WON’: Fıbrarn of the Aluseum OF COMPARATIVE ZOÖLOGY, AT HARVARD COLLEGE, CAMBRIDGE, MASS. Dounded by private subscription, In 1861. Deposited by ALEX. AGASSIZ. 1,9 No. If B | Ale LG, (86 Mon 26, 62 N a w sl RR ce ae j BERICHTE DER NATURFÜRSCHENDEN GESELLSCHAFT ZU FREIBURG LEBE ZWEITER BAND (1887) Mır 4 HorzscHhniTtTen ım TexT und 6 Tarern. "FREIBURG I. B. 1887. AKADEMISCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG VON J. C. B. MOHR (PAUL SIEBECK) GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG DER AKADEMISGHEN GESELLSCHAFT UND DER NATURFORSCHENDEN GESELLSCHAFT ZU FREIBURG I.B. DRUCK VON GEBRÜDER KRÖNER IN STUTTGART. Inhalt des zweiten Bandes. Das Recht der Uebersetzung in fremde Sprachen behält sich die Verlagsbuchhandlung für jede einzelne Abhandlung vor. Ueber den Rückschritt in der Natur. Von Geh. Rath Dr. A. WeEısmann, Professor in Freiburg Ueber die Bedeutung der lien bei aan Tukusorieni Yon Dr. I Professor in Freiburg 5 Bemerkungen über die dorsalen Werrsabı de Neu bunesloren Von stud. med. M. IvEersen aus Bergen nr Ueber summirte Zuckungen und narallkmindnen Beide Won Dr. ” v. Krıes, Professor in Freiburg. Mit 4 Holzschnitten im Text . Der Conjugationsprocess bei Paramaecium Aurelia. Von Dr. A. GRruBER, Professor in Freiburg. Mit Tafel I, II Tafel-Erklärung: Seite 59. Beitrag zur Systematik der europäischen Daphniden. Von Dr. E. Eyımann in Freiburg. Mit Tafel II—V Tafel-Erklärung: Seite 147. Kleinere Mittheilungen über Protozo@n-Studien. Von Dr. A. GRuBER, Pro- fessor in Freiburg. Mit Tafel VI Tafel-Erklärung: Seite 164. Der Bau des Menschen als Zeugniss für seine Vergangenheit. Von Dr. R. WiIEDERSHEIM, Professor in Freiburg Seite 1 3l 33 37 43 61 149 Ueber den Rücksehritt in der Natur August Weismann. Wenn von der Entwicklung des Thier- und Pflanzenreichs gesprochen wird, so denkt man wohl meistens an eine vom Niedern zum Höhern gerichtete und ununterbrochen voranschreitende Ent- wicklung. Dies trifft aber nicht zu; im Gegentheil spielt der Rück- schritt dabei eine sehr bedeutende Rolle, und fassen wir die Er- scheinungen der hückbildung scharf ins Auge, so gestatten sie uns fast noch mehr als diejenigen der Fortbildung, zu den Ursachen hinabzudringen, welche die Umwandlungen in der lebenden Natur hervorrufen. Sie sind deshalb von hohem Interesse. Es sei mir gestattet, gleich mit einem bestimmten Beispiel zu beginnen, und an der Hand desselben den Leser in die Erschei- nungen und Fragen, um welche es sich hier handelt, einzuführen. — Es gibt, wie Jedermann weiss, Vögel, welche nicht fliegen können, und unter ihnen auch solche, welche eigentliche Flügel überhaupt nicht besitzen. Dahin gehört der sogenannte „Waldstrauss* Neu- seelands, der Kiwi-Kiwi, wie ihn die Eingebornen nennen. Schon bei oberflächlicher Betrachtung des Thieres hat man das Gefühl, als ob etwas Wesentliches an ihm fehle, es macht etwa den Ein- druck eines Menschen ohne Arme, denn die Flügel fehlen ihm. An der Stelle, an welcher sie sitzen sollten, ist nichts von ihnen zu sehen; glatt und schlicht hängt das haarähnliche Federkleid am Körper herab, man bemerkt keine Spur einer vorderen Gliedmasse. Warum hat nun wohl dieser Vogel keine Flügel ? !) Nach einem im Januar 1886 in der „Akademischen Gesellschaft“ zu Freiburg i. B. vor gemischtem Zuhörerkreis gehaltenen Vortrag. Berichte II, Heft 1. Tr) DD WEISMANN: [2 Vor nicht gar langer Zeit würde man diese Frage für beant- wortet gehalten haben durch den Hinweis auf die Lebensweise des Thieres. Der Kiwi lebt in den Wäldern, aber nicht auf Bäumen, sondern am Boden, wo er sich bei Tage in Erdlöchern verbirst, bei Nacht aber vorsichtig und scheu auf seine Nahrung ausgeht, die in Insekten und Würmern besteht. Er braucht also nicht zu fliegen, um seine Nahrung zu finden, und auch Feinde braucht er unter den einheimischen am Boden lebenden Thieren nicht zu fürchten, da Neuseeland ausser zwei Fledermausarten überhaupt keine Säuge- thiere besitzt. Man würde also früher geantwortet haben: der Kiwi sei ohne Flügel erschaffen worden, weil er nicht zu fliegen brauche. Heute, wo wir an einer Schöpfung in dem alten kind- lichen Sinn nicht mehr festhalten können, wo wir wissen, dass die Thiere und Pflanzen einer jeden Epoche unserer Erdgeschichte nicht plötzlich aus dem Nichts entstanden sind, sondern sich aus älteren Arten entwickelt haben, befriedigt eine solche Antwort nicht mehr. Mit unserem heutigen Wissen lässt sich die Vorstellung einer plötz- lichen Erschaffung der Dinge nicht mehr vereinigen; der Urquell alles Seins kann nicht den augenblicklichen Zustand der Dinge, wie sie jetzt gerade sind, durch sein „Werde“ hervorgerufen haben, viel- mehr nur die Kräfte, gebunden an die Materie, welche durch ihr Aufeinanderwirken diese ganze Welt des ewigen Wechsels hervor- zauberten, werdende und vergehende Sonnensysteme so gut, als werdende und vergehende Arten irdischer Thiere oder Pflanzen. Für uns ist der Kiwi nicht aus dem Nichts erschaffen, sondern er hat sich aus anderen Thierarten entwickelt, die vor ihm gelebt haben, und zwar aus anderen Vogelarten. Die Vögel aber haben sich aus eidechsenartigen Reptilien entwickelt. Da diese nun nicht blos Hinterfüsse, sondern auch Vorderfüsse besassen, so müssen auch die Vögel ursprünglich alle solche gehabt haben, Vorderfüsse, die aber bei ihnen sich zu Flügeln umwandelten. Die Vorfahren des Waldstrausses müssen also Flügel besessen haben, und es fragt sich, warum der Waldstrauss sie verloren hat. Dass er sie wirklich verloren hat, dass seine Vorfahren sie besassen, wissen wir ganz bestimmt, denn heute noch trägt er kleine Flügelstummeln verborgen unter seinem Federkleid. Wenn er sie auch in keiner Weise mehr gebrauchen kann, so zeigen sie uns doch noch vollkommen deutlich alle wesentlichen Theile des Vogel- flügels, ja sie tragen sogar noch einige kurze, krumme Federn, welche in ihrem starken Schaft ganz an ächte Schwungfedern erinnern. 3] UEBER DEN RÜCKSCHRITT IN DER NATUR, 3 Die nächste Ursache, warum die Flügel des Kiwi-Kiwi so vollständig rudimentär geworden sind, muss nun offenbar darin ge- sehen werden, dass dieselben für ihn, so wie er heute im Uebrigen gebaut ist und lebt, nutzlos sein würden. Insoweit wäre also die obige Antwort im Recht, welche sagt, der Vogel habe deshalb keine Flügel, weil er nicht zu fliegen brauche. Er ist in der That voll- kommen für das Leben am Boden gebaut. Seine kurzen, aber ge- waltigen Beine und Füsse dienen ihm zum Aufscharren des Erd- reichs, zum Graben von Höhlen unter dem Wurzelwerk grosser Bäume und erlauben ihm zugleich mit der Geschwindigkeit und Geräuschlosigkeit einer Ratte davonzurennen, wenn er von den Ein- gebornen oder von einem der wenigen Raubvögel der Insel ver- folgt wird. Dabei verweist ihn sein langer, feinfühliger Schnabel fast ausschliesslich auf die Nahrung, welche er in der Erde finden kann, hauptsächlich auf Würmer. Er sticht mit dem Schnabel in den weichen und feuchten Waldboden nach Art der Schnepfen, und holt mit grosser Sicherheit und Geschicklichkeit die Würmer aus ihm hervor. Zu der Zeit also, als sich die Art bildete, war sie bereits an den Boden gebunden und hatte keinen Grund, ihn zu verlassen, und diesen Lebensbedingungen hat sich denn auch der Körper ange- passt, die Flügel verkümmerten. Hätte es heute erst zu geschehen, so würde es vielleicht unterbleiben, denn durch die Einwanderung des europäischen Menschen mit seinem Schiessgewehr und seinen thierischen Begleitern, der Katze und dem Hund, sind die Lebens- bedingungen des Kiwi erheblich verändert worden. Flügel würden jetzt dem wehrlosen Vogel von grossem Nutzen sein. Nun sind sie aber einmal verloren gegangen, und der Kiwi wird wohl schon in kurzer Zeit ebenso vollständig ausgerottet sein, als die riesigen Strausse, die Moa’s, welche Neuseeland noch zu Menschengedenken bewohnten und deren über 12 Fuss hohe Skelette wir jetzt in den Sammlungen anstaunen. Dadurch also, dass die flügelbesitzenden Vorfahren des Kiwi sich mehr und mehr dem Leben am Boden der Wälder anpassten, kamen sie auch mehr und mehr in die Lage, ihrer Flügel nicht mehr zu bedürfen, und wir werden mit der Annahme nicht irre gehen, dass diese immer vollständigere Vernachlässigung der Flügel, diese durch lange Generationsreihen hindurch fortgesetzte Enthal- tung vom Flug eine Rückwirkung auf das Flugorgan selbst aus- geübt, den Flügel allmählig kleiner gemacht und ihn schliesslich 1* (1%) 4 WEISMANN: [4 auf das unscheinbare Anhängsel zurückgebracht habe, welches wir heute beim Kiwi vorfinden. Wir können auch verstehen, warum die Verkümmerung beim Kiwi einen höheren Grad erreicht hat, als beim Strauss, denn dieser bedient sich der Flügel noch, wenn auch nicht zum Fliegen, so doch zur Beförderung seines eiligen Laufes durch die Steppen und Wüsten Afrika’s. Dem Kiwi aber ist ein so pfeilschnelles Dahinjagen über weite Flächen schon durch das Waldesdickicht untersagt, in welchem er lebt. Kurze, aber mit schönen grossen Federn besetzte Flügel, wie sie der Strauss besitzt, würden ihm beim Durchschlüpfen durch Busch und Gestrüpp nur hinderlich, jedenfalls in keiner Weise nütz- lich gewesen sein. So sind denn seine Flügel beinahe vollständig verkümmert und von der äusseren Bildfläche des Vogels ganz ver- schwunden. Die Strausse sind übrigens nicht die einzigen Vögel, deren Flügel bis zu einem gewissen Grad rückgebildet sind; auch unter den Wasservögeln finden wir einzelne Arten, die allzu schwer und plump geworden sind, um sich noch in die Luft erheben zu können, und auch bei diesen, z. B. beim Pinguin, sind die Flügel als Flug- organe gänzlich ausser Thätigkeit gesetzt. Wenn aber auch nicht mehr zum "Fliegen, so werden sie doch zum Rudern im Wasser gebraucht und sind dementsprechend nicht vollständig verkümmert wie beim Kiwi, sondern nur viel kleiner als bei fliegenden Vögeln, und durch dichte Bekleidung mit kurzen, schuppenartigen Federn einer Fischflosse ähnlich. Schon an diesen wenigen Beispielen lässt sich erkennen, dass die Zweckmässigkeit in der lebenden Natur nicht blos darin sich kundgibt, dass neu entstehende Theile zweckmässig gebildet werden, d. h. in einer solchen Weise, dass sie aufs beste leisten können, was sie leisten sollen, sondern dass auch umgekehrt alles Ueber- flüssige entfernt, dass jeder Theil wieder beseitigt wird, sobald ihn das Thier nicht mehr gebraucht. Offenbar geschieht aber diese Beseitigung nicht plötzlich und gewissermassen willkürlich, sondern allmählig und gesetzmässig, so dass wir sehr häufig die Zwischen- stufen zwischen dem noch voll entwickelten Organ und seinem voll- ständigen Fehlen beobachten können. Solche Rückbildungen früher wichtiger Theile treten aber nicht nur hier und da in der Natur auf, sondern sie sind überaus häufig, ja sie fehlen bei keinem höheren Thier und lassen sich bei vielen derselben in grosser Zahl nachweisen. Es muss ja auch so sein, 5] UEBER DEN RÜCKSCHRITT IN DER NATUR. 5 wenn die heutigen höheren Thiere aus früheren niederen hervor- gegangen sind, da letztere unter ganz verschiedenen Bedingungen und Verhältnissen lebten, folglich auch vielfach andere Theile und Organe besassen, die im Laufe der Zeiten entweder umgewandelt wurden oder aber verkümmerten und gänzlich verschwanden. Wäre die Natur nicht im Stande, das Schwinden überflüssiger Organe zu bewirken, so würde der grösste Theil der Artumwandlungen über- haupt nicht vor sich gegangen sein können, denn die einmal vor- handenen, aber überflüssig gewordenen Theile des Thiers würden den anderen in Thätigkeit befindlichen im Wege gestanden und ihre Ausbildung gehemmt haben, ja, hätten alle Theile, die die Vorfahren besassen, beibehalten werden müssen, so würde schliess- lich ein Monstrum von Thier entstanden sein, ein gar nicht mehr lebensfähiges Ungeheuer. Der Rückschritt überflüssig gewor- dener Theile ist also Bedingung des Fortschritts. Wenn wir nun die nächste Ursache, warum ein Theil im Laufe der Artentwicklung schwindet, darin gefunden haben, dass derselbe nicht mehr gebraucht wird, so werden wir zunächst weiter fragen, wie es denn kommen kann, dass ein Theil, der bisher unentbehrlich zum Leben war, nun nicht mehr gebraucht wird. Offenbar kann dies nur dadurch geschehen, .dass die Bedingungen, unter welchen das Thier lebt, andere werden. Wenn ein Vogel, der bisher seine Nahrung auf Büschen und Bäumen suchte, am Boden des Waldes so reichliche Nahrung entdeckt, dass er davon allein besser als früher leben kann, so wird er sich jetzt mehr und mehr an das Leben auf dem Boden gewöhnen und immer weniger mehr auf Büsche und Bäume fliegen. Dadurch allein schon wird er unter ganz andere Lebensbedingungen versetzt sein, als die waren, unter welchen er früher lebte; er wird nun das Fliegen nicht mehr nöthig haben, wird deshalb zuerst weniger als früher und in späteren Ge- nerationen gar nicht mehr fliegen. Dabei braucht sich der Wald, in dem er lebt, das Klima, die Thierwelt, die ihn umgibt, nicht geändert zu haben, es genügt, dass er selbst eine neue Gewohnheit angenommen hat. Aehnlich verhält es sich mit Thieren, die ihren ursprünglichen Wohnort verlassen. Auch dadurch können sie in wesentlich andere Lebensverhältnisse Serathen, die unter Umständen ein Organ über- flüssig machen, welches bisher zum Leben ganz unentbehrlich ge- wesen war. Wenn z. B. eine Thierart, die bisher im Licht lebte, in dunkle, gänzlich lichtlose Aufenthaltsorte auswandert, so kann 6 WEISMARNN: [6 sie ihre Augen nicht mehr gebrauchen, und wir finden dem ent- sprechend ganz allgemein, dass solche Arten ihre Augen mehr oder weniger vollständig eingebüsst haben. Das ist z. B. der Fall bei den sogenannten Höhlenthieren. In den Krainer Tropfsteinhöhlen lebt in grosser Zahl der blinde Molch, Proteus, leben blinde Asseln, blinde Flohkrebse, blinde In- sekten und Schnecken; in der Mammuthhöhle in Kentucky findet sich neben anderen blinden Thieren auch ein blinder Fisch und ein blinder Flusskrebs. Es bedarf eigentlich nicht erst eines Beweises, dass diese Arten von sehenden Vorfahren abstammen, da man ja weiss, dass die betreffenden Höhlen nicht von Ewigkeit her existiren, dass also die in ihnen lebende Thierwelt vom Lichte her einge- wandert sein muss, aber bei manchen von ihnen kann man auch den direkten Beweis führen, denn sie besitzen noch Andeutungen der früher vorhanden gewesenen Augen. So liegt beim Olm und bei dem blinden Fisch der Kentucky-Höhle ein kleines, unvollkom- menes und zum Sehen nicht mehr brauchbares Auge unter der Haut, und bei dem blinden Flusskrebs sind zwar die Augen selbst völlig geschwunden, nicht aber die beweglichen Stiele, auf welchen sie früher sassen. Höhlen sind übrigens nicht die einzigen lichtlosen Aufenthalts- orte von Thieren; auch in tiefen Brunnen und vor Allem auf dem Grund des Meeres und der Seen herrscht vollkommene Dunkelheit. Wir verdanken Professor Forer in Morges die ersten Angaben dar- über, wie tief das Licht ins Wasser eindringt. Photographische Platten wurden bei Nacht in eine bestimmte Tiefe versenkt und nun dort, befestigt an einem Schwimmer, ein- oder mehrmals vier- undzwanzig Stunden der Wirkung des etwa noch bis zu ihnen hinab- dringenden Lichtes ausgesetzt. Foren fand auf diese Weise, dass selbst in dem krystallklaren Wasser des Genfer Sees das Licht im Winter, wo das Wasser am reinsten ist, nicht bis zu 100 Meter Tiefe hinabdringt, im Sommer nicht einmal bis zu 50 Meter. Neuere Untersuchungen von For und Sarasın, die mit vervollkommneten Apparaten und mit noch empfindlicheren photographischen Platten angestellt wurden, rückten indessen die Grenze, bis zu welcher das Licht in den Genfer See eindringt, bis auf 170 Meter hinab. In dieser Tiefe findet an hellen Tagen etwa eine Beleuchtung statt, wie wir sie in einer sternklaren, aber mondlosen Nacht zu sehen gewohnt sind. Erst unterhalb 170 Meter herrscht völlige Finster- niss, und dort finden wir denn auch bis zur grössten Tiefe unserer 7] UEBER DEN RÜCKSCHRITT IN DER NATUR. 7 Seen (300 Meter) einige blinde Thiere, z. B. eine blinde Assel und einen Flohkrebs. Im Meer liegt die Lichtgrenze, vermöge der mangelnden Trübung des Wassers viel tiefer, nämlich in 400 Meter, da indessen das Meer, wie wir jetzt wissen, bis in Tiefen von 4000 Meter hinab noch von Thieren bewohnt wird, so ist also ein un- geheures dunkles Wohngebiet vorhanden, aus welchem denn auch zahlreiche blinde Thiere hervorgezogen worden sind, blinde Fische, blinde Krebse aller Ordnungen, blinde Schnecken und Würmer, lauter Formen, deren nächste Verwandten aus der beleuchteten Meereszone Augen besitzen. Auch Thiere, die in selbstgegrabenen Gängen im Boden leben, haben meist verkümmerte oder gar keine Augen. So sind die Regenwürmer augenlos, während ihre Verwandten in der Öber- flächenzone des Meeres meistens Augen besitzen, zum Theil sogar Augen von erstaunlich hohem und complieirtem Bau. Der gewöhn- liche Maulwurf besitzt zwar noch Augen, wenn auch nur winzige, unter dichtem Haarbesatz ganz versteckt liegende, aber in Afrika gibt es Maulwürfe, die ganz augenlos und also vollständig blind sind. Es könnten noch viele Beispiele angeführt werden, die alle zeigen, dass Thiere, die keine Gelegenheit haben, zu sehen, ihre Augen einbüssen. Was aber für die Augen gilt, das gilt für alle Organe; die Erfahrung lehrt uns, dass jedes Organ, welches nicht mehr gebraucht wird, sich zurückbildet und schliesslich ganz ver- loren geht. Interessante Belege dafür besitzen wir auch an den übrigen Sinnesorganen, obwohl die Fälle seltener sind, in welchen dieselben gänzlich ausser Gebrauch gesetzt werden. So haben die Cöcilien oder Blindwühlen, tropische Amphibien von Wurm- oder Schlangen- gestalt, die in der Erde leben, nicht nur die Augen, sondern auch das Gehör eingebüsst! Sie besitzen weder ein Trommeltfell, noch eine Paukenhöhle, und wenn auch das im Innern des Schädels ver- borgene Gehörbläschen noch vorhanden ist, so ist doch der Hörnerv verkümmert, der zu ihm hinlaufen und es mit empfindenden Ele- menten versehen sollte. Diese Thiere hören also durchaus nichts! Es muss wohl für sie im Innern der Erde werthlos gewesen sein, zu hören, sonst würde das Organ nicht verkümmert sein. Ersatz für Gehör und Gesicht leistet ihnen ihr ganz ungewöhnlich stark ausgebildetes Geruchsorgan; sie haben von allen Wirbelthieren die feinste Nase. Auch von Verkümmerung des Geruchsorgans durch Nicht- g WEISMAnN: [8 gebrauch kennen wir Beispiele. So haben die Wale und Delphine das so hoch entwickelte Geruchsorgan der übrigen Säugethiere ver- loren, bald mehr, bald weniger vollständig; im Wasser ist dasselbe eben nutzlos. Nicht immer geht der Rückbildungs-Prozess bis zum voll- ständigen Verschwinden des Organs fort. Bei den Sinnesorganen allerdings wird dies wohl immer der Fall sein, weil diese nicht zu irgend einem anderen Gebrauch umgewandelt werden können, aber sonst kommt es nicht selten vor, dass das schwindende Organ noch in irgend einer anderen, als der ursprünglichen Weise für das Thier nutzbar gemacht werden kann, und dann bleibt es auf einer ge- wissen Stufe der Rückbildung stehen, wie z. B. der oben erwähnte Flügel des Straussen, oder es wird ausserdem noch in einer ge- wissen Weise verändert und umgewandelt, d. h. für seine neue Funktion brauchbarer gemacht, wie der zu einem Wasserruder um- gewandelte Flügel des Pinguin. Wie tief aber solche Rückbildungsprozesse in Folge von Nicht- gebrauch in die Entwicklungsgeschichte der Arten eingreifen, das kann an keinem Beispiel besser gezeigt werden als an dem der Schmarotzer. In sehr vielen Thiergruppen gibt es einzelne Gattungen oder auch ganze Familien, ja selbst ganze Ordnungen, welche auf Kosten anderer Thiere, von deren Blut oder sonstigen Säften leben, ohne sie doch nach Art der Raubthiere zu tödten. Dies sind die Schma- rotzer. Manche von ihnen besuchen nur zeitweise, wenn sie Hunger empfinden, ihren unfreiwilligen Wirth, und verlassen ihn wieder, wenn sie sich gesättigt haben, andere aber haben ihren festen Wohn- sitz auf oder in ihm und verlassen ihn erst mit ihrem Tode. Be- sonders zahlreich sind die Schmarotzer in der grossen Klasse der Würmer, aber fast ebenso häufig kommen sie auch in einer anderen, noch grösseren Klasse von Thieren vor, in der der Krebse oder Crustaceen. Die meisten Krebsarten sind zwar frei schwimmende oder laufende Bewohner des Wassers, vor Allem des Meeres, und ernähren sich theils von Pflanzen, theils von lebenden oder todten Thieren, aber fast in allen Ordnungen der Krebse gibt es auch Schmarotzer, und diese zeigen uns in auffallender Klarheit die Wir- kungen des Nichtgebrauchs durch Parasitismus. Man braucht nur in irgend einer Hafenstadt Europa’s den Fischmarkt zu besuchen und die grösseren Fische zu durchmustern, so wird man nicht selten auf ihrer Haut einzelne zolllange geglie- 9] ÜEBER DEN RÜCKSCHRITT IN DER NATUR. (0) derte Thiere festgeklammert finden, die eine gewisse Aehnlichkeit mit Kellerasseln haben. Es sind dies Schmarotzerasseln, welche sich vom Blute der Fische ernähren. Sie gehören nicht zu den vollkommen sesshaften Schmarotzern, sondern verlassen von Zeit zu Zeit ihren Wirth, um einen anderen aufzusuchen. Sie zeigen nun schon deutlich die Wirkungen des Parasitismus. Alle ihre Beine sind kurz, da sie nicht mehr zum Schwimmen, sondern vorwiegend zum Anklammern benutzt werden, und auch die Sinnesorgane sind einigermassen zurückgebildet, da ein Schma- rotzer sie nur wenig mehr braucht. Ein Krebs, der vom Raube anderer Thiere lebt, muss freilich seine Beute womöglich schon von weitem her erkennen, und dazu braucht er gute Augen und feine Spürorgane, wie sie bei den Krebsen auf den Fühlern angebracht sind; ein Schmarotzer aber, wenn er erst einmal auf seinem Wirth angeklammert festsitzt, verlässt denselben nicht so leicht wieder, und wenn er es thut, so ist ein anderer Wirth bald gefunden, denn die Fische leben ja meist in Mehrzahl beisammen. So finden wir denn bei diesen Fischasseln Augen und Fühler klein und un- ansehnlich. Das ist aber nur der erste Grad der Rückbildung, die um so weiter fortschreitet, je sesshafter der Schmarotzer wird. Zu der- selben Krebs-Ordnung der Asseln gehört auch die Familie der Binnen-Asseln oder Entoniseiden, deren Arten alle im Innern von anderen Krustern, besonders von Taschenkrebsen schmarotzen. Sie wechseln den Wirth nicht, ja bewegen sich nicht einmal von der Stelle innerhalb desselben, sondern wo sie sich einmal festgesetzt haben, da bleiben sie während ihres ganzen Lebens sitzen. Ein- gesenkt in die Leber ihres Wirths, saugen sie dessen Säfte, wachsen enorm, produciren Tausende und aber Tausende von Eiern und sterben endlich. Es leuchtet ein, dass bei einer solchen Lebens- weise viele Theile, welche für das freie Leben im Meer bei ihren Vorfahren nothwendig waren, jetzt nicht mehr gebraucht werden, und also der Rückbildung verfallen sein werden. In der That ist bei ihnen diese Rückbildung in einem so hohen Grad eingetreten, und der ganze Bau des Thieres dadurch dermassen verändert worden, dass es schwer fällt, in einer solchen Binnenassel das Krebsthier überhaupt noch zu erkennen. Die so charakteristische Gliederung des Körpers in Ringel oder Segmente ist gänzlich verschwunden, und an Stelle des harten Hautpanzers ist eine dünne und weiche Haut getreten. Dabei hat sich der Körper wurmförmig in die 10 WEISMARN: [10 Länge gestreckt, hat sonderbare zipfelförmige Anhänge bekommen zur Aufbewahrung der Eiermassen und ist farblos geworden, wie bei allen im Dunkeln lebenden Thieren. Alle diese Veränderungen lassen sich leicht begreifen. Die Segmentirung des Körpers ver- mittelt bei den Krebsen die Beweglichkeit desselben, das harte Hautskelett aber dient zum Ansatz der Muskeln. Aber auch die Augen und Fühler fehlen vollständig; das Thier lebt ja im Dunkeln, und zu spüren gibt es auch nichts, nachdem es sich einmal fest- gesogen hat. Auch sämmtliche Mundtheile, die bei den übrigen Asseln so wohl ausgebildeten Kiefer sind spurlos verschwunden, ebenso wie sämmtliche Beine, von denen bei den übrigen Asseln sieben Paare an der Brust stehen und sechs am Hinterleib. Nicht minder redueirt sind die inneren Organe, mit einziger Ausnahme der Eierstöcke, welche enorm vergrössert sind, so dass man fast glauben könnte, das Thier sei nichts als ein einziger grosser Eiersack. Man wird nun aber fragen, woher wir denn wissen, dass dieses wurmförmige sonderbare Wesen ein Krebsthier und zwar eine Assel ist? Darauf ist zunächst zu antworten, dass wir viele andere Schmarotzerasseln kennen, bei denen die Kückbildung nicht so weit geht wie bei dieser, und die eine ziemlich zusammenhängende Ueber- gangsreihe bilden von der vorhin erwähnten Fischassel zur Binnen- assel. Noch sicherer aber und bestimmter wird die Abstammung der Binnenassel von frei lebenden Asseln dadurch bewiesen, dass die Jungen derselben noch vollständige Asseln sind mit Augen und Fühlern, mit gegliedertem Körper, mit Mundkiefern und vielen Beinpaaren, kurz in allen wesentlichen Theilen freien Asseln gleich gebildet. Diese jungen Binnenasseln leben auch wirklich frei. Sie müssen es ja, wenn ihre Art nicht aussterben soll; denn wie sollte ein Mutterthier einer Binnenassel von dem ursprünglichen Wirth auf einen neuen gelangen können, da es keine Bewegungsorgane besitzt? Und doch muss die Art ımmer wieder neue Wohnthiere ausbeuten können, da die alten mit der Zeit sterben. Es verlassen also die jungen Binnenasseln in vollkommener Asselgestalt die Mutter, bohren sich aus dem Wirth, dem Taschenkrebs, heraus und schwimmen nun frei im Meer herum, so lange, bis sie einen anderen Taschenkrebs gefunden haben, in den sie sich einbohren, um nun in rascher Folge eine ganze Reihe von Rückbildungen durchzu- machen, die sie zu jener sonderbaren, wurmförmigen Gestalt um- wandeln, die wir zuerst kennen gelernt haben. Gewiss ist diese so weitgehende Rückbildung nicht auf einmal erlangt worden, son- 11] ÜEBER DEN RÜCKSCHRITT IN DER NATUR. iMl dern erst im Laufe zahlloser Generationen und zahlreicher Arten. Die ersten parasitischen Asseln lebten ohne Zweifel nach Art der heutigen Fischasseln aussen auf der Haut ihrer Wirthe, dann folgten etwa solche, die in inneren Höhlen des Körpers, in der Athemhöhle, der Darmhöhle sich festsetzten. Bei diesen wird die rückschreitende Umwandlung ihres Körpers schon stärker gewesen sein und sie wird sich immer mehr gesteigert haben, je mehr die Schmarotzer sich in die inneren Organe selbst einzusenken im Stande waren. Die Binnenassel ist nicht einmal der extremste Fall von Rückbildung, der bei parasitischen Krebsthieren vorkommt. Es gibt Krebse, bei welchen nicht nur die Beine, Fühler und Augen, sowie die Gliederung des Körpers verloren geht, sondern auch der ganze Kopf, ja der Magen und Darm und die Mundöffnung; bei welchen die Nahrung durch sonderbare wurzelartige Schläuche aufgenommen wird, welche das Blut des Thieres aufsaugen, so dass dasselbe ohne Verdauung direkt zur Ernährung des Schmarotzers verwendet werden kann. Das Beispiel der Binnenassel aber lässt schon zur Genüge erkennen, eine wie mächtig umgestaltende Wirkung der Nichtgebrauch von Theilen auf den gesammten Organismus einer Art ausüben kann. | Wenn wir nun auf diese Weise die Einsicht gewonnen haben, dass der Nichtgebrauch eines Theiles stets begleitet wird von dem allmähligen, im Laufe sehr zahlreicher Generationen eintretenden Schwund desselben, so liegt die Vermuthung nahe, es möchte dieser Schwund die direkte Folge des Nichtgebrauchs sein, das Verkümmern des betreffenden Organs möchte unmittelbar dadurch hervorgerufen sein, dass dasselbe nicht mehr in Thätigkeit versetzt wird. Wirklich hat man die Sache bisher so aufgefasst, und auf den ersten Blick scheint diese Vorstellung auch ganz annehmbar, ja sogar überaus wahrscheinlich. Ist es doch eine allbekannte, wenn auch nicht gerade genau studirte Thatsache, dass Theile, welche viel benutzt werden, stark und kräftig werden, solche aber, die nur selten oder gar nicht in Thätigkeit treten, verkümmern, schwach und klein werden. Wir können durch fleissiges Turnen die Muskeln unserer Arme bedeutend kräftiger und massiger machen, als sie vorher waren, und umgekehrt verlieren unsere Arme die frühere Kraft, wenn sie nie in stärkerem Masse angestrengt werden. Die Gymnastiker des Cirkus zeigen uns am besten, zu welch erstaunlicher Fülle und Kraft die Muskulatur des Menschen durch Uebung gebracht werden kann, und umgekehrt 123 WEISMANN: [12 lassen manche Handwerke, die mit stetem Sitzen und mit Mangel kräftiger Bewegungen verbunden sind, sehr deutlich den erschlaffen- den Einfluss des Nichtgebrauchs erkennen. Noch bestimmter spricht der Versuch: nach Durchschneidung des Muskelnerven entartet der betreffende Muskel, da er nun nicht mehr in regelmässige Thätig- keit versetzt werden kann, und auch Drüsen entarten, wenn sie mittelst Durchschneidung ihrer Nerven ausser Funktion gesetzt werden. Man darf ganz allgemein den Satz aufstellen, dass ein Organ durch seine normale Thätigkeit gekräftigt, durch anhaltende Unthätigkeit aber geschwächt wird. Wie das etwa kommen mag, braucht hier nicht erörtert zu werden, ist auch noch nicht ganz vollständig klargelest; es genügt zu wissen, dass dem so ist. Wenn wir nun als sicher annehmen dürfen, dass Nichtgebrauch eines Organs dasselbe schon im Verlauf des Einzellebens der Ver- kümmerung entgegenführt, was liegt dann näher, als das allmählige, im Laufe der Generationen eintretende Schwinden nicht mehr ge- brauchter Theile bei einer Art einfach durch die Annahme zu er- klären, dass die verkümmernde Wirkung des Nichtgebrauchs sich von einer Generation auf die andere übertrage, sich auf diese Weise steigere und so schliesslich zur gänzlichen Beseitigung des Theils führe? Wenn auch die Wirkung des Nichtgebrauchs im Laufe jedes Einzellebens nur eine sehr geringe wäre, so müsste sie sich doch im Laufe der Generationen summiren, das Organ müsste immer mehr von seiner Höhe herabsinken, immer schwächer und kleiner werden, bis schliesslich nichts mehr von ihm übrig wäre! So einleuchtend diese Erklärung nun auch aussieht, so kann sie doch nicht die richtige sein, denn es gibt zahlreiche Thatsachen, die unvereinbar mit ihr sind. Zunächst setzt sie schon etwas voraus, was zwar oft behauptet, aber noch niemals erwiesen worden ist: die Vererbung erwor- bener Eigenschaften. Wohl wissen wir, dass sämmtliche körperliche und geistige Eigenschaften von den Eltern auf die Kinder übergehen können, die Farbe der Augen und des Haares, die Form und Grösse der Fingernägel, ja, wie Jedermann weiss, jene kleinsten und undefinir- baren körperlichen und geistigen Eigenheiten, welche die Aehnlich- keit der Gesichtszüge, der ganzen Körperhaltung, des Ganges, der Handschrift, des milden und versöhnlichen, oder des heftigen und aufbrausenden Temperamentes bedingen. Aber alle diese Eigen- schaften besassen die Vorfahren schon vermöge ihrer Keimes- 13] UEBER DEN RÜCKSCHRITT IN DER NATUR, 13 anlagen, mögen sie früher oder später zur Entwicklung gelangt und in verschiedener Stärke oder Combination bei ihnen vorhanden gewesen sein. Solche Eigenschaften aber, die der Vorfahr erst im Laufe seines Lebens durch äussere Einwirkungen „erworben“ hat, kann er nicht vererben. Der Verlust eines Fingers vererbt sich nicht auf die Nachkommen; alle die tausendfachen Fähigkeiten, welche durch Uebung einzelner Theile oder auch des gesammten Körpers erworben werden, sind nur Errungenschaften für die eigene Person; nichts davon überträgt sich auf die Nachkommen. Noch niemals ist es erhört worden, dass ein Kind von selbst lesen gekonnt hätte, obwohl doch seine beiden Eltern ihr ganzes Leben hindurch sich diese Kunst fest und fester eingeübt haben. Nicht einmal das Sprechen können unsere Kinder von selbst, und hier haben nicht nur die Eltern, sondern eine unendlich lange Reihe von Vorfahren ihr Gehirn und ihre Sprechwerkzeuge fort und fort geübt und ver- vollkommnet. Es ist jetzt als sicher festgestellt zu betrachten, dass Kinder civilisirter Völker, wenn sie in der Wildniss und gänzlich ausser Gemeinschaft der Menschen aufwachsen, keine Spur einer Sprache hervorbringen. Ich brauche mich dabei nicht blos auf jene unverbürgte Erzählung zu beziehen, nach welcher ein persischer König den grausamen Versuch angestellt haben soll, etwa zwanzig neugeborene Kinder miteinander aufziehen zu lassen, ohne dass den- selben jemals ein menschliches Wort zu Gehör kommen konnte. Keines von ihnen soll irgend etwas wie ein Wort hervorgebracht, alle dagegen das Meckern einer Ziege, mit der sie zusammenlebten, mit Virtuosität nachgeahmt haben. Aehnliches wird auch von allen jenen sicher bekannten Fällen berichtet, in welchen halb oder ganz herangewachsene Menschen in völlig wildem Zustand in den Wäldern aufgefunden wurden, wie solche bis in das vorige Jahrhundert hinein in Deutschland, Frankreich, England und Russland zu verschiedenen Malen vorgekommen sind. Beinahe alle sollen Töne hervorgebracht haben, die denen bestimmter wilder Thiere ähnlich waren, mit denen sie zusammen lebten, keiner aber auch nur eine Spur von mensch- lichen Worten. Wenn man sich recht lebhaft vorstellt, wie überaus stark und unausgesetzt die Uebung ist, welche wir dem Sprechen während unseres ganzen Lebens widmen, sei es, dass wir wirklich sprechen, sei es, dass wir nur still für uns denken, und wenn man dabei er- wägt, dass trotz dieser unausgesetzten Uebung, wie sie seit Jahr- tausenden auf alle menschlichen Gehirne und Sprachorgane einge- 14 WEISMANN: 1 4 wirkt hat, sich dennoch die Kunst zu sprechen nicht - im aller- geringsten Grad erblich befestigt hat, so wird man geneigt sein, darauf allein hin schon stark zu bezweifeln, dass im wahren Sinn erworbene Eigenschaften jemals vererbt werden können. Das stimmt auch vollkommen mit theoretischen Ansichten über die Grundlage des Vererbungsvorganges, wie sie mir wenigstens als die einzig haltbaren erscheinen. Wenn aber die Resultate der Uebung eines Organs sich nicht vererben, dann müssen auch die der Nichtübung, des Nichtgebrauchs auf das Individuum beschränkt bleiben. Ist das aber der Fall, dann kann auf diesem Weg unmöglich eine Steigerung in der Rück- bildung eines Organs im Laufe der Generationen eintreten, und dann müssen wir die ganze vorhin gegebene Erklärung für die all- mählige Verkümmerung eines Organs durch Nichtgebrauch für irrig halten. Wir werden uns also nach einer anderen und besseren Er- klärung umsehen müssen; und wir finden sie — wenn ich nicht irre — in der Kehrseite der Naturzüchtune. Was ich damit meine, wird sogleich klar werden. Bekannt- lich versteht man seit Cn. Darwın und Aurrken Warvace unter dem Worte „Naturzüchtung* jenen Prozess der Auslese, welchen die Natur selbst, ohne menschliche Nachhülfe, dadurch vornimmt, dass stets viel mehr Individuen geboren werden, als am Leben bleiben können, und dass unter ihnen stets nur die Besten erhalten bleiben. Die Besten sind aber hier diejenigen, welche die beste Organisation besitzen, welche — wie wir sagen — ihren Lebensbedingungen am besten „angepasst“ sind. Da nun diese im Laufe einer grösseren Zahl von Generationen allein übrig bleiben und allein sich vermehren, so übertragen sie auch ihre Eigenschaften allein auf Nachkommen, und die schlechteren Eigenschaften der weniger gut ausgerüsteten Individuen sterben aus. Die folgende Generation wird also im Ganzen aus besser organisirten Individuen bestehen als die vorher- gehende, und die Steigerung der vortheilhaften Eigenschaften muss so lange von Generation zu Generation weitergehen, bis die über- haupt erreichbare grösste Vollkommenheit wirklich erzielt ist. So- weit sind ja wohl diese Vorstellungen auch einem weiteren Leser- kreis nichts Neues mehr, sie sind so oft in den verschiedensten populären Büchern und Zeitschriften dargelegt worden, dass ich wohl annehmen darf, sie mit vorstehenden Worten jedem meiner Leser wieder voll zum Bewusstsein gebracht zu haben. Was nun aber für das Thier als Ganzes gilt, das gilt auch 15] UEBER DEN RÜCKSCHRITT IN DER NATUR. 15 für jeden einzelnen Theil, denn von der Güte der einzelnen Theile hängt ja die Gesammtleistung des Thieres ab. Es kann also jeder Theil durch diese fortgesetzte Auslese zu möglichst hoher Vollkom- menheit emporgeführt werden. Auf diese Weise, und auf diese Weise allein vermögen wir zu begreifen, wie Alles, auch das Kleinste an Thieren und Pflanzen, so wunderbar zweckentsprechend eingerichtet ist, vermögen wir die Entwicklung der Organismenwelt aus den bekannten Kräften der Natur allein abzuleiten. Wenn nun diese Ansicht richtig ist, wenn wirklich die Zweck- mässigkeit der lebenden Wesen in allen ihren Theilen auf dem Vorgang der Naturzüchtung beruht, dann muss diese Zweck- mässigkeit auch durch dasselbe Mittel erhalten werden, durch welches sie zu Stande gekommen ist, und sie muss wieder verloren gehen, sobald dieses Mittel, die Natur- züchtung, in Wegfall kommt. Mit diesen Folgerungen aber haben wir die Erklärung dafür gefunden, warum Theile, welche überflüssig geworden sind und nicht mehr benutzt werden, noth- wendig von der Höhe ihrer Ausbildung herabsinken und nach und nach verkümmern müssen. Ein bestimmtes Beispiel wird die Sache am besten klar machen. Denken wir uns einen Wassermolch, wie sie bei uns in jedem Frühjahr in den Sümpfen und Wassertümpeln zu finden sind, und betrachten wir seine Augen. Dieselben sind nicht sehr gross, aber doch schon sehr hoch ausgebildet, unseren eigenen Augen ganz ähnlich, und spielen eine sehr wichtige Rolle in dem Leben des Molchs, weil dieser fast allein auf die Augen angewiesen ist, um seine Beute ausfindig zu machen. Alles, was sich bewegt, sieht er sogleich und schnappt danach; hätte er seine Augen nicht, so müsste er rettungslos verhungern. Diese Augen sind nun äusserst compli- ceirte und feine Organe, die sich jedenfalls nur sehr langsam, d. h. im Laufe ganzer Erdperioden erst zu der Höhe der Organisation und Leistung emporgeschwungen haben, welche sie bei dem heute lebenden Salamander besitzen. Wir kennen zwar diese Vorfahren- reihe nicht, aber wir kennen in anderen Thiergruppen eine grosse Anzahl von Stufen der Augenentwicklung und können uns daraus ein Bild davon machen, wie etwa die allmählige Verbesserung der zuerst noch einfachen und unvollkommenen Augen stattgefunden haben mag. Der langsame, aber stetige Fortschritt nun von einem Stadium der Augengüte auf das nächst höhere ist nach unserer Vor- stellung dadurch zu Stande gekommen, dass zu jeder Zeit die Augen 16 WEISMANN: [16 der Thiere nicht alle ganz genau gleich, und auch nicht ganz genau gleich gut und scharf waren, sondern dass bessere und schlechtere Augen stets nebeneinander vorkamen, und dass von den Individuen jeder Generation durchschnittlich immer nur die mit besseren Augen erhalten blieben. Durch diesen Prozess der natür- lichen Auslese muss aber nicht nur die Güte der Augen sich all- mählig gesteigert haben, sondern sie muss auch durch ihn auf der einmal erreichten grössten Höhe erhalten worden sein. Lassen wir nun aber eine solche Molchart in eine dunkle Höhle mit unterirdischen Wassern einwandern. Die Einwanderung wird nur langsam stattfinden, weil die Thiere sich erst den neuen Lebens- bedingungen anpassen müssen, aber im Laufe der Generationen werden sie lernen, auch im vollständigen Dunkel, also ohne Hülfe ihrer Augen ihre Nahrungsthiere zu erkennen und zu erhaschen. Dies wird dadurch möglich werden, dass ihre übrigen Sinnesorgane, vor Allem ihre Spür- und Geruchsorgane sich schärfer ausbilden. So wird denn nach einer Reihe von Generationen in den Eingängen der Höhle eine Molchrasse entstehen, die ganz wohl im Stande ist, auch ohne jede Hülfe der Augen sich ihre Nahrung zu ver- schaffen, und diese Rasse wird nun tiefer in die Höhle eindringen und in absoluter Finsterniss ihr ganzes Leben ausharren können. Auf diese Weise muss es gekommen sein, dass nicht blos die Ein- gänge der Höhlen, sondern dass ein meilenlanges unterirdisches Höhlensystem mit Bächen, Flüssen und Seen, wie es z. B. im Karst bei Triest vorliegt, von Thieren bewohnt wird. Sobald nun aber bei einem solchen Höhleneinwanderer die Fähigkeit erreicht ist, ohne Hülfe der Augen sich hinlänglich Nah- rung zu verschaffen, so muss auch ein Rückbildungsprozess der Augen beginnen, denn sobald dieselben nicht mehr nothwendig sind zur Existenz der Thiere, sobald stehen sie nicht mehr unter dem Ein- fluss der Naturzüchtung, denn nun kommt ja nichts mehr darauf an, ob die Augen ein wenig besser oder ein wenig schlechter sind. Jetzt wird also keine Auslese mehr stattfinden zwischen den Indi- viduen mit besseren und denen mit schlechteren Augen, sondern beide werden gleich viel Aussicht haben, erhalten zu bleiben und sich fortzupflanzen. Es wird also von nun an eine Kreuzung statt- finden von Individuen mit besseren und von solchen mit schlechteren Augen, und das Resultat davon kann nur eine allgemeine Ver- schlechterung der Augen sein. Möglicherweise hilft dabei noch der Umstand mit, dass kleinere und verkümmerte Augen jetzt sogar 17] UEBER DEN RÜCKSCHRITT IN DER NATUR. 17 ein Vortheil sein können, insofern dadurch andere, für das Thier jetzt wichtigere Organe, wie die Spür- und Geruchsorgane, sich um so kräftiger entwickeln können. Aber auch ohne dies wird das Auge, sobald es nicht mehr durch Naturzüchtung auf der Höhe seiner Organisation erhalten wird, nothwendig von ihr herabsinken müssen, langsam, sehr langsam sogar, besonders im Beginn des Prozesses, aber unaufhaltsam. Auf diese Weise erklären sich in einfacher Weise alle Fälle von Rückbildung, mögen sie Organe oder Arten betreffen, welche sie wollen. Der frühere Erklärungsversuch vermag das nicht, er hat seine sehr bestimmten Grenzen, jenseits deren eine Menge von Fällen liegen, welchen er rathlos gegenüber steht. Er genügt eben auch dann nicht, wenn wir annehmen dürften, erworbene Eigen- schaften, wie es die Verkümmerungsresultate des Nichtgebrauchs sind, könnten sich vererben. Zunächst ist es klar, dass ein Organ nur dann durch Nicht- gebrauch verkümmern kann, wenn der Gebrauch auf einer wirk- lichen Thätigkeit desselben beruht, also auch irgend einen Einfluss auf dasselbe ausüben kann. Beim Sehen gehen chemische Ver- änderungen in der Netzhaut des Auges, vielleicht auch im Seh- nerven vor sich, die also wegfallen, wenn das Auge niemals vom Licht getroffen wird. Beim Fliegen erfolgt ein energischer Stoff- umsatz in den Muskeln, welche den Flügel bewegen, und auch dieser fällt weg, wenn nicht mehr geflogen wird. Hier also kann und muss sogar in der That ein rückbildender Einfluss auf gewisse Theile des Auges oder auf die Muskeln ausgeübt werden, wenn Nicht- gebrauch eintritt. Aber wie sollte das Staubgefäss einer Blume davon beeinflusst werden, ob der Blüthenstaub, den es hervorbringt, auf die Narbe einer anderen Blüthe gelangt, oder nicht? Und doch wissen wir, dass zwittrige Blumen zuweilen zu der ursprünglichen Trennung der Geschlechter zurückgekehrt sind, und zwar in der Weise, dass in der einen Blüthe die Staubgefässe, in der anderen die Griffel verkümmerten. Ob gerade dieser Fall blos durch Nach- lass der Auslese zu erklären ist, ob nicht aktive Naturzüchtung mitspielt, ist eine andere Frage. Verfolgen wir ihn aber weiter! Nachdem im Laufe der Artentwicklung die Staubbeutel selbst ver- kümmert und gänzlich geschwunden sind, bleiben doch noch ihre Stiele zurück, die nicht selten eine erhebliche Länge und Stärke besitzen. Allmählig, aber sehr allmählig verkümmern dann auch diese, und wir finden sie bei manchen Arten noch ziemlich lang, Berichte II. Heft 1. 2.) 18 WEISMAnN: [1 8 bei anderen schon ganz kurz, bei noch anderen vollständig ver- schwunden und nur gelegentlich einmal in einer einzelnen Blume als Erinnerung an ihr früheres regelmässiges Vorhandensein wieder auftauchend. Der Stiel des Staubfadens wird nicht mehr gebraucht, aber wie sollte er dadurch direkt beeinflusst und zur Verkümme- rung gebracht werden? Sein Bau ist derselbe geblieben, der Saft circulirt in ihm wie vorher und fliesst ihm ebensogut zu als den benachbarten Blumenblättern oder dem Griffel. Von unserem Stand- punkte aus erklärt sich die Sache ganz leicht, denn der blosse Stiel des Staubfadens ist völlig bedeutungslos für das Fortbestehen der betreffenden Blumenart, Naturzüchtung zieht deshalb ihre Hand von ihm ab und er verkümmert allmählig. Noch viel klarer und einleuchtender sind aber gewisse Fälle aus dem Thierreich. Warum haben wohl die meisten unserer Hausthiere ihre ursprüngliche Färbung verloren? Offenbar zunächst aus dem Grund, weil dieselbe ihnen unter dem Schutz des Menschen von keiner oder doch nur von geringer Bedeutung ist, während sie beim freien Leben in der Wildniss zu ihrer Erhaltung meist ganz unentbehrlich ist. Ganz ähnlich verhält es sich auch mit dem Schwinden des Haarkleids, wie es bei einigen Säugethieren eingetreten ist, für die der Besitz eines solchen von keiner Bedeutung mehr sein kann. Wale und Delphine haben eine ganz haarlose, nackte Haut, obwohl sie ohne jeden Zweifel von behaarten Vorfahren abstammen und noch jetzt an einzelnen Stellen des Körpers rudimentäre Haare in der Haut bei Untersuchung mit dem Mikroskop erkennen lassen. Offenbar kann die Beseitigung des Haarkleids nicht etwa eine direkte Folge des Nichtgebrauchs sein, denn es ist für das Gedeihen der Haare ganz gleichgültig, ob der Wärmeschutz, den sie verleihen, dem Thier nothwendig und nützlich ist, oder nicht. Aber auf in- direktem Wege lässt sich die Sache leicht begreifen, denn sobald durch die Entwicklung einer enormen Specklage unter der Haut den Walen ein Wärmeschutz entstanden war, wie sich besser kaum einer denken lässt, wurde das Haarkleid überflüssig; Naturzüch- tung kümmerte sich nicht weiter darum, und.der Rückbildungs- prozess nahm seinen Anfang. Wer etwa zweifeln sollte, ob nicht vielleicht die direkte Einwirkung des Wassers das Schwinden des Haares verursacht habe, der braucht sich nur die Seehunde ins Ge- dächtniss zu rufen, deren kleinere Arten alle einen dichten Pelz besitzen, während die grossen Arten, wie z. B. das Walross, nur noch spärliche Borsten auf der Haut tragen, weil bei ihnen eine 19] ÜEBER DEN RÜCKSCHRITT IN DER NATUR. 19 ähnliche Specklage sich entwickelt hat wie bei den Walen, die allein schon ausreicht, um den mächtigen Körper warm zu halten. Ein Beispiel ganz anderer Art geben uns diejenigen Thiere an die Hand, welche einen Theil ihres Körpers in Gehäusen verbergen. So stecken die Einsiedlerkrebse ihren Hinterleib in leere Schnecken- schalen, die Larven der im Wasser lebenden Köcherfliegen (Phry- ganiden) verfertigen sich Gehäuse, in denen sie ihren langgestreckten, vielgliedrigen Hinterleib verbergen, und dasselbe thun die Raupen gewisser kleiner Schmetterlinge aus der Gruppe der Spinner, die sog. Psychiden. Bei allen diesen Thieren finden wir nun, dass die Haut der durch das Gehäuse geschützten Körpertheile weich ist und weisslich, d. h. ohne besondere Farben, während die aus der Schale hervorragenden Theile den gewöhnlichen harten Hautpanzer der Gliederthiere und verschiedentliche, meist lebhafte Farben besitzen. Nun kann man ja in einem gewissen und etwas uneigentlichen Sinn sagen, der Hautpanzer der Krebse und Insekten habe die „Funk- tion“, die inneren weichen Theile des Thiers vor äusseren Ver- letzungen zu schützen, aber im wahren Sinn ist das eben keine Funktion, weil keine Thätigkeit damit verbunden ist; die Leistung des Panzers beruht einfach auf seiner gänzlich passiven Anwesen- heit. Ob das Thier durch ihn gegen Stiche oder Bisse geschützt wird, oder ob solche Bedrohungen gar nicht bis an ihn gelangen, das ist für den Panzer selbst und sein Gedeihen völlig gleichgültig; er verliert und gewinnt dabei nichts, und am allerwenigsten hängt sein Wohlbefinden davon ab, möglichst häufig von Stichen oder Bissen getroffen zu werden. Er kann unmöglich dadurch direkt zur Rückbildung veranlasst werden, dass er durch das Gehäuse solehen Angriffen ganz entzogen ist. Wenn also der Panzer in allen den drei aufgeführten Fällen sich genau so weit zurückbildet, als der Körper von dem schützenden Gehäuse bedeckt ist, so kann dies wiederum nur dadurch erklärt werden, dass für die von dem Gehäuse bedeckten Körperstellen der Panzer überflüssig und be- deutungslos wurde, und dass Naturzüchtung sich deshalb nicht mehr mit seiner Erhaltung befassen konnte. Die schlagendsten Fälle aber liefern uns die staatenbildenden Insekten, vor allen die Ameisen. Bei diesen sind Männchen und Weibchen geflügelt und benutzen auch ihre Flügel, um sich zu ge- wisser Zeit des Jahres in grossen Schwärmen hoch in die Luft zu erheben. Wer hätte sie nicht schon im Sommer und Herbst auf der Spitze eines Berges oder hoch oben auf einem Aussichtsthurm 2* (2*) 0 WEISMAnN: [20 angetroffen, wie sie theils fliegend die Luft erfüllen, theils aber die Mauer und Brüstung des Thurmes, die Hüte und Kleider der anwesenden Menschen bedecken. Männchen und Weibchen bilden aber nur den kleineren Theil der Bevölkerung eines Ameisenstaats, die Hauptmasse derselben wird von den Arbeiterinnen gebildet, den gewöhnlichen, gänzlich flügellosen Ameisen. Diese also haben ihre Flügel im Laufe der Artenbildung eingebüsst und zwar in Folge des Nichtgebrauchs, denn für sie ist es werthlos, sich in die Luft erheben zu können, sie würden sogar dort grösseren Gefahren ausgesetzt sein, als am Boden, ohne doch einen Vortheil dafür ein- zutauschen. Denn ihr Geschäft ist es, die Nahrung, das Bau- holz u. s. w. herbeizuschaffen, was Alles am Boden zu finden ist, auch haben sie die Fütterung der Larven, die Sorge für die Puppen zu übernehmen, wie denn auch die Vertheidigung ihrer Kolonie gegen einen Feind allein ihnen zufällt. Alle diese Aufgaben binden sie an den Boden, sie werden also in früheren Perioden, als sie sich allmählig aus wirklichen Weibchen herausbildeten, in dem Masse ihre Flügel weniger gebraucht haben, als sie sich mehr und mehr ausschliesslich den genannten Lebensaufgaben widmeten. Nun könnte man ja auch hier — so scheint es — annehmen, dass durch den steten Nichtgebrauch die Flügel schon in jedem einzelnen Thier ein wenig verkümmert wären und dass dieser erste Anfang der Rückbildung sich auf die folgende Generation vererbt habe und bei dieser nun durch weiteren Nichtgebrauch einen höheren Grad erreicht habe und so fort. Dem steht aber hier eine Thatsache entgegen, die keine Umgehung oder Vermittlung zulässt: die Arbeiterinnen der Ameisen sind unfruchtbar, sie pflanzen sich nicht fort! Es ist also unmöglich, dass die durch den Nichtgebrauch der Flügel beim einzelnen Thier etwa hervorgerufene Verkümmerung sich auf eine folgende Generation vererben sollte. Nur auf die andere Weise können wir das Schwinden der Flügel erklären, durch Nachlass der Naturzüchtung von dem Augenblick an, in welchem die Flügel nicht mehr nöthig und nützlich waren. Man möchte vielleicht die Behauptung aufstellen, die Flügel könnten früher ver- loren gegangen sein, als die Fähigkeit der Fortpflanzung, allein eine solche Vermuthung müsste aus sehr bestimmten Gründen, auf deren Darlegung ich hier verzichten muss, verworfen werden. Man könnte auch vielleicht einwerfen, dass die Unfruchtbarkeit der Arbei- terinnen auch für unsere Erklärungsweise ein Hinderniss sei, allein man darf nicht vergessen, dass alle Auslese-Prozesse hier nicht direkt 21] UEBER DEN RÜCKSCHRITT IN DER NATUR. 31 an den Arbeiterinnen, sondern an deren Eltern, den fortpflanzungs- fähigen Thieren der Kolonie, ihren Ablauf nehmen. Mit anderen Worten: nicht die Arbeiterinnen selbst werden durch Naturzüchtung ausgewählt, sondern die Eltern, je nachdem sie schlechtere oder bessere Arbeiterinnen hervorbringen. Man kann den Vorgang, der die Rückbildung eines überflüssigen Organs zu Stande bringt, vielleicht ganz passend mit dem griechi- schen Worte „Panmixie“ oder „Allgemein-Kreuzung“ be- zeichnen, weil sein Wesen eben darin besteht, dass nicht nur diejenigen Individuen zur Fortpflanzung gelangen, welche das betreffende Organ in grösster Vollkommenheit besitzen, sondern alle, ganz unabhängig davon, ob dasselbe besser oder schlechter bei ihnen beschaffen ist. Dieser Prozess der Panmixie muss eine grosse Bedeutung in der Entwicklung der Organismenwelt gehabt haben und noch be- sitzen, denn der Umwandlungen waren und sind unzählige und sie erfolgen keineswegs immer blos in aufsteigender Linie, sondern — wie wir vorhin an den Schmarotzern sahen — sehr häufig auch in absteigender, und vielleicht am allerhäufigsten zugleich in beiden Richtungen, an dem einen Theil in dieser, an einem anderen in jener Richtung. Sehr häufig bedingte der Fortschritt in einer Richtung den Rückschritt in anderer. Wir selbst würden wohl kaum einen so hoch entwickelten Intellekt erhalten haben, wenn wir nicht ein bedeutendes Theil der körperlichen Vorzüge unserer Ahnen aus grauer Vorzeit aufgegeben hätten. Zeigen doch heute noch die als Jäger lebenden Naturvölker eine weit grössere Schärfe des Ge- hörs, Geruchsinns und des Auges, als wir sie besitzen, und das beruht sicherlich nicht blos auf der unausgesetzten Uebung, welche diesen Organen im Einzelleben zu Theil wird, sondern es ist schon angeboren. Wir sind in dieser Beziehung durch die Civili- sation herabgesunken und zwar durch Vermittlung der Panmixie, dadurch dass die möglichst hohe Ausbildung dieser Sinnesorgane nicht mehr den Ausschlag gab über das Gedeihen des Einzelnen. Wir können heute unser Brod verdienen, ganz einerlei, wie scharf wir hören und wie fein wir riechen, ja selbst die Schärfe unseres Auges ist kein ausschlaggebendes Moment mehr für unsere Existenz- fähigkeit im Ringen ums Dasein. Seit Erfindung der Brillen sind kurzsichtige Menschen kaum in irgend einem Nachtheil in Bezug auf Erwerbsfähigkeit gegen scharfsichtige, wenigstens nicht in den höheren Gesellschaftsklassen. Darum finden wir auch so viel Kurz- sichtige unter uns. Im Alterthum würde ein kurzsichtiger Soldat, 22 WEISMANN: [22 gar ein kurzsichtiger Feldherr einfach unmöglich gewesen sein, ebenso ein kurzsichtiger Jäger, ja in fast allen Stellungen der menschlichen Gesellschaft würde Kurzsichtigkeit ein wesentliches Hinderniss bereitet, das Emporkommen und Gedeihen erschwert oder ganz gehindert haben. Heute ist das nicht mehr der Fall, der Kurzsichtige kann seinen Weg machen wie jeder Andere, und seine Kurzsichtigkeit, soweit sie auf ererbter Anlage beruht, wird sich auf seine Nachkommen weiter vererben und so dazu beitragen, die vererbbare Kurzsichtigkeit zu einer in. bestimmten Gesellschafts- klassen weitverbreiteten Eigenschaft zu machen. Gewiss kann Kurz- sichtigkeit auch erworben werden, aber dann vererbt sie sich nicht, wie ich wenigstens bestimmt glaube annehmen zu müssen. Nicht allein der übermässigen Anstrengung der Augen und dem steten Sehen in die Nähe verdanken wir meiner Ansicht nach die weite Verbreitung der Kurzsichtigkeit, sondern der Panmixie, dem Nach- lass der Naturzüchtung nach dieser Richtung, unter deren Wirkung wir so gut stehen als alle anderen Organismen. Es liesse sich viel darüber sagen, in wie mancherlei Beziehung die körperliche Beschaffenheit des eivilisirten Menschen durch die Civilisation selbst verschlechtert worden ist und wohl auch noch weiter verschlechtert werden wird. Denken wir nur an die Zähne, bei welchen die Kunst der „Zahntechniker* es beinahe schon so weit gebracht hat, dass man die künstlichen Zähne den natürlichen vorziehen möchte. Jedenfalls braucht heute Niemand mehr an un- genügender Ernährung in Folge schlechter Zähne zu Grunde zu gehen, und die allerschlechteste Zahn-Anlage kann sich ungehindert auf eine beliebige Nachkommenzahl übertragen. Trotzdem brauchen wir wohl nicht zu fürchten, dass das Menschengeschlecht durch die Civilisation gänzlich entarten werde. Das Correktiv dagegen liegt in demselben Prozess, der das Herab- sinken eines Organs von seiner ursprünglichen Höhe bewirkt, denn offenbar kann dies Herabsinken nur so lange andauern, als es die Existenzfähigkeit des Einzelnen noch uicht schädigt, sobald aber dieser Punkt erreicht ist, greift Naturzüchtung ein und verhindert ein weiteres Sinken. Oder — um bei dem gewählten Beispiel zu bleiben — so ist es wohl denkbar, dass ein immer grösserer Pro- zentsatz von Menschen die Anlage zur Kurzsichtigkeit mit auf die Welt bringen wird, nicht aber, dass die Augengüte der mensch- lichen Rasse im Allgemeinen, oder auch nur eines einzelnen Volkes, oder einer bestimmten Gesellschaftsklasse noch weiter herabsinken 23] ÜEBER DEN RÜCKSCHRITT IN DER NATUR. 23 werde, weil sie dann entscheidend für die Einzelexistenz würde, und der Besitzer ganz schlechter Augen nicht mehr die Conkurrenz im Kampfe ums Dasein aushalten könnte. Wir brauchen also nicht zu fürchten, dass unsere Augen je einmal gänzlich verkümmern werden wie die Augen der Dunkelthiere oder jener Parasiten, von denen oben die Rede war; und ganz ähnlich verhält es sich mit der Herabminde- rung unserer Muskelkraft, unserer Wetterhärte und manchem Anderen. Ich habe bisher nur von den körperlichen Eigenschaften gesprochen, welche durch Nichtgebrauch und dadurch eintretender Panmixie zurückgebildet werden; ganz dasselbe geschieht aber auch bei geistigen Eigenschaften. Das kann uns weiter nicht Wunder nehmen, da ja jeder geistige Vorgang durch einen körperlichen bedingt ist, da nicht nur die relative Grösse und die Complieirtheit des Gehirns den Grad von Intelligenz bedingt, sondern auch jede instinktive Handlung eines Thiers eine entsprechende Einrichtung in seinem Nervensystem voraussetzt, welche es mit sich bringt, dass auf einen bestimmten Reiz die bestimmte Handlung folgt. Wenn also Instinkte bei einem Thier verkümmern in Folge des Nichtge- brauchs, so müssen vorher jene Nervenverflechtungen in seinem Gehirn verkümmert sein, welche die Instinkthandlung auslösen. Es besteht also kein principieller Gegensatz zwischen der Rückbildung irgend welcher Körpertheile und der von Instinkten und geistigen Fähigkeiten; mit einer Rückbildung der Letzteren gehen immer körperliche Rückbildungen Hand in Hand. So wird eine sehr starke und allgemeine körperliche Rück- bildung immer auch von einer geistigen begleitet. Jene Binnen- Asseln, welche Augen und Fühler, Beine und Kauwerkzeuge ver- loren haben, sind auch geistig verkommen, wie sich das bei Thieren von selbst versteht, die nichts mehr zu leisten vermögen, als stille zu liegen und Nahrung einzusaugen; ihr gesammtes Nervensystem ist bedeutend reducirt. Es gibt aber Fälle, die in interessantester Weise zeigen, dass kückbildungen sich auch nur auf einen einzelnen Instinkt beziehen können, während das Thier in seiner Gesammtform und Gesammt- leistung völlig unberührt davon bleibt. Dahin gehört z. B. der Verlust des Fluchtinstinktes bei domesticirten Thieren. Fast alle Thiere der Wildniss, Säugethiere sowohl als Vögel, besitzen den Instinkt des Flüchtens, sie sind nicht nur äusserst aufmerksam auf jedes Geräusch, jeden Geruch, jeden sich bewegenden Punkt in ihrem Gesichtsfeld, sondern alle, die 94 WEISMAnN: [24 Räuber nicht ausgeschlossen, sind unausgesetzt auf ihre Sicherheit bedacht. Sie sind das aber nicht blos bewusst durch Denken, son- dern in vielleicht noch weit höherem Grade unbewusst, instinktiv. Ein wilder Vogel fliegt bei dem leisesten Geräusch davon, ein überraschter und zusammengekugelter Igel wartet lange, ehe er sich wieder aufrollt, um davon zu laufen, und wenn er nur den geringsten verdächtigen Ton hört, so rollt er sich sofort wieder fester zusammen. Das geschieht nicht durch Reflexion, sondern rein instinktiv in der Weise, dass durch das Hören eines Geräuschs von selbst schon die Bewegung des Zusammenrollens ausgelöst wird, gewissermassen ehe das Thier noch Zeit gehabt hat, über die Be- deutung des Geräuschs nachzudenken — blitzschnell, ganz so wie wir momentan das Auge schliessen, sobald irgend etwas gegen das- selbe fährt. Sicherlich beherrscht das Bewusstsein bei den höheren Thieren diese instinktiven Bewegungen, d. h. sie können unterdrückt werden, und darauf beruht es, dass die Thiere in der Gefangen- schaft sich das ewige Erschrecken und Flüchten abgewöhnen. Aber es sitzt doch tief in ihnen, und es bedarf einer langen Reihe von Generationen, die alle in Gefangenschaft gelebt haben, ehe diese natürliche Furchtsamkeit sich ganz verliert. Ich glaube, dass dies grösstentheils auf dem Nachlass der Naturzüchtung beruht, und auf einer in Folge davon eintretenden allmähligen Verkümmerung dieses Instinktes. Allerdings ist es schwer zu sagen, wie weit hier nicht etwa die Gewöhnung des einzelnen Individuums mitspielt, aber es ist doch wohl als sicher anzunehmen, dass die Jungen unserer zahmen Hühner, Gänse, Enten viel von dem Flüchtungstrieb ihrer wilden Vorfahren verloren haben und nicht wieder zur vollen Scheu der Wildheit zurückkehren würden, könnte man sie auch von Beginn ihres Lebens an unter die Führung einer wilden Mutter stellen. Wie langsam aber diese passive Wildheit, wie man den Flüch- tungstrieb nennen könnte, durch die Domestikation verloren geht, sieht man z. B. an den Meerschweinchen. Erst seit der Entdeckung Südamerikas sind sie dem Haushalt des Menschen einverleibt worden, also seit etwa 400 Jahren, und diese Zeit hat nicht ausgereicht, ihre natürliche Furchtsamkeit zu beseitigen. Bei jedem starken Geräusch schrecken sie heftig zusammen und suchen zu flüchten, auch wenn sie noch niemals in ihrem Leben eine schlechte Erfah- rung gemacht haben, ja schon kurze Zeit nach der Geburt. Hier, wie bei den verschiedenen Arten von Fasanen, die in dem Hühner- hof Aufnahme gefunden haben, sind gerade die jungen Thiere die 25] ÜEBER DEN RÜCkKSCHRITT IN DER NATUR. 25 wildesten. Der Flüchtungstrieb wird also hier noch ziemlich un- verkürzt vererbt und die Zähmung muss bei jedem einzelnen Indi- viduum von Neuem beginnen. Die Zahmheit des erwachsenen Thiers ist hier noch eine „erworbene“, d. h. im Einzelleben erworbene Eigenschaft, sie ist noch nicht in die Keimesanlage übergegangen, oder besser: sie rührt noch nicht von einer Veränderung der Keimesanlage her, wie sie durch Allgemein - Kreuzung allmählig eintreten muss, sondern sie entsteht ganz so, wie bei einem jung eingefangenen wilden Thier, einem Fuchs, Wolf, Fink oder einer Ratte, die sich ja alle bis zu einem gewissen Grad zähmen lassen, d. h. an das Fehlen von Feinden gewöhnen. Interessant ist auch das Verkümmern des Instinktes der Nahrungssuche, wie er in manchen Fällen eingetreten ist. Die Aufnahme von Nahrung, und also auch der Erwerb derselben ist unentbehrlich zum Leben, und der Nahrungstrieb darf wohl der erste und ursprünglichste von allen Trieben genannt werden. Den- noch kann auch er gelegentlich ganz oder theilweise verloren gehen. Viele junge Vögel besitzen den Trieb zum Nahrungserwerb nicht mehr. Sie sperren wohl den Schnabel auf und schreien, auch ver- schlingen sie das Futter, das ihnen in den Mund gesteckt wird, aber es fällt ihnen nicht ein, dasselbe Futter, wenn es auf dem Boden ihres Käfigs liegt, aufzupicken; der Anblick desselben löst bei ihnen nicht den Trieb zum Fressen aus, sie haben in dieser Zeit ihres Lebens es verlernt, selbst zu fressen. Das begreift sich auch, denn sie kommen in einem noch wenig entwickelten Zu- stand aus dem Ei, und die Eltern füttern sie, indem sie ihnen das Futter in den aufgesperrten Schnabel stecken. So brauchten sie nicht mehr durch den Anblick der Nahrung zum Fressen angeregt zu werden, sondern nur durch das Gefühl des Bissens in ihrem Schnabel. Ein Theil ihres Nahrungstriebes wurde also überflüssig und dieser verkümmerte. Man darf hier nicht einwerfen, die Thierchen seien noch zu unentwickelt, um ihre Nahrung selbst zu suchen. Gewiss sind sie das, und eben deshalb wurden sie von den Eltern ge- füttert und wurde der Trieb der Nahrungssuche überflüssig. Viele andere Vögel, wie die Hühner, laufen gleich nach dem Auskriechen aus dem Ei umher, suchen nach Nahrung und picken sie auf. Hier ist der Trieb der Nahrungssuche unverkürzt erhalten. Einer der merkwürdigsten Fälle verkümmerten Ernährungs- triebes ist aber der gewisser Ameisen. Schon seit dem Beginn dieses Jahrhunderts ist es bekannt, dass manche Ameisenarten sich 6 WEISMAnN: [26 Sklaven halten, so z. B. die auf Wiesen nicht gerade häufig und überall vorkommende röthliche Ameise, Polyergus rufescens. Sie ist eine nicht sehr grosse, aber kräftige Art, die zuweilen in hellen Haufen auszieht, um den Bau einer schwächeren Art, z. B. der aschgrauen Ameise, Formica fusca, zu überfallen und auszuplündern. Dabei geht sie aber nicht etwa auf Tödtung und Verspeisung der Ueberfallenen aus, ihre Absicht ist eine ganz andere; sie nimmt ihnen nur ihre Puppen weg und schleppt sie in das eigene Nest. Dort versorgt sie dieselben aufs beste, benutzt aber dann die aus ihnen ausschlüpfenden Arbeiter als Diener, oder wie man gewöhn- lich sagt als Sklaven. Solche „Sklaven“ verrichten dann alle häus- lichen Geschäfte, welche sonst die röthlichen Arbeiterinnen selbst besorgen müssten, sie füttern die Brut, bauen die Gänge und Woh- nungen, schleppen Nahrung herbei, ja füttern sogar ihre faulen Herren! Dies ist nicht etwa eine Fabel, wie man früher wohl manchmal meinte, sondern eine sichere Thatsache, die zuerst von dem berühmten Beobachter der Ameisen, Huzer in Genf, im Beginn dieses Jahrhunderts beobachtet wurde und seitdem durch Avususr Foren vollständig sicher gestellt wurde. Auch ich selbst habe mich von ihrer Richtigkeit überzeugt. Das Merkwürdigste ist nun aber dies, dass die röthlichen Ameisen in Folge der steten Fütterung durch ihre Sklaven das Auf- suchen der Nahrung völlig verlernt haben. Sperrt man sie ein und gibt ihnen ihre Lieblingsspeise, Honig, mit, so rühren sie ihn nicht an, hungern vielmehr, werden matt und schwach und sterben schliess- lich, wenn man sich ıhrer nicht erbarmt und ihnen einen ihrer aschgrauen Sklaven beigibt. Sobald dies geschieht, macht sich der Sklave an die Arbeit, frisst zuerst selbst nach Herzenslust von dem Honig und füttert dann seine Herren, die es sich sehr gerne sefallen lassen, auf diese Weise vom Tode errettet zu werden. Hier ist also, wie bei jenen jungen Vögeln, der Trieb der Nahrungssuche und die Fähigkeit, die Nahrung mit dem Auge zu erkennen, verkümmert, und offenbar in Zusammenhang damit, dass er nicht mehr gebraucht wurde. Da in einem Staate röthlicher Ameisen stets Sklaven in grosser Zahl vorhanden sind, und da diese ihre Herren stets mit Nahrung versorgen, so wurde der Trieb der Nahrungssuche bei diesen Letzteren überflüssig, wurde nicht mehr durch Naturzüchtung auf seiner ursprünglichen Höhe erhalten, son- dern verkümmerte allmählis. Auch andere Triebe sind bei diesen Ameisen durch Nichtgebrauch in Folge ihrer Sklavenhaltung ganz 27] UEBER DEN RÜCKSCHRITT IN DER NATUR. DM oder theilweise verschwunden. Das Bauen ihrer Wohnungen z. B. scheinen sie ganz verlernt zu haben und die Sorge für ihre Brut wenigstens zum grössten Theil. Andere Ameisen widmen ihren Puppen unausgesetzt die grösste Sorgfalt, tragen sie zeitweise an andere bessere Stellen des Baus, manchmal auch heraus ins Freie und an die Sonne, wie sie denn auch ihre Larven mit der grössten Emsigkeit füttern. Von alle dem ist bei den röthlichen Sklaven- haltern wenig zu bemerken, sie würden nicht mehr im Stande sein, ihre eigene Brut gross zu ziehen und die Art müsste somit aus- sterben, wenn sie plötzlich ihrer Sklaven beraubt würde. Also nicht nur unter den Menschen liegt ein Fluch auf der Sklavenhalterei, auch die Thiere verkommen und entarten unter ihrem Einfluss. Es sind noch andere Arten von sklavenhaltenden Ameisen be- kannt und genau studirt worden, und bei diesen geht die Entartung der Herren noch weiter und bezieht sich auch auf die Körper- stärke. Doch ist gerade im Leben dieser Arten noch manches Dunkel zu lichten, und ich möchte deshalb hier von ihnen absehen, so ausserordentlich merkwürdig auch die bisher an ihnen beobach- teten Erscheinungen sind. Alle diese Fälle bilden übrigens eine weitere Bestätigung für die Richtigkeit unserer Erklärung der Rück- bildungsprozesse in Folge von Nichtgebrauch, denn alle diese Ver- kümmerungen von Instinkten beziehen sich auf Arbeiterinnen, d. h. auf Thiere, die keine Nachkommen hervorbringen. Das Schwinden der betreffenden Triebe kann also unmöglich dadurch zu Stande gekommen sein, dass das einzelne Thier sich z. B. daran ge- wöhnte, seine Nahrung nicht mehr selbst zu suchen, und dass diese Ge- wohnheit sich auf seine Nachkommen in irgend einem Grade übertrug. In den bis jetzt angeführten Fällen ist nicht der ganze Nah- rungstrieb rückgebildet, sondern nur ein Theil desselben, der Trieb zum Aufsuchen und die Fähigkeit zum Erkennen der Nahrung. Es fehlt aber auch nicht an Beispielen, in welchen der Nahrungstrieb überhaupt verkümmert ist, so zwar, dass kein Hunger empfunden und keinerlei Nahrung aufgenommen wird. Das klingt sehr sonder- bar, findet aber seine Erklärung darin, dass solchen Thieren aus ihrer früheren Lebenszeit her soviel Nahrungsstoffe in ihrem eigenen Körper mitgegeben werden, als sie für die Dauer ihres Lebens brauchen. Zahlreiche Nachtschmetterlinge, besonders Spinner, be- sitzen mehr oder weniger verküimmerte Mundtheile, ebenso die Ein- tagsfliegen, und beide nehmen auch wirklich keinerlei Nahrung zu sich. Bei den Männchen der Räderthiere fehlt sogar der ganze 38 WEISMANN: [28 Nahrungskanal; sie haben weder Mund, noch Magen, noch Darm; ihr Leben braucht nur so kurze Zeit zu dauern, dass sie mit dem Stoff, den sie im Ei mitbekommen haben, gerade ausreichen. Die Natur treibt eben keinen Luxus; kein Trieb und kein Organ des Körpers hat Bestand, wenn es nicht durchaus nöthig ist für die Erhaltung der Art. Panmixie oder — wenn man lieber will — Ausfall der Naturzüchtung sorgen dafür, dass alles Ueberflüssige auf das blos Nothwendige allmählig herabgesetzt wird. ‚ Aber freilich nur sehr allmählig können solche Rückbildun- gen zu Stande kommen, wenn unsere Erklärung die richtige ist; sehr zahlreiche Generationen werden darüber hingehen müssen, ehe das Ueberflüssige ganz entfernt ist, und wir werden erwarten müssen, bei vielen Thieren noch Reste von Organen und Einrichtungen zu finden, die früher bedeutungsvoll waren, jetzt aber dem gänzlichen Schwinden entgegen gehen. Das ist denn auch, wie oben schon gezeigt wurde, in der That der Fall; die sogenannten „rudimen- tären‘ Organe sind in ungemein zahlreichen Fällen und bei den verschiedensten Thieren zu finden und geben uns Kunde von den tiefgreifenden Umwandlungen, welche die betreffende Art im Laufe der Zeiten durchgemacht hat. Dahin gehören die unter der Haut verborgenen Augen des Olms, des Goldmaulwurfs, der Blindwühle, das verkümmerte innere Gehörorgan der Letzteren, dahin auch die Flügelreste des Kiwi, die Flügelstummel mancher weiblicher Nacht- schmetterlinge, deren Männchen wohl entwickelte Flügel besitzen, dahin die unscheinbaren Vorsprünge um die Mundöffnung der Ein- tagsfliegen, welche nichts Anderes sind, als die noch nicht völlig geschwundenen Kiefer, und tausenderlei Anderes. Dahin gehören aber vor Allem auch jene zahlreichen Fälle, in denen ein bei den Vorfahren ausgebildetes Organ zwar beim heutigen Thier in seinem erwachsenen Zustand gänzlich fehlt, in seiner Jugendzeit aber als Anlage vorhanden ist. So besitzen zwar die Arbeiterinnen der Ameisen, wie oben angeführt wurde, keine Flügel mehr, aber die Anlage des Fügels findet sich dennoch in der Larve vor in Ge- stalt eines kleinen, unter der Haut gelegenen Scheibchens, das später verkümmert. So haben die Larven der Bienen ihre Füsse einge- büsst, da sie ja nicht umherzukriechen brauchen, sondern einge- schlossen in einer Wachszelle unmittelbar neben ihrer Nahrung leben. Obwohl sie aber in Zusammenhang mit dem Nichtgebrauch der Füsse zu fusslosen „Maden* geworden sind, legen sich doch noch während ihrer Entwicklung im Ei die Fusspaare an, welche -: 29] ÜEBER DEN RÜCKSCHRITT IN DER NATUR. 29 ihre blattwespenartigen Vorfahren besessen haben müssen. Wir sehen an solchen Fällen, dass ein Organ, welches durch Nichtge- brauch rückgebildet wird, zuerst im ausgebildeten Zustand ver- schwindet, viel später aber auch in seiner ersten Anlage. Diese letztere kann sich noch viele Tausende von Generationen hindurch er- halten, wenn das Organ selbst in seinem ausgebildeten Zustand längst aus der Organisation des Thieres ausgeschaltet ist. Solche rudimentäre, sich nicht weiter entwickelnde Anlagen von Organen sind durch die Entwicklungsgeschichte jetzt schon in einer überaus grossen Zahl nachgewiesen worden. Sie sind begreiflicherweise ein wichtiger Hinweis auf die Vorgeschichte der betreffenden Art, und würden für sich allein schon einen ausreichenden Beweis dafür bilden, wie viele und verschiedenartige Vorfahren einer jeden der jetzt lebenden Arten vorausgegangen sein müssen, und wie ver- wickelte und durchaus nicht immer geradlinige Bahnen die Ent- wicklung der Organismenwelt einhält. Bald war sie vorwärts, bald rückwärts gerichtet, bald nur in einzelnen Theilen, bald im ganzen Organismus. Was die Natur im Laufe unzähliger Genera- tionen gewissermassen mühsam aufgebaut hat: z. B. hochorganisirte Organe der Bewegung, Beine von bestimmter Tragkraft, compli- eirter Gelenkverbindung und Elastieität, genau abgewogener Muskel- stärke, eingerichtet zum Lauf auf der Erde, oder gar Flügel, jene in allen ihren Theilen wunderbar zweckmässig abgepassten Organe zur Ueberwindung der Schwere und zum Emporschwingen in den Luftraum, oder aber jene Organe, die den Thieren die Kunde von der sie umgebenden Aussenwelt übermitteln, jene Augen von un- glaublicher Feinheit der Ausführung, jene Gehörorgane und Ge- ruchsorgane, in deren wunderbare Zweckmässigkeiten erst die lange und vereinte Arbeit unserer besten Forscher einzudringen vermocht hat — sie alle werden sofort wieder aufgegeben und einem lang- samen Zerstörungsprozess überliefert, von dem Augenblick an, in dem sie nicht mehr nöthig sind für die Existenz der Art. Da scheint es denn freilich, als könne eine Entwicklung in solcher Richtung unmöglich als ein Fortschritt bezeichnet werden. In Beziehung auf das einzelne Organ, das schwindet, ist es auch sicherlich ein Rückschritt, allein für das ganze Thier steht die Sache anders. Denn wenn von Ziel und Zweck bei lebenden Wesen ge- sprochen werden soll, so kann der Zweck immer nur das Dasein selbst sein; in welcher Form, in welcher Complieirtheit des Baues, in welcher absoluten Höhe der Leistungen der Organismus ausge- 30 WEISMANN: ÜEBER DEN RÜCKSCHRITT IN DER NATUR. [30 führt ist, das kommt dabei zunächst gar nicht in Betracht, vielmehr nur, wie die Art existenzfähig bleibt, denn weniger darf sie nicht sein, sonst geht sie unter, und mehr kann sie nicht sein, weil ihr die Mittel dazu fehlen, sich höher emporzuschwingen als eben ge- rade zur Existenzfähigkeit. Der so ungemein pessimistisch gemeinte Satz SchorzxHAver’s, dass diese Welt so schlecht sei als nur irgend möglich, und dass sie zu Grunde gehen müsste, wäre sie noch ein klein wenig schlechter, ist genau ebenso wahr und besagt genau dasselbe, als wenn man ihn ins Optimistische umkehrt und sagt: die Welt ist so vortrefflich, als es überhaupt möglich war, dass sie werde auf Grund der einmal gegebenen Kräfte, es ist nicht denkbar, dass sie auch nur um einen Grad vortrefflicher hätte ausfallen können. Die Organismenwelt beweist uns, dass dem so ist, denn bis ins Einzelnste hinein sehen wir jede lebende Art sich zweck- mässig gestalten und sich den speciellen Lebensbedingungen an- passen, denen sie unterworfen ist. Aber nur so weit passt sie sich an, als es unumgänglich nothwendig ist, um sie existenzfähig zu erhalten, nicht um ein Minimum mehr. Das Auge des Frosches ist ein sehr unvollkommenes Sehorgan gegenüber dem Auge des Falken oder des Menschen, aber es genügt, um die krabbelnde Fliege oder den sich krümmenden Wurm zu sehen und es sichert die aus- reichende Ernährung der Art. Aber auch das Auge des Falken ist kein absolut vollkommenes Sehwerkzeug im rein optischen Sinn, es reicht aber gerade aus, um den Vogel seine Beute aus hoher Luft herab mit Sicherheit entdecken zu lassen, und das genügt zur Existenz der Art und schliesst deshalb eine jede weitere Steigerung der Augengüte auf dem Wege der Naturzüchtung vollkommen aus. Nicht immer aber wird das Ziel aller Umwandlungen: die Existenz- fähigkeit der Art nur durch eine gesteigerte Verfeinerung des Baues im Ganzen oder eines einzelnen Organs erreicht, nicht immer fügt sich neuer Besitz dem alten hinzu, sondern sehr oft wird alter Besitz im Laufe der Zeiten überflüssig und muss entfernt werden. Und auch dieses geschieht nicht in idealer Vollkommenheit, plötzlich, wie auf ein Zauberwort hin, sondern langsam, wie es den zur Ver- fügung stehenden Kräften entspricht, also lange Zeiträume hindurch nur unvollkommen. Aber schliesslich wird doch das nicht mehr zum Leben unentbehrliche Organ ganz beseitigt, und so das volle Gleichgewicht zwischen dem Bau des Körpers und seinen Leistungen wieder hergestellt und auch in diesem Sinne ist also der Rückschritt ein Theil des Fortschritts. Ueber die Bedeutung der Conjugation bei den Infusorien von Dr. A. Gruber, Professor der Zoologie in Freiburg i. B. In Nachstehendem will ich in Kürze eine Beobachtung mit- theilen, welche dazu angethan ist, Licht auf das bisher immer noch dunkle Wesen der Conjugation bei den Infusorien zu werfen. Meine Untersuchungen beziehen sich auf Paramaecium Aurelia, von welchem Infusor ich eine sehr beträchtliche Menge conjugirter Individuen zum Präparat verarbeiten konnte. Bekanntlich hat Icxerı!) vor Kurzem mitgetheilt, dass er auf Grund seiner Präparate ein Aus- wandern der Nebenkerne von einem Individuum ins andere habe erschliessen können, ein Vorgang, welchen Bürschtı ?) schon früher bei demselben Infusorium gemuthmasst hatte. Beiden Forschern, deren Ausführungen ich an anderem Orte eingehender berücksich- tigen werde, ist aber der Kernpunkt des ganzen Prozesses ent- sangen. Dieser besteht nämlich darin, dass die Nebenkerne der beiden Individuen in innige Berührung miteinander treten, sich miteinander copuliren. Die beiden conjugirten Individuen von Paramaecium sind, ausser an ihren Vordertheilen besonders an einem Punkte im hinteren Drittel des Körpers, eng miteinander verbunden. Auf diese Stelle nun, welche durch eine Art von Ringwulst bezeichnet ist, rückt von links und rechts je ein zur streifigen Spindel umgewandelter !) Ueber die Kernverhältnisse der Infusorien. Zoologischer Anzeiger, VII. Jahrg. 1884. pag. 491. p) ?) Vergl. Bürschuı, Studien über die ersten Entwicklungsvorgänge etc. Abhandl. der Senckenberg. naturf. Gesellsch. Bd. X. 1876. 39 (#RUBER:! ÜEBER DIE BEDEUTUNG DER ÜONJUGATION BEI DEN INFUSORIEN, [32 Nebenkern (Nucleoluskapsel Bürscarr’s) heran; die beiden Körper berühren sich gerade in der Verbindungsbrücke und zwar zuerst nur mit ihren Spitzen und dann immer inniger, so dass sie gegen- seitig abgeplattet erscheinen und zuletzt zwei petschaftartige Körper aus ihnen entstehen, die mit ihren breiten Enden zusammenstossen und gerade die oben bezeichnete Verbindungsbrücke ausfüllen. Ohne mich hier auf nähere Einzelheiten und auf den weiteren Verlauf des Processes einzulassen, begnüge ich mich, die Thatsache festgestellt zu haben, dass bei Paramaecium Aurelia die Conjugation eine Vermischung gegenseitiger Kernsubstanz herbeiführt, und damit scheint mir Vieles oder das Meiste sich zu erklären, was uns an den Conjugationserscheinungen räthselhaft war, und eine feste Stütze für die Ansicht gewonnen, welche die Conjugation der Infusorien in directe Uebereinstimmung mit der sexuellen Fortpflanzung der Metazoen bringt. Wie beim Metazoon die Kerne der Keimzelle, so treten hier die sogenannten Nebenkerne in innige Berührung und das Resultat ist hier wie dort eine Vermischung individuell ver- schiedener Keimplasmen. Ich bin mit Weısmanx der Ueberzeugung, dass dieses Re- sultat auch der Zweck der sexuellen Befruchtung und der Conju- gation und die Bedingung ist für die Variabilität der Individuen, ohne welche eine Artbildung unmöglich wäre. Mit der Gewissheit, dass es sich bei den Conjugationserschei- nungen wesentlich um Austausch von Kernsubstanz bei den beiden conjugirten Individuen handelt, stehen wir mit der Erklärung dieser Vorgänge auf einem viel concreteren Boden und dürfen füglich unbestimmtere Vorstellungen fallen lassen. Dahin gehört hauptsäch- lich die am meisten vertretene und auch scheinbar durch Thatsachen gestützte Ansicht, als sei der Zweck der Conjugation die Verjüngung der durch anhaltende Theilung erschöpften Infusorien. Eine nähere Beschreibung der hier berührten Vorgänge und eingehende Besprechung der daraus zu ziehenden Schlüsse bleibt einer ausführlicheren und mit Abbildungen versehenen Arbeit vor- behalten. Freiburg i. B., Ende Juni 1886. Bemerkungen über die dorsalen Wurzeln des Nervus hypoglossus. Von Stud. med. M. Iversen aus Bergen. (Aus dem anatomischen Institut der Universität Freiburg i. B.) Die frühere Annahme, dass man im Nervus hypoglossus die ventrale Portion des Nervus vagus zu erblicken habe, ist längst als widerlegt zu betrachten, und vor Allem war es Frorırr, der die Selbständigkeit des zwölften Hirnnerven auf genetischem Wege nachgewiesen hat. Es gelang ihm nicht nur, an Schafs- und Rindsembryonen die bis dahin bei keinem Vertebraten gesehenen dorsalen Wurzeln aufzufinden, sondern er vermochte auch den Be- weis zu liefern, dass der Hypoglossus der Säugethiere mindestens drei ächten Spinalnerven entspricht. Es kommen nämlich im Oceipitalgebiet der genannten Wiederkäuer noch drei Muskel- segmente und vier Wirbeläquivalente, bei Hühnerembryonen aber vier Muskelplatten und fünf Wirbelrudimente zur An- lage. Während sich nun bei Schafs- und Rindsembryonen nur noch das hinterste Hypoglossusganglion deutlich entwickelt und das zweite rudimentär, das vorderste aber gar nicht mehr vorhanden ist, finden sich bei Hühnerembryonen nicht nur keine Ganglien, sondern es fehlen auch die dorsalen Wurzeln spurlos; zwei ventrale Wurzeln sind stets vorhanden. Was nun das weitere Schicksal jener dorsalen Wurzeln des Hypoglossus betrifft, so gehen sie sammt ihren Ganglien schon während der Fötalperiode wieder zu Grunde. Berichte II. Heft 1. 8 (9) 34 [veERseEn: [34 | So weit Frorızr. Das Auffallende seiner Befunde liegt darin, dass dieselben gerade bei Säugern, d. h. bei einer Abteilung der Vertebraten gemacht sind, wo man am allerwenigsten einen Hin- weis auf ursprüngliche Zustände des Wirbelthierkörpers erwarten konnte. Viel näher lag der Gedanke, dass sich bei den Anamnia auf vergleichend anatomischem oder ontogenetischem Wege die pri- mitive Anlage des Hypoglossus würde nachweisen lassen; allein alle darauf gerichteten Untersuchungen blieben bisher resultatlos. Um so erfreulicher war es für mich, bei einem ausgewachsenen Exemplar von Protopterus jenen Nachweis führen, und so eine, wie ich glaube, nicht unwesentliche Ergänzung für die Frorırr’schen Arbeiten liefern zu können. Bei Protopterus finden sich nämlich nicht nur die zwei von R. Wırversneim nachgewiesenen ventralen Zweige des zwölften Hirnnerven, sondern es sind auch die zwei dazu gehörigen dorsalen Wurzeln vorhanden. Wie bei allen Spinalnerven des Protopterus zwischen dem Ursprung der ventralen und dor- salen Wurzeln ein alternirendes Verhältniss besteht, so gilt dies auch für beide Hypoglossuspaare. Stets entspringt die dorsale Wurzel weiter kopfwärts am Rückenmark resp. an der Medulla ob- longata, als die ventrale, tritt aber gleichwohl, da sie sich, nach hinten und lateralwärts laufend, mit der ventralen, nach vorne ge- richteten Wurzel, vor dem Durchtritt durch den Wirbelkanal kreuzt, hinter der letzteren hindurch. Dies ist an dem hinteren Hypo- glossus, wo die mit einem starken Ganglion!) versehene, dor- sale Wurzel noch ausnehmend stark entwickelt ist, sehr deutlich nachzuweisen, während ich über das letzte Ende der ungemein zarten dorsalen Wurzel des vorderen Hypoglossus nicht vollständig ins Reine gekommen bin. Was ich aber mit Sicherheit behaupten kann, ist das, dass sich in ihrem Bereiche: kein Ganglion mehr entwickelt und dass sie dicht hinter dem Ende der schlitzartigen Rautengrube entspringt, um dann von hier nach hinten und aussen zu verlaufen bis sie in unmittelbare Nähe der zugehörigen ven- tralen Wurzel geräth. Mit dieser scheint sie sich nun in einen !) Auch die dorsalen Wurzeln der drei nächst hinteren Spinalnerven, die zusammen mit dem Hypoglossus und Vagus den Plexus bra- chialis bilden, zeichnen sich den übrigen Spinalnerven gegenüber durch be- sonders grosse Ganglien aus. 35] BEMERKUNGEN ÜBER DIE DORSALEN WURZELN DES NERVUS HYPOGLOSSUS, 35 gemeinsamen Kanal der Schädelwand zu begeben und innerhalb des- selben anastomosiren möglicherweise beide miteinander. Ich schliesse dies daraus, dass an der Aussenwand des Schädels nur ein gemein- samer Stamm hervortritt, der sich nach kurzem Lauf mit Vagus- Elementen verbindet, um dann zur Schultermuskulatur weiter zu ziehen. Dieser Befund erscheint um so interessanter, als auch die Oceipitalgegend von Protopterus sehr ursprüngliche Verhält- nisse, welche auf eine allmählig erfolgende Assimilation von Wir- beln hinweisen, erkennen lässt. Wie dies vor längerer Zeit schon Ps. Sröur am Anuren- und neuerdings Rosexgere am Selachier- schädel (Mustelus, Carcharias) dargethan hat, so sieht man auch bei ganz jungen Exemplaren von Protopterus die Schädelkapsel distalwärts mit der Labyrinthregion abschliessen. Bald aber ver- schmilzt damit der erste Wirbel und bei erwachsenen Exemplaren kommt es auch noch zu einer Assimilation des zweiten. Die zu- gehörigen Bogen und Dornfortsätze können dabei mehr oder we- niger vollständig getrennt bleiben (vergl. R. Wırpersseım, Morphol. Studien, I. Heft). Wir sehen also hier bei Protopterus, wie bei den oben genannten Selachiern, ein Stück Stammesgeschichte des Wirbelthier- schädels sich abspielen und dank diesen primitiven Verhältnissen des Schädelskeletes gelingt es, auch den Nervus hypoglossus noch in seiner Urform, d. h. in seiner reinen Spinalnatur ge- wissermassen zu überraschen und ihn sozusagen vor unseren Augen zu einem cranialen Nerven werden zu sehen. Dass es in der Oceipitalregion des Säugethierkopfes zu einer Aufnahme von mehr als nur zwei Wirbeln kommt, kann wohl nach den Untersuchungen von Frorızr als sicher betrachtet werden, doch liegt es nicht in meiner Absicht, in eine Discussion dieser Frage hier näher einzutreten. Nachdem ich meine Untersuchungen bereits abgeschlossen hatte, wurde ich durch Herrn Prof. Wırpersueim auf eine Arbeit von Furuiguer über das Üentralnervensystem von Protopterus aufmerksanı gemacht. In derselben ist bereits von einer im Be- reich des hinteren Hypoglossus liegenden dorsalen Wurzel die Rede, allein sie stimmt in ihren Lagebeziehungen in der beige- gebenen Abbildung nicht mit meinen Befunden überein; so ist sie nicht nur viel schwächer, sondern zeigt auch nicht das doch so charakteristische Alterniren mit der Radix ventralis. Die dorsale 3# 83) 36 IvErsEn: BEMERKUNGEN ÜBER DIE DORSALEN WURZELN DES N. HYPOGLOssuUSs, [36 Wurzel des vorderen Hypoglossus scheint Furuiquer ganz ent- gangen zu sein, und so glaubte ich in Anbetracht des interessanten Stoffes um so eher mit meinen eigenen Befunden in die Oeffentlich- keit treten zu dürfen. Freiburg i. B., im Juli 1886. Ueber summirte Zuckungen und unvoll- kommenen Tetanus. Von v. Kries. Die Frage, welche Frequenz der Reize erforderlich sei, um einen Muskel in einen vollkommenen Tetanus zu versetzen, wird gegenwärtig meist dahin beantwortet, dass ein solcher dann hervor- gebracht werde, wenn das Intervall zweier Reize kleiner sei als der Zeitraum, der bei der Einzelzuckung zwischen dem Beginn und dem Maximum der Contraction liegt. Die wesentliche Voraussetzung, welche dieser Anschauung zu Grunde liegt, knüpft sich unmittelbar an die fundamentalen Regeln, welche Hrrmmouız für die Summa- tion der Zuckungen aufgestellt hat; dabei hat man sich aber, wie es scheint, gewöhnt, diese in einer Ausdehnung als giltig zu be- trachten,, welche bei ihrer Aufstellung wohl kaum intendirt wurde. „Von da an,“ sagt Hrımmorntz }), „wo die zweite Reizung wirk- sam wird, verläuft die Zuckung nahehin so, als wäre der in diesem Augenblicke stattfindende Contractionszustand des Muskels sein natür- licher Zustand und die zweite Zuckung allein eingeleitet worden.“ Stellt man sich nun vor, dass viele Reize aufeinander folgen, so wird die gleiche Regel allerdings insofern unanwendbar, als ja natürlich sehr bald ein nicht mehr überschreitbares Maximum des Contractionszustandes eintreten muss. Dagegen kann angenommen werden (und dies ist die gewöhnliche Annahme), dass auch jetzt jeder einzelne Reiz ein annähernd gleich langes Stadium zunehmender Zusammenziehung bewirke; dieses wird, wenn die Contraction ihren !) HerLmHsorLtz, Monatsber. der Berliner Akademie 1855. Berichte II. Heft 2. 1 (4) 2 Krıss: [3 8 höchsten Werth erreicht hat, nur noch ein Gleichbleiben derselben sein ; es wird aber, wenn die Reize in der oben bezeichneten Frequenz auf- einanderfolgen, eine Verlängerung des Muskels gar nie stattfinden können und somit in der That ein vollkommener Tetanus resultiren müssen. Wir hätten uns den vollkommenen Tetanus so vorzustellen, dass der Muskel sich beständig im Stadium zunehmender Energie befände, in welchem nur durch die der Contraction gesetzte Grenze das Ansteigen in ein Gleichbleiben verwandelt worden ist !). Die Erfahrung ergibt nun sehr deutlich, dass, wenn man in der angegebenen Weise aus dem Verlauf der Einzelzuckungen die zur Gewinnung eines vollkommenen Tetanus erforderliche Reiz- frequenz ableitet, man zu irrigen Vorstellungen geführt wird. Um diese Erscheinung, auf welche ich mehrfach gelegentlich aufmerk- sam geworden war, genauer zu studiren, verfuhr ich so, dass ich auf einen Muskel eine Anzahl schnell folgender Reize wirken liess, und zwar in einem solchen Intervall, dass noch kein vollkommener Tetanus resultirte, vielmehr noch deutliche Oscillationen in den ge- zeichneten Curven bemerkbar waren. Die zeitlichen Verhältnisse dieses unvollkommenen Tetanus waren dann mit denen der Einzel- zuckung zu vergleichen. Als Präparate wurden uncurarisirte Frosch- muskeln benutzt, welche theils direct, theils vom Nerven aus gereizt wurden, was für die Resultate ohne Belang ist. Die myographische Einrichtung war derart, dass der Muskel isotonische Bewegungen ausführte. Aufgeschrieben wurden dieselben (in dreifacher Ver- grösserung) auf die Platte eines Pendelmyographions. Dieses war mit zwei Contacten ausgerüstet, welche bei dem Schwunge des Pendels successive, in beliebig zu variirendem Intervalle, unter- brochen wurden. Behufs der Beobachtung des unvollkommenen Tetanus wurde folgendermassen verfahren. Eine Stimmgabel oder Stahlplatte von passender Schwingungszahl (30 bis 40 pro Sekunde) besorgte die Schliessung und Oeffnung des primären Stroms des Inductionsappa- rates; der secundäre Kreis war durch den Muskel (oder seinen Nerven) geleitet, eine Nebenschliessung durch den ersten Contact des Pendelmyographions, so dass erst nach der Unterbrechung des- selben die Reize auf das Präparat einwirkten. Um den Muskel so !) Vgl. die Darstellung der HrımHorrz’schen Regel bei Hermann, Hand- buch der Physiologie, Bd. I. S. 40; femer die Theorie des Tetanus, wie sie KRosEckER und Stiruıns entwickeln. Genesis des Tetanus. Archiv f. Physiologie 18788, 8; 39] ÜEBER SUMMIRTE ZUCKUNGEN UND UNVOLLKOMMENEN TETANUS, 3 wenig als irgend möglich zu ermüden, liess ich nur eine so kleine Zahl von Reizen auf ıhn einwirken, als hinreichte, um ein nicht mehr ansteigendes Stück der Tetanuslinie zu erhalten. Es wurde zu diesem Zweck in den Inductionskreis der zweite Contact des Pendelmyographions eingeschaltet, so dass nach der Unterbrechung desselben wiederum die Reize den Muskel nicht trafen. Die Fig. 1 zeigt einen auf diese Weise erhal- tenen unvollkommenen Tetanus (T). Die Unterbrechungen des primären Stroms sind durch den Preıv’schen Chronographen unter der Muskelcurve aufgeschrieben. Die Curven sind von links nach rechts zu lesen; die absteigenden Linien in der Chronographen- zeichnung geben die Stromunterbrechungen , welchen die (allein wirksamen) Oeffnungs- schläge entsprechen. Diejenigen, welche zur Einwirkung auf den Muskel gelangt sind, sind mit Zahlen (1—6) bezeichnet. Zum Ver- gleich ist eine einfache Zuckung (Z) und eine Ueberlastungszuckung (Z‘) desselben Mus- kels daneben gezeichnet. In der einfachen Zuckung dauert das Stadium der aufstei- genden Energie 0,059 Sekunden; das Inter- vall zweier Reize beträgt 0,026, also weniger als halb so viel. Gleichwohl zeichnet der Muskel deutliche Oscillationen. In jeder Welle aber dauert das Stadium des Anstei- sens nur 0,013 Sekunden. Dies ist genau die Hälfte des Reizintervalls, entsprechend dem Umstande, dass in jeder Oscillation auf- steigender und absteigender Theil gleiche Zeit in Anspruch nehmen. Im unvollkom- £ e j & Zeitliche Verhältnisse der Ein- menen Tetanus dauern also hier die Stadien zelzuckung (Z belastet, Z’über- des Aufsteigens kaum ein Viertel so lang, lastet) und des unvollkom- Rays 2% menen Tetanns (T). wie in der einzelnen Zuckung. Das gleiche Verhalten ist sehr deutlich auch schon zu consta- tiren, wenn man die Reizfrequenz geringer und dementsprechend die Oscillationen bedeutend stärker macht. In der umstehenden 242) 4 KRıss: [40 Fig. 2 z. B. dauert das Stadium des Ansteigens in der Einzel- zuckung 0,040 in dem unvollkommenen Tetanus nur 0,013 Sek. Zeitliche Verhältnisse der Einzelzuckung (Z) Lage der Contractionsmaxima in zwei ein- und des unvollkommenen Tetanus (T). zelnen und der summirten Zuckung. Hieraus folgt, dass die zeitlichen Verhältnisse der Einzelzuckung und des Tetanus in einer ganz anderen Beziehung stehen, als ge- 41] ÜEBER SUMMIRTE ZUCKUNGEN UND UNVOLLKOMMENEN TETANTS, 5 wöhnlich angenommen wird. Und wenn es eine bestimmte Reiz- frequenz überhaupt gibt, bei deren Erreichung oder Ueberschreitung der Tetanus ein strenge vollständiger wird, so ist diese doch jeden- falls aus dem Verlauf der Einzelzuckung nicht zu entnehmen. Bemerkenswerth ist nun, dass auch in denjenigen summirten Zuckungen, welche durch die Einwirkung nur zweier Reize hervor- gebracht sind, sich eine analoge Erscheinung schon beobachten lässt. In der Regel ist hier mit grosser Deutlichkeit zu constatiren, dass in der summirten Zuckung das Contractionsmaximum schon erreicht wird, wenn nach dem zweiten Reiz eine erheblich kürzere Zeit ver- strichen ist, als bei der Einzelzuckung zwischen Reiz und Gipfel liegt. Fig. 3 z. B. lässt dies auf den ersten Blick erkennen; I und II sind die Zuckungen, welche bezw. dem ersten Reiz allein und dem zweiten allein entsprechen, S die summirte. Der Gipfel von 8 liegt bedeutend weiter links als der von II. Ueber die Ursache der ganzen Erscheinung zu speculiren, dürfte verfrüht sein. In- dessen sieht man doch, dass die Auffassung der summirten Zuckung als einer einfachen, welche lediglich auf eine andere Abscisse gesetzt sei, nicht ausreicht. Vielmehr gewinnt es den Anschein, als ob in der summirten Zuckung auch die schon relativ früher ab- nehmenden Antriebe des ersten Reizes noch zur Erscheinung kommen. In der That findet man auch, dass in der summirten Zuckung die Lage des Gipfels sehr wesentlich von der Stärke des zweiten Reizes abhängt, und zwar in der entgegengesetzten Weise, wie bei Einzel- zuckungen: je schwächer der zweite Reiz ist, um so früher erreicht die summirte Zuckung ihr Maximum. In Fig. 4 zeigt 5 und s Lage der Contractionsmaxima in der summirten Zuckung bei maximalem und untermaximalem zweiten Reiz (S und s). zwei summirte Zuckungen; in beiden ist der erste Reiz maximal und das Intervall dasselbe; s entspricht einer untermaximalen, S einer maximalen Intensität des- zweiten Reizes. Auch der Gipfel von 8 liest früher als der von II, der Zuckung, welche der zweite, maxi- male, Reiz für sich allein hervorruft; aber der Gipfel von s liegt wiederum noch sehr bedeutend früher. 6 KRIES: ÜEBER SUMMIRTE ZUCKUNGEN UND UNVOLLKOMMENEN TETANUS. [42 Resumirend können wir sagen, dass in der summirten Zuckung der zweite Reiz jedesmal ein Stadium der steigenden Energie her- vorruft, welches im Vergleich zu demjenigen der Einzelzuckung verkürzt ist. In weit höherem Grade producirt beim unvollkom- menen Tetanus jeder einzelne Reiz ein Stadium zunehmender Con- traction, welches noch weit geringere Zeit dauert, und leicht auf den dritten oder vierten Theil von derjenigen Zeit sich verkürzt, welche das Stadium ansteigender Energie in der Einzelzuckung um- fasst !). Die Ermüdung des Muskels verlängert übrigens diese Zeiten ebenso oder noch mehr wie die einzelnen Zuckungen; demgemäss sieht man häufig bei etwas längerer Dauer einer bestimmten Reiz- frequenz die Tetanuscurve nur ganz im Anfang oscillirend und dann stetig werdend. Die mitgetheilten Thatsachen genügen, wie ich glaube, um die Widersprüche zu beseitigen, in welchen gewisse gegenwärtig herrschende Anschauungen theils unter sich, theils mit der Erfahrung stehen. An sich aber scheinen sie mir sehr bedeutungsvoll für die Theorie der Zuckung sowohl als der Summation. Jedenfalls fordern sie zu einem eingehenderen Studium der Summations-Erscheinungen auf, welches nicht bloss die Grössenverhältnisse, sondern auch den zeitlichen Verlauf ins Auge zu fassen hätte. !) Welche Grenze etwa hier gesetzt sein mag, ist vorderhand nicht angegeben und nach der bis jetzt angewandten Methode auch nicht zu er- mitteln. Es muss nämlich berücksichtigt werden, dass bei Frequenzen von 40 und mehr Reizen pro Sekunde die Periode der Zustandsänderung im einzelnen Muskelstück nicht mehr sehr gross ist im Vergleich zu der Fortpflanzung der Erregung durch die Länge des Muskels. Es ist daher möglich, dass in jedem Theile des Muskels noch ein Oscilliren stattfindet, solches aber in der Gesammt- länge nicht mehr zur Erscheinung kommt wegen der Phasendifferenzen, welche zwischen den verschiedenen Theilen derselben Muskelfaser bestehen. Der Conjugationsprocess bei Paramaecium Aurelia. Von Dr. A. Gruber, Professor der Zoologie in Freiburg i. B. Schon seit längerer Zeit habe ich darnach gestrebt, Auf- klärungen über das Wesen der Conjugation bei den Infusorien zu erhalten und zwar speciell durch die Lösung der Frage, ob nicht die Kerne der beiden conjugirten Individuen in nähere Beziehung zu einander träten und damit der Process in direktere Ueberein- stimmung zur sexuellen Fortpflanzung der vielzelligen Organismen d. h. zur Befruchtung gebracht werden könnte. Bekanntlich waren darauf hin auch die Bemühungen anderer Forscher gerichtet, vor allen Dingen diejenigen Bürscaur’s!), dessen berühmte Studien über die Conjugation der Infusorien wir als Grundlage für alle dahin gehenden Untersuchungen betrachten müssen. Was Bürsckrı haupt- sächlich aufzufinden hoffte, war ein Austausch der Nebenkerne zwi- schen den beiden conjugirten Individuen, aber es war ihm nicht gelungen, einen direkten Beweis dafür zu erbringen. Auch Escer- mann und Barzranı glaubten einen solchen Austausch annehmen zu müssen und letzterer sprach sich noch neuerdings folgender- massen über diesen Punkt aus: „Je crois tres fermement a l’Echange de deux capsules striees entre les deux animaux dont chacun pre- sente une capsule dans l’ouverture buccale. Je l’ai observ@ maintes fois, non seulement sur le Paramaecium Aurelia, mais sur le !) Bürschui, Studien über die ersten Entwicklungsvorgänge der Eizelle etc. Abhandlung der Senckenberg. naturf. Ges. Bd. X, 1876. 8 GRUBER: [44 P. bursaria et putrinum. C'est la un fait fondamental“ !). Später war es Jıckeı?), der in einer kurzen Mittheilung erklärte, er könne einen solchen Austausch aus seinen Präparaten erschliessen und zwar besitze er die Stadien vom Vorwölben der Körperwand durch den andringenden Nebenkern bis zum Uebertritt desselben in das andere Thier. Wie aus dem Verlauf meiner Darstellung ersichtlich sein wird, sind diese Deutungen aber nicht richtig, sondern die genannten Forscher haben nur den Moment beobachtet, in welchem sich die Nebenkerne aneinanderlagern, ohne gesehen zu haben, dass die- selben sich wieder trennen und nicht in den anderen Paarling hin- überwandern. Die Beobachtung, dass die Nebenkerne der beiden conjugirten Individuen aufeinander zurücken und sich dicht zusammenlegen, ist das wesentlich Neue an dieser Untersuchung, während die Processe, die dem vorangehen und nachfolgen, auch schon von früheren For- schern, namentlich von Bürscazı?) und neuerdings in sehr genauer und richtiger Weise von Bausıanz*) beschrieben worden sind. Der Vollständigkeit halber werde ich aber auch diese Vorgänge wieder- geben, zu deren Deutung ich an der Hand meiner Präparate schon gelangt war, ehe ich Bausrant’s übereinstimmende Betrachtungen durchgelesen hatte, und glaube dies um so mehr thun zu dürfen als eine zusammenhängende bildliche Darstellung des ganzen Pro- cesses nicht existirt. Ueber den Kernpunkt der Conjugation, die Vereinigung der Nebenkerne, habe ich bereits eine vorläufige Mittheilung publicirt ?) und kurz meine Ansicht über die Bedeutung des Vorganges darin ausgesprochen. Da erfuhr ich durch freundliche Mittheilung des Herrn Dr. Lupwıs Prarz in Bremen, dass dieser denselben Process an Paramaecium Aurelia ebenfalls beobachtet und darüber einen Vortrag in der „Morphologischen Gesellschaft“ in München gehalten habe. Meine Beobachtungen bekamen dadurch eine erwünschte Be- stätigung, wenn sie auch von denen Prare’s ein wenig abweichen und derselbe ihnen eine etwas verschiedene Deutung gibt. Ich !) Les organismes unicellulaires. Lecons faites au Coll. de France par le professeur Baısıanı. Journ. de Micrographie. 6. Annee. No. 3. Paris 1882. pag. 110. ?) Zoolog. Anzeiger 1834. ASL,e; *) ]. c. Nr. 1-5. °) Diese Berichte Bd. II, Heft 1. 45] DER ÜOoNJUGATIONSPROCESS BEI PARAMAECIUM ÄURELIA. 9 werde dies nachher noch näher ausführen und zwar mit der gütigen Erlaubniss des Herrn Dr. Prare auf Grund seiner brieflichen Mit- theilungen, da ein Referat über den erwähnten Vortrag noch nicht erschienen zu sein scheint. Zunächst will ich meine Resultate im Zusammenhang wiedergeben. Da durch Bürscaur’s Untersuchungen die feinsten Details der inneren Vorgänge in den Kernen schon bekannt sind, und es mir im Wesentlichen auf die schon erwähnte eine Frage ankam, so wählte ich zuerst die wenn man will rohere Methode, nicht das einzelne Paar zu beobachten, sondern vielmehr eine grosse Menge von Individuen zum Präparat zu verarbeiten. Es hatte sich in einem Glas mit trübem Wasser eine ausserordentlich individuenreiche Co- lonie von Paramaecium Aurelia entwickelt, und ich wartete nun auf den Moment, wo Conjugationserscheinungen in derselben auftreten würden. Von dem Tage an, wo dies der Fall war, entnahm ich täglich eine sehr bedeutende Anzahl Paramäcien dem Glase, tödtete sie mit absolutem Alkohol und färbte sie mit Raxvırr’schem Pikro- karmin, alles im Uhrschälchen, und verarbeitete sie zum Dauerprä- parat; auf diese Weise erhielt ich einen vollkommenen Ueberblick über den Gang des Conjugationsprocesses und durch die bedeu- tende Zahl von präparirten Individuen, welche wohl nach Zehntau- senden zählt, auch eine fortlaufende Reihe von Stadien. Ueber die Deutung derselben bezüglich der Zeitfolge war kein Zweifel, indem ich ja das erste Auftreten der „Conjugationsepidemie* festgestellt hatte; später controlirte ich Vieles auch am lebenden Thiere und wandte noch andere Färbungsmethoden an, von welchen sich das Methylgrün am besten bewährte, da es Kern und Nebenkerne sehr deutlich hervortreten lässt !). Ich will zunächst den Gang des Processes fortlaufend dar- stellen und erst am Schlusse die Punkte hervorheben, welche etwa noch Zweifel zulassen mögen: Diejenigen Paramäcien, welche zur Conjugation schreiten wollen, schwimmen anfangs um- und übereinander her, berühren sich, haften auch wohl einen Augenblick aneinander, um sich wieder loszulassen, bis schliesslich die Vereinigung erfolgt. Man sieht auch wohl drei Thiere sich zusammenthun oder eines ein bereits conjugirtes Paar ') In den schon ceitirten „Lecons etc.“ von Bausıanı, welche mir durch die Güte des Herrn Verfassers zukamen, sehe ich, dass das Methylgrün eben- falls sehr empfohlen wird. 10 GRUBER: [46 umkreisen !). Die Vereinigung geschieht zunächst vorne an der Spitze der beiden Infusorien und dann an den Mundöffnungen, also näher dem Hintergrunde. An diesen beiden Stellen bleiben die Thiere fest vereinigt, während der übrige Theil des Körpers nur lose oder auch gar nicht mit dem des anderen Individuums ver- einigt ist. Ausserdem liegen die Thiere nicht in einer Ebene an- einander, sondern etwas gekreuzt, so dass die Kreuzungsstelle gerade an dem Vereinigungspunkt der Mundöffnungen liegt. Die eben conjugirten Paramäcien zeigen Kern und Nebenkern noch in charakteristischer Lage zu einander (Fig. 1), bald aber beginnt der letztere seinen Standort zu verlassen und wegzuwandern (Fig. 2), dann zieht er sich in die Länge und die Körnchen im Innern be- ginnen sich in parallele Längsreihen zu legen (Fig. 3). Es ist dies der Beginn der Theilung der Nebenkerne, bei welcher sich die- selben fernerhin zu langen elliptischen Körpern ausziehen, an deren Ende dunklere Körnerhaufen sich befinden und die ausserdem deut- liche Längsfasern aufweisen. Der Nebenkern hat also die charak- teristische Spindelform erreicht, welche bekanntlich frühere Forscher veranlasst hat, in ihm eine männliche Geschlechtsdrüse mit einge- schlossenen Spermatozoen zu erblicken, und welche Bürsckzı mit dem Namen „Nucleoluskapsel“ belegt hat. Nun erfolgt die Thei- lung der Nebenkerne und wir haben dann in jedem Individuum statt eines deren zwei (Fig. 5). Die Nebenkerne behalten vor der Hand ihre streifige Structur und ihre spindelförmige Gestalt bei und zwei davon beginnen nun auf die hintere Vereinigungsstelle der Paramäcien hinzurücken. Hier hat sich nun mittlerweile an jedem Paarling eine kleine Ausbuchtung gebildet, welche sich in das andere Individuum hineindrängt, so dass sich in diesem eine entsprechende Delle findet (Fig. 6—8); diese beiden Ausstülpungen liegen nicht in einer Ebene, sondern bei der Lage, welche die Thiere unter dem Deckglase annehmen, übereinander ?); hierherein rücken von links und rechts her die beiden Nebenkerne und zwar mit den Spitzen voran (Fig. 6). Sie drängen sich immer mehr gegen die Wölbung (Fig. 7) als wollten sie dieselbe durchbrechen und in den anderen Paarling hinüberwandern, wobei sich zunächst die Spitze des Nebenkerns umbiegt (Fig. 7) und derselbe sich dann immer mehr abplattet (Fig. 8), während sie anfangs häufig faden- !) Conjugation von drei Individuen hat auch Jıckeri (l. ec.) gesehen, ?) Es ist dies auf der Zeichnung nicht wohl darzustellen. 47] DER ÜCoNJUGATIONSPROCESS BEI PARAMAECIUM ÄURELIA. 11 förmig erscheint. Zuerst sind nun diese Enden der Nebenkern- kapseln durch dieses Andrängen verändert, während der übrige Theil noch die spindelförmige Gestalt beibehalten hat (Fig. 9); allmählig schwindet sie aber, und zwar je mehr das vordere Ende sich ab- plattet, so dass schliesslich zwei petschaftförmige Körper entstehen, die mit ihren breiten Enden fest gegen die Wölbung der Ausstül- pung angepresst liegen (Fig. 10). In meiner vorläufigen Mitthei- lung (l. c.) habe ich die Ansicht ausgesprochen, dass die Petschafte mit ihren breiten Enden zusammenstossen und auf diese Weise eine Mischung der beiderlei Kernsubstanzen erfolgen könne; ich bin aber seither wieder zweifelhaft geworden, wenn auch verschiedene Prä- parate, wie das auf Fig. 10 dargestellte dafür sprechen. Wahr- scheinlich liegen die abgeplatteten Enden übereinander, so wie das auch bei den Ausstülpungen der Fall ist (Fig. 8). Dies ändert aber nichts an der Thatsache, dass die Nebenkerne äusserst nahe zu- sammenrücken, so nahe, dass man einen Substanzaustausch wohl annehmen kann !). Die beiden Nebenkerne vereinigen sich aber nicht für immer, sondern sie trennen sich wieder und sind dann als kleine homogene Körperchen dicht neben- oder — bei der kreuz- weisen Stellung der Paramäcien — übereinander gelagerte Körper- chen zu sehen (Fig. 11). Dieselben erscheinen dann wie geschrumpft und haben sowohl ihre spindelförmige Gestalt als auch ihre streifige Structur vollkommen eingebüsst. Später ziehen sie sich wieder in die Länge und liegen nun parallel der Längslinie der Infusorien (Fig. 13), während sie beim Heranwandern mehr senkrecht zu dieser gestanden hatten (Fig. 6). Nachdem die so veränderten Nebenkerne sich wieder voneinander entfernt haben, rücken wahrscheinlich die beiden anderen heran und machen denselben Process durch, copu- liren sich und trennen sich wieder (Fig. 12). Mittlerweile ist das erste Paar etwas herangewachsen (Fig. 13) und das geschieht nun auch mit dem zweiten; alle vier Nebenkerne werden zu homogenen blassen Kugeln, deren also jedes Infusorium zwei erhält (Fig. 14). Um diese Zeit ist die Conjugation beendet und man findet öfters Pärchen, welche im Begriffe sind, sich zu trennen und nur noch mit den Lippenwülsten zusammenhängen. Die Trennung kann auch etwas später erfolgen und dann finden wir die homogenen Kugeln !) PLatE hat nur ein kreuzweises Uebereinanderlagern der Spindeln und keine Abplattung derselben beobachtet, worauf ich nachher noch zurückkommen werde. f2 GRUBER: [48 zu langen streifigen Spindeln umgewandelt, d. h. mit anderen Worten die vier Nebenkerne im Begriffe sich zu theilen (Fig. 15). Es gehen also aus der Conjugation Individuen hervor, welche vier Nebenkerne besitzen (Fig 16); diese theilen sich aber gleich wieder, wie dies auf Fig. 17 dargestellt ist, und zwar zu der Zeit, wo auch am grossen Kern des Paramäciums die bekannten Ver- änderungen eintreten, welche dessen späterem Zerfall vorangehen, d. h. wo dieser in ein geschlungenes Band auszuwachsen beginnt. So erhalten wir also Infusorien mit acht Kugeln, welche durch Thei- lung der ursprünglichen beiden die Conjugation eingegangen habenden Nebenkerne entstanden sind (Fig. 15). Das Band zerreisst dann und zerfällt in Stücke (Fig. 20), aus welchen die bekannten kuglig abgerundeten Trümmermassen entstehen, welche schliesslich durch das ganze Infusorium zerstreut liegen. Unter denselben erkennt man immer noch mit Sicherheit die acht Nebenkernderivate heraus und zwar fallen sie im Präparat durch grössere Helligkeit und deut- liche, stark lichtbrechende Granulationen auf (Fig. 20. 21). Um diese Zeit beginnt bekanntlich eine Verschiedenheit in dem Ver- halten der Nebenkerne aufzutreten, indem dieselben in zwei, bisher auch räumlich schon unterscheidbare Gruppen von vier Kugeln unter- schieden werden können, nämlich eine solche, welche bestimmt ist, den neuen Grosskern (wie ich den Nucleus im Gegensatz zum Nebenkern nennen will) zu bilden (N auf den Figuren), und eine zweite, aus welcher der neue Nebenkern hervorgeht (n auf den Figuren). Es wurde bisher angenommen (Bürscauı, BAugranı), dass von der zweiten Gruppe nur eine Kugel zum späteren Nebenkern werde, während die übrigen zerfielen; ich muss aber gestehen, dass. mir dies unwahrscheinlich erscheint, und ich glaube eher, dass alle vier Kugeln zu einer verschmelzen, so wie dies auf dem in Fig. 21 abgebildeten Präparat der Fall zu sein scheint. Manchmal erhalten sich auch längere Zeit hindurch noch zwei Kugeln, wenn schon die andere Gruppe bedeutend verändert ist (Fig. 23). Die Veränderung der zum Grosskern bestimmten Kugeln besteht in einem Anwachsen derselben (Fig. 20. 21 N), begleitet von einer Abnahme der starken Körnelung; sie erscheinen auf den Präparaten zunächst blasser als die Kerntrümmer, werden aber dann immer dunkler, um schliesslich den Farbstoff viel begieriger aufzunehmen als die immer mehr schwindenden und sich auflösenden Zerfallstücke des alten Gross- kerns. In dem Zeitpunkt, wo sie sich gleich dunkel färben wie diese, sind sie auf dem Präparat am schwierigsten zu unterscheiden, 49] DER ÜONJUGATIONSPROCESS BEI PARAMAECIUM AURELIA. 13 später aber treten sie immer deutlicher hervor (Fig. 20— 24). Schliesslich sind die Kerntrümmer alle verschwunden und wir haben nur noch die vier grossen dunkeln Kugeln und neben ihnen die kleinere helle und stark gekörnelte, zum Nebenkern bestimmte (Fig. 25). Die vier Kugeln rücken immer mehr zusammen (Fig. 26), verschmelzen endlich miteinander und auf diese Weise ist der neue Grosskern entstanden, neben welchem der neue Nebenkern gelagert ist und das Infusorium hat damit seine normale Gestaltung wieder erlangt. Nachdem ich so den ganzen Gang des Processes fortlaufend dargestellt, muss ich einige Punkte noch genauer besprechen und zunächst hervorheben, dass auch Abweichungen von dem gewöhn- lichen Verlauf vorkommen können !). So fand ich bei emer Con- jugationsepidemie zu öfteren Malen conjugirte Paramäcien, die zur Zeit, wo die Nebenkerne sich zusammenlegen, deren nicht nur zwei in jedem Paarling, sondern drei oder vier enthielten (Fig. 28 u. 29), und in seltenen Fällen wohl auch solche, bei welchen zwei lange, halbmondförmig gekrümmte, überaus umfangreiche Spindeln über- einander gelagert lagen und sonst in keinem der Thiere ein Neben- kern sichtbar war (Fig. 30). In diesen Fällen lagen die Neben- kerne deutlich kreuzweise übereinander, und, soviel ich sehen konnte, war dann die Annäherung durchaus keine innige; ich konnte eine Abplattung nicht wahrnehmen, und die Spindeln trennten sich offenbar wieder, ohne sich verändert zu haben. Prare hat ebenfalls derartige abweichende Nebenkernspindeln gesehen, auch halbmondförmige, wie sie seinerzeit von Bürsckuı beschrieben wurden. Jedenfalls sind diese Gestaltungen abnorme, denn in dem überaus zahlreichen von mir beobachteten Material fanden sie sich nur ganz vereinzelt. Was nun den wichtigsten Vorgang im Conjugationsprocesse betrifft, so muss ich da meiner oben mitgetheilten Ausführung die Auffassung entgegenhalten, welche Prarz davon gewonnen hat?): „Nach meinen Beobachtungen kommt es nicht zu einer ‚innigen Berührung‘ der beiden Paramäcien angehörigen Nebenkernspindeln, !) Herr Dr. Pate spricht in seinem Briefe auch die Ueberzeugung aus, dass die Conjugation nicht bei allen Paarlingen immer in derselben Weise verläuft. ?) Herr Dr. Pate war, wie oben bemerkt, so freundlich, mir die Publi- kation seiner mir brieflich gemachten Mittheilungen zu gestatten, 14 GRUBER: [50 sondern dieselben lagern sich nur in halber Länge dicht überein- ander, beeinflussen sich in dieser Stellung durch Vermittlung des umgebenden Protoplasmas und weichen alsdann auseinander. Bei Besichtigung meiner gefärbten Dauerpräparate glaubte ich anfangs, dass entweder nach dem Stadium der theilweisen Uebereinander- lagerung eine Verschmelzung oder ein wechselseitiger Austausch der Nebenkernspindeln eintreten würde. Die Beobachtung lebender Thiere, die die Spindeln manchmal sehr schön erkennen lassen, zeigte jedoch, dass beides nicht der Fall ist. Die Outicula eines jeden Thieres bleibt sogar ganz intact, so dass der Protoplasma- austausch zwischen beiden Individuen nur die Folge eines Diffusions- vorganges sein kann. Dort, wo die beiden Mundöffnungen anein- ander gepresst werden, stülpt sich die Cuticula eines jeden Thieres etwas vor und kommt in eine entsprechende Nische des anderen Paarlings zu liegen. Jede Spindel rückt in die Ausstülpung, welche einer Person angehört, und da die eine Ausstülpung bei Betrach- tung der Breitseiten der Thiere über der anderen sich befindet, so kamen auch die Spindeln übereinander zu liegen. In dieser Stellung verharren sie ungefähr vier Stunden, dann rücken sie wieder auseinander und die Conjugation nimmt anderweitig ihren Fort- gang.“ Da offenbar in den von mir beobachteten Fällen die Berüh- rung der Spindeln eine viel innigere war, so meinte Prarr dies dadurch erklären zu können, „dass die Conjugation möglicherweise nicht bei allen Paarlingen ganz in derselben Weise verläuft“. Zu dieser Ansicht neige ich auch, zumal der Verlauf des Processes nach der Trennung der Paarlinge zweifellos in zweierlei Weise vor sich gehen kann, wie ich das nachher noch besprechen werde. Den Substanzaustausch zwischen den beiden Nebenkernspindeln habe auch ich bis jetzt weder am Präparat, noch am lebenden Thier direkt beobachten können, aber nichtsdestoweniger zweifle ich nicht daran, dass ein solcher stattfinden muss. Wenn wir sehen, dass die Neben- kerne aufeinander zurücken, ja dass sich sogar besondere Ausstül- pungen von einem Thiere zum anderen bilden, in welche sie hinein- treten, so besteht zunächst kein Zweifel darüber, dass die Conjugation den Zweck hat, diese Annäherung herbeizuführen. Da wir uns aber über eine Beeinflussung aus der Ferne kein Bild zu machen ver- stehen, auch keinerlei Analogon dafür besitzen, so dürfen wir wohl mit Sicherheit annehmen, dass in irgend einem Moment ein Sub- stanzaustausch irgendwelcher Art stattfindet; die Cuticula kann sl] DER CoNJUGATIONSPROCESS BEI PARAMAECIUM ÄURELIA, 15 sich ja dabei öffnen und sofort wieder schliessen, wozu sie be- kanntlich bei den Infusorien befähigt ist, oder es kann auch durch die Mundöffnungen ein Austauch erfolgen; darüber werden wir sicher mit der Zeit ins Klare kommen! Ich nehme daher keinen Anstand, den Conjugationsprocess des Paramäcium mit dem Befruch- tungsvorgang bei den vielzelligen Organismen direkt in Zusammen- hang zu bringen und nicht mit Prarz „sie als eine Art Vorstufe anzusehen, welche eventuell zur Sexualität geführt haben kann“. Wenn die Nebenkerne nicht miteinander verschmelzen, nicht inein- ander aufgehen, so liegt darin kein Gegensatz zum Befruchtungs- vorgang, denn van Bexepen !) hat ja bei Ascaris megalocephala ge- zeigt, dass auch beim Metazoon Ei- und Spermakern nicht innig verschmelzen, wie man das vorher angenommen hatte. Wie ich es schon in meiner vorläufigen Mittheilung ausgesprochen habe, sehe ich, wie Weısmanw in der Befruchtung, so auch in der Conjugation der Infusorien einen Process, welcher bestimmt ist, zweierlei Idio- plasmen zu mischen, worauf die Variabilität des Individuums und damit auch die Möglichkeit der Artbildung begründet ist. Bei den Protozoen sowohl wie bei den Metazoen ist dieser Process aber kein funda- mentaler, d. h. kein solcher, ohne den das Leben unmöglich wäre, kein Mittel, um der erschöpften Lebenskraft wieder einen frischen Anstoss zu geben; denn hier wie dort sehen wir, dass er auch fehlen kann. Wie es bei den Metazoen parthenogenetisch sich fortpflanzende Arten gibt, so finden wir auch bei den Protozoen oft Generationen auf Generationen aufeinander folgen, ohne dass je eine Conjuga- tionsperiode eingetreten wäre. Es mag sein, dass auch bei manchen Protozoen, wie bei den meisten Metazoen, die Entwicklung ohne Befruchtung nicht mehr möglich ist, aber darin müssen wir eine secundäre Einrichtung erblicken, sonst müsste dies überall und immer der Fall sein. In der Conjugation eine Verjüngung, d. h. eine Wieder- belebung erschöpfter Lebenskraft sehen zu müssen, dazu wurde man hauptsächlich durch die Beobachtung geführt, dass meist klei- nere, durch rasch aufeinander folgende Theilungen entstandene Individuen sich conjugiren, und dass diese nach beendigter Conju- gation heranwachsen und neue Theilungen eingehen. Nun sind es aber durchaus nicht immer die kleinsten Individuen, welche con- !) van BExepen, Recherches sur la maturation de l’oeuf, la fecondation ete. Gand 1883. 16 . GRUBER: [52 jugiren (u. a. bei Stentor), sondern es hat z. B. Prare !) bei Spiro- chona direkt nachgewiesen, dass die Conjugation nur bei jugend- lichen Individuen eintritt, welche sich bei dieser Form durch äusser- liche Merkmale von älteren deutlich unterscheiden lassen, und bei solchen ist die Lebenskraft doch gewiss noch nicht der Erschöpfung nahe. Wenn wir die Conjugationsperiode oft nach einer sehr reich- lichen Vermehrung der Colonie durch Theilung eintreten sehen, so ist dies ähnlich der Thatsache, dass bei Daphniden nach der überaus ergiebigen parthenogenetischen Fortpflanzung die zweigeschlechtliche eintritt. Prare hat kürzlich in der eben genannten, sehr interessanten Arbeit eine neue Theorie zur Erklärung der Conjugation aufgestellt, welche ich mit seinen eigenen Worten wiedergeben will: „Ich gehe von der Ansicht aus, dass zeitweise ein Missverhältniss zwischen der Quantität des Cyto- und Nucleoidioplasmas eines Infusors zum Nachtheil der letzteren Substanz eintritt und sehe in der Beseiti- sung desselben den Zweck der Conjugation. Derselbe wird dadurch erreicht, dass unter dem wechselseitigen Einflusse zweier Individuen eine theilweise Umwandlung des Cytoidioplasmas in das Nucleo- idioplasma stattfindet, wodurch das quantitative Verhältniss zwischen beiden wieder hergestellt wird. Das thatsächliche Vorkommen jener Disharmonie wurde aus Knospungserscheinungen bei der Spirochona semmipara und daraus erschlossen, dass bei vielen Ciliaten nur solche Individuen conjugiren, die nicht die normale Grösse besitzen, bei denen also augenscheinlich die Tendenz zur Theilung im Cytoidio- plasma so sehr überwog, dass die Assimilation nicht zu ihrem Rechte kommen konnte. Hier sei die Bemerkung eingeschaltet, dass es unrichtig wäre, von allen in Conjugation befindlichen Infusorien eine unter dem Durchschnitt stehende Körpergrösse zu erwarten. Es ist wohl denkbar, dass die durch fortgesetzte Theilung nöthige Ergän- zung des nutritiven Idioplasmas immer annähernd vollständig er- folgt, diejenige des Nucleoidioplasmas dagegen nur in ungenügender Weise stattfindet. Dann wird das betreffende Infusor äusserlich kaum vom völlig normalen zu unterscheiden sein, obwohl das Be- dürfniss nach einer Conjugation in ihm ebenso gross ist, wie bei denjenigen Paramäcien, deren Körpergrösse schon durch mehrere Generationen hindurch abgenommen hat. Die zweite Annahme, ') PratE, Ueber einige an den Kiemenblättern von Gammarus pulex lebende Ektoparasiten. Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. 43. 53] DER ÜCoNJUGATIONSPROCESS BEI PARAMAECIUM ÄURELIA, 17 nach der das Idioplasma der Zelle in das des Kerns überzugehen vermag, stützt sich auf die Beobachtung, dass derjenige Bestand- theil der Zelle (Nebenkern oder Hauptkern), welcher zum neuen Kern wird, in fast allen Fällen eine schon äusserlich sichtbare Ver- grösserung erfährt, die nur auf Kosten des Öytoplasmas gedacht werden kann. Zwei Erscheinungen, die allen Conjugationserschei- nungen gemeinsam und für dieselben von fundamentaler Bedeutung sind, werden vornehmlich durch die geschilderte Theorie dem Ver- ständniss näher gebracht; sie erklärt erstens, warum die Conjugation periodisch mit der Theilung abwechselt und nicht in jeder Genera- tion auftritt, und zweitens, weshalb gerade der Kern so tiefgrei- fende Veränderungen durchzumachen hat. Besitzt in der Zelle das Cytoidioplasma das Uebergewicht und findet in Folge dessen die Bildung von Tochterthieren in zu raseher Aufeinanderfolge statt, so wird mit der wachsenden Zahl der Theilprodukte das Missver- hältniss zwischen dem Cyto- und Nucleoidioplasma derselben immer grösser und es muss daher nach einer gewissen Zahl von Genera- tionen die Conjugation nothwendig werden. Hat diese jene Uebel- stände beseitigt, so vermag der Kern wieder seinen normalen Ein- fluss auf das Zellplasma auszuüben und dieses selbst zu umfassenden Neubildungen, zur Anlage von Borsten, wie bei den Stylonychien, von einer Mundöffnung und dergleichen anzuregen. Die Assimila- tionsfähigkeit wird erhöht und in Folge dessen wächst das Thier, was in der That bei Paramaecium putrinum sich als Folge der Conjugation hat beobachten lassen.“ Pıarr’s Theorie, deren ausführliche Begründung im Original ich zum Studium empfehlen möchte, zumal ihr sehr interessante und sorgfältige Untersuchungen vorangehen, hat mit der älteren Theorie eine Voraussetzung gemeinsam, die sie meiner Ansicht nach unhaltbar macht. Hier wie dort stehen wir vor der undenkbaren Annahme, dass die Natur pathologische Zustände, „Uebelstände* wie PrarE sich ausgedrückt hat, im Entwicklungsgang von Orga- nismen eingeführt habe, zu deren Beseitigung sehr complieirte Vor- gänge nöthig geworden sind. Der Conjugationsprocess wäre dann nichts weiter als ein Remedium, ohne welches die Infusorien in krankhafte Verhältnisse gerathen und zu Grunde gehen. Demgegen- über scheint mir die Annahme doch gewiss befriedigender, dass wir in der Conjugation wie im Befruchtungsvorgang der höheren Orga- nismen eine Vermischung des in den Kernen gelagerten Keim- plasmas zweier Individuen zu suchen haben. Direkt erfolgt diese Berichte II. Heft 2. a5) 18 GRUBER: [54 Mischung bei denjenigen Conjugationsprocessen, wo die Kerne beider Paarlinge sammt diesen selbst ineinander aufgehen, so bei den Mikro- gonidien von Flagellaten, wie dies BLocumann !) kürzlich bei Haema- tococeus Buetschlii beschrieben hat, ferner bei der eigenthümlichen Verschmelzung von Spirochona, mit der uns Prarz bekannt gemacht hat, dem Conjugationsprocesse von manchen Hypotrichen (Exerr- MANN, BALBIANI) u. a. m. Bei den Vorticellinen findet ebenfalls eine direkte Fusion von Zelle und Kernplasma statt; da vereinigen sich aber die Grosskerne nicht, sondern gehen zu Grunde, wie bei den anderen Ciliaten, und nur die Nebenkerne bleiben erhalten. Die Conjugationsvorgänge bei den Suktorien sind noch nicht genauer beschrieben, nur von Dendrocometes paradoxus besitzen wir eine ausführlichere Beschreibung derselben, ebenfalls aus der Feder Prarr’s?). Hier soll nur ein Austausch von Zellsubstanz stattfinden, welcher durch ein Strömen des Plasmas von einem Thier zum anderen direkt wahrzunehmen ist, wie dies Jıckerı?) auch bei Ophrydium beobachtet hat. Es fragt sich aber, ob nicht doch kleinste Bestandtheile von Kernsubstanz mit ausgetauscht werden könnten. Die ursprünglichste Form der Conjugation war jedenfalls die des Verschmelzens der Kerne beider Individuen, und zwar bei der grossen Reihe von niederen Protozoen, welche überhaupt nur einen einfachen Kern, also keinen Nebenkern besitzen. Die Infu- sorien, zumal die Ciliaten, sind so hoch differeneirte Protozoen, dass wir mit Recht annehmen dürfen, es seien die bei ihnen beobachteten Vorgänge schon ausserordentlich modifieirt, und den verschieden- artigsten physiologischen und morphologischen Verhältnissen dieser complieirt gebauten Zelle angepasst. Was speciell die Vorgänge nach aufgehobener Conjugation betrifft, so lässt sich aus den bisher bekannt gewordenen Unter- suchungen entnehmen, dass alle darauf hinauslaufen, aus den Deri- vaten des ursprünglichen Nebenkerns neue Gross- und neue Neben- kerne zu bilden, sei es, dass der ursprüngliche Grosskern erhalten bleibt, sei es, dass er, was häufiger der Fall ist, zerfällt und auf- gelöst wird. Dass diesem Vorgang eine gegenseitige Berührung der Nebenkerne beider Paarlinge vorausgeht, ist zunächst nur bei !) BLocHhmAnn, Ueber eine neue Hämatococeusart. Morphol. Jahrb. 1885. ?) Aım£ Schneider hat kürzlich auch die Conjugation von Dendrocometes auf Präparaten studirt, wenn auch nicht so genau wie PLAre. ®) 1. c. Zool. Anz. 55] DER ÜoNJUGATIONSPROCESS BEI PARAMAECIUM ÄURELIA. 19 Paramaecium Aurelia bestimmt nachgewiesen, es lässt sich aber an der Hand der Darstellung früherer Beobachter (Bürscuuı, BAuzıant) auch für die anderen Paramäcium-Arten annehmen und wird sicher auch für die übrigen Formen nachgewiesen werden. Warum bei Paramaecium der Nebenkern sich zunächst in zwei theilt, lässt sich mit Bestimmtheit nicht angeben, wahrscheinlich aber ist dabei eine Oberflächenvergrösserung beabsichtigt. Ich habe auch nicht direkt beobachtet, ob beide Nebenkerne eines Paarlings mit den entsprechenden des anderen zusammentreten, sondern dies nur aus Präparaten wie das in Figur 12 wiedergegebene erschlossen. Was die Veränderungen nach aufgehobener Conjugation speciell bei Paramaecium Aurelia betrifft. so können dieselben in zweierlei Weise verlaufen, nämlich einmal so, wie ich es oben beschrieben und auf den beigegebenen Tafeln abgebildet habe, oder so, wie es zuerst von Bürschtı beschrieben wurde, wonach nämlich schon eine Theilung eintritt, ehe der neue Kern wieder reconstruirt und die Trümmer des alten verschwunden sind. Es gelangen dann auf jedes Theilstück zwei der zu grösseren Kugeln herangewachsenen Neben- kernderivate; erfolgt eine weitere Theilung, so entstehen schliesslich Paramäcien mit je einer Kugel, welche den definitiven Kern darstellt. Auch Bauzranı!) hat neuerdings diesen Vorgang sowie den oben beschriebenen sehr genau mitgetheilt. Noch nicht klar ist dabei, in welcher Weise jedes der vier Enkelindividuen auch zu einem Nebenkern gelangt, da die erste Theilung des ursprünglichen aus der Conjugation hervorgegangenen Infusors zu einer Zeit er- folgen soll, wo dieses nicht mehr vier sondern nur noch eine der zum Nebenkern bestimmten Kugeln enthält. Auch ich bin, wie schon oben bemerkt, über das Schicksal der letzteren nicht ganz ins Klare gekommen, glaube aber, dass wenn die frühzeitige Theilung erfolgt, doch noch vier vorhanden waren und in derselben Weise auf die Töchter und Enkel vertheilt werden, wie die grossen Kernkugeln; erfolgt aber die Theilung nicht, so schmelzen sie zu einem Nebenkern zusammen, wie die letzteren zu einem Grosskern. Es scheint mir überhaupt die Bildung von vier und vier Kugeln an den rasch nach der Conjugation ein- tretenden Theilungen in Beziehung zu stehen. Bausranı, der den von mir dargestellten Gang ebenfalls genau beobachtet, glaubt, derselbe sei nicht der gewöhnliche, sondern nur 8 20 GRUBER: [56 pathologisch und es erfolge darauf das Aussterben der Colonie, während bei lebensfrischen Paramäcien die frühzeitige Theilung ein- trete. Wenn ich das Letztere auch zugebe, zumal ich es selbst constatiren konnte, so darf man die Reconstruirung des Grosskerns und Nebenkerns, ehe eine Theilung eintritt, doch gewiss nicht als krankhaft ansehen, besonders, da sie auch bei anderen Infusorien beobachtet wurde. Was das Schicksal des alten Kerns betrifft, nachdem er die von Prirzwer bei Gewebezellen als morphologische Decomposition beschriebene Zertrümmerung erlitten, so bin ich der Ansicht Bausıanr’s, dass die einzelnen Stücke nicht ausgestossen, sondern vom Plasma resorbirt werden, und ich bin sicher, dass die rasch heranwachsenden neuen Kernbestandtheile die Trümmer nicht mechanisch in sich auf- nehmen sondern die im Plasma aufgelösten Chromatinelemente wieder absorbiren. Man sieht wohl ab und zu Kugeln, an deren Peripherie kleine Brocken wie eingedrückt erscheinen, was auch Bürscauı schon beschrieben hat, aber diese Erscheinung ist zu selten, um funda- mental zu sein. Ich muss noch erwähnen, dass bei der Behandlung mit Alkohol und Pikrokarmin auch gewöhnlich die Nucleuskugeln ganz homogen oder nur feinkörnig erscheinen und nicht ein grosses deutliches Korn im Centrum hervortreten lassen, wie dies bei Essig- säurebehandlung der Fall ist. Was das Verhältniss des Grosskerns zum Nebenkern betrifft, so möchte ich folgende Ansicht aussprechen, welche auf der Weıs- wann’schen Anschauung von der Constitution des Eies und Bedeutung der Befruchtung beruht: Der Grosskern des Infusoriums ist vor- wiegend Träger des histogenen Plasmas, während der Nebenkern nur Keimplasma enthält. Bei der Conjugation, wie wir sie von Paramae- cium beschrieben, vermischen sich die Keimplasmen beider Individuen durch die Vereinigung der Nebenkerne; wenn die letzteren sich nach aufgehobener Conjugation getheilt haben, trennen sie sich in zwei Gruppen von vier Kugeln, die einen werden ohne zu wachsen, also ohne Substanz aufzunehmen zum neuen Nebenkern, der somit wieder blos Keimplasma enthält, die anderen dagegen wachsen stark heran, nehmen das im Zellplasma aufgelöste histogene Plasma des alten Kerns in sich auf und werden zum neuen Grosskern, der wieder zum grossen Theil aus histogenem und zum kleinsten aus Keimplama und zwar aus dem bei der Conjugation vermischten Keimplama besteht. Der Grosskern ist dasjenige Element, welches die Lebenserscheinungen der Zelle beherrscht, wie ich dies früher 57] DER CoNJUGATIONSPROCESS BEI PARAMAECIUM ÄURELIA. > schon nachgewiesen habe, während der Nebenkern erst bei der Conjugation eine Rolle zu spielen hat. Ich kenne bis jetzt keine Thatsache, welche dieser Theorie direkt im Wege stünde und bin der festen Ueberzeugung, dass sich im Laufe der Zeit noch Viele finden werden, welche ihr als Stütze dienen können. Nachtrag. Durch die Güte des Verfassers erhielt ich nach Abschluss dieser Arbeit einen interessanten Aufsatz von Mauras über die Conjugation der ciliaten Infu- sorien, auf den ich leider nicht mehr eingehen kann. Ich erwähne nur, dass auch Mauras an einen Austausch der Nucleoluskapseln glaubt. Ich verweise auf das werthvolle Original in den „Comptes rendus des seances de l’Academie des sciences“ 1886. (Band und Heft kann ich nicht angeben.) Ah Bau BR: Fe PER, AyITRERN Bohnen le aueh E zul nu na Pr At urracki wu male pe ai a N auf a = Ehen Ale ala verk Wal. ii D ud ach 12 2 Ber dire le ne Wh aan we (a. RR RNIT Te RT 8 Gt rn RT EHEN ke Bi a RR ## liilir 0 A vi - Enrelatpe Ikalla Mr Tar TE inet Macfin Dt 7 h ; - * ze en : | ee SER Dia r p5>3 Be: gar . Dr” er = ki, j a h it PR e ah Pr Ba ru . Er ; k Pe KH in Tafelerklärung Tatel i II: GRUBER, Conjugationsprocess bei Paramaecium Aurelia. Sämmtliche Figuren beziehen sich auf Paramaecium Aurelia und sind nach Präparaten, und zwar die meisten nach Dauerpräparaten, welche mit Pikrokarmin gefärbt sind, einige auch nach Methylgrünpräparaten mittelst der Camera lucida gezeichnet. Die Vergrösserung ist überall dieselbe (Zeiss. Oc. 3 Obj. EB). Fig. 1. Ein Paar, das eben in Conjugation getreten, s Schlund. » 2. Die Nebenkerne beginnen vom Grosskern wegzurücken. »„ 9. Die Nebenkerne werden oval und schliesslich „ 4. lang spindelförmig, die Einleitung zur Theilung, welche in »„ 5 erfolgt ist. „ 6. An der hinteren Vereinigungsstelle haben sich die Ausstülpungen ge- bildet, auf welche von links und rechts je eine Nebenkernspindel zurückt. 7. Die Spindeln treten in die Ausstülpung hinein und 8. platten sich an der Wölbung derselben ab. »„ 9. Die Abplattung wird stärker, bis schliesslich 0. zwei petschaftförmige Körper aus den Spindeln entstanden sind. 1. Die Nebenkerne sind klein und homogen geworden und trennen sich wieder. „ 12. Sie rücken nach vome, während das andere Paar mittlerweile dieselbe Procedur durchgemacht (aus dem Präparat erschlossen). „ 13. Das zweite Paar ist in die Länge gezogen und liegt parallel der Ver- einigungslinie der Paramäcien, das erste Paar erscheint grösser. . Die beiden Nebenkernpaare sind zu homogenen Kugeln geworden. „ 15. Dieselben machen eine Theilung durch, wobei sie lang spindelförmig werden. »„ 16. Ein Paramäcium nach aufgehobener Conjugation mit vier Nebenkern- kugeln. „ 17. Die vier Kugeln sind im Begriff sich abermals zu theilen, der Gross- kern ist bandförmig geworden. ig. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. GRUBER: DER ÜCONJUGATIONSPROCESS BEI PARAMAECIUM AURELIA. [60 Es sind acht Nebenkernkugeln in zwei Gruppen zu vieren vorhanden. Der bandförmige Grosskern beginnt zu zerbröckeln. Der Grosskern ist in- Trümmer zerfallen. Vier von den Nebenkern- kugeln beginnen zu wachsen (N), die vier anderen bleiben klein (n). (Auf diesem Präparat waren nur drei deutlich zu sehen.) Die vier grösseren Kugeln noch mehr gewachsen (N), die vier kleineren scheinen zu einer Kugel zusammengeschmolzen (n). Vier grössere (N) und ein kleineres (n) Nebenkernderivat zwischen den Trümmern des Grosskerns gelegen. Zwei kleine (n) Nebenkernkugeln vorhanden. Die Kerntrümmer fast ganz geschwunden, während die vier grossen Kugeln bedeutend herangewachsen sind und der neue Nebenkern deut- lich hervortritt. Nur noch die vier grossen Kugeln und der Nebenkern vorhanden. Die Kugeln verschmelzen miteinander. Das Paramaecium ist wieder normal mit neuem Gross- und neuem Nebenkern. 28—30. Wahrscheinlich abnorme Conjugationszustände, wo ein Paarling drei (Fig. 28), vier (Fig. 29) oder zwei (Fig. 30) Nebenspindeln enthält. Berichtigung. Seite 18 Note 1 lies: Verh. d. naturhistor. med. Ver. zu Heidelberg 3. Bd. 5. Heft. 1886 statt: Morphol. Jahrb. 1885. Beitrag zur Systematik der europäischen Daphniden. Von Dr. Erhard Eylmann in Freiburg i. B. Mit Tafel II-V. Einleitung. Bei vorliegender Arbeit handelte es sich zunächst um eine systematische Uebersicht sämmtlicher bekannten europäischen Arten der Gruppe, gestützt auf eine möglichst scharfe und bestimmte Differential-Diagnose der einzelnen Arten. In den bisher vorliegenden Arbeiten ist dies nicht immer in genügender Weise geschehen, viel- mehr finden sich da meist viele Arten, deren Diagnosen nicht auf- einander bezogen sind. Daraus aber, dass etwa bei der einen Art der Kopf hoch, bei der andern der Schwanzstachel lang ist, kann man über zwei Arten nicht ins Reine kommen. Durch das Bekanntwerden eines immer grösseren Formen- reichthums der europäischen Daphniden hat sich mit der Zeit der Mangel eines Werkes, das dieselben in zusammenfassender Weise systematisch behandelt, immer fühlbarer gemacht. Ist doch die Be- schaffung der nöthigen Literatur beim Bestimmen einer Art nicht nur mübselig, sondern oft auch schwierig, da sich die Artbe- schreibungen hauptsächlich in Gestalt kleiner Aufsätze in der nor- wegischen, schwedischen, dänischen, französischen und deutschen Literatur zerstreut vorfinden. Jedoch ist nicht zu leugnen, dass vor allen Dingen Herisen durch die genaue Erforschung der böhmischen Cladocerenfauna einen grossen Theil der genannten Schwierigkeiten aus dem Wege geräumt hat, da die meisten euro- päischen Daphniden auch in Böhmen vorkommen. Berichte II. Heft 3. 165) D EyLmann: [62 Vorliegender Versuch kann auf Vollständigkeit keinen An- spruch machen, er soll vielmehr nur den Anfang einer grösseren Arbeit darstellen, die die ganze Ordnung der Daphniden umfassen wird. Bisher waren meine Daphnidenexcursionen noch auf ein kleines Gebiet beschränkt, indem ich nur Gelegenheit hatte, im Spätsommer und Herbst des vorigen Jahres in einigen Gegenden Norddeutschlands, Badens, des Elsass und der Schweiz zu fischen. Dass in einem so kurzen Zeitraume und auf so beschränkten Gebieten das gesammte Material nicht zu beschaffen war, wird jeder wissen, der sich mit dem Studium der Cladoceren befasst hat. Auf Rath des Herrn Geheimrath Weısmann lenkte ich be- sonders meine Aufmerksamkeit auf die geographischen und Lokal- Varietäten, und es war mein Bestreben, die kleinsten Unterschiede festzustellen, welche etwa zwischen den Bewohnern verschiedener Gebiete bei derselben Art vorkommen könnten. Man konnte hoffen, auf diese Weise ein Material von Thatsachen zusammen zu be- kommen, das für spätere Untersuchungen über die Umbildung der Arten und über die Factoren, welche dabei wirksam sind, nicht ganz ohne Werth sein dürfte. Die Resultate meiner diesbezüglichen Untersuchungen habe ich in einem besonderen Abschnitte am Ende dieser Arbeit niedergelegt. Was die Darstellung anbetrifft, so habe ich die selbstbeob- achteten Species ausführlich beschrieben und eine Zeichnung des ganzen oder wenigstens des charakteristischsten Körpertheiles hinzu- gefügt. Von den Arten, die mir nicht zur Verfügung standen, habe ich die Beschreibungen Anderer kritisch mit einander ver- glichen und so weit als möglich mit Hülfe der Abbildungen der- selben eine Diagnose gegeben. Ausser einer Artbestimmungstabelle bei jeder Gattung liegt ein Verzeichniss der geographischen Ver- breitung aller Daphniden bei. Familie Daphnidae, Sars. Die Körpergrösse unterliegt grossen Schwankungen; sie bewegt sich zwischen 3mm und 0,5 mm. Der Körper ist sehr zart, durch- sichtig, seitlich comprimirt und von rundlicher bis länglich ovaler Gestalt. In der Gattung Daphnia ist er meistens krystallhell mit leichtem bläulichen, röthlichen oder gelblichen Schimmer, während 63] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 3 er bei Ceriodaphnia, Scapholeberis, Simocephalus und Moina oftmals eine horngelbe bis blutrothe Färbung annimmt. Am Körper lassen sich auf den ersten Anblick zwei deutlich abgegrenzte Theile unterscheiden, der Kopf, der häufig durch eine tiefe Einbuchtung auf dem Rücken noch schärfer abgesondert wird, und der übrige Körper, den eine zweiklappige Schale umschliesst und der in Thorax, Pro- und Postabdomen zerfällt. Was den Kopf anbetrifft, so können wir im Allgemeinen nur sagen, dass er verhältnissmässig einen bedeutenden Umfang hat, da er in der Gattung Daphnia bei zwei Arten sogar die Länge des übrigen Körperabschnittes erreicht, und dass er sich entweder in Form einer Pyramide oder einer Kuppel in die Höhe erstreckt, oder niedergebeugt ist, und dann meist länglich viereckig oder mehr oder minder dreieckig gestaltet ist. Zu den Seiten desselben springt die Haut dachartig vor und bildet den sogenannten Fornix. Diesem gegenüber, ungefähr in der Nähe der Mitte der Kopfbasis, sitzt jederseits eine lange Ruderantenne, die aus einem cylindrischen dicken Stamme, der im grossen Ganzen die Länge einer geraden, von seiner Wurzel bis zur Stirnkante gezogen gedachten Linie besitzt, und aus zwei Aesten besteht, von denen der obere kürzer ist als der untere, in vier Glieder zerfällt und ebensoviel Ruder- borsten trägt, während der untere drei Glieder zählt und mit fünf Ruderborsten versehen ist. Die Ruderborsten selbst sind lang — in der Regel erreichen sie die Länge des Stammes und der Aeste — mit feinen Fieder- haaren besetzt und aus zwei oder drei Gliedern zusammengesetzt. Die Oberfläche des Stammes und der Aeste ist bei den meisten Arten mit schuppenartigen, gezacktrandigen Erhebungen bedeckt. Die Schale ist auf der Oberfläche entweder reticeulirt oder gestreift und erzeugt häufig hinten einen (Daphnia) oder zwei Stacheln (Scapholeberis). Ihre Ränder sind in der Regel mit Dornen, Borsten oder Haaren ausgerüstet. Das ungegliederte Postabdomen wird stets nach unten und vorne gerichtet getragen und ist durch eine starke Chitinleiste oder eine Einkerbung vom Proabdomen abgegrenzt. Vorne endet es mit zwei Krallen, die wohl bei allen Arten an den Unterkanten eine feine Bezahnung tragen, zu der sich an der Basis nicht selten ein oder mehrere Nebenkämme gesellen. Gleich hinter denselben oder eine kurze Strecke entfernt, liegt die ziemlich lange Spalte (After- spalte), deren Ränder, mit Ausnahme von Moina, mit einer grösseren 4 EyYLMANN: [64 oder geringeren Anzahl von Dornen bewehrt sind. In der Nähe der Uebergangsstelle von Pro- und Postabdomen sitzen auf dem letz- teren zwei Borsten (Endborsten), die gewöhnlich aus zwei Gliedern bestehen, von denen das distale sich durch einen Besatz von feinen Fiederhaaren auszeichnet. Der Magendarm ist weit, dickwandig und am vorderen Ende mit zwei geraden oder gekrümmten Blindsäcken versehen. Der Mastdarm hat nur eine geringe Länge und ist, ebenso wie der Oesophagus, hell und durchsichtig, während der Magendarm sich stets durch eine intensive Färbung kennzeichnet. Das Auge ist bei allen Gattungen wohl entwickelt und liest, von einer Kapsel umschlossen, in der Nähe des Stirnrandes. Häufig ist auch wohl ein sogenanntes Nebenauge vorhanden. Es ist dies ein schwarzer Pigmentfleck von runder bis spindelförmiger Gestalt, der einem unpaaren Gehirnfortsatz aufsitzt und in dem wir bei einigen Arten ein oder mehrere helle Körperchen wahrzunehmen vermögen, die nach Lryvis mit den Krystallkegeln des Auges identisch sein sollen. Die Tastantennen sind meist sehr kurz und beweglich oder unbeweglich am hinteren Abschnitte oder in der Mitte der unteren Kopfkante angeheftet. Bei der Gattung Daphnia werden sie gewöhnlich von einem grossen Schnabel vollständig bedeckt. Die Sommereier sind meist in grosser Anzahl im Brutraume vorhanden, nicht selten trifft man fünfzig und mehr an, und mit gelben Oel- und grünen Fetttröpfchen erfüllt. Die hartschaligen dunklen Wintereier werden vor der Ablage zum Schutze mit einer Hülle, dem Ephippium, umgeben, die sich aus dem oberen Theile der Schalenklappen bildet und je nach der Zahl der Wintereier (entweder ein oder zwei Eier), die eine Art producirt, eine ent- sprechende Anzahl von Logen enthält. Die Männchen unterscheiden sich von den Weibchen, was die äussere Gestalt anbetrifft, wesentlich durch den kleineren und schlankeren Körperbau, die abweichende Tastantennenbildung und die in einem Haken bestehende Bewehrung des ersten Fusspaares. Die Familie der Daphniden zerfällt in fünf Gattungen. 1. Gattung. Daphnia, 0. F. Müller. Körper schlank, länglich eiförmig und in der Regel sehr durch- sichtig. Kopf gross, vorne kuppelförmig abgerundet oder mit einem 65] Kopf ohne Schnabel. BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. | Die dorsale Kante bildet zwischen Kopf und Thorax keine oder nur eine seichte, im Bogen verlaufende Ein- buchtung. Schalenklappen polygonal gefeldert und am oberen hinteren Schalenwin- kel mit einem Stachel ver- sehen. Auf dem Rücken vier Verschlussfalten, von denen die beiden vorderen lang und an der Basis mit einander verschmolzen sind oder dicht neben einander stehen Der Kopf wird vom Tho- rax durch einen tiefen, schar- fen Einschnitt abgegrenzt. Der hintere obere Schalen- winkel ohne Stachel. Kopf klein und niederge- drückt. Ruderantennen kurz und schlank. VierVerschluss- falten, von denen aber nur die erste in die Länge ent- wickelt ist | \ Kopf hogh. Ruderanten- nen lang und sehr dick. Den Verschluss des Brutraumes besorgt eine Rückenfalte von hufeisenförmiger Gestalt, die dem Hinterrand genau anliegt der Schale Kopf oben und vorne gleich- mässig abgerundet. Postabdo- men um den After tief ausge- schnitten. Schalenklappen quer- gestreift und hinten schräg ab- gestutzt. Vier Verschlussfalten, von denen die beiden vorderen ungefähr die gleiche Länge be- sitzen und in beträchtlicher Ent- fernung von einander stehen . Kopf vorne und oben mehr oder minder tiefeingebuchtetund oftmals mit einem Home ver- sehen. Postabdomen um den After abgerundet. Schalenklap- pen undeutlich reticulirt und laufen hinten in der Richtung der freien unteren Ränder in je einen langen spitzen Dorn aus. Von den vier nahe bei einander stehenden Verschlussfalten ist die erste bedeutend länger als die drei folgenden Daphnia. Simocephalus. Scapholeberis. Ceriodaphnia. Moina. 6 EyLMmann: [66 hohen Helme versehen, der bei manchen Arten in eine stumpfe Spitze ausläuft und die Hälfte der Schale noch an Länge übertrifft. Die untere Kopfkante endet hinten stets mit einem mehr oder minder langen Schnabel. Die Schalenklappen sind oval, polygonal gefeldert und ver- schmelzen hinten zu einem bedornten, meist sehr langen Stachel. Das Postabdomen hat eine conische Gestalt und besitzt an den Rändern der Analspalte eine Bewehrung von einfachen Dornen. Die Endkrallen sind lang, gezähnelt und bei einigen Arten an der Basis mit einem oder mehreren Nebenkämmen versehen. Das Auge zeichnet sich durch seine Grösse aus, auch enthält es bei vielen Arten eine grössere Anzahl von Krystallkegeln als bei den übrigen Gattungen. Das Nebenauge ist punktförmig; bei einigen Arten fehlt es. Die Tastantennen sind klein, unbeweglich und werden in der Regel fast vollständig vom Schnabel bedeckt. Das Ephippium umschliesst stets zwei Dauereier. Das Männchen erreicht bei keiner Species die Grösse des Weibchens und unterscheidet sich, was das Aeussere angeht, hauptsächlich von demselben durch die langen Tastantennen und die Ausrüstung des ersten Fusspaares, die in einem Haken und einer langen Geissel besteht. Es sind bis jetzt folgende Arten bekannt. (Tabelle S. 8 u. 9.) Daphnia Schaefferi, Baird. 1820. Daphnia pulex, Strauss: Memoire sur les daphnia de la classe des crustaces. Seconde partie. pag. 158, tom. V, tab. 29, fig. 1—20. 1850. Daphnia Schaefteri, Baird: The Natural History of the British Entom. pag. 93, tab. VII, fig. 1, 2; tab. VIU, fig. 1a, 1. 1851. Daphnia pulex, Fischer: Bemerk. über einige weniger genau gekannte Daphnienarten. pag. 98, tab. III, fig. 1. 1853. Daphnia magna, Liljeborg: De crustaceis etc. pag. 24, tab. I, fig. 7 bis 9; tab. Ia, fig. 1—13; tab. XV], fig. 9. 1858. Daphnia Schaefferi, Schoedler: Branchiop. d. Umg. v. Berlin. päg. 11, 10.152, 8,0:; 1860. Daphnia magna, Leydig: Naturg. d. Daphn. pag. 134, tab. II, fig. 21, 22; tab. III, fig. 23. : 1868. Daphnia Schaefferi, P. E. Müller: Danmarks Cladocera. pag. 108. 1870. Daphnia Schaefferi, Lund: Bidrag til Cladocerernes Morphologie og Systematik. pag. 158, tab. VI, fig. 1, 2, 3, 4. 1875. Daphnia Schaefferi, Kurz: Dodekas neuer Cladoc. pag. 25. 67] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 7 1875. Daphnia Schaefferi, A. Huddendorff: Beitrag zur Kenntniss der Süss- wassercladoc. Russlands. pag. ®. 1877. Daphnia Schaefferi, Hellich: Cladoc. Böhmens. pag. 23. Körper gross, plump und wenig durchsichtig. Kopf breit, niedergedrückt, unten gerade und zwischen dem kleinen Schnabel und der hinteren Kante stumpfwinkelig ausgeschnitten. Schale oval und mit einem ziemlich langen Stachel versehen. Untere Postab- dominalkante tief eingebuchtet. Endkrallen mit zwei Nebenkämmen. Darmeoeca lang und S-förmig gewunden. Weibchen. Daphnia Schaefferi zeichnet sich vor den meisten anderen Daphniden durch ihre Grösse und ihren plumpen Körper- bau aus. Sie ist sehr wenig durchsichtig, blassgelb oder röthlich gefärbt und besitzt einen stark niedergedrückten Kopf. Der Rand desselben verläuft oberhalb der Stirn anfangs in gerader Richtung, macht dann aber eine bedeutende Krümmung und geht ohne Ein- kerbung in den dorsalen Schalenrand über. Unten ist er gerade oder etwas eingebuchtet und bildet einen kleinen stumpfen Schnabel, auf dessen Hinterkante winzige Dornen sitzen. Fornix gross und oberhalb der Wurzel der Tastantennen dreieckig gestaltet. Durch Verschmelzung der beiden Schalenklappen wird hinten ein ziemlich langer Stachel und auf dem Rücken eine sich über den Kopf hin fortsetzende hohe, scharfe Crista erzeugt. Oberer Schalenrand schwach gewölbt und ungefähr bis zum Kopfe mit kleinen starken Dornen ausgerüstet. Der untere stark bauchig, einwärts gebogen und bildet zwei Lippen, von denen die äussere von der Basis des Stachels bis zur Mitte bedornt ist, die innere, hinten ebenfalls mit Dornen besetzt, besitzt da, wo die Schalen- klappen die stärkste Einbuchtung machen, einen Besatz langer, feiner, dicht befiederter Borsten. Cuticula der äussern Haut deut- lich gefeldert. Ruderantennen kurz und nicht sehr stark. Der Stamm über- ragt die Stirnkante und ist, wie auch seine beiden Aeste, von- ring- förmigen, dichtgestellten Dornenreihen umgeben. Ausserdem tragen die Aeste an der Oberseite noch eine Reihe langer Haarbüschel. Ruderborsten kurz, dreigliedrig und lang befiedert. Darmeoeca, die bei dieser Art eine bedeutende Entwickelung erreichen, S-förmig gestaltet. Postabdomen nach dem freien Ende zu verjüngt. An seiner Unterseite trifft man zwei Einbuchtungen an. Die hintere, die sich bis zur Mitte erstreckt, seicht und dicht mit kurzen Stacheln besetzt, I ‚srwousuop -SISUOUTTO.LOET eyermons * TWBogstTpe) © -stsuostogyey © ureÄy “ "SLISNOR] eurpmbe "Basol »epeyda9oaatun "SUOAFIABO “erdstZuot "ejoorpnged eyumwo * ‚eyepneo "RSODLIYUBA ya -aq UELIOA L Ayeposum run opedsasyyy 'IOIqongqasure Sıu -3M AS ayueyJdoy alsjun AIaMaq UALIO ST Afeposun ru ayedsasygy "Iayyonqas -UTO NIeIS aYwesFdoyy arsyuf & " ua -93 JunggonqurM aryaTas ıqas aufs yaanp XEIOL pum jdoy ° guuaay -93 Sumyyanqum aylaaq ayary aut Yomp XeIoyL pun Jdoy yJuugatf ] -93 4otu ] Ba 2a TUI k h { D Ö s h ö " orerpog 3doy a9p ToyLıd uro spe Jue[ os Jdoy - : 5 1 . . \ " oreups dp SIEH 9TP spe 3ue] 08 Jdoy u23ogas spe ae WEIS WUJOH opeı -93 98% WwfoH jdoyt aedg ar spe Sue] 08 Jdoy yupayoa3 Jdoy aeyag op | spe aozımy Jdoy "uauos odneuageNn „9A oma uayoy urauro | yrur "ureÄg Aa9dıoy ei ums Aa9p IL NEOAIN ] ] weotos urggoru | "oyramz ap se ozyıdspogqeuyog (Surf os Sr | s ums zyes}107feu aap yıuı neaA |-twopqy A9sıq -IN WwogDTa]S3 UT "Losoem szydsppgqeugog -I9A AUoTu SIS -eg] IOp ue azyes u x e f Zue] yora]s -FIOJeUTUIOpqYy purs 1048.10 "es arg "NOIP "oyraAz Sep -uadoN a pun zma 92488 spe IOZMM UOTPANZUEATOS -J10}jeurwopqy auıgert u ar Em ‚3 yyoru zdoy ee: vn 30 PUMOL| Topary orp "agurr] ODTaLs 43 [9894 ‘az 1ayS ap Ayeyos aop ur aadıoy | -Togaopny -um usage 9Z4RS "UOPUWEILIOA -JIOFJBUTLLOP adneuageN -qv U09S19 OPIOE | -rorspos yoeayps sıadıoy sap OyueyTestog | "UOSTIBMIAA SIS "adue] uw uo} “eg Top ur ozyes -I9MZ Uap wen | -OFeUrUopqVy -TOqn zyes}IoFfeu -TWOPqY y . . . . . oryas yreIs SIodıoM J sap SYUENTESIOA uasaJ93 ATuı[ -UEIPONL TOP ATeıy -19([0 Es aner -2OS "yDoU ® en 7 ague] paIly sıodıoyy sap oruı] en SED: -UBIpSW Aop ur En euDeIsusfeyag "OOMZ sep spe "ABOTLOO SEAIO aım Top ur .ımu 2opo or BF OJUBy UOstumaon aopweutopu sta -eg aop uw ozyes -JroFfeurmop -qQy U8J810 9pIogl "Zana u & ö ’ R e R h f R > ıayas [ago "esnIqo A ’ ıamaq , -2IsuSTenpg UAULLOCT OT— 6 UL uas Syueyfeunmop | -ToemasA Topue -qe4sog atajuf) A-urayru yyoru sıs eyeao * r wi; B ä g ; ° ! 5 Japamaqg uau g-eg] Top ue ozyes 101 233—03 puma -J1o7peunuop syueyfeuruop | -qy uelsıa oprag -qe4sog Pdayufn een“ ä R 6 1 R R a ä " gang "SLIISO.MTAMD r : E * puasarue Zus -9FUTD SYUENTEULUOP ] UNMSPUBAUSTENDS uap pum yuumayas yes | -qegsog arayug 'SweL "puas usq[assap ozyıdg ar "Zur ayas fogeumog | AUoS Toyowgsuspeyag A -wrroA Sruam xamd # " puayogsqe om uropueausfeydg Up "Ope.Ia3 4887 OJuey umg "Ponıp uoA pun Jones usyun wpeu uagfes | -Teurwopgersog 9154 | -»Sraparu Jdoy -sop azyıdg ar] "Sue] ayas gyoru Joqeugps | -un 'adurT aaropyyru ua39[93 STAdIoM uoA Topejsuspegn sap STUTWwerp = Pi -aW Op qfequago “100 ame TPyoe4suafeyog Fdoyazroyun Ben ‚eyeuuad z 2 5 © 5 ä s i C 2 £ ® 5 pPuasBLIoA JLeIs ' ZueyeN! yrur ug ‘yooy Jdoy uajfegzueagog Sue] Toyo -24suofegog "LIapaoyag “ . . . . . . . . e A A . . . . uo3oJ03 sa9dıoy sap aruı[ -weipsn Aop ut [PypeIsuafeyog -ruosumgy “ en > ee ER £ 5 s e e : a 5 E “opera Re u T ; q -93 ypeayos "ao © A e 3 5 AR s E 5 = Fr: n B . te B s b 5 - yurum.czas an san? | 3doyratoun Pugeut “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . - . . - uodoq Yanfongas -98 Sruom pun J-urs Jorr [99 Faust OEL IA UaIS.IO opyarıpgerugdeq ° ° 3 2 u. : er Sue, £ x 4. a = 2 a - D uapunaa, u oywer REDEN FO Stuntof-S pun | -peurwopge Zur] wOA0HULLeEL / -JsoTF1aJuf) 10 EyLMmAnN: [70 die vordere kürzer, aber viel tiefer und, wie der grösste Theil des Postabdomens, dicht und fein bedornt. Vor der ersten Einbuchtung und zwischen ihr und der zweiten befindet sich an jeder Seite der Analspalte eine Reihe von langen, etwas nach hinten gekrümmten Dornen. An den unteren Kanten der Endkrallen sitzen in der Nähe der Ansatzstelle an das Postabdomen zwei Kämme langer, breiter Dornen, von denen der vordere aus 10—12, der hintere aus 16—18 besteht; der übrige Abschnitt bis zur Spitze fein gezähnt. Schwanz- borsten kurz und zweigliedrig; letztes Glied lang und dicht be- fiedert. Als Verschlussfalten dienen vier dicht mit stachelartigen Haaren besetzte Fortsätze. Der erste aufwärts gerichtet und bedeutend länger als der zweite, der sich nach abwärts neigt; die beiden letzten breit und niedrig. Auge nicht sehr gross, enthält aber ziemlich viel Krystallkegel. Es liegt nahe dem Stirnrande. Nebenauge klein und dreieckig. Tastantennen haben eine kegelförmige Gestalt und ragen frei unter dem Schnabel hervor. Länge etwa: 2,6—3 mm; Höhe etwa: 1,62—1,9 mm. Männchen. Das Männchen kleiner als das Weibchen und ebenfalls plump gebaut. Die untere Kopfkante macht vor dem kleinen abgerundeten Schnabel eine bedeutende Einbuchtung. Tast- antennen beweglich zu den Seiten des Kopfes eingefügt und an dem freien Ende verdickt. An der Ventralkante der Schale zieht sich ein Besatz von langen feinen Haaren hin. Bei Hamburg wurde Mitte December 1879 bei — 15°C. eine Varietät von dieser Art (tab. I, fig. 3) in grosser Menge in einem kleinen Teiche gefangen. Dieselbe zeichnete sich durch einen sehr kurzen, stumpfen Schalenstachel und durch das Fehlen von Dornen auf dem dorsalen Schalenrande aus. Ausserdem waren noch die be- fiederten Borsten an der inneren Lippe der unteren Ränder der Schalenklappen länger, als sie es gewöhnlich bei dieser Species sind. Fundorte. Hamburg: Teich bei Hamm. Frankreich: Mare de Blosseville (Seine-Inferieure bei Rouen). Daphnia magna, Straus. 1820.?2 Daphnia magna, Straus: Memoire sur les daphnia de la classe des cerustaces. Seconde partie. pag. 159, tab. 29, fig. 21, 22. 1858. Daphnia magna, Schoedler: Branchiop. d. Umg. v. Berlin. pag. 16. 71] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. st 1869. Daphnia magna, Plateau: Recherches sur les crustaces d’eau douce de Belgique. pag. 25. 1877. Daphnia magna, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 24. Diese Art hat sehr grosse Aehnlichkeit mit Daphnia Schaefferi und unterscheidet sich eigentlich nur durch die Darmcoeca von der- selben, die sehr kurz und am freien Ende kolbig verdickt sind. Länge etwa: 3,0l—4 mm; Höhe etwa: 2,06—2,3 mm. Daphnia Atkinsonii, Baird. 1859. Daphnia Atkinsonii, Baird: Desc. of Sev. Spec. of Entom. Crustac. from Jerusalem. pag. 281, tab. V, fig. 2. 1877. Daphnia Atkinsonüi, Schödler: Zur Naturg. d. Daphnid. pag. 14. 1877. Daphnia Atkinson, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 24. Körper gross, schlank und mit oder ohne Einbuchtung zwischen Kopf und Thorax. Schnabel klein und spitz. Untere Kopfkante fast gerade. Schale breiter als der Kopf, unten bauchig und oben serade. Postabdomen vorne stark verjüngt, ungefähr mit zehn gleichgrossen Dornen ausgerüstet und hinten dicht bedornt. End- krallen mit zwei Nebenkämmen. Daphnia Atkinsonii wurde von BAıkp in einem Teiche bei Gihon (Jerusalem) entdeckt, später fand sie Frıc auch in Böhmen. Körper gross, schlank gebaut und sehr durchsichtig. Kopf breit, kuppelförmig und oben gleichmässig abgerundet; unten bildet er einen kurzen, scharfen, nach hinten gerichteten Schnabel. Die ovalen Schalenklappen laufen hinten in einen langen, aufwärts ge- richteten, bedornten Stachel aus. In der Zeichnung von Baırp findet sich zwischen Kopf und Thorax eine ziemlich tiefe Einkerbung vor, während Herrıca an dieser Stelle keine Impression bemerkte. Der obere Schalenrand gerade und nur an der Stachelbasis bedornt. Bei der Form, die Hrurıc# beobachtete, zogen sich an der dorsalen Kante zwei vorne divergirende Dornenreihen bis zum Kopfe hinauf. Unterer Schalenrand nur bis zur Mitte mit Dornen bewehrt. Ruder- antennen lang, kräftig gebaut und an der Oberfläche dicht mit kurzen Dornen bedeckt. Besonders charakteristisch für diese Art ist das Postabdomen. Dasselbe spitzt sich am vorderen Ende stark zu und besitzt eine Bewehrung von 10 gleichlangen Dornen. Endkrallen fein ge- zähnelt und tragen an der Basis zwei Kämme, von denen der erste aus 10, der letzte aus 20 Dornen besteht. Von den vier be- 12 EyLMmann: [72 _ haarten Verschlussfalten sind die beiden ersten lang und stehen entfernt voneinander; dıe beiden letzten sind klein und höcker- förmig. Nebenauge besonders deutlich entwickelt. Länge etwa: 1,87—2,5 mm; Höhe etwa: 0,37—1,45 mm. Das Männchen blieb den beiden vorhin genannten Beobachtern unbekannt. Daphnia psittacea, Baird. 