze wie die Wagen eines Eisenbahnzuges aneinanderkoppelt (Mandschu), ob man sie ineinanderschiebt, wie man kleinere Schachteln in größere hineinsteckt (deutscher Schulaufsatz), ob man sie arabeskenhaft behandelt wie die Ratten, die mit ihren Schwänzen bald an die Schwänze, bald an die Füße anderer Ratten gebunden werden (Idealperiode, Demosthenes) : die Empfindung für die Einheit eines geschlossenen Gedanken- gangs hängt doch nicht von diesen Künsten und von dem Gebrauche der Konjunktionen ab. Die Semiten mit ihrer entschiedenen Neigung für kurze Sätze und ihrem zurück- gebliebenen Konjunktionenvorrat haben dennoch an der Aus- bildung des Rattenkönigs, der die Logik heißt, entscheiden- den Anteil genommen. Und wer ein Ohr hat für die Ent- wicklung der Literatur , der wird es mir kaum abstreiten können, daß heutzutage die Schönheit eines weiten Perioden- baus nur noch in den lateinischen Schulen gelehrt wird, daß dagegen die lebendigste Poesie, wenigstens in Skandinavien, Deutschland und Frankreich, den einfachen Sätzen zustrebt, wo nicht ein besonderes Bedürfnis rhetorischen Schwungs der

Phantastische Vergleichungen 309

longue haieine ihr Recht gibt. Man zähle einmal je für hundert Seiten die Schlußpunkte bei Ibsen, Hauptmann und den französischen Symbolisten einerseits, bei öhlenschläger, in Heines Prosa und bei Hegel, bei Lamartine anderseits, und ich glaube, das statistische Ergebnis wird verblüffend sein. Mögen die Sätze neuerdings aneinandergekoppelt scheinen wie Eisenbahnwagen; es ist eine innere Verbindung hergestellt.

Die Werteinschätzung der Sprachen nach ihrem gesamten Bau ist ein Spiel der Phantasie, die Einschätzung nach ihrer etymologisch verständlichem oder unverständlichem Flexion ist so töricht, als ob man den Wert der europäischen Armeen nach der größeren oder geringeren Sichtbarkeit der Hosennaht beurteilen wollte. Ein so gründlicher und feiner Kenner der Sprachen wie Finck hat sich darum gern jeder Klassifikation enthalten und Heber „Typen" des Sprachbaus aufgestellt.

Ich möchte den Grundgedanken dieses Buches festhalten. Kritik Da wird es sich fragen, ob eine Sprache mehr oder weniger Sprache geeignet sei, ihren Sprecher die Welt erkennen zu lassen. Da freilich sinken alle Ergebnisse der vergleichenden Sprach- wissenschaft herunter bis zum Spiel der Kinder mit bunten Kieseln. Anders steht dann die Frage vor uns. Wir sehen jenseits der Sprache die Wirklichkeitswelt, in welcher nichts geschehen kann als Notwendiges, vom leuchtenden Fluge der Ungeheuern Sonne bis zum Leben im Keime eines Floheis nichts als Notwendiges. Hätten wir eine große umfassende Naturwissenschaft, wie wir sie da und dort makroskopisch für einige Zweiglein zu besitzen anfangen, so besäßen wir am Ende aller Enden für die WirkUchkeitswelt etwas, was un- gefähr der mathematischen Wahrscheinhchkeit entspricht. Eine objektive Wage der Notwendigkeiten, ein objektives Maß da- für, warum in der endlosen Welt der WirkHchkeiten in Ewig- keit und überall irgend etwas eher geschieht als nicht ge- schieht. Eher nicht geschieht als geschieht. Diese W^ahr- scheinlichkeit wohlgemerkt heißt zwar objektiv, spiegelt sich aber erst im menschlichen Geiste so; immer ist sie Not- Ei- wendigkeit im Walten der Natur. Doch nicht einmal diese '^■'*'''"°^ Wahrscheinlichkeit, weil sie noch etwas Objektives an sich

310 VIII. Klassifikation der Sprachen

hat, ist uns armen Menschen je zu erkennen gestattet. Einzig und allein unsere arme, törichte, bettelnde, subjektive E r- Wartung, die Wahrscheinlichkeit unseres Wunsches, liegt in unserem Denken. Denn all unser Denken, wie wir es in der Sprache ererbt haben vom ersten Schreckensschrei des neulallenden Menschen bis heute, ist ja doch nur das bißchen Erinnerung an das bißchen Wahrnehmung der Menschheit; und Erinnerung wie Wahrnehmung war von Urzeiten bis heute gelenkt von unserem armen, kleinen Interesse, von unserem Wünschen. Wir erinnern uns nur dessen, was die Menschheit von je gewünscht hat und was wir wünschen. Die Zeichen der Erinnerung sind unsere arme, gute Sprache. Was sollen wir das gute, arme Ding noch quälen, es darauf hin prüfen, wie viel es zur Welterkenntnis beitragen könne, je nachdem die Zeichen der Erinnerung ein Häkchen mehr oder weniger haben, einen Laut deutlicher oder minder deut- lich? Ich höre den Kuckuck rufen, v/ährend ich dies nieder- schreibe, und seine Rufe würden unter dem akustischen Mikro- skop nicht immer ganz identisch sein; ich glaube aber nicht, daß er das eine Mal mehr zur Welterkenntnis beiträgt als das andere Mal. Und jetzt ist er verstummt, die Welt der Not- wendigkeiten aber wälzt sich weiter, auch w^enn der Kuckuck schweigt und die Menschen nicht sprechen.

Was die Menschen sprechen, das kann niemals zur Welt- erkenntnis beitragen. Wer spricht, der lernt nur seine Wahr- nehmung auswendig; wer hört, kann nie mehr erfahren, als was er weiß, als was schon in seinem Wortschatz enthalten ist. Neues kann nur wahrgenommen und gezeigt werden. Gesagt kann es nicht werden. Und was wir immer noch und bis ans Grab für Kenntnis halten, die aufgespeichert wird in unserer Sprache, ist die Erwartung, ist das Vertrauen auf eine Ordnung in der Natur. Erwartung und Vertrauen ist der Inhalt astronomischer Geistestaten ebensogut wie der Inhalt des Eisenbahnkursbuchs. Tief eingewurzelt in uns allen ist der Glaube an Regelmäßigkeit. Natürlich, denn ohne eine gewisse regelmäßige Wiederholung könnten unsere Wahr- nehmungen sich nicht in Vorstellungen verwandeln, könnten

Erwartung 311

wir nicht denken. Unser Glaube übertreibt die Regelmäßig- keiten fast mythologisch, um uns nur denken lassen zu können. Bei großen durchgehenden Eisenbahnzügen vertrauen wir dem Kursbuch vom vorigen Jahr, wie wir hoffen, daß morgen früh die Sonne wieder aufgehen wird. Es wird ja wohl nichts geändert worden sein!

Erwartung liegt aber schon in dem einfachsten Gedanken, wenn wir ihn in Worte fassen. Nur die blitzartige unzu- sammenhängende, wortlose Wahrnehmung, wie eben der Blitz selbst, ist etwas ohne Vertrauen auf Dauer. Wenn wir es aussprechen wollen, daß wir die Sonne sehen, so ist das ein sehr komplizierter Vorgang, der ein gewisses Vertrauen auf Dauer oder Zusammenhang mit enthält. Wir prädizieren ja nichts, was nicht vorher aufgenommen und verschmolzen worden ist in unser vorangegangenes Weltbild. Was hat es da vom Standpunkt der Welterkenntnis für eine Bedeutung, ob wir, was wir wahrgenommen haben, in diesen oder jenen Redeteilen ausdrücken? Wer die Sonne sieht, kann den Ein- druck substantivisch fassen: Die wohlbekannte alte Sonne ist wieder da. Adjektivisch: Es ist hell. Verbal: Es leuchtet und wärmt. Numeral: Schau, das Dings da ist nur einmal am Himmel. Pronominal: Mich freut das Leuchten und Wärmen. Adverbial: Dort. Was in unserer einen Sprache zugleich möglich ist, das ist natürlich in verschiedenen Spra- chen reichlich vorhanden. Der Malaie empfindet substan- tivisch, was uns verbal ist; unser „Der Mann wirft den Stein'" faßt er als „Der Wurf des Mannes ist ein Stein". Die sehr weit verbreitete Konjugation des Verbums mit Hilfe des Possessivpronomens verwandelt es ebenfalls in ein Substantiv. Und wie die Redeteile, so sind auch die Satzteile nicht einmal an die Logik gebunden, geschweige denn an die Wirklichkeit und ihre Erkenntnis. Wieder der Malaie ist es, der unser Attribut sehr oft in einen Relativsatz verwandelt. Für „ein anderer Mensch" sagt er „der Mensch, welcher ein anderer ist". Der Chinese hat für unser Objekt eine ausgezeichnete Stelle im Satz.

Daß ihre Geheimnisse, all ihre Logik und Grammatik,

312 VIII. Klassifikation der Sprachen

uns nichts verraten, was wir nicht bereits wissen, gilt für alle Sprachen allgemein; keine hat den Stein der Weisen er- funden. Wir lesen und hören aus den Sprachformen immer nur den Sinn heraus, den wir aus unserer Kenntnis der Wirk- lichkeit hineingelegt haben. Die formlose Wortzusammen- setzung (Kleinkinderbewahranstalt) ist uns ebenso verständlich wie der hochentwickelte, mit allen seinen Formeln stolz auf- tretende Satz. (Eine Anstalt , in welcher kleine Kinder von Leuten, die dazu befähigt und angestellt sind, vor körper- üchen und seelischen Schäden bewahrt werden.) Im Sanskrit sind solche Wortungeheuer die Regel, und die Verständlichkeit leidet nicht darunter. Unser deutsches „daß", welches einen ganzen Satz zusammenfaßt, war ursprünglich der Artikel „das" und leistete wohl im ehemaligen Sprachgefühl einen ähnlichen Dienst.

Redeteile, Satzteile, syntaktische Feinheiten, der ganze Periodenbau einer Sprache, alles das, was uns an unserer eigenen Mundart so gut gefällt und wonach wir gar zu gern geneigt sind andere Sprachen abzuschätzen, sind nur ein- gerissene Volksgewohnheiten, die dem Individuum gestatten, mit dem Schein der Objektivität eine subjektive Erwartung auszusprechen. Eigentlich ist es für seine Welterkenntnis durchaus gleichgültig, ob er substantivisch, verbal oder sonst wie ausspricht, daß die Sonne ihm auf den Buckel scheint. Weil er aber mit seinen Volksgenossen die Gewohnheit teilt, sie für ein Ding, oder für eine Tätigkeit, oder für eine Eigen- schaft, oder für einen Ort oder für sonst etwas zu halten, darum glaubt der Ärmste, er habe das Wesen der Sonne erkannt. Und doch hat er mit all seiner Grammatik von der ganzen Sonne nichts als seine Wahrnehmung, nichts als sein Gefühl, das für ihn unaussprechlich wäre, hätte er das Schein- wesen der Sprache begrifien.

chiue- Es ist 80 schwer, sich von dem chinesischen Schrifttum

"^°^ aus zweiter und dritter Hand eine richtige Vorstellung zu ver- schaffen, daß ich den Versuch aufgeben wollte, die chinesische

Chinesisch 313

Sprache in den Bereich dieser Kritik zu ziehen. Nur von einem Gesichtspunkt aus ist das chinesische Schrifttum zu merkwürdig, um übergangen werden zu können. Ich werde mich freihch damit begnügen müssen, Fragen anzuregen, deren Beantwortung Leuten überlassen werden muß, die in die Psychologie der chinesischen Sprache und Schrift ein- gedrungen sind.

Unser Ausgangspunkt erinnerte uns daran, daß wir in einigen modernen Sprachen, besonders im Englischen, die so- genannte Tendenz wahrgenommen haben, alle Flexionen lang- sam fallen zu lassen und zur einsilbigen flexionslosen Sprache zurückzukehren oder fortzuschreiten. Es gibt aber einen viel weiteren Gesichtspunkt, der in den Kultursprachen, und nicht nur in den modernen, an die Psychologie der Chinesen zu erinnern scheint. Die Kultur beruht überall auf den Schrift- sprachen, und diesen ist es weit mehr als der Lautsprache eigentümhch, daß sie beharren, daß sie um von den Millionen der Volksangehörigen verstanden zu werden ihren In- dividualismus einbüßen, daß sie charakterlos werden im Ver- hältnis etwa zur Familiensprache oder zu der Sprache einer Kinderstube, daß sie sich mehr und mehr von der Wirkhch- keit entfernen, um desto besser Literatursprache werden zu können. Zwei glückliche Umstände scheinen es zu verhindern, daß Europa trotzdem in die Chineserei versinke. Einerseits sind die Europäer neuerungssüchtig und bergen jede neue technische Beobachtung in ihrer wissenschaftlichen Literatur, so daß nicht leicht eine neue Erfindung oder Entdeckung wieder verloren gehen kann; anderseits gibt es in Europa gerade seit etwa hundert Jahren, also gerade seit der Zeit, wo die europäische Kultur durch die Entwicklung des Maschinenwesens ihren revolutionären Aufschwung nahm, auch in der schönen Literatur eine sogenannte Tendenz, die Schriftsprache durch Anleihen bei den Individualspracheu und Dialekten neu zu beleben. Wirkliche Kenner der chinesischen Kultur und Sprache mögen uns darüber be- lehren, inwieweit die Chineserei, welche durch die berüchtigte chinesische Mauer symbolisiert wird, von den Eigentümlich-

314 VIII. Klassifikation der Sprachen

keiten der chinesischen Schriftsprache abhängig sei oder nicht. Chine- Für uns ist die Tatsache wesenthch, daß die allen chinesi-

Schiift- sehen Stämmen gemeinsame Schriftsprache noch in ganz spräche anderem Sinne eine Schriftsprache ist als z. B. unsere deutsche Schriftsprache gegenüber den deutschen Dialekten. Unsere deutsche Schriftsprache oder unser Neuhochdeutsch ist bei aller Abhängigkeit von der Literatursprache doch immerhin eine in ganz Deutschland verständliche Lautsprache, die von Königsberg bis Basel auf allen besseren Bühnen gesprochen wird und der sich überall die Schulmeister anzunähern suchen. Als eine solche Lautsprache aller Gebildeten gibt es auch eine gesprochene Schriftsprache der Chinesen. Während aber die deutschen Dialekte je nach ihrem Klang mit unseren Buchstaben in der Dialektdichtung nachgeahmt und so von der Schriftsprache unterschieden werden, ist die eigenthche Staatssprache in China nur dadurch gemeinsam, daß die Schrift gemeinsam ist. Eine Verordnung der Regierung wird in allen chinesischen Provinzen öfientlich angeschlagen, in der gleichen Druckschrift, wird überall gleich verstanden, aber die gleiche Druckschrift wird in den verschiedenen Provinzen verschieden gelesen. Da diese Druckschrift aber durchaus keine Bildersprache, sondern eine höchst ausgebildete Wort- sprache ist, so haben wir eine Psychologie des Lesens vor uns, in welche wir uns nicht leicht hineindenken können.

Es scheint damit in enger Verbindung zu stehen, daß die chinesische Bildung und der chinesische Unterricht , der niedere wie der höhere, rein historischer, insbesondere philo- logischer Art ist, nur daß die Philologie der Chinesen mit Kalh- graphie seltsame Beziehungen aufweist. Diese merkwürdige historisch-kalligraphische Gelehrsamkeit hat die Europäer an- gesteckt, die sich mit dem chinesischen Schrifttum beschäftigt haben. Es gibt aus alter Zeit die Chinesen setzen diese Erfindung ihrer Schrift noch nicht fünftausend Jahre zurück eine kleine Tafel, welche acht Zeichen und deren Kom- binationen enthält. Es sind die Kombinationen dreier Striche von zwei ungleichen Längen, z. B. , =^ =,

Chinesische Schriftsprache 315

usw. Die Tafel heißt das Jking Fohis, das heißt das Buch J, dessen Erfindung dem mythischen König Fohi zu- geschrieben wird. Auf uns macht diese Tafel den Eindruck, als ob wir die erste Seite eines Schreibheftes mit den Ele- menten der Schrift vor uns hätten. Die Chinesen haben über dieses Buch J eine Bibliothek von Tausenden von Werken zusammengeschrieben, und so hat man auch in Europa die unglaublichsten Deutungen versucht. Leibniz suchte mathe- matische Geheimnisse darin.

Ich erwähne diese Kindereien , weil sie charakteristisch sind für die Geistesrichtung Chinas. Auch bei uns zerbrechen sich die Gelehrten ihre Köpfe über rätselhafte Inschriften, aber sie erhofiten von der Lösung doch immer nur Mehrung ihres historischen Wissens; die Geistesrichtung der Chinesen dagegen ist so potenziert historisch, daß sie Bereicherung ihrer realen Kenntnisse von solchen Beschäftigungen erwarten, was bei uns doch nur noch Theologen zuzutrauen wäre. Wenn nun die Chinesen Schriftstücke, die bloß einige hundert Jahre alt sind, in demselben Sinne behandeln wie das Buch J und ferner die Tafel Loschu, so ist es klar, daß sie sich wie unsere alten Scholastiker im Kreise herumdrehen und nicht einmal das bißchen Welterkenntnis der Europäer erlangen können. Es ist bezeichnend, daß darum der größte Teil der chinesischen Literatur moralisches Geschwätz ist, welches dadurch für die Erkenntnis nicht wertvoller wird, daß es braves moralisches Geschwätz ist.

Der Schulunterricht der Chinesen entspricht diesen Vor- cune- bedingungen. Er ist von der frühesten Jugend bis zur Manda- rinenreife eigentlich nur ein Schreibunterricht. Es scheint, daß die Chinesen die Erlernung der Sprache im weitesten Sinne, das heißt die Erlernung des ererbten Volkswissens der Natur überlassen und nur Literatur lehren. Wir sind wenig- stens in den höheren Schulen besser daran. Ich glaube aber, daß wir uns von dem Bildungszustand in China ein richtiges Bild machen, wenn wir uns unser Volksschulwesen nach den Wünschen der Kirche erweitert denken. Die Ähnlichkeit wird um so größer, als auch in China der Jugendunterricht (für

Schule

316 VIII. Klassifikation der Sprachen

Knaben) allgemein, wenn auch nicht obhgatorisch, ist und dort ebenso viele Leute schreiben gelernt haben wie bei uns. Was unsere Volksschule den Kindern jedoch bietet, ist außer einer notdürftigen Kenntnis des Lesens, Schreibens und Rech- nens, wie es für Wirtschaftsnotizen nützhch ist, fast nur noch eine Summe von Bibelsprüchen und Kirchenliedern, von denen wir manche nicht viel besser verstehen als das Buch J. Denke man sich nun, daß unsere Jünghnge auf Gymnasien und Realschulen und auf den Hochschulen nichts anderes hinzu- lernten als immer mehr Bibelsprüche und Kirchenheder und die Fähigkeit, neue Kirchenheder anzufertigen und die alten zu kommentieren, so hätten wir etwas, was ungefähr unserer theologisch-philologisch-kaUigraphischen Gelehrsamkeit und der Geistesbildung der Chinesen entspräche.

Der Hauptunterschied zwischen den chinesischen und unseren Schulen besteht darin, daß die chinesische Literatur buchstäblich Schrifttum ist. Grammatik, Syntax und Inhalt der Sprache, alles steht nur auf dem Papier. Der gute Schüler ist in China also derjenige, der die Zeichen unmittelbar ver- steht; der bessere Schüler versteht die Zeichen schon, wenn der Lehrer sie mit seinem Fächer in die Luft zeichnet. Der vorgerückte Schüler lernt immer noch nichts Reales hinzu, sondern immer nur neue und seltenere Schriftzeichen. Der Gebildete verfügt über ebensoviele tausend Zeichen wie der Mann aus dem Volke über Hunderte. Der vorgerückte Schüler schreitet also nicht zu Kenntnissen vor, sondern immer nur zu einer weiteren Beherrschung der Schrift. Er lernt nach einem sehr künstlichen System die komphzierten Wortzeichen in ihre Bestandteile zerlegen, die wir uns hüten müssen Silben zu nennen, und gelangt so dazu, mit Hilfe dieses Systems die chinesischen Wörterbücher nachschlagen zu können, die vielmehr Zeichenbücher sind, da jeder Begriff sein besonderes Zeichen hat. Kenner des chinesischen Geistes mögen uns erklären, warum die sonst so praktischen und klugen Chinesen es immer abgelehnt haben, die Buchstaben- schrift, die man ihnen zum öftern darbot, anzunehmen. Von einer Bilderschrift ist die chinesische jetzt himmelweit ent-

Chinesische Schule 3|7

fernt, mag sie auch einst aus einer solchen hervorgegangen sein. Sie ist vielmehr eine Art Silbenschrift , doch nur so, daß auch ein kompliziertes, aus mehreren BegrifEszeichen zu- sammengesetztes Wortbild immer nur eine Silbe darstellt. Silbenschrift ist die chinesische darum, weil das Zeichen, ein- fach oder kompliziert, doch sehr häufig nur den Klang angibt und dieser Klang bis zu fünfzig verschiedene Begriffe be- zeichnen kann. So kommt es, daß der Knabe nach ange- strengter zehnjähriger Übung wohl geläufig schreiben und lesen kann, ohne jedoch den Sinn des Gelesenen oder Ge- schriebenen klar zu verstehen. Es mag in ihren Gehirnen etwa so aussehen, wie wenn auf unseren oder noch mehr auf französischen Gymnasien eine Klasse von lauter dummen Jungen mit einem dummen Lehrer Philologie treibt. Aber die Knaben machen auch in China ihre Prüfungen, auf Grund deren sie Beamte werden. Denn auch in China wird diese Art von Philologie einzig geschätzt. Das Ergebnis des ganzen Bildungsganges ist eine eigentümliche historische Bildung, welche bei den Mandarinen eine Blüte der Rhetorik erzeugt hat, nur daß die Rhetorik bloß auf dem Papiere steht. Es ist eine Rhetorik mit dem Pinsel in der Hand. Und wie bei uns und noch mehr bei den Franzosen die Rhetorik der Laut- sprache mit Deklamationsübungen verbunden ist, so gehört bei den Chinesen zur Bildung eines Gentleman eine vollendete Übung in der Kalligraphie.

Aus der ausschließlichen Schriftlichkeit des chinesischen Ein Vor- Geisteslebens ergeben sich kleine und große Unterschiede gegen gchrift- die europäische Bildung. Bei uns, wo die allgemeine Ver- spräche breitung des Schrifttums erst durch den Buchdruck möghch wurde, ist die Erstarrung der Sprache in der Literatur jüngeren Datums, wenn auch bei den verschiedenen Völkern verschieden alt. Der Itahener hest ohne Schwierigkeit noch Dante, der Franzose nur noch MoHere, der Deutsche gar nur noch Lessing. Zur Lektüre eines tausend Jahre alten Schriftstellers gehört in Europa schon Gelehrsamkeit. In China hat sich die Laut- sprache ebensosehr verändert. Chinesische und europäische Gelehrte haben nachgewiesen (durch Vergleichung alter Reim-

318 VIII. Klassifikation der Sprachen

Worte und durch japanisclie Wörterbücher, welche chinesische Ausdrücke mitteilen), daß die chinesische Sprache vor zwei- tausend Jahren durchaus anders war als die heutige. Das hindert aber die Chinesen nicht, so alte Literatur zu lesen. Hier ist also ein Punkt, wo die Chinesen denn doch recht zu haben scheinen, wenn sie unsere alphabetisch-phonetische Schrift verwerfen. Es ist nicht paradox, wenn man sagt: die chinesische Schrift kann in jeder Sprache gelesen werden. Es könnte ein Deutscher, ohne ein Wort der chinesischen Laut- sprache zu erlernen, die gesamte chinesische Literatur mit den Augen verstehen und sie auf deutsch lesen, vorausgesetzt natürlich, daß sich die chinesische Weltanschauung in deut- schen Worten immer wiedergeben ließe.

Was uns bei dieser Übertragung des Chinesischen in eine unserer Sprachen am allerseltsamsten erscheint, das ist be- kanntlich der Umstand, daß die chinesische Sprache durchaus flexionslos ist. Das Nomen und seine Beiwörter, das Verbum wird nicht abgeändert, weder in der Schrift noch in der Laut- sprache (vorausgesetzt, daß der Tonfall in der Lautsprache nicht einen Ersatz gewährt, der für europäische Ohren schwer aufzufassen ist). Haben wir nun z. B. die drei chinesischen Schriftzeichen schang lao lao vor uns, so könnte auch ein Deutscher sie ohne Kenntnis des Chinesischen richtig dem Sinn nach lesen als: Amt Greis Greis. Was er zu lernen hätte, wäre die Kunst, daraus einen indoeuropäischen Satz zu bilden. Da muß er wissen, daß „Greis" ein Nomen, ein Verbum, ein Adjektiv und jedes dieser Worte in jeder Flexionsform sein kann. Es kann bedeuten Greis, Greise, greis, als Greis be- handeln (ehren), als Greis behandelt werden, Greis sein, Greis werden usw. Schang lao lao wird etwa heißen: die Beamten oder die Hofleute ehren die Greise. Nun kann ich mir recht gut einen polnischen Juden denken, der von der Fußwaschung in der Hofburg gehört hat, und der diesen indo- europäischen Satz mit lebhaftestem Mienenspiel etwa so aus- drückt: „Hof! Greis Greis!" Es wäre diese Ausdrucks weise aber nichts weniger als literarisch, während schang lao lao auf dem chinesischen Papier eine wunderschöne rhetorische Floskel ist.

Ein Vorzug der Schriftsprache ',\\C)

Die Grammatiker sind gewöhnt, unter Flexionen nur die Formveränderungen des Nomens und des Verbums zu ver- stehen. Wir haben längst erkannt, daß die Zeiten des Verbums und die Fälle des Nomens eben nur nach dem Charakter unserer Sprache so überaus häufig sind, daß sie um dieser Häufigkeit willen besondere Kategorien abgeben. Man hätte die Formsilben, durch welche Nomina zu Verben werden, und umgekehrt durch welche Nomina und Verba zu Adjektiven werden, durch welche endlich die unendliche Mannigfaltig- keit der abstrahierten und abgeleiteten Begriffe aus Stamm- worten entsteht, ebensogut Flexionen nennen können. In diesem weitesten Sinne ist die chinesische Sprache flexionslos. Es bleibe dahingestellt, ob die Zeichen für Ackerbau wirklich einen Acker und eine Hand abgebildet haben; jedenfalls be- deutet dieses Doppelzeichen dann Ackerbau, Wachstum, wachsen, gewachsen, Reichtum, Glück, glücklich. Glück wünschen, ohne daß diese Flexionen im weiteren Sinne be- sonders ausgedrückt werden.

Wieder möchte ich Kenner der Chinesenseele fragen, ob Fiexions- diese Flexionslosigkeit nicht auf die Schriftlichkeit der Sprache °^'" ^'^ zurückzuführen ist. So nämUch: Die frühe Schriftlichkeit der chinesischen Sprache steht in offenbarem Zusammenhange mit der Einsilbigkeit und der Flexionslosigkeit, die europäische Ohren und Grammatiker dem Chinesischen nachsagen. Unser Wort Vater oder pater wird irgend einmal aus drei Bedeutungs- silben bestanden haben, pa-te-r, etwa so viel als schutz-tun-er. Die Et}nnologie mag im einzelnen falsch sein, das Schema ist wahrscheinlich richtig. Wäre nun dieses Wort schon in alter Zeit schriftüch fixiert gewesen, so hätte man entweder die drei Zeichen schutz-tun-er beibehalten oder vielleicht auch bloß Schutz ausgesprochen und tun-er als Zeichen stehen lassen. Beides würde uns chinesisch vorkommen. Dadurch, daß die nichtchinesischen Sprachen soviel länger mündhch blieben, konnte der Wortakzent, der eigentlich ein Kom- positionsakzent oder Satzakzent war, die W^örter umgestalten; die unbetonten Kompositionsteile wurden zu Flexionen. Es ist in dieser Beziehung sehr merkwürdig, daß die romanischen

320 VIII. Klassifikation der Sprachen

Sprachen, in welchen die volleren lateinischen Flexionen noch mehr verblaßten, sich nach dem Untergange der römischen Kultur in den Jahrhunderten entwickelten, in denen bei ihren Völkern die Schrift eine seltene Kunst war.

Es scheint mir möglich, daß die Stellung der Zeichen, weil sie mit dem Auge auf dem Papier so viel leichter zu über- sehen ist, das Verhältnis der Zeichen zueinander leichter ausdrücken konnte. Daß in der chinesischen Sprache, auch in der Lautsprache, die Stellung der Silben unsere Flexion ersetzt, ist bekannt. Daß aber auch wir Europäer uns diesem Zustande nähern, ist noch nicht genug beachtet worden. Und doch belehrt uns die oberflächlichste Vergleichung z. B. des Französischen mit dem Lateinischen, daß die Stellung der Satzglieder um so konventioneller wurde und werden mußte, je mehr die alten deutlichen lateinischen Flexionen ihre Form einbüßten. Das gilt im Französischen, verglichen mit dem Lateinischen, für den einfachsten Satz, wie jeder weiß. Die Sache geht aber noch weiter und äußert sich da auch in den- jenigen modernen Sprachen, die eine so strenge Wortstellung wie das Französische nicht besitzen. Ein schöner Perioden- bau, wie er bei Schülern gelobt wird, ist eigentlich mit voller Klarheit besser durch das Auge als durch das Ohr zu über- sehen. Und ein solcher Periodenbau erscheint dem natür- lichen Sprachgefühl unwillkürlich als „papierener Stil". Der Erfinder dieses guten Wortes hat sicherlich dabei nicht an die Papiersprache der Chinesen gedacht.

Nun besitzt das Chinesische jedoch auch seine Flexionen im weiteren Sinne und wie ich mir habe sagen lassen auch im engeren Sinne; nur daß die Flexionszeichen nicht gesprochen werden, sondern bloß für das Auge da sind. Was ist es denn anderes als Flexion, wenn das Zeichen „alt" zu Wortbildungen führt? Mit dem Zeichen für „Wort" ver- bunden heißt es Worte der Alten oder Kommentare. Mit dem Zeichen für „Frau" verbunden heißt es Tante. Mit dem Zeichen für „Fleisch" heißt es gedörrtes Fleisch und nachher dörren. Mit dem Zeichen für „Gewächs" heißt es bitteres Kraut und nachher Mühe usw. Wenn die sichtbaren Flexions-

Flexionslosigkeit 321

/eichen nicht ausgesprochen werden, so scheint das der gleiche Vorgang zu sein, wie wenn z. B. im Französischen die alten Flexionszeichen wohl geschrieben, aber nicht mehr gesprochen werden. So daß aime, aimes, aiment ganz gleich klingen. Nur unsere Entfernung von der Chinesenseele kann uns darüber staunen lassen, daß im Chinesischen das eine Wort jeu nicht nur Hand und rechte Hand, sondern auch herausnehmen, Mondfinsternis (weil eine Hand den Mond zu bedecken scheint), danach düstere Gemütsverfassung, Abend, Herbst, Vollendung, Ursache usw. bedeuten kann.

Ich habe kein so kurzes Gedärm, daß ich mich mit meinen CMneserei oberflächlichen Kenntnissen aus zweiter Hand auf den Streit ., ^°\ ,

Abendland

einlassen könnte, wie alt etwa der Gebrauch dieser sicht- baren Flexionszeichen im Chinesischen sein mag, und ob wirklich erst die Berührung mit dem Ausland nach Beginn der christlichen Zeitrechnung dazu den Anstoß gegeben habe. Hier kommt es mir nur darauf an, überall darauf hinzuweisen, daß sich die wesentlichen Züge des chinesischen Sprachgeistes in unserer gebildeten Sprache wiederfinden. Nur das erste das beste Beispiel. Innerhalb einer bestimmten Situation, in einer bestimmten Werkstatt wird der Lehrling deutUch verstehen, was der Meister haben wolle, der „Nadel!" ruft. Es hat für mein Ohr schon etwas Chinesisches, etwas Papierenes, wenn in einem solchen Falle ausdrücklich die Haarnadel, die Nähnadel, die Radiernadel, die Kristallnadel usw. verlangt wird. Umgekehrt wird der Schein einer Begriffsdifferenzierung erweckt, wenn ein Händler in Berlin nebeneinander Süß- gahnenbutter, Tafelbutter, Tischbutter, Kochbutter und Back- butter anzeigt. Besonders die Unterscheidung zwischen Tafel- butter und Tischbutter erscheint mir als eine Blüte von Chineserei. Der einfache Mann sagt Butter, ist froh, wenn er überhaupt Butter bekommt, und unterscheidet höchstens zwischen guter und schlechter Butter. Das vulgäre Beispiel scheint mir typisch für unzähhge vermeintliche Feinheiten der Schriftsprache, namentlich der offiziellen Sprache; nur daß bei uns ein feierlicher Herr die unzähligen gesprochenen Schnörkel beherrschen muß, wo von Mandarinen sechzig-

Miuithner, Beitrilge zu einer Kritik der Spruche. II -1

322 VIII. Klassifikation der Sprachen

tausend gemalte Schnörkel verlangt werden. Auch in China begnügt sich der einfache Mann mit einem Bruchteil dieser gemalten Schnörkel. Man irrt sich, wenn man die Papier- sprache der Chinesen für eine größere Belästigung des Ge- dächtnisses hält als unsere offizielle papierne Sprache. Auch sie ist Ballast für das Gedächtnis, auch sie wird erst durch zehn- bis zwanzigjährige Uebung gewonnen. Wenn es aber wahr ist, daß nur durch die Allgemeinverständhchkeit der chinesischen Papiersprache weil sie nämlich in allen Dia- lekten verstanden werden kann die einheitliche Verwaltung des ungeheueren Reichs möghch ist, so rühmen wir uns doch ebenfalls der einigenden Macht unserer Schriftsprache. Und es klingt wie ein Witz der Sprachgeschichte, daß unsere neu- hochdeutsche Schriftsprache, die doch durch Jahrhunderte allein das einigende Band von Deutschland war und es in kritischen Zeiten vielleicht heute noch ist, nachweisHch aus der Sprache der deutschen Kanzlei hervorging. Unserem Kanzleistil, insbesondere dem Kurialstil ist nicht einmal die kalligraphische Sorge der Chinesen ganz fern geblieben; ich denke dabei weniger an die so geschätzte schöne Schrift, um welcher willen man in Berhn mit der Zeit Geheimrat werden kann, sondern an unsere gelehrten und sogar politischen Streitigkeiten um Orthographie und Interpunktionen. Ortho- graphie ist zuletzt oft eine Frage der Geschichte und Kalli- graphie.

Es ist oben schon flüchtig angedeutet worden, daß die psychologischen Wirkungen des Buchdrucks in China weit früher eintraten als bei uns. Unser Typendruck freihch, der bei unseren vierundzwanzig Buchstaben so epochemachend werden konnte, ist bei den vielen tausend Zeichen der Chinesen dort unpraktisch. Er wurde in China schon im 11. Jahrhundert erfunden, geriet aber wieder in Vergessenheit. Das übliche und das alte, auf das 10. Jahrhundert zurückgehende Druck- verfahren der Chinesen ist freiüch nur eine Faksimiherung durch Stereotypie. Es entspricht in seiner primitiven Art unserer Vervielfältigung durch den Lichtdruck. Darauf kommt es nicht an. Jedenfalls wurde in China jedes Buch

Chineserei im Abendland 323

schon im Mittelalter leicht und wohlfeil in Tausenden von Exemplaren hergestellt, und so konnte sich dort viel früher als bei uns die Psychologie des Lesens ausbilden, die Gewohn- heit, durch das Gesicht zu verstehen. Das Bestehen einer schriftlichen Sprache und das frühe Aufkommen des Buch- drucks waren Wechselwirkungen, wie man zu sagen pflegt. Wie wir jede Chineserei bei uns wiederfinden, so auch die oft verspottete Verehrung der Chinesen für ihre Papier- sprache. Was dort der Schriftaberglaube, ist bei uns Wort- aberglaube. Es handelt sich da nicht nur um Phrasen, wie daß die Schriftzeichen die Augen oder die Spuren der Weisen seien, daß die Chinesen es für unziemhch halten, bedrucktes Papier a posteriori oder sonst unsauber zu gebrauchen, daß sie unnütz gewordene Druckschriften lieber verbrennen als zu Packpapier verwenden. Ist es doch ein rührender Zug der Chinesen, daß sie Vereine gebildet haben zum ehrfurchtsvollen Verbrennen alter Druckschriften. Ich denke an abergläubischere Gebräuche. Es werden bei der Leichenbestattung gewisse Papiere verbrannt oder diese Papiere dem Toten in die Hand gegeben. Noch toller mutet es uns an, wenn wir bei den Chinesen beschriebenes Papier als Heilmittel kennen lernen. Wenn ein Arzt dort die nötige Arznei nicht gleich herbei- zuschafien vermag, so schreibt er wohl die Verordnung auf ein Stück Papier, verbrennt es und läßt den Kranken die Asche in einem Tränklein einnehmen. Darüber lacht der Europäer, weil er dieselben Dinge nicht mit Papier, sondern mit gesprochenen Worten tut. Oder ist es etwas anderes, wenn Millionen in Europa sich in Krankheitsfällen „besprechen" lassen, ja selbst wenn der europäische Doctor medicinae schon für einen Heilkundigen gilt, sobald er in lateinischen Worten die Diagnose gestellt hat. Die symboUsche Bedeutung des Rezepts, das als Papierasche eingenommen wird, geht aber noch weiter. Manchem mag die Vergleichung gesucht er- scheinen, die sich mir aufdrängt. Was in der Seele des Chinesen vorgeht, wenn er Rezeptasche gläubig verschluckt, was in der Seele des europäischen Kranken vorgeht, wenn er sich seine Kopfrose besprechen läßt, oder wenn er von der lateinischen

324 VIII. Klassifikation der Sprachen

Diagnose des Herrn Geheimrats eine Heilwirkung erwartet, das liegt zu unterst dem höheren Gebrauche der Sprache zugrunde, dem Glauben an ihre Fähigkeit, die Wirklichkeits- welt erkennen zu lassen. Auch das chinesische Rezept hat ja doch nur Bedeutung als ein Erinnerungszeichen für das Heilmittel, das verschrieben worden ist; die Naivetät des Chinesen, der Rezeptasche verschluckt, besteht ja doch nur darin, daß er von dem Erinnerungszeichen eine reale Wirkung erwartet. Steht es nun anders um den höheren Gebrauch der Sprache, um ihren Gebrauch zum Zwecke der Welt- erkenntnis? Nur als Erinnerungszeichen für Sinneseindrücko haben Worte überhaupt irgend einen AVert. Sprechen wir nun Worte noch aus, verbinden wir noch Begriffe, nachdem ihr Zusammenhang mit der Sinnenwelt uns verloren gegangen ist, nachdem sie dem Schicksal jeder Sprache verfallen und abgeblaßt sind, so verschlucken wir nur noch Rezeptasche. In Rauch verflüchtigt hat sich das Papier der Chinesen, zu leerem Schall geworden sind unsere einst lebendigen Begriffe. Name ist Schall und Rauch, bei uns wie bei den Chinesen. Gram- j)er Charakter des Chinesischen machte einen Hinweis

Logk der ^-uf die Schrift notwendig ; dabei konnte Wuttkes Geschichte Chinesen ^er Schrift zur Grundlage dienen. Die Lautsprache der ge- bildeten Menschen, das was man nach unserem Hoch- deutsch — recht gut Hochchinesisch nennen könnte, besonders seitdem die nördliche Mundart von Peking über die südliche ältere Mundart siegte, das ist selbstverständlich auch in China vorhanden, nur daß dort nicht diese Bildungssprache, sondern die Papiersprache das einigende Band des Reiches ist. Das Hochchinesisch, in welchem der gebildete Chinese die all- gemeine Schrift liest, ist eine der unzähligen Lautsprachen der Erde; sie ist von einer indoeuropäischen Sprache freilich nicht nur in den Lauten der Wortstämme durchaus verschieden, sondern auch im ganzen Bau. Die chinesische Grammatik ist von der indoeuropäischen so verschieden, daß europäischer Hochmut wohl behaupten könnte, es hätten die Chinesen gar keine Grammatik. Wir wissen, daß Grammatik und Logik Wechselbegriffe sind, daß es ein europäischer Irrtum ist, ver-

Grammatik und Logik der Chinesen 325

schiedene Grammatiken oder Bauarten der Sprache und dennoch eine einheitliche, über den Verstand herrschende Logik anzunehmen. Wir wissen oder lehren, daß Grammatik und Logik geworden sind. Historisch geworden. Der beschränkte Europäer, der das nicht weiß, denkt also ganz richtig nach seiner europäischen Logik, wenn er den Chinesen seine Grammatik und Logik abspricht, weil sie in ihrer Sprache den Unterschied zwischen Nomen, Verbum, Adjektiv usw. sich gar nicht vorstellen können. Mir handelt es sich bei den folgenden Bemerkungen, welche an Mitteilungen von Gabelentz und Steinthal anknüpfen, um ein Beispiel für meine Lehre, daß Grammatik und Logik historisch, also zufälhg ent- standen sind.

Schon der lautliche SprachstofE der Chinesen unterscheidet, sich allerdings grundsätzlich von dem unserer Sprache. Unsere Wörterbücher enthalten viele tausend Worte, deren Klang so gut wie jedesmal ein anderer ist. Die Chinesen haben eigent- lich — dieses „eigentlich" ist schon verdammt europäisch gedacht nur etvv^a fünfhundert verschiedene Wortsilben; jeder Mathematiker könnte berechnen, daß das bei der Ein- fachheit und Kürze dieser Wortsilben nicht anders möghch war. Die Zahl dieser Wortsilben, das heißt Wörter, wird etwa verdreifacht oder vervierfacht durch die Verschiedenheit des Akzents. Da stockt das europäische Gehirn schon. Die ein- fachste Überlegung aber sollte uns doch sagen, daß es ein reiner Zufall ist, wenn in unseren Mundarten der Akzent für die Wortbedeutung so selten entscheidend heißt. Wir sind es gewohnt, unter Sprache nur die Verbindung artikulierter Laute zu verstehen und unter Artikulation nur das regelrechte Hervorbringen derjenigen Laute, die durch die Buchstaben irgend eines Alphabets bezeichnet werden. Es ist aber doch sonnenklar, daß der Akzent in demselben Augenblicke mit zur „Artikulation" gehört, wo seine Hervorbringung mit- bedeutend wird in den BegrifEszeichen, wo unsere Aufmerksam- keit auf ihn gelenkt wird. Wenn wir also sagen, daß die Chinesen „eigentlich" nur fünfhundert verschiedene Wörter besitzen, so haben wir das unbesonnen gesagt; in der Laut-

326 VIII. Klassifikation der Sprachen

spräche der Chinesen gibt es die dreifache oder vierfache Zahl von Wörtern oder Wortsilben, die durch chinesische Artikulation deutlich unterschieden sind.

Ebenso töricht verwundern wir uns darüber, wenn wir hören, daß die Chinesen im Gegensatz zu dem eben Gesagten da Wortpartikeln anwenden, wo wir nur durch die Tonhöhe eine Gedankenbeziehung auszudrücken pflegen. Was wir in der Schrift durch die Interpunktionszeichen ausmalen, was wir in der Lautsprache durch feine Tonabstufungen mit- teilen, das kann der Chinese wiederum sprechen. Er drückt unser Komma, unser Fragezeichen durch seine Worte aus. Konsequent sind also weder die Chinesen noch die Europäer. Da und dort hat der Zufall die Sprache gebildet.

Europäische Beschränktheit ist es auch, von der Schwierig- keit oder Vieldeutigkeit der chinesischen Sprache, von der Willkürhchkeit in der Verwendung dieses Sprachstofies zu reden. Man sagt, es sei im Chinesischen unmöglich, mit Sicher- heit das Verhältnis zweier nebeneinanderstehender Worte zu erkennen. Wenn der Chinese „Vaterbruder" sage, so wisse man nicht, ob das Vaters Bruder, also Oheim, oder Vater und Bruder bedeuten solle. So sei es bei den einfachsten Zu- sammenstellungen, der Wirrwarr vermehre sich mit der Zahl der Worte in einem Satze. Wir können darauf nur antworten, daß der Chinese seine Sprache aus der Fülle seiner Sach- kenntnis heraus verstehe. Die Worte und Wortgruppen er- . Innern ihn an das, was er weiß. Aber genau so geht es doch auch uns. Auch unsere Flexionsformen gewinnen ihre Be- deutung in jedem einzelnen Falle erst aus unserer Sach- kenntnis, aus unserer Beherrschung der Situation. Man denke nur an die unzähligen Bedeutungen unseres Genitivs. Innere Steinthal gefällt sich in Abstraktionen, wenn er sagt, daß

prao - j^g Chinesische keine AVorte kenne, sondern nur Sätze; wo

form der ' '

Chinesen kein Wort sei, körme darum kein Substantivum und Verbum sein, keine Deklination und Konjugation. Wo ist da die Lehre von der inneren Sprachform geblieben? Auch in unseren Sprachen haben, wie wir aus der Wichtigkeit der Situation für die Sprache erkennen werden, die einzelnen Worte des

Innere Sprachform der Chinesen 307

Satzes nur einen Wörterbuchsinn, bestenfalls einen all- gemeinen grammatikalischen Sinn, aber niemals schon die Bedeutung, die sie im sogenannten Zusammenhange ge- winnen. Auch bei uns wird das Wort erst durch den Satz erklärt, genau wie bei den Chinesen. Wollen wir dem chinesi- schen Geiste gerecht werden, so müssen wir nicht nur unsere grammatischen Vorstellungen vom Satze, vom Subjekt, Prädikat usw. aufgeben, sondern auch unsere europäischen Vorurteile vom Urteil und von dem, was man das logische Subjekt genannt hat. Wir werden einsehen lernen, daß das sogenannte logische Subjekt immer das Vorausgehende, die Summe der uns bekannten Vorstellungen in einer bestimmten Situation ist. Das logische Prädikat ist uns das Nachfolgende, die neue Beobachtung, das, was wir neu hinzuerfahren. Auch logisch wird dieser Vorgang nur fälschüch genannt. Er ist nichts weiter als der allgemeinste psychologische Vorgang der Assoziation, der im Chinesengehirn wohl ähnüch aussieht wie in dem unseren, nur daß die Hilfen der Assoziation, die wir in unserer Grammatik nach unserer Gewohnheit auseinander- legen, dort andere Hilfen sind. Wären die chinesischen Hilfen was ich für den eigentlichen Gehirnvorgang noch be- zweifle — wirklich geringer an Zahl als die unseren, oder was wahrscheinlicher ist noch feiner und unmerklicher als unsere Dekünations-, Konjugations- und Steigerungssilben usw., so würde das nur beweisen, daß die Chinesen mit einfacheren Werkzeugen zu arbeiten sich gewöhnt haben. Wir sagen z. B. „Der Indoeuropäer ist der klügste von allen Menschen"; der Chinese würde von seinem Standpunkt ebenso richtig sagen: „Der Chinese ist der klügste von allen Menschen" und es so ausdrücken: „Der Chinese tausend Menschen klug." Will wirkhch jemand glauben, daß für den Chinesen die Lautgruppe „tausendklug" ein weniger deuthcher Superlativ sei als für uns „klügste"? Würden wir doch sogar das Wort „tausend- klug" ohne Vorbereitung ebenfalls als absoluten Superlativ verstehen. Gerade im Deutschen (und ähnUch im Griechischen) haben wir in den freien Wortkompositionen etwas, was dem chinesischen Sprachgeiste analog ist. Man prüfe daraufhin

328 VIII. Klassifikation der Sprachen

Steinthals vortreffliches Beispiel „Klein-Kinder-Bewahr-An- stalt". Sagen wir statt dessen, was genau so verständlich wäre, „Klein- Kind-Bewahr- Anstalt" oder um auch die Suffixe fortzuschaffen „Klein-Kind-Schutz-Haus", so haben wir ebenfalls eine ganze Zahl von Begriffen ohne jede Spur von grammatikalischen Formen und doch ohne jede Zwei- deutigkeit vereinigt. Natürlich mußten wir erst die Sache kennen, um das zusammengesetzte Wort zu verstehen. Bevor es Klein-Kinder-Bewahr- Anstalten gab, wurde das einzelne Teilwort noch nicht durch das Gesamtwort erklärt. So findet der Neuling oder Anfänger auch das Chinesische schwer oder unverständhch. Sprachkenntnis setzt Sachkenntnis voraus. Luther hätte unsere Zeitungen so wenig verstanden, wie ein Anfänger, der zweihundert chinesische Worte sprechen und malen gelernt hat, Chinesisch versteht.

Noch törichter ist die europäische Verwunderung in solchen Fällen, wo eine Form im Chinesischen wirklich besteht und wo überdies gar kein Zweifel daran sein kann, daß der chine- sische Begriff sich von dem europäischen durchaus nicht unterscheidet. Ich denke da zumeist an die chinesische Art, die Mehrzahl zu bezeichnen. Die Chinesen haben die Ge- wohnheit, zwischen das Zahlwort und das gezählte Haupt- wort gewissermaßen den Begriff einzuschieben, nach welchem sie zählen. Sie sagen z. B. drei Schwanz Fische, vier Kopf Schafe, fünf Mund Hausgenossen, sechs Griff Messer usw. Man sollte diese Methode geistreich nennen oder doch wenigstens praktisch. Sie gibt sehr anschaulich an, wie am bequemsten zu zählen sei oder was der Grund des Zähle ns sei. Auch wir sagen drei Laib Brot, vier Blatt Papier; auch sagt wohl ein Familienvater drastisch, er habe fünf Mäuler zu ernähren. Ebenso scheint es mir anschaulich und darum gut, wenn die Chinesen die Mehrzahl „Tugenden", das heißt ihre vier Kardinal- tugenden, dadurch ausdrücken, daß sie ihre vier Tugenden konventionell nebeneinander nennen, wenn sie ebenso ihre Lebensfreuden konventionell durch die vier Worte für „Essen- Trinken- Wollust- Spiel" ausdrücken. Zufällig haben die Chinesen, wohl weil sie Menschen sind, dieselben Tugend-

Innere Sprachform der Chinesen 329

begriffe und dieselben Freudenvorstellungen wie wir. Wäre dem aber auch anders, so besäßen sie doch zum mindesten unseren Begriff von der Mehrzahl und unseren Begriff vom Einmaleins.

Wir, die wir selbst unsere Sinne als Zufallssinnc erkannt haben, werden uns sicherhch nicht darüber verwundern, daß die Erinnerungszeichen für Sinneseindrücke Zufallszeichen ge- worden sind, daß nicht nur die Begriffe, sondern auch die Kategorien des Sprachbaus bei den Chinesen anders geworden sind als bei uns. Wir können es nicht ablehnen, den chinesischen Sprachbau mit dem unserigen zu vergleichen, wohl aber müssen wir es ablehnen, in den Formen unseres Sprachbaus einen Maßstab oder gar einen Wertmesser zu sehen für die Formen entlegener Sprachen.

Wenn man von toten Sprachen redet, so glaubt man auf Tote

irgendeine ehemalige Sprache des Volks oder auf die Sprache eines ehemaligen Volks die bekannteste und volkstümlichste von allen Metaphern anzuwenden. Was könnte den Menschen außer dem Leben vertrauter sein als der Tod? Und doch ist die Übertragung des Todesbegriffs auf die Sprache um so viel schwankender, als auch seine ursprüngliche Bedeutung einer ernsten Frage nicht standhält. Wie sollten wir auch wissen, was der Tod ist, die wir nicht wüssen, was das Leben ist. „Leben" ist eine notdürftige Abstraktion für das, was wir an uns selbst als Lebenserscheinungen kennen. Nehmen wir keine Lebenserscheinungen mehr wahr, so nennen wir diesen Mangel an Wahrnehmungen den Tod.

Der Todesbegriff hat noch andere Schwierigkeiten. Er kann nur das Aufhören eines Individuums bedeuten, und wir wissen ja nicht, was ein Individuum sei. Die Rebe, welche auf dem Freundschaftsstück bei Deidesheim 1893 die edelsten Trauben getragen hat, ist nicht ein nachgeborenes Enkelkind der Rebe, welche vor anderthalb Jahrtausenden ein römischer Kaiser am Rhein pflanzte; sie ist vielmehr dieselbe Rebe, weil immer wieder Teile der lebendigen Pflanze weiter grünen.

Sprachen

330 VIII. Klassifikation der Sprachen

Das individuelle Leben der Rebe des Kaisers Probus hat nicht aufgehört. Auch wo die Fortpflanzung durch Früchte ge- schieht, wie z. B. beim Getreide und bei entwickelteren Tier- arten bis zum Menschen hinauf, auch da geht ein individuelles Leben durch die Jahrtausende. Wollte ich mit apriorischen Gründen bestechen, so würde ich sagen: es ist ja gar nicht anders möglich, als daß das Menschenkind individuell ge- bunden sei an die endlose Reihe seiner Ahnen, weil sonst seine Existenz, sein organischer Körper, der doch nur ererbtes Artgedächtnis ist, nicht möglich wäre; ich könnte so ein fortgesetztes Individuum nennen, was gewöhnlich eine Art heißt. Auch Leben und Tod sind nur relative Begriffe. Erst wenn eine Tierart ausstirbt, erst wenn eine Familie erhscht, erst dann ist der Tod eingetreten.

Es ist das kein Spiel mit Worten. Im Gegenteil, die schwatzenden Menschen spielen mit dem Worte Tod, wenn sie es alle Tage wie eine Scheidemünze gebrauchen und wenn sie es gar auf wirklichere Dinge anwenden als auf das Auf- hören eines in den Registern des Standesamts verzeichneten Individuums. Die Register des Standesamts sind kein philo- sophisches Werk. Man hat den Todesbegriff metaphorisch in der Mechanik gebraucht und meint eine schlummernde Kraft (z. B. die Schwere des Dachziegels, bevor er herunter- fällt), wenn man von einer toten Kraft spricht. Mit unbewußter Weisheit nennt aber die Mechanik auch denjenigen Punkt, an welchem z. B. das Schwungrad der Dampfmaschine sich für die eine oder andere Richtung entscheiden könnte, wenn es -nicht bereits eine bestimmte Richtung besäße, den toten Punkt. Auch der Tod eines Menschen ist nur der Punkt, auf welchem die Natur sich entscheidet, ob der Stoff weiterhin die Erscheinungen des Lebens oder die Erscheinungen der „toten" Chemie bieten soll.

Wieder anders sieht man die Dinge, wenn man die Sprache mit dem organischen Leben vergleicht und von toten Sprachen redet. Die landläufige Vorstellung, daß eine tote Sprache die- jenige sei, die von keinem Volke mehr gesprochen werde, ist ungenau. Ungelehrte Menschen wissen von solchen Sprachen

Tote Sprachen 331

nur durch Hörensagen, und für die Sachkenner gibt es fast keine toten Sprachen. Vielleicht enthielten die hieroglyphischen Inschriften eine Sprache, die zur Zeit ihrer Niederschrift längst nicht mehr gesprochen wurde. Aber wir haben bekanntere Beispiele von Sprachen, welche keine Volkssprachen mehr waren und dennoch in gewissen Berufskreisen und bei ge- wissen Lebenserscheinungen fortwirkten. Das alte Sanskrit war zur Zeit der klassischen Dichter und Grammatiker Indiens bereits eine tote Sprache und wird in den dortigen Gelehrten- schulen heute noch zu Zwecken gelehrt, die halb theologisch, halb philosophisch sind. Hebräisch ist seit langer Zeit eine tote Sprache, und doch gewinnt sie täglich Leben, wenn ein orthodoxer Jude am Todestage seines Vaters oder am Ver- söhnungstage die Formeln in dieser toten Sprache aufsagt. Das Latein hörte vor anderthalb Jahrtausenden auf, eine Volkssprache zu sein, und wurde in Rom selbst von einer Mundart verdrängt; noch tausend Jahre jedoch blieb diese tote Volkssprache lebendig in dem großen Kreise der inter- nationalen europäischen Schreiberwelt; in den letzten Jahr- hunderten sind diese Kreise immer mehr zusammengeschmolzen, aber heute noch ergreift die tote lateinische Sprache in der kathohschen Messe das Herz orthodoxer Italiener, und heute noch zuckt ein letztes Leben dieser Sprache in den Köpfen römischer Juristen und schönheitstrunkener Dichter.

Mit diesen letzten Zuckungen des Sprachlebens sollen aber nur diejenigen Reste gemeint sein, in denen nicht nur der Wortschatz, sondern auch die Sprachform des alten Latein gewahrt sind. Denn sonst müßte man das Fortfeben des Latein nicht nur in den romanischen Sprachen, sondern auch in der englischen Mischsprache und selbst im Deutschen unaufhörlich annehmen. In Wirkhchkeit ist eine Grenze zwischen dem Leben und dem Tode einer Sprache nicht zu ziehen. Der Sprachgebrauch wird aber wohl die wissenschaft- liche Anschauung ausdrücken wollen, daß es auf den Wort- schatz nicht ankomme, daß die Wortformen darüber ent- scheiden, ob eine Sprache tot heiße. In den romanischen Sprachen ist der größte Teil des lateinischen Wortschatzes

332 VIII. Klassifikation der Sprachen

durch die Wortstämme erhalten. Trotzdem betrachtet der Franzose das Latein als eine tote Sprache, weil um es mit einem Worte zu sagen die Grammatik eine andere ge- worden ist. Wohl steckt auch in der neufranzösischen Gram- matik noch der alte Stoff an Flexions- und Wortbildungs- formen, wohl Avirkt sogar die alte lateinische Betonung noch nach, aber das Sprachgefühl des Franzosen findet keine Brücke mehr zwischen der französischen und der lateinischen Grammatik und nennt nur darum das Latein eine tote Sprache. Die Entscheidung ob tot oder lebendig ist keine sachliche Frage, sondern eine Gefühlsfrage. Toter Die Sprachgemeinschaft ist zu sparsam, um den alten

Stoff Wortschatz freiwillig aufzugeben; und sie könnte es nicht, wenn sie auch wollte. Denn die Entwicklung der Sprache schreitet hinter der Entwicklung des menschhchen Geistes einher, das heißt hinter der Erfahrung. Und wie die Erfahrung, seltene Fälle überraschender Entdeckungen abgerechnet, Zug um Zug mikroskopisch der Summe des Menschengedächtnisses hinzufügt, so kann auch, seltene Neubildungen abgerechnet, die Schatzkammer des Gedächtnisses, die Sprache, nicht anders als Zug um Zug mikroskopisch die vorhandenen Worte nach Laut und Bedeutung ändern. So kann eine ältere Sprache als Organismus für unser Sprachgefühl längst tot sein, während unzählige Worte neues Leben gewonnen haben. Muß man nicht an die Rebe des Kaisers Probus denken, wenn man be- achtet, daß bekanntlich zur selben Zeit zahlreiche Lateinworte an den Rhein kamen, wie z. B. das Wort Kaiser selbst, und dort* von Geschlecht zu Geschlecht auf deutschem Boden neue Formen entwickelten, ebenso wie die alte italische Rebe? Im Deutschen sind solcher lateinischer Lehnworte eine Legion. In vielen Fällen haben sie so starke Wurzeln geschlagen, haben sich so sehr dem deutschen Lautgefühl und der deutschen Grammatik angepaßt, daß unser Sprachgefühl sie nicht mehr als Fremdworte empfindet. Ich nenne nur: Apfel, dichten, Enkel, Esel, Fieber, Gabel, Kalk, Käse, Koch, kurz, Meister^ Pflaume, Rettig, Spiegel, Stolz, Straße, Tisch, Ziegel. Be jüngeren Entlehnungen hat das Sprachgefühl wohl die Neigung

Toter Sprachstoff 333

das Fremdwort als einen Fremdkörper zu empfinden, aber dann unterscheidet das natürliche Sprachgefühl nicht zwischen toten und fremden Sprachen. Und eigenthch besteht ein solcher Unterschied auch nicht. Das Lebensbedürfnis der Sprache greift auf einer gewissen Kulturhöhe ohne zu prüfen nach jedem Sprachstof?, es nimmt Bestandteile fremder wie toter Sprachen in sich auf und kümmert sich so wenig um die Lebensfrage als das Tier oder auch der Mensch darum, ob toter Nahrungsstofi oder lebendiger hinuntergeschluckt wird. Auf den Assimilierungsprozeß kommt es an. Das Wort Käse (aus dem lateinischen caseus) ist vollkommen assimiliert, das Wort Kasus ist trotz des langen Gebrauchs noch nicht assimiliert. Aber wir wissen, daß das Kind den Gebrauch seiner eigenen Gliedmaßen nicht nur sehr langsam kennen lernt, sondern daß es gewissermaßen die Lebensverbindung mit seinen eigenen Gliedmaßen erst langsam erwerben muß.

Im Deutschen sind selbst tote und fremde Bildungssilben in den Sprachstoff aufgenommen worden, als Bildungssilben. Auch sie werden mit der Zeit zu deutschem Sprachgut, aber auch sie werden lange als tote Anhängsel empfunden. Die Endsilben „-ieren"' und „-age" werden als tot oder fremd empfunden; das zartere Sprachgefühl empfindet es noch wie leisen Leichengeruch, wenn sie mit deutschen Stämmen ver- bunden werden; „stolzieren" und „Stellage" sind häßlich.

Viel besser als in den Dokumenten der Vergangenheit können wir die Aufnahme toten Sprachstoffs an dem in der Gegenwart sich vollziehenden Sprachwandel beobachten, nicht nur weil wir Zeugen sind, was die Beobachtung oft erschwert, sondern auch weil die ungeheuere, zielbewußte, fast krankhafte Bereicherung unserer Erfahrungen gegenwärtig eine ver- mehrte Nahrungsaufnahme der Sprache zur Folge hat. Wir werden bald sehen, welch einen neuen Sinn der Begriff der toten Sprache dadurch für unsere Gegenwart gewinnt, wie nämlich das Wort von gestern tot werden kann für das Sprach- gefühl von heute. Vorläufig jedoch soll nur an die alltäghchen Neubildungen erinnert werden, mit welchen die sich über- hastende Industrie beinahe zu einer sich überhastenden Sprach-

Worte

334 VIII. Klassifikation der Sprachen

Industrie zu führen droht, welche in der Not nach toten Sprachen greift, und zwar oft genug vergessene Worte direld: aus den Wörterbüchern der toten Sprache herbeiholt. Tote j)gj. Vorgang vollzieht sich so : Das Gedächtnis des Menschen-

geschlechtes wächst unaufhörhch durch neue Erfahrungen, welche die bisherigen Vorstellungen mehr oder weniger ver- ändern. Man kann das auch wissenschaftlichen Fortschritt nennen. Das Gedächtnis des Menschengeschlechts ist an die Worte und an die Formen der Beziehungskategorien ge- knüpft. Ist nun eine der unzähligen Vorstellungen, welche im Gedächtnis als ein bestimmtes Wort vorhanden war, stark abgeändert worden, so macht natürhch das Wort die Ver- änderung mit, entweder im Sprachgefühl des gesamten Volkes, oder in der Anschauungsweise der gebildeten Klassen. Im letzteren Falle kann es leicht geschehen, daß das Wort zu- gleich in seinem populären Sinn für alle Welt bestehen bleibt, zugleich aber für Fachkreise ein technisches Wort wird. Das Wort „Erde" ist seit tausend Jahren so gut wie unverändert gebUeben; aber jeder Dorf junge verbindet heute mit den gleichen Lauten richtigere Vorstellungen als etwa Karl der Große, der sich als der mächtigste Herr der ihm bekannten Erde fühlen konnte. Aber auch hier geht daneben schon ein wissenschafthcher Erdbegriff mit astronomischen und mathe- matischen Merkmalen, die dem Dorfknaben fremd sind. Eigentlich wird schon „Erde" für den Astronomen ein tech- nischer Ausdruck, wenn man das auch gewöhnlich nicht so nennt. Ähnlich hegt der Fall bei so alltäghchen Begriffen wie Kälte, Farbe u. dgl.; der Physiker denkt sich etwas ganz anderes dabei als wenn der frierende Handwerksbursche weißen Schnee um sich sieht. Wenn nun jedermann unter „Salz" die bekannte Speisewürze versteht, der Chemiker aber eine bestimmte Gruppe von Verbindungen, so wird der Unter- schied zwischen dem alten Worte und dem neuen technischen Ausdruck deutlicher. Die alte und die neue Sprache gehen, beide lebendig, nebeneinander her wie Großvater und Enkel. Wo aber das Wort der alten Sprache auch im weiteren Volks- bewußtsein seinen Sinn verloren hat, da könnte man es wohl

Tote Worte 335

das Wort einer toten Sprache nennen. Bei Religionsbegriffen wird das jetzt schon einleuchten, wenn auch solche Worte nicht immer für das ganze Volk gestorben sind. „Himmel'" als der Wohnsitz oder die Heimat der Götter ist nur noch ein poetisches Bild, von einer toten Sprache genommen, ge- nau so wie die archaistischen Poetenworte Oljnnp oder Paradies. „Hölle" ist nicht lebendiger als die lateinischen Worte der katholischen Messe. Aber selbst so unendlich oft gebrauchte Worte wie Heiliger, Ablaß, gehören für den protestantischen Norden ebensogut einer toten Sprache an wie altdeutsche Götternamen (z. B. Äsen) für das christianisierte Deutschland, die alten slawischen Götter für das christliche Rußland. Geht man so die Entwicklung einer Sprache von alten Zeiten bis zur Gegenwart hin durch, so kann man Schritt für Schritt verfolgen, wie Teile der alten Sprache absterben. Selbst bei Lessing noch (von Luther nicht zu reden) findet der ungelehrte Leser deutsche Worte, die er nicht mehr versteht, die ihre einstige Bedeutung verloren haben, die für die Gegenwart tot sind.

Tote Worte lassen sich nicht unmittelbar, nicht mit ihrer alten Seele lebendig machen. „Lebt das Wort, so wird es von Zwergen getragen ; ist das Wort tot, so können es keine Riesen aufrecht erhalten." (Heine, Über Deutschland. Sämtliche Werke 1872, V, S. 154.)

Unaufhörlich jedoch werden abgestorbene Worte und Sprachformen durch lebendige Worte und Formen ersetzt und zwar so reichhch, daß der Zuwachs immer größer ist als der Verlust. Und die Sprache kann, wie gesagt, nicht anders als sparsam sein; sie muß das tote Material immer wieder neu verwenden. Gewöhnlich geht der Prozeß so vor sich, daß ein Wort oder eine Silbe auf einem Gebiete wieder lebt, während der Tod auf einem anderen Gebiete langsam eintritt. Die deutschen Endsilben „Hch" (bekanntlich so viel wie Leiche, Körper, Gestalt, gleich, enghsch hke), „heit" (Geschlecht, .Vrt und Weise) sind solche Hauptworte der toten altdeutschen Sprache, welche als Bildungssilben leben geblieben sind, so wie etwa ein Wurzelsproß lueu zu grünen

336 VIII. Klassifikation der Sprachen

beginnt, während der alte Stamm abstirbt. Nur die stetige Entwicklung täuscht uns darüber, daß hier derselbe Vorgang statthat, wie wenn wir auä der toten lateinischen Sprache (oder indirekt aus der noch toteren griechischen) die End- silben „ismus" oder „-ianer" herübernehmen und Darwinismus, Wagnerianer bilden. Werden Worte aus toten Sprachen nun gar nicht bloß für die Formen der Beziehungskategorien, sondern für gegenständliche Begriffe herübergenommen, so liegt jedesmal ein Versuch vor, das Bedürfnis der sprachlichen Gegenwart durch die Aufnahme toten Materials zu befriedigen. Sprach- "Ujj^ Jjier ist es, wo die Sprachindustrie untrennbar ist von der gewinnsüchtigen Industrie der Geschäftswelt. Man braucht nur die Schaufenster einer hauptstädtischen Straße aufmerksam zu betrachten, man braucht nur die Inseratenbeilage irgend- eines weit verbreiteten Blattes zu lesen und wird Überfluß an Beispielen haben. Ich nehme nur die Inseratenbeilage der letzten Nummer der „Fliegenden Blätter" zur Hand und notiere nach flüchtiger Übersicht folgende Neubildungen, von denen freilich die meisten nicht erst der letzten Woche angehören: Dynamomaschinen, Fleischpepton, Odonta, Sana- torium, Verrophon, Klaviaturschreibmaschinen, Dikatopter, Antiarthrinpillen , Cyclostyle, Lanohn, PatentkofEer, Motor- wagen, Reformbett, Blankoplakate, Mineralwasser, Amandine, Kinetograph usw. usw. Man glaubt gewöhnlich, und die industriellen Erfinder der Dinge und der Namen glauben es selbst, daß die Entlehnung aus dem Griechischen oder Lateinischen nur einem Reklamebedürfnisse entspreche. Aber in Wirküchkeit wäre es unmöglich, die tausend und aber tausend neuen Maschinen und Sächelchen, die in unseren Tagen fortwährend auf den Markt geworfen werden, sprachlich auseinanderzuhalten, ohne für jede, noch so leise abgeänderte Form einen besonderen Namen zu erfinden. Oft hilft man sich mit dem Eigennamen des Erfinders oder des Fabrikanten. Aber die Anlehnung an antike Sprachen weckt doch bei den oberen Zehntausend eine Erinnerung, die mit helfen kann, das Wort scheinlebendig zu machen. Es kann dann in Aus- nahmsfällen ein glückliches Wort dem bezeichneten Gegen-

Sprachindustrie 337

stände zur Verbreitung helfen. Gewöhnlich aber wird das neue Leben des Worts von der Existenzberechtigung des Gegen- standes abhängen. Telegraph, Phonograph, Telephon usw. waren eines Tages ebenso fremd dem Sprachgebrauch und darum so geschmacklos , wie heute etwa Antiarthrinpillen. Sie sind allgemeines Sprachgut geworden, weil das konkrete Ding und sein Begriff sich allgemein verbreiteten. Siegt die heue Erfindung rasch und glänzend, so wirft die Sprache mitunter das tote Sprachmaterial wieder fort und läßt ein lebendiges Wort einen Bedeutungswandel durchmachen; sie setzt „Rad" an Stelle von Veloziped. Oder die Sprache assi- miliert das barbarische Wort; der Franzose sagt dann „velo" anstatt Veloziped. In den meisten Fällen jedoch geht das tote Sprachmaterial mit der neuen Erfindung gleichen Schrittes in den Gebrauch über. Trotz dem Bemühen unserer Sprach- reiniger werden wir Telegraph und Telephon kaum los werden. Selbst wahrhafte Wortungeheuer verträgt die Sprache mit- unter. „Konversationslexikon", worin Material aus zwei toten Sprachen unförmüch zusammengekuppelt worden ist, hat sich vorläufig eingebürgert. Ich erinnere mich aus meiner Jugend, daß für erleuchtete Springbrunnen, die damals auf- kamen und die jetzt Fontaine lumineuse heißen, einige Jahre lang das geradezu entsetzliche Wort Kalospinthechromokrene wirklich gebräuchlich war. Wir brachten als brave Gym- nasiasten heraus, daß es griechisch sei, „Schönfunkenfarben- quell" bedeute und eigentlich Kalospintherochromatokrene lauten müßte. .Es war aus dem Gebrauch wieder verschwunden, bevor wir noch die erweiterte zehnsilbige Form auswendig gelernt hatten.

Mir kommt es jedoch bei diesen Hinweisen nicht darauf an, den Geschmack der Sprachindustrie zu beurteilen. Nur auf die Hervorhebung einer Tatsache kommt es mir an: daß nämhch gerade die allerlebendigste Gegenwart in ihrer Hast, dem Gedächtnisse der Menschheit neue Erzeugnisse mit neuen Namen einzuprägen, mit der organischen Fortentwick- lung der lebendigen Sprache nicht auskommt, daß sie Stoff aus toten Sprachen massenhaft zu Hilfe nimmt; es kommt

Mauthner, Beitrüge zu einer Kritik der Spruche. II --

338 VIII. Klassifikation der Sprachen

mir darauf an hervorzuheben, daß dieser Prozeß nicht wesent- lich verschieden ist von der erzwungenen Neigung der leben- digen Sprache, ihr eigenes totes Sprachgut in Gestalt von Bildungssilben wieder zu verwerten, wie wir denn Zeugen sind davon, daß das gute Substantiv „Werk" eben in unserem Munde dazu übergeht, z. B. in Stückwerk, Teufelswerk, Mund- werk usw., eine Endsilbe wie schaft, keit und heit, wie -voll zu werden; es kommt mir darauf an, weiter darauf hinzuweisen, wie auch dann, wenn die alten Wortformen erhalten bleiben, dennoch ihre ehemalige Bedeutung der toten Sprache an- gehören kann und wie dieser Bedeutungswandel im Wandel der menschlichen Weltanschauung langsam aber sicher alle Begriffe der Sprache nacheinander ergreift. Es ist dieses Ver- hältnis, daß nämhch die neue Sprache zur alten Sprache sich verhält wie eine lebendige zu einer toten, selten deutlich, weil nur in Ausnahmsfällen ein Bruch mit der Vergangenheit statt- findet. Ein klassischer Fall liegt aber in der enghschen Sprache vor, die doch nur ein Gemisch von Normannisch und Angel- sächsisch ist. Whitney bemerkt übrigens sehr gut, daß die angelsächsische Volkssprache wahrscheinlich unterdrückt worden wäre, wenn die europäische Politik anders gewesen, wenn die Normannen Frankreich und England gemeinsam beherrscht hätten. Das aber bemerkt er nicht, was mir bedeutungsvoll scheint, daß für den heutigen Engländer so- wohl Angelsächsisch als Normannisch tote Sprachen sind, trotzdem das heutige Englisch fast durchaus aus angel- sächsischem und normannischem Material besteht. Tote Whitney sieht trotz aller feinen Bemerkungen dennoch

einen gewaltigen Unterschied zwischen den toten Sprachen des Altertums und zwischen den hochentwickelten Sprachen der Gegenwart, denen er ein weit längeres Leben in Aus- sicht stellt. Er will nicht wahrnehmen, daß Leben und Tod einer Sprache relative Begriffe sind, daß für die heutige Sprache immer und ohne Gnade Teile der gestrigen Sprache schon tot sind , und daß wie auf allen aiidern Lebensgebieten auch in unseren heutigen Kultursprachen der Wandel immer hastiger vor sich geht. Und es muß mächtig in unsere An-

Begriflfe

Tote Begriffe 339

schauungen von Staat und Gesellschaft, von Recht und Sitte eingreifen, wenn wir erkennen, daß alle Sprache des vergangenen Geschlechts für uns weit mehr tote Begriffe enthält als die gleichbleibende und in der Neuzeit durch die Schriftsprache besser konservierte Form ahnen läßt. Nicht nur Gesetz und Rechte, auch die Worte der Sprache erben sich wie eine ewige Krankheit fort. In unserer Sprache schleppen wir unzählige Leichen der Vergangenheit auf unserem Rücken mit uns herum. Nichts, nichts ist mehr lebendig, was in toten Begriffen niedergeschrieben worden ist, und wäre es auch nur vor wenigen Jahren geschehen. Die kritische Auf- lösung aller historischen Ordnung bedeutet freilich diese Über- zeugung, einen Anarchismus, der auch nicht einen einzigen Begriff der überheferten Sprache für lebendig hält, so lange er sein Leben nicht bewiesen hat; es ist aber ein kritischer Anarchismus, der wiederum an keine Utopien glaubt, an die Begriffsembryonen der Zukunft ebensowenig wie an die Begriffsleichen der Vergangenheit.

Für das kleine Gebiet der Sprache allein jedoch lehrt diese erschreckende Überzeugung, daß nicht in den Sprach- änderungen, die wir heute als Sprachfehler empfinden und die morgen Sprachgebrauch sein können, die Krankheit der Sprache steckt. Diese Sprachunrichtigkeiten sind Zeichen des Lebens; die Sprachrichtigkeit aber ist das Zeichen der Krankheit, der Vorbote des Todes. Niemand kann sagen, was tadellos richtiges Deutsch ist; wohl aber gibt es ein zweifellos richtiges ciceromanisches Latein.

IX. Tier- und Menschensprache

Wir erklären uns den Ursprung der Sprache durch den Entwick- Begriff der Entwicklung. Wir verstehen es nicht mehr, daß "°^ die Sprache dem Menschen von einem Gotte verhehen sein sollte oder daß der Mensch mit der „Gabe" des Sprechens auf die Welt gekommen sein sollte, oder daß der Mensch sich die Sprache mit Überlegung erfunden haben sollte;

340 IX. Tier- und Menschensprache

wir können es uns seit ungefähr fünfzig Jahren, vielleicht auch schon seit hundert Jahren, gar nicht anders vorstellen, als daß die Sprache sich entwickelt habe, so wie sich auch die organische Welt entwickelt hat. Ich fürchte, der ge- bildete Leser ist nun der Meinung, er habe von dem Begriff Entwicklung ein klares Bild und es sei mit dem obigen Satze etwas Brauchbares gesagt. Diese Meinung hatten aber auch die gläubigen Leser der alten Theorien. Als sie sich die unbekannte Macht fromm als Allmacht Gottes, als sie sich dieses X wort- abergläubisch als Allmacht des Wesens eines Dinges, als sie sich dasselbe X aufklärerisch als Allmacht des menschlichen Verstandes vorstellten, dachten sie sich unter ihren Theorien etwas ebenso Bestimmtes, scheinbar Definierbares, wie wir es bei dem Begriffe Entwicklung zu denken glauben. Zum Hoch- mut haben wir keine Veranlassung. Der Fortschritt ist nur ein Korrelat zu der leeren Zeit. Und die Zeit? Sie wird uns dargestellt durch den Zeiger, der rund um das Zifferblatt seine ewig gleichen Kreise zieht. Wir sind es, welche unser Leben in diese Kreisbewegung hineinlegen. Früher war es eine Sanduhr, womit die Zeit dargestellt wurde. Die Menschen waren es, welche die Uhr umstürzten, wenn der Sand im Stundenglase abgelaufen war, welche das Ende wieder an den Anfang setzten.

Treten wir in so bescheidener Stimmung an die Ge- schichte der Ursprungstheorien heran, so werden uns alle diese Überzeugungen hervorragender Ptlänner zu einem ironi- schen Beitrage zur Geschichte der Sprache und nicht zu einer bekämpfenswerten Vorgeschichte der Sprachwissen- schaft. Uns ist ja alle und jede Wissenschaft zum Worte geworden und alle Kulturgeschichte der Menschheit zu einer Geschichte der Worte. Göttlicher Es ist darum für uns unter der Kritik, den alten Glauben an eine besondere göttliche Schöpfung der Sprache wider- legen zu wollen. Es ist unter unserer Würde, uns dabei gar auf den Kirchenvater Gregor von Nyssa zu berufen, der trotz seines christlichen Dogmatismus schon im vierten Jahr- hundert diesen Glauben als undogmatisch bekämpfte. Bei

Göttlicher Ursprung 341

uns widerlegten Herder und Jakob Grimm den göttlichen Ursprung der Sprache, weil sie in einer Übergangszeit lebten und sich in ihrem Innern mit dem Gottesbegriff noch lebhaft herumschlugen. Sie brauchten ihre Widerlegung für sich; wir brauchen sie nicht mehr. Wir finden es albern, wenn Renan darauf zurückkommt und mit Hilfe von Bibelkritik den Nachweis führt, der göttliche Ursprung der Sprache werde in der Mosaischen Schöpfungsgeschichte gar nicht behauptet. Denn es würde uns auch nicht irre machen, wenn das erste Buch Moses tatsächlich von Moses herrührte, wenn Moses ein geschulter Historiker gewesen wäre, und wenn er den göttUchen Ursprung der Sprache behauptet hätte. Wir wissen viel zu wenig, vmi solchen Sätzen noch einen rechten Sinn beilegen zu können. Wir wissen kaum, was der ab- strakte Begriff Sprache bedeutet, wir wissen noch weniger, wie wir den Begriff Ursprung zeitlich begrenzen sollen, wir wissen gar nicht mehr den Gottesbegriff zu definieren; da können wir mit dem „göttlichen Ursprung der Sprache" wirkhch nicht mehr viel anfangen.

Die neuere Lehre, daß die Sprache dem Menschen an- „an- geboren sei, klingt verführerischer für unseren Sprach- gebrauch. Wollen wir uns nämlich mit einer Unklarheit begnügen, so behauptet dieser Satz ungefähr so viel, daß die Sprache zum Wesen oder zu der Natur des Menschen gehöre. Die freieren Köpfe geben sich gern damit zufrieden, wenn anstatt Gott solchergestalt Wesen oder Natur gesetzt wird, und es scheint eine gewisse Beruhigung des Denkens darin zu hegen, wenn man uns sagt : der Mensch spricht, wie der Vogel fliegt. Es gehörte zu seinem Wesen, zu seiner Natur. Hat doch das neue Denken damit begonnen, daß Spinoza die Natur als einen Korrelatbegriff von Gott hinstellte; ist es doch im Mittelalter ein Zeichen von geistiger Freiheit gewesen, wenn ein Scholastiker in Gott nur das Wesen der Welt sah. Pantheismus steckte in beiden, und wir nennen uns gern pantheistisch. Von diesem Pantheismus aus war es auch ungefähr, daß Herder und Jakob Grimm den göttücben Ursprung der Sprache zu widerlegen suchten. Nur das Wort

geboren"

342 TX. Tier- und Menschensprache

„angeboren" sollte uns stutzig machen; jahrhundertelang haben die besten Köpfe sich anstrengen müssen, um die „angeborenen Ideen" los zu werden.

Sind wir so erst stutzig geworden, so fragen wir weiter nach dem Sinn der Behauptung, daß die Sprache zum Wesen des Menschen gehöre. Da sind nun zwei Hauptmöglichkeiten vorhanden. Entweder die Sprache, wie wir sie gebrauchen, oder wie sie vor Jahrtausenden wohl ausgebildet nachweisbar ist (eine andere als eine ausgebildete Sprache ist historisch nicht belegt), war dem Menschen angeboren, gehört zum Wesen des Menschen: dann ist die Frage nach dem Ursprung müßig, dann stehen wir vor demselben Wunder wie bei der Menschenschöpfung, dann halten wir uns am besten an die bibhsche Schöpfungsgeschichte. Ist dem Menschen aber nicht die ausgebildete Sprache, sondern nur die Sprachanlage an- geboren, dann verbirgt sich hinter dieser Theorie schon die Entwicklungstheorie, wie sie denn auch überall da leise oder laut mitkhngt, wo die Sprache als angeboren betrachtet wird. Und so meldet sich schon da (bei Heyse, bei Renan) die Frage, die uns gegenwärtig in Verwirrung setzt: Wo ist der Grenz- punkt zwischen Anlage und Ausübung zu setzen? An welcher Stelle liegt der Ursprung der Sprache? Und wie der deutsche Darwinismus, der die organische Welt systematischer als Darwin selbst aus einem Urkeime herleiten will, seine ganze Selbstsicherheit bei der Entstehung dieses Urkeimes verhert und sein Maul aufreißt, damit ihm der Urkeim irgendwo von einem Meteoriten gebraten oder verbrannt hineinfliege, so steht die Entwicklungstheorie, die sich hinter jeder bessern Angeborenheitstheorie verbirgt, mit der alten Verlegenheit vor dem eigentlichen Ursprung der Sprache. Er- Die dritte Klasse der Ursprungstheorien umfaßt die alt-

klugen Schlußfolgerungen, mit denen die scheinbar gesättigte Aufklärungszeit von dem menschlichen Verstände alles das herleitete, was früher der liebe Gott durch ein Wunder ge- schaffen haben sollte. Die Aufklärer, besonders die ein- seitigen Aufklärer Frankreichs, übersahen durchaus den Unterschied zwischen Natur und Kunst, zwischen Organismus

findun

Erfindung 343

und Mechanismus. Wir können, ohne uns zu erhitzen, heute lächelnd sagen, daß es nur ein Mangel an Sprachgefühl war, wenn sie den menschlichen Organismus mit einer Maschine verglichen. Sie fühlten den Unterschied nicht ganz zwischen einem künstlichen Bein aus Holz und einem Bein von Fleisch und Blut; sie fühlten den Unterschied gar nicht zwischen einem der im 18. Jahrhundert berühmten Automaten von Vaucanson und einer schreibenden Hand, zwischen einer künst- lichen Sprechmaschine und den menschlichen Sprachorganen. Wir können ihre aufklärerischen Anschauungen nur schwer kritisieren, weil unsere Sprache noch größtenteils die Sprache des Aufklärungszeitalters ist. Neu ist uns fast allein der Begriff der Entwicklung. Mit seiner HiKe werden wir am besten das Grundgebrechen der aufklärerischen Welt- anschauung aufdecken. Es äußert sich naturgemäß gerade in der Sprachtheorie am krassesten.

Denn der Mangel des Entwicklungsbegriffs ließ die revo- lutionärsten Franzosen der Aufklärung in die ältesten Zeiten, in irgendeine Urzeit immer wieder Franzosen des 18. Jahr- hunderts hineindenken. Sie konnten sich römische Kaiser, jüdische Patriarchen, sie konnten sich halbwilde Urmenschen vorstellen; weil ihnen aber die physiologische Entwicklung des Menschengehirns unklar war, darum steckten in den Römern, in den Juden und in dem Urmenschen immer wieder Pariser Zeitgenossen von Rousseau und Voltaire. So stol- zierten ja auch in den Stücken von Racine Griechen und Juden über die Bühne, redeten aber die Gedanken des Siecle Louis' XIV. und trugen das Kostüm Louis' XIV. ; Rousseaus Sehnsucht nach dem Urzustände der Menschheit hängt damit zusammen. Er hatte keine Vorstellung von der Geistes- entwicklung der Menschheit. Er stellte sich unklar natür- lich — den von ihm gepriesenen Urzustand wie eine freiwilHge Flucht aus der Kultur vor, wie eine bewußte Kulturfeind- schaft und Menschenverachtung, wie eine vorübergehende Schäferidylle, eine nach Wunsch wieder mit Paris zu ver- tauschende Eremitage. Sein Urmensch war in Tierfelle gekleidet und nährte sich von Milch und Früchten; dabei

344 IX. Tier- und Menschensprache

gedachte dieser Urmensch aber verächtlich des Theaters und der Gaststuben im Palais Royal. Das Gefühl seines Ur- menschen war nicht Not, sondern Stolz.

Da der gepriesene Urzustand, nach welchem Rousseau sich sehnte und den auch andere Aufklärer wenigstens für eine uralte Zeit voraussetzten, demnach nur eine Maskerade von raffinierten Parisern war, so konnte es auf diesem großen Maskenfeste der Urzeit gar nicht schwer werden, die Sprache zu erfinden. Daß auch Erfindungen ihre Entwicklung haben, daß von dem Flechtwerke aus Binsen bis zum heutigen Dampfwebstuhl mit Revolverschiffchen und automatischem Stillhalter viel kleinere Übergänge führen, als den Geschichts- schreibern der Erfindungen zu erzählen bequem ist, das dürfte selbst unseren Zeitgenossen keine geläufige Vorstellung sein. Den Aufklärern erschien das Erfinden als eine noch viel absichtlichere Sache. Die Vorstellung von einer Absicht schien ihnen so selbstverständlich zu sein, daß sie ein absichts- loses Werden nicht begrifien, trotzdem sie diese großen neuen Gedanken schon bei Spinoza und Leibniz hätten finden können. Mit einem Worte gesagt: ihnen mußte der Begriff der Ent- wicklung fehlen, weil ihnen die unbewußten Vorgänge im Menschengeiste unfaßlich waren. Wohlgemerkt: die un- bewußten Vorgänge; ich hüte mich wohl, von unbewußten Vorstellungen oder von einem unbewußten Willen zu reden.

Ich habe schon gesagt, daß allen diesen falschen Theorien irgendwo gute Beobachtungen zugrunde lagen. Das ist kein VerdieiLst der Menschen, das ist ein Zwang; selbst den tollsten Träumen liegen ja doch nur irdische Erinnerungen zugrunde. So kann man z. B. bei Condillac ganz genau das Bestreben wahrnehmen, zwischen der instinktiven Anlage zur Sprache und ihrer späteren bewußten Erfindung zu unterscheiden. Wenn man oberflächlich best, so könnte man glauben, Condillac sei ein ganz moderner Denker. Wir müssen uns aber darauf besinnen, daß für uns auch die Weiterbildung der Sprache (wie sie ja unaufhörlich bei jedem gesprochenen Worte und auch in diesem Augenblicke vor sich geht) fast durchaus unbewußt sich entwickelt, was Condillac nicht ahnte, und daß

tuis

Erfindung 345

er unter einem Instinkte weit eher einen unbewußten Willen als eine unbewußte Vererbung verstand. Seine Worte sind häufig unsere Worte, seine Gedanken scheinen also unsere Ge- danken; wir können ihn vor Gericht oder auf dem Katheder oder bei jedem andern Schwatz als unseren gefälligen Zeugen aufrufen. Und doch wäre er ein falscher Zeuge. Gedanken sind nur Worte. Woran die Worte bei Condillac erinnerten, daran erinnern sie nicht mehr bei uns. Anderthalb Jahr- hunderte neuer Wahrnehmungen liegen dazwischen.

Wie sich die Aufklärer die Erfindung der Sprache dachten, Mauper- das erfahren wir am rohesten aus Maupertuis, dem Mitgliede der Pariser, dem Präsidenten der Berliner Akademie, der, schöpferisch auf seinem Spezialgebiete, in allen philosophischen Fragen nur das Echo seiner Zeit war. Nach einer wichtigen Stelle in seinen „philosophischen Betrachtungen über den Ur- sprung der Sprachen und die Bedeutung der Worte" (1748) zeigt Maupertuis, wie mathematisch er sich die Erfindung vorstellt: „Ich setze voraus, ich hätte mit den Fähigkeiten der Wahrnehmung und des Verstandes zugleich die Erinne- rung aller bisherigen Beobachtungen und Denkakte verloren; nach einem Schlafe, der mich alles das vergessen ließ, befände ich mich plötzlich zufälligen Wahrnehmungen gegenüber; meine erste Wahrnehmung wäre z. B. die, welche ich heute mit den Worten feststelle: ich sehe einen Baum; darauf hätte ich die andere Wahrnehmung, welche ich bezeichne mit: ich sehe ein Pferd. Ich würde sofort bemerken, daß die eine Wahrnehmung nicht die andere ist, ich würde sie zu unter- scheiden suchen, und da ich (nach dem Schlafe des Ver- gessens) keine vorgebildete Sprache besäße, müßte ich sie durch irgendwelche Zeichen unterscheiden. Ich könnte mich mit den Zeichen P und B begnügen und würde unter diesen Zeichen dasselbe verstehen , wie wenn ich heute sage: ich sehe ein Pferd, ich sehe einen Baum. Und so könnte ich weitere Eindrücke immer auf die gleiche Weise bezeichnen , ich würde zum Beispiel M sagen und würde darunter dasselbe verstehen , wie heute mit dem Satze: ich sehe das Meer."

340 IX- Tier- und Menschensprache

Berühmte Schriftsteller haben diese Erfindungstheorie Mau- pertuis' kritisiert, an ihrer Logik wenig auszusetzen gehabt, dafür aber die Voraussetzung, das plötzliche Vergessen, albern gefunden. Für uns ist Maupertuis' Voraussetzung aus anderen Gründen ein klassischer Ausdruck der Erfindungstheorie aus der Aufklärungszeit.

Das plötzliche Vergessen ist nämlich durchaus nicht eine unmögliche Phantasie; es ist vielmehr in chronischen und in akuten Krankheiten des Gehirns ein alltäghches Ereignis. Nur daß Maupertuis an dieses wirkliche Vorkommen seiner Voraussetzung gar nicht dachte. Er hätte sonst den eben erwähnten Fehler der Rousseauzeit verbessern können, er hätte sich den Urmenschen nicht mehr als verkleideten Pariser gedacht. Denn der plötzliche Verlust aller unserer Erinne- rungen bringt uns wirklich unter die Stufe des Tieres zurück, und wenn nachher die Gesundheit des Gehirns wiederkehrte, allerdings die Gesundheit ohne die bisherige Einübung (was nicht der Fall ist), so ließe sich vielleicht wohl an einem solchen Menschen die Entwicklung des Geistes und die Entstehung der Sprache studieren. In der Phantasie Maupertuis' jedoch stoßen wir auf keinen möglichen psychologischen Vorgang. Es wird nur für eine Weile von den Fähigkeiten der Wahr- nehmung und des Verstandes abstrahiert, um dann so weiter zu operieren, als ob das fragliche Gehirn ohne Wahrnehmung und ohne Verstand doch sämtliche Denkfähigkeiten des hoch- kultivierten Gehirns besäße. Es wird der Anfang der Sprach- entwicklung in einem bereits entwickelten Denkgehirn voraus- gesetzt. Daß das Denkgehirn sich gleichen Schrittes mit der Sprache entwickelte, daß Denken und Sprechen immer identisch war, daß also für die Erfindung gar kein Erfinder vorhanden sein konnte, das war dem 18. Jahrhundert eine unfaßbare Vorstellung und ist auch heute noch nicht jedem Forscher selbstverständUch. Selbst bei Geiger, der sich von der Er- findungstheorie am bewußtesten und am weitesten entfernt hat, lassen sich noch Spuren nachweisen, die sich auf eine Trennung zwischen Denken und Sprechen, zwischen Erfinder und Erfindung beziehen.

Schallnachahmunft 347

Diese Bemerkung zwingt mich, noch eine andere einzii- schaii

schieben, welche die Tatsache illustriert, wie überall Falsches und Wahres durcheinander geht und wie sich bei dem spiralen Gang alles Fortschritts eine chronologische Darstellung der Ursprungstheorien gar nicht aufrecht halten läßt. Es ist nämlich hinter den bis zur Gegenwart reichenden Anschau- ungen von einer Onomatopöie als dem Ursprung der Sprache notwendig die Erfindungstheorie verborgen. Erst meine Vor- stellung von der Schallnachahmung, als von einer meta- phorischen Geistestätigkeit, verzichtet auf die Erfindungs- theorie und setzt über die Spracherfindung keinen sprachlos denkenden Erfinder. Eine Ahnung von dem wirklichen psycho- logischen Sachverhalt müssen freilich auch schon Leibniz, de Brosses, Herder gehabt haben. Mehr oder weniger deutlich wird überall zwischen „eigentlichen" Onomatopöien (wie Kuk- kuck) und den symbolischen Onomatopöien unterschieden, bei denen z. B. angeblich ein sanftes Geräusch durch einen sanften Buchstaben ausgedrückt wird. Leibniz weiß auch schon, daß die Mehrzahl (!) der Worte seit ihrem Ursprung einen außer- ordentlichen Lautwandel und Bedeutungswandel durchge- macht habe.

Wie toll und wüst es bei solchen Untersuchungen, die Spracherfindung und Schallnachahmung vermischen, in den gelehrten Köpfen aussah, das ließe sich an dem bedeutendsten Systematiker der Onomatopöie , an de Brosses ganz lustig nachweisen, wenn solche Kritik der- Geschichte nicht Zeit- verschwendung wäre. Nur auf den Wortaberglauben sei hin- gewiesen, mit welchem de Brosses aus der Bezeichnung „Ono- matopöie" (Namenmachung) seine Lehre zu begründen suchte, als ob die ausschließliche Verwendung des Wortes für Schall- nachahmungen etwas anderes bewiese, als daß zur Zeit dieses Bedeutungswandels die Nachahmungstheorie siegreich war.

Wir werden erfahren oder lernen, daß auch der Kuckuck- ruf in der Natur nicht artikuliert ist, daß die Natur über- haupt nicht mit menschUchen Sprachorganen artikuhert, daß also alle Onomatopöien symboHscher Art sein müssen, wenn das Gefühl der Schallnachahmung nicht wie gewöhnhch (oder

nach- uhrauug

348 IX. Tier- und Menschenspraclie

wie immer) nachträglich in den Wortklang hineingelegt worden ist. Es ist in diesem Schallnachahmen a posteriori die feinste Form des Wortaberglaubens verborgen. Wir empfinden hunderte von Worten als „richtig", weil wir sie a posteriori als Schallnachahmung empfinden. Wir empfinden den Aus- druck „Bhtz" als eine richtige metaphorische Schallnach- ahmung des plötzHchen Aufleuchtens, trotzdem die Linguisten uns erzählen, das Wort hänge mit „blaken" und dem indischen bharga (Glanz) zusammen.

Mir scheint es unbedingt sicher, daß bei der metaphori- schen Schallnachahmung (mögen nun unartikuKerte Natur- fferäusche oder sichtbare Sinneseindrücke durch artikuherte Menschenlaute metaphorisch nachgebildet werden) der bewußte Menschenverstand, also die Erfindung, nichts zu tun haben könne ; die Vergleichung zwischen unartikuherten Naturlauten und artikulierten Menschenlauten, die Vergleichung gar zwi- schen sichtbaren Eindrücken und hörbaren Zeichen kann sich gar nicht anders als unbewußt abspielen. Denn die unarti- kuherte oder unhörbare Hälfte des Vergleichs gehört ja der Sprache oder dem Denken gar nicht an. Man könnte mir entgegenhalten, daß es eine ganze Menge Schallnachahmungen von Tierlauten gebe, die in historischer Zeit von ganz be- stimmten Menschen ersonnen worden sind. Ich wüßte aber keinen einzigen Fall zu nennen, in welchem diese Onomato- pöien zu einem Teile der Gemeinsprache wurden, ganz ab- gesehen davon, daß der psychologische Vorgang bei dem er- findenden Dichter doch wieder um so unbewußter gewesen sein wird, je mehr er ein ganzer Dichter war. Die Verse von Julius Wolfi wimmeln von solchen künstUchen Onomatopöien, aber sie sind trotz der jahrelangen Mode nicht Sprache geworden. Die prachtvollen Onomatopöien in Bürgers „Lenore" sind nicht in die Sprache übergegangen, so instinktiv sie auch entstanden sein mögen; das „hopp" gehörte der Sprache schon früher an. Zweitausend Jahre nach Aristophanes hat Haupt- mann das Quaken des Froschkönigs abermals mit den Lauten „brekekekex kworax" wiedergegeben ; auch solche Zuhörer, die es nicht als einen alten Scherz des Aristophanes wieder-

Schallnachahmung 349

erkannten, fanden die Klangnachahmung hübsch, weil der Darsteller auf der Bühne, Herr Müller, das Quaken sehr ge- schickt hineinverlegte, a posteriori; der Sprache gehört weiter wie bisher das Wort „quaken" an. Und wenn wir dieses „quaken" für eine vorzügliche Schallnachahmung halten, so ist auch das wieder eine Onomatopöie a posteriori. Was ich darunter, unter dem nachträglichen Hineinverlegen des Natur- schalls in die artikulierten Menschenlaute, verstehe, werde ich später deutlich zu machen haben, wenn ausführhch von der Metapher die Rede sein wird. Es scheint mir aber interessant, daß wir in diesem Worte sicher bei dem „qua" gerade die Nachahmung des Froschgesanges zu hören glauben und daß wir doch (in Norddeutschland) eben mit derselben Silbe gerade das Tönen der Menschensprache, das Tönen ohne Beziehung auf einen Inhalt, daher das imsinnige Geschwätz, schallnach- ahmend auszudrücken glauben, wenn wir „quaseln" sagen. Das Wort „Quatsch", das in Norddeutschland etwas Ähn- liches bedeutet, läßt sich sogar auf die Bedeutung einer brei- artigen Masse zurückführen, wo denn die Schallnachahmung wieder dieselbe wäre wie in „Klatsch". Die Sprache spielt mit uns, wenn wir mit ihr spielen.

Da ich gerade dabei bin, will ich eine Bemerkung nicht intei- unterdrücken, welche die Onomatopöie bei den sogenannten ■* Empfindungslauten betrifft. In der Geschichte der Ursprungs- theorien wird von einem Gegensatze zwischen Schallnach- ahmung und Interjektion gesprochen. Die Wauwautheorie stand der Pahpahtheorie feindlich gegenüber. Ich glaube, es ist noch von niemand bemerkt worden, daß auch unsere Interjektionen ohne Schallnachahmung nicht zu stände ge- kommen sein können, insoweit sie nämlich artikuUert sind und der eigentlichen Sprache angehören. Ich meine das so: Unsere Interjektionen, z. B. ach und pfui, waren ursprüngUch unartikulierte Laute, tierische Laute, wie der wirkliche Ruf des Kuckucks. Das ach war ein unartikuliertes Seufzen, das pfui war ein hörbares Ausspucken oder doch ein Luftausstoßeu des Ekels. Die Menschen schufen metaphorisch artikulierte Laute, welche ein möglichst deutliches Bild der unartikulierten

350 IX. Tier- und Menschensprache

Empfindungslaute boten, und weil in diesem Fall der Naturlaut und die metaphorische Klangnachahmung von dem gleichen Organ ausgeführt wurden darum kam es hier zu dem einzigen Fall der Onomatopöie, in welchem Sache und Bild einander nahezu entsprachen. Ach und pfui waren als Naturlaut und als Sprachlaut mit der gleichen Stellung der Sprachorgane hervorzustoßen; doch selbst in diesem einzigen Falle wurde der Naturlaut zum Sprachlaut erst, wenn etwas Neues hinzukam: Sprache.

Begriffe Gerade die Gabe der wirkhchen unmetaphorischen Schall- rpieie nachahmung besitzen manche Tiere: der Papagei, die Spott- drossel. Und gerade diese „sprechenden" Tiere beweisen nichts dafür, daß Tiere Sprache haben. Die Sprache besteht nicht in Schallnachahmung.

Um den Tieren ihre offenkundige Sprache abzusprechen, hat man vielmehr so weit gehen müssen, ihnen auch die Art- begriffe zu bestreiten. Der Gedanke dieser Theorie ist der: Anschauungen von Allgemeinem, von Arten gibt es nicht. Folglich kennen Tiere, die nur Anschauungen und keine Be- griffe haben, nur Einzelnes, keine Arten.

Versteckt liegt in diesem Gedankengange das Eingeständnis, daß Begriffe Worte sind, daß die Tiere nur wegen ihres Sprach- mangels keine Begrifie haben können. Das nebenbei.

Nun steht aber dieser Konstruktion die Tatsache gegen- über, daß nicht nur einige besonders kluge (nach unserem Ermessen kluge) Tiere wohl Arten unterscheiden. Die Hunde unterscheiden oft deuthch zwischen Kindern und Erwachsenen, zwischen Bourgeois und armen Teufeln, zwischen Weißen und Schwarzen; dann aber, je nach ihrer Abrichtung, kennen sie Hasen, Hirsche, Rebhühner, Enten usw. Unzählige andere Tiere haben ebenso den Artbegriff der nützhchen und schäd- lichen Nahrungsmittel, ferner den ihrer eigenen Art, endlich den ihrer Feinde.

Steinthal, der sich recht gegen die Tierseele erhitzt, fragt (Abr. d. Spr. 1. 326) ganz witzig, ob denn der Hund, wenn er

Begriffe der Tiere 35 J^

auch die Hündin unterscheide, in seinem Bewußtsein ein männliches und ein weibliches Geschlecht trenne? Mit diesen Worten gewiß nicht, und auch vielleicht nicht so gründlich und zeitlos wie ein Professor. Aber der Einwurf, der Hund unterscheide auch das Weib vom Manne, die Kuh vom Stier, fasse aber Hündin, Kuh und Weib nicht unter dem Begriff des Geschlechtes zusammen, dieser Einwurf ist mehr geist- reich als richtig. Denn Unwissenheit ist noch nicht Sprach- losigkeit. Aristoteles hat gewiß den Begriff des weiblichen Geschlechtes gehabt, ihn aber auf sehr viele Tierarten noch nicht anzuwenden gewußt. Man kann den Begriff auch von einem Falle her haben. Und dann ist es noch nicht erwiesen, daß der Hund das weibliche Geschlecht beim Weibe nicht merkt; es spricht doch manches für diese Annahme. Und ob er den Begriff sich mit Hilfe eines Sprachschalles gemerkt hat, oder mit Hilfe eines Riechzeichens, das ist doch wohl gleichgültig.

Steinthal fragt dann ganz töricht: „Weiß der Hund, in- dem er sich begattet, von Zeugung und Geburt? Von Er- haltung seiner Art?" Ja, was „weiß" denn der Bauern- bursche, wenn er zum erstenmal hinter dem Zaun der Natur gehorcht, von Geburt und von Erhaltung seiner Art?

Überdies ist aber „weibliches Geschlecht" schon ein kompli- zierter Begriff, zu dem die Menschheit gewiß recht spät gelangt ist. Es ist also hart, dem Hund gerade solche Doktorfragen vorzulegen. Und daß der Hund etwa Stein und Pflanze nicht der Art nach unterscheide, das glaube ich einfach nicht. ]Man zeige mir erst einmal einen Hund, der jemals Stein und Pflanze verwechselt hat, wie das selbst bei Kandidaten der Medizin vorkommen kann.

Es ist wohl wahr, daß der Hund kein so reiches und kein so wohl gegliedertes Gedächtnis besitzt, wie wir. Er kann die römischen Könige nicht nacheinander aufsagen. Aber selbst seine Verleumder leugnen nicht , daß er Gedächtnis besitzt. Und im Gedächtnis liegt nicht nur die Möglichkeit der Sprache, nein, Gedächtnis i s t Sprache.

Nun bildet der Hund allerdings keine Sätze oder Urteile

352 ^I* Tier- und Menschensprache

nach der Logik des Aristoteles. Es fehle ihm das Subjekt; „die Kategorie Ding sei noch nicht wirksam geworden," sagt Steinthal. Ob der Hund in seiner Sprache nicht dennoch mustergültige Urteile, bildet? Ob er nicht sagt (in seiner Sprache): Brot ähx! Knochen gut! Peitsche schmerzt! ? Ich glaube doch, in der Peitsche dürfte die Kategorie Ding schon wirksam geworden sein.

Und hat Steinthal niemals den zusammengesetzten Satz gehört, den der Hund sogar mitzuteilen versteht? „Es ist kalt; ich bitte darum, mir die Tür zu öfinen!" Der Hund heult und kratzt freilich nur. Das ist aber Sprache, und wenn die Logik sie nicht verdauen kann, so mag das schlimm sein, doch nur für die Logik. Steinthal meint (nach Herbart), der Hund halte sein Kratzen für die Künke, für das Ofinungs- mittel. Da hat er ja recht, der Hund nämlich. Ich rufe „Kutscher" und halte den Ruf für das Mittel, die Droschke zum Stehen zu bringen. Versteht der Hund die Zwischen- glieder nicht, so mag er ein dummer Hund sein, aber noch lange kein stummer Hund.

Ist Sprache dasselbe wie Denken, und ist Denken nichts als tätiges Gedächtnis, so ist nicht der kleinste Gnmd vor- banden, am Denken der Tiere zu zweifeln. Jedermann hat schon beobachtet, daß Tiere träumen, das heißt doch wohl, daß sie sich vergangener Wahrnehmungen erinnern. Und den Mangel des Bewußtseins wird man nicht zum Vorwand nehmen wollen, um den Traum gedankenlos zu nennen.

Richtig ist nur gewiß, daß die Sprache der Tiere für die meisten Menschen unverständlich ist, so unverständlich wie für den Slawen die deutsche Sprache, die Sprache der Stummen, der nemci. Man kann darum die Sprache der Tiere ganz gut einen Jargon nenuen, ihren Argot. Und so hat sich schon Charles von Orleans (im 15, Jahrhundert) ausgedrückt: il n'y a ne beste ne oyseau qu'en son Jargon ne chante et crie. Mytho- Daß der Hund sogar abstrakt denken könne, hat Darwin

logie des ^jj^jj^g^j selbst beobachtet. Da er von der Neigung der Wilden

Hundes ® °

spricht, natürliche Vorgänge für Werke der Geister auszu- geben, erzählt er: „Mein Hund lag an einem heißen ruhigen

Mythologie des Hundes 353

Tag auf dem Rasen. In einer geringen Entfernung wurde ein offener Sonnenschirm vom leichten Lüftchen zuweilen leise in Bewegung gesetzt, was der Hund unbeachtet gelassen hätte, wenn jemand dabei gestanden hätte. Jetzt aber knurrte und bellte der Hund heftig, so oft sich der Sonnenschirm bewegte. Ich glaube, er muß in einer rapiden imd unbewußten Weise sich gedacht haben, daß Bewegung ohne sichtbare Ursache die Anwesenheit irgend einer fremdartigen, lebendigen Kraft bekunde, und daß kein Fremder das Recht habe, sich auf seinem Gebiete aufzuhalten." Die ganze Stelle ist ein gutes Beispiel für die Art, wie menschliche Erkenntnis sich er- weitert; ein ungewöhnlicher Mann macht eine neue Beobach- tung oder vergleicht vielmehr eine bisher vernachlässigte Tat- sache zuerst mit anderen. Aber die Erklärung Darwins verrät doch auch, wie der meistgenannte Begründer der Entwick- lungstheorie dennoch durch physiologische Unterschiede ver- legen gemacht wurde. Denn es ist ein Verlegenheitswort, wenn er den Hund in einer rapiden und unbewußten Weise „denken" läßt. Darwin kann oder will nicht daran erinnern, daß der Hund ohne unsere Worte denkt, und setzt anstatt Verworrenheit Schnelligkeit, weil Rapidität ebenfalls zur Un- klarheit führen kann. Stellen wir uns aber den Begriff, den sich der Hund von der Bewegung des lebendig gewordenen Sonnenschirms macht, stellen wir uns diesen mythologischen Kraftbegriff noch so dunkel vor, er wird nicht dunkler sein, als der Kraftbegriff seinem eigentlichsten Wesen nach einem Newton war. Newton benennt die Kraft mit einem Wort und legt sich ruhig hin; der Hund kniu:rt sie an, weil er unsere Worte nicht hat.

In ihrer Art verstehen sich die Tiere sogar schon auf ^'^*""

^ gesetze

Naturgesetze. tu,- die

Wenn die Gesetzmäßigkeit der Natur erst aus den mensch- ''^'^'"^ Uchen Wissenschaften klar würde, wenn wir die Regelmäßig- keit der Natur erst beschwatzen müßten, um uns nach ihr zu richten, so hätte die Wissenschaft und die Sprache überhaupt

Mauthner, BeitriiKf zu oiner Kritik der Sinaclie. II -■"!

354 IX. Tier- und Menschensprache

dem Leben der Menschen vorausgehen müssen. Die Men- schen haben aber gewiß, noch bevor sie sprechen konnten, schon mit apodiktischer Sicherheit gewußt, daß es in der Sonne wärmer ist als im Schatten, wie denn auch ein neu- geborenes Kücken die Sonne aufsucht, wenn es seine Glucke nicht gleich finden kann. Die Tiere nehmen die apodiktische Wahrheit der ihnen interessanten Naturgesetze als gegeben an. Die Schwimmbewegungen des Hundes, der Flügelschlag des Vogels, die Wanderungen der Zugvögel, die Benützung der Luftblase durch die Fische, alles geht auf unfehlbare Wahrheit physikalischer Naturgesetze zurück, ohne daß das unerforschte Denken dieser Tiere (welches man darum Instinkt nennt) zu sprachlichen Urteilen gediehen wäre.

Für den Hund ist es eine apodiktische Wahrheit, daß ihm sein Herr, der Hundegott, jeden Tag um 12 Uhr sein Fressen vorsetzen wird. Geschieht das einmal nicht, so macht der Hund zuerst ein dummes Gesicht und wird dann wild. So verläßt sich der Mensch darauf , daß der Erdboden im ganzen und großen fest bleiben werde, daß es im Sommer abwechselnd warmen Sonnenschein und Regen geben werde. Bleibt einmal Sonne oder Regen ganz aus, so macht er ein dummes Gesicht und wird wild wie ein hungriger Hund. Und wackelt die Erde gar, so wird er an seinem Gotte irre. Das Erdbeben von Lissabon hat dem Glauben an die Teleologie mehr ge- schadet als der Darwinismus.

Ich will also sagen: Das berühmte metaphysische Problem von der Zusammenstimmung unseres Denkens mit der Wirk- lichkeit stimmt wieder einmal am unrechten Ende. Die ober- flächlichsten Gesetze der Wirklichkeit kennt und befolgt auch das Tier; der Mensch hat namentlich mit Hilfe seiner Experimente auch verborgene „Gesetze" zu erkennen und zu benützen gelernt, und hat damit seinen Komfort auf Erden in mancher Beziehung vermehrt. Die Sprache war dabei nicht ganz unnütz, insofern die Kenntnis der ersten Beobachter Gemeingut werden konnte. Aber so wenig zwischen der Naturerkenntnis des Hühnchens und seinem Handeln das Piepsen von Bedeutung ist, so wenig ist die Sprache ein

Naturgesetze für die Tiere 355

wichtiges Bindeglied zwischen der weit reicheren Natur- erkenntnis des Menschen und seinem Handeln. Als Euler blind geworden war, vermehrte er noch unsere optischen Wirklichkeitskenntnisse. So kann auch ein Taubstummer nicht nur logisch handeln, sondern auch, wenn er darauf dressiert wird, ein tüchtiger Philologe werden

Kehren wir zu den Tieren zurück. Es kann uns jetzt Logik

der

nicht mehr überraschen, daß sie, die in ihrer Art Natur- ^jgj.^ Wissenschaft treiben, ohne Menschensprache, auch Logiker sind, wieder ohne Menschensprache. Sie ziehen Schlüsse.

Darwin erzählt (nach Professor Möbius) die Geschichte von einem Hecht, der einen falschen Schluß zog. Man teilte seinen Behälter durch eine Glasplatte und setzte einige Fische in den benachbarten Raum. In seiner Jagd auf die Fische stieß der Hecht bis zur Betäubung gegen die unsichtbare Glasplatte. Drei Monate marterte er sich, bevor er durch Schaden klug wurde. Dann aber brachte er die empfangenen Stöße mit den Fischen in logische Verbindung, hielt sie für Zauberer und rührte sie auch nicht mehr an, als die Glas- platte entfernt worden war. Jeder Tierfreund kann ähnUche Züge an unseren Hunden und Katzen beobachten.

Wir sind geneigt, diesen klugen Hecht für dumm zu halten, weil er seinen falschen Schluß wohl ohne Aristoteles und ohne Sprache vollzogen hat. Die Menschen aber haben trotz Aristoteles und trotz ihrer Sprache immerzu solche Schlüsse gezogen. Sie haben jahrhundertelang an die Astrologie ge- glaubt, und heute noch vermeiden die Juden das Schweine- fleisch und fürchten die Christen die Zahl dreizehn, weil irgend ein kluger Hecht unter ihren Vorfahren sich einmal den Schädel an einer unsichtbaren Glasscheibe eingerannt und den Grund hinter ihr gesucht hat.

Ich will nicht unerwähnt lassen, daß man den Menschen, Tiere um ihn doch „artig" vom Tiere zu unterscheiden, das werk- ^verk- zeuggebrauchende Tier genannt hat. Die Tiere besäßen dem- zeuge

356 IX- Tier- und Menschensprache

nach zwar Sprache, Wissenschaft und Logik, aber keinen Pfropfenzieher.

Zu der Behauptung, daß die Tiere niemals Werkzeuge gebrauchen, gewissermaßen nicht den mechanischen Umweg zur Berechnung eines Zieles kennen, finde ich eine bemerkens- werte Beobachtung in einem der wissenschaftlichen Briefe Baillvs. Der Astronom Bailly, bekannter als Präsident der französischen Nationalversammlung, der die berühmte Sitzung vom 20. Juni 1789 leitete und dann auf dem Umwege der Guillotine getötet wurde, erzählt von einem überaus klugen Afien, der, von einer Kette zurückgehalten, vergebliche Ver- suche gemacht hatte, die Nüsse zu erlangen, die man in einiger Entfernung hinlegte. Der Affe nahm endlich einem vorüber- gehenden Diener die Serviette fort und bediente sich ihrer, um die Nüsse zu sich heran zu schleifen. Er erfand also eine vom Standpunkte des Physikers recht komplizierte Maschine. Derselbe Affe öffnete die Nüsse, indem er einen Stein auf sie niederfallen ließ; und als einmal die Erde aufgeweicht war und der Nuß nachgab, legte der kluge Erfinder ein Ziegel- stück unter die Nuß. Er verwendete also das Prinzip, auf welchem z. B. die Ramme beruht, ohne doch die Fallgesetze studiert zu haben. Ich muß aber bemerken, daß Bailly diese Geschichten nicht selbst gesehen hat, sondern sie einem zwar geistreichen aber dennoch vertrauenswürdigen Freunde nach- erzählt.

*

Instinkte In der Astronomie ist der geozentrische Standpunkt längst verlassen, in der Naturgeschichte seit kurzem auch der anthro- pozentrische. Man glaubt nicht mehr, das Pferd sei um des Menschen willen geschaffen. Aber in allen Fragen der Psycho- logie und Logik denkt man immer noch anthropozentrisch, als ob das Menschengehirn das einzige Denkwerkzeug der Natur wäre, während es vielleicht nicht einmal ihr feinstes ist. So blickt man auch verächthch auf die Leistungen der Ameisen als auf eine Tätigkeit des „Instinkts" hinunter. Man ist so beschränkt in seinem Menschendünlcel, daß man die

Instinkte 357

erstaunlichen Leistungen des winzigen Tierchens als Mechanis- mus zu deuten sucht und vergißt , wie sehr das ein noch größeres Wunder wäre. Der Mensch, der die verhältnismäßig größere Arbeit des Ameisenhirns mit dem Worte Instinkt ab- tut, ist ebenso klug wie der Bauer, der das verrostete Schlag- werk seiner Kirchturmuhr anstaunt, aber über die Taschen- uhr als ein Kinderspielzeug lächelt, oder wie der Australneger, der auf seine zentnerschwere Kriegskeule stolz ist, aber den Taschenrevolver des Feindes so lange nicht achtet, bis er eine Bleikugel im Leibe hat.

Alle diese Beispiele hätten freilich vor zweihundert Jahren besser gepaßt, als auch die Gelehrten einen Schöpfer des Menschengehirns wie den Verfertiger einer Turmuhr anstaunten und die kleinen Taschenührchen noch kaum bekannt waren. Seitdem man die Erklärung der Tierinstinkte durch göttliche Pfiffigkeit hat aufgeben müssen, steht man allen diesen Er- scheinungen ganz ratlos gegenüber.

Das verlobte Mädchen bleibt auf der Straße vor jeder Auslage stehen und denkt an eine Hauseinrichtung, und schwatzt von ihr, wenn sie darf. Die Vögel tun mehr, sie bauen das Nest wie die Menschen, ähnlich, nur im Natur- zustand. Unter uns wird höchstens noch die schwangere Frau so instinktmäßig, daß sie an der Ausstattung häkelt und stickt und näht, für das kommende Kind. Die Kleinigkeiten, die da die Frau wie im Traume leistet, nennt man Werke der InteUigenz. Die Meisterwerke des Nestbaues sind Instinkt. Und so nennt man die Organisationen des Bienenstaats und der Ameisenvölker Schöpfungen des Instinkts, würde aber einem Menschen, der ähnliches zu stände brächte, um seiner hohen Gaben willen Denkmäler setzen.

Dabei wollen sich die Menschen nicht klar darüber werden, daß sie solche Tierleistungen nicht wegen der mangelnden Intelligenz Instinkt nennen , sondern deshalb , weil diese Leistungen, namentlich im Verhältnis zu den angewandten Werkzeugen, übergroße Intelligenz verraten. Man könnte sich also damit begnügen festzustellen, daß der eitle Mensch die Tiere fressen, werfen und instinktmäßig handeln läßt, wo er

358 IX. Tier- und Menschensprache

sich selbst das Essen, das Gebären und den Verstand zu- schreibt.

Damit wäre aber die erstaunliche Tatsache außer acht gelassen, daß die Tiere, wie gesagt, mit mangelhaften Werk- zeugen arbeiten, das heißt, daß ihr Gehirn, anatomisch be- trachtet, nicht die Komplikation des menschlichen besitzt und daß auch ihre körperlichen Werkzeuge nicht , wie beim Men- schen, über den eigenen Leib hinaus projiziert sind. Die menschliche Maurerkaste hat Kelle und Senkblei, der Biber hat nur einen Schwanz. Da man aber das menschliche Denken, welches ja doch nur am Faden der Sprache auf- gereihte Erinnerung ist, zu den Werkzeugen rechnen kann, so ließe sich das instinktmäßige Arbeiten der Tiere als die sprachlose Intelligenz erklären. Instinkt Der Mensch hat sich ganz willkürHch, oder vielmehr nach Wunder ^^'^ Standpunkt seiner eigenen Beschränktheit, eine Stufen- reihe des Wunderbaren aufgebaut. Daß ein Huhn sich selbst im Ei Augen bildet aus der organischen Masse, das findet der Mensch nicht wunderbar, weil auch er sich im Mutter- leibe Augen gebildet hat. Daß aber das Huhn sehr bald nach dem Auskriechen pickt, das staunt er an und nennt es Instinkt, weil das menschhche Kind erst viel später picken lernt. Daß die neugeborenen Mädchen breitere Hüften haben als neugeborene Knaben, das wundert ihn gar nicht; daß aber die Larve des Hirschkäfers (wenn dieser berühmte Fall von Instinkt übrigens richtig beobachtet ist), weil sie männ- lichen Geschlechts werden soll, sich um des künftigen Geweihs willen ein größeres Loch buddelt als die Larve des weib- lichen Hirschkäfers, das findet der Mensch wunderbar und nennt es Instinkt.

Nur die menschliche Sprache, welche ihrem Wesen nach das Zweckmäßige aus dem Zukünftigen erklären muß (weil die Sprache auf den Verstand und seine Kausalität gegründet ist), schafft diese wunderliche Einteilung des Wunderbaren. Übrigens will mir scheinen, als ob sich an einigen der am häufigsten zitierten Instinktäußerungen die einfache Erklärung leichter finden ließe, wenn man bei der Beobachtung nicht

Instinkt und Wunder 359

dächte, das heißt nicht spräche. Man bewundert die regel- mäßigen, sechseckigen Zellen des Bienenstocks. Ja, wunderbar wär's freilich, wenn die Bienen Geometrie studiert hätten. Wie aber, wenn die Bienen nur auf die (auch geometrisch) bequemste und kürzeste Weise Behälter bauen wollten, also natürlich runde Behälter, und diese Form, wenn jede Wand nach beiden Seiten dienen soll, von selbst zur sechseckigen Zelle werden müßte? Übrigens sind die Zellen gar nicht so schön regelmäßig, wie man behauptet. Der Wassertropfen, der zu Schneekristallen zusammenschießt, wählt ebenso in- stinktmäßig das Sechseck und hat auch nicht Geometrie studiert. In den Zahlen wie in den geometrischen Formen steckt eben die Gesetzlichkeit sprachlos drin , die der Mensch so schwer mit seinem Denken begreift.

Eine andere Gruppe der Instinkthandlungen läßt sich wieder aus der Begegnung zweier Bedürfnisse ohne Worte besser erklären als durch die gewagtesten Abstraktionen. So das Saugen des neugeborenen Kalbes. Das Kalb sucht nach Nahrung, die Kuh drängt es, ihr Euter leer zu kriegen; da wäre es doch wunderbar, wenn Maul und Zitze einander nicht finden sollten.

Nur weil die Sprache unvermögend ist, da die immanente Form, dort die gemeinsame Bedürfnishandlung zweier In- dividuen (ganz ähnlich liegt es beim Instinkt des Geschlechts- triebs) auszudrücken, nur darum vollführt sie ihre Wort- tänze um die Rätsel des Instinkts.

