BOSTON
| 8 THE Fenway.
BERLINER KLINIK No. 103. JANUAR 1897. A
> EEE
Fischer’s medicin. Buchhandlung, H. Kornfeld, Berlin NW. 6. Der feinere Bau des Nervensystems
im Lichte neuester Forschungen.
Eine allgemeine Betrachtung der Strukturprinzipien des Nervensystems, nebst einer Darstellung des feineren Baues des Rückenmarkes
Michael von Lenhossek in Würzburg. BER” Zweite gänzlich umgearbeitete Auflage. “Wag Mit 6 Tafeln und 60 Figuren im Text. Gr. 8°. 409 Seiten. Preis broschirt Mark 10,—.
Die neue Auflage dieses von der Fachpresse glänzend empfohlenen Werkes präsentirt sich auch als ein ganz neues Buch. Während die erste Auflage nur 139 Seiten zählte, bietet die neue Ausgabe auf 409 Seiten gr. 8° ein erschöpfendes Quellenstudium der oben im Titel angeführten Materien.
von
Hamalbumin Dr. Dahmen.
Vom Kultusministerium in die officielle Arzneitaxe aufgenommen.
Himatin (-Eisen) und Hämoglobulin (als Albuminat) 49,17°/o, Serumalbumin und Paraglobulin (als Albuminat) sara sämmtliche Blutsalze 4,6%/,, einige Tropfen Ol. Cassiae als indiff, Aromat. — Absolut löslich durch Kochen in Wasser, kalt 5%, = klare Flüssigkeit, 10%, = Gallerte, 20%, = Paste.
Das Spektrum des Hämalbumins ist identisch mit dem Spektrum von künstlich (Pepsin, Salzsäure etc.) verdautem Blut. — Vollkommener Blutersatz. —
Das Hämalbumin enthält 95,4%, wasserfreies Eiweifs in verdautem Zustande und simmtliche Mineralsalzo des Blutes.
Hämalbumin ist ein trockenes, nicht hygroskopisches Pulver, trocken auf die Zunge elegt leicht mit Wasser zu nehmen, durch Kochen in Wasser leicht in einen Liquor aemalbumini mit. beliebigen Korrigentien zu verwandeln — es wird von edem Magen, auch bei Mangel an Verdauungssäften, resor- irt. — Das Hämalbumin resorbirt per Klystier vollständig (3—4mal täglich 1 Theelóffel voll bei Kindern, 1 Esslottel voll bei Erwachsenen in Wasser oder Haferschleim gelöst).
1 œ Hämalbumin = den festen Bestandtheilen von 6 g Blut und = 9 g Hiuhnereiweifs. — Dosis durchschnittlich nur 3—6 g pro die. 1 g = 1 Messerspitze,
Sichere Wirkung bei Chlorose, Phthisis, Rachitis, Skrofulose, Infektions- krankheiten, Schwächezuständen, besonders auch Nervenschwäche, geistiger Uber- anstrengung, unregelmäfsiger Menstruation plus oder minus, milcharmen Wöch- nerinnen, bei Blutverlusten z. B. nach Wochenbett, Operationen etc., Rekonvales- cenz, verdauungsschwachen Säuglingen etc. — Unfehlbarer Appetiterreger. — Koncentrirtestes Nahrungsmittel. — Das billigste aller Eisen - Eiweifs- präparate!— Gewichtszunahme oft 8 Pfund und mehr in14 Tagen. — 20 ES 500 g eines resorbirbaren Liquor forri albuminati — Kurkosten pro dio 7—15 D. durchschnittlich. — Preis .4 23 per Kilo incl. Packung.
—+@ Proben und Litteratur gratis. &—
Chemische Fabrik F.W. Klever, Köln. |
SE EE da Sie O = ata à: E tity her a dien ER) = 10 PAE A i Se è On von PONCET Glashiitten Werke Dr. O. Siemon’ BERLIN SO., Köpenikerstr. 54. Inhalationsfläschchen os Fabrik und Lager dient zur Localbehandlung von Krankheiten lic if {| chem., pharm. und ärztlicher Glas- der Athmungsorgane mit ätherischen Oelen
„apparate, Gefässe und Utensilien ; und anderen flüch-
E ten sich zur Lieferung aller Ge-
rm i Ans und Utensilien für Krankenhäu-
ser und Disponsiranstalten bestens
empfohlen.
| Glasausriistangen zu der Dr.
i Múller'schen Wasch- und Instru-
> menten-Console ,,Ordo“. id ida berate u. franco.
SPUCKN ÄPFE aus Glas.
tigen Stoffen , wie Creosot, _Menthol Jodoform (bei Kohl- kopftuberculose) u. a. m. Es ist die be- uemste und dabei illigste Methode, bei chronischen Ka- tarrhen der internen Therapie vielfach überlegen u. wird von in Kranken dieser meist Y vorgezogen. Allei- niger Verfortiger
von Poncet, Glashiitten-Werke Berlin SO., Köpenikerstr. 54. Preis à Stück 3.— Mk. [162
Verlag von FISCHER’s medicinischer Buchhandlung H. KORNFELD Berlin N. W. 6.
Soeben erschien :
Die chirurgische Behandlung
Gallensteinkrankheit.
Ein Riickblick auf 206 Gallenstein-Laparotomien
unter besonderem Hinweis auf die Nothwendigkeit frühzeitiger Operationen
von Ta
Prof. Dr. Hans Kehr, Specialarzt für Chirurgie in Halberstadt, Preis Mk. 3,50.
A ee - Ferner : “=
Nervenkrankheiten
und y ihre Vererbung Er von o
Ch. Féré, f~- a
Arzt am Bicétre.
Verlag von FISCHER’s medicinischer Buchhandlung H. KORNFELD Berlin N. W. 6.
BERLINER KLINIK No. 103. JANUAR 1897.
(D. R. P.) nach Prof. Dr. R. Gottlieb (Pharmakol. Institut Heidelberg) bleibt im Magen unverändert und spaltet sich
Tannalbin im Darm langsam in Tannin und Albumin.
Prompt und sicher wirkendes, gänzlich unschädliches Mittel gegen Diarrhoen.
Auch bei tubereulösen Durchfällen wirksam! Siehe Berichte von Primararzt Dr. von Engel-Brünn (D. Med. Wochenschrift 1896 No. a Prof. Dr. 0, Vierordt-Heidelberg (,, „ er 1896 No. 25)
Zu beziehen durch die Apotheken! KNOLL & Co., Ludwigshafen a. Rh.
| D. R.-Patent 20927 vom 10. Juni 1882. München, Dr. med. Pfeuffer’s
Harmogiobim
(Extractsyrup u. Pastillen, ca. 33°/,ig, Pat. 20927) frei von den im Blut enthaltenen Auswurfstoffen. Vorziigliche Zeug- nisse. — Preis 3 M. od. 1,60 M.
Die Zeltchen (Pastillen), in häufiger Wiederholung genommen, ver- hindern, nach Beobachtung des Dr. Pfeuffer an sich selbst, den Ein-
. tritt von Schwäche nach Blutkörperchenzerfall in Folge Influenzafieber und wohl auch bei anderen Fiebern. Ausgezeichnete, jetzt allgemein anerkannte Wirkung bei Blutarmuth und Bleichsucht. [647
Fabrikation nur bei Dr. med. Pfeuffer zu München. (Nachdruck verboten.)
emulgirende, oxygenirte Kohlenwasserstoffe (Vaseline) sind Lösungsmittel für verschiedene Medicamente, wie Jodoform, Jod etc. Im Vasogen gelöst, sind diese reizlos fir Haut und Schleimhäute, gelangen auch bei äusserlicher An- wendung zur vollkommenen Resorption (durch Harn-Analysen erwiesen) und zu erhöhter Wirksamkeit. Folgende Vasogene sind in- Kliniken, Krankenhäusern etc. in ständigem Gebrauch: Jodoform 1'/, u. 3°, Jod 3, 6 u. 10°, Kreosot 5, 20, 33'/, °/, Guajacol 20°), Ichthyol 10 °/, Creolin 15 u. 6°, Eucalyptol 20 °/, Salieyl 2 °/ Menthol 25 u. 2%, ete. as ( Camphor., Chloroform., Vasogen, prt. Campher Vasogenin aeq.) bei Gicht, Rheuma, Hexenschuss etc. als überraschend schnell wirkendes schmerzstillendes Mittel bewährt. i aseptische, unbegrenzt haltbare, mit Vasogenum spissum, Wasser emulgirende und die meisten Medicamente lösende oder in feinster Vertheilung aufnehmende Salben- grundlage. (Die tiberaus leicht von der Haut resorbirbaren 33'/, und
50 Rj Hg-V asogensalben sind auch in handlichen Kapseln von 3, 4 und $
5 Gramm erhältlich.) Proben versende gratis und franco.
Vasogen-Fabrik E. T. PEARSON, Hamburg.
on
Allgemeinanästhesie und Localanästhesie.
Antrittsvorlesung,
gehalten am 17. Juni 1896 von Dr. Egbert Braatz, Privatdocent der Chirurgie an der Universität zu Königsberg.
Hochgeehrte Versammlung!
Auf den ersten Blick erscheint die Chloroformnarkose im Ver- hältniss zur Operation als etwas Nebensächliches, nur als ein Mittel zu dem Zweck, dass der Kranke eben bei der Operation keine Schmerzen hat. In erster Reihe fesselt der Gang der Operation die Aufmerksamkeit der Anwesenden. Das ist für die Zuschauer ganz natürlich, nicht aber für denjenigen, welcher chloroformirt. Dieser übernimmt mit der Leitung der Narkose eine sehr grosse Verantwortung, deren er sich in jedem Moment bewusst sein soll. Davon kann man sich erst dann recht überzeugen, wenn man sich mit dieser Frage etwas näher beschäftigt.
Im Besitz einer für chirurgische Zwecke brauchbaren Narkose sind wir nicht länger als 50 Jahre. Der dunkle Schleier der Ver- gangenheit deckt uns hier die Zeiten, wo man den Kranken ohne Betäubung, bei vollem Bewusstsein uperirte Lüften wir ihn auf einen Augenblick und sehen uns so eine Operation vor 200 Jahren an, so glauben wir fast eine Folterkammer vor uns zu haben. So sagt der treffliche Lorenz Heister in seinem berübmten Lehrbuch der Chirurgie von 1724 (p. 657), wo von dem Bruchschneiden die Rede ist: „Sie legen den Patienten auf einen Tisch, so, dass der Kopf zurück und niedriger liege, als der Bauch, und binden ihn entweder darauf an, fast wie die Figur bei dem Scultet Tab. XXX VIII ausweiset; oder lassen den Kopf auch jeden Fuss und Arm von einem starcken Kerl vest halten, dass sich der Patient nicht rühren könne“ 1).
1) Auf der Abbildung sieht man diese Figur aus dem Buche der Scultetus (1655), von welcher Heister spricht, entnommen der Münch. med. Wochenschr. 1896 No. 47, einem‘. Artikel von Dr. Fuhr. Der Kranke ist auf ein Brett fest- gebunden, wie zur Vivisection.
1
Lo .
Auch in unserem Jahrhundert hallten nach der Schilderung der Zeitgenossen die Operationsriume der Kliniken von Schmerzens-
TAB.XX XVI!
IN > Ooras Arnold x \ UN \ S Ml | Ii
Delineart RI We 2 geschrei wieder. Wir finden hier aus jenen Zeiten compacte massive Stühle, auf welchen die Kranken zu Operationen festgeschnallt wurden. Der Grösse des Schreckens der Operation selbst kam die Aussicht gleich, an den Folgen der Operation zu sterben, und die Tradition vun dem Schmerz und der Gefahr steckt sicher noch heut- zutage hinter der Angst vor der Hospitalbehandlung und hält manchen Kranken ab, sich zu einer noch so nöthigen Operation zu entschliessen. Und doch hat die Chirurgie so unendlich viel von ihrem früheren Schrecken verloren. Die Gefahr bannen wir jetzt durch die mikro- skopische Sauberkeit in der Wundbehandlung, die Aseptik, und den Schmerz besiegen wir vollständig durch unsere Anästhetica. Das erste Aniistheticum war nicht das Chloroform, sondern der Aether. Dem Aether war es beschieden, die Menschheit in einen Freuden- taumel zu versetzen darüber, dass fortan der Operirte keine Schmerzen mehr zu leiden baben, dass der unglückliche Kranke während der furchtbarsten Operation in einen süssen, ahnungslosen Schlummer liegen sollte. Keiner hat beredter und tiefer empfunden die gewaltige
3
Errungenschaft der Narkose gefeiert und ihr einen begeisterteren Ausdruck gegeben als Dieffenbach in einem eigenen Werkchen: „Der Aether gegen den Schmerz“, 1847, das er wenige Monate vor seinem Tode verfasst hat. „Wie vielen Unglücklichen“, ruft er aus, „an chirurgischen Uebeln leidenden, verzehrt nicht die Furcht vor den Schmerzen der bevorstehenden Operation die letzten Lebenskräfte, der sie sich endlich erschöpft hingeben. Jetzt ist es ein fröhliches Hinblicken auf den tragischen Moment, dessen Handlung ihnen ent- rückt bleibt. War der zu Operirende sonst die erste, wichtigste Person, so ist er jetzt eigentlich gar nicht dabei zugegen.“
Der Aether ist eine altbekannte Substanz. Schon 1544 wurde er von Valerius Cordes unter dem Namen süsses Vitriolöl be- schrieben, er ist aber wohl noch einige Jahrhunderte älter. Seinen Namen „Aether“ hat er von dem deutschen Chemiker Frobenius im Jahre 1792 erhalten. Von jetzt ab kümmerte man sich mehr um ihn. So führte ihn der Hallenser Professor Friedrich Hoffmann als seinen Liquor anodynus, — seine allbekannten Hoffmannstropfen —, 1 Th. Aether, 3 Th. Alkohol — in die Heilkunde ein. Als chirurgisches Betäubungsmittel wurde er jedoch erst 1846 auf Rath des Chemikers Jackson an dem amerikanischen Zahnarzt Morton angewandt und die ersten grösseren Operationen wurden unter Aether- narkose am 17. und 18. October 1846 im grossen Hospital zu Boston ausgeführt. Dieses epochemachende Ereigniss erregte im Fluge das Staunen der ganzen Welt. Nicht nur viele Aerzte wandten sich schnell der neuen Sache zu, auch das Laienpublikum nahm an der hochwillkommenen Entdeckung einen so grossen Antheil, dass es von sich aus bei Operationen die Narkose verlangte. Schon im Januar 1847 sehen wir in Frankreich und Deutschland Versuche anstellen und in einigen Monaten hatte sich bereits eine ganz un- gemein umfangreiche Litteratur über diesen Gegenstand angesammelt, Die Aerzte konnten sich in der ersten Zeit gar nicht an die neue Sachlage gewöhnen. Während früher eine Operation eigentlich mit einem fortwährenden Ringen gegen den sich sträubenden Patienten ver- bunden war, lag dieser jetztin einem todtenähnlichen Schlaf und merkte von der ganzen Operation nicht das Geringste. Diese Stille kam dem operirenden Arzte geradezu unheimlich und beängstigend vor. Der
Kranke musste sich nach dem Erwachen erst erkundigen, ob er etwa 1*
4
operirt sei oder nicht. Ganz anders war das früher gewesen; da hatte er eine so schreckliche Erinnerung an die Operation, dass sie ihm sein Lebelang nicht mehr aus dem Gedichtniss schwand. Die lebhaft gefiihrte Discussion zog damals die verschiedensten Seiten der Narkose in ihren Bereich, ja es wurde sogar allen Ernstes die sonderbare Ansicht vertheidigt, dass es ein frevelhafter Eingriff in den Gang der Natur sei, dem Kranken die Schmerzen, die doch einmal zu der Operation gehören, vorzuenthalten. Ganz besonders wurde diese Auffassung für die Geburtshülfe vertreten.
Der Aether hatte für die Narkose die Bahn eröffnet, aber er selbst trat eben so schnell, wie er gekommen, gegen ein anderes Betäubungsmittel zurück. Schon im Anfang des Jahres 1848, als noch alles vom Lobe des Aethers voll war, berichtete der berühmte Physiologe Flourens der Pariser Academie der Wissenschaften über die Resultate seiner Thierversuche, die er mit dem 1831 von Soubeiran (Paris) und Liebig entdeckten Chloroform angestellt hatte. Er fand ebensowenig Beachtung wie Bell in London, der schon einige Chloroformnarkosen ausgeführt hatte.
Durchschlagend war erst die Mittheilung von Simpson in Edinburg, der gleich mit einer Serie von etwa 80 gut verlaufenen Chloroformnarkosen in die Oeffentlichkeit trat. Als Vorzüge des Chloroforms vor dem Aether hob Simpson namentlich hervor: Den leichteren Eintritt der Narkose, die geringere Monge, die man davon braucht und den Ausschluss jeder Feuersgefahr gegenüber dem leicht entzündlichen Aether. Bis auf den heutigen Tag ist das Chloroform das allgemein gebräuchliche Anaestheticum geblieben, trotz der grossen Menge der Betäubungsmittel, welche man bei dem Suchen nach etwas Besserem gefunden hat. WeSwegen hat man denn immer weiter nach andern Mitteln gesucht, konnte man sich mit dem Chloroform nicht zufrieden geben?
Wenn wir etwas aufmerksamer die ersten Berichte über den Segen der Narkose ansehen, so finden wir, dass sich schon sehr früh in jenen Jubel einzelne Misstöne mischten. Die Sache bestand leider nicht nur aus Lichtseiten. Schon bei dem Aether hatte man manche beängstigende Zufälle beobachtet, die Kranken waren unter bedrohlichen Erscheinungen blau geworden, hatten Krämpfe, Auf- regungs- und Schwächezustände bekommen, ja, man hatte dabei
5
sogar schon Todesfälle erlebt. Mit der Einführung des Chloroforms wurde es nicht besser. Gerade die Todesfälle in Folge von Chloroform spielten seit seiner Einführung bis auf den heutigen Tag eine betriibende Rolle. Nicht etwa nur bei grossen Operationen, die uns jetzt ohne Narkose so gut wie undenkbar sind, nein auch die kleinsten Operationen, wie Einschnitte in Fingerentzündungen, Zahnextractionen und dergl. haben schon eine grosse Zahl von Opfern gefordert. Es handelt sich beim Chloroform eben nicht um ein Einschlafen wie beim natürlichen Schlaf, sondern der Schlaf ist durch ein mächtiges Mittel erzwungen. „Was den Schmerz nimmt, nimmt auch das Leben, und das neue Mittel ist wunderbar, aber auch zugleich furchtbar“, sagte Flourens schon von dem Aether. Die Gefahr, welche mit der Narkose verbunden ist, ist auch die Ursache, dass wir allen Grund haben, uns auf das Sorgfältigste mit den Wirkungen unserer Anaesthetica, namentlich des Chloroforms und des Aethers zu beschäftigen. Wie gross diese Gefahr ist, werden wir später noch genauer kennen lernen.
Wenn wir an eine Narkose gehen, haben wir vieles dabei zu bedenken. Indem ich auf die Vorbereitungen, dass der Patient vorher nichts gegessen haben soll, Lockern der beengenden Kleider, Revision der Mundhöhle auf künstliche Zähne u. dergl. nicht weiter eingehe, komme ich gleich zu einem Cardinalpunkt, das ist die Concentration, in welcher man die Chloroformdämpfe einathmen lässt. Es giebt eine ganze Reihe von Thierversuchen, die alle über- einstimmend zeigen, dass das Chloroform desto verderblicher wirkt, je concentrirter, je weniger mit Luft vermischt, dasselbe eingeathmet wird. Wenige Procente mehr oder weniger machen da schon einen grossen Unterschied. Diese Thatsache ist gerade für den ersten Anfang von allergrösster Wichtigkeit. Wenn man die Aufzeichnungen über Chloroformtodesfälle etwas näher ansieht, so findet man eine erschreckende Anzahl darunter, wo es heisst: Kaum hatte Patient einige Athemzüge gethan, verschwand der Puls, die Athmung stand still und der Kranke war todt. Oder: Nachdem der Kranke einige wenige Gramm Chloroform eingeathmet, wurde er plötzlich blass und konnte trotz stundenlanger Wiederbelebungs- versuche nicht mehr ins Leben zurückgerufen werden. Es spricht nun alles dafür, dass diese Todesfälle ganz im Anfang der
6
Narkose wesentlich durch zu concentrirte Chloroformdämpfe be- günstigt werden, grossentheils wohl durch Reflexwirkung von den Trigeminusendigungen in der Nasenschleimhaut auf den Vagus. Man hat nun verschiedene Vorrichtungen getroffen, um die Beimischung des Chloroformes zur Athemluft zu dosiren. So lässt der Schweizer Chirurg Kappeler bei Männern 14,8 gr Chloroform auf 100 Liter Luft, Kinder und Frauen entsprechend weniger, im Anfang der Narkose ein- athmen; auch der englische Apparat von Krohne und Seesemann gestattet eine genaue Dosirung von 3/,%/, — höchstens 5°/, und fängt mit 1°/, an; — aber diese Apparate sind für die allgemeine Anwendung leider doch noch zu complicirt und vor allem zu theuer. Sehr ver- wendbar sind dagegen solche Chloroformmasken, die man in sehr einfacher Weise so eingerichtet hat, dass der Ueberzug nicht bis auf das Gesicht reicht und die Luft überall gut unter die Maske treten kann. Ganz besonders ist da aber ein Verfahren zu nennen, welches seit etwa 4 Jahren viel in Gebrauch gekommen ist, und eine wesentliche Verbesserung bedeutet, die sogenannte Tropfen- narkose. Sie ist übrigens schon im Jahre 1881 oder 82 von Labbé empfohlen worden und seitdem hie und da schon in Gebrauch ge- wesen. Sie besteht darin, dass man nicht wie sonst, die Narkose so beginnt, dass man eine Quantität Chloroform von vorn herein auf die Maske giesst und sie dem Kranken vorhält, sondern dass man von Anfang an langsam einen Tropfen nach dem andern auf die Maske fallen lässt, wozu man sich eines gewöhnlichen Tropf- fläschchens bedient. Natürlich kommt es ganz darauf an, wie man es macht. Man kann auch die Tropfennarkose, wie so manches andere im Leben nur dem Namen nach machen und nicht dem Wesen nach und leider wird die Tropfennarkose oft genug nur dem Namen nach gemacht. Lässt man nämlich die Tropfen rasch hintereinander folgen, so hört der ganze Sinn des Verfahrens, das Chloroform reichlich mit Luft verdünnt zu geben auf und es giebt dann keinen Unterschied mehr von dem gewöhnlichen, dem Gussverfahren, wie man es auch genannt hat. Die Angaben über die Zabl der Tropfen in der Minute lauten selbstverständlich etwas verschieden, von 12 bis 60 Tropfen, 30—35 Tropfen dürfte für die meisten Fälle wohl das Entsprechende sein, man wird sich da nach dem einzelnen Fall etwas zu richten haben.
Die Vortheile dieser Methode sind bedeutende. Die anfingliche Aufregung, das oft gerade so gefährliche Excitationsstadium ist ent- schieden geringer oder fällt vielmehr meist ganz fort. Die Reizung der Nasenschleimhaut mit ihren Trigeminusfasern, die auf dem Wege des Reflexes für das Herz so leicht verderblich werden kann, ist ebenfalls eine sehr geringe. Dabei verbraucht man, wie zahlreiche Vergleiche gelehrt haben, etwa halb so viel oder noch weniger Chloroform als mit dem andern Verfahren. Patienten, die mehrere Narkosen durchgemacht haben, erzählen es ganz aus freien Stücken, dass ihnen die Tropfennarkose die bei Weitem angenehmere gewesen, dass sie vor allem das höchst lästige Erstickungsgefühl nicht gehabt hätten.
Es ist von Manchen, die in der Sache noch keine Erfahrung hatten, die Befürchtung ausgesprochen, dass die Tropfennarkose bei Potatoren versagen werde. Das ist nicht der Fall, im Gegentheil, auch bei dem Po- tator ist das Excitationsstadium viel geringer, ich habe in einigen Fällen an einem und demselben Potator gesehen, dass er das eine Mal bei der gewöhnlichen Narkose fürchterlich tobte und trotz gewaltiger Chloroformmengen kaum in eine ordentliche Narkose zu bringen war, und bei der Tropfennarkose war er ruhig und schlief gut. Selbstverständlich ist aber bei einem Potator jede Art von Narkose unbequemer als bei anderen Menschen. Das Wichtigste ist auch hier die erste Einleitung der Narkose, später kann man dann die Tropfen sich etwas rascher folgen lassen. Das Chloroform soll sich in das Nervensystem gleichsam einschleichen, mit möglichst geringer Anfangserschütterung. Es gehört aber zur Tropfennarkose, wie sehr oft von verschiedenen Seiten betont worden ist, dass um den Patienten Ruhe herrsche, so wie jeder Mensch auch sonst leichter einschläft, wenn kein Lärm vorhanden ist. Im Operationssaal des grossen Berliner Stadtkrankenhauses im Friedrichshain hängt an der Wand eine Tafel, auf welcher mit grossen Lettern zu lesen ist: „Während der Narkose darf nicht gesprochen werden.‘ Dieses schöne Memento lässt sich für ein Krankenhaus auch noch eher hören, aber in der Klinik lässt es sich mit den Zwecken der derzeitigen klinischen Unterrichter wohl nur schwer vereinigen, man hilft sich dort damit, dass man die Kranken in einem angrenzenden Raum chloroformirt. Jedenfalls soll man
8
aber den Patienten erst einschlafen lassen, bevor man an die Vor- bereitungen zur Operation geht. Giebt man z. B. einem Kinde einige Tropfen Chloroform und fängt es dann gleich an, am ganzen Körper zu waschen (kein seltenes Vorkommniss), so erhebt es natürlich sofort ein Geschrei und der Chloroformeur kommt dann leichter in die Versuchung, die Narkose durch rascheres Aufträufeln zu beschleunigen.
Es gehört schon eine gewisse Unerschütterlichkeit dazu, um dann nicht aus dem richtigen Tropfen-Tempo zu fallen.
Im Jahre 1852, also 5 Jahre nach der Einführung des Chloroforms sprach ein berühmter französischer Chirurg, Sedillot, das geflügelte Wort: „Le chloroform pur est bien employé ne tue jamais.“ Damit hat er aber eigentlich allen Aerzten, denen mit dem Chloroform ein Unfall passirt, den schweren Vorwurf gemacht, dass sie das Chloroform nur nicht richtig angewandt haben. Nun, wenn Jemand sogar heute noch bei allen den geschilderten Vorzügen der Tropfennarkose glauben sollte, dass die Chloroformnarkose keine Gefahren mehr hat, so wäre das ein schwerer Irrthum, und wenn diese Gefahr an uns herantritt, wenn plötzlich der Puls verschwunden ist und die Athmung stillsteht, dann sollen wir dieser Gefahr gerüstet gegenübertreten, wir sollen uns vorher zurechtgelegt haben, was in solchem Fall zu thun ist. Hat man hier keine bestimmten Gesichtspunkte, so kann das Handeln auch nur ein planloses sein.
Man hat von jeher beim Chloroformtod zwei Modalitäten ein- ander gegenüber gestellt, die Chloroformsynkope und die Chloroform- asphyxie. Ich möchte auf diese Unterscheidung deshalb kein be- sonderes Gewicht legen, weil mit ihr nicht selten theoretische und auch practische Missverständnisse verbunden werden. Theoretisch insofern, als man unter Chloroformasphyxie eine Erstickung im gewöhnlichen Sinne versteht, während es sich hier gar nicht um eine solche handelt. Das Blut braucht bei der Chloroformerstickung keineswegs mit Kohlensäure überladen zu sein, es kann vielmehr ganz hinreichende Mengen Sauerstoff enthalten. Aber das Athmungs- centrum ist gelähmt und deswegen steht die Athmung plötzlich still. Auch ist der Blutdruck bei der Erstickung durch Kohlensäureüber- ladung erhöht, während er beim Chloroformanfall herabgesetzt ist.
9
Man soll also nicht etwa erwarten, dass man nur dann eine Chloroform- asphyxie zu fürchten hat, wenn der Patient cyanostisch wird und vorher nicht. Das ist eben das Tiickische des Chloroformunfalls und ver- langt daher eine so unausgesetzte angespannte Aufmerksamkeit von Seiten des Chloroformirenden, dass der Kranke manchmal seine Ge- sichtsfarbe nur sehr wenig verändert, wo der Athem schon still steht. Zuerst zieht man mit einem bestimmten Handgriff, den man gesehen haben muss, den Unterkiefer nach vorn, um damit die Luftwege frei zu bekommen. Reicht dies nicht aus, so zieht man sofort die Zunge vor. Dies kann man entweder mit einer besonderen Zungenzange oder einer Kornzange thun oder, was noch wirksamer ist, man greift in den Mund, über den Zungengrund hinweg nach hinten und drückt mit zwei Fingern den Zungengrund nach vorn. Damit diese nicht so leicht abgleiten, kann man sie vorher mit einem Handtuch bedecken. Zu gleicher Zeit drückt man mit der anderen Hand einigemal auch auf das Epigastrium, um die Atbembewegung wieder in Gang zu bringen. Geht die Athmung auch dann noch nicht spontan vorwärts, so muss eine regelrechte künstliche Athmung ein- geleitet werden, während ein Anderer die Luftwege offen erhält. Diese Athmung wird nach der Sylvester’s oder Schüller’s be- werkstelligt, also indem man entweder von oben her die Arme an den Ellenbogen erfasst und nach oben zieht und sie dann nach dem Abwärtsführen zu beiden Seiten an den Brustkorb andrückt oder indem man unter den Rippenbogen fasst und den Brustkorb so durch Aufwärtsziehen erweitert (Einathmung) und durch Zusammendrücken verengert (Ausathmung). Eine künstliche Athmung muss zunächst in jedem Fall versucht werden, einerlei, ob zuerst die Athmung oder das Herz still gestanden war. Will das Herz aber nicht in Gang kommen, so übe man gegen die Herzgegend kurze Stösse mit der flachen Hand aus, etwa in der Zahl der Pulsschläge in der Minute (Maas-König). Auf die Wichtigkeit einer solchen mechanischen Reizung des Herzens hat schon vor etwa 20 Jahren Rudolf Böhm auf Grund sehr eingehender und beweisender Thierversuche hinge- wiesen. Doch ist auch diese sogenannte Herzmassage keineswegs in ihrer Wirkung zu überschätzen. Der Weg, auf welchem das Chloro- form tödtet, ist so mannigfaltig und verschlungen, dass noch Fälle genug übrig bleiben, wo alle die beschriebenen Maassnahmen nichts
10
helfen. Die directe Abtödtung der Nervencentren, die Lähmung der Vasomotoren sind durch alle jene Maassnahmen nicht zu beeinflussen. Zu dem allen kommt aber noch ein Vorgang, der immer noch fast gar keine Beachtung gefunden hat und der dennoch eine verderb- liche Rolle spielt, dass ist der durch das Chloroform verursachte Herzkrampf, ein krampfhaftes Zusammengezogenbleiben, namentlich des linken Ventrikels. Wie soll man einen solchen Krampf lösen? Was kann es hier helfen, wenn wir das Herz unter der Herzmassage noch mehr zusammendriicken? Hier versagen alle unsere Mittel.
. Als zwei weitere sehr beachtenswerthe Maassnahmen kommen dann ferner in Betracht: die Inversion, und die Infusion physio- logischer Kochsalzlösung in die Venen. Der Nutzen des Tieferlegens des Kopfes und des Oberkörpers ist auch experimentell gut gestützt. Chloroformirte Thiere (z. B. weisse Mäuse) wachten regelmässig aus der Narkose auf, wenn sie mit dem Kopf nach unten gekehrt wurden. Man wird gut thun, namentlich schwache blutarme Patienten gleich von vornherein mit dem Oberkörper und Kopf nicht erhöht, sondern vielmehr horizontal oder mit dem Oberkörper tiefer zu lagern. Dass die Infusion von Nutzen ist, wurde durch die Moskauer Chirurgen Bobroff und Diakonoff gezeigt.
Bei der Durchsicht aller hier gemachten Vorschläge findet man deren noch eine ganze Menge, namentlich äusserst heftige Reize auf Haut und Schleimhäute, eine ganze Reihe von Medicamenten, Gegen- giften etc. Ich will auf alle diese Massnahmen nicht genauer ein- gehen, das wäre eine ebensolche Zeitvergeudung, wie es die aller- meisten dieser Mittel selbst sind, aber über ein Mittel muss ich noch einige Worte sagen, da es leider immer noch eine ziemlich grosse Rolle spielt. Fast jedes Jahr kann man Veröffentlichungen finden, welche dieses Mittel als ein Hauptmittel behandeln, trotzdem das- selbe nichts werth ist, das ist nämlich die Anwendung des faradischen Stromes. Man nimmt den faradischen Strom zu Hilfe, um künstliche Athmung zu machen. Hat man nun auch seinen Inductionsapparat in Ordnung — Sie wissen ja, wie oft der versagt — und hat man die Elektroden zu beiden Seiten des Halses aufgesetzt, um den Phrenicus zu treffen, was bekommt man dann? Eine Inspiration. Die Ausathmung muss man trotzdem durch directes Zusammen- drücken der Brust und Brustwand bewerkstelligen. Und hat denn
11
diese faradische Inspiration irgend einen Vorzug vor jeder anderen Inspiration, wie man sie durch einfaches Zugreifen mit beiden Händen bekommt? Doch nicht den geringsten. Viel besser nutzen wir diese kritischen Augenblicke der höchsten Gefahr dadurch aus, dass wir mit demselben Griff Einathmung und Ausathmung gleich hintereinander machen. Ich habe schon seit 1880 diesen Missbrauch des faradischen Stromes ins Auge gefasst und mehrfach darüber geschrieben, habe darin auch von verschiedenen Seiten Zustimmung gefunden, aber viele Aerzte hängen heute noch an diesem schlechten Verfahren und üben es ruhig weiter. Auch hat man den faradischen Strom zur Erregung der ausgesetzten Herzthätigkeit angewandt. Solche Empfehlung beweist, wie wenig leider manchmal thera- peutische Eingriffe sich um die Lehren der Physiologie kümmern. Denn wenn der faradische Strom wirklich das Herz treffen sollte, so giebt es kaum ein besseres Mittel, die Herzaction zu vernichten, als gerade der faradische Strom. Der faradische Strom ist ein eminentes Herzgift. Man hat hier aber mit der Electricität noch ärgeren Unfug getrieben. Man hat sogar, um das Herz besser zu treffen, in dasselbe Nadeln eingestossen, die mit dem faradischen Strom verbunden waren und damit das stillstehende Herz wieder beleben wollen. Dass diese Anordnung die lebens- gefährlichste sein muss, braucht nach dem vdrmorgenesuen nicht weiter ausgefiihrt zu werden.
Aber wenn wir nun auch unter der grossen Zahl der Wieder- belebungsmittel die besten Verfahren ausgesucht haben und diese noch so umsichtig und richtig anwenden — von einer Sicher- heit, dass wir damit jedes Chloroformunglück verhindern können, davon kann keine Rede sein. Diese Unmöglichkeit aber, solchen Unglücksfällen ganz zu begegnen, hat nicht verhindert, dass sie auch öfter eine ernste juristische Bedeutung bekommen haben. Es wurden schon Aerzte, welchen ein solcher Chloroformtod be- gegnete, wegen fahrlässiger Tödtung auf die Anklagebank gebracht. Das ist nun eine sehr ernste Sache, denn schon die blosse An- klage, wenn auch Freisprechung erfolgt, schädigt das Ansehen eines solchen Arztes in empfindlicher Weise. Nach welchen Gesichts- punkten soll man einen solchen Fall beurtheilen. Wir befinden uns hier leider in einer Art von circulus vitiosus.
12
Das gewisse Odium, welches ganz traditionell an solchen Ungliicks- fillen haftet und schnell bereit ist, dem Arzt alle Schuld zuzu- schreiben, hat sicher viele Aerzte abgehalten, ihre triiben Erfahrungen mit dem Chloroform bekannt zu geben und weil eben andererseits so wenig davon bekannt ist, wie häufig solche Fälle vorgekommen sind, so betrachtet das Publikum und der Richter, der sich um die medicinische Litteratur natürlich nicht viel kümmern kann, einen solchen Fall als etwas Unerhörtes und fasst ihn so auf, als ob der Arzt geradezu einen Todtschlag begangen hätte. Wie complicirt, wie unberechenbar aber die Wege sind, auf welchen das Chloroform tödtet, haben wir vorhin gesehen. Und doch haben wir dabei die so sehr verschiedene individuelle Empfindlichkeit noch gar nicht einmal erwähnt. Dazu kommen aber noch andere Schwierigkeiten. Es sind auch vor der Aether- und Chloroformaera plötzliche Todesfälle vorge- kommen, rein vor Schreck. Einer der bekannteren Fälle betrifft indirect das Chloroform selbst. Als Simpson bei seinem Freunde, dem Professor Miller, zum ersten Mal einen Kranken — es handelte sich um eine Bruchoperation — chloroformiren wollte, stolperte Derjenige, der das Chloroform hereinbrachte, die Flasche zerschlug und das einzige Chloroform, über das man verfügte, ging verloren. Die Operation wurde also ohne Chloroform gemacht. Gleich nach dem Hautschnitt fiel der Kranke zusammen und starb. Wäre das nun mit Chloroform passirt, so hätte sein Todesfall wahrscheinlich Simpson abgeschreckt, dieses segensreiche Mittel weiter zu ver- suchen und wer weiss, wie weit damit die Narkosenfrage wieder an Feld verloren hätte. So konnte Simpson gleich mit einer Serie von etwa 80 gut verlaufenen Narkosen heraustreten. In einem andern Fall wollte man einen 40 jährigen Mann nicht chloroformiren, weil er so herabgestimmt war. Man wollte dies zu seiner Beruhigung nur scheinbar thun. Man hielt ihm weit vom Gesicht weg ein Tuch ohne Chloroform vor. Kaum hatte jedoch der Kranke 4 Athemzüge ge- than, als Herz und Athmung stockte und der Unglückliche todt war. Der hochberühmte französische Chirurg Desault zog mit dem Daumen- nagel am Damm eines Steinkranken einen Strich, um sich die Stelle des späteren Schnittes zu bezeichnen. Der Kranke schrie auf und war todt.
Eine ganze Reihe von ähnlichen Fällen erzählt v. Nussbaum: „Chopart wollte einem nicht anästhesirten jungen Manne das Prä-
13
putium spalten. Bei der ersten Beriihrung stiirzte der Patient todt nieder. — Garengeot verlor einen nicht anästhesirten Kranken, als er ein Panaritium eröffnete“ Jeder Chirurg hat, wie auch ich, bei Gelegenheit unbedeutender Operationen an nicht anästhesirten Patienten höchst bedrohliche Zustände gesehen, die nicht mehr ein- fache Ohnmachten waren, sondern so schwere Collapse, dass sie der Chloroformsynkope durchaus ebenbürtig zur Seite stehen.
Aber auch in den späteren Stadien der Operation sind ohne Anwendung von Chloroform solche Todesfälle vorgekommen. Sie stammen aus der Zeit, als man noch kein Chloroform kannte. Nach einem einfachen Einschnitt in einen entzündeten Finger, nach Mamma- amputation hat man Kranke plötzlich sterben sehen. Viel trägt auch das Verhalten der Verwandten des Verunglückten zur Stimmung des Publicums bei, und wie weit sich ein verzweifelter Vater hinreissen lassen kann, selbst wenn er Mediciner ist, das haben wir in jüngster Zeit an einem viel besprochenen Falle gesehen. Aus allen solchen Zweifeln weiss sich nun der Richter leicht herauszuhelfen, indem er sich einfach ein Gutachten von einem anerkannten Sachverständigen einholt. Doch hat man Beispiele genug, wo sonst hervorragend tüchtige Männer gerade auf dem Gebiete der Chloroformfrage ganz unhaltbare Ansichten haben und nicht alle Sachverständigen werden den Freimuth besitzen, wie einst Velpeau, der bei einer solchen Gelegenheit vor dem Pariser Gerichtshofe etwa Folgendes erklärte: „M. H., wenn Sie diesen Angeklagten verurtheilen, dann werde ich fortan bei meinen Operationen keinen Kranken trotz seiner Schmerzen mehr chloroformiren, denn sonst bin ich nicht sicher, dass ich morgen selbst auf dieser Bank sitze und mich gegen die gleiche Anklage vertheidigen muss.“ Der College wurde freigesprochen.
Es würde uns zu weit führen, die gerichtliche Seite dieser Frage zu verfolgen, es liesse sich aber hinlänglich nachweisen, dass eine gerichtliche Verurtheilung eines Arztes wegen eines Chloroformunfalls noch für lange Zeiten als ungerechtfertigt angesehen werden muss.
Nach alledem, was ich über die Gefahr bei der Chloroform- narkose gesagt, ist es kein Wunder, dass man unablässig nach einem anderen, ungefährlicheren Anästheticum gesucht hat. Aus der grossen Gruppe der hierher gehörigen Substanzen kommen für uns nur wenige in Betracht, in erster Reihe der Aether. Wie ich schon
14
vorhin erwähnte, wurde der Aether schnell durch das Chloroform verdrängt, aber vollständig war das doch nie geschehen. In Amerika, in Frankreich, in der Schweiz gab es immer eine gewisse Anzahl von Aerzten, die dem Aether treu geblieben waren, weil sie ihn fiir weniger gefährlich hielten als das Chloroform. Mit jedem Jahre zu- genommen hat aber der Aethergebrauch seit jener Sammlung der deutschen Gesellschaft für Chirurgie, wesentlich deswegen, weil die dabei gewonnenen Zahlen sehr für die grössere Ungefährlichkeit des Aethers sprachen. Während beim Chloroform 1 Todesfall auf 2286 kam, kommt erst auf 6020 Aethernarkosen ein Todesfall. Zunächst fehlen beim Aether jene, ich möchte sagen, brüsken Todesfälle ganz im ersten Anfang der Narkose, und bei manchen der angeführten Aethertodesfälle konnte man über die Berechtigung ihrer Rubricirung noch sehr verschiedener Ansicht sein, so wie z. B. auch die einfach als Aetherpneumonien hingestellten Lungenentzündungen in ihrem Zusammenhang mit der Aethernarkose nicht immer sicher sind. Manchmal haben, wie dies Professor Nauwerck gezeigt, solche Diagnosen offenbar gar keine Berechtigung. Soviel steht fest: Der Aether ist für das Herz entschieden ungefährlicher als das Chloroform und wenn ein Chloroformirter einen schwachen Puls be- kommt, so kann man oft ein deutliches Stärkerwerden desselben beobachten, wenn nun anstatt Chloroform Aether weiter gegeben wird. Die Aethernarkose ınuss ganz anders geführt werden als die Chloroformnarkose, es müssen viel grössere Quantitäten Aether auf- gegossen werden, wenn man eine Narkose erzielen will. Nicht zu leugnen ist jedoch, dass der Aether manche Unbequemlichkeiten, auch für den Arzt hat: Die Narkose tritt nicht so schnell ein, die Aether- masken sind noch recht unhandlich, der Aether ist sehr leicht ent- ziindlich und man muss bei Licht mit ihm vorsichtig sein. Dabei ist es wichtig, zu wissen, dass die Aetherdünste nicht so sehr nach oben steigen, als nach unten fallen, so dass man sich noch mehr hüten muss, ein Licht tiefer zu halten als die Aethermaske. Alle diese Unbequemlichkeiten werden aber zum allergrössten Theil auf- gewogen durch die grössere Ungefährlichkeit des Aethers, namentlich für das Herz. Dass der Aether aber ebenfalls nicht ohne Gefahr ist sehen wir schon aus jener Statistik der Aethertodesfálle. Auch der Aether ist ein Uebel, obwohl gegen das Chloroform das kleinere.
15
Man hat auch, um eine weniger gefährliche Narkose zu be- kommen, mehrere Substanzen zusammen verwandt. So besteht die von Billroth gebrauchte Mischung aus Chloroform (3 Th.), Aether (1 Th.) und Alkohol (1 Th.). Diese Mischung ist nach der Statistik auch weniger gefährlich als Chloroform.
Eine sehr gute und empfehlenswerthe Art der Narkose ist dann noch die Combination von Chloroform und Aether hintereinander. Zuerst leitet man dieselbe mit einer richtigen Chloroformtropfen- Narkose ein und wenn der Patient eingeschlafen ist, setzt man diese mit Aether fort; man braucht dann weiter nur geringe Quan- titäten. Die Zahlen der Gurlt’schen Statistik in der Sammlung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie ergiebt für diese Art der Narkose vorläufig: auf 10162 Narkosen 1 Todesfall. 1)
Wie aus der ganzen, kurzen Uebersicht hervorgeht, giebt es aber bis jetzt kein ungefährliches Allgemein- Anästheticum. Das sollten wir bei keiner Narkose vergessen. In England hat sich in Würdigung der Wichtigkeit der Sache ein besonderer Stand heraus- gebildet, die ,,Anaesthetists.“ Diese sind oft frühere Heilgehilfen und thun nichts weiter als sich nur mit der Narkose abgeben, also vornehmlich mit Chloroform; sie wissen sogar kaum immer, was für eine Operation gerade überhaupt in der von ihnen geleiteten
1) Für die Beurtheilung der Gefährlichkeit oder Ungefährlichkeit eines Anästheticums giebt natürlich nur die Statistik den Hauptmaassstab ab. Gerade mit der Narkose-Statistik steht es aber ganz besonders schwach. Bis vor 6 Jahren war England das einzige Land, das zu dieser wichtigen Frage einen nennenswerthen Beitrag lieferte. Die anderen Länder betheiligten sich daran wenig oder gar nicht. Auch Deutschland nicht. Erst als man auch hier Zahlen zu sammeln anfing, wurde es immer klarer, wie erschreckend gross die Zahl der Todesfälle, namentlich an Chloroform sind. Die ganze Grösse der Gefahr ist aber noch lange nicht bekannt (bis 1890 mögen die tiberhaupt bekannt gewordenen Fälle über 400 betragen haben, in den “5 Jahren von 1890—95 hat die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie allein 88 Todesfälle gesammelt) und daher ist es dankbar zu begrüssen, dass das Comité der chirurgischen Section für den nächsten Internationalen medicinischen Congresse zu Moskau auf meinen Vorschlag eine Aufforderung an die Chirurgen aller Länder gerichtet hat, Zahlenmaterial zu einer internationalen Narkose - Statistik zusammen zu tragen und zwar für das Jahr 1896. Um die Sammlung leichter zu ermöglichen, sind nur einige wenige Hauptpunkte für die Angaben gewählt: 1) Zahl der Narkosen, 2) Art des Anästheticums, 3) Zahl der Todesfälle. Wenn die Chirurgen aller cultivirten Länder unserer Erde für diese Angelegenheit das richtige Interesse zeigen, so muss die internationale Lösung dieser Aufgabe ein ganz gewaltiges Ergebniss haben, wie es noch nie dagewesen ist.
16
Narkose im Gange ist. Sie werden so zu Specialisten, die im Narkotisiren eine grosse Routine besitzen. Für unsere Verhältnisse passt nun eine derartige Einrichtung wohl nicht, bei uns hat jeder Arzt selbst seinen Chloroformirten zu überwachen. Dazu ist eine unausgesetzte, genaue Aufmerksamkeit nöthig, die sich durch nichts ablenken lassen soll. Lessing hat in seiner unsterblichen Ab- handlung: „Wie die Alten den Tod gebildet“ gezeigt, dass der Tod und der Schlaf auf den alten Grabmälern als Zwillingsbrüder, einander zum Verwechseln ähnlich, dargestellt wurden. Diese Allegorie hat einen noch tieferen Sinn beim Chloroformschlaf. Möchte Jeder an dieses Bild denken, der eine Narkose zu leiten hat; gar zu leicht könnte er plötzlich in Zweifel kommen, ob sein Kranker nur schläft, oder — schon todt ist. —
Wenn wir nun auch erst seit 50 Jahren im Besitze einer brauch- baren Allgemeinanästhesie sind, so soll man darum nicht glauben, dass bis dahin noch Niemand diese Idee überhaupt gehabt hat. Der Wunsch, einem Operirten Schmerzen zu ersparen, ist so menschlich- natürlich, dass er, unerfüllt, bis in die graueste Vorzeit zurück- reicht.
Schon die alten Aegypter verstanden es, Tränke zu diesem Zweck zu mischen; die Assyrer sollen, um den Kindern bei der Beschneidung den Schmerz zu ersparen, ihnen den Hals zugedrückt haben. Mit dieser barbarischen Procedur haben sie ihren Zweck jedenfalls erreicht, denn die Kohlensäure, die sich bei der Erstickung oder wie dort im Erstickungsanfall im Blute anhäuft, ist ebenfalls ein Narkoticum und Anästheticum. (Das kann man besonders bei Personen sehen, die bei Gefahr zu ertrinken aus dem Wasser gezogen werden. Wenn sie dann auch schliesslich ins Leben zurückgerufen werden und Athmung und Puls endlich von selbst wieder weiter gehen, so kommen sie doch manchmal, wenn sie etwas lange unter Wasser gewesen sind, erst am nächsten Tage zur vollen Besinnung.)
Im Anfange unserer Zeitrechnung haben die Chinesen bei Operationen Berauschungsmittel angewandt, die aus Haschisch, dem indischen Hanf, bestanden. Eine grosse Rolle spielte ferner nicht nur in den allerältesten Zeiten, sondern auch das Mittelalter hindurch und noch später die Alraunwurzel (Atropa Mandragora), sie wurde theils innerlich genommen, theils im Wasserdampf eingeathmet. Zu
17
a
solchen Betäubungsmitteln mischte man fast alles zusammen, was man überhaupt an Pflanzengiften damals besass. Als Beispiel dafür sei es mir gestattet, eine Stelle anzuführen aus dem Buche der Bündth-Ertznei des deutschen Ordensritters Heinrich von Pfohlspeundt, das 1460 verfasst ist. (Dieses Buch ist übrigens das älteste deutsche Buch über Wundarznei und nicht, wie es in dem Text zu den lebenden Bildern auf dem letzten Chirurgencongresse in Berlin steht, dasjenige des Strassburgers Brunschwig. Brunschwig hat 100 Jahre später gelebt als Pfohlspeundt.) Pfohlspeundt interessirt uns auch noch deswegen ganz besonders, weil er in unserem Osten in dem Kriege thätig gewesen ist, den der Deutsche Orden mit dem Könige von Polen geführt hat und namentlich während der Belagerung von Marienburg (1457) reichliche Gelegenheit hatte, seine Kunst aus- zuüben. Ich will das Recept nicht in dem umständlichen Urtext anführen, sondern nur kurz erwähnen, dass da zu dem Einschläfern u. A. genommen wurde: Opium, Bilsenkraut, Alraunblätter, Schirling, Lattich-Samen, Kellerhals-Samen u. s. w., von jedem 1 Loth, also 15 Gramm. Das ganze wurde ausgepresst und damit ein Schwamm getränkt, der dann getrocknet aufbewahrt und vor dem Gebrauch in warmes Wasser gelegt wurde. Dieser Schwamm wurde dem Kranken vor die Nase gehalten, bis Schlaf eintrat. Dann wurde der Schwamm wieder getrocknet und zum weiteren Gebrauche aufbewahrt. Durch Zapfen aus Baumwolle oder Nothwerg (Charpie?), welche mit Essig und einigen anderen Sachen getränkt waren und in die Nase ge- stossen wurden, wurde der Kranke wieder zu sich gebracht. Dieses Recept ist übrigens noch viel älter, es stammt schon aus dem 13. Jahrhundert von Theodoricus de Cervia. (Haeser.) — Ein inter- essantes und ebenfalls durch sein Alter bemerkenswerthes Beispiel, welches wohl sicher hierher gehört, das Jeder von uns kennt und auf das doch Keiner von uns gekommen ist, hat Simpson, der die Chloroformnarkose eingeführt hat, herangezogen. Wir finden es — in der Bibel: Als Gott dem Adam die Rippe nehmen wollte, um daraus die Eva zu formen, versenkte er ihn dazu erst in einen tiefen Schlaf.
Von jeher hat man aber zwei Wege eingeschlagen, um die Operationsschmerzen zu benehmen. Entweder betäubte man den
Menschen, dass er überhaupt nichts fühlte, dass er bewusstlos war 2
18
— Allgemeinanisthesie — oder man suchte die Stelle selbst, die man schneiden oder brennen wollte, unempfindlich zu machen, ohne dass das Bewusstsein in Mitleidenschaft gezogen ist — Local- anisthesie. Auch die Versuche mit Localanästhesie sind uralt und weisen mit ihrem Ursprung nach Aegypten. So wurde der Lapis memphites, der Stein von Memphis gepulvert und mit Essig gemischt aufgelegt, um die Stelle gegen den operativen Eingriff unempfindlich zu machen. Man hat gemeint, das sei eine Art von Marmor gewesen, aus dem sich unter der Einwirkung der Essigsäure Kohlen- säure entwickelt hätte, die dann ihrerseits anästhesirend gewirkt haben sollte. Mit der theoretischen Erklärung der Wirkung so alter Mittel ist es aber eine missliche Sache. Denn ebenso finden wir als locales Anästheticum die gepulverte Krokodilhaut oder eine Salbe aus dem Fett des gebratenen Krokodilfleisches angeführt.
Wie will man solche Dinge theoretisch erklären ?
Das sind eben echt ägyptische Mittel und stammen aus den Zeiten, wo noch der Tempel die Alma mater war, der Inbegriff alles Wissens, wo die Behandlung der Kranken als religiöser Act zum Tempeldienst gehörte und mächtig einwirkende Beschwörungs- formeln und Zaubersprüche als viel wichtiger angesehen wurden, als die dabei angewendeten Medicamente. Wo die Möglichkeit noch fehlte, dem Kranken durch objectiv wirkende Mittel zu helfen, da sehen wir, wie in voller Kraft die Suggestion in den Vorder- grund tritt. |
Nach den verschiedensten Versuchen mit allen möglichen Mitteln, auch mit der Einwirkung der Kälte, machte die Localanästhesie den ersten grösseren Fortschritt vor etwa 30 Jahren durch die Einführung der Aetherbestäubung. Dadurch erzeugte man eine Erfrierung, welche die betreffende Stelle unempfindlich macht.!) Sie ist aber nur für oberflächliche Eingriffe verwendbar und ruft an entzündeten Theilen leicht einen heftigen Schmerz hervor und ist auch nicht an allen Körpertheilen anzuwenden, so z. B. nicht in der Nähe der Augen etc. Weiter kam dann das Cocain, welches wir als Anästheticum einem Wiener Augenarzt, Kossel 1884, verdanken und welches eine grosse Bereicherung unseres Arzneischatzes ist. In der Weise, wie
') Russische Militärchirurgen kühlten z. B. für eine Empyemoperation die Haut durch ein aufgelegtes Eisstück ab.
. `a ET A nn. > =
19
es aber namentlich friiher in der Chirurgie gebraucht wurde, als mehrprocentige Einspritzung unter die Haut gespritzt, ist es ein sehr gefährliches Mittel und es sind durch dasselbe schon manche Todes- fälle vorgekommen.
Die neueste Gestalt der Localanästhesie ist dagegen als eine wirklich sehr bedeutende Verbesserung der Localanästhesie anzu- sehen. Man ist mit ihr in der That im Stande, eine ganze Anzahl an sich sehr schmerzhafter Operationen vollständig schmerzlos aus- zuführen und dabei alle Gefahren und Unannehmlichkeiten einer Allgemeinnarkose auszuschliessen. Sie besteht darin, dass man eine bestimmte, ganz schwache Cocainlösung, 2 : 1000, 1 : 1000 und 1 : 100001) nicht unter die Haut, sondern in die Haut und in diejenigen Gewebe spritzt, welche man unempfindlich machen wil. Man schiebt die Injectionsnadel ganz flach unter die Haut, möglichst parallel derselben und erzeugt dadurch unter recht hohem Druck eine Quaddel, d. h. die Haut wird im Umkreis der Stichöffnung weiss. So weit nun diese Aufblähung der Haut reicht, ist die Haut absolut unempfindlich. Von einer solchen ersten Stelle aus wird dann durch neuen Einstich wieder weiter infiltrirt, so weit der Hautschnitt reichen soll. Hat man die Haut auf diese Weise schmerzlos durchtrennt, so geht man mit der Infiltrirung weiter in die Tiefe. Man muss sich daher stets ver- gegenwärtigen, dass nur diejenigen Gewebe unempfindlich sind, die infiltrirt sind. Dieses Verfahren, die sogenannte Infiltrationsanästhesie, verdankt ihre Ausbildung dem Berliner Chirurgen Schleich. Als Schleich damit hervortrat, wollte man von der Sache nichts wissen und wenn man mit Recht darauf hingewiesen hat’), dass dieselbe
1) Schleich hat 3 verschieden starke Lösungen angegeben:
I. Cocain. mur. 0,2 II. Cocain. mur. 0,1 Morph. mur. 0,025 etc. ebenso wie I. Natr. chlorat. 0,2 III. Cocain mur. 0,01 Aq. dest. ad. 100,0 Morph. mur. 0,005 adde Acid. carbol. 5%, gtt, etc. wie vorhin.
No. I wird nur bei entzündlicher Affection gebraucht, II für gewöhnlich und III wenn sehr viel Lösung nöthig ist. > Siehe Monatsschrift für Unfallheilkunde 1895 p. 389, wo Herr Sanitäts-Rath Thiem im Anschluss an meinen Vortrag über Lokalanästhesie auf der Lübecker Natur- forscher- und Aerzte-Versammlung darauf aufmerksam macht, dass Oberstabsarzt Albers 1889 in zwei Artikeln sagt, dass er Infiltrationsanästhesie seit 4 Jahren übe. 2*
20
Art der Anästhesirung schon vor Schleich geübt worden war, so muss man demgegenüber nicht aus dem Auge lassen, dass Schleich mit sichtlichem Geschick die Technik dieser Lokalanästhesie herausgearbeitet hat und dass sie gerade durch die Verständniss- losigkeit, welche ihr gleich anfangs eine nur vorläufig gefährliche Opposition machte, als hinlänglich neu gestempelt wurde, um sein Ver- dienst um die Sache auser allen Zweifel zu setzen. Ganz besonders willkommen ist die Lokalanästhesie in den Fällen, wo operirt werden muss und der Kranke eine Betäubung nicht verträgt. So hatte ich einmal eine eiterige Phlegmone der Hand zu operiren, welche sich an einem offenen Bruch eines Fingerknochens angeschlossen hatte. Der Kranke, ein Tischlergesell, zeigte keinerlei Herzanomalie und hatte vor der Operation auch über nichts derartiges geklagt. Er sollte also unter Chloroformtropfennarkose operirt werden. Nach 50 Tropfen Chloroform, die im ruhigsten Tropfentempo bei reich- lichem Luftzutritt gegeben waren, fing plötzlich der Puls an, auf jeden 4. oder 5. Schlag auszusetzen. Ich machte eine kleine Pause, ob sich das Herz nicht wieder beruhigen würde, aber schon nach einigen weiteren Tropfen wurde der Puls noch schlechter, so dass . wir gezwungen waren, einfach die Chloroformirung abzubrechen. Hier etwa mit Aether anstatt mit Chloroform fortzufahren, wäre ebenfalls nicht am Platze gewesen, denn wenn ein Herz erst einmal so weit ist, wie in diesem Fall, wird es, wie ich aus Erfahrung weiss, auch unter Aether nicht besser, sondern weiter schlechter. Der Kranke erholte sich von den wenigen Minuten minimaler Chloroformeinwirkung nur sehr langsam. Am nächsten Tage machte ich die Operation unter Lokalanästhesie und der Kranke hatte während des Schneidens und Ausschabens keine Spur von Schmerzempfindung, vielmehr gab er an, er spüre in der Hand beim Operiren eine geradezu angenehme Wärme. Und dennoch war die Operation eine so eingreifende, dass ich, trotzdem ich schon ziemliche Uebung in der Infiltrations- anästhesie hatte, dem Kranken die Chloroformnarkose nicht vorenthalten zu müssen geglaubt hatte. Ein andermal handelte es sich um eine stark skoliotische ältere Frau, die kurz nach einem Influenzakranken- lager eine harte Phlegmone am Halse bekommen hatte. Auch hier wäre ich nur unter grosser Sorge an eine Chloroformnarkose ge- gangen. Eine Aethernarkose war wegen des Zustandes der Lunge
21
ausgeschlossen. Unter vollständig gelungener Infiltrationsanästhesie operirte ich sie zweimal mit bestem Erfolg. Bei einem 73jährigen alten Herrn konnte ich mich besonders gut von der sicheren Wirkung der Infiltrationsanästhesie überzeugen. Ich entfernte ihm einen Hoden wegen Prostatahypertrophie. Er lag dabei ganz ruhig und versicherte auf die erstaunte Frage des assistirenden Collegen, der diese Lokalanästhesie noch nicht kannte, consequent, dass er absolut nichts von Schmerz spüre. Als ich aber demselben Patienten dann später unter grösster Schonung die paar Näthe entfernte, war er vor „schmerz“ ganz ausser sich, zum Beweis, dass er bei der Operation selbst nur dank der Localanästhesie und nicht etwa seiner Stand- haftigkeit so ruhig gewesen war.
Dieffenbach erzählt uns (l. c.) wie den Chirurgen, die früher vor dem Aether gewohnt waren, den Kranken bei vollem Bewusst- sein zu operiren, es ganz ungewohnt gewesen sei, unter der Aether- narkose den bewusstlösen Kranken vor sich zu haben. Früher hatten sie die Operation unter fortwährendem Ringen mit dem Kranken unter tröstendem Zuspruch und vielem Reden mit ihm vollführt. Jetzt kam ihnen die Ruhe des schlafenden Patienten ganz unheimlich vor und sie mussten alle Kraft zusammennehmen, um sich an die ganz ungewohnte Situation zu gewöhnen. Jetzt geht es uns gerade umgekehrt, wenn wir z. B. eine Laparotomie unter Infiltrationsan- ästhesie machen. Wir suchen den Kranken durch Zuspruch zu er- heitern, der Kranke lacht auf, ja — aber wir lassen bald die Scherze, weil unter dem Lachen sich die Gedärme zur Wunde heraus zu drängen suchen. Auch kommt es uns ganz absonderlich vor, dass der Kranke während der Laparotomie sich bei uns bedankt und ruhige Conversation macht, als ob ihn die ganze Operation nichts anginge. So ist es bei ganz normalem Peritoneum. Bei ent- zündetem ist die Sache allerdings anders und auch schon bei länger bestandenem Ascites lässt die Infiltrationsanästhesie leicht im Stich.
Sehr richtig war es von Schleich, dass er selbst für den ersten Nadelstich verlangte, dass die Haut vorher unempfindlich gemacht werde Es ist ja richtig, dass es uns nie beikommt, für eine Morphiumeinspritzung vorher die Haut unempfindlich zu machen. Der Stich ist bei diesen beiden Fällen allerdings derselbe, aber die Auffassung des Kranken ist eine sehr verschiedene, und während er
ID ID
dort nichts weiter erwartet als die Morphiumeinspritzung, steht er hier vor einer Operation. Seine Phantasie ist erregt, und manche Kranke fassen denselben kleinen Stich als etwas Schreckliches auf und verhalten sich auch darnach. Namentlich bei sehr nervösen Personen ist es manchmal trotz aller Kunst unmöglich, sie zur Ruhe zu bekommen. Sie empfinden den Schmerz entschieden in der Einbildung. Auch zeit- weise Geisteskranke sind für die Localanästhesie in ihren anfallsfreien Zeiten ein schlechtes Material. Ausserdem ist in entzündeten Geweben die Durchführung der Infiltrationsanästhesie manchmal recht misslich.
Zur Unempfindlichmachung für den ersten Nadelstich wendet Schleich den Aetherspray an. Dieses Verfahren hat entschiedene Mängel, man kann es nicht überall, wie z. B. in der Augengegend, der Analgegend etc., anwenden, ausserdem erzeugt der Aetherspray an entzündeten und gewissen anderen Theilen leicht ein schmerz- haftes Brennen, lässt sich auch nicht genau abgrenzen. Ich habe daher einen kleinen Apparat!) anfertigen lassen, der von allen diesen Mängeln frei ist und mit welchem man im Stande ist, eine kleine um- strichene Hautstelle für den ersten Nadelstich unempfindlich zu machen. Man braucht ja nicht ganz ausnahmslos in jedem einzigen Fall für den ersten Nadelstich die Haut mit dem Kälteapparat zu anästhesiren, man wird ausnahmsweise auch Kranke finden, bei denen es dieser Fürsorge nicht bedarf, aber als allgemeine Regel ist es sicher zu empfeh- len, die Operation lieber von vornherein so einzurichten, dass der Kranke überhaupt nichts von Schmerz spürt. Scheitert doch bei sehr aufgeregten Nervösen, namentlich bysterisch Kranken schon ohnehin die ganze Localanästhesie, weil sie von dem Wahn nicht loszureissen sind, dass die Operation Schmerzen machen muss, von den entzündeten Weichtheilen in anderen Fällen schon gar nicht zu sprechen. Diese Abkühlung verzögert die ganze Procedur um ca. 2 Minuten, während auf die Infiltration für eine ausgiebige Incision höchstens 5 Minuten kommen. Ich habe das in mehreren Fällen genau controllirt. Meine Kältevorrichtung entspricht übrigens auch viel mehr den Anforderungen der Asepsis, wie die Applicirung des Aetherspray’s, men kann nament- lich den Theil des Apparates, der die Abkühlung auf der Haut be- sorgt, abkochen. Den übrigen Theil des Apparates umwickelt man zur Operation mit einer sterilen Compresse oder einem Stück eben- solcher Gaze, um sich selbst vor der Kälteeinwirrkung zu schützen.
!) Bei Dröll, Mannheim.
23
Trotzdem ich einer der Ersten war, der fiir die Schleich’sche Infiltrationsanästhesie eingetreten ist, so sind mir schon von Anfang an einige zu offenbare Mängel ihrer Anwendung klar gewesen. Der eine Mangel war der, dass Schleich für seine Infiltration die Spritzen mit Hartgummifassung und mit Lederstempel überhaupt nur zugelassen hat. Der Hartgummi wird beim Kochen weich und verändert leicht seine Form, und Leder ist durch Hitze überhaupt nicht zu sterilisiren, also in Bezug auf Wundbehandlung ein ganz unmögliches Material. Eine Spritze, die man nicht auskochen kann, sollte man bei einer Operation nicht in die Hand nehmen. Wer das thut, zeigt damit, dass er an die Reinlichkeit bei Operationen nicht die genügenden Anforderungen stellt. Ich verwende eine Spritze mit einem Gummistempel, für die ich einen besonderen Griff angegeben habe, der die Reinigung der Spritze im Sinne der Aseptik nicht hindert!). Dann ist mir hier noch ein Punkt ganz unverständ- lich. Wir haben wohl alle E. Hahn zugestimmt, als er damals besonders darauf aufmerksam machte, man möchte bei Brust- krebs daran denken, dass wir es mit einem infectiösen Material zu thun haben. Er rieth daher entschieden davon ab, mit demselben Messer erst einen Probeschnitt in die Geschwulst zu machen und dann etwa damit auch die Mamma-Amputation auszuführen. Von anderen Seiten wurde sogar verlangt, dass man bei der Untersuchung carcinomatöser Achseldrüsen zart und schonend sein soll, um nicht durch starkes Drücken den Krebssaft in noch gesunde Gewebe hin- einzutreiben. Was soll man nun dazu sagen, wenn man bei der Infiltrationsanästhesie an der Peripherie der Geschwulst mit der Nadel herumsticht und die betreffende Flüssigkeit unter so hohem Druck in die Gewebe treibt? Wie weiss man denn immer vorher, wie tief die krebsige Infiltration in Fascie und Muskel hineinreicht. Sicher ist es unvermeidlich, auf diese Weise mit der Nadel aus Krebs- gewebe in normales Gewebe zu gelangen und offenbar liegt damit die Möglichkeit vor, dieses unter dem starken Injectionsdruck mit Krebsmaterial zu inficiren.
Für mich steht es also, wie ich auch schon auf der Natur- forscher- und Aerzteversammlung 1895 in Lübeck betont habe, un-
') Zu haben bei Windler, Berlin.
24
bedingt fest, dass die Infiltrationsanästhesie bei Krebs ab- solut ausgeschlossen sein sollte. Ein Kranker, der Krebs hat, muss auch die Gefahr der Allgemeinanästhesie mit in den Kauf nehmen. Wir erweisen ihm einen schlechten Dienst, wenn wir, um das Chloroform zu vermeiden, ihm womöglich seinen Krebs bei der Operation weiter „infiltriren“.!) Man soll eben nicht um jeden Preis das Chloro- form nder den Aether zu vermeiden suchen. Hält man sich hier von solchen Einseitigkeiten auch fern, so bleibt ohnedies eine ganz gross- artige Zabl von Operationen übrig, wo die Infiltrationsanästhesie ein ausserordentlich werthvolles, ja zur Zeit einziges Mittel bleibt. Man kann die Narkose sehr oft vermeiden, der Kranke fühlt nach der Operation in der grössten Mehrzahl der Fälle keine Uebligkeiten. Ich will aber bei dieser Gelegenheit nicht unerwähnt lassen, dass manche Personen, namentlich Damen, gegen Cocain doch recht empfindlich sind. Mir ist es mehrfach vorgekommen, dass nach selbst kleinen Operationen die Patienten an demselben oder gar noch am anderen Tage einen so starken Schwindel empfanden, dass das Bett mit ihnen, wie sie sagten, „in die Runde ging.“ Dies konnte nur vom Cocain herkommen, trotz der starken Verdünnung von 1:1000 und trotz der Anwendung nur einiger weniger Spritzen. Es ist gerathen, auf solche Vorkommnisse gefasst zu sein und bei ambulatorischer Behandlung den Kranken womöglich eine Begleit- person zum Nachhausegehen mitbringen zu lassen.
Soviel steht jedoch fest, dass die Infiltrationsanästhesie einmächtiges undhochwillkommenes Mittel ist, den Schmerz zu benehmen. Es sollten sich daher alle Aerzte auf dieses Verfahren, bei welchem man erst manche technische Schwierigkeiten überwinden muss, eingearbeitet haben.
So habe ich Ihnen, verehrte Versammlung, in meinen kurzen Ausführungen gezeigt, welche Fortschritte wir in unserer Frage bisher gemacht haben. Wir sind in den letzten 5 Jahrzehnten weiter ge- kommen, als die 5 Jahrtausende vorher. Die Hauptursache, warum
1) Es werden sich auch noch manche andere Contraindicationen gegen die Infiltrationsanästhesie finden. So ist es z. B. noch sehr fraglich, wie die zum Absterben geneigten Gewebe eines Diabetikers die animisirende Infiltration vertragen werden. Bei einem jungen Manne, der an vorübergehender Glycosurie litt, wurden die Schnittränder nach einer Phimosenoperation z. Th. gangränös.
25
die friiheren Zeiten hier nichts erreicht haben, liegt darin, dass die Wissenschaft der Chemie erst eine Errungenschaft der Neuzeit ist. So arbeitet eine Wissenschaft der anderen in die Hande.
Wie ein schönes Leitmotiv gewinnt der Wille, den Kranken gefahrlos vor Schmerzen zu bewahren, seit grauer Vorzeit immer deutlichere Gestalt. Wir haben auch jetzt das Ziel noch nicht voll- ständig erreicht, nach der Art jedoch, wie wir uns demselben bis jetzt genähert haben, können wir hoffen, dass es einst erreicht werden wird. Die innerste Triebfeder aber, welche unsere Heilkunst zu immer höherer Vollendung zeitigt, das ist die Macht der
Menschlichkeit!
Einige Litteratur.
. O Kappeler: Anaesthetica. Deutsche Chirurgie 20. 1880.
. U. v. Pfohlspeundt: Buch der Bünd-Ertznei 1460. Berlin 1868.
. D. Lavrentii: Heisters Chirurgie, zweite Aufl, 1724.
. Rydygier: Wie soll man Chloroformiren? Klin. Vorträge. 1893 No. 69.
. O. Witzel: Praktische Erwägungen über das Operiren unter Anwendung
der Narkose.
. C. L. Schleich: Schmerzlose Operationen. 1894.
. Johann Friedrich Dieffenbach: Der Aether gegen den Schmerz. 1847.
. C. Binz: Der Aether gegen den Schmerz. 1896.
0. E. Braatz: Ueber die Wiederbelebungsversuche bei Chloroformtod, insbesondere über die dabei angewendete Electricitát. St. Petersburg. Med. Wochenschr. No. 28, 29 u. 30. 1884.
10. E. Braatz: Kann man die Gefahren der Chloroformnarkose so verringern, dass wir den Aether in der Chirurgie nicht brauchen? Berliner Klinik 1893. No. 62.
11. E. Braatz: Ueber Lokalanästhesie. Monatsschr. f. Unfallheilkde, 1895, p. 380.
12. E. Braatz: Zur Lokalaniisthesie. Centralbl. f. Chir. 1895, Nr. 26.
13. W. Koch: Ueber das Chloroform und seine Anwendung in der Chirurgie. Volkmann’sche Samml. klin. Vortr. No. 80.
14. U. Kiimmell: Ueber Narkose und lokale Anästhesie Leipzig, Langhammer 1896.
15. Nussbaum: Anästhetica, v. Pitha u. Billroth: Chirurgie Bd. I pg. 609.
16. Gurlt: Verhandlungen der Congresse der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie
1891—1895.
=J O) Cm O ny =
L
Verantwortl. Redakteur: Hofrath Dr. Ernst Stadelmann in Berlin. Druck von Albert Koenig in Guben. Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden direct an den oben genannten Redacteur, Berlin SW., Anhaltstrasse 12, oder durch die Verlagsbuchhandlung erbeten.
BEE” Goldene Medaille 1896. Tg
Herr Dr. O. Zeller in München berichtet uns über seine Erfahrungen mit
AIROL
folgendes: Ich habe Ihr Präparat bei zweierlei Affectionen ange- wendet, wo ich dasselbe als ausserordentlich brauchbar be-
funden habe, und zwar:
Iı zu andoskopischen Insufflationen, 2. bei chronischer Gonorrhoe
nach vorausgegangener Dilatation und dann bei syphi- tischen Handgeschwüren (Ekthyma syphilitic.). In diesen Fällen erzielte ich ohne jegliche Reizung und Beschwerden, in verhältnissmässig kurzer Zeit, Stillstand der Secretion und Heilung der Geschwüre. — Ich gestatte Ihnen gern von dieser meiner günstigen Erfahrung bezüglich des Airols Gebrauch zu machen, denn warum soll das wirklich Gute nicht auch in weiteren ärztlichen Kreisen bekannt werden.
Litteratur sowie Gratismuster stellen wir den Herren Aerzten gern zu Diensten.
F.HOFFMANN-LA ROCHE & CIE.,
vormals Hoffmann, Traub & Cie., Fabrik. chem. pharm. Producte, Basel (Schweiz).
Sämmtliche Verbandstoff-Fabriken stellen Airolgaze her.
DE 9681 eud Gunjjayssny ayosignaoew.eyd ajeuoıyeusszjuj 1] ajlıepaw 3uəpog Mi
EICICICIEIICICICI ICICIEICICICICICICICACICICSE
— ls dl Mi ee ry E T + oe AO
D KLINIK No. 103. JANU 807. oe
Johannes Alt, Medicinische Buchhandlung, wre M.
Einladung zum Abonnement auf den
Allgem. Medicinischen
Journal-Lesezirkel
Enthaltend 125 Zeitschriften des In- und Auslandes.
Eine grosse Partie friiherer Jahrgange von Wochen- und Monatsschriften steht in cartonirten Bänden zu beispiellos billigen Preisen zur Verfügung. Diese Bande
sind zum Nachschlagen sehr geeignet.
Billigste Bezugsquelle für áltere medicinische Zeitschriften.
Antiquariats-Katalog Nr. 5 steht auf Verlangen zu Diensten. Viele Anerkennungsschreiben langjähriger Abonnenten. Bitte ausführliche Programme zu verlangen.
Verlag von Fischer's medic. Buchhandlung H. Kornfeld, Berlin NW. 6.
Soeben ötschien:
Fischer’s Kalender für Mediciner PU” 1897, 9. Jahrgang. “EMM
Herausgegeben von Dr. A. Seidel in Berlin. Preis 1 Mark 50 Pf.
Inhalt
Kalender für 1897. — Notiz-Kalender. — Notizen: Neuere Arzneimittel, ihre Anwendung, Dosirung und Preise. — Maximaldosen für Erwachsene. — Maximal- dosen für Kinder. — Maass- und Gewichtsbezeichnungen. — Brillentabelle. — Thermometerscalen. — Löslichkeitstabelle. — Mittel zur subcutanen Injection. — Mittel zur Inhalation. — Mittel zum Pinseln, Einspritzen und Einblasen. — Anzeige- pflicht. — Incubationsdauer. — System der Todesursachen. — Anleitung zur ge- richtlichen Obduction. — Diätetische Kuren. — Diät der Säuglinge. — Balnea medicata. — Bäder und Kurorte. — Privat-Heil- und Pflegeanstalten. — Unfall- Tabellen. — Ueber den gegenwärtigen Stand der Ani isthosirungsfrage. — Porto- und Telegraphengebühren. — Anzeigen.
Vorräthig in jeder Buchhandlung.
Gegen Einsendung von 1 Mark 50 Pf. erfolgt franko Zusendung durch die Verlagshandlung
Fischer’s medic. Buchhandlung H. Kornfeld,
Berlin NW. 6, Karlstrasse 15.
$
The
“4
F | |
von PONCET Glashiitten-Werke Dr. O. Siemon’s =
BERLIN SO., Képenikerstr. 54. Inhalationsflaschchen , Fahrik und Lager dient zur Localbehandlung von Krankheiten || chem., pharm. und ärztlicher Glas- | der ge es mit ätherischen Oelen | ye parate, Gefiisse und Utensilien; and anderen flüch- ten sich zur Lieferung aller Ge- || open und Utensilien für Krankenhäu- f ser und Dispensiranstalten bestens empfohlen. | Glasausrüstungen zu der Dr. ¡MIN Müller’schen Wasch- und Instru- i menten-Console ,Ordo‘‘. ls e ag u. franco.
SPUCKN APFE aus Glas.
tigen Stoffen , wie Creosot, Menthol Jodoform (bei Kehl- kopftuberculose) n. a. m. Es ist die be- uemste und dabei illigste Methode, bei chronischen Ka- tarrhen der internen Therapie vielfach überlegen u. wird von A Kranken dieser meist èR vorgezogen. Allei- niger Verfertiger
von Poncet, Glashütten-Werke Berlin SO., Köpenikerstr. 54. Preis à Stück 3.— Mk. [162
Verlag von FISCHER’s medicinischer Buchhandlung H. KORNFELD Berlin N. W. 6.
Soeben erschien:
Die chirurgische Behandlung
Gallensteinkrankheit.
Ein Riickblick auf 206 Gallenstein-Laparotomien
unter besonderem Hinweis auf die Nothwendigkeit frühzeitiger Operationen
von
Prof. Dr. Hans Kehr, Specialarzt für Chirurgie in Halberstadt. Preis Mk. 3,50.
, — e hp Ferner :
Nervenkrankheiten
Deutsche Bearbeitung von „La Famille névropathique* von Dr. med. H. Schnitzer— Berlin.
BER Mit 20 Abbildungen im Text. mg Preis Mk. 4,50.
Verlag von FISCHER’s medicinischer Buchhandlung H. KORNFELD Berlin N. W. 6.
e L Pr"
BERL INER KLINIK No. 104. FEBRUAR 1897.
mn _———_—_——— SO OO I maam A AA A y O A —
(EXTR. THYREOIDEAE HAAF)
Schilddrüsen-Präparat mit garantirtem Normal-
Jod-Gehalt. Von Prof. Kocher, Bern, empfohlen und
in dessen Klinik im Gebrauch. Auch in Tabletten & 0,3 frischer Schilddrüse vorräthig.
Zu beziehen durch die Apotheken.
Knoll € Cie., Ludwigshafen a. Rh.
| D. R.-Patent 20927 vom 10. Juni 1882. München, Dr. med. Pfeuffer’s
IHamogiobim
(Extractsyrup u. Pastillen, ca. 33°/,ig, Pat. 20927)
| frei von den im Blut enthaltenen Auswurfstoffen. cranes Zeug- nisse. — Preis 3 M. od. 1,60 M.
Die Zeltchen (Pastillen), in häufiger Wiederholung genommen, ver- hindern, nach Beobachtung des Dr. Pfeuffer an sich selbst, den Ein- | tritt von Schwäche nach Blutkörperchenzerfall in Folge Influenzafieber
und wohl auch bei anderen Fiebern. Ausgezeichnete, jetzt allgemein | anerkannte Wirkung bei Blutarmuth und Bleichsucht. [647
| Fabrikation nur bei Dr. med. Pfeuffer zu München. (Nachdruck verboten.)
emulgirende, oxygenirte Kohlenwasserstoffe (Vaseline) sind Lösungsmittel für verschiedene Medicamente, wie Jodoform, Jod etc. Im Vasogen gelöst, sind diese reizlos fiir Haut und Schleimhäute, gelangen auch bei äusserlicher An- wendung zur vollkommenen Resorption (durch Harn-Analysen erwiesen) und zu erhöhter Wirksamkeit. Folgende Vasogene sind in Kliniken, Krankenhäusern etc. in ständigem Gebrauclr: Jodoform 1'/, u. 3%, Jod 3, 6 u. 10°, Kreosot 5, 20, 33'/, %, Guajacol 20%, Ichthy ol 109, Creolin 15 u. 59, Eucalyptol 20 °/, Salieyl 2° Menthol 25 u. 2°), etc. = i (Camphor., Chloroform., Vasogen, prt. Campher Vasogenin aeq.) bei Gicht, Rheuma, Hexenschuss etc. als überraschend schnell wirkendes schmerzstillendes Mittel bewährt. ; aseptische, unbegrenzt haltbare, mit Vasogenum spissum, Wasser emulgirende und die meisten Medicamente lösende oder in feinster Vertheilung aufnehmende Salben- erundlage. (Die überaus leicht von der Haut resorbirbaren 33'/, und 50°), Hg-Vasogensalben sind auch in handlichen Kapseln von 3, 4 und 5 Gramm erhältlich.) Proben versende gratisfund franco.
Vasogen-Fabrik E. T. PEARSON, Hamburg.
Ueber Eparsalgie”. Von Dr. S. Sterling — Lodz (Polen).
M. H.! Es diirfte wohl jedem von Ihnen bei Aufnahme der Anamnese von wenig intelligenten Patienten aufgefallen sein, wie sehr dieselben die vermeintliche Ursache ihres Leidens betonen. Meist bekommen wir von dem Kranken, noch ehe er auf die eigent- lichen Klagen zu sprechen kommt, zu hören: an dem und dem Tage habe ich mich erkältet, einen Schlag erhalten, mich erhitzt, Wasser getrunken, mich bei der Arbeit überhoben, und empfinde nun an der und der Stelle Schmerz, huste jetzt u. dgl. m.
Ein derartiges Raisonnement verräth einen geringen Grad von Intelligenz; es wird hier „post hoc ergo propter hoc“ gefolgert. Unter den Momenten nun, denen die wenig intelligenten breiten Schichten einen Einfluss auf die Entstehung der mannigfachsten Leiden zuschreiben, figurirt gleich neben der Erkältung die Ueber- anstrengung, das „Sich-überhoben-haben“. Der Glaube an diesen ätiologischen Factor ist ein so tief eingewurzelter, dass die nämlichen Termini zur Bezeichnung gewisser krankhafter Zustände gebraucht werden; mit dem Worte „Ueberanstrengung‘‘ wird nicht allein die Krankheitsursache, sondern auch die durch dieselbe anscheinend er- zeugte Krankheit bezeichnet, Jeder von uns, der als Arzt mit der arbeitenden Klasse in Berührung kommt, hört nur zu oft, wie die Patienten die verschiedensten Leiden von dieser Ueberanstrengung herleiten. Gerade die Häufigkeit und stereotype Einförmigkeit, womit diese Klagen immer wiederkehren, haben unter den Aerzten einen gewissen Skeptizismus der Eparsalgie gegenüber grossgezogen ; dieser ist zum theil bedingt durch die Mannigfaltigkeit der Symptome, welche dieses ätiologische Moment verschulden soll und die in völlig differenten Geweben, Organen und Apparaten sich manifestiren sollen.
1), "Erapoıs, eos = das Aufheben. 1 %
Zweifellos sprechen wir in der Mehrzahl der Fälle mit Recht diesem Factor jeden ätiologischen Werth ab. Aber andererseits darf man auch in der Negation nicht zu weit gehen und die Eparsalgie ohne weiteres aus der Aetiologie streichen wollen, wozu meiner Ansicht nach sehr viele Aerzte so leicht geneigt sind.
Analysirt man nämlich eine Reihe von Fällen genauer, in denen eine einmalige physische Ueberanstrengung, hauptsächlich beim Heben von Lasten, als Krankheitsursache angeschuldigt wird, so ergiebt sich, dass dieses Moment immerhin eine gewisse Rolle in der Krankheitsätiologie der arbeitenden Klasse spielt.
In der überwiegenden Majorität dieser Fälle sind wir ausser Stande, am Körper des Kranken objectiv irgendwelche Veränderungen nachzuweisen. Allein der Umstand, dass sich in einer gewissen Quote der Fälle deutlich nachweisbare Veränderungen vorfinden, zwingt uns, die Existenz von Uebergangsformen anzunehmen, bei denen der gleiche ätiologische Factor schwächer ausgeprägte Ver- änderungen erzeugte und die, obgleich objectiv für den Arzt nicht nachweisbar, nichtsdestoweniger für den Patienten ein Leiden re- prisentiren. Noch mehr: ein grosser Theil der unter Einfluss des uns hier beschäftigenden Factors vor sich gehenden, leicht nach- weislichen Veränderungen kann schon aus dem Grunde der Auf- merksamkeit des Arztes entgehen, weil man gar nicht einmal nach ihnen forscht und die Möglichkeit ihres Vorkommens ganz ausser Acht lässt. Eben dieser Umstand bot mir Veranlassung, auf die Krankheitserscheinungen, die sich unter der gemeinsamen Bezeichnung der Eparsalgie zusammenfassen lassen, näher einzugehen.
Was legen nun unsere Kranken dieser „Ueberanstrengung“ als Krankheitsursache zur Last und welche krankhaften Zustände be- greifen sie darunter?
Die Einen führen die Kreuzschmerzen bei beginnender fieber- hafter Affection, bei Unterleibstyphus oder Variole auf „Ueberan- strengung“ zurück; in diesen und ähnlichen Fällen, über welche der weitere Verlauf Klarheit bringt, lässt sich das Raisonnement des Patienten mühelos widerlegen, das Unzutreffende seiner Beobachtung darthun.
In anderen Fällen aber hören wir von Schmerzen im Kreuze, im Bauche, in der Herzgegend oder sehen ein Extravasat im Auge,
einen Vorfall des Mastdarmes, eine Hernie, Wanderniere, einen Bauchbruch, héren von Blutbrechen, Aborten oder finden auf dem Sectionstische Darm- oder Gefässruptur u. dgl.
Gerade diese Fälle, wobei die schwereren ihrer Seltenheit wegen den Gros der Aerzte weniger bekannt sind, lehren uns, dass die Eparsalgie als ätiologisch gesonderte Krankheitsform ihre Daseins- berechtigung in der Pathologie hat.
Sehen wir uns das Wesen der Eparsalgie an.
Dieselbe ist ein durch einmalige, aber excessive phy- sische Ueberanstrengung, hauptsächlich beim Heben von Lasten hervorgerufener krankhafter Zustand!). Diese Be- zeichnung muss ab und zu etwas enger gefasst werden, wie sich aus dem Folgenden ergeben wird.
Von vornherein also schliessen wir hier Krankheitszustände aus, welche durch körperliche Ueberbürdung infolge langer Dauer der physischen Arbeit erzeugt werden. Denn hier handelt es sich um ein sozusagen pbysiologisches Ermüdungsgefühl und zeitweiliges Darniederliegen der Function als natürliche Folge langanhaltender intensiver körperlicher Arbeit. Und obgleich auch unter gewöhn- lichen Arbeitsbedingungen die Uebermüdung krankhafte Zustände erzeugen kann, sehen wir doch augenblicklich von ihnen ab, indem wir uns nur auf solche beschränken, welche unter den oben ge- nannten besonderen Umständen entstehen.
Denn ich beabsichtige einzig und allein von den Folgen ein- maliger Ueberanstrengung, die die Grenzen der physiologischen Leistungsfähigkeit der verschiedenen Organe überschreitet, und zwar während einer kurzdauernden, bei ganz bestimmter Körperhaltung geleisteten Arbeit, zu sprechen.
Denn wie stellt sich einer an, der eine grössere Last z. B. auf- zuheben hat? Er giebt seinem Körper eine Haltung, die ihm er- laubt, mit möglichst geringem Energieaufwande die Arbeit zu leisten (den gegebenen Widerstand zu besiegen). Gleichzeitig setzt er re-
1) Ein anderes selteneres ätiologisches Moment der Eparsalgie liegt z. B. in den nachstehenden ähnlichen Fällen: jemand, im Begriff von der Treppe zu stürzen, sucht hastig am Geländer sich festzuklammern und bleibt daran mit den Händen hängen; oder jemand sucht mit aller Kraftanstrengung einen Stier, der den Schädel niederbeugt, um ihn mit den Hörnern zu fassen, an denselben fest-
zuhalten u. dgl. m. 1*
4
flectorisch sämmtliche Schutzvorrichtungen in Thätigkeit, deren Auf- gabe es ist, den Körper vor den nachtheiligen Folgen der Ueberan- strengung zu bewahren.
„Wenn die Arbeit die Entfaltung ungewöhnlich grosser Kraft und Energie erfordert, geräth die Körpermuskulatur in einen Spannungszustand; es handelt sich um eine Combination intensiver Muskelcontractionen, deren Grundlage eine complete oder incomplete, allgemeine oder partielle Immobilisirung des Brustkorbes, die von einer Hemmung der Respiration begleitet ist, bildet. Eben diese temporäre Immobilisirung des Thorax giebt den Muskeln den für die Entfaltung besonders intensiver Muskelkraft nöthigen Stützpunkt. Die Brust entfaltet sich dank der kräftigen Inspiration, Luft erfüllt die Lungen völlig; sie dringt in die erweiterten Lungenalveolen und Bronchien ein und bildet den elastischen Stützpunkt für die Rippen und das Zwerchfell, welcher dem Widerstande der Athem- muskeln und dem äusseren Athmosphärendrucke das Gegengewicht hält. Dieser Spannungszustand wird plötzlich oder allmählich unter- brochen — je nachden die Luft schneller oder weniger schnell aus den Lungen entweicht“ (Layet).
In der That sieht man, dass wenn sich jemand anschickt, eine erhebliche Last aufzuheben, er die Füsse spreizt, um einen bequemen Stützpunkt zu besitzen; er spannt gleichzeitig die Bauchmusculatur an, wodurch der intraabdominelle Druck gesteigert wird’), macht tiefe Athemzüge, spannt zu gleicher Zeit sämmtliche ex- wie in- spiratorische Muskeln des Brustkorbes an und versucht gebeugt bei in inspiratorischer Stellung immobilisirtem Thorax mit den Armen den Widerstand zu besiegen, indem er die Last nicht nur mit Hilfe der oberen Extremitäten, sondern auch des ganzen vornübergebeugten Körpers hebt.
Diese Bedingungen erfahren bisweilen in für den Arbeiter ganz und gar nicht gewünschter Richtung eine Aenderung, nämlich dann, wenn er zur Ueberwindung des Widerstandes, wie er sich im Momente der Arbeitsaufnahme darbietet, nicht vorbereitet war. In diesem Falle bemiilit er sich erst während der Arbeitsleistung all’
1) Der Arbeiter trägt, indem er, zur Bewältigung grösserer Arbeit sich anschickend, den Leibgurt fester anzieht, instinctiv zur Steigerung des intraab- dominellen Druckes bei.
die erwähnten Factoren in Thätigkeit zu setzen!) Wie wir weiter sehen werden, begünstigt dieser Umstand aus mancherlei Gründen die Entstehung der Eparsalgie.
Beginnen wir die Betrachtung der Symptome des uns hier be- schäftigenden Leidens mit der Muskulatur der Kreuzgegend. Ihre physiologische Aufgabe besteht darin, die Bewegungen des Rumpfes zu dirigiren und dem Körper eine gewisse freie Haltung zu geben. Weit grössere Anforderungen stellen wir an diese Muskeln, wenn wir z. B. etwas hinter uns her ziehen, uns im Ringkampfe messen oder gebeugt eine Last aufheben. Beim Heben von Lasten z. B. befinden sich die Muskeln des Kreuzes, die nun eine ungewöhnliche Arbeit leisten sollen, im Zustande hochgradiger Contraction, gleich- zeitig aber elongirt und dehnt der Widerstand, welchen wir beim Heben der Last überwinden, diese Muskeln; und obgleich der arbeitende Muskel sich leichter dehnen lässt als der unthätige und oft durch den Widerstand gedehnt wird, führt hochgradige Muskel- dehnung, besonders wenn sie plötzlich, brüsk erfolgt, leicht zu Ueber- dehnung, Zerrung und Zerreissung des im Zustande der Contraction befindlichen Muskels. Jeder dieser drei Grade von Störung der anatomischen Structur des Muskels hängt vom Zustande dieses letzteren, vom überwundenen Widerstande, von der Geschicklichkeit des Arbeitenden und der Plötzlichkeit, mit welcher die Arbeit be- gonnen und unterbrochen wurde, ab.
Was den Zustand der Musculatur angeht, so wirkt der in den arbeitenden Klassen herrschende Alkoholismus auf sie sehr oft in höherem oder geringerem Grade schädigend ein, sei es unmittelbar oder sei es infolge Veränderungen innerhalb der Arterien. Dass hier die, bei gegebener Arbeit zu überwindende Widerstandsgrösse von der grössten Bedeutung ist, ist leicht verständlich. Nichtsdestoweniger spielen hier auch Geschicklichkeit und Uebung, d. h. entsprechend
1) „Erhält ein Körper wegen der Wucht der einwirkenden Energie ohne vorheriges Signal — die vorauseilende Reizwelle, die dem geübten (an- gepassten! Organ und Organismus gewöhnlich reflectorisch, selten durch das Bewusstsein, die Grösse der zu erwartenden Anforderung für Arbeitsleistungen anzeigt — einen allzu plötzlichen und energischen Impuls, so müssen alle auf dieser Signalvorrichtung beruhenden zweckmässigen Maass- nahmen unvollkommen ausfallen: denn die Möglichkeit und Gleichmässigkeit der Vorbereitung ist in Frage gestellt“ (Rosenbach).
systematisirte Anspannung der einen und Entspannung der anderen Muskeln sowie ihre zweckmässige Zusammenwirkung eine wichtige Rolle!) Doch ist hier die Uebung nicht alles; sogar beim Heben zweier Lasten von gleichem Gewicht und gleicher Form durch eine und dieselbe Person können die Folgen verschiedene sein, abhängig von der Plötzlichkeit der Anstrengung. Denn wenn allzubrüske Contraction der Muskeln an sich Ursache von Zerreissung der Muskeln in toto oder einzelner Bündel (Layet) sein kann, so geschieht dies um soviel leichter unter Bedingungen, bei welchen der rasch sich contrahirende Muskel eine gewaltsame Zerrung durch den in Wirksamkeit tretenden Widerstand erfährt. Am schlimmsten geht es zu, wenn schon während des Muskelzuges durch den überwundenen Widerstand der Arbeiter bestrebt ist, den Muskel in den Contractions- zustand überzuführen, d. h. z. B. dann, wenn die aufgehobene Last sich grösser erweist, als man bei Aufnahme der Arbeit vermuthete; in diesem Falle werden die beiden, in verschiedenen Richtungen thätigen Kräfte umsoleichter eine Schädigung des Muskels zur Folge haben.
Die Veränderungen, welche der Muskel durch übermässige Dehnung erfährt, sind folgende: Zerreissung und Faltung des Sarcolemms, kleine Blutextravasate, Zerreissung der Intima und Media der Gefässe und der Muskelbündel. Bei der Zerrung und Zerreissung finden sich die gleichen Veränderungen, nur in höherem Grade. Bisweilen sieht man hier den sog. Muskelbruch, falls die Muskel- fascie einreisst und die Muskelsubstanz in Gestalt einer circumscripten Anschwellung aus der Rissstelle hervortritt Auch Ablösung des Muskels von der Insertionsstelle kommt als Symptom der Eparsalgie vor.
Klinisch findet man in diesen Fällen Schmerz und Functions- störung; objectiv kann man bisweilen schon bei übermässiger Deh- nung einen gewissen Grad von Anschwellung constatiren, obgleich man dies häutiger bei der Zerrung und Zerreissung des Muskels zu sehen bekommt. All’ diese klinischen Symptome kommen übrigens auch in der Symptomatologie der sog. Lumbago traumatica vor.
1) „Gewöhnung ist nur der Ausdruck einer bestimmten functionellen An- passung (W. Roux), in der die Einheitlichkeit aller Vorgänge am besten ge- wahrt bleibt. Sie stellt das temporäre Optimum der Arbeitsbedingungen“ (Rosenbach).
7
In’s Gebiet der Eparsalgie muss man noch eine Klage der Patienten, nämlich die über die sog. Muskelverrenkung einreihen. Es hält eigentlich schwer, des Genaueren zu sagen, was der Kranke darunter versteht, wenn er vom „Abzwingen der Sehne“ spricht; nach seiner Auffassung springt der Muskel, resp. dessen Sehne aus dem Lager, in dem er sich beständig bewegt, heraus — eine Mög- lichkeit, welche die Physiologie nicht gelten lässt. Man wird daher annehmen, dass der bei der vermeinten Luxation empfundene Schmerz nur der Ausdruck einer starken Dehnung des Muskels ist, welcher infolge dessen stärker als sonst die umliegenden Gewebe (Muskeln, Fascien, Periost) comprimirt, wodurch dem Patienten der Druck an einer Stelle, wo er ihn sonst nicht zu empfinden pflegte, zum Be- wusstsein kommt: dieses Auftreten des Druckes an einem ungewöhn- lichen Orte legt ihm den Gedanken an eine erfolgte Dislocation des Muskels, ein „Abspringen“ nahe —- so wenigstens erkläre ich mir diese Sache.
Wenn die oben erwähnten Folgen einmaliger übermässiger An- strengung den Aerzten wohlbekannt sind, so lässt sich von den Er- scheinungen seitens der Kreislauforgane, die zum Bilde der Eparsalgie gehören, nicht dasselbe sagen.
Wie bereits angedeutet, sind mit der Arbeit bein Heben von Lasten verstärkter intraabdomineller Druck, inspiratorische Stellung des Brustkorbes und — Dank der gleichzeitigen Anspannung der in- wie exspiratorischen Muskeln — erhöhter intrathoracischer Druck !) vergesellschaftet. Diese Unterdrückung der Athmung und Demo- bilisirung (gewissermassen Starrwerden) des Brustkorbes dauert während der ganzen Arbeitsleistung; ist diese vollendet, so treibt die Lunge plötzlich das gesammte, in ihr befindliche Luftquantum nach aussen, und die in- und exspiratorischen, die Bauch- und der Zwerchfellmuskel gehen plötzlich aus dem Zustande hochgradiger Contraction in den der Erschlaffung über. Es herrschen hier also andere Bedingungen als bei gewöhnlicher anstrengender Arbeit, z. B. während des Marsches mit Gepäck versehener Soldaten, des Bergsteigens, während einer längeren Arbeit in gebeugter Körper- stellung (Bergmannsarbeit); denn unter diesen Bedingungen ist die
1) Die Glottis ist hiebei während der ganzen Dauer der Arbeitsleistung ge- schlossen -— wovon später.
8
Athmung entweder oberflächlich und rasch, oder tief und rasch, länger dauernde Athempausen giebt es hier gar nicht. Man darf also die Schlussfolgerungen aus den Beobachtungen, welche man seit den Zeiten Corvisart’s und Peacocke’s, inbetreff des Einflusses der Uebermüdung auf das Kreislaufsystem gemacht, nicht einfach auf die Eparsalgiker übertragen; die Differenz im Bewegungs- mechanismus des mit dem Vorgange des Blutumlaufes so eng ver- knüpften Brustkorbes gestattet dies nicht.
Jede physische Anstrengung erhöht den Druck im Blutgefäss- system‘), d. h. steigert die Herzarbeit. Trotzdem wird diese erhöhte Arbeitsleistung nur selten Ursache von Störungen im Circulations- apparate. Diese letzteren kommen einzig und allein unter Mit- wirkung anderer begünstigender Momente zustande Ein solches ist vor allem die Aufhebung der Athmung (resp. ihre Folgen).
Die Athmung bringt während der gewöhnlichen physischen Arbeit einen bestimmten regulatorischen Factor in’s Spiel, welcher bei Aufhebung der Athmungsthätigkeit entfällt. Bei der gewöhn- lichen Arbeit erfolgt nämlich, wenn wir tief und rasch athmen, eine Reizung der sensiblen Nerven der Lungen, die reflectorisch auf die vasomotorischen Nerven übertragen wird; diese letzteren heben die Contraction der Arterienwände des grossen Kreislaufes auf (Sommerbrodt). Diese Entspannung der Arterienwände stellt nun ein Sicherheitsventil für das Herz dar: der Blutdruck sinkt 3). Das Fehlen dieses Ausgleichsmechanismus während des Hebens ist Ursache der Entstehung von Störungen im Blutumlaufe und es
!) Die bei grösserer Arbeitsleistung angeblich in übermässiger Menge pro- ducirte Co, soll Contraction der Gefässe des grossen Kreislaufs bewirken. Gegen diese Theorie wandte sich in letzter Zeit Jacob, der eine andere Erklärung bei- bringt: die Reizung der sensibeln Zweige der arbeitenden Muskeln erzeugt zu gleicher Zeit auf reflectorischem Wege Beschleunigung der Herzthätigkeit wie Contraction der Gefässe des grossen Kreislaufs. Es ist bemerkenswerth, dass der bei Masturbation erhöhte Blutdruck Veränderungen des Herzmuskels begünstigt. (Bachus.)