1850. Daphnia psittacea, Baird: The Natural History of the British Entomo- straca. pag. 92, tab. IX, fig. 3, 4. 1858. Daphnia psittacea, Schoedler: Branchiop. d. Umg. v. Berlin. pag. 16. 1872. Daphnia psittacea, Fri@: Die Krustenth. Böhmens. pag. 232, Fig. 34. 1875. Daphnia psittacea, Kurz: Dodekas neuer Cladoc. etc. pag. 24, tab. I, fig. 10. 1877. Daphnia psittacea, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 25. Körper gedrungen. Kopf niedergedrückt und vom Thorax durch eine schwache Impression geschieden. Schnabel kurz und stumpf. Untere Kopfkante fast gerade. Schale länglich oval, beträcht- lich breiter als der Kopf und oben und unten bauchig. Endkrallen mit zwei Nebenkämmen. Diese Art hat viel Aehnlichkeit mit Daphnia Atkinsonii. Kopf klein, vom Thorax durch eine seichte Einbuchtung abgegrenzt, oben gleichmässig abgerundet und unten mit einem kurzen stumpfen Schnabel versehen („is beaked like the beak of a parrot,“ Baıkp). Von der oben genannten Species unterscheidet sie sich wesentlich durch den gewölbten dorsalen Schalenrand und durch das Postabdomen. Letzteres verschmälert sich allmählich gegen das freie Ende zu und trägt an den Rändern der Analspalte 6—8 (10 nach Herrıc#) nach vorne an Grösse zunehmende Dornen. Hinter dem After befindet sich eine seichte Einbuchtung. Auge und Nebenauge klein, dagegen erreichen die Tastan- tennen fast die Schnabelspitze und stehen senkrecht zur Körperachse. Länge etwa: 1,9 mm; Höhe etwa: 1,30 mm. Das Männchen scheint noch unbekannt zu sein, da in den oben angeführten Schriften desselben keine Erwähnung gethan ist. 73] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 13 Daphnia pennata, 0. F. Müller. 1785. Daphnia pennata, O. F. Müller: Entomostraca etc. pag. 82, tab. XII. fig. 4—7. 1850. Daphnia pulex, Baird: The Natural History of the British Entomostraca. pag. 89, tab. VI, fig. 1—3. 1858. Daphnia pennata, Schoedler: Branchiop. d. Umg. v. Berlin. pag. 15. 1862. Daphnia pennata, 0. G. Sars: Om de i Omegnen of Christiania forekom. Cladoc. pag. 264. 1877. Daphnia pennata, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 27. Körper gross, röthlich und wenig durchsichtig. Kopf hoch und vom Thorax durch eine schwache Einbuchtung gesondert, Schnabel kurz und spitz. Schale eiförmig und endet mit einem langen, oberhalb der Medianlinie des Körpers gelegenen Stachel. Endkrallen mit zwei Nebenkämmen. Weibchen. Daphnia pennata sieht Daphnia pulex sehr ähnlich, und wurde daher häufig mit derselben verwechselt. Sie unterscheidet sich von dieser Species besonders durch den breiten, nach unten geneigten, vorne gleichmässig abgerundeten Kopf, dessen Unter- kante sich hinter der vorragenden Stirn tief einbuchtet und in einen kurzen, zugespitzten, nach hinten und unten gekehrten Schnabel ausgeht. Die Schalenklappen verschmelzen hinten zu einem geraden Stachel, der stets länger ist als bei Daphnia pulex. Die Ruder- antennen überragen, wenn sie in der Richtung über das Auge hin ausgestreckt werden, die Stirnkante. Das Postabdomen weicht insofern von dem von Daphnia pulex ab, als es an den Rändern der Afterspalte zahlreichere Dornen trägt. Es sind hier nämlich 16—18 vorhanden, während man bei der anderen Art in der Regel nur 10—12 antrifft. Hinsichtlich der Grösse stimmt die in Rede stehende Art völlig mit Daphnia pulex überein. Länge etwa: 2,1—2,38 mm; Höhe etwa: 1,45—1,63 mm. Männchen. Das Männchen weicht wesentlich von dem von Daphnia pulex ‘ab. Kopf stark niedergedrückt und oberhalb der Stirn leicht eingebuchtet. Die Unterkante desselben erstreckt sich fast in gerader Richtung und geht hinten in einen breiten, stumpfen, abgerundeten Schnabel über. Besonders charakteristisch sind die Tastantennen, die beinahe die Länge des Kopfes erreichen. Anfangs krümmen sie sich nach hinten, ungefähr in der Mitte dagegen 14 EYLMAnNN: [74 wenden sie sich in einem Bogen nach vorne und enden mit einer ziemlich langen, zugespitzten Endborste. Ausserdem tragen sie an der Basis noch einen Besatz von einigen Querreihen kurzer Haare und auf der Oberseite des distalen Endes eine kurze Seitenborste. Daphnia hastata, Sars. 1862. Daphnia hastata, Sars: Om Crustacea Cladocera, iattagne i Omegnen af Christiania. Andet Bidrag. pag. 266. Körper gross und röthlich gefärbt. Kopf stark niedergedrückt, klein und kuppelförmig gestaltet, imdem die Unterkante sich nicht hinter der Stirn einbuchtet, wie bei den nahe stehenden Arten, sondern etwas vorwölbt. Die Schale hat eine ovale Gestalt und verschmilzt hinten zu einem langen starken Stachel („postice attennata in spinam longam et robustam supra vergentem exiens,* Sars). Die beiden vorderen Verschlussfalten lang und nahe aneinander gerückt. Bewehrung der Analspalte besteht aus 16 Dornen. Länge etwa: 3 mm. Daphnia pulex, De Geer. 1778. Monoculus pulex ramosus, De Geer: Me&moires pour servir & l’histoire des Insectes. pag. 424, tab. 27, fig. 1—4. 1820. Monoculus pulex, Jurine: Hist. des Monocl. ete. pag. 85, tab. VIII—XI. 1847. Daphnia magna, Fischer: Ueber d. in d. Umg. v. St. Petersburg vor- kommenden Crustac. etc. pag. 185, tab. VII, fig. 12—16; tab. VII, fig. 1—9. 1848. Daphnia pulex, Lievin: Die Branchiop. d. Danziger Gegend, pag. 23, tab. V, fig. 1—7. 1850. Daphnia pulex, var. magna, Baird: British Entomostraca. pag. 89, tab. XI, fig. 3, 4, 5. | 1851. Daphnia magna, Fischer, Bemerk. über einige weniger gekannte Daph- nienarten. pag. 102, tab. III, fig. 2, 4, 5. 1858. Daphnia pulex, Schoedler: Die Branchiop. d. Umg. v. Berlin. fig. 2, 4, 5, 1860. Daphnia pulex, Leydig: Naturg. d. Daphniden. pag. 117, tab. I, fig. 1—7. 1862. Daphnia pulex, Sars: Om de i Omegnen af Christiania forek. Cladoc. pag. 262. 1868. Daphnia pulex, P. E. Müller: Danmarks Cladocera. pag. 110, tab. I, fig. 4. 1875. Daphnia pulex, Kurz: Dodekas neuer Cladoc. etc. pag. 22. 1875. Daphnia pulex, A. Hudendorff: Beitrag z. Kenntniss der Süsswasser- cladoc. Russlands page. 7. 75] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 15 1877. Daphnia pulex, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 26. 1878. Daphnia pulex, Lutz: Beobachtungen über die Cladoc. d. Umg. v. Leipzig. pag. 36. 1879. Daphnia pulex, Lutz: Untersuch. über die Cladoc. d. Umg. v. Bern. pag. 41. Körper gross, plump, röthlich gefärbt und zwischen Kopf und Thorax mit einer sehr schwachen Einkerbung versehen. Untere Kopfkante stark eingebuchtet. Schnabel von mittlerer Länge, auf- wärts gebogen und spitz. Schale unten bauchig und endet mit einem kurzen Stachel. Endkrallen mit zwei Nebenkämmen. Abdo- minalbewehrung besteht in 12—14 fast gleichgrossen Dornen. Weibchen. Diese Art ist gross, plump gebaut, röthlich gefärbt und sehr wenig durchsichtig. Der kleine, niedrige Kopf bildet an der Unterseite, hinter der hervorragenden Stirn, einen tiefen Aus- schnitt. Hintere Kopfkante concav und geht unterhalb der Tast- antennen in einen kleinen, nach unten und hinten gerichteten Schnabel über. Die eiförmig gestalteten Schalenklappen laufen in einen kurzen geraden Stachel aus. Fornix wohl entwickelt. Der freie Rand desselben erstreckt sich bis zur Stirn, der hintere endet auf der Mitte des Rückens. Stamm der Ruderantennen schwach gebogen und erreicht, wenn er über das Auge hinweg ausgestreckt wird, die Stirnkante. Die Oberfläche desselben wie auch die der beiden Aeste mit schuppen- artigen Erhebungen besetzt, die an dem distalen Ende jedes Gliedes in starke kurze Dornen übergehen. Auf der Oberseite des drei- gliedrigen Astes zieht sich der Länge nach eine Reihe von langen Haarbüscheln hin, die nach dem Stammgliede zu allmählich an Grösse abnehmen. Ausserdem trifft man noch einen kleinen Kamm von steifen Haaren an der Unterseite des zweiten Gliedes des anderen Astes an. Eben oberhalb der Beuge des Stammes sitzen zwei Borsten, die von der Wurzel bis zur Mitte von einer dicken Cuticula umgeben sind. Eine ähnliche Borste ist zwischen die beiden Aeste am distalen Stammende eingepflanzt. Ruderborsten drei- gliedrig und lang befiedert. Bei alten Weibchen geht der Kopf ohne Einkerbung in den Thorax über, bei jungen hingegen macht sich eine schwache Ein- buchtung bemerkbar. Schale fein rautenförmig gefeldert, unten stark bauchig, oben in der Jugend fast gerade, im Alter hingegen gewölbt. Dorsale Kante derselben ungefähr bis zum Kopfe, ventrale nur bis zur Mitte bedornt. Legt man das Thier auf die Bauch- 16 EYLMANN: [76 seite, so nimmt man eine scharfe Crista wahr, die, durch die Ver- einigung der Oberränder der beiden Schalenklappen erzeugt, sich von der Basis des Schalenstachels bis zur Stirn hinzieht. Von den vier dicht nebeneinander stehenden Verschlussfalten ist die erste nach vorne gewendet und doppelt so lang als die zweite, die sich nach hinten richtet; die beiden anderen sind klein und höckerförmig. Mit Ausnahme der ersten besitzen sämmtliche Verschlussfalten einen dichten Haarbesatz. Das conische Postabdomen unten gerade oder etwas ge- wölbt und an den Rändern der Analspalte mit 10—12 hakisg gekrümmten Dornen ausgerüstet, die von vorne nach hinten an Grösse abnehmen. Die Endkrallen tragen auf der dorsalen Seite zwei voneinander entfernt stehende Dornen und auf den ventralen Kanten ausser einer feinen Bezahnung an der Basis noch zwei Nebenkämme, die beide 5—6 Dornen zählen, von denen aber die des hinteren schmäler und kürzer als die des vorderen. Auge liegt nahe dem Stirnrande und enthält viele grosse, her- vorragende Krystallkegel. Nebenauge klein und punktförmig. Tast- antennen ragen kaum hinter dem Schnabel hervor und am freien Ende mit gleich langen Tastborsten und auf der Oberseite mit einer langen Seitenborste versehen. Coeca des Darmes kurz, am freien Ende verdickt und nach vorne gerichtet. Länge etwa: 2,15 mm; Höhe etwa: 1,23 mm. Den Jungen fehlt die Einbuchtung an der unteren Kopfkante fast vollständig. Während ihres Aufenthaltes in dem Brutraume der Mutter ist der Schalenstachel nach vorne umgeschlagen, und die Endkrallen sind so stark gekrümmt, dass sie dem unteren Postabdominalrande innig anliegen. Männchen. Das Männchen schlanker und kleiner als das Weibchen und zeichnet sich vor demselben durch einen höheren Kopf aus. Dieser ist oberhalb der Stirn unbedeutend eingedrückt und geht hinten an der Unterkante in einen kleinen, breiten, stumpfen Schnabel aus. Tastantenne lang, etwas gekrümmt und trägt an dem abgestutzten freien Ende neben den Tastborsten eine scharf von ihr abgegrenzte, etwas nach oben gerückte, kurze, hakig gekrümmte Endborste und neben dieser an der Oberseite eine kleine Seitenborste. Die dorsale Schalenkante verläuft fast gerade und verlängert sich hinten zu einem langen Stachel, der verhält- nissmässig länger ist als der des Weibchens. Die freien ventralen 7%] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPAISCHEN DAPHNIDEN. 7 Ränder der Schalenklappen wölben sich etwas vor und bilden vorne eine von feinen Härchen umgebene birnförmige Einbuchtung. Be- sonders charakteristisch ist ein langer, behaarter Fortsatz, der sich auf der Oberseite des Abdomens ungefähr da erhebt, wo beim Weibchen die erste Verschlussfalte sitzt. Daphnia pulex hält sich mit Vorliebe in kleinen Tümpeln und Teichen auf, die vielen organischen Detritus enthalten, doch findet man sie auch gar nicht selten in ganz klarem Wasser. Zuweilen trifft man bei einzelnen Individuen auffallende Färbungen an. So beobachtete Werısmann !) ein Männchen, dessen Bindegewebe in der Umgebung des Vas defens lebhaft anilinblau war, und ein Weibchen, bei welchem einige blasige Epithelzellen des Ovariums eine diffus blaue Färbung zeigten. Fundorte. Baden: In Teichen und Hanflöchern in der Um- gegend von Freiburg; Teich im Stadtpark von Lahr. Elsass: Alt- wasser des Rheins, Altbreisach gegenüber. Hannover: Teich beim Agathenburger Schloss (Stade). Schweiz: Graben mit sehr schmutzi- sem Wasser bei Biel. Frankreich: Mare aux Loups (Foret de Rouvray, Seine-Inferieure). Daphnia eurvirostris, mihi. Körper von mittlerer Grösse, braunroth gefärbt und sehr wenig durchsichtig. Impression zwischen Kopf und Thorax fehlt in der Regel. Schnabel sehr lang, gekrümmt und den Schalen- rändern innig anliegend. Schalenklappen oval. Schalenstachel nicht sehr lang. Endkrallen mit zwei Kämmen. Diese Art wurde, so viel mir bekannt, bisher noch nicht be- obachtet. Sie hat viel Aehnlichkeit mit Daphnia pulex, doch unter- scheidet sie sich auf den ersten Anblick durch eine geringere Körpergrösse und durch die Gestalt des Kopfes von derselben. Im männlichen Geschlechte treten noch wesentliche Unterschiede hinzu, so dass ich berechtigt zu sein glaube, diese Form als neue Species hinzustellen. Weibchen. Kopf breit, nicht sehr hoch und etwas stärker niedergedrückt als bei Daphnia pulex. Die Oberseite desselben verläuft unmittelbar hinter der Stirn fast gerade und geht dann in einem weiten Bogen ohne Einkerbung in den gewölbten oberen ') Weısmann, Beiträge zur Naturgeschichte der Daphnoiden. pag. 240. Berichte II. Heft 3. 2 (6) 18 Eyrmann: [78 Schalenrand über. An der Unterkante wird durch die etwas vor- tretende Stirn eine seichte Einbuchtung hervorgerufen. Rostrum lang, wie ein Adlerschnabel gebogen und nach hinten gerichtet. Hinterer Kopfrand concav. Fornix überwölbt in Form eines drei- eckigen Lappens die Wurzel der Ruderantennen. Er entspringt über dem Auge und erreicht die obere Schalenkante oberhalb des Anfangstheiles des Brutraumes. Schalenklappen besitzen eine eiförmige Gestalt und verschmelzen hinten, oberhalb der Medianlinie zu einem kurzen geraden Stachel. Während bei Daphnia pulex die dorsale Kante fast bis zum Kopfe mit Dornen ausgerüstet, so ist bei dieser Art, mit Ausnahme einer kurzen Strecke über der Stachelbasis, dieselbe ohne jede Bewehrung. Die freien unteren Ränder dagegen, wie bei der erwähnten Species, vom Stachel bis ungefähr zur Mitte bedornt. Ruderantennen nicht sehr lang und stark, ihr Stamm ist etwas gekrümmt und wie die Aeste mit schuppenartigen Erhebungen bedeckt. Er erreicht, wenn er in der Richtung über das Auge hin ausgestreckt wird, die Stirnkante. Die dicht befiederten Ruderborsten bestehen aus drei Gliedern, von denen das letzte aber nur mit Mühe als solches zu unterscheiden ist. Die vier Verschlussfalten sind wie bei Daphnia pulex gestaltet. Postabdomen verjüngt sich etwas nach dem freien Ende zu und an den Rändern der Analspalte mit 10—12 gekrümmten Dornen bewehrt, die von vorne nach hinten allmählich an Grösse ab- nehmen. Endkrallen besitzen an den Unterkanten ausser einem feinen einreihigen Dornenbesatz, der an der Spitze beginnt und sich nach hinten hinzieht, noch zwei Kämme, die sich an diesen anschliessen und bis zur Basis erstrecken. Der erste besteht aus 6—8 langen, breiten Dornen, die von der Mitte nach den Seiten zu allmählich kleiner werden; der zweite enthält 14—16 Dornen, die aber be- deutend kürzer und schmäler sind als die der vorhergehenden. Schwanzborsten enden stumpf und zerfallen in zwei Glieder, von denen das letzte fein befiedert und kürzer als das erste ist. Die Darmecaeca nicht sehr gross. Reticulation der Cutieula der Haut hat dieselbe Beschaffenheit wie bei Daphnia pulex. Länge etwa: 2mm; Höhe etwa: 1,5 mm. Männchen. Männchen bedeutend kleiner und schmäler als das Weibchen. Schnabel stumpf abgeschnitten und etwas in die 79] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 19 Höhe gerichtet, wodurch eine nicht unbedeutende Einbuchtung zwischen ihm und der stark vortretenden Stirn hervorgerufen wird. Von dem Männchen von Daphnia pulex unterscheidet er sich einmal durch die Tastantennen, deren Stamm hier in der Mitte etwas verdickt ist und am freien Ende ausser der Seitenborste und den Tastborsten noch eine gleichlange gekrümmte Endborste trägt, die aber nicht, wie bei Daphnia pulex, scharf von demselben ab- gegrenzt und mehr nach dem oberen Rande gerückt ist, sondern durch fast gleichmässige Verjüngung des Stammes gebildet worden zu sein scheint, und dann durch das Fehlen des langen, behaarten Fortsatzes am Abdomen. Es sind bei unserer Art zwar kleine Fortsätze vorhanden, dieselben treten aber in dieser Grösse bei allen Männchen der Gattung Daphnia auf. Als Unterscheidungsmerkmale von Daphnia pulex könnte auch noch die Farbe des Körpers angeführt werden, doch darf man hierauf bekanntlich kein grosses Gewicht legen, da dieselbe bei allen Species des Genus Daphnia grossen Schwankungen unter- worfen ist. Die Exemplare der in Rede stehenden Art, die mir zu Gesicht kamen, waren alle intensiv gelbroth bis braunroth gefärbt, während der Körper bei Daphnia pulex meistens nur eine schwache gelbrothe Färbung besitzt. Fundorte. Hannover: Graben mit viel pudrescirenden Sub- stanzen in der Landdrostei Stade. Daphnia Schoedleri, Sars. 1858. Daphnia longispina, Schoedler: Branchiop. d. Umg. v. Berlin. pag. 14, fig. 13, 14. 1862. Daphnia Schoedleri, Sars: Om de i Omegnen af Christiania forekom. Cladoc. And. Bidrag. pag. 266. 1877. Daphnia Schoedleri, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 28. Körper ziemlich gross, hell und zwischen Kopf und Thorax wenig oder garnicht eingebuchtet. Kopf abgerundet, unten leicht ausgeschweift und mit einem kurzen Schnabel versehen. Schalen- klappen oval, wenig breiter als der Kopf und verschmelzen hinten, in der Medianlinie des Körpers zu einem langen Stachel. End- krallen mit einem Nebenkanım. Daphnia Schoedleri hat grosse Aehnlichkeit mit Daphnia longis- pina, und wurde auch von ScuorpLer mit derselben verwechselt. Körper schlank, durchsichtig und, mit Ausnahme der dunkelbraunen 22 107) 230 | EyLMmann: [80 Schalenränder, weisslich gefärbt. Vordere Kopfkante gleichmässig abgerundet, die untere geht fast in gerader Richtung in den kurzen, spitzen, nach hinten gerichteten Schnabel über. Hintere Kopfkante etwas concav. Zwischen Kopf und Thorax befindet sich eine seichte Einbuchtung; diese kann aber auch fehlen (Hxzrrıcn). Schalenklappen wenig breiter als der Kopf, eiförmig gestaltet und enden in der Medianlinie des Körpers mit einem langen, geraden, nach hinten gerichteten Stachel. Die beiden vorderen Abdominalfortsätze stehen von einander entfernt („Processus anteriores duo abdominis dis- juneti*, Sars). Die untere Postabdominalkante buchtet sich in der Mitte etwas ein und besitzt an den Rändern der Afterspalte eine Bewehrung von 14—16 Dornen, die nach hinten zu allmählich an Grösse abnehmen. Als wesentliches Unterscheidungsmerkmal von Daphnia longispina sind die Endkrallen zu betrachten, die hier mit einem Nebenkamme von fünf langen Dornen versehen sind, während sie bei der anderen Art, wie wir später sehen werden, nur fein gezähnelt sind. Länge etwa: 1,65—2,9mm; Höhe etwa: 0,885—1,95 mm. Daphnia ovata, Sars. 1862. Daphnia ovata, Sars: On dei Omegnen af Christiania forekom. Cladoc. pag. 269. Körper gross und hell oder gelbgrün gefärbt. Der Kopf bildet eine fast eckige Stirn („Caput a latere visum oculum fere angulatun,* Sars) und buchtet sich an der Unterkante ein wenig ein. Schnabel lang und endet spitz. Schalenklappen eiförmig, bei alten Weibehen oben und unten gleichmässig gewölbt und ver- schmelzen hinten zu einem sehr kleinen Stachel (häufig fehlt er auch vollständig). Die beiden vorderen Verschlussfalten stehen entfernt von einander. Der untere Rand des Postabdomens wölbt sich in der Mitte etwas vor und besitzt an den Rändern der Anal- spalte eine Bewehrung von 20—22 Dornen. Länge etwa: 3 mm. Daphnia obtusa, Kurz. 1853. Daphnia pulex, Liljeborg; De crustaceis etc. pag. 30, tab. II, fig. 2, 3; tab. XVI, fig. 10—12. 81] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. Dil 1875. Daphnia obtusa, Kurz: Dodekas neuer Cladoc. ete. pag. 22, tab. I, fig. 8. 9. 1877. Dane obtusa, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 28. Körper mittelgross und zwischen Kopf und Thorax etwas ausgeschweift. Schale länglich oval und endet in der Medianlinie des Körpers mit einem sehr kurzen Stachel. Die beiden ersten Abdomimalfortsätze an der Basis nicht mit einander verwachsen. Untere Postabdominalkante mit 9—10 Dornen bewehrt. Endkrallen mit zwei Nebenkämmen. Daphnia obtusa steht Daphnia pulex sehr nahe. Ein wesent- liches Unterscheidungsmerkmal von derselben bieten im weiblichen Geschlechte das stark entwickelte, spitze Rostrum, das sich senk- recht nach unten richtet und mit der Spitze weit von den Schalen- rändern absteht, und das fast eonstante Fehlen des Schalenstachels. Das Postabdomen hat dieselbe Beschaffenheit wie bei Daphnia pulex. Das Männchen scheint, nach der Beschreibung zu urtheilen, die uns Kurz und Herricn von demselben geben, eine gewisse Aehnlichkeit mit dem von Daphnia curvirostris zu haben. Auch hier sind die Tastantennen kürzer als bei Daphnia pulex, doch gleichen sie insofern wieder denselben, als die Endborste, scharf abgegrenzt, an der oberen Kante des abgestutzten freien Endes sitzt und kaum die Tastborsten an Länge übertrifft. Ebenso fehlt am Abdomen der behaarte Zipfel. Länge des Weibchens: 1,55—2,1 mm; Höhe des Weibchens etwa: 0,98—1,23 mm. Daphnia gibbosa, Hellich. 1874. Daphnia gibbosa, Hellich: Ueber die Cladocerenfauna Böhmens. pag. 13. 1877. Daphnia gibbosa, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 29. Körper gross, hoch und röthlich gefärbt. Kopf niedrig, nach unten geneigt und hinter der Stirn tief ausgeschnitten. Schnabel klein und spitz. Schale fast so breit als lang, unten bauchig und vom Kopfe durch einen runden Höcker geschieden. Schalenstachel sehr kurz. Die beiden ersten Abdominalfortsätze an der Basis ver- wachsen. Endkrallen mit einem Nebenkamn. Der Kopf besitzt nur eine geringe Höhe und neigt sich stark nach unten. ‚Die Stirn springt weit vor und erzeugt an der unteren Kopfkante mit dem kurzen, spitzen nach unten und hinten gerichteten Schnabel einen tiefen Ausschnitt. 22 EyLMmAnN: [82 Die Schalenklappen haben eine rhombische Gestalt und werden vom Kopfe durch einen niedrigen abgerundeten Höcker abgegrenzt; hinten laufen sie in einen sehr kurzen, spitzen, bedornten Stachel aus und sind, mit Ausnahme der inneren Lippe der freien unteren Ränder, ohne Dornenbewehrung. Die beiden ersten Abdominal- fortsätze an der Basis innig mit einander verwachsen. Postabdomen verjüngt sich stark nach vorne zu und besitzt an den Rändern 17—19 von vorne nach hinten an Grösse abnehmende Dornen. End- krallen an den Unterkanten fein gezähnelt und an der Basis mit einem Nebenkamm versehen, der aus etwa 7 Dornen besteht. Länge etwa: 2,01 mm; Höhe etwa: 1,38 mm. Daphnia ventricosa, Hellich. 1877. Daphnia ventricosa, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 31. Körper gross, hoch und durchsichtig, Kopf klein, niedrig und hinter der Stirn ziemlich tief eingebuchtet. Schnabel lang und spitz. Schale oval und breiter als der Kopf. Schalenstachel sehr lang und in der Medianlinie des Körpers gelegen. Ruderborsten dick, erstes Glied länger als das zweite. Schwanzkrallen ohne Neben- kamm. Daphnia ventricosa gehört zu den grösseren Arten der in Rede stehenden Gattung. Kopf klein, vorne abgerundet und bildet eine wenig vorragende Stirn. Der Schnabel setzt sich scharf von der unteren Kopfkante ab und richtet sich, indem er sich leicht krümmt, nach unten und hinten. Besonders charakteristisch sind die Ruderantennen. Dieselben erreichen, wenn sie senkrecht nach hinten ausgestreckt werden, ungefähr die Mitte der Schale und sind mit kurzen, dieken Ruderborsten versehen, die im zwei Glieder zerfallen, von denen aber nicht, wie bei den übrigen Vertretern der Gattung Daphnia, mit alleiniger Ausnahme der weiter unten zu besprechenden Daphnia caudata, das zweite Glied das erste an Länge übertrifft, sondern weit kürzer als dieses ist. Schalenklappen breiter als der Kopf, eiförmig gestaltet und fast so breit als lang; hinten verschmelzen sie zu einem sehr langen geraden Stachel, der von dem unteren Schalenrande durch einen niedrigen Höcker getrennt wird. Erster Abdominalfortsatz doppelt so lang als der zweite und mit demselben an der Basis verwachsen. Das Postabdomen ver- 83] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 23 schmälert sich nach dem freien Ende zu und besitzt an den Rändern der Afterspalte eine Bewehrung von 14 starken Dornen, die von hinten nach vorne an Grösse zunehmen. Endkrallen an den Unter- kanten nur feingezähnelt. Länge etwa: 2,28 mm; Höhe etwa: 1,43 mm. Das Männchen blieb Hrruıca unbekannt. Daphnia caudata, Sars. 1854. Daphnia longispina, Fischer: Abhandl. über einige neue oder nicht genau gekannte Arten v. Daphniden etc. pag. 423, tab. III, fig. 1—4. 1860. Daphnia longispina, Leydig: Naturg. d. Daphniden, pag. 140, tab. II, fig. 13—20. 1863. Daphnia caudata, Sars: Zoologisk Reise i Sommeren 1862 i Christianias og Trondhjems Stifter. pag. 214. 1877. Daphnia caudata, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 31. Körper gross, schlank gebaut, durchsichtig und ohne Impres- sion zwischen Kopf und Thorax. Kopf hoch, Schale oval und endet mit einem sehr langen oberhalb der Medianlinie des Körpers gelegenen Stachel. Ruderborsten dick; erstes Glied länger als das zweite. Endkrallen ohne Nebenkamm. Weibchen. Körper schlank gebaut, blassgelb gefärbt und äusserst durchsichtig. Der Kopf neigt sich ein wenig nach vorne und besitzt ungefähr ein Drittel der Schalenlänge. Der Rand desselben vorne stark convex, oben geht er in einem sanft geschwungenen Bogen, ohne Einkerbung in den etwas gewölbten dorsalen Schalenrand über. Die ventrale Kante buchtet sich hinter dem Auge unbedeutend ein und fällt dann, einen langen scharfen Schnabel bildend, steil nach hinten und unten ab. Betrachtet man das Thier von oben, so bemerkt man eine lange, scharfe Crista, die, hervorgerufen durch die Verschmelzung der beiden Schalenklappen, an der Basis des Stachels beginnt und sich in der Mitte des Rückens und der dor- salen Seite bis zur Stirn hinzieht. Die Schalenklappen haben eine ovale Gestalt und verschmelzen hinten, in der Medianlinie des Körpers zu einem langen geraden Stachel. Die freien ventralen Schalenränder hinten bis zur Mitte bedornt und bauchig, doch überragen sie die Schnabelspitze nur bei alten Weibehen. Den verwachsenen dorsalen Rändern fehlt, mit Ausnahme eines kleinen Höckers an der Wurzel des Stachels, jeder Dornbesatz. 24 EyLManN: [84 Ruderantennen länger als die Hälfte der Schale. Der Stamm derselben, der sich etwas nach oben krümmt, erreicht, wenn er über das Auge hinweg ausgestreckt wird, die Stirnkante und ist, ebenso wie die beiden Aeste, mit kleinen schuppenartigen Er- hebungen bedeckt. Seine Basis wird von dem gering entwickelten Fornix zum Theil überwölbt. Durch die Gestalt der Ruderborsten unterscheidet sich diese Art besonders von der ihr sehr ähnlich sehenden Daphnia longispina. Dieselben sind kurz, dick, zwei- gliedrig und lang und dicht befiedert. Das zweite Glied kürzer als das erste und zeichnet sich durch einen scharf umschriebenen Fleck aus, der sich in der Nähe des Gelenkes befindet. An der Basis des Stammes sitzen zwei an der Wurzel dunkel contourirte Borsten; eine ähnliche Borste trifft man an dem freien Ende, zwischen den beiden Aesten an. Das zweite Glied des viergliedrigen Astes hat an der Unterseite einen kurzen Kamm von langen steifen Haaren; der dreigliedrige dagegen besitzt an der Oberseite eine Reihe von langen Haarbüscheln. Postabdomen verjüngt sich nach dem freien Ende zu und an jeder Seite der Analspalte mit einer Reihe von 9—12 langen, von vorne nach hinten an Grösse abnehmenden Dornen bewehrt. Die Ausrüstung der Endkrallen besteht in einer feinen Bezahnung der Unterkanten und in zwei kleinen Dornen, die der dorsalen Seite aufsitzen. Schwanzborsten dick, zweigliedrig und enden stumpf. Zweites Glied befiedert und kürzer als das erste. Die beiden vorderen der vier Verschlussfalten lang und an der Basis innig mit einander verwachsen. Im Brutraume trifft man in der Regel zahlreiche Sommer- eier an. Darmeoeca lang und neigen sich etwas nach innen und unten. Auge gross und liegt nahe dem Stirnrande. Es enthält nur wenige Krystallkegel, die zur Hälfte vom Pigmente bedeckt werden. Nebenauge klein und punktförmig. Tastantennen ragen wegen ihrer Kleinheit nur mit den Tastborsten unter dem Schnabel hervor. Reticulation der Cuticula der Haut besteht aus weiten Maschen, die von wenig erhabenen Linien gebildet werden. Die jungen Individuen sind schlanker als die alten. Kopf so breit als die Schale und besitzt an der Oberseite ein deutliches Haftorgan. Hinten laufen die Schalenklappen oberhalb der Median- linie des Körpers in einen grossen, aufwärts gerichteten Stachel aus. Zwischen Stirn und Schnabel fehlt meistens die Einbuchtung. 85] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 25 Länge des Weibchens etwa: 2,3— 2,67 mm; Höhe des Weibchens etwa: 1,25—2,0 mm. Männchen. Das Männchen erreicht nicht die Grösse des Weibcehens und unterscheidet sich von demselben, was die äussere Gestalt anbetrifft, wesentlich durch die Form des Kopfes. Der- selbe ist nämlich mehr in die Länge gezogen, vorne gleichmässig abgerundet und bildet in der Regel hinter der Stirn nur eine sehr kleine Einbuchtung. Fundorte. Hannover: Schwanenteich bei Stade. Daphnia longispina, O0. F. Müller. 1785. Daphnia longispina, OÖ. F. Müller: Entomostraca etc. pag. 88. tab. XII, fig. 8-10. 1820. Daphnia longispina, Straus: Memoire sur les daphnia ete. pag. 160. tab. 29, fig. 23, 24. 1850. Daphnia pulex, var. longispina, Baird: British Entomostraca. pag. 91, tab.VIL: fg: 3, 4. 1862. Daphnia longispina, Sars: Crust. Clad. i Omegn. af Christiania. pag. 145. 1862. Daphnia affınis'), Sars: Zoologisk Reise i Sommeren 1862. pag. 215. 1868. Daphnia longispina, P. E. Müller: Danmarks Cladocera. pag. 112, tab. I, 1ig, 1,2. 1869. Daphnia longispina, Plateau: Recherches sur les crustaces d’eau douce de Belgique. pag. 26. 1870. Daphnia longispina, Lund: Bidrag til Cladocernes Morphologie og Syste- matik. pag. 159, tab. VI, fie. 5. 1875. Daphnia longispina, Kurz: Dodekus neuer Cladoc. etc. pag. 21. 1575. Daphnia longispina, A. Hudendorff: Beitrag z. Kenntn. d. Süsswasser- cladoceren Russlands. pag. 7. 1877. Daphnia longispina, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 32. 1878. Daphnia longispina, Lutz: Beobacht. über d. Cladoc. d. Umgegend von Leipzig. pag. 36. 1879. Daphnia longispina, Lutz: Untersuch. über d. Cladoc. der Umg. v. Bern. pag. 41. Körper mittelgross, schlank gebaut und meist hyalin. Kopf !) Die Beschreibung, die Sırs von seiner D. affinis gibt, ist zu kurz und ungenau, um entscheiden zu können, ob es sich um eine neue Art oder um eine kleine Varietät von D. longispina handelt. Nach dem genannten Forscher soll sie hauptsächlich durch den kleineren und anders geformten Kopf und den stets geraden, schräg aufgerichteten Schalenstachel von derselben abweichen („Fra D. longispina, hoem den staar meget naer, skiller den sig strax ved det i For- hold til den ovrige Skal betydelig mindre og anderledes formede Hoved, samt ved Skallens Spina, der altied er fuldkommen lige og skjaevt opadrettet, aldrig visende Spor til den for hin Art eiendommelige Krumning opad‘). 26 EyLmann: [86 hoch und vom Thorax durch eine sehr geringe Einbuchtung ge- schieden. Schalenstachel lang. Abdominalfortsätze an der Basis verwachsen. Der erste übertrifft den zweiten an Länge. End- krallen ohne Nebenkamm. Weibchen. Körper schlank gebaut, sehr durchsichtig und hell oder blassgelb gefärbt. Kopf schmäler als die Schalenklappen und geht ohne Einkerbung in den Thorax über. An der unteren Kante bildet er unmittelbar hinter der Stirn eine seichte Einbuchtung und läuft dann in einen langen nach hinten und unten gerichteten Schnabel aus. Hinterer Kopfrand schwach concav. Legt man das Thier auf die Bauchseite, so bemerkt man eine hohe scharfe Leiste, die, durch die Vereinigung beider Schalenklappen erzeugt, sich in der Mittellinie der dorsalen Körperseite von der Basis des Stachels bis zur Stirn hinzieht. Ruderantennen von mittlerer Länge und Dicke und an der Oberfläche mit kleinen schuppenartigen, gezacktrandigen Erhebungen bedeckt, die an dem distalen Ende der einzelnen Glieder in kurze starke Dornen übergehen. An der Aussenseite des Stammes, eben oberhalb des Gelenkes befindet sich eine scharf umschriebene glatte Stelle mit zwei zarten Borsten, die von der Basis bis zur Mitte von einer dieken Cuticula umgeben sind. Eine ähnliche Borste trifft man am Stammende, zwischen den beiden Aesten an. Bei starker Vergrösserung bemerkt man an der Oberseite des unteren Astes reihig angeordnete Büschel langer feiner Borsten und an der Unterseite des zweiten Gliedes des anderen Astes einen Kamm von dicht stehenden Härchen, der ungefähr den vierten oder fünften Theil der Länge des Gliedes erreicht. Ruderborsten zerfallen in zwei Glieder, von denen das letzte durch einen scharf begrenzten dunklen Fleck ausgezeichnet ist. Cuticula der äusseren Haut besitzt eine zellige Sculptur, die von regelmässig sich kreuzenden erhabenen Linien hervorgerufen wird. Schale eiförmig gestaltet und geht hinten in einen langen, etwas oberhalb der Medianlinie befindlichen, häufig aufwärts ge- krümmten Stachel aus. Oberer und unterer Schalenrand hinten mit Dornen bewehrt. Ausserdem findet sich noch an dem hinteren Abschnitte der inneren Lippe der unteren Ränder eine Reihe kleiner Borsten. Häufig trifft man, wie auch bei vielen anderen Arten, auf Kalkabsonderungen in den Schalenklappen, die bei Zusatz von Essigsäure unter Bläschenentwicklung verschwinden. Das grosse Auge liegt nahe dem Stirnrande. Nebenauge 87] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 37 klein und stets rund; bei starker Vergrösserung bemerkt man deut- lich an dem Rande desselben kleine lichtbrechende Körper. Tast- antennen von geringer Grösse und werden mit Ausnahme der Tast- borsten vom Schnabel bedeckt. Anfangstheil des Magens, sowie der beiden Caeca gelbgrün, Mitte rothgelb und Ende violett gefärbt; in der Gefangenschaft geht diese Färbung stets verloren. Mastdarm immer hell und durchsichtig. Die beiden ersten der vier Verschlussfalten lang und nach vorne gerichtet, die beiden letzten unbedeutend. Schwanzborsten bestehen aus zwei Gliedern, von denen das letzte stumpf endet und mit langen Fiedern besetzt ist. Die untere Postabdominalkante verläuft bis zur Afterspalte gerade und besitzt an den Rändern derselben eine Bewehrung von 10—12 Dornen, die von vorne nach hinten an Grösse abnehmen. Endkrallen tragen ausser einer feinen Bezahnung an den unteren Rändern noch auf der dorsalen Seite zwei von einander entfernt stehende Dornen. Länge etwa: 2,0—2,5 mm; Höhe etwa: 1,0—1,25 mm. Die jungen Individuen zeichnen sich durch einen langen, aufwärts gekrümmten Stachel und einen sehr stumpfen Schnabel aus. Männchen. Männchen von Daphnia longispina kleiner und schlanker als das Weibchen. Kopf schmal und an der Unterkante mit einem kleinen, sehr stumpfen Schnabel versehen. Ein Haupt- unterscheidungsmerkmal bieten aber, was die äussere Gestalt an- betrifft, die langen und etwas gekrümmten Tastantennen, die an dem freien Ende ausser den Tastborsten noch eine von der Basis bis zur Mitte dunkel contourirte Endborste und, von dieser etwas entfernt, auf der oberen Seite eine Seitenborste besitzen. An den unteren freien Schalenrändern, die sich in der Mitte einwärts biegen, zieht sich von vorne bis zur Mitte ein Besatz von langen, allmäh- lich an Grösse abnehmenden befiederten Borsten hin. Auf dem Rücken trifft man häufig einen nach vorne gerichteten stachelartigen Höcker an, den manche Autoren als Haftorgan ansprechen. Schalen- stachel sehr lang, aufwärts gerichtet und nimmt oberhalb der Medianlinie seinen Ursprung. Fundorte. Baden: Aquarium des zoologischen Instituts zu Freiburg. Elsass: Altwasser des Rheins, Altbreisach gegenüber. 28 EyLMmanN: [88 Daphnia rosea, Sars. 1862. Daphnia rosea, Sars: Om de i Omegnen af Christiania forekom. Cladoc. ag. 268. 1877. Dach rosea, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 33. Körper mittelgross, durchsichtig und röthlich gefärbt. Kopf niedrig und vom Thorax durch keine Impression gesondert. Schale länglich eiförmig und mit einem langen, oberhalb der Medianlinie des Körpers befindlichen Stachel ausgerüstet. Abdominalfortsätze kurz, dick und an der Basis nicht verwachsen; die beiden ersten ungefähr gleichlang. Diese Art hat grosse Aehnlichkeit mit Daphnia longispina und unterscheidet sich einmal durch die geringere Körpergrösse und dann durch den niedrigeren Kopf, der sich hinter der Stirn tiefer einbuchtet und nur einen kleinen stumpfen Schnabel bildet, und durch die rothe Färbung des Körpers von derselben. Schalenklappen länglich oval und verschmelzen hinten, oberhalb der Medianlinie zu einem geraden, langen Stachel („Spina testae supra medium marginis posterioris exiens, sat longa et tenuis distincteque supra vergens,“ Sans). Beiden ersten Abdominalfortsätze dick, ungefähr von gleicher Länge und stehen entfernt von einander. Postabdomen verschmälert sich nach dem freien Ende zu und besitzt an den Rändern der Analspalte eine Bewehrung von 12—14 Dornen. Länge etwa: 1,9 mm; Höhe etwa: 1,1 mm. Daphnia aquilina, Sars. 1862. Daphnia aquilina, Sars: Zoologisk Reise i Sommeren 1862. pag. 216. 1877. Daphnia aquilina, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 34. Körper von mittlerer Grösse, schlank gebaut und durchsichtig. Kopf hoch, nach unten geneigt und hinter der Stirn tief einge- buchtet. Schnabel sehr lang und in gleichem Niveau mit der Stirn. Schale länglich oval und vom Kopf durch eine seichte Einbuchtung geschieden. Schalenstachel kurz und oberhalb der Medianlinie des Körpers gelegen. Abdominalfortsätze an der Basis nicht verwachsen; erster zweimal so lang als der zweite. Körper schlank, von mittlerer Grösse, durehsichtig und farblos. Kopf streckt sich nach vorne und unten und wird von den Schalenhälften durch eine seichte Einbuch- tung abgegrenzt. Die obere Kante rundet sich gleichmässig ab, die 89] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 29 untere hingegen erzeugt unmittelbar hinter der vortretenden Stirn einen ziemlich tiefen, scharfen Ausschnitt und geht dann in einen langen, spitzen, stark nach hinten gekrümmten Schnabel über, dessen Spitze mit der Stirn in gleicher Höhe sich befindet und zwischen die Schalenklappen hineinragt. Schale länglich eiförmig gestaltet und endet hinten, oberhalb der Medianlinie mit einem schlanken, kurzen, häufig aufwärts ge- krümmten Stachel. Beide vorderen Abdominalfortsätze lang und stehen entfernt von einander; der erste doppelt so lang als der zweite. Postab- domen buchtet sich unten ein wenig ein und besitzt an der After- spalte jederseits eine Bewehrung von 16—17 Dornen. Endkrallen fein gezähnelt. Länge etwa: 1,83 mm; Höhe etwa: 1,0 mm. Daphnia lacustris, Sars. 1862. Daphnia lacustris, Sars: Om de i Omegnen af Christiania forek. Cladoc. Andet Bidrag. pag. 266. 1877. Daphnia lacustris, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 33. Körper gross, hyalın und ohne Impression zwischen Kopf und Thorax. Kopf nicht sehr hoch und hinter der Stirn tief einge- buchtet. Schnabelspitze nicht in gleicher Höhe mit der Stirnkante. Schale länglich oval und breiter als der Kopf. Schalenstachel nicht sehr lang. Abdominalfortsätze an der Basis nicht verwachsen; erster zweimal so lang als der zweite. Daphnia lacustris sieht Daphnia longispina sehr ähnlich und besitzt auch ungefähr dieselbe Körpergrösse. Kopf etwas niedriger als bei dieser Art und unten, unmittelbar hinter der ein wenig vortretenden Stirn mit einer tieferen, weiteren Einbuchtung ver- sehen, doch ist dieselbe abgerundet und nicht so scharf einspringend wie bei der ebenfalls nahestehenden Daphnia aquilina. Schnabel verläuft anfangs gerade, geht dann aber in eine kurze, scharfe und sekrümmte Spitze aus. Kopf und Thorax werden durch eine seichte Einbuchtung von einander geschieden. Schalenklappen haben eine länglich ovale Gestalt und gehen hinten, in der Medianlinie des Körpers in einen langen geraden Stachel aus. Die beiden vorderen Abdominalfortsätze stehen getrennt von einander; der erste doppelt so lang als der zweite. 30 EyLmann: [90 Das Postabdomen verschmälert sich gegen das freie Ende zu und ist an den Rändern der Afterspalte jederseits mit 14—16 Dornen ausgerüstet. Der untere Rand buchtet sich etwas ein, Das Auge liegt in der Nähe des Stirnrandes und zeichnet sich durch seinen Reichthum an länglich ovalen Krystallkegeln aus. Länge etwa: 2,21mm; Höhe etwa: 1,26 mm. Das Männchen unterscheidet sich vom Weibchen durch eine weitvorspringende Stirn und durch das Fehlen des Schnabels („Mas fronte valde prominente rostroque nulla insignis,“ Sans). Daphnia hyalina, Leydig. 1860. Daphnia hyalina, Leidig: Naturg. d. Daphniden. pag. 151, tab. ], fig. 8, 9, 10. 1862. Daphnia galeata, Sars: Zoologisk Reise i Sommeren 1862. 1868. Daphnia galeata, P. E. Müller: Danmarks Cladocera. pag. 117, tab. I, fig. 6. 1874. Daphnia galeata, Kurz: Dodekas neuer Cladoceren. pag. 13, tab. I, no. 61. 1874. Daphnia gracilis, Hellich: Ueber die Cladocerenfauna Böhmens. pag. 13. 1877. Daphnia gracilis, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 35. 1877. Daphnia galeata, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 36. 1878. Daphnia hyalina, var. Mülleri, Lutz: Beobacht. über d. Cladoc. d. Umg. v. Leipzig. pag. 37. 1879. Daphnia hyalina, Lutz: Untersuch. über die Cladoc. d. Umg. v. Bern. * Körper mittelgross, hyalin und zwischen Kopf und Thorax sehr wenig eingebuchtet. Kopf hoch, gehelmt und unten fast gerade. Schale oval und breiter als der Kopf. Schalenstachel lang. Diese Art wurde von Lryvıs entdeckt und wegen ihrer grossen Durchsichtigkeit von ihm hyalina benannt. Er fand sie im Herbste 1856 im Schliersee und im Herbste des folgenden Jahres auch im Bodensee. Dieselbe variirt überaus stark. So fand ich z. B. im Oktober 1885 im Zuger See eine Daphnia mit langem, krummen Schnabel und hohem Kopfe, die ich anfangs für eine noch unbe- kannte Species hielt. Erst als ich im Züricher See eine Form fischte, die gleichsam ein Bindeglied zwischen jener und der typischen Daphnia hyalina bildete, überzeugte ich mich, dass ich es nur mit einer Varietät der letzteren zu thun hatte. Auch Daphnia galeata, Sars, und Daphnia gracilis, Herrıch, sind meiner Ansicht nach nur Varietäten von Daphnia hyalina. Denn es weichen nicht nur die von Sars, P. E. Mürrer und Kurz als Daphnia galeata beschrie- benen Formen mehr oder minder von einander ab, sondern auch 91] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 31 Herriıc# führt drei Varietäten von derselben an, von denen Varietät 3 nach diesem Autor sich von Daphnia gracilis nur durch die geringere Kopfhöhe unterscheidet. .Nun fand ich aber, dass die von mir im Züricher See gefischte Varietät ein Glied zwischen den beiden letzt- genannten Formen bildete, da die Länge des Kopfes ein wenig hinter der von Daphnia gracilis zurückblieb, während sie die von Daphnia galeata Varietät 3 etwas übertraf. Man könnte also, wenn man es für nützlich erachtete, Daphnia galeata und Daphnia gra- eilis als Lokalvarietäten von Daphnia hyalina betrachten. Was die geographische Verbreitung der drei erwähnten Formen anbetrifft, so kann man im Allgemeinen sagen, dass Daphnia hyalina sich auf die Schweiz, Süddeutschland, Böhmen und Oesterreich zu beschränken scheint, während Daphnia galeata sowohl in Norwegen, Dänemark als auch in Böhmen und Italien angetroffen worden ist. Daphnia gracilis wurde bisher nur in Böhmen beobachtet. Weibchen. Körper ziemlich gross und krystallhell. Kopf, schmäler als die Schalenklappen, erreicht ungefähr ein Drittel der- selben. Vorne streckt er sich kuppelförmig in die Höhe; unten bildet er eine kaum wahrnehmbare Einbuchtung, da die Stirn wenig oder gar nicht vorragt, und der Schnabel steil nach hinten zu abfällt. Hinterrand schwach concav. Der Fornix beginnt in der Nähe der Stirn und geht bis zur Mitte des Rückens. Oberhalb der Ruder- antennenbasis springt er nur sehr wenig vor, so dass man ihn, wenn das Thier auf der Seite liegt, nur bei starker Vergrösserung wahr- zunehmen vermag. Die Oberseite des Körpers bildet zwischen Kopf und Schale eine seichte Einbuchtung. Schalenklappen mehr oder weniger ° eiförmig und laufen hinten in einen langen, häufig aufwärts ge- richteten Stachel aus, der spärlich mit langen starken Dornen besetzt ist. Betrachtet man das Thier von oben, so nimmt man eine hohe scharfe Crista wahr, die, durch die Verwachsung der beiden Schalen- hälften erzeugt, sich in der Mitte des Rückens bis zur Stirn hin- zieht. Auf den freien ventralen Schalenrändern geht von der Basis des Stachels bis zur Mitte eine Reine von langen, von einander entfernt stehenden Dornen. Die dorsale Kante nur an dem hinteren Ende eine kurze Strecke bedornt. Sculptur der Cuticula der Haut besteht aus grossen Rauten von zartem Aussehen. Ruderantennen ragen, wenn sie nach hinten zu ausgestreckt werden, über die Mitte der Schale hinaus. Der Stamm etwas gebogen und auf der Oberfläche mit undeutlichen Querrunzeln 32 EyLManN: [92 bedeckt. Ruderborsten zerfallen in zwei Glieder, von denen das erste etwas kürzer ist als das letzte. Auf der Unterseite des vier- gliedrigen Astes befindet sich an der Wurzel des zweiten Gliedes ein klener Kamm aus steifen Haaren und auf der Oberseite des dreigliedrigen Astes eine Reihe von langen Haarbüscheln. Postabdomen an der Unterkante etwas eingebuchtet und an den Rändern der Analspalte jederseits mit 10—12 von vorne nach hinten an Grösse abnehmenden Dornen besetzt. Die Endkrallen besitzen keinen Nebenkamm, sondern sind von der Basıs bis zur Spitze nur fein gezähnelt. Die Schwanzborsten bestehen aus zwei Gliedern, von denen das letzte Glied kürzer als das erste und sich vor diesem durch einen zarten Fiederbesatz auszeichnet. Von den vier Ver- schlussfalten richtet sich die erste nach vorne und übertrifft die zweite, die sich nach hinten wendet, bedeutend an Länge. Die dritte kuppel- förmig gestaltet und ziemlich hoch; die letzte ganz unbedeutend. Darmeoeca lang, fast gerade und am freien Ende nur wenig verdickt. Das Auge ist im Vergleich mit dem der oben beschriebenen Arten klein zu nennen. Krystallkegel in grosser Anzahl vorhanden und ragen weit aus dem Pigmente hervor, so dass das Auge mit einem hellen Kranze umgeben erscheint. Es liegt von der Stirn- kante entfernt und befindet sich ungefähr von der Schnabelspitze und der oberen Kopfkante in gleichem Abstande. Nebenauge deut- lich ausgeprägt und punktförmig gestaltet. Es liegt in der Mitte zwischen Auge und unterem Kopfrande. Tastantennen klein und werden mit Ausnahme der Tastborsten, die frei hervorragen, voll- ständig vom Schnabel verdeckt. Im Brutraume fand ich nie viele Sommereier vor. Länge etwa: 2,0—2,5 mm. Die jungen Individuen zeichnen sich vor den alten durch schlankeren Bau, längeren Schalenstachel und fast gerade verlau- fenden dorsalen Schalenrand aus. Ausserdem fehlt die Einbuchtung zwischen Schnabel und Stirn vollständig. Ersterer ist stark gestutzt, so dass die Tastantennen frei hervorragen. Wie bei allen Daphnien mit langem Schalenstachel, so ist derselbe auch hier, so lange das Junge im Brutraume der Mutter verweilt, nach unten und vorne umgeschlagen. Auf der oberen und vorderen Seite des Kopfes findet man häufig kleine nach vorne gerichtete Dornen vor. Männchen. Dass Männchen von D. hyalina, Lrypıe, war bisher unbekannt. Ich fand es Ende September 1885 im Züricher See. 93] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 33 Körper bedeutend schlanker als der des Weibchens. Der Kopf fällt unten steil nach hinten zu ab und bildet einen stark abge- stutzten Schnabel. Zwischen Kopf und Thorax nimmt man nicht selten eine unbedeutende Einbuchtung wahr. Der dorsale Schalen- rand verläuft gerade und geht hinten in einen langen, aufwärts ge- krümmten Stachel aus. Die ventralen Ränder neigen sich in der vorderen Hälfte nach innen und erzeugen auf diese Weise eine birnförmige Vertiefung, die aussen von langen, feinbefiederten Borsten umgeben wird. Tastantennen lang, dick und beweglich zu den Seiten des Kopfes eingelenkt. An dem freien Ende sitzt neben den Tastborsten eine dicke, gekrümmte Endborste und an der Oberseite, nicht weit von dieser entfernt, eine sehr kleine, nur bei starker Vergrösserung wahrnehmbare Seitenborste. Fundorte. Schweiz: Bodensee, Zuger See, Züricher See, Genfer See. Daphnia paludicola, Hellich. 1877. Daphnia paludicola, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 30. Körper gross und wenig durchsichtig, Kopf niedrig und vom Thorax durch eine tiefe Einbuchtung geschieden. Schale oval, breiter als der Kopf und mit einem kleinen Stachel versehen. Abdominal- fortsätze an der Basis verwachsen; der erste übertrifft den zweiten an Länge. Endkrallen ohne Nebenkanım. Körper gross und gelblich gefärbt. Kopf niedrig, bedeutend schmäler als die Schalenklappen und von denselben durch einen breiten, tiefen Ausschnitt abgegrenzt. Die untere Kopfkante buchtet sich hinter der wenig vorragenden Stirn etwas ein und geht dann in einen kurzen, scharfen Schnabel aus. Die Schalenklappen haben eine eiförmige Gestalt und enden hinten in der Medianlinie des Körpers mit einem kurzen, aufwärts gekrümmten Stachel, der, wie der hintere Abschnitt der Schalen- ränder, mit feinen kurzen Dornen besetzt ist. Postabdomen klein und besitzt an den Rändern der Afterspalte eine Bewehrung von 12—14 gleich langen Dornen. Länge etwa: 2,18 mm; Höhe etwa: 1,5 mm. Das Männchen zeichnet sich durch einen gestreckten, unten stark ausgebuchteten Kopf und durch kurze, dieke Tastantennen Berichte II. Heft 3. 3 (7) 34 EYLMAnN: [94 aus, die am schräg abgestutzten freien Ende eine gerade, kurze Geissel tragen. Daphnia ceavifrons, Sars. 1860. Daphnia cavifrons, Sars: Om Crustacea Cladocera, iattagne i Omegnen af Christania. pag. 269. Körper mittelgross, röthlich und zwischen Kopf und Thorax etwas eingebuchtet, Kopf niedrig, unten tief ausgeschweift und mit einem grossen Schnabel versehen. Schale bauchig und endet ober- halb der Medianlinie des Körpers mit einem kurzen Stachel. Die beiden ersten Abdominalfortsätze beinahe gleich gross und an der Basis mit einander verwachsen. Endkrallen ohne Nebenkamm. Körper röthlich gefärbt und von mittlerer Grösse. Kopf nieder- gedrückt, hinter der etwas vorragenden Stirn stark ausgeschweift und mit einem langen, kräftigen, an der Spitze gekrümmten Schnabel versehen. Zwischen Kopf und Thorax befindet sich eine seichte Einbuch- tung. Schalenklappen bauchig und verschmelzen oberhalb der Median- linie des Körpers zu einem kurzen, nach oben gerichteten Stachel. Die beiden ersten Abdominalfortsätze klein, beinahe von gleicher Grösse und an der Basis miteinander verwachsen. Afterspalte jeder- seits mit 12 Dornen bewehrt. Die Krystallkegel treten deutlich aus dem Pigmente hervor. Länge etwa: 1! mm. Daphnia carinata, Sars. 1560. Daphnia carinata, Sars: Om Crustacea Cladocera, iattagne i Omegnen af Christiania. pag. 270. Körper gross, gelblich gefärbt. Kopf und Thorax durch einen seichten Ausschnitt voneinander abgegrenzt. Schale bauchig und oben sehr stark gekielt. Endkrallen ohne Nebenkamm. Der Körper besitzt eine gelbliche Färbung. Kopf vorne gleich- mässig gewölbt, unten geht er, nachdem er eine kleine Einbuchtung gebildet hat, in einen langen, spitzen, etwas nach hinten gerichteten Schnabel aus. Zwischen Kopf und Thorax befindet sich ein seichter Ausschnitt. Oberer Schalenrand stark gekielt und, ebenso wie der untere, bauchig vorgewölbt. Der Schalenstachel entspringt in der Medianlinie des 95] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 35 Körpers, von geringer Länge und häufig aufwärts gekrümmt. An der Basis desselben sitzt ein kleiner Höcker. Beide erste Ab- dominalfortsätze lang und an der Wurzel mit einander verwachsen. Länge etwa: 2! mm. Daphnia microcephala, Sars. 1862. Daphnia mierocephala, Sars: Zoologisk Reise i Sommeren 1862. pag. 214. 1877. Daphnia microcephala, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 37. Körper klein und durchsichtig, Kopf von geringer Grösse und unten sehr wenig eingebuchtet. Schale zweimal so breit als der Kopf, rundlich und mit einem kurzen, in der Medianlinie des Körpers gelegenen Stachel ausgerüstet. Die beiden vorderen Abdominalfort- sätze ungefähr gleich lang und an der Basis mit einander verwachsen. Afterspalte mit sieben Dornen bewehrt. Endkrallen ohne Nebenkamm. Kopf klein, vorne gleichmässig abgerundet und bildet an der Unterkante, nach Hervorrufung einer schwachen Einbuchtung hinter der vortretenden Stirn, einen sehr kurzen, stumpfen Schnabel. Schalenklappen haben eine länglich eiförmige Gestalt und ver- schmelzen in der Medianlinie des Körpers zu einem ziemlich langen, dünnen und ein wenig aufwärts gebogenen Stachel, der, wie der hintere Abschnitt der Schalenränder, spärlich bedornt ist. Beide erste Abdominalfortsätze annähernd von gleicher Länge, nach vorne gerichtet und an der Basis miteinander verwachsen. _ Bewehrung der Afterspalte besteht jederseits in sieben ungleich langen Zähnen. Was das Nebenauge anbetrifft, so ist dasselbe nach Sars vor- handen, während Herricn hingegen es stets vermisste. Länge etwa: 0,75 mm; Höhe etwa: 0,45 mm. Daphnia Kahlbergensis, Schoedler. 1862? Daphnia cristata, Sars: Om de i Omeg. af Christiania forek. Cladocerer. pag. 149. 1866. Hyalodaphnia Kahlbergensis, Schoedler: Cladoc. des frischen Haffs. pag. 18, tab. I, fig. 1—3. 1867. Daphnia Kahlbergensis, P. £. Müller: Danmarks Cladoe. pag. 118, tab. II, fig. 1-8. 1877. Daphnia Kahlbergensis Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 38. Körper von mittlerer Grösse, schlank und hyalin, Kopf stark Se) 36 EyLMmann: [96 gehelmt und von halber Körperlänge. Nebenauge fehlt. Schale länglich oval. Schalenstachel lang. Weibchen. Daphnia Kahlbergensis ist schlank gebaut und so durchsichtig, dass man sie im Wasser kaum mit blossem Auge wahr- zunehmen vermag. Vor. allen anderen Arten der Gattung Daphnia zeichnet sie sich durch einen hohen Helm aus, der die halbe Körper- länge ausmacht. Die Seitenkanten desselben gehen anfangs fast in gerader Richtung nach vorne, oberhalb des Auges hingegen laufen sie, nachdem sie sich etwas nach aussen vorgewölbt haben, in eine lange, stumpf endende Spitze aus, die sich meistens etwas nach oben richtet. Fornix gering entwickelt. Der freie Rand desselben, der sich ungefähr in der Höhe des Auges, über den Blindsäcken des Darmes vom Kopfe abhebt, hält anfangs mehr oder weniger mit dem hinteren Abschnitte der unteren Kopfkante ein und dieselbe Richtung inne, wendet sich dann unmittelbar hinter der Wurzel der Ruderantennen nach hinten und oben und verliert sich auf der Mitte der Oberseite, oberhalb des Herzens. Kopf wenig breiter als die Schale und geht unter Bildung einer kleinen Einbuchtung in den Thorax über. Schalenklappen oval und verschmelzen hinten zu einem langen Stachel, der, wie der hintere Abschnitt der Schale, mit feinen Dornen ausgerüstet ist. Oberflächensculptur der Cuticula der Haut besteht aus rhom- bischen Feldern, die von zarten, sich kreuzenden Linien gebildet werden. Die Ruderantennen ragen, wenn sie nach hinten ausgestreckt werden, über die Mitte des Körpers hinaus und sind auf der Oberfläche mit kleinen, gezacktrandigen Erhebungen bedeckt, die an dem distalen Ende jedes Gliedes in kleine Dornen übergehen. Ruderborsten lang, dicht behaart und zerfallen in zwei Glieder, von denen das letzte länger ist als das erste. An der Wurzel des Stamm- gliedes sitzen zwei kleine Borsten, die an der Basis mit einem dicken Cuticularinge umgeben sind. Zwischen den beiden Aesten am freien Ende des Stammes befindet sich eine etwas längere, im übrigen aber diesen sehr ähnlich sehende Borste. Das Postabdomen verschmälert sich nach vorne zu und ist an den Rändern der Afterspalte jederseits mit 6—7 schief stehenden, nach hinten an Grösse abnehmenden Dornen ausgerüstet. An den unteren Kanten der Endkrallen zieht sich von der Basis bis zur Spitze eine Reihe feiner Zähnchen hin. Von den vier Verschluss- falten die vorderen zwei bis zur Hälfte miteinander verwachsen; 97] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 3 die letzteren bedeutend kleiner als diese und höckerförmig gestaltet. Die Schwanzborsten bestehen aus zwei Gliedern; das letzte derselben fein befiedert. Das Auge liegt der Schnabelspitze näher als der Helmspitze und sehr weit vom Stirnrande entfernt. Nebenauge fehlt. Die Tast- antennen werden mit Ausnahme der Tastborsten, die frei hervor- ragen, vollständig vom Schnabel verdeckt. Länge etwa: 1,55—2,0 mm; Höhe etwa: 0,66—0,79 mm. Männchen. Das Männchen hat im Vergleich mit dem Weib- chen einen schlankeren Körperbau und einen niedrigeren Helm, der in eine stumpfe, aufwärts gekrümmte Spitze ausläuft. Tastantennen ziemlich lang und tragen am freien Ende ausser den Tastborsten noch eine kurze Endborste und in der Mitte der Oberseite eine zarte Seitenborste. Fundorte. Fürstenthum Lübeck: Eutiner See. Lauenburg: Möllner See, Ratzeburger See. Daphnia Cederstroemii, Schoedler. 1866. Hyalodaphnia Cederstroemi, Schoedler: Cladoc. des frischen Haffs. pag. 31, tab. I, fig. 7. 1877. Daphnia Cederstroemii, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 39. Körper mittelgross, schlank und durchsichtig. Kopf so lang als die Schale. Helm aufwärts gebogen. Nebenauge fehlt. Schale länglich oval und so breit als die Kopfbasis. Schalenstachel lang. Diese Art hat grosse Aehnlichkeit mit Daphnia Kahlbergensis und unterscheidet sich wesentlich nur in Hinsicht auf die Gestalt des Kopfes von derselben. Körper hyalin und von mittlerer Grösse. Die Kopf- und Körperlänge steht ungefähr in demselben Verhältnisse wie bei Daphnia Kahlbergensis. Kopf sichelförmig aufwärts gekrümmt und geht unter Bildung einer breiten seichten Einbuchtung auf der dor- salen Seite in den Thorax über. Schalenklappen sind oval und laufen hinten in einen langen, nach oben gebogenen Stachel aus, der, wie der hintere Abschnitt der Schalenränder, mit Dornen be- wehrt ist. Die Ruderantennen haben dieselbe Beschaffenheit wie bei Daphnia Kahlbergensis. Nach Scnororer soll der dreigliederige Ast nur vier Ruderborsten tragen, doch müssen wir annehmen, dass dieser Forscher sich im Irrthume befunden habe, da Hrvuuıch stets fünf Borsten — also wie bei allen Vertretern der Gattung 38 | EyLMAnNN: [98 Daphnia — beobachtete, und jener ausdrücklich bemerkt, dass er diese vom Freiherrn vox CEperströn im Nara-See aufgefundene Form nicht selbst zu Gesicht bekommen, sondern sich in seiner Beschrei- bung nach den „Conceptzeichnungen“ desselben gerichtet habe. Post- abdomen wie bei Daphnia Kahlbergensis gestaltet und an der Anal- spalte jederseits mit sechs Dornen versehen. Länge etwa: 1,27—1,7 mm; Höhe etwa: 0,45—0,55 mm. Das Männchen scheint noch unbekannt zu sein. Daphnia Berolinensis, Schoedler. 1865. Hyalodaphnia Berolinensis, Schoedler: Zur Diagnose einiger Daphniden. pag. 284. 1866. Hyalodaphnia Berolinensis, Schoedler: Die Cladoc. d. frischen Haffs etc. pag. 24, tab. I, fig. 4, 5; tab II, fig. 8; tab. III, fig. 15. 1874. Daphnia apicata, Kurz: Dodekas neuer Cladoc. pag. 17, tab. I, fig. 3—5. 1577. Daphnia apicata, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 40. Körper mittelgross und ziemlich durchsichtig. Kopf gehelmt und so lang als ein Drittel der Schale. Nebenauge fehlt. Schale länglich oval. Schalenstachel lang. Diese Art wurde Mitte der sechziger Jahre von ScHoEpLer im Plötzensee bei Berlin aufgefunden und von ihm Hyalodaphnia Bero- linensis benannt. Meiner Ansicht nach ist die von Kurz im An- fange der siebziger Jahre aufgestellte Species Daphnia apicata mit derselben identisch, da, wie wir unten sehen werden, Daphnia Bero- linensis, was die Grösse und Form des Helmes anbetrifft, sehr varıirt. Weibchen. Körper klein, sehr hell und durchsichtig. Der Kopf zeichnet sich durch einen hohen Helm aus, der bald in eine stumpfe Spitze ausläuft — die sich aber nie nach oben wendet, wie bei der sehr nahe verwandten D. cucullata — und dann zuweilen mit einem kleinen geraden Zahne versehen ist!), bald sich vorne mehr oder weniger kuppelförmig abrundet; der höchste Punkt derselben liegt stets in der Längsachse des Körpers. Die Länge des Kopfes bleibt hinter der halben Schalenlänge zurück. Dorsaler Kopfrand schwach convex,. der ventrale hingegen erhält durch das Auge eine nicht unbedeutende Hervorwölbung. Schnabel klein, stumpf und berührt mit der Spitze fast die Schalenränder. Hintere Kopfkante ein wenig concav. !) ScHoepLer, Die Cladoc. d. frischen Haffs. pag. 26, fig. 4 u. fig. 8a. 99] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 39 Der Fornix hebt sich wenig vom Kopfe ab und überwölbt daher nur den basalen Theil der Wurzel der Ruderantennen. Zwischen Kopf und Thorax befindet sich eine breite seichte Einbuchtung, die bei alten Weibchen viel deutlicher ist als bei jungen. Sehalenklappen eiförmig, breiter als der Kopf und laufen hinten in einen langen, geraden oder etwas aufwärts gekrümmten Stachel aus, der, wie die hintere Partie der freien unteren Schalen- ränder, mit kleinen, entfernt voneinander stehenden Dornen aus- gerüstet ist. Cuticula der Haut fein rautenförmig gefeldert. Der Stamm der Ruderantennen krümmt sich ein wenig auf- wärts und reicht mit dem distalen Ende, wenn er über das Auge hinweg ausgestreckt wird, bis zur Stirnkante. Die Oberfläche der- selben wie die der beiden Aeste ist mit schuppenartigen, gezackt randigen Erhebungen bedeckt, die aber sehr gering ausgebildet sind, so dass die Cuticula fast glatt erscheint. Ruderborsten lang, zwei- gliedrig und fein befiedert; das letzte Glied ein wenig länger als das erste. An der Aussenseite der Wurzel des Stammes sitzen zwei starke Borsten, die an der Basis dunkel contourirt sind; eine diesen sehr ähnlich sehende Borste ist zwischen die beiden Aeste ein- gepflanzt. Das Postabdomen verschmälert sich etwas nach dem freien Ende zu und unterscheidet sich dadurch ebenfalls von D. cucullata, bei der es sich nach unten stark verjüngt. Die untere Kante des- selben verläuft fast gerade und ist an den Rändern der Analspalte jederseits mit 5—6 von vorne nach hinten an Grösse abnehmenden Dornen bewehrt. Endkrallen an den unteren Rändern fein bedornt und auf der dorsalen Kante mit zwei voneinander entfernt stehen- den kleinen Dornen versehen. Wie bei den bisher angeführten Daphnien, so sind auch hier die Schwanzborsten zweigliedrig. Letztes Glied kürzer als das erste und fein befiedert. Von den vier Verschlussfalten die beiden ersten in die Länge entwickelt und fast bis zur Hälfte mit einander verwachsen. Die Tastantennen ragen unter der Schnabelspitze nur mit den Tastborsten und einer kleinen Seitenborste hervor. Das Auge liegt etwas vom Stirnrande entfernt und, je nach der Grösse des Helmes, in der Mitte zwischen dessen Spitze und der Schnabelspitze oder der ersteren näher als der letzteren. Es ist nicht sehr gross, ent- hält aber viele, weit aus dem Pigmente hervorragende Krystall- kegel, so dass es bei schwacher Vergrösserung von einem hellen Kranze umgeben erscheint. Das Nebenauge fehlt. 40 EyLmann: [100 Darmeoeca ziemlich lang und gegen einander gerichtet. Im Brutraume findet man nicht selten zusammengerollte Ei- hüllen vor. Solange die jungen Individuen sich im mütterlichen Brut- raume aufhalten, ist der Stachel nach vorne umgeschlagen und liegt den ventralen Schalenrändern innig an. Nach dem Verlassen der- selben unterscheiden sie sich noch eine Zeitlang von den erwachse- nen Weibchen durch schlankeren Bau, längeren, stark aufwärts sekrümmten Stachel, etwas nach oben gerichteter Helmspitze und geraden Verlauf der dorsalen Schalenkante. Länge des Weibchens etwa: 0,90—1,15 mm. Männchen. Das Männchen kleiner und schlanker als das Weib- chen. Der Kopf desselben streckt sich mehr in die Länge und ist mit einem hohen Helme versehen, der viel Aehnlichkeit mit dem junger Weibchen hat. Die nicht sehr langen Tastantennen sind beweglich zu den Seiten des Kopfes eingefügt und tragen am freien Ende ausser den Tastborsten noch eine kurze Endborste. Der Schalen- stachel ist lang und aufwärts gerichtet. Fundorte. Hannover: Seeblick !) bei Dornbusch (Stader Marsch- kreis), Stader Stadtgraben. Daphnia cucullata, Sars. 1862. Daphnia cucullata, Sars: Om de i Omegnen af Christiania forekom. Cladocerer. Andet Bidrag. pag. 271. 1866. Hyalodaphnia cucullata, Schoedler: Die Cladoceren des frischen Haffs. pag. 28. 1868. Daphnia cucullata, P. E. Müller: Danmarks Cladocera. pag. 120, tab. I, fig. 23. 1874.?2 Daphnia vitrea, Kurz: Dodekas neuer Cladoceren. pag. 16, tab. 1, fig. 2. 1875. Daphnia cucullata, A. Hudendorff: Beitrag zur Kenntniss der Süss- wassercladoceren Russlands. 1877. Daphnia cucullata, Hellich: Die Cladoceren Böhmens. pag. 37. 1877.? Daphnia vitrea, Hellich: Die Cladoceren Böhmens. pag. 40. Körper klein, hyalin und farblos. Kopf gehelmt und von halber Schalenlänge. Nebenauge fehlt. Schale länglich oval. Schalen- stachel lang. !) Seeblick nennt man im Stader Marschkreise kleine schilfumwachsene Teiche, die sich an der Innenseite der Elbdeiche hinziehen und bei grossen Sturmfluthen von den durch die Deiche brechenden Wassermassen gebildet worden sind. a er 101] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 41 Diese Art steht in verwandtschaftlicher Beziehung zwischen D. Kahlbergensis und D. Berolinensis. D. vitrea, Kurz, ist vielleicht nur eine Varietät derselben. Weibchen. Körper klein, krystallhell und schlank gebaut. Besonders charakteristisch für diese Species ist die Grösse und Form des Kopfes. Im Profil betrachtet, hat er ungefähr die Gestalt eines gleichseitigen Dreiecks. Vorne läuft er nicht in eine scharfe Spitze aus, sondern ist stumpf abgerundet. Höhe desselben im grossen Ganzen gleich der halben Schalenlänge, zuweilen übertrifft sie diese aber bedeutend. Bei D. Kahlbergensis hingegen macht der Kopf, wie wir gesehen haben, immer die Hälfte des ganzen Körpers (excl. Schalenstachel) aus, während er bei D. Berolinensis nur ein Drittel der Schalenlänge erreicht. Der obere Kopfrand verläuft anfangs fast gerade, macht dann aber eine kleine Einbuchtung kurz vor der Spitze, wodurch diese etwas nach oben gebogen erscheint. Der untere Rand, wie bei D. Berolinensis, dem Auge gegenüber stark convex. Fornix gering entwickelt und überragt nur zum Theil die Wurzel der Ruderantennen. Das Stammglied krümmt sich etwas und überragt, wenn es über das Auge hinweg ausgestreckt wird, ein wenig den Stirnrand. Die Oberflächenseulptur desselben, wie auch die der beiden Aeste besteht aus schuppenartigen Erhebungen. Am zweiten Gliede der Ruderborsten fehlt der dunkle Fleck, den man bei vielen Daphniden wahrnimmt. Nach SchorpLer kommt der- selbe auch nicht bei D. Kahlbergensis vor. Der Kopf geht unter Bildung eines breiten seichten Ausschnittes auf dem Rücken in den Thorax über. Schalenklappen oval und laufen etwas oberhalb der Medianlinie in einen langen, aufwärts gekrümmten und bedornten Stachel aus, der an der Basis eine Ver- diekung zeigt.* Die Schalenränder sind ohne jede Dornenbewehrung; zuweilen trifft man wohl an der letzten Hälfte der freien ventralen Ränder einige Dornen an. Die Sculptur der Cuticula der Haut besteht aus engen Maschen, die von sich kreuzenden zarten er- habenen Linien gebildet werden. Die beiden ersten Verschlussfalten über die Hälfte mit einander verwachsen. Die dritte hat eine hügel- artige Gestalt, die vierte sehr klein und warzenförmig. Das Post- abdomen verjüngt sich nach dem freien Ende zu und ist an den kändern der Analspalte jederseits mit einer Reihe von 5—7 von vorne nach hinten an Grösse abnehmenden Dornen besetzt. End- krallen an den unteren Rändern von der Basis bis zur Spitze fein bezahnt. Die Schwanzborsten zerfallen in zwei Glieder, von denen 49 | EyLmann: I 02 das letzte kürzer als das erste ist und einen Besatz von feinen Fiederborsten trägt. Im Brutraume fand ich nie viele Sommereier vor. Darmcoeca lang und erstrecken sich fast in gerader Richtung nach vorne. Auge nicht sehr gross, enthält aber viele, weit aus dem Pig- mente hervorragende Krystallkegel. Es liegt etwas vom Stirnrande entfernt und ungefähr in der Mitte zwischen Schnabel- und Helm- spitze. Nebenauge fehlt. Tastantennen klein und werden vom Schnabel bedeckt; nahe dem freien Ende derselben befindet sich an der Oberseite eine kleine Sinnesborste, die ungefähr die Länge des Büschels der Tastborsten erreicht. Länge etwa: 0,95—1,11m; Höhe etwa: 0,41—0,45 mm. Die Jungen unterscheiden sich von den geschlechtsreifen Weib- chen durch schlankeren Körperbau und höheren Helm mit aufwärts gebogener Spitze. Männchen. Das Männchen kleiner und schlanker gebaut als das Weibchen und besitzt einen niedrigeren Kopf und stumpferen Schnabel. Die Tastantennen tragen am freien Ende eine kurze End- borste, die die Tastborsten nur wenig überragt. Schalenstachel lang und stark aufwärts gekrümmt. Daphnia cucullata hält sich in der Mitte von Seen und grossen Teichen auf. Fundorte. Hannover: Bederkesaer See. Daphnia longiremis, Sars. 1862. Daphnia longiremis, Sars: Om de i Omegnen af Christiania forekom. Cladocerer. Bidrag I, pag. 148. 1366. Hyalodaphnia longiremis, Schoedler: Die Cladoceren des frischen Haffs. pag. 80. Körper mittelgross und sehr durchsichtig. Kopf klein und vorne abgerundet. Schale oval. Ruderantennen so lang als die Schale. Nebenauge fehlt. Körper sehr durchsichtig und krystallhell. Schalenklappen oval und enden mit einem kurzen, geraden, etwas nach oben gewandten bedornten Stachel. Der Kopf, kleiner als der der verwandten Arten, rundet sich vorne ab und geht, nachdem er hinter der wenig vor- tretenden Stirn eine kleine Einbuchtung hervorgerufen hat, in einen spitzen, abwärts gerichteten Schnabel aus. Die unteren Schalen- 103] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 45 ränder bauchen sich stark vor und sind der ganzen Länge nach mit Dornen besetzt; der obere Rand dagegen besitzt nur in seinem hinteren Abschnitte eine Bewehrung. Besonders charakteristisch sind die Ruderantennen, die hier eine ungewöhnliche Länge erreichen, indem sie, wenn sie nach hinten ausgestreckt werden, bis zur Basis des Schalenstachels reichen. Das Postabdomen hat viel Aehnlichkeit mit dem von Daphnia longispina. Auge klein, aber mit ziemlich vielen Krystallkegeln versehen, die weit aus dem Pigmente hervor- ragen. Nebenauge fehlt. Länge etwa: 1 mm. 2. Gattung. Simocephalus, Schoedler. Der Körper ist gross, wenig durchsichtig, horngelb oder röthlich gefärbt und plump gebaut. Der Kopf ist von auffallender Klein- heit, mit einem kleinen, aufwärts gekrümmten Schnabel versehen und wird vom Thorax durch eine tiefe Einkerbung, in der ein Haft- organ sich befindet, abgegrenzt. Die Schalenklappen sind quergestreift, rundlich bis viereckig und erzeugen zuweilen hinten einen kleinen, stumpfen Höcker. Das Postabdomen ist sehr breit und vorne tief ausgeschnitten. Wie bei der Gattung Daphnia, so weist auch hier die Unterkante desselben eine Bewehrung von langen Dornen auf. Die Endkrallen sind gross, wenig gebogen und stets mit einer feinen Bezahnung ausgerüstet, zu der oft noch ein Nebenkamm an der Basis hinzutritt. Zum Verschluss des Brutraumes dienen vier Falten, von denen die beiden ersten bedeutend in die Länge entwickelt und fast überall gleich dick sind und in beträchtlicher Entfernung voneinander stehen. Die beiden letzten sind klein und höckerförmig. Das Auge ist von mittlerer Grösse und enthält nicht viele Krystallkegel. Das Nebenauge ist immer vorhanden und unterliegt, was die Gestalt und Grösse desselben anbetrifft, grossen Schwan- kungen, selbst in den einzelnen Arten. Gewöhnlich ist es drei- zipfelig bis spindelförmig und befindet sich entweder in der Nähe der Basis der Tastantennen oder erstreckt sich von dort bis zur Mitte des Kopfes. Die Tastautennen sind beweglich zu den Seiten des Kopfes eingelenkt und besitzen ausser den Tastborsten noch eine zarte Seitenborste. Der Brutraum enthält in der Regel eine grosse Anzahl von 44 EYLMANN: [104 Sommereiern. Das Ephippium umschliesst stets nur ein Ei, das in der Längsachse desselben liegt. Das Männchen ist etwas kleiner als das Weibchen und unter- scheidet sich von demselben in Hinsicht auf die äussere Gestalt wesentlich durch die langen Tastantennen, die zwei Seitenborsten tragen, von denen die eine spitz endet, die andere dagegen geknöpft ist, und durch die Bewehrung des ersten Fusspaares, die nur in einem Haken besteht. Von allen Daphniden scheint die in Rede stehende Gattung die grösste Lebenszähigkeit zu besitzen, denn man trifft nicht nur häufig Exemplare der einzelnen Arten mitten im Winter unter fuss- dickem Eise an, sondern auch in der Gefangenschaft dauern sie am längsten aus, und man sieht sie noch munter umherschwimmen, wenn durch Fäulniss oder schlechte Ventilation des Wassers alles übrige Leben bis auf einige Ephemeridenlarven erloschen ist. Es sind bis jetzt die drei folgenden Arten bekannt. Stirn abgerundet. Neben- auge gross und spindelför- Img Ru Stirn bildet einen rechten Stirn und hinterer Scene ee Simocephalus vetulus. SUR: nen ‘ und rhomboidisch . . . . Simocephalus exspinosus. Stirn und der hin- tere Schalenrand be- dornt. Erstere bildet einenspitzen Winkel . . . 2. 2 2.2.2020. 0.0. Simocephalus serrulatus. Simocephalus vetulus, O0. F. Müller. 1785. Daphnia sima, O. F. Müller: Entomostraca etc. pag. 91, tab. XII, er 1, 1820. Daphnia vetula, Straus: M&moires sur les daphnia ete. Seconde partie. pag. 160, tom. V, tab. 29, fig. 25, 26. 1820. Monoculus simus, Jurine: Histoire des Monocl. pag. 129, tab. XII, at 1835. Daphnia sima, Koch: Deutschlands Crustaceen etc. H. 35, tab. 12. 1855. Daphnia congener, Koch: Deutschlands Crustaceen etc. H. 35, tab. 13. 1848. Daphnia sima, Lievin: Die Branchiop. der Danziger Gegend. pag. 26, tab. V, fig. 8—10. 1850. Daphnia vetula, Baird: British Entomostraca. pag. 95, tab. X, fig. 1, 1a. 1851. Daphnia sima, S. Fischer: Ueber die in d. Umg. v. St. Petersburg vor- kommenden Crust. etc. pag. 177, tab. V, fig. 10; tab. VI, fig. 1-4. 1853. Daphnia sima, Liljeborg: De crustaceis etc. pag. 42, tab. III, fig. 2—4. Ge Vase ee a a ee ee 105] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 45 1858. Simocephalus vetulus, Schoedler: Die Branchiopoden d. Umg. v. Berlin. pag. 18. 1860. Daphnia sima, Leydig: Naturg. d. Daphniden. pag. 153, tab. I, fig. 11, 12; tab. III, fig. 24—29. 1868. Simocephalus vetulus, P. E. Müller: Danmarks Cladocera. pag. 122, tab. I, fig. 26, 27. 1870. Simocephalus vetulus, Lund: Bidrag til Cladocernes Morphologie og Systematik. pag. 161, tab. V, fig. 4—8; tab. VIII, fig, 2. 1870. Daphnia sima, Plateau: Recherches sur les crustaces d’eau douce de Belgique. pag. 26, tab. I, fig. 2. 1872. Daphnia sima, Frit: Krustenth. Böhmens. pag. 218, fig. 37. 1875. Simocephalus vetulus, Kurz: Dodekas neuer Cladoc. pag. 29. 1875. Simocepholus vetulus, A. Hudendorff: Beitrag z. Kenntniss d. Süss- wassercladoc. Russlands. pag. 8. 1877. Simocephalus vetulus, Schoedler: Zur Naturgeschichte d. Daphniden. pag. 16. 1877. Simocephalus vetulus, Hellich: Die Cladoceren Böhmens. pag. 41. 1878. Simocephalus vetulus, Lutz: Beobachtungen über d. Cladoc. d. Umg. v. Leipzig. pag. 38. 1879. Simocephalus vetulus, Lutz: Untersuchungen über d. Cladoc. d. Umg. v. Bern. pag. 41. Körper gross und wenig durchsichtig. Kopf klein und niedrig. Stirn unbedornt und abgerundet. Hinterer Schalenrand ohne Be- wehrung. Nebenauge gross und spindelförmig. Häufig findet man ganze Generationen dieser Art, die sich von den vorhergehenden oder nachfolgenden durch kleineren, zarteren Körperbau und im weiblichen Geschlechte vornehmlich durch die geringe Anzahl der im Brutraume befindlichen Sommereier unter- scheiden. Worauf diese Erscheinung beruht, vermag ich nicht zu sagen. Wahrscheinlich wirken in Gefangenschaft kaum zu vermei- dende ungünstige Ernährungsverhältnisse, Mangel an Licht und Luft, zu hohe oder zu niedrige Temperatur etc. mit. Als eine solche Generation ist wahrscheinlich der von Kock und ScHOEDLER als neue Species beschriebene Simocephalus congener aufzufassen. Weibchen. Körper gross, plump gebaut und gelbgrün oder rothbraun gefärbt. Kopf klein, stark niedergedrückt und fällt, nach- dem er eine abgerundete, etwas vorragende Stirn gebildet hat, steil nach hinten ab. Der kleine Schnabel hat eine keilförmige Gestalt und steht senkrecht auf der unteren Kopfkante, aber nicht, wie bei der Gattung Daphnia, an der Uebergangsstelle derselben in die hintere Kopfkante, sondern eine geringe Strecke davon entfernt. Legt man das Thier auf die Bauchseite, so fällt die Grösse des 46 EYLMANN: [106 Fornix, der an der Stirn beginnt, sich in zwei Bogen bis zur Mitte des Rückens erstreckt und kapuzenförmig den oberen Kopftheil und die Wurzel der Ruderantennen überwölbt, recht in die Augen. Zwischen Kopf und Thorax bildet der Körper eine tiefe Ein- kerbung, in der das Haftorgan liegt, mit Hülfe dessen sich das Thier, da es ein schwerfälliger Schwimmer ist, häufig vor Anker legt. Die Schale hat annähernd vorne und hinten die gleiche Breite und ist fast ebenso breit als lang. Oben wölbt sich der Schalen- rand beträchtlich und erhebt sich, bevor er in den meistens in ge- rader Richtung nach vorne und unten verlaufenden hinteren Rand übergeht, zu einem breiten, stumpfen Höcker. Die freien unteren Kanten der Schalenklappen stark bauchig und besitzen, ebenso wie die hinteren, zwei Lippen, eine innere und eine äussere, von denen die erstere mit langen, befiederten Borsten, die nach vorne und hinten allmählich an Grösse abnehmen, besetzt ist; die letztere hingegen ist, sowie in der Regel die letzte Hälfte des oberen Randes, mit kurzen Dornen bewehrt. Von den Lippen des Hinterrandes nur die innere bedornt. Die Sculptur der Cuticula der Haut besteht aus erhabenen Linien, die mit dem hinteren Schalenrande parallel laufen und hin und wieder unter einander anastomosiren. Ruderantennen kurz, aber kräftig entwickelt. Die Oberflächen- sculptur derselben wird von schuppenartigen, gezackt randigen Er- hebungen gebildet, die zu Reihen angeordnet, quer über dieselben sich erstrecken. An dem distalen Ende des Stammes und der Ast- glieder gehen sie in kurze, starke Dornen über. An der Wurzel des Stammes befinden sich zwei zarte, an der Basis dunkel contou- rirte Sinnesborsten; eine ähnliche Borste sitzt an dem entgegen- gesetzten Ende, zwischen den beiden Aesten. Die Ruderborsten zerfallen, mit Ausnahme der obersten des viergliederigen Astes, die kurz und zweigliederig ist, in drei Glieder und besitzen eine lange, dichte Befiederung. Kurz hinter dem Gelenke bemerkt man im zweiten Gliede einen hellen Fleck, der wahrscheinlich daher rührt, dass an dieser Stelle die Borste hohl ist. Die beiden ersten Verschlussfalten haben ungefähr dieselbe Länge und sind bedeutend grösser als die beiden letzten. Postabdomen stark in die Breite entwickelt und unten dicht mit sehr feinen Dornen besetzt, die meistens in Gruppen angeordnet sind. Unmittelbar hinter den langen Endkrallen bildet er um die Analspalte einen tiefen Aus- schnitt, der mit langen, bedornten, von vorne nach hinten an Grösse abnehmenden Krallen ausgerüstet ist. Der hintere Theil des Post- 107] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 47 abdomens wölbt sich etwas nach aussen. Die Schwanzborsten be- stehen aus zwei Gliedern, deren letztes das erste an Länge über- trifft und sich durch einen Besatz von starken Fiedern auszeichnet. Unterkanten der Endkrallen fein bedornt und tragen an der Basis ausserdem noch einen Kamm langer, breiter Dornen. Die Coeca des Darmes liegen mit ihrem freien kolbigen Ende der Stirn zugewandt und hart an der vorderen Kopfkante. Im Brutraume hat diese Art in der Regel viele Sommereier. Das Auge befindet sich nahe dem Stirnrande. Es ist nicht sehr gross und enthält nur wenige Krystallkegel, die tief im Pig- mente stecken. Das Nebenauge hingegen besitzt eine bedeutende Grösse und zieht sich gewöhnlich in Form einer Spindel von der Basis der Tastantennen bis zur Mitte des Kopfes hin. Gleich hinter dem Schnabel sind die Tastantennen beweglich zu den Seiten des Kopfes eingelenkt und ragen mit dem Büschel der Tastborsten zwischen die Schalenklappen. Auf ihrer Oberseite sitzt auf einem kleinen Höcker eine senkrecht in die Höhe sich erstreckende zarte seknöpfte Borste. Länge etwa: 2,1—2,5 mm; Höhe etwa: 1,56—1,75 mm. Die jungen Individuen unterscheiden sich von den alten nur hinsichtlich der Grösse und des unvollständig entwickelten Geschlechts- organes. Männchen. Das kleinere und schmächtigere Männchen weicht, was die äussere Gestalt anbetrifft, besonders durch die Beschaffen- heit der Tastantennen vom Weibchen ab. Dieselben sind nämlich hier nicht allein länger, sondern tragen auch in der Mitte zwei Borsten, von denen die eine der des Weibchens gleicht, die andere, näher dem freien Ende befindliche dagegen endet spitz und ist unmittel- bar über der Ansatzstelle von einem dunklen Cuticularinge um- geben. Simocephalus vetulus ist gemein in allen kleinen Teichen und Wasserlöchern, die vielen organischen Detritus enthalten, doch trifft man ihn auch gar nicht selten in ganz klarem Wasser. Fundorte. Baden: Seen, Teiche und Tümpel in der Um- gebung von Freiburg. Elsass: Altwasser des Rheins, Altbreisach gegenüber. Baiern: Sümpfe und Teiche bei Lindau. Hannover: Gräben, Wasserlöcher und Teiche in der Landdrostei Stade. Hol- stein: Kl. Plöner See. Lauenburg: Ratzeburger See. Schweiz: Tümpel mit ziemlich klarem Wasser bei Neuchätel, Graben mit sehr schmutzigem Wasser bei Bienne. Frankreich: Mare Guemard 48 EyLMann: [108 (Foret de Roumare, Seine-Inferieure), Mare aux Loups (Foret de Rouvray, Seine-Inferieure). Symocephalus serrulatus, Koch. 1835. Daphnia serrulata, Koch: Deutschlands Crustaceen etc. H. 35, tab. XIV. 1848. Daphnia intermedia, Lievin: Die Branchiop. d. Danziger Gegend. pag. 29, tab. VI, fig. 6. 1851. Daphnia Brandtü, Fischer: Ueber die in d. Umg. v. St. Petersburg vorkommenden Crustaceen etc. pag. 177, tab. V, fig. 1—9. 1854. Daphnia serrulata, Fischer: Ergänz., Berichtig. und Fortsetz. z. d. Ab- handl. über d. in d. Umg. v. St. Petersburg vorkommenden Crustaceen etc. pag. 4. 1853. Daphnia serrulata, Liljeborg: De crust. ex ordinibus tribus cladoc., ostracod. et copepod. etc. pag. 40, tab. II, fig. 5. 1858. Simocephalus serrulatus, Schoedler: Die Branchiop. d. Umg. v. Berlin. pag. 22. 1860. Daphnia serrulata, Leydig: Naturg. d. Daphniden. pag. 165. 1868. Simocephalus serrulatus, P. E. Müller: Danmarks Cladocera. pag. 123, tab, L, üig..25: 1870. Simocephalus serrulatus, Lund: Bidrag til Cladocernes Morphologie og Systematik. pag. 161, tab. V, fig. 10. 1875. Simocephalus serrulatus, A. Hudendorff: Beitrag. z. Kenntn. d. Süss- wassercladoc. Russlands. pag. 9. 1877. Simocephalus serrulatus, Schoedler: Zur Naturg. d. Daphniden. pag. 18. 1877. Simocephalus serrulatus, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 43. 1879. Simocephalus serrulatus, Lutz: Untersuch. über die Cladoc. d. Umg. v. Bern. pag. 41. Körper mittelgross und gelblich gefärbt. Stirn bildet einen spitzen Winkel und wie die hintere Schalenhaut mit Dornen besetzt. Weibchen. Simocephalus serrulatus ist blassgelb gefärbt und kleiner als S. vetulus. Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal von dieser Art bildet der kleine, stark niedergedrückte Kopf, der sich oben und vorne gleichmässig wölbt und an der Uebergangs- stelle zwischen vorderem und unterem Rande eine schnabelartig vor- springende Stirn erzeugt, die mit kurzen Dornen bewaffnet ist. Die untere Kopfkante verläuft beinahe in gerader Richtung nach oben und hinten und erhebt sich in einiger Entfernung von den Schalenklappen zu einem kleinen, nach unten gerichteten Schnabel. Fornix wie bei S. vetulus gut entwickelt und überwölbt in Form einer Kapuze den ganzen oberen Kopftheil und die Basis der Ruderantennen. Der freie äussere Rand geht in zwei weiten Bogen von der Stirnkante bis zur Mitte des Rückens. Ruderantennen nicht lang, aber, be- 109] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 49 sonders was den Stamm anbetrifft, kräftig entwickelt. Die Ober- flächensculptur derselben besteht aus hohen, kurzen, in Gestalt einer Schuppe angeordneten Längsriefen, die, zu Reihen vereinigt, die Glieder ringförmig umgeben. Mit Ausnahme der ersten Ruderborste des oberen Astes, die zweigliederig ist, zerfallen sämmtliche übrigen in drei Glieder, von denen das zweite immer die grösste Länge be- sitzt. An der Wurzel des Stammgliedes finden sich zwei an der Basis dunkel contourirte Borsten vor. Eine diesen sehr ähnlich sehende Borste trägt der Stamm am distalen Ende, zwischen den beiden Aesten. Auf dem Rücken, an der Vereinigungsstelle von Kopf und Thorax, kerbt sich der Körper tief ein. Die Schalenklappen sind viereckig bis oval und erheben sich hinten zu einem breiten kurzen Höcker, der, wie die hintere Hälfte der Schalenränder, mit kurzen Dornen bewehrt ist und bei alten Weibchen wenig oberhalb der Medianlinie liegt. Die freien unteren und hinteren Schalenkanten bilden zwei Lippen, von denen die innere der ersteren mit langen befiederten Borsten besetzt ist, die in der Mitte am längsten sind und nach vorne und hinten nach und nach gleichmässig an Länge abnehmen; die des Hinterrandes weist eine Bewehrung von kurzen breiten Stacheln auf. Die Schalensculptur besteht aus schrägen Streifen, die nur dann und wann unter einander anastomosiren. Postabdomen breit und bildet gleich hinter den Endkrallen einen tiefen Ausschnitt, in dem 10 —12 allmählich an Grösse ab- nehmende Krallen sitzen, die an der Basis stark bedornt sind. Der hintere Abschnitt des Postabdomens wölbt sich in der Mitte der unteren Seite ein wenig vor. Die Endkrallen verlaufen beinahe in gerader Richtung und sind an den unteren Kanten von der Basis bis zur Spitze mit einer continuirlichen Reihe von Dornen bewehrt, die ungefähr denen gleichen, die bei S. vetulus den Nebenkamm an der Wurzel der Kralle bilden. Schwanzborsten nicht sehr lang und bestehen aus zwei Gliedern, von denen das letzte kürzer als das erste und dicht befiedert ist. Die beiden ersten der Verschlussfalten sind lang, die beiden letzteren hingegen kurz und höckerförmig gestaltet. Das Auge liegt in dem Stirnwinkel und enthält nur wenige Krystallkegel. Nebenauge rhombisch und in der Regel kleiner als - bei S. vetulus. Tastantennen beweglich unterhalb des Schnabels zu den Seiten des Kopfes eingelenkt und tragen auf der Oberseite, auf einem kleinen Höcker eine schlanke zarte Borste. Berichte II. Heft 3. 4 (8) 50 EyLmann: [110 Darmcoeca lang und richten sich nach vorne und unten. Legt man das Thier auf den Rücken, so bemerkt man, dass sie sich ausserdem noch nach innen neigen und mit dem kolbig verdickten Ende fast berühren. Im Brutraume trifft man viele Sommereier an. Länge etwa: 1,3 mm; Höhe etwa: 1,0 mm. Bei jungen Individuen liegt der breite Höcker der Schalen- klappen ungefähr in gleicher Höhe mit dem Ausschnitte zwischen Kopf und Thorax, da der obere Rand sich nicht so stark wölbt als bei geschlechtsreifen Weibchen, sondern fast gerade verläuft. Männchen. Das Männchen bedeutend kleiner als das Weibchen und hat einen abgerundeten Kopf. Tastantennen dick und tragen zwei Seitenborsten und am freien Ende, neben den Tastborsten, noch eine lange Endborste. Fundorte. Baden: Aquarium des zoologischen Instituts zu Freiburg. Elsass: Altwasser des Rheins, Altbreisach gegenüber. Simocephalus exspinosus, De Geer. 1778. Monoculus exspinosus, De Geer: Memoires pour servir & l’histoire des insectes. pag. 457, tab. XXVII, fig. 9—13; tab. XXVIL, fig. 1—2. 1835.2? Monoculus nasutus, Jurine: Hist. des monocles etc. pag. 133, tab. XII, fig. 1—2. 1835. Daphnia exspinosa, Koch: Deutschlands Crustaceen. H. 35, tab. XI. 1848. Daphnia sima, Lievin: Die Branchiop. d. Danziger Gegend. pag. 26. 1850. Daphnia vetula, Baird: British Entomostraca. pag. 96. 1853. Daphnia sima, Liljeborg: De crustaceis ex ordinibus tribus: cladoc., ostracod. et copepod. etc. pag. 42. 1858. Simocephalus exspinosus, Scho edler: Die Branchiop. d. Umg. v. Berlin. pag. 21, Hg. 7,89. 1868. Simocephalus exspinosus, P. E. Müller: Danmarks Cladocera. pag 122, tab. I, dg. 24. 1870. Simocephalus exspinosus, Lund: Bidrag til Cladocerernes Morphologie og Systematik. pag. 161, tab. V, fig. 9. 1874. Simocephalus exspinosus, Kurz: Dodekas neuer Cladoceren. pag. 29. 1875. Simocephalus exspinosus, A. Hudendorff: Beitrag z. Kenntn. d. Süss- wassercladoc. Russlands. pag. 9. 1877. Simocephalus nasutus, Schoedler: Zur Naturg. d. Daphniden. pag. 19. 1877. Simocephalus exspinosus, Schoedler: Zur Naturg. d. Daphniden. pag. 16. 1877. Simocephalus exspinosus, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 42. 1578. Simocephalus exspinosus, Lutz: Beob. über die Cladoc. der Umg. von Leipzig. pag. 38. Körper sehr gross. Stirn bildet einen rechten Winkel und, 111] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 51 wie der hintere Schalenrand, unbedornt. Nebenauge klein und rhomboidisch. : Weibchen !). Simocephalus exspinocus ist die grösste Art der in Rede stehenden Gattung. Charakteristisch ist an ihr die Gestalt des Kopfes. Oben und vorne wölbt sich derselbe gleichmässig, bildet aber eine sehr stark vorspringende Stirn, deren untere und hintere Kante fast rechtwinkelig aufeinander stehen. Der untere Kopfrand ist gerade und mit einem kurzen stumpfen Schnabel ver- sehen. Der Fornix und die Ruderantennen sind ebenso wie bei S. vetulus und serrulatus gestaltet. Die Schalenklappen haben dieselbe Beschaffenheit wie bei S. vetulus, auch das Postabdomen weicht im Wesentlichen nicht von dem dieser Art ab, nur die Bezahnung der unteren Ränder der Endkrallen deutlicher ausgeprägt. Von den Verschlussfalten über- trifft die erste die zweite bedeutend an Länge. Länge etwa: 2,6—2,8 mm; Höhe etwa: 1,7—1,85 mm. Das Männchen blieb mir unbekannt. Fundort. Baiern: Deegersee. 3. Gattung. Scapholeberis, Schoedler. Der Körper ist dunkel gefärbt, wenig durchsichtig und nicht sehr gross. Der Kopf hat ungefähr die Gestalt eines Dreiecks und wird vom Thorax durch eine tiefe Einkerbung auf dem Rücken ab- gegrenzt. Die untere Kopfkante bildet unmittelbar hinter der Stirn eine mehr oder weniger tiefe Einbuchtung und geht dann in einen kurzen stumpfen Schnabel über. Auf der vorderen Kopfkante, un- mittelbar über dem Auge, erhebt sich bei S. mueronata in einer grossen Anzahl von Fällen ein langes, nach oben gekrümmtes Horn, doch kann dasselbe auch vollständig fehlen. Bei S. obtusa ist der Kopf entweder glatt oder es findet sich auf demselben ein kleiner Höcker vor. Der Kopf von $. aurita ist ohne Horn oder eine An- deutung desselben. Die Schalenklappen besitzen eine viereckige Gestalt und laufen an dem hinteren und unteren Schalenwinkel in der Regel in einen nach hinten gerichteten Stachel aus. Als sogenannte Verschluss- !) Die beigegebene Zeichnung kann auf grosse Genauigkeit keinen An- oO’o oO oO oO spruch machen, da mir nur ein schlecht erhaltenes Exemplar zu Gebote stand. 52 EyLMmann: [112 falten sind am Abdomen vier Fortsätze angebracht, von denen aber nur der erstere gut entwickelt ist, während die letzteren wegen ihrer Kleinheit wohl nicht zur Absperrung des Brutraumes dienen können. Das Postabdomen besitzt an den Rändern der Analspalte immer eine Dornbewehrung. Die Endkrallen sind nur fein gezähnelt. Das Auge ist gross und liegt hart am Stirnrande. Das Neben- auge fehlt nie und sitzt in der Schnabelspitze. Die Tastantennen sind beweglich zu den Seiten des Kopfes eingelenkt und tragen auf der Oberseite eine Seitenborste. Das halbkreisförmige Ephippium umschliesst nur ein Ei, das in der Längsachse desselben liegt. Das Männchen ist wenig kleiner als das Weibchen und unter- scheidet sich von demselben, was die äussere Gestalt anbetrifft, wesentlich durch die längeren Tastantennen und die Bewehrung des ersten Fusspaares, die in einem Haken besteht. Von der Gattung Scapholeberis sind bis jetzt die folgenden drei Arten bekannt. Der Kopf ist häufig mit einem Horne gekrönt. Die Schalenstachel erreichen eine bedeutende Länge . . Scapholeberis mucronata. Das Kopfhorn fehlt oder wird nur durch einen klei- nen Höcker angedeutet. Die Schalenstachel sind sehr kurz oder fehlen ganz. . . Scapholeberis obtusa. Der Körper istdun- kelbraun gefärbt und sehr wenig durchsich- tig. Zu den Seiten des Kopfesist keine Quer- leiste vorhanden. Der Körper ist hell und durchsichtig. Zu den Seiten des Kopfes zieht sich eine hohe Querleiste hin. Das Kopfhorn fehlt. Die Schalenstachel sind sehr lang. „er wu ee Mn een. A (SteapBolrbersssipree Scapholeberis mucronata, O0. F. Müller. 1776. Daphne mucronata, ©. F. Müller: Zoologiae Danicae Prodr. Nr. 2404. 1778. Monoculus bispinosus, De @eer: Memoires pour servir & l’histoire des insectes. pag. 463, tab. XXVII, fig. 3—8. 1785. Daphnia mucronata, O. F. Müller: Entomostraca ete. pag. 94, tab. XII, fig. 5—7. 113] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 53 1820. Monoculus mucronatus, Jurine: Histoire des monocles, qui se trouvent aux environs de Geneve. pag. 137, tab. XIV, fig. 1, 2. 1836. Daphnia bispinosa, Koch: Deutschlands Crustaceen etc. H. 8, tab. 1. 1848. Daphnia mucronata, Lievin: Die Branchiop. der Danziger Gegend. pag. 30, tab. VII, fig. 1, 2. 1850. Daphnia mucronata, Baird: British Entomostraca. pag. 99, tab. X, fig. 2, 3. 1851. Daphnia mucronata, Fischer: Ueber d. in d. Umg. v. St. Petersburg vorkommenden Crustaceen etc. pag. 183. tab. VII, fig. 1—6 u. fig. 11. 1853. Daphnia mucronata, Liljeborg: De crustaceis ex ordinibus tribus: cladoc., ostracod. et copepod. pag. 44, tab. III, fig. 6, 7. 1858. Scapholeberis mucronata, Schoedler: Die Branchiop. d. Umg. v. Berlin. pag. 23. 1858. Scapholeberis cornuta, Schoedler: Die Branchiop.’d. Umg. v. Berlin. pag. 24. 1860. Daphnia mucronata, Leydig: Naturg. d. Daphniden. pag. 187, tab. IV, fig. 37, 38. 1866. Scapholeberis comuta, Schoedler: Die Cladoceren des frischen Haffs. pag. 7. 1868. Scapholeberis mucronata, P. E. Müller: Danmarks Cladocera. pag. 124. 1870. Scapholeberis mucronata, Lund: Bidrag til Cladocerernes Morphologie og Systematik. pag. 157, tab. V, fig. 11—16. 1870. Daphnia mucronata, Plateau: Recherches sur les Crustaces d’eau douce de Belgique. pag. 27, tab. I, fie. 3. 1872. Daphnia mucronata, Fri@: Krustenth. Böhmens. pag. 237, fig. 41. 1875. Scapholeberis mucronata, A. Hudendorff: Beitrag. z. Kenntn. d. Süss- wassercladoc. Russlands. pag. 10. 1875. Scapholeberis mucronata, Kurz: Dodekas neuer Cladoc. pag. 28. 1877. Scapholeberis mucronata, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 45. 1877. Scapholeberis mucronata, Schoedler: Zur Naturg. d. Daphniden. pag. 23. 1878. Scapholeberis mucronata, Lutz: Beobacht. über die Cladoc. d. Umg. v. Leipzig. pag. 38. 1879. Scapholeberis mucronata, Lutz: Untersuchungen über die Cladoc. d. Umg. von Bern. pag. 42. Körper gross, gelbbraun gefärbt und sehr wenig durchsichtig. Kopf hoch und häufig mit einem langen Horne gekrönt. Schale länglich viereckig und an dem unteren und hinteren Winkel mit zwei langen Stacheln bewehrt. Weibchen. Körper gelbbraun und sehr wenig durchsichtig. Kopf, der oben durch eine tiefe Einkerbung vom Thorax abgegrenzt wird, an der Basis beinahe ebenso breit als die Schalenklappen. Vorne, unterhalb der Medianlinie, rundet er sich ab und bildet eine weit vorragende Stirn. Die obere Kante des Kopfes geht anfangs fast in gerader Richtung nach hinten und oben und wendet sich endlich im Bogen bis zum Beginn des oberen Schalenrandes. Auf ihr, unmittelbar oberhalb des Auges, erhebt sich sehr häufig ein 54 | EYLMAnN: [1 14 langer, nach oben gekrümmter Dorn, doch kann derselbe auch voll- ständig fehlen. Beide Formen kommen aber nicht selten in gleicher Anzahl an ein und demselben Fundorte vor, so dass wir beide als gleichberechtigt nebeneinander zu stellen und nicht die eine als eine Varietät der anderen zu betrachten haben. An der unteren Kante wird durch die Stirn und den steil nach hinten und unten abfallenden Schnabel ein tiefer Ausschnitt erzeugt. Fornix gut ent- wickelt und überwölbt mit einem abgerundeten Lappen die Wurzel der Ruderantennen. Die Schalenklappen sind in der Jugend fast viereckig gestaltet, im Alter hingegen baucht sich der obere Rand stark vor. An der Uebergangsstelle zwischen den freien hinteren und unteren Kanten sitzt je ein langer, gerader und spitzer Dorn, der sich in der Ver- längerung der letzteren erstreckt. Mit Ausnahme der unteren Rän- der, die mit langen, von vorne nach hinten an Grösse abnehmenden Borsten besetzt sind, ist die Schale, abgesehen von den eben ge- nannten Stacheln, ohne jede Bewehrung. Ruderantennen kurz und nicht sehr kräftig gebaut. Der Stamm derselben reicht, wenn er in der Richtung der Schnabelspitze aus- gestreckt wird, bis zur Basis der Tastantennen. Er krümmt sich etwas und ist wie die Aeste mit schuppenartigen Erhebungen be- deckt. Ausserdem besitzt er noch drei Sinnesborsten, von denen zwei an der Beuge dicht nebeneinander sitzen und an der Wurzel mit einem dicken Cuticularinge umgeben sind. Die dritte befindet sich am distalen Ende, zwischen der Ansatzstelle der beiden Aeste. Postabdomen nicht sehr gross und mit 7—8 allmählich an Grösse abnehmenden Dornen bewehrt. Die untere Kante verläuft in gerader Richtung bis zum Beginn der Afterspalte, von da gehen die Ränder derselben im Bogen nach oben. Endkrallen an den Unterkanten nur fein gezähnelt. Die Schwanzborsten zerfallen in zwei Glieder, von denen das letzte kürzer ist als das erste und sich durch einen feinen Fiederbesatz auszeichnet. Von den vier Verschlussfalten die erste lang, die letzten hin- gegen niedrig, abgerundet und behaart. Das Auge liegt hart am Stirnrande und ist von bedeutender Grösse, doch enthält es nur wenige Krystallkegel. Nebenauge klein. Die Tastantennen sitzen an der schräg abgeschnittenen Spitze des Schnabels und besitzen ausser dem Büschel von geknöpften Tast- borsten noch eine gleich lange zugespitzte Endborste. Die Darmcoeca sind kurz. ot St 115] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. Länge etwa: 0,73—1,06 mm. Männchen. Das Männchen weicht hinsichtlich der äusseren Gestalt sehr wenig vom Weibchen ab. Es unterscheidet sich haupt- sächlich von demselben durch den etwas kleineren Körperbau, die längeren Tastantennen und die Ausrüstung des ersten Fusspaares, die in einem Haken besteht. Fundorte. Baden: Teiche und Tümpel in der Umgegend von Freiburg. Elsass: Altwasser des Rheins, Altbreisach gegenüber. Baiern: Teiche und Sümpfe bei Lindau. Hannover: Seen, Teiche, Gräben und Tümpel in der Landdrostei Stade. Holstein: Kleiner Plöner See, Postsee. Lauenburg: Möllner See, Ratzeburger See. Schweiz: Wiesengraben am Vierwaldstätter See bei Luzern, Genfer See, Lehmgrube bei Zug, Tümpel am Neuchäteler See bei St. Blaise. Scapholeberis obtusa, Schoedler. 1853.? Daphnia mucronata!), Liljeborg: De crustaceis ex ordinibus tribus: cladocera, ostracoda et copepoda etc. pag. 44, tab. III, fig. 6. 1858. Scapholeberis obtusa, Schoedler: Die Branchiop. d. Umg. v. Berlin. Beitrag I. pag. 24, fig. 11, 12. 1875. Scapholeberis obtusa, A. Hudendorff: Beitrag z. Kenntniss d. Süss- wassercladoc. Russlands. pag. 11. 1877. Scapholeberis obtusa, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 46. 1877. Scapholcberis obtusa, Schoedler: Zur Naturg. d. Daphniden. pag. 24. Körper gedrungen und schmutzig braun gefärbt. Kopfhorn fehlt oder nur durch einen kleinen Höcker angedeutet. Schale so breit als lang. Schalenstachel sehr kurz oder fehlen ganz. Von Scapholeberis mueronata, mit der diese Art viel Aehnlich- keit hat, unterscheidet sie sich durch das Fehlen des Kopfhornes, an dessen Stelle man nicht selten einen kleinen Höcker antrifft, durch die kürzeren Schalenstachel, die zuweilen auch vollständig fehlen, und durch den gedrungenen Körperbau. Im männlichen Geschlechte ist nach Hupennorrr das erste Fusspaar ausser mit einem Haken noch mit einer langen Geissel ausgerüstet. Im Uebrigen 1) Die unter diesem Namen von LıLseporG beschriebene Form stimmt — die Correctheit der Zeichnung vorausgesetzt — mit keiner der bekannten Arten der Gattung Scapholeberis genau überein. Die grösste Aehnlichkeit hat sie noch mit S. obtusa, doch weicht sie von derselben durch die im Verhältniss zur Kopf- basis sehr breiten Schalenklappen und die tiefe Ausbuchtung der unteren Kopfkante von derselben ab. 56 | Eyrmann: [116 sind keine wesentlichen Unterscheidungsmerkmale von der obigen Species vorhanden. Länge etwa: 0,7—0,78 mm; Höhe: etwa 0,48 mm. Scapholeberis aurita, Fischer. 1849. Daphnia aurita, Fischer: Abhandl. über eine neue Daphnienart, Daphnia aurita, und über die D. laticornis, Jurine. pag. 39, tab. I, fig. 1-5; tab. IV, fig. 1. 1877. Scapholeberis aurita, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 47. 1877. Scapholeberis aurita, Schoedler: Zur Naturg. d. Daphniden. pag. 24. Körper gross, hell und durchsichtig. Zu den Seiten des Kopfes zieht sich eine hohe Querleiste hin. Kopfhorn fehlt. Schale breiter als der Kopf und länglich viereckig gestaltet. Schalenstachel sehr kurz. Scapholeberis aurita zeichnet sich vor den beiden oben beschrie- benen Arten durch eine zu den Seiten des Kopfes verlaufende, stark vorragende Querleiste, die vom Fornix gebildet wird, und durch die in gerader Richtung sich erstreckende obere und untere Kopfkante aus. Wie bei S. obtusa, so fehlt auch hier das Kopfhorn, während die Schalenstachel noch kürzer sind und häufig nur als kleine spitze Höcker angedeutet werden. Länge etwa: 0,94 mm; Höhe etwa: 0,48 mm. 4. Gattung. Ceriodaphnia, Dana. Der Körper ist von mittlerer Grösse und meistens horngelb bis blutroth gefärbt. Der Kopf ist niedergedrückt, nach unten ge- neigt und zeichnet sich durch eine stark vorspringende Stirn aus, hinter der die obere Kopfkante einen mehr oder minder tiefgehen- den Ausschnitt hervorruft. Die untere Kante des Kopfes erzeugt mit dem hinteren Stirnrande einen Winkel und endet ohne Schnabel- bildung. Die Schalenklappen, die vom Kopfe durch eine tiefe Ein- kerbung abgegrenzt werden, sind rundlich bis viereckig, polygonal gefeldert und bilden in der Regel am hinteren und oberen Schalen- winkel einen kleinen spitzen Dorn. Von den vier Abdominalfort- sätzen ist der erste, zuweilen auch der zweite, gut entwickelt, die beiden letzten sind stets sehr klein und warzenförmig gestaltet. Die untere Postabdominalkante trägt eine Bewehrung von einfachen - 117] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 57 oder an der Basis gezähnelten Dornen. Die Endkrallen besitzen an den unteren Rändern eine feine Bezahnung, zu der in einem Falle ein Nebenkamm aus breiten Dornen hinzutritt. Das Auge liegt hart an der Stirnkante und erreicht bei den meisten Arten eine bedeutende Grösse, doch enthält es gewöhnlich nur eine geringe Anzahl von Krystallkegeln. Das Nebenauge ist immer vorhanden und sitzt in der Nähe des Winkels, der von dem hinteren Stirn- und unteren Kopfrande gebildet wird. Nicht weit von demselben entfernt sind auch die Tastantennen angebracht, die auf der Oberseite mit einer kleinen schlanken Seitenborste ver- sehen sind. Das Ephippium enthält nur ein Dauerei, das in der Längs- achse desselben liegt. Das Männchen unterscheidet sich vom Weibchen durch die grossen, mit einer langen 'Endborste versehenen Tastantennen und durch die Bewehrung des ersten Fusspaares, die, ebenso wie bei der Gattung Daphnia, in einem Haken und einer Geissel besteht. Die hierher gehörigen Arten sind sehr gemein und werden sowohl in grossen Seen als auch in kleinen Wasseransammlungen angetroffen, doch treten sie im Allgemeinen nicht in so grosser Individuenzahl auf, wie z. B. Daphnia und Simocephalus. Man kennt bis jetzt folgende acht ziemlich scharf begrenzte Arten. (Tabelle S. 118.) Ceriodaphnia laticaudata, P. E. Müller. 1862. Ceriodaphnia quadrangula, Sars: Om Crustacea Cladocera, iattagne i ÖOmegnen af Christiania, pag. 274. 1868. Ceriodaphnia laticaudata, P. E. Müller: Danmarks Cladocera. pag. 130, tab. I, fig. 19. 1870. Ceriodaphnia laticaudata, Lund: Bidrag til Cladocerernes Morphologie og Systematik. pag. 160, tab. VI, fig. 11. 1875. Ceriodaphnia laticaudata, A. Hudendorff: Beitrag z. Kenntn. d. Süss- wassercladoceren Russlands. pag. 14. 1877. Ceriodaphnia laticaudata, Schoedler: Zur Naturg. d. Daphniden. pag. 23. 1877. Ceriodaphnia laticaudata, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 51. 1878. Ceriodaphnia laticaudata, Lutz: Beobacht. über die Cladoc. d. Umg. v. Leipzig. pag. 37. 1879. Ceriodaphnia laticaudata, Lutz: Untersuch. über d. Cladoc. d. Umg. v. Bern. pag. 41. Körper gross und blutrotb gefärbt. Kopf niedrig und auf [118 « EYLMANN v8 Endkrallen besitzen ausser einer feinen Bezahnung noch einen Nebenkamm Endkrallen an den Unterkanten nur fein gezähnelt. Untere Postab- dominalkante bedornt und ge- gezähnelt . Untere Postab- dominalkante nur bedornt. Postabdomen schmal. Postabdomen sehr breit. Stirn unbedornt und bildet mit der unteren Kopfkante einen rechten Winkel Hintere Stirn- kante geht fast ohne Winkelbil- dung in den un- teren Kopfrand über. Stirn gleichmäs- sig abgerundet und unbedornt Stirn läuft in einen Winkel aus und ist be- dornt . . . . . Untere Stirnkante bedornt. Der untere Postabdominalrand bildet keine Einbuchtung e Untere Stirnkante unbedornt. Un- terer Postabdominalrand bildet eine tiefe Einbuchtung. \ ( "Kopf stark nie- dergedrückt Kopf hoch 1) Das Vorhandensein einer Einbuchtung an der unteren Postabdominalkante schliesse ich aus den Zeichnungen In der Beschreibung, die uns FıscHer und Leyvıc von dieser Form geben, wird nichts darüber gesagt. Ceriodaphnia retieulata. ” » . „ = n a » n megops. pulchella. punctata. quadrangula Fischeri?). laticaudata. rotunda. von FıIscHer (fig. 5, 6, tab. VI). 119] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 59 der Oberseite weit ausgeschweift. Stirn gleichmässig abgerundet. Schale rund bis viereckig und deutlich reticulirt. Postabdomen sehr breit. Weibchen. Körper gross und blutroth gefärbt. Kopf stark niedergedrückt und oberhalb der abgerundeten Stirn weit ausge- schweift. Die untere Kopfkante bildet mit der hinteren Stirnkante einen stumpfen Winkel. Der Fornix hat hier nicht die Grösse wie bei manchen Arten der in Rede stehenden Gattung. Er beginnt an dem vorderen Kopfrande, erreicht seine grösste Entwickelung ober- halb der Tastantennen, deren Wurzel er etwas überwölbt, und ver- liert sich auf dem Rücken, hinter dem Herzen. Unter Bildung einer tiefen Einkerbung auf der Oberseite geht der Kopf in den Thorax über. Schalenklappen bei alten Weibchen kugelig und so lang als breit, bei jüngeren hingegen mehr viereckig gestaltet. Hinten verschmelzen sie in gleicher Höhe mit dem Ein- schnitte zwischen Kopf und Thorax zu einem breiten spitzen Stachel. Mit Ausnahme des vorderen Abschnittes der inneren Lippe der freien unteren Schalenränder, der mit langen befiederten Borsten besetzt ist, sind die Schalenkanten ohne jede Bewehrung. Cuticula des Kopfes und der Schale deutlich polygonal gefeldert. Ruder- antennen gut entwickelt und länger als die Hälfte der Schale. Der Stamm überragt, wenn er in der Richtung nach der Stirn ausgestreckt wird, ein wenig die Kante derselben. Seine Oberflächensculptur besteht aus undeutlich ausgeprägten schuppenartigen Erhebungen. An der Wurzel desselben sitzen dicht nebeneinander zwei Sinnes- borsten, die am Grunde mit einem dicken Cuticularinge umgeben sind; eine ähnliche, aber etwas längere Borste befindet sich am distalen Ende, zwischen den beiden Aesten. Die Ruderborsten zer- fallen in drei Glieder und sind mit langen Fiedern bedeckt. Kurz hinter dem Gelenke zwischen dem ersten und zweiten Gliede nimmt man in letzterem einen hellen Fleck wahr, der wahrschemlich daher rührt, dass an dieser Stelle die Borste hohl ist. Die erste Verschlussfalte lang, die drei übrigen klein, höcker- förmig und an der Spitze mit langen steifen, nach hinten gerichte- ten Haaren besetzt. Das Postabdomen besitzt eine grosse Breiten- ausdehnung. Die Ränder um die Analspalte sind schräg abgestutzt und mit 8—10 von vorne nach hinten sehr wenig an Grösse ab- nehmenden Dornen bewehrt. An den unteren Kanten der End- krallen erstreckt sich von der Basis his zur Spitze ein feiner Haar- besatz, der wegen seiner geringen Entwickelung nur bei starker 60 EYLMANN: [120 Vergrösserung wahrnehmbar ist. Das letzte Glied der Schwanz- borsten so lang als das erste und dicht befiedert. Das Auge befindet sich in der Mitte der Stirn und nahe dem Rande derselben. Das Nebenauge liegt ein wenig oberhalb der Wurzel der Tastantennen und ist punktförmig gestaltet. Die Tast- antennen erreichen ungefähr die Länge des zweiten Gliedes des oberen Astes der Ruderantennen und sind mit einer langen zarten Seitenborste ausgerüstet, die in der Mitte der Oberseite auf einem kleinen Höcker sitzt. Im Brutraume fand ich nie viele Sommereier vor. Darmeoeca lang, am freien Ende kolbig verdickt und nach der Stirn zu gerichtet. Länge etwa: 0,8 mm; Höhe etwa: 0,66 mm. Männchen. Das Männchen war bisher unbekannt. Von dem Weibchen unterscheidet es sich auf den ersten Anblick durch die Bewehrung des ersten Fusspaares und die stark entwickelten Tast- antennen, deren freies Ende in eine lange, an der Spitze hakig ge- krümmte Endborste ausläuft. Ich fand diese Art in ungeheurer Menge in einem Graben, der während des Winters als Viehtränke benutzt wurde und daher sehr schmutziges Wasser enthielt. Fundort. Hannover: Graben in der Landdrostei Stade. Ceriodaphnia reticulata, Jurine. 1820. Monoculus retieulatus, Jurine: Histoire des monocles etc. pag. 139, tab. XIV, fig. 3—4. 1850.? Daphnia retieulata, Baird: British Entomostraca. pag. 97, tab. VII, fig. 5. 1853. Daphnia quadrangula, Liljeborg: De crustaceis ex ordinibus tribus: cladocera, ostracoda et copepoda etc. pag. 35, tab. III, fig. 1. 1858. Ceriodaphnia quadrangula, Schoedler: Die Branchiop. d. Umg. v. Berlin. pag. 26. 1860. Daphnia reticulata, Leydig: Naturg. d. Daphniden. pag. 182, tab. IV, fig. 34— 36. 1862. Ceriodaphnia reticulata, Sars: Om Crust. Cladoc., iattagne i Omegnen af Christiania. pag. 275. 1868. Ceriodaphnia reticulata, P. E. Müller: Danmarks Cladocera. pag. 127, tab. I, fig. 11—12. 1870. Ceriodaphnia reticulata, Lund: Bitrag til Cladocerernes Morphologie og Systematik. pag. 159, tab. VI, fig. 7, 8, 9. 1875. Ceriodaphnia reticulata, Kurz: Dodekas neuer Cladoc. etc. pag. 26. 1875. Ceriodaphnia reticulata, A. Hudendorff: Beitrag. z. Kenntn. d. Süss- wassercladoc. Russlands. pag. 11. 121] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 61 1877. Ceriodaphnia reticulata, Schoedler; Zur Naturg. d. Daphniden. pag. 20. 1877. Ceriodaphnia reticulata, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 49. 1878. Ceriodaphnia reticulata, Lutz: Beobacht. über d. Cladoc. d. Umg. v. Leipzig. pag. 37. 1879. Ceriodaphnia retieulata, Lutz: Untersuch. über d. Cladoc. d. Umg. v. Bern. pag. 42. Körper mittelgross und durchsichtig. Kopf hoch und auf der Oberseite tief eingebuchtet. Schale länglich viereckig und deutlich reticulirt. Endkrallen mit Nebenkamm. Coriodaphnia reticulata sieht C. laticaudata sehr ähnlich und weicht im grossen Ganzen nur hinsichtlich der Körpergrösse, der Form des Kopfes und der Bewehrung der Endkrallen von derselben ab. Im männlichen Geschlechte ist ferner das freie Ende der End- borste der Tastantennen verbreitert, während dieses bei der oben genannten Art nicht der Fall ist. Weibchen. Kopf etwas höher als bei €. laticaudata und bildet oberhalb der abgerundeten vorragenden Stirn eine weite, ziemlich tiefe Einbuchtung. Die untere Kopfkante verläuft anfangs in ge- rader Richtung nach oben, indem sie den hinteren Stirnrand bildet, und wendet sich dann, den Tastantennen gegenüber, unter einem Winkel von 35° nach oben und hinten. Fornix stark entwickelt und überwölbt mit einem dreieckigen Lappen, dessen freie Spitze in einen Dorn ausgeht, die Wurzel der Ruderantennen. Kopf vom Thorax durch eine tiefe Einkerbung abgegrenzt. Schalenklappen wie bei C. laticaudata bei alten Weibchen kugelig und so breit als lang, bei jüngeren hingegen viereckig gestaltet. Hinten verschmelzen sie in gleicher Höhe mit der Einbuchtung zwischen Kopf und Thorax zu einem kurzen breiten Stachel, der, wie die benachbarten Theile der Schalenränder, sehr fein bedornt ist. Reticulation der ÖCuticula der Haut deutlich, aber nicht be- sonders scharf ausgeprägt. Die Ruderantennen haben dieselbe Be- schaffenheit wie bei der vorigen Species. Die erste der Verschlussfalten lang und nach oben und vorne gerichtet, die drei übrigen klein, höckerförmig und behaart. Die untere Kante des Postabdomens verläuft entweder gerade oder wölbt sich etwas vor. händer der Analspalte mit S—10 Dornen bewehrt, von denen der mittlere in der Regel der längste ist, und die dann allmählich nach vorne und hinten zu an Grösse abnehmen. Be- sonders charakteristisch für diese Art sind die Endkrallen. Dieselben besitzen ausser der feinen Bedornung an den Unterkanten in der Nähe der Basis noch einen Nebenkamm, der von 4—5 langen, breiten 62 Eyrmann: [1 22 und gleich grossen Zähnen gebildet wird. Die Schwanzborsten zer- fallen in zwei Glieder, von denen das letzte spitz endet und lang und dicht befiedert ist. Tastantennen in der Mitte etwas angeschwollen und beweglich zu den Seiten des Kopfes befestigt. Auf der Oberseite, nicht weit von der Anheftungsstelle der Tastborsten entfernt, tragen sie auf einem kleinen Höcker eine lange feine Sinnesborste. Auge gross, enthält aber nur wenige Krystallkegel und liegt in der Mitte der Stirn, nahe dem Rande derselben. Unmittelbar oberhalb der Basis der Tastantennen sitzt das Nebenauge, das, wie bei C. laticaudata, gut entwickelt und punktförmig gestaltet ist. Länge etwa: 0,68—0,83 mm; Höhe etwa: 0,45—0,58 mm. Männchen. Das Männchen besitzt fast dieselbe Körpergrösse wie das Weibchen, unterscheidet sich aber schon bei oberflächlicher Betrachtung von demselben durch die starken Tastantennen, deren freies Ende in eine lange, an der Spitze löffelförmig erweiterte End- borste ausgeht, und durch die Ausrüstung des ersten Fusspaares. Fundorte. Baden: Nägelesee (Teich bei Freiburg). Elsass: Altwasser des Rheins, Altbreisach gegenüber. Hannover: Moorgraben in der Landdrostei Stade, Schwanenteich bei Stade. Holstein: Kleiner Plöner See. Schweiz: Graben mit sehr schmutzigem Wasser bei Bienne. Frankreich: Marne aux Loups (For&t de Rouvray, Seine-Inferieure). Ceriodaphnia pulchella, Sars. 1862. Ceriodaphnia pulchella, Sars: Crust. Clad. i Omegn. af Christiania. pag. 276. 1868. Ceriodaphnia pulchella, P. E. Müller: Danmarks Cladocera. pag. 128, tab. I, fig. 13, 14. 1875. Ceriodaphnia pulchella, Kurz: Dodekas neuer Cladoc. etc. pag. 27. 1875. Ceriodaphnia pulchella, A. Hudendorff: Beitrag z. Kenntn. d. Süss- wassercladoceren Russlands. pag. 13. 1877. Ceriodaphnia pulchella, Schoedler: Zur Naturg. d. Daphniden. pag. 23. 1877. Ceriodaphnia pulchella, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 50. 1878. Ceriodaphnia pulchella, Lutz: Beobacht. über d. Cladoc. d. Umg. v. Leipzig. pag. 38. 1879. Ceriodaphnia pulchella, Lutz: Untersuch. über die Cladoc. d. Umg. v. Bern. pag. 42. Körper klein, durchsichtig und schwach grünlich gefärbt. Kopf hoch und auf der Oberseite tief eingebuchtet. Stirn unbedornt und bildet mit der unteren Kopfkante einen rechten Winkel. Schale oval und nicht sehr deutlich reticeulirt. Postabdomen breit. 123] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 63 Weibchen. Kopf etwas höher als bei Ceriodaphnia laticaudata und C. reticulata. Vorne weist er zwei Einbuchtungen auf, von denen die eine, unmittelbar hinter der Stirn befindliche sehr seicht ist, während die andere, die in der Mitte der Kante, oberhalb des freien Endes der Darmcoeca liegt, tief eindringt. Die Stirn rundet sich vorne und unten ab, hinten hingegen bildet sie zuerst eine kleine höckerförmige Erhebung, verläuft alsdann in gerader Richtung nach oben und geht endlich unter einem rechten Winkel in den senkrecht nach hinten sich erstreckenden hinteren Kopfrand über. Fornix gut entwickelt und überwölbt mit einem dreieckigen Lappen, dessen freie Spitze mit einem kleinen Dorne gekrönt ist, der Wurzel der Ruderantennen. Zwischen Kopf und Thorax befindet sich eine tiefe Einkerbung. Schalenklappen der alten Weibchen kugelig, während die der jünge- ren eine ovale Gestalt besitzen. Hinten vereinigen sie sich zu einem kurzen breiten Dorn, der in der Höhe der zwischen Kopf und Thorax befindlichen Einbuchtung liegt. Die Retieulation der Cuticula der Haut besteht aus polygonalen Feldern, deren erhabene Linien aber im Vergleich mit denen der oben beschriebenen Arten nur undeut- lich ausgeprägt sind. Die Schalenklappen weisen, mit Ausnahme der Mitte der inneren Lippe der unteren Ränder, die mit langen, zart bewimperten Borsten besetzt ist, keinerlei Ausrüstung auf. Ruder- antennen wie bei C. laticaudata und reticulata beschaffen. Die erste Verschlussfalte lang, die drei übrigen klein, höcker- förmig und mit steifen, nach hinten gerichteten Haaren besetzt. Das nicht sehr breite Postabdomen verjüngt sich etwas nach vorne zu und ist an den Rändern der Analspalte jederseits mit 10 bıs 12 Dornen bewehrt, die nur sehr wenig von vorne nach hinten an Grösse abnehmen. Die Unterkanten der Endkrallen besitzen eine feine Bezahnung. Schwanzborsten lang und zweigliedrig; das letzte Glied zart befiedert. Die Darmeoeca erreichen eine mittlere Länge und richten sich nach vorne und unten. Tastantennen kurz, überall gleich dick und mit einer Seiten- borste versehen, die sich auf der Oberseite nahe dem freien Ende befindet. Das Auge, das sich durch seine Grösse und seinen Reich- thum an Krystallkegeln auszeichnet, liegt hart am Stirnrande. Das Nebenauge sitzt in der Nähe der Ansatzstelle der Tastantennen und hat die Gestalt eines Punktes. Länge etwa: 0,65 mm; Höhe etwa: 0,46 mm. 64 | EYLMmanK: [124 Männchen. Tastantennen des Männchens grösser als die des Weibehens und enden mit einer langen, am Ende hakenförmig ge- krümmten Endborste. Fundorte. Baden: Waldsee (künstlicher Teich bei Freiburg). Elsass: Altwasser des Rheins, Altbreisach gegenüber. Baiern: Deeger- see. Hannover: Seeblick in der Landdrostei Stade, Stader Stadt- graben. Fürstenthum Lübeck: Eutiner See. Lauenburg: Möllner See. Holstein: Postsee. CGeriodaphnia quadrangula, O0. F. Müller. 1785. Daphnia quadrangula, O. F. Müller: Entomostraca ete. pag. 90, tab. XIII, fig. 3—4. 1820. Monoculus clathrathus, Jurine: Histoire des monocl. etc. pag. 140, tab. XIV, fig. 5—7. 1835. Daphnia quadrangula, Koch: Deutschlands Crustaceen etc. H. 35, Nr. 19. 1848.? Daphnia quadrangula, Lievin: Die Branchiop. d. Danziger Gegend. pag. 28, tab. VI, fig. 1—5. 1850. Daphnia reticulata, var. quadrangula, Baird: British Entomostraca. pag. 97, tab. XII, fig. 1, 2. 1858. Ceriodaphnia rotunda, Schoedler: Branchiop. d. Umg. v. Berlin. pag. 26. 1860. Daphnia quadrangula, Leydig: Naturg. d. Daphniden. pag. 178, tab. IV, fig. 30—33. 1868. Ceriodaphnia quadrangula, P. E. Müller: Danmarks Cladocera. pag. 130, tab. I, fig. 16—18. 1870.2? Daphnia quadrangula, Plateau: Recherches sur les crustaces d’eau douce de Belgique. pag. 26. 1875. Ceriodaphnia quadrangula, A. Hudendorff: Beitrag z. Kenntn. d. Süss- wassercladoc. Russlands. pag. 13. 1877. Ceriodaphnia quadrangula, Schoedler: Zur Naturg.d. Daphniden. pag. 22. 1877. Ceriodaphnia nitida, Schoedler: Zur Naturg. d. Daphniden. pag. 22. 1877. Ceriodaphnia Leydigii, Schoedler: Zur Naturg. d. Daphniden. pag. 21. 1877. Ceriodaphnia clathrata, Schoedler: Zur Naturg. d. Daphniden. pag. 23. Körper schwach horngelb gefärbt. Kopf niedrig. Stirnkante geht fast ohne Winkelbildung in den hinteren Kopfrand über und unbedornt. Unterer Postabdominalrand tief eingebuchtet. Ceriodaphnia quadrangula gehört wohl zu einer der am wenig- sten scharf begrenzten Arten der Daphniden, da schon von Jurine an einerseits Formen unter diesem Namen beschrieben worden sind, die mehr oder weniger von der Daphnia quadrangula, Mürzer, ab- wichen, andererseits neue Arten aufgestellt wurden, die, wie sich nachher ergab, mit der vorigen identisch waren. Nach Lryoıs sollen nun unter der C. quadrangula und den 125] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 65 Varietäten derselben mindestens drei mit Sicherheit zu unterscheidende Arten verborgen sein. SCHOEDLER ist derselben Ansicht und fügt der C. quadrangula, Mvrver, noch zwei neue Species, ©. Leydigii (D. quadrangula, Leyvie: Naturg. d. Daphn. pag. 178, tab. IV, fig. 31 —33) und C. nitida (D. quadrangula, Leyoie: Naturg.d. Daphn. pag. 180, tab. IV, fig. 30) hinzu. Vielleicht werden genauere Unter- suchungen den beiden Forschern Recht geben, vorläufig halte ich es jedoch für angemessener, nur eine Art, ©. quadrangula, Mürrer, beizubehalten und die übrigen Formen als Varietäten derselben zu betrachten, da die in Frage kommenden Unterschiede sehr gering- fügiger Natur sind und bei der grossen Neigung aller Daphniden zur Varietätenbildung leicht Mittelstufen gefunden werden möchten, die eine Verschmelzung der C. quadrangula und der von ScHhoEnLer aufgestellten Species zu einer einzigen Form ergeben würden. Auch Monoculus clathratus, Jurıse, ist wahrscheinlich als Spiel- art der in Rede stehenden Art anzusehen, jedenfalls kann aus den Abbildungen, die uns der Autor von derselben giebt, keine Species- verschiedenheit entnommen werden. Der Körper hat eine schwache, horngelbe Färbung. Kopf sehr niedergedrückt, an der Stirn abgerundet und oberhalb des Auges nur wenig eingebuchtet. Die hintere Stirnkante geht fast ohne Bildung eines Winkels in die nach hinten und oben gerichtete untere Kopfkante über. Zwischen Kopf und Thorax befindet sich eine tiefe Einkerbung, Schalenklappen rundlich bis viereckig (Testa rotunda, vel fere quadrangula angulis obtusis, P. E. Mürzer) und laufen hinten, in der Höhe der dorsalen Kante, in einen sehr kleinen Stachel aus, der, wie die Schalenränder, gewöhnlich keine Dornbewehrung be- sitzt. Besonders charakteristisch für diese Species ist die Gestalt des Postabdomens. Dasselbe hat wohl die geringste Breitenentwicke- lung von allen Arten der Gattung und buchtet sich in der Mitte der unteren Kante nicht unbedeutend ein. Die Bewehrung der Ränder der Analspalte besteht aus acht kleinen Dornen, die nur sehr wenig nach vorne an Grösse zunehmen. A. Hupenvorrr beobachtete bei dieser Art eine ganz eigen- thümliche Bildung des Ephippiums. Die ganze Oberfläche desselben war nämlich ziemlich dicht mit Chitinsäulchen besetzt, die sich an beiden Enden etwas verbreiterten und ungefähr eine Höhe von 0,1 mm und mehr erreichten. Länge etwa: 0,6 mm. Berichte II. Heft 3. 5 (9) 66 EYLMANN: [1 26 Ceriodaphnia Fischeri, Leydig. 1851. Daphnia reticulata, Fischer: Ueber d. in d. Umg. von St. Petersburg vorkommenden Crustaceen etc. pag. 180, tab. VI, fig. 5—13. 1860. Daphnia Fischeri, Leydig: Naturg. d. Daphniden. pag. 185. 1877. Ceriodaphnia Fischeri, Schoedler: Zur Naturg. d. Daphniden. pag. 22. Kopf ziemlich hoch. Stirnkante geht fast ohne Winkelbildung in den unteren Kopfrand über und unbedornt. Postabdomen schmal. Diese Art hat grosse Aehnlichkeit einerseits mit ©. quadrangula, andererseits mit C. reticulata.. Von der ersteren unterscheidet sie sich durch den höheren Kopf und im männlichen Geschlechte besonders durch die Ausrüstung der Tastantenne; die Endborste nämlich zerfällt hier in zwei bis drei Glieder und endet stumpf, während sie bei C. quadrangula, wie bei allen übrigen Species, ungegliedert ist. Als wesentlicher Unterschied von der letzteren ist das Fehlen des Nebenkammes an der Basis der Endkrallen zu be- trachten, vorausgesetzt natürlich, dass die zwei dunklen Striche an der Wurzel der linken Kralle in fig. 5 auf tab. VI bei Fischer einen solchen nicht anzeigen wollen; Andeutungen in der Beschrei- bung sind weder von Fischer noch von Lryoıs darüber gemacht worden. Ceriodaphnia rotunda, Straus. 1820. Daphnia rotunda, Straus: M&emoire sur les Daphnia etc. Seconde partie. pag. 161, tom. V, tab. 26, fig. 27, 29. 1850.?2 Daphnia rotunda, Baird: British Entomostraca. pag. 98, tab. X, fig. 4, 4a; tab. IX, fig. 6, jun. 1862. Ceriodaphnia rotunda, Sars: Crust. Cladoc. i Omegn. af Christiania. pag. 275. . 1868. Ceriodaphnia rotunda, P. E. Müller: Danmarks Cladocera. pag. 131, tab. I, fig. 20—22. 1875. Ceriodaphnia rotunda, Kurz: Dodekas neuer Cladoceren etc. pag. 27, tab. I, fig. 12. 1877. Ceriodaphnia rotunda, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 52. 1877. Ceriodaphnia rotunda, Schoedler: Zur Naturg. d. Daphniden. pag. 23. Körper mittelgross. Kopf stark niedergedrückt, auf der Ober- seite nur wenig eingebuchtet und schmäler als die Schalenklappen. Stirn bedornt und läuft in einen Winkel aus. Postabdomen sehr breit. Ceriodaphnia rotunda unterscheidet sich von allen anderen Arten der Gattung schon auf den ersten Anblick durch die stumpf 127] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 67 zugespitzte und mit einer Dornbewehrung versehene Stirn. Kopf stark niedergedrückt und oberhalb des Auges nur wenig eingebuchtet. Schale, breiter als der Kopf, endet hinten mit einem kurzen, dicken Stachel, der, wie der hintere Abschnitt der freien unteren Schalen- ränder, eine Ausrüstung von zarten Dornen aufweist. Postabdomen am freien Ende bedeutend in die Breite entwickelt und besitzt an den Rändern der Analspalte dieselbe Bewaffnung wie C. laticaudata. Besonders charakteristisch sind auch die Tastborsten, die den nicht sehr langen Stamm doppelt an Länge übertreffen. Länge etwa: 0,78 mm; Höhe etwa: 0,55 mm. Ceriodaphnia punctata, P. E. Müller. 1868. Ceriodaphnia punctata, P. E. Müller: Danmarks Cladocera. pag. 129, tab. 1, fig. 15. 1877. Ceriodaphnia punctata, Schoedler: Zur Naturg. d. Daphniden. pag. 23. 1879. Ceriodaphnia punctata, Lutz: Untersuch. über d. Cladoc. d. Umg. v. Bern. pag. 42. Körper mittelgross. Kopf stark niedergedrückt. Stirnkante geht fast ohne Winkelbildung in den unteren Kopfrand über und bedornt. Postabdomen schmal und unten gerade. Kopf wie bei C. rotunda stark niedergedrückt und an der Stirnkante mit zarten Dornen besetzt, doch läuft dieselbe nicht ın eine Spitze aus, sondern ist allenthalben gleichmässig abgerundet. Einbuchtung oberhalb des Auges tief und breit. Schalenklappen rundlich, dicht retieulirt und enden mit einem kleinen Stachel. Das Postabdomen hat fast überall die gleiche Breite und weist eine Be- wehrung von grossen, nach hinten zu kleiner werdenden Dornen auf. Tastantennen sehr lang, in der Mitte nicht angeschwollen und tragen die Seitenborste auf der Oberseite, nahe dem freien Ende. Länge etwa: 0,7—0,9 mm. CGeriodaphnia megops, Sars. 1835.? Daphnia ventricosa, Koch: Deutschlands Crustaceen etc. H. 35. fig. 21. 1862. Ceriodaphnia megops, Sars: Om de i Omegn. af Christiania forek. Cladoc. pag. 277. 1868. Ceriodaphnia megops, P. E. Müller: Danmarks Cladocera. pag. 126, tab. 1, fig. 9—10. 1870. Ceriodaphnia megops, Lund: Bidrag til Cladocerernes Morphologie og Systematik. pag. 160, tab. VI, fig. 10. 1875. Ceriodaphnia megops, Kurz: Dodekas neuer Cladoceren etc. pag. 25. 5* (9*) 68 EyLManN: [128 1875. Ceriodaphnia megops, A. Hudendorff: Beitrag. z. Kenntn. d. Süss- wassercladoc. Russlands. pag. 12. 1877. Ceriodaphnia megops, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 48. 1877. Ceriodaphnia megops, Schoedler: Zur Naturg. d. Daphniden. pag. 20. 1878. Ceriodaphnia megops, Lutz: Beobacht. über d. Cladoc. d. Umg. v. Leipzig. pag. 37. 1879. Ceriodaphnia megops, Lutz: Untersuch. über d. Cladoc. d. Umg. v. Bern. pag. 42. Körper gross und durchsichtig. Kopf hoch. Schale rundlich. Untere Postabdominalkante bedornt und gezähnelt. Weibchen. Körper gross, durchsichtig und häufig violett ge- färbt. Der Kopf, der bei dieser Art eine verhältnissmässig be- deutende Höhe erreicht, wird vom Thorax durch eine tiefe Ein- kerbung abgegrenzt und besitzt auf der Ober- und Vorderseite zwei Einbuchtungen, von denen die eine unmittelbar hinter der Stirn liest und beträchtlich seichter ist als die andere, die ungefähr die Mitte der Kante einnimmt. Die Stirn ragt weit vor und geht, nachdem sie an der hinteren Seite einen kleinen Höcker erzeugt hat, fast ohne Bildung eines Winkels in den unteren, nach oben und hinten verlaufenden Kopfrand über. Der Fornix hebt sich nur wenig vom Kopfe ab und besitzt keine Dornbewehrung. Die Ruderantennen weisen nichts Abweichendes von denen der obigen Arten auf. Schalenklappen beinahe kugelrund und bedeutend breiter als der Kopf; hinten verschmelzen sie in der Höhe der dorsalen Ein- buchtung zu einem kleinen, spitzen Dorn. Der obere Rand glatt und wölbt sich nur wenig vor, der untere dagegen stark bauchig und mit einer Ausrüstung von langen, feinen, weit voneinander ent- fernt stehenden Dornen versehen. Die Oberflächensculptur der Cuti- cula der Haut wird von unregelmässigen Polygonen gebildet, die derselben ein quergestreiftes Aussehen verleihen. Die Verschlussfalten weichen nicht wesentlich von denen der oben beschriebenen Species ab. Besonders charakteristisch für ©. megops ist die Bewehrung des Postabdomens. Dieselbe besteht aus 6—7 langen, an der Vorder- seite der Basis fein gezähnelten, geraden Dornen, die mit ebenso viel bedeutend kleineren abwechseln. Hinter diesen ist die untere Postabdominalkante noch eine Strecke lang sägeförmig ausgeschnitten. Endkrallen nur fein bedornt. Die Schwanzborsten zerfallen in zwei Glieder, von denen das zweite hinter dem ersten an Länge zurück- steht und mit einem zarten Fiederbesatz versehen ist. 129] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 69 Das Auge zeichnet sich durch seine Grösse und seine Armuth an Krystallkegeln aus. Nebenauge gross, viereckig gestaltet und liegt da, wo der hintere Stirnrand in den unteren Kopfrand über- geht. Tastantennen am freien Ende kolbig angeschwollen und tragen die Seitenborste auf einem kleinen Höcker in der Mitte der Ober- seite der zweiten Hälfte. Länge etwa: 0,95 mm; Höhe etwa: 0,63 mm. Männchen. Das Männchen kleiner und schlanker als das Weibehen und unterscheidet sich hauptsächlich von demselben, was die äussere Gestalt anbetrifft, durch die langen, mit einer hakig gekrümmten Endborste versehenen Tastantennen und durch die Ausrüstung des ersten Fusspaares. Fundorte. Hannover: Schwanenteich bei Stade. Schweiz: Graben mit sehr schmutzigem Wasser bei Bienne. Frankreich: Mare aux Loups (For&t de Rouvray, Seine-Inferieure). 5. Gattung. Moina, Baird. Der Körper ist gross, oval bis vierkantig gestaltet und ge- wöhnlich schmutzig gelb gefärbt. Der Kopf erreicht eine bedeu- tende Grösse und rundet sich vorne etwas kuppelförmig ab, oder bildet auf der Oberseite zwei Einbuchtungen und geht dann in eine vorragende Stirn aus, hinter der meistens die Unterkante in an- nähernd gerader Richtung sich nach hinten erstreckt und, wie im vorigen Falle, mit einer grossen, beweglichen, stiefelförmigen Lippe endet, die weit zwischen die Schalenklappen ragt. Die Schale wird durch eine tiefe Einkerbung auf dem Rücken vom Kopfe geschieden und bedeckt den Körper nur zum Theil, indem das Postabdomen fast vollständig aus derselben hervorragt. Sie ist viereckig bis oval gebaut und hinten etwas eingebuchtet. Der dorsale Rand ist sehr glatt, während die freien ventralen und hin- teren Ränder mit Borsten oder kleinen Dornen besetzt sind. Die Fortsätze am Abdomen, die wir bisher bei den angeführ- ten Gattungen wahrgenommen haben, fehlen hier, statt dessen er- hebt sich an derselben Stelle eine hufeisenförmige Falte, die sich von dem einen Bein des letzten Paares bis zum anderen hinzieht und ebenfalls zum Verschluss des Brutraumes dient. Eine Verschluss- leiste an der Innenseite der Schale ist nach Weismann nicht vor- handen. 70 EyLmann: [130 Das Postabdomen ist lang, aber wenig in die Breite entwickelt. Während die Unterkante desselben sich von der Basis der Schwanz- borsten bis zu den in der Mitte befindlichen, glatten, aufgewulsteten Rändern der Afterspalte in gerader Linie hinzieht oder etwas einbuchtet, verjüngt sie sich plötzlich sehr stark vor derselben und bildet das sogenannte Endstück, das jederseits mit einer Anzahl von bedornten, breiten Zähnen besetzt ist, die mit einem zweizinkigen glatten Zahne am freien Ende abschliessen. Die Endkrallen sind lang und an den ventralen Kanten entweder fein gezähnelt oder ausserdem noch mit einem Nebenkamme aus breiten Dornen versehen. An der Basis, auf der dorsalen Seite sitzen stets ein oder mehrere kleine, in der Richtung der Kralle gestellte Zähne. Die Schwanzborsten erreichen eine ungewöhnliche Länge und bestehen aus zwei Gliedern, von denen das letzte sich durch einen feinen Fiederbesatz auszeichnet. Besonders charakteristisch sind die langen, dicken, stark be- dornten Ruderantennen. Der Stamm derselben ist an der Basis geringelt und theilt sich am distalen Ende in zwei fast gleich lange Aeste, die dieselbe Anzahl von Gliedern und Ruderborsten besitzen, wie die obigen Gattungen, doch in manchen Einzelheiten Abweichungen zeigen. Auge durchgängig gut entwickelt und reich an Krystallkegeln. Es liegt vorne im Kopfe, der Stirnkante genähert. Das Nebenauge fehlt. Die Tastantennen erheben sich in der Mitte der Unterkante, die an dieser Stelle etwas vorgewölbt ist, in Gestalt einer Spindel und tragen am freien Ende nur wenige, verhältnissmässig kleine Tastborsten und in der Mitte der Oberseite eine feine Sinnesborste. Das Ephippium umschliesst ein oder zwei Dauereier. Sommer- eier sind in der Regel in so grosser Anzahl vorhanden, dass der Schalenrücken sackförmig aufgetrieben wird. Beim Männchen erreichen die Tastantennen eine bedeutende Länge und bilden in der Mitte ein Knie, auf dessen convexer Seite zwei oder drei zarte Borsten sitzen. Das freie distale Ende ist mit einigen nach dem Körper zu gekrümmten Haken versehen, die sich in der Nähe der geknöpften Tastborsten befinden und allem An- schein nach bei der Begattung zum Festhalten des Weibchens dienen. Als Perceptionsorgane sind die an der Innenseite, im letzten Drittel der Antenne sich hinziehenden drüsenartigen Gebilde anzusprechen, die höchst wahrscheinlich die Gefühlsempfindung vermitteln. Das erste Fusspaar trägt einen Haken, zu dem sich auch noch eine Geissel gesellen kann. 131] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. ZH Was die Lebensweise anbetrifft, so scheint es mir, dass diese Gattung den Uebergang zu den limicolen Cladoceren bildet, da man sie nicht nur fast ausschliesslich in sehr trüben Gewässern, besonders Lehmgruben, vorfindet, sondern auch ihr plumper Körperbau und ihre schwerfälligen Bewegungen scheinen darauf hinzudeuten. Diese Gattung zählt folgende fünf Arten. (Tabelle S. 72.) Moina paradoxa, Weismann !). 1875. Moina flagellata, A. Hudendorff: Beitrag z. Kenntn. d. Süsswasser- cladoc. Russlands. pag. 14. 1877. Moina paradoxa, Weismann: Beitrag zur Naturgesch. d. Daphniden. pag. 91, tab. X, fig. 36—45. 1877. Moina paradoxa, Gruber u. Weismann: Ueber einige neue oder un- vollk. gekannte Daphn. pag. 82, tab. II, fig. 1, 2, 2A; tab. IV, fig. 6, 8, 8A, 9; tab. V. fig. 16, 18, 20; tab. VII, fig. 25, 26, 27, 28. 1877.2 Moima Fischeri, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 55. 1877. Moina paradoxa, Schoedler: Zur Naturg. d. Daphniden. pag. 9. 1878. Moina paradoxa, Lutz: Beobacht. über d. Cladoc. d. Umg. v. Leipzig. pag. 38. Körper gross und gelblich gefärbt. Kopfkante oberhalb der Darmcoeca wenig oder gar nicht eingebuchtet. Schale länglich vier- eckig und an den Unterkanten der ganzen Länge nach dicht mit Borsten besetzt. Ohne Nebenkamm an der Basis der Endkrallen. Endstück des Postabdomens lang und mit 10—12 bedornten Zähnen ausgerüstet. Moina paradoxa, Weısmans, und M. flagellata, Hunpennorrr, sind aller Wahrscheinlichkeit nach ein und dieselbe Art. Ob dieses auch von M. Fischeri, Heıuıca, gilt, muss ich dahin gestellt sein lassen, jedenfalls ist sie, entgegen der Ansicht des Autors, nicht mit Daphnia rectirostris, Fischer ?), identisch, da bei der letzteren an der Oberseite des Kopfes „zwei durch eine ziemlich starke Ausbuch- !) Es ist mir zwar wahrscheinlich, dass Hupennorrr diese Art in seiner M. flagellata vor sich gehabt hat, indessen ist die Beschreibung derselben doch zu ungenügend, um mit aller Sicherheit die Art wiederzuerkennen; sie bezieht sich fast nur auf die Eigenthümlichkeiten des ersten Fusspaares, die sich in ähnlicher Weise auch bei einer anderen Moinaart wiederfinden könnten. Erst die eingehende Beschreibung von Weısmann lässt keinen Zweifel über die Art- charaktere. ?) Fischer: Bemerk. über einige weniger genau gekannte Daphniden. pag. 105, tab. IH, fig. 6, 7. 12 Kopfkante oberhalb des freien Endes der Darm- coeca wenig oder gar nicht eingebuchtet. Kopfkante oberhalb des freien Endes der Darm- 1 coeca tief ein- gebuchtet. EYLMANN: Nebenkamm an der Basis der Endkrallen vorhanden. Endstück des Postabdomens kurz und mit 5-6 bedornten Zähnen ausgerüstet . Nebenkamman der Basis der Endkrallen fehlt. Endstück des Postabdomens lang und mit 10—-12 be- dornten Zähnen aus- gerüstet . Ephippium um- schliesst stets zwei Dauereier Ephippium um- schliesst nur ein Dauerei. Der hinter den Tastantennen gele- gene Abschnitt der unteren Kopfkante läuft in paralleler Richtung mit der ge- genüber gelegenen oberen Kopfkante nach hinten Der hinter den Tastantennen gele- gene Abschnitt der unteren Kopfkante wendet sich unter Bildung eines stum- pfen Winkels nach \ oben [132 Moina micrura. ” rn n n paradoxa. brachiata. rectirostris. Liljeborgii. 133] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 713 “ tung getrennte abgerundete Höcker*“ vorhanden sind, während Hervıch von seiner Art sagt, dass der Kopf oberhalb des Auges unbedeutend eingedrückt und am Rücken leicht gewölbt sei. Be- trachten wir nun die Zeichnung von Fischer (tab. III, fig. 6), so werden wir finden, dass in derselben die Ausschweifung hinter der Stirn bedeutender ist als die folgende, von der schon der Verfasser sagte, dass sie, wie wir gesehen haben, „ziemlich stark* sei. Ferner befindet sich in der Fıschzr’schen Figur ein deutlicher Neben- kamm an der Basis der Endkrallen, der nach Herrıc# bei seiner Species fehlt. Weibchen. Kopf abgerundet, mit kleinen zarten Härchen be- deckt und durch eine tiefe Einschnürung vom Thorax abgegrenzt. Die Einbuchtung oberhalb des Auges ist nur undeutlich ausge- sprochen; nicht selten trifft man auch Exemplare an, bei denen sie vollständig fehlt und die obere Kopfkante in einem gleichmässigen Bogen verläuft. Fornix vermöge seiner geringen Entwickelung nur bei starker Vergrösserung wahrnehmbar. Die untere Kopfkante wölbt sich etwas vor und erzeugt hinten eine breite Oberlippe, die an ihrem freien Ende einen zipfelförmigen, fein behaarten Fortsatz trägt, der, da der hintere Theil der Lippe zwischen die Schalen- klappen ragt und ausserdem noch theilweise vom ersten Fusspaare verdeckt wird, sich gewöhnlich der Beobachtung entzieht. Ruderantennen lang, kräftig gebaut und mit starken Haaren besetzt, die an dem distalen Ende jedes Gliedes in Dornen über- gehen. Am Stamme befinden sich drei Sinnesborsten, von denen zwei der Aussenseite der Basis aufsitzen und an der Wurzel von einem dicken Cuticularinge umgeben werden, wodurch sie an dieser Stelle ein dunkles Aussehen erhalten. Die dritte ist zwischen den Ansatz der beiden Aeste eingepflanzt und bedeutend länger als die beiden vorigen, auch fehlt derselben die dunkle Contourirung an der Basis. Neben dieser letzteren, etwas vom freien Stammende entfernt, trifft man einen Dorn an, der, was die äussere Gestalt angeht, eine grosse Aehnlichkeit mit ihr hat, dem jedoch der ner- vöse Charakter völlig abgeht und nichts weiter ist als eine reine Bildung der Outicula. Schale mehr oder minder viereckig gestaltet. Der obere und hintere Rand wölben sich etwas vor und bilden bei ihrer Vereini- gung einen kleinen stumpfen Höcker. Die freie untere Kante jeder Klappe in der Mitte eingebuchtet und mit langen von vorne nach hinten an Grösse abnehmenden Borsten versehen, die hinten in feine 74 EYLMANnN: [134 Dornen übergehen und sich auf die hintere Kante bis zu dem Höcker fortsetzen. Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal von nahestehenden Arten bietet die Gestalt und die Bewehrung des Postabdomens. Das konische Endstück von geringer Länge, an dem oberen Rande fein bedornt und an jeder Seite mit 8—11 bedornten Zähnen ausge- rüstet, die nur vorne etwas über den unteren Postabdominalrand hervorragen. Der zweizinkige Zahn ist als kurz zu bezeichnen, da er an Grösse beträchtlich hinter den obigen zurücksteht. End- krallen unten nur fein gezähnelt, und besitzen an der Basis, auf der Oberseite zwei feine Dornen. Die Schwanzborsten bestehen aus zwei Gliedern von ungefähr gleicher Länge; das letzte ist fein und dicht befiedert. Auge nicht sehr gross, enthält aber zahlreiche Krystallkegel. Tastantennen mehr oder minder spindelförmig, lang und fein behaart und von halber Kopflänge. In der Mitte der Oberseite erhebt sich eine lange zarte Sinnesborste; die Tastborsten sind dick und kurz. Das Ephippium umschliesst stets zwei Dauereier. Länge etwa: 1,2—1,5 mm. Männchen. Das Männchen kleiner und schlanker als das Weibchen. Den charakteristischen Unterschied in Betreff der äus- seren Gestalt bietet der Kopf. Derselbe erstreckt sich mehr in die Länge und fällt oben und unten steiler nach den Schalenkanten zu ab. Tastantennen sehr lang (sie erreichen ungefähr die halbe Körperlänge) und in der Mitte knieförmig gebogen. Am freien Ende runden sie sich ab und besitzen ausser den Tastborsten noch eine Bewehrung von 5—6 nach innen gerichteten Häkchen. Auf der Oberseite der Krümmung trägt die Antenne zwei Borsten, von denen die proximale kurz und geknöpft, die distale hingegen lang und spitz ist. Erstes Fusspaar mit einem beweglichen Haken und einer langen Geissel ausgerüstet. Fundorte. Baden: Tümpel auf dem Schlossberge bei Freiburg, Hanflöcher bei Hugstetten. Schweiz: Lehmgrube bei Zug. Moina rectirostris, O0. F. Müller. 1785. Daphnia rectirostris, OÖ. F. Müller: Entomostraca seu insecta testacea etc. pag. 92, tab. XI, fig. 1—3. 1820. Monoculus rectirostris, Jurine: Histoire des monocles etc. pag. 101, tab. XII, fig. 3, 4. 135] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 25 1835. Pasithea rectirostris, Koch: Deutschlands Crustaceen. H. XXXV, tab. 24. 1850. Moina rectirostris, Baird: British Entomostraca. pag. 101, tab. XI, fe51,2. 1851.2 Daphnia rectirostris, Fischer: Bemerk. über einige weniger genau ge- kannte Daphnien. pag. 105, tab. III, fig. 6, 7. 1860. Daphnia rectirostris, Leydig: Naturg. d. Daphniden. pag. 174. tab. X, fg. 76, 77. 1868. Moina brachiata, P. E. Müller: Danmarks Cladocera. pag. 133, tab. II, fig. 22. 1872. Daphnia rectirostris, Fric: Krustenth. Böhmens. pag. 235, fig. 39. 1875. Moina rectirostris, Kurz: Dodekas neuer Cladoceren. pag. 12, tab. I, fie. 11. 1875. Moina rectirostris, A. Hudendorff: Beitrag z. Kenntn. d. Süsswasser- cladoc. Russlands. pag. 14. 1877. Moina rectirostris, Gruber u. Weismann: Ueber einige neue oder un- vollkommen gekannte Daphniden. pag. 52, tab. III, fig. 3, 4; tab. IV, fig. 5, 7, 7A, 10; tab. V, fig. 17, 19, 21; tab. VI, fig. 22, 23, 24. 1877. Moina rectirostris, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 54. 1877. Moina rectirostris, Schoedler: Zur Naturg. d. Daphniden. pag. 4. Körper ziemlich gross und krystallhell. Kopfkante oberhalb der Darmcoeca tief eingebuchtet. Der hinter den Tastantennen ge- legene Abschnitt der unteren Kopfkante läuft in paralleler Rich- tung mit der gegenüberliegenden oberen Kopfkante nach hinten. Ephippium umschliesst nur ein Dauerei. Moima rectirostris wurde von namhaften Systematikern für identisch mit der nahestehenden M. brachiata gehalten. Erst Wris- MANN und GRUBER zeigten, indem sie auf den Unterschied, der in der Anzahl der producirten Wintereier besteht, hinwiesen, dass beide Formen mit vollkommenem Rechte als besondere Arten hingestellt werden können. Weibchen. Körper etwas kleiner als der von M. paradoxa und krystallhell mit einem leichten violetten Anfluge. Der Kopf erreicht ungefähr zwei Drittel der Breite der Schalenklappen und wird vom Thorax durch eine tiefe Einkerbung abgegrenzt. Die Stirn wölbt sich weit vor und ruft dadurch unmittelbar oberhalb des freien Endes der Darmcoeca eine tiefe grubenartige Einsenkung der oberen Kopfkante hervor. Von da verläuft die Kante mit einer schwachen Neigung zur Bildung einer Einbuchtung beinahe in ge- rader Richtung bis zum Beginn des Ausschnittes zwischen Kopf und Thorax. Der untere Kopfrand wölbt sich der Ansatzstelle der Tast- antennen gegenüber stark vor und erzeugt hinten eine verhältniss- mässig kleine Oberlippe. Die Schalenklappen haben, ebenso wie bei der vorigen Art, 76 EyLmann: [136 eine viereckige Gestalt, doch weichen sie in Betreff der Bewehrung insofern von derselben ab, als hier die Borsten an der Unterkante nicht so dicht stehen. Auch die Ruderantennen bilden durch ihre geringere Entwickelung ein Unterscheidungsmerkmal. Besonders charakteristisch ist die Gestalt und Bezahnung des Postabdomens. Das konische Endstück ist sehr lang und jederseits mit 10—14 bedornten Zähnen bewaffnet, die aber nur in der Nähe der Basis der Endkrallen die untere Postabdominalkante etwas über- ragen. Der zweizinkige Zahn übertrifft dieselben an Grösse. Die Endkrallen tragen oben an der Basis mehrere feine nach vorne ge- richtete Dornen und an den Unterkanten ausser einer feinen Be- zabnung an der Wurzel einen Kamm von 10—12 breiten, von vorne nach hinten an Grösse abnehmenden Dornen, der ungefähr ein Drittel der ganzen Länge der Kralle einnimmt. Die Schwanz- borsten und die Verschlussfalte haben dieselbe Beschaffenheit wie bei M. paradoxa. Was das Auge anbetrifft, so gleicht es im grossen Ganzen dem der schon mehrfach erwähnten Species, während die Tastan- tennen verhältnissmässig länger sind und am freien Ende sich ein wenig zuspitzen. Das Ephippium umschliesst stets nur ein Dauerei. Darmceoeca nicht sehr lang und wenig oder gar nicht gekrümmt. Länge etwa: 1,2—1,35 mm. Männchen. Beim Männchen finden sich dieselben Einbuch- tungen an der oberen Kopfkante vor wie beim Weibchen, doch ist die vordere stärker ausgeprägt, da der Kopf sich mehr in die Länge erstreckt und die Stirn sich stärker vorwölbt. Von dem Männchen von M. paradoxa unterscheidet es sich dadurch, dass die knieförmige Krümmung der Tastantennen sich nicht in der Mitte derselben be- findet, sondern mehr dem proximalen Ende genähert ist. Erstes Fusspaar nur mit einem Haken ausgerüstet. Fundorte. Nassau: Tümpel bei Frankfurt a. M. Moina brachiata, Jurine. 1820. Monoculus brachiatus, Jurine: Histoire des monocles etc. pag. 131, tab. XI, fig. 1—2. 1820.2 Daphnia macrocopus, Straus: Memoire sur les daphnia ete. Seconde partie. pag. 161, tom. V, tab. XXIX, fig. 29, 30. 1848. Daphnia brachiata, Lievin: Die Branchiop. d. Danziger Gegend. pag. 29, tab. VI, fig. 7—9. 137] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. rt 1850. Moina brachiata, Baird: British Endomostraca. pag. 102, tab. IX, fig. 1, 2. 1860. Daphnia brachiata, Leydig: Naturg. d. Daphniden. pag. 166, tab. IV, fig. 39; tab. V, fig. 40—43. 1370. Moina brachiata, Lund: Bidrag til Cladocerernes Morphologie og Syste- matik. pag. 162, tab. VII, fig. 1, 2, 3, 4. 1872. Daphnia brachiata, Fri@: Krustenth. Böhmens. pag. 235, fig. 38. 1877. Moina brachiata, Schoedler: Zur Naturgesch. d. Daphniden. pag. 4. 1877. Moina brachiata, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 53. Körper wenig durchsichtig und grünlich gefärbt. Kopfkante oberhalb der Darmcoeca tief ausgeschnitten. Untere Schalenränder nur bis zur Mitte mit Borsten besetzt. Ephippium umschliesst stets zwei Dauereier. Körper sehr wenig durchsichtig und grünlich gefärbt. Kopf und Ruderantennen haben dieselbe Beschaffenheit wie bei M. recti- rostris. Die Schalenklappen weichen insofern von denen dieser Art ab, als die freien unteren Ränder nur ungefähr bis zur Mitte mit Borsten besetzt sind. Am Postabdomen ist in der Regel die An- zahl der bedornten Zähne eine grössere, wohingegen der Neben- kamm an der Basis der Endkrallen etwas an Länge zurücksteht. Das Ephippium enthält stets zwei Dauereier. Länge etwa: 1,5—1,4 mm. Das Männchen hat viel Aehnlichkeit mit dem von M. recti- rostris, doch kann man es leicht an der Anzahl der Sinnesborsten auf der convexen Seite der Tastantennen erkennen. Nach Leyvıs sind nämlich bei der in Rede stehenden Species stets drei vor- handen, während bei der andern immer nur zwei angetroffen werden. Moina mierura, Kurz. 1875. Moina micrura, Kurz: Dodekas neuer Cladoceren. pag. 13, tab. I, fig. 1. 1877. Moina micrura, Hellich: Die Cladoc. Böhmens. pag. 56. 1877. Moina micrura, Schoedler: Zur Naturg. d. Daphniden. pag. 7. 1878. Moina micrura, Lutz: Beobacht. über d. Cladoc. d. Umg. v. Leipzig. pag. 38. Körper klein und hyalin. Kopf gross und oberhalb der Darm- coeca wenig oder gar nicht eingebuchtet. Mit Nebenkamm an der Basis der Endkrallen. Endstück des Postabdomens kurz und mit 5—6 bedornten Zähnen bewehrt. Körper etwas kleiner als der der oben genannten Arten und ganz farblos. Der Kopf hat einen beträchtlichen Umfang und 78 EyLMmann: [138 buchtet sich auf der dorsalen Seite, oberhalb der Darmcoeca, nur sehr wenig ein, auf der unteren dagegen bildet er zwischen der Ansatzstelle der Tastantennen und der Öberlippe einen nicht un- bedeutenden Ausschnitt. Schalenklappen, die vom Kopfe durch eine tiefe Einkerbung auf dem Rücken geschieden werden, in der Jugend fast viereckig, im Alter hingegen nehmen sie mehr eine runde Form an, da die dorsale Partie durch die in grosser Anzahl vorhandenen Sommer- eier weit vorgewölbt wird. Die freien unteren Ränder der ganzen Länge nach mit kurzen Dornen besetzt und hinter diesen noch mit einer sehr feinen Bezahnung versehen. Postabdomen klein und besitzt an dem kurzen Endstück jederseits eine Bewehrung von 5—6 bedornten Zähnen, die hinter dem zweizinkigen Zahne sehr an Länge zurückstehen. Die Endkrallen tragen einen Nebenkamm, der etwa sechs grosse Dornen zählt, und an der Oberseite der Basis einen einfachen Dorn. Tastantennen kurz, dick und von spindelförmiger Gestalt. Auge verhältnissmässig klein, aber mit sehr zahlreichen Krystallkegeln ausgestattet, die weit aus dem Pigmente hervorragen. Die Bildung des Ephippiums blieb Kurz unbekannt, auch Herricn sagt nichts darüber. Länge etwa: 0,58—0,61 mm. Das Männchen wurde noch nicht beobachtet. Moina Liljeborgii, Schoedler. 1853. Daphnia brachiata, Liljeborg: De crustaceis ex ordinibus tribus: cela- docera, ostracoda et copapoda etc. pag. 37, tab. II, fig. 4, 5. 1858. Moina brachiata, Schoedler: Die Branchiop. d. Umg. v. Berlin. pag. 27. 1877. Moina Liljeborgii, Schoedler: Zur Naturg. d. Daphniden. pag. 5, fig. 9, 9 a—c, 10. Kopf ziemlich niedrig, stark nach unten geneigt und oberhalb der Darmcoeca tief ausgeschnitten. Der hinter den Tastantennen gelegene Abschnitt der unteren Kopfkante wendet sich unter einem stumpfen Winkel nach oben. Diese Art ist im Habitus der M. rectirostris und M. brachiata im grossen Ganzen ähnlich, doch unterscheidet sie sich schon auf den ersten Blick durch den etwas niedrigeren, stark nach unten geneigten Kopf, dessen Unterkante unmittelbar hinter der Insertions- stelle der Tastborsten durch Bildung eines stumpfen Winkels nach 139] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 79 oben biegt und mit einer gut ausgebildeten, nach hinten gerichteten Lippe endet. Die Schalenklappen zeigen eine den Simocephalen analoge Querstreifung. Das Ephippium umschliesst, wie bei M. rec- tirostris, nur ein Dauerei. Im Uebrigen sind keine wesentlichen Unterschiede von den beiden oben genannten Species vorhanden. Das Männchen ist leicht an dem geraden, nach vorne gerich- teten Kopf, den langen Tastantennen und der Bewehrung des ersten Fusspaares, die in einem Haken und einer kurzen Borste besteht, zu erkennen. Moina longicollis, Jurine, und Moina bathycola, Vernet. 1820. Monoculus longicollis, Jurine: Histoire des monocles etc. pag. 136, tab. XIII, fig. 5, 6. 1860. Daphnia longicollis, Leydig: Naturg. d. Daphniden. pag. 191. 1877. Moina longicollis, Schoedler: Zur Naturg. d. Daphniden. pag. 9. 1879. Moina bathycola, Vernet: Endomostr. de la faune profonde du lac Leman et description de la Moina bathycola. pag. 526, tab. II, fig. 23. Moina longicollis und M. bathycola weichen im Bau des Kopfes, der Ruderantennen und des Abdomens so wesentlich von der obigen Gattung ab, dass sie, wenn die in den Zeichnungen beider Autoren dargestellten Eigenthümlichkeiten sich bestätigen sollten, — Vernet sagt von seiner Art: „Je n’ai malheureusement pas pu suffisamment l’etudier, je n’en ai eu que peu d’exemplaires* — mindestens eine neue Gattung bilden müssten. Ueber die geographische Verbreitung der Daphniden lässt sich nur wenig sagen, da die Fauna derselben nur in einigen Ländern, wie Dänemark, Norwegen, Böhmen und Theilen von Deutschland genau erforscht ist. In der Tabelle auf Seite 80 habe ich eine Uebersicht über das Vorkommen der Daphniden in den einzelnen Ländern Europas, soweit es bis jetzt bekannt ist, zu geben versucht. Aus derselben ergiebt sich, dass Daphnia ungleich weniger häufig angetroffen wird als Simocephalus, Scapholeberis, Ceriodaphnia und Moina. Dieses hat wohl darin seinen Grund, dass die meisten Arten der erstgenannten Gattung zu den Seeformen zu zählen sind, 80 EyLmann: [140 en A Emil SIE ARIAEEIEIPIFNEIE Alois Arten BRISEIHEBRIHHISEIHBIERIHIRIHIBE SG HIE ABIBIEIHBIEIEIHEIBIBIBIGIEIFIBEIEIE SEI sale |\slalaısıgleisı:läl2lslselälsj@lEjglals FFIR EMS el EEE SE RES EEE >| 2] KFFREEFFER | | RORRF 1 Daphnia Schaefferi +41 11-1 || A u a u Ba u Da a m au a ni a um 2 n magznma ||| 1—1— Zee ee E 3 5 Atkinsnü |—1——|—|— — je --[-141-]] Ze 4 s psittacea Bi a a a RI Pa a I I 0 he 5 ” pennata lee ra Ei —+[—1— |||) | 44/12] || 6 = hastata a ee Ze 7 D pulex J u u Du u u u De a na no 0. 8 - eurvirostris 11|1|41 |—|— Ze —_ je 9 a Schoedleri 1-1 22la]l2]- [else 10 n ovata ——1—1— ||| —1—|— 11 — 1) ||| |— a 11 5 obtusa 11-11 [| |||) || +1] —141 | 12 n gibbosa || — | — 1111|) | —1— |||) -- el] ae 13 ö ventricosa er Seele il 14 ” caudata | ai tie om mm an oo a m || m | m | Ze lemiieeilanıı 15 „ „ Jonsispina || # 4121|) ) 7 1112177 EFEISEREEe 16 . rosea DE Dr re ee Fr Pe Pe ee a er 17 8 aquilina Ze a ie ——4/-1-|41-j— | 18 n lacustris — ee ee Ze ee 19 n hyalina De PR Pr Pe FE Pe VE rg ee TE Da TE DE DS U ES 30 2 paludicola car fassen — 21 a cavifrons ei ee See —$ Be en EI 2 32 h carinata | [ee > ee ge ee [el | Bear ee 93 n mierocephala | —1— ||| | || _| 11 _/_/—/ [4 | IL] || 24 + Kahlbergensis [14/14/4114 114-1 -/+/ 41141114 95 h; Cederstroemi ||—|——_ ||| ||| | | _|—| 11-1 4/— 11/41) 36 h Berolinensis I 4111141111411 ||| 27 - eueullata 1 [14/1 1/4) ||] 4 4/1414) 28 R longiremis ——-— || 1/11) 1 [- |) [1 [| 28) 1) _ 29 Simocephalus vetulus +++ +441—1=1+H1414J—1 41411-144141 H1+ 1/14 IH + 30 » sermalatus HIHI 1414 111-141 HH HH 31 = exspinosus |-— — ++ re | 1 | Er Ser ee 32 Scapholeberis mucronata +++ ++ 4141112171114 H HH 33 5 obtusa PP PP EP PP FE Be ee 34 e aurita a 22 ——1—/—[—[-[4+ |] 1) /41 35 .| Ceriodaphnia latiecaudata ||| 14/1411 11-11-1114 14141141141 36 n retienlata HH] 1-14 EREIRI— 37 n pulchella IH HH HH JR HS Re 38 a quadrangula 1414/11 1414111421411 /4 14111414 39 n Fischeri — [| 22 ee ae ee 40 " rotunda 1 — |] ||| _| ||] 1) [41 [4/41 41 5 punctata Km EP EP RE PR DE PP PT TE a 12 » mes II -4-1-.41-11 111-1444 HI — 43 Moina paradoxa +++] +1) | — A FE Pr Dee PT N u EP 44 „ rectirostris [41 1+4/—| 1 ||) /|41/4/ 4142/41141 45 „ brachiata 11-111) 1111-141] [H 4 [4 #14 111] 46 r mierura B —-— +12 1121 2/-1-|—[- [11141 111 [ | 47 „ Liljeborgü II NN | | | | RN IE en 141] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 81 während die der letztgenannten Gattungen entweder den Uebergang von der See- zur Uferform vermitteln oder dieser ausschliesslich angehören. Im Laufe meiner Arbeit drängte sich mir die Ueberzeugung immer mehr auf, dass sämmtliche Daphniden eine grosse Neigung zur Bildung von Localvarietäten besitzen, und zwar sind die Abweichungen nicht auf einen bestimmten Körpertheil beschränkt, sondern sie erstrecken sich auf alle Organe — bald ist es die Beschaffenheit des Kopfes, bald die Form der Schalenklappen, bald die Gestalt und Bewehrung des Postabdomens, bald die Grösse und Ausrüstung der Glied- massen etc., die Anlass zur Bezeichnung als Varietät geben. Je- doch sind die Differenzen, die bei Individuen desselben Wohnortes, z. B. eines grossen Sees, vorkommen, nur von geringer Bedeutung und finden sich immer nur bei einzelnen Exemplaren. Vergleicht man hingegen zwei Daphniden einer Art von entfernt liegenden Wohnstätten mit einander, so sind die Unterschiede oftmals so bedeutend, dass man anfangs im Zweifel ist, ob man Individuen gleicher oder verschiedener Species vor sich habe, und nicht selten erst dann Aufschluss darüber geben kann, wenn man Zwischenstufen aus anderen Localitäten gefunden hat, die einen allmählichen Ueber- gang von der einen zur anderen Form vermitteln. Diese Localvarie- täten, die sich besonders häufig bei der Gattung Daphnia finden, veranlassten, dass manche Spielarten als neue Species beschrieben wurden. Im Folgenden werde ich ein sehr typisches Beispiel von localer Zerspaltung in viele Varietäten einer Daphnia anführen. Ich meine D. hyalina. Es ist dies jene Art, die sowohl in Norwegen und Dänemark als auch in Deutschland, der Schweiz und Böhmen vor- kommt und deren Varietäten die Aufstellung einer ganzen Reihe neuer Species veranlasst haben. Den Grund dieser vielfachen Ab- weichungen haben wir wohl darin zu suchen, dass sie ausschliesslich auf Seen beschränkt ist, und in Folge dessen die Isolirung in manchen Gegenden fast vollkommen ist, und damit recht günstige Bedingungen zur Entstehung neuer Formen gegeben sind. Sars stellte in seiner „Zoologisk Reise i Sommeren 1862“ eine D. galeata auf, die insofern von D. hyalina, Leyvıs, abweicht, als der Helm in eine Spitze ausläuft und die untere Kopfkante sich tief einbuchtet. Nach diesem Autor wurden noch gleichbenannte Formen von P. E. Müruer, Kurz und Heruıcn beschrieben, die aber sämmtlich mehr oder minder grosse Abweichungen sowohl von Berichte II. Heft 3, 6 (10) 82 EyLMmann: [142 der Sars’schen als auch unter einander zeigen. Bei der Müruer’schen Form ist der Helm mit einem scharfen Dorne versehen und die Kopfkante unterhalb des Auges stark vorgewölbt, auch die Körper- grösse ist viel geringer. Die von Kurz beobachtete Daphnia schliesst sich in Betreff der Grösse der Mürzer’schen an, ist aber nur in der Jugend mit einem Dorne auf der Helmspitze ausgerüstet. Die von Heruıca stimmt im grossen Ganzen mit dieser überein. Letzt- genannter Forscher führt ausserdem noch drei Varietäten seiner Art an, von denen bei Varietät I der Kopf gehelmt, die Helmspitze ab- gerundet, bei Varietät II der Kopf gehelmt, die Helmspitze scharf und bei Varietät III der Kopf abgerundet ist. Im Herbste 1885 fischte ich im Zuger See eine Daphnia mit hohem Kopfe und langem krummen Schnabel, von der ich zuerst glaubte, sie als neue Species ansprechen zu müssen; erst als ich im Züricher See eine Zwischenform von jener und D. hyalina antraf, erkannte ich, dass ich es in beiden Fällen nur mit mehr oder minder abweichenden Varietäten der letzteren zu thun hatte. Die Varietät aus dem Züricher See bildete ferner eine Verschmelzung der von Hrrrıcn als D. gracilis und der von demselben Autor als Varietät III von D. galeata beschriebenen Form. Somit ergab sich, dass D. hya- lina, D. gracilis und D. galeata eine Gruppe von Varietäten bilden, die durch ihre sehr nahe Verwandtschaft darauf hindeuten, dass sie von einer Art gemeinsam ihren Ursprung genommen haben. In neuerer Zeit fand Lurz, dass auch Uebergänge von D. hya- lina zu D. pellucida, einer Form mit bezahnten Endkrallen, vor- handen sind. | Es ist vielleicht nicht ohne Interesse, die hier dargelegten Ergebnisse mit den Resultaten zu vergleichen, zu denen NüssLın in Bezug auf eine ganz andere Thiergruppe gekommen ist. In seinen „Beiträgen zur Kenntniss der Coregonusarten des Bodensees und einiger anderer nahegelegener nordalpiner Seen“ !) gelangt der Verfasser bei einer Gattung der Salmonidenfamilie, und zwar bei Coregonus, zu ähnlichen Resultaten, wie die obigen, indem er findet, dass der betreffende Fisch eine grosse Neigung zur Bildung von Localvarietäten besitzt. Anfangs war er im Zweifel, als er in den verschiedenen Seen, in denen er seine Untersuchungen anstellte, in jedem einzelnen eine von denen der anderen abweichende Form !) Zoologischer Anzeiger. Jahrgang V. 1882. Nr. 86, 106, 130, 164, 182, | 207, 253, 279, 302. 143] BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 83 vorfand, ob er es mit Spielarten oder mit scharf begrenzten Species zu thun habe, und erst durch fortgesetzte Beobachtungen kam er zu dem erwähnten Schluss. Was die Gattungen der Daphniden anbetrifft, so kann man im Allgemeinen sagen, dass sie vollberechtigt dastehen, und es bei manchen noch fraglich ist, ob sie nicht nähere Beziehungen zu denen anderer Familien der ÖOladoceren als untereinander besitzen. Vorstehende Arbeit wurde im Winter 1885/86 im zoologischen Institut der Universität Freiburg ausgeführt. Bei dieser Gelegenheit möge es mir gestattet sein, meinem hochverehrten Lehrer Herrn Geheimrath Weısmans, Herrn Pro- fessor GrUBER und Herrn Privatdocent Dr. Korscheur für den Rath und die Hülfe, die sie mir zu Theil werden liessen, meinen besten Dank auszusprechen. 62210) Literaturverzeichniss. 1778. C. de Geer: Memoires pour servir & l’histoire des Insectes. Stockholm. 1785. Otho Fridericus Müller: Entomostraca seu insecta testacea, quae in aquis Daniae et Norvegiae reperit, descripsit et iconibus illustravit. Lipsiae et Havniae. 1819— 1820. Straus: Memoires sur les Daphnia de la classe des Crustaces In: Memoires du Museum d’histoire naturelle. Tome cinquieme et sixieme. Paris. 1820. L. Jurine: Histoire des Monocles, qui se trouvent aux environs de Geneve. C. tab. 22 col. Geneve et Paris. 1835 — 1841. Deutschlands Crustaceen, Myriapoden und Arachniden. Regensburg. 1847. Sebastian Fischer: Ueber die in der Umgebung von St. Petersburg vorkommenden Crustaceen aus der Ordnung der Branchiopoden und Entomostraceen, mit Zeichnungen nach der Natur begleitet. In: Me- moires presentes & l’Academie imperiale des sciences de St. Petersbourg par divers savants et lus dans ses assemblees. Tome VI. Saint-Peters- bourg. 1851. 1848. Lievin: Die Branchiopoden der Danziger Gegend. Mit elf Tafeln. In: Neueste Schriften der Naturforschenden Gesellschaft in Danzig. Danzig. 1849. Sebastian Fischer: Abhandlung über eine neue Daphnienart, Daphnia aurita, und über Daphnia longicomis, Jurine, mit Zeichnungen nach der Natur begleitet. In: Bulletin de la societe imperiale des naturalistes de Moscou. Tome XXI. 1850. W. Baird: The Natural History of the British Entomostraca. London. 1851. Sebastian Fischer: Bemerkungen über einige weniger genau gekannte Daphnidenarten. In: Bulletin de la societe imperiale des naturalistes de Moscou. Tome XXIV. 1852. Jam. Dana: Crustacea. In: United States Exploring Expedition 1838 bis 1842. Vol. XIII. Philadelphia. 1853. W,Liljeborg: De Crustaceis ex ordinibus tribus: Cladocera, Ostracoda et Copepoda in Seania occurrentibus. Lund. Cum 27 tab. lith. 1854. Sebastian Fischer: Ergänzungen, Berichtigungen und Fortsetzung zu 145] EyLmann: BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. 85 1854. 1858. 1860. 1862. 1863. 1865. 1866. 1868. 1869. 1870. 1871. 1872. 1875. 1875. 1877. 1877. 1877. 1877. 1878. 1879. der Abhandlung über die in der Umgebung von St. Petersburg vorkom- menden Crustaceen ete. In: M&moires presentes ä l’Acad&mie imperiale des sciences de St. Petersbourg par divers savants et lus dans ses as- semblees. Tome VII. Idem: Abhandlung über einige neue oder nicht genau gekannte Arten von Daphniden und Lynceiden, als Beitrag zur Fauna Russlands. In: Bulletin de la societe imperiale des naturalistes de Moscou. Tome XXVII. Schoedler: Die Branchiopoden der Umgegend von Berlin. Beitrag I. In: Jahresbericht über die Louisenstädtische Realschule. Berlin. Leydig: Naturgeschichte der Daphniden. Mit 10 Kupfertafeln. Tübingen. Sars: Om Crustacea Cladocera, iagttagne i Omegnen af Christiania. In: Forhandlinger i Videnskabsselskabet i Christiania. 1861. Sars: Om en i Sommeren 1862 foretagen zoologisk Reise i Christianias og Frondhjems Stifter. Christiania. Schoedler: Zur Diagnose einiger Daphniden. In: Wiegmann’s Archiv für Naturgeschichte. XXXI. Jahrg. Schoedler: Cladoceren des frischen Hafts nebst Bemerkungen über ander- weitig vorkommende verwandte Arten. In: Wiegmann’s Archiv für Natur- geschichte. XXXII. Jahrg. E. P. Müller: Danmarks Cladocera. In: Schioedte’s Naturhistorisk Tidsskrift. Tredie Raekke, femte Bind. Med XXIV Tavler. Kjoeben- havn. Plateau: Recherches sur les Crustaces d’eau douce de Belgique. In: Mem. couronne et des &trang. de l’Acad. de Belgique. XXXIV. 1870. XXXV. 1871. Lund: Bidrag til Cladocerernes Morphologie og Systematik. In : Schioedte's Naturhistorisk Tidsskrift. III. Raekke. VII. Bind. Fri@: Ueber die Fauna der Böhmer Waldseen. In: Sitzungsberichte der k. böhm. Gesellschaft der Wissenschaften. Prag. Frit: Die Krustenthiere Böhmens. In: Archiv der naturw. Landesdurch- forschung von Böhmen. II. B. IV. Abth. Kurz: Dodekas neuer Cladoceren nebst einer kurzen Uebersicht der Cladocerenfauna Böhmens. In: Sitzungsberichte d. k. k. Academ. der Wissenschaften in Wien. Math. naturw. Classe. 1. Abth. Mit 3 Taf. Alexander Hudendorff: Beitrag zur Kenntniss der Süsswasserclado- ceren Russlands. Schoedler: Zur Naturgeschichte der Daphniden. In: Programm Nr. 77 der Dorotheenstädtischen Realschule. Berlin. Weismann: Beiträge zur Naturgeschichte der Daphnoiden. In: Zeit- schrift für wissenschaftliche Zoologie. Gruber und Weismann: Ueber einige neue oder unvollkommen ge- kannte Daphniden. Pavesi: Intorno all’ esistenza della fauna pelagica o d’alto lago anche in Italia. Dal Bull. Entomol., An. IX. Weismann: Ueber die Schmuckfarben der Daphnoiden. Mit 1 Tafel. In: Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie. 30. B., Supplement. Pavesi: Nuova serie di ricerche della fauna pelagica nei laghi italiani. In: Rendiconti del R. Istituto lombardo. Serie II. Vol. XII, fas. XI—XII. 86 Erımann: BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. [146 Milano. Estratto dai Rendiconti del R. Instituto Lombardo. Serie II. Vol. XII, fasc. XI—XL. 1879. Pavesi: Ulteriori studj sulla fauna pelagica dei laghi italiani. Rendiconti del R. Instituto Lombardo. Serie II. Vol. XII, fasc. XVI. Milano. Estratto dai Rendiconti del R. Instituto Lombardo. Serie II Vol. XII, fasc. XI. Pavesi: Altra serie di ricerche e studj sulla fauna pelagica dei laghi italiani. Padova. In: 1881. Tafelerklärung. Durchgehende Bezeichnungen. Ab. Abdominalfortsatz. H. Herz. Af. After. ' Ho. Hoden. Au. Auge. N. Nebenauge. B. Bezahnung des Postabdomens. Nkı. erster Nebenkamm. C. Coecum des Darmes. Nka. zweiter Nebenkamm. Eb. Endborste s. Schwanzborste. O0. Ovarıum. Ek. Endkralle. ' R. Ruderantenne. Ep. Ephippium. Sch. Schnabel. F. Fomix. ' T. Tastantenne. Fı. erstes Fusspaar. ' V. Verschlussfalte. G. Gehirnganglion. 4 [u Be RE aD EST 00 Ten Te Tafel III. Kopf von Daphnia Schaefferi 2. Schalenstachel von Daphnia Schaefferi. Schalenstachel von Daphnia Schaefferi var. Postabdomen von Daphnia Schaefferi. Daphnia pulex 2. Daphnia pulex f. Daphnia curvirostris 2. Daphnia cuvirostris S. Postabdomen von Daphnia caudata. Daphnia caudata 9. Postabdomen von Daphnia Berolinensis. Kopf von Daphnia hyalina f. Kopf von Daphnia hyalina, Varietät aus dem Zuger See. Postabdomen von Daphnia longispina. 88 Eyımann: BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. [148 3 a ae Tafel IV. Daphnia Berolinensis 2. Daphnia cuculata 2. Daphnia hyalina 2. Daphnia Kahlbergensis 2. Scapholeberis mucronata 2. Kopf von Simocephalus serrulatus 2. Kopf von Simocephalus exspinosus 2. Kopf von Ceriodaphnia pulchella 2. Postabdomen von Ceriodaphnia reticulata. Postabdomen von Ceriodaphnia megops. Tastantenne des Männchens von Ceriodaphnia laticaudata. Ceriodaphnia laticaudata 2. Tafel V. Simocephalus vetulus 2. Postabdomen von Moina rectirostris. Moina paradoxa 2. Kleinere Mittheilungen über Protozoen- Studien. Von Dr. August Gruber, Professor der Zoologie in Freiburg i. B. Mitellartel AV 1. Der Encystirungsprocess bei Euglypha alveolata. Der Encystirungsprocess ist bei der bekannten Süsswasser- Monothalamie Euglypha alveolata schon vor längerer Zeit von CARTER!) und später genauer und richtiger von Hrrrwıs und Lesser ?) beobachtet worden. Wie die Letzteren mit Recht her- vorheben, besteht das Eigenthümliche des Processes bei diesem Rhizopoden darin, „dass die Cyste nicht direct in die Schale des Thieres zu liegen kommt, sondern ausserdem noch einmal von einer weiteren, vollkommen geschlossenen, zweiten Schale umhüllt wird“. In dieser liegt der Protoplasmakörper zur Kugel zusammengezogen und mit der eigentlichen Cystenhülle umgeben. Wie Herrwıs und Lesser richtig bemerkten, besteht die innere Schale ganz aus den- selben Plättchen, wie die äussere, wiederholt diese also in etwas kleinerem Masse und mit dem Unterschied, dass sie sich vornen eiförmig zusammenschliesst und der weiten Mündung entbehrt (Fig. 1). Was die Entstehung dieser inneren Hülle betrifft, so beobachteten Herrwie und Lesser bei Euglypha innerhalb der Schale Plättchen, welche dem Protoplasma des Thieres auflagen und von welchen sie !) Ann. and Mag. of nat. history. II. Vol. 18 u. III. Vol. 13. ?) Hertwıc und Lesser, Ueber Rhizop. u. dens. nahe steh. Org. Arch. f. mikr. Anat. Bd. 10. Suppl. 90 GRUBER: [150 vermutheten, dass sie als Ersatzstücke der Schale aufzufassen seien oder mit dem eben beschriebenen Encystirungsprocess zu- sammenhängen möchten. Wie ich früher gezeigt habe, finden sich diese Plättchen immer zu einer gewissen Zeit im Protoplasma der Euglypha aufgespeichert und sind nichts anderes, als das Material, aus welchem bei der Thei- lung die Schale für das eine Tochterindividuum aufgebaut wird. Diese selben Plättchen können nun ebensowohl bei der Eneystirung verwandt werden, als bei der Theilung und sie bilden dann die vorhin erwähnte innere Schale des encystirten Thieres.. Da nun die aufgespeicherten Plättchen, wie ich das früher erwähnte, ganz genau ebenso zahlreich sind, wie die, welche die fertige Hülle des Thieres zusammensetzen, so frägt es sich, wie es zugeht, dass bei der encystirten Euglypha die innere Schale kleiner ist, als, die äussere. Dies wird dadurch bedingt, dass die Plättchen bei ersterer mehr übereinandergreifen, dichter zusammengeschoben sind und auf diese Weise den Umfang der Schale verringern. Hrrrwıc und Lesser erwähnen einen Unterschied in der Färbung und in dem Verhalten gegenüber chemischen Agentien zwischen den beiden Schalen; sie sagen von der inneren: „Ihre Farbe ist ein lichtes Braun, welches durch Anwendung von Jod und Schwefelsäure intensiv rostbraun wird, während die äussere Schale bei Anwendung des Reagens unverändert bleibt.“ Der Farbenunterschied ist mir nicht so sehr aufgefallen, wenn auch die innere Schale allerdings dunkler erscheint, und zwar aus dem Grunde, weil die Plättchen dichter übereinander liegen; die grössere Empfindlichkeit gegen das obige Reagens beruht wahrscheinlich auf der noch grösseren Weichheit der inneren Plättchen gegenüber denen der alten Schale; leider habe ich aber versäumt, den Versuch nachzumachen, so lange ich noch Material an encystirten Euglyphen hatte, was augenblicklich nicht mehr der Fall ist. Herrwıs und Lesser hatten die Structur der Euglyphaschale überhaupt noch nicht richtig angefasst, da ihnen deren Entstehung unbekannt war, und so deuteten sie auch das innere Gehäuse des encystirten Thieres als aus polygonalen Platten bestehend, welche in der Mitte jedesmal deutlich concav ausgehöhlt seien. Die Plättchen sind aber, wie gesagt, nicht anders als die äus- seren, also wie ich es seinerzeit beschrieb, oval und uhrglasförmig nach aussen gewölbt. Die encystirte Euglypha ist gegen äussere Fährlichkeiten, 751] KLEINERE MITTHEILUNGEN ÜBER PROTOZOEN-STUDIEN. 91 d. h. besonders gegen Austrocknung ausserordentlich gut geschützt, denn einmal wird die ursprüngliche Schale (Fig. 1ä. S.) zu diesem Zwecke durch ein nahe der Mündung gelegenes Diaphragma (D.) abgeschlossen, dann folgt die ebenfalls geschlossene innere Schale (. 8.) und schliesslich noch die eigentliche Cystenhülle (C.). Es fragt sich nun, wie die Euglypha bei Aufgabe des ency- stirten Zustandes sich aus all diesen Hüllen befreien kann. Das Diaphragma und die innerste Cystenhülle können, wie dies auch sonst der Fall ist, gesprengt werden, aber wie verhält es sich mit der inneren Schale? Wird dieselbe sammt der äusseren verlassen, d. h. schlüpft das Rhizopod nackt hervor und baut sich dann erst eine neue Schale? Dies wäre nach den von mir bei der Theilung beobachteten Vorgängen sehr unwahrscheinlich; andererseits kann es aber, von der inneren Schale umkleidet, nicht herausgelangen, es müsste denn sein, dass zuvor das äussere Gehäuse zersprengt würde. Auf diese Frage erhielt ich die befriedigende Antwort, als ich eine grössere Anzahl von encystirten Euglyphen in einem Uhr- schälchen isolirte. Leider konnte ich den ganzen Process nicht direct verfolgen, sondern musste ihn meistens erschliessen, da er sich gerade während eines oder zweier Tage abspielte, in welchem ich das Material nicht controlirt hatte. Sechzehn Tage nämlich, nachdem ich die Euglyphen aus dem grösseren Hand-Aquarium in das Uhrschälchen gebracht hatte, fand ich in letzterem nur noch ganz wenige Cysten, dagegen eine Menge freier Euglyphen, viel mehr, als es vorher encystirte gewesen waren. Leere Schalen waren auf dem Grunde des Gläschens nur ganz wenige, nicht mehr als vorher mit den Cysten hereingebracht worden waren. Die encystirten Euglyphen waren also ausgeschlüpft, ohne die alten Schalen zu zer- sprengen und hatten sich zugleich vermehrt. Wie ich an mehreren Exemplaren, bei welchen der Process noch nicht ganz abgelaufen war, erschliessen konnte, war dies so zugegangen, dass nach Auf- lösung der Cystenhülle das Plasma die innere Schale wieder in ihre Elemente, die Plättehen, zerlegt hatte (Fig. 2). Das Plasma dehnte sich noch weiter aus, erfüllte die alte Schale wieder ganz, löste das Diaphragma auf und nun begann ein Theilungsprocess in der früher von mir beschriebenen Weise, wobei die Plättchen, welche zuerst die innere Schale gebildet hatten, nun zum Gehäuse für das her- vorgeknospte Tochterindividuum verwendet würden. Deshalb war die Vermehrung der isolirten Individuen so rasch vor sich ge- 03 GRUBER: [152 gangen und waren noch mehrere Exemplare in Theilung begriffen. Bei anderen war der Vorgang noch nicht zum Abschluss gebracht, so wie ich dies auf Fig. 2 dargestellt habe. Hier ist die innere Schale schon aufgelöst, die Plättchen liegen dicht zusammen und einige davon sind im Begriffe, nach aussen gebracht zu werden. In dem Aquarium, aus welchem ich die Cysten entnommen hatte, war ebenso eine Abnahme der eingekapselten und eine Zunahme freier Individuen zu beobachten, so dass also hier der Process um dieselbe Zeit eingetreten war, wie in dem kleinen Uhrschälchen. Kurz wiederholt ist also der Vorgang der: die in der Euglypha aufgespeicherten, ursprünglich für die Zweitheilung bestimmten Plättehen werden, wenn Eneystirung erfolgen soll, zur Herstellung der sogenannten inneren Schale verwandt; bei der Aufgabe des encystirten Zustands zerfällt nach Sprengung der Cystenhülle die innere Schale wieder in ihre Bestandtheile, und dieselben werden, da nun sofort eine Theilung der Euglypha erfolgt, nach ihrer eigent- lichen Bestimmung zum Aufbau der Schale für den Tochterspross verwendet. 2. Der Theilungsvorgang bei Difflugia. In einer früheren Arbeit!) über den Theilungsvorgang bei den monothalamen Rhizopoden des süssen Wassers hatte ich ange- nommen, dass auch bei denjenigen Formen, welche sich Gehäuse aus Fremdkörpern, wie Sandkörnern und dergleichen, aufbauen, also vorzüglich bei den Difflugiaarten die Theilung in derselben Weise vor sich gehe, wie bei denen, welche das Material zu ihren Schalen selbst im Plasma erzeugten. Ich nahm an, dass eine Difflugia Sandkörnchen in sich aufnimmt, und wenn sie nun zur Theilung schreitet, dieselben austreten lässt, wie die Euglypha ihre Schalenplättchen und nun das neugebildete Tochterindividuum damit umhüllt. Ein direceter Beweis für diese Annahme lag aber nicht vor, da ich den Theilungsprocess nicht zu verfolgen im Stande war, und ich hatte nur von den übrigen Monothalamien auf die Difflugien geschlossen. Es ist mir zwar auch bis heute noch nicht gelungen, den Vorgang sich abspielen zu sehen, so viele Difflugien ich auch ‘) Die Theilung der monothalamen Rhizopoden. Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. 34. 1882. 153] KLEINERE MITTHEILUNGEN ÜBER PROTOZOEN-STUDIEN. 95 darauf hin untersucht habe, wohl aber sind mir einige Stadien aus dem Process zu Gesicht gekommen, die mir keinen Zweifel mehr darüber lassen, dass ich früher richtig geschlossen hatte. Zunächst erwähne ich einen Fall, wo eine Difflugia vor ihrer Mündung einen kleineren abgerundeten Fortsatz zeigte, welcher schon mit Sandkörnern umgeben war, die aber noch ganz lose zu- sammenlagen; in Folge der Strömung, welche das Ueberführen auf den Objectträger verursacht hatte, zog sie den Fortsatz wieder ein, um ihn aber bald nachher wieder hervorzutreiben; da der Process unter den ungünstigen Bedingungen nicht mehr weiter zu gehen schien, tödtete ich die Difflugia, und es zeigte sich bei der Fär- bung, dass in dem kleineren Spross zwar Plasma, aber noch kein Kern enthalten war. Ungefähr dieselbe Phase der Vermehrung zeigt eine Difflugia, welche ich als Dauerpräparat auf einem Öbjectträger mit einer grossen Menge anderer Exemplare besitze (Fig. 4). Man sieht auch da, wie ein Theil des Plasmas aus der Schale ausgetreten ist und sich vor der Mündung zu einem Klumpen zusammengeballt hat, der bereits die Gestalt und beinahe auch die Grösse des ursprüng- lichen Thieres angenommen hat. Um diesen Theilspross sieht man bereits eine dichte Lage von Sandkörnchen, welche aber noch keinen starren Panzer bilden, wie bei der fertigen Difflugia, sondern noch lose an- und übereinanderliegen. Hätte der Spross sich zum Um- fang des Mutterthiers !) ausgedehnt, so wären die Steinchen auch mehr auseinandergezerrt worden und hätten schliesslich dieselbe Lagerung erhalten wie diejenigen der alten Schale. Dafür, dass die Difflugien wirklich Sandkörner in sich auf- nehmen, findet sich der Beweis in anderen Präparaten, die ich ge- macht habe, und wovon die Fig. 5 eine Darstellung gibt. Es ist da das Gehäuse des Rhizopoden zerbrochen und entfernt worden, dagegen der Weichkörper vollkommen erhalten und da zeigt sich nun, dass in dem hinteren Theil der Difflugia um den Kern her eine Menge Sandkörner liegen, welche das Thier also während des Lebens aufgenommen haben muss. Diese Körnchen liegen also im Difflugienplasma gerade so aufgespeichert, wie die Schalenplättchen der Euglypha oder anderer monothalamen Rhizopoden und werden jedenfalls auch auf dieselbe Weise nach aussen gebracht. ') Dieser Ausdruck sei mir der Kürze wegen gestattet. 94 GRUBER: [154 Räthselhaft bleibt noch, wie es kommt, dass die Difflugia ge- rade soviel Sandkörner aufnimmt, als zum Aufbau der neuen Schale nothwendig sind, zumal es doch unregelmässige Bausteine sind, welche hier verwendet werden; aber schliesslich ist auch dies nicht räthselhafter als das Factum, dass wir bei so niederstehenden, ein- zelligen Wesen überhaupt von einem Kunsttrieb und von Instinkten reden dürfen. 3. Fernere Bemerkungen über das Nervensystem der Infusorien. An anderem Orte!) habe ich die Ansicht ausgesprochen, dass die nervösen Leistungen im Infusorienkörper nicht an bestimmte Bahnen gebunden sind, und dass die Willensäusserung jedes Proto- plasmaelement gleichmässig beherrscht. Noch anders ausgedrückt: es ist kein umschriebenes Centralorgan vorhanden, sondern jedes Plasmatheilchen ist Centralorgan und Leitungsbahn in einer Person, d. h. die nervöse Potenz der Zelle ist eine diffuse. Diese Schlüsse zog ich aus dem Verhalten der Infusorien wäh- rend der Conjugation, der spontanen und künstlichen Theilung, wo- bei es sich zeigt, dass eine wenn auch noch so schmale Plasma- brücke genügt, um übereinstimmende und zweckmässige Bewegungen der beiden Individuen oder Theilstücke zu ermöglichen. Als Ergänzung zu diesen Beobachtungen sei hier ein Experi- ment angeführt, das mir bei späteren Versuchen über künstliche Theilung von Infusorien gelang, und welches zu denselben Schlüssen berechtigt: Ein Stentor coeruleus war der Länge nach in zwei Hälften zerlegt worden, und zwar so, dass der Schnitt ungefähr durch die Mitte des Peristomfeldes verlief. Die beiden so entstan- denen Theilhälften schwammen nun nicht auseinander, sondern ver- einigten sich wieder und heilten sofort zusammen, aber in umge- kehrter Richtung, so dass das Hinterende des einen Stücks mit dem Vorderende des anderen zusammenschmolz und umgekehrt. Das Resultat war ein Stentor, an dessen beiden Enden je eine Hälfte des früheren Peristomfeldes zu sehen war, wie dies die Fig. 3 besser als jede weitere Beschreibung erklären kann. Beobachtete man nun dieses monströse Individuum, so gewahrte 1) S. Beitr. z. Kenntn. d. Physiol. u. Biol. d. Protozoen. Ber. d. naturf. (zes. zu Freiburg i. B. Bd. I. Heft 2. 155] KLEINERE MITTHEILUNGEN ÜBER PROTOZOEN-STUDIEN. 95 man, dass vom Momente der Wiedervereinigung der beiden Theil- stücke an die beiden getrennten Peristomstücke synchronische Be- wegungen machten. Waren die Wimpern des einen in Bewegung, so waren es auch die des anderen, ruhten die einen, so war dies auch bei den anderen der Fall; stiess das Infusorium irgendwo an, so zuckten beide Peristomtheile in demselben Moment zusammen. Am besten und unzweifelhaftesten liessen sich die synchronischen Be- wegungen der betreffenden Wimpern beobachten, wenn man durch Rütteln am Objectträger den Stentor zum Zusammenzucken ge- bracht hatte und nun die allmähliche Wiederentfaltung der Wimper- kränze abwartete. Diese ging nämlich dann vollkommen gleichzeitig an beiden Enden des monströsen Stentors vor sich und ganz zu gleicher Zeit fingen die Wimpern wieder zu schlagen an. Wenn also in demselben Momente, wo die vorher getrennten Stücke sich wieder zusammenschlossen, die beiden nun an entgegen- gesetzten Enden stehenden Theile des Peristoms vollkommen über- einstimmende Wimperbewegungen machten, so war dies ein Beweis, dass keine besonderen Bahnen vorhanden sein konnten, auf welchen ihnen der betreffende Willensimpuls zugeleitet wurde, sondern dass das Plasma als Ganzes die einzelnen Bewegungsorgane beherrscht und nervöse Reize durch jeden seiner Theile gleichmässig vermittelt werden. In der vorhin angeführten Arbeit kam ich auch auf die Art und Weise zu sprechen, wie sich die Infusoriencolonien, z. B. die Volvocinen, bewegen und sprach die Ansicht aus, dass sich die zweckmässigen Bewegungen einer solchen Kugel nur dadurch er- klären lassen, dass die einzelnen an der Oberfläche sitzenden Indi- viduen alle unter sich durch Plasmabrücken verbunden sind, wo- durch dieselbe nervöse Einheit hergestellt werde, wie bei den ein- zeln lebenden Infusorien. Eine solche Volvoxcolonie würde sich also gerade so verhalten wie ein kugeliges holotrisches Infusorium. Dies kann man auch aus folgendem Versuche erkennen: Schneidet man einen Volvox in zwei Stücke auseinander, so sind dieselben nach wie vor im Stande, sich zweckmässig zu bewegen; sie schwimmen vor- und rückwärts, weichen Hindernissen aus, halten plötzlich an u. s. w., ganz wie die unverletzte Colonie oder wie ein von einem Infusorium künstlich abgetrenntes Stück. Eine sensible und motorische Capaeität ist bei der Colonie sowohl wie beim frei lebenden Individuum in jedem Bruchtheil der Masse enthalten, und jeder Bruchtheil regiert sich selbst, weil es in Folge der Plasma- 96 GRUBER: [156 brücken, welche die Einzelindividuen verbinden, als zusammen- hängende Plasmamasse aufgefasst werden muss. Wären die einzelnen Flagellaten einer Volvoxcolonie nicht protoplasmatisch miteinander verbunden, so würde das Schwimmen auf Einzelbewegungen beruhen, welche in Folge von Anpassung eine harmonische Gesammtwirkung hervorbrächten, so wie dies z. B. bei einer Siphonaphorencolonie der Fall ist, aber schwerlich würden dann die Bewegungen so mannigfaltige sein und ihre Zweckmässig- keit müsste durch ein Zerschneiden der Kugel, wie ich dies vorhin beschrieben habe, jedenfalls vollkommen gestört werden. 4. Die Artunterschiede bei den Amöben. In einem früheren Aufsatze !) habe ich eine Anzahl Süss- wasser-Amöben genau beschrieben und zu zeigen versucht, dass sich auch bei diesen Protozoen, so wechselnd ihre Gestalt ist und so ähnlich sie oft untereinander sind, bestimmte und constante Art- unterschiede feststellen lassen. „Die Diagnose einer Amöbe,* sagte ich, „hat sich auf verschiedene Punkte zu gründen, auf den mitt- leren Körperumfang, auf die Consistenz des Protoplasmas und die dadurch bedingten Bewegungserscheinungen, auf die Art der Ein- schlüsse im Protoplasma, als Vacuolen, Körnchen, Krystalle, ja so- gar parasitisch oder symbiotisch lebende Pilzfäden und die Nahrungs- bestandtheile; hauptsächlich aber auf die Zahl, Grösse und den Bau der Kerne.“ Obgleich ich schon damals diese Behauptung auf Grund meiner Untersuchungen mit Entschiedenheit aussprechen konnte, so habe ich doch, um etwaigen Einwänden mit noch grösserer Sicherheit entgegentreten zu können, mein Augenmerk noch weiter auf diesen Punkt gelenkt, und bin in der Lage, die oben angeführten Sätze vollkommen bestätigen zu können. Seit ich jene oben erwähnten Studien gemacht, sind beinahe drei Jahre verflossen, und in diesem Zeitraum habe ich die verschiedenen Amöbenarten immer wieder und zu jeder Jahreszeit untersucht und stets unverändert gefunden. Die von mir aufgestellten Arten waren immer deutlich von einander geschieden und die Artcharaktere bei der Bestimmung untrüglich. Hauptsächlich waren es die vielkernigen Amöben (A. prima, se- !) Studien über Amöben. Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. 41. 1884. 157] KLEINERE MITTHEILUNGEN ÜBER PROTOZOEN-STUDIEN. 97 cunda etc.) und die zweikernige (A. binucleata), welche mir der alte Fundort immer wieder lieferte. Ausserdem aber fand ich auch noch einige neue Formen, von welchen ich hier zunächst zwei beschreiben will, weil sich an ihnen durch Vergleich mit anderen, schon bekannten und ihnen sehr nahe stehenden Arten besonders deutlich zeigen lässt, welches die speci- fischen Merkmale für die Artbestimmung sind. Zunächst führe ich einen amöbenartigen Rhizopoden an, der seinem ganzen Habitus nach der Gattung Pelomyxa zuzuzählen ist, und den ich wegen seiner äusserst trägen Bewegungen Pelomyxa tarda nennen will. Er fand sich eine Zeit lang ziemlich häufig in einem kleinen Aquarium, das schon längere Zeit auf dem Institut gestanden hatte, von dessen Inhalt ich aber den eigentlichen Fund- ort nicht angeben kann. Die Pelomyxa tarda (Fig. 6) ist eine Amöbe, deren Durch- messer annähernd zwischen 0,4 mm und 1 mm und darüber schwankt; da die Thiere immer mit einem bräunlichen Detritus erfüllt waren, erschienen sie selbst ganz braun. Die aus dem um- gebenden Wasser aufgenommenen Massen von Diatomeen und zer- fallenen Pflanzenresten sind meistens so gross, dass die Structur des Plasmas nur an der Peripherie sichtbar wird, während im ganzen übrigen Theil des Körpers nichts von ihr wahrzunehmen ist. Das Protoplasma erscheint zunächst bei schwächerer Vergrösserung zäh, massig und von Körnchen durchsetzt; an den sich bewegenden Theilen dringt dasselbe als schmale, helle, hyaline Zone hervor, ohne aber je grosse Lappen oder Pseudopodien zu bilden. Findet ein gleichmässiges Strömen nach einer Richtung hin statt, so sieht man an dem Hinterende die zottenförmigen Anhänge deutlich, wenn auch schwach ausgebildet. Wie gesagt, sind aber alle Bewegungs- erscheinungen äusserst träge und meistens erscheint das Rhizopod so gut wie bewegungslos, ganz im Gegensatz zu den verwandten Arten, bei welchen fortwährend ein Hin- und Herströmen der Sarkode zu sehen ist. Betrachtet man nun ein Stück der Randzone einer Pelomyxa tarda bei ganz starker Vergrösserung (ich wendete Zeiss Obj. 3, Oc. Yıs homog. Imm. an) [Fig. 7], so sieht man, dass das Plasma deshalb so massig erscheint, weil nur sehr wenig Vacuolen darin enthalten sind; man sieht deren nur ab und zu einige hervortreten, und zwar nur ganz schwach und undeutlich. Die kleinen, licht- Berichte II. Heft 3. 7 (1) 98 GRUBER: [158 brechenden Körnchen liegen überall hin zerstreut und bilden mit den überaus zahlreichen Nahrungsbestandtheilen die einzigen Ein- schlüsse des Plasmas. Häufig gelingt es auch, am lebenden Thier in der Randzone eines Kerns ansichtig zu werden, so wie dies auf Fig. 7 n dargestellt ist; die Kerne, welche mehr nach der Mitte zu liegen, werden natürlich von den braunen Detritusmassen vollkommen verdeckt und werden nur sichtbar, wenn man die Pelomyxa stark comprimirt. Merkwürdigerweise erträgt die Polomyxa tarda im Gegensatz zu ihren Verwandten diese Procedur nur sehr schlecht und zerfliesst ausserordentlich leicht; auch bei Anwendung tödtender Reagentien, wie z. B. Alcohol absolutus, fliesst sie leicht ausein- ander, wenn diese nicht rasch genug einwirken. Der frische Kern ist ein kugliges Bläschen von ca. 0,03 mm Durch- messer, in dessen hellem Kernsaft mehr oder weniger zahlreiche Chromatinbrocken, Nucleoli, enthalten sind. Dieselben sind alle rundlich, aber unter sich verschieden gross und liegen unregelmässig vertheilt; sie scheinen nicht ein massives Korn darzustellen, sondern das Chromatin bildet eine periphere Zone, die einen helleren Raum umschliesst. Dies tritt sowohl am lebenden, wie auch am gefärbten Nucleus oft ganz deutlich hervor. Auffallend ist die geringe An- zahl von Kernen, welche die Pelomyxa tarda im Gegensatz zu den nächst verwandten Arten aufweist, welch’ letztere immer äusserst zahreiche Kerne enthalten. Die grössten Exemplare haben immer nur acht Kerne, während kleinere deren vier, noch kleinere zwei besitzen; ausserdem fand ich auch Exemplare mit drei Kernen, von denen einer wahrscheinlich sich noch zu theilen hatte. Die Zahl der Kerne stand immer im Zusammenhang mit der Körpergrösse, mehr als acht habe ich aber nie aufgefunden. Ich habe früher auch schon mehrkernige Rhizopoden beschrieben, bei welchen die Kern- zahl eine geringe ist, so die Amoeba tertia und die Amoeba binu- cleata, während bei anderen Arten die Sarkode ganz davon erfüllt ist. Die Nuclei der wenigkernigen Formen sind dann oft etwas umfangreicher, immerhin ist aber bei diesen die Masse der Kern- substanz im Verhältniss zu derjenigen der Zellsubstanz eine viel geringere, als bei den ersteren. Die Gattung Pelomyxa hat ausser den eben beschriebenen noch zwei Arten, die ich jetzt zum Vergleich heranziehen möchte, die Pelomyxa villosa (Lrivyr) und die Pelomyxa palustris (GREEFF). Diese zeichnen sich zunächst beide durch bedeutenden Umfang 159] KLEINERE MITTHEILUNGEN ÜBER PROTOZOEN-STUDIEN. 99 aus, besonders die letztgenannte, die bekanntlich bis zu 2 mm im Durchmesser haben kann. Wichtiger aber als das sehr variable Körpermass sind die Verschiedenheiten in der Structur des Plasmas, welche wir bei den drei Arten finden. Die Pelomyxa villosa habe ich in meiner früheren Arbeit (l. c.) schon genau beschrieben und komme hier nochmals darauf zurück an der Hand einer Zeichnung, welche nach dem lebenden Thiere entworfen wurde (Fig. 8). Es ist auch ein Stück der Randzone und die Vergrösserung dieselbe wie in der Fig. 7. Das Plasma ist hier vollkommen verschieden von dem der Pelomyxa tarda, denn es ist ganz erfüllt von grossen und kleinen Vacuolen, die so dicht an einander liegen, dass sie nur noch schmale Plasmabrücken zwischen sich lassen; in diesen Brücken sieht man kleine lichtbrechende Körnchen in grossen Mengen suspendirt und durch die Strömung hin- und hergeführt werden. Die Kerne, von denen einer auf Fig. Sn zu sehen, sind sehr zahlreich und haben so ziemlich dieselbe Grösse wie diejenigen der Pelomyxa tarda, nämlich 0,02 mm im Durchmesser; sie unterscheiden sich aber von letzteren dadurch, dass die Chromatinkörner unter sich ganz gleich gross und vollkommen regelmässig angeordnet sind, ein Unterschied, der diese beiden Kernarten sowohl im frischen wie im präparirten Zustand stets vollkommen scharf von einander scheidet. Wie viel grösser hier die Masse von Kernsubstanz ist als bei Pelo- myxa tarda, zeigt ein Blick auf die Fig. 9 und 10, welche beide mit derselben Vergrösserung entworfen sind. Fig. 9 stellt ein Pikro- karminpräparat von Pelomyxa tarda, Fig. 10 eines von Pelomyxa villosa dar, beide haben so ziemlich denselben Umfang, die Pelo- myxa tarda aber enthält nur acht Kerne, während die Pelomyxa villosa deren 50 aufweist; dieser Unterschied ist so charakteristisch und constant, dass er schon genügt, um sofort die beiden Arten auseinander zu halten. Was nun die Pelomyxa palustris betrifft, so ist die Structur ihrer Sarkode zwar schon von anderen Forschern beschrieben worden (s. die diesbezüglichen Arbeiten von Grerrr !) und F. E. Scnurze ?) und ich kann deren Beschreibung im Ganzen bestätigen, gebe aber hier doch eine Abbildung zum Vergleich mit dem vorhin Gesagten. Auch diese stellt ein Stück der Rindenzone des lebenden Thiers, ebenfalls bei Zeiss Oc. 3 Obj. !ıs homog. Imm. dar und ein Blick auf die !) Arch. f. mikr. Anat. Bd. 10. ?) Arch. f. mikr. Anat. Bd. 11. Tl) 100 GRUBER: [1 60 Fig. 11 wird die Unterschiede sofort klar hervortreten lassen: Auch hier ist das Plasma vollkommen von Vacuolen erfüllt, aber dieselben sind zum grössten Theil unter sich gleich gross und es finden sich keine von so bedeutendem Umfange, wie bei Pelomyxa villosa. Daher kommt es, dass das Plasma bei schwacher Vergrösserung nicht so schaumig aussieht wie dort. Diese Structur des Plasmas von Pelomyxa palustris lässt sich auch deutlich darstellen, wenn man den Rhizopoden in sehr feine Querschnitte zerlegt, was bei der richtigen Behandlung ganz wohl gelingt. In den zwischen den Vacuolen befindlichen Sarkodebrücken sind im Gegensatz zur vorigen Art nur wenige Körncher enthalten, wohl aber finden sich die blassen Stäbchen, welche schon G&£EEFrF beschrieben und die ich auch bei anderen Amöben gefunden und als symbiotisch mit diesen khizopoden lebende Pilze bezeichnet habe. Auch hier, wie bei der Amoeba quarta liegen dieselben vorzugsweise um die Kerne her, dieselben vollkommen überdeckend, so dass man das Innere des Kernes am lebenden Thiere gar nicht sehen kann (s. Fig. 11). Doch macht sich die Stelle, wo ein Nucleus liegt, gerade durch diesen Mantel von Stäbchen deutlich bemerkbar. Was die Kerne selbst betrifft, so haben diese ungefähr denselben Bau, wie diejenigen von Pelomyxa villosa, sind aber ganz erheblich kleiner, denn sie messen nur ca. 0,01 mm. Sie sind im Verhältniss noch zahlreicher als diejenigen der anderen Art und eine recht grosse Pelomyxa palustris kann deren wohl über tausend besitzen. Noch ein weiterer, sehr auffallender Unterschied zwischen dieser und den zwei übrigen Pelo- myxen besteht in der Gegenwart der von Grerrr beschriebenen Glanzkörper bei ersterer und dem vollständigen Mangel derselben bei den beiden letzteren. Diese kugligen Körper sind sehr zahlreich im Plasma der Pelomyxa palustris vertheilt und sind durch ihre Grösse und ihren fettartigen Glanz nicht mit den Kernen oder den Vacuolen zu verwechseln (Fig. 11 Gl). Ich glaube, die eben ge- machten Beschreibungen und die beigegebenen Abbildungen werden genügen, um darzuthun, dass wir es hier mit drei verschiedenen und bestimmten Arten zu thun haben, und um zu zeigen, auf welche Merkmale die Diagnosen sich aufbauen lassen. Zum Schlusse sei noch eine vielkernige Amöbe erwähnt, die ich in Gemeinschaft mit der Pelomyxa palustris in einem kleinen Tümpel im hiesigen botanischen Garten aufgefunden habe und die ich Amoeba septima nennen will. Dieselbe hat nämlich auf den ersten Blick sehr viele Aehnlichkeit mit der Pelomyxa tarda, so- 161] KLEINERE MITTHEILUNGFN ÜBER PROTOZOEN-STUDIEN. 101 wohl in der äusseren Erscheinung als in der Structur des Plasmas, weist aber dennoch Unterschiede auf, welche eine scharfe Trennung der beiden Arten ermöglicht. Die Amöbe, welche in abgerundetem Zustande 'etwa 0,4 mm im Durchmesser hat, ist wie Pelomyxa tarda stets ganz dicht mit Nahrungsbestandtheilen erfüllt, die ebenfalls aus allerlei zerfallenen organischen Substanzen und aus Diatomeen bestehen; nur am Rande ist das Plasma etwas freier davon. Bringt man die Amöbe auf den Objectträger, so ist sie meist ringsher von einer Zone hyalinen Plasmas umgeben, die zahlreiche stummelför- mige Fortsätze treibt, und man glaubt, die Sarkode wäre sehr träge und unbeweglich. Bald darauf aber kann die Amöbe in Fluss ge- rathen und nach allen Seiten hin lebhaft auseinanderströmen, wobei die scheinbare Grenze zwischen hyalinem und körnigem Plasma wieder verwischt wird. Auch die Amoeba septima habe ich mit derselben Vergrösse- rung, die ich bei den vorhin beschriebenen Arten anwandte, auf ihre feinere Structur hin untersucht und auf Fig. 12 ein Stück der Randpartie nach dem Leben dargestellt. Durch Vergleich dieses Bildes mit Fig. 12 sieht man, dass das Plasma eine ähnliche Zu- sammensetzung hat wie bei Pelomyxa tarda, auch hier ist es massig, dicht, nieht schaumig wie bei den beiden anderen Pelomyxen; doch sind immerhin grössere Vacuolen häufiger zu sehen, als bei Pelo- myxa tarda. Ein charakteristischer Unterschied besteht in der Körnelung, indem die stark lichtbrechenden Körnchen viel weniger zahlreich und bedeutend grösser sind, als bei Pelomyxa tarda (Bie=7 u. 12K). Eine weitere, und zwar die wichtigste Abweichung aber be- ruht auf den Kernen: dieselben sind zwar auch hier multinucleolär, aber die Körnchen sind ganz homogen und regelmässig angeordnet, wie bei Pelomyxa villosa, und dann ist der Kern bedeutend kleiner als derjenige von Pelomyxa tarda, indem er nur einen Durch- messer von 0,015 mm aufweist. Ausserdem sind die Kerne viel zahlreicher als bei letzterer Art, denn während ich dort, wie ge- sagt, nie mehr als acht vorgefunden, enthielten Exemplare der Amoeba septima deren bis zu vierzig. Eine Verwechslung der beiden Arten ist also auch hier bei genauer Beobachtung nicht möglich, und so nahe sie einander stehen, lassen sie sich doch mit Leichtigkeit auseinander halten. Alle diese Beispiele zeigen uns, wie mannigfaltige Zusammen- setzungen der scheinbar so einfach construirte Sarkodeleib dieser 102 GRUBER: KLEINERE MITTHEILUNGEN ÜBER PROTOZOEN-STUDIEN. [162 niederstehenden Organismen aufweisen kann; und sie zeigen uns weiter, dass diese Mannigfaltigkeit nicht etwa auf einer steten Veränderlichkeit des Plasmas beruht, welches bei einer und derselben Art bald diese, bald jene Structureigenthümlichkeit annimmt, son- dern dass diese feinen Unterschiede constante Eigenschaften sind, welche uns hier, wie bei höheren Organismen, Art von Art zu trennen erlauben. Ehlalaın? = is Neu hen A IR | ” Jin SOTUS \ ETIERBIRE heil Si E ala NN; atalyerie Ardeid Hrlnem wi dp 3 gi. ale re r abe alas 2 u Hdlera ap A A Er AT hate Wo a PET rn 72 EOFTIRT NEL RR Wer] 1 sion’ Sir t bar sd eier u 2 le Ab A Nee REN REG He an; A nz dh suite: eg ran alien EL iur E10, U DER sb Wei N Ahr V a a rear aa ee ee dim, E EI Dr EZ OK sr Skala >62 Mh Ba g BL u le a: #1 I ri re if Fi j En TEEN en thin B BAUART br 2m nr ke * wz Aa soi: dneihrrllar a Eh KEIN, a g in I % Amlönzageit bio: RUN zur: hut, „OR F nie Arie ZERBIIIERS BAR AN EN IE i i ET a ee PRLT EIG ZZ BU rer > Di se: eis IE a eh ra Peer ee ir ya) BiR A ae a ee ir yet BD De ee u a ee ER Te) Kae, Ve j 2 TIER, je een Alle Alleria » rer Ar rer; \- Zar Alt, me, 1 Anbei ee 4 en, yore u ae 3 - de a u er > | 5 2 Fig. 1. ee >: Pet u; : Fi „8 „» 9. „10, ri, „ıR, Tafelerklärung. Tafel VI. Eine encystirte Euglypha alveolata; D. Diaphragma, ä. S. äussere Schale, i. S. innere Schale, C. Cyste. Eine Euglypha, bei welcher sich die innere Schale wieder in ihre Be- standtheile aufgelöst hat. Ein Stentor coeruleus, der längs durchschnitten war und wo die beiden Stücke umgekehrt zusammengeheilt sind. Eine Difflugia in Theilung (Dauerpräparat); die Schale des eben ent- stehenden Sprösslings noch ganz lose; derselbe enthält noch keinen Kern; n. der Kern des ursprünglichen Thiers. Die Schalen sind an zwei Stellen auch von der Oberfläche her gezeichnet. Eine Difflugia, deren Schale zerbrochen und entfernt worden ist (Dauer- präparat); NB. Nahrungsballen; SM. Schalenmaterial; n. Kern. Eine Pelomyxa tarda, lebend. Ein Stück einer solchen von der Randzone; Nr. Nahrung; n. ein Kern, K. Körnchen. Ein ebensolches Stück von einer Pelomyxa villosa (auch lebend); n. ein Kern. Eine Pelomyxa tarda, und eine Pelomyxa villosa, beides Dauerpräparate, um den Unterschied in der Zahl der Kerne zu zeigen (beide bei derselben Vergrösserung). Stück einer lebenden Pelomyxa palustris; n. Kerne, Gl. Glanzkörper. Stück einer lebenden Amoeba septima; n. Kerne; K. Körnchen. (Die Figuren 7, 8, 11, 12 sind bei Zeiss Ocular 3, Objectiv 'Jis homogene Immersion gezeichnet.) Der Bau des Menschen als Zeugniss für seine Vergangenheit. Von Dr. R. Wiedersheim, Professor in Freiburg i. B. Einleitung. Seit Caartes Darwın mit seinem Werk „On the Origin of species by means of natural seleetion* vor die Oeffentlichkeit trat, sind nahezu 30 Jahre verflossen — ein kleiner Zeitraum — und doch wichtig genug, um durch die hohe Bedeutung der darin angehäuften, auf naturwissenschaftlichem Gebiet gewonnenen Re- sultate alle früheren Jahrhunderte in den Schatten zu stellen. Mit jenem eben genannten Buch war nicht allein eine Refor- mation der Zoologie, sondern auch eine solche unseres gesammten Wissens von der uns umgebenden Natur angebahnt, kurz, es be- deutet den Markstein einer neuen Zeit, einer neuen Weltauffassung. Dies ist so oft schon in den verschiedensten Schriften und Vorträgen gesagt und auf breiterer Grundlage weiter ausgeführt worden, dass es hier nicht noch einmal ausführlich wiederholt zu werden braucht. Gleichwohl aber kann ich es mir nicht versagen, von dem Stand der Naturwissenschaft in den letzten paar hundert Jahren eine kurze Skizze zu entwerfen und zwar deshalb, weil nur auf jenem Hinter- grund ein richtiges Bild des seither eingetretenen ungeheuren Umschwunges in dem Geistesleben aller Culturvölker entworfen werden kann. Trotz der grossen, in das 16. und 17. Jahrhundert fallenden Entdeckungen eines Krrner, Newron, Harvey, Swammerdam, Man- Berichte II. Heft 1—12. 1 (12) 2 : WIEDERSHEIM : [166 PıGHI und LEEUWENHOEcK blieb die im Zeitalter der Reformation wieder zu neuem Leben erweckte Aristotelische Lehre die weltbeherrschende. Ihr Erklärungsprineip fusste auf der Voraus- setzung eines vernünftigen Endzweckes, welchem die Erschei- nungen der Natur als zweckmässige untergeordnet werden. Die daraus entspringende teleologische Betrachtungsweise und die damit verbundene anthropocentrische oder anthropomorphi- stische Weltanschauung überdauerte jene Jahrhunderte und fand trotz aller wissenschaftlichen Fortschritte bis in die fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts herein unter den ersten Männern der Wissen- schaft zahlreiche und glänzende Vertreter. Lag sie doch so tief begründet in der menschlichen Eitelkeit und erhielt sie doch auch seitens der Mosaischen Schöpfungslehre, welche dem Menschen der ihn umgebenden Natur, wie vor allem der Thierwelt gegenüber, eine souveräne Stellung anweist, eine gewaltige Stütze. Jeder Versuch, diese seine Stellung zu erschüttern und für ihn aus einer strengen naturwissenschaftlichen Analyse dieselben Consequenzen zu ziehen, wie sie für die ihn umgebenden Lebewesen seitens der naturphilosophishen Schule s. Z. immer mehr zur Geltung gelangten, wurde als ein ketzerisches Beginnen, zumal von der Laienwelt, mit Entrüstung zurückgewiesen. Trotz dieser starken Gegenströmung aber gewann die Des- cendenzlehre immer mehr Boden und zwar vor Allem durch die ebenso neuen als überraschenden Resultate der zu einer engen wissen- schaftlichen Trias sich zusammenschliessenden Paläontologie, vergleichenden Anatomie und Entwicklungsgeschichte. Immer zahlreicher und überzeugender wurden die Beweise für die grossen Veränderungen, die sich auf thierischem wie auf pflanz- lichem Gebiet während des Verlaufs unendlich grosser Entwicklungs- perioden unseres Planeten einst vollzogen haben müssen. An Stelle der früheren Annahme von wiederholten Sonder- schöpfungen trat eine befriedigendere, auf streng naturwissenschaft- licher Basis sich aufbauende Erklärung von dem innerlichen Zu- sammenhang der gesammten organischen Natur. „Die Nähe der Blutsverwandtschaft und nicht ein unbekannter Schöpfungsplan bildet das unsichtbare Band, welches die Organismen in verschiedenen Stufen der Aehnlichkeit verkettet* — und in dieser Kette kann der Mensch nicht fehlen. Auch er bildet ein Glied derselben und nichts berechtigt ihn, für sich einen Ausnahmefall, ein Reservat- recht geltend zu machen, d. h. für seine Erscheinung in der Reihe 167] Der Bau nes MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 3 der Lebewesen einen besonderen Schöpfungsact in Anspruch zu nehmen. Wenn es auch bis jetzt nicht gelungen ist, seine Urgeschichte bis über die Diluvialzeit hmaus auf Grund paläontologischer Funde zurückzuführen, wenn also auch bis zum heutigen Tag der sichere Nachweis des tertiären Menschen noch als Desiderat zu betrachten ist, so liegen doch auf morphologischem Gebiet eine Menge von Thatsachen vor, welche für die Wahrheit des oben aufgestellten Satzes schwer genug in die Wagschale fallen. Dahin gehört nicht nur der dem Wirbelthierkörper im Allgemeinen zu Grunde liegende einheitliche Organisationsplan, die Uebereinstimmung im Werden, Sein und Vergehen, sondern auch das Vorkommen gewisser Organe, die man als „rudimentäre“ bezeichnet. Darunter versteht man solche, die früher einmal von grösserer oder geringerer physiologischer Bedeutung waren, die also ursprüng- lich in den Haushalt des Organismus activ mit eingriffen. Im Lauf der Generationen aber wurden sie in Folge der Anpassung des Körpers an besondere Lebensbedingungen so zu sagen ausser Curs gesetzt, verfielen der Verkümmerung, beziehungsweise der Rückbildung und sind, soweit sie heutzutage noch in die Erscheinung treten, auf den Aussterbe-Etat gesetzt. Derartige Organe, welche für die Schöpfungs- lehre, wie für jede teleologische Betrachtungsweise räthselhaft bleiben, welche sich aber auf Grund der Selectionstheorie in durchaus be- friedigender Weise erklären lassen, finden sich in grosser Zahl in der ganzen Thierreihe und so auch beim Menschen. Dass sie aber gerade bei letzterem, als Ueberbleibsel einer längst entschwundenen Zeit, wo uns die Geologie und Paläontologie im Stiche lässt, unser ganz besonderes Interesse in Anspruch nehmen, liegt auf der Hand, und so erscheint es reizvoll genug, in eine Betrachtung derselben etwas näher einzutreten. Bei diesem Versuch aber, den Urmenschen aufzudecken, werden sich auch noch zahlreiche andere Gesichtspunkte ergeben, von’welchen aus die Stellung des Menschen in der Reihe der Wirbelthiere theils nach der progressiven, theils nach der regressiven Richtung hin eine Beleuchtung erfahren kann. Seit Huxtey seine Schift „Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur“ veröffentlicht hat, sind 25 Jahre ver- gangen, und wenn man erwägt, was in diesem Zeitraum auf dem Gebiete der physischen Anthropologie, der Embryologie und Morpho- logie überhaupt gearbeitet und erreicht worden ist, so ist es, meine LS (127) 4 i WIEDERSHEIM: [168 ich, an der Zeit, den Blick wieder einmal rückwärts zu richten, zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzufasssen, was an vielen Orten zerstreut liegt, und daraus endlich zu ersehen, was der Mensch war, was er ist, und was er sein wird. A. Skeletsystem. a. Wirbelsäule. Die Wirbelsäule des erwachsenen Menschen besteht bekannt- lich in der Regel aus 33—34 Wirbeln und zwar beruht die Schwan- kung auf der keinen festen Gesetzen unterliegenden Zahl (in der Regel 4, in maximo 5) der Steissbein- oder Caudalwirbel. Wie auch aus der Betrachtung anderer Organsysteme — ich verweise auf den Vertex coccygeus, das Filum terminale, die Arteria sacralis media, gewisse Muskeln und die Steissdrüse — hervorgehen wird, handelt es sich am Hinterende des menschlichen Rumpfes um eine Reihe von Rück- beziehungsweise Umbildungen. Am klarsten erhellt dies aus der Entwicklungsgeschichte der Wirbelsäule. Der menschliche Embryo besitzt bei einer Länge von 5,6 mm 33 Somiten, d. h. 32 Wirbel; ein solcher von 7” mm Länge weist schon 34 Somiten, d. h. 33 Wirbel auf. Er zeigt also bezüglich der Gliederung seiner Columna vertebralis schon das definitive Ver- halten. In der fünften Woche schreitet die Wirbelvermehrung in- dessen noch weiter fort, so dass ein 9—10mm langer Embryo ungleich mehr Wirbel besitzt, als der Erwachsene, näm- lich 38. Alle, mit Ausnahme der beiden letzten, bestehen aus einem knorpelähnlichen Gewebe, d. h. sie sind von derselben histo- logischen Beschaffenheit wie die übrigen Wirbel. Die beiden letzten Schwanzwirbel sind nur noch durch die (allerdings sehr deutlich differenzirten) Myomeren angedeutet. Ganz bis zur äussersten Spitze seht, wie später näher zu schildern sein wird, das Medullarrohr und fast ebenso weit das letzte Chorda-Ende („Schwanzfaden*, Braux). Schon bei sechswöchentlichen, 12mm langen Embryonen fliessen der 38., 37. und 36. Wirbel zu einer Masse zusammen und schliess- lich verliert auch der 35. seine deutlichen Grenzen (For). Gleich- wohl bleibt der frei hervorragende Schwanz, der sich in Nichts 169] DER Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 5 von demjenigen anderer Säugethier-Embryonen und der Reptilien unterscheidet, noch einige Zeit in der weiteren Entwicklung deut- lich sichtbar. Seine Länge unterliegt übrigens zahlreichen indivi- duellen Schwankungen, doch lässt sich mit Sicherheit behaupten, dass er bei S—15 mm grossen Früchten nie unter 1 mm beträgt. Vom dritten oder längstens vom vierten Embryonalmonat an ist in der Regel jede Spur eines frei hervortretenden Schwanzes ver- schwunden und seine kückbildung steht, wie bei allen Thieren, so auch beim Menschen, in gerader Proportion zu der fortschreitenden (relativen) Verkürzung des Rückenmarkes. (Vergl. auch Förster, Die Missbildungen des Menschen. Jena 1861.) Dass also das Axenskelet des Menschen, die Wirbelsäule, früher eine ungleich grössere Ausdehnung besass, als heutzutage, kann keinem Zweifel unterliegen, ja es berechtigt sogar der Umstand, dass jene primitiven Verhältnisse in embryonaler Zeit noch zum Ausdruck kommen, zu der Annahme, dass die Zeit der „ge- schwänzten Menschen“ noch nicht so sehr weit hinter uns liegt. Eine weitere Stütze hiefür liegt in der Thatsache, dass das Vorkommen schwanzförmiger Anhänge beim Menschen sicher ver- bürgt ist. Sie finden sich zusammengestellt in Meere£r’s Handbuch der pathologischen Anatomie. I. pag. 385. Leipzig 1872. II. Dabei handelt es sich allerdings mitunter um wenig Vertrauen erweckende Beobachtungen und offenbar wohl auch mitunter um pathologische Bildungen, oder um Missgeburten, die neben anderen Bildungsfehlern auch eine mehr oder weniger entwickelte Schwanz- bildung aufweisen. Andere Fälle neueren Datums beziehen sich auf Beobachtungen, die an Lebenden gemacht wurden und bis jetzt keiner exacten anatomischen Untersuchung unterworfen werden konnten. Nur Eines scheint mit Sicherheit behauptet werden zu können, nämlich das, dass bei vielen der beobachteten Fälle, wie z. B. bei denjenigen von pr Maıtver, eine hereditäre Anlage in Betracht kam. Unstreitig den grössten wissenschaftlichen Werth darf der von L. Gervach beschriebene Fall von Schwanzbildung bei einem sonst normal gebildeten menschlichen Embryo aus dem vierten Monat der Schwangerschaft beanspruchen. Die Kopfsteisslänge beträgt 7,6 cm, die Gesamtlänge 10,8 cm und da der aus der Steissgegend frei hervorragende Schwanzfaden von seiner Wurzel an bis zur Spitze circa 17 mm misst, so ergibt sich, dass er nahezu den sechsten Theil der Länge des ganzen Embryos ausmacht. An seiner 6 ’ WIEDERSBEIM: [170 dicksten Stelle, d. h. am Abgang vom Körper, besitzt er einen Breitendurchmesser von 2 mm und verjüngt sich dann gleichmässig his gegen seine Mitte hin. Bei genauerer Untersuchung ergaben sich folgende Resultate. Der Schwanzfaden hing nicht nur direct mit dem letzten, knorpelig angelegten (vierten) Coccygealwirbel zu- sammen, sondern die Chorda dorsalis war auch noch im Innern desselben deutlich zu erkennen. Dazu kam noch, dass Muskelbündel nachgewiesen werden konnten, welche ihrer ganzen Lagerung nach mit nichts anderem verglichen werden können, als mit dem M. cur- vator caudae der Thiere, d.h. mit einem ächten Schwanzmuskel. Die Existenz von Muskeln aber erlaubte wieder den Schluss auf das frühere Vorhandensein von Urwirbeln in dieser Gegend und letzterer Umstand weist seinerseits wieder auf die Anwesenheit des Rückenmarks in dem Schwanztheile in früheren Embryonalstadien zurück (vergl. das Capitel über das centrale Nervensystem). Man darf nun nicht etwa, wie GerracH richtig bemerkt, er- warten, dass es der Fötus, falls er älter geworden wäre, zu einem richtigen, durch Hartgebilde gestützten Schwanz gebracht haben würde, denn die im Bereich des Schwanzfadens liegenden Urwirbel bahnten nicht die Entwicklung bleibender, knorpeliger, oder gar knöcherner Wirbel an. Dazu kam noch, dass in dem, zwischen dem hintersten Steisswirbel und dem proximalen Ende des Schwanz- fadens liegenden Verbindungsstrang die Chorda dorsalis schon seschwunden war. Alle diese Punkte deuten an, dass bereits eine „Correction“, eine Rückkehr zum normalen Bildungsgange, d. h. eine regressive Metamorphose des Schwanzes angebahnt war. Allein das thut der hohen morphologischen Bedeutung des Falles keinen Abbruch und ich glaubte deshalb etwas näher darauf eingehen zu sollen. Schliesslich will ich nur noch folgende zwei sicher verbürgte Fälle von Schwanzbildung beim Menschen erwähnen. Der eine, worüber M. Braun im IV. Band des Zoologischen Anzeigers berichtet, betrifft einen esthnischen Rekruten, bei dem das Steissbein nicht in der Gesässkerbe, d. h. bedeckt von den Nates verlief, sondern in Form eines frei hervorstehenden Zipfels endigte. Letzterer war nicht lang, konnte aber doch mit den Fingern ge- fasst und betastet werden. Dabei stellte es sich heraus, dass er in der direkten Verlängerung der Columna vertebralis lag und distincte Wirbelkörper einschloss, wovon der letzte etwa die Grösse einer Erbse besass.. Ob es sich dabei um eine Vermehrung der Steiss- 171] Der Bau vEes MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT, 7 beinwirbel oder nur um einen von der Embryonalzeit beibehaltenen, geraden Verlauf des normalen Os cocceygis handelt, lässt sich am Lebenden nicht sicher entscheiden. Bemerkenswerth ist aber, dass sich bei demselben Individuum auch die Ecker'sche Glabella und Foveola coccygea erhalten zeigten. Der zweite Fall wurde im Jahre 1872 von Lissser !) an einem neugebornen Mädchen beobachtet. Auch hier handelte es sich im Innern um deutlich durchfühlbare härtliche, unregelmässige Körper, welche in der direkten Axenverlängerung der Wirbelsänle lagen. Sie fühlten sich etwa an wie die Phalangen eines Fingers und waren auch noch 12 Jahre später, als der schwanzartige Anhang eine Länge von 12,5 cm Länge besass, wohl zu erkennen. Aus allem diesem geht zur Genüge hervor, dass schwanzartige Anhänge beim Menschen durchaus nicht selten sind und es ist wohl denkbar, dass sie bei gewissen Rassen oder Volksstämmen, wie z. B. auf den Molukken, den Philippinen oder in Centralafrika häufiger vorkommen als anderswo, und dass sie so zu den Erzäh- lungen über geschwänzte Menschen Veranlassung gegeben haben. Endlich sei noch erwähnt, dass derartige Rückschlagsbildungen auch bei Anthropoiden, nämlich beim Gorilla und Orang, hin und wieder beobachtet werden, und dies ist um so bemerkenswerther, als der Orang-Utan in der Rückbildung seines Os coceygis, welches in der Regel nur aus drei Wirbeln besteht, sogar schon weiter ge- diehen ist als der Mensch. Was nun die übrigen Abschnitte der menschlichen Wirbel- säule betrifft, so ergeben sich hiefür noch eine ganze Reihe weiterer interessanter Gesichtspunkte. Während der präsacrale Abschnitt heutzutage bekanntlich in der Kegel aus 24 Wirbeln besteht, lässt sich an der Hand der Ent- wicklungsgeschichte und der Vergleichung zeigen, dass dieses Ver- halten nicht als das ursprüngliche zu betrachten ist, sondern dass das Becken früher ungleich weiter hinten lag, woraus eine längere Rumpfwirbelsäule resultirte. Rosexgere hat nämlich dargethan, dass sich der 1. Sacral- wirbel des Menschen im Laufe der Entwicklungsgeschichte später mit dem Sacrum verbindet, als der 2., und dieser wiederum später, als der 3., und so fort. Kurz es handelt sich um ein ontogenetisch !) Lıssser, Schwanzbildung beim Menschen. Vircuow's Archiv. XCIX. p. 191. 1885, 8 , WIEDERSHEIN : 1 72 nachweisbares Vorwärtsrücken des Sacrums resp. des Becken- gürtels in proximaler Richtung, und da sich sogar ursprüngliche Beziehungen der späteren zwei vordersten Steissbeinwirbel zur An- lage des Kreuzbeines aufdecken lassen, so erkennt man, dass, während vorne neue Angliederungen an’s Sacrum sich herausbilden, es hinten successive zur Abgliederung früherer Sacralwirbel und zur Um- bildung derselben in Coceygealwirbel kommt !). Ein Abschluss dieser Vorgänge wird erreicht, wenn endlich der 25. Rumpfwirbel, als vorderster Sacralwirbel, mit in das Kreuz- bein einbezogen ist und das Promontorium seine definitive Lage zwischen ihm und dem letzten Lendenwirbel, d. h. also zwischen dem 24. und 25. der ganzen Reihe, gewinnt ?). Dieser Process erhält eine vortreftliche Illustration durch einen Vergleich mit den Affen, insofern auch hier ein Vorrücken des Beckengürtels zu constatiren ist. Ja hier kann es sich, wenn man den 37. Wirbel bei Nieticebus als den ältesten und den 26. bei Hylobates als den jüngsten Sacralwirbel betrachtet, um eine Ver- schiebung des Beckens über 11 Wirbel hinweg handeln. Diese Strecke wird beim Menschen noch um um einen, bei Orang, Chim- panz&e und Gorilla noch um 2 Wirbel vermehrt. Mit andern Worten: bei Hylobates, wo zeitlebens 25 freie präsacrale Wirbel existiren, macht die Vorwärtswanderung des Extremitätengürtels um einen Wirbel früher Halt, als beim Menschen, obgleich auch hier in seltenen Fällen das entsprechende Embryonalstadium zu einem definitiven werden kann, wodurch sich dann die Verhältnisse mit denjenigen von Hylobates decken. Bei den drei anderen Anthro- poiden hingegen, wo im erwachsenen Zustande nur 23 präsacrale Wirbel vorliegen, geht die Wanderung sogar noch um einen Wirbel weiter proximalwärts. Auch dies kommt beim Meuschen abnormer Weise zur Beobachtung, andererseits kann sich aber auch ausnahms- ') Auch bei niederen Thieren begegnet man zuweilen deutlichen Spuren einer stattgehabten Verschiebung des Beckengürtels, und zwar bald proximal-, bald distalwärts. In letzterer Richtung fand, wie H. Crepxer nachgewiesen hat, bei Branchiosaurus, einem fossilen Urodel (Stegocephalen), ontogene- tisch eine Verschiebung des Beckengürtels über 6—7 Wirbel hinweg statt. Dies geht aus einem Vergleich junger und alter Exemplare deutlich hervor. ?) Diese erst später erfolgende Assimilation vorderer Sacralwirbel findet auch in der Reihenfolge der synostotischen Processe zwischen den einzelnen Kreuzbeinabschnitten insofern ihren Ausdruck, als dieselben stets von den letzten nach den ersten zu fortschreiten. 173] Der Bau Des MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 0) weise beim Orang und Gorilla die Lumbosacral-Grenze um einen, beim Chimpanze sogar um 2 Wirbel weiter nach hinten ver- schieben. Im ersteren Fall erscheinen somit menschliche Verhält- nisse angebahnt. Das bezeichnete Maass der Lageveränderung des Extremitäten- gürtels lässt vermuthen, dass beim Menschen auch die distalwärts vom 31. gelegenen Wirbel (bei den übrigen Formen die Wirbel bis zum 37.) früher Lumbalwirbel gewesen sind, dann successive unter dem Einfluss der Lageveränderung des Extremitätengürtels Sacralwirbel geworden und endlich, was beim Menschen auch für den 30. und 31. gilt, zu Caudalwirbeln umgeformt worden sind. Die redueirtesten Wirbelsäulen sind stets weibliche, vielleicht anf Grund der sexuellen Verhältnisse, und dahin gehört auch wohl die Thatsache, dass es hier seltener zu einer synostotischen Verbindung zwischen dem ersten Steiss- und dem letzten Kreuzbeinwirbel kommt, als im männlichen Geschlecht, wo durch den Zusammenschluss der Cornua sacralia und coccygea bekanntlich sogar ein 5. Paar von Saerallöchern gebildet werden kann. In diesem Fall besteht das Sacrum scheinbar aus 6 Wirbeln. b. Rippen- und Brustbein. Die oben erwähnte, individuellen Schwankungen unterliegende Grenze zwischen dem Lenden- und Kreuzbeintheil wiederholt sich am Uebergang der Hals- in die Brust-, sowie der letzteren in die Lendenwirbelsäule. Bestimmend hiefür sind die Rippen. Normaler- weise handelt es sich bekanntlich beim Menschen (wie beim Orang) um 12 Rippenpaare, allein der Vergleich mit anderen Wirbelthieren, zumal mit niederen, weist auf eine früher vorhandene grössere Zahl hin. Dies bestätigt auch die Entwicklungsgeschichte sowie die zu- weilen auftretenden „überzähligen* Rippen. Sie finden sich seltener am oberen, als am unteren Thoraxende. In beiden Fällen unter- liegt aber dann die dreizehnte sehr grossen Form- und Grössen- schwankungen. So bewegt sich z. B. eine dem unteren Thoraxende angeschlossene 13. Rippe zwischen 2 und 14 cm. Das Auftreten dieser Rippe bildet bei Gorilla und Chimpanze die Regel, während Hylobates sogar 13—14 Brustrippen besitzt. Beim Vorkommen einer im Bereich des 7. Halswirbels liegenden Cervicalrippe er- scheint die Zahl der Halswirbel auf sechs, beim Auftreten einer 13. Brustrippe dagegen die der Lendenwirbel auf vier reducirt, - WIEDERSHEINM : [174 wenn nicht, was unter solchen Umständen nahe liegt, die Wanderung des Beckens schon am 26. präsaeralen Wirbel Halt macht. Die Wahrscheinlichkeit hiefür resultirt aus der Wahrnehmung, dass die beim Embryo constant sich anlegende 13. Brustrippe stets dann eine Rückbildung einzugehen beginnt, wenn der 25. prä- sacrale Wirbel vom Kreuzbein assimilirt wird. Für eine ursprünglich grössere Zahl von Brustrippen spricht auch noch die Thatsache, dass in fötaler Zeit nicht nur im Bereich des ersten, sondern auch in dem aller übrigen Lumbalwirbel !), ja sogar auch noch im Bereich des Kreuzbeines Rippenanlagen nach- gewiesen werden können. Aus letzterem Umstand erhellt, dass das Becken des Menschen ebenso wie das aller übrigen Vertebraten eigentlich von Rippen, welche in den Massae laterales des Kreuz- beines aufgegangen zu denken sind, getragen wird (GEGENBAUR). Wie oben schon erwähnt, gehört eine im Bereich des letzten Cervicalwirbels liegende Halsrippe immerhin zu den selteneren Erscheinungen, allein gleichwohl wird sie sowohl wie auch noch eine zweite im Bereich des 6. Halswirbels in freier Form fast regel- mässig in fötaler Zeit noch angelegt, was für die fünf oberern Halsrippen nicht mehr gilt. Dennoch aber kann ihre ursprüngliche Existenz, wie durch die vorderen Spangen der betreffenden Quer- fortsätze bewiesen wird, nicht zweifelhaft sein. Was das Vorkommen, beziehungsweise die verschiedenen Grade der Ausbildung der „überzähligen“ Halsrippen betrifft, so sei darüber Folgendes bemerkt. Bei höchster Vollendung reicht die im Bereich des 7. Cervicalwirbels entspringende Rippe obne Unterbrechung um den ganzen Hals herum bis nach vorne ans Manubrium sterni. Dieser ausserordentlich seltene Fall wurde bis jetzt nur ein- mal und zwar von P. Arsrzcat beobachtet. Ungleich häufiger sind jene Fälle, wo die ebenfalls bis zum Manubrium reichende Rippe sich zuvor durch ihren Knorpel mit der ersten Brustrippe verbindet. Zuweilen ist nur das sternale und das vertebrale Ende in knöcherner beziehungsweise knorpeliger Form vorhanden, während die Zwischen- zone durch einen fibrösen Strang dargestellt wird. Trotz dieses !) Am 21.—22. präsacralen Wirbel grenzen sich die Rippen des Fötus noch durch eine Schicht Perichondrium vom Querfortsatz und Bogen ab, weiter nach hinten zu zeigen sie sich mehr und mehr damit verschmolzen. In Folge dieses Umstandes besitzen die Lendenwirbel ein Plus gegenüber den Brust- wirbeln, nämlich ein mit ihnen verschmolzenes Rippen-Rudiment. 175] Der Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 11 ihres rudimentären Charakters aber ist der zwischen ihr und der ersten Brustrippe liegende Musc. intercostalis internus und externus ebensogut entwickelt, wie in den beiden obigen Fällen; ja dies gilt selbst auch dann noch, wenn, wie dies zuweilen vor- kommt, das verbindende fibröse Zwischengewebe fehlt (Lesouca). Das sternale Stück ist dann in der Regel sehr dürftig, bald frei, bald mit der ersten Brustrippe theilweise zusammengeflossen. Nicht minder schwankt das vertebrale Ende nach Form, Grösse und Arti- culationsverhältniss an der Wirbelsäule. Auch zur obersten Brust- rippe kann sein Vorderende, wie Lexovcg gezeigt hat, die aller- mannigfachsten Beziehungen eingehen; so kann es mit ihr auf's Innigste, oder nur locker durch Bindegewebe, oder endlich sogar durch ein förmliches Gelenk verbunden sein. Im ersteren Fall er- scheint dann die erste Rippe an ihrem vertebralen Ende gegabelt, wie dies nach den Untersuchungen von P. J. vav Bexepen für manche Cetaceen als die Regel gilt. Was das dazu gehörige ster- nale Endstück anbelangt, so hat sich hievon nichts erhalten, allein es findet sich constant bei einer grossen Zahl von Nagern, sowie bei Insectivoren und Fledermäusen (W. K. Parker). Ganz abgesehen aber von diesen Fällen wird ein weiterer Beweis für die frühere Existenz jener Rippe bei Säugethieren durch die Edentaten geliefert, von denen z. B. Choloepus constant nur 6 Halswirbel besitzt, und dahin gehört auch Manatus. Das andere Extrem wird durch Bradypus infuscatus und tridac- tylus, welche constant 9, und durch Bradypus cuceulliger, welcher bald 8 bald 9 Halsrippen besitzt, dargestellt, insofern hier der Reductionsprocess im Bereich des oberen Thoraxendes eine grössere Ausdehnung gewonnen hat, als bei irgend einem anderen Säugethier. Dass übrigens auch beim Menschen die erste Brustrippe, wenn ich mich so ausdrücken darf, bereits in’s Schwanken gekommen, dass also auch sie auf den Aussterbe-Etat gesetzt ist, beweisen die nicht allzu seltenen und sicher constatirten Fälle einer abortiven Entwicklung derselben, wie sie durch Hunaunn, GruBER, TURNER und Lesoucg bekannt geworden sind. Es handelt sich dabei um ganz ähnliche Verhältnisse, wie ich sie oben bei der Schilderung einer 7. Halsrippe auseinandergesetzt habe. Trotz alledem aber darf man meiner Ueberzeugung nach, aus später zu entwickelnden Gründen, annehmen, dass der Rückbildungs- process am oberen Thoraxende ungleich langsamere Fortschritte 12 ’ WIEDERSHEIM : [176 machen wird, als am unteren, ja dass er vielleicht auf lange Zeiten hinaus wieder zum Stillstehen gebracht wird !). Aus dem Vorstehenden erhellt zur Genüge, dass die Wirbel- säule früher mit einer ungleich grösseren Zahl von Rippen ausgestattet war, als heutzutage, und dass die Pleuro- peritonealhöhle, das Coelom, einst eine mächtigere Aus- dehnung, sowohl kopf- wie schwanzwärts besessen haben muss. Allein auch jetzt liegen, wie oben schon angedeutet, offenbar noch keine bleibenden, fertigen Verhältnisse vor. Dies beweist nicht allein das Wiedererscheinen „überzähliger“ Rippen, sondern auch der bereits entschieden rudimentäre Öharacter der 11. und 12. Rippe. Letzterer spricht sich in verschiedener Weise, wie vor allem in den schwankenden Grösseverhältnissen aus. Dabei zeigt, wie das nicht anders zu erwarten ist, die 12. Rippe eine viel grössere Variations- breite, nämlich eine Länge von 2—27 cm, als die 11., welche sich zwischen 15—28 cm bewegt. Dazu kommt, dass keine von beiden mehr den Rippenbogen erreicht, und dass sich auch in ihren Arti- culationsverhältnissen an der Wirbelsäule ein Rückgang dokumentirt. So fehlen — und dieser Schwund zeigt sich hie und da auch schon bei der 8. und 9. Rippe angebahnt — z. B. die Tubercula und da- durch eine richtige costotransversale und intervertebrale Gelenk- verbindung. Dass dieselben noch nicht lange reducirt sein können, beweist die Entwicklungsgeschichte, welche lehrt, dass bei der 11. Rippe eine costo-transversale Articulation noch angelegt wird. Bedenkt man endlich noch, dass der formell äusserst variable ') Von Interesse ist ein im Bereich der vorderen Spange des (Querfort- satzes vom 6. Halswirbel häufig auftretender Vorsprung, der insofern als ein typisches rudimentäres Organ angesprochen werden darf, als er bei den meisten Säugethieren in Form einer starken senkrechten Spange mächtig vorspringt (GEGENBAUR). Die allein unter allen Anthropoiden dem Hylobates zukom- menden, an der Ventralfläche der zwei letzten Brust- oder des 1. Lendenwirbels sitzenden unteren Dornfortsätze finden sich nach Broca zuweilen bei Negern. Ferner ist beobachtet worden, dass die beim Menschen in der Regel an ihrem freien Ende gespaltenen Dornfortsätze der Halswirbel bei Hotten- totten einfach zugespitzt sind. Darin spricht sich eine Fortdauer des ur- sprünglichen, einfachen Verhaltens aus, wie es für die Anthropoiden die Regel bildet (R. BrancHArn). Endlich sei noch erwähnt, dass die am Atlas des Menschen vorhandene, tür die Aufnahme der Arteria vertebralis bestimmte Furche durch eine Knochenspange zuweilen überbrückt und so zu einem Canal abgeschlossen wird, wie ein solcher bei den meisten Primaten, Carnivoren und ver- schiedenen anderen Säugern regelmässig vorkommt (M. Sarpry). 177] DER Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 1 wu Schwertfortsatz des Brustbeines seine Existenz einem vom 8. oder wohl auch vom 9. Rippenpaar sich abschnürenden paarigen Knorpel verdankt, der sich in früheren Zeiten unzweifelhaft am Aufbau der Sternalleiste betheiligte, so erhellt daraus, dass einst eine grössere Zahl von Rippen das Brustbein erreichte als heutzu- tage. Diese Annahme wird zur Gewissheit durch die nicht selten zu machende Beobachtung, dass auch beim Erwachsenen noch die 8. Rippe das Sternum erreicht. So werden wir also zu der Annahme geführt, dass der knö- cherne Thorax nicht nur dorsalwärts (durch zahlreichere Costae fluc- tuantes), sondern auch ventralwärts früher eine grössere Ausdehnung besessen haben muss, und dass es sich beim Menschen um ein be- harrliches proximales Vorrücken der Dorsolumbal-Grenze auf dem Wege der Reduction und Umformung von Rippen handelt. Für diese progressive Verkürzung des Thorax lässt sich angesichts der ihren rudimentären Character bereits offen zur Schau tragenden 11. und 12. Rippe vorderhand noch gar keine Grenze abstecken. Der Grund der allmählichen Verkürzung des knöchernen Thorax, oder anders ausgedrückt, der Verringerung der Rippenzahl scheint mir zum Theil in dem aufrechten Gang des Menschen zu liegen, d. h. ich nehme an, dass, da zugleich mit einer Verlegung des Schwerpunktes nach der dorsalen Seite des Körpers eine Ent- lastung der ventralen eintreten musste, die für den Vierfüssler noth- wendigen, die Eingeweide umschliessenden Spangensysteme in der Abdominal- resp. Lumbalgegend in Wegfall kommen konnten. Die von den Bauchcontenta ausgehende Druckwirkung äusserte sich von jetzt an nicht mehr in ventraler, sondern in sagittaler Richtung und hieraus resultirte eine (compensatorische) transverselle Ver- breiterung der Darmbeinschaufeln, wie sie uns sonst bei keinem anderen Wirbelthier in so starker Weise mehr begegnet. Warum dieses Verhalten besonders stark beim weiblichen Geschlecht her- vortritt, ist leicht, nämlich im Sinne einer functionellen (sexuellen) Anpassung zu erklären und vermag die oben aufgestellte Vermuthung nur zu stützen. Von demselben Gesichtspunkt aus (Verlegung des Schwer- punktes von der dorsalen Seite) lässt sich auch verstehen, warum gerade die vertebralen Enden der untersten Rippen am zähesten im Organismus haften, warum also der dorsale Theil des knöchernen Thorax ungleich länger ist, als der ventrale. Handelt es sich doch 14 WIEDERSHEIM : ; 1178 gerade dort um jene mächtigen, im Interesse der Statik und Me- chanik des Axenskeletes wichtigen Muskelmassen, welche jene Rippen zu Ursprungs- und Ansatzpunkten benützen. Aber gesetzt auch den Fall, dass sie hiefür gänzlich irrelevant wären, so gibt es doch ausserdem noch andere Einflüsse, welche ihre Fortexistenz, bis zu einem gewissen Grade wenigstens, noch begünstigen. Dies ist vor allem der an den vier untersten Rippen sich inserirende Musc. serratus posticus inferior, sowie der unter anderem von den drei letzten Rippen entspringende Musc. latissimus dorsi. Dabei ist allerdings zu bemerken, dass diese beiden Muskeln keineswegs, worauf ich später noch genauer einzugehen haben werde, allein für sich für eine zähe Fortdauer der untersten Rippen bestimmend sein können. Ja im Gegentheil, der rudimentäre Cha- racter des Serratus posticus inferior, sowie der obgenannte, neben anderen wichtigeren Ursprungspunkten kaum in Betracht kom- mende Ursprung des Latissimus dorsi lässt sich mit einem all- mählichen Schwund jener Rippen vortrefflich in Einklang bringen. Trotz alledem aber ist ihnen für’s Erste noch ein conservirender Einfluss auf dieselben, bis zu einem gewissen Grade wenigstens, nicht abzusprechen. Was nun etwa anderweitige, bei dem Schwund der Lumbal- und Cervicalrippen in Betracht kommende Einflüsse anbelangt, so könnte man gerade für die letzteren an einen Lagewechsel des Schultergürtels, sowie an die ontogenetisch noch nachweisbare, brustwärts gerichtete Wanderung des Herzens und der Lungen, bezw. an den allmählich sich anbahnenden Schwund des vordersten Cölomabschnittes denken. Im Bauchraum mag auch die, zumal in embryonaler Zeit, zu monströser Entfaltung gelangende Leber, sowie auch das, bestimmten Wachsthums-, Nahrungs- und Lagerungsver- hältnissen unterliegende Darmrohr von Einfluss gewesen sein. Dass das gesammte Rumpflumen bei den Vorfahren des Men- schen eine wesentlich andere, an die Säugethiere erinnernde Form besass, beweist die Entwicklungsgeschichte, ja selbst noch der An- blick des Neugeborenen. Hier — und darauf ist auch schon von anderer Seite aufmerksam gemacht worden — ist der sterno-verte- brale Durchmesser noch bedeutend grösser als der transversale; bald jedoch, und zwar Hand in Hand mit dem aufrechten Gang, bezw. mit der sich ändernden Belastung der Wirbelsäule, ändert sich dieses, und der Thorax, bezw. die Lungen, erfahren eine grös- sere Ausdehnung in querer Richtung. 179] DER Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 15 Wie ich oben bemerkte, scheinen die Veränderungen am oberen T'horaxende ungleich langsamer sich anzubahnen als am unteren. In Folge dessen spricht sich in der Siebenzahl der sog. wahren Rippen immerhin ein conservativerer Character aus. Eine gewisse Garantie hiefür liegt erstens in der mit den anatomischen und topographischen Verhältnissen der wahren Rippen auf’s Engste verknüpften rhythmischen Athmungsmechanik und zwei- tens in der im Bereich dieses T'horax-Abschnittes entspringenden und zur oberen Extremität, beziehungsweise zum Schultergürtel sich begebenden Musculatur. Letztere wird im Interesse einer möglichst ergiebigen Leistungsfähigkeit nothwendig von einer gewissen Summe gut fixirter Punkte — ich erinnere nur an den Serratus anticus und den Pectoralis major — ihren Ausgang nehmen müssen. Diese Punkte sind aber gerade durch den einen festen und dabei doch elastischen Knochenkürass darstellenden Complex der sieben oberen Rippen, des Brustbeines und des Schlüsselbeines gegeben und können, unbeschadet einer Einbusse an Arbeitsleistung seitens jener Musculatur, nicht ohne weiteres eine Rückbildung erfahren. C. Episternalapparat. Bei Amphibien und Reptilien existirt oral-, beziehungs- weise ventralwärts vom Sternum noch ein sogenannter Episternal- Apparat. Er setzt sich auch auf die Säugethiere fort und er- scheint hier in kräftiger Entwicklung bei Monotremen und Mar- supialiern. Bei Edentaten, Nagern und Insectivoren lassen sich an ihm zwei seitliche und ein mittlerer Abschnitt unterscheiden und diese Unterscheidung lässt sich zuweilen sogar noch beim Menschen in jenem Falle durchführen, wenn sich am oberen Rand des Brustbeinhandgriffes zwei kleine Knöchelchen, die sogenannten Ossa suprasternalia finden. Während es sich also hier um eine inconstante atavistische Erscheinung handelt, bilden die seitlichen Episternaltheile ein con- stantes Attribut des menschlichen Skeletes, ja sie haben sogar ihre von niederen Mammalia her vererbten nahen Lagebeziehungen zu den Schlüsselbeinen noch bewahrt. Kurz, es handelt sich um die Cartilagines interarticulares des Sternoclavieular-Gelenkes. In der, wenn auch unvollkommenen Beibehaltung des Epister- nalapparates zeigt der Mensch sogar ein conservativeres Verhalten, als manche Säugethiere, bei welchen der mittlere Abschnitt des 16 } WIEDERSHEIM : (1 80 Episternums vollkommen im Manubrium sterni aufgehen und jene Cartilago interarticularis nur noch durch ein fibröses Band zwischen Clavieula und Sternum dargestellt sein kann (Chiropteren). Was die im Manubrium sterni vorkommenden mehrfachen Össifieationspunkte für eine Bedeutung haben, müssen künftige Un- tersuchungen lehren; wahrscheinlich verdanken sie ihren Ursprung zum Theil den Sternalenden untergegangener Halsrippen. d. Schädel. Am Schädel sämmtlicher Wirbelthiere lassen sich bekanntlich zwei grosse Hauptabschnitte unterscheiden, ein cranialer und ein visceraler. Der craniale, welcher die Hirnkapsel darstellt, um- schliesst den vorderen Abschnitt des Centralnervensystems, steht in Beziehung zu den Sinnesorganen und wird in embryonaler Zeit basalwärts eine Strecke weit von der Chorda dorsalis durchzogen. Auf Grund dieses Verhaltens erweist er sich zum grössten Theil als eine weitere Fortbildung der Wirbelsäule. Der viscerale, beziehungsweise faciale Schädelabschnitt dagegen, ventralwärts vom cranialen angeordnet, steht in aller- nächster Beziehung zu jenem Abschnitt des Darmrohres, welchen man als Kopfdarm bezeichnet und dessen Seitenwände in fötaler Zeit von den Kiemenspalten durchbrochen sind. Das Auftreten der letzteren weist somit auf jene graue Vorzeit zurück, wo der Anfangsdarm, wie dies bei niederen Vertebraten heute noch der Fall ist, nicht allein der Nahrungsaufnahme diente, sondern auch respiratorischer Functionen fähig war. Dass das hiebei in Betracht kommende, zwischen die Kiemenspalten sich einschiebende Bogen- system beim Menschen eine beträchtliche Modification resp. Rück- bildung erfahren hat, kann in Anbetracht der biologischen Verhält- nisse nicht befremden. Das Wesentliche, worauf es hier für's Erste allein ankommt, ist die Constatirung eines dem Menschen, wie sämmtlichen Vertebraten zu Grunde liegenden gemeinsamen Schädelplanes. Wenn derselbe am ausgebildeten Skelet nicht mehr ohne Weiteres in derselben Klarheit zu Tage tritt, wie dies bei niederen Wirbelthieren der Fall ist, so liegt der Grund davon in einer Reihe von Anpassungserscheinungen, welche durch äussere Verhältnisse hervorgerufen und durch Vererbung stetig fixirt wurden. Hierauf ganz besonders aufmerksam zu machen, erscheint beim mensch- 181] Der Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. jkrA lichen Kopfskelet um so nothwendiger, da gerade dieses auf den ersten Anblick eine Ausnahmestellung unter den Schädeln der übrigen Vertebraten beanspruchen zu können scheint. Dies gilt nicht nur gegenüber den niederen Wirbelthieren, sondern sogar auch im Hinblick auf die Anthropoiden, die doch in ihrem übrigen Skeletbau so viel Uebereinstimmendes mit dem des Menschen besitzen. Es erscheint daher von Interesse, auch in jener Hinsicht beide genau zu prüfen, das Abweichende hervorzu- heben und womöglich zu erklären. Was vor Allem bei einem derartigen Vergleich in die Augen springt, ist das umgekehrte Verhalten des Hirn- und Gesichts- schädels. Dem zu einer stattlichen, rundlich-ovalen Knochenkapsel entfalteten Oranium des Menschen steht der ungleich kleinere, mit mächtigen Leisten und Höckern versehene Hirnschädel eines Orang oder Gorilla gegenüber. Diese hinwiederum — und dahin ge- hören auch die übrigen Anthropoiden — zeichnen sich durch massige Entwicklung des Gesichts-, in specie des Kieferskelets aus, während dieses beim Menschen dem Hirnschädel offenbar untergeordnet er- scheint. Dies tritt um so prägnanter hervor, je frühere Alters- stufen man daraufhin untersucht. Zieht man nun aber jüngere Anthropoidenstadien zum Vergleiche herbei, so verwischen sich die Unterschiede immer mehr, wie es denn eine bekannte Thatsache ist, dass nicht nur das Kopfskelet, sondern auch die Gesichtszüge Junger Affen einen entschieden menschenähnlichen Typus besitzen. Kurz, man kann mit Sicherheit behaupten, dass die später auftretende Divergenz erst post partum einsetzt, um dann mit den Jahren in immer charakteristischer Weise sich herauszubilden. Der Grund dieser Erscheinung kann nicht zweifelhaft sein. Er liegt in der hohen Entwicklungsstufe des menschlichen Gehirns, welches hier wie in der ganzen Vertebratenreihe geradezu als das formative Princip des Craniums zu betrachten ist und welches nach der Geburt noch lange, ja bis in die Blüthe der Jahre hinein fort- wächst, bis beim Manne der kaukasischen Rasse ein mittleres Ge- wicht von 1375 Gramm erreicht ist. So spärliche Nachrichten auch bis jetzt über das Hirngewicht niederer Menschenrassen vorliegen, so scheint doch das mit Sicher- heit daraus entnommen werden zu dürfen, dass es und ich habe dabei Malayen, Indianer, Neger, Hindus, Australneger und Tasmanier im Auge — ungleich geringer ist, als dasjenige des kaukasischen Stammes. Dies — und darauf weisen auch die ältesten, Berichte II. Heft 1—12. 2 (13) 18 WIEDERSHEIM : [182 in Europa gefundenen Schädel, sowie die tertiären Säugethiere Amerikas hin — würde unzweifelhaft zur Annahme eines kleineren Hirnschädels berechtigen, allein wenn sich dies auch durch weitere Untersuchungen bestätigen sollte, so würde doch die Kluft zwischen den Volumverhältnissen des Menschen- und Anthropoiden-Craniums, welch’ letzteres 427 cbem (Chimpanze) bis 557 cbem (Gorilla), also nicht einmal die Hälfte des Schädelvolumens der oben aufgeführten Menschenrassen umfasst, dadurch nicht entfernt ausgefüllt. Die Ursache des Missverhältnisses zwischen beiden beruht offenbar darin, dass das Affenhirn nach der Geburt keine sehr bedeutenden Fort- schritte mehr macht, und das gilt nicht nur für sein Volum im All- gemeinen, sondern sicherlich auch für die mikro-anatomischen Ver- hältnisse, wie namentlich für diejenigen des Rindengraues. Dafür ist nun aber der Anthropoidenschädel ausgerüstet mit einem mäch- tigen Kieferskelet, das von gewaltigen Muskeln beherrscht und mit furchtbaren Zähnen bewaffnet ist. In diesser ausserordentlichen Entfaltung der den Eingang zum Darmsystem umgebenden vegetativen Sphäre des Kopfskelets liegt im Kampf ums Dasein offenbar ein compensatorisches Verhalten, und was speciell das Gebiss, als den Regulator der Kieferform und -stärke betrifft, so werde ich später Gelegenheit haben, noch ein- mal darauf zurückzukommen. Durch diese Darlegung der typischen Ausgestaltung des Kopf- skelets auf Grund bestimmter Factoren hoffe ich gezeigt zu haben, dass der menschliche Schädel denselben Einflüssen unterliegt wie der thierische und dass es sich bei beiden im Grunde nur um ver- schieden gerichtete Anpassungserscheinungen handelt. Damit ist allerdings keine ganz befriedigende Erklärung gegeben, insofern dadurch die Ursache eben jener Verschiedenheit der Anpassung, d.h. beim Menschen nach der cerebralen, psychischen, beim Anthro- poiden nach der vegetativen Seite hin unaufgehellt bleibt. Dass diese divergenten Entwicklungsbahnen von einem in- differenten Stadium aus schon sehr lange betreten worden sein müssen, beweist nicht nur der bei Anthropoiden sowohl wie beim Menschen in sich abgeschlossene und scharf differenzirte Schädel- typus, sondern auch der Umstand, dass stärkere Abweichungen, welche unzweifelhaft als atavistische zu deuten wären, am mensch- lichen Kopfskelet im Allgemeinen nicht zu den häufigsten Vor- kommnissen gehören. Alles erscheint hier fertig, gut fixirt und scharf individualısirt. 183] “Der Bau Des MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 19 Ich sehe dabei ab vom Gebiss, wo jener Satz durchaus nicht anwendbar wäre; ich sehe aber auch ab von allen mikrocephalen und teratologischen Erscheinungen überhaupt, obgleich man gerade in neuerer Zeit daraus wieder mehr als je Capital für die Ergründung der Urgeschichte des menschlichen Schädels zu schlagen sucht. Es ist ja möglich, dass in jenen Fällen, insofern sie gewiss häufig genug mit Hemmungsbildungen combinirt sind, da und dort Fingerzeige liegen für frühere primitive Entwicklungszustände, allein die pathologischen Beimischungen sind doch in der Regel so stark, dass keine sicheren Schlüsse zu ziehen, sondern vielmehr auf Schritt und Tritt Trugbilder zu gewärtigen sind. Ein Beispiel dafür mag genügen: Von P. Arzrzcrr wurde theils an pathologischen, theils an normalen (fötalen) Schädeln ein kleiner Knochen nachgewiesen, der seine Lage zwischen dem Körper des Hinterhauptbeines und dem des hinteren Keilbeines hat und so an ein Wirbelcentrum erinnert. Da dieses „Basioticum* zu den Felsenbeinen in gleichen Lagebeziehungen sich befindet, wie das Basioceipitale zu den Exoccipitalia, so liess sich Arnzrecnr verleiten, die Felsenbeinpyramiden mit Wirbeltheilen (Neurapophysen) zu vergleichen, eine Annahme, über deren Unwahrscheinlichkeit ich wohl keine weiteren Worte zu verlieren brauche. Grariorer hat festgestellt, dass sich das Verstreichen der Nähte bei höheren Menschenrassen in anderer Reihenfolge voll- zieht, als bei niederen. So beginnt der Process bei den letzteren wie bei den Affen stets vorne in der Frontalregion des Schädels, bezw. an der Fronto-Parietalgrenze und schreitet von hier aus nach hinten fort. Daraus resultirt selbstverständlich eime frühzeitige Be- schränkung der Vorderlappen des Gehirns, während dieselben bei höheren (weissen) Rassen, wo die Fronto-Parietalnaht erst nach Ver- streichen der Sutura parieto-oceipitalis zur Verknöcherung kommt, einer weiteren Entwicklung fähig sind. Es liegt nahe genug, darin eine der Ursachen für die intellectuelle Differenz zu erblicken. Ob aber jenes ziemlich häufige Offenbleiben der Frontalnaht als eine weitere Fortbildung jenes Verhaltens, oder aber im Gegentheil als Ausdruck einer niedrigen Entwicklungsstufe zu betrachten ist, ist nicht leicht zu entscheiden. Bei letzterer Annahme hätte man, da es auch bereits bei manchen Säugethieren (Affen, Insectivoren, Chiropteren, Monotremen u. a.) za einem Zusammenfluss beider Stirnknochen kommt, an einen Rückschlag auf niedere Vertebraten zu denken, ein Fall, welcher, wie aus den vorliegenden Unter- 2* (13%) 20 ) WIEDERSHEIM: | 184 suchungen zur Genüge zu ersehen sein wird, beim Menschen durch- aus nicht vereinzelt dastehen würde. Am wahrscheinlichsten däucht mir, dass beide Auffassungen insofern sich miteinander vereinigen lassen, als man annehmen kann, dass die von niederen Vorfahren her vererbte ursprünglich getrennte Anlage der Knochen unter dem Einfluss und im Interesse der oben schon erwähnten, starken Ent- faltung der Vorderlappen des Gehirns dann und wann beibehalten und so nutzbar gemacht werden kann. Eine besondere Aufmerksamkeit erheischt, worauf GEGENBAUR (Lehrbuch der Anatomie des Menschen) mit Recht aufmerksam macht, ein im hinteren unteren Winkel des Stirnbeins vorkommender selbst- ständiger Verknöcherungspunkt. Es handelt sich dabei um jenen Abschnitt des Knochens, welcher an die Ala magna des Keilbeins angrenzt und da dieser Theil beim Neugeborenen noch Spuren einer Trennung erkennen lässt, so könnte man dabei an das hintere Stirnbein niederer Vertebraten denken. Wenden wir uns nun zur Betrachtung jener Schädelpartie, wo die Scheitelbeine bei normalem Verhalten unter Erzeugung der sog. Lambda-Naht mit der Hinterhauptsschuppe zusammenstossen. Nicht selten begegnet man hier, genau in dem zwischen die Parietalia einspringenden Winkel, einem selbständigen Deckknochen, dem sogenannten Interparietale. Dieser Knochen, welcher vielen Säugethieren constant zukommt und auch bei verschiedenen Menschen- rassen verschieden häufig zu persistiren scheint, legt sich, wenn er auch später unter normalen Verhältnissen mit der Squama ossis oc- cipitis zu einer Masse verschmilzt, stets noch in der Fötalperiode in discreter Form an und da sich an ihm zwei Ossificationscentren unterscheiden lassen, so ist dadurch seine ursprüngliche paarige Natur erwiesen. Da das Interparietale sogar beim Neugeborenen noch durch eine von jeder Seite einschneidende Spalte von dem anstossenden (knorpelig präformirten) Occipitale superius getrennt ist, so erlaubt dies den Schluss, dass jener Knochen in selbstän- diger Form dem Menschen vor nicht gar zu langer Zeit verloren gegangen sein muss. Ebenfalls in atavistischem Sinne. zu deuten ist ein zuweilen nach hinten und aussen vom Foramen jugulare auftretender Fort- satz, an welchem sich der Muse. rectus capitis lateralis inserirt. Er entspricht dem Processus paramastoideus vieler Säugethiere, wo er besonders bei Huf- und Nagethieren zu starker Entwicklung gedeiht. 185] Der Bau Des MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 3] Der letzte, im Bereich des Hinterhauptbeines liegende, er- wähnenswerthe Punkt betrifft die mediane Partie der Linea nuchae superior !). Hier kommt es zuweilen zur Entwicklung eines starken, mitunter bis auf die Linea nuchae suprema sich erstreckenden Knochenwulstes (Torus occipitalis), der nach den Untersuchungen von Ecker bei gewissen Rassen verbreitet ist und die mächtige Crista oceipitalis der Affen vertritt. Was das Keilbein betrifft, so erscheint sein langgestreckter Körper beim normal ausgebildeten, erwachsenen Schädel einheitlich und fliesst in einem gewissen Lebensalter bekanntlich sogar noch mit der Pars basilaris ossis occipitis zu einer untrennbaren Masse zusammen. Ein Vergleich mit dem Säugethier- sowie mit dem embryonalen Schädel des Menschen zeigt jedoch, dass es sich dabei um eine Reihe erst secundär mit einander verschmelzender Knochen- territorien handelt. Die Schädelbasis ist somit ursprünglich mehr- gliederig zu denken, obgleich dabei wohl zu beachten ist, dass auch jene Gliedstücke schon secundäre Erscheinungen darstellen und im Sinne einer ursprünglichen Metamerie des Schädels nicht verwerthbar sind. Mit andern Worten: sie bilden nicht den Aus- druck einer mit den embryonalen Somiten correspondirenden, prim- ordialen Gliederung, wie dies am besten durch die van Wyur’schen und Frorırr’schen Untersuchungen über die Anlage des Nervus hypoglossus dargethan wird (vergl. die Hirnnerven). Wie die vergleichende Anatomie beweist, bilden die Orbital- und Temporalgrube ursprünglich einen einheitlichen Raum und auch beim menschlichen Embryo, ja sogar noch beim Neugeborenen ist jener primitive Zustand durch eine viel weiter klaffende Infraorbitalspalte noch angedeutet. Später aber tritt durch weiteres Vorwachsen und endliche Verlöthung des grossen Keilbeinflügels mit dem Jochbein eine bedeutende Beschränkung ein. Bevor dies geschieht, sind auch das Stirn- und das Jochbein bereits zu gegenseitiger Verbindung ge- langt und in diesen beiden Beziehungen des Jochbeins zum Os frontale einer- sowie zum Os sphenoidum andererseits liegt ein charak- teristisches Merkmal der Primaten gegenüber den übrigen Säuge- thieren. Damit steht auch ihre späte Ausbildung in der Entwicklung '!) Ob die an Stelle der Crista occipitalis interna zuweilen auf- tretende, zur Aufnahme des Vermis cerebelli dienende Furche („fossette ver- mienne“, ALgrecut) oder Grube in atavistischem Sinne zu deuten ist, wage ich nicht zu entscheiden. 223 WIEDERSHEIM: [186 des Menschen in Uebereinstimmung, während die Beziehungen des Jochbeins zum Oberkiefer und Schläfenbein ontogenetisch und phylo- genetisch viel früher auftreten. Unter gewöhnlichen Verhältnissen erstreckt sich der obere Rand der Ala magna des Keilbeins bis an den vorderen unteren Winkel des Scheitelbeins. Diese Verbindung wird in jenen sehr seltenen Fällen unterdrückt, in denen die Schläfenschuppe von ihrem vorderen Rand aus einen Fortsatz bis zum Frontale herüberschickt. Dieser sogenannte Processus frontalis ist deshalb bemerkens- werth, weil er bei Säugethieren in weiterer Verbreitung vorkommt und vielleicht auch beim Menschen den Werth eines Rassenmerk- males besitzt (Neger und Australneger). Die in der Regel getrennt bleibenden Nasenbeine verschmelzen zuweilen mit einander zu einem Stück, eine Eigenthümlichkeit, die bei niederen Rassen, wie z. B. Patagoniern und bei südafrikanischen Volksstämmen, viel häufiger zu beobachten ist. Offenbar handelt es sich hierbei um einen Atavismus, denn bei den Affen bildet jene Verschmelzung die Regel. Aehnliche Gesichtspunkte ergeben sich in jenen seltenen Fällen für das Thränenbein, wo eine abnorme Vergrösserung des Hamulus- endes den Knochen wie bei vielen Säugethieren gleichsam in die Gesischtsfläche gerückt erscheinen lässt (GEGENRAUR). Am Oberkiefer besitzt jener die Schneidezähne tragende Theil deswegen ein ganz besonderes Interesse. weil er, wie dies die Ent- wicklungsgeschichte lehrt, ursprünglich einem besonderen Knochen, dem Zwischenkiefer (Os prae- oder intermaxillare) entspricht. Darin ist ein uraltes Erbstück zu erblicken, das von den Fischen an durch die ganze lange Vertebraten-Reihe hindurch mit zähester Constanz in jedem Schädel wieder erscheint. Während nun aber das Praemaxillare bei weitaus der grössten Zahl der Wirbelthiere ein selbständiger Knochen bleibt, verschmilzt es bei den Pri- maten mit den anstossenden Theilen des Oberkiefers zu einer Masse und zwar beim Menschen in der Regel bald nach der Geburt, bei den meisten Affen dagegen viel später. Manche Anthropoiden nähern sich übrigens hierin mehr dem Menschen (Ti. BraxcHarn). Nur in äusserst seltenen Fällen — und diese betreffen dann in der Regel niedere Menschenrassen (Neger, Australneger) — bleibt es, bei sonst normalen Schädeln, in seinem ganzen Umfang auch in späteren Jahren noch getrennt. Eine theilweise Erhaltung seiner Selbständigkeit dagegen 187] Der Bau pes MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 23 gehört bei allen Rassen zu den häufigsten Befunden, obgleich auch hier die Prognathie, also wieder ein niedrigerer Entwieklungs- typus, ein prädispondirendes Moment zu bilden scheint. In welch prägnanter Weise die ursprünglich selbständige An- lage des Zwischenkiefers bei Hasenscharten zu Tage tritt, ist be- kannt und was die Zahl der betreffenden Schneidezähne anbelangt, so werde ich bei der Besprechung der Mundhöhle darauf zu sprechen kommen. Für jetzt sei nur noch erwähnt, dass die beim Menschen häufig genug zu constatirende Doppelnatur einer jeden Zwischen- kieferhälfte durch die vergleichende Anatomie keine Erklärung erhält. Was endlich das Visceralskelet anbelangt, so erfährt es aus früher schon entwickelten Gründen starke Reductionen und Umbildungen. Das proximale Ende des ersten Kiemenbogens, des MEckkr- schen Knorpels, auf welchem die einem Dentale entsprechende knöcherne Anlage des Unterkiefers erfolgt, wächst in das Cavum tympani hinein und schnürt sich 2mal ab: 1) zum Ambos und 2) zum Hammer. Jener entspricht dem Quadratum, dieser dem Articulare niederer Wirbelthiere und man kann also sagen, dass Theile des primitiven Mandibularbogens, die sonst an der äusseren Peripherie des Schädels gelagert sind und zum Theil als Suspensorial- apparat für den Unterkiefer fungiren, beim Menschen, wie bei den Säugethieren überhaupt, in das Innere des Kopies verlegt werden, um hier in den Dienst des Gehörorgans zn treten. Somit wäre das Unterkiefergelenk der Säuger nicht homolog demjenigen der übrigen Vertebraten, bei welch’ letzteren es sich um eine Arti- culatio quadrato-mandibularis resp. quadrato-articularis handelt. Eine Spur des ehemaligen Zusammenhanges zwischen dem Hammer und seinem Mutterboden, der Cartilago Meckelii, bleibt lange Zeit erhalten, indem sich ein Fortsatz des Hammers, der sog. Processus folianus, durch die Graser’sche Spalte zum Unter- kiefer herab erstreckt. Es ist dies ein im Perichondrium des Meckzn’schen Knorpels entstehender Deckknochen, der nach KörLuıker dem Angulare der niederen Wirbelthiere entspricht. Der 2. primordiale Kiemenbogen, aus dessen proximalem Ende wahrscheinlich das 3. Gehörknöchelchen, der Stapes, her- vorgeht, verbindet sich weiterhin mit dem Boden der Ohrkapsel und distalwärts mit dem 3. Visceral-, d. h. mit dem ersten, eigent- D4 WIEDERSHEIN: 1188 lichen Kiemenbogen. Die dazwischenliegende Strecke, anfangs knor- pelig, kann ganz oder theilweise verknöchern, wird aber meistens in ihrer grössten Länge in ein fibröses Band umgewandelt. Das pro- ximale Ende wird zu dem, ungemein zahlreichen Variationen unter- liegenden Processus styloideus des Felsenbeins, das distale zu den kleinen Hörnern des Zungenbeins. Letzteres baut sich im übrigen auf aus einem Mitttelstück (Corpus) und den nach hinten davon abgehenden grossen Hörnern. Jenes ist also im Sinn eines Basibranchiale zu deuten, wührend diese dem dazu gehörigen 1. Branchial-, d. h. dem 3. primordialen Kiemen- bogen entsprechen. Ausserdem aber verbinden sich damit, wie oben schon erwähnt, auch noch die kleinen Zungenbeinhörner. Der ganze, so gestaltete „Zungenbeinapparat“, welcher innige Beziehungen zur Halsmusculatur gewinnt, tritt durch eine Membran (Ligamentum thyreo-hyoideum) in Verbindung mit dem oberen Rand des Kehlkopfes, dessen Schildknorpel im Blastem des 4. pri- mordialen Kiemenbogens entsteht. e. Gliedmassen. In den Skeletverhältnissen der oberen (vorderen) und unteren (hinteren) Extremität des Menschen herrscht, trotz der verschieden- artigen physiologischen Leistungen, unverkennbar ein und derselbe Bildungstypus. Dies spricht sich nicht nur aus in einer streng homologen Gliederung der freien Extremitäten, sondern wird auch durch die vergleichende Anatomie und die Entwicklungsgeschichte bestätigt. Ohne hier auf den alten Streit über die Stammesgeschichte der Gliedmassen näher eintreten zu wollen, erachte ich es doch für angezeigt, meine Stellung zu jener Frage hier kurz noch einmal zu präcisiren. Ich betrachte mit A. Donrv die Gliedmassen der Wirbelthiere als Auswachsproducte der einzelnen Leibessegmente, trete also für ihren ursprünglich metameren Charakter ein und erblicke darin einen weiteren Beweis (vergl. die übrigen Organ- systeme des vorliegenden Aufsatzes) für die Abstammung der heutigen Vertebraten von gegliederten, wirbellosen Urformen. In der vor- deren wie in der hinteren Extremität steckt also phylogenetisch eine gewisse Summe von Somiten-Abschnitten, mit den zugehörigen Muskeln und Nerven, welche beide in Folge functioneller Anpassung selbstverständlich starke Modificationen erfahren mussten. Diese hier 189] Der Bau Des MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 25 näher zu beleuchten, kann nicht meine Aufgabe sein und ich ver- weise zu diesem Behufe auf die 2. Auflage meines Lehrbuches der vergleichenden Anatomie der Wirbelthiere, wo ich diesen Stoff auf breitester Basis gründlich erörtert habe. Gleichwohl sei hier wenig- stens in der Kürze darauf hingewiesen, dass jene functionellen An- passungen an der vorderen und hinteren Extremität um so ge- ringere Verschiedenheiten erkennen lassen, je weiter man ‘in der Wirbelthier-Reihe nach abwärts geht; ja man wird schliesslich — und ich habe dabei die Fische im Auge — einen Ausgangspunkt völliger Indifferenz für beide constatiren können. Dem umgekehrten Verhalten wird man bei höheren Typen begegnen, so vor allem bei Vögeln und Säugethieren. Bei jenen hat sich, unter cor- relativen Anpassungen der Wirbelsäule und des Beckens, das ganze Körpergewicht auf die hinteren Extremitäten übertragen, welche sozusagen zu einem Stativ geworden sind, während die vorderen, ihrer ursprünglichen Function als Stützorgane entbunden, d.h. ent- lastet und im ein Flugorgan umgebildet wurden. Um einen ganz ähnlichen Vorgang handelt es sich bei manchen Säugethieren — zumal bei höheren — wie beim Menschen, wo sich die vorderen Gliedmassen aus einem Gehwerkzeug in ein Greif- organ umgebildet haben, kurz, wo aus einem Vorderfuss eine Hand geworden ist. Schultergürtel und Oberarm. Eine Vergleichung der vorderen Extremitäten des Menschen mit denjenigen der niederen Vertebraten, wie vor allem der Fische und Amphibien, ferner eine genaue Analyse ihrer Muskeln und Nerven nach Richtung und Lage zum Rumpfe, beziehungsweise zum Rückenmark lässt darauf schliessen, dass der Schultergürtel und damit auch die ganze freie Gliedmasse des Menschen ursprüng- lich weiter nach vorne, gegen den Kopf zu, gelegen haben muss. Die Rückwärtswanderung erfolgte, wie oben schon angedeutet wurde, höchstwahrscheinlich unter gleichzeitigem Schwund der früher schon besprochenen Halsrippen, ja der Verlust der letzteren gab sicher- lich insofern sogar eines der dafür bestimmenden Momente ab, als sich dadurch das Schulterblatt sammt dem Schlüsselbein gezwungen sah, stets weiter abwärts einen Fixationspunkt auf dem Thorax zu gewinnen. Was nun zunächst den Schultergürtel betrifft, so lehrt eine 26 WIEDERSHEIM: [190 Betrachtung der Amphibien und Reptilien, dass er sich hier im wesentlichen aus zwei Hauptstücken, einem dorsalen und einem ventralen zusammensetzt. Jenes ist die nur durch Muskeln am Thorax fixirte Scapula, dieses das Coracoid, welches sich bei Amphibien mit starker Ver- breiterung in der ventralen Mittellinie über das der anderen Seite herüberschiebt und sich mit ihm durch Bindegewebe verlöthet. Seine Verbindung an dem verschwindend kleinen Brustbein erscheint noch von keinem grossen Belang; wohl aber ist dies bereits der Fall bei Sauropsiden, sowie auch noch bei den niedersten Säuge- thieren, bei den Monotremen (vergl. das Capitel über das Sternum). Weiter nach aufwärts aber in der Reihe der Mammalia entzieht sich das Rabenschnabelbein jener Verbindung um so mehr, je statt- licher sich das 2. ventrale Schultergürtelelement, das Schlüssel- bein entwickelt. Dadurch erhält die Scapula wieder einen Stütz- punkt am Brustbein und zugleich erreicht die Extremität, indem sie durch jenen Strebepfeiler weit vom Rumpfe abgehoben wird, eine ungleich freiere Beweglichkeit als zuvor. An Stelle des früheren Rabenschnabelbeins liegt beim Men- schen nur noch ein dem oberen Rand des Schulterblattes angefügter Fortsatz, der Processus coracoideus. Derselbe dient zum Ansatz und Ursprungspunkt gewisser Bänder und Muskeln, bethätigt aber seine ehemalige Selbständigkeit und höhere Bedeutung dadurch, dass er auch beim Menschen noch am Aufbau der Schultergelenkspfanne sich betheiligt und dass er, obgleich in einem Knorpelcontinuum mit der Scapula entstehend, noch einen besonderen Ossifications- punkt besitzt, der erst nach dem 16.—18. Jahre mit der knöchernen Scapula verschmilzt. Die Scapula selbst stellt beim Menschen bekanntlich einen platten, ausnehmend breiten Knochen dar, und hierin spricht sich unzweifelhaft eine functionelle Anpassung aus an eine überreich ent- faltete Schultermusculatur. Dem entsprechend finden wir das Schulter- blatt bei Thieren, deren vordere Extremitäten als einfache Gehwerk- zeuge einer geringeren Beweglichkeit fähig sind, lange nicht so stark verbreitert, und dies gilt besonders für ihren medialen oder hinteren Rand, die sog. Basis. Es ist deshalb von hohem Inter- esse, an der Hand der Rassen-Anatomie (Neger und Australneger), sowie der menschlichen Entwicklungsgeschichte den Beweis führen zu können, dass jene stattliche Ausdehnung des medialen Abschnittes der menschlichen Scapula, zugleich mit einer immer schärferen 191] Der Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT, 97 Differenzirung der Spina, ebenfalls erst secundär erworben zu denken ist, und dass sie in directer Proportion steht zu der erst allmählich sich steigernden, physiologischen Leistungsfähigkeit der oberen Ex- tremität. Welch nahe Beziehungen zwischen der letzteren und emer kräftigen Entfaltung der Clavicula existiren, habe ich oben schon betont. Die hohe Bedeutung des Schlüsselbeins erhellt aber auch schon daraus, dass es in einer gewissen Entwicklungsperiode den zuerst ossificirenden, kräftigsten Abschnitt des ganzen menschlichen Skeletsystems darstellt. Als störend erscheint für einen Parallelisirungsversuch der oberen und unteren Extremitäten, abgesehen von dem in ver- schiedenen Richtungen sich öffnenden Knie und Ellbogen, die ab- weichende Lagerung der offenbar homologen Knochen des Vorder- armes und des Unterschenkels. Erst durch die trefflichen Arbeiten von Marrıns und GEGENBAUR lernte man den Grund der Verschieden- heiten richtig darin erkennen, dass beim Humerus während der Entwicklung eine wirkliche Spiraldrehung stattfindet, hervorge- rufen durch „Wachsthumsveränderungen im Epiphysenknorpel, An- bildung von Knochengewebe an dieser, Resorption an jener Stelle. Das distale Ende hat demnach seine ursprünglich vordere Fläche nach hinten, die hintere nach vorne gekehrt. Durch Vergleichung des Verhaltens von Embryonen mit dem Erwachsenen ergibt sich die Drehung in einem Winkel von ca. 35° (GEGENBAUR). Es ist von hohem Interesse zu beobachten, wie diese Humerus- Torsion durch die ganze Säugethierreihe, sowie durch die niederen Menschenrassen hindurch bis zum Kaukasier in progressiver Zu- nahme begriffen ist. Ja nach Broca würde sich sogar eine Steige- rung derselben nach verschiedenen Epochen einer und derselben Rasse nachweisen lassen. Ob die hie und da beim Menschen zu beobachtende Durch- brechung der Fossa olecrani in atavistischem Sinne zu deuten ist, wage ich nicht zu entscheiden. R. Braxcuarn führt als Be- weis dafür die Affen, wie namentlich die Anthropoiden, wo jene Perforation die Regel zu bilden scheint, in’s Feld. Auch bei süd- afrikanischen Völkern soll sie sich häufig finden und ebenso an Skeletten aus der Steinzeit; von hier an soll dann durch die ver- schiedenen Jahrhunderte hindurch bis auf die Jetztzeit eine succes- sive Abnahme zu constatiren sein. An der ulnaren Seite des Humerus, wenige Öentimeter ober- 98 WIEDERSHEIN : [192 halb des Condylus internus, ragt zuweilen ein knöcherner, hacken- förmig gebogener Fortsatz (Processus supracondyloideus) her- vor, von dem ein fibröser Strang zum Epicondylus sich hinzieht. Durch dieses so gebildete Thor zieht der Nervus medianus hindurch und ein Vergleich zeigt, dass jener Fortsatz in der Thier- reihe eine sehr grosse Verbreitung und ein sehr hohes Alter be- sitzt. Er findet sich — und zwar zuweilen in eine geschlossene Knochenspange umgewandelt — nicht allein bei zahlreichen Säugern, sondern auch schon bei Reptilien, ja sogar schon bei den von R. Owen beschriebenen triassischen Sauriern Südafrikas. Hand und Fuss. Ein ganz besonderes Interesse erheischt das Hand- und Fuss- skelet des Menschen, obgleich die hierüber angestellten Unter- suchungen noch keineswegs als ganz abgeschlossen zu betrachten sind. Was zunächst den Carpus anbelangt, so ähnelt er am meisten demjenigen der Urodelen und Chelonier. In der proximalen Reihe begegnet man den drei bekannten Knochen, nämlich dem Radiale (Naviculare), Intermedium (Lunatum) und Ulnare (Triguetrum). In der distalen Reihe liegen, vom radialen Rand aus gezählt, das Carpale 1 (Multangulum majus), Carpale 2 (Mul- tangulum minus), Carpale 3 (Capitatum) und Carpale 4 (Unci- natum). Dieser Knochen articulirt mit 2 Metacarpen, nämlich mit dem 4. und 5., und weist dadurch schon auf seine ursprüngliche Doppelnatur zurück. Letztere erhellt auch, ganz abgesehen von dem Carpalskelet niederer Wirbelthiere, daraus, dass sich ein Zerfall dieses Knochens zuweilen nicht nur beim Menschen, sondern auch bei den verschiedensten Säugethieren (Beutler, Nager, Ziphius |Hyperoodon]) angedeutet findet. Allen, welche mit der vergleichenden Osteologie einigermassen vertraut sind, ist bekannt, eine welch’ grosse Rolle das Os cen- trale als ein integrirender Bestandtheil im Hand- und Fusswurzel- skelet der Vertebraten spielt. Diese seine hohe Bedeutung zuerst richtig erkannt und ge- würdigt zu haben, ist das unbestrittene Verdienst ©. GEGENBAUR’S und alle nach dem Jahre 1864 gemachten Untersuchungen hatten von seinen auf breitester Basis gewonnenen Resultaten auszugehen. Sie erstreckten sich auf Vertreter aller Haupttypen der terrestri- schen Wirbelthiere und nur in einem einzigen Punkt vermochte 193] Der Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 29 GEGENBAUR zu keinem ganz befriedigenden Abschluss zu gelangen. Dieser betraf den Menschen selber, für welchen es erst 10 Jahre später Rosexgers vorbehalten war, das Centrale in einer früheren Entwicklungsperiode (zu Anfang des 2. Fötalmonates) als constantes und typisches Carpalelement nachzuweisen. Damit war die Kette geschlossen und der Mensch derselben als letztes Endglied angefügt. Bald fanden die Befunde Rosexgere’s von verschiedenen Seiten, so z. B. von Lesoucg und BArDELEBEN, nicht nur ihre Bestätigung, sondern auch einen weiteren Ausbau. So ‚wurde durch Lesouc« nachgewiesen, dass das Centrale nicht, wie RosexßBers angenommen hatte, bald nach seinem Auftreten wieder verschwinde, d. h. resor- birt, sondern dass es in der 2. Hälfte des 3. Embryonalmonates in das Radiale (Naviculare) aufgenommen werde und hier eine zeitlebens erkennbare Prominenz desselben darstelle. Ganz dasselbe Verhalten beobachtet man beim Chimpanze, Gorilla und Hylo- bates leucisceus, und da sich auch hier das Auftreten eines dis- creten Centrale in embryonaler Zeit mit Sicherheit annehmen lässt, so folgt daraus, dass es hier sowohl wie beim Menschen seine selb- ständige Existenz noch nicht lange aufgegeben hat. Dafür spricht auch der Umstand, dass es sich in 0,4°o der Fälle als selbständiger Knochen auch noch beim Erwachsenen !) erhält, wie dies beim Örang und der Mehrzahl der übrigen Affen heute noch die Regel bildet. Ob für den Menschen, wie dies von BArperzrex behauptet wird, ursprünglich ein doppeltes Centrale, nämlich das oben be- schriebene und dann noch ein zweites, was später im „Kopf“ des Os capitatum enthalten wäre, anzunehmen ist, müssen weitere Unter- suchungen zeigen. Sollte sich, was im Hinblick auf Befunde an Inseetivoren und Raubthieren nicht unwahrscheinlich ist, jene Annahme bestätigen, so hätten wir darin ein uraltes Erbstück von Amphibien und zum Theil auch von Reptilien her zu erblicken. (Vergl. meine Aufsätze über ein doppeltes Centrale bei Amphibien im II., III. und IV. Band des Morphol. Jahrbuches.) Wie sich also das Carpale 3 (Capitatum) des Menschen mit der Zeit vielleicht in mehrere Stücke auflösen lassen wird, so gilt dies nach Barveresey auch uoch für andere Carpalknochen, wie z. B. für das Intermedium (Lunatum) und das Ulnare (Triquetrum). !), W. GruBER war der Erste, welcher das Os centrale vom Erwach- senen beschrieben hat. 30 ' WIEDERSHEIM: [194 Allein auch hier ist Alles noch in der Schwebe, und ob der Carpus und Tarsus der Säugethiere, worauf die BArpeL£Ren’schen Ergebnisse hinzuweisen scheinen, ursprünglich aus 17 oder doch aus 15 Stücken bestanden hat, erfordert noch eine genaue Controlle. Wenn auch hierin also noch Vieles den Character des Un- sicheren und Schwankenden trägt, so scheint dafür ein anderer Be- fund Barperuesen’s als eine sichere und höchst werthvolle neue Errungenschaft auf dem Gebiet der vergleichenden Skeletlehre be- trachtet werden zu dürfen. Es handelt sich um den Nachweis, dass nicht die pentadactyle, sondern die heptadactyle Form den Ausgangspunkt für die Hand und den Fuss des Men- schen gebildet hat. Schon vor einer längeren Reihe von Jahren wurde das von früheren Autoren als „os hors du rang“ bezeichnete Erbsenbein von GEGENBAUR als die Spur eines „6. Strahles“ aufgefasst.' Erwägt man, dass bei gewissen Amphibien auch in der dor- salen Carpalreihe ulnarwärts noch ein selbständiges 6. Carpale existirt und dass auch bei den Insectivoren hinter dem Meta- carpus V noch ein besonderer Knochen vorkommt, so muss die Auffassung jener Reste als Spuren eines verloren gegangenen ulnaren Fingers als vollkommen berechtigt erscheinen. Ja sie er- hält noch eine weitere Stütze durch die von BArperzesen wahr- scheinlich gemachte, discrete Anlage des Processus styloideus ulnae beim menschlichen Embryo und möglicherweise ist auch die am distalen Ulna-Ende liegende Cartilago triangularis berufen, dabei später noch eine Rolle zu spielen (vergl. das Fussskelet). Abgesehen nun von diesen Resten eines verlorenen Strahles am ulnaren Carpalrand, gibt es solche auch am radialen. Es handelt sich um die sog. Cartilago marginalis oder den Prae- pollex (Auzrecur). Dieses Gebilde, welches sich auch schon bei gewissen Amphibien und Reptilien vorfindet, ist unter den Säuge- thieren nicht nur beim Menschen nachgewiesen, sondern auch bei Affen, Fledermäusen, Insectivoren, Nagern, Carnivoren, Edentaten und amerikanischen Beutlern, kurz bei allen Haupt- gruppen der Mammalia. Wir haben es also auch mit einem verloren gegangenen radialen Finger zu thun und neuere Untersuchungen Barpr- LEBEN’s weisen darauf hin, dass sich Spuren desselben nicht nur in einem, der proximalen Carpalreihe angehörigen Element, d. h. im Os radiale erhalten haben, sondern dass auch weiter distalwärts, 195] Der Bau DES MENSCHEN ALs ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 31 am radialen Rand des Carpale I und des 1. Metacarpus, Andeu- tungen eines früheren Zerfalles in 2 Abschnitte existiren. Ich werde hierauf bei der Schilderung der Musculatur wieder zurückkommen. Was nun das Fussskelet anbelangt, so ist auch hier die siebenzehige Urform sowohl durch entwicklungsgeschichtliche, als vergleichend anatomische Befunde als erwiesen zu betrachten. Auch hier findet sich nämlich bei den für den Besitz eines Praepollex oben schon namhaft gemachten Säugethieren (mit Ausnahme der Fledermäuse, dagegen mit Hinzunahme der Monotremen) am me- dialen (tibialen) Fussrand ein kleiner Knochen, der sog. Praehallux. Sein proximales Tarsalstück steckt im Naviculare und stellt hier beim Menschen die „Tuberositas“ dar. Weiter distalwärts han- delt es sich um die mediale Partie des Tarsale I (Cuneiforme ]), welches sich beim menschlichen Embryo noch doppelt anlegt. End- lich kommt noch in Betracht der Metatarsus I, der, wie dies auch für den Metacarpus I gilt, eine deutlich abgegliederte Neben- gelenkfläche zeigt (BArnELEBEN). Wie verhält es sich nun auf der fibularen Fussseite, lässt sich hier ein dem Pisiforme der Hand homologer Knochen nach- weisen ? — Dies ist nun allerdings, wenn auch nur in embryonaler Zeit, der Fall und zwar erhellt dies aus der Doppelanlage des Calcaneus, dessen distaler Abschnitt nach Lr»ovcg dem Ulnare (Triquetrum), dessen proximaler dagegen dem Erbsenbein entspricht. Die Thatsache eines verlorenen oder nur noch in Rudimenten auftretenden „Strahles* am inneren und äusseren Rand der Hand und des Fusses wirft auch Licht auf die zuweilen eben an jenen Stellen erscheinenden „überzähligen Finger und Zehen“. Bezüglich der Homologisirung der übrigen Tarsal- und Carpal- Elemente ist noch keine vollständige Einigung erzielt, dass sich aber die Componenten der distalen Fusswurzelreihe mit denjenigen der distalen des Carpus vollständig decken, liegt auf der Hand und bedarf gar keines weiteren Beweises. Was aber den Astragalus und das mit ihm verbundene Trigonum, sowie die Hauptmasse des Navicu- lare anbelangt, so hält es hiefür viel schwerer, sie mit Sicherheit auf die entsprechenden Carpal-Elemente zurückzuführen. Wahr- scheinlich entspricht das Naviculare tarsi, als Tibio-Centrale, dem Naviculare carpi, das wir bereits als ein Radio-Centrale auffassen lernten (nach Abzug des damit verbundenen Praehallux- Abschnittes) vollständig. Der Astragalus (abgesehen von dem 39 WIEDERSHEIM: [196 Trigonum) würde dann dem Lunatum (Intermedium) carpi, und das Trigonum endlich einem kleinen Knorpelchen entsprechen, welches sich proximalwärts vom Lunatum in dem Ligamentum suberuentum entwickeln soll. Dieses Knorpelchen wird noch in fötaler Zeit rückgebildet, so dass schliesslich nur noch das oben ge- nannte Band, ein Homologon des Ligamentum talo-fibulare tarsi, übrig bleibt (Lrsoven). Es ist nicht unmöglich, dass diese Auffassung später noch modifieirt werden wird. Gleichwohl aber sind wir in der Erkenntniss der Details schon weit genug vorgedrungen, um den dem Hand- und Fussskelet zu Grunde liegenden, gemeinsamen Bauplan in seinen wesentlichsten Umrissen zu überschauen. Wenn sich einer unmittel- baren, klaren Einsicht da und dort Hindernisse entgegenstellen, so kann uns das im Hinblick auf die lange Vorgeschichte der mensch- lichen Gliedmassen nicht wundern. Weder bei der oberen noch bei der unteren Extremität dürfen wir erwarten, ursprünglichen Verhältnissen zu begegnen. Hat sich doch die obere aus einem Geh- werkzeug in ein Greiforgan umgewandelt, während sich die untere sogar bereits in der dritten Etappe ihrer Entwicklung befindet. Auch sie stand selbstverständlich früher im Dienst der Locomotion, bildete sich dann, worauf vor Allem die Musculatur der Fusssohle, sowie die affenähnhliche (abducirte) Stellung der grossen Zehe in der Fötalzeit hinweist, in ein Greiforgan um, um endlich wieder, mit der Heraus- bildung des aufrechten Ganges, zu einem Gehwerkzeug zu werden. Dies geschah durch mächtigere Entfaltung des Tarsus und nebenhergehender Verkümmerung der Phalangen, sowie durch Ein- busse der letzteren an Beweglichkeit. Zugleich kam es zur Heraus- bildung einer Winkelstellung des Fusses zum Unterschenkel und, in Anpassung an die Stützfuncetion, zur Anlage einer Gewölbe- construction des Fussskeletes. Dass auf Grund dieses mehrmaligen Wechsels der physiolo- gischen Leistung auch starke Veränderungen im Bau eintreten mussten, liegt auf der Hand und diese bis in’s Einzelne nachzu- weisen, bleibt zum Theil noch Aufgabe einer zielbewusst arbeitenden Morphologie. Becken, Ober- und Unterschenkel. Der wesentlichste Unterschied zwischen dem Schulter- und Beckengürtel liegt in der beschränkten Beweglichkeit des letzteren 197] Der Bau Des MenscHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT 33 und diese pflegt man wieder zurückzuführen auf die geringere Frei- heit der Bewegung der unteren Extremitäten. Hierin liegt aber sicherlich keine erschöpfende Erklärung, denn wir begegnen einer ähnlichen Fixation des Beckens schon bei den niedersten terrestrischen Vertebraten, bei Amphibien und weiterhin auch bei Reptilien. Bei beiden wird man aber keinen grossen Unterschied in der Be- weglichkeit der vorderen und hinteren Gliedmassen statuiren können. Der erste Grund der Differenz muss also wohl, denke ich, ein anderer sein und meiner Ansicht nach liegt er in emer funetionellen Anpassung des Beckens an das Fortpflanzungsgeschäft einer-, sowie an den in seinem Bereich erfolgenden hinteren Rumpfabschluss andererseits. Hier an dieser Körperstelle, im Bereich der Aus- mündung des Uro-genital- und Darmsystems, musste eine feste Spange, gleichsam ein fixirender Rahmen für alle jene Canäle ent- stehen, die sich hier ein Rendez-vous geben. Damit war dann weiterhin ein prädisponirendes Moment für die Anlage einer kräf- tigeren Sphineteren- und Extremitäten-Musculatur insofern ge- schaffen, als die Puncta fixa für eine solche sich steigern und im Interesse der gesammten hinteren Extremitäten eine Verwerthung finden konnten. . Ein principieller Gegensatz in den Lagebeziehungen des Schulter- und Beckengürtels zu der Wirbelsäule existirt nicht. Bei beiden wird letztere als solche nicht erreicht, sondern stets han- delt es sich nur um eine Verbindung mit Rippen, sei es nun dass sie, wie beim Schultergürtel, durch Muskeln, oder, wie beim Becken- gürtel, durch feste Ligamente dargestellt wird )). In wie weit und ob überhaupt die einzelnen Beckenknochen mit Theilen des Schultergürtels homologisirbar sind, kann zur Zeit mit Sicherheit deswegen nicht entschieden werden, weil man in die betreffenden Verhältnisse der niederen Vertebraten in embryolo- sischer Beziehung noch keine klare Einsicht besitzt. Eine Ur- !) Ein Vergleich mit den Fischen lässt diesen Unterschied noch geringer erscheinen oder hebt ihn eigentlich insofern völlig auf, als wir hier oft genug einer festen Verbindung des Schultergürtels mit dem Schädel (Teleostier und Ganoiden) oder gar mit der Wirbelsäule (Rochen) begegnen. Ja selbst noch bei zahlreichen Salamandern trifft man, wie ich sehe, an der dem dorsalen Rand der Suprascapsulare entsprechenden Rippe eine plattenartige Verbreite- rung der dorsalen Knorpelapophyse, als ob es hier zu einer Verbindung mit dem Schultergürtel kommen wollte. Berichte II. Heft 4—12. 3 (14) 34 WIEDERSHEINM : [198 geschichte des Beckens muss alo erst noch geschrieben werden. Was speciell die Entwicklung des menschlichen Beckens be- trifft, so entsteht das Darm- und Sitzbein als ein Knorpelcontinuum, während sich der Schambeinknorpel selbstständig anlegt und erst später mit dem primären Beckengürtel verwächst. Darin liegt eine Erinnerung an das Verhalten des Scham- beines aller übrigen Vertebraten, wie namentlich der Sauropsiden und Säuger. Ueberall nämlich spielt jener Knochen beim Aufbau der Hüftgelenkspfanne den übrigen Beckenabschnitten gegenüber eine untergeordnete Rolle, ja er kann, wie z. B. bei Crocodiliern und manchen Säugern, sogar gänzlich davon ausgeschlossen sein. Worauf dieses beruht, ist bis jetzt eben so wenig zu entscheiden, als wir uns über die Herkunft und ursprüngliche Bedeutung des Scham- beins irgend eine annehmbare Vorstellung zu bilden vermögen. Es mag also genügen, die Thatsache festgestellt zu haben, dass seine Beziehungen zum Beckengürtel secundär erworbene sind. Während die einzelnen Beckenknochen im Bereich des Acetabulums bei Amphibien und Reptilien zeitlebens getrennt bleiben, kommt es bei allen Säugethieren und so auch beim Menschen zu einer voll- kommenen Verwachsung derselben. Letztere erfolgt aber erst spät, nämlich in den Pubertätsjahren und erst mit dem 24.—25. Lebens- jahr erreicht der gesammte Össificationsprocess beim Menschen sein Ende. In dem Abschnitt des Schambeins, welcher sich am Aufbau der Pfanne betheiligt, steckt der unter dem Namen des Os ace- tabuli bekannte, in der vergleichenden Östeologie eine sehr grosse Rolle spielende Knochen. Seine ursprüngliche Bedeutung ist nicht bekannt. Eine so starke Divergenz der Darmbeine, wie sie das mensch- liche und vor Allem das weibliche Becken besitzt, kommt unter den Säugethieren nirgends mehr zur Beobachtung, allein sie prägt sich in fötaler Zeit nicht aus, sondern wir begegnen hier noch Form- verhältnissen, welche an diejenige niederer Typen, wie z. B. der Affen erinnern. Das ganze Becken ist relativ länger und schmäler und besitzt einen ungleich grösseren Neigungswinkel, als das Becken des Erwachsenen; ferner bildet die Längsaxe der Schamfuge mit dem Horizonte einen sehr stumpfen, nach vorne offenen Winkel. Hand in Hand damit geht die thierähnliche Gestalt des Sacrums und der Hochstand des nur wenig vorspringenden Promontoriums; 199] DER Bau Des MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 35 daraus resultirt aber wieder eine thierähnliche, d. h. eine ganz andere Gestaltung des Beckeneingangs, als sie uns später ent- gegentritt. Um noch einmal auf die oben erwähnte Divergenz der Darm- beinschaufeln zurückzukommen, so habe ich früher schon auf ihre nahen Beziehungen zu dem aufrechten Gang des Menschen hinge- wiesen, so dass ich hier nicht mehr darauf eingehen will. Was nun aber die sexuelle Differenz des menschlichen Beckens betrifft, so tritt sie uns nirgends in der ganzen Wirbel- thier-Reihe in so prägnanter Weise entgegen. Es liegt darın geradezu ein specifisches Merkmal des Menschengeschlechts und es wird sich fragen, worauf dieses beruht. Ausgehend von der bei beiden Geschlechtern aus früher er- wähnten Ursachen sich kundgebenden starken lateralen Ausladung der Darmbeinschaufeln liegt es nahe genug, die beim weiblichen Geschlechte auftretende Steigerung derselben auf eine Anpassung an sexuelle Verhältnisse zurückzuführen. Diese erscheint um so notwendiger, als es der menschliche Fötus bis zur Geburt hin zu einer höheren Entwicklung und im Vergleich zu den Grössever- hältnissen der Mutter zu einer ungleich bedeutenderen Volumsent- faltung bringt, als dies bei den meisten Säugethieren der Fall ist. Dies kann auf den Eingang, wie überhaupt auf die ganze Con- figuration des kleinen Beckens, inclusive Kreuzbein (Promontorium), nicht ohne Einfluss bleiben, allein auch das grosse Becken wird in- sofern in Mitleidenschaft gezogen, als sich der Druck des schwan- geren Uterus nicht, wie bei Vierfüsslern, ventralwärts, sondern in Anbetracht der aufrechten Stellung in sagittaler Richtung bethätigen wird. Dabei spielen die Darmbeinschaufeln, wie früher schon an- gedeutet, als Träger, die grösste Rolle und erfahren dem ent- sprechend lateralwärts eine tellerartige Verbreiterung. Es wäre von grossem Interesse, diese Verhältnisse, bezw. die Schwere der Frucht an der Hand eines grossen Rassenmateriales weiter zu ver- folgen. Was bis jetzt darüber mit Sicherheit behauptet werden kann, ist das, dass jene sexuelle Differenz des Beckens, wenigstens hinsichtlich der Darmbeinschaufeln, bei niederen Rassen viel weniger ausgesprochen ist. Dabei ist allerdings wohl zu beachten, dass dies, wenigstens zum Theil, auf einer Verbreiterung der ganzen Unter- bauchgegend, wie namentlieh der Weichen beruhen kann. Darauf weist schon eine Vergleichung unserer eigenen Stadt- und Land- bevölkerung hin. Das, was man in den höheren Ständen am weib- 37 (14°) 36 W 1EDERSHEIM : [200 lichen Körper als Taille bezeichnet, ist nicht etwa durch künst- liche Hülfsmittel individuell jedesmal wieder neu erworben zu denken, wenn auch nicht in Abrede gezogen werden soll, dass sie häufig genug dadurch eine Steigerung zu erfahren pflegt. Sie bildet viel- mehr in den betreffenden Gesellschaftsklassen eine inhärente, durch Vererbung von Geschlecht zu Geschlecht übertragene Eigenschaft. Diese — wenn der Ausdruck gestattet ist — angeborene Schlank- heit geht der ländlichen Bevölkerung in der Regel vollständig ab. Die Weichen stürzen hier vom Rippenrand fast senkrecht, oder sogar eine nach aussen convexe Linie beschreibend, ab und gehen ohne deutliche Grenze in die Contouren des Beckens über. Daraus “entspringt der Eindruck der Schwerfälligkeit, der Plumpheit, und man könnte versucht sein, darin ein ganz verschiedenes Rassen- merkmal zu erblicken. Zu einer vollkommen befriedigenden Er- klärung dieser Differenz fehlen uns vorderhand die sicheren Anhalts- punkte und es mag deshalb genügen, vorläufig nur darauf hinge- wiesen zu haben. Was nun den Oberschenkel anbelangt, so kommt dabei für unsere Betrachtungen nur der Trochanter tertius in Betracht. Es handelt sich dabei um eine ausnehmend starke Entwicklung jener Rauhigkeit (Tuberositas glutaealis), welche sich oben im Bereich der gegen den grossen Rollhügel auslaufenden äusseren Lippe der Linea aspera befindet. Dieser zuweilen beim Menschen auftretende „Trochanter tertius“ ist, da er bei zahlreichen Säuge- thieren regelmässig vorkommt, in atavistischem Sinne zu deuten. Endlich noch zum Unterschenkel mich wendend, bemerke ich, dass es sich hier, was die Lage der beiden Knochen, der Tibia und Fibula betrifft, um primitivere Verhältnisse handelt, als bei der oberen Extremität. Die ursprünglich mediale Lage des Ra- dius sehen wir durch den ihm homologen Knochen des Unter- schenkels, d. h. durch die Tibia, beibehalten, und ebenso verharrt die der Ulna entsprechende Fibula an der Aussenseite der Extre- mität. Dass die betreffenden Knochen des Vorderarmes ihre primi- tive Lage aufgegeben haben, hängt, wie oben schon erwähnt, mit der Umbildung der oberen Extremität in ein Greiforgan, resp. mit der Spiraldrehung des Humerus auf’s Engste zusammen. Gleich- wohl aber besitzt die obere Extremität in einem Punkte wenigstens einen primitiveren Charakter, als die untere und das ist die nach vorne sich öffnende Ellbogengrube. Abgesehen von vergleichend anato- mischen Gründen tritt auch die Ontogenie des Menschen für die 201] Der Bau oes MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 37 Ursprünglichkeit jenes Verhaltens insofern beweisend ein, als bei Embryonen in den ersten drei Wochen auch die Kniegegend sich nach vorne öffnet, und als erst mit fortschreitender Entwicklung eine Verschiebung nach der entgegengesetzten Richtung sich be- merklich macht. B. Muskelsystem. Wenn wir schon an vielen Stellen des Skelets schwankenden Verhältnissen, Variationen, Rückschlägen etc. begegnet sind, so ist dies bei dem aus 200—250 Muskeln bestehenden activen Bewegungs- apparat des menschlichen Körpers noch in viel höherem Maasse der Fall. Mit Recht dürfen wir daher voraussetzen, hier, wo sozusagen Alles noch im Flusse begriffen ist, eine reiche Quelle von höchst werthvollem Material zu erschliessen. Man kann dreist behaupten, dass kaum eine einzige mensch- liche Leiche existirt, welche nicht diese oder jene Variation im Muskelsystem aufwiese und bei einer grossen Zahl begegnet man neuen Muskeln, die zuvor noch nie beobachtet wurden und deren in den Lehrbüchern keine Erwähnung geschieht. Bei diesem „Embarras de richesse* wird man es verzeihlich finden, wenn die folgenden Betrachtungen dann und wann etwas mehr ins Detail gehen. Es ist dies durchaus nothwendig, da nur auf diese Weise ein einigermassen übersichtliches Bild von dem un- geheuren Stoffe entworfen werden kann. Von dem letzteren aber kann man sich eine annähernde Vorstellung dadurch bilden, dass es nicht einmal meinem französischen Collesen Tesrur gelungen ist, in seinem nahezu 900 Seiten umfassenden Werke über die Muskelanomalien des Menschen denselben zu erschöpfen. Es wird sich also darum handeln, eine passende Auswahl zu treffen und die Beispiele in drei grosse Gruppen zu sondern. Die eine wird sich nur mit gewissen Variationen, so weit sie auf vergleichend anatomischer Grundlage erklärbar sind, befassen, die andere dagegen soll die rudimentären Muskeln enthalten. In der dritten Gruppe endlich werden wir solchen Muskeln begegnen, die, nur zuweilen in die Erscheinung tretend, als Rückschläge auf eine primitive Entwicklungsstufe des Menschenge- schlechts zu deuten sind. Die Muskeln der ersten Gruppe zerfallen wieder in zwei Unter- 38 Niosmenran £ [202 abtheilungen, in eine mit progressivem, die andere mit regres- sivem Character !). Jene, welche in ihrem Verhalten die An- bahnung eines Fortschritts bedeuten, sind ziemlich spärlich und entziehen sich selbstverständlich in den einzelnen Etappen ihrer Entwicklung einer sicheren Beurtheilung. Sie können so lange nur als individuelle Anomalieen bezeichnet werden, bis sie erb- lich werden. Dasselbe gilt für die regressiven Variationen, welche nichts Anderes darstellen, als die Vorstufen rudimentärer Organe. Massgebend für die richtige Beurtheilung aller jener Variationen ist, wie durch die bahnbrechenden Arbeiten M. Fürsrıncer’s und Ruce’s zur Genüge erwiesen wurde, vor Allem der bestimmte Nach- weis der Innervation und die Entwicklungsgeschichte. Beide haben — und dies beweist auch das sonst so vorzügliche Buch von Tesrur — gerade auf dem Gebiete der menschlichen Anatomie noch sehr Vieles zu leisten, bis es mit ihrer Hülfe einst gelingen wird, eine klare Einsicht und ein befriedigendes Verständniss darüber zu gewinnen, was als primitiver Zustand und was als secundäre Erwerbung zu betrachten ist. a. Progressive Muskeln. Das grösste Interesse erheischt unstreitig der eigene Beuger des Daumens, den man als einen specifisch menschlichen Muskel, welcher keinem Affen zukommt, aufzufassen pflegt. Sehen wir zu, ob seine Stellung wirklich eine so souveräne ist und ob er jeglichen thierischen Character dauernd abgestreift hat. Sehr häufig begegnet man einem einfachen Fleischbündel, welches ihn mit dem gemeinsamen tiefen Fingerbeuger verbindet. Schon etwas seltener sind die Fälle, in denen es zu einem theil- weisen und am seltensten endlich diejenigen, wo es zu einem voll- ständigen Zusammenfluss beider Muskeln kommt. Im letzteren Fall, wo also der eigene lange Beuger des Daumens seine Individualität gänzlich aufgibt, sind genau die characteristischen Verhältnisse ge- wisser Affenarten (Cercopithecus) erreicht ?). !) Dass aber auch beide Entwicklungsrichtungen, die progressive und re- gressive, auf einem und demselben Muskelgebiet neben einander hergehen können, wird später gezeigt werden. ?) Beim Gorilla ist der Flexor digitorum communis pro- 203] Der Bau pes MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 39 An der Hand der eben gegebenen Darstellung ist es nicht schwer, sich auf umgekehrtem Weg die phylogenetische Entstehung, sozusagen die durch Uebung erzielte Absplitterung dieses Muskels aus dem gemeinsamen Fingerbeuger vorzustellen. Der grosse Vor- theil, der daraus für die Eigenbewegung des menschlichen Daumens entspringt, berechtigt somit dazu, alle jene Entwicklungsetappen im Sinne eines Fortschritts aufzufassen. Ganz dieselben Gesichtspunkte gelten selbstverständlich auch für den Flexor digitorum communis!) und den Flexor hallucis longus des Fusses. Auch hier finden sich so ausserordentlich häufige Uebergänge der Sehnen in einander, dass sie so gut wie nie fehlen. Dazu kommt, dass alle die dabei zu constatirenden Varietäten, wozu auch die von der sehnigen Anastomose zu den verschiedensten Zehen gehenden Ausstrahlungen zu rechnen sind, normalerweise bei Affen getroffen werden. Eine gute Parallele zu der eben geschilderten allmählichen Herausbildung eines einzelnen Muskels aus einem grösseren Complexe liegt auch in der Ontogenie und Phylogenie des hohen und tiefen gemeinsamen Fingerbeugers. Beide stehen durch Faseraus- tausch, der sich bis zur vollständigen Verwachsung steigern kann, bei vielen unterhalb des Menschen stehenden Wirbelthieren in den allerinnigsten Beziehungen sowohl zu einander, als zu ihrer Um- gebung, wie z. B. zum Pronator teres, Palmaris longus, Ra- dialis und ulnaris internus. Beide bilden also ursprünglich eine Masse, wie sie sich auch noch bei menschlichen Embryonen fundus in 2 Partien gespalten. Die ulnare strahlt in den 5., den Ring- und den Mittelfinger, die radiale in den Zeigefinger und den Daumen aus. Testur vermochte auch dieses Verhalten als Abnormität beim Menschen und zwar bei einem und demselben Individuum beiderseitig zu constatiren. Beim Orang existirt nur ein einfacher ungetheilter Flexor digitorum communis pro- fundus ohne jegliche Sehne für den Daumen. Auch dieses Verhalten wurde beim Menschen schon 4mal beobachtet. In dem einen Fall handelte es sich um einen Mikrocephalen. !) Die häufigen Schwankungen in der Ausbildung der Caro quadrata Sylvii, bis zu deren vollständigem Mangel, finden ihr Gegenstück bei den Anthropoiden. Hier ist z. B. beim Chimpanze der Muskel oft bis auf ein einziges kleines Fleischbündel reducirt oder kann er auch ganz fehlen, wie dies für den Orang, Gibbon und Gorilla die Regel zu sein scheint. Hier wie dort aber sprechen die zahlreichen Varietäten dafür, das die Caro qua- drata ihre jetzigen Lagebeziehungen erst nachträglich erworben hat und dass sie früher höher oben am Calcaneus und am Unterschenkel gelegen haben muss. Eine Ausdehnung des Muskels in jener Richtung wird häufig beobachtet. 40 WIEDERSHEIN: [204 als ein einheitliches mesodermales Blastem anlegen, dessen Zerklüf- tung durch einwachsende bindegewebige Scheidewände erst in späterer Entwicklungsperiode erfolgt. Selbst bei Anthropoiden existiren zwischen beiden Muskeln noch das ganze Leben hindurch anastomotische Züge, welche die einstige Zusammengehörigkeit derselben auf’s deutlichste bekunden. Daraus, sowie aus dem Mangel eines eigenen grossen Daumen- beugers entspringt die geringere physiologische Ausbildung ihrer Hand gegenüber derjenigen des Menschen. Wie verhalten sich nun bei diesem die beiden gemeinschaft- lichen Fingerbeuger? In der Regel sind sie von einander getrennt, allein die häufig zwischen ihnen zu beobachtende mehr oder weniger vollständige Verschmelzung deutet darauf hin, dass ihre Trennung noch nicht lange (im geologischen Sinne) erfolgt, dass sie noch nicht stereotyp geworden ist. Ganz ähnliche Gesichtspunkte ergeben sich für die nicht selten vorkommenden und ebenfalls als Rückschlag zu deutenden wechselsei- tigen Anastomosen zwischen den beiden radialen Handstreckern. Ja es kann zum vollständigen Zusammenfluss derselben kommen, wodurch dann jener niedere Zustand wiederholt erscheint, in welchem überhaupt nur ein einziger Extensor radialis externus vor- handen ist. Als weiteres Beispiel mögen die Mm. glutaei dienen. Diese — und dahin gehören auch die Adductoren des Schenkels — beweisen ihre frühere einheitliche Natur durch häufige Anastomosen, und häufig genug kommt es auch zwischen ihnen und dem Pyri- formis, oder endlich zwischen diesem und dem Gemellus su- perior zu einem mehr oder weniger vollständigen Zusammenfluss. Eine sehr gewöhnliche Anomalie besteht übrigens auch in dem häufigen Mangel des Gemellus superior, der deswegen eine Erwähnung verdient, weil jener Muskel auch bei Anthropoiden häufig fehlt. Eine characteristische Eigenschaft des Menschengeschlechts beruht auf der eigenartigen Natur des Glutaeus magnus. Dieser Muskel, aus sehr bescheidenen Anfängen bei niederen Wirbelthieren hervorgehend, hält selbst bei Anthropoiden, was Volum und Kraftentfaltung anbelangt, noch keinen Vergleich aus mit seiner, durch functionelle Anpassung erworbenen, fast übergewaltig er- scheinenden Entwicklung beim Menschen. Diese aber steht in direktester Beziehung zum aufrechten 205] Der Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 41 Gang, oder anders ausgedrückt, zur Fixation des Beckens, beziehungs- weise des gesammten Rumpfes auf den Schenkelköpfen und dadurch auf dem festen Stativ der unteren Extremitäten. Wenn also irgendwo, so darf man hier in der Myologie von einer im Interesse des Individuums liegenden, progressiven Ent- wicklung sprechen, und dass correlative Aenderungen in anderen Organsystemen, wie namentlich im Bau des Skelets damit Hand in Hand gehen, habe ich schon früher dargethan. Später werde ich zu zeigen haben, dass bei den Gesichts- muskeln beide Entwicklungsrichtungen, die progressive und die regessive, neben einander hergehen, ja dass die letztere hier zum Theil schon so weit fortgeschritten ist, dass sie bereits zur Her- ausbildung typischer rudimentärer Organe geführt hat. Alle diese Verhältnisse haben in neuester Zeit durch G@. Ruc# eine äusserst lichtvolle, auf streng wissenschaftlicher Grundlage be- ruhende, mustergültige Darstellung erfahren und diese liegt auch der folgenden Darstellung grösstentheils zu Grunde. Ausgehend von dem unter der Haut des Halses, der Brust und des Gesichts liegenden Platysma myoides, ist zu bemerken, dass dasselbe beim Menschen wahrscheinlich den letzten Rest dar- stellt eines bei Säugethieren fast über den ganzen Rumpf ausge- dehnten Panniculus carnosus. Dies ist um so wahrscheinlicher, weil auch beim Menschen, sowie bei Anthropoiden, wo das Platysma im Allgemeinen schon die- selbe Reduction erfahren hat, wie bei jenem, seine oben angegebenen Grenzen zuweilen noch überschritten werden, so dass sich also, wenn auch nur spurweise, an anderen Stellen des Rumpfes, ja selbst an den Gliedmassen, ein ähnlicher Hautmuskel entwickelt zeigt (Brust-, Schulter-, Rücken-, Bauch-, Axillar-, Oberarm-, Hand- und Gesäss- gegend). Jener Panniculus carnosus besitzt bei Thieren die Be- deutung eines Schutzorgans gegen irgend welche, die Haut beein- flussende Schädlichkeiten, mag es sich dabei um Insecten, Wasser oder feste Substanzen handeln. Das Platysma myoides, beziehungsweise der gleich zu erwähnende Sphincter colli stellt nun den Mutterboden dar für die sogenannte mimische Musculatur. So erscheint das Platysma des Menschen als der unverbrauchte Rest einer auf den Kopf fort- gesetzten Musculatur, die am Hals in indifferenter Form sich fort- erhalten hat (Gesexsaur). Der beste Beweis hiefür liegt in dem 42 WIEDERSHEIM: [206 Umstand, dass das Platysma selbst beim Menschen noch hie und da mit dem Zygomaticus minor, dem Orbicularis oculi, dem Auricularis anterior und dem Transversus nuchae direkt zusammenhängt. Die Thatsache, dass die mimische Musculatur vom Facialis, also von einem Nerven beherrscht wird, der seine ursprüngliche Lage und Verbreitung an gewissen, zum Visceralskelet in Beziehung stehenden Muskeln hatte, zwingt zur Annahme, dass jene Musculatur ihre ursprüngliche Lagebeziehung zum Theil aufgab und gewisse Verlagerungen einging. Sie muss sich, mit anderen Worten, von der Unterkiefer- und Nackengegend aufwärts bewegt haben, wobei sie enge Beziehungen zuerst mit den die Ohr- und Mundöffnung umgebenden Weichtheilen, d. h. mit den ebenfalls erst secundär entstehenden Lippen und der Ohrmuschel einging. Von diesen beiden Punkten aus dehnte sie sich, wie am deutlichsten aus einer Vergleichung mit den Lemuren hervorgeht, weiter aus und erreichte neue Beziehungen zum Auge, zur Nasenöffnung. Bei den Halbaffen erscheinen die beim Menschen bereits scharf individualisirten Muskeln noch anatomisch unselbständig, d.h. nur als Theilstücke eines grösseren Muskelgebietes, an welchem sich 2 Schichten, eine hohe und eine tiefe unterscheiden lassen. Erstere ist das Platysma, welches beim Menschen nur noch in Ausnahmefällen in seiner Nackenportion entwickelt zu sein pflegt. Es handelt sich dabei um den sogenannten Transversus nuchae. F. E. Scauzze fand diesen Muskel 1Smal unter 25 Leichen, MacaA- LISTER bei 35%; andere waren darin weniger glücklich, stets aber war er symmetrisch, d. h. auf beiden Seiten, entwickelt. Dieser Muskel, welcher sich in der Embryonalzeit beim Menschen fast regelmässig noch anlegt, entspricht in seiner Lage der Protuberantia occipatilis, von wo er entlang der Linea semi- circularis in querer Richtung nach aussen gegen die Sehne des Sterno-cleido-mastoideus strahlt oder sich noch bis zum Hinter- rand des Auricularis posticus fortsetzt. Mit letzterem kann er auch vollständig zusammenfliessen, in welchem Fall dann dieser Muskel, wie bei vielen Säugethieren, von der Protuberantia oceipi- talis zu entspringen scheint. Die zweite, tiefere Schicht jenes Halsmuskels wird als Sphincter colli bezeichnet und lässt sich von hier aus über den Kieferrand hinweg zur Regio parotideo-masseterica, sowie zur Lippen- 207] Der Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT, 43 spalte verfolgen. Sie bildet im Gesicht in der denkbar einheit- lichsten Weise den Caninus (Levator anguli oris), den Orbi- cularis oris, Nasalis, Levator labii superioris proprius und den Buccinator. Die beiden letztgenannten Muskeln werden von Ruce unter dem Namen des Maxillo-labialis zusammengefasst. Was nun das Platysma anbelangt, so umfasst es die um die Ohröffnung und auf der Ohrmuschel gelegenen Muskeln, die oberflächlichen Schichten der Ober- und Unterlippe und der Nase, den M. mentalis, die Muskeln um das Auge und end- lich die der Scheitel- und Stirnregion. Diese beiden grossen Muskelgebiete stehen sich schon bei den Prosimiern völlig getrennt gegenüber, und ob zwischen ihnen je ein genetischer Zusammenhang bestand, müssen Untersuchungen an niederen Formen entscheiden. Bei allen Primaten hat nun in Folge einer feineren Differen- ziırung des Gesichtsskelets, sowie durch Aberration von Muskel- portionen und dadurch entstandene schichtenweise Neubildung von Muskeln eine hochgradige Umbildung der bei Prosimiern noch so einfachen und leicht verständlichen Gesichtsmuskeln Platz gegriffen und zwar äussert sich dieselbe in der früher schon bezeichneten doppelten Weise. Es werden sich also nach beiden Seiten mehr oder weniger bedeutende Form- und Grösseschwankungen constatiren lassen, wie dies für alle Organe gilt, welche im Schwund oder umgekehrt erst in der Anlage begriffen, d. h. gleichsam noch unfertig sind. In ersterer Beziehung begegnen uns dann an den betreffenden Stellen entweder mehr oder weniger reducirte Muskelcomplexe, wie z. B. im Bereich der Ohrmuschel (s. hierüber später Ausführ- licheres) oder ist die Rückbildung schon weiter gediehen, in welchem Falle es sich um sehnige, membranöse Gebilde, d. h. um Fascien handelt. In der 3. Etappe des Reductionsprocesses tritt uns ein völliger, auf der gänzlichen Einbusse der functionellen Be- deutung beruhender Schwund entgegen. So trat z. B. beim Men- schen an Stelle des M. auriculo- (temporo-) labialis der Halb- affen die Fascia temporalis superficialis, an Stelle des M. sphincter colli die Fascia parotideo-masseterica. Ferner besteht ein grosser Theil der menschlichen Galea aponeurotica aus sehnig umgewandelten Bündeln des M. ocecipitalis. Diesen Rückbildungen steht nun aber in der Umgebung des Auges, der Nase und des Mundes, sowie auch abwärts von der 44 WIEDERSHEIN: [208 Jochbeingegend eine stattliche Reihe von neu differenzirten Mus- keln gegenüber, die nicht anders als in einem entschieden fort- schrittlichen Sinne zu deuten sind. Rvce äussert sich über die sich zeigende Neigung zu weiterer Ausbildung und Vervollkomm- nung der menschlichen Gesichtsmuskeln sehr treffend wie folgt: „Die freie unter der Haut befindliche Lage, die geringen Be- ziehungen zu Skelettheilen, das Fehlen einer deutlichen Fascienum- hüllung bieten die günstigsten Bedingungen für das sich Anbahnen neuer Combinationen an der Musculatur des Gesichts. Die Muskel- elemente vermögen natürlich nur unter ganz bestimmten Ursachen nach den verschiedenen Richtungen sich neu auszubreiten, um da- durch eine höhere functionelle Bedeutung zu erzielen. Diese Ur- sachen sind ohne Frage beim Menschen vorhanden; wir sehen sie in den hohen psychischen Eigenschaften des Menschen und in der Sprache. Diese zieht direkt die um die Mundspalte verlaufenden Muskeln in Mitleidenschaft, jene suchen in dem Mienenspiele über- haupt sich zu äussern. Bei Thieren können jene Triebfedern für die Neugestaltung von Gesichtsmuskeln in höherem Grade nicht wirksam sein. Deswegen fehlen, glaube ich, den Thieren die zahl- reichen progressiven Variationen, welche wir an der menschlichen Musculatur kennen lernen werden. Anders mag es sich mit Varie- täten verhalten, welche auf Grund anderweitiger Ursachen sich aus- bilden. Die Möglichkeit einer grossen Variabilität an der Gesichts- musculatur der Thiere lässt sich a priori nicht von der Hand weisen, und der Einwurf sich nicht ganz beseitigen, dass die wenigen bis jetzt vorliegenden Beobachtungen an Thieren das Normale keines- wegs wiedergeben. Gegen jenen sich erhebenden Einwand möchte ich jedoch die Thatsache hervorheben, dass Muskelvariationen an im wilden Zustande lebenden Säugethieren seltener sind, als an den in der Domestication befindlichen, und dass, wie Dossoxw mit Recht geltend macht, die Häufigkeit der Varietäten beim Menschen als dem besten Repräsentanten der Domestication eine weit grössere sein müsse, als wie bei Thieren, denen durch die natürliche, das Beste erhaltende Zuchtwahl gewissermassen ein engeres Feld für geringfügige Abweichungen von der einmal bestehenden zweck- mässigen Organisation angewiesen wird. Ein Hauptfactor für die Umgestaltung der Gesichtsmuskeln des Menschen, welche die Möglichkeit zur Mannigfaltigkeit der Formzustände in sich birgt, beruht, im Gegensatze zu den übrigen Primaten, in der durch das Gehirn beherrschten mächtigen Ausbil- - 209] Der Bau Des MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 45 dung des Schädels. Die auf diesem gelagerten Muskeln sind durch die Umgestaltung desselben ohne Weiteres beeinflusst. Mit der Entfaltung des Gehirns hängt nun aber der Erwerb der geistigen Fähigkeiten des Menschen zusammen. Mit dem Erwerb der Sprache muss sich Schritt für Schritt die um die Mund- und Nasenöffnung befindliche Musculatur correlativ höher entfaltet haben. Das ist ein nothwendiges Erfordernis. Wenn wir vorderhand auch nur im Stande sind, einige wenige jener Weiterbildungen in der genannten Gegend zu bestimmen, so haben wir doch an festem Boden ge- wonnen, denn wir können nun sagen, dass da, wo die höhere geistige menschliche Entwicklung auch complieirtere anatomische Einrich- tungen voraussetzen lässt, diese wirklich vorhanden sind. Die Leb- haftigkeit und Mannigfaltigkeit des Ausdrucks um Mund und Auge ist ein Besitzthum des Menschen geworden; sie sind der Spiegel höherer psychischer Bewegungen und sie können nur durch eine Vervollkommnung der Muskeln um Mund und Auge erworben worden sein. Es ist deswegen eine höchst werthvolle Thatsache, dass so viele Varietäten beim Menschen gerade an den Muskeln um Mund und Lidspalte gefunden werden, welche auf das sich neu Anbahnende hinweisen, während hier bei den übrigen Primaten noch eine gewisse Monotonie besteht. ... Sollte es nicht auch mög- lich werden, in den Feinheiten der Anordnung menschlicher Ge- sichtsmusceulatur Unterschiede bei den einzelnen Völkerrassen auf- zufinden? Dass bei derartigen Bestrebungen aber ein zutreffendes Urtheil nur unter Berücksichtigung ausgedehnt vergleichend ana- tomischer Untersuchungen gefällt werden kann, wird zugestanden werden müssen.“ b. Regressive Muskeln. Auf dem Fussrücken des Menschen liegt bekanntlich, gekreuzt von den sehnigen Ausstrahlungen des vom Unterschenkel herab- kommenden gemeinsamen Streckers, der Extensor digitorum brevis, ein Muskel, der früher höher oben, am Unterschenkel ent- sprungen und erst allmählich auf das Dorsum pedis herabgerückt sein muss. Hier begibt er sich zur 1.—4. Zehe, so dass also eine jede von diesen (da auch der Extensor digitorum longus sich an ihnen inserirt) unter doppelter Muskelherrschaft steht. Dies war auch einst bei der 5. Zehe der Fall, wie der zuweilen noch auftretende Peroneus parvus (Peroneus digiti quinti, Hrxte) beweist. 46 WIEDERSHEIN : [210 Hierin sprechen sich ursprüngliche Verhältnisse aus, und wenn wir versuchen, dieselben mit denjenigen der Hand in Parallele zu bringen, so wird man sofort gewahr, dass es sich bei letzterer in- sofern um eine Rückbildung handelt, als in der Regel nur noch der 5., 2. und 1. Finger ihre eigenen Streckmuskeln besitzen. Allein zuweilen gibt auch hier noch der Extensor indicis proprius an den Mittelfinger, sowie der eigene Strecker des 5. an den Ring- finger eine Sehne ab. Beides gilt beim Orang als Regel; beim Gibbon dagegen geht der Extensor indicis proprius auch noch zum 4. Finger. In diesem Verhalten liegt, wie leicht zu erkennen ist, ein wichtiger Hinweis auf die Musculatur des Fussrückens. Hier wie dort fallen aber die Extensores proprü, was ihre ursprüngliche Anlage betrifft, unter denselben Gesichtspunkt, wie er oben für die allmähliche Herausbildung des Flexor pollicis longus aufgestellt wurde; allein während dieser in aufsteigender Entwicklung be- griffen ist, haben einige der Extensores proprii bereits wieder den Rückzug angetreten. Durch eine besonders reiche Versorgung seitens der Muscu- latur zeichnet sich bekanntlich der Daumen und, wenn auch nicht ganz in demselben Grad, die grosse Zehe aus. Selbstverständlich wird man diese Thatsache mit der hohen physiologischen Leistungs- fähigkeit derselben in Verbindung bringen und dagegen ist auch nichts einzuwenden, allein ich bin der Meinung, dass diese Er- klärung keine ganz erschöpfende ist, sondern dass noch andere Causalmomente in Betracht kommen und diese erblicke ich in der früher schon besprochenen heptadactylen Urform der Hand und des Fusses. In dieser Beziehung erheischt eine besondere Aufmerksamkeit die, wie beim Gorilla und Chimpanze, in der Regel doppelte Sehne des starken Abductor pollicis, denn es erscheint mir, wie dies auch BArvesegen schon ausgesprochen hat, durchaus nicht un- möglich, dass sie sich auf einen hier verloren gegangenen, einwärts vom Daumen (vergl. das Skeletsystem) befindlichen Finger, den „Praepollex“ beziehen lässt. Diese Deutung kann man, wie ich glaube, noch durch verschiedene andere Gründe stützen, welche für Veränderungen sprechen, die an der radialen Seite der Hand einst Platz gegriffen haben müssen. Dahin gehört die Beobachtung, dass sich an dem Daumen, wie von einem Magnet angezogen, häufig supernumeräre Sehnen der verschiedensten Muskeln inseriren, so 211] Der Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 47 z. B. vom Brachio-radialis, Extensor pollieis longus et brevis, Extensor radialis longus und Extensor digitorum communis longus. Die über die Doppelnatur der Sehne des Abductor longus geäusserte Meinung erscheint mir um so wahrscheinlicher, als die überzählige Sehne bei Anthropoiden zuweilen (immer?) zu einem „Sesambein* sich begibt, welches seiner Lage (zwischen dem Os radiale und Carpale I des Carpus) nach nichts anderes sein kann, als ein letzter Rest des beim Menschen ontogenetisch nur temporär auftretenden „Praepollex“. Dass dieses Skeletrudiment beim Men- schen in einer späteren Entwicklungsperiode mit dem Carpale I verschmilzt, scheint mir daraus hervorzugehen, dass sich die über- zählige Sehne, wie.dies für die Affen die Regel bildet, sehr ge- wöhnlich an dem letztgenannten Carpalelement inserirt. Ganz ähnlichen Verhältnissen begegnet man auch am inneren oder tibialen Fussrand, wo einst der „Praehallux* lag. Häufig nämlich kommt es hier zu einer Theilung der Sehne des ausser- ordentlich reichlich innervirten Extensor hallucis longus, die, mitunter weiter aufwärts sich erstreckend, zu einer vollständigen Abspaltung des Muskels führen kann. In diesem Falle aber handelt es sich um ein atavistisches Verhalten, welches auf die einstige Existenz eines Extensor hallucis brevis zurückweist. Eine ähn- liche, sehr häufige, einfache oder mehrfache Spaltung betrifft die Sehne, resp. auch noch das Fleisch des Tibialis anticus, also eines Muskels, in dem, wie Testur meint, der Brachio-radialis, die beiden Extensores radiales und der Abductor pollicis longus stecken sollen !). Wenn man in Betracht zieht, dass beim Gorilla der Abductor metatarsi I und der Supinator noch getrennt sind, so liegt der Gedanke allerdings nahe, in jenem Abspaltungsprocess einen Hinweis auf frühere Verhältnisse zu er- blicken. Wie nun also verschiedene Umstände darauf hindeuten, dass am radialen und tibialen Rand der oberen resp. unteren Extremität !) Eine Verdopplung des Tibialis anticus stellt ein typisches Ver- halten bei den meisten Affen dar und von den daraus resultirenden, mehr oder weniger gut differenzirten Muskeln entspricht derjenige, welcher sich am Os cuneiforme I inserirt, dem eigentlichen Tibialis anticus, während der andere, welcher den Metatarsus I erreicht, einen Abduetor hallucis longus dar- stellt (Testur). Bei den Anthropoiden fliessen diese Muskeln bereits mehr oder weniger zusammen. 48 WIEDERSHEIM : E [212 wichtige Umbildungsprocesse stattgefunden haben müssen, welche nicht ohne Einfluss auf die dortige Musculatur bleiben konnten, so gilt dies auch für die ulnare Seite der Hand und die fibulare des Fusses. Hier zeigt der Extensor und Flexor carpi ulnaris, sowie der Extensor digiti quinti proprius sehr viele Schwankungen, welche sich theils in überzähligen Muskelbündeln, theils in wech- selnden Insertionen und Spaltungen der Endsehnen bethätigen. Alle diese Vorgänge erhalten eine weitere Illustration durch das ausser- ordentlich variable Verhalten der den beiden obgenannten Muskeln entsprechenden Peronealgruppe, doch will ich hierauf nicht näher eingehen, sondern lieber einem nahe liegenden Einwurf begegnen. Man könnte mir nämlich entgegnen, dass das Auftreten von Sehnen längst untergegangener Skeletstücke nicht denkbar, dass also die oben gegebene Deutung derselben nicht zulässig sei. Darauf aber habe ich zu erwidern, dass in einer reichlichen Muskelversorgung des physiologisch so hochwichtigen Daumens z. B., sowie auch der grossen Zehe, nur ein Vortheil liegen kann, und ähnliche Gesichts- punkte ergeben sich für den ulnaren Hand- und Fussrand (vergl. auch den M. pyramidalis). Hierin liegt der Grund, warum diese und jene Muskeln von der heptadactylen in die pentadactyle Hand mit übernommen wurden. Ich hatte früher schon Gelegenheit auf den, im Vergleich mit der oberen Extremität, viel einfacheren Character der Muscu- latur an der Vorderseite des Unterschenkels aufmerksam zu machen. Ich will jetzt noch hinzufügen, dass dies auch für die auf der Rück- seite liegenden Flexoren des Fusses seine Geltung besitzt. Beides hat, wie leicht ersichtlich, seinen Grund in der verschieden gerich- teten Anpassung der oberen und unteren Extremität. Bei der letz- teren handelt es sich, wie dies schon im Capitel über das Skelet erörtert wurde, um eine möglichst solide, im Sinn eines Piedestals aufzufassende Construction des Fussskeletes. Zu diesem Zweck sehen wir die einzelnen Componenten desselben, wie vor Allem die Tarsal- und Metatarsal-Stücke zu einem festen, in seinen Einzel- gliedern wenig beweglichen Complex zusammenrücken, so dass daraus ein unverkennbarer Gegensatz zu dem viel lockerer ge- fügten Handskelet resultirt. Die Folge davon wird die sein, dass, wie Tesrtur richtig bemerkt, das, was vorher eine Menge von De- tailbewegungen war, einer Gesammtbewegung Platz machen, und dass es zu einem Zusammenfluss, gewissermassen zu einer Concen- 213] Der Bau Des MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 49 » tration der zuvor viel feiner modellirten Musculatur kommen musste. Diese Concentration, welche andererseits einer regressiven Metamor- phose entspricht, zeigt sich dann und wann unter der Form von Anomalieen immer noch in fortschreitender Progression begriffen, so dass sich also hier, dem früher Mitgetheilten gemäss, in einer und derselben Muskelgruppe zwei entgegengesetzte Entwicklungsrich- tungen begegnen können. Eine weitere Folge der Umbildung der unteren Extremität in ein Stütz- und Gehorgan ist die, dass ein Theil der ursprüng- lich ohne Unterbrechung zur Sohle hinablaufenden Beugemuskeln durch die Dorsalflexion des Fusses an der Protuberantia calcanei eine Unterbrechung erlitt. Ein anderer Theil dagegen, nämlich der dem Flexor digitorum communis sublimis entsprechende kurze gemeinsame Zehenbeuger, rückte mit seinem Ursprung immer tiefer und tiefer am Unterschenkel herab, bis endlich unter gleichzeitiger Herausbildung des aufrechten Ganges die Tubero- sitas calcanei erreicht war. Von diesem Zeitpunkt an gewann er weitere, sehr innige Beziehungen zur Fascia plantaris und heutzu- tage zeigt er in manchen Punkten, wie in dem wechselnden Ver- halten seiner Endsehnen und im häufigen Fehlen der zur 5. Zehe gehenden Sehne !), bis zu einem gewissen Grade wenigstens, einen regressiven Character. Was die hohe Muskelschicht an der hinteren Fläche des Unter- schenkels anbelangt, so standen der Gastrocnemius, Soleus und Plantaris früher in directer Beziehung zur Fusssohle und speciell zur Fascie derselben. Während wir nun den kurzen Zehenbeuger in der Phylogenese mit seinem Ursprung fusswärts herabrücken sahen, fand im vorliegenden Fall das Gegentheil, nämlich ein Hin- aufrücken der Endsehnen bis zur Tuberositas calcanei statt. Dies führt mich zur Betrachtung jener Muskeln, die ich, ob- gleich sie in allernächster Verwandtschaft zu den regressiven stehen, doch nicht mehr als solche bezeichnen will, ich meine die rudi- mentären. Bei ihnen handelt es sich um eine schon so weit vor- gerückte Etappe des Reductionsprocesses, dass sie nicht nur nach Zahl, Form und Grösse, sondern zum Theil sogar in ihrem Auf- treten bereits schwankend und in physiologischer Beziehung so gut wie irrelevant geworden sind. !) In diesem Fall tritt der Flexor digitorum communis longus er- gänzend ein. Berichte II. Heft 4—12. 4 (15) 50 ’ WIEDERSHEIM : [214 c. Rudimentäre Muskeln. Um gleich wieder an die Muskeln der Beugeseite des Unter- schenkels anzuknüpfen, so erheischt hier der M. plantaris unser ganz besonderes Interesse. Er entspricht dem M. palmaris am Arm, allein die Rückbildung des letzteren ist offenbar noch nicht so weit vorgeschritten. Dies spricht sich darin aus, dass der Plan- taris nur noch ausnahmsweise die Fascia plantaris erreicht und so seine ursprüngliche Bedeutung als Spanner derselben gewissermassen zurückgewinnt !). Er muss in seiner ursprünglichen Function als Beuger der Fusssohle von jenem Zeitpunkt an eine Beeinträchtigung erfahren haben, als die Plantar-Aponeurose begann, am Calcaneus einen Be- festigungspunkt zu gewinnen und in den Dienst des zu einem Stütz- organ sich umbildenden Fussgewölbes zu treten. Warum ist nun aber auch der M. palmaris, sowie der M. plantaris der Anthropoiden, bei welchem jene Gesichtspunkte gar nicht in Betracht kommen, in der Rückbildung begriffen? Die Antwort auf diese Frage ist meines Erachtens nicht schwer, sowie man berücksichtigt, dass sich jene Muskeln im Zustand ihrer vollen Entwicklung mittelst der ausstrahlenden Palmar- resp. Plantar-Fascie ursprünglich bis zu den Phalangen erstreckten, dass sie also einst die Bedeutung eines gemeinsamen Finger- und Zehenbeugers be- sassen. Im Lauf der Zeit nun, als — um bei der Hand zu bleiben — der Flexor digitorum communis superficialis und profun- dus eine immer weiter gehende und eine feinere Differenzirung aus der primitiven „Pronatoflexor mass“ (Humr#ury) heraus ge- wannen, zog sich die fibröse Endplatte immer mehr von den Fingern zurück und gewann Ansatzpunkte in der Palma manus und am Ligamentum carpi transversum; aus einem Finger- beuger entstand ein Handbeuger. Als solcher aber konnte er, seinen Ansatzverhältnissen nach, nicht der Kraftentfaltung fähig sein ?), wie die eigentlichen Handbeuger, welche an Skelet- !) Dies beweisen auch die Anthropoiden, wo er in der Regel noch reducirter ist, als beim Menschen. Beim Gibbon und Orang ist er überhaupt noch nicht nachgewiesen. ?) Dass er übrigens immer noch im Dienste der Hand thätig ist, zeigt sein Auftreten, welches doch immer noch als die Norm zu betrachten ist. Er fehlt unter 10 Leichen ca. Imal, und zwar entweder auf beiden Seiten oder nur auf einer. 215] Der Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 51 theilen ausstrahlen, und welche, wie dies das Fehlen eines Palmaris zeigt, allein für sich jener Aufgabe schon vollständig genügen. So wurde er ein überflüssiges Organ und begann in seiner Existenz Schwankungen zu zeigen. Erwähnenswerth ist eine den Anthropoiden constant, dem Menschen aber zuweilen zukommende accessorische Portion des Glutaeus magnus und minimus, welche unter dem Namen des M. ischio-femoralis oder glutaeus quartus s. anterior be- kannt ist. Weiter gehört hieher eine beim Menschen selten, bei Gorilla, Chimpanz& und Orang aber regelmässig zu beobachtende Trennung beider Köpfe des Biceps femoris!). Entsprechend der Verkümmerung der Caudalregion des menschlichen Körpers findet auch eine Rückbildung der Muskeln jener Gegend statt. Es handelt sich dabei um solche, welche bei geschwänzten Säugethieren z. Th. stark entwickelt sind und den Schwanz bewegen. In Uebereinstimmung mit ihrem morpholo- gischen Character, der sie zur Stammesmusculatur verweist, kann man auch sie in ventrale und dorsale unterscheiden. Zu den letzteren gehört der auf der Hinterfläche der Steissbeinwirbel liegende M. extensor s. levator coceygis s. caudae. Dieses ausser- ordentlich dünne Muskelbündel kommt entweder vom Ligamentum tuberoso-sacrum oder auch vom untersten Ende des Kreuzbeins und strahlt sehnig gegen die Spitze des Steissbeins aus. Zu den ventralen Rumpfmuskeln gehört der vom Sitzbein- stachel entspringende, längs dem Ligamentum spinoso-sacrum hin- laufende und am Seitenrand des Steissbeines sich ansetzende M. ab- duetor coceygis (M. coceygeus). Er vermag den Schwanz der Säugethiere seitlich zu bewegen, zu abduciren. In dieselbe Kategorie gehört der M. eurvator cocceygis, welcher auf der Vorderfläche der untersten Sacral- und (zuweilen) der obersten Caudalwirbel getroffen wird. Er entspricht dem De- pressor caudae der Säugethiere. Alle diese genannten Muskeln documentiren ihren rudimen- tären Character durch verschiedene Umstände. Sie schwanken !) Verschiedene Umstände weisen darauf hin, dass der Biceps femoris sowie auch der Semitendinosus und Semimembranosus ursprünglich höher oben, nämlich am Ilium und den Sacralwirbeln (Biceps) resp. an den Caudal- wirbeln entsprangen. Ihre Ueberwanderung auf das Tuber ischii ist wohl in Beziehung zu bringen mit der oben schon erwähnten Proximalwanderung des Beckengürtels. 4* (15*) 59 W IEDERSHEIM: N 1216 vor allem nach Form und Volumen, ferner können sie theilweise oder ganz durch fibröses Gewebe ersetzt sein, oder endlich fehlt der eine oder der andere von ihnen gänzlich. Dasselbe gilt auch für die Anthropoiden, wo ihr rudimentärer Character z. Th., wie z. B. beim Orang, noch mehr ausgesprochen ist, als beim Menschen. Ich will bei dieser Gelegenheit noch eines anderen Schwanz- muskels gedenken, obgleich derselbe unter einen anderen morpho- logischen Gesichtspunkt fällt, als die oben angeführte Gruppe. Es ist der M. caudo-femoralis (Agitator caudae), welcher bei fixirtem Oberschenkel als Beuger und Seitwärtszieher des Schwanzes bei einer grossen Zahl von Säugethieren (Monotremen, Marsupialier, die meisten Carnivoren, Prosimier, alle geschwänzten Affen) eine grosse Rolle spielt und der ausnahmsweise auch beim Menschen noch auftreten kann. Er liegt am unteren Rand des Glutaeus magnus, nur durch einen kleinen Spaltraum von ihm getrennt. Sein Ursprung befindet sich etwas einwärts vom lateralen Rand des Steissbeins oder auch noch des letzten Sacral- wirbels, seine Insertion dagegen nach abwärts von den untersten Ansatzbündeln des Glutaeus magnus am Femur. Unter normalen Verhältnissen fehlt dieser Muskel den An- thropoiden, allein es ist nicht unwahrschemlich, dass er auch bei ihnen, wie beim Menschen, dann und wann wieder in die Erschei- nung treten kann. Zwischen dem Condylus internus humeri (Epitrochlea) und dem Ölecranon findet sich beim Menschen unter der oberflächlichen Fascie constant ein quer verlaufendes fibröses Band, welches nach hinten zu die tiefe Bucht abschliesst, in welcher der N. ulnaris eingebettet liegt. Dasselbe entspricht dem M. epitrochleo-an- conaeus, welcher bei vielen Säugethieren constant, beim Menschen und den Anthropoiden aber nur noch zuweilen unter zahlreichen Form- und Grösseschwankungen auftritt. Er wird stets vom N. ul- naris versorgt und findet sich nach W. Gruser in ca. 34, nach Woov in nur 8° der untersuchten Cadaver. Vielleicht handelt es sich hiebei um Rassenverschiedenheiten der Germanen und Slaven. Dieser Muskel datirt noch aus einer Zeit, wo bei den Vorfahren des Menschen, wie dies in der Thierreihe heute noch zum Theil möglich ist, eine Verschiebung der Ulna in der Querrichtung möglich war. Nach- dem schliesslich die Bewegungen dieses Knochens so gut wie ganz auf Beugung und Streckung beschränkt wurde, kam es zur all- mählichen Atrophie und zum Schwund jenes Muskels. 217] Der Bau nes MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 53 Was die Fussmuskeln anbelangt, so will ich hier nur noch auf die von Rusr nachgewiesene, relativ starke Ausbildung des Adductor transversus der grossen Zehe in gewissen Embryonal- stadien sowie darauf verweisen, dass der häufig zu ansehnlicher Breite gelangende, kurze Beuger der 5. Zehe, falls er sich (was nicht selten ist) auch am 5. Metatarsus inserirt, noch einen Oppo- neus digit. V. in sich enthält. Von ganz besonderem Interesse ist es, den Fuss eines Kindes zu betrachten, bevor dasselbe gehen und stehen „gelernt“. Die Zehen zeichnen sich nämlich um diese Zeit nicht nur durch viel- seitigere, ja, was die grosse Zehe anbelangt, sogar durch Greif- bewegungen aus, sondern die Plantarfläche ähnelt auch noch durch ihr Relief und gewisse Furchenbildungen der Palma manus un- gleich mehr als später, wenn die Fussbekleidung ihre Wirkung geltend macht. Der beim Menschen sehr seltene M. latissimo-condyloideus (Dorso-e£pitrochleen der französischen Autoren) stellt ein Anhängsel des Latissimus dorsi dar, welches sich kurz vor seinem Ansatz am Humerus von ihm abzweigt. Von hier begibt sich der Muskel in senkrechtem Lauf entlang dem Triceps zum Condylus internus humeri, wo er sich inserirt. Dabei strahlt er zugleich stark in die umgebende Fascie aus. Dieser Muskel findet sich bei allen Anthro- poiden constant und zuweilen inserirt er sich am Olecranon oder verstärkt er den Triceps. Sehr bemerkenswerth sind die oft zwischen dem vorderen Rand des Trapezius und dem lateralen des Sterno-cleido- mastoideus liegenden Muskelpartieen. Sie vermitteln den Ueber- gang zwischen den genannten Muskeln und vermögen dieselben bei einigermassen stattlicher Entfaltung zu mehr oder weniger voll- ständiger Verschmelzung zu bringen. Darin spricht sich insofern ein primitives Verhalten aus, als der Trapezius und der Sterno- cleido-mastoideus schon auf Grund der gleichen Innervation einen ursprünglich einheitlichen Muskel repräsentiren. In äbnlichem Verhältniss zu einander (vergl. wieder die Inner- vation) stehen der vordere Bauch des Biventer maxillae und der Mylohyoideus, während der hintere Bauch des erstgenannten Muskels zuweilen mit dem Stylohyoideus zusammenfliessen kann. Der kleine obere und untere Serratus sind bekanntlich in der Regel durch eine starke, silberglänzende Aponeurose mit- einander verbunden; dieselbe ist hie und da durch Muskelgewebe 54 WIEDERSHEIM : [218 ersetzt, welches im Anschluss an den oberen (seltener an den unteren | vergl. die letzten Rippen]) Serratus bis zur 6. Rippe herabreichen kann und so auf jenen Urzustand zurückweist, wo beide Muskeln noch in fleischiger Verbindung standen. Im Gegensatz dazu sind aber jene Fälle zu verzeichnen, wo die beiden Serrati eine Be- schränkung in ihrer gewöhnlichen Ausdehnung erfahren, ja wo einer von ihnen oder sogar beide gleichzeitig fehlen können. Dies ist sehr beachtenswerth, weil daraus, wie dies auch für zahlreiche andere Muskeln gilt, auf ihre allmähliche Umwandlung in sehniges Gewebe geschlossen werden kann. Der Grund davon muss wohl in einer Veränderung der Respirationsmechanik des Thorax gesucht werden und dieselben Gesichtspunkte ergeben sich auch für die zahlreichen Schwankungen jener Muskeln bei den Anthropoiden. (Vergl. das Capitel über den Thorax.) Der Rectus abdominis, welcher einen uralten Segmental- Muskel darstellt, reicht bei gewissen Anamnia, in specie bei den geschwänzten Amphibien, noch bis in die Kopfregion, erfährt aber bei den höheren Vertebraten, wie vor allem bei den Säugern in Folge des veränderten Sternal-Apparates eine Art von Auseinander- sprengung in eine hintere und eine vordere Partie. Die erstere entspringt am Becken und endigt nach vorne zu in der Regel in der Höhe der 5. Rippe, die letztere wird durch die axialen Hals- muskeln repräsentirt, nämlich durch den Sterno-hyoideus und den Sterno-thyreoideus, welche durch häufig auftretende, auf ihre frühere Segmentirung hinweisende Inscriptiones tendineae ausgezeichnet sind. Dahin ist ferner zu rechnen der fast constant mit einer In- scriptio versehene Omohyoideus!) sowie der Sterno-thyreoideus. Weiter nach vorne schliesst sich daran der Hyoglossus, Genio- hyoideus und Genioglossus, welche in dasselbe System hinein- gehören. ') Seit GEGENBAUR in der Halsfascie Neugeborener eine Menge parallel gerichteter feinster Muskelfasern, welche sich zwischen Zungenbein und Cla- vicula erstrecken, nachgewiesen hat, kann man mit Sicherheit auf einen einst hier vorhandenen Muskel, (M. sterno-cleido-omo-hyoideus) schliessen, welcher später in seiner grössten Ausdehnung in eine Aponeurose verwandelt wurde, während nur die 2 Randpfeiler, nämlich der Sternohyoideus einer- und der Omo- hyoideus andererseits in fleischiger Form ausdauerten. Dadurch werden auch die häufigen Lage-, Form- und Grösseschwankungen, die Verdoppelung, sowie gewisse inconstante accessorische Bündel des letztgenannten Muskels erklärlich. 219] Der Bau DEs MENSCHEN ALs ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 55 Es ist nun interessant, dass dieser ursprünglich zwischen Becken und Visceralskelet ausgespannte Muskel seine frühere Continuität beim Menschen zuweilen wieder dadurch zu gewinnen sucht, dass er in Form des sogenannten Rectus thoracis die 5. Rippe kopf- wärts überschreitet und, unter deın Pectoralis major liegend, hie und da selbst bis ins Niveau der 2., ja selbst, wie bei vielen Affen, vielleicht bis zur 1. Rippe vordringt. Damit erhöht sich dann auch die im Uebrigen grossen Schwankungen unterworfene Zahl der auf die frühere, regelmässige Segmentirung hinweisenden Inscriptiones tendineae. Solche finden sich auch hie und da noch im M. obli- quus abdom. internus entwickelt und deuten so seinen ursprüng- lich segmentalen Character an!). Wird der Rectus abdominis auf einer oder auf beiden Seiten doppelt getroffen, eine, wie es scheint, sehr seltene Anomalie, so weist dies auf sehr niedere Zustände, nämlich auf Amphibien und Saurier zurück, wo dieses Verhalten typisch ist. Wie wir in den beiden schiefen Bauchmuskeln eine Fortsetzung der Inter- costales auf die Abdominalregion erblicken dürfen, so gilt dies seitens der Scaleni auch für den Hals. Letzterer war, wie dies beim Skeletsystem genauer ausgeführt wurde, früher mit freien Rippen versehen und daraus erhellt die oben erwähnte Zusammen- gehörigkeit jener Muskeln mit der segmentalen vorderen Rumpf- museulatur. Mit der Rückbildung der Rippen mussten natürlich in jener Gegend gewisse Veränderungen Platz greifen und in Folge dessen erstreckten sich die, einst die Zwischenrippen-Räume ein- nehmenden, kurzfaserigen Muskeln, ähnlich wie dies bei den Bauch- muskeln beobachtet wird, in die Länge, um schliesslich weiter nach hinten liegende Rippen zu erreichen. Jene Veränderungen finden auch in dem Auftreten überzähliger Scaleni, wie z. B. in dem für alle Anthropoiden typischen Scalenus minimus (Scalene intermediaire, Tesrur) sowie in zahlreichen Variationen im Ursprung und Ansatz der drei gewöhnlichen Scaleni ihren Ausdruck. Vor, d. h. ventralwärts von der Ursprungsportion des Rectus abdominis liegt beim Menschen der inconstante M. pyramidalis. Zuweilen ist er nur einseitig, zuweilen auch gar nicht entwickelt, in welchem Fall er dann durch eine fibröse Bandmasse ersetzt wird; wieder in !) Nur bei Tupaia unter allen Säugern besitzt der M. obliquus ab- dominis externus Inscriptiones tendineae, also eine Segmentirung, wie bei Urodelen und Sauriern. 56 WIEDERSREIM: [220 anderen Fällen können beide oder nur einer von ihnen doppelt vor- handen sein. Nicht weniger gross sind die Schwankungen bezüglich ihrer Ausdehnung und ihres Volums. Meist nur bis zur Mitte des Symphysen-Nabelabstandes sich erstreckend, oder auch nur das untere Drittel desselben einnehmend, können sie sich in anderen Fällen selbst bis zur Nabelhöhe ausdehnen. Bei kleinen Kindern sind sie relativ grösser, als bei Erwachsenen. Kurz alle diese angeführten Punkte dienen als beredtes Zeugniss dafür, dass der M. pyramidalis des Menschen — und das gilt auch für zahl- reiche Säugethiere, wie z. B. für die Anthropoiden — alle Cha- ractere eines Organs besitzt, welches längst der Rückbildung verfallen ist. Er erheischt aber vor Allem deswegen das allergrösste Interesse, weil er ein schlagendes Beispiel dafür abgibt, wie zähe gewisse Gebilde (vergl. die Muskeln der Hand und des Fusses) selbst dann noch im Organismus haften und fortvererbt werden, wenn sie längst ihre specifische Bedeutung verloren haben !). Um letztere im vorliegenden Fall nämlich zu ergründen, muss man bis zu den Monotremen und Marsupialiern zurückgehen, wo wir den Muskel im Anschluss an die Beutelknochen, welche vielleicht aus der Ossification seiner Sehne hervorgegangen zu denken sind, in kräftigster Entwicklung und bis zum Sternum reichend finden. Mit der Reduction jener Knochen, d. h. mit der eine Aen- derung der Brutpflege herbeiführenden Aufgabe des Beutelthier- stadiums, welches alle Säugethiere — und so auch die Vorfahren des Menschen — einst durchlaufen haben müssen, unterliegt auch jener Muskel einer Rückbildung, resp. einem end- lichen Schwund ?). Was ergeben sich nun aus den obigen Betrachtungen der Musculatur für allgemeine Gesichtspunkte? — !) Dass der M. pyramidalis des Menschen nicht längst völlig ver schwunden ist, lässt sich nur dadurch erklären, dass er, in die Scheide des Rectus mit eingeschlossen, dessen Wirkung, bis zu einem gewissen Grade we- nigstens, unterstützt. ?) Unter allen placentalen Säugethieren ist der Pyramidalis am kräftigsten bei Myogale pyrenaica entwickelt. Er reicht hier bis nahe an den Schwert- fortsatz des Brustbeins, wodurch er an sein Auftreten bei den aplacentalen Säugethieren erinnert; auch bei den übrigen Insectivoren scheint er relativ stattlich entwickelt, was nur durch einen Functionswechsel erklärt werden kann. So weist auch diese Thatsache neben vielen anderen auf die nahe Verwandt- schaft hin zwischen den Insectivoren und den aplacentalen Säugethieren (LEcn#E). 221] Der Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT, 57 Was zunächst das Alter betrifft, so scheint es auf die Häufig- keit der Varietäten und Rückschlagserscheinungen von keinem Ein- fluss zu sein. Dabei ist aber die Fötalzeit auszunehmen, da, wie ich oben mehrfach zu zeigen Gelegenheit hatte, während ihres Ver- laufes gewisse Muskeln aufzutreten pflegen, die später wieder ver- schwinden. Hinsichtlich ihrer Lagerung, Vertheilung, ihres symmetrischen, bezw. asymmetrischen Auftretens am Körper und ebenso bezüg- lich der allgemeinen körperlichen Zustände (starke, schwächliche Individuen) ihres Trägers lässt sich keine bestimmte Regel auf- stellen, auch ist keine correlative Abänderung der betreffenden Antagonisten zu bemerken. Nur ausnahmsweise erstrecken sich die Anomalieen auf 2 homologe Muskeln der oberen und der unteren Extremität einer und derselben Körperseite. Nach den Aufzeichnungen des Professor Woonp an 18 männ- lichen und 18 weiblichen Leichen im King's College (Wintersemester 1867—68) lässt sich mit Sicherheit behaupten, dass die Muskel- anomalieen an den Extremitäten häufiger sind, als die am übrigen Körper und dass dabei die oberen Extremitäten ganz besonders bevorzugt erscheinen. So fanden sich in ihrem Bereich im obge- nannten Fall 292, bei der unteren dagegen nur 119 Anomalieen. Ferner hat sich ergeben, dass dieselben an Häufigkeit zunehmen, je mehr man bei den Untersuchungen distalwärts vorrückt und sich der Peripherie, d. h. also jener Stelle nähert, welche im Kampf um’s Dasein den Vorstoss zu machen hat, welche aber zugleich auch dadurch den modifieirenden Einflüssen in viel directerer Weise zu- gänglich ist, als die mehr proximalwärts liegenden Gebiete. Im Uebrigen gilt der Grundsatz, dass die den meisten Schwan- kungen unterworfenen Muskeln inı Allgemeinen solche sind, welche ohne Störungen, d. h. ohne Nachtheil für den Gesammtorganismus verschwinden können, sei es, dass sie durch andere Muskeln leicht ersetzt werden können, oder dass sie überhaupt eine unterge- ordnete Rolle zu spielen haben. Ich erinnere dabei nur an den M. pyramidalis, die abortiven Schwanzmuskeln, den Palmaris und Plantaris, welche durch ihren rudimentären Charakter auf’s Untrüglichste ihr einstiges absolutes Verschwinden andeuten. Allein wir sind durch diese Untersuchungen zu dem Resultat gekommen, dass nicht allein der regressive Character es ist, welcher die Schwankungen verursacht, sondern dass auch da und dort sich anbahnende Fortschritte von denselben Erscheinungen begleitet zu 58 WIEDERSHEIM: [222 sein pflegen. Das beste Beispiel hiefür liefert neben gewissen Ge- sichtsmuskeln der eigene grosse Beugemuskel des Daumens, sowie der Glutaeus magnus. Eine dritte Art von Schwankungen betrifft jene Fälle, wo eine Muskelsehne die früher innegehabten Insertionspunkte an benach- barten Knochen wieder zu gewinnen sucht, wie z. B. der Pecto- ralis minor am Acromion oder am Humerus, oder der Rectus abdominis an weiter nach vorne gelegenen Rippen etc. Dahin gehört ferner die in den verschiedensten Graden sich äussernde Ab- spaltung eines Abductor hallucis longus vom Tibialis anticus. Alle diese Fälle bekunden die ausserordentliche Zähigkeit, mit welcher gewisse Eigenthümlichkeiten festgehalten und immer und immer wieder reproducirt werden. Diese Reproductionskraft wird aber selbstverständlich von Generation zu Generation eine um so: geringere werden, je weiter sich das betreffende Organ, in An- passung an andere Lebensbedingungen, von seinem ursprünglichen Zustande im Laufe der Zeit entfernt. In Folge dessen müssen die Versuche der Reconstruction dadurch nothwendigerweise immer un- vollkommener ausfallen. Ganz dasselbe gilt für jene zahlreichen Muskeln (Sternalis, Levator elaviculae, Latissimo- condyloideus, Epitrochleo- anconaeus etc.), welche beim Menschen nur noch zuweilen auf- treten und dann als wichtige Zeugen einer längst vergangenen Periode in der Entwicklung des Menschengeschlechts zu beur- theilen sind. Was nun die Vererbung der Muskelanomalieen anbelangt, so besteht kein triftiger Grund, an ihrer Möglichkeit zu zweifeln, allein es liegt, wie Tesrur richtig bemerkt, auf der Hand, wie schwierig es sein muss, das für einen directen Beweis nöthige Ma- terial zu beschaffen. Die Sache ist hier nicht so leicht gemacht, wie bei äusserlichen Merkmalen, wie z. B. für pigmentirte Haut- stellen, verschiedene Färbungen der Iris des rechten und linken Auges, für abnorme Behaarungen, Polydactylie ete. Zukünftigen Untersuchungen ist es vorbehalten, unsere bis jetzt nur spärlichen Kenntnisse über das einschlägige Material ver- schiedener Völkerstämme und Rassen zu erweitern und zu vertiefen und es ist nicht unmöglich, dass die bis jetzt geltende Annahme, dass z. B. die Negerrasse keine specifischen Unterschiede und dass sie keine häufigeren Anomalieen als die kaukasische besitze, später eine Einschränkung erfahren wird. 223] Der Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 59 Hier hat also die Anthropologie noch eine grosse Lücke aus- zufüllen, andererseits ist das bis jetzt schon zusammengetragene Material von Muskelanomalieen im Allgemeinen, sowie die Ueberein- stimmung vieler derselben mit den bei Affen constanten Verhält- nissen so gross, dass dadurch, wenn man sich alle einschlägigen Fälle vergegenwärtigt, die Kluft vollständig ausgefüllt wird, welche für gewöhnlich das Muskelsystem des Menschen von demjenigen der Anthropoiden trennt (Tesrur). ©. Integument und Sinnesorgane. a. Haut und Hautgebilde. Wie bei allen Wirbelthieren, so betheiligen sich beim Menschen in der Embryonalzeit zwei Keimblätter an der Anlage der Haut, das äussere (Ektoderm) und das mittlere (Mesoderm). Aus diesem bildet sich das Corium oder die Lederhaut, aus jenem die Epi- dermis oder die Oberhaut. Die Epidermis besteht wieder aus 2 Schichten, einer höheren und tieferen, und letztere ist insofern die physiologisch wichtigere, als ihr alle jene Organe ihre Entstehung verdanken, welche man als Integumental- oder Epidermoidalgebilde bezeichnet. Dazu kommen noch die Endapparate fast aller Sinnesorgane (Neuro- Epithelien). Haare. Der Mensch ist am wenigsten behaart unter allen Primaten, ja man kann seine Haut fast als eine glatte bezeichnen. Abge- sehen vom Haupte ist in der Regel bekanntlich nur noch die Scham-, Mittelfleisch- und Axillargegend mit stärkerem Haarwuchs versehen, allein eine genauere Untersuchung unserer Haut zeigt sofort, dass die Haarfollikel über die ganze Oberfläche des Körpers sich erstrecken. Abgesehen von den obgenannten Stellen kommt es aber beim männlichen Geschlecht sehr gewöhnlich auch noch zu einer starken Haarentwicklung an der ventralen und dorsalen Rumpfseite, wie namentlich an der Brust, sowie auch am (Gesäss, am Nacken und den Extremitäten. Diese Thatsachen würden allein schon genügen, um die einstige 60 \W IEDERSHEINM : [224 Existenz eines reicheren Haarkleides in der Urzeit als wahrschein- lich zu bezeichnen, allein es existiren hiefür noch weitere Belege. Beim Menschen treten die ersten Haarspuren schon in der 12.—13. Embryonalwoche auf und zwar zuerst an der Stirn-, Mund- und Augbrauengegend. Der Durchbruch durch die Haut aber erfolgt am Kopf erst am Ende des 5. Monats und endet im 7. Monat an den Gliedmassen. Im 6. Embryonalmonat ist der ganze Körper, mit Ausnahme der Hand- und Fussfläche, des rothen Lippenrandes, der Glans penis und clitoridis, sowie der Innenfläche des Praeputium von dichten Wollhaaren (Lanugo) besetzt !). Wie die Federn in Fluren, so sind auch die Haare an be- sonderen Körperstellen besonders reichlich und ganz gesetzmässig in sog. Haarströmen angeordnet. Diese gehen aus von sog. Haarwirbeln, unter welchen man divergirende und conver- girende unterscheiden kann. Unter den ersteren versteht man solche, wo die Haare — man denke z. B. an den Scheitelwirbel — mit ihren freien Enden peripher gegen die vom Wirbel gelegene Körperhaut gerichtet sind, bei den convergirenden Haarwirbeln dagegen handelt es sich um die entgegengesetzte Haarrichtung, wobei also die freien Haarenden vom Körper ab-, d.h. gegen den Wirbel zu angeordnet sind. Derartige Haarwirbel finden sich nur da bei den Säugethieren und dem Menschen, wo entweder zeitlebens — ich denke dabei unter anderem an die Hörner- und Geweih- bildungen — oder früher einmal in der Onto- oder Phylogenese irgend ein Organ aus dem Körper hervortrat. Den besten Beleg hiefür liefert die im männlichen Geschlecht häufig existirende radıär angeordnete Behaarung in der Umgebung des Nabels und dann aber ganz besonders der von Ecker beschriebene Steisshaarwirbel („Vertex coceygeus“). Die Lage desselben entspricht in embryonaler Zeit genau der Stelle, wo die Steissbein- spitze, bevor eine Krümmung des Kreuzbeins angebahnt war, direct nach hinten gegen die Haut andrängte, d. h. wo sie früher, die Cauda humana bildend, hindurchging. (Vergl. die Wirbelsäule, Schwanzbildung etc.) Gegen die Geburt hin kommt es dann unter gleichzeitiger ') Im 4.—5. Monat besitzt der menschliche Embryo eine vom Stratum corneum wohl getrennte und nach aussen davon liegende Epidermisschicht, die dem Epitrichium der Reptilien und Vögel entspricht. Sie bedeckt die Haare und die Drüsen, deren Secret sie gewissermassen zurückzuhalten im Stande ist. Auf diese Weise sorgt sie für eine reichliche Ablagerung der Vernix caseosa. 225] Der Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT, 61 Herausbildung der „Foveola coceygea* (Ecker) zu einer Lage- verschiebung des Vertex coccygeus; übrigens erreicht derselbe häufig schon im 6. und 7. Fötalmonat eine solche Ausbildung, dass die Haare, wie die eines Schnurrbartes, mit den Fingern zusammen- gedreht werden können. Der Gedanke an eine ausgedehntere Entwicklung des Haar- kleides bei unseren Vorfahren erhält weitere Nahrung durch die ausserordentlich reich behaarten Ainos!) und australischen Völker- stämme, sowie durch die bei den verschiedensten Menschenrassen vorkommende Hypertrichosis. Während nun aber die Behaarung der oben genannten Völker- stämme zweifellos im Sinne der Fortdauer eines ursprünglichen Zustandes aufzufassen ist, handelt es sich bei der Hypertrichosis, d. h. bei den sogenannten Haarmenschen, wie dies später genauer auszuführen sein wird, um eine Rückschlagserscheinung. Von solchen Haarmenschen ist, zumal in den letzten Decennien, eine grosse Zahl bekannt geworden und ich erinnere nur an den russischen Hundemenschen Adrian Jeftichjew und dessen Sohn Fedor. Beide hatten das Gesicht voll langer, glatter Haare, welche auf der Stirne, Nase, auf den Wangen, den Augenlidern und auch auf den Ohrmuscheln sassen. Ja, aus, jedem Gehörgang ragte eine lange schöne Locke und eine eben solche aus den Nasenlöchern. Auch Hals und Nacken waren behaart, wenn auch weniger stark: dasselbe gilt für den Rumpf und die unteren Gliedmassen, doch erreichten hier die Haare zum Theil eine Länge von 4—5 cm. Von hohem Interesse war auch der Hinterindier Shw e- Maong, der ebenfalls im ganzen Gesicht, mit Ausnahme des rothen Lippensaumes, sowie am ganzen übrigen Körper mit 4—S Zoll langen Haaren bedeckt war. Von seinen 4 Töchtern schlug nur eine dem Vater nach, die 3 anderen waren normal gebildet. 2 Söhne jener Tochter waren ebenfalls abnorm behaart, ja der eine Sohn in noch höherem Grade als Mutter und Grossvater. Hieher gehören ferner die haarige Familie von Ambras bei Inns- bruck, die in Mexico geborene Tänzerin Julia Pastrana und ca. 20 andere Fälle ?), die ich hier nicht alle namhaft machen kann. Alle ') Bei einer aus einer Mischehe von Ainos mit Japanesen ent- sprungenen Kreuzungsrasse wurden 17cm lange, seidenartige Brusthaare be- obachtet, ?) Bei zwölfen derselben handelte es sich zugleich um eine anomale Entwicklung des Gebisses, bezw. um eine ausserordentliche Zahnarmuth, die 62 'W IEDERSHEIM: [226 sind — und dafür spricht in erster Linie die Weichheit der be- treffenden Haare — zu beurtheilen unter dem Gesichtspunkt einer Fortdauer und weiteren Fortbildung des embryonalen Haarkleides, der Lanugo. Dies ist bei dem heutigen Stande der Wissenschaft die nächstliegende und einzig mögliche Erklärung, denn die Zeiten, wo man dabei an ein „Versehen“ der Mütter an Affen oder anderen behaarten Thieren, oder an ein „Vergehen“ derselben mit Bestien oder gar mit dem Teufel dachte, sind glück- licherweise vorüber. Niemand kann sich, wie A. Ecker schon vor einer Reihe von Jahren mit Recht betonte, wundern, wenn einmal ein Epigone seinen behaarten Ahnen nachschlägt. Nägel. Von den Nägeln erinnert der des 4., noch mehr aber der des 5. Fingers durch seine starke (transverselle) Wölbung am meisten an eine Thierkralle. Gegen den Daumen, beziehungsweise gegen die grosse Zehe zu kommt es zu immer stärkerer Abplattung der Nägel. Der volarwärts von jedem Nagel liegende Nagelsaum ist der letzte Rest eines bei Affen mit einer dicken Epidermisschicht überzogenen Gebildes !), welches durch die immer stärker sich ent- wickelnde Fingerbeere schon während des intrauterinen Lebens eine bedeutende Rückbildung erfährt (GrsENBAUR). Hautdrüsen. Die Hautdrüsen des Menschen zerfallen in 2 Abtheilungen, in Schweiss- und Talgdrüsen mit ihren Modificationen. Was die ersteren anbelangt, so spielen sie bei den Säuge- thieren durch die Erzeugung von Riechstoffen eine wichtige Rolle. Dass aber auch das Secret der Schweissdrüsen in der Achselhöhle und in der Aftergegend des Menschen einen penetranten Geruch besitzt, ist bekannt, wenn es auch bis jetzt noch nicht möglich ist, die Bedeutung desselben zu erkennen. sich zu gänzlichem Zahnmangel steigern konnte. Ja sogar die Alveolarränder scheinen fehlen zu können. !) Am mächtigsten erscheint jene Bildung bei Hufthieren und wird hier als Sohlenhorn bezeichnet. 227] Der Bau pers MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT, 63 Die Milchdrüsen bilden bei allen über den Monotremen!) stehenden Mammalia eine Abtheilung der Talgdrüsen?), aus welchen sie sich erst allmählich herausgebildet haben müssen. Wenn man dieses annimmt — und ich sehe keinen Gegen- grund — so ist a priori jede Hautstelle fähig, auf sich eine oder mehrere Milchdrüsen zu erzeugen. Ein Blick auf die Säugethiere liefert hiefür den Beweis. Begegnen wir doch bei den verschie- denen Gruppen der allerverschiedensten Lagerung der Milchdrüsen, wenn auch immerhin die Ventralseite, im Interesse der leichteren Erreichbarkeit der Zitzen seitens des Jungen, bevorzugt erscheint. Häufig sitzen die Zitzen, deren Zahl im Allgemeinen der gleich- zeitig erzeugten Zahl der Jungen entspricht, in der Leistengegend (Huf- und Walthiere), oder finden sie sich in der Brustgegend (Elephanten, Sirenen, manche Halbaffen, Chiropteren, Affen und Mensch). Wieder in anderen Fällen und diese sind augenblicklich für uns die wichtigsten, sind die Zitzen in zwei distalwärts leicht conver- girenden, an der Brust- und Bauchseite dahinziehenden Reihen an- geordnet (Carnivoren, Schweine). Sie sind deshalb von grosser Bedeutung, weil auch die beim Menschen ?) nicht selten auftretenden überzähligen Brüste (Poly- mastie) resp. Brustwarzen (Polythelie) in weitaus der grössten Zahl der Fälle im Bereich der Brustgegend und zwar nach hinten und zugleich medianwärts von den normalen Organen angetroffen werden. ') Bei den Monotremen ist das „Mammarorgan‘“ auf Schweiss- drüsen zurückzuführen, so dass also für die Milchdrüsen eine diphyletische Entstehung anzunehmen wäre (GEGENBAUR). °’) Der Beweis hiefür liegt auch darin, dass die auf dem weiblichen Warzenhofe in der Umgebung der Brustwarze liegenden Talgdrüsen, die sog. Montgomery’schen Drüsen, mit dem Eintritt der Lactation sich nicht nur vergrössern, sondern dass manche von ihnen milchabsondernde Drüsen werden. Diese demonstriren als Zwischenglieder zwischen Milch- und Talgdrüsen die ursprüngliche Gleichartigkeit beiderlei Drüsen auf’s Beste (Ge- GENBAUR). In seltenen Fällen scheinen sich auch weiter entfernt liegende Talg- drüsen der Brusthaut an der Lactation zu betheiligen. Ja es ist neuerdings ein Fall bekannt geworden, wo sich jene Drüsenzone bis in die Axillargegend erstreckte. ®) Auch bei Thieren kommen zuweilen überzählige Brüste und Brust- warzen vor. Dass die Bovinen Spuren einer früher vorhandenen grösseren Zahl von Zitzen besitzen, ist bekannt. 64 WIEDERSHEIM: [228 Eine solche Vermehrung der Brüste, beziehungsweise der Brust- warzen, scheint bei Weibern und Männern gleich häufig vorzukommen und ist im Sinne eines Rückschlags in eine durch zahlreichere Brüste, sowie durch eine grössere, auf einmal producirte Zahl von Jungen characterisirte Urform zu deuten. Ein solcher Rückgang der Polymastie auf die Bimastie vollzieht sich heute noch vor unseren Augen und zwar bei den Halbaffen. Hier gehen nämlich die in der Leisten- und Bauchgegend sitzenden Zitzen durch Nichtgebrauch einer regressiven Metamorphose entgegen, während das Brustzitzen- paar florirt. Damit steht auch im Einklang, dass die meisten Halb- affen nur ein Paar Junge werfen, die sie an der Brust mit sich herumtragen. So vermögen sie sich am günstigsten, d. h. am freiesten (beim Klettern z. B.) zu bewegen und so erklärt sich der allmähliche Rückgang der übrigen Zitzen. Einen ganz exquisiten Fall von rudimentären Organen bilden die Zitzen des Mannes und es ist selbstredend, dass für den Menschen wie für die ganze Säugethierreihe eine Zeit existirt haben muss, wo beide Geschlechter der Milchproduction in gleicher Weise fähig waren. Dass jene Zeit nicht so gar weit hinter uns liegen kann, möchte daraus zu entnehmen sein, dass milchgebende Männer that- sächlich zuweilen vorkommen („Gynäkomastie“) und dass neu- geborene, sowie in der Pubertütszeit stehende Knaben unter mehr oder weniger starker Auschweilung ihrer Brüste häufig wirkliche Milch, sog. „Hexenmilch“ produeiren. Auch milchende Ziegen- und Schafböcke (letztere in castrirtem Zustande) sind mit Sicher- heit beobachtet und ihre Milch erwies sich an der Hand einer chemischen Analyse sogar reicher an Casein, als gewöhnliche Milch. Von hohem Interesse ist die Entwicklungsgeschichte der Milchdrüsen, weil sie mit Verhältnissen einsetzt, welche bei den niedersten Säugethieren zeitlebens fixirt bleiben. Bei der einen Gruppe der Schnabelthiere, bei Echidna, exi- stiren noch keine Zitzen, und die betreffenden Drüsenausführungsgänge münden gruppenweise zusammenstehend auf einer Stelle der Bauch- haut aus, die man mit dem Namen des Drüsenfeldes bezeichnet. Letzteres vertieft sich allmählich und bildet so, vorübergehend wenigstens, eine buchtige Einsenkung, die sogenannte Mammar- tasche. In diese kommt das Ei, beziehungsweise das Junge zu liegen und gelangt wahrscheinlich dadurch zum Genuss der Milch, dass die im Bereich der Drüsenmündungen liegenden pinselartig hervorstehenden Haare die Ueberleitung des Secretes vermitteln. 229] Der Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 65 Jene oben geschilderte Herausbildung eines Drüsen- feldes mit nachfolgender Umbildung desselben zur Mam- martasche repetirt sich nun ontogenetisch bei jedem Säugethier und so auch beim Menschen, obgleich jene Tasche ihre Bedeutung längst und zwar schon von den Marsupialiern an, wo der „Beutel“ an deren Stelle tritt, als Schutzorgan verloren hat. Das Auftreten der Zitze, welche phylogenetisch durch den sich ansaugenden Mund des Jungen entstanden zu denken ist, muss gleichwohl, so hoch auch ihre physiologische Bedeutung anzu- schlagen ist, als ein secundärer Vorgang betrachtet werden. b. Sinnesorgane. Hautsinnesorgane. Darunter versteht man bei Säugethieren die Tastorgane mit ihren verschiedenen Modificationen. Diese kommen hier aber nicht in Betracht !), sondern es kommt hier vielmehr darauf an, zu betonen, dass es sich, wie dies für alle darauf untersuchten Säugethiere sicher constatirt ist, höchst wahrscheinlich auch beim Menschen in früher Embryonalzeit im Bereich gewisser Hirnnerven um die An- lage von Sinnesorganen handelt, welche sonst nur für die Haut der Fische und kiemenathmenden Amphibien, bezw. Amphibienlarven characteristisch sind. Diese speciell für den Aufenthalt im Wasser bestimmten Apparate kommen übrigens nie zu vollständiger Ent- wicklung, sondern rücken bald von der Haut wieder ab und er- fahren eine Rückbildung. Geruchsorgan. Es erscheint beim Menschen sowohl in Anbetracht der skele- togenen Grundlage (geringe Zahl und einfache Configuration der Muscheln), als der beschränkten, von Riechzellen eingenommenen Fläche im Vergleich mit den meisten Säugethieren nicht besonders !) Es erscheint mir nicht unwahrscheinlich, dass die beim Menschen be- sonders reichlich in der ganzen Haut verbreiteten Tastkörperchen mit der relativ geringen Behaarung derselben in genetischem Zusammenhang stehen. Ich schliesse dieses daraus, dass sich in der Thierreihe Tastkörperchen vorzugsweise, ja viel- leicht ausschliesslich an unbehaarten Stellen (Rüssel, Mundeingang, Plantarfläche der Pfoten) finden. An behaarten Körperstellen erscheinen sie Berichte II. Heft 4—12. 5 (16) 66 ' WIEDERSHEIM : [230 entwickelt. Ja Alles spricht dafür, dass der ganze Apparat beim Culturmenschen eine Rückbildung erfahren hat. Der Beweis hiefür liegt vor Allem im Centralorgan, wo der Lobus olfactorius von dem nach vorne auswachsenden Stirnhirn überlagert und so im Wachsthum nicht unwesentlich beschränkt wird. Dies erhellt am besten durch den Vergleich mit Säugethieren, wo die Stirnlappen noch keine so grosse Ausdehnung erreichen, und ganz besonders auch durch Herbeiziehung niedrigerer Wirbelthierformen, wie z. B. der Fische und Amphibien, wo die Riechlappen häufig eine geradezu monströse Entwicklung erfahren und einen mächtigen Hirntheil darstellen. Ob das in der Thierreihe weit verbreitete Jakobson’sche Organ!) ontogenetisch wirklich noch zur Anlage kommt, ist neuer- dings fraglich geworden, allein sicher findet sich noch am unteren Rande der knorpeligen Nasenscheidewand jederseits der längliche Knorpel, welcher bei Säugethieren jenes Organ umschliesst. Nach Ablauf der Fötalperiode unterliegt derselbe einer grösseren oder geringeren Rückbildung. Abgesehen von diesen Knorpelspuren deutet aber auch noch der am vorderen Ende der medianen Gaumenraphe auf einer Pa- pille ausmündende Canal auf die frühere Existenz der Jakobson- schen Organe hin. Beim erwachsenen Menschen endigt das von der Mundhöhle ausgehende Canallumen nach kurzem Verlaufe blind. Bei Säugethieren aber geht es, nach aufwärts paarig werdend, in die Stenson’schen Gänge über und in diese münden die ob- genannten Organe ein. Bezüglich atavistischer Erscheinungen an den Nasenbeinen, sowie an anderen in der Umgebung des Geruchsorgans liegenden Knochen vergl. das Skeletsystem. deshalb unnöthig, weil die mit Nerven reichlich versorgten Haare selbst als feine Tastapparate zu fungiren im Stande sind. Die Entfaltung der Tastkörperchen beim Menschen hat also wahrschein- lich mit dem allmählichen Schwund seines Haarkleides gleichen Schritt gehalten. 1) Das was von Dursr und Körner als Jakobson’sches Organ des Menschen aufgefasst und beschrieben worden ist, entspricht nach GEeENBAUR keinem solchen, sondern ist vielmehr als das Rudiment einer septalen Nasen- drüse von acinösem Bau, wie sie z.B. bei Prosimiern (Stenops) in starker Ausbildung vorkommt, zu deuten. Ob die Steno’sche Nasendrüse ebenfalls unter den Begriff der rudimentären Organe fällt, müssen weitere Untersuchungen lehren. 231] Der Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT, 67 Sehorgan. Der Bulbus oculi des Menschen zeigt an und für sich nur wenige Andeutungen rudimentärer Organe, und auch diese besitzen, weil auf die Ontogenese beschränkt, nur transitorische Bedeutung. Ich meine damit die mit der fötalen Augenspalte in engstem Connex stehenden, den Glaskörper durchsetzenden Vasa hyaloidea, bezw. den Cloquet’schen Canal. Kurz es handelt sich in ent- wicklungsgeschichtlicher Zeit um Ernährungsverhältnisse des Augen- kerns, welche bei Fischen und Reptilien unter der Form des Processus falciformis und des Pecten eine dauernde Be- deutung erlangen, die aber beim Menschen gegen die Geburt hin eine vollständige Rückbildung erleiden. Ungleich zahlreicheren Spuren von Atavismus begegnen wir bei den Hülfsorganen des Auges. So findet sich z. B. in der Fissura orbitalis inferior eine Anhäufung von glatter Muscu- latur, der letzte Rest des bei Säugethieren, deren Orbita mit der Schläfengrube meistens (vergl. die OÖsteologie des Schädels) in offener Verbindung steht, wohl entwickelten Museulus orbitalis. Im letzteren Falle übernimmt dieser lamellenhaft verbreiterte Muskel die Abgrenzung zwischen der Schläfengrube und der Orbitalhöhle. Er steht unter der Herrschaft von Nerven aus dem Ganglion spheno- palatinum und zieht sich auf deren Reizung zusammen, was zur Folge hat, dass der Bulbus nach aussen hervortritt. Was den Levator palpebrae superioris betrifft, so be- weisen die zuweilen von ihm lateral- und medianwärts sich ab- zweigenden Bündel, dass er früher eine grössere Ausdehnung be- sessen haben muss. Man kann ihn als den letzten Rest des bei gewissen Säugern viel stärker entwickelten M. palpebralis be- trachten; eine genauere Analyse desselben ist übrigens vorderhand noch Desiderat. Von grösstem Interesse ist die am medialen Augenwinkel liegende, unter dem Namen der Plica semilunaris bekannte Con- junctivalfalte. Sie entspricht dem dritten Augenlid, der sog. Nickhaut der Thiere. Bei Vögeln und Anuren, sowie bei manchen Reptilien (ausnehmend deutlich bei Hatteria) ist sie sehr stattlich entwickelt und kann hier die ganze Aussenfläche des Augapfels überspannen. Dies geschieht mittelst eines sehr ver- schiedenen Mechanismus und dabei dient sie nicht nur als Scehutz- 5” (16°) 68 WIEDERSHEIM : [232 und Reinigungsapparat der vorderen Bulbusfläche, sondern tritt auch noch functionell ein für das noch starre obere und das meistens nur wenig bewegliche untere Augenlid. Beim Menschen, wie bei den Affen, hat sie, in Uebereinstimmung mit dem Mangel eines M. retractor bulbi, eine starke Reduction erfahren, und nur aus- nahmsweise — häufiger bei Negern, als bei der kaukasischen Rasse — kommt in ihrem Gewebe noch eine knorpelige Stütze zur Ent- wicklung. Was ihre Grössenverhältnisse anbelangt, so unterliegt sie zahl- reichen, nach Alter und Rasse wechselnden Schwankungen. Beim Neugeborenen und auch noch in den ersten Lebensjahren besitzt sie eine verhältnissmässig grössere Breite, als später, wo sie 1" bis 2 mm nicht überschreitet. Eine Ausnahme von dieser Regel macht der malaiische Volksstamm der Orang-Sakai, wo sie eine Aus- (dehnung von 5—51e mm erreicht, und es würde sich wohl der Mühe lohnen, auch andere Völkerstämme darauf hin zu untersuchen !). Vielleicht liesse sich auch noch ontogenetisch die Anlage einer Nick- hautdrüse (@landula Harderiana) nachweisen. Was man damit in Parallele gestellt hat: jene kleine, medianwärts von der Nick- hautfalte auf der Caruncula lacrimalis liegende Drüsengruppe, ent- spricht keineswegs einer solchen, sondern ist als ein Homologon jenes Drüsenpaketes zu betrachten, welches bei der Mehrzahl der grösseren Säugethiere neben der eigentlichen Nickhautdrüse vor- handen ist. Schliesslich sei hier noch der zuweilen vorkommenden acces- sorischen Thränendrüsen gedacht. Dieselben weisen durch ihre im Bereich des unteren Conjunctivalsackes am lateralen Augenwinkel liegenden Ausführungsgänge auf den Weg zurück, den die allmäh- lich immer höher rückende Thränendrüse von den Sauropsiden an in ihrer Phylogenese genommen hat. Gehörorgan. Das sog. innere Ohr, hervorgehend aus einer Einsenkung des Epiblastepithels, welches sich später zum Theil in Sinnesepi- thelien differenzirt, fällt ausser den Bereich unserer Betrachtungen. Dasselbe gilt auch für das phylogenetisch aus dem Spritzloch der !) Auch bei Negern und Australnegern scheint sie eine ansehnlichere Ent- wicklung zu erreichen. 233] Der Bau pes MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 69 Fische sich herausentwickelnde Canalsystem des Mittelohres. Was die aus dem Visceralskelet hervorgehende Kette der Gehörknöchel- chen anbelangt, so fällt auch sie, wie ich dies schon beim Skelet- system erörtert habe, in den Bereich jener Organe, die einen Func- tionswechsel eingegangen haben. Von ungleich grösserem Belang für das vorliegende Thema ist die Ohrmuschel, ein relativ junger Appendix des Gehörorgans. Ich sage: relativ jung, weil sich bei den unterhalb der Säugethiere stehenden Vertebraten kaum die ersten schwachen Spuren davon nach- weisen lassen. Bei ihrem Aufbau handelt es sich um eine die Oeffnung des äusseren Gehörgangs umgrenzende Hautfalte, in welcher sich Knorpel entwickelt, der mit dem knorpeligen Abschnitt des Meatus auditorius in directer Verbindung steht. Dank der Anwesenheit jener knorpeligen Inlage kommt es zu einer, zumal auf der con- caven Seite der Muschel characteristischen Reliefbildung. Die Haupt- züge werden dabei als Helix, Anthelix, Tragus und Anti- tragus unterschieden, und dazwischen liegen Vertiefungen, die man als Fossa triangularis, Scapha, Concha und Incisura inter- tragica bezeichnet. Dazu kommt noch das in seinem Umfange sehr variable Ohr- läppchen, welches den Anthropoiden und auch vielen Menschen, so z. B. nach R. Brancrarn regelmässig gewissen Kabylenstämmen in der Provinz Constantine, sowie den Cagothen in den Pyrenäen ganz fehlt. Erwähnenswerth ist eine selten vorkommende, im Bereich des oberen Helixumfanges liegende Variation, die darin besteht, dass der betreffende Rand nicht, wie dies die Regel bildet, schön bogig geschwungen weiter läuft, sondern höckerig nach oben vorspringt. Daraus resultirt das „Spitz-* oder Mephisto-Ohr“, wie es bei Affen getroffen wird. Alle jene Reliefbildungen der Obrmuschel entstehen beim Embryo aus einer Anzahl von Höckern im Bereich der wulstigen Umgebung an der Oeffnung der 1. Kiemenspalte. Sie sitzen theils entlang dem Unterkiefer, theils am hyoidalen Wulst und endlich an der hinteren Verbindungsbrücke zwischen beiden. Später fliessen sie alle zu einem plumpen Ring zusammen und formiren dann weiterhin jene characteristischen Protuberanzen (Hıs). Ein Blick auf irgend ein Säugethier, wie z. B. ein Hufthier, genügt, um uns von der ausserordentlichen Beweglichkeit seiner Ohrmuschel zu überzeugen. 70 WIEDERSHEIN : ! [234 Auch gewisse Menschen besitzen, wenn auch in weit unter- geordneterem Grade jene Fähigkeit. Fordert man diese auf, ihre Kunstfertigkeit zu zeigen, so beschränkt sie sich in der Regel auf ein leises Zucken, ein leichtes Heben, Vor- oder Rückwärtsziehen der Ohrmuschel, kurz man kann sich des Eindrucks des Unbehülf- lichen und Schwerfälligen nicht entschlagen '). Gleichwohl ist aller Grund zu der Annahme vorhanden, dass sich der Mensch in grauer Vorzeit seiner Ohrmuschel in ungleich ausgiebigerer Weise bedienen konnte, als heutzutage. Damals kam der Ohrmuschel auch beim Mienenspiel sicherlich eine grosse Rolle zu, und sie diente ganz in derselben Weise, wie wir dies bei den Säugethieren constatiren können, als vortreffliches Orientirungs- mittel bei der Analyse der Schallrichtung. Die Berechtigung zu jener Annahme, oder sagen wir besser: die Gewissheit, dass es sich einst so verhielt, entspringt aus zwei Thatsachen, einmal aus der auch heutzutage noch häufig zu beob- achtenden Lagebeziehung der Ohrmuschel zum Kopf und zweitens aus dem Vorhandensein eines reich differenzirten Muskelapparates, dessen Urgeschichte früher schon bei Besprechung des Platysma myoides Erwähnung geschah. Was nun zunächst den ersteren Punkt betrifft, so handelt es sich bekanntlich in weitaus der grösseren Mehrzahl der Fälle um eine der Schläfenfläche des Kopfes mehr oder weniger platt ange- drückte Ohrmuschel. Diese physiologisch widersinnige Anordnung sieht man den jeweiligen Besitzer, falls er seine Aufmerksamkeit scharf auf etwas zu richten wünscht, dadurch corrigiren, dass er mit seiner Hohlhand sein Ohr von hinten umgreift und so einen künstlichen Schallbecher formirt. Diese ganze Procedur wird unnöthig, falls ein Individuum — und es handelt sich hiebei um eine grosse Vererbungsfähigkeit — weit und flügelartig vom Kopf abstehende, d. h. physiologisch cor- rect sitzende Ohren besitzt — ein vom modernen ästhetischen Stand- punkt aus zweifelhafter Vorzug. Jedenfalls ist jene Stellung als !) Dass diese Bewegungen auch unwillkürlich, als Folge eines psychischen Aftectes, vor sich gehen können, beweist der von R. Bi.AncHArnp mitgetheilte Fall eines von ihm beobachteten Examinanden der Mediein. Beide Ohrmuscheln be- fanden sich für einige Augenblicke in zitternder Bewegung und wurden dann stossweise nach oben und nach hinten gerissen. 235] Der Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 7 die ursprünglichere und die erstgenannte als die erst secundär er- worbene zu betrachten. Welche Einflüsse diesen Wechsel, wodurch die Ohrmuschel in ihrer physiologischen Leistungsfähigkeit eine starke Einbusse erleiden musste, herbeigeführt haben, lässt sich nur schwer bestimmen. Vielleicht handelte es sich um eine allmähliche Aenderung der ruhenden Stellung des Menschen. Dass letztere bei Kindern oft auf Jahre hinaus eine Deformation der Ohrmuschel be- dingt, dürfte allgemein bekannt sein. Jedenfalls hat hiebei die Cultur, sei es nun die Art der Lägerstätte oder die Kopfbekleidung, oder irgend ein anderer Factor, eine grosse Rolle gespielt. Zu dem zweiten Punkt, zu den Muskeln der Ohrmuschel übergehend, so lassen sie sich in zwei Gruppen zerfällen, die jedoch dadurch wieder zu einem einheitlichen Ganzen verbunden werden, dass sie, wie uns bekannt, alle in die Kategorie der mimischen Muskeln gehören und dem entsprechend sämmtlich von dem N. facıalis versorgt werden. Sie befinden sich alle mehr oder weniger in regressiver Metamorphose, während den demselben System an- gehörigen Gesichtsportionen beim Menschen, den übrigen Primaten gegenüber, eine progressive Entwicklung zuzuerkennen ist. Die erste Gruppe der Ohrmuskeln könnte man als die Binnen- muskeln der Muschel bezeichnen, insofern sie sich im Ursprung, Verlauf und Ansatz ganz auf letztere, und zwar auf deren Aussen- fläche beschränken. Es handelt sich dabei um sehr kleine, formell und im Volum stark schwankende Gebilde, die unter dem Namen des M. helicis major und minor, transversus auriculae, tra- gieus und antitragicus bekannt sind. Die beiden letzteren sind aus einem ursprünglich einheitlichen Muskel hervorgegangen, und sind bei Anthropoiden bereits so gut wie ganz verschwunden. Häufig besitzen sie eine starke Beimengung von Bindegewebe, oder kann ihre Stelle auch ganz von solchem eingenommen werden, kurz sie tragen alle den Stempel der äussersten Verkümmerung und von einer physiologischen Leistung derselben, die früher in einer Be- wegung der einzelnen Knorpeltheile gegen einander bestanden haben muss, kann kaum mehr die Rede sein. Die zweite Gruppe der Ohrmuskeln ist dafür bestimmt, die Öhrmuschel als Ganzes zu bewegen. Die drei dahin gehörigen Muskeln, ein Vor-, Rück-!) und Aufwärtszieher (Heber), ent- !) Der Retrahens auriculae entspricht dem Auricularis posterior der Primaten, d. h. er ist ein letzter Rest des Transversus nuchae. 13 WIEDERSHEIM : [236 springen alle vom Kopfe und inseriren sich am Knorpel des äus- seren Ohres. Auch sie unterliegen zahlreichen Grösse- und Form- schwankungen und wohl auch Spaltungen ; doch ist ihr Rückbildungs- process noch nicht so weit gediehen wie bei den Binnenmuskeln; ja bisweilen gelangt der eine oder der andere, wie z. B. der Attollens oder Attrahens, die beide zusammen wohl auch eine einzige Schicht bilden können, noch zu bedeutender Entfaltung. Häufig begegnet man bei ihrer embryonalen Anlage noch den bei niederen Primaten herrschenden Verhältnissen. Für die Zusammengehörigkeit des M. attrahens und attollens mit dem Frontalis (M. orbito-aurieu- laris der Halbaffen) sprechen nicht nur vergleichend -anatomische Gründe, sondern auch der Umstand, dass beide Muskeln selbst beim Menschen noch zuweilen in directem Zusammenhange stehen. D. Nervensystem. In der ganzen Thierreihe zeichnet sich das Nervensystem allen anderen Organsystemen gegenüber durch einen streng conservativen Character aus und bietet dem entsprechend wenig Aussicht auf das Zustandekommen rudimentärer Organe. Gleichwohl aber fehlen letztere, wie aus dem Folgenden hervorgehen wird, nicht gänz- lich und zugleich sind sie hier zum Theil von ganz besonderem Interesse, weil sie den besten Beweis liefern für die überaus grosse Zähigkeit, mit welcher ein Organ, bezw. der Theil eines solchen, durch unendlich grosse Zeiträume hindurch selbst dann noch vom Träger festgehalten und fortvererbt wird, wann dessen physiologische Leistung offenbar schon bedeutend reducirt oder selbst auf den Null- grad herabgesunken ist. Das centrale Nervensystem entsteht bekanntlich aus dem ekto- dermalen Epithel, von der sog. Medullarrinne her, ist also im Grunde nichts als eine Modification der äusseren Haut- schicht, des sog. „Sinnesblattes“. Letzteres vermittelt bei nie- deren Thieren, wie z. B. bei Coelenteraten, wo es noch zu keiner scharfen Differenzirung eines centralen und peripheren Nerven- systems kommt, bereits die Beziehungen zur Aussenwelt. Darin, sowie in der Thatsache, dass die Anlage von Gehirn und Rücken- mark bei den Vertebraten ontogenetisch früher erfolgt, als irgend ein anderes Organ, liegt ein deutlicher Hinweis auf das hohe Alter und die wichtige physiologische Aufgabe jenes Systems. 237] Der Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT, 13 Rückenmark. Was zunächst das Rückenmark anbelangt, so erstreckt es sich, wie früher schon erwähnt, ursprünglich durch die ganze Länge des Wirbelcanales, bald jedoch erleidet es, theils durch ungleich- mässiges Wachsthum, theils in Folge jener Modificationen, welche im hinteren Abschnitt des Axenskelets Platz greifen, Beschränkungen. Diese äussern sich darin, dass es nicht mehr durch die ganze Neuralröhre hindurchreicht, sondern dass es mit seinem hinteren conischen Ende immer weiter nach vorne rückt, bis dieses schliess- lich an der Grenze zwischen dem Brust- und Lendentheil der Wirbel- säule angelangt ist. Allein es handelt sich hiebei nur um eine scheinbare Verkürzung, in Wahrheit beruht dieser Process auf einem Ueberwachsenwerden der hinteren Rückenmarkspartie seitens des stetig weiter nach hinten sich ausdehnenden Wirbelrohres. Vom Conus terminalis aus verläuft ein fadenartiges Gebilde, das sog. Filum terminale, durch die Pars lumbalis und sacralis der Columna vertebralis bis in die Schwanzgegend. Dieser Endfaden, welcher während der oben geschilderten Vorgänge gleichmässig mit der sich verlängernden Wirbelsäule nach hinten auswächst, ist nichts Anderes als der letzte Rest, das Rudiment des wirklichen Rücken- markes, welches sich bei den Vorfahren des Menschen, ganz ähnlich wie wir dies bei zahlreichen Wirbelthieren heute noch constatiren können, einst in voller Intaktheit durch die ganze Wirbelsäule erstreckt haben muss. Diesen Involutionsvorgang, welcher am hinteren Ende des Rückenmarks einsetzt und der, wie dies bereits im Capitel über das Skeletsystem näher ausgeführt worden ist, seinen reducirenden Einfluss auch auf das Axenskelet geltend macht, haben wir seiner tief einschneidenden Bedeutung wegen wohl im Auge zu behalten. Es erscheint mir nicht undenkbar, dass auch gewisse pathologische Erscheinungen, wenn auch vielleicht nur mittelbar, darauf zurück- geführt werden können. Ich möchte hiebei an jene häufigen Er- krankungen des Rückenmarks erinnern, die unter dem Namen der tabetischen Erscheinungen bekannt sind und welche bekanntlich weitaus in der grössten Mehrzahl der Fälle vom hinteren Rücken- marksende aus ihre Entstehung nehmen. Sollte für den hiebei in Betracht kommenden degenerativen Process in jenem Verhalten der Portio lumbalis der Medulla nicht ein prädisponirendes Moment er- blickt werden dürfen? — 74 ; | 'W IEDERSHEIM : [238 Ehe ich mich zur Betrachtung des Gehirnes wende, sei noch jenes kleinen, am letzten Steissbeinwirbel liegenden Knötchens ge- dacht, das als Steissdrüse (Glandula cocceygea) bezeichnet wird. Dasselbe pflegt in den Lehrbüchern der menschlichen Anatomie wegen seiner nahen Beziehungen zur Arteria sacralis media in der Regel beim Gefässsystem abgehandelt zu werden, allein ich glaube mit Unrecht. In Anbetracht der feststehenden Thatsache, dass das caudale Ende des Rückenmarkes in einer frühen Entwicklungs- periode genau bis an jene Stelle reicht, wo später die Steissdrüse ge- funden wird, und in weiterer Erwägung des Umstandes, dass, wie oben schon angedeutet, alle jene tiefgreifenden Veränderungen am caudalen Rumpfende in erster Linie auf den dort stattfindenden Reductionsprocess des Rückenmarks zurückgeführt werden müssen, möchte ich letzteren auch für die unmittelbare, primäre Ursache der Steissdrüse in Anspruch nehmen. Letztere ist unverkennbar ein rudimentäres Organ, allein über seine Bedeutung sowohl wie über seine Urgeschichte fehlt uns bis jetzt jede sichere Kunde. Gehirn. Bei der Entwicklung des Gehirnes werden die die niederen Ver- tebraten dauernd characterisirenden Zustände (anfängliche Hinter- einanderlagerung der Hirnblasen, glatte Oberfläche der Hemi- sphären etc.) in regelmässiger Reihenfolge durchlaufen, allein ver- hältnissmässig nur selten, wie bei manchen Mikrocephalen, erhalten sich jene niederen Zustände in Form von sog. Hemmungsbildungen. Was die auf der Oberfläche beider Hemisphären sich findenden, zur Ausbildung des Rindengraus in allernächster Beziehung stehenden Furchen und Windungen anbelangt, so begegnen uns hier nicht selten gewisse Abweichungen vom gewöhnlichen Verhalten, die sich, wie dies auch für das Hinterhorn, den Calcar avis und die Eminentia collateralis Meckelii gilt, nur mittelst der ver- gleichenden Anatomie und Entwicklungsgeschichte verstehen lassen. So ist die hie und da stark vergrösserte, d. h. weit lateralwärts ausspringende Fissura parieto-occipitalis ohne Zweifel als ein Rückschlag zum Affentypus („Affenspalte*) aufzufassen, während sie unter normalen Verhältnissen dem Affenhirn gegenüber einen fast rudimentären Eindruck macht. Ueberhaupt ist die Uebereinstim- mung des menschlichen und des Anthropoidengehirns, wenn auch im Einzelnen zwischen beiden gewisse Verschiedenheiten existiren, Ar ma 239] Der Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 75 eine so bedeutende, wie sie zwischen keinen anderen Gehirnen der ganzen Wirbelthierreihe mehr wiederkehrt. Das Dach des 4. Ventrikels, welches ontogenetisch, und zwar zum Theil aus mechanischen Gründen, nicht in gleicher Weise weiter wächst, wie die übrigen Hirntheile, wandelt sich nach und nach fast ganz in eine gefässführende, an ihrer Binnenfläche von einer einfachen Epithelschicht überzogene Platte um, die lateralwärts und nach vorne mit der Pia zusammenhängt. Jene Epithelschicht setzt sich seitlich und nach hinten in zarte, den Calamus scrip- torius umsäumende Gebilde fort, die unter dem Namen des Obex, des Ponticulus und der Ligula (Taenia) bekannt sind. Sie be- stehen alle aus nervöser Substanz und fallen zusammen mit jener Epithelschicht unter einen und denselben morphologischen Gesichts- punkt. Ihr rudimentärer Character liegt auf der Hand und das- selbe gilt auch für das hintere Marksegel (Velum medullare posterius). Ein besonderes Interesse erheischt nach den in neuester Zeit auf vergleichend anatomischem Gebiete gewonnenen Resultaten die Zirbeldrüse (Glandula pinealis, Epipbysis cerebri). Bei allen Vertebraten als eine Ausstülpung des Zwischenhirndaches ent- stehend, erstreckt sie sich bei den Anamnia und Sauropsiden zeitlebens, bei den Mammalia aber wenigstens in einer gewissen Entwicklungsperiode frei gegen das Schädeldach empor. Ursprüng- lich — und bei vielen Vertebraten ist dies immer der Fall — stellt sie einen Schlauch dar, in welchen sich der 3. Ventrikel direkt fortsetzt, später aber kommt es häufig zu einem mehr oder weniger vollkommenen Schwund ihres Lumens und gleichzeitig unterliegen ihre Wände einer histologischen Umbildung. Bei den Säugethieren kommt noch hinzu, dass sie durch die auswachsenden gewaltigen Hemisphären aus ihrer freien Lage verdrängt und so nach hinten umgelegt wird, dass sie in die Bucht zwischen das vordere Vier- hügelpaar geräth. Hier wird sie bekanntlich beim Menschen als ein in dorso-ventraler Richtung abgeplattetes, pinienzapfenähnliches Organ getroffen, in das sich von vorne her das Lumen des 3. Ven- trikels häufig noch fortsetzt, und welches, in 2 Schenkel sich gabelnd, in die Taeniae medullares der Thalami optici direkt übergeht. Die Zirbeldrüse des Menschen zeichnet sich durch grossen Blutreichthum, sowie durch follikelartige, zellführende Gebilde aus, in welchen sich Concretionen („Hirnsand“) entwickeln können. 76 W IEDERSHEIM: [240 Bekannt ist das Organ selbstverständlich schon lange Zeit und es hat auch nicht an zahlreichen, zum Theil sehr abenteuerlichen Deutungen und Deutungsversuchen desselben gefehlt; allein erst das genauere Studium des Organs bei Sauriern und Scinken hat zu einer richtigen Erklärung desselben geführt. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass sich sein oberstes, dicht unter der Parietal- gegend des Schädels liegendes Ende zu einem Sehorgan diffe- renzirt. Es existirt also bei den genannten Reptiliengeschlechtern ein drittes Auge, welches mit einer Retina, einer Pigmentschicht, einer Linse und hie und da sogar noch mit einer schwach transparenten Cornea ausgerüstet ist. Das Merkwürdigste dabei ist aber das, dass die percipirende Randschicht der Retina nicht, wie dies bekanntlich beim Vertebratenauge die Regel bildet, dem einfallenden Licht ab- gekehrt, sondern dass sie ihm zugekehrt ist. Kurz es handelt sich um ein Sehorgan nach dem Typus vieler Wirbellosen, wie z. B. der Schnecken. Nach dem, was ich oben über den Bau der menschlichen Zirbeldrüse mitgetheilt habe, ist kaum nöthig zu erwähnen, dass das Organ hier, wie bei weitaus der grössten Zahl der Wirbelthiere, in regressiver Entwicklung begriffen, d. h. dass es zusammt dem grössten Theil der Zwischenhirndecke rudimentär geworden ist. Dass aber seine Rückbildung beim Menschen schon vor sehr langer Zeit begonnen haben muss, beweist der Umstand, dass es hier auch in embryonaler Zeit nie mehr zur Anlage eines Auges kommt. Gleichwohl aber ist die Homologie des Organs bei sämmtlichen Vertebraten auf Grundlage vergleichend-anatomischer und entwick- lungsgeschichtlicher Beziehungen gesichert. Den Gegenpol der Epiphyse bildet der an der basalen Fläche des Zwischenhirns liegende Hirnanhang, die Hypophysis cerebri. Für sie hat die Stunde der Erlösung aus ihrer dunklen Stellung noch nicht geschlagen und was dieselbe noch erschwert, das ist ihre Genese von zwei verschiedenen Punkten aus, nämlich vom Gehirn (Infundibulum) und von dem ektodermalen Epithel der primitiven Rachenbucht. Ob es sich an letzterer Stelle wirklich um das letzte Rudiment einer ursprünglich paarigen Kiemenspalte handelt, müssen weitere Untersuchungen feststellen. Sollte sich dies aber auch wirklich bestätigen, so ist damit doch noch keine Erklä- rung für den hinteren nervösen Lappen der Hypophyse gegeben. Es kann hier ebenso gehen, wie mit der Epiphyse; ein ein- ziger glücklicher Griff in die Reihe der niederen Wirbelthiere kann 241] Der Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. a! plötzliches Licht verbreiten. Ich denke dabei vor Allem an die Fische, wo das Organ häufig einen sehr bedeutenden Umfang erreicht und wo es seiner ursprünglichen Bedeutung offenbar noch nicht so weit entrückt ist, wie bei den höheren Typen, bei denen es sich um einen Involutionsprocess, bezw. um einen Functions- wechsel handelt. Von Interesse ist auch die Thatsache, dass die Hypophyse mancher Fische, ebenso wie der nach hinten von ihr liegende drüsige Appendix, der „Saccus vasculosus“ zahlreichen, wie es scheint, nach Jahreszeiten und physiologischen Zuständen wechselnden Form- und Grösseschwankungen unterliegt. In Erwägung der Bildungsgeschichte des nervösen, einen Hirntheil repräsentirenden Abschnittes der Hypophyse sämmt- licher Vertebraten, welche mit derjenigen des Epiphysen- und pri- mitiven Opticusschlauches principiell übereinstimmt, kann ich mich des Gedankens nicht entschlagen, dass es sich auch hier einst üm die Anlage eines Sinnesorganes gehandelt haben muss. Von welcher Art dasselbe war und in welchen Beziehungen es vor der Bildung einer soliden Basis cranii etwa zur Gegend des Munddarmes stand, vermag ich nicht anzugeben. Es mag genügen, hier auf diesen wichtigen Punkt der Urgeschichte des Gehirns, sowie auf die grossen Erwartungen, die sich an weitere Studien hierüber knüpfen, aufmerksam gemacht zu haben. Bezüglich der schon erwähnten Rückbildung des Lobus ol- factorius am menschlichen Gehirn verweise ich auf das Riech- organ. Peripheres Nervensystem. Hier begegnen wir nur wenigen Bildungen von regressivem Character, wie z. B. den zur Dura mater laufenden Rami recur- rentes der 3 Trigeminusäste und des Vagus, sowie dem Ramus auricularis des letztgenannten Nerven. Dass auch bei menschlichen Embryonen, wie dies bei Säuge- thieren bereits geschehen ist, im Gebiet des Hypoglossus Anlagen von hinteren Wurzeln mit den zugehörigen Ganglien werden nach- gewiesen werden, erscheint mehr als wahrscheinlich. Auf den re- gressiven Character einiger feinen, im Gebiet des N. trigeminus, facialis und glossopharyngeus liegenden bezw. zu deren Gang- lien in Beziehung stehender Nervenschlingen kann hier nicht ein- gegangen werden, da dies zu weit in das vergleichend-anatomische 78 WIEDERSHEIM : [242 Gebiet hineinführen und den Rahmen dieser Arbeit beträchtlich überschreiten würde. Dies gilt auch für den Vagus, von dem ich hier nur kurz bemerken will, dass derselbe als aus mehreren (mindestens 4—5), bei niederen Vertebraten, sowie in der ÖOntogenese noch getrennten Nerven hervorgegangen zu denken ist. Beim Traetus intestinalis wird von diesem Nerven wieder die Rede sein. Wie aus oben schon angeführten Gründen nicht anders zu erwarten ist, finden sich im Bereich des hinteren Rumpfendes, d. h. im Gebiet der Sacral- und Lumbalnerven, die allergrössten Variationen, wie auch zahlreiche Rückbildungen. Was die ersteren betrifft, so beginnen sie, wie die Secirsaal-Praxis täglich beweist, schon im Plexus lumbalis, dessen vordere Aeste nach abwärts eine bedeutende Stärkezunahme zeigen. Im Gegensatz dazu nehmen die Sacral- und Caudalnerven nach hinten bedeutend ab, und was die letzten (in der Zahl schwankenden) von ihnen, wie nament- lich den feinen, im Bereich des Filum terminale liegenden Caudal- nerven anbelangt, so sind sie von dem ausgesprochensten rudimen- tären Character; ja man kennt von ihnen noch nicht einmal ihre periphere Verbreitung. Sympathicus. Wenn auch hier, was die Form, Zahl und Grösse der Ganglien des Grenzstrangs, die peripheren Geflechte, sowie endlich die Ver- bindungsmöglichkeiten beider Grenzstränge untereinander betrifft, eine ausserordentliche Variationsbreite existirt, so liegt doch, mit Ausnahme der caudalen Portion dieses Nervensystems, keine Ver- anlassung vor, von rudimentären Bildungen desselben zu sprechen. E. Traetus intestinalis. Mundhöhle. Gaumenleisten. Am Dache der Mundhöhle erzeugt die SchleimHKaut eine ver- schieden deutlich ausgeprägte mediane Erhebung (Raphe) und seitlich davon eine wechselnde Zahl von Querleisten, welche nament- 243] Der Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT, 79 lich nach vorne gegen die Schneidezähne zu gut ausgebildet sind, während die hinteren Partieen des harten Gaumens sich fast ganz glatt anfühlen. Diese Gaumenleisten (Gaumenfalten) treten beim Neuge- borenen in grösserer Ausdehnung und Entfaltung auf und nehmen einen beträchtlicheren Theil des harten Gaumens ein. Später gehen sie eine mehr oder weniger starke Rückbildung ein und können im höheren Alter sogar vollständig verschwinden. In diesen Bildungen haben wir die letzten Reste der bei vielen Säugethieren ungleich kräftiger ausgebildeten Gaumenleisten zu er- blicken. Sie sind hier von derbem, vielschichtigem Epithel über- kleidet und fungiren bei der Bewältigung der Nahrung als Reib- und Quetschorgane (GEGENBAUR). Ueber den am Vorderende der Gaumenraphe ausmündenden Canalis naso-palatinus und seine Beziehungen zum Jakobson- schen Organ vergl. das Geruchsorgan. Zähne. Wenn auch das Gebiss des Menschen mit demjenigen der Affen der alten Welt (incl. der Anthropoiden) viele Aehnlichkeit hat, so unterscheidet es sich von ihm doch in mehreren Punkten. Was zunächst das Milchgebiss anbelangt, so zeigt es durch- weg viel zierlichere Verhältnisse als bei den Anthropoiden, wo die einzelnen Zähne sogar diejenigen des definitiven menschlichen Gebisses an Volum zum Theil beträchtlich überragen. Ein gewal- tiger Unterschied macht sich auch namentlich an den bei Affen ungleich mächtiger entwickelten Eck- oder Hundszähnen be- merklich. Dazu kommt endlich eine für den Menschen characte- ristische Eigenthümlichkeit, welche darin besteht, dass die Ober- und Unterkieferzähne je eine vollständig geschlossene Reihe darstellen. Das letztere Verhalten resultirt aus dem ersteren, denn die bei Affen und anderen Säugethieren (Carnivoren) existirende Unterbrechung der Zahnreihen beruht eben auf der hervorragenden Grösse des Dens caninus, zu dessen Aufnahme beim Kieferschluss oben und unten ein Raum aufgespart sein muss. In gewissen Fällen nun zeigt auch das menschliche Gebiss, und zwar, wie es scheint, am häufigsten bei Bewohnern der Südsee- Inseln und Australiens, einen Rückschlag zu jenem ursprünglichen Verhalten. Diese Thatsache ist von nicht zu unterschätzender Be- 80 WIEDERSHEIM : [244 deutung, denn sie weist auf jene Urzeit des Menschen zurück, wo die Vorfahren desselben noch Vierfüssler, und wo die vordere und hintere Extremität noch nicht zu einem ausschliesslichen Greif-, bezw. Gehwerkzeug umgestaltet waren. Lange Zeit also, bevor eine Hand den Steinhammer schwingen oder gar das Bronzeschwert führen konnte, bildete das Gebiss, und hier vor Allem ein mäch- tiger Eckzahn, die einzige Angriffs- und Vertheidigungswaffe. Dass übrigens auch dem heutigen Geschlecht die Erinnerung an diese Verwendung seines Gebisses noch nicht ganz abhanden ge- kommen ist, lehrt häufig genug die Erfahrung, und ich kann nicht umhin, auf eine feine Bemerkung Darwın’s!) aufmerksam zu machen. Er sagt nämlich im seinem Buch über die Abstammung des Menschen wörtlich: „Derjenige, welcher mit Verachtung den Ge- danken an die einstige Benützung seiner Eckzähne als furchtbarer Waffen der Vorfahren des Menschengeschlechts von sich weist, ent- hüllt in seinem Hohn- und Zornausbruch wahrscheinlich seine eigene Abstammung; denn obgleich er weder die Absicht noch die Fähig- keit besitzt, seine Zähne als Angriffswaffen zu gebrauchen, zeigt er doch durch Contraction gewisser Gesichtsmuskeln seine Zähne, bereit zum Angriff, wie der Hund, welcher sich zum Kampf anschickt.* Jeder, der sich mit vergleichender Anatomie und Zoologie beschäftigt hat, weiss den grossen Werth des Gebisses für die Phylo- genie und Systematik zu schätzen, er weiss aber auch, auf Grund paläontologischer Studien, welch tiefgreifenden und wichtigen Ver- änderungen dasselbe im Laufe der Zeit bei den verschiedenen Säuge- thieren unterworfen war. Sollte der Mensch hierin die einzige Ausnahme machen? — Gehen wir etwas näher auf diese Frage ein. . In der Regel setzt sich das menschliche Gebiss auf jeder Seite des Ober- und Unterkiefers aus 2 Schneide-, 1 Eck-, 2 Back- und 3 Mahlzähnen zusammen. Ein Vergleich von wenigen Indi- viduen genügt aber, um zu zeigen, dass Ausnahmen von jener Regel nicht selten sind, und dass es sich bald um Vermehrung, bald um Verminderung jener Zahlen handelt. Letzteres ist häufiger und betrifft gewöhnlich den hintersten Mahlzahn (Dens serotinus, Weis- heitszahn). Derselbe besitzt meist nur zwei und dazuhin häufig verkrüppelte Wurzeln und bricht unter gewöhnlichen Verhältnissen zwischen dem 17.—30. Lebensjahr, ja zuweilen auch erst viel später, '!) Cr, Darwın, Abstammung des Menschen. 245] Der Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT, sl im hohen Greisenalter durch das Zahnfleisch hindurch. Dabei steht er in seiner Entwicklung, wie dies auch schon bei dem 2. Mahl- zahn dem am kräftigsten angelegten 1. gegenüber zu bemerken ist, in der Regel hinter den übrigen Mahlzähnen zurück; ja nicht selten rückt er nicht einmal mehr in’s Niveau der Kaufläche der- selben herab und zeigt grosse Neigung zu frühzeitiger Caries. Wieder in anderen Fällen aber — und sie sind häufig genug — gelangt er überhaupt nicht mehr zum Durchbruch und bleibt zeit- lebens im Kieferknochen eingeschlossen. Alle diese Thatsachen stempeln ihn zu einem exquisiten rudi- mentären Organ, und zugleich spricht sich darin (wie dies auch bei Carnivoren nachgewiesen ist), die Tendenz einer allmählichen Verminderung des Gebisses aus, so dass also einst die heutige Zahn- formel ya N, 32 durch ze 28 zu ersetzen BOE2:e9. ar } sein wird. Jene Verminderung kann aber offenbar nur durch die ver- änderte Nahrung resp. durch die mit der Cultur (fortschreitender Intellect) zusammenhängende aufmerksamere Zubereitung derselben, woraus für die Zähne eine geringere Arbeitsleistung resultirt, er- klärt werden. Dass die Bezahnung des Menschen früher eine reichere war, erhellt auch daraus, dass bei niederen Rassen (Australneger) noch keine Grössendifferenz zwischen dem 2. und 3. Mahlzahn existirt und dass letzterer in diesem Fall in einen viel geringeren Procent- satz der Individuen gänzlich vermisst wird. An dieses Verhalten schliessen sich die katarrhinen und an diese endlich die platy- rhinen Affen an. Bei den ersteren kommt jener Zahn noch constant vor, während die letzteren sogar regelmässig noch einen vierten Molarzahn besitzen. Auch beim Menschen kommt ein 4. Mahl- zahn in seltenen Fällen noch zur Beobachtung; es ist aber bis jetzt noch nicht bekannt, ob er ebenfalls frühzeitig abortiv wird und ob seine Anlage in fötaler Zeit überhaupt eine constante ist. Bei Neu- Caledoniern, Tasmaniern, Australiern und Negern scheint er häufiger aufzutreten, als bei der kaukasischen Rasse. Auch für die Schneidezähne des Oberkiefers (für diejenigen des Unterkiefers gilt dies nur ausnahmsweise) existiren Anhalts- punkte dafür, dass die Zahl zwei nicht die ursprüngliche ist, son- dern dass früher drei in jeder Zwischenkieferhälfte vorhanden waren, Berichte II. Heft 4—12. 6 (17) 89 WIEDERSHEIN: [246 wie dies für viele Säugethiere (gewisse Marsupialier !), Ein- und Mehrhufer, Inseetivoren, Pinnipedier, Carnivoren) die Regel bildet. Immerhin aber sind 6 Schneidezähne bei normal entwickelten Individuen eine ziemlich seltene Erscheinung, während ein doppel- seitig entwickelter Wolfsrachen oder eine doppelte Hasenscharte ein prädisponirendes Moment dafür abzugeben scheinen (Ausrecart, Hany, Masrror ?). Im Hinblick darauf ist man berechtigt, für die Vorfahren des Menschen folgende Zahnformel aufzustellen: 0921.24 - - = = a Ein weiterer Beweis für die einstige Existenz eines reicheren Gebisses liegt in dem Umstande, dass der Schmelzkeim ausser den für den Milch- und den Ersatzzahn zur Verwendung kommenden Sprossen noch andere erzeugt, welche im Lauf der Entwicklung wieder abortiv werden. Unterzunge. In neuester Zeit hat Gr6ENBAUR auf die Bedeutung eines an der Unterfläche der Zunge befindlichen Faltensystems (Plica fim- briata) aufmerksam gemacht, welches namentlich bei Neugebornen und Kindern sehr deutlich entwickelt, bei Erwachsenen aber in ver- schiedenen Graden der Rückbildung begriffen ist. In seinen allgemeinen Formverhältnissen ähnelt jenes Organ der sog. Unterzunge (Sublingua) der Prosimier, unter denen es bei Stenops die selbständigste Entwicklung erreicht. Es ban- delt sich dabei um einen inneren, durch Knorpel-, Fett- und Binde- gewebe gestützten Kern und um eine äussere Schleimhautumhüllung, deren Epithel sich zu Papillen erhebt und die Neigung zur Ver- hornung zeigt. Bei Tarsius und Lemur ist offenbar eine Rück- bildung eingetreten, indem z. B. bei letzterem Thier der knorpelige Stützapparat schon ganz geschwunden ist und das Organ seine Selb- ständigkeit der Zunge gegenüber bereits eingebüsst hat. Offenbar besass die Unterzunge früher ein gut ausgebildetes Stützskelet und dieses kann nur von niederen Thierklassen, und zwar speciell von Reptilien her, vererbt sein. Dabei ist jener vom Basihyale in !) Bei den meisten Beutlern finden sich sogar 4 und selbst 5 Schneide- zähne in jeder Kieferhälfte. ?) Senewick berichet von einem Fall, wo eine Vererbung von 6 Schneide- zähnen vom Grossvater mütterlicherseits herzuleiten war. 247] Der Bau DES MENSCHEN ALs ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 83 die Zunge sich erstreckende stäbchenartige Fortsatz in’s Auge zu fassen, wie er bei Sauriern und Öheloniern zur Beobachtung kommt. Dadurch gewinnt die Unterzunge die Bedeutung eines der Zunge niederer Wirbelthiere morphologisch gleichwerthigen Organs und es erhellt daraus, dass die eigentliche Säugethierzunge mit den Zungen niederer Vertebraten nicht homologisirbar, dass sie also nicht ein von früheren Zuständen ererbtes Organ, sondern dass sie bis zu einem gewissen Grade neu erworben ist. Somit handelt es sich bei der Zunge und Unter- zunge um zwei Gebilde von sehr verschiedenem phylogenetischen Werthe. Wahrscheinlich hat sich die Muskelzunge aus dem hin- tersten Theil der in der Rückbildung begriffenen Unterzunge her- vorgebildet. Die Entwicklungsgeschichte der Zunge hat bisher zur Klar- legung der Sublingua keinen Beitrag zu liefern vermocht. Ehe ich die Zunge verlasse, sei noch der Papillae foliatae gedacht, welche bei Säugethieren ein Lamellensystem darstellen, zwischen welchen die Schleimhaut taschenartige Vertiefungen erzeugt. Diese Organe unterliegen beim Menschen den allerverschie- densten Form- und Grösseschwankungen, und da sie zuweilen kaum noch in schwachen Spuren nachzuweisen sind, so erscheinen sie offenbar als Organe, welche der Rückbildung verfallen sind. Gl. thyreoidea und thymus. Ich schalte hier die Schilderung zweier Organe ein, die hin- sichtlich ihrer Genese und späteren Lageverhältnisse die engsten Beziehungen zum primitiven Vorderdarm aufweisen. Was zunächst die Schilddrüse anbelangt, so bildet sie sich in der ganzen Wirbelthierreihe aus einer doppelten Anlage, nämlich aus einer unpaaren und einer paarigen. Erstere steht beim Menschen insofern in engster Beziehung zur Bildungsgeschichte der Zunge, als durch letztere der primitive Mundhöhlenboden überbrückt und ein Hohlraum geschaffen wird, der sich weiterhin in eine Epithelblase umgestaltet. Diese ist nichts anderes, als eben die unpaare oder mittlere Schilddrüsen- anlage, welche eine Zeit lang an der Verwachsungsstelle von Zungengrund und Zungenkörper mit der Zungenoberfläche durch einen Gang, den Ductus thyreo-glossus, communicirt. Die Oeff- 6* (17%) 84 WIEDERSHEIN : [248 nung dieses Ganges ist das sog. Foramen coecum, welches da- durch ebenfalls unter den Gesichtspunkt der rudimentären Organe fällt. Jener Verbindungsgang bleibt, wie Hıs gezeigt hat, auch beim erwachsenen Menschen häufig noch auf 2!e und mehr Centi- meter sondirbar und auf Grund der Existenz desselben ist es er- klärlich, wie sich der sog. mittlere Lappen der Schilddrüse nach oben in einen Fortsatz verlängern kann, der häufig Abschnü- rungen in mehrere (2—4) über einander liegende Bläschen zeigt (Bursa suprahyoidea, praehyoidea etc.). Was nun den paarigen Theil, d. h. die Seitenlappen der Schilddrüse anbelangt, so entsteht er im Bereich des hintersten Ab- schnittes vom Visceralskelet und zwar durch Abschnürung des un- teren, neben dem Kehlkopfeingang liegenden Theiles vom primären Rachenboden. Also handelt es sich auch hier wieder um ein Ge- bilde von epithelialer Natur. Später rücken die Seitenanlage und das Mittelstück der Schilddrüse zusammen. Anfangs zeigt das ganze Organ unverkennbar einen drüsigen Character, nach vollzogener Abschnürung aber kommt es zu ge- wissen Umgestaltungen der gröberen und feineren Structurver- hältnisse. Diese Art und Weise der Entstehung berechtigt meiner An- sicht nach vollauf dazu, die Schilddrüse zu den rudimentären Organen zu zählen, allein es ist dabei wohl zu berücksichtigen, da sie im ferneren Lauf der Entwicklung nicht, wie man a priori anzunehmen geneigt sein könnte, weitere Kückbildungen erfährt, sondern dass sie im Gegentheil zu einem grossen, reich vascularisirten Organ auswächst, welches nach neueren klinischen Erfahrungen von hoher Bedeutung ist für das körperliche und geistige Wohlbefinden seines Besitzers. Es handelt sich somit um einen Functionswechsel, und dies gilt, bis zu einem gewissen Grade wenigstens, auch für die Gl. thymus. Bei Säugethieren und speciell beim Menschen ent- steht dieselbe nicht, wie man bisher allgemein annahm, aus einer inneren Schlundtasche, sondern aus der ektodermalen Ausklei- dung des 4., 3. und theilweise auch noch des 2., von der äus- seren Haut aus einschneidenden Kiemenschlitzes, sowie der zugehörigen Kiemenbogenwülste (Hıs). Es handelt sich dabei um eine Wanderung aller dieser Gebilde in die Tiefe und um eine schliessliche Abschnürung derselben von der Oberfläche. Soweit ähnelt die Thymus in ihrer ersten Anlage einer rudi- 249] Der Bau oes Menschen ALs ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT, 85 mentären Drüse, später aber verliert sie diesen Character da- durch, dass unter Einwanderung lymphoider Zellen eine tief grei- fende gewebliche Aenderung ihrer ganzen Substanz auftritt, was ihre physiologische Deutung noch mehr erschwert. Gegen Ende des 2. Lebensjahres steht das, seiner grössten Ausdehnung nach hinter dem Sternum, d. h. ventral vom Herzen und seinen grossen Gefässen liegende Organ beim Menschen auf der Höhe seiner Ent- wicklung und geht nun einer regressiven Metamorphose entgegen; allein bis in’s höchste Greisenalter trifft man zuweilen seine fettigen Residuen !). Es ist sehr wahrscheinlich, dass auch die im Theilungswinkel der Carotis communis liegende sog. Carotidendrüse (Glan- dula intercarotica) ihren Ursprung einem Theil der Thymus- anlage (3. und 4. Kiemenspalte) verdankt, doch sind hierüber noch genauere Untersuchungen anzustellen. Bei allen diesen eben betrachteten Organen ist Eines wohl zu beachten und das ist der Ort ihrer Entstehung. Alle liegen im Bereich jenes Darmabschnittes, der bei niederen Wirbelthieren in wichtiger Beziehung zur Kiemenathmung steht. In dieser Hin- sicht verbreiten vergleichend anatomische Studien an Fischen und Amphibien ein helles Licht, denn sie beweisen, dass es sich nicht nur bei der Anlage der seitlichen Schilddrüsenabschnitte, sondern auch bei derjenigen der gesammten Thymus um abortive Kiemen- organe handelt, welche ursprünglich wahrscheinlich dem Respira- tionsapparat dienstbar gemacht werden sollten. Diverticulum retropharyngeum. bei gewissen Säugethieren, wie z. B. bei Schweinen, Ka- meelen und Elephanten, existirt eine Aussackung der hinteren Wand des Schlundkopfes. Sie führt den Namen der retropha- ryngealen Rachentasche (Coecum oesophagi) und tritt zuweilen auch noch beim Menschen als sog. Diverticulum retropharyn- geum auf. Zweifellos handelt es sich dabei um ein rudimentäres Organ, allein seine Bedeutung erscheint noch keineswegs klar ’?). ') In seltenen Fällen erhält sich die Thymus unter beharrlichem Wachs- thum bis zum 20.—24. Jahr. ?) Nach P. ALerecntr würde jenes Diverticulum den letzten Spuren der Schwimmblase der Fische entsprechen. Der bis jetzt geläufigen Annahme entgegen, glaubt nämlich Arpreenr (aus Gründen der verschiedenen Lagebe- 86 WIEDERSHEIN : [250 Desophagus und Magen. Der Oesophagus und der Magen zeigen im ausgebildeten Zustand, abgesehen von dem an eine beginnende Abkammerung des Magens erinnernden Saccus caecus und Antrum pyloricum keine anatomischen Merkmale, welche auf ein niederes Verhalten hindeuten würden. Anders aber verhält es sich in embryonaler Zeit. Die post partum mit geschichtetem Plattenepithel überzogene Schleimhaut des Schlundes trägt beim menschlichen Fötus noch ein wimperndes Cylinderepithel und erinnert so an sehr primitive Zu- stände. Bei Amphioxus und Ammocoetes z. B. wird noch fast der ganze Darm von einem hohen cylindrischen Flimmerepithel aus- gekleidet, bei Petromyzonten findet es schon eine Beschränkung, allein es lässt sich noch durch eine ganze Reihe der Anamnia an den verschiedensten Stellen des Darmes nachweisen. Auch im Schlund der Reptilien ist es häufig zu beobachten und im Darm- canale der Säugethiere ist sein Vorkommen, wenigstens auf kleinere Strecken hin, ebenfalls constatirt. Im Hinblick darauf scheint die alte Auffassung des bekannten Basalsaumes der Darmepithelien als eines letzten Bestes von Flimmer- haaren sehr an Wahrscheinlichkeit zu gewinnen, und es ist nur zu wünschen, dass histogenetische und embryologische Studien noch ergänzend eingreifen. Was die häufig zu beobachtenden Muskelbündel, welche sich zwischen der Hinterwand der Luftröhre und dem Schlundrohr ausspannen, und welche auch an der Kreuzungsstelle des linken Bronchus mit dem Oesophagus, sowie noch an anderen Stellen vor- kommen, für eine Bedeutung haben, ist nicht ersichtlich. Offenbar aber verweist sie ihre Inconstanz, Variabilität und dürftige Ent- wicklung ım die Reihe der dem Menschen allmählich verloren gehenden Organe. Was den Magen betrifft, so liegt in vergleichend anatomi- schen Thatsachen sowohl wie in dem Verlauf und der Endausbrei- tung des N. vagus (emes Kopfnerven!) der Beweis dafür, dass derselbe, wie dies auch für andere Eingeweide, wie z. B. für das Herz, die Gl. thyreoidea und thymus gilt, früher weiter vorne, ziehungen [ventral und dorsal] zum Darme) die Lungen der höheren Vertebraten mit der Schwimmblase der Fische nicht parallelisiren zu dürfen. 251] DER Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 97 d. h. mehr kopfwärts seine Lage hatte, und dass er, wie früher schon angedeutet, secundär weiter nach hinten rückte. Nicht selten begegnet man am unteren Abschnitt des Dünn- darms einem blind endigenden Anhang (Diverticulum ilei). Das- selbe kann, zumal in embryonaler Zeit, zuweilen aber auch noch später, durch einen feinen Strang mit dem Nabel verbunden sein. Dieser Strang enthält den letzten Rest des Ductus omphalo- mesentericus, des Verbindungscanales zwischen Dottersack und Darm. Es handelt sich somit hier nur um einen fötalen Rest. Von ungleich grösserem morphologischen Interesse ist der am Ende des Blinddarmes ansitzende Wurmfortsatz (Processus ver- miformis). Derselbe unterliegt zahlreichen Längeschwankungen. So befinden sich in der Freiburger Sammlung Coeca von 5—18 cm, zuweilen werden aber solche von über 20 cm beobachtet. Als das andere Extrem ist sein gänzlicher Mangel zu bezeichnen (sehr sel- tene Fälle). Wie seine Länge, so schwankt auch seine Weite ganz ausser- ordentlich und dies gilt auch für die an seinem Eingang liegende halbmondförmige Schleimhautfalte; kurz, alles weist auf den rudi- mentären Character hin und erlaubt andererseits den sicheren Schluss auf eine frühere grössere Länge des Darmrohres. Eine Stütze hie- für wird auch durch das Verhalten des Coecums, welches ebenfalls gewissen Grössen- und Formschwankungen unterliegt, geliefert. In der Thierreihe existiren vielfach stattlich entwickelte Coeca, die keine Spur einer beginnenden Verkümmerung ihres Endstückes erkennen lassen, und auch bei Neugeborenen ist der Wurmfortsatz noch relativ voluminöser und nicht so scharf vom Coecum abge- grenzt, wie später. Bei den Anthropoiden begegnen wir schon denselben Verhältnissen wie beim Menschen. Was dem Processus vermiformis unter den anderen rudi- mentären Organen eine Sonderstellung zuweist, ist der Umstand, dass er nicht nur physiologisch irrelevant, sondern dass er, wie zahlreiche durch Perityphlitis herbeigeführte Todesfälle beweisen, seinem Träger geradezu gefährlich werden kann. In dieser Be- ziehung ist man somit berechtigt, von einer Selection zu sprechen. Leber und Milz. Was die Leber anbelangt, so zeigt sie bezüglich ihrer Lap- pung nicht selten Abweichungen von ihrem gewöhnlichen Ver- 88 WIEDERSHEIM: [252 halten, es muss aber vorderhand dahin gestellt bleiben, in wie weit man darin sichere Anklänge an primitive Verhältnisse zu er- blicken hat. Ungleich schwieriger noch erscheint die Deutung der sog. Nebenmilzen. Statt einer einfachen Milz beobachtet man nämlich hie und da 3, seltener 4, 5, 7 oder gar wie in dem von Orro an- geführten Fall 27 Milzen. Dabei ist wohl jede atavistische Erklärung auszuschliessen, und zwar um so mehr, als die Milz offenbar un- gemein leicht durch die geringsten Nebenumstände, Lage und Druck- verhältnisse der umgebenden Eingeweide etc. in ihrer Entwicklung beeinflusst wird. So erinnere ıch mich z. B. eines von Bosrröm beobachteten Falles, wo eine Milz an ihrem Hinterende in Folge des Descensus testiculi zu einem fadenartigen Strang, der bis in das Scerotum sich erstreckte, ausgezogen war. Jedenfalls also wird man bei einem Versuch, die Vervielfachung des Organs auf das Verhalten bei Säugethieren, wo allerdings da und dort multiple Milzen constant zu sein scheinen, zurückzuführen, grosse Vorsicht walten lassen müssen. F. Traetus respiratorius. Kehlkopf. Durch die ganze Reihe der Reptilien (und auch gewisse Am- phibien gehören schon hieher) hindurch !) ist das Skelet des Kehl- kopfes noch ungleich einfacher construirt, als bei Säugethieren, wo nicht nur das Relief der einzelnen Theile ein complicirteres wird, sondern auch eine Vermehrung derselben (Cartilago thyreoidea, Epiglottis) eintritt). Die Folge davon ist, dass auch die Muscu- latur eine bedeutende Complication erfährt, so dass es sich z. B. nicht mehr, wie dort, nur um einen einzigen Verengerer (Sphincter) der Stimmritze, sondern um ein ganzes System von solchen handelt °). ') Die Vögel, deren oberer Kehlkopf nur als Luftthor und nicht als Stimmorgan fungirt, können hier schon aus genealogischen Gründen nicht in Betracht kommen. ?) Ueber die Bedeutung der accessorischen Kehlkopfknorpel, welche mehr oder weniger inconstant sind, wage ich noch kein bestimmtes Ur- theil abzugeben. ») Man kann die betreffenden Einzelmuskeln nach GeEsEnBaur’s Vorschlag Er DER Bau vDEs MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT, Sg [ot es > Mit andern Worten: der Sphincter laryngis der Reptilien hat bei den Säugethieren neue Ansätze und Ursprünge an den Knor- peln gewonnen, und dies gilt namentlich, wie Fürzrısger nachge- wiesen hat, für die tieferen Sphincterschichten, während die ober- flächlichen keine so bedeutende Differenzirung erfahren und das ursprüngliche Verhalten mehr beibehalten haben. Dem entsprechend sind auch hier die meisten Varietäten zu verzeichnen. Von der engen Zusammengehörigkeit der äusserlich angeord- neten Larynx- und der Pharynxmusculatur legt nicht nur der gemeinsame Nerv (Vagus) Zeugniss ab, sondern auch die häufig vorkommenden Uebergangsfasern des M. erico-thyreoideus in den Constrietor pharyngis inferior. Zwischen den wahren und falschen Stimmbändern liegt jeder- seits der Eingang zu einer Bucht, welche bekanntlich als Ventri- culus s. Sinus Morgagni bezeichnet wird, und in welche sich die Schleimhaut des Kehlkopfes direkt fortsetzt. Diese taschen- artige Ausbuchtung erstreckt sich nach aussen und zugleich etwas nach vorwärts; dabei ragt sie auch mehr oder weniger weit nach aufwärts und kann sogar in seltenen Fällen den oberen Schild- knorpelrand erreichen. Ja, es ist selbst ein Fall bekannt geworden, wo sie die Membrana thyreoidea durchbrach und so nach aussen vom Kehlkopf zu liegen kam (W. Gruser). Es ist nicht schwer, zu erkennen, dass es sich bei diesem, wie schon bemerkt, den allergrössten Varietäten unterliegenden Verhalten der Morgagni'schen Taschen um nichts anderes, als um eine Er- innerung an die Brüll- oder Schallsäcke der Affen handeln kann. Diese sind vom Kehlkopf aus mit Luft füllbar und können sich bis weit am Hals herunter, ja bis zur Schulter und Brust ausdehnen. Derartige, im luftgefüllten Zustande wahrhaft monströsen Säcke, welche sogar theilweise von dem zu einer Knochenblase umgewan- delten Zungenbeinkörper umhüllt sein können (Mycetes), dienen, wie ich glaube, offenbar nicht allein beim Schreien als Re- sonanzblasen, sondern auch als Aufblähungs-, d. h. als Schreck- mittel. passend in eine laterale und hintere Gruppe scheiden. Zur ersteren gehört der M. crico-arytaenoideus lateralis, sowie der M. thyreo-arytaenoi- deus inferior und superior, zur letzteren der Interarytaenoideus obliquus und transversus. Letztere haben ihren Sphinctercharacter am reinsten bewahrt. 90 | WIEDERSHEIM: [254 Lungen. Azgy hat auf Grund der Bronchial-Architeetur und der Ge- fässverhältnisse nachgewiesen, dass der obere Lappen der rechten Lunge nicht homolog ist demjenigen der linken, sondern dass letz- terer vielmehr dem mittleren Lappen der rechten Lunge entspricht. Der obere Lappen rechterseits besitzt also in der linken Lunge kein Homologon, und es wird sich die Frage erheben, ob diese Asymmetrie eine ursprüngliche ist, oder ob Beweise dafür vorliegen, dass das Plus, was die rechte Lunge heutzutage besitzt, einst auch linkerseits existirte, d. h. ob dem ganzen Tractus respiratorius, von der Bifurcation der Trachea an, ein streng symmetrischer Plan zu Grunde liest. Zu Gunsten letzterer Annahme sprechen jene Fälle, wo beiderseits ein eparterieller (sei es nun ein bronchialer oder trachealer) Bronchus vorhanden ist, d. h. Bradypus, Equus, Elephas, Phoca, Phocaena communis, Delphinus delphis und Auchenia. Alle diese Formen bieten nun aber, wie GEGENnBAUR mit Recht bemerkt, in ihrer sonstigen Organisation keineswegs primitive, in genealogischer Reihenfolge für den Menschen verwerthbare Verhält- nisse dar, und dieser Umstand wiegt schwer genug, um sie bei der Lösung der oben angeregten Frage nur mit grosser Vorsicht zu verwenden. Sehr auffallend bleibt es immerhin, dass namentlich die Mar- supialier, Nager, Insectenfresser, Halbaffen und Affen durchaus keine Anhaltspunkte für eine ursprüngliche bilaterale Lungensymmetrie darbieten, und dass auch das Studium der Onto- genese diese Lücke bis jetzt nicht auszufüllen vermocht hat. Auf welchen Bahnen also die Säugethiere der erstgenannten Gruppe ihren beiderseitigen eparteriellen Bronchus ererbt haben, und wie er bei ihnen zu beurtheilen ist, lässt sich vorderhand nicht entscheiden. Sicher ist nur, dass, falls es sich bei der menschlichen Lunge be- züglich des Lobus superior zwischen Rechts und Links ursprüng- lich wirklich um homologe Verhältnisse gehandelt hat, diese schon seit sehr langer Zeit verloren gegangen sein müssen. So lange aber jene Homologie nicht erwiesen ist, halte ich es für eine müs- sige Speculation, die Ursachen zu erwägen, welche etwa zur all- mählichen Asymmetrie in der Bronchialverzweigung geführt haben könnten. 255] Der Bau pEes MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT, 91 Bei der Beurtheilung der Primaten-Lunge ist Eines vor Allem im Auge zu behalten und das ist die Verwachsung des Herzbeutels mit dem Zwerchfell. Daraus resultirt eine gewisse Constanz, oder, wenn der Ausdruck erlaubt ist, eine gewisse Starrheit in der Form des rechten und linken Pleuralraumes. Die weitere Folge davon wird aber die sein, dass auch die Lungen selber in der Ausbildung ihrer Lappen in viel strengere Grenzen gewiesen sind, als bei Thieren, wo sich Lungensubstanz entweder constant oder nur bei der Inspi- ration zwischen Herz und Diaphragma einzuschieben im Stande ist. Dies wird namentlich bei der rechten Lunge, an deren Basis sich ein besonderer Lappen entwickeln kann, beobachtet. Dieser Lobus impar tritt nun zuweilen auch noch beim Menschen auf, und zwar, wie es scheint, am häufigsten bei niederen Menschenrassen und Mikrocephalen. G. CGireulationsorgane. Wohl bei keinem anderen Organsystem findet das biogene- tische Grundgesetz eine so ausgedehnte Anwendung wie hier, und es hiesse nur oft Gehörtes wiederholen, wenn ich näher darauf ein- gehen würde. Ich beschränke mich daher auf folgende kurze Skizze. Herz. Wie ich schon früher erwähnt habe, erscheint das Herz in einem frühen Embryonalstadium noch viel weiter nach vorne in die Hals-, ja anfangs sogar in die Kopfgegend gerückt und erinnert so an das Verhalten bei Fischen und den meisten Amphibien. Dieser Vergleich ist um so berechtigter, als es zur selben Zeit, wie bei den niedersten Anamnia, ein durchaus einheitliches Lumen be- sitzt und erst ganz allmählich und in gleichmässiger Parallele mit seiner phylogenetischen Entwicklung eine höhere Differenzirung erfährt. Seine ursprünglich sehr einfachen Kreislaufsverhältnisse machen complieirteren Platz, allein gewisse rudimentäre Bildungen im rechten Vorhof, wie z. B. die Stelle des einstigen Foramen ovale, der Isthmus Vieusseni und die Valvula Eustachii weisen zeitlebens noch auf jene Zeit zurück, wo der aus der unteren Hohlvene ein- dringende, vorwiegend arterielle Strom in’s linke Atrium ging, wäh- 99 W IEDERSHEIM : [256 rend das ausschliesslich venöse Blut der Vena cava superior aus dem rechten Vorhof in den Ventriculus dexter sich ergoss. Venöses System. Die inconstante Valvula Thebesii liegt bekanntlich an der Ausmündung der Kranzvene, welcher die Aufgabe zufällt, das eigene Blut des Herzens in den rechten Vorhof zu dirigiren, allein dieses Gefäss besass, wie die Entwicklungsgeschichte und die vergleichende Anatomie beweist, ursprünglish eine viel höhere morphologische und physiologische Bedeutung. Es ist nämlich der letzte Rest der Vena cava superior sinistra, welche bei Sauropsiden und vielen Säugern zeitlebens besteht, während sie beim Menschen, wo sie gleich bei ihrem ersten Auftreten der rechten oberen Hohlvene gegenüber weniger voluminös erscheint, nur eine transitorische Be- deutung besitzt. Sie umgreift, in den Sulcus coronarius eingebettet, in embryonaler Zeit die dorsale Wand der linken Vorkammer und nimmt hier das venöse Herzblut auf; später aber kommt es zwischen ihr und der Cava superior dextra zu Anastomosen und der Schluss des Rück-, oder, wenn man so will, des Umbildungsprocesses wird durch die Ausschaltung des ausserhalb des Herzens liegenden Ab- schnittes der oberen linken Hohlvene dargestellt. Die Folge davon ist eine compensatorische Vergrösserung der Vena cava superior dextra. Ehe ich den rechten Vorhof verlasse, sei noch jenes Wulstes Erwähnung gethan, welcher als Tuberculum Loweri zwischen den Einmündungen der oberen und unteren Hohlvene in's Herz- lumen vorspringt. Er unterliegt in seiner Ausbildung zahlreichen Variationen und ist der letzte, offenbar im Schwund begriffene Rest eines bei den Säugethieren viel ausgeprägteren Gebildes. Wie aus den obigen Betrachtungen erhellt, zeigen sich im venösen System des Menschen unverkennbare Spuren früherer pri- mitiver, von niederen Vertebraten her vererbter Verhältnisse, und diese finden auch ihren Ausdruck in dem in früher Fötalperiode existirenden System der oberen und unteren Cardinalvenen, des Ductus Cuvieri, des Sinus venosus und des Ductus Botalli. Es wäre von Interesse, hier auch noch der Venae omphalo- mesentericae, der Vena umbilicalis, des Ductus venosus Arantii und des Zustandekommens des Pfortadersystems zu ge- denken, allein ich muss auf eine genauere Wiedergabe dieses Ver- 257] Der Bau Des MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 93 hältnisse, welche mehr nur ein embryologisches Interesse besitzen, verzichten. . Das an Varietäten überreiche Venensystem ist bekanntermassen durch den Besitz von Klappen characterisirt, welche einen hück- fluss des Blutes verhindern sollen. Dieser ihrer Aufgabe entspre- chend, werden wir sie vorwiegend in den Extremitäten erwarten dürfen, wo der venöse Strom — und ich habe dabei namentlich die unteren im Auge an und für sich schon mit grösseren Schwierig- keiten zu kämpfen hat. Diese Erwartung bestätigt sich nun auch, allein wenn man bedenkt, dass der Urmensch sich aus einem Vier- füssler entwickelt hat, so wird für ihn eine Zeit existirt haben, wo seine Brust-, Bauch- und Rückenseite, die heutzutage nach vorne, bezw. nach hinten schauen, nach abwärts, resp. nach aufwärts gekehrt waren. Damals aber musste der Strom der Intercostal- und Lumbalvenen ungleich ungünstigeren Bedingungen unterliegen als heutzutage; er musste gegen das Gesetz der Schwere in gleicher Weise ankämpfen, wie dies jetzt noch für das venöse Blut der un- teren Extremitäten gilt. Diese gewiss berechtigte Voraussetzung veranlasste mich, die Intercostalvenen des Menschen auf den Besitz von Klappen genauer zu prüfen und das Resultat stimmte mit den von Hrxte in seinem Handbuch der Anatomie niedergelegten Er- fahrungen im Wesentlichen überein. Das heisst, ich traf ein sehr schwankendes Verhalten, sowohl in der Zahl als in der Ausbildung der Klappen, so dass man sich hier des Gedankens an einen re- gressiven Process nicht entschlagen kann. Dass auch viele Venenklappen in anderen Körpergegenden einen rudimentären Eindruck machen und offenbar in der Rückbil- dung begriffen sind, ist bekannt und ebenso, dass sich in der Fötal- zeit ungleich mehr Venenklappen anlegen, als später zur vollstän- digen Ausbildung kommen. Arterielles System. Die arteriellen Blutbahnen weisen nicht minder als die venösen auf primitive Zustände zurück, ja es ist geradezu erstaunlich, wie sich z. B. das System der Kiemenarterien in derselben typischen Weise, wie es uns bei den Anamnia entgegentritt, in seiner embryo- nalen Anlage bis zum Menschen hinauf fortvererbt. Dass es übrigens bei weiterer Entwicklung nicht dieselbe reiche Ausgestaltung erfährt, dass es sich also nicht, wie bei Anamnia, in 94 WIEDERSHEIM: [258 ein respiratorisches Gefässnetz auflöst, sondern vielmehr Um- und Rückbildungen erleidet, kann in Anbetracht der veränderten phy- siologischen Verhältnisse, die ja auch eine Vereinfachung des Bran- chialskeletes bedingten, nicht befremden. Viele in jenem Gebiet auftretende Variationen lassen sich überhaupt nur dadurch erklären, dass embryonale Blutbahnen, die sich unter normalen Verhältnissen zu schliessen und rudimentär zu werden pflegen, zeitlebens wegsam bleiben. Die Anthropoiden stimmen hierin mit dem Menschen vollkommen überein. Auf der hinteren Fläche der vorderen Bauchwand des Menschen sieht man von der Blasengegend aus drei strangartige Bildungen gegen den Nabel zu verlaufen. Sie sind bekannt unter dem Namen des Ligamentum vesicale medium und der Ligamenta vesi- calia lateralia. Ersteres entspricht dem Stiel der embryonalen Allantois, d. h. dem Urachus, die letzteren dagegen sind die letzten Rudimente der Nabelarterien, welche zu einer gewissen Entwick- lungsperiode, d. h. zu einer Zeit, wo die hinteren Extremitäten eben hervorzusprossen beginnen, die Hauptmasse des Aortenblutes auf- nehmen und in die Aorta werfen. Häufig bleibt das Anfangsstück derselben das ganze Leben hindurch canalısirt und fungirt als Ar- teria vesicalis superior; die übrige, weitaus grössere Partie obliterirt vollständig und wird ein solider Bindegewebsstrang. Die eigentliche Fortsetzung der Aortenaxe wird durch die A. sacralis media, eines beim Menschen nur schwachen, rudi- mentären Gefässchens gebildet. Bei langschwänzigen Thieren, wo also das hintere Leibesende keine Reduction erfahren hat, stellt sie die aus einer ganz allmählichen Abschwächung des Aortenstammes hervorgehende A. caudalis dar. An keiner Körperstelle sind die Arterienvarietäten so häufig wie an der oberen Extremität und hauptsächlich an der Hand. Aehnliches gilt auch für den Fuss; und hiefür sind wieder die beim Skelet und der Musculatur hervorgehobenen Gesichtspunkte mass- sebend. Wenn ein Processus supracondyloideus besteht, so liegt die A. brachialis hinter diesem, und indem sie dabei von dem höher aufwärts rückenden Ursprung des M. pronator teres be- deckt wird, erinnert sie an das Verhalten jener Säugethiere, bei welchen die A. brachialis und der N. medianus durch das bei ihnen regelmässig vorhandene Foramen supracondyloideum hin- durchtreten. 259] Der Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 95 Bezüglich der genauen Details hierüber verweise ich auf die schöne Arbeit von Ruce im IX. Bande des morphologischen Jahr- buches. Eine Vergleichung der Blutbahnen der Hand mit jenen des Fusses führt zu dem Resultat, dass es sich bei jenen um zwei arterielle Gefässbogen, einen tiefen und einen hohen, handelt, bei diesen dagegen nur um einen einzigen tiefen. Dass am Fuss in Anbetracht seiner physiologischen Aufgabe ein oberflächlicher Bogen nicht existiren kann, und dass sich seine grösseren Arterien, im Interesse unbehinderter Kreislaufsverhältnisse, in die tiefe Nische des Fussgewölbes zurückziehen mussten, liegt auf der Hand. Es kommen jedoch nicht selten Andeutungen vor, welche darauf hinweisen, dass auch der Fuss früher einen hohen arteriellen Gefässbogen besass, aus dem die Zehenarterien ganz so entsprangen, wie dies heute noch für die aus dem Arcus sublimis der Hand her- vorgehenden Fingerarterien gilt. H. Urogenitalsystem. ‚Vornieren- und Urnierensystem. Seit v. Misavcoviıcz bei Lacertiliern und auch bei höheren Amnioten die Anlage einer Vorniere nachgewiesen hat, kann es meines Erachtens nur eine Frage der Zeit sein, dass dieselbe auch bei jungen menschlichen Früchten an’s Licht gezogen wird. Damit aber wäre beim Menschen jenes uralte Excretionssystem aufgedeckt, wie es in streng metamerer Anordnung die Vor- fahren der heutigen Wirbelthiere einst characterisirt haben muss, und wir hätten dann darin überhaupt eines der ältesten Erbstücke des menschlichen Organismus zu erblicken. Das letzte Wort dar- über kann aber erst gesprochen werden, wenn die augenblicklich noch im Gang befindlichen Untersuchungen über die erste Anlage des Vornierenganges, dessen ektodermale Abkunft übrigens ausser allem Zweifel zu stehen scheint, zu Ende geführt sein werden. Damit wäre die epitheliale Auskleidung des Exeretionsapparates auf eines der epithelialen primären Keimblätter zurückführbar und es würde das Mesoderm der seinem allgemeinen Character sonst gänzlich fremden Eigenschaft, Epithelien zu liefern, bis zu einem gewissen Grade wenigstens, entkleidet werden können. 96 t W IEDERSHEIM ; [2 60 Die zweite Etappe in der Phylogenese und ÖOntogenese des Excretionssystems wird durch die ebenfalls auf eine segmentirte Urchordatenform zurückweisende Urniere dargestellt. Von ihr aber erhalten sich, im Gegensatz zur Vorniere, welche bei den darauf untersuchten Amnioten und der weitaus grössten Zahl der Anamnia schon in embryonaler Zeit eine gänzliche Rückbildung erfährt, bei Mann und Weib zeitlebens mehr oder weniger deutliche Spuren. Alles weist darauf hin, dass bei sämmtlichen Amnioten und so auch bei den Vorfahren des Menschen einmal eine Zeit existirte, wo jenes zweite Excretionssystem die Hauptniere das ganze Leben hindurch repräsentirte !), während die jetzige eigent- liche Niere (Metanephros) noch höchst unvollkommen war. Später wurde dann jene, aus bis jetzt nicht zu ergründenden Ursachen, für die Exceretion ungenügend, und da die neue Niere jetzt die Haupt- rolle zu spielen begann, so wurde sie überflüssig und fiel der Rück- bildung anheim, oder ging, unter den Erscheinungen eines Func- tionswechsels, Beziehungen zu dem männlichen Geschlechts- apparat ein?). Letztere können uns hier nicht weiter interessiren, und es mag genügen, hier in aller Kürze an die aus dem Urnierensystem hervorgehenden rudimentären Gebilde beider Geschlechter zu erinnern. Beim Manne gehören dahin: die Paradidymis, das Giraldes’sche Organ und wahrscheinlich auch die gestielte Mor- gagni’sche Hydatide; beim Weibe: der grösste Theil des Paro- variums und das gesammte Paroophoron. Hiezu kommen beim weiblichen Geschlechte noch die letzten Reste des Urnieren- ganges, welche sich entweder nur im Bereich des Parovarıums vorfinden oder sich, falls der ganze Gang sich erhält, als die Gärt- ner’schen Gänge bis zur Vagina (Hymen-Gegend) erstrecken. !) Im Hinblick auf die bei niederen Vertebraten mit dem Coelom im offener Verbindung stehenden Wimpertrichter der "Vor- und Urniere muss dem Coelomepithel im Allgemeinen ursprünglich eine excretorische Bedeu- tung zuerkannt werden. ?) Neuere Untersuchungen haben gelehrt, dass der oben ausgesprochene Satz über die einstige hohe physiologische Bedeutung der Urniere bei Am- nioten als eines bleibenden Fxeretionssystemes eine Hauptstütze durch ihr Ver- halten bei Reptilien erfährt. Hier existirt nämlich eine Periode, wo die Ur- niere noch zum grössten Theil neben der späteren definitiven Niere in Function bleibt. So schrumpft sie z.B. bei Eidechsen erst nach dem 1. Winterschlaf, also im 2. Jahr. Somit hat hier die Umiere nicht nur für den Embryo, son- dern auch noch für das junge Thier Bedeutung. 1 261] Der Bau vEs MENSCHEN ALs ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT, 9 Müller’scher Gang. Was den Müller’schen Gang betrifft, so entsteht er bei Säugern als eine auswärts vom Urnierengang liegende, trichter- artige Einstülpung („Ostium tubae“) des Coelomepithels, welche nach hinten auswächst und ganz allmählich erst den Urogenitalsinus erreicht. In dieser seiner Bildungsgeschichte sprechen sich sehr primi- tive, an die Vorniere erinnernde Verhältnisse aus, welche beweisen, dass derselbe ursprünglich Beziehungen zum Coelom und nicht zur Geschlechtsdrüse besessen haben muss. Erwägt man weiter den Umstand, dass sich derselbe auch noch im männlichen Ge- schlechte anlegt, so folgt daraus, dass er hier früher ebenfalls physiologisch thätig gewesen sein muss, so dass seine gleich zu erwähnende Bedeutung für das weibliche Geschlecht schon als eine secundär erworbene aufzufassen ist. Es ist überhaupt von hohem Interesse, dass für beide Ge- schlechter eine Zeit der geschlechtlichen Indifferenz besteht, so dass also beide die Fähigkeit, männliche sowohl als weibliche Zeugungsstoffe zu produciren, potentia besitzen, wie sich auch die Anlage der betreffenden Ausführungsgänge auf Mann und Weib (vice versa) gleichmässig vererbt. Dahin gehört auch das oben schon besprochene, zur sexuellen Sphäre in nächster Beziehung stehende System der Milchdrüsen, sowie der beiden Geschlechtern zukommende letzte Rest des Beutel- muskels, des M. pyramidalis, worauf ich ebenfalls schon früher aufmerksam gemacht habe. Wie nun im männlichen Geschlechte der Urnierengang, so wird bekanntlich im weiblichen der Müller’sche Gang in toto zum eigentlichen Geschlechtscanal. Beim Manne dagegen verfällt er im weitaus grössten Theile seines Verlaufes der Rückbildung, bezw. einem völligen Schwund und verliert so fast jegliche physio- logische Bedeutung. Sein proximaler Abschnitt wird zur unge- stielten Morgagni'schen Hydatide, jenem bekannten kleinen Anhängsel des Hodens; seine distalen Enden aber confluiren mit- einander und erzeugen ein kleines Bläschen, den in die Prostata eingebetteten Uterus masculinus. Dieser öffnet sich später in den Sinus urogenitalis. Bei Amphibien und Sauropsiden bleiben die Müller’schen Berichte II. Heft 4—12. 7 (18) 98 WIEDERSHEIN : ; [262 Gänge im weiblichen Geschlecht stets das ganze Leben hindurch getrennt, und dies gilt auch noch für jene niederen Säugethiere, die man aus diesem Grunde als Didelphen bezeichnet. Bei allen übrigen Mammalia (Monodelphen) aber kommt es noch in fötaler Zeit zu einer mehr oder weniger ausgedehnten Verwachsung der- selben, und zwar beginnt dieselbe wahrscheinlich bei allen Mono- delphen im oberen Drittel des sog. Geschlechtsstranges, bevor noch der Durchbruch in den Urogenitalsinus erfolgt ist. Darin ist inso- fern ein atavistisches Verhalten zu erblicken, als jene primäre Verwachsungsstelle der Müller’schen Gänge jener Stelle der ge- trennten Geschlechtscanäle weiblicher Didelphyden entspricht, wo letztere in der Gegend des Uterusmundes medianwärts eingeknickt sind und sich geradezu berühren; bei anderen Beutelthieren ver- schmelzen hier die Gänge, während proximal der Uterus- und distal- wärts der Vaginalabschnitt getrennt bleiben. Ich führe dies Alles hier an, weil gewisse Hemmungsbildungen im Genitaltractus des Weibes nur dadurch ihre Erklärung finden. Alle jene abnormen Formen der Gebärmutter, die man als Uterus duplex, bipar- titus und bicornis bezeichnet, sind nämlich nichts Anderes als der Ausdruck eines im Laufe langer Zeiträume sich vollziehenden Zu- sammenflusses der ursprünglich getrennten Müller’schen Gänge in einen Uterus simplex, wie er unter normalen Verhältnissen dia heutigen Primaten characterisirt. Bei diesen zeigt sich das primitive Verhalten der Müller’schen Gänge nur bei den paarig bleibenden Eileitern, in der Längsleiste des Cervix uteri und der Vagina (Columnae rugarum) ausge- drückt. Was die ursprüngliche Bedeutung jenes Gebildes anbelangt, das, am weiblichen Scheideneingang liegend, als Hymen !) bezeichnet wird, so ist sie keineswegs klar und in morphologischer Beziehung lässt sich nur das mit Sicherheit sagen, dass der Hymen dem ') Bei Affen kommt es nirgends zur Entwicklung eines Hymens und ebenso wenig eines Mons veneris und grosser Schamlippen, welche auch bei gewissen äthiopischen Stämmen sowie bei Japanerinnen dürftig entwickelt sind. Im Gegensatz dazu zeigen die kleinen Schamlippen sowie die Cli- toris auch bei Europäerinnen zuweilen eine so bedeutende Grösse, dass man unwillkürlich an die Verhältnisse bei Affen erinnert wird. Welche monströse Entwicklung die kleinen Schamlippen bei südafrikanischen Volksstämmen („Hot- tentottenschürze“) erfahren, ist bekannt. 263] Der Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 09 » Collieulus seminalis im männlichen Geschlecht entspricht, d. h. also jener Stelle, wo die Urnierengänge, die Schleimhaut hügelartig vortreibend, sich in den Urogenitalsinus öffnen. In einer gewissen Entwicklungsperiode münden sowohl die (Geschlechtsgänge als der Darm des Menschen nach hinten in einen semeinsamen Hohlraum, in die sog. Cloake, und weisen so auf ursprüngliche Verhältnisse zurück, wie sie früher einmal bei den Vorfahren des Menschen existirt haben müssen und wie sie bei sämmtlichen Sauropsiden, sowie bei den niedersten Säugethieren das ganze Leben bestehen bleiben. Im weiteren Verlauf der Entwicklung wird das Cloakenlumen durch das einwachsende Mittelfleisch in zwei Räume zerlegt, einen hinteren, welcher zur Verlängerung des Mastdarmes verbraucht wird, und einen vorderen, den Sinus urogenitalis, an dessen Vorder- wand später das Geschlechtsglied aussprosst. Der Sinus uro- genitalis erheischt deshalb ein besonderes Interesse, weil von seiner Vorderwand die Allantois ausgeht, ein blasenartiges Gebilde, das ursprünglich auf eine Ausstülpung der primitiven Cloakenwand zu- rückzuführen ist und aus dem in einem viel späteren Stadium der Entwicklung die Harnblase resp. der früher schon erwähnte Urachus hervorgeht. Geschlechtsdrüsen und Nebennieren. Was die Geschlechtsdrüsen anbelangt, so steht ihre erste Anlage zu derjenigen der Nebennieren in allernächster Beziehung. Auf die Urgeschichte dieser, in physiologischer Beziehung ganz dunklen Organe fällt dadurch wenigstens einigermassen Licht und es beginnen sich doch allmählich Aussichten für ein morphologisches Verständniss derselben zu eröffnen. V. vox Mısavcovıcz hat nachgewiesen, dass die Nebennieren der Amnioten abgetrennte Theile der geschlechtlich noch nicht differenzirten, also auf niedrigem Stadium der Ent- wicklung stehenden Geschlechtsdrüsen darstellen, die mit der erfolgten Trennung andere physiologische Beziehungen eingegangen sind. Beide entstammen also einem und dem- selben Mutterboden, d. h. dem Coelom-, bezw. dem Keim- epithel. Ihre Beziehungen zum Sympathicus scheinen secun- därer Natur zu sein, allein hierüber sind die Untersuchungen noch nicht abgeschlossen und auch für jene oben erwähnten Beziehungen 7.8”) 100 WIEDERSHEIN : [264 e der Nebennieren zum Keimepithel fehlt uns nach mancher Seite hin noch das volle Verständniss. Endlich sei hier noch des sog. Descensus der Keimdrüsen gedacht, der beim männlichen Geschlecht ungleich weiter gedeiht, als beim weiblichen, wo die Ovarien bekanntlich nur sehr aus- nahmsweise die Beckenhöhle überschreiten und bis in den Bereich der grossen Schamlippen gerathen. Im letzteren Falle handelt es sich um Verhältnisse, die denjenigen des Mannes entsprechen, in- dem hier die Testikel!) bekanntlich bis in’s Scrotum herabsteigen; allein sowohl für dieses als für jenes Verhalten lässt sich um so schwerer irgend eine befriedigende Erklärung geben, als man nicht abzusehen vermag, warum jene wichtigen Organe ihren vor schäd- lichen Einflüssen wohl gesicherten Locus nascendi mit einer so ex- ponirten Lage”) vertauschen. Hierüber herrscht noch vollständiges Dunkel; nur Eines scheint mir mit Sicherheit behauptet werden zu dürfen, nämlich das, dass die Hoden, bevor sie dauernd in das Serotum zu liegen kamen, in ihrer phylogenetischen Entwicklung eine Periode durchlaufen haben müssen, wo sie, wie dies bekannt- lich bei zahlreichen Säugethieren ?) möglich ist, während der Brunst- zeit oder auch nur während der Üopulation in die Bauchhöhle zurückgezogen werden konnten. Dafür spricht der nicht selten zu beobachtende Kryptorchismus beim Manne, sowie der heute noch existirende und, wie alle rudimentären Organe, zahlreichen Stärke- schwankungen unterliegende Musculus cremaster, welcher bei Kindern (auf Kältereiz z. B.) den Hoden noch in hüpfende oder zuckende Bewegung zu setzen, ja ihn zuweilen sogar bis zur äusseren Leistenöffnung oder gar noch weiter hinaufzuziehen im Stande ist. ') Auf die Art und Weise des Zustandekommens des Descensus kann hier nicht näher eingegangen werden, und ich will nur erwähnen, dass sich Rudimente des Leitbandes der Geschlechtsdrüsen bei Weib und Mann zeitlebens vorfinden. Bei ersterem sind sie viel ansehnlicher und werden durch das Ligamentum ovarii proprium und das Ligamentum teres uteri dar- gestellt. ?) Ein Hauptnachtheil liegt auch in dem durch einen offen bleibenden Canalis vaginalis gegebenen prädisponirenden Momente für angeborene Leistenbrüche, ®) Bei den Monotremen, Pinnipediern, Cetaceen, Ele- phanten und anderen bleiben die Testikel zeitlebens in der Bauchhöhle ein- geschlossen. 265] Der Bau Des MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 101 Definitive Niere. Was die definitive Niere betrifft, so stellt sie bekanntlich beim Menschen in der Regel ein compactes, glattwandiges Organ dar, allein nicht selten zeigt sich ihre Oberfläche mehr oder weniger tief eingebaucht, so dass daraus ein lappiger Character resultirt, wie er für die Niere zahlreicher Säugethiere characteristisch ist. Das häufige Auftreten derselben auch an der menschlichen Niere, bezw. seine regelmässige Erscheinung in der Fötalzeit, sowie end- lich die häufig vermehrte Zahl der Nierenarterien erlaubt den Schluss, dass derselbe vor nicht allzu langer Zeit auch für die menschliche Niere typisch gewesen sein muss. Geschlechtsglied. Schliesslich sei noch des männlichen Geschlechtsgliedes gedacht, welches zuweilen auf einer niederen Entwicklungsstufe stehen bleibt und dann jene Hemmungsbildung aufweist, die man als Hypospadie bezeichnet. Offenbar liegt auch darin — und die vergleichende Betrachtung niederer Säugethiere bestätigt dies — die Andeutung eines primitiven Verhaltens, ganz ähnlich, wie es uns heute noch an der Clitoris entgegentritt. Ob aber darin, wie R. Brancnarp annimmt, ein Rückschlag auf die Reptilien zu er- blicken ist, scheint mir so lange nicht sicher ausgemacht, bis homo- loge Beziehungen zwischen den äusseren Begattungsorganen der Säuger einer- und denjenigen der Reptilien andererseits nachge- wiesen sein werden. In den vorstehenden Untersuchungen liegt ein grosses, auf alle Organsysteme sich beziehendes Material aufgehäuft und ich erachte es für passend, bevor ich weitere Schlüsse daraus ziehe, dasselbe in übersichtlicher Weise zu rubriciren. I. Progressive Veränderungen, im Sinne einer sich an- bahnenden Vervollkommnung. 1) Herausbildung eines eigenen, langen Daumen- und Gross- zehenbeugers. 102 I. 2) 3) 4) ) St 6) 3) 9) Re Or WIEDERSHEIM : [266 Feinere Differenzirung der Muskeln des Daumen- und Kleinfingerballens. Steigerung der Leistungsfähigkeit der Hand im Allgemeinen. Schärfere Individualisirung des hohen und tiefen, gemein- samen Fingerbeugers, sowie der beiden radialen Hand- strecker. Massenzunahme des Glutaeus maximus. Feinere Ausbildung der eigentlichen Gesichtsmuskeln (im Gegensatz zu den Muskeln des Ohres und des Hinter- hauptes). Höhere Entwicklungsstufe des Gehirnes in histologischer Beziehung. Wachsender Intellect. Zunehmende Ausbildung und Festigung des Fussgewölbes. Vervollkommnung der gesammten unteren Extremität im Sinne eines Stütz- und Gehwerkzeuges. Bedeutendere Entfaltung der Darmbeinschaufeln beim weib- lichen Geschlecht. Verbreiterung des Sacrums. Erweite- rung des Beckeneinganges. Verbreiterung der Scapula, zumal ihrer Basis. gressive Veränderungen, wobei die betreffenden gane in deutlich erkennbarer Weise noch physio- logisch leistungsfähig bleiben. 1) Vereinfachung der Muskeln des Unterschenkels und des Fusses. Adductor transversus des Fusses. Opponens des Kleinzehenballens. Serratus posticus superior und inferior. Die eigenen Strecker der Finger. 6) M. pyramidalis (bei relativ guter Entwicklung als Unter- stützer des M. rectus abdominis). Intestinum coecum. ll. und 12. Rippe. 9) 2—5. Zehe. 10) Lobus olfactorius und Nasenmuscheln. 11) Dens caninus. 12) Os praemaxillare. 267] Der Bau Des MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 103 III. Regressive Veränderungen, wobei die betreffenden Organe, sei es, dass sie nur noch in fötaler Zeit oder zeitlebens constant oder inconstant in die Erscheinung treten, ihre ursprüngliche physiologische Bedeutung theilweise oder gänzlich verloren haben. Solche Organe kann man als rudimentäre bezeichnen. 1) >) 3) 4) 5) 6) 1) 8) 9) 10) 11) 12) 13) 14) 15) 16) 17) 18) Os coceygis. Cauda humana. Länger sich anlegendes Axenskelet beim Embryo (Ueber- schuss an Chorda und Somiten). Fötale Hals-, Lenden- und Sacral-Rippen. 13. Rippe beim Erwachsenen. 7. Halsrippe beim Erwachsenen. Cartilago interarticularis des Sternoclavicular-Gelenkes. Össa suprasternalia. Gewisse Ossificationspunkte im Manubrium sterni. Kiemenspalten (zum Theil), Kiemenbogen (zum Theil). Processus styloideus. Ligamentum stylo-hyoideum. Kleine Zungenbeinhörner. Processus folianus. Frontale posterius (?). Interparietale. Processus paramastoideus. Torus oecipitalıs. „Fossette vermienne* (ALsrEcHT). Processus frontalis der Squama ossis temporis. Processus coracoideus. Os centrale resp. Ossa centralia. Os pisiforme. Praepollex- ) Praehallux- \ Processus styloideus ulnae (?). Cartilago triangularis resp. Os trigonum pedis (?). Processus supracondyloideus humeri. Os acetabuli. Trochanter tertius. Ohrmuskeln und M. occipitalis. Transversus nuchae. Sehnig transformirte Gesichtsmuskeln. Elemente. 104 WIEDERSHEIM: [268 33) Plantaris und Palmaris longus, falls sie vollkommen sehnig degenerirt sind. 34) M. ischio-femoralis. 35) Caudalmuskeln. 36) M. epitrochleo-anconaeus. 37) M. latissimo-condyloideus. 38) Uebergangsstratum zwischen dem Trapezius und dem Sterno- cleido-mastoideus. 39) Levator claviculae. 40) Rectus thoracis. 41) M. cremaster. 42) Vertex coccygeus. 43) Foveola coccygea. 44) Glandula cocceygea (zum Theil). 45) Hautsinnesorgane im Bereich gewisser Kopfnerven (fötal). 46) Andeutungen der früheren Existenz eines Jakobson’schen Örganes und Canalis incisivus. 47) Steno’sche Nasendrüse (?). 48) Plica semilunaris des Auges. 49) Vasa hyaloidea (Cloquet’scher Canal) des Foetus. 50) Muskeln in der Infraorbitalspalte. 51) Gewisse Formen der Ohrmuschel (Spitzohr). 52) Filum terminale des Rückenmarkes. 55) Glandula pinealıs. 54) Affenspalte des Gehirns. 55) Obex, Pontieulus, Ligula, Taeniae medullares, Velum me- dullare anterius und posterius des Gehirns. 6) Hypophyse (zum Theil). 7) Dorsale Fäden resp. Wurzeln gewisser Hirnnerven. 8) Ramus auricularis N. vagıi. 59) Nervus coccygeus. 60) Gaumenleisten. 61) Unterzunge. 62) Weisheitszähne. 63) Ueberzählige Schneidezähne. 64) Flimmerepithel im fötalen Oesophagus. 65) Musculi broncho-oesophagei. 66) Processus vermiformis. 67) Schallsäcke (Morgagni’sche Ventrikel) des Kehlkopfes. 68) Gewisse Venenklappen. b) 5 5 9} Ey: 269] Der Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 105 69) Gewisse Bildungen im Herzen. 70) Arteria sacralis media. 71) Embryonale Kiemenbogen. 72) Embryonale Vena cava superior sinistra. 73) Reste des Urnierensystems und der Mürrer’'schen Gänge. 74) Gubernaeulum Hunteri resp. Ligamentum uteri teres und Ligamentum ovarii proprium. 75) Männliche Zitzen. 76) Lanugo, Hypertrichosis. 77) M. transversus thoracis. 78) M. palmaris brevis. Veränderungen, welche in einem Wechsel der physio- logischen Leistung beruhen, ohne dass dieselbe vor- derhand sicher festzustellen wäre. 1) Nebennieren. 2) Glandula thyreoidea. 3) Glandula thymus. 4) Vorderlappen der Hypophpyse. 5) Carotisdrüse. 6) Steissdrüse. . Veränderungen, soweit sie einen Wechsel der Lage- beziehungen, d. h. eine Verschiebung von Organen be- treffen. 1) Proximale Wanderung des Beckengürtels. 2) Distale Wanderung des Schultergürtels. 3) Progressive Verkürzung des Coeloms. 4) Progressive Verkürzung des knöchernen Thorax in proxi- maler und distaler Richtung. 5) Verschieden gerichteter Oeffnungswinkel des Knie- und Ellbogengelenkes. 6) Fötale Abductionsstellung des Metatarsus I und der grossen Zehe. 7) Wandernde Thränendrüse. 8) Wanderndes Platysma myoides. 9) Wandernder Sphincter colli. 10) Wandernde Geschlechtsdrüsen (Descensus testiculi). 11) Wandernde Muskeln auf der Rückfläche des Unterschen- kels, sowie auf dem Dorsum und der Planta pedis. 106 WIEDERSHEINM: [270 12) Spiraldrehung des Humerus mit synchroner Verschiebung der Vorderarmknochen. 13) Winkelstellung des Fusses zum Unterschenkel. 14) Secundärer Abschluss der Orbita von der Fossa temporalis. 15) Betheiligung des Thränenbeines an der Bildung der Ge- sichtsfläche. 16) Verschmelzung der Nasenbeine. 17) Lage der Ohrmauschel. 15) Lagebeziehungen der Rippen zur Wirbelsäule Transver- selle Verbreiterung des Thorax. Wenn man dieses Verzeichniss überblickt, so wird man ge- wahr werden, dass die Abgrenzung der einzelnen Rubriken von einander nicht immer eine ganz natürliche ist, und wenn ich die- selbe doch durchzuführen suchte, so geschah es nur aus Rücksicht auf eine übersichtlichere Behandlung des Stoffes. Den letzten Ausschlag bei jener Trennung mussten physio- logische Gesichtspunkte geben, und zwar insofern, als man, wie dies auch schon in der Einleitung ausgeführt wurde, unter rudimentären Organen in der Regel nur solche zu verstehen hat, die ihrer ursprünglichen physiologischen Bestimmung gänzlich verlustig gegangen sind. Im Gegensatz dazu vermögen die als re- gressiv bezeichneten Organe ihrer physiologischen Aufgabe immer noch, wenn auch in der Regel in beschränkter Weise, zu genügen. Ferner konnten wir constatiren, dass jene verschiedenen Etappen des Rückbildungsprocesses — ich erinnere nur an den M. palmaris longus und den Plantaris — an einem und demselben Organ verschiedener Individuen in die Erscheinung treten können. Jene Muskeln, und dies gilt in erster Linie für den Palmaris, sind nicht selten noch so gut entwickelt, dass man an ihrer physiologi- schen Leistungsfähigkeit nicht zweifeln kann. Nun gibt es aber Fälle, in denen der eine oder der andere von ihnen gänzlich in sehniges Gewebe umgewandelt und so zu einem wirklichen rudi- mentären Organ geworden ist. Eine dritte Möglichkeit endlich be- steht darin, dass jene Muskeln vom Schauplatz bereits gänzlich verschwunden sind. Aehnliche Beispiele liessen sich noch viele aufstellen, und ich will, um bei der Myologie zu bleiben, nur noch an den M. pyra- midalis und an gewisse Kopfmuskeln erinnern. 271] DER Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 107 Allgemeine Betrachtungen. Der Körper des Menschen unterlag im Laufe seiner Stammes- geschichte einer Reihe von Veränderungen, welche zum Theil auch in seiner Ontogenese noch zum Ausdruck kommen. Ja, Alles weist darauf hin, dass dieselben auch heute noch fortdauern, dass also der Mensch der Zukunft ein anderer sein wird, als der jetzige. Dabei ist aber nicht zu vergessen, dass mit einer Constatirung von blosen Aehnlichkeiten nichts erreicht ist, sondern dass das letzte, allein befriedigende Ziel in dem sicheren Nachweis des genealogischen Zusammenhanges, d. h. des Weges, den die Vererbung genommen hat, liegen muss. Klein und unscheinbar in ihrem ersten Auftreten, prägen sich die Veränderungen von Generation zu Generation stärker aus und fixiren sich nach den Gesetzen der Vererbung und Selection in immer bestimmterer Weise. So mannigfach und so verschieden gerichtet (ich erinnere an die Musculatur) nun auch jene Veränderungen sind: ein Grund- zug ist für sie alle gemeinsam, und das ist das Bestreben, alles Unnöthige, so weit nur immer möglich, abzustreifen, um so für weitere Ausbildung Platz zu schaffen. Weısuaxn sagt hierüber sehr richtig: „Wäre die Natur nicht im Stande, das Schwinden über- flüssiger Organe zu bewirken, so würde der grösste Theil der Art- umwandlungen überhaupt nicht vor sich gegangen sein können, denn die einmal vorhandenen, aber überflüssig gewordenen Theile des Thieres würden den anderen in Thätigkeit befindlichen im Wege gestanden und ihre Ausbildung gehemmt haben, ja, hätten alle Theile, die die Vorfahren besassen, beibehalten werden müssen, so würde schliesslich ein Monstrum von Thier entstanden sein, ein gar nicht mehr lebensfähiges Ungeheuer. Der Rückschritt über- flüssig gewordener Theile ist also Bedingung des Fort- schritts.“ Was gibt nun aber den eigentlichen Anstoss, was ist die letzte Ursache der verschiedenen Veränderungen? Diese Frage lässt sich nicht so ohne Weiteres beantworten, da hiefür sehr mannigfache Umstände bestimmend sind. Das Nächstliegende ist, dabei an äussere Einflüsse der mannigfaltigsten Art zu denken, welche auf die einzelnen Organe und Organsysteme einwirkten und so ent- 108 WIEDERSHEIM : [272 weder nach der positiven oder negativen Seite hin zu neuen Er- werbungen oder auch allmählichen Verlusten führten. Diese aber mussten dadurch eingeleitet werden, dass zunächst kleine Varia- tionen, d. h. Schwankungen auftraten, und war so irgendwo einmal, wenn ich ein militärisches Beispiel gebrauchen darf, Bresche ge- schossen, so musste für den wankenden und allmählich verloren gehenden Punkt von irgend einer Seite her Ersatz requirirt werden. Mit anderen Worten: Von dem Augenblick an, wo sich in irgend einem Körpertheil eine Umbildung vollzog, musste sich in einem anderen eine correlative Aenderung anbahnen und das übertrug sich dann weiter von Organsystem zu Organsystem. Ein Beispiel: Als das Gebiss unserer Vorfahren eine Rückbildung erfuhr und die Eckzähne verkümmerten, musste die dadurch verloren gehende wichtige Angriffs- und Vertheidigungswaffe nothwendigerweise wieder ersetzt werden, wenn der Kampf um’s Dasein weiterhin erspriess- lich geführt werden sollte Das war aber nur dadurch möglich, dass sich das Gehirn und dadurch der Intellect einstweilen auf eine so hohe Stufe der Vervollkommnung erhoben hatte, dass die erste, wenn auch noch so einfache Waffe ersonnen werden konnte. Oder ein anderes Beispiel: Der auf ein Marsupialier-Stadium hinweisende M. pyramidalis stand, wie oben gezeigt wurde, in wichtiger Be- ziehung zur Brutpflege. Seine Reduction aber war sicherlich erst möglich, als durch Erwerbung des Placentarkreislaufes ein ander- weitiger Connex zwischen Mutter und Frucht angebahnt war. Der- artige Beispiele liessen sich noch stark vermehren, allein die ange- führten werden genügen, um zu zeigen, dass jene Veränderungen nicht etwa ein Spiel des Zufalls, ein Lusus naturae, sondern dass sie der Ausdruck eines ganz gesetzmässig verlaufenden Processes sind, wenn es auch nicht immer gelingen wird, den letzten Grund desselben zu enthüllen. Jedenfalls aber braucht derselbe zu seiner Durchführung ungeheuer lange Zeiträume, so dass er sich in der Regel der direkten sinnlichen Wahrnehmung entzieht und nur aus der Stammesgeschichte, der Vergleichung und der Keimesgeschichte erschlossen werden kann. Dies gilt aber nicht etwa nur für den Menschen, sondern für die gesammte Thierwelt, und was hier zunächst wieder die Rück- bildungsprocesse anbelangt, so liesse sich hiefür eine Reihe von Bei- spielen anführen; ich beschränke mich aber auf eine kleine Auswahl. Dass auch hiebei ein Wechsel der äusseren Lebensbedingungen, auf welche der Organismus reagirt, von grösster Bedeutung sein wird, 273] Der Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 109 ist von vorne herein klar, und die Höhlen- und Tiefseefauna liefert hiefür die schlagendsten Beweise. Weiter gehören hieher die Blindwühlen, die Amphisbänen, der Regenwurm, gewisse Maulwurfsarten. Bei allen diesen kommt es zu einer Verküm- merung des Sehorgans. Wieder bei anderen, so z. B. bei den Tetrodonten und Cetaceen, schwindet das Riechorgan; die tief- greifendsten Rückbildungsprocesse aber in Folge von Nichtgebrauch beobachtet man bei den Schmarotzern. Darauf kann aber hier nicht weiter eingegangen werden. Bis vor kurzer Zeit pflegte man sich mit der Frage, worin denn der Grund für die Rückbildung eines Organes liege, mit der Antwort zu begnügen, dass derselbe in dem Nichtgebrauch des- selben zu suchen sei, und dass sich dann die verkümmernde Wir- kung des Nichtgebrauchs von einer Generation auf die andere über- trage, sich auf diese Weise steigere und so schliesslich zur gänz- lichen Beseitigung des Theiles führe. Dies würde etwas voraus- setzen, was schon oft behauptet, aber noch niemals erwiesen worden ist: Die Vererbung erworbener Eigenschaften. Nun hat aber Weısumanv neuerdings in überzeugender Weise dargethan, dass jene Frage noch weiter hinausgerückt und dass vor Allem festge- stellt werden müsse, wie es denn kommen kann, dass ein Theil, der bisher unentbehrlich zum Leben war, sobald er nicht mehr gebraucht wird, dem Schwund verfällt. Der letzte Grund nun liegt nach Weısmann in der Kehrseite der Naturzüchtung, d. h. indem Wegfall der Naturzüchtung, in der „Panmixie‘ („Allgemein-Kreuzung“). Mit anderen Worten: Sobald durch Ver- änderung der äusseren Umstände der Wettbewerb eines Organes ausgeschlossen ist, wird es regressiv. Es wird dann eine Kreuzung stattfinden zwischen Individuen, wovon die einen das betreffende Organ besser, die anderen schlechter besitzen und das Resultat wird eine langsame aber stetige Verschlechterung desselben sein. Von diesem Gesichtspunkt aus sind nun auch sicherlich alle die oben angeführten, zahlreichen Fälle von Rückbildung beim Men- schen zu betrachten. Daraus, dass der Ausbildungsgrad dieser und jener Organe (man denke z. B. auch an die bei Naturvölkern noch ungleich schärfer entwickelten Sinnesapparate) nicht mehr mass- gebend, d.h. nicht mehr nöthig war für ein gedeihliches Dasein des Individuums, resultirte eine Verschlechterung, die im Kampf um's Dasein nur durch die hohe Civilisationsstufe wieder compensirt werden konnte. Weısmann führt dafür ein schlagendes Beispiel 110 W IEDERSHEIM: [2 74 an: „Wir können heute unser Brod verdienen, ganz einerlei, wie scharf wir hören und fein wir riechen, ja selbst die Schärfe unsres Auges ist kein ausschlaggebendes Moment mehr für unsere Existenz- fähigkeit im Ringen um’s Dasein. Seit Erfindung der Brillen sind kurzsichtige Menschen kaum in irgend einem Nachtheil in Bezug auf Erwerbsfähigkeit gegen scharfsichtige, wenigstens nicht in den höheren Gesellschaftskreisen. „Darum finden wir auch so viele Kurzsichtige unter uns. Im Alterthum würde ein kurzsichtiger Soldat, oder gar ein kurzsich- tiger Feldherr einfach unmöglich gewesen sein, ebenso ein kurz- sichtiger Jäger, ja in fast allen Stellungen der menschlichen Ge- sellschaft würde Kurzsichtigkeit ein wesentliches Hinderniss bereitet, das Emporkommen und Gedeihen erschwert oder ganz gehindert haben. Heute ist das nicht mehr der Fall, der Kurzsichtige kann seinen Weg machen wie jeder Andere, und seine Kurzsichtigkeit, soweit sie auf ererbter Anlage beruht, wird sich auf seime Nach- kommen weiter vererben und so dazu beitragen, die vererbbare Kurzsichtigkeit zu einer in bestimmten Gesellschaftsklassen weit- verbreiteten Eigenschaft zu machen.* Dass die progressiven Veränderungen enge verknüpft sind mit den regressiven, ja dass sie geradezu zum grossen Theil erst durch letztere ermöglicht werden, dürfte aus dem Vorstehenden zur Ge- nüge zu ersehen gewesen sein. Wenn der Satz, dass die Zweck- mässigkeit eines lebenden Wesens nach jeder Beziehung hin auf dem Vorgang der Naturzüchtung beruht, richtig ist, so wird die- selbe in gleicher Weise für die rück- wie für die fortschrittlichen Processe als ausschlaggebend zu betrachten sein. Also auf sie, d. h. also auf das von Csarıes Darwıy aufgestellte Gesetz der Auslese ist auch hier wieder zu recurriren. Was dieses Gesetz besagt: alleinige Fortdauer des Besten, Uebertragbarkeit desselben auf die Nachkommen, beharrliche Steigerung des Vortheilhaften von Generation zu Generation bis zur Erreichung des bestmöglichsten Grades der Vollkommen- heit — darf ich als bekannt voraussetzen. Worin liegt nun aber speciell beim Menschen die „Vervoll- kommnung?* — Besteht überhaupt eine solche, und wenn dies der Fall, ist dann dieselbe allen übrigen Lebewesen gegenüber eine so universelle, wie man gewöhnlich anzunehmen pflegt? Betrachten wir dies etwas näher. Es gab eine Zeit, wo unsere Vorfahren durch ein natürliches 275] Der Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT, 111 ‚(wie französische Autoren annehmen: röthliches) Haarkleid gegen die Unbilden der Witterung und durch einen ausgedehnten Haut- muskel vor Inseeten und anderen einwirkenden Schädlichkeiten ge- schützt waren, wo denselben physiologisch zweckmässig angeordnete, von kräftigen und zahlreichen Muskeln bewegte Ohrmuscheln die Schallwellen einer nahenden Gefahr ungleich besser zutrugen, als heut- zutage. Auch das feine Geruchsvermögen, unterstützt durch ein Jakobson’sches Organ, erfreute sich früher sicherlich eines höheren Grades der Ausbildung. Ja, auf einer sehr niederen Ent- wicklungsstufe, als unsere jetzigen Augen noch nicht nach vorne schauten, sondern seitlich am Kopfe angeordnet und, von einem 3. Lide gestützt, sowie von zahlreichen Muskeln regiert waren, exi- stirte sogar noch ein 3. Auge, das.zu controlliren vermochte, was sich über dem Haupte abspielte. Das Darmrohr hatte eine grössere Ausdehnung, und da es so der Pflanzenkost besser angepasst war, als heutzutage (man denke auch an die einst grössere Zahl der Mahlzähne), befanden wir uns als Vegetarianer in günstigeren Exi- stenzbedingungen, als dies jetzt der Fall ist. Dazu kam noch der weitere Vortheil, dass der ein prädisponirendes Moment für Peri- typhlitis bildende Wurmfortsatz des Coecums, woran ein beträcht- licher Procentsatz der heutigen Menschheit zu Grunde zu gehen pflegt, in Wegfall kam. Auf dieses plantivore Stadium folgte ein omnivores, was in der Ausbildung einer grösseren Zahl von Schneidezähnen !) und mächtig ausgebildeten Eckzähnen seinen Ausdruck fand. Dadurch wurde dann, indem die Fleischkost mit der sich ausbildenden Ge- schicklichkeit im Jagen und Erlegen der Thiere eine immer grös- sere Bedeutung gewann, eine allmähliche Verkürzung des Darm- rohres, bezw. ein Processus vermiformis angebahnt. Am Kehlkopf entwickelten sich Brüllsäcke, welche, als Re- sonatoren wirkend, der Stimme eine grössere Kraft und Tragfähig- keit verliehen und sie so zu einem Schreckmittel gestalteten. Zu- gleich war die Nacken- wie überhaupt die Halsmusculatur eine kräftigere und der Unterschenkel sowie der Fuss, welch letzterer sich allmählich zu einem Greiforgan und dann erst wieder zu einem Stütz- und Gehwerkzeug umgestaltete, waren noch in jenem Zwi- schenstadium mit einer reich differenzirten Musculatur ausgestattet. ') Man hat allen Grund anzunehmen, dass das Gebiss des Urmenschen ein prognathes war. 112 WIEDERSHEIM: [276 Das war natürlich lange nach jener Periode, in welcher Fuss und Hand — vielleicht noch als Ruderorgane fungirend — mit 7 Zehen und Fingern ausgestattet waren. Die Geschlechtsdrüsen verharrten, wie dies beim weiblichen Geschlecht heute noch die Regel bildet, auch beim männlichen zeit- lebens innerhalb des Bauchraumes, und waren so vor Insulten aller Art viel besser geschützt, als heutzutage; aber auch später noch, als sie sich auf die Wanderung begaben und in jenen beutelartigen An- hang der Bauchhaut gelangten, konnten sie wenigstens vorübergehend durch einen wohlausgebildeten Hebemuskel in das Cavum abdominis zurückgezogen werden. Ein ganz besonderes Interesse aber erheischt die Thatsache, dass die Vorfahren des Menschen einst ein Beutelthierstadium durchliefen, in welchem das Junge, wie wir das bei den heutigen Marsupialiern beobachten, in gänzlich unreifem Zustand, vielleicht nur wenige Centimeter gross, geboren und dann in den Beutel unter der Bauchhaut gebracht wurde. Dort aber mussten, wie dies heute noch durch die in jener Gegend nicht selten auftretenden „überzähligen“ Milchdrüsen angedeutet wird, die Mammarorgane sitzen. In welcher Zahl letztere vorhanden waren, lässt sich durch- aus nicht mehr mit Sicherheit entscheiden. Vielleicht aber werden es ursprünglich mehr gewesen sein, als nur zwei, weil es, wie dies auch bei den heutigen Marsupialiern noch der Fall ist, im Interesse der Arterhaltung gelegen haben mag, eine möglichst grosse Zahl von Jungen zu erzeugen. Dieser pluripare Zustand konnte erst eine Veränderung erfahren, als das Beutelthierstadium durchlaufen, d. h. als durch die Placentation eine längere intrauterine Existenz geschaffen und dadurch eine vollkommenere Ausbildung der Nach- kommenschaft, d. h. günstigere Existenzbedingungen gleich nach der Geburt garantirt waren. Aus allen diesen Betrachtungen geht also hervor, dass der Mensch in seiner Vorfahrenreihe einer grossen Zahl von Vortheilen im Lauf langer geologischer Zeiträume verlustig gegangen ist, und es wird sich nun die Frage erheben, ob er nicht auch gewisse Vortheile dafür eingetauscht hat. Dies ist nun allerdings der Fall und musste der Fall sein, sollte die Species homo auch fernerhin existenzfähig bleiben. Es handelte sich also sozusagen um einen Tauschvertrag und dieser basirte in letzter Instanz auf der unbe- grenzten Bildungsfähigkeit seines Gehirnes. Dieses eine Tausch- 277] Der Bau DES MENSCHEN ALS ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT. 8 objeet compensirte vollkommen den Verlust jener grossen und langen Reihe vortheilhafter Einrichtungen. Sie mussten zum Opfer gebracht werden, damit jenes sich gedeihlich entwickeln und den Menschen zu dem gestalten konnte, was er jetzt ist, zum Homo sapiens. Langsam und erst nach hartem Widerstreben vollzog sich jener Tausch. Es ging nicht ab ohne einen Kampf, in dem Zoll um Zoll des einmal behaupteten Terrains sauer erkämpft werden musste; und wie ausserordentlich zäh die Erinnerung an gewisse einst innegehabte vortheilhafte Positionen heute noch haftet, geht daraus hervor, dass diese und jene davon wie unbestimmte Traum- und Nebelbilder, wenn auch oft nur noch in entwicklungsgeschicht- licher Zeit, im Organismus auftauchen. Und wir betrachten jene uralten Ahnenbilder — denn das sind sie — mit Ehrfurcht als beredte Zeugen einer längst dahin geschwundenen Zeit. Sie halten unseren Blick rein und klar, wenn es sich, wie im vorliegenden Fall, darum handelt, in unserer eigenen Sache ein unparteiischer Richter sein zu müssen. Man mache, sagt Tesrur treffend, den Anatomen nicht den unverdienten Vorwurf, dass sie den Menschen erniedrigen und von seiner hohen Stufe herabziehen wollen: allerdings reiht die Ana- tomie den Menschen in die Klasse der Säugethiere ein, allein sie stellt ihn hier in die oberste Ordnung, in diejenige der Primaten, und wenn sie ihn von diesen nicht trennen kann, so weist sie ıhm doch unter ihnen die höchstmögliche Stufe zu. Die Anatomie macht aber den Menschen nicht allein zum vollkommensten der Primaten, sondern auch zum Ersten der Ersten aller Lebewesen: „Cela peut bien suffire & son ambition et ä sa gloire.“ Diese letzten Worte stammen aus dem Munde Broca’s und ich will diese Abhandlung mit einem nicht minder beherzigens- werthen Ausspruch dieses berühmten Anthropologen schliessen: „L’orgueil, qui est un des traits les plus charactristiques de notre nature, a prevalu dans beaucoup d’esprits sur le t@moignage tran- quille de la raison. Comme ces empereurs romains, qui enivres de leur tout puissance, finissaient par renier leur qualit€ d’homme et par se croire des demi-dieux, le roi de notre plan®te se plait & imaginer que le vil animal, soumis ä ses caprices, ne saurait avoir rien de commun avec sa propre nature. Le voisinage du singe l’incommode; il ne lui suffit plus, d’ötre le roi des animaux; il veut, qu’un abime immense, insondable, le separe de ses sujets; Berichte II. Heft 4—12. 8 (19) 114 WIıEDERSHEIM: D. Bau D. MenscHEN ALS ZEUGNISS F. SEINE VERGANGENH, [278 et, parfois, tournant le dos ä la terre, il va refugier sa majeste menacee dans la sphere nebuleuse du r&ögne humain. Mais l’anatomie, semblable ä cet esclave, qui suivait le char du triom- phateur en repetant: Memento te hominem esse, l’anatomie vient le troubler dans cette naive admiration de soi-m&me, et lui rapelle, que la realite, visible et tangible, le rattache ä l’animalite.*“ \ \ Berichte der Natur£. Ges. zu Freiburg VBBal, A Oruber del, ‚Acad Verlagsdurkhälg. v.J. ©. B, Mohr, Freiburg VB. ae ee ESSBER Le. Berichte der Naturf Ges. zu Freiburg VB Bd. Taf. [ ‚Ltg, AR. L ” Fig. 16 Fig I nz Ber.d.Naturf‘Ges.Freiburg i.B.Bad .II. * i r # - i ü, * De ir ' Bayıı ' Ber.d.NaturfGes.Freiburg i.B.Ba I. Erhard Eylmann del SER NREREZ = = ad.Verl.v.).0.BMohr([Paul Siebe) Faburg ıB IhÄns A Fr B Akad v.J.6.B1 aul Siebeck) Freiburg ı.B Lith Anstir Meinzer &Brings, Freiburg iB Taf. V. Ber.d.Naturf.Ges.Freiburg 1.B.Ba.II. Zirk Anstr Heinzer EBrings, Fraburg * Zinard Eylmann del. Akad. Verlag v. J.C.B.M Ber. d. Naturf. Ges. zu Freiburg i.B. Il. | Tafel VI. Fig. 1. | ag AKADEMISCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG VON J. C. B. MOHR IN FREIBURG 1. B. a el BE PR 5 1 f 4 /Lu / ZI | Alko, 6,/886 BERICHTE | DER ANTURFORSCHENDEN GESELLSCHAFT ZU FREIBURG LB. ZWEITER BAND "ERSTES HEFT. INHALT: WEISMANN, UEBER DEN RÜCKSCHRITT IN DER NATUR. GRUBER, UEBER DIE BEDEUTUNG DER ÜONJUGATION BEI DEN INFUSORIEN. IVERSEN, BEMERKUNGEN ÜBER DIE DORSALEN WURZELN DES NERVUS HYPOGLOSSUS. FREIBURG I. B. 1886. AKADEMISCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG VON J. C. B. MOHR : (PAUL SIEBECK). Berichte der Naturforschenden Gesellschaft zu Freiburg i. B, Erscheinungsweise und redactionelle Bestimmungen. Jährlich erscheint ein Band, der in zwanglosen Heften ausgegeben wird, 24 Druckbogen, wobei auch jede hbeigegebene Tafel nur als 1 Druck- bogen gerechnet wird, bilden einen Band, Der Abonnementspreis ist zunächst auf M. 10. — festgesetzt. Einzelne Hefte werden nur zu erhöhtem Ladenpreise abgegeben. In den „Berichten“ finden Aufnahme: I. Abhandlungen aus dem Gebiete der Naturwissenschaften und der Medicin, II. Kürzere Mittheilungen über bevorstehende grössere Publikationen, neue Funde etc. etc. Die für die „Berichte“ bestimmten Beiträge sind in vollständig druck- fertigem Zustande an den Vorstand der naturforschenden Gesellschaft einzusenden, Von jedem Beitrag erhält der betr. Mitarbeiter 25 Separat-Abzüge gratis, weitere Separat-Abzüge werden mit 15 Pf, pro Druckbogen be- rechnet; jede Tafel, jeder Theil eines nn, und der Umschlag zählt als voller Bogen. Die Separat- Abzüge müssen last bei Rücksendung der Correctur bestellt werden. Separat-Abzüge von Abhandlungen können dem Autor erst am Tage der Ausgabe des betr. Heftes zugestellt werden; Separat- Be. 5 von „kleineren Mittheilungen“ dagegen sofort. Der Vorstand der Naturforschenden Gesellschaft | Die Verlagshandlung, HUJIE Amen BERICHTE DER NATURFÜRSCHENDEN GESELLSCHAFT ZU FREIBURG LB. ZWEITER BAND ZWEITES HEFT. INHALT: v. KRIES, ÜEBER SUMMIRTE ZUCKUNGEN UND UNVOLLKOMMENEN Teranus. Mit 4 Holzschnitten. GRUBER, DER ÜONJUGATIONSPROCESS BEI PARAMAECIUM ÄURELIA. Mit 2 lithographischen Tafeln. FREIBHRG I. B. 1886. AKADEMISCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG VON J.C. B. MOHR (PAUL SIEBECK). Berichte der Naturforschenden Gesellschaft zu Freiburg i.B. | i k Erscheinungsweise und redactionelle Bestimmungen. Jährlich erscheint ein Band, der in zwanglosen Heften ausgegeben wird, 24 Druckbogen, wobei auch jede beigegebene Tafel nur als 1 Druck- bogen gerechnet wird, bilden einen Band. Der Abonnementspreis ist zunächst auf M. 10, — fostgenetzt. Einzelne Hefte werden nur zu en Ladenpreise abgegeben. In den „Berichten“ finden Aufnahme: I. Abhandlungen aus. dem Gebiete der Naturwissenschaften und SE Medicin. . II. Küyzere Mittheilungen über bevorstehende grössere Pablikationen, neue Funde etc, etc. Die für die „Berichte“ bestimmten Beiträge sind i in vollstaudis druck- fertigem Zustande an den Vorstand der naturforschenden Gesellschaft einzusenden, Von jedem Beitrag erhält der betr. Mitarbeiter 25 Separat- Abzüge gratis, weitere Separat-Abzüge werden mit 15 Pf. pro Druckbogen ber rechnet; jede Tafel, jeder Theil eines Druckbogens und der ie zählt als voller Bogen. Die Separat-Abzüge müssen u bei Kann der Correctur je Rn bestellt werden. Separat-Abzüge von Abhandlungen können en Autor erst am Tage der Ausgabe des betr. Heftes zugestellt werden; Separat- Abzüge von „kleineren Mittheilungen“ dagegen sofort. Der Vorstand der Naturforschenden Gesellschaft, Die Verlagshandlung. Port BERICHTE NATURFORSCHENDEN GESELLSCHAFT FREIBURG LB. ZWEITER BAND FRE S- HE EFT, ö INHALT: EYLMANN, BEITRAG ZUR SYSTEMATIK DER EUROPÄISCHEN DAPHNIDEN. Mit 3 lithographischen Tafeln. GRUBER, KLEINERE MITTHEILUNGEN ÜBER PROTOZOEN-STUDIEN. Mit 1 lithographischen Tafel. FREIBURG 1. B. 1886. " AKADEMISCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG VON J. C, B. MOHR (PAUL SIEBECK). Berichte der Naturforschenden Gesellschaft zu Freiburg 1. B. Erscheinungsweise und redactionelle Bestimmungen. Jährlich erscheint ein Band, der in zwanglosen Heften ausgegeben wird, 24 Druckbogen, wobei auch jede heigegebene Tafel nur als 1 Druck- bogen gerechnet wird, bilden einen Band. Der Abonnementspreis ist zunächst auf M. 10. — fe Einzelne Hefte werden nur zu erhöhtem Ladenpreise abgegeben. In den „Berichten“ finden Aufnahme: I. Abhandlungen aus dem Gebiete der Nalnrmissenanhällen mg der Medicin, II. Kürzere Mittheilungen über bevorstehende grössere EullEAuge rn neue Funde etc. etc. Die für die „Berichte“ bestimmten Beiträge sind in vollständig druck- fertigem Zustande an den Vorstand der naturforschenden Gesellschaft einzusenden. Von jedem Beitrag erhält der betr. Mitarbeiter 25 Separat- Abzüge gratis, weitere Separat-Abzüge werden mit 15 Pf, pro Druckbogen be- rechnet; jede Tafel, jeder Theil eines Druckbogens und der Umschlag zählt als voller Bogen. Die Separat- Abzüge müssen See bei Rücksendung der Correctur bestellt werden, Separat-Abzüge von Aukandien 6 können dem Autor: erst am Tage der Ausgabe des betr. Heftes zugestellt werden; Separat-Abzüge von „kleineren Mittheilungen*“ dagegen sofort. Der Vorstand der Naturforschenden Gesellschaft. Die Verlagshandlung. er BERICHTE Abaz 26, ET. DER NATURFÜRSCHENDEN GESELLSCHAFT ZU FREIBURG LEBE ZWEITER BAND VAIEBRTES HERF!L. (SCHLUSS.) | INHALT: WIEDERSHEIM, Der Bau ves MenscHen ALs ZEUGNISS FÜR SEINE VERGANGENHEIT, FREIBURG I. B. 1887. AKADEMISCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG VON J. C. B. MOHR (PAUL SIEBECK) 8 vr Rt RA 2 > A Ar y f 6 0 ds - > » % « 4 Pa PP: 8 » o- — IBEHNINNNN