Man hat von jeher die Instinkte der Tiere mit dem Ver- stände des Menschen verglichen und konnte auf diesem AVege deshalb nicht vorwärts kommen, weil der Unterschied den Verstand eigenthch gar nichts angeht, sondern nur das Bewußtsein. Es kann gar keine Frage sein, daß der Vogel sein Nest mit derselben Art Verstand baut wie der Mensch sein Haus, nur ob der Vogel das Bewußtsein seiner Über- legung besitzt, ob er seine Arbeit mit den munteren Reden der logischen Sprache begleiten kann, das ist natürhch fraghch.

Nicht die Werkzeuge der Instinkthandlungen scheinen uns unerklärhch, sondern ihre Triebfedern, die Federn der

360 IX« Tier- \ind Menschensprache

Triebe; nicht theoretischer, sondern praktischer Art ist die Frage. Und da sagt uns der erste Blick, daß wir unter uns nur andere Bezeichnungen führen. Was wir beim Tiere fressen nennen, das heißt unter uns essen oder gar soupieren. Was dort Du heißt, das heißt hier Ich. Was wir bei den Ameisen verwundert Instinkt benennen, das heißt Moral, wenn es uns selber zwingt. Die Bienenkönigin muß es Moral nennen, wenn sie alljährlich wie eine russische Messalina die Drohnen nach getaner Arbeit umbringen läßt; und sie mag es einen wunderlichen menschlichen Instinkt nennen, wenn sie be- obachtet, daß so eine zweibeinige Drohne eine zweibeinige Königin für Lebenszeit in ihre Wanderzelle aufnimmt, dazu als Mitgift einen Honigtopf bekommt und diesen Vorgang durch ein zweibeiniges Geschöpf der Schwarzbienen ge- heimnisvoll betasten läßt.

Man hat früher geglaubt, daß die Moral oder der Instinkt der Tiere durchaus unveränderlich sei. Man weiß jetzt, daß bestimmte Vogelarten neue Gespinste mit Vorliebe für ihren Nestbau benutzen, die sie vor ein paar hundert Jahren noch nicht kannten. Kurt Graeser („Der Zug der Vögel") hat uns davon überzeugt da sich doch solche Dinge nicht nach- weisen lassen wie physikalische Gleichmäßigkeiten . wie der Wanderinstinkt der Vögel in der Zeit, in langen Zeiten geworden ist und wieder vergehen wird. Wir dürfen nur die Entfernung zwischen Mensch und Tier nicht gewaltsam vergrößern. Das Wandern hat zu neuen Gewohnheiten der Vögel geführt. Ganz ebenso hat die Moral der Menschen seit der Invasion des römischen Rechts ein Wechselrecht erzeugt, und vor zwanzig Jahren ist es eine Sittlichkeitsfrage gewesen, ob Damen auf dem Zweirad fahren dürfen oder nicht.

Man mache sich klar, welche Kluft der Sprachgebrauch zwischen die synonymen Worte Instinkt und Moral geworfen hat, und man wird leicht begreifen, daß die gleiche Sprache noch nicht hinreicht, um einander zu verstehen.

Sprache der Tiere 3ßJ

Wenn man nach der Sprache der Tiere fragt, so läßt man Sprach»

sich durch die Analogie zu leicht verleiten, die Sprache in den Tönen zu suchen, die sie hervorbringen. Und selbst Darwin scheint es schon für eine Kühnheit zu halten, wenn er neben den Kehltönen der Tiere auch noch auf ihre In- strumentalmusik hinweist, auf die Töne, die sie mit ihren Gliedmaßen hervorbringen.

Nach Darwin gibt es eine Grillenart (bekanntlich sind es hauptsächlich die Grillen, welche anstatt geblasener Töne Instrumentalmusik machen), deren beide Geschlechter in den Vorderbeinen einen merkwürdigen Hörapparat besitzen.

Bienen, die doch auch keine Vokalstimme haben, können verschiedene Gemütsbewegungen durch ihr geigenartiges Instrument ausdrücken; und nach Müller lassen die Männchen beim Verfolgen des Weibchens ein singendes Geräusch laut werden.

Es wäre also nicht ausgeschlossen, daß das Streichen der Insektenbeine über die Flügeldecken Mitteilungen er- zeugte wie die Kehltöne der Nachtigall imd die Gedichte des Lyrikers. Und wie man von jungen Mädchen vielleicht physiologisch richtig sagt, daß ihnen Musik in die Beine gehe (weil bei so leidenschaftlichen Tänzerinnen die Wahr- nehmung des Rhythmus nicht so sehr das musikalische Emp- finden als vielmehr Bewegungsimpulse auslöst), so mag Spreclien und Hören, Geben und Empfangen von Mitteilungen, kurz die Sprache in den Beinen von Insekten stecken, wie man sonst wieder in den Tastorganen der Ameisen Sprachorgane zu sehen geglaubt hat.

Auch von Amphibien ist es bekannt, selbst von den Fischen wird es neiferdings behauptet, daß die Männchen zur Zeit der Werbung Töne von sich geben. Es ist kein Zweifel, daß die Weibchen solche Töne als schön, das heißt als musikalisch empfinden, wobei es ganz gleichgültig ist, ob das menschliche Ohr diese Werbungsgeräusche schön oder häßlich findet.

In die musikalische Werbungstonart gerät auch der Redner auf der Tribüne oder Kanzel, wenn er so leidenschaftlich

der Tiere

362 IX. Tier- und Menschensprache

erregt wird wie ein brünstiger Frosch, oder wenn der Redner solche Erregung heuchelt. Der ganze Unterschied zwischen alter und neuer Schauspielkunst mag darauf zurückzuführen sein, daß jene noch bei den musikalischen Werbungstönen der Redner stehen geblieben ist, diese die Sprache möglichst von ihrem musikalischen Ursprung loslösen möchte. Jene heuchelt Hitze, diese heuchelt Kälte.

So mögen Gesang, Tanz und Sprache allerdings auf uralte Werbungstöne gemeinsam zurückzuführen sein. Auf die Darstellung der Beobachtungen durch Darwin (II, S. 357 u. f.) mag Wilhelm Scherer seinen verunglückten Anlauf zu einer Poetik gestellt haben. Eine ernsthafte Poetik wird aber nicht möglich sein, bevor das Material der Poesie, die Worte der menschlichen Sprache, nicht besser verstanden worden sind als bisher.

Ist aber Sprache nichts anderes als Mitteilung von Ge- dächtniszeichen, so ist gar kein Grund abzusehen, weshalb gerade das Gehör der vermittelnde Sinn sein müsse. Taub- stumme und mitunter Gelehrte verstehen bloß mit den Augen. Der Geruch, der beim Menschen beinahe zu einem Vorkoster verkümmert ist , der Geruch ist offenbar beim Hunde ein viel tätigerer Sinn. Der Hund erkennt eine Menge Dinge am Geruch, das heißt seine Gedächtniszeichen haften irgendwo im Geruchsorgan, und der Fortschritt der Menschen gegen die Tierwelt besteht hauptsächlich darin, daß sie ihre wichtig- sten Gedächtniszeichen, die Töne, selbst hervorrufen können, während der Hund höchstwahrscheinlich das riechende Ge- dächtniszeichen nicht hervorrufen kann. Wer nur eine Geruchssprache besitzt, kann sich wahrscheinlich nicht mit- teilen. Hunde- An dem Sprichwort von den Hunden, die den Mond anbellen, ist etwas Wahres. Ich habe selbst beobachtet, daß wachsame Hunde den Mond anbellen, sobald er aufgeht, eine halbe Stunde etwa weiter bellen und damit erst auf- hören, wenn er hoch genug am Himmel steht, um als Himmels- körper respektiert zu werden. Die Hunde halten den auf- gehenden Mond also offenbar für eine riesige Laterne, mit

Hundesprache 353

der etwa ein Dieb am Horizont auftaucht. Wenn sie eine gute Erinnerung an diese Laterne hätten, so hätten sie mit der Zeit selbst den Begriff des Mondes gebildet, wüßten, daß die Laterne steigt und fällt, größer und kleiner wird usw.

Der Begriff, das Wort Mond fehlt den Hunden also ganz bestimmt. Sie haben ein vorastronomisches Denken. Mensch- liche Kinder identifizieren die verschiedenen Mondphasen als Erscheinungen desselben Lichtes ziemlich früh. Der Ruf eines dreijährigen Kindes, das den Mond einmal als Halbmond zu sehen bekam: „Ach, der Mond ist kaput!" geht also schon über den Hundeverstand.

In der löblichen Absicht, die Sprache nicht nur den Tieren Affen- zuzuschreiben , sondern die Existenz einer Tiersprache da- ^p**'^^'^ durch zu beweisen, daß man sie erlernbar mache wie irgendeine menschliche Mundart, hat R. L. Garner (The Speech of Monkeys) das Studium der Affensprache zu seiner Lebens- aufgabe gemacht. Leider ist der interessante Versuch ohne jede erkenntnis-theore tische oder selbst nur wissenschaftliche Kritik ganz dilettantisch unternommen worden.

Herr Garner ist aufs Ganze gegangen; er hat die Sprache der Affen oder vielmehr (wie er meint) die Mundart der Kapuziueräffchen erlernen wollen; er hat außerdem den Anfang dazu gemacht, die Artikulation der Affensprache mit Hilfe des Phonographen zu untersuchen. Viel konnte dabei nicht herauskommen, schon darum nicht, weil Herr Garner keine klare Vorstellung vom Wesen der Sprache hat. Er wollte eigentlich (wenn er es auch nicht ausdrücklich sagt) bestimmte Dingwörter, Zeitwörter oder Eigenschafts- wörter aus dem Lexikon unserer Kultursprachen entsprechend in der Affensprache wiederfinden; er ahnte erstens nicht, daß es Menschensprachen genug gibt, in denen die uns be- kannte Sonderung in Redeteile nicht vorhanden ist, hoch- entwickelte Sprachen darunter; er ahnte ferner nicht, daß nach der alten Regel im Denken oder in der Sprache nichts vorhanden sein kann, was nicht vorher in den Sinnen oder in der Wahrnehmung war, daß er also in der Sprache oder in dem Weltbilde der Affen nichts suchen durfte, was über

364 IX. Tier- und Menschensprache

den Affenhorizont hinausging. Es ist darum alles eitel Phan- tasterei oder meinetwegen Poesie, was Herr Garner über das zärtliche oder traurige Geschwätz seiner AfEen vorbringt. Er ist ebensoweit wie nur je ein Mensch davon entfernt, mit einem Affen oder einer Äffin Konversation machen zu können. Er wollte denn so boshaft sein, das Schwatzen seiner Affen für eine ebenso gleichgültige Lufterschütterung zu halten wie die gesellige Konversation seiner Mitmenschen; doch boshaft ist Herr Garner nicht. Er ist ernsthaft und geduldig bei den Affen in die Schule gegangen und hat von ihnen zwei oder drei wortähnliche Äußerungen erlernt. Das Resultat ist minimal und dennoch von nicht zu unterschätzender Bedeutung, wenn es sich erst bei einer Nachprüfung als richtig erwiesen haben wird. Herr Garner ist ehrlich genug, selbst diese minimalen Kenntnisse in der Affensprache noch nicht einmal für die An- fänge eines äffischen Wörterbuches auszugeben. Er wundert sich sogar ganz naiv darüber, daß der Laut, den er sich zu- nächst mit „Futter" oder „Fressen" übersetzt hat, gelegentlich auch „Gib mir das" heißen kann; er weiß also nicht einmal, daß ein solcher Bedeutungswandel in den menschlichen Sprachen alltäglich ist. Ähnlich steht es mit einer anderen Lautgruppe, welche bald eine Überraschung, bald eine Warnung ausdrücken soll.

Sehr bedeutsam ist die Behauptung des Herrn Garner, daß eine Affenart ein Wort einer andern Affenart in ihren Sprachschatz aufgenommen habe; hat er richtig gehört, so besitzen wir daran ein Apergu von außerordentlicher Trag- weite. Wenn ein Affe ein Wort aus einer anderen „Mund- art" aufzunehmen vermag, so ist damit unwidersprechlich bewiesen, daß er Sprachbewußtsein hat, daß er es fühlt, wie der geehrte Mitaffe seine Sprachlaute mit der Absicht der Mitteilung von sich gibt.

Art- oder Und wieder stehe, ich vor der Schwierigkeit, Übersprach-

Grad- unter-

liches mit Worten auszudrücken. Denn der Kernpunkt der schied Frage nach dem Unterschiede (zwischen Tier- und Menschen-

Art- oder Gradunterschied 365

seele oder -spräche) ist doch der: besteht zwischen beiden ein Art- oder „nur ein Ct radunterschied"? Was ist ein Art- unterschied?

Der Gedanke hat natürlich dieselbe Geschichte wie das Wort „Art" (slSo*;, Spezies). Es wurde zwei Jahrtausende lang scheinbar sehr scholastisch, in Wirklichkeit aber ganz undefinierbar, also sinnlos gebraucht. Erst Ray (1703) und nach ihm der nüchterne Linne definierten die Art als das, was das Wort denn auch bald darauf nicht mehr hieß. Denn eben die Fixierung des Begriffes hatte zur Folge, daß man ihn untersuchen konnte und als mangelhaft erkannte. Sofort nach der Definition der Arten durch Linne begann die Strömung, die schließlich in unseren Tagen Darwinismus heißt und den alten Artbegriff über den Haufen geworfen hat. Bei Linne hieß eine Art diejenige Gruppe ähnlicher Tiere oder Pflanzen, von der man nach Konstanz, Zeugungs- fähigkeit usw. annahm, daß Gott sie ursprünglich geschaffen habe. Hätte der Verfasser der Genesis ein System der Botanik mit aufgenommen. Linne hätte es gelten lassen müssen.

Aber selbst Linne mußte das Urteil darüber, welche Arten Gott geschaffen haben möge, nach seinen eigenen Kenntnissen fällen. Was heißt das? Art ist, was ich nach meiner Sachkenntnis mit einem besonderen Namen belege.

Schön. Art ist also, was einen besonderen Begriff aus- macht, was ein besonderes Wort „verdient". Die Worte aber entstehen und vergehen mit unserer wachsenden Kenntnis, deren Zeichen sie doch nur sind. Art ist Wort. Artunterschied ist Wortunterschied.

Gradunterschied ist noch weniger, also nicht einmal Wortunterschied. Man nennt ja eben Grade diejenigen leisen Übergänge, für die man keine besonderen Worte hat, weil man noch keine braucht. Null Grad ist gewiß Kälte. hundert Grad ist gewiß Hitze. Dazwischen liegen noch einige Arten oder Worte wie lau, warm. Aber die Vorgänge werden in Graden ausgedrückt, in Schritten; Grade sind unbenannte, ungezählte Schritte zwischen benannten Stationen.

366 IX. Tier- und Menschensprache

Auf der Skala des Thermometers freilich werden die Grade gezählt, benannt. Die Skala ist ein Versuch, Grad- unterschiede in Artunterschiede zu verwandeln. Nur daß die Ziffern der Grade doch weniger als Worte sind.

So wie es nun oft keine sichere Artbegrenzung zwischen Tiergruppen gibt, so und oft in noch höherem „Grade" gibt es oft keine Artbegrenzung zwischen tiefer und höher entwickelten Organen. Wer kann sagen, in welchem Moment der Entwicklung der Pigmentfleck an gewissen niederen Tieren oder am Embryo unter den Begriff „Auge" fällt. Und wer kann sagen, wann der Begriff oder das Wort Seele auf die Tätigkeit des Gehirns anwendbar ist, ja wann das Nervenganze des Tierindividuums die Bezeichnung „Gehirn" verlangt? Nur einer könnte es sagen. Wer die Sprache er- funden hätte. Also keiner.

Was soll nun gegenüber diesem Standpunkt, daß nämlich also der Streit um Tier- und Menschenseele oder -spräche ein potenzierter Wortstreit ist, was soll dem gegenüber das Geschwätz : der Hund habe zwar feinere Sinne als der Mensch, aber er nehme mit ihnen nicht seelisch wahr; das Tier könne nicht sprechen, weil es nichts zu sagen habe; das Tier kenne zwar Treue, Kache usw., aber nicht theoretisch (sie; Stein- thal, Abr. d. Sprach w. I, 346). Das Tier rieche und schmecke, der Mensch „unterscheide" Wohlgeruch und Wohlgeschmack. Erkennt etwa der Hund seinen Herrn mit seinen äußeren Augen und nicht mit dem Gehirn? Muß er also nicht im Gehirn ein Zeichen haben für „Herr"? ein Hunde wort? Sagt ein Hund, wenn er bellend mitteilt, er habe Hunger, weniger als ein Kind? Kennt der Kerl, der seinen Herrn im Zorn niederschlägt, die Rache theoretisch? Unterscheidet der Hund etwa nicht zwischen guter und schlechter, d. h. doch ihm wohlschmeckender und unangenehmer Nahrung?

Was soll also das Geschwätz darüber, ob der Mensch, bevor er sprach, Mensch oder Tier war? Die Worte „Mensch" und Tier werden ja eben danach so oder so gebraucht werden, je nachdem die Geburtshelfer der Sprache, die Gelehrten, sich so oder so entscheiden. Nicht umgekehrt. Aber der

Art- oder Gradunterschied 3(57

Geburtshelfer hat doch das Kind nicht immer erzeugt, das er mit der Zange herauszieht.

Daß aber bei dem schimpflichen Geschimpfe gegen eine Tierseele oder Tiersprache nicht die Beobachtung der Wirk- lichkeitswelt, sondern die Wirkung alter Pfaifenscheu ein- bläst, das wird man mir wohl zugeben, wenn ich an ein anderes Wort erinnere, das um nichts unterschiedärmer ist als die Sprache, und das dennoch unbefangen von Tieren gebraucht wird, nur weil es weniger als das Gehirn als Sitz einer unsterb- lichen also göttlichen Seele angesehen ^vird. Ich meine: die Hand. So wie sich aus Nervenknoten (wenn Darwin recht hat) langsam unser unendlich bewegliches Gehirn entwickelt hat, so wurde aus dem letzten Abteil der vorderen Gliedmaßen endlich die \ael bewegliche menschliche Hand. Xun wird das Wort „Hand" neuerdings in den W^issenschaften un- bedenklich von dem analogen Stück der Tierextremitäten gebraucht, vom Vorderfuß, der Vorderflosse. Das ist aller- dings nicht allgemeiner Sprachgebrauch. Aber niemand zögert, das Ding mit dem selbständigen Daumen auch bei Affen und Halbaffen eine Hand zu nennen. Und die Jäger sind gar so gottlos, die Vordertatzen des Löwen, ja den Greif - fuß des Falken „Hand" zu nennen.

Die tatsächlichen Unterschiede zwischen unseren Zu- Laut- fallssinnen machen es verständlich, daß die Menschen überall barden- zu ihrer Verständigung den Schall der menschlichen Stimme spräche wählten. Es war nicht nur die außerordentliche Leichtigkeit (vielleicht wurde die differenzierte Schallerregung dem Men- schen einst schwerer als heute), was die Lautsprache bequemer machte als z. B. irgendeine Gebärdensprache; in dieser hätten sich doch nicht nur Begriffe, sondern auch grammatische Formen ebensogut ausdrücken lassen. Es handelt sich dabei natürhch um die Entscheidung zwischen sichtbaren und hörbaren Zeichen. Anton Marty hat (Über den Ursprung der Sprache S. 130) am besten auf die Vorzüge der Lautsprache hingewiesen.

368 IX. Tier- und Menschensprache

Hätten die Menschen sich für die Gebärdensprache ent- schieden, so wäre die Hand das aktive, das Auge das passive Sprachwerkzeug geworden. Sie hätte zu der äußersten Un- bequemlichkeit geführt, weil wir unaufhörlich gerade das Auge zur Orientierung in der Welt, die Hand zum Kampfe gegen die Welt nötig haben. So wie wir leben, können wir nicht ohne unaufhörliche Hilfe des Auges und der Hand leben. Marty hat diese Sachlage erkannt. Die Unmöglichkeit einer Gebärdensprache hat er nicht scharf genug ausgesprochen. Und doch war sicherlich zu Anfang der Sprachtätigkeit unser jetziges müßiges Geschwätz noch nicht bekannt. Sprache war sicherlich früher mehr Arbeitsunterstützung als jetzt. Nun denke man sich zwei Männer, die gemeinsam einen Baum fällen wollen. Beider Augen und Hände sind dabei unaus- gesetzt in Tätigkeit. Es könnte also keiner von ihnen die Hand zum Zeichengeben, das Auge zum Wahrnehmen be- nutzen. Die Stimme und das Ohr waren unbeschäftigt.

Sodann wäre die Gebärdensprache im Finstern ganz wertlos, in weiterer Entfernung immer wertloser gewesen. Aber auch, wenn die beiden sich Unterhaltenden nur in niäßiger Entfernung voneinander standen, hätten sie sich bei einer Gebärdensprache ununterbrochen ansehen müssen, um den Beginn des Gespräches nicht zu versäumen. Unser flüsterndes Telephon muß den Angerufenen durch ein schrilles Glockenzeichen zur Aufmerksamkeit wecken. Bei einer Ge- bärdensprache hätte jedes Gespräch mit einem solchen stimm- lichen Anruf beginnen müssen. Die Lautsprache vollzog den Anruf von selbst.

Es ist auf den vorausgegangenen Seiten oft von der Artikulation die Rede gewesen; man lese bei Sievers (Phonetik, 4. Aufl. S. 21) die hilflose Definition des Begriffes nach. Arti- Es ist eine landläufige Wahrheit oder eine Redensart, daß

der Mensch eine artikulierte Sprache besitze, daß sie sich durch ihre Artikulation von der Tiersprache wenn man eine solche überhaupt zugibt unterscheide. Das Wort

Artikulation 3ß9

„artikuliert" ist verdächtig; denn es ist ein Lehnwort und schon im Lateinischen dem griechischen ap^pov des Ari- stoteles nachgebildet. Dort heißt es so viel wie „gegliedert"; der Grieche nennt die menschliche Sprache gegliedert, weil in ihr sich jedes AVort in Silben und Laute gliedern lasse.

Nun brauche ich nicht erst auf die in vielen Sprachen vorkommenden ungegliederten Worte hinzuweisen, die eben nur aus einem alleinigen Vokal bestehen a (ha), ä (zu) im Französischen, eh' im Deutschen, i (geh) im Lateinischen, owe (schulden) im Englischen, ou (oder) im Französischen , um zu beweisen, daß die Gliederung nicht zum Wesen der Worte gehört. Aristoteles hat auch Wörtchen wie „der, die, das (ein, eine)" für Gliederungsteile des Satzes gehalten, Arthron genannt, Artikel, und nicht gewußt, daß lange nicht alle Sprachen solche Redeteile besitzen.

Selbst wenn alle AVorte gegliedert wären, so wären sie es doch nur für das ordnende Ohr des Sprachbeobachters, nicht an sich; die Gliederung ist doch erst von uns nach- träglich in die Sprache hineingedacht. Was dieser Gliederung in ihr entspricht, das ist die Tatsache, daß die Worte aus einer Anzahl von (ungefähr) gleich tönenden Klängen zu- sammengesetzt sind, den sogenannten Lauten, und daß jeder dieser Laute (nicht durch eine besondere, sondern) in einer besonderen Stellung der Sprachorgane hervorgebracht wird. Die Worte sind Zeichen, welche sich an die Bewegungs- erinnerungen solcher Organstellungen knüpfen.

Nun bellt aber doch auch der Hund nur, wenn er bellen will. Er hat also wie der Mensch eine Erinnerung an die Bewegungsvorstellung seines Bellens. Und da er, wie jeder Hundefreund weiß, einige Arten des Bellens hat und jede Art nach seinem Willen hervorbringen kaim, so ist kein Zweifel, daß er Erinnerungsbilder verschiedener Sprachorganbewe- gungen, daß er an ihnen Zeichen, daß er also Worte besitzt. Und wollen wir anstatt von einer artikulierten Rede strenger von artikulierten Lauten sprechen, so werden wir bald er- fahren, daß Tierlaute ebenso artikuliert sind wie Menschen- laute.

Mauthner, Beitrüge zu eiuer Kritik der Sprache. II 24

370 IX' Tier- und Menschensprache

Gewiß ist der Unterschied groß im Reichtum der beiden Gehirne an Nervenfasern und dem entsprechend im Reichtum der Sprachorgane an Beweglichkeit und wieder dem ent- sprechend an Zeichen; aber der Unterschied besteht nur in der Höhe des Reichtums, nicht im Wesen der Ausdrucksmittel.

Auf der falschen Auffassung, daß die Artikulation nach Silben und Lauten in den Worten wirklich stecke, ruht (wie auf einigen andern Irrtümern) die alte entsetzliche Buch- stabiermethode. Da sollte so ein armes Kind begreifen: „de" und „a" gäben zusammen ,,da". Denn es wurde ihm ja gelehrt, der Buchstabe „d" heiße „de". Das Kind hatte ganz recht, wenn es „dea" buchstabierte. Die neue Lautierungs- methode ist ganz gewiß weit vorzuziehen. Vielleicht aber versucht es einmal ein kecker Schulmeister so, wie ich es vorschlagen möchte: daß er nämlich die Kinder so lesen und schreiben lehrt, wie sie sprechen lernen, in ganzen Worten oder Silben. Die ganze Artikulation der Sprache würde sich dann für den praktischen Gebrauch als fast überflüssig heraus- stellen; ihr wissenschaftlicher Wert ist nicht größer und nicht kleiner als die Zurückführung unseres Gehens auf Hebel- und Fallgesetze. Das Kind lernt sprechen und gehen, ohne das Wort oder den Schritt zu artikuUeren.

Sprech- Auch die Artikulation, die Zertrennung der Sprache in Laute, kann freilich eingeübt werden. Seitdem es eine Schrift- sprache, seitdem es Schulen gibt, mag es auch in der lebendigen Sprache etwas wie Artikulation geben.

Es ist aber eitel Schulmeisterei, den Gegensatz von Ver- sprechen und richtigem Sprechen auf den Begriff der Artiku- lation zurückzuführen. Wir werden ja sehen, daß die mensch- liche Sprache nicht artikuherter ist als die tierische. Darum kann sich auch ein Hund verbellen, ein Hahn sich verkrähen. Uns klingt das komisch wie oft das Versprechen der Menschen.

Auf die Bedeutung des Versprechens für den Sprach- wandel hat Hermann Paul (Prinzip, d. Sprachg. S. 59) frei hingewiesen. Die Erscheinung selbst und ähnliche „Störungen

Sprachfehler 371

der Sprache" hat Kußmaul bekannthch beschrieben und ge- ordnet, so gründlich, daß seitdem nichts Wesentliches hinzu- gefügt worden ist. Die Monographie, die Rudolf Meringer (unterstützt von einem Mediziner) über das „Versprechen und Verlesen" herausgegeben hat, ist nicht nur arm, sondern auch sonst unbrauchbar*).

Wie gerade geübte Leser bekanntlich Druckfehler über- lesen, weil sie mit den Augen ganze Wortbilder auf einmal fassen und aus einigen Hauptbuchstaben blitzschnell den Sinn des Ganzen erfassen, so müßten wir alle, weil wir doch noch geübtere Hörer sind, auch Sprechschnitzer überhören. Dem ist aber nicht so. Wir bemerken jeden leisesten Irrtum, jeden fehlenden oder falschen Buchstaben, auch wenn wir noch so viel Übung im Zuhören haben, ja selbst bei geringer Aufmerksamkeit.

Dagegen aber hören wir gewöhnlich richtig, das heißt wir erzeugen uns W^orte und Sätze genau in dem Sinn des Sprechenden, wenn uns die Entfernung oder sonst ein Um- stand einige, ja viele Laute unterschlagen hat.

Die erste Tatsache, daß wir nämlich einen Fehler leichter überlesen als überhören, möchte ich so erklären: Das Be- merken des Fehlers kann natürlich erst im Augenblick des Verstehens erfolgen, nicht beim mechanischen Sehen oder Hören. Das Verstehen ist wie (P, S. 508 f.) ausführlich nach Stricker dargelegt ist sowohl beim Lesen als beim Hören an ein lautloses Denken, das heißt ein Sprechen, also an lautlose motorische Vorstellungen in unseren Artikulations- muskeln gebunden. Nun kann aber meist das gesehene Wortbild leicht das gewohnte, das heißt richtige Begriffs- wort reproduzieren, und wenn das gesehene Wortbild ihm

*) Es ist dem Forscher passiert, daß wenigstens einer der Herren, die ihm psychologisches Material zu liefern hatten, sich über ihn lustig machte und ihm einen Bären nach dem andern aufband. Meringer führt diesen Spaßvogel ganz ernsthaft als seinen Freund Mu. ein. Es kann kein Zweifel sein. „Du leichst dir merk seinen Namen" (anstatt: du merkst dir leicht) oder „Mastrostochsbraten" (anstatt: Mastochs usw.) oder „Offiziere mit aufgespanntem Säbel" und andere Scherze des Freundes Mu.

372 IX. Tier- und Menachensprache

nicht ganz entspricht, so fällt es nicht auf, weil keine direkte Vergleichung stattfindet zwischen dem Augen- und Sprach- zentrum. Die Nervenbahn mag immerhin kurz genug sein.

Entspricht aber das gehörte Wort nicht vollkommen demjenigen, worauf die Bahnen meiner Sprachorgane ein- geübt sind, so muß ich wohl einen Ruck kriegen, weil ja doch die Nervenverbindung zwischen Gehör- und Sprach- zentrum wahrscheinlich (aus anderen Gründen) eine sehr nahe ist. Man könnte dasselbe auch so ausdrücken, daß die Er- gänzung der motorischen lautlosen Sprachmuskelbewegungen im Hören Reflexe der gehörten Laute sind und daß darum immer der Fehler zum Bewußtsein kommt, weim ein falscher Laut die richtig eingeübten Reflexbewegungen stört. Wir sehen an anderer Stelle, daß Bewußtsein sich gern an solche Rucke oder Störungen knüpft.

Nun scheint es mir, daß wir aus eben diesem Grunde weil unser Verstehen oder stilles Denken Vorstellung von MuskelbewegTing ist, weil also nicht das Ohr, sondern die eingeübte Sprachbildung entscheidet , es scheint mir, daß wir durch diesen selben Zwang, das Gehörte durch unsere Sprachgewohnheit zu flicken , dazu kommen , mangelhaft Gehörtes richtig aufzufassen. Wir übersehen Druckfehler und können uns als Leser fehlende Wörter oder Zeilen nicht leicht ersetzen; aber wir überhören keinen Sprechfehler und sind rasch dabei, ganze Worte, ja Wortgruppen aus unserem Vorrat einzuschieben, wenn wir den Sprecher nur im ganzen verstanden haben. Bekannte Schauspielerspäße zeigen, daß das selbst im Theater, wo doch gewerbsmäßig gute Sprecher die Worte artikulieren, häufig vorkommt. „Vitrier" Ein lehrreiches Beispiel dafür, w^ie unvollständig wir hören, erlebte ich einmal in Nizza. Ich ging im Jardin public in deutschen Gedanken verloren umher. Dabei glaubte ich von Zeit zu Zeit den Berliner Straßenruf zu hören: „Fliegenstöcker". Die Gedankenassoziationen bringen mich auf das von Liberalen oft gehörte Wort „Lügenstöcker" und auf die jüngsten Huldigungen für Bismarck. Plötzlich weckt mich ein französisches Wort, das ein Zeitungsausrufer neben

„Vitrier" 373

mir schreit. Ich blicke auf, sehe wo ich bin und weiß sofort: ich kann hier in Frankreich unmöghch „Fliegenstöcker" rufen gehört haben. Nun lausche ich aufmerksam darauf, was wohl so ähnlich geklungen haben mag. Wieder ertönt der Ruf. Ich glaube jetzt schon undeutlicher etwas zu ver- nehmen, was wie „Fliegenstöcker" klingt; aber nur ähnlich. Wieder ertönt's. Jetzt unterscheide ich nur noch eine musi- kalische Tonfolge von drei bis vier Silben und in der ersten Silbe ein langgezogenes i. Ich übe mich nun darin , nach meinem Belieben „Fliegenstöcker", „Niederwald" oder „Mittag- essen" in den Ruf hinein zu hören. Das gelingt mir voll- kommen. Heraus hören kann ich aber kein französisches Wort. Nun gehe ich dem Schalle nach in eine Nebenstraße. So wie ich den Mann erbhckt habe, einen „fliegenden" Glaser, deute und höre ich sofort den richtigen Ruf: „au vitrier".

Ich habe selbst nie einen Fall beobachtet, aus dem man besser lernen könnte, wie wir gewöhnlich hören. Alles ist ein ä peu pres. Wir raten. Vielleicht erhalten wir sogar beim Hören noch weniger Laute zur Kenntnis als Buchstaben beim Lesen. Die Assoziation der Vorstellungen, also unsere Ge- wohnheit, leistet die Hauptarbeit. Im Verlaufe eines längeren Gespräches oder Geschwätzes verstehen wir jedes Wort des andern. Bei seinem plötzlichen Anruf aber, besonders in einer fremden Sprache, sind wir ratlos, wir haben noch keinen Assoziationskern.

Im Jahre 1870 rief mir bei Ausbruch des Krieges jemand über die Straße zu: „Je pars ce soir." Ich hatte den Fran- zosen nicht gleich erkannt, wußte also nicht, daß er französisch sprach, und stand ganz verdutzt, da ich deutsche Töne zu vernehmen glaubte, die ich nicht verstand. Ebenso ging es mir in Nizza noch vor dem Sprachabenteuer mit dem fliegen- den Glaser. Wenn nebenan nizzardisch geplappert wurde, störte es mich nicht; ich nahm es oft für ein Deutsch, dessen Sinn mir entging und das sich mir deshalb nicht assoziierte.

Ein anderes Beispiel dafür , wie wir falsch Gerufenes „richtig" hören, das heißt so, wie wir es gewohnt sind, ist mir aus meiner Kinderzeit geläufig. Der Gruß in Böhmen lautete

374 IX- Tier- und Menschensprache

(wenigstens damals): Gelobt sei Jesus Christus! Der Gegen- gruß: In Ewigkeit Amen. Tschechisch: Na veky amen. Da machten sich denn freigeistige tschechische Bursche den Spaß, den Gruß mit: Na velky kamen! zu beantworten. Was ganz sinnlos ist; wörtlich: auf den großen Stein. Der Grüßende hörte aber stets die korrekte Antwort „Na veky amen", so- bald nur der Tonfall oder die Tonlosigkeit der Gewohnheit entsprach. Auch diese Erinnerung wurde mir nachher durch das sprachwissenschaftliche Abenteuer von Nizza erneuert.

Wir stehen, wenn wir diesen „vitrier"-Euf untersuchen, abermals vor der Frage: wie können Worte einen Gedanken ausdrücken, wenn der Gedanke erst das Wort verständlich macht? Geht wirklich der Satz voraus oder doch das Wort?

Der Mann, der zuerst die Sprache in Laute zerlegte (es muß das natürlich vor der Erfindung einer Schrift geschehen sein, da sie darauf beruht), muß ein gräßliches Genie von ungewöhnlicher Geisteskraft gewesen sem. Ich weiß bestimmt, daß es mir nie ohne Hilfe der Augen gelungen wäre, den Kuf „vitrier" lautweise zu artikulieren. So ging es, geht es mir eben auch mit vielen deutschen Straßenrufen, bevor ich den Wortlaut nicht anderweitig (Schriftdeutsch) erfahren habe. „Sand kopt! witten Sand kopt!" habe ich in Berlin monate- lang nicht gehört, weil ich es nicht verstand. Dahin gehört auch, daß wir (wir Büchermenschen wenigstens) oft fragen: „wie wird das geschrieben?" . . . wenn wir ein neues Wort einer fremden Sprache zum erstenmal hören. Haben wir die einzelnen Laute gefaßt, können wir es besser nach- artikulieren. Und doch hatten wir die gleichen Laute gehört.

So nun, und darum die Beispiele, muß es vor der Sprach - analysierung in Laute oder Buchstaben jedem Menschen mit seiner eigenen Sprache ergangen sein. Man muß sich das recht klar machen, um die Revolution zu begreifen, welche die Erfindung der Lautzeichen oder schon die Entdeckung der Laute in der menschlichen Sprache hat anrichten müssen. Es gab vorher, das heißt lange vorher, zu irgend einer Zeit fortgehende Sprache ohne Teilung in Worte und Laute. Die Teilung mußte der Anfang sein zu einer pedantischen,

„Vitrier" 375

geschäftlichen, ledernen Behandlung der Sprache, zu einer Entartung des Lebendigen in ihr. Ganz lebendig ist eigentlich nur eine Sprache, die nicht bewußt artikuhert wird. Hätte der Kuckuck das Bewußtsein seines Rufes, hätte er ihn selbst in den Konsonanten k und den Vokal u zerlegt, er würde am Ende wirklich Kuckuck rufen, wie dieMenschen schließlich grammatikalisch sprechen ge- lernt haben, weil sie eine Grammatik be- saßen.

Denn die Urgrammatik, das heißt die Kunst, Sätze in Worte zu zerlegen, ist ähnliche Unnatur wie das Lautieren. Darum sind der lebendigen Sprache Grammatik (oder Logik) und Schrift (und gar Buchdruck) gleicherweise gefährlich. Was ist, das ist die AVirklichkeitswelt. Worte sind die Triangu- lierungspunkte, Ortzeichen in dieser Welt. Sätze allein kön- nen Gegenstand der Mitteilung sein, niemals Worte. Worte sind wertlos, wie ja auch Triangulierungspunkte dadurch, daß man ihre Zahl vermehrt, das Land nicht vergrößern. Die Logik, welche Sätze aus Worten zusammensetzt, anstatt höchstens die Bedeutung der Worte aus Sätzen zu erschließen, ist die unsinnigste und gefährlichste Form der Grammatik.

Im Anfang war der Satz.

X. Entstellung der Sprache

Das Wort Ursprache bedeutet für die Gelehrten der indo- Ur- europäischen Sprachwissenschaft ein Fabelwesen, die Sprache, *p'"**^^® welche das Urvolk der Arier, dessen Existenz nicht bewiesen ist, zu einer Zeit, die wir nicht kennen, gesprochen haben soll; jedenfalls mußte die Zeit jener Ursprache vor der legen- dären Wanderung oder Trennung jenes legendären Urvolkes liegen. Ein schematischer Begrifi ist das Urvolk, ein schema- tischer Begriff ist auch die Ursprache und wird es trotz aller Bemühungen der Linguisten bleiben müssen. Doch soll nicht vergessen werden, daß gerade Bopp, der Schöpfer oder Er- finder der vergleichenden Sprachwissenschaft, bewundernswert

376 X- Entstehung der Sprache

auch in seinem Mute zu irren, sich von allen wüsten Unter- suchungen über den Ursprung der Sprache fern gehalten hat. Bopp verhält sich zu den phantasie vollen Historiographen des Urvolks wie Darwin zu Haeckel.

Das Wort Ursprache bedeutet für die Sprachphilosophen, mögen sie nun ihre Studien eine Geisteswissenschaft oder eine Naturwissenschaft nennen, diejenige Sprache, welche die Menschen m einer viel weiter zurückliegenden Urzeit redeten, als sie eben durch den Gebrauch der Sprache den Tierzustand verließen und zu redenden Menschen wurden. Den vorhisto- rischen Tatsachen würde beides angehören, was das Wort Ur- sprache bedeutet; nur daß die indoeuropäische Ursprache der geschichtlichen Zeit unmittelbar vorausgehen müßte, die Ur- sprache der Menschheit aber irgendwo und irgendwann in unendlich weit zurückliegenden Zeiten zu suchen wäre.

Man sollte kaum glauben, daß diese beiden Bedeutungen des einen Wortes jemals miteinander verwechselt werden konnten. Dennoch geschieht das alle Tage; und zwar nicht so, daß etwa die beiden verschiedenen Begriffe klar erkannt und dann miteinander vertauscht würden, sondern so, daß es bequem ist, sich den Begriff Ursprache gar nicht klar zu machen. Man will zu positiven Ergebnissen kommen und täuscht sich darum am liebsten durch eigene Dunkelheit über die Schwierigkeiten hinweg, als ob wissenschaftliche Beobach- tungen Fische wären, nach denen man am besten im Trüben angelt.

Ein solches Beginnen ist nicht selten in den angeblich ursprachlichen Forschungen, und es ist gar nicht verwunder- lich, daß den einflußreichsten Lehren über die nähere indo- europäische Ursprache und über die entfernteren Sprach- anfänge der Menschheit die gleichen Unklarheiten zugrunde liegen. Wie die Bibel allen wissenschaftlichen Sorgen damit ein Ende macht, daß sie sagt: „Im Anfang hat Gott die Welt geschafien" und dabei wohl selber glaubt, mit dem Worte „Im Anfang" eine Zeitbestimmung zu geben, so lieben es die Sprachforscher, irgendwo am Flußlaufe stehen zu bleiben, ihren Stock in den Boden zu stoßen und auszurufen: Hier

Ursprache 377

fängt die ganze Geschichte an. Ebensogut hätte man darauf verzichten können, nach den Quellen des Nils zu forschen; man hätte bei den unteren Katarakten stehen bleiben und rufen können: Hier kommt der Nil herunter.

Nicht anders haben die Sprachforscher gehandelt, die in gutem Bibelglauben an die Urweisheit indischer Grammatiker die angeblichen Wurzeln des Sanskrit für die Ausgangspunkte der indoeuropäischen Sprache nahmen. Und doch standen die sanskritredenden Menschen, welche die gelehrten Sanskrit- grammatiker in viel späterer Zeit sich als Erfinder oder Ge- braucher jener Wurzeln dachten, ganz gewiß mitten in irgend- einer Sprachentwicklung und empfanden die Wurzelhaftigkeit ihrer Sprache nicht mehr und nicht weniger, als wir die Stamm- silben unserer Muttersprache naiv als Wurzeln empfinden, als die heutigen Araber „Wurzeln" empfinden, während die For- scher sie doch, verändert durch Lautwandel und Bedeutungs- wandel , um einige Jahrtausende zurückverfolgen können. Die indoeuropäische Sprachwissenschaft hat an diesen an- geblichen Sprachwurzeln wenigstens etwas Positives, woran sie anknüpfen kann; und so läßt sich ihr Treiben wenigstens mit einigem Erfolge kritisieren.

Wenn aber in bezug auf die Anfänge der Menschen- sprache das gleiche Spiel beliebt wird, wenn dort die Spezial- gelehrten ebenfalls irgendwo ihren Stock ins Ufer stoßen, um sagen zu können: „Hier ist der Anfang", wenn sie dann dieses Wort Anfang für eine Zeitbestimmung halten, so ist ihre Torheit kaum in Worte zu fassen und darum auch schwer zu widerlegen. Sie stehen der natürlichen xVnschauung von einer ununterbrochenen Entwicklung der Sprache so gegen- über, wie etwa Cuvier mit seiner Annahme aufeinanderfolgen- der Schöpfungsakte der darwinistischen Lehre gegenübersteht.

Die Hypothese von der allmählichen Entwicklung ist seit Entwick- Schleicher oft auf die Geschichte der Sprache angewendet ii^.p"o"^e*ge worden. Erst neuerdings hat M. Breal davor gewarnt (Ein- leitung zu seinem Essai de Semantique), solche Vergleichungen anders als metaphorisch aufzufassen. Ganz klar und ernsthaft wird jedoch diese Hypothese weder von den Anthropologen noch

378 X. Entstehung der Sprache

von den Linguisten verstanden. Die Anthropologen lehren zwar in der Theorie ganz konsequent, daß diejenige Art der Tiere, welche uns gegenwärtig als Mensch entgegentritt, sich in ungemessenen Zeiten aus irgendeiner nicht genau zu be- stimmenden menschenähnlichen Affenart entwickelt habe, diese wieder aus einer andern Tierart und so fort zurück bis zu den niedersten Lebewesen; diese Anthropologen stellen also einen hypothetischen Stammbaum des Menschen auf, dem dann die Entwicklung des menschlichen Individuums vom befruchteten Ei bis zum neugeborenen Kinde entsprechen soll. Wer von der Wahrheit dieser Hypothese überzeugt ist und sie schließt sich immerhin als eine Phantasie schlecht und recht unserer modernen Weltanschauung an , der müßte überall unendlich kleine Übergänge annehmen und dürfte sich um das Fehlen unendlich vieler Zwischenglieder nicht küm- mern. Denn die Entdeckung jedes einzelnen Zwischengliedes wäre wohl eine erfreuliche Bestätigung der Entwicklungslehre, aber es wäre doch nur ein bekanntes Zwischenglied unter Mil- lionen von unbekannten. Trotzdem lauern diese Naturforscher unaufhörlich auf die Auffindung des Zwischengliedes zwischen Affe und Mensch, und wenn einmal irgendwo in der Tiefe aufgeschwemmten Erdreichs ein Knochen gefunden wird, der teils mit Affenknochen, teils mit Menschenknochen einige Ähnlichkeit besitzt, so stürzen sich sofort alle Fachleute darauf; es werden zahlreiche Abhandlungen geschrieben, und wenn einmal ein solcher Knochen einstimmig als ein Zwischen- glied bestimmt werden könnte, so würde alle Welt behaupten, einen Knochen des Urmenschen zu besitzen. Hätte diese Naturforschung ihren Begriff der Entwicklung immer fest vor Augen, so müßte sie wissen, daß auch im glücklichsten Falle nur von einem Beispiel, nicht aber von einem Urtypus die Rede sein kann.

Die Anwendung der Entwicklungshypothese auf die Sprache ist jüngeren Datums, und so ist es kein Wunder, wenn diese fixe Idee von einer greifbaren und bestimmbaren Urgestalt in der Sprachwissenschaft noch weiter verbreitet ist als in der Naturwissenschaft. In der Theorie werden fort-

Entwicklungshypothese 379

geschrittene Sprachphilosophen ebenfalls die unendlich kleinen Übergänge der Entwicklung zugestehen; in der Darstellung ihrer Forschungen sind sie aber noch leichter als die deut- schen Haeckelianer geneigt, einen Knochen für den Urtypus auszugeben. Und sie sind noch schlimmer daran, weil sie gar nicht auf die Auffindung eines vorhistorischen Knochens hoffen dürfen, sondern die vorhistorische Form der von ihnen angenommenen Ursprache nur hypothetisch erschließen kön- nen. Ein starkes Beispiel dieser fixen Idee von einer am Anfang aller Sprachen stehenden, die Entwicklung also erst beginnenden, irgendwo vom Himmel gefallenen, deutlich ge- formten, das heü3t artikulierten und ebenso deutlich begrifi- lichen Ursprache scheint mir das zu sein, was Schleicher (Die deutsche Sprache S. 45) vorbringt. Er ist darin vorurteils- frei, daß er zahlreiche Ursprachen annimmt. Aber er hat seine fixe Idee von der ältesten Form jeder dieser Ursprachen. Er denkt sich allerdings weit in eine vorhistorische Zeit zurück, in welcher die gemeinsame Ursprache unserer Mundarten weder Flexion noch auch Agglutination kannte und wo die Bedeutung der Wurzeln noch nicht nach den Kategorien unserer Sprache unterschieden war. Es ist, wie man sieht, einer der vielen Fälle, in denen wie ich oben sagte die beiden Bedeutungen des Wortes Ursprache durcheinander ge- worfen werden. Schleicher sagt nun, daß in der Urperiode der Satz, welcher höchst unbestimmt die beiden Begrifie „Mensch" und „stehen" miteinander verband, ma sta gelautet haben müsse. Müsse! Dem beneidenswerten Manne steigt kein Zweifel an seiner Erkenntnis auf und kein Gedanke an den Schöpfungsakt , der diese Ursprache dem Menschen ge- schenkt haben mag.

Von unserem Standpunkt wäre ma sta (Mensch stehen) auch dann noch ein unendlich kleines Zwischenglied der Ent- wicklung, wenn seine Existenz wie die eines vorhistorischen Knochens nachgewiesen wäre. Auch dann könnten wir bei der Frage nach der Entstehung der Meuschensprache nicht anders als annehmen, daß ma sta der gegenwärtigen Sprache unendlich näher liege als den Uranfängen, daß also die Ur-

380 X. Entstehung der Sprache

spräche Schleichers eher mit dem vorläufigen Ende der Ent- wicklung als mit ihrem Anfange verglichen werden könnte. Aber auch bei einer besseren Vorstellung von der Ent- wickluugshypothese ist ihre Anwendung auf die Geschichte der Sprache schwieriger als ihre Anwendung auf die Geschichte der organischen Welt. Wenn nämlich wirklich, wie diese Lehre behauptet, die Organismen von den niedersten Pflanzen- Tieren angefangen bis zum Menschen, wie diese Organismen gegenwärtig nebeneinander auf der Erde leben, historisch nacheinander entstanden sind, und wenn die Entwicklung eines Menschen von der Keimzelle bis zur Geburt ein kurzer Abriß dieser Entwicklungsgeschichte ist, so liegen für beide Entwicklungsreihen alle Stadien zur Vergleichung bereit. Der Naturforscher kann die Typen sämtlicher Organismen neben- einander legen, kann sie mit dem Messer zerschneiden und unter dem Mikroskop untersuchen; ebenso kann er zahllose Exemplare des tierischen Embryos mit den Stadien der Ent- wicklung vergleichen. Und beides geschieht bekanntlich in allen Studierstuben dieser Forscher. Wer jedoch die Ent- stehung der menschlichen Sprache in diesem Sinne zurück- verfolgen will, der muß auf die Kenntnis all der unendlich zahlreichen Formen verzichten, die der gegenwärtigen Sprache, das heißt der Sprache der letzten drei bis vier Jahrtausende, vorausgegangen sind. Der phylogenetische Stammbaum, das heißt die Übersicht über die Entwicklung der Art, ist für die Sprache so klafiend unterbrochen, als es der phylogenetische Stammbaum der Naturgeschichte wäre, wenn auf der Erde von allen Organismen nur der Mensch lebte; wir werden gleich sehen, daß allerdings auch dann noch daneben die Existenz der niedersten Lebewesen zur Vergleichung heran- gezogen werden könnte. Aber kein Forscher der Welt wäre auf die Entwicklungslehre gekommen, wenn es auf der Erde außer den Moneren und den Menschen keine Organismen gäbe. Nach der Lehre Haeckels (Müllers) ist nun der onto- genetische Stammbaum, das heißt die Übersicht über die Entwicklung des Individuums, eine Abkürzung des phylo- genetischen. Dieser ontogenetische Stammbaum der Sprache,

Entwicklungshypothese 381

das heißt also die Entwicklung der Individualsprache eines Menschen von der Geburt ab, läßt sich nun freilich ohne Lücke verfolgen; und das geschieht auch von Seiten der Psychologen ein bißchen seit einigen Jahrzehnten. Aber auch hier ist die Sprachwissenschaft schlimmer daran als die Natur- geschichte; denn der zerschnittene Embryo hält der mikro- skopischen Untersuchung stand, während die Beobachtung der ersten Kindersprache sich streng genommen auf die flüch- tigen akustischen Erscheinungen beschränken muß, über die Bedeutung der ersten Laute jedoch, über die Gehirn- vorgänge, weit mehr im Dunkeln tappt, als man gewöhnlich glaubt.

Hat man aber erst nach Analogie der darwinistischen Darwinis- Entwicklungslehre auch für die Sprachgeschichte eine ahn- g^^^^^^g liehe Entwicklung angenonjmen, so ist die letzte Möglichkeit einer Vergleichung trotz der ungeheuren Lücke nicht aus- geschlossen. Der Verlust an Sprachdenkmälern, wie wir ihn annehmen müssen, wenn wir behaupten, die menschliche Sprache habe sich durch ungemessene Zeiträume entwickelt, von denen wir nur die aller] üngste Epoche kennen, - dieser Verlust entspricht wie gesagt dem, der entstanden wäre, wenn alle Organismen von den Moneren bis zum Afien herauf ver- schwunden wären. Es wäre dann wie ebenfalls gesagt kein Mensch darauf verfallen, die Moneren mit dem Menschen entwicklungsgeschichtlich zu vergleichen. Jetzt aber, wo wir an der Entwicklungsgeschichte der Tiere ein Vorbild besitzen, jetzt können wir wohl in der Phantasie diese ungeheure Brücke schlagen, und so dürfen wir auch die gegenwärtige Menschen- sprache mit ihrer Monere vergleichen, mit der Sprache der Tiere. Wir haben bei den Tieren bereits Artikulation und BegrifJsbildung gefunden. Ja ich möchte ganz abstrakt und allgemein behaupten, daß überall da, wo wir Mitteilung be- obachten, auch bereits Artikulation und Begriffsbildung vor- handen sein muß. Ich möchte diesen Gedanken noch er- weitern: wenn wir irgendwo bei noch so primitiven sprach- artigen Mitteilungen der Tierwelt Artikulation und BegriSs- bildung nicht nachzuweisen vermögen, so kann das nur an

382 X. Entstehung der Sprache

der Mangelhaftigkeit unserer Organe respektive an der Mangel- haftigkeit unserer eigenen menschlichen BegrifEsbildung liegen, ebenso wie die Annahme eines undifferenzierten, formlosen organischen Protoplasma ein Widersinn ist, der nur an der Mangelhaftigkeit unserer Sehwerkzeuge und ihrer mikroskopi- schen Hilfswerkzeuge liegen kann. Mir wenigstens scheint „formloses Leben" ein unvorstellbarer Begriff.

Wer sich also durch abergläubische Vorurteile abhalten läßt, die Tiersprache zu einer Vergleichung mit der Menschen- sprache heranzuziehen, der sollte auch eingestehen, daß er für immer darauf verzichtet, sich mit der älteren Geschichte der Sprache zu beschäftigen, der sollte das Wort Ursprache niemals zu gebrauchen wagen, der sollte damit zufrieden sein, daß er von seiner Frau Mutter ein paar verschlissene und abgegriffene alte Worte geerbt hat, mit denen er immerhin am Biertisch beim Kellner das frische Glas bestellen, den Genossen seine Meinung über die Regierung mitteilen und auf dem Nachhauseweg den Antrag eines Mädels verstehen kann. Was braucht er Erkenntnis, wenn er Hunger, Liebe und Eitelkeit befriedigt hat?

Eine wertvolle Vergleichung der Tier- und Menschen- sprache wird erst vorgenommen werden können, wenn reiche Beobachtungen durch Menschen vorliegen, die Artikulation und Begriffsbildung der Tiersprache zum Ausgangspunkte ge- nommen haben. Denn alexandrinisch ist einmal die Wissen- schaft ihrem Wesen nach, und Beobachtungen werden gewöhn- lich nur da gemacht, wo man sucht. Einstweilen müssen ordnungslos herausgegriffene Beispiele genügen. Arti- Daß die Tiersprache artikuliert ist, ergibt sich von selbst,

kulation -iii i-i- -r-. r^

wenn wir bedenken, em wie subjektiver Begriff m unserem „Artikulieren" steckt. Die Artikulation der Tierlaute dadurch beweisen zu wollen, daß menschhche Laute auch von Tieren hervorgebracht werden können, scheint mir ganz überflüssig. Es ist ja ganz interessant, daß zwei so verschiedene Tiere wie Katzen und Gänse, in Wut gebracht, durch eine ähnliche Artikulation gleicherweise einen ähnlichen Laut hervorbringen wie unser eh. Aber all diese Dinge ebenso wie die mecha-

Artikulation 383

nische Nachahmung der Menschensprache durch Papageien, Stare und Elstern beweisen doch nur, was gar nicht nötig wäre, daß Tiere spezifisch menschliche Laute artikulieren können. Artikuliert, das heißt durch eine bestimmte Stellung und Tätigkeit bestimmter Sprachorgane regelmäßig hervor- gebracht, ist am Ende jeder Laut. Wenn es der Mühe lohnte, so ließe sich über die Artikulierung der Einderstimme eine ebenso wissenschaftliche Phonetik schreiben, wie die Phonetik der Menschensprache ist. Dürfte man nur diejenigen Laute artikuliert nennen, welche in dem phönikisch-lateinischen Alphabet vorliegen, oder meinetwegen nur die, welche nach unserer Phonetik mit über hundert Zeichen ausgedrückt wer- den, so wären z. B. die Schnalzlaute der Hottentotten und die musikalischen Betonungen der Chinesen nicht artikuliert. Offenbar müßte man es aber eine semitisch-arische Beschränkt- heit nennen, die Laute sogenannter wilder Völkerschaften deshalb nicht zu den artikulierten Sprachlauten zu rechnen,, weil sie wesentlich anders artikuliert werden als die unseren. Das gleiche Verhältnis besteht zwischen den Lauten tierischer und menschlicher Mitteilung. Die verschiedenen Töne der Hundesprache, die nicht allein für die Nebenhunde, sondern auch für hundefreundliche Menschen verständlich sind, sind durch bestimmte Artikulation deutlich differenziert. Ganz besonders auffallend ist der Gebrauch verschieden artikulierter Töne bei den Hühnern, welche doch zu den dümmeren Tieren gerechnet werden. Ich kann in meiner Stube, ohne zum Fenster hinaus zu sehen, deutlich verstehen, ob der Hahn in seinem Männerstolz den Hahn im Nachbargarten heraus- fordert, das heißt kräht; ob er Futter gefunden hat und die Hühner herbeiruft, das heißt gackert; ob er endlich sich ge- legentlich um die Kücken kümmert, wobei er ebenso deutlich gluckt. Ich glaube sogar behaupten zu können, daß ich im zweiten Falle unterscheiden kann, ob er besonders reiches oder delikates Futter gefunden hat; mehrere Male gelang es mir, einen kleinen Frosch im Laufstall der Hühner zu ent- decken, nachdem der Hahn ganz eigentümlich lebhaft ge- gackert hatte. Ferner hat man beobachtet, daß der Warnungs-

384 X. Entstehung der Sprache

ruf der Gluckhenne differenziert ist, je nachdem ein vier- füßiges Tier auf der Erde oder ein Raubvogel in der Luft die jungen Hühner bedroht. Und die jungen Hühner scheinen durch ihr Benehmen zu beweisen, daß sie verstehen, ob der Feind von oben oder von der Seite kommt. Ich wüßte nicht, was das alles sein sollte, wenn es nicht artikulierte Sprache ist. Man komme doch nicht mit dem hilflosen Worte In- stinkt! Die Glucke warnt vor fremden Hunden; sie schweigt, wenn der Haushund sich den Kücken nähert.

Wenn man diese letzte Erscheinung analysiert, so ergibt sich nach menschlichen Vorstellungen zweierlei für die Sprache der Hühner: erstens, daß sie unter Umständen gegen den sogenannten Instinkt auch schweigen können, was doch selbst bei den Menschen erst eine Errungenschaft entwickelten Denkens ist; zweitens, daß Hühner den Begriff Hund ebenso wie den Begriff Erdentier und Lufttier erfaßt haben und daß sie von diesem Begriff das Individuum des Haushundes unterscheiden. Das führt uns auf den zweiten Punkt, der angeblich die Mitteilungen der Tiere von der Menschensprache unterscheidet. Tier und Wer ohne Vorurteil die Verständigung zwischen intelligen- ten Tieren untereinander und zwischen ihnen und den Men- schen beobachtet hat, für den wird es seltsam sein, daß Be- griffe für die Tiersprache erst noch ausdrücklich bewiesen werden müssen. Nicht einmal die Klugheit und Dummheit der Tiere macht da einen Unterschied; denn wir sind es ja gewohnt, Tiere wie auch Menschen nur dann klug zu nennen, wenn sie entweder schlau auf ihren Vorteil bedacht sind oder wenn sie uns durch Kunststücke amüsieren. So schreiben wir den reich gewordenen Egoisten und den bewunderten Künstlern einen hohen Grad von Intelligenz zu, den wir einem treuen, mit seinem Lose zufriedenen Arbeiter ab- sprechen; so nennen wir den diebischen Fuchs und den ab- gerichteten Elefanten kluge Tiere. Dazu kommt ein Neben- motiv unserer Terminologie, daß wir nämlich mitunter da- nach urteilen, ob das Tier sich leicht oder schwer für unseren Nutzen oder für unsere Gewohnheiten anlernen läßt. Wie

Tier und Mensch 385

der Lehrer leider den besten Schüler für dumm hält, wenn er sich dem schablonenhaften Schulplan nicht leicht einordnet, so nennen wir in Europa den klugen Esel dumm, weil er sich störrisch verhält gegen die Herrschsucht des Reiters. Um- gekehrt heißt wieder der Ochse dumm, weil er wie ein Höriger stumm und regelmäßig als eine Maschine vor dem Pfluge dem Zuruf gehorcht. Mit der menschlichen Klassifikation in dumme und kluge Tiere ist also nicht viel anzufangen. Be- griffe aber und mitunter recht abstrakte Begriffe haben in Mitteilung und Verständnis alle diese Tiere: der Hund und das Huhn, der Fuchs und der Elefant, der Esel und der Ochse. Das Experiment ist noch nicht angestellt worden, ob einer Rinderherde im Verlaufe vieler Generationen nicht am Ende eine größere Skala von Empfindungslauten beigebracht werden könnte, die selbstverständhch nur in Rinderartikulation und deren Nachahmung bestehen dürfte; eine Grenze aber hätte eine solche Möglichkeit jedenfalls an der Tatsache, daß die Vererbung bei den Tieren eine entscheidende Rolle spielt, daß um die Sprache dieser Untersuchung zu reden beim Tiere das Gedächtnis der Art unvergleichlich größer ist als beim Menschen, der ein erstaunliches Gedächtnis des Individuums hat.

Auf diese allerdings noch lange nicht genug konkrete Formel möchte ich die altbekannte Erscheinung zurückführen, daß z. B. das Huhn höchst entwickelt auf die Welt kommt, um nachher im Laufe seines Lebens fast keine Fortschritte mehr zu machen, während das Menschenkind unfertig, wie im Mutterleibe, geboren wird, nachher aber eine um so größere Entwicklung durchmacht. Wenn das Kücken aus dem Ei kriecht, hat es bereits sämtliche Muskelbewegungen des Laufens vom Gedächtnis seiner Art ererbt; das neugeborene Menschenkind muß sein Individualgedächtnis für das Sehen, das Hören ebenso bemühen wie für das Tasten und das Laufen. Ich möchte das so ausdrücken, daß das Menschenkind nichts anderes von seiner Art ererbt hat als die physiologischen Bedingungen zu seiner Entwicklung, das heißt minder gelehrt: seinen Leib mit den Knochen, Muskeln, Nerven und allen

Mauthner, Beitrage zu einer Kritik der Sprache. II ~3

386 X. Entstehung der Sprache

Sinnesorganen. Dieser Tatsache entspricht es vollkommen, daß das neugeborene Huhn auch seine Sprache oder wenig- stens das Verständnis für seine Muttersprache als Erbteil der Art mit auf die Welt bringt, während das Menschenkind seine Muttersprache sowohl für das Verständnis als für den Gebrauch viel langsamer durch sein individuelles Gedächtnis erlernen muß. Das hat für unsere Untersuchung eine ganz merkwürdige Folge. Wir sind davon ausgegangen, den un- klaren Begriff der Ursprache oder die Entstehung der Menscheu- sprache durch das Vorhandensein einer artikulierten und be- grifibildenden Tiersprache erklären zu wollen. Nun aber stellt sich heraus, daß die Sprache der durch ihre Mitteilungen auffallendsten Tiere seit Menschengedenken unverändert sich fortgeerbt hat, daß die Verpflichtung an uns herantritt, auch die Entstehung dieser Sprache historisch zu erklären, daß also die Tiersprache, welche uns beim Begreifen der mensch- hchen Ursprache helfen sollte, nun ihrerseits durch die Ent- stehung der menschlichen Individualsprache, durch die Kinder- sprache erst begreiflich wird. Um diesen Gedanken kurz zu- sammenzufassen: gerade die Tiersprache ist es, welche uns mit vielleicht wenigen, wahrscheinlich unklaren, aber offenbar fertigen Begrifien versehen entgegentritt, an unseren Kindern dagegen können wir mit ziemlicher Sicherheit beobachten, wie ihr vorsprachliches Lallen allmählich zu einer Begriffs- sprache wird.

Machen wir Ernst damit, auf die Entwicklung der Sprache den Haeckelschen (richtiger Fritz MüUerschen) Satz anzuwen- den: daß also die Entwicklung der Individualsprache ein kurz gedrängter Abriß der Sprache überhaupt ist, so werden wir jetzt nocli heller als vorhin sehen, wie sehr der Begriff Ur- sprache zeitlos und raumlos in der Luft schwebt. Wir müßten uns nach einer veralteten, für uns nicht mehr vorstellbaren Weltanschauung die Schöpfung des Menschen wie eine plötz- liche Erfindung denken, um ihn auch nur mit einer wurzel- haften ma-sta- Sprache begabt annehmen zu können. Wie wir uns die Entstehung der Menschenart seit Darwin erklären vollkommen phantastisch, unklar und unwissenschaftlich,

Tier und Mensch 387

wie niemals vergessen werden darf , wie wir uns aber im Zusammenhange mit unserer Weltanschauung den Menschen als ein sich entwickelndes Wesen vorstellen müssen, brachte er allerdings, als er sich von der nächst niederen Art differen- zierte, sicherlich entwickeltere Sprachwerkzeuge mit, als die Tiere sie besitzen. Das beweist aber nur, daß er eine reichere Auswahl artikulierter Laute zur Verfügung hatte, daß er also z. B. weit besser als andere Tiere im stände war, die Geräusche der Natur und die Stimmen der Tiere nachzuäffen. Damit brachte er aber noch keine Sprache auf die Welt, auch keine Ursprache. Was er mit auf die Welt brachte (phylogenetisch), das war nur insofern eine Sprache, also freilich d i e mensch- liche Ursprache, als diese Laute zur Mitteilung dienten. Hatte er aber diese seine menschliche Ursprache bereits von seinen affenähnlichen Vorfahren ererbt (immer unter der Voraus- setzung, daß Darwins Hypothese gilt), so hat auch diese seine menschliche Ursprache ihre Vorgeschichte in der Sprache der den Menschen vorangegangenen Art und so weiter zurück bis zu dem ersten Laut, den ein Wasserwesen von sich gab, als es ein Landtier wurde und durch Lungen atmete.

Kaum ein Phantast, der die Lächerlichkeit nicht scheute, könnte es unternehmen, auch nur über die Dauer dieser Ent- wicklungsgeschichte, geschweige denn über ihren Gang Ver- mutungen anzustellen. Nur einen einzigen Punkt dürfen wir wagen, aufklären zu wollen, wenn wir wie gesagt die Onto- genesis für ein Bild, ein stenographisches Bild der Phylogenesis ansehen. Wir können die Entstehung der Begriffe bei den menschlichen Kindern beobachten und daraus eine Vorstellung schöpfen, wie etwa in Urzeiten Begriffe überhaupt, also auch dit; Begriffe der Tiersprache entstanden sein könnten.

Nachdem wir uns den Sachverhalt, wie wir uns ihn in Kinder- unserer heutigen Sprache, das heißt nach unserer heutigen ^^^^ Weltanschauung nicht anders deuten können, in seiner ganzen monströsen Ausdehnung und Kompliziertheit vor Augen ge- führt haben, wollen wir weiterhin mit vollem Bewußtsein den Fehler begehen, die Vorgeschichte der Menschensprache eine Weile nicht zu beachten und die Entstehung der Kinder-

388 X. Entstehung der Sprache

spräche nur mit der menschlichen Ursprache zu ver- gleichen. Denn es ist am Ende doch ein vorauszusetzender historischer Abschnitt, und es würde in purpurne Finsternis führen, wollten wir den Abschnitt etwa bei der Entstehuncr der Amphibien aufsuchen. Nun muß vor allem eins fest- gehalten werden: daß in den Urzeiten der Menschheit die ganze Menschheit viel primitiver sprechen lernte als heute das erste beste Kind. Nehmen wir beispielsweise an, daß der Hund und das Huhn je drei Sprachlaute besitzen, je drei Begriffe beherrschen, daß der AfEe sechs Sprachlaute und Begriffe sein eigen nennt, daß die neugewordene Mensch- art der Urzeit um nur eine Ziffer zu nennen zwölf arti- kulierte Sprachlaute oder Begriffe besaß, so hatte das Menschen- kind jener Urzeit eben auch nicht viel ontogenetisch nachzu- holen; konnte aber auch von seiner Mutter nicht viele Be- griffe erlernen. Das heutige Kind kommt ebenso stumm auf die Welt wie das der Urzeit, seine Eltern jedoch verfügen je nach der Kultur ihres Volkes und ihrer eigenen Bildung über einige hundert oder gar über einige tausend Sprachlaute oder Worte. Den spielenden Gebrauch dieser Sprache von Hunder- ten oder Tausenden von Worten hat also das zivilisierte Menschenkind von seiner Umgebung zu lernen. Wir werden später sehen, in wie ungleichem Tempo dieses Lernen erfolgt. Wie es anfangs Monate braucht, bevor das Kind ein oder zwei Worte erlernt, wie dann der Wortvorrat rascher wächst, wie einige Jahre lang das Wachstum so schnell wird, daß täglich nicht nur neue Begriffe, sondern gleich neue Gruppen und neue Analogien hinzukommen, wie dann der erwachsene Mensch wieder langsamer lernt und wie in höherem Alter wieder nur selten einmal ein neues Wort dem Sprachschatze hinzucrefü^t wird. Wir lassen hier auch den Umstand bei Seite, daß in ebenso ungleichem Tempo auch die Fülle jedes einzelnen Begriffs wächst. An dieser Stelle wollen wir, um mit dem Begriff Ursprache eine bessere Vorstellung verbinden zu können , nur untersuchen , was es eigenthch mit dem Sprechenlernen des Kindes auf sich hat, auf welche Weise die Individualsprache ontogenetisch entsteht.

Sprachenlernen 389

Am deutlichsten fällt in die Augen, daß das Kind die Sprechen- Sprachlaute seiner Mutter und seiner übrigen Umgebung nach- ahmt und allmählich dazu gebracht wird, mit dem Schall dieser Laute Vorstellungen von bestimmten Dingen zu ver- binden. Das Sprechenlernen geht langsam vor sich, so lange das Kind eben bei jedem einzelnen Sprachlaut besonders die Entdeckung machen muß, daß er einem Dinge entspreche. Und wer weiß, ob so ein Kind in dieser Lebenszeit nicht ein scholastischer Realist ist, an die Wirklichkeit platonischer Ideen glaubt, das heißt sich vorstellt, der Name Kuchen z, B. sei eine Art Gott, der ihm die leibliche Berührung mit dem süßen Ding Kuchen gestattet oder ermöghcht. Es kommt dann zu einer Revolution im Kindergehirn. Das Kind hat erfahren, daß die hörbaren Töne aus dem Munde der Mutter immer ein Ding bedeuten; es fängt an, mit Bewußtsein und schnell sprechen zu lernen.

Man sagt so obenhin, und wir haben es eben auch oben- hin nachgesprochen, daß das Kind die gehörten Sprachlaute nachahme. In dieser außerordentlich komplizierten Leistung, nämlich auf Anregung von gehörten Sprachlauten die eigenen Sprachorgane so in Tätigkeit zu versetzen, daß sie ähnliche Schallwellen erzeugen, in dieser Leistung liegt eine geheimnis- voll reiche Erbschaft, die zum mindesten den Fähigkeiten des neugeborenen Hühnchens entspricht, sofort in geeigneter Weise zu laufen und zu picken. Es ist nicht anders mögUch, als daß nicht nur die Gehör- und die Sprachorgane mit den unzugänglichsten Feinheiten ihrer Konstruktion ererbt sind, sondern auch die Anlagen zu den Nervenbahnen zwischen Gehör- und Sprachwerkzeugen. Wie der gleiche Baum, seit- dem seine Art auf der Erde besteht, immer die ähnliche Blatt- form bildet, so formt die Menschenart mit ihren Sprachwerk- zeugen die ähnhchen Laute. Damit ist aber noch nicht an die Frage herangetreten, wie das Kind sprechen lerne, wie es in den sprachlichen Verband seines Volkes eintrete, wie es zuerst die gemeinsamen Vorstellungen mit gemeinsamen Sprachzeichen verbinde.

Es lernt von der Mutter die Sprachlaute zugleich mit den

390 X. Entstehung der Sprache

Vorstellungen, die sie bezeichnen. Sehr schön. Das könnte in jeder Fibel stehen. Wie kann es aber diese Verbindung von Sprachlauten und Vorstellungen begreifen, da es doch sprechen lernen muß, ohne vorher sprechen zu können, ohne vorher auch nur die dunkelste Ahnung zu haben, daß die Sprachlaute der Mutter mehr bedeuten als das Summen einer Fliege? Das Kind lernt also wirklich ganz und gar von An- fang an sprechen, ganz genau so, wie nicht etwa der Urmensch, sondern wie das Urtier sprechen lernte, bevor irgend ein Wesen sprechen konnte. Sprach- Bekanntlich berichtet schon Herodot, daß ein ägyptischer

erfindung g;önjg einmal in sehr kindUcher Weise das Experiment an- der Kinder '^ t i- -l

gestellt habe: welche Sprache lernen Kinder, die man ohne andere sprechende Menschen aufwachsen läßt. Man hat kaum schon bemerkt, daß ein Vorgang, der diesem Experiment ent- spricht, in jed-er Kinderstube tägUch beobachtet werden kann. Wer immer Kinder beobachtet hat, wird schon gehört haben, daß sie irgend einen Zuiallslaut mit einer Vorstellung ver- binden, daß sie sich ihre eigene Sprache zu erfinden suchen. Ich denke da nicht an diejenige Kindersprache, welche die Worte der Muttersprache falsch nachahmt und in der falschen Artikulation festhält, weil die Umgebung sich das Kinderwort aneignet. Ich denke an solche Fälle, in denen das neugebildete Wort nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit dem Worte der Erwachsenen hat. So nennt ein Kind von drei Jahren zu- fällig die Schokolade „Kellerelle" und die Familie und bald der ganze Bekanntenkreis sagt für Schokolade Eellerelle. Trotzdem aber so die instinlctive Liebe der Eltern und das Spiel der Freunde sich bemüht, solche neuerfundene Zufalls- worte festzuhalten und sie auch wirklich oft für einige Jahre zu Bestandteilen einer Gruppensprache werden, müssen sie am Ende wieder verschwinden. Sie sind der weiteren Gruppe der Stadt- und Landgenossen nicht verständHch und werden darum in dem großen Prozeß der Sprachbildung unbarm- herzig ausgeschieden wie auch im übrigen Verkehr zwischen den Menschen die Tendenz besteht, alles Charakteristische und Individuelle zu unterdrücken zum Besten der gemeinen

Spracherfindung der Kinder 391

Allgemeinheit. Und jedermann kann gelegentlich sehen, daß in diesem Prozeß das heranwachsende Kind gegen seine eigene Individuaütät Partei ergreift. Es will sprechen wie alle an- deren, sowie es später wird Kleider tragen wollen wie alle an- deren. Während noch die Eltern und die Freunde von Relle- relle sprechen, hat bereits der dreijährige Fratz bemerkt, daß die Großen untereinander das Ding anders nennen; und so kommt es bald vor, daß der Fratz zum Schulmeister wird und den eigenen Vater verbessert. „Nicht Rellerelle Lade (für Schokolade) sagen." Das Kind selbst gewöhnt den Eltern die individuelle, neu erfundene Sprache ab. Wir können vor- aussetzen, daß die Entwicklung ganz anders verhefe, wenn irgendwo auf einer wüsten Insel eine Mutter ein Kind zur Welt brächte, und mit ihm allein weiter lebte. Dann würden gewiß die Erfindungen des Kindes eine solche Macht behalten, daß die Gemeinsprache zwischen diesen beiden Menschen zum guten Teil aus neu geprägten Kinderworten bestünde. Doch auch dieses Experiment ist noch nicht gemacht worden.

So flüchtig also auch die Wirkungen sind, welche die eigenen Erfindungen der Kinder auf eine Volkssprache haben, so können sie doch dazu benützt werden, die Entstehung der Sprache in der Urzeit zu erklären. Ist doch auch die andere wichtige Erscheinung der Kindersprache, die ich hier aus- drückhch beiseite gelassen habe, nämlich die Unvollständig- keit und Falschheit der Artikulation sowie die falsche Ana- logiebildung (trinkte anstatt trank), ist doch alle die Um- bildung der Sprache aus Faulheit, Ungeübtheit, kurz aus Bequemhchkeit, vorbildhch für diese Entwicklung der Sprache, die unter dem Begrifi des Lautwandels zusammengefaßt wird. Viel tiefer noch können wir in das Geheimnis der psycho- logischen Entstehung der Sprache hineinbhcken, wenn wir die Erfindung solcher Zufallsworte der Kindersprache genau analy- sieren. Ich will mich dabei an das Kindertagebuch halten, welches Preyer unter dem stolzen Namen „Die Seele des Kindes" (4. Auflage) herausgegeben hat ; seine Beobachtungen sind oft falsch gedeutet, aber sie haben für mich den objek- tiven Wert, daß sie nicht in meinem Sinne angestellt worden

392 X. Entstehung der Sprache

sind. Will doch Preyer immer wieder beweisen, daß es ein Denken vor dem Sprechen gebe. Er war ein schlechter Philo- soph und ein schlechter Psychologe; aber er hatte gewissen- haft (von der Mutter unterstützt) drei Jahre lang an seinem Kinde Tatsachen gesammelt. Kind und Vorher jedoch möchte ich wieder einmal auf die Un- Hühnchen Möglichkeit hinweisen, Sprachphilosophie mit den Mitteln der Sprache zu treiben. Ich möchte nämlich zeigen, daß der klaffende Gegensatz, den wir zwischen der Geistesentwicklung eines unfertig geborenen und später sich reich entfaltenden Menschenkindes und der eines fix und fertig geborenen Hühn- chens annehmen, doch nur auf einer Unbehilfhchkeit der Sprache beruht und daß auch dieser Gegensatz durch Über- gänge vermittelt wird, für welche uns nur bisher die Bezeich- nungen fehlen. Es ist wahr, daß das neugeborene Hühnchen sofort sieht und hört, läuft und pickt, daß das neugeborene Menschenkind blind, taub, hilflos und stumm ist. Es muß also das Menschenkind individuell lernen, was das Hühnchen durch sein Altgedächtnis ererbt hat. Da habe ich aber schon das unscheinbare Wörtchen „sofort" gebraucht. Und doch läuft das neugeborene Hühnchen wenige Stunden nach der Geburt viel sicherer als in der ersten Minute : es hat die Koor- dination der Laufbewegungen ebenfalls erst einüben müssen. Und das Menschenkind lernt, wenn auch nicht sehen und hören, so doch das Wahrnehmen von Licht- und Schall- empfindungen ebenfalls so rasch, daß sich dieses „sofort" als ein relativer Begriff erweist. Es gibt aber eine Lebensäuße- rung des Säuglings, welche wirklich in der ersten Minute nach der Geburt eintreten muß, wenn der Säugling am Leben bleiben soll: das Atmen. Wir sind also geneigt, dem neu- geborenen Menschenkinde in seinen Atembewegungen doch einen ererbten Gebrauch seiner Muskeln zuzugestehen, und helfen uns über die Schwierigkeit dadurch hinweg, daß wir wieder den Instinkt bemühen und an die Muskeltätigkeit des Herzens erinnern, die ja schon im Mutterleibe vor sich geht und am bebrüteten Hühnerei sehr frühzeitig sichtbar gemacht werden kann. Stellen wir uns aber vor, daß das Sauerstoff-

Kind und Hühnchen 393

reichere Blut der Mutter, welches dem Embryo durch den Mutterkuchen zuströmt, bereits einen Reiz in der Lunge aus- übt, so können wir ganz wohl sagen, daß die spätere Tätigkeit der Lunge im Mutterleibe gewissermaßen theoretisch gelernt wird, so wie man die Kinder die ersten Schwimmbewegungen auf dem Lande einüben läßt. Ich will mit alledem nur an- deuten, daß die Grenzen zwischen dem Individual- und dem Artgedächtnis niemals genau bestimmt werden können, daß wir mit unserer Sprache niemals in die Abgründe der Psycho- logie hineinleuchten können.

Man müßte eigentUch, anstatt die Worte Individual- und Artgedächtnis zu gebrauchen, ganz allgemein von einem jüngeren und von einem älteren Gedächtnis jedes Lebewesens sprechen. So ist z. B. die Anpassung der Pupille an hellere und dunklere Lichtreize, welche bei neugeborenen Kindern und auch bei Tieren sofort eintritt, aus Urzeiten ererbt, das Ergebnis einer uralten Gewohnheit, eines uralten Gedächt- nisses, und wird darum dem Instinkte zugeschrieben. Das SchUeßen der Lider jedoch, wenn das Auge des SäugUngs berührt wird, wird erst später gelernt , mag also (phylo- genetisch) eine jüngere Gewohnheit sein, wird aber dennoch beim erwachsenen Menschen zu den instinktiven Reflex- bewegungen gerechnet.

So sehr die Ausdrucksweise stören mag, so muß ich doch nun wiederholen, daß das Artgedächtnis eines neugeborenen Kindes eigenthch nur in seinem Körper besteht. Ich meine das nicht bildlich, sondern buchstäblich. Das Gedächtnis der Menschenart ist der Leib des Kindes mit seinen Sinnesorganen, die ja wieder, wie wir lehren, menschliche Zufallsorganc sind, die ebenso gut hätten Organe zur Wahrnehmung der Elektri- zität oder des Lebens werden können. Nun sagt man ge- wöhnlich, und ich habe es eben auch gesagt: das Kind kommt blind und taub auf die Welt. Auch dieser Satz bedarf viel- leicht einer Einschränkung. Das Kind lernt allerdings, und zwar recht langsam, diejenigen Wahrnehmungen, welche für den erwachsenen Menschen Sehen und Hören bedeuten. Wann aber hört der Mensch auf, sehen und hören zu lernen? ^^ er

394 X. Entstehung der Sprache

in seinem sechsten Jahre Musik zu treiben beginnt, lernt eine komplizierte Fülle von Tönen unterscheiden, von denen er vor- her keine Aluumg hatte. Wer in seinem zwanzigsten Jahre viel mit Malern verkehrt oder gar selbst zu malen beginnt, lernt Einzelheiten und Gruppenbilder sehen, die wir anderen wohl auch perzipieren aber nicht apperzipieren. Was das Kind in den ersten Lebenswochen mühsam erlernt, das ist das Sehen und Hören des Durchschnittsmenschen. Aber auch das neugelmrene Kind reagiert schon (wtMin auch vielleicht nur nach dem (tcl'ühl des Angcncl\mcn und Unangenehmen) auf Schalleindrücke und auf hell und dunkel. Es reagiert auf starke Geräusche und auf den Unterschied zwischen süß nud bitter. Der sogenannte Tastsinn gar dürfte schon im Muttcrleibe reagieren. Und wer sagt luis, daß sehr starke Licht- und Schalleindrücke nicht auch schon durch den Älutter- Icib hiniluiHh auf die Organe des Kmbvvos einen Reiz aus- üben? Es will mir scheinen, als ob die Geburt des Kindes in seinem Leben zwar gewiß eine höchst wichtige Epoche bilde, aber doch nur eine Epoche wie dann später etwa das Eantreten der Pubertät. Daß aber nicht vergessen werden dürfe, wie die Geschichte des individuellen Lebens, auch des sogenannten Seelenlebens, schon vorher beginnt. Die Zufalls- sinne sind in der Anlage mindestens schon vorher vorhanden. Wir werden gleich sehen, daß das Kind Zufallslaute und Zufallslaut gruppen hervorbrit\gt , lange bevor es sprechen kai\n. Pa n\ni ilas Hervorbringen aller Laute viun sogenann- ten Willen erzeugt wird, ist es notwenilig, ilarauf hinz\iweisen, daß auch die Hewegungen des neugeborenen Kindes Zulalls- bewegungen sind, die dann frciliih von ehrgeizigen Müttern gern planviUl ausgedeutet werden. Das Kind bewegt gleich nach der Geburt die Muskeln seines Gesichts und die der Ärmchen und Beinchen; selbstverständlich sind da auch schon die Nerven in Tätigkeit, von weichen alle diese Muskeln ressor- tieren. Es bedarf aber keines Beweises, daß diese Bewegtmgen keiner Absicht entsprei'hen. keinem Willen. Denn ebenso- wenig, wie im nenken inier S[n'echen irgend etwas sein kann, was nicht viuher in den Sinnen war. ebensoweniu ist im

ZuOill 395

Willen etwas vorhanden, was nicht vorher ebenfalls in den Sinnen war. Solange die Sinne sich nicht in der umgebenden Welt orientiert haben, solange kann auch keine orientierte l^ewegung denkbar sein. Das ergibt übrigens auch der Augenschein.

Wir müssen einen Augenblick stehen bleiben, um uns an zufaii die lUnleutung des Begriffs „Zufall" der hier so oft wieder- kehrt zu erinnern. „Zufall" ist ein höchst armseliges Menschenwiu-t. das, auf die Natur angewendet, keinen rechten Sinn mehr hat. Wären wir strenger in unserem Sprach- gebrauch, so dürften wir das Wort „zufiillig" nur im Gegen- satz zu „absichtlich" aussprechen. Von Absichten wissen wir aber nur bei I\lenschen etwas, nicht in der Natur. Mit einem sehr schlechten Bilde sagen wir also und das ist der häufigste Gebrauch des Wortes Zufall , daß z. B. der BHtz in dieses und dieses Hans zufällig eingeschlagen habe. Unsere Welt- anschauung verbietet uns jedoch, den Weg des Blitzes anders als aus einer unbedingten Notwendigkeit zu erklären. Wemi wir nun im Laboratorium die Entladung eines Funkens aus der Elektrisiermaschine für notwendig, in der Wirkhchkeits- welt jedoch das Einschlagen des Blitzes in ein bestimmtes Haus für zufällig erklären, so meinen wir doch nur, daß wir die Bedingungen des ersten Falls kennen, die Bedingungen des zweiten Falls nicht kennen. Im Gegensatz zu „absicht- lich" bedeutet „Zufall" ein Nichtwollen; im Gegensatz zu „notwendig" soll es ein Nichtwissen ausdrücken. Das Ge- meinsame des Bildes steckt einzig imd allein in der Negation. (Ein dritter Gebrauch deii W^ortes Zufall, wenn wir nämUch einen Nebenumstand, das heißt etwas, was uns weniger inter- essiert, z. B. ob der Blitz die Mauer oder das Dach zuerst ge^ trofien habe, zufälhg nennen, geht uns hier weniger an, weil alle Welt sich über die Relativität dieses Zufallbegrifis klar ist.)

In der Welterklärung heißt für \ms also Zufall alles das, Wi^ wir nicht erklären können. Es ist mcht übertiüssig, sich djis klar zu machen. Denn nicht nur in der Umgangssprache ist mitunter halb wissenschafthch von einem „(k)tt Zufall" die Rede, sondern dieser Gott Zufall hat auch in der Geschichte

396 X. Entstehung der Sprache

der Welterklärung eine Rolle gespielt. Demokritos hat etwas zu sagen geglaubt, als er lehrte, daß seine Atome „zufällig" zu den Körpern der Natur sich verbinden. Hätte er sich deutlich gemacht, daß Zufall nur unser Nichtwissen ausdrückt, so hätte er das wohl ausdrückhch gesagt; sein Zufall war ihm aber irgend eine positive Gottheit, und darum ist über diesen Zufall so viel gestritten worden. (Vgl. I^, S. 353 fi. und Art. Zufall in meinem „Wörterbuch der Philosophie".) zufan und Wenn wir uns nun über die Negativität des Zufallbegriffs ^''^^*". klar sind, so werden wir von jetzt ab nicht ohne eine grausige "^ Ironie erkennen, was es mit der Welterkenntnis auf sich hat, die ja doch nur an unserer Sprache haftet wie das Licht an den Körpern. Es ist nämlich einerseits unsere Welterkenntnis nichts anderes als die geordnete Summe dessen, was durch unsere Zufallssinne in unser Denken oder Sprechen eingetreten ist. Die Welterkenntnis eines Eisenstücks oder eines Klumpen Bernstein ist in einer Beziehung reicher als die Welterkenntnis des Menschen, weil das Eisenstück und der Bernsteinklumpen etwas wie „Sinne" haben für die in der Welt vorhandene magnetische und elektrische Kraft. Wir Menschen sehen diese „Energien" nicht; wir lernen sie erst kennen, wenn sie sich in sichtbare Erscheinungen verwandelt haben. Es ist also ein Zufäüiges in äußerster Potenz, was wir von der Welt wahr- nehmen und was wir faute de mieux unser Wissen nennen. Dieses Zufallswissen haben wir, um es übersichtlicher merken zu können, im Gedächtnis an die Sprache geknüpft. Alle Versuche, die Entstehung der Sprache zu erklären, die Ur- sprache zu ergründen, gehen aber von dem beneidenswerten Glauben aus, daß erstens unser Denken der Wirklichkeits- welt analog sei, daß zweitens zwischen unserem Denken und unserem Sprechen irgend eine geheime Beziehung bestehe. Wir aber erkennen nun und entsetzen uns darüber, daß: wie unser Denken nur ein Zufallsblick in die Wirklichkeit sein kann, wie der Bedeutungswandel der Sprachgeschichte ein Werk des Zufalls ist, so auch die Sprache aus Zufallslauten hervorgegangen sein muß, wenn wir die Kindersprache mit der Entstehung der Ursprache in Vergleichung setzen dürfen.

Zufall und Welterkenntnis 397

Möge man sich darüber verwundern. Diese Verwunderung ist ja doch die höchste Geistestat, deren der stolze Mensch fähig ist. Nur daß man sich selten an der richtigen Stelle verwundert.

Es ist also um diese Zwischengedanken abzuschließen die Fünfzahl unserer Sinne insofern zufällig, als wir ihre notwendige Beziehung zu der übrigen Entwicklungsgeschichte des Menschen nicht kennen ; es sind die Laute und Lautgruppen, welche der Säugling hervorbringt, insofern zufällig, als er sie so und nicht anders unabsichtlich artikuliert. Diese Zufällig- keit der Laute entspricht vollkommen der Zufälligkeit aller anderen Bewegungen im ersten Kindesalter. Mechanisch und anatomisch bewegen sich Ärmchen und Beinchen auch im dummen ersten Vierteljahr ebenso wie später; es fehlt aber jeghche Absicht oder, da wir auch von dieser Tatsache nichts wissen, es fehlt die Übereinstimmung mit irgend welcher Ab- sicht. Eine Ausnahme machen nur die Bewegungen beim Saugen und beim Entleeren, die wir freilich gern dem starken Esel Instinkt aufbürden. Die Bewegung des Greifens, welche das Kind vom vierten Monate an erlernt, ist zwar nicht kom- plizierter als die Bewegung des Saugens, aber unsere Sprache bezeichnet sie bereits als einen Willensakt, vielleicht weil wir das Kind nach uns beurteilen und ihm eine bewußte Absicht zuschreiben, ein Denken.

Lange noch, nachdem der Säugling mit seinem übrigen Körper zweckmäßige Bewegungen zu machen gelernt hat, dauert das zwecklose, zufällige Hervorbringen von Lauten und Lautgruppen fort. Absichtlich ist in dieser ersten Zeit nur das Schreien des Kindes, und zwar von der Zeit ab, wo der Säugling die Erfahrung gemacht hat, daß sein Schreien irgend ein Unbehagen wie Hunger oder Nässe abstellt. Von diesem Tage an erst ist sein Schreien Sprache, während der Schrei des neugeborenen Kindes, da es ihn selbst nicht hört und nichts von einer Außenwelt weiß, also keine Mitteilung beabsichtigen kann, noch nicht Sprache ist.

Der Zufall jedoch, daß das Instrument für die Atmung z'^"''»''^- zugleich ein Musikinstrument ist, bringt das Kind sehr bald Kinder

398 X. Entstehung der Sprache

dazu, sinnlos auf diesem Instrumente zu spielen. Das Kind braucht nur beim Ausatmen die Zunge zu bewegen (und es bewegt sie weit lebhafter, als es erwachsene Menschen tun), um ein Geräusch zu erregen, das ihm offenbar Vergnügen macht. Wir sind es gewohnt, dieses Geräusch der kindlichen Sprach Werkzeuge nur dann Lallen zu nennen, wenn wir die hervorgebrachten Töne mit unserem traditionellen Alphabet nicht ausdrücken können; es wird sich empfehlen, auch die nach diesem alphabetischen Schema artikulierten Silben, die absichtslos bis weit ins zweite Jahr hinein spielend ausgefiJhrt werden, gleichfalls noch ein Lallen zu nennen. Man hat nun die Seele des Kindes bis zum Ablauf des ersten Jahres oft mit der Tierseele verglichen. Je mehr ich aber geneigt bin, das Seelenleben der Tiere höher einzuschätzen, als es gewöhn- lich geschieht, desto lebhafter muß ich solche Nebeneinander- stellungen im einzelnen zurückweisen. Unbedingt hat das Kind dasjenige mit dem Tiere gemein, was ich das ältere Artgedächtnis genannt habe; und wieviel von dem jüngeren Artgedächtnis noch tierisch ist, das wird sich in abstrakten Begrifien kaum ausdrücken lassen. Die individuelle Entwick- lung des Menschenkindes geht jedoch sofort nach der Geburt ihre eigenen Wege. Äußerlich hat es die Volubihtät der Zunge geerbt und beginnt die künftige Sprache zufällig einzuüben; innerlich gar ist ein Unterschied vorhanden, den jede Amme kennt. Das Kind erlernt nämlich ungleich schneller das Ver- stehen der Sprache als ihren Gebrauch. Einige Kunststück- chen („Wie groß ist das Kind?" „Bitte, bitte!") lernt das Kind auf Befehle der Eltern nach dem ersten Jahre ausführen, während es die Worte „groß" und „bitte" selbst nach dem zweiten Jahre nicht immer auch nur mangelhaft nachspricht. Es wäre Sache der Physiologen, mit der Methode von Flechsig am Kindergehirn nachzuweisen, daß die Nervenbahn vom Ohre zum „Zentrum" rascher und vollständiger entsteht als die Bahn vom Zentrum zum Sprachorgan, und diese wieder (entsprechend anderen Beobachtungen) rascher als vom Zen- trum des Sehorgans zu dem Sprachorgan. Doch auch solche physiologische Entdeckungen würden nichts erklären, würden

Zufallslaute der Kinder 399

nur genauer beschreiben, was wir heute schon wissen: daß nämlich das Kind die Sprache früher versteht , als aktiv gebraucht. Eine ähnliche Erscheinung bietet auch jeder Er- wachsene, wenn er eine fremde Sprache lernt; er versteht sie früher, als er sie sprechen kann. Beim Erwachsenen kann freilich der Grund auch darin liegen, daß ein ungefähres Ver- stehen der Hauptsilben eines Satzes den Sinn schon erraten läßt, daß aber das Stammeln der bloßen Hauptsilben (wie es in der Praxis oft genug geschieht) gegen den Bildungsstolz des Lernenden wäre. Das Kind jedoch versteht und befolgt den Zuruf „Wie g r o ß ist das Kind?" bevor es noch die Haupt- silbe „groß" auch nur verstümmelt als „oo" nachzusprechen vermag oder versucht. (Wobei ich bemerke, daß das mit der Beschränktheit eines Erwachsenen gesagt ist; denn wir vermuten den Versuch einer Nachahmung erst dann, wenn wir eine Ähnlichkeit wahrnehmen. Vielleicht hat aber das Kind schon oo nachzuahmen versucht, wo es brr gesagt hat. Die Seele des Kindes ist uns anfangs so verschlossen wie die des Tieres.)

Es liegt also ein bis zwei Jahre die Tatsache vor, daß das Kind eine Anzahl Worte seiner Muttersprache bereits ver- steht (wenn auch nicht immer richtig versteht), sich etwas bei ihnen denkt, während es die gleichen Lautgruppen nicht nachzuahmen, wohl aber zufällig vor sich hinzulallen vermag. Preyer hat nun nach Beobachtungen an einem einzigen Kinde eine niedliche Tabelle solcher Zufallssilben aufgestellt und sie unglücklicherweise häufig als Ursilben oder Urworte bezeichnet. Die Voraussetzung Preyers ist aber ganz verkehrt. In not- wendiger Abhängigkeit von unbekannten Feinheiten der Ner- ven und Muskeln i ines Kindes ist es, zufällig also für unser Wissen, ob das eine Kind beim Lallen mehr die Lippen oder mehr die Zunge bewegt. Hat es aus solchen zufälligen Um- ständen die Gewohnheit angenommen, die Zungenspitze irgend- wo an das Zahnfleisch zu legen, so werden D-Laute entstehen ; arbeitet es mehr mit den Lippen, so kommen B-Laute heraus. Unter den Lippenlauten ist dann wahrscheinUch der labiale Nasal m leichter zu stände gebracht als das p. Wenn nun

400 ^- Entstehung der Sprache

z. B. das Kind bereits im zweiten Monate das Zufalls wort ,,mamamama" lallt, im neunten Monate „papapa", so hat das mit dem Sprachworte Mama und Papa nicht das Mindeste zu schaffen. Noch im Anfang des zweiten Jahres, wenn das Kind Mama und Papa richtig hört und die Personen richtig zeigt, kann es die Laute nicht immer richtig nachsprechen, die es Monate vorher gelallt hat.

Die angebUchen Onomatopöien oder Klangnachahmungen der Kinder dürfen uns nicht irre machen. Teils gehören sie dem Gebiete des Kinderstubenlatein an, teils fallen sie in eine spätere Zeit des Sprechenlernens. Niemals würde ein Kind von selbst darauf kommen, den Klang des Pendelschlags ticktack zu nennen.

Grundfalsch ist es, wenn Preyer dieses Sprechenlernen der Kinder mit ihrem Schreibenlernen vergleicht, weil in beiden Fällen keine neue Erfindung gemacht werde. Das Kritzeln, zu welchem übrigens nicht einmal alle Kinder Gelegenheit haben, hat nicht die entfernteste Beziehung zur Sprache, nicht einmal zur Schrift; das Lallen jedoch übt die Laute und Silben der künftigen Sprache im Spiele bereits vollständig ein.

HoffentHch wundert sich niemand darüber, daß der Säug- ling bei seinem Lallen gerade die Laute seiner künftigen Menschensprache einübt und nicht etwa das Schnattern und Heulen und Zwitschern und Brüllen der Tiere. Es sind ja die menschlichen Sprachorgane im wesenthchen gleich gebaut und so wenig auf einer Flöte ein Paukenschlag geblasen wer- den kann, so wenig ist es dem Instrument des Säuglings natürlich, Tierstimmen nachzuahmen. Innerhalb der Zufalls- laute eines Säuglings müßte sich die angenommene Ursprache der Menschheit bewegt haben.

Damit sind wir auf Umwegen da angelangt, wo wir den Begriff der Zufallslaute klarer als bisher von der Kinder- sprache auf die Ursprache übertragen können. Zugleich wird der Charakter der Zufälligkeit teilweise aufgehoben, weil wir das Selbstverständliche nun anschaulicher vor uns haben, daß nämhch die Zufallslaute abhängig sind vom Bau des mensch- lichen Sprachinstruments. Zufällig sind sie nur insofern, als

Zufallslaute der Kinder 401

wir ihre mechaniscli-mathematische Formel nicht kennen. So geht es uns aber doch auch bei anderen Musikinstrumenten. Wir können die Klangfarben der Flöte, der Geige, der mensch- lichen Stimme noch nicht in mathematische Formeln fassen; dennoch sagen wir mit voller Sicherheit, irgend ein Stück sei gut oder schlecht für die Flöte, die Geige, die menschUche Stimme komponiert. Hat aber der Komponist das Instrument, für welches er schrieb, als eine gegebene Tatsache vor sich, so ist unser Sprachwerkzeug im unendlichen Gange der Ent- wicklung gewissermaßen zugleich Instrument und Produkt der menschlichen Sprache geworden. Die Sprache ist also gar nicht in der Lage, für ihr Instrument ein Stück zu kompo- nieren, das seinem Charakter nicht entspräche.

Könnten die menschlichen Kinder aufwachsen, ohne von ihrer Umgebung auch die entwickelte Sprache mit zu über- nehmen, so müßte aus ihren Zufallslauten immer wieder eine neue Ursprache entstehen, und keine wäre der anderen ähnhch. Der Begrifi der Ursprache löst sich uns also an dieser Stelle in den eines zufälligen Anfangs auf. Die Frage, ob alle Menschensprachen der Erde von einer einzigen Ursprache ab- stammen oder nicht, wird gegenstandslos, weil in dem einen wie dem anderen Falle nur wenige Zufallslaute an den An- fang zu stehen kommen, so daß selbst bei der Annahme eines uranfängHch einheitlichen Beginns die Zufallsdifieren- zen schon zu einer Zeit auftreten müßten, die für die Gegen- wart ebensoweit zurückliegt. Es mag der Adler glauben, daß er der Sonne näher kommt als etwa das auffliegende Huhn; für die Sonne selbst ist Adler und Huhn der Erde gleich nahe.

Das Verhältnis des Lallens zur Erlernung der Mutter- Ent- spräche läßt sich beim Kinde am besten während des letzten ^j^^. jjjj" Viertels des ersten Lebensjahres beobachten. Da hat der teiiung»- Säughng den größten Schritt der urzeithchen Menschen- ""^^j',, geschichte in seinem Gehirn kleinweise bereits wiederholt: er hat begriffen, daß das Tönen des Sprachorgans zur Mitteilung zwischen den Menschen geeignet sei. Er versteht bereits einige Worte seiner Umgebung und reagiert darauf mit seinen Bewegungen. Er ahnt auch bereits, daß er im stände sein

Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache. II *-"

402 X. Entstehung der Sprache

werde, diese Töne nachzumachen; aber die ersten Versuche mißlingen vollständig, er hört irgend etwas Tönendes, bewegt aufmerksam Zunge und Lippen und bringt etwas anderes Tönendes hervor. Es ist schon vorhin darauf aufmerksam gemacht worden, daß wir durchaus nicht wissen können, ob nicht irgend eine Absicht der Nachahmung auch dem Lallen dieses Lebensjahres zugrunde liegt. Jedenfalls hören wir Erwachsenen keine Bestandteile der Muttersprache heraus. Was wir wahrnehmen können, das ist folgendes: das Kind weiß jetzt (ungefähr so wie ein erwachsener Hund), daß z. B. sein Nahrungsbedürfnis rascher befriedigt wird, wenn es mit den Händen oder mit den Sprachorganen geeignete Bewe- gungen macht. Freiwillige Bewegungen zum Zwecke der Er- nährung sind das Kennzeichen der Tiere. Es gibt sehr un- entwickelte Tiere, welche das nahrungshaltige Wasser durch Bewegungen ihrer Flimmerhärchen an ihr Freßorgan heran- spülen; es gibt sehr hochentwickelte Tiere, man nennt sie Dichter, welche Theaterstücke schreiben aus fein differenzier- tem Hunger und welche diese äußerst komplizierte Maschinerie des Stückeschreibens doch nur für HerbeischafEung der Nah- rung (in weiterem oder im engsten Sinne) in Bewegung setzen. Mitten zwischen diesen beiden Extremen steht das einjährige Kind mit seinen Nahrungsbewegungen. Vielleicht glaubt der Hund, daß sein Winseln unmittelbar durch eine Zauberkraft die Tür öffne ; vielleicht glaubt das Kind, daß die Bewegungen seiner Sprachorgane ihm die Milch aus der Brust oder der Flasche herbeispülen. Wir haben dann einen frommen Hund, ein frommes Kind vor uns. Das Kind arbeitet dabei mit den Muskeln seiner Augen und seiner Ärmchen, es fleht mit Blicken und Händen. Aber es hat bereits auch gelernt, die Mus- keln der Lippen, der Zunge und des Kehlkopfes in Bewegung zu setzen; es hat z. B. einmal bemerkt, daß auf die Bewegung, welche das Zufallswort „mimi" hervorbrachte, sofort die süße Milch an seinem Munde war. Das Kind hat nun schon Ge- dächtnis genug, um beim nächsten Hungergefühl die gleichen Sprechbewegungen zu machen; auch die Mutter hat Gedächtnis und versteht das Zufallswort mimi schnell, ohne daß das Kind

Entdeckung der Mitteilungsmöglichkeit 403

die Muskeln seiner Augen und seiner Arme anzustrengen braucht. Das auszeichnende Merkmal der Sprache, die große Bequem- lichkeit der Zeichen, ist zum ersten Male praktisch geworden. Mutter und Kind üben sich unbewußt auf das Zufallswort ein, und wieder einmal hat eine neue Ursprache angefangen. Sie ^vird nachher durch die Muttersprache verdrängt , weil diese im Verkehr zwischen den Menschen noch bequemer ist. Aber für einige Zeit ist das Lallen zur Sprache geworden, der Zufallslaut mimi ist das Zufallswort mimi geworden.

Noch einmal: wiv sagen Zufall, weil wir die Notwendigkeit nicht beschreiben können. Vermuten können wir aber doch, daß die Lippenbewegung, ohne welche m nicht hervorgebracht werden kann, doch nicht so ganz zufällig das Wort für das erste Bedürfnis des Kindes bildet: die Nahrungsaufnahme. Vielleicht ist der Säughng dabei ein mimischer Künstler und ahmt das Saugen nach, um das Saugen zu ermöglichen, oder vielmehr: er saugt so lange, bis er ]\Iilch findet. Psychologen mögen sich nun daran ergötzen, daß der Begrifi mimi im Säughngsgehirn unklar und unbestimmt unsere Begrifie Milch, Mama, Amme, Mund umfassen mag und daß da überall das mimische m vorhanden ist. Ein Kind, das mit der Flasche aufgezogen worden ist, wird natürlich auch „Flasche" unter dem Begriff mimi mitdenken.

Im ersten Viertel des zweiten Jahres hat Preyers Versuchs- Ver- kind fast gar keine Fortschritte im Sprechenlernen, bedeutende (j^gr" ,.°JeQ Fortschritte im Verstehenlernen gemacht. Es bringt wenig- Worte stens die Namen für menschliche Körperteile mit irgend wel- chen Vorstellungen in Verbindung, vielleicht nur mit Raum- vorstellungen. Es hat aber seiner persönlichen Ursprache ein neues Wort hinzugefügt, wenn Preyer richtig beobachtet hat und „atta" nicht vielmehr „adieu" ist und damit das erste Wort der Muttersprache. Preyer ve^^vunde^t sich darüber, daß atta jedes „fort" bedeutet, auch z. B. das Auslöschen einer Flamme. Das Kind war aber dabei logischer als sein Professor; denn die Flamme ist dem Kinde mit Recht etwas Körperhches; wenn sie ausUscht, so ist das eben nur viel schneller „atta", als wenn ein Mensch stirbt.

^04 X. Entstehung der Sprache

Wie sehr wir uns aber vor der Annahme hüten müssen, daß das Kind die angebHch verstandenen Worte im Sinne der Erwachsenen verstehe, kann ein kleines Beispiel zeigen. Das Kind ist jetzt so weit, nicht nur „Ohr" zu zeigen, sondern auch auf den Befehl „das andere Ohr" das andere Ohr zu zeigen. Sagt man ihm aber „das andere Auge", so zeigt es abermals das andere Ohr. Es hat also eigentlich nur die Tendenz, den Klang „andere" zu verstehen, es versteht ihn aber falsch; er ist ihm wahrscheinhch ein Eigenname für ein bestimmtes Ohr. Wie überhaupt das Kind in diesem Alter nur mit Eigennamen operieren mag, die sich ihm bei wachsen- der IntelUgenz zu Familiennamen gestalten, Milch, Mama und Amme gehören ihm zu der Famihe mimi.

Gegen Ende des zweiten Lebensjahres ist der Gegensatz zwischen Verstehen und Sprechen am größten geworden. Das Kind ist bereits im stände, mehrgliedrige Sätze der Kinder- stubensprache zu behalten und zu befolgen. Wenn der Vater sagt „Nimm den Hut und lege ihn auf den Stuhl", so tut das Kind so. Selbstverständlich geht ihm dabei die komphzierte Grammatik des Satzes nicht auf. Es faßt gewiß nichts an- deres als etwa „Hutt tuhl"; es wird auch genügen, diese beiden Silben auszusprechen. Das Kind ist aber zu dieser Kombination noch nicht fähig. Es schlägt die Händchen auf die Mahnung „bitte" ganz geläufig zusammen, es kann auch schon die beiden Silben bi und te getrennt und sinnlos gut nachsprechen, es kann aber das gehörte „bitte" noch nicht sprachlich anwenden. Das macht ihm aber nicht viel. Seine Umgebung ist so aufmerksam und zuvorkommend, daß das Kind sich immer noch mit dem Verstehen begnügen und in Mußestunden lallen kann. Erst wenn z. B. in einer Krankheit der Nutzen des Sprechenkönnens klar wird, zeigt sich die ganze Hilflosigkeit des Menschenlvindes.

Für die letzten Monate des zweiten Lebensjahres glaubt Preyer das erste logische Urteil feststellen zu können. Das Kind hat „heiß" gesagt und natürlich damit gemeint „die Milch ist mir zu heiß". Wir wollen uns darauf hier nicht einlassen. Wir werden mühsam erkennen, daß die Logik und

Verständnis der ersten Worte 405

ihre Grammatik nur sprachlicher Art sind, nur Hilfskonstruk- tionen des Denkens, daß nicht nur Urteile, sondern auch Schlüsse schon in den Begriffen oder Worten stecken. Wir werden uns also hüten, solche Kinderworte grammatisch aus- zudeuten; wir werden vielmehr zu unserer Befriedigung ver- muten, daß auch in der Ursprache oder im Urdenken der Menschheit noch ein einzelnes Wort war, was später breit in Sätzen auseinanderging.

Wie dieser angeblich erste Satz Aufschluß geben hilft über die innere Struictur der Ursprache, so ist ein anderes Wort vor Ende des zweiten Lebensjahres sehr interessant für den Klang der Ursprache, ich meine für die Art, wie die mensch- liche Sprache klingt, wenn man sie nicht versteht, fast möchte ich sagen: wie die menschhche Sprache für Tiere klingt. Es ist ein bekannter Scherz, ohne ein einziges ihrer Worte zu kennen, den Klang verschiedener Sprachen nachzuahmen. Es unterscheiden sich da auch für das ungeübteste Ohr z. B. Französisch, Englisch und Ungarisch. Es werden dann aber doch nur besonders häufige Laute aneinander gereiht. Wie tönt aber das, was die menschliche Sprache von den Tier- sprachen unterscheidet? Wir kennen alle das nachahmende Wort, mit welchem sich ein Kind über die Sprache der Er- wachsenen lustig macht, wenn es entweder nicht mehr nach- sprechen oder Geschwätz nachahmen will. Frey er hat diese Nachahmung hübsch mit den Buchstaben raterateratera fixiert. Das nebenbei.

Mit dem Anfang des dritten Lebensjahres ungefähr hört ^''■■ die Bildung von Zufallsworten, die Schöpfimg einer persön- der Mutter- lichen Ursprache auf, und zwar nicht eigenthch allmählich, spräche sondern plötzHch mit dem beginnenden Ehrgeiz des Kindes, ein Erwachsener zu sein. Es wiederholt sich das in mehreren Lebensepochen. Das Kind fühlt sich jetzt mit seinen wenigen gesprochenen Worten schon reich, vielleicht weil es so viele andere Worte wenigstens versteht. Es beginnt umzulernen. Es schämt sich seiner Zufallsworte und will sie auch von der Mutter bald nicht mehr hören, wie es ebenfalls anfängt, sich Seiner Kinderkunststückchen zu schämen. Der Ernst des

406 X- Entstehung der Sprache

Lebens ist herangetreten: es lernt laufen; da findet es das Kunststückchen „wie groß ist das Kind" zu kindisch für den kleinen Mann, Erst später wird es die Kunststückchen und die Zufallsworte mit der Überlegenheit des reiferen Alters scherzhaft wieder gebrauchen. Ich habe diesen Übergang an einem besonders fröhHchen Kinde selbst genau beobachtet. Um diese Zeit gewinnt das Kind die Sprachbeherrschung, die sich ebenso wie in der Sprachgeschichte (wirkUch ebenso) in der Bildung von Sätzen und in der Bildung von Worten äußert. Zum ersten Male verbindet das Band zwei Worte zu einem Satze und hat damit das Paradies seiner Jugend verloren, wo in einem Zufallsworte noch eine ganze Welt verborgen war; so herrhch ist die gelernte Sprache nicht mehr. Und zum ersten Male bildet das Kind grammatisch ein Zeitwort aus einem Substantiv; es kennt das Wort Messer und sagt „messen" für „mit dem Messer schneiden". Es ist ein recht gut gebildetes Wort; es ist bloßer Zufall, daß wir für „schnei- den" nicht das Wort „messen" haben, wie das etymologisch vielleicht doch verwandte „metzen".

Mit dieser sprachüchen Tat hat das Kind deuthch seinen Entschluß zu erkennen gegeben, auf die Erfindung einer per- sönhchen Ursprache zu verzichten und nach der Analogie der Umgangssprache sprechen zu lernen. Im dritten Lebensjahre ungefähr wird diese außerordentUche Arbeit vom Kinder- gehirn geleistet. Bis jetzt hat es nur Namen von Dingen und Tätigkeiten angenommen; im dritten Lebensjahre erlernt es überraschend schnell einen großen Wortschatz, der mit- unter von Tag zu Tag wächst, beinahe von Stunde zu Stunde. Dazu faßt es nun die Analogien, welche Beziehungen aus- drücken und welche wir grammatische Formen nennen. Es war ein Ereignis, da das Kind zum ersten Male durch das Anhängen der verbalen Endsilbe aus einem Ding eine Tätigkeit machte. Die Vergleichung der Kindersprache mit der mensch- lichen Ursprache hört damit auf. Fassen wir aber den BegrifE Ursprache zur Abwechslung wieder einmal ganz weit und dulden wir seine Anwendung auf die Ungeheuern Zeiträume, in welchen die Sprachen grammatische Formen gewannen für die

Erlernung der Muttersprache 407

Beziehungen der Zeit, der Person, des Raums usw., so mag doch wieder das langsame Verstehenlernen der Beziehungs- formen ein Abbild sein für die Entwicklung der Sprache beim Menschengeschlecht. Was der mittelalterhche Mönch von Heisterbach für seinen Gott in Anspruch nahm, das gilt für die Entwicklungsgeschichte: es sind für sie tausend Jahre wie ein Tag.

In der ersten Hälfte des dritten Lebensjahres beginnt das Kind einige Präpositionen richtig (das heißt im Sinne der Erwachsenen) anzuwenden; sie drücken Beziehungen des Raumes und des Interesses aus (auf den Schoß, für Mama) und scheinen die Annahme der Sprachwissenschaft zu be- stärken, daß die Kasusformen ursprüngUch rein lokalen Cha- rakter hatten. Auch der Gebrauch des Artikels wird jetzt mit Verständnis nachgeahmt ; der bestimmte Artikel geht dem unbestimmten voraus.

Merkwürdig ist es, daß die Fragen des Kindes, die jetzt zuerst sprachliche Form finden, rein lokaler Art sind. „W o ist Mama". Nach der Zeit kann das Kind schon darum nicht fragen, weil es die Zeit weder im Verbum noch in Adverbien begriffen hat.

Es lernt das persönHche Fürwort gebrauchen. Aber vor- läufig noch nicht die abstrakte Bezeichnung „ich", sondern das Hauptwort alles Interesses: „mir". Der kleine Egoist bezieht die Außenwelt früher auf sich selbst, als er den Begriff seiner selbst geformt hat; später wird die erste Anwendimg des Ich-Begriffs in dem Rufe „ich will" oder „ich will nicht" sich äußern.

Bevor das Kind dritthalb Jahre alt ist, hat es so gelernt die Beziehungsformen des menschüchen Verstandes mit den ererbten Analogien der menschlichen Grammatik und Logik ungefähr auszudrücken. Wir können sagen: das Gedächtnis oder das Gehirn ist so erstarkt, daß es nicht nur die ÄhnUch- keiten der Dinge merkt und die Merkzeichen an ein Wort heftet, sondern daß es auch schon die Analogien von Bezie- hungen zwischen den Dingen festhält. Nur zählen kann es noch nicht. Es kennt zwar die ersten fünf Zahlworte, aber

408 X. Entstehung der Sprache

es verwechselt noch zwei und drei. Nur der ungeheure Sprung in die Abstraktion der Mathematik hinein ist bereits vollzogen. Das Kind hat den schwierigen Begriff der Einheit erfaßt. Es kann innerhalb der Mehrzahl zwei und drei noch nicht unter- scheiden; aber es zählt bereits „eins" und „noch eins".

In der zweiten Hälfte des dritten Lebensjahres wird das Sprechenlernen im wesenthchen vollendet. Die falschen Arti- kulationen kommen hier nicht in Betracht, weil sie sehr häufig mit mundartHchen Verschiedenheiten zusammenfallen. Ebenso gehört es in die Erklärung des Lautwandels hinein, daß die Kinder bekanntlich mit sogenannter falscher Analogie die schwache Konjugation und Deklination der starken vorziehen, z. B. getrinkt anstatt getrunken sagen. Zeit- Nur der Zeitbegriff ist immer noch nicht vorhanden. Ich

begriff Yia})e viele und kluge Kinder in ihrem dritten Lebensjahre Kinder daraufhin in unbefangenem Gespräch genau beobachtet und bin zu einem sicheren Ergebnis gekommen. Der Zeitbegrifi ist dem Kinde einzig und allein im Zusammenhange mit seinem Nahrungsbedürfnis anschaulich zu machen, vielleicht in buch- stäbHchem Sinne anschaulich. Es kann die Worte „vor" und „nach" nur in der Verbindung vor dem Essen, nach dem Essen gebrauchen, vielleicht mit der Vorstellung, daß es damit so sei wie etwas vor dem Tische und hinter dem Tische. Der erste minimale Versuch der Orientierung in der Zeit ist lokal. Davon ausgehend ist dem Kinde das Wort „nachher" ver- ständhch, aber immer nur in dem Sinne von „sofort", nicht klar als etwas Zukünftiges, Das Wort „vorher" ist ihm unbegreifhch. Ebenso plappert es die Worte Vormittag und Nachmittag, Morgen und Abend, gestern, heute und morgen nur sinnlos nach. Preyers Kind gewöhnte sich sogar das sinnlose „heitgestern" an. Auf einen allgemeinen Ausdruck gebracht, besagen diese Tatsachen, daß das dreijährige Kind zwar bereits ein ausgezeichnetes Gedächtnis für Tatsachen habe, oft ein besseres Gedächtnis als die Erwachsenen, daß die Erinnerungen jedoch, wie sie objektiv in die Zeit zurück- greifen, subjektiv durchaus kein Bewußtsein von der Zeit besitzen. Es scheint mir außer Zweifel zu sein, daß es um

Zeitbegriff der Kinder 4Q9

das oft erstaunliche Gedächtnis der intelUgenteren Tiere ebenso bestellt ist, daß auch sie nicht einen Schimmer von der vierten, zeithchen Dimension haben, während sie sich in den drei Dimensionen des Raums vorzüglich auskennen es scheint mir sehr wahrscheinUch, daß auch die beginnenden Menschen der Urzeit von der Zeit nichts wußten. Noch später als auf das Zählen verfielen sie auf das Messen der Zeit. Es würde in unaufhellbare Abgründe führen, wollte ich nun die Frage erörtern, ob die Zeit eine Entdeckung oder eine Erfindung der Menschen sei, ob nicht am Ende das zeitlose Gedächtnis des Kindes und des Tieres ebenso wie das zeitlose Artgedächt- nis, als welches uns der menschliche Leib sich darstellt, die Wirklichkeitswelt richtiger auffassen als unser Zeitbegriff, ob die ganze Mathematik mit ihrer Zählung und ihrer Zeit- messung nicht ein falsches Bild der Natur sei, wie die flache Erdkarte ein falsches Bild der Erde.

Jedenfalls wird das Kind drei Jahre alt, ohne eine Frage nach der Zeit zu stellen. Das Wort „wann" ist ihm noch unbekannt. Aber eine andere Frage hat es vor Ablauf des dritten Lebensjahres stellen gelernt. Die Frage: „warum?" Das Sprechenlernen des Kindes ist zu Ende. Es hat nach vielerlei Versuchen, der Umgebung seine persönhche Ursprache aufzunötigen, sich der Sitte gefügt und die Muttersprache gelernt, welche ihrerseits aus urzeitlichen persönlichen Ur- sprachen hervorgegangen ist. Jetzt beherrscht das Kind die Sprache und damit die Philosophie seiner Zeit. Es hat zum ersten Mal „warum?" gefragt und auf die Antwort gewartet. Mehr leistet auch die Philosophie nicht.

Man hat mit Aufwendung von viel Witz und Gelehrsam- Kinder- keit die mangelhafte Kindersprache mit den Sprachstörungen ^^yj)^'^® der Paralytiker und anderer Nervenkranken verglichen. Ich Geistes- will zugeben, daß die Taubheit der Neugeborenen, die „Seelen- '^^''"•^•'®'* taubheit" und die Worttaubheit in späteren Monaten an- regende Beziehungen bieten und vielleicht den Gehirnphysio- logen in seiner Fragestellung an die Natur unterstützen können. Ich möchte für diese Untersuchungen sogar einen neuen Be- griff vorschlagen, den der Stummtaubheit, der diejenigen Fälle

heit

410 X. Entstehung der Sprache

bezeichuen soll, in denen das Kind oder der Kranke bei tadel- losem Gehör taub zu sein scheint, weil er den Sinn der ge- hörten Worte nicht versteht, also geistig stumm ist. Bekannt- lich sind die Taubstummen nur taub, nicht stumm von der Seele aus.

Aber alle diese Vergleichungen zwischen Kindern und Geisteskranken, die das Sichversprechen, das Stottern, das Silbenstolpern, die Sprachwidrigkeit (Agrammatismus), das Stammeln, das falsche Axtikuheren, den Mangel bestimmter Buchstaben und gar die Geschwätzigkeit oder Logorrhöe be- treuen — alle diese Vergleichungen haben zur Grundlage den unglückhchen Einfall, daß eine niedere Stufe der Entwicklimg eine Art Krankheit sei. Krank- Man hüte sich doch, namenthch in der Sprachphilosophie,

einen Begriff anzuwenden, den niemand zu definieren vermag. Die ganze interessante Geschichte der Medizin hat uns bis zur Stunde nicht gelehrt, was Krankheit eigenthch sei. Kein Mensch versteht imter Krankheit ein anormales Verhalten, solange es nicht schmerzhaft oder gefährhch ist. Die Wissen- schaft steht im Grunde heute noch auf dem Standpunkte der Umgangssprache. Nach dieser wäre Krankheit etwa das, was weh tut oder woran man sterben kann, wo dann freiUch „was" einen Zustand bedeutet, also ein schwer faßbares Abstraktum. Eine Kritik der medizinischen Begiifie würde zeigen, wie sehr die Wissenschaft heute noch in gelehrtem Schwulst denkt und spricht. Die Angehörigen eines Sterbenden verstummen ehrfurchtsvoll, wenn der studierte Arzt ihnen gesagt hat, es habe z. B. der Krebs (wieder nur ein Wort für schlecht be- schriebene und gar nicht erklärte Erscheinungen) zu einer Kachexie geführt und an der Kachexie werde der Kranke sterben. Kachexie heißt aber auf Deutsch „ein schlechter Zustand", nichts weiter.

Mit dem Begrifi Krankheit ist also in der Sprachphilo- sophie ebensowenig anzufangen wie mit dem Namen einer bestimmten Krankheit am Krankenbett. Noch schlimmer aber erscheint uns die Vergleichung der Kindersprache mit der Sprache der Geisteskranken, wenn wir die Bedeutung

Krankheit 411

der Kindersprache für die Aufklärung der Ursprache erwägen. Nicht Krankheit oder Schwäche ist es, was in dem jungen Kindergehirn zu den Versuchen führt, aus Zufallslauten eine persönliche Ursprache zu bilden, wie es nicht Krankheit und Schwäche war, was in Urzeiten der beginnenden Menschheit aus Zufallslauten die individuellen Ursprachen erschuf. Weit eher könnte man das gegenwärtige Stagnieren der Kultur- sprachen, die Langsamkeit in ihrem Lautwandel ein Zeichen von Alterschwäche nennen. Blühende Kraft muß es gewesen sein, was ureinst die Menschheit antrieb, die Enge der ererbten Tiersprachen zu überwinden und die Laute des menschlichen Sprachinstruments zu immer reicheren Mitteilungen zu be- nützen. Und dann als nach langer, langer Arbeit von un- gezählten Generationen einzelne Menschenstämme phylogene- tisch den geistigen Standpunkt eines dreijährigen Kindes von heute erreicht hatten, als ein beträchthcher Wortschatz vor- handen war und der Anfang von dem, was wir jetzt gramma- tische Kategorien nennen, als die Ursprachen im weiteren Sinne vergleichsweise in der Epoche standen, in welcher heute ein Kulturkind von vier bis sechs Jahren die sichere Beherr- schung des Sprachschatzes und der Wortformen erwirbt, da war es blühende Kxaft, was die Sprachen ausgestaltete. Dich- terische Kraft ist das Zeichen dieser Epoche im Kinde wie im Leben der Menschheit. Wir mögen lächeln über die so- genannten Unrichtigkeiten. Für uns Erwachsene, die wir das Alter der natürhchen Poesie überschritten haben, ist es drolüg, wenn ein Kind die Einzahl von Ameisen in „Amaus" sieht. Wenn ein anderes Kind „Arrhö" sagt, weil es die erste Silbe Di für den Artikel „die" hält. Wir aber wissen, daß die Ent- wicklung der Sprache auf einer unendlichen Zahl solcher so- genannten Unrichtigkeiten beruht. Wenn die Araber Städte- namen, die an Alexander den Großen erinnern (Iskanderieh Alexandria, Iskanderun Alexandrette)'mit Iskander beginnen lassen, weil sie die erste Silbe AI mit dem semitischen Artikel verwechseln, so sprechen sie ebenso, wie das Kind das .Arrhö sagte. Blühende poetische Kjaft leitet die Ausbildimg der Kindersprache und war bei der Entwicklung der Ursprachen

nainen

412 X. Entstehung der Sprache

tätig. Je härter wir es empfinden und je dürrer wir es aus- sprechen, daß unsere Sprachen nicht geeignet sind, mit ihrer Hilfe oder in ihrer Fassung die Welt zu erkennen, desto ernster müssen wir begreifen, daß es vom historischen Stand- punkte aus eine ungeheure Tat war, als die werdende Mensch- heit sich zur Orientierung in der Wirklichkeitswelt Ursprachen erschuf. Auch die Erfindung des Kompasses, der zur Orientie- rung auf der hohen See dient, war eine Tat, mögen auch die Bewegungen der Magnetnadel nichts über das Wesen des Magnetismus verraten.

*

Eigen- Das Kind bezieht jedes neu gelernte Wort zunächst auf

das Individuum in seiner Umgebung; der Wauwau ist sein Wauwau, das Töpfchen ist sein Töpfchen, Es gibt aber eine sehr häufige entgegengesetzte Beobachtung, daß das Kind nämhch außerordentlich lebhaft generalisiert. Hat es das Wort Papa gelernt, so ruft es jeden Mann Papa an; Taine erzählt von einem einjährigen Mädchen, es habe eine Zeitlang jedes Bild im Rahmen bebe (Schoßkind) genannt, weil es das Wort zuerst auf das Bild eines nackten Jesuskindleins angewandt hörte.

Doch der Schluß von der Kindersprache auf die Ent- stehung der menschlichen Sprache ist umso gefährlicher, als wir die Vorstellungen des Kindes nicht kennen, ganz abgesehen davon, daß das Kind die Wortschälle vorgesagt erhält und sich ihre Definition aus eigenem Wissen bilden muß. Es wird also schwer zu unterscheiden sein, ob das Kind das neue Wort Papa zunächst als Eigennamen seines Vaters auffaßt und nachher, von seinem geringen Unterscheidungsvermögen unterstützt, generalisiert, oder ob es das Wort sofort als Gattungsnamen für Geschöpfe mit Bart, kurzen Haaren, Hosen usw. aufgefaßt hat.

Es war darum nur in einer fast vorpsychologischen Zeit ein Fortschritt, als Locke und nach ihm Rousseau die Ent- stehung der Sprache so konstruierten, als ob jeder Gattungs- name vorher ein Eigenname gewesen sein müßte. Der außer-

Eigennamen 4.^3

ordentliche Fortschritt scheint mir darin zu bestehen, daß diese Vorstellungsweise zum ersten Male dem gefährlichen mittelalterlichen Wortrealismus ein Schnippchen schlug, daß der einst ketzerische Nominalismus dadurch seine verständ- hchste Begründung erhielt. Für uns ist der Wortreaüsmus kein schreckhaftes Gespenst mehr, und so fühlen wir uns nicht mehr getrieben, die Sprache empirisch mit imzähhgen Worten für unzählige Individuen beginnen zu lassen. Psychologie und Sprachwissenschaft lehren uns vielmehr, in den Eigen- namen spätere Bildungen zu sehen.

In der Sprachwissenschaft leiten uns dahin sowohl histo- rische als vorhistorische Annahmen. Die historischen Tat- sachen der Etymologie lassen uns keinen einzigen Eigen- namen entdecken, der sich nicht auf Tiernamen, Eigen- schaften usw. oder auf Zusammensetzungen zurückführen Ueße oder zu einer solchen Zurückführung nicht herausforderte. Es ist ja richtig, daß nachher wieder die Eigennamen meta- phorisch zu Gattungsnamen Avurden, daß Cäsar zum Titel der Kaiser und Zaren, daß die Eigennamen von Köchen zu Gattungsnamen von Saucen wurden; das gehört aber in das Gebiet des Bedeutungswandels überhaupt. Und was wir nun gar sprachwissenschaftüch über den Ursprung der Sprache als wahrscheinlich ausgemacht betrachten, das verbannt die Eigennamen vollends aus der Urzeit. Wenn sich aus den Urschreien zunächst nur Zeichen für Empfindungserinnerungen, also etwa Eigenschaftswörter entwickeln konnten, so waren das von unserem Standpunkt noch weitere GeneralbegrifEe, als unsere Gattungsnamen es sind.

Zu dem gleichen Ergebnisse kommt zunächst auch die ai. psychologische Betrachtung. Locke dachte sich die Sache noch so, daß der menschUche Verstand die Namen ähnhcher Dinge durch bewußte Vergleichung der Ähnhchkeit abstrahiert habe. Mit dieser Tätigkeit der Abstraktion wissen wir nichts mehr anzufangen. Wir glauben vielmehr, daß wir beim jedes- maUgen Anwenden eines Wortes auf einen neuen Gegenstand mehr oder weniger unbewußt handeln, daß wir das gleiche Wort eigenthch auf die gleiche Sache auszudehnen vermeinen.

traktiou

414 X. Entstehung der Sprache

So lange eine Metapher (wie bei dem Dichter) bewußt als eine bloße Vergleichung gebraucht wird, so lange gehört sie noch nicht der Sprache an; der Bedeutungswandel, die Be- reicherung des Sprachschatzes beginnt mit dem Unbewußt- werden der Metapher. Es ist begreifhch, daß die unendhch weiteren Worte uralter Sprachzeiten diese unbewußte Auf- nahme ähnhcher Objekte noch leichter vornehmen konnten, wie denn auch die Kinder gleichsetzen, was wir nur ähnlich finden.

Wenden wir diese Erkenntnis auf eine Zeit des Sprach- ursprungs an, so wird uns die Frage nach der historischen Stellung der Eigennamen wieder einmal zu einem bloßen Wortstreit. Stellen wir uns die sprachschöpf enden Menschen einer Urzeit, wie es sich gehört, in der umgebenden Natur wie in einer Kinderstube vor. Bricht nun der hundertjährige Großvater, nach jahrzehntelangem Sinnen über die Erschei- nung, eines Abends beim Aufgehen des Mondes in den genialen Ruf aus : „da", so hat er vielleicht mit diesem Genus generalis- simum einen Eigennamen gemeint, den als lebende Person vorgestellten Lichtträger am Himmel. Vielleicht. Vielleicht hat er bereits eine Ähnhchkeit mit der Sonne und mit anderen Sternen wahrgenommen und nur sagen wollen, daß „da" etwas Leuchtendes sei. Hat nun sein begabter, wenn auch nicht so genialer Sohn in dieser urweltHchen Kinderstube den Ruf gelernt und aufgefaßt, nennt er am nächsten Abend das brennende Feuer vor der Höhle „da", so hat der Sohn doch nicht einen Eigennamen generaüsiert, sondern in der gleich- stellenden Vergleichung zwischen Mond und Feuer bloß einen Irrtum begangen. Einen der unzähhgen Irrtümer der Ver- gleichung, durch welche die Sprachen gewachsen sind. Hat nun aber umgekehrt der sprachschöpferische Geist zuerst das Feuer „da" genannt und hat der Sohn dieses Wort am näch- sten Abend auf den Mond angewandt, so könnte doch nur ein Pedant darin die entgegengesetzte Entwicklung sehen : den Übergang vom Gattungsnamen zum Eigennamen. In beiden Fällen war es doch nur die Eigenschaft des Leuchtens, die mit dem Rufe „da" gemeint war. Noch am Tage vor der

Abstraktion 415

Sprachschöpfung hat der Greis vielleicht nur mit dem Finger auf das Licht gewiesen, und dieses Weisen war doch weder ein Eigenname noch ein Gattungsname. Wir können den Vorgang am besten so begreifen, wenn wir es der psycho- logischen Situation bei Sprecher und Hörer überlassen, ob ein Individualbegriff oder ein Gattungsbegriff vorgestellt war. Klarheit darüber gab es in dieser urweltHchen Kinderstube nicht. Hätte der Greis nach langem Sinnen ungefähr sagen wollen, daß da eine und dieselbe individuelle leuchtende Scheibe aufsteige, so wäre es nach unserer Sprache mehr ein Eigenname gewesen; hätte er mehr andeuten wollen, daß da schon wieder etwas leuchte, so wäre es nach unserem Sprach- gebrauch mehr ein Gattungsname gewesen. Ebenso wäre bei dem hörenden und lernenden Sohn die Frage entscheidend, welcher Gruppe von bereits vorhandenen Vorstellungen er die neue Beobachtung des leuchtenden Mondes oder Feuers assi- miherte. Für die Zeiten des Sprachursprungs muß es von der psychologischen Stimmung abgehangen haben, ob so ein Hinweis oder so ein Ruf mehr oder weniger individuelle Be- deutung hatte; nicht als Lösung der Frage, sondern nur als ein sehr allgemeines Beispiel aller psychologischen Möghch- keiten möchte ich den Satz aufstellen : die zusammenhanglose Beobachtung hat mehr den Charakter des Eigennamens, die Apperzeption derselben Beobachtung, ihre Assimiüerung macht sie mehr zum Gattungsnamen. Man könnte da sehr scharfsinnig tun und sagen: Eigennamen seien außersprachlich, weil sie vor der Apperzeption liegen und Apperzeption erst Erweiterung des Denkens oder der Sprache ist. Aber im Grunde können wir mit unserer Psychologie an die Psychologie der urweltUchen Kinderstube nicht heran, wie wir eben auch nicht wissen, ob das Kind das Wort Papa individuell oder generell verstehe.

Wir brauchen uns nur darauf zu besinnen, daß für uns die menschüche Sprache, ja selbst die einzelne Volkssprache und jede ihrer Mundarten ein unwirkUches Abstraktum ist, daß wir es in unserer Kritik nur mit Individualsprachen, das

416 X. Entstehung der Sprache

heißt mit den Sprachgewohnheiten einzelner Menschen zu tun haben, um einen freieren Standpunkt gegenüber der soge- nannten Sprachschöpfung zu gewinnen. Die Entstehung der Sprache ist um nichts schwerer, aber auch um nichts leichter zu erklären als die Entstehung irgend eines lebendigen Wesens auf der Erde. Um aber diese Gleichung ernsthaft überlegen zu können, müssen wir in unserem Verzicht auf Abstraktionen noch einen Schritt weiter gehen und uns erinnern, daß die Individualsprachen nur verhältnismäßig konkrete Einheiten sind, wenn man sie nämhch dem wüsten Begriff „menschliche Sprache" gegenüberstellt; daß aber die Individualsprachen, nimmt man es mit der Wirkhchkeit genau, doch nur wieder Abstraktionen sind. Wirklich sind doch nur die tönenden Worte, wie sie ein einzelner Mensch in einem bestimmten Augenbhcke, unter bestimmten Umständen ausspricht. Nur diese tönenden Worte können mit wirkhchen lebendigen Wesen verglichen werden; die Individualsprachen entsprechen doch nur dem engsten Artbegriff der lebendigen Wesen. Erblich- Die Entstehung eines solchen lebenden Einzelwesens, eines A^^assun Organismus, beschreibt man gegenwärtig als eine Wirkung von zwei Ursachen, die einander in einem gewissen Sinne widersprechen: man beschreibt oder erklärt sie durch Erblich- keit und Anpassung. Als die treibenden Ursachen in der Sprachentwicklung werden wir jetzt schon die Metapher und die Analogie vermuten; und wir können jetzt sagen, daß beide sich unter dem Begriff der ÄhnUchkeit zusammenfassen lassen. Die metaphorische Veränderung der Worte beruht darauf, daß wir mit bewußter Phantasietätigkeit ein Wort gebrauchen für ein Ding, das der bisherigen Bedeutung des Wortes nur ähnhch war. Die analogische Bereicherung der Sprache beruht dar- auf, daß wir mit unbewußter Phantasietätigkeit eine Gruppe von Dingen unter einem Worte begreifen, die uns gleich zu sein scheinen, in Wahrheit aber nur ähnhch sind. Eine Metapher ist anfangs immer eine Analogiebildung ohne Selbst- täuschung. Auf der Hervorhebung von Ähnhchkeiten und auf dem Übersehen von UnähnUchkeiten hat sich die mensch- liche Sprache aufgebaut.

Erblichkeit und Anpassung 417

Auf den ersten Blick scheint das in der Vererbung der lebendigen Natur ganz anders zu sein. Unter Erblichkeit sind wir geneigt einen schablonenhaften Vorgang zu verstehen, bei welchem der Tochterorganismus dem Mutterorganismus nicht etwa bloß sehr ähnhch, sondern völUg gleich ist. Wer mir diese Selbsttäuschung bestreiten wollte, der achte nur einmal auf sein stilles Denken. Es ist ja gerade der Begriff der An- passung zur Hilfe genommen worden, imi aus Zeit und Um- ständen die Änderungen im Tochterorganismus zu erklären. Diese Änderungen erst verwandeln die Gleichheit zu einer bloßen Ähnlichkeit. Suchen wir die Auffassung recht scharf zu fassen, so muß auch die allerminimalste Abweichung vom Mutterorganismus durch Anpassung erklärt werden. Es bleibt also auch bei dieser Betrachtung für die Vererbung nur die völhge Gleichheit übrig. Da es nun in der Natur eine mathe- matische Gleichheit zwischen Tochterorganismus und Mutter- organismus nicht gibt, so werden wohl Vererbung und An- passung auch nur zwei Abstraktionen sein, in welchen wir unbehilflich genug den wirklichen Vorgang auseinanderspalten. Und der Begriff „Vererbung", wie er denn auch eben der Sprache angehört, wird uns nur zu einem neuen Beispiele dafür, daß wir Ähnlichkeiten unter dem Schein der Gleich- heit zusammenzufassen pflegen.

^ Aus dem Gesagten wird es verständlich sein, warum wir keinen Gegensatz mehr sehen zwischen Vererbung und An- passung als den Ursachen eines lebendigen, wirkHchen Einzel- organismus und zwischen Metapher und Analogie als den Ur- sachen jedes wirkUch ausgesprochenen Wortes einer Individual- sprache. Wir können recht gut die geheimnisvolle Vererbung in beiden Fällen vorläufig ausscheiden und werden sogar bei der künsthchen Zuchtwahl der Gärtner und Viehzüchter einen Vorgang beobachten köimen, der mit der bewußten .Analogie- bildung, der Metapher, einige Ähnlichkeit aufweist.

Die Einwirkung der beiden Formen der Ähnhchkeit auf Biologie den Bedeutungswandel der Worte läßt sich in den lebenden g "°j.,,. Sprachen und in den paar Jahren, die wir ihre historische wissen- Zeit nennen, Schritt für Schritt nachweisen. Aber die Sprach-

Mauthuer, Beitrage zu einer Kritik der Sprache. II -'

418 X. Entstehung der Sprache

Wissenschaft schreckt immer wieder davor zurück, die gleichen Mächte als wirksam zu erkennen auch bei der Entstehung der Sprache, auch in irgend einer willkürhch angenommenen Urzeit, Es scheint fast, daß im Gehirn auch der aufgeklärte- sten Männer die biblische Schöpfungsgeschichte irgendwie als Hemmung nachwirkt. In der Sprachwissenschaft stärker als in der Biologie, wo doch wenigstens heute (mehr durch Ahnungen als durch Beweise) die Entstehung der gegen- wärtigen Lebewelt aus einem noch undifferenzierten Organis- mus gelehrt wird. Auch die Biologie freihch stellt sich die scholastische Frage: wie denn das erste Protoplasma- Atom entstanden sein möge; aber die Biologie scheut wenigstens nicht davor zurück, von dieser willkürlich angenommenen Ur- zeit ab ein natürliches Schema der Entwicklung aufzustellen oder zu suchen. Noch nennt sie diese Lehre nicht „die Ent- stehung der Individuen", noch nennt sie sie „die Entstehung der Arten"; aber sie sieht es für selbstverständlich an, daß die heute wirkenden Ursachen auch in jener Urzeit gewirkt haben.

Nichts von dieser Freiheit nehmen wir in der Sprach- wissenschaft wahr. Sie hält ihr bißchen Etymologie für Sprachweisheit; das ist, als ob die Naturwissenschaft unsere Rinder bis auf die Rinder der ägyptischen Hieroglyphenbilder zurück verfolgen wollte, die ägyptischen Rinder aber nach der biblischen Legende geschaffen sein Heße. Es ist wahr, daß die Sprache imstande ist , künstlich neue Worte zu bilden, was sie scheinbar von der lebendigen Natur unter- scheidet. Aber diese künstlichen Neubildungen sind doch immer aus dem alten Sprachstoif hervorgegangen, sind schUeß- lich ohne Ausnahme Metaphern, Analogien, Entlehnungen oder doch wenigstens Zusammenstellungen vorhandener Laute; sie sind also keine Gegeninstanz gegen die Ähnlichkeit zwi- schen Sprachentwicklung und der Entwicklung des Lebens auf der Erde.

Aber selbst diese Tatsache wird nur als eine Ausnahme behandelt, um den Satz aufrecht zu halten, daß nicht mehr viel neuer SprachstofE geschaffen werde, daß dazu auch kein

Biologie und Sprachwissenschaft 4^9

Bedürfnis vorhanden sei. Hermann Paul sagt (Pr. d. Sprg. S. 140) geradezu: „Dies massenhafte Material , . . läßt nichts Neues neben sich aufkommen, zumal da es sich durch mannig- fache Zusammenfügung und durch Bedeutungsübertragung be- quem erweitern läßt." Er scheint gar nicht zu sehen, wie dieser Satz sich selbst widerspricht, wie jede Zusammen- fügung, jede Bedeutungsübertragung, wie also die alltäghchsten Erscheinungen das Sprachmaterial unaufhörlich noch ver- mehren. Ja ich gehe so weit, auch jede Deklinations- und Konjugationsform, die zufällig in einer Individualsprache noch nicht gelebt hat und nun plötzlich durch die Umstände not- wendig und darum wirklich geworden ist, für eine Neuschöpfung der Sprache zu erklären. Wenn ich sage „du hättest radeln sollen", so ist dieses Wort die vier Worte als eines ge- nommen — vielleicht zum ersten Male ausgesprochen; es ist eine Neuschöpfung und wird eingeübt. Wenn wir seit einigen Jahren einüben „die unsichtbaren Strahlen, mittelst der un- sichtbaren Strahlen, vor den unsichtbaren Strahlen usw.", so beteihgen wir uns ohne Frage an Neuschöpfungen. Wir müßten denn Schulmeister sein und die bequemsten Analogiebildungen, die wir darum grammatische Formen nennen, anders auffassen als die unbequemen.

Nun haben solche Wirkungen der Metapher und der Ana- Wamnngs- logie die Sprache immer weiter entwickelt, so weit wir auch Metapher das bißchen Geschichte irgend zurückverfolgen können. War- um soll das in der vorhistorischen Zeit anders gewesen sein? Ich gestehe, daß ich es mir mit aller Mühe gar nicht anders vorstellen kann. Viel eher kann ich mir denken, daß die Aufstellung von sogenannten Sprachwurzeln, wie im Sanskrit und in den semitischen Sprachen, selbst wieder eine Mode- laune der Analogietätigkeit war. Meine Phantasie sieht nicht die kleinste Schwierigkeit darin, in irgend einer, über alle Begriffe zurückliegenden Zeit den Warnungschrei einer Menschenhorde anzunehmen, der noch gar nicht in unserem Sinne artikuliert war, und der dennoch durch Höhe, Stärke, Wiederholung und andere Differenzen das AiLsdrucksmittel für Warnungen vor verschiedenen Gefahren werden konnte.

420 X. Entstehung der Sprache

Der „unartikulierte" Warnungschrei einer bestimmten Horde konnte also durch Neuschöpfung schon zum sprachlichen Aus- drucksmittel z. B. für einen Löwen, eine Schlange, einen Regen oder einen Feind werden. Dieser Feind, die benach- barte Horde, hatte sicherlich einen anders klingenden War- nungschrei, der seinerseits wieder auch noch nicht in unserem Sinne artikuliert war. Wollte nun der Führer der ersten Horde das Herannahen der zweiten Horde melden, so wiederholte er gewiß deren Warnungschrei; dieser wurde also zum Namen der anderen Horde. Wir haben demnach hier in einem sehr wahrscheinlichen, an der Grenze der Sprachentstehung ge- dachten Falle bereits die wirkenden Ursachen der heutigen Sprachentwicklung beisammen: Metapher, Analogiebildung und Entlehnung von Fremdwörtern.

Zu den Neuschöpfungen, deren Vorhandensein die Sprach- wissenschaft freundlichst zugesteht, gehören eine Menge soge- nannter onomatopoetischer Worte, der bekannten Klangnach- ahmungen. Die Wissenschaft würde sicherlich auch an diesen Worten ihr beliebtes Spiel mit den Gesetzen des Lautwandels fortsetzen und jede Neuschöpfung leugnen, wenn die lebendige Sprache nicht gegen alle Lautgesetze solche Formen häufen würde. Bammeln und bimmeln, bollern, bullern und poltern, knarren, knarzen, knirren und knirschen, wabbeln und wibbeln und viele ähnliche lassen sich lautgesetzlich nicht erklären. Habe ich aber recht mit meiner Behauptung, daß jede Klang- nachahmung durch artikulierte Menschensprache unbedingt und notwendig schon eine Metapher sein muß, weil die Ge- räusche der toten wie der lebendigen Natur durchaus nicht den Artikulationen der Menschensprache gleichen, so fallen alle diese klangnachbildenden Neaschöpfungen unter die Klasse der Metapher. Es sind aber sehr kühne Metaphern, und ich möchte wohl der Phonetik die schwierige Aufgabe stellen, diese sogenannten Klangnachahmungen, die in Wirklichkeit Metaphern unartikulierter Geräusche sind, besser als bisher zu beschreiben, also nach ihrer Meinung zu erklären. Es wäre eine lohnende Aufgabe für die Phonetik, z. B. in diesem Sinne die Geschichte des Wortes „Kuckuck" zu liefern. Empfand

Ursprache 421

man das mittelhochdeutsche „gouch" ebenso als Onomatopöie wie wir unser „Kuckuck"? Oder ist die Klangempfindung im Mittelalter verloren gewesen und erst im Neuhochdeutschen (Guckgauch) wiedergekehrt?

Die ältere Sprachwissenschaft stellte sich unter der Sprache Ur- der Urmenschen ganz naiv einen Bau vor, der zwar kleiner ^^****^ ^ und ärmlicher war als das Gebäude einer heutigen Kultur- sprache, aber im wesentlichen mit der gleichen Kunst ge- zimmert, für die gleichen Bedürfnisse eingerichtet. Neuer- dings ist die Sprachwissenschaft redlich bemüht, die Ur- sprache primitiver aufzufassen; aber die alten Vorstellungen wirken nach, und schon das Wort Ursprache an sich erregt das Bild von etwas, das unserer Sprache ähnlich sieht. Die klare Einsicht, daß die Mitteilungen zwischen den Menschen angefangen haben müssen wie die Organismen, unartikuliert, ungegliedert, wird eben dadurch erschwert, daß wir uns in den Begriffen unserer Sprache die beinahe vorbegriffliche Sprache des Anfangs kaum begreiflich machen können. Und doch ist ein BHck auf das vermeintlich ungegliederte Proto- plasma der Biologie vielleicht noch lehrreicher, als man glauben sollte. Nehmen wir einmal mit dem deutschen Darwinismus etwa an, ein Mittelding zwischen Affe und Mensch habe die Erfindung der Sprache gemacht, so müssen wir uns den An- fang der Erfindung natürlich in einem Zustand denken, wo von Satzteilen und Redeteilen noch nicht eine Spur vorhanden war. Deshalb brauchte das Bild der Wirklichkeitswelt in jenen Gehirnen nicht falsch zu sein. Was die Affenmenschen wenn es solche gab -sahen, das sahen sie so richtig wie wir; vielleicht hörten, schmeckten und rochen sie es noch schärfer als wir. Nur die Fülle und Übersichtlichkeit ihrer Erinne- rungen war unendlich geringer. Suchen wir uns aber das Weltbild eines sehr niedrigen Tierorganismus, eines Tieres ohne Sinnesorgan, vorzustellen, so werden war sagen müssen, daß auch dieses Weltbild in seiner Weise richtig ist und dem Bedürfnisse entspricht. Es ist nur noch nicht nach den ver- schiedenen Sinneseindrücken differenziert, so wenig wie die Erinnerung eines Affenmenschen nach sprachlichen Kategorien,

422 X. Entstehung der Sprache

die am Ende gar mit den Eindrücken der Zufallssinne ur- sprünglich in irgend einem Zusammenhang gewesen sein mögen. Wäre die Sprachwissenschaft von der Psychologie ausgegangen anstatt von dem historischen Fache der Philologie, so hätte sie die Zufälligkeit unserer grammatischen Kategorien, der Redeteile, erkennen müssen, während sie jetzt schon froh ist, ab und zu ein Wort zu entdecken, welches nicht ganz be- stimmt in einer einzigen Kategorie unterzubringen ist. Mein Beispiel vom Warnungschrei einer Menschenhorde, den wir uns gar nicht menschhcher zu denken brauchen als den Warnungs pfiff einer Gemse, mag uns zeigen, wie diese Sprach- äußerung jeden Redeteil ersetzen konnte. Ich schicke voraus, daß dieser Warnungschrei auf alle Fälle syntaktisch als ein Prädikat aufzufassen sein dürfte, als ein Prädikat zu einem Subjekte, welches in den allen wohlbekannten Umständen lag, das heißt als eine Antwort auf die Frage, welche aus den Umständen hervorging. Der Schrei konnte (in unserer Sprache ausgedrückt) ein Substantiv bedeuten: „Feinde"; oder ein Adjektiv: „Schwarze"; oder ein Pronomen: „Sie" (kommen); oder ein Verbum: (sie) „Kommen"; oder ein Zahl- wort: (es kommt) „Einer", (es kommen) „Viele"; oder ein Adverbium: „Von rechts"; oder eine Interjektion: „Feindio!" Man wird mir die Erklärung erlassen, warum ich den Schrei nicht auch als Präposition, als Konjunktion und als Artikel gedeutet habe.

. Das Verständnis dieses Warnungsschreis bei der Menschen- horde brauchte nun durch den Mangel sprachlicher Kate- gorien nicht im mindesten beeinträchtigt zu werden. In dem gleichen Falle wird eine Räuberbande, die sich der schönen italienischen oder der reichen deutschen Sprache bedient, den artikuHerten Ruf der ausgestellten Wache gar nicht besser verstehen. Wenn die Bande den Feind erwartet, so wird sie aus dem Rufe „jetzt", „von rechts", „viele" usw. genau so deutlich die Meinung der Wache erkennen, wie die Horde sie erkannte etwa aus der Stärke des Schreis und den begleiten- den Gebärden, wobei ich ganz unberücksichtigt lassen will, daß die itaüenische oder deutsche Bande von den Kategorien

Ursprache 423

der Redeteile ebenso wenig etwas weiß wie jene alte Horde. Was den Kategorien etwa in Wirklichkeit entspricht (Raum- verhältnisse, Zeitverhältnisse, Zahlgleichungen u. dgl.), das ist bis zu einer gewissen Grenze doch selbst den Tieren ge- läufig und mußte den angenommenen Affenmenschen vor der Ausbildung einer artikulierten Sprache auch schon im Gehirn stecken. Auch diese Betrachtung führt also dazu, die Ent- stehung der Sprache immer weiter und weiter zurück zu schieben. Ob unsere gegenwärtige gebildete und logische Sprache eine Schwierigkeit darin findet, den Begriff „Sprache" zu definieren und so die sprechenden Menschen von den vor- sprachlichen Affenmenschen begrifflich sauber abzugrenzen, kann der Wirklichkeit ganz gleichgültig sein, wenn auch die Sprachphilosophie sich um solche Doktorfragen abquälte.

Eine andere Auseinanderspaltung, welche der Sprach- zwiscbeu Wissenschaft den EinbUck in die Urzustände der Sprache ver- jig^gciieii dunkelt, ist ihr Bemühen, zwischen der Sprache als Äußerung eines Menschen und als verständliche Mitteilung zwischen den Menschen zu unterscheiden. Wieder kann ich mir mit aller Anspannung meiner Phantasie einen solchen Gegensatz nicht vorstellen. Wohl ist in unseren luxurierenden Sprachen ein Monolog möglich geworden, wenn er auch selten genug vor- kommt und immer eine besondere Erklärung finden wird, sei es in einem krankhaften Geisteszustand, sei es in einer gesteigerten Lebhaftigkeit, welche gewissermaßen eine zweite Person hinzu denkt oder den Redenden selbst in zwei Seelen auseinander hält. Aber gerade die Entstehung der Sprache ist gar nicht anders zu erfassen, es sei denn als etwas zwischen den Menschen. Das ist doch ein offenbarer Unsinn, sich aus- zumalen, der Mensch habe zuerst die Sprache an sich erfunden und sie dann zur Mitteilung seiner Gedanken benützt. Ebenso- gut hätten die Tiere ihre Beine entwickelt haben und viel später einmal auf den Gedanken kommen können: „Sapperlot, auf diesen Beinen könnten wir ja laufen!" Ebensogut könnte man lehren, die Menschen hätten zuerst das Spinnrad an sich erfunden und wären nachher auf den Einfall gekommen, darauf Wolle oder Hanf zu Garn zu spinnen. Die Sprache

424 X. Entstehung der Sprache

an sich, die Sprache vor dem Mitteilungszweck ist um nichts weniger dumm. Wie nach der gegenwärtigen Auffassung der Naturwissenschaft die Organe des tierischen Körpers, Sinnesorgane so gut wie Ghedmaßen, Augen so gut wie Beine, durch den Gebrauch, für den Gebrauch, ja eigenthch im Gebrauch sich entwickelt haben, so die Sprache von ihrem ersten unartikuUerten Schrei bis zur Kanzelrede vom letzten Sonntag durch den Gebrauch, für den Gebrauch, im Gebrauch zwischen den Menschen, •^^■ti" Auch die Schwierigkeit, welche die Sprachwissenschaft

bezüghch der Artikulation sich gestellt hat, rührt nur von dem Bestreben her, zwischen unartikulierten und artikulierten Lauten hübsch logisch zu definieren. Sicherlich gab es eine Zeit, in welcher die schreienden Menschen noch nicht im- stande waren, etwa die vierundzwanzig Laute unseres Al- phabets irgendwie zu artikuheren. Sicherlich gab es eine spätere Zeit, in welcher die lallenden Menschen nicht so rein- hch artikulieren konnten wie wir. Heute überwindet ein neu- geborenes Menschenkind diese Aufgabe in zwei bis drei Jahren. Wer aber verlangte von der Menschheit, daß sie binnen zwei bis drei Jahren artikulieren lernen sollte? Sie hatte ja Zeit. Ungezählte Hunderttausende von Jahren hatte die Menschheit Zeit. Warum soll die Menschheit ihr Sprachorgan schneller entwickelt haben, als das tierische Auge aus der hchtempfind- Uchen Hautstelle entstanden ist? Man denke an die schönen Schlußworte von Lessings „Erziehung des Menschenge- schlechts", die sich freihch auf eine andere Phantasie be- ziehen: „Und was habe ich denn zu versäumen? Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?"

Wenn nun die vorgeschrittenen Vertreter der Sprach- wissenschaft anfangen, diesen Urzustand der Sprache zu ver- stehen, wenn sie eine vorartikuherte Sprachübung der Mensch- heit sogar mit einigen Tiersprachen großmütig vergleichen, wenn sie aber dann trotzdem mühsam ein Merkmal suchen, durch welches sich die Menschensprache von der Tiersprache unterscheide, so kann ich nicht anders glauben, als daß der Schulmeisterstolz auf Logik imd Grammatik dabei mitspielt.

Art ikulation 425

Die Tiere seien unfähig, Gedanken zu bilden, sie in Sätze zu fassen. Wir haben vorhin gesehen , daß der Warnungschrei der Horde, der doch von dem Warnungspfiff der Gerase oder dem ganz deutlich charakterisierten Warnungston der Glucke geistig nicht zu unterscheiden ist, ein Prädikat bedeutet, das für jeden Redeteil eintreten kann. Wir müssen diesen Schrei jedesmal anders übersetzen, aber immer mit einem Satze oder einem Gedanken. Bedeutete der Schrei mit seiner Gebärde z. B. „von rechts" oder „jetzt", oder gar „von oben" (wie wenn die Glucke vor dem Habicht warnt), so mögen Schul- meister das einen elliptischen Satz nennen, aber der Gedanke kann nicht eUiptisch gemacht werden und auch der Warnungs- ruf der Glucke ist ein vollständiger Gedanke, mag sein sprach- licher Ausdruck auch außerordentlich elliptisch ausgefallen sein. Am deutlichsten wird das, wenn wir den Warnungs- schrei als Interjektion autzufassen durch die Umstände ge- nötigt sind.

Es gibt zahheiche sogenannte Interjektionen, welche schon inter- die gegenwärtige Grammatik als elliptische Sätze aufzufassen J^^^*^°"^" sich gewöhnt hat. So die Ausdrücke für Beteuerungen wie „wahrhaftig" und für Aufforderungen wie „heda". Unter der ersten Gattung gibt es viele Worte, welche ganz offenbar nichts anderes bedeuten als ein bejahendes oder verneinendes Urteil. Es sind häufig alte Schwurformeln, welche ihren eigentüchen Sinn verloren haben, weil die Anrufung Gottes beim Sprechen und Hören nicht mehr den ehemahgen Wert hat, welche aber immer noch das Ja oder Nein etwas kräftiger ausdrücken. Auch kurze Gebete, also Gedanken an göttliche Hilfe, sind so zu Interjektionen verblaßt. Unser „Jemine" ist in Wortlaut und Sinn ein Rest des Gebetsausrufs: Jesu Domine. In kathohschen Ländern wird der Ruf „Jesus Maria und Joseph" je nach der Häufigkeit in der Anwendung bei einem Individuum eine Interjektion (wesenthch verkürzt) oder ein Gebet sein.

Die eigentlichen Interjektionen drücken Freude, Schmerz, Abscheu, Verwunderung u. dgl. aus. Die grammatische Be- zeichnung Interjektion, das heißt Zwischenwurf oder Zwischen-

426 X. Entstehung der Sprache

ruf, läßt schon erkennen, daß wir es mit einer Klassifikation zu tun haben, die Schulmeister aus einer affektierten Schrift- sprache gezogen haben. Viele Interjektionen der Freude und der Furcht wenigstens dürften in schlechten Romanen und Theaterstücken häufiger zu notieren sein als in der lebendigen Rede. „Heißa" ist mir bisher nur in Büchern vorgekommen. „Huhu" als Äußerung der .Furcht gehört vielleicht nur der Kindersprache und der elendesten Schriftsprache von Ritter-, Räuber- und Geistergeschichten an. Die Bezeichnung „Emp- findungswort" ist besser gewählt, weil sie erkennen läßt, daß diese Worte etwas Ganzes ausdrücken. Wir rufen „au" oder „pfui" oder „oh", wenn die Empfindung des Schmerzes, des Absehens oder der Verwunderung zu stark ist, als daß sie sich schnell genug durch einen Satz ausdrücken ließe. Ist der Schmerz oder das Unbehagen gering, so nennen wir unsere Gegenäußerung einen Gedanken und bilden ruhig den Satz: „das tut weh" oder „das riecht unangenehm". Ist die Empfin- dung objektiv stärker oder sind wir subjektiv gereizter, so begnügen wir uns mit einem „au" oder einem „pfui". Die Interjektion sagt also allerdings weniger begriff Uch nicht weniger aus als einen Satz, nicht weniger als einen Gedanken, sondern mehr. Diejenigen Interjektionen, welche nicht ohnehin abgeschwächte Worte oder Sätze sind, welche in der Tat den Charakter von Naturlauten haben oder gewonnen haben, welche also der angenommenen Ursprache sehr nahe stehen, drücken ebenfalls schon Gedanken aus. Sprache Die Unmöglichkeit, zwischen der angeblich unartikulierten ^Tierer Tiersprache und unserer Sprache scharf zu unterscheiden, und scheint mir durch eine Tatsache bewiesen zu werden, die jedes Menschen -j^^^ ^^^ ^^^ Lande kennt und die trotzdem oder darum noch von keinem Forscher meines Wissens beachtet worden ist. Ich meine diejenige Sprache, welche in ganz banalen Fällen zwischen Menschen und Tieren gesprochen und verstanden wird. Ich will nur zwei Beispiele geben; das eine ist die sprachUche Mitteilung von Hunden zu Menschen, das zweite die Mitteilung von Menschen zu Pferden.

Jeder Besitzer eines guten Hundes versteht dessen Äuße-

Sprache zwischen Tieren und Menschen 427

rungen über verschiedene Tatsachen. Das Bellen ist unarti- kuliert, wenn wir unser Alphabet zugrunde legen. Es muß aber doch wohl vom Standpunkt der Hundekehle artikuliert sein und wäre es auch vom Standpunkt der Idealphonetik des Phonographen; denn sonst könnte der Hund seine ver- schiedenen Hundegedanken nicht verschieden ausbellen, wie er es doch tut. Es ist gar nicht anders möghch, als daß auch der Hund mit jedem Lautzeichen in seinem Gehirn eine andere Bewegungs Vorstellung verbindet. Sein Herr, wenn er sein Freund ist, versteht genau so deutlich, wie er seine Mitmenschen versteht, was der Hund jedesmal bellt: „Es nähert sich ein Fremder deinem Hause" oder „Jetzt mußt du mich hinaus- lassen, weil ich sonst die Wohnung beschmutze und Prügel bekomme" oder „Jetzt mußt du mich hereinlassen, weil es draußen zu schlechtes Wetter ist" oder „Bitte, nimm mich mit". Das „nimm mich mit" wird gebellt; das „bitte" wird durch die Gebärdensprache des Schweifs dazu gewedelt, wie denn auch das „bitte" in der Kindersprache sehr häufig nicht gesprochen, sondern durch die gefalteten Hände ersetzt wird. Hier versteht also der Mensch eine „unartikulierte" Tiersprache. AVenn aber der Fuhrmann mit oder ohne Peitsche seinen Pferden zuruft „Hü" oder „Hott" oder „Prr", so versteht das Pferd ganz klar: du sollst rechts oder links traben, du sollst stehen bleiben. Wenn es nun bis heute nicht gelungen ist, dem Pferde das Verständnis für die Worte rechts, ünks, halt beizubringen (während Hunde und Elefanten wohl manche Worte der menschlichen Sprache verstehen gelernt haben), wenn die Menschen im Umgang mit ihren Pferden zu so mangelhaft artikulierten Zurufen gekommen sind und diese Zurufe, die allerdings in der Schriftsprache mit den Buch- staben unseres Alphabets geschrieben werden, im praktischen Gebrauch gewissermaßen „unartikuhert" aussprechen, so kann das nur daran Hegen, daß die Sprachwerkzeuge der Pferde und dementsprechend ihre Bewegungsgefühle, wenn auch nicht zum Aussprechen, so doch zum Wahrnehmen dieser mangel- haft artikulierten Hü, Hott und Prr besser geeignet sind, als zum Wahrnehmen von rechts, Hnks und halt.

428 X* Entstehung der Sprache

Ich lasse dabei ganz beiseite, wieviel der Zweck der Abrich- tung bei der Verwischung strenger Artikulation mitgesprochen hat. Ich müßte sonst an die wirkHche, nicht im Reglement stehende Kommandosprache des Militärs erinnern. Die Or- donnanz, die deuthch artikuheren würde „zu Befehl, Herr Oberst" würde Verwunderung erregen. Im wirklichen Dienst heißt es : „f ä . . . r . . . st" und wird verstanden. Mit unserem Alphabet geschrieben, wäre also „zu Befehl, Herr Oberst" identisch mit „fährst". Für die Schreibung der undeuthchen Zwischengeräusche reicht unser Alphabet nicht hin. So wissen wir auch nicht buchstabenmäßig, wie der Fiihrmann sein „Hü" eigenthch ausspricht, wir wissen noch weniger, wie das Pferd den Zuruf hört, das heißt welche Sprach-Bewegungs- gefühle in der Pferdekehle dabei ausgelöst werden. Wir wissen aber, daß das Pferd den Fuhrmann versteht.

Alle diese Bemerkungen hatten die gemeinsame Absicht, auf den Fehler hinzuweisen, den die Spekulationen über die Entstehung der Sprache immer wieder machen. Die alte Vor- stellung von einer Schöpfung der fertigen Sprache, welche der Schöpfung eines fertigen Adam parallel geht, wirkt unbewußt immer noch nach, solange zwischen unseren Kultursprachen und den noch unartikuherten Mitteilungszeichen einer Urzeit ein begrifflicher Unterschied gemacht, solange eine schöne Definition der Sprache aufgestellt wird. Immer steht bei solchen Untersuchungen am Anfang irgend ein uralter Adam, der plötzhch zu reden anfängt. Und wenn die Forscher sich gegen diesen Vorwurf noch so heftig wehren wollten, er kann ihnen nicht erspart bleiben, solange sie sich ein Merkmal aus- denken, mit welchem das beginnen soll, was sie erst Sprache zu nennen so gütig sind. Es steht damit wie mit den alten Streitigkeiten der kanonischen Juristen über die Persönhch- keit eines Kindes. Würde das Kind erst durch die Geburt zu einer Person, so wäre die Tötung eines Keims nur von ganz anderen Gesichtspunkten aus strafbar, als von denen des Mordes. An diese juristische Spitzfindigkeit knüpfte einst die Physiologie an mit ihrer Frage: Wann entsteht der neue Organismus? Und wenn sie bei dem „Wunder" der Zeugung

Lernen der Tiere 429

stehen bleibt und nicht weiter zurückgeht zum Organismus des Vaters und weiter zurück zu dem des Großvaters, so treibt sie die gleiche Willkür wie die Sprachwissenschaft, wenn diese irgendwo einmal das Datum der Entstehung der Sprache festsetzen will.

Um über die Entstehung der Sprache mit sauber polierten Die alten Worten schwatzen zu können, trennen die Sprachforscher die ^^ "™**'^ Entstehungszeit, etwa die Zeit der Sanskritwurzeln, von der früheren und der späteren Zeit; daneben scheiden sie außer- dem die Menschensprache gewissermaßen räumhch von den Mitteilungsformen anderer Tiere ab. In dieser Absicht werden die verwegensten Unwahrheiten vorgebracht. So z. B., daß das Tier keinen gelernten Ausdruck besitze. „Kein Tier, so- Lernen weit wir die Tiere kennen (^Vhitney, Leben und Wachstum der Sprache, S. 302), besitzt gelernten Ausdruck, solchen, der nicht das unmittelbare Geschenk der Natur ist." Wer mein Buch mit Zustimmung lesen gelernt hat, wird sofort den Predigerton heraushören, der aus den Worten „das unmittel- bare Geschenk der Natur" herausklingt. Sprache ist ja nach solchem Wortaberglauben eine „Gabe", ein „Vermögen"; die Tiere besitzen sie also als ein unmittelbares Geschenk, weil sie rascher bellen, krähen, piepsen usw. lernen, als die Menschen sprechen. Die Menschen besitzen an ihr wohl ein mittelbares Geschenk, weil sie ihren Vorrat langsamer erlernen. Das Lernen der Tiere ist übrigens ganz auffälhg. Jeder Hunde- freund kann beobachten, wie ein junger Hund bellen lernt. Und das Kiähen eines jungen Hahns ist um nichts weniger piepsig als das Lallen eines Kindes. Der Unterschied wird also darauf hinauslaufen, daß der Mensch sein Sprechen, Gehen usw. langsamer erlernt als ein Hühnchen, daß er es aber nachher in diesen Künsten weiter bringt. Wenn man aber nun behaupten wollte, daß die Entstehung der Menschen- sprache nicht identisch ist mit dem Entstehen der Hühner- sprache, so bin ich ja einverstanden.

Die Sprachwissenschaft macht es sich leicht, wenn sie an

430 X' Entstehung der Sprache

die Frage des Ursprungs herangeht. Wie ein vergnügtes Kind spielt sie mit sich selbst Versteck. Sie hält sich die Hände vor die Augen und fragt dann laut : Wo bin ich ? Insonderheit nimmt sie auch die besonnenste Wissenschaft eine wurzelhafte Ursprache an und fragt dann dummschlau, ob nicht dieselben „Kräfte", welche heute noch Laut- und Be- deutungswandel veranlassen, „damals" das heißt in einer unbekannten aber bestimmten Zeit auch die Urschöpfung der Wurzeln veranlaßt haben können. NatürHch konnten sie das. Nur daß diese sogenannten Wurzeln doch nicht wie Pilze über Nacht aufgeschossen sind, sondern nur willkürHch angenommene Stationen auf dem stetigen Wege der Entwick- lung sind. Auch ich werde mitunter von unartikuherten An- fängen, von Keimen späterer Worte sprechen müssen; aber ich meine damit niemals „Wurzeln", Lautgruppen aus irgend einer historischen Zeit irgend einer heute noch lebenden oder noch überlieferten Sprache; und ich habe gar nichts dagegen, daß man mir und wenn ich den Keim, den unartikulierten Schrei um eine MilHon Jahre zurückverlege darauf ant- wortet : was weißt du davon, wie dieser Schrei, „etymologisch" zurückverfolgt, vor zwei Millionen Jahren gelautet haben mag? Es ist seit gestern, seit kaum tausend Jahren, daß das griechische Wort Episkopos sich da in „Bischof", dort in „eveque" ver- wandelt hat, das lateinische Wort episcopatus da in „Bistum", dort in „eveche"; die französischen und deutschen Worte sind etymologisch identisch, trotzdem auch nicht ein einziger Laut in beiden entsprechenden Worten gleich gebheben ist. Und das war in der jüngsten Sprachzeit noch möghch. Man kann wohl sagen, daß im Laufe der Zeit jeder Laut in jeden anderen Laut übergehen kann. Nimmt man nun zwischen den von Panini gelehrten Wurzeln des Sanskrit und irgend einer älteren Sprachstufe nur ein paar armsehge Jahrtausende an, so ist der Versuch bis zur Sinnlosigkeit fruchtlos, diese Wurzeln aus „natürlichen" Tönen, Interjektionen u. dgl. her- leiten zu wollen. Die Untersuchungen über den Ursprung der Sprache in dem Sinne, als wollte man immer noch die Ursprache der Menschheit oder auch nur die Ursprache eines

Neue Fragestellung 431

Sprachstammes entdecken, sollten endlich für immer auf- gegeben werden.

Ernsthaftere Forscher geben sich denn auch mit solchen Neue Phantasien in Wahrheit der Erfindung eines Perpetuum steu„,^' mobile nicht mehr ab. Sie schreiben zwar noch ganz lehr- sam gegen die Annahme, Gott selbst habe die Sprache erfun- den und den Menschen geschenkt, oder er habe ihnen wenig- stens die Wurzeln geschenkt*); aber sie wissen oder ahnen doch, daß sie die Frage nach dem Ursprung der Sprache ehrlicherweise nur noch ganz abstrakt behandeln können. Nicht mehr: „Wie lautete die Ursprache der Menschen?" ist die Aufgabe, sondern: „Welche Ejräfte waren oder welche alleinige Kraft war wirksam, als die Menschen sich zuerst die Sprache erschufen?" Und diese Frage stellt man nur deshalb so halbwegs vernünftig, weil der Sprachgebrauch zufällig unterlassen hat, eine besondere „Sprachkraft" in sein Wörter- buch aufzunehmen. Der Umstand, daß die Atmungswerk- zeuge zugleich als Sprachwerkzeuge fungieren, mag da zu Hilfe gekommen sein. Wo das Werkzeug so handgreif üch ist, da sucht der Verstand nicht so sehr nach einer geheimnisvollen „Kraft". Besäßen wir die Vorstellung von einem Werkzeug des Lebens, wir hätten kaum den Begriff „Lebenskraft" aufgebracht. Für die Sprache schien es lange Zeit sehr einfach, da das Werk- zeug bekannt war, den menschhchen Geist als die unsichtbare Kraft vorauszusetzen, die das Werkzeug bewegte. Nur daß wir nicht wissen, was Geist, was Kraft und was Sprache ist.

Bei der Entstehung der Sprache jedoch handelte es sich wie gesagt nicht um den Gebrauch des Werkzeugs für die erlernte Sprache, sondern um die Erfindung des Gebrauchs zusammen mit der Erzeugung des Werkzeugs respektive um die Einübung des Atmungs- und Werkzeugs auf die Sprache. Da bUeb freilich nichts übrig, als zu „Ej:äften" seine Zuflucht zu nehmen.

*) Selbst Whitney kämpft noch gegen diese Annahme mit dem freilich ganz hübschen S.herze, ein kleines Mädchen habe einmal ge- sagt: „So groß (wie ein kleines Püpp:hen) hat mich Gott ges?hafifen; Bo groß (sie zeigt ihre übrige Länge) bin ich selbst gewachsen."

432 X. Entstehung der Sprache

Kraft -^jj, gi^(j wieder gegen die Fragestellung schon mißtrauisch.

„Kraft" ist eine Abstraktion, eine Personifikation für die Ur- sachen physikalischer Veränderungen. Selbst eine in ihren Wirkungen so allgemein bekannte Ursache wie die Schwer- kraft ist nur eine Personifikation, deren Umvirklichkeit bei genauer Betrachtung sofort in die Augen springt; es gibt in der Wirklichkeitswelt weder einen Schwerpunkt, noch eine Richtung, noch ein Gewicht (welche drei Umstände ja die Schwerkraft bestimmen sollen), sondern nur Summen unendlich kleiner Erscheinungen. Wird nun die Personifikation „Kraft" gar bildhch auf Lebensvorgänge angewendet, so wird das Symbol noch tiefer entwertet. Die Kräfte der Lebensvorgänge sind nur noch papierene Kronen, wie sie von Kindern, Schau- spielern und Wahnsinnigen ernst genommen werden.

Wir können aber nicht darauf verzichten, zu untersuchen, welche Kräfte, Geisteskräfte natürlich, es sind, die den ver- schiedenen Theorien von der Entstehung der Sprache zu- grunde liegen. Man hat die populärsten Theorien ganz bequem unter drei Schlagworte gebracht, Spitznamen, welche jedoch von den Vertretern der bezüghchen Lehren ehrlicherweise angenommen werden könnten, die Klingklang-Theorie, die Aha-Theorie und die Wauwau- Theorie. Kling- Die K 1 i n g k 1 a n g-Theorie ist unter diesen drei Hypo-

Theoiie Thesen die jüngste, wenn sie auch bereits von dem Sprach- philosophen Heyse vorgeahnt worden ist. Max Müller war ihr Prophet, um sie dann ein wenig zu verleugnen und sie seinen Aposteln zu überlassen. Es wird in dieser Lehre be- hauptet, daß jeder Körper, wenn er in Bewegung gesetzt wird, einen Schall errege; der Schall des Menschen sei seine Sprache, so wie der Schall der Bronze der Glockenton, der Schall des Baches sein Rauschen sei. Es scheint mir nicht einmal nötig, diese Weisheit durch Spott ad absurdum zu führen. Denn der Schall des in Bewegung gesetzten Menschen dürfte doch viel natürhcher als in der Sprache in anderen Geräuschen zu suchen sein; der Mensch khngt, wenn ihm fünfundzwanzig aufgezählt werden, er schreit sogar dabei, er rülpst, wenn er zu viel gegessen hat, und vollführt weiter

Theorie

Klingklang-Theorie 433

derlei Geräusche. Sie sind aber allesamt zu keiner Sprache ausgebildet worden. Selbst der Wind- Virtuose in Zolas La Terre spricht nicht auf dem Wege, der ihm beliebt. Im Ernste: diese Klingklang-Theorie tut nichts, als daß sie die menschliche Sprache äußerst töricht und einseitig mit etwas vergleicht, was unter dem höheren Begriff „Schall" gerade den Gegensatz zur Sprache darstellt, weil sie sich doch von allen anderen Naturgeräuschen eben- durch ihre willkürliche Artikulation unterscheidet. Diese Theorie hat nicht einmal so viel Phantasie, um der Sprache eine noch so armselige Kraft zugrunde zu legen. Nach ihr würde die Sprache in der Akustik abzuhandeln sein; ein Echo wäre ebensoviel wie Sprache.

Die A h a-Theorie klingt nicht ganz so unsinnig. Nach Aha- ihr ist die Sprache aus Interjektionen entstanden. Aus den Empfindungslauten, in denen wir außersprachlich noch heute unsere Gefühle auszudrücken pflegen (Ah! Oh! Au! Ei! usw.), wären die Wurzeln entstanden und aus diesen nachher die Sprache. Es fällt dabei auf, daß erstens diese Lehrer nicht wissen, was Interjektionen eigentlich sind, daß zweitens unsere meisten Interjektionen gerade im Gegenteil Reste ehemahger Worte sind, daß drittens die echten Interjektionen (wenn wir das Ah! und Oh! nach unserem Sprachgefühl dafür halten dürfen) gerade den Konsonanten entbehren und darum wohl erst die Frage vorauszuschicken wäre, wo die Interjektionen diese notwendigen und sehr genau artikuherten Sprachlaute hergenommen haben. Angenommen nun, diese Bedenken lägen nicht vor, die Theorie wäre richtig, wäre auch nur mög- lich, so stehen wir doch vor der gleichen Phantasiearmut wie bei der ersten Theorie.

Es ist gerade für unseren Standpunkt wohl ausgemacht, daß Interjektionen zur Sprache gehören, trotzdem sie weder in die Kategorien der Logik noch in die der Grammatik recht hineinpassen wollen. Das aber dürfen wir wohl für gewiß annehmen, daß die Interjektionen vor der Entstehung der Sprache gänzUch unartikulierte Laute waren, besser ausge- drückt (da wir doch für die Entstehung der Sprache keinen

Mauthner, Beitrage zu einer Kritik der Sprache. II 28

434 X' Entstehung der Sprache

auch noch so unbestimmten Termin setzen): daß die Inter- jektionen jederzeit weniger artikuliert waren als die übrige Sprache, Man denke nur z. B, an unser „hm", das zwar mit diesen beiden Buchstaben geschrieben, aber ganz voralpha- betisch ausgesprochen wird; man denke an unseren Ton des Bedauerns (einem inspirierten T ähnlich), der höchstens im Alphabet der Hottentotten einen fest artikulierten Lautwert hat. So mögen die ältesten Interjektionen unartikulierte Töne gewesen sein wie noch unser Stöhnen und Seufzen. In- soweit solche Töne zur Mitteilung benutzt wurden („Ich leide Schmerzen" oder „Ich fühle mit, daß du Schmerzen leidest"), waren sie allerdings schon Sprache. In dem Augenbhcke aber erst, wo diese Laute etwa durch Metapher zur Mitteilung anderer Begrifie verwandt wurden, wo sie also zu Wurzeln unserer Sprache wurden, wo bewußte Sprache entstand, in diesem selben Augenbhck mußte etwas Neues in den Men- schen vorgehen, was eine solche Verwandlung erst erklären konnte. Und für dieses Neue, diese sprachbildende Kraft, für dieses zu Erklärende hat die Aha- und Pahpah-Theorie kein Wort, nicht einmal einen Gedanken. Wauwau- Die dritte Theorie, die onomatopoetische, schallnach- Theone g^j^jj^gj^^jg^ welche Max Müller als die W a u w a u-Theorie lächerhch zu machen vermeinte, ist die älteste Lehre über Entstehung der Sprache, und zu ihr ist man seit Piaton immer wieder zurückgekehrt. Onomatopöie hieß bei den Griechen wie schon das Wort besagt eben gar nichts anderes als Wortbildung. Auch wir glauben, daß in Urzeiten die Menschen sehr häufig Dinge dadurch zu bezeichnen suchten, . daß sie ihre eigentümhchen Geräusche mit der Menschen- stimme nachzuahmen glaubten. Aber wieder frage ich in dieser Lehre, so wie sie vorgetragen wird, vergebens nach der Idee von einer Ursache der Spracherscheinungen, nach der „Kraft".

Es wird nämhch in der folgenden Untersuchung über- zeugend, wie ich hoffe nachgewiesen werden, daß in jeder Schallnachahmung nur ein Bild, eine Metapher des Original- schalles geboten wird. Dies gilt nicht allein von den Fällen,

Wauwau -Theorie 435

wo ein ganz verworrenes Naturgeräusch wie in „Rauschen", „Donnern" für unser Sprachgefühl nachgeahmt wird; es gilt auch mein Beispiel ist „Kuckuck" überall da, wo wir ganz ernsthch glauben, das Tier habe einen Ruf, der mit seinem deutschen Namen identisch wäre. Diese Täuschung ist ganz allgemein, nicht nur bei Philologen, sondern auch bei ganz unverdorbenen Leuten. Kürzüch erst, als ich mit einem Jäger durch ein Binnenwasser segelte und ein Kiebitz mit seinem Schrei (plattdeutsch „kiwiet") über uns hinflog, sagte mein Begleiter: „Er kann nichts als seinen eigenen Namen rufen."

(Ich möchte an dieser Stelle übrigens noch die Bemerkung einschalten, daß wir bei der endlosen Vergangenheit unserer Wörter niemals wissen können, ob die Onomatopöie, die wir z. B. heute aus einem Worte herausfühlen, auch seine Ety- mologie sei. Hier sind die gröbsten Irrtümer möglich und wahrscheinhch. Es kann und wird sehr häufig onomato- poetische Volksetymologie vorliegen, ein Begriff, zu dem Beispiele zu sammeln ich DetaiKorschern überlassen muß.)

Wenn nun unsere echten Schallnachahmungen sie dürften zu zählen sein durchaus keine realistischen Nach- ahmungen sind, wenn jedesmal das Eintreten artikulierter Menschenlaute für die jedesmal unartikulierten Natur laute oder -Geräusche ein Symbol, ein konventionelles Bild, mit einem Worte eine Metapher von dem Originalgeräusch dar- stellt, so fehlt der Wauwau-Theorie meines Erachtens aber- mals dasjenige, was die Erscheinung oder Entstehung der Sprache erst erklären könnte. Irgend eine Ursache für die Erfindung der Artikulation Avird nicht entfernt angegeben. Läßt man das Metaphorische in der Onomatopöie außer acht, so bleibt zwischen Nachahmung und Sprache eine unüber- brückte Kluft. Es gibt bekanntüch Tiere (Papageien, Spott- drosseln), die Schallnachahmungen auszuführen heben; sie haben aber nicht artikuUert sprechen gelernt, wenn sie auch neben ihrem spielenden Nachplappern ihre eigene Sprache haben mögen. Der Mensch wiederum, der Schall-

436 X. Entstehung der Sprache

nachahmungen nützlich zur Sprache umgeformt zu haben glaubt, erkennt sofort instinktiv, daß er konventionelle Zeichen für Nachahmungen genommen hat, sowie mit der Ähnlichkeit Ernst gemacht werden soll. Der Jäger, der ein Tier durch Nachahmungen seines Rufs anlocken will, begnügt sich nie- mals mit den hergebrachten Onomatopöien. Selbst viele Kinder wissen das schon. Sie antworten auf die Frage: „Wie singt der Hahn?" wohl „Kikeriki"; aber wenn sie es ernstlich nachahmen wollen, dann bringen sie „unartikuHerte" Laute hervor. Ebenso sagen sie wohl, der Himd mache „Wauwau"; aber sie bellen unartikuHert besser, sobald sie nachmachen wollen. Und mancher Tingeltangelvirtuose kann die ver- schiedenen Beiläute recht gut auseinander halten.

Unsere sogenannten Schallnachahmungen sind also schon konventionelle Zeichen, sind schon Worte. Und auf die Frage: wie kam der Mensch dazu, neben seiner Fähigkeit, die Naturtöne reahstisch nachzuahmen, auch noch die andere Fähigkeit zu entwickeln, diese selben Laute konventionell umzugestalten? auf diese Frage hat die Wauwau-Theorie keine Antwort. Ja, die Frage ist meines Wissens noch nie- mals gestellt worden.

Auf einen drolligen Rettungsversuch der Wauwau-Theo- retiker lasse ich mich nur ungern ein. Während ich jede Onomatopöie für metaphorisch erkläre, ihrem Wesen nach, eben der Artikulation wegen, haben überzeugte Onomato- pöetiker die Nachahmung selbst bildhch erweitern und durch die Artikulation, z. B. Schnelhgkeit, Mühsamkeit, gewisser- maßen plastisch dargestellt wissen wollen. Noch Whitney glaubt, das sei nicht ohne Glück geschehen. Erinnert er doch sogar an die „Wurzel" ma, deren Konsonant m in so vielen Sprachen (allen indoeuropäischen vor allem) die erste Person der Einzahl bezeichnet, weil bei der Aussprache des m „die Lippen sich fest zusammenpressen, den Sprecher gleich- sam von der Außenwelt abschließen" ; oder an die „hinweisende Pronominalwurzel" ta, welche figürlich den Hinweis auf einen Gegenstand bezeichnen soll, „weil die Zunge sich dabei im Munde vorstreckt, gerade als wollte sie irgendwohin deuten".

Kraft 437

Wir haben gesehen, daß die drei Theorien als wir sie bei ihrer Arbeit beobachteten einfach vergessen hatten, was ihre selbstgestellte Aufgabe war: die Entstehung der Sprache zu erklären. War die Sprache eine einheitliche be- sondere Erscheinung, so mußte ihr eine besondere Ursache zu Grunde liegen, was man sonst wohl eine Kraft nennt; was aber zur Erklärung geboten wurde, war immer nur die armseHge Mitteilung, daß der Mensch aus manchen Anlässen Töne von sich gebe. Wie aus diesen Tönen Sprache entstehe, das zu erklären wurde nirgends auch nur versucht.

Auch ich werde es nicht versuchen dürfen, weil für mich alle Erklärung nur Beschreibung sein kann, weil jede Ent- wicklung der Sprache (wie jede Veränderung) doch nur die Summe wirkhcher Vorgänge ist, für welche jede allgemeine Erklärung in wertlosen Abstraktionen stecken bleibt. Die Geschichte der Vorzeit läßt sich nicht beschreiben, nur träumend dichten. Und der Ursprung der Sprache ist irgendwo versteckt in den Träumen von der Vorzeit; dort oder auch hunderttausend Jahre früher. Es kommt gar nicht darauf an.

Es gibt noch andere Theorien über die Entstehung der Reflex- menschhchen Sprache. Verlockend physiologisch ist die '^°"* Reflextheorie.

Wenn im lebendigen Körper auf eine Erregung der sen- siblen Nerven eine bestimmte Tätigkeit oder Hemmung der motorischen Nerven erfolgt, ohne daß diese Wirkung durch das Bewußtsein oder gar durch den Willen vermittelt wird, so nennen wir das eine Reflexerscheinung. Das Husten in- folge von Reizung der Schleimhäute des Atmungsweges, das Verengen der Pupille auf Lichtreize, das Stocken der Herz- tätigkeit nach dem Genuß von gewissen Giften sind bekannte Beispiele. Aktive Erscheinungen solcher Art nennt man Reflexbewegungen. Zu diesen gehört das Lachen und das Weinen. Das Lachen als eine Reflexbewegung vor allem des Stimmorgans, das Weinen sowohl als Bewegung dieses

438 ^' Entstehung der Sprache

Organs wie auch als Absonderung des Tränenstoffs. Auch viele andere Drüsenentleerungen sind Reflexbewegungen.

Die eben gegebene landläufige Definition der Reflex- erscheinungen ist für uns fast wertlos, weil sie Abwesenheit von BeAvußtsein oder Willen fordert und wir entschieden erklären, nicht zu wissen, was Bewußtsein oder Wille sei. Sehen wir schärfer zu, so versteckt sich auch hinter der Be- zeichnung Reflexbewegung nur das Eingeständnis eines doppel- ten Nichtwissens. Indem wir nämlich den Schein aufi'echt halten, aLs hätten wir die bewußten und willkürlichen Be- wegimgen unseres Körpers eben durch Bewußtsein und Willen diese beiden Unbekannten genügend erklärt, werfen wir nach bewährtem Rezepte alle anderen Bewegungen auf den großen Haufen des Unerklärten und nennen die Summe ihrer unbekannten Ursachen das Unbewußte. Ebensogut könnten wir einen neuen negativen Begriff, das „Nichtwollen" bilden und ihn zu einer wirkenden Ursache erheben.

Dieses Nichtv/issen ist wie bei der Definition so auch bei den Mitteilungen über die ältesten Reflexlaute der Sprache vorhanden. Steinthal und Lazarus kommen darin überein, daß zwischen den ältesten Reflexlauten der Sprache und den Sinneswahrnehmungen, durch welche sie ausgelöst wurden, eine innere Verbindung bestehe, daß der Reflexlaut die Sinnes- wahrnehmung nachahme, ihr verwandt sei od. dgl. Man hat dagegen eingewandt, daß der Reflexlaut doch nur das durch die Sinneswahrnehmung erregte Gefühl ausdrücke, nicht den Gegenstand der Sinnes wahr nehmung, daß also der Reflexlaut der Urzeit nicht Sprache sei. Überraschung oder Verwunde- rung z. B. könne durch den AnbHck von unz.ähligen neuen Gegenständen erregt werden; diese Überraschung oder Ver- wunderung könne auch das Tier durch einen Stimmlaut aus- drücken. Der Ruf der Überraschung oder Verwunderung sei nicht Sprache. Wir aber, die wir die Bedeutung der Situation für das Sprachverständnis kennen, sehen in diesem Einwand keine Schwierigkeit. „Löwe" ist für uns ein Wort der Sprache, obgleich erst die Situation darüber belehren kann, ob mit dem Worte das anspringende Raubtier, ob ein Löwe im Käfig,

Reflextheorie 439^

ob ein gemalter Löwe, ob ein mutiger Soldat, ob ein Gigerl, ob ein Mann Namens Löwe gemeint sei. Der Laut der Ver- wunderung ist nur noch weiter im Umfang seines Begrifiea; er kann einen Regenbogen, er kann einen Sturm, er kann einen Löwen, er kann alles bedeuten. Er bietet der Metapher den weitesten Spielraum.

Ich möchte mir aber gern erzählen lassen, wie viele solche ursprünglichen Reflexlaute die Begründer dieser Theorie an- genommen haben. Anders ausgedrückt, wie viele deuthch unterschiedene Gefühle der Mensch in so einer Urzeit aus- drücken konnte und wollte. Beim besten Willen kann ich außer der Verwunderung nur noch das Gefühl des Schmerzes und der Freude entdecken. Wir hätten dann drei Reflexlaute : den der Überraschung, den des Weinens und den des Lachens. Soll die Zurückführung der Sprache auf Reflexlaute für unsere Untersuchung einen Wert haben, so müssen wir wieder aufs neue ansetzen und die Entstehung der Sprache durch meta- phorische Anwendung dieser Reflexlaute erklären. Die Ent- stehung der Reflexlaute selbst liegt dann weit irgendwo hinter der Entstehung der Sprache zurück.

Als ich zum ersten Male die Vorstellung faßte, es könnte staunen, sich die Entstehung der Sprache begründen lassen auf die ^^'eit»«»-

° ^ *= Lachen

drei einzigen Reflexlaute des Staunens, des Schmerzes und der Freude, da war mir zu Mute, wie gewiß all den anderen, welche das Rätsel des Sprachursprungs gelöst zu haben glaub- ten. Und meine Lösung mußte mir als die beste, als die allein richtige erscheinen, weil sie mit der Psychologie und mit der Logik sich spielend vereinigte. Die neuere Psycho- logie mußte dazu gelangen, die Sprache als eine nicht ab- sichtlich angenommene Gewohnheit aus Reflexlauten herzu- leiten, und da war es äußerst verführerisch, diejenigen Reflex- laute zur Grundlage zu nehmen, welche heute noch und täglich beim Kinde beobachtet werden können.

Noch wertvoller schien der Gedanke durch eine logische Betrachtung zu werden. Die drei Gefühle schienen eigentlich

440 X. Entstehung der Sprache

alles zu umfassen, was irgend den Menschen zur Äußerung oder Mitteilung veranlassen konnte. Interesse an einer Er- scheinung der Wirklichkeitswelt muß der Mensch haben, wenn er auf sie durch eine Äußerung oder gar durch eine Mitteilung reagieren soll. Das völhg Grleichgültige nimmt er gar nicht wahr. Die Hauptmasse alles dessen, woran er Interesse nimmt, läßt sich am allereinfachsten in die beiden Gruppen zerlegen, die ihm Schmerz oder Freude machen. Alles andere, was ihn ohne Schmerz oder Freude interessiert, läßt sich ebenso zwang- los unter den Begriff des Neuen, des Überraschenden bringen. Eine noch genauere begriffliche Einteilung wird Schmerz und Freude zusammenfassen unter dem Begriff des persönlichen Interesses, alles Neue unter dem Begriff des unpersönUchen Interesses. Ich hatte meine Freude an dieser Vorstellung und bemerkte dabei gar nicht, daß sie eine unpersönliche Freude war, eine reine Erkenntnisfreude, und daß dadurch der saubere logische Bau schon ins Wanken geriet.

Als ich dann viel später die Bedeutung der Metapher für die Entwicklung der Sprache begriff., erschien die Herleitung des gesamten Sprachschatzes aus den drei ursprünglichen Reflexlauten so gesichert, daß ein hübsches System darauf aufzubauen gewesen wäre. Ich halte den Gedanken jetzt noch für fruchtbar; aber die Einsicht in die Unzuverlässigkeit der geltenden Begriffe hat mich Resignation gelehrt. Die Frage nach der Entstehung der Sprache ist eine Frage nach historischen Tatsachen, die nie und nimmer mit den Begriffen des heutigen Tages ehrlich wird beantwortet werden können. Die Herleitung der Sprache aus der metaphorischen Anwen- dung der drei ursprünghchen Reflexlaute, denen des Staunens, des Schmerzes und der Freude, hat für mich nur noch den Wert einer reizvollen Hypothese, die freilich Gelegenheit gibt, die Entwicklung der Sprache bei jedem einzelnen Kinde von einer besonderen Seite zu betrachten. Mutter Man achte einmal genau auf das Sprachverhältnis zwi-

schen Säughng und Mutter zu der Zeit, wo das Kind noch nicht sprechen kann und wo trotzdem eine Verständigung zwischen beider» schon stattfindet. Sicherlich ist das Weinen

und Kind

Mutter und Kind 441

des Kindes ursprünglich ein Reflexlaut. Es weint vor Schmerz, vor Unbehagen, insbesondere vor Hunger. Die hebende Mutter erkennt übrigens an der Art des Weinens ungefähr, ob das Ejnd einen Schmerz fühle, ob es sich z. B. nur langweile oder ob es Hunger habe und trinken wolle. Gegen Ende des ersten Jahres ist das Hungerweinen des Kindes aber aus einem Reflexlaut Sprache geworden; denn das Kind hat die Er- fahrung gemacht, daß es auf eine gewisse Art des Weinens die Brust erhält. Der gleiche Laut war also zuerst der Reflex- laut eines Gefühls, sodann ein Sprachmittel, wobei es gleich- gültig bleibt, ob in der Seele des. Kindes dieses Sprachmittel etwa den Charakter eines Befehls, einer Bitte oder gar den eines selbsttätigen Zauberspruchs angenommen hätte. In diesem Kindesalter nimmt das Weinen aber noch einen dritten Charakter an. Wenn das weinende Band die Brust erhalten hat, so setzt es das Weinen oft noch eine Weile ich möchte sagen: behaghch fort, genau so, als ob es jetzt sich oder der Mutter erzählen wollte, es habe geweint, oder es habe weinen müssen, um die Brust zu bekommen. Man könnte das so ausdrücken, daß das Hunger weinen des Kindes zuerst Ijrisch sei, dann dramatisch werde und endhch in einem Epos Verwendung finde. Es ist das kein Scherz. Es ist der Weg der Sprache vom Reflexlaut des Gefühls (Lyrik) zur Wirksamkeit des Sprachlauts auf die Umgebung (Drama) und endüch zur ruhigen Mitteilung (Epos).

Wie verhält sich die Mutter zu diesem Hungerweinen ihres Kindes? Der bloße Reflexlaut des Gefühls weckt in ihr das entsprechende Gefühl des Mitleids, der Liebe, der Lui*t oder was immer, und sie eilt herbei, froh die Brust zu reichen. Das Hungerweinen als Sprachlaut, die Aufforderung des Kin- des beantwortet sie schon sprachlich. Auf das erzählende, behaghche Hungerweinen des beruhigten Kindes reagiert sie durch ein entsprechendes Geplapper. Ich behaupte da nur Dinge, die man in jeder Kinderstube beobachten kann.

Die Erregung des Gefühls gehört auf ein anderes Gebiet, weineu Das freundhchc Geplapper, das die Erzählung des Blindes be- gleitet, ist bereits Geschwätz, gehört also schon einer höheren

442 X' Entstehung der Sprache

und modernen Verwendung der Sprache an. Die Entstehung der Sprache selbst werden wir nur in dem zweiten Falle be- lauschen können, wenn das Hungerweinen des Kindes eine Aufforderung ist und die Mutter Sprachlaute von sich gibt, um das Kind sofort zu beruhigen, bevor sie noch herbei geeilt ist, die Brust entblößt und das Kind angelegt hat. Heute gebraucht die Mutter die Worte der Erwachsenen. Sie sagt z. B. „Gleich wird das Kind zu trinken bekommen" oder „Die Mutter ist schon da" oder etwas Ähnliches. Das Kind beruhigt sich, trotzdem es keine Silbe versteht. Es hat die Stimme der Mutter erkannt und weiß aus Erfahrung, daß auf diese Stimme die Brust folgen wird. Doch die Stimme allein tut's nicht ; denn das Kind würde sich nicht beruhigen, wenn die Mutter zankte. Im Ton der Stimme hegt die Sprache, die das Kind versteht. Dieser Ton ist aber ich kann mich dabei nur auf mein Gehör verlassen eine Art Nachahmung und zugleich eine Umformung des Hunger weinens. Er ähnelt, wenn ich mich nicht irre, vollständig dem Ton, welchen das behagliche Hungerweinen des beruhigten Kindes annimmt. Habe ich mit diesen kleinen Beobachtungen recht, so spielen die Nuancen des weinerhchen Tones in der Kinderstube eine solche Rolle, daß eine Menge grammatischer Kategorien dazu gehörte, sie als Formen der Sprache zu fassen. Es stecken in diesen Verhandlungen zwischen Mutter und Kind schon die Kategorien des Nomens (Brust, Milch oder Hunger), des Ver- bums (trinken), ja sogar der Zeit (ich habe geweint), des Pronomens (ich und du).

Die Versuche, auf die Sprachlaute beim Weinen (wie dann auf die Laute beim Lachen und Staunen) die ersten Sprach- laute der Menschen zu begründen und au? ihnen metaphorisch das Übrige entstehen zu lassen, habe ich als phantastisch aufgegeben, so lockend mir auch die Hypothese heute noch erscheint. Auf eins aber möchte ich hinweisen, daß nämhch der weinerhche Ton selbst ein wesenthcher Bestandteil der Sprache geb heben ist, ebenso wie der Ton des Staunens und der Freude. Ich habe an anderer Stelle erklärt, warum es europäische Beschränktheit ist, nur die im Alphabet ge-

Weinen 443

ordneten Lautzeichen artikuliert zu nennen und z. B. die der Sprache wesentliche Tonhöhe bei den Chinesen nicht unter dem Begriff der Artikulation zu fassen. Der besondere Ton z, B. des Hungerweinens ist unserer Sprache ebenso wesenthch und hat selbst darauf kommt es mir hier an meta- phorische Verwendung gefunden. Nicht nur der Schauspieler, sondern jeder natürliche Mensch verwendet Nuancen des weinerlichen Tons für die Reihe der Gefühle, die von der Verzweiflung über die Trauer hinweg bis zu dem schlichten Ton der Sympathie heruntergehen.

Wir fassen den Sprachlaut des Hungerweinens beim Kände am häufigsten und vielleicht am richtigsten als Bitte auf. Diesen Ton beobachten wir alltäglich bei der Bitte des Bettlers. Wie sehr es auf den Ton ankommt und nicht auf das Wort, sehen wir daraus, daß wir die Phrase des Bettlers im fremden Lande und auch zu Hause gewöhnhch gar nicht verstehen. Und wiederum hat das Wort „bitte", wenn wir es deutlich hören, nur in Verbindung mit dem bettelnden oder weiner- lichen Ton diese Bedeutung. Das Wort allein kann ebenso- gut metaphorisch einen Befehl, ja einen durch Hohn ver- stärkten Befehl ausdrücken, wenn z. B. der Gläubiger zum Schuldner sagt „ich bitte um sofortige Bezahlung" oder wenn der Vorgesetzte boshaft und ironisch seine Macht mißbraucht und dem Schreiber sagt „ich bitte um Pünktlichkeit".

Der Nutzen der Sprache ist nicht identisch mit der be- Der wußten oder unbewußten Absicht bei ihrer Ausbildung. Als ^^"'^'''''s das Feuer in den Dienst der Menschheit gestellt wurde, ahnte noch niemand, daß es einmal unter dem Kessel der Loko- motive zur Fortbewegung dienen werde. Es scheint uns selbstverständhch, daß die Sprache ursprünglich etwas zwi- schen den Menschen gewesen sei, der Zweck der Sprache die Mitteilung.

In den meisten Fällen beweist der Autor durch den Monolog nur, daß er ein elender Dramatiker sei. Unfähig, den Cha- rakter dramatisch darzustellen, erzählt er dem PubUkum, was

444 X. Entstehung der Sprache

es ZU wissen nötig hat. Der seltene gute Monolog ist die dramatische Darstellung eines dem Wahnsinn ähnhchen Zu- standes; Wegener hat den echten Monolog sehr gut so erklärt, „daß bei starker Leidenschaft wohl eine Störung des Situations- bewußtseins eintritt, das heißt daß sich die Illusion bildet, als ständen wir irgend einer Person in Haß oder Liebe, in Schmerz oder Freude, in Furcht oder Hoffnung gegenüber". (Untersuchungen, S. 65.) Jeder lebhafte Mensch kann an sich selbst beobachten, wie eine solche Störung des Situations- bewußtseins, wenn auch nicht gleich zu längeren Monologen, so doch zu hervorgestoßenen Worten führt.

Für meine Leser brauche ich wohl nicht hinzuzufügen, daß der ungeheuer ausgedehnte Gebrauch der Sprache, wie er bei uns Büchermenschen als Lesen vorkommt, auch nur etwas zwischen den Menschen ist. Das Buch ist Mitteilung. Ähnhch läßt es sich auffassen, wenn wir mit einer Art inneren Monologs darüber nachdenken, was wir danach in einem Buche, in einer Rede u. dgl. geordnet aussprechen wollen. Es ist die Ordnung, die Verbesserung, die Einübung einer späteren Mitteilung.

Die Sprache ist etwas zwischen den Menschen, ihr Zweck ist Mitteilung. Aber die Mitteilung kann ja nicht selbst Zweck sein, sie ist es nur beim Schwätzer. Immer wollen wir wenn auch oft indirekt und unbewußt das Denken und damit das Wollen des anderen Menschen nach unserem Denken und Wollen, das heißt nach unserem Interesse be- sprach- einflussen. Der Zweck der Sprache ist also Beeinflussung, ist 8ug- Willens- oder Gedankenlenkung, mit einem Modeworte : Sug- gestion gestion. Die Wirkung der Sprache auf den anderen ist ver- schieden; der Zweck wird nicht immer erreicht. Unterwerfung unter die Suggestion oder Auflehnung kann die Folge sein. Diese Wirkung kann ebensogut durch Handlungen als wieder durch Sprache ausgedrückt werden.

Von Wichtigkeit ist es nun, daß dieser Zweck der Sprache auch schon bei ihrer Entstehung mitgewirkt haben muß. Das Schwatzen und Erzählen ohne Not konnte erst als ein Luxus, als ein Mißbrauch der hochentwickelten Sprache eintreten.

Sprachzweck ist Suggestion 445

In den Zeiten der Spracherfindung mußte die Notdurft der Verständigung noch größer sein als jetzt. Und da können wir es uns lebhaft vorstellen, wie Sprachstoff und Sprach- form noch gar nicht zu trennen waren, wie Sprachstolf und Sprachform zugleich aus dem alleinigen Zweck des Sprechens hervorgingen. Wir nehmen wieder das Beispiel von dem Hungerweinen des Kindes. Als Sprachlaut kann es zunächst metaphorisch so ungleiche Begriffe umfaßt haben wie „Brust, Mutter, Hunger, satt, Schmerz, Hoffnung, Freude, trinken" usw. Daraus ergibt sich sodann, daß der Sprachlaut ebenso- gut an den Reflexlaut des Schmerzes, des Hunger weinens, wie an den der Freude über die gereichte Brust oder an den de= Staunens z. B. über die SchnelHgkeit oder über die weiße Farbe der Brust oder über die in einem Gefäße gereichte Milch usw. anknüpfen konnte. Ein Versuch, unter diesen Möglichkeiten zu wählen, wäre womöghch noch törichter als die Bemühungen unserer Sprachwissenschaft, mit Hilfe der Etymologie zu absoluten Wurzeln einer Ursprache vorzudringen.

Die Einsicht in den Zweck des Sprechens lehrt aber für diese Urverhältnisse etwas Wichtigeres: daß nämlich jener erste Sprachlaut weder ein Nomen, noch ein Verbum, noch ein Adjektiv war, sondern schon eine Absicht, der Wunsch, dem mit Nahrungsstoff versehenen anderen, hier der Mutter, etwas zu suggerieren. Das Wesenthche an jenem ersten Sprachlaut unseres Phantasiebeispiels war das, was wir heute den Imperativ nennen oder die bittende Form und dg). Wir können somit aus dem Zweck der Sprache vermuten, daß der Begriff einer so schwierigen Verbalform, deren psychologische Entstehung den Grammatikern so viel zu schaffen macht, schon dem ersten Sprachlaute als sein wesenthchster Inhalt angehört hat, daß gewissermaßen die Befehlsform älter ist als der Begriff Milch. Denn wir können die Vorstellung von dem ersten Sprachlaut des Säughngs recht gut auf die ältesten Sprachlaute der Menschheit übertragen. Auf ganz anderem Wege ist auch M. Breal dazu gelangt (Ess. d. Sem. 2G2), im Imperativ, als dem subjektivsten Modus, die älteste Kon- jugationsform zu suchen.

446 X. Entstehung der Sprache

In ähnlicher Weise ist mit dem Reflexlaut des Staunens das verbunden, was in der späteren Grammatik zum Ton und zum Begrifi des Fragesatzes wurde.

Wir halten es für ganz begreifüch, daß durch Einübung der Sprachlaute als Gedächtniszeichen für Dinge die Worte entstanden seien, unser Sprachstofi. Es ist um nichts begreif- licher, aber auch um nichts weniger begreifüch, daß auch die jetzt so schwierigen Formen des Befehls, der Frage, der Mög- lichkeit, der Bedingung usw. den ersten Sprachlauten als ihr wesentlichster Inhalt angehörten und durch Einübung des Tons formelhaft erhalten bheben. Nur der beschränkte Alpha- betismus, der die Sprachlaute des Alphabets für etwas Arti- kulierteres, Handgreif höheres, Festeres hält als die Betonungen, konnte sich über diese Tatsache täuschen. In diesem Alpha- betismus ist allerdings die Sprachwissenschaft bis jetzt ziem- lich befangen.

Bitte des J)qj. Imperativ läßt sich eigentUch auch auf die bloßen Mitteilungen anwenden; jede Mtteilung ist zugleich ein Zwang, daher denn auch die Belästigung durch Mitteilungen, die uns unerwünscht oder gleichgültig sind. Die Satzform des Imperativs ist nur ein unbedeutendes Überbleibsel aus einer Sprechweise, welche ursprünglich als auffordernder Ton die Sprache beherrscht haben mag.

Welche Wichtigkeit der Ton, also recht eigentlich die Sprechweise für das Verbum besaß, kann man aus den so- genannten Modusformen ersehen, von welchen die Gram- matik vier aufstellt und sie die Formen des Wirklichen, des Möglichen, des Wünschens und des Sollens nennt. Die Formen der Möghchkeit, des Wünschens und des Sollens (Konjunktiv, Optativ und Imperativ) gehen aber in ihrem Sinn so wirr durcheinander, daß ich die Grammatiker nicht beneide, welche die alte Ordnung aufrecht zu erhalten suchen. In einer der gangbarsten Schulgrammatiken Berhns finde ich die Er- klärung, es stehe der Konjunktiv (b) in Nebensätzen, welche von Verben abhängig sind, bei denen der Erfolg der Tätig-

Bitte des Kindes 447

keit ein unbestimmter ist; „solche Verben bezeichnen: ein Ahnen, Vermuten, Wünschen, Bitten, Hoffen, Fürchten, Sorgen, Streben, Hindern, Gebieten, Verbieten, Erlauben, Verdienen, Warten." Die armen Lehrer! Die armen Schüler!

Wir wissen, daß z. B. das Wünschen (um einen der ver- ständlichsten dieser Begriffe herauszugreifen) ebensogut durch den Konjunktiv wie durch den Optativ oder den Imperativ ausgedrückt werden kann. Die Sprachform ist ganz hilflos gegenüber der psychologischen Wirkhchkeit. In der psycho- logischen Wirklichkeit verfügt das Kind, ja selbst schon der Säughng, über den Ton oder die Sprechweise des Konjunktivs, Optativs oder Imperativs viel früher als über den referierenden Ton des Indikativs. Und alle logischen Bemühungen der Grammatiker, den Wunsch und die Möghchkeit und ähnhche Kategorien in die Modusformen des Verbums hinein zu klassifizieren, scheitern an der Psychologie des Kindes. Diese Modusformen fangen beim Kinde absolut verständHch mit dem weinerlichen oder bittenden Ton an, mit welchem es z. B. Stillung seines Hungers verlangt. Wenn das Kind zwei Jahre später mit demselben absoluten Ton Unmögliches erbittet, so ist ihm mit keiner Logik der Erwachsenen ein Unterschied begreifüch zu machen. Das Kind will z. B. den Mond in seine Händchen kriegen. Da könnte man ihm nun sagen, daß die Bedingungen des Weltlaufs der Erfüllung entgegenständen, daß es UnmögHches wünsche, daß der liebe Gott sich nicht befehlen lasse (Konjunktiv, Optativ, Imperativ). Das Kind versteht die Einwendungen nicht und bittet um den Mond, wie der blödsinnig gewordene Oswald Alwing sagt: „Mutter, gib mir die Sonne."

Dieser kindliche Standpunkt ist aber in der Sprachform weit mehr versteckt, als man glauben sollte. Hinter allen Konjunktiven und Optativen verbirgt sich die eigensinnige Bitte des weinenden Kindes, welches als Säughng die reale Macht seines weinerUchen Tones zu erfahren geglaubt hat und ihn nun anwendet, um weitergehende Wünsche zu be- friedigen. So wenig wie das Kind wissen die Menschen im Natur- zustande noch von dem Unterschiede zwischen mögüchen und

448 X. Entstehung der Sprache

unmöglichen Bedingungen. Die Unabänderliclikeit der Natur- gesetze ist noch nicht seit dreihundert Jahren ein fester Begriff der gebildeten Welt. Bei dem gläubigen Volke ist er heute noch nicht vorhanden, und im Gebet wie im Fluche steckt die alte kindüche Bitte, welche Erfüllung erwartet.

Durch einen schwer verständlichen Witz der Sprach- geschichte ist (z. B. im Deutschen, auch im Lateinischen) gerade der Bedingungssatz, der doch im Grunde just an die logischen Schwierigkeiten erinnern sollte, die Form für den Optativ geworden. Wir müssen sagen, daß die Sprache da um Jahrhunderte hinter unserer Weltanschauung zurück- geblieben ist, sowie sie in der Scheidung zwischen Adjektiv und Verbum hinter unserer Erkenntnistheorie zurücksteht. Nicht naturgemäß (wie Wegener einmal sagt, Untersuchungen S. 188), sondern gegen die Art unserer Naturanschauung sind die Formen der Bedingungen zu den Formen des Wunsches geworden. Der Widerspruch ist so groß, daß in den Fällen, in welchen der Sprecher nicht fromm ist und die Unmöghch- keit der Erfüllung einsieht, dieselbe Sprachform des Be- dingungssatzes geradezu die Bedeutung des Schmerzes, der Einsicht in die Unmöglichkeit ausdrückt. Der Bedingungs- satz als Form des Optativs ist also ein Rückstand aus Zeiten, in welchen das Volk mit seinem bittenden Ton die Gottheit noch so sicher zu beeinflussen glaubte, wie das weinende Kind der Mutter gegenüber an die Erfüllung ganz unmöglicher Wünsche glaubt. Indikativ Es fließen die drei Modi der Unbestimmtheit (Konjunktiv, Optativ und Imperativ) ohnehin in der Grammatik so sehr durcheinander, wie es in dem unbestimmten Charakter dieser Formen liegt. Sie alle betreffen das Verhältnis (ich möchte sagen) eines zukünftigen Indikativs zu seinen Bedingungen. Unsere gegenwärtige Einsicht in den Weltlauf ist so kom- pliziert und stellt sich eine solche Unzahl von Formen dieses Verhältnisses vor, daß die Sprache eben auch unzählige Formen des Konjunktivs, Optativs und Imperativs besitzen müßte, um jedesmal der Empfindung des Sprechers kongruent zu sein. Wir werden ähnlich sehen, daß die Sprache eine Unzahl von

Indikativ 449

Zeitformen aufwenden müßte, um den unzähligen Zeitverhält- nissen in einer Erzählung zu entsprechen. Das vermag die Sprache ihrem Wesen nach so wenig für die Zeitformen wie für die Modusformen. Der Sprachgebrauch behilft sich ja auch recht gut mit den unlogisch einander kreuzenden Formen des Konjunktivs, des Optativs und des Imperativs. Mich will es aber bedünken, als ob die Sprache in der Verzweiflung, die Bedingungen unserer Weltanschauung nicht jedesmal neu ausdrücken zu können, in den modernen Kultursprachen gegenwärtig die Neigung zeige, den Kampf aufzugeben, auf ein kongruentes Darstellen der Weltanschauung zu verzichten und den allgemeinen Dienstmann Indikativ an Stelle der unbestimmten Formen zu setzen.

XL Die Metapher

Unter der tausendjährigen Herrschaft des Christentums Theo-

(also etwa von Augustinus bis Descartes) ist auch über den Ursprung der Sprache viel unerträgliches Zeug geschrieben worden. Gott, der die Arten geschaffen hatte, hätte die ein- zelnen Völker auch ihre Sprachen gelehrt.

Man muß nur den Märchenton dieser Sätze tief genug empfinden, um sich mit einer Antwort nicht aufzuhalten. Auch die verschämte theologische Erklärung, der Ursprung des Lebens, sowie die Anlage zur Sprache stamme von der Schöpfung her und habe sich dann aus dem gelegten Keime weiter entwickelt, führt nicht weiter.

In neuer Zeit hat man für den Ursprung des Lebens auch Helmholtz hat das leider unterschrieben die un- freiwillig komische Erklärung versucht, die ersten mikro- skopischen Organismen seien aus dem Weltraum mit einem Meteor auf die Erde gekommen. Das Meteor ist wahrhaftig wie der große Unbekannte, auf den sich jeder Spitzbube beruft.

Das Altertum war natürlich klüger, wie überall da, wo erst das Christentum das Denkvermögen schwächte; Piaton

Mauthner, Beitrüge zu einer Kritik der Sprache. II 29

logische Ansicht

450 XI. Die Metapher

blieb wenigstens innerhalb der Wirklichkßitswelt, als er die Sprache durch die Onomatopöie, die Schallnachahmung, entstehen ließ. Der glaubhaften Schallnachahmungen gibt es aber in den lebendigen Sprachen so wenige, daß dieser Ausspruch längst nicht mehr ernst genommen wird.

Etwas Zuverlässiges, auf Erfahrung Begründetes läßt sich natürlich nicht über den Ursprung der Sprache wissen. In- duktion ist also ausgeschlossen. Deduktion aus Begriffen führt nur zu Tautologien.

Wollen wir uns also den Ursprung der Sprache dennoch vorstellen, so müssen wir es metaphorisch, bildlich tun, und wir werden dabei mehr gewinnen als durch kühne Behaup- tungen. Ich will die Hauptbegriffe vorläufig in ihrem land- läufigen Sinne nehmen und hoffen, daß wir am Schlüsse dieser Überlegung zu dieser Landläufigkeit wieder ein Frage- zeichen setzen müssen. Wachs- Was das Wachstum (Erhaltung und Fortpflanzung) der

Organismen ausmacht, das wird wohl ihre Entstehung ver- anlaßt haben. Bildlich gesprochen: Nahrung ist Wachstum. Und ich kann mir lustig ausdenken, daß die Abzweigung des Tierreichs vom Pflanzenreich damals erfolgte, als so ein parasitischer Organismus (Pflanze) sich vor Hunger und Neid umstülpte, die Nahrung umschließend festhielt, also einen Magen bildete und dann gezwungen war, Gliedmaßen aus sich herauszusenden, um diesem Magen die Nahrung zuzuführen, die er nicht mehr parasitisch saugen konnte. Und noch früher mag sich das Leben vom leblosen Stoff abgegrenzt haben, als an ein fähigeres Molekül Nahrung herantrat. Ich weiß, daß diese Fiktion nichts erklärt; die „Fähigkeit" des Moleküls enthält schon wieder die Frage nach dem Ursprung des Lebens. Aber die Frage wird durch das Bild wohl vereinfacht.

Was ist es nun, was das Wachstum der Sprache aus- macht? Was ist die geistige Nahrung der Sprache?

Wenn ich ganz genau unterscheide zwischen dem sprung- haften Wachstum unserer Wirklichkeitskenntnisse (welche Sachbeobachtungen sind und immer der Sprache,

tum der Sprache

Wachstum der Sprache 45]^

ihrem Wort, vorangehen) und dem organischen Wachstum der Sprache selbst, das heißt dem der Natur- gesetze, der Begriffe, der Schlüsse, kurz des menschhchen Geschwätzes, dann komme ich zu der Wahrnehmung, daß die Sprache seit Menschengedenken (und Menschengedenken ist wieder nur Sprache) allein gewachsen ist und noch heute wächst durch Übertragen (aiTa'psostv) eines fertigen Wortes durch auf einen unfertigen Eindruck, durch Vergleichung also, durch ^^^^'

. o o ' tragen

diesen ewigen Akt des ä-peu-pres, durch dieses ewige Um- schreiben und Bildlichreden, das die künstlerische Kraft und die logische Schwäche der Sprache ausmacht. Die zwei oder die hundert „Bedeutungen" eines Wortes oder Begriffes sind ebenso viele Metaphern oder Bilder, und da wir heute durchaus von keinem Worte eine Urbedeutung kennen, da die erste Etymologie unendliche Jahre hinter unserer Kenntnis von ihr zurückliegt, so hat kein Wort jemals andere als metaphorische Bedeutungen.

Wir sind an diesen Gebrauch so gewöhnt, daß wir es nicht einmal als einen Mangel empfinden, wenn wir sogar die allerdringendsten Begriffe, solche, die auch Tiere haben dürften, mit widerstreitenden Worten aus fast entgegen- gesetzten Sphären bildlich benennen. Wenn wir in einer fremden Sprache nur ein seltenes Wort umschreiben müssen, schämen wir uns und empfinden das als Unvermögen. Wir empfinden es aber nicht als Metapher, wir sind ganz un- verschämt, wenn wir die Zeit mit räumüchen Ausdrücken (lang, kurz), wenn wir die Tonhöhe mit Raum- oder Farben- begriffen (tief, hell) umschreiben; dies ist noch in unseren gealterten Sprachen nachweisbar.

Unsere Sprache wächst durch Metaphern. Und zwar kann man sagen, daß jede Metapher zuerst bewußt gebraucht wird und in den Organismus der Sprache, als Zuwachs, erst dann eingetreten ist, wenn man sie nicht mehr als Metapher fühlt.

So wäre es also eine bloße .\nuahme, daß die Metapher, die das Wachstum der Sprache ausmacht, auch ihren Ur- sprung veranlaßt hat. Dabei kann ich mir aber für jetzt

452 XI. Die Metapher

noch nichts denken. Es klingt nach etwas, ist aber noch Geschwätz. Der Satz, daß die Metapher die Sprache ge- schaffen habe, wird aber denkbar, fai3bar, ja aufklärend, wenn ich nun wiederhole, daß die Metapher auch zwischen Raum-, Zeit- und Schallbegriffen vermittelt. Natürliche Wer im fremden Lande, dessen Sprache er nicht kennt, d^e^s*!?'^^^" „groß" sagen will, wird die Arme weit öffnen; das ist eine ganz natürliche Geste. (Es ist natürlich, daß das Tier sie nicht hat.) Wer dort „klein" sagen will, wird die Handflächen nahe zusammenlegen. Wie nun, wenn auch der ganze Stimm- apparat sich gern an der Gestikulation beteiligte? Wie, wenn Stimmritze und Mund sich eng zusammenschlösse, also „i" sagte, um einen kleinen Raum nachzuahmen, Stimm- ritze und Mund sich öffnete „o" machte, um großen Raum nachzuahmen? Wie, wenn das bereits eine Metapher wäre? Wenn dann der Laut vom Raum auf die Zeit, auf Farben usw. übertragen würde?

Ich gestehe, daß mir mit dieser Hypothese doch etwas für die Frage nach dem Sprachursprung gewonnen scheint. Und wenn Piaton auch natürlich nicht im Traume an eine solche Auffassung seiner Onomatopöie (Wortbildung) gedacht hat, so könnte man eine Urmetapher auch recht gut Onomatopöie nennen. Denn wie ich sonst zeige unsere angeblichen Klangnachahmungen, soweit sie der wirklichen Sprache angehören und nicht Scherze sind, sind nicht papageienhafte Nachahmungen artikulierter, in Mit- und Selbstlauter geschiedener Naturlaute, sondern meta- phorische Nachahmungen (z. B. von Melodien durch Silben), welche uns so geläufig geworden sind, daß wir unsere meta- phorische Onomatopöie in den Naturlaut hineinhören. Der Kuckuck singt nicht „k" oder etwas k-ähnliches, nicht „u" oder etwas u-ähnliches. Und doch hören wir ihn „Kuckuck" singen und glauben ihm durch seinen Namen seinen Ruf nachzuahmen.

Nun muß ich mich aber davor hüten, selbst ein Wort- diener zu werden und zu glauben, ich hätte mit der Metapher von der Metapher etwas Wirkliches erklärt. Es ist ein Wort,

Natürliche Metaphern des Baums 453

das ich durch meine liypothetische Beobachtung habe wachsen lassen. Das ist alles. Und doch wieder nicht alles.

Es muß doch hinter dem Raum unserer Sprache etwas Raumverwandtes in der Wirklichkeitswelt stecken, wenn der Sprachapparat, da er Raumvorstellungen bildhch machen will, selbst zum Raumbildc wird. Und so mag auch hinter dem Drang zu so kühnen Metaphern (wie Übertragung des Raumes auf die Zeit, von der Farbe auf den Schall) ein Zwang stecken, der in den unentschleierten Verhältnissen der Wirklich- keitswelt hegt. Sprache ist Metapher; aber die Metapher deckt irgendwie die Welt.

An dieser Vorstellung vom Ursprung der Sprache wird nichts geändert durch die Überzeugung, daß ein einzelner Mensch die Sprache nie in sich entwickelt hätte, daß die Sprache wesentlich etwas zwischen Menschen, daß sie Gesellschafts- produkt ist, daß der Monolog etwas Krankes ist. Im Gegenteil: So wie die Umschreibung (in einer mangelhaft gesprochenen Sprache) erst durch die Berührung des Menschen mit einer fremden Nation nötig wird, so mag die Metapher der Ur- sprache, die Uronomatopöie, die metaphorische Nachahmung durch den Schall, eben auch durch den Drang entstanden sein, sich einander mitzuteilen, in einer Zeit, wo jeder fremd unter Fremden w^ar.

Daß der Hörer der metaphorischen Schallnachahmung Meta- (das heißt der räumlichen Sprachapparatsnachahmung) den i'^o"*che Sprecher verstand, ist nicht so merkwürdig, wie man glauben nach- sollte. Die Sprache mag eben mit den deutlichsten Ono- •'^'"'""s matopöien begonnen haben, den damals deuthchsten. Denn es können hunderttausend Jahre verflossen sein, bevor man „Kuckuck" als Onomatopöie empfand. Und wir gehen gewiß nicht fehl, wenn wir uns die furchtbarsten Leiden- schaften und Aufregungen als die Hebammen der ersten Schallnachahmungen denken. Blitz, Donner, Tod, Mord, Hunger, Frost, Liebe, Kind: in dieser Gegend muß sich die werdende Sprache bewegt haben, nicht in den legendären Sprachwurzeln.

Daß die Sprache gewiß als ein Gesellschaftsprodukt, also

454 * XI' -^i® Metapher

als ein Mitteilungsmittel entstanden ist, das kennzeichnet eben, was den Kern dieser Gedanken ausmacht: Daß sie nie und nimmer sich über ihren Ursprung erheben kann, daß sie in ewig fortschreitenden Bildern bis zur Höhe eines künstlerischen Mittels wachsen, als Erkenntnismittel aber stets unfruchtbar bleiben muß, immer nur bereit, das Wirk- liche gesellig zu beschwatzen.

Eine der drolligsten Metaphern ist die deutsche Über- setzung von Onomatopöie: „Lautmalerei".

Daß der Schall zum Sprachmittel gewählt wurde, möchte man gern damit erklären, daß das Gehör derjenige Sinn sei, der das Gefühl am meisten errege, wie wir denn auch durch Töne stärkere Annehmhchkeiten und Unannehmlichkeiten erfahren (Harmonien und Dissonanzen) als durch Farben usw. Es ist aber viel einfacher zu erklären, wenn wir dabei bleiben, daß Sprache von Anfang an metaphorische Onomatopöie war. Unsere Stimmwerkzeuge können aber unzählige Töne, so wie wir sie brauchen, viel schneller, bequemer und selb- ständiger (ohne fremde Werkzeuge) hergeben, als wenn wir z. B. Lichteindrücke, also eine Augensprache, schaffen wollten, wobei freilich noch dahinter steckt, daß sich unsere Sprach- werkzeuge nicht so gebildet hätten, wenn eben nicht eine Ding- Verwandtschaft zwischen Wirklichkeitsverhältnissen und dem Schall bestände.

„Die Musik ist die Welt noch einmal."

Von der Uronomatopöie ist ganz gewiß keine einzige mehr auf historische Zeit gekommen. Es ist Selbsttäuschung, wenn wir Worte wie z. B. Donner, Blitz, sanft, hart usw. für Onomatopöien halten. Das ist aber ganz gleichgültig, wenn wir uns ganz klar gemacht haben, daß auch die ersten Onomatopöien nur metaphorisch waren.

Die metaphorische Schallnachahmung ist als sprach- bildend fast nicht mehr lebendig; nur hin und wieder wie in cri-cri, frou-frou, wo wir genau feststellen können, daß diese scheinbar so deutliche Schallnachahmung doch nur bildhch, metaphorisch, fast konventionell ist, weil doch die Feder nicht cri, die Seide nicht frou macht.

Max Müller 455

Die Metapher ohne Nachahmung ist der Sprache als einzige Möglichkeit des Wachstums geblieben.

Max Müller kommt der Überzeugung, daß aller Bedeutungs- Max Wandel metaphorisch ist, ziemhch nahe. Aber er versperrt ^'^"*^'" sich den AusbUck selbst dadurch, daß er scharf zwischen zwei Arten der Metapher unterscheidet, zwischen der radikalen und der poetischen, und so nicht bemerkt, daß er gar kein Recht habe, bei der sogenannten radikalen Metapher von einem Bilde zu reden, wenn nicht zu irgendeiner Zeit des Bedeutungswandels psychologisch eine poetische Metapher vorhanden war. Er sieht nicht ein, wie erst der häufige Ge- brauch der poetischen Metapher sie so unpoetisch, so auto- matisch machte, daß schließhch der bloße Bedeutungswandel für das Sprachbewußtsein vorzuhegen schien. Da wußte sogar schon der alte Quintihanus die Entstehung des Bedeutungs- wandels aus der Metapher richtiger zu betrachten; denn das ist wohl der Sinn seines überraschenden Satzes (9. Buch, 3, im Anfang): Si antiquuni sermonem nostro comparemus, paene iam quidquid loquimur figura est.

Diese Vorstellungen von der Wichtigkeit der Metapher für die Geschichte der Sprache, ja von der Identität der Meta- pher mit dem Bedeutungswandel hatte sich bereits bei mir gefestigt, als ich durch einen mir bis dahin unbekannten Schriftsteller den Gedanken weiter zu verfolgen angeregt wurde. Bis dahin war Locke mein Führer gewesen, dessen Lehre von dem Übergang konkreter Bedeutungen zu ab- strakten im Grunde doch nur das alte Wort Quintiüans besser erklärte. Man brauchte bloß das paene fortzulassen, um die Alleinherrschaft der Metapher im Bedeutungswandel zu erkennen. Dabei erschien die Tätigkeit der allmähhchen Sprachschöpfung ganz hübsch als eine dichterische, als was sie denn auch in jedem einzelnen Falle weiter gelten mag.

Da wurde ich durch ein Wort Goethes auf Vico aufmerksam yico gemacht, auf dessen Werke ich mich nun mit großen Er- wartungen stürzte, um einmal nicht enttäuscht zu werden.

456 XI. Die Metapher

Der außerordentliche Mann ist mit Unrecht halb vergessen. Um sogleich das letzte auszusprechen, was ich dem Zu-Ende- denken seiner Ideen verdanke: Alle Sprachbildung kann des- halb nichts anderes sein als metaphorischer Bedeutungs- wandel, weil der Begriff Metapher im Grunde nichts anderes ist als ein herkömmhcher, aus den Rhetorenschulen auf uns gekommener, unerträghch pedantischer Ausdruck für das Wesenthche in unserem Seelenleben, für das, wofür wir den neueren Ausdruck Gedankenassoziation haben. Ich werde nachher mit schuldigem Danke mehr von Vico sagen müssen. Bevor ich nun aber das psychologische Wesen der Metapher zu ergründen suche, möchte ich noch hersetzen, was unser Jean Paul bilderreicher Jean Paul so vorzüghch über die sprachHche Be- deutung der Metapher ausgesprochen hat: „Wie im Schreiben Bilderschrift früher war als Buchstabenschrift, so war im Sprechen die Metapher, insofern sie Verhältnisse und nicht Gegenstände bezeichnet, das frühere Wort, welches sich erst allmählich zum eigentUchen Ausdruck entfärben mußte. Das tropische Beseelen und Beleiben fiel noch in eins zusammen, weil noch Ich und Welt verschmolz. Daher ist jede Sprache in Kücksicht geistiger Beziehungen ein Wörterbuch erblaßter Metaphern." Jean Paul war verwandt unserem Hamann, wie Hamann dem Vico. Und schon Hamann hatte gepredigt (Aesthetica in nuce): ,Jn Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntnis und Glücksehgkeit." Sein und Vicos Bacon hatte es gesagt: ut hieroglyphica literis, sie parabolae argumentis antiquiores. Dem glaubenssehgen Hamann war es vorbehalten, Erkenntnis mit Glücksehgkeit zu verquicken; aber von der erkenntnistheoretischen, das heißt für uns psychologischen Seite der Frage hatten Jean Paul, Vico und Bacon keine klarere Vorstellung. W. Wundt hat die Metapher (in den beiden ersten Bänden seiner „Völker- psychologie") sehr gut mit der Lautgebärde, weniger gut mit dem Bedeutungswandel in Verbindung gebracht. E. Elster („Prinzipien der Literaturwissenschaft") hat die Poetik der Metapher ein wenig verfeinert. A. Biese hat weit ausholend eine sehr lesenswerte „Philosophie des Metaphorischen" ge-

stoteles

Aristoteles 457

schrieben. Doch auch Biese, dem ich Material genug verdanke, dringt bis zum eigenthchen erkenntnistheoretischen Problem nicht durch.

Der Begriff Metapher, wie er in unseren Schulen erklärt Ari- wird, geht in Wort und Bedeutung auf Aristoteles zurück. So gilt seit zweitausend Jahren die Metapher für die (bewußte) Übertragung einer Benennung, die eigentlich etwas anderes bedeutet, sei es die Übertragung vom weiteren Begriff auf den engeren, oder vom engeren Begriff auf den weiteren. Die Absicht dieser Definition ist, die poetische Bildersprache logisch zu erklären. Diese Absicht und darum die Beschrän- kung auf die künstliche Metapher ergibt sich deutlich aus der Art, wie Aristoteles jede Metapher in eine vollständige oder unvollständige mathematische Proportion aufzulösen sucht. Es verhalte sich z. B. die Trinkschale des Dionysos zu diesem Gotte wie der Schild zum Gotte Ares ; man könne darum ganz mechanisch die Glieder der Proportion miteinander ver- tauschen und geistreich sagen, die Trinkschale sei der Schild des Dionysos (was immerhin nicht ohne Witz wäre, füge ich hinzu), oder der Schild sei die Trinkschale des Ares (was schon recht abgeschmackt wäre). Ein anderes Beispiel: „Alter: Menschenleben = Abend: Tag"; danach kann man sagen, das Alter ist der Abend des Leben.s, oder der Abend ist das Alter des Tages. Der Reiz dieser poetischen Ausdrucks weise (die übrigens im Zeitalter Shakespeares, besonders als Marinis- mus, als Gongorismus, als Euphuismus oder als „estilo culto" in England, Italien und Spanien übel gewütet hat, selbst in den Schriften der Meister, und der heute wieder als l'art pour Tart gefährhch wird) beruht natürhch in dem Fortlassen, in dem Erratenlassen eines der vier Glieder der Proportion. Wo die Vergleichung noch leichter zu erraten ist , da werden gleich zwei Gheder fortgelassen; iU'istoteles gibt das Beispiel vom Ausstreuen (nach dem Bilde des Sämanns) der Sonnen- strahlen.

Der Gedanke des Aristoteles, die Metapher aus einer mathematischen Proportion zu erklären, hat nichts mit dem psychologischen Vorgang oder Zustand zu tun, als welchen

rleichune:

458 XI. Die Metapher

sich uns die Metapher noch enthüllen wird; aber scharfsinnig ist der Einfall dennoch. Er kann uns helfen, den scheinbar so wohlbekannten Begriff der Metapher von sehr zahlreichen und nahen Begrifien zu unterscheiden. Es gibt nämlich ich Ver- bleibe damit vorläufig auf dem Gebiete der Poetik Ver- gleichungen, bei denen es auf mehr und auf weniger ankommt als auf die vier Glieder einer Proportion. Ist die Vergleichung komphzierter, so kann sie zu jener Art von Gleichnissen aus- wachsen, die besonders als die Homerischen Gleichnisse be- kannt sind, bei denen aber freihch die Phantasie des Dichters die vergleichende Tätigkeit zu vergessen pflegt und auf dem neu bestiegenen Pferde eine Strecke weiter reitet; enthält die Vergleichung dagegen nicht einmal indirekt jene vier GHeder, liegt anstatt einer Proportion gewissermaßen ein Eegeldetri vor (Haar schwarz wie Kohle), so nennt man das im engeren Sinne eine Vergleichung. Ich muß etwas pedantisch werden, ehe ich weiter gehe; das bringt die Beschäftigung mit alten Definitionen so mit sich. Ich möchte nämhch bemerken, daß das berühmte Tertium comparationis weder in der Regel- detri noch in der Proportion eines der drei oder vier Glieder ist; es ist immer ein höherer Begriff (die Farbe, wenn Haare und Kohle, das Attribut, wenn die Trinkschale des Dionysos mit dem Schilde des Ares verglichen wird). An dem Erraten- lassen des Vergleichungszeichens liegt es, daß die Metapher (wie Vischer III, S. 1221 ausführt) poetischer ist als die Ver- gleichung. „Das Wie oder Gleichsam ist eine Verwahrung vor der vorausgesetzten Prosa, daß man Bild und Inhalt nicht verwechsle; und stürzt ebendaher in diese."

Bei der Vergleichung (im engeren Sinn) ist es sehr leicht nachzuweisen, daß der psychologische Vorgang zur Sprach- entwicklung führt. Selbst von den ältesten und uns ver- gleichlos erscheinenden Farbenbezeichnungen ist es wahr- scheinhch, daß sie früher Vergleichungen waren; bei Worten wie lila (französisch FHeder, während unser violett das fran- zösische Veilchen) ist die Vergleichung ofienbar; und die Bezeichnung von Modefarben (rostrot, resedagrün, „Eiffelturm" u. dgl.) läßt nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob noch eine

Vergleichung 459

bewußte Vergleichung oder schon ein neuer Farbenbegrifi vorliege.

Die Metapher ist also, im Gegensatze zu der dreigliedrigen Vergleichung im engeren Sinne und zu dem ausgeführten Gleichnis, die typische Vergleichung von zwei Verhältnissen, wobei es gewöhnlich ist, den geläufigsten Begriff unaus- gesprochen zu lassen. In dem Satze „Vorsicht ist die Mutter der Weisheit" versteht jeder : es verhalte sich die AVeisheit zur Vorsicht, wie die Tochter zur Mutter. Das Tertium compa- rationis dabei um die Pedanterie nicht aufzugeben ist, daß die Mutter die Tochter erzeugt habe. Man könnte ja auch daran denken, die Tochter sei der Mutter ähnhch, die Tochter sei der Mutter gehorsam; die Wirklichkeitswelt in unserer Seele läßt uns aber solchen Unsinn gar nicht vorstellen. Hören wir die drei Begriffe „Vorsicht, Mutter und Weisheit", so schlägt die Gedankenassoziation eine Brücke zwischen ihnen nur über den Begriff des Erzeugens, nicht über den Begriff des Ge- horsams. Wir werden bald erfahren, wie wichtig diese Not- wendigkeit, dieser Zwang der Bilderverbindung auch für die Metapher ist.

Noch eins. Wenn ich den Ausdruck Metapher hier in Tropen ziemlicher Übereinstimmung mit der Erklärung des Ari- stoteles (der griechisch sprach, bei dem also das Wort Metapher, Übertragung, noch kein ausländischer technischer Ausdruck war) auf die ganze Gruppe der sogenannten poeti- schen Bilder oder der Tropen anwende, so bleibe ich in Über- einstimmung mit dem neueren Sprachgebrauch, der mit den Unterscheidungen der alten Rhetorik nicht mehr viel an- zufangen weiß. Es scheint mir in die Augen zu springen, daß eine große Zahl der Arten, in welche die Tropen her- kömmhch eingeteilt werden, ohnehin unter den alten Begriff der Metapher, das heißt der Vertauschung der Begriffe zweier verglichener Gegenstände, fällt. Es ließe sich darüber eine überflüssige Abhandlung schreiben: daß die alten Lehrer der Rhetorik die unfruchtbaren logischen Kategorien benutzt haben, um solche Unterabteilungen zu erfinden. Noch S. Mai- mon hat an ein solches Tropensystem gedacht, das dem Systeme

460 XI. Die Metapher

der Kategorien ähnlicli (oder gleich?) geworden wäre („Lebens- gescliiclite" II, 261). Ich will diese Abhandlung gern einem anderen zu schreiben überlassen und nur einige Beispiele geben. Wird Art und Gattung, Teil und Ganzes miteinander vertauscht (sie hatte 15 Lenze gelebt), so nennt man das eine Synekdoche, wird Ursache und Wirlcung vertauscht (er ist ein dicker Geldsack), so nennt man das eine Metonymie, wird Lebendes mit Totem verglichen (der Fuß des Berges), so nennt man das eine Personifikation; es entspricht aber gar nicht mehr unserer Denkgewohnheit, solche scholastische Distinktionen zu machen. Wir beruhigen uns dabei, daß allen solchen Rede- wendungen der psychologische Vorgang der Vergleichung zu- grunde liegt; und über das Bedürfnis der Beruhigung hinaus braucht der j\Iensch nicht zu denken.

Es gibt einige andere Tropen, die auf den ersten Blick nicht unter den Begriff der metaphorischen Vergleichung zu fallen scheinen, z. B. die Hyperbel und die Ironie. Aber es scheint nur so. Solange wir auf dem Gebiete der Poetik stehen bleiben, ist ja die Absicht jedes derartigen bildhchen Aus- drucks eine verstärkte Anschaulichkeit. Sagt jemand Lenz anstatt Jahr, Geldsack anstatt reicher Mann oder Fuß des Berges (was schon Sprache geworden ist, wofür wdr also keinen eigenthchen Ausdruck mehr haben), so will er doch die Vor- stellungen nur stärker beleuchten, womit immer eine Art von Vergrößerung verbunden ist. Es liegt in jeder Metapher etwas Hyperbohsches. Und die Ironie erreicht dieselbe Absicht auf einem kleinen Umwege, wenn sie z. B. den Chimborasso einen Zwerg nennt, und so die Größe des Berges besonders anschau- lich macht, indem sie zum Widerspruche reizt. Mag man mir nun diese Erklärung der Hyperbel zugestehen oder nicht, ich gebrauche dennoch das Wort Metapher im Sinne des Tropus oder der bildhchen Vergleichung überhaupt, was mein gutes Recht ist, wenn ich es nur ausdrücklich gesagt habe. Un- Gehen wir von der poetischen Sprache zu der Sprache

Metapher ^^ allgemeinen über, so wird die Definition des Quintihan, es sei die Metapher ein abgekürztes Gleichnis, sofort richtig. Der Übergang von der bewußten Metapher des Dichters zur

Unbewußte Metapher 461

unbewußten Metapher der Gemeinsprache interessiert uns hier aber zumeist.

Bei Homer heißt es vom Geschoß einmal, es fliege dahin, ein andermal, es verlange in den Haufen hinein zu fliegen. Übersetzen wir das in die Sprache der Gegenwart. Die Kugel fliegt, die Kugel wünscht in den Feind hinein zu schmettern. Das erste ist Sprache, das zweite ist ein dichterisches Bild. Die Bewegung der Kugel können wir sprachlich gar nicht anders ausdrücken als durch „fliegen". Sagt aber jemand von der Kanonenkugel, daß sie blutdürstig sei, so belebt, so personi- fiziert er sie. War das aber mit dem Worte fliegen ursprüng- lich anders? Ä\s der Pfeil erfunden worden war und (wohl- gemerkt) dem Vogel nachgemacht worden war, indem man ihm Federn als einen steuernden Schwanz einfügte, da war es ein dichterisches Wort, die Bewegung mit dem Fluge des Vogels zu vergleichen. Vorher war die Waffe des Menschen wohl ein Stein gewesen. Ich zweifle, ob man vor der Erfindung des Pfeils den geworfenen Stein mit dem Fluge des Vogels verglich. Der Stein war wohl noch reines Objekt; er wurde geworfen. Der Pfeil jedoch forderte zur Vergleichung mit dem Vogel heraus. Er wurde nicht mehr geworfen, er flog, er wurde zum beseelten Subjekt. Dann entschwand bei dieser Anwendung des Wortes „fliegen" das Bewußtsein, daß man an Flügel oder Federn gedacht habe. Was sich schnell durch die Luft bewegte, das flog, bis auch der Stein durch die Luft „flog".

Es wäre falsch, wenn man alle Metaphern aus solcher Personifikation heraus erklären wollte. Kinder und Natur- völker personifizieren gern; diesen ursprünglichen Personi- fikationen liegt eine irrige Vergleichung, eine irrtümhche Gleichsetzung zugrunde. Nur die dichterische Personifikation, die der unbe%\Tißten gemeinsprachlichen zugrunde hegt, ist sich des bloßen Witzes, des bloßen Spieles be\vußt.

Das unbewußte Personifizieren der Kinder und der Natur- völker ist für das menschliche Denken freilich von ent- scheidender Wichtigkeit; wir wissen, daß die tiefste und letzte Schablone des Denkens, der Begriff der Kausaütät, ohne welchen die Wissenschaft und die Welterkenntnis auf-

462 XI. Die Metapher

hören, auf dieser Gewohnheit, auf diesem Bedürfnis des Personifizierens beruht. Man sollte glauben, noch ursprach- licher könne es keine psychologische Tätigkeit mehr geben. Und doch liegt der Metapher (mitsamt der Personifikation) ein noch älteres, ein noch elementareres Bedürfnis zugrunde, das der psychologischen Vergleichung. Metapher Ich wähle den Ausdruck Vergleichung nur, weil er weit nnd genug ist. Was ich meine, das ist natürlich der noch un- zeption erklärte, das heißt noch unbeschriebene, also auch noch namenlose psychologische Vorgang, durch welchen eine neue Beobachtung der Summe oder dem System der im Gedächtnis angesammelten Beobachtungen angegliedert wird, der Vor- gang also, den mr in anderem Zusammenhange Apperzeption nennen. Es ist ein feines Vergnügen, aus den Metaphern in unserer Sprache eine sogenannte Philosophie des Metaphori- schen heraus zu destilHeren; es ist eine ernste Arbeit, die Psycho- logie der Metapher bis auf den elementaren Vorgang der Apperzeption zurück zu verfolgen. Biese, in seiner trotz kleiner Mängel sehr lesenswerten Philosophie des Metaphorischen, hat von dem Ernste der psychologischen Aufgabe keine ganz zureichende Vorstellung. Er operiert ganz harmlos mit den alten Seelenvermögen. „Wäre der Mensch nur Verstand, so würde er nur in Begriffen denken ; aber da er auch Phantasie ist und diese beständig ihre bunten Bilder zwischen die Ab- straktionen hineinschiebt, ... so ist das Metaphorische das Übertragen des in der Innenwelt . . . bekannten und des in der Außenwelt geschauten und innerlich verarbeiteten auf alles, was wieder neu zuströmt und Einlaß in unser Seelen- leben begehrt" (S. 17). Ein solcher Satz beweist doch, daß Biese die bei ihm ab und zu aufdämmernde richtige Vor- stellung von der metaphorischen Grundlage alles Denl^ens nur so beiläufig erblickt hat, daß ihm aber die Bedeutung dieser Tatsache wieder entgangen ist. Ihm sind Verstand und Phantasie verschiedene Seelenvermögen. Wir haben zu zeigen, daß es nur verschiedene redensartliche Anschauungs- weisen des gleichen psychologischen Vorgangs sind, daß die Phantasie sich nicht zwischen die Tätigkeiten des Verstandes

mann

Bruchmann 4ß8

hineinschiebt, daß die Phantasie ebensogut wie der Verstand nur Erinnerung ist, daß der Verstand oder das menschliche Denken oder die Sprache durch und durch metaphorisch ist.

Ohne die uns bis jetzt mögUche letzte Analyse des Denkens Brucii- vorzunehmen, hat der von Biese angeführte Kurt Bruch- mann doch das Metaphorische in der Sprache besser begriffen. Allerdings geht er in seinen „psychologischen Studien zur Sprachgeschichte" (S. 177 usw.) auf eine zu mathematische Konstruktion von Avenarius zurück, auf ein angebliches Prinzip des kleinsten Kraftmaßes. Solche Hilfskonstruktionen sind immer gefährlich und erinnern an die für uns unerträgüche Naturphilosophie der Griechen, Avelche Erscheinungen der Mechanik aus der metaphysischen Vollkommenheit der Kreis- linie ableiten wollten. Man muß selbst da zwischen Ursachen und Zweckursachen unterscheiden. Wenn die Planeten auch mathematisch vollkommene Kugelgestalt besäßen, so würde doch kein denkender Kopf mehr die Kugelgestalt als das voraus- gegangene Ideal, als die Zweckursache der Planetenbildung betrachten; der wirkliche Vorgang kann doch für unser modernes Vorstellen kein anderer sein, als daß die Planeten aus irgend natürUchen Ursachen diese Form angenommen haben, daß ähnliche Ursachen (gleiche Entfernung von einem Mittelpunkte) die gleichen abstrakten Kugel- und Ejreis- formen entstehen lassen und daß der Mensch aus der Be- obachtung dieser Formen nachträglich zu dem Begriff der Kugel kam. Hinter der Bewunderung der KugeKorm verbirgt sich die alte Teleologie. Sie verbirgt sich aber auch hinter der Annahme eines Prinzips vom kleinsten Kjaftmaß, welches tätig sein soll, wenn die Seele eine angebotene fremde Vor- stellung in ihrem bereits vorhandenen Besitz unterbringen soll. Bruchmann sagt: „Sie möchte vielleicht am Hebsten diese Vorstellung als Störenfried hinauswerfen, wenn sie nur könnte. Sie hat außer dem Vergessen jedoch noch ein Mittel, die geforderte Mehrleistung mit einiger Kraftersparnis zu voll- ziehen; sie nimmt die gebotene Vorstellung auf, verwandelt aber das, was an ihr ungewohnt ist, in Gewohntes. Sie führt also das Neue auf Altes, das Fremde auf Geläufiges, das

464 XL Die Metapher

Unbekannte auf Bekanntes, das Unbegriffene auf solches zurück, was bereits als Begriffenes oder vermeintlich Be- griffenes geistiger Besitz ist."

Im einzelnen sind diese Sätze ganz richtig und führen Bruchmann, der dabei den Spuren von Steinthal und MisteH nachgeht, ziemlich nahe an die richtige Erkenntnis heran. „Dann wäre also fast die ganze Sprache Analogie oder Metapher." Fast! Er vermag nicht recht über die noch be- wußten oder noch historisch nachweisbaren Metaphern der Sprache hinaus zu kommen, er vermag das Wichtigste nicht einzusehen, daß auch der älteste geistige Besitz der Seele bereits metaphorisch, vergleichsweise erworben sein muß, daß sogar die minimale vorsprachliche Welterkenntnis bereits auf metaphorischer Grundlage beruhen mußte. Und ich glaube, daß dieses Unvermögen gerade von seinem Ausgangspunkte herrührt, von der Annahme eines Prinzips des kleinsten Kraftmaßes. Womit will er denn die Kraft vergleichen? Was weiß denn er und Avenarius davon, was die Seele möchte und was sie nicht möchte? Was wissen die Herren denn davon, warum der Keim in einer Eichel immer eine Eiche hervor- bringt und niemals einen Birnbaum? Man könnte das ja auch auf ein Prinzip des kleinsten Kraftmaßes zurückführen, denn es wäre offenbar Kjaftversch Wendung, wenn der Keim der Eichel zuerst ein Birnbaum oder eine Kose werden wollte und nachher erst die Versuche aufgäbe. Oder man könnte es auf ein Prinzip des kleinsten Kraftmaßes zurückführen, daß der menschüche Magensaft nicht erst zu denken versucht, sondern gleich verdaut. Ich möchte richtig verstanden werden. Sicherlich macht es sich das Gehirn so bequem wie möghch; auch der Magensaft macht es sich so bequem wie möglich. Aber diesen Begriff der Bequemlichkeit, des kleinsten Kraft- maßes legen wir doch in den Vorgang erst hinein. Er ist so wenig eine Zweckursache, wie die vollkommene Kugelgestalt das vorausgegangene Idealbild bei der Planetenbildung war. Vollends aber die Vergleichung vom Denlvgeschäft zu trennen und sie eine Kraftersparnis beim Denken zu nennen, ist für uas ganz sinnlos, weil doch auch das, was uns als

Blatt 465

Denken oder als Sprache so bekannt scheint, eben nichts anderes ist als Apperzipieren oder Vergleichen. Nicht eine Erleichterung der Denkarbeit ist dieses Vergleichen, sondern die ganze Arbeit. Das Gehirn tut gar nichts anderes, als diese einzige und ungeheure Arbeit verrichten, die uns schließ- lich als eine Erleichterung des Denkgeschäftes erscheint, weil uns das Denken durch Gewohnheit leicht geworden ist und wir ein Gespenst des Denkens von der Gewohnheit des Denkens künstlich ablösen.

Verfolgen wir einmal den ersten, den besten Begriff zurück, „Blatt" um das Metaphorische in ihm bis in die vorsprachliche Zeit zu begreifen. Wenn wir sagen „ein Blatt vor den J\Iund nehmen", so ist die Metapher (für: ungenau oder höfHch sprechen) zwar nicht ganz klar, aber doch für unser Sprach- gefühl bewußt; nennen wir (wahrscheinlich in Übersetzung des lateinischen folium) dünne flache Gegenstände, z. B, das entsprechende Stück eines Papierbogens Blatt, das doch ursprüngUch nur Baumblatt war, sprechen wir von Schulter- blatt, nennt Luther noch einen Türflügel Blatt, so ist die Metapher für das Sprachgefühl nicht mehr vorhanden, für den forschenden Blick aber auf der Stelle zu erkennen. Bis dahin geleitet uns die Sprachgeschichte mit Sicherheit. Die unsichere Sprachgeschichte, welche Etymologie heißt, geht von der Vorstellung aus, daß das Wort Blatt entweder etwas Blühendes oder vielleicht ursprünglich eine bestimmte Pflanzen- form, den Strohhalm, Grashalm bedeutet habe. Wie dem auch sei, wir können recht gut annehmen, daß „Blatt" oder das entsprechende Wort ursprünglich den grünen Teil einer bestimmten Pflanze bedeutet habe und daß die wer weiß wie langsame Beobachtung, es seien ähnhche Teile an vielen Pflanzen vorhanden, zu der metaphorischen Vorstellung führte: das ist auch so was. Hätte z. B. das entsprechende Wort zu irgendeiner Zeit den Grashalm bedeutet, so wäre es doch auch in unserem Sinne die reinste Metapher gewesen, von den Grashalmen der Rose, von den Grashalmen eines Baumes zu sprechen.

Diese Ausdehnung des Begrift'es Metapher auf jeden

Mauthner, Beitrüge zu einer Kritik der Sprache. II «50

466 XI. Die Metapher

psychologischen Vorgang der Vergleichung, besonders auf den psychologischen Vorgang der Begriffsbildung, ist einer der Schritte, die uns notwendig dazu führen, Philosophie in Psychologie aufgehen zu lassen. Wir stehen da sogar in der Psychologie auf festerem Boden als bezüghch der nächst- verwandten Frage in der Physiologie. Wenn wir nämlich die Entwicklung der Sprache nach den beiden Seiten des Laut- wandels und des Bedeutungswandels betrachten, wenn wir den Lautwandel durch die physiologischen Bedingungen der Sprachwerkzeuge, den Bedeutungswandel durch den psycho- logischen Vorgang der Metapher verstehen, so bleiben wir beim Lautwandel sehr bald stecken, während wir beim Be- deutungswandel mit der einzigen Erkläru.ng wirklich bis zum Ursprung der Sprache auskommen. Wir können nämhch über die Geschichte des Lautwandels nichts aussagen, als was uns die Dokumente der letzten zwei- bis dreitausend Jahre da nachweisbar an die Hand gegeben haben; dann klafft eine ungeheure Lücke, und über die Sprachlaute der Urzeit können wir nicht einmal eigenthche Hypothesen aufstellen; was ich darüber vorgetragen habe, über den möghchen Ursprung aus den Äußerungen des Staunens, des Lachens und des Weinens, das hat doch nicht einmal den Wert einer Hypothese, das ist nur ein Beispiel, wie wir uns den Ursprung vorstellen mögen. Die Zurückführung jedoch des Bedeutungswandels auf den psychologischen Vorgang der Metapher ist eine echte Hypo- these; sie beschreibt (erklärt) ebensogut die jüngste Begriffs- erweiterung eines Wortes, wie sie die erste Begriffsbildung einer Urzeit erklären hilft. „Witz" Ich erinnere dabei an den Bedeutungswandel des Wortes „Witz". Witz kommt von Wissen her und bedeutet im Mittel- hochdeutschen noch ausschheßlich so viel wie Verstand; in Mutterwitz, Aberwitz, Wahnwitz liegt noch diese Bedeutung zugrunde. Luther versteht unter Witz noch durchaus Ver- stand; auch bei Lessing und Goethe findet sich das Wort noch in diesem Sinne. Doch nahm es im 18. Jahrhundert allmähUch die Bedeutung des französischen „esprit" an und besagt weiter in der gegenwärtigen Sprache entweder eine

„Witz" 4(J7

gewisse humoristische Geistesrichtung oder ihre einzehien Äußerungen. Definiert wird dieser Witz gewöhnUch als das Vermögen, Ähnlichkeiten, besonders entfernte, leicht und schnell aufzufassen und sie dann auf eine belustigende Art darzustellen. Beim ungesuchten guten Witz hegt aber der Humor gar nicht in der Darstellung, sondern eben nur in dem Hinweis auf die entfernte Ähnlichkeit. Da nun aber der Verstand, wie wir gesehen haben, selbst beim Wahrnehmen nichts anderes tut, als Ähnlichkeiten entdecken, so ist der Bedeutungswandel des Wortes Witz wieder einmal eine metaphorische Anwendung des alten Wortes, diesmal die An- wendung auf einen Spezialfall, auf den der entferntern Ähnlichkeit. Im Englischen liegt die Sache noch klarer, weil das entsprechende W^ort „wit" den Sinn unseres Witz an- genommen hat, ohne den älteren Sinn Verstand oder Scharfsinn aufzugeben. So oder so ist der Witz der Vater alles meta- phorischen Bedeutungswandels; wir müssen nur einsehen, daß der unbew^ußt vergleichende Witz, der die ersten Begriffe schuf, und der bewußt vergleichende Witz, der uns belustigt, eine und dieselbe Geistestätigkeit ist, je nachdem sie auf nähere oder entferntere Ähnhchkeiten angewandt würd. Es liegt in der Natur der menschlichen Entwicklung, daß das Vergleichen immer raffinierter geworden ist, daß wir immer witziger gevrorden sind; auch die Spindel in einer heutigen Spinnfabrik ist raffinierter, witziger als das Werkzeug in der Hand einer Spinnerin.

Die Entstehung der einfachsten Begrifte durch meta- phorisches Vergleichen läßt sich natürüch nur als psycho- logische Hypothese aufstellen; wir besitzen keine Dokumente aus einer Urzeit. Ja, der elementare Zwang des Vergleichens bei der BegrifEsbildung ist unserem Bewußtsein so sehr ent- schwunden, daß die besten Bearbeiter des Metaphorischen, von Vico bis herunter auf Biese und Bruchmann, vor dieser Frage immer ahnungslos Halt gemacht und den psycho- logischen Vorgang fast immer nur an seiner auffallendsten Form beobachtet haben, an der rhetorischen Figur der Personi- fil^ation. Ihnen allen ist nur die mythologische Entstehung der

4i68 XI- I^i® Metapher

abstrakten, ich möchte sagen der neueren Begriffe aufgegangen ; die mythologische Entstehung der einfachsten und kon- kretesten Begriffe, die mythologische Entstehung des Welt- bildes, wie es in der Sprache vorliegt, ist ihnen trotz einzelner Annäherungen nicht deuthch geworden. Mytho- Die mythologische Entstehung der Abstraktionen jedoch °^^^ ist durchaus keine moderne Lehre. Sie findet sich sogar schon an der Schwelle der griechischen Philosophie, bei Xenophanes, einem Zeitgenossen des Pythagoras, um 500 vor Christi Ge- burt. Er war ein Rhapsode und ein Philosoph, was damals gewiß keinen Widerspruch in sich schloß. Man hat in die erhaltenen Bruchstücke seiner naturphilosophischen Ge- dichte ohne Schwierigkeit den Pantheismus unserer Zeit hinein lesen können. Wie dem auch sei, etwas Goethe muß in dem alten Dichterdenker gelebt haben, der zuerst die Faustische Tragik des Nichtwissens empfand und heraus- schrie, der das köstliche Goethesche Wort: „Der Mensch be- greift niemals, wie anthropomorphisch er ist" zuerst wußte. Man könnte Xenophanes zum ersten Philosophen des Meta- phorischen ernennen, wenn man nur etwas mehr von ihm übrig hätte. Es scheint mir sogar möglich, in seinen Satz, daß das Individuelle von unserem Verstände abhängig sei (ta TioXXa 'fixzoi voa slvat), sogar die Kantsche Philosophie hinein zu legen. Das wäre aber bei der Armseligkeit der Überlieferung ein müßiges Spiel. Gewiß ist nur, daß er die Mythologie von Homeros und Hesiodos, also die Religion seiner Zeit, ernsthaft verspottet hat mit denselben Mitteln, die viel später der weit über Gebühr berühmte Lukianos Spaßes halber anwandte, und daß er die metaphorische Entstehung dieser Mythologie er- kannte. Die Menschen, sagt er, haben die Götter geschaffen und ihnen nach Menschenart Kleider, Sprache und Formen gegeben. Die Äthiopier stellen ihre Götter schwarz und stubbsnäsig dar, die Thrakier rothaarig und blauäugig. Wenn Ochsen und Pferde Hände hätten, wenn sie malen und Bildwerke ausführen könnten wie die Menschen, so würden sie Bilder malen und auch die Götter nach ihrer Gestalt darstellen, die Pferde solche mit einem Pferdeleib, die Ochsen solche mit einem Ochsenleib.

Mythologie 4(39

Was die ältesten Dichter unbewußt taten, so daß ihre poetischen Bilder und ihre religiösen Vorstellungen sich mit- einander vermischen, das tun alle Dichter bis zur Stunde bewußt, und weil sich die neueren, Schiller so gut wie Zola, der Metaphern bewußt sind, so sehen sie in ihren Personi- fikationen Symbole und nicht mehr Gestalten des Glaubens. Besinnen wir uns aber recht darauf, daß die einfachsten Begriffe wie die abstraktesten durch die gleiche psychologische Metapher entstehen, daß es derselbe Witz ist, der die aller- nächsten und die entferntesten Ähnlichkeiten wahrnimmt, so hört für uns auch der Artunterschied auf zwischen wissen, symboHsieren und glauben. „Glauben" ist etymologisch verwandt mit „loben" und hat die Grundbedeutung „gut heißen". Die Phantasie beginnt nicht erst bei den religiösen und sittlichen Glaubensmeinungen, sondern arbeitet meta- phorisch schon bei dem mit, was wir „wissen" nennen. Die Erscheinungen der Schwere sind Beobachtungen, die Er- scheinungen des Lichtes sind Beobachtungen; die Gesetze der Gravitation und der Lichtschwingungen jedoch sind Glaubenssache so gut wie die populär gevv^ordenen Begriffe Kraft und Stoff. Der Begriff der Ursache ist Glaubenssache, metaphorisch nach dem vermeintHchen Bewußtsein eines menschlichen Willens gebildet, so gut wie die stubbsnäsigen Götter der Äthiopier. Die Transformatoren unserer Dynamo- maschinen sind wirklich; das Gesetz von der Erhaltung der Kraft, das sie uns so anschaulich zu machen scheinen, ist dennoch Glaubenssache. Anschaulich sind immer nur die Beobachtungen selbst. Der Begriff ist immer metaphorisch, gibt niemals Anschauung, weder bei den mythenbildenden Dichtern noch bei den mythenfeindlichen Philosophen. Be- greifen wir das, so erscheint uns der schöne Satz Kants „Anschauungen ohne Begriffe sind blind, Begriffe ohne An- schauungen sind leer" selber bUnd und leer. Es gibt keine Anschauung, außer in der unmittelbaren Gegenwart, in dem unmittelbaren Gegenüber von beobachtendem Subjekt und der Wirklichkeitswelt. So wie die Sprache sich der Anschau- ungen bemächtigen will, wird sie vom ersten Tasten an zur

470 XI- ^i^ Metapher

Metapher, einerlei, ob die Sprache ein Wissen, ein Symbol oder einen Glauben ausdrücken will. Gerade Kants größte Tat ist es freilich (da er die Symbole in seiner oft pracht- vollen Sprache nur als verdeutHchenden Schmuck gebraucht), zwischen Wissen und Glauben schärfer als alle Vorgänger unterschieden zu haben; er kritisiert das Wissen und baut sein Gemisch von Religion und Sittlichkeit auf den Glauben, auf ein Gefühl. Wollen wir aber seine Erkenntnistheorie und seine Ethik unter Einen Gesichtspunkt zusammenfassen, so müssen wir doch sagen, daß er sowohl da wie dort ein Nicht- wissen lehrt, ein unbewußtes Nichtvässen in der Erkenntnis- theorie, ein bewußtes Nichtwissen in seiner Ethik.

Unser Wissen von den ältesten Sprachformen und von den ältesten ReHgionsformen ist wirkhch ein und dasselbe Wissen. Nicht, wie Max Müller das lehrte. Nur darum, weil Götter immer nur Worte sind, Worte immer nur Götter; und weil das um so deutlicher wird, je w^eniger die Götter und die Worte zu sagen haben. Worte lebendiger Sprachen sind immer reicher als die Erfahrung, um die Metapher reicher, um ihre Mythologie. Man gedenke der abgründigen Ironie, mit der Spinoza (am Ende des I. Kapitels des Tract. theol.-pol.) zu sagen wagt: „ex verbis et imaginibus longe plures ideae componi possunt, quam ex sohs iis principiis et notionibus, quibus tota nostra naturalis cognitio superstruitur." Gewiß, " „aus Worten und Bildern können weit mehr Ideen zusammen- gestellt werden als aus den Kenntnissen unserer Erfahrung". Psycho- Alle diese Untersuchungen Heßen sich sehr hübsch in eine der ver- Psychologie der Vergleichung ordnend zusammenfassen. Wir gieichung haben hofientlich gesehen, daß es eine und dieselbe Geistes- tätigkeit ist, der wir personifizierend den Witz zum Vorsitzen- den geben mögen, die Geistestätigkeit, welche durch Vor- gleichung der Sinneseindrücke die konlcretesten und dann die abstraktem Begrifie bildet, welche weiter zu Gestalten des Glaubens, zu Symbolen und endhch zu metaphorischen Vor- stellungen des Wissens führt. Nähe oder Entfernung der Ähnlichkeiten, bewußte oder unbewußte Vergleichung, Be- achtung oder Nichtbeachtung der Unterschiede spielen dabei

Psychologie der Vergleichung 471

in mannigfachen Kombinationen die entscheidende Rolle. Ich möchte nicht alle möglichen Kombinationen nacheinander auf- zählen; es wäre das eine logische, eine mechanische Arbeit. Um den Gedanken klar zu machen, will ich nur die beiden äußersten Glieder dieser Psychologie der Vergleichung be- trachten.

Auf der ersten Stufe entsteht durch unbewußte und nächste Vergleichung und Nichtbeachtung der Unterschiede der kon- kreteste Begriff, z. B. der Begriff eines besonderen Baumblatts. Es ist kaum zu bezweifeln, daß auch das Tier diesen Begriff des ihn besonders interessierenden Blattes ungefähr besitzt. Für uns ist das Blatt einer bestimmten Baumart fast kein Individuum mehr. Die Vergleichung der so überaus ähnlichen Individuen ist beinahe schon Verwechslung. Die Ähnhchkeit ist so nahe wie möglich, auf die Unterschiede werden wir höchstens einmal durch ein augenblickliches Interesse auf- merksam gemacht, und so vollzieht sich die Vergleichung, die zu dem Begriffe Eichenblatt oder Kokospalmenblatt führt, unbewußt. Freilich sind. Unbewußtheit, Nähe und Aufmerk- samkeit relative Begriffe. Ein wenig mehr Aufmerksamkeit, und es kann der Begriff Eichenblatt schon zum Gattungs- begriff werden, wie dann später der weitere Begriff Blatt.

Auf der letzten Stufe der psychologischen Vergleichung entstehen dann die höchsten Wissensbegriffe, indem der Witz mit Anstrengung seines Bewußtseins, mit klarer Aufmerksam- keit auf die Unterschiede und mit Heranziehung der äußersten, kaum noch verständhchen Ähnlichkeiten seine Tätigkeit übt. Alle Wissenschaften operieren mit solchen scheinbar begreif- hchen Wissensbegriffen, die aber im Grunde ebenso meta- phorische Vorstellungen sind wie Rehgionsbegriffe, Symbole und poetische Bilder. So ist z. B. die Menschheit langsam dazu fortgeschritten, den weitesten Artbegriff Blatt als Teil der höheren Begriffe Pflanze, Organismus, Ding, Stoff, Sub- stanz aufzufassen. Augenblicklich können wir nicht höher hinauf, weil das Denken oder die Sprache an dieser Stelle inne hält. Doch scheint es mir richtig, darauf hinzuweisen, wie leicht solche oberste Begriffe des Wissens (die ja an sich

472 XI. Die Metapher

immer GlaubensbegrifEe sind) auch für unser Sprachgefülil zu Symbolen oder Religionsvorstellungen werden können. Es braucht nur nach aller vorausgegangenen Anstrengung des Bewußtseins das Bewußtsein der getanen Arbeit zu verschwin- den, und wir glauben bei dem Begriff Substanz etwas zu wissen. Für Spinoza war Substanz ein solcher WissensbegrifE. Schärfen wir die Aufmerksamkeit noch über den notwendigen Grad hinaus, so wird der Begriff zum Symbol; so erscheinen mir wenigstens die vermeinthch streng naturwissenschaftlichen Vor- stellungen, nach welchen sich z. B. die neuere Atomistik die Substanz, das Atom, in Kugelform denken muß, genau so wie der eben erwähnte Xenophanes sich die Allsubstanz seines Pantheismus als Kugel dachte. Und wieder, wenn der Unter- schied der unzähligen verglichenen Erscheinungen übersehen wird, verwandelt sich die Substanz in den persönlichen Schöpfer, in einen Rehgionsbegriff. Die Vermischung von höchsten Wissensbegriffen, Symbolen und Göttern ist oft un- auflösbar. Jedermann wird mir zugeben, daß wir beim Lesen griechischer Dichter oft nicht unterscheiden können, ob Vor- stellungen wie Zeit, Tod begrifflich, symbolisch oder mytho- logisch gemeint seien. Mir will es aber scheinen, als schwebten auch unsere Worte Zeit, Tod nebelhaft zwischen Wissen, Symbol und Gottheit dahin.

Ist es nun richtig, daß eine und dieselbe psychologische Tätigkeit, die Vergleichung nämhch, sowohl die konkretesten wie die abstraktesten Vorstellungen in uns erzeugt, daß also die allgemeinste Form der Metapher uns in Gestalt unseres Sprachschatzes unsre Wirkhchkeitswelt erst schenkt, so ist zwischen dem Aussprechen eines Wortes wie Eichenblatt und der Aufstellung eines umfassenden philosophischen Systems doch nur ein Gradunterschied. Der größte Philosoph hat nur mit gespannterer Aufmerksamkeit, mit hellerem Bewußtsein die entfernteren Ähnlichkeiten verglichen. Ist auch der kon- kreteste Begriff' metaphorisch entstanden, so muß doch wohl jedes philosophische Werk im einzelnen wie im ganzen eben- falls und in äußerster Potenz metaphorisch sein. Wenn Biese in seiner „Philosophie des Metaphorischen" die Geschichte

Psychologie der Vergleichung 473

der Philosophie durchnimmt und bei den bekanntesten Schlag- worten der einzelnen Denker auf das Bildliche in ihnen hin- weist, so trennt ihn nur noch ein letzter Schritt von der be- scheidenen AVahrhcit. Gerne (vgl. S. 218) geht er von der metaphysischen Metapher aus, daß unsere Doppelnatur (?) unaufhörlich Vergötterung des Geistigen und Vergeistigung des Körperlichen verlange. So sieht er in dem Metaphorischen immer nur Personifikation und ihr Gegenteil, von dem ich mir übrigens keine Vorstellung machen kann. So sieht er schließlich im Metaphorischen etwas Ähnliches wie Hartmann in seinem Unbewußten und spricht es noch nicht aus, daß das Metaphorische einzig und allein in der Sprache h«gt, daß diese Tatsache nur ein anderer Ausdruck für unser Nichtwissen ist und daß durch dieses Metaphorische der Sprache in unserem Denken der Schein einer Anschaulichkeit entsteht, den es nie und nimmer besitzt.

Ich kann aber dem Reize nicht widerstehen, mit einigen Geschichte Worten wenigstens anzudeuten, wie die Geschichte der Philo- ^^^' \^^^'

... Sophie

Sophie (insofern sie nicht durch individuelle Köpfe gemacht Seibstzer- und darum zufällig ist wie alle Geschichte) sich als eine lang- ^^*^"°s same Selbstzersetzung des Metaphorischen ausdeuten heße. phorischen Freilich darf man da nur die Philosophien betrachten, die historisch aufeinander beruhen, und muß von dem Denk- geschäft der Inder absehen, welche bereits in alter Zeit das Wirklichkeitsbild als ein Blendwerk der Maya betrachteten, als eine angeborene Täuschung, hervorgerufen durch falsche Analogien, also doch wohl durch Metaphern.

Die zusammenhängende Geschichte der sogenannten Philo- sophie beginnt aber erst mit den älteren Griechen, welche mit ungeheuer kühnen falschen Analogien entweder etwas aus- gedachtes Undenkbares wie voc oder eines der vier Elemente zum weltbildenden Prinzip machten, zum einzig Seienden. Dieses mußte also Ursache seiner selbst sein, ein sinnloser Begriff, wenn er auch volle zweitausend Jahre geherrscht hat. Das sahen logische Köpfe sofort ein und machten das Xicht- seiende zur Ursache des Seienden, wobei doch die Metapher eigenthch einen Purzelbaum aus der Welt heraus macht. Die

474 XI. Die Metapher

Sophisten zersetzten beide Begriffe und machten den Men- schen zum Maßstabe der Welt; man beschimpfte sie dafür, und Sokrates mußte dafür sterben. Die Reaktion meldete sich in seinem dichterischen Schüler Piaton, der die Über- schätzung der metaphorischen Sprache für mehr als ein Jahr- tausend, ja bis in die Gegenwart hinein auf einen Gipfel ge- hoben hat. Hatte er von einem Vorgänger das Trügerische des Wirklichkeitsbildes gelernt (Alles ist im Flusse begrifien), so gelangte er dadurch nicht wie Sokrates zum Eingeständnis des Nichtwissens, sondern personifizierte die Abstraktionen der Sprache, machte die Ideen zu den Müttern der Welt. Die Zeit wird auf den Kopf gestellt , das Letzte wird das Erste genannt, die von den Einzeldingen abstrahierten Be- grifie heißen die Ursache der Einzeldinge.

Aristoteles mag die Ungeheuerlichkeit dieser falschen Ana- logie durchschaut haben, die doch wieder nur das Nichtseiende zur Ursache des Seienden machte. Er erklärte darum die Ideen für immanent; man hat das dann im Mittelalter so ausgedrückt, daß er statt der Universalien ante rem die Uni- versaHen in re gesetzt habe. Es war eine Zersetzung der Ideenmetapher. Aber mit einem noch viel gefährlicheren, viel v/eniger durchsichtigen Anthropomorphismus machte er nun seinerseits den Zweckbegrifi zur Ursache der Welt, zur Seele, zum Formprinzip des Stofe. Zu diesen Vorstellungen brachten das Christentum und die ihm vorausgehenden Epigonenschulen der griechischen Philosophie den religiösen Gottesbegriff, und durch Jahrhunderte bissen sich die Scholastiker daran die Zähne aus, die Kette dieser ineinander verschlungenen Meta- phern zu zernagen. Der mittelalterhche Nominahsmus ist der erste Versuch der wirklichen Selbstzersetzung des meta- phorischen Denkens. Er konnte sich trotz aller Ketzereien von der Theologie nicht befreien. In diesem Zusammenhange erscheint auch Descartes als ein Theologe mit ausgebissenen Zähnen. Er löst viele niedere Metaphern auf, betet aber die oberste Metapher an, den Dens, dem nun eine viel schwierigere Arbeit als in der Religion zugewiesen wird. Die Welt wird eine Republik mit dem Großherzog an der Spitze. Soweit

Selbstzersetzung des Metaphorischen 475

Spinoza durch Sprache und Logik in diesen Zusammenhang gehört, ist auch er, trotzdem er Gott mit der Substanz identi- fiziert, ein Scholastiker. Wo er jedoch, als einziger, die Wahr- heit sieht, wo er in der Wirklichkeitswelt zufäUige Notwendig- keit erbUckt wie Leibniz das später genannt hat , da steht Spinoza in einsamer Größe eigenthch außerhalb der zu- sammenhängenden Geschichte der Philosophie.

Dieser Zusammenhang Heße sich schematisch so darstellen, daß mit Piaton und Aristoteles und noch mehr mit ihren ein- seitigen Auslegern die große Gabelung beginnt; beide Geistes- richtungen wollen ein Nichtseiendes zur Ursache alles Seienden machen, die Platoniker die begrifflichen Ideen, die Aristote- liker die Zweckbegriffe. Die Scholastik, welche in ihren Aus- läufen bis zu Kant und Schopenhauer herabreicht, ist in allen freieren Köpfen ein staunenswert scharfsimiiger Versuch, Piatons Ideenlehre zu zersetzen und den geistesmörderischen Wortrealismus zu überwinden. An der Wirksamkeit der Zweckbegriffe zweifelt innerhalb der Eeihe dieser Denker eigenthch niemand, da noch Kant seine praktische Philo- sophie auf Zweckbegriffe aufbaut und auch Schopenhauer das Monstrum eines zwar dummen, aber dennoch zweckdenlvcnden Willens in der Natur lehrt. Die Bestrebungen, diesen eben- falls wortreahstischen Irrtum zu überwinden, lassen sich am besten an die Entwicklung der Philosophie knüpfen, die von den Engländern ausgegangen ist und schließlich ebenfalls in dem umfassenden Geiste Kants mündet. Das Ende beider Denkrichtungen kann nur eine Sprachkritik sein, welche wieder den Nominahsmus des Mittelalters dadurch übertrifft, daß sie nicht mehr nur gegen das Gespenst des WortreaHsmus pole- misiert, sondern die Vernunft selbst als Sprache erkennt, das heißt als das Gedächtnis der Menschheit mit all den Unvoll- kommenheiten und Grundgebrechen, welche dem Gedächtnis und seinen Dienern und Herren, den Zufallssinnen, wesenthch anhaften.

Diese enghsche Denkrichtung hat ihren ersten vollendeten Ausdruck in Locke gefunden, der in der Kritik der konkreten Begriffe alles Wichtige schon gesagt hat, der aber bezüghch

476 XI. Die Metapher

der komplexen Ideen trotz aller seiner Spraclikritik noch im "Wortaberglauben befangen ist, so daß sein Kritiker Leibniz nicht ohne einen Schein der Berechtigung die Psychologie Lockes und die Metaphysik Descartes' zusammenschmeißen und seine metaphorische Monadenlehre aus den Worten dieses Mischmasch konstruieren konnte. In England bheb die Be- wegung aber bei Locke nicht stehen. Was bei Berkeley noch als Versuch erscheint, die menschliche Vernunft durch einen radikalen Ideahsm^us ad absurdum zu führen, das wird bei Hume die größte ernsthafte Tat des Zweifels: Kritik des KausahtätsbegrifEs. Der Begriff der Ursache wird als eine menschliche Metapher erkannt, das Nichtseiende soll das Seiende nicht mehr erklären. Kant In Kant hat sich der Scharfsinn der ehrlichsten Scho-

lastiker mit dem nüchternen Zweifel der Engländer vereinigt. Kant hat die Welt bis zur Gegenwart geführt. Er weiß bis auf den sprachkritischen Punkt freihch nur , daß den menschhchen Begriffen immer bildhche Vorstellungen an- hängen, daß wir bis zur Erkenntnis der Wirkhchkeitswelt, des Ding-an-sich, niemals vordringen können, weil unser Denken wie wir ihn ohne Zwang sagen lassen können meta- phorisch ist, anthropozentrisch. Es ist nicht das kleinste Ver- dienst Kants, daß er durch das überwältigende Aussprechen Lockescher Vorstellungen der neueren Untersuchung der menschhchen Sinnesorgane die Wege gewiesen hat. Man könnte aus Kants Werken eine unangreifbare kritische Er- kenntnistheorie des Nichtwissens zusammenstellen, eine noch freiere als die einst berühmte „docta ignorantia" des Nicolaus Cusanus. In seinem negativen Denken ist Kant bereits der Alles- zertrümraerer*) ; wir beugen uns vor dem Geiste, der in seinen stärksten Stunden die Riesenarbeit begonnen hat, welche als Selbstzersetzung der Sprache oder des Denkens notwendig war.

*) Als ein kleiner Beitrag zu der Art, wie geflügelte Worte ent- stehen können, mag es hier Verzeichnet werden, daß der arme Mendels- sohn Kant „den alles zermalmenden" nannte in einem Satze („Morgen- stunden", Vorrede), in dem er zugeben muß, keines der kritischen Werke Kants gelesen zu haben.

Kant 477

Aber Kants letzte Weltanschauung ist dennoch nur die einer Übergangszeit ; oder vielleicht hat ihn gerade das Bewußt- sein seiner Riesenkraft dazu verführt, der negativen Tat ein positives System folgen zu lassen. Jedenfalls steht er der absoluten Vernunft etwa so gegenüber wie Graf Mirabeau dem absoluten Königtum. Er will sie in bestimmte Grenzen zurückweisen, er will ihren Mißbrauch abschaffen, er will sie zuerst von ihrem Throne stürzen, um sie nachher durch ein unlogisches Vetorecht wieder zu retten. Dieser Zwiespalt im Kopfe Kants ließe sich an der inneren und äußeren Geschichte seiner „Kritik der reinen Vernunft" nachweisen. Ich muß hier darauf verzichten. Kant wollte sein Werk ursprünghch nennen „Die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft". Er hat unerreicht klar über die Grenzen der Vernunft geschrieben, aber die Doppelbedeutung des Wörtchens „über" hat er dabei übersehen; unbewußt hat auch er noch die Vernunft als eine mythologische Person, als ein personifiziertes Seelenvermögen aufgefaßt, hat das logische Denken in menschhcher Sprache von der menschhchen Vernunft unterschieden und hat nicht bemerkt, daß es über unsere Kraft geht, über die Ver- nunft oder Sprache zu sprechen oder zu denken. So gelangt er dazu, die Kategorien des Denkens schließlich doch wieder sehr vorsichtig freihch auf das Undenlcbare, auf das Ding-an-sich anzuwenden. Sein Sündenfall besteht darin, daß er nach zehnjähriger Vorarbeit nicht die Grenzen der Ver- nunft überhaupt, sondern die Grenzen einer reinen Ver- nunft kritisierte, daß er eine reine Vernunft, das heißt eine Vernunft vor aller Erfahrung der anderen Vernunft gegenüber stellte, daß er die von Locke ausgerotteten angeborenen Ideen auf diesem Umwege wieder auf den Thron setzte und ihnen ein Vetorecht gab. Die reine Vernunft war die Glaubenssache und die große Metapher Kants. Ihm stand für die Begriffe der reinen Vernunft das Wort „intelUgibel" zur Verfügung; ist aber im Verstände nichts, was nicht vorher in den Sinnen war, in der Erfahrung, so kann im Verstände nichts Intelli- gibles sein, nichts Unerfahrenes, nach Kants Sprachgebrauch, so ist alles Intelhgible nicht nur unvorstellbar und unver-

478 XI. Die Metapher

Ständlich, sondern undenkbar. Drei mögliche "Wege sah Kaut : den Dogmatismus der Scholastiker, den Zweifel Humes und seinen eigenen Weg; im Kampfe gegen den Dogmatismus war er siegreich, im Kampfe gegen den Skeptizismus ist er unterlegen.

Vor den Pforten der Wahrheit ist Kant stehen gebheben. Die Sprachkritik allein kann diese Pforten aufschließen und mit lächelnder Kesignation zeigen, daß sie aus der Welt und dem Denken hinaus ins Leere führen. Die deutschen Nach- folger Kants aber sind umgekehrt. Namentlich in Hegels erstaunhch scharfsinniger Dialektik feiert der alte Wortaber- glaube die tollsten Orgien. Er begnügt sich nicht damit, das Nichtseiende zur Ursache des Seienden zu machen, er streicht die Welt aus der Welt und macht die Logik, diese Klassi- Schopen- fikatiou dcs Nichtseienden, zum einzig Seienden. Schopen- ^^"^^ hauer, sein wilder und mächtiger Gegner, hat den Weg Kants wiedergefunden und rüttelt oft und stark an den Pforten der Sprachkritik. Aber auch sein System gipfelt schheßhch in Wortaberglauben, in einer mythologischen Person, in dem Willen, der nachher von Eduard von Hartmann den selbst- verräterischen Namen „das Unbewußte" erhalten hat.

Schopenhauer ist abgesehen von den Schwächen seines Systems einer der größten philosophischen Schriftsteller geworden, weil er im Gegensatze zu Hegel die Weit wieder in ihr Eecht einsetzte, weil er anschaulich zu denken versuchte. Man best ihn darum mit Bewunderung, wie man einst Piaton gelesen hat. Wer von der Philosophie nicht mehr verlangt, als die denkbar höchste Anschauhchkeit, die lebendigste meta- phorische Darstellung abstrakter Begrifie, der muß ihn einen gewaltigen Denkdichter nennen. „Das geschlossene Auge sieht nur Phantasmen. Das menschliche Denken lebt von der An- schauung, und es stirbt, wenn es von seinen eigenen Ein- geweiden leben soll, den Hungertod" (Trendelenburg, Logische Untersuchungen I, 96). Unsere Sprachkritik aber hat uns gelehrt, daß auch der konkreteste Begriff noch keine An- schauung gewährt, sondern nur den Schein einer Anschauung, daß also auch der blendende Bilderreichtum eines Denkdichters

Vico 479

über die Grenzen der Sprache nicht hinaus gelangen kann. Nicht eine Kritik der reinen Vernunft kann da heKen, sondern nur die Kritik der Vernunft überhaupt, die Kritik der Sprache. Denn der Mensch hat keine andere Vernunft als seine Sprache. Nur handelnd verstehen wir die Wirkhchkeitswelt, nur wenn wir selbst wirkend mitten in der Wirkhchkeit stehen, niemals wenn wir uns ihr denkend gegenüberstellen wollen. Was der Mensch mit übermenschlicher Kraft auch wagen mag, um Wahrheit zu entdecken, er findet immer nur sich selbst, eine menschliche Wahrheit, ein anthropomorphisches Bild der Welt. Das letzte Wort des Denkens kann nur die negative Tat sein, die Selbstzersetzung des Anthropomorphismus, die Einsicht in die profunde Weisheit des Vico: homo non intelligendo fit omnia.

Giambattista Vico ist in Italien berühmt, in Franlcreich Vico hie und da genannt, in Deutschland so gut wie unbekannt, trotzdem Goethe in seiner ItaUenischen Reise (Neapel, den 5. März 1786) auf ihn aufmerksam gemacht hat. Goethe hat das von italienischen Freunden empfohlene Buch „Principj di una scienza nuova d'intorno alla commune natura delle nazioni" nach seiner Gewohnheit sich angeeignet. „Bei einem flüchtigen Überblick des Buches, das sie mir als ein Heihgtum mitteilten, wollte mir seheinen, hier seien sibylHnische Vorahnungen des Guten und Rechten, das einst kommen soll oder sollte, ge- gründet auf ernste Betrachtungen des Überheferten und des Lebens. Es ist gar schön, wenn ein Volk solch einen Ältervater besitzt ; den Deutschen wird einst Hamann ein ähnUcher Codex werden." Unmittelbar vorher nennt er Vico, der noch nicht fünfzig Jahre vorher gestorben war, einen „alten Schriftsteller, an dessen unergründhcher Tiefe sich diese neuen itahenischen Gesetzfreunde höchhch erquicken und erbauen". Die Ver- gleichung mit Hamann ist schlagend ; von Vico wie von Hamann muß sich Goethe zugleich angezogen und abgestoßen gefühlt haben. Aber Goethe beachtete an dem Buche, weil es ihm von philanthropischen Juristen in die Hand gegeben worden

480 XI. Die Metapher

war, offenbar nur diese ethische Seite. Die eigentUche Be- deutung Vicos entging ihm, trotzdem er in nächster Nähe Zeuge gewesen war, wie in Deutschland die Saat aufging, die Vico in Neapel gesät hatte. Es kann kein Zweifel sein, daß Herder zu seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" direkt oder indirekt durch den „Ältervater" Vico angeregt worden ist. Sodann, außer von den Engländern, von Leibniz und von Lessing, besonders von Hamann. Wie weit Hamann, der den Vico gelesen hatte, diesen Vico in der ver- schütteten Gewürzbüchse seiner Ideen erkannt hatte, möchte ich hier nicht untersuchen*). Jedenfalls ist es begreiflich, daß Goethe beim Durchblättern von Vicos „Grundzügen einer neuen Wissenschaft" an Hamann erinnert wurde; denn selbst Hamanns „verfluchter Wurststil, der von Verstopfung her- kam" (wieder ein andermal bezeichnet Hamann selbst die Er- gebnisse seiner konfusen Belesenheit als seinen Heuschrecken- stil), findet sich schon bei Vico gleich wie Herders und Ha- manns Grundgedanken über den Ursprung von Kultur und Sprache.

Vico ist ein genialer Wirrkopf. Genial von Natur, ein Wirrkopf vielleicht nur darum, weil er in Itahen lebte, wo die Macht der Päpste jedes philosophische Denken unter- drückt hatte. Er ist ein Bewunderer und Kenner von Piaton (den er gegen die „Ammenmärchen" des Aristoteles und gegen die mathematischen Formeln des Descartes ausspielt), des Tacitus, des Bacon, des Grotius; es scheint ihm die Aufgabe seines eigenen Lebens, die Ansichten dieser vier Männer zu vereinigen in einer Philosophie der Geschichte der Menschheit.

Es wäre nicht schwer, die Lehre des Vico als die Spitze einer Pyramide erscheinen zu lassen, deren vier Basisecken

*) In seiner gründlichen Abhandlung „Hamanns Sprachtheorie" (1905) wendet sich R. Unger gegen meine V^ermutung einer starken Einwirkung von Vico auf Hamann. Vielleicht mit Recht. Obgleich der Briet an Herder (22. Dez. 1777) offenbar gleich nach Lesen der Einleitung von Vicos Buche geschrieben ist und doch schon sprach- philosophisches Interesse verrät. Übrigens bestreitet auch Unger nicht die geistige Verwandtschaft beider Männer.

Vico 481

diese vier Namen wäreu; aber es wäre doch eitel Wort- macherei. Ich glaube, in Wahrheit ist Tacitus einfach sein liebster Geschichtschreiber, Grotius sein liebster Jurist ge- wesen, und als Geschichte der staatlichen Einrichtungen er- schien dem Vico seine „neue Wissenschaft", die freilich im Grunde nur die erste Ahnung einer Anwendung von Sprach- wissenschaft auf die Urgeschichte der Menschheit war. Piaton als der traditionelle Gegner des Aristoteles, Bacon als der neueste Empirilcer, als der Anreger einer neuen Induktion mußten ihm lieb sein in seinem Kampfe gegen Descartes, den Neuaristoteliker, den Begründer der jüngsten deduktiven Philosophie. Doch ist zu bemerken, daß nur die erste Aus- gabe seines Hauptwerkes, der „Principj di una scienza nuova d'intorno alla commune natura dellc nazioni" (1725) seinem Meister Bacon Ehre macht. Die späteren Auflagen sind deduktiv und kaum mehr lesbar. Leider sind es diese späteren Bearbeitungen, wie es scheint, die ihre Wirkung auf Deutschland und Frankreich ausgeübt haben.

Die Bedeutung Vicos wird am besten beleuchtet, wenn ich hervorhebe, daß er in zwei wichtigen Punkten der neuern Philologie die Ziele gewiesen hat; er zuerst hat die Frage nach Homer und die nach der römischen Königszeit auf- gerollt; Homeros und die römischen Könige erscheinen ihm bereits als mythische Persönlichkeiten, als Symbole.

Seine Gedanken sind schwer in einer allgemein verständ- lichen Sprache wiederzugeben, weil Vico in einer geradezu haarsträvibenden Weise generalisiert. Jeder Einfall, vom Zu- fall der Lektüre eingegeben, wird ihm zu einem Prinzip. Un- zusammenhängende Dinge, wie das Vorhandensein von Re- ligion bei allen Völkern, die Ehe und die Tatsache, daß man die Toten begräbt, verbindet er zu einem vermeintlichen Beweise für die Existenz Gottes, einer Vorsehung und der Unsterblichkeit der Seele. Sodann hat er eine Dreiteilung der Geschichte gefunden: die götthche, die heroische und die menschüche Zeit; und diese Dreiteilung überträgt er auf alle sozialen Erscheinungen bei den Völkern. Auch die Ge- schichte der Sprache, um deren willen Vico uns hier inter-

Mautliner, Btitr;ige zu einer Kritik der Spraclie. II «^'-

482 XI. Die Metapher .

essiert, zerfällt ihm in drei Abschnitte: in die Götterzeit, wo die Sprache hieroglyphisch war oder eine Zeichensprache, in die Heroenzeit, wo die Sprache poetisch oder metaphorisch war, und in die Menschenzeit, in der sich unsere Sprachen ausbildeten.

Aus seiner Geistesentwicklung, die Vico selbst beschrieben hat, ist in meinen Augen dies der wichtigste Punkt, daß Vico zuerst die Philosophie bei einem Nominalisten kennen lernte, bevor er in die orthodoxe Schule des mittelalterlichen Wortrealismus geriet. Man sieht: in Italien standen sich, am Ende des 17. Jahrhunderts, die Lehrmeinungen des Mittel- alters gegenüber, als ob sie noch lebendig gewesen wären. Mir ist es nicht z^veifelhaft, daß die ganze Sprachphilosophie Vicos eine Nachwirkung der nominalistischen Ketzerei seiner Jugend war. Die entscheidende Stelle finde ich in seiner Selbstbiographie da, wo er es eben als seine Lebensaufgabe ausspricht, die vier genannten Lieblingsschriftsteller durch eine christliche Philosophie zu überwinden, die zugleich Philo- logie wäre und wissenschaftlicKe Notwendigkeit brächte in die beiden Teile, welche sind die zwei Historien, eine der Sprachen, die andere der Sachen; „e della storia delle cose si accertasse quella delle lingue." Diese prachtvolle nomina- listische Kühnheit, diese Wahrheit, die erst aus unserer Sprach- kritik zum klaren Bewußtsein wird, ist einer von Vicos Genie- blitzen und in dem Wirrwarr der neuen Wissenschaft so ver- blüfiend, daß noch der deutsche Übersetzer Weber (1822) sich für berechtigt hielt, den Sinn umzukehren und zu sagen, „es würde dabei die Geschichte der Sachen ins reine gebracht werden durch die der Sprachen".

Da die Geschichte der Sprache nun in drei Epochen zer- fällt, in die göttliche, die heroische und die menschliche, da es in der Götterzeit nur eine hieroglyphische oder Zeichen- sprache gab, da das dritte Zeitalter bereits unsere abgegriffene Sprache redete, so ist es sicher, daß die Untersuchung des Sprachursprungs sich allein mit der heroischen Zeit und ihrer poetischen Sprache zu beschäftigen habe. Vico ist sich der Neuheit dieses Gedankens vollkommen bewußt und spricht

Vico 483

ihn am schönsten in dem seltsamen Vorwort aus, das in der Form einer Erklärung des rebusartigen Titelbildes die Idee des ganzen Werkes gibt : „Als Prinzip dieser Ursprünge sowohl der Sprachen als der Buchstaben erfindet es sich, daß die Urvölker des Heidentums durch eine erwiesene Naturnot- wendigkeit Dichter gewesen sind, welche in poetischen Kenn- zeichen" (so möchte ich das vage „caratteri" übersetzen) „sich ausdrückten. Diese Entdeckung ist der Hauptschlüssel dieser Wissenschaft und hat mich die hartnäckige Forschung fast meines ganzen wissenschaftlichen Lebens gekostet. Denn eine solche poetische Natur solcher Urmenschen ist in unserer unheidnischen Zeit wirklich unmöglich vorzustellen und sehr schwer zu verstehen. Solche Kennzeichen (caratteri) waren gewisse phantastische Gattungsbegriffe oder Bilder, gewöhn- lich von beseelten Dingen oder von Göttern oder von Helden in ihrer Phantasie geformt; auf diese Bilder wurden die Unter- arten und Individuen zurückgeführt; gerade so, wie jetzt manche Figuren der Komödie umgekehrt Verstandesbegriffe der Moralphilosophie sind, von Lustspieldichtern umgeschaffen zu phantastischen Personen." (Allegorien der ,,Mysterien" wie Stolz, Sünde usw. meint er wohl.)

Wäre Vico imstande gewesen, seine beiden genialen Ein- fälle, daß die Sprachen erst durch die Sachen erhellen und daß der Ursprung der Sprache in poetischen Personifikationen zu suchen sei, zu Ende zu denken, so hätte er mit den Kennt- nissen seiner Zeit eine Sprachkritik geliefert. Er hatte jedoch keine erkenntnistheoretischen Ziele, sondern nur ethische und theologische; so konnte er den wichtigsten Teil seines Lehr- gebäudes nicht ausbauen. Aber eines der wichtigsten Ergeb- nisse unserer Sprachkritik, daß nämlich alle Entwicklung der Sprache auf metajDhorischem Wege vor sich gehe, hat er in erstaunlich kühner Weise vorweggenommen. Ich war tief ergriffen und beschämt, als ich fast am Ende meiner Studien und Untersuchungen auf Vicos Lehre von der poetischen Metapher geriet.

Ich will zum Verständnis seines tiefsten Gedankens voraus- schicken, was Vico in den wüsten Axiomen des ersten Buches

484 ^I- I^i® Metapher

über die Prinzipien der göttlichen Poesie oder der poeti- schen Theologie in den Sätzen 32, 33 und 37 Merkwürdiges sagt.

32. „Als die Menschen die natürlichen Ursachen nicht kannten, welche die Dinge hervorbringen, und sie nicht ein- mal durch Analogie (cose simih) erklären konnten, gaben sie den Dingen ihre eigene Natur; wie das Volk z. B. sagt, es sei der Magnet in das Eisen verliebt. Denn der Mensch m a c h t in seiner Unwissenheit sichselbstzurRicht- schnür des Universums in betrefi alles dessen, w a s e r nicht wei ß."

33. „Die Physik der Nichtwissenden ist eine populäre Metaphysik; dergestalt, daß sie die unbekannten Ursachen der Dinge in den Willen Gottes verlegen, ohne die Mittel- glieder zu beächten, deren der göttliche Wille sich bedient."

37. „Es ist die erhabenste Tätigkeit der Poesie, den seelen- losen Dingen Seele und Leidenschaft zu geben; wie es den Kindern eigen ist, unbelebte Dinge in die Hand zu nehmen und spielend mit ihnen zu plaudern, als wären es lebende Wesen. Dies beweist philologisch-philosophisch , daß die Menschen der kindlichen Welt von Natur erhabene Dichter waren."

Und nun spricht Vico im siebenten Kapitel des zweiten Buches von der poetischen Logik, von Metaphern und dichte- rischen Transformationen. Da sagt er, daß jede Metapher ein kleiner Mythus ist. Er gibt allerlei richtige und unmög- liche Beispiele, Metaphern, die von Gliedern des menschlichen Körpers hergenommen sind, und schließt: „Welches alles not- wendig hervorgeht aus jenem Grundsätze, daß der nicht- wissende Mensch sich zur Richtschnur des Universums macht, so wie in den aufgeführten Beispielen er aus sich selbst eine ganze Welt gemacht. Denn wie die rationale Metaphysik lehrt : homo intelligendo fit omnia, so zeigt diese phantastische Metaphysik : homo non intelligendo fit omnia. Vielleicht liegt mehr Wahrheit in diesen Worten als in jenen; denn mit der Einsicht in die Dinge klärt der Mensch seinen Geist auf und begreift sich selbst ; aber durch die

und Vertiuiii

Nomen und Verbum 485

Nichteinsicht macht er ans sich die Dinge seihst, und indem er sich in sie verwandelt, wird er s i e."

*

Kehren wir von diesem Ausfluge in die Geschichte der Erkenntnistheorie zu unsrem metaphorischen Bedeutungs- wandel zurück.

Wir denken bei der Metapher zunächst an die Dingworte. Nomen Es gibt kaum ein geschichtlich vcrfolgbares Wort, das uns nicht ein gutes Beispiel geben würde. Das Wort erobert auf dem Wege der Metapher einen immer weiteren Kreis und verblaßt dabei in seinem Inhalt oder seinem Sinn. Das ist der gewöhnlichste Fall. Die französische Anrede monsieur mußte den ehrenden Sinn von monseigneur (senior) auf alle Welt ausdehnen, um so weit zu verblassen, wie wir es kennen. Die Bedeutung Herr (das deutsche Wort, ahd. heriro, ebenso ein Komparativ wie senior) oder „vornehmer Herr" war wie- derum eine Metapher von der Ältesten würde; diese wieder von der bloßen Altersbezeichnung. Die Anwendung des Wortes auf das >:\lter scheint uns eine relative Urbedeutung, ist aber sicherlich wieder eine Metapher gewesen.

Beim Verbum ist das Abblassen der metaphorischen An- wendung noch hübscher zu beobachten, weil es unter unseren Augen unaufhörlich neue Sprach Veränderungen zur Folge hat. Der regelmäßige Gang ist so, daß das Verbum, welches ur- sprünglich nur einem bestimmten Subjekte parallel ging, zuerst mit ausdrücklicher Hervorhebung des Bildes auf ein anderes Subjekt angewendet wird, daß später die ausdrückliche Ver- gleichung unterbleibt, aber die Metapher dem Sprachgefühl noch vorschwebt, und daß endlich die Metapher aus dem Bewußtsein schwindet und mau von einem wirklichen Sprach- gebrauche reden kami. Auch da müßte eine allwissende Sprachgeschichte von Jahrtausend zu Jahrtausend zurück die Metapher immer weiter und weiter jagen. Unsere unwissende Sprachgeschichte kann nur da einsetzen, wo der Zufall unserer Erkenntnis es gestattet. So ist irgend einmal das Wort „aus-

486 XI- Diß Metapher

brechen" mit dem Subjekt „Feuer" parallel gesetzt worden. Ein Dichter mag dann zuerst metaphorisch gesagt haben „der Krieg ist wie ein Feuer ausgebrochen" oder „das Kriegsfeuer ist ausgebrochen". Der Krieg im Lande war damals besonders durch brennende Häuser kenntlich gemacht. Dann kam eine Zeit, wo man noch das Bildliche des Ausdrucks „der Krieg ist ausgebrochen" raitverstand; jetzt nennt man diese alte Me- tapher einfach den Sprachgebrauch und denkt gar nicht mehr an das Feuer. Beim Erlernen fremder Sprachen ist dieser Parallelismus v^on Subjekt und Prädikat die schwierigste Sache; natürhch, weil in jedem solchen Sprachgebrauch eine ganze lange Metapherngeschichte verborgen ist. Unsere deutschen Worte „reiten", „fahren" sind jetzt auf bestimmte Fort- bewegungsarten eingeschränkt; hinter dem gegenwärtigen Sprachgebrauch steckt eine individuelle Metaphergeschichte, die sich an die Kulturgeschichte anlehnt. Ist man auf diesen Zusammenhang erst aufmerksam gemacht worden, so gibt es kaum eine gegenwärtige Anwendung des Tätigkeitswortes, die nicht auf ihre metaphorische Entwicklung hin betrachtet werden könnte.

Besonders wichtig ist dabei, auf solche Fälle zu achten, wo das Prädikat in einer bestimmten Anwendungsart zu einem neuen Subjekt wurde. Denn wir müssen uns ja den Ursprung der Sprache so denken, daß die Prädikate (ich meine jetzt die psychologischen Prädikate) die ersten Worte waren, weil ja nach unserer Lehre in einer Urzeit das psychologische Subjekt oder die gegenwärtige Situation sprachlich so wenig ausgedrückt wurde, wie wenn wir heute „Feuer" rufen. Wird z. B. das eben erwähnte Wort „ausbrechen" auf die Kelter angewandt, so kann heute noch ein neues Wort „Ausbruch" entstehen, das eine bestimmte Weinsorte bezeichnet. Ein nettes Beispiel bietet das lateinische Wort dens (Zahn), wenn es anders wirklich etymologisch so viel heißt wie der Essende. Es wäre dann eine deutliche Metapher gewesen, solange man es als Prädikat gebrauchte, auf die scharfen Knochen im Munde hinwies und von ihnen aussagte, daß sie die eigentlich Essenden sind, „Beißerchen". In irgend einer vorhistorischen

Nomen und Verbum 4g7

Zeit hatte man dann Veranlassung, diesen Sprachgebrauch aus dem Prädikat ins Subjekt zu verwandeln und das Ding- wort war fertig. Geht nun der metaphorische Bedeutungs- wandel weiter, so wird wieder der heute gewöhnliche Sinn des Wortes (Zahn dens) entweder im Sinn behalten oder nicht. In „Zahn der Zeit" müssen wir das Bild immer aus- drücklich nennen. In der Metapher „die Zähne weisen" wird die Metapher mit verstanden. Spricht aber ein Arbeiter von den Zähnen eines Kades, so ist die metaphorische Anwendung vollständig zum Sprachgebrauch geworden und die bewußte Metapher ist verschwunden.

So führt der Weg der Sprache von der dichterischen oder ,Ver- freien Metapher zu der gewöhnlichen oder notwendigen Ver- ^^j. bindung, wie er im sogenannten Sprachgebrauch vorliegt. Metapher Dafür bietet die Geschichte jeder einzelnen Sprache ein ein- ziges großes Beispiel. Wer die Sprache historisch überblickt, sieht überall ein Abblassen der metaphorischen Anwendung in dem Augenblicke, wo die Metapher aus dem Sprachgefühl verschwunden ist. Dieses Abblassen kann sich sogar auf den Ton der Sprache erstrecken. Es kann der Befehlston den Sinn einer Frage erhalten; wie umgekehrt der bittende oder fragende Ton den Sinn eines Befehls gewinnen kann. So wenn ich in einen Buchladen trete und höflich nach einem bestimmten Buche frage; der Buchhändler errät, daß ich dieses Buch zu kaufen wünsche. Zu solchen gewissermaßen verstärkenden Anwendungen des Sinnes will der Ausdruck „verblassen" nicht recht stimmen; er ist auch nicht gut ge- wählt, weil er selbst wieder eine mangelhafte Metapher ist und von einem sichtbaren Bilde auf eine Art Werturteil aus- gedehnt worden ist.

Jede Metapher ist witzig. Die gegenwärtig gesprochene Metapher Sprache eines Volkes ist die Summe von Millionen Witzen, ^y^^^ ist die Pointensaramlung von Millionen Anekdoten, deren Geschichte verloren gegangen ist. Man muß sich in dieser Beziehung die Menschen der Sprachschöpfuugszeit noch

488 XI. Die Metapher

witziger vorstellen als heutige Witzbolde , die von ihren Witzen leben. Man könnte sogar allgemein behaupten, daß der Mensch um so witziger sei, je unwissender er ist, was ja dem Wesen des Witzes gar nicht widerspricht. Der Witz nimmt entfernte Ähnlichkeiten wahr. Nahe Ähnlichkeiten koimten sofort durch Begriffe oder Worte festgehalten werden. Der Bedeutungswandel besteht in den Eroberungen dieser Worte, in der metaphorischen oder witzigen Ausdehnung des Begriffs auf entferntere Ähnlichkeiten. Und diese entfern- teren Ähnlichkeiten fallen bekanntlich dem Fremden eher auf als dem Kenner. Der Europäer findet alle Chinesen einander ähnlich, der Stadtmensch alle Kühe, der Fremde alle Familien- mitglieder. Unwissenheit macht witzig. Unlienntnis findet rasch Ähnlichkeiten. Ich erfahre es an mir selbst, daß mir Ähnlichkeiten in Melodien auffallen, wo der Musiker weiß, daß ich von der zufälligen Gleichheit zweier verbundener Töne getäuscht worden bin.

Man komme mir nicht wieder mit der Schikane, daß jeder einzelne Witz, jede einzelne Metapher in der Geschichte des Bedeutungswandels notwendig gewesen sei, daß also dahinter ein Gesetz stecken müsse. Auch der Lauf eines Baches ist in dem Sinne notwendig, als jeder kleinste Wassertropfen dem Gesetz der Schwere gehorcht und darum der Bach, die Summe seiner Tropfen, diesen und keinen andern Lauf nehmen müsse. Mag man immerhin die Schwere gesetzHch nennen. Der Lauf des Baches ist dennoch zufällig, gerade in Beziehung auf die Schwerkraft. Immer wieder muß ich davor warnen, Notwendigkeit mit Gesetzmäßigkeit zu verwechseln. Und die Geschichte des Sprachwandels ist noch weit unregelmäßiger. Sie gleicht viel eher der Figur, welche verschüttetes Wasser auf einem Tische zeichnet. Auch da gehorcht jeder Tropfen dem Gesetze der Schwere, die Figur ist dennoch zufällig.

Und wenn wir überlegen, welcher ungeheuerliche Bedeu- tungswcchsel gar in den unselbständigen Sprachteilen, z. B. den Flexionen und Präpositionen vorhanden ist, mit welcher Kühnheit der Metapher unsere Genitivform oder unsere Prä- position „in" um sich greifend die entlegensten Beziehungen

Metaphorische Erweiterung 439

bezeichnet, so werden wir auch von hier aus die Zufälligkeit nicht nur des Sprachstoffs, sondern auch der Sprachform er- kennen.

Bedeutungswandel der Worte trifft nach unserer Aus- Meta- drucksweise sehr häufig nur die Erweiterung der Begriffe. ^ErweTte-^ Denn die Einengung nennen wir erst in ihrem letzten Er- rung gebnis einen Wandel; der Vorgang selbst ist der Verlust einer Gruppe von andern Bedeutungen. Die Erweiterung aber besteht regelmäßig in der metaphorischen Anwendung, in der Eroberung eines neuen Inhalts. Bei einem verhältnismäßig neuen Worte wie Flügel wird dieses Verhältnis sehr deuthch. Die Bedeutung des Flügels als eines Vogelfittichs (etymolo- gisch gar nicht so einfach) ist uns allen gegenwärtig; es ist also gar nicht schwer, dem Müller, der von den Flügeln seiner Windmühle, dem Offizier, der von Flügeln seiner Armee, dem Schloßherrn, der vom Flügel seines Schlosses spricht, zu zeigen, daß metaphorisch der seitliche Teil der Mühle, der Armee, des Hauses gemeint sei, wie ein Fittich der seitliche Teil des Vogelleibes ist. Auch darauf, daß ein Flügel (Klavier) seinen Namen von der Ähnlichkeit mit einem dreieckigen, geschweiften Fittich erhalten habe, wird auch ein schhchter Verstand von selber kommen.

Im Zusammenhang mit solchen Erweiterungen geschieht es dann, daß das eroberte Gebiet allein behauptet wird und der alte Besitz verloren geht, wo dann wenn der Zusammen- hang nicht klar ist ein reiner Bedeutungswandel ohne Er- weiterung vorzuliegen scheint. Im Französischen und Italie- nischen ist der alte Ausdruck für Kopf (capo, chef) so sehr in metaphorischer Bedeutung als „Führer" üblich geworden, daß die ursprüngliche verloren ging; -wobei ich beiseite lasse, um wie viel armselige Jahre früher die „ursprüngliche" Be- deutung selber eine Metapher gewesen sein mag. An die Stelle rückte testa, tete, so viel wie Topf, was doch eine recht gemeine Metapher war, bis sie so allgemein ^vurde, daß sie gemein zu sein aufhörte. Nicht viel anders ist es im Deut-

490 XI. Die Metapher

sehen. „Haupt" (doch wohl ein Lehnwort aus lat. caput, trotz seiner regelwidrigen Bildung) wird fast nur noch von geschmacklosen Reimern für „Kopf" gebraucht; „Kopf" ist wieder eine neuere Metapher, wohl nach der ÄhnUchkeit des Schädels mit einem Becher (lat. cuppa). Sollte „Kopf" all- mählich in neuer Metapher sich auf die Bedeutung „Verstand" einschränken, so könnte vielleicht (wie Topf und Becher) eines der jetzt schon volkstümlichen oder nur gaunersprachlichen Worte wie Kürbis, Melone usw. zu der Ehre kommen, den edlen Körperteil zu bezeichnen. Im Schwedischen heißt Kopf panna, Pfanne.

Der Bedeutungswandel durch Erweiterung des Begriffs führt auch zu einer Erscheinung, die Linguisten und Laien schon oft aufgefallen ist, ohne daß ilir metaphorischer Cha- rakter erkannt worden wäre. Es ist oft gesagt worden, daß die Bedeutung der Worte verblaßt, daß sie ihre scharfen Definitionen verlieren und damit ihren alten Wert genau so wie Scheidemünzen. Wohl pflegen sie dabei zugleich ihren Begriff zu erweitern, ihr Geltungsgebiet; dadurch werden sie aber nur verwendbarer, nicht wertvoller. Beispiele sind fast überflüssig; meist bemüht ist wohl die Herkunft von gene und dem deutschen „sich genieren" von dem hebräischen Gehenna (Hölle) über Höllenqual und Marter hinweg zu Zwang und Störung, bis zu der unbedeutenden Verlegenheit, die uns das Fremdwort bedeutet. Weniger schlagende, dafür aber alltägliche Beispiele bietet die Gewohnheit gewisser Kreise, bald dies bald jenes ungeheuerliche Wort auf Banalitäten anzuwenden; Worte wie „riesig", „kolossal", „schrecklich" tauchen so plötzlich auf, werden von den lächerlichsten Dingen ausgesagt, um oft bald wieder aus diesem Jargon zu verschwin- den und Neuerungen Platz zu machen. Sie verschwinden nicht immer. Unser Allerwelts-„sehr" ist ebenso entstanden. Es ist aus einem Worte entstanden, welches „schmerzlich, heftig, gewaltig" bedeutete, und ist mit dem englischen sore zu vergleichen. Mundartlich wird genau ebenso „arg" (ur- sprünglich: schlecht, minderwertig) im Sinne von „sehr" ge- braucht.

Hyperbeln in metaphorischer Erweiterung 491

Bei dieser Gruppe von Worten ist es offenbar, daß sie Hyperbeln zuerst als Übertreibungen, als Metaphern (Hyperbel) gebraucht meu'hori- wurden und so von Anfang an verurteilt waren, zu verblassen; sehen denn ein gesteigerter Ausdruck, auf das Alltägliche angewendet, ^''**"'-' muß seine Kraft einbüßen. Genauer betrachtet liegt aber in jeder Eroberung eines neuen Begriffsgebiets, also in jedem Bedeutungswandel durch Erweiterung etwas von einer hyper- bolischen Metapher. Erobert das Wort „Rad" (zunächst ohne seine alten Bedeutungen einzubüßen) den Begriff des Zweirads oder Bicycles, so liegt etwas von einer Übertreibung darin, wenn der Sprecher mich gewissermaßen mit der Nase darauf stoßen will, daß die Maschine fast nur ein großes Rad sei; und wenn unsere Phonetiker feinere Ohren hätten, so müßten sie heraushören, daß im Anfang (bevor so ein Wort angenom- men ist und damit schon zu verblassen beginnt) das metaphorisch, in einer erweiterten Weise angewandte Wort anders, stärker oder betonter, ausgesprochen wird, als alte Worte. Es wird als Hyperbel empfunden und danach ent- weder unterstrichen oder fast ironisch entschuldigt.

Ich bin mir wohl bewußt, daß ich der offiziellen Sprache der Grammatiker und Poetiker etwas Gewalt antue, wenn ich das Übergreifen eines Wortes auf neue Gebiete unter der Bezeichnung „Hyperbel" generalisiere. Es ist eben wieder ein neuer Versuch eines Bedeutungswandels dm:ch Erweiterung, einer neuen Hyperbel. Aber fruchtbar scheint mir diese Neuerung dennoch, weil sie mir den Vorgang beim Verblassen der Worte, beim Sinken der Wortwerte anschauhch macht. Jede Begriffserweiterung eines Worts trägt zunächst den Charakter einer Steigerung, einer Übertreibung; das gilt für die simpelsten Worte wie für die abstraktesten. Ich höre eine Hyperbel, einen übertreibenden Scherz heraus, wenn man im 16. Jahrhundert anfängt, das Kleidungsstück an den untern Beinen einen Strumpf, das ist Stumpf, Strunk, Stummel, zu nennen, und eigentlich eine Kurzhose, einen Hosenstrunk, einen Hosenstummel damit meint, wie es denn auch zuerst nur Hosenstrumpf heißt. Ich höre eine Hyperbel oder ein poetisch übertreibendes Bild heraus, wenn in gar alter Zeit

492 XI. Die Metapher

das Wort, welches das Wachsen, das Hauptgewächs, das Gras (to grow) bedeutet, in kühner Eroberung zur Farbe des Grases sich umformte, als „grün". Wenn heute jemand einen kränk- lich aussehenden Menschen etwa „grasgrün" nennt, so wird das als Übertreibung empfunden. Sollte es in grauen Zeiten nicht ein bißchen ähnhch gewirkt haben, wenn irgend welche Sprachneuerer auf die Frage nach der Farbe einer Insel, einer Wasserfläche mit einem Worte antworteten, das ungefähr „grün" das heißt „Gras", also „grasgrün" besagte? Später eroberte das Wort nun weiter den Begriff der Frische, der Jugend, der Unreife; und mit lustiger Übertreibung spricht man von „grünen" Jungen. Und ein Bauernkind kann, ohne witzig sein zu wollen, sagen: „Wenn Blaubeeren grün sind, sind sie rot."

Eine Hauptschwierigkeit bei dieser Betrachtung liegt darin, daß der Weg der Worte nicht immer von Gehenna zu gene, von der Übertreibung zur Verblassung führt, sondern daß die Worte sehr häufig, vielleicht gewöhnlich, auf kleinen Um- wegen neue Eroberungen suchen, neue Erweiterungen, daß sie dabei durch neue Hyperbeln neue Leuchtkraft gewinnen und so das Verblassen aufgehalten wird, ja neues Leben an unerwarteten Stellen als Schößling hervorbricht. Alle diese Dinge sind so verwickelt, daß kein einzelnes Beispiel belehrend genug ist. Wenn unser deutsches Verbum „sein" in seiner Perfektform (war, gewesen) wirklich mit dem Sanskritstamme vas zusammenhängt, welcher „bleiben", „verweilen", konkreter „übernachten" bedeutet, so liegt die Verblassung klar vor uns, durch welche metaphorisch, hyperbohsch unser Hilfszeitwort geworden ist. Durch Poesie kann der Zusammenhang noch begrifien werden. „Goethe war ein freier Geist." Er „war" es, er war es bleibend, er „übernachtete" in diesem Charakter, er wurde nicht über Nacht ein andrer. Und aus diesem so kräftigen, so farbensatten BegrifE ist nun die Kopula geworden, ein leerer, totenblasser Begriff, der kaum noch etwas andres spüren läßt als Zeit- und Zahlkategorien. Es steckt aber hinter dem „Sein" immer noch der alte Reichtum. Eines Tages sucht ein Deutscher ein verständliches Wort für essentia

„sein" 493

und essentialis. In dem lateinischen Worte esse steckt wohl auch so etwas wie „Übernachten", Dauern; einerlei ob Ety- mologen es darin nachzuweisen suchen oder nicht. Es findet sich also für essentia das Wort Wesen, als das Dauernde, das in den Dingen „Übernachtende", das „Wesentliche". Man denke an das eindringliche „Istigkeit" des Meisters Eckhart, das Arndt wiederzubeleben versuchte. So hat das Wort durch eine neue Hyperbel neue Farbe, neues Leben erhalten. Und wieder hat man das Wort „verwesen" daraus gebildet: das Aufhören, das Ende des Seins; strengere Naturbeobachtung wiederum hat dieses Aufhören besser und genauer beschrieben, die Chemie hat die Auflösung in die Elemente gelehrt, und so ist dem Worte nur ein um so reicherer neuer Inhalt erwachsen. Nicht weniger kühn ist der Weg, den unser „werden" machen „wer.ieii" mußte, um zu etwas Ähnlichem zu verblassen wie zu einer Kopula: zu einem sogenannten Hilfszeitworte. Wieder lasse ich es dahingestellt eine köstlich naive Metapher der Sprache, dieses „dahingestellt" , ob die Sprachforscher recht haben, wenn sie „werden" mit dem lateinischen vertere und dem fast gleichen Sanskritworte in Verbindung bringen. Ob es nun ursprünglich „sich drehen", sich wenden, sich bewegen geheißen hat oder nicht, irgend etwas Anschauliches wird es schon bedeutet haben; dessen sind wir gewiß. Als ein Bei- spiel können wir ja wohl „sich bewegen" gelten lassen. Und nun, wie verblaßt das von Leben strotzende „sich bewegen" schließlich in dem unsichtbaren „entstehen" und in dem „werden", das uns zu einem leeren Hilfsverbum der gram- matischen Zukunft geworden ist.

W^enn wir heute, an einem warmen Frühlingstage, da sich Bäume und Sträucher mit einem grünen Schimmer zu be- decken anfangen, sagen: „es wird Frühling", so hat „werden" noch em klein wenig von der Bedeutung des „sich Bewegens'", „des Entstehens". Zwar sieht man die Veränderung nicht mit leibhchen Augen, man sieht die Pflanzen sich nicht be- wegen; aber von Tag zu Tag nimmt man Veränderungen wahr, die sich gar wohl übertreibend so ausdi'ücken lassen, daß die Natur sich bewegt, daß es Frühimg „wird". Wenn nuu das

494 XI. Die Metapher

„werden" in seiner Bedeutung bis zum lautlosen und unsicht- baren Entstehen herabgeschwächt ist, so ist der Übergang zum Hilfszeitwort nicht mehr schwer zu finden. Das Kind im Mutterleibe heißt „werdend", weil es sich bewegt; der Frühling heißt „werdend", weil von Tag zu Tag Veränderungen wahrgenommen werden, welche nicht möglich wären, wenn die Natur sich nicht unscheinbar dennoch bewegte. Anstatt „der Frühling wird" könnte man auch sagen: „Der Frühling ist noch nicht da; aber morgen oder übermorgen muß er da sein." Die unsichtbare Bewegung, welche eine bestimmte Folge haben wird, kann durch das gleiche „werden" aus- gedrückt werden. Der Frühling „wird" kommen; ich nehme in der Natur ein Bewegen wahr, dessen Folge, dessen zu- künftige Gestalt ich voraussehe.

Ich bin bei diesen Beispielen so ausführlich geworden, weil ich darauf ausging, eine sehr merkwürdige Beobachtung mitzuteilen. Tempora In Unserer Schulmeistersprache sind die drei Hauptzeiten des Verbums, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zu Formen geworden, die wir ohne jede Geistesanstrengung, aber auch ohne jede anschauliche Vorstellung gebrauchen. Man vergleiche einmal mit diesen drei Hauptzeiten die Farben- pracht der drei Worte, welche uns eben begegnet sind: „Ver- wesen, Wesen und Werden." Verwesen führt uns das Auf- hören des Individuums und die Auflösung des Körpers in seine chemischen Bestandteile vor Augen. Es ist ein tüchtig wirkendes Wort, steht noch in der Vollkraft der Beobachtung da, an welche es erinnert. „Wesen" drapiert sich einerseits als der abstrakteste und in einem gewissen Sinne höchst philosophische Begriff, anderseits führt es in eine Urzeit zurück, in welcher das zugrunde liegende Wort noch so handgreiflich war wie das Übernachten. Das „werden" endlich erinnert an die Bewegung des werdenden Kindes. Den Begriff „ver- wesen" habe ich nur herangezogen, um auch ein starkes W^ort für den Zeitbegriff der Vergangenheit zu haben; die beiden anderen Worte aber sind uns als Hilfszeitwörter der Gegen- wart und der Zukunft alltäglich geworden; wir sagen „der

Tempora 495

Hund ist ein Säugetier" oder „im Dezember wirst du Ge- burtstag haben", und ahnen nicht, wie die alte Gegenständ- lichkeit von Sein und Werden heruntergekommen sein muß, um so unselbständig der Zeit zu dienen, die selbst nichts ist und nichts wird. Für meine Leser brauche ich wohl nicht zu bemerken, daß ich, der einfacheren Übersicht wegen, hier an Stelle von „Wesen" das andere Wort „Sein" gesetzt habe.

Diese Beobachtung führt zu einem allgemeineren Gesichts- Metaphern punkt. Man kann wohl sagen, daß der Bedeutungswandel '■"^^'^^^ der Worte noch nicht vollzogen ist, solange die metaphorische vergehen Anwendung als solche empfunden wird. Die metaphorische Anwendung ist nur das Gerüst für den neuen Bau, der erst dann für fertig gelten kann, wenn das Gerüst abgenommen und vergessen ist. Dieses Schweben unserer Erinnerung zwischen bewußter und unbewußter Anwendung von Meta- phern macht einen gewaltigen Unterschied zwischen guten und schlechten Schriftstellern, zwischen Dichtern und Nicht- dichtern, und man kann sagen, der ungeheure Bau der mensch- lichen Erinnerung, wie er sich in dem darstellt, was wir ab- strakt die Sprache eines Volkes nennen, ist immer nur an einer Grenzstelle bewohnbar. Hinter uns Ruine, vor uns Neubau, mit uns unser AVohnhaus; hinter uns eine tote Sprache, vor uns die Ahnung neuer Begriffe, mit uns ein Wogen und Weben von Metaphern, die im Begriffe stehen, sinnlose und darum brauchbare Worte zu werden. In vielen Sprachgebieten läßt eine erhöhte Aufmerksamkeit die Spuren alter Metaphern noch ahnen. Bei den bloßen Wortformen, bei den Ableitungs- silben ist die Metapher nicht mehr zu beleben, höchstens noch zu beweisen. In Worten wie lateinisch: amabo (etwa: ama- fuo), gotisch : habaida (haben tat ich), französisch : dirai (dire-ai) ist die Zusammensetzung zweier Worte noch historisch zu verfolgen; aber der Weg, auf welchem diese sicherlich einst hahnebüchenen Begrifie des „Geschaffen Werdens", des „Tuns", des „Habens" in irgend einer kecken Hyperbel an die Zeit- wörter herantraten, der Weg, auf welchem diese Worte sich mit der Vorstellung eines Zeitbegrifites verbanden, ihre An- schaulichkeit verloren, den hyperbolischen Zug verloren, ihre

496 XI. Die Metapher

gegens.tändliche Bedeutung verloren, der Weg, auf welchem dann das zu einem bloßen Hilfsmittel gewordene Wort ana- logisch nachgeahmt wurde, bis es als grammatische Formsilbe endete und verendete, dieser Weg ist nicht mehr auffindbar; nur prophezeien läßt sich allen diesen einst blühenden Worten, die einen solchen Bedeutungswandel durchgemacht haben, daß sie in Zukunft aus der Sprache verschwinden werden, wie die lateinischen Bildungssilben aus dem Französischen, die ger- manischen aus dem Englischen bis auf einige Reste verschwun- den sind; dann werden die Sprachen neue Formen brauchen, und aufs neue werden einst blühende Worte zu solchem Dienst verfaulen. Es ist mit den Worten, wie mit den Geschlechtern der Menschen: da und dort sterben Familien aus, doch wird das Menschengeschlecht immer größer; denn überall drängen neue Geschlechter und neue Individuen hervor, und was eben von der Vernichtung kräftiger Wörter durch ihren Gebrauch als Formsilben gesagt v/orden ist, das gilt auch von dem anderen Formendienst der Worte.

Nicht ganz so vollständig wie im Englischen und Fran- zösischen, aber doch ziemlich stark ist im Deutschen die alte Deklination verloren gegangen. An Stelle der alten Kasus- formen mußten neue Präpositionen treten, und farbensatte Worte mußten sich dazu hergeben. Auch hier wogt und webt in der Sprache ein Durcheinander von bewußten und unbewußten Verwendungen solcher Worte. Bei „dank" oder „kraft" (dank diesem Gesetze, kraft dieses Gesetzes) ist die bildliche Anwendung noch im Bewußtsein; bei „mit", bei „durch" ist das Bewußtsein längst verloren gegangen. Kein Deutscher empfindet es mehr, daß das Werkzeug, „durch" welches, „mit" welchem eine Handlung vollzogen wird, mitten zwischen dem Täter und der Tat steht, daß die Tat durch das Werkzeug hindurchgeht, daß das Werkzeug in der Mitte steht. Der Franzose, welcher puisque in dem Sinne von „weil" gebraucht, hat schwerlich eine Ahnung davon, daß er damit eine Metapher nachspricht, welche vielleicht die schwierigste Frage aller Philosophie zu beantworten sucht, daß er die Folge in der Zeit für eine ursächliche Folge setzt.

Wippchen 497

daß in puisque (lateinisch postquam) die zeitliche Konjunktion „nachdem'" zu der ursäclilichen „weil" geworden ist. Dabei dürfen wir nicht vergessen, daß der Wiener das Lächeln des Norddeutschen erregt, wenn er, wie der Franzose, „nachdem" im Sinne von „weil" gebraucht. Vielleicht fällt uns dabei auch ein, daß unser „weil" selbst nicht anders entstanden ist, daß es eine alte Umformung von „Weile" ist, welches gar nichts anderes sagen will, als „Zeit", vielleicht auch „Ruhe".

Das alte Wort Wippchen (H. Paul erklärt es durch: Faxen) -Wipi- ist, seitdem der Ivriegskorrespondent eines Witzblatts so ge- nannt wurde, zur Bezeichnung geworden für die in seinen Berichten beliebten lächerlichen Zusammenstellungen wider- sprechender Sprachbilder.

Es gehört viel Witz und Übung dazu, solche Scherze zu häufen. Stettenheim, der Virtuose des Wortwitzes, hat diese Spielerei zu seiner Spezialität ausgebildet, aber der Spaß ist unter seinen Händen fast mechanisch geworden, so daß sein Jünger Alexander Moszkowski in demselben Geiste noch schärfere Treffer erzielen konnte.

Beide Bearbeiter dieses ergiebigen Feldes möchten sich aber darüber wundern, daß ihre lustigen Vergewaltigungen der Sprache uns dazu helfen, wieder von einer neuen Seite tiefer in das AVesen der Sprache einzudringen. Auch Pro- fessoren mögen sich darüber wundern. Mögen sie.

Stettenheim wäre aber nicht auf den Einfall gekommen, spräche diese Unform zu bearbeiten und zu Tode zu hetzen , wenn "'^ °'!"'' er sie nicht sehr häufig in ernst gemeinten Zeitungsaufsätzen gefunden hätte. Der ironische Briefkasten des Kladdera- datsch wimmelt von Wippcheu , die von eihgen Zeitungs- schreibern unbewußt verübt worden sind. Oft kann man auch von bessern Schriftstellern die Meinung aussprechen hören: niemand sei davor sicher, einmal so etwas hinzu- schreiben. Mir aber handelt es sich hier darum, festzustellen, daß die unbewußten kleinen Wippcheu, die darum auch nicht komisch wirken und fast immer übersehen werden, eine all-

Mauthner, Beitrüge zu einer Kritik der Sprache. II 3-

498 XI. Die Metapher

tägliche Erscheinung sind; ja wir werden vielleicht zu dem bedenklichen Ergebnis gelangen, daß eine Sprache ohne ver- steckte Wippchen gar nicht möglich sei.

Überlegen wir den psychologischen Vorgang nur allgemein nach der Anschauung, die ich hier von der Entwicklung der menschlichen Sprache niedergelegt habe, so wird sich dieses traurige Ergebnis sofort ganz logisch und wissenschafthch ergeben. Und wäre es mir darum zu tun, zu überreden anstatt zu überzeugen, so könnte ich mich wie andere Bücherschreiber mit Logik und Wissenschaft begnügen. Wir wissen nämlich, daß alle Worte unserer Sprache zu ihren Bedeutungen durch bildliche Anwendung gekommen sind. Jedes Wort in jeder seiner Bedeutungen geht nun naturgemäß auf eine andere bildliche Vorstellung zurück. Es kann also gar nicht aus- bleiben, daß schon bei der alltäglichsten Zusammenstellung zweier Worte eine Vermischung zweier unzusammenhängender Bilder sich ergibt. Man nehme ein beliebiges Beispiel, das einfachste wird das beste sein. Wenn das Sanskritwort für unser davon abstammendes (?) „Tochter"' wirkhch von der Vorstellung einer Melkerin hergenommen ist (weil vielleicht das Amt des Melkens als ein Ehrenamt der Tochter des Hauses zufiel), so mußte es ein Wippchen sein, wenn damals, als das Bild von der Melkerin noch im Bewußtsein der Sprache lebte, gesagt wurde: die „Melkende" mache Feuer an oder sticke oder gebäre. Wobei ich ganz beiseite lasse, daß das Feuer- anmachen, das Sticken, das Gebären waeder auf andere bild- liche Vorstellungen zurückging. Heute sagen freilich nur die Philologen, daß unser „Tochter" (ebenso das slavische dcera) einst mit dem Bilde einer Melkerin verbunden war. Die Möglichkeit, das Wippchen zu empfinden, hat damit auf- gehört. Der Wortlaut ist, wie fast immer, zu einem bloßen Zeichen geworden, das in der Luft schwebt. Aber es kann nicht geleugnet werden, daß so hinter fast allen Wortzusam- menstellungen der Sprache solche uralte Wippchen verborgen sind. Es muß geradezu ein seltener Zufall genannt werden, wenn einmal die Bilder zweier verbundener Worte zusammen- stimmen. Wie z. B. wenn jemand sagt, die Tochter habe

iiation

Kontamination 499

ihm einen Trunk Milch gegeben. Und doch wird mir jeder zugeben, daß in diesem Satze etwas steckt, was uns urzeithch, patriarchaHscli anmutet. Das Gesamtbild hat etwas innerlich Wahres.

Die Gelehrten der Sprachwissenschaft werden nicht er- Kuntumi- staunt sein, zu erfahren, daß sie die Theorie dieser Wippchen aufstellten, als sie für gewisse, auf Fehlern beruhende Sprach- bildungen den gelehrten Ausdruck Kontamination anwandten. Kontamination heißt eigentlich Ansteckung. In der Sprach- wissenschaft, erklärt Hermann Paul, ist Kontamination der Vorgang, „daß zwei synonyme Ausdrucksformen sich gleich- zeitig ins Bewußtsein drängen, so daß keine von beiden rein zur Geltung kommt, sondern eine neue Form entsteht, in der sich Elemente der einen mit Elementen der andern mischen''. AVir werden gleich sehen, daß diese Definition selbst vom Standpunkt ihres Erfinders zu eng gefaßt ist. Nur auf die Verschmelzung zweier Worte in eines paßt es, daß svno- nyme Ausdrücke zusammenschmelzen. In weitaus zahlrei- cheren Fällen (wie ich eben sagte, sogar überall und in jedem Satze) hätte sich beobachten lassen, daß die Verunreinigung oder Ansteckung durch das Ineinanderfließen zweier Sprach- bilder erfolgt. Da wir wissen, daß jeder einzelne Begriff selbst nur ein nebelhaftes, schwebendes Bild liefert, so wird uns die Möglichkeit des Ineinanderfließens nicht wundern. Indem ich den Begriff der Kontamination oder Ansteckung über- nehme, hoffe ich zu zeigen, in wie ausgedehntem Maße dieser Fehler (der gröbste Fehler gegen die Anschaulichkeit der Sprache) beim Bedeutungswandel als Katachrese tätig war.

Für die Ansteckung in einem und demselben Worte gibt Paul hübsche Beispiele, von denen ich zwei neuhochdeutsche entlehnen will. In unserem „doppelt" ist das Adjektiv „doppel"' und das heute noch anwendbare Partizip „gedoppelt" zusam- mengeflossen. In unserem ,,zuletzt" ist unser Adjektiv „der letzte" und die alte Form „zu guter letz" (letze mhd. = Ab- schied) zusammengeflossen.

Die Beispiele, welche seine Prinzipien der Sprachgeschichte von der syntaktischen Ansteckung geben, sind nicht sehr über-

500 XI. Die Metapher

zeugend, weil er für den eigentlichen Fehler, die Vermischung zweier Bilder, keine Aufmerksamkeit hat und sich mit der gegenseitigen Ansteckung zweier grammatischer Formen be- gnügt. Solche Sprachfehler denn es sind immer empfind- liche Sprachfehler lassen sich auch bei den besten Schrift- stellern, sogar bei ausgezeichneten Dichtern nachweisen. Es ist ein kaum erwähnenswerter Fall, wenn Goethe einmal sagt: ..Freitags als dem ruhigsten Tage". Der Grammatiker fühlt den Fehler; Goethe hätte korrekt mit „am Freitag" beginnen müssen. Der Grammatiker hört also schon etwas Wippchen- artiges aus einer Vermischung zweier Formen, die ein Sprach- gewaltiger wie Goethe unbefangen vornahm und die fast jeder Leser unbefangen hinnehmen wird. Wir dürfen nicht in den Fehler verfallen, den schon Vischer (Ästh. III, 1230) gerügt hat: „Die Vorschrift, im Bilde zu bleiben, kann den echten Dichter nicht unbedingt binden. Wirkliche Verstöße, die man als sogenannte Katachresen zu den Sünden gegen den Ge- schmack zählen muß, finden nur da statt, wo durch einen eigentUchen Lapsus der Aufmerksamkeit aus einer Ver- gloichungsregion in eine andere übergeschritten wird" usw. Es gibt einen einfachen Prüfstein: unser natürHches Lachen. Wobei ich mit Absicht (Lachen Prüfstein) gleich ein Bei- spiel geliefert habe. uffiziöse Nirgends verrät sich diese wilde Bildervermischung des Sprachgebrauchs der Beobachtung so sehr, wie in der offi- ziösen Sprache unserer Zeitungen und Parlamente. Wer sein Ohr geschärft hat für diese unfreiwilhgen Wippchen, der kami bald die Reden der beliebtesten Deputierten und die Leit- artikel unserer Publizisten nicht mehr ohne Heiterkeit lesen. Whitney hat das wohl im Auge gehabt, als er einmal auf die bekannte Erscheinung hinwies, daß die Grundbedeutungen der Worte verflachen. Er gibt ein alltäghches Beispiel und meint, das böte eine geschmacklose Vermengung ganz ver- schiedener Bilder, wenn wir uns der etymologischen Grund- bedeutung bewußt wären (Sprachwissenschaft S. 179); „Ich stelle den Antrag, zur Diskussion eines wichtigen Gegenstandes überzugehen." Es sei zugestanden, daß die Wippcheu, welche

peari

Offiziöse Sprache 5()1

in den Redensarten „einen Antrag stellen", „zu einer Dis- kussion" (das heißt einem Durcheinanderschütteln) übergehen, „ein wichtiger Gegenstand" (das heißt eine gewichtige Gegen- überstellung) verborgen sind und welche in den Begriffen ..stellen, tragen und gehen" schon leise mit der Xarrenschelle läuten, nur für den Kenner der Wortgeschichte deutlich sind. Aber auch der gegenwärtige Sinn aller dieser Worte enthält für das bessere Sprachgefühl noch so viel von dem historischen Gehalt, daß solche alltäghche Sätze der offiziösen Sprache für dieses Sprachgefühl immer ein feierlicher Bildermischmasch bleiben.

Mir aber liegt daran, durch Beispiele zu belegen, daß ^^^^^ diese gegenseitige Ansteckung zweier Sprachbilder viel häufiger auffällt, wenn wir nur beim Hören aufmerksamer versuchen, anschaulich zu denken, die durch die Worte hervorgerufenen Bilder festzuhalten und so zu vereinigen, wie sie von den Worten des Satzes verbunden werden. Ich gebe dabei aus- drücklich die Versicherung ab, daß ich nicht etwa nach solchen Beispielen gesucht habe, sondern sie, sobald meine Aufmerk- samkeit sich darauf lenkt, überall finde, in jedem Satze des Alltagsgesprächs, noch deutlicher natürlich in der Sprache der Dichter. Denn die Bildhchkeit der Sprache kommt bei den Dichtern absichtlicher und deutlicher heraus, also auch die gegenseitige ' Ansteckung der Bilder. So wähle ich aufs Geratewohl einige Zeilen von Shakespeare, dem bilderreichen, weil ich diese Zeilen zufällig vor wenigen Stunden gehört habe. Es ist das Dutzend Anfangsverse aus Richard III. Schlegel übersetzt folgendermaßen, was im Original ungefähr die gleichen tief verborgenen Wippchen ergäbe:

..Nun ward der Winter unsers Mißvergnügens Glorreicher Sommer durch die Sonne Yorks; Die Wolken all, die unser Haus bedräut. Sind in des Weltmeers tiefem Schoß begraben. Nun zieren unsre Brauen Siegeskränze, Die schart' gen Waffen hängen als Trophän; Aus rauhem Fcldlärm wurden muntre Feste. Aus furchtbarn Märschen holde Tanzmusiken. Der grimm'ge Krieg hat seine Stirn entrunzelt.

502 XI- I^ie Metapher

Und statt zu reiten das geharnschte Roß, Um drohnder Gegner Seelen zu erschrecken, Hüpft er behend in einer Dame Zimmer Nach üppigem Gefallen einer Laute."

Das unerfreuliche und pedantische Geschäft, die Bilder- mischungen in diesen Versen zu finden, mag der Leser selbst übernehmen. Wer die sprachkritische Arbeit nicht selbst voll- zogen hat, glaubt es nicht gleich, daß in den ersten Versen die astronomischen Bilder der aufgehenden und der sommer- lichen Sonne vermischt sind. Zur Probe will ich nur auf einige Metaphermischungen in den letzten Zeilen hinweisen.

Shakespeare will erzählen, daß auf den Krieg der Friede gefolgt sei. Für den Krieg (war) setzt er, als ob er seine Sprache von den Römern gelernt hätte, den Gott des Krieges, wenn er auch zufälhg diesmal Mars nicht bei seinem Eigennamen nennt. Dadurch wird die Bilder Vermischung aber um so krasser. Stellen wir uns das Abstraktum Krieg vor, so ist es albern, ihn seine Stirn entrunzeln, sein Roß reiten und in einer Dame Zimmer hüpfen zu sehen. Stellen wir uns aber was uns nur durch Schulerinnerungen möglich ist den Gott des Krieges dabei vor, so möchte ich gern wissen, wie man sich ihn anders als kriegerisch vorstellen soll, mag auch die bildende Kunst diese Aufgabe scheinbar hundertmal ge- löst haben. Der Mars in friedlicher Tätigkeit ist und bleibt ein Wippchen, auch wenn es aus Stein gehauen ist. Es mag Leser geben, welche es nicht als eine Störung empfinden würden, wäre von drohenden Wolken die Rede, die jetzt blau vom Himmel herunterlachen. Und doch ist der in einem Damen- zimmer tanzende Krieg ein ähnliches unvorstellbares Doppel- bild. Es wäre denn, Shakespeare hätte mit dem ganzen Auf- wand seiner Bildersprache nur den Offizier in Friedenszeit darstellen wollen; dann aber sind eben auch die großen Worte eine Geschmacklosigkeit. Die Bilder wollen nicht zusammen- passen.

Für meinen guten Leser brauche ich nicht hinzuzufügen, welch ein Abstand sei zwischen Shakespeares Kontaminationen aus Überfülle und den gemeinen, lächerlichen Wippchen

.Shakespeare 5()3

neuester Dichter. Selbst zwischen Shakespeare und Schiller kann der Abstand einmal noch groß werden. Ein Beispiel, wie es kaum belehrender erfunden werden könnte: Shake- speare gebraucht eine Hyperbel, die wieder gegen unsern Geschmack sündigt; Schiller möchte ihn verbessern und ver- haut sich bis zur Komik. Die Stelle steht im Macbeth (IV, 3; bei Schiller IV, 7). Macduff, dem Weib und Kinder gemordet worden sind, ruft (nach Schlegel-Tieck, in deren Übersetzung der „Macbeth" schlecht genug wegkommt): „All meine hüb- schen Kleinen. Sagtest du Alle? 0 Höllengeier! Alle? Was, all die hübschen Küchlein samt der Henne auf einen wilden Stoß?" (Im Englischen steht dam, was Weibchen, hier etwa „die Alte" heißt und an seine Herkunft, dame, noch erinnert.) Wie aber idealisiert Schiller die Verse? „Meine zarten kleinen Engel alle ! 0 höllischer Geier! Mutter, Kinder mit einem einzigen Tigers griff." Er übersetzt also dam mit Mutter, macht aus den Küchlein Engel ; läßt aber den Geier stehen und stattet den Geier mit einem Tigersgrifi aus.

Man könnte mir einwenden, solche kritthche Bemerkungen die sich übrigens von Vers zu Vers über den ganzen Shake- speare erstrecken können seien wertlos für meinen Ge- dankengang, weil sie, falls mein Tadel eine Berechtigung habe, eben keine gute poetische Sprache betreJSen und weil der Bilderreichtum, in der poetischen Sprache herkömmlich, für den gewöhnhchen Gebrauch nichts beweise. Aber der Bilder- reichtum Shakespeares ist von dem neuerer Poeten nur dem Grade nach verschieden, nicht der Art nach. Und was den zweiten Punkt anbelangt, so habe ich ja eben behauptet und es wohl genug nachgewiesen, daß die Worte unserer Sprache alle miteinander erst durch kühne Metaphern zu ihren gegen- wärtigen Formen und Bedeutungen gekommen sind, daß also immer Dichterphantasie neue Bilder erzeugt hat und sie not- wendig mit den unzugehörigen Bildern anderer Worte mischen muißte. Was diese Kunststücke bei Shakespeare von unserer Alltagsrede unterscheidet, ist nur sein und unser Bewußtsein davon, daß in Bildern gesprochen werde. Solange dieses Be- wußtsein im Vordergrunde steht, ist die Phantasie des Dichters

504 XI- I^i® Metapher

sowohl als die des Lesers stark dabei tätig; ist nebst der Phantasie ein lebhafter und gesunder Sinn für die Wirklich- keit vorhanden, so wird auf Schritt und Tritt die Unzusammen- gehörigkeit der einzelnen Bilder empfunden. Und wenn Shake- speare selbst, wo er seine Vorgänger parodieren will, seine ge- wohnte Bilderpracht nur ganz wenig übertreiben muß (Pyra- mus und Thisbe sprechen mitunter in Metaphern, die Shake- speare sonst ernsthaft gebraucht), so wird wohl bald eine Zeit kommen, wo die unbefangenere Nachwelt die unfreiwillige Komik in Shakespeares Sprache unverschult empfindet. Dann wird es an der Zeit sein, den Lachern zu sagen: Shakespeare war dennoch ein unvergleichbares Genie; das alte Gebrechen der Sprache, ungehörige Bilder zu vermischen, war nur zu seiner Zeit besonders üppig in Mode. Fast wie bei den stärksten Autoren der römischen Spätzeit. Nur daß die antiken Me- taphern bei Shakespeare uns aus zweiter Hand kommen. Und daß bei diesem Wundermann stört, was -wir von Lateinern ertragen. Auch auf den Stil kommt es an. Im brünstigen Kreaturstil (Gott gegenüber) des faustischen Augustinus stört ein ungeheuerliches Wippchen nicht. ,,Numquid manus mea valet hoc, aut manus oris mei per loquelas agit tarn grandem rem?" (Conf. XI, 11) „Die Hand meines Mundes", es klingt wie ausgestreckte Sehnsucht. Und auch bei Shake- speare gibt es Stellen, wo die Metaphermischung nicht stört, weil die Personifikation einer Tugend, einer Eigenschaft (wie in den zugrunde liegenden ..Moralitäten") unsrem eigenen Empfinden von dieser Tugend, dieser Eigenschaft noch ent- spricht.

Augustinus hatte solche Wippchen aus dem Hebräischen des N. T. Dort ist vom Antlitz der Erde, vom Antlitz der Hand, vom Antlitz der Füße die Rede. Die orientalische Mythologie und auch die griechische wird zum stilisierten Wippchen. Und wie die Mythologie, so kann das Wippchen ans Erhabene grenzen. Man liest tief ergriffen in dem in- brünstigen „Gebet Manasse" nach tiefster Zerknirschung (Vers 11): „Darum beuge ich nun die Knie meines Herzens und bitte dich, Herr, um Gnade." Man sollte das Gebet

.Auf den Knien des Herzens" 5(l5

Mauasse lesen, um zu verstehen, mit welchen Gefühlen Hein- rich von Kleist (24. Januar 1808) an Goethe schrieb: „Es ist auf den Knien meines Herzens, daß ich (mit dem ersten Hefte des Phoebus) vor Ihnen erscheine." Wie vor seinem Gotte. Goethe, hart wie immer gegen Kleist, erinnerte sich wohl schwerlich, daß er dasselbe wunderschöne Wippchen vor langen Jahren (Mai 1775) gegen Herder gebraucht hatte: „Deine Art zu fegen und nicht etwa aus dem Kehricht Gold zu sieben, sondern den Kehricht zur lebenden Pflanze umzupalingenesieren, legt mich immer auf die Knie meines Herzens."

Die unbewußte Metaphermischung kann ein Lachen nicht erregen, weil wir eben leider nur bei ungewohnten, seltenen oder poetischen Worten unsre Phantasie bemühen, die ge- wohnten Worte der Umgangssprache jedoch vorstellungslos zu gebrauchen pflegen wie mathematische Formeln. Da aber jedes unserer Worte, auch das abstrakteste, schließlich auf Sinneseiudrücke zurückgeht, die zu bezeichnen der einzige Sinn des Wortes ist, so ist der Rückweg vom Wort zur Vor- stellung immer möglich, wo die Etpnologie ofienbar oder auffindbar ist; aber auch dann, wenn die Etymologie nicht nur dem Volksbewußtsein, sondern auch der Wissenschaft verloren gegangen ist, ist es gar nicht anders möglich, als daß die Entstehung eines Worts, wenn auch noch so mittelbar und mikroskopisch, irgend einen Einfluß auf die Vorstellung übt, die wir nicht ohne Bemühung unserer Phantasie durch das Wort bezeichnen. Unter den vielen Merkmalen eines Dings hat die Sprache in Urzeiten einmal ein einzelnes hervor- gehoben, um das Ding gewissermaßen zu symbolisieren. In dem Namen Rose steckt die Bezeichnung der Farbe immer noch drin, auch wenn ^vir uns des etymologischen Zusammen- hangs nicht bewußt sind. Aber auch wo der größte Scharf- sinn die Etymologie nicht mehr auffinden kann, muß die ehemalige Auswahl des Merkmals noch irgendwie nachwirken. Das Bild muß ohne Gnade schief werden wenn auch nicht immer in einer für uns wahrnehmbaren Weise . sobald es mit einem anderen Worte in Zusammenhang gebracht wird.

506 XI. Die Metapher

Noch einmal: man wende mir nicht ein, das alles sei berechtigte oder unberechtigte ästhetische Kritik, aber nicht Sprachkritik. Es ist Sprachkritik, denn auch der vielgenannte Sprachgeist ist ein Poet, der mit seinen arm- seHgen paar Worten durch Metaphern auszukommen sucht. Der Mond als Hirte von Lämmerwolken ist noch poetisch, ob man das Bild nun schön oder komisch finden mag. Aber auch der einfache Mann spricht von Lämmerwolken oder Schäfchen und empfindet nicht mehr die Verwegenheit des Bildes.

Ganz widerwärtig werden die ..Wippchen", wenn ihr Er- zeuger mehr Geist als Sprachgeschmack besitzt. Bei meinem lieben Hamann, den ich wahrhaftig trotz alledem hoch genug einschätze, jagen die Bilder einander oft wie bei pathologischer Gedankenflucht. Ich finde in Hamanns „Apologie des Buch- stabens h," einem seiner hübschesten Flugblätter, das folgende Ungeheuer: „Ein deutscher Kopf, mit dessen Kalbe Wolf [der Philosoph ist gemeint, mit dem , deutschen Kopfe' auf Leibniz angespielt] sich unsterblich gepflügt ..." Dieses „Kalb des Kopfes'" übertrifft noch Schillers Tigergriff des Geiers; und steht nicht vereinzelt. Goethe Die Tatsache, daß solche versteckte Wippcheu tief im AVesen der Sprache begründet sind, ja recht eigentlich den Gebrauch der Sprache erst ermöglichen, wird noch klarer bei Goethe, diesem schöpferischen Sprachmeister, der mit un- erhörter Gegenständlichkeit die lebendige Sprache zu benutzen pflegt, um Anschauungen zu bezeichnen, der in seiner hohen Weisheit Unvorstellbarkeit womöglich zu vermeiden sucht. In seinen Versen freilich kann auch er dem verzweifelten Fluche der Sprache nicht entgehen, daß erst dann die Worte ein Bild geben, wenn ihr augenblickhcher Sinn durch das Bild gegeben worden ist, daß also erst das Ganze die Teile erklärt anstatt umgekehrt. Aber in seiner bewunderungs- würdigen Prosa scheint er sich wirklich mehr als irgend ein anderer Schriftsteller vor und nach ihm über alle möglichen Grenzen der Sprache zu erheben, weil er die W^orte in einer unnachahmlichen Weise gewissermaßen ironisch gebraucht,

Goethe 507

das beißt mit der deutlich verratenen Klage darüber, daß er einfach dem Sprachgebrauche folgen müsse. Nirgends ist selbst bei ihm dieser Stil so ausgebildet wie in ..Dichtung und Wahrheit". Gleich die Eingangszeilen mit ihrer An- führung der astronomischen Ereignisse bei seiner (^eburt sind typisch für diese überlegene Art, die Worte als bloße Worte zu. gebrauchen. Doch schon auf der dritten Seite fiiide ich den folgenden Satz: ,.Die Hinterseite des Hauses hatte, be- sonders aus dem oberen Stock, eine sehr angenehme Aussicht über eine beinah unabsehbare Fläche von Nachbarsgärten, die sich bis an die Stadtmauern verbreiteten." Doch ich bin es satt, durch weiteres Kritteln den Schein zu erwecken, als wollte ich große Dichter korrigieren. Mag darum der Leser die unvorstellbaren Bildervermischungen (die Aussicht der Hinterseite, der Blick der Hinterseite aus dem Stockwerk, die sich verbreitenden Nachbarsgärten usw.) wieder selbst herausfanden. Als Zugabe soll er zwar keine Metaphermischung, aber eine Bildervertauschung erhalten, die eben dem Meister der Gegenständlichkeit einmal doch passiert ist: Goethes Werther setzt sich auf einen Pflug, um Landschaft mit Staffage zu malen; und nachher ist der Pflug mit auf dem Bilde.

Dicht vor dem obigen Satze steht aber ein Wort, das ich herausheben möchte, um daran zu zeigen, daß ich diese \Vij)pchen einzig und allein in den Bildern finde, die vorzu- stellen wir durch die Sprache veranlaßt werden, nicht aber in grammatischen Bedenken. Goethe spricht immittelbai vorher von dem ehemaligen Hirschgraben, nach dem die Straße hieß, die sein Vater bewohnte. Er wünschte als Kind, diese „zahme Wildbahn" noch sehen zu können. ,,Zahme Wild- balin" ist nach den Lehren der Grammatik und der Logilc ein ebensolches Uudmg wie eine „reitende Artilleriekaserne" oder eine „gedörrte Pflaumenhandlung". Der Schulmeister, der über das letzte Beispiel lacht, müßte auch über Goethes „zahme Wildbahn" lachen. Diese Wortzusammenstellung widerspricht aber eigenthch ]iicht unserem Sprachgefühl. Einfach darum nicht, weil der Vorstellungsinlialt. der durch die drei Worte in uns wachgerufen wird, sich selbst mcht

508 XL Die Metapher

widerspricht. Wir haben genaue Beschreibungen, ausführ- liche Definitionen von Vorstelhmgen : eine Kaserne für reitende Artillerie („reitende Artillerie" ist selbst wieder so eine kühne Zusaramenstelluiig), eine Handlung von gedörrten Pflaumen, eine Bahn für zahmes Wild. Nur die Grammatik widersetzt sich, und nur zufällig in unserer Sprache, der bequemen Ver- bindung der drei Merkmale. Die Kongruenz des Adjektivs, das sich dem Sinn nach auf das bestimmende W^ort, der Grammatik zufolge auf das bestimmte AVort bezieht, ist allein störend. Wird einmal im Deutschen wie in andern Sprachen diese Kongruenz als überflüssig überwunden sein, so wiid solchen dreifachen Zusammensetzungen nichts mehr im Wege stehen, so wenig wie heute der Bildung „Heißluftmaschine". „Heiße Luftmaschine" wäre für den Schulmeister komisch. Nach dieser kleinen Abschweifung will ich zu dem Grund- gedanken dieses Kapitels zurückkehren: daß nämlich die Bildervermischung, welche bei schlechten Dichtern lächerliche Wippchen erzeugt, welche bei echten Dichtern sich der ge- schärften Aufmerksamkeit ebenfalls aufdrängt, zum Wesen der Sprache gehöre und daß um es extrem auszudrücken überall ein Wippchen verborgen ist, wo je zwei Worte zu einem Gedanken verbunden werden. Wir haben die Er- klärung für diese betrübende Tatsache darin gefunden, daß jedes Wort, wenn auch noch so schwach, die Erinnerung an die Sinneseindrücke bewahrt, aus denen es in Urzeiten hervor- zugehen begann. Meine Vorstellung bei einem bestimmten Worte setzt sich zusammen aus den Sinneseindrücken, mit denen ich es im Laufe der Jahre zu verbinden mich gewöhnt habe; die erste Verbindung mit Sinneseindrücken ist aber entstanden, als ich das Wort von den Eltern und andern Volksgenossen anwenden lernte, und damit ist wesentlich der Vorstellungsinhalt meiner Eltern auf mich übergegangen. Ebenso haben meine Eltern das Wort von den ihren erlernt, und so zurück in unausdenkbar entfernte Zeiten. Sprach- Diese schematische Annahme erfordert aber eine Ver- " besserung. Es ist weder im großen ganzen noch im ein- zelnen bei dieser linearen Erbfolge der Worte geblieben. Jeder-

Sprachmischung 509

mann weiß, daß es keine Sprache gibt, die auf sich selbst allein beschränkt geblieben wäre, daß jedes Volk von seinen Nachbarn Worte aufgenommen und angenommen hat. Diese Sprachmischung würde aber auf die von mir denunzierte Bildervermischung nur einen geringen Einfluß haben können, wenn es sich dabei nur um die Fremdwörter handeln würde, die wir z. B. in unseren Kultursprachen erkennen und einander gelegentlich vorwerfen. Eine einzige Überlegung genügt, um einzusehen, daß diese Sprachmischung in historischer Zeit an Häufigkeit nachgelassen haben muß. Unsere gefestigten, ganze Völker beherrschenden Gemeinsprachen fühlen sich als ge- schlossene Einheiten und wehren sich darum mit mehr oder weniger Geschmack, mit mehr oder weniger Erfolg gegen den Einbruch fremder Wörter, die aber freilich trotzdem ihr altes Recht wahren. Wenn heute Frankreich von Deutschland überflutet würde oder umgekehrt, so würden die beiden Ge- meinsprachen einander schon durch ihre Literatur getrennt gegenüberstehen und es wäre kaum möglieh, daß heute noch eine solche Mischsprache entstünde, wie beinahe unter unsern Augen das Englische entstanden ist und wie sich in Aveiter zurückhegenden Jahrhunderten das Französische und das Spanische aus Mischungen gebildet hat, wie endlich das Neu- persische entstanden ist. Das literarische BeAvußtsein, ver- bunden mit dem politischen Nationalgefühl, bekämpft die Sprachmischung; in Böhmen, wo das Volk noch vor fünfzig Jahren dabei war, eine Mischsprache auszubilden, stehen sich jetzt Deutsch und Tschechisch vollkommen getrennt gegenüber. In nocli weiter zurückliegenden Zeiten, als wir sie bei unsern Kultursprachen kennen, muß aber die Sprachmischung eine dauernde und höchst einflußreiche Rolle gespielt haben. Ja wir können uns die Entwicklung der Sprache überhaupt nicht anders denken als so, daß in den fernsten Urzeiten jede Familie nur ihre paar Worte ererbt hatte und diesen Wortschatz unaufhörlich in der friedlichen oder feindlichen Berührung mit Nachbarfamilien ergänzte. sehen diese Erscheinung tagtäglich, wenn wir beobachten, wie Kinder verschiedener Familien in der Schule ihren Sprachschatz

510 XI. Die Metapher

erweitern. Stellen wir uns nun einen Urzustand (Urzustand immer als eine willkürlich herausgegriffene Zeit gedacht) recht lebhaft vor, so werden wir freilich vermuten, daß die alltäg- liche Sprachmischung bei so kleinem AVort- und Formen- schatze vielleicht gar nicht die Empfindung der Sprach- mischung erzeugen konnte. Mau brauchte das neu eingeführte Wort nicht als ein Fremdwort zu empfinden; wo bei einer völligen Zersplitterung des Landes der Weimaraner für Gotha ehi Ausländer ist, da ist der Franzose nicht in viel höherem Maße ein Ausländer. Es scheint selbstverständlich, daß vor Entwicklung von Volksgemeinschaften und größeren Sprach- gemeinschaften die Sprachmischung etwas so Fließendes und Unaufhörliches gewesen sein muß wie der Wind der Luft. Die ungeheure Ausdehnung der Wortwanderungen habe ich in der Einleitung zu meinem „Wörterbuch der Philosophie" ausführlich dargestellt. Der psychologische Vorgang aber bei der Aufnahme emes nicht ererbten Wortes mußte schon der gleiche sein wie heutzutage. Fremd- Was aus dieser Annahme folgen würde, das geht weit ^"y*" , über die Wirkimg auf die Bildervermischungen hinaus. Sind

nnbildhcli _ <= ...

die Sprachmischungen immer häufiger und reicher, je weiter wir uns in die Geschichte der Sprache zurückdenken, so ist die ganze historische Abteilung der Sprachwissenschaft eitles Stückwerk , so ist jeder etymologische Versuch über die Schriftsprache hinaus eine Reise ins Blaue. Auch für unsern gegenwärtigen Gegenstand, die Metaphernmischung, wollen wir darum jetzt alle Phantasien über die Vorzeit wieder fallen lassen und ims an den psychologischen Vorgang halten, durch welchen sich die Aufnahme eines Fremdwortes von der Erlernung oder Bildung eines Erbwortes unterscheidet. Man könnte das so ausdrücken, daß unsere ererbten Worte, die Worte unserer Muttersprache, gewöhnhch volksetymolo- gisch mit andern Worten der gleichen Sprache zusammen- hängen. Diese Volksetymologie kann dann durchaus falsch sein (wie wenn aus dem griechischen o/.'.ofyoc was doch selbst wieder gewiß Volksetymologie war über das fran- zösische ecureuil hinweg Eichhörnchen wurde, oder vielleicht

Fremch\ öiter unbildlich 5U

doch aus ioyiov unser ,, Eisbein', niederl. ischbeen), oder sie kann auch mit der wissenschaftlichen Etymologie zusammen- fallen. Wobei freilich die Wissenschaft unendlich häufiger uralter Volksetymologie nachreden dürfte, als man glaubt. Dieser wirkliehe oder angenommene Zusammenhang des ein- zelnen Wortos mit andern Worten erleichtert in der Mutter- sprache ganz außerordentUch die Bildung von Vorstellungen. Hört ein Kind zum erstenmal den emporspringenden Brunnen, den es vor sich sieht, einen Springbrunnen nennen, so glaubt es das Wort zu verstehen; das heißt es verbindet die beiden Worte springen und Brunnen zu einem recht gut zusammen- stimmenden Bilde. Nur nebenher erwähne ich, daß es ohne die Anschauung zu einem solchen Gesamtbilde nicht gelangt, daß dann die Bilder „springen" und „Brunnen" leicht zu einem komischen Ganzen werden. Lernt das Kind aber oder auch der Erwachsene für den Springbrunnen nur den Namen Fon- täne, so ist die Bildlichkeit des Ausdrucks sofort verloren gegangen. Der Franzose stellt sich bei fontaine zunächst einen Queil, einen Bronnen vor; als Fremdwort bezeichnet es im Deutschen zusammenhanglos nur die Wasserkunst, das Emporsteigen des Strahls. Man kann sich von diesem Unter- schied im Bilde sofort überzeugen. Im Französischen, wo das Bild von der Quelle vorherrscht, wird fontaine nicht auf das entsprechende Kunststück der Feuerwerker angewandt. Im Deutschen, wo das Emporsteigen des Strahls allein das Bild ausmacht, kann man auch eine Art Kunstfeuerwerk damit bezeichnen.

Der psychologische Vorgang bei Übernahme eines Fremd- worts wird also dadurch charakterisiert, daß die aufnehmende Sprache das fremde Wort ohne jede verpflichtende Verwandt- schaft, ohne etymologische Beziehung neben seine andern Worte setzt, wie wenn eine Familie aus egoistischen Gründen eine fremde Waise aufnimmt. In der Vererbung der Bilder, welche das fremde Wort in seiner eigenen Sprache begleiteten, entsteht ein Bruch. Nur in einer Zutallsbedeutung geht das fremde Wort zu uns über, oft genug in einer Bedeutung, welche die fremde Sprache gar nicht festgehalten hat; woher

512 XI. Die Metapher

es dann kommt, daß wir im Deutschen eine große Anzahl französischer Worte als Fremdworte haben, die das Fran- zösische selbst in diesem Sinne gar nicht kennt. Wollte ein Deutscher z. B. perron in Frankreich so anwenden wie im Deutschen, er würde nicht verstanden.

Nun läge es nahe, zwischen den begleitenden Bildern unserer Erbworte und denen der Fremdw^orte einen Gegen- satz aufzustellen. Es ist verlockend zu sagen: Bei den Worten unserer eigenen Sprache wirken die alten Anschauungen aus der Zeit der Wortentstehung nach, und darum stimmen nie- mals die beiden Bilder zweier verbundener Worte zusammen, darum lauern überall gröbere oder feinere Wippchen; Fremd- worte dagegen weisen nicht in ihre Vergangenheit zurück und sind darum für den Gebrauch zuverlässiger. Ein Wort, das sich mit ihnen verbindet, heirate nicht in eine so große, für die Zukunft unbestimmbare Verwandtschaft hinein.

Aber ein so scharfer Gegensatz besteht auch hier nicht; wie man denn gegen sich selbst mißtrauisch sein darf, wenn im Gedankengang alles gar zu logisch zu klappen scheint. Der Bruch mit den alten Vorstellungsbildern, der sich bei der Vererbung der Worte innerhalb einer Sprachgemeinschaft allmählich vollzieht, geschieht nur plötzlich bei der Über- nahme eines Fremdwortes. In dem einen wie in dem andern Falle enthält die neue Bedeutung immer noch einen, wenn auch noch so kleinen Teil des alten Vorstellungsinhalts, es wäre denn, daß das Fremdwort geradezu irrtümlich herüber- genommen würde („Erlkönig"). So steht es denn um die durch Sprachmischung eingeführten Fremdworte nicht viel anders als um die eignen Worte, deren Etymologie vergessen worden ist. Und man kann sehen, daß die Verbindung von Worten immer an einer Unvorstellbarkeit leidet: entweder (wie bei Fremdworten oder bei vereinzelten Worten) durch die Armut von Vorstellungen oder bei wortreicher Verwandt- schaft durch die Verwirrung der Bilder. Die Bilderver- mischungen sind im zweiten Falle leichter aufzuspüren, aber auch im ersten Falle sind sie jedesmal vorhanden, wenn man das Fremdwort mit geschärfter Aufmerksamkeit betrachtet.

Fremdwörter unbildlich 513

Noch häufiger wird freilich das Fremdwort eben darum gewählt werden, weil es gar keine Vorstellung erzeugt und sich darum im Gebrauch besonders gut zur Bezeichnung von hohlen Abstraktionen eignet. Ist das Fremdwort dann gar wie häufig im Deutschen mit zwei ungleichen Nuancen einmal aus der lateinischen und einmal aus der jüngeren französischen Sprache herübergenoramen worden , so sind Wortverbindungen möghch, deren Lächerlichkeit beinahe etwas Tiefsinniges hat. So haben wir die beiden üebhchen Worte „Ideal" und „ideell"; es steht nichts im Wege zu sagen „das Ideal ist etwas Ideelles", was nach etwas khngt und doch nur ein höheres, ein philosophisches Wippchen ist.

Auch auf die syntaktischen Formen übt die Sprachmischung heute noch einen großen Einfluß; in alten Zeiten muß er unberechenbar groß gewesen sein. Wenn ein Deutsch-Böhme dem slawischen Nachbar z. B. nachredet „der Kutscher was mich gefahren hat", so empfinden andere Deutsch-Böhmen das noch als eine komische Bilder Vermischung. Alle aber sagen sie halb slawisch „es steht nicht dafür".

Um aber die ganze Bedeutung der Wippchen für die Ent- stehung der Sprache zu begreifen, müssen wir weiter gehen und sagen: fast alle Sprachbereicherung beruht auf der An- wendung der Metapher, also auf einem Spiel des Witzes. Mit Witzen, mit absichtlichen Wippchen beginnt fast jede Er- weiterung eines Begrifis, mit dem viel gerühmten Sprach- gebrauch, mit unabsichtlichen Wippchen endet sie.

Ich kenne überhaupt nur zwei Fälle, in denen Sätze aus- wippchen- gesprochen werden können, ohne daß für eine radikale Unter- ^°^®

t •. . Sprache

suchung Wippchen unter den Worten verborgen wären.

Der eine Fall ereignet sich regelmäßig beim Gebrauche der angewandten Mathematik. Es haben nämlich die Zeichen der Algebra niemals eigentliche sprachliche Vorstellbarkeit. Die algebraische Rechnung kann ohne Störung bis ans Ende geführt werden; in den mathematischen Zeichen ist nichts, was eine unmögliche Mischung verriete.

Der zweite Fall ist dann vorhanden, wenn es sich gar nicht um eine Sprache handelt, sondern um ein papageien-

Mauthner, ßi-ituge zu eiiui KiitiU d. r >iirailie. II 33

514 XI. Die Metapher

haftes Lautieren. Ich denke dabei an den lateinischen Auf- satz, wie er als letzter Niederschlag des alten lateinischen Gymnasiums gegenwärtig in vielen Schulen noch verlangt und geleistet wird. Als die lateinische Sprache noch halb tot war, also halb lebendig, da brachten noch die Lateinschüler ihre erlernten Worte als wippchenarme Fremdworte der Mutter- sprache zu. Jetzt ist der lateinische Aufsatz absolut rein von Wippchen; in ihm ist eine Bildervermischung gar nicht mehr möglich, weil er ohne jede Vorstellung, ohne jedes Bild ver- faßt worden, weil er gar keine Sprache mehr ist. Kata- J)[q Algebra ist noch keine eigentliche Sprache, der latei-

nische Aufsatz unserer bedauernswerten Schuljungen ist keine Sprache mehr. Was zwischen diesen beiden Extremen als Sprache lebt, das ist in jedem Worte eine Metapher, darum in jeder Zusammenstellung von zwei Worten deuthch oder imdeutlich eine Metaphervermischung, ein Wippchen. Ich hätte die ganze Darlegung bekannter erscheinen lassen können, wenn ich statt Wippchen Katachrese gesagt hätte. Kata- chrese bezeichnet in der Rhetorik zunächst den Gebrauch eines Wortes in uneigentHcher Bedeutung (wo es dann mit Metapher gleichwertig ist), sodann die Sünde des Redners gegen die Einheit des Bildes, also Bildervermischung, also ein Wippchen. Ein bekanntes Schulbeispiel für die tadelns- werte Katachrese lautet: „In diesem Jahre wurde die Säule des Staates geboren"; ein musterhaftes Wippchen. Die grie- chischen Rhetoren hatten bereits eine Ahnung davon, daß die ernst gesteigerte oder komisch abgeschwächte Wirkung einer Katachrese sich nicht durch Gesetze bestimmen lasse, sondern vom Sprachgebrauche abhänge. Nach unserer ganzen Untersuchung müßten wir die Katachresen in diejenigen ein- teilen, die noch im Sprachbewußtsein vorhanden sind, und die unzähligen andern, die das Sprachgefühl nicht mehr be- merkt. Ich finde in einer Anzeige eine Art Binde als „Ge- sichts-Handschuh" angepriesen. Ein lächerliches Wort, ge- wiß. Aber „Handschuh" war einmal ebenso lächerhch. Viel- leicht ebenso „handkerchief", wenn „kerchief" wirklich Kopf- tuch bedeutete. Und wir müßten hinzufügen, daß unser

Katachrese 515

Lachen über Katachresen oder Wippchen, weil es vom je- weiligen Sprachgebrauche abhängt, gar nichts über den Wert der Wortzusammenstellung entscheidet, daß jedes Wippchen, das heute komisch ist, morgen zu einem ziervollen Sprach- gebrauche werden kann. In der Katachrese wird die syn- taktische Kontamination erst lustig.

Ich darf vor der äußersten Konsequenz des Gedankens nicht zurückschrecken. Ich bin mir bewußt, sprachliche Anarchie auszudenken, wenn ich sage: ist man im^stande, sich für eine Minute vom Zwange des üblichen Bildergebrauchs zu befreien, so hat man es vollständig in seiner Gewalt, ob man eine Katachrese, ein Wippchen ernst oder komisch neh- men will. Denn Sprachgesetze sind wie andere Gesetze nur Bräuche; und wir brauchen nur unhistorisch das heißt anar- chisch zu empfinden, um uns der Pietät auch dieses Brauches zu entziehen. Es gibt kein noch so tolles AVippchen, das nicht von der Sprachanarchie hübsch gefunden werden könnte. Ich las jungt im „Briefkasten des Kladderadatsch" das Wipp- chen „Bord der Wahlurne" zitiert. Warum nicht, fragt der Sprachanarchist. Auch wenn Bord nicht ursprüngUch so viel hieße wie Rand, auch wenn es immer ein Schiffsbord wäre. Warum nicht „Alle Mann an Bord der Wahlurne?" Es braucht nur über ein Gelächter hinweg üblich zu werden wie „Brief- kasten eines Blattes".

Eine allgemein belachte Katachrese ist in Frankreich die Phrase „le char de Tetat navigue sur un volcan". Und wieder frage ich: warum nicht? Ich werde das übermütige Gefühl nicht los, daß in der Sprache wie im Leben häufiger, als man glaubt, etwas Gesetz, Mode oder Brauch geworden ist, weil es bei seinem ersten Auftreten durch ungeheure Komik im- stande war, sich dem Gedächtnisse einzuprägen.

Es wird jetzt allgemein angenommen, daß die Betonung Betonung ein wesenthches Ausdrucksmittel der menschlichen Sprache sei. Man vermutet auch, daß in alten Zeiten die Betonung ebenso wie die Geste noch über das gegenwärtige Maß hinaus

516 XI. Die Metapher

entscheidend für das Verständnis der Sprache war. Alles Sprechen von Urmenschen muß sozusagen opernhafter ge- wesen sein; Höhe und Stärke des Tons, die heute noch un- endlich viel bedeuten, müssen energischer gewesen sein in ihren Verhältnissen und Unterschieden. Die Höhe des Tons, die uns nur in unserer eigenen Mundart nicht auffällt, die in fremden Mundarten aber sofort als ein eigentümlicher Sing- sang empfunden wird, ist nur darum nicht Musik, weil in der schönen Kunst unserer Musik bestimmte rationale Ver- hältnisse zugrunde liegen, in der Sprache jedoch viel reicher schattierte, eben durch ihren Reichtum unkünstlerische, irra- tionale Verhältnisse. Es ist mancher nicht imstande, die einfachste Melodie richtig nachzusingen, der doch den Sing- sang des sächsischen Dialekts oder des ungarischen Tonfalls oder des chinesischen Gezwitschers sehr gut nachzuahmen versteht.

Der wissenschaftUche Versuch, Stärke und Höhe der Laute, die Betonung also, mit wissenschaftlichem Reaüsmus ziSem- mäßig darzustellen, ist noch nicht gemacht, ja kaum das Bedürfnis danach ist bisher ausgesprochen worden. Und doch würden solche Untersuchungen zu den mikroskopischen Beob- achtungen gehören, ohne welche das Leben der Sprache nicht entfernt beschrieben werden kann. Was wir darüber besitzen, ist fast nichts als die Bemerkung, es hänge der Lautwandel vielfach mit dem Tonwandel zusammen (vgl. S. 273).

Ich möchte nun darauf hinweisen, daß eines der Haupt- motive bei der Anwendung der Sprache sich heute noch außer- ordentlich stark in der Betonung äußert, das individuelle Interesse nämUch des Sprechenden. Ich empfinde diese inter- essierte Betonung namentlich lebhaft bei zwei Gefühlen, welche ich freilich, der verzwe'felten Sprachverlegenheit mir wohl bewußt, nur mit den allgemeinsten Ausdrücken bezeichnen kann, die man sonst eher für die Logik als für die Gefühls- welt anwendet: Bejahung und Verneinung. Zu der Bejahung rechne ich das Interesse der Liebe, wie es in der Betonung deutlich wird, sobald ein guter Mensch mit Kindern spricht; zu der Verneinung rechne ich vor allem die Ironie (deren

Onomatopöie der Betonung 5I7

Wichtigkeit für die Sprachentwicklung wir gchon kennen), die eigentlich nur bei höchst kultivierten Menschen und bei Schauspielern sich nicht mehr durch den Ton verrät.

Das unmittelbare Verständnis für den Ton der Stimme »momato- ist auch noch heute (und selbst für den Ton unverstandener ^"tonulK Sprachen) viel lebhafter als das oft behauptete Verständnis für die Symbolik der Laute. Die Symbohk der Laute dürfte wohl durchaus auf Gewohnheit beruhen, und wir wissen schon, daß die durch Laute ausgedrückte Onomatopöie eine aku- stische Täuschung ist, daß wir für Klangnachahmung halten, was nur eine akustische Metapher ist. Anders steht es um das, was ich die Onomatopöie der Betonung nennen möchte. Diese kann unbildlich sein, wirkhch, sie kann also, ja sie muß der artikulierten Klangnachahmung vorausgegangen sein. Ich greife wieder zu meinem Beispiel vom Kuckuck. Die geheim- nisvolle, wenigstens bis jetzt nicht aufgeklärte Verwandtschaft zwischen Ton und Laut läßt es uns natürlich erscheinen, daß wir den Kuf dieses Vogels mit Hilfe des Konsonanten „k" und des Vokals „u" nachahmen. Ein Jäger aber oder ein talentvoller Dorf junge, der diesen Ruf wirklich nachahmen will, der auf den Kuckuck selbst und nicht auf andere Men- schen mit Klangnachahmung wirken will, der artikuliert nicht menschüch, er sagt weder k noch u, sondern bringt konsonant- imd vokallose Töne hervor, die einzig und allein die Höhe der beiden (oder drei?) Töne nachahmen. Daim erst erkennt nicht nur ein andrer Mensch den Ruf, sondern der Vogel selbst. Denn der Vogel selbst weiß ja nicht, daß er Kuckuck gesprochen und geschrieben wird.

Für die Ironie wäre die ganze Untersuchung des Tons von vorne anzustellen. Es ist offenbar, daß da ein inneres Lachen mittönt, welches (in der Judensprache z. B. häufig durch eine Geste unterstützt) das Wort in seinen Gegensinn verkehrt. Es ist nicht schwer, die Möglichkeit einzusehen, daß diese Verkehrung, die jedesmal nur ein momentaner Sprachgebrauch ist, unter Umständen die Bedeutimg der Laute dauernd ändern kann. Ich erinnere an meinen Ver- such, den Ausdruck der Negation zu erklären (vgl. •*^. 149),

518 XI. Die Metapher

daran, daß z. B. ein Wort wie „ungeduldig", also die Ver- neinung von geduldig, zusammenfällt mit der Art, wie etwa ein lebhafter Jude mit einem kurzen Lachen ironisch sagen würde „hn geduldig". Dann wäre der jetzige Konsonant „n" als Zeichen der Verneinung eine wirkliche, eine metaphorische Onomatopöie. Der urzeitliche Ausdruck für die Ablehnung oder Verneinung jedoch, die Klangnachahmung des Lachens, wäre eine echte Onomatopöie.

Auch die Betonung beim liebevollen Interesse ist noch nicht genügend beobachtet worden. Ich vermute, daß die völlig unartikuhert gurrenden Töne, die wir so leicht im Verkehre mit Kindern und andern geliebten Personen aus- stoßen und die irgendwie echte Onomatopöie sein müssen, den ersten Anlaß zu den Wortbildungen gegeben haben, die wir Diminutive nennen. Ist doch die allgemeine Gewohn- heit der Menschensprache, das Gehebte durch Verkleinerung zu bezeichnen, wieder eine Metapher. Sehr merkwürdig ist da die Erscheinung, daß im Chilenischen Diminutive durch Erweichung von Konsonanten gebildet werden; „t" wird zu „ch", wie in unserer Kindersprache „k" zu „t" wird. Es ist ein feststehender Zug der Menschensprache, daß ihre natür- lichen Ausdrucksmittel zu künstlichen herabsinken, was mit Rücksicht auf die Mitteilbarkeit von Gedanken immer für einen Fortschritt gelten mag. Der Zug nach Abstraktion, wie sie heute in der Entwicklung unserer Schriftsprachen so viel bewundert vorhegt, hat schon in Urzeiten begonnen, als die Verschiedenheit der Betonungen, die echte Onomatopöie in „Artikulationen" gewissermaßen versteinert wurde, in der metaphorischen Onomatopöie. Schon dadurch ist unser Ton- gefühl zugunsten unsers Lautgefühls schwächer geworden, ganz abgesehen davon, daß wir eben für unsere Laute eine ungeheuer tiefe Wissenschaft haben, das ABC nämhch, daß wir ein ABC für die Betonung aber entbehren. So können wir gar nicht wissen, ob die Älissionare und Linguisten, welche die Onomatopöien „wilder" Völkerschaften in unserem ABC niederschreiben, nicht selbst Opfer der akustischen Metapher geworden sind, oder ob die Eingeborenen bereits den Schritt

Onomatopöie und Etymologie 519

von der Tonempfindung zur Lautempfindung gemacht haben. Wenn ich lese, daß im Batta der Begriff „kriechen" mit dzarar ausgedrückt wird, daß dann das Kriechen kleiner Tiere mit dzirir, das Kriechen gefährlicher Raubtiere mit dzurur nach- geahmt wird, so habe ich das unabweisbare Gefühl, daß ich im Lande der Batta diese Unterscheidung sofort verstanden hätte, und zwar nicht durch Lautsymbolik, sondern durch TonsymboHk, durch echte Onomatopöie.

Ich habe die Erkermtnis , daß die vielgerühmte Klang- onomatu- nachahmung selbst in den wenigen ganz deuthchen Fällen ''"g^y ° ihrer Existenz (wie bei dem Wauwau oder Muh der Kinder) moiogie doch nur eine metaphorische Klangnachahmung sei, weil die Natur und auch die Tiere niemals mit menschhchen Tonwerk- zeugen artikulieren, ich habe diese Erkenntnis bei keinem einzigen Schriftsteller gefunden. Trotzdem wird häufig auf etwas hingewiesen, was einen viel komplizierteren Fall der metaphorischen Klangnachahmung darbietet. Wir drücken sehr häufig Gesichtswahrnehmungen durch Laute aus, die in unserem Gehör unwillkürlich wie ihre Nachahmung erscheinen. Daß ein solches Verhältnis zwischen Gesichts- imd Gehör- wahrnehmungen bestehe und allgemein verständhch sei, das wird durch die Umkehrung bewiesen, wenn wir nämlich Ge- hörwahrnehmungen durch Handbewegungen und andere sicht- bare Zeichen mitteilen. (Vgl. Wundt, Völkerpsychologie I^, S. 199 f. Delbrück, Grundfragen, S. 78 u. f.) Und das ge- schieht sehr häufig, sowohl in alltäglichen Bildern der Sprache, wie wenn wir von sanften, von scharfen, von wiegenden Tönen reden, besonders aber, wenn ein Kapellmeister beim Dirigieren den gewünschten Klang der Instrumente impulsiv imd doch wieder konventionell durch die Handbewegungen andeutet.

Unsere Erkenntnis aber, daß es eine echte Klangnach- ahmung gar nicht geben kann, daß alle Klangnachahmungen genau ebenso wie die Klangnachahmungen von Gesichta- eindrücken, nur metaphorisch verstanden werden können, diese Erkenntnis scheint mir von einschneidender Bedeutung

520 XI. Die Metapher

für die pensionsberechtigte Frage nach dem Ursprung der Sprache. Schon der Sanskritist Fick (Vergleichendes Wörter- buch der indogermanischen Sprachen, 3. Auflage, S. 7) hat erstaunt darauf hingewiesen, daß die Onomatopöien, auf welche doch so oft der Ursprung der Sprache gegründet worden ist, nur in den lebenden Sprachen so häufig vor- kommen, für die älteste Zeit aber gar so selten nachzuweisen sind. Ficks Bemerkung mag allerdings eine Folge seiner und der allgemeinen wissenschaftlichen Methode sein. Erstens finden sich unsere meisten Onomatopöien in volkstümHchen Ausdrücken, wie sie in den klassischen Literaturen der Grie- chen und Inder nur selten aufbewahrt sind. Zweitens wollte ja gerade die nüchterne Analysierkunst der Sanskritgrarama- tiker, auf welcher unsere Sprachwissenschaft seit himdert Jahren beruht, jedes Wort auf eine verständüche, begriffliche Wurzel zurückführen. So mußte es kommen, daß sehr zahlreiche Worte, welche unserem Sprachgefühl als Onomatopöien er- schienen, etymologisch bis auf eine Stufe zurück verfolgt wurden, auf welcher der Klang diesem Gefühle nicht mehr entsprach. So hören wir bei dem Worte „rollen" eine Klang- nachahmung (einerlei ob die eines Schalls oder die einer sicht- baren Bewegung). Aber diese Onomatopöie erweist sich als eine sehr späte Gedankenassoziation, sobald wir erfahren, daß rollen (französisch role) ein lateinisches Lehnwort ist, früher rottel hieß, von rotula herkommt, Papierrolle, Liste, Urkunde bedeutet. Dieses rotula kommt von rota, dem deutschen „Rad", Wir haben also anstatt des Klanges „rl" jetzt den Klang „rd". So schiebt alle Etymologie die Klangnach- ahmung in eine Zeit zurück, von welcher wir nichts wissen. Wir wissen nicht, ob das entsprechende Sanskrit wort ratha zur Zeit, als Sanskrit noch eine lebende Sprache war, als Klang- nachahmung empfunden wurde. Es ist also historisch, wie wir von der Etymologie überhaupt wissen, mit der Onomato- pöie für den Ursprung der Sprache nichts anzufangen.

Gibt es aber überhaupt keine echte, gibt es nur eine meta- phorische Onomatopöie, so liegt die Sache noch einfacher. Angenommen, es hätte ein Mensch in irgend einer Urzeit

Onomatopöie und Etymologie 521

die rollende Bewegung eines runden Kiesels am Meeresstrande wirklich mit einer Klangnachahmung bezeichnet, angenom- men, er hätte dabei (was mir sehr zweifelhaft ist) gerade die zitternde Bewegung der Zunge bei der Aussprache des r be- nutzt. Auch dann wäre doch die Nachahmung des Roll- geräusches durch das r keine wirkliche Schallkopie gewesen, sondern nur ein Bild. Der rollende Kiesel macht in "Wirklich- keit weder r noch d noch 1. Jener angenommene Urmensch assoziierte aus irgend einem Gnmde, den wir einen zufälUgen nennen müssen, den gewählten oder unwillkürlichen Laut mit der rollenden Bewegung. Es würde also selbst dann, wenn wir irgend ein einziges Wort der Welt oder meinetwegen alle Sprache auf solche Klangnachahmungen zurückführen könn- ten, für den Ursprung der Sprache auch nicht das Geringste erklärt sein. Wieder wird die Frage nur zurückgeschoben. Sie lautet in bezug auf den Ursprung: Wie war es möglich, die Vorstellung oder die Erinnerung von Sinneseindrücken, sichtbaren oder hörbaren, an artikulierte Laute zu knüpfen? Besäßen wir mm eine nachweisbare Onomatopöie oder be- säßen wir tausende, so hätten wir dieselbe Frage aufs neue zu stellen: Wie war es möghch, den Schall in der Natur mit diesem oder jenem artikuUerten Laute zu assoziieren? Zu diesem Bekenntnis des Nichtwissens müßten wiv gelangen, auch wenn wir noch Lautgruppen erhalten hätten aus der Zeit der Sprachentstehimg. In Wahrheit aber ist von solchen Lauten doch ganz gewiß heute oder im Sanskrit auch nicht die leiseste Spur mehr vorhanden, nicht mehr als von der Bewegung eines Regentropfens, der vor hunderttausend Jahren einem grasenden Mammut auf den Rücken fiel.

Wenn nun eine wirkhche Klangnachahmung gar nicht Sprach- vorkommt, wenn die seltenen, sich dem Bewußtsein als solche "n^d aufdrängenden Onomatopöien wirklich nur metaphorische SpracL- Eüangnachahmungen sind, wenn hinter allen ähnhchen Worten schließlich etwas steckt, was wir unter den Begriff der Volks- etymologie bringen können, so sollte man glauben, daß das für den Gebrauch der Sprache dieselbe Wirkung hätte, als ob diese Worte durch echte Klangnachahmung entstanden

522 XI. Die Metapher

wären. Das ist auch ganz richtig, insofern durch diese Klang- gewohnheit, die wir eben in den erweiterten Begriff Volks- etymologie aufnehmen, jedes Wort einen Gefühlston erhält, der durch den seit der Kindheit geübten Klang ausgelöst wird. Man irrt nur, wenn man diesen Gefühlston auf die Worte einschränkt, die den Eindruck von Klangnachahmungen machen. In dem Satze „Die Schwalbe zwitschert" malt das Wort „Schwalbe" uns das bezeichnete Tier nicht anders als das Wort „zwitschert" das bezeichnete Geräusch. Jedes ge- läufige Wort hat diesen Gefühlston und muß ihn haben, wenn wir sollen sprechen können. Dieser Gefühlston ist nichts anderes als der psychologische Ausdruck für die enge Ver- knüpfung von Vorstellung und Wort, für die physiologische Tatsache, daß irgendwo die Nervenbahnen der Sinneseindrücke und die Nervenbahnen der Sprachbewegungen miteinander in Verbindung stehen für die „innere Sprachform".

Dieser Gefühlston entsteht also durch die gemeinschaft- liche Einübung der beiden Nervenbahnen oder wie man bequem sagen kann durch den Gebrauch des erlernten Wortes. Dieser Gefühlston erzeugt aber auch den Gebrauch in dem andern Sinne, in welchem wir von Sprachgebrauch reden. Ich glaube nicht, daß es eine Wortspielerei sei, wenn man diese Tatsache in dem scheinbar logisch immöglichen Satze zusammenfaßt: der Gebrauch erzeugt den Gebrauch. Man könnte dafür sagen: die Einübung oder die häufige Wiederholung erzeuge den Sprachgebrauch; dabei würde aber gerade das interessante Moment verdunkelt werden, daß wirk- lich die Einübung etwas wie eine causa sui, eine Ursache ihrer selbst ist, das scholastische Monstrum, das dennoch in irgend welcher Gestalt bei Spinoza, ja noch bei Schopenhauer wieder auftaucht. Die Lösung des Widerspruchs scheint mir darin zu liegen, daß die Einübung des einzelnen Wortes in jedem einzelnen Menschen den Gefühlston erzeugt, den wir als eine natürliche Übereinstimmung zwischen dem bezeich- nenden Laute und dem bezeichneten Gegenstande empfinden. Die Gemeinsamkeit der Einübungen bei allen Volks- imd Dialektgenossen erzeugt dann wieder den Schein des Zwanges,

Sprachgefühl und Sprachi^ebrauch 523

den wir Sprachgebrauch nennen. Es liegt in diesem Gefühls- tone immer ein volksetymologischer Zug, der sich bald bloß als Natürlichkeit der Muttersprache oder als Liebe zur Mutter- sprache, bald als eine Neigung kundgibt, die Entstehung der Muttersprache scheinbar zu verstehen. Wo dann das Wort entweder durch metaphorische Klangnachahmung entstanden ist oder wo ein anders gewordenes Wort sich bis zum Scheine der metaphorischen Klangnachahmung abgeschliffen hat, da zwingt uns unbewußte Volksetymologie, an eine echte Klang- nachahmung zu glauben.

Humboldts viel umstrittener und doch brauchbarer Be- griff „innere Sprachform" machte auf den Leser vielleicht zunächst einen kläglichen Eindruck, als ich ihn mit dem ganz banalen Begriffe des Sprachgebrauchs identifizierte. Sehen wir aber hier, daß der Sprachgebrauch aufs engste mit der unbewußten Volksetymologie und mit dem Gefühlstone der Wörter zusammenhängt, so wird diese Gleichsetzung weniger Anstoß erregen. Wenn wir „Schlange" sagen, wo der Römer „serpens" sagte, wenn wir also den Namen von dem Sinnes- eindruck des Ringeins, die Römer ihn von dem Sinneseindruck der kriechenden Bewegung nehmen, so hat der Römer wie der Deutsche dabei das ganz naive Gefühl, das Tier richtig bezeichnet zu haben. Die innere Sprachform Humboldts ist die Hervorhebung eines einzigen Merkmals an einem Gegen- stande, der doch der Sprache mehrere Merkmale zur Ver- fügung gestellt hätte. Dieses naive Gefühl der Richtigkeit des Ausdrucks ist die innere Sprachform, ist aber auch nichts als der Sprachgebrauch mit dem Werte, den die Volksety- mologie ihm gibt. Wenn Steinthal die innere Sprachform sehr gezwungen als „Anschauung der Anschauung" erklärt, so ist das nichts als eine scholastische Bezeichnung für den Ge- fühlston, den wir den Worten unserer Muttersprache beilegen, für die kindhche Überzeugung, unsere subjektive Anschauung sei die richtige. (Vgl. H, S. 61.)

Lesen wir ästhetische Schriften des 18. Jahrhunderts, >«'i»t'h- so kehrt die Grundanschauung immer wieder, daß die Poesie oder die Wortkunst in Nachahmung der Wirklichkeit bestehe ;

ahinung

524 XL Die Metapher

Lessings Laokoon ist nur die tiefsinnigste Untersuchung, welche auf diesem alten Irrtum beruht. Gerade aus Lessings Laokoon erkennen wir aber deutlich, wie sehr der Glaube, es sei die Sprache eine Schallnachahmung der Wirküchkeit, mit diesen aristoteüsch-französischen Lehren von der nachahmen- den Dichtkunst verquickt war.

Unsere Annahme, daß die ursprünglichen Worte nur aus einer Situation heraus verständlich waren, nur auf einen be- sonderen Punkt des Bildes hinwiesen, mit Hilfe dieses Punktes an das ganze Bild zu erinnern suchten, unsere Behauptung ferner, daß auch die ausgebildete Sprache nicht mehr leiste als die Wachrufung von besonders belichteten Erinnerungs- bildern, führt uns wieder auf einem anderen Wege zu der Erkenntnis, eine wie große Überschätzung der Sprache auch in der Nachahmungstheorie der Ästhetiker enthalten war. Nur müssen wir dazu noch tiefer graben, als es Wegener (Unter- suchungen, S. 96 99) getan hat.

Wir müssen uns nämhch ins Gedächtnis zurückrufen, daß es doch nur relativer Zufall war, wenn die menschliche Sprache als Lautsprache sich entwickelte, wenn die Erinnerung an die Eindrücke aller unserer Sinne an hörbare Zeichen geknüpft bheb. Die letzte Tatsache unserer Psychologiekritik, daß schließlich sogar unsere Sinne selbst Zufallssinne sind, würde hier in das graue Elend der Sprachverzweiflung führen.

Die Hörbarkeit der Menschensprache, daß wir also hörbare und nicht sichtbare Zeichen verwenden, ist ebenso nützlich für die Beziehung der redenden Menschen untereinander, als sie schädüch ist für die Beziehung des Menschen zu der be- redeten Wirkhchkeitswelt. Die in einer Lautsprache redenden Menschen können sich auf weitere Entfernung miteinander unterhalten, als sie es (bei der notwendigen Feinheit der Aus- drucksmittel) durch eine sichtbare Sprache, durch Mienen- spiel oder Fingerbewegung tun köimten. Aber anderseits dringt das Auge viel weiter als die menschliche Stimme. Der Mensch sieht die Bewegungen der Sterne, aber hört die Sphären- harmonie nicht; er sieht auch auf der Erde noch Bäume, Menschen und Tiere, deren Rauschen, deren Sprechen, deren

Nachahmung 525

Laute er nicht vernelimen kann. Wenn nun schon die Schall- nachahmung ohnehin auf den geringen Teil der Natur sich beschränkt haben müßte, der von selber tönt, so wäre sie innerhalb dieses Teils auch noch auf nahe Naturgegenstände beschränkt gewesen.

Nun wissen wir, daß alle unsere zahlreichen Onomato- pöien metaphorisch zu erklären sind. Eine scheinbare Aus- nahme bilden nur die Fälle, in denen ein Mensch nach seinem Lieblingsworte benannt worden ist, wie wenn Blücher der Marschall „Vorwärts" heißt. Es ist aber ein Unterschied zwischen dem Eigennamen „Vorwärts" imd etwa einem angeblich schallnachahmenden Gattimgsnamen wie die Worte Wauwau, Kikeriki usw. in der Kindersprache. Eigennamen nach Lieblingsworten gehen aus einer Neckerei hervor; zwi- schen der Nachahmung aus Neckerei und dem Worte Kikeriki als Gattungsnamen besteht aber eine gewaltige Kluft, die sprachloses Spiel von der Sprache trennt.

Man achte auf die Kinder. Wenn ein Knabe keine andere Absicht hat, als einen Hahn zu necken und etwa mit ihm um die Wette zu krähen, so ahmt er den Hahnenschrei wirk- lich und möglichst natürhch nach; wenn er den Begriff Hahn bezeichnen will, so kräht er nicht, sondern gebraucht das artikulierte Wort Kikeriki. Wir wissen, daß diese Laut- form erst in jüngster Zeit entstanden ist; im 18. Jahrhundert sagte man Kikri und glaubte den Hahnenschrei so zu hören; im 16. Jahrhundert hieß die Schallnachahmung gar Tutterhui.

Ein Spiel zwischen dem Kinde und dem Hahn können wir uns als auf Schallnachahmung beruhend denken; denn der Hahn soll durch das natürüche Kikeriki nicht an etwas er- innert werden, er soll unmittelbar getäuscht werden. Sprache aber ist etwas zwischen den Menschen, imd sprechende Men- schen wollen einander zunächst nicht täuschen, wollen einander an gemeinsame Wahrnehmungen erinnern. Wollte ein Mensch den anderen an das Gesamtbild eines Hahnes erinnern, so wäre z. B. ein natürhches und musikaüsches Krähen nicht nur unbequem; eine Durchführung dieses Sprachprinzips wäre trotz der Begabung des Menschen für Nachäfferei undurch-

526 XI. Die Metapher

fühlbar. Und eine Artikulation des Hahnenschreis würde

wieder nicht zum Ziele führen, wenn der eine Mensch den

Schrei als Kikri, der andere als Tutterhui artikulieren würde.

Es ist also die wahre Nachahmung nicht eine Nachahmung

der "Wirkhchkeitswelt, sondern eine Nachahmung zwischen

den Menschen, welche allerdings sofort zur Sprache führt.

Nach- SprachHche Verständigung zwischen zwei Menschen setzt

in (ler^ ^^^ beiden das gleiche Situationsbild der Seele voraus oder

Kunst doch die Vorbedingungen, das gleiche Situationsbild z. B. in

der Kunst zu erzeugen.

Erst die historische Bildung der Gegenwart macht die Gleichheit des Situationsbildes für Autor und Leser einiger- maßen mögHch. Trotzdem kokettiert ein Maler wie Gebhardt mit bewußtem Anachronismus, während ein Maler wie Uhde dem Beschauer ebenso bewußt, aber viel feiner ein Sifuationsbild der Gegenwart zu suggerieren sucht. Es ist nämhch all unser historisches Wissen so sehr Stückwerk, daß wir schließhch doch an dem Situationsbilde der Gegenwart hängen bleiben. Mommsens römische Geschichte ist ein historisches Werk ersten Ranges und muß dennoch seine beste historische Stim- mung durch Anachronismen erzeugen; ich habe wohl etwas Ähnhches in meiner Erzählung „Xanthippe" versucht.

Diese Bemerkungen führen nur scheinbar von dem Gegen- stande ab. Was den Maler und Schriftsteller der Gegenwart (respektive seinen Beschauer und Leser) von zeithch oder räumlich entlegenen Stoffen trennt, das ist die Unmöghchkeit, durch Nachahmung in Farben oder Worten ein Situationsbild zu erzeugen, das er vorher nicht bis ins kleinste wahrgenommen hat. Genau dieselbe Trennung besteht zwischen dem spre- chenden Menschen und dem einfachsten Naturgegenstande, wenn er ihm nur durch Klangnachahmung beikommen könnte. Dem Maler und Schriftsteller ist es auch nur darum zu tun, sich mit dem Beschauer oder Leser zu verständigen, ihm seine Phantasie vom behandelten Stoffe mitzuteilen. So ist es auch dem sprechenden Menschen nur darum zu tun, sich mit dem mitredenden Menschen zu verständigen. Mit der Natur kann er sich nur necken. Will ein Mensch beim anderen die

Nachahmung 597

Vorstellung von einem Hahn wachrufen, so muß zunächst und zuletzt beim anderen die Vorstellung vom Hahn schon vorhanden sein; nachher ist es eine Zufallssache, ob diese Vorstellung durch Andeutung eines Schalles, einer Farbe, eines Körperteils oder einer Bewegung wachgerufen wird. Die Erinnerung an das gemeinsame Situationsbild wird er- zeugt durch die Nachahmung desjenigen Lauts, welcher zu- fällig zuerst die Aufmerksamkeit auf den Hahn lenkte, mag dieser erste Laut nun das Krähen oder den stolzen Gang des Hahnes bezeichnet haben. In unzähligen Fällen wird das Situationsbild zwischen zwei gleichgestimmten Menschen in Erinnerung gebracht: nicht durch einen artikulierten Laut, sondern durch die weinerhche oder heitere Betonung, die der artikulierten Sprache gar nicht angehört und die sich doch so außerordenthch gut für die Nachahmung zwischen den Menschen eignet.

Und auch hier wieder begegnet uns der Unterschied zwi- schen Spiel oder Neckerei, das heißt natürhcher Nachahmung, und Sprache oder konventioneller Nachahmung. Wenn ein Kind weint, so wird sein etwas boshafter Genosse durch naturahstische Nachahmung dieses Weinens es zu verhöhnen scheinen und ganz sicher den Schmerz des weinenden Kindes dadurch steigern. Tritt aber die Mutter hinzu und legt in ihre Stimme den konventionell weinerhchen Ton, den wir mitleidig " zu nennen pflegen, so wird das weinende Kind dies als eine Antwort auf seine Schmerzäußerung empfinden und sich beruhigen. Die naturahstische bewußte Nachahmung wird niemand Sprache nennen; sie führt zum Gegenteil einer Verständigung. Die konventionelle Nachahmung zwischen den Menschen ist Sprache.

Die Psychologie der Nachahmung ist noch nicht erforscht. Da alle Wahrnehmung irgendwie psychische Tätigkeit ist, wäre es Aufgabe der Physiologie, die Analogie aufzufinden, welche irgendwo zwischen der Tätigkeit bei Gesichtswahr- nehmungen imd der Tätigkeit bei Gehörwahrnehmungen besteht. Diese wahrscheinhche ÄhnUchkeit ist uns verborgen. Der Unterschied springt in die Augen. Nichts drängt uns.

528 XI. Die Metapher

die mikroskopischen Atombewegungen nachzuahmen, welche wir als Farben empfinden. Wohl aber existiert ein unwider- stehHcher Drang, die gröberen Bewegimgen nachzuahmen, welche wir als Töne empfinden. Das Vorhandensein von Bewegungsgefühlen beim Hören und beim artikuherten Denken, wie man ein gewisses scharfes inneres Sprechen nennen könnte, ist bekannt. Erzeugt die Sprachbewegung des einen Menschen eine noch so leise identische Sprachbewegung beim anderen Menschen, so ist damit die ferne Möglichkeit gegeben, die soziale Macht der hörbaren Sprache aus natürlichen Be- dingungen zu erklären. Mitleid go gehl ich in diesen Untersuchungen mich bemühe,

ethischen Problemen aus dem Wege zu gehen, so kann ich an dieser Stelle doch nicht unterlassen, auf die möghche Rolle hinzuweisen, welche die Sprache und der Gehörsinn überhaupt bei dem Übergang egoistischer oder selbstischer Gefühle zu altruistischen oder nächstischen Gefühlen spielen mag. Und die Macht der nächstischen Gefühle bei der scheinbaren Allein- herrschaft der selbstischen Gefühle zu erklären, dürfte doch wohl die ernsthafteste Pflicht der Ethik sein. Nur ganz flüchtig möchte ich darauf hinweisen, daß z. B. beim Anhören von Schmerzenslauten wir uns nicht damit begnügen, zu hören, daß der Ton vielmehr in uns die Bewegungsgefühle der Schmer- zenslaute auslöst, wenn es auch selten zu hörbaren Nach- ahmungen kommen mag, und daß bloß durch diese innere Nachahmung der Bewegungsgefühle das große Mysterium des Mitleids einigermaßen aufgehellt wird, ohne daß wir mit Schopenhauer das neue Mysterium der Identität aller Wesen zu Hilfe zu nehmen brauchen. Der innere Vorgang mag in feinerer Weise der Nachahmung ähnlich sein, mit welcher wir uns unwillkürlich einen heftigen Ruck geben, sobald wir einen anderen Menschen plötzlich stürzen sehen. Der nach- ahmende Ruck kann so stark sein, daß wir darüber selbst ins Straucheln geraten oder fallen. Mitleid ist ein bequemer Schmerz; so kann der Spaziergänger, wenn ein Vorüber- gehender plötzUch stolpert und fällt, zunächst den sympathe- tischen Ruck empfinden und nachher dennoch über den

iütleid 529

Gestürzten lachen. Noch schwerer zu entwirren ist die Mi- schung von Lust- und Unlustgefiihlen bei dem künstlichen und vielleicht künstlerischen Mitleid, das eine Tragödie in uns erregt. Vielleicht darf ich dafür an die merkwürdige und kaum schon psychologisch beschriebene Spannung erinnern, mit welcher wir die lebensgefährhchen Spiele eines Seiltänzers betrachten; die Spannung wächst um so höher, behagliche Bewunderung und bequemes Gruseln mischt sich um so mehr, je waghalsiger der Seiltänzer ist. Jeder temperamentvolle Zuschauer fühlt die Bewegungsgefühle, mit welchen er sich bei jedem gefährlichen Schritte des Seiltänzers den ent- sprechenden rettenden Ruck geben möchte; er ahmt innerhch die Bewegungen nach, die dem Spieler da oben nützhch sind.

Wir haben die Metapher als den Ausdruck für die Er- Metapher scheinung begreifen gelernt, welche man sonst das Wachstum ^gso- oder die Entwicklung der Sprache nennt. Metaphorisch voll- ziation zieht sich der Bedeutungswandel der Worte. Bis zum Ursprung der Sprache konnten wir damit freilich nicht vordringen, weil der metaphorische Bedeutimgswandel sich nur für die kurze Spanne von zwei- bis dreitausend Jahren verfolgen läßt, welche uns etwa EinbUck in die Sprachgeschichte gewähren; und nur die Vermutung, daß immer wirkte, was heute Avirkt, ließ ims vermuten, daß auch zu irgend einer Zeit der Sprach- entstehung die Metapher sofort mit tätig war.

Sehen wir aber ein, daß Sprache, Gedankenassoziation und Gedächtnis nur verschiedene perspektivische Bilder desselben Vorgangs sind, und erweitem wir dadurch noch ein wenig den Begrifi der Metapher, so sehen wir auf einmal auch die ersten Worte der Menschheit notwendig metaphorisch aus einem sprachlosen Zustande werden. Wir erblicken auf ein- mal die Rhetorik, welche die ungeheure Wirrnis der verschie- denen Metaphern unter geordnete Klassen bringen wollte, auf demselben Irrwege wie die Psychologie, welche die unend- liche Vielheit der möglichen Assoziationen unter einige wenige Assoziationsgesetze einordnen wollte. Je nachdem wir den

ilauthncr, Beitrage zu einer Kiitik der Sprache. 11 "^

530 XI. Die Metapher

Standpunkt wechseln, erscheint uns nun entweder die Metapher als eine Unterart der Assoziation oder die Assoziation als eine Unterart der Metapher, also im Grunde Assoziation und Me- tapher als Begriffe, die man unter Umständen miteinander vertauschen kann. Beide Tätigkeiten knüpfen sich leicht und gern an den Gebrauch der Worte. Eine Erinnerung ruft durch sogenannte Assoziation die andere hervor, und die Hauptmasse dieser Hervorruf ungen wird, wie man weiß, durch Ähnüchkeiten der Erinnerungen ausgelöst. Wir können uns aber das Hervorrufen einer Erinnerung durch eine ihr ähnliche Erinnerung kaum anders vorstellen, als daß es wäh- rend des Imrzen Verlaufes dieses Aktes einen noch kürzeren Zeitmoment gibt, in welchem die zweite Erinnerung deshalb ins BHckfeld tritt, weil sie mit der ersten für vollkommen ähnlich, für gleich gehalten wird. Erst einen Augenblick später kann sich die Aufmerksamkeit der zweiten Erinnerung zuwenden, die größere Aufmerksamkeit beachtet die Unter- schiede und kommt so erst zu der QuaHfikation einer bloß teilweisen Gleichheit, also einer ÄhnHchkeit. Dies mag aber doch wohl derselbe Vorgang sein wie die Entstehung der Metapher, wenn wir dabei nicht an ihren konventionellen Gebrauch durch gebildete Dichter denken, welche den Quin- tilian oder einen neuen Schulmeister studiert haben, sondern an die tausendfältigen Metaphern, welche unbewußt auf dem Wege des Bedeutungswandels die Sprache bereichern. Das bloß ähnliche Bild würde sich dem Bewußtsein gar nicht auf- drängen, wenn die Ähnhchkeit nicht im ersten Augenbhcke überschätzt würde.

Wir haben aber bei der Untersuchung der Gedanken- assoziationen sogar gesehen, daß der einfachste und kon- kreteste Begriff durch Gedankenassoziation entsteht, daß z. B., wenn das Wort Apfel zunächst die farbige Gestalt (bereits Assoziation zweier und mehrerer Empfindungen) einer bestimmten Frucht ins Gedächtnis ruft, sich die Er- innerungen an einen bestimmten Geschmack, Geruch, an eine Konsistenz usw. assoziieren. Hat nun aus irgend welchen Gründen der Sprachgeschichte, die sich fast immer im Nebel

Metapher und Assoziation 531

der Zeit verlieren, das Wort zunächst an die sichtbare Er- scheinung des Dings erinnert, und bezeichnet man trotzdem damit alle anderen Eigenschaften, so tut man ja doch wieder nichts anderes, aLs daß man metaphorisch pars pro toto setzt, das heißt eine der beUebtesten Formen der Metapher anwendet.

Da alle Erkenntnis, also auch die Erkenntnis der Tiere, asso- Gedächtnis ist, und da Gedächtnis so auf einer zunächst ,|gj, j^^^^ irrtümlichen Gleichsetzung und späteren Vergleichung zweier Wahrnehmungen beruht, so läßt sich nicht daran zweifeln, daß auch die sprachlose Welterkenntnis der Tiere ebenso metaphorisch ist wie assoziativ. Wir können uns bequem vorstellen, daß für den Raubvogel bestimmte Gesichts- eindrücke, für den Hund bestimmte Geruchswahrnehmungen Assoziationszentren bilden, welche metaphorisch zu einem Bedeutungswandel dieser Sinneserinnerungen führen; wir können uns bequem vorstellen, wie ein bestimmter Geruch für den Hund seinen Herrn und sein Haus, sein regelmäßiges Essen und die Peitsche und zu alledem noch eine Axt Hunde- religion bedeutet. Zu manchen Orientierungen in der Wirk- hchkeitswelt sind gewiß diese Gesichts- und Geruchsassozia- tionszentren geeigneter, als es die Sprache der Menschen ist. Aber die Menschensprache Hefert der Orientierung mit ihren Tausenden von scharf differenzierten Worten, welche einen durch Jahrtausende langsam verbesserten Weltkatalog dar- stellen, und durch ihre Hunderte von Variationen dieser Worte, welche Beziehungen ungefähr ausdrücken, Assoziationszentren von so erstaunlicher Menge und Bereitschaft, daß der mensch- liche Reichtum an Assoziationen oder Metaphern wirkhch den Reichtum des Raubvogels oder des Hundes an Welt Über- sicht bedeutend übertreffen muß. Ein Konversationslexikon, welches der Adler auf seine Gesichtsassoziationszentren, der Hund auf seine Geruchsassoziationszentren aufbauen wollte, wäre innerhalb eines bestimmten Kreises noch für den Men- schen sehr aufschlußreich; aber die historischen, chemischen und astronomischen Daten unserer Lexika würden größten- teils darin fehlen.

532 XI. Die Metapher

Alles -^^^ freier als das Tier dürfen wir uns mit unserem Sprach-

Denkeii _ ^

Spiel von denken nicht dünken. Sicherlicli steht das Tier in seiner Asso- Orientierung unter dem Zwange der Notwendigkeit. Die Kette kann länger oder kürzer sein, je nachdem die Sinne weiter tragen oder nicht; an einer Kette jedoch schleift die Notwendigkeit die Amöbe hinter sich her wie den klugen Hund. Und die Kette des reich besinnten Menschen ist so lang, daß er sich für frei hält. Für frei auch darum, weil der Reich- tum der möglichen Assoziationen der Notwendigkeit gestattet, dem denkenden Menschen das Spiel unzähliger Mögüchkeiten vorzugaukeln, unter denen nur eine einzige wirkhch notwendig ist. Und wie im Handeln, so tritt auch im Denken oder Er- innern oder Assoziieren die einzig wirkliche Notwendigkeit in sein Bewußtsein. Und das Gaukelspiel der anderen Mög- lichkeiten nennt er den Zufall, scharfsichtig genug, wenn er dieses Gaukelspiel auch noch in den Daten seiner Sinne und in den Bedeutungen seiner Worte wiedererkennt. Wir waren so scharfsichtig, die Entstehung der menschlichen Sinnes- organe, so wenig sie auch sonst durch den Darwinismus erklärt ist, als zufällig zu begreifen, unsere Sinne bescheiden als Zufallssinne zu erkennen; wir haben weiter erfahren, daß die Sprachgeschichte mit ihrem Bedeutmigswandel wie jede andere Geschichte Zufallsgeschichte ist, das heißt ein Nach- einander, dessen Gesetze wir nicht begreifen. Wir müssen jetzt gesenkten Hauptes uns selber zugestehen, daß unser sogenanntes Denken oder Sprechen nichts weiter ist als das Heranschießen oder Kristalüsieren neuer Assoziationen oder Metaphern an die ererbten Assoziationszentren unserer Sprache, daß die Art dieses Heranschießens oder Kristallisierens, ab- gesehen von der Sprache selbst , von dem Zufall unserer individuellen Erfahrungen abhängt, daß aber der sogenannte objektive Geist der Sprache, die einem Volksstamm gemein- same Assoziationskraft der einzelnen Worte, entstanden ist durch den Zufall der Sprachgeschichte und weiter zurück durch die Daten unserer Zufallssinne, daß dieser vermeintliche Zufall für einen außerraenschlichen Standpunkt doch wieder Notwendigkeit war , und daß wir nur denken körmen , was

Alles Denken Spiel von Assoziationen 533

unsere Zufallssprache will. Daß wir nicht handeln können, wie wir wollen, ist von der neueren Ethik ausgemacht worden. Aber nicht einmal denken können wir, wie wir wollen. Wir können nur denken, was die Sprache uns gestattet, was die Sprache und ihr individueller Gebrauch uns denken läßt. Wir können nur denken, was wir gewollt haben und was unsere Vorfahren gewollt haben. Einstiges Wollen hat einstiges Interesse erzeugt und so die Sprache. Und selbst unser phantastisches Wollen einer Zukunft ist nur einstiges Interesse, ist nur ein Erinnern dessen, was wir gewollt haben und was unsere Vorfahren gewollt haben.

Die innere optische Täuschung einer Willensfreiheit beruht wiiiens- vielleicht zunächst auf dem Scheine, daß die Reihe der heran- schießenden Assoziationen von unserem Entschlüsse abhänge, während sie bis zu einem gewissen Grade höchstens von unserer Aufmerksamkeit abhängt, die nicht von uns bestimmt ist. Wenn ich mich z. B. genau des Tages erinnern will, an welchem ich in Fonterossa ein denkwürdiges Erlebnis hatte, und es fällt mir zunächst nur die Erdbeertorte ein, die ich an jenem Tage zu essen bekam, so kann ich nichts tun als aufpassen. Mein Interesse ich halte es für meinen Willen preßt mir den Kopf zusammen und läßt wahrscheinlich reichlich Blut ins Gehirn strömen, so daß die Erinnerungsdispositionen leb- hafter geweckt werden. Ich warte und passe auf. Eine unscheinbare Erinnerung nach der anderen steigt über die Schwelle des Bewußtseins, die Zeit ordnet sich in Tage, mir fällt der erste August als der Tag meiner Ankunft ein, und endUch knüpft sich an die Erdbeertorte und was drum und dran hängt das Datum des dritten August. Ganz so mag es zugehen, wenn ich scheinbar meinen Willen auf etwas Zu- künftiges richte. Wenn ich z. B. den folgenden Satz bilden will. Die eben gebildeten letzten Worte sind der Ausgangspunkt; ein Gedanke, der aber wieder nur irgendwie aus dem indivi- duellen Gebrauch meines ererbten Sprachschatzes stammt, ist der scheinbar in der Zukunft liegende Endpunkt. Ich habe nur kürzere oder längere Zeit aufzupassen und zu warten, daß der Kristallisationsprozeß der Assoziationen die luftige

534 XII. Schrift und Schriftsprache

Wortbrücke schlage vom Ausgangspunkte zum Zielpunkt, Ich „glaube" es nicht, aber ich weiß es: ich habe gesagt, was die Sprache mich sagen ließ, was ich in einem Leben von sechzig Jahren gewollt hatte und was die Geschlechter vor mir „gewollt" haben.

Die luftige Brücke von der Metapher zum Willensproblem schlägt ein schöner Satz des Augustinus: „Pauca sunt enim quae proprio loquimur, plura non proprio; sed agnoscitur, quid V e 1 i m u s." Der heilige Mann hat das „velimus" (Conf. XI, 20) freilich nicht unterstrichen.

XII. Schrift und Scliriflsprache

Geschwill- jjg ist oft bemerkt worden, daß die Geschwindigkeit sehr des verschieden ist, mit welcher die Sprachen sich verändern. Sprach- Yon Revolutionen der Sprache infolge von Sprachmischimgen soll dabei gar nicht die Rede sein. In ihrer ganz normalen Entwicklung hat eine Sprache zu verschiedenen Zeiten und haben die Sprachen verschiedener Völker ungleiche Geschwin- digkeiten. Um nur bei dem Bekanntesten stehen zu bleiben, so ist die Veränderung im Deutschen immer geringer, also langsamer, je mehr wir uns der Gegenwart nähern. Die drei Jahrhunderte von Luther bis auf unsere Zeit haben keinen so starken Wechsel gebracht wie die drei Jahrhunderte von den Minnesängern bis auf Luther, und dieser Wechsel war wieder nicht so stark wie der in den drei Jahrhunderten vom Vertrag von Verdun bis auf die Minnesänger. Sodann hat sich wieder das Deutsche in den letzten zweihundert Jahren schneller verändert als das Französische im gleichen Zeitraum.

Alle diese Geschwindigkeiten sind aber äußerst gering im Verhältnis zu der Schnelhgkeit, mit welcher nach überein- stimmenden Berichten die Indianer Amerikas drüben und die Polynesier hüben ihre Sprachen verändern.

Da scheint es nahe zu liegen, diese Geschwindigkeiten in Beziehung zu bringen mit der Existenz und auch mit der Verbreitung der Schrift bei einem Volke. Wir brauchen auf

Geschwindigkeit des Sprachwandels 535

diesen Punkt nur unsere Aufmerksamkeit zu richten, um sofort überzeugt zu sein, daß das dauernde Zeichen, die Schrift, auch den hörbaren flüchtigen Zeichen größere Dauer ver- leihen werde. Unverändert kann freilich auch die Schrift eine Sprache nicht erhalten, weil von Geschlecht zu Ge- schlecht der Wert eines Schriftzeichens leisen Schwankungen ausgesetzt ist; aber die vollkommene Haltlosigkeit, mit welcher ein Volk, bei dem nicht einmal die Gebildeten eine Schrift kennen, Sprachänderungen von jedem Nachbar- und jedem fremden Volke willfährig aufnimmt, hört auf mit der Einwanderung der Schrift. Wird der rasche Wechsel bei den sogenannten Wilden dadurch erklärt, so werden auch die feineren Unterschiede bei unseren Kulturvölkern vom Schrift- wesen begleitet. Zur Zeit der größeren Geschwindigkeit, in der althochdeutschen Zeit, waren in Deutschland nur wenige Personen des Schreibens Icundig, in der mittleren Periode wird die Schreibkunst der Besitz aller gebildeten Klassen, und seit Luther gewinnt die Schrift durch die Buchdrucker- kunst und durch die Volksschule eine ungeheure Ausdehnung. Nebenbei folgte auf die größere Stetigkeit in der Zeit auch eine größere Stetigkeit im Räume. Das heißt, wenn die Ver- änderung der einzelnen Sprache immer langsamer vor sich geht, so entwickelt sich auch schneller als bis dahin die Ge- meinsamkeit der Volkssprache, es entsteht die Gemeinsprache und die „Schriftsprache". Der Begrifi ist nicht ganz neu. Ich fand ihn schon in der spätrömischen Überkultur, bei Augustinus natürlich. Der spricht einmal (Conf. XI, 2), und etwas verächtlich, der Redner, von der lingua calami. Wo das durch große staatliche Zentrahsationen unterstützt wieder besonders wirksam wird, wie in Frankreich seit der Errichtung der einheitlichen Monarchie und ihrer Ein- richtungen (von der Herrschaft von Paris an bis herunter zur Gründung der Akademie), da geht die Änderung auch noch langsamer vorwärts als in der gleichzeitigen deutschen Sprache.

536 XII. Schrift und Schriftsprache

Zur Ge- Diese Bemerkungen gelten natürlich nur für die Schrift,

scliiclit6

(ler die wahrscheinlich von den semitischen Völkern erfunden und Schrift yiel später bei den indoeuropäischen Völkern eingeführt worden ist, für die Buchstabenschrift, welche an sich noch keine schrifthche Sprache ist, sondern bekanntlich die ein- zelnen Laute der gesprochenen Sprache zu bezeichnen und so nach einem konventionellen System die flüchtige Lautsprache durch eine sichtbare Zeichensprache dauernd festzuhalten sucht. Gerade das Mechanische an dieser Erfindung ist es, was das organische Wachstum der Sprache hemmen muß, was die Entwicklung verlangsamt.

Es wäre nicht schwer, aus Steinthal, Wuttke und Taylor eine hübsche Geschichte der Schrift abzuschreiben; es sind da die nachweisbaren Übergänge des Alphabets von einem Volke aufs iindere sehr interessant und die Vermutungen über die Bilderschriften der Urzeit angenehm zu lesen. Ich möchte aber nur auf drei tiefer liegende Punkte aufmerksam machen, die mir kleine Beiträge zu sein scheinen zur Geschichte der Sprache. Ich habe nämhch zu bemerken geglaubt, erstens daß der konventionelle Charakter der ältesten Bilderschrift eine Ähnlichkeit besitzen müsse mit dem Charakter der ältesten Lautsprache; ich möchte zweitens die Aufmerksamkeit der Fachleute darauf lenken, was in der Seele derjenigen Leute vor- gegangen sein mag, die die Sprache ihres Volkes zum erstenmal mit Hilfe eines auswärtigen Alphabets niederschrieben; und ich möchte drittens kurz wenigstens auf den psychologischen Wandel hinweisen, der im Wesen der Sprache durch die Ver- allgemeinerung der Schrift, durch die Buchdruckerkunsc nämlich, vor sich gegangen ist, einen Wandel, der um so schwieriger zu bestimmen ist, als wir uns noch mitten in ihm befinden. Ich bitte um einige Aufmerksamkeit für diesen schwierigen Versuch, dessen Unvollständigkeit und Mangel- haftigkeit mir sicherlich ebenso betrübend ist wie dem Leser. Bilder- Was zuuächst die alte Bilderschrift anbelangt, so ist für

mich der Umstand besonders wichtig, daß sie aus konven- tionellen Zeichen bestand. Ich lasse dabei ganz beiseite, ob die Totems der Indianer und die ältesten Hieroglyphen der

Bilderschrift 537

Ägypter von den Schriftgelehrten richtig gedeutet worden sind. Es scheint mir aber der bloße Anblick dieser Linien unzweifelhaft zu zeigen, daß erstens die Absicht einer Mit- teilung vorlag, daß es sich also um eine schriftliche Sprache handelt, und daß zweitens die einzelnen Zeichen dem ganzen Volke oder doch einem Kreise von Gebildeten verständlich waren. Hätten wir keine Schrift vor uns, so hätten nur me- thodische Tollhäusler ihre Bauwerke in dieser Weise bemalen können; wären es keine konventionellen Zeichen, sie würden sich nicht so regelmäßig wiederholen.

Zu jener Zeit mm, als der Indianer seine Totems, der alte Mexikaner seine Bilder und der alte Ägypter seine Hiero- glyphen herstellte, wurde natürlich von allen diesen Leuten daneben ihre Muttersprache gesprochen, die wer weiß wie viele Jahrtausende der Entwicklung schon hinter sich hatte. Nun hat die Sprachwissenschaft unserer Gelehrten ganz richtig herausgefühlt, daß die Bilderschrift, als sie nach im- gemessenen Zeiträumen auf die Lautsprache folgte, ähnhch anfing wie die Lautsprache. Die Lautsprache soll aus Klang- nachahmungen der Natur hervorgegangen sein; so die Bilder- sprache aus unmittelbaren Nachahmungen konkreter Gegen- stände. Und darin nur soll ein wesentlicher Unterschied zwischen Lautsprache und Bildersprache bestehen, daß die Lautsprache zunächst an Handlungen u. dgl. (schreien, rauschen usw.) anknüpfen mußte, die Bildersprache jedoch an sichtbare Dinge. Mit der Onomatopöie konnte man zu- nächst den Ton eines Kuckucks, eines Löwen oder den Donner oder das Wasser bezeichnen, mit der Bildersprache den Löwen, den Adler, einen Stuhl oder einen Stab. Man könnte auch sagen, die Lautsprache decke sich mit dem Verbum, die Bildersprache mit dem Substantiv. Ich brauche hoffenthch nicht hinzuzufügen, daß dieser Gegensatz von Verbum und Substantiv der alten Zeit nicht nur in den grammatikalischen Begriflen fremd war, sondern ursprünglich sicherlich auch in dem Gefühl. In den Anfängen der Sprache kann der Gegen- satz zwischen dem Verbum, das mit Hilfe der Klangnach- ahmimg dargestellt wurde, und dem Substantiv, das vielleicht

538 XII. Schrift und Schriftsprache

durch eine malende Geste gezeigt wurde, nicht viel anders empfunden worden sein als der Gegensatz zwischen hörbaren und sichtbaren Eigenschaften der Dinge. Und ich möchte die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, ohne darauf hin- zuweisen, daß bis zu dieser allerdings geringen Klarheit der Unterschied zwischen Verbum und Substantiv auch in der Vorstellung eines Tieres sich ausprägen muß; der Hund unterscheidet doch offenbar zwischen seinem Herrn und dem Sprechen dieses Herrn, wenn er auch so umgebildet ist, den Anbhck der Pistole und den Knall der Pistole nicht gleich in ursächlichen Zusammenhang zu bringen. Der Herr mag ihm als der Gott des Knalles erscheinen. Aber wie lange haben die Menschen gebraucht, um die sichtbaren Wolken und den hörbaren Donner (Substantiv und Verbum) in ur- sächlichen Zusammenhang zu bringen; noch heute suchen sie vielfach hinter den Wolken den Gott des Donners. Kon- Konventionell mußten die Bilderzeichen sowohl wie die

Lautzeichen werden, wenn sie einer Verständigung zwischen den Menschen dienen wollten. Es ist vielleicht der versteckteste Irrtum der naturalistischen Kunstlehre, daß sie glaubt, die Natur ohne jegliche Konvention dennoch wirkungsvoll nach- ahmen zu können. Die Mitteilung, auf welcher schließlich auch die Künste beruhen, wird durch konventionelle Zeichen außerordenthch erleichtert und gefördert. Ich könnte furcht- bar geistreich tun, ich könnte die bildenden Künste die Künste des Substantivs oder Objekts, die redenden Künste die Künste des Verbums oder Subjekts nennen, ich könnte die Grundlehre beider Abteilungen auf die gegenwärtige physiologische Er- kenntnis des Sehorgans und des Hörorgans gründen ; aber die Begründung wäre falsch, weil dabei die Konvention außer acht gelassen werden müßte. Jede Revolution, das heißt jeder Fort- schritt in der Kunst strebt aus der Konvention heraus, und dennoch ist keine Kunst ohne Konvention möghch. Die Wahr- heit wird also darin liegen, daß die Künste niemals ernsthaft daran denken können, die Natur unmittelbar nachzuahmen, daß die Künste aber gar wohl darauf bedacht sein müssen, ihre konventionellen Zeichen naturalistisch zu verbessern.

Konvention 539

Wir sehen also auf dem Wege dieses Gedankenganges bestätigt, was uns schon von anderem Gesichtspunkte ent- gegengetreten ist : daß nämlich die Erinnerungszeichen unserer Vorstellungen für die Zwecke der künstlerischen Mitteilung der unmittelbaren Anschauung immer näher kommen müssen, daß dieselben Zeichen für die Zwecke der erkenntnismäßigen Mitteilung sich von der Natur mehr und mehr entfernen dürfen. Die Kunst wird immer naturahstischer und anschau- licher, die Sprache immer supernaturalistischer, begrifflicher. Dabei verstehe ich unter Sprache die hörbaren Gedächtnis- zeicheu, weil doch die sichtbare Bildersprache wir werden gleich erfahren aus welchen Gründen nicht die gleiche Ausbildung erfahren hat. In der höchsten Kunst, in der Poesie, ist es infolge alles dessen eine fast unlösbare Aufgabe, mit Hilfe dieser höchst unanschaulichen Wortzeichen Vor- stellungen zu wecken, die sich der unmittelbaren Anschauung mögUchst nähern.

Gelingt es nmi einem Dichter ersten Ranges, durch die Meisterschaft seiner Sprache im Gehirn des Hörers oder Lesers ganz anschauhch und lebendig die Vorstellung von Gegenständen und ihrem Leben zu erwecken, wie der Dichter sie selbst in der Natur oder in seiner Phantasie gesehen hat, so ist eigenthch erst dadurch dasjenige erreicht, was die kleine impressionistische Malerei mit so mangelhaften Mitteln an- strebt: im Gehirn des Beschauers ein Bild hervorzurufen, nicht durch plumpe Zurechtstutzung des unmittelbaren Ein- drucks, durch materielle Linien und Farbenflächen, sondern durch rein psychologische IMittel. Mit dieser Bemerkung kehren wir zurück zu einer genaueren Beobachtung des Unter- schieds zwischen Bildersprache und klangnachahmender Lautsprachc. Ich werde nicht müde, zu wiederholen, daß die sogenannten Klangnachahmungen unserer Sprache Metaphern sind. Konventionelle Klangnachahmimgen, Übersetzungen der immittelbaren Natur in konventionelle Zeichen. Die naturahstische Nachahmung des Kuckucksrufs oder des HundegebeUs ist unbrauchbar für die menschliche Sprache; erst die konventionelle Metapher Kuckuck oder Wauwau ist

540 XU. Schiift und Schriftsprache

verwendbar. Nun könnte es gerade von meinem Standpunkte richtig scheinen, die Bildersprache in ihrem Wesen für natura- listischer, für unmittelbarer, für aUgemein verständlicher zu halten als die hörbaren Laute, mit denen Naturgeräusche niemals richtig, sondern immer nur konventionell ausgedrückt werden. Wer sich die Behauptung zu eigen gemacht hat, daß das Wort Kuckuck durchaus nicht klangnachahmend ist, sondern nur eine Art von Stihsierung, der muß auf den ersten Blick die Zeichnung eines Kuckucks in der Bildersprache zum mindesten für verstand hcher, also für besser halten. Ich will nicht müde werden, die Tatsache selbst immer wieder besser zu beschreiben. Den Namen des Vogels, wie ihn die Deutschen nennen, Kuckuck nämlich, würde ein Afrikaner oder Asiate nicht verstehen. Wenn aber eine Schwarz wälderuhr den Kuckuckruf nachahmt, ohne Spur von Konsonanten und Vokal, nur mit Hilfe zweier abgestimmter Blasebalgpfeifen, so ist dieser Ruf überall da verständhch, wo der Vogel Kuckuck bekannt ist. Nun sollte man meinen, daß die Abbildung des Vogels in der Bildersprache ebenso allgemein verständlich sei wie die unartikuherte Nachahmung des Rufs. Und so für die ganze sichtbare Welt.

Da aber gelange ich eben zu dem Punkte, auf den es mir ankommt. Auch die Zeichnung des Vogels ist ja doch nur konventionell, ist gewissermaßen artikuliert. Gerade in der Bilderschrift der älteren Hieroglyphen fällt es uns freilich nicht schwer, aus den Andeutungen von Schnabel, Kopf, Augen, Flügel und Füßen den Vogel sofort zu erkennen und auch die Ente vom Raubvogel zu unterscheiden. Der ein- geübte Fachmann erkennt auch unter den Hieroglyphen die Insekten und die Pflanzenteile, die Hausgeräte und die Musik- instrumente, aber das Auge des Spezialisten ist für den Ur- sprung dieser Dinge nicht maßgebend. Es ist bekannt, daß das Sehen von Bildern ebenso gelernt werden muß wie das Verstehen der Sprache. Kinder, die schon sprechen gelernt haben, sind gewöhnlich noch ganz unfähig, z. B. die Zeichnung eines Menschenkopfes zu erkennen. Wir selbst sind nur zu sehr eingeübt darauf, um uns darüber klar zu sein, daß diese

Konvention 541

schwarzen Linien auf weißem Papier konventionelle Zeichen für Haare, für Augen, für Nase und Mund sind. Diese Zeichen nähern sich weil Malerei immer mehr Kunst geworden ist und sich vom Dienste der Sprache immer mehr entfernt hat der Natur nach Kräften; die Einführung der Perspektive war die erste große Naturaüsierung der Malerei, und ein Stuhl auf den ägyptischen Hieroglyphenwänden ist für uns heute kaum mehr als ein Stuhl zu erkennen, weil ihm die Perspektive fehlt; die Farbe war ein uraltes Mittel zur weitern Naturah- sierung; die impressionistische Malerei ist der neueste Ver- such, die konventionellen Zeichen dieser Kunst der Natur wieder um einen Schritt weiter anzunähern. Aber schließ- licli und am Anfange liegen auch der Bildersprache, mit welcher die Malerei begann (im Grunde ist sie ja auch heute noch Bildersprache), genau in derselben Weise wie den angeblichen Klangnachahmungen konventionelle Zeichen zugrunde. Der Vorzug der Bildersprache also vor der Lautsprache, vne er uns im ersten Augenblicke sich aufdrängte, war ein Irrtum, (Vgl.P, S.47.)

Wenn also demnach die sichtbaren Zeichen für die Gegen- Laut- stände und die hörbaren Zeichen für ihre Geräusche und ^^^'^^ ^ Bewegungen den gleichen und zwar den gleich geringen natu- ralistischen Wert haben, so wäre die Beantwortung der Frage erschwert, warum zum Verständigungsmittel zwischen den Menschen die Lautsprache gewählt wurde und nicht die Bilder- sprache. Nach den vorstehenden Auseinandersetzungen möchte jeder Psychologe mit der Erklärung bei der Hand sein, es sei nur eine geringe Anzahl Menschen darin begabt, die Zeich- nung der Gegenstände nachzuäfien, wohl aber seien fast alle Menschen darin begabt, die Geräusche der Natur nachzuäffen. Sie könnten hinzufügen, daß kein einziges Tier zeichnen könne, daß es aber viele Tiere gebe, welche Stimme und Klang nach- ahmen, daß also die Urzeitmenschen wohl die Klangnach- ahmung, nicht aber die Liniennachahmung zu ihrer Verfügung hatten. SicherUch ist etwas daran. Man muß sich aber wohl hüten, die außerordentlich innige Verbindung, welche Gehör- vorstellungen und Wirklichkeitserinnerungen in unserm Ge-

542 XII. Schrift und Schriftsprache

hiru eingehen, für eine Ureigentümlichkeit des menschlichen Gehirns zu halten, für eine angeborene Gabe in dem Sinne, daß sie schon den Urzeitmenschen in gleichem Maße angeboren gewesen sei.

Man möchte vielmehr die Bevorzugung der Lautsprache vor der Bildersprache zunächst aus einem einfacheren, aus einem ganz mechanischen Umstände erklären. Um die kon- ventionellen Zeichen der Gegenstände in der Bildersprache auszuführen, braucht der Mensch Zeichenmaterialien, die in den ersten Epochen der menschlichen Sprache gewiß noch seltener bereit lagen als heutzutage; um die konventionellen Zeichen der metaphorischen Klangnachahmungen herzustellen, braucht aber der Mensch nichts weiter als das Handwerk- zeug, das er im Leibe trägt; er braucht bloß seine Atem- und Eßwerkzeuge als Sprachwerkzeuge zu benutzen, und die Zahn- laute, die Gaumenlaute, die Zungenlaute usw. sind fertig. So mag der unendlich lange Gang der Entwicklung sich um- gekehrt verhalten zu dem, vor dem soeben als einem irrtüm- lichen gewarnt wurde. Nicht weil die Assoziation zwischen Gehörvorstellungen und Erinnerungen eine besonders lebhafte ist, wurde die Lautsprache für bequemer gehalten als die Bildersprache ; sondern weil die Anwendung des eigenen Leibes so viel bequemer war als die Anwendung von fremden Ma- teriahen, darum gewöhnte sich der Mensch daran, die Laut- sprache (neben der Gebärdensprache) zur Mitteilung zu be- nutzen. Und weil auf dem Ungeheuern Wege der Entwicklung solche Gehörvorstellungen zu Erinnerungszeichen unendlich oft eingeübt wurden, darum bildete sich im menschlichen Gehirn die außerordentlich enge Verbindung zwischen Er- innerungen und Gehörvorstellungen, zwischen Gedächtnis und Lautsprache.

invasiüii Auf den zweiten mir wichtig scheinenden Umstand in der Alphabets Geschichte der Schrift scheue ich mich beinahe einzugehen, weil Vorarbeiten nicht genügend da sind und meine Fach- kenntnisse zu gering, um die Vorarbeiten selbst zu leisten.

Invasion des Alphabets 543

Es soll also nur eine Anregung sein; und sie stellt mit dem ersten Umstand in sehr lockerem Zusammenhang. Ich möchte mit einem Worte nur darauf aufmerksam machen, wie gänz- lich verschieden die Geistestätigkeit eines Mannes ist, der etwa zum Studium der russischen oder der griechischen Sprache russische oder griechische Buchstaben erlernt, von der Geistes- tätigkeit etwa eines Wulfila (vorausgesetzt, daß Wulfila nicht schon eine Schrift vorfand), der seme dem Klange nach ver- traute Muttersprache zum erstenmal schriftüch aufzeichnen will, weil er erfahren hat, daß es Kulturvölker gibt, die eine Schrift besitzen. In der gleichen Lage sind unsere Missionare und Sprachforscher, wenn sie irgend eine Wildensprache durch Schriftzeichen fixieren wollen; in der gleichen Lage waren wahrscheinUch die Griechen, das heißt außerordenthche Köpfe unter ihnen, als sie das phönikische Alphabet aufnahmen.

So schlüpfrig ist der Boden, auf den ich mich hier wage, daß ich selbst die Andeutung nicht anders aussprechen darf als in der Form einiger Fragen.

Wie ist es bei der Ungleichheit der Laute der verschiedenen Sprachen überhaupt möghch, das Alphabet der einen auf die andere anzuwenden? Jeder Schüler weiß es, und jeder Lehrer weiß es noch besser, daß alle Versuche, die Aussprache auch nur des Französischen oder Englischen einem deutschen Kinde oder Erwachsenen schriftlich mitzuteilen, vergeblich sind, trotzdem seit Jahrzehnten auf Grund der neuern Phonetik eine große Zahl von Aussprachezeichen erfunden worden ist, eine Zahl, die weit über die der Buchstaben hinausgeht. Das bekannte Wörterbuch von Sachs- Villattc enthält für die Vokal- laute allein beinahe fünfzig Zeichen und auch diese genügen natürhch nicht, um dem Lernenden die wirkliche Aussprache des Französischen vorzuführen. Man stelle sich nun den alten Griechen vor, der gar das Alphabet einer semitischen Sprache zur schriftlichen Darstellung seiner Mundart zuerst verwendete und für die Feinheiten unserer Phonetik vielleicht ein Ohr, aber ganz gewiß keinen Begriff mitbrachte. Er malte die Buchstaben nach und ließ ihnen die semitischen Nameu. Konnte er ihnen auch den semitischen Klang lassen? Ent-

544 -XII. Schrift und Schriftsprache

sprachen auch nur die ersten Laute des Alphabets in Griechen- land dem phönikischen Laut? Hätte ein Phönikier sein aleph im griechischen alpha wieder erkannt? Wir zählen gegen zwanzig verschiedene Laute, die vielleicht unter den BegrifE des aleph fallen mögen. Klang das phönikische beth wie das griechische beta? Klang das phönikische beth mehr wie unser h oder mehr wie unser p, oder klang es gar ähoUch wie das bh des Sanskrit? Und gar der dritte Buchstabe, das g! Unser Bühnen-g wird durch Anlegung der Zunge an die Grenze zwischen dem harten und weichen Gaumen ausgesprochen. Wie guttural mag das ghimei (Kamel) der Phönikier geklungen haben? Und wie das gamma der Griechen, wenn die Römer damit zuerst nichts Rechtes anzufangen wußten und es dann mit ihrem c (k) verwechselten, und wenn das g in den indo- europäischen Sprachen sich so unentwirrbar verwandeln konnte? Nun aber weiter. Ist es wohl denkbar, daß die Einsetzung eines nicht ganz passenden, ausländischen Zeichens für einen Laut der Muttersprache, oder wie es wohl die Regel gewesen sein wird für eine Reihe von Lauten, ohne Einfluß blieb auf die Aussprache des Lauts in der eigenen Mundart? Ist es nicht ganz unabweisbar, daß das einheitliche Zeichen für verschiedene Laute schließlich Lautverschiedenheiten weiter und weiter abschwächen mußte? Wenn eine Sprache, die deut- lich geschiedene Gutturallaute besaß, das Alphabet einer Sprache entnahm, die g und k minder deutlich unterschied: mußte da nicht in der borgenden Sprache g in k übergehen oder umgekehrt? Runen Nehmen wir z. B. die germanischen Runen, von denen

wir freilich herzlich wenig wissen, recht gewiß aber das eine, daß sie durchaus keine geheimnisvollen Symbole, sondern ganz einfach stark veränderte lateinische Buchstaben waren, ver- ändert wahrscheinlich durch die gröbere Technik des Schreibens. Es ist überzeugend, wenn die Fachgelehrten uns erzählen, wie aus der lateinischen Kapitalschrift die germanischen Runen wurden. Wollte man die schön gemalten lateinischen C, F, R und S mit dem Beil in Holz hauen oder mit einem groben Instrument in Bronze ritzen, so würden naturgemäß daraus

Runen 545

die Zeichen <, \f, |^ und ^ . Es ist also das lateinische Alphabet sehr früh in Deutschland eingeführt worden, höchst wahrscheinlich war es in einem gewissen Gebrauch bereits in jener Germania, die Tacitus beschreibt. Nun äußern sich die römischen Schriftsteller in Scherz und Ernst über die Unaus- sprechbarkeit der germanischen Namen. Unaussprechbarkeit muß immer gegenseitig sein, wenn sie nicht bloß auf der Ungewohnheit der Lautgruppen, sondern daneben auch auf der Unähnlichkeit der Laute selbst beruht. Wenn nun den Germanen der Tacituszeit die lateinischen Worte unaussprech- bar oder schwer aussprechbar waren, wie konnten sie mit Hilfe lateinischer Buchstaben ihre eigene Sprache schreiben, ohne ihre eigenen Laute zu gefährden? Man vergleiche ein- mal die verschiedenen Runenalphabete und wird bald finden, daß g und k, daß t und d namentlich in den nordischen Runen nicht auseinander gehalten wurden. Weiter: der Laut th, der in seiner Runenform von der germanischen Sprachwissenschaft noch heute gebraucht wird, weil man sich anders nicht zu helfen weiß, dieser Laut hat in sämtlichen Runenalphabeten ein Zeichen, das wahrscheinlich aus dem lateinischen D entstan- den ist. Ich frage also wieder: Wie hörte der alte germanische Schriftgelehrte, der dieses Zeichen einführte, das lateinische D aussprechen? Und ich komme zu meiner verfängüchsten Frage : Schrift Steht die berühmte erste Lautverschiebung der germanischen ^a" t- Sprache nicht vielleicht in irgend einem Zusammenhang mit verscin der ersten Einführung der lateinischen Schrift? Richtiger ge- fragt: Fing die berühmte Lautverschiebung nicht mit einer Schreibung an, aus der man jetzt (bei der Schriftlichkeit aller Quellen) die „Gesetze" abzuleiten sucht? (Vgl. Paul, Grund- riß I, 548.)

Weiter: Wenn Wulfila im 4. Jahrhundert die Schrift, in welcher seine gotische Bibelübersetzung auf uns gelangt ist, selbst erfunden haben sollte, so hat er sie doch sicherUch nicht frei erfunden. Ganz unzweideutig hat er die griechische Schrift zugrunde gelegt und einzelne Zeichen dem lateinischen Alphabet und den Runen entnommen. Aus seiner Abstam- mung, wie aus seinem Werke läßt sich unbedingt schließen,

Miuithucr, Beitrage zu L'iui.r Kritik der Sprache. U «^"

buni.

546 XII. Schrift und Schriftsprache

daß er sowohl germauisch als griechisch sprach. Wie sprach er nun selbst die Buchstaben seiner Bibelübersetzung aus? Und kann es einem Zweifel unterliegen, daß auch die Ein- führung dieser Schrift mit irgend einer Lautverschiebung in Beziehung stand? Es ist nicht anders mögüch: die gelehrten Männer und jede solche Reformation mußte von Ge- lehrten ausgehen , welche ihre Muttersprache in einer aus- ländischen Schrift zu fixieren suchten, richteten das fremde Alphabet mit aller Liebe und Sorgfalt nach ihrer Muttersprache ein; aber vielleicht richteten sich nachher einzelne Laute der Gelehrtensprache nach dem fremden Alphabet.

^Einfluß jsi^ diese Anregung nicht ganz wertlos, so steht sie wieder Buch- niit dem dritten Punkte in Zusammenhang, auf den ich hiu-

iirucks vveisen möchte: mit dem Einfluß der Buchdruckerkunst auf unsere Sprache. Dieser Einfluß ist um so schwieriger festzu- stellen, als wir uns immer noch im Flusse dieser Erscheinung befinden und (ohne Übertreibung) die Ausdehnung der heutigen Buchpresse sich zu der aus der Lutherzeit verhält, wie etwa die Lutherzeit zu dem Buchverkehr im alten Alexandrien zur Zeit der Ptolemäer. Um das einzusehen, braucht man nur die Millionen von Preßerzeugnissen, die heute die Zeitungs- presse und der Kolportagebuchhändler täghch über Stadt und Land verbreiten, mit den wenigen Schriften zu vergleichen, welche selbst in der aufgeregten Zeit der Reformation ihren Weg fanden. Der Einfluß der Buchdruckerkunst auf die Sprache beginnt wohl mit der Erfindung der ersten Druck- presse, aber er hat sich seit bald fünfhundert Jahren ins Un- gemessene gesteigert.

Luthers Ein kleines Vorspiel dessen, was Luthers Bibelübersetzung jjyjgj.. bedeutete, begab sich schon im Mittelalter, als durch das

Setzung Zusammentrefien politischer und anderer Umstände die schwäbische Mundart eine Zeitlang die Modesprache und die Schriftsprache in Deutschland war. Es ist wohl nicht zu gewagt, anzunehmen, daß eine schwäbelnde Mundart die deutsche Gemeinsprache geworden wäre, hätte damals schon

Luthers Bibelübersetzung 547

die Buchdruckerkunst auf ihre AVeise eine Einheit hergestellt. Zu dieser Spracheinheit kam es bekanntlich erst durch Luther. Sicherlich ist seine Bibelübersetzung ein erstaunliches Werk unvergleichlicher Sprachkraft; sicherlich half die außerordent- liche Erregung des Volkes mit; aber geschaffen wurde die Spracheinheit erst durch den Buchdruck, durch die Schrift, denn sonst hätte Luthers Sprache das kathohsche Deutsch- land nicht erobern können. Entscheidend war es, daß Luthers Sprache allen Buchdruckern als diejenige erschien, in welcher sie ihre Druckschriften überall in Deutschland absetzen konn- ten. Das war die Vorbedingung, die auch Luther zur Wahl seiner Bibelsprache bestimmte; die Neigung zur Spracheinheit mußte vorhanden sein, um den Buchdruckern den Weg zu einem gemeinsamen Idiom zu weisen; aber nachher ging die wirkliche Spracheinheit aus der Buchdruckersprache hervor. Man darf sich nicht daran stoßen, daß Fragen des Geld- erwerbs und des Verkehrs so für wichtige Faktoren ausgegeben werden; das Geschäft und sein Verkehr ist oft der wichtigste Faktor der Kulturgeschichte gewesen. Und man darf sich auch nicht daran stoßen, daß eben gesagt worden ist, Luther habe die Sprache seiner Bibelübersetzung „gewählt". Es ist das eine Tatsache, und Luther selbst spricht sich klar und unbefangen darüber aus. Er habe sich nicht einer gewissen, sonderhchen, eignen Sprache im Deutschen bedient (das heißt also auch nicht seiner eignen Mundart), sondern der Sprache der sächsischen Kanzlei, welcher alle Fürsten und Könige in Deutschland folgen; die Sprache der sächsischen Kanzlei, das heißt die offizielle Dienstsprache im Reiche, sei infolgedessen die gemeine deutsche Sprache und allein geeignet, von Ober- und Niederdeutschen verstanden zu werden.

Übrigens ist die itaUenische Gemeinsprache, durch Dante, Boccaccio und Petrarca wundervoll geformt, erst durch den Buchdruck zum Siege über die Mundarten geführt worden. Dazu lese man einen köstlichen Dialog Machiavellis (Opere, Venezia XIL 1811), den ich noch in keinem sprachgeschicht- lichen Werke erwähnt gefunden habe. Machiavclli will be- weisen, daß seine Sprache die florentinische, schlimmstenfalls

548 Xll. Schrift und Schriftsprache

die toskanische, keinesfalls die italienische zu heißen habe. Er erfindet eine Unterhaltung mit Dante. Dieser hatte be- liauptet (überraschend ähnlich wie nach ihm Luther), er hätte in einer Kurial- oder Hofsprache geschrieben. Mit leiden- schaftlichen Worten lehrt Macchiavelli, durch die fremden Elemente sei sein Florentinisch keine Gemeinsprache, sondern die fremden Elemente seien florentinisch geworden. E beu vero, che col tempo per la moltitudine di questi nuovi vocaboli (le lingue) imbastardiscono. Der Dante dieses Ge- sprächs erklärt, unter Kurialsprache verstehe er die Sprache, wie sie am Hofe des Papstes, des Herzogs usw. geredet werde, also von Männern, die gebildet sind und besser sprechen als man in den kleinen Provinzstädten rede. Machiavelli besteht darauf, daß Dantes Sprache florentinisch sei. „Die Römer hatten in ihrem Heere nur zwei römische Legionen, daneben 20 000 Mann fremde ; dennoch hielten sie Roms Namen, Macht und Würde aufrecht. Nur du, der du in deinen Schriften zwanzig Legionen flor entin ischer Worte verwandt hast, dazu ihre Deklination und Konjugation, du willst, daß die Sprache durch ein paar Zufallsankömmlinge ihren Charakter verloren habe?"

Die Sprache Luthers ist also im Sinne der Sprach- wissenschaft weder eine organische Fortsetzung einer mittel- alterlichen Schriftsprache, noch die organische Ausbildung irgend eines damals lebendigen deutschen Dialekts: es ist, wie man sich jetzt gern ausdrückt, eine papierne Sprache. Schon Schleicher hat den Ausdruck für sie gebraucht oder doch wenigstens gesagt, daß sie ihren papiernen Ursprung deutlich an der Stirne trage. Es tut hier nichts zur Sache, inwieweit Luthers ganze Persönlichkeit und künstlerisches Sprachgefühl es ermöglicht haben, daß diese papierne Sprache groß und schön und lebendig werden konnte. Jedesfalls war der psychologische Zustand der Deutschen nach Ein- führung der Bibelübersetzung und vieler anderen Druck- schriften der, daß kein einziger deutscher Volksstamm seine Mundart in dieser Schriftsprache wiederfand, daß dagegen jedermann, der lesen gelernt hatte, die neue Schriftsprache

Luthers Bibelübersetzunir 549

mit den Augen verstand und sich bemühte, sich in dieser Schriftsprache überall in Deutschland auch von Mund zu Mund verständlich zu machen. Wie war das möghch?

Die Wirkung des Bücherlesens war im 16. .Tahrliundert immerhin noch so gering, daß die Mundarten in fast un- geschwächter Kraft weiter bestanden. Der Mecklenburger und der Schwabe konnten einander ebensowenig verstehen wie Bismarck und der viamische Fischer in Ostende, wie heute der Holländer und der Bayer einander verstehen können. Solange der Mecklenburger und der Scbwabe die gemeinsame Schriftsprache so aussprachen, wie es ihnen die Heimats- mundart vorsprach, so lange blieb eine gegenseitige Ver- ständigung aucb nach der Erfindung der Buchdruckerkunst unmöglich. Es mußte also dasjenige geschehen, was wir heute noch bei plattdeutschen und bei schwäbischen Dorfkindem alle Tage beobachten können. Sie reden zu Hause ihre alte Mundart in langsamer Abschwächung weiter fort. Aber sie haben gelernt wohlgemerkt: in der Schule gelernt , daß überall in Deutschland die Sprache geredet werde, die sie schreiben und lesen können und die sie namentlich in der Rehgionsstunde in einer nicht eben anmutigen Weise auch sprechend üben. Kommen nun ein plattdeutscher Bauer und ein schwäbischer Bauer einmal zusammen und wollen sie sich miteinander verständigen, so reden beide die Katechismus- sprache, die ein Kompromiß ist zwischen ihrer Mundart und der deutschen Gemeinsprache der gebildeten Welt, die denn auch mit einer unbewußten Ironie ganz richtig die „Schriftsprache" heißt. Ich überlasse es besseren Arbeitern, als ich einer bin, diese Tatsachen sprach geschichtlich genau zu untersuchen und die neue Lautverschiebung festzustellen, welche in sämtlichen deutschen Mundarten seit Luther in einer zentralen Richtung sich vollzogen hat. Diese neueste Lautverschiebung würde dann mit historischer Ge- wißheit auf etwas Schriftliches, auf die Einführung gedruckter Bücher zurückzuführen sein.

Wie schon gesagt, diese Entwicklung hat laugsam an- m-uck gefangen, um seit der politischen Anregung der französischen

prache

550 -^11- Schrift und Schriftsprache

Revolution, seit der Anwendung der Dampfmaschinen auf die Buchdruckerpresse und der Erfindung der Rotations- presse, kurz seit der ungealinten Ausbildung des Zeitungs- wesens ungeheure Dimensionen anzunehmen. Heute ist in Deutschland ein Ausnahmsmensch, wer nicht lesen und schreiben kann. Diese theoretische Kenntnis will freilich nicht viel sagen. Aber auch die praktische Übung im Lesen hat namentlich seit dem Beginn der sozialdemokratischen Agitation maßlos an Ausdehnung gewonnen. Es ist also in Deutschland (und ähnlich in anderen Ländern) die Zahl der Menschen außerordentlich groß, die sich dem psychologischen Zustande nähern, in welchem der Mensch durch eingeübtes Lesen Mitteilungen erhält.

Will man den Gegensatz zwischen der Schriftsprache und der gesprochenen Sprache studieren, so darf man sich nicht mit der Durchforschung von Literaturdenkmalen be- gnügen. Natürlich bietet Vergilius mehr schriftsprachliche Eigenheiten als Homeros; aber auch Homer ist schon durch Schrift auf uns gekommen. Mir ist die Gequältheit und Un- wahrheit der Schriftsprache niemals deutlicher geworden, als wenn ich in die Lage kam, Kinder Briefe schreiben zu sehen. Es ist ihnen ebensowenig wie den meisten jungen und alten Schriftstellern klar zu machen, daß sie nur zu schreiben hätten, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist.

Seitdem nun die Schriftsprache durch den Buchdruck zur fast ausschließlichen Sprache der Büchermenschen ge- worden ist, seitdem daneben die ungeheuere Schnelligkeit und ungeheuere Ausbreitung der Tagespresse die neueste Sprachentwicklung, und zwar begreiflicherweise in ihren schwächsten Kopien, auf das letzte Dorf gebracht haben, ist es Zeit, auch die Psychologie dieser neuesten Sprach- epoche zu beobachten, die man wohl die der Drucksprache nennen könnte. Es ist möglich, daß die Schönheit der Mutter- sprache durch die Drucksprache einmal so weit vernichtet werde, daß niemand mehr den Bilder mischmasch des Reporter- stils („an Bord der Wahlurne") häßlich oder lächerlich finden wird. Es ist aber auch möglich, daß die allgemeine Ver-

Druckaprache 55 [

breitung von Nachsclilagebüchern die bisherige Art des Lernens überflüssig machen wird, daß hier der Alexandrinismus für den Alexandrinismus, dort das Leben für das Leben denken und sprechen wird.

Man kann die Bedeutung des Buchdrucks für die Ge- schichte der Menschheit nicht hoch genug anschlagen. Hat er einerseits eine Art Vollständigkeit des Wissens für jeden Forscher auf jedem Gebiete erst mögüch gemacht, so hat er anderseits die Demokratisierung des Wissens und damit die Demokratisierung der Welt vollendet. NatürUch wurde die Buchdruckerkunst erst erfunden, als das W^issensbedürfnis allgemeiner geworden war, und so ging wie gewöhnhch das Bedürfnis der Erfindung voraus. Dann aber entwickelte sich die geistige Revolution durch die neue Erfindung um so schneller. Die gedruckten fliegenden Blätter der Refor- mationszeit schufen den dritten Stand; die Bewegungen des Bauernkrieges, der großen französischen Revolution und des gegenwärtigen Sozialismus hängen aufs engste zusammen mit der Geschichte der Presse, die eine Geschichte der Buch- druckerkunst ist. Ein Blatt, das in hunderttausend Exem- plaren an einem Tage verbreitet wird, verhält sich in seiner Wirkung etwa zu einem polemischen Gedichte Walthers von der Vogelweide vne ein Torpedo zu der Gefechtsleistung eines einzelnen Mannes und wäre er Herakles. Herakles ist künstlerisch schöner, ein Torpedo aber ist stärker als der Halbgott.

Ich lasse nun beiseite, welche Wichtigkeit diese Ver- ^^"D'^- änderung für die Einheit der Sprache hat. Wohl geht neben der unaufhaltsamen sprachhchen Einigung Deutschlands gerade jetzt das Bestreben einher, die Mundarten durch künstlerische Verwertung zu erhalten. Anstatt aber die Einigung aufzuhalten, ist diese Wiederbelebung wie mir scheint nur ein Zeichen, daß die Mundarten dem Verfall nahe sind, was übrigens für die dichterischen Zwecke der deutschen Sprache nur zu bedauern ist. Es will mir scheinen,

;irtrn

552 XII- Schrift und Schriftsprache

als ob diese krampfhaften Versuche, die Mundarten in Dialekt- dichtungen zu konser\aeren, an die Zeit erinnern, wo die Humanisten klassisches Latein zu schreiben sich bemühten. Das war nicht eine Renaissance der lat-einischen Sprache : das war wie schon gesagt vielmehr das deutlichste Zeichen, daß die lateinische Sprache im Begriffe war, eine tote Sprache zu werden. Es ist ein romantischer Sinn im Menschen, die Toten zu ehren und auch von den Sterbenden nur Gutes zu sagen; es ist ein romantischer Zug der Einheitssprache, nach ihrem Siege den besiegten Mundarten schöne Grabsteine zu setzen. Und wer ein Ohr hat für die Volksseele, der wird bemerkt haben, daß wenigstens bei uns in Deutschland es die Gebildeten sind, die sich zumeist durch ihre Liebe zur Mundart auszeichnen, daß das Volk dagegen nach der hoch- deutschen Sprache drängt. Bismarck spricht plattdeutsch mit seinem Förster; der Waldhüter spricht mit dem Fürsten gern hochdeutsch. Vei- Die große und immer noch wachsende Zahl der Menschen,

'aller " ^^Iche mehr oder weniger an eine schriftliche Sprache ge- Bücher wohnt sind, mußte naturgemäß die Ausbildung dieser schrift- lichen Sprache fördern. Wir stehen also, ohne es klar mit Worten fassen zu können, inmitten einer Geistesbewegung, welche für die leitenden Kreise des Volkes eine schriftliche Sprache zum Verständigungsmittel geschaffen hat. Man wird das Besondere dieses Zustandes vielleicht besser ver- stehen, wenn man mit mir zwei verschiedene Annahmen phantastisch bis zu Ende denkt. Man stelle sich einmal vor: es würden in allen Kulturländern plötzlich alle Schriften und Bücher für immer vernichtet, dazu auch der Gebrauch der Schrift; der Gebrauch der mündlichen Sprache aber bliebe erhalten. Ich male wohl nicht zu schwarz, wenn ich sage, daß unsere Welt damit rasch in die Kulturzustände des Mittelalters zurücksinken müßte. Unsere Erfindungen und ihre Anwendungen in der Industrie und im Verkehr könnten vielleicht noch einige Tage oder Wochen oder Jahre stockend weiter bestehen, aber endlich könnten keine neue Maschinen mehr gebaut werden, ein Räderwerk nach dem anderen aus

Vernichtung aller Bücher 553

dem Uhrwerk unserer Kultur würde stehen bleiben, und am Ende wäre unsere Zivilisation eine Ruine, wie die Kunstuhren an alten Munstern, die man nicht mehr in Gang bringen kann, weil der Schlüssel fehlt. Denn alle Wissenschaft, deren wir uns rühmen, ist so recht eigentlich nicht in der Sprache nieder- gelegt, sondern in der Schrift. Und stellen wir uns vor, was freilich noch schwerer vorzustellen ist: der Gebrauch der lebendigen Sprache würde in allen Kulturländern mit einem Schlage aufhören, der Gebrauch aber und das Verständnis der Schriften und Bücher bliebe erhalten (wie man die alt- chinesische Schrift wohl verstehen, aber nicht aussprechen kann), so wäre dieser Zustand der Menschheit vom Stand- punkte des Dichters nicht eben schön zu nennen, aber ohne Unterbrechung könnte die Kultur der Welt ihre hübschen kleinen Erfindungen weiter benutzen und weiter entwickeln.

Diese Vorstellung, daß nämlich die Schrift in ihrer hoch- Emanzi sten Ausbildung selbständig geworden sei und die mündliche ^\l^^ Sprache gar nicht mehr brauche, ist aber gar nicht so phan- Schrift tastisch, wie es scheinen könnte. Die neuesten Sprach- philosophen neigen freilich dazu, die Schrift nur auf die ungünstige Wirkung hin zu betrachten, die sie auf den alten Organismus der Sprache geübt hat. Daß aber die Schrift besonders seit der Popularisierung der Buchdruckerkunst langsam aufgehört hat, eine bloße Nebenerscheinung der Lautsprache zu sein, daß die Schrift, wenn wir unsere Biblio- theken unter dieser Bezeichnung zusammenfassen wollen, sich in den Gelehrtenköpfen von der Lautsprache gewisser- maßen schon emanzipiert hat, das ist eine psychologische Tatsache, an der auch Whitney und seine deutschen Schüler achtlos vorübergegangen sind. Phantastisch ist in der oben gewagten Phantasie doch eigentlich nur die schematische Annahme, es habe der Gebrauch der mündlichen Sprache aufgehört; dies ist beim Gebrauche unserer Buchstabenschrift ein Unding, weil die Buchstabenschrift immer erst nach der Lautsprache erlernt werden kann. Trotzdem ist die Schrift in ihrer Entwicklung zum Buchdruck eine selbständige Macht geworden, eine Konzentration aller Erinnerungen der Mensch-

554 XII. Schrift und Schriftsprache

heit, also eine Sprache für sicli, mit deren Leistungen sich die mnemotechnischen Leistungen der vorschriftHchen Sprache nicht messen können.

Um vorerst den psychologischen Vorgang recht zu be- greifen, stelle man sich einmal die gesamte Sprach tätigkeit eines Professors der höheren Mathematik vor, der z. B. sein Leben der Theorie der Abelschen Funktionen gewidmet habe. Er gebraucht natürhch die Lautsprache genau so wie ein anderer Mensch, wenn er mit Frau und Kindern redet, mit Schneider oder Kellner. Er gebraucht auch noch die Laut- spraclie, wenn er im Jargon seiner Kollegen sich über Buch- händlererfolge und persönliche Eigenschaften anderer Mathe- matiker unterhält. Sowie er jedoch über seiner Facharbeit sitzt sei es, daß er die Entwicklung einer Formel auf ihre Richtigkeit prüft oder daß er selbst eiue neue Formel zu entwickeln sucht , verschwindet die Gemeinsprache im Dunkel des Unbewußten, und die Schrift, die Zeichensprache seines Faches, ist allein in seiner Vorstellung. Die Laut- sprache ist durch die Zeichensprache vollkommen verdrängt; und diese Zeichensprache ist nicht etwa eine phonetische Schreibung der Lautsprache (wie die Schrift es ursprünglich gewesen sein muß), sondern eine selbstherrliche, über die Lautsprache weit hinweg schreitende Bezeichnungsart. In ganz ähnlicher Weise ist die geistige Tätigkeit eines gelehrten Chemikers vom Gebrauche seiner Muttersprache losgerissen. EiQ Geraisch von beiden Sprachen entsteht eigentlich nur dann, wenn der Professor der Mathematik oder der Chemie ein Lehrbuch schreibt oder seine Gedankengänge den Studenten mündUch vorträgt; es wird da mancher Satz aus der Gemein- sprache als Füllsel zu Hilfe genommen, wenn auch die Haupt- sache in Schrift vorgetragen wird. Und da ereignet sich der Fall, der noch nicht näher untersucht worden ist, obwohl er alle Lehren der Sprachphilosophie auf den Kopf stellt. Es heißt nämlich immer, daß die Schrift auf der Lautsprache beruhe, nur durch sie verstanden werden könne und besten- falls durch die SchnelHgkeit und Einübung des Gelehrten ohne das Bewußtsein einer Lautsprache verstanden werde.

Buchdenken 555

Wenn aber der Professor der Mathematik oder Chemie seinen Vortrag hält, so sind die Schriftzeichen das Ursprüngliche, das unmittelbar Verständliche, und er hat oft Mühe, sie durch die Lautsprache auszudrücken.

Man könnte einwenden, daß die Zeichen der Mathematik Buch- und der Chemie eine Welt für sich seien und darum nicht beweiskräftig für die Emanzipation der Schrift. Aber gar so verschieden von der psychologischen Tätigkeit eines Che- mikers oder Mathematikers scheint mir die eines Ingenieurs, eines Physiologen oder eines Historikers auch nicht zu sein. Je mehr die Spezialwissenschaft mit der Natur und mit dem Menschen zu schaffen hat, desto reichlicher freiUch wird der Professor die Gemeinsprache zu Hilfe nehmen müssen, desto weniger wird er die allgemeinen Erinnerungen der Menschheit, das heißt die Volkssprache entbehren können. Was ihn aber zunächst beschäftigt, die Fülle der Tatsachen aus seinem Spezialfach, das wird dem heutigen Büchermenschen dennoch als ein sichtbares Zeichen, als eine Bucherinnerung gegenwärtig sein. Und so vollzieht sich in der geistigen Arbeit des For- schers das, was ich vorhin als eine scheinbar wilde Phantasie hingestellt habe. Nicht für sein W'irtshaus- und FamiHen- leben, wohl aber für sein Forschen imd Lehren ist der Ge- brauch der Muttersprache in die Nacht der Vergessenheit versunken: der Gelehrte, ja auch der praktische Ingenieur steht bei seiner Lebensarbeit unter dem Zwange der Schrift, der BüchervN'clt. Es klingt nur paradox, aber es ist es nicht, wenn ich sage: da Sprechen Denken ist, so denkt der Ge- lehrte nicht bei seinem Forschen imd Lehren, oder vielmehr es ist ein neues Denken über ihn gekommen, das Buchdenken, und hier haben wir den Punkt, der die moderne Wissenschaft von dem Forschen der Vorzeit trennt. Wir denken bücherhaft, die Alten dachten sprachlich. Die letzten vierhundert Jahre haben diesen Bruch vollzogen. Und aus dieser wichtigen Erscheinung erklärt sich vielleicht nebenbei psychologisch der kleine Nebenumstand, daß die Forscher fast alle so zer- streut erscheinen, wenn man sie aus der Arbeit weckt; sie sind ja nicht bloß mit anderen Dingen als mit denen des Alltags

556 XU. Schrift und Schriftsprache

beschäftigt gewesen, sie haben in einer anderen Sprache gedacht.

Wie dieser Bruch zwischen der Lautsprache und dem Buchdruck notwendig und möghch wurde, das mag ein Hin- weis auf den wirklichen Bestand unserer gegenwärtigen Welt- erkenntnis erläutern, ein Blick auf den Bestand und die Auf- bewahrungsart. Der vor- jj^ ^qj- vorschriftlichen Zeit gab es nur einerlei Zeichen liehe Ge- ^ÜT die zusammenfassenden Erinnerungen; Homeros und die lehrte Gelehrten seiner Zeit hatten für die Erinnerungen ihres Lebens und die ererbten Erinnerungen der Menschheit nichts anderes als die Lautzeichen ihrer Worte, das heißt also (wie immer der Vorgang aussehen mag) eingeübte Bewegungsbahnen in ihrem Gehirn. Es liegt auf der Hand, daß in solcher Zeit erstens die Welterkenntnis ihre Grenze hatte an der Leistungs- fähigkeit des einzelnen Gehirns, zweitens daß die vorhandenen Kenntnisse von Mitteilung zu Mitteilung, von Erinnerung zu Erinnerung dem Wandel unterworfen sein mußten. Viel- leicht konnte auch Herakleitos, der sich selbst einen Auto- didalrten nannte, noch nicht schreiben, und dann hätte sein Satz „Alles fließt" eine Anwendung nicht nur auf die objek- tive, sondern auch auf die subjektive Welt. Der Gelehrte der vorschriftlichen Zeit war sonach in der Lage eines Mannes, der nur Kupfergeld besitzt und darum eine große Summe gar nicht bei sich führen kann. Dafür hatte er in jedem Augen- bhck die freie Verfügung über all sein bißchen Besitz; der vorschriftliche Gelehrte verfügte über sein kleines Sprachgut wie bei uns ein Knabe über das seine. Vielleicht kommt es daher, daß in der vorschriftlichen Zeit Homeros der unüber- trefihche Dichter werden konnte. Der Buch- Wir Überspringen jetzt die Zwischenzeit und versuchen ^^^ ^ ^ (Jen gegenwärtigen Zustand zu begreifen. Der heutige Gelehrte hat die Welterkenntnis, über welche unsere Zeit verfügt, nicht mehr in seiner Sprachgewalt, weil er sie nicht mehr in seinem Gehirn hat. Ich wage es nicht, auf die Frage einzu- gehen, wie sehr sich rein physiologisch das Menschengehini der Kulturvölker verändert haben muß, um die eigentüm-

Der Buchgelehrte 557

liehe Art der Büchererinnerung neben der alten Spracherinne- rung in sich aufzunehmen ; es muß eine gewaltige Entwicklung stattgefunden haben, fast wie in den anderen Jahrtausenden, als die Menschen sprechen lernten. Genug, das heutige Ge- lehrtengehirn besitzt eine Art abstrakter oder schematischer oder lokaler Erinnerungen an die Bücher, aus denen es jeden Augenblick das gegenwärtige Wissen holen kann. Wer diese mechanische Fächereinteilung in seinem Fachwissen besitzt, der gilt mit Recht für einen Gelehrten. Wirklich gebrauchs- fertig hat der einzelne Forscher immer nur einen ganz kleinen Teil seines Spezialgebietes. Das ungeheure Wissen der Gegen- wart steckt nicht in den Köpfen, sondern in den Büchern. Wenn man hundert der besten Gelehrten Europas zeitlebens zusammenbrächte, ihnen aber keine Bücher oder Schriften zur Verfügung stellte, so würden sie nicht das gesamte Wissen eines Konversationslexikons aufzubringen imstande sein.

So hat die Schrift (in ihrer äußersten Entwicklung zum Buchdruck) ihre dienende Stellung zur Sprache überwunden und hat in der Praxis der Gelehrtenbetriebe wenigstens einige Mängel der menschlichen Sprache verbessert. Durch den Buchdruck ist das menschliche Wissen von den Schranken des einzelnen Gehirns befreit und von den Wandlungen im lebendigen Organismus. Die Erinnerungen der Menschheit sind noch reicher und fester geworden, nur daß sie im Buche so wenig zu einer Welterkenntnis führen können wie in der Sprache.

Hat nämhch die moderne Naturwissenschaft darin recht, daß das Sehen, Hören usw. nur Symbole der WirkHchkeit darbiete, daß die Sinnesempfindungen nur subjektive Re- aktionen auf ewig unbekannte Aktionen der Außenwelt seien, unsere Sinne eben unsere Mittel, daß unser ganzes Vorstellen sogar also selbst nur mittelbares Vorstellen sei: dann ver- flüchtigt sich schon das Denken, das wir bisher für Denken erster Potenz hielten, zu einem Spiel der Schatten von Schatten, zu einem Mondschattenspiel, und das bloße Lesen der Ge- lehrten, das Lesen ohne begleitendes Sprechen, wird zu einem gespensterhaften Huschen von Phantomen, die jede direkte

558 XII. Schrift und Schriftsprache

Beziehung zu den wirkenden Dingen verloren haben. Solclic Gelelirtenarbeit, die doch unsere Bibliotheken füllt, hat für die Erkenntnis des Weltganzen nicht mehr Wert, als für die Erkenntnis der Gravitation das Eselsohr, das der Lehrer in sein Buch macht, wenn der Schnldiener die Stunde geläutet hat. Und doch hat die Gravitation durch Pendelbewegung dem Schuldiener die richtige Zeit verraten.

^P^^' Es gibt eine ?Jöghchkeit, wenigstens zu einer minder

Phoiio- ° . '^ . ' ° .

giapii fehlerhaften, zu einer natürhchen Schrift zu gelangen. Durch die Erfindung des Phonographen nämhch. Diese Erfindung, welche in unseren physikalischen Kabinetten immer noch die Eolle einer bloßen Spielerei inne hat, wird dereinst die Phonetik neu aufbauen lassen*). Der Phonograph ist nämhch durch einen eigentümhchen Umstand vt^eit wunderbarer als die Photographie. Ich möchte sagen, daß die Photographie die Welt immer noch vom naiven Standpunkt sieht, mit vor- kantischen Augen. Der Phonograph ist der mechanisch ge- wordene transzendentale Ideahsmus. Denn wenn die Camera obscura des Photographen die Lichtschwingungen an der Oberfläche eines Gegenstandes mechanisch auf der Platte festhält, so sehen wir nachher diese fixierten Schwingungen doch wieder nur mit demselben Sinnesorgan, dem Auge, mit welchem wir das Licht auf der Oberfläche des Gegenstandes gesehen haben. AVir sehen das Lichtbild genau so, wie wir das Original sehen. Das Zwischenghed, die Verwandlung des Lichteindrucks in mechanische Schwingungen und die che- mische Wirkung dieser Schwingungen auf die photographische Platte, können wir nur vermuten, beschreiben, meinetwegen erklären, aber wir können sie nicht wahrnehmen. Es ist, als ob wir mit Hilfe einer Dampfmaschine eine Dynamomaschin.e

*) Seit dem Erscheinen der ersten Auflage ist bereits mehrfach der Versuch gemacht worden, den Phonographen in den Dienst des Sprachstudiums und des Eindringens in Aussprache und Melodik „wilder" Völker zu stellen.

Der Phonograph 55g

in Tätigkeit gesetzt hätten, die nun ihrerseits wieder ein Triebrad bewegt. Das kann unter Umständen nützlich sein; wir bekommen aber in der Regel keine elektrische Erschei- nung in die direkte Wahrnehmung. Ganz anders beim Phono- graphen. Bei den spielerischen Versuchen, zu denen er dient, kehrt freilich die hineingesprocbene Stimme nach beliebiger Zeit wieder zu unserem Ohr zurück. Das Zwischenglied jedoch, die zitternde Bewegung des Stiftes auf dem Zylinder von Stanniol, köimen wir sehr gut direkt wahrnehmen und es unter dem Mikroskop studieren. Diese Zickzacklinie auf dem Stanniol ist aber nichts anderes als die sichtbar gew^ordenc Luft- schwingung; es ist der Schall sichtbar geworden. Da nun jeder einzelne Laut der menschlichen Stimme auf dem Stanniol ein anderes Bild erzeugt, so wäre es recht gut möghch, durch eine ich möchte sagen stilisierteNachahmung des Stanniol- bildes zu einem natürUchen Alphabet zu gelangen, dessen künftige Bedeutung für die Sprachwissenschaft ich gar nicht abzusehen wage*).

Aber auch hier würde es ohne Gewaltsamkeit nicht ab- Phouo- gehen. Es gibt innerhalb der gleichen Muttersprache, wie wir ^g^^'p' wissen, nicht zwei völhg gleiche Individualsprachen. Mit n^'tüi mathematischer Genauigkeit ausgedrückt gibt es nicht zwei Menschen, die denselben Vokal, denselben Konsonanten durchschnittlich völhg gleich aussprechen, gibt es keinen Menschen, der denselben Laut zweimal völlig gleich ausspricht. Aber auch abgesehen von dieser grundsätzhchen Übertreibung ist der gleiche Vokal, der gleiche Konsonant schon in den nächsten Mundarten derselben Sprache nicht mehr der gleiche. Unter dem Mikroskope muß das ph onographische A oder das R eines Hamburgers schon ein anderes Bild geben als das A oder das R eines Berhners. Noch größer ist die Verschieden- heit in den Lautbildern eines Niederdeutschen und eines Ober- deutschen; noch viel größer der Unterschied in den Laut- bildern eines Deutschen und eines Franzosen. Wenn also

liehe Schrill

*) Herr Gerichtsrat Hesse scheint bei einer neuen Kurzschrift auch die obigen Anregungen beachtet zu haben. (Jenaisclie Zeitung, 21. Juh 1911.)

560 Xll. Schrift und Schriftsprache

dereinst der Versuch gemacht werden sollte, die phonogra- phischen Lautbilder zu einer natürlichen Schrift zu benutzen, so wird es ohne einen Kompromiß nicht abgehen. Der Erfinder dieser künftigen Schrift wird, nach Willkür, Neigung oder Zufall, eine bestimmte Aussprache, ein bestimmtes Lautbild für das einzig Richtige erklären und dieses Lautbild wird dann, wenn es von der Gemeinsprache angenommen wird, auf die Gemeinsprache zurückwirken. Es liegt auf der Hand, daß dieser Kompromiß noch weitere Gegensätze wird einigen müssen, wenn diese natürUche Schrift der Zukunft für mehrere Sprachen oder gar für alle Sprachfamilien sollte Geltung haben können. Was ich hier als eine Phantasie ausspreche, das könnte ganz wohl nach langen Experimenten mit dem Phono- graphen zur Wirkhchkeit werden, •^e- Dieser nivelüerende, eigentlich ertötende Einfluß meiner

seichen gcträumten natürUchen Schrift der Zukunft auf die Sprache ist aber weit mehr, als man glauben sollte, auch bei den künst- lichen Schriften vorhanden, deren die sogenannten Kultur- völker sich bedienen. Und zwar gerade da, wo wir von altersher die Schrift für die vollkommenste Erfindung halten, wo sie tadellose Buchstabenschrift ist. Wo die Schrift aus Wort- zeichen besteht, wie im Chinesischen, da kann sie die lebendige Sprache nicht so ertöten.

Unsere Schriftzeichen sind weit mehr, als man gewöhnlich annimmt, von Wortzeichen, ja von Gedankenzeichen durch- setzt. Ich erinnere nur daran, daß der geübte Leser, der Büchermensch, die Worte des Buchs geläufig wie die ab- gekürzten Zeichen seiner eigenen Notizen liest. Beispiele von Gedankenzeichen sind, abgesehen von anderen typographi- schen Punkten und Linien, unsere ZiSern. Es ist doch ofienbar, daß z. B. 93 im Zusammenhang eines französischen Satzes weder das Buchstabenzeichen noch das Wortzeichen für quatre-vingt-treize ist; die Laune des französischen Sprach- geistes und uralte Rechengewohnheiten haben dazu geführt, die Ziffer als eine Summe von 80 und 13 aufzufassen, und die Ziffer 80 wieder als ein Produkt von 4 und 20. In Buch- stabenschrift müßte das französische Wort natürlich aus-

Gedankenzeichen 5 (3 \

geschrieben werden. Wäre es ein Wortzeichen, so müßte es so aussehen: 4 x 20 -f- 13. Und auch das wäre nicht ganz entsprechend. Wir denken kaum daran, daß wir in den Ziffern auch im Deutschen bloße Gedankenzeichen haben. Es wird uns aber einleuchten, wenn wir darauf aufmerksam gemacht werden, daß wir z. B. die Jahreszahl 1896 je nach Gewohnheit und Sitte aussprechen können: „eintausendacht- hundert und sechsundneunzig" oder „achtzehnhundertsechs- undneunzig".

Die Mathematik ist voll von solchen Gedankenzeichen. Ich bemerke nebenbei, daß dieser Umstand allein die gleichen Zeichen für verschiedene Sprachen zugleich möghch macht. Recht aufmerksame Leser werden mich verstehen, wenn ich nun dazu gelange, zu behaupten, daß die rein wissenschaft- lichen technischen Ausdrücke auch außerhalb der Mathematik etwas von Gedankenzeichen an sich haben, wenn sie auch in den verschiedenen Wissenschaften ähnlich ausgesprochen werden. Die griechischen Stämme in diesen technischen Ausdrücken haben nach meinem Sprachgefühl in den ver- schiedenen Sprachen den Charakter von mathematischen Zeichen oder von den barbarischen Wortzusammensetzungen der modernen Chemie. Man beachte den Unterschied zwischen dem Worte Salz und seinem chemischen Ausdruck. Die Aus- drücke für Salz sind trotz ihrer nahen etymologischen Ver- wandtschaft in den verschiedenen Sprachen durch Laut- zeichen wiedergegeben (Salz, sei, salt), welche dann für den gebildeten Leser zu Wortzeichen werden. Der technische Ausdruck Chlornatrium ist aber für mein Sprachgefühl schon ein Gedankenzeichen, nicht viel weniger als die chemische Formel NaCl, nicht viel anders als das mathematische Zeichen +• Wer solche technische Ausdrücke (auch be- kanntere aus der Philosophie oder Botanik) in einer fremden Sprache liest, die ihm nicht ganz geläufig ist, der wird sie unbewußt in der Form lesen, die sie in seiner Muttersprache haben, ganz ebenso wie er etwa das mathematische Zeichen 00 in einem französischen Satze vielleicht nicht als „infini" emp- finden wird, sondern als das Gedankenzeichen für seinen

Maiithner, Beitrage zu eiiur Kritik der SpracliG. II »^"

562 XII. Schrift und Schriftsprache

Begriff „unendlich", ja wie er beim Lesen eines französischen

Romans etwa vorkommende Ziffern unwillkürlich deutsch

aussprechen wird.

Mängel Wie dem auch sei, wir furchtbar gebildeten Menschen

Buch- haben in unserer Schrift vielfach reine Gedankenzeichen, die

Stäben- u^jt der vielgerühmten Buchstabenschrift so wenig zu tun

Schrift ... . . .

haben wie die Zeichen, die der Wirt auf seinem Kerbholz macht, wie die Schlitze in den Ohren, mit denen etwa ein Hirte die Schweine seiner Herde bezeichnet. Alle diese Ge- dankenzeichen haben keinen Einfluß auf die lebendige Sprache, und darum auch keinen schädlichen Einfluß. Um diesen zu begreifen, müssen wir uns auf die eigenthche Buchstaben- schrift beschränken. Die Geschichte unserer Schriftzeichen geht uns hier nichts an. Die Empfindung für die Bilder, aus denen unsere Buchstaben wahrscheinlich hervorgegangen sind, ist noch weit gründlicher verloren gegangen als die Empfindung für den Sinn der sogenannten Sprach wurzeln. Kein Mensch mit Ausnahme einiger weniger Spezialforscher sieht in den Buchstaben etwas anderes als Lautzeichen. Der Irrtum besteht nur darin, daß der naive Mensch, der Nichtphonetiker, sich einbildet, der bestimmte Buchstabe entspreche einem bestimmten Laut. Ich brauche hier nicht zu wiederholen, daß es bestimmte Laute kaum in derselben Sprache gibt, ge- schweige denn in verschiedenen Sprachen. Die Aufgabe, etwa die Schnalzlaute afrikanischer Mundarten mit unserem Alphabet sichtbar zu machen, ist unlösbar. Aber auch die Anwendung des gleichen Alphabets z. B. für das Französische und das Englische beruht doch nur darauf , daß das eine Volk nichts vom hörbaren Alphabet des anderen Volkes weiß. Auch das große, künsthche, verschiedenthch auf- gestellte Alphabet der Phonetiker ist nur ein Ungefähr, abgesehen davon, daß es technisch ist, daß es keinem Volke geläufig geworden ist. Hermann Paul hat einmal hübsch gesagt, die Sprache verhalte sich zu der Schrift wie die Linie zu der Zahl. Das künstliche große Alphabet der Phonetiker erinnert mich an die Formeln, mit denen die mathematische Analyse Linien durch Zahlen ausdrückt; nur

Mängel der Buchstabenschrift 5(33

daß im unendlicb Kleinen der Sprache die gesetzliche Stetig- keit fehlt.

Unsere Schriftzeichen, wie sie in jeder Sprache nach der üblichen Orthographie angewandt werden, weisen eine große Zahl von Mängeln auf, die sich historisch erklären lassen. Es ereignete sich ja regelmäßig, daß das Alphabet einer fremden Sprache der Muttersprache untergelegt wurde, und es ist klar, daß es dabei ohne Gewaltsamkeit nicht ab- gehen konnte. Es ereignete sich femer, daß die Schreibung eines Worts konstanter blieb als die Aussprache ; die gesamte Orthographie, soweit sie nicht dem unerreichbaren Ideal einer phonetischen Rechtschreibung nahe kommt, würde sich so historisch erklären lassen. Aber das alles scheint mir nur die sekundären Mängel der Schrift zu betreffen. Ihr wesent- licher Mangel liegt in der Gleichgültigkeit unseres Ohres für kleinere Unterschiede oder vielmehr in unserer Unfähigkeit, die Unterschiede, die wir wohl hören und unbewußt mit den Spracbwerkzeugen nachahmen, bewußt in Begriffe zu fassen. Ich glaube beinahe, daß da die metaphorische Tätigkeit unseres Geistes mit tätig ist. Wie gesagt ist, daß die schein- bare Schallnachahmung, die sich durch viele sprachwissen- schaftliche Werke hindurchschleppt, nur auf einer falschen Analogie, auf einem ungefähren Bilde, auf einer Metapher beruht, so mag es in der psychologischen Wirklichkeit eines Volkes zugegangen sein, als es sich in seiner Armut, die man gern Sparsamkeit nennt, damit begnügte, halbwegs ähnhche Laute mit einem einzigen Lautzeichen auszudrücken. Die meisten Menschen erfahren diese Tatsache überhaupt erst, wenn sie Phonetik studieren. Daß das ch ein vollkommen anderer Laut ist in Bach und in Bäche, darauf muß man erst aufmerksam gemacht werden, trotzdem der LTnterschied für mein Bewegungsgefübl nicht geringer ist als der zwischen R und L. Spricht man gar einem Ostpreußen das Wort „Buch- chen" nach, so stoßen die beiden ungleichen Laute hart auf- einander; und dennoch wird es mir ein Ostpreuße kaiun glauben, daß die beiden Konsonanten so verschieden sind, wie etwa R und L in „Erle".

564 Xn. Schrift und Schriftsprache

Haben wir diese Ungenauigkeit unserer Buchstaben, in Übereinstimmung mit der heutigen Wissenschaft, erst erkannt, so werden wir einsehen, daß für den geübten Leser die Druck- schrift nicht nur durch seine Übung zu lauter Wortzeichen werden mußte, sondern auch durch die Mangelhaftigkeit des Alphabets. Erkennt er doch erst aus dem Worte, wie der Buchstabe auszusprechen sei, und nicht umgekehrt. Ja selbst der Zusanmienhang des Satzes wird ihn mitunter über die Aussprache aufklären. Ist ihm das Wortbild nicht geläufig, so wird er beim Anblick des Wortbildes „erblassen" stocken und nicht gleich wissen, ob er erb-lassen oder er-blassen zu lesen habe. Ja wir bemerken an diesem Beispiel wieder, daß unsere Schrift für wichtige Unterschiede der Aussprache, wie die Silbentrennung, gar keine Zeichen besitzt. Wir trennen aber wenigstens die Teile der Rede, die wir als verschiedene Worte empfinden. Wir schreiben „Erblasser", wir schreiben (als) er blasser (wurde) ". Es gibt aber hochentwickelte Sprachen, deren Schrift die Worte nicht trennt. Sollen wir annehmen, daß eine solche Sprache (wie das Sanskrit) vollendetere Buch- stabenschrift sei, weil sie keine Wortbilder bietet, oder daß sie noch hinter der Wortschrift zurückstehe, weil sie ihren Büchermenschen ganze Satzbilder auf einmal gibt? Ich fürchte, wir sind allesamt Chinesen und wissen es nicht. Schrift- Diese kleine Bemerkung, daß nämlich die starke Un- Sprache genauigkcit der Schriftzeichen im Verhältnis zu den Laut- zeichen die Buchstabengruppen erst recht zu Wortbildern, also zu Teilen einer Schriftsprache im engeren Sinne gemacht hat, brauche ich bloß auszusprechen, um der Zustimmung jedes Fachmannes gewiß zu sein. Die Tatsache ist aber von unerschöpflicher Wichtigkeit für die Entwicklung der Sprache in der Richtung nach einer Schriftsprache im engern Sinne, die ich nun weiter „schrifthche Sprache" nennen werde. Man stelle sich einmal vor, in wie entsetzhcher, ja lächerUcher Weise die Natur verarmen müßte, wenn es in den Willen oder in die Gewohnheit der Menschen gegeben wäre, Tierformen oder Pflanzenformen, z. B, Blattformen, nach den wenigen Typen zu beschränken, welche die schematische Tätigkeit der Botaniker

Schriftliche Sprache 555

aufgestellt hat. Ich finde in einer guten Übersicht 3G solche verschiedene Blattformen namentlich aufgezählt. Ich will entgegenkommend sein und annehmen, diese Anzahl ließe sich (durch Verbindung mit der Anzahl der schematischen Blattrandformen) auf die Zahl von 200 bringen. Wir hätten dann in der ganzen ungeheuren Natur, in der sich nicht zwei Blätter am selben Baume gleichen, wohlgezählte 200 verschiedene Sinneseindrücke. Ganz ähnlich ist es mit der Sprache geworden, seitdem eine schrifthche Sprache mit ihren 24 Buchstaben die tausendfältig verschiedene Aus- sprache schematisch eingeschränkt hat. Und wir können durch einen glückhchen Zufall historisch belegen, daß die Scheniatisierung der Sprache seit der Einführung der Schrift Fortschritte gemacht hat. Wir wissen, daß in alten und neuen Sprachen die Laute eines Wortes sich verändern, je nach dem Laut, der auf sie folgt, sei es der Laut einer Bildungs- silbe des W^ortes selbst, sei es der Anlaut des folgenden Wortes im Satze. Nun verlangte die Orthographie des Sanskrit z. B., die auch darin streng phonetisch war, daß der Ablaut eines Wortes je nach seiner Aussprache, das heißt nach der Wirkung des ihm folgenden Anlauts, mit verschiedenen Buchstaben geschrieben wurde. Man denke sich das heutige Französisch mit seinen unaufhörhchen Hinüberziehungen so geschrieben phonetisch also , und der gebildete Franzose wird einem neuen, verwirrenden, schwer oder doch langsamer ver- ständHchen Sprachbilde gegenüberstehen. Aber ich brauche die Beispiele nicht so weit herzuholen. Noch im Mittelhoch- deutschen war die Orthographie phonetisch genug, um die Aussprache desselben Wortstammes verschieden zu schreiben. „Neigen er neicte." In den modernen Sprachen hat die Etymologie gesiegt. Wir schreiben „neigte". Die Folge aber ist, daß wir Oberdeutschen ein schlechtes Gewissen dabei haben, wenn wir dieses g wie ein k aussprechen. .Vuf der Schulbank ist es uns eingeprügelt worden, daß der Bucli- stabe g so und nicht anders ausgesprochen werde; wir be- halten darum zeitlebens die Neigung, ihn auch dort wie ein g auszusprechen, wo die lebendige Sprache den Laut des

566 XII. Schrift und Schriftsprache

Wortstammes in ein k verwandelt hat. Im Mittelhoch- deutschen schrieb man tac und sagte wie heute noch jeder naive Oberdeutsche Tak. Die schrifthche Sprache hat aber auf die Gemeinsprache, die sogenannte Schriftsprache der Gebildeten, eingewirkt, und heute sagt jeder oberdeutsche Schauspieler „Tach", weil ihm die genaue Aussprache „Tag" (mit einem reinen g als Auslaut) doch zu beschwerlich ist. PLone- ]yj^j-^ jjj^g daraus sehen, wie kleinlich und künsthch die

tische . . . . -

Ortho- Bestrebungen smd, die historisch gewordene Orthographie graphie einer Sprache durch eine phonetische Schreibung zu ersetzen. Das Bedürfnis ist natürlich selbst in den Augen der Pho- netiker verschieden in den verschiedenen Kultursprachen. Die Übereinstimmung zwischen Sprache und Schrift scheint im ItaHenischen ausreichend, im Französischen schon ge- ringer, ungenügend im Deutschen, ganz ungenügend im Englischen. Um die Kleinhchkeit dieser Bestrebungen zu begreifen, muß man vor allem festhalten, daß die lebendige Sprache sich in ihren Lautveränderungen unaufhörhch und in jeder Sekunde unmerkHch entwickelt und daß die Ein- führung einer neuen Rechtschreibung immer nur nach größeren Zeitabschnitten, wenn die Veränderungen sehr merklich ge- worden sind, vor sich gehen kann, und zwar absichtlich, vom grünen Tische aus, während der Lautwandel der Sprache unabsichthch geschieht. Vom grünen Tische aus ist eine Veränderung der Orthographie immer geschehen; heute ist das offenbar; aber auch früher ging jede solche neue Ortho- graphie schließhch doch vom grünen Schreibtische einfluß- reicher Schriftsteller aus. Dafür bekommt jetzt das ganze Volk die Neuschreibung von verzweifelten Schulmeistern eingeprügelt. Die Wirkung ist nun regelmäßig folgende: je geübter ein Mensch im Gebrauche der alten Orthographie ist, das heißt je mehr er beim Lesen und Schreiben mit bloßen Wortbildern zu tun hat, desto lästiger wird es ihm sein, sich an die neue Schreibung zu gewöhnen. Ich für mein Teil ge- stehe, daß ich die neue Orthographie nicht einer V'^iertelstunde Lernens wert gehalten habe und es gern der Druckerei über- lasse, die Wortbilder meiner Schrift in die Wortbilder der neuen

Phonetische Orthographie 5g7

Orthographie zu verwandeln. Die ganze erwachsene Generation wird also, soweit sie in Wortbildern, in einer schriftlichen Sprache zu denken gewöhnt ist durch die Neuschreibung nicht gefördert, sondern bestenfalls gestört. Die neue Generation aber hat ein paar Dutzend kleine Ausgleichungen und Be- quemhchkeiten erworben, von denen es mir doch fraglich ist, ob sie die ausgeteilten Prügel wert sind. Denn wirkUch phonetisch kann eine Schreibung wegen der Mängel unseres .^Iphabets überhaupt nicht werden. Der Gegensatz zwischen Sprache und Schrift ist, wie ich hoffentlich überzeugend dargelegt habe, ein schreiender. Und selbst wenn mau das großp künsthche, phonetische Alphabet anstatt unserer armen vierundzwanzig Buchstaben einführen wollte, so wäre der Gegensatz zwischen Sprache und Schrift nur etwas ge- mildert, nicht aber aufgehoben.

Es scheint z. B., daß das lateinische Alphabet zu der Aussprache des Althochdeutschen schlecht genug paßte. Die Menschen halfen sich, wie sie konnten. In dem einen Falle wurde der eine von zwei Lauten der herrschende und wir haben jetzt nur einen Laut, wo früher zwei Buchstaben (z. B. v welches u geschrieben wurde und f) vorhanden, also auch wohl nötig waren. In dem anderen Falle mag viel- leicht die Zufallsgeschichte der Schreibung dazu geführt haben, zwei so verschiedene Laute wie g und k (c) deutücher auseinander zu halten. Dieser Einfluß der Schrift auf die Sprache mußte immer größer und größer werden, je mehr Büchermenschen es gab und je größer zugleich die Einübung des einzelnen Büchermenschen im Lesen und Schreiben wurde, je mehr bei so vielen einflußreichen Leuten das Laut- bild vom Wortbild verdrängt wurde. Im einzelnen läßt es sich nachweisen, daß die verschiedene Schreibung desselben Wortes die Sprache genau so bereicherte wie sonst nur Laut- veränderung und daß auf die Trennung des Wortbildes in der Schrift wenigstens für mein Lesergefühl die Trennung des Lautbildes folgte oder zu folgen beginnt. „Das" und „daß", „wieder" und ..wider" sind gute Beispiele. „Das" und „daß" ist noch in nahe historischer Zeit ein und dasselbe

568 XII. Schrift und Schriftsprache

Wort; ich will nicht darauf eingehen, daß es ursprünglich als Artikel, Fürwort und Konjunktion doch auch einmal ein und dieselbe Kategorie war ; sicherlich aber war es anfangs einzig und allein in der Schreibung, also einzig und allein fürs Auge, als Wortbild auseinander getreten, als „das" den Artikel und das Pronomen, „daß" die Konjunktion bedeutete. Man lese nun den eben niedergeschriebenen Satz laut und man wird nicht umhin können, das Wort in seiner verschiedenen An- wendung auch verschieden auszusprechen. Hier freihch nur in ungebräuchlicher Weise, wie man am Ende einmal auch eine Bildungssilbe betonen kann. Aber auch sonst wird ein feines Ohr heraushören, daß ein guter Sprecher „das" und „daß" verschieden ausspricht weil ein Zufall dazu geführt hat, es verschieden zu schreiben. Noch krasser hegt die Sache bei „wieder" und „wider". Die meisten Deutschen würden es für einen Fehler halten, das gleiche Wort in beiden Be- deutungen gleich auszusprechen. Und nur das Vorhandensein des anderen Wortes „Widder" wird den legendären Sprach- geist verhindern, die Präposition eines Tages mit dd zu schreiben. Es liegt also wieder die deutliche Tatsache vor, daß die Differenzierung der schriftlichen Sprache der Armut der lebendigen Sprache aufzuhelfen versucht hat. Nicht viel anders hegt es überall da, wo wir an der verschiedenen Schreibung absolut gleichlautender Worte (z. B. Ton und Thon) festhalten, um die arme Sprache nicht noch ärmer werden zu lassen. Einzig und allein die schrifthche Sprache verfügt da über zwei Worte. Die lebendige Sprache kennt nur eines, solange sie sich nicht bemüht, wie in „das" imd „wieder" den Laut zu differenzieren. Chine- Das Ergebnis dieser ganzen Untersuchung scheint mir

siscli6

Zukunft also: unsere modernen Sprachen nähern sich in ihrem Ge- brauche durch die Gebildeten als schrifthche Sprachen dem chinesischen Zustande noch mehr, als man bis zur Stunde geahnt hat. Es gibt in unserem alltäglichen Sprechen nicht nur den auch von anderen beobachteten Unterschied zwischen einer famiUenhaft oder landschaftlich gefärbten Umgangs- sprache und einer für richtig gehaltenen Gemeinsprache,

Chinesische Zukunft 5ßQ

die sich einer idealen Schriftspraclie nähert; nein, es gibt außerdem einen viel tiefer greifenden Gegensatz zwischen allen diesen (dem einzelnen oft in vielen Abstufungen zu Gebote stehenden) Formen der mündlichen Sprache und der schrift- lichen Sprache im engeren Sinne, einer schriftüchen Sprache, die wie das Chinesische nur für die Augen da ist. Zwei künftige Möglichkeiten stellen sich uns vor Augen. Entweder es könnte der Versuch gemacht werden, mit dem oben als möglich auf- gestellten natürüchen Alphabet des Phonographen zu einer wahrhaft phonetischen, der lebendigen Sprache unaufhörUch folgenden, beinahe idealen Buchstabenschrift zu gelangen; dieser Versuch könnte aber nur gehngen, wenn sämtüche Volksgenossen, also auch sämtliche arme Schulkinder imstande wären, ihre Muttersprache so genau zu idealisieren, wie es etwa die höhere Mathematik mit den elementaren Rech- nungen und Linien tut. Ich weiß nicht, ob ich fürchten oder hofien soll, daß diese Entwicklung der Massengehirne sich niemals vollziehen wird. Oder aber unsere schriftlichen Sprachen könnten dereinst zu Wortbildern zusammenschießen und wir würden den Forschern solcher Völker, bei denen dann die Buchstabenschrift und die schrifthche Sprache noch etwas Neues sein wird, dasselbe seltsame Bild gewähren, das heute die Chinesen uns bieten. Im einzelnen wäre zu dieser Ge- staltung der schriftlichen Sprache vielleicht nötig, daß unsere Sprachen noch mehr als bisher die Neigung hätten, ihre Bildungssilben zu verüeren und so gewissermaßen zu isolierenden Sprachen zu werden. Wir brauchen nur selbst die immerhin noch bildungsreiche deutsche Sprache mit der lateinischen oder griechischen zu vergleichen, um zu erkennen, daß wir auf dem Wege dazu sind. Das Engüsche ist beinahe schon isolierend. Das Französische schwankt noch; in seiner historischen Orthographie, die im Zusammenhang mit der alten poütischen Zentrahsation sehr konstant gebheben ist, erinnert es noch stark an den alten, nicht chinesischen Zustand. Man stelle sich aber einmal vor, daß auch dort eine phone- tischere Schreibung Platz griffe, daß z. B. anstatt fait, laid geschrieben würde fe und le; wird man mir nicht beistimmen

570 XII. Schrift und Schriftsprache

müssen, daß durch längere Einübung dieses Wortbildes schließlich auch die weibhchen Formen faite und laide seltener würden und endlich ganz verschwänden, so daß das Fran- zösische sich in diesem Falle dem Englischen und Chinesischen nähern würde? Wäre ich geneigt, historische Gesetze aufzu- stellen oder Gesetze überhaupt, ich würde jetzt von einem Kreislauf der Sprachen reden, der in großen Zeiträumen mit isolierender mündlicher Sprache beginnt und mit isolierender schriftlicher Sprache endet. Dieses „historische Gesetz" würde nur eine Kleinigkeit voraussetzen: die Kenntnis der Ur- anfänge unserer Sprache und dazu die Kenntnis ihrer Zu- kunft. Es wäre also Scharlatanerie, wenn ich Gesetze nennen wollte, was doch nur eine unsichere und auf wenigen Beob- achtungen beruhende Analogie zwischen den chinesischen Jahrtausenden und unseren paar Jahrhunderten ist. Psycho- Was man wirkhch zu beobachten vermag, das ist etwas Schrift- '^^öit Geringeres, aber immerhin doch Bemerkenswertes: daß liehen es in unseren Kultursprachen eine immer selbständiger wer- dende schriftliche Sprache gibt, die ihre eigene Entwick- lung hat, die ihrerseits die mündhche Sprache beeinflußt und in der hauptsächhch die Gedankenarbeit wissenschaft- licher Männer vollzogen wird. Um dieses letzten Umstandes willen ist es aber nötig, noch etwas tiefer zu greifen und zu untersuchen, worin sich unsere schrifthche Sprache von der mündlichen Sprache psychologisch unterscheidet. Wie es schon oft über die Grenze des Aussagbaren hinausgeht, mit den Mitteln der Sprache über die Sprache selbst klar zu werden, so ist es nun vollends ein vernichtendes Unter- nehmen, in schriftlicher Sprache über die schrifthche Sprache denken zu wollen. So mag es dem unsehgen Nordpolfahrer zumute sein, wenn er in seinen Träumen dort oben die Achse der Erde zu finden hoffte, dann aber in Wirklichkeit nichts erbhckt, nichts, nichts, nichts als eisige Öde, den Tod der Natur und seinen eigenen Tod. Nur freiüch könnte vor der Verzweif- lung der resignierte Gedanke retten, daß er nur in seiner armen Sprache diese Eisfelder und dieses sein eigenes Aus- löschen den Tod zu nennen gewöhnt ist, daß die wirkliche Natur

Psychologie der schriftlichen Sprache 571

im ewigen Eis und in seinem erstarrten Leichnam nicht anders lebt als in der Üppigkeit der Tropen.

Ich habe also zu untersuchen, worin sich in seiner Psychologie, das heißt in seiner Wirklichkeit oder seiner Wirkung, das gedruckte Wortbild z. B. „Baum" von dem gesprochenen Worte z. B. „Baum" unterscheidet.

Ich muß nun daran erinnern, wie wenig konkreten Wert ich schon dem gesprochenen Worte „Baum" beilege. Es bezeichnet einen außerordentlich umfassenden und dem- entsprechend einen sehr inhaltsarmen Begrifi. Ein konkretes Wort ist „Baum"" nm" für das Kind, welches es zum ersten- mal hört und anwendet. Ich zeige dem Kinde z. B. den müden Fliederbaum vor meinem Hause, spreche dazu das Wort aus, das Kind wiederholt es, aber nur wie einen Eigen- namen: „Baum" ist ihm in diesem AugenbUcke einzig und allein diese Pflanze an dieser Stelle in dieser Jahreszeit. Das ist Ursprache, das ist beinahe Zeigefingersprache, Eigen- namensprache, vorbegrifiUche Sprache. Ein Abgrund trennt diese Bedeutung von dem Begriffe „Baum", wie das Kind ihn später gebraucht, wenn es erwachsen ist und seine Mutter- sprache beherrscht oder gar Botanik studiert hat. Viel- leicht w^ird es dann sogar meinen FHederstamm gar nicht mehr unter den Begriff Baum bringen wollen, wird ihn viel- mehr zu den „Sträuchern'" rechnen. Wir wissen von einem anderen Gedankengange her, daß unser Begriff „Baum" eigenthch nicht vorstellbar ist; er ist nur durch Beispiele vorstellbar, von denen jedes mehr ist als der Begriff und an denen kein einziges wahrnehmbares Merkmal dem Begriff „Baum" entspricht. So rein begrifflich angewendet wird das Wort, wenn wir die armsehge Tautologie sagen: „die Linde ist ein Baum". Etwas konkreter scheint der Begriff" zu werden, wenn der Gebrauch des Wortes, wie in der Erzählung, sich geradezu au die Phantasie wendet. „Auf dem Gipfel des kahlen Berges erbhckte ich einen Baum." Das sollte doch vor- stellbar sein, denn wir sollen uns ja dabei etwas vorstellen. Man gebe aber einem Maler die Aufgabe, die Vorstellung zu fixieren. Er wird entweder ein Beispiel hinmalen, eine Eiche

572 XII. Schrift und Schriftsprache

oder sonst einen bestimmten Baum, oder er wird das Bild ebenso imklar lassen müssen, wie der Begriff es auch in diesem Falle ist. Ein moderner Maler aber wird den Versuch gar nicht wagen. Er wird uns antworten: es sei ihm unmöglich, einen begrifiüchen Baum zu malen; auch aus der weitesten Entfernung, auch in der Trübung habe noch jeder Baum seinen ausgesprochenen Charakter, den er, wenn auch noch so ver- schwommen, festhalten müsse.

In der lebendigen Rede kann jedoch „Baum" auch etwas AVohlbekanntes bezeichnen. Entweder befinden wir uns vor einem Baumindividuum und wollen es nennen, oder wir sprechen von diesem Baumindividuum, wenn es nicht gegen- wärtig ist, genau so wie von einer dritten Person, oder endlich es war in einer Erzählung von einem Baumindividuum die Rede und wir erinnern daran nachträglich mit dem zusammen- fassenden Worte. Dann ist die lebendige Sprache eigentlich zur vorbegrifflichen Sprache zurückgekehrt und hat das Wort als Eigennamen gebraucht. In diesem letzten Falle bringen wir wie zu jedem Eigennamen eine Stimmung hinzu, die sich im Ton der Stimme und in den begleitenden Umständen, in dem Ausdruck unsers Gesichts und in den Gesten , wenn auch noch so leise, äußert.

Ich brauche nicht besonders darauf hinzuweisen, daß diese letzte Anwendung der Sprache allein in der mündlichen Sprache möglich ist. Die schriftHche Sprache kann wohl durch außerordentliche Kunstgriffe diesen Gebrauch nachahmen und ist dann Poesie. Aber sie kann schwarz auf weiß niemals volle Poesie werden. Es drängt den Dichter wie den Leser zur mündhchen Sprache; und auch ein eingefleischter Bücher- mensch wird beim Lesen eines Gedichtes, wenn er es schon nicht laut liest, doch unwillkürhch stärkere Bewegungs- gefühle hervorrufen und darum verspüren als beim Lesen eines wissenschafthchen Werkes. Hier haben wir, wie ich glaube, den Punkt vor Augen, an welchem sich die eigentliche schriftHche Sprache von der durch Buchstaben vermitteln- den lebendigen Sprache scheidet. Ich bitte wohl darauf zu achten. So lange beim Lesen Bewegungsgefühle vorhanden

Psychologie der schriftlichen Sprache 573

sind, so lange sind wir auf dem chinesischen Standpunkt noch nicht angekommen. Der Unterschied ist freilich so fein, daß die Selbstbeobachtung vorläufig wenigstens versagt. Aber es ist schematisch klar, daß da keine Bewegungsgefühle mit- spielen können, wo das Wortbild allein die Gedankenasso- ziation vermittelt. Oder vielmehr es läßt sich schematisch annehmen, daß bei der Auffassung von Wortbildem andere Gefühle oder Nervenveränderungen in uns entstehen als bei der inneren Artikulation von Worten. Ich weiß, daß dieses letzte Zugeständnis meinem ganzen Gedankengang eine neue Unsicherheit, Unbestimmtheit, ja Ungenauigkeit verleiht; ich wäre aber nicht wahr, wollte ich in einer Kritik der Sprache jemals daran vergessen, daß jedes Wort ungenau und ver- schwimmend ist.

Wie dem auch sei, die schriftliche Sprache gibt uns, das heißt unserem Gesichtssinn Wortbilder, welche nicht mehr durch die Bewegungsgefühle der artilculierten Wortlaute auf die Erinnerungen unsers Gehirns wirken. Mit dem eben vorgebrachten Zugeständnis will ich also nur feststellen, daß die Wirlomg der schriftlichen Sprache ein wenig anders sei als die der mündlichen. Ich will mich darauf besinnen, daß ein ursächlicher Zusammenhang bestehen bleiben muß und daß einmal die Psychologie auch für die Wortbilder einen Vorgang wird beschreiben können , der den Bewegungs- gefühlen der Wortlaute entspricht. Schon jetzt ist die Psychologie des Lesens, die bei Kußmaul noch allzu medi- zinisch war , durch die methodischen Experimente von B. Erdmann (und R. Dodge) über Stricker hinaus weiter- geführt worden. T

Worauf es mir ankommt, das ist nun die Tatsache, daß beim mündhchen Sprechen der Zusammenhang zwischen der in Urzeiten zurückliegenden Entstehung des Worts und seinem noch so begriffUchen, toten Gebrauch doch nicht gerissen ist. Alle Milharden Baumiudividuen, welche die Menschheit seit imdenkbaren Zeiten wahrgenommen hat, haben ihre Spur in dem Wortlaut Baum zurückgelassen. Das Wort ist ein Teil der ungeheuren Erbschaft, die jeder

574 XII.' Schrift und Schriftsprache

einzelne in seinem Volk erwirbt, um sie zu besitzen. Das Erwerben jedes einzelnen Wortes besteht darin, daß er einen Bruchteil der Sinneseindrücke der Menschheit persönlich mit dem Worte verbunden hat. Er kann im Geschnatter des Alltags das Wort vorstellungslos gebrauchen, er kann es in einer wissenschaftlichen Darlegung Vorstellung^ los hören oder aussprechen; aber die Vorstellung steht immer an der Schwelle, die leiseste Hemmung, die flüchtigste Aufmerksam- keit, ein Hauch der Erinnerung genügt, um an das Bewegungs- gefühl des gesprochenen Worts ein konkretes Beispiel oder eine verschwommene, unklare, echt menschliche Vorstellung eines Baumes zu knüpfen. Die Verbindung zwischen den; Sinneseindruck und ihren Spuren im Bewegungsgefühl ist noch nicht gerissen.

Diese Verbindung reißt aber entzwei, sobald in der schrift- lichen Sprache kein Bewegungsgefühl erzeugt wird. Ich weiß natürlich, daß diese Metapher vom Abreißen unrichtig ist, daß sie übertreibt, daß sie die Metapher der Hyperbel ist. Denn wäre die Verbindung tatsächlich zerrissen, so wäre ja die Möglichkeit ausgeschlossen, sich bei der schriftlichen Sprache etwas zu denken, sie wieder in lebendige Sprache zurück zu übersetzen. Es wird also auf eine neue, feinere Verbindung hinauslaufen, die wir mit unserer groben Mikro- skopik natürlich nicht nachweisen können. Und die Möglich- keit einer Rückübersetzung in die mündliche Sprache oder in die artikuherte Schriftsprache beweist uns, daß die schrift- liche Sprache doch noch nicht den Zusammenhang mit unseren Erkenntnisquellen verloren hat, mit unseren Sinnes- eindrücken. Diese Möglichkeit, ja die Schnelligkeit , | mit welcher eine solche Rückübersetzung unbewußt geschehen kann, erklärt es auch, warum eine literarische Literatur, eine schriftliche Poesie bestehen kann. Die Begabung eines Dichters ließe sich sogar geradezu auf die Formel bringen: sie sei um so größer, je häufiger und schneller der Dichter durch seine Worte den Übergang von der schrift- lichen zu der lebendigen Sprache, das heißt zu Vorstellungen hervorrufe.

denken

Vorstellungslosee Buchdenken 575

Mir ist es aber hier vor allem um die schriftliche Sprache Vor- zu tun, in der namentlich seit Erfindung der Buchdrucker- '"''"""g^" kunst wissenschaftliche Gedankengänge niedergelegt werden Buch und in der der Schüler die Gedankengänge wieder in sicli auf- zunehmen sucht. Und da muß es doch einmal gesagt werden, daß bei unserem wissenschaftlichen Betrieb, der phantasielose Dutzendmenschen zu Lehrern und zu Schülern macht, das Bücherschreiben und Bücherlesen zu der unfruchtbarsten Tätigkeit geworden ist. Ich nehme kleine und große Genies unter Lehrern und Schülern aus. Für die ist dann aber auch das Bücherschreibcn imd Bücherlesen eine außerordentliche Anstrengung, weil das Rückübersetzen der schriftlichen Sprache in vorstellbare BegriiTe nicht einen Augenblick unter- lassen werden darf. Unsere meisten Kompendien jedoch und deren gedächtnismäßige Aneignung stehen noch tiefer, als der Gebrauch der Sprache durch ihre natürUchen Mängel ohnehin gestellt ist. Wir wissen, daß wir uns auch in der lebendigen Sprache nur des menschheitlichen Erkenntnis- schatzes erinnern, daß wir ihn durch die Sprache nicht ver- mehren können. In der lebendigen Sprache ist das Gedächtnis der Menschheit aufgestapelt. Die schriftliche Sprache ist auch Gedächtnis, aber sie erinnert nur in Worten an Wort«, in Zeichen an Zeichen, während die lebendige Sprache doch wenigstens in Worten an Sinneseindrücke erinnert. Die schriftliche Sprache, wie sie im wissenschaftlichen Fabriks- betrieb unserer Universitäten vorherrscht, füllt die Köpfe mit Gedächtniskram für die Prüfung. Man achte nur darauf. wie tonlos, stimmungslos, weil vorstellungslos, so ein Dutzend - kandidat seine Worterinneruugen herunterleiert. Er hat beim sogenannten Studieren das Wortbild „Baum" immer nur als Wortbild vor sicli gesehen, er hat nicht ein eiuzigesmal vielleicht selbst beobachtet, er hat in manchen krassen Fällen wird es keine Übertreibung sein wie ein Papagei auswendig gelernt, bei dem doch wirklich eine Verbindung zwischen dem Wortlaut und der menschlichen Wortentstehung selten existiert. In diesen extremen Fällen ist es auch gleich- gültig, daß bei der Prüfung und später im Amt die Rück-

576 XII. Schrift und Schriftsprache

Übersetzung der schriftlichen Sprache in eine mündliche Sprache erfolgt. Denn nur die Übersetzung, welche zu Sinnes- eindrücken hinüberleitet, ist Rückkehr zu nennen. Die bloß mechanische Verlautbarung der schriftUchen Sprache ist wohl eine Übersetzung, aber keine Rückübersetzung. Es ist eine mündliche Sprache, die aber keine Verbindung mehr hat mit der lebendigen Sprache. Auch gute Lehrer, auch gute Schüler werden in schwächeren Stunden so zu Papageien, wenn sie vorstellungslos schreiben oder lesen. Sie können aber auch in solchen Stunden bei gutem Gedächtnis immer noch ihre gegenseitige Zufriedenheit erwerben.

Nur ganz im Vorübergehen will ich erwähnen, daß die schriftliche Fixierung verhängnisvoll geworden ist auf allen Gebieten der ReHgion. So ruchlos wie nach Einsetzen der Offenbarungen in Büchern konnten die alten Religionen Andersgläubige gar nicht verfolgen. Schon Spinoza (Tract. theol.-pol. XIV) hat das „belgische" Sprichwort angeführt: „Geen ketter sonder letter". Darum ist es ein nichtswürdiger Aberglaube, im aslamischen Orient ebenso verbreitet wie im christlichen Abendlande, die Buchreligionen (nicht nur die eigene Buchreligion) für vornehmer zu halten als die un literarischen, unschriftlichen Religionen. Nein, die Buch- religionen sind ihrem Wesen nach noch starrer und unduld- samer. „Geen ketter sonder letter."

Ich habe vorhin bemerkt, daß die technischen Ausdrücke unserer Wissenschaften den Charakter von außersprachlichen mathematischen Zeichen haben. Sie gehören vollständig der schriftlichen Sprache an. Jetzt smd wir so weit gekommen, um einzusehen, daß dieser formelhafte Charakter der schrift- lichen Sprache überhaupt zugesprochen werden muß. Auch die geläufigsten Begriffe des Alltags werden in der rein schrift- lichen Sprache, wie sie in den extremen Fällen gelesen und geschrieben wird, zu technischen Ausdrücken, zu mathe- matischen Gedankenzeichen. Immer erfordert diese schriftliche Sprache eine doppelte Arbeit: die der Sprache überhaupt und die ihrer Verlebendigung. Mit unheimlicher Gewalt hat sich diese schriftUche Sprache seit einigen Jahrhunderten der

Vorstellun^sloses Buchclenken 577

gebildeten Leute bemächtigt. In schriftlicher Sprache sind jetzt unsere wissenschaftlichen Bücher und viele Gedichte abgefaßt, auch solche Gelehrtonarbeiten und Poesien, welche die Mühe der Verlebendigung lohnen. In schriftlicher Sprache aber schwatzt man auch schon vorstellungslos und gedankenlos in Gesellschaften und in Zeitungen. Innerhalb der Poesie allein ist seit einigen Jahren eine Bewegung vorhanden, die die lebendige Sprache wieder zu Ehren bringen will, eine Bewegung, welche für revolutionär gilt und sich selbst dafür hält, welche aber im Grunde nichts ist als eine Reaktion gegen die Herrschaft der schriftlichen Sprache. Eine solche revolutionäre Reaktion will neben ihren erkenntnistheoreti- schen Zielen auch diese Kritik der Sprache sein.

Es schreibt es einer dem anderen nach, daß unsere Buch- stabenschrift den ungeheuren Wert der menschlichen Sprache nocli erhöht habe: durch die Schrift sei es möglich, die Mit- teilung von Raum und Zeit unabhängig zu machen, ent- fernten l^eunden briefliche Nachrichten zu geben und historische Dokumente auf die Nachwelt gelangen zu lassen. Diese Bedeutung für die Mitteilung fällt zunächst in die Augen, und sie ist wichtig genug, viel wichtiger, als wir auf den ersten Blick sehen können, die wir uns den Zustand der allgemeinen Schriftlosigkeit nur schwer vorzustellen vermögen.

Umgekehrt ist Völkern ohne Schrift diese Erfindung Vor-

Schrift'

eine vollkommen unzugängliche Zauberei. Grimms Märclien y^^^^ geit erzählen in der Geschichte von dem armen Jungen im Grab, wie der Knabe Trauben und einen Brief zur Besorgung be- kam, wie er zwei Trauben naschte und von dem Brief ver- raten wurde und wie er das nächste Mal, als er wieder naschen wollte, vorher den Brief unter einen Stein versteckte, damit der Brief ihn nicht sähe. Das vermeintliche Märchen scheint neu und einem Erlebnis zwischen Europäern und Indianern nacherzählt. Noch aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts wird von einem sehr intelligenten Häuptling berichtet, döß er sich lang und breit das Wesen der Schrift von einem Eng-

Mauthnur, U(.itr;igo zu einer Kritik der Sj)ruclji\ U »>'

578 ^I- Schrift und Schriftsprache

länder habe erklären lassen, Experimente anstellte, wie etwa heute ein König mit der Telegraphie ohne Draht, daß er aber schließhch immer wieder von der Schrift Mitteilung derjenigen Geheimnisse erwartete, die der Schreibende gar nicht kannte. Es können die Menschen ohne Schrift sich die Schriftsprache nicht vorstellen ; und wir Menschen der lesenden Zeit kaum die vorschriftliche Sprache.

Wir werden dem Geiste der vorschriftlichen Zeit am nächsten kommen, w^enn wir festhalten, daß die Sprache das innere Gedächtnis für Sinneseindrücke ist, daß die vSchrift allein die Möghchkeit gewährt, dieses Gedächtnis durch dauernde Zeichen zu unterstützen. So liegt es vor jeder weiteren Untersuchung auf der Hand, daß eine zuverlässige Erfahrung, daß diejenige Erfahrung, die wir „Wissenschaft" zu nennen gewohnt sind, vor der Schrift nicht möglich war. Weit mehr als heutzutage mußte jeder Mensch und jede Menschengruppe eine Erfahrung von vorn beginnen. Man erlebte weit mehr Überraschungen. Die Erfahrung war weit mehr an die zeithche und räumliche Gegenwart ge- knüpft. Vergangenheit und Zukunft waren wüste Begriffe. Und was die Erfahrung nicht erwarten ließ, das mußte ein Wunder scheinen. Der Götterglaube war das natürliche Kind der vorschriftlichen Sprache. In der nachschriftlichen Sprache, die uns „wissenschaftliche" Erfahrung gewährt, mußte der Götterglaube langsam weichen. Nach Erfindung des Buchdrucks wurde er ein Anachronismus.

So weit es sich ohne Rücksicht auf die Erkenntnisfragen tun ließ, hat Wuttke (Die Entstehimg der Schrift S. 53 und folgende) sehr fein auf einige Kennzeichen der schriftlosen Kulturzeit hingewiesen. „Der Abwesende galt sehr wenig oder nichts. Ich wage nicht zu sagen, wie weit dieses Gefühl der Machtlosigkeit, wie Aveit der Gegensatz zwischen dem gebieterischen Eindruck des Anwesenden und der Ohnmacht des Abwesenden auf die Erscheinungen des Lebens gewirkt hat, ob es beitrug, besonders auf Mehrung der Leibesstärke Bedacht zu nehmen, ob es grausamer stimmte gegen den überwundenen Feind, weil die Früchte des Sieges verlor, wer

Vorschriftliche Zeit 579

sie Dicht auf der Stelle pflückte, ob es dahin führte, die religiösen Vorstellungen in der Art zu stärken, daß an ihnen ein Zauberbann gewonnen ward, der die Willkür verstrickte, wo keine gegenwärtige Gewalt diese niederpreßte." Ich nehme Wuttke weiter zur Grundlage.

Die Stellung der Greise mußte darum in der schriftlo.sen s>«hrifi Zeit eine ganz andere sein, als sie heutzutage ist. Heute ist (jr^j^g,,. die Ehrfurcht vor den Greisen ein vererbtes Gefühl, das häufig weisiieit nur in leeren Ehrenbezeugungen zum Ausdruck kommt. Wo ein frischgebliebener Greis, wie Bismarck, ein Ansehen genoß, das an die Greise der Legendenzeit erinnerte, da kam zu alten Ruhmestiteln die persönhche Erfahrung fast nur als erworbene Menschenkenntnis hinzu. An sogenannter wissenschaftlicher Erfahrung steht der gewöhnliche Greis jetzt durchaus hinter den Jüngern zurück. Anders war es in der vorschriftlichen Zeit. Damals war die Erfahrung der Greise eines Stammes, was wir jetzt in Museen uad Bibüotheken beisammen haben. Damals war nur bei den Greisen zu finden, was wir etwa Ge- schichte und Geographie, was wir technische Wissenschaften nennen. Heute setzt sich der junge Privatdozent in eine wohl- geordnete Bibliothek von vielen hunderttausend Bänden und findet da die Erfahrungen unzähhger Mitarbeiter nicht nur für die historischen, sondern auch für die realen Wissen- schaften aufgespeichert.

Als die schriftlose Menschheit so in materieller Abhängig- keit von den Greisen stand, die sehr leicht zu einer Zauberer- oder Priesterherrschaft werden komite, hatte sie sich freiüch schon bedeutend über die Kultur der Tiere emporgehoben. Denn das Gedächtnis der Tiere ist so klein, daß nicht einmal die individuelle Erfahrung wesenthch fortschreitet. Es ist ein alter Fuchs schlauer als ein junger, ein alter Karpfen vermeidet die Angel klüger als ein junger Karpfen, aber mit der Lautsprache fehlt den Tieren auch die Möglichkeit, die individuelle Erfahrung durch innere Zeichen zu binden. Selbst langlebige Tiere erreichen die Erfahrung menschlicher Greise nicht. Aber schon die schriftlose Menschheit sclieint sich von der Herrschaft der Greise und Zauberer durch zwei

580 XII. Schrift und Scliriftspracho

einfache Mittel emanzipiert zu haben, die beide nichts anderes wollen und können, als was die spätere Schrift so vorzügUch leistete: Zeichen für das Gedächtnis zu bieten. Diese beiden Erfindungen bestanden im Rhythmus und in den Bräuchen.

Rhyth- j)er Rhythmus, den wir heute nur als eine Form der Poesie

und der Musik kennen, mochte ursprünglich das sicherste Mittel sein, das Gedächtnis für eine bestimmte Wortfolge zu stärken. Einerlei, worin dieser alte Rhythmus bestand: ob im eigenthchen musikaUschen Rhythmus, ob im Parallelismus der Satzgüeder, ob in gestabten Reimen. Vielleicht besitzen wir in manchen Stücken der ältesten Poesie noch solche Ge- dächtnishilfen aus der vorschrifthchen Zeit. Für jene Greisen- und Zaubererkultur war es gleichgültig, ob so ein Gedächtnis- vers die Götter anrief oder technische Regeln überlieferte. Wer die wirksamen Gebete oder Regeln am geläufigsten zur Verfügung hatte, wer das beste Gedächtnis besaß, konnte für den Erfahrensten gelten. Der Sänger war der Nachfolger des Greises, der Vorläufer des schreibenden Gelehrten. Der Rhythmus und der spätere Reim ist seit der Erfindung der Schrift für die Erfahrung überflüssig geworden; die Poesie hat sich des Rhythmus und des Reimes spielend bemächtigt, und es sind Anzeichen vorhanden, daß auch die Poesie auf diese alten Hilfen keinen unbedingten Wert mehr legt. (Vgl. mein „Wörterbuch der Philosophie", Bd. II, S. 253 f. u. 619.)

Bräuche Was für wirksame Gebete und wirksame Formeln der Rhythmus war, das wurde für die Rechtsformeln der Brauch. Man muß da besser, als es bisher geschehen ist, zwischen dinglichen Beurkundungen und bloßen Zeichen für das Ge- dächtnis unterscheiden. Wenn z. B. ein Grenzstein zwischen zwei Dorfgemarkungen gesetzt wird, so ist der Stein zunächst mehr als ein bloßes Zeichen. Einen Laib Brot konnte man entzweischneiden, um ihn zu teilen. Die Entzweischneidung eines Grundstücks war untunUch, und so zeichnete man die Grenze durch einen Graben oder einen Stein. Das war kein bloßes Gedächtniszeichen. Der Pflüger der einen Gemarkung ging eben nicht über den Graben oder den Stein hinaus. Zum bloßen Gedächtniszeichen, zum Rechtsgebrauch wurde

Bräuche 581

es, wenn bei der Setzung eines Grenzsteines zwischen Feld- marken Knaben zugegen sein mußten, die bei dem feierlichen Akt zuerst geprügelt und dann mit Leckerbissen entschädigt wurden; so blieben sie ihr Leben lang zuverlässige Zeugen des Rechtsakts, So geschah es vielfach in Deutschland. Bei den alten Römern waren auch in der klassischen Zeit für ge- wisse Verträge strenge Rechtsgebräuche üblich. Der Vertrag war ungültig, wenn nur ein Wort anders gesprochen wurde, als das Herkommen verlangte. Solche strenge Rechtsbräuche, welche sich an bestimmte Silben klammern, sind unter uns noch bei der Eheschließung, bei der Eidesleistung gesetzHch fest- gelegt. Li der schriftlosen Zeit müssen solche Gebräuche viel allgemeiner gewesen sein. Sie sind seit der Erfindung der Schrift so überflüssig geworden, wie der Rhythmus für das Gebet und für technische Regeln.

Mit diesen vorschriftlichen Gedächtniszeichen verwechselt Wuttke mehr als einmal diejenigen Zeichen, welche schon selber Schrift sind, indem sie primitive Zahlenverhältnisse ausdrücken. Wenn westafrikanische Händler, die ein Kauf- geschäft miteinander abgeschlossen haben, die Summe da- durch ausdrücken, daß jeder von ihnen ein Beutelchen mit Maiskörnern in der verabredeten Zahl bis zur Schulden- tilgung aufbewahrt, so ist das schon ein Übergang za sichtbaren Zahlzeichen. Noch weiter geht der Gebrauch des Kerbholzes. In das Kerbholz wurde und wird die Schuld eingeschnitten; das Kerbholz war schon Schrift. Das Kerbholz war im Mittel- alter z. B. die Steuerliste, tagha; nebenbei: über ital. tagliere, „Hackebrett", dem Anrichtebrett, ist aus dem gleichen Stamme taglio zufällig unser „Teller" geworden.

Dieser Gegensatz zwischen dem Schrifttum der Gegen- Tcchuik wart und der allgemein schriftlosen Zeit ist nun natürlich nicht schnell zustande gekommen. Trotzdem mit dem Be- ginn der Schrift eo ipso die historische Zeit beginnt (was man wohl beachten sollte), kann niemand sagen, wie viele Jahrtausende vergehen mußten, bevor an die Stelle der er- fahrenen Greise ein Geschlecht von lesenden und schreibenden Gelehrten trat. Die Schrift mußte erst zur alltäghchen Übung

der Schrift

582 XII. Schrift und Schriftsprache

werden, bevor in psychologischem Sinne die Schriftsprache die Lautsprache verdrängen konnte; und das hing wieder von hundert Dingen ab, unter anderem von der Entwickhing der Schreibtechnik. Als der erste ägyptische König das Andenken an die Siege seines verstorbenen Vaters in Hieroglyphen malen ließ, oder als der erste semitische Fürst etwas dergleichen in Fels hauen Heß, da war das Gedächtnis der Menschheit noch nicht viel besser gestärkt als zu der Zeit, da irgend eine Priesterschaft das wirlcsame Gebet zu ihrer Gottheit durch den Rhythmus festlegte. Noch lange nach Erfindung der ersten Schrift zeichen mag es für unmöglich gegolten haben, der- einst die Schallwörter der Lautsprache so dauernd zu machen, wie es gegenwärtig geschieht, wenn jemand seinem Bruder nach Amerika eine Nachricht telegraphiert, wenn ein junges Mädchen der Freundin über hundert Meilen hinweg briefUch ihre Balltoilette beschreibt, wenn ein Kammerstenograph nicht nur die weltgeschichtüche Rede Bismarcks, sondern auch das Gequatsche irgendeines Parteiführers mit flüchtigem Bleistift auf bequemem und spottwohlfeilem Papier verewigt. Eine solche Alltäglichkeit des schriftüchen Gedankenausdrucks mußte auch noch nach Erfindung der ersten Schrift so un- möghch scheinen, wie vor fünfzig Jahren der Phonograph erschien. ^^^ . Ein besonderer Umstand mag den Unterschied zwischen

scbrift- Schriftsprache und der schriftlosen Lautsprache illustrieren, loser w^ij. gij^^j es gewöhnt, diejenigen Menschen für die größten Geister anzusehen, die ihrer Zeit weit vorausgeeilt waren und deren Bedeutung erst nach ihrem Tode erkannt wurde. Solche Menschen waren in der schriftlosen Zeit für die Ent- wicklung verloren. Ein Genie, das von keinem Schüler ver- standen wurde, war ebenso wirkungslos wie ein Narr. Schopen- hauer hätte in einer schriftlosen Zeit erst als schimpfender Greis Zuhörer gefunden. Man denke mm gar an Kopernikus, der im Sterben lag (1543), als ihm das erste Exemplar seiner umstürzenden Schrift überreicht wurde, von dem eine wichtige Schrift 1878 zum erstenmal gedruckt wurde. In einer schrift- losen Zeit hätten solche Männer natürlich solche Gedanken

Genie in schriftloser Zeit 533

nicht fassen, sie aber ganz gewiß nicht der Nachwelt über- liefern können. Ebenso hätten diejenigen Dichter umsonst gelebt, die nicht sofort den Beifall der Masse gefunden hatten. Es wäre ein hübscher Einfall, zu glauben, daß solche Greise in dem Gefühl, ihre hohen Gedanken seien späteren Ge- schlechtern aufzubewahren, selbstbewußt und groß die Schrift zu diesem Zwecke erfunden hätten. Doch so war es nicht in Wirklichkeit. In Wirklichkeit war es wohl die Eitelkeit der Könige und der Starrsinn der Priester, was zunächst das Ge- dächtnis stärken half. Aber dieWirkung ist nach Jahrtausenden darum doch die gewesen, unter der wir jetzt leben. Diese Wertschätzung der Schrift ging sogar der Erfindung des Buchdrucks voraus. Nicht unter den Kulturvölkern Europas, sondern bei den Armeniern ist das Sprichwort entstanden: „Erst wer lesen kann, ist ein Mensch". Und Diodoros aus Sizilien, ein Zeitgenosse des Kaisers Augustus, sagt einmal, in dem Verständnis der Schrift bestehe das Leben des gebildeten Menschen. Für die neuere Zeit, in welcher alle Bildung und alles Wissen aus Büchern geschöpft wird, könnte man beinahe sagen, der Mensch sei ein lesendes imd schreibendes Tier. Der Mensch mit der bloßen Lautsprache ist ein Wilder, heißt unter den Kulturvölkern schimpflich ein Analphabet imd ist zu einem Menschen geringerer Ordnung herabgesunken.

Oben schon ist (nach Wuttke) daran gemahnt worden, Die daß v-ielleicht die Bedeutung der körperlichen Kraft eine jjujtor notwendige Erscheinung der schriftlosen Zeit war. Diese Vorstellung wird ganz leliendig, wenn wir unsere Zeitungs- gegenwart oder auch nur die beginnende Bücherzeit mit den Zeiten vor Erfindung des Buchdrucks vergleichen, da wir doch über die schriftlose Zeit nichts Bestimmtes wissen. Aber in der Bibel sind uns noch Kriegsberichte aus einer Zeit erhalten, die der schriftlosen Zeit nahe stand: und die Reügionskriege des Islam fallen in Jahrhunderte vor Er- findung des Buchdrucks. Damals war der Bürgerkrieg noch ein Schlachten, buchstäbhch ein Abschlachten des Gegners

584 XII. Schrift und Schriftsprache

bis auf den letzten Mann. Den redenden Gegner konnte man durcli Totschlagen zum Schweigen bringen, und zwar nur durch Totschlagen. Schon die deutsche Reformation zeigt ims einen Bürgerkrieg, in welchem mit Flugschriften gekämpft wurde, unblutig. Luther wurde nicht totgeschlagen, auch nicht zu der Zeit, da er besiegt schien. Zu dem Blut- vergießen des Dreißigjährigen Kriegs führten andere Gegen- sätze als die religiösen, wenn auch Rom den Brand eifrig schürte. Und heute stehen wir in einem unaufhörlichen Bürger- krieg (man denke nur an die Erscheinung der Sozialdemokratie), der mit Zeitungsartikeln ausgefochten wird. Das mündliche Schimpfen der Gegner führt zuletzt zu Tätlichkeiten, bei den homerischen Helden sowohl wie bei rauflustigen Bauern im Wirtshaus. Das Schimpfen der Parteizeitungen kann durch Jahrzehnte unblutig fortgesetzt werden. Man nennt das gewöhnlich den Segen des Humanismus, der Konstitution, der Gesetzlichkeit. Es ist aber im Grunde nur eine Folge des Buchdrucks. An diesem modernen Bürgerkrieg sind Millionen Menschen beteihgt. Durch Schrift, Druck und Telegraph hat die Regierung ihre Beamten und ihre Soldaten weit schneller, sicherer und massenhafter am Schnürchen als früher; aber auch die Führer der Massen sind durch dieselben Mittel in der Lage, über Millionen Menschen zu gebieten, wo sie sich einst nur an eine Volksversammlung wenden konnten.

Alle diese praktischen Vorteile der schriftlichen Sprache sollen natürhch nicht verkleinert werden. Ihre Apotheose versuchte ich ja oben (vgl. S. 552) durch die Phantasie: Vernichtung unserer Kultur durch Vernichtung unseres Buch- denkens, unserer Bibhotheken. Nach einem allgemeinen Bücherbrande könnte manches Gedicht, manche Historie wieder hergestellt werden. Aber gerade die realen Kennt- nisse wären für lange Zeit verloren. Es würde sich dann plötzlich herausstellen, daß unsere Kultur nicht auf den Kenntnissen beruht, die sich in der Lautsprache ausdrücken lassen, sondern auf denjenigen ungeheuren Vorräten, welche nur schriftüch aufgespeichert sind. Alle Professoren Europas wären mit ihren lebendigen Kenntnissen nicht imstande,

Buchkultur 585

die Tabellen zu ersetzen, welche niemand auswendig weiß, welche nur in den Büchern stehen. Unsere Fabriken müßten stille stehen, weil die Chemie nicht Menschenwissen, sondern Bücherwissen ist, unser Staat wäre umgeworfen, weil die Statistik nur von Büchern gewußt wird. Und keine einzige Wissenschaft, deren Betrieb auf subtilen mathematischen Berechnungen beruht, ließe sich ohne Logarithmentafeln weiter führen. Die Logarithmentafeln kennt kein Mensch, kennt nur die Schrift.

Nur daß die Schrift nie und nirgends der Erkenntnis ^^'ert d<s der Wirklichkeit auch nur um Haaresbreite näher rücken kann, " ^m^^. als die schriftlose Sprache es vermochte; denn die Schrift bietet nur eine größere und dauerhaftere Sammlung von Er- fahrungen, kann aber ebensowenig wie die Sprache über die Erfahrung hinausgelangen. Das Gedächtnis der schrift- losen Sprache kann man mit der Gewohnheit des Menschen vergleichen, der Wasser mit der hohlen Hand schöpft und dem das Wasser bald zwischen den Fingern hindurchrinnen wird; das Gedächtnis der Schrift sammelt das Wasser zu beliebigem Gebrauch zuerst wie in Fässern, dann wie in künsthchen Wasserbecken auf. Wasser schaffen oder gar Wasser in Wein verwandeln könnte das Becken so wenig wie die hohle Hand. Immerhin atber ist der Dienst, welchen das Sammelbecken des Schrifttums dem Fortschreiten der Menschheit leistet, auch im Verhältnis zu dem der Lautsprache so groß, daß diesem Werte gegenüber die Stellung der Schrift- stellerei und alles dessen, was damit zusammenhängt, lächer- lich und anmaßend erscheinen muß. Jedes Volk besitzt in jedem Jahrhundert nur wenige Menschen, welche gleich den genialen Greisen der Urzeit Sprache oder Erkenntnis zu be- reichem vermögen. Was sonst in ausgedehntem Betriebe das Schrifttum unaufhörlich vermehrt, das gleicht entweder den mechanischen Rädern, welche das Wasser dem Becken tropfenweise zuführen, oder es ist, wie der größte Teil der sogenannten schönen Literatur, die leerste Beschäftigung überflüssiger Menschen. Der größte Teil der Unterhai tu ngs- literatur ist die Anwendung von Phantasie und Gedächtnis

586 XII. Schrift und Schriftsprache

auf Dinge, die keiner Erinnerung und keiner Reproduktion wert sind. Lautsprache ist das Gedächtnis der Menschen, Rhythmus und Schrift ist die Verstärkung dieses Gedächtnisses, Unterhaltungspoesie ist sein Mißbrauch. Was das leere Ge- schwätz oder besten Falls das plappernde Spielen unter einfachen Menschen ist, das ist die Unterhaltungsliteratur, die doch in hergebrachter Weise so ernsthaft in jeder Literaturgeschichte behandelt wird, für das schreibende und lesende Tier ge- worden. Doch auch in der wissenschaftüchen Literatur ist des Geschwätzes mehr, als man glauben sollte. Parasitisch ist die Masse auch im gelehrten Schrifttum. Wenn das nicht wäre, so könnte gar nicht so viel geschrieben und gelesen werden, wie es geschieht. Denn der hers-^orragende Kopf, dessen Schriften allein die schriftHche Aufbewahrung ver- dienen, kann nicht anders als der Mehrzahl seiner Zeit- genossen unverständlich sein, eben weil er sich seine eigene Sprache geschaffen hat.

Es ist darum nicht mit Bitterkeit, sondern vielmehr mit verzweifelt gütigem Lachen wahrzunehmen, daß die Armut das Schicksal der außerordentlichen Männer ist und bleiben muß, daß der Spinoza ewig Brillengläser schleifen muß, um die Notdurft seines Leibes zu befriedigen. Das Volk gleicht darin dem Fürsten, der neue Mäcen dem alten. Volk imd Fürst haben ihr Geld nur für die Taschenspieler und Schwätzer, weil sie nur bezahlen, was sie genießen können. Der Geist, der erst der Nachwelt Genuß bereiten wird, kann und soll von der Mitwelt keinen Kredit begehren. Die Not der selb- ständigen Geister ist nur dadurch neuerdings eine so furcht- bar große geworden, weil die Differenzierung jedes Denkens und jeder Technik eine Verbindung von Brillenschleifen und Philosophieren fast unmögUch gemacht hat, weil die Geld- macht, welche den Buchdruck in die Form der Zeitung gepreßt hat, fast allein übrig büeb, die Notdurft dessen zu befriedigen, der nichts als schreiben gelernt hat. So mag manch einer davon leben, daß er der Mitwelt etwas vorschwatzt, um dafür leben zu können, daß er der Nachwelt etwas sagen kann.

Wer( ^es Schrifttunis 537

Wenn nur nicht, was heute des kommenden Jahrhunderts würdig scheint, nach kürzerer oder längerer Frist selbst wieder Geschwätz würde! Unserem breiten Zeitungsbetriebe steht gegenwärtig als großes Sammelbecken alles Wissens das Kon- versationslexikon gegenüber, das Meisterstück des IJuchdrucks, das Werk, in welchem die Schrift weiß, was niemals ein sprechender Mensch zusammen wissen könnte. Und dieser Brennpunkt der zum Buchdruck gelangten Sprache nennt sich ganz unbefangen „Konversationslexikon'", das heißt das Wörterbuch des Schwatzes.

Eine arge Seite der Schrift darf nicht übersehen werden, sciiriu So lange es keine Schrift gab, war eine schlechte Literatur nicht .?"'L

"-" ~ ' schlecht«*

möglich. Das Genie, das einmal oder wiederholt etwas Denkens- i.itontur wertes aussprach, hatte freilich fruchtlos gelebt, wemi kein Zeitgenosse es verstand. Der Fall kommt aber seltener vor, als man gewöhnlich glaubt. Denn wie die Wassertropfen f-elbst in haushohen Wellen sich so bewegen, daß ein Tropfen immer nur unmerklich höher steigt als der andere, und wie nur kraft- loser Schaum sich völlig von der Gewalt der Wogenmasse loslöst, so ist auch der hervorragende Mensch geistig immer im Zusammenhang mit der zeitgenössischen Menschenmasse. Vor Erfindung der Schrift war also Literatur, was durch Inhalt oder Form wert war gemerkt zu werden, was den Gedanken oder Wortschatz des Volkes vermehrte. Gemerkt werden und wertvoll sein, war dasselbe, so wie das Goldmetall aus der Goldgrube dadurch zum Wert wird, daß es gesammelt wird. Das Volk machte wirklich seine Literatur, indem es merkte, was es wollte.

Seitdem die Schrift erfunden worden ist, kann jeder einzelne behaupten, sein Wortgefüge sei nach Inhalt oder Form denkenswert. Er läßt dieses Wortgemengsel einfach drucken, so wie die Hunde ihr Bellen drucken lassen könnten, wenn sie Schrift und Presse kaufen könnten. Oder auch wie jeder Narr, wenn er zufällig ein Pharao war, es in der Gewalt hatte, sich eine PjTamide als Grabstein zu setzen.

588 XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie

XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie

Die Die Sprachwissenschaft befindet sich gerade jetzt in

einer Krisis. Seitdem das Sanskrit als eine „Verwandte" unserer Kultursprachen wieder entdeckt worden ist und seitdem es mit ungeheuer fleißiger Geistesarbeit zu einer Erneuerung der alt gewordenen Philologie gedient hat, sind ungefähr hundert Jahre verflossen. Während dieser Zeit haben die Philologen, die sich nun Linguisten nannten, den alten Traum von einer Aufstellung des Stammbaums aller Sprachen oder doch wenigstens der indoeuropäischen Sprachen neu geträumt, und das halbgebildete Pubhkum liest heute noch in allen Handbüchern das hübsche Märchen, das das Ergebnis dieser hundertjährigen Tätigkeit war. Und da will man noch be- haupten, daß unsere wissenschaftliche Zeit zu alt geworden sei, um noch Legenden auszubilden. Die Legende der Sprach- wissenschaft lautet ungefähr so: Vor vielen vielen Jahren es kommt auf tausend Jahre mehr oder weniger nicht an lebte auf den Abhängen des Hindukusch das Volk der Arier (ärya = der Vornehme); dieses außerordenthch begabte. Volk redete eine Sprache, welche die indo-europäische Ur- sprache war und welche durch die vereinigten Bemühungen der englischen und deutschen Forscher früher oder später all in ihrer jungfräulichen Schönheit ausgegraben oder wieder hergestellt werden wird, wie Dornröschen erweckt worden ist durch den Kuß des Prinzen. Als der Arier auf dem Hindu- kusch zu viele wurden, begannen sie zu wandern. Und wie sie wanderten, schufen sie neue Sprachen. Sie wanderten geradeaus den Berg hinunter nach Indien und Persien und erzeugten das Sanskrit und die altpersische Sprache. Sie wanderten nach dem Norden von Europa und erzeugten die slavischen und germanischen Sprachen; sie wanderten nach dem Süden von Europa und erzeugten die griechischen und italischen Sprachen. Und wenn wir einen Sprachforscher besäßen, der die Autorität der Bibel hätte, so läge auch bereits eine hübsche Stammtafel vor, mit deren Hilfe jeder Dialekt von Indien oder von Irland, von Litauen oder von Italien schnurstracks auf die arische

Die Legende 589

Muttersprache zurückgeführt werden könnte. Eine .solche Autorität existiert leider nicht. Vor einigen Jahren ist sogar eine Katastrophe in der Sprachwissenschaft eingetreten. Nachdem jeder Forscher seinen eigenen Stammbaum auf- gestellt hatte, nachdem bald die germanische, bald die slavische, bald die griechische Sprache der Muttersprache näher gerückt worden war, kam man (angeregt durch die Zweifel von Johannes Schmidt) im Kreise einiger Fachmänner zu der Resignation, unsere Kenntnisse seien zur Au£stellung eines Stammbaums ungenügend. Dabei blieb in populär-wissenschaftlichen Schriften die Legende von der arischen Ursprache immer bestehen; aber auch die radikaleren Forscher waren nicht imstande, auf die Legende von den Ariern völlig zu verzichten. Nebenbei sei darauf aufmerksam gemacht, daß auch dieses Märchen wie andere religiöse Überzeugungen praktisch wiurde für die Kulturgeschichte, indem nämhch der neu belebte ^Antisemitismus dem alten Judenhaß den neuen wissen- schaftlichen Namen gab und sich nicht wenig darauf ein- bildete, daß er von iVriern und Nicht-Ariern sprach, anstatt einfach wie früher hepphepp zu rufen. Seitdem das Mär- chen in der Auflösung begrifEen ist , hat sich wieder der Chauvinismus des Stoffes bemächtigt, und die Urheimat des immer noch legendären Urvolkes wird vom Hindu- kusch hinweg bald nach dem Süden von Rußland, bald nach dem Nordosten von Deutschland verlegt , ganz wie es der dichterischen Stimmung eines begeisterten Forschers gefällt.

Man muß sich nicht darüber wundern. Die Sprachwissen- schaft hat die Volksetymologie, die sie theoretisch begreifen gelehrt hat, darum praktisch zu üben nicht aufgehört. Sie treibt Volksetymologie ganz wie das alte Märchen, wenn sie z. B. im Namen der Insel Irland (Erin) den Namen der alten Arier wiederfindet. Es ist nicht anders. Wie am Anfangs- punkte der realen Wissenschaften die m)i:hologische Hypothese steht, die immer eine Art Personifikation ist, so steht am Ausgangspunkt der historischen Wissenschaften irgendeine Legende. Es ist das der Ruhepunkt, den der arme mensch-

590 XIII. Sprachwißsenschaft und Ethnologie

liehe Verstand überall sucht, um am Ende den Lolm seiner Anstrengungen zu finden. Sprachen Anfangs, als die Durchforschung der Sanskritsprache Vöilfei- "^^^^ ^^^ Entdeckung hübscher Wortgleichungen gestattete, begnügten sich die Forscher mit diesem immerhin lohnenden Vergnügen. Als dann die ähnlichen Worte gesammelt waren und auch mit Hilfe der berühmten Lautgesetze niclit mehr allzuviel zu holen war, warfen sich die scharfsinnigsten Ge- lehrten auf die Morphologie der „verwandten" Sprachen; die Arbeit, Ähnlichkeiten und Verwandschaften zwischen den Flexionssilben und den grammatischen Kategorien auf- zufinden, war eine noch größere, und darum schien das daraus erwachsene Vergnügen auch höherer Art zu sein. Zur Be- ruhigung des armen Verstandes führte diese Tätigkeit jedoch nicht, der Ruhepunkt war nicht gefunden.

Heute müssen die besonneneren Fachleute eingestehen, daß die ethnographischen Ergebnisse der Sprachwissenschaft sich mit den ethnographischen Ergebnissen der naturwissen- schaftlichen Anthropologie nicht decken. Es- werden indo- germanische, semitische und turanische Sprachen von Völkern gesprochen, die dem gleichen Rassentypus angehören; um- gekehrt sind die Sprachen z. B. der Ungarn und Lappen miteinander verwandt, nicht aber diese Völker nach ihrer Rasse. Derartige Tatsachen allein lassen die neuere Klassi- fikation der Völker nach ihren Sprachen als eine bei aller Gelehrsamkeit durchaus dilettantische Arbeit erscheinen. Die Sache liegt so, daß man die Völker und Sprachen vorerst nach Merkmalen, die handgreifhch seit Jahrhunderten jedem Reisenden zu Gebote standen, provisorisch eingeteilt hat, z. B. nach der Hautfarbe und nach der geographischci\ Lage der Völker. Diese provisorische Klassifikation mußte sicli nun bald als ungenau erweisen; aber die genaueren anatomi- schen Beobachtungen der Völkerrassen und die bessere Be- obachtung des Sprachbaues führten nicht zu den gleichen Änderungen an der provisorischen Klassifikation, und so ist diese Disziplin in ihrem Fortschreiten in einer beständigen Verlegenheit. Lisbesondere die letzte Frage, ob nämlich alle

Sprachen und Völker 59 1

Menschen , also auch alle Sprachen , von einem einzigen Urvolke abstammen von einem Menschenpaare , würde ein bibelgläubiger Engländer sagen ist durch die Sprach- wissenschaft nicht um einen Schritt weiter zu bringen. Whitney (Sprachgesch. S. 546) kommt zu einem voll- ständig negativen Ergebnis. Es klingt wie vorsichtige Ironie, wenn er seine gründliche Untersuchung mit folgeii- den logischen Worten schüeßt: „Haben von Anfang an verschiedene Rassen bestanden, so brauchten ihre Sprachen nicht stärker vonemander verschieden zu sein, als es die tatsächlich vorliegenden Sprachen sind; stammen da- gegen alle Menschen schließlicli von einem einzigen Paare ab, so brauchen ihre Sprachen einander nicht ähnlicher zu sein, als in Wirklichkeit der Fall ist. Weder läßt sich aus der Sprache die Vielheit der Menschenrassen als ursprünglich , noch läßt sich auf diesem Wege das Zurückgehen derselben auf eine ursprüngliche Einheit dartun."

Diese letzte Frage nach dem einheitlichen Stammbaum der Sprachen und Menschen ist aber nicht nur in allen Be- antwortungen, sondern m der Aufstellung der Frage selbst antiquiert, mag auch neuerdings wieder Trombettis tot- geborenes Buch „L'unitä d'origine del linguaggio" selbst von deutschen Schreibern angepriesen worden sein. Seitdem August Schleicher die darwinische Theorie auf die Geschichte der Sprachen angewendet hat, muß es allen ernsthaften Forschern klar geworden sein, daß eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Urzeiten, aus denen keine Dokumente herübergekommen sind , nicht einen Tropfen Tinte wert ist ; es hätte wenigstens klar werden müssen. Da aber alle Ver- wandtschaftsverhältnisse bis in Urzeiten zurückgehen, so ist auch die Aufstellung von Stammbäumen für die gegenwärtigen Sprachen und Völker der Erde (auch nur auf die paar tausend Jahre der bekannten Geschichte zurück) ein recht unbe- friedigendes Geschäft. Es steht aber um die Stammbäume der Sprachen womöghch noeli schhmmer als um die Stamm- bäume der Völker.

592 XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie

Stamm- Msiii kann nach dem römischen Worte pater semper der incertus bekanntlich von keinem Menschen sagen, wer sein

Völker leiblicher Vater gewesen sei. Gewiß ist, wenn man die Sache naturwissenschaftlich betrachtet, in der unendlichen Mehr- zahl der Fälle nur die Herkunft von der Mutter. Es handelt sich hier nicht um Sentimentalitäten, sondern um Tatsachen. Und es ist eine Tatsache, daß in gut geleiteten Gestüten die Herkunft eines Pferdes besser bezeugt ist als in unserer Gesellschaft die Herkunft der Menschen. Das Gefühl davon mag denn auch dazu geführt haben, daß das Institut eines Mutterrechts, nach welchem Kinder Namen und Rechte, auch Pflichten nur von der Mutter erben, seit der entscheiden- den Anregung durch Bachofen über alle bewiesene Er- scheinungen hinaus ausgedehnt worden ist. Das Mutterrecht erinnert aber daran, daß die Herkunft eines Menschen zur Hälfte doch eine Sicherheit gewährt. Der Sohn einer deutschen Frau stammt mit der Hälfte seines Blutes wenn man sein ganzes Leben und Wesen derart halbieren darf gewiß von einer Deutschen ab. Die andere Hälfte ist aber auch wenn man von dem gesetzHchen Vater gänzlich absieht ebenfalls mit großer Wahrscheinlichkeit deutsch. So hat es z. B. bei dem Verhältnis der Slawen und Semiten in Deutschland nur eine geringe Wahrscheinlichkeit, daß ein Slawe oder ein Semite der Vater gewesen sei. Und wenn in Deutschland sechzig Millionen Deutsche leben und nur fünfzig Japaner, so ist die Wahrscheinlichkeit einer japanischen Vaterschaft eine äußerst geringe. So ergibt sich für uns die Zeiten großer Völker- revolutionen abgerechnet die Annahme, daß innerhalb eines Landes jede Generation ordentlich von der vorigen abstamme. Und selbst in Zeiten von Völkerrevolutionen bleibt das Mutterrecht bestehen, die Hälfte des Blutes ist geblieben. So kann man nicht eigentlich sagen, Völker seien ausgestorben. Nur Sprachen sind gestorben, soweit man den Begriff Tod eher auf das Abstraktum Sprache als auf das Abstraktum Volk anwenden mag.

Die gotische Sprache, von der vor fünfzehnhundert Jahren die für uns wichtigsten Dokumente niedergeschrieben wurden

iStammbäume der Völker 593

und die noch vor dreihundert Jahren auf der Krim gesprochen worden sein soll, ist verschwunden. Ebenso die Sprache der Altpreußen. Ebenso die alte Sprache der adriatischen Insel Veglia. Wenn nun auf der Krimhalbinsel oder in Preußen die alte Sprache durch eine neue bis auf den letzten Rest verdrängt worden ist, so ist selbstverständlich nicht anzu- nehmen, daß die Bewohner des Landes heute kein gotisches bzw. preußisches Blut in den Adern haben.

Dazu muß man noch bedenken, daß in älterer (immer noch historischer) Zeit die Verdrängung einer Sprache durch eine andere leichter war als beute. Seit der Erfindung der Schrift und seit der Entstehung einer Volksliteratur durch die Buchdruckerkunst hat auch das kleinste und zurück- gebliebenste Volk in seiner Literatur etwas Handgreifliches, woran es festhalten kann. Vollends seit dem Einfluß des Nationalitätenprinzips sorgt die Eitelkeit für Erhaltung von Sprachen, welche der Hunger und die Liebe längst fallen gelassen hätten. Die österreichische Monarchie weiß davon zu erzählen.

Wir müssen also annehmen, daß in vorhistorischer Zeit die teilweise und vollständige Verdrängung einer Sprache durch eine andere noch viel häufiger gewesen ist als in der durch Dokumente belegten Periode.

Nun antworten aber die Linguisten, daß sie in einer Linguistik günstigeren Lage wären als die Anthropologen. Anatomisch j^j"°J^ip oder überhaupt naturwissenschaftlich lasse sich den heutigen Franzosen ihre Abstammung von Kelten. Italern und Germanen nicht ansehen; in dem heutigen Französisch aber seien die keltischen, römischen und germanischen Bestandteile sehr wohl zu unterscheiden. In der Tat hat die romanische Philo- logie, wenn man von Sprachforschung nichts anderes ver- langt als ein tüchtiges Stück Wortgeschichte, die glänzei\dsten Ergebnisse aufzuweisen; sie ist zuverlässiger als die Indo- germanistik und reicht über einen viel größeren Zeitraum hinaus als die germanische Philologie. Sieht man aber genauer zu, so ist ihr ethnographisches Ergebnis nicht den sprach- lichen Tatsachen zu danken, sondern einzig und allein den

Mauthuer, Beitrüge zu einer Kritik der Sprache. H «>ö

594 XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie

historischen Kenntnissen. Ich frage, ob ein einziger Forscher den Mut hätte oder auch nur auf den Gedanken käme, die einstige Weltherrschaft der Römer aus der bloßen Tatsache zu erschließen, daß im Italienischen, im Spanischen und im Französischen eine große Menge gleicher Wortstämme vor- kommen. Man nehme einmal an, ^vi^ besäßen durchaus keine Kenntnis von der römischen Geschichte (wie wir auch die Geschichte der „Arier" nicht kennen), wir besäßen kein einziges lateinisches Wort und es wäre die lateinische „Ursprache" (ebenso wie jetzt die arische) erst zu erschließen. Ich frage, ob nicht alle romanischen Philologen Urverwandtschaft der Italer, der Iberer und der Kelten (der sogenannten Ur- bevölkerung von Italien, Spanien und Frankreich) annehmen würden und mit ungeheurem Scharfsinn verteidigen. Und wie würde die lateinische Ursprache aussehen, die man er- schließen könnte! Diese lateinische Philologie wäre unter solchen Umständen in allen Einzelheiten falsch und in der historischen Hauptfrage der Wahrheit entgegengesetzt.

Darüber zu streiten , ob die Arier nach der Höhe ihrer Kultur befähigt waren, die Rolle eines Räuber- oder Sieger- volkes zu spielen, scheint mir die Aufgabe eines Salon- geschwätzes ; denn was wir über den Urzustand der sogenannten Arier zu wissen vorgeben, ist wie mir jeder Fachmann zu- gestehen muß aus ein paar Dutzend Worten abstrahiert, die nicht ganz fest stehen und deren Urbedeutungen wir nicht kennen. Es ist eine Überhebung der Sprachwissenschaft, der historischen und naturwissenschaftlichen Anthropologie zu Hilfe kommen zu wollen ; denn ohne historische oder natur- wissenschaftliche Basis sind alle philologischen Gebäude eitle Luftschlösser. Wenn die Türken anthropologisch nichts mit ihren sibirischen „Sprach verwandten" zu schaffen haben, so hat die Sprachwissenschaft kein Recht, sie auf Grund einiger Sprachähnlichkeiten für blutsverwandt zu erklären. Nichts liegt mir ferner, als bei meiner mangelhaften Kenntnis dieser Literatur etwa das Gegenteil zu behaupten. Nur die vollständige Unwissenheit behaupte ich von mir, und ihr Ein- geständnis fordere ich von anderen. Im einzelnen wage ich

Linguistik und Historie . 595

mich nicht vor. Ich habe freilich das Gefühl, daß der Ent- zifferung der Keilschrift und auch der Hieroglyphen einmal aus dem eigenen Kreise ein furchtbarer Kritiker erstehen werde. Aber selbst wenn alles richtig gelesen wäre , wie frivol ist es, aus ein paar Worten die Blutsverwandt- schaft der Hottentotten mit den hochstehenden Ägyptern anzunehmen !

Scheint es mir also für einen ernsten Forscher geradezu unanständig, die Herkunft aller Menschensprachen von einer Ursprache und danach die Herkunft aller Menschen von einer einzigen Rasse mit unseren Mitteln überhaupt zu unter- suchen, ist dieses Beginnen so sinnlos wie das, mit einem Steinwurf die Sonne erreichen zu wollen, so fürchte ich, daß auch die hübschen Bemühungen, die Ursprache und die Urheimat, kurz das Urvolk der Indoeuropäer entdecken zu wollen, nicht viel au ssich tsvoller sind. Es wird da nicht ein Stein aus bloßer Hand geworfen, schön, es wird eine zugespitzte Kugel aus einer gezogenen Riesenkanone ge- schossen; es bleibt doch nur ein schlechter Witz im Stile Jules Vernes, wenn diese Kugel auch nur den Mond erreichen soll. Bevor ich aber auf eine Kritik dieser Gelehrsamkeit eingehe, A;\dll ich flüchtig wenigstens an die Geschichte dieser Bestrebungen erinnern.

Die Geschichte der ethnologischen Sprachwissenschaft G«^schichte leidet darunter, daß so viele ihrer Hauptvertreter unter einer Abstam- Art von Entdeckungsfieber gearbeitet haben. Dieses Fieber muugs- ist auch in anderen Wissenschaften oft nachzuweisen. Aber der naturwissenschaftliche Entdecker oder gar der Erfinder neuer Maschinen stößt mit seinem schwachen Kopf allzu hart gegen die Wirklichkeit der Dinge, als daß er, wenn das Fieber seinem Geiste nicht tödhch wird, den rechten Weg verlieren könnte. In den Geisteswissenschaften jedoch führt das Ent- deckerfieber zu fröhlichen Phantasien, die nicht so leicht mit der Wirklichkeit in Konflikt geraten und die darum immer für einige Zeit andere Köpfe anstecken köiuien. wie Modekrankheiten, durch Suggestion. Das älteste Beispiel dafür ist vielleicht die Behauptung des phantasievollen

596 XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie

Leibniz, es könnten ganze Verse auf Persisch geschrieben werden, die der Deutsche verstünde.

Xachdeni der alte Adeking im Anfang des 19. Jahr- hunderts bescheidentlich auf „die Übereinkunft vieler Wörter des Sanskrit mit den Wörtern anderer alter Sprachen" hin- gewiesen und zurückhaltend den Schluß auf eine Stammes- verwandtschaft gezogen hatte, folgte im Jahre 1820 der erste Versuch, die Wiege wie man so schön sagt des Urstammes in das Gebirge von Asien, an die Quellen des Jaxartes und Oxus zu verlegen. Unbewußt hat die biblische Legende vom Paradiese mitgewirkt und die vom Turmbau von Babel; wissenschaftlich aber wird bereits, wie es noch heute geschieht, aus einzelnen Ortsnamen alter persischer Dichtungen ein scheinbarer Beweis geliefert. August Wilhelm von Schlegel war gleichzeitig derselben Meinung: die Deutschen seien aus Asien herüber gekommen. Und Jacob Grimm lehrte das schon als ein Gemeingut der Wissenschaft: ,,Alle Völker Europas sind in ferner Zeit aus Asien eingewandert, vom Osten nach dem Westen setzte sie ein unhemmbarer Trieb, dessen Ursache uns verborgen liegt, in Bewegung." Es wurde das beinahe ein Axiom der Wissenschaft, dem auch ein kritischer Forscher wie Mommsen sich beugte. Die Methode war sehr einfach. Wenn ein Wort sich in mehreren oder gar allen indoeuro- päischen Sprachen vorfand, so war dem Urvolk das Ding bekannt, welches durch dieses Wort bezeichnet wurde. Ent- sprach das Sanskritwort puri dem griechischen zoX'.c; (Stadt), so wohnte das Urvolk in Städten. Es war ein vergnügliches Forschen. Daß das Wort sich nur in den seltensten Fällen in allen indoeuropäischen Sprachen nachweisen ließ, daß die Gleichheit der Form oft sehr strittig, daß die Gleichheit der Bedeutung niemals unbestritten war, machte zu jener Zeit nichts aus.

Das Ergebnis dieser fröhlichen W^issenschaft konnte nicht anders als für die Arier sehr schmeichelhaft sein. Der Wunsch war der Vater des Gedankens. Man träumte sich ein Urvolk zusammen, welches in Moral, Gewerbe und Kultur ungefähr dem idealen Naturtraume Rousseaus entsprach; man be-

ungstheoric 597

:haft der Existenz von ein paar

angeblich denn die Bed«Mitung

wandtsfliaftsverliältnisse, Vieli-

lero, Pflanzen ujid Metalle) zu

ielte wohl die Neigung hinein,

mit Rousseau nach rückwärts

nahm es mit der Formgleichheit

ihren Bedeutungswandel dachte

auch wenn es dem griechischen

doch in den alten Sanskrit-

rdwall bedeutete, wie ihn noch

ihrer Niederlassungen aufwerfen,

äteren Zeit aufgespart.

rste, der die ethnographische Jiehn

ßem und populärem Erfolge

Kulturpflanzen" usw. liest sich

11, wo er an dem vermeintlich

jnschaft rüttelt, wirkt er übor-

gationen stehen fest, alle seine

vergnügte Hypothesen. Alle

mackvolle Darstellung können

die Gleichheit gewisser Worte

labe bereits Pferde zum Reiten

bereits die Ziege als Haustier

irt; daß aber das Sanskritwort

•, wie Viktor Hehn es beinahe

ilte Inder gar dabei die Wurzel

lellen" Tieres benutzt liabe, das

le zum Spielen für philologische

iiesen Untersuchungen ist auch

V^ersuch gemacht, für die von

ag von Dingen und Worten

iu bestimmen. Wie etwa ein

ntergrund zu einem historischen

loch Hehn berechtigt zu sein,

Worte den Kulturzustand der

5s ist nicht mehr ihus Idealvolk

598 XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie

seiner Vorgänger; es ist ein wanderndes Hirtenvolk, das in Sitte und Gewerbe auf einer primitiveren Stufe steht, die Hehn oft recht genau beschreibt. Je schärfer er den früheren ethnographischen Linguisten auf die Finger sieht, desto gläubiger ist er für seine eigenen Einfälle.

So konnte es kommen, daß das Werk Viktor Hehns bei denselben Leuten für klassisch gilt, welche die. neue Auflage Kapitel für Kapitel mit Bemerkungen versehen müssen, durch die die Aufstellungen Hehns in Zweifel gezogen werden. Es geht eben in den Geisteswissenschaften ähnlich zu wie in der Theologie, wo nicht so leicht jemand kritischen Ernst beweist, aus Angst, er könnte dem ganzen wissenschaftlichen Treiben seiner eigenen Disziplin die Grundlage entziehen, er könnte den Ast absägen, auf welchem er sitzt. ^*^ Es tut mir selbst leid, daß von diesem Gesichtspunkte

messer aus auch die emsigsten Forscher auf dem Gebiete der ethno- graphischen Sprachwissenschaft oft einen so kleinlichen Ein- druck machen. An einem Beispiel will ich zeigen, wie diese angebhchen Beweise bis zur unfreiwdllligen Parodie gelangt sind. Fick hatte in seinem unergründlichen Wörterbuch dem Wortschatze der indogermanischen Ursprache auch das Wort ksura zugesprochen (griechisch i;jpov) und damit aufs schönste zu beweisen geglaubt, daß die Arier bereits den Gebrauch des Easiermessers kannten. Ein anderer Gelehrter hatte darauf in den Gräberstätten des alten Albalonga bei Rom umhergebuddelt und ein Rasiermesser nicht gefunden. Sein Schluß, es habe demnach dem Urstamme dieser Toiletten- gegenstand noch gefehlt, wäre von rein possenhafter Komik (ich will mich verpflichten, ein ganzes Theater mit wörtlichen Zitaten aus diesem Streite zu schallendem Gelächter zu bringen), wenn diese Art von Beweisen, der selbst in der Logik unhaltbare Schluß aus einem vereinzelten negativen Urteil, nicht in dieser ganzen Disziplin eine so verhängnis- volle Rolle spielte. Der gelehrte Benfey trat als Verteidiger der indoeuropäischen Toilettenkünste auf. Er hält streng fest daran, daß das im Sanskrit und im Griechischen ähn- liche Wort für Rasiermesser schon dem Urstamme angehört

Urrasiermesser r)99

habe; er leugnet also die Möglichkeit, daß zwei Völker aus dem ähnlichen Verbum für „schaben" ein ähnliches Wort für Schabmesser gebildet hätten. Lieber opfert er den guten Ruf der Männer von Albalonga, als daß er auf das Rasier- messer bei den Indoeuropäern der Urzeit verzichtete. Viel- leicht waren die Männer von Albalonga so entartet, daß sie die Künste ihrer Ahnen vergaßen, daß sie „auf ihrer langen Wanderung aus dem indogermanischen Stammsitz in ihre neue Heimat, die gewiß unter großen Leiden, Bedrängnissen und Entbehrungen lange Zeit hindurch dauerte, die Lust und Kunst, sich den Bart abzunehmen, und somit auch die Instrumente dazu einbüßten". Ich kann es mir nicht ver- sagen, eine ebenso scharfsinnige Vermutung aufzustellen. Albalonga allein unter den Nachbarstädten hatte das Rasier- messer eingebüßt. Das Aussehen seiner Männer fiel darum auf ; und die Nachbarn nannten die Stadt, wo die alten Männer mangels von Rasiermessern furchtbar lange, weiße Barte liatten : Alba Longa, wobei barba zu ergänzen ist. Man w-ürde mir den Spott verzeihen, wenn man wüßte, daß die gelehrtesten und berühmtesten Untersuchungen der ethnographischen Sprachwissenschaft von solchen Possen nicht inmier weit entfernt sind. Ich rechne dazu sogar die geistreichen Ant- worten auf die Frage, ob die Indoeuropäer in ihrer Urheimat schon das Salz gekannt haben. Man muß bei solchen Unter- suchungen nur nicht den Faden verheren, man muß es nur verfolgen, wie schheßlich die Frage, welches Meer die Arier kannten, mit abhängt von der Salzfrage. Und das alles, weil im indischen Rigveda das Salz nicht erwähnt wird, „auf- fälligerweise", wie die Gelehrten sagen. Es sollte ein müßiger Philologe einmal nachsehen, ob in den Psalmen und in Goethes lyrischen Gedichten „auffälligerweise" nicht auch das Salz oder ein anderes nützliches Ding unerwähnt geblieben ist.

All diesen Hypothesen und Hilfshypothesen liegt eine Vöikei- Vorstellung zugrunde, die so alt ist, daß man ihre ersten runge« Vertreter kaum mehr kennt, die Vorstellung nämlich von einer Wanderung des Urvolks in neue Länder und einer Trennung des Urvolks in neue Völker. Solange diese An-

ßOO XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie

ualime noch naiv war, war wenigstens etwas Bestimmtes mit ihr verbunden. Man dachte sich den Aufbruch in die neue Heimat oder die Völkertrennung nicht viel anders, als wenn heutzutage eine Familie aus Pommern den Entschluß faßt, nach Amerika auszuwandern und vielleicht gar schon ein engUsches Konversationsbüchlcin mitzunehmen. Schon Whitney bemerkt einmal, ein solcher Schriftsteller habe bei seiner Darstellung sicherlich Kaulbachs Berliner Gemälde vor Augen gehabt, auf welchem wir jedes Volk mit seinen charakteristischen Zügen und mit Proben seiner künftigen Kultur nach seiner künftigen Heimat aufbrechen sehen. Eine besonnenere Zeit mußte sich von diesem niemals geoffen- barten Glauben endlich lossagen. Zuerst wurde vernünftiger- weise die Lehre von einer bewußten Wanderabsicht auf- gegeben. Dann aber mochte wohl die Buntheit der ver- schiedenen Stammbäume und der verschiedenen Wanderwege als unerträglich empfunden werden. Jeder Forscher war ein Kritiker seines Vorgängers und war zugleich verliebt in seinen eigenen Einfall oder in seine eigene durch den Zufall einer kleinen Entdeckung erworbene Überzeugung. Es waren eine Menge Reisekärtchen vorhanden, die eine gewisse Ähn- lichkeit besaßen mit den Eisenbahnkarten unserer Kursbücher. Nur daß auf den Kärtchen der ethnographischen Sprach- wissenschaft die Reisewege weder der Zeit nach noch über- haupt verbrieft waren, und daß die nähere oder weitere Ver- wandtschaft der einzelnen Sprachen, die doch die Reisewege bestimmen mußte, nicht ausgemacht werden konnte.

Die alte Hypothese von dem Zusammenhang aller indo- europäischen Sprachen konnte nur so lange unerschüttert bleiben, als die Forscher über den Stammbaum der Sprachen, der wie gesagt dem Reise weg des Volkes entsprechen mußte, einig waren. Hätte z. B. vom Hindukusch nach Irland nur eine einzige Straße geführt, eine breite Völkerbrücke, so hätte die Wissenschaft nicht so leicht die Vorstellung auf- gegeben, daß gewissermaßen von Brückenpfeiler zu Brücken- pfeiler oder von Station zu Station je ein Volk mit seiner abweichenden Sprache zurückgeblieben sei, so daß, vom

Völkerwanderungen ßQ \

Hindukuscli ab gerechnet, an dieser langen Völkt-rstiaüe auf der ersten Station das älteste Volk mit der ursprünglichsten Sprache leben mußte, dann ein jüngeres Volk mit einer Tochtersprache und inmier so weiter. Je genauer man aber das Sanskrit mit den europäischen Sprachen verglich und je ernsthafter man aus den ältesten Kulturzuständen der Völker den Reiseweg zu erforschen suchte, desto bedenklicher stand es bald sowohl um den Hindukusch als um das allgemeine Rendezvous vor dem Reiseaufbruch als auch um den Stamm- baum der Sprachen. Eines Tages war das regelmäßige Schema nicht mehr aufrecht zu erhalten. An den grundlegenden Ideen von Bopp wurde noch nicht gerüttelt; aber die erstaunliche Sicherheit, mit welcher Schleicher die Urgeschichte zu sehen geglaubt hatte, war dahin. Es ging der ethnographischen Sprachwissenschaft ähnlich wie dem Darwinismus in Deutsch- land. Die Wissenschaft hatte nicht stehen bleiben wollen. Die grundlegende Hypothese Darwins schien zu armselig zu sein, wenn man nicht mit ihrer Hilfe die alten Fragen nach der Herkunft der Menschheit löste; so ging Haeckel weit über Darwin hinaus, stellte einen wunderhübschen Stammbaum aller Organismen auf, der nur den einzigen Fehler hatte, daß man auch einen anderen Stammbaum aufstellen konnte. Nur in der Negation, in der Ablehnung der alten Schöpfungs- theorie, war der Darwinismus ernsthafte Wissenschaft ge- blieben. Es ist auch kein Zufall, daß der große Schleicherische Stammbaum der indo-europäischen Sprachen hinter einer Schrift steht, die Ernst Haeckel gewidmet ist.

Man kann sich die Verlegenheit der Sprachwissenschaft zwölf an einem Beispiel von zwölf Wanderburschen klar machen, ijnrsci,,,^ Man stelle sich einmal vor, in zwölf Städten auf der Strecke zwischen Basel und Königsberg lebten zwölf Handwerks- burschen, deren Reiseweg Gegenstand einer historischen Disziplin geworden wäre. Da hätte nun ein Herr mit stupender Gelehrsamkeit bewiesen, die zwölf Handwerksburschen seien alle von Basel aufgebrochen. Der Beweis würde aus den Wahrzeichen geführt, die der Forscher den Haudwerksburschen abgefragt hätte: der Baseler kenne nur das Wahrzeichen seiner

602 XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie

eigenen Stadt, die Fassadenmalerei, der Straßburger kenne die Malerei und das Münster, der Heidelberger die Malerei, das Münster und das Heidelberger Faß, usw. über Deutsch- Krone und . Danzig nach Königsberg. Der Königsberger allein kenne alle zwölf Wahrzeichen, er sei also zuletzt und allein weiter gewandert. Nun käme einmal ein anderer Gelehrter von minder stupender Gelehrsamkeit unbefangen darauf, daß die zwölf Handwerksburschen in ihren Erinnerungen gar nicht so regelmäßig und staffeiförmig aufeinander folgten. Von den Fassademalereien in Basel wüßte z. B. eigenthch niemand mehr etwas außer dem Baseler, insbesondere der Königsberger wisse nur noch dunkel etwas vom Heidelberger Faß, sonst aber nur von Königsberg. Dagegen habe der Straß- burger einmal vom Danziger Goldwasser gesprochen, der Leipziger von der Stadt der reinen Vernunft, der Baseler von der Leipziger Messe und was so der allgemeinen Redens- arten mehr sind. Da wäre doch der Wanderweg der zwölf Burschen auf Grund der Wahrzeichen, auf Grund ihrer Sprache also, nicht länger aufrecht zu erhalten; und wenn man keine direkten Nachrichten über ihren Reise weg hätte, so müßte man sein Nichtwissen ehrlich eingestehen. Johannes Mein Vergleich mag trivial sein, aber ich glaube, er gibt die wissenschafthche Verlegenheit wieder, aus welcher Johannes Schmidt die ethnographische Sprachwissenschaft zu retten suchte. Man hatte angefangen, die indoeuropäischen Sprachen unbefangener als bisher zu vergleichen, ohne die alte Vor- eingenommenheit, immer eine Sprache mit der anderen; und da hatte sich herausgestellt, daß die Verwandtschaften von Fall zu Fall dem allgemeinen Schema nicht entsprachen. In der provisorischen Klassifilcation (der nach der geographischen Lage) waren die europäischen Sprachen von den asiatischen abgetrennt worden, es mußte also der urarische Handwerks- bursch vom Hindukusch einmal nach Westen aufgebrochen sein. Nun fand man zwischen den slawisch-litauischen Sprachen und den asiatischen plötzhch eine besonders nahe Verwandt- schaft; sofort mußte der große gesamteuropäische Zweig des Stammbaums aufgegeben werden. Man hatte vorher

Johannes Schmidt (303

in alter Pietät Griechisch und Latein für sehr nahe Verwandte gehalten; jetzt stellte sich für Sanskrit und Griechisch eine weit nähere Verwandtschaft heraus, und der graeco-italische Zweig mußte verlassen werden.

Da faßte Johannes Schmidt den Entschluß, die bislierige Darstellung durch einen Stammbaum aufzugeben und eine neue Theorie, seine „Wellentheorie" aufzustellen. „Ich möchte an die Stelle (des Stammbaums) das Bild der Welle setzen, welche sich in konzentrischen, mit der Entfernung vom Mittel- punkte immer schwächer werdenden Ringen ausbreitet . . . Mir scheint auch das Bild einer schiefen, vom Sanskrit zum Keltischen in ununterbrochener Linie geneigten Ebene nicht unpassend" (S. 27 f.). Wieder w^ar die negative Tat sehr verdienstvoll, die positive recht zweifelhaft. Die Wellen- theorie wird wohl nur eine vorübergehende Mode sein, die Abschaffung des Stammbaums wird bleiben. Nach den Leistungen von Johaimes Schmidt, nach der Aufstellung seiner gründhchen und darum bescheidenen W^ortverglcichungs- tafeln ist das Festhalten an einem Stammbaum mit gutem Gewissen nicht mehr erlaubt. AVas von solchen Stamm- bäumen heute noch in gelehrten und m populären Werken zum großen Pubhkum dringt, ist antiquierte AVissenschaft. Man kann keine Sprache mehr gradlinig etwa zum Sanskrit zurückverfolgen. Hat man z. B. ein lateinisches Wort mit einem griechischen verghchen und beide mit dem Sanskritwort, so stehen dem andere lateinische Worte entgegen, die wieder dem Keltischen näher liegen und durch das Keltische der europäischen Gesamtgruppe. So entsjDricht z. B. der Zischlaut der asiatisch-slawischen Sprache ganz auffallend dem K-Laut der germaniscli-keltisch-graeco-itaüschen Sprache. Glaubt man nun daraufhin (es handelt sich in der Wissenschaft oft um einzelne Laute) die europäischen Sprachen auseinander reißen zu müssen, so haben die slawisch-germanischen Sprachen wieder höchst auffallende Gemeinsamkeit in den Kasus- endungen. Johannes Schmidt hat seine Lehre bildUch durch Sprache Kreise ausgedruckt, die em wenig an die Kreise erinnern, durch los*^ welche man in der Logik das Verhältnis der Begriffe zu be-

ßQ4 XIU. Sprachwissenschaft und Ethnologie

zeichnen pflegt und welche Schopenhauer (Welt als Wille und Vorstellung I zu S. 58) sehr geistreich dazu benützt, um schwarz auf weiß zu zeigen, wie jeder einzelne Begriff unlöslich mit allen mögüchen zusanmienhängt. Habe ich recht damit, daß jeder Begriff, das heißt jedes Wort nur ein kurzes Zeichen für die betreffenden Erinnerungen der Menschheit enthält, daß also die logische wenn ich so sagen darf Verwandtschaft der Begriffe mit den mögUchen Assoziationen eines Begriffs zusammenfällt, daß also die höchst mathematische Logik und die höchst unregelmäßige Ge- dankenassoziation schließlich auf ein und dasselbe hinaus- läuft, nämüch auf das sogenannte Gedächtnis des Menschen, so kann es nicht weiter wundernehmen, daß eine bildliche Darstellung der Sprachentwicklung ganz zufällig dem Ver- suche einer bildlichen Darstellung der Gedankenassoziationen oder der sophistischen Logik ähnüch geworden ist. Und wie ich die Stelle bei Schopenhauer nachschlage, um mich nicht auf mein Gedächtnis verlassen zu müssen, da finde ich drolhger- weise, daß Schopenhauer zum Zentralbegriff seiner Tafel das „Reisen" gewählt und so ahnungsvoll die Wandertheorie der ethnographischen Sprachwissenschaft als ein Muster- beispiel der bloßen Überredungskunst hingestellt hat.

Man hat die alte gotische Sprache des Bischofs Wulfila mit dem Angelsächsischen und mit dem Althochdeutschen vergüchen, und es hat sich gezeigt, daß man weder das Angel- sächsische noch das Althochdeutsche als eine Tochtersprache des Gotischen ansehen dürfe. Auch das Gotische mußte auf die Mutterschaft verzichten, wurde eine Mundart wie andere, wurde eine Stieftante des Englischen und Althochdeutschen. Ebenso wurde die proven9alische Sprache, welche man eine Zeitlang für die richtige Mutter (das Latein war zur Groß- mutter geworden) der romanischen Sprachen ausgegeben hatte, zu einer solchen entfernten Verwandten, und auch sie bekam den Ehrentitel einer älteren Schwester.

Sprachenmischung (J05

Ich brauche aber nur au allbekannte Tatsaclicn zu sprachen- erinnern, um feststellen zu können, wie wenig Sinn selbst ""•'^*""'*^ diese entfernteren Sprachverwandtschaften in Wirklichkeit haben. Man nehme einmal das moderne Französiscli zum Beispiel. Es ist jedem Forscher bekannt und müßti» jedem Laien erst recht einleuchten, daß seine zunächst auffallend«' Ähnlichkeit mit dem klassischen Latein noucrn und neuesten Ursprungs ist. Der Zufall der Kulturgeschichte brachte Invasionen des klassischen Latein in die französische Sprache genau so hinein wie in die deutsche. Die scholastische Denkweise des Mittelalters , die literarische Reaktioii der Renaissancezeit , die Rezeption des römischen Rechts , ja sogar die sich für antik haltende republikanische Be- wegung der großen Revolution führten der französischen Sprache stoßweise klassisch lateinische Worte zu , wie der deutscheu. In der unverträglichen deutschen Sprache blieben sie zu Hunderten haften , in der französischen . in welcher sie unzählige Bekannte vorfanden, zu Tausenden. In Deutsch- land machten sich viele (nie genug gewürdigte) Männer, von Zesen bis Campe, um die „Reinigung'' der Sprache verdient; in Frankreich konnte der Purismus niemals recht festen Boden fassen.

Es ist also die außerordentliche Ähnlichkeit der heu- tigen französischen Sprache mit der lateinischen , wie den Forschern längst bekannt ist. eher ein Ergebnis der späteren Geschichte als der „Verwandtschaft". Ein deutscher Latein- schüler lernt mit Hilfe der lateinischen Vokabeln wissen- schaftliches Französisch viel leichter verstehen als die fran- zösische Umgangssprache, und modernes Französisch leichter als Altfranzösisch. Ein alter Römer würde im modernen Französisch die Ähnlichkeit mit seinem Latein sofort er- kennen, schwerlich aber in dem Französisch des acht<?n Jahrhunderts. Das wäre ihm eine unverständliche Barbaren- sprache gewesen.

Was sprachgeschichthch vorging, als lateinisch schreibende Beamte die Franken regierten, als römische Soldaten mit fränkischen Mädchen Kinder erzeugten und den Kindern

606 XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie

ihre italische Mundart lehrten, das wird sich nicht mehr ent- wirren lassen. Wir können es uns aber nicht anders vorstellen, als daß eine Vermischung von Blut und Sprache zustande kam. Diese Vermischung , dieser tatsächliche Vorgang, er- klärt uns wiederum einen anderen Begriff der Sprachgeschichte. Wir sind geneigt, in unzähligen Fällen Entlehnung anzunehmen, wo die Sprachwissenschaft um ihrer gesuchten Stammbäume willen von Abstammung redet. Ich habe in der Einleitung zu meinem „Wörterbuch der Philosophie" diese Verhältnisse mit vielen Beispielen zu erklären versucht. Jetzt sehen wir, daß auch der Begriff der Entlehnung von der Vorstellung aus- geht, daß die „Tochtersprache" die ärmere, die bedürftigere sei im Verhältnis zur Muttersprache. Stellen wir uns aber so eine fränkisch-italische Mischehe aus der Zeit des Sprach- übergangs vor, so müssen wir zugeben, daß selbst der Begriff der Entlehnung schon auf einem Vorurteil beruhe. Wer entlehnte? Und woher wurde entlehnt? Wir müssen schon unduldsam, wie man die romanischen Sprachen Barbarisie- rungen des Lateinischen genannt hat, die neue fränkische Sprache entweder an die alte Volkssprache oder an die ein- gedrungene italische Sprache anknüpfen, um in unserer Abstraktion zwei Sprachen einander gegenüber zu stellen, eine entlehnende und eine, aus welcher entlehnt wurde. In Wirklichkeit wird nur da entlehnt, wo ein technischer Aus- druck bewußt aus einer fremden Sprache herübergenommen wird. Im natürlichen Wachstum der Sprache wird überhaupt nicht entlehnt. Das Kind des römischen Soldaten und der Frankin, oder auch der Soldat in der Unterhaltung mit der Frankin bildeten unbewußt ein Sprachgemisch, und die aus Tausenden solcher Fälle sich entwickelnde französische Sprache war doch nur ein Not- und Zufallsprodukt dieser historischen Ereignisse. Tochter- Noch einmal: jeder bessere Sprachforscher wird wie beleidigt die Zumutung ablehnen, daß er die Metapher von einer Verwandtschaft der Sprachen wörtlich und natürlich genommen habe. Aber diese Metapher hat sich dennoch in den Köpfen festgesetzt und wirkt auf die Begriffsentwick-

sprachen

Tochtersprachen (j(j7

lung, wie auch sonst überall Personifikationen das Denken beeinflußt haben. Eine Folge der Metapher von der Sprach- verwandtschaft scheint es mir auch zu sein, daß trotz der besseren Einsicht immer wieder Sprachverwandtschaft und Völkerverwandtschaft unklar durcheinander gemengt werden, wo man doch richtiger von Sprachmischung auf Völker- mischung, das heißt auf kriegerischen oder friedlichen Völker- verkehr schheßen sollte. Es will die Sprachwissenschaft eben auf ihre Dichterrechte nicht verzichten, sie will sich die Flügel ihrer Phantasie nicht beschneiden lassen. Es wäre ja vorbei mit unseren wohlgeordneten Kenntnissen von den Kultur- zuständen des legendären indogermanischen Urvolkes, wenn es nicht Muttersprachen und Tochtersprachen, wenn es nicht eine Art leibHcher Verwandtschaft zwischen den Sprachen gäbe. Max Müller wird noch ganz pathetisch bei der Ver- teidigung solcher Ergebnisse der Sprachwissenschaft und nimmt den Mund dabei recht voll. Er sagt (Vorlesungen I, S. 198): „Wir können noch weiter gehen. Gesetzt, wir besäßen keine Überreste des Lateinischen, wir wüßten nicht einmal, daß Rom und seine Sprache je existiert habe, so könnten wir doch aus den uns vorliegenden sechs romanischen Dialekten beweisen, daß es eine Zeit gegeben haben müsse, zu der diese Dialekte die Sprache einer kleinen Ansiedlung bildeten, ja durch eine sorgfältige Sammlung aller diesen Sprachen ge- meinsamen Wörter könnten wir die Ursprache bis zu einem gewissen Punkte aus ihren Trümmern wieder zusammen- bauen und von dem Kulturzustande, wie er sich in diesen gemeinsamen Wörtern abspiegelt, eine Skizze entwerfen." Ich habe kein so festes Vertrauen zu der Sprachwissenschaft. Sie kann immer nur sammeln, was anders woher historisch belegt ist, über die vorhistorische Zeit kann sie nur phanta- sieren. Und wenn die Voraussetzung Max Müllers einträfe, so würden z. B. ganz gewiß die Gelehrten m Rom, in Madrid, in Lissabon und in Paris zu ganz verschiedeneu Resultaten gelangen. Ganz gewiß würden die Franzosen die vorhistorische Siebenhügelstadt nacli Paris verlegen und die anderen romanischen Sprachen zu Dialekten des Französischen

608 XIII. Sprachuissenschaft und Ethnologie

machen wollen. Die Aufmerksamkeit würde vom Interesse gelenkt.

Phantasieren kann ich auch, so gut wie Max Müller. Man denke Europa mit allen arischen Sprachen und aller arischen Wissenschaft hinweggeschwemmt, durch eine der periodischen Meeresrevolutionen, und irgendeinen arabischen Sprachforscher damit beschäftigt, die merkwürdigen Worte der ostafrikanischen Xeger zu erklären. Man nehme an, daß bis dahin in Deutsch- ostafrika der deutsche Offizier ein paar hundert deutsche Worte eingebürgert habe, in Britisch ostafrika der englische Missionar ein paar hundert englische Worte. Man nehme ferner an, daß ein frommer christlicher Negerfürst zufällig ein Exemplar von Wulfilas gotischer Bibelübersetzung besitze. Dann wird so ein arabischer Max Müller, wenn er nur auf der Höhe seiner Wissenschaft steht, höchst wahrscheinlich be- weisen können, daß jener Bischof Wulfila ein Neger aus Ostafrika gewesen sei, daß er einen Vater aus Britischostafrika und eine Mutter aus Deutschostafrika (oder umgekehrt) ge- habt habe und daß daher das Gemisch von niederdeutschen und oberdeutschen Anklängen im Gotischen zu erklären sei. Dafür müßte aber der Araber freilich schon sehr ge- lehrt sein.

Der Vorstellung von Mutter- und Tochtersprachen, von einer natürlichen Sprachkindschaft überhaupt widerspricht endüch eine Überzeugung, die in der Wissenschaft immer deutlicher hervortritt, die aber noch niemals konsequent zu Ende gedacht worden ist. Man nimmt jetzt allgemein an, daß die Mundarten nicht aus der Gesamtsprache hervor- gegangen sind, sondern daß die Mehrheit der Mundarten immer älter sei als die Einheit der Volkssprache oder gar der Kultursprache. Da scheint es doch doppelt bedenklich, jedesmal und überall die Mehrheit ähnhcher Sprachen auf eine einheitliche Muttersprache zurückführen zu wollen, dreimal bedenkUch für Zeiten, in denen es einheitliche Schrift- sprachen sicherlich gar nicht gegeben hat.

Sprachmischunf,' 609

Ein großer Zweig der Sprachwissenschaft beschäftigt sich also mit den Verhältnissen der Sprachmischung. Sind in zwei Sprachen auffallende Ähnlichkeiten entdeckt worden, so wird untersucht, ob diese Erscheinung von Verwandtschaft, von Entlehnung oder von Bastardierung herkomme. Auf Grund kümmerlichen Materials ist wie gesagt der Ver- such gemacht worden und wird alle paar Jahre wiederholt, einen Stammbaum aller menschlichen Sprachen herzustellen. Wir sehen, daß die Erfuidungen, deren sich sonst gelehrte und verrückte, gutgläubige und eitle Stammbaumverfertiger schuldig gemacht haben, auch bei den Stammbäumen der Sprache nicht fehlen. Endlose Legenden werden auf den zufälligen Gleichklang zweier Namen gestützt; und auch die Albernheit fehlt nicht, daß jede Familie für sich einen möghchst ehren- vollen Stammbaum herausfinden möchte. Der Nachteil dieses ganzen scheinwissenschaftlichen Betriebes wird dadurch noch größer, daß man bei der Aufstellung der Stammtafeln aller Völker den Sprachenstammbaum gern zugrunde legt.

Nun sind unsere adligen Familien schon sehr zufrieden, wenn sie ihre Ahnen einige Jahrhunderte lang zurückver- folgen können; zwanzig Generationen oder Ahnen sind für den Nachkommen schon so viel wie sagenhafter Ruhm. In der Geschichte der Sprachen jedoch sollte mau mit unvergleich- lich größeren Zeiträumen rechnen, und es ist klar, daß die Verwandtschaft der Sprachen in der Zeit vor allen Sprach- denkmälern ein ebenso fabelhaftes Ding ist wie die einst so beliebte Hcrleitung einflußreicher Familien von römisciion Helden und griechischen Heroen.

Ein täglich wiederholtes Experiment beweist, daß das Aiistam- Erlernen, also auch der Gebrauch einer Sprache nicht von ™g °^ "^^ der Abstammung eines Menschen abhängt, sondern von der Umgebung, in welcher er aufwächst. In Deutschland ge- borene und erzogene Franzosen sprechen Deutsch, nichts als Deutsch, und ebenso umgekehrt. Unter lauter Engländern geborene und erzogene Chinesen sprechen englisch, reines Englisch, nichts als Englisch. Der umfassendste Versuch ist von der Geschichte mit den Juden angestellt worden. Sie

Muiithner, Beiträge zu oiner Kritik der Siiracho. II «^J

610 XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie

sprechen je nach ihrem Geburtslande alle Sprachen der Erde. Wenn man an gewissen Gutturaltönen und dem eigentümlichen Singsang ihre Abstammung erkennen will, so befindet man sich im Irrtum. Diese Gewohnheiten sind ererbt, aber nur die mit solchen Eigenheiten behaftete Umgebung vermag das Judenkind weiter anzustecken. Wächst ein solches in voll- kommen deutscher Umgebung auf, so hat die eigentüche Sprache nichts Jüdisches an sich. Dagegen lernt ein Arierkind mauscheln, wenn es unter galizischen Juden aufwächst. Nur diejenigen Eigenheiten der Sprache, die man Krankheits- erscheinungen oder doch physiologische Erscheinungen nennen könnte, wie Lispeln, erben sich mitunter unabhängig von der Umgebung fort.

Diese bekannte Tatsache scheint mir genügend zu sein, um alle Schlüsse von Sprachverwandtschaft auf Stammes- verwandtschaft umzustoßen. Denn Völker bestehen aus Individuen, und wenn die Individualsprache nichts für die Abstammung beweist, so kann es auch die Volkssprache nicht tun. Innerhalb historischer Grenzen spricht nur die AVahr- scheinlichkeit dafür, daß Gruppen, welche die gleiche Sprache reden, wohl auch vielfach miteinander verwandt sein mögen.

Die Sachlage ist also die und darauf wollte ich hinaus- kommen — , daß die Sprachwissenschaft aus gewissen Ähn- lichkeiten einzelner Menschensprachen auf eine leibliche Ver- wandtschaft solcher ähnlich sprechender Völker zurück- schließen will daß also die Sprachwissenschaft Geschichte lehren will, daß wir dagegen deutlich sehen, wie die Sprach- wissenschaft erst auf historischem Boden möglich ist, wie die historisch beglaubigte leibüche Verwandtschaft die Ent- stehung der Sprachen erst aufklärt. In Wahrheit aber, was wissen wir darüber, wer auch nur vor viertausend Jahren, also in der Gegenwart im Vergleich zur Geschichte der Erde, an den Ufern des Rheins und der Donau gehaust hat? Was wissen wir davon, ob die heutigen Deutschen von jenen Leuten

Abstammung und Sprache Q\\

leiblich abstammen? Was wissen wir von der Sprache, die in diesen Gegenden vor viertausend Jahren gesprochen wurde? Und um noch näher an die Gegenwart heranzurücken, so nahe, daß eine Kette von vierzig Menschen von Geschlecht zu Ge- schlecht genügen würde, um uns mit jener Zeit zu verständigen : was wissen wir von den Sprachmischungen aus den Tagen der legendenreichen Völkerwanderung? Was ist die berühmte Völkerwanderung überhaupt mehr als ein Wort der Verlegen- heit, ein Eingeständnis des Nichtwissens?

Es geht so mit manchen betriebsamen historischeu DiszipUnen. Eine Zeitlang ist die aufgedeckte Silberader reich genug, um den Abbau zu lohnen; jeder verständige Arbeiter findet Schätze. So ging es den Indoeuropäern nach dem Bekanntwerden des Sanskrit. Nachher aber wird die Ader dünner, und dünner, und schließlich lohnt das Er- gebnis nicht mehr die Arbeit. Der Betrieb würde eingestellt werden, wenn nicht das eine Mal der Staat törichterweise die Fabrik unterstützte, das andere Mal Größenwahn oder Aberglaube die Hoffnung aufrecht erhielten, auf dem alten, toten Arbeitsfelde immer wieder neue Schätze zu finden.

Seitdem die Sprachwissenschaft über die indoeuropäischen Sprachen hmaus auf die wilden Sprachen ausgedehnt worden ist, taucht hier und da schon der Gedanke auf, daß Erschei- nungen, die früher allein durch Verwandtschaft erklärt wurden, auch auf Sprachmischung beruhen können. Auf den Inseln zwischen Australien und Asien leben Negervölker, deren Sprachen mit denen der braunen Polynesier nahe verwandt sein sollen; man behauptet, daß diese Stämme ethnographisch mit den Australnegern zusammenhängen, linguistisch mit den malayisch-polynesischen Sprachen. Die Ähnlichkeit soll so groß sein, daß sie durch Entlehnung allein nicht zu er- klären wäre. Worauf beruht nun diese merkwürdige Ähnlich- keit? Auf Sprachmischung oder auf Verwandtschaft? Leib- liche Verwandtschaft der Völker scheint ausgeschlossen zu sein, man nähme denn eine unnachweisbare Bastardierung an. Der nächstliegende Gedanke ist, an eine Sprachmischung zu denken, die durch Handel oder Krieg, Kultur oder Eroberung

613 XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie

hervorgerufen wurde. Jede Hypothese über den wh:klich historischen Vorgang ist phantastisch, aber kaum viel phan- tastischer als die von unseren Gelehrten feierUch vorgetragenen Hypothesen über die urgermanische Sprache und über das Verhältnis der germanisch redenden Völker zu den indisch redenden.

Begriffhch haben die Wanderungen der arischen Stämme mit der Verwandtschaft ihrer Sprachen nichts zu tun; tat- sächlich aber ist immer der Reiseweg der Völker das historische Abbild gewesen von dem Stammbaum ihrer Sprache. Als nun durch die genauere Beobachtung der Verwandtschafts- verhältnisse, insbesondere durch die Übergangstheorie von Johannes Schmidt das Aufrichten von Stammbäumen zu emem müßigen Spiel geworden war, da hätte von Rechts wegen auch das Nachdenken über die Reisewege als aussichts- los aufhören müssen. Dasselbe Ergebnis hätte auch eine andere Detailforschung haben müssen, die sich etwa zu gleicher Zeit einigermaßen ausgebildet hatte: die Kenntnis der Lehn- wörter. Lehn- Was ist ein Lehnwort? Ein Fremdwort, dessen fremder

Ursprung dem allgemeinen Sprachgefühl nicht mehr auffällt. Der Unterschied zwischen Lehnwort und Fremdwort ist also nicht in der Sache selbst vorhanden, sondern nur in der geringeren oder größeren Gelehrsamkeit dessen, der darauf achtet. Es ist das am auffallendsten in den Fällen, welche die Franzosen Dubletten nennen, wo e i n Wort nämlich zweimal zu verschiedener Zeit eingewandert ist. Z. B. combler und cumuler, welche beide das latemische cumulare sind. Die Franzosen nennen die jüngeren Fremd worte mots savants, offenbar weil sie gelehrtem Sprachgebrauch ihre Einführung verdanken. Es ist aber nicht daran zu zweifeln, daß auch die älteren und volkstümlich veränderten Worte fast immer oder doch sehr häufig von Gelehrten, von Mehrwissern, eingeführt waren. Wir haben solche Beispiele auch im Deutschen zahl- reich genug. Wir empfinden „Advokat" als Fremdwort;

wörtei-

Lehnwörter ß j 3

„Vogt" aber, welches viel früher aus demselben lateinisclieu vocatus entstanden ist, halten wir für deutsch, und die Sprach- forscher nennen es darum ein Lehnwort. Gerade für die Sprachforscher aber gibt es also einen wirklichen Unterschied zwischen Lehnwort und Fremdwort nicht. Ich werde auch weiterhin nur noch von Fremdwörtern sprechen, damit dor gelehrtere Ausdi'uck nicht irreführe.

Es liegt nun auf der Hand, daß die gesamte indo- europäische Etymologie, insbesondere aber ihre ethnograplii- sche Anwendung durchaus davon abhängt, daß man eigene Wörter der Sprache von Fremdwörtern unterscheiden könne. Das gilt für die Urzeit ebenso wie für heute. Hören wir das Wort Kakao, so vermuten wir sofort aus seinem I lochst undeutschen Klang, daß es ein ausländisches Ding bezeichnen müsse; das Fremdwort läßt auf fremde Herkunft der Sache schließen. Das gilt aber nicht umgekehrt. Dem Worte Rose oder Pferd hören wir das Fremdwort nicht mehr au, und dennoch hatten Wort und Sache fremde Herkunft. Ist gm- erst ein deutsches Wort zur Bezeichnung eines ausländischen Dings gebildet worden (Baumwolle, Erdapfel, was freilich vielleicht Volksetymologie ist), so läßt uns das Sprachgefühl im Stich.

AVie aber soll man für uralte Zeiten das Fremdwort Fiemd-

erkennen? Ich halte die Aufgabe für unlösbar, wenn nicht ^^^'■^^'^

nur

zufällig kulturhistorische Tatsachen der Sprachgeschichte kuitur-

zu Hilfe kommen. Ich will den annähernden Beweis dafür i"^to''>scii

erkennbar

aus emem Wortverzeichnis zu geben suchen, das zu ganz anderem Zwecke zusammengestellt ist. Kluge hat im .;lnhang zu seinem etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache eine chronologische Darstellung des neuhochdeutschen Wort- schatzes gegeben. Es sind da für jede Periode die nachweis- baren Fremdwörter hinzugefügt. Der Zufall, daß wir die Kulturgeschichte der Römer und Griechen ziemlich gut weiter zurückverfolgen können als die deutsche Sprache, hat es ge- fügt, daß Kluge selbst für die Zeit, die dem Althochdeutschen vorausgeht, gegen zweihundert Fremdwörter hat zusammen- stellen können. Wären die kulturgeschichtlichen Quellen der

gj4 XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie

früheren Zeit vernichtet, genau so wie wir über die Kultur der „Urarier" durch ÜberUeferung durchaus nichts wissen, wüßten wir nichts von der römischen Küche und von der enriechischen Kirche, so würde kein Forscher auf den Einfall gekommen sein, daß z. B. die Wörter Kirche und kochen (ebenso Pfaffe, Pfingsten, Sarg, Apfel, Kelter, Schüssel, Kohl usw.) Fremdwörter seien. Man hätte in einigen Fällen die Ähnlich- keit überhaupt nicht erkannt, in anderen Fällen Urverwandt- schaft angenommen. Die ganze große Zahl der Fremdwörter im Urdeutschen ist nicht sprach wissenschaftlich erkannt, sondern kulturhistorisch.

Nun gibt Kluge im vorhergehenden Abschnitt eine Liste des vorgermanischen Wortschatzes, den er, wie es gerade die Wissenschaft verlangt, in die indogermanischen und in die gemeineuropäischen Worte einteilt. Dieser Liste weiß er kein einziges Fremdwort beizufügen, aus dem einfachen Grunde, weil für diese Zeit („dunkle Beziehungen" heißt es: Paul, Grundriß I, 323) eine Erschheßung durch historische Überlieferung nicht vorhanden ist und weil die vergleichende Sprachwssenschaft allein über die Existenz von Fremd- wörtern nichts Sicheres aussagen kann. So kann man im allgemeinen wohl aussprechen, daß die Fremdwörter um so deutlicher erkennbar sind, je näher die Zeit ihrer Aufnahme der unsrigen Hegt , und daß jeder Nachweis um so sicherer verloren geht, je weiter die Zeit der Aufnahme zurückUegt. Anstatt sich das kla,r zu machen und für die Urzeiten auf jede Gewißheit zu verzichten, hat die Sprachwissenschaft sich da- durch zu helfen gesucht, daß sie an die Untersuchung der Fremdwörter nur mit Widerstreben heranging. In einer verhältnismäßig jüngeren Sprache, dem Latein, hat Curtius z. B. in den Schifferausdrücken drei Schichten unterschieden: erstens die arische Schicht (wie navis, remus), zweitens die Schicht griechischer Fremdwörter (wie gubernare, ancora), drittens die römischen Neubildungen (wie velum, malus). Es sind die meisten dieser Ausdrücke übrigens in die romani- schen Sprachen übergegangen. Mir scheint an dieser Liste deutlich erkennbar, wie irreleitend das Forschen nach Fremd-

Fremdwörter nur kulturhistorisch erkennbar (j15

Wörtern immer sein muß. Die jüngeren und kulturhistorisch nachweisbaren Entlehnungen aus dem Griechischen erkoinit Curtius bereitwillig, das heißt notgedrungen, als Fremdwörter an. Wo er aber ähnliche Laute schon im Sanskrit wieder zu finden glaubt, da empfindet er sofort einen heiligen Schauer und spricht von indogermanischem Besitz. Ob die altindischeu Schifferausdrücke seinerzeit Fremdwörter gewesen sind oder nicht, läßt sich natürlich nicht so leicht ausmachen. Aber gerade die Annahme von einer gebirgigen Urheimat der Indo- europäer, die allgemein gültige Annahme zur Zeit von Curtius, hätte ja zu der Behauptung zwingen müssen, daß die so- genannten Arier die Dinge selbst, nämlich das Schiff und seine Teile, erst auf ihrer legendären Wanderung bei seefahrenden Völkern kennen gelernt hatten. Und die höchste Wahrschein- lichkeit spräche dafür, daß mit den neuen Dingen auch die fremden Bezeichnungen aufgenommen wurden, daß die Schiffer- ausdrücke des ältesten Sanskrit Fremdwörter waren. Aber solche Vermutungen würden den ganzen mühsamen Bau der indogermanischen Wissenschaft stören. Man nimmt deshalb lieber an, ohne es irgendwie beweisen zu können, daß „das Wörterbuch des Rigweda (wie überhaupt des ältesten, Sanskrit), das reinste und unvermischteste auf dem ganzen indo- germanischen Völkergebiet, nur wenig Ausbeute (an Fremd- wörtern) gewähre" (Schrader, Sprachvergleichung und Ur- geschichte S. 109).

Wenn Friedrich Müller bei der Erörterung dieser Fragen sich auf sein eigenes Sprachgefühl für urindische und ur- semitische Sprachen beruft, so liegt doch wohl eine starke Selbsttäuschung über die Stärke eines solchen Gefühls zu- grunde. Ich möchte beinahe behaupten, daß es ein solches historisches Sprachgefühl im eigentlichen Sinne nicht gibt. Käme die Wissenschaft uns nicht zu Hilfe, wir würden mit all unserem Sprachgefühl nicht erraten, daß unser „Arm- brust'" (aus dem mittellateinischen arcubalista). daß Apfel. Bottich, Kachel, Kissen, Schindel, Schurz, Zoll Fremdwörter seien. Das Sprachgefühl , das zunächst nur eine gewisse Klanganalogie der Worte empfindet, ist heutzutage bei ver-

(516 XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie

schiedenen Völkern verschieden. Die Franzosen haben ein sehr seil waches phonetisches Sprachgefühl, die Slawen ein sehr starkes; die Deutschen stehen in der Mitte, sie empfinden das Fremdwort und nehmen es dennoch auf. Wer kann nun sagen, wie stark oder schwach das Sprachgefühl der alten Sanskritgrammatiker gewesen sei, auf deren Schultern unsere Forscher stehen? Sie trieben nach ihrer Meinung sprach- geschichtliche Studien; da ihnen aber ofEenbar die Kenntnis fremder Sprachen und die Methode der Sprachgeschichte fehlte, so konnten ihre Anstrengungen, ihre heilige Sprache streng puristisch aus sich heraus zu erklären, nur irre führen. So wissen wir durchaus nichts Bestimmtes über die Sprach- reinheit des Sanskrit. Und ob in einer der jüngeren indo- europäischen Sprachen die Ähnlichkeit mit den Worten einer anderen Sprache auf „Verwandtschaft" oder Entlehnung beruhe, wissen w^ir nur in den günstigen Fällen, w^o die übrige Geschichte uns zu Hilfe kommt. Für die vorgeschichtliche Zeit wissen wir es also nicht. Fremd- Ich kann auch an dieser Stelle die Bemerkung nicht unter- drücken, daß die Bildungssilben der Worte, die gegenwärtig für die Verwandtschaft der Sprachen wo möglich noch ent- scheidender sind oder dafür gelten als die Etymologie der Wortstämme, daß sage ich die Ableitungssilben selbst vom bloßen Sprachgefühl nicht mit Sicherheit unterschieden werden. Und wenn erst entlehnte Bildungssilben, Fremd- silben möchte ich sie nennen, sich mit einheimischen Stämmen zu neuen W^orten verbinden, so ist eine neue Quelle von Irrtümern für die Sprachforschung vorhanden. Wir besitzen solche Fremdsilben auch im Deutschen; Stellage und Takelage sind mit Hilfe der französischen Endung age aus germanischen Worten (der Weg über die Niederlande kann uns gleichgültig sein) entstanden ; ebenso haben wir mit Hilfe der französischen Endsilbe ieren neben unzähhgen Fremdworten auch Aus- drücke wie stolzieren, halbieren gebildet. ,, Stolzieren" können wir bis ins Mittelalter zurück verfolgen, „Stellage" bis ins 16. Jahrhundert. Wie aber sollen wir Fremdsilben in den Sprachen der Urzeit entdecken?

Urheimat der Arier (517

Die Bedeutung der Fremdsilbeu ist von der Sprach- Oie

Urheim r Arier

Wissenschaft nicht vorurteilslos untersucht worden, und die

Schwierigkeit, Fremdwörter zu bestimmen, ist noch nicht resigniert genug in der Ethnographie beachtet. Aber die UnZuverlässigkeit der Stammbäume hat doch schon vor einem Menschcnalter dazu geführt, daß die Legende von der asiati- schen Urheimat der sogenannten Arier von einzebien For- schern bezweifelt oder aufgegeben wurde. Wie von England zuerst der Gedanke ausging, das Sanskrit sei die Mutter unserer Kultursprachen, so wurde auch in England zuerst der Zweifel an dieser Genealogie ausgesprochen. Latham versetzte die Urheimat nach Europa, nach Südrußland. Seinem Zweifel wenigstens schlössen sich Whitney und Benfey an. Seitdem ist ein lebhafter ^^'ettkampf eröffnet, die Ur- heimat des angeblichen Urvolkes irgendwohüi zu verlegen, vv^o der Forscher suggestiv durch die Wichtigkeit hingeführt wurde, die er der Geschichte eines einzelnen Volkes l)eilegte. So verteidigte Benfey die Annahme einer europäischen Ur- heimat damit, daß das Urvolk noch keine gemeinsame Bezeich- nung für den Löwen besessen habe, der doch in Asien zu Hause ist; „Löwe" gilt für ein semitisches Fremdwort. Da- gegen wurde wieder vor etwa zwanzig Jahren ,,Löwe" für indogermanisch erklärt, weil die Laute ein gelbes oder graues Tier bedeuten. Es machte dem Entdecker dieser Etymologie nichts, gelb und grau für uudifierenziert zu halten. Viktor Hehn wieder, der ganz treffend über die Aufstellung be- sonderer, genau lokalisierter Urheimaten spottet, bleibt der asiatischen Herkunft treu und stützt sich vornehmlich auf seine Geschichte des AVortes Salz. Friedrich i\Iüller ist für Europa, setzt aber doch eine Zickzackwanderung voraus, wie denn die Vorstellung einer Wanderung trotz der neuen Ansichten von Johannes Schmidt immer wieder die Darstel- lungen beeinflußt.

Dann suchte man der Frage mit physiologischen Phan- tastereien näher zu kommen. Theodor Pösche behauptete (1878), die Urheimat der Indogermauen m denRokitnosünipfen am Dnjepr gefunden zu haben, weil dort der Albinisnuis

QIQ XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie

ZU Hause sei. Trotzdem man sich nun über dieses „weichsel- zöpfige Kakerlakeugeschleclit" weidlich lustig machte, blieb seitdem namentlich bei den Anthropologen, die nicht allein von der Sprachwissenschaft herkamen, die Annahme einer europäischen Urheimat für die blonde Rasse bestehen. Und es will scheinen, als ob heutzutage die Bezeichnung „blonde Rasse" frühere Bezeichnungen (Arier, Indogermanen usw.) ablösen wollte, als ob die Periode ihrem Ende nahe wäre, wo man von der Sprachwissenschaft wichtige Aufschlüsse über die Vorgeschichte der Völker erwartete. Wir leben in einer Übergangszeit, deren Konfusion sich am deutlichsten in viel gelesenen Büchern ausspricht, weil ihre Verfasser das ganze Material elegant zusammenfassen wollten. Carus Sterne (Dr. Ernst Krause) versetzt die Urheimat seiner arischen Stämme nach „Tuisko-Land", wofür sich die Skandinavier bedanken mögen; man weiß nicht, ob man seine Darlegung mehr dilettantisch oder mehr poetisch nennen soll. Er stützt sich zumeist auf Sagenforschungen und unterscheidet da seinerseits wieder nirgends schärfer zwischen Sagenverwandt- schaft und Sagenentlehnung, zwischen eigenen Sagen und ihering Fremdsagen. Rudolph v. Ihering wieder in seinem überaus geistreichen und anregenden nachgelassenen Roman „Vor- geschichte der Indoeuropäer" erkennt mit verblüffender Sicherheit die semitischen Einflüsse auf Sprache, Kultur und Recht, lehrt aber deshalb um so bestimmter die Einwanderung aus einer asiatischen Heimat. Seine Behauptungen verdienen kaum, Hypothesen genannt zu werden; es sind Einfälle eines geistsprühenden Mannes, der die Kulturgeschichte der Welt auch in der Urzeit von dem Boden der römischen Rechts- geschichte aus betrachtet. Der berühmte Lehrer der römischen Rechtsgeschichte scheint vorauszusetzen, daß die Erde auch in den sogenannten Urzeiten nur von Wucherern und Juristen bewohnt gewesen sei.

Ihering hat die Ergebnisse einer besonders feinen Unter- suchung vor das größere Publikum gebracht, die Behauptung nämlich (mehr als eine zuversichtliche Behauptung ist das Ergebnis nicht), daß die Arier unser heutiges Dezimalsystem

Ihering (319

in Maßen und Zahlen ursprünglich besessen hätten, dann aber durch das Duodezjraalsystem der Semiten angesteckt worden wären. Dabei gehört Ihering bloß die seltsame Art, wie er die Einführung des Zwölfersystems begründet. Er phantasiert sich für seine Urzeit ein beinahe sozialistisch geregeltes Ver- hältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammen und läßt das Zwölfersystem gewissermaßen aus der sozialen Frage der Urzeit hervorgehen. Gerade sechs Tage, nicht mehr und nicht weniger, könne der Mensch hintereinander arbeiten, ohne Schaden zu nehmen. Die Woche beruhe also auf dem Zwölfersystem. Ein halbes Dutzend Arbeitstage fordere einen Ruhetag, aus dem nachher der jüdische Sabbath ent- standen sei, ein Ruhe- und Freudentag ohne jede religiöse Bedeutung. Ihering scheint sich etwas einzubilden auf seine Formel 6 -f 1, und es fällt ihm nicht em, daß diese Woche notwendig zu einer Zeiteinteilung nach dem Siebenersystem liätte führen müssen, wie denn auch der alte Monat regelrecht 4 X 7 = 28 Tage hat. Xaturwissenschaftüches Denken ist diesem Juristen so fremd, daß er auch die Einteilung des Tages in 2 X 12 Stunden und die Einteilung der hellen Tageshälfte in 4 X 3 Abteilungen auf eine Art Arbeitsvertrag zurückführt. Was er darüber sagt, liest sich alles sehr hübsch und unter- stützt seine Hypothese von dem entscheidenden Einfluß der Babylonier. Für die Urheimat der Indoeuropäer wird damit nichts bewiesen.

Die unbestreitbare Tatsache, daß in den europäischen Duo- Kultursprachen das Dezimalsystem der Zahlwörter hie und da durch ein heimliches Duodezimalsvstem durchbrochen wird, ist freihch merkwürdig genug. Das Vorhandensein eines Groß- hundert mit dem Werte 120 ist weniger bekannt. An anderes braucht nur erinnert zu werden. Überall bildet die Zahl 60 eine runde Summe, welche heute noch vielfach mit der runden Zahl 100 konkurriert. Man zählt immer noch nach Schock und seltsamerweise auch nach Viertelschock, z. B. in Deutsch- land nach Mandeln. Womöglich noch auffallender ist in germanischen Sprachen (schon im Gotischen) die Roihe der Zahlwörter, die bis 12 altertümlich weitergeht, um erst von

dezimal- system

62Ö XIII. Sprachwiss^schaft und Ethnologie

13 ab Zusammensetzungen nach dem Dezimalsystem anzu- wenden: elf (einlif), zwölf (tvalif), dreizehn. Überraschend ist für jeden Ausländer, daß im Französischen hinter 60 eine neue Art von Zählung der Zehner beginnt (soixante, soixante- dix, quatre-vingt usw.). Die für unser Gefühl modernen Be- zeichnungen für achtzig, octante und huitante, gelten in Frank- reich für veraltet oder provinziell.

Wenn die Babylonier wirklich in der Astronomie den ludo- europäern voraus waren, so läßt sich allerdings vermuten. daß sie früher auf die Grundzahl 60 gekommen sind; sie brauchten nur die 360 Tage ihres Sonnenjahres, welche viel- leicht zu astronomischen Zwecken in Form eines Kreises dar- gestellt wurden, durch den Halbmesser des Kreises in sechs gleiche Teile einzuteilen.

Was soll aber mit Hilfe dieser Spuren eines Duodezimal- systems bewiesen werden? Vor allem ist es eine durchaus v^illkürhche Behauptung, daß das ursprüngliche Zahlensystem der Indoeuropäer das Dezimalsystem gewesen sei. Nichts. durchaus nichts wissen wir davon. Sodann stehen die Gelehrten vor dem Rätsel, daß die nächsten Nachbarn der Babylonier, die „Arier" im engeren Sinne, bisher noch keine Spur des Zwölfersystems verraten haben. Anderseits machen, nach Jakob Grimm, finnische Völkerschaften selbst im Norden von Asien hinter der Zahl 60 den überraschenden Abschnitt. Und auch in China soll 60 eine besondere Bedeutung haben. Ebenso wird von den Etruskern, von denen man so wenig weiß und so viel spricht, bestimmt angenommen, daß sie in Eeligion und Münzwesen ein Zwölfersystem besaßen. Auf die Frage, ob die Grundzahl die 60 oder die 12 gewesen sei, gehe ich nicht ein. Ebensogut wie die Einteilung der 360 Tage des Sonnen- jahres in 6 Schock, ist die Grundlage von 12 Monden oder Monaten möglich. Was aber soll dies alles für die Urheimat der Indoeuropäer beweisen? Meter- Man denke einmal an die Einführung der metrischen Maße

für Längen, Flächen, Räume und Gewichte, wie sie seit hundert Jahren sich in den Kulturländern langsam vollzogen hat. Die Worte oder Begriffe smd ja immer nur Zeichen für Beob-

system

Metersystem (j21

achtuugen. Ob nun die Babylonier oder andere Leute vor Jahrtausenden zuerst die Gleichmäßigkeit des Sonnenjahres beobachteten, sie setzten die Zahl der Tage auf 360 fest, und an dem daraus folgenden System, an Kalendereinriclitungen u. dgl., wurde viele Jahrhunderte lang niclits geändert. Der kleine Fehler von einigen Tagen fand in der Sprache keinen Aus- druck. Genau so verhielt es sich, als die Männer der französi- schen Revolution in ihrem Bemühen, die Welt (nach Hegels witzigem Wort) auf den Verstand, also auf den Kopf zu stellen, im Jahre 1799 den zehnmillionsten Teil eines Erdquadranten zur Maßeinheit, zum Meter machten. Die französischen Astronomen arbeiteten mit ganz anderen Instrumenten als die alten Babylonier oder deren Vorgänger; sie berechneten die Maßeinheit, den Meter, bis auf 6 Dezimalstellen einer Linie genau und setzten das Einheitsmaß schließlicli auf 443,296 Pariser Linien fest. Ein Metallstab von dieser Länge gibt seitdem bei einer bestimmten Temperatur die Längen- einheit an. Es ist ein Selbstbetrug übrigens, wenn man diese Länge ein natürliches Maß nennt. Denn erstens fehlt die präzise Bestimmung einer wirklichen Pariser Linie, zweitens berechnen die heutigen Mathematiker den zehnmillionsten Teil eines Erdquadranten um ^/looo Linien länger, und schließ- lich ist die Zugrundelegung eines Meridianteils doch ein ganz willkürlicher Einfall. Durch Einflüsse der verwickeltsten Art gewann aber dieses französische Metermaß ein solches Ansehen, daß es im Laufe von ungefähr hundert Jahren in den meisten Kulturländern offiziell eingeführt wurde. Die bekannten französischen Bezeichnungen, die mit ihren la- teinischen und griechischen Vorsilben künstlich geschafEen wurden, sind internationale Sprache geworden, nicht ohne daß hie und da die alten einheimischen Worte für die neuen Maße erhalten blieben. So rechnet man bei uns z. B. noch nach Zentnern, auch nacii Talern und Dreiern, und i\ennt in München das Liter eine Maß. Man stelle sich nun vor, die gegenwärtigen europäischen Maßbezeichnungeu wären vorhanden, die gesamte Kulturgeschichte bis zur Gegenwart wäre durchaus vernichtet, so wie jede Spur von der Kultur-

(322 XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie

geschichte der Urzeit verniclitet ist, und unsere Gelehrten sollten aus den internationalen Worten für Maße der Längen, Flächen, Räume und Gewichte erraten, welches Volk dieses System eingeführt habe. Ich will einige gründgelehrte Schlüsse, die unter solchen Umständen nicht nur möglich, sondern ge- boten wären, ausdenken, um daraus erkennen zu lassen, wie phantastisch und unwahrscheinlich unsere Vermutungen über die ethnographische Bedeutung des Dezimal- und Duodezimal- systems sind.

Wenn sich nämlich Archäologen einer künftigen Zeit mit der Herkunft unserer Metermaße beschäftigen würden, so könnten sie dahin gebracht werden, Peru für die Heimat dieses Systems zu erklären. Man schwankte im 18. Jahr- hundert zwischen verschiedenen Maßeinheiten, und so lange man glaubte, der Sekundenpendel habe überall auf der Erde gleiche Länge, so lange galt diese Länge für die natürliche Einheit, welche denn auch zur Zeit der französischen Re- volution vorübergehend in England eingeführt wurde. Nun war vorher die Verschiedenheit der Pendellänge (je nach der geographischen Breite) entdeckt worden, und der französische Reisende La Condamine, der für die Sekundenpendellänge (am Äquator) als Einheit agitierte, stellte in Peru ein Denkmal auf, in welches er diese Länge eingraben ließ; durch eine lateinische Inschrift bezeichnete er sie als das Muster eines allgemeinen und natürlichen Maßes. Einen vollständigen Untergang unserer neuesten Geschichtsquellen nun voraus- gesetzt, würden wohl künftige Archäologen dieses Denkmal auffinden, die Inschrift entziffern und den logischen Schluß ziehen, daß das Metersystem aus Peru herübergekommen sei. Selbstverständlich würde dann Peru Mode werden, und die Wissenschaft würde den größten Teil der europäischen Kultur aus Peru herleiten. Im Jahre 1799 wurde jenes Maß des Denk- mals von Peru übrigens zur Grundlage für die Länge einer Pariser Linie genommen, so daß die Herkunft des Systems aus Peru wirklich eine schmale Unterlage hätte.

Würden aber nicht Archäologen, sondern Sprachforscher, immer noch die Vernichtung der Kulturquellen vorausgesetzt,

Metersystem g 2 3

die Herkunft unserer Metermaße zu erforschen suchen, so würden sie eine gewisse Vermischung des Dezimalsystems mit dem Duodezimalsystem entdecken, genau so wie unsere heutigen Sprachforscher das für die Urzeiten der Indo- europäer entdeckt haben. Sie würden bemerken, daß der heutige Deutsche wie schon erwähnt zwar offiziell nach dem Dezimalsystem rechnet, daß er jedoch im Klein- handel immer noch ein Schock oder eine Mandel Eier be- sonders bezeichnet und daß er solche Gegenstände ebenfalls nach dem Zwölfersystem mit Talern beziehungsweise mit Dreiern bezahlt. Glaubten die künftigen Sprachforscher dann noch an den semitischen Ursprung des Zwölfersystems, so würden sie vielleicht Berlin für eine semitische Kolonie im Herzen Europas erklären und grundgelehrte Abhand- lungen über die Wanderungen semitischer Völker schreiben. Den Scherz , wie sie das alles aus der gegenwärtigen Bevölkerung Berlins belegen könnten, will ich nicht aus- führen, trotzdem ich nicht daran zweifle, daß die Schriften von Johannes Schmidt und Ihering über die Zahlenfrage den Zeitgenossen des alten Ereignisses ebenso scherzhaft erscheinen müßten.

Noch eine Hypothese möchte ich erwähnen, welche unter der Annahme einer Vernichtung aller historischen Quellen möglich oder wahrscheinHch , vielleicht bewunderungswürdig wäre. Bekanntlich wurde bei der Aufstellung des Metersystems eine Art Volapük geschaffen, indem durch Vorausstellung der griechischen und lateinischen Zahlworte die Einheit multi- pliziert beziehungsweise dividiert wurde. Tausend Meter wurden mit dem griechischen Zahlwort Kilometer benannt, Viooo Meter mit dem lateinischen Zahlwort Millimeter. Ebenso heißt Dekameter so viel wie 10 Meter, Dezimeter so viel wie Vio Meter. Was wäre das nun für ein herrlicher Sprachforscher, der die etjonologische Verwandtschaft von deka und dezi (zehn) erkannt hätte und nun einen neuen klassischen Beitrag zum Gegensinn der Urworte, wie ihn Abel aufgestellt hat, gefunden zu haben glaubte. Wir besäßen ein neues Sprach - gesetz : gewisse Zahlen der gräko-italischen Familie bezeichnen

624 XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie

in ihrer östlichen Form die Multiplikation, in ihrer westlichen Form die Division.

Ich hoffe, in dieser Weise nicht fortfahren zu müssen. Wir haben aus der Vergleichung des angeblich babylonischen Duodezimalsystems mit dem französischen Metersystem zweierlei gelernt, eine Tatsache und eine Vermutung. Die Tatsache ist, daß ein nützliches neues Rechnungssystem vollkommen von einem anderen Volke herübergenommen werden kann, ohne daß das aufnehmende Volk darum seine alten Worte vollständig aufgibt. Die Vermutung ist die, daß wir über das wirkliche Ereignis der Einführung der Zahlen- systeme in der Urzeit nichts wissen können.

Kehren wir nun dahin zurück, wo wir die Entwicklung der ethnographischen Sprachwissenschaft verlassen haben. Auf die kurze Zeit des festen Glaubens an einen bestimmten Skepsis Stammbaum und an einen bestimmten Reiseweg des Urvolks kamen die Jahre des Zweifels. Wir wollen nun zusehen, wie die Forschung gegenwärtig methodisch vorgeht. Immer noch \vird die Existenz einer indoeuropäischen Ursprache zum Ausgangspunkt genommen, aus dem „methodischen" Grunde, weil sonst die gesamte Sprachwissenschaft aus den Fugen ginge. Der einen Ursprache entspricht natürlich ein Urvolk. Aber man nimmt diese Voraussetzung nicht mehr wörtlich. Man hat aus den Sanskritquellen nachgewiesen, daß das indoeuropäische Volk der Inder aus irgend einer Mischung hellhäutiger Arier mit schwarzhäutigen Eingeborenen (Dasyu) hervorgegangen sei, und gibt zu, daß ähnhche Mischungen auch in Europa stattgefunden haben mögen.

Schon Schrader hat energisch darauf hingewiesen, daß wir mit einer sentimentalen Bewunderung, wie sie im Über- maß auf den Sprachbau des Sanskrit angewandt worden ist, nicht weiter kommen. Es sind das im Grunde ästhetische, höchst subjektive Gesichtspunkte. Mit demselben Rechte könnten die Chinesen oder Semiten ihre Sprache für den Aus- druck eines geistigen Höhepunktes erklären. Auch die Weiter- entwicklung der angeblichen Ursprache in den indoeuropäischen Volkssprachen ist so gewesen, daß man eine Beziehung zwischen

Skepsis (325

Formenbau und geistiger Blüte nicht gut behaupten kann. Die englische Sprache hat die alten Bildungsformen fast völlig verloren, und doch haben Shakespeare und Newton eng- lisch gesprochen oder gedacht.

Auch sonst ist man skeptischer geworden, als man es noch vor dreißig und zwanzig Jahren war. Kein ernsthafter Forscher denkt mehr daran, die Ursprache in dem Sinne wiederherstellen zu wollen, daß eine Sprache erschlossen würde, die irgend wo von irgend wem gesprochen worden wäre. Delbrück sagt (Einleitung) fast boshaft: „Die Ursprache ist nichts als ein formelhafter Ausdruck für die wechselnden Ansichten der Gelehrten über den Umfang und die Beschaffenheit des sprach- lichen Materials, welches die Einzelsprachen aus der Gesamt- sprache mitgebracht haben." Der Satz w^ürde das Ergebnis meisterhaft bezeichnen, wenn nicht in den Worten „Gesamt- sprache" und „mitgebracht" wieder legendarisches Beiwerk enthalten wäre. Die neueste Forschung sucht sich nun trotz dieser Skepsis dadurch zu helfen, daß sie bloß auf die Er- schließung der Urform ähnlicher AVörter verzichtet, daß sie aber die Verwandtschaft solcher "Wörter nach wie vor als bestehend annimmt und daß sie einen Bedeutungswandel der Urzeit kaum in Betracht zieht. Die alte Hypothese vom Urvolk und seinen Wanderungen besteht heimüch in alter Kraft; denn wo bei verschiedenen Völkern dasselbe Ding (mitunter auch nur Dinge aus ähnlichen Gruppen) mit irgend- wie anklingenden Worten bezeichnet wird, da springt sofort der Schluß hervor: die Völker hätten das Ding schon vor ihrer „Trennung" gekannt. Aus einer Anzahl solcher Schlüsse wird die Wanderung und Trennung der Völker gefolgert, nachdem dieselbe Trennung und Wanderung jedem einzelnen Schlüsse zugnmde lag. Ein ABC-Fehler der Logik.

Auf einen zweiten bösen logischen Schnitzer habe ich Schlüsse schon hingewiesen, daß nämlich Schlußfolgerungen aus der ^^zeit- partikularen Negation häufig gezogen werden. In der Tlicorie sind alle Fachmänner darüber einig, daß ein Volk ein Dmg gekannt haben könne, auch wenn in den zufälligen Quellen die Wortbezeichnung dafür nicht vorhanden sei; aber in der

Mauthuer, Beitrage zu i'iner Kritik der Sprache. 11 "^^

626 XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie

Praxis wird immer wieder gegen diese richtige Theorie ge- sündigt. Ich will es dahingestellt sein lassen, ob die Unter- suchungen über die Farbenbezeichnungen der Urvölker und der Naturvölker richtig sind und wirklich die Bezeichnungen für blau und grün jüngeren Ursprungs sind als die Bezeich- nungen für rot und gelb. Es wäre doch zu toll, wenn die Men- schen den blauen Himmel und die grüne Erde nicht von jeher ganz deutlich unterschieden hätten. Aber daraus, daß ein Wort für „Farbe" in der angeblichen Ursprache nicht aufzufinden ist, hat man sogar geschlossen, daß damals (wann?) der FarbenbegrifE gefehlt habe.

Nähmen es die Forscher auch nur mit der Wortform genau, so müßten sie die meisten Behauptungen der ethnographischen Sprachwissenschaft preisgeben. Denn die Fälle, in denen sowohl die Stammsilbe als die Bildungssilbe einander nach den Gesetzen der Wissenschaft entsprechen, sind au zählen. Bei den Worten, wo die Stammsilben einander zu entsprechen scheinen, nicht aber die Bildungssilben, liegt der Gedanke an Entlehnung noch näher als sonst. Doch selbst die Worte der ersten Gattung sind ja nicht zuverlässig. Es gibt da ein Sanskritwort paktar (Koch), welches lautgesetzlich und in der Bedeutung ganz ordentlich dem lateinischen coctor ent- spricht, in Stamm- und Bildungssilbe. Danach müßte man annehmen, das legendäre Urvolk habe schon Leute gekannt, die die Küchenkunst zu ihrem besonderen Geschäfte machten. In diesem Falle verzichtet man auf eine solche uns seltsam erscheinende Annahme, weil das lateinische Wort in der älteren Sprache noch gar nicht vorkommt und weil die Bildungs- silbe tar beziehungsweise tor offenbar häufig zu Neubildungen benutzt wurde. In ganz alten Zeiten haben wir aber für solche Dinge keinen Maßstab mehr; wo wir von der Kulturgeschichte einer Zeit so wenig Vorstellungen haben, daß wir auf die Sprachreste allein angewiesen sind, da geben uns die Sprach- reste auch keine Antwort. Es ist ein ewiger Zirkelschluß. Baum- Die neuere Forschung hat ferner eingesehen, daß die

Geschichte der Wortbedeutmig noch unzuverlässiger ist als die Geschichte der uralten Wortformen. Die Namen der Bäume

uamen

Baumnamen ß27

sind für diese Sachlage besonders lehrreich. Ein Wort der angeblichen Ursprache lautet im Griechischen oy)(; und lieißt Eiche, dasselbe Wort lautet im Sanskrit dru (gotisch triu, englisch tree) und heißt da Baum. Die Eiche heißt aber im Griechischen auch 'fr^'iOQ, welches Wort im Lateinischen fagus lautet und wahrscheinlich lautlich Avie in der Bedeutung identisch ist mit unserer Buche. Unser Wort Eiche heißt wiederum auf Island Eik und bedeutet dort Baum. Nun hat man mit unergründlicher Gelehrsamkeit aus diesem Wirrwarr mit Hilfe von Etymologie und Botanik das Lokal heraus- finden wollen, in welchem die Buche oder Eiche in der Urzeit einheimisch war, und hat nicht bedacht, daß nirgends und niemals zu erraten ist, ob die Spezies von der Gattung den Namen erhielt oder umgekehrt.

Ist nun schon bei so realen und natürlichen Gegenständen Rad wie bei einer Eiche (bei Tanne, welches im Althochdeutscheu auch Eiche bedeutet, Tann ^ der Wald, liegt der Fall ganz ähnUch) die ältere Bedeutung nicht mehr festzustellen, so ist die Gefahr bei Bezeichnungen für Kulturerzeugnisse noch viel größer. Ich will ein schlagendes Beispiel aus der Gegen- wart wählen. Das Wort Rad bedeutet augenbhcklich bei uns unter anderem auch das Zweirad, das Veloziped, und es ist nicht unmöglich, daß diese Bedeutung als die prägnanteste einmal die anderen Bedeutungen überflügeln werde , daß das Wort „Rad", nachdem es von Wien aus (wahrscheinlich der Gaunersprache entlehnt, wo „Radler" schon lange den Fiaker, „Radiin" den Wagen bedeutete) Deutschland erobert hatte, einst einzig das Veloziped, vielleicht gar nur das auto- matisch betriebene Zweirad benennen werde. Das Wort Rad findet sich im Althochdeutschen, im Altirischen, im Latei- nischen, im Litauischen und bezeichnete auch im Sanskrit schon einen Streitwagen auf Rädern. Es soll von einer indo- europäischen Wurzel reth (rasch) abstammen und auch mit dem Worte Roß (englisch horse) zusammenhängen. Was würde man nun zu einem Kulturhistorikcr sagen, der das Veloziped für einen Besitz des Urvolkes ausgeben und die Streitwagen der alten Inder für Velozipede erklären würde?

628 XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie

Und doch begehen die Forscher einen ähnlichen Fehler, wenn sie (wie wir schon sahen) aus dem Gleichklang der griechi- schen Stadtbezeichnung {zo\'.q) die Existenz von Städten beim Urvolke angenommen haben, wenn sie ferner von den Versfüßen der Indoeuropäer reden oder wenn sie, wie Schrader liervorhebt, bei BegrifEen wie kochen, weben, nähen, malen usw. unsere Vorstellungen dem sogenannten Urvolke unter- schieben. Unter Umständen kann der Unterschied ebenso groß sein wie zwischen dem Veloziped und dem Streitwagen der alten „Arier". Was mag man in Urzeiten nicht schon „kochen" genannt haben!

Diese Gefahren erkennt also ein vorsichtiger Forscher wie Schrader ganz klar an, aber wo er der Versuchung nicht wider- stehen kann, ein Bild der Urzustände zu entwerfen, da erliegt er dennoch den gleichen Gefahren, so wenig ideal sein Bild auch ausgefallen ist. Das zeigt sich in Schraders Versuchen, die Familie, die Sitthchkeit und die Rehgion des Urvolkes zu beschreiben. Überall wechselt vorsichtige Skepsis mit bescheidenem Phantasieren ab. Sonne Insbesondere die vergleichende Mythologie leidet gerade

Himmel in ihren Grundanschauungen an schwer lösbaren Wider- sprüchen. Es ist wohl nicht daran zu zweifeln, daß die Sonne z. B. schon in urältesten Zeiten mit religiöser Andacht verehrt worden sei; wenn man aber eine ebensolche Betrachtung des Himmels ebensoweit zurückversetzt, so dürften neuere An- schauungen mitgewirkt haben. Das verhindert die Gelehrten nicht, offenbar Sonne und Himmel durcheinander zu mengen. Es wird allgemein gelehrt, daß der gemeinsame Name des obersten Gottes (Dyaus, Zeus, Ju-piter, Zio) von der San- skritwurzel div (strahlen) herstamme und den Himmelsgott bedeute, oder eigentlich in noch älterer Zeit den Himmel selbst. Nun aber soll der große Gott Uranos (im Sanskrit Varuna) ebenfalls den Himmel und nach der Sanskritwurzel var den Umhüller bedeuten. Gemeinsame Abkunft von einem Urworte vorausgesetzt, wäre es doch merkwürdig, weun ein und dasselbe Ding, durch entgegengesetzte Merkmale bezeich- net, zum Gotte geworden wäre.

Sonne und Mond. g29

Ist die Unterschiebung einer modernen Bedeutung für den sonne

Begriff Himmel nicht ganz deutlich , ist auch bei diesen Götter- namen die Frage offen, ob sie verwandt oder entlehnt seien, so scheint mir bei einer anderen vielgenannten Mythe die verhältnismäßige Jugend in die Augen zu stechen. Man hat natürlich sehr frühzeitig beobachtet, daß Sonne und Mond in einem gewissen Wechsel am Himmel sichtbar werden. Da soll denn das „kindliche Gemüt" der Indoeuropäer zu der religiösen Vorstellung gekommen sein, Sonne und Mond seien Ehegatten, und zwar schlechte Ehegatten. Spuren einer solchen Vorstellung werden in allerlei perversen grie- chischen Sagen gesucht. Sehr reizvoll ist eine kleine russische Erzählung: „Die Sonne ist mit ihrem Gemahl nicht zu- frieden , mit dem Monde , der ein sehr kühler Ehemann ist. Infolge einer Wette trennen sie sich; er leuchtet des Nachts, sie des Tags, und nur zur Zeit der Sonnenfinster- nisse nähern sie sich und machen einander Vorwürfe. Im Schmerze nimmt der Mond, der die Trennung bereut, ab und schwindet, bis ihn die Hofinung wieder belebt und voller rundet."

Sehr witzig in der Tat, docb so modern, daß es von Heinrich Heine sein könnte. Wir müssen uns aber mit dem bloßen Gefühl für die Echtheit des Altertums nicht begnügen. Um diesem Geschieh tchen indoeuropäische Herkunft zuzugestehen, müßten wir erstens voraussetzen, daß die Gcschlechtsbezeich- uung die Sonne und der Mond, oder meinetwegen die um- gekehrte Bezeichnung, kurz daß die Metapher nach den Ge- schlechtern schon der Urzeit angehört habe. Denn früher konnte man kaum auf den Einfall kommen, Sonne und Mond miteinander zu vermählen. Zweitens müßten wir annehmen, daß jene Urzeit schon eine Scheidung oder Trennung der Ehe gekannt habe, was doch schwerlich den damaligen Gewohn- heiten entsprechen dürfte. Drittens aber müßten wir mit dem Altertum dieser Geschichte auch für glaubhaft halten, daß eine Sonnenfinsternis in jenen Urzeiten ein Gegenstand spaß- hafter Beobachtung gewesen sei, wie wenn heutzutage eine von den Zeitungen auf die Minute vorausgesagte Sonnenfinster-

und Mond

630 XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie

nis durch geschwärztes Glas betrachtet und mit albernen Scherzreden begleitet wird.

Ist nach alledem die ethnographische Sprachwissenschaft zu dem Geständnis gezwungen , daß aus der Geschichte der Sprache allein über die Urzeit nichts erschlossen werden könne, daß man Geschichte und Paläontologie mit herbei- ziehen müsse, um auf dem schwierigen Gebiet Schritt für Schritt vorwärts zu kommen, so muß ein kurzer Blick auf die zeitliche Ausdehnung dieses Gebietes darüber belehren, daß auch diese letzte Hoffnung, Schritt für Schritt vorwärts zu kommen, trügerisch ist. Chrono- Georg Curtius hat mehr als einmal die Forderung ge- stellt, in die Sprachvergleichung etwas Chronologie hineinzu- bringen, nicht mehr Sanskrit, Griechisch, Gotisch und Li- tauisch nebeneinander zu stellen, als ob die entsprechenden Wörter Zeitgenossen gewesen wären. Dieser Forderung läßt sich bis zu einem gewissen Grade nachkommen«: die Folge einer streng chronologischen Betrachtung wäre freilich, daß die Ergebnisse der Sprachwissenschaft noch zweifelhafter würden als bisher, die ethnographischen Ergebnisse ganz illu- sorisch. In Wirklichkeit müßte eine historische Wissenschaft nach dem Ausdruck suchen: „Zu einer bestimmten Zeit lebte an einem bestimmten Ort dieses und dieses Volk"; eine ehr- liche Sprachwissenschaft aber kann kaum zu der Formel gelangen, die im Stile des Märchens aussagt: „Es war einmal irgendwo dies Volk." Wieder will ich, um das Endergebnis greifbar zu machen, mit der Annahme operieren, es seien die Kulturquellen der ganzen alten Welt verschüttet und aus dem Sprachenmaterial der neuen AVeit sollte die Urheimat der weißen Bevölkerung erschlossen werden. Hier liegt nun der Fall vor, daß in liell historischen Zeiten eine wirkliche Ein- wanderung stattfand. Wer nun imstande ist, sich einen Zustand der amerikanischen Forschung auszumalen, in welchem alle Erinnerung an die bekannte Geschichte dieser Einwande- rung verschwunden wäre, in welchem von den indoeuropäischen Sprachen der alten Welt unter dem siegreichen Ansturm der Chinesen oder Japaner nichts mehr übrig wäre , der wird

Chronologie ß;31

mir beipflichten, wenn ich annehme, daß die forschenden Amerikaner nur innerhalb Amerikas selbst die Urheimat der weißen Rasse suchen würden. Man würde sich vielleicht auf einer der westindischen Inseln die Heimat für die Neuer konstruieren, man würde dann die Verwandtschaft zwischen den spanischen und deutschen Sprachen Südamerikas und den englischen und deutschen Sprachen Nordamerikas ent- decken und vielleicht auf ein Urvolk, vielleicht auf zwei Ur- völker kommen. Am Ende wäre schließlich Grönland die Urheimat der weißen Rasse und damit ein Anschluß au ge- wisse Hypothesen der ernsthaften europäisclien Sprachwis- senschaft beinahe gefunden.

Nun achte man einmal darauf, daß diese angenommenen Lebens- Untersuchungen amerikanischer Forscher eigenthch in ^"" unserer Sprache ausgedrückt die Zeit seit Anfang des Spracheu IG. Jahrhunderts umfassen würden. Also eine sehr genau um- grenzte Zeit. Ganz ebenso müßte die Zeit des angeblichen arischen Urvolkes und seiner Ursprache in Wirklichkeit eine genau umschriebene Zeit sein. Halten wir ein Moment fest. Auch seit Erfindung der Schrift, welche die Sprachen doch unbedingt konservativer gemacht haben muß, als sie früher waren, hat es noch keine unserer Kultursprachen auf eine Dauer gebracht, die länger gewesen wäre als tausend Jahre. Man mache sich das einmal völlig klar. Es ist die Lebens- dauer eines Individuums, die Lebensdauer z. B. einer Eiche, größer als die Zeit einer von Millionen in folgenden Ge- schlechtern gesprochenen Sprache. Die künstliche Wieder- herstellung des Griechischen ist keine Gegeniustanz. Auch nicht die Fortdauer der alten chinesischen Schrift. Demi Schrift ist nicht Sprache. Wenn man. wie gewöhnlicli ge-

schiebt, Mundarten von Sprachen daran unterscheidet, daß die Menschen in verschiedenen Mundarten sich noch irgend- wie miteinander verständigen können, die Menschen von verschiedenen Sprachen nicht, so ist das gegenwärtige Hoch- deutsch nicht eine andere Mundart, sondern eine andere Sprache als das Althochdeutsche. Ebenso ist das heutige Französisch eine andere Sprache als die des Rolandslieds;

632 XIII. Sprachwißsensshaft und Ethnologie

ebenso ist das heutige Italienisch (trotz seiner verhältnis- mäßigen Starrheit) eine andere Sprache als die des Königs Enzio.

Nun werden die Sprachforscher, die sich in engen Kreisen zu bewegen lieben, eine Dauer von tausend Jahren für einen ungeheuren Zeitraum halten und sich auch dann noch zu- frieden geben, wenn mit Rücksicht auf das Altertum dieser Zustände die Dauer jener Ursprache nur auf wenige hundert Jahre angesetzt wird. Wann aber soll jene Sprache, wenn sie existiert hat, gesprochen worden sein? Die ethnographischen Sprachforscher weichen chronologischen Fragen grundsätzlicli aus. Sie reden am liebsten von der Zeit „vor der Trennung", sie bestimmen also die Zeit nach einem Ereignis, welches nicht bewiesen ist und welches eigentlich erst durch For- schungen über seine Zeit bewiesen werden könnte. Je nachdem man nun eine gleichzeitige Wanderung und Trennung mit der Legende vom babylonischen Turmbau annimmt oder ein stafielförmiges Fortschreiten vieler einzelner Trennungen, müßte man auch zu ganz verschiedenen Chronologien kommen.

Aber angenommen auch, es wäre die sogenannte Urheimat der ludoeuropäer und ihre Ursprache für irgend einen Ort und irgend eine Zeit erwiesen, wir wüßten, daß in einem be- stimmten Lande vor fünftausend oder vor sechstausend Jahren ein Volk gelebt hätte, dessen Sprache uns wohl bekannt zum Sanskrit, zum Griechischen, zum Deutschen, zum Sla- wischen usw. nachweisbar in dem Verhältnis stünde wie das Lateinische zu den modernen romanischen Sprachen: was wäre damit gewonnen? Ein paar Dutzend Professuren könnten für diese Disziplin errichtet werderi, die armen Gymnasiasten hätten ein paar Bogen mehr auswendig zu lernen, aber das Forschen nach der Herkunft könnte darum nicht aufhören, die Professoren wollten denn einander einreden, jenes Volk vor fünf- oder sechstausend Jahren sei damals an Ort und Stelle mitsamt seiner Sprache geschaffen worden. Es wäre die sogenannte Weltgeschichte um ein Viertel ihrer minimalen Ausdehnung zurückgerückt; für die Geschichte der Völker und der Sprachen, für deren ernsthafte Fragen wenigstens,

I^bensdauer der Sprachen (j33

wäre nichts gewonnen. Die Neugier wäre befriedigt, sonst nichts; wie wenn einem Goetheforscher gelingt, nachdem der Geburtsort von Goethes Großvater entdeckt ist, nun auch über den Urgroßvater etwas in Erfahrung zu bringen. Es gibt einige Zeilen mehr für eine Biographie; der genießende Leser des Faust aber weiß mit Goethes Urgroßvater für .>^ein Verständnis nichts anzufangen.

Will die ethnographische Sprachforschung einen weiteren Gesichtspunkt gewinnen, will sie sich an größere Zahlen- verhältnisse gewöhnen, so muß sie sich entschließen, ehr- licher und resignierter als bisher bei der Geologie, ja auch bei der Geschichte von deren Irrtümern in die Schule zu gehen, sodann bei der Paläontologie. AVie ungeschickt das bisher geschehen ist, möchte ich an emem kleinen Beispiel zeigen. Schrader (Sprachvergleichung und Urgeschichte S. 203) be- merkt, es gehe aus der Vergleichung eines lateinischen und eines oskischen Wortes hervor, daß die sogenannten UritaUker (was mau sich wohl dabei denken mag?) das Silber schon gekannt hätten, daß aber in den Pfahlbauten der Poebene bisher dieses Metall noch nicht nachgewiesen werden konnte. Es frage sich nun, ob die Pfahlbauten vielleicht einem anderen Volke angehört hätten als seinen Uritaükem. Er will nichts entscheiden, weil zwischen der Zeit der Pfahlbauern und der Zeit des gemeinsamen uritalischen Wortes für Silber " „Jahr- hunderte" liegen könnten. Er rührt gewiß nur ungern an diesen wunden Punkt. Denn wo bleibt die Reinheit und Schönheit der indoeuropäischen Sprachen, wenn kurz vor der Einwanderung oder der Schöpfung von Indoeuropäern irgend welche nichtarische Barbaren die Küchenabfälle oder Kjökkenmöddings aufgeschichtet und die Pfälilo in die Seen eingerammt haben?

Vergleichen wir aber einmal das. was der berühmte L\ell Lyell (Das Alter des Menschengeschlechts) über die Chronologie dieser Niederlassungen zu sagen weiß. Er spricht (S. 13) von Kjökkenmöddings, welche bis zu den ältesten Zeiten gewisser Torfablagerungen zurückreichen. Wie weit diese ganze Periode von der Gegenwart entfernt ist, deut^'t er gar

634: XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie

nicht an ; aber die Moore selbst müßten wenigstens viertausend Jahre, vielleicht aber auch viermal so viel, zu ihrer Bildung gebraucht haben. Es kommt diesem Forscher also bei Bestimmung einer Periode der Steinzeit auf zwölf- tausend Jahre mehr oder weniger nicht an. Dann spricht er (S. 23) von Ziegelsteinen, welche im Nilschlamm gefunden worden sind, und berechnet (nach der Tiefe des Fundes und nach der säkularen Schicht der Schlammablagerung) die Zeit auf zwölftausend bis dreißigtausend Jahre. Das Alter von Bildungen, welche den Menschen der Steinzeit gleichalterig waren, hat man am Mississippi auf fünfzigtausend, in Florida gar auf hundertfünfunddreißigtausend Jahre berechnet. Sind hier die Beziehungen zum Menschen unbestimmt, so hat man dafür in den Höhlen der Dordogne bekanntlich Kunstwerke gefunden, die Zeichnung eines Mammuts, ein schönes Werk, das mich persönhch gar erfreu hch an die Erfindungen Adolf Oberländers erinnert, das aber wissenschaftHch beweisen soll, daß ein bis zur Blüte der Kunst fortgeschrittenes Volk bereits zur Zeit des längst ausgestorbenen Mammut dort gelebt habe. Lyell selbst, der als richtiger Engländer noch so naiv ist, einen Protest gegen die bibhsche Schöpfungsgeschichte für nötig zu halten, hat wohl die Neigung, größere Zeiträume anzunehmen als die paar Jahrtausende der Bibel; vor ganz großen Zifiern jedoch schreckt er wieder zurück. Bei den Ablagerungen des Sommetals in Frankreich zaudert er, die Jahrtausende zu beziffern, und spricht auch sonst unbestimmt von „ungeheuren Zeiträumen". Aber wo er auf die Eiszeit zu reden kommt, da wird die Sache mathematisch. Es fällt mir nicht ein, Lyells Berechnungen auch nur für annähernd richtig zu halten. Er nimmt an, daß zur Eiszeit die Küste von Wales sich gesenkt und wieder emporgehoben habe, er nimmt den Maßstab für diese Senkung und Hebung nach ähnhchen Erscheinungen in der Gegenwart (2^2 Fuß im Jahrhundert) und kommt so dazu, für dieses Ereignis eine Dauer von einer Viertelmillion von Jahren festzustellen. AVollte ich mich auf den gefährlichen Boden begeben, solche Rechnungen ver- bessern zu wollen, so würde ich einerseits nach Kjerulf die

Lyell 635

Höhe der Senkung und Hebung für überschätzt halten, ander- seits jedoch behaupten, daß Lyell vielleicht den allergrößten Zeitraum gar nicht in Betracht gezogen hat. Er selbst deutet darauf hin, daß vielleicht zwischen „Senkung und Hebung" eine Pause stattgefunden habe. Nach unseren Vorstellungen von solchen Naturereignissen (die durch Adhemars Meeres- revolutionen begreifUcher würden) ist aber viel eher zu glauben, daß die Senkung sich unendlich verlangsamte, bevor sie ganz aufhörte, daß ebenso die Hebung unendUch langsam begann, daß also eine Art Pause mindestens so lange gedauert haben konnte wie die Zeit der Senkung und Hebung zu- sammen. Man käme so auf eine halbe Million Jahre und könnte olme Schwierigkeit auch eine ganze Million Jahre herausrechnen. Ich wäll aber gestehen, daß solche Rechen- übungen gar keinen Wert haben als eben den, einen großen Wert, uns einen Begriff von den Zeiten zu geben, die bei der Entwicklung der menschlichen Kultur hi Betracht kommen. Lyell nimmt die Existenz des Steinzeit-Menschen erst für die letzte Periode dieser Viertelmillion Jahre an, er ist schüchtern.

Ich halte die Gewöhnung an große Zahlen für das Alter wichtigste Ergebnis einer Beschäftigung mit der (icologie. jij.n>,chen- Wer sich mit diesen Arbeiten niemals vertraut gemacht hat, ge- wird sich vielleicht darüber wnmdern, daß ich einerseits mit den skeptischen Geistern die Berechnungen der Geologen nicht ernst nehme, anderseits jedoch gerade die unbestimmte Größe ihrer Zeiträume benutze. Ich wdll darum mit einigen Worten auch noch auf die Kritik eingehen, die Lyells grund- legende Untersuchungen über das Alter des Menschen- geschlechts erfahren haben. Mein Ziel scheint mir klar zu sein. Würden die Kritiker Lyells reuig zu der Schöpfungs- geschichte der Bibel zurückkehren, müßten sie lehren, daß die Menschen nur sechstausend Jahre auf der Erde leben, daß uns davon etwa ^^ertausend Jahre historisch bekannt sind, so wäre wohl denkbar, daß Sprachwissenschaft und Palä- ontologie gemeinsam uns den Rest von zweitausend Jahren enthüllen könnten, daß wir eines Tages bei Adam und seiner Ursprache anlangten. Dann müßte ich auch meine Slcepsis

636 XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie

gegen die Ergebnisse der ethnographischen Sprachwissenschaft aufgeben, und mit ihr würde vielleicht auch mancher Zweifel an dem besten Werte der Sprachwissenschaft fallen. Es will mir aber scheinen, daß die gewissenhaftesten unter den neueren Paläontologen nur Lyells Berechnungen im einzelnen bekämpfen, sonst aber durchaus auf dem gemeinsamen Boden der Entwicklungslehre, also der langsamen Veränderungen stehen.

Der böseste Kritiker Lyells ist Theodor Kjerulf. Er hat in einer größtenteils überzeugenden Schrift über die Chrono- meter der Geologie die Unhaltbarkeit der Berechnungen nachgewiesen, mit denen die Geologie zum erstenmal die Frage nach dem Alter des Menschengeschlechts wissenschaftlich hatte prüfen wollen. Kjerulf zeigt, daß das Aufsteigen Skan- dinaviens aus dem Meere nicht hinlänglich genau beobachtet worden sei, und er weist namentlich am Nildelta nach, daß die Sicherheit sehr viel zu wünschen übrig lasse, mit welcher man aus der Höhe des Nilschlamms über aufgefundenen Topf- scherben den Zeitraum dieser Schlammablagerung hatte be- rechnen wollen. Es ist allerdings eine schlagende Bemerkung, daß man im Nildelta seit Jahrtausenden Brunnen und Kanäle gegraben habe und daß Topfscherben recht gut in später Zeit auf die Sohle solcher Brunnen und Kanäle gelangen konnten und diese dann gar schnell vom Nilschlamm ausgefüllt wurden.. Es bereitet dem scharfsinnigen norwegischen Forscher offenbar Vergnügen, die großen Zahlen der Geologie auf ein be- scheidenes Maß zurückzuführen.

In der Abhandlung „Die Zeitforderung in den Ent- wicklungswissenschaften" hat Ratzel daran erinnert, daß Darwin als Schüler Lyells seine große, wohl nur halb ex- perimentelle Hypothese aufstellte. „Das Zauberwort Entwick- lung bewährt seine Macht nicht, wo nicht Entwicklung und Fortschritt sich decken." Ratzeis Ideen sind sehr fruchtbar. Er bemerkt wenn auch mit zögernden Worten daß die chronologischen Bemühungen besser zu der alten Katastrophen- geologie passen als zur Entwicklungsgeologie, die sie über- nommen hat. Er weiß schon, daß auch die Geologie nur

Alter des Menschengeschlechts <J37

Erdoberflächenkunde ist; ins Innere der Erde dringen wir ebensowenig wie ins Innere der Natur. Er wiederholt das Zitat aus Jobannes von Müller: ,,Das nionschliche Geschlecht ist von gestern und öffnet kaum heute seine Augen der Be- trachtung des Laufes der Natur." Wir haben nur die Erd- oberfläche geritzt. Ich greife ein wenig vor mit der Notiz, daß Ratzel bereits den Begrifi der „Völkerwanderung" an- zweifelt, auch die Periodizität der Eiszeiten, daß er aber durch Betrachtung der Abtragung und Anschwemmung von Land (nach James Hutton) doch wieder eine Zeitrech luing für die Erdgeschichte vorstellbar macht. „Man könnte den Vorgang mit der Sanduhr vergleichen, in der der Stoff, an dessen Masse wir die Zeit messen, von einem Glas in das andere rinnt." Mir kommt es bei diesem Hinweis nur auf die Vorstellbarkeit an.

Mögen Lyells Rechnungen erschüttert sein, mag mau sogar seine Methode für verkehrt halten, es war dennoch etwas an seiner Wirksamkeit, was bleibenden Wert besitzt. Ich möchte auch sein Verdienst ^vieder negativ ausdrücken, wie ja fast stets die Fortschritte in den Wissenschaften in der Vernich- tung von Irrtümern bestehen. Nimmt man Lyells große Zeit- räume für wissenschaftliche Ergebnisse wie die Jahreszahlen der neueren Geschichte, nimmt man die großen Ziffern beim Wort, so behält Lyell nicht recht; faßt man aber seine Rech- nungen als einen wissenscliaftlichen Protest auf gegen die bis dahin geltende Aufstellung der kleinen biblischen Zeit- räume, so muß er recht behalten. Zu den sechstausend Jahren der Bibel wird auch die schlimmste wissenschaftliche Reaktion nicht wieder zurückkehren; wohl aber glaube ich, daß wir bald wieder zu den ungeheuren Epochen von Lyell zurück- kehren werden.

In allen diesen wissenschaftlichen Disziplinen äußert sich ein phantastischer Alexandrinismus, der unter Um- ständen etwas Poetisches, unter Umständen etwas Lächerliches an sich hat. Es wird Historie studiert ohne die Hilfsmittel der Historie. Es ist, wie wenn ein Gelehrter sich die Aufgabe setzte, das Alter eines Hauses nach dor Staubschicht an den

038 XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie

Decken oder nach der chemischen Veränderung des Mörtels oder nach der Senkung in den Untergrund zu berechnen. Ganz sicher gibt es zwischen diesen Dingen und dem Alter des Hauses ursächhche Beziehungen; nur daß wir ihre Gleichungen nicht kennen und darum auf ein geistreiches Ermittehi von Zwischenbeziehungen angewiesen sind. Darum ist es auch möglich, daß in der Paläontologie noch mehr als in der Geschichte selbst die Stimmung des Forschers den Ausschlag gibt. So empfindet z. B. Oskar Fraas eine aus- gesprochene Sympathie für die alten Höhlenbewohner; er möchte sie unserem Empfinden möglichst nahe rücken und lehnt es aus diesem Grunde ab, daß die Geologie das letzte Wort über das Alter des Menschengeschlechts zu sagen habe. Seine Gründe sind töricht genug. An den unorganischen Körpern gehe die Zeit spurlos vorüber, man könne deshalb z. B. einen Kubikmeter Lehm nicht als Zeitmesser benützen. Diesen metaphysischen Unsinn, nach welchem auch die metallene Uhr nicht als Zeitmesser zu benützen wäre, behauptet Fraas nur, um seine Lieblingsvorstellung festhalten zu können, daß die Höhlenbewohner der heutigen Bevölkerung von Europa nahe ständen. Daß sie die indoeuropäische Ursprache geredet hätten, behauptet Fraas allerdings nicht. Er nimmt aber doch an, daß die Höhlenbewohner der Eiszeit mit ihren Steinhämmern von ihren dankbaren Enkeln zu der Würde germanischer Götter erhoben worden seien. Eiszeit Die Berechnungsmethoden großer geologischer Zahlen sind für die Hebung von Skandinavien, für die Schlamm- ablagerungen des Nils und des Mississippi stark in Zweifel gezogen worden. Anders steht es mit der Lehre von der Eis- zeit; die ersten Beobachtungen, auf welche sich die An- nahme einer oder mehrerer Eiszeiten gründet, sind bekannt- lich nicht von einem Gelehrten gemacht worden, sondern von einem ganz ungebildeten Schweizer Gemsjäger namens Perraudin. Über diese Beobachtungen, daß nämlich die Gletscher einmal weit hinaus über die jetzt fruchtbarsten Täler gereicht haben müssen, daß nur durch die Bewegung des Gletschereises der Transport der Ungeheuern erratischen

Eiszeit 639

Blöcke verständlich sei, darüber ist die Wissenschaft im wesent- lichen nicht hinausgekommen. Die Forschungen der Minera- logen, welche den Ursprung solcher Blöcke aus der Gleichheit des Minerals genau feststellten, die Herstellung von Moränen- kärtchen, ja selbst die interessanten Versuche unseres Helm- holtz, die dio Elastizität des Eises unter starkem Drucke nachweisen, waren nur etwas genauere Beschreibungen der Tatsache, welche dem Schweizer Gemsjäger bekannt war. Größeren Wert hätte es für die Wissenschaft, wenn man die Ursache der Eiszeit, die Ursache ihrer größeren Kälte nämlich erforscht hätte. Denn da zur Eiszeit ganz gewiß schon Menschen in Europa lebten , so ließe sich vielleicht aus den Bedingungen der Eiszeit auf die Bedingungen menschlichen Lebens und damit auf das Alter des Menschengeschlechtes in Europa schließen. Die Wissenschaft ist aber sehr weit davon entfernt, über die Ursache der "Kälteperiode irgend etwas ausmachen zu können. Nur eins scheint wichtig und gewiß zu sein, daß die früheren phantastischen Vorstellungen von einer unerhörten Kälte und von einer Vergletscherung der ganzen Erde unrichtig waren. Man hat ausgerechnet, daß eine Verminderung der mittleren Temperatur um vier Grade hinreichen würde, um die Gletscher des Berner Oberlandes wieder bis gegen Basel reichen zu lassen. Und es will mir scheinen, daß gerade die Kleinheit dieser Temperaturdifferenz ihre Erklärung besonders erschwert. Ganz und gar in das Gebiet dichterischer Träume gehört es, wenn man den Grund der Erkältung der Erde darin suchen wäll, daß die Sonne auf ihrem vermuteten Wege durch den Himmelsraum einmal in eine kältere Region geraten sei. Sollte gar die Temperatur des Weltraums sich allgemein dem absoluten Nullpunkte nähern, so wäre dieser Traum völlig sinnlos. Wir wissen darüber wirklich nichts Gewisses. Fast ebenso ist eine frühere be- deutendere Erhebung der Alpen, die Ablenkung des warmen Golfstroms durch eine andere Gestaltung der engUsch-fran- zösischen Küste, fast ebenso ist die Abkühlung der Sahara durch Meeresbedeckung und Ausbleiben des Föhnwindes infolge dieses Umstandes fast ebenso sind alle anderen

640 XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie

Erklärungen nur Veranlassungen zu geistreichen Ideen- assoziationen, weiter nichts. Perio- Ganz anders wäre es, wenn die Eiszeit wirklich mit der

Eis- Bewegung der Erde in Zusammenhang stünde, wie gelehrt Zeiten worden ist. Damit wäre auch die Eiszeit, oder vielmehr die Eiszeiten, ebenso wie der gewöhnliche Lauf der Jahreszeiten auf der Erde, aus der einfachen großen und schönen Hypothese der Gravitation erklärt. Es handelt sich dabei um die periodische Wiederkehr der Erde in eine frühere Stellung zur Sonne. Die Ziffern der Astronomie sind genauer als die der Geologie. Man weiß, daß der Rhythmus dieser Erdbewegung einen Zeitraum von einundzwanzig Jahrtausenden umfaßt. Da unabhängig von dieser Hypothese auf unserer Erdhälfte allein (in jeder Periode von einundzwanzig Jahrtausenden müßte auch die südliche Erdhälfte ihre Eiszeit haben) zwei Eiszeiten festgestellt worden sind, so würden diese Be- obachtungen den bescheidenen Zeitraum von 42 000 Jahren umfassen. Ferner läge die Sache nach dieser Hypothese so, daß wir uns gegenwärtig allerdings sehr langsam und erst im Beginn stehend einer abermaligen Eiszeit annähern, daß die wärmste Periode ins 13. Jahrhundert nach Christi Geburt fiele, daß der letzte Höhepunkt der Kälte auf unserer Halbkugel im 10. Jahrtausend vor Christi Geburt gewesen wäre.

Ich will diese astronomischen Verhältnisse mit den Worten Herbert Spencers wiedergeben, weil dieser große Sammler an der anzuführenden Stelle (Grundlagen der Philosophie, deutsch von Vetter S. 261) gar keine chronologische Nebenabsicht hat, vielmehr die veränderliche Richtung der Erdachse nur als ein Beispiel für seine Vorstellung von einem allgemeinen Rhythmus aller Bewegung anführt. Er sagt: „Jeder Planet bietet der Sonne zur Zeit seiner größten Annäherung an die- selbe während eines bestimmten, sehr langen Zeitraums einen größeren Teil seiner nördlichen als seiner südlichen Halbkugel, und dann wieder während eines gleichen Zeitraums einen größeren Teil seiner südlichen als seiner nördlichen Halbkugel dar; und dieses wiederkehrende Verhältnis, obwohl es auf

Periodische Eiszeiten 641

mehreren Planeten keine wahrnehmbaren klimatischen Ver- änderungen hervorbringt, bedingt doch für die Erde eine Epoche von 21 000 Jahren, während welcher jede Halbkugel einen Kreislauf von gemäßigten zu außerordentlich heißen und kalten Jahreszeiten durchmacht. Ja noch mehr : innerhalb dieser Veränderung besteht noch eine weitere Veränderung. Denn die Sommer und Winter der ganzen Erde treten in mehr oder weniger starkem Gegensatz auf, je nachdem die Exzentrizität ihrer Bahn zu- oder abnimmt. Sonach müssen die Epochen der gemäßigt verschiedeneu und die Epochen der bedeutend verschiedenen Jahreszeiten, welche jede Halb- kugel abwechselnd durchläuft, während der Zunahme der Exzentrizität in der Größe ihrer Gegensätze mehr und mehr auseinandergehen, und umgekehrt während der Abnahme der Exzentrizität. So daß also in der Summe von Licht und Wärme, welche irgend ein Teil der Erdoberfläche von der Sonne empfängt, ein \aerfacher Rhythmus stattfindet: der von Tag und Nacht ; der von Sommer und Winter ;der, welcher durch die veränderliche Ka g e der Achse in der Sonnennähe und Sonnenferne be- dingt wirdundzu seinem Ablauf 21 000 Jahre braucht; und der, welcher aus der Veränderung in der Exzentrizität der Bahn hervorgeht und in Millionen von Jahren durchmessen wird."

,^ Ist die Voraussetzung richtig, so fällt je eine Eiszeit für unsere Halbkugel auf 21 000 Jahre. Haben die Geologen recht mit ihrer Aufstellung von zwei getrennten Eiszeiten, so hätten wir in ihnen einen Zeitraum von rund 30 000 bis 40 000 Jahren bemessen. Nun ist aber nachgewiesen, daß die erhaltenen organischen Reste der Eiszeit mit den jetzt lebenden Tieren und Pflanzen zusammenstimmen, daß also der Mensch, der schon des Mamnuits Zeitgenosse war, vor der Eiszeit auf der Erde gelebt haben konnte. Nun halte man sich vor, daß es der Geologie wohl nicht möglich sein wird, etwa gar noch weiter zurückliegende Eisperioden einzeln festzustellen, daß aber unsere ganze Weltanschauung dazu drängt, die erste Abkühlung und Bewohnbarkeit der Erd-

Mautliner, Beitrüge zu einer Kritik der Sprache. II 41

(542 XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie

kruste in ungeheuer entfernte Zeiträume zurückzuversetzen, daß nichts uns hindert, solche Eisperioden im Rhythmus von 21 000 Jahren vielfach und vielfach anzunehmen. Es wäre Willkür, wollte ich jetzt eine Ziffer nennen: 10 oder 1000. Man nehme dazu die Tatsache, daß der äußerste Norden (Grönland) einmal (oder öfter) ein wärmeres Klima hatte. Dann wird man nichts mehr gegen die Vorstellung einzu- wenden haben, daß eine unbekannt lange Reihenfolge von Eiszeiten im Rhythmus von 21 000 Jahren die Bevölkerung der Erde hierhin und dorthin geschoben haben mag. Wenn es nach etwa 9000 Jahren abermals zu einer Eiszeit für die nördliche Erdhälfte gekommen sein sollte, wenn dann die Kultur noch über Schrift und Wissenschaft verfügen sollte, so wird man das Ereignis für die Nachwelt verzeichnen. Was aber wissen wir von solchen Dingen, wenn sie au^h nur 10 000 Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung liegen? Keine Sage ist bis zu uns gedrungen. Keine Sage weiß mehr zu er- zählen, wie ureinst die Völker im Rhythmus von 21 000 Jahren weggedrängt wurden von ihren AVeideplätzen und wie sie wieder neue Weideplätze fanden nach Jahrtausenden. Wie bei den Insekten der skandinavischen Küste keine Kunde mehr ist von der „Bodenerhebung", wie die Fische und Muscheln nichts mehr davon wissen, daß sie sich vor Zeiten, als dieser selbe Boden noch tief im Meere versenkt war, in diesen selben Schluchten von Wasserpflanzen genährt haben, so leben die Menschen da und dort und wissen nichts von der Eiszeit. Sie wissen nicht, daß es einmal am Äquator zu heiß war, selbst für Neger zu heiß, daß die Menschen, falls sie so organisiert waren wie die heutigen, nicht am Äquator zuerst wohnen konnten und nicht in der gemäßigten Zone, sondern allein an den Polen. Sie wissen nicht, daß unzählige Kälte- perioden im Rhythmus von 21 000 Jahren vorübergehen mußten, bevor die jetzige Gruppierung der Rassen zustande kam, die uns so ewig scheint und die doch in den nächsten 21 000 Jahren so vielen anderen Gruppierungen wird Platz machen müssen. Sie wissen nichts von den furchtbaren Kämpfen gerade in Europa, die ausbrachen, als die vorletzte

Periodische Eiszeiten §43

und die letzte Eiszeit erst langsam aber unaufhaltsam eine Tatsache wurde. Wie da das Eis bergehoch sich von den Alpen, von den Karpathen, von Skandinavien über ehemals fruchtbare Lande hinschob, wie da ungeheuerste Verzweiflung sich der Menschen bemächtigte, furchtbarer noch als die Kämpfe der letzten Menschen in der legendären Sintflut. Welche Rassen immer damals in Europa hausten, am Rhein und an der Elbe, in Rußland und in England, mit dem Hunger wilder Tiere mußten sie übereinander herfallen. Nicht Men- schen, Völker wurden verniclitet. Und die Sieger starben fast wie die Besiegten, bis in dem ruhigen Rh5rthmus von 21 000 Jahren wieder langsam , unaufhaltsam die Täler sich öffneten und grünten und von überall Völkerströme herbeistürzten auf Jahrtausende verteilt um Besitz zu ergreifen von eisfreiem Lande. Man stelle sich einmal diesen Zustand lebhaft genug vor, die Gletscher als Ordner der Erde; wie sie die Schranken öffnen und wieder schHeßen, unförmUche Automaten im Rhythmus von 21 000 Jahren, wie sich zu gleicher Zeit Kontinente bilden und trennen, wie das Meer bald siegt, bald unterliegt, wie die Atlantis sich breit zwischen die alte Welt und Amerika legt, wie ganze Kontinente aus der unergründhchen Wassermasse der Südsee auftauchen und die Südspitzen von Afrika und Amerika nach dem Pole zustrecken, wie da braune und rote, schwarze und gelbe und weiße Völker gierig wie hungernde Wölfe um nährendes Land streiten, um ein Stück Erde, das nicht Meer und nicht Gletscher ist, um einen Fleck, wo ihnen wohl ein Grashalm wüchse, wie da die langsamen Gletscher mit eisigen Händen den braunen und roten, den schwarzen und gelben und weißen Völkerschaften oder was es davon damals gab die Wege wiesen und verboten, wie das sich blutig mischte und mordete und liebte und verstand und mißverstand im stillen Rhythmus der 21 000 Jahre, hinauf und hinab, und wieder 21 000 Jahre, hinauf und hinab: wer das vor Augen sieht, der wird vielleicht nicht mehr mit der alten Andacht die Fragen untersuchen : ob die Menschen alle von einem Paare abstammen, ob die Indoeuropäer vor ihrer „Trennung"

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am Hindukusch gewohnt haben, welchen Weg sie auf ihrer Wanderung nahmen, und ob die Schädel der Mammutmenschen dolichokephal oder brachykephal waren. Adhemais Dieser ethnographischen Deutung der Eiszeit lege ich die

„R6volu- , . ^^ ° ^ * iw -, c- .

tions de gewaltige Hypothese von Adhemar zugrunde. Sie ist dar- la mer" jrrestellt in seinen französisch klar und elegant geschriebenen „Revolutions de la mer" (2. Aufl. 1860) und in Deutsch- land seltsamerweise nicht berühmt geworden, trotz eines guten Auszugs von 0. Möllinger (Westermann, 1867). Adhemar hält sich an die astronomischen und geologischen Fragen und gedenkt kaum einmal des debacle für die Menschen (S. 78). Er erklärt anschaulich, daß die Präzession der Tag- und Nachtgleichen den Turnus von 21 000 Jahren berechnen lasse, daß in der einen Hälfte dieses Zeitraums die südliche Erdhälfte, in der anderen Hälfte dieses Zeitraums die nördUche Erdhälfte stärker erwärmt wird, und daß die Summierung der kleinen Differenzen im Laufe der Jahrtausende bis zu Ver- änderungen führt, die wie ich hinzufügen möchte für das Sonnensystem gleich Null sind, für die Erdoberfläche Massenverschiebungen, für die Menschen aber Revolutionen von phantastischer Ungeheuerhchkeit. Adhemar erklärt die Eiszeiten nämlich nicht etwa aus der bloßen Tatsache der größeren und geringeren Erwärmung. Er nimmt die Er- scheinung zu Hilfe, daß während einer Periode von IOV2 Jahr- tausenden der kältere Erdpol eine so ungeheuerliche Masse Eis um sich versammelt, daß dadurch die Verschiebung des Schwer- punktes der Erde erfolgt. Die Verschiebung will Adhemar auf mehr als IV2 Kilometer berechnen. Diese Verschiebung des Schwerpunktes wieder hat ganz mechanisch die un- verhältnismäßige Ansammlung von Wasser auf der kälteren Erdhälfte zur Folge, wie wir sie jetzt, das heißt nach etwa 11 000 Jahren, auf der südlichen Hälfte jedes Globus im Bilde sehen können. Seit mehr als 600 Jahren ist der Gipfelpunkt der Erwärmung unserer Erdhälfte überschritten, so zwar, daß im Jahre 6498 die beiden Erdhälften bereits gleichmäßige Jahresmengen von Wärme erhalten werden und von da ab der südlichen Hemisphäre das Übermaß an Wärme zufallen

Adhemars „Revolutions" (345

wird. Dann werden die südlichen Eismassen allmählich zu- sammenschmelzen lind die nördlichen sich anhäufen. Der Schwerpunkt der Erde, der jetzt IV2 Kilometer südlich vom Mittelpunkt der Erde liegt, wird allmählich mit dem Mittelpunkt zusammenfallen und dann weiter nach dem Nordpol zu vor- rücken. Infolgedessen werden nach den einfachen Gesetzen der Mechanik die Wassermassen der südlichen Erdhälfte sich über die nördlichen ergießen, um Australien und Südamerika herum werden Kontinente aus dem Meere steigen, die Ebenen Europas wie die Niederlande und Dänemark, die größten Teile von Deutschland, Frankreich und Rußland werden für Jahrtausende überflutet werden und in Zusammenhang damit werden wieder ungeheure Gletschermassen von den Gebirgen Europas in die Täler sich herabwälzen und die Seen der Schweiz und Italiens bedecken wie schon in der letzten Eiszeit. Die un- merkliche Abkühlung seit den letzten 600 Jahren, genauer seit dem Jahre 1248, will man bereits urkundlich belegen können durch die Tatsache, daß aus früheren Jahrhunderten Besitzrechte in der Schweiz nachgewiesen worden sind, welche sich auf Gegenden beziehen, die jetzt bereits unter Gletscher liegen. Noch merkwürdiger ist der Umstand, daß die Süd- küste von Grönland im 10. und 12. Jahrhundert, ja auch noch im 13. Jahrhundert leicht zugängliclies Kulturland war, dem päpstlichen Stuhle zu Rom durch den Grönländer Bischof einen reichen Peterspfennig zahlte und dann im Laufe der Jahrhunderte aus der Kulturgeschichte verschwand, um neuerdings wieder entdeckt zu werden. Als besonders wichtig muß hervorgehoben werden, daß Adhemar, als er seine Theorie zuerst aufstellte, die eigentlich wissenschaftlichen Beweise für die Existenz einer Eiszeit oder gar zweier Eiszeiten noch nicht kannte. Er verfügte erst über die damals neue Lehre von den Bewegungen der Gletscher. Erkennt man aber das Überzeugende in Adhemars Hypothese an, so scheint es mir kleinlich ich möchte fast sagen kurzsichtig , sich mit einer oder mit zwei Eiszeiten zu begnügen und nicht einen richtigen Turnus anzimehmen. Es versteht sich dann von selbst, daß auch die dunklen Erinnerungen an eine Sintflut

Q46 XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie

ihre neue Erklärung finden, daß aber auch die Sintfluten durch diese Hypothese zu Erscheinungen werden, welche alle 10 000 Jahre wiederkehren, also alltäglich für die Geschichte der Erde, welche nicht die Geschichte eines armen kurzlebigen Menschen- volkes ist.

Das ungeheure Bild dieses Kampfes der Völker, die sich um sonnendurchwärmte Erdflecke rauften wie Schiffbrüchige um eine Planke, dieses Bild der Vorzeit braucht nicht auf- gegeben zu werden, wenn die Hypothese Adhemars sich als falsch herausstellen sollte. *An epochalen Änderungen im Klima der Erde ist nicht mehr zu zweifeln. Es scheint sicher, daß die Erdachse nicht so fest ist, wie die physikahsche Theorie von der ünveränderhchkeit freier Achsen in regelmäßigen rotie- den Körpern gelehrt hat. Die Tatsache, daß auf Spitzbergen Steinkohlen vorhanden sind, die wahrscheinliche Annahme, daß die Pflanzen, aus denen sich diese Steinkohlen gebildet haben, einst dort im hohen Norden gewachsen sind, die An- nahme endlich, daß die Steinkohlenflora Spitzbergens und die Sachsens die gleiche sei, daß also das Klima auf Spitz- bergen und in Mitteleuropa in einer Steinkohlenzeit irgend einmal ähnhch gewesen sein müsse all das wird von den Fachgelehrten anerkannt und so erklärt: daß die Erdachse ihre Stellung im Erdballe geändert habe. Ein Widerspruch gegen die Lehre von der Ünveränderhchkeit der freien Achse besteht nicht. Die Erde ist nicht ein regelmäßiges und starres Ellipsoid, sondern ein unregelmäßiger und plastischer Körper. „Hiernach lag zur Zeit der archaischen Periode die Gegend von Neuseeland ungefähr am Nordpol." (Ich entnehme den Satz wie die anderen Angaben dem Aufsatze „Astronomie und Botanik" von K. R. Kupffer, in der „Umschau", VIII, 15 u. 16, ohne mir seine Vorstellung von einer bestimmten „archaischen Periode" anzueignen.) Die neuesten astronomischen Be- obachtungen (vor wenigen Augenblicken erst begonnen, vor 25 Jahren nämlich) scheinen eine Bewegung des Nordpols der Beobachtung zuzuführen, eine minimale Bewegung freiUch, die sogar zum Teil periodisch in sich zurückkehren soll, die aber doch einen unperiodischen Rest hat. Man will diesen Be-

Adhemars „Revolutions" ß47

wegungsrest auf den winzigen Weg von etwa einer Bogen- sekunde im Jahrhundert berechnet haben. Die Änderung ist groß genug, um eine Verschiebung des Nordpols um 50" in 18 Millionen Jahren zu schaffen. Ich lasse ganz beiseite, was K. R. Kupffer aus der Wanderung bestimmter Pflanzen- arten an Hilfschlüssen zieht. Ich wollte nur zeigen, daß auch ohne die Hypothese Adhemars die neue Forschung Revo- lutionen der Erde erkennt, von denen sich die sprachwissen- schaftliche Ethnographie nichts hatte träumen lassen. Ich kehre zu der Hypothese der periodischen Eiszeiten zurück.

Ich weiß wohl, daß der Wohnsitz sprechender Menschen auf unserer Erde während der Zeit, da das große Pendel der Erdachse im Rhythmus von 21 000 Jahren hin und her schwang wer weiß wie oft , nicht nachgewiesen ist, daß die Vorstellung von einer Reihe von Eiszeiten eine Phantasie oder Hypothese bleiben muß. Aber die Vorstellung braucht nicht falsch zu sein, weil sie nicht nachgerechnet werden kann. Es wäre für die Geologen nicht möglich, bei so großen Zwischenzeiten die einzelnen Eisepochen auseinander zu halten. Was aber die Ungeheuerlichkeit der Ziffern betrifft, so scheint sie nur demjenigen so, der bewußt oder unbewußt an die wenigen Jahre der biblischen Legende denkt. Eine Folge von zehn Eisperioden, zu 21 000 Jahren, welche der Ziffer nach etwa mit der Rechnung Lyells zusammenträfe (rein zufällig), körmte nur für die orthodoxe Vorstellung etwas Erschreckendes haben. Aber so eine Viertelmillion Jahre ist doch nur eine kurze Spanne Zeit, wenn man sie vergleicht mit den Zeiträumen, welche die Geologie für die Abkühlung und Festigung -des Erdballs und für die Entwicklung der Organismen auf der Erdkruste annehmen m u ß. Warum nun plötzlich diese Schüchternheit, wo es sich um Entwicklung des Men- schen handelt?

Ich will es versuchen, gerade auf dem Gebiete, um dessen willen uns das Alter der sprechenden Menschen auf Erden zuerst beschäftigt hat, die VorstelUung eines hohen Alters zu wecken. Nur muß man von mir nicht Ziffern verlangen ! Nur muß man mit mir glauben, daß die Langsamkeit der

648 XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie

Entwicklung für die Menschen keine Schande und keine Aus- nahme ist. Schreckt man doch vor den wildesten Zahlen nicht zurück, wenn von leblosen Dingen wie der Wärme - abnähme der Sonne die Rede ist, oder von „unvernünftigen" Tieren, wie von der Entwicklung einer Art. Zeitdauer \q}^ Schließe also aus der Entwicklung und der weitge-

der

Sprach- diehenen DifEerenzierung der menschlichen Sprache auf das 8**" hohe Alter der Sprache selbst; habe also danach das hohe

Schi eil tti

Alter der Menschheit gar nicht erst zu beweisen. Ich habe vorhin darauf hingewiesen, daß ein Eichbaum unter Um- ständen, das heißt naturgemäß, älter wird als im Durchschnitt die Sprache eines Menschenvolkes. Niemand zweifelt beim Anblick einer tausendjährigen Eiche, die mit ihrem Rauschen die uns unverständliche Sprache Karls des Großen begleitet hat, daß sie von der Frucht eines Baumes stamme, der vor ihr da war, und der wieder von einem anderen, und so ruhig um 1000 Eichbaumgenerationen zurück. Warum zögert man, einer Sprache so zahlreiche Ahnen zuzutrauen? Weil sie nicht so unverändert geblieben ist wie ein Eichbaum? Gerade die Veränderung ist ja sonst ein Zeichen der Zeitdauer.

Vergleichen wir einmal die Sprache, wie mr sie sprechen, nach dem Bau ihrer Kategorien mit der deutschen Sprache Karls des Großen und etwa noch mit dem Sanskrit des Rig- weda. AVas hat sich seitdem groß geändert? So gering ist der Unterschied im eigentlichen Bau der Redeteile (syntaktische Feinheiten abgerechnet), daß die Sprachgeschichte, wenn sie deutlich und kurz sein 'vvill, dieser Differenz gar nicht gedenkt und nur von Lautveränderungen als von Unterscheidungs- merkmalen spricht. Aber auch das älteste Sanskrit hat im wesentlichen schon unsere Deklinations- und Konjugations- formen, unsere Adjektiva und Pronomina, unsere Adverbien und Zahlwörter beisammen. Es ist also auf dem Gebiete der Sprache im Laufe von 4000 Jahren fast nichts Neues ge- schaffen worden, es wäre denn ein konventionellerer Gebrauch der Präpositionen, eine Verdeutlichung des Pronomens und die mechanische Weiterentwicklung des dekadischen Zahlen- systems. Halten wir uns einmal an dieses letzte Detail, weil

Zeit der Zahlengeschichte 649

doch gerade von Zifiern die Rede ist. Die Null (Ziffra), ohne J^eit dc-i welche unser ganzes bequemes Rechnen nicht möglich wäre, ^ „g. wurde in Indien etwa im vierten Jahrhundert nach Christi schichte Geburt erfunden; es dauerte 800 Jahre , bevor Sache und Wort in unseren Kulturländern durchgesetzt wurde. "Weiter: die Sanskritpriester hatten das dekadische System so pedantisch ausgebildet, daß sie für jedes Mehrfache von zehn einen besonderen Namen hatten ; es ging das durch Kombinationen und Stufenbezeichnungen bis ins Sinnlose und Phantastische. Selbst unsere modernen Astronomen würden von diesen Namen keinen Gebrauch machen können, da sie niemals eine Zahl von einer Sextillion Stellen auszu- sprechen brauchen. Aber die Inder standen mit dieser Lieb- haberei allein. Homers größte Zifier ist noch die Tausend. Das Wort für 10000 (a'\o'.a) haben die Griechen erst später erfunden. Hunderttausend umschrieben sie, wie auch wir es tun. Ebenso halfen sich die Römer, trotzdem sie oft genug größere Ziffern aussprechen wollten. Für eine Million sagten sie decies centena miha, das heißt 10 x 100 x 1000. Es hat also nach Erfindung eines Wortes für 10 000 noch zwei Jahr- tausende gebraucht, bevor das AVort „Million" (am Ausgang des 15. Jahrhunderts nach Christi) erfunden wurde. Und nun sollte ich doch denken, daß es viel leichter war und darum viel schneller geschehen konnte, auf Grund des vorhandenen dekadischen Systems dem notwendigen Begriffe „Million" seinen Namen zu geben, als in Urzeiten zuerst überhaupt die ungeheure Erfindung des Zählens zu machen, dann im Laufe von Aeonen*) bis drei zählen zu lernen, dann den Abschnitt bei der Zehn zu machen, dann diesen Abschnitt begrifiHch zu fassen und das dekadische System zu erfinden. Mir wird es natürlich nicht einfallen, auf diese wenigen Tat-

*) Das Wort „Aeonen" ist selbst wieder ein anderes Beispiel für den Wandel im Maße der Zeitvorstellungen. ISs bedeutete im Grieclii- schen ursprünglich die Lebenszeit. Erst über die ToUhausideeii der (jnostiker hinweg gewann es die Bedeutung uugemessener Zeiträume. In diesem Sinne wird es bei uns erst seit der Mitte des IS. Jahr- hunderts gebraucht, anfangs unter dem Spotte der Zeitgenossen.

650 XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie

Sachen etwa eine Rechnung aufbauen zu wollen; das wäre kindisch. Wie aber alle Rechnung Vergleichung ist, so werde ich vergleichen dürfen. Wenn die Namengebung für ein Mehr- faches von Tausend, für die MilHon nämlich, trotz der Existenz so hoher Ziffernwerte, Jahrtausende gebraucht hat, so muß die viel schwierigere Namengebung für die ersten Zahlen unendlich länger gedauert haben. Will man Kulturunterschiede mit Jahreszahlen bezeichnen, und bedenkt man, daß wir schon beim ersten Auftreten der Geschichte die „Tausend" besaßen, so muß man die Kultur der Völker, die nur bis drei zählen können, nicht um Tausende, sondern um Hunderttausende von Jahren zurückdatieren und muß begreifen, daß es keine Kleinigkeit war, das Zählen auch nur bis zu drei zu erfinden. Und genau so, wie mit den Zahlworten, nur nicht so auf- fällig, steht es um die Erfindung der drei Personen der Für- wörter, der drei Zeiten des Verbums, der wichtigsten Kasus des Substantivs. Das alles ist so schwer zu erfinden und ein- zuüben, daß ein kleines Menschenkind, nachdem es zu sprechen angefangen hat, noch drei bis vier Jahre braucht, bevor es die Entwicklung der Menschheit halbwegs nachholt, bevor es Zeiten und Kasus und Personen und Zahlen ein bißchen ordentHch unterscheiden kann, dasselbe Menschenkind, das die Entwicklung der Menschheit aus dem angenommenen Protoplasma bis zur Menschengestalt in den neun embryonalen Monaten einzuholen vermag. Mag auch das Gehirngedächtnis weniger gefällig sein als das Gedächtnis des älteren Organismus, mag darum das Nachholen der Sprachentwicklung langsamer vor sich gehen als die Entwicklung des Auges usw. für die wirkhche Zeit des Ausbaus der menschlichen Sprache kommen wir dennoch zu anderen Zeiträumen, als die der Linguistik und der schüchternen Anthropologie sind. Virehow So steht es um die ethnographische Sprachwissenschaft: die Linguistik begleitet die Menschheit kleine viertausend Jahre zurück und wünscht ganz naiv, dicht vor dieser histo- rischen Zeit ein Urvolk, eine Ursprache zu entdecken. So läuft wohl ein Junge eine halbe Stunde weit, die blauen Berge zu erreichen, die er gesehen hat; so hofft er, wenn er nur

Virchow 651

tapfer läuft, das goldene Schüsselchen unter dem Regenbogen zu finden. Und* die Anthropologie wieder verkürzt die Zeit- räume, weil sie gar zu gern von ihren Eiszeiten, von ihren Höhlenmenschen und selbst von den näher wohnenden Pfahl- bauern herabgelangen möchte zu den historischen Zeiten der benannten Völker und der bezifferten Ereignisse. Daß die Brücke zwischen beiden Disziplinen nicht zu schlagen ist, das wird die Sprachwissenschaft so bald nicht lernen wollen. Die Ethnographie in ihrem skeptischsten Vertreter beginnt jedoch, sich dieser Erkenntnis nicht mehr zu verschließen.

Ich meine Rudolf Virchow, der von seinen Arbeiten auf dem Gebiete der pathologischen Anatomie gern zu den ein- zelnen Disziphnen der Anthropologie hinüberflüchtete und das nicht geringe Verdienst besaß, in mehr als einem Falle schon dem Taumel der Halbgebildeten seine autoritäre Skepsis entgegengesetzt zu haben. Es mag ihm schwer geworden sein, auch in seinen liebgewordenen ethnographischen For- schungen mit den Jahren immer skeptischer zu werden. Zu- letzt erklärte er, daß er die Rassen gar nicht mehr als einen klaren naturwissenschaftlichen Begrifi anzuerkennen ver- möchte. Aber schon vor dreißig Jahren hatte er in einem Vortrage über die Urbevölkerung Europas fast widerwillig ein ..ignoramus'" ausgesprochen.

Er ist freilich, wie jeder Gelehrte unserer neualexan- drinischen Zeit der Arbeitsteilung, geneigt, die Ergebnisse der ihm unbekannten Disziplinen auf Treu und Glauben hinzu- nehmen; er mißtraut der Sprachwissenschaft darum nur dort, wo die Sprachwissenschaft selbst Fehlerquellen ihrer Methode entdeckt hat. Innerhalb der Anthropologie entdeckt er die Fehlerquellen selbst. So spricht er seinen linguistischen Kollegen ganz zuversichtlich die Hypothese nach, daß die eigentlichen Kulturstämme eingewandert seien und daß die Einwanderung von Osten her erfolgt sei. Er folgert aus haupt- sächlich sprachwissenschaftlichen Schlüssen, daß Europa vor der Einwanderung der Arier überall (insbesondere in Spanien und dann im Nordosten) von einer turanischen Rasse bewohnt gewesen sei, dort von den Iberern, hier von den Finnen, daß

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die Turanier Avahrscheinlich (?) aus Asien stammen. Aber damit ist ihm denn doch die Frage nach der Urbevölkerung nicht entschieden. Virchows unzählige Schädelmessungen, durch welche er in Berlin fast ebenso populär geworden ist wie durch seine politischen Reden, haben ihn schließlich zu einem sehr wichtigen negativen Ergebnisse geführt. Er sah schließlich ein, daß diese Schädelmessungen nichts über die Urzeit aussagen können. Die vorhistorischen Schädel Skandinaviens sagen nichts aus über die Verwandtschaft mit den Finnen. Und gar die ältesten Schädel der belgischen und französischen Höhlenmenschen sind so ausgesprochene Lang- schädel, daß Virchow, wenn er durch die Sprachwissenschaft nicht das Gegenteil wüßte (?), zu der Ansicht bekehrt worden wäre, die Höhlenbewohner der Urzeit seien langsch adelige Arier gewesen. Und welche Hoffnungen hatte die Anthropo- logie auf die berühmte Einteilung in Langschädel und Kurz- schädel gesetzt!

So wurde Virchow durch seine anthropologischen For- schungen dazu geführt, daß er die Körperbeschaffenheit der jetzigen Europäer historisch zu erklären ablehnte. So lag es z. B. mit der Farbe der Haare und der Augen. Angenommen aber nicht zugegeben, daß die Arier blond und blauäugig waren, so konnten die brünetten Europäer ebenso gut von einer Veränderung in der Konstitution der arischen Ein- wanderer herkommen wie von einer Urbevölkerung, wie auch von beiden. Dazu kam nun gar noch die von Oskar Heer gefundene Tatsache, daß die in den schweizerischen Pfahl- bauten entdeckten pflanzlichen Überreste sehr stark mit afrikanischen Kulturpflanzen übereinstimmten, daß man also an eine afrikanische Urbevölkerung Südeuropas denken konnte. Dazu kam, daß Virchow selbst die alten Vorstellungen you einer rein europäischen Steinzeit aufgeben mußte. Wollte man also das Urteil über die Urbevölkerung Europas nicht den Linguisten überlassen, gegen die Virchow denn doch auf der Hut zu sein scheint, wollte man die alte Fabel von dem kurzschädeügen und darum geistig zurückgebliebenen Ur- menschen nicht gegen seine bessere Überzeugung aufrecht

Virchow 653

erhalten , so kam man das heißt eben Rudolf Virchow zum Eingeständnis vollständiger Unkenntnis über die vor- historische Zeit. Ausdrücklich sagt Virchow in seiner vor- sichtig tastenden Weise, daß schon die Annahme von Höhlen- menschen auch nur um das neunte oder zehnte Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung für die Phantasie einen so großen Spielraum ergebe, „daß wir auch einen mehrmaligen Wechsel der europäischen Urbevölkerung ohne Schwierigkeit zulassen können".

Und nun vergleiche man mit diesem resignierten Ergebnis Legende der Anthropologie diejenige Lehre, welche als Ergebnis der uryoijj ethnologischen Sprachwissenschaft heute noch allen Gym- nasiallehrern eingepaukt wird und welche gerade jetzt, wo die Forscher der Verzweiflung nahe sind, das Publikum in populären Werken erobert. Da weiß man die Geschichte der Einwanderung beinahe dramatisch zu erzählen, da kennt man die Stationen der Einwanderer, da berichtet man nicht nur über die Staatseinrichtungen des Urvolks, sondern sogar über den Charakter derjenigen Bevölkerung, die sie aus Europa verdrängten. Das waren Hunnen, denn der Name der Heunen oder Riesen komme schon vor der Zeit des Hunneneinfalls bei den Germanen vor. Die Hünengräber werden zu Be- weisen herangezogen und sogar der Name der unschuldigen Humboldt. Doch die Annahme einer ganz fremden Ur- bevölkerung Europas stört die schönen Freskobilder nicht, welche die Sprachwissenschaft von der Urgeschichte der Indoeuropäer, insbesondere der Germanen entwirft. Daß die Geschichte danach schreit, überall in Europa Mischvölker und darum Mischsprachen anzunehmen, dazu drückt die Sprachwissenschaft beide Augen zu. In Pauls „Grundriß der germanischen Philologie" wird aus Anlaß der Vorgeschichte altgermanischer Dialekte allerdings auf „dunkle Beziehungen'' hingewiesen. Bei einem Dutzend von alten Worten (dar- unter unser Apfel) wird ja zugestanden, daß sie möglicher- weise von einer nicht-arischen Urbevölkerung Europas her- stammen mögen. Man wagt aber das Wort Mischsprache kaum niederzuschreiben. Wie könnte mau dann auch weiter

654 XIII. Sprachwissenschaft und Ethnologie

deklamieren über die Reinheit der Rasse und über die Rein- heit der Sprache, wenn man klar erkannt hätte, was im Gange der Zeiten geworden sein muß auf dem alten Boden Europas: Menschen wohnten da und nährten sich und redeten mit- einander. Niemand kann sagen, seit wann da Menschen wohnten und Menschen redeten. Niemand kann sagen, wie die Berge sich senkten und hoben seit jenen Zeiten, welche Art von Getier mörderisch wütete und neugierig glotzte unter den redenden Menschen. Niemand kann sagen, wie Hitze und Kälte sich in endlosen Zeiten heraufschoben und hinab- schoben über den grünen Gürtel der Erde, wie das den grünen Gürtel versengte bald mit Frost, bald mit Hitze, die Menschen, die Völker dort verbrannte und dort erstarren ließ. Niemand kann sagen, welche Völker all in unermessenen Zeiten einander drängten und bedrängten und trieben und vertrieben. Es waren alte Zeiten, und die hungernden Völker fraßen einander und nahmen voneinander ihre armen Seelen und ihre armen Sprachen. Und das Wort, welches von Aeonen zu Aeonen beim Weltfrühlingsgruß der erstarkten Sonne zugerufen wurde, es würde heute noch unverändert erklingen am obersten Rheintal wie vor ungezählten Jahrtausenden, wenn wir nur wüßten, daß das Rheintal damals schon war, und wenn die Sprachen nicht alterten und stürben, kurzlebiger wie Eichen. So hat der Schrei, mit dem in irgend einer Urzeit der Erde die erstarkende Weltfrühlingssonne begrüßt wurde, in Wand- lungen von ungezählten Epochen vielleicht seine Form ge- wechselt, wie der Schmetterling aus der Raupe wird und aus dem Schmetterling die Raupe. Auch wenn der Wandel unmerkbar bleibt in Jahrhunderten, einmal kommt doch der völlige Wechsel und ewige Unerkennbarkeit, und niemand kann sagen, welche Geschichte die Sprachen hatten, die vor drei- tausend Jahren hier in Deutschland gesprochen wurden.

Niemand kann auch sagen, wie es gekommen ist, daß wir heute hausen in diesen Gegenden und daß wir unsere liebe Muttersprache reden, wie wir sie reden. Daß fremde Völker von den Gebirgen Asiens gekommen sind, die Ur- bevölkerung Europas niedergemacht oder vertrieben haben

Legende vom Urvolk 555

und ein reines Volk und eine reine Sprache gründeten, das mag ja gern möglich sein, möglich wie manches andere hübsche Märchen der Brüder Grimm. Aber es ist ebensogut möglich, daß dieses Volk von anderswo herkam, oder daß es zu einer ganz anderen Zeit herüberkam oder daß es gar nicht kam. Es ist möglich, daß ein deutsches Volk in vorgeschichtlicher Zeit auf großen Eroberungszügen den Indern und Slawen, den Griechen und Kelten viele seiner Worte beigebracht hat, es ist auch möglich, daß eines von diesen Völkern das Er- oberervolk war. Es ist sogar möglich, daß ein ganz anderes Volk, das wir gar nicht kennen, das Urvolk, der Sprachlehrer Europas und Indiens war. Was zu solchem Nachdenken veranlaßt, das ist ja docli nur die hübsche Bemerkung, wie von all diesen Völkern bald das eine, bald das andere mit einem seiner Nachbarvölker ein paar hundert Dinge so ähnlich nennt, daß es zu verwundern ist, und wie insbesondere wie trumpfen die Sprachforscher dabei auf auch ähnliche Bildungssilben nachzuweisen sind. Niemand aus unserer neualexandrinischen Zeit kann sich dem Reize solcher For- schungen verschließen. Wirklich anmutig träumt sich das Märchen zusammen von der Herkunft solcher Wunder. Und ich träume von einer so alten Zeit, daß die Bildungssilben noch saftige Worte waren, wie die Forscher ja auch lehren, daß die Bildungssilben noch lebendig und greifbar waren, daß sie also noch von einem Volke zum anderen herüber- genommen werden konnten wie wichtige Erfindungen und wie wohlschmeckende Früchte, wie die große neue Erfindung des Eins, Zwei, Drei und wie die prächtige Züchtung der saftigen, lebendigen, greifbaren süßen Äpfel.

Wir wollen sie weiter träumen, wenn es sein muß, die Politik veränderliche Legende vom arischen Urvolk und der arischen Ursprache, aber wir wollen nicht mehr glauben, daß diese Legende Erkenntnis sei und Wissenschaft. Wenn es einmal zum blutigen Kriege kommt zwischen uns und einem Mou- golenvolke, so sollen uns die Dichter in den Krieg hineinsingen mit ihrem Zorn gegen die Feinde, die nicht Arier sind. Wenn es neuerdings gegen Frankreich geht, so mögen die Nach-

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kommen der anonymen Urbevölkerung Europas wahrsagen, daß die Franzosen keine Germanen sind, sondern Kelten. Und wenn es zur großen Abrechnung mit Rußland kommt, so werde ich wahrscheinlich selbst rufen imd wahrsagen, daß diese Russen den Tod verdienen, weil sie ein elendes Misch- volk sind und keine reine Rasse. Es scheint, daß die Völker nicht leben können, ohne ihren Hunger durch ihren Haß zu adeln. Nur in einem lichten Momente des Friedens, wenn wir ruhig sind wie einst im Grabe, dann können wir vielleicht einen Blick der Wahrheit auffangen und sagen: Die armen Völker! Nur um ein paar Meilen brauchten die Gletscher des Nordens zurückzutreten und grünende Täler zu öffnen, nur um hundert Meter brauchten die Kontinente sich aus dem Meere zu heben, und für lange Zeit wäre der Hunger der drängenden Menschen gestillt; dem Hunger brauchte der Haß nicht zu Hilfe zu kommen.

Kaum aber ahnt solche Empfindungen die ethnologische Sprachwissenschaft. Unbewußt steht auch sie im Dienste des Hungers, der Liebe und der Eitelkeit, unbewußt sträubt sie sich gegen die Annahme großer Zeiträume im politischen Dienste ihres Volkes. Und vielleicht spricht noch ein anderes mit. Wie die Menschheit erschrak, als sie ihre alte Erde nicht mehr fest im Mittelpunkte der Welt sehen sollte, als der Menschheit der Weltenbau zu wanken schien, sobald das Ge- hirn des Einzelmenschen nicht mehr das Zentrum dieses Weltbaus war, so schaudert dieselbe kindliche Menschheit bei dem Gedanken, daß das Maß der Weltgeschichte plötzlich verrückt werden könnte. Die 1000 Jahre eines Volkes oder einer Sprache sind ein erträgliches Maß, wenn die Men- schen erst 6000 Jahre auf der Erde leben und streben. Müssen wir aber an eine ungemessene, für unsere Betrachtung unendliche Entwicklung denken, so verschwinden 1000 Jahre eines Volkes und einer Sprache in der Flut der Zeiten, wie die Erde im Weltenraume. Der Einzelmensch taumelt in seiner Kleinheit vernichtendem Gefühle. Nur wenige sind stark und taumeln nicht und wissen lächelnd, daß Kleinheit und Größe nur Worte sind, Verhältnismaße, nichts Wirkliches.

Geschichte und Sprachwissenschaft §57

XIV. Ursprung und Geschichte von Vernunft

Sprachwissenschaft ist höchstens Sprachgeschichte. Und ^^-

schiclit*^

Schopenhauer (Welt a. W. u. V. I, S. 75) hat schlagend ge- „nd

zeigt, warum „Geschichte, genau genommen, zwar ein Wissen, Sprach-

_w wissßTi*

aber keine Wissenschaft ist". Aus unklassifizierten Tatsachen schalt kann man keine Schlüsse ziehen. Historie sagt nichts aus über die Zukunft, nichts über Vorhistorie. Ebenso geht es der Sprachgeschichte.

Wir haben eben gesehen, daß Sprachwissenschaft unfähig ist, über das anderwärts historisch Belegte hinaus, irgend etwas auch nur über diejenige Sprachgeschichte glaubhaft zu erzählen, die unmittelbar der Zeit historischer Dokumente vorausgeht. Sprachwissenschaft kann nicht einmal die nächsten Aufgaben lösen, die sie sich selbst stellen zu dürfen glaubte. Und bei dem Gedanken an die periodischen Re- volutionen des Meeres erschien uns der unfruchtbare Scharf- sinn, der etwas wie das neue Ideal einer geographischen Geschichte erreichen wollte, all in seiner Kleinheit und Hilf- losigkeit.

Und da ist gar das unendlich entferntere Problem auf- getaucht, brückenlos zurück über einen unausdenkbaren Abgrund, aus der Sprachwissenschaft den Anfang von Sprache oder Denken zu begreifen, glaubhaft vom Ursprung der Vernunft zu reden. Schon die sprachhche Verwegenheit scheint mir schreckhaft hörbar zu sein, wenn ich anstatt „der" Vernunft sage: „Ursprung und Geschichte von Vernunft", wie ich ja ebenfalls in einem früheren Kapitel besser „Ent- stehung V o n Sprache" gesagt hätte.

So weit vorgewagt haben sich in der Meta- Sprachwissen- schaft der kühne Lazarus Geiger und sein wortabergläubischer Schüler Noire; Steinthal hat an beiden eine sehr kleinliche Kritik geübt. Nur in den Schlußsätzen über Geiger kommt Steinthal (Ursprung d. Spr. 4. Aufl. S. 215) nahe an die wichtige Erkenntnis, daß wir aus Sprachgeschichte nur er- fahren , was wir sonst woher wissen. Wir haben es schon

Maiithner, Beiträge zu eiuer Kritik der Siirache. 11 42

658 XIV. Ursprung und Geschichte von Vernunft

vom alten Vico gelernt: „e della storia delle cose si accertasse quella delle lingue."

Ein geistreicher Zoologe, der erst später zum Sonderling gewordene G. Jäger, hat sich darum dem Ursprang von Sprache und Vernunft vom Tiere aus besser nähern zu können ge- glaubt; der Weg vom Tierlaut zum ersten menschlichen Sprachlaut sei kürzer als der Weg nach rückwärts, der von der heutigen Sprache zum ersten Sprachlaut. Steinthal hat das in einer verrechneten Rechnung (das. S. 222) anzuzweifeln gesucht. AVir wollen beide Wege abschreiten und werden uns überzeugen, daß ihre Enden nicht zusammentrefien, daß zwischen ihren beiden Enden immer noch brückenlos der unausdenkbare Abgrund klafEt. Die Unendlichkeit wird nicht kleiner, wenn man ihr einige Jahre abhandelt.

Einige Gesichtspunkte des Kapitels über die Entstehung der Sprache sind bei der Betrachtung der etymologischen wie der tierpsychologischen Untersuchung vorausgesetzt.

L Geiger Geigers „Ursprung und Entwicklung der menschlichen Sprache und Vernunft" ist ein Fragment geblieben, aber lesenswert durch den Scharfsinn und die Vorurteilslosigkeit des Verfassers. Am Ende des ersten Bandes gibt Geiger die Absicht, die ihn leitete, zu erkennen. Er will eine empirische Vernunftkritik schreiben. Er will durch etymologische For- schungen rückwärts führen „zu dem ewig staunenswürdigen Augenblicke, wo in dem Bewußtsein einer Tiergattung unseres Planeten jene Gärung entstand, welche Vernunft, Entwick- lung, Kultur, Sitte, Glauben, Kunst, Wissenschaft und, mit einem Worte, Menschentum in ihrem Gefolge haben sollte". Ein glänzender Versuch, mit untauglichen Mitteln unter- nommen.

Geiger geht davon aus, daß auch die unkultivierteste Menschensprache noch ein bewunderungswürdiges Werk sei, daß sie aber wie zu seiner Zeit bereits für selbstverständlich galt unmöglich die Schöpfung bewußter Verstandestätigkeit sein könne, daß sie vielmehr ein unbewußt entstandenes Kunst-

L. Geiger 659

werk sei gleich den lebendigen Organismen. Die Organismen oder lebendigen Individuen sind ein Teil der sinnlichen Welt. An der Sprache aber ist es die merkwürdigste Erscheinung, daß sie nicht die sinnlichen Einzeldinge bezeichnet, sondern immer und ohne jede Ausnahme ihre Namengebung von der menschlichen Auffassung, von der Vernunft, hernimmt. Wir benennen die Teile des menschlichen Körpers nach der Be- deutung, die wir ihnen beilegen; wir haben ein gemeinsames Wort z. B. für die menschliche Hand, nicht aber eines für die drei oder für die vier letzten Finger. Ebenso fassen wir Grup- pen von Tieren je nach unserer Auffassung durch besondere Worte zusammen. Die Griechen hatten ein gemeinsames Wort für alles Lebendige, für Tiere und Menschen; unser „Tier" wird nur gegen den Sprachgebrauch auch auf die Menschen ausgedehnt. Es gibt Sprachen, die ein Wort für die gemeinsame Gruppe von Schafen und Ziegen haben. Selbst Eigennamen bezeichnen Individuen regelmäßig ursprünglich durch einen Begriff.

Geiger behauptet nun, daß die menschliche Sprache (im Sichtbar- Gegensatz zu dem tierischen Schrei, der Furcht oder Begierde ,,^jj ausdrücke) jedesmal auf Gesichtsvorstellungen reagiert habe, daß die Sprache niemals etwas bloß Gehörtes, niemals das Gehörte als solches, sondern stets als etwas mindestens auch Gesehenes bezeichne. (I, S. 23.) Es ist das eine unbeweis- bare, aber die Phantasie befruchtende Vorstellung, die auf Darwin zurückgeht, daß nämlich die menschliche Sprache nicht durch Klangnachahmung, sondern durch ein lebhaftes Mienenspiel, durch „Mitgrinsen" ursprünglich entstanden sei.

Die Sprache übersetzt also aus einer Sinnengruppe in die andere, und schon darum wird es klar, daß der Mensch mit seiner Sprache nicht die unmittelbare Empfindung ausdrücken oder beschreiben kann. In Wahrheit sind die Empfindungen die Elemente unseres Geisteslebens, und kein einziges dieser Elemente können wir durch Worte beschreiben. Etwas ungenau meint Geiger, daß das Bewußtsein oder die Erinnerung von Vorstellungen das erste sei, was sprachlich ausgedrückt werden könne. Jedenfalls kennt Geiger bereits die Wichtigkeit der

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Erinnerung für die menschliche Sprache, die für uns die Ver- nunft ist. „Wenn es denkbar wäre, daß einem empfindenden Wesen die .Fähigkeit sich zu erinnern ganz gebräche, so müßte dieses Wesen in jedem Augenblicke, wo auf seine Empfindung gewirkt wird, aus einem dumpfen Schlafe erwachen und nach geschehener Erregung alsbald wieder in denselben dumpfen Schlaf zurücksinken; es würde nur in dem einen Augenblicke leben, wo es empfindet, und auch in diesem ganz anders als ein der Erinnerung fähiges Geschöpf" (I, S. 36).

Ohne Übergang gelangt Geiger nun dazu, dieses Haften am Sichtbaren sprachgeschichthch zu beweisen. Der Baum interessiere den Menschen von dem Augenblicke an, wo er als Holz in menschliche Behandlung gerate; von da aus ergreife die Sprache dieses Ding als Balken, Brett, Tisch usw., so wie es mit dem Objekte der tierischen Gebärde (?) in Be- rührung gerate.

Doch bevor Geiger noch in die Wirrnis seiner etymologischen Beweisgründe zurücksinkt, weiß er die Bedeutung der Gestalt für die Begriffsbildung anschaulich zu machen. Was unsere Empfindungen erregt und nachher in unserer Erinnerung haften bleibt, ist immer nur eine einzelne Äußerung des Dings. Die äußere Erscheinung, die Gestalt des Dings ist es aber, was wohl auf dem Wege der Gedankenassoziation uns veranlaßt, die verschiedenen Empfindungen (z. B. rot, duftend, vielblättrig usw. von einer Rose) auf eine einheitliche Ur- sache zurückzuführen und so, weit lebhafter als bei den Tieren, einen Begriff zu erzeugen. Geiger geht zu weit, wenn er die gesehene Gestalt ausschließlich für den Grund unserer Vor- stellung von Ursachen erklärt; gewiß ist, daß die sichtbare Welt uns deutlicher als die hörbare, riechbare usw. von einer Welt außer uns Kunde zu bringen scheint und daß uns die sinnliche Welt allerdings zunächst eine sichtbare Welt ist. Ich möchte dazu die Vermutung äußern, daß unsere An- schauung vom Raum, die doch wesentlich unserer Vorstellung von einer Wirklichkeit zugrunde liegt, ganz anders beschaffen wäre, wenn wir nicht zufällig eine greifende Hand besäßen, eine Hand mit der Fläche von vier Fingern und dem gegen-

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überstehenden Daumen; in jeder Greif bewegung der Hand üben wir praktiscb die drei Dimensionen des Raums ein. Es will mich bedünken , daß der Handraum des Menschen ganz anders vorgestellt werden müsse als etwa der Fußraum des laufenden Tieres; der dreidimensionale Raum mag beim Tiere eher durch die Bewegungen des Fressens entstehen, als Maulraum.

Da ich die Lehren Geigers doch nicht anders als kritisierend darstellen kann, möchte ich an dieser Stelle innehalten, um auszusprechen, was seine und meine Anschauung von der Sprache trennt. Da könnte ich nun sagen, daß Geiger eine zu starre Grenze zwischen dem Tiere und dem Menschen aufstelle, während ich annehme, daß auch das Tier sein be- scheideneres Denken besitze und da Denken und Sprechen nur eins ist auch irgendwelche uns unverständliche Be- griffszeichen haben müsse. Das ist jedoch kein wesent- licher Umstand, weil erstens Geiger in seiner Vorstellung vom Tierdenken schwankt und weil zweitens bei allen solchen Untersuchungen im Grunde immer nur von der Menschen- spraclie die Rede ist und die Gewohnheit des systematischen Denkens allein immer wieder die Frage nach der Tierspraphe hineinzieht. Sodann könnte ich sagen, daß Geiger die Ver- Denken nunft als ein höheres Wesen aus der Sprache entstehen lasse, sprechen während ich, wie soeben erst, Sprechen und Denken völlig gleichsetze; wir werden aber sehen, daß auch Geiger in be- sonders guten Augenblicken die Vernunft mit der Sprache gleichsetzt, und ich wiederum werde in besonders resignierten Augenblicken einsehen, daß die Gleichstellung von Sprechen und Denken doch wieder nur eine kriegerische Behauptung ist, eine vorübergehende Wahrheit, gut im Kampf gegen den Aberglauben an die Vernunft, aber doch selbst wieder eine Äußerung des versteckten Wortaberglaubens, da die Er- scheinungsgruppe Sprechen und die Erscheinungsgruppe Den- ken schließlich dieselbe Sache von zwei nicht ganz identischen Standpunkten ist, wie die beiden Photographien eines Stereo- skopenbildes nicht ganz genau dasselbe zeigen (vgl. P, S. 176 232). Es wäre also die Lehre Geigers, die mit weit

662 XIV. Ursprung und Geschichte von Vernunft

glänzenderen Mitteln verteidigt wird als die meine, von dieser gar nicht so verschieden, wenn nicht bei derartigen Welt- anschaiiungsfragen noch etwas hinzukäme, was weit über die beweisbaren Sätze hinausgeht. Ein Gegner mag das so cha- rakterisieren, daß Geiger vor dem menschlichen Denken mit andächtigem Staunen stehen bleibt, ich aber es mit höhnischem Gelächter au seinen Früchten zu erkennen suche. Ich würde das, höflicher gegen mich selbst, so ausdrücken, daß ich das menschliche Denken der Sprache gleichstelle, daß ich aus Begriffen, Urteilen und Schlüssen nur ein ödes, ewig tauto- logisches Geschwätz heraushöre, daß ich darum die Sprache als vollkommen wertlos für die Aufgabe der Welterkenntnis ansehe, daß Geiger dagegen an die Vernunft glaubt wie an eine allmächtige Gottheit, daß er die Vernunft darum als eine höhere Potenz aus der Sprache hervorgehen läßt und Vernunft und Sprache der Tiere zu niedrig einschätzt, nur um Menschen- vernunft und Menschensprache zu hoch einschätzen zu können. Es werden nämlich immer Weltanschauungen von heimlichen Wertbegriffen bestimmt, also von unkontroUierbaren Stim- mungen, welche im ganz klaren Denken keinen Platz haben sollten. BegriiTe Was insbesondere das tierische Denken anbelangt, so Tieren behauptet Geiger, es beziehe sich stets auf die Zukunft, während ^^^ das menschliche Urteil die gegenwärtige Wahrnehmung be- wußt mache. Hätte er darin recht, so besäße das Tier den nützlichsten Teil des Denkens ohne das tautologische Ge- schwätz, mit welchem wir gegenwärtige Wahrnehmungen „bewußt machen". Dem ist aber in Wirklichkeit nicht ganz so. Man braucht nur eine Henne, die ein Ei gelegt hat, gackern zu hören, um ebenso wie bei einer Abendgesellschaft gebildeter Menschen zu bemerken, daß ein Tier etwas beschwatzen kann. Auch mit der Begriffsbildung mag es sich etwas anders ver- halten, als Geiger meint. Gewiß kennt das Tier nicht den Schulbegriff Löwe, wie ihn die armen Knaben lernen müssen. Wenn aber ein Löwenjäger auf dem Anstand steht und das Gebrüll des Löwen vernimmt, so denkt er wohl nicht ^viel anderes als die Gazelle, wenn sie das Brüllen desselben Löwen

Begriffe bei Tieren und Menschen 663

vernimmt. Beide denken : „er kommt" oder meinetwegen „ea kommt". Ob der Schüler das Subjekt „der Löwe" gebraucht, ob der Jäger und die Gazelle nur „er" oder „es" denken, das ist wirklich nur für Grammatiker von Interesse. Genug daran, daß auch die Gazelle „es" an seinem Brüllen wieder- erkennt. Zum Wiedererkennen muß sie ein Erinnerungszeichen in ihrem Gehirn haben, also Sprache, ein Erinnerungszeichen für dieses besondere Brüllen, und dieses Brüllen ist wieder eine Resultierende von unzähligen mikrophonischen Ton- schwingungen, also ein Begriff.

Das Tier macht sich also ebenfalls gegenwärtige Wahr- nehmungen „bewußt". Das Tier hat eine Erwartung der Zukunft, und wenn seine Wahrnehmungen richtig waren, eine richtige Voraussicht der Zukunft. Der Mensch sieht mit- unter um einige Jahre weiter voraus. Das Tier schließt aber auch auf die Vergangenheit zurück, wenn sein Interesse das erfordert, so z. B. belauert der Tiger das Wild auf seinem Wechsel; er hat also bedacht, daß das Wild gestern und vorgestern hier vorüberging. Und wenn das nur Erinnerung und noch kein Rückschluß ist als ob zuletzt Rückschluß nicht immer Erinnerung wäre! , so ist es doch gewiß ein Rückschluß, wenn der verlaufene Hund die Fährte seines Herrn wittert und sich sagt: da ist er also gegangen. Ich muß aber zugeben, daß die Tiere die Disziplinen ihrer Geschichte nicht merkUch ausgebildet haben, daß der Mensch an der Vergangenheit seiner Person und seines Geschlechts ein weit höheres Interesse hat, ein Interesse übrigens, das je nach der Mode bald größer, bald geringer ist.

Geiger unterscheidet zwischen Mensch und Tier so schroff, Blödsinn daß er einmal (I, S. 80) dem menschlichen Geiste ein ganz absonderliches Kompliment macht: es sei der Blödsinn eine bloß menschliche, weil gerade nur das Menschliche des Geistes aufhebende Krankheit. Er bedenkt dabei nicht, daß diese sogenannte Krankheit an Hunden. Affen und anderen Ver- suchstieren durch Entfernung bestimmter Gehirnteile künst- lich erzeugt werden kann, daß sie übrigens bei den niederen Tieren ein normaler Zustand ist, da ja doch z. B. das Geistes-

664 XIV. Ursprung und Geschichte von Vernunft

leben einer Qualle nach menschlicliem Sprachgebrauch Blöd- sinn genannt werden müßte.

Geiger wäre nicht so schnell in Widerspruch geraten mit manchem Verehrer seiner Bücher, wenn er nicht im Wider- spruch gewesen wäre mit sich selbst. Es verrät sich das überall am deutlichsten, wo Geiger das tierische Denken gering zu achten scheint, um die menschliche Vernunft oder Sprache desto höher einschätzen zu können, und wo er doch meder emsiger als irgend ein anderer Sprachforscher den Anfang der menschlichen Sprache aus dem tierischen Denken heraus zu erklären sucht. Man könnte sagen, Geiger gerate mit sich selbst dadurch in Widerspruch, daß er die Entfernung zwischen Tier und Mensch nicht richtig und vor allem nicht immer gleich abschätze. Es tut mir leid, es aussprechen zu müssen, aber gerade sein weiter Blick, sein tiefes Eindringen in die letzten Fragen der Sprachwissenschaft verrät aufs empfindlichste, wie unzulänglich da die Mittel der Geschichte sind und wie komisch geradezu die Anwendung der Etymo- logie auf Zeiten, welche unvordenklich zurückhegen. Die Scheu der Historiker vor großen Zahlen hat es wohl verschuldet, daß ein so scharfsinniger Kopf sich so verrennen konnte. Man stelle sich einen Historiker vor, der gewohnt gewesen wäre, die Geschichte ausgegrabener alter Städte durch Inschriften an aufgefundenen Geräten zu bestimmen, und der nun zur Geo- logie überginge und in den ururalten Schichten der Erdrinde ebenfalls nach Inschriften suchen wollte. Mir scheint das Bestreben ebenso aussichtslos, mit etymologischen For- schungen, welche ein- bis viertausend Jahre zurückreichen, an den Ursprung der Sprache herantreten zu wollen. Ein einziges Beispiel mag diese allgemeine Verirrung Geigers und neuerer Forscher illustrieren. Etymo- Er hatte sich die ungeheure Aufgabe gestellt, die Mensch- ^ensch- werdung des Menschen zu beschreiben, denn etwas anderes werdung ist CS nicht. Wenn er die Entwicklung der Vernunft darzustellen versprach. Er hatte gegenüber seinen Vorgängern Kousseau und Herder den scheinbaren Vorteil, daß die neuere Sprach- wissenschaft ihm die Begriffsgeschichte der historischen Zeit

[ Etymologie und Menschwerdung 6(35

genauer und reicher darbot. Er vergaß aber, daß man über jene ururalten Zeiten, in welchen der Mensch wurde, heute wie vor hundert Jahren höchstens überzeugend phantasieren kann, daß die Nutzanwendung der Etymologie unmöglich auf eine Zeit gehen kann, in welcher der Mensch und seine Sprache erst entstanden. Und dennoch hat er den unglaublichen uod wirklich skurrilen Einfall, in der historischen Sprache nach Spuren zu suchen, in welchen sich die physische Entwicklung des Menschengeschlechts ausgedrückt haben könnte (11, S. 209). Die Anthropologie hat ihn gelehrt, daß der Mensch sich vom Affen, der Kulturmensch von niedrig stehenden Menschen - gattungen unter anderem durch Stirn und Mund unter- scheide. Der Kulturmensch hat eine hohe, oft bewunderte Menschenstirn im Gegensatze zum zurückfliegenden Tier- schädel, der Kulturmensch hat einen Mund und keine vor- stehende Schnauze. Und für diese Entwicklung, welche wer weiß vor wie vielen hunderttausend Jahren sich vollzog, wenn sie sich so vollzogen hat, sucht Geiger ernsthaft etymo- logische Spuren in der aller] üngsteu Sprachentwicklung, das heißt in den klassischen Sprachen und im Sanskrit. Für den Begriff Stirn sei nicht einmal in den germanischen Sprachen ein übereinstimmendes Wort zu fuiden. Das lateinische frons solle ähnlich wie das germanische Braue (engUsch brow) als unklarer Begriff sowohl Augenbraue als Stirn bedeuten. Ebenso sei das griechische [xstcüttov kein klarer Ausdruck für Stirn. Geiger unterbricht sich nun zwar selbst mit der Be- merkung, daß solche und ähnliche Wortbildungen zu jung seien, um etwa die Geschichte der menschüchen Körper- bildung aufhellen zu können, aber er deutet doch an, daß zum mindesten die geringere Aufmerksamkeit, welche solche Wörter für die hohe Stirn, für die aufrechte Körperhaltung und dergleichen beweisen, zugleich auf ein geringeres Hervor- treten dieser menschlichen Besonderheiten schließen lasse. Es fällt ihm nicht ein, daß solche Ausdrücke vielleicht technische Worte einer vorhistorischen Anatomie waren und daß wir über die Voretymologie von Stirn, Kopf, Mund usw., also für die eigentliche und ursprüngliche Bedeutung dieser Wörter

566 XIV. Ursprang und Geschichte von Vernunft

niclits wissen können. Dahin gehört es auch, wenn Geiger (II, S. 223) einmal anzudeuten scheint, es lasse sich in histori- schen Sprachen eine Zeit nachweisen, da Hand und Fuß noch nicht genau durch Worte unterschieden wurden, es sei also vielleicht in der Sprache noch eine Spur zurückgebheben von jener Zeit, da Hand und Fuß als Gliedmaßen noch nicht so differenziert waren wie heute. Er brauchte die vielen Beispiele gar nicht. Es ist bekannt, daß einzelne Negerstämme, ferner die Neuholländer und bei manchen „Hantierungen" auch die Japaner den Fuß wie eine Hand gebrauchen. Es ist bekannt, daß viele Sprachen, sogar slawische, für Hand und Arm nur eine gemeinsame Bezeichnung haben. Da braucht es nicht weiter Wunder zu nehmen, wenn es bei den berüch- tigten Botokuden ein gemeinsames Wort für Hand und Fuß, \yieder ein gemeinsames Wort für Finger und Zehe gibt. Sollen wir aus solchen Bemerkungen, welche vielleicht zehn oder hundert oder tausend Jahre alte Entwicklungen zum Gegen- stande haben, wirklich Schlüsse ziehen auf Urzeiten, in denen nach der gegenwärtigen Biologie der Mensch möghcherweise sich von einem affenähnlichen Urahn differenzierte? Geiger verstrickt sich noch tiefer in diese wahrhaft anachronistischen Irrwege, wenn er das alte Zählsystem nach Zwanzigern, also sicherlich eine verhältnismäßig hohe Denkstufe der Mensch- heit, mit jenem Verwechseln von Hand und Fuß in Zusammen- hang bringt. Ich habe nie noch davon erfahren, daß die aus- gesprochenen Vierhänder zugleich im Besitze des Zwanziger- systems seien.

Wenn ein Volk kein besonderes Wort für Stirn besitzt oder Hand und Fuß durch keine besonderen Wörter unter- scheidet, so können wir daraus nur den einen Schluß ziehen, so sehen wir vielmehr darin ohne jeden Schluß, daß dieses Volk auf die Stirn, auf die Hand seine Aufmerksamkeit nicht gelenkt hatte. Wir können höchstens fragen, wo wohl dieser Mangel an Aufmerksamkeit herrühre. Den Mangel an Auf- merksamkeit aus dem Fehlen des Dings selbst zu erklären, wäre doch ein mehr als verwegenes Beginnen, wenn man in Betracht zieht, wie viele Teile des menschlichen Körpers

minor

Etymologie und Menschwerdung 6ß7

heute noch Fachausdrücke des Anatomen sind und der Volks- sprache nicht angehören, weil die Aufmerksamkeit des Volks nicht auf sie gerichtet worden ist. Sicherlich hat man das Herz des geschlachteten Schafs und Schweins früher gekannt und benannt als das Herz des ungenießbaren Menschen, weil das Interesse sich mehr mit dem Herzen der Tiere beschäftigte als mit dem des Menschen. Wir können also höchstens sagen, daß es heute noch Sprachen gibt und in früherer Zeit noch mehr Sprachen gab, deren Interesse nicht auf die menschliche Stirn, nicht auf die Differenzierung von Fuß und Hand ge- lenkt war.

Noch einmal: wie immer man sich die Entwicklung des "^^Jor Menschengeschlechtes vorstellen mag, es ist irgendeine, noch so weit zurückhegendc Sprachform jedenfalls um ungezählte Jahrtausende jünger als die groben anatomischen Difierenzen, die den Menschen von affenähnlichen Geschöpfen unter- scheiden. Wenn nun z. B. ein Fälscher von Lutherhand- schriften uns ein im 17. Jahrhundert gedrucktes Buch an- bietet, das eine Widmung von Luthers Hand enthält, so wssen wir bestimmt, daß eine Fälschung vorliegt. Ebenso ist es ganz unmöglich, daß eine so weit jüngere Sprachentwick- lung die Handschrift der weit älteren anatomischen Entwick- lung trage. Dieses Unmögliche hat Geiger für möglich ge- halten. Da wird es uns nicht überraschen, daß er mit der gleichen Überschätzung etymologischer Forschungen sofort von Gesetzen spricht, wo nur Möghchkeiten vorliegen. Auch Geiger ist zu freigebig mit dem Begriffe Gesetz. Als Beispiel mag seine geistreiche Darlegung der Begriffe gelten, die mit den Worten magister, senior usw. zusammenhängen. Es ist bekannt, daß das latemische Wort magister (unser „Meister") schon im Lateinischen einen Vorgesetzten, einen Kenner und dergleichen bedeutet. Bekannt sind die romanischen Formen maestro, maitre. Interessant ist es, daß das semitische Wort rab ebenso Lehrer und Herr bedeuten kann. Rabbi heißt mitunter im Koran und geradezu bei den Kabylen so viel wie Gott. Es ist nun der Stamm rab in einer semitischen Sprache auch darin einem Stammwort von magister verwandt,

(368 XIV. Ursprang und Geschichte von Vernunft

daß es ein Korrelativwort ist und im Gegensatze zu dem Jüngeren den Älteren bedeutet. Ebensolche Korrelative scheinen magister und minister gewesen zu sein und ebenso wie major und minor den älteren und den jüngeren Bruder bezeichnet zu haben. In historischer Zeit ist aus major ganz gewiß die Gruppe von Worten entstanden, welche in Haus- meier, in maire, in Major nicht mehr das höhere Alter, sondern das Verhältnis des Vorgesetzten bezeichnen. Und als in den romanischen Sprachen der neue Komparativ senior für major aufkam, bezeichnete auch das neue Wort den Herrn in signore, seigneur, sire, bis es in sir und monsieur zur höflichen An- rede abgeschwächt wurde. Geiger macht nun sehr zierlich darauf aufmerksam, wie sich im Chinesischen nicht nur der gleiche Begrifiswandel vollzieht, sondern daß da sogar der Komparativ in ganz ähnlicher Weise gebildet wird wie im Neufranzösischen. Dieses hat, weil die älteren Bezeichnungen major und senior schon anderweitig besetzt waren, für den Begriff des älteren Bruders den neuen Komparativ aine, das heißt antenatus, der Vorgeborene, gebildet; der Korrelativ- begriff puine, postnatus, der Nachgeborene, war ebenfalls vorhanden. Vollkommen gleich gebildet sind im Chinesischen sian-seng und heu-seng; sian-seng, der Vorgeborene entspricht im Chinesischen der französischen Anrede monsieur (mon seigneur, mon senior, mein älterer Bruder). Nun ist es sicher- lich in Verbindung mit diesen Tatsachen merkwürdig zu er- fahren, daß manche Sprachen auf das Verhältnis des Vor- geborenen zum Nachgeborenen Gewicht genug legen, um für die Begriffe älterer Bruder und jüngerer Bruder bestimmtere Wörter zu bilden als für den Begrifi Bruder allein. Aber hier schon muß ich bemerken, daß wohl zu unterscheiden ist zwischen der Etymologie und dem Sprachgefühl. Wir brauchen nicht erst zu mongolischen Sprachen zu flüchten, um zu sehen, wie z. B. der allgemeinere BegrifE Bruder aus den Spezial- begriffen älterer und jüngerer Bruder entsteht. Wir haben einen ähnlichen Fall im Französischen bei der Hand, das für unser geläufiges Geschwister nur die Umschreibung frere et soeur besitzt. Fehlt aber darum dem Franzosen unser Begriff

„major" und „minor" QßQ

„Geschwister"? Doch ebensowenig wie er den Deutschen in jener Zeit fehlte, als das mittelhochdeutsche Wort Ge- schwister aus dem althochdeutschen giswester entstand, das noch eine Mehrzahl von Schwester war. Man kann in solchen Dingen nicht scharf genug zwischen gelehrter Etymologie und unbewußtem Sprachgefühl unterscheiden. Bei Homer findet sich einigemal das Wort r,v)3'.o? , welches die Anrede des jüngeren Bruders an den älteren ist, welches aber (Odyssee 14, 147) wohl gemütlich gebraucht wird, so daß es vielleicht richtig wie unser „Alter", „Alterchen" gebraucht worden sein kann. Und unser Alter, Alterchen, in welchem der Begriff des Alters doch ohne jede Etymologie zutage liegt, ist für das Sprachgefühl doch häufig nur eine trauliche Ansprache. Die ganze Untersuchung wird gekrönt durch die Heranziehung der Worte Jünger und Herr. Es wurde der magister zum maitre oder Lehrer, es wurde der Jüngere zum Jünger oder Schüler. Es ist ganz gut möglich, daß Herr unserem hehr entspricht und ein Komparativ für hoch ist, wie denn in einer alten Benediktusregel senior suus mit heriro siner über- setzt wird. Der Vollständigkeit wegen sei noch die Ent- stehung von Priester aus presb}i;er (der Ältere) erwähnt.

Wir genießen mit Geiger den feinen Reiz solcher ety- znfaii>- mologischen Belustigungen; aber das Gesetz, welches Geiger .ß^g"J^^^ dahinter sucht und welches er freilich selbst nicht zu formu- lieren vermag, können wir nicht erblicken. In jedem einzelnen Falle waltet der Zufall über dem Begriff swaudel. Wir -wissen noch, wie der Zufall, welcher Sieg des Christentums über Deutschland heißt, das Wort Jünger im Sinne von Schüler gebracht hat. Wir wissen noch, wie die lateinischen Worte magister und major fertig in die romanischen Sprachen kamen, wir wissen wiederum, wie auf anderem Wege das griechische Wort presbyter nach Deutschland kam. W^elche Zufälügkeiten aber in China, in Griechenland und in Italien den Bogrijßfs- wandel von alt zu Herr usw. bestimmten, welche Zufälligkeiten vielleicht zur Übersetzung aus einer Sprache in die andere verleiteten, das wissen wir nicht. Man könnte entgegenlialten. daß die Menge der gleichartigen Erscheinungen den Zufall

670 XIV. Ursprung und Geschichte von Vernunft

auszuschließen scheine. Man könnte behaupten, daß aus einer solchen vereinzelten Wortgruppe zwar kein Gesetz zu ab- strahieren sei, daß man aber doch staunend vor einer Er- scheinung stehe, die auf die ursprüngliche geistige Einheit des Menschengeschlechts hinweise. Geiger hat diese unklare Vor- stellung ausgesprochen (I, S. 322). Und ich fürchte beinahe mißverstanden zu werden, wenn ich auch hier lachend er- widere, daß diese geistige Einheit doch nur in einer Ein- heitlichkeit der Zufallssinne und in einer Einheitlichkeit der natürhchen Verhältnisse zwischen den Menschen bestehen kann. Diese wirkliche Einheit hat die Menschen nicht ver- hindert, in den allermeisten Fällen ihre Begrifie oder Worte auf verschiedenem Wege zu bilden. Findet man nun endlich ausnahmsweise einen Begriff, der bei einigen Völkern eine ähnliche Entwicklung hatte, so sollte man billig weniger über diese Ähnlichkeit staunen als über das seltene Vorkommen solcher Fälle.

Trotz aller Überschätzung der Etymologie dämmert aber auch bei Geiger mitunter die Wahrheit auf, daß wie ich es oben bildlich sagte eine Lutherhandschrift in einem Buche aus dem 17. Jahrhundert nicht echt sein könne, daß die vor- geschichtliche Kultur der Menschheit nicht aus historischen Sprachformen, daß die alte Entwicklung der Vernunft nicht aus der jüngeren Sprache erschlossen werden könne.

Vernunft etwas

Wer es unternähme, uneingedenk der Unlösbarkeit der Ge- Aufgabe, eine Geschichte der menschlichen Vernunft zu wordenes gcJireiben, hätte sich wohl die revolutionärste Aufgabe ge- stellt, die die Vernunft sich überhaupt stellen kann. Nahm doch die größte Revolution, von welcher wir bislang wissen, die große französische Revolution, die Vernunft noch als etwas Gegebenes, als etwas Dauerhaftes, ja sogar als eine Göttin. Die französische Revolution wollte noch den Lauf der Welt nach den bleibenden Gesetzen der Vernunft regeln. Jetzt handelt es sich darum, die Vernunft als etwas Gewordenes zu begreifen, als etwas, was eine Geschichte gehabt hat, eine

Venninft etwas Gewordenes ß71

zufällige und zufallsreiche Geschichte noch dazu. Eine wirk- liche Geschichte der Vernunft müßte eine Geschichte des menschlichen Gehirns zur Voraussetzung haben. Diese Ge- schichte zu schreiben, geht aber wohl über Menschenkraft. Wir kennen die Geschichte der Dampfmaschinen und anderer künstlicher Werkzeuge recht genau, weil die verschiedenen seit hundert Jahren gebrauchten Modelle noch zur Vergleichung bereit liegen. Jede Verbesserung seit der ersten Dampf- maschine bis zu den heutigen ist übrigens mit Bewußtsein gemacht worden, und vielfach besit.'?en wir sogar darüber die Gedanken der Erfinder. Bewußt waren auch die Verbesse- rungen, welche an älteren Werkzeugen vorgenommen worden sind. Trotzdem, und trotzdem wir z. B. von der Schere oder dem Messer unzählige alte und neue Modelle besitzen, wäre eine lückenlose Geschichte des Messers oder der Schere schon nicht möglich.

Die organischen Werkzeuge der Tiere und des Menschen .^.bstrak- sind nun im Laufe der Jahrtausende ebenfalls verbessert worden. Weil aber die Verbesserungen erstens unmerklich und zweitens unbewußt geschahen, und weil wir nur unter besonders glück- lichen Umständen die verschiedenen aufeinanderfolgenden Modelle auch vergleichen können, ist eine solche Geschichte organischer Werkzeuge des Menschen ein armseüges Ding. Wie ein Schüler von der Weltgeschichte nur ein paar Namen und Zahlen weiß, so auch der modernste Biologe von der Geschichte des Auges z. B. nur ein paar wichtige Stationen. Den wirklichen, das heißt zufälligen Weg kennen wir nicht. Wir wissen eigentlich nur, daß das Sehorgan bei einigen Tieren so, bei anderen so aussieht, und können von einer „Entwick- lung" zum menschlichen Auge nur sehr ungenau sprechen. Vollends von der Geschichte des Auges seit der Zeit, daß es ein menschliches Auge gibt, bis zur Gegenwart wissen wir fast nichts; ja selbst der Gedanke ist noch ziemlich neu, daß das menschliche Auge selbst wieder eine Geschichte habe. ) Wie wir trotzdem zu etwas wie einer Geschichte der Vernunft gelangen können, das werden wir begreifen, wenn wir den Unterschied zwischen dem wirklichen StofF und der

672 XIV. Ursprung und Geschichte von Vernunfr

Abstraktion in anderen Verhältnissen betrachten. Wir reden ja auch von einer Geschichte der Malerei, und es fällt uns dabei kaum ein, daß es in der weiten AVeit der Wirklichkeiten etwas wie Malerei gar nicht gebe, daß es nur Farben und Linien gebe, welche sich da und dort in unserem Gehirn zu Malereien verbinden. Wirklich sind in letzter Instanz nur die Naturerscheinungen, welche für unser Auge zu Ursachen der Farben und Linien werden. Die einzelnen Malereien oder Bilder sind künstlerische Gehirntätigkeiten der Maler und wecken im Gehirn des empfänglichen Beschauers die Vor- stellungen ähnlicher Bilder. Alles andere, die Malerepochen, die Stile, die Moden sind Einteilungsgründe, Artbegrifie, Ähnlichkeitsgruppen und andere Abstraktionen der Art. Mit Hilfe dieser Abstraktionen, die wir dann eine Geschichte der Malerei nennen, ordnen wir unsere Übersicht über die Malereien und gewinnen so einen Beitrag zur Geschichte des menschlichen Auges und damit einen kleinen feinen Beitrag zur Geschichte des menschlichen Gehirns oder der Vernunft. ^^' Wie sich die Malerei zu den einzelnen Malereien verhält,

schichte tn i i

der SO die Abstraktion Vernunft zu den einzelnen Denkakten. Vernunft -^yjq ^jj einen Überblick über die Menge der Bilder eine Ge-

oder . . . ,

Sprache schichte der Malerei nennen, so könnten wir einen geordneten Überblick über die seit der Entstehung der Vernunft bis heute vollzogenen Denkakte eine Geschichte der Vernunft nennen. Wir haben nun die Überzeugung gewonnen, daß Denken und Sprechen identisch ist. Eine Geschichte der Vernunft wird also identisch sein mit einer Geschichte der Sprache, eine Ge- schichte der Sprache wird einen Hauptteil ausmachen in der idealen Geschichte des Gehirns.

Die Entwicklungsgeschichte des Gehirns bis zum mensch- lichen Gehirn hinauf ist gewissermaßen nur die Paläontologie, wie die Geschichte des Auges von dem lichtempfindenden Hautfleck an nur die Paläontologie des Menschenauges ist. Die neuere Gesell ichte des Menschenauges, ich meine die Ge- schichte der letzten so und so viel hunderttausend Jahre, die Geschichte des Auges, seitdem es Menschenauge ist, ist auch mit dem tüchtigsten Mikroskope nicht zu enträtseln ; wir erschließen

Geschichte von Vernunft oder Spracl.e 673

einzelne Beiträge zu dieser Geschichte aus den nachweisbaren Sehakten, die freiUch wieder mir an Farbenbezeichnungen und ähnlichen AVorten nachweisbar sind. So wären allerdings Beiträge zu einer iieueren Geschichte der Vernunft nur aus einer Geschichte der Sprache zu erschließen. Und da wir unsere Sprachen mit einiger Sicherheit nur um ein- bis zwei- tausend Jahre zurück verfolgen können, mit aller Phantasie und Unsicherheit höchstens drei bis vier Jahrtausende, so sind Beiträge für eine Geschichte selbst der neueren Vernunft nur für die allerneueste Zeit zu erbringen.

Es gewährt ja einen geistigen Genuß, die Sprache so und so zu definieren und dann logisch zu schließen, daß die Menschen, als sie zu sprechen anfingen, sofort nach dieser Definition im Besitze dieser oder jener geistigen Eigenschaften gewesen sein müssen. Es ist das aber die reinste Wortspielerei. Auch das Wort Sprache ist eine leere Abstraktion, bei welcher wir an die gegenwärtige Sprache denken. Bereits das Sprach- gefühl Homers, also einer Zeit, die nur wenige Generationen vor unserer Gegenwart liegt, ist uns viel fremder, als unsere Übersetzungen vermuten lassen. Und das ist die Sprache von gestern. Von der Sprache, wie sie vor hunderttausend Jahren etwa war, können wir uns auch nicht entfernt ein Bild machen. Über den Ursprung der Sprache gar wissen v.-ir nichts Positives. Es wird also schwer halten, die Ge- schichte der Sprache mit ihrem Ursprung, die Geschichte der Vernunft mit ihrem Ursprung zu beginnen. Nur falsche Vorstellungen können wir berichtigen und insbesondere der uralten, längst widerlegten und doch überall heimlich wieder- kehrenden Anschauung entgegentreten, als ob die Sprache eine Schöpfung der Vernunft, also jünger als die Vernunft sei.

Da Geiger sich durch die Worte täuschen ließ und Sprache Verbui und Vernunft für verschiedene Begrifie hielt, da er ferner deutlich erkannte, wie die Sprache ohne Vernunfttätigkeit, ganz unbewußt und aus tierähnlichen Anfängen ihren Ur- sprung nahm, so mußte er geneigt sein, die Sprache der Ver- nunft zeitlich voraus zu stellen. Mit Bildern ist freilich nicht viel bewiesen, ich möchte aber sagen, daß Geiger eigentlich

Mautliuer, Beitrage zu eiuer Kritik iler Sprache. II 43

oder Nomeu

674 XIV. Ursprung und Geschichte von Vernunft

das Verbum mit dem Nomen in Gegensatz brachte. Er ahnte schon, daß die Sprache eine Abstraktion ist, daß es in der Wirklichkeitswelt nur ein Sprechen gibt, die nach Zeit und Ort wirkliche Betätigung der Individualsprache eines mensch- lichen Individuums. Diese Sprachtätigkeit setzte er zeitlich vor die Vernunft, weil er die Vernunft weniger deutlich als eine Abstraktion erkannte, weil er nicht deutlich sah, daß es auch da nur eine nach Zeit und Ort wirkliche Vernunft- tätigkeit gibt, ein individuelles momentanes Denken. Es ist beinahe so, als wenn jemand der Tätigkeit einer Spinn- maschine zuschauen und nun zwischen ihrem Gespinst als Verbum und ihrem Gespinst als Produkt des Spinnens unter- scheiden wollte. Gewiß kann man das mit Worten, in der Sprache, in der Vorstellung, so gewiß wie wir in unserem W^ortschatze die beiden Begriffe Sprache und Vernunft getrennt haben. Aber in der Wirklichkeitswelt gibt es nur e i n Ge- spinst, welches wir willkürlich entweder als etwas Werdendes, das heißt als Verbum, oder als Gewordenes, das heißt als Nomen auffassen. Nur freihch, daß die Spinnmaschine ein totes Werkzeug, das Gehirn jedoch ein organisches Werkzeug ist, daß wir darum also wohlgemerkt beim Denken oder Sprechen das organische Werkzeug an Kraft oder Übung oder Gewohnheit gewinnen sehen und daß wir diese Kraft oder Übung oder Gewohnheit, das heißt eben das Unbegreif- liche am Organismus, bei dem Worte Vernunft, also bei dem Nomen, welches eigentlich nur das Produkt ausdrückt, mit verstehen. Bei der Spinnmaschine verlegen wir diese geistige Kraft mit Recht in den Erfinder zurück. Bei der organischen Maschine trennen wir m unserer Abstraktion die Tätigkeit in zwei Begrifie, gewissermaßen in das wirkliche Tun und in die uns unbekannte Ursache des Tuns. Die alte Sprachsünde, die Personifikation, mischt sich ein, und wir suchen hinter dem Tun den Täter. Tiere Auf diesem Gebiete ist es noch handgreiflicher als sonst,

daß die geltenden Anschauungen an veraltete Begriffe ge- knüpft sind, daß darum also die geltenden Anschauungen selbst in ihrer Darstellung veraltet sein müssen. Man erinnere

Tiere 575

sich nur, daß noch Descartes die Tiere im Gegensatz zu den beseelten Menschen für Automaten erklärte, mit der ganzen Ängstlichkeit eines schlechten Gewissens freilich, aber doch so, daß seine Lehre nach heutigem Sprachgebrauch besagen müßte: es seien die Tiere gar keine Organismen, sondern tote Maschinen. Davon ist jetzt nicht mehr die Rede , weil die vergleichende Anatomie und Physiologie zu viel Übereinstim- mungen zwischen Mensch und Tier nachgewiesen hat. Der heutige Unterschied des menschlichen Sprachgebrauchs (fres- sen und essen, verrecken und sterben) ist zu einer bloßen Etikettenfrage geworden, so wie heutzutage die Menschen zwar vor dem Gesetze gleich sind, aber in Anrede und Brief- aufschriften nach Rang und Titel unterschieden werden. An Seine Hochwohlgeboren den Herrn von so und so, an den Schriftsetzer so und so. Der Mensch ißt, von einem Koche be- dient, der Mensch stirbt, von einem Priester bedient, das Tier frißt und stirbt frei. Wir wissen, daß das nur Etiketten- fragen sind, und schieben der Verdauung des Menschen kein höheres Prinzip unter, auch wenn er TrüfEelpastete und Cham- pagner verdaut.

Aber wir schieben den menschhchen Leistungen ein höheres Prinzip unter, wo es sich um die sogenannte Seele handelt. Der Priester predigt den Artunterschied, der gebildete Laie staunt über die Intelligenz der Tiere und weiß nicht, wie arrogant sein Staunen ist, und die Wissenschaft läßt uns im Stich. Da ist zunächst der Unterschied zwischen Instinkt und Überlegung. Das Tier frißt und hat Instinkt, der Mensch ißt und überlegt. Ich habe für den menschhchen Gegensatz zum tierischen Instinkt eben das Wort Überlegung gebraucht. weil unsere Zeitungen, wenn sie staunenswerte Tiergeschichten bringen, gewöhnlich die Frage „Instinkt oder Überlegung?" stellen. Sie haben dabei keine böse Absicht; aber es ist beach- tenswert, vielleicht ein Instinkt der menschhchen Eitelkeit, daß sie von den menschlichen Geistestätigkeiten gerade die höchste, die bewußte Überlegung, dem angebhchen Instinkte entgegen- stellen. Würden sie fragen „Instinkt oder Verstand?", so würde kein Mensch zögern, den Tieren Verstand zuzusprechen.

676 XIV. Ursprung und Geschichte von Veriaunft

Verstand |jj^f[ (j^ stehen wir wieder vor dem Gegensatz zweier Vernunft anderer Worte, in deren Gebrauch die modernen Sprachen zu keiner Festigkeit gelangen können. Es ist fast unmöglich, ohne vorausgehende Definition und ohne Anlehnung an den individuellen Sprachgebrauch eines bestimmten Philosophen über diese Dingo zu reden, so banal alle Ausdrücke auch sind. Am schärfsten scheint mir Schopenhauer zwischen Verstand und Vernunft unterschieden zu haben, am schönsten im zweiten Band seiner „Welt als Wille und Vorstellung", Kapitel 6 und 7. Ich möchte seine Definition (denn es handelt sich nicht um eine Sacherklärung, es handelt sich nur um eine Wort- erklärung, um Feststellung des eigenen Sprachgebrauchs) ein wenig ändern. Er nennt den Verstand das „Vermögen" der anschaulichen Vorstellungen , die Vernunft das „Ver- mögen" der abstrakten Vorstellungen. Es scheint ihm also Verstand die Benützung anschaulicher , Vernunft die Be- nützung abstrakter Vorstellungen oder Erkenntnisse. Ich glaube aber, wir können uns weit realistischer ausdrücken, wenn wir sagen: unter Verstand verstehen wir die Benützung unmittelbarer, gegenwärtiger Erkenntnis der Außenwelt, unter Vernunft verstehen wir die Benützung mittelbarer Er- kenntnis der Außenwelt, das heißt unserer Erinnerung, wie sie in unserem Denken oder in unserer Sprache aufbewahrt ist. Diese Definition, die in der Sache besser ist als in der Sprache, paßt vorzügHch auf die Unterscheidungen, die wir zwischen dem Seelenleben der Tiere und der Menschen zu machen genötigt sind. Die geistige Arbeitsleistung der win- zigen Ameise z. B. übertrifft bei weitem (im Verhältnis zu dem Gewichte der Gehirne) die des Menschen, an Willenskraft sowohl als an Planmäßigkeit. Trotzdem ist in der Leistung der Ameise, für menschhche Beobachter wenigstens, etwas Gleichmäßiges, was eben zu dem Aufkommen des Wortes Instinkt geführt hat. An der Hand unserer Wortdefinition können wir sagen, daß der Verstand der Ameise von dem des Menschen kaum verschieden sei; die anschauüche, unmittel- bare, gegenwärtige Erkenntnis läßt eine oder mehrere Ameisen ein Holzstück ebenso klug und geschickt anfassen, wie es

Verstand und Vernunft (377

Zimmerleute mit einem Balken tun. Die Vernunft der Ameise, oder da man bei Ameisen vöLkerpsychologisch reden mui3, die Vernunft der Ameisen ist aber darin von der Vernunft begabter Menschenindividuen unterschieden, daß die ab- strakte, mittelbare Erkenntnis der Außenwelt, daß die Er- innerung der Ameisen verhältnismäßig stationär geblieben ist, daß die Ameisen, soweit wir Menschen es beurteilen können, von Generation zu Generation und auch im Laufe eines Einzel- lebens nicht viel hinzuzulernen scheinen. Damit dürfte auch ein helles Licht fallen auf die Frage nach der Sprache der Ameisen und anderer geselliger Tiere. Die Erinnerungen einer Tiergattung sind, wenn wir nach uns Menschen urteilen dürfen, in Sprache aufgespeichert. Bei den Menschen aber, deren abstrakte, mittelbare Erkenntnis, das heißt deren Erinnerung sich im Laufe eines Einzellebens erstaunlich entwickelt und so von Generation zu Generation wächst, konnte und mußte sie sich darum im Laufe der Jahrtausende zu dem gegen- wärtigen Sprachschatz entwickeln. Der Sprache der Tiere fehlt die Entwicklung. Wir müssen uns darum die Sprache der Ameisen (eine Verständigung unter ihnen gibt es ohne Zweifel) gar nicht nach Art der Menschensprache vorstellen. Noch deuthcher wird die Rolle der Sprache, wenn wir an den Gegensatz von Verstand und Vernunft denken. Wenn der Hund über einen Graben springt, so hat er dazu sehr viel Verstand nötig. Nicht sein Auge , sondern sein Verstand nimmt den Graben wahr, sein Verstand läßt ihn die Ent- fernung von einem Grabenrande zum anderen gemai ab- schätzen, sein Verstand läßt ihn seine Muskeln so weit spannen, daß er mit dem geringsten Kräfteaufwand gerade noch über den Graben kommt. Wenn ein kleiner Junge über denselben Graben springt, so ist die Verstandestätigkeit, so weit ich auch umherbUcke, doch nur dieselbe. Ein Unterschied könnte sich dann ergeben, wenn zwischen den beiden Rändern nicht ein niedriger Graben läge, sondern ein hundert Meter tiefer Abgrund. Dann wird der Hund die Außenwelt nach seiner Erfahrung falsch beurteilen und den Sprung ebenso unbe- fangen wagen; beim Menschen wird die größere Erfahrung,

Ö78 XIV. Ursprung und Geschichte von Vernunft

also die Vernunft hinzutreten und ihn ängsthch machen. Doch die wohlbekannte Tätigkeit der Vernunft wird beim Abschätzen von Entfernungen erst da anfangen, wo der Mensch mit Maßen und Zahlen rechnen muß. Der Hund scharrt sich höchstens unter dem Zaun einen Tunnel, wenn er anders nicht zur Hündin gelangen kann; das gehört zu den Tätigkeiten des Verstandes. Das menschliche Paar auf seiner Hochzeitsreise benutzt den Gotthardtunnel, mid um den auszuscharren war Vernunft nötig. Auch um über den Ab- grund imr einen Balken von der richtigen Länge zu legen, auch dazu ist Vernunft nötig, bewußte Überlegung. Die Ver- nunft besteht darin, daß die Meterzahl ziffermäßig verglichen wird, daß die Länge und die Festigkeit des Balkens aus der Erinnerung auftauchen, daß sich der Mensch in der ihn um- gebenden Welt mit Hilfe von Begriffen oder Worten zurecht- findet.

Wenn wir sehen und gehen, so schätzen wir unbewußt Distanzen ab, wie auch der Löwe so gut wie die Seenelke beim Springen und Greifen nach der Beute Distanzen kennen oder verhungern muß. Nun ist darin das Tier dem Menschen überlegen, es irrt nicht so oft. Ein Jäger mit seinem Hund verfolgt einen Wilddieb. Der Wilddieb, der in Todesangst das Visier aufblitzen sieht, setzt über einen Wassergraben, trifft die Distanz a peu pres und stolpert drüben weiter, nach- dem er hingestürzt ist. Der Jäger, der nur sein Brot verdienen will, irrt sich und plumpst in den Graben. Der Hund nur setzt sicher und elegant hinüber.

Schopenhauers Distinktion läuft darauf hinaus, daß die Vernunft ein Denken in Begriffen sei, während der Verstand intuitive Erkenntnis biete. Da wir aber Begriffe und Worte nicht für etwas Verschiedenes zu halten vermögen, so können wir in dieser ganzen Untersuchung Schopenhauers für das Wort Vernunft das Wort Sprache einsetzen und werden dann freilich zu dem banalen Satz gelangen, daß der Mensch sich vom Tiere durch die Sprache unterscheide. Die Scholastiker (Schopenhauer zitiert auch noch Picus de Mirandula, den er mit Unrecht einen Scholastiker nennt) waren gar nicht so

Verstand und Vernunft 679

dumm, als sie dem Menschen bloß Vernunft oder diskursives Denken zuschrieben, den Verstand aber, das intuitive Denken, dem lieben Gott und den guten Engeln überließen. Für uns ist es aber nicht ohne Humor, daß man die Vernunft das diskursive Denken genannt hat und wohl heute noch so nennt ; denn es liegt darin ein unfreiwilhges Eingeständnis, daß ein vernünftiges Denken ohne Diskurs, ohne Rede nicht mög- lich sei.

Es ist wahrhaftig kein Zufall, daß die verwegenste Frage Vernunft der Erkenntnistheorie, die Frage nach der historischen Ent- g'^rache stehung des Werkzeugs, das wir unsere Vernunft nennen, auf allen Wegen zu der anderen Frage führt : wie unterscheidet sich der Mensch vom Tiere? So wie wir eine Entwicklung der Menschenart aus tierischen Arten annehmen, können wir nicht anders als nach der Entwicklung seines Gehirns und dessen Tätigkeit, der Vernunft, forschen, so wie wir auch die Entwicklung des menschhchen Auges und Ohres, der mensch- lichen Hand und der menschlichen Placenta zu erforschen suchen. Den feineren Untersuchungen stellt sich jedoch die bekannte Schwierigkeit entgegen. Für die grobe, makro- skopische Entwicklungsgeschichte des Menschenhirns aus dem Tiergehirn gibt es vergleichende Sammlungen und vergleichende Messungen. Für die Leistungen des Werkzeugs aber versagt das Forschungsmaterial, weil wir die Menschensprache mit keiner Tiersprache vergleichen können, da wir doch von den Tieren höchstens Laute, aber keine begriffbildenden Laute kennen. Wir sind also darauf angewiesen, die Leistungen des jüngsten Menschengehirns so weit wie möglich zurückzu ver- folgen und zu sehen, ob es möglich sein wird, die in der Men- schensprache aufbewahrten Vorstellungen an Tiervorstel- lungen anzuknüpfen. Der erste, welcher mit einiger Zurück- haltung, aber doch mit vollem Bewußtsein, die ^lenschen- sprache so angeschaut hat, war eben Lazarus Geiger. Er schöpfte schon aus der Vergleichung des vorliegenden Sprach- materials die Vermutung, daß die Begriffe ursprünglich auf

680 XIV. Ursprang und Geschichte von Vernunft

einer Stufe geringerer Unterscheidungsfähigkeit in der Mensch- heit entstanden seien. Läßt sich dieses natürHche Verhältnis zwischen den Worten und ihrer Bedeutung schon in historischer Zeit nachweisen, so ist (im Gegensatze zu Kants Kjritik der apriorischen Vernunft) eine empirische Kritik der in der Sprache aufgesammelten Vernunft möglich, so läßt sich auch für die Vorzeit der Grundsatz aufstellen : es kann nie- mals in den Worten mehr Vernunft zum Aus- drucke gelangt sein, als jedesmal das die Worte verwendende Geschlecht besaß. Das ist das vortrefEliche Aper9u Lazarus Geigers, das er selbst nur in dem Inhaltsverzeichnis zum ersten Buche seiner Schrift zu der trotzigen Unwahrheit übertrieben hat: „Nicht die Vernunft hat die Sprache verursacht, sondern umgekehrt." Wir haben oben bereits gesehen, wie er zu dieser Verwechslung kam. Jetzt sehen wir, wie sein Glaube an die Abstraktionen Sprache und Vernunft ihn auch an seine Verwechslung glauben lassen konnte. Er bemerkte ungenau, daß der Fortschritt der menschhchen Beobachtungen hinter der Entwicklung der Sprache immer einen Schritt zurückbleibt, daß die neuen Erkenntnisse sich jedesmal an den alten Worten emporranken, und hielt darum die Worte für etwas den Begriffen Voraus- gehendes, also für ihre Ursache. Er sah das letzte nicht: daß nämhch dem Schwankenden, dem überall und allezeit Veralteten, dem ä peu pres der Worte das Schwankende, das immer Unfertige, das ä peu pres der Begriffe entspricht, daß also im Unzulänglichen Sprache und Vernunft erst recht zu- sammenfallen können. Etymo- Geiger hat einen bewundernswerten Fleiß aufgewendet.

Möglich^- ^'^ ^^^ Hilfe der Etymologie nachzuweisen, daß eine große keiten Anzahl von Bezeichnungen für verhältnismäßig späte mensch- liche Begriffe (für Werkzeuge, Waffen, Geräte, Kunsttätig- keiten, also für Vorstellungen, Avelche nicht in die letzte Urzeit der Menschen hinabreichen können) auf eine Sprach- epoche zurückgeht , in welcher der Mensch sich noch nicht allzusehr vom Tiere zu unterscheiden brauchte. Sein Fleiß war vergeblich. Mit den Mitteln der gesicherten Etymologie

Etymologische Möglichkeiten (381

kann er nur die Entwicklung der historischen Zeit beleuchten, nicht aber den dunklen Abgrund der Vorzeit. Dennoch sind Geigers Beispiele sehr beachtenswert, weil sie für die histo- rische Zeit bereits die Tendenz der Sprache beweisen, mit den einfachsten Vorstellungen zu beginnen, und unsere Phan- tasie dadurch in den Stand gesetzt wird, den Ursprung der Sprache oder Vernunft vorzastelleii. Der Gegensatz von Mensch und Tier wird kleiner, wenn wir erfahren, daß die Begrifie Garten, Haus, Gewand, Wagen auf Vorstellungen vielleicht zurückführen, die der Urmensch besitzen Iconnte, bevor er sich eine Wohnung gebaut, bevor er den Begriff des Eigentums entwickelt hatte, bevor er sich bekleidete und bevor er Werkzeuge kannte. Wir sehen im Wagen (im He- bräischen, Griechischen und Lateinischen) den Begriflt des Rades, wir sehen, daß der Mensch einen runden Holzblock, eine Walze, einen zufällig rund geformten Stein vielleicht so nannte, und wir bemerken nebenbei mit Vergnügen, daß das alberne Bild vom Sonnen wagen vielleicht daher kommt, daß der Begriff Sonnen r a d allmähhch die Bedeutung Wagen mit übernahm. Die etymologische Zurückführung solcher Ausdrücke könnte, wenn sie vollständig und gesichert wäre, wirklich Körnchen an Körnchen hinzufügen, so daß man nicht sagen könnte, wo das Häuflein Tierverstand aufhört und der Haufe Menschenverstand beginnt. Geigers Beispiele zeigen wahrscheinlich in keinem einzigen Falle, wie das Won entstanden ist; aber sie zeigen die Möglichkeiten der Ent- stehung. Wenn wir alte Worte für Messer, Schere, Nadel finden, so entsteht zunächst die Frage, wie man denn ein Messer, eine Schere, eine Nadel erfinden konnte, wenn man nicht vorher die Verstellung oder die Absicht zu schneiden oder zu nähen hatte? Besaß man aber die Begrifie des Schnei- dens oder Nähens, so mußte man doch vorher die Tätigkeit kennen, also die Werkzeuge besitzen. Geiger sucht sehr hübsch nachzuweisen, daß diese Bedeutungen den Wörtern nicht ursprünghch sind, daß sie vielmehr vorher eine ähnhche, aber ohne Werkzeug zustande kommende Wirkung bezeichnen konnten. Es brauchte also das \\'erkzeug nicht ersonnen

682 XIV. Ursprung und Geschichte von Vernunft

zu werden. Es brauchte nur ein zufälliges Reißen einen Namen zu bekommen und im Laufe der Entwicklung der Name auf ein kunstgemäßeres Schneiden überzugehen. Es bleibt dann für Schneiden und Nähen die auch den Tieren wohl- bekannte Vorstellung vom Trennen und Verbinden übrig, imd insbesondere für das Trennen wären die tierischen Vor- stellungen vom Wühlen, Scharren, Nagen usw. bei der Hand. Es ist natürlich Phantasie, wenn man die Worte etymologisch so weit zurückführen will. Aber bei neueren Werkzeugen geUngt dies bisweilen, wie z. B. die Schere, welche jetzt zwei gegeneinander wirkende Messer mit einem bequemen Hand- griffe bedeutet (im Französischen Mehrzahl, im Sanskrit Dual), ursprünghch ein Schermesser oder Schabemesser bedeutete. Das Y\^ort für „scheren'" scheint aber wieder auf eine ältere Gewohnheit der Wollgewinnung, auf das „Rupfen" der Schafe zurückzuführen, so daß unser elegantes Werkzeug seinen Namen von einer wenig vernünftigen Tätigkeit besäße. ,flechteu" Noch näher zum Tiermenschen scheint Geiger zu gelangen, wenn er die Worte für die Kunst des Webens etymologisch auf ihre Uranfänge und auf die ältesten Ausdrücke zurück- zuführen sucht. Es gehngt ihm mit den Mitteln einer dichte- rischen Etymologie das verblüfiende Ergebnis, daß im He- bräischen wie im Griechischen die Urworte für flechten (was doch immer dem Weben zugrunde liegt) und für „bilden", das Figurenbilden aus Ton nämhch, identisch sind. Es soll das Figurenbilden mit dem Worte ausgedrückt worden sein, welches zugleich „sich beschmieren", „im Schlamme wühlen", „plantschen" bedeutete. Geiger begnügt sich nämlich nicht damit, das Weben auf Flechten zurückzuführen und das Flechten auf das einfache Geflecht von Pflanzenzweigen. Wenn der Ursprung der Sprache und Vernunft unmittelbar beim Tiere anknüpfen soll, so muß ein Unterschied gemacht werden zwischen den trennenden Tätigkeiten, welche auch das Tier schon kennt (schneiden = zerreißen) und den verbindenden, welche bei den Menschen schon eine Art Kunsttätigkeit vor- aussetzen sollen, iin die Kunsttätigkeit der Spinnen und der nestbauenden Vögel scheint Geiger nicht als an ähnUche

„flechten" 683

Leistungen gedacht zu haben. Er verfolgt darum die so- genannten Wurzehi des Begrifies „flechten" zurück bis zu einer Zeit, wo das natürliche Gewirre von Zweigen und ebenso das natürliche oder unbewußte Durcheinanderflechten des tierischen und menschlichen Haares ungenau unter dem gleichen Begriffe verstanden wurde. Mit noch kühnerer Phantasie kommt er dann dazu, das flechtende Verbinden von Holzteilen und das Figurenbilden aus Holz etymologisch zu verbinden und, wie gesagt, auf ein tierisches Wühlen in halbnassen Stoffen zurückzuführen.

Alle diese etymologischen Versuche betreffen die Geschichte niJi'»"" der Vernunft insofern, als immerhin komplizierte Vorstellungen von Werkzeugen und Tätigkeiten bis auf Begriffe zurück- geführt werden, die noch nichts besonders Menschüches an sich hatten. Viel weiter kämen wir natürlich, wenn es uns ge- länge, an der Sprache nachzuweisen, daß auch die Elemente des menschlichen Denkens, daß auch die einfachsten Emp- findungen im Menschengehirn nicht immer die gleichen waren wie heute. Geiger gibt sich (hier und anderswo) unendhche Mühe, einen solchen Fall genau nachzuweisen: daß nämUch der Sprache und der Vorstellung der älteren Völker das Wort und die Empfindung „blau" gefehlt habe.

Mit großer Gelehrsamkeit weist er nach, „daß die vedischen Lieder und nicht minder der Avesta, daß die Bibel, daß der Koran und selbst die homerischen Gedichte der Bläue des Himmels, welche doch in den Heimatländern fast aller dieser Bücher mit ganz besonderem Reize wirkt, trotz überall nahe- liegender und oft dringend gebietender Gelegenheit niemals die entfernteste Erwähnung tun". Uns ist die Gedanken- assoziation von Himmel und blau so geläufig, daß in einem Schüleraufsatze selten das Wort Himmel ohne das Beiwort blau vorkommen dürfte. Jene berühmten alten Schriften jedoch, zu denen sich der weit jüngere Koran aus besonderen Gründen gesellt, nennen nicht nur den Himmel nicht blau, sondern sie haben die Farbenbezeichnung blau auch für irdische Gegenstände nicht. Ich will nun einige Beispiele herausheben. Ähnlich wie im Sanskrit bedeutet das homerische

684 XIV. Ursprung und Geschichte von Vernunft

Wort (-/.oavaoc) weniger blau als schwarz; man muß an Goethes Farbenlehre denken, wenn man sieht, wie diese Bezeichnungen (auch das lateinische caeruleus und das deutsche "blau) mit der Dunkelheit des Eindrucks zusammenhängen. Die Über- einstimmung geht so weit, daß auch in ostasiatischen Sprachen imd in dem europäischen Findling, dem Baskischen, das entsprechende Wort zugleich blau und auch schwärzüch bedeutet. Wir müssen glauben, die ganze alte Menschheit sei iarbenbhnd gewesen, wenn wir lesen, daß in der Odyssee schwarze Haare mit der Hyazinthe verglichen werden und noch Jahrhunderte später die Poeten ein sonnengebräuntes Anthtz mit der Hyazinthe und dem Veilchen vergleichen. Ja selbst noch bei einem Schriftsteller des sechsten Jahrhunderts nach Christi Geburt wird die blaue Farbe als symbolisch für den dunkel wolkigen W^inter dem grünen Frühling, dem roten Sommer und dem weißen Herbste gegenübergestellt. Alle diese Tatsachen müssen uns davon überzeugen, daß die Men- schen der älteren Zeit zum mindesten die Bläue des Himmels und die blaue Farbe überhaupt nicht auffallend genug fanden, um für sie eine deutlich unterschiedene Bezeichnung zu finden. Dagegen ist nun beachtenswert, daß die schwer kontroluer- baren Ägyptologen behaupten, auch in der ägyptischen Sprache (wie im Chinesischen) zerfließe blau in andere Farbenbegriffe, daß aber in den Malereien ägyptischer Tempel der Xacht- himmel mit einem deuthchen und sehr gut erhaltenen Dunkel- blau dargestellt sei. i.v- '"* -^'^^i/ -V)??* ' ^^ Farben Dafür, daß ein Mensch Farben sehen könne, für welche Firb n- ^^^^^ Sprache keine Bezeichnung habe, gibt es aber Beweise, Worte die noch etwas zwingender sind als die aus der ägyptischen Psychologie entnommenen; es sind die Berichte von Reisenden. Mir selbst hat der Photochemiker H. W. Vogel einmal erzählt, daß er auf einer Südseeinsel ein Volk antraf, welches nur \aer Farbenworte in seiner Sprache besaß; als er den Leuten aber eine Farbentafel von sechzig verschiedenen Nuancen vorlegte, konnten sie mit großer Genauigkeit jedes Feld mit dem ent- sprechend gefärbten Täfelchen belegen. Wir sehen daraus, daß die Schlüsse aus der Sprache auf die Tätigkeit der Sinne?-

Farben und Farben\\orte ß85

Organe sehr vorsichtig vollzogen werden müssen. Die Ver- fasser der Veden, des Avesta und der homerischen Gesänge standen an Vollendung ihres Auges schwerhch unter den Eskimos und den Südseeinsulanern und haben die blaue Farbe von der grauen sicherhch unterschieden, wenn sie auch kein Wort für den Unterschied hatten. Eine Beobachtung aus der allerneuesten Sprachgeschichte wird uns vielleicht helfeu, diese Schwierigkeit aufzuklären.

In den letzten zwanzig Jahren sind eine ganze Masse von neuen Farbennuancen Mode geworden, für welche man die Bezeichnungen umsoDst in einem Wörterbuche der deutschen Sprache, umsonst in den Büchern guter Schriftsteller gesucht hätte. In wirkhchem Sprachgebrauch waren sie nur bei ver- kaufenden Laden] ünglingen und kaufenden Damen; es ist ein Nebenumstand , daß dieser gemeinsame Sprachgeist die Worte über Paris erhalten hatte. Creriiefarben oder fraise ecrasee z. B. hieß der so gefärbte Stoff und sonst nichts auf der Welt. Insbesondere die Dichter hätten es als entsetzlich prosaisch und geschmacklos gefunden, die Bezeichnung für eine Modefarbe in ihre Verse aufzunehmen. Darin hat die Schule des Naturalismus in den letzten Jahrzehnten Wandel geschaffen. Ein Jünghng, der von sich reden machen wollte, könnte mit großem Behagen die untere Rückengegend seiner GeHebten, oder die hellen Wolken eines Winterhimmels, oder das glatte Meer bei besonderer Beleuchtung cremefarben nennen, oder die Schamröte fraise ecrasee, wobei nicht zu übersehen ist, daß die meisten Modefarben es noch zu keinem eigentlichen Sprachausdruck gebracht haben, oder daß richtiger die Vergleichung mit einem bestimmten so und so gefärbten Dinge im Sprachbewußtsein noch zu deutlieh ist. Die Metapher ist noch nicht unbewußt, noch nicht Sprache geworden. Ich stelle mir nun vor, daß in alter Zeit die blaue Farbe zu den weniger beachteten Nuancen gehörte, für welche die allgemeine Volkssprache darum kein einfaches Farben- wort besaß und für welche darum die Dichter keinen ge- schmackvollen Ausdruck gebrauchen konnten. Wer den Himmel blau genannt hätte, wäre damals ebenso affektiert

686 XIV. Ursprung und Geschichte von Vernunft

gewesen, wie wer heute cremefarben oder fraise ecrasee schreibt . Abgesehen von den da hineinspielenden Fragen der Mode und des Geschmacks, läge dann der Fall so, daß die alten Dichter sowie die neuen Südseeinsulaner die Nuance blau unter- schieden, wenn ihre Aufmerksamkeit darauf gelenkt wurde, daß über ihre natürliche Aufmerksarnkeit dem Blau nicht galt. (Vgl. dazu: Marty, Geschichtl. Entw. d. Farbensinns.)

Dieser Mangel an Aufmerksamkeit wird sofort zugestanden werden, wenn wir daran erinnern, daß der Regenbogen, doch gewiß eine der auffallendsten, ja verblüffendsten Erscheinungen der ganzen Natur, der Regenbogen, dessen unzähhge Über- gänge wir in sieben Farben einzuteilen pflegen, den euro- päischen und arabischen Gelehrten des Mittelalters nur nach drei Farben geläufig war. Ja selbst wir haben für die siebente Farbe des Regenbogens, für die violette Farbe, heute noch keinen selbständigen Farbenausdruck, da in violett (fran- zösisch: veilchenblau) die Vergleichung mit dem Veilchen im Sprachbewußtsein noch nicht überwunden ist. In der offiziellen Skala ist also violett die jüngste Farbe; es läßt sich da begreifen, daß auch blau, dem violett im Regenbogen benachbart, ein verhältnismäßig junges Farbenwort sei. Im Mittelalter nannte man nur Rot, Gelb und Blau Grundfarben des Regenbogens, und weil Weiß und Schwarz als besondere Farben hinzukamen, gab es fünf Grundfarben, wie heute noch bei den Chinesen, bei denen allerdings die Zahl fünf einen heiligen Charakter hat und häufig zu etwas wie einer Fünfeinigkeit geführt hat. Ich erwähne, daß bei den Griechen der Regenbogen (Iris) dreifarbig ist, daß er in der Edda als di:eif arbige Brücke aufgefaßt wird. Ich glaube ihn vierfarbig zu sehen, ganz deutlich.

Für die Technik der Farben muß ausdrückhch darauf hin- gewiesen werden , daß ganz zuverlässige römische Bericht- erstatter (unter ihnen Cicero und Quintilian) uns berichten, die alten Griechen seien mit fünf respektive mit vier Grund- farben bei ihren Malereien ausgekommen. Ich lasse es dahin- gestellt, ob die griechischen Maler wirkhch auf ihren Tafeln nur vier respektive fünf Farben zeigten oder ob sie diese

Farben und Farbcnworto (]87

Farben ebenso naturalistisch mischten, wie es unsere Maler mit ihren mehr als zwanzig Farben tun. Die neueste Er- findung des natürlichen Farbendrucks erzeugt bekanntlich alle Nuancen der Natur durch die Verwendung von nur drei Farben: Rot, Gelb und Blau. Sie konnte ebenso gut irgend welche drei andere einander genau ergänzende Farben wählen ; denn die Natur mit ihren unzähligen Nuancen lacht der Worte. Es ist ja schon die Bezeichnung Mischfarbe vom mensch- lichen Standpunkt gedacht. In der Natur gibt es keine Misch- farbe, oder es ist doch keine mehr gemischt als die andere. In der Natur ist Grün nicht eine Mischung von Gelb imd Blau, sondern durch eine besondere Zahl von sogenannten Schwin- gungen hervorgerufen. Auch Braun entsteht nicht durch eine Mischung von Farben, sondern höchstens durch eine Mischung von Schwingungen des Lichts. Wir kennen die Umstände nicht so genau, wie das die Optiker behaupten, aber so viel können wir sagen, daß die Farben in der Natur, also auch die Farben des nachahmenden Bildes, alle ohne Ausnahme direkt durch Ereignisse am sogenannten Lichte entstehen, nicht aber indirekt durch Mischung besonders privilegierter Farben. Erst die Malerei und die Photographie mit natürlichen Farben zwingt den Techniker, die Naturtätigkeit durch künst- liche Mischung nachzuahmen. Und da greift er als Mensch zu den alten Farben, auf welche von jeher seine Aufmerk- samkeit durch ihre besondere Kontrastwirkung (mag diese nun durch natürhche Zahlenverhältnisse entstanden sein oder nicht), durch ihr häufiges Vorkommen oder gar durch die Vertrautheit mit den bekanntesten Färbemitteln gelenkt Farben- worden ist. Nicht die Natur, erst der Mensch hebt durch teiiun? Aufmerksamwerden aus der Unzahl, ja aus den unendlich mensci:- vielen Farbennuancen eine kleine Anzahl heraus und merkt sie, indem er sie benennt. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß das menschliche Auge, wenn seine Aufmerksamkeit seit Jahrtausenden besonders auf drei oder fünf oder sieben Farben gelenkt worden ist, allmählich durch ererbte Gewohnheit für diese Farben leichter empfänglich wurde. Aber diese auch mikroskopisch sicherlich nicht nachweisbare Änderung des

688 XIV. Urspning und Geschichte von Vernunft

jüngeren Menschenauges ist kaum von Bedeutung gegenüber der Änderung der Zentralstelle im Gehirn, welche besonders drei, fünf oder sieben Farben sich gemerkt hat und nur auf sie mit Worten reagiert. Ich kann einen Gedanken, so dunkel er mir dabei aufsteigt, nicht unterdrücken, den nämlich, daß ]:iekanntlich die gegenwärtig übUche Einteilung der prismatischen Farben oder des Regenbogens in sieben Grund- farben von Newton zufällig oder ahnungsvoll analog den sieben Tönen der Oktave zuliebe nachgebildet worden ist, daß also die Siebenzahl der jetzt üblichen Grundfarbenworte der so ganz eigentümhch erregten Aufmerksamkeit eines Forschers zu danken ist, imd daß auch in der Tonwelt die Siebenzahl vielleicht auf natürlichen Harmonien beruht (die dann doch wieder auf die Organisation eines Zufallssinnes zurückgehen würden und nur abendländisch sind, wie sich z. B. aus C. Stumpfs „Tonsystem und Musik der Siamesen", Bei- träge zur Akustik, Heft 3 ergibt), daß aber die Tonqualität von C, D usw. ganz gewiß auf Willkür basiert ist, da ohne Frage jede andere Tonhöhe zur Grundlage des ganzen Systems gemacht werden konnte. Mit den Tonbezeichnungen weiß ich nicht viel anzufangen, weil die Tonarten nicht eigenthche Namen haben, und zwar offenbar darum nicht, weil die Menschen in ihrer großen Masse nicht musikalisch sind und Sprache nur im ganzen VoU^e entsteht. Die Bezeichnungen für die Tonarten sind darum technische Ausdrücke für Fach- leute geblieben und auch in romanischen Ländern nicht eigentliche Worte geworden. Die Lichtarten, welche wir Farben nennen, sind aber, wie wir sehen, eben auch nur Unterschiede, Verhältnisse, aus denen wir zufälhg oder willkürhch be- stimmte Verhältnisse oder Nuancen herausgegriffen und be- nannt haben. Und dieser ganze Vorgang der zufälHgen Rich- tung der menschlichen Aufmerksamkeit, der uns gegen- wärtig zu der Gewohnheit von sieben Farben geführt hat, scheint mir ein frappantes Beispiel zu sein für den Ursprung Sprache der Vernunft oder Sprache. Die ganze Wirklichkeitswelt

mnd Art-

allerdings nicht so lückenlos durch unendhche Nuancen in-

rffe ^^^8^ ^^^ ®^^® ^^^^ unendliche Zahl von Gestaltungen, die

Sprache und Artbegriffe (539

einander übergehen wie die Farben des Regenbogens, die aber doch Tausende und Tausende von Punkten eines solchen alhnähhchen Überganges geben. Gesehen hat die Mensch- heit die WirkUchkeitswelt immer, sehen konnte sie alle die Tausende und Tausende von Punkten immer, etwa die mikroskopischen Tiere und Pflanzen abgerechnet. Aber die Aufmerksamkeit war von Anfang an auf Kontrastwirkungen, auf das, was Menschen auffälüg erschien, gerichtet, und so entstand anfangs nur eine geringe Zahl von Artbegrif?en, die heute von der verzweifelten Wissenschaft immer weiter ver-, mehrt werden, die aber der populären Anschauung immer noch die geläufigsten sind. Der Artbegriff, der Löwen, Tiger usw. als Katzen zusammenfaßt, ist jünger als etwa der Artbegriff Rind; aber auch der Artbegriff Eiche oder Buche scheint jünger als der Artbegriff, der Eiche und Buche als Bäume mit eßbaren Früchten zusammenfaßte. Für die Geschichte der Vernunft ist das derselbe Vorgang, wie wenn die Aufmerksamkeit auf die blaue Farbe jünger ist als die Aufmerksamkeit auf die rote.

Wenn wir so bei einer der einfachsten Empfindungen, bei der Wahrnehmung der blauen Farbe, einsehen gelernt haben, daß die menschliche Vernunft zufällig zu der Be- achtung dieser Wahrnehmung kommen konnte, wenn wir mit schauernder Resigpation fühlen, daß also die Vernunft nicht eine den Menschen verliehene übermenschliche Gabe, keine unveränderUche und ewige Gottheit ist, daß die Vernunft in der Menschheit geworden ist, so geworden, wie sie ist, daß sie aber auch anders hätte werden können, als sie ge- worden ist, wenn wir mit dem Zucken des weggekrümmten Wurms erkennen, daß wir nicht nur bei jedem Schritte unseres armen Lebens, sondern in den für ewig und unverrückbar gehaltenen Grundgesetzen unseres geistigen Wesens ein Spiel des Weltzufalls sind, wenn wir erkennen, daß unsere Ver- nunft (sie ist ja Sprache) nur eine Zufallsvernunft sein kann, weil sie auf Zufallssinnen beruht, so werden wir nur mit Lächeln der Streitigkeiten gedenken, mit welchen die Anthro- pologen die Fragen der Sitte, des Glaubens und anderer

MautUncr, Beitrüge zu einer Kritik der Sprache. II '***

690 XIV. Ursprung und Geschichte von Vernunft

völkerpsychologischen Tatsachen behandeln. Ob der Glaube an einen Gott, ob das Verbot der Menschenfresserei und dergleichen in einer menschUchen Vernunft, die dann un- bewußt als eine einheitliche angesehen wird, liege oder nicht? Du Heber Himmel! Als ob die gewordene Menschen Vernunft, die Zufalls Vernunft, in moralischen Dingen etwas wüßte, wo sie selbst Farbenempfindungen nur wahrnehmen kann, wenn sie muß oder gewollt h a t, nicht wenn sie will.

®®' Für Wortabergläubische ieder Art kann eine Geschichte

schichte " •• .

des der Vernunft gar nicht vorhanden sein. Für sie gibt es eine Gehirns ggele, diese Seele hat verschiedene Vermögen, unter diesen Vermögen gibt es ein ewiges und unveränderhches Denk- vermögen. Sie haben auf die alte Frage: cur opium facit somniare? immer nur Molieres lustige alte Antwort, das komme von der virtus dormitiva atque somnifera.

Die besondere Klasse der Wortabergläubischen, die sich Materiahsten nennen , kann eine Geschichte der mensch- lichen Vernunft nur in einer Entwicklungsgeschichte des Ge- hirns sehen. Es ist auch für uns gar nicht zweifelhaft, daß die mikroskopische Entwicklungsgeschichte des Gehirns der Geschichte der Vernunft parallel geht (um auch einmal das gefährliche Bild vom Parallehsmus zu gebrauchen), wenn es uns auch fast wahrscheinlicher dünkt, infinitesimal die Ent- wicklung der Vernunft als die Ursache und die Entwicklung des Gehirns als die Wirkung aufzufassen. Immerhin wäre für die Psychologie und Erkeimtnistheorie viel gewonnen, wenn wir eine Entwicklungsgeschichte des Gehirns so be- säßen, wie wir eine Entwicklungsgeschichte der Dampf- maschine von Heron bis auf die Gegenwart besitzen. In Wahrheit aber wissen wir kaum etwas von der Maschinerie des gegenwärtigen Gehirns, so gut wie gar nichts von der Geschichte seiner Maschinerie. Ein Neger im Innern Afrikas, der die erste Lokomotive an sich vorüberbrausen sehen mag, wird von den Geheimnissen der Dampfmaschine nicht weniger

Geschichte des Gehirns ß91

wissen als unsere Physiologen von der Tätigkeit des Gehirns und von der Geschichte dieser Tätigkeit.

Wir denken nicht daran, eine Entwicklungsgeschichte des Gehirns naturphilosophisch aufstellen zu wollen; was Dar- winisten darin geleistet haben, setzt überall schon ein un- bewußtes Schema einer Vernunftgeschichte voraus. Wir glauben auch nicht, daß eine derartige Untersuchung irgend vorwärts kommen kann, solange sie sich für eine Geschichte der Vernunft ausgibt. Denn so gewiß der Begriff Vernunft eine Personifikation ist, so gewiß ist die Vernunft keine Persön- lichkeit, auch keine Reihe von Persönüchkeiten und hat darum keine Geschichte. Die Vernunft ist kein Lokomotiv- führer. Setzen wir anstatt Vernunft Sprache, so gelangen wir wohl zu einer lückenhaften Geschichte der Vernunft, aber diese umfaßt nur einige tausend Jahre, also einen Zeitraum, der gegenüber der Aufgabe gar nicht in Betracht kommt. So viel oder so wenig Etymologie dazu führt, die Urgeschichte der Sprache zu verstehen, so viel oder so wenig bedeutet diese Sprach- oder Vernunftgeschichte der jüngsten Gegen- wart für die Urgeschichte der Vernunft.

Halten wir jedoch fest, daß Sprache das Gedächtnis der Ge- gegenwärtigen und der früheren Menschen ist, so können ^^^^ wir die Vernunft als Sprache auch dem Gedächtnisse ä peu Vernunft pres gleichsetzen und es wenigstens als ein Problem aus- sprechen, daß Physiologen und Psychologen in einer Ge- schichte des menschhchen Gedächtnisses etwas wie eine Ge- schichte der Vernunft zustande bringen würden. Wobei nicht einen Augenblick vergessen werden darf, daß auch Gedächtnis nur eine Personifikation ist, ein zusammen- fassender Ausdruck für eine unzählbare Menge von Akten, daß also eine Geschichte des Gedächtnisses eigentlich weder die Geschichte eines Organs noch die Geschichte seiner Lei- stungen, sondern die Geschichte der Arbeit selbst werden müßte. In die Augen springt der Unterschied, daß das Ge- dächtnis sich immer auf Vergangenes bezieht, Vernmift jedoch gerade da, wo sie dem Menschen am wertvollsten ist. Künftiges voraussieht. In einer engen Analogie mit der Be-

692 XIV. Ursprung und Geschichte von Vernunft

Ziehung der Vernunft zu der Vergangenheit, aus welcher die Erfahrung stammt, imd zu der Zukunft, welche aus ver- nünftigen Gründen erwartet wird, stehen die Wechselbegriffe Ursache und Wirkung. Die Analogie ist so genau, daß von Zeit zu Zeit immer wieder versucht wird, den Ursachbegriff durch den Zeitbegriff zu ersetzen, als ob das die Erkenntnis fördern könnte. Wie dem auch sei, Vernunft ist zu ihrer einen Hälfte (abgesehen nämhch von ihrer Weltklassifikation durch Begriffe) etwas wie eine richtige Einsicht in die Zeit- folge der Ereignisse; Geschichte der Vernunft wäre also eine richtige Einsicht der Zeitfolge dieser Einsichten in die Zeit- folge. Ich wage es nicht, diese Potenzierung weiter zu ver- folgen. Man hat einmal mit ebenso potenzierter Abstraktion in parodistischer Absicht das lateinische Wort „rationabihtu- dinalitas" gebildet; wer sich's vornimmt, glaubt das Monstrum zu verstehen. <^e- Sehen wir auch von diesen Grenzschwierigkeiten ab, so

schiclit6

^gg bleibt die Aufgabe nicht gerade leicht, an Stelle einer Ge- Gedächt- schichte der Vernunft oder einer Geschichte der Sprache als

iiisscs ,

einzig mögliche Annäherung eine Geschichte des Gedächt- nisses zu setzen. Wir sind und bleiben trotz aller Freiheit Sklaven der Sprache, und diese wird uns verführen, unter Ge- dächtnis ungleiche Begriffe zu verstehen. Wir können uns stark machen, bei der Geschichte des Gedächtnisses niemals wortabergläubisch an eine personifizierte Gottheit oder ein Gedächtnis vermögen zu denken, aber nichts kann uns ver- hindern, während wir eine Geschichte des Gedächtnisses be- ginnen, uns unter Gedächtnis bald die Sammlung unserer ererbten und erworbenen Erfahrungen als eine Disposition zur Erinnerung (was doch noch nicht ganz ein personifiziertes Gedächtnisvermögen ist) vorzustellen, bald die Tätigkeit dieser Erinnerungen selbst. Es ist als ob ich die Geschichte eines Flusses schreiben Avollte und dabei unbewußt schwankte, ob die Geschichte des Flußbettes oder die des niemals wieder- kehrenden fließenden Wassers. Natur hch hinkt auch dieses Bild. Oder ich könnte denken an die Geschichte einer Samm- lung von Gemälden, welche jedoch nicht Gemälde, sondern

(jieschichte des Gedächtnisses 693

lebende Bilder wären. Oder ich könnte auch die Geschichte des Gedächtnisses vergleichen mit einer politischen Geschichte, welche erzählte, wie durch Vererbung und Erwerbung um Kristalhsationspunkte wie Rom oder Brandenburg ungeheure Monarchien anwuchsen, wie sie einander in der wirkhchen oder scheinbaren Weltbeherrschung ablösten, wie dabei für die Zentralstelle einst z. B. die Nordseeküste Deutschlands, dann die Küsten Afrikas oder Ostasiens über die Schwelle des Bewußtseins traten, und wie diese ganze pohtische Ge- schichte doch nur eine begriffliche Zusammenfassung der Tätigkeiten von unzählbaren nebeneinander und nacheinander stehenden Individuen wäre. Und käme mir dann jemand mit dem Einwurfe, daß eine solche vorstellbare, allwissende pohtische Geschichte der Erde nicht ein Bild wäre von der Geschichte des Gedächtnisses oder der Sprache oder der Vernunft, sondern nur ein Teil dieser Geschichte, daß die pohtische oder Kulturgeschichte nur ein Teil wäre von der Geschichte der geistigen Tätigkeit der Menschheit, so hätte ich diesem Einwurfe nichts entgegenzusetzen. Geschichte der Vernunft oder der Sprache oder des Gedächtnisses ist in Wirklichkeit nur wieder ein neuer Gesichtspunkt, unser ganzes Bißchen unendlich zerstreuter Welterkenntnis zu ordnen.

Der Ausgangspunkt der Auffassung, daß nämUch nicht Ererbte

Dis- position

nur das Gedächtnis als Sammlung von Erfahrungen, sondern

auch als Disposition zur Erinnerungstätigkeit sich entwickelt habe, wird durch eine einzige psychologische Tatsache besser beleuchtet als durch alle Hypothesen, welche aus schädel- vergleichenden Messungen hergeholt sind. Ich meine die von allen Reisenden bestätigte Tatsache, daß die Kinder austra- lischer und afrikanischer Negerstämme wohl anfangs die weißen Kinder an Begabung und Eifer im Lernen erreichen, vielleicht übertreffen, daß die Fähigkeit zum Aufnehmen und Kombinieren von Wissensmaterial jedoch bald plötzlich auf- hört. Aus dieser Tatsache könnte mit höchst unvollständigen

694 XIV. Ursprang und Geschichte von Vernunft

Schlüssen mancherlei gefolgert werden : gegen die aufklärerische und demokratische Gleichheit der Menschen und für den aristokratischen Egoismus der höher entwickelten Rassen; gegen die gemeinsame Abstammung aller Rassen und für die Annahme verschiedener Stammbäume; für den Gedanken, daß sich die gegenwärtige Vernunft der Kulturmenschheit nicht geradhnig aus irgend einer Tier Vernunft entwickelt habe, wie denn auch das Menschenauge sicher nicht geradlinig von dem Punktauge einer Insektenlarve herkommt, der mensch- liche Fuß nicht geradlinig von einer Flosse. Wir wollen so schwache Analogieschlüsse vermeiden. Wir wollen uns nur erinnern, daß dieses Verhältnis der Negerdisposition zur Kulturmenschendisposition sich noch auffallender in den Fällen wiederholt, wo wir die Anlage der Tiere mit der An- lage der Menschen vergleichen und von Instinkten reden. Das eben ausgekrochene Hühnchen ist nach wenigen Minuten so weit wie das Menschenkind erst nach einer individuellen Ent- wicklung von mehreren Jahren. Es kann kein organisches Geschöpf individuell viel weiter gelangen, als die Entwicklung des Gedächtnisses in seinem Geschlechte gekommen ist; selbst der kleinste Schritt über dieses Gedächtnis hinaus kann nur auf Gefahr der geistigen Gesundheit versucht werden. Darum wird auch jede Arbeit, welche die Weiterführung des mensch- lichen Gedächtnisses bezweckt, welche an der Geschichte der Vernunft weiter arbeitet, von den Nichtmitarbeitern Ent- artung genannt. Tier- Man braucht nicht Philosoph zu sein, um einen bedeutenden

Unterschied zwischen den geistigen Leistungen der Menschen und Tiere zu bemerken, man muß aber wohl ein „Philosoph" sein und von dem unheilvollen Streben geleitet werden, die unendliche Mannigfaltigkeit der Natur auf sprachliche Be- griffe zu bringen, um das Tier vom Menschen durch irgend ein Wort zu trennen. Wir empfinden es heute als eine Bruta- lität, daß Descartes die Menschen als allein beseelte Wesen von den unbeseelten, maschinenmäßigen Tieren loszulösen suchte. Aber heute noch wird unter den Psychologen darüber gestritten, ob dem Menschen allein Verstand und Vernunft

Tierverstand (395

zukomme und den Tieren bloß Verstand. Kant nimmt an, daß die Tiere nicht einmal Verstand haben (sein Sprach- gebrauch ist allerdings für den Ausdruck Verstand sehr schwankend), daß sie bloß Sinneseindrücke und Erinnerungen besitzen, aber die Gegenstände der Außenwelt nicht als Objekte wahrnehmen; Schopenhauer hat dagegen versichert (ich habe seinen Wortgebrauch cum bcneficio inventarii an- genommen), die Tiere, selbst die unvollkommensten, hätten Verstand, gerade weil sie Objekte erkennen und weil zum Erkennen außer den Sinnesorganen auch der Verstand gehört. Noire hat zwischen Kant und Schopenhauer dialektisch zu vermitteln versucht ; aber schüeßlich spricht auch er den Tieren das Erkennen von Gegenständen ab und grausamerweise sogar die eigentliche Erinnerung. Man könne nicht sagen: das Tier erinnert sich; man müsse sagen: es wird durch das Objekt erinnert. Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an, wenn solche Ausnahmeköpfe wie Kant und Schopen- hauer dergestalt von der Sprache in die Irre geführt werden und wenn ein immerhin ehrlicher Forscher wie Noire mit solcher Ruchlosigkeit die Entfernung zwischen Tier und Mensch zu vergrößern sucht.

Für alle Tierbeobachter oder Tierfreunde liegt es un- willkürlich nahe, zwischen Tierverstand und Menschenver- stand nur einen Gradunterschied zu sehen; der Zweifel an der wissenschaftlichen Brauchbarkeit unserer psychologischen Begriffe muß natürlich zu der gleichen Anschauung führen. Die Behauptung, daß kein Tier etwas schaffe, daß kehi Tier sich eines Werkzeugs bediene, daß kein Tier eine vermittelte Wirkung hervorzubringen vermöge diese Behauptung deutet ja recht gut auf die Punkte hin, wo Tierverstand nicht an den Menschenverstand heranreicht: kein Tier hat eine Eisenbahn gebaut, kein Tier bedient sich einer Nähmaschine, kein Tier dreht die Kurbel am Telephon, um ein Stelldichein zu verabreden. Ganz richtig. Aber die Begriffe des Schaffens, des Werkzeugs und der Mittelbarkeit müssen erst eng imd nienschenhochmütig definiert werden, um allen Tieren ab- gesprochen werden zu können. Beim Nestbau wird geschaffen,

696 XIV. Ursprung und Geschichte von Vernunft

der Hund, der an der Tür kratzt, verfolgt seinen Zweck mittel- bar, und die Gliedmaßen (Füße, Flügel, Zähne) werden als Werkzeuge gebraucht.

Daß aber zwischen Tierverstand und Menschenverstand nur ein Gradmiterschied bestehe, das bleibt so lange eine unklare Redensart, als wir nicht die Art der geistigen Tätig- keit näher bestimmen, welche bei Tieren und Menschen dem Grade nach verschieden ist. Das ist aber diejenige Tätigkeit, welche wir bald in ihrer Kraft, bald in der Sammlung ihrer Kraftleistungen das Gedächtnis nennen. Es ist vorhin die, wie ich glaube, fruchtbare Bemerkung gemacht worden, daß Verstandestätigkeit sich auf die Gegenwart beziehe. Ent- spricht das dem Sprachgebrauch, so können wir wieder die Ausdrucksweise Schopenhauers für uns in Anspruch nehmen, der den Tieren den Verstand gibt, um ihnen die Vernunft zu nehmen. Es ist gewiß richtig, daß die Tiere ein viel ge- ringeres , ein anders arbeitendes Gedächtnis haben als wir, daß sie darum in äußerst hohem Grade in den Kreis der Gegen- wart gebannt sind, daß sie ihre Erinnerungen nicht in so außerordentlicher Weise kombinieren können wie wir; und das ist es im Grunde, was allein Schopenhauer meinen kann.

Es ist ferner seit Kant ganz ausgemacht, daß der denkende Verstand mit tätig ist, sowie wir eine Sinneswahrnehmung nicht mehr empfinden, sondern sie mit der Hypothese einer Ursache nach außen projizieren; einfacher gesprochen: die Lichtempfindung unseres Sehorgans wird erst durch Arbeit des Verstandes zum Sehen eines Gegenstandes. Es ist darum nur ein müßiges Spiel mit Worten, wenn darüber gestritten wird, ob Tiere die Gegenstände als Objekte wahrnehmen oder nicht. Haben sie Verstand, so können sie Objekte wahr- nehmen; und können sie Objekte wahrnehmen, so müssen sie Verstand haben. Und ich möchte in aller Welt wissen, ob dem Falken, der sich auf die Taube herunterstürzt, diese Taube nicht genau ebenso ein Objekt ist wie dem Menschen irgend ein Gegenstand, der seine Gier gereizt hat. Man hat die Vermutung aufgestellt, daß ein Hund, ins Zimmer geführt, dort nur eine wüste Palette von Gesichtseindrücken empfange.

Tierverstand (597

nicht aber die einzelnen Gegenstände in seinem Kopfe vom Zimmer loslöse und „als Objekte" vorstelle. Man führe ein- mal irgend einen noch völlig wilden Australneger in mein Zimmer und sehe zu, ob er Bücher und Bilder, Ofen und Aschbecher, Feder und Tintenfaß vom Zimmer loslösen und als Objekte vorstellen könne. Nicht der Verstand fehlt ihm, sondern die Erfahrung. Hat ein Hund erst Erfahrung ge- wonnen, kennt er erst mein Zimmer, so löst er die Objekte ganz vortrefflich los und weiß den heißen Ofen und das prakti- kable Sofa ganz genau als Objekte zu sehen und zu behandeln. Auf die Übung des Gedächtnisses, auf Erfahrung kommt es Ererbte-, allerdings an; und da leidet es keinen Zweifel, daß der Grad- ^^""^em^-. unterschied zwischen dem Tiergedächtnis und dem Menschen- Ge- gedächtnis ein doppelter ist. Ich möchte das so ausdrücken, '^'''^'^''^" daß der Mensch ein sehr starkes und lebhaftes ererbtes Ge- dächtnis besitzt, welches er in hohem Grade durch individuell erworbenes Gedächtnis vermehren kann; daß das Tier ein gutes, in manchen Arten erstaunliches erworbenes und er- erbtes Gedächtnis besitzt, daß das ererbte Gedächtnis des Tieres jedoch dem Individuum festere Schranken setzt. Es wirkt beim Tiere, soweit wir bis jetzt übersehen können, die Vermehrung des individuellen oder erworbenen Gedächtnisses kaum oder sehr unbedeutend zu einer Steigerung des ererbten Gedächtnisses mit. Der geistige Reichtum der Menschheit ist wie so oft anderer Reichtum auf die Erbfolge zurückzuführen, auf die Erbfolge der Erfahrung nämUch; bei den Tieren gibt es keine Erbfolge der Erfahrung, wie sie denn auch sonst nur in seltenen Fällen ein Erbrecht besitzen. Es braucht nicht ■wiederholt zu werden, daß das Erbe oder das Gedächtnis der Menschheit in der Sprache niedergelegt ist ; die Tiere haben kein Menschengedächtnis, keine Menscheuerfahruug, keine Menschensprache .

Da tritt uns aber sofort für die Geschichte der Vernunft- f^rfaUrung entwicklung eine weitere, eine noch schwierigere Frage ent- u^n|^,,„ gegen. Es ist klar, daß dem menschlichen Denken Erfahrung vorausgehen mußte; und wenn wir auch den allerersten wirren Begriff, wie sich ihn gewiß schon das Tier aus der ererbten

698 XIV. Ursprung und Geschichte von Vernunft

oder erworbenen Erinnerung an eine bekömmliche Speise ge- bildet hat, Denken nennen wollen, so mußte diesem ersten Begriffe schon eine minimale Erfahrung vorausgehen. Ebenso klar ist es aber seit Kant, daß zu jeder noch so kleinen Er- fahrung schon Denktätigkeit gehört, daß wir erst durch Denktätigkeit unsere subjektiven Empfindungen in objektive Vorstellungen verwandeln. Da es nun eigenthche Wechsel- wirkung nicht geben kann, da die Wirkung nicht zugleich Ursache ihrer Ursache sein kann, so stellt sich uns hier plötz- lich die Frage entgegen: wie ist Erfahrung überhaupt möglich?

Wir könnten diese Frage sehr bequem beantworten, wenn wir uns wortabergläubisch an unsere eigenen Begriffe hielten. Wir setzen Gedächtnis ä peu pres dem Denken gleich und ebenso ä peu pres der Erfahrung. Dann sind wir aus dem Dilemma heraus und brauchen scheinbar nicht weiter zu untersuchen, ob Gedächtnis als Erfahrung oder Gedächtnis als Vernunft früher gewesen sei. Wir haben da nur das neue Rätsel zu lösen, wie Gedächtnis entstehen konnte; und diese Rätselfrage ist ja mit den khngenden Worten beantwortet, das Gedächtnis sei eine Funktion der organisierten Materie.

Der mathematische Ausdruck erinnert daran, daß bei der notwendigen Annahme infinitesimalen Fortschreitens die Schwierigkeit fortfalle, weil die namenlos kleine Größe eben namenlos, also noch nicht Denken und auch noch nicht Er- fahrung ist; aber solche Anwendungen der Mathematik sind gefährlich.

Sofort aber erkennen wir auch, daß wir den Sprach- gebrauch nicht ungestraft verletzen dürfen, daß die Doppel- gleichung: Gedächtnis = Erfahrung und Gedächtnis = Denken den heimlichen Zweifel nicht verscheucht, es seien Erfahrung und Denken verschiedene Formen der Gedächtnis- tätigkeit. Als die Menschen die Erfahrung machten, Schnee sei weiß, lag darin die Erinnerung an frühere Schneefälle; die Vergleichung war aber ohne einen Denkakt nicht möghch, denn ein Denkakt bleibt es, die jetzt gefallene weiße Masse Schnee zu nennen. Und weil wir über die ersten Anfänge des Gedächtnisses nichts ausmachen können, weil an jeder

Erfahrung und Denken (jgr)

Begriffsbildung ununterscheidbar Erinnerungstätigkeit und Denktätigkeit beteiligt sind, darum mußte seit tausend Jahren, seitdem nämlich Begriffe als solche in unsere Erkenntnis- theorie eingezogen sind, der Streit darüber fortdauern, ob Begrift'e aus der Erfahrung oder aus dem Denken stammen. Der Streit konnte sich verbittern, weil man in Erfahrung und Denken entgegengesetzte Kräfte sah, feindliche Gottheiten, deren Gläubige zu gegenseitiger Feindschaft verpflichtet schienen. Die Anknüpfung beider Begriffe an das Gedächtnis erklärt leider nicht viel, hebt aber doch wohl eine gewisse Bösartigkeit in diesem Gegensatze auf. Wir unterschreiben gern den materialistischen Satz, daß alles Wissen ohne Aus- nahme aus der Erfahrung stamme, wie auch der einzelne Men.sch nur durch Erfahrung klug wird, daß alle unsere Be- griffe ohne Ausnahme auf induktivem Wege gewonnen seien; aber wir vergessen dabei nicht, daß zur Bildung auch der einfachsten Erfahrung, auch des konkretesten Begriffs ein Denkakt gehöre.

Diese Einsicht in das Wesen von Erfahrung und Denken, Kant welche sich auf dieser Stufe nicht mehr als Gegensätze, sondern als zwei Betrachtungsweisen des Gedächtnisses darstellen, ver- danken wir einer Fortführung der Kantschen Kritik, und wir würden sie Kant selbst verdanken, wenn Kant anstatt einer Kritik der reinen Vernunft eine Kritik der Vernunft überhaupt unternommen hätte, wenn er nicht als der scharfsinnigste und hoffentlich letzte aller Wortrealisten Abstraktionen für Wirklichkeit, Worte für definierbare Urteile, uneinlösbare .Scheine für bare Münze genommen hätte. So hatte er voll- kommen recht, wenn er gegenüber der englischen Überschät- zung der Erfahrung den Anteil hervorhob, den das Denken an jeder Erfahrung hal, so hatte er unrecht, wenn er ein reines, ein apriori.sches Denken aufstellte, zu welchem Erfahrung nicht notwendig sei. Er hatte noch nicht erkannt, daß Er- fahrung und Denken, beides, nur Gedächtnis oder Sprache iiei, das eine Mal von vorn, das andere Mal von hinten ange- sehen; und er ahnte noch nicht, Kant, der doch als erster eine Entwicklung des Planetensystems gelehrt hatte, daß

700 XIV. Ursprung und Geschichte von Vernunft

eine Entwicklungslehre der Organismen wenig über hundert Jahre nach Erscheinen seiner Theorie des Himmels den Weg zu einer neuen Theorie des Denkens, zu einer psychologischen Erklärung des Aposteriori und Apriori weisen werde.

Kants Gründe gegen die alleinige Herrschaft der Erfahrung, also gegen allen Materialismus, brauchen nicht wiederholt zu werden. Es ist für uns ein Gemeinplatz geworden, daß man die Welt, das Ding-an-sich, nur aus unserem Bewußtsein, aus unserem subjektiven Denken erschließen dürfe und nicht umgekehrt. Ist schon zur banalsten Erfahrung eine Ver- gleich ung zweier Wahrnehmungen, also Denken notwendig, so ist jede höhere Erfahrung, jede Wissenschaft mit ihren sogenannten Gesetzen, ein Hinzukommen des Denkens zur Erfahrung. Gesetzmäßigkeit ist regelmäßige Ursächlichkeit ; und den Begriff der Ursache hat noch niemals eine bloße Wahrnehmung in der Welt gefunden. Das hat ja Kant eben gelehrt und es Humes Kritik des Ursachbegriffs hinzugefügt, daß schon das Projizieren einer Wahrnehmung in die Außen- welt, also schon die einfachste objektive Wahrnehmung, die z. B. die Grünempfindung auf den Baum vor meinem Fenster zurückführt, unkontrollierbar eine Ursache der Sinnesemp- findung hypostasiert. Ainiorität Wenn so die Kantsche reine Vernunft der Erfahrung kaum die Rolle eines Torschreibers zuweist, so kann die Er- fahrung der Vernunft antworten, daß auch sie nur der Tor- schreiber der Sinne sei. Nur wenn der Begriff der Ursächhch- keit mehr wäre als eine Überzeugung der menschlichen Denk- gewohnheit, wenn die Ursächlichkeit sich als eine Tatsache in der tatsächhchen reinen Vernunft vorfände, könnte das Denken die Erfahrung als seine Magd behandeln. Um Worte soll nicht gestritten werden. Wenn wir in jedem Einzelfalle nach der Ursache einer Erscheinung fragen, wenn dieses Fragen begründet wird durch die Allgemeingültigkeit des Satzes „Alles muß eine Ursache haben", so ist nichts dagegen einzuwenden, daß man diesen Grundsatz der Kausahtät apriorisch nenne. Niemals wird menschliches Denken aus- machen können, ob diese zwingende Kausalität ein Vorzug

Apriorität 701

oder ein Fehler des menschlichen Denkens sei. Kant kennt drei solche Anschauungsformen der reinen Vernunft, außer der Kausalität auch noch Zeit und Raum; sie müsseü aprio- risch sein, sie können nicht aus der Erfahrung geschöpft sein, weil durch sie Erfahrung erst möghch wird. Darauf kommt es aber an, was man unter apriorisch versteht.

Hier jedoch hat Kant irregeführt, weil er den Begrifi formal logisch nahm und damit das Gebiet der Psychologie verließ. Er leugnet mit Locke die angeborenen Ideen, nur um sie, freiUch in geringerer Zahl, unter dem Namen der apriorischen Begriffe wieder einzuführen. Wir aber werden uns vor Worten nicht fürchten und die Unklarheit der Kant- schen Apriorität dadurch beseitigen, überdies die Prioritäts- frage zwischen Denken und Erfahrung ein wenig beleuchten, wenn wir der Bezeichnung „angeborene Ideen" einen neuen Sinn geben.

Wir werden in anderem Zusammenhange, in einer psycho- ^prio- logischeu Kritik der Logik uämhch, sehen, daß „apriorisch" an<'e^ ein relativer Begrifi sei und den jeweiUgen Bewußtseim inhalt '^oren ausdrücke, zu welchem nachher, a posteriori, eine neue Be- obachtung, ein neuer Gedanke hinzutrete. Dieser jeweiüg ältere, apriorische Bewußtseinsinhalt umfaßt natürhch die größere Masse der ererbten imd erworbenen Erfahrungen. Apriorisch ist in dieser Bedeutung aber auch gewiß die ganze Summe der menschlichen Anlagen, die ererbte Disposition zur Aufnahme eines Bewußtseinsinhalts. Was ererbt ist, ist als Disposition angeboren. In dieser Hinsicht darf man ohne Frage die Disposition zu den Anschauungsformen Raum, Zeit imd Kausalität angeboren oder apriorisch nennen. Es ist kein Spiel mit Worten, wenn ich nun sage, daß der auf- fallende Unterschied zwischen den Menschenrassen, wie er sich in der Entwicklungsfähigkeit ihrer anfangs gleichen Ver- nunft äußert, auf der verschiedenen Apriorität ihrer ererbten Dispositionen beruht. Sind aber die apriori.schen Anschauungs- formen bei verschiedenen Individuen der Menschengattung durch Vererbung verschieden, so wird allerdings Kants „trans- zendentaler" Begriff des Apriori, der wie ein Geschenk des

702 XIV. Ursprung und Geschichte von Vernunft

Himmels auf die Erde unserer Erfahrung heruntergefallen ist, hinfälHg. Wir können, um das deuthcher zu machen, auch auf die Verschiedenheit hinweisen, die zwischen der Apriori- tät beim Menschen und der Apriorität bei Tieren offenbar besteht. Es scheint höhere Tiere zu geben, die namentlich im Umgang mit Menschen das Kausalitätsverhältnis zwischen den Dingen begriffen haben; die meisten Tiere im Natur- zustande dürften aber nur die Kausahtät zwischen sich und den Dingen erfaßt haben, ohne sich von einer unpersönhchen Kausahtät zwischen den Dingen eine Vorstellung machen zu können. Sie sind darum unfähig, Naturwissenschaften zu studieren. Alle diese Tiere besitzen aber in ausgezeichneter Weise die Anschauungsform des Raums, einigermaßen auch die Anschauungsform der Zeit. So weit wir das mit unseren Menschengedanken ausdrücken können, müssen wir ferner ver- muten, daß auch noch die niedersten Tiere, ja vielleicht sogar die Pflanzen, die sich der Sonne zuwenden, die apriorische Anschauungsform des Raums haben. Apriorität Nach Kant entsteht also jede Erfahrung erst dadurch, Ursach- ^^^ ^^^ menschliche Denken sie in die Formen von Zeit, Raum begriflfs und KausaUtät hineinbringt; es fragt sich nur, warum diese Formen apriorisch, nach Kants eigenem Sprachgebrauch also von aller Erfahrung unabhängig sein müssen. Es ist offenbar, daß Kant nur durch die letzten Abstraktionen dieser Begriffe dazu geführt worden ist, von ihnen auszusagen, daß sie sich überhaupt nicht wegdenken lassen. Ein bestimmtes Raum- gebilde, ein bestimmter Zeitabschnitt, eine bestimmte Ursache läßt sich gar wohl wegdenken; wir tun das unaufhörlich. Nur dadurch, daß wir die unkontrollierbare Vorstellung eines unendlichen Raumes, einer unendlichen Zeit und einer unend- lichen Kausahtät gefaßt haben, müssen wir diese Begriffe überall mitdenken; wobei freihch die Unendlichkeit der Kausalität den Menschen noch kein so geläufiger Begriff ist wie der unendliche Raum und die unendliche Zeit. Aber Kausahtät oder Verknüpfung von Ursache und Wirkung ist genau ebenso unabschheßbar, duldet ebensowenig einen An- fang, eine „erste Ursache", die dann freilich der hebe Gott

Apriorität des Ursachbegriflfs 703

wäre. Gehen wir von welchem Ereignis immer aus, so ist es nur ein schlechter Sprachgebrauch, wenn wir ihm eine An- fangsursache geben. Ich will es dabei ganz unerörtert lassen, daß es in letzter Instanz nicht in der WirkKchkeit, sondern nur für den Menschen Ereignisse gibt. Wenn eine Kugel mit lautem Knall das Flintenrohr verläßt, oder wenn die Kugel mir den Oberarm durchbohrt, so sind das für den Beteiligten zwei Ereignisse; in der Wirklichkeitswelt sind es Folgen von Veränderungen, die so wenig Ereignisse sind wie das un- wahrnehmbare Kleinerwerden eines Tautropfens in der Morgen- sonne. Wir nennen es nun eine Ursache des Schusses, daß in der Patrone eine Kugel saß oder daß das Pulver Schwefel enthielt oder daß ein Finger den Drücker berührte oder daß der Lauf aus Eisen war oder daß der Wille eines Menschen dem Lauf eine Richtung gab oder daß der Wille dieses Menschen durch Eifersucht gelenkt wurde oder daß der Gegenstand dieser Eifersucht an dem und dem Tag in die und die Stadt gereist kam usw. usw. Immer ist es die Aufmerksamkeit auf eine unter den unzähhgen Bedingungen der Veränderung, welche ein Glied der unendlichen Kette von Bedingungen zur Ursache stempelt. Es ist also eine anthropomorphe Bezeich- nung. Psychologisch konnte der Begriff der Ursache nur auf zweierlei Art entstehen; der Mensch empfand seinen eigenen Willen als Realgrund seiner Handlungen und legte diesen Begriff metaphorisch als Realgrund in die Außenwelt; oder der Mensch empfand einen Gedanken als den Erkenntnis- grund eines anderen und legte diese Vorstellung wieder meta- phorisch in die Wirklichkeit hinein. So erhielt der Ursach- begriff halb einen realen, halb einen logischen Charakter, und nach einigen tausend Jahren seines Begriffslebens konnte der Wortstreit darüber entstehen, ob kausale Notwendigkeit nur in der Logik oder auch in der Wirklichkeitswelt zu finden sei. Das Metaphorische in den Anschauungsformen der reinen Ver- nunft vermochte Kant noch nicht zu sehen. Da ihm nun den- noch die unendhche Kette der Kausalität deutlich war und ihre Verwandtschaft mit der unendhchen Kette von Zeit und Raum, da die eherne Notwendigkeit wohl aus der Logik, nicht

704 XIV. Ursprung und Geschichte von Vernunft

aber aus der Erfahrung erschließbar schien, so mußten diese Begriffe, sollten sie auf die Wirklichkeitswelt Anwendung finden, vor aller Erfahrung, so mußten sie apriorisch sein. Setzen 'wir anstatt des Begriffs der Ursache den Begriff der Bedingung, erkennen wir, wie jede Veränderung von einer unendlichen Zahl von Bedingungen abhängt, sagen wir dann, daß die Bedingtheit aller Weltveränderungen unbedingt sei, so sehen wir vielleicht ganz nahe, wie die Sprache selbst mit einem Kant ihr Spiel trieb, als er die Ursächlichkeit einen apriorischen oder unbedingten Begriff nannte.

Wir müssen aber immer wieder zu dem Dilemma zurück- kehren: Wie konnte der Begriff der Kausahtät aus der Er- fahrung entstehen, wenn schon zu der einfachsten Erfahrung das Denken und seine Anschauungsformen (zu denen auch die Kausahtät gehört) notwendig waren? Das Dilemma wiederholt sich bei einer Erscheinung , welche sonst allein imstande wäre, uns das Rätsel der Apriorität zu lösen. Die Vererbung der physischen und geistigen Eigenschaften erklärt uns nämhch auf einfache Weise das Vorhandensein apriorischer Begriffe und auch die Verschiedenheit der Apriorität bei Tieren und Menschen, bei verschiedenen Menschenrassen und bei verschiedenen Individuen. Ist die Disposition zu einer be- stimmten Geistesentwicklung bei einer Art oder bei einer Menschenfamilie ererbt, so können wir es uns recht gut vor- stellen, wie das Individuum zu einer bestimmten Orientierung in der Wirklichkeitswelt gelangen kann, über eine gewisse Grenze nicht hinausgelangt und z. B. Raum, Zeit und Kausah- tät als Metaphern menschhcher Subjektivität zu apriorischen Formen der Erfahrung macht. Darwi- Auf die physiologischen Rätsel und Widersprüche der

Vererbung ist man erst dadurch aufmerksam geworden, daß Darwin die Vererbung als eine einfache und bekannte Tat- sache hinnahm und auf die Vererbung erworbener Eigen- schaften seine ganze wertvolle Hypothese aufbaute; die Kritiker Darwins haben sich mit der Auflösung dieser Rätsel abgequält, ohne Grund, weil der kluge Darwin den Anfang der ganzen Entwicklung gar nicht untersuchte, gelegenthch

nismus

Darwinismus "705

auch dem Schöpfer anheimstellte. Die Kritiker Darwins hätten sich die Mühe sparen können, weil an der Tatsache der Vererbung gar nicht zu zweifeln ist ; nicht nur unter Tauben und unter Pferden und unter Rosen Varietäten, sondern auch unter den Menschen sehen wir deutlich angeborene und er- worbene Eigenschaften sich fortpflanzen. Ob wir diese Ver- erbung auf unbekannte Kräfte in den Keimzellen oder in allen Zellen des Organismus zurückführen wollen, das ist eine Spezialfrage der Physiologie. Wir können auch das Wort Ver- erbung ganz fallen lassen und uns denken, daß der Organismus in den Kindern und Kindeskindern einfach weiterlebe, während seine einzelnen Teile, die wir dann Vater und Mutter nennen, als Teile absterben; wir können uns denken, daß der einheit- liche und ewige Organismus dieser Pflanze durch die Ent- wicklung des im Herbste ausgesäeten Keimes weiterlebe, wie die Eiche nach dem Winterschlafe neue Blätter treibt. So schaflien wir uns in unserer Phantasie eine Einheit der organischen Welt und freuen uns noch bei der Vorstellung, daß der BegrifE der UnendHchkeit, welcher für Raum, Zeit und Kausaütät nur zu neuen Schwierigkeiten führt, bei dieser einzigen und ewigen organischen Persönhchkeit sich wie von selbst ergibt. Wie das sogenannte Bewußtsein des Menschen- individuums nichts ist als sein Gedächtnis, dessen größerer Teil freihch „unter der Schwelle" dieses selben Bewußtseins bleibt, so ist das Fortleben des Organismus in seinen Kindern und Kindeskindern oder die Vererbung das unbewußte or- ganische Gedächtnis. Wie sich der beschränkte aber unfehl- bare sogenannte Instinkt zum diskursiven Denken verhält, so verhält sich das unfehlbare organische Gedächtnis der Vererbung zu dem Individualgedächtnis für Individualerinne- rungen.

Die Vererbimg angeborener und erworbener Eigenschaften muß auch ohne Erklärung zugegeben werden. Die Fortsetzer Darwins bemühen sich denn auch, womöghch alles aus er- worbenen Eigenschaften oder aus der Anpassung herzuleiten; denn das uranfängUche Protoplasma hatte so wenige Eigen- schaften, hatte ein so geringes Erbe, daß mit Ausnahme des

Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache. II -IS

706 XIV. Ursprung und Geschichte von Vernunft

abstrakten Lebens eben erst alles durch Anpassung erworben werden mußte. Es versteht sich von selbst, daß nicht nur Glieder und Organe der Tiere, sondern auch ihre Begierden und Instinkte Ergebnisse der Anpassung sein müssen. Da ist es mm nicht ohne Humor zu lesen, wie die Theoretiker der Entwicklungslehre jedesmal die alte Morphologie ins Treffen führen, wenn der Begriff der Anpassung versagt. „In manchen Fällen ist die Anpassung aber nicht erkennbar, wie in der ver- schiedenen Gestalt so vieler Laubblätter; in der Tatsache, daß so viele Dikotylen fünf, so viele Monokotylen sechs Staub- fäden besitzen. Dann spricht man von morphologischen Merkmalen im Gegensatze zu Anpassungsmerkmalen" (Reinke, Die Welt als Tat S. 243). Ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich die Apriorität mit der Morphologie vergleiche ; wenn man etwas nicht aus der Erfahrung erklären kann, z. B. deshalb, weil die Erfahrung ohne dieses Etwas gar nicht zustande kommen konnte, so „spricht man" von apriorischen Begriffen im Gegen- satze zu Erfahrungsbegriffen. Kausalität Jede Erklärung für die Vererbungserscheinungen fehlt, dächtnis ^^ Erscheinungen selbst jedoch sind Tatsachen, eigenthch die gewissesten Tatsachen unserer Welterkenntnis. Wir brauchen bloß die Vererbung als das unbewußte Gedächtnis der organisierten Welt oder des Lebens aufzufassen, und die Vererbung wird sofort aus einem wichtigen Spezialfälle der Kausahtät ein Begriff, der die gesamte Kausalität der Organis- men mit umfaßt. Und dehnt man gar den Begriff Gedächtnis in ähnlicher Weise, wie es Schopenhauer mit dem Willen getan hat, auf die Erscheinungen der unorganischen Welt aus, sieht man ein Analogen des Gedächtnisses in der Kristalhsation, in den chemischen Verwandtschaften, in der Schwerkraft usw., so wird die Kausalität überall von der Vererbung oder dem Gedächtnisse verdrängt. Innerhalb der organischen Welt ist Vererbung die Form der Notwendigkeit; und da das Leben des Einzelmenschen außer von der Vererbung nur noch von Anpassungen an äußere organische und unorganische Mächte bedingt wird, so braucht man die starre Kausahtät des An- organischen nicht erst durch den erweiterten Begriff der Ver-

Kausalität ist Gedächtnis 707

erbung zu ersetzen, um die Notwendigkeit aller Lebenserschei- uungen zu begreifen. Nebenbei wie sich denn in jedem Punkte der Wirklichkeit die entlegensten Begriffe berühren können wird aus dieser Betrachtung klar, daß der vom heihgen Augustinus erfundene und heute noch von den Kanzeln gepredigte Begriff der Erbsünde eine contradictio in adjecto ist, weil die Sünde den Begriff der Willensfreiheit, die Erblich- keit aber den Begriff der zwingenden Notwendigkeit in sich achließt.

Kehren wir nun zu unserer Frage zurück und halten wir Erwerben vorläufig fest, daß der alte Gegensatz zwischen Erfahrung und ""rbe^'" den apriorischen Voraussetzungen der Erfahrung für uns ungefähr mit dem Gegensatze zwischen einer erworbenen Orientierung in der Welt und der ererbten Disposition zur Orientierung zusammenfällt. Daß eine Entwicklung des Orientierungssinnes stattfindet, daran zweifelt gegenwärtig niemand. Für die Darwinisten besteht die Schwierigkeit hauptsächlich darin, zu entscheiden, ob die Entwicklung dem Zufall zu danken sei, wie es Darwin selbst trotz seiner Zucht- wahl anzunehmen scheint, oder einer Richtung, einer Tendenz, hinter welchen Begriffen sich allerdings uneingestandene Zweckursachen verbergen. P. N. Cossmann („Elemente der empirischen Teleologie") hat in seiner tiefgründigen Kritik des Darwinismus gezeigt, daß auch die künftige Biologie teleologische Probleme zu beantworten haben wird. Für den Darwinismus wäre es nützhch, wenn auf den Gebrauch neuer Organe oder Organoiden, auf die Übung neuer Eigen- schaften oder Fähigkeiten mehr Gewicht gelegt würde; für die Entwicklung des menschlichen Denkens scheint mir die Aufmerksamkeit auf die Übung fruchtbar zu sein. Alle Tätig- keiten können durch Einübung automatisch werden; so können erworbene Orientierungen durch Einübung die Neigung erhalten, ererbte oder verhältnismäßig apriorische Orien- tierungen zu werden. Die ungeheure Kraftersparnis, welche dadurch erzielt wird, daß eine mühsam erlernte Tätigkeit zur ererbten Disposition wird, könnte allein die Überlegenheit der Menschen über die Tiere erklären, welche wir wissen

708 XIV. Ursprung und Geschichte von Vernunft

nicht warum bei einer erstaunlichen ErbUchkeit ihrer alten Fähigkeiten, der sogenannten Instinkte, sehr wenig oder gar keine Neigung zeigen, neue Fähigkeiten apriorisch werden zu lassen. Man könnte für diesen Unterschied zwischen Menschen und Tieren eine Menge Ursachen anführen; bei der Dunkel- heit aller Entwicklungsgeschichte wüßte man aber niemals, ob die betrefienden Erscheinungen wirkhch Ursachen der Vererbungsunterschiede und nicht vielmehr ihre Folgen sind. So kann man die Sätze nebeneinander schreiben: die Tiere haben ein geringes oder gar kein Verständnis für die objek- tiven Kausalzusammenhänge; die Tiere haben ein geringes oder -gar kein Mitteilungsbedürfnis; die Tiere haben keine Kultur; die Tiere haben wenig Gemeinsames in ihrem Leben ; die Tiere haben keine oder eine sehr gering entwickelte Sprache ; die Tiere können ihre erworbenen Erfahrungen wenig oder gar nicht vererben , und niemand wüßte zu sagen, ob und wie diese Sätze logisch als Grund und Folge zu ver- binden wären , wenngleich dicke und berühmte Bücher aus logischen Verbindungen solcher Sätze bestehen. Ich lege hier den größten Wert auf die Gemeinsamkeit von Empfinden und Denken und habe mich darum innerlich dagegen zu wehren, daß mir durch diese Kichtung der Aufmerksamkeit nicht sofort die Gemeinsamkeit als das logische Endghed erscheint. Zwischen Darum meldet sich auch hier der berüchtigte Zirkel. Hat Mensdien ^^^ Mensch das Tier durch Denken und Sprechen überwunden, weil er ein soziales Wesen ist? oder ist er ein soziales Wesen, weil er es im Denken oder Sprechen so weit gebracht hat? Unsere Gewohnheit, die Worte genauer anzusehen, verhindert uns, dieses Dilemma weiter zu verfolgen. Worte stehen allein trennend zwischen Mensch und Tier, Worte bestimmen den Grad der sozialen Instinkte, Worte liegen der Unterscheidung von Ursache und Wirkung zugrunde. Was wir festhalten können, ist nur die Tatsache, daß die Sprache zwischen den Menschen lebt, daß sie gewiß zwischen den Menschen ent- standen ist. Eine Sprache ist um so nützücher, aber auch um 80 reicher, und durch ihren größeren Reichtum wieder in einem höheren Grade nützUch, je größer die Zahl der Menschen ist,

Zwischen den Menschen 709

zwischen denen sie lebt. Diese Besonderheit teilt die Sprache jedoch mit anderen Werkzeugen; ein Telephon wäre für den Besitzer völlig wertlos, wenn es ihn nicht mit einem anderen Telephonbesitzer verbände, und es wird um so wertvoller, je ansehnUcher die Zahl der angeschlossenen Teilnehmer ist; ein Schlüssel ist um so brauchbarer , je mehr Schlösser er auf- zuschließen vermag. Die Sprache unterscheidet sich von solchen unorganischen, durch Absicht erzeugten Werkzeugen dadurch, daß sie an der Gemeinsamkeit der menschlichen Vor- stellungen und Begriffe unbewußt gewachsen und entstanden ist. Man könnte in dieser Beziehung den common sense zum Träger des oben aufgeworfenen Dilemmas machen; aus dem common sense ist zwischen den Menschen die Sprache ent- standen, imd diese Gemeinsamkeit der Sprache hat zur über- triebenen Hochschätzung des common sense geführt; nur daß in dem ersten Satze common sense noch die alte Bedeutung des gemeinsamen Vorstellens hat, im zweiten Satze die neuere Bedeutung des „gesunden", das heißt gemeinen Menschen- verstandes.

Ich könnte auf diese Entstehung der Begriffe zwischen den Menschen, auf die Entstehung aus der Gemeinsamkeit der Vorstellungen eine hübsche Theorie aufbauen, die den Vorzug hätte, die alte wackelige Lehre vom Abstrahieren überflüssig zu machen. Es hieße ja wirkhch den einzelnen Menschen viel zumuten, wenn sie z, B. von selbst ersonnen haben sollten, gewisse Merkmale der Eiche, der Palme und der Tanne abzuziehen und für diesen Abzug ein besonderes Wort zu erfinden. Es wäre viel glaubhafter und würde selbst noch für die historische Zeit von der Sprachwissenschaft unterstützt, wenn zwischen den Menschen über Gelächter und Irrtümer hinweg das Wort Baum dadurch entstanden wäre, daß es ursprünglich das Wort für einen bestimmten Baum war, im Sprachgebrauche eines Individuums, daß es dann zwischen Menschen allmählich für die Naturgebilde be- deutsam wurde, die man so leicht verwechselte, wie z. B. alle Laubbäume, und daß dann erst sehr spät der wissenschaft- liche Begriff hinzukam, der auch die Palme und die Tanne

710 XIV. Ursprung und Geschichte von Vernunft

mit umfaßte, bis vielleicht einmal wieder ein Umschwung in der Botanik die Palmen nicht mehr unter die Gattung Baum begreift. Man unterscheidet heute bereits zwischen der Haupt- masse der Bäume, die man Wipfelbäume nennt, und den wenigen Ausnahmen, die Schopfbäume heißen. Common i^ unserer Untersuchung über den Ursprung der Ver-

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und Ver- nunft oder Sprache würden wir aber durch den Gesichts- erbung punkt der Gemeinsamkeit wenig gefördert, weil die Gemein- samkeit der Empfindungen und Vorstellungen sich uns sofort als eine notwendige Folge der Vererbung erweist. Unsere Sinne sind Zufallssinne, gewiß; einem relativen Zufalle ist es zuzuschreiben, daß wir die makroskopischen und mikro- skopischen Bewegungen der Wirklichkeitswelt gerade als Farben und Töne und nicht als Elektrizitätsgrade und Che- mismen empfinden. Doch dieser relative Zufall ist durch Ver- erbung wesentliches Merkmal des Menschen geworden. Unsere Sinne sind gemeinsam durch Vererbung; es ist nur ein anderer Ausdruck für diese Tatsache, wenn wir sagen, daß auch unsere Empfindungen und Sinneswahrnehmungen gemeinsam sind. Ohne diese vererbte Gemeinsamkeit wäre ein Entstehen der Sprache zwischen den Menschen so wenig möglich gewesen, als eine Sprache zwischen dem Eichhörnchen und der Auster möglich ist. Wo bei den höheren Kombinationen der Sinnes- wahrnehmungen die Gemeinsamkeit aufhört, bei den höheren Kombinationen nach der konkreten wie nach der abstrakten Seite hin, da hört die Sprache eben auch auf, ein Verständi- gungsmittel zu sein; sowohl die Individualbegriffe, wie z. B. Eigennamen, als die inhaltreichsten und darum leersten Kategorien sind nicht mehr durch Vererbung gemeinsam, sind darum im strengsten Sinne nicht mehr Worte der Gemein- sprache. Der Mensch namens Friedrich Wilhelm Schulze aus einem bestimmten Dorfe ist außerhalb seines Dorfes nicht mehr bekannt; und die kühnsten Gedanken eines Kant hat vielleicht außer ihm noch niemand verstanden oder doch nie- mand so wie er verstanden. Völlig gemeinsam ist die Sprache zwischen den Menschen nur insoweit, als die Gemeinsamkeit der ererbten Sinne einer Gemeinsamkeit der Außenwelt (auch

Common sense und Vererbung 711

diese Gemeinsamkeit ist ererbt) gegenübersteht und auch die häufigsten Kombinationen aller möglichen Sinneswahmeh- mungen wahrscheinlich noch gemeinsam sind. Bei den ganz individuellen Konkreten wie bei den ganz individuellen Ab- strakten hört die Gemeinsamkeit und damit die Sprache auf. Es gibt dann keine gemeinsame Seelensituation zwischen zwei Menschen mehr.

Wir können uns nach dem Gesagten vorstellen, wie sich Ursiirung das geistige Leben des Menschen durch Vererbung entwickelt veruunft hat. Einerseits durch die unerklärte, aber nicht wegzuleug- nende Tatsache , daß der Mensch in starkem Maße nicht nur seine ererbten, sondern auch seine erworbenen Disposi- tionen weiter vererbt, so daß jedes folgende Geschlecht besser eingeübt hat oder leichter einüben kann, was dem voran- gegangenen Geschlechte schwer geworden ist; sodann durch die ihrerseits wieder notwendige Gemeinsamkeit der Ver- erbung, durch welche beides, die Brauchbarkeit der Begrifie seines geistigen Lebens und ihre Einübung, ins Ungemessene vermehrt wurde. Wir stellen uns dabei jedoch nur die Ent- wicklung in der Gegenwart vor oder die Entwicklung in irgend einem beliebigen Punkte der Geistesgeschichte. Für den Ur- sprung der menschlichen Vernunft oder Sprache ist dadurch leider nichts gewonnen; die Frage nach dem L^rsprung ist ebenso zurückgeschoben, wie der Darwinismus die Frage nach dem Ursprung des organischen Lebens nur zurückschiebt. Wir aber wollen uns wie auch sonst nicht die Fragen anderer Leute zur Beantwortung vorlegen lassen, was ja eigentlich ein närrisches Geschäft ist, sondern auf Grund unseres eigenen Sprachgebrauchs die Frage neu zu formen suchen. Was ist denn Sprache? Doch weder ein Tier noch eine Pflanze, doch nichts Wirkliches, sondern etwas Gewirktes; doch nur die Summe von Bewegungen unserer Sprachwerkzeuge, die be- gleitet sind von noch schwerer zu bestimmenden Bewegungen in unserem Gehirn. Was ist Vernunft? Doch nur die Summe dieser unbestimmbaren Gehirnbewegungen, von denen wir erst durch die Sprache erfahren haben. Und ich muß zu- geben, daß der Begriff „Summe" in diesen beiden Erklärungen

712 XIV. Ursprung und Geschichte von Vernunft

schlecht gewählt war, allzu mechanisch; die behebte „Funk- tion" wäre besser am Platze gewesen. Ich habe das Wort Funktion vermieden, weil es just in solchen Betrachtungen von den besten Köpfen umgekehrt gebraucht worden ist. Selbst Schopenhauer, der sprachhch zwischen Verstand und Vernunft unterschieden hat, das heißt unserem Sprachge- brauche eine vorläufig nette Unterscheidung zwischen Ver- stand und Vernunft geschenkt hat, lehrt dem Sinne nach ungefähr, daß eine Orientierung in Zeit und Raum eine Funk- tion des Verstandes sei, eine Orientierung durch Begriffe, also unabhängig von Zeit und Raum, eine Funktion der Vernunft. Gegen die Absicht Schopenhauers erscheinen da Verstand und Vernunft wieder als Kräfte, als Götter, als Seelenvermögen, von welchen Funktionen objektiv abhängen. Ich suche mich von den Worten zu erlösen und nenne darum umgekehrt den Verstand eine Funktion, das heißt eine in meinem Kopfe sich bildende subjektive Funktion aller Orientierungen in der gegenwärtigen Wirkhchkeit, die Vernunft eine eben- solche subjektive Funktion aller Orientierungen durch Be- griffe. Und da wir nicht wissen, welch eine Art von Funktion das ist, so steht dafür das Wort Summe gerade so gut wie ein anderes. Ich hätte für „Summe" oder für „Funktion" gerade so gut „Wort" sagen können. Denn eigentlich handelt es sich nur um den vorläufigen Versuch einer abstrakten Zusammenfassung durch einen Begriff oder durch ein Wort. Ist es danach schon sehr mißhch, die Frage nach dem Ur- sprung der Vernunft von der Frage nach dem Ursprung des Verstandes zu trennen, so ist es noch schwerer, das Kenn- zeichen zu entdecken , an welchem man irgend eine wahr- genommene Erscheinung als den Ursprung der Vernunft er- kennen sollte. Aber gerade der Gegensatz zu der Tätigkeit des Verstandes hilft uns wenigstens zu der provisorischen Aufstellung eines Kennzeichens. Im Gegensatz zum Ver- stände orientiert sich die Vernunft nicht in der gegenwärtigen Wirkhchkeit, sondern durch Begriffe, unabhängig von der Zeit. Eine Eiche ist dieser imd dieser Baum, wie er nach dem Gedächtnisse des Menschengeschlechts schon vor Tausenden

Ursprung von Vernunft 713

von Jahren wuchs und wie er nach den Ergebnissen der Ver- nunft nach Tausenden von Jahren wachsen wird. Dieses Zeitmoment oder wenn man will diese Unabhängigkeit von der Zeit ist der Vernunfttätigkeit wesentlich; vielleicht liegt es daran, daß zur Herstellung des einfachsten Begriffes oder Wortes eine Vergleichung der gegenwärtigen mit einer vergangenen Wahrnehmung gehört, also Gedächtnis, also Überwindung der Zeit.

Unser Weg hat uns also wieder einmal zu dem Rätsel ^'^*

dächtnis

geführt, das sich uns auch auf anderen Wegen als das letzte Rätsel des geistigen Lebens entgegengestellt. Wir haben die Entstehung der Vernunft begriffen, wenn wir die Entstehung des Gedächtnisses begreifen. Begründen wir alles geistige Leben mit den Materialisten auf Empfindungen, Vorstellungen und weiter auf Erfahrungen, so haben wir nichts erklärt, solange wir nicht das Gedächtnis erklärt haben, ohne welches Erfahrung unmöghch ist ; schon Kant hat als erster die psycho- logische Erkenntnis gefunden, „daß die Einbildungskraft ein notwendiges Ingrediens der Wahrnehmung selbst sei"; die reproduzierende Einbildungskraft oder das Gedächtnis hilft erst die Wahrnehmungen zu Erfahrungen vereinigen und so die Abhängigkeit von der Gegenwart überwinden. Und wiederum kann kein Idealist, auch wenn er die Wirklichkeits- welt aus Ideen hervorgehen läßt, sich der Tatsache ver- schließen, daß seine schöpferischen Ideen Hypothesen sind, metaphorische Erweiterungen menschlicher Ideen, und daß diese menschUchen Ideen, die einzigen in der Wirklichkeits- welt, Begriffe sind und als solche Wirkungen des menschUchen Gedächtnisses. Schon der alte Skeptiker Sextus Empiricus hat überzeugend gelehrt, daß es im Menschengeiste nur eine einzige Art von Zeichen gibt, nämhch die Erinnerungszeichen, daß die dogmatischen oder beweisenden Zeichen, mit denen man Unbekanntes zu erklären vorgibt, Einbildungen sind; so schlecht die Beispiele des Sextus gewählt sind und ge- wählt sein mußten, weil einem antiken Forscher der kritische Standpunkt fernlag, so einleuchtend ist sein Gedanke, daß alle Zeichen erinnernd, das heißt alle Worte Gedächtnisarbeit

714 XIV. Ursprung und Geschichte von Vernunft

-sind. Tantum scimus, quantum memoria tenemus. Sextus ist uns als Skeptiker ein wertvoller Zeuge, nicht als Empiriker; er hat aber auch wohl den Beinamen Empiricus nur als Arzt erhalten, als ein Anhänger (ein konsequent skeptischer An- hänger) der empirischen Schule. Unsere ganze Untersuchung entfernt sich von dem empirischen oder materiahstischen Wortaberglauben schon dadurch, daß sie ja jeder Erfahrung zunächst ein ererbtes Gedächtnis oder die Disposition zu einer bestimmten Gedächtnisarbeit zugrunde legt. Dies eine wird von der Entwicklungshypothese zum mindesten be- stehen bleiben, daß jeder neugeborene Mensch eine Disposition mit auf die Welt bringt, daß also überhaupt von einer tabula rasa in der neuen Menschenseele nicht die Rede sein kann. J^^- Damit wollen wir die Untersuchung über die Vernunft-

und entwicklung abbrechen und an dieser Stelle des Weges wieder Trägheit umkehren. Denn wir werden nicht ergründen wollen, wie Gedächtnis in der organisierten Materie entstanden sein könne. Selbstverständlich ist die Bedeutung des Gedächt- nisses auf anderen Wegen schon längst entdeckt worden. Sogar Aristoteles bemerkt einmal, daß die stärkere Er- fahrungsmöglichkeit des Menschen dem Tiere gegenüber auf einem stärkeren Gedächtnisse beruhe. Kant hat uns dann dazu verhelfen, diese banale Beobachtung zu vertiefen durch die Einsicht, daß die Kategorien der Zeit und der Kausalität ^u "jeder Erfahrung gehören. Der Entwicklungsgedanke end- lich lehrt uns, daß diese scheinbar apriorischen Kategorien als ererbte, instinktive Tätigkeiten des Gedächtnisses auf- zufassen seien. Was aber Gedächtnis zuletzt ist, das wissen weder Aristoteles noch Kant noch Darwin. Und wir werden es so lange nicht wissen, als bis jemand die Frage nach dem Gedächtnis besser gestellt haben wird. Wir können höchstens mit einer vielleicht unfruchtbaren Wortverbindung die große Unbekannte der Psychologie, eben unsere Gedächtnisarbeit, unter das Gesetz von der Erhaltung der Energie stellen und uns die Sache schlecht und recht so vorstellen, daß im geistigen Leben keine Empfindung ganz verloren gehen kann^ wie im animalischen Leben kein Reiz und in der physischen

Gedächtnis und Trägheit 715

Wirklichkeit keine Kraft. Diese einfache Anwendung des Gesetzes der Trägheit hätte dann eine künftige Physiologie und eine noch künftigere Psychologie zu machen. Nur daß wir das „Gesetz" von der Erhaltung der Energie einzig und allein als physisches Gesetz kennen und gar nicht ahnen können, in welcher Form es etwa einmal ein Ausdruck für geistiges Leben werden möchte.

Der Ursprung von Vernunft, die Geschichte der Vernunft -Aufgabe ist nicht zu ergründen. Wäre Vernunft nicht eine Lebens- erscheinung, Aväre sie nur ein Lebenswerkzeug, ja wäre sie ein lebloses Werkzeug väe das Rad, so wäre die Aufgabe dennoch unlösbar, weil auch die Geschichte eines leblosen Werkzeugs niemals vollständig und niemals theoretisch völlig überzeugend ist. Aus dem Rade hat sich der bequeme Wagen entwickelt, trotzdem über tausend Jahre dieser Entwicklung vergingen, während welcher niemand die Bewegungen der einzelnen Punkte des Rades in eine mathematische Formel zu fassen verstand. Auch dann nicht verstand, als das Problem (das Rad des Aristoteles) schon aufgestellt war. Die Aufgabe ist ferner unlösbar, weil die Vernunft nicht eine Person oder eine Kraft ist, sondern eine Tätigkeit, überdies eine geheimnis- volle unsichtbare Tätigkeit. Wenn ein Australneger einer Maschine zusieht, welche Hasenfelle empfängt und Filzhüte von sich gibt, so kann er sich von ihrer Tätigkeit keine Vor- stellung machen. Der Vernunfttätigkeit gegenüber sind wir alle Australneger. Unser Kopf empfängt Eindrücke durch das Sieb der Zufallssinne und verarbeitet sie zu Worten und anderen Bewegungen. Die Tätigkeit drinnen beobachten können wir nicht. Die Aufgabe ist endlich unlösbar, weil die Vernunft nur eine Abstraktion ist von ihren Ausdrucks- bewegungen und eine Geschichte der Vernunft zugleich eine vollständige Geschichte der Bewegungen, ihrer Veran- lassungen und zugleich Geschichte aller Wegänderungen sein müßte.

716 XIV. Ursprung und Geschichte von Vernunft

,Ge- So ängstlich sich nun die Sprachkritik vor einem ver-

schichte ^j-auensvollen Gebrauch der Worte hüten muß, so hätte

und ,\ er- '

nunft" doch von Anfang an ein Verständnis für die Worte vor einer Zusammenkupplung der Worte oder Begriffe „Geschichte" und „Vernunft" warnen können. Wie immer schwankt die Sprache zwischen Scylla und Charybdis, zwischen Wippchen und Banalität, zwischen Katachrese und Tautologie.

Denn daß Vernunft und Sprache und Erimierung nur synonyme Begriffe sind, daß sie das eine Mal miteinander vertauscht werden können, das andere Mal je nach der Seelen- situation des Sprechers sich mehr oder weniger voneinander unterscheiden, das wissen wir bereits. Und daß Geschichte ebenfalls nichts weiter ist als Erinnerung oder Gedächtnis, das braucht wohl nur gesagt oder gedacht oder erinnert zu werden. Man könnte ja hübsch distinguieren : Sprache oder Vernunft besteht aus den Sagen und Märchen der Großmutter, Geschichte aus den Erzählungen des Großvaters. Manch einer wird umgekehrt distinguieren. Jedenfalls decken sich sowohl Vernunft als Geschichte mehr oder weniger genau mit dem Begriffe Gedächtnis oder Erinnerung.

Und nun ohne Ironie und ohne Wehmut zu dem Schlüsse. Geschichte der Vernunft ist ungefähr so etwas wie ein Ge- dächtnis der Erinnerung oder eine Erinnerung des Gedächt- nisses. Wie gefällig die Tinte über das Papier läuft! Wie altgewohnt die Worte die Luft erschüttern! Daran Kritik üben zu wollen, hieße mit Wortschällen Fangball spielen.

Und wenn die Wortzusammenstellung „Geschichte von Vernunft" irgend einen Sinn ergäbe, welchen Wert hätte dieser Sinn? Vernunft oder Sprache ist ungeeignet zur Er- kenntnis der Welt. Das haben wir schon erfahren, bevor noch die Sprachkritik den alten Bau der Logik vor einem flatus vocis zusammenstürzen sah. Und Geschichte ist, wir haben es vorhin von Schopenhauer gelernt, nur einiges Zu- fallswissen, nicht aber Wissenschaft. Ich sage es noch ein- mal, diesmal logisch und unlogisch: aus unklassifizierten Be- griffen und ihren Sätzen läßt sich nichts erschließen, aus Tatsachen ohne Erfahrungszusammenhang läßt sich nichts

„Geschichte" und „Vernunft" 7 17

lernen. Wohl sagt derselbe Schopenhauer (Welt a. W, u. V. 11, 508): „Was die Vernunft dem Individuo, das ist die Ge- schichte dem menschlichen Geschlechte." Jawohl ganz das- selbe; denn so wenig der Mensch aus seiner Vernunft oder Sprache Erkenntnis schöpfen kann, so wenig lernen die Völker aus der Geschichte. Eine Geschichte der Vernunft, etwa ein bewußtes Gedächtnis des unbewußten Gedächtnisses besitzt der Mensch so wenig wie eine Erinnerung an seine Entwick- lung im Mutterleib.

Diese Verzweiflung an Vernunft und Geschichtswissen- schaft oder gar an einer Geschichte von Vernunft mag wie äußerste Skepsis klingen, wenn man sie mit dem Jubelruf vergleicht, den etwa L. Noire am Ende seines wortgläubigen Buches „Die Lehre Kants und der Ursprung der Vernunft" anstimmt und der so oder so das Leitmotiv sprachwissen- schaftlichen Glaubens bildet: „So ist die Sprachwissenschaft die Fackel, die in die fernsten Tiefen einer unermeßlichen Vergangenheit ihre Strahlen sendet und unsere Schritte leitet."

So reden die gründUchsten und besonnensten Forscher Grenzen nicht. H. Paul sagt sich energisch vom alten WortreaUsmus sprach- los, wenn er auch an die Wissenschaftlichkeit der Historie wissen- glaubt. Und neuerdings erst hat uns B. Delbrück (in den „Grundfragen der Sprachforschung") eine Schrift geschenkt, die mit einer Kritik von W. Wundts allzu dogmatischer Sprach- psychologie an mancher Stelle eine leise, skeptische Resig- nation zu verbinden scheint. Der Kenner der indogermanischen „Sprachgeschichte" warnt vor dem Vergleichen mit ent- legenerem Sprachmaterial und gibt zwar nicht den Begriff der Wurzeln, wohl aber die Aufstellung von Wurzeln preis; auch räumt er ruhig die Macht des sprachhistorischen Zufalls ein. Er will ja auch den Begriff der indogermanischen Ur- sprache nicht anders verstanden wissen als den der Wurzeln. Noch wichtiger scheint es, daß Delbrück an einigen Stellen (S. 126 u. 174) lächelnd die methodischen Einteilungen für die Wissenschaft fallen läßt und nur für das praktische Be- dürfnis beibehält. Für das praktische Bedürfnis der Disziplin doch wohl, die die Fülle ihrer Beobachtungen gern übersehen

718 XIV. Ursprung und Geschichte von Vernunft

möchte. „Die Wissenschaft kennt keine Dogmatik" (S. 176)^ Wirklich nicht? B. Delbrück weiß besser als ich, daß da das Wort „Dogma" nicht in seiner ursprünglichen Bedeutung („Meinung") gebraucht ist, sondern mit dem Nebensinn, den es von der Theologie her behalten hat. Aber dennoch: weiß die Geschichte, daß sie nur ein Wissen und keine Wissenschaft ist? Und ist irgend eine Wissenschaft frei von Theologie? Von Mythologie? Eine Wissenschaft, deren alleiniges Mittel die anthropomorphische Sprache ist? Ein so überlegener Philologe wie Delbrück, das hofTe ich, wird es nicht für eine Verkleinerung seines Arbeitsfeldes ansehen, wenn er seinen eigenen Zweifel sich entwickeln sieht zu der Überzeugung: auch Sprachgeschichte ist nur Geschichte, eine Geschichte der Ungesetzlichkeit.

Der Mann, der den feinsten Spürsinn für den „Schlangen- betrug der Sprache" besaß, der die Sprache eines Volkes ge- legentlich seine Geschichte nannte und die Geschichte wieder ce monstre d'histoire, Hamann, hat einmal über einen Mann gespottet, der tägUch eine Seite im Etymologico magno liest, um der beste Historicus zu sein. „Doch vielleicht," sagt er ein anderes Mal, in den „Sokratischen Denkwürdigkeiten", „ist die ganze Historie mehr Mythologie ... ein Rätsel, das sich nicht auflösen läßt, wenn nicht mit einem anderen Kalbe als unserer Vernunft gepflügt wird." Was aber ist für Hamann diese Vernunft? „Unsere Vernunft ist jenem blinden thebani- schen Wahrsager ähnlich, dem seine Tochter den Flug der Vögel beschrieb; er prophezeite aus ihren Nachrichten."

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