7) Allerdings ist bisweilen auch diese Druckverminderung in den Gefässen, wenn sie die Norm iiberschreitet, Ursache von Circulationsstérungen; das Herz ist bestrebt, den Druck im Blutgefässsystem durch immer schnellere Bewegungen auf einem bestimmten Niveau zu erhalten. Ich erinnere hier z. B. an den beim Laufen entstehenden Schmerz in der Herzgegend oder die aus gleicher Ursache auftretenden Symptome von Herzschwiche.
miissen unter so ungewöhnlichen Verhältnissen Herz und Gefiisse unterliegen.
Aber noch ein Spiel wechselseitiger Einflüse zwischen den verschiedenen Körperapparaten ist fiir die Entstehung dieser Störungen bestimmend. Bekanntlich erfährt der intraabdominelle Druck eine Steigerung während des Hebens von Lasten; abgesehen von anderen, dem Grade, der Zeitdauer. der Schnelligkeit des Auftretens und Schwindens der Druckerhöhung proportionalen Folgen dieser letzteren ist die unzweifelhafte Consequenz hiervon die Verdrängung eines Theiles Bluts aus den blutführenden Apparaten der Bauchhöhle, hauptsächlich aus den, wenig elastische Wandungen besitzenden Venen. Das verdrängte Blut strömt in diejenigen Körpergegenden, wo geringer Druck herrscht, in die Haut!), das Unterhautzellgewebe, die Hirnhöhle; ein Zuströmen grösserer Blutmenge zum Herzen wird verhindert durch den Druck, den die rigiden Wände des Brustkorbes und die Drucksteigerung in den Lungen (infolge Glottisverschlusses — Marey) auf das Herz und die Gefässstämme (wieder haupt- sächlich die Venen) ausüben ?).
Das Zusammenwirken all’ dieser Factoren bewirkt, dass der Druck im grossen Kreislaufe bei plötzlicher physischer Anstrengung im ersten Augenblicke eine Erhöhung erleidet.) Länger dauernde Compression der grossen venösen Stämme kann aber bewirken, dass zu wenig Blut in’s Herz einströmt, und hiedurch kann eine Druck- verminderung in den Arterien des kleinen wie grossen Kreislaufes erfolgen. Im allgemeinen also haben wir neben Fällen, in denen eine Drucksteigerung in den Arterien des grossen Kreislaufs vor- wiegt, andere mit Ueberwiegen der Druckverminderung.
') Die in der Hals- und Gesichtsgegend entstehende venöse Starre ist z. Th. Folge von Contraction des Platysma und hierdurch bedingter Compression der Halsvenen.
*) Wir haben hier also ganz andere Bedingungen wie sonst: statt einer Be- schleunigung des Blutstroms in den Venen, wie das bei der gewöhnlichen Inspi- ration der Fall, handelt es sich hier beim langdauerndeu Inspiriren — ent- sprechend den erwähnten abweichenden Bedingungen — um Behinderung des venösen Blutzuflusses zum Herzen.
3) Zum Theile wirkt hier die Compression der Art. subclavia zwischen der ersten Rippe und dem Schlüsselbeine und der Aorta durch Contraction des Zwerch- fella begünstigend ein. Auch muss die Stase in vielen Venen ihre Rückwirkung auf die Arterien im Sinne einer Blutdrucksteigerung äussern.
10
ene ee
Die Klinik bietet uns eine Reihe von Fällen, die obige physio- logische Erwägungen bestätigen. Wenn die Zahl der genau beobachteten Fälle recht klein ist, so hängt dies zum grossen Theile davon ab, dass das uns hier beschäftigende ätiologische Moment unberücksichtigt geblieben ist. Mancher, den weiter unten ange- führten ähnliche, Fall wurde auf Rechnung bald eines bereits be- stehenden Herzfehlers, bald schon weit vorgerückter pathologischer Veränderungen des Herzmuskels oder der Gefässe, bald auch ander- weitiger, oft ohne jede Berechtigung ad hoc herbeigezogenen Ursachen gesetzt. Man muss sich aber vor Augen halten, dass hervorragende Kliniker der plötzlich erfolgenden physischen Ueberanstrengung die Fähigkeit zuschreiben, verschiedene krankhafte Störungen zu erzeugen, obwohl bislang niemand sich über das Krankheitsganze derselben näher ausgelassen hat. Sollten auch die Symptome der Eparsalgie bei constitutionell veranlagten, z. B. zu Krankheiten im Gebiete des Circulationsapparates disponirten!) Individuen beobachtet worden sein, so ist nichtsdestoweniger die unter gewissen, bereits oben skizzirten Bedingungen vollbrachte physische Arbeit die unmittel- bare Krankheitsursache.
Unter den bei Eparsalgie beobachteten Störungen seitens des Herzens ist vor Allem die sog. idiopathische Herzvergrösserung zu nennen?). Man sieht zuweilen, sagt Bauer, in Folge einmaliger grossartiger Ueberanstrengung Herzdilatationen höheren Grades ent- stehen, die sofort hochgradige Kreislaufstórungen und sogar lebens- gefährliche Erscheinungen in Form von Herzinsufficienz nach sich ziehen können. Diese ist das Resultat von Ueberanstrengung des Herzens, die meist infolge Erhöhung des Blutdruckes entsteht. Infolge der Dehnung des Herzmuskels über die Elasticitätsgrenze hinaus entsteht Muskelschwäche; dieser Zustand hat zur Folge, dass sich das Herz bei jeder Systole ungenügend entleert und, da bei jeder Diastole Blut zuströmt, so müssen hieraus anatomisch Herzver-
1) Als zu Circulationsstörungen disponirende Momente: sind anzuführen: Alkohol- und Tabakintoxication, Blutarmuth, dürftige Ernährung, Muskelerschöpfung (auch des Herzmuskels) durch Arbeit. Alle diese Momente erzeugen Verlust der Blasticität des Herzmuskels und der Gefässe.
?) Man darf hierunter nur jene Formen verstehen, bei denen sich weder anatomische Klappenfehler, noch andere primäre Organerkrankungen, z. B. Lungen- emphysem, Nephritis, (ausgedehnte) Arteriosklerose nachweisen lassen (Bollinger).
11
———
grösserung, physiologisch die im folgenden namhaft zu machenden, aus der Insufficienz sich ergebenden Störungen resultiren.
Uebrigens kann auch die Druckverminderung in den Arterien des grossen Kreislaufes dieselben Folgen haben. Denn das Herz erschöpft sich alsdann infolge übermässiger Arbeit, mittelst welcher es den Druck auszugleichen sucht, und vermag mit dem Momente des Eintritts einer, wenn auch gerringgradigen Ermüdung nur noch immer kleinere Mengen Blut in einer bestimmten Zeiteinheit aus sich zu werfen; dann wird jedoch die Blutleere des Herzens keine totale, und es kommt zur idiopathischen Herzvergrösserung.
Die Casuistik dieser Fälle ist nicht gross. Fräntzel führt einen Arbeiter an, der, als er einmal eine grössere Anzahl Steine als sonst aufhob, plötzlich einen heftigen Schmerz in der linken Brustseite verspürte und die Last sofort zu Boden fallen lassen musste. Bald traten Kurzathmigkeit, unregelmässige Herzaction und nach einigen Wochen Oedeme auf. Fräntzel diagnosticirte acute Herzerweiterung. Freudenthal citirt aus Biermer’s Klinik nach- stehenden Fall: ein 30 jähriger, völlig gesunder Hausknecht empfand beim Heben eines sehr schweren Fasses einen Schmerz im Kreuze; seit der Zeit fing er an, über Herzklopfen und Kurzathmigkeit zu klagen. Nach 3 Monaten zur Arbeit zurückgekehrt, musste er bei einem Versuche, einen schweren Sack aufzuheben, denselben sofort wegen Schmerzes in der Herzgegend, Kurzathmigkeit, Orthopnoe fallen lassen; kurze Zeit nachher fand sich Dyspnoe, kleiner, frequenter Puls, Galopprhythmus. Die Section ergab colossale Herzvergrösserung. Jacob führt folgenden Fall an: ein 40 Jahre zählender Arzt empfand unmittelbar nach dem Aufheben einer sehr schweren Last ein Schwächegefühl, Dyspnoe, Schwere und Kälte in den Gliedern, welche Symptome nach einer Stunde wichen, doch klagte der Kranke seitdem bei Anstrengungen über Kurzathmigkeit und hatte einen kleinen, harten Puls von 40—60 Schlägen. Auch hier waren die Symptome eine Folge von Herzerweiterung.
Fälle, in denen sogleich nach dem ersten Symptome Störungen seitens des Herzens verzeichnet wurden, sind selten, weil es sich hierbei meist um nicht besonders schwere Erscheinungen vorüber- gehender Natur handelt. Wiederholen sie sich aber, und zwar mit zunehmender Heftigkeit, so findet der Arzt „irgendwelche über-
12 standene Herzkrankheiten“ in der Anamnese, welche ihn im ge- gebenen Falle zwingen, eine idiopathische Vergrösserung des zwar gesunden Herzens auszuschliessen. Denn das physische Anstrengung ein bestehendes Herzleiden verschlimmert, darüber brauche ich nicht weiter mich auszulassen und sehe aus diesem Grunde davon ab, eine ausführliche Casuistik dieser Fälle wiederzugeben, wo die Eparsalgie Ursache ernster Störungen bei Herzkranken (resp. Kranken mit ver- fettetem Herzmuskel, hochgradiger Gefässentartung u. dgl. m.) war.
Eine andere Kategorie von Störungen seitens des Circulations- apparates als Folge von Eparsalgie bilden Aortenklappenfehler (Schluss- unfähigkeit. Leyden führt einen Fall von in folgender Weise zustande gekommener Aortenklappenruptur an: einen 54jährigen, kräftigen, an Paraplegie leidenden Mann besucht seine Familie; der Kranke hebt einen 6jährigen Knaben zu sich auf’s Bett, und diese Anstrengung ermüdet ihn derartig, dass er fast ohnmichtig, heftigen Schmerz in der Brust verspürend, zurücksinkt; mit einem Male hatte sich Insufficienz der Aortenklappen infolge Ueberanstrengung aus- gebildet. Todd sah einen Fall von plötzlicher Zerreissung der Aortenklappen bei einem Arbeiter einer Bierbrauerei, welcher infolge Ueberanstrengung plötzlich Brustschmerz und Athembeschwerden empfand. Foster führt zwei solche Fälle an. Ein Matrose acquirirte aus gleicher Ursache Insufficienz der Valv. aortae (Bestätigung durch Section), Ein 33jähriger Heizer verspürte beim Heben eines mit Kohlen gefüllten Korbes plötzlich Schmerz im Epigastrium und fiel bewusstlos zu Boden; bei der Untersuchung constatirte man ein Doppelgeräusch an der Aorta; Section nach zwei Monaten bestätigte die Diagnose.
Fischer, Peacock, Lindmann führen gegen 30 Fälle von primärer Ruptur der Aortenklappen an „durch übermächtige Steige- rung des arteriellen Druckes bei einer grossen körperlichen An- strengung. (Heidenhain.)
Heidenhain sagt über die Entstehung von Herzfehlern aus mechanischer Ursache, man müsse von durch äusseres Trauma be- dingter Klappenruptur die häufigere durch inneres Trauma, in- folge Drucksteigerung bei hochgradiger physischer Anstrengung unterscheiden.
- Auch Aortenaneurysmen können physischer Anstrengung ihre
13
Entstehung verdanken. „Plötzliche, starke Anstrengung vermag ebenfalls die Entstehung eines Aorten-Aneurysmas zu begünstigen“ — sagt Stern.
Acute Uebermüdung (plötzliche Anstrengung) wird als be- günstigende Ursache für die Entstehung von Aortenaneurysmen er- wähnt. (Bamberger, Lebert, Allbutt.)
Plötzliche Drucksteigerung in den Gefässen und gleichzeitig damit venöse Stase ist die Ursache von im Auge zu beobachtenden Blutextravasaten; dieselben finden sich am häufigsten subconjunctival, doch kommen sie auch auf der Netzhaut, ja selbst im Glaskörper und Sehnerv vor.
Extravasate infolge erhöhten Blutdruckes (bei Individuen mit gesunden Gefässen) können Veränderungen sehr ernster Natur im Magen hervorrufen, worauf Bamberger hingewiesen hat. Andere Forscher haben diese Beobachtung bestätigt. Bisweilen indessen ist der Bluterguss an der Schleimhautoberfliche anfangs geringfügig. Infolge seiner geringen Menge kann das Blut im Kothe (oder im Erbrochenen) nicht bemerkt werden; doch genügt dieses Trauma, die lädirte Stelle zum Ausgangspunkte eines Magengeschwüres zu machen. Manchmal kommt es beim Trauma nicht einmal zum Blut- ergusse auf die Schleimhaut; die hämorrhagische Infiltration der Schleimhaut und Submucosa genügen, dass die Magenwandung für die deletäre Einwirkung des Magensaftes zugänglich wird; kommt es aber zur Geschwiirsbildung, so können seine corrosiven Eigen- schaften zur Corrosion der Wandung eines grösseren Blutgefässes führen; alsdann erfolgt die Hämorrhagie in einigen Tagen oder Wochen nach dem die Eparsalgie veranlassenden Unfalle.
Das Ebengesagte wird durch folgende Fälle Ebstein’s, welche ich ihrer Seltenheit halber ausführlich citire, illustrirt.
I. Der 39 Jahre alte Arbeiter Hattenhauer kam den 31. X. 94 auf die Göttinger Klinik. Er datirt sein Leiden von.dem Augen- blicke an, als er, bis dahin völlig gesund, einen 2 Centner schweren Sack aufhob; indem er ihn wieder auf den Boden fallen liess, empfand er plötzlich einen „Knack“ im Körper. Nach kurzer Rast konnte er wieder an die Arbeit gehen. Einige Tage später, 27. IX., erbrach er 4—5 Liter Blut, schwarzer Stuhl. 3 Tage darauf völliges Erblinden des rechten Auges, während er auf dem linken blos vor
14
dem Auge, aber nicht mehr nach rechts von ihm gelegene Gegen- stinde sieht. Seitdem ist er krinklich. Augenblicklich atrophisches Aussehen, Oedem der Beine, Erbrechen, Gelbsucht, Leibschmerzen. Während des Spitalaufenthaltes diagnosticirte man: Ulcus ventric. corros., bösartige Neubildung auf narbigem Boden, Atrophia n. optic. dextr. total., sin. partial Am 29. XI. Exitus. Section: Periton. perfor. infolge Magengeschwür, Carcinoma duct. choled., grosse Narbe am Pförtner, Carcinoma ventric. et peritonei. Es tritt hier also ein Magengeschwür als Folgezustand der Eparsalgie auf (Pförtnernarbe, Peritonitis mit Perforation), und es entwickelt sich auf narbigem Boden (nach einem Geschwür) ein Carcinom.
II. Ein 26jähriger Steinhauer, bis dahin völlig gesund, soll nach Ueberanstrengung beim Heben eines Steines plötzlich erkrankt sein. Seit der Zeit leidet er an Verdauungsbeschwerden, besonders blutigem Erbrechen, zu dem in jüngster Zeit heftiger Schmerz in der Magengegend, fortwährendes Blutbrechen, bluthaltige Stühle hin- zutraten. Klinische Diagnose: Dyspepsia chron., Dilatatio ventriculi, chron. Herzleiden, Lungentuberculose. Die Ursachen des gegen- wärtigen Zustandes sieht Ebstein in der Vernarbung des Ulcus corrosivum, welche zu einer Verengerung des Pylorus führte — alles das infolge Hebens der Last durch ein Individuum, welches an Stase in den Gefässen des Magens (Folge des Herz- und Lungen- leidens) litt. Patient verlässt die Klinik ungebessert.
Wir haben hier einen Fall von Geschwürsbildung infolge von Eparsalgie; derselbe unterscheidet sich von dem vorigen dadurch, dass sie bei einem zu Magenblutungen disponirten Individuum ent- stand. Diese Hämorrhagie an circumscripter Stelle der Magenwand bildete den Ausgangspunkt für das Geschwür und dessen Folge- zustände.
III. Der 20 Jahre alte, bis dahin völlig gesunde Ch. Eisenhardt begann nach einer Ueberanstrengung „mit Blut zu speien“, hierauf zu erbrechen, an sauerem, übelriechendem Aufstossen und an Obsti- pation zu leiden. Die Besserung hielt ein Jahr lang an, darauf abermals Erbrechen (einmal wurde bis 1 Liter dunkeln Blutes er- brochen, zugleich schwarzgefärbter Stuhl) und Schmerz in der Magen- gegend. In den letzten Tagen vor Aufnahme in die Klinik: vom Magen in’s Kreuz hineinstrahlender Schmerz, ofte Hämatemose. Da
1
or
am Respirations- und Circulationsapparate keinerlei Veränderungen sich nacbweisen liessen, musste auch jenes „Blutspeien“ aus dem Magen herstammen; die weiteren Symptome aber liessen mit fast absoluter Sicherheit auf ein Magengeschwür schliessen, welches auf der Basis eines Blutextravasates, das beim Heben der Last entstanden war, sich entwickelt hatte.
Es ist schwer, die Ansichten anderer Autoren in dieser Frage zu verwerthen, da sich dieselben nur ganz allgemein über die Ent- stehungsmöglichkeit eines Magenuleus aus einem Trauma auslassen (Potain, Mathieu), ohne sich darüber auszusprechen, was sie alles unter Trauma verstehen, ob. blos ein unmittelbares Trauma der Magengegend oder jede Störung physiologischer Vorgänge durch mechanische Bedingungen. Wenn z. B. Gerhardt bei der Auf- zählung der Ursachen des runden Magengeschwüres neben dem unmittelbaren Trauma den Brechakt namhaft macht, so hat hier das Trauma jene weitere Bedeutung, die auch die Eparsalgie in die Aetiologie dieses Leidens einzubeziehen gestattet; denn beim Brech- akte kommt durch eben diese Drucksteigerung ein Extravasat im Magen zustande, die wir auch bei der Eparsalgie dafür verant- wortlich machen.
Nicht jedes Blutextravasat im Magen muss zur Ulcusbildung führen. Daher räth denn auch Ebstein, in ähnlichen Fällen ganz allgemein „Blutbrechen nach Trauma“ zu diagnosticiren und die detaillirtere Diagnose erst auf Grund der Section zu stellen.
Indem wir einige Worte über Hämoptoe bei Eparsalgie uns für später vorbehalten, wollen wir hier noch erwähnen, dass einige Forscher physische Ueberanstrengung als genügende Ursache der Suppressio mensiam gelten lassen.
Ehe wir an die Diagnose der Krankheiten der Bauchhóhle, die bei Eparsalgie beobachtet werden, herantreten, soll noch der Art und Weise, wie die Drucksteigerung innerhalb der Abdominalhöhle zustande kommt, gedacht werden.
Die Muskelwände der Bauchhöhle werden gebildet: vorn und seitlich durch die Bauchmuskeln, hinten durch die Lendenmuskeln, oben durch das Zwerchfell und unten durch die Muskeln des Becken- bodens. Die genannten Muskeln verringern bei ihrer Contraction den Umfang der Bauchhöhle, steigern also eo ipso den in ihr herrschen-
16
den Druck. Indem sie zweitens mechanisch, unmittelbar die Ein- geweide comprimiren, erhöhen sie gleichfalls den Druck, unter welchem diese bis dahin sich befanden. Diese Ursache wirkt gleich- mässig auf die Gesammtmasse des Bauchhöhleninhaltes; ihre Folgen werden indessen begreiflicherweise an den einzelnen Theilen dieses letzteren in verschiedener Weise sich geltend machen: das Blut innerhalb der Gefässe wird, weil beweglich, diesem Drucke am leichtesten ausweichen; von den Organen dagegen diejenigen, welche unter physiologischen, resp. pathologischen Verhältnissen der Dis- location unterliegen können, am leichtesten der an seinem Mesen- terium nur locker befestigte Dünndarm, schon weniger leicht der Dickdarm, und sehr schwer z. B. die durch starke Ligamente in ihrer Lage fixirte Leber.
Ausser diesem, durch den Spannungszustand der Muskelwände der Abdominalhöhle bedingten Drucke giebt es auch einen unmittel- bar vom Gewichte der Därme selbst abhängigen; die höher gelegenen Organe der Bauchhöhle (bei gegebener Körperstellung) comprimiren mit dem Gewicht ihrer Masse (+ dem des jeweiligen Inhaltes) die tiefer gelegenen. Denn die meisten Därme hängen nicht an den gespannten Bändern, sondern ruhen mit ihrer Last den benachbarten tiefer gelegenen auf.
Somit hängt die in einem gegebenen Augenblicke im Abdominal- cavum herrschende Druckgrösse von zwei Faktoren ab: vom Drucke infolge der Spannung der Muskeln der Bauchwand und vom Gewicht der auf einander lastenden Organe. Begreiflicherweise wird uns hauptsächlich der erstere Faktor beschäftigen.
Die in der Bauchhöhle bei Eparsalgie beobachteten Veränderungen stehen jedoch in keinem ausschliesslichen geraden Verhältnisse zum Druckgrade. Eine sehr wichtige Rolle spielt hier die Schnelligkeit, mit der die Muskelcontraction den Druck in derselben steigert und die Muskelerschlaffung, d. h. Druckverminderung erfolgt. Man muss sich daran erinnern, dass die Bauchpresse bei der Defaecation z. B. willkürlich, beim Aufheben von Lasten dagegen meist unwillkürlich angewandt wird, d. h. dass im letzteren Falle sowohl Contraction wie Erschlaffung der Muskeln ohne die zweckmässige Abstufung erfolgen kann, welche beim willkürlichen und bewussten Gebrauche dieser Muskeln statthat. Besonders gross ist der rasch abwechselnde
17
Unterschied im intraabdominellen Druckgrade unter folgenden Be- dingungen: es biickt sich jemand, ohne zu ahnen, dass er eine un- gewöhnlich grosse Last werde heben müssen und trifft demgemäss keine entsprechenden Vorkehrungen; schickt er sich nun an, die Last aufzuheben, so spannt er die Bauchmuskeln an, inspirirt tief u. dgl. m. Schatz, der den intraabdominellen Druck in vertikaler Position des Körpers bei erschlafften Muskeln bestimmte, fand ihn gleich dem Drucke einer Wassersäule von 25—30 cm Höhe, dagegen bei vornübergeneigtem Rumpfe und schlaffen Bauchmuskeln fast gleich Null. Wenn also die Contraction der Wände der Abdominal- höhle im Momente des Vornüberneigens des Rumpfes erfolgt, ist der Sprung im Druckgrade weit bedeutender, als wenn die Muskulatur bei vertikaler Haltung des Körpers sich contrahirt. Man ersieht aus diesem Beispiele, eine wie wichtige Rolle von der Gewichtsgrösse unabhängige Einflüsse spielen; sie sind es, die uns zwingen, die Eparsalgie als selbstständigen Krankheitsprocess abzutrennen.
Noch eine Bemerkung. Gleichzeitig mit der Contraction der Bauckwandung wird vor dem Heben tief inspirirt, d. h. der Rippen- bogen nach oben gehoben, wodurch zweifellos der Umfang der Bauchhöhle vergrössert wird. Doch ist diese Vergrösserung im Ver- gleich zu der Verkleinerung, die unter Einfluss der Bauchmuskeln (nebst Diaphragma) erfolgt, so belanglos, dass sie das endgiltige Resultat, welches in der Vergrösserung des intraabdominellen Druckes stets seinen Ausdruck findet, nur wenig modificirt.
Beginnt man die Betrachtung der Folgen der Eparsalgie mit den Veränderungen in den Organen, welche bei der intraabdominellen Drucksteigerung mitwirken, so muss man hier derjenigen in den Lungen gedenken, da das Zwerchfell an dieser Druckerhöhung in- folge des langdauernden Inspirirens wesentlich betheiligt ist. Um nun die Luft in den Lungen möglichst lange zurückzuhalten, trotz Contraction der Exspirationsmuskeln, und auf diese Weise den Brust- korb zum möglichst geeigneten Stützpunkt für die oberen Extremitäten zu gestalten, schliesst der Arbeitende die Glottis. Da aber, wie wir wissen, sämmtliche Thoraxmuskeln im contrahirten Zustande sich befinden, so bietet nunmehr die Lunge eine Art mit Gas gefüllter, gespannter Blase dar, eine Blase, die in diesem Zustande bei einem
Trauma, einem Stosse einreisst. Natürlich kann gar nicht die Rede 2
18
davon sein, dass eine gesunde Lunge irgendwo in toto einreissen könnte, aber kleine Einrisse des Gewebes mit secundärer Blutung können unter diesen Umständen zustande kommen. Ich entsinne mich mehrerer Fälle aus der Praxis, in denen eine einmalige Haemoptoö als Folge von Eparsalgie angesprochen wurde. In einem Theile der Fälle (ich spreche hier selbstredend nur von solchen, wo alle organischen Leiden ausgeschlossen werden konnten) war sie vielleicht die Folge von bei Eparsalgie zu beobachtenden Circulations- stórungen; in manchen Fällen aber konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Blutung die unmittelbare Folge eines Lungentrauma, eines Stosses wäre, den die übermässig gedehnte Lunge bei Glottisschluss erlitten hatte. Das Lungentrauma wirkt dann aber meines Erachtens von innen, nicht von aussen; das Trauma kam durch das Zwerchfell im Augenblicke, wo die Luft aus den Lungen nach Ueberwindung des Widerstandes entweicht. Vergegen- wärtigt man sich, mit welchem Gefühl von Erleichterung der Arbeiter nach anhaltender körperlicher Arbeit die Luft aus den Lungen ent- weichen lässt, so wird es nicht schwer sein, sich eine kleine Ab- normität in diesem Mechanismus vorzustellen: das Zwerchfell schnellt nach oben, die Inspirationsmuskeln erschlaffen früher, als die Rima glottidis geöffnet wird. Dann ist das Anprallen des Diaphragma jener „Stoss“, welcher das Einreissen des Lungengewebes zuwege bringt. Geringere Bedeutung vindicirt man der intrathoracischen Drucksteigerung, die aber eine Ruptur der Lungengefässcapillaren erzeugen kann; man muss jedoch alsdann eine vorausgegangene Affection dieser Gefässe annehmen.
Galliard (Bibliotheque Charcot-Debove) beschreibt Fälle von Pneumothorax, welche zu dem Bilde der Eparsalgie gehören. Einen solchen Fall beschreibt auch Chauffard!): Eine 30jährige Mutter, vollständig gesund, erhebt, laut lachend, plötzlich mit der linken Hand ihr 2!/, jahriges (11 Kilo wägendes) Kind und verspürte dabei einen heftigen Schmerz in der linken Thoraxhälfte; starke Be- klemmung, welche die ganze Nacht dauert. Am anderen Tage Dia- gnosis: Pneumothorax sinister. Heilung nach mehreren Tagen.
Ein anderes Lungensymptom, welches bei Eparsalgie zuweilen
1) Du pneumothorax simple etc. Sem. Med. 1896, N. 63.
19
beobachtet wird, ist das temporäre Lungenemphysem infolge abnorm starker Erschlaffung der Lungen (Kolb)').
Hochgradige Contraction des Diaphragma kann circumscripten Schmerz im Scrobic. cordis verursachen; derselbe strahlt in der Regel längs dem N. phrenic. aus. Oefter jedoch hängt der hier empfundene Schmerz von der Enteroptose ab, von der weiter unten die Rede sein wird.
Von den Bauchmuskeln ist gegen die Folgen der plötzlichen Muskelcontraction der M. rectus am empfindlichsten, welcher bei Eparsalgie nicht allein übermässig gespannt und gezerrt wird, sondern selbst einreisst; die letztgenarnte Veränderung wird hauptsächlich durch fettige Entartung des Muskels und bereits bestehende Narben begünstigt.
Am längsten und am meisten hat man sich mit der Eparsalgie auf dem Gebiete der Eingeweidebrüche beschäftigt. Ihre Ent- stehung infolge körperlicher Ueberanstrengung und des sie begleitenden erhöhten Druckes der Bauchpresse war eine Zeit lang allgemein an- erkannte Thatsache; in der letzten Zeit wurde indessen die Möglich- keit der Entstehung der Hernien unter unmittelbarem Einflusse der Fparsalgie bestritten (Roser).
König u. A. unterscheiden bei der Entstehung der Brüche zwei unentbehrliche, gesonderte Akte: die Bildung der Bruchöffnung, resp. des Bruchsackes und das Hervortreten der Kingeweide selbst, Von diesem Gesichtspunkte aus kann der Bruch niemals unter Ein- fluss des erhöhten intraabdominalen Druckes entstehen, es müssen vielmehr, deutlicher gesagt, andere ursächliche Momente die Oeffnung vorbereiten, durch welche die Eingeweide aus der Bauchhöble hervor- treten könnten; oftmals existirt diese viele Jahre, bevor der eigent- liche Austritt aus der Bauchhöhle erfolgt. Es kann also die Oeffnung jahrelang bestehen, ohne dass es zur Hernienbildung kommt. Diese Ansicht ist die heute allgemein herrschende, aber die daraus ge- zogenen Schlüsse sind unrichtig. Denn es beginnt die Gefahr für’s Individuum erst mit dem Momente des Austritts der Därme aus
') Das bei Geburten vorkommende Unterhautemphysem in der Ober- schlüsselbeingegend kommt wahrscheinlich auch nach physischer Ueberanstrengung vor, obwohl mir ein solcher Fall nicht bekannt ist.
Dr
20
dem Abdominalcavum, und dieser ist unzweifelhaft die Folge des Bauchpressendruckes.
Demnach erkennt auch König, obgleich nach ihm die plötz- liche traumatische Entstehung eines Bruches undenkbar ist, die Möglichkeit des Hineindrängens der Intesta in den präformirten Bruchsack bei plötzlicher Contraction der Bauchmuskeln an und fügt deshalb hinzu: „Im praktischen Sinne ist aber dieser Vorgang der plötzlichen Entstehung eines Bruches durch Gewaltwirkung gleich.“ Nachdem er also zugiebt, dass diese vorhandene Praedisposition erst dank dem Austritte der Därme gefährlich wird, sie selbst aber als solche nichts Pathologisches darbietet, kann man diejenigen Brüche, welche plötzlich beim Heben in Erscheinung treten, unbedingt in’s Krankheitsbild der Eparsalgie einfügen ').
Einen mittelbaren Beweis für die Bedeutung der Bauchpresse bei Entstehung von Eingeweidebrüchen liefert die Thatsache ihres häufigen Vorkommens auf der rechten Korperseite. Cloquet erklärt dies folgendermaassen: der (nicht linkshändige) Arbeiter spannt die rechte Körperseite mehr an, als die linke, oder: er neigt sich bei anstrengender Arbeit, des Gleichgewichtes wegen, etwas linkshin; infolge dessen comprimirt das Bauchfell die Eingeweide nicht blos nach unten und vorne, sondern bis zu einem gewissen Grade auch nach der rechten Seite hin.
Es ist überflüssig, hier Beispiele für das plötzliche Zustande- kommen von Hernien bei Leuten, bei denen vorausgegangene Unter- suchungen keinerlei Disposition in dieser Hinsicht ergaben (obgleich entsprechend der heute maassgebenden Anschauung eine solche vor- handen gewcsen sein musste) beizubringen; sie sind den Aerzten genugsam bekannt. Doch darf man sich nicht wundern, wenn ein bis dahin sich völlig wohl füblender Arbeiter plötzlich nach einer körperlichen Anstrengung das Auftreten einer Geschwulst (Hernie) wahrnimmt und sie als unmittelbare und einzige Ursache seiner Krankheit betrachtet.
Nicht nur sog. äussere Hernien, d. h. das Heraustreten der Därme aus der Bauchhöhle, sondern auch die sog. acuten Darm- wandbrüche können bei Eparsalgie in dieser Weise zustandekommen.
1) Auf diesem Standpunkte steht auch das deutsche Reichs-[Unfalls-]ver- sicherungsamt bei Beurtheilung traumatischer Eingeweidebrüche (Kries).
21
Riedel äussert sich darüber, wie folgt: „Als ätiologisches Moment wird vielfach ... das Aufheben einer schweren Last angegeben; ich glaube, dass in allen Fällen eine acute Wirkung der Bauch- presse vorliegt.“
Erhöhung des intraabdominellen Druckes, besonders eine rapide, kann Prolaps des Mastdarmes erzeugen. Man beobachtete derlei Vorkommnisse bei bis dahin völlig gesunden Individuen, obgleich es keinem Zweifel unterliegt, dass eine gewisse Prädisposition die Entstehung dieses Leidens begünstigt. Im nachstehenden Falle z. B. ergab sich, dass der anscheinend rein eparsalgische Ursprung des Mast- darmvorfalles mit einem hiezu disponirenden Leiden zusammenhing.
Prolapsus recti post eparsalgiam. Reductio. Dysuria. Extractio corporis alieni intest. recti. Periproctitis. Sanatio.
Der 34jährige Fabrikmaschinist P. verspürt den 9. II. 96 beim Heben eines Kessels, der sonst von einigen Arbeitern gehoben wurde, plötzlichen Schmerz im Mastdarme, der ihn zwingt, die aufgehobene Last zu Boden fallen zu lassen. Eine Stunde nach dem Unfalle constatirte ich totalen Mastdarmprolaps auf einer Strecke von ca. 6 cm., der sich mühelos reponiren liess. Tags darauf klagt der überaus kräftig gebaute, bis dahin völlig gesunde Pat. über heftigen Schmerz im Damme beim Urinlassen; derselbe nahm in den folgenden Tagen derart zu, dass Pat. keinen Harn zu lassen vermochte. Gleichzeitig war der vorgefallene Darm unter Bädergebrauch in die normale Lage zurückgekehrt. 13. II. 96 constatirte ich Periprostitis. Der hinzugezogene College M. Cohn extrahirte bei der Untersuchung des Mastdarmes ein, an dem einen Ende zugespitztes, 4 cm langes und 1 cm breites Knochenstückchen (von einer Kalbsrippe stammend). Der Mastdarmvorfall wurde also durch die Gegenwart des Fremd- körpers begünstigt, entweder dadurch, dass er die Darmschleimhaut reizte, oder, was wahrscheinlicher, dass er bereits vor dem Unfalle die Befestigung des Darmes, nach Entfachung einer Entzündung des perirectalen Bindegewebes, gelockert hatte. So werden der Schmerz und die Unmöglichkeit der Harnentleerung verständlich; dieselben waren die Folge der Zellgewebsentzündung und der Reizung der Harnröhre durch den Fremdkörper. Zwei Wochen nach Ex-
22
traction des genannten Fremdkörpers konnte Patient die Arbeit wieder aufnehmen.
Weit ernstere Folgen von Eparsalgie sah ich in nachstehenden zwei Fällen, woselbst sie Darmruptur verursachte.
I. Ruptura jejuni ex traumate indirecto (post eparsal- giam.) Peritonitis universalis. Mors.
Der 18 Jahre alte Schlächtergeselle P. wurde am 22. X. 95 ins Spital der Eheleute Poznanski') aufgenommen. Derselbe hob vor 4 Tagen nach reichlicher Mahlzeit ein ca. 160 Kilo schweres Schwein vom Boden auf, um es sich auf die Schultern aufzuladen, musste es aber, da er sofort einen ungemein heftigen Schmerz im Leibe verspürte, wieder niederfallen lassen. Seit der Zeit allgemeine Abgeschlagenheit, Leibschmerzen, häufiges Erbrechen. Die Unter- suchung ergiebt: hageres Individuum mit glanzlosen, eingefallenen Augen. Kein Fieber, kleiner Puls von 112 Schlägen; der Leib aufgetrieben, druckempfindlich, Percussionsschall überall tympa- nitisch. Während der Untersuchung wie der ganzen Zeit des Spital- aufenthaltes Brechbewegungen, zuweilen Koth- (eigentlich Chymus-) Brechen. 3maliger Stublgang auf Hegar’sche Einláufe. Dieser Zustand hält, ohne Wendung zum Besseren, bis zum 26. X. 95 an, an welchem Tage Pat. stirbt. Section: In der Bauchhöhle einige Liter Flüssigkeit von der Beschaffenheit des Erbrochenen. Diffuse Bauchfellentzündung; 5 cm betragender Längsriss im Jejunum, oberer Rand des Risses 16 cm vom Ende des Duodenum entfernt; der Riss ist auf die, der mesenterialen Insertion gegenüberliegenden Wand beschränkt; Jejunum leer, obwohl Ileum und Colon flüssigen Inhalt beherbergen. Offenbar handelt es sich hier um einen Fall von Eparsalgie. Vergegenwärtigt man sich, mit welchem Kraft- aufwande Pat, die schwere Last vom Boden weg auf die Schultern sich aufladen wollte, so begreift man, wie sehr die Bedingungen (der gefüllte Darm) der Entstehung der Darmruptur günstig waren.
Im folgenden Falle gestattet der Mangel der Section (aus ri- tuellen Rücksichten) nur eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose, doch liessen Verlauf und Ausgang keinen Zweifel darüber, dass auch dieser Fall der Epersalgie zuzurechnen ist.
') Abtheilung des Herrn Coll. L. Przedborski, dem ich an dieser Stelle für die freundliche Ueberlussung des Falles bestens danke.
23
I. Ruptura duodeni (?) e traumate indirecto (post eparsalgiam). Hämorrhagia. Peritonitis universalis. Mors.
Die 22 Jahre alte Dienstmagd Z—l wurde am 20. X. 95 ins Lodzer Hospital der Eheleute Poznanski aufgenommen.!) Sie hatte vor 10 Tagen einen mit Kohlen gefüllten Korb die Treppe hinauf schleifend, denselben auf eine Stufe niedergestellt, um ein wenig zu ruhen; da bemerkt sie plötzlich, dass derselbe von der Stufe ab- gleitet, weshalb sie ihn mit kräftigem Rucke einige Stufen höher hinauf zerrt; im selben Augenblicke verspürte sie heftigen Schmerz in der Herzgrube und im Kreuze. Seitdem kränkelte sie beständig, obwohl sie nach wie vor ihre Arbeit versieht. 19. X. Verschlim- merung: Schmerz im ganzen Unterleibe, hochgradige Athemnoth, Erbrechen. Untersuchung am 20. X. ergiebt: Kräftig gebaute Person mit reichlichem Fettpolster und wohlentwickelter Muskulatur. Es fallen Livido und starke Athemnoth an ihr auf. Puls 124, klein. T. 37° Die Haut vom kalten Schweisse bedeckt. Bauch stark auf- getrieben, seine Wände enorm gespannt, hart; Percussionsschall dumpf tympanitisch. Untere Lungen- und Herzgrenze nach oben verrückt. Athemgeräusch in den unteren Lungenabschnitten ab- geschwächt. Herztöne etwas dumpf, keinerlei Geräusche Milz und Teber weder percutirbar noch palpabel. Pat. wimmert infolge Leib- schmerzen und Athemnoth. Stuhl seit 2 Tagen angehalten, erfolgt erst 21. X. auf Einläufe (Scybala). Erbrechen von gelblicher, reichlich und gleichmässig mit Schleim untermischter Flüssigkeit hält in der Folge an. 22. X. und 23. X. St. idem. 24. X. Mehrmaliges blutiges Erbrechen und willkürlich erfolgende blutige Stühle (mikro- skopische Untersuchung). Collaps bei völlig erhaltenem Bewusstsein. Pat. sinkt plötzlich mit durchdringendem Aufschrei todt in die Kissen zurück. Ä
Der Mangel der Section gestattet eine genauere Localisation der Rupturstelle nicht, doch ist eine solche im Duodenum sehr wahrscheinlich. Der Umstand, dass Pat. noch 10 Tage nach dem Unfalle ihrer Arbeit nachgehen konnte, findet seine Analogie in anderen ähnlichen beobachteten und secirten Fällen (König, Bd. 11, pag. 127).
Ob erhöhter intraabdomineller Druck unter disponirenden, nicht
ı) Abtheilung des Herrn Coll. M. Cohn, dem ich für gütige Ueberlassung des Falles hier meinen wärmsten Dank sage.
24
pathologischen Bedingungen Gebärmuttervorfall erzeugen kann, ist nach Karczewski zweifelhaft, wiewohl manche Forscher diese Frage bejahen. Sehr wahrscheinlich ist dagegen, dass die Gebär- mutter unter Bedingungen, welche die Epersalgie begleiten, sich ihres Inbalts zu entledigen vermag. Dementsprechend kommt es meines Erachtens bei physisch arbeitenden Frauen bei plötzlicher brüsker intraabdoninaler Drucksteigerung leicht zu Abortus; bei denselben kommen andere Abort veranlassende Momente, als Ueber- anstrengung und Schlag kaum in Frage. Schliesst man indessen Alles aus, was aus dieser Einseitigkeit fliesst, so bleibt noch immer eine grosse Anzahl von Fällen übrig, in denen die Epersalgie zweifellos Abort verursachte.
Endlich haben wir noch eines Vorganges zu gedenken, der uns vielleicht am häufigsten die von den Kranken der Eparsalgie zur Last gelegten Klagen erklärt, wenn sie ihre Leiden in die Gegend der Bauchhöhle verlegen — ich meine die Enteroptose.
Zielinski sagt in seiner Arbeit über die Glenard’sche Krankheit: „Hat man sich einmal auf den mechanischen Standpunkt der Theorie gestellt, so begreift man leicht das ätiologische Moment, von dem die Kranken sagen, es wäre in ihnen etwas gerissen. Was ist einfaher als die Deutung, bei dem Kranken mit „kothüberfüllter rechter Curvatur sei infolge physischer Anstrengung das peritoneale Band dieses Darmabschnittes gerissen !)“.
Auf die Enstehung der Enteroptose bei Eparsalgie ist nicht allein das von Zielinski angeführte Moment, d. h. temporäre Steigerung des intraabdominellen Druckes während der Arbeitsleistung von Einfluss, sondern auch plötzliches Absinken dieses letzteren. Sehen wir nämlich in Uebereinstimmung mit der Mehrzahl der Forscher in dem andauernd niedrigen Drucke die hauptsächliche Entstehungsursache der Enteroptose, so müssen wir zugeben, dass dieselbe auch infolge plötzlichen Sinkens des bis dahin gesteigerten
1) Ich möchte dieses Nachgeben der Ligamente als einen Schutzmechanismus tür die Integrität der Därme ansprechen. Es sei in dieser Hinsicht nur an das oben erwähnte Beispiel von Ruptur des gefüllten Darmes erinnert; wäre die durch intraabdominellen Druck freigewordene Energie im Stande gewesen, sich im Sinne einer Lockerung der Bänder zu entladen, so hätte sie die Ruptur nicht mehr zustandezubringen vermocht. In solchen Fällen kaun eben geringe Nachgiebigkeit der Ligamente verderbenbringend sein.
25
intraabdominellen Druckes zustandekommen kann. Nehmen wir mit Senator an, dass bei Drucksteigerung in der Bauchhöhle die Niere z. B. an die hintere Bauchwand angedrückt wird, so muss diese bei plótzlichem Druckabfall eine Zerrung erleiden, und zwar eine um so grössere, je fester sie vordem an die hintere Wand angepresst war. In ähnlicher Weise werden bei erhöhtem Drucke auch andere Intesta an einander oder an die Bauchwände gedrückt. Werden nun diese abwechselnd hin und her gezerrt, so müssen die Organe, welche locker an ihren Bändern befestigt sind, die meiste Zerrung erfahren. Die Folge hiervon wird nun eine Lockerung der Insertion resp. Dehnung der Ligamente und Enteroptosis sein. Diese Erwägung findet in der klinischen Beobachtung ihre Stütze (Glenard, Cuilleret, Contaret, Zawadzki u. A.).
In Anbetracht des Umstandes, dass physische Arbeit bei armen, schlecht genährten Individuen die Peritonealbänder lockert, finden jene Überanstrengung und Druckschwankungen in der Bauchhöhle, welche die Eparsalgie verursachen, geeigneten Boden zur Erzeugung der Enteroptose.
Am längsten fand dieses ätiologische Moment Beachtung bei der Entstehung der Wanderniere. Nach Edinger kann dieselbe beim Heben entstehen; doch hat schon Rollet auf diese Möglichkeit hin- gewiesen, und nennt Abmagerung, Schwäche und Schlaffheit des Peritoneums als zu diesem Leiden disponirende Momente. Landau erkennt die Nothwendigkeit des Bestehens einer Prädisposition gar nicht an: die Bauchpresse allein könne die Dislocation der Niere hervorrufen.
Schon seltener findet der uns beschäftigende ätiologische Factor bei der Enteroptose anderer Eingeweide Berücksichtigung, vielleicht weil man bis jetzt der Magen- und Darmstatik wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat und im Allgemeinen die Enteroptose weniger diag- nostizirt, als es im Interesse der Sache liegt. Zweitens sind die Fälle selten, in denen Enteroptose höheren Grades ganz und gar von der Eparsalgie abhängig wäre; gewöhnlich bestand schon vor dem ein gewisser Grad von Enteroptose (und deren Symptomen), der blos eine Steigerung durch die Eparsalgie erfuhr, oder aber um- gekehrt — die Eparsalgie erzeugte einen gewissen Grad von Enter- optose, welcher sich schwer constatiren liess und infolge weiterer
26
ee
physischer Arbeit erhöht wird. Im ersteren Falle litt der Kranke schon vor der Eparsalgie an einer gewissen Unpässlichkeit, die sich jetzt blos potenzirte; im zweiten ist es schwer, einen Zusammenhang zwischen der Eparsalgie und den Symptomen, die erst nach einer gewissen Zeit auftraten, darzuthun. Auf jeden Fall aber gehört die Enteroptose mit ihren mannigfachen Symptomen, die zu bekannt sind, als dass ihre Aufzählung nöthig wäre, zum Krankheitsbilde der Eparsalgie.
Die Eparsalgie, so wie ich sie auffasse, erinnert vielfach an „Erkältung.“ Die Erkältung stellt eine Krankheitsursache dar, be- zeichnet oft auch die Krankheit selbst. Hier wie dort handelt es sich um Störungen in verschiedenen Organen und Apparaten. Doch zeichnet sich der Terminus „Eparsalgie“ dadurch aus, dass er einer concreteren, bekannteren Thatsache entspricht, als die Erkältung. Muss man aber in der Pathologie mit dieser letzteren rechnen, so lohnte es sich, auch jener einige Worte zu widmen. Diese Erwägung veranlasste mich zur Abfassung der vorliegenden Skizze.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
= Benutzte Litteratur:
. Bachus: Ueber Herzerkrankungen bei Masturbanten. Deutsch. Arch. f. kl.
Med. Bd. 54 (1895) pag. 201.
. Bamberger: Krankh. d. chylopoët. Systems. Erlangen 1855 pag. 247
(nach N. 4).
. Bauer und Bollinger: Ueber idiopath. Herzvergrösserung. Festschr. f.
Pettenkofer. München 1893.
. Ebstein: Trauma und Magenerkrankungen. Deutsch. Arch. f. kl. Med. Bd.
54 (1895) pag. 442..
. Edinger: Wanderniere. Eulenburg's Realencycl. Bd. XXI. 2. Ausgb. . Eichhorst: Hdb. d. spec. Path. u. Ther. 4. Aufl. 1890, Bd. I. . Fraentzel: Vorl. über Krankh. d. Herzens. I. Die idiopath. Herzver-
grösserungen. Berlin 1889, pag. 112.
. Freudenthal: Beitr. z. Kenntniss d. idiopath. Herzerkrankung in Folge von
Ueberanstrengung. Breslau 1889, pag. 24.
. Gerhardt: Zur Aetiologie und Therapie d. runden Magengeschwürs. Wien.
med. Presse 1868, N. 1 (nach N. 4).
Heidenhain: Ueber d. Entstehung von organ. Herzfehlern durch Quetschung d. Herzens. Deutsch. Zeitschr. f. Chirurgie Bd. 41 (1895) pag. 286.
Jacob: Einige Ursachen d. Herzerweiterung, der Brady- und Tachykardie, der Pulsformation, des Angiospasmus und die Belege ftir ein neues Krankheitsbild: „die angiospastische Herzerweiterung. Zeit. f. kl. Med. Bd. 28 (1895).
Karczewski: Fall von totalem Gebiirmuttervorfall. Kron. lek. 1894, pag. 197 (poln.).
Knies: Die Beziehungen des Sehorganes und seiner Erkrankungen zu den übrigen Krankh. d. Körpers. Wiesbaden 1893.
Kries: Die Rechtsprechung d. Reichsversicherungsamts m. Bezug auf Leisten- brüche. Aerztl. Sachverst.-Zeitg. 1895, N. 19, pag. 217.
Kolb: Beitr. z. Physiol. maximaler Muskelarbeit. Berlin (ohne Jahresangabe), pag. 74.
. Kelling: Physik. Unters. über d. Druckverhältnisse in d. Bauchhéhle. Samml.
kl. Vortr. Neueste Folge 144.
. Kofman: Chirurg.-topogr. Anatomie der Nieren. Diss. Jurjew 1894 (russ.). . König: Lehrb. d. spec. Chirurgie, 6. Aufl., Bd. II., pag. 343.
. Krehl, Grundr. e. allg. klin. Pathologie. Leipzig 1893, pag. 9.
. Landau: Wanderniere d. Frauen. Berlin 1891.
. Layet: Traité d’ hygiéne et de pathologie professionelle. Russ. Ausg. 1888,
pag. 19.
2. Leyden: Ueber d. Herzkrankh. infolge von Ueberanstrengung. Zeit. f. kl.
klin. Med. XI 1886.
23. Lindmann: Z. Casuistik seltener Herzerkrankungen. Deutsch. Arch. f. klin.
Med. Bd. 25 (1880) (nach NN. 10 u. 39).
. Marey: La circulation du sang. Paris 1881, pag. 464 (nach N. 39).
26.
27
31. 32. 33. 34.
36.
37. 38.
39. 40. 41.
28
. Martius: ¡Die diagn. Verwerthung d. Herzstosses. Berl. kl. W. 1889, N.
42, pag. 909. Mathieu: „Traité de méd. Charcot-Bouchard-Brissaud’s“, Bd. III. Paris 1892, pag. 345.
. Oertel: Ther. d. Kreislaufstórungen, 4. Aufl. Leipzig 1891. 28. 29, 30.
Potain (nach N. 4).
Riedel: Ueber acute Darmwandbriiche. Samml, klin. Vortr., N. 147.
Rieder: Z. Kenntniss d. Dilatation u. Hypertrophie d. Herzens in Folge von Ueberanstrengung u. d. idiopath. Herzerkrankungen. Deutsch. Arch. f. klin. Med., Bd. 55 (1895).
Rollet: Pathol. u. Ther. d. bewegl. Niere. Erlangen 1891 (nach N. 17).
Rosenbach: Die Seekrankheit. Wien 1896.
Roser: Herniolog. Streitfragen. Marburg 1887, pag. 2.
Schatz: Die Druckverhältnisse im Unterleibe. Cit. in Pitha-Billroth’s Chirurgie.
. Schwerdt: Enteroptose u. intraabdom. Druck. Deutsch. med. Wochenschr.
1896, pag. 456.
Seitz: Die Ueberanstrengung d. Herzens. Deutsch. Arch. f. klin. Med., Bd. 11—12 (1873/4).
Senator: Charité-Annalen. 111, pag. 309 (nach N. 17).
Sommerbrodt: Darlegung d. Hauptbedingungen für d. Ueberanstrengung d. Herzens. Berl. kl. Wochensch. 1889, pag. 85.
Stern: Ueber traumat. Entstehung innerer Krankh. Jena 1896.
Zawadzki: Glenard’sche Krankheit. Kron. lek. 1894, pag. 733 (poln.).
Zarewicz: Fall von Mastdarmvorfall beim Heben. Wratsch 1895, pag. 165 (russ.).
. Zielinski: Glenard’sche Krankheit. Pam. tow. lek. Warsz, 1895, pag. 229
(poln.).
Verantwortl. Redakteur: Hofrath Dr. Ernst Stadelmann in Berlin. Druck von Albert Koenig in Guben.
Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden direct
an den oben genannten Redacteur, Berlin SW., Anhaltstrasse 12, oder durch die Verlagsbuchhandlung erbeten.
BERLINER KLINIK No. 104. FEBRUAR 1897.
Wie sehr Airol sich in allen medieinischen Kreisen immer mehr Anerkennung verschafft, geht aus folgendem Berichte, welchen uns Herr Dr. Julius Fleoch, Wien, zur Zeit sandte, deutlich hervor.
Derselbe schrieb uns:
„Es ist mir eine ganz angenehme Pflicht, zum: grössten Theil gegen die practischen Collegen, zum Theil aber auch gegen Sie, über meine mit dem
6 h Goldene Goldene Medaille — Medaille | ll. Intern. Genf 1896. - pharmac. Aussteling.
3 g Prag 1896.
gemachten Erfahrungen Bericht zu erstatten.“
Ich fasse diesen in folgenden zusammen:
Das Airol ist ein Antisepticum par excellence. Es ist eminent trocknend, gut deckend, geruch- und geschmack- los. Namentlich rasch ist unter dieser Behandlung eine traumatische Trommelfellruptur verheilt. Eine 100, Airol- salbe hat mir gegen Acne vulg. und rosacea gute Dienste geleistet. Weiter habe ich Airol bei Afterfissuren und Hämorrhoiden sehr vortheilhaft angewendet.
Litteratur und Gratismuster
stellen wir den Herren Aerzten stets gern zur Verfügung.
F. Hoffmann-La Roche € Cie.,
vormals Hoffmann, Traub & Cie.
PER” Sammiliche Verbandstoff-Fabriken stellen Airolgaze her. -Sg
Fabrik chemisch-pharmaceutischer Producte
Basel (Schweiz).
<r or > Ap Vorbandstot wad’ 1%
Catgut, Einsätze zur Sterilisirung von Nahtseide, Catgut und Verbandstoffen. ~ '
BEE Zusammenlegbarer Universal-Sterilisator MN nach Professor Dr. CARL BECK, New-York,
Operationstische, zusammenlegbare Operationstische nach Dr. BRAATZ, zu beziehen durch alle Fabrikanten chirurg. Instrumente, sowie durch
Th. Schmucker,
184] Heidelberg (Baden).
Lanolinum puriss. Liebreich
einzige antiseptische, nie dem Ranzigwerden unterworfene Salben- basis. Vollkommen mit Wasser und wässerigen Salzlösungen mischbar.
Benno Jaffé & Darmstaedter, Martinikenfelde bei Berlin. [205
Eine Zusammenstellung der Literatur über Lanolin wird auf Wunsch franco zugesandt.
0000 Neu! e... Elix. Condurango peptonat. Immermann.
In Orig.-Fl. Als von vorzügl. Erfolg anerkannt bei allen Arten von Magen- krankheit, Indigestion und Dyspepsie etc. Wichtig bei Neubildungen und zur . Normalisirung der Magenfunctionen während u. nach allgemeinen Erkrankungen. 7 Herr Geheimrath Stöhr, Kissingen, schreibt: ,,... Ich bin so zufrieden mit- =
demselben, wie noch nie mit einem neuen Mittel! Es ist von höchstem Werthe `
für die tägliche Praxis und hat mir — so zu sagen — schon förmlich Wunder - gewirkt — namentlich bei alten und chron. Leidenden.. .““ — Zu haben in den - Apotheken. Wo noch nicht vorräthig, bitte, ev. unliebsamer Irrthümer wegen, + Bezug unter gleichzeitiger Mittheilung der genauen Fabrikadresse zu veranlassen... (vide Gebhardt-Michaelis’sches Referat. — Drucksachen zu Diensten. Allein’ _ autorisirter Fabrikant: Apotheker F. Walther, Strassburg i. Els. 600 a
. . . . —
Tharandt. =. Heilanstalt für Nervenleidende und- Erholungsbedürftige.
Prachtvoll gelegen, sehr elegant und komfortabel eingerichtet.
186] Bäder — Massage.
== Das ganze Jahr geöffnet. ==
Prospecte sendet auf Verlangen Dr. med. Haupt.
a CAPS:
%
EIER HET Pe:
TE.
eich u RAE
en Br
u - A
Ar: L
Wiener medie
MIC Sr,
So ry | d ¢ en n en
f'n E
„as.
nd
be N SER 2 nd A » oe Er ; > raul r} mo Y A 1 wil ia :
EF
vird au je H
tg. 893, Ne
114
BERLINER KLINIK No. 104. FEBRUAR 1897.
MANVN CNW) = |
Chemische
ción.
Aachen.
Tetrajodphenol- gun “National des Wismuthsalz des phtalein. Nosophens. - Nosophens. | | Ungiftiges, geruch- und Als Wundstreupulver Bei Darm- und Magen-Er- reizloses Antisepticum, | von zuverlässiger krankungen und Kinder- | | namentlich für granu- | Wirkung bei frisch in- diarrhoe. |
lirende Wunden. Bei | ficirten Wunden und | Posen: Verbrennungen sowie | phlegmonösen Processen. |, . EPR
A O [EA essen: 0 3—05 g fiirErwachsene in der kleinen Chirurgie, Uleus molle ete.
k 0'1—0'2,, , Kinder von | bewährt. In die Ohren- | | cr s Ss one In 2—3°',. Wasser- | 5 bis 10 Jahren. und Nasenpraxis em- 0
geftihrt. | Lösung gegen ulceróse ¿001004 g f. Säuglinge Erkrankungen des | von 1—4 Monaten. | Specificum gegen Rhinitis.) y ndes und Rachens, W ird ohne jede Belästi- 3% Nosophengaze | =" » bei Gonorrhoe, ‚ gung des Magens ver- | 05%. zu Blasen- tragen.
ausspülungen.
IH El |
sterilisirbar ohne Zer- setzung bis 200° C.
Reiz- und geschmacklos.
zB WE: cr FE,
a sige ae Z Yi; hy) We 7 F myl Or E 2 |
z A y JAUNI GOL Chemische Verbindung von Formaldehyd mit Stärke. Absolut unschädlich, geruchlos- und nicht reizend. Zersetzungshindernd. ' Secretionshemmend. Bei gangränösen Wundflächen und jauchigen Eiter- abscessen bewährt. Spaltet unter Einfluss von Wund- und Körpersecreten freien Formaldehyd ab. — 4e ie ——— rn “ol
Y (sterilisirbar) zur Tamponade grosser Körper- 10 o Amy loformgaze höhlen wegen Ungiftigkeit vorgezogen. l Substanzproben und Literatur |
RANCIO gratis zur Verfiigung. KERERRERKI } Der heutigen Nummer liegt ein _ Prospekt. der Firma F. Hoffmann-La Roche :& Ci
vorm. Hoffmann, Traub € Co.) in Basel bei, auf welchen wir unsere Leser besonders ant: merksam machen. ot
= fie MERE
- = p’ r > = ` = % © "a >” Fee ` Sal e . E ò a h » e 24, - AT FE poe
BERLINER KLINIK No. 105. MARZ 1897. .
Kölnische Unfall-
Versicherungs-Actien- Gesellschaft. Grundkapital 3,000,000 Mark.
Die Kölnische Unfall-Versicherungs-Actien-Gesellschaft in Köln a. Rhein empfiehlt sich den Herren Aerzten zum Abschluss von Versicherungen gegen Unfälle aller Art innerhalb und ausserhalb des Berufes, auf Reisen etc. unter den vortheilhaftesten Bedingungen gegen mässige feste Prämien ohne jede Nachschussverbindlichkeit.
Besonders sei auf die günstige Fassung der Bestimmungen hinsichtlich der Ersatzpflicht der Gesellschaft bei Infectionen hin- gewiesen, welche den Interessen des Aerztestandes in weitestem Maasse Rechnung trägt
Neben der Haftpflichtversicherung für Haus- und Grundbesitzer, Fuhrwerksbesitzer, Jäger, Schützen und Schusswaffenbesitzer, Rad- fahrer, Besitzer von Hunden und Luxuspferden gewährt die Gesellschaft neuerdings auch den Herren Aerzten, Zahnärzten und Apothekern Generalhaftpflichtversicherung. Höchste Versicherung Mark 100,000.
Jede nähere Auskunft ertheilt bereitwilligst Die Direction.
Hämalbumin Dr. Dahmen.
Yom Kultusministerium in die officielle Arzneitaxe aufgenommen.
Hämatin (-Eisen) und Hämoglobulin (als Albuminat) 49,17°/o, Serumalbumin und Paraglobulin (als Albuminat) a sämmtliche Blutsalze 4,6%, einige Tropfen Ol. Cassiae als indiff, Aromat. — Absolut löslich: durch Kochen in Wasser, kalt 5%, = klare Flüssigkeit, 10°/, = Gallerte, 200%, = Paste.
Das Spektrum des Hümalbumins ist identisch mit dem Spektrum von künstlich (Pepsin, Salzsäure etc.) verdautem Blut. — Vollkommener Blutersatz. —
Das Hämalbumin enthält 95,4%, wasserfreies Eiweifs in verdautem Zustande und sämmtliche Mineralsalze des Blutes.
Hämalbumin ist ein trockenes, nicht hygroskopisches Pulver, trocken auf die Zunge gelegt leicht mit Wasser zu nehmen, durch Kochen in Wasser leicht in einen Liquor
aemalbumini mit beliebigen Korrigentien zu verwandeln — es wird von jedem Magen, auch bei Mangel an Verdauungssiiften, resor- birt.— Das Hiimalbumin resorbirt per Klystier vollständig (3—imal täglich 1 Theelóffel voll bei Kindern, 1 Esslottel voll bei Erwachsenen in Wasser oder Haferschleim gelöst).
1 g Hiimalbumin = den festen Bestandtheilen von 6 g Blut und = 9 g Hiuhnereiweifs. — Dosis durchschnittlich nur 3—6 g pro die. 1 g = 1 Messerspitze.
Sichere Wirkung bei Chlorose, Phthisis, Rachitis, Skrofulose, Infektions- krankheiten, Schwächezuständen, besonders auch Nervenschwäche, geistiger Über- anstrengung, unregelmafsiger Menstruation plus oder minus, milcharmen Wöch- nerinnen, bei Blutverlusten z. B. nach Wochenbett, Operationen etc., Rekonvales- cenz, verdauungsschwachen Säuglingen etc. — Unfehlbarer Appetiterreger. — Koncentrirtestes Nahrungsmittel. — Das billigste aller Eisen - Eiweifs- präparate! — Gewichtszunahme oft 8 Pfund und mehr in14 Tagen. — 20 g = 500 g eines resorbirbaren Liquor ferri albuminati — Kurkosten pro die ¿—15 D. durchschnittlich. — Preis Æ 23 per Kilo incl. Packung.
—8 Proben und Litteratur gratis. »—
BERLINER KLINIK No. 105. MARZ 1897.
von PONCET Glashiitten-Werke Dr. O. Siemon’s BERLIN SO., Köpenikerstr. 54. Inhalationsfläschchen EEE Fabrik und Lager dient zur Localbohandlung von Krankheiten ic Ñ chem., pharm. und ärztlicher Glas- der Athmungsorgane mit ätherischen Oelen
und anderen flüch- tigen Stoffen , wie Creosot, Menthol Jodoform (bei Kohl- kopftuberculose) u. a. m. Es ist die be- gr pe und dabei illigste Methode, bei chronischen Ka- tarrhen der internen Therapie vielfach überlegen u. wird von Kranken dieser meist } vorgezogen. Allei- niger Verfertiger
apparate, Gefässe und Utensilien; {| halten sich zur Lieferung aller Ge- fisse und Utensilien für Krankenhäu- ser und Dispensiranstalten bestens empfohlen.
i Glasausrüstungen zu der Dr.
I) Miller’schen Wasch- und Instru- ap menten-Console ,,Ordo*“.
Preisverzeichnisse gratis u. franco.
„Neu: SPUCKNAPFE aus Glas.
von Poncet, Glashütten-Werke
Berlin SO., Köpenikerstr. 54. Preis à Stück 3.— Mk. [162
FEN SE SS
Soeben erschien:
Die chirurgische Behandlung
Gallensteinkrankheit.
Ein Riickblick auf 206 Gallenstein-Laparotomien | unter besonderem Hinweis auf die Nothwendigkeit frühzeitiger Operationen von
Prof. Dr. Hans Kehr,
Specialarzt für Chirurgie in Halberstadt. Preis Mk. 3,50.
Ferner: a Se ; z i Nervenkrankheiten und
ihre Vererbung von q Ch. Féré, >. Arzt am Bicétre. = Deutsche Bearbeitung von „La Famille névropathique* von _ | Dr. med. H. Schnitzer— Berlin. t
DER” Mit 20 Abbildungen im Text. “BM Preis Mk. 4,50.
Berlin N. W. 6. = aoe
BERLINER KLINIK No. iss MARZ 1897.
(D. R. P.) nach Prof. Dr. R. Gottlieb iin (Pharmakol. Institut Heidelberg) bleibt i im Magen unverändert und analet sich im Darm langsam in Tannin und Albumin.
Prompt und sicher wirkendes, gänzlich unschädliches Mittel gegen Diarrhoen.
Auch bei tuberculösen Durchfällen wirksam ! Siehe Berichte von Primararzt Dr. von Engel-Brünn (D. Med. Wochenschrift 1806 No. 2 Prof. Dr. 0. Vierordt-Heidelberg (,, ,, A 1896 No. 2
Zu beziehen durch die Apotheken!
KNOLL & Co., Ludwigshafen a. Rh.
emulgirende, oxygenirte Kohlenwasserstoffe (Vaseline) sind Lösungsmittel für verschiedene Medicamente, wie Jodoform, Jod etc. Im Vasogen gelöst, sind diese reizlos für Haut und Schleimhäute, gelangen auch bei äusserlicher An- wendung zur vollkommenen Resorption (durch Harn-Analysen erwiesen) und zu erhöhter Wirksamkeit. Folgende Vasogene sind in Kliniken, Krankenhäusern etc. in ständigem Gebrauch: Jodoform 1'/, u. 3°, Jod 3, 6 u. 10%, Kreosot 5, 20, oll y Guajacol 20 °/, Ichthyol 10 9, Creolin 15 u. 5” Eucalyptol 20 °/, Salicyl 2 °/, Menthol 25 u. 2% o ete. > F (Camphor., Chloroform., Vasogen, prt. Campher Vasogenin aeq.) bei Gicht, Rheuma, Hexenschuss etc. als überraschend schnell wirkendes schmerzstillendes Mittel bewährt. ; aseptische, unbegrenzt haltbare, mit Vasogenum SPISSUM, Wasser emulgirende und die meisten Medicamente lösende oder in feinster Vertheilung aufnehmende Salben- grundlage. (Die überaus leicht von der Haut resorbirbaren 33'/, und 50 °/, Hg-Vasogensalben sind auch in handlichen Kapseln von 3, 4 unb 5 Gramm erhältlich.) Proben versende gratis und franco.
Vasogen-Fabrik E. T. PEARSON, Hamburg.
D. R.-Patent 20927 vom 10. Juni 1882. München, Dr. med. Pfeuffer’s
oo w Haáaámamoglo bin (Extractsyrup u. Pastillen, ca. 33°/,ig, Pat. 20927) frei von den im Blut enthaltenen Auswurfstoffen. Vorziigliche Zeug-
nisse. — Preis 3 M. od. 1,60 M.
Die Zeltchen (Pastillen), in háufiger Wiederholung genommen, ver- hindern, nach Beobachtung des Dr. Pfeuffer an sich selbst, den Ein- tritt von Schwäche nach Blutkórperchenzerfall in Folge Influenzafieber und wohl auch bei anderen Fiebern. Ausgezeichnete, jetzt allgemein anerkannte Wirkung bei Blutarmuth und Bleichsucht. [647
Fabrikation nur bei Dr. med. Pfeuffer zu München. (Nachdruck verboten.)
Ueber die habituelle Obstipation und ihre Behandlung. Von
Prof. Dr. C. A. Ewald, Geheimem Medicinalrath in Berlin.')
Unter habitueller Obstipation verstehen wir diejenigen Zustände, bei denen die Stuhlentleerung dauernd zu selten und nur auf künst- liche Nachhilfe erfolgt. Es giebt eine überaus grosse Zahl von Menschen, welche am sogen. trägen Stuhlgang leiden, d. h. seltener eine Stuhlentleerung haben, als es ihrem körperlichen Empfinden oder Wunsche entspricht, und wenn dieselbe eintritt, den Koth nur in harter Form und unter Anstrengung absetzen. Bei diesen Per- sonen tritt der normale Reiz, den der Uebertritt der Fäcalmassen aus den oberen Mastdarmabschnitten in die Cloake oder Ampulle des Rectum bei Gesunden in der Regel alle 24 Stunden hervorruft, entweder überhaupt nicht auf oder wenn er auftritt, so ist er nicht von dem richtigen Erfolg, d. h. es kommt zu keiner freiwilligen Defäcation. Bei Manchen handelt es sich nur um einen erschwerten, schliesslich aber doch ohne Kunsthilfe erfolgenden Stuhlgang, bei den Meisten aber bedarf es besonderer Mittel, um Stuhl zu bewirken.
Daher kommt es, dass Zahl und Periodicität der Stühle an und für sich keinen Maassstab zur Beurtheilung, ob eine Verstopfung vorliegt, abgeben. Auch bei scheinbar regelmässigem Stuhlgang kann eine Retention von Kothmassen statthaben. Es kommt nicht so selten vor, dass man bei der Palpation des Leibes die Därme mit hartem Koth gefüllt findet, und trotzdem die Patienten versichern, täglich einen guten Stuhlgang zu haben. Ein tüchtiges Abführmittel för-
1) Aus den in Kürze erscheinenden „diseases of the intestines by C. A. Ewald“ in der international Encyclopedia of modern medical science. New-York 1897. 1
2
dert dann oft enorme Massen von alten eingedickten Brocken und aufgeléstem Koth zu Tage. Andere Personen haben zwar täglichen, ja sogar mehrmals täglichen Stuhlgang, aber derselbe ist ihrem Ge- fühle nach ungenügend. Zuweilen ist dies nichts als eine grundlose nervöse Sensation, zuweilen handelt es sich in der That um eine Retention in Folge träger Peristaltik.
Ursachen.
Die Ursachen der habituellen Obstipation sind sehr mannigfache, immer aber liegt dabei ein Missverhältniss der austreibenden Kräfte zu den von ihnen beanspruchten Leistungen vor, sei es, dass dasselbe in einer ursprünglichen Schwäche der Darmmusculatur, einer Atonie des Darms, gelegen ist, sei es, dass die Darmmusculatur erst im Laufe der Zeit in dem Kampf gegen ein chronisches Hemm- niss erschlafft.
Es steht ausser Zweifel, dass es eine habituelle Obstipation giebt, welche als ein selbstständiges Leiden anzusehen ist, bei welchem entweder eine verminderte Erregbarkeit der Darmnerven oder eine gewöhnlich angeborene mangelhafte Entwickelung der Darmmusculatur besteht. Nothnagel fand bei genauen Messungen der Darmmuscu- latur respective der Dicke der Darmwand, dass es Fälle giebt, in welchen bei sonst kräftiger Körpermusculatur die Muscularis des Dickdarms statt des normalen Durchschnittmaasses von 0,5—1 mm nur 0,12— 0,25 mm beträgt und oft genug lässt sich auch ohne be- sondere Messung die papierdünne Beschaffenheit der Darmwand bei sonst gut genährten Individuen beobachten.
Es lässt sich auch nicht in Abrede stellen, dass bei manchen Personen ein hereditäres Moment in Frage kommt. Dieselben sind schon vom Vater oder der Mutter her belastet und haben bereits seit frühester Jugend an schwerem Stuhlgang gelitten.
_ Bei Anderen ist die Obstipation in gewissem Sinne anerzogen, indem die Eltern und Erzieher nicht für regelmässige Defäcation der Kinder sorgten, und besonders die Mädchen dann gerne den Stuhl unterdrücken. Solche gelegentliche Unregelmässigkeiten in der Darmentleerung führen mit der Zeit zu wiederkehrender Stagnation und damit zu einer Belastung und Erweiterung des Darmrohres, die sich
3
schliesslich in einer motorischen Schwäche der Musculatur und chronischer Obstipation äussert.
Bei einer grossen Zahl von Patienten ist die Obstipation Folge einer unzweckmässigen Diät. Eine reichliche, schwer verdauliche, wasserarme Kost, die grössere Rückstände hinterlässt, oder eine sebr einseitig gewählte Nahrung, wie z. B. reine Fleischkost, oder endlich eine solche, die einen sehr geringen Reiz auf die Därme ausübt, also aus leicht resorbirbaren und wenig Rückstand hinterlassenden Speisen besteht, führen zur Verstopfung. Es fehlt den Därmen an dem adäquaten Reize und sie gerathen in einen gewissen Torpor ihres Bewegungsapparates. Starkes Schwitzen, z. B. bei anstrengenden Märschen, sportliche Anstrengungen oder andere Momente, welche zu Wasserverlust durch Haut, Lungen oder Nieren führen und unge- nügende Wasseraufnahme haben daher häufig Verstopfung zur Folge. Dasselbe gilt auch von einer zu starken Inanspruchnahme der Darm- peristaltik durch Abführmittel, auf welche ein Zustand von vorüber- gehender Verstopfung als Reaction der ermüdeten Muskelfaser folgt.
Eine Obstipation wird auch hervorgerufen durch die unter- drückte oder unregelmässig und nicht zur gleichen Zeit herbei- geführte Defäcation oder durch besondere von den täglichen Lebensgewohnheiten abweichende Vornahmen, besonders solche, mit denen wenig oder gar keine körperliche Bewegung verbunden ist, wie längere Eisenbahnfahrten oder Seereisen. Es ist bekannt, dass die Obstipation zu den steten Begleitern der Oceanreisenden gehört. Aus diesen zunächst nur vorübergehenden Beschwerden entwickelt sich dann häufig eine chronische Obstipation.
Indessen wird der Einfluss einer sitzenden Lebensweise und mangelnder körperlicher Bewegung besonders von den Laien | vielfach überschätzt: Zwar ist darüber kein Zweifel möglich, dass diejenigen, deren Beruf oder Neigung eine ausgiebige tägliche körperliche Bewegung mit sich bringt, im Ganzen seltener an habitueller Verstopfung leiden, wie diejenigen, die einen sitzenden Beruf haben, aber es kommen davon viele Ausnahmen vor. So findet man unter Officieren, unter berufsmässigen Reitern, Landwirthen, bei Personen, welche gerade aus Gesundheitsrücksichten regelmässige tägliche Spaziergänge und Leibesübungen machen, gar nicht so selten
hartnäckige chronische Obstipationen. Aber soviel steht andererseits 1*
4
fest, dass eine sitzende Lebensweise besonders leicht zu venúser Stase in den Unterleibsorganen und damit indirect auch zu einer Störung der Darmperistaltik führt, und dass dieselbe durch ent- sprechende Muskelaction activer oder passiver Natur überwunden wird resp. nicht zur Entwickelung kommt.
Eine Ursache solcher venösen Hyperämieen ist auch in allen den Momenten gelegen, welche überhaupt eine Circulations- störung directer oder indirecter Natur zur Folge haben. Dahin ge- hören Herz- und Lungenkrankheiten, Krankheiten der grossen Drüsen des Unterleibs und der im kleinen Becken gelegenen Organe, also vor Allem des Uterus und seiner Adnexe, welche durch chronisch ent- zündliche Processe auch zu Stauungen und Circulationshemmnissen localer Natur in den Därmen Anlass geben können.
Hier müssen wir auch gleich den mechanischen Druck an- führen, der durch Lageveränderungen des Uterus, der Ovarien, durch Neublidungen, Beckenexsudate, Prostatahypertrophieen etc. eine chronische Behinderung der Defäcation hervorrufen kann, die in gleichem Maasse wie die Neubildung selbst zunimmt.
Ein sebr wichtiger und häufiger Anlass ist die Schwanger- schaft, sowohl während ihres Verlaufes als ganz besonders in ihren Folgen. Chronische Verstopfung gehört bei den Schwangeren zu den häufigsten Erscheinungen. Hier ist es zunächst das rein mechanische Moment, der Druck auf die Därme und die Ver- drängung resp. Verlagerung derselben, welches Verstopfung herbei- führt. Wenn aber, wie bei so vielen Frauen, die Schwanger- schaft der Anfang einer sich durch das ganze Leben hinziehenden Stuhlträgheit und eines unausgesetzten Kampfes gegen die Verstopfung ist, so liegen dem gewöhnlich zweierlei Ursachen zu Grunde:
1) sind die Därme während der Gravidität in einen Zustand der Erschlaffung und Erweiterung gerathen, der irreparabel geworden ist;
2) ist auch die Schlaffheit der Bauchdecken, welche ihren natürlichen Tonus verloren haben, Ursache des Uebels. Nicht in dem Sinne, als ob die Bauchpresse die Bewegung der Därme, ab- gesehen von dem Acte der eigentlichen Defäcation, unterstützte, sondern deshalb, weil die Peristaltik an den straffen Bauchdecken in der Norm einen gewissen Halt findet, ein Widerlager, an dem der Darm sich fortbewegt, wie die Schraube in ihrer Mutter. Fehlt dieser
5
Widerhalt, so leidet darunter auch die normale Abwickelung der Darmperistaltik und schliesslich bleiben die Fäcalmassen im Mastdarm liegen, oder werden wenigstens viel schwerer zur Entleerung ge- bracht, wenn die Bauchpresse bei dem Act der Defäcation in Folge ungeniigender Action der Bauchmuskeln gar nicht oder nur unge- niigend wirkt.
Einen auffallend geringen Einfluss auf die Regelmässigkeit des Stuhlganges scheinen dagegen die Darmverlagerungen, besonders die häufig ganz unregelmässige und von der Nurm abweichende Lagerung des Dickdarms zu haben.
Man findet denselben bekanntlich bald quer von rechts unten nach links oben bis hoch in die Excavation des Zwerchfelles und hinter den Magen heraufsteigend; bald findet man das Quercolon in Gestalt einer Uförmigen oder Wförmigen Schlinge bis zur Sym- physe herunterfallend, oder die Dünndärme vollständig im kleinen Becken gelagert, ohne dass dergl. Anomalien sich während Lebzeiten durch eine besondere Stuhlträgheit verrathen hätten. Auch ist zu bedenken, dass solche Verlagerungen nicht Ursache sondern Folge einer Kothstauung sein können, die durch ihr Gewicht den Darm nach Unten zieht. Ebenso scheint die individuell häufig recht ver- schiedene Länge der Mesenterien mit der Darmbewegung in keiner directen Verbindung zu stehen. Ob der gesammte Descensus der Dárme, die Enteroptose Glénard’s, direct zu Obstipation führt oder ob es die damit verbundenen anderweitigen Beschwerden sind, welche die event. Obstipation veranlassen, muss ebenfalls zweifel- haft bleiben. Thatsache ist allerdings, dass man Enteroptose und Obstipation sehr häufig gemeinsam vorfindet. Dagegen können Verwachsungen der Därme unter einander oder mit anderen Unterleibsorganen oder der Beckenwand in Folge alter ent- zündlicher Processe, wie leicht verständlich, gelegentlich Quelle hartnäckiger chronischer Obstipation sein, weil die Peristaltik durch diese Adhäsionen in einer kaum jemals zu beseitigenden Weise behindert wird. Indessen muss ich Nothnagel darin vollkommen beistimmen, dass diese peritonitische Fixirungen im Vergleich zu der grossen Häufigkeit der Obstipation doch selten sind und als ursächliches Moment derselben überschätzt werden.
Uebrigens kann eine abgelaufene allgemeinc Peritonitis dadurch
6
zu Obstipation Veranlassung geben, dass sich die Darmmusculatur an dem Entziindungsprocess der Serosa betheiligt und eine dauernde Schädigung in Gestalt schwieliger, interstitieller Processe davonträgt.
Auf die Rolle, welche die Nervosität xat’ e&oxnv — die Hysterie, Neurasthenie, nervöse Schwächezustände anderer Art — für die Entstehung der habituellen Obstipation spielen, einzugehen, muss einer besonderen Besprechung vorbehalten bleiben. |
Symptomatologie.
Es giebt kaum einen anderen Krankheitszustand, welcher in so hohem Grade zum Tummelplatz der Einbildungskraft der Laien und der Künste der Naturärzte und Quacksalber geworden ist, wie die habituelle Obstipation. Der „Malade imaginaire“ Moliére’s, der Proctophantast Goethe’s, der nur froh ist „wenn Blutegel sich an seinem Steiss ergetzen“, der „Staatshämorrhoidarius“ der fliegenden Blätter sind die aller Welt bekannten Typen dieser Gattung.
Die Kranken klagen über locale und allgemeine Erscheinun- gen. Die ersteren beziehen sich zunächst naturgemäss auf die bestehende Stuhlverstopfung, deren Vorhandensein die Patienten mit der grössten Aengstlichkeit verfolgen und deren Bestehen oder Nichtbestehen häufig ihre Gedanken vollständig in Anspruch nimmt. Gross ist der Kummer, wenn die gehoffte Entleerung ausbleibt, fast noch grösser die Freude, wenn sie sich zu rechter Zeit und in ausgiebigen Quan- titäten einstellt! Manche Patienten haben dabei überhaupt keine anderweitigen localen Erscheinungen als das Gefühl einer gewissen Schwere und Unbehaglichkeit im Leibe, bei andern ist der Leib auf- getrieben, zumal in der Gegend des Colon descendens und der Flexura sigmoidea und lassen sich besonders bei dünnen Bauch- | decken einzelne gefüllte Darmschlingen durchtasten oder zeichnen sich schon bei der Betrachtung als wulstige Massen ab. Der Druck auf den Leib ist nicht besonders empfindlich, doch kommt es gelegent- lich zu Spasmen und kolikartigen Zuständen, welche mit heftigen Schmerzen verbunden sind, auch wohl die gleich zu besprechenden Allgemeinerscheinungen, wie Beklemmungen, Angst und Schwindel- gefühle im Gefolge haben. Diese Zustände gehen dann nach einer Stuhlentleerung oder Abgang von Gasen gewöhnlich vorüber. Zu- weilen kann aber dieses Symptomenbild ein besorgnisserregendes
7
Aussehen annehmen, indem schwerer Collaps und Erbrechen auftritt, und der Verdacht einer Darmverschliessung nahe liegt. Dies kommt besonders nach sehr langer Coprostase, bei Geisteskranken oder bei Personen, deren Defäcation in Folge von schmerzhaften Fissuren oder Hämorrhoiden am Anus längere Zeit zurückgehalten war, oder bei alten geschwächten Leuten vor. Eine ausgiebige Entleerung entweder durch innere Mittel oder Irrigation oder manuelles Eingehen beseitigt diese Zustände, doch gelingt dies, namentlich bei alten Leuten nicht immer, und ich habe 2 Personen zu Grunde gehen sehen, bei denen, ohne dass eigentlich ileusartige Erscheinungen auftraten, 6—Stägige Stuhlretention bestand und der Tod im Collaps erfolgte. Beidemal handelte es sich um Männer, welche die Mitte der 70er Jahre überschritten hatten.
Es bilden sich bei längere Zeit währender Obstipation die sogen. Kothgeschwülste aus, die ihren Sitz an verschiedenen Stellen des Darmes, besonders aber am Dickdarm haben, jedoch auch im Coecum vorkommen. Es ist für ihre Entstehung übrigens nicht immer eine vollständige Stuhlverhaltung nothwendig, vielmehr bilden sich die- selben auch dann, wenn die stattfindenden Entleerungen nicht aus- giebig genug sind, so dass mehr oder weniger beträchtliche Rück- stände im Darm bleiben, die sogen. cumulative Obstipation Field’s. Diese Kothgeschwülste können, wie schon früher angegeben, secun- däre Lage- und Gestaltsveränderungen der Därme und besonders des Dickdarms herbeiführen, zumal sie zuweilen eine ganz enorme Grösse erreichen und bis zu 15 Pfd. und mehr wiegen.
In verschiedener Weise werden solche Geschwülste den Damı alteriren. Wir sehen von der vollständigen Verlegung des Darm- lumens und seinen Folgezustánden ab, die in das Capitel des Ileus gehören und an dieser Stelle nur der Vollständigkeit wegen zu erwähnen sind. Auch der Erregung von entzündlichen Pro- cessen auf der Schleimhaut und der Druckgeschwüre (Stercoral- geschwüre) und ihrer Folgen sei nur vorübergehend gedacht und bemerkt, dass nothwendiger Weise mit der Anhäufung so grosser Kothmassen eine Ausdehnung der Darmwand verbunden sein muss, welche nur auf Kosten einer Schwächung der Musculatur, d. h. einer Atonie derselben zu Stande kommen kann. Die letztere begünstigt wieder die Stagnation des Kothes, und so bildet sich
8
eine Kette ohne Ende, die nur durch gewaltsames Eingreifen getrennt werden kann. Eine weitere Folge ist es, dass eine Diastase der Muskelbündel eintritt, durch welche sich die Schleimhaut nach aussen wie ein Divertikel oder eine Hernie hervorstiilpt. In diesen taschenartigen Ausstülpungen stagnirt der Koth, trocknet ein und wird hart, oder zersetzt sich. Beide Male kommt es leicht zu ent- zündlichen oder atrophischen Veränderungen der Darmwand (sogen. Druckgeschwüren), welche sich bis auf das Peritoneum aus- breiten und eine circumscripte Peritonitis zur Folge haben können. Indessen sind diese Fälle, deren sich in der Literatur einige angegeben finden, zweifellos sehr selten. Mir ist niemals ein derartiger Fall zu Gesicht gekommen, obgleich ich gelegentlich kleine Vorstülpungen der Schleimhaut zwischen den auseinandergezerrten Muskelbündeln gesehen habe. Nur das Colon, und besonders das Colon descendens in seinem unteren Theil ist der Sitz dieser Divertikel.
Es liegt auf der Hand, dass die Erkennung solcher Koth- geschwülste nicht immer leicht ist und sich häufig nur auf den Erfolg oder Misserfolg eines ausgiebigen Purgans und den Gesammt- verlauf der Krankheit stützen kann.
Aber trotz aller Sorgfalt der Untersuchung sind oft Verwechs- lungen vorgekommen, die je nach der Art der fälschlich gemachten Annahme, d.h. je nachdem eine wahre Neubildung oder eine Koth- geschwulst fälschlicherweise diagnosticirt war, zu einer angenehmen oder unangenehmen Enttäuschung führten.
Als eine letzte locale Folge der habituellen Obstipation treten oftmals Hämorrhoidalgeschwülste auf, die unter Umständen zu einer höchst peinlichen, ja schmerzhaften Complication werden können.
Die Allgemeinerscheinungen sind in ihrer Ausdehnung und Stärke ausserordentlich verschieden und können die ganze Scala von einem leichten allgemeinen Unbehagen bis zu der tiefsten seelischen Verstimmung und schwerer Melancholie umfassen. Es giebt Personen, welche sich aus ihrer Obstipation sozusagen gar nichts machen. Sie nehmen ihre Abführmittel oder Clystiere Jahr aus Jahr ein, und wenn dieselben in den gewohnten Gaben nicht wirken, so wird der gewünschte Erfolg durch eine Aenderung der Dose oder des Mittels erzielt. Dabei stellen sich dann bei längerer Stuhl-
9
verbaltung sogen. Congestionen nach dem Kopf ein, etwas benommener Kopf, eine gewisse Trägheit und Schwere, das Bedürfniss nach dem Stuhl und das Gefühl, dass alles wieder gut sein wird, sowie dieser erfolgt ist. Bei Anderen steigern sich die Erscheinungen zu Appetitverlust, Kopfschmerzen, Schwindel, auch wohl Schlaflosigkeit, es kommt zu fliegender Hitze, die fälschlich für Fieber angesehen wird, aber ohne jede Temperatursteigerung einhergeht, also ein rein nervöses Symptom ist. Wiederum andere Patienten leiden in ihrer ganzen Leistungs- fähigkeit, besonders auf geistigem Gebiete. Sie können keinen klaren Gedanken fassen, nicht ausdauernd arbeiten, machen sich hypo- chondrische Vorstellungen und Grillen und bilden die Beschäftigung mit ihrem Stuhlgange und die Beobachtung desselben in wahrhaft virtuoserWeise aus, indem sie ihr gesammtes geistiges und körperliches Ergehen auf dieses stete Object ihrer Gedanken zurück führen. Dies kann so weit gehen, dass ich wiederholt Patienten getroffen habe, welche mir versicherten, dass sie zu Zeiten, wenn es gar nicht ge- lingen wollte, die Obstipation zu beheben und einen Stuhlgang herbeizuführen, dicht vor dem Selbstmord gestanden hätten. Glück- licherweise kam dann schliesslich doch immer noch die erlösende Entleerung! Solche Angaben mögen ein wenig übertrieben sein, aber sie zeigen doch, wie sehr diese Obstipationen in das Allgemein- befinden der Kranken eingreifen können, und jedem erfahrenen Arzt kommen Beispiele von Kranken vor, besonders Leute betreffend, welche Zeit und Musse dazu haben, deren ganzer Lebenszweck in die Er- zielung eines guten Stuhlganges gesetzt ist.
Von weitergehenden Reizerscheinungen sind zu nennen: Unbehagen von Seiten des Magens und allerlei mehr oder weniger stark ausgesprochene Sensationen an demselben, Brennen im Magen, Empfindlichkeit bei Druck der Kleidungsstücke, Vollsein, Unbehagen u. Ae. Ferner Herzpalpitationen mit Angstgefühl, schmerzhafter Druck in der Herzgegend und gelegentlich beschleunigter und un- regelmässiger Puls. Gussenbauer berichtet selbst über Trigeminus- neuralgien und von anderen Autoren werden Neurosen im Gebiete des Ischiadicus, der Lumbal- und Ovarialnerven beschrieben.
Man kann in diesen Beziehungen zwischen Obstipation und anderen mit Recht oder Unrecht für nervös erklärten Leiden schliess- lich auch zu weit gehen, und wenn Federn selbst den Morbus
10
Gravesii, das cardiale Asthma u. Ae. m. damit in Verbindung bringen will, so dürfte er damit kaum im Rechte sein. Es ist überhaupt fraglich, wie weit es sich in der That bei den sogen. Folge-Erschei- nungen der Obstipation, in so fern sie auf nervösem Gebiete liegen, um Ursache oder Folge und nicht vielleicht um ein gleichzeitiges Vor- kommen, oder gar um das umgekehrte Verhalten handelt. So hat schon Romberg sich mit Entschiedenheit dagegen ausgesprochen, dass Unterleibsstörungen die Hypochondrie hervorrufen, während andererseits Dunin die Hypochondrie und die Obstipation als die Ursache eines dritten Leidens, nämlich der Neurasthenie, ansieht. Diese Hypochondrie ist weltbekannt, und in ihren Auswüchsen seit Jahrhunderten die Zielscheibe des Spottes gewesen. Man hat wohl die Meinung aufgestellt (Vircbow, Nothnagel u. A.), dass die Hypochondrie nicht die Folge, sondern die Ursache der Obsti- pation ist, oder beide auf dem breiten Boden einer allgemeinen Neurasthenie erwachsen sind. Das ist sicherlich im Allgemeinen nicht richtig, und hat nur für eine kleine Reihe von Fällen Giltig- keit. Nichts ist leichter, als sich davon zu überzeugen, wie die Er- scheinungen der hypochondrischen Gemüthsstimmung im Laufe einer chronischen Verstopfung je länger je mehr auftreten, und zwar bei Individuen, welche vorher auch nicht die geringsten Zeichen von Neurasthenie oder Hypochondrie gezeigt haben. Dass nicht alle Menschen, die an Verstopfung leiden, Hypochonder werden, ist ebenso begreiflich, wie, dass nicht alle Schnapstrinker eine Säufer- leber acquiriren und Aehnliches. Sicherlich haben aber solche Wechselbeziehungen für die Chlorose Giltigkeit, bei der die Blutarmuth sowohl die Ursache der. meist vorhandenen Stuhlträgheit, als auch der zahlreichen nervösen Beschwerden ist.
Man hat diese nervösen Erscheinungen mit der Aufnahme von Zersetzungsproducten aus dem Darm in das Blut in Verbindung bringen wollen.
v. Pfungen hat gezeigt, dass bei einfacher chronischer Obstipation eine Zunahme der Darmfäulniss eintritt und auf die muthmaassliche Bildung von Ptomainen und von Schwefelwasserstoff im Darm hat man die Theorie einer chronischen Intoxication gestützt, welche auf die nervösen Centren wirken sollte. Indessen, der Schwefelwasser- stoffgehalt der Darmgase ist ein überaus geringer. Er beträgt weniger
11
als 0,1%, (Nowack und Bräutigam). Ich selbst habe oftmals den Versuch gemacht, Schwefelwasserstoff in den Flatus nachzuweisen, indem ich die Därme erst mit Luft vollpumpte und die wieder aus- gestossene Luft, welcher ja auch die Darmgase beigemengt sein mussten, durch Bleiwasser leitete. Diese Versuche hatten gewöhnlich gar kein Resultat, und nur ganz ausnahmsweise trat eine ganz leichte Reaction ein.
Rosenheim macht auch mit Recht darauf aufmerksam, dass die Bildung von Ptomainen nach den Untersuchungen Bouchard’s an die Retention flüssigen Kothes gebunden ist, während die er- härteten Massen, mit denen wir es bei der Obstipation zu thun haben, keinen günstigen Boden für abnorme Zersetzungsprocesse darbieten. Nichts destoweniger dürfte die Annahme einer sogen. Autointoxication nicht von der Hand zu weisen sein. Vorläufig fehlen uns aber greifbare Unterlagen für dieselbe.
Diagnose.
Die Diagnose kann ebenso leicht sein und ist sie in den meisten Fällen, wo sie uns der Patient selbst entgegenbringt, wie sie unter Umständen schwierig sein kann. Es handelt sich dann darum, festzustellen, wieweit die habituelle Obstipation Folge eines anderweitigen Zustandes ist, ob etwa vorhandene Tumoren in den Därmen Kothtumoren sind oder nicht, ob abgehender Schleim eventl. Blut durch die Obstipation veranlasst sind oder umgekehrt zusammen mit der Obstipation Zeichen einer anderweitigen Erkrankung sind; das lässt sich alsdann nur durch die eingehendste Untersuchung und die Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Verhältnisse er- mitteln, ja gelegentlich trotz aller Mühe erst aus dem Verlauf bezw. dem Ausgang des Leidens erkennen.
Prognose.
Die Prognose der Stuhlträgheit und Verstopfung ist, wie Jedermann bekannt, quoad vitam eine günstige, quoad valetudinem completam eine zweifelhafte. Ernstere Zufälle bilden die grosse Ausnahme von der Regel, aber ebenso sicher ist es, dass kaum ein anderes Leiden ähnlich ungefährlicher Natur den Kranken so viel zu schaffen macht und ihr ganzes körperliches und geistiges
12
Sein derart beherrscht, wie gerade die Stuhlverstopfung. Die Sorge fiir die Regelung bezw. die Erzielung eines Stuhls, das Studium seiner Beschaffenheit und Ausgiebigkeit wird zu einem der Hauptereignisse des Tages, und oftmals hängt die Schaffenskraft und Umsicht sowie das Behagen nicht nur des Betreffenden selbst, sondern auch seiner ganzen Umgebung von der Art seines Stuhl- ganges ab. Es giebt Menschen, welche diese Dinge zu einem förmlichen System ausgebildet haben, und sich und Andere damit zur Verzweiflung bringen.
Da aber eine grosse Anzahl von Personen nicht nur die dauernde Stuhlträgheit für eine Quelle ernster Besorgnisse halten, sondern auch fürchten, dass ihnen aus der dauernden Anwendung medica- mentöser Mittel ein ernster Schaden erwachse, so ist solchen Individuen gegenüber der Hinweis anı Platze, dass der Darm eine gewisse Schwäche besitzen kann, die zu ihrem Ausgleiche einer dauernden Nachhilfe bedarf, genau so, wie das kurzsichtige Auge der Ergänzung durch die Brille benéthigt. Es kommt eben nur darauf an, den Fehler genau zu compensiren und nicht über das Nothwendige hinauszugehen.
Therapie.
An die Spitze jeder Behandlung der Obstipation sollte man den Satz schreiben. „So wenig Abführmittel wie möglich“. Damit soll nicht gesagt sein, dass man unterschiedslos dahin trachten soll, überhaupt keine Abführmittel zu geben. Selbstverständlich ist dies der ideale Standpunkt, aber es giebt eine Anzahl und zwar eine sehr grosse Anzahl von Kranken, die nun einmal schlechter- dings ohne Abführmittel nicht auskommen, weil ihr Darm eine eventl. schon in der Entwickelung begründete Schwäche besitzt. Solche Personen bedürfen der Correctur, gerade wie, wie wir schon vorhin gesagt haben, ein Kurzsichtiger der Brille bedarf, und die Kunst des Arztes liegt darin, das Abführmittel so zu wählen, dass es den individuellen Bedürfnissen des Kranken entspricht und den physiologischen Fehler ausgleicht. Es kommt nur darauf an, dass es möglichst reizlos ist, d. h. lange Zeit, also Jahre hin- durch, in derselben Menge gebraucht werden kann, ohne sich in seiner Wirkung abzuschwächen.
13
In der Regel wird man aber alle Möglichkeiten, auf den Darm einzuwirken ausniitzen müssen, d. h. 1) diätetische, 2) physi- calisch-mechanische und 3) medicamentöse Mittel anzu- zuwenden haben. Kaum jemals wird man mit einem derselben aus kommen, sondern meist seine Zuflucht zu einer grösseren Anzahl derselben nehmen müssen. Hier ist es durchaus nöthig, dass der Arzt sein Handwerkszeug genau kennt und je nach Bedürfniss zu verwerthen im Stande ist.
1) In der Diät sind diejenigen Speisen und Getränke zu bevor- zugen, von denen wir wissen, dass sie auf die Peristaltik erregend einzuwirken im Stande sind. Zu diesen gehören die meisten kalten und besonders kohlensäurehaltigen Getränke, zumal wenn sie gleich- zeitig gezuckert sind, wie Fruchtsaftlimonaden und ganz besonders Sect. Bei manchen Personen hat ein Glas Champagner geradezu die Wirkung eines Abführmittels. Das Gleiche gilt von der Mehrzahl der Obstarten (roh und gekocht), unter denen die sehr wasserreichen, wie Melonen, Pfirsiche, saftige Aepfel, Pflaumen, Stachelbeeren u. s. f. in erster Reihe stehen, und ebenso von den Obstweinen, soweit die- selben nicht adstringirende Substanzen wie z. B. die Heidelbeerweine enthalten. Hier sind es die Obstsäuren, die Apfelsäure, Weinsäure, Citronensäure, welche anregend auf die Peristaltik wirken, wie denn z. B. die Pflaumen bis zu 1,27 pCt. freie Säure enthalten, die Pfirsiche bis zu 1,58 pCt., Erdbeeren 1,06 pCt., Stachelbeeren 1,36 pCt., während die Birnen nur 0,07, Aepfel 0,53—1,0 pCt. freier Säure haben. Hierher gehören auch die meisten Gemüse, soweit sie nicht zu den Wurzel- oder Schotengemüsen resp. Hülsenfrüchten rechnen und einen hohen Wassergehalt besitzen, wie Gurken, Tomaten, Kürbis und die Kohlarten, die ausserdem leicht der Gährung unterliegen und durch Bildung saurer und gasförmiger Producte die Peristaltik beschleunigen. Endlich die in Fermentation befindlichen Getränke, als da sind junges oder nicht ausgegohrenes Bier, Most, Federweiss, saure Milch, Kefir und Aehnliches. Endlich dürfen die Syrupe und der Honig bezw. die mit Honig bereiteten Backwaaren (Pfeffer- kuchen), sowie das grobgebackene und gesäuerte Brod — Kleienbrod, Kommissbrod, Grahambrod u. s. f. — nicht vergessen werden. Einseitige Fleischkost oder Ueberbürdung des Darmes mit Vegetabilien, besonders solchen mit viel Cellulose oder geringen Wassergehalt sind
14
zu vermeiden, die Quantität der Speisen auf ein angemessenes Maass zu reduciren. Reichliche Flüssigkeitszufuhr, besonders Wasser auf den nüchternen Magen, ist von Nutzen, dabei aber wohl zu beachten, dass manche Getränke wie Thee, Rothwein, unter Umständen auch Milch, stopfend wirken. Beruht die Obstruction auf einer zu reiz- losen und gleichfórmigen Nahrung, so ist für- Abwechselung und etwas gröbere Kost zu sorgen.
Aber in dieser Beziehung kommen die grössten individuellen Schwankungen vor, und was dem Einen nützt, schadet oder hilft wenigstens nicht dem Anderen. Es giebt Leute, welche im Sommer, wo sie viel rohes Obst essen können, guten Stuhlgang haben, die dagegen im Winter verstopft sind. Ich kenne Patienten, welche nur während der Erdbeerzeit einen regelmässigen spontanen Stuhl haben, während Andere Erdbeeren und rohes Obst in grossen Quantitäten obne jeden Erfolg zu sich nehmen. Kurzum, in dieser Beziehung ist jeder Organismus Selbstherrscher und will auf seine Eigenheiten und Launen studirt sein. Auch die Art der Darreichung, ob sie in den nüchternen oder vollen Magen, bei ganz intacten oder irgendwie afficirten Verdauungsorganen bei frischem oder geschwächtem all- gemeinem Körperbefinden statt hat, spielt eine erhebliche Rolle. So übt z. B. der Saft der Weintrauben auf viele Personen eher eine stopfende wie abführende Wirkung aus, während sie alsbald in letzterem Sinne wirken, sobald eine wenn auch nur ganz unbedeutende „Magenverstimmung“ vorliegt. Ganz dasselbe gilt von der Milch, den Zuckerarten, Syrupen, Honig, Manna, Obstkraut u. A. Ein Ess- _lóffel robes Sauerkraut Morgens nüchtern genommen oder einen Muss, welcher aus zwei Theilen Pflaumenmuss und einem Theil ge- trockneter Feigen gekocht ist, sind beliebte Hausmittel, die aber ebenso oft erfolgreich wie ohne jede Wirkung sind.
Die hygienische Behandlung tritt da besonders in ihr Recht und in den Vordergrund, wo es sich um Obstipation auf Grund allge- meiner Neurasthenie, Chlorose, sitzender Lebensweise u. A. handelt. Hierher gehört auch die Hydrotherapie — kalte Abreibungen, Douchen auf den Leib, nasse Einwickelungen, kühle Sitzbäder u. dergl. Be- sonders wirksam sind nach meinen Erfahrungen die sogen. schottischen Douchen, bei welchen abwechselnd und in unmittelbarer Folge der Strahl des Wassers erst heiss und dann plötzlich kalt gegeben wer-
15
den kann. Die dadurch erzielte Contraction der Bauch- resp. Darm- musculatur pflegt eine recht kräftige zu sein. -
2) Die physicalisch-mechanischen Heilmethoden sind die Massage, Electricität und die Clysmata bezw. Wassereingiessungen.
Es ist kein Zweifel, dass eine sachgemässe Massage in vielen Fällen einen ausgezeichneten Erfolg hat, besonders bei mageren Personen, bei denen die Därme durch die Bauchdecken angreifbar sind. Sie muss aber wirklich „sachgemäss“, d. h. von einem gut ausgebildeten Masseur ausgeführt werden und darf nicht, wie dies so oft vorkommt, den Händen einer Person überlassen sein, die kaum die dürftigsten Kenntnisse dazu mitbringt. Aber häufig genug lässt auch die Massage in Stich und hat gar keinen oder nur einen vorübergehenden Nutzen aufzuweisen. Ganz dasselbe gilt von der electrischen Behandlung, sei es, dass man dieselbe percutan aus- übt, indem man beide Electroden auf die Bauchdecken aufsetzt, sei es, dass man die eine Electrode in den Darm einführt. Ersterenfalls kann man entweder eine breite Plattenelectrode (10 : 20 cm) oder die gewöhnlichen knopfförmigen Electroden, oder endlich die electrische Walze verwenden. Um den Darm direct anzusprechen, bedient man sich am besten eines Analrohres aus weichem Gummi, welches an seinem unteren d. h. dem in den Darm einzuführenden Ende ca. 10 bis 12 stecknadelkopfgrosse Löcher hat. Durch das Rohr lasse ich eine stricknadeldicke Spiralfeder von Draht bis zum Ende vorschieben, die einen passenden Ansatz zum Anschrauben des Leitungsdrahtes hat. Dieser Ansatz hat gleichzeitig ein rechtwinkelig gestelltes kurzes seitliches Rohr, welches gestattet, Wasser durch den Schlauch strömen zu lassen. Nach vorausgegangenem Reinigungsclystier führt man die Electrode ein und füllt zunächst durch den seitlichen Ansatz die Ampulle des S. romanum mit einer ca. 1 pCt. Kochsalz- wasserlösung an. Dann kann der Strom die Darmwand in vollem Umfange treffen und wenn die andere Electrode auf die Bauch- decken aufgesetzt wird, ausgiebige Contractionen auslösen.
Es ist übrigens ganz falsch, von der electrischen Behandlung des Darms einen sofortigen Einfluss auf die Darmthätigkeit erwarten zu wollen. Wo dies der Fall ist, wirkt die Application wesentlich wie ein Clystier. Vielmehr hat die Electricität die Aufgabe, die Darm- musculatur in ähnlicher Weise durch methodische und über längere
16
Zeit fortgesetzte Anwendung zu kräftigen, wie dies auch bei den atrophischen oder parethischen Skelettmuskeln der Fall ist. Was im einzelnen Falle besser ist, ob Faradisation oder Galvanisation, ist von vornherein nicht zu bestimmen. A priori sollte man von der energischen Contraction, welche der faradische Strom hervorruft, mehr Erfolg erwarten. Schillbach kam freilich zu dem Resultat, dass für die interne Anwendung der Electricitát die Wirkung der galvanischen Ströme im Allgemeinen die der faradischen von gleicher Stärke übertrifft, und giebt an, dass bei Thierversuchen an der Kathode meist locale Contractionen, an der Anode peristaltische Wellen besonders in aufsteigender Richtung auftreten, dass aber die Stromrichtung im Allgemeinen keinen Einfluss auf die Darm- bewegungen habe. Moritz und Meltzer sprechen der Electricität überhaupt eine erhebliche Wirkung auf Magen- und Darmcontraction ab, und Letzterer kam durch Versuche, die er allerdings nur an Kaninchen und Hunden ausführte, zu dem Ergebniss, dass die Schleimhaut des Verdauungstractus dem Uebergang des faradischen Stroms auf die Musculatur einen starken Widerstand entgegensetzt, welcher an der Magenschleimhaut am stärksten ist. Sowohl die percutane wie die directe Faradisation des Magens und der Därme sei daher ausser Stande, eine Contraction derselben auszulösen. Indessen sind die Versuche Meltzer’s zunächst noch mit manchen Widersprüchen behaftet, und so viel steht fest, dass man bei geeigneten Individuen mit dünnen Bauchdecken und gut sichtbaren Därmen die Contractionen derselben bei der internen Faradisation direct sehen kann, und dass die practischen Erfolge derselben von der Mehrzahl der Autoren entschieden gerühmt werden.
Unter dem Titel „postural treatment of constipation“ hat E. T. Williams!) vor einigen Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass die gemeiniglich eingenommene sitzende Stellung bei der Defäcation l nicht geeignet ist, die beiden Factoren, welche vornehmlich die Expulsion des Rectuminhaltes bewirken, nämlich die Contraction der Bauchmuskeln und die Action des Zwerchfells, zu voller Thitigkeit kommen zu lassen, Er empfiehlt desshalb, diesen Act in hockender Stellung (also wie im Freien!) abzumachen. Ich kann mich dieser
—
1) Boston Med. Journal 1888, Aug. 23.
17
Empfehlung auf Grund meiner Erfahrungen vollkommen anschliessen. Ich kenne eine Anzahl von Patienten, namentlich Damen, bei welchen sich, seitdem sie auf mein Anrathen den beschriebenen Modus pro- cedendi vornehmen, die frühere Stuhlträgheit in einen regelmässigen und leichten Stuhl umgewandelt hat.
Als mechanische Einwirkung kann man schliesslich auch den Reiz bezeichnen, den gewisse Ingesta, wie z. B. grobes Brod, durch ihre grobkörnige oder stachelige Beschaffenheit auf die Darmschleim- haut ausüben sollen, der aber im Wesentlichen nicht mechanischer sondern chemischer Natur ist. Letzteres Moment fällt freilich bei dem vor einiger Zeit von einem unternehmenden Kopf gemachten Vorschlag fort, der dahin ging, Pulver von grobem Sand nehmen zu lassen; dafür dürften dadurch aber mit der Zeit die schönsten Koth- steine erzeugt werden.
So einfach es scheint, ein Clystier zu setzen, resp. einen Einlauf in den Darm zu machen: es sind dabei doch gewisse Maass- nahmen zu beobachten, die scheinbar klein und geringfügig, eine grosse praktische Bedeutung haben. Altem Sprachgebrauch ent- sprechend unterscheiden wir zwischen einem Clystier und einem Einlauf. Durch ersteres bringt man verhältnissmässig kleine Mengen, 200—309, höchstens 500 cbcm einer wässrigen resp. óligen oder schleimigen Flüssigkeit in den unteren Abschnitt des Dickdarms; durch den Einlauf versucht man, grössere Quantitäten Wasser oder wässriger Lösungen, ein und mehrere Liter, möglichst hoch in den Darm hinaufzutreiben. Ob man sich zu diesen Manipulationen eines Irrigators, einer compressiblen Gummibirne, eines Clysopomps, einer grösseren Spritze, oder was sonst für einer Vorrichtung bedient, ist gleichgültig, Hauptsache ‘ist, dass der Druck, unter dem die Flüssig- keit in den Darm einströmt, ein möglichst gleichmässiger, langsamer und nicht zu hoher sei, weil andererseits reflectorische Contractionen der Darmmusculatur erfolgen, welche zum schnellen Ausstossen der eingebrachten Massen führen. Die letzteren müssen sich gleichsam in den Darm einschleichen, und nicht stossweise und gewaltsam in denselben eingepresst werden. Aber viel wichtiger ist die Be- schaffenheit des Analrohres, welches in den Darm selbst eingeführt wird. Kurze Spitzen von Horn oder Hartgummi sind durchaus zu
vermeiden. Einmal dringen sie nicht tief genug ein, um den Schluss 2
18
der inneren Sphincteren zu überwinden, zweitens aber geben sie bei ungeschickter Handhabung, namentlich bei unruhigen und sich sträubenden Individuen leicht zu einer Verletzung Veranlassung, aus der sich eine Entzündung und Vereiterung des Zellgewebes ent- wickeln kann. So habe ich vor Jahren einen Kranken an einer Periproctitis sterben sehen, die ihm ein ungeschickter Wärter bei der Application eines Clysmas beigebracht hatte. Das Analrohr soll von weichem vulcanisirtem Kautschuck, etwa 35—40 ctm lang, klein- fingerdick sein und an seiner Spitze eine grössere, an den Seiten eine Reihe von kleineren, linsengrossen Oeffnungen haben, und muss selbstverständlich vor der Einführung gut eingefettet sein. Man braucht zu letzterer den Kranken selbst nicht zu berühren, vielmehr wird das schreibfederartig gefasste Rohr unter leichter Drehung durch den Anus in den Darm vorgeschoben, wobei es unter normalen Verhältnissen anstandslos gelingt, dasselbe seiner ganzen Länge nach, also sicher über den Sphincter tertius heraufzuschieben. Es kann vorkommen, dass sich das Rohr an der Ampulle umbiegt, oder sich in der Halbmondförmigen Duplicatur fängt, welche bei manchen Individuen an der Grenze von S. romanum, und dem eigentlichen Colon descendens wie eine starke Leiste hervorspringt. Man erkennt dies daran, dass man das deutliche Gefühl hat, dass das Rohr aus der Richtung gekommen ist und nach links oder rechts abweicht. Es genügt dann, dasselbe etwas zurückzuziehen und in veränderter Richtung vorzuschieben, um zum Ziel zu kommen. Etwas anderes ist es, wenn der unterste Darmabschnitt mit steinharten Kothmassen gefüllt ist, so dass man das Rohr überhaupt garnicht oder nur wenig einschieben kann. Dann muss man mit dem Finger eingehen und die Kothmassen herausbringen, nachdem man sie eventl. im Darm gegen das Darmbein zu zerdrückt hat, eine ebenso widerwärtige wie für den Patienten häufig schmerzhafte Prozedur. Ist der Darm mit zähen weichen Massen angefüllt, so verstopfen sich leicht die Oeff- nungen des Analrohrs, doch lässt sich dies gewöhnlich vermeiden, wenn man bereits während des Einschiebens die betreffende Ein- laufsflüssigkeit unter gelindem Druck einlaufen lässt. Kleinere Clystiere wird man in der Rücken- oder Seitenlage appliciren, hohe Eingiessungen nimmt man am besten in der Knie-Ellenbogen-Lage vor, weil hier schon die Körperhaltung des Patienten das Einlaufen
19
- erleichtert.1) Die Temperatur des Einlaufs wird bald lauwarm, bald kalt (Zimmertemperatur) bald eiskalt genommen. Es ist klar, dass in letzterem Fall die Einwirkung der Kälte theils durch Anregung der Peristaltik auf reflectorischem Wege, theils entzündungserregend, resp. schmerzstillend in Betracht kommt.
Ueber die Frage, wie weit sich Wassereinläufe in den Darm herauftreiben lassen, und ob die Valvul& Bauhini für Flüssigkeiten und Gas durchgängig ist, besteht bereits eine umfangreiche Litteratur. Simon theilte?) schon vor Jahren mit, dass er bei einer Patientin mit einer über der lleocoecalklappe gelegenen Kothfistel das in den Mastdarm eingegossene Wasser schnell den ganzen Dickdarm durchlaufen und zur Fistel heraustreten sah. Bei Leichenversuchen gelingt es zwar nicht regelmässig, aber doch in der grösseren Mehrzahl der Fälle die Klappen zu überwinden. Dass eingeblasene Luft in die Dünndärme übertritt, davon kann man sich bei toleranten Patienten unschwer überzeugen.
Auch für Clysmata und zwar für Kochsalz-Clystiere schien es nach neueren Untersuchungen von Grützner?°) möglich, dass dieselben durch eine auf die Randzone des Darmbeines beschränkte Anti- Peristaltik über die Klappe, ja bis in den Magen heraufgehen könnten. Dauber‘) hat die Fehlerquellen, mit denen die Thier- Versuche Grützner’s behaftet waren (nämlich dass die Thiere ihren After beleckten) vermieden und die Haltlosigkeit der betreffenden Angaben nachgewiesen. Auch ein Versuch dieser Art, den Grützner mit positiven Erfolgen am Menschen anstellte, lässt sich leicht widerlegen. Er hatte den Magen seiner Versuchsperson nicht gründlich gereinigt und so fand er in demselben alte Stärkereste vor, während er annahm, dass die Stärke von einem Stärkeclystier aus in den Magen heraufgewandert sei! Scheinbar das mildeste und dem Orga- nismus conformste Verfahren, hat das Clysma den Nachtheil, dass bald ein Zeitpunkt kommt, wo geringe Wassermengen — heiss oder kalt oder temperirt — nicht mehr wirken und immer grössere Quan- titäten, bis zu 1, 2 und mehr Liter, eingebracht werden müssen, um
1) Hegar, Berl. klin. Wochenschr. 1874.
2) Simon, Langenbeck’s Arch. für klin. Chirurgie Bd. XV. °) Grützner, Deutsche med. Wochenschr. 1894 No. 48.
*) Dauber, Deutsche med. Wochenschr. 1895 No. 34.
20
Stuhl zu erzielen. Dadurch wird der Dickdarm mehr und mehr ausgeweitet und erschlafft, und schliesslich tritt ein Zustand ein, in dem auch solche Eingiessungen wirkungslos bleiben. Man soll daher, wo irgend angängig, die Clystiere nicht täglich, sondern mit möglichst langen Intervallen, also nur alle 2 Tage und seltener geben, und von temperirten Einläufen (16°—20° R.) allmählig auf kalte Clystiere (12—10° R.) herabgehen. Es kommt dann nicht nur die directe Wirkung der Kälte auf die Anregung der Darmperistaltik und die Minderung der Blutstauung in dem Dickdarm in Betracht, sondern nach den Untersuchungen von Röhrig!) auch eine Beschleunigung der Gallenabsonderung und der Circulation im Pfortadersystem, die indirect wieder auf die Darmbewegung wirken.
Zwei sehr wichtige Momente für alle Obstipirten sind einmal Regelmässigkeit und zweitens Ausdauer. Täglich um dieselbe Zeit das W. C. aufsuchen und so lange auf demselben und zwar ohne heftig zu pressen — ein gelinder Druck der Bauchpresse ist nothwendig — auszuharren, bis ein Erfolg eintritt, ist eine scheinbar kleinliche, aber sehr wichtige Vorschrift. Wenn auch nicht gleich, so gelingt es doch häufig mit der Zeit, auf diese einfache Weise Wandel zu schaffen.
Unterstützt sollen alle diese Maassnahmen durch eine ausgiebige körperliche, womöglich direct auf die Action der Bauchmuskeln gerichtete Bewegung — Spaziergänge, Turnen, Rudern, Lawn-Tennis, Reiten etc. etc. sein. Ausgezeichnete Erfolge habe ich bei habitueller Stuhlträgheit von dem Rudern in Race-Boten mit gleitenden Sitzen gesehen, bei denen eine wundervolle und lange Massage des Bauches zu Stande kommt. Aber bei vielen Personen sind die körperlichen resp. mechanischen Maassnahmen entweder von vorne herein wirkungs- los oder lassen sehr schnell in ihrer Wirkung nach. Man sollte z. B. glauben, dass ein activer Offizier genug körperliche Bewegung nach jeder Richtung bin hätte und doch sind die Zustände schwerer Ob- stipation und hypochondrischer Verstimmung bei diesen Herren gar nicht so selten und meist recht hartnäckig.
1) Experiment. Untersuchungen über die Physiologie der Gallenabsonderung. Wien. med. Jahrb. 1873.
21 3) Medicamentöse Mittel.
Jedes Abführmittel soll so selten wie möglich und in so kleinen Dosen wie möglich genommen werden. Das Bestreben des Patienten muss stets darauf gerichtet sein, den Gebrauch desselben einzu- schränken.
Jedem Abführmittel gegenüber kommen individuelle Eigenheiten des Patienten in Betracht und in Hinsicht auf Dosis und Natur des wirksamen Abführmittels bedingt jeder Einzelfall ein besonderes Studium. Nur das ist ein gutes Abführmittel, welches ohne Unbequemlichkeiten (Leibschmerzen, Tenesmus, Uebelkeit) eine breiige, nicht wässerige, ausgiebige Entleerung verschafft. Man muss event. so lange im concreten Fall mit den verschiedenen Aperientien wechseln, bis man das der Natur des Kranken passende Mittel ge- funden hat.
Contraindicirt sind die Abführmittel in denjenigen Fällen, in denen die damit verbundene Anregung der Peristaltik schädliche Folgen haben kann, d. h. sowohl bei acut entzündlichen Zuständen des Peritoneums als bei drohender Perforation (Ulcera, Appendicitis) oder bei toxischem Krampf der Därme und dadurch bedingter Obsti- pation (Bleivergiftung, Meningitis, gewisse Rückenmarksleiden).
Man unterscheidet von Alters her die Abführmittel in milde Abführmittel (Aperientia) und starke Abführmittel (Purgantia resp. Drastica) und hat sich damit über die Unkenntniss, welche wir über die eigentliche Art der Wirkung vieler Abführmittel haben, hinweg- gesetzt. Rationeller ist es, dieselben in solche einzutheilen, welche mehr auf den Dünndarm und solche, welche auf den Dickdarm wirken und ferner einen Unterschied zu machen zwischen denjenigen, welche die Peristaltik anregen und denen, welche durch Verflüssigung der Darmcontenta wirksam sind.
Eine genaue Analyse der einzelnen Abführmittel nach dieser Richtung gehört in die Lehrbücher der Pharmakologie. Hier kann es sich nur um einige Aphorismen praktischer Natur handeln.
Der Rhabarber in Substanz (Pulver oder Pillen resp. Stücken) ist eins der besten Aperientien, vorausgesetzt, dass man ein gutes Präparat benutzt, denn nicht alle im Handel befindlichen Rhabarber- sorten sind gleichwerthig. Aber er hat noch mehr wie andere Mittel den Nachtheil, dass seiner eröffnenden Wirkung in der Regel eine
22
Periode mehr weniger starker Verstopfung folgt, so dass der Kranke gezwungen ist, immer auf’s Neue zu dem Mittel zu greifen und so zu sagen seine Seele dem Rhabarber verschreiben muss. Nun ist dies, falls man nicht nöthig hat, mit der Dosis zu steigen, kein so
grosser Schaden, — ich kenne Personen, welche seit 20 und 30 Jahren regelmässig täglich eine Rhabarberpille zu 0,1 gr Rad. Rhei nehmen und sich sehr wohl dabei befinden — in der Regel aber
müssen die Dosen, um eine Wirkung zu erzielen, nach kurzer Zeit gesteigert werden und versagen bald ganz. Dasselbe gilt von den Compositionen, z. B. dem Pulv. Liquiritiae compositus (Fol. Sennae, rad. Liquirit. aa 2,0, Fruct. Foenicul. Sulf. depurat. aa 1,0, Sachari 6,0) und dem Pulv. Magnes. cum Rheo (Magnes. carbon. 60,0 Eleo- sach. Foenicul. 40,0 Rad. Rhei pulvers. 15,0) u. a, von denen sich das erstere wegen seines Gehaltes an Fenchel besonders bei stärkerer Flatulenz empfiehlt. Letzterenfalls kann man übrigens das Oleum Foeniculi oder Oleum Carvi zu 1:3 Tropfen auch direct dem Pulv. rad. Rhei zusetzen.) Man thut aber besser, den Rha- barber von vornherein mit einem Mittelsalz zu verbinden. Hier be- währt sich am besten die schon im vorigen Jahrhundert unter dem Namen Solamen miseris angewendete und in der That ausgezeichnete, durch v. Leube neuerdings wieder warm empfohlene Combination von Pulv. rad. Rhei 20,0, Natr. sulfur. 10,0, Natr. bicarbon. 5,0.
Hiervon kann der Kranke nach eigenem Bedürfniss messer- spitzen- bis theelöffelweise voll in einem grossen Glase warmen Wassers aufgerührt Abends vor dem Schlafengehen nehmen. Es erfolgt dann morgens eine ausreichende schmerzfreie Entleerung. Der Rhabarberaufguss eignet sich weniger zum chronischen Gebrauch, ist dagegen bei vorübergehenden Obstipationen namentlich in Ver- bindung mit Sirup. Sennae oder Sirup. Mannae, oder Sirup. Rhamni catharcicae u. Ae. wohl zu verwenden. Das Gleiche gilt von den spirituösen Lösungen resp. Extracten des Rhabarbers, von denen die Tinct. Rhei vinosa und das Extr. Rhei in Frage kommen, während das Extr. Rhei compositum (Extr. Rhei 30,0 Extr. Alois 10,0 Resin. Jalappae 5,0 Sapon. medicat. 20,0) durch seinen Gehalt an Aloé und Jalappe bereits zu den complicirteren und drastisch wirkenden Mitteln gehört.
Dem Rhabarber zum mindesten ebenbürtig, ja in Bezug auf
23
die prompte und ausgiebige Wirkung demselben noch vorzuziehen, ist vornehmlich in der Kinderpraxis das Calomel, wo es ohne jede unangenehme Nebenwirkung je nach dem Alter des Kindes in Dosen von 0,01 bis 0,1 und 0,2 gebraucht werden kann. Beim Erwachsenen hat dasselbe, selbst das metallische Quecksilber in der Form der bekannten Blue Pills (2 Hydrarg. 3 Conserv. Rosar. 1 Pulv. rad. Liquirit. zu Pillen ä 0,06 Quecksilber formirt,) die grosse Schatten- seite, dass man damit eine unbeabsichtigte Quecksilberintoxication hervorrufen kann, und dass die einzelnen Individuen in Bezug darauf so ausserordentlich verschieden reagiren, dass man nie von Vornherein wissen kann, wie der Erfolg sein wird. Ich habe schon eine sehr erhebliche und das Leben gefährdende Stoma- titis nach einer 2maligen Gabe von 0,4 gr Calomel auftreten sehen, und habe es nie recht verstanden, dass man aus England und Amerika trotz ausgiebigen Gebrauch von Quecksilberpräparaten gegen Verdauungsstörung und Obstipation so wenig über die üblen Nebenwirkungen der betreffenden Präparate hört.
Dem Rhabarber nahe verwandt sind die zahlreichen anderen pflanzlichen Abführmittel, wie die verschiedenen Rhamnus- arten, zu denen auch die in letzter Zeit viel verwendete Cascaca Sagrada (Rhamnus Purshiani) gehört, die Senna, Manna, die Tama- rinden, das Podophylin, die Jalappe u. s. f., von denen aber be- sonders die Senna eine heftige mit Schmerzen verbundene Peristaltik ‚hervorruft, die z. Th. auf einem durch Alkohol auszuziehenden in den Blättern enthaltenen bitteren Princip beruht. Es empfiehlt sich daher, zum Aufguss die Folia Sennae cum spiritu extract. zu ver- ordnen und dieselben im kalten Aufguss trinken zu lassen.
Eine Sonderstellung nimmt das Ricinusöl ein, insofern es sich besser zum einmaligen resp. mehrmaligen, wie zum dauernden Gebrauch eignet. Indessen wird es, in Emulsionen (Emulsio rici- nosa 30,0 : 180,0, Ol. Menth. piper. gutt III MDS. 2— 3stdl. 1 Esslöffel) verabfolgt, auch längere Zeit hindurch gut vertragen, ohne wie man leicht glauben könnte, den Magen anzugreifen. Ueberall da, wo eine auf Krampf der Darmmuskulatur beruhende Obstipation besteht, wie z. B. bei Bleikolik und bei gewissen Formen hysterischer Con- stipation ist das Ricinusöl in Verbindung mit kleinen Gaben von Opium ein oft überraschend gut wirkendes Mittel. Indessen wird der längere Gebrauch des Ricinusöls, mag man es nun in Kapseln
24
oder in Emmulsion oder in einer der anderen bekannten und be- liebten Formen geben, gewöhnlich dadurch vereitelt, dass sich leichte dyspeptische Beschwerden, namentlich ein oftmaliges fades oder öliges Aufstossen einstellen.
Zu den stärker wirkenden Drasticis gehören die Aloe, Jalappe, das Scamonium Halepense, die Coloquinthen, das Evonymin und schliesslich das Crotonöl. Die meisten dieser Mittel, und ganz besonders die Aloe, wirken hauptsächlich auf den Dickdarm, und da in den meisten Fällen von Verstopfung ein Nachlass der Dickdarmperistaltik vorliegt, so kann man sicher sein, mit ihnen zunächst eine prompte und aus- giebige Wirkung zu erzielen. Aber sie haben den Nachtheil, dass sie einen starken Reiz ausüben und so nicht nur zu einer schnellen Erschlaffung und Ermüdung der gereizten Muskelfaser führen, sondern auch eine Congestion des betreffenden Darmabschnittes bewirken, die zu chronischem Catarrh führt. In den zahllosen im Handel an- gepriesenen Abführpillen- und Mitteln spielt die Aloé die Hauptrolle. Dass die stärksten Drastika, wie die Coloquinthen, das Scamonium, die Resina gummi guttae, das Crotonöl nur in den schwersten Fällen unüberwindlicher Obstipation zu geben sind, und dass sie überall da zu vermeiden sind, wo wie bei inneren Einklemmungen, Intussusception, acuten Darmentzündungen besonders der Appendicitis die verstärkte Peristaltik von grösstem Uebel sein kann, bedarf kaum der Erwähnung. Aber ich habe in einigen Fällen von hochgradigstem und das Leben direct bedrohenden Darmverschluss durch Kothtumoren von der Anwendung dreister Gaben Crotonöl (3—5 Tropfen auf eine Ricinusemulsion von 50,0 zu 200,0 in 3 Portionen zu nehmen) einen lebensrettenden Erfolg gesehen. Freilich muss man unter solchen Umständen der Diagnose absolut sicher sein.
Die Mittelsalze — das Natrium sulfuricum, die Magnesia citrica, carbonica, sulfurica, der Tartarus depuratus, das Kalium sulfuricum, das Sal. thermarum Carolinense, der Tartarus natro- natus etc. — wirken angeblich hauptsächlich durch ihr hohes endosmotisches Aequivalent, indem sie eine vermehrte Transsudation von Wasser in den Darm bewirken und so zur Verflüssigung des Darminhaltes beitragen; indessen kommt dabei offenbar noch ein anderer Factor in Betracht, indem sie, wie z. B. das Karlsbader Salz (resp. Wasser) in heisser Lösung anders wie in kalter Lösung
25
wirken. Alle diese Salze, sowie die verschiedenen Bitterwasser (Friedrichshaller, Piillnaer, Ofener, Marienbader) wirken, wenn man so sagen darf, mehr chemisch oder physikalisch, und nehmen den Muskelapparat und das Nervensystem des Darms weniger in An- spruch, als die pflanzlichen Abführmittel. Sie wirken gleichzeitig, wenn sie in Form der Mineralwasser in stark verdünnter Lösung, d. h. in grossen Quantitäten Wasser genommen werden, umstimmend auf die Gesammtconstitution, und dieser Umstand, in Verbindung mit der in den Badeorten veränderten und auf die Hebung der Darmverdauung und des gesammten Körperbefindens gerichteten Lebensweise mag für die Erfolge derselben bestimmend sein. Wenigstens ist es anders nicht zu erklären, dass manche Patienten auf Jahre, ja für ihr ganzes Leben von einer chronischen Verstopfung befreit werden, gegen die sie vorher die verschiedensten pflanzlichen und salinischen Abführmittel vergeblich angewendet haben.
Es darf schliesslich nicht vergessen werden des Schwefels zu erwähnen, der als reiner Schwefel aber ganz besonders in der Form der Schwefelwässer von Nenndorf, Weilbach, Baden bei Zürich, Alvenau, Aix les bains u. A. oftmals eine vorzügliche Wirkung aus- übt. In Verbindung mit anderen Abführmitteln habe ich den Schwefel oft in folgender Form mit gutem Erfolge angewandt. Rp. Sulfur. depurat. Natr. tartar. pulv. aa 10,0. Fol. Sennae 5,0. Fruct. Cardamm. 2,5 Sirp. Rhamn, cathartic. q. s. u. f. Electuar. spiss. DS. Morgens und Abends 1 Theelöffel. Ueber die Wasserklysmata haben wir schon oben gesprochen. Von besonderem Werth sind aber in vielen Fällen die Oeleingiessungen, ein in Russland seit langer Zeit beliebtes Verfahren, welches von Kussmaul und Fleiner in Deutschland besonders und mit Recht empfohlen ist. Man kann dazu grosse Mengen, 300—500 gr reines Oel (Leinöl oder Sesamöl) nehmen, und erzielt damit gleichzeitig einen Anreiz auf die Peristaltik und eine Schlüpfrigmachung der unteren Wege (die vielfach behauptete erweichende Wirkung des Oels auf die Skybala ist so gut wie gar nicht vorhanden. Man kann harte Skybala stundenlang in warmem Oel liegen lassen, ohne ein Aufweichen der- selben zu erzielen.) In manchen Fällen kommt man auch mit viel kleineren Mengen, 60—80 gr aus. Schade nur, dass die Prozedur durch die ohuehin nicht schöne Manipulation des Klystiersetzens mit dem Oel nicht gerade angenehm wird!
26
Kinen lebhaften Anreiz auf die Peristaltik des untersten Darm- abschnittes übt das Glycerin durch seine wasserentziehende Eigen- schaft aus, und wird deshalb nach dem Vorgang von Oidtmann häufig zu Einspritzungen benutzt. Gewöhnlich kommt man mit sehr kleinen Gaben, 10—15 cbcm, die man mit einer kleinen Glasspritze einbringt, aus. Doch braucht man keinen Anstand zu nehmen, die Menge auf 30, 50 und mehr cbem zu erhöhen. An Stelle der Ein- spritzung kann man auch Glycerinzápfchen verwenden.
Selbstverständlich kann man auch andere geeignete Medicamente, wie Emmulsionen von Ricinusöl, Abkochungen von Senna, Auf- lösungen von Mittelsalzen, besonders Karlsbader Salz u. Ae. per rectum appliciren. Doch werden sich derartige Maassnahmen immer mehr auf einzelne Male beschränken als zu dauerndem Gebrauch ge- eignet sein.
Schliesslich kommt man in gewissen Fällen von Obstipation überhaupt nicht mit Abführmitteln zum Ziel, sondern bedarf der calmirenden und krampfstillenden Medicamente. Das sind die Fälle in denen die Obstipation auf einen vorübergehenden oder dauernden Krampf eines begrenzten Darmabschnittes beruht, der z. B. jedesmal dann auftreten kann, wenn sich der Darminhalt resp. die Kothsäule bis an die betreffende Stelle vorschiebt. Abgesehen von der schon oben angeführten Bleikolik kommen hier besonders Rückenmarks- und Gehirnleiden, gewisse Neurosen, die mit einem krankhaften Reizzustande des plexus coeliacus verbunden sind und gewisse Formen der Hysterie in Betracht. Hier leisten, freilich nur vor- übergehend, die Opiate, die Belladonna, das Chloral, besonders das Coffein-Chloral und das Extract. fabae calabaricae überraschende Dienste.
Einen hervorragenden Platz in der Behandlung der Obstipation nehmen die Heilquellen ein, von denen ich meiner persönlichen Erfahrung entsprechend nur die deutschen Quellen im weiteren Sinne, d. h. die von Deutschland, Oesterreich und der Schweiz beriicksichtige. Man kann dieselben eintheilen: in 1) reine Kochsalz- wässer (Wiesbadener Kochbrunnen mit 6,83 pro mille Kochsalz, 0,47 Chlorcalcium, 0,42 kohlensaurem Kalk); 2) Kochsalzwässer mit starkem Kobhlensäuregehalt (Kissinger Rakoczy: Kochsalz 5,82, Chlorkalium 0,28, kohlensaurer Kalk 1,06, gasfórmige Kohlensäure 1392 cbcm
27
im Liter); 3) alkalisch-salinische Quellen (Karlsbader Sprudel: Natr. sulfur. 2,5, kohlensaures Natron 1,3, Chlornatrium 1,0; Marienbader Ferdinandsbrunnen: Natr. sulfur. 5,0, kohlensaures Natron 1,2, kohlen- saure Magnesia 0,9, Chlornatrium 2,0 und Kohlensäure 1127 cbcm im Liter; Tarasp (Luciusquelle): schwefelsaures Natron 2,06, kohlensaures Natron 3,5, kohlensaurer Kalk 1,6, Kochsalz 3,8, Kohlensäure 3575 cbcm im Liter; 4) die alkalisch-muriatischen Wasser (z. B. der Emser Kessel- brunnen: kohlensaures Natron 1,99, Kochsalz 1,0, kohlensaurer Kalk 0,22 und gasförmige Kohlensäure 553,2 cbem im Liter).
Die Wirkung der Kochsalzwässer beruht wesentlich auf einer Erhöhung der Absonderung und der Resorption und damit auch einer Steigerung des Stoffumsatzes. Ihr Einfluss auf den Darm ist wahr- scheinlich ein directer und indirecter. Sie wirken einmal schleim- lösend und verflüssigend auf den Darminhalt direct ein, das andere Mal regen sie die Magenthätigkeit an und wirken von hier aus reflectorisch auf die Darmbewegung ein. Dies wird in erhöhtem Maasse verstärkt durch das gleichzeitige Vorhandensein der Kohlen- säure, wie es in dem Kissinger Brunnen statthat. Immerhin sind grössere Quantitäten dieser Wässer nothwendig, um eine abführende Wirkung zu erzielen.
Die glaubersalzhaltigen Quellen, wie Marienbad, Karlsbad, Tarasp, Rohitsch, Franzensbad, Elster u. A. wirken im Wesentlichen durch ihren Gehalt an schwefelsaurem Natrium, äussern sich aber in ihrer abführenden Wirkung bei verschiedenen Individuen sehr verschieden. Am sichersten wirkt nach dieser Richtung Marienbad wegen seines hohen Gehaltes an schwefelsaurem Natrium und der niedrigen Tem- peratur der Quellen (9—11° C.), während die heissen Quellen von Karls- bad, wie bereits bemerkt, nicht selten eine direct obstipirende Wirkung haben und weit mehr gegen die zu Grunde liegenden catarrhalischen Zustände, mangelnden Gallenfluss u. s. f., ihre Wirkung entfalten, als dass sie direct abführen. Dasselbe gilt auch von den alkalisch- muriatischen Quellen. Dringend muss davor gewarnt werden, schwäch- liche und anämische Personen oder nervöse Individuen ohne Weiteres an die Glaubersalzquellen zu schicken, welche wegen ihrer verhältniss- mässig schweren Verdaulichkeit und wegen ihres starken Salzgehaltes von derartigen Patienten häufig sehr schlecht vertragen werden. Ueberbaupt ist die Auswahl eines passenden Badeortes nur durch
28
eine reiche Erfahrung und genaue Kenntniss der verschiedenen Badeorte möglich und die Patienten sollten in irgend zweifelhaften Fällen, ehe sie die Badeorte aufsuchen, eine Autorität auf diesem Gebiete consultiren. Alle Jahre kommt es mir zu wiederholten Malen vor, dass ich von derartigen Patienten wegen des zu be- suchenden Badeortes um Rath gefragt werde, und es sich dann herausstellt, dass dieselben von Hause eine durchaus irrthümliche und unzweckmässige Directive erhalten hatten.
Was schliesslich die Bitterwässer betrifft, Friedrichshaller, Seid- litzer, Ofner, Püllnaer u. A., so wirken sie ebenfalls durch ihren grossen Gehalt an schwefelsauren Salzen, der z. B. im Püllnaer Bitterwasser 16,7 gr schwefelsaures Natron und 12,1 gr schwefel- saure Magnesia beträgt. Diejenigen Wässer, in denen das Magnesium- sulfat über das Natronsalz überwiegt, wirken angenehmer, wie wenn das gegentheilige Verhältniss vorhanden ist. Indessen walten auch hier grosse individuelle Verschiedenheiten vor.
Verantwortl. Redakteur: Hofrath Dr. Ernst Stadelmann in Berlin. Drack von Albert Koenig in Guben. Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden direct an den oben genannten Redacteur, Berlin SW., Anhaltstrasse 12, oder durch die Verlagsbuchhandlung erbeten.
BERLINER KLINIK No. 105. MARZ 1897.
A ee A | be bn bo on on on bo on ton lon to ton bon lon ton A
Ein Beweis, dass unser Airol auch bei Ohrenerkrankungen mit den besten Erfolgen angewendet wurde, geht aus dem uns seitens des Herrn Dr. Adalbert von Hebentanz, v. d. Univ. v. Wien,
in Caire gütigst übermachten Berichte hervor.
„Ihr mir probeweise zugesandtes
Goldene Medaille Goldene Medaille li. Internat. pharm. Genf 1896. Ausstellg. Prag 1896.
habe ich dankend erhalten und habe ich dasselbe bei zahlreichen Ohrenerkrankungen, hauptsächlich bei acuten und chronischen Mittelohreiterungen in Verwendung gezogen, theils ungemengt, theils gemengt mit Borsäure, selbstverständlich in Pulverform, —
Das Airol hat sich mir in meiner Ohrenpraxis als ein aus- gezeichnetes antiseptisches, aufsaugendes und austrocknendes Mittel erwiesen, und hat die Eigenschaft, dass es absolut nicht reizt.“
Litteratur und Gratismuster stellen wir den Herren Aerzten
stets gern zur Verfürune. D D m
F. Hoffmann-La Roche & Cie.,
vormals Hoffmann, Traub & Cie., Fabrik chem. pharm. Producte, Basel (Schweiz).
Sämmtliche Verbandstoff-Fabriken stellen Airolgaze her.
— — -M mm
iA aa a An Aa Aa A Aa Aa Aa Aa Aa a a A E
9 ESA
Schmidt's Jahrbücher. Bd. 1—128 m. Supplt. u. Reg., BS). . . . M. 230— R = Jahrg. 1887/1894 . . . or ch AA Archiv f. Chirurgie. Bd. 1—40, Halbfrz. geb., ER aS ae „ 500, — Archiv f. Gynäkologie. Bd. 1-43, gut erhalten . gs „ 340,— Zeitschrift f. Geburtshilfe. Bd. 1—32 . 5, 300,-— Jahrbuch f. Kinderheilkunde. Erste Folge, Bd. 1-8. N. F, Bd. 1—34 i gob, „ 225, — Archiv f. Kinderheilkunde. Bd. 1—18. ; „ 135,— Graefe's Archiv f. Ophthalmologie. Bd. So: es a ” 275,— Fortschritte d. Medicin. Bd. 1—9. 1883/91 eek ok ap aoe ie | ı 2 Therap. Monatshefte. 1887—1896 . . . ES an Gee ee Pa DO Jahrbuch f. prakt. Aerzte bis 1893 . „ 110,— Vierteljahrsschrift f. ie Medicin. 1878—1894 m. - Supplt, gob. und broch.. . ; „ 120,— Zeitschrift f. Heilkunde. Bd. 1—11 geb. ee ee eee er E A a Sammlung klinischer Vorträge. I. Folge eplt. . „ 100,— Sammlung klinischer Vortriige. Neue Folge, Serie 1—4 No. 1—120 „ 36,— Centralblatt f. Gynäkologie. 1884—1895 . . . „ S0,— Centralblatt f. ges. Medicin. 1887—1895, a Jahrg. . „ 18, — Eulenburg, Realencyclopiidie. Bd. 1—22 geb. gutgehalten. 2. Aufl. „ 100,—
BEE” Eine grosse Partie früherer Jahrgänge von Wochen- u. Monatsschriften steht in cartonirten Bänden zu beispiellos billigen Preisen zur Verfügung. Diese Bände sind zum Nachschlagen sehr geeignet.
Billigste Bezugsquelle für ältere medicinische Zeitschriften. Antiquariats-Katalog No. 5 steht auf Verlangen zu Diensten.
Sazlehmer:
E »
x taz See `
A iev ~ yg SELEY . ’ and
ER Saxlehner k. u. k. Hoflieferant.
Besitzer der altbewährten „Hunyadi J ános Quelle.” Als bestes natürliches Abfiihrmittel empfohlen.
VORZUGE: Prompte, ungenehme, sichere Wirkung. — Leicht,
ausdauernd vertragen. — Geringe Dosis. — Milder
Geschmack. — Gleichmässiger, nachhaltiger Effect Zum Schutze gegen irreführende Nachahmung wollen die Freunde echter Hunyadi Jänos Quelle ausdrücklich
Al Sazlehner |: = a i Bittern ls eal o ASSLT |z PEF verlangen und Nachahmungen zurückweisen. FH 45 In allen Mineralwasserdepots u. Apotheken erhältlich, $ e
s Í 7. 5
TE Fe
yk fs" | e v} .
Tern 4 Y
al —— i gt. 7 4 k fe |
"Bitferwasset 4
wr
g ge z f-
BERLINER KLINIK No. 105. MARZ 1897.
Tharandt. Heilanstalt für -Nervenleidende und Erholungsbedürftige.
Prachtvoll gelegen, sehr elegant und komfortabel eingerichtet.
Kaltwasserkuren — elektrische Behandlung — elektrische 186] Bäder — Massage.
== Das ganze Jahr geöffnet. ===
Prospecte sendet auf Verlangen Dr. med. Haupt.
= Lanolinum puriss. Liebreich
einzige antiseptische, nie dem Ranzigwerden unterworfene Salben- basis. Vollkommen mit Wasser und wässerigen Salzlösungen mischbar.
Benno Jaffe & Darmstaedter,
Martinikenfelde bei Berlin. [205 Eine Zusammenstellung der Literatur über Lanolin wird auf Wunsch franco zugesandt.
o >» è è è ọọ > > o o è oo
0000 Neu! cece Elix. Condurango peptonat. Immermann.
In Orig.-Fl. Als von vorzügl. Erfolg anerkannt bei allen Arten von Magen- krankheit, Indigestion und Dyspepsie etc. Wichtig bei Neubildungen und zur =~ Normalisirung der Magenfunctionen während u. nach allgemeinen Erkrankungen. « Herr Geheimrath Stöhr, Kissingen, schreibt: „... Ich bin so zufrieden mit
demselben, wie noch nie mit einem neuen Mittel! Es ist von höchstem Werthe für die tägliche Praxis und hat mir — so zu sagen — schon förmlich Wunder’ gewirkt — namentlich bei alten und chron. Leidenden .. .“ — Zu haben in den Apotheken. Wo noch nicht vorräthig, bitte, ev. unliebsamer Irrthiimer wegen, _ Bezug unter gleichzeitiger Mittheilung der genauen Fabrikadresse zu veranlassen ` (vide Gebhardt-Michaelis’sches Referat. — Drucksachen zu Diensten. Allein -
autorisirter Fabrikant: Apotheker F. Walther, Strassburg i. Els. [666 x,
terilisirungs - Apparate vastone ad -*
Catgut, Einsätze zur Sterilisirung von Nahtseide, Catgut und Verbandstoffen. BEE Zusammenlegbarer Universal-Sterilisator MN nach Professor Dr. CARL BECK, New-York, ne
Operationstische, zusammenlegbare Operationstische E nach Dr. BRAATZ, | zu beziehen durch alle Fabrikanten chirurg. Instrumente, sowie durch
Th. Schmucker,
184] Heidelberg (Baden). .
Zur Behandlung der beweglichen Scoliose. Von
Privatdocent Dr. Egon Hoffmann in Greifswald.
Zweck dieses Aufsatzes ist es, dem practischen Arzte eine kurz- gefasste Anleitung zu geben, in welcher Weise er mit einfachen Mitteln dem Anfangsstadium eines Leidens begegnen kann, das in seinem ausgebildeten Zustande jeder Behandlung spottet und fiir den Kranken von der schwerwiegendsten Bedeutung ist.
Die Scoliose ist eine häufige Krankheit. Sie ist wohl die am meisten vorkommende Deformität. Gerade in den Händen der prac- ticirenden Aerzte, besonders der Hausärzte, liegt es, dieser Krankheit auf das wirksamste entgegen zu treten, da sie in der Lage sind, ihr in ihren Uranfängen zu begegnen, während die in Behandlung der Specialisten kommenden Fälle sich meist in so fortgeschrittenen Stadien befinden, dass es sich höchstens um Besserung, um Heilung gar nicht mehr handeln kann.
Die wenigsten Aerzte jedoch haben während ihrer Studienzeit Gelegenheit gehabt, sich eingehender mit diesem Leiden zu beschäf- tigen. Dazu kommt, dass die Ansicht über das Wesen und damit über die Behandlung der Scoliose manche Wandlungen durchgemacht hat, denen der ältere practicirende Arzt nicht immer hat folgen können. Die Anzahl der empfohlenen Heilmethoden scheint dafür zu sprechen, dass sie alle zusammen nichts rechtes nützen, während dieser Vorwurf doch im Wesentlichen nur die Therapie der vorgeschrittenen Fälle trifft. Die Mehrzahl der Aerzte ist daher leider ziemlich gleichgiltig gegenüber diesem Leiden. Sie übersehen häufig die Anfänge desselben oder trösten die Angehörigen damit, dass die Sache noch nicht schlimm
sei und später immer noch Zeit sei, dagegen etwas, z. B. durch ein | l
)
_
Corset, zu thun. Und wenn auch der Arzt das Leiden rechtzeitig erkannt hat und er von der Wichtigkeit sofortiger energischer Mass- regeln überzeugt ist, so weiss er doch häufig nicht, was er machen soll. Er wendet eventuell die richtigen Mittel aber in falscher Weise an, so dass sie ohne Wirkung sind, manchmal sogar schaden. Wird der Specialist consultirt, so ist es für ihn schwer, unter den gegebenen Verhältnissen dem behandelnden Arzte mit wenigen Worten oder auch in einem längeren Briefe die Principien und die speciellen Massnahmen der Behandlung so auseinander zu setzen, dass er nicht missverstanden wird und schwerwiegende Fehler unmöglich sind. Die vorhandene Litteratur ist zu umfangreich, um vom practicirenden Arzte gelesen werden zu können, oder zu schwer zugänglich, oder, weil ohne passende Abbildungen, zu schwer verständlich. Die empfohlenen Mittel sind vielfach für den Arzt zu complicirt resp. erfordern Appa- rate, die nicht jeder besitzen kann. Deshalb möge man mir ver- zeihen, dass ich die vorhandene so zahlreiche Litteratur über diesen Gegenstand noch vermehre, indem ich versuche, an der Hand von einigen Abbildungen Massnahmen zu lehren, wie den Anfängen jener Krankheit vom practischen Arzte wirksam begegnet werden kann. Ich habe in der Gymnastik Uebungen gewählt, die Jedem von Turnen auf der Schule und beim Militär bekannt sind.
Scoliose ist bekanntlich eine Abductionsstellung der Wirbel- säule, bei welcher die übrigen Veränderungen an der Wirbelsäule sowie am Thorax klinisch und practisch wichtiger sind, als die Ab- ductionsstellung.
Ich übergehe hier seltenere Scoliosenarten wie die angeborene, die cicatrielle, die traumatische, die nach Empyem oder Lungen- schrumpfung entstandene, die neuromusculäre, sogenannte Ischias scoliotica, und möchte nur, ehe ich mich zu meinem eigentlichen Thema wende, Einiges über die rachitische und statische Scoliose sagen.
Die rachitische Scoliose entsteht zwischen dem 1. und 7. Lebens- jahre, am häufigsten im zweiten. Sie kommt bei beiden Geschlechtern gleich häufig vor. Es ist meist eine Ausbiegung der Wirbelsäule nach einer Seite, eine Totalscoliose, vorhanden und zwar in der Regel nach links. Man nimmt an, dass besonders das Tragen der kleinen Kinder auf dem linken Arme, sodass der Oberkörper nach links über- liegt, an dieser Deviation Schuld habe. Bei der Weichheit der
3
Knochen, der Schlaffheit der Bänder, der Schwäche der Muskeln kommt es dann zu einer Fixation dieses Zustandes. Characterisch für diese Scoliose ist weiter, dass meist starke Deformationen am Thorax be- sonders auch an der Vorderseite vorhanden sind. Für die Behand- lung kommen hauptsächlich Lagerungsapparate, bei denen auf die prominenten Teile ein Druck ausgeübt wird, so die Rückenplatte mit Keilkissen nach Vogt, der Bühring’sche Lagerungsapparat, die Barwell’sche Schlinge, der Wolff’sche Schweberahmen in Anwendung. In leichteren Fällen ist schon die Lagerung auf einer recht ebenen, harten Matratze von Nutzen. Die rachitischen Scoliosen sind die einzigen, bei denen ich von portativen corrigirenden Apparaten, die ähnlich dem Nyrop’schen Corset construirt sind, Erfolge und zwar in einigen Fällen recht gute gesehen habe.
Die statische Scolivse entsteht durch Senkung einer Becken- seite, wozu Verkürzung eines Beines Anlass giebt. Solche Ver- kürzungen sind bekanntlich nicht selten; sie entstehen infolge von Beuge-Contracturen des Hüft- und Kniegelenks, von Fracturen mit Verkürzung, von spinalen Lähmungen, von Epiphysentrennungen traumatischer oder entzündlicher Art etc. Es finden sich aber auch angeborene Verkürzungen. Früher hielt man dieselben für ein recht häufiges Vorkommnis und Vogt war geneigt, ihnen den Hauptanteil an der Entstehung der habituellen Scoliosen zuzuschreiben. Neuere mit Messapparaten vorgenommene Untersuchungen haben gelehrt, dass diese angeborenen Verkürzungen zwar nicht selten, aber meist sehr minimal sind und fast ebenso häufig rechts wie links vor- kommen, während sie, um die typische habituelle Scoliose zu be- dingen, hauptsächlich links vorkommen müssten. Trotzdem spielen statische Momente auch beim Zustandekommen der habituellen Sco- liosen sicherlich eine wichtige Rolle. Wenn man eine ausgeprägte Scoliose von hinten betrachtet, hat man meist den Ein- druck, dass an der Seite der Lumbalconvexität das Becken etwas tiefer stinde. Man kann sich einigermassen Gewissheit über den Stand des Beckens verschaffen, wenn man die Hände, die Weich- teile eindrückend, auf die Beckenkämme legt und den Hochstand der Hände mit einander vergleicht. Diese Untersuchung ist jedoch ungenau. Nur exacte Messungen der Länge der Beine oder die Wasserwage geben sicheren Aufschluss. Ist nun das eine Bein, wir
]* a
4
wollen sagen das linke, kürzer, dann muss die Lendenwirbelsäule eine Neigung nach links annehmen, da aber der Mensch nicht mit nach links geneigten Oberkörper dastehen kann, muss er den letzteren nach rechts überbiegen. So entsteht eine lumbale links convexe Scoliose. Nun würde der über diesen Wirbelsäulenabschnitt gelegene Teil des Oberkórpers nach rechts hiniiberliegen. Behufs Exquili- brirung wird nun der obere Teil der Rückenwirbelsäule nach links gebogen. So entsteht eine rechts convexe Dorsalscoliose und manch- mal noch auf ähnliche Weise eine nach links convexe Cervical- scoliose.
Es ist auffallend, dass sich die statischen Scoliosen selten fixiren. Der Grund dafür liegt wohl darin, dass beim Sitzen immer wieder der Schiefstand des Beckens verschwindet und die Patienten, wie Jaff6 meint, meist wegen Schwäche des kürzeren, weil erkrankten, Beines, die Last des Körpers auf der gesunden Seite ruhen lassen und so einen Stand einnehmen, als wenn das kranke Bein verlängert wäre. Berücksichtigen muss man auch, dass bei den Patienten mit statischer Scoliose die das Zustandekommen der habituellen Scoliose begünstigenden Momente häufig fehlen. Ist die Ursache für Senkung der einen Beckenseite schon in früher Jugend entstanden, dann kommt es auch hier zur Fixirung der Scoliose.
Die Behandlung der statischen Scoliose geschieht durch Be- seitigung der die Beckensenkung veranlassenden Momente, also Ver- längerung des kürzeren Beines durch hohe Sohle und hohen Absatz, Einlegen einer Sohle in den Schuh etc. In manchen Fällen wird man Gründe haben, die Scoliose ruhig bestehen zu lassen.
Die häufigste und practisch wichtigste Scoliose ist die habituelle. Ueber die Ursachen derselben sowie über die Erklärung der ana- tomischen Verhältnisse bei derselben herrscht noch nicht in allen Punkten vollständige Klarheit. Ich übergehe die zahlreichen Theorien, die über die Entstehung dieses Leidens aufgestellt und wieder verworfen sind und beabsichtige nur das wiederzugeben, was durch Erfahrung und Untersuchung sich als Thatsächliches herausgestellt hat oder wenig- stens z. Z. als solches gilt.
Es giebt eine grössere Anzahl die Entstehung der Scoliose be- günstigender Momente. Als solche sind zu nennen Erblichkeit.
>
D Eulenburg fand dieselbe in 25 °/,, Hoffa in 27!/, %,, Vogt in einem Drittel simmtlicher Fälle nachweisbar. Die Krankheit als solche ist dabei nicht vererbt, nur die Disposition dazu. Bei derartiger ver- erbter Anlage findet man zuweilen, dass das Leiden der Therapie ausserordentliche Schwierigkeiten macht. Ein ferneres begünstigen- des Moment liegt in Residuen überstandener Rachitis, welche sich als gewisse Widerstandsunfähigkeit der Knochen, Bänder und Muskeln zu erkennen giebt (hiermit ist nicht zu verwechseln die eigentliche rachitische Scoliose). Jedenfalls kann man bei einer grossen Zahl von Scoliotischen Spuren überstandener Rachitis finden und ferner kommt man ohne Annahme einer gewissen Weichheit und ver- minderten Widerstandsfähigkeit der Knochen nicht aus zur Erklärung der Formveränderungen an der Wirbelsäule. Diese Weichheit der Knochen, die Nachgiebigkeit der Bänder, Schwäche der Muskeln wird ausser durch die rachitische Anlage auch hervorgerufen dureh die in die Entstebungszeit der habituellen Scoliose hineinfallende gesteigerte Entwickelung des Individuums, besonders auch durch die Differencirung der Geschlechter, das vermehrte Längen- wachstum u. s. w. Esis erklärlich, dass besonders bei Mädchen die Ent- wickelung zur Geschlechtsreife das Gleichgewicht zwischen Kraft und geforderter Leistung stören wird. So ist die stärkere Beteiligung des weiblichen Geschlechts — Vogt beobachtete unter 300 habituellen Scoliosen nur 10 Knaben, Hoffa berechnet das Verhältniss auf 5 bis 6:1 — an dieser Krankheit verständlich. Zu diesen allgemeinen ursächlichen Momenten kommen nun eine Anzahl specieller, die in unsern culturellen Einrichtungen und Verhältnissen ihren Grund haben. Es ist vor Allem das durch die Forderungen der Schule bewikte anhaltende Sitzen der heranwachsenden Kinder, eine Be- hauptung, mit der wohl alle Autoren übereinstimmen. Mit den ersten Schuljahren fällt auch die Entstehungszeit der Scoliose zu- sammen. Nach Eulenburg entsteht sie am häufigsten zwischen 7. und 10. Lebensjahre. Durch das viele Sitzen kommt es zur Uebermiidung der Muskeln, die ja sowohl beim Gehen und Stehen wie beim Sitzen die Wirbelsäule im Gleichgewicht halten sollen. Ein Ausruhen durch Anlehnen ist vielfach wegen Mangel von Lehnen nicht möglich, häufig wird es auch törichter Weise von den Lehrern verhindert, welche ein gerades Sitzen verlangen. Die Kinder werden also, an-
6
statt die Muskeln dazu zu brauchen, eine passive Hemmung fiir die Geradhaltung der Wirbelsäule suchen. Zunächst knicken sie nach vorn über, sie sitzen bucklich da. Da aber nach vorne die Wirbelsáule ziemlich ausgiebig beweglich ist, werden sie leichter durch Seitwärtsbiegung und Drehung eine solche Hemmung er- reichen. Sie nehmen also eine scoliotische Haltung an. Begünstigt wird diese Hemmung durch Abduction der Wirbelsäule noch durch die vorhandene normale anteposteriore Krümmung der Wirbelsäule d. h. der Lordose im Lenden- und der Kyphose im Brustteile der Wirbelsäule. Wir sehen demnach, dass, wo diese normale Krümmung in der sagittalen Ebene schlecht entwickelt ist, die Disposition zur Scoliose, und zwar zu schweren Graden, gegeben ist, und dass andererseits die Ausbildung der Abductionsstellung der Wirbelsäule die in diese Zeit fallende Entwickelung der anteposterioren Krüm- mung verhindert oder vermindert.
Ferner ist ausser der Benutzung der Knochen und Bänder- hemmung auch das durch andere Momente bedingte schlechte Sitzen eine Veranlassung für die scoliotische. Haltung. Hierzu ge- hört vor Allem das Sitzen beim Schreiben. Um den Körper teilweise zu entlasten, wird der eine oder der andere Unterarm in der ganzen Ausdehnung auf den Tisch gelegt. Dazu kommt die leider immer noch nicht abgeschaffte Schrägschrift, welche den Schreibenden zu einer Drehung des Körpers geradezu zwingt. Da nun das Becken auf der Bank aufruht und die Bank als solche die Seitwärtsbewegung der Beine hindert, wird die Wirbelsäule ge- dreht und dabei der Körper noch meist nach einer Seite hinüber- gelegt. Beim Auflegen des linken Arms wird die Wirbelsäule nach rechts gedreht und es kommt zu einer linksconvexen Dorsalscoliose, beim Auflegen des rechten Arms ist es umgekehrt. Die Kopfhaltung ist ebenfalls von Einfluss auf die Körperhaltung. Sie hängt nach Schubert ab von der Richtung der Zeilen, indem man bestrebt ist, die Verbindungslinie der Augen mit diesen parallel zu stellen. Nun wird bei der üblichen Schrägschrift das Heft schräg zur Richtung des Tisches gelegt und damit bewirkt, dass auch der Kopf mit Vor- liebe nach einer Seite gebeugt wird. Die Haltung des Kopfes hat natürlich aus statischen Gründen auf die Haltung der Wirbelsäule einen Einfluss. Hoffa erklärt das Zustandekommen der typischen
Scoliose auf scheinbar sehr einfache Weise, indem er in seiner orthopädischen Chirurgie sagt: „Vergegenwärtigt man sich die normale anteposteriore Krümmung der Wirbelsäule — die Kyphose im Brust-, die Lordose im Lendenteil —, so begreift man leicht, dass sich bei der Drehung eines derartigen elastischen Stabes beispielsweise nach links, die nach vorn gerichtete Convexität des unteren Abschnittes ebenfalls nach links wenden, die rückwärts gekehrte Convexität des oberen Abschnittes dagegen nach rechts wenden muss, eine Bewegung, welche denselben Erfolg haben muss, wie eine Seitenbiegung im Lendenteil mit linksseitiger Convexität und eine umgekehrte Biegung im Brustteil, also genau das, was wir bei der habituellen Scoliose antreffen.* Wenn dies richtig wäre, müsste eine gut ausgebildete anteposteriore Krümmung die Scoliose begünstigen, was den That- sachen widerspricht, und andererseits ist ersichtlich, dass in dem an- geführten Falle die Wirbelkörper des Brustteils stark nach den Seiten der Concavität gerichtet sein müssten, was gerade umgekehrt der Fall ist.
Jedenfalls steht das fest, dass gerade beim Sitzen und besonders beim Schreibact reichliche Gelegenheit zur Abduktionsstellung und Drehung der Wirbelsäule gegeben ist. Aber auch in aufrechter Haltung beim Stehen ist Gelegenheit genügend vorhanden, bei Ermüdung der Muskeln jene oben erwähnte Knochenhemmung in Tätigkeit treten zu lassen. Es kommen hinzu statische Verhältnisse, die sicher auch bei der habituellen Scoliose nicht ganz ohne Einfluss sind. Einmal kann das immerhin ziemlich häufig vorkommende Kürzersein eines Beines der Anlass zur Senkung der einen Beckenseite sein, oder es besteht die nicht seltene Angewohnheit, beim Stehen ein Bein durchzudrücken, das andere vorzusetzen oder gebeugt zu halten, wobei dann die ent- sprechende Beckenseite tiefer steht. Hierzu mag, wie Vogt meint, auch die Art der Unterstützung des Beckens beim weiblichen Geschlecht beitragen. Die Unterstützungspunkte und damit die Oberschenkel stehen weiter aus einander. Das Geradestehen mit durchgedrückten Knieen könnte nur mit abducirten Unterschenkeln stattfinden. Das vermeiden die meisten Mädchen, indem sie ein Bein krümmen oder vor das andere stellen. Auch sonst giebt es noch manche Momente, welche ausser den erwähnten wohl der Anlass sind, dass bei Mädchen die Scoliose so ungleich häufiger ist als bei Knaben. Obwohl Letztere doch mindestens ebenso viel bei ihren Schularbeiten sitzen wie die
S Mädchen, haben die Schädlichkeiten nicht einen so anhaitenden Einfluss. Während die Mädchen auch ausserhalb der Schule gesittet einhergehen müssen, zu Haus mit Klavier- oder Mal-Unterricht oder Handarbeiten beschäftigt werden, haben die Knaben viel mehr Gelegenheit durch ihre Spiele, ihre grössere Ungebundenheit die Nachteile des Schulsitzens wieder wett zu machen. So wird die Musculatur bei den Knaben in anderer Weise geübt, wie bei den Mädchen, nicht allein durch ihr intensiveres Turnen, sondern be- sonders noch durch das Springen, Klettern, Laufen bei ihren Spielen. Nicht zu unterschätzen ist auch das häufig schon frühzeitige Tragen eines Corsets, das die Riickenmusculatur ausserordentlich verkümmern lässt.
Wird nun in Folge der erwähnten Veranlassungen die scoliotische Haltung bäufig eingenommen, so tritt etwas hinzu, was ich für ausser- ordentlich wichtig halte, nämlich eine Alteration des Muskel- gefühls in der Weise, dass die Kinder allmählig das Gefühl für die normale aufrechte Körperhaltung verlieren. Anfangs sind sie noch im Stande auf ein ermahnendes Wort die richtige Körperhaltung ein- zunehmen, später verlernen sie es und mit diesem Momente ist eine wirkliche Abnormitát vorhanden, die ohne richtige Hilfe die Neigung zur Ausbildung grosser Deformitäten am Körper in sich trägt. Man macht es sich in der Regel nicht recht klar, dass das Gefühl für die aufrechte Körperhaltung, das uns so selbstverständlich erscheint,der Ausdruck sozusagen eines besonderen Sinnes ist. Bekannt ist, dass Tiere mit Läsion gewisser Hirnteile, so besonders der Halb- zirkelkanäle, das Gefühl für das Gleichgewicht, für die aufrechte Haltung des Körpers verloren haben. Man kann alle Tage Menschen sehen, die in diesem Gefühl kleine Defecte zeigen, die schwer zu beseitigen sind. Besonders die die Rekruten ausbildenden Offiziere und Unteroffiziere wissen davon zu erzählen. Da ist Einer, der hält unmotiviert die eine Schulter höher, ein Anderer hält den Kopf schief, ein Dritter hält den einen Arm zu sehr abducirt etc. Sie Alle glauben gerade zu stehen oder zu gehen. Sie haben das Ge- fühl für diese abnorme Haltung verloren. Den Erwähnten erwachsen keine weiteren Nachteile aus ihren kleinen Fehlern, anders ist es bei jenen Kindern mit scoliotischer Haltung.
Durch die Belastung in dieser Stellung, die man als ersten Grad der Scoliose bezeichnet, konımt es nun zu einer Reihe von
9
Veränderungen am Skelett, die in Folge des verwickelten Baues der Wirbelsäule, ihrer Gelenkverbindungen, der Hemmungsvorrichtungen für die Bewegungen u. s. w. sehr complicirte sind. Meyer hat gezeigt, dass bei einer normalen Wirbelsäule, wenn sie in Abductions- stellung gebracht wird, eine Drehung eintritt. Später treten zu dieser Drehung eine Reihe von Umbildungen in der Gestalt der Wirbel, besonders ihrer Körper und Bögen, die grösstenteils den Eindruck der Drehung noch vermehren. Früher erklärte man alle diese Er- scheinungen als durch die Torsion der Wirbelsäule bedingt. Durch neuere Arbeiten besonders von Lorenz, Nicoladoni und Albert hat sich herausgestellt, dass sie der Hauptsache nach auf Apposition oder Schwund von Knochensubstanz beruhen. Ich will hier auf die Resultate dieser scharfsinnigen Untersuchungen nicht näher eingehen, da sie, weil hauptsächlich an ausgebildeten Scoliosen gemacht, für die Entstehung der Anfangsstadien der Scoliose ohne besonderen Wert, und deshalb auch auf unsere Therapie ohne Einfluss sind.
Durch die primäre Drehung der Wirbelsäule um eine verticale Achse, die Albert als Rotation bezeichnete, und die späteren Veränderungen, die er unter dem alten Namen der Torsion zu- sammenfasste, kommt es nun zu folgenden Formveränderungen an der Wirbelsäule und am Brustkorb. Nehmen wir an, dass eine linksseitige Lendenscoliose, das primäre ist, so wird sich entsprechend den Gesetzen der Statik, wie wir dies bei der statischen Scoliose entwickelt haben, eine rechts convexe Dorsalscoliose ausbilden. Als Ausdruck dafür finden wir, dass die Verbindungslinie der Processus spinosi eine umgekehrt S-förmige Figur zeigt. Diese seitliche Ausbiegung der Dornfortsatzlinie ist nicht immer deutlich, ja fehlt zuweilen ganz, weil die Processus spinosi meist nach der concaven Seite der Wirbelsäule und zwar zunehmend nach dem Scheitelpunkt der Concavität hakenförmig abgebogen sind. Es wird dadurch die Abductionsstellung der Wirbelsäule verdeckt. In der Sammlung der Greifswalder chirurgischen Klinik befindet sich ein Präparat von einer derartig hochgradigen Scoliose, dass man sich einen stärkeren Grad kaum vorstellen kann, und doch liegen die Spitzen der Dornfortsätze aller Wirbel in einer Sagittalebene. |
Viel auffallender wie die seitliche Abweichung der Dornfortsatzlinie
10
sind die durch die Rotation und Torsion bewirkten Veriinde- rungen. Bei dem vorhin erwähnten Beispiele der nach links convexen Lendenscoliose erscheinen die Wirbelkörper des Lendenteils nach links gedreht. Die Processus laterales erscheinen links von der Mittellinie weiter nach hinten zu stehen, als rechts und treiben die sie bedeckenden Muskeln als Wulst hervor, der sich sowohl fühlen als sehen lässt. An dem Brustteile der Wirbelsäule sind die Ver- änderungen noch auffallender. Hier erscheinen die Wirbelkörper nach rechts gedreht. Die rechten Processus laterales zeigen in ausge- sprochenen Fällen eine hakenförmige Krümmung nach der concaven Seite der Wirbelsäule. Durch beide Momente wird bewirkt, dass die hinteren Enden der Rippen eine stärker nach hinten stehende Richtung erhalten und, da die Rippen wegen ihrer Verbindung mit dem Brustbein nach vorn sich abbiegen, so müssen die Anguli costarum eine viel stärkere Knickung zeigen. Die hinteren Abschnitte der Rippen springen daher als Buckel nach hinten vor. Auf der concaven Seite sind die hinteren Rippenenden dagegen mehr seitlich resp. nach vorn gerichtet, sodass die der Concavität entsprechende Thorax- seite, also in unserem Beispiel die linke, flacher resp. eingefallen er- scheint. Diese Formveränderungen der hinteren Thoraxflächen bewirken, dass die rechte Scapula nach hinten abgehoben wird. Ihr innerer Rand besonders springt stärker hervor. Zugleich ist ihre Entfernung von der Mittellinie gegen links etwas vergrössert. Auch die vordere Thoraxseite ist meistens verändert, indem sich ent- sprechend dem Buckel auf der Hinterseite ein solcher diagonal gegenüber auf der anderen Seite vorn findet, — also in unserem Beispiele links vorn — während die Rippen rechts im sanften Bogen verlaufen. Die linke Mamma steht in der Regel tiefer als die rechte. In manchen Fällen findet man jedoch an der Vorderseite recht wenig Asymmetrie.
Entsprechend den geschilderten Veränderungen an der Rück- und Vorderseite des Körpers zeigen auch die Seitencontouren Abweichungen von der Norm. Durch die an der J.umbalwirbelsiule vorhandene Convexität ist die vom Hüftbeinkamm nach oben gehende Begrenzungs- linie verstrichen, nicht so tief ausgebuchtet als auf der anderen Seite. Das sogenannte Taillendreieck, d. h. die von dem herabhängenden Arme und der seitlichen Begrenzungslinie des Körpers gebildete Figur
?
11
ist auf der convexen Seite abgeflacht, auf der entgegengesetzten er- höht. In hochgradigeren Fällen entsteht — in unserem Beispiele rechts — über dem Hüftbeinkamm eine tiefe Furche, der auf der anderen Seite eine gleiche dicht unter der Scapula gelegene ent- spricht. Der ganze Körper ist dabei gegen das Becken nach rechts verschoben. In solchen Fällen kommt es auf der rechten Seite nicht zur Bildung eines Taillendreiecks, sondern der Arm pendelt frei herab. Auch die Nackenschulterlinie, d. h. die seitliche Be- grenzungslinie des Halses, die von der Ohrengegend bis nach dem Acromion läuft, ist verändert, besonders, wenn sich — in gleichem Sinne wie die Lendenscoliose — eine compensatorische Cervical- krümmung ausgebildet hat. Diese einen Bogen beschreibende Linie ist dann links flacher als rechts, ihr unterer Abschnitt steht rechts höher als links.
Alle diese geschilderten Veränderungen und Erscheinungen sind natürlich in sehr verschiedenem Grade entwickelt je nach der Zeit des Bestehens der Scoliose, nach dem Alter, in welchem die Deformität sich zu entwickeln begann — je früher dies der Fall war, desto schlimmer die Veränderungen — und der Intensität der prädisponirenden und veranlassenden Momente. Sodann sind im Anfangsstadium diese Veränderungen grósstenteils noch nicht fest fixirt, Muskelwirkung, statische Einflüsse oder corrigirende des Arztes vermögen einen Teil derselben noch zu verändern oder zum Ver- schwinden zu bringen. Man nennt dies den zweiten Grad der Scoliose. Später tritt eine Fixirung derselben ein, indem die ent- spannten Bänder schrumpfen, die gespannten sich dehnen, die Knochen entsprechend den veränderten Druckverhältnissen sich transformiren, besonders aber indem es an den concaven Seiten zu knöchernen Verwachsungen zwischen den aufeinander gepressten Seitenteilen der Wirbel kommt. Man nennt dies den dritten Grad der Scoliose. Bei diesen hochgradigen fixirten Scoliosen werden dann meist die Organe des Thorax durch seine Gestalt- veränderung ungünstig beeinflusst, besonders Herz und Lunge comprimirt. Solche Kranke gehen dann in der Regel frühzeitig an Herz- oder Lungenkrankheiten zu Grunde.
Auf Grund der geschilderten Erscheinungen ist man in der Lage rechzeitig eine bestimmte Diagnose auf Scoliose zu stellen und
12 den Grad und Character sowie die Art der Therapie festzu- stellen.
Die Untersuchung geschieht in der Weise, dass der Kranke den ganzen Oberkörper bis unter die Hüftkämme entblösst. Diese Entblössung ist notwendig, ein Freimachen des Rückens allein, wo- bei die Arme noch in den Aermeln stecken, genügt natürlich nicht. Ebenso müssen die Hüftkämme jedenfalls frei sein. Die Fixirung der Kleider an dieser Stelle geschieht am besten durch ein kräftiges Gummiband, das an einem Ende mit einer Oese, an dem anderen mit einem Knopf versehen ist. Nun betrachtet man den Kranken zunächst in lässiger Haltung. Man untersucht, welchen Verlauf die Verbindungslinie der Processus spinosi nimmt. Man fährt zu diesem Zweck am Rücken mit zwei Fingern entlang, wobei die Fortsätze zwischen diesen Fingerspitzen bleiben. Es entsteht durch wieder- holtes Herunterstreichen in Folge Rötung der Haut eine rote Linie, die einen guten Anhalt giebt. Man kann auch die Spitzen der ein- zelnen Dornfortsitze mit bunter Kreide bezeichnen. Es kommt darauf an, den oder die Scheitelpunkte der Krümmungen festzustellen. Ebenso wichtig ist die Feststellung, ob die normale physiologische anteposteriore Krümmung der Wirbelsäule vorhanden ist, also die Dornfortsätze in der Sagittalebene eine Sförmige Linie beschreiben, ob diese Krümmung verstärkt oder abgeschwächt ist. Man achtet weiter auf den Stand der Schulterblätter, besonders auf das Abstehen des einen nach hinten: die „hohe Schulter“, ferner auf die Contouren der Hüften. Die Vertiefung des rechten Tailleneinschnittes, bei links convexer Lumbalscoliose, lässt den rechten Hüftbeinkamm höherstehend erscheinen — „hohe Hüfte“. Später, wenn bei stark nach rechts ver- schobenem Oberkörper sich höher oben links ein tiefer Einschnitt gebildet hat, macht es den Eindruck, als ob die linke Hüfte höher stände. Weiter achte man auf die Gegend neben der Lendenwirbel- säule, ob daselbst auf einer Seite die Muskeln stärker vorspringen, ferner auf den Höhenstand der Schultern, die Nackenschulterlinie. Dann betrachte man den Kranken von vorn, achte auf Asymmetrien an den Rippenknorpeln, auf den Stand der Mammae etc.
Nun lasse man zweitens den zu Untersuchenden eine stramme, sogenannte militärische Haltung einnehmen. Man wird dann sofort sehen, ob der Betreffende im Stande ist, ohne oder mit geringer
13
Nachhilfe die schlechte Haltung zu corrigiren, ob es sich also noch um den 1.Grad der Scoliose handelt. Die sehr wichtige Feststell ung, ob schon bleibende Formveränderungen vorhanden sind und welche, gelingt am leichtesten, wenn man bei guter Beleuchtung den zu Untersuchenden den Rumpf nach vorn beugen und die Arme herunterhängen lässt. Es verschwinden dabei eventuell leichte Abductionsstellungen, jedoch wegen des Seitwärtsweichens der Schulter- blätter treten die Anguli costarum deutlich hervor, man erkennt den leichtesten Grad von Buckelbildungen an den Rippen. Ebenso präsentiren sich auch die Partien neben der Lendenwirbelsäule deutlicher. Man sieht und fühlt das eventuelle stärkere Hervortreten der Processus transversi der einen Seite nach hinten. Man kann ferner wahrnehmen, ob die Verstärkung der physiologischen Rücken- kyphose bei diesem Bücken nach vorn in normaler Weise statt- findet. Man beobachtet, dass bei Scoliose diese Steigerung der Kyphose fast immer Schwierigkeiten macht, dass „der Rücken steif ist“. Aehnliches gilt für die physiologische Lendenlordose. Man lässt zu diesem Zwecke den Kranken den Rumpf rückwärts beugen. Auch Seitwärtsbiegungen lässt man ausführen, um zu sehen, ob diese nach beiden Seiten ganz gleichmässig ausfallen. Bei diesen Untersuchungen stellen wir fest, welche Form der Scoliose vorliegt, ob sie eine totale ist oder eine partielle, oder, wie gewöhnlich, eine S-förmige, be- sonders auch in welcher Höhe die Scheitelpunkte der Ausbuchtungen liegen.
Nun versuche man, die falsche Haltung zu corrigiren. Man sagt dem Kranken, welche Manipulationen er zu diesem Zwecke machen muss. Man hilft dabei mit den Händen nach. Bei der typischen umgekehrt S-fórmigen Scoliose geschieht dies, indem man links auf die Weiche, rechts an der Stelle der stärksten Convexität, also meist auf die Gegend aussen und unten vom Schulterblatt einen Druck medialwärts ausübt. Weiter kann man zu diesem Zwecke den Patienten in der Glisson’schen Schlinge suspendiren, um zu sehen, wie viel von den Abductionsstellungen in Folge der Schwere des Körpers zum Verschwinden gebracht wird. Auch die einseitige Be- lastung bei emporgestrecktem Arm durch ein schweres Gewicht wie eine Hantel oder einen Sandsack und dergleichen zeigt dem Untersucher, wie wir weiter unten noch genauer sehen werden, dass Lumbalscoliosen
14
durch derartige Belastung auf der concaven Seite leicht ausgeglichen werden. Schliesslich prüft man auch, ob durch statische Ver- änderungen, also künstliche Verlängerung oder Verkürzung eines Beines, eine Veränderung hervorgerufen wird. Ersteres geschieht am zweckmässigsten durch untergeschobene Brettchen oder Klötzchen, letzteres durch Krümmung eines Beines im Knie. Die gleiche Unter- suchung führt man auch im Sitzen aus, wobei die eine Beckenseite durch ein untergeschobenes Klötzchen oder Buch gehoben werden kann. Alle diese Manipulationen geben neben dem Aufschluss über die Fixirung der Scoliose zugleich einen Anhalt, in welcher Weise die Therapie einzuschlagen sein wird.
Die genaue Feststellung der einzelnen Formveränderungen, be- sonders auch um spätere Verschlechterungen oder günstige Einflüsse der Therapie sicher constatiren zu können, ist nur möglich durch die Anwendung ziemlich complicirter Messapparate, wie sie von Schulthess und Zander angegeben sind. Ein einfacherer und doch brauchbarer Apparat ist der von Mikulicz. Der practische Arzt kann sich helfen mit einem Bleidraht, mit dem man einmal die Figur der Dornfortsatzlinie fixiren kann und dann auch die Form der Thorax- hälften auf Papier übertragen kann. Auch der geburtshilfliche Taster- cirkel lässt sich benutzen, um Asymmetrien der Thoraxhälften fest- zustellen.
Die Behandlung der habituellen Scoliose hängt sowohl in ihrer Art wie in den zu erwartenden Erfolgen hauptsächlich davon ab, welchen Grad der Scoliose wir vor uns haben. Bei Scoliosen 3. Grades können wir nichts mehr von unserer Behandlung erwarten, aber auch die schweren Scoliosen 2. Grades gehören in orthopädische Institute, wo Zeit und Hilfsmittel in ganz anderer Weise zur Ver- fügung stehen wie in der Behandlung des practischen Arztes. Letzterer aber hat als Hausarzt den Vorzug der ungleich dankbareren Auf- gabe, es nicht zu diesen schweren Formen kommen zu lassen, zugleich aber auch die Verantwortung dafür.
Die Prophylaxe erfordert die Beseitigung aller der Schäd- lichkeiten, die wir als begünstigende und veranlassende Momente erkannt haben. Hierbei werden wir auf grosse, z. T. auf unüberwindliche Schwierigkeiten stossen. Wir werden nicht verhindern, dass die heran- wachsenden Kinder täglich stundenlang bei ihren Schularbeiten
15
sitzen miissen, wir werden nicht so leicht gewisse Modethorheiten in der Kleidung, wie das Korset, beseitigen, aber Vieles lässt sich doch erreichen. Durch Beschränkung der Schüleranzahl in den einzelnen Klassen lässt sich sicher die Stundenzahl vermindern, wenn man sieht, wie Kinder bei Privatunterricht mit anderen Schülern gleichen Schritt halten, während sie wöchentlich nur so viel Stunden haben wie jene täglich. Wir können weiter durchzusetzen suchen, dass in regelmässigen Pausen während des Unterrichts Freiübungen gemacht werden, dass die Kinder zwischen den einzelnen Unterrichts- stunden Gelegenheit haben im Freien oder gut ventilirten Räumen sich in ungezwungener Weise zu bewegen, sich ihren Spielen hin- zugeben, dass der Turnunterricht, besonders auch in den Mädchen- schulen, nicht wie bisher eine so untergeordnete Stelle einnimmt. Turnspiele, wie sie jetzt von Görlitz aus immer mehr Verbreitung finden, sollen das regelrechte Turnen ergänzen, und Mädchen ebensogut wie Knaben an solchen Teil nehmen. Auch die Schwimmkunst sollte, woirgend Gelegenheit dazu vorhanden ist, allgemein Verbreitung finden.
Wir haben dafür zu sorgen, dass die Schulbänke durch richtiges Verhältnis der Sitz- und Pulthöhe zur Körpergrösse der Kinder, durch richtig angebrachte Tischplatten und eine nach hinten geneigte Rückenlehne eine ungezwungene, nicht zu sehr ermüdende Sitzstellung erleichtern. Derartige Subsellien sind für die Schule und fürs Haus jetzt in zweckmässiger Form und verschiedener Ausstattung zu haben. Sie müssen so eingerichtet sein, dass während der Schüler die Rückenlehne benutzt, die geneigte Tischplatte so weit dem Körper des Kindes genähert ist, dass das Schreiben in bequemer Weise vor sich gehen kann. Beim Aufstehen muss dieser Teil der Tisch- platte durch Hineinschieben oder Herunterklappen beseitigt werden. Ähnliches kann auch dadurch erreicht werden, dass der Sitz wie bei einem Theaterstuhl umklappbar ist. Der Schreibact muss bei Mittellage des Heftes derartig ausgeführt werden, dass eine Drehung des Rumpfes oder Neigung des Kopfes vermieden wird. Deshalb müssen wir mit allen Mitteln dahin streben, dass allgemein die Steilschrift eingeführt wird. Ein grosser Fortschritt wäre es ferner, wenn mehrere Male im Jahre eine Untersuchung der Kinder auf Beschaffenheit ihrer Wirbelsäule von besonderen Schulärzten oder wenigstens den Hausärzten ausgeführt würde.
16
Wir wenden uns nun der Behandlung des bestehenden Leidens zu. Beim ersten Grade desselben, der Neigung zur falschen Haltung ohne anatomische Veränderungen — einem Zustand, den Jaffé nicht zur eigentlichen Scoliose gerechnet haben will — kommt es einmal darauf an, die Massnahmen, die wir eben als prophylactische kennen gelernt haben, ganz besonders sorgfaltig durchzuftihren, also Alles zu vermeiden, was zur scoliotischen Haltung Anlass giebt, und Alles zu thun, um die Körpermuskeln zu kräftigen. Wir werden also eventuell den Schulunterricht teilweise oder ganz verbieten und werden durch allgemeines Turnen, durch Zimmergymnastik, Rudern. Schwimmen die Muskelkräfte zu heben suchen. Sehr wirksam zeigt sich hierzu die Massage und es kann manchmal durch diese allein eine Heilung erzielt werden. Sie geschieht in der Weise, dass die Kinder in dem bei der Untersuchung beschriebenen entblössten Zustande in Bauchlage auf einem Sofa liegen. Die Arme sind nach vorn ausgestreckt oder über der Brust gekreuzt. Es werden nun die Muskeln zu beiden Seiten der Wirbelsäule vom Hinterhaupt anfangend bis herunter zu den Darmbeinkämmen und seitlich bis an die Schulterblätter und die Seitenbegrenzungen des Unterleibes heran mit Klopfen und Streichen in Angriff genommen. Hieran lässt sich, was hierbei erwähnt werden mag, eine für die Kräftigung der Rückenmusculatur sehr dienliche Uebung anschliessen. Der Kranke versucht aus der für die Massage eingenommenen Position ohne Benutzung der Arme den Oberkörper nach hinten zu erheben. Durch Ausstrecken der Arme nach vorn wird die Uebung erschwert. Aehn- liches wird erreicht, wenn der Patient den Oberkörper über den Rand des Sofas hinausschiebt und nun, während der übrige Körper vom Arzt gehalten wird, den Oberkörper hebt und senkt. (Fig. 1.) Die Massage wird täglich ein bis zweimal ausgeführt und kann von den richtig angelernten Angehörigen vorgenommen werden. Die zweite Aufgabe besteht darin, den Kindern die Störungen im Muskel- gefühl zu nehmen, d. h. sie zu lehren, sich wieder richtig zu halten. Schon Schildbach und später Staffel haben auf die Wichtigkeit dieser Aufgabe aufmerksam gemacht. Bis dieselbe gelungen, nützen alle Er- mahnungen von Lehrern und Angehörigen an die Kinder, sich gerade zu halten, nichts. Wir erreichen diese Aufgabe dadurch, dass wir die Kinder möglichst häufig in eine corrigirte oder zunächst auch
iibercorrigirte Stellung bringen und sie dabei lehren, dieselbe durch eigene Muskelkraft zu erhalten und selbstständig einzunehmen. Wir lassen also die Kinder mit entblösstem Oberkörper, den Rücken auf uns zugewendet, vor uns bintreten und geben ihnen die Auf- gabe, sich gerade hinzustellen, die militärische Haltung einzunehmen. Die Kinder werden krampfhafte Anstrengungen machen, unserem Wunsche nachzukommen, es wird ihnen dies aber nicht gelingen. Wir geben ihnen nun Hilfen, indem wir z. B. sagen: linke Taillen- seite mehr einziehen, rechte Schulter nach innen und unten drängen. Wir helfen durch Fingerdruck nach. Dabei wird in nicht seltenen Fällen auch die Beugung der Wirbelsäule in der Sagittalebene einer Correction bedürfen, indem die Kinder zugleich eine Vermehrung der Rückenkyphose zeigen, und zwar in der Weise, dass dabei der ganze Oberkörper nach hinten über das Becken hinaussteht. Vorn zeigt sich hierbei ein Vorspringen des Bauches und eine Abflachung der Brust. Die Kinder werden sich also „die Brust heraus, den Bauch herein“ mit dem Oberkörper nach vorn überlegen müssen. Dabei ist der Kopf zurückzunehmen, das Kinn anzuziehen. Wenn man nun diese letzteren Correctionen vorgenommen hat, werden in der Regel die erst erzielten wieder verschwunden sein. Es erfordert also im Anfang viele Mühe und Geduld von beiden Seiten. Je älter und anstelliger Kinder sind, desto leichter werden sie lernen, ihren Körper in die Gewalt zu bekommen, Knaben (vielleicht wegen schon erhaltenen Turnunterrichts) in der Regel leichter wie Mädchen. Bei letzteren kommt in der letzten Hälfte des zweiten Decenniums die Eitelkeit als wichtige Triebfeder hinzu. Man nimmt nun diese Correction möglichst oft vor. Dazwischen lässt man allerlei Frei- übungen machen, die neben der Kräftigung der Musculatur hier den besonderen Zweck haben, den Kranken bei ihrer Ausführung zu lehren, die corrigirte Stellung beizubehalten. Man sieht anfangs, dass wenn man aus der corrigirten Stellung eine Uebung machen lässt, die Kinder sofort in den alten Fehler verfallen. Es müssen also bei den Uebunger: immerfort Correcturen vorgenommen werden. Zwischen den Uebungen lässt man immer wieder die Grundstellung einnehmen. Wie im Stehen geschieht die Correction auch im Sitzen und Gehen. Jedes Kind muss vom Arzte für sich vorgenommen
werden, weil es seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, 2
18
Später, nach Wochen, wenn die Kinder erst einigermassen gelernt haben, was sie zu thun haben, kann die Ausführung dieser Uebungen auch von einem Angehörigen, z. B. von dem militärisch ausgebildeten Vater, eventuell auch von der Mutter, die wiederum sich vor jenem durch mehr Geduld auszeichnet, vorgenommen werden. Denn viel Geduld ist zu dieser Behandlung erforderlich, freilich weniger bei dem ersten Grade der Scoliose als beim zweiten, wo diese Behandlung ebenfalls, besonders in den leichteren Fällen, den Hauptteil der Therapie ausmacht, Hier wachsen die Schwierigkeiten, da der Patient neben den durch das gestörte Muskelgefühl bewirkten Fehlern auch noch anatomische Widerstände zu überwinden hat.
Leider sind anatomische Deformitäten in den meisten zur Be- handlung kommenden Fällen schon vorhanden. So mancher nur als scoliotische Haltung imponirende Fall zeigt bei genauer Untersuchung, dass doch schon ein Rippenbuckel oder eine Vorwölbung resp. stärkere Resistenz neben der Lendenwirbelsäule vorhanden ist, als Zeichen, dass eine erhebliche Fixirung der Drehung der Wirbelsäule eingetreten ist oder, wie man auch sagen kann, dass zur Rotation eine Torsion der Wirbelsäule hinzugekommen ist. Unsere Aufgabe besteht nun darin, diese Drehung und zugleich die Abductionsstellung dadurch zu beseitigen, dass wir zunächst eine Lösung der Fixationen vornehmen und dann den Kranken, ähnlich wie bei der scoliotischen Haltung, in den Stand setzen, selbst die Correction vorzunehmen und zu erhalten. Die Mobilisirung wird dadurch zu erreichen gesucht, dass man durch manuelle, maschinelle oder statische Kräfte um- formend auf Wirbelsäule und Thorax einwirkt. Die Correction durch Maschinen lasse ich hier aus der Besprechung fort, da sie nur in besonderen Anstalten ausgeführt werden kann und nur bei den schweren Formen notwendig ist.
Ferner wenden wir einzelne Uebungen an, welche mobilisirend, und corrigirend wirken und die zugleich sowohl die Muskeln kräftigen als auch den Kranken lehren, wie er selbst die Correction vor- zunehmen hat: gymnastische Behandlung der Scoliose.
Die manuelle Redression geschieht in der Weise, dass der Patient auf einer gleichmässig gepolsterten Unterlage auf dem Bauche liegt, wie bei der Ausübung der Massage, an die man diese Mani- pulationen in zweckmässiger Weise anschliessen kann. Nun übt man
19
auf den vorstehenden Buckel in der Richtung nach vorn und innen einen Druck aus, also bei rechts convexer Dorsalscoliose rechts von aussen und hinten nach innen und vorn, während man zugleich an der Vorderseite links einen Gegendruck nach hinten zu ausübt. Besteht zugleich eine linksconvexe Lumbalscoliose, so muss man auch auf diese corrigirend wirken. Man verfährt dann so, dass man abwechselnd die Correction am Brustteil und am Lendenteil der Wirbelsäule ausführt — letztere geschieht, indem man links neben der Wirbelsäule einen Druck nach vorn, rechts von vorn nach hinten ausübt. — Man kann jedoch auch so verfahren, dass man mit der rechten Hand auf den rechten Dorsalbuckel drückt, diesen zugleich nach links drängend, und mit der linken Hand durch Druck auf die linke Taillengegend die Lumbalkrimmung zu beseitigen sucht. Mit Unterstützung eines Gehilfen gelingt es leichter und besser zu gleicher Zeit Lumbal- und Dorsalscoliose zu redressiren. Auch diese Manipulationen können von einem Heildiener, oder günstigen- falls von einem der Angehörigen erlernt und ausgeübt werden und werden am besten zweimal am Tage ausgeführt.
Ein anderes wirksames Verfahren bei starken Dorsalscoliosen ist von Lorenz empfohlen und besteht darin, dass man den Körper über eine gepolsterte etwa zwischen den Thürpfosten an- gebrachte Stange so legt, dass der Buckel aufliegt und die Last der zu beiden Seiten herunterhängenden Körperteile einen Druck auf die Prominenz ausübt. Der Körper muss dabei in einer derartigen Mittelstellung zwischen Rücken- und Seitenlage sich befinden, dass der Druck, wie bei dem vorhin beschriebenen und auch bei jeder anderen Art von Redressement, nicht nur nach vorn, sondern auch nach der anderen Seite hin stattfindet.
Dieselbe Wirkung kann auch in der Weise erreicht werden, dass man zur Correction der Dorsalscoliose den Kranken soweit in der Seitenlage auf ein Sofa legt, dass die Kante dem Scheitel der Convexität entspricht, und dann mit der einen Hand auf den oberen Teil des Rumpfes einen Druck ausübt, der nebst der Schwere umformend auf die Krümmung einwirkt, während die andere Hand den übrigen Teil des Körpers auf das Sofa niederdrückt (Fig. 2). Das analoge Verfahren für die Lendenwirbelsäule (Fig. 3) ist noch wirksamer, da die Schwere des Körpers hier mehr in Wirksamkeit tritt.
or
20
Ein weiteres Verfahren umkrümmend auf die Brustwirbelsäule einzuwirken, wird durch Figur 4 illustrirt. Der sitzende Arzt nimmt den Patienten zwischen die Kniee, sodass die concave Seite ihm zugewendet ist, drückt mit der einen Hand, die er auf die Höhe der Convexität gelegt hat, das Kind an sich und mit der anderen den Oberkörper von sich ab, wobei der Kranke durch eigene Muskelkraft mitwirkt.
Auch durch Lagerungsapparate kann man in manchen Fällen redressirend einwirken. Man lässt Patienten mit totaler oder partieller einseitiger Scoliose auf einem Wolff’schen Schweberahmen oder in einer Barwell’schen Schlinge liegen, und zwar in der Mittellage, wie sie bei dem Lorenz’schen Verfahren beschrieben ist. Die Wirkung dieser Lagerungsapparate ist deswegen eine nachhalti- gere, weil sie während der ganzen Nacht einwirkt.
Eslag daher nahe diese Wirkung durch portative Apparate auch tagsüber andauern zu lassen. Leider haben diese Bestrebungen, die zur Construction einer grossen Anzahl mit Federkraft und elastischem Zug versehener Bandagen und Apparaten Veranlassung gaben, zu keinem erwünschten Ziele geführt. Einmal ist es ausser- ordentlich schwer, Apparate so zu construiren, dass sie in ähnlichem Sinne und gleich exact und kräftig wie die menschlichen Hände wirken. Ferner würde, wäre die corrigirende Kraft wirklich so gross, dass sie redressirend wirkte, die Haut den Druck nicht vertragen. Hierzu kommt, dass die Apparate fast ausnahmslos auf die Rücken- muskulatur einen ungünstigen Einfluss haben, indem sie die Thätigkeit derselben hindern und so Atrophie herbeiführen. Man sieht daherin den Scoliosenapparaten die Deformität immer schlimmer und schlimmer werden. Nur fürzwei Fälle halteich die portativen Scoliosenapparate für nützlich, einmal, wie schon erwähnt, bei der rachitischen Scoliose kleiner Kinder und zweitens bei Scoliosen dritten Grades, um den Druck der verkrümmten Knochen auf die Weichteile des Riickens und die Organe der Brusthöhle zu vermindern. Man sieht, dass manchmal neuralgische Beschwerden, vielleicht hervorgerufen durch Druck auf die Intercostalnerven, ferner Compressionserscheinungen von Seiten des Herzens bedeutend durch ein Corset gebessert werden.
Anders steht es mit einem anderen Correctionsmittel, nämlich der Benutzung der statischen Kräfte. Ein gewisser Teil der
21
habituellen Scoliosen hat sicher als statische seinen Anfang genommen, indem entweder ein angeborenes Kürzersein eines Beines vorhanden ist, oder die Gewohnheit vorliegt, beim Stehen ein Bein gekriimmt zu erhalten. In diesen Fällen wird natürlich ein künstliches Ver- längern des Beines durch erhöhte Sohle und erhöhten Absatz von Nutzen sein. Wir prüfen also, ob wir den Tiefstand einer Becken- seite vor uns haben und ob bei gestreckten Beinen durch unter den einen Fuss geschobene Brettchen die Scoliose gebessert oder aufge- hoben wird. Dies wird auch in manchen Fällen geschehen, wo ein Schiefstand des Beckens mit Sicherheit nicht vorliegt. Es ist dem- nach die künstliche Verlängerung des einen Beines ein Mittel zur Correction der habituellen Scoliosen, freilich bei weitem nicht in allen Fallen. Man wird vielmehr genau die Wirkung prüfen müssen, ehe man die Verordnung trifft, und von Zeit zu Zeit eine Nach- prüfung vorzunehmen haben. Bei der typischen umgekehrt S-förmigen Scoliose wird man entsprechend der linksconvexen Lendenkrümmung die Erhöhung der Sohle links vornehmen lassen. Wie für das Gehen und Stehen gilt der obige Satz auch für das Sitzen der Patienten, eine Thatsache, die schon lange erkannt worden ist und durch den von Volkmann angegebenen schiefen Sitz ihre practische Verwertung gefunden hat. Auch hier musseinegenaue Prüfung der Wirkung erfolgen, ehe man den schiefen Sitz verordnet, der sich durch ein unter die eine Beckenseite untergeschobenes Buch leicht improvisiren und ersetzen lässt. Erwähnen möchte ich noch, dass durch genaue Untersuchung auch die Höhe eruirt werden muss, um die man die eine Beckenseite zu heben hat.
Wir kommen nun zur Beschreibung von Übungen, welche eben- falls mobilisirend und corrigirend wirken, zugleich aber auch die hierzu erforderlichen Muskeln kräftigen und den Patienten in Stand setzen sollen, seine Stellung selbst zu korrigiren resp. die Correction zu erhalten. Diese Übungen können sehr mannigfacher Art sein. Ich habe solche gewählt, deren Ausführung dem Arzte oder seinen Stellvertretern und dem Patienten leicht fällt, weil sie ihm als Frei- übungen aus den Turnstunden oder eventuell von der militärischen Dienstzeit her bekannt sind.
Liesse man nun diese Übungen, die der Hauptsache nach aus Rumpfbewegungen bestehen, in der gewöhnlichen Weise ausführen,
spe)
dann würden sie nicht mobilisirend und corrigirend wirken und demnach für den Kranken ohne besonderen Nutzen sein. Man muss um dies zu erreichen ganz bestimmte Hilfen geben. Lässt man einen Scoliotischen die Wirbelsäule nach vorn biegen, also das Kommando ausführen: Rumpf vorwärts beugt, so wird in Folge grosser Steifigkeit der Wirbelsäule die gewünschte Vermehrung der Kyphose, wie ich oben schon erwähnt habe, nur eine geringe sein. Man wird weiter, besonders bei Patienten mit hoch- gradiger aber ziemlich beweglicher Scoliose, bemerken, dass ein Teil der Zunahme der kyphotischen Krümmung nur eine scheinbare ist, indem vielmehr eine Beugung nach der concaven Seite also eine Verschlimmerung der Scoliose bewirkt wird. Man wird also beim Rumpfvorwärtsbeugen eine Hilfe geben müssen, die diese Abweichung von der Beugung in der Sagittalebene verhindert. Man lässt zu diesem Zweck die Beugung machen, während man die Scoliose manuell corrigirt (Fig. 5), und lässt bei hochgradigeren Fällen dieselbe mehr nach vorn und nach der Seite der Convexität also in unserem Falle nach vorn rechts ausführen. Die Correction geschieht, wie die Abbildung zeigt, in der Weise, dass der rechte Arm des Arztes die rechte Schulter- gegend nach links drängt, während die linke Hand einen Gegendruck in der linken Taille ausübt. In leichteren oder schon in der Be- handlung vorgeschrittenen Fällen kann der Kranke auch selbst die Correction vornehmen, indem er, wie in Fig. 10, mit der einen Hand auf den Rückenbuckel einen Druck, mit der anderen Hand oberhalb des Beckenkamms der anderen Seite einen Gegendruck ausübt.
Bei der Beugung nach hinten sind die Verhältnisse ähnliche. Hierbei wird neben der Lordose die seitliche Concavität der Lenden- wirbelsäule vermehrt. Wir lassen also auch das Rumpfrückwärts- beugen unter entsprechenden Hilfen ausführen (Fig. 6).
Beim Seitwärtsbeugen ohne Hilfe wird fehlerhafterweise nur die Cuncavitát vermehrt, also — die typische umgekehrt Sfórmige Krümmung vorausgesetzt — beim Linksbeugen die Rückenkrümmung, beim Rechts- beugen die lumbale. Wir werden nun folgende Hilfen geben müssen : Beim Rumpflinksbeugen unterstützen wir mit unserer linken Hand den linken Hüftbeinkamm des Patienten und lassen nun die Wirbel- säule möglichst als Ganzes nach links beugen, sodass vor Allem an der Lendenwirbelsäule die Beugung stattfindet, und vermehren diese
ait Beugung noch durch den Druck unserer rechten Hand (Fig. 7). Beim Beugen nach rechts bilden wir mit der rechten Hand an dem Scheitel der Convexität ein Hypomochlion und üben zugleich auf den linken Hüftkamm einen Gegendruck aus (Fig. 8. Man kann dies (was unsere Figur nicht zeigt,) so weit treiben, dass während der Umkrümmung der oberen Scoliose die untere corrigirt bleibt.
Beim Drehen des Rumpfes wird wiederum fehlerhafterweise für gewöhnlich die vorhandene Rotation vermehrt. Wir suchen dies dadurch zu verhindern, dass wir beim Drehen nach rechts einen Druck auf den Buckel in der Richtung nach vorn und links (Fig. 9), beim Rumpfdrehen nach links in der Gegend der linken Processus laterales sinistri einen Druck ausüben (Fig. 10). In beiden Fällen wird zu- gleich mit der anderen Hand das Becken fixirt.
Verstärken kann man die Wirkung dieser Uebungen dadurch, dass man sie mit erhobenen Armen ausführen lässt. Beim Seitwärtsbeugen wird nur der der Richtung der Bewegung entgegen- gesetzte Arm erhoben gehalten, also beim Beugen nach links | der rechte und umgekehrt. Noch mehr erreicht man, wenn man die erhobenen Arme mit Hanteln oder dem Largiadére’schen Muskel- stärker belastet, wie in Fig. 7 u. 8. Wenn man letzteren benutzt, werden die Handgriffe mit ausgestreckten Armen ungefähr soweit aus- einander, als das die Verbindungsschnüre zulassen, über dem Kopfe gehalten und so die Beugungen ausgeführt. Die Schwere der Hanteln und der Gewichte des Largiadére darf bei Anfängern nur gering sein.
Wir lassen nun diese gymnastischen Uebungen, bei welchen der Oberkörper des Kranken natürlich entblösst sein muss, in der Weise ausführen, dass zwischen dieselben einzelne Erholungspausen kommen und einzelne Exercitien, die andere Muskeln be- schäftigen, um auch diese zu kräftigen und jene sich erholen zu lassen. Solche Uebungen sind z. B. Armbewegungen mit und ohne Hanteln oder Largiadöre, Kniebeuge und dergleichen. Bei jeder Uebung wird streng darauf gesehen, dass sie bei möglichster Correction der Deformität ausgeführt wird und ebenso wird vor jeder die Grundstellung in möglichst redressirter Stellung eingenommen.
Man kann natürlich anstatt der geschilderten Uebungen eine ganze Reihe anderer anwenden, wie Ausfallsstellungen, Liegen im Seithang, Uebungen an der schrägen Leiter, an Schweberingen etc.,
24
wie sie von den verschiedensten Seiten beschrieben und empfohlen sind, das Eine aber muss bei Allen beachtet werden, und darauf möchte ich grossen Wert legen, dass immer die richtigen Hilfen im Sinne der Correction gegeben werden. Es giebt keine gymnastischen Uebungen zur Behandlung der Scoliose die diese Hilfen entbehren können. Die beschriebenen Uebungen jedoch haben, wie ich meine, ausser dem Vorzug der Ein- fachheit und leichten Erlernbarkeit, noch das für sich, dass bei ihnen durch die in der beschriebenen Weise ein- wirkende Hilfe des Arztes oder seinesStellvertreters Wider- stände geschaffen werden, deren Ueberwindung gerade diejenigen Muskeln kräftigt, die zur Correction der Scoliose die wirksamsten sind. Im Uebrigen möchte ich bei dieser Ge- legenheit nochmals betonen, dass man sich bei Ausführung derselben, wie überhaupt bei Behandlung der Scoliose, vor Schematisiren aufsSorgfältigstehüten muss. Jedereinzelne Fall muss individualisirt werden. Wir müssen ausprobiren, welche Hilfsmittel den besten Erfolg geben, und werden damit vielfach mehr erreichen, wie durch Raisonnements, denn wir können nicht leugnen, dass über die Ursachen der habituellen Scoliose in vieler Hinsicht noch nicht volle Klarheit herrscht.
Seit einem halben Jahre etwa verwende ich zur Behandlung der Scoliose auf die Empfehlung von Jacob Teschner in New-York (The New-York Medical Journal, May. 23, 1896) Belastung mit Hanteln oder ähnlichen schweren Gewichten. Teschner behauptet, dass durch gewisse Schwungübungen mit schweren — er spricht von 80 und 111 Pfd. wiegenden — Gewichten eine Umformung auch schwerer Scoliosen in einigen Wochen eintráte. Ich verwende nur Hanteln bis zu 8 und 10 Pfd., weil meine Patienten schwerere nicht recht regieren können und ich mit leichteren dasselbe zu er- reichen glaube, und habe gefunden, dass sich am sichersten eine Umformung der Lendenkrümmung erreichen lässt und zwar wenn auf der der Lendenconvexität entgegen- gesetzten Seite der beschwerte Arm in die Höhe gehalten wird. (Fig. 11.) Sitzt die Brustkrümmung hoch, so wird sie durch eine Belastung auf derselben Seite günstig beeinflusst, sitzt sie tief, durch eine Belastung auf der concaven Seite. Auch hierbei habe ich gefunden,
25
dass man manuelle Correction nicht entbehren kann und dass die Scoliosen sehr verschieden auf diese Belastung reagiren. —
Jedenfalls möchte ich dies Verfahren für die Umkrümmung der Lendenwirbelsäule nicht gern entbehren. Ich lasse möglichst schwere Hanteln, so lange als es die Kranken gut aushalten, auf der Seite der Lendenconcavität mit gestrecktem Arm in die Höhe halten, während in der anderen Hand als Gegengewicht die andere Hantel ruht. Erhöht man nun noch das Becken auf Seite der Convextiät durch unter die Fusssohle gelegte Brettchen oder dergleichen, so ist die Wirkung eine sehr eclatante. Auf Seite der Convexität entsteht eine tiefe Furche, wie sie früher auf der anderen Seite vorhanden war. Besteht neben der Lendenkrümmung, wie bei der typischen Scoliose, eine entgegenge- setzte Dorsalkriimmung, so wird bei dem beschriebenen Acte manuell diese Krümmung verringert. Bei hochsitzenden Dorsalscoliosen ist diese Hilfe nicht erforderlich, wie ich schon erwähnte. Um durch Hantelbelastung auf die Brustscoliose einzuwirken, empfehlt es sich, die Hantel auf Seite der Concavität hochhalten, dabei aber Kopf und Oberkörper etwas nach der anderen Seite beugen zu lassen. Die vorhandene Lendenkrümmung muss zugleich manuell möglichst corrigirt erhalten werden. Zweckmässig ist es hierbei ebenfalls, die der Convexität entsprechende Beckenseite durch künstliche Ver- längerung des betreffenden Beines zu heben.
Ich will nun eine practische Zusammenstellung geben, in welcher Reihenfolge etwa man die beschriebenen Redressirübungen anstellt. Nehmen wir dabei eine umgekehrt S-förmige Scoliose als Beispiel.
1. Grundstellung d. h. Füsse gleichmässig gestellt u. z. entweder Hacken zusammen oder bei schwächlichen Patienten mit etwas gespreizten Beinen, Knie durchgedrückt, Brust heraus, Bauch herein, Kopf in die Höhe, Kinn angezogen. Möglichste Cor- rection der Scoliose in dieser Stellung durch den Arzt. Versuche des Kranken diese Stellung zu erhalten.
2. Selbstcorrection des Kranken mit Hüften fest d. h. rechte Hand auf den Scheitel der Rückenconvexität eingesetzt, linke Hand über dem linken Hüftkamm.
3. In letzterer Stellung: Rumpf vorwärts beugt, Rumpf rückwärts beugt, jede Übung 3—6 mal ausgeführt.
26
4. In derselben Stellung: Rumpf linksseitwärts, Rumpf rechtsseit- wärts beugt, ebenfalls 3—6 mal ausgeführt.
5. Mit schweren Hanteln: rechten Arm aufwärts streckt, während unter die linke Sohle ein Klötzchen zu liegen kommt. Verharren in dieser Position so lange, als es der Kranke bequem aushält und während der Arzt mit seiner rechten Hand corri- girend auf die Dorsalscoliose wirkt. Linken Arm aufwärts hebt. Verharren in dieser Stellung, während der Arzt durch Druck in die linke Taille und Gegendruck auf uen rechten Hüftbein- kanım die Lumbalscoliose möglichst corrigirt zu erhalten sucht.
6. Mit Hüften fest und unter Beihilfe des Arztes, wie oben be-
schrieben, Rumpf links dreht, Rumpf rechts dreht, beides 6 mal ausgeführt.
. Mit ausgestreckten Armen, die durch Hanteln beschwert wer-
den können, Armrollen 6 bis 10mal.
8. Mit Hüften fest kleine oder grosse Kniebeuge.
9. Rumpfbeugen nach vorn, hinten und seitwärts mit ausgestreck- ten Armen, die durch Hanteln oder den Largiadére beschwert sein können. Beim Beugen nach links ist der rechte, bein Beugen nach rechts der linke Arm erhoben.
10. Noch einmal Grundstellung wie 1.
Einzelne Uebungen können auch im Sitzen ausgeführt werden, so z. B. die Rumpfdrehungen, bei welchen so die Fixirung des Beckens leichter fällt. Das Einüben der Correction der Deformitáten auch im Sitzen ist jedenfalls empfehlenswert.
Nach jeder Uebung eine kleine Erholungspause.
Neben diesen corrigirenden Uebungen muss natürlich auch im Uebrigen Alles geschehen, was die Musculatur, insbesondere die des Rückens, kräftigen kann ausser Massage: Rudern und Schwimmen, allgemeine Turnübungen, und alles vermieden werden, was auf die Scoliose fördernd wirken kann. Man wird aus letzterem Grunde zweckmässig den Schulunterricht für Monate oder länger aussezten.
Nun noch einige Worte über die Prognose der habituellen Scoliose. Sie hängt einmal ab von dem Grade der Deformitit. Scoliosen ersten Grades lassen sich wohl immer heilen, vielfach auch leichtere Scoliosen zweiten Grades. Doch ist bei diesen in der Regel nur eine Besserung oder das Aufhalten des Processes, das Verhüten
=~]
27
der Verschlimmerung zu erreichen. Bei den schweren Scoliosen zweiten Grades ist es zweifelhaft, ob sie, wenigstens ausserhalb einer Anstalt, in ihrem Fortschreiten aufgehalten werden können. Bei solchen dritten Grades kann es sich nur um eine ge- wisse, den inneren Organen und dem Allgemeinzustand zu Gute kommende, Mobilisirung der Wirbelsäule handeln.
Weiter hängt die Prognose ab vom Alter der Patienten. Haben dieselben bald das Ende ihrer Wachstumszeit erreicht, dann wird die Scoliose nicht mehr Zeit haben, sich in schlimmer Weise auszu- bilden, dagegen wird bei recht früh erkrankten Kindern die Erzie- hung zur Selbstcorrection auf Schwierigkeiten stossen und ferner wird die Möglichkeit der Verschlimmerung sich auf die lange Zeit bis zur Beendigung des Wachstums erstrecken.
Dass weiter die Geduld des Arztes und der Patienten, die Zeit und Sorgfalt, die sie der Behandlung widmen können, die socialen Verhältnisse auf den Erfolg der Behandlung einen grossen Einfluss haben, ist klar. Die Behandlung muss oft jahrelang fortgesetzt werden und nach der Heilung resp. Besserung noch bis zur Beendigung des Wachstums eine Überwachung stattfinden.
Zum Schluss möchte ich noch einmal im Hinblick auf die gute Prognose der Scoliose in ihren Anfängen, auf die schlechten Aus- sichten und die mühevolle und langwierige Behandlung der vor- geschrittenen Fälle den Herren Kollegen zurufen:
Principiis obsta!
Verantwortl. Redakteur: Hofrath Dr. Ernst Stadelmann in Berlin. Druck von Albert Koenig in Guben. Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden direet an den oben genannten Redacteur, Berlin SW., Anhaltstrasse 12, oder durch die Verlagsbuchhandlung erbeten.
Fig. 3.
. 6.
~ 5
š il |
Fig. 8.
Fig. 10.
9.
Fig.
-sto
Ueber die Abort-Behandlune. Von R. Kossmann
in Berlin.
Unter Abort!) verstehen wir die Ausstossung der Frucht, wenn sie vor deren Lebensfähigkeit, im allgemeinen also vor Ablauf der 28. Schwangerschaftswoche erfolgt. ?)
Zwar kann jede vorzeitige Geburt, ganz wie die rechtzeitige, spontan verlaufen, sodass ein ärztlicher Eingriff zar Wiederherstellung der Gesundheit der Gebärenden nicht notwendig wird; doch ist ein solcher Verlauf wesentlich seltener, als bei der rechtzeitigen Geburt. Dies hängt offenbar teils damit zusammen, dass krankhafte Zustände oder ungewöhnliche Einwirkungen den Abort verursachen?), teils damit, dass die anatomischen Verhältnisse von denen am Ende der Schwangerschaft einigermassen verschieden sind. Die Trennungs- schicht in der Decidua ist noch nicht in der Weise ausgebildet, dass die Lösung leicht erfolgen kann, und die Grösse der Gebärmutter sowie die Entwickelung ihrer Muskulatur lassen noch keine so kräftigen und wirksamen Contractionen zustande kommen. Daraus folgt, dass die Ausstossung der Frucht und der Eihüllen sich häufig über einen längeren Zeitraum verschleppt, dass wohl gar Teile davon zurückbleiben und ohne Kunsthülfe überhaupt nicht mehr nach aussen gelangen können. Die Folgen von beidem sind erstlich Blutungen, die bis zur Erschöpfung, ja sogar bis zum Tode der Abortierenden führen können, ferner entzündliche Erkrankungen, die teils auf den Reiz der in der Gebärmutter als Fremdkörper zurückbleibenden Eireste, teils auf eine Infection, die in letzteren einen besonders ge- eigneten Nährboden findet, zurückzuführen sind.
Es tritt somit bei Abort verhältnismässig häufig an den Arzt
die Notwendigkeit eines therapeutischen Eingriffes heran, und bei der ausserordentlichen Verbreitung, die der Abort in allen Klassen der weiblichen Bevölkerung — keineswegs nur in grossen Centren, sondern auch in kleinen Ortschaften und auf dem Lande — hat, kann diese Therapie nicht dem Specialisten vorbehalten bleiben, sondern jeder practische Arzt, mit Ausnahme etwa Derjenigen in den Gross- städten, kommt oft in die Lage, sie anwenden zu müssen.
Ungeachtet dieser Häufigkeit und allgemeinen Verbreitung sind jedoch die Ansichten über die zweckmässigste Art der Abortbehand- lung ausserordentlich geteilt und es kommt fortwährend noch, selbst unter den Specialisten, zu Discussionen darüber, die oft einen einiger- massen erbitterten Character annehmen. Demnach erscheint eine kritische Behandlung des Gegenstandes, auch ohne dass eine wesent- liche Bereicherung der Therapie damit verbunden wird, an dieser Stelle nicht überflüssig.
Um festzustellen, ob überhaupt eine Behandlung des Aborts in einem gewissen Falle angezeigt ist, muss der Arzt zunächst erkennen, ob er es überhaupt mit einem Abort, sei es mit einem erst drohenden, sei es mit einem unvollkommenen, sei es endlich mit einem kürzlich abgelaufenen, zu thun hat. Zu dieser Feststellung gehört vor allen Dingen der Nachweis sicherer Symptome der noch bestehenden oder kürzlich beendigten Schwangerschaft.
In vielen Fällen wird sich bereits aus der Anamnese die Wabrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft ergeben. Hat die Menstruation bei der Blutenden in früherer Zeit die gewöhnliche Regelmässigkeit gezeigt, ist sie in den letzten Monaten ein oder mehrmals fortgeblieben und nunmehr wieder ein- getreten, so ist bereits mit grosser Wahrscheinlichkeit eine Schwanger- schaft zu vermuten. Auch die bestimmte Angabe, dass Fruchtwasser oder die Frucht selbst abgegangen ist, sind in diesem Sinn zu ver- werthen. Jedoch darf nicht vergessen werden, wie oft der Arzt bei der Aufnahme der Anamnese absichtlichen Täuschungsversuchen begegnet. Daher sind im allgemeinen Angaben der Schwangeren und deren Angehöriger mit grossem Misstrauen aufzunehmen, wenn sie nicht durch Beweismittel oder durch Zeugnis a de ein- wandsfreier Personen bestätigt werden.
Aber auch die objectiven Symptome der Schwangerschaft lassen
3
uns nicht selten im Stich. Schon in den ersten Wochen der Schwangerschaft kann sehr wohl ein Abort drohen oder eintreten, zu einer Zeit also, wo die Frucht selbst weder durch Auscultation noch durch Palpation nachgewiesen werden kann und die Verände- rungen am Körper der Schwangeren noch fast unmerkliche sind. Es können solche an den Brüsten noch vollständig fehlen; die Ver- färbung der Linea alba und die der Vulva und der Portio können ganz unbedeutend, können auch auf irgend ein anderes, Hyper- ämie verursachendes, Leiden zurückführbar sein; die Vergrösserung der Gebärmutter endlich kann noch gering sein oder kann nach Abgang des grössten Teiles der Frucht wieder unauffällig geworden sein. Es bleibt dann wohl gelegentlich kein anderes Kennzeichen zurück, als eine gewisse lockere Beschaffenheit der Cervix, ins- besondere eine grosse Weichheit der Gegend um den inneren Mutter- mund, auch eine für den ganz Geübten kaum zu verkennende Schlaffheit des Gebärmuttergrundes. Andererseits sind Verwechse- lungen dadurch möglich, dass bei entzündlichen Zuständen der inneren Genitalorgane sowie bei Myomen ebensowohl atypische Blutungen, als auch eine Vergrösserung der Gebärmutter, Auflockerung der Cervix, und selbst einige entferntere Symptome, wie die livide Verfärbung der Schleimhaut, die Pigmentirung der Linea alba, dic Colostrumsecretion der Brüste vorkommen.
Die Gelegenheit zu Irrtümern bei der Diagnose ist also eine recht grosse. Immerhin wird sie dadurch praktisch ziemlich be- deutungslos, dass in fast allen Fällen, wo wegen der kurzen Dauer der Schwangerschaft ein Zweifel über deren Bestehen obwalten kann und dennoch die Aufforderung zu einem Eingriff an den Arzt herantritt, ein Symptom die Situation beherrscht: nämlich eine atypische Blutung. Die Kranke sucht den Arzt auf, oder der Arzt wird zur Kranken gerufen, weil sie, sei es zu unerwarteter Zeit, sei cs in ganz ungewöhnlicher Menge, Blut verliert. In den seltenen Fällen aber, wo Blutungen nicht zur Heranziehung des Arztes die Veranlassung gegeben haben, handelt es sich um cinen stinkenden, oft mit Fieber verbundenen Ausfluss.
In beiden Fällen ist natürlich ein lokaler therapeutischer Eingriff gerechtfertigt, auch wenn die Frage, ob Schwangerschaft vorhanden
ist, nicht sicher beantwortet werden kann. Die Regel ist dann nur 1*
4
die, so zu handeln, als wäre die Schwangerschaft nachgewiesen. Ein Irrtum in dieser Hinsicht wird sich im Laufe der Behandlung auf- klären, und zwar sicher, bevor etwas versäumt oder ein Schaden angerichtet ist. |
Viel wichtiger jedoch, und geradezu bestimmend für die Art unserer Therapie ist die Entscheidung darüber, ob die Schwanger- schaft sich noch erhalten lässt, oder nicht, d. h. ob der Abort nur ein drohender oder ein unaufhaltsamer ist. Sie wird zunächst nach der Anamnese, nach der Beschaffenheit des Muttermundes und der Form der Cervix zu treffen sein. Ergiebt die Anamnese mit voller Sicherheit, dass Fruchtwasser bereits abgeflossen ist, oder zeigt die Untersuchung, dass der innere Muttermund das Eindringen eines Fingers, wenigstens der Kuppe des Fingers, gestattet‘) oder ist bei Erstgebärenden die Portio verstrichen, oder setzt sich endlich die in der Mitte ihrer Länge verdickte Cervix in der Gegend des inneren Muttermundes durch eine Einschnürung gegen den Gebärmutter- körper scharf ab, so ist ohne weiteres anzunehmen, dass die Schwanger- schaft nicht mehr erhalten werden kann. Ist dagegen der Muttermund noch geschlossen, ein Abgang von Fruchtwasser oder von Frucht- teilen nicht festzustellen, und jene Einschnürung in der Gegend des inneren Muttermundes nicht vorhanden, so darf die Blutung allein nicht Massnahmen rechtfertigen, durch die die Schwangerschaft beendet, das Leben der Frucht vernichtet werden würde. In solchen Fällen giebt es eigentlich nur eine Verordnung: das ist die der absoluten Bettruhe, die etwa noch durch die Verabreichung von Narcoticis zu erleichtern und zu unterstützen ist. Narcotica, ins- besondere Opium, in ansehnlichen Dosen ermöglichen nicht nur oder erzwingen sogar die Bettruhe, sondern sie sind zugleich im- stande, die begonnene Wehenthätigkeit in der Gebärmuttermuskulatur zum Aufhören zu bringen. Eine etwa vorhandene Retroflexion des Uterus muss natürlich sofort beseitigt werden.
Allerdings wäre theoretisch der Fall ja denkbar, dass, ungeachtet der Anwendung dieser Mittel und ohne dass die auf unaufhaltsamen Abort deutenden Symptome auftreten, die Grösse des Blutverlustes an sich einen weitergehenden Eingriff rechtfertigen könnte; der Er- fahrung nach pflegt jedoch, wenn die Blutung in wirklich gefahr- drohender Weise fortdauert, sehr bald auch eine Erweiterung des
QU
inneren Muttermundes einzutreten, sodass der Arzt, auch abgesehen von der Verblutungsgefahr, die Ueberzeugung gewinnt, dass die Schwangerschaft nicht mehr zu erhalten ist. Sobald er zu dieser Ueberzeugung gelangt ist, liegt ihm nun die Pflicht ob, solche Blut- stillungsmittel anzuwenden, die eine Beschleunigung des Aborts herbeiführen.
Die Wirksamkeit der meisten unter ihnen ist jedoch abhängig davon, ob noch das ganze Ei im Uterus zurückgehalten wird oder bereits Eiteile abgegangen sind. Oft genug wird zwar diese Frage für den Arzt gar nicht sicher zu beantworten sein; in solchen Fällen aber wird er berechtigt sein, zunächst so zu handeln, als wäre das ganze Ei noch im Uterus. Er wird dazu um so mehr berechtigt sein, als die für diesen Fall verwendbaren Mittel der Therapie die minder eingreifenden sind.
Am harmlosesten von solchen Mitteln würden Medicamente sein, wenn es deren gäbe, die zuverlässig und prompt wirken. Dies war, wenigstens bis vor kurzem, nicht der Fall. Die sonst bei Uterus- blutungen angewendeten Mittel, wie Salipyrin und Hydrastis, können auf die Abortblutungen, die ja traumatischen Ursprungs sind, über- haupt nicht wirken, da sie kaum Uteruscontractionen herbeiführen. Die älteren Abortiva, Crocus, Herba Cannabis indicae, Summitates Sabinae, Chinin, Borax, Pilocarpin, Terpenthin?) sind sämmtlich in ihrer Wirkung ganz zweifelhaft. Das Secale ruft zwar Uteruscontractionen hervor, aber nur ausnahmsweise nehmen diese einen der normalen Geburts- thätigkeit ähnlichen Verlauf, sodass eine Geburt des ganzen Eies bezw. aller Eireste erfolgen könnte. Vielmehr zieht sich dabei ge- wöhnlich gerade auch die Cervix zusammen, sodass selbst die operative Entfernung der Eireste, wenn sie sich schliesslich als erforderlich darstellt, durch die vorgängige Anwendung des Mittels erschwert wird. Neuerdings freilich hat Jacoby (Strassburg), wie er auf der Naturforscherversammlung 1896 berichtete, in einem aus dem Mutter- korn hergestellten Präparate, dem Chrysotoxin, ein Medicament gefunden, das, wenigstens bei Tierversuchen, nach subcutaner Appli- cation den Abort sicher herbeiführte. Sollte sich durch Versuche beim Menschen herausstellen, dass das Präparat auch hier eine gleiche Wirkung ausübt, so würde sich weiter fragen, ob man damit nur bei noch vollständigen Ei den Zweck erreicht, oder ob es selbst zur
6
Herbeifiihrung einer Ausstossung kleinerer Eireste verwendbar ist. Eine unzweifelhafte Anregung von Uteruscontractionen lässt sich auch durch die heisse oder die sehr kalte Scheiden-Irri- gation ") erzielen. In manchen Fällen, insbesondere wieder bei noch vollständigem Ei, kann man in der That einen glatten und schleu- nigen Ablauf des Aborts durch dieses einfache Mittel erreichen. Erstlich jedoch ist dessen Anwendung für die Schwangere keines- wegs angenehm, sodann aber wird die Blutung nicht unmittelbar dadurch gestillt; der Arzt kann also die Abortierende nicht verlassen, bevor der Abort beendigt ist. Er verurteilt sich dadurch oft zu einer langen abwartenden Unthitigkeit und muss schliesslich vielleicht doch noch zu sicherer wirkenden Mitteln greifen.
Dem gegenüber hat die Scheiden-Tamponade’) den Vorzug, dass der Arzt, wenn er sie richtig ausgeführt hat, die Kranke stunden- lang verlassen kann, ohne einen weiteren Blutverlust während seiner Abwesenheit befürchten zu müssen. Es scheint wenigstens bisher nur ein Fall bekannt geworden zu sein, in welchem die Abortierende nach der Scheiden- Tamponade sich in das Cavum uteri verblutet hat (Klotz) $). Dies kann wohl auch nur bei Aborten in späteren Schwangerschaftsstadien nach Abgang des Fruchtwassers geschehen und es würde die Aufmerksamkeit einer gewöhnlichen Wärterin oder einer Hebamme vollständig genügen, um die Gefahr rechtzeitig zu erkennen, da der Uterus eine rasche und beträchtliche Grössenzunabme bei der Füllung mit Blut erfährt.
Was die Technik der Scheiden-Tamponade anbetrifft, so besteht diese darin, dass man den oberen Teil der Scheide, insbesondere des Scheidengewólbes, mit Watte oder Gaze fest ausstopft. Die Gaze hat den Nachteil, den allerdings auch die hydrophile (entfettete) Watte besitzt, dass sie beim Aufsaugen von Blut und Schleim zu- sammenfällt und dass infolgedessen der Druck, den sie auf die Cervix ausübt, sich rasch vermindert. Das ist bei nicht entfetteter Baumwolle in viel geringerem Grade der Fall und es ist daher diese vorzuziehen. Neuerdings hat Schaeffer (Heidelberg)?) für die Uterus- Tamponade eine mit Guttapercha präparierte Gaze empfohlen, die ebenfalls ein sehr viel geringeres Imbitionsvermögen besitzt. Möglicher- weise leistet diese auch für die Scheiden-Tamponade besonders gute Dienste. Wendet man die nicht entfettete Watte an, so kann man
o 7
die einzelnen Watte-Tampons in mehrere Schichten von antiseptischer Gaze einwickeln, um eine etwaige Infectionsgefahr zu verringern. Mit welchem Antisepticum die Gaze getränkt sein soll, ist ziemlich gleichgültig; Jodoformgaze ist, wenn von einer zuverlässigen Firma bezogen, durchaus zweckentsprechend bis auf den unangenehmen Geruch; wer solche nicht zur Hand hat, kann gewöhnliche Gaze in eine antiseptische Flüssigkeit einen Augenblick eintauchen und aus- drücken. Ich wende für alle diese Zwecke Chinosollósung an. Nützlich ist es, jeden einzelnen Tampon mit einem kräftigen Faden zu versehen, um das Herausziehen zu erleichtern. Die Einführung erfolgt am bequemsten bei Seitenlage der Abortierenden, wobei das unten liegende Bein mässig, das oben liegende stark flectiert wird. Hat man ein Sims’sches Speculum bei sich, so legt man dieses ein und schiebt die Tampons einen nach dem anderen mittelst eines Tampon - Halters, einer langen Pincette oder einer Kornzange auf dem Speculum bis in das Scheidengewölbe hinauf. So wichtig es ist, den oberen Teil der Scheide sehr fest zu tamponieren, so über- flüssig und lästig für die Kranke ist es, auch den unteren Teil aus- zustopfen. Es verursacht ihr Schmerzen und erschwert die spontane Harnentleerung.
Ob man vor der Tanıponade die Scheide disinficiren soll oder nicht, darüber gehen die Meinungen auseinander. Da Verletzungen in der Scheide nicht vorhanden zu sein pflegen und eine Ver- schleppung etwaiger pathogener Keime aus der Scheide in den Uterus bei diesem Verfahren garnicht vorkommen kann, so halte ich die Disinfection für überflüssig und unterlasse sie um so lieber, als das Einführen der Tampons nach Ausreibung der Scheide wesentlich schwieriger und schmerzhafter ist. Bei einem blossen Ausspülen der Scheide mit einem schlüpfrigen Antisepticum, wie Lysol und ähnlichen, fällt dies allerdings fort, doch ist dadurch eine wirkliche Disinfection der Scheide nicht zu erreichen und die ganze Manipulation demnach überflüssig.
Höchstens dürfen die Scheiden-Tampons 24 Stunden liegen bleiben, es empfiehlt sich jedoch, sie womöglich schon nach 12 Stunden zu entfernen.
Statt der Tamponade mit Watte oder Gaze kann auch wohl die- jenige mit einer Blase (Colpeurynter)'°) in Betracht gezogen werden.
8
Im allgemeinen regt auch diese kräftige Wehen an, sie ist jedoch erstlich etwas schmerzhafter als die Watte-Tamponade, schon weil es nicht möglich ist, sie auf den oberen Scheidenteil zu beschränken, sodann ist sie auch nur ausnahmsweise geeignet, die Blutung prompt zu stillen. Dies liegt einmal schon daran, dass sich das Blut zwischen den glatten Oberflächen der Scheide einerseits, der Gummi- blase andererseits hindurchdrängen kann, sodann wird in allen jenen Fällen, in denen die Portio noch kegelförmig oder knollenartig in die Scheide hineinragt, der Colpeurynter das Scheidengewölbe nicht ausfüllen können, und da sich die Portio schräg stellt, wird auch der Muttermund selbst, aus dem das Blut hervorquillt, nicht von der Wand des Colpeurynters verschlossen werden.
Ist der Abort durch die Tamponade nicht herbeigeführt, so kann in der Regel die Tamponade wiederholt werden und man sollte sich hiermit in allen Fällen begnügen, in denen nicht besondere Gründe zu einer schneller wirkenden Massregel nötigen.
Neben der Tamponade existieren allerdings noch einige andere Mittel zur Beschleunigung des Aborts; sie sind zwar nicht ganz so einfach, als die bisher geschilderten, können jedoch in solchen Fällen recht wohl in Betracht kommen, wo durch jene ein genügender Effect, insbesondere eine spontane Erweiterung des Muttermundes, nicht hat erreicht werden können.
Unter diesen Mitteln erwähne ich zunächst die Einspritzung von Glycerin in den Cervicalkanal, wie ich sie zur Einleitung der künst- lichen Frühgeburt bereits anderweitig +!) empfohlen habe. Es genügt ein sehr geringes Quantum, wenige Gramme, um Uteruscontractionen auszulösen. Leider hört diese Wirkung jedoch meist schon nach kurzer Zeit auf, wenn man nicht noch andere Mittel anwendet, und da die Contractionen überhaupt nicht andauernd sind, sondern mit Pausen abwechseln, so bleibt auch die Blutung einstweilen bestehen. Es ist daher nicht angezeigt, sich auf die Anwendung des Glycerins zu beschränken, sondern man wird sie stets mit der Scheiden-Tam- ponade verbinden müssen, um neben der Beförderung des Aborts auch die prompte Blutstillung zu erzielen.
Wenn das Glycerin einen specifischen Reiz auf die Muskulatur ausübt, so genügt doch auch der rein mechanische Reiz eines in den Cervicalkanal eingeführten festen Fremdkörpers, um stärkere Uterus-
y
contractionen zu bewirken. Als solche Fremdkórper sind insbesondere Stifte aus gepresstem Schwamm 1), aus Stengeln der Laminaria digitata*” und aus Tupelo!*) (Nyssa aquatica) angefertigt worden, die alle drei die Eigenschaft haben, in Berührung mit Feuchtigkeit, in diesem Falle also mit dem Cervicalschleim, stark zu quellen. Von ihnen ist der Pressschwamm fast allgemein aufgegeben worden, da er sich nicht genügend sterilisiren lässt und somit eine grosse Infections- gefahr mit sich bringt, sich auch mit der Cervixschleimhaut verfilzt, sodass beim Herausnehmen frische Wunden entstehen. Die beiden pflanzlichen Präparate dagegen werden noch vielfach angewandt, und zwar giebt man meist der Laminaria wegen ihres zwar langsameren, aber stärkeren Quellungsvermögens den Vorzug 5). Es ist keine Frage, dass bei der Anwendung dieser Stifte der Gedanke an die mechanische Erweiterung -des Muttermundes durch die Quellung selbst vorwiegt; jedoch erweitert sich der Muttermund thatsächlich auch activ durch die Wehenthätigkeit, die ihrerseits eine Folge der Reizung ist, welche die Cervicalganglien von der Cervicalschleimhaut her er- fahren. Das Quellungsvermögen der Stifte hat seine Bedeutung daher mehr darin, dass auch bei fortschreitender Erweiterung des Cervicalkanals der mechanische Reiz von seiten des dicker werdenden Stiftes fortdauert.
So erklärt es sich, dass auch die Wirkung einer Gaze-Tam- ponade des Cervicalkanals!*) nicht erheblich hinter der der Laminariastifte zurückbleibt.
Was die Technik bei der Anwendung der Laminariastifte an- betrifft, so ist sie sehr einfach. Man bringt die Abortierende am besten in Steiss-Rückenlage auf einen Tisch, lässt den Damm durch einen hinteren Scheidenhalter herabziehen, fasst die vordere Mutter- mundlippe mit einer Kugelzange, zieht die Portio bis in den Scheiden- gang vor und schiebt nun den Stift so hoch hinauf, dass er durch das über dem inneren Muttermund liegende, etwas stärker quellende Ende am vorzeitigen Herausschlüpfen gehindert ist. Man nimmt dann die Kugelzange ab und legt Tampons vor den Muttermund, die den Zweck haben, ein Zurückgleiten des Stiftes vor seiner Quellung zu verhüten. Da das nur sicher geschehen kann, wenn die Tampons selber festliegen, und da ja, wie wir gesehen haben, die feste Tamponade der Scheide an sich den Abort befördert, so
10
ist es zweckmässig, sich nicht nur mit einem oder einigen wenigen Tampons zu begnügen, sondern die Tamponade ganz kunstgerecht auszuführen.
Die Gaze-Tamponade des Cervicalkanals ist in ganz ähnlicher Weise auszuführen. Nachdem man die Portio ebenfalls angehakt und vorgezogen hat, führt man das Ende eines etwa 5 cm breiten Streifens von Jodoformgaze oder einer sonst antiseptisch behandelten
Gaze mittelst einer Sonde oder eines Uterusstupfers (Fig. 1, vgl. S. 21) ein und schiebt nun möglichst viel von dem Streifen nach, ohne jedoch erheblich über den inneren Muttermund emporzugehen. Es ist nötig, dabei sorg- fältig darauf zu achten, dass der Streifen nur mit völlig sterilitierten Instrumenten oder Körperteilen in Berührung komınt, da bei der Dehnung des Cervicalkanals immerhin kleine, mikroskopische Zerreissungen entstehen, durch welche eine Infektion der Abortierenden statt- finden könnte. Man lässt nur ein kurzes Stückchen des Streifens aus dem inneren Muttermunde hervorstehen, und schneidet das etwa Überflüssige mit der Scheere ab; denn die Gaze wirkt nach Art eines Dochtes drai- nierend und könnte noch nachträglich Ent- zündungserreger aus der Scheide in den Cer- vicalkanal hinaufbefórdern. Auch bei der Fig. 1. . _ Gaze-Tamponade empfiehlt es sich, eine Schei- a)das ganze In- b)dasobere Enue 5 A i a o Cin eal trina den-Tamponade anzuschliessen, jedoch ist sie in diesem Falle nicht so unbedingt notwendig, weil ein spontanes Herausgleiten des Gazestreifens aus dem Cervicalkanal nicht zu be- fürchten ist.
Eine zweifellos noch mehr beschleunigte Wirkung erlangt man, wenn man die Gaze-Tamponade der Cervix mit dem Glycerinver- fahren combiniert, also den Gazestreifen vor dem Einführen in Glycerin tränkt. Es braucht kaum bemerkt zu werden, dass hierzu reines Glycerin zu verwenden und dieses vorher durch Hitze zu sterilitieren ist. Nachteilige Wirkungen sind von dem Glycerin weder bei dieser, noch bei der vorher geschilderten Anwendung zu befürchten; nur bei der Einspritzung grösserer Mengen (100 ccm
11
und mehr), wie sie von Pelzer!”) und Anderen zur Herbeiführung der künstlichen Frühgeburt angewendet worden ist, treten Schädig- ungen der Niere auf.
Ein anderes Verfahren, das E. Schwarz '*) vorgeschlagen hat, besteht darin, dass man 2—3 | einer sehr kalten Bor-, Salicyl- oder Sublimatlösung über den inneren Muttermund in das cavum uteri spritzt (unter sorgfältigster Vermeidung eines Mitreissens von Luft). Die Ablösung des Ei’s in weiter Ausdehnung fördert ungemein die Wehen und mit ihnen die Eröffnung des Muttermundes und die Ausstossung des Eis. Andererseits ist mancherlei gegen die Methode einzuwenden. Aus mechanischen Gründen wird sie meist nur bei intactem Ei und, wenig erweitertem Muttermunde wirksam sein; dann aber liegt die Gefahr vor, dass sich die Blutung zunächst noch (durch Vergrösserung der blutenden Fläche) steigert, ohne dass das Ei ab- gehen kann.
Ganz ähnliche Bedenken erheben sich gegen die Sprengung der Blase. Dieses Verfahren zieht zwar den Abort unbedingt nach sich, aber man kann kaum sagen, dass es den im Gange befindlichen Abort beschleunigt. Andererseits wird durch den Abfluss des Frucht- wassers Raum für Blutansammlung geschaffen und eine weitere Ab- lösung der Eihäute gefördert, die Erweiterung des inneren Mutter- mundes aber verlangsamt.
Diesen Uebelständen kann man freilich abheifen, wenn man den durch Ablauf des Fruchtwassers gewonnenen Raum mit Gaze oder mit einer intrauterin eingeführten Gummiblase füllt. Damit stellt nian jedoch nur den Zustand künstlich wieder einigermassen her, den man durch Sprengung der Blase gestört hatte. Es sind also beide Methoden wohl nur nach spontanem Wasserabfluss als
rationell anzuerkennen.
* * *
Wenn die bisher genannten Mittel den gewiinschten Erfolg haben, so pflegen die eintretenden wehenartigen Schmerzen von der Abortierenden als solche erkannt zu werden, und zwar um so deut- licher, je weiter die Schwangerschaft bereits vorgeschritten war, und selbstverstándlich auch besonders, wenn die Abortierende bereits früher geboren hat. Jedenfalls aber empfindet auch die Erstgebärende kolikartige Schmerzen und Ziehen im Kreuz. Bei etwas vor-
12
geschrittenerer Schwangerschaft kann die Thatigkeit der Uterus- Musculatur so energisch auftreten, dass der gesaminte Gebärmutterinhalt mit den vorgelegten Tampons aus der Scheide ausgestossen wird und der Arzt bei der Rückkehr zu seiner Hilfsbefohlenen den Abort vollständig beendet findet. In diesem Falle, d. h. wenn er sich durch genaue Besichtigung der ausgestossenen Teile von deren Vollständigkeit überzeugt hat, verzichtet er am besten auf jede weitere innere Untersuchung oder Vornahme therapeutischer Eingriffe und begnügt sich damit, die für das normale Wochenbett üblichen Vor- schriften zu erteilen.
In früheren Schwangerschaftsstadien kommt es zwar nicht leicht zu einer völligen Ausstossung bis vor den Scheideneingang, wohl aber kann auch hier der Arzt nach Entfernung der Tampons den gesammten Uterusinhalt vor dem äusseren Muttermund in der Scheide liegend finden, oder das Ei steckt in dem eröffneten Cervicalkanal derart, dass man es durch einen geeigneten Druck exprimieren kann. Um letzteres zu thun, führt man 2 Finger der einen Hand in das vordere Scheidengewölbe und verstärkt zugleich mit der anderen Hand von den Bauchdecken her die Proversion des Uterus. Indem man so die Fingerspitzen beider Hände einander kräftig zu nähern sucht, presst man das Ei aus dem Cervicalkanal oder, soweit es noch im Uterus selbst steckt, auch aus diesem heraus!”). Falls der Uterus retroflectiert ist, empfiehlt es sich, die Finger in das hintere Scheiden- gewölbe zu führen und die Retroversion zu verstärken ?°); jedoch ist in diesem Falle das Gelingen der Expression weniger gesichert. Misslingt sie, so kann man wohl auch das Ei, soweit es sichtbar ist, mit der Kornzange fassen und die Eihäute, indem man sie schnur- förmig zusammendreht, extrabieren.
Ueberaus selten einmal wird man bei noch vollständig zurück- gehaitenem Ei triftige Gründe haben, die Ausstossung nicht der Thätigkeit der Uterusmuskulatur zu überlassen, sondern den Uterus- inhalt selbst, sei es mit den Fingern, sei es mit Instrumenten, aus- zuräumen ?!), Unter diesen Gründen kann sich Blutverlust nicht wohl befinden, vorausgesetzt, das die Tamponade fest genug war, um ein Durchbluten nach aussen zu verhindern, und dass nicht etwa der so überaus seltene Fall einer Blutung ins Uteruscavum eintritt. Vielmehr sind es jauchig riechender Ausfluss, Schiittelfriste
13
und Fiebertemperatur oder unerträglicher Schmerz, die ein längeres Abwarten schädlich oder grausam erscheinen lassen. Dass bei Jauchung und Infektionskrankheiten der Heerd der Infection, das abgestorbene Ei, so schnell als möglich zu entfernen ist, liegt auf der Hand, und wenn auch eine Reihe mit Tamponade behandelter derartiger Fälle glücklich verlaufen ist, so beweist das gewiss nichts für die Richtigkeit der Behandlung. Was den Schmerz anbetrifft, so bin ich erstaunt darüber, dass dieser Punkt in so vielen Er- örterungen der Abortbehandlung ganz mit Stillschweigen oder mit wenigen Worten übergangen wird. Es giebt Frauen genug, die während einer Uterus- oder Cervicaltamponade ununterbrochen furchtbare Schmerzen empfinden ??), und selbst die Scheidentamponade ist bei nicht zu alten Entzündungen des Beckenperitoneums so schmerzhaft, dass die Patienten sich in ihrer Qual winden und vor Jammer stundenlang schreien. Hat aber der Arzt nur die Aufgabe, das Leben seiner Patienten zu erhalten, ohne jede Rücksicht auf die Linderung der Qualen? würde er selbst sich von einem Collegen nach solchen Grundsätzen behandeln lassen? Die übermässige Schmerzhaftigkeit ist sicherlich eine Indication für ein activeres Vorgehen; und auch die Lebensverhältnisse der Abortierenden können ein solches notwendig machen, wie z. B. die Unmöglichkeit, die auf ihr lastenden Arbeitspflichten abzuwälzen, oder die zu grosse Entfernung vom Wohnsitze des Arztes und dergleichen mehr, was im speciellen Falle zu würdigen Sache des gesunden Menschenverstandes ist,
Was nun die Art der Ausräumung anbetrifft, so kommt es darauf an, ob der Muttermund bereits für einen Finger durchgängig ist, oder nicht.
Ist er für einen Finger durchgängig, so können wir diesen zur Ausräumung benutzen. Diese Ausräumung gestaltet sich verschieden, je nach dem Alter der Schwangerschaft. Während der ersten drei oder vier Monate wird man womöglich ohne Sprengung der Frucht- blase das Ei in möglichster Ausdehnung von der Uteruswand loszu- schälen und dann durch Druck auf den Fundus von den Bauch- decken her zu exprimieren suchen. Platzt dabei die Fruchtblase, so vollendet man die Losschälung, streift möglichst die ganze entleerte Fruchtblase durch den Muttermund nach aussen oder zieht auch zunächst den Fötus an einem Bein heraus, um dann die Fruchtblase
14
nachfolgen zu lassen. Gewöhnlich erweitert sich der Cervicalkanal durch diese Manipulation noch mehr, so dass die Entleerung keinen besonderen Schwierigkeiten begegnet.
Vom 4. oder 5. Monate an kann ein für einen Finger zugäng- licher Muttermund weder die Frucht, noch die ganze Placenta durch- lassen. In diesem Falle hat man also mit dem Finger die Frucht- blase zu sprengen, einen Fuss des Fötus herunterzuleiten und die Hüfte in den Cervicalkanal herabzuziehen; eventl. schlingt man diesen Fuss auch noch an und sorgt dafür, dass ein constanter Zug daran ausgeübt wird. Es pflegt dann die weitere Eröffnung des Muttermundes rasch voranzuschreiten, die Frucht wird geboren, und man kann die Nachgeburt mittelst des Credé'schen Handgriffes exprimieren.
Ist der Muttermund nicht für einen Finger durchgängig, so kann man ihn mit Dilatatorien (vergl. unten S. 18) in wenigen Minuten genügend erweitern. Doch hat man bei Aborten in den ersten zwei bis drei Monaten der Schwangerschaft auch die Möglichkeit, ohne vorgängige Erweiterung die gesamte Frucht zu entfernen; indem man nämlich mit einer schmalen Curette in den Cervikalkanal ein- dringt und die Eihäute teilweise losschält, eröffnet sich der Mutter- mund genügend, um die Fruchtteile passieren zu lassen. Die Technik ist ganz dieselbe, wie bei unvollständigem Abort; bei dessen Be- sprechung wird sie sogleich eingehender erörtert werden. Zu- weilen (vornehmlich aber, wenn noch das ganze Ei im Uterus zurückgehalten ist) kommt es bei dieser instrumentellen Ausräumung zu einer sehr starken Blutung, die erst nach Beendigung des Ein- griffs steht. Man wird daher diese Art der Ausräumung nicht ohne Not wählen; hat man sie aber gewählt, so darf man sich durch die Blutung nicht beirren lassen, sondern muss die Operation ohne Über- stürzung und ohne Zaudern durchführen. Sobald der letzte Eirest aus der Gebärmutter entfernt ist, pflegt die Blutung spontan zu stehen. Höchstens bedarf es noch einer heissen Ausspülung und Massage, um auch ein letztes Nachsickern von Blut zu unterdrücken. Die Zuhilfenahme der Kornzange in der oben geschilderten Be-
schränkung ist auch bei dieser Ausräumung zulässig.
x x *
15
Ungemein häufig erzielt man mit allen den bisher geschilderten Massnahmen überhaupt keine vollständige Entleerung der Gebär- mutter; es gehen nur einzelne Bestandteile des Eies ab, oft selbst ein sehr grosser Teil, aber selbst die spärlichsten im Uterus ver- bliebenen Reste) genügen, um die Blutung zu unterhalten. Nun kann man zwar, wenn die Blutung eine mässige ist, durch immer wiederholte Anwendung von Secale, heissen Ausspülungen, Uterus- Reibungen oft ohne operativen Eingriff auskommen, indem schliesslich die Eireste necrotisieren und in kleinen Partikelchen abgehn, jedoch gereicht eine solche exspectative Therapie meist zum Nachteil der Kranken. So klein der Blutverlust ist, so führt er doch allmählich zu Anämie; die unaufhörliche Behandlung des Unterleibes macht die Kranke nervös; event. stellt sich durch den zu grossen Ver- brauch an Mutterkorn Ergotismus ein; in jedem Falle aber kommt es zu einer chronischen Hyperämie der Gebärmutter, aus der schliesslich eine hyperplastische Metritis und Endometritis wird. Aber nicht nur die therapeutischen Eingriffe wirken in solcher Weise als Reize, sondern die zurückgebliebenen Eireste selbst ver- grössern sich häufig durch Anlagerung von Blutgerinnseln, die sich organisieren, und werden endlich zu sogenannten Placentar- Polypen, die eine sehr beträchtliche Grösse erreichen und die Gebär- mutterhöhle beträchtlich erweitern können. Es ist dann schliesslich nicht mehr die beim Abort entstandene Wundfliche, sondern die krankhaft entartete Gebärmutterschleimhaut, aus welcher die Blutungen stammen, und wenn diese nun auch mehr und mehr wieder die men- struelle Periodicität annehmen, so werden sie dafür um so profuser und langwieriger, sodass die Anämie der Leidenden mit allen ihren Folgeerscheinungen sich dauernd steigert.
In anderen Fällen bleibt der Blutverlust ein mässiger, aber die zurückgehaltenen Eireste verfallen der Jauchung, die nicht nur durch den unerträglichen Gestank, sondern auch durch Intoxications- erscheinungen zum Eingriffe zwingt.
Es ist daher unbedingt notwendig, bei jedem unvollständigen Abort für baldige Entfernung der zurückgebliebenen Eireste Sorge zu tragen, und es fragt sich nur, in welcher Weise dies geschehen soll.
Das nächstliegende Mittel, zumal wenn man den Muttermund für einen oder gar für zwei Finger durchgängig findet, ist, mit dem
16
sorgfältig disinficierten**) Finger in die Gebärmutterhöhle einzu- dringen, das cavum uteri auszutasten, die dort gefundenen Eireste, wenn sie noch festsitzen, abzulösen und zu entfernen. Bei Aborten in früheren Schwangerschaftsstadien macht dies meist keine be- sonderen Schwierigkeiten. Gelingt es nicht immer, die Eireste mit dem zuriickgehenden Finger herauszubefördern, so kommt man, wenn sie nur gelöst sind, oft mit der bereits oben geschilderten Expression zum Ziele, oder man spült die gelösten Fetzen mit einer antisepti- schen Flüssigkeit aus der Gebärmutterhöhle heraus.?4) Die Technik ist eine sehr einfache. Es empfiehlt sich auch hierbei die Narcose; die Portio ist mittelst einer Kugelzange bis in den Scheideneingang herabzuziehen, hier noch einmal mit einem in antiseptische Flüssigkeit getauchten Gazebausch abzureiben, und nun der Finger einzuführen, so dass er mit der Scheidenwand garnicht in Berührung kommt. Dann erst nimmt man die Kugelzange ab, dringt mit einem Teile der Hand in die Scheide ein, sodass der Uterus ungefähr in seine normale Lage kommt, und drückt nunmehr mit der durch die Bauchdecken wirken- den Hand die Wand der Gebärmutter allenthalben dem innen wir- kenden Finger entgegen. Man kann auf diese Weise ziemlich sicher die gesammte Innenfläche der Gebärmutter austasten.
In den späteren Schwangerschaftsmonaten besteht der unvoll- ständige Abort meist in dem blossen Abgang von Fruchtwasser mit partieller Ablösung der Placenta oder in dem Abgang der Frucht mit Retention der Placenta. In dem ersteren Falle ist zunächst die Extraction der Frucht zu bewirken. Ist der Muttermund noch nicht für den Finger durchgängig, so ist es meist leicht, ihn durch die sondenförmigen Dilatatorien oder durch den Barnes’schen Dilatator (s. u.) so weit zu dehnen, dass man einen Finger einführen und den Fuss der Frucht herabholen kann, worauf in der Regel die Fehlgeburt spontan fortschreitet. Ist die Frucht abgegangen und nur die Placenta zurückgeblieben, so ist diese nach dem Credó'schen Ver- fahren zu exprimieren, sofern die Weite des Muttermundes genügt, sie durchzulassen. Wenn dies nicht gelingt, geht man mit ein oder zwei Fingern in die Gebärmutterhöhle ein, schält die Placenta los und sucht sie mit einer schraubenartigen Bewegung der eingeführten Finger unter gleichzeitiger Wiederholung der Cred é'schen Expression herauszubefördern.
1?
Es fragt sich zunächst, ob das digitale Verfahren in jeden Falle zu empfehlen ist, in welchem der Cervicalkanal fiir den Finger durchgängig ist. Dies kann im Grossen und Ganzen bejaht werden, jedoch mit Ausnahme der Fälle, in denen der Arzt nicht lange zuvor seine Finger mit stark septischen Stoffen in Berührung gebracht hat. Wir dürfen eben nicht übersehen, dass in der Land- praxis ein Abtreten des Falles an einen anderen Kollegen selten möglich ist; wer aber innerhalb der letzten 48 Stunden etwa ein Panaritium eröffnet und seine Finger dabei mit dem ausfliessenden Eiter beschmutzt hat, oder wer einen Abscess mit den Fingern exploriert, oder wer gar eine fiebernde Wöchnerin untersucht hat, würde eine schwere Verantwortung auf sich laden, falls er mit denselben Fingern, auch nach móglichster Reinigung, einen Uterus wegen Abort austasten wollte, denn ein sicberes Verfahren für die Disinfection der Hand ist augenscheinlich noch nicht entdeckt. Es liegt also auf der Hand, dass man in solchen Fällen gern zu anderen Mitteln greifen wird.
Eine andere Frage jedoch ist die, was wir thun sollen, wenn zwar die eben erwähnten Gründe gegen eine digitale Ausräumung nicht vorhanden sind, dagegen der Muttermund zu eng ist, um den Finger durchzulassen. Dieses ist insbesondere häufig bei sehr früh- zeitigen unvollständigen Aborten der Fall, da dann ein grosser Teil der Eihäute recht wohl durch einen ganz mässig erweiterten Cervical- kanal durchschlüpfen kann. Aber auch sonst findet der Arzt den Cervix- kanal oftmals für den Finger unpassierbar, weil jener sich nach Aus- stossung des grössten Teiles des Uterusinhalts rasch wieder zusammenzieht. In diesen Fällen zu erwarten, dass sich der Cervical- kanal lediglich durch eine Wiederanregung der Wehenthätigkeit spontan genügend erweitern könnte, wäre meist vergeblich. Es bleibt also, wenn wir die Ausräumung mit dem Finger ermöglichen wollen, nur eine wirklich mechanische Dilatation der Cervix übrig: die An- wendung der Scheiden-Tamponade ?5), der Cervix-Tamponade, der Glycerineinspritzung ist unzweckmässig und es kommen nur in Betracht die Quellmittel, die Einschiebung von Dilatatorien in stei- gender Dicke, die Einführung und Aufblähung einer Kautschukblase oder endlich die blutige Spaltung der Cervix. Jedoch ist auch nicht
zu vergessen, dass eine für den Finger scheinbar nicht durch- 9)
o_
18
gängige Cervix in der Narcose oft noch durch den eindringenden Finger gentigend gedehnt werden kann.
Unter den erwähnten drei Erweiterungsmitteln sind die Quell- stifte und die Cervical-Tamponade insofern die unvollkommensten, als in den hier betrachteten Fällen, wo eine irgend erhebliche Wehen- thätigkeit nicht mehr zu erzielen ist (wenigstens nicht, wenn die zurückgehaltenen Eireste nicht sehr erheblich sind), eine ganz be- trächtliche Zeit mit ihrer Anwendung verloren geht und sich durch ihr langes Verweilen in der Cervix, deren Schleimhaut doch immerhin dabei mindestens mikroskopische Verletzungen erfährt, die Infections- gefahr beträchtlich steigert. Der sogenannte Barnes’sche Dilatator, eine geigenförmige Kautschukblase, die man leer, eng zusammen- gefaltet, in den Muttermund einführt und dann durch Luft oder durch eine eingespritzte Flüssigkeit aufbläht, leistet in manchen Fällen ganz prompte Dienste, jedoch ist die Kraft, die man mit ihm ausüben kann, nur eine mässige, und nicht geeignet, einen stärkeren Wider- stand der Cervix-Muskulatur zu überwinden. Die von Busch, Sims, Scanzoni, Ellinger, Schultze u. A. 2°) angegebenen Dilatatoren, deren Wirkungsweise auf der Spreizung von zwei (Sims) oder drei (Scanzoni) Branchen nach Art eines Handschuhweiters beruht, sind fast völlig aufgegeben worden, da sie nicht gleichmässig wirken und selten die Durchlässigkeit für einen Finger herbeiführen. Mit der Kornzange erreicht man ungefähr dasselbe und mag sich deren be- dienen, wenn die anderen Mittel nicht zur Hand sind. Die besten Erfolge erzielt man fast immer mit der Anwendung einer Serie von cylindrischen Sonden in steigender Dicke, den Dilatatorien, wie sie von Hegar, Schröder, Fritsch u. A. angegeben sind. Die ge- ringen Unterschiede in der Form dieser Instrumente sind unwichtig. Was das Material anbetrifft, so sind sie aus Glas, Hartgummi oder Metall gearbeitet und vielleicht sind unter ihnen die metallnen (nach Schröder) vorzuziehen, teils wegen der grösseren Sicherheit der Sterilitierung, teils wegen der grösseren Dauerhaftigkeit. Beginnt man mit der dünnsten Nummer und lässt man die stärkeren Nummern eine halbe Minute bis einige Minuten im Cervicalkanal liegen, so gelingt es fast stets, innerhalb ganz kurzer Zeit bis zu derjenigen Nummer vorzugehen, die der Dicke eines mässigen Zeigefingers ent- spricht, und man kann nunmehr die Ausräumung in der bereits
19
geschilderten Weise vornehmen. Auch bei der Einführung dieser Dilatatorien empfiehlt es sich natürlich, die Abortierende in Steiss- Rückenlage zu bringen und die Portio mit einer Kugelzange in’s Gesichtsfeld vorzuziehen. Die Narcose erleichtert das gesammte Ver- fahren ausserordentlich.
Immerhin giebt es nun aber auch Fälle, in denen das Gewebe der Cervix derartig starr ist, dass eine Dilatation des Kanals bis zur Durchlässigkeit für einen Finger mit den genannten Mitteln schlechterdings nicht gelingt. In diesen Fällen wird man wohl meist auf die digitale Ausräumung verzichten und sich der Instrumente bedienen; jedoch können die zurückgebliebenen Eiteile so gross sein, dass sie durch einen so wenig erweiterten Cervicalkanal überhaupt nicht herauszubefördern sind, weder mit dem Finger, noch mit Instrumenten. Zuweilen mag die sogen. blutige Dilatation, bei der man mit irgend einem sinnreich erfundenen Instrument (Simpson, Greenhalgh, White, Aveling,°%), oder auch nur mit einem geknöpftem Messer?) den inneren Muttermund mehrfach ein- schneidet, die Manipulation erleichtern. Bedeutendes leistet sie aber gegenüber der unblutigen Dilatation sicher nicht, während sie mit den frischen Wunden, die sie setzt, entschieden neue Gefahren mit sich bringt. Anders steht es um die vollständige Spaltung der Cervix. Schon von Martin?) ist sie für solche Fälle vorgeschlagen und ausgeführt worden, in denen eine ausreichende Dilatation nicht zu erzielen ist, und zwar empfahl er, in dem einen seitlichen Scheidengewölbe durch eine tiefe Umstechung die Aeste der Arteria uterina provisorisch zu unterbinden und die Cervix nach dieser Seite zu bis in den inneren Muttermund aufzuschneiden. Vorteilhafter dürfte es jedoch sein, in der Weise, wie bei einer vorderen Elytro- tomie, die Schleimhaut des vorderen Scheidengewölbes median zu spalten, die Blase bis über den inneren Muttermund hinauf stumpf empor zu schieben und nunmehr die vordere, eventuell auch noch die hintere Wand der Cervix median aufzuschneiden. In beiden Fällen muss man natürlich die Schnitte sorgfältig wieder durch die Naht schliessen und bei dem Martin’schen Verfahren nachher noch die provisorische Umstechung der Arteria uterina lösen. Das eine wie das andere Verfahren sollte von keinem Arzte ausgeführt werden, der es nicht wenigstens schon einmal von sachverständiger Hand hat ausführen sehen. >
20
Ist einerseits die digitale Ausräumung nicht möglich, anderer- seits die Spaltung der Cervix nicht durch die Grösse der zurück- gebliebenen Eiteile notwendig gemacht, so kann noch das Verfahren der Uterus-Tamponade in Betracht kommen. Der ursprüngliche Vorschlag, den Vulliet?") gemacht hatte, dass man sterile Watte in die Gebärmutterhöhle einführen solle, bezog sich nur auf diag- nostische Zwecke. Er erreichte dadurch, dass er von 48 zu 48 Stunden eine immer steigende Anzahl kleiner Jodoform-Watte-Tampons in das Cavum einführte, innerhalb 9 Tagen bis 5 Wochen eine voll- ständige Erweiterung des Muttermundes, so dass er die Innenfläche des Uterus photographieren konnte.
Für den hier betrachteten Zweck haben wohl Dührssen **) und Landau!) den Uterus zuerst tamponiert, und zwar nicht all- mählich, sondern in einer Sitzung. Auch haben beide sich dazu statt der Wattebäusche eines Jodoformgazestreifens bedient. Dieser bietet unzweifelhaft den Vorteil, dass man ihn bei Ausbleiben der spontanen Ausstossung leichter und vollständiger entfernen kann, als die Watte. Ihre Hauptbedeutung hat die Uterustamponade meines Erachtens für den Abort in späteren Schwangerschaftsstadien, ins- besondere bei starker Blutung, und zwar, wenn man die digitale Ausräumung aus Furcht, dass der Finger infiziert ist, nicht wagen möchte. Was die Technik anbetrifft, so macht es, wenn der Cervical- kanal nicht vollständig geschlossen ist, keine besonderen Schwierig- keiten, mit einer langen Pincette oder einer Kornzange ein Ende des Gazestreifens bis an den Fundus uteri emporzuschieben und allmählich mehr und mehr nachzustopfen, wobei man allerdings vor- teilhaft mit der einen, durch die Bauchdecke wirkenden, Hand den Fundus uteri zu umgreifen sucht, um einen Widerstand zu schaffen und die Gefahr einer Perforation der Gebärmutter zu verringern. Es ist also, schon um die Erschlaffung der Bauchdecken herbeizu- führen, eine Narcotisierung der Abortierenden dringend zu empfehlen. Ist der Cervicalkanal fast völlig geschlossen, so kommt man mit Kornzange und Pincette entweder garnicht hinein, oder doch nicht hoch genug hinauf. In diesem Falle muss also entweder wieder eine Dilatation des Cervicalkanals in der bereits beschriebenen Weise vor- ausgeschickt werden, oder man bedient sich eines sogenannten Uterus- stopfers, Das von Landau vorgeschlagene Instrument (Fig. 1, S. 10)
21
stellt einen leicht gekrümmten, ziemlich dicken Draht dar, dessen Ende in vier Knöpfchen ausläuft; diese Gestaltung des Stopfers erschwert ein Durchbohren der Gaze insofern, als die vier kleinen Spitzen in verschiedene Maschen des Gewebes eindringen. Es giebt noch eine ganze Anzahl anderer Modelle von Uterusstopfern, jedoch kann der Landau’sche wohl als der zweckmässigste bezeichnet werden.
Wie dem auch sei: schon der Zweck des Instrumentes, die Gaze durch einen ganz engen Cervicalkanal hindurch zu befördern, bringt es mit sich, dass es möglichst schlank sein muss und demnach bei einigermaasen unvorsichtiger Anwendung leicht eine Perforation der Gebärmutterwand verursachen kann. Es wäre ein grosser Irrtum, wenn man diese Gefahr verkennen wollte, weil etwa die wenigen geübten Specialisten, die sich des Uterusstopfers gewohnheitsmässig bedienen, bisher noch kein Unheil damit angerichtet haben. Keines der zur operativen Beendigung des Aborts angewandten Instrumente, sei es ein Abortlöffel, eine Zange, eine Curette, ist an seinem oberen Ende so gestaltet, dass es die Gebärmutterwand leichter zu durch- bohren vermöchte, als ein Uterusstopfer; und der Gedanke, dass die mit dem Uterusstopfer eingeführte Gaze die Perforation etwa ver- hindern könnte, kann uns auch nicht beruhigen, da man ja in der Regel das Instrument nur bei ganz engem Cervikalkanal anwenden wird und in diesem Falle natürlich nur eine einzige Schicht Gaze mit der Spitze des Instrumentes einführt; andererseits wird eine Perforation mittelst eines Uterusstopfers insofern nachteiligere Folgen haben, als eben mit dem Instrument gleichzeitig die Gaze, nachdem sie sich im Cervikalkanal und in der Gebärmutterhöhle mit den dort vorhandenen Flüssigkeiten vollgesogen hat, in die Bauchhöhle gebracht wird. Ein glatt poliertes Metallinstrument, das durch die Gebärmutter- wand in die Bauchhöhle dringt, wird in der Regel die Flüssigkeit, mit der es vorher benetzt war, an den Geweben, die es durchbohrt, abstreifen und demnach nur ausnahmsweise die Bauchhöhle inficieren; dies ist bei dem getränkten Gazestreifen ausgeschlossen; er wird sicher einen Teil der Flüssigkeit, die er aufgesogen hat, ın die Bauch- höhle mitnehmen und, wenn man ihn zurückzieht, dort zurücklassen. In allen Fällen also, wo der Cervicalkanal oder gar die Gebärmutter- höhle bereits pathogene Organismen enthielten, ist eine schwere Peritonitis als Folge einer solchen Perforation mit grösster Sicherheit
vorauszusagen. Es sei daher Demjenigen, der die Methode überhaupt anwenden will, dringend empfohlen, die Dilatation der Cervix vor- auszuschicken und sich zur Füllung des Uterus eines möglichst stumpf endigenden Instrumentes zu bedienen.
Hat man die Uterus-Tamponade ausgeführt, so pflegt allerdings fast immer eine Ausstossung des Uterusinhalts nach einigen Stunden zu erfolgen; jedoch ist auch so diese Tamponade nicht als ganz un- gefährlich anzusehen. Die Blutungen bei unvollständigem Abort setzen eine Wundfläche voraus, und die mit dieser Wundfläche in Berührung kommende Gaze kann, auch wenn sie vor jeder Berührung mit ungenügend sterilisierten Körperteilen und Instrumenten sorgfältig bewahrt wird, sich im Cervicalkanal selbst mit pathogenen Organismen tränken, die sie nun auf die Wundfläche verimpft. In jedem Falle sich vorher zu vergewissern, ob solche Organismen in den Falten der Cervicalschleimhaut vorhanden sind oder nicht, ist in der Praxis kaum möglich und man wird daher, selbst wenn eine augenfällige eitrige Secretion in der Cervix nicht wahrzunehmen ist, immerhin noch ein gewisses Risico laufen. Es ist ja nicht zu leugnen, dass dieses auch bei der Einführung von Instrumenten vorhanden ist, aber jedenfalls gilt auch hier das schon oben Gesagte, dass nämlich die Gaze sich bei dem Passieren der Cervix in viel reichlicherem Maasse mit den dort vorhandenen Flüssigkeiten belädt, und dass sie diese viel ausgiebiger und dauernder mit der Wundfläche im Uterus in Berührung bringt.
Ganz besonders steigern sich diese Bedenken, die in jedem Falle gegen die Uterus-Tamponade erhoben werden können, in solchen Fällen, wo wir nicht sicher sind, ob schon andere Personen Mani- pulationen an der Gebärmutter vorgenommen haben. Lässt sich auch in kleinen Ortschaften die Frage, ob bereits ein Kollege oder eine Hebamme zugezogen waren, mit Sicherheit entscheiden, so gilt dies kaum noch von grösseren Städten; dort können wir fast niemals die Möglichkeit eines durch Kunsthilfe herbeigeführten Aborts mit Sicherheit ausschliessen. Wie aber die Verhältnisse heute liegen, werden criminelle Aborte nur höchst selten unter antiseptischen Cautelen eingeleitet, und der Procentsatz der dabei stattfindenden Infectionen ist ein ausserordentlich hoher. Selbst abgesehen nun davon, dass durch das Einlegen von Gaze in einen bereits septisch
23
inficierten Uterus die Gefährlichkeit der Infektion höchst wahr- scheinlich gesteigert wird, kann es jedenfalls für den behandelnden Arzt nicht angenehm sein, wenn er bei einem unglücklichen Verlauf des Falles unsicher darüber bleibt, inwieweit sein eigener Eingriff diesen Verlauf verschuldet oder verschlimmert hat.
Das alles sind Gründe, die wohl geeignet sind, uns die Uterus- Tamponade, wo sie lediglich die Entleerung des Uterus herbeiführen soll, höchst bedenklich erscheinen zu lassen. Diese Bedenken haben aber naturgemäss nichts zu thun mit der Frage, ob man nach voll- ständiger Entleerung des Uterus diesen wegen atonischer Blutung tamponiren soll.
Es bleibt nun schliesslich noch die instrumentelle Ausräumung zu besprechen. Es giebt Fälle, in denen der Muttermund so erweitert ist, dass man, sobald die vordere Muttermundslippe angehakt und in den Scheidenausgang herabgezogen ist, Eiteile in der Cervix oder unmittelbar über dem inneren Muttermunde liegen sieht. In diesem Falle steht selbstverständlich nichts im Wege, mit einer Kornzange*?) die vorliegenden Eiteile zu fassen und sie unter drehender Be- wegung, die das Abreissen des gefassten Teiles verhindern soll, herauszuziehen. Sehr häufig ist es dabei von grossem Vorteil, zwei derartige Zangen zur Hand zu haben und den Uterusinhalt.in der Weise allmählich zu extrahiren, dass man abwechselnd eine der Zangen öffnet und oberhalb der anderen wieder anlegt. Dies wird erleichtert, wenn die Zangen Cremaillören haben, weil man dann die Portio mit der Kugelzange selber halten und die Kornzangen mit der anderen Hand abwechselnd an- und ablegen kann. Andernfalls lasse man die Portio durch die Assistenz hervorziehen und nehme in jede Hand eine Kornzange. Das beschriebene Verfahren eignet sich nicht nur für Placentarteile und Eihäute, sondern in vielen Fällen auch für die Extraktion des Fötus selbst. Sehr oft kann man in dieser Weise die ganze Frucht unter Controlle des Auges aus der Gebärmutter herausziehen, ohne dass die Instrumente mit der Wundfläche in der Gebärmutter überhaupt in Berührung kommen. Die Besichtigung der hervorgezogenen Massen einerseits und die alsbaldige kräftige Contraktion der Gebärmutter sammt dem Aufhóren der Blutung andererseits zeigen uns alsdann, dass eine weitere Aus-
24
tastung der Gebiirmutter oder die Anwendung anderer Instrumente überflüssig ist.
Jedoch auch wenn der Cervicalkanal nur eben den Finger und die Kornzange zugleich passiren lässt, kann man häufig in der soeben geschilderten Weise verfahren, da der Finger es ermöglicht, die Branchen der eingebrachten Kornzange so zu decken, dass eine Perforation ausgeschlossen bleibt, und da er zugleich eine Controlle darüber, ob wir Eiteile oder die Uteruswand fassen, auch dem Ungeübteren gestattet. Oft genug ist, wenn wir in dieser Weise nur erst den Eirest an irgend einer Stelle gefasst und bis in den Cervicalkanal herabgezogen haben, ein Herausziehen im Ganzen in der bereits oben geschilderten Weise ausführbar, ohne dass wir noch einmal mit der Kornzange einzugehen brauchen.
In der Olshausen’schen Klinik wird statt der Kornzange eine (von Winter angegebene) Zange mit löffelartigen Branchen ange- wendet, von der ich glaube, dass sie in den allermeisten Fällen weniger zweckmässig, als die Kornzange, ist. Zunächst lässt sie sich mit dem Finger zugleich nur in einen recht weiten Cervical- kanal einführen; sodann aber wirken die Ränder der löffelförmigen Branchen, wiewohl abgestumpft, immerhin etwas kneifend, und es wird daher mit diesem Instrument viel seltener gelingen, eine jüngere oder gar eine macerierte Placenta im Ganzen herauszuziehen. Die oben empfohlene abwechselnde Anlegung zweier Zangen ist bei dem beträchtlichen Volumen dieses Instrumentes wohl niemals möglich. Nur wenn es sich darum handelt, das Köpfchen oder allenfalls den Steiss einer kleinen Frucht zu fassen und zu extrahieren, dürfte allerdings diese Abortzange von Vorteil sein, doch habe ich immer gefunden, dass derartige Extraktionen mit der Kornzange ebenfalls ohne besondere Schwierigkeiten ausgeführt werden können.
Mit solchen Zangen, mag es die eine oder die andere sein, ohne Leitung des Auges oder des Fingers in dem Cavum uteri herum- zutasten und blindlings zuzugreifen, kann man wohl ohne weiteres als einen ärztlichen Kunstfehler bezeichnen. Leicht genug fasst man dabei eine Falte der schlaffen Wand und quetscht oder reisst sie ein, oder man perforiert den Uterus und fasst eine Darmschlinge, die man als solche erst erkennt, nachdem man sie bis vor den Muttermund gezogen hat. Bedenkt man überdies, dass auch nicht
25
ganz selten eine Perforation bereits vorher von anderer Seite bei crimineller Einleitung des Aborts hergestellt sein kann, so wird man einsehen, dass selbst ein geschickter Spezialist dazu kommen kann, bei solcher Handhabung der Kornzange eine Darmschlinge herab- zuziehen, und er ist dann in der traurigen Lage, nicht einmal sich selbst, geschweige denn Anderen, den Beweis dafür liefern zu können, dass er an der Perforation uuschuldig ist.
Nächst den Zangen kommen für die Ausräumung des Aborts noch die schlingen- und die löffelförmigen Instrumente in Betracht. Solche hatten bereits Récamier*?) für die Behandlung der fungésen Endometritis und Simon für die des Uterus- Carcinoms längst empfohlen. Für die Therapie des Aborts empfahl dann Weikert*) zuerst eine federnde Metallschlinge, mit der man wesentlich nur gelöste Eireste aus der Gebärmutter entfernen konnte. Bald darauf schlug Thomas?) die Anwendung des Simon ’schen scharfen Löffels zur Ausräumung von Molen, Spiegelberg**) zur Beendigung des unvollständigen Aborts vor. Dem Beispiel des letzteren folgten Schede*’) und Mund&.?) Dieser wandte auch neben dem Löffel cine Schlinge aus biegsamem Kupferdraht, wie sie Thomas*5) zur Behandlung der fungösen Endometritis benutzte, an. Fehling?!) dürfte der erste gewesen sein, der auch die Récamier’sche Curette für die AbortbehandInng empfahl, die ebenfalls eine Art Schlinge darstellt, aber statt aus cylindrischem Draht, aus einem Metallbande mit mehr oder minder scharfer Kante gebogen ist.
Es ist im Grunde nicht besonders wichtig, welche der beiden Formen man anwendet, ob Löffel, ob Schlinge, denn die Ablösung der Eiteile erfolgt immer nur durch den mehr oder minder scharfen Rand des Instrumentes, und wenn auch bei dem schlingenförmigen Instrument die losgeschabten Eiteile durch die Schlinge durchgehen, so ist doch auch bei dem löffelförmigen die Concavität niemals so beträchtlich, dass sie den gesammten Uterusinhalt aufnehmen und herausbefördern könnte. Zuweilen fangen sich gerade in dem schlingenförmigen Instrument grössere Stücke derartig, dass man sie herausziehen kann; dies kann befördert werden, wenn man dem Fenster des Instrumentes eine gegen das Ende hin spitz zulaufende Form giebt, sodass sich die in das Fenster geratenden Fetzen in dessen spitzem Winkel festklemmen. Sonst werden sie durch die
schabende Bewegung selbst dem Muttermunde genähert und durch den Cervicalkanal hindurchgeschafft; soweit dies nicht der Fall ist, pflegt eine auf die Ausschabung folgende Ausspülung der Gebiir- mutterhöhle alles bereits Gelöste herauszubefördern.
Wichtiger, als das Fehlen oder Vorhandensein eines Fensters, ist die Form des Löffels, die Beschaffenheit seines Randes, die Stellung seiner Schneide zu der Längsaxe und endlich die Starrheit oder Biegsamkeit des Stieles.
Was die ersten drei Punkte anbetrifft, so ist es zweckmässig, in seinem Instrumentarium wenigstens einen Löffel zu haben, der völlig stumpf und breit endigt, und dessen Ende völlig rechtwinkelig gegen den Stiel gebogen, ja sogar ein wenig vorwärts umgerollt ist. Dieser Form entspricht der Abortlöffel, der in dem Kataloge der Firma Chr. Schmidt, Berlin N., Ziegelstr., — wie ich höre, irr- thiimlich — als Winter’scher Abortlöffel bezeichnet ist. Durch eine etwas andere Gestaltung des Fensters habe ich seine Brauch- barkeit noch zu erhöhen gesucht. (Siehe Figur 2a u. b.)
Mit diesem Instrumente kann man eine Perforation kaum zu stande bringen, wenn man nicht ungewöhnlich roh verfährt, und es ist vorzüglich geeignet, um durch einen ziemlich weiten Muttermund grössere Eireste her- auszubefördern. Nur bei bereits weit vor- geschrittener Schwangerschaft ist die Ge- fahr einer Perforation ziemlich gross, nicht wegen der geringeren Consistenz der Uteruswand, sondern wegen ihrer grossen Schlaffheit ausserhalb der Wehen. Es wird sich daher fragen, ob nicht in solchem Falle der Tamponade oder der digi- LEN A men Ausriumung der Vorzug zu geben a Das ende atiri. Grösse, St, letzterer ev. selbst dann, wenn man kurz vorher mit Eiter oder Leichenteilen zu thun hatte. Eine sehr griindliche Bearbeitung der Finger mit Schleich’scher Marmorseife und Disinficientien kann die Infektionsgefahr doch immerhin soweit reduzieren, dass sie geringer wird, als die Gefahr einer von un- geübten Händen ausgeführten instrumentellen Ausräumung in einer so weit vorgerückten Schwangerschaftsperiode.
SCHMIDT BERLIN
31
Was nun die übrigen Formen von Ausräumungsinstrumenten anbetrifft, so ist der Simon’sche Löffel nicht unzweckmässig, doch wendet man statt seiner lieber die sogenannte Roux’sche Curette an, die eigentlich auch ein Löffel ist, nur dass dieser ausserordent- lich lang gestreckt ist und gerade Seitenränder hat. Ein Fenster ist an dem Originalmodell nicht vorhanden; in den von mir benutzten Instrumenten (s. Fig. 3) habe ich ein spindelförmiges Fenster ausschneiden lassen, in dessen spitzen Enden sich Zottenbündel und Eihautfetzen leicht fangen. Die Roux’sche Curette wird meistens so gearbeitet, dass ein Stiel an seinen beiden Enden Löffel von ver- schiedener Grösse trägt; bedeutend bequemer für die Handhabung ist es jedoch, wenn man jeden dieser Löffel mit einem besonderen Stiel versehen lässt; ich benutze drei Nummern von 6, 8 und 10 mm Breite. Für die Ausräumung des Aborts genügt es vollständig, wenn die Ränder des Löffels stumpf sind, während allerdings für die Behand- lung der Endometritis ein etwas schärferer Löffel Vorteile bietet. Den äussersten Schnabel des Löffels ein wenig emporzubiegen, wie diesan dem Originalmodell der Fall ist, halte ich für überflüssig und glaube, dass dadurch die Perfora- tionsgefahr etwas erhöht wird. Der Vorteil, den dieses Instrument gegenüber anderen bietet, besteht darin, dass man die langen Seiten- ränder des Löffels zum Losschälen der an der Uteruswand fest haf- tenden Eiteile benutzen kann. Es ist natürlich ganz unmöglich, hier- bei den Uterus zu perforiren oder auch nur durchzuschaben, und man löst mittelst einer einfachen drehen-
2 den Bewegung verhältnismässig aa a 6 Yn x A sehr grosse Flächen ab. Nur für das ganze In- das obere Ende in natirlicher die Auskratzung des Fundus und
strument Gıösse. N
verkleinert. der Uterusecken muss man sich des äussersten Endes des Löffels bedienen und dabei ist natürlich die Perforationsgefahr genau so gross oder so gering, als bei irgend
SCHMIDT BERLIN
28
einer anderen Curette, vorausgesetzt, dass der Durchmesser der End- kriimmung bei beiden Instrumenten gleich gross ist. Das Schaben mit dem Seitenrande des Löffels kann zwar nicht mit der gleichen Kraft ausgeführt werden, wie das ziehende Schaben mit dem Löffel- ende, indessen ist ein besonderer Kraftaufwand bei der Abort- ausräumung in der Regel auch nicht notwendig und es ist vielleicht sogar besser, wenn die Form des Instrumentes einen solchen. Kraft- aufwand verhindert.
Die Récamier’sche Curette 3?) ist, wie gesagt, eine Schlinge aus einem schmalen Metallbande, das in etwa schaufelförmiger Gestalt gebogen ist; die eine Kante dieses Metallstreifens ist ziemlich scharf. Bei der Anwendung des Instrumentes streift diese scharfe Kante annähernd senkrecht auf der Uterusfliiche stehend über diese hin, und schabt dabei die anhaftenden Eireste los. Die Bewegung erfolgt in der Regel in der Richtung der Liingsaxe. Aus diesem Grunde kommt immer nur ein verhältnismässig kurzer Teil der Schneide mit der Uteruswand in Berührung und kann bei zu starkem Druck und bei grosser Weichheit der Uteruswand leicht eine Rinne und selbst ein Loch herausschaben, allerdings auch nicht leichter, als dies mit der Roux’schen Curette möglich ist, wenn man deren Ende statt des Seitenrandes zum Schaben benutzt. Dies gilt, wenn der Stiel und die Schlinge der Récamier’schen Curette genau in derselben Ebene liegen und das Metall- band, das die Schlinge formt, genau senkrecht auf dieser Ebene steht (Fig. 4a) ; sobald je- doch, wie es leider hiiufig der Fall ist, die Stellung der Schlinge (Fig. 4 b, c), oder innerhalb der Schlinge die Stellung des Metallstreifens (Fig. 4 d) von der eben gegebenen Norm abweicht, gräbt sich die Schneide beim Zurückziehen nach Art eines Pfluges in die Uteruswand ein, und kratzt einen immer stärker und dicker werdenden Streifen Muskulatur aus der Uteruswand heraus, so dass schliesslich nicht
Fig. 4. Rocamier's Curette, a richtige Form, b, c, d falsche Formen.
29
etwa nur eine einfache Perforation, sondern ein langer spitzwinkeliger Lappenriss zu Stande kommen kann. Gilt dies auch nur fiir einen schlaffen, zum Teil schon in fettiger Riickbildung begriffenen Uterus, so haben wir es doch gerade bei der Abortbehandlung mit einer solchen Beschaffenheit der Gebärmutterwand so häufig zu thun, dass in der That der geschilderte Fehler in der Form der Curette als ein sehr wichtiger bezeichnet werden muss. Ein weiterer Fehler ist meines Erachtens die Biegsamkeit des Stieles dieser Curette. Hierüber besteht allerdings bei sehr bekannten Autoritäten die durchaus entgegengesetzte Ansicht); ich kann aber nicht umhin, bei der meinigen zu bleiben. Ein Instrument dieser Art, dessen Stiel biegsam ist, verbiegt sich bei der Benutzung überaus leicht und oftmals in mehrfachem Sinne; man weiss dann also beim Schaben nicht einmal sicher, wo sich die Schlinge befindet und welche Stellung sie einnimmt. Eine systematische Abschabung der ge- samten Innenfläche wird dadurch sehr erschwert. Ein mehrfach wiederholtes Herausziehen des Instrumentes behufs Orientierung über seine Form oder Wiederherstellung derselben, ist der Patientin auch nicht nützlich. Vor allen Dingen aber ist gar nicht zu vermeiden, dass bei der Verbiegung auch jene fehlerhaften Formen entstehen können, über die ich soeben gesprochen habe, bei denen nämlich die Schneide der Curette nicht mehr senkrecht auf der Ebene des Stieles steht und sich deshalb in die Muskulatur pflugartig eingraben kann. Schliesslich sei auch noch daran erinnert, dass ein gerader starrer Stiel die Vorstellung von der Form und Beschaffenheit des Uterusinnern unserem Tastgefühl bei weitem korrekter übermittelt. Dass die Biegsamkeit des Stieles irgend welchen Nutzen brächte, der diese Nachteile aufwiegt, muss ich bestreiten. Sie mag vielleicht einer Übertreibung des Kraftaufwandes insofern hinderlich sein, als sich das Ende der Curette bei gar zu starkem Druck rückwärts biegt, indessen liegt es ja auf der Hand, dass Niemand eine solche Operation vornehmen soll, der nicht im- stande ist, seinen Kraftaufwand mit eigenem Willen und Bewusst- sein zweckentsprechend zu regulieren. Auch dass man die Curetto vor ihrer Anwendung der Uterusform entsprechend biegen kann, bietet keinen Nutzen. Der abortierende Uterus ist so weich, dass er den Formen der Curette vollständig folgt, zumal da man ja auch
30
nach Bedarf den Griff des Instruments heben und senken kann; und eine Biegung, die das Instrument fiir die Ausschabung der einen Uteruskante etwas geeigneter machen soll, wiirde es um so un- geeigneter fiir die Ausschabung der anderen Uteruskante oder des Fundus oder der Vorder- oder Hinterwand machen. Man wiirde also dazu gelangen, fiir eine einzige Auskratzung das Instrument wenigstens fiinfmal in eine andere Form zu bringen. Aus allen diesen Griinden bin ich also entschieden dafiir, das Instrument aus einem unbiegsamen Material herzustellen.
Was nun die Technik der Anwendung betrifft, so hat man die Abortierende wieder in Steiss-Rückenlage mit emporgezogenen Knieen zu bringen, den Damm durch einen Scheidenhalter herabzuziehen, die vordere Muttermundlippe mit einer Kugelzange zu fassen und bis in den Scheideneingang hervorzuziehen, und die Portio mit einer antiseptischen Fliissigkeit abzureiben, bevor man das Instrument einführt. Auf das Entschiedenste rate ich, die Abortierende zu narkotisieren, wenn nicht im Einzelfalle besondere Gründe dagegen sprechen. Der Schmerz der Operation ist zwar meist ein sehr geringer, aber eine unwillkürliche plötzliche Bewegung, ein Husten- stoss, ein Niesen der Abortierenden, können bewirken, dass durch die Bauchpresse selbst dem Operateur der Uterus förmlich auf die Curette getrieben wird und die Perforation entstanden ist, ehe selbst der geschickteste und aufmerksamste Spezialist sich der plötzlich entstandenen Gefahr bewusst wird.
Es ist stets ratsam, die Ausräumung mit einem möglichst breiten Instrument vorzunehmen, da sich die Perforationsgefahr dadurch erheblich vermindert. Dem setzt aber natürlich der Zustand des Muttermundes gewisse Schranken. Es giebt Fälle, in denen selbst für die schmälste Nummer der Curette der Cervicalkanal nur mit Mühe zu passieren ist. Mit Recht hat man darauf aufmerksam gemacht, dass gerade, wenn man die Curette mühsam durch einen derartig engen Muttermund durchzwängt, das Instrument leicht in dem Augenblick, wo es den Widerstand überwunden hat, in die Tiefe fährt und eine Perforation hervorbringt, ehe noch das Aus- schaben begonnen hat. Dies kann man nun vermeiden, indem man die Curette sehr kurz, etwa 4—5 cm oberhalb ihres äussersten Endes, fasst, solange dieses den Muttermund nicht passiert hat. Fährt sie
31
nun hinein, so kann sie nicht weiter kommen, als bis die Finger, die sie halten, an die Portio stossen, und es ist unmöglich, dass ihre Spitze dann die gegenüberliegende Uteruswand erreicht oder gar durchbobrt, Nun erst lässt man los und fasst das Instrument etwas höher am Stiel, um es weiter einwärts zu schieben. Sehr häufig sieht man nun, dass schon nach den ersten schabenden Bewegungen infolge des Reizes, den diese auf die Gebärmutter ausüben, der Cervicalkanal sich spontan erweitert; man kann die Curette mit Leichtigkeit wieder herausziehen und ohne die geringste Mühe eine wesentlich grössere Nummer einführen. Diese Erfahrung legt es also nahe, vor der Anwendung besonderer Dilatatoren erst die Einführung der kleinsten Nummer der Roux’schen Curette zu versuchen; nur wenn dieser Versuch nicht gelingt, oder wenn er zwar gelingt, aber ein spontanes Weiterwerden des Cervicalkanals ausnahmsweise nicht erfolgt, greife man zu den Dilatatorien; wendet man diese einmal an, so gehe man gleich soweit, dass die Einführung ganz grosser Curetten möglich ist. Eine stehende Regel für die Benutzung der Curette ist die, dass man beim Aufwärtsschieben das Instrument überaus lose zwischen den Fingern halte, sodass es bei jedem Widerstande, den es trifft, zwischen den haltenden Fingern gleitet; erst bei dem seitlichen oder rück- wärts ziehenden Schaben fasse man es etwas fester, im allgemeinen aber soll man es niemals fester halten, als unbedingt nötig ist. Ein zu häufiges Herausziehen und Wiedereinführen ist durchaus zu ver- werfen, da der Cervicalkanal, den die Curette jedesmal wieder passieren muss, in keinem Falle völlig unverdächtig ist und somit die Infektionsgefahr dadurch gesteigert wird. Hat die Curette im Innern des Uterus Alles losgeschält, so kann die Entleerung nach- träglich erfolgen, sei es, dass ein einziger Zug der Curette die ganze zusammenhängende Masse herausbefördert, sei es, dass man die Gebärmutter in der bereits beschriebenen Weise exprimiert, sei es endlich, dass man sie ausspült. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, dass nicht unter Umständen einmal ein mehrmaliges Ein- und Ausführen des Instruments doch von Vorteil oder gar notwendig sein wird.
Eine solche Ausspülung der Gebärmutterhöhle folgen zu lassen, halte ich für durchaus wünschenswert: vor allem eben auch zur
32
Entfernung der letzten kleinen Eireste. Sie bietet aber noch den weiteren Vorteil, dass ein Zusatz eines Antisepticums zu der Flüssigkeit immerhin geeignet ist, solche Keime noch herauszubefördern oder abzutöten oder wenigstens in ihrer Entwickelungsfähigkeit zu schwächen, die etwa bei der Operation in den Uterus gelangt, aber noch nicht in die Gewebe verimpft sind. Es kommt dazu, dass einige dieser Antiseptica zugleich eine leicht adstringierende Wirkung ausüben, und endlich, dass man durch Anwendung einer heissen Spülflüssigkeit von 50°C. kräftige Contractionen der Muskulatur und ein promptes Aufhören der Blutung begünstigt. Wie bei jeder intrauterinen Ausspülung, muss auch hier die Vorsicht geübt werden, die Flüssigkeit ohne jede Beimischung von Luftblasen einlaufen zu lassen, da sonst eine Luftembolie die Folge sein könnte Für genügenden Rücklauf des Wassers muss ebenfalls gesorgt sein; man bediene sich entweder eines der zahlreichen Uteruskatheter, die zu diesem Zwecke konstruiert sind, oder man führe die Schlauchspitze in kurzen Zeiträumen mehrmals abwechselnd eine kurze Strecke in den Cervicalkanal ein und ziehe sie wieder heraus; eine eigene Spülvorrichtung an den Curetten, wie Freund und Rheinstädter sie angegeben haben, erschwert die Handhabung des Instrumentes. ohne gegenüber der vorgängigen und nachfolgenden Spülung Vorteile zu bieten. Carbol- oder Lysolzusatz zu der Spülflüssigkeit ist nicht zu empfehlen, da zuweilen heftige Intoxikationserscheinungen danach auf- treten. Auch Sublimat ist in dieser Hinsicht nicht ganz unverdächtig, es dürfte überdies oft unwirksam sein, weil es mit den in der Uterushöhle liegenden eiweisshaltigen Massen sofort unlösliche Ver- bindungen eingeht. Sehr zweckmässig habe ich den Zusatz von Formalin oder Chinosol gefunden. Formalin wende ich ins- besondere stets an, wenn der Verdacht oder die Sicherheit der Sepsis vorliegen. Ich habe dann sogar in der Regel schon vor der Auskratzung eine Formalin-Einspritzung (2%, Formaldehyd) vor- genommen. Die keimtótende Kraft dieses Mittels ist eine ausser- ordentlich grosse, und es dringt auch, ohne unlösliche Verbindungen einzugehen, in ziemlich beträchtliche Tiefe. Seine Anwendung ist. wonn man nicht gar zu schwache Concentrationen nimmt, schmerzhaft, sodass es sich nur für Operationen in Narcose eignet. Die An- wendung von Eisenchlorid, sei es als Zusatz zur Spülflüssigkeit, sei
33
es in Form des unverdünnten Liqu. ferri sesquichlorati zum Aus- spritzen oder Auswischen der Gebärmutterhöhle, halte ich für durchaus verwerflich. Nach einer regelrecht durchgeführten Ausräumung ist sie überflüssig, nach einer unvollständig durchgeführten täuscht sie uns durch augenblickliche Stillung der Blutung über die Gefahr, die durch Abstossung der Gerinnsel nachträglich wieder eintreten kann. In jedem Falle sind diese Gerinnsel der Jauchung sehr zugänglich.
Nach Beendigung der Operation eine Scheidentamponade anzu- schliessen, halte ich für durchaus unnötig, da wir uns dadurch nur über eine etwa fortdauernde Blutung eine zeitlang täuschen lassen können, ohne dass der Tampon diese dauernd zu stillen vermag. Blutet die Gebiir- mutter nach der Ausräumung ungeachtet einer heissen Ausspülung fort, so ist fast ausnahmslos noch ein Eirest zurückgeblieben, und es empfiehlt sich durchaus, unter Anwendung aller vorher geschilderten Vorsichtsmassregeln nochmals mit dem Instrument einzugehen und diesen Eirest zu suchen. Unter Umständen, d. h. wenn nicht überhaupt Gründe gegen die Anwendung des Fingers sprechen, würde man natürlich auch diesen in solchen Falle zur Austastung der Gebärmutter anwenden können. Immerhin ist es für den einigermassen Geübten nicht schwer, bei einer nochmaligen sorg- fältigen Umherführung der Curette im Uteruscavum die Sicherheit zu gewinnen, ob noch irgendwo ein Eirest sitzt oder nicht, und ihn im ersteren Falle zu entfernen.
* * xk
Ist der Abort, sei es spontan, sei es mit Kunsthülfe, wirklich beendigt, d. h. sind sicher keine Eireste zurückgeblieben, so bleibt für die Nachbehandlung meist sehr wenig zu thun. Ueberzeugt man sich danach, dass der äussere Muttermund wieder ziemlich fest geschlossen ist, so wird man zweckmässig eine Scheidenausspiilung mit einem schwachen Desinficiens. vornehmen, da doch immerhin die Tampons und die manuelle Untersuchung pathogene Keime in die Scheide getragen haben können. Findet man dagegen den Muttermund noch klaffend, so ist es besser, auf die Scheiden- ausspülung zu verzichten, da diese gar zu leicht Keime aus der Scheide in die Gebärmutterhöhle und auf die dort befindlichen Wund- flächen verschleppen könnte. Höchst selten einmal wird eine atonische
Blutung fortbestehen oder nach kurzer Pause wieder eintreten. Ist 3
34
man sicher, dass keine Eireste zuriickgeblicben sind, so mache man heisse Scheidenausspülungen (etwa 31 von 50° C.) und unter- breche diese mehrmals, um die Gebärmutter zu massieren. Diese Massage nelme man ganz in derselben Art vor, wie das oben geschilderte Ausstreichen oder Exprimieren, und vermeide dabei, das Organ gar zu kräftig auf die Symphyse zu drücken, da hierbei leicht Hämatome in der Vorderwand und Sugillationen in der Blasen- schleimhaut entstehen. Kumpf?°) empfiehlt bei atonischen Blutungen post partum die „Zitterdrückung“, die man wohl auch nach Abort in späteren Schwangerschaftsstadien versuchen könnte. Die Methode besteht darin, dass man die Fingerspitzen mit steifgestreckten Arm über den Fundus uteri auf die Bauchdecken aufsetzt und möglichst rasche Drückungen ausübt. Auch Secale ist nach wirklich voll- ständiger Entleerung des Uterus ein vorzügliches Mittel. Ich bevorzuge das Extr. secal. corn.-sphacelin. in Suppositorien (0.25 zwei- bis dreimal täglich. Will dies alles nicht helfen, so würde die Ausstopfung der Gebärmutter mit Judofurmgaze auszuführen sein. Jedoch muss ich gestehen, dass mir .ein Fall, indem diese nötig gewesen wäre, noch nie zu Gesicht gekommen ist, und ich möchte fast glauben, dass in allen Fällen solcher hartnäckigen Atonie noch kleine Eireste übersehen worden sind. Die übrige Nachbehandlung unterscheidet sich nicht von der des normalen Wochenbetts, ausser dass man bei Aborten in früheren Schwangerschaftsmonaten die Bettruhe kürzen und die Arbeit wesentlich eher wieder aufnehmen lassen kann.
Anmerkungen.
1) „Abortus“ in dieser Bedeutung bereits bei Terentius, „abortio‘ zweimal bei Cicero (Client.).
?) Gewisse Schulen (Gusserow, Dührssen, Runge) unterscheiden einen Abortus im engeren Sinne (bis zum 3. Schwangerschaftsmonate einschl.) von einem Partus immaturus (vom 4. Schwangerschaftsmonate bis zur 28. Schwangerschafts- woche einschl.).
$) Ein näheres Eingehen anf die Ätiologie liegt nicht im Rahmen dieser Erörterung.
4) Dohrn (Über Behandlung der Fehlgeburt, in: Volkmann's Samml. klin. Vortr. No. 42, Gyn. No. 14, p. 352) vertritt die von den meisten Autoren nicht geteilte Ansicht, dass ein für den Finger durchlässiger Cervical-Kanal für die Unaufhaltsamkeit des Aborts nicht beweisend sei.
5) Cordes, de la rétention du placenta après l’avortement, in: Annales de gynécologie, VI, 1876, p. 247.
8) Kiwisch, Beitr. z. Geburtsk. X, 1, 1846, p. 117.
> Schöller, der Tampon, ein neues Verfahren z. Veranst. d. ktinstl. Früh- geburt, Berlin 1841; hier ist nicht sowohl auf die blutstillende, als auf die wehen- erregende Wirkung des Scheidentampons hingewiesen.
*) Diese Angabe ohne näheren Nachweis der bez. Publikation entnehme ich dem „Geburtshülflichen Vademecum“ von Dührssen, 5. Aufl., p. 95.
*) O. Schäffer, Bekämpfung der post partum- und parenchymatösen Höhlen- Blutungen mittelst nicht drainierender imprägnierter Gaze (nach einem Vortr. auf d. 68. Naturforscher-Vers. zu Frankf. a./M. 24./9. 96) in: Münchener Med. Wochen- schrift, 1896, No. 40, p. 945.
1°) Zuerst hatte Hüter eine Tierblase vorgeschlagen; an deren Stelle setzte C. v. Braun die Gummiblase (Colpeurynter); zunächst sollten beide Mittel nur die ktinstliche Frühgeburt anregen, und wurden erst später auch in die Abort- Behandlung eingeführt.
1) Kossmann, Glycerin zur Einleitung der Geburtsthätigkeit, in: Therapeut. Monatshefte 1896, Juni. Die Einspritzung grösserer Mengen in das Uteruscavum war bereits von Pelzer, Arch. f. Gyn., Bd. 42, Heft 2, empfohlen worden, hat sich aber als gefährlich erwiesen.
12 Simpson, Monthly Journ. of med. science, Aug. 1841, p. 734.
— On the complete evacuation of the uterus after abortion, Edinburgh med. journal, May 1876, p. 961.
13) Sloan, Glasgow medical journal 1862, Oct.
144 Sussdorf, New-York Medic. Record 1877, Oct. 27th.
1) Landau, Uber Erweiterungsmittel der Gebärmutter, in: Volkmann's Samml. klin. Vortr., No. 187 (Gyn. No. 55), tritt warm ftir die Tupelo-Stifte cin.
16) Von Hofmeier empfohlen, vgl. Dölger, Münch. med. Wochenschr. 1889, No. 13, und Nebel, Centralbl. f. Gyn. 1889, S. 888.
13) Pelzer, Archiv f. Gyn. Bd. 42, Heft 2,
18) E. Schwarz, Zur Behandlung der Fehlgeburten, in: Volkmann's Samml. klin. Vortr., No. 241 (Gyn. No. 66). Zur Einleitung der kiinstl. Frithgeburt schon ähnlich von Cohen (Neue Zeitschr. f. Gebh. Bd. 21, 1846, p. 116) ausgeführt.
:N Höning, Scanzoni’s Beiträge, Bd. VII, p. 213 (empfiehlt auch, den Fundus auf die Symphyse zu dritcken).
Ahlfeld, Über bimanuelle Placentar-Expression, in: Schmidt's Jahrbiichern, 1877, Bd. 174, p. 43.
20) Diese Handstellung hat Fritsch (Klinik d. geburtshülfl. Operationen, 4. Aufl., p. 286) ebenfalls empfohlen. |
1?) Seit langer Zeit währt der Streit um die Berechtigung eines rein ex- spektativen oder eines mehr aktiven Vorgehens. Für das letztere sind besonders Fehling (Uber d. Behandl. d. Fehlgeburt, Arch. f. Gyn. XII, 1878, p. 222 ff), Spöndly (Über d. aktive Einschreiten bei Abortus, Zeitschr. f. Gebh. u. Gyn. IX, p. 91), v. Weckbecker (Über d. Anw. d. scharfen Löffels, in: Arch. f. Gyn. XX, p. 236 ff., 1882), Dührssen (Zur Path. u. Ther. d. Aborts, in: Arch. f. Gyn. XXXI, 1887, p. 161 ff., behauptet, dass in den ersten 2 Monaten der Schwangerschaft die Decidua vera stets zurückbleibe), gegen dasselbe besonders
36
——
J. Veit (Über d. Behandl. der Fehlgeburt, in: Zeitschr. f. Gebh. u. Gyn. IV, 1879, p. 180) eingetreten.
22) Kreis, Der Pressschwamm, ein Mittel zur spontanen Ausstossung etc., in: Berl. klin. Wochenschr. 1872, No. 26, p. 309, berichtet auch über einen solchen Fall, in dem die Pat. erklärte, bei rechtzeitiger Geburt nie so gelitten zu haben.
23) Ich benutze zur Reinigung und Disinfektion der Hand zunächst die Schleich’sche Marmorseife (zu beziehen von der Belle-Alliance-Apotheke zu Berlin, SW., Belle-Alliancestr. 12), die erst ohne Wasserzusatz auf der Haut gründlich verrieben, dann mit Wasser weiter verarbeitet wird. Nachdem sie abgespiilt worden, bürste ich noch mit einer 1 °/,, Chinosol-Lisung.
24) Schon Levret empfahl, Eireste (auch ohne vorgängige digitale oder instrumentelle Lösung durch einen mittels einer Spritze injizierten kräftigen Stralıl warmen Wassers) zu entfernen.
25) Dieser Meinung ist auch Schwarz (l. c., cf. 12a).
20) Man findet diese obsolet gewordenen Instrumente in den Katalogen grisserer Instrumentenhandlungen abgebildet; vgl. auch Landau (Anmerk. 31).
27) Breslau, Zur Lehre vom unvollkommenen Abortus, in: Wiener med. Presse, 1866, No. 40—42.
2) Martin, Pathologie und Therapie der Frauenkrankheiten, III. Aufl., 1893, p. 26 (auch schon in fritheren Auflayen).
2) Vulliet, Sur un nouveau moyen de dilatation permanente de la matrice, Revne med. de la Suisse Romande, V, 1885, p. 682.
8%) Dührssen, Zur Pathol. und Therapie des Aborts, Arch. f. Gyn. XXXI, 1887, p. 161 ff.
81) Landau, Zur Erweiterung der Gebärmutter, Zeitschr. f. Gebh. u. Gyn. XIV, p. 580 (28./10. 87).
st) Levret hatte bereits eine gefensterte Zange für diesen Zweck an- gegeben.
82) Récamier, L'Union médicale, 1850, No. 66 u. 77.
$) Weikert, Gesellsch. f. Geburtshülfe in Leipzig, Sitz. am 18. März 1872.
85) Thomas, A practical Treatise on the diseases of women, 4th ed., 1874, p. 569 u. 609. (In der deutschen Ubersetzung stimmt die Abbildung nicht mit der des Originals überein.)
s#, Spiegelberg, Lehrbuch der Geburtshülfe, 1876.
27) vgl. Böters, Zur Behandlung der Blutungen nach Abort, in: Centralbl. f. Gyn. 1877, p. 353.
*) Munde, Zur Behandlung der Blutungen nach Abort, in: Centralbl. f. Gyn. 1878, p. 121.
*) z. B. Olshansen, Sitzung d. Berliner medizin. Gesellschaft, 31. Oct. 1894, Uber intrauterine Behandlung.
19% Kumpf, Uber ein einfaches Verfahren gegen post partum -Blutungen ex atonia uteri, in: Centralbl. f. Gyn. 1897, No. 11.
Verantwortl. Redakteur: Hofrath Dr. Ernst Stadelmann in Berlin. Druck von Albert Koenig in Guben. Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden direct an den oben genannten Redacteur, Berlin SW., Anhaltstrasse 12, oder durch die Verlagsbuchhandlung erbeten.
Uber Morbus Basedowii
und seine operative Behandlung. Von Dr. J. Schulz,
früheren Assistenzarzt der chirurg. Abteilung des Marien-Krankenhauses Hamburg, d. Z. Oberarzt Dr. Kümmell.
Im Jahre 1884 lenkte Kocher auf dem Kongress der deutschen Gesellschaft für Chirurgie die Aufmerksamkeit auf eine Erkrankung, die er nach totaler Entfernung der Schilddrüse auftreten sah und als Cachexia strumipriva bezeichnete. Als auf Grund physiologischer Forschung ein klares Bild dieser Cachexie gewonnen war, kam man zu der Überzeugung, dass das Basedow’sche Symptomenbild in vieler Hinsicht gerade das Gegenteil jener Störungen darstellt, die nach Entfernung oder Schwund der Schilddrüse beobachtet wurden. Durch die neueren Untersuchungen über die Funktion der Schilddrüse trat nun die Pathologie der Basedow’schen Krankheit in ein neues Stadium, und der Therapie wurde dadurch eine bestimmtere Richtung angedeutet. |
Mit dem gesteigerten Interesse, welches diesen Beobachtungen allseitig entgegengebracht wurde, wuchs auch die Litteratur derartig an, dass es heute gewagt erscheinen könnte Weiteres hinzuzufügen. Bedenkt man aber, wie weit wir trotzdem noch von der vollständigen Erkenntnis der Aetiologie dieser Krankheit und des inneren Zu- sammenhanges ihrer Symptome entfernt sind, wie ferner die thera- peutischen Eingriffe bisher immerhin noch gewissermassen auf dem weiten Felde des Versuches sich bewegten, so scheint es doch wohl gerechtfertigt, an der Hand eines grösseren Materials die praktisch wichtigste Frage der Art der Behandlung einer kurzen Erörterung
zu unterziehen. 1
2
Genau beschrieben und speziell charakterisiert durch die Symptomentrias von gesteigerten Herzbewegungen, Struma und Exophthalmus, wurde die Krankheit bekanntlich im Jahre 1840 von dem Merseburger Arzte von Basedow, nach dem sie auch benannt wurde. Emmert reklamiert zwar die Priorität für Parry, der schon 1825 über 8 Fälle unter dem Namen „Vergrösserung der Schild- drüse in Verbindung mit Vergrösserung und Palpitation des Herzens“ referierte, wobei sich allerdings nur einmal Exophthalmus fand und Galezowski teilt sogar Demours die Ehre der ersten Beschreibung des Morbus Basedowii zu, jedoch haben weder dieser Letztere noch Parry vollständige Kenntnis der Krankheit gehabt. Harsh und Graves folgten von Basedow mit der Publikation weiterer Fälle, und wollten diese Autoren schon länger das bezeichnete Krankheits- bild als etwas Zusammengehöriges und von einer gemeinschaftlichen Ursache Abhängiges gekannt haben. Daher nahm man auch in England Veranlassung, die Glotzaugenkrankheit nach Graves „the Graves diseace“ zu benennen. In Deutschland und Amerika erschienen zahlreiche weitere Arbeiten, deren Wert aber zu der Anzalıl in keinem Verhältnisse stand. In Frankreich beschäftigte man sich, wenn auch erst recht spät, dafür aber um so eifriger und eingehender mit der Basedow’schen Krankheit.
Wurden nun schon durch diese theoretischen Erörterungen und praktischen Versuche unsere klinischen Kenntnisse bedeutend be- reichert, die seltneren Symptome uns besser bekannt, so wuchs auch das Verständnis für die Natur der Krankheit und den Zusammenhang der Symptome. Ungleich gering blieb allein unser therapeutischer Einfluss; erst den neueren Forschungen blieb es vorbehalten, Sitz und Ursache der Erkrankung genau zu lokalisieren und die bis dahin mit so geringem Erfolge behandelten Kranken der Chirurgie zu überweisen.
Zur Ätiologie des Morbus Basedowii sei kurz bemerkt, dass das Geschlecht unstreitig dabei eine bedeutende Rolle spielt. Wie bei dem endemischen Kropf so sind es auch hier die Frauen, die bei weitem am häufigsten von der Krankheit befallen werden. Buschan stellte 980 Fälle aus der Litteratur zusammen und fand unter diesen 805 Weiber, 175 Männer = 4,6 : 1.
Was das Lebensalter anlangt, so scheinen die Jahre der
3
beginnenden resp. eben vollendeten Pubertät entschieden mehr Disposition für diese Erkrankung zu bieten als das Kindes- und Greisenalter. Von unseren weiter unten veröffentlichten 14 Fällen, die wie ieh schon hier bemerken will, alle weiblichen Geschlechts sind, standen 8 im Durchschnittsalter von 21, die übrigen in einem solchen von 39 Jahren. Wird so also der Krankheit eine ausgesprochene Vorliebe für bestimmte Lebensjahre im Allgemeinen zugeschrieben, so soll der Ausbruch derselben wiederholt nach schweren Wochenbetten, langer Lactation, profusen Menses, forcirten Cohabitationen etc. beobachtet sein. Zwei unserer Patientinnen be- schuldigen ebenfalls eine Geburt, eine dritte eine Frühgeburt als Grund ihrer Erkrankung. Heredität spielt als ätiologisches Moment sicherlich eine Rolle und es scheint, als ob zarte Constitution, be- sonders aber neuropathische Belastung zu Morbus Basedowii prädis- ponieren. Familien, in denen Hysterie, Neurasthenie, Hypochondrie, Chorea, Epilepsie oder wirkliche Psychosen herrschen, stellen das grösste Contingent. Ein eklatantes Hereditätsbeispiel haben wir an unseren 12. Fall, wo der Vater Potator strenuus, die Mutter und 3 Geschwister (Mädchen) an Morbus Basedowii leiden. Die älteste Tochter, die nebenbei bemerkt nicht erkrankt ist, soll ein 10 Jahre altes Basedow krankes Kind haben. Charcot nimmt 2 Arten von hereditärer Anlage an, einmal eine gleichartige direkte, d. h. Morbus Basedowii erbt sich durch mehrere Generationen fort, oder eine heterologe, d. h. die neuropathische Disposition wird vererbt, wobei andere Erkrankungen des Nervensystems vorherrschen können. Für beide Arten haben wir neben dem oben angeführten noch eine ganze Reihe trefflicher Belege, die alle aufzuzählen uns zu weit führen würde. Viele Autoren geben Aufregung, heftigen und plötzlichen Schrecken, Gemütsbewegungen andauernder Art, Sorgen, Überanstrengungen als Ursache des Morbus Basedowii an. Andere stellen neben diese Momente besonders schwer einsetzende Er- krankungen, wie Typhus, Pneumonie, Cholera, schwere Anämie und Chlorose beruhend auf vasomotorischer, sympathischer Störung. Aus einer Mitteilung von Gowers entnehmen wir, dass nach dem deutsch-französischen Kriege in Elsass-Lothringen sich die Be- obachtungen von Morbus Basedowii gehäuft haben sollen; er be-
richtet, dass dem Affecte zuweilen eine akute Entwicklung der 1*
4
`
Krankheit, zuweilen der gewöhnliche chronische Verlauf folgte. Engel- Reimers bemerkte, dass beim Auftreten der sekundären Syphilis- erscheinungen bei jungen Weibern sehr oft Anschwellung der Schilddrüse eintrat und Basedow-Symptome nicht selten sie begleiteten. In neuerer Zeit ist besonders von Charcot und anderen auf die Beziehung zwischen Morbus Basedowii und Rheumatismus Gewicht gelegt. Interessant sind auch die Beobachtungen von Hack Bobone und Hopmann, die den Morbus Basedowii reflectorisch, ähnlich wie Asthma bronchiale, von einer Erkrankung der Nasen- schleimhaut hervorgerufen sahen.
Von den drei Kardinalsymptomen der Basedow 'schen Krankheit, Herzpalpitationen, Struma und Exophthalmus ist das erste wohl als das constanteste zu bezeichnen. Es eröffnet gewöhnlich die Symp- tomenreihe, tritt nur selten an zweiter oder gar an letzter Stelle auf. Charcot sagt daher mit Recht: Ohne Steigerung der Herzthätigkeit keine Basedow’sche Krankheit, ohne Nachlassen der Palpitationen keine wahre Besserung, bei Beruhigung des Herzens aber ent- schiedene Wendung zum Besseren. Die Frequenz der Herz- contractionen schwankt zwischen 100 und 200 in der Minute; dabei ist die Herzaktion überaus kräftig, der Spitzenstoss verbreitert und von vermehrter Resistenz. Die ganze vordere Thoraxwand und das Epigastrium wird derart in Erschütterung versetzt, dass dieselbe, wie ich bei 2 unserer Fälle beobachten konnte, durch die Kleider sichtbar ist. Neben der Herzvergrösserung sind verschiedentlich Geräusche am Herzen wahrgenommen worden, systolische an der Herzspitze, diastolische an den Klappenapparaten. Traube erklärt sie durch ungenügenden Spannungsgrad der Arterien und Klappen infolge Herzmuskelschwäche, Friedreich durch relative Insufficienz der Ostien und durch unregelmässige Wandvibration der erweiterten grossen Gefisse. Der Radialpuls ist im Gegensatz zu den lebhaften erschütternden Herzaktionen meist klein, weich, von geringer Spannung. Bezüglich der anderen Teile des Gefässystems würde vor Allem ein starkes Pulsieren der Halsgefässe, namentlich der Carotiden beobachtet. Bei einer unserer Kranken sah man auf grössere Entfernung schon die Äste der Art. temporalis und Max. ext. sowie die Art. thyreoidea sup. pulsiren. Fall 9 und 13 zeigten uns deutliche Pulsation der Bauchaorta und das von Kahler erwähnte „peinliche Pulsations-
5
gefühl.“ Die von Becker beobachtete Pulsation der Netzhaut- arterien konnte bei keinem unserer Fälle festgetellt werden, wohl aber eine Erscheinung an den Capillargefässen der Haut derart, dass sowohl spontan wie auch auf leichte mechanische oder auf psy- chische Reize hin eine lebhafte Rötung des Gesichtes und eine ebenso schnell folgende Blässe auftrat.
Das zweite bei keinem unserer Fälle fehlende Symtom ist die Vergrösserung der Schilddrüse, die Struma; ich beschränke mich auf die Fälle, bei denen die Struma sich mit oder, wie am häufigsten, nach den übrigen Erscheinungen entwickelt. Als solche wechselnd in ihrer Grösse, hat sie meistens einen vasculären Charakter. Fluc- tuierende Cysten oder einzelne festere Knoten scheinen präexistierende Veränderungen oder später hinzutretende Complicationen zu sein. Somit erklärt sich die Thatsache, dass diese Strumen im Anfang wenigstens eine pulsatorische Erschütterung zeigen oder bei der Auscultation ein in den meisten Fällen mit der Herzsystole, in anderen mit der Diastole gleichzeitiges Schwirren vernehmen lassen. Mehr oder weniger rasches An- und Abschwellen der Drüse spricht ebenfalls für die vasculäre Form. Ueber die pathologisch-anatomische Veränderung der Drüse liefert uns W. S. Greenfield eine sorgfältig ausgeführte Beschreibung. Er fand in 6 Fällen eine starke Hyperplasie des absondernden Drüsengewebes und Wucherung der Epithelzellen. Anhäufung desquamirter Epithelien in den drüsenschlauchartig verlängerten Acinis. Er vergleicht das Verhalten der erkrankten Schilddrüse zur gesunden mit der milchenden Brustdrüse zu der im Ruhezustande. O. Hetzel fand bei mikroskopischer Untersuchung der Schilddrüse die Blutgefässe strotzend gefüllt, die meisten Acini erweitert und unregelmässig gestaltet. In den Drüsenräumen war nur wenig colloide Substanz, das Epithel war teilweise normal, teil- weise gewuchert, viele Epithelzellen waren vergróssert. Die Unter- suchungen Emil Reymonds fanden die Drüsenräume erweitert und ganz mit desquamirten Zellen angefiillt. In Ziegler’s Beiträgen zur pathologischen Anatomie beschreibt L. R. Müller 4 Struma- Befunde bei Morbus Basedowii. Er fand, dass die Basedow- Struma sich von den übrigen Krópfen durch vorwiegend zellige Hyperplasie mit Bildung grosser, unregelmässig gewucherter Epithel- schläuche, sehr geringe Colloidbildung und spärliche Gefässentwickelung auszeichnet.
6
Auch das dritte Kardinalsymptom des Morbus Basedowii, der Exophthalmus, findet sich bei all unseren Fallen. Wir ver- stehen unter Exophthalmus ein auffälliges, starkes Hervortreten des Bulbus aus der Augenhöhle Die weit geöffneten starren Augen bekommen einen „glotzenden“ Ausdruck. Der Grad der Protrusio bulbi ist in allen Fällen ein verschiedener und wechselt auch bei den einzelnen Fällen. Er erreichte eine derartige Grösse, dass, wie berichtet wird, die Sehnenansätze der Augenmuskeln sichtbar wurden und die geringste Berührung des Bulbus eine Luxation desselben hervorrief. Für die frühe Diagnose des Morbus Basedowii wichtig ist das Auftreten des sogenannten Gräfe’schen Symptomes, ein Zuriickbleiben des oberen Augenlides beim Senken des Blickes. Dabei traten in einem unserer Fälle bei häufiger Lidbewegung Schmerzen im Augeninnern, in einem anderen Falle leicht Ermüdung der Augen auf. Die neuerdings als Stellwag’sches Symptom beschriebene Veränderung, eine ungewöhnliche Erweiterung der Lid- spalte und seltener Lidschlag wurde schon früher beobachtet und als Teilerscheinung des Exophthalmus betrachtet. Stellwag stu- dierte dieses Symptom genauer und wies auf sein konstantes Auf- treten hin. Gerade dieses Symptom bewirkt im Verein mit dem Gräfe’schen und dem Exophthalmus den charakteristischen, physiog- nomischen Gesichtsausdruck dieser Kranken. Sie haben einen glänzenden, staunenden Blick, oder es ist derselbe unheimlich, starr; man glaubt Zorn, Wut und Schreck in ihm zu lesen. Wie die Freude das Auge verklärt, und Sorge umgekehrt den Blick ver- finstert, so erklärt man den Glanz des Auges durch verminderte Beschattung, die Starre des Blickes durch den fehlenden Lidschlag und das unheimlich Staunende durch den Exophthalmus. Moebius beschreibt das nach ihm benannte Symptom, die Insufficienz der Konvergenz: „Alle sonstigen Bewegungen der Augäpfel sind frei, soll aber der Kranke auf einen nahen Gegenstand sehen, so blicken die Augen nach rechts oder links und nur ein Auge sieht den Gegenstand. Am deutlichsten ist das Zeichen, wenn man den Kranken erst nach der Stubendecke und dann auf seine eigene Nase sehen lässt. Nähert man den Finger allmählich, so konvergieren zunächst die Augen, bei einem Nahepunkte aber, dessen Abstand vom Auge bei verschiedenen Kranken und bei demselben Kranken
7
zu verschiedenen Zeiten verschieden ist, hört die Konvergenz auf und die paralell gewordenen Augenachsen wenden sich seitlich, so dass nur das nach Innen gedrehte Auge noch fixiert. Die Kranken wissen von dem Vorgange nichts, haben keine Doppelbilder, klagen nur über ein Gefühl von Spannung, so lange die Augen konvergieren.“ An mehreren unserer Kranken konnte ich dieses interessante Zeichen beobachten. Neben den drei Hauptsymptomen nun wurde im Laufe der Zeit eine ganze Reihe neuer Zeichen entdeckt und beschrieben.
Ich erinnere ‚hier an das Heer der nervösen Störungen von der einfachen Schlaflosigkeit und dem leichten Tremor bis hinauf zur Epilepsie und den den Geisteskranken verwandten Zuständen. Von Seiten der Haut beobachtet man sowohl abnorme Schweissbildungen wie auch absolute Trockenheit, daneben juckende Erytheme und sclerotische Veränderungen. Schwere Verdauungsstörungen rufen lästige Diarrhoeen und quälende Obstipationen hervor. Auch die ge- samte Muskulatur, die Drüsen und Gelenke werden gelegentlich in Mitleidenschaft gezogen; die schönen Körperformen schwinden unter einer rapid verlaufenden Abmagerung. Ich verweise hier auf die vorzügliche Arbeit von Moebius, der in klarer und ausführlicher Weise eine Beschreibung des gesamten Krankheitsbildes giebt.
Bei der Vielseitigkeit des Symptomenkomplexes nun fehlte es nicht an Versuchen das Wesen der Krankheit zu ergründen.
Manche Theorieen sind aufgestellt und als unzulänglich wieder verlassen worden.
Des historischen Interesses wegen sei erwähnt, dass v. Basedow das Wesen der Krankheit in einer veränderten chlorotisch-anämischen Blutmischung suchte, welche durch übermässige Drüsenvegetation Struma, durch Hypertrophie des Zellgewebes hinter dem Bulbus Exophthalmus bedinge. Es spricht Manches für diese Auffassung, besonders, wie schon erwähnt, das häufige Vorkommen beim weib- lichen Geschlecht, die Menstruationsstörungen, speziell die Oligo- und Amenorrhoe im Beginn der Krankheit. So nimmt auch in neuerer Zeit Eulenburg an, dass chlorotische Veränderung des Blutes die Ursache der Erkrankung sei. Das Verdienst, zuerst auf den Sym- pathicus hingewiesen zu haben, also auf den nervösen Charakter des Morb. Basedowii, gebührt Koeben. Er führt die Krankheit auf die Folgen einer Compression des N. sympathicus durch die Struma
8
zurück und erklärt die Symptome des Morb. Basedowii als Störungen dieses Nerven. Als nun bei Erörterung dieser Sympathicustheorie sich später ergab, dass einzelne Erscheinungen mehr für Lähmung, andere aber für Reizung sprachen, ging man so weit, eine Doppel- wirkung, Reizung und Lähmung des gleichen Nerven im Verlauf derselben Krankheit anzunehmen. Nach Gross und Sattler sollte auch der Vagus mit dem Sympathicus zusammen Schuld an der Erkrankung sein. Der nächste Forscher Filehne verlegte den Sitz des Leidens in die Medulla oblongata, in die corpora restiformia und in die vasomotorischen Centren. Er ist mit diesen Ansichten nicht weit über seine Tierexperimente hinausgekommen. Einfach und be- quemer war die Erklärung des Morb. Bas. als Neurose, als eine Er- krankung des Nervensystems ohne nachweisbare anatomische Läsionen.
Eine überraschende Wendung in der Auffassung der Erkrankurg trat nun ein, als in neuerer Zeit die Chirurgen mit ihren Operations- erfolgen den Physiologen auf die Struma als alleinigen Urheber des ganzen Krankheitsbildes hinwiesen. Und in der That scheint es der physiologischen Chemie vorbehalten zu sein, endlich Licht in die dunkele Ätiologie des Morb. Basedowii zu werfen und eine end- gültige Lösung der Frage herbeizuführen.
Dem Gedanken, dass die Basedow’sche Krankheit auf cine Hyperactivität der Schilddrüse resp. auf Hypersecretion beruhen dürfte, wie die Cachexia thyreopriva auf mangelhafte Thätigkeit und Ausfall des Drüsensekrets, gab zuerst Moebius im Jahre 1886 Ausdruck. Die Beobachtungen Kochers, der, wie schon oben er- wähnt nach Exstirpation der Schilddrüse einen dem Myxöden ähnlichen Zustand, die Cachexia strumipriva, auftreten sah, dass ferner sowohl das Myxödem als die Cachexia strumipriva durch Fütterung roher oder chemisch verarbeiteter Schilddrüse wieder auf- gehoben werden konnte, brachte Moebius zu obiger Schluss- folgerung. Er stellte nunmehr den Satz auf: Die Basedow’sche Krankheit ist eine Vergiftung des Körpers durch krankhafte Thätig- keit der Schilddrüse. Wird uns nun durch dies Erkenntnis manches früher Rätselhafte verständlich, so fehlt doch noch Vieles zur Er- klärung der Ursache der primären Schilddrüsenerkranknng. Viele behaupten, dass es sich beim Myxödem sowohl wie beim Morb. Base- dowii um eine Giftwirkung handele, derart, dass die durch den
9
Stoffwechsel entstandenen giftigen Stoffe durch die Secretion der Schilddriise unschiidlich gemacht werden, indem entweder dieselben zur Schilddrüse gelangen oder der Schilddriisensaft in die Körper- organe auswandert. Demnach nimmt man bei ersterem einen Schild- driisenmangel, bei letzterem eine übermässige Ausscheidung der Drüse, eine Überschwemmung des Körpers mit dem Drüsensafte an.
Horsley glaubt dass die Schilddrüse die Umwandlung von Albuminaten in Zersetzungsstoffe controliert; diese Albuminate bleiben bei einer Funktionsstörung der Drüse in einem mucinoiden Zustand. Lanz nennt die Gland. thyreoidea eine Blutdrüse, die nicht wie die Milz der morphologischen Beschaffenheit des Blutes, sondern seiner chemischen Beschaffenheit dient. Murray sprach sich neuerdings für die Möbius’sche Theorie aus. Er sah bei einem Myxödem- Kranken, den er mit Schilddrüsensaft behandelte, dass Symptome des Basedo w (Pulsbeschleunigung, Zittern, Kopfschmerzen etc.) auftraten, sobald zuviel dieses Extraktes gegeben wurde, umgekehrt aber rasch wieder verschwanden, wenn man die betreffende Dosis verminderte.
Greenfield fütterte einen gesunden Menschen versuchshalber mit Täfelchen aus getrocknetem Schilddrüsenstoff und erzeugte bei demselben Tachycardie, Temperatursteigerung und grosse Reizbarkeit. Interessant sind die Beobachtungen, die von Eiselsberg an Tieren machte, bei denen die Thyreoidektomie vorgenommen war. Die Carnivoren, so berichtet er, reagieren auf die Totalexstirpation der Schilddrüse fast immer mit tötlicher Tetanie. Es gelang ihm, diesen Ausfall durch Transplantation von Schilddrüse auszugleichen. Er brachte 2 Schilddrüsen eines ganz frischen Kaninchenembryos in der Bauchhöhle einer erwachsenen Katze zur Einheilung, die anscheinend die Rolle der später excidierten Halsschilddrüse übernahm. Auch an Pflanzenfressern, wie jungen Lämmern, Ziegen und Ferkeln wurde die Thyreoidektomie vorgenommen. In den ersten 3 —4 Wochen war kein Unterschied sichtbar, dann aber blieben die operierten Tiere so zurück, dass nach 6 Monaten das Controlltier schwerer war, als beide operierten zusammen. Die Wachstumsstörungen (besonders an den langen Röhrenknochen) wurden immer hochgradiger und ver- banden sich mit einem schweren frühzeitigen, aber dem senilen ähnlichen Marasmus, sowie mit mehr oder weniger hochgradiger Idiotie. v. E. bezeichnete diese Erscheinung als Zwergwuchs, ver-
10
bunden mit Idiotie oder besser als Kretinismus. Das Knochen- wachstum der Versuchstiere verhält sich ganz wie dasjenige des Kretins. Auf dem. III. internationalen Physiologenkongress konnte Q. Lanz zu denselben Versuchen berichten: Das Ei eines thyreoidek- tomirten Huhnes hat die Grösse eines Taubeneies und wiegt 5 gr, während ein mit Schilddrüse überfüttertes Huhn zahlreiche und grössere Eier legt als die Controllhühner. Thyreoidektomirte Kanin- chen erkrankten an chronischer Kachexie, überfütterte Tiere leiden an Pulsbeschleunigung mit anfänglichem Steigen, späterem Sinken des Blutdrucks, Abmagerung etc. Während thyreoidektomirte trächtige Tiere abortirten, blieben die jungen überfütterten Muttertiere in ihrem Wachstum zurück.
Notkin’s eingehende Studien über die Pathogenie der Cachexia strumipriva benutzt Revilliod zur Erklärung der Intoxikations- theorie. Er schreibt den beiden von Notkin in der Schilddrüse nachgewiesenen Substanzen, von denen die eine dem Typus Basedow, die andere dem Typus Myxödem entspricht, eine antagonistische Wirkung zu. Das Thyreoproteid, ein Stoffwechselprodukt, dessen sich der Organismus dadurch erledigt, dass es in der Gland. thyreoidea aufgespeichert wird, wird durch die zweite Substanz, das Thyreoidin neutralisirt. Die beiden Körper müssen sich im physiologischen Gleichgewicht befinden; ein Überfluss von Thyreoproteid oder ein Mangel von Thyreoidin bewirken Cachexia thyreopriva, ein Mangel an Thyreoproteid oder ein Überfluss an Thyreoidin haben Basedow Erscheinungen zur Folge. In seiner höchst interessanten weiteren Besprechung vergleicht er die Blutgefässdrüsen zu einander, bringt die Schilddrüse zur Hypophysis in Beziehung. Die pathologische Veränderung letzterer habe die Akromegalie zur Folge, während die Osteomalacie einer übermässigen ,Secretion interne“ der Ovarien zugeschrieben wird. Er bringt damit eine neue pathologische Auf- fassung vieler Erkrankungen, die bisher als mit Unrecht auf nervöser Grundlage beruhend angesehen wurden. Soweit wir diese Auffassung verfolgen können, hat sie etwas sehr Bestechendes für unsere Schild- driisentheorie, und wenn der Autor auch sagt, dass sich seine Folgerungen zum grossen Teile auf hypothetischem Boden bewegen, so werden sie nicht an letzter Stelle dazu beitragen, eine Klärung in dem gegenwärtigen Streite herbeizuführen.
11
Die Hauptstütze findet die Schilddrüsentheorie an den Er- fahrungen, welche die Chirurgen mit der operativen Behandlung des Morbus Basedowii, der Strumectomie gemacht haben. Es sei mir gestattet, in Kürze hier diejenigen Fälle aus der Litteratur an- zuführen, die der Beschreibung nach als wirkliche Basedow-Er- krankungen anzusehen sind und durch teilweise längere Beobachtung post operationem einen Wert für die Beurteilung des Erfolges haben. Zum Schluss dann lasse ich die auf der chirurgischen Abteilung des Marien-Krankenhauses Hamburg von Herrn Dr. Kümmell operierten Fälle ausführlicher folgen.
Wohl den ersten Versuch, den Krankheitsverlauf des Morb. Bas. durch einen chirurgischen Eingriff zu beeinflussen, hat Tillaux 1860 gemacht. Er berichtet über vollständige Heilung nach Kropf- exstirpation.
Genauere Mitteilungen über die beiden folgenden Operationen fallen in die Jahre 1872 und 1877. Im August, 72 brachte Mac- naughton Jones bei einer 27jähr. weiblichen Patientin, die an ausgesprochenen Symptomen des Morb. Basedowii litt, durch Cauteri- sation und Ätzung nach vorhergegangener Durchführung eines Haar- seiles eine hochgradige Struma und mit ihr die übrigen Symptome des Basedow zum Schwinden. Nach Fraser’s Angaben machte Lister die dritte Strumectomie im Jahre 1877. Der Puls vor der Operation 130—140 sank am 5. Tage nach derselben auf 72; der Exophthalmus bildete sich in wenigen Wochen zurück, und auch die übrigen Krankheitssymptome besserten sich wesentlich.
Einen gleichen Erfolg erzielte Ollier in demselben Jahre bei cinem 21jährigen Mädchen mit Cystenkropf. Er spaltete die Haut und eröffnete die Cyste durch Ätzung. Durch eine eingelegte Canüle machte er Jodinjektionen und erreichte auf diese Weise, dass der Puls nach 3 Wochen von 160 auf 70 Schläge sank und die Patientin beschwerdefrei wurde. Im Mai 1879 bestand nur noch geringer Grad von Exophthalmus.
Tillaux exstirpierte im Jahre 1880 die ganze Struma bei einer Pa- tientin, bei der seit Jahren alle Symptome des Morbus Basedowii bestanden hatten, mit gutem Erfolge. Es wurde diese Operation wegen ihres eklatanten Erfolges als erste genauer publiziert und längere Zeit irrtümlich für die erste Strumectomie gehalten. Der-
12
selbe Operateur entfernte 1881 ein ausgedehntes Sarkom der Schild- drüse, wobei ausgesprochene Basedow-Symptome vor der Operation bestanden hatten.
Die ersten Mitteilungen aus Deutschland über den Kropf und seine operative Behandlung stammen von L. Rehn, der am 2. Juli 1883 im ärztlichen Verein zu Frankfurt a. M. über 4 von ihm ge- machte Strumectomieen bei Morbus Basedowii berichten konnte. Fall 1. 22jährige Patientin, seit Jahren zu jeder Arbeit untauglich. Atemnot und Angstgefühl bei starken Palpitationen. Beide Caro- tiden pulsieren lebhaft. Struma weich compressible, laute sausende, accidentelle Geräusche. Puls 120—160. Bulbi leicht prominent, Verschlechterung während der Menses. Rehn exstirpierte eine rechtsseitige mannesfaustgrosse sehr gefässreiche Struma. Am 10. Tage p. op. sank die Pulsfrequenz auf 88, kein Herzklopfen mehr. 11/, Jahr nachher konnte noch völlige Heilung konstatiert werden. Fall 2. Bei einer 36jährigen Frau bestand seit 8 Jahren Struma, starker Tremor, Menstruationsstórungen und Exophthalmus leichten Grades. Puls 140 sehr arythmisch. Entfernung einer rechtsseitigen faustgrossen, derben Struma. Am 2. Tage p. op. schlief Patientin wieder zum ersten Male seit 5 Monaten. Am 6. Tage ist der Puls nahezu normal, keine Atemnot; Exophthalmus bildet sich langsam zurück. In der 5. Woche Wiederkehr der Menses, völlige Heilung. Fall 3. Strumectomie und zwar des rechten Seiten- und Mittel- lappens bei einer mit deutlichen Symptomen des Morbus Basedowii behafteten Frau, die ihren Kropf von ihrer Jugend an bemerkte und in den 3 letzten Jahren ante op. sehr unter Herzpalpitationen, Schlaflosigkeit, hochgradiger Nervosität zu leiden hatte. Fall 4. Völlige Heilung eines 30jährigen Patienten mit ausgesprochenem Exophthalmus und Stenokardie, Tremor und Schwindelanfällen, konnte 4 Monate nach der Strumectomie constatiert werden. Den 5. Fall beschreibt F. Hahn ausführlich. Er sagt: Noch bevor die Kocher- schen Mitteilungen über Cachexia strumipriva bekannt waren, ge- langte Rehn durch eine Beobachtung gelegentlich der Operation einer Kropfcyste zu der Überzeugung, dass durch Resorption von Kropf- resp. Schilddrüsengewebe ganz ausserordentlich heftige Er- scheinungen ausgelösst wurden, welche in bedeutender Pulsbeschleu- nigung, starkem Herzklopfen, hochgradiger Atemnot und Beängsti-
13
gung, Schwindel und Ohnmachtsanfällen bestanden. Es handelte sich um einen 38jährigen Mann mit einer Kropfcyste von kolossalem Umfang, die sich im Verlaufe mehrerer Jahre entwickelt hatte und dem Träger bedeutende Atembeschwerden verursachte. Sie wurde durch bilaterale Incision geöffnet und drainirt. Nach günstigem Wundverlauf wurde Patient nach 31/, Woche mit einer kleinen Fistel an der rechten Seite des Halses entlassen. Eine Woche später bekanı Patient Anfälle von Herzklopfen mit Atemnot und Beängsti- gung. Die Anfälle steigerten sich, neben hochgradiger Pulsbeschleu- nigung trat Dilatation der Pupillen ein, Schwindel, Ohnmachtsanfälle, Blässe des Gesichts; Rehn dilatierte die von der Operation her noch vorhandene Fistel und entfernte mortificierte Kapselreste, worauf die alarmierenden Erscheinungen bald vollständig verschwanden. Wenn dieser Fall, so heisst es weiter, auch nicht als Typus des Morbus Basedowii aufzufassen ist, so zeigt er doch, dass von der Schild- drüse oder einzelnen Teilen derselben ein schweres Krankheitsbild hervorgerufen werden kann, das mit dem Basedow eine ausser- ordentliche Ähnlichkeit hat und dass dieser schwere Symptomen- komplex mit Entfernung der Geschwulst schwinden kann. Rehn kam durch diese Beobachtung zu dem Schlusse, dass es sich nur um eine und zwar sehr akute Giftwirkung von Schilddrüsensubstanz handelte und vertritt auch jetzt vollständig die Ansicht, dass es sich beim Morbus Basedowii um eine Intoxikation ausgehend von der Struma handelt.
Aus dem Augustahospital Berlin teilt Weidemann einen Fall von Kropfexstirpation mit bei einem 14jáhrigen Mädchen, das an Morbus Basedowii litt. Mit der Operation verschwanden alle Be- schwerden und Erscheinungen die auf Basedow’sche Krankheit deuteten.
Einen weiteren Fall finden wir bei Dubreuil, der einen rechts- seitigen apfelgrossen Cystenkropf durch Enukleation der Cyste, nach- dem er dieselbe vorher punktirt hatte, entfernte. Exophthalmus, Pupillenerweiterung und gesteigerte Herzthätigkeit schwanden all- mählich und konnte Patient nach 6 Wochen als völlig geheilt mit 80 Pulsen entlassen werden. |
Josipovici berichtet über 2 von J. Wolff operirte Fälle In dem einen Falle verschwand der Exophthalmus vollständig, die Puls-
14
frequenz sank auf 80, stieg aber später bei Anstrengungen wieder an. In dem 2. Falle, bei dem die Operation eine vollständige Heilung erzielte, trat die Struma !/, Jahr nach einer schweren Entbindung auf. Ihr folgten nervöse Aufregungen, Angstgefühl und Exophthalmus in kurzer Zeit. Bei Wölfler finden wir Fälle von Morbus Basedowii, bei denen Pean, Bickel, Billroth, Bristowe Jones mit Erfolg die Strumectomie ausführten. l
Frank zählt unter seinem Kropfmaterial vom Friedrichshain 4 Fälle von Morbus Basedowii: 1 Heilung, 1 Misserfolg, 1 Exitus durch Operation, 1 unbekannter Ausgang.
Rupprecht entfernte ein Adenom, welches an der hinteren Seite des linken Schilddrüsenlappens innerhalb der Kapsel lag und dem Patienten, einem 35jährigen Bäcker, seit 8 Jahren erhebliche Beschwerden verursacht hatte. Neben einer starken Struma, die sich zeitweise verkleinerte, bestand hochgradiger Exophthalmus, Er- brechen, Schweisse, Ohnmachten und eine Pulsbeschleunigung von 140, an der Herzspitze systolisches Blasen. Von dem Tage der Operation an war das Herzklopfen verschwunden; der Kranke schlief ruhig, hatte weder Schwindel noch Ohnmachten, Puls regelmässig 80—100. Bei der Discussion dieses Falles berichtet Ganser, dass Stelzner bei 2 Basedow-Kranken die Totalexstirpation der Struma ausgeführt habe, die in einem Falle Tetanie und Schwachsinn, in dem andern Tetanie zur Folge hatte. Möbius schreibt über diesen letzteren Fall: post op. habe er denselben mit allen Zeichen einer schweren Basedow’schen Krankheit gesehen. Zu obiger Discussion bringt Sprengel noch eine Mitteilung, wonach er einen Basedow mit Stenosenerscheinungen operirte, die Herz- beschwerden und Stenose zwar beseitigte, den Exophthalmus aber nicht beeinflusste.
Genaue und fortgesetzte Beobachtungen seiner entlassenen Patienten teilt Lemke mit. Der erste Fall betraf einen jungen Gewerbeschüler, bei dem sich eine starke Trachealstenose entwickelt hatte. Nach Entfernung der grösseren Strumahälfte besserte sich der Zustand schnell. Ein, Jahr post. op. machte Patient einen geistig normalen Eindruck und besucht wieder mit Erfolg die Ge- werbeschule. Atembeschwerden und frühere Prominenz der Bulbi ganz verschwunden. Bei dem zweiten Falle wurde cin äusserst
15
kachektischer, schwer leidender Mann durch die Strumectomie wieder völlig lebensfroh und arbeitsfáhig. Er wie auch der erste Patient driickten wiederholt ihre Dankbarkeit und volle Zufriedenheit mit dem Behandlungsresultate aus. Im Fall 3 handelt es sich um eine 46jährige Frau, bei der wegen hochgradiger Dyspnoe die Tracheotomie gemacht werden musste. Die Trachea zeigte sich dabei durch rechts- seitige Struma seitlich comprimiert und schlauchférmig degeneriert. 3 Wochen nachher Strumectomie, die die bestehenden Symptome des Basedow teilweise zum Schwinden brachte Patientin starb später an intercurrenter Influenza. Fall 4 bot ein ausgesprochenes Bild des Morbus Basedowii dar. Die 20jährige Patientin befindet sich 1/, Jahr post op. wieder im Dienst und ist frisch und arbeits- fähig. Im letzten Falle bestand nur ein starkes Struma und Herz- klopfen. Nach Strumectomie völlige Heilung.
Bei drei weiteren etwas später von Lemke operierten Fällen handelte es sich um 3 weibliche Patientinnen mit typischem Morbus Basedow und teilweise sehr schweren Symptomen. Bei allen Fällen brachte die Strumectomie dauernde Heilung. Lemke erklärt im Anschluss an obige Mitteilungen das Delirium Cordis und den vibrirenden Tremor der Muskulatur als Hauptstütze der Diagnose und betrachtet alle anderen Symptome als consecutiver und secun- därer Art, die nur die Diagnose bestätigen. Die Ursache der Erkrankung sucht auch er in „einer fehlerhaften chemischen Beein- flussung des Blutes von Seiten der Schilddrüse.“
Wette berichtet über 4 von Riedel operierte Fälle von Morbus Basedowii. 1.20jähr. Mädchen mit rechtsseitiger parenchymatöser Struma, deren Exstirpation einen regelmässigen Puls von 80, eine Erhöhung des Kórpergewichts von 41 auf 671/, kg und vollständigen Rückgang des Exophthalmus bewirkte. Bei Fall 2 erzielte die Operation ebenfalls bei einem 23jähr. Manne völlige Heilung wie die Nachuntersuchung 11/, Jahr post op. ergab. Fall 3 im August 1891 operiert, ein exquisites Bild von Morbus Basedowii, bot ein Jahr nach der Operation keine Zeichen von Basedow mehr dar. Patientin war wieder frisch und lebensfroh und erzählte in sehr vergnügter Weise, dass sie um 20 kg p. op. an Körpergewicht zu- genommen. In dem 4. Falle war eine bedeutende Besserung durch die Strumectomie erzielt.
16
Aus der Strassburger Klinik beschreibt Sickinger einen Fall, der als Ursache stetige Aufregungen, Schrecken und sehr unerquick- liche Familienverhältnisse beschuldet. Influenza erhöhte die nervösen Erscheinungen beträchtlich, daneben traten die 3 Cardinalsymptome deutlich hervor. Am 28. November 1892 wird die beiderseits etwa hühnereigrosse Struma entfernt und schon 3--4 Stunden nach der Operation entwickelte sich ein derart beängstigender Zustand wie ihn Rehn und auch wir bald nach vorhergegangener Strumectonie beobachteten. Patientin erholte sich zwar nach einigen Tagen, das Krankheitsbild des Basedow wurde in der nächsten Zeit nicht wesentlich durch die Operation beeinflusst. 3 Monate p. op. stellte sich die Patientin wesentlich gebessert wieder vor.
Determeyer stellte in der freien Vereinigung Berliner Chirurgen einen von Rotter operierten Fall vor, der neben starkem Exoph- thalmus die verschiedensten Symptome aufzuweisen gehabt. 6 Monate post op. bestand nur noch leichter Exophthalmus. Puls war von 140 auf 80 gesunken. Er sagt: Es handelte sich um einen su typischen Fall von Morbus Basedowii, bei dem die Beschwerden der Patientin in ihrer grossen Mehrzahl fast so unmittelbar nach der Exstirpation der einen Strumahälfte geschwunden sind, dass ein Zusammenhang der Operation mit der Besserung wohl nicht be- stritten werden kann.
Unter 200 Kropfoperationen führt Sulzer 3 Fälle bei Basedow’ scher Krankheit an. Bei einer 35jähr. weiblichen Patientin besteht seit 3 Jahren eine hufeisenfórmige, weiche Struma. Excision des Istmus bleibt ohne Einfluss auf die Erkrankung. Die zweite Patientin, 18 Jahre alt, mit einer Struma mittlerer Grösse, befand sich in einem äusserst deprimierten Gemiitszustand. Neben Exophthalmus bestand starkes Herzklopfen, unregelmässiger frequenter Puls, Tremor der Hände. Bald nach der Operation April 1894, wobei die rechte Strumahälfte entfernt wurde, verschwand auch die übrige Struma; der Exophthalmus ist geringer, der Gemütszustand zur Norm gehoben und der Puls regelmässig. Im dritten Fall wurde wesentliche Besse- rung durch die Exstirpation der rechten Hälfte der nicht sehr ver- grösserten Schilddrüse herbeigeführt. |
Über weiteres günstiges Operationsresultat berichten Neumann und J. Putnam in je einem Falle. Stockmann unterband bei einer
1
26jährigen an Morbus Basedowii leidenden Patientin zuerst die Art. thyreoidea; nach 4 Wochen schwoll ohne sonstige Verschlimme- rung des Leidens der linke Lappen wieder an. Es folgte «dann Exstirpation und damit völlige Heilung des vorher deprimierten und arbeitsunfähigen Mädchens.
Booth teilt einen Fall mit, wo durch Entfernung des rechten Lappens der Struma neben Verschwinden der übrigen ausgesprochenen Basedow-Symptome auch die linke Hälfte sich verkleinerte.
Drei Fälle von chirurgisch behandeltem Morb. Basedow ver- öffentlicht Mattiesen aus der Erlanger Universitätsklinik. Der erste schon von Strümpell erwähnte endete letal. Es wurde der rechte, stark vergrösserte Schilddrüsenlappen, sowie ein medianer Kropf- xnotenenucleiert. Der Exitus erfolgte unter stürmischen Erscheinungen. Fall 2, den wir bei Mattiesen sehr ausführlich beschrieben finden, verlief ebenfalls ungünstig. Patientin wurde 8 Monate lang ohne Erfolg auf der internen Abteilung behandelt, wünschte dann operiert zu werden. Am 15. 8. 95 wurde unter Cocaininjectionen, sie ver- trug des schlechten Pulses wegen kein Chloroform mehr, der rechte sowie der grösste Teil des mittleren Drüsenlappens entfernt. 11/, Stunden p. op. trat der Exitus letal. ein. Die Section und mikroskopische Untersuchung führte zu keinem nennenswerten Re- sultate. Der dritte Fall wurde durch die Operation günstig beeinflusst nnd zur vollständigen Heilung gebracht. Auch bei dieser Patientin stellten sich nach der Operation beängstigende Symptome ein, die nach einigen Tagen schwanden. 11/, Jahre nach der Operation ist sie gesund und arbeitsfähig gefunden.
Briner führt in „Beiträge zur klinischen Chirurgie“ 8 Fälle von Morb. Based. an, die auf der Züricher Klinik von Krönlein operiert wurden, und unterwirft die Operationserfolge einer eingehenden Kritik. Die Diagnose war in fast allen Fällen durch längere Be- obachtung auf der internen Abteilung gesichert. Auch er hält es für wichtig, durch wiederholte persönliche Nachuntersuchung der Patienten das bleibende Resultat der Operation festzustellen, wie solche bei obigen Fällen in Zwischenräumen von 1—5 Jahren aus- geführt wurde. Weit deutlicher, so heisst es da, zeigte der per- sönliche Eindruck eine unverkennbare bedeutende Besserung als jede Beschreibung der Symptome.
u ia
Auf dem Chirurgencongress 1895 referierte Mikulicz über 11 von ihm ausgeführte Operationen, zu denen 10mal die Struma, imal ein Lymphangiom Veranlassung gab. Die Nachuntersuchung des ersten Falles wurde 9 Jahre, die der übrigen 5 bis !/, Jahre nach der Operation vorgenommen. Er fand in 6 Fällen völlige Heilung, 4 wurden wesentlich gebessert, welch letztere er aber als in Heilung begriffene bezeichnete, da die Beobachtungszeit sich erst auf 2—12 Monate erstreckte. Ein Fall zeigte keine wesentliche Veränderung.
Neben diesen mehr oder weniger ausführlichen Mitteilungen finden wir in der Litteratur noch eine ganze Reihe weiterer Berichte über operativ zur Heilung gebrachte Fälle von Morb. Basedowii, so von Cohn, Dolbau, Hahn, Herskind, Lavisé, Moebius, Nunneley, Schmidt, Schuchard, Schuler, Trendelenburg u. A., auf die näher einzugehen uns zu weit führen würde.
Bevor ich jedoch dazu übergehe unsere eigenen Beobachtungen zu veröffentlichen, sei es mir noch gestattet die reichen Erfahrungen jenes Autoren anzuführen, der vor Allen berufen erscheint, ein end- gültiges Urteil in vorliegender Frage abzugeben. Es ist dieses Kocher, dessen Mitteilung ich Folgendes entnehme: Er operierte wegen Morb. Basedowii 34 Mal. Von diesen Kranken sind drei gestorben, aber nur ein Fall in unmittelbarer Folge der Operation, und zwar eine Frau mit sehr grosser Struma, wo hochgradige Atem- not die dringlichste Indication zum Einschreiten abgegeben hatte. In den zwei anderen Todesfällen erfolgte der Tod durch Embolie, ist also einem Zufall zuzuschreiben, welcher als Complication jeder Operation auftreten kann. In allen anderen Fällen ist stets Besserung oder Heilung nach einiger, oft längerer Zeit eingetreten. Leider fehlt zur Zeit noch eine eingehende Publication dieser Fälle.
Zu einem äusserst günstigen Resultate führten auch die auf der chirurgischen Abteilung des Marien-Krankenhauses in Hamburg von Herrn Dr. Kümmell vorgenommenen Strumectomieen. Die
Krankengeschichten dieser 14 Fälle sind folgende:
Fall I. J. O., Dienstmädchen, 24 Jahre alt, aufgenommen am 20. VIII. 1889. Dieselbe will als Kind stets gesund gewesen sein, später vorübergehend an Chlo- rose gelitten haben. Seit 6 Jahren menstruiert sie regelmässig. Gegen Ende des vorigen Jahres bemerkte sie ein zunehmendes Schwiichegefiihl im ganzen Körper, so dass ihr die nicht besonders schwere Arbeit als Dienstmädchen grosse Mühe
19
bereitete. Patientin magerte mehr und mehr ab; ein nervöses Zittern, lebhaftes Herzklopfen und Angstgefühl nahmen im Frühjahr dieses Jahres mehr und mehr zu, zugleich will Patientin eine Zunahme der vorderen Halspartieen bemerkt haben. Seit 3 Jahren besteht Exophthalmus, der aber in der letzten Zeit stärker geworden. Eltern und Geschwister sind angeblich gesund.
Status. Bei der Aufnahme in das Krankenhaus bietet Patientin das aus- gesprochene Bild des Morbus Basedowii dar. Neben hochgradigem Exophthalmus ist eine Struma mittlerer Grösse vorhanden, der rechte Drüsenlappen mehr ver- grössert als der linke. Lebhafte Herzaktion, ohne auf ein organisches Herzleiden schliessen lassende, abnorme sausende Geräusche an der Herzbasis. Pulsfrequenz ist auf 140 Schläge gesteigert, bei Aufregung 160—180; die Pulswelle ist schwach. Die ausgestreckten Hände zittern lebhaft, Patientin klagt über grosse Schwäche und Angstgefühl, über anhaltende Schlaflosigkeit und Schmerzen in den Beinen, besonders in beiden Kniegelenken. Da sie eine Zeit lang intern behandelt und alle gegen das Leiden angewendeten Mittel, wie Brom- und Jodkali, Arsenik, Eisen und manches andere gar keinen Erfolg hatte, riet man zur Operation, die am 5. X. 89 ausgeführt wurde. Die Narkose musste mit grosser Vorsicht ‘geleitet werden, da eine hochgradige Cyanose des Gesichtes und kaum noch zäblbarer Puls Besorgnis erregte. Die Struma wurde ın der üblichen Weise entfernt, die Operation bot keine besonderen technischen Schwierigkeiten, der linke Lappen der Driise wurde nur teilweise entfernt. Die Wundhóhle wurde durch versenkte fort- laufende Catgutnähte vollständig geschlossen. Der Wundverlauf war ein normaler, Patientin hatte nur während der ersten Tage über Beschwerden beim Schlucken zu klagen und erholte sich dann rasch. Die subjectiven Beschwerden und Klagen über Schwäche uud Angstgefühl schwanden bald und 6 Wochen post op. ist der Puls vollkommen gleichmässig und ruhig mit einer Frequenz von 70—80 Schlägen. Der Exophthalmus besteht noch, ist aber, wie ihre Angehörigen selber angeben, geringer geworden. Der Kräftezustand ist ein weit günstiger und hat Patientin in jeder Woche an Körpergewicht zugenommen. Ich bemerke hier, dass dieser Fall schon im November 1889 im ärztlichen Verein zu Hamburg von meinem Herrn Chef vorgestellt und veröffentlicht wurde. Eine Nachuntersuchung, die ich im November 1896 also 7 Jahre nach der Operation anstellte, ergab folgendes Resultat: Aus dem damals arbeitsunfähigen Dienstmädchen war eine kräftig und blühend aussehende Hausfrau geworden. Vor 3 Jahren verheiratet, hatte sie ein gesundes 2jähriges Mädchen und war jetzt wieder im 5. Monat gravide. Er- scheinungen von Seiten des Herzens hat Patientin nicht mehr gehabt. Der Puls ist voll und kräftig bei 75—80 Schlägen in der Minute. Der Herzspitzenstoss ist kaum sichtbar, am Herzen selbst keine Geräusche wahrzunehmen. Tremor und Angstgefühl seit 1889 nicht wieder aufgetreten, der Exophthalmus ist ganz ver- schwunden. Unter der quer verlaufenden kaum auffallenden Narbe ist links ein etwa kirschgrosser Knoten als harte und derbe Resistenz zu fühlen. Patientin spricht wiederholt während der Untersuchung ihren Dank für den so günstigen Ausgang der Operation aus.
Fall II. Bertha P., 20 Jahre alt, Näherin, wurde am 8. III. 1894 in das Krankenhaus aufgenommen. Die Mutter der Patientin starb im Irrenhaus, den Vater hat sie nicht gekannt, Geschwister sind nicht vorhanden. In der Jugend an Masern und Scharlach erkrankt, trat in ihrem 16. Lebensjahre mit Eintreten der Menstruation „ein allgemeiner Verfall“ des Körpers angeblich ein. Sie ermüdete
2*
2()
leicht, bekam Kopfschmerzen und schon nach kurzem Treten ihrer Nähmaschine derartiges Herzklopfen, dass sie ihre Arbeit ganz aufgeben musste. Zu der Zeit sollen die Augen allmählich stark hervorgetreten, starke Nachtschweisse sich ein- gestellt haben. Dysmenorrhoe, Anschwellung des Halses trat vor einem Jahre auf.
Status, Patientin, in einem sehr dürftigen Ernährungszustande sich befindend, bietet mit ihren stark hervortretenden „Glotzaugen“ einen unheimlichen, starr- zornigen Gesichtsausdruck dar; Gráfe'sches und Möbius’sches Symptom ausgeprägt vorhanden. Schmerzen im Augeninnern bei normalem Augenhintergrund, Puls 180 in der Minute, dabei klein und unregelmässig. Die Carotiden pulsieren deutlich und geben ein sausendes Geräusch. Dasselbe Geräusch findet sich an der Art. pulmonal. Die übrigen Herztöne sind rein, der Spitzenstoss ist im ganzen Bereiche der vergrösserten Herzdämpfung deutlich zu sehen. An der rechten Halsseite eine etwas über die Medianlinie hinausragende, gut apfelgrosse, sich weich anfühlende Kropfgeschwulst, die bei geringer Senkung des Kopfes durch Druck auf die Trachea ein stridorähnliches Atemgeräusch verursacht. Die Gesichtsfarbe ist gelblich-fahl, anämisch, die Haut feucht. P. klagt über schlechten Appetit und Schlaflosigkeit. Operation am 20. III. 1894 in Chloroformnarcose, die trotz des schlechten Pulses ungestört verläuft. Bogenschnitt von der Medianlinie über der Höhe der Geschwulst nach rechts und unten verlaufend. Nach Durchtrennung der Halsmuskeln, die wegen der Grösse des Tumors nicht zur Seite gedrängt werden können, kommt derselbe frei zu Tage. Die Art. thyreoidea sup. wird unterbunden, sowie die aus den Muskeliisten blutenden Gefásse. Der rechte Drüsenlappen wird zum grössten Teile stumpf herausgelöst, der linke etwa wallnussgrosse nicht entfernt.
Mässige Blutung. Catgutnaht, Glasdrain. Trockener Deckverband, der den Kopf mit einschliesst. Bei der Entfernung des Drains am 2. Tage p. o. quillt aus der Drainstelle eine geringe Menge schwarz-braun verfärbter Flüssigkeit hervor. Patientin bleibt bis zur Abnahme dieses Verbandes (8. Tag) fieberfrei. Reactions- lose Heilung. Patientin schlief 2 Tage nach der Operation zum ersten Male die ganze Nacht durch und verlangte mehr wie die flüssige Nahrung, kein Stridor mehr. Pulsfrequenz blieb 110—120. Bei ihrer Entlassung am 20. IV. 94 waren verschwunden: das Zittern der Arme und Füsse, das Angstgefühl, die Schlaflosigkeit und das Herzklopfen. Der Exophthalmus ist wenig beeinflusst. Nachuntersuchung am 5. V. 96. Patientin arbeitet wieder den ganzen Tag an der Maschine, sie ist in den 2 Jahren p. o. rund und dick geworden. Der Puls ist mittelkräftig bei 80—90 Schlägen in der Minute. Kopfschmerzen kennt Patientin nicht mehr. Der Exophtbalmus ist zwar noch in geringem Grade vorhanden, jedoch stetig nach Aussage zurückgegangen. Die linke Halsseite tritt etwas stärker hervor, wie die rechte, eine stärkere Anschwellung des linken Drüsenlappens jedoch nicht vor- handen, eher fühlt er sich verkleinert und härter an wie bei der Operation.
Fall III. Emma B., Schäferstochter, 21 Jahre alt, wurde aufgenommen am 8. V. 1894. Dieselbe giebt an in ihrem 18. Lebensjahre einen schweren Gelenk- rheumatismus dadurch aquiriert zu haben, dass sie in Ausübung der väterlichen Geschäfte häufig vom Regen durchnässt mehrere Stunden noch im Freien zuge- bracht habe. Auch ihre jetzige Erkrankung führt sie auf dieselbe Ursache zurück. Eltern und 4 Geschwister leben und sind gesund. Im Mai 1893 fühlte sie sich zuerst von heftigem Herzklopfen und Kopfschmerzen belästigt, dem nach einigen Monaten Zittern in Händen und Füssen sowie Schmerzen in den Knie- und Schultergelenken folgten. Der dortige Landarzt machte sie auf die Prominenz der
21
Bulbi aufmerksam und gab ihr verschiedene Arzneien. Als dann im Februar und Marz des folgenden Jahres eine Anschwellung des Halses mit nachfolgenden Atem- beschwerden eintrat, wurde sie von dem betr. Arzte unserem Krankenhause überwiesen.
Status. Bei der Aufnahme bot die Patientin bei ihrem sonst wohlgenährten und gutem Aussehen das typische Bild des Morbus Basedowii dar.
Der Exophthalmus wurde durch das. Gräfe’sche und Stellwag'sche Symptom besonders gekennzeichnet. Links von der Medianlinie des Halses trat die vom Zungenbein bis hinab zum Sternum reichende Struma als feste derbe Geschwulst in gut Faustgrösse hervor.
Die lebhafte Herzaction war im Liegen durch die Kleider sichtbar und stieg die Frequenz bei Erregung auf 160—3170 Schläge. Nervöse Erscheinungen traten nicht besonders in den Vordergrund, vor allem nicht die sonst so regelmässige Angst und Unruhe. Ihre Hauptklagen bestanden in Muskelschmerzen, Waden- krämpfen und Kopfschmerzen. An der Herzspitze fand sich ein lautes systolisches, blasendes Geräusch, wohl eine Folge des früher überstandenen Gelenkrheumatismus.
Operation am 10. 5. 94. Bogenschnitt. Nach Unterbindung der Art. thyreoidea sup. und einiger oberflächlicher Venenstämme gelang die Enucleation des Strumaknotens ohne Verletzung der Halsmuskulatur. Bei der kaum nennens- werten Blutung wurde die ganze Wunde geschlossen und kein Drain eingelegt. Die Heilung erfolgte glatt und reactionslos in 10 Tagen. 4 Tage post. op. bereits hatte Patientin das Bett verlassen und einen Spaziergang durch den Garten gemacht.
Mit der Operation waren auch die Beschwerden von Seiten des Herzens geschwunden. Am 2, Tage p. o. betrug der Puls 120, am 4. 100, am 12. 80, und bei der Entlassung der Patientin am 21. Tage stand die Pulscurve auf 75 iu der Minute. Der Herzspitzenstoss blieb noch deutlich sichtbar, eine Erschütterung der Brustwand aber war nicht mehr vorhanden. Das systolische Geräusch an der Herzspitze bestand fort. Der Exophthalmus war wesentlich verkleinert, Kopf und Muskelschmerzen verschwunden. Patientin wurde als geheilt am 2. Juni in ihre Heimat entlassen.
Am 20. 5. 96, also nach 2 Jahren konnte die Heilung auch noch durch das vollständige Verschwinden des Exophthalmus bestätigt werden. Das Herzspitzen- geräusch war kaum noch deutlich vernehmbar, der Puls schwankte zwischen 70 und 80 Schlägen in der Minute. Patientin ist sehr vergnügt und zufrieden mit dem Operationsresultate und arbeitsam wie zuvor.
Fall IV. Minna P., 45 Jahre alt, Ehefrau, aufgenommen am 26. VIII. 1894. Dieselbe ist 15 Jahre verheiratet und Mutter von 5 Kindern, von denen 2 an Rhachitis leiden sollen. Die Mutter der Patientin starb am ,,Nervenfieber*, der Vater war starker Potator. Im September 1871 im 2, Monat ihrer letzten Gra- vidität litt sie häufig an Blutandrang zum Kopfe. Mit Vorrücken der Gravidität fiel das Vortreten ihrer Augäpfel auf; eine Schwellung der Beine und starkes Herzklopfen brachten grössere Belästigung. Bald bemerkte sie eine Anschwellung des Halses, und kurz vor der Geburt des Kindes traten derartig nervöse Störungen, Angst und Beklemmung auf, dass sie für geistesgestört gehalten wurde. Mit dem Partus gingen alle genannten Erscheinungen bedeutend zurück, bis eine Influenza im Frühjahr 1894 das alte Leiden mit gesteigerter Vehemenz einsetzen liess.
Am 26. VIII. 1896 ergiebt sich folgender Befund: Anämische, abgemagerte Frau mit dogstlichem Blick und erheblicher Prominenz der Bulbi. Das Schliessen
td bo
der Augen geschieht mit sichtlicher Anstrengung, dabei bleibt ein Abstand der Augenlider von 3—4 mm rechts sowohl wie links. Patientin schläft mit offenen Augen, die Conjunctiven erscheinen glänzend und feucht. An den Gefässen der Retina wird keine Pulsation bemerkt. Die Struma ist rechts stärker als links bei einem Halsumfange von 39 cm. Die Venae jugulares sowie ein beträchtlich erweiterter Venenstamm über der Struma pulsiren deutlich.
Der Herzspitzenstoss deutlich sichtbar, liegt 2 Finger breit links von der Mammilla. An allen Ostien systolisches Blasen. Der Puls 130 in der Minute ist weich und schnellend. Patientin klagt über Hitzegefühl im Kopf und den Extre- mitäten, Angst und Beklemmungserscheinungen. Der Tremor der Hände ist so stark, dass sie ihren Namen nicht annährend leserlich schreiben kann. Operation am 28. Sept. 1894. Chloroformnarcose. Querschnitt etwa 10 cm. lang über der Höhe der Geschwulst, starke Blutung aus den erweiterten Hautvenen. Stumpfes Loslósen des rechten Strumaknotens ist sehr erschwert und veranlasst wiederholt stärkere Blutung. Die Verbindung des so hervorgezogenen Strumaknotens mit der l. Drüsenhälfte wird abgeklemmt und nach Durchschneidung vernäht.
Nach weiterer sorgfältiger Blutstillung, bei welcher man die Carotis und auch den Nerv. recurrens zu Gesicht bekommt, wird die Wunde fortlaufend mit Catgut vernäht bis auf eine kl. Öffnung für das Glasdrain. Deckverband. Am Abend zeigt sich der Verband von Blut durchtränkt, wird aber nicht gewechselt, sondern durch Auflagen etwas fester angezogen. Keine weitere Blutung.
Etwa 8 Stunden nach der Operation tritt ein Collaps ein, der aber durch Campherinjectionen und Einflössen von Portwein gehoben wird. Der Puls war in dem Stadium kaum zählbar aber gut zu fühlen. Patientin stierte mit weitgeöff- neten Augen zur Zimmerdecke und redete unverständliche Worte. Am folgenden Morgen besserte sich der Zustand bedeutend; P. wurde vollständig klar, der Puls sank auf 150, es stellte sich ruhiger Schlaf ein. Die Temperatur die am Abend auf 39,4 gestiegen war betrug 36,8 und blieb auch die folgenden Tage normal. Der Verband wurde erst am 3. Tage gewechselt, das Drain entfernt. Es zeigte sich nirgends eine Störung in dem Wundverlaufe. Collodiumverband. Heilung p. prim. Es sei hier bemerkt, dass weder Schluckbeschwerden noch auch Er- scheinungen von Seiten der Atmungsorgane an dem ersten Tage auftraten. Der Erfolg der Operation war auch in diesem Falle trotz des Zwischenfalles ein über- aus eklatanter. 14 Tage p. op. betrug die Pulsfrequens nur noch 85—90; das Gefühl des Herzklopfens, Angst und Unruhe waren verschwunden. Der Exoph- thalmus ging langsam zurück, ja das ganze Krankheitsbild hatte sich derart ver- ändert, dass ihr Mann bei einem Besuche äusserte, er kenne seine Frau kaum wieder. Im Mai 1896 stellte sich die Patientin wieder vor und versichert uns, dass sie in früherer Rüstigkeit jetzt wieder ihrem grossen Haushalte vorstände. Und in Wirklichkeit machte sie einen so vollkommen gesunden Eindruck, dass man ihr die erst vor 1, Jahren überstandene schwere Erkrankung nicht mehr ansah. Der Puls betrug jetzt 70—80 Schläge in der Minute, war etwas klein aber regelmässig. Der Herzspitzenstoss war in die l. Mammillarlinie gerückt, am Herzen selbst keine Geräusche mehr zu hören. Die Psyche zeigt sich normal, am Halse ist über der kaum sichtbaren Narbe der etwa taubeneigrosse Rest des linken Drüsenlappens fühlbar.
Fall V. Ida H., Gärtnersfrau, 31 Jahre alt, wurde aufgenommen am 26. IX. 1894. Hereditär nicht belastet, will sie bis vor 2 Jahren stets gesund gewesen
sein. Seit 10 Jahren verheiratet, gebar sie 4 gesunde noch lebende Kinder, abortirte 4 mal, zuletzt Januar 1893 im 3. Monat. Im Anschluss an diesen Abort traten Erscheinungen von Morbus Basedowii auf. Patientin verspürte zuerst eine grosse Ermüdung nach den leichtesten Arbeiten, dazu gesellten sich Schwindol- anfälle und äusserst heftige Diarrhoeen. Die Menses sistierten vollständig; starker Tremor der Hände, sowie Krämpfe in Armen und Beinen führten die Patientin endlich in’s Krankenhaus, nachdem eine 2 monatliche Schilddrüsenfütterung eher eine Verschlimmerung als Besserung des Zustandes herbeigeführt.
Status. Anämische, abgemagerte Frau, die einen ganz menschenscheuen Eindruck macht. Die Gesichtshaut zeigt sclerotische Veränderung, am Rücken einzelne etwa handtellergrosse, flechtenartige Hautausschläge. Starke Prominenz beider Bulbi mit ausgesprochenem Gräfe’schen Phänomen. Die Glandula thyeroidca tritt zu beiden Seiten des Halses als derber auf Druck schmorzhafter Tumor her- vor, über dem Pulsation nicht vorhanden. Leichter Stridor zeigte eine Beeinträch- tigung der Trachea durch den Tumor an. Die Herzthätigkeit war eine unrogel- mässig beschleunigte, der Puls schwankte zwischen 100 und 130. Herztöne waren rein, der Spitzenstoss an normaler Stelle deutlich sichtbar. Patientin klagt über anhaltende Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit, von oben erwähnten Diarrhoeen wird sie tags über 8—10 mal geplagt bei absoluter Appetitlosigkeit. Das Körper- gewicht betrug 40 kg, früher will Patientin 65 kg gewogen haben.
Am 28. September 1894 wird in derselben Weise wie in vorigem Falle der rechte, sowie ein Teil des vergrösserten linken Schilddrüsenlappens entfernt. Die Operation war verhältnissmässig leicht, indem sich der rechte etwa kleinapfel- grosser Strumaknoten stumpf her auslösen liess, und eine nur minimale Blutung auftrat. Die Trachea hatte Säbelscheidenform angenommen. Schluss der ganzen Wunde mit Catgut, keine Drainage. Bei normalem Wundverlauf konnte am 10. Tage jeglicher Verband entbehrt werden. Es wurde an dem Tage vermerkt: das völlige Verschwinden der Diarrhoeen, obschon Patientin seit 3 Tagen wieder reich- liche Nahrung, auch feste Speisen, mit gutem Appetit zu sich nahm. Ferner fehlte der frühere Kopfschmerz und die Schlaflosigkeit. Die Zuckungen in Händen und Beinen waren verschwunden, es bestand nur noch Zittern der ausgestreckten Hände geringen Grades. Exophthalmus noch nicht beeinflusst.
Nachuntersuchung am 15. April 1896. Völlig verschwunden ist der früher hochgradige auch 3 Wochen p. op. noch vorhanden gewesene Exophthalmus.
Am Halse eine nicht auffallende Narbe, der linke Strumarest scheint etwas geschrumpft. Der Puls ist regelmässig und zählt 70—80 Schläge in der Minute. Ibr Körpergewicht hat beinahe die frühere Höhe erreicht 60 kg, und arbeitet Patientin seit einem Jahre wieder frisch und munter in der Gärtnerei sowohl wie auch im Haushalte. Auch der Tremor ist verschwunden, an Stelle der Hautflechte eine dunkelbraune Pigmentierung.
Fall VI. H. v. S., Putzmacherin, 40 J., aufgenommen am 22, Januar 1895. Aus gesunder Familie stammend giebt sie an, dass eine ihrer Schwestern nach mehrjáhrigem Aufenthalte im Auslande an derselben Erkrankung gestorben sei. Seit 16 Jahren menstruirt, stellte sich im 18. Jahre im Anschluss an eine schwere Chlorose Amenorrhoe ein, die etwa °’, Jahre anhielt. Bis zu ihrem 20. Lebens- jahre unregelmässige und schwache Menstrualblutungen. Nervöse Störungen, Auf- geregtheit und Angstgefühl, vor Allem Schlaflosigkeit sollen schon in dieser chlorotischen Periode aufgetreten sein. Ja ihre Umgebung habe behauptet, dass
24
zeitweise die Augen stärker hervorgetreten seien ; das Verschwinden dieses Symptoms sei dann gewöhnlich mit Auftreten der Menstruation zusammengefallen. Patientin blieb ledig. Mit 38 Jahren setzten die oben erwähnten Erscheinungen plötzlich und ohne nachweisbare Ursache wieder ein, und der sie behandelnde Arzt konnte auf den ersten Blick, wie er mir persönlich mitteilte, etae typische Basedow’sche Erkrankung diagnostizieren. Interne Medicamente wie Brom, Jodkali etc. blieben ebenso wie (Wohnungswechsel) Landaufenthalt ohne Erfolg. Als auch der letzte Heilungsversuch, eine langdauernde Verabreichung von Thy- reoidintabletten fehlschlug, wurde Patientin zwecks chirurgischer Behandlung dem Marien-Krankenhause iiberwiesen.
Status: Mittelgrosse Person mit atrophischer Musculatur; das Knochengerüst tritt überall durch die schlaffen welken Hautdecken scharf hervor. Die ganze Haut sowie die Conjunctiven zeigen eine leicht icterische Verfärbung, die an ein- zelnen Stellen der Brust und des Halses einen mulattenartigen Ton angenommen. Die Stimme ist vibrierend, die Hände zittern stark beim Ausstrecken der Arıne. Gräfe’s und Moebius's Symptom bei starker Prominenz der Bulbi deutlich vorhanden. Der auf 130—140 Schläge in der Minute beschleunigte Puls ist bei Aufregung kaum zu zählen. Die linke Brusthälfte befindet sich über die Grenze der ver- grösserten Herzdämpfung hinaus in fortwährender Erschütterung, die schon auf einige Entfernung hin durch die Kleider deutlich sichtbar ist. In der Mitte des Halses tritt die nach rechts sich herüberziehende Struma als gut faustgrosser weich sich anfühlender Tumor hervor; die aufgelegte Hand kann deutliche Pulsa- tion der ganzen Struma constatieren. Ueber beiden Carotiden lautes blasendes Geräusch, welches auch auf der Höhe der Struma zu hören. Patientin macht einen ängstlich aufgeregten Eindruck, klagt über halbseitigen Kopfschmerz und absoluter Schlaflosigkeit. Nach längerem Gehen treten Schmerzen in den Kniegelenken und Schwellung der Knöchelgegend auf. Urin ist eiweissfrei. Menstruation unregel- mässig und schmerzhaft, Genitalien ohne Befund.
Operation am 23. Januar 1895. Rechtsseitiger Bogenschnitt über der Hohe der Geschwulst. Die sich als Gefässkropf präsentierende rechte Hälfte wird stumpf gelöst und aus der Wunde hervorgewälzt, der Stiel unterbunden und vernaht. Die Operation bot einige Schwierigkeit, da die Geschwulst sich bis unter das Sternum erstreckte. Die Blutung war gering. Nach Schluss der Wunde wurde die Atmuag ruhiger, da die seitlich etwas eingedrückte und nach links verschobene Trachea sich nun wieder ausdehnen kounte. Der Wundverlauf war ein vollständig normaler. Nach Entfernung des Drain am 2. Tage trat des Abends eine Temperatur- steigerung von 38,4 auf, sank aber am folgenden Tage zur Norm zurück. Patientin wurde am 12. Tage p. op. aus dem Krankenhause entlassen. Bei ihrer Entlassung konnten wir eine erhebliche Abnahme der nervösen Symptome constatieren. Der Puls betrug 120. Die Nachuntersuchung am 9. 2. 96 ergab vollständige Heilung. Herzklopfen fehlte, der Puls betrug 70—75 in der Minute. Keine Spur von Exophthalmus mehr. Ihr Aussehen ist ein frisches und gesundes, der Kräfte- und Ernährungszustand hat sich wesentlich gehoben. Sie erzählt, dass sie mit Lust und Freude jetzt wieder ihre Berufsgeschäfte verrichten könne.
Fall VII. Elise K., Näherin, 18 Jahre alt, aufgenommen am 10. IV. 95. Die Eltern starben beide an Lungentuberculose, ebenfalls 2 Brüder; eine Schwester ist gesund. Sie menstruirt seit 3 Jahren unregelmässig, und will seit einem Jahre an Blutarmut gelitten haben. Auf der internen Abteilung unseres Kranken-
25
hauses vom 10. III. 95 bis 10. VI behandelt, wird sie mit der Diagnose Morbus Basedowii zur Vornahme einer Operation auf die chirurgische Abteilung verlegt.
Status. Anämisches sonst kräftiges Mädchen, das einen etwas „beschränkten“ Eindruck macht. Sie ist schwerhörig auf beiden Ohren. Neben hochgradigem Exophthalmus besteht eine besonders links hervortretende Vergrösserung der Schild- drüse. Ihre Stimme ist heiser und findet sich bei der laryngoskopischen Unter- suchung eine vollständige Lähmung des linken Stimmbandes. An der Herzspitze lautes systolisches Blasen von wechselnder Intensität, Herzdämpfung nicht ver- grossert. Der Puls ist unregelmässig, klein, wechselnd zwischen 100—140 Schlägen in der Minute. Die Haut fühlt sich feucht, kleberig an. Starker Tremor der aus- gestreckten Hände. Diarrhoeen und Appetitlosigkeit. An den Lungen ist Krank- haftes nicht nachzuweisen. `
Am 11. 1V. 95 wird in Chloroformnarcose der linke etwa hühnereigrosse Kropfknoten, sowie ein Teil des rechten Drüsenlappens enucleirt. Eine starke Blutung während der Operation wird durch Umstechungen gestillt. Drainage. Aseptischer Deckverband.
Heilung per primam. Der Erfolg der Operation war insofern kein voll- ständiger, als bei Entlassung der Patientin sich zwar die nervésen Erscheinungen gebessert, der Exophthalmus und die Pulsbeschleuniguug aber noch bestanden. Fin Jahr nach der Operation sah ich die Kranke wieder. Ihr Gesichtsausdruck ist nicht mehr so stupide wie vor der Operation. Beim Hervorstrecken der Arme kein Tremor. Appetit ist gut, die Diarrhoen sind nicht mehr aufgetreten. Der Puls zählt 100 Schläge in der Minute. Am wenigsten durch die Operation be- einflusst ist der Exophthalmus, derselbe ist nur in geringem Grade zurückgegangen. Können wir nun diesen Fall nicht als völlig geheilt bezeichnen, so ist doch eine wosentliche Besserung der Kranken durch die Operation herbeigeführt. Die links- seitige Recurrenslähmung besteht fort und ist wohl anzunehmen, dass der Druck der Struma eine dauernde Läsion dieses Nerven hervorgerufen. Eine lange fort- gesetzte Faradisation blieb erfolglos.
Fall VIII. Amalie B., Bickersfrau, 38 Jahre alt, aufgenommen am 16. V. 95. In zweiter Ehe verheirathet, ihr erster Mann starb an Delirium tremens, hat sie 4 gesunde Kinder geboren. Die letzte Geburt vor 1'/, Jahren war eine schwere und musste angeblich künstlich beendet werden. Im Anschluss an diese Geburt, sie will früher nie ernstlich krank gewesen sein, machten sich bei ihr allerhand nervöse Störungen bemerkbar. Namentlich fiel ihr auf eine gewisse Schwäche und Schwerfälligkeit der Arme, ein Gefühl von Eingeschlafensein der Hände. Die Nervosität steigerte sich immer mehr, es stellte sich Herzklopfen ein, welches sowohl bei Bewegung, wie auch im Liegen und Sitzen sie störte. Im Februar 95 bemerkte sie eine Anschwellung an der vorderen Halsgegend, die rasch grösser wurde. Zugleich litt sie viel an Kopfschmerzen und Verdauungsstörungen und will etwa 18 Pfd. an Körpergewicht abgenommen haben.
Status. Patientin von gracilem Körperbau und mässig gutem Ernährungs- zustande, bietet einen ängstlichen Gesichtsausdruck dar; es besteht leichte Cyanose der Lippen, deutlicher Exophthalmus, Grife'sches Phänomen. An der strotzend gefüllten Vena jugularis externa sah man beiderseits deutliche von den Carotiden fortgeleitete Pulsation. An der Vorderseite des Halses trat zu beiden Seiten der Cartilago thyreoidea eine den vergrösserten Seitenlappen entsprechende sicht- und fühlbare Geschwulst hervor, die sowohl gegen die äussere Haut, wie gegen die Unter-
26
lage leicht verschiebbar war. An sämtlichen Ostien der Herzgefiisse hörte man ein blasendes systolisches Geräusch. Der Puls war mässig kräftig, Frequenz 130 in der Minute. Patientin macht einen hochgradig nervösen Eindruck und ist auf- fallend hastig in ihren Bewegungen.
Operation am 18. V. 95. Nach vorheriger Unterbindung der zuführenden Gefiisse wird der rechte sowohl wie auch der linke Strumaknoten unter Zurück- lassung eines geringen Drüsenrestes vor der Trachea enucleirt. Die Operation sowohl wie auch die Nachbehandlung verlief ohne Zwischenfall. Schon am dritten Tage p. op. ging die Pulsfrequenz auf 90 herab. Vom 14. Tage bis zur Ent- lassung schwankte dieselbe zwischen 65 und 75 in der Minute. Herzklopfen ist nicht wieder aufgetreten. Bei der Nachuntersuchung, die genau ein Jahr nach der Operation angestellt wurde, zeigt sich Patientin frei von Beschwerden und fühlt sich vollkommen gesund. Sie hat an Körpergewicht zugenommen und beschäftigt sich wieder den ganzen Tag im Haushalte. Der Exophthalmus ist vollkommen verschwunden; unter der kaum sichtbaren Narbe nur noch ein geringer Drüsenrest fühlbar. Die Pulsfrequenz beträgt 68 in der Minute.
Fall IX. AnnaB., Dienstmädchen, 17 Jahre alt, aufgenommen am 3. VIII. 95. Patientin, hereditär nicht belastet, erkrankte ohne bestimmte Ursache allmählich mit Hitze- und Frostgefühl vor etwa einem Jahre. Starkes Herzklopfen machte ihr schlaflose Nächte. Das Klopfen zog sich von der Brust zum Rücken, Hals und Abdomen hin. Dabei bestand Beängstigung. Vor etwa 10 Monaten traten die Augen hervor, unter gleichzeitigem Dickwerden des Halses. Der Appetit war wechselnd, der Stuhl angehalten. Menses noch nicht eingetreten.
Status: Die Prominenz der Bulbi ist beiderseits stark ausgesprochen, ebenso das Gräfe’sche und Stellwag'sche Symptom, Der Puls ist beschleunigt, mássig gefüllt, leicht zu comprimiren; seine Frequenz beträgt 140 in der Minute. Die Zunge ist trocken, be- legt und zittert beim Hervorstrecken. Die Schilddrüse ist mässig geschwollen, besonders im mittleren Lappen; sie pulsiert überall und über derselben ist ein lautes systolisches sausendes Geräusch zu hören. Der Herzspitzenstoss weit links von der Mammillar- linie zu fühlen. Auch am Epigastrium deutliche Pulsation sichtbar. Sonstige nervöse Symptome, wie Tremor, Angstgefühl etc. sind nicht vorhanden und befindet sich Patientin in einem guten Ernährungszustande. Operation am 4. VIII. 95. Durch den oben schon beschriebenen Querschnitt wird der etwa orangengrosse rechte über die Mitte hinausragende Strumaknoten herausgelöst. Es handelt sich um eine Struma parenchymatosa. Die Chloroformnarcose bewirkt zu Ende der Operation eine starke Cyanose des Gesichts und Steigerung der Pulsfrequenz, Er- scheinungen, die mit Aussetzen des Chloroforms wieder verschwinden.
Auch in diesem Falle war der Erfolg ein guter. Die Heilung verlief glatt olıne Zwischenfall. 14 Tage nach der Operation waren verschwunden: Herzklopfen und abnorme Pulsation der grossen Gefässe, der Exophthalmus verkleinert, der Puls zählte 80—90 in der Minute.
Am 30. XI. 96 sah ich die Patientin wieder in ihrer vollen Thätigkeit als Dienstmädchen in einer bekannten Familie, der sie wiederholt ihre Freude über den Operationserfolg ausgedrückt hatte. Exophthalmus war gänzlich zurückgegangen ; der Puls betrug 70 in der Minute; am Halse eine glatte kaum sichtbare Narbe.
Fall X. Anna L., 26 Jahre alt, Näherin, aufgenommen am 2. VIII. 95. Vater und eine Schwester der Patientin starben an Phthise, 2 Brüder sind gesund. In der Jugend will sie an Scharlach uud Diphtherie schwer erkrankt gewesen sein.
Im Anschluss an eine Influenza im Miirz 95 trat angeblich starkes Herzklopfen und Atemnot auf. Zudem wurde sie von ziehenden und reissenden Schmerzen in Armen und Beinen geplagt. Die Gelenke blieben frei, jedoch bemerkte Patientin bei Beweg- ungen Zittern in Armen und Beinen. Die Menses traten vom 17. Jahre ab nur un- regelmässig 6—8 wöchentlich auf und sistierten von September bis November 94 voll- ständig. Schwellung der Schilddrüse und Hervortreten der Augäpfel seit dem Influenzaanfalle.
Status. Patientin ist eine mittelgrosse Person von kräftigem Körperbau und reichlichem Fettpolster. Die Haut ist feucht und glatt und zeigt ein der Urticaria ähnliches Exanthem. Puls auf 130 beschleunigt. Erschütterung der linken Thoraxhälfte bei deutlicher Hebung der gut entwickelten Mamma. Aus- gesprochener Exophthalmus, Griife’sches Symptom, die Conjunktiven glänzend. Der rechte Drüsenlappen ist bedeutend vergrössert, kleinapfelgross, weich, nicht fluctuierend. Tremor in Händen und Füssen. P. macht einen sehr verstimmten Eindruck und klagt über starke Kopfschmerzen. Operation am 5. VIII. 95. Quer- schnitt wie oben. Enucleation eines apfelgrossen parenchymatösen Kropfknotens. Keine wesentliche Blutung. Narkose verläuft gut. Aın Tage nach der Operation steigt die Temperatur auf 38,6, am folgenden Morgen auf 38,9, begleitet von leichtem Schüttelfrost. Bei Abnahme des Verbandes und Entfernung des Drain quillt aus der Drainöffnung dunkles mit Eiter vermischtes Sekret hervor. Es werden die unteren Ligaturen gelösst und ein Jodoformgazestreifen in die Wundhöhle ein- geschoben. Temperatur am Abend 38,4. Beim Verbandwechsel am folgenden Tage reichliche Sekretion, keine Verhaltung. Die Temperatur fällt zur Norm. Nach 10 Tagen gute Granulationsbildung in der Tiefe und am 22. Tage p. op. schliesst sich die Wunde ohne wieder Reaktionserscheinungen hervorgerufen zu haben. Bei der Entlassung zählt der Puls 90—100 Schläge in der Minute. Die stürmischen Herzpalpationen sind fast verschwunden. Tremor nur gering. Exoph- thalmus nicht beeinflusst. Im Mai 96 sah ich die P. wieder. Ihr Aussehen war zwar gut, der Exophthalmus aber unverändert. Der Puls schwankt zwischen‘ 90 und 100 Schlägen. Die linke Halsseite ist etwas geschwollen, der 1. zurückgebliebene Drüsenlappen fühlt sich etwas vergrössert an. Patientin macht einen hochgradig hysterischen Eindruck und befindet sich wieder in interner Behandlung.
Fall XI. Dora E., 44 Jahre, Lehrersfrau, wurde aufgenommen am 8. VIII, 1895. Seit 20 Jahren verheiratet, hat sie 5 mal geboren, zuletzt im Januar 1885. Ein Kind, Mädchen von 14 Jahren, soll ebenfalls eine Anschwellung des Halses und ,,Glotzaugen“ haben. In der Familie des Vaters soll Neurasthenie verbreitet sein. Ihr jetziges Leiden begann vor etwa 6 Jahren, zu einer Zeit, als Ärger und Verdruss in der Familie ihr das Leben verbitterten. Allgemeine Nervosität, Zittern am ganzen Körper, Angstgefühl und Schlaflosigkeit hatten etwa °/, Jahr bestanden, als ein schwerer Typhus sie befiel. Nach Ablauf dieser Erkrankung erholte sie sich nicht, sondern wurde von Tag zu Tag hinfälliger.
Die Augen traten allmählich weit aus dem Kopfe hervor; am Halse begann eine etwa faustgrosse Geschwulst ernstere Atembeschwerden zu verursachen. Patientin unterzog sich dann einer Kneipp'schen Kur, wanderte zu allen möglichen Kurpfuschern, liess auch von dem damals „berühmten Wunderdokter Schäfer Ast“ sich die Diagnose Unterleibsleiden stellen, und kam endlich in elendem Zustande zur operativen Behandlung in's Krankenhaus.
Status: Mittelgrosse Person in einem äusserst schlechten Ernährungszustande.
28
Haut ist welk und fahl, Schleimhäute blass, die Konjunktiven etwas icterisch ver- färbt. Doppelseitiger Exophthalmus, gleichmässig und hochgradig. Gräfe’sches und Stellwag’sches Symptom vorhanden, das Sehvermögen nicht herabgesetzt. Zu beiden Seiten der Trachea unterhalb des Larynx eine bedeutende Anschwellung der Gland. thyreoidea: Der linke Lappen etwa faustgross, der rechte um die Hälfte kleiner, der Isthmus ist kaum zu fühlen. Die Atmung ist bebindert und lässt bei Inspiration ein lautes stridorartiges Geräuch vernehmen. Die Herzaktion ist in grosser Ausdehnung sichtbar, der Puls regelmässig, 130 Schläge in der Minute. Patientin klagt über starken Durst. Sie fühlt sich verfolgt und hört in der Nacht laute Stimmen in der Nähe ihres Bettes. Die Nachtwache bestätigt, dass sie keine Nacht geschlafen. Starker Tremor der Hände und Füsse, Flüster- stimme. Die laryngoskopische Untersuchung ergiebt keine Veränderung am Kehlkopfe. Operation am 10. VIII. 95. Chloroformnarcose. Etwa 15 cm langer Querschnitt über der Höhe des linken Lappens, Unterbindung der Art. thyreoidea sup. und inferior. Das Herauspräparieren des Kropfes ist schwierig, derselbe liegt der Trachea dicht an und hat letztere nach rechts herübergedrängt. An der Druckstelle muldenförmige Vertiefung in der Trachealröhre. Die Drüsensubstanz wird am Isthmus umschnürt, durchtrennt, und der Stumpf vermäht. Leichte Blutstillung. Es fand sich eine Struma parenchymatosa von Faustgrösse.
Naht von Catgut, Glasdrain, Deckverband. Primäre Heilung. Patientin hatte die ersten 3 Tage p. op. unter einem starken Brechreiz und quälendem Durst zu leiden. Sodann erholte sie sich rasch, verliess am 7. Tage das Bett und fühlte sich „sehr erleichtert“. Sie hatte die letzten 2 Nächte je 7 Stunden vorzüglich geschlafen. Unruhe und Angst ist verschwunden, ebenfalls der Stridor und spricht Patientin mit deutlicher Stimme. Puls schwankt zwischen 90 und 100 Schlägen bei der Entlassung am 10. IX. 95. Exophthalmus mittleren Grades noch vor- handen. 1'/, Jahr nach der Operation ist auch dor Exophthalmus vollständig verschwunden. Der Ernährungszustand hebt sich noch fortwährend, sie hat bis jetzt 35 Pfd. an Körpergewicht zugenommen. Die fahl gelbe Gesichtsfarbe ist einem frischen Rot gewichen. Der Puls kräftig bei konstant 75 Schlägen in der Minute. Zwei sic begleitende Töchter erzählen, dass die Mutter nunmehr zufrieden und gesund wie früher wieder gerne vergnügte und fidele Feste mitfeiere.
Fall XII. Elise Sp., 15 Jahre alt, ledig, aufgenommen am 9. X. 1895. Es ist dieser Fall eines jener klassischen Beispiele, die mit Sicherheit eine Vererbung des Morbus Basedowii nachweisen. Patientin giebt an, dass der Vater, Potator strenuus, wiederholte Anfälle von Delirium tremens überstanden habe. Die Mutter leidet seit ihrem 24. Jahre an Basedow’scher Krankheit, ebenfalls 2 verheiratete Schwestern. Die älteste Schwester, die nebenbei bemerkt nicht erkrankt ist, hat ein etwa 10 Jahre altes, uneheliches Basedow krankes Kind. Patientin will seit ihrer Kindheit schwächlich und blutarm gewesen sein. Krank war sie bis dahin nicht, sie weiss weder eine Ursache noch auch den Beginn des jetzigen Leidens genau anzugeben.
Bei der Aufnahme in das Krankenhaus ergiebt sich folgender Befund: kleines schwächliches Mädchen von gracilem Bau und dürftig entwickelter Muskulatur. Ihr blasses, wachsartiges Gesicht bekommt durch die starke Prominenz der beiden Bulbi ein scheues, ängstliches Aussehen. Lippen und Ohren sind etwas cyanotisch. Die Haut ist feucht, während der Untersuchung am ganzen Körper reichliche Schweisssekretion. Der Puls ist klein, 130—134 in der Minute. Am Herzen ` keine abnormen Geräusche, Herzgrenze normal. Es besteht eine bedeutende,
29
gleichmässige Anschwellung der Schilddrüse. Die Hände zittern beim Hervorstrecken lebhaft. Müdigkeit und Schmerzen in den Beinen, Schlaflosigkeit und Diarrhoeen sind seit 2 Jahren ständige Klagen der Patientin gewesen. Die Menses sind noch nicht eingetreten.
Am 12. October 1895 wurde in Chloroformnarcose die Exstirpation der rechten Strumahälfte ausgeführt. Dieselbe ging auf stumpfem Wege glatt von statten. Ein Fortsatz der Struma reichte bis unter das Sternum herab. Bei der lösung derselben waren sehr viele Ligaturen notwendig. Blutung mássig. Durch eine tiefere Muskel- und oberflächliche Hautnaht wird die Wunde geschlossen und ein Glasdrain eingelegt. Die Heilung erfolgte nicht primär. Unter mässigen Fieber- bewegungen trat eine Eiterung der tieferen Wundpartieen ein, bei der verschie- dentlich grössere nekrotische Fetzen abgestossen wurden. 8 Tage nach der ersten Tamponade erfolgte gute Granulationsbildung in der Tiefe und Ende der 3. Woche schloss sich die Wunde per granulationem.
Schon während dieser Zeit ist eine merkliche Besserung in dem Befinden der Patientin eingetreten. Früher scheu und zurückgezogen, spielte sie jetzt ver- gnügt mit den Kindern auf ihren Krankensaal. Der Exophthalmus wurde merklich kleiner, Schlaflosigkeit und Diarrhoeen waren verschwunden. Bei der Entlassung am 20. XI. 1895 zählte der Puls 76; der Exophthalmus ist verschwunden, das Körpergewicht um 15 Pfund erhöht. Patientin kam dann in ihre häuslichen gerade nicht glänzenden Verhältnisse zurück. Während dieser Zeit nun, es ist jetzt 1 Jahr seit der Operation vergangen, hat sich ihr Zustand trotz der immerhin dürftigen Pflege weiter stetig gebessert. Sie sieht jetzt frisch und blühend aus, hat weitere 20 Pfund an Körpergewicht zugenommen; ja ihre Mutter und eine der leidenden Schwestern erklärten mir nach diesem Erfolge sich auch einer Uperation unterziehen zu wollen. Menses seit */, Jahre schwach aber regelmässig 4wochentlich. Der Exophthalmus ist ganz geschwunden, die linke Gland. thyreoidea auf ihr normales Volumen zurückgegangen. Der Puls zählt constant 70 Schläge in der Minute. Patientin will in 4 Wochen die Stelle eines Dienstmädchens annehmen.
Fall XIII. Luise L., 40 Jahre, Bäckersfrau, aufgenommen am 14. X. 95. Vom März bis Mai 95 wurde sie in einem anderen Krankenhause intern an derselben Krankheit erfolglos behandelt, erfuhr dann von einer bei uns operierten Patientin deren Heilung durch den chirurgischen Eingriff, und liess sich darauf hier aufnehmen. Seit 14 Jahren verheiratet, hat sie 3 ausgetragene Kinder geboren, zweimal abortiert im zweiten Monat, Menses seit 6 Jahren regelmässig. Früher nie krank gewesen, will sie sich in dem Bäckerladen häufig erkältet und an permanentem Schnupfen gelitten haben. Sie ass mit Vorliebe das frische, warme noch dampfende Weissbrot, bis sie vor 1'/, Jahren nach Einnahme eines grossen Quantums plötzlich kolikartige Schmerzen im ganzen Leib und einen mehrere Wochen andauernden schweren Magen-Darmkatarrh davontrug. Zunächst mit Opiumpräparaten behandelt, kostete sie dann die ganze Serie der künstlichen Abführmittel durch um schliess- lich von dem schwersten Geschütze, den Einläufen, den ausgiebigsten Gebrauch zu machen. Eine vollständige Darmatonie war die Folge und auch wohl der Anfang des jetzigen Leidens. Zunächst sistirten die Menses vollständig, dann trat Müdigkeit in den Beinen, Schlaflosigkeit und eine Erregtheit auf, die sie zu jeder Arbeit unfähig machte. Es folgten Schluckbeschwerden zugleich mit einer Anschwellung am Halse. Eine hereditäre Belastung liegt nicht vor.
Status: Patientin von mittlerer Grösse aber kräftigem Knochenbau zeigt nur
30
geringes Fettpolster und eine atrophische Muskulatur. Die Gesichtsfarbe ist blass- fahl, die Haut feucht und schuppend. Es besteht hochgradiger Exophthalmus und unvollkommener Lidschluss. Deutliches Möbius’sches Symptom. Struma von Apfelgrösse lässt unverkennbares Schwirren durch die aufgelegte Hand erkennen, nicht druckempfindlich. Lungenbefund normal, auch die Rhinoskopie ergiebt keine krankbafto Veränderung. Der Puls mittelkráftig und schnellend hat eine Frequenz von 130—140 in der Minute. Am Herzen keine Geräusche, starke systolische Erschütterung der Brustwand und deutliche epigastrische Pulsation. Auch bei leichterem Auflegen zittern die Hände. Grosse nervöse Unruhe und Schlaflosigkeit. Bei absoluter Appetitlosigkeit seit 4 Tagen angeblich keine Stuhlentleerung mehr; Abdomen mässig aufgetrieben.
Am 15. X. 1895 Enucleation eines etwa giinseeigrossen rechtsseitigen Cysten- kropfes in Chloroformnarkose. Beim Einleiten der Narkose stellte sich grosse Aufgeregtheit und kaum zu zählender Puls ein, der weitere Verlauf aber war wie auch die Operation selbst, glatt und ungestört. Drainage, leicht comprimirender Verband. Am Nachmittage und am Tage nach der Operation starke Schluck- beschwerden und leichte Cyanose des Gosichts. Die Cyanose verschwand nach Lockerung des Verbandes, die Schluckbeschwerden hielten bis zum 3. Tage an. Die Heilung erfolgte primär. Am 8. Tage p. op. erfolgte zum ersten Male wieder spontane Stublentleerung, sic hatte im Krankenhause kein Abführmittel mehr bekommen.
Nach Ablauf von 4 Wochen hatte sich der Stuhl vollkommen geregelt. Will man diesen Erfolg als einfach mechanische Wirkung erklären, so war doch durch die Operation nach anderer Richtung eine wesentliche Besserung der Patientin erfolgt. Der Tremor der Hände, die Erregtheit und Unruhe fehlten. Der Appetit war gut, die Pulsfrequenz auf 90—100 Schläge in dor Minute herabgesetzt. Die Erschütterung der Brustwand, sowie abdominale Pulsation waren verschwunden. Unbeeinflusst geblieben war nur der Exophthalmus.
Im Novemver 1896 suchte ich die Patientin wieder auf und konnte nunmehr konstatieren, dass in dieser Zwischenzeit auch die Prominenz der Bulbi bedeutend verkleinert war. Der Puls kräftig und voll, zählte 85 in der Minute. Die ner- vösen Symptome fehlten vollständig. Patientin war wieder in ihrem Geschäfte thätig und hatte eine gesunde Gesichtsfarbe, Abführmittel brauchte sie nicht mehr.
Wollen wir nun diesen Fall nicht als „völlig geheilt“ bezeichnen, so ist doch eine bedeutende Besserung nicht zu verkonnen, und es ist anzunehmen, dass auch der Exophthalmus als letztes Symptom des bestandenen Morb. Basedowii gar bald vollständig verschwinden wird.
Fall XIV. Emma N., 40 Jahr, Arbeiterin, ledig, wurde aufgenommen am 21. XI. 95. Ueber ihre Familienverhältnisse giebt sie an, dass die Mutter gesund, der Vater 1892 an Cholera gestorben sei. Von 3 Geschwistern leidet ein Bruder an Epilepsie, eine Schwester ist schwachsinnig, die dritte gesund. Vor 3 Jahren aquirirte Patientin angeblich nach Genuss von ungekochtem Elbwasser Typhus, ein Jahr darauf nach Durchnässung bei ihrer Feldarbeit eine schwere Lungen- entzündung. Sie menstruirt seit ihrem 17. Lebensjahre regelmässig. Ihre jetzige Erkrankung, die vor einem Jahre begann, führt sie auf die beiden früheren Er- krankungen zurück.
Befund am 22. XI. 95. Ausgesprochener Typus eines Morbus Basedowii. Patientin ist ein leicht erregbares Wesen in leidlichem Ernährungszustande.
31
ies oe u m
Gesichtsfarbe und Schleimhäute sind blass, anämisch. Auffallende Prominenz der Bulbi mit Gráfe'schem Symptom. Es besteht eine mittelgrosse sich derb anfühlende Struma, die keine Druckerscheinung von Seiten der Trachea hervorruft. Ueber der Struma, sowie über der pulsierenden Jugularis sausendes, systolisches Geräusch. An der Herzspitze dasselbe Geräusch. Der Puls ist regelmässig, seine Frequenz auf 120 erhöht. Schlaflosigkeit besteht seit etwa 4 Wochen. Des Nachts be- sonders treten starko Kopfschmerzen, gefolgt von häufigem Erbrechen gallig ge- färbter Schleimmassen auf. Ihr Kassenarzt verordnete Brom und verschiedene andere Narcotica ohne Erfolg, und schickte sie schliesslich mit obiger Diagnose zwecks chirurgischer Behandlung ins Krankenhaus. Operation am 23. XI. 95. Querschnitt über der Struma von etwa 12 cm Länge. Enucleation eines klein- apfelgrossen Kropfknotens. Linker Drüsenlappen nicht vergrössert. Blutung gering. Tiefe Muskel und oberflächliche Hautnaht von Catgut. Glasdrain. Abends treten Schluckbeschwerden und eine gewisse Unruhe der Patientin auf. Temperatur 37,2, Puls 140. — 24. XI. Schluckbeschwerden verschwunden, Puls 120, Temperatur 36,8. Starker Tremor der Hände. 25. XI. Erregungszustand verschwunden. Patientin nimmt mehrmals einen Teller Suppe und schläft die Nacht gut. Auch die 8 folgen- den Tage bleibt die Temperatur normal, Patientin erholt sich rasch. Kopfschmerzen und Erbrechen verschwindeb. Der Puls zählt 80 bei ihrer Entlassung am 22. XII. 95. Der Exophthalmus ist fast ganz zurückgegangen. Der Schlaf gut. Das Aussehen frischer. Ich salı die Patientin seit der Zeit nicht wieder, sie ist in die Heimat zu ibrer alten Beschäftigung zurückgekehrt.
Am 20. I. 97 teilt mir der dortige College in liebenswürdiger Weise brieflich Folgendes mit: Am 18. I. 97 untersuchte ich auf Ihren Wunsch die im November 1895 im Marien-Krankenhause wegen Morhus Basedowii operierte E, N. Von den früheren Symptomen der Erkrankung ist nichts mehr vorhanden. Unter der glatten, kaum sichtbaren Narbe ist links ein kleiner Knoten von Haselnussgrösse zu fühlen. Der Puls giebt 65—75 Schläge in der Minute. Das Aussehen der Patientin, die das ganze vorige Jahr hindurch sich rege an den Feldarbeiten beteiligt hat, ist ein frisches, blühendes. Ich freue mich um so mehr, Ihnen diesen äusserst günstigen Erfolg mitteilen zu können, als ich s. Z. lange und vergeblich eine Besserung des Zustandes herbeizuführen versuchte.
Das Resultat dieser 14 Strumectomieen zeigt zur Genüge, wie berechtigt der Eingriff in einem jeden unserer Fälle gewesen. Handelte es sich doch in ihrer Mehrzahl um Kranke, denen die schwersten Symptome des Basedow die Gesundheit erschüttert, das Leben unerträglich gemacht hatten. Zwölf davon vollständig geheilt, konnten in verhältnismässig kurzer Zeit ihre frühere Arbeit und Beschäftigung in vollem Umfange wieder aufnehmen. Bei zweien ist eine erhebliche Besserung eingetreten und ich zweifele nicht, dass auch bei einer dieser Patientinnen das letzte Symptom der überstandenen Krankheit, der Exophthalmus in nicht zu ferner Zeit zum endgültigen Verschwinden gebracht wird. Dass die Kranken ohne Ausnahme das typische Bild eines Morbus Basedowii präsentierten,
32
braucht wohl nicht besonders hervorgehoben werden, selbst der schärfste Kritiker wird unsere Diagnose bestätigen müssen. Als vor mehreren Jahren die Franzosen Marie und Charcot den wahren Morb. Bas. von den sogenannten „Formes frustes“ getrennt wissen wollten, suchte man besonders von neurologischer Seite manche durch die Operation zur Heilung gebrachte Erkrankungen als „falschen Morb. Bas.“ hinzustellen. Ja Buschan geht so weit, die operativen Erfolge als Suggestion hinzustellen und führt als Beleg ein einziges Beispiel aus der Litteratur an. Solche Wirkung kann man doch wohl der Suggestion nicbt beilegen. Ist es vielleicht gelungen, anstatt der Scheinoperation sichtbare pathologische Veränderungen wie die stark prominenten Bulbi durch eine hypnotische Sitzung in ihre richtige Lage zurück zu suggeriren? Ich bemerkte schon, dass die Mehrzahl unserer Fälle äusserst schwere waren; dass dieselben aber durch sorgfältige Nachprüfung des Zustandes als bis jetzt geheilt oder gcbessert gefunden wurden und nach Jahren mit Genugthuung uns ihrer Dankbarkeit versicherten, hat wohl eher seinen Grund in der erlangten Heilung als in blosser Suggestion.
Diese regelmässigeÜberwachung und Nachuntersuchung in bestimm- ten Zwischenräumen ist nun unserer Meinung nach ein wichtiger Faktor in der Beurteilung des operativen Erfolges. Hat man einen Kranken Wochen oder Monate lang nicht zu Gesicht bekommen, wird einem viel eher jede Veränderung in der Constitution wie in dem ganzen Wesen auffallen als bei den regelmässigen Visiten im Krankenhause. Macht man sich gar die Mühe, die Operirten in ihrer eigenen Häuslichkeit aufzusuchen, so wird man dazu in den meisten Fällen von competenten Angehörigen und Verwandten genauen Bericht über den Unterschied zwischen früher und jetzt erhalten. Nur ein geringer Teil der veröffentlichten Strumectomieen giebt nach dieser Richtung hin völligen Aufschluss. Man begnügte sich teilweise damit, den bald nach der Operation gewonnenen Befund zu vermerken, im übrigen aber die Patienten ihrem Schicksale zu überlassen. Es gilt eben hier eine feste Norm und Regel zu schaffen, und durch den Nachweis von operativen Heilungen, welche nach Jahren noch anhielten, mehr und mehr den Wert der chirurgischen Behandlung zu sichern.
Über das Verhalten des Kropfrestes nach der partiellen Strum-
33
ectomie waren bis vor Kurzem die Meinungen noch sehr geteilt. Einige der älteren Autoren, worunter auch Rose, nahmen an, dass so lange ein Rest der Struma zurückgelassen würde, man Aussicht habe, alle paar Jahre ein Recidiv zu bekommen, und zwar stützte sich diese Ansicht auf die Tierexperimente von Horsley und Wagner. Dieselben wollten nach Exstirpation der einen Hälfte Hypertrophie der zurückgelassenen beobachtet haben. Als J. Wolff an seinem Kropfmaterial nachwies, dass der Kropfrest sich nach- träglich teils verkleinert, teils so weit zusammengeschrumpft war, bis „ein dem normalen entsprechendes Volumen“ erreicht war, zog man die Beurteilung der Grössen- resp. Schrumpfungsverhältnisse in Frage und behauptete, durch die Vernarbung könnte der Rest soweit nach der operierten Seite herübergezogen werden, dass durch diesen „Ausgleich“ sowohl wie auch durch abnorme Spannungsverhältnisse ein Irrtum in der Schätzung der Grösse und des Umfanges des zurückgebliebenen Drüsenlappens entstánde. Wir haben bei unseren Nachuntersuchungen auch auf diesen Punkt unser besonderes Augen- merk gerichtet und gefunden, dass es nicht gar so schwer ist, sich durch die teilweise recht bewegliche und unbedeutende Narbe hindurch zu orientieren, zumal die palpabele Trachea stets eine genaue Grenze der rechten und linken Halspartieen abgab. Ein Recidiv ist bei einem unserer Fälle aufgetreten, bei allen anderen konnten wir ohne Ausnahme nach teilweise 2—7 jähriger Zwischenzeit eine deutliche Verkleinerung des bei der Operation zurückgelassenen Kropfrestes constatieren. In zwei Fällen, wo die eine aber auch stark vergrösserte Drüsenhälfte zurückgelassen wurde, fanden wir dieselbe im deutlichen Rückgange begriffen und als harten derben Knoten an der Stelle ihres normalen Sitzes.
Was die Technik der Strumectomie betrifft, so stellen wir uns auf den Standpunkt Mikulicz’s, der sagt: „Jede Operationsmethode die zur Verkleinerung der vergrösserten Schilddrüse führt, beeinflusst die Basedow’sche Krankheit günstig.“ Unter diesen gebührt wohl der bei allen gutartigen Kröpfen ausführbaren intraglandulären Enucleation, wie sie von Socin eingeführt wurde, der Vorzug. Sie wurde in der Mehrzahl unserer Fälle in Anwendung gebracht. Die Operation ist im Grossen und Ganzen meist nicht sehr schwierig.
Von Wölfler wieder zu Ehren gebracht wurde statt der Strum- 3
34
ectomie die Ligatur der Schilddriisen-Arterien. Dieselbe wurde bei unseren Fällen nicht angewandt und es finden sich in der Litteratur noch zu wenig Mitteilungen um zu einem Urteil über ihre Brauchbarkeit zu gelangen. Uns scheint dieselbe erheblich schwieriger wie die Strumectomie besonders bei sehr grossen oder gefässreichen Kröpfen. Soll schon die Unterbindung der inferior wegen ihrer grossen Dünn- wandigkeit und daraus folgenden Brüchigkeit eine gefahrdrohende Blutung herbeiführen können, so ist die leicht mögliche Verletzung des Sympathicus ein weiteres Schreckmittel. Von kosmetischer Seite betrachtet, liefert der bei der Strumectomie von Kocher empfohlene Quer- oder Bogenschnitt eine tadellose, kaum auffallende Narbe, während hier vier Hautschnitte notwendig werden. Da dazu der Erfolg der Ligatur ein sehr langsamer sein soll, so haben wir keinen Grund, die so einfache und schnell ausführbare Strumectomie zu verlassen, sondern halten dieselbe für die geeignetere Methode des operativen Eingriffes gerade bei Morbus Basedowii.
Mit der Vervollkommnung der Operationstechnik sowohl wie der ganzen Wundbehandlung, schwanden die Gefahren und Unglücks- fälle bei oder kurz nach der Operation derart, dass auch die Ent- fernung eines Kropfes wegen Basedow’scher Krankheit sehr wohl berechtigt und meist geboten erscheint. Die operative Behandlung des Morbus Basedowii ist Gemeingut chirurgisch geschulter Ärzte geworden, das beweisen die Resultate auf diesem Gebiete. Wollen wir eine summarische Aufstellung der uns in der Litteratur begegneten und teilweise oben schon angeführten Fälle operativ behandelter Basedow’scher Krankheit machen, so ergiebt sich mit Einschluss unserer 14 die Gesamtzahl 128, von denen
95 als geheilt = 73%,
25 „ erheblich gebessert = 200,
4 „ Misserfolg = 3,59%,
4 ,, tötlich verlaufen = 3,5%, verbürgt sind. Auf eine eingehende Besprechung und statistische Verwertung dieser Zahlen gehen wir aus dem Grunde nicht ein, weil, wie schon oben bemerkt, nur ein Teil derselben uns genaueren Aufschluss über das spätere Befinden und die dauernde Heilung giebt. Wir sind überzeugt, dass noch eine ganze Reihe der als „erheblich gebessert“ bezeichneten Fälle nach Verlauf von mehreren
35
Jahren als definitiv geheilt vorgefunden worden wäre. Ausser allem Zweifel aber ist der Beweis erbracht, dass der chirurgische Eingriff das Übel an der Wurzel gefasst, eine Krankheit zur Heilung zu bringen im stande ist, die bis dahin ihrem Träger ein jammervolles Dasein, dem behandelnden Arzte aber viel Mühe und Enttäuschung bereitet hat.
Es liegt uns fern, jetzt alle Basedow-Kranke dem Chirurgen überweisen zu wollen; in den leichten Fällen ist ein Versuch mit der internen Behandlung zunächst geboten; wenn die einzelnen Symptome weniger ausgeprägt sind, kann geistige und körperliche Ruhe, gute Diät und Ortswechsel im Verein mit den üblichen Medicamenten sehr wohl noch eine Heilung herbeiführen. Tritt bei genauer Überwachung nach Ablauf von Wochen oder Monaten keine Besserung eher eine Verschlimmerung ein, dann ist die Indikation zur Operation gegeben. Ein zu langes Abwarten würde den Zustand herbeiführen, in dem mangelhafte Herzthätigkeit, Arythmie und Schwäche des Pulses und beginnende Oedeme auf eine Degeneration des Herzmuskels hinweisen, und ein alsdann im Anschluss an die Operation eintretender Unglücksfall uns nicht überraschend erscheinen würde. Selbstverständlich werden wir jene schweren Fälle, die dem allmählichen Verfalle preisgegeben, nicht von der Operation aus- schliessen, halten es aber für ratsam den Kranken vorher auf das Gefährliche seiner Lage aufmerksam zu machen. Auch unter unseren Patientinnen finden wir solche mit Erfolg operiert.
Wollen wir im Anschluss an obige Erörterungen uns ein Urteil über den günstigen Einfluss der operativen Behandlung des Morbus Basedowii erlauben, so stimmen wir denen zu, die den primären Sitz der Erkrankung in der vergrösserten Schilddrüse suchen, und nehmen an, dass die in ihren Funktionen gestörte Drüse nicht nur im Übermass secerniert, sondern dass auch bei der gesteigerten Produktion ein direkt schädlicher Stoff geliefert wird, der die All- gemeinintoxikation des gesamten Organismus einleitet.
14. 15. 16. 17. 18.
19.
21. 22. 23.
Litteratur.
v. Basedow, Exophthalmus durch Hyperthrophie des Zellgewebes in der Augenhóhle. Caspers Wochenschrift No. 13, 14. 1840.
—, Die Glotzaugen. Caspers Wochenschr, No. 49. 1848.
Becker, O., Der spontane Netzhautarterienpuls bei Morb. B. Klinische Monatsbl. f£. Augenheilk. XVIII. 1880.
Bobone, Sur le traitement opératoire de la maladie de Basedow. Schmidts Jahrb. 215.
Bottini, L'estirpazione del gozzo nel morbo del Basedow. Klin. Chirurg. 1893. Briner, O., Ueber die operative Behandlung der Basedow’schen Krankheit durch Strumectomie. Beitr. z. klin. Chir. XII. 1894.
. Buschan, G., Die Basedow’sche Krankheit. Preisgekrönte Arbeit. 1894. . —, Kritik der modernen Theorieen tiber die Pathogenese der Basedow’schen
Krankheit. Wiener med. Wochenschr. XLIV. 51, 52. 1894.
Charcot, J. M., Les formes frustes de la maladie de Basedow. Gaz. des Höp. 13, 15. 1885.
Demours, Traité des mal. des yeux. Paris 1818.
. Determeyer, H., Ueber einen operativ behandelten Fall von Morb. Bas.
Deutsche med, Wochenschr. XIX, 1893.
2. Ditisheim, M., Ueber Morb. Basedowii. Züricher Diss. inaug. Basel 1895. 3. Dreesmann, H., Die chirurg. Behandlung des Morb. Basedowii. Dentsche
med. Wochenschr. XVIII. 1892.
Emmer, Historische Notiz über Morb. Bas. und Referat tiber 20 selbst- beobachtete Fälle. Arch. f. Ophthal. XVII. 1871.
Engel-Reimers, Strumitis bei Syphilis. Schmidt's Jahrb. 247. Eulenburg, A., Die Basedow'sche Krankheit. Ziemssen’s Handbuch. 1875. — Basedow'sche Krankheit und Schilddrüse. Deutsche med. Wochenschr. XX. 1894.
Filehne, Zur Pathogenese der Basedow'schen Krankheit. Ber. der phys. med. Societät Erlangen. Juli 1879.
Frank, Bericht itber die im Krankenhause Friedrichshain ausgefiihrten Kropf- exstirpationen. Berl. klin. Wochenschr. XXV. 1888.
Fraser, A case of exophthal. goitre operated in 1877. Edinburgh med. Journ. XXIII. 1888.
Galezowski, Etude sur le goitre exophth. Gaz. des Hôp. 107. 1871. Graefe, A. v., Ueber Basedow’sche Krankheit. Deutsche Klinik 16. 1864. Graves, Lectures. London med. and surg. Journ. (Rendshaw) VII 173. 1835-
20,
30.
31. 32.
39. 40. 41. 42.
43. 44.
37
. Herskind, E., Om den kirurg. Behandl. og patogenesen af Morb. Basedowii.
Schmidt’s Jahrb. 247.
- Hopmann, Heilung eines Morb. Based. durch Besserung eines Nasen-
leidens. Berlin. klin. Wochenschr. XXV. 1888. Josipovici, Zur Therapie des Morb. Basedowii. Diss. inaug. Berlin 1887.
. Kahler, 0., Die Pathologie und Therapie der Basedow’schen Krankheit.
Internationale klin. Rundschau 1890.
. Kocher, Th., Bericht über weitere 250 Kropfexstirpationen. Corresp.-Bl.
für Schweizer Aerzte. XIX. 1, 2. 1889.
—, Die Schilddrüsenfunktion im Lichte neuerer Behandlungsmethoden ver- schiedener Kropfformen. Corr.-Bl. f. Schweizer Aerzte. XXV. 1. 1895. Kiimmell, H., Ein Fall von operirtem Morb. Based. Deutsche medic. Wochenschr. XIX. 1893.
Lanz, O., Fortschritte auf dem Gebiete der Chirurgie. 1895.
—, Ueber Thyreoidismus. Deutsche med. Wochenschrift. XXI. 1895. Lemke, F., Ueber die chirurg. Behandl. des Morb. Based. Deutsche med. Wochenschr. XVII. 1891.
. —, Ueber Diagnose und Theorie des Morbus Basedowii. Deutsche med.
Wochenschr. XX. 1894.
. Macnaughton, Jones, Wellmarked case of anemic exophth. goitre. Treated
by seton through the goitre and digitalis. Brit. med. Journ. 1874.
. Mattiesen, E., Beitrag zur Pathologie, path. Anatomie und chirurg. Be-
handlung des Morb. B. Erlangen 1896.
. Massopust, Ein operirter Fall von Morb. Basedowii. Centralblatt für
Chirurgie. 33. 1893.
Mikulicz, J., Die chirurgische Behandlung der Basedow’schen Krankheit. Verhandl. des Chirurgen-Congresses. Berl. klin. Wochenschr. XXXII. 1895. Möbius, P. J., Ueber das Wesen der Basedow’schen Krankheit. Centralbl. f. Nervenheilk. X. 1887.
—, Die Basedow’sche Krankheit. Specielle Pathologie und Therapie von Noth- nagel. XXII. Band. Il. Theil. 1896.
Neumann, Bericht über eine Strumectomie bei Morb. Based. Deutsche med. Wochenschr. XIX. 1893.
Parry, C. H., Collections from the unpublished med. writings. II. London 1825. Putnam, J., Pathology and treatment of Graves disease. Schmidt’s Jahrb. 245, Rehn, L., Ueber die Exstirpation des Kropfes bei Morb. Basedowii. Berl. klin. Wochenschr. XXI. 11, 1884.
—, Ueber Morbus Basedowit. Deutsche med. Wochenschr. XX. 12. 1894. Hahn, F., Ueber Morb. Basedowii und seine Behandlung. Diss. inaug. Würzburg 1893.
. Rummel, L., Ueber die Basedow'sche Krankheit. Diss. inaug. Göttingen. 1890.
Revilliod, L., Le thyreoidisme et le thyroproteidisme et leurs equivalents pathologiques. Revue médicinal de la suisse romande. XV. 8. 1895.
. Schuchardt, Struma Basedowii. Aerztl. Ber. über das städt. Kranken-
haus Stettin 1891/92. Sickinger, J., Zur operativen Behandlung der Struma bei Based. Krank-
heit. Diss, inaug. Strassburg 1590.
51.
52.
53.
55.
56.
57.
59. 60.
Stellwag, Ueber gewisse Innervationsstörungen bei der Basedow’schen Krankheit. Wiener med. Jahrb. XVII. 1869.
Stierlein, Weitere Beiträge zur Frage der Strumaexstirpation bei Morb. Based. Beitr. z. klin. Chir. 8. 1892.
Sulzer, M., Bericht über 200 Kropfoperationen. Deutsche Zeitschr. für Chirurgie 36. 1893.
. Tillaux, Thyroidectomie pour un goitre exophth. Bull. de l'Acad. de Méd.
de Paris 1880. | Tuffier, Ein Fall von erfolgreicher Schilddrüsenresection bei Basedow’scher
Krankheit. Schmidt's Jahrb. 247.
Tricomi, Cura chirurgica del morbo di Basedow. X. Congr. d. soc. ital. die chirurg 1895.
Wette, Th., Ueber die chirurg. Behandlung des Morb. Based. Arch. für klin. Chirurg. XLIV. 1892.
Westedt, W., Sechs Fälle von Morb. Basedowii. Diss. inaug. Kiel 1889. Wölfler, Die chirurgische Behandlung des Kropfes. Berlin 1891.
Wolff, J., Mittheilungen zur Kropfexstirpation. Deutsche med. Wochen- schrift 11. 1893.
Verantwortl. Redakteur: Hofrath Dr. Ernst Stadelmann in Berlin. Druck von Albert Koenig in Guben.
Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden direct
an den oben genannten Redacteur, Berlin SW., Anhaltstrasse 12, oder durch die Verlagsbuchhandlung erbeten.
Die Pathologie der Lepra.') In Kürze dargestellt
von Dr. Jessner, Königsberg i. Pr.
Der Aussatz, der Jahrtausende hindurch fast die ganze Welt in einer furchtbaren Weise heimsuchte, er schien der gegenwärtigen Generation, wenigstens in den Kulturstaaten, ein Schreckgespenst aus längstvergangener Zeit zu sein, das nur noch ein historisches Interesse beanspruchte. Doch mannigfache Beobachtungen aus den letzten Jahrzehnten, und besonders Vorgänge in unserem Ostpreussen zeigten gar zu deutlich, dass das Schreckgespenst noch nicht der Vergangenheit angehört, wieder in ernste Bedenken, wenn auch wohl kaum Furcht erregender Weise auch in den civilisierten Staaten herumzuspuken beginnt. Die Ausbreitung der Lepra ist wiederum eine Frage geworden, die aktuelles Interesse beansprucht, allenthalben in wissenschaftlichen Kreisen auf das lebhafteste discutiert wird. Da sber die Kenntnis dieses Leidens auch in Aerztekreisen noch nicht, oder richtiger gesagt, nicht mehr sehr verbreitet ist, folge ich gerne einer mir seitens unseres verehrten Herrn Vorsitzenden gegebenen Anregung, Ihnen einen Abriss des Krankheitsbildes zu geben. Bei der ausserordentlichen Vielgestaltigkeit desselben werde ich Ihnen aber in der kurzen Zeit, für welche ich Ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen darf, eben nur eine knappe Schilderung, eine Skizze geben können, ohne auf die zahlreichen, den Gegenstand wissenschaftlicher Differenzen bietenden Streitfragen, welche sich an dieses Leiden knüpfen, näher eingehen zu können, wenn ich auch nicht unterlassen werde, kurz auf dieselben hinzuweisen. Am Schlusse werde ich Ihnen dann macroscopische Diapositive und microscopische Präparate mit dem Projectionsapparat vorführen. Mein Wissen auf diesem Gebiete schöpfe ich teilweise aus der grossen Lepra-
1) Nach einem Vortrage in dem Verein für wissenschaftliche Heilkunde zu Königsberg i. Pr. 1
2
Litteratur, teilweise aus einem Besuche, den ich im Herbst dieses Jahres dem Leprosorium von Riga unter freundlicher Führung des Herrn Dr. v. Reissner abstattete. Bei diesem Besuche hatte ich Gelegenheit, 65 Leprakranke zu sehen und die verschiedenen Formen derselben in den verschiedenen Stadien in ausreichendem Masse kennen zu lernen.
reg dor Bevor ich auf die Pathologie des Leidens eingehe, gestatten Sie, dass ich einiges über die Geschichte desselben Ihnen kurz mitteile:
Man nimmt allgemein an, dass die Ursprungsstätte der Lepra in Aegypten zu suchen ist und die ersten historischen Nachrichten aus dem Papyros-Brugsch, dem Papyros-Ebers und der Bibel stammen. Es scheint aber in doppelter Hinsicht fraglich, ob diese Annahme richtig ist. Erstens scheint es keinem Zweifel zu unterliegen, dass schon in den ältesten Zeiten verschiedene Lepraherde neben dem ägyptischen vorhanden waren, und zwar in Asien, speciell in Indien und China, ohne dass man über den Zusammenhang dieser Krank- heitsherde Genaueres wüsste, da es sich um prähistorische Zeiten handelt. Zweitens aber ist es sehr strittig, ob die Schilderung, wie wir sie in den genannten ägyptischen Urkunden und in der Bibel finden, wirklich der Lepra entspricht. Professor Muench in Kiew bestreitet das in sehr energischer Weise und hat seine Gründe hierfür in einer ausgezeichneten Studie niedergelegt. Vornehmlich scheint es mehr als zweifelhaft, ob der biblische Zaraath, der ja immer mit Aussatz übersetzt wird, wirklich die Lepra betrifft. Man gewinut aus den biblischen Schilderungen dieser Hautaffection durchaus nicht den Eindruck, dass es sich dabei um ein so furchtbares, so lang- dauerndes, unheilbares Leiden handelt. Vielmehr scheint es, dass relativ leichtere Leiden es waren, welche in der mosaischen Gesetz- gebung eine so eingehende Beachtung fanden.
Muench nimmt an, dass es sich um Krankheiten handelt, die unserem Herpes tonsurans und der Vitiligo entsprechen. Wenn man nun aber mit Recht fragt, warum gegen so leichte Leiden so ernste Massnahmen in der Bibel vorgeschrieben wurden, so kann man darauf nur antworten, dass man die Dinge in damaliger Zeit nicht mit den Augen der jetzigen betrachten darf. Man muss sich zurückversetzen in die damals herrschenden, von rein theokratischen Gesichtspunkten geleiteten Anschauungen. Man muss sich erinnern,
3
dass die Hautleiden als Brandmarkungen Gottes angesehen wurden und den von ihnen heimgesuchten Menschen daher den Stempel der Unreinheit aufdriickten, wodurch die strenge Isolirung und die mannigfachen andern Vorschriften verstindlich werden. Meiner Ansicht nach hat Muench mit seiner Behauptung, wenigstens soweit sie die Bibel betrifft, vollkommen Recht. Weniger gesichert würde mir Muench’s Anschauung erscheinen, dass auch die Schilderung, welche Hippocrates von der Lepra, allerdings unter dem Namen „Elephantiasis“, giebt, sich nicht mit der Lepra deckt. Als erste sichere Darstellung dieses Leidens .sieht Muench diejenige an, welche Celsus, der berühmte, ärztliche Zeitgenosse Christi, von der Lepra giebt. Aus dieser spricht zweifellos eine genaue Kenntnis dieses Leidens. Die weitere historische Erforschung desselben wird unendlich erschwert durch ein noch heute fortbestehendes Moment, durch die ausserordentlich verschiedene Benennung der Krankheit. Jede Zeit und jedes Volk hatte für dieselbe. eine andere Bezeichnung, sodass man die Namen derselben nach Hunderten zählen kann. Ich brauche in dieser Beziehung nur hinzuweisen auf die verschie- dene Anwendung des Namens „Elephantiasis“. Was die Griechen darunter verstehen, entspricht unserer heutigen Lepra, ein Name der am consequentesten von den ausserordentlich tüchtigen arabischen, meistens jüdischen Aerzten des 9.—14. Jahrhunderts festgehalten wird, von welchen wir auf diesem, wie auf allen andern medicini- schen Gebieten die gediegensten Arbeiten überliefert bekommen haben. Die Griechen kannten auch den Namen „Lepra“, aber sie verstanden darunter eine mit starker Schuppenbildung einhergehende Affection, wahrscheinlich Psoriasis vulgaris. Andererseits war der Name Eiephantiasis den Arabern geläufig als Bezeichnung des Leidens, das sich auch heute mit diesem Namen deckt. Aus dierem Hinweise können Sie also schon ersehen, wie gross die Confusion in der Litteratur sein muss, wie schwer es ist, sich da zurecht zu finden.
Verlassen wir nun die Litteratur — auf die der Neuzeit werden wir ja gelegentlich noch zurückkommen — und betrachten wir kurz den Gang, den die Lepraepidemieen zumal in Europa, genommen: Von Aegypten aus gelangte die Lepra nach Griechenland, von hier durch das Heer des Pompejus anno 63 a. Chr. nat. nach
Italien. .Die römischen Truppen brachten den Aussatz nach West- 1*
4
europa, von wo sie sich dann schnell über das übrige Europa ver- breitete, sodass sie bald zu einem pandemischen Leiden wurde, das viele Jahrhunderte alle Lander heimsuchte. Man suchte sich aller- orten nach Kräften gegen dasselbe zu wehren, indem man ausserhalb bewohnter Orte gelegene Leprosorien für die Kranken errichtete. Im 13. Jahrhundert zählte man in Europa allein 19000 solcher Heimstätten oder vielmehr Verbannungsstätten für Leprakranke, darunter allein in Frankreich 200. Wie verbreitet die Lepra gewesen, kann man beispielsweise auch daraus ersehen, dass ein eigener Orden Lepröser bestand, dessen Meister ein Leprakranker sein musste. In allen Volksschichten, in allen Ständen wütete das Leiden. In Frankreich bestand ein besonderes Leprosorium für Adlige, ein anderes für Leute vom Hofe. — Es liegt bei den damals doch immer mangelhaften diagnostischen Kenntnissen nahe anzu- nehmen, dass auch viele mit anderen Leiden, die äusserlich sicht- bare Erscheinungen machen, behaftete Menschen als Lepröse ange- sehen und zu Insassen der Leprosorien gestempelt wurden; das fällt aber bei der riesenhaften Ausbreitung der Lepra kaum ins Gewicht.
Die sociale Lage der Leprakranken war eine höchst traurige, ihre Behandlung eine nichts weniger als humane. Man betrachtete sie als vom Teufel besessen, schob ihnen alle Unthaten, die vor- kamen, in die Schuhe, nötigte sie an vielen Orten besondere Klei- dung zu tragen, ihr Herannahen an von Menschen bewohnte Stätten durch‘ Klappern anzukündigen, kurz stellte sie den Ver- brechern, in manchen Orten in ihren Rechten den verachteten Juden gleich. In Frankreich betrachtete man jemand, der an Lepra erkrankt war, in manchen Bezirken als gestorben. Alle Bande der Familie waren mit der Diagnose gelöst; der Kranke wurde in effigie beerdigt und existierte fortan nicht mehr für die Welt.
Bis zum 15. Jahrhundert dauerte diese pandemische, ungeheure Verbreitung der Lepra, dann begann sie abzunehmen, und zwar ziemlich schnell. Wunderbarer Weise fiel die Abnahme zusammen mit dem Siegeszuge, den eine andere furchtbare Geissel der Mensch- heit, die Syphilis, antrat. Es ist begreiflich, dass lange Zeit beide Leiden vielfach durch einander geworfen wurden. Ein directer Zu- sammenhang zwischen beiden Leiden besteht nicht, wenn es manche Autoren bis in die Neuzeit hinein auch behaupten. — Im 16. Jahr-
5
hundert war die Zahl der Leprösen bereits relativ eine sehr geringe, sodass ein Leprosorium nach dem andern wieder aufgehoben wurde.
Seitdem ist dann die Lepra stetig zurückgegangen, wenn sie auch in einigen Ländern niemals ganz erloschen ist. In Europa wusste man, auch in wissenschaftlichen Kreisen, nur noch wenig von ihr, bis in der Neuzeit ein, wenn auch im Verhältnis zu früheren Jahrhunderten, bescheidenes Aufblühen auch in Europa festgestellt werden musste. Die wissenschaftlichen Studien der Lepra wurden immer reger, bis die gediegenen Arbeiten der norwegischen Lepraforscher Daniellssen und Boeck aus dem Jahre 1848 die Regsamkeit in einer Weise anspornten, dass bereits aus der Neuzeit allein heute eine Riesenlitteratur über die Lepra vorhanden ist, die die Erkenntnis des Leidens ganz erheblich gefördert hat.
Nun noch einiges über die zeitige geographische Verbrei- yoga. dor tung der Lepra, die weit grösser ist, als man gewöhnlich anzunehmen Lepra. pflegt. In Afrika ist zunächst Aegypten sowohl an der Seeküste wie an den Nilufern reich an Leprakranken. Ebenso die ganze Ostküste einschliesslich der Inseln Madagaskar u. s. w. Die Länder an der Südspitze enthalten alle, wenn auch nicht grade sehr viele Lepröse, während die Westküste fast ganz frei ist, nicht aber die an derselben gelegenen Inseln (Madeira u. s. w.) und die Nordküste. Zahlreiche Lepröse leben in Arabien, Syrien, Palästina, noch mehr in Persien und Turkestan, stets mit Bevorzugung der Küstenstrecken. In weit höherem Masse aber noch ist in Ostindien, besonders in Vorder- indien, heute wie in urdenklichen Zeiten, die Lepra heimisch, welche sich von hier aus auch auf die Insel Ceylon, die grossen und kleinen Sundainseln, Molucken etc. verbreitet hat.
Schwer ist es natürlich, den Grad der Ausbreitung der Lepra in China festzustellen. Zweifellos ist dieselbe aber eine sehr grosse, und zwar auch seit undenklicher Zeit. Grade die Chinesen sind auch diejenigen, welche nachweislich vielfach die Lepra nach andern Ländern und Erdteilen verschleppt haben. Wahrscheinlich ist in China auch die Quelle der Lepra für Japan zu suchen, wohin dieses Leiden erst spät im Mittelalter gelangt ist. Sie hat hier einen sehr ergiebigen Boden gefunden und ist heutzutage dort eine sehr ver- breitete Krankheit. — Mit Bestimmtheit sind Chinesen die Vermittler für eine sehr interessante, gut studierte Endemie auf den im stillen
6
Ocean gelegenen Hawaii- oder Sandwich-Inseln gewesen. Diese sind nachweislich erst im vierten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts durch Chinesen inficiert. Seitdem hat das Leiden dort eine so ungeheure Verbreitung gefunden, dass nach den Beobachtungen der dortigen Aerzte und Arning’s jetzt dort auf 33 Menschen 1 Lepréser kommt. Das dortige Leprosorium beherbergt allein über 1100 Lepröse, eine furchtbare Zahl, wenn man bedenkt, dass die Inseln im Ganzen 44 000 Einwohner haben.
Nur mässig verbreitet ist die Lepra in Australien, nur einzelne der zahlreichen Inseln sind stärker inficiert. — In Amerika finden wir Lepröse besonders in einer Reihe von Staaten Süd-Amerika’s und Mittel-Amerika’s, so in Brasilien, Venezuela, Westindien, wenn auch bis auf einzelne Ausnahmen nicht in sehr grosser Zahl. Die meisten Leprakranken enthält Mexico, während die Vereinigten Staaten nur sehr wenige beherbergen, die besonders aus China und aus Nor- wegen eingewandert sind und kleine Herde etabliert haben.
Auf dem Uebergange nach Europa ist noch ein bedeutender Lepraherd hervorzuheben, der in jüngster Zeit den Gegenstand eifriger Studien gebildet hat, derjenige in Island. Ehlers hat interessante Arbeiten über die dortige Lepra veröffentlicht. — England ist, wenn man von einigen eingewanderten Leprakranken absieht, frei von Lepra, was eigentlich auffallend ist, da ja ein ausserordentlich leb- hafter Verkehr mit den doch meistens durchseuchten Kolonieen besteht. Mehr Lepröse, als man bis vor kurzem annahm, scheint nach neueren Beobachtungen Frankreich zu beherbergen. Sie sind zum Teil im ganzen Lande, besonders im Süden, zerstreut, zu einem bei weitem grösseren Teil sind sie in Paris ansässig. Mässig ist die Zahl der Leprösen in Spanien und Portugal, wenn auch Lissabon ein Lepro- sorium besitzt, noch mässiger in Italien. Ein kleiner Herd in St. Remo hat viel Aufsehen gemacht, ist aber augenscheinlich im Er- löschen. In geringem Grade inficiert sind alle Mittelmeerinseln, Griechenland, Rumänien, Bulgarien, Oesterreich-Ungarn, in viel höherem das türkische Reich. Hier werden besonders Juden und Tür- ken Opfer der Lepra, während die christliche Bevölkerung fast frei ist. — Wenden wir uns nun dem Norden Europa’s wieder zu, so ist zu- nächt von grösster Bedeutung die Lepra in Norwegen, denn hier ist es, wo, wie erwähnt, die wissenschaftlichen Studien von Boeck, Hansen
7
der Neuzeit ausgegangen sind. Ihnen stand ein grosses Beobachtungs- material zur Verfiigung, da in Norwegen die Lepra noch sehr verbreitet ist, wenn sie auch in den letzten Jahrzehnten stark zuriick- geht. Auffallenderweise ist das benachbarte Schweden dagegen fast leprafrei; man zählt dort noch nicht 100 Leprése. — Kommen wir zu dem gewaltig grossen russischen Reich, so war bis vor wenigen Jahrzehnten dort nicht viel über die Lepra bekannt. Nur gerücht- weise verlautete, dass im asiatischen Russland zahllose Lepröse dahinsiechten. Die Nachrichten, die über den grausamen Zustand, in dem die armen Leprösen als ausgeschlossene Mitglieder der menschlichen Gesellschaft dort leben, in die Oeffentlichkeit drangen, bewogen eine Engländerin Kate Marsden zu dem kühnen Unter- nehmen, die Lebensverhältnisse der Aussätzigen an Ort und Stelle zu studieren. Mit unbeschreiblichem Opfermut führte sie es auch durch. Was sie dort an Elend und Jammer fand, spottet jeder Beschreibung. Seitdem hat man diesen Verstossenen bessere Fürsorge angedeihen lassen. Aber auch das europäische Russland enthält in sehr vielen seiner Gouvernements zahlreiche Leprakranke, wie sich mit den fortschreitenden diagnostischen Kenntnissen herausgestellt hat. Besonders inficiert sind der Süden Russland’s und die Ostsee- provinzen, die nun schon 5 Leprosorien besitzen. Hier ist wohl auch sicher die Quelle des Lepraherdes zu suchen, der vor wenigen Jahren in dem äussersten Nord-Osten Deutschland’s, im Kreise Memel, entdeckt wurde. Es ist über diesen soviel in letzter Zeit in der Fachlitteratur und in den Tagesblättern geschrieben worden, dass es übrig ist, hier näher auf diesen Herd einzugehen. Ist es auch an sich berechtigt, dass diese Entdeckung in ganz Deutschland viel Aufsehen und Aufmerksamkeit erregt hat, so kann ich doch nicht umhin zur Beruhigung allzu furchtsamer Gemüter hervor- zuheben, dass die Zahl der Leprösen im Memeler Kreise sichtlich im Riickgange begriffen ist und zur Zeit nur etwa zehn beträgt. Im übrigen Deutschland giebt es nirgends Lepraherde, wenn auch hier und da, besonders im Westen, Leprakranke auftauchen. Stets handelt es sich um Kranke, die sich lange in andern, mit Lepra inficierten Ländern aufgehalten und dort Lepra acquirirt haben, sei es dass sie dort oder erst hier zum Ausbruch kam resp. diagnosticiert wurde. Soweit von der gegenwärtigen geographischen Verbreitung der Lepra. Wenden wir uns nun zur
8
Pathologie der Lepra.
Pathologie der Lepra.
Die Polymorphie der Lepra, das klinisch die allerdifferentesten Krankheitsbilder darbietet, hat von jeher dazu gefiihrt, dass man mehrere Krankheitsformen der Lepra unterschied. Wir wollen, wie jetzt allgemein üblich, deren zwei getrennt betrachten, die Lepra tuberosa s. cutanea und die Lepra nervosa s. anaesthetica.
Die Lepra tuberosa s. cutanea (Knotenlepra) hat eine Incu- bationsdauer, die mindestens auf etliche Jahre veranschlagt wird. Bei der langen Dauer der Incubation und bei der Geringfügigkeit, die oft den initialen Symptomen eigen ist, ist es schwer, genaue Zahlen zu gewinnen. Jedes Lebensalter mit Ausnahme des frühen Kindesalters kann von der Lepra ergriffen werden; ob, wie einzelne berichten, auch lepröse Kinder im 1.—3. Lebensjahre gesehen worden sind, ist zweifelhaft. Bei der langen Incubationsdauer sind diese Angaben, selbst wenn schon eine hereditäre Infection angenommen werden sollte, nicht wahrscheinlich. —
Das Prodromalstadium, das Monate oder Jahre lang dauern kann, geht auch oft unbeachtet vorüber, da es keine besonders auf- fallende subjective oder objektive Beschwerden macht. In andern Fällen klagen die Patienten über Mattigkeit, Verdauungsstörungen, über zeitweilige unbestimmte Schmerzen, ein ausgesprochenes Kälte- gefühl. Bemerkenswerter sind schon Fieberattaquen von unbestimm- tem Typus und prodromale Flecken-Erytheme, die gleich den toxischen Symptomen bald wieder schwinden und keine Verwandtschaft mit der eigentlichen Hauteruption der Lepra tuberosa haben. Diese wird charakterisiert durch die Bildung von Knoten und Infiltraten von verschiedenster Grösse. Um die pathologische Identität der Haut- eruptionen zum Ausdruck zu bringen, spräche man eigentlich besser von knotigen und flachen Lepromen. Die knotigen Leprome bilden meist über die Umgebung erhabene, breitbasige, halbkuglige oder auch kegelförmige, zuweilen aber auch tief sitzende ziemlich derbe Tumoren, welche gewöhnlich von braunroter, glatter, zuweilen sogar glänzender, oft auch schuppender Haut überzogen sind. Sie sind weder spontan noch auf Druck empfindlich, nur besteht zuweilen im Beginne eine leichte Hyperästhesie der Haut, hin und wieder wohl auch etwas Jucken. Mitunter sieht man besonders an der Nase die Haut über den Knoten ein ekzematoides Aussehen annehmen; sie
Lepra tuberosa 5. cutanea.
9
násst und bildet Borken. Neben diesen knotigen, oberfláchlich ge- legenen Leprumen giebt es, wenn auch selten, auch tiefer gelegene, welche die Haut nicht empordrängen, mehr platt sind und erst mit der heriiberstreichenden Hand palpatorisch gefunden wer- den. Die flachen Leprome, die Infiltrate, stellen umschriebene meistens auch braunrote Verfärbungen der derben zuweilen etwas flach erhobenen Haut dar; zuweilen — an der Stirn — bilden sie längliche Wiilste. — Der Ausbruch dieser Bildungen kann ein so schleichender sein, dass der Patient wegen Mangels subjectiver Er- scheinungen zuweilen erst durch Zufall auf das Vorhandensein der- selben aufmerksam wird. In anderen Fällen aber gehen lebhafte Fiebererscheinungen mit starker Prostation der Eruption voraus. Das Gebiet, in dem dieselbe erscheint, zeigt oft vor derselben eine erysipelatoide Rötung. Die gleichen Allgemeinerscheinungen können auch jeden Nachschub begleiten. — Das Schicksal der Leprome ist ein sehr verschiedenes. Die Knoten vergrössern sich durch peripheres Wachstum sehr sehr langsam und können dann, wenn sie eine ge- wisse Grösse erreicht haben, selbst Jahre lang stationär bleiben. Sie nehmen dann an Consistenz zu; dabei wird ihre Färbung eine dunklere, schieferähnliche; die Hyperaesthesie geht allmählich in eine Anaesthesie über. Sie können aber auch jeder Zeit wieder resorbiert werden, nichts weiter als eine dunkelpigmentierte, etwas atrophische Haut zuriicklassend. Es kann diese Resorption ohne alle Allgemein- erscheinungen vor sich gehen, es kann aber auch dieselbe sich abspielen unter denselben Symptomen, unter welchen, wie eben ge- schildert, stürmische Eruptionen erfolgen. Es tritt lebhaftes Fieber, erysipelatoide Rötung einzelner Körperteile ein; sobald Fieber und Rötung nachgelassen, sind in dem Gebiete der letzteren die Knoten -abgeflacht, in lebhaftester Resorption begriffen. — Eine dritte Mög- lichkeit ist der ulceröse Zerfall der Knoten. Derselbe hängt aber immer ab von traumatischen Einflüssen, da das lepröse Gewebe an sich keine Neigung zu necrobiotischer Umwandlung besitzt. Man trifft deshalb lepröse Geschwüre besonders an exponierten Körperteilen, Händen, Unterschenkeln, Füssen, Nase, Lippen etc. —
Die leprösen Geschwüre, durch Erweichung und Zerfall der Knoten-Leprome entstanden, sind sehr indolent, zeigen scharfe, glatte, oft callöse Ränder, secernieren einen dünnen Biter und haben eine
Schicksal der Leprome.
10
re ee
ausserordentlich geringe Heilungstendenz. Bei schonender Behand- lung heilen sie allerdings schliesslich und hinterlassen anaesthetische Narben. —
Die Infiltrate, die oft den Boden fiir das Hervorspriessen der Knoten abgeben, sind auch stets von ausserordentlich langem Be- stande. Sie können sich durch peripheres Wachstum sehr ver- grössern, confluieren und grosse Hautflächen einnehmen. Aber auch sie sind im Laufe der Zeit der Resorption zugänglich und hinter- lassen eine atrophische, pigmentierte Haut. Geschwüriger Zerfall ist ihnen nicht eigen. `
Von grosser Bedeutung für die Erkennung der Lepra ist die me Localisation der Leprome. Können auch die ersten am Rumpfe oder an den Extremitäten auftreten, so ist doch der Lieblingssitz der- selben das Gesicht, wo sie sich fast stets in den frühesten Stadien etab- lieren. An der Stirn ordnen sie sich gewöhnlich parallel den Stirn- falten an, längliche Wülste bildend. Besonders springen die Augen- höhlenränder wulstartig hervor, während die Augenbrauen schwin- den. Man hat dieses Schwinden der Augenbrauen, ein sehr ins Auge fallendes Symptom, als pathognomonisch für Lepra hiu- gestellt. Das ist aber nur cum grano salis zu nehmen. Einerseits ist dieser Haarschwund gebunden an die lepröse Infiltration des margo suspraorbitalis, die aber in vereinzelten Fällen tuberöser Lepra selbst in vorgeschrittenen Stadien fehlen kann. Andererseits kommt es auch vor, dass kleinere Knoten den Boden der Augenbrauen durchsetzen, ohne dass eine Alopecie eintritt. — An der Nase sind es vornehmlich die Nasenflügel und die Nasenspitze, welche knotig durchsetzt werden. Die Nase erhält dadurch eine Gestalt, welche an ein bedeutend entwickeltes Rhinophyma erinnert. Die Wangen zeigen entweder einzelne Knoten, oder — und das ist häufiger — sie sind stark und derb infiltriert, erhalten ein polsterartiges Aussehen, während die Nasolabialfalten verstreichen. Ober- und Unterlippe sind oft knollig durchsetzt, dabei ektropioniert. Die Ohrmuscheln ver- lieren die muschelförmige Gestalt, erhalten ein unförmliches Aussehen, während die Ohrläppchen als kleine Tumoren herabhängen. Alle diese Veränderungen drücken dem Gesicht einen ganz charakteristischen Typus auf, welcher als pathognomonisch bezeichnet werden kann. Dasselbe, braunrot oder schiefrig verfärbt, erscheint gedunsen,
11
plump, ausdruckslos, starr, denn durch die leprösen Infiltrate ist die Bewegung der Gesichtsmuskeln in so hohem Masse beeinträchtigt, dass von einer Mimik kaum die Rede ist (Facies leontina). Es ist, wenn dazu noch ulceröse Prozesse vorhanden sind, ein schrecklicher Anblick. — Nächst dem Gesicht sind an der Körperoberfläche anı häufigsten er- griffen die Streckseiten der Extremitäten. Auch hier findet man isolierte Knoten und diffuse, starre Infiltrate. Da die Gelenkgegenden bevorzugt sind, ist die Bewegungsfähigkeit der Gelenke aus rein mecha- nischen Gründen oft sehr beeinträchtigt. Eine diffuse Schwellung und starke Verfärbung zeigt meistens der Unterschenkel. — Der Rumpf wird auch nicht von den Lepromen verschont, wie überhaupt wohl kein Körperteil gegen dieselben immun ist, vielleicht mit Aus- nahme der palma manus. Die früher vielfach aufgestellte Behauptung, dass das capillitium und die glans penis von Lepromen nicht ergriffen werden, ist durch neuere Beobachtungen widerlegt.
Wenden wir uns nun den sichtbaren Schleimhäuten zu, so finden wir dieselben in schwerster Weise von der Lepra heimgesucht. Im Munde schlagen die Leprome an Lippen, Zahnrand, besonders aber an Zunge und Gaumen mit Vorliebe ihren Sitz auf. Die Schleim- haut wird von leprösen Infiltraten durchsetzt, ist meist empor- gewölbt; dass hier leicht die Möglichkeit zu traumatischen Zerfall gegeben ist, leuchtet ohne weiteres ein. Selten sind Leprome an der hinteren Rachenwand, sehr häufig aber in allen Teilen des Larynx, wo besonders die Epiglottis eine unförmliche Gestalt be- kommen kann. Die Infiltrationen, die durch Zerfall derselben ent- stehenden Narbenbildungen rufen die bedeutendsten Formverän- derungen hervor. Ganz frei ist der Larynx bei einem irgend vor- geschrittenen Fall fast nie. — Die Nase zeigt besonders in ihrem vorderen Abschnitte sehr oft Leprome und lepröse Ulcerationen. Eine Zerstörung des Knorpels, ein entsprechendes Einsinken des Nasengerüstes ist nicht selten. — Die Symptome dieser Schleimhaut- leprome sind keine sehr bedeutenden, da dieselben alle sehr indolent sind. Sie sind nur insoweit von Bedeutung, als sie die Kau- bewegung, die Stimme und die Luftzufuhr beeinträchtigen. Eine normale Stimme hat der an Lepra tuberosa Leidende eigentlich nur in frühen Stadien; bei den meisten klingt sie eigentümlich belegt und rauh (vox rauca). Relativ oft ist die Atmung durch Formverände-
12
rungen des Larynx so beeinträchtigt, dass die Tracheotomie nötig wird, die allerdings prompt wirkt. Ich sah im Rigenser Leprosorium unter 65 Kranken 4 Tracheotomierte.
Eine sehr schwere Heimsuchung der Leprösen bedeutet das
Lepra des Auges. Ergriffensein des Auges, ein leider gar sehr häufiges Ereignis. Sehen wir ab von den Lidlepromen mit ihren Folgen, Anschwellung der Lider, Entropium, Trichiasis, Ectropium, so ist in der Conjunctiva bulbi selten etwas zu finden. Manche haben kleine, orangegelbe Flecke in derselben beobachtet, die aber nicht conjunctivale, sondern episklerale Infiltrate darstellen. Sehr oft und schwer ergriffen ist die Cornea, und zwar kann dieses in zwiefacher Weise der Fall sein. Entweder es entstehen glatte, fleckförmige Trübungen, die sich aus- breiten, confluieren und schliesslich zur Bildung eines undurchsichtigen Leukoms führen. Oder es bildet sich eine knotige Keratitis. Ausgehend von einer leprösen Episkleritis am Cornealrande wachsen Knoten hervor, die allmählich die ganze Cornea durchwuchern, sich oft von dieser auf Iris, processus ciliaris, Choroidea ausbreiten und mit oder ohne Verschwärung zu einer Phthisis bulbi führen. In beiden Fällen fehlen alle subjektiven Beschwerden und alle entzündlichen Erschei- nungen, in beiden Fällen ist das traurige Endergebnis völlige Er- blindung, da die Affektion stets beiderseitig auftritt. Ein sehr er- heblicher Teil aller Leprösen verfällt erbarmungslos diesem beklagens- werten Schicksal.
Bisher haben wir stets nur von den an der Körperoberfläche sich abspielenden Vorgängen bei der Lepra tuberosa gesprochen. Wie steht es nun mit den inneren Organen? Sehen wir von dem Eintreten regionärer Drüsenschwellungen, wie sie in Folge von cutaner Lepra gesehen werden, ab, so ist das Vorkommen einer
Viscerale Lepra.yjgceralen Lepra lang bestritten und steht auch heute noch nicht in seinen Einzelheiten fest. Der Grund hierfür ist einerseits zu suchen in der klinischen und anatomischen Aehnlichkeit lepröser und tuberkulöser Prozesse, eine Aehnlichkeit, die noch heutzutage trotz der Entdeckung der betreffenden Krankheitserreger eine genaue Abgrenzung beider Prozesse zu einer schwierigen, nicht immer lösbaren Aufgabe macht; andererseits in der feststehenden Thatsache, dass die Tuberkulose sich gerne zur Lepra hinzugesellt. Letzteres ist allerdings lange nicht so häufig, als man früher annahm, da es
13
doch wohl heute keinem Zweifel mehr unterliegt, dass die früher als tuberkulös angesehenen Prozesse Lepröser meistens nicht als solche, sondern wirklich lepröse angesehen werden müssen. Wir werden auf diese Frage bei der Besprechung der pathologischen Anatomie zurückkommen müssen, hier sei nur einiges Klinische hervorgehoben. Die hervortretendsten Symptome macht die Lungen- affektion Lepröser; dieselben decken sich im ganzen mit denjenigen der Phthisis pulmonum, sodass nicht näher darauf eingegangen zu werden braucht. Die Lungenerscheinungen gesellen sich erst in vorgeschrittenen Stadien hinzu und bilden oft die eigentliche Todes- ursache. — Vom Verdauungstractus ist nur zu erwähnen, dass Störungen der Defäcation, die auf Darmgeschwüre deuten, bei Leprösen auch beobachtet sind, wiederum aber nur bei vorgeschrit- tenem Leiden.
Die Milz findet man fast regelmässig, die Leber oft geschwollen; letztere kann aber auch wie bei Cirrhose verkleinert sein. Häufig ist Albuminurie vorhanden, die auf nephritische Affectionen deutet. Von Interesse ist die bei längerem Bestande des Leidens sich ein- stellende Impotenz, die auf Veränderungen des Hodens zurück- zuführen sind, deren Vorkommen ein fast regelmässiges ist.
Nun noch einige Worte über das Allgemeinbefinden. Relativ "ran an- genommen ist dasselbe auch bei sehr ausgebreiteter tuberöser Lepra ein sehr gutes. Die Kranken haben zuweilen unbestimmte Schmerzen in den Gliedern, fühlen sich zeitweilig sehr mitgenommen, bleiben aber im ganzen genommen viele Jahre ausserhalb des Bettes und sogar arbeitsfahig. Dieses gute Allgemeinbefinden wird nur gestört durch die oben erwähnten Fieberattaquen, die als Eruptions- fieber und Resorptionsfieber auftreten und die Kranken ungeheuer mitnehmen, niemals aber an sich den Tod herbeiführen. Ausserdem giebt es auch Fieberanfälle, die weder mit Eruption — wenigstens an Haut und Schleimhaut — noch mit Resorption etwas zu thun haben. Sie sind wohl der Ausdruck von Metastasierung in innere Organe. Der Tod tritt fast nur dann in Folge der Lepra tuberosa an sich ein, wenn Erscheinungen stark ausgeprägter, visceraler Lepra (Nieren, Lunge) vorhanden sind. Meistens sind es intercurrente Leiden, welche die mit der Zeit cachektisch gewordenen Kranken dahinraffen, nachdem sie 10, 15 und mehr Jahre von ihrer Lepra
14
gequält sind. Hinzufügen möchte ich nocb, dass psychische Störungen in Gestalt von Melancholie gesehen worden sind. Der Ausbruch der Manie bei einem hier beobachteten Falle ist kein irgendwie häufiges Vorkommnis.
en Die zweite Lepraform ist die Lepra nervosa s. anästhetica. Diese schafft ein Krankheitsbild, welches klinisch toto coelo von dem eben geschilderten verschieden sein kann, sodass es auf den ersten Blick kaum denkbar erscheint, dass wir es hier mit einer ätiologisch einheitlichen Krankheit zu thun haben. Und doch handelt es sich um dieselbe Noxe, um dieselben pathologischen Veränderungen, nur dass diese sich vornehmlich an anderen Organteilen abspielen, als diejenigen der Lepra tuberosa. Während diese vorzugsweise eine cutanea ist, d. h. die Haut in besonders hohem Masse ergreift, deponiert diese Form ihre pathologischen Producte vornehmlich in den Nerven, ohne allerdings — und das ist ein wichtiger Berührungs- punkt beider Formen — die Haut ganz zu schonen. Aus der folgenden Schilderung des Krankheitsbildes wird sich das leicht er- geben. Es handelt sich allgemein gesagt um eine multiple, lepröse Neuritis. Diese setzt pach vieljähriger Incubation langsam mit einer Reihe von Symptomen ein, welche man gewöhnlich als prodromale bezeichnet. Es scheint dieses nicht correct, da diese Symptome schon als directe Aeusserungen der Erkrankung bestimmter Nerven- stämme aufgefasst werden müssen. Es stellen sich zunächst inter- mittierende Schmerzen ein, welche einen lancinierenden Charakter haben, daneben Hyperästhesie mancher Hautbezirke, Parästhesien, wie Ameisenlaufen, Kribbeln etc. Diese Beschwerden kommen und vergehen, spielen sich vornehmlich im Gebiete einzelner Nerven ab, des Ulnaris, des Medianus, des Peroneus, des Facialis, die überhaupt Prädilectionssitze der Lepra sind, ohne dass aber die andern Nerven gegen die Lepra immun wären. Daneben bestehen vage Störungen des Allgemeinbefindens, wie dyspeptische Zustände, Schlaflosigkeit u. S. W. Im Laufe der Zeit stellt sich auch eine Druckempfindlichkeit der ergriffenen Nerven ein, die sich dann allmählich etwas ver- dicken. Diese Verdickung ist bald eine gleichmässige, bald mehr spindelförmige, oder auch eine knotige. Besonders an dem Ulnaris und Medianus tritt diese Veränderung deutlich hervor und ist leicht palpabel. Bei manchen Patienten stellt sich in diesem Initialstadium
15
zeitweise wie bei der Lepra tuberosa eine Fieberattaque ohne be- stimmten Typus mit starker Störung des Allgemeinbefindens ein.
Ganz schleichend entwickelt sich dann das charakteristische Krankheitsbild, indem einerseits die Folgeerscheinungen der Nerven- erkrankung hervortreten, andererseits besonders auf der Haut, sich mehr oder weniger unabhängig von den Nerven lepröse Ver- änderungen entwickeln. Betrachten wir dieselben an der Hand der verschiedenen Organe und beginnen wir mit dem Körperüberzug, mit der Haut, die hier wie bei Lepra tuberosa wieder sehr charakteristische Erscheinungen zeigt. Eine Hauptgruppe derselben ist sicher zurückzuführen auf die Neuritis. Es sind dieses zunächst Sensibilitätsanomalien. Die oben erwähnte, meist symmetrische Hyperisthesie, wie die mannigfachen Parästhesien schwinden, statt dessen stellt sich eine Hypästhesie ein, die schliesslich in Anästhesie übergeht. Diese erstreckt sich nicht immer, ja nicht einmal häufig auf alle Gefühlsqualitäten. Verhältnissmässig lange bleibt die Empfindung für tactile Reize erhalten. Die Kranken fühlen die feinsten Nadelstiche als Berührung, aber ohne Schmerz- empfindung, d. h. es besteht Hyp- resp. Analgesie. Parallel der Schmerzemptindlichkeit pflegt die Temperaturempfindlichkeit abzu- nehmen, sodass heiss und kalt nicht unterschieden, als differente Reize empfunden werden. Der Kranke kann sich eine ausgedehnte Brandwunde zuziehen, ohne es zu merken, ein nicht seltenes Vor- kommnis. Dieses Missverhiltnis in der Abnahme der verschiede- nen Gefühlsqualitäten bezeichnet man als dissociirte Sensibili- tatsstérung. Wir begegnen derselben bekanntlich bei dem als Syringomyelie bezeichneten Symptomencomplex. Bei der Erörterung der Diagnose werden wir auf die daraus erwachsenden diagnostischen Schwierigkeiten zurückkommen müssen. Neben dieser Sensibilitäts- störung begegnet man oft noch einer Verlangsamung der Leitung, d. h. ein äusserer Reiz braucht längere Zeit als in der Norm, um zur Perception zu gelangen. — Von Wichtigkeit ist die Lo- calisation der Sensibilitätsstörungen und ihre Ausbreitung. Die- selben sind zum Teil gebunden an die gleich zu beschreibenden Flecken, zum Teil sind sie ganz regellos, ohne sich scharf an die Gebiete der erkrankten Nerven zu halten. Sie spotten aller anatomischen Grenzen der einzelnen Nervengebiete, ergreifen regel-
Hautverände- rungen.
Sensibilitäts- störungen.
16
los kleinere und grössere Teile der Körperoberfläche, ohne dass an diesen Teilen andere Erscheinungen einer gestörten Innervation vorhanden wären. Beispielsweise finden wir an den Armen oft ausgesprochene trophische Störung im Gebiete des Ulnaris, und nur des Ulnaris, die Sensibilitätsanomalie aber greift weit über dieses Gebiet hinaus auf weite Strecken des Armes und zeigt dabei eine ganz un-anatomische (sit venia verbo!) Begrenzung, schliesst gar mit einem quer zum Lángsdurchmesser des Armes verlaufenden Kreise ab, sodass peripher von diesem Anästhesie, central normale Sensibilität besteht. Es giebt eigentlich nur ein Leiden, das eine ähnliche irreguläre Verteilung von Sensibilitätsstörungen bietet, das ist die Hysterie, bei der bekanntlich alles möglich ist. Es ist auch diese Eigenschaft der Hautsensibilität von Wichtigkeit für die Abgrenzung der Lepra von Erkrankungen des Centralnervensystems.
An die Sensibilitätsstörungen der Haut schliessen sich dann solche vasomotorischen Ursprungs, lepröse Angioneurosen. Es werden als solche zunächst Blasenausbrüche aufgefasst, welche in frühen Stadien, oft unter Fiebererscheinungen am ganzen Körper auftreten, der sogenannte Pemphigus leprosus. Es sind schlappe, grosse Blasen, ähnlich wie beim Pemphigus vulgaris. Dieselben trocknen gewöhnlich ein, es bilden sich Borken, unter denen die Haut excoriirt ist. An manchen Stellen, wo die Läsion tiefer geht, oder wo traumatische Einflüsse, wie kratzende Finger- nägel, hinzukommen, können Narben aus den Blasen resultieren. Andere angioneurotische Hautefflorescenzen sind erythematische Flecke und Ringe, welche hervortreten und nach kürzerem oder längerem Bestande gewöhnlich spurlos verschwinden. Unna bezeichnet diese Erytheme als angioneurotische Lepride. Daneben unterscheidet er — das sei hier eingeschaltet — noch papulöse, kleinknotige Lepride, die er scharf abgrenzt von den eigentlichen Lepromen der Lepra tuberosa, da ihnen kein lepröses Gewebe, sondern nur Embo- lieen von Leprabacillen in angioneurotischen Lepriden zu Grunde liegen. Die Berechtigung der Abgrenzung dieser Neurolepride von den Lepromen ist noch angefochten. —
Neben diesen Erythemen, Papeln und Blasen finden wir bei re der Lepra nervosa aber noch als die wichtigste anatomische Ver-
Haunt, änderung der Haut die leprösen Flecken (maculae), deren Er-
Angeoneurosen der Haut.
17
ee ee
scheinen fast als pathognomonisch bezeichnet werden muss. Es stellen sich diese in ganz verschiedenen Gestaltungen dar. Da sieht man kleinere oder grössere braunrote Flecken, wenig oder gar nicht erhaben, mit einem spurweise wallartigen Rand, mit glatter oder schuppender Haut. Andere Flecken zeigen nur einen schmalen bräunlichroten Rand, während das Centrum abnorm stark pigmentiert oder auch umgekehrt ganz pigmentfrei, auffallend weiss und atrophisch, narbenähnlich, etwas eingesunken erscheint. Andere wiederum lassen den bräunlichroten Rand vermissen, haben nur einen Pigmentsaum, eine dunkle pigmentierte Umgebung oder heben sich überhaupt nur gleich der Leucopathie durch ihre auffallend weisse Beschaffenheit, ihr etwas atrophisches Aussehen, oft sogar nur sehr wenig ab. Dieses gilt übrigens von weissen Rassen ; bei den schwarzen sind die Unter- schiede schärfer, da dort die Abnahme des Pigments sich viel deut- licher documentiert. — Haben wir schon hierdurch ein sehr buntes und verschieden gestaltetes Bild, so kommt noch hinzu, dass die Flecken bei ihrem peripheren Wachstum confluieren können und so landkartenähnliche Bilder hervorrufen, die sich über grosse Haut- gebiete, z. B. über den ganzen Rücken erstrecken können. Alle gefleckten Stellen zeigen Hyp- oder Anaesthesie. Die Zahl der Flecken, die Zeit ihres Auftretens, ihre Entwicklungsdauer ist ausser- ordentlich verschieden. Es kann ein einzelner Fleck jahrelang be- stehen, ohne sich auszubreiten oder wesentlich zu verändern, es können zahlreiche Flecken sich schnell entwickeln, bevor die anderen Erscheinungen hervorgetreten. Letztere Fälle hat man vielfach als besondere Lepraformen betrachtet, als Lepra maculosa bezeichnet, was aber wohl kaum berechtigt ist, da meistens andere Erscheinungen der Lepra nervosa vorhanden sind resp. mit der Zeit sich einstellen. Den Sitz der Flecken kann jede Körperstelle bilden, Gesicht, Rumpf und Extremitäten. Die Behauptung, dass in der planta pedis und palma manus keine Flecken vorkommen, ist unrichtig. Ich habe an diesen Stellen Flecken bei einem Kranken des Rigenser Leprosoriums gesehen. Im allgemeinen scheinen aber die stärker secernierenden Hautstellen (Achselhöhle, Gelenkbeugen) weniger häufig afficiert. Die Anschauungen über die Natur dieser maculae leprosae haben sehr gewechselt. Früher sah man sie alle als Folgezustände
der Neuritis an, d. h. man betrachtete sie als angioneurotische oder 9
de
18
trophische Stérungen, die durch die Nervenanomalie erst hervorgerufen werden. Das ist für die meisten Fälle sicher unrichtig. Genauere Untersuchungen haben gelehrt, dass meistens flache, lepröse In- filtrationen vorliegen, die nicht die Folge, sondern der Ausgangspunkt der Neuritis sind. Indem diese unbedeutende Infiltration die peri- pherischen Nervenendigungen ergreift, geht die Erkrankung in den Nerven ascendierend vorwärts, bis sie die grossen Stämme schliesslich afficiert. Die verschiedenen klinischen Bilder, die wir haben, sind nur verschiedene Grade und verschiedene Stadien des unbedeutend leprösen Infiltrationsprocesses, welcher central zum Pigmentschwund und zur Atrophie führt, die wiederum allmählich centrifugal fort- schreitend, auf die ganze ergriffene Hautstelle sich erstreckt. Dieses ist jedenfslls der pathologische Vorgang, der bei den weitaus meisten Fällen zu Grunde liegt. Ob daneben noch die einfachen Leuko- pathieen secundär nach Erkrankung der Nerven als trophische Anomalieen entstehen, sei dahingestellt.
Dass solche trophischen Störungen der Haut vorkommen, lehrt die oft eintretende Alopecie im Gebiete der Sensibilitätsstörungen, die beob- achtete diffuse Atrophie der Haut in Gestalt der „Glossy skin“, die Anomalien der Nägel, die zuweilen gesehen werden, wobei die Nägel glanzlos, rissig, uneben werden und abbröckeln, vor allem aber auch die tiefgehenden Zerstörungen derjenigen Form der Lepra nervosa, die man als Lepra mutilans bezeichnet. Wir kommen auf dieselbe bei der Besprechung der Knochen- und Gelenkerkrankungen zurück. —
Bevor wir die Haut verlassen, sei noch erwähnt, dass dieselbe besonders an Unterarmen, Händen, Unterschenkel und Füssen auch ohne Fleckenbildung ein atrophisches Aussehen erhält, stark pigmen- tiert ist und eine fast regelmässige Herabsetzung der Schweiss- secretion erkennen lässt. Die Haut fühlt sich meistens sehr trocken an. Bedingt ist dieselbe wohl nicht durch Zerstörung der schweiss- erregenden Nervenfasern, sondern durch Atrophie der Schweiss- drüsen selbst. —
Veränderungen Kommen wir nun zur Besprechung der sehr wichtigen des motorische oe a e spparates, Schädigungen, welche der motorische Apparat bei der Lepra nervosa
erleidet. Sehr frühzeitig merken oft die Kranken eine Schwäche in den Extremitäten, besonders in den oberen. Die motorische Kraft hat zweifellos abgenommen. Es handelt sich dabei aber nicht um
19
er nn nn
eine eigentliche Parese resp. Paralyse, sondern um eine Atrophie des Muskels und dadurch abnehmende Muskelkraft, wie wir es in ähnlicher Weise bei aus anderen Gründen eintretenden trophischen Muskelstörungen, z. B. der central bedingten progressiven Muskel- atrophie finden. Es ist die Abnahme der Kraft stets proportional der Atrophie, eine vollkommene Lähmung tritt erst ein, wenn die Muskelsubstanz vollkommen geschwunden. Es ist das eine hervor- hebenswerte Eigenschaft der leprösen Neuritis, dass sie eine Auswahl unter den Fasern in demselben Nerven trifft. Während sie die trophischen, sensiblen und secretorischen Fasern bald afficiert, die vasomotorischen oft sehr alteriert, schont sie die motorischen bis in die spätesten Stadien hinein. Eine weitere Eigentümlichkeit ist auch hier, wie bei den sensibeln Störungen zu verzeichnen, es ist die Auslese, welche das lepröse Virus unter den Nerven und dem- entsprechend unter den von ihnen versorgten Muskeln trifft. Be- sonders betroffen sind stets die Muskelgebiete des Ulnaris, des Medianus, des Intercostohumeralis, Musculocutaneus, Peroneus, Facialis. Dementsprechend sehen wir am häufigsten an den Händen die M. interossei schwinden, Thenar und Hypothenar sich abflachen, die Exsensoren an Umfang abnchmen, ein sehr charakteristisches Bild. Mit der Zeit überwiegen dann die Antagonisten, sio geraten in Con- tractur und es bildet sich die typische Krallenstellung aus, Dorsalflexion der ersten Phalangen mit Volarflexion der andern. Der Deltoideus flacht sich ab, so dass der Arm nur schlecht gehoben werden kann. Die Streckung des Unterschenkels wird erschwert, da der Quadriceps femoris atrophiert; die Wade nimmt an Umfang ab. Der Gang wird dadurch ein schleppender mit schleifender Fussspitze, zu völliger Unfähigkeit zum Gehen kommt es aber selten. — Typische Verände- rungen sehen wir im Gesichte durch die beiderseitige Atrophie des Facialis, denn diese Muskelatrophieen treten meistens symmetrisch auf. Wir haben gesehen, dass die Facies leontina bei der Lepra tuberosa etwas durchaus Charakteristisches hatte; dieses gedunsene, knotige, plumpe Gesicht ohne jeden Ausdruck, weil ohne jede Mimik. Auch bei der Lepra nervosa leidet letztere in hervorragender Weise. Während aber bei der Lepra nervosa das Spiel der Gesichtsmuskeln versagte unter dem mechanischen Einflusse der verdickten, infiltrierten, starren Haut, bleibt dasselbe bei der Lepra nervosa aus in Folge der
Ox ra
Knochen- affoctionen.
20
motorischen Schwäche der atrophischen Gesichtsmuskeln. Das Bild ist eine Abschwächung desjenigen, welches wir bei beiderseitiger, peri- pherer Facialislahmung sehen. Die meistens dünnen, mageren Wangen sind schlaff, die Mundwinkel hängen herab, die Nasolabialfalten sind verstrichen, Unterlippe und das untere Augenlid sinken herunter, letzteres ist oft ganz ectropioniert, was traumatische Cornealgesclwüre zuweilen zur Folge hat. Das Gesicht erhält dadurch einen apathischen, geistlosen, tieftraurigen Ausdruck. Nur bei besonderen Anregungen beleben sich die Gesichtszüge etwas, da doch immer noch ein Teil Bewegungsfähigkeit in den atropbischen Muskeln zurückgeblieben ist, um aber bald wieder in den früheren, stumpfen Gesichtsausdruck zu verfallen. Dieser Gesichtstypus ist für die Diagnose von Bedeutung, zumal noch oft die geschilderten Flecken dem Gesicht einen weiteren Stempel aufdrücken. — Betreffs der electrischen Erregbarkeit der Muskeln will ich nur noch hinzufügen, dass bisher meines Wissens das Verhalten derselben noch keiner gründlichen Untersuchung unterzogen ist.
Weitere Folgezustände der menschlichen Affection machen sich an den Knochen geltend, aber nur an den Mittelhandknochen und Mittelfussknochen, sowie an den Phalangen der Hände und Füsse. Hier tritt eine trophische Veränderung ein, welche zur Verdünnung, zum Schwunde der Knochen wird; ohne jede Entzündungserscheinung, ohne jeden Schmerz werden die Knochen allmählich resorbiert.
Viel grössere Verwüstungen an den Knochen richtet ein anderer Vorgang an, das Auftreten von ulcerösen Zerstörungen, welche in der Haut, besonders in den Gelenkgegenden von Fingern und Zehen beginnen. Im Gegensatz zu den Geschwüren, die aus den Knoten der Lepra tuberosa hervorgehen, handelt es sich hier um einen rein trophischen Zerfall der Haut. Es bilden sich Ulcerationen sehr indolenter Natur, die immer tiefer dringen, bis zum Knochen gelangen, die Gelenke anfressen und zerstören, bis schliesslich das betreffende vor dem Gelenke gelegene Glied -— meistens handelt es sich um Phalangen — einfach abfällt. Das ganze geht ganz schleichend von statten ohne Störung des Gesamtbefindens. Das Resultat ist schliesslich, dass an Fingern und Zehen einige Phalangen ganz verloren gehen und die Hände resp. Füsse dadurch eine sehr bedeutende Vestümmelung erleiden, was übrigens die Gebrauchsfähigkeit der Gliedmassen relativ
21
in nicht sehr hohem Masse beeinträchtigt. Ähnliche tieffressende Geschwiire sieht man oft in der Fusssohle, ohne dass es aber hier gleich zu Mutilationen kommt. Diese Plantargeschwüre (Ulcus perforans pedis) sind auch der Heilung fast uuzugánglich. Man bezeichnet diese Gestaltung des Krankheitsbildes als Lepra mutilans Pm mutilans. und sieht die ulzerösen Zerstörungen meistens wie erwähnt, als neurogene, trophische an. Ich will aber nicht unerwähnt lassen, dass manche Autoren die trophische Natur dieser Zerstörungen leugnen, dieselben vielmehr auf traumatischeEinflüsse bei anästhetischer Haut zurückführen, ein Erklärungsversuch, der ja auch, wohl mit Unrecht, für andere trophische Mortificationen, z. B. Decubitus centus, in’s Feld geführt wird. — Neben diesen Mutilationen giebt es aber auch Sequestrationen von Knochenstiicken, die unter dem Bilde einer Osteomyelitis verlaufen. Ein Fingerglied schwillt an, allmählich tritt Erweichung, Perforation und Abstossung necrotischer Knochenstücke ein, was übrigens auch bei der Lepra tuberosa vorkommt.
An den Gelenken sind Schwellungen beobachtet, die sehr an Tuberculose erinnern; ob wirklich eine solche vorlag, ist unentschieden. Einzelne Autoren wollen ferner an den Gelenken auch Veränderungen gesehen haben, wie man sie bei der Tabes und Syringomyelie findet, d. h. ein gleichzeitiges Abspielen von atrophischen und hyper- trophischen Vorgängen. Während auf der einen Seite die Gelenk- knorpel und dann der darunter liegende Knochen usuriert wird, treten auf der anderen Seite Knochenwucherungen ein, welche eine Verdickung der Gelenke bewirken. Es ist zweifelhaft, ob da nicht eine Verwechselung mit Syringomyelie vorliegt, die, wie später er- örtert werden soll, nicht unmöglich ist.
Fassen wir nochmals kurz die Symptome der Lepra nervosa zusammen, so sind es etwa folgende: Beginn mit lancinierenden Schmerzen, Hyperästhesie der Haut, Verdickung und Schmerzhaftig- keit der Nerven. In der Haut entwickeln sich dann die geschilderten Flecke, lepröse Infiltrate, die allmäblich sich in hyperpigmentierte oder pigmentlose, atrophische, anästhetische Hautstellen verwandeln. Gleich- zeitig geht die Hyperästhesie über in eine Anästhesie, die meistens lange Zeit den Charakter einer dissociierten Sensibilitätsstörung be- wahrt, vornehmlich in bestimmten Nervengebieten sich abspielt, ohne aber sich an die von ihnen versorgten Hautgebiete zu binden. Die
Lepra mixta.
Leprabacillus,
22
Schweisssecretion nimmt ab. Das weitere Krankheitsbild wird dann beherrscht von den Muskelatrophien, der durch dieselben bedingten motorischen Schwäche und den Formveränderungen besonders im Ge- biete einzelner Extremitätennerven und des Facialis. Dazu können dann die mutilierenden Verstümmelungen, die ulcerativen Processe (Ulcus perforans), die Neurosen, Knochen- und Gelenkveränderungen treten.
Das ist ein Krankheitsbild, welches klinisch zweifellos sich von demjenigen der Lepra tuberosa toto coelo unterscheidet. Wenn dennoch auch die klinischen Beobachter die pathologische Identität beider Lepraformen von jeher erkannt haben, lange bevor die ätiologische und histologische Einheit erforscht war, so liegt das vornehmlich daran, dass die beiden Formen gar oft in einander übergehen und eine Lepra mixta zu den häufigsten Vorkommnisser zählt. Fälle von Lepra tuberosa, die lange genug beobachtet werden, zeigen früher oder später fast stets einige oder viele Folgeerscheinungen einer leprösen Nervendegeneration. Bei Fällen von Lepra nervosa sieht man im Laufe der Jahre sehr oft, zumal auf dem Boden der Flecke Knoten hervorspriessen, was ja im Grunde sehr begreiflich ist, wenn man in den Flecken lepröse Infiltrate sieht, die ja nur graduell sich von den Knoten unterscheiden. Die viscerale Lepra kann bei der Lepra nervosa sich entwickeln, ebenso wie bei der cutanen Form. — In den Leprosorien gebören Fälle von Lepra mixta nichts weniger als zu den Seltenheiten.
Aetiologie der Lepra.
Es wird wohl jetzt nur von Wenigen noch bezweifelt, dass in dem von Hansen 1871 entdecktem, von Neisser, Unna und andern eifrigst studiertem Bacillus der microbiäre Erreger gefunden ist. Allerdings sind einige Bedingungen, die man an die feste ätiologische Zusammengehórigkeit zwischen einem Microorganismus und einer Krankheit vom streng wissenschaftlichen Standpunkte aus stellen muss, durchaus nicht erfüllt. Es fehlt noch die gelungene Kultur, es fehlt deshalb auch die erfolgreiche Impfung mit dieser. Dennoch dürfte in Analogie mit anderen Infectionskrankheiten das regel- mässige Vorkommen des Bacillus in den Lepraheerden bei allen Formen und in allen Ländern in diesem Falle genügen, um seine Specificität zu beweisen, wenn auch deshalb das Bestreben, die Be- weiskette zu schliessen keineswegs als entbehrlich hingestellt werden
23
soll. Morphologisch ähnelt der Leprabacillus sehr dem Tuberkelbacillus; es sind kleine 4—6 u lange Stäbchen, die sich nicht immer gleich- mässig färben, sodass sie oft an einer oder mehreren Stellen unter- brochen erscheinen. Wie diese Unterbrechungen aufzufassen sind, darüber gehen die Ansichten sehr auseinander. Während Neisser in den ungefärbten Stellen den Ausdruck einer Sporenbildung sieht, glaubt Hansen, dass es sich um Körner in dem Bacillus handelt, die die Folge eines Zerfalls desselben sind. Andere Autoren wieder erklären diese ganze Formation als ein Kunstprodukt, als eine Folge der eingreifenden präparatorischen Massnahmen. Einen ganz abweichenden Standpunkt nimmt Unna ein, der dieses körnige Aussehen als das normale betrachtet und dieses körnige Stäbchen für einen Faden an einander gereihter Coccen erklärt, den Cerco- thrix Leprae. Wer Recht hat, möge die Zukunft entscheiden. Bemerkt sei nur, dass nicht bei allen Tinctionsmethoden diese Forma- tionen in gleicher Weise deutlich hervortreten. Besonders sind die- jenigen, welche mit einer Jodbehandlung verbunden sind, hierzu geeignet. Es tritt übrigens auch bei derselben Färbung nicht bei allen Bacillen die Körnung in gleicher Weise hervor.
In Bezug auf die Färbung besteht leider auch eine grosse Analogie mit den Tuberkelbacillen. Ich sage „leider“, weil durch diesen Umstand die Schwierigkeit der Unterscheidung der leprösen Veränderungen von tuberculösen, die besonders bei visceraler Lepra in Hinsicht auf die Complication der Lepra mit der Tuberculose sehr schwierig ist, oft geradezu zu einer Unmöglichkeit werden kann. Man färbt gewöhnlich die Leprabacillen wie die Tuberkel- bacillen mit Carbolfuchsin, Entfärbung durch Salpetersäure und Nach- färbung mit Methylenblau, wobei die Leprabacillen schön roth gefärbt werden. Ein schönes Bild giebt die Doppelfärbung mittels Hämatoxylin und Carbolfuchsin; Entfärbung durch salzsaures Anilin. Jedoch genügt bei den Leprabacillen zum Unterschiede von Tuberkelbacillen auch einfache wässrige Fuchsinlósung an Stelle des Carbolfuchsins. Man hat sich vielfach bemüht Differentialfärbungen gegenüber den Tuberkel- bacillen zu finden, aber diese Bemühungen waren niemals von vollen Erfolge gekrönt. Man hat ja Differenzen gefunden, es handelt sich aber stets mehr um graduelle, als um principielle Unterschiede. Näher auf diese einzugehen, würde hier zu weit führen. Wo man im Zweifel
24
ist, wo nicht die Massenhaftigkeit der Leprabacillen, ihre noch zu er- örternde Anordnung eine endgültige Entscheidung fällen lassen, da bleibt nur übrig zur Cultur und zur Impfung zu greifen, denn in diesen beiden Punkten ist der Unterschied ein radicaler. Wie bereits erwähnt ist es trotz der Benutzung der allerverschiedensten Nährböden noch niemand in einwandsfreier Weise gelungen Lepra- bacillen zu züchten. Die Nährböden bleiben nach den Ergebnissen der zahllosen bisherigen Versuche, sofern nicht Verunreinigungen vorhanden sind, steril. Man hat viel nach der Ursache dieser negativen Culturversuche geforscht, ohne sie bisher zu finden. Es könnte ja dieselbe eine doppelte sein. Erstens könnte man noch immer nicht den adäquaten Nährboden gefunden haben, wie ihn die Lebensbedingungen der Leprabacillen verlangen. Zweitens könnten aber letztere in den leprösen Gebilden schon im abgestorbenen Zustande vorhanden sein, wofür manches zu sprechen scheint. — Ebensowenig erfolgreich sind bisher Tierimpfungen gewesen, — von Menschenimpfungen sprechen wir später bei der Erörterung der Contagiosität. Von sich reden gemacht haben die Experimente von Melchers und Ortmann, die durch Ueberimpfung von leprösem Material auf das Kaninchenauge Leprome in demselben erzeugt haben wollten. Aber auch diese Experimente werden von den gewiegtesten Lepraforschern nicht als vollgültig anerkannt. Es scheint, als ob hier eine Verwechslung mit Tuberculose oder einer andern Tierkrankheit vor- gelegen hat. Es werden wohl die Tiere gegen die Lepra ebenso immun sein, wie gegen die Syphilis. In diesem negativen Verhalten der Leprabacillen gegen Kultur und Tierimpfung sind entscheidende Unterschiede gegenüber den Tuberkelbacillen gegeben. Jedoch lässt auch diese Differenz bei positivem Ergebnis oft noch Zweifel auf- kommen, da Tuberkelbacillen gleichzeitig mit Leprabacillen vor- handen sein können; der Nachweis der ersteren lässt die letzteren nicht endgültig ausschliessen.
Auf die Verbreitung der Leprabacillen in den verschiedenen Organen und in den Lepraprodukten, sowie auf ibre anatomische Anordnung will ich bei der pathologischen Anatomie erst näher ein- gehen. Hier will ich nur noch erwähnen, dass ihr Nachweis bei der Lepra tuberosa besonders leicht ist. Es genügt gewöhnlich, einen Knoten anzustechen, um in dem erhaltenen Blutstropfen Leprabacillen
25
in grosser Zahl zu finden. In dem Blute des Blutkreislaufs sind sie seltener zu finden, eigentlich nur zur Zeit acuter Fieberattaquen, in denen eine Disseminierung und Metastasierung der Bacillen statt- findet. — Auffallend ist auch der Befund zahlreicher Bacillen im Nasenschleim, in Fällen, bei denen die Schleimhaut keine leprösen Anomalien entdecken lässt. In Geschwürssekreten sind die Bacillen gewöhnlich leicht nachweisbar, ebenso in dem Inhalte von Blasen. Nach Auflegen eines Vesicans gelingt es oft, Bacillen in der ex- sudierten Flüssigkeit zu finden.
Mit der Entdeckung der Leprabacillen waren all die zahllosen Theorien, die man früher über die Entstehungsursachen der Lepra aufgestellt hat, natürlich hinfällig geworden. Dennoch darf man sie nicht für bedeutungslos erklären, da es ja möglich ist, dass be- stimmte Momente, wenn sie auch nicht die Lepra hervorrufen, doch den Leprabacillen die Wege ebnen, d. h. die Prädisposition für die Lepra schaffen. Es sind da besonders drei Gruppen von Autoren zu unterscheiden, die eine, welche in klimatischen und Bodenver- hältnissen, die andere, welche in ungünstigen hygienischen Zuständen, die dritte, welche in einer bestimmten Ernährungsweise die Lepra- ursache suchten. Die erste Gruppe ist damit schnell abgethan, dass Lepraherde in den verschiedensten Klimaten, bei den verschiedensten Bodenverhältnissen gefunden werden, ohne dass man eine gemeinsame Noxe in dieser Richtung entdecken konnte. Was den Einfluss schlechter hygienischer Zustände, schlechter Wohnungen, schmutziger Lebensweise etc. betrifft, so ist derselbe nicht zu leugnen, da die Lepra vornehmlich eine Krankheit armer Leute, armer Volksstámme ist. Aber nur vornehmlich, denn wie sie nach den historischen Ueberlieferungen in Frankreich früher sogar Lepro- sorien für Adlige und Hofleute hatten, die doch gerade nicht zu den Armen zu zählen pflegen, so kommen auch heute Erkrankungen wohlhabender Patienten vor, sie sind aber doch bei weitem in der Minorität. Meistens sind es in Armut und Elend dahinlebende Menschen, die leprös werden. Weniger Halt haben die Nahrungs- theorieen insofern, als dieses oder jenes Nahrungsmittel als lepra- erzeugend beschuldigt wurde. Hervorheben will ich hier nur die Theorie, dass die Lepra erzeugt wird durch überreichen Genuss von Fischen, besonders von gesalzenen und längere Zeit aufbewahrten.
Lepra tuberosa.
26
Diese Theorie wird heute noch von Hutchinson und einigen andern mit Energie verteidigt. Dennoch scheint sie falsch zu sein. Richtig ist ja, dass hauptsächlich Küstenbewohner an Lepra erkranken, die ja meistens von Fischen leben, aber man hat auch Lepra bei Volks- stammen gefunden, die weit vom Meere entfernt abwohnen und überhaupt Fische als Nahrungsmittel gar nicht oder in keineswegs nennenswerter Weise gebrauchen. Andererseits giebt es Küsten- strecken genug, in denen die Einwohner trotz reichlicher, ja fast aus- schliesslicher Fischnahrung frei von Lepra geblieben sind, dieselbe
‘gar nicht kennen. Mit der Beschuldigung anderer Nahrungsmittel
steht es noch schlechter; man kann sie unerörtert lassen. Nur soviel wird man wohl anerkennen, dass die Ernährung in soweit ein prädis- ponierendes Moment ist, als sie eine ungenügende und unpassende ist.
Erwähnt sei noch, dass manche als Ueberträger der Lepra bestimmte Insecten bezeichnet haben, andere wieder annehmen, dass das bacterielle Agens eines Zwischenwirts bedarf, um toxisch zu werden, d. h. erst einen Tierleib passiert haben muss, wie man es von Eingeweideparasiten genau kennt.
Es bliebe nur noch übrig an dieser Stelle über die sehr wichtigen Fragen der Heredität und Curtagiosität der Lepra zu sprechen. Aus praktischen Gründen sollen diese Punkte aber erst bei der Erörterung der Prophylaxe ihre Erledigung finden.
Pathologische Anatomie.
Die lepröse Neubildung ist ein sehr resistentes, wenig zu re- gressiven Metamorphosen neigendes, gut vascularisiertes Granulations- gewebe. In diesem Granulom fallen nun besonders grosse Ge- bilde auf, teils rund, teils von abenteuerlicher Form mit Fortsätzen mannigfacher Gestalt, die im Innern zuweilen einen hellen, kern- artigen, aber schwer oder gar nicht tingibeln Körper enthalten und aus Massen von Bacillen bestehen. Ueber die Auffassung dieser Gebilde ist ein heftiger wissenschaftlicher Streit entbrannt. Virchow, der zuerst das lepröse Gewebe einer gründlichen anatomischen Unter- suchung unterzog, als die Bacillen noch nicht bekannt waren, be- zeichnete diese Gebilde als „Leprazellen“. Neisser, der sie „globi“ nannte, fasst sie in gleicher Weise als Zellen auf, deren Protoplasma ersetzt ist durch Bacillen, die ausschliesslich oder fast ausschliesslich intracellulär gelegen sind. Diese Bacillen aber be-
finden sich nach ihm meist in einem Stadium der Degeneration, sie bilden eine Zoogloeamasse, welche das Protoplasma ersetzt. — Charakteristisch fiir diese Leprazellen ist nach Neisser eine ,,Vacuo- lisation“, ebenso charakteristisch wie die Verkäsung bei Tuberculose oder die Coagulationsnecrose bei anderen Granulomen. —
Ganz anders fassen Unna und Leloir die Sachlage auf:
Diese nehmen an, dass die genannten Gebilde durchaus nichts mit Zellen zu thun haben. Die mächtig wuchernden Leprabacillen sitzen vielmehr in den Saftspalten der Haut, in den Lymphbahnen. Hier degenerieren, „verschleimen“ sie, blähen sich mächtig auf und drängen die zelligen Elemente des Granulationsgewebes immer mehr zurück. Was sich als „Leprazellen“ im Schnitte darstellt, sind nur Durchschnitte von mit Bacillen und Bacillenschleim erfüllten Saft- kanälchen. Die sogenannten „Vacuolen“ sind vorgetäuscht durch central verschleimte Teile in denselben. Die nicht färbbaren, als Zellkerne angesehenen Stellen sind Lymphreste, die in colloider Umwandlung begriffen sind. — Welche von dieser gegnerischen Auffassung Recht hat, mag ich hier nicht entschieden aussprechen. Meines Wissens glaubt man in beiden Lagern Sieger in dem Kampfe geblieben zu sein. Wahrscheinlich haben beide Parteien Recht; es liegen die Bacillen sowohl in Zellen, wie in den Saftkanälchen. Letzteres auszuschliessen, ist jedenfalls nicht möglich; microscopische Präparate, die ich gesehen, geben in dieser Hinsicht ganz zweifellose Bilder, zeigen dass viele sogenannte Leprazellen nur Bacillenhaufen sind, die in mit Endothel ausgekleideten Kanälen liegen. — Nicht uner- wähnt will ich auch lassen, dass Unna und Leloir in jüngster Zeit eine bedeutende Stütze in Bergengrün und Gerich gefunden haben, welche auf Grund von Untersuchungen an dem sehr lymphgefiiss- reichen Larynx Lepröser sich ihnen vollkommen anschliessen. —
Fest steht, dass die lepröse Granulombildung sich an die Blut- bahnen anschliesst, sich auf Cutis und Subcutis beschränkt und den obersten, an die Epidermis angrenzenden subepithelialen Teil des Corium freilässt; die Epidermis bleibt ganz intact. Fest steht ferner, dass man häufig in leprösem Gewebe Riesenzellen findet, wie in tuber- culósem, und deshalb der Befund von Riesenzellen nicht mehr, wie man früher annahm, als entscheidend für die Diagnose auf tuberculöse Erkrankung angesehen werden darf. — In Talgdrüsen und Schweiss-
Lepra nervosa.
28
drüsen findet man keine Bacillen eingelagert. — Jüngst will ein Verfasser auch in der Epidermis Leprabacillen häufig gefunden haben.
Schliessen wir hieran gleich den Befund bei der Lepra nervosa, in Haut, Nerven, Muskeln und Knochen:
Den verschiedenen Anschauungen, welche über die Pathogenese der Hautflecken bestehen, entsprechen natürlich auch verschiedene Auffassungen des anatomischen Befundes. Die Meinung, dass alle Hautflecke trophischen Ursprungs sind, ist sicher nicht haltbar. Die trophische Entstehung kann nur für die besopders an den Unter- armen und Unterschenkeln sich zuweilen zeigende eigenartige an Glossy skin erinnernde Beschaffenheit der Haut, vielleicht auch für manche Depigmentierungen in Frage kommen. Bei den meisten charakteristischen Flecken aber, mögen sie klinisch sich als rotbraune Verfärbungen, als graue, schiefrige, braune Pigmentflecke darstellen, findet man stets deutliche Entzündungserscheinungen im Corium. Die kleinzellige Infiltration derselben entspricht nach der herrschenden Ansicht derjenigen initialer Leprome. Es sind eben die Flecke nichts anders als Andeutungen lepröser Neubildungen, nur graduell von den Lepromen verschieden. Jedoch muss da hervorgehoben werden, dass ein grosser Unterschied vorhanden ist in Bezug auf den Bacillenbefund. Während die dichte Durchsetzung der Cutis mit Unmassen von Bacillen und deren Degenerationsproducten die Leprome im Gegensatz zu den Granulomen characterisiert, ist in den Lepraflecken der Bacillenbefund eine Rarität. Der Leiter des Rigenser Leprosoriums, Dr. v. Reissner, erzählte mir, dass er in diesen Flecken niemals Bacillen gefunden. Mag dieses auch ein Zufall sein, — andere Untersucher sind bei dieser Bacillenjagd in den Flecken glücklicher gewesen, — so ist doch zweifellos, dass diese leprösen, Hautflecken sehr bacillenarm sind. Der Auffassung der- selben als minimale lepröse Infiltrate steht dieses aber nicht ent- gegen, wissen wir doch auch, wie verschieden sich die tuberculösen Hautaffectionen in Bezug auf Tuberkelbacillen verhalten. Während die eigentlichen tuberkulösen Geschwüre sehr reich an ihnen sind, findet man bei Lupus oft erst nach langer Jagd einen vereinsamten Bacillus. Ja wie oft gelingt es bei Lupus auch nicht einen Bacillus zu finden, sodass man bei zweifelhafter Diagnose zur Impfung greifen muss!
29
Eine abweichende Auffassung hat Unna, wie erwähnt, der die Hautflecke als angioneurotische Entzündungen betrachtet, d. h. Entzündungen, die zurückzuführen sind auf eine Affektion der angio- neurotischen Fasern in den Nerven, der das betreffende Gebiet versorgt. Er fand bei einem frischen Flecken „Neuroleprid“, eine zellige Hyperplasie des Gefässbaums und zum Teil des Papillar- gewebes, die zusammenhing mit einer bindegewebigen Hyperplasie des hyperdermalen, weniger der dermalen Nerven ohne Bacillen.
Ein solches Neuroleprid kann nun nach Unna sekundär mit Bacillen embolisiert werden; dann erhält man papulöse Lepride, die von den Lepromen durchaus verschieden sind und nur sehr selten in die- selben übergehen. Die embolisierten papulösen Lepride werden definiert als perivasculäre, strangförmige Leprome ohne Atrophie der binde- gewebigen Teile, welche ja bei den eigentlichen Lepromen durch den Druck der wuchernden Bacillenmassen atrophisch werden.
Die Wichtigkeit der verschiedenen Auffassungen über die Lepra- flecke liegt darin, dass nach der einen dieselben sekundär der Nerven- erkrankung folgen, nach der andern aber gleich den Lepromen der Lepra tuberosa die Initialaffekte darstellen, von denen aus die Nerven ihrerseits sekundär ascendierend erkranken. Letztere Auffassung ist wohl die herrschende. Hervorzuheben ist hier besonders die Arbeit Gerlach's!). Durch eingehende microscopische Untersuchung stellt er folgendes fest:
1) In den jüngeren Stadien der Hautfleckenbildung bei der Lepra nervosa sind konstant nur die peripheren Enden der zugehö- rigen Nerven durchwuchert; die gröberen Aeste sind meist, der Stamm stets frei.
2) Lepröse Herde an grösseren Verzweigungen sind jünger als peripher gelegene. |
3) Ein Ergriffensein des Stammes bei freiem, peripherem Ende kommt nicht vor.
Es handeit sich also nach Gerlach um eine wahre, in den peripherischen Zweigen beginnende Neuritis, was auch den klinischen Beobachtungen wohl entspricht. Diese Neuritis ascendiert und ist um so weniger ausgesprochen, je mehr sich der Nerv von der Peri- pherie entfernt und dem Centralnervensystem nähert. Was die ana-
1) Virchow’s Archiv, 125. Band.
30
tomischen Veränderungen in den Nervenstämmen betrifft, so handelt es sich um eine der Granulombildung in der Haut entsprechende zellige Infiltration in dem Perineurium und zwischen den Nerven- fasern. Auch hier sind es massenhafte Bacillenwucherungen, welche die lepröse Neubildung hervorrufen; in reichlicher Anzahl kann man sie in den afficierten Nerven finden. Diese erfahren gewöhnlich eine oft sehr erhebliche Verdickung, die bald eine ganz diffuse, bald eine ungleichmässige spindelförmige ist. Diese perineuritische und interstitielle Zellwucherung wirkt deletär auf die Nervenfasern, Mark und Achsencylinder gehen, wie die Weigert'sche Färbung lehrt, zu Grunde. Wahrscheinlich geschieht dieses auf rein mechanischem Wege einfach durch Druck.
Dieser Prozess in den Nerven kann einen Abschluss erlangen, indem Bindegewebsneubildung eintritt, was eine Art Heilung bedeutet; eine Wiederherstellung der einmal zerstörten Nervenfasorn findet dabei natürlich nicht statt. — Was nun das centrale Nerven- system betrifft, so existieren eine Reihe von Mitteilungen über pathologische Befunde in demselben. Es ist ja auch a priori ver- ständlich, dass die Neuritis ascendierend sich bis zu demselben und auf dasselbe fortpflanzen kann. Die Befunde haben aber, soweit sie bisher erhoben sind, weder einen einheitlichen Charakter, noch bieten sie irgend welche specifische Veränderungen. Ich will auf die verschiedenen, mitgeteilten Anomalien des Centralnervensystems deshalb hier nicht eingehen. Betonen will ich nur, dass wir in keinem Falle die Erkrankung desselben als die Grundlage der klinischen Erscheinungen anerkennen können. Letztere erklären sich vollkommen ausreichend durch die periphere Neuritis und sind auch durch diese bedingt, selbst wenn centrale Anomalieen vor- handen sind. Diese könnten nur weitere accidentelle Symptome zuführen. -- Nur eine Mitteilung aus der jüngsten Litteratur muss ich hier erwähnen, weil sie, wenn der berichtete Befund wirklich ganz eindeutig wäre, von weittragender Bedeutung sein würde. Bei einem unter dem klinischen Bilde der Syringomyelie, fanden Pestana und Bettencourt!) eine ausgedehnte Gliomatose des Bulbus und der Medulla und in der Gliommasse Bacillen, die sie für Leprabacillen halten, weil sie sich schon mit wässriger
1) Centralbl. f. Bakteriologie etc. 1896. 18/19.
31
Fuchsinlösung gut fárbtén, gegen die entfärbende Wirkung der Salpetersäure widerstandsfihig waren, und die Impfung mit dem Material in einem Falle keine Tuberculose erzeugte. Ueber den Befund an peripheren Nerven sagten sie nichts, trotzdem ihnen solche zur Verfügung standen. — Wäre dieser Befund eindeutig, dann würde eine Lepra nervosa centraler Natur vorliegen. Dass der Befund aber nicht eindeutig ist, geht schon daraus hervor, dass die tinctorielle Abgrenzung der Leprabacillen von den Tuberkel- bacillen eine wenig zuverlässige ist. Auf das negative Impfergebnis in einem einzigen Falle kann man aber doch nicht solch’ weit- tragende Schlüsse bauen.
Der Befund in den Muskeln hat nichts Specifisches, es ist derjenige einer einfachen Atrophie. Die Auffassung, dass diese Atrophie eine directe Folge von Bacilleninvasion und dadurch bedingte Bindegewebswucherung ist, dürfte kaum discussionsfähig sein. — |
Die Veränderungen in den Knochen ist nicht so rein passiver Natur, wie man früher annahm. Es ist in einwandsfreier Weise nachgewiesen, dass auch in das Knochengewebe eine Bacilleninvasion stattfindet und sich eine lepröse Entzündung im Knochenmark ent- wickelt, die einerseits in Sequestration, andererseits in Resorption enden kann. Letztere kann aber wahrscheinlich auch ohne Osteo- myelitis als einfach trophischer Vorgang eintreten. Bei den Muti- lationen verhält sich der Knochen passiv, er wird einfach durch Zerstörung der Gelenkverbindungen abgelöst.
Ueber anatomische Befunde in den Gelenken ist wenig Sicheres bekannt; die Beobachtungen sind mehr klinischer Natur.
Kommen wir nun zur pathologischen Anatomie der Veránder- Lepra visceralis. ungen der Atmungsorgane, so will ich auf die Affectionen von Nase, Rachen und Larynx nicht näher eingehen. Die Befunde ent- sprechen im Ganzen denjenigen bei der Lepra tuberosa der Haut, nur sind hier bei der grösseren Empfindlichkeit der Schleimhaut ulzeröse Zerstörungen und in Folge dessen narbige Schrumpfungen häufig, welche zu erheblichen Verengungen der Atmungswege führen können. — Fast die meisten Schwierigkeiten bietet die Beurteilung der Lungenveränderungen. Dass diese oft- sehr bedeutend sind, haben schon frühere Autoren erkannt und vor Allem auch
32
Danielssen und Boeck beschrieben. Die Entscheidung aber, ob sie tuberculöser oder lepröser Natur sind, kann macroscopisch wie microscopisch eine sehr schwere Aufgabe werden. Die eben ge- nannten Autoren gaben eine viscerale Lepra der meisten andern Organe ja zu, die hochgradige Lungenveránderung schrieben sie aber der Complication mit Tuberculose zu. Dennoch scheint dieses nicht richtig zu sein. Arning, der sehr eingehend die Frage der visceralen Lepra an in Honolulu erworbenen Präparaten studierte, giebt als macroscopische Kennzeichen der visceralen Lepraknoten gegenüber den Tuberkelknoten an, dass erstere undurchsichtiger, gelbweiss erscheinen, härter sind, keine eigentliche centrale Verkäsung zeigen. Die histologische Differenzierung der Veränderung als Tuberculose wurde früher stets dadurch begründet, dass man typische Riesenzellen findet. Seitdem man aber letztere bei leprösen, ebenso wie bei luetischen constatiert hat, liegt in dieser Beziehung kein Grund vor, die gefundenen Veränderungen der Tuberculose zuzu- schreiben. A priori ist es ja viel wahrscheinlicher, auch bei dem Lungenbefunde an Lepra zu denken, als noch eine Complication mit Tuberculose heranzuziehen, wenn dieselbe auch nicht geleugnet werden kann. Esist denn auch jetzt wohl allgemein das Vorkommen einer Lungenlepra anerkannt. Für manche Fälle wird dieselbe durch den Befund der Bacillen in einer Massenhaftigkeit, wie sie die Tuberculose niemals zeigt, auch leicht sichergestellt werden können. Näher auf die macroscopischen und microscopischen Lungenanomalieen einzugehen, kann ich bei der Aehnlichkeit mit Tuberculose unter- lassen. Auf der Pleura wie auf anderen serösen Häuten, Pericard, Peritoneum, findet man neben Bildung dicker Auflagerungen oft die mit Bacillen vollgepfropften Lepra-Knötchen. Dieselben zeigen die oben erwähnten, von Arning angegebenen Eigenschaften, unter- scheiden sich ausserdem noch dadurch von tuberculösen, dass sie mehr über die Oberfläche hervortreten, weniger eingelagert als auf- gelagert sind.
Das Vorkommen lepröser Geschwüre im Darm ist sicher fest- gestell. Es sind zerfallene Infiltrate ohne Verkäsung, mit steilem Rand und Einlagerung massenhafter Bacillen in den Wandungen. Diese Ulcerationen heben sich von tuberculösen sehr scharf ab, welche aber auch bei Lepra vorkommen können. — Leber und
33
Milz sind regelmässig vergrössert, von derber Beschaffenheit, im interstitiellen Gewebe durchsetzt von knötchenförmigen leprösen Granulomen, die unzählige Bacillen enthalten. Auch Abscesse hat Arning gesehen. —
Sehr häufig verändert ist die Niere. Meistens ist sie ver- grössert. Typische Wucherungen in derselben sind selten, ebenso wurden fast nie Bacillen in ihnen gefunden. Ein nicht seltener Befund ist bei vorgeschrittener Lepra die amyloide Degeneration der Nieren.
Eine fast constante Anomalie bei Lepra ist die Hodenaffection, und zwar ist dieselbe specifisch lepröser Natur. In den Gefässen, aber auch in den Hodenkanälchen findet man Bacillen. Diese führen zu einer Infiltration des interstitiellen Gewebes, die mit Bindegewebs- wucherung einhergeht. Dadurch geht das secernierende Gewebe zu Grunde, der Hode enthält eine derbere Consistenz. Wo der Neben- hoden erkrankt, geschieht das secundär.
In den geschwollenen Drüsen findet man lepröse Infiltration. Man will auch neben diesen tuberculöse Veränderungen in derselben Drüse constatiert haben.
Zum Schluss sei hier noch erwähnt, dass lepröse Wucherung in der Cornea und den übrigen Augenabschnitten histologisch ganz derjenigen der Haut entspricht.
Diagnose.
Ein typischer Fall von Lepra tuberosa auf der Höhe der Er- krankung ist leicht zu erkennen. Besonders sind es die Deformationen des Gesichtes, wie wir sie oben geschildert, mit den Knoten und Infiltrationen, den meist fehlenden Augenbrauen, dem starren Aus- druck etc., welche auf den ersten Blick fast die Diagnose stellen lassen. Aber auch beginnende Fälle mit vereinzelten Knoten bieten genug Charakteristisches. Die braunrote Verfärbung, die herabgesetzte Sensibilität, die Consistenz, die geringe Neigung zum Zerfall etc. werden den Verdacht der Lepra leicht erregen. Zu einer Verwechslung könnten wohl nur Gummata der Haut Veranlassung geben; dieselben sind aber nicht von solcher Beständigkeit. Entweder sie ulcerieren oder sie werden resorbiert. Ausserdem dürften sonstige Syphilis- erscheinungen, die Wirksamkeit der Antiluética die Entscheidung leicht
herbeiführen. Noch einfacher ist aber die bakterielle Untersuchung 3
des durch Anstechen gewonnenen Blutes oder eines excidierten Stiicks. Bacillen findet man so sicher. — Bei ulcerösen Prozessen, zumal der Schleimhäute kämen neben Lues noch die Tuberculose in Frage. Hier werden einerseits Veränderungen auf der Körperdecke die Diag- nose erleichtern, andererseits ist auch das Aussehen lepröser (ie- schwiire doch ein anderes. Es fehlen der Tuberculose gegen- über die unterminierten Ränder, während andererseits der Grund stärker infiltriert ist. Auch sind lepröse Geschwüre auffallend wenig schmerzhaft. Die Massenhaftigkeit der Bacillen wird auch zu denken geben.
Grösser schon sind die Schwierigkeiten bei der Diagnose der Lepra nervosa, zumal die Hautanomalieen derselben keine oder sehr wenige Bacillen enthalten. Der Bacillennachweis fällt hier deshalb fort; einen erkrankten Nerven blosszulegen, indem sie allerdings leichter zu finden wären, dürfte man sich wohl kaum entschliessen. Aber auch ohne dieses Beweismittel werden wohl die Hautflecken, sofern sie gefunden werden, durch ihre Beschaffenheit diagnostische Handhaben genug bieten. Ein vereinzelter Fleck könnte wohl in seiner Bedeutung übersehen werden, eine Reihe derselben aber schon deshalb nicht, weil ibre Polymorphie sehr bezeichend ist. Von der frischeren braunroten, etwas resistenten, meist ein wenig schil- fernden, mit etwas erhöhten Wall versehenen, fleckförmigen Infiltration bis zu der etwas eingesunkenen, pigmentlosen, oft nur bei scharfem Zusehen sich abhebenden atrophischen Hautstelle giebt es eine ganze Skala von Flecken, die das Hervorgehen der letzteren aus den ersteren durch centrifugales Erblassen, Uebergehen des Infiltrationsrotes in das Pigmentgrau oder Pigmentbraun, schliesslich wiederum centri- fugal fortschreitenden Schwund des Pigments erläutern. Dazu kommen noch die Sensibilitätsstörungen. Wenn auch bei frisch entstandenen Flecken sogar Hyperästhesie bestehen kann, die etwas älteren sind stets deutlich anästhetisch.
Wo sich Hautflecken mit sonstigen Erscheinungen an den peripheren Nerven, zumal denjenigen, für die die Lepra eine Prädi- lection besitzt, combinieren, wo die Nerven verdickt, auf Druck schmerz- haft sind, oder wo gar schon trophische Anomalien als Folgezustände in den vom Ulnaris etc. versorgten Muskeln gleichzeitig mit Hautflecken bestehen, wobei dann auch die Sensibilitätsanomalie nicht mehr fehlt.
35
erwachsen der Diagnose keinerlei Schwierigkeiten. Das ist ein zu typisches Bild. Dahingegen können die Schwierigkeiten unendlich grosse werden, wo die trophischen und Sensibilitätsstörungen allein bestehen ohne Hautflecken. Allerdings sind diese Fälle nicht häufig. Bei genaueren Suchen wird man oft doch am Körper in kleineren und grösseren anästhetischen Bezirken wenigstens umgrenzte Depig- mentationen mit einer fast gar nicht auffallenden Hautatrophie entdecken, wenn man nur in jedem Falle ohne Rücksicht auf etwaige negative Angaben des Patienten sich zur Pflicht macht, den ganzen Körper genau zu betrachten, wie es ja überhaupt jede dermatologische Untersuchung eigentlich erheischt. In Fällen aber, in denen man keine Andeutungen lepröser Hautflecke findet, wird die Abgrenzung gegenüber manchem peripheren und centralen Nervenleiden allen diagnostischen Scharfsinn herausfordern. Von peripheren Leiden käme eigentlich nur die multiple degenerative Neuritis in Frage. Der ganze Verlauf, die motorischen Lähmungen etc., bei letzterer lassen dieselbe aber leicht ausschliessen. Dagegen ist für die Diagnose von Bedeutung eine centrale Erkrankung, d. i. die Syringo- myelie resp. die ihr verwandte oder auch mit ihr identische Maladie du Morvan (Parése-Analgésie de extremités supe- rieurs). Diese Krankheit, oder vielleicht correcter gesagt, dieser Symptomencomplex bringt eine Reihe von Störungen, welche an diejenigen der Lepra nervosa sehr anklingen. Wir haben da eine Herabsetzung der Sensibilität, fast ausschliesslich in Form dissociirter Sensibilitätsstörung: Verminderung der Schmerz- und Temperatur und Schmerzempfindung bei erhaltener Tastempfindung. Ferner finden wir eine Reihe trophischer Anomalien: zunächst Atrophie der Muskeln, dann Pemphigus-ähnliche Ausschläge, Hautgangrän, Vitiligo-ähnliche Flecke, ödematöse Verdickungen der Haut (Tumor dorsalis carpi), Panaritien, abnorme Knochenbriichigkeit, trophische Gelenkstérungen etc.
Auf die Verwechslungsmöglichkeit dieses Krankheitsbildes, dessen Zeichnung recht jungen Datums ist, mit der Lepra nervosa, hat Zambaco Pascha, ein bedeutender Leprakenner, zuerst hin- gewiesen. Er reiste aus Konstantinopel nach Paris, beobachtete dort die mit der Diagnose Syringomyelie belegten Krankheitsfälle
und stellte dann die Behauptung auf, dass die Syringomyeliefälle 3*
36
— ——————
nichts anderes seien als Fälle von Lepra nervosa. Damit schoss er dann allerdings weit über das Ziel hinaus. Wenn er auch zweifellos feststellen konnte, dass wirklich in einer Reihe von Fällen die ‘ Diagnose Syringomyelie, d. h. anatomisch Gliomatosis des zentralen Röhrengrau’s eine irrtümliche war und Lepra nervosa vorlag, so ging er sicherlich zu weit, wenn er nun die Syringomyelie als selbst- ständige Leiden streichen wollte. Ohne Zweifel existiert neben der Lepra nervosa peripherica eine Syringomyelie zentralen Ursprungs, die oft eine klinische Aehnlichkeit mit ersterer aufweisen mag, aber doch nichts mit ihr zu thun hat. Wir werden deshalb auf die Differentialdiagnose hier näher eingehen müssen.
In den Sensibilitätstörungen herrscht insofern eine Ueber- einstimmung, als auch bei der Lepra nervosa meist, wenn auch nicht so regelmässig wie bei der Syringomyelie, besonders in der ersten Zeit, dieselben einen dissociirten Charakter haben. Grosse Differenzen weist aber die Ausdehnung der Anästhesie auf. Bei der Lepra nervosa ist sie eine regellose, an keine bestimmten Nerven- gebiete gebundene, über den ganzen Körper zerstreute, bei der zentralen Syringomyelie hält sie sich ziemlich scharf an die Nerven, die von der erkrankten Stelle ausgehen, ist an den Extremitäten eine streifige, an dem Rumpf eine giirtelfórmige. Man findet bei der Syringomyelie auch nicht die Verdickungen der entziindeten Nerven und ihre Druckempfindlichkeit, wie man sie besonders am Ulnaris bei der Lepra meistens konstatiert. Im Gegenteil die Nerven bei Syringomyelie sind auf Druck auffallend unempfindlich, was bei centraler Erkrankung ja leicht erklärlich ist.
Die für Lepra charakteristischen Hautflecke fehlen natürlich bei wahrer Syringomyelie; die bei letzterer betrachteten Vitiligo- flecke sind einfache Leukopathieen, die kaum mit den leprösen Flecken verwechselt werden können. Uebrigens sind Vitiligoflecke bei Syringomyelie grosse Raritäten.
Die Haut Lepröser ist gewöhnlich an den Streckseiten der Ex- tremitäten grau, schiefrig, oder bräunlich verfärbt und wegen der Anhidrosis trocken, die Haut bei Syringomyelie ist feucht, oft sogar wegen Hyperhydrosis auffallend feucht.
Ein wichtiger Unterschied liegt in der Ausbreitung der Muskel- atrophieen. Die Extremitäten sind bei beiden Leiden vorzugsweise
37
ergriffen, jedoch. hat die Syringomyelie nicht die Vorliebe für be- stimmte Nerven, wie sie der Lepra eigen ist und befällt auch viel häufiger allein die oberen Extremitäten oft an dem proximalen Ende beginnend. Während aber bei Lepra der Facialis früh. afficiert ist, geschieht das bei der Syringomyelie gar nicht oder in seltenen Fällen ganz spät. In diesen Fällen liegt stets ein Uebergreifen der Gliomatosé auf den Bulbus medullae vor, und bestehen daher gleich- zeitige ausgesprochene Schlingbeschwerden etc. - Zu solchen kommit es bei der Lepra nervosa, soweit sie nicht etwa durch zerfallene Leprome der Mund-Rachenhöhle bedingt sind, überhaupt niemals. Aber auch sonst ist der Charakter der Atrophie ein anderer, als derjenige der syringomyelitischen Muskelatrophieen. Diese, weil zentralen Ursprungs, gehen gleich der Atrophie bei Poliomyelitis anterior mit fibrillären Muskelzuckungen und Muskelzittern einher, an den unteren Extremitäten treten auch spastische Erscheinungen ein. Der Lepróse geht schleifend, der Syringomyelitische mehr stampfend. Die Reflexe sind bei dem cervico-dorsalen Typus der Syringomyelie oft gesteigert, was nie bei Lepra vorkommt. ‘Ueber Differenzen der elektrischen Erregbarkeit, die mit grösster Wahr- scheinlichkeit bestehen. werden ; sind mir ‚keine Senne bekannt..
Nehmen. wir nun noch’ hinzu; dass EN Enochenatrophio bei der Syringomyelie selten ist, wihrend hypertrophische, schmer2- lose Gelenkaffectionen relativ haufig vorkommen, dass bei ihr — niemals bei Lepra — Blasén und Mastdarmistörungen auftreten können, dass eine syriigomyelitische Kyphoscoliose zu den häufigen Vorkommnissen zählt, dass endlich .die Syringomyelie iin Verhältnis zur Lepra schnell fortschreitet und zwar stetig fortschreitet, bis sie den Tod herbeiführt, — nehmen wir dieses alles hinzu, dann werden wir bei der Differentialdiagnose zwischen Syringomyelie und Lepra nervosa wohl nur in den seltensten Fällen fehlgehen. — u ©
Prognose.
Die Lepra tuberosa führt nach nein: über 10—20 Jahre sich erstreckenden Leiden zum Tode. ` Die. Todesursache ist entweder die mit Zeit sich einstellende Cachexie, der allmähliche Kräfteverfall oder die lepröse Erkrankung edler Organe, : besonders der Lunge, wobei natürlich nochmals auf die Möglichkeit hingewiesen
38
werden muss, dass in letzteren die Tuberkelbacillen die Veränderungen auslösen können. Während dieses Verlaufes kann der Zustand sehr wechseln. Zeitweise tritt mit oder ohne Fieberattaquen und erysi- pelatoide Rötungen eine relativ schnelle Rückbildung ein. Die Knoten schwinden, nur pigmentierte, leicht atrophische Hautstellen zurücklassend, die Kranken halten sich für genesen. Aber leider hält diese Besserung niemals an, es folgen stets neue Ausbrüche, die alle Hoffnungen zu Schanden machen. — Während der lang- jährigen Dauer der Krankheit bleiben die Kranken meistens bis in die letzte Zeit hinein mehr oder minder arbeitsfähig, da im ganzen die Knotenbildung der Haut und Schleimhaut dieselben wenig be- einträchtigt. Nur die in einem grossen Teil der Fälle früh eintretende Erblindung macht dieselben erwerbsunfáhig. — Die Prognose der Lepra nervosa ist insofern eine bessere, als dieselbe an sich eigent- lich nicht zum Tode führt, selbst wenn die ausgedehntesten Muskel- atrophien und Mutilationen vorhanden sind. Intercurrente Krank- heiten, das Hinzutreten der Lepra tuberosa und Lepra . visceralis, Complication mit Tuberculose sind die gewöhnlichen Todesursachen. Das Los dieser Kranken ist aber ein weit traurigeres. Die mit den trophischen Störungen abnehmende, wenn auch nicht ganz schwindende Kraft legt ihre Arbeitsfähigkeit bald lahm, sie können nichts er- werben, sie werden dabei mit der Zeit hilflos, bedürfen fremder Unterstützung bei allen Handreichungen und beim Gehen, werden bettlägerig, kurz sie sind bejammernswerte Geschöpfe, für die der Tod oft eine wahre Erlösung ist. — Von einer auch nur temporären Besserung ist hier nicht zu reden. — Dieses die allgemeine Prognose. Im Einzelfalle wird natürlich dieselbe eine verschiedene sein je nach den socialen Verhältnissen des Kranken, je nach der Resistenz- fähigkeit des Kranken und je nach dem Charakter des Leidens. Therapie.
Ueber dieselbe ist wenig gutes zu sagen. Zahllose. Heilmittel sind im Laufe der Jahrhunderte gegen Lepra angewendet und als „Specifica“ gepriesen. Alle haben sich als dieser Bezeichnung un- würdig erwiesen. Allerdings hat man von diesem oder jenem Medicament bei diesem oder jenem Falle auffallende Erfolge gesehen; aber sie erwiesen sich schliesslich stets leider nur als scheinbare. Die spontane, zeitweilige Rückbildungsfähigkeit hatte stets die
39
Therapeuten irre geführt. So ging es mit allen Mitteln bis zum Tuberculin, Ichthyol (Unna), Europhenöl (Goldschmidt), Gurjun- balsam, Chaulmograöl, so wird es wohl auch mit dem Airol gehen. Das Specificum zu finden, ist eine schöne Aufgabe der Zukunft. Möglicherweise wird es ein Serum sein, dessen Ge- winnung aber doch das Gelingen der Cultur der Leprabacillen vorausgehen müsste. Die Versuche mit Tierserum scheinen doch wenig Erfolg zu haben. — Die Therapie wird deshalb bis auf weiteres eine symptomatische sein müssen. Man wird die Kranken unter günstige hygienische Lebensbedingungen bringen, gut ernähren, etwaige Geschwüre sorgsam verbinden, was an sich schon ihre Heilung begünstigt, eventuell bei Laryngostenose die Tracheotomie machen, bei Mutilationen, wenn nötig, operativ eingreifen. Innerlich resp. subcutan kann man die obengenannten Mittel versuchen. Ichthyol giebt man als Salbe zu Einreibungen (10—30°/,), Europhen- öl 5°/, subcutan und äusserlich, Gurjunbalsam (cave Nierenreizung) 2,0—3,0 pro die äusserlich und Chaulmograöl 5—60 Tropfen pro die innerlich, Airol wird als Salbe eingerieben. — Die Neuritis leprosa soll durch Nervendehnung günstig beeinflusst werden. Ein Autor hat in einem Falle die Nerven blossgelegt und N darnach trat vorübergehende Besserung ein. —
Vielfach empfohlen ist ein Klimawechsel als heilsam für Lepra- kranke. Eine Wirkung ist wohl nur in der Richtung wahrscheinlich, als die Kranken in bessere hygienische Verhältnisse kommen. Für die meisten Leprösen sind solche Verordnungen der Pharmacopöa elegans an sich ausgeschlossen. —
Bei der Aussichtslosigkeit der Therapie ist ein um so grösserer Wert zu logen : auf die
Prophylaxe.
Zu präcisen, wissenschaftlich begründeten Regeln für die Prophylaxe wird man nur kommen können, wenn man die Fragen beantwortet hat: |
1) Ist die Lepra contagiös? 2) Ist die Lepra hereditär?
‘An diese beiden wichtigen Fragen werden wir deshalb jetzt herantreten. müssen. Vorausschicken muss ich aber noch, was ja eigentlich selbstverständlich ist, dass die Bejahung der einen Frage durchaus nicht. die Verneinung der andern nach sich .zieht... Wenn
40
man die Litteratur überblickt, dann scheint es so, als ob diese Anschauung zuweilen obwaltet. Die Anhanger der Contagiositat leugnen die Heredität, die Gegner der Contagiosität suchen durch letztere ausschliesslich die Verbreitung der Lepra zu erklären. Und doch schliessen sich Heredität und Contagiosität ja keineswegs aus, beruhen ja im Grunde genommen überhaupt auf demselben Vorgange. Sehen wir nur auf die Syphilis, so ungeheuer contagiös und dabei so leicht hereditär übertragbar, wie keine andere Krank- heit, auch die Lepra nicht! Dieses vorausgeschickt!
Wenn man in der älteren Litteratur bis zu Daniellssen und Boeck nach den Vorstellungen forscht, die sich die Autoren über die Verbreitungsweise der Lepra machten, so findet man, dass sie meistens die Heredität in die erste Reihe stellten. Das war die Theorie. Aber wie stand es in der Praxis? Trugen sie dieser An- schauung Rechnung? Keineswegs! Sie bauten Leprosorien, trafen alle möglichen Massnahmen, um ja jeden Leprakranken von den Gesunden fernzuhalten und zu isolieren. Dabei verboten sie gewöhnlich nicht nur nicht die Ehen Lepröser oder behinderten sie auch nur, sondern begünstigten sogar die Verheiratung lepröser Männer mit leprösen Frauen. Sind das nun praktische Folgerungen aus einer Theorie, die so viel auf die Heredität giebt? Sicherlich nicht. Durch die Isolierung tritt man keiner Familienkrankheit entgegen und durch die Ehen Lepröser erst recht nicht; dieselben sind ja bei einem leicht hereditär übertragbaren Leiden die wahren Zuchtanstalten. Also die Sache liegt so, dass man viele Jahr- hunderte in der Theorie nur auf die Vererbung Wert legte, aber nach. den Grundsätzen, die für contagiöse Krankheiten massgebend sind, praktisch handelte. Nun das ist nicht schlimm. Besser eine falsche Theorie und eine richtige Praxis, als umgekehrt.
In den letzten Jahrzehnten ist man nun aber mit der fort- schreitenden theoretischen Erkenntnis und mit Besserung der statistischen Registrierung dazu gekommen, einen erheblich geringeren Wert auf die Heredität zu legen. Natürlich darf man aber nicht das Kind mit dem Bade ausschütten und dieselbe auch ganz leugnen. Man muss nur zugeben, dass die Heredität wenig für die Verbreitung der Lepra thut, und zwar schon deshalb, weil ja der grössere Teil der Leprösen durch die geschilderte Hoden- affection die Potentia. generandi mit der Zeit einbüsst. .
41
Kin lebhafter Streit ist aber gerade in den letzten Jahrzehnten liber. die zweite oben aufgestellte Frage entbrannt, diejenige der Contagiosität. Contagionisten und Anticontagionisten kämpfen mit grösster Begeisterung für ihre Anschauung. Letztere sind noch nicht zu überzeugen, trotzdem das Heer der ersteren nach Ent- deckung der Bacillen naturgemäss unendlich gewachsen ist. Meiner Ueberzeugung nach kann man die Contagiosität nicht mehr in Ab- rede stellen. Dafür sprechen abgesehen von den analogen Ver- hältnissen bei andern bakteriellen Krankheiten zunächst eine Reihe von epidemiologischen Beobachtungen. Es ist zweifellos für eine Reihe von Lepraherden festgestellt, dass sie durch Einschleppung entstanden, auf einen eingewanderten Leprafall zurückzuführen sind, und dass zunächst mit diesem in inniger Berührung lebende Menschen leprös wurden. Es lehrt auch das Studium der geo- graphischen Verbreitung, dass dieselbe den Verkehrswegen folgt, wie alle contagiösen Krankheiten. Noch beweisender ist eine grosse Reihe von Einzelbeobachtungen, wie sie besonders in den letzten Jahren gemacht sind. Es gelang mit absoluter Sicherheit bei scheinbar ganz vereinzelten Leprafällen in absolut leprafreier Gegend bei genauester Nachforschung sehr oft schliesslich den genauen Zu- sammenhang mit einem andern Leprafall nachzuweisen. Es ist das oft sehr schwer, da die Anamnese bei der langdauernden Incubation meistens sehr im Stich lässt. Von grossem Interesse sind in dieser Richtung die Ergebnisse der eingehenden Prüfung,. welche in Riga über die in den Armenhäusern vorgefundenen Leprafälle angestellt worden sind. Man konnte da meistens mit Sicherheit constatieren, wie ein Insasse eine Reihe von Stubengenossen inficierte. Ich kann auf die Détails dieser epidemiologischen und Einzelfeststellungen hier nicht eingehen, ohne den Rahmen dieser Arbeit zu überschreiten. Nur zwei Fälle, die ich im Rigenser Leprosorium sah, möchte ich anführen. Sie betreffen die Erkrankung von Mutter und Tochter, an schwerer Lepra. Dass aber nicht Heredität, sondern contagiöse Uebertragung vorlag, war sicher, denn die Tochter war viel früher, schon als erwachsene Person durch ihre Schneiderin inficiert und hatte hinterher erst die Lepra auf die sie pflegende alte Mutter übertragen.
Nun noch kurz einige Einwände der Anti-Contagionisten! Ein solcher stützt sich auf den negativen Ausfall der wiederholten Selbst- impfungen von Daniellssen und seinen Schülern, die sie in, fast
42
möchte man sagen, unverzeihlich heroischer Weise angestellt. Be- weisen können solche negativen Ergebnisse gar nichts, zumal bei einem Leiden, dem sicher nicht jeder zugänglich ist, wie wir noch sehen werden. Diesen Impfungen kann mit Recht die positive Impfung gegenübergestellt werden, die Arning 1884 an einem Verbrecher in Hawaii vorgenommen hat, der unter der Bedingung von der ihm zudiktierten Todesstrafe begnadigt wurde, dass er sich zu diesem Experiment hergab. Dieser vielgenannte Keanu erkrankte relativ schnell an Lepra, die in wenigen Jahren einen ausserordentlich bösen Verlauf nahm. Unangefochten und deshalb einwandsfrei ist auch diese positive Impfung nicht, da Swift später nachgewiesen, dass Verwandte des Verbrechers, allerdings nur in Seitenlinien, auch leprös waren. |
Grosses Gewicht legen ferner die Anti-Contagionisten auf die angeblich sehr seltene Infektion des gesunden Mannes durch seine lepröse Frau und umgekehrt. Aber diese Thatsache ist durchaus nicht so notorisch, sie beruht auf keineswegs sicheren Beobachtungen. Es erscheint durchaus fraglich, ob genaue Studien sie bestätigen werden. Dies wird wohl ebensowenig der Fall sein, wie die Angaben sich als richtig erwiesen haben, dass das Pflege- personal von Leprosorien resp. von einzelnen Leprösen nicht er- krankte. Es liegen eine grosse Reihe von zweifelloser Infektion von Krankenpflegern, Missionaren und Aerzten vor.
Wenn wir nun die Contagiosität der Lepra zugeben müssen, so liegt es uns doch fern, dieselbe als eine sehr bedeutende zu bezeichnen. Das ist sie zweifellos nicht. Es gehört zur Uebertragung ein längeres intimes Zusammenleben und auch eine gewisse Disposition, die gegeben wird einerseits durch ungesunde hygienische Verhältnisse, Leben in Schmutz und Elend, andererseits durch nicht näher definier- bare individuelle Verhältnisse.
Wir haben die beiden oben aufgestellten Fragen bejahend be- antwortet, die Lepra für sicher contagiós und für möglicherweise auch hereditär übertragbar bezeichnet, was ergiebt sich nun daraus für die Prophylaxe? Vor allem die Bestätigung der Richtigkeit dessen, was man seit Jahrtausenden immer, ich möchte sagen, in- stinctiv gethan, d. h. die Notwendigkeit der Isolierung, die Gründung von Leprosorien. Bei der Ausgestaltung derselben wird man aber nicht nur der hygienischen Prophylaxe, der Rücksicht auf die ge-
43
sunden Menschen Rechnung tragen müssen, sosdern auch der Hu- manität, welche die armen, schwer geprüften, dabei aber jahrelang oft noch arbeitsfihigen Kranken zu beanspruchen das volle Recht haben. Ein Leprosorium darf ‘kein Krankenhaus im gewöhnlichen Sinne, es darf auch kein Gefängnis sem, es muss eine Heimstätte sein, in der die Kranken alle Freiheit geniessen, sich nach Gut- dünken bewegen und auch sich durch Arbeit beschäftigen können. Selbst das Muster des üblichen Siechenhauses ist nicht acceptabel; es darf nicht nur ein Haus da sein, wo die Leprösen unthätig Jahre lang dahinleben und Zeit haben, über ihr trauriges Loos nachzu- denken. Es müssen Ländereien, es müssen Arbeitsräume für Hand- werker da sein, kurz eine kleine Kolonie; kein Leprahaus, sondern ein Lepraort. Die Frage, ob die Unterbringung der Leprösen in diesen Leprosorien zwangsweise erfolgen soll, verneint sich ganz von selbst. Wer sie bejaht, der denkt nur an die, allerdings in der Mehrzahl befindlichen Leprösen aus den unteren Volksschichten, die aber schliesslich als Menschen nicht ein Atom weniger Rechte haben, als etwaige Lepröse aus reichen Familien. Einer Freiheits- beraubung darf die Unterbringung in einem Leprosorium nicht gleich kommen. Man gestalte dasselbe nur so, dass die Kranken sich in ihm wohl, womöglich wohler als zu Hause fühlen, wozu gewöhnlich bei den armen Leuten nicht viel gehört, und sie werden gewiss gerne hingehen und die ihnen gebotene sorglose Existenz dankbar annehmen.
Man baut die Leprosorien in einiger Entfernung von den Lepraherden, damit die Kranken nicht zu weit den Ihrigen ent- rückt werden. Man kann den Leprösen auch gestatten die Ihrigen zu besuchen resp. Besuche zu empfangen; solch kurzdauernde Be- rührungen dürften kaum irgendwie bedenklich sein. Besonderer Beaufsichtigung bedürfen Kranke, die Secrete abscheiden, welche Leprabacillen enthalten. Also alle mit Geschwüren, alle mit ulceröser Schleimhautlepra behafteten, die bacillenhaltiges Spytum auswerfen oder im Nasensecret Bacillen aufweisen, was ja, wie er- wähnt, auch bei normaler Nasenschleimhaut vorkommt. Bei diesen werden eine Reihe von Vorsichtsmassregeln nötig werden, auf die ich einzeln hier nicht eingehen kann.
Die Pflicht der Unterhaltung der Leprosorien liegt natürlich der Gesamtheit der Bürger ob, d. h. dem Staate. Dabei ist es
44
nicht ausgeschlossen, dass wohlhabende Lepröse zu den Kosten, die sie verursachen, herangezogen werden. Es dürfen aber deshalb diejenigen Leprösen, die nichts beitragen können, nicht eine minder gute Behandlung erfahren, wenn man auch bei der Ver- pflegung, soweit sie dieselbe nicht selbst durch Arbeit verdienen und beschaffen, den Gewohnheiten der einzelnen Menschen Rechnung tragen wird. Ä
Der Heredität ee steht die Prophylaxe viel hilfloser da. Das Heirathen kann man den sich wohl fühlenden Kranken selbst mit gesunden Personen nicht verbieten, sofern letztere den Mut dazu haben. Soweit es möglich ist, wird man aber durch wohl- meinenden Rat es zu verhüten suchen. Die Kinder. Lepröser thäte man ja am besten ganz von ihnen zu entfernen und in Erziehungs- häusern unterzubringen. Wenn man die Zustimmung dazu von den Eltern nicht erreichen kann, dann wird man wenigstens innerhalb desselben Leprosoriums getrennte Schlafstätten für die Kinder schaffen und sie möglichst vor zu inniger Berührung mit den Eltern bewahren müssen. Die Ernährung des Säuglings wird eine künstliche sein müssen, keinesfalls darf eine lepröse Mutter ihr Kind nähren. Bei der Lepra liegt die Sache anders, als bei der Syphilis, wo wir er- fahrungsgemäss wissen, dass die Mutter das Kind nicht inficiert, weil es entweder syphilitisch oder immunisiert is. — Dag wären die Grundzüge einer von humanem Geiste durchwehten und doch den - hygienischen Anforderungen genügenden Prophylaxe, durch die wir - wohl mit Sicherheit das vielleicht jetzt übermässig gefürchtete Schreckgespenst einer an das Mittelalter erinnernden Lepraausbreitung fernhalten können. Mögen die dazu berufenen Organe dieselbe, wo sie nötig ist, energisch ins Werk setzen, und mögen die Aerzte sich mit dem Krankheitsbilde gut vertraut machen, um durch rechtzeitiges Erkennen jedes Leprafalles diesen Organen durch obligatorisch zu machende Anzeige zu Hülfe kommen zu können.
o» Verantwortl. Redakteur: Hofrath Dr. Tract Stadelmann in Berlin. Druck von Albert Koenig in Guben.
Zuschriften und Zusendungen für die liner Klinik“ werden ¡ba an den oben genannten Redacteur, Berlin „Anhaltstrasse 12, oder durch die Verlagsbuchhandlung erbeten.
Die Krankheiten des behaarten Kopfes. (Nach einem Vortrage im Osterferiencurse fiir Aerzte.) Von
Dr. Max Joseph in Berlin.
M. H.! Bei einer früheren Gelegenheit (Berl. Klinik, April 1895) hatte ich bereits Veranlassung genommen, in Ihrem Kreise iiber Haarkrankheiten zu sprechen. Heute möchte ich Ihnen in gedrangter Kürze eine Übersicht über die Dermatosen geben, welche sich auf der behaarten Kopfhaut lokalisieren. Dieselben bieten zwar keine besonderen Eigenschaften dar, welche sie aus dem Rahmen der klinischen Pathologie der Hautkrankheiten überhaupt herausheben, aber gerade durch ihr Auftreten an jener Stelle treten doch für den Arzt häufig genug Schwierigkeiten bei der Diagnose und Therapie dieser Affektionen ein. Daher schien es mir wünschenswert, Ihnen, bevor wir uns trennen, eine Zusammenstellung der auf dem behaarten Kopfe vorkommenden Hautkrankheiten zu geben und daran einige Winke für deren Behandlung zu knüpfen. Am häufigsten tritt uns das
Ekzema capillitii
entgegen. Der Definition entsprechend, welche ich Ihnen bereits früher für die Ekzeme an den übrigen Körperstellen gegeben habe, wird es Sie nicht wundern, wenn ich auch das Ekzem am behaarten Kopfe als einen Flächenkatarrh mit vorwiegend seröser Exsudation auffasse. Als den Typus dieser katarrhalischen Affektionen können wir die durch äussere Reize hervorgerufenen arteficielle Dermatitis betrachten. Hebra war der erste, welcher auf diese Congruenz der klinischen Erscheinungen aufmerksam machte und nachwies, dass eine durch Crotonöl, einem unserer stärksten Reizmittel, hervor-
gerufene Hautentzündung im wesentlichen dem Typus der akuten 1
Ekzeme entspricht. Indessen haben spätere Beobachter hieran riitteln zu sollen geglaubt und vor allem hat Unna sowie seine Schüler immer wieder betont, dass beide Prozesse doch wesentliche Unterschiede von einander darbieten. Vor allem sei ein Punkt massgebend, dass eine artificielle Dermatitis abklinge, sobald der die Schädlichkeit ver- ursachende Reiz aufgehört habe. Beim Ekzem dagegen sei dies nicht der Fall, sondern hier mache der Krankheitsprozess eine vielleicht im Wesen des von uns noch nicht gekannten ätiologischen Momentes liegende fortschreitende Ausbreitung durch. Indessen trifft dies im wesentlichen nicht zu. Auch eine arteficielle Dermatitis heilt nicht ab, sobald die Krankheitsursache aufgehört hat. Gerade bei den durch gewerbliche Beschäftigung hervorgerufenen arteficiellen Derma- titiden, den Krankheitsprozessen, welche in den verschiedensten Berufsarten durch Einwirkung äusserer Schädlichkeiten zu Stande kommen, sehen wir, dass noch lange Zeit, oft Wochen, ja Monate nach Entfernung der Schädlichkeiten und trotz aller Schonung eine Heilung nicht zu Stande kommt. Im Gegenteil der Prozess schreitet weiter vor. |
Es ist allerdings richtig, dass zuweilen die arteficielle Dermatitis, welche nach der Anwendung äusserer Reizmittel entsteht, aufhört, sobald der Reiz nicht mehr einwirkt. Indessen gar nicht selten hinterlässt der gleiche Reiz bei anderen Individuen ein veritables Ekzem mit all den Charakteren, welche wir bei einem spontan aus uns unbekannter Ursache entstehenden Ekzem auftreten sehen. Einerseits ist dieses die Folge eines verstärkten Reizes, welcher auf die Haut des ekzematös gewesenen Individuums einwirkt, anderer- seits müssen wir aber doch eine besondere Prädisposition jener Individuen annehmen, da wir bei einer Anzahl anderer Menschen nach der Einwirkung der gleichen äusseren Reize kein Ekzem auf- treten sehen. Wir gestehen ein, dass dieses Wort Prädisposition nur unsere Verlegenheit in der Erkennung der Ätiologie des Ekzems ausdrücken soll, indessen müssen wir uns vorläufig damit begnügen, bis uns weitere Forschungen mehr Aufklärung über diesen Punkt geben werden. Dass hierbei in der Constitution des Individuums gelegene Momente mitspielen mögen, soll nicht bestritten werden. Daher erklärt sich auch die Annahme einzelner Autoren von dem Vorkommen einer Diathese (Gicht, Asthma etc.) gewisser
Ekzeme. Indessen scheinen diese konstitutionellen Momente nach meinen Beobachtungen doch immer nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Ich habe sie nur selten bei Ekzematösen finden können.
Gerade auf dem Kopfe aber stellt eine bestimmte Art von arteficieller Dermatitis den Typus des akuten Ekzems dar, das ist das pedikulöse Kopfekzem. An das Erscheinen von Pediculi capitis schliessen sich akute Hautentzündungen an, welche nicht aufhören, sobald die Pediculi beseitigt sind. Wochen, ja sogar Monate lang haben wir zu thun, bis die ekzematösen Eruptionen auf dem be- haarten Kopfe und die sich hieran anschliessenden Veränderungen im Gesichte oder an anderen Körperstellen beseitigt sind. Ebenso sehen wir auch andererseits, dass die akuten, nennen wir sie einmal idiopathischen Kopfekzeme, deren Ursache wir nicht kennen, nicht nur den gleichen Verlauf nehmen, sondern auch ein identisches klinisches Aussehen zeigen.
Eine klinische Beschreibung der Ekzeme‘ auf der behaarten Kopfhaut ist nicht leicht, da die entzündlichen Erscheinungen je nach der Stärke des einwirkenden Reizes und der Beschaffenheit der Haut in ihrer Qualität wechseln. Im wesentlichen kann man hier leichte, mittlere und schwere Ekzemformen unterscheiden, aber auch das Alter spielt eine nicht unwesentliche Rolle.
Am häufigsten treffen wir Kopfekzeme bei Kindern an, und hier bilden sie in der frühesten Jugend für die Angehörigen wie für den Arzt geradezu eine Calamität. Die ersten Erscheinungen bei den Kindern, oft schon acht, vierzehn Tage oder einige Monate nach der Geburt, gehen unbemerkt vor sich und da von Seiten der Umgebung wenig hierauf geachtet wird, so entwickeln sie sich manch- mal zanz akut in Form eines starken Nässens und Borkenbildung über den ganzen Kopf, ja vielleicht schon über das Gesicht. . Zuerst wird auf irgend einer umschriebenen Stelle des Kopfes nur eine geringe Rötung bemerkt. Dieselbe hebt sich bei der geringen Be- haarung gut von der Umgebung ab und bedeckt sich in einigen Stunden mit einer gelblich fettigen Auflagerung („Gneis“). Entfernt man täglich vorsichtig mit reinem Olivenöl diese fettige Auflagerung, ein Gemisch von abnorm verhornten und deshalb fettig degenerierten
Epidermiszellen, sowie Talgdrüsensekret und belegt die ganze Stelle qe.
4
mit einer indifferenten Salbe (5prozentiges Borvaseline), so wieder- holen sich die Erscheinungen kurze Zeit noch in geringem Grade, es bleibt der entziindliche Prozess auf eine cirkumscripte Stelle be- schränkt, und in kurzer Zeit tritt Heilung ein.
Meistens aber wird der Prozess dadurch verschlimmert, dass man durch zu häufiges Waschen für eine gehörige Reinigung des Kopfes sorgt, und gerade in diesem Reize liegt dann der Grund zu einer akuten Ausbreitung des Ekzems. Ich stehe nicht an zu behaupten, dass durch das zu häufige und intensive Waschen bei ganz jungen Kindern ein grosser Teil der Ekzeme in diesem Lebensalter erzeugt wird. Bei uns zu Lande werden die Kinder morgens in toto ge- waschen, dann am Vormittag noch einmal gebadet und Abends wieder gewaschen. Das verträgt die zarte Haut des Kindes nicht, und gar nicht selten treten Ekzeme ein, welche durch den Reiz dieser Waschungen hervorgebracht werden. Jedenfalls sehen wir ausserordentlich häufig unter dem Gebrauche von indifferenten Salben und bei striktem Verbote des Waschens die Ekzeme abheilen. Ich muss hierauf ausdrücklich hinweisen, weil vielfach die entgegen- gesetzte Meinung nicht nur unter dem Publikum, sondern vor allem auch unter den Aerzten und speciell einigen unserer Fachkollegen herrscht. Sie empfehlen gerade das Wasser, sei es nun kalt oder warm bei ekzematösen Erscheinungen der Haut. Indessen lehren mich meine Erfahrungen immer wieder und wiederum, dass bei jeder akuten ekzematósen Hauteruption Wasser eine Schädlichkeit, vielleicht sogar die grösste für die kranke Haut ist Es vergeht fast keine Woche, wo ich nicht in meiner Poliklinik Kinder mit derartigen akuten Ekzemen sehe, die von mir eine einfache indifferente Salben- therapie empfohlen erhalten und deren Eltern mir dann sagen, das hätten sie alles längst gemacht, aber es hätte nichts geholfen. Auf meine genauesten Anweisungen, dass die Kinder aber zweimal täglich ihr Ekzem mit Salbe bestrichen, und darauf einen regulären Verband erhalten sollen und bis zur Abheilung des Ekzems durchaus nicht gewaschen werden dürfen, erhalte ich dannn die Erwiderung, das hätten sie allerdings früher nicht befolgt. Mit dieser einfachen Therapie und dem absoluten Verbot des Waschens sehe ich alsdann bald eine Heilung eintreten. Ich glaube jeder Arzt, welcher an sich selbst einmal eine akute oberflächliche Entzündung der Haut, z. B.
an den Händen, durchgemacht hat, wird mir Recht geben, dass hierbei das Waschen ausserordentlich unangenehm ist. Die Haut wird gespannt, es werden Schmerzen verursacht und die Entziindung klingt nicht ab.
Meist aber bekommen wir die Kinder nicht in diesem frühen Stadium, sondern mit den weiter vorgeriickten Charakteren: eines akuten Ekzems zu sehen. Der ganze behaarte Kopf ist bedeckt mit dicken gelblich schmutzigen Borken, die Haare sind verfilzt und ein unangenehmer Geruch kennzeichnet solcbe Kinder schon von weitem. Hebt man mit einer Sonde die Borke mit grossen Schwierig- keiten ab, so sielt man darunter die Kopfhaut diffus gerótet und stark nässend. Grosse Eiterpusteln, Impetigines werden durch die massenhaft auf der normalen Kopfhaut schon wuchernden und bei diesen Entzündungsprozessen üppig sich entwickelnden Mikroorga- nismen erzeugt, als deren Folgen sich dann starke Borken präsen- tieren. Ein solches akutes diffuses impetiginöses Ekzem stellt den Typus einer oberflächlichen durch äussere Reize hervorgerufenen und unterhaltenen Dermatitis dar. Ob dieser Reiz in dem Auftreten von Pediculi capitis oder in dem zu häufigen Waschen oder in dem Gebrauch von stark irritierenden Medikamenten entsteht, stets ist der Effekt der gleiche, es entsteht ein akuter mit starker Exsudation einhergehender Catarrh. Im Kindesalter bis zur Pubertät etwa sehen wir denselben häufig durch Pediculi capitis hervorgebracht, und man vergesse bei der Nachforschung nach der Ursache der Kopfekzeme niemals diese Möglichkeit zu berücksichtigen. Selbst in Familien, in welchen die grösste Sauberkeit herrscht, kommt doch einmal eine derartige Übertragung, sei es durch Verkehr in der Schule oder gemeinschaftliches Spielen vor. Gerade in den fortgeschrittenen Fällen, in welchen das Ekzem schon monatelang besteht, und wo im Anschluss an die entzündlichen Erscheinungen auf der Kopfhaut sich sekundär eine Lymphadenitis der benachbarten Cervical- und occi- pitalen Drüsen eingestellt hat, welche nun als oft pflaumengrosse Geschwülste imponieren und auch gar nicht selten zur Suppuration kommen, wird jenes ätiologische Moment übersehen. Häufig wird hier Skrophulose in Betracht gezogen, während man bei genauerem Zusehen die Ursache in Pediculis capitis findet und demgemäss bei geeigneter Therapie schuclle Heilung erzielt.
6
Im späteren Lebensalter tritt dieses ätiologische Moment zurück und wir sehen überhaupt um diese Zeit weniger häufig akute nässende Ekzeme auf der behaarten Kopfhaut. Ob hier der Nähr- boden, i. e. die Kopfhaut nicht mehr so geeignet ist für das Auf- treten derartiger Entzündungen oder ob jetzt die äusseren Reize seltener werden, lasse ich dahin gestellt. Indessen zuweilen beobachtet man sie doch auch, und gerade diese Erfahrungen haben mich immer wieder zu der Überzeugung gebracht, dass weder parasitáre Ein- flüsse, noch konstitutionelle Ursachen, sondern allein artefizielle Mo- mente solche akuten Kopfekzeme hervorrufen. Vielleicht aber ge- hört noch dazu eine besondere Prädisposition, da wir nicht bei allen Individuen trotz der Einwirkung der gleichen Reize dieselben Schäd- lichkeiten entstehen sehen. Ich habe es gar nicht selten beobachtet, dass Männer oder Frauen im mittleren und höheren Lebensalter, denen zur Beseitigung eines Haarausfalles stark reizende Waschungen oder Salben empfohlen waren mit dem gleichen akuten Ekzem zur Beobachtung kamen, wie es oben als durch Pediculi hervorgebracht geschildert wurde. Das Gleiche gilt für jene Fälle, wo Haarfärbungen mit zu stark reizenden Medikamenten versucht wurden. Ja die Ähnlichkeit ging hier so weit, dass nicht die Dermatose beendigt war, sobald der äussere Reiz beseitigt und die Schädlichkeit suspendiert wurde, sondern genau so wie bei Ekzemen an anderen Körperstellen verbreitete sich auch hier der entzündliche Prozess von der zuerst affizierten Stelle, sei es per continuum über die Gesichtshaut aus, oder er sprang auf dem Wege der reflektorischen Gefässalteration auf weitere Entfernung über. Hier also galt nicht der alte Satz: cessante causa cessat effectus, sondern der in dem Hautgewebe ge- setzteentzündlicheReiz machte seinen typischen cyklischen Verlauf durch, unbekümmert um das weitere Fortdauern der Reize oder das Aufhören derselben. Wenn man diesen cyklischen in typischer Art immer wieder sich zeigenden klinischen Verlauf betrachtet, so glaube ich, wird man zu keinem anderen Urteile gelangen, als dass diese artifiziellen Dermatitiden in der That vollkommen dem Bilde entsprechen, welches wir seit Alters her unter dem Begriffe des Ekzems zusammenfassen. Will man aber an diesem Begriffe des Ekzems rütteln und eine neue Definition geben, etwa der Art, dass wir unter Ekzemen nur bestimmte, oberflächliche, parasitäre Prozesse verstehen, welche durch
bestimmte pathogene Mikroorganismen hervorgerufen werden, so fehlt uns dafiir bis jetzt noch jede positive Unterlage.
Gerade bei diesen eben geschilderten akuten nässenden im- petiginösen, borkigen Ekzemen feiert die Therapie ihre Triumphe. Während man früher vorschlug und es heute noch zuweilen hört, dass in einem solchen Falle zunächst die Haare abgeschnitten werden müssen, setzen wir jetzt gerade unseren Stolz darin, solche Ekzeme zur Abheilung zu bringen, ohne dass die betreffenden Individuen durch das abgeschnittene Haar auf Monate entstellt werden. Das erste ist jegliches Verbot des Waschens mit Wasser und Seife. Eine Auflösung der Borken durch Öl ist, wenn dieselben nicht gerade sehr hochgradig aufgelagert sind, meist überflüssig, und wir beginnen sofort mit der Anwendung einer von Biett zuerst empfohlenen Zinnober-Salbe, um deren weitere Verbreitung sich Lassar ein grosses Verdienst erworben hat.
Rp. Hpydrarg. sulfur. rubri 1,0 Sulf. sublim. 24,0 Ol. Bergamott. gutt. XXV Vaselini flavi ad 100,0.
Dieselbe wird mit einem Borstenpinsel morgens und abends dick auf alle ekzematösen Partien mehrere Tage lang, ohne sie jedes- mal wieder zu entfernen, aufgestrichen. Erst nach 4—5 Tagen ver- sucht man zuerst mit einem in Öl getränkten Flanelllappen die Salben und Borkenmassen zu entfernen, worauf dann eine Waschung mit lauwarmem Wasser und einer indifferenten, nicht reizenden Seife, z. B. Heine’s zentrifugierter Kinderseife erfolgt. Ist hierdurch der krankhafte Prozess noch nicht beseitigt, so muss man die Prozedur wiederholen. Meist kommt man selbst bei dem schwersten Ekzem mit einem derartigen zwei- bis dreimaligen Turnus aus. Alsdann bat das Nässen aufgehört, die Borken sind abgefallen und es liegt nun noch eine diffus gerötete Fläche vor, auf welcher eine geringe Desquamation sichtbar ist. Diese wird beseitigt durch abendliches Einfetten mit Olivenöl oder 5prozentigem Borvaseline oder einer Salbe folgender Zusammensetzung, welche die oberflächliche Schuppung auflöst. Rp. Acid. salicyl. 1,0
Tinct. Benzoes 3,0 Vaselin. flavi ad 30,0
Statt dessen empfiehlt* sich auch folgende kompliziertere Ver- ordnung:
Rp. Medullae bovis 10,0 Vaselini flavi 60,0 Ol. Amygd. dulc. 50,0 Liquef. leni calore et admisce Extract. chinae 0,25 Cort. chinae reg. pulv. Balsami peruviani aa 1,0 Ol. Caryophyll. 0,5 Ol. Rosarum gutt. I. M. f. ungt.
Wem an wohlriechenden Ölen liegt, rate ich folgende Verordnung: Rp. Ol. Amygd. 45,0 Ol. Jasmin. 20,0 Ol. Rosar. gutt. I. M. f. ungt.
Erst nachdem die Entzündung der Kopfhaut ganz geschwunden und keine Neigung zu einem erneuten Nässen sich gezeigt hat, kann man die Kopfhaut waschen lassen und muss noch häufig ein- fetten, um Recidive zu verhüten.
Sind aber Pediculi die Ursache des Kopfekzems gewesen, so wird man natürlich vor der eben genannten Behandlung des Ekzems diese erst beseitigen. Das geschieht am einfachsten durch Gebrauch von Sublimatessig (Sublimati 1,0, Aceti communis 200,0). Der Essig löst den Chitinpanzer auf, mit welchem die Nisse an den Haaren befestigt sind, und Sublimat tötet die Pediculi.
Im Gegensatze zu diesen akut auftretenden und mit erheblichen Beschwerden einhergehenden entzündlichen Erscheinungen tritt im mittleren und höheren Lebensalter, selten in den früheren Jahren, eine chronische Erkrankung der Kopfhaut auf, welche, schleichend einsetzend, jahrelang allmählich sich entwickelnd, zunächst nur zu einer kleienförmigen Abschuppung führt und erst später einen Haarausfall, die frühzeitige Glatzenbildung, bedingt. Dieser von Hebra als Seborrhoea sicca capitis mit nachfolgender Alopecia pityrodes bezeichnete Krankheitsprocess hat gerade in den letzten Jahren sehr viel Interesse erregt, und es ist das grosse Verdienst
9
Unna’s, uns neue Anregung zu weiterem Studium auf diesem Gebiete gegeben zu haben. Wenn ich auch nicht mit ihm in Allem übereinstimmen kann, so lässt sich doch nicht leugnen, dass seine Anschauungen zur Vertiefung in der klinischen Erkenntnis dieser Krankheitsbilder geführt haben. Er wählte als neuen Begriff die Bezeichnung des seborrhoischen Ekzems. Ich finde, M. H., dass Sie und viele andere Ärzte so häufig diesen Begriff gebrauchen, ohne sich darüber klar zu werden, was Unna darunter versteht, und auch gewiss nicht im Sinne Unna’s diese Bezeichnung viel zu sehr ver- allgemeinern. Mir scheint es, als ob viele Ärzte zur Verschleierung einer nicht ganz sicheren Diagnostik mancher Hautkrankheiten von dem Ausdruck „seborrhoisches Ekzem“ einen viel zu grossen Gebrauch machen. Daher- verlohnt es sich wohl der Mühe, heute einmal ein- gehend die Grundanschauungen Unna’s zu beleuchten und an unserem Krankenmaterial sich die Frage zu überlegen, welche von den neuen Anschauungen Unna’s können wir acceptieren, welche sind zweifelhaft und welche müssten wir vorläufig als nicht stich- haltig zurückweisen. Die oben angedeutete von vielen Ärzten heute beliebte Verallgemeinerung, als ob es nur seborrboische Ekzeme und gar keine andere Form des Hautkatarrhs gebe, liegt keineswegs im Sinne Unna’s, er spricht häufig genug (z. B. Volkmann’s Sammlung klinischer Vorträge, Seite 680) davon, dass er gewöhnliche Ekzeme von den Ekzemen mit seborrhoischer Signatur unterscheidet.
Auch ich erkenne die Existenz eines seborrhoischen Ekzems auf der Kopfhaut an, wie man es Unna zu Liebe wohl nennen kann, und wie es andere als Ekzema folliculare oder psoriatiforme be- zeichnen. Nur ist letzteres nach meiner Erfahrung nicht so häufig, wie Unna annimmt, und davon sondere ich streng das Hebra’sche Bild ab. Daher unterscheide ich eine Seborrhoea sicca, welche oft zu einer frühzeitigen Glatzenbildung, der Alopecia pityrodes, führt und ein seborrhoisches Ekzem der Kopfhaut, welches viel weniger leicht Haarausfall bedingt und auch schneller als jenes beseitigt werden kann.
Bei der Seborrhoea sicca der Kopfhaut handelt es sich zu- nächst um eine reine Hypersekretion der Talgdriisen, zu welcher sich später noch eine abnorme und übermässige Verhornung der Oberhaut, wie es Unna nennt, eine Parakeratose hinzugesellt. Leider
10
bekommen wir diese Patienten immer erst in einem späteren Stadium ihrer Erkrankung zu sehen; besonders Männer haben schon jahre- lang die Spuren ihrer Erkrankung in Form enormer Abschuppung der Kopfhaut mit sich herumgetragen, bis sie ein beginnender Haar- ausfall nötigt, zum Arzte zu gehen. Viel frühere Stadien bekommen wir bei den Frauen, resp. jungen Mädchen zu sehen, die schon ziemlich früh den Arzt aufsuchen, bevor die Epidermisabschilferung- grosse Dimensionen angenommen hat. Die Anschauung, welche ich mir über den als Folge einer lange bestehenden Seborrhoe beginnen- den Haarausfall gebildet habe und die hiergegen einzuschlagende Therapie habe ich bereits genauer in einem früheren Vortrage (Berliner Klinik April 1895 S. 4—9) auseinandergesetzt. | Heute möchte ich lieber mit Ihnen etwas ausführlicher auf das Ekzema seborrhoicum der Kopfhaut eingehen. Hierbei finden wir den Ekzemcharakter, den entzündlichen Oberflächenkatarrh im Gegensatz zu der reinen Hypersekretion, der Seborrhoea sicca aus- geprägt. Auf geröteter Basis, welche oft im Centrum der Affection nicht so stark ausgeprägt ist, wie an der Peripherie, und an ersterer . Stelle in Folge des aufgelagerten Talgdrüsensekrets leicht über- sehen werden kann, zeigen sich dicke fettige Schüppchen, welche noch deutlich die Entstehung aus Bläschen erkennen lassen. Be- sonders prägnant wird das Bild an der Haargrenze im Nacken und an der Stirn, wo eine häufig in Kreissegmenten angeordnete Rötung sich scharf gegen die gesunde Haut abgrenzt und hier ebenfalls deutlich die mehr oder weniger starken Zeichen der Exsudation trägt. Mit diesem Bilde stimmt ungefähr der klinische Charakter überein, welchen Unna seiner dritten Varietät der von ihm be- schriebenen Kopfaffektionen beimisst, und welcher wir allein das Epitheton des Ekzema seborrhoicum beilegen möchten. Nach Unna (conf. u. a. Besnier und Doyon, Traduction des maladies de la peau etc. de Kaposi, 2. Auflage Band I Seite 682) stellt sich ge- wöhnlich auf der behaarten Kopfhaut in der Schläfengegend nahe dem Ohre Nässen ein, welches auf eine einfache mit Jucken, Spannung und Rötung einhergehende Pityriasis folgt. Wenn man die Fettschuppen ablöst, so findet man darunter, wie immer beim Ekzem, die basale Hornschicht feuchtglänzend und dunkelrot. Wird das Nässen stärker, so kann man sogar an einigen Stellen Erosionen
11
derart sehen, dass die Stachelschicht freigelegt ist. Später werden die Krusten immer dicker, bröckelicher, feuchter und zugleich fett- haltiger. Beinahe stets sind die Ohren an ihrem äusseren Rande, und ich möchte hinzufügen, besonders an der Furche, welche den Übergang von Kopfhaut zur Ohrmuschel bildet, stark afficiert. Hier zeigen sich Rötung, geringes Ödem und eine Reihe von subjektiven Beschwerden, welche jedes Ekzem begleiten. Diese Form braucht nicht immer den ganzen Kopf einzunehmen, sondern beschränkt sich auf den Scheitel, das Hinterhaupt oder die seitlichen Teile des Schádels. Wir bezeichnen also nur diesen rein katarrhalischen mit allen Zeichen der Entzündung und zugleich einer starken Talgdrüsen- sekretion einhergehenden Krankheitsprozess auf der Kopfhaut als Ekzema seborrhoicum, während Unna auch die oben erwähnte Seborrhoea sicca mit der danach sich einstellenden Alopecia pityrodes zu dem Ekzema seborrhoicum hinzurechnet.
Unna (das seborrhoische Ekzem. Volkmann’s Sammlung klini- scher Vorträge No. 7 of Sept. 1893) charakterisiert das seborrhoische Ekzem durch vier Momente, 1) eine Porakeratose der Oberhaut, 2) eine Epithelwucherung (Akanthose), 3) eine mehr oder weniger tiefreichende Entziindung der Cutis und 4) eine Vermehrung des Hautfettes, sowie Anzeichen von vermehrter Thatigkeit der Knäuel- driisen. Mit diesem letzteren Punkte stimmen wir nicht überein, und hier besteht eine wesentliche Differenz nicht nur zwischen Unna und mir, sondern auch einer grossen Reihe anderer Forscher. Unna nimmt als wesentliches Moment eine Erkrankung der Knäuel- drüsen an und das Knäuelfett spielt in seinen Deduktionen eine grosse Rolle. Er bleibt durchaus immer und immer wieder bei seiner Behauptung stehen, dass von den Knäueldrüsen Fett abge- schieden wird. Beweise hiefür hat er aber nicht erbracht, im Gegenteil häuft er Theorien auf Theorien ohne dass er bier fest auf dem Boden der Thatsachen steht. Unna gibt selbst zu, dass der histologische Nachweis der Fettsekretion aus den Knäueldrüsen bisher nicht geführt worden ist, ja ihm erscheint es ebenfalls auf- fallend, dass man in den zugehörigen Gängen der Knäueldrüsen kein freies Fett antrifft. Trotzdem glaubt er aus gewissen sekun- dären Anzeichen eine vermehrte Fettsekretion aus den Knäueldrüsen ableiten zu können. Dazu rechnet er unter anderem auch eine
12
Erweiterung des Lumens der Knäueldrüsen und das Auftreten vieler Mitosen in den Drüsenzellen. . Den letzteren Befund habe ich auch bei der Porakeratosis (Archiv für Dermatologie und Syphilis, Band XXXIX) erhoben, ohne dass es dort je zu einer abnormen Fettsekretion gekommen wire. Endlich glaubt aber Unna auch, dass bei dem seborrhoischen Ekzem ein vermehrter Fettansatz im Hypoderm eine Rolle spielt, und speziell der seborrho- ische Haarschwund des Kopfes von einer Verdickung des Paniculus daselbst begleitet ist. Auch dieses Phänomen führt er auf eine starke Fettsekretion in den Knäueln zurück durch das Bindeglied einer im ganzen an Fett abnorm reichen Lymphe!
Ich glaube es ist besser sich an Stelle dieser Theorien auf den Boden der Thatsachen zu begeben und diese lehren uns, dass der alten Anschauung entsprechend aus den Talgdrüsen der Talg, Schmerfluss der Haut, aus den Schweissdrüsen der Schweiss ge- liefert wird. Es war vielleicht nicht einmal mehr nötig hiefür noch experimentelle Beweise zu liefern, ich glaube sie aber durch meine an Katzen angestellten Untersuchungen (Archiv für Anatomie und Physiologie, physiologische Abteilung 1891) geliefert zu haben. Wenn Unna das dem Schweisse beigemengte Fett in der Vola manus immer als für seine Theorie sprechend erwähnt, so muss doch darauf hingewiesen werden, dass die Erklärung hiefür uns in anderer Weise gegeben ist. Liebreich hat die Umwandlung von Cholesterinfetten aus Keratinsubstanzen nachgewiesen und so liegt es nahe den fettigen Schweiss in der Hohlhand auf das durch Abstossung der Epithelien freigewordene Cholesterinfett, welches dem Schweisse an dieser Stelle beigemischt ist, zurückzuführen.
Indess auch ätiologisch und klinisch können wir mit Unna's Definition des seborrhoischen Ekzems nicht übereinstimmen. Während Unna annimmt, dass alle seborrhoischen Ekzeme im Zusammenhang stehen mit solchen des behaarten Kopfes, hat uns die Erfahrung gelehrt, dass dies bei Weitem nicht immer der Fall ist. Gewiss kommt dies zuweilen, oder wenn man will — dies wird sich nach dem verschiedenen Material der einzelnen Beobachter richten — auch häufig vor. Aber die Regel ist es nicht. Wir finden gar nicht selten follikuläre oder wenn man will seborrhoische Ekzeme auf der Brust, zwischen den Schultern etc., obwohl die Kopfhaut
13
vollkommen normal ist. Andererseits soll aber nicht geleugnet werden, dass in vielen Fällen ein Zusammenhang der follikulären Ekzeme des Körpers mit Erkrankungen der Kopfhaut besteht. Diese letztere Form möchte ich nur als Ekzema seborrhoicum (Unna) bezeichnen, und davon jene anderen Ekzemformen abtrennen, welche ohne Zusammenhang mit Kopferkrankungen unzweifelhaft sehr häufig vorkommen. Mir scheint, dass Unna die Bedeutung des von ihm aufgestellten seborrhoischen Katarrhs überschätzt hat. Wenn auch anerkannt werden muss, dass dieser Forscher uns neue Bahnen gezeigt hat, so ist doch die Zeit gekommen, wo man das von Unna aufgestellte Krankheitsbild auf einen engeren Rahmen beschränken und absondern muss, was hiezu nicht gehört. Hierauf kann ich heute M! H! nicht weiter eingehen und werde an einer anderen Stelle Gelegenheit nehmen, ausführlich darauf zurückzu- kommen. |
Ist das seborrhoische Ekzem ein infektiöser Katarrh? Es ist möglich, doch besitzen wir hiefür noch keine sicheren Beweise. Unna glaubt, die von ihm beschriebenen Coccen von maulbeer- förmigem Aussehen, Morococcen, als Ursache ansprechen zu dürfen. Indessen ist es müssig, hierüber zu streiten, da vollgültige Beweise hiefür noch nicht vorliegen. Auch die neuesten Arbeiten Sabou- raud’s, welcher als ätiologisches Moment der Seborrhoe einen Mikro- bazillus beschreibt, nötigen noch zu einer grossen Reserve und wir werden erst Kontrolluntersuchungen abwarten müssen, bis wir uns ein definitives Urteil in dieser Frage erlauben können.
Die Beseitigung des Ekzema seborrhoicum gelingt uns bei einiger Ausdauer verhältnismässig leicht. Ich lasse den Kopf allabendlich waschen mit:
Rp. Tinctur. cantharid. 4,0 Spiritus lavand. Spiritus Rosmar. aa 50,0 und danach mit folgender Pomade die Kopfhaut einfetten: Rp. Resorcin. 1,0 Sulf. praecip. 4,0 Vaselini flavi ad 50,0
14
In der Haufigkeitsskala folgt dem Ekzem die
Psoriasis capitis.
Die Diagnose dieser Affektion auf dem behaarten Kopfe macht oft nicht geringe Schwierigkeiten, und viele Arzte haben sich daran gewöhnt, alsdann zur Unterstützung ihrer Meinung den übrigen Körper nach Symptomen der Schuppenflechte zu untersuchen. In der Mehrzahl der Fälle findet man in der That irgendwo am Körper u. a. an den typischen Lokalisationsstellen (Knie, Ellenbogen etc.) Psoriasisefflorenscenzen, welche die Diagnose erleichtern. Es giebt aber eine ganze Reihe von Kranken, welche sich uns entweder nur mit der Eruption auf dem Kopfe präsentieren und erst später einmal auf dem Körper mehr oder weniger zahlreiche Psoriasisausbrüche zeigen, oder welche niemals an irgend einer anderen Stelle als nur auf dem Kopfe Efflorescenzen haben. Aber auch in diesen letzteren Fällen ist die Diagnose nicht schwierig und muss bei einiger Auf- merksamkeit in jedem Falle gelingen. Sie ist aber gerade für den praktischen Arzt von grosser Wichtigkeit, weil er auf Basis dieser Diagnose schnell einen Erfolg mit unseren bewährten Medikamenten erzielen kann.
Mag die Psoriasis nur an wenigen Stellen des behaarten Kopfes vorhanden sein, oder sich um die ganze Circumferenz desselben aus- gebreitet haben, stets wird man irgendwo an einer Stelle noch eine einzelne isolierte Plaque finden, welche die Kennzeichen der Schuppen- flechte in typischer Weise gewährt. Ein kleines Büschel von Haaren scheint in einen oft nur stecknadelknopf-, manchmal etwa 5-Pfg.-Stück- grossen geröteten mit dicken weisslichen Schüppchen bedeckten Fleck eingepflanzt. Derselbe ist meist scharf umschrieben und hebt sich von der gesunden Kopfhaut, sowie den umliegenden Haaren gut ab. Entfernt man mit dem Nagel die Schüppchen, so folgen die Haare nicht nach, dagegen entleeren sich eine Anzahl punktförmiger Bluts- tropfen, welche aus den einzelnen hypertrophischen Kapillargefässen zu Tage treten. Gerade diese Art von Blutung ist ein wichtiges diagnostisches Moment. Solche kleinen Flecke sind nun entweder in ein- oder mehrfacher Zahl auf dem behaarten Kopfe vorhanden und bleiben hier jeder für sich isoliert bestehen oder es fliessen deren eine Anzahl zu einer grossen Scheibe zusammen, welche zu- weilen sich sogar über den ganzen Kopf ausdehnend, auf die Stirn
15
und den Nacken übergehen und hier den Eindruck erzeugen, als ob auf die Kopfhaut eine rote Kappe gestülpt wäre.
Fälle der letzteren Art erzeugen dem Patienten, abgesehen von der kosmetischen Verunzierung, lebhafte subjektive Beschwerden, während diese bei Erkrankungen geringer oder mässiger Ausdehnung nicht erheblich sind. Zwar besteht oft ein geringes Jucken, indessen ist dasselbe nicht bedeutend. Viel belästigender ist die starke Schuppung, wodurch die Kleider stets wie beschmutzt erscheinen. In diesen Fällen ist die Diagnose nicht leicht und eine Verwechslung mit einem Ekzem der Kopfhaut recht häufig. Während indessen bei einem Ekzem zu irgend einem Zeitpunkt dieser Erkrankung Nässen auftritt, fehlt dieses bei der Schuppenflechte. Als Zeichen der Exsudation beim Ekzem findet man Bläschen und Krusten, solche fehlen bei der Psoriasis. Auch die subjektiven Beschwerden sind beim Ekzem stärker als bei der Psoriasis.
Die Prognose ist eine günstige insofern als uns die Abheilung bald gelingt. Freilich können wir Recidive nicht verhüten und vor diesen bleibt ein Psoriatiker Zeit seines Lebens nicht sicher. Indessen da solche Schübe immer wieder leicht zu beseitigen sind, so kann die Prognose als günstig hingestellt werden. Haarausfall tritt selbst bei sehr lange bestehender Psoriasis nicht ein als Zeichen des ober- flächlich verlaufenden pathologischen Prozesses.
Die Therapie der Psoriasis capitis feiert glänzende Triumphe, sofern der Arzt nur einigermassen hiermit Bescheid weiss. Zunächst gilt als wichtige Regel genau wie bei der Behandlung der Psoriasis des Körpers: man entferne die Schuppen, da bei deren oft sehr erheblicher Dicke eine Permeabilität der Medikamente natürlich un- möglich ist. Zu diesem Zwecke empfehlen sich gründliche Waschungen mit alkalischem Seifenspiritus oder Natrium carbonicum. Auch Öle empfehlen sich zum Zwecke, z. B. das von Neisser empfohlene:
Rp. Acid. salicyl. 10,0 Ol. Oliv. Ol. Ricini aa ad 100,0
Erst nachdem hierdurch die Schuppen aufgelöst sind, kann man durch Salben auf den Krankheitsprozess selbst einwirken. Leider können wir das auf dem Körper als bestes Mittel sich bewährende Chrysarobin wegen seiner Verfärbung der Haare nicht verwenden.
16
Statt dessen verordnen wir eine Pyrogallussäuresalbe (10°/,), mit welcher man bei allabendlichem Einfetten noch immer recht schnelle Resultate erzielt. Viel milder, deshalb langsam zum Ziele führend, ist die 10°/,ige weisse Pricipitatsalbe. Ihr kommt gleich, resp. übertrifft sie vielleicht in etwas in der Schnelligkeit der Wirkung eine 10°/,ige Gallanolsalbe Das letztere Medikament (Gallussäure- anilid) habe ich vor einigen Jahren (Berliner klinische Wochenschrift 1895 No. VIII) von guter Wirkung gerade bei der Psoriasis capitis gefunden. Der innerliche Gebrauch von Arsen wird sich ebenfalls empfehlen, um kein Mittel zur schnellen Beseitigung der Schuppen- flechte unversucht zu lassen. Das Hauptgewicht lege ich aber auf die lokale Behandlung.
Von grösster Wichtigkeit zur Verhinderung eines erneuten Auf- tretens der Psoriasis auf dem Kopfe zeigt sich hier gerade eine sorgfältige Hygiene. Fleissiges Waschen des Kopfes teils nur mit Wasser und Seife oder mit alkalischem Seifenspiritus oder mit irgend einem andern der schuppenauflösenden Waschwässer verhindert das Recidivieren mitunter für lange Zeit. Auch der Einfluss des warmen Klimas, in welchem die Psoriasis nicht so häufig recidiviert als in unseren nördlichen Gegenden, ist nicht zu unterschätzen, und Bulkley (Clinical notes on psoriasis, Transactions of the medical society of New-York 1895) berichtet sogar von Patienten, welche frei von der Eruption blieben, solange sie in den Tropen lebten. Dagegen scheint mir, dass der Einfluss der Nahrung nicht sehr hoch anzuschlagen ist. Zwar kenne ich korpulente Patienten, welchen eine starke Entfettungskur angeraten wurde und die dann bei starker Abnahme des Körpergewichts sowie allgemeinen Schwächezuständen auch ihrer Psoriasiseruptionen verlustig wurden, indessen kehrte doch die Affektion wieder, sobald die Patienten ihrer alten Lebensweise nach- gingen. Damit in Analogie wissen wir ja auch, dass bei dem zu- fälligen Einsetzen fieberhafter Krankheiten die Psoriasis verschwindet, um nach Überstehen der interkurrenten Affektion wiederzukehren. Wenn einzelne Ärzte glauben, durch vegetabilische Nahrung die Psoriasis heben zu können, so habe ich davon keinen Nutzen gesehen und rate wegen des ungünstigen Einflusses auf den Allgemeinzustand hiervon ab.
17
Kine Affektion, welche meiner Erfahrung nach ebenfalls sehr häufig auf dem Kopfe lokalisiert ist, dort oft verkannt und mit Lues verwechselt wird, ist die
Akne varioliformis capitis.
Es zeigen sich hierbei zunächst kleine, meist nur etwa hanfkorn- grosse, bisweilen aber auch bedeutend grössere Knötchen, welche, dunkelblaurot verfärbt, flach in der Haut liegen und meist in engem Connex mit dem Haarfollikel stehen. Sie erscheinen zwar auch unabhängig von dem Haarfollikel, z. B. an der Stirn, aber ihre Prädilektionsstelle bilden doch die Follikel. In milden Fällen sind sie nur an der Stirnhaargrenze lokalisiert, um dieselbe nach beiden Richtungen, sowohl nach unbehaarter wie nach der behaarten Kopf- haut mehr oder weniger weit zu überschreiten. In ersteren Fällen nehmen sie aber ungefähr den ganzen behaarten Kopf mit den an- grenzenden Teilen ein und gehen sogar auf die Ohrmuscheln über. Die Dauer dieser Knötchen als solcher ist nur eine sehr geringe. Bald aber stellt sich ein Vorgang ein, welcher diesen Prozess zu einem typischen stempelt, es bildet sich in der Mitte der Knötchen eine Kruste, und wenn dieser oberflächliche Nekrotisierungsprozess abgelaufen ist, so zeigt sich als Endausgang des ganzen patho- logischen Vorganges eine Narbe. Diese hat*am meisten Ähnlichkeit mit der Pockennarbe. Daher hat man der Krankheit den Namen der Akne varioliformis verliehen.
Die Diagnose ist unter diesen Umständen nicht schwierig, und doch werden in der Praxis sehr häufig Fälle dieser Art mit Syphilis verwechselt. Ich habe eine ganze Anzahl Patienten, unter denen sich sogar einige Ärzte befanden, kennen gelernt, bei welchen diese Erkrankung, die immer und immer wieder recidivierte, als Lues diagnostiziert wurde. Und doch gehört nur eine geringe Auf- merksamkeit dazu, um die Unterscheidung dieser beiden Prozesse durchzuführen. Bei der Akne varioliformis sehen wir als Einzel- effloreszenzen die typischen Knötchen und den ebenso typischen Endausgang der Narbenbildung. Wo immer auch der Patient an seinem Körper die gleiche Krankheit haben mag, was mitunter nicht ausgeschlossen ist, da zeigen sich immer die gleichen Primär- effloreszenzen. Anders bei der Lues. Hier ist das Exanthem stets
9
w
18
ein gemischtes, d. h. neben der pustulösen Syphilis auf dem Kopfe, welche ja hier allein in Frage kommen kann, zeigt der Patient noch auf dem Körper makulöse oder papulöse Effloreszenzen, Condylome, Schleimhautaffektionen, Alopecie, Driisenschwellungen und anderes mehr. Die Schwierigkeit wächst aber, wenn der Patient früher einmal syphilitisch inficiert war und nun nach mehr oder weniger langer Zeit nach dieser Infektion eine Akne varioliformis acquirierte. Dann ist zuerst ein gewisses Schwanken gerechtfertigt, indessen nach kurzer Zeit der Beobachtung wird man hier zu einem richtigen Urteil gelangen, und entscheidend wird vor Allem sein, dass eine gründlich durchgeführte allgemeine antisyphilitische Kur keinen Heilerfolg gegenüber der Akne varioliformis zeigt.
Die Therapie ist eine ausserordentlich einfache Wir lassen jeden Abend weisse Präcipitatsalbe etwa messerrückendick auf sämtliche kranke Stellen aufstreichen und morgens mit einer in- differenten Seife, z. B. Heine’s centrifugierter Kinderseife abwaschen. Hierunter sieht man nach mehr oder weniger langer Zeit eine Ab- heilung eintreten und ich habe stets beobachtet, dass die Narben- bildung unter dieser Art von Behandlung viel weniger entstellend ist, als wenn man den Prozess sich selbst überlässt, wo er ja schliesslich auch spontan zur Abheilung gelangt. Innerliche Mittel, z. B. das so häufig dagegen verordnete Arsen, haben nach meiner Erfahrung gar keinen Einfluss auf die Erkrankung. Wie lange es dauert, bis die Abheilung der Akne varioliformis erfolgt, lässt sich im einzelnen Falle nicht sagen. Oft nach Tagen, manchmal - erst nach Wochen oder Monaten, tritt ein Erfolg ein, ein Misserfolg ist aber nie zu verzeichnen. Freilich kann dem Patienten nichts Sicheres darüber gesagt werden, ob nicht Recidive eintreten. Die- selben sind sogar ausserordentlich häufig, aber selbst in den hart- näckigsten Fällen wirkt weisse Präcipitatsalbe, wie mir scheint, nicht nur heilend auf den Ahlauf des Prozesses ein, sondern der fortgesetzte Gebrauch dieser Medikation verhütet sogar das häufige Recidivieren. Besonders fiel mir dies unlängst bei einem 34 jährigen Patienten auf, der seit circa 18 Jahren an einer enormen Akne varioliformis des ganzen behaarten Kopfes, der Stirn, des Nackens und beider Ohrmuscheln litt. Hier war alles Mögliche, äusserlich und innerlich, versucht worden, bis weisse Präcipitatsalbe nicht nur
Heilung brachte, sondern sogar jetzt schon 3 Jahre lang das Recidivieren der friiher selten einmal lange ausbleibenden Affektion verhinderte.
Leicht zu erkennen ist die Lokalisation der Lues capillitii,
obwohl dieselbe in ihren Äusserungen ausserordentlich vielgestaltet ist. Gerade der behaarte Kopf wird aber sehr häufig nicht nur im frühen, sondern auch im späten Stadium der Infection betroffen.
Ein sehr auffälliges und schon aus einer gewissen Entfernung nicht zu übersehendes Symptom ist die Alopecia syphilitica. Dieselbe zeigt sich im Eruptionsstadium der Lues, sobald der gesamte Körper mit dem Virus überschwemnt wird. Nicht selten klagen die Patienten schon über einen mässigen Haarausfall in dem sogen. 2. Inkubationsstadium der Lues, bevor noch die Zeichen der konsti- tutionellen Erkrankung in Form einer Roseola auf dem Körper sicht- bar sind. Meistens aber stellt sich dieses Defluvium capillorum erst zugleich oder sogar später als der erste Ausbruch der Intoxikations- erscheinungen ein, und der Haarausfall kann nun verschiedene Inten- sitätsgrade erreichen. Gewöhnlich aber sieht man am Hinterhaupt und an den Schläfen oder nur an einer von beiden Stellen ein Schütterwerden der Haare, als ob hier durch einen starken Griff die Haare buschweise ausgerupft wären. Bei genauerem Zusehen er- kennt man an den scheinbar kahlen Stellen noch eine ganze Anzahl feiner Haare. Steht man daher einige Schritte von einem solchen Kranken entfernt, so sieht diese Alopecie deutlicher aus, als wenn man sich ganz in der Nähe befindet. In einzelnen schweren Fällen ist der Haarausfall aber so hochgradig, dass man auf grossen Flächen kaum noch einige Haare bemerkt. Nach Sigmund’s Beobachtungen (östreichische Zeitschrift für praktische Heilkunde 1859) kommt das Ausfallen der Haare am häufigsten bei den Kopfhaaren, sonst aber auch bei den Haaren des Bartes, der Augenbrauen, Wimpern, der Achselhöble, der Geschlechtsteile vor und ist mit einer Seborrhoe verbunden. Mir scheint es fraglich, ob diese Seborrhoe nicht meist schon lange bostanden hat. Ich beobachte, dass die Alopecie immer auftritt, ohne dass man auf dem Haarboden irgend eine Eruptions-
erscheinung sieht. Daher wird man kaum fehlgehen, wenn man sie gx
20 ais eine wahre Intoxikationserscheinung ansieht nach Analogie des Haarausfalls, wie er sich bei Einsetzen anderer Infektionskrankheiten z. B. dem Typhus nicht selten einzustellen pflegt. Indessen nicht nur schwächliche, sondern gerade kräftige Personen werden von einem bedeutenden Haarausfall heimgesucht. Ich habe vor kurzem einen 33 jährigen, ausserordentlich kräftigen Herrn behandelt, der 5 Monate nach der Infektion zugleich mit einer Psoriasis syphilitica palmarum manus einen foudroyanten Haarausfall bekam, wodurch in 14 Wochen der ganze Kopf fast kahl wurde Hier war kein allgemeiner Schwächezustand des Patienten mit dem Haarausfall in Verbindung zu bringen, im Gegenteil der Kranke befand sich ausserordentlich wohl. Es hat sehr viel Verlockendes in Analogie mit den Theorien Sabouraud’s über die Alopecia areata viel mehr bei der Syphilis als bei jener Erkrankung anzunehmen, dass Toxine einen deletären Einfluss auf die Haarpapillen erzeugen, wodurch der Haarausfall bedingt wird. Dieser Einfluss ist aber nur vorübergehend, denn der Haarersatz vollzieht sich unter dem Einfluss einer antisyphilitischen Therapie und der damit einhergehenden Abtötung des Syphilisvirus auffällig schnell. Darin liegt die beste Widerlegung der alten Ansicht, dass die Alopecia syphilitica durch den Quecksilbergebrauch herbei- geführt werde. Aber gerade im Gegensatze zur Alopecia areata kommt es bei der Alopecia syphilitica nach meiner Erfahrung nicht vor, dass jemals ein Recidiv auftritt, oder am Körper die Flaum- haare ebenfalls ausfallen. Freilich kann auch bei schweren Lues- formen besonders der Lues maligna sive galoppans ein enormer Haar- ausfall erscheinen, der sich sogar auf die Augenbrauen, die Wimpern, den Bart, die Achselhóblen und Geschlechtsteile erstreckt. Indessen gehört dies zu den allergrössten Ausnahmen und kommt nur bei marastischen, durch Alkoholmissbrauch stark herunter- gekommenen Individuen zugleich mit pustulösen Syphiliden vor. Fournier salı besonders oft den Haarausfall an den Augenbrauen auftreten und hält ihn für verdächtig auf Lues besonders bei Frauen. Im Gegensatze zu diesem mithin durch Fernwirkung zu erklärenden Haarausfalle behauptet Giovannini (Monatshefte für praktische Dermatologie Band XVI Nr. 4, 1893) das Vorhandensein eines peri- vaskulären Leukocytenexsudats, welches vorzugsweise die Haarfollikel an ihrem unteren Teile befalle. Nur in den Fällen schwerer
21 syphilitischer Alopecie sei auch der obere Teil des Haarfollikels 2u- weilen von der Exsudation betroffen. Selten treffe man Leukocyten in der Papille an, und wenn dies der Fall stets in ganz geringer Zahl. Nie aber finde man Leukocyten zwischen den unmittelbar um diese herumliegenden Zellen des Haares.
Es werden jedenfalls noch weitere Untersuchungen abzuwarten sein, ob diese Befunde für alle oder viele Fälle von Alopecia sypbilitica zutreffen. Auffällig wäre immerhin in schwer zu er- kennender Übereinstimmung mit diesen hochgradigen anatomischen Befunden der leichte Haarersatz, der sich in verhältnismässig ausser- ordentlich kurzer Zeit bei diesen Patienten vollzieht. Die Prognose ist stets eine günstige, es stellt sich niemals eine dauernde Alopecie ein. Ausser einer allgemeinen Therapie ist besonders der lokale Gebrauch von weisser Präcipitatsalbe oder Sublimatwaschungen zu empfehlen.
Als Begleiterscheinung dieser Alopecia, aber oft genug auch unabhängig davon erscheint auf dem behaarten Kopfe als Zeichen der konstitutionellen Lues eine Roseola. Dieselbe zeigt genau den- selben Typus wie das vulgäre auf dem Körper verbreitete makulöse Syphilid. Viel häufiger aber beobachtet man ein kleinpustulöses Syphilid, die Akne syphilitica.
Die Patienten haben gewöhnlich selbst schon auf dem Kopfe ein Exanthem bemerkt und machen den Arzt auf dasselbe aufmerk- sam. Man findet meist erst bei genauerem Zusehen nur wenige, stecknadelkopf- bis hanfkorngrosse Pusteln, welche von einem braun- roten Hofe umgeben sind und eine spezielle Vorliebe für die Gegend der Follikel zeigen. Diese Pusteln sitzen meist isoliert und in ge- ringer Zahl verteilt, nur selten konfluieren mehrere und es zeigen sich als Resultat dieser gruppenförmigen Zusammensetzung grössere Krusten. Die Pusteln entwickeln sich langsam und bleiben unbe- handelt wochenlang stationär. Nach der Abheilung hinterlassen sie kleine punktförmige auf die Follikel beschränkte Narben, welche aber meist so unscheinbar sind, dass sie leicht übersehen werden.
Vom diagnostischen Standpunkte hat diese Akne syphilitica ein grosses Interesse. Sie fügt sich vollkommen in die Symptomatologie der Lues ein, wobei wir vor Allem die syphilitischen Hautaffektionen als Exanthemata mixta betrachten müssen. Während z. B. beim Ekzem, bei der Psoriasis, bei der Akne varioliformis und vielen
anderen Dermatosen das Exanthem des behaarten Kopfes genau dem entspricht, welches wir auf dem übrigen Körper konstatieren können, ist dieses bei der Syphilis nicht der Fall. Wir haben auf dem Körper ein makulopapulöses und auf dem Kopfe finden wir bereits ein kleinpustulöses Syphilid, eine Akne syphilitica, wozu dann als unter- stützendes Moment Schleimhauterkrankungen etc. kommen. Es leuchtet ein, welch ein wichtiges diagnostisches Moment diese Art der Be- urteilung der Exantheme für den Praktiker hat.
Während dieses kleinpustulöse Syphilid in der Regel, ja man kann sagen fast immer, in dem Friihstadium der Lues den behaarten Kopf befällt, bleibt diese Körperstelle in dem weiteren Verlaufe der konstitutionellen Lues meist von Eruptionserscheinungen verschont. Die vielfach recidivierenden Hautaffektionen, wie sie oft genug den Patienten und auch den Arzt zur Verzweiflung bringen, lassen gewöhnlich den behaarten Kopf frei. Nur im Spätstadium der Lues, oft 2:-—3 Jahre nach der Infektion, nicht selten aber auch bedeutend später, beanspruchen gummöse Erscheinungen auf der Kopfhaut eine energische Behandlung. Ebenso wie an anderen Körperstellen haben wir auch hier die in die Fläche und die in die Tiefe sich erstreckenden Infiltrationen zu unterscheiden. Bei den ersteren zeigen sich teils annuläre, teils in guirlandenform ausgebreitete oberflächliche derbe Knoten, die an vielen Stellen bereits pustulös zerfallen sind. Da sie dem Patienten nur geringe Beschwerden verursachen, so bekommt sie der Arzt meist erst nach längerem Bestande zu sehen und findet nun an der Haargrenze, oft aber auch am Hinterkopfe oder jedem beliebigen anderen Teile der Kopfhaut, die typischen derben tuberösen Syphilide, welche wir auch an anderen Körperstellen als immerhin gutartige Formen der gummösen Lues kennen. Sie fallen nach einer specifischen Behandlung einer Resorption anheim und hinterlassen keinen Haarausfall. Im Gegen- satze dazu stellen die gummösen in die Tiefe sich erstreckenden Infiltrationen die schwereren Formen des Krankheitsprozesses dar, weil sie sehr leicht zum Zerfall neigen und nach der Abheilung mit Narbenbildung natürlich ein dauernder irreparabler Haarausfall folgt. Diese letzteren Formen zeigen durch spontane Vernarbung im Centrum und peripherisches weiteres Fortschreiten der Infiltration den Typus der ulcerösen, serpiginösen Syphilide an. Die Tiefen- ausdehnung dieser Zerfallserscheinungen geht gewöhnlich nicht bis
23
auf den Knochen, wenn nicht noch eine selbstindige syphilitische Knochenaffektion hinzutritt. Meist wird nur die Haut mitsamt der Fascie und den Muskeln bis auf das Periost afficiert und als End- resultat stellen sich dann tiefe eingezogene Narben ein, in welchen natürlich die Haarfollikel einbezogen sind, wodurch dauernder Haar- verlust die Folge ist. Diese Affektion verursacht dem Patienten erhebliche Beschwerden und verunstaltet ihn nicht unwesentlich.
Die Diagnose ist leicht. Es giebt keinen andern Prozess, welchen man mit diesen auf sypbilitischer Grundlage beruhenden Ulcerationen verwechseln kann. Weder in der Anamnese, noch in den objektiven Erscheinungen des übrigen Körpers braucht irgend ein Anhalt zur Unterstützung der Diagnose der ulcerösen Syphilide auf der behaarten Kopfhaut vorzuliegen. Ganz allein aus dem ebengeschilderten Be- funde der geschwürigen Zerfallsflächen, welche in der Mitte schon spontane Abheilung zeigen und in der Peripherie mit einer erheb- lichen Infiltration fortschreiten, liegt eine genügend gesicherte Diag- nostik. Subjektive Beschwerden brauchen während des Verlaufes der Affektion nicht zu bestehen. Zuweilen stellen sich Kopfschmerzen ein, welche aber nach geeigneter Therapie bald verschwinden. Nicht selten recidiviert der ulceröse Prozess gerade an den schon früher betroffenen Stellen, und an den narbigen Partien bildet sich nach mehr oder weniger langer Zeit wieder von Neuem ein ulceröses Syphilid, welches zu einer weiteren spezifischen Behandlung auffordert.
Bei allen Formen der Lues ist neben der spezifischen Behandlung niemals die lokale Therapie zu verabsäumen. Weisse Präcipitatsalbe, bei den ulcerösen Formen Sublimatumschläge (1,0:500,0) oder Auf- puderung von Calomel beeinflussen oft ganz rapide den Ablauf der Erkrankung.
Für heute, m. H.! habe ich Ihnen die wichtigsten Affektionen der behaarten Kopfhaut zusammengestellt. Ich hoffe, recht bald einmal Gelegenheit zu haben, in einem Schlussvortrage die übrigen Dermatosen, welche sich auf der Kopfhaut lokalisieren, mit Ihnen ebenso ausführlich besprechen zu können.
Verantwortl. Redakteur: Hofrath Dr. Ernst Stadelmann in Berlin. u Druck von Albert Koenig in Guben. Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden direct an den oben genannten Redaktenr, Berlin SW., Anhaltstrasse 12, oder durch die Verlagsbuchhandlung erbeten.
Die erworbene Immunitat bei den Infections-
krankheiten des Menschen.
Von Dr. Adolf Gottstein, Arzt in Berlin.
Es ist ein eigenthümlicher, für unsere gesammte Zeitströmung charakteristischer Zug, dass auf allen Gebieten selbstständiger Be- thátigung, bei welchen es sich um die Förderung unserer Leistungs- fähigkeit handelt, die Gewinnung neuer thatsächlicher Feststellungen bedeutend höher geschätzt wird, als die Prüfung des schon vor- handenen Materiales auf seine Brauchbarkeit und Zuverlässigkeit. Nicht blos in der Tagespolitik ist das Schlagwort herrschend, dass etwas Positives geleistet werden müsse; fast alle die berechtigten Bestrebungen auf dem Gebiete der ärztlichen Standesfragen, welche augenblicklich die Mediciner auf das Lebhafteste beschäftigen, kranken an diesem Zuge nach positiven Leistungen. Denn die berufenen Vertreter der ärztlichen Interessen haben eine merkwürdige Scheu davor, ihre mit Scharfsinn und Sachkenntniss durchgeführte Prüfung von Missständen, die im Laufe der Jahrzehnte hervorgetreten sind, damit abzuschliessen, dass sie einfach deren Beseitigung fordern; sie glauben ihre Aufgabe erst dann erledigt zu haben, wenn sie irgend einen kleinen, der erst geleisteten kritischen Aufgabe gegen- über ganz nebensächlichen und oft überflüssigen Verbesserungs- vorschlag hinzugefügt haben.
Es liegt eine gewisse einseitige Ueberschätzung in diesem Zuge der Zeit, einer jeden noch so unwesentlichen positiven Thatsache den Vorzug vor der oft viel wichtigeren kritischen Revision des alten Bestandes unserer Anschauungen zu geben, und doch beginnt diese Anschauung jetzt auch auf dem Gebiete unserer Wissenschaft herrschend zu werden. Bezeichnend für diese Richtung ist es, dass z. B. Soltmann seine sehr sorgfältige Arbeit „Ueber die Erfolge mit Diphtherieheilserum‘ aus dem Jahre 1896 nicht treffender
schliessen zu können glaubt, als mit dem Citate: l
2
„Das ist die richtigste Kritik von der Welt, Wenn neben das, was ihm missfällt, Einer etwas Eigenes und Besseres stellt!“
Bei aller Hochachtung vor den thatsächlichen Errungenschaften fleissiger Forschung wird dieser Standpunkt des einseitigen Gelten- lassens positiver Errungenschaften durch die Geschichte der Wissen- schaft nicht als berechtigt hingestellt Man braucht nicht nur auf Thatsachen ersten Ranges hinzuweisen, wie die Umstossung der Lehre von der Bewegung der Sonne um die Erde oder den Beweis, dass ein Perpetuum mobile nicht möglich sei, um darzuthun, dass zuweilen die Beseitigung herrschender Anschauungen einen grösseren Fort- schritt in der Erkenntniss herbeiführen sollte, als die meisten positiven Leistungen. Schon unsere ganze moderne praktische Städte- Hygiene ist ein lebendiges Beispiel für den Werth, welchen oft ausschliesslich negative Maassnahmen besitzen. Die modernen Städteerbauer reissen ganze Häuserviertel ab, um Licht und Luft in die mittelalterlich engen Strassen eindringen zu lassen, und hüten sich wohl, die entstandenen Lücken durch provisorische Bauten sofort wieder auszufüllen; und der Brand der Stadt Kopenhagen im Jahre 1728 hat mehr zur Verminderung der Seuchengefahr beigetragen, als je eine frühere positive Maassnahme. Man darf sich daher nicht scheuen, eine directe Förderung der Wissenschaft auch darin zu finden, dass man durch sichere Beweise die Unhaltbarkeit einer alten Anschauung darthut. Die Nothwendigkeit eines solchen Vorgehens kann nicht bestritten werden, wenn man sich vergegenwärtigt, auf welch’ unsicherem Boden oft solche grundlegenden Theorieen ihrer ganzen Entstehungsweise nach ruhen. Irgend eine merkwürdige thatsächliche Beobachtung, deren Erklärung der augenblickliche Stand unseres Wissens noch nicht zulässt, findet immer wieder Bestätigung; es knüpfen sich mannigfaltige Begründungsversuche experimenteller Natur an sie an, analoge Beobachtungen von oft ganz äusserlicher Aehnlichkeit werden mit ihr in Verbindung gebracht, die Tradition von Geschlecht zu Geschlecht führt zu einer ungerechtfertigten Ver- allgemeinerung; die Ueberzeugungskraft, welche das Alter der immer wieder überlieferten Lehre verleiht, selbst in ihrer durch Nichts be- gründeten Verallgemeinerung, macht gegen jede Kritik blind, und so ist ein Dogma entstanden, dessen Beweis von Niemand mehr für er-
3
forderlich gehalten wird, welches aber die Grundlage fir weitest- gehende Folgerungen abgiebt.
In sehr interessanter Weise lässt sich diese Erscheinung an einer der ältesten Thatsachen der menschlichen Pathologie betrachten, welche im Laufe der Jahrhunderte merkwürdige Verallgemeinerungen erfuhr, welche in neuester Zeit mit zwei der interessantesten Theorien ver- knüpft wurde und welche heute noch so unerklärlich für uns ist, wie je zuvor. Es ist dies die Thatsache, dass gewisse Infections- krankheiten den Menschen in seinem Leben nur einmal befallen und dass ein Mensch, welcher eine dieser Krankheiten durchgemacht hat, selbst bei der ausgesprochensten Gelegenheit, sie später wieder zu erwerben, doch nicht ein zweites Mal erkrankt, während andere Individuen in gleicher Lage fast regelmässig Gefahr laufen, die Krankheit zu bekommen. Diese Thatsache ist der Beobachtung ent- nommen, und es ist nur die Aufgabe der prüfenden Nachunter- suchung, festzustellen, in wie weit diese Beobachtung richtig ge- wonnen ist, um sie dann in Form der Bestätigung anzuerkennen. An diese Thatsache wurde aber sofort ein Schluss angeknüpft, dass es nämlich der Vorgang der überstandenen Krankheit selbst sei, welcher die Wiedererkrankung verhindere. Dieser Schluss ist nahe- liegend und vielleicht im Einzelfall richtig, er braucht es aber nicht zu sein; denn, wie ich an anderer Stelle als Beispiel anführte, ist es schwer, in einer Lotterie mit ungünstigen Chancen zweimal das grosse Loos zu gewinnen und doch schliesst Niemand aus diesem Ereigniss, dass die Erlangung des Hauptgewinns gegen eine zweite Gewinnaussicht immunisire, sondern man findet in dieser Thatsache eine natürliche Folge der Wahrscheinlichkeitsgesetze. Der obige Schluss muss also in Bezug auf seine Richtigkeit noch be- sonders für jeden Fall bewiesen werden. Später hat man dann jene thatsächliche Beobachtung mit zwei anderen wissenschaftlichen Er- rungenschaften in Verbindung gebracht. Zuerst nämlich verknüpfte man die ganze Frage mit der Jenner’schen Entdeckung der Vaccination, welche mit Hilfe der erworbenen Immunität nach spon- taner Erkrankung erklärt werden sollte. Der innere Zusammenhang lag nahe, er wurde durch das vorher sehr verbreitete Verfahren der Variolation, der Einimpfung echter Pocken zur Erzeugung einer
milderen Form der Krankheit abgegeben. Denn die mittelalterliche 1.*
4
Anschauung, dass jeder Mensch drei Krankheiten zu überstelien habe, die Pocken, die Masern und die Krätze, galt für Europa unter den verheerenden Pockenepidemien des 18ten Jahrhunderts wenigstens noch bei den ersten zwei Seuchen als sicher und schaffte der von Lady Montague dort eingeführten Methode der Pockeninoculation bis zur Entdeckung Jenner’s ein weites Feld. Die prophylactische Wirksamkeit der Kuhpockenimpfung ist durch so sichere epidemio- logische und ‚klinische Beobachtungen dargethan, als zu erbringen überhaupt möglich; aber es wird Niemand bestreiten können, dass bei der Schutzpockenimpfung und bei der durch Ueberstehen einer echten Pockenerkrankung erzeugten Unempfänglichkeit zwei durchaus verschiedene pathologische Vorgänge auftreten, deren einer durch den anderen nicht ohne weiteres erklärt wird.
An die Erfahrungen mit der Kuhpockenimpfung knüpfte nun zweitens Pasteur zielbewusst seine berühmten Versuche der speci- fischen Immunisirung an; diese waren zuerst bei der Hühnercholera von Erfolg begleitet und der enge Zusammenhang mit der Jenner’schen Entdeckung wird am besten durch die Thatsache gekennzeichnet, dass Pasteur selbst auf die zur Schutzimpfung dienenden Stoffe, ursprünglich künstlich abgeschwächte Culturen, den noch heut in Frank- reich üblichen Namen der »Vaccins« einfach übertrug. Welche Wandlungen im Laufe der nächsten 15 Jahre die Lehre von der experimentellen specifischen Immunität erfuhr und wie vicle ver- schiedene Formen derselben aufgestellt wurden, darf als bekannt vorausgesetzt werden. Als besonders bezeichnend für die Wandlungen der Forschung kann die Thatsache gelten, dass diejenige Krankheit, an welche Pasteur zuerst heranging, die Hühnercholera, nach den neuesten Versuchen von O. Voges gar keine specifische Immuni- sirung beansprucht, sondern dass die gleiche Wirkung, welche Pasteur zuerst durch abgeschwächte identische Culturen erzielte, auch durch Einspritzung des Serums beliebiger, niemals an Hühner- cholera erkrankter Thiere herbeigeführt werden kann; es liegt daher nach der Bezeichnung von Voges dieser experimentell erzeugten Form der Immunität nur eine nicht specifische Resistenzwirkung zu Grunde. Die Thatsache der spontan erworbenen Immunität bei menschlichen Infectionskrankheiten mit dem Umwege über die Jenner’sche Entdeckung bildet nun die theoretische Grundlage, von
5
welcher die Forscher über experimentelle Thierimmunität die Be- rechtigung zu ihren Forschungen herleiten. So sagt z. B. Paul Ehrlich: „Eine der vornehmsten Aufgaben der Medicin besteht in der Lösung der Frage, wie der thierische Organismus gegen die Infectionen geschützt werden kann ...... Hat ja doch die Natur selbst durch das seit uralten Zeiten bestehende Räthsel, wonach ein Organismus, der einmal von einer bestimmten Infectionskrankheit befallen, vor der gleichen für längere Zeit, sogar für immer geschützt war, den Weg vorgeschrieben, der dem erwünschten Ziele zufiihrt.1)“
Wenn nun der Nachweis gelänge, dass dieses „uralte Räthsel der Natur“ in seiner Gesetzmässigkeit gar nicht besteht, so wären damit die Ergebnisse der experimentellen Immunitätsforschung selbst- verständlich nicht gefallen, aber einfach deshalb nicht, weil beide Erscheinungen überhaupt nichts mit einander zu thun haben, weil sie nur durch den geschichtlichen Gang der Forschung willkürlich in einen Zusammenhang gebracht worden sind. Man kann die Frage von dem Eintreten einer erworbenen Immunität des Menschen nach der spontanen Ueberwindung einer Krankheit ganz losgelöst von der Frage der experimentellen specifischen Thierimmunität und auch ohne Berücksichtigung der verschiedenen Erklärungsversuche an der Hand der geschichtlichen Ueberlieferung und der klinischen Prüfung unter- suchen.
Die erste Frage ist die nach den Krankheiten, von welchen überhaupt die Beobachtung festgestellt haben will, dass deren ein- maliges Ueberstehen gegen das Wiedererkranken schiitze. Bei der Durchsicht der Litteratur ist man überrascht, wie verschiedenartig die Angaben sind. Nur über den einen Punkt besteht Einheit, dass einer bestimmten Anzahl von Infectionskrankheiten diese Eigenschaft des Schutzes gegen Wiedererkrankung durchaus abgeht. Diese Krank- heiten sind Lungenentzündung, Gelenkrheumatismus, Erysipel, Gonor- rhoe, Malaria. Für eine zweite Gruppe steht die Frage aus äusseren Gründen ganz abseits jeder Discussion. Der Tetanus, der Milz- brand des Menschen, stellen immerhin so seltene und schwere Er- krankungen, die Tuberculose und Lepra so unheilbare und chronische Seuchen dar, dass die Entscheidung überhaupt unmöglich und auch
1) Zeitschrift für Hygiene. Bd. XII. S. 183.
gleichgiltig ist. Wenn wir aber aus der Litteratur, um nur den Widerspruch der Ansichten zu verzeichnen, einige vereinzelte An- gaben machen, so sagt Lotze?): „Während Typhus (exanthematicus?), Pest u. s. f. den Menschen mehrmals befallen können, kommen wiederholte Erkrankungen an Scarlatina, Masern, Blattern höchst selten vor, wenn auch die Meinungen von ihrer gänzlichen Unmöglich- keit, die man sonst hatte, durch neuere Krfahrungen erschüttert und widerlegt worden sind.“ Wagner’) nennt Masern, Scharlach, Keuch- husten, Gelbfieber, vielleicht auch Sypbilis. Bei anderen Krankheiten schütze das einmalige Ueberstehen viel weniger vor neuer Erkran- kung; am meisten bei Abdominaltyphus, weniger bei Pocken und Diphtheritis, am wenigsten bei Recurrens. Von neueren Autoren sagt Gartner‘), dass das Ueberstehen von Pocken, Masern, Schar- lach, Flecktyphus vor abermaliger Erkrankung schütze; Baum- garten?) führt ausser Masern, Scharlach und Pocken nur die Syphilis an, C. Fränkel) in seinem Grundriss Masern, Scharlach, Pocken „und Andere“, während Rubner’) ausser den drei acuten Exan- themen noch Typhus und Cholera erwähnt, die Syphilis aber sogar zu den Krankheiten rechnet, welche, wie Tuberkulose, Erysipelas, Gonorrhoe, den Organismus selbst noch empfänglicher für die gleiche Schädlichkeit machen. M. Gruber spricht in einem vor Laien gehaltenen Vortrag ganz allgemein davon, dass zwar nicht bei allen, aber bei vielen Infectionskrankheiten erworbene Immunität be- stände und Maiselis®), der neueste Autor speciell auf diesem Ge- biete, ist sogar der Ansicht, ganz auf die Experimente am Thier gestützt, dass die erworbene Immunität wahrscheinlich bei allen In- fectionskrankheiten des Menschen zu Tage trite. Für die von den anderen Autoren ausser Wagner nicht genannte Diphtherie nimmt Baginsky an, dass die einmalige Erkrankung nicht ganz vor der Wiedererkrankung schütze, doch träte, namentlich nach erstmaliger schwerer Erkrankung, die Wiedererkrankung meist nur leicht auf.
7) Pathologie und Therapie 1848, S. 585. ») Uhle und Wagner 1876, S. 191.
1) Leitfaden der Hygiene, II. Aufl., S. 327. 5) Pathol. Mykol. I 87.
® IH. Aufl., S. 195.
1) IV. Aufl., S. 926.
8) Virch. Arch., Bd. 137.
7
Andere Autoren sind auf Grund ihrer Einzelerfahrungen für die Diphtherie zu einem entgegengesetzten Schluss gekommen, ein Be- weis, wie unzuverlässig hier das subjective Ermessen und die Einzel- beobachtung für die Entscheidung der Frage ist. Wenn wir zu- sammenfassen, so werden von allen Autoren Pocken, Masern und Scharlach als immunisierende Krankheit bezeichnet, von einzelnen anderen noch die beiden Typhen, Keuchhusten, Gelbfieber, Syphilis, Recurrens, Cholera asiatica und Diphtherie. Die zweite Frage, die entsteht, ist diejenige nach den Beweisen auf dem Wege der Beobachtung, welche den Satz von der erworbenen Immunität er- härten sollen. Diese Beweise sind nun überraschend dürftig und für die Verallgemeinerung nicht gerade günstig. Soweit mir die Litte- ratur bekannt geworden, liegen nur vier Gruppen von Thatsachen vor. Zunächst ist bei den Pocken trotz deren grosser Verbreitung in der Bevölkerung und trotz der Häufigkeit der Epidemien, welche ein Irregehen sehr schnell corrigirt hätte, die Ueberzeugung von dem Schutz, welchen das einmalige Ueberstehen verleihe, eine so allgemeine und durch Jahrtausende überlieferte, dass es schwer fällt, Zweifel an dieser Annahme zu begründen. Denn wenn auch zugegeben werden muss, dass zahlreiche Fälle von Wiedererkrankung mitgetheilt werden und dass bei dem unerschütterten Glauben an die Theorie viele dieser Annahme widersprechende Fälle nicht ge- nügend gewürdigt worden sind, so war bis zu diesem Jahrhundert die Seuche eine zu verbreitete und schwere, die Beschränkung auf die Kinder als vorzugsweise noch nicht befallene Individuen im Gegen- satz zu späteren Zeiten des Impfschutzes eine zu häufige Er- scheinung, als dass die Lehre von der erworbenen Immunität nach Ueberstehung der Pocken hätte Bestand haben können, wenn nicht sehr zwingende Thatsachen für diese gesprochen hätten. Die zweite Gruppe von Thatsachen, welche ebenso beweisend erscheint, betrifft die Masern und zwar gerade in solchen Gebieten, welche durch Abschluss von der Aussenwelt jahrzehntelang vor der Ein- schleppung bewahrt geblieben waren. Auch an solchen Orten verlieren die Masern, genau wie die Pocken nach Einführung der Impfung, ihren Character als ausschliessliche Kinderkrankheit, die Erwachsenen besitzen die gleiche Empfänglichkeit, deren Fehlen in unserer Gegend also nur in der Durchseuchung ihre Erklärung findet; und trotz
der Länge der Epidemie und der Kürze der Krankheit wurde auf dem Faroerinseln unter den von Panum beobachteten Erkrankten nicht einer zweimal von den Masern befallen, bei einer Ausdehnung der Epidemie, welche von 7182 Einwohnern über 6000 ergriff.
Ungleich viel werthloser ihrer Beweiskraft nach sind die beiden letzten Thatsachen, welche für die Theorie ins Feld geführt werden. Hierher gehört zunächst die berühmte Stelle aus dem Thucydides, in seiner Schilderung der atheniensischen Pest des Jahres 430 v. Chr. Bei dieser sehr ausgedehnten und tödtlichen Seuche, über deren Natur noch heute die Meinungen getheilt sind, welche aber wahr- scheinlich typhösen Charakters war, nahmen sich die von der Krank- heit Genesenen der Leidenden an, weil sie sich selbst in Sicherheit befanden. Diese Stelle wird vielfach, so auch von Hueppe, als Beweis für die erworbene Immunität citirt. Bei der Einsicht in das Original bekommt sie aber eine ganz andere Bedeutung. Thucydides”) sagt wörtlich: ,,dic yao tov avróv, Gate xal xtElvery, o0x Eidußavev.‘ Es kam also ohne Weiteres vor, dass Jemand zwei- mal erkrankte, aber die Krankheit verlief das zweite Mal ebenso wenig tödtlich, wie das erste Mal. Wer bei dieser mörderischen und dabei nicht lange anhaltenden Seuche eine so hohe Widerstands- kraft besessen, dass er nicht starb, fiihlte sich sicher genug, der Ansteckungsgefahr zu trotzen, denn er hoffte auch ein zweites Mal jeue Krankheit zu überstehen und er galt, wie Thucydides aus- drücklich hinzugefügt, einmal einer solchen Gefahr entronnen, nicht nur in seinen Augen, sondern auch in denen seiner Umgebung als gefeit gegen diese und selbst gegen alle Seuchen. Haeser hat die Stelle daber durchaus richtig aufgefasst, wenn er aus ihr geradezu den Schluss herleitet, dass die Seuche des Thucydides nicht die Pocken gewesen sein können, denn „dann hätte das Ueberstehen der Krankheit für eine weit längere Zeit Schutz gewährt.“ 10)
Beweisend für die erworbene Immunität ist jene Stelle also nicht.
Noch werthloser sind einige epidemiologische Notizen aus der Seuchengeschichte des Mittelalters. Da wird z. B. erzählt, dass in einer Stadt von 10,000 Einwohnern dreiviertel durch den schwarzen Tod oder andere Seuchen dahingerafft wurden und nur wenige ver-
% Thucydides II, Cap. 51 Par 6. 1°) Geschichte der Medicin. III, 14.
y
schont blieben; die Bevólkerung ergiinzte sich aus der Umgebung, und wenn die Seuche im nichsten Jahr wiederkam, ergriff sie grade die Zugezogenen und nur wenige von denen, die auch das erste Mal verschont geblieben waren. Oder die Seuche befiel in dem einen Jahre das eine Stadtviertel, im nächsten aber einen vorher verschont gebliebenen anderen Stadttheil. Solche Beobachtungen sind zu vieldeutig und uncontrollierbar, um als Beweise zu dienen.
Es bleibt daher nur für Pocken und Masern der durch die Beobachtung mit grosser Ueberzeugungskraft geführte Beweis übrig, dass diese Seuchen den Menschen im Allgemeinen nur einmal be- fallen und es wird dieser Schluss durch die sicher festgestellte That- sache nicht erschüttert, dass vielfach auch einzelne Menschen zweimal und noch häufiger Masern und Pocken erworben haben. Für die sämmtlichef andern, von den Autoren angeführten Krankheiten ist aber, für jede besonders, der Beweis zu liefern, dass deren Erkrankung im Allgemeinen bei jedem Menschen nur einmal zum Ausbruch gelange. Es kann nicht bestritten werden, dass in vielen Fällen die Beobachtung den Beweis für die Behauptung zu liefern gar nicht in der Lage ist. Wenn für die Pocken und Masern, bei der allgemeinen Empfänglichkeit für diese Seuchen, es Jedem auffallen musste, dass die Durchseuchten trotz ergiebigster Gelegenheit zur Ansteckung und trotz innigster Berührung mit Leidenden von der Wiedererkrankung doch verschont blieben, so kann dieser selben Thatsache in den Fällen von Scharlach, Abdominaltyphus, Cholera und selbst von Stick- husten nicht die mindeste Beweiskraft zugesprochen werden. Denn dass ein der Ansteckung ausgesetzter Mensch von jenen Seuchen trotzdem nicht befallen wird, selbst wenn eine Ersterkrankung nicht vorausgegangen ist, ist auch sonst nichts ungewöhnliches. Direct trügerisch ist aber die Stütze der „grossen persönlichen Erfahrung“. Auf die Thatsache, dass ein Arzt selbst mit sehr grossem Kranken- materiale selten oder nie Gelegenheit hatte, an denselben Individuen zweimalige Erkrankungen an Abdominaltyphus oder Diphtherie zu sehen, dürfen doch nicht weittragende Schlüsse aufgebaut werden. Die Beobachtungszeit ist selbst bei jahrzehntelanger Berufsthätigkeit keine so lange, um dem Einzelnen die Entscheidung zuzubilligen, besonders bei Krankheiten, welche mit Vorliebe an ein bestimmtes Lebensalter gebunden sind, und bei Patienten, welche im Laufe der
10
Jahre Aufenthalt und Arzt wechseln. Wenn ein Mensch im Laufe von zwanzig Jahren zweimal den Abdominaltyphus erwirbt, was an sich schon selten genug sich ereignen wird, so wäre es ein merk- würdiger Zufall, dass beide Male gerade derselbe Arzt die Behandlung übernimmt; und ein Arzt, welcher die zweite Erkrankung sieht, wird eher geneigt sein an eine frühere falsche Diagnose zu glauben, ehe er an dem Dogma der durch die Erkrankung erworbenen Immunität zweifelt. Wenn trotzdem immer wieder bei der Entscheidung wichtiger Probleme, deren Lösung über das Vermögen eines Einzelbeobachters einfach hinausgeht, als Beweismittel die subjective persönliche Er- fahrung ins Feld geführt wird, so liegt hierin nur ein neuer Beweis für die in der Medicin so häufige Verkennung der Methodik und die unmathematische Denkweise vieler Aerzte.
Es giebt, wie ich schon früher betont habe!!), zur Entscheidung dieser Frage nur eine einzige brauchbare Methode, diejenige der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Wenn man die Wahrschein- lichkeit irgend eines Ereignisses ermittelt hat, eine Grösse, welche durch einen echten Bruch ausgedrückt wird, und wenn die Wahr- scheinlichkeit eines zweiten Eintreffens den gleich günstigen Voraus- setzungen unterliegt, so ist die Wahrscheinlichkeit dieses zweiten Eintreffens das Quadrat der ersten Wahrscheinlichkeit, also viel ge- ringer. Darum ist es, wie Gläser sagt, selbstverständlich sehr selten, dass Jemand zweimal denselben Fuss bricht, obgleich ein Unterschied für die Wahrscheinlichkeit des wiederholten Vorgangs nicht besteht. Bei den Infectionskrankheiten aber ist aus drei Gründen die Wahr- scheinlichkeit der zweiten Erkrankung niemals so gross, wie die der ersten. Denn viele Infectionskrankheiten sind an ein bestimmtes Lebensalter gebunden, wie die Diphtherie, und wenn der erstmalig Erkrankte zum zweiten Male nach ‘Jahren Gefahr läuft, sich zu in- ficieren, ist er oft dem disponierten Alter schon entrückt. Andere Erkrankungen wieder, wie die Cholera, Flecktyphus und Recurrens, treten in so seltenen, kurz dauernden Epidemien auf, dass vielleicht nie wieder dem Einzelnen Gelegenheit geboten ist, mit der Seuche in Berührung zu gelangen. Aehnlich liegt auch die Frage für Ab- dominaltyphus, dessen Morbidität in den letzten zwei Jahrzehnten
11) Epidemiologische Studien über Diphtherie und Scharlach, Springer 1895.
11
in unseren Grossstädten erheblich gesunken ist. Drittens vor Allem raffen doch besonders mörderische Seuchen, wie Diphtherie, Cholera und Pest, gerade die Widerstandslosen in so grosser Zahl hinweg, dass die nach der ersten Erkrankung Ueberlebenden häufig gerade die Widerstandsfähigeren, die »Durchgesiebten« bilden, für welche an sich die Wahrscheinlichkeit wieder zu erkranken oder gar der zweiten Erkrankung zu erliegen, beträchtlich sinkt.
Für solche Erkrankungen, welche in Epidemien die Bevölkerung nur für eine kurze Periode heimsuchen und hierbei, wie bei Fleck- typhus, Cholera und Recurrens, überdies noch einen ganz geringen Procentsatz der Bevölkerung befallen, ist die Wahrscheinlichkeit einer Wiedererkrankung an sich so gering, dass die Feststellung nur weniger gut beobachteter Fälle genügt, um das Dogma von der durch Ueberstehen erworbenen Immunität zu widerlegen. Man kann sich dies leicht zahlenmissig an der Hamburger Choleraepidemie des Jahres 1892 klar machen, welche, so schwer sie war, doch nur wenige Wochen anhielt und nur rund 3°/, der Einwohner befiel. Da von den Erkrankten rund die Hälfte starb, so hatten die Ueber- lebenden 1!/, °/, höchstens die Wahrscheinlichkeit, wieder zu 3 °/, befallen zu werden; es konnten also nur etwa rund 250 Einwohner von Hamburg die Aussicht haben, ein zweites Mal zu erkranken. Da aber von diesen 250 ein Theil schnell fortgezogen sein wird, wie Rumpel!?) ausdrücklich hervorhebt, ein anderer erheblicher Bruch- theil wegen veränderter Lebensbedingungen niemals wieder Gefahr lief, zu erkranken und da von den Erkrankten doch nur ein be- stimmter Bruchtheil den staatlichen Krankenanstalten zuging, so boten bei dieser minimalen Wahrscheinlichkeit schon die wenigen in den Staatsanstalten zur Beobachtung gelangten Fälle von sicheren Neu- erkrankungen einen zwingenden Beweis gegen die Annahme einer erworbenen Immunität bei Cholera asiatica, Rumpel führt (l. c.) vier solcher Fälle an, welche, nachdem sie 1892 Cholera durch- gemacht, in der Nachepidemie 1893 von Neuem erkrankten. Er be- merkt hierzu: „Danach schützen weder die sog. Kommainfectionen ohne klinische Folgen, noch selbst schwere Erkrankungen gegen eine neue Infection. Dass die letztere eine besonders leichte Form der
12) Berl. klin. Woch. 1894. S. 757.
12
Erkrankung zur Folge gehabt hätte, lässt sich nicht behaupten. — Rechnet man die Zahl derjenigen, welche im Jahre 1892 Cholera überstanden, auf 10000, so ist es im höchsten Grade überraschend, dass von diesen bereits im Laufe eines Jahres 4 Personen zum zweiten Male erkrankten, bei der ersten Gelegenheit zu einer neuen Infection, welche trotz allgemeiner Verbreitung doch nur 0,025 pCt. von der Gesamnitbevölkerung befiel (d. i. auf 4000 Einwohner eine Erkrankung).
Schwieriger wird der Beweis für endemische Krankheiten, wie die indische Cholera, den einheimischen Abdominaltyphus, die Dipbthe- rie, den Keuchhusten, den Scharlach und die Syphilis. Wenn wir an die einzelnen Krankheiten herangehen, so lehrt für diejenigen Seuchen, bei denen die Aufführung auch nur einiger sicher gestellter Fälle zur Widerlegung des Dogmas genügt, die Geschichte folgendes. Für die bei uns nur epidemische asiatische Cholera liefern die in Hamburg durch Rumpel zur Mittheilung gelangten Fälle von Neuerkrankung den allen Anforderungen genügenden Beweis, dass eine erworbene Inımunität nicht besteht. Aber, um dies gleich hier hervorzuheben, auch für die endemische Cholera Asiens scheinen die Erfahrungen, welche Erni Greifenberg!'?) in Atjeh sammelte, die gleiche Thatsache zu stützen. Er sagt: »Dass nur wenige Per- sonen bei einer hohen Choleramortalität in den Fall kamen, zum zweiten Mal zu erkranken, ist begreiflich. Indessen gab es in Atjeh nicht wenig Leute, die gesund die Epidemien von 1882 und 1883 durchgemacht hatten, indessen doch noch in der dritten Epidemie starben.« Es muss allerdings betont werden, dass die Fassung dieses Satzes durchaus unklar ist und Missverstándnisse herausfordert. Man wird schwer beweisen können, was der Verfasser mit dem Aus- druck »die Epidemie gesund durchmachen« eigentlich gemeint hat, ob die Genesung von cinem wirklich überstandenen Anfalle, wie die früheren Worte andeuten könnten, oder vielmehr im Gegensatz zu diesen Worten die Unempfänglichkeit zu erkranken überhaupt, die nicht in jeder Epidemie Stand hielt.
Bei der Beulenpest, deren Ausbruch in Indien im Jahre 1897 von besonderem Interesse ist, liegt aus dieser jüngsten Epidemie
1%) Pettenkofer, Hygienische Tagesfragen. 1889. S. 72.
13
noch kein Material vor; von der Pest des Justinian aber um die Mitte des sechsten Jahrhunderts, welche mit der Beulenpest zweifel- los identisch ist, sagt Evagrius 4) ausdrücklich: »Mehrere, welche ein oder zwei Mal ergriffen gewesen und genesen waren, starben, wenn sie von Neuem befallen wurden.e Auch von dem jetzt ver- schwundenen englischen Schweiss wird wiederholt hervor- gehoben, dass mehrfache Erkrankungen nicht zu den Seltenheiten gehörten. Recurrens ist eine so selten bei uns auftretende und dann nur gewisse Schichten der Bevölkerung befallende Seuche, dass es schon als ein Curiosum erscheint, wenn Jemand zweimal Gefalır läuft zu erkranken. Und dennoch sagt B. Spitz!5) in seiner be- kannten kleinen Monographie über die Breslauer Recurrensepidemie im Jahre 1879: »Dass das einmalige Bestehen der Recurrens nicht vor einer Erkrankung während derselben Epidemie schützt, ist eine bekannte Thatsache, für die ich auch aus dem diesjährigen Material ein Beispiel anzufiihren vermóchte. Ebenso kamen einige wenige Erkrankungen vor von Individuen, die früher, z. B. im Jahre 1868, Recurrens durchgemacht.« Der Flecktyphus wird vielfach als eine der Krankheiten angeführt, welche den Menschen nur einmal be- fallen. Die Epidemien sind nicht gar so häufig und unter den be- troffenen Bevölkerungsschichten auch schwer genug, um gerade die Widerstandsunfähigsten hinwegzuraffen. Indess ist es bezeichnend, dass gute Beobachter Fälle von Doppelerkrankungen ganz exact fest- gestellt haben und dass sie trotz der beweisenden Kraft, welche bei der geringen Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses in dem Auf- treten mehrfacher Erkrankungen liegt, lieber solche Fälle als Aus- nahme bezeichneten, als dass sie das Dogma für hinfällig ansahen. So sagt Julius Becher, welcher die Epidemie des Typhus exanthe- maticus im Jahre 1868 in Ostpreussen als Arzt durchmachte, wört- lich: »Einmaliges Ueberstehen der Krankheit sicherte durchgehend vor einer zweiten Erkrankung; College Heymann hat indess 2 Fälle beobachtet, die, nachdem sie vom Typhus geheilt, entlassen waren, kurze Zeit darauf wieder in das Lazareth unter den aus- geprägtesten Symptomen der Krankheit gebracht wurden. Einer
'*) Haeser III. $. 47. 15) Breslau. Schottländer 1879. $. 5.
id
dieser Fälle endete letal!*).“ Also in einer Epidemie von kurzer Dauer kamen bei wenig mehr als 300 Lazarethfällen 2 Doppeler- krankungen zur Beobachtung, ein Fall auf 160 Menschen. Dass es sich hierbei nicht um einfache Recidive gehandelt haben kann, geht aus den Beobachtungen Virchows während seiner Thitigkeit in Oberschlesien hervor1”). Virchow führt an der genannten Stelle mehrere zuverlässige Beispiele von Wiedererkrankung an Flecktyphus an, bei welchen der Zwischenraum zwischen den Erkrankungen Monate oder Jahre umfasste; einer dieser Fälle endete tödtlich, so dass auch von einer Abmilderung durch die Ersterkrankung nicht die Rede war. Ein anderer Fall betraf einen Arzt, der schon in Prag vor einigen Jahren durchseucht worden war und nun, wie jene Krankenpfleger des Thucydides, die sich gefeit glaubten, den oberschlesischen Seuchenherd von Berlin aus aufsuchte: »Jetzt er- krankte er wieder in Chelm, Plessner Kreis, und hatte eine sehr schwere und späte Reconvalescenz.«
Bei Cholera, Pest, Recurrens, Flecktyphus ist also aus epidemio- logischen Gründen die Wahrscheinlichkeit einer Wiedererkrankung an sich so gering, dass die obigen sicher festgestellten Fälle von Wiedererkrankung ausreichen, um die Annahme der nur einmaligen Erkrankungsmöglichkeit dauernd unhaltbar zu machen. Anders steht die Frage für unsere einheimischen Endemieen, Keuchhusten, Ab- dominaltyphus, Scharlach, Diphtherie und Syphilis.
Bei Keuchhusten ist bedauerlicherweise die Entscheidung auf statistischem Wege nicht möglich, da zuverlässige Morbiditätszahlen durchaus fehlen. Ich selbst habe ebenso oft Kinder nicht wieder- erkranken sehen, die schon vor Jahren durchseucht waren und später Gefahr liefen, von jüngeren Geschwistern inficiert zu werden, wie ich trotz der grossen Contagiosität des Keuchhustens auch nicht durchseuchte Kinder in gleicher Lage von Ansteckung freibleiben sah. Die Frage kann hier nur durch die Individualmethode an einen grösseren Materiale entschieden werden; dieser Aufgabe hat sich Julius Ritter!®) in verdienstvoller Weise unterzogen. Unter 1163 Fällen von Keuchhusten, die sich auf 498 Familien vertheilten, blieben
16) Berliner medic. Gesellschaft 1868. Verhandl. S. 171. 17) Gesammelte Abhandl. zur Seuchenlehre I 273. 18) Berlin. klin. Woch. 1896. S. 1041.
15
-122 Kinder trotz der Gelegenheit zur Ansteckung von der Krankheit durchaus verschont, während Ritter allein, ein einziger Arzt, in dem kurzen Zeitraum von fünf Jahren von fünf Kindern zweifellos fest- stellen konnte, dass sie zweimal im Verlauf von drei bis vier Jahren an Keuchhusten erkrankt waren und zwar jedesmal durch die Gelegenheit der Ansteckung von ihren inzwischen geborenen jüngeren Geschwistern. Wir wissen nicht, wie gross die Durchseuchung einer Generation von Kindern durch den Keuchhusten ist, dessen Ansteckung nur durch die denkbar persönlichste Berührung vermittelt wird; nach meiner Schätzung erkranken höchstens 10°/, aller Kinder während ihrer Jugend am Keuchhusten, von denen die Mehrzahl nie wieder in die Lage kommt, sich anzustecken. Wenn also ein einziger Arzt bei sorgfältiger Beobachtung in fünf Jahren fünf sichere Fälle beob- achten konnte, so darf auch für den Keuchhusten die Lehre des nur einmaligen Befallenwerdens als endgiltig abgethan betrachtet werden.
Ganz exactes Beweismaterial steht uns für den Abdominaltyphus und die Diphtherie zur Verfügung, weil wenigstens für die Gross- städte die Morbiditätsstatistik leidlich zuverlässiges Material abgiebt. Man darf aber hier zur Feststellung der Durchseuchungszahl und der Erkrankungswahrscheinlichkeit nicht so verfahren, wie es vielfach geschieht, dass man bei Beobachtung eines bestimmten Zeitraumes, etwa von 10 Jahren, einfach die Zahl der in den 10 Jahren beob- achteten Erkrankungsfälle durch die Zahl der durchschnittlichen Einwohnerschaft dividirt. Dann bekommt man unrichtige und zu hohe Zahlen, weil die beobachtete Altersklasse von Jahr zu Jahr vorrückt und damit meist in ein Alter geringerer Empfänglichkeit gelangt, und weil ferner die Gesammtbevölkerung nicht constant ist, sondern in jedem Zeitdifferential ein Bruchtheil durchseuchter Individuen ausscheidet und durch einen etwas höheren Bruchtheil nicht durchseuchter Individuen ersetzt wird. Man darf nur die Zahl der gerade lebenden Individuen einer Altersklasse in Betracht ziehen und muss deren Veränderungen, wie bei dem Aufbau einer Sterbetafel, von Jahr zu Jahr weiter verfolgen. Ich habe in meinen „Epidemio- logischen Studien“ die Formel für die Wahrscheinlichkeit einer zwei- maligen Erkrankung, wenn die Bedingungen für die zweite Erkrankung ebenso günstig sind, wie die der ersten Erkrankung, entwickelt, und verweise wegen der Begründung auf diese Arbeit. Die Formel lautet,
16
wenn b die Zahl der durchschnittlich während des n-jährigen Zeitraumes jedes Jahr Erkrankten, c die Zahl der durchschnittlich jedes Jahr an derselben Krankheit Sterbenden bedeutet und wenn a die Zahl der zu Beginn Lebenden, u diejenige der nach Ablauf von n Jahren nach der Sterbetafel noch vorhandenen Individuen ist: bb— co) (a + u): Wenn man berücksichtigt, dass in Berlin seit dem Jahre 1884 durchschnittlich jährlich etwas über 1000 Erkrankungen an Abdominal- typhus mit durchschnittlich 190 jährlichen Todesfällen gemeldet worden sind, 30 ergiebt sich mit Hilfe obiger Formel sowie der An- gaben des Berliner statistischen Jabrbuches und der daselbst an- gegebenen Sterbetafel die Wahrscheinlichkeit für einen Menschen, welcher im Jahre 1880 15 Jahre war, bis zur Erreichung des 30. Lebensjahres zweimal an Unterleibstyphus zu erkranken, nur höchstens gleich 1:100000, unter der Voraussetzung, dass für die zweite Er- krankung die Bedingungen ebenso günstig wären, wie für die erste. Auf die Zahl der vorhandenen Lebenden dieses Alters bezogen, ergiebt sich, dass jedes Jahr in ganz Berlin höchstens etwa 10 Fälle von Typhus zur Beobachtung kommen werden, bei welchen der Er- krankte schon vorher an der gleichen Krankheit gelitten. Diese 10 Fälle vertheilen sich aber auf die Beobachtung von mindestens 500 thätigen Aerzten, so dass jeder Arzt durchschnittlich alle 50 Jahre in die Lage käme, einen solchen Fall zur Kenntniss zu nehmen. Wenn also die Behauptung, dass der Abdominaltyphus den Menschen nur einmal befalle, damit begründet wird, dass erfahrenste Aerzte niemals oder höchst selten in die Lage kommen, sichere derartige Beobachtungen zu machen, so beweist dies nur, dass in dieser Frage das Urtheil der Einzelnen trügt, nicht aber, dass die erstmalige Erkrankung gegen ein erneutes Befallenwerden schützt. Der Arzt, welcher einen solchen Fall beobachtet, wird geneigt sein, die Diagnose anzuzweifeln, oder er theilt seine Beobachtung als Curiosum mit. Es sind aber nicht alle Aerzte zur Veröffentlichung bereit; umsomehr fällt es ins Gewicht, dass Maiselis in seiner schon genannten Arbeit allein 208 Fälle wiederholter Erkrankung an Abdominaltyphus aus der Litteratur zusammenstellen konnte, darunter Beobachtungen von zuverlässigen Autoren, wie Eichhorst u. s. w. Genau so liegt
Wahrscheinlichkeit der zweimaligen Erkrankung =
17
die Frage für die Diphtherie, bei welcher nach meiner Rechnung bis zur Erreichung des 15. Lebensjahres die Wabrscheinlichkeit der Doppelerkrankungen in Berlin wie 1:2000 ist, also jährlich etwa 120 solcher Fälle beobachtet werden könnten, wenn nicht gerade durch den Tod der Hinfälligsten und die steigende Widerstandskraft mit den zunehmenden Jahren diese Zahl in Wirklichkeit viel zu hoch ge- griffen wäre. Aber selbst bei Zugrundelegen dieser Maximalzahl würden, da an der Diphtheriebehandlung viel mehr Aerzte sich betheiligen, in Berlin auf einen Arzt alle 10 Jahre noch nicht 1—2 solcher Fälle kommen; und diese Zahl entspricht nach meinen eigenen Erfahrungen und den in der Litteratur, namentlich der jüngsten Zeit, veröffent- lichten Beiträgen ganz und gar der Wirklichkeit. Man könnte sogar fast versucht sein, einen geringen Grad von Steigerung der Em- pfänglichkeit durch die Erkrankung anzunehmen, wenn man die grosse Zahl der in den letzten Jahren mitgetheilten Fälle von Wieder- erkrankungen betrachtet. Auch trifft es durchaus nicht zu, dass spätere Erkrankungen etwa leichter aufträten; es wird dies häufig genug der Fall sein, weil die Befallenen inzwischen älter und wider- standsfibiger geworden; aber recht oft trat auch bei der zweiten und dritten Erkrankung die Nothwendigkeit der Tracheotomie und sogar der Tod ein.
Schwer liegt die Entscheidung der Frage für Scharlach, weil bei dem Fehlen der Anmeldepflicht zuverlässige Morbiditátsziflern nicht zu haben sind. Nimmt man aber mit Johannessen schätzungs- weise an, dass die durchschnittliche Sterblichkeit, gewonnen aus mehreren Epidemien, 10—12°/, beträgt, so war in Berlin im letzten Vierteljahrhundert die durchschnittliche Erkrankungszahl 4500 Fälle im Jahr. Für ein im Jahre 1880 geborenes Kind würde die Wahr- scheinlichkeit bis zum 15. Lebensjahre zweimal Scharlach zu erwerben, gleich 1:3750 sein. In Berlin würden jährlich 50-60 solcher Fälle zu erwarten sein, bei 1000 Aerzten also auf jeden alle 20 Jahre ein solcher Fall kommen. Die hier gewonnene Zahl beruht nur auf ungefährer Schätzung und giebt nur einen Anhaltspunkt dafür, dass die Wahrscheinlichkeit einer zweimaligen Erkrankung doch recht gering ist, um so mehr als ein beträchtlicher Bruchtheil aller Menschen überhaupt nie Scharlach erwirbt und der Umfang
des empfänglichen Alters recht gering ist. Immerhin hat Henoch 2
18
sicher das wiederholte Auftreten von Scharlach beobachtet und Maiselis hat in der Litteratur 33 Fälle finden können. Ich selbst erlebte folgenden Fall. Ein Schulmädchen erwarb im Februar 1895 einen typischen Scharlach; die ältere Schwester ward aus dem Hause gegeben und blieb, ebenso wie die jüngste, im Haus verbliebene Schwester frei von der Erkrankung. Im Juni 1896 brachte die älteste Schwester aus der Schule Scharlach mit; die beiden andern wurden fortgegeben und in der vierten Woche, nach erfolgter Des- infection der Wohnung, wieder in das Elternhaus aufgenommen. Drei Tage nach der Rückkehr erkrankte die mittlere Schwester und wenige Tage später das jüngste Kind an typischem leichten Scharlach. Die erste Gelegenheit zur Ansteckung liess also nach Jahresfrist die mittlere Schwester zum zweiten Male erkranken. Die erworbene Immunität bei Scharlach ist demnach zum mindesten nicht erwiesen, sie besteht wahrscheinlich überhaupt nicht und ist nur durch die geringe Wahrscheinlichkeit der Wiedererkrankung und die geringe Empfänglichkeit vieler Individuen für das Scharlachcontagium vor- getäuscht.
Sehr interessant liegt die Frage für die Syphilis, für welche wir ganz bestimmte Zahlen besitzen. Dio Thatsache, dass ein Indi- viduum, welches an florider Syphilis leidet, selbst bei Einimpfung des specifischen Giftes keine Primirsclerose mehr bekommt, ist patbologisch-anatomisch von hohem Interesse, hat aber selbstver- ständlich mit dem vorliegenden Problem nichts zu thun. Von der Syphilis wissen wir aus der preussischen Heeresstatistik und aus der interessanten Arbeit von Blaschko!?), dass durchschnittlich in der letzten Zeit etwa 7,70/,, des gesammten Heeres und etwas über 9°/,, der Berliner Garnison syphilitisch inficirt waren. Die Wahrschein- lichkeit sich zu inficiren war also nicht ganz = 1:100 und die Wabrscheinlichkeit einer Reinfection würde etwa 1: 10000 sein, wenn die Gefahr der Infection in spätem Alter gleich gross wäre, wie zur Zeit des Militárdienstes. Es fehlt freilich an jeder Statistik, wie schnell die Gefahr der syphilitischen Infection mit dem 25. Lebensjahre absinkt; aber es ist gar kein Zweifel, dass nicht nur die 1°/, erkrankten Soldaten, sondern auch die 99°/, verschont gebliebenen nach Beendigung ihrer Dienstzeit und bei Erreichung
19) Die Verbreitung der Syphilis in Berlin, Karger 1892.
19
—_
des heiratsfähigen Alters ausserordentlich viel gesicherter vor einer Infection waren als früher. Schätzen lässt sich das nicht; aber so häufig bedauerlicher Weise auch in Berlin der Fall der extrama- trimonialen Syphilisinfection von Ehemännern vorkommt, so ist gar kein Zweifel daran, dass die überwiegende Zahl der in ihrer Jugend inficiert gewesenen Individuen später durch veränderte Lebensver- hältnisse tiberhaupt nicht mehr in die Gefabr einer Ansteckung kommt. Wenn man nun demgegenüber die Zahl der thatsächlich beobachteten Fälle von wirklicher Reininfection betrachtet, von welchen’ allein Köbner 45 zusammengestellt hat, so wird die An- nahme, dass die Syphilis nur einmal einen Menschen befallen könne, durchaus umgestossen. E. Rose berichtet in seiner eben erschienenen Monographie über den Tetanus auch einen Fall von Reinfection, bei welchem man ursprünglich die Sklerose gerade auf Grund der Anam- nese für Carcinom hielt, nur deshalb, weil die Möglichkeit einer Zweitinfection schwer glaublich erschien. Den stärksten Beweis für das Nichtvorhandensein einer durch Ueberstehen der Syphilis ent- standenen Immunität giebt aber das Verhalten der hereditären Lues ab. Solche Kinder können, so lange sie krank sind, andere Menschen inficieren; sind sie aber genesen und erwachsen, so können sie, wie Hutchinson feststellte, und Köbner bestätigte, sich wie jeder Andere syphilitisch inficieren.
Es besteht also auch bei Syphilis keine erworbene Immunität. Für Gelbfieber fehlt es mir an jedem Materiale, die Richtigkeit der Angabe zu prüfen.
Das Ergebniss der vorliegenden Betrachtung führt dahin, dass mit Ausnahme von Pocken und Masern für keine derjenigen In- fectionskrankheiten, welche angeblich den Menschen nur einmal be- fallen und deren Ueberstehen Immunität gegen die Wiedererkrankung verleihen soll, der Beweis für diese Behauptung geliefert ist. Diese willkürliche Annahme ist nur durch die Benutzung unzulänglicher Methoden und die Nichtberücksichtigung der geringen Wahrschein- lichkeit vorgetäuscht worden, sie lässt sich für keine der ge- nannten Krankheiten beweisen, für die meisten derselben aber wider- legen. Aber selbst für Pocken und Masern liegen die Verhältnisse eigenartig; denn eine mehrmalige Erkrankung ist nicht nur nicht
ausgeschlossen, sondern überraschend häufig beobachtet worden; so 2%
20
konnte Maiselis 514 Fälle wiederholter Pockenerkrankung aus der Litteratur zusammenstellen. Dass er nur 37 Fille von wiederholten Masern aufland, liegt einfach an der Häufigkeit dieser Erscheinung, welche die Veröffentlichung meist nicht lohnend erscheinen lässt. Trotzdem sprechen einige gewichtige epidemiologische Gründe dafür, dass an diesen beiden Krankheiten der Mensch im Allgemeinen nur einmal erkrankt. Die Schlussfolgerung aber, dass es die specifische Erkrankung selbst sei, welche durch die von ihr gesetzten Ver- änderungen die erworbene Immunität bewirke, bedarf, so wahr- scheinlich sie sein mag, erst des Beweises, der noch vollständig %ussteht. Es ist begreiflich, dass eine so merkwürdige Lehre, wie diejenige von der erworbenen Immunität durch einmaliges Ueberstehen einer Krankheit, zur Aufstellung von Theorien geradezu herausforderte. Es würde zu weit führen, alle oder nur die Hauptansichten der Vergangenheit anzuführen. Von besonderem Interesse ist aber die Hervorhebung zweier Erklärungsversuche, welche der neueren Zeit entstammen und welche das Ergebniss geradezu diametral entgegen- gesetzter Grundanschauungen darstellen.
Die erste dieser Theorien knüpft an die Lehre von der spe- cifischen Serumimmunität an; von besonderem Interesse ist für deren Verständniss eine Arbeit von Wassermann.?% Diese Untersuchung bezieht sich ausschliesslich auf das Verhalten der Diphtherie des Menschen und will zunächst nur die Erscheinung der persönlichen Unempfänglichkeit vieler Menschen gegen die Diphtherie erklären; erst in zweiter Linie und indirect berührt diese Arbeit, welche in den Einzelheiten consequent aufgebaut und in den Schlussfolgerungen vorsichtig und zurückhaltend abgefasst ist, die Frage der erworbenen Immunität. Wassermann fand, dass das Blutserum sehr vieler Menschen, von Kindern, wie namentlich von Erwachsenen, welche nachweislich niemals Diphtherie durchgemacht haben, stark schützende Eigenschaften gegenüber dem Diphtheriegifte bei Meerschweinchen besitzt. Für Menschen, welche Diphtherie durchgemacht haben, war diese Erscheinung schon durch frühere Untersuchungen von Esche- rich und Klemensiewicz, sowie von Abel festgestellt worden. Diese Erscheinung kann aus experimentellen Gründen keine an- geborene, sie muss eine erworbene Eigenschaft sein; wie sie zu
20) Zeitschrift für Hygiene Bd. 19.
21
Stande kommt, ist vorläufig noch unbekannt; immerhin ist es nach Wassermann nicht ausgeschlossen, dass deren Ursache in der Selbst- immunisirung durch echte Diphtheriebacillen zu suchen sei, da diese ja auch ohne Krankheitserscheinungen zu erzeugen, in der Mund- höhle ganz gesunder Menschen recht häufig gefunden werden. Die Thatsache nun, dass das Blut ganz gesunder Menschen, welche an- scheinend niemals Diphtherie durchgemacht haben, dass sogar nach Forschungen von Fischl und Wunschheim das Blut einer grossen Mehrzahl Neugeborener das Diphtherietoxin neutralisirt, sollte eigentlich davor zurückhalten, die biologisch so interessanten Er- gebnisse der Thierimmunisirung durch specifisches Serum mit der Theorie der erworbenen Immunität des Menschen in Zusammenhang zu bringen. Denn wir wissen zwar durch die Beobachtungen von Lazarus und Anderen, dass das Serum von Cholerareconvalescenten Meerschweinchen gegen das Choleragift immunisirt, ebenso wie das Gleiche, wie oben angeführt, für das Serum von Diphtherie- Reconvalescenten gilt, wir kennen die Erscheinung der in quantitativen Grenzen specifischen Agglutinierung des Serums von Typhus-Reconvalescenten, nicht blos von Typhuskranken. Wir müssen aber schon stutzig werden, wenn jene Erscheinung der Giftneutralisirung bei solchen Krankheiten zur Beobachtung gelangt, bei denen, wie bei Cholera und Diphtherie, eine erworbene Immunität gar nicht besteht. Wenn aber die gleiche Erscheinung auch bei zahlreichen Individuen zur Beobachtung gelangt, welche überhaupt niemals Diphiherie gehabt hatten, so liegt genügender Grund vor, jeden Zusammenhang zwischen beiden Erscheinungen abzulehnen. Eine letzte Stütze erhält der Schluss, dass die speci- fische an das Serum gebundene Immunität zur Erklärung der er- worbenen Immunität durch Ueberstehung einer Krankheit nicht herangezogen werden darf, durch das Verhalten der Pocken. Denn gerade für diese Krankheit, deren mikroparasitären Begleiter wir überhaupt nicht kennen, für welche aber eine durch einmaliges Ueberstehen erworbene Immunität eine grosse Wahrscheinlichkeit besitzt, haben geradezu zahlreiche Versuche der letzten Jahre gelehrt, dass eine nennenswerthe an das Serum gebundene Toxinimmunität überhaupt nicht vorliegt. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der erworbenen Immunität nach überstandener Krankheit bei Menschen
22
und zwischen jenen merkwiirdigen, durch dic Erkrankung hervor- gerufenen Veränderungen des Blutserums ist also mit grosser Wahr- scheinlichkeit zu verneinen. Um so auffallender ist es daher, wenn C. Fränkel?!) in seiner Kieler Rede »Bekämpfung der Diphtherie« das Vorhandensein von Schutzstoffen im Serum bei gesunden Menschen nicht nur, wie Wassermann, zur Erklärung der persönlichen Un- empfänglichkeit, sondern sogar zur Begründung der Familien- disposition und Familienimmunität heranziehen will. Dieser Annahme liegt direct ein grosser systematischer Fehler zu Grunde. Erworbene Eigenschaften sind nach der Weismann’schen Theorie überhaupt nicht vererbbar. Diese noch nicht allgemein angenommene, aber sehr gut gestützte Lehre hat nun gerade durch die Forschung über Serumimmunität eine gewichtige Stütze erhalten. Denn Ehr- lich hat??) sehr exact nachgewiesen, dass die active Serumimmunität erblich nicht übertragbar ist; er selbst hat diesen Beweis für Ricin und Tetanus, Wernicke noch speciell für das Diphtheriegift geliefert. Wo die Neugeborenen eine erworbene Immunität zeigen, ist diese nach Ehrlich nur eine passive, durch den Placentarkreislauf und die Lactation übertragen, welche nur so lange vorhält, als jene Schutz- stoffe noch im Körper kreisen. Eine erbliche Uebertragung der er- worbenen aktiven Serumimmunität von der Mutter auf das Kind ist aber ausgeschlossen. Das Serum von Natur immuner Rassen besitzt aber niemals specifische an das Serum gebundene Schutzstoffe, deren Auftreten vielmehr fast immer der Ausdruck einer in Kampf mit der Krankheit erworbenen Eigenschaft ist.
Die angeborene Unempfänglichkeit also kann niemals auf dem Wege entstanden sein, welchen C. Fränkel annimmt; sie ist in allen Fällen, wie auch Ziegler??) schon hervorgehoben hat, eine Folge der Auslese und Naturzüchtung, bei welcher im Laufe der Generationen stets die Empfänglichen ausgetilgt werden und die Un- empfänglichen übrig geblieben sind. Auf diese Weise erklärt sich die Resistenz der Eingeborenen und Neger für Gelbfieber und Malaria, die schon von Pettenkofer betonte geringere Empfänglich-
21) Vierteljahrschr. für öffentl. Gesundheitspfl. Bd. 29.
22) Zeitschr. f. Hygiene. Bd. XII u. XVIII.
**) Ziegler. Können erworbene pathologische Eigenschaften vererbt werden? Jena, Fischer 1886, S. 33.
23
keit der Nativeregimenter Indiens für Cholera gegenüber der grösseren Sterblichkeit der englischen Regimenter. Auf diese Weise erklärt sich auch höchst einfach die bisher räthselhafte Thatsache, dass die Hausmäuse immun gegen den Tuberkelbacillus, die Feldmäuse höchst empfänglich sind. Denn die ersteren haben eine Jahrhunderte lange Auslese der schwächeren Varianten hinter sich, die letzteren sind niemals in den Kampf mit dem Tuberkelbacillus eingetreten. So er- klärt es sich ferner sehr einfach, dass unser empfänglichstes Versuchs- thier für das Diphtheriegift das Meerschweinchen ist, welches spontan nie an Diphtherie erkrankt und also niemals Gelegenheit hatte, sich mit jener Krankheit auseinanderzusetzen. Und so erklärt es sich schliess- lich, dass jeder Versuch, die Beobachtungen an der Meerschweinchen- Diphtherie auf die gleichnamige Krankheit des Menschen übertragen zu wollen, aus rassenhygienischen Gründen schwere Bedenken erweckt. Die Forschungen über specifische Immunsera, so interessant sie biologisch sind, haben jedenfalls mit der angeborenen und erworbenen Immunität des Menschen nichts zu thun. Wenn nun auch die Er- fahrung gelehrt hat, dass die specifische, erworbene Immunität nach dem Ueberstehen einer Infectionskrankheit entgegen dem herrschenden Dogma nur in engen Grenzen besteht, so kann doch zugegeben werden, dass für gewisse Vorgänge auch der Mensch eine Unem- pfänglichkeit durch das Ueberstehen von Krankheiten erwerben kann. Nur ist diese Eigenschaft nicht an sich specifisch und ihre Ursachen sind in anatomischen Veränderungen der Eingangspforten zu suchen; diese anatomischen Veränderungen, welche meist die Folgen reactiver entzündlicher Vorgänge sind, erschweren die Aufnahme für Krank- heitserreger und Krankheitsgifte. In dieses Gebiet gehören schon die Wirkungen der Uebung und Abhärtung von Haut und Schleim- haut, welche die individuell erworbene Empfänglichkeit herabsetzen. In besonders geschickter Weise ist diese Theorie der nicht specifisch erworbenen Immunität, welche durch örtliche Veränderungen der Eingangspforten zu Stande kommt, von C. L. Schleich?) entwickelt und durch zahlreiche chirurgische und toxikologische Erfahrungen ge- stützt worden. ° Es ist ja bekannt, dass Narben von Phlegmonen, dass das chronisch entzündete Bauchfell, dass chronisch veränderte Tonsillen
%4) Gottstein und Schleich, Immunität etc. Springer 1895.
24
aus rein mechanischen Griinden der Allgemeininfection cin meist un- iiberwindliches Hinderniss entgegenstellen. Aber es hat sich sogar herausgestellt, dass, wo im Thierversuche eine erworbene Immunität von der einen Eingangspforte aus bestand, wie z. B. bei der Haut- impfung gegen Milzbrand, sie nur gegenüber dieser Art der Ein- verleibung des Krankheitserregers zur Geltung kam, aber bei der Ver- fütterung der Bacillen sofort im Stiche liess. Für diese örtliche mechanische Auffassung der erworbenen Immunität, wenn sie auch nicht für alle Fälle gelten mag, lassen sich zahlreiche Belege auf- führen. Einer der neuesten ist die interessante Mittheilung von Arning über das Eczem der Vanillearbeiter. Neulinge dieses Berufs bekommen fast regelmässig ein Eczem der Hände, welches schwer heilbar und nur durch Abstinenz von dieser Beschäftigung zu heilen ist. Sobald aber einmal die Haut wieder normal geworden. so besteht dauernde Immunität gegen Neuerkrankung, auch bei Wiederaufnahme der Thätigkeit. Soll hier vielleicht ein „Antivanilin“ im Blute kreisen oder sind vielmehr die Lymphwege so verändert, die Haut so „abgehärtet“ ‘worden, dass nunmehr die Beschäftigung mit den Noxen nichts mehr schadet? Vielleicht liegen auch für ‘Pocken und Masern, welche die Haut und die Schleimhäute in weiter Ausdehnung betheiligen und im ersten Falle auch schwer verändern, die Verhältnisse ganz ähnlich, dass nur eine örtliche mechanische Veränderung der Eingangspforten die Empfänglich- keit für eine spätere Neuinfektion herabsetzt. Ist diese Theorie richtig oder auch nur wahrscheinlich, so liegt noch weniger Grund vor, die Thatsache der erworbenen Immunität bei Pocken und Masern mit den Versuchen über experimentelle Serum- immunität in irgend welchen Zusammenhang zu bringen. Im Uebrigen werden die genannten beiden Menschenkrankheiten auch nach der Ansicht von R. Koch?) nicht durch Bakterien hervor- gerufen, sondern wahrscheinlich durch Mikroparasiten ganz anderer Beschaffenheit. Vielleicht eröffnet uns die jüngste Entdeckung von Nencki?*) über die Mikroparasiten der Rinderpest eine neue Methode der Forschung, die uns mit ganz anderen Bedingungen der Immunität vertraut machen kann. Bis dahin aber empfiehlt es sich
25) Ueber bakteriologische Forschung. Berlin. 1590. 26) Berlin. klin. Woch. 1897. No. 24.
25
in unseren Schlussfolgerungen Zurückbaltung zu üben entsprechend den Worten von Lóffler?”):
„Nicht durch nivellirende Theorieen, welche von einem mehr oder weniger einseitigen Beobachtungsmaterial hergeleitet sind, sondern allein durch sorgfältiges Studium jeder einzelnen Krankheit kann das über den Infektionskrankheiten lagernde Dunkel gelichtet werden.“
27) Mittheil. aus dem kais. Gesundheitsamt. 1881. I. $. 187.
Verantwortl. Redakteur: Hofrath Dr. Ernst Stadelmann in Berlin. Druck von Albert Koenig in Guben. Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden direct an den oben genannten Redakteur, Berlin SW., Anhaltstrasse 12, oder durch die Verlagsbuchhandlung erbeten.
Die Therapie infizierter Wunden. Vortrag, gehalten am 23. August in der chirurgischen Sektion des XII. internationalen medizinischen Kongresses zu Moskau.
Von
Privatdocent Dr. Egbert Braatz in Königsberg i. Pr.
we eee
Hochgeehrte Versammlung!
Als ich von unserem verehrten Komité die ehrenvolle Auf- forderung bekanı, iiber die Therapie infizierter Wunden das einleitende Referat zu übernehmen, war ich mir der Schwierigkeit dieses Themas voll bewusst. Und wenn ich diesen Auftrag dennoch gern über- nommen habe, so geschah das wesentlich in der Überzeugung, dass die Frage der Wundbehandlung zu den wichtigsten Gegenständen der Chirurgie gehört und sehr wohl wert ist, auf einer Weltver- sammlung von Ärzten zur Sprache zu kommen. Denn seit Lister und durch Lister wissen wir, dass die operative Chirurgie in ihrer Allgemeinheit nur in dem Masse in ihrer Entfaltung vorschreitet, als die Wundbehandlung sich vervollkommnet. Und wenn wir heute noch staunen, welche Umwälzung der Chirurgie in den letzten 25 Jahren vor sich gegangen ist, wenn wir auch auf diesem Kongresse aus dem Munde ausgezeichneter Chirurgen die glänzenden Berichte über die grossartigsten Operationen gehört haben und noch hören werden, so wollen wir es nicht vergessen: Das Thor, welches auf diese via triumphalis der modernen Chirurgie geführt hat, das war die durch Lister geschaffene Wundbehandlung. Nichts klärt aber so das Verständnis in unserer Frage, als wenn wir uns Rechenschaft darüber geben, wie wir zu einer wissenschaft- lich begründeten Wundbehandlung gekommen sind, wenn wir vor dem status praesens die Anamnese unserer heutigen Wundbehandlung
1
2
ins Auge fassen, wenn wir uns vergegenwirtigen, mit welchen Hindernissen dieser grosse Fortschritt in seinem Anfange, in seinem weiteren Verlauf zu kämpfen hatte und mit welchen grossen Hindernissen er heute noch zu kämpfen hat.
Wir können die Therapie infizierter Wunden nicht anders be- handeln, als nur im Zusammenhang mit der Wundbehandlung im Allgemeinen.
In der Chirurgie sind seit lange zwei Hauptrichtungen ver- treten gewesen: Die Empirie und die Theorie.
Jahrhunderte lang lag die Ausübung unserer Kunst in den Händen von Handwerkern, die in der Barbierstube vom Lehrling bis zum Gesellen gebracht worden waren. Von Theorie war da ebenso wenig die Rede, wie bei den anderen Handwerken. Der vor- wiegend technische Charakter der Chirurgie konnte aus sich selbst keine allgemeinen Begriffe und keine wissenschaftliche Richtschnur für ihr Handeln ableiten. Das trat erst ein, als man aus Wissen- schaften, die bis dahin keinen Zusammenhang mit der Chirurgie gehabt hatten, Nutzen zog, und sie mit der Chirurgie organisch verbinden lernte.
Das erste wissenschaftliche Prinzip, welches in die Chirurgie hineinkam, war nach dem Entwickelungsgange der medizinischen Wissenschaften die Anatomie. Ambroise Par, „der erste Barbier der Könige“, wie er sich nannte, der aber auch als Prosektor auf dem anatomischen Boden gearbeitet hatte, versinnbildlicht die Ver- einigung der Barbier-Chirurgie mit der Anatomie. Jean Louis Petit, Desault und Bichat sind dann die weiteren gewaltigen Marksteine der wissenschaftlichen Entwickelung der Chirurgie. Wenn wir hier in Moskau nach dem Dewitschje Pole hinausgehen, werden wir lebhaft an diese Vereinigung der Chirurgie und Anatomie er- innert. Wir sehen an dem schönen und historisch wahr auf- gefassten Denkmal Pirogoffs, dass er unter seinen vielen anderen Leistungen auch das grosse Verdienst gehabt hat, zur Einführung der Anatomie in die Chirurgie beigetragen zu haben.
Mit Desault und Bichat sehen wir zugleich in den Dienst der Chirurgie gestellt: Die pathologische Anatomie und die Physiologie.
Bernhard von Langenbeck war es dann, der das Mikroskop in die Chirurgie einführte, die mikroskopische pathologische Anatomie,
3
die dann in ausgiebigster Weise von einer grossen Schaar von Chirurgen fiir unsere näheren Zwecke besonders gepflegt worden ist. So sehen wir, wie die Chirurgie durch das Dazunehmen von anderen Wissenschaften immer mehr selbst eine Wissenschaft geworden ist. Sie konnte jetzt mit anatomischem Klarblick die Diagnose stellen, an Tierversuchen Operationen in ihrem Erfolge studieren und diese Operationen an der menschlichen Leiche ausbilden und einüben. Sie konnte dann dieselbe Operation ebenso exact unter sicherer Be- herrschung der Blutung, auch am Lebenden ausführen, in der Absicht ihn von seinen Leiden zu heilen. Ob der Kranke aber in der That geheilt wurde, das hing leider noch ganz und gar nicht vom Operateur ab. Eine Sicherheit des Erfolges konnte uns weder die Anatomie, noch die pathologische Anatomie gewähr- leisten. Nach der kühnsten Diagnose, nach der glänzendsten Operation konnte man mit ziemlicher Sicherheit nur darauf rechnen, dass der Operierte starb, dass er starb an einer Wundinfektion. Denn alle Wunden waren infiziert, es gab nur infizierte Wunden. Zwischen infizierten und nichtinfizierten Wunden überhaupt zu unter- scheiden, das sind wir erst seit Lister im Stande.
Wie stellte man sich nun den Hergang der Wundinfektion vor?
Diese Frage ist sehr wichtig, denn das, was wir bei der Wund- behandlung thun, hängt ganz und gar davon ab, was wir uns über die Ursache der Infektion denken, von unseren allgemeinen Ideen über Wundinfektion.
In grossartiger Einfacheit stand noch vor Lister das Problem wie ein einziger feindlicher befestigter Punkt da, gegen welche der Angriff zu führen war: Das Problem hiess: Fernhalten der Fäulnis von der Wunde und Bekämpfen der Fäulnis in der Wunde Die Fäulnis sollte an allem Schuld sein. Das Erysipelas, die Phleg- mone, der Hospitalbrand, die Pyämie und Septicämie, sie sollten alle hauptsächlich von der Fäulnis herkommen.
Wenn aber die Fäulnis bekämpft werden sollte, so musste man vor allen Dingen wissen, wie entsteht Fäulnis? Wiederum aus anderen Gebieten der Naturwissenschaft musste sich hier die Chirurgie Aufklärung suchen und zwar bei der damals noch sehr jungen Wissenschaft der organischen Chemie.
Zwei Ansichten, zwei Chemiker standen sich hier scharf gegenüber. 1*
Liebig und Pasteur. Nach Liebig sollte die Fäulnis ebenso wie nach der Theorie Gay Lussac’s, der den Sauerstoff als den Erreger der Fäulnis hingestellt hatte, ebenfalls ein rein chemischer Vorgang sein. Die zerfallenden Eiweisse sollten die Fähigkeit haben, die Fäulnis zu erregen und zu unterhalten. Der Fäulnis- prozess war nach Liebig ein Zeichen des Zerfalls nach dem Aufhören des Lebens, es war „ein correlatives Phänomen des Todes“, der die Organismen in seine chemischen Urstoffe auflöst.
Nach der zweiten, entgegengesetzten Auffassung war dagegen die Fäulnis ein Phänomen des Lebens, bedingt durch die Lebensäusserung der Mikroorganismen. Caignard Latour und Theodor Schwann, vor allen aber Luis Pasteur waren die Begründer und Verfechter dieser anderen, sogenannten vitalen Theorie.
Als Lister mit seiner Lehre auftrat, herrschte in Deutschland, wo er den ersten Anklang fand, die für die Chirurgie unfruchtbare Theorie Liebigs. Lister ging aber von der vitalen Theorie aus und seine Erfolge zeigten bald, dass er auf der richtigen Fährte war. Das erste, was einzelne Chirurgen an der Listerschen Wund- behandlung anerkannten, waren auch nur jene praktischen Erfolge. Von einer Anerkennung des Prinzips der Antiseptik, dass Mikroorganismen die Ursache der Fäulnis sind, wollten selbst eifrigste Anhänger dieser Wundbehandlung noch lange nichts wissen. Man behandelte die Wunden nach dem Listerschen Rezept, kümmerte sich aber nicht um seine Begründung, man schritt in der Praxis vor und blieb in der Theorie zurück, indem man seine früheren, unrichtigen An- sichten von der rein chemischen Entstehung der Fäulnis beibehielt. Ja manche sehr hervorragende Chirurgen blieben lange noch, nicht nur Gegner der Listerschen Grundanschauung, sondern blieben sogar auch eine ganze Reihe von Jahren der Anwendung des Listerschen Verbandes fern, wie z. B. leider sogar Billroth.
Da die Anschauungen über die „belebten Fermente“, wie man sie nannte, sich aus den Experimenten über Gährung und Fäulnis entwickelt hatten, so ist es begreiflich, dass man die Luftkeime als Hauptgefahr für die Wunde ansah, und als man später den Spray als unnütz fortliess, wagte man dieses nur, indem man als Ersatz für den Spray die Wunden desto stärker mit antiseptischen Mitteln
9
bespülte. Aus Schwämmen, Irrigatoren und Giesskannen, wie sie der Gärtner braucht, ergossen sich Ströme von Karbol, Sublimat und anderen Giften über die Wunde.
That man dieses schon bei frischen Operationswunden, um wio viel mehr glaubte man dazu verpflichtet zu sein, wenn es sich um infizierte Wunden bandelte, wo man es doch vor hatte, den schon eingedrungenen Feind zu vernichten. Die Zeit der Hochflut der antiseptischen Spülungen ist wohl die schattenreichste in der Ge- schichte der Antiseptik. Ich habe nicht die Absicht, auf alle jene Unglücksfälle von chirurgischen Intoxikationen näher einzugehen, wo die Kranken nur deshalb sterben mussten, weil die angewandten Rettungsmittel ihre Giftnatur nicht gegen die mikroskopischen Feinde des Kranken, sondern gegen den Kranken selbst zu seinem Ver- derben bethätigten. Aber auf ein Mittel müssen wir doch ein wenig näher eingehen, das ist das Jodoform.
Als das Jodoform von Wien aus seinen Ausgang nahm, wurden ihm so starke Empfehlungen auf den Weg gegeben, als ob mit seiner Anwendung der Gipfel des in der Wundbehandlung Jirreich- baren erreicht wäre. v. Mosetig-Moorhof erklärte es für ein so starkes Antisepticum, dass alle anderen antiseptischen Mittel un- nütz geworden seien. Jede septische Wunderkrankung sollte es ausnahmslos verhüten. Wundrose sei bei dem Jodoformverband äusserst selten, wenn sie sich zeigte, sollte die Ursache der Eıy- sipelas stets nur Sckretverhaltung sein u. dergl. m.
Kurz, es ist uns jetzt möglich mit Sicherheit zu behaupten, dass das Jodoform gleich von vorne herein ganz gewaltig überschätzt wurde.
Auch in der Billrothschen Klinik, von wo aus sehr bald da- rauf, mit dem Jahre 1881, das Jodoform eigentlich seinen Zug über die Welt gehalten hat, wurde diese Ueberschätzung zum Teil fort- gesetzt. Auch dort herrschte die Ueberzeugung, dass das Jodoform imstande sei, sicher jede Sepsis zu verhüten.
1882 machte der hochbetagte v. Langenbeck dem Jodo- form das Kompliment, dass schon die lange vorhaltende Jodoform-Atmosphäro „offenbar“ genüge, um einen vollkommen aseptischen Wundheilungsverlauf zu sichern. Schmerz, Rötung, Schwellung fehle, Eiterung könne
6
selbst aus den grössten Wundhöhlen fehlen, die Nähte könne man 7—8 Tage liegen lassen, ohne dass Rötung und Eiterung der Stich- kanäle wahrzunehmen sei. Aehnliche Heilungen habe er, sagte v. Langenbeck, auch bei der sorgfältigsten Durchführung der Karbolverbände niemals gesehen. Kurz, wenn man diese ganze Schilderung des sonst so hochverdienten Chirurgen liest, so sollte man glauben, dass der Listersche Verband bis zum Jahre 1882 überhaupt noch keine Erfolge gehabt und die ganze neue Aera der Wundbehandlung nicht mit Lister, sondern erst mit dem Jodoform anfange. Und in der That, für sehr viele Chirurgen war das auch der Fall, sie fingen wirklich erst 10 Jahre später als andere an, mit der Listerschen Methode vertraut zu werden. Es war wirklich so, wie ein bekannter Chirurg vorhersagte, dass das antiseptische Verfahren mit dem Jodoform erst populär werden würde. Im Verlauf eines Jahres war es in der Hand eines jeden Arztes.
Äussere günstige Umstände kamen hierbei dem Jodoform zu Hilfe, in erser Linie wohl der, dass es die letzte Etappe auf dem Wege der Vereinfachung des ursprünglichen Listerverbandes war. Von allen Vorschriften Listers war nur das Prinzip übrig geblieben. Das Protectiv, die eigentliche Listergaze, der Spray waren schon vorher fallen gelassen, der Dauerverband war schon da und das Jodoform vereinfachte das Verfahren noch dadurch, dass es die Vor- teile des Pulververbandes in der Chirurgie heimisch machte. Nicht zuletzt nützte der Verbreitung des’ Jodoforms eine sehr rührige Verteidigung, die es eigentlich gegen alle Anklagen in Schutz nahm. Und diese Anklagen blieben leider nicht aus. Im Vertrauen auf die anfänglichen Angaben, dass das Jodoform ungiftig sei, hatte man nicht nur 60, sondern 100, 200 ja 300 Gramm auf einmal in die Wund- höhle gebracht. So füllte man z. B. einem schwächlichen Mädchen eine Empyemhöhle mit 40 Gramm, die Wundhohle eines fünfjährigen Kindes mit 120 Gramm Jodoform aus, die Wunde nach einer Ellen- bogenresection mit 150—200 Gramm Jodoform aus. Dass auf diese Weise bald ein ganzes Sündenregister von Jodoformvergiftungen das Jodoform ganz in Misskredit zu bringen drohte, wird uns jetzt nicht Wunder nehmen. Dazu waren die Vergiftungserscheinungen ganz eigentümlicher, bis dahin unerhörter Art und äusserten sich u. A.
7
indem unheimlichen Auftreten von akuten Psychosen. So erlebte Schede allein in ca. einem Jahre 21 Jodoformpsychosen mit 9 Todesfällen. Ausserdem hatte er unter der Jodoformbehandlung in 13 Monaten 39 Fälle von Erysipelas mit 15 Todesfällen zu beklagen, während er vor der Einführung der Jodoformbebandlungin Hamburgjährlich im Durchschnitt etwa 11 Fälle mit 3 Todesfällen gehabt hatte. Etwa ein Jahr nach dem Allgemeinwerden des Jodoformgebrauches konnte König 48 Fälle von Jodoformvergiftung sammeln. Die grössere Sterblichkeit der Erysipelasfälle erscheint uns auch nicht schwer erklärlich. Das Jodo- form wirkt vor allem schwächend auf die Herzkraft und verfettend auf die Nieren. Bekam ein solcher Patient, der schon unter dem schädlichen Einflusse des Jodoforms stand, eine Wundinfektions- krankheit wie das Erysipelas, so mussten seine Aussichten die Krankheit zu überwinden, viel geringer sein, als wenn Herz und Nieren gesund waren. Die traurigen Erfahrungen mit einem Anti- septicum hatten als nächste Folge, dass dann ein anderes Mittel abermals als vortrefflich empfohlen wurde. So kam der Sublimat- verband in immer allgemeineren Gebrauch. An Stelle der Karbol- säure wurden schwache Chlorzinklösungen, an Stelle des Jodoform Wismuth u. s. w. versucht. In die allgemeine, überaus grosse Zu- friedenheit mit den Erfolgen der antiseptischen Wundbehandlung mischten sich aber doch Stimmen, welche nach einer durch- greifenden Verbesserung des Verfahrens verlangten. Denn auch abgesehen von den Chirurgischen Vergiftungen waren die Resultate selbst noch keineswegs so unübertreffliche wie man esallgemein hinstellte. Die Resultate waren glänzende nur im Vergleich zu dem ganz verzweifelten Zustande, in welchem sich die Heilresultate der operativen Chirurgie vor der Antiseptik befunden hatten. Wenn früher einem Chirurgen bei der Mammaamputation 33 Prozent der Operierten gestorben waren, so musste es ihm sicher schon imponieren, wenn er jetztauch nur drei- mal mehr Kranke am Leben erhielt als früher, und er nur 11 Prozent verlor. Und abgesehen von dem rohen Massstab der blossen Mortalitätsprozente fieberte immerhin der grösste Teil der Operirten und eine Anzahl von einfachen Operationswunden vereiterten, die Wunden wurden ausserdem durch die Antiseptica stark gereizt. Neuber in der v. Esmarchschen Klinik in Kiel hat dann zäh den
Gedanken festgehalten und zu entwickeln gesucht, dass eine Wunde auch ohne Antiseptica heilen müsste, wenn man nur verhindert, dass organische Keime erst in sie hineinkommen, So riesig schwer dıe Aufgabe war, die Wunde vor den allverbreiteten Keimen zu schützen, so grossartig waren Neubers Anstrengungen, dieselben zu besiegen. Um die Luft pilzfrei zu machen, sollte sie bei luftdicht gemachten Fenstern und Thüren nur filtriert in den Operationsraum eintreten. Vor der Operation liess er Wände, Decken, Fenster, Thüren mit Wasser besprengen, das Inventar mit feuchten Tüchern abreiben, das Personal musste vor der Thür durch den Nebel eincs Spray- apparates hindurch, wurde dann mit Sublimatwasser besprengt, mit leinenen Mützen, Operationsrócken etc. bekleidet, musste sich dann noch einmal waschen, auch das Gesicht, und bei Operationen in frischen oder chronisch entzündeten Geweben durften sich niemals mehr Leute im Raume aufhalten, als absolut erforderlich waren. Um alles nach seinen Wünschen durchzuführen, baute sich Neuber 1855 ein besonders eingerichtetes Krankenhaus mit fünf getrennten Operationssälen für Operationen in gesunden, chronisch entzündeten und akut entzündeten Geweben u. s. w.
Wer also Neubersche Aseptik treiben wollte, musste sich genau cin solches Krankenhaus bauen, wie Neuber es hatte, diese Asep- tik war also an einen besonders eingerichteten «asep- tischen» Raum gebunden. Eine solche Wundbehandlungs- methode war nicht entwickelungsfähig. Neuber war in dem Aus- arbeiten der Einzelheiten seiner Aseptik genau so vorgegangen, wic Lister selbst. Er hatte alles aus dem einen Gedanken deduktiv entwickelt und fusste auch genau nur auf denselben Grundgedanken wie Lister, dass er die Wunde vor den allgegenwärtigen Bakterien ohne Unterschied, insbesondere vor den Fäulnisbakterien in der Luft schützen wollte und auch mit Erfolg zu schützen geglaubt hatte. Dio Chirurgie konnte auch hier sich allein nicht weiter helfen. Sie kam wieder erst vorwärts, als sie sich die neuentstandene Bakteriologie nutzbar machte. Robert Koch hat unsin zwiefacber Weise gefördert. Erstens, indem er die Thatsache ausser allen Zweifel stellte, dass es für den Menschen pathogene Bakterien giebt. Dadurch hat er der Theorie der Infektion einen grossen Dienst geleistet, welche sich bis dahin vergeblich abgemüht hatte, zu erklären, wie einfache
——.
Fäulnispilze krank machen und klinisch so scharf getrennte Krank- heiten hervorrufen können. Zweitens hat er uns dann nicht nur gezeigt, wie wir die Bakterien am besten rein züchten, sondern auch wie wir sie am sichersten vernichten können. Er lehrte uns die Ueberlegenheit des kochenden Wassers, des siedenden Dampfes gegenüber den chemischen Desinfektionsmitteln kennen, da, wo es gilt die Gegenstände, die mit der Wunde in Berührung kommen sollen, vor der Operation keimfrei zu machen. Die neuere Wund- behandlung, die sogenannte Aseptik, wie sie sich durch eine Anzahl Forscher schon von 1885—1889 vorbereitet und uns von v. Berg- mann auf dem X. internationalen Kongresse 1890 zuerst vorgeführt wurde, stützt sich nun wesentlich auf die thermische, die physikalische Desinfektion, im Gegensatz zu der che- mischen Desinfektion der Antiseptik. In welchem Grade die thermische Desinfektion der chemischen überlegen ist, dafür nur dies Beispiel. Wir messen die Leistungsfähigkeit einer Desinfektion nach Koch’s Vorschrift gewöhnlich an Milzbrandsporen. Sind diese sehr widerstandsfähigen Sporen durch ein bestimmtes Verfahren ge- tötet, so können wir sicher annehmen, dass bei der gleichen Prozedur die viel weniger widerstandsfähigen und häufiger in Frage kommenden sporenfreie Bazillen und Kokken wie z. B. die Staphylokokken und Streptokokken schon erst recht viel früher zu Grunde gegangen sein mussten. In 5°/,igem Karbolwasser bleiben die Milzbrandsporen gewöhnlich mehrere Tage lebendig. Man hatte auch schon Milzbrandsporen kennen gelernt, die 30, ja 42 Tage in jener Karbollösung lebendig geblieben waren. Ich selbst bin jetzt aber in den Besitz von an Seidenfäden angetrockneten Milzbrand- sporen gelangt, die nach meiner Untersuchung in 127 Tagen in 5°/, Karbol noch nicht abgetötet waren. Die Versuche wurden mit allen Vorsichtsmassregeln, Kontrolkulturen, nachträglicher chemischer Analyse der angewandten Karbolsäure u. s. w. angestellt, so dass- diese Thatsache zweifellos ist.
Diese selben Sporen mit ihrer enormen Widerstandsfähigkeit gegen Karbolsäure gehen in siedendem Dampf von 100° in 10—12 Min. zu Grunde Aus solchen Vergleichen lassen sich ja keine mathematischen Schlüsse ziehen, immerhin geben sie einen sehr guten Anhalt dafür, wie unendlich viel sicherer man geht, wenn
10
man z. B. seine Instrumente 10 Minuten kocht, als wenn man sie eine halbe Stunde in starker Carbollösung liegen lässt.
Die aseptische Wundbehandlung kommt heutzutage allgemein nur bei frischen Operationswunden in An- wendung. Infizierte Wunden behandelt man in der Regel so, dass man sie mindestens mit Jodoformgaze tamponiert oder verbindet. Als ich vor mehr als 4 Jahren mich in meinem Buche über Aseptik dafür aussprach, dass man auch infizierte Wunden aseptisch behandeln sollte, wurde ich deswegen von verschiedenen Seiten angegriffen. Seitdem bin ich in der Lage gewesen, die Sache praktisch zu erproben und habe weit über 200 infizierte Wunden ganz olıne Anti- septica behandelt. Wie ich es damals empfohlen, bin ich auch selbst sehr allmälig dazu übergegangen. Unter den genannten Operationen finden sich nicht nur Panaritien, Furunkel und Carbunkel, Phlegmonen, jauchige, stinkende Abscesse, sondern auch weitverzweigte, schwere Rectalfisteln, Operationen am Mastdarm, Operationen an eiterigen Nieren u. s. w. Auch tuberkulöse Heerde habe ich so behandelt, dass ich nach Entfernung der fungösen Massen nur mit steriler Gaze verbunden habe. Leider habe ich erst später durch die Liebenswürdigkeit Herrn Dr. Zeidlers aus einer Abhandlung, die er mir auf meine Bitte zugeschickt hatte, erfahren, dass er im Obuchowhospital in St. Petersburg schon im Jahre 1889 eiterige Wunden aseptisch behandelt hat.
Wenn man in den ersten Empfehlungen des Jodoforms liest, das Jodoform wirke bei der Behandlung der Furunkel „sehr gut“, oder wie später hiess, der Borlint sei bei Furunkel ein herrliches Mittel, so muss diese Begeisterung heute recht unbegründet er- scheinen, denn besser und schneller kann kein gespaltener Furunkel heilen, als unter Ausschluss jedes Antisepticums. Der Furunkel wird gründlich gespalten und einfach trockene oder mit Wasser ausgefeuchtete Gaze in die Schnitte hineingelegt.
Beim Abscesshöhlen klaffen nicht selten die Wundränder trotz ausgiebiger Incision nicht genügend, so dass ein grosser Teil des Eiters zurückgehalten wird. Die Tamponade muss dann schon eine festere sein, wenn sie nicht nur die Wundhóbhle füllen, sondern auch noch die Wundränder auseinander halten soll. Dann hält sie aber
11 um so eher das Wundsekret zuriick. Auch die Drainage geniigt hier nur unvollkommen. |
Da gelingt es dann die ganze Wunde gut klaffend zu erhalten, wenn man die von mir beschriebenen Drahtklammern verwendet. Man hat sie in verschiedenen Grössen vorrätig und legt eine so grosse Wundhakenklammer ein, dass die Spannung nicht zu gross ist. Haben sie auch nur einige Tage gut gelegen, so klafft die Wunde später auch ohne dieselben von selbst gut. Zwischen die offengehaltenen Wundränder kann man dann die Wundhöhle ganz locker mit steriler Gaze tamponieren oder auch nach den Buchten und tieferen Spalten hin ausserdem Gumminröhre legen, am besten der Länge nach aufgespaltene.
Die Vorbereitung für eine Operation in infizierten Geweben sollen genau so sauber getroffen werden, als ob es sich um gesunde Gewebe handelte. Wenn auch schwerer, so kann man doch auch eine infizierte Wunde noch infizieren und zwar bei der Mannnigfaltigkeit der Infektionserreger mit anderen, als mit welchen sie schon infiziert ist.
Wir wollen nun versuchen an der Hand der klinischen Er- fahrung und nach den Anhaltspunkten, die uns die Forschung über die Natur der Wundkrankheiten giebt, unsere Aufgaben genauer zu bestimmen.
Um mit den mehr rein lokalen Prozessen anzufangen: Wodurch kommt beim Kranken eine Eiterung zu Stande? Nach den ersten bakteriologischen Untersuchungen sollte die Eiterung durch einige wenige Bakterienarten hervorgerufen werden, die man pyogene oder Eiterkokken genannt hat. Die Zahl der eitererregenden Mikroben hat sich aber in der Folge sehr vergrössert, ja es ist namentlich nach den Arbeiten Buchner’s nicht unwahrscheinlich, dass die Eiterung durch alle Bakterienarten, ohne Unterschied, hervorgerufen werden kann. Das Interessante ist aber noch dabei, dass ein eitererregender Stoff, das Bakterienprotein, erst nach dem Absterben der Bakterien frei wird. Damit stimmt überein, dass auf der Höhe der Eiterung im Mittelpunkt des Herdes die Mikroben im Absterben gefunden worden sind.
Wo es also zur blossen Eiterung gekommen ist, da haben wir nicht mehr sohr viel zu thun und die in den Geweben verbreiteten Mikroben sind ausserdem der Einwirkung der Antiseptica entzogen.
12
Ja, wir besitzen eine Reihe von Untersuchungen, die uns gezeigt haben, dass die gleichzeitige Einwirkung verschiedener chemischer Stoffe, so u. A. auch Carbol und Sublimat die Entstehung der Eiter- ung nicht nur nicht verhindert, sondern durch örtliche Schädigung der Gewebe geradezu begünstigt. Bei solchen rein lokalen entzündlichen Eiterherden besteht wohl Fieber und Störung des Allgemeinbefindens, aber wenn wir den Abscess geöffnet haben, verschwindet das Fieber wie mit einem Schlage und das Allgemein- befinden bessert sich sehr schnell, ohne dass wir irgend ein Antisepticum in die Wundhöhle gebracht haben. Wo- durch diese Besserung bei der freien Eröffnung der Abscesshóhle im einzelnen Fall herbeigeführt wird, darüber können wir nur all- gemeine Annahmen machen.
Mit feiner Ahnung vom Richtigen haben die Alten die Be- zeichnung der «pus bonum et laudabile» gefunden. Unsere neuesten Forschungen der Bakteriologie weisen in der That den Leucocyten immer mehr eine heilsame Bedeutung zu. Unter Modifikation des Metschnikow’schen Begriffes der Phagocytose müssen wir annehmen, dass aus den Leucocyten Stoffe frei werden, die in Lösung über- gehen und welche imstande sind, Bakterien zu töten. In welcher Weise diese Stoffe frei werden, darüber wird noch gestritten, aber sie sind da und hängen mit den Leucocyten zusammen, wenn sie auch wahrscheinlich nicht von ihnen allein herstammen. Die Bak- terien selbst locken sich durch ihre Chemotaxis selbst zu ihrem Ver- derben die Leucocyten herbei und der Entzündungsprozess ist eine Schutzmassregel des Körpers gegen die feindlichen Keime. Es können sich aber in einem örtlichen Herd auch Bakteriengifte bilden, die nicht blos Fieber, sondern auch mehr oder weniger schwere Schädigungen der Herztbätigkeit und des Nervensystems hervorrufen. Das kann wohl manchmal gewiss nur von der grösseren Menge der Infektionserreger abhängen. Man kann z. B. mit Pneumo- kokken, je nachdem man geringere oder grössere Menge von ihnen anwendet, entweder nur eine lokale leichte Entzündung oder eine umfangreiche Eiterung, oder eine gefährliche allgemeine Infektion hervorbringen. Aber es spielen hier noch eine Reihe anderer Un- stinde mit, welche die Gefahr vergrössern. So wissen wir, wie gefährlich Stauungen sind, wie sie im und am Darm und in den
13
Harnwegen vorkommen. Diese Thatsachen werden in der Erklärung komplizierter, als andererseits Stauungen wie z. B. bei Tuberkulose, günstig wirken können. |
In der Wundhöhle, wo nicht das „pus bonum et laudabile“ mit seinen siegreichen Leucocyten statt hat, finden wir alle Übergänge von dem dünnflüssigen Eiter zur übelriechenden Jauche. Hier droht oft grosse Gefahr und was können wir thun, um den Bakterien entgegen- zutreten. Als einst der Listerverband auf dem Plan erschien, fand er als bis dahin beste Wundbehandlung die offene Wundbehandlung vor. Man nähte die Operationswunden nicht zu, sondern liess sie offen der freien Luft zugänglich daliegen, während doch nach Lister alles Uebel aus der Luft kam, wenn auch nicht aus der Luft selbsi, sondern von Fäulniskeimen, welche in der Luft schwebten und sich auf die Wunde und alle Gegenstände, die mit ihr in Berührung kommen, niedersenkten. Wie sollte man sich einen solcheu grellen Wider- spruch erklären? Eine Klarheit war erst möglich, als man einsah, dass die Luftinfektion gegenüber der Contactinfektion nicht von Be- deutung war. Man lernte auch unter Anwendung der Antiseptik die Vorzüge der offenen Wundbehandlung schätzen und zwar in der offenen lockeren Tamponade solcher Wunden, die entweder infiziert oder der stattgehabten Infektion verdächtig schienen.
Um die Erklärung, woher jene Vorzüge dieser Behandlung kamen, kümmerte man sich wenig. Eine wissenschaftliche Chirurgie kann sich mit dieser Genügsamkeit aber nicht zufrieden stellen. Erst wenn sie ihre Massnahmen begründen kann, werden sie zu sicherem Besitz. Zweiffellos von grossem Einflusse ist hier die Eintrocknung der Sekrete, namentlich bei mehr flachen Wunden. Dennoch reicht diese Erklärung, welche sich wesentlich nur auf rein quantitave Verhältnisse stützt, nicht aus. Gerade für jauchige Wunden ist die Eintrocknung wenig angebracht, da so leicht Sekretverhaltung eintritt. Einen anderen Fingerzeig, dem Problem näher zu kommen, gewinnen wir, wenn wir auf die Verhältnisse eingehen, unter welchen die Bakterien in geschlossenen Wundhöhlen leben und sich vermehren.
Louis Pasteur war es, der mit der wundervollen Divinationsgabe des echten Genies gezeigt hat, dass es Bakterien giebt, welche im
Gegensatz zu allen bisherigen Annahmen im Stande sind, ganz ohne Luftzutritt, ohne Sauerstoff zu leben und ihre Stoffe zu bilden. Spätere Untersuchungen mit Hilfe der Koch’schen Methodik haben dann gezeigt, dass diese Fähigkeit ohne Sauerstoff zu leben, den pathogenen Pilzen allgemein zukommt. Man nennt sie die fakulta- tiven Anaöroben, die auf beide Arten, sowohl unter Luftzutritt als unter Luftabschluss zu leben im Stande sind. Andere Pilze, denen die Fähigkeit ohne Sauerstoff zu leben in besonders hohem Masse zukommt, wie z. B. der Bacillus des malignen Oedems heissen obligate Anaöroben.
Da in den Wundsekreten geschlossener Wundhöhlen nach der Analyse der Chemiker kein Sauerstoff enthalten ist, so müssen alle Pilze in Eiterhöhlen etc. ohne Sauerstoff, d. h. als Anaéroben leben und die Zuleitung der Luft muss ihrem hier gewöhnlichen Wachstum hinderlich sein.
Obligate Anaéroben in Reinkultur wachsen bei Luftzutritt überhaupt nicht. Die offene Wundbe- handlung mit lockerer Tamponade kann daher auch von diesem Gesichtspunkt aus als zweckmässig angesehen werden.
Der eben besprochenen Kategorie von Wunden, bei welchen mit der örtlichen Behandlung noch etwas ausgerichtet werden kann, stehen die Infektionen gegenüber, bei welchen unsere Therapie ganz machtlos ist, wo es bis jetzt eine richtige Therapie gar nicht giebt, sei es weil die Mikroben den ganzen Körper überschwenmt haben, oder so viel Gift an einer Stelle gebildet ist, dass auch die stärkste Lokalbehandlung nichts mehr helfen kann. Hier stehen wir, die wir so stolz sind auf die Sicherheit unserer Wundbehandlung, ebenso ratlos da, wie es der innere Mediziner nur zu oft genötigt ist, wir sind hier ebenfalls ganz auf die «vis medicatrix naturae» angewiesen.
Der nach den Ursachen spähendo Menschengeist hat vor diesem Mysterium nicht Halt gemacht. Nachdem wir in den letzten 30 Jahren immer mehr darüber erfahren haben, wie Wunden infiziert werden, ist es heute kein grosses Wagnis mehr, an die Frage zu treten: Wie heilen infizierte Wunden von selbst? Können wir uns nicht die gewaltigen Heilkräfte, welche die Natur anwendet, auch unterthan machen? Wenn die Bak-
15
terien durch Gifte töten, wo ist das Gegengift, welches den Kranken wieder genesen lässt?
Auch hier sehen wir wieder, dass unsere Theorie genau nur so weit reicht, als wir eine Anleihe machen können bei der Bakteriologie.
Was uns hier zunächst in die Augen fällt ist, dass die Natur kein Universalmittel gegen alle Wundinfektionen kennt, im Gegensatz zu den Bestrebungen vieler Chirurgen, die immer alles Heil von einem einzigen Antisepticum erwarten. Die Natur kennt kein Mittel, um alle Bakteriengifte mit einem Schlage, durch eine Panacee aus der Welt zu schaffen. Sie führt hier den Kampf wie in einem feinen Schachspiel, durch Zug und Gegenzug. Das bakteriologische Tierexperiment hat uns eine unendliche Mannig- faltigkeit der Widerspiels zwischen Empfänglichkeit und Unempfäng- lichkeit gegenüber den Mikroben kennen gelehrt. Am meisten Interesse hat hier für uns nicht die natürliche, sondern die künst- lich erzeugte Unempfänglichkeit, Immunität. Die ver- schiedenen Wege, auf welchen sie erreicht werden kann, lassen wir beiseite. Wichtig ist, dass Immunisieren und Heilen eng zusammen- hängt. Freilich ist die Zahl der Krankheiten, gegen welche man immunisieren kann, noch viel grösser, als die auf diesem Wege erreichbaren Heilungen. Es lässt sicb aber schon jetzt erkennen, dass wir bei den infizierten Wunden, die durch Lokaltherapie nicht mehr zu heilen sind, nur dann etwas erreichen werden, wenn wir die baktericiden Körper und die Antitoxine in unseren Dienst stellen, welche im Körper selbst entstehen.
Wie man sich die erstaunlich interessanten Vorgänge bei der Immunisierung und Heilung näher vorstellen soll, können wir hier nicht weiter erörtern. Es liegt schon jetzt ein riesenhaftes Material von Thatsachen vor, die ganz neue Anschauungen, neue Begriffe zur notwendigen Folge haben. Dabei berühren die bakteriologischen Errungenschaften die intimsten Probleme der Chirurgie, gerade was die infizierten Wunden betrifft. Und trotzdem fast das ganze experimentelle Material auf die Weise gewonnen ist, dass man die Tiere von Wunden aus infizierte, so ist doch dies ganze Forschungsmaterial fast nur von Hygienikern und Bakterio-
16
logen, am wenigsten von Chirurgen geliefert worden. Die Chirurgie hätte aber das allermeiste praktische Interesse, den von anderen Forschern erschlossenen und geebneten Weg zu verfolgen.
Weswegen verfolgt sie ihn nicht?
Ich will nicht davon sprechen, dass auch sonst neue Forschungszweige sich immer nur langsam eingeführt haben. Ein Haupthindernis liegt jedoch in der heutigen Organisation der chirurgischen ‘Kliniken, denen in erster Reihe die Pflicht der Forschung obliegt. Die Kliniken haben gegenwärtig in Folge des mächtigen opera- tiven Materials, das sie hewáltigen müssen, ganz andere Dinge zu thun, als sich angelegentlich mit unseren Fragen zu beschäftigen. Und wenn sie dies auch thun wollten, so können sie es heute nicht mehr so, wie es dem Stande der Frage entspricht. Das können heute nicht einmal mehr die hygienischen Institute. Das sehen wir an der Entwickelung mancher Einzelheiten. Als sich damals für Koch die Notwendig- keit herausstellte, seine Arbeiten, welche mit dem Tuberkulin an- fingen, fortzusetzen, verliess er das von ihm geschaffene Hygienische Institut und zog ins neugegründete Institut für Infektionskrankheiten. Und als Behring in diesem selben Institut dann mit seinem Diphtherieserum weiter arbeiten wollte, reichte es wiederum dazu bei Weitem nicht aus. Er hatte es nur dem Entgegenkommen grosser Privatunternehmer zu verdanken, dass er nicht die ganze Sache auf halbem Wege wieder fallen lassen musste. Jeder Zweig der Wissen- schaft hat seine eigenen Sorgen und seine eigenen Interessen. Der Hygieniker steht unseren Problemen als Fachmann sehr fern. Erst die klinische Beobachtung am Krankenbett kann in der Chirurgie die richtige Fragestellung und den richtigen Standpuukt geben. Der Chirurg muss hier nach beiden Richtungen selbständig denken und sich aus der allgemeinen Bakteriologie in derselben Weise das aussuchen, was er für seine Zwecke braucht, wie er seine topographisch- chirurgische Anatomie aus der allgemeinen Anatomie bereichert. Was uns der Hygieniker geben kann, sind Analogieschlüsse von Kaninchen, von Meerschweinchen auf den Menschen. Wir müssen ihm auch schon dafür dankbar sein, Vor 25 bis 30 Jahren waren die Analogieschlüsse, die wir dem Tierexperiment
17 entnahmen, noch ausserordentlich unvollkommen und ver- kehrt. Damals galt allen Ernstes noch der Frosch als bestes Objekt fiir die experimentelle Erforschung der Septikämie und wir finden in einem bekannten chirurgischen Lehrbuche eine lange Abhandlung iiber die Frage, ob der Frosch fiebern kann.
Bei der unendlich verschiedenen Empfänglichkeit der einzelnen Tierarten einerseits und des Menschen andererseits gegenüber In- fektionserregern genügt uns heute für die Chirurgie nicht mehr der weit hergeholte Analogieschluss allein, wir müssen die Prozesse kennen, wie sie sich im Menschen selbst abspielen. Das geht nicht so einfach wie im Tierexperiment, unsere Aufgaben sind deswegen auch viel schwieriger. Wir wollen uns nicht nur rein theoretisch über die Natur der Antikörper belehren, sondern wir wollen den Kranken heilen. Wenn wir nun vielleicht auch wissen sollten, wie man eine Streptokokkeninfektion durch ein Serum heilen kann, was machen wir, wenn wir, um an einen jüngst behandelten Fall anzuknüpfen, schon im mikroskopischen Präparat aus der Jauche einer septischen Phlegmone ausser den Streptokokken auch Staphylo- kokken, ferner noch einen Kapselkokkus und ausserdem noch drei Arten von Bazillen finden?
Welche Zahl von systematisch fortgesetzten Untersuchungen und welche Vorarbeit, welche Ver- wertung des klinischen Materials gehört dazu, um uns für das praktische Handeln in solchen Fällen eine Richtschnur zu geben? Sollen wir aber solchen Fällen gegenüber für ewig die Hände in den Schooss legen dürfen und wie bisher, den Infizierten einfach sterben lassen?
Und die rettungslos verlorenen Fälle von Sepsis sind durchaus nicht etwa selten. Wie oft traut man uns zu, dass wir bei der Ent- wickelung der heutigen Chirurgie auch in solchen verzweifelten Fällen helfen werden und doch können wir da nichts weiter leisten, als höchstens eine richtige Prognose stellen.
Es liegt in der Natur der Sache, dass die chirurgische Therapie bereits infizierter Wunden wohl niemals die Sicherheit erreichen wird, wie die chirurgische Prophylaxe, mit welcher wir jetzt die frischen Operationswunden schützen. Trotzdem müssen wir alles
9
18
daran setzen, das zu erreichen, was erreichbar ist. Auf diesem Wege kann die Chirurgie nicht nur in der Therapie Fortschritte machen, sondern auch dazu beitragen, die allgemeinen Anschauungen der Pathologie zu vervollkommnen, so wie schon die antiseptische Wundbehandlung einst die damals viel umstrittene Lehre von den causae vivae der Infektionskrankheiten mächtig gefördert und zur allgemeinen Anerkennung gebracht hat. Die chirurgischen Krankheitsherde sind dem Auge und der unmittel- baren Untersuchung zugänglich und dadurch hat die Chirurgie für die Erforschung pathologischer Probleme gerade im Vereine mit der Bakteriologie grosse Vorteile vorden übrigen klinischen Disziplinen voraus.
Um aber mit Hilfe der neuesten bakteriologischen Errungen- schaften die Aufhellung von chirurgischen Problemen weiter zu führen, muss sich diese Forschung von den mit anderen Arbeiten überhäuften chirurgischen Kliniken ab- lösen und sich mit klinischem Material entweder an grosse Forschungsinstitute, wie sie z. B. in Paris und besonders in Petersburg bestehen, anschliessen, oder für ihre eigene Zwecke besondere Instituteerrichten. Sonst bleibtdie chirur- gische, aetiologische Forschung immer weiter hinter den Aufgaben der Zeitzurück. Wir brauchen zur Bestätigung dessen noch nicht einmal daran zu erinnern, dass jetzt ausser den pflanzlichen Bakterien in neuester Zeit die tierischen Protozoen als Krankheits- erreger die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken beginnen und diese Protozoen ganz anders untersucht sein wollen, als die Bakterien. Unsere gewöhnlichen Kulturmethoden lassen da vorläufig ganz im Stich.
Es kann nicht der Zweck dieses Referates sein, auf alle ein- zelnen infizierten Wunden genauer einzugehen, eine Krankheit möchte ich aber doch noch zur Sprache bringen, eine der schreck- lichsten, die wir kennen, das ist der Tetanus.*)
Ueber die Behandlung des Tetanus beim Menschen wird noch viel gestritten und eine Einigung ist noch nicht erzielt. Angewandt werden: Antiseptische Ausspülung, Aetzen, Ausbrennen mit Spaltung
*) Anmerkung: Aus Rücksicht auf die stark besetzte Tagesordnung hatte ich im Vortrage die Behandlung des Tetanus ausgelassen.
19
oder Ausschneiden der Wunde und die Amputation, wenn dies nach der Lage der Wunde möglich ist. Daneben ist man gezwungen, zum Chloroform, Chloralhydrat, Opium u. s. w. zu greifen. Soviel ist klar, dass, wenn ein Mensch unter dieser Therapie gesund wird, er nicht nur die Krankheit, sondern auch das eingreifende Heil- verfahren mit überwunden haben muss. Daher ist der Wunsch nach einer Verbesserung der bisherigen Behandlungsweise sehr be- greiflich. Mit grosser Sicherheit hat man die Immunisierung gegen Tetanus im Tierexperiment schon erreicht. Mit dem Heilen des schon ausgebrochenen Tetanus hat es grössere Schwierigkeiten und beim Menschen sind die Stimmen über das schon Erreichte jetzt noch geteilt Wie man aus den Tier- experimenten weiss, kommt alles auf die möglichst frühe Anwendung des Heilserums an. Wenige Stunden später kann schon die 100fache Menge davon nötig sein. Eine Haupt- bedingung zur Feststellung der wirklichen Leist- ungsfähigkeit der Serumbehandlung ist die, dass das Antitoxin in jeder Apotheke leicht zu haben sein soll. Aber trotz der Allgemeinbehandlung mit Antitoxin wird man weder die symptomatische noch vor allem die lokale Be- handlung aus dem Auge lassen dürfen. Die breit und ausgiebig gespaltene Wunde wird sich am besten mit den von mir empfohlenen Drahtklammern klaffend erhalten lassen. Höchst auffallend ist es aber, dass man eine andere Massnahme, wie es scheint, bis jetzt nicht besonders ins Auge gefasst hat, die sich auf das Verhältnis des Tetanusbazillus zum Sauerstoff bezieht.
Der Tetanusbazillus ist ein Anaérobe, d. h. er wächst bei Gegenwart von Luftentweder gar nicht, oder wenn er so unter Umständen wächst, so scheint erdann unschädlich geworden zu sein. Da wir es hier mit einem so überaus gefährlichen Mikroben zu thun haben, werden wir uns nicht einmal mit dem blossen Offenhalten der Wunde be- gnügen, um so weniger, als andere, gleichzeitig in die Wunde ge- ratene fakultative Anaöroben ihm durch Aufbrauchen des Sauerstoffs das Leben ermöglichen und erleichtern können.
Wir müssen Sauerstoff direkt durch die Tetanus-
wunde durchleiten, der Sauerstoff ist für die Teta- gx
91)
nusbazillen ein sicheres Gift und wird von den Kórpergeweben begierig aufgenommen, dringt also um so sicherer ein. Ich habe im Versuch gefunden, dass auch Tetanusbazillen, die im Briitschrank einfach in Zuckergelatine wachsen, dieses nicht thun, wenn man aus einem Gasometer fortdauernd Luft hindurchbrechen lässt. Kann man es haben, so wird man natiirlich lieber den Sauerstoff selbst nehmen. Man legt also bis in den tiefsten Grund der Wunde dúnne Gummi- röhren und verbindet sie durch einen dreizackigen Glasteil mit dem Gasometer oder einem Sauerstoffballon aus Gummi. Auf den Haupt- schlauch kommt ein Regulierungshahn.
Das miisste auf die Bazillen vicl sicherer wirken, als Anti- septika, in welchen sie auch schon in wässeriger Lösung stundenlang lebendig bleiben können. Um wie viel mehr erst in Eiterflüssigkeit! Viel mehr Aufmerksamkeit als bisher wird man dem Immunisierungs- verfahren zuwenden miissen. Hat man irgend Verdacht auf Tetanus- infektion, nun, so spritze man doch die kleine Dosis Serum ein. Schaden wird es sicher nicht und könnte viel helfen. Dass man den Eiter der Wunde mikroskopisch zu untersuchen hat, oder gut thut, bei tetanusverdiichtigen Wunden mit dem Wundinhalt Impfungen auf weisse Mäuse vorzunehmen, ist für jeden, der der Bakteriologie einigermassen nahe steht, eigentlich ganz selbst- verständlich.
M. H.!
Unser Thema über die Therapie infizierter Wunden ist nicht blos theoretisch interessant und wichtig, es greift vielmehr weit in die praktischen Verhältnisse hinein. Denn es kommt doch vor Allem darauf an, dass die als richtig erkannte Behandlung auch den Kranken wirklich zu Gute kommt. Und da bilden gerade die infizierten Wunden ein Hauptgebiet in der Thätigkeit des praktischen Arztes! Was aber ein sehr grosser Teil der praktischen Ärzte in der Wundbehandlung leistet, ist kein Geheimnis. Man merkt es manchmal kaum, dass ein Lister überhaupt da- gewesen ist und dass seit 25 Jahren in der Antiseptik gearbeitet wird. Und dennoch ist es faktisch, dass die Ärzte daran nicht so sehr schuld sind, als der klinisch-chirurgische Unterricht. Die Ärzte behandeln die Wunden meist ihr ganzes Leben so, wie sie
21
tr
auf der Universitát gelernt haben. Und hier haben sie meist nur sehr mangelhafte Gelegenbeit, sich in der Wundbehandlung praktisch auszubilden. Das ist kein persónlicher Vorwurf gegen irgend einen Lehrer, sondern diescr Mangel wurzeltin derOrganisation der chirurgischen Kliniken. So segensreich die Anti- septik dem kranken Menschen geworden ist, so ver- derblich ist sie fúr den chirurgischen Unterricht ge- worden. Es wird jetzt so viel mehr operiert, als früher, das gross- artige operative Material mit seinen Ansprüchen, ich möchte sagen, an die rein körperliche Arbeitskraft, steht so ganz im Vordergrund, dass die ruhig gesammelte Vorbereitung für die Thätigkeit des späteren praktischen Arztes zukurz kommt. Das Massenmaterial erdrückt jede didaktische Logik. Auf einer Klinik ist es damit etwas besser, auf der anderen weniger gut, im Grunde sind sie darin aber alle gleich.
In den meisten wird eine grosse Menge von grossen Operationen vor den Augen der Studierenden gemacht, die mit der Ausbildung des praktischen Arztes nichts zu thun haben. Daraus folgt mit strenger Notwendigkeit, dass auch die Zwecke des Unterrichtes, der ja für das, was der leidenden Menschheit von den Forschungsresultaten wirklich zu Teil werden soll, von der allergrössten Wichtig- keit ist, dass auch die Zwecke des chirurgischen Unterrichts für sich verfolgt werden sollen. Das giebt eine weitere Teilung der Funktion der heutigen chirurgischen Klinik Teilen wir die aetiologische Forschung und den Unterricht ab, so resultiert notwendig eine dritte Institution, diein erster Linie dazu bestimmt ist, dasjenige Massen- material aufzuoperieren und zu versorgen, welches weder für die Forschung noch für den Unterricht tauglich und nötig ist. Diese letztere Kategorie von Anstalten, die mögen dann die Serien von Tausenden Laparotomien und Hunderten Kropfoperationen veröffentlichen, an welchen für den praktischen Arzt nichts zu lernen ist, die aber die besten Arbeitskräfte, sowohl der Forschung, als dem Unterricht entziehen. Es wird sich für die Zukunft vorläufig um eine besonnene Übergangs-
zeit handeln, aber gut wird es nur werden, wenn jene drei wichtigen Obliegenheiten der heutigen chirurgischen Klinik, die sich unauf- hörlich immer als Hemmschuhe gegenseitig hindernd in den Weg treten, getrennt von einander, frei fiir sich einhergehen werden.
Wie weit sind wir noch davon entfernt, dass auch die prak- tischen Aerzte, die mebr als alle Kliniker mit infizierten Wunden zu thun haben, die grundlegende Voraussetzung dazu, die aseptische Wundbehandlung, beherrschen werden.
Schon vom Anfang der Aseptik an, hat man wiederholt in der Litteratur sich dahin geäussert, dass die Aseptik für den praktischen Arzt nichts sei.
Man hat in letzter Zeit sogar in Abrede gestellt, dass die Aseptik auch bei frischen Operationswunden bessere Resultate erzielt und den praktischen Aerzten direkt geraten, zur Antiseptik zurück- zukehren. Die Aseptik sei in der ärztlichen Praxis nicht ausführbar. Um wie viel mehr wird man daher gegen die aseptische Behandlung der infizierten Wunden in der Praxis sein.
Dass keine Besserung der Erfolge gegenüber der Antiseptik zu merken sei, ist doch nicht richtig. Wir wollen nur die Nieren- operationen und die Laparotomien nehmen. Als Czerny auf dem Londoner internationalen Kongresse 1881 über die Nierenexstirpationen sprach, betrug ihre Mortalität ca. 55°/,. Seine damals ausgesprochene Hoffnung, dass die Antiseptik die Erfolge bessern werde, ging nicht in Erfüllung, denn 1890 betrug die Mortalität noch immer 53 %/,. Vier Jahre später konnte aber schon aus der Heidelberger Klinik eine Serie von 9 Nierenextirpatignen berichtet werden, welche ohne Todesfall geheilt waren. Und als Erklärung für diesen Umschwung wurde gerade das Fortlassen der Antiseptica, also die aseptische Wundbehandlung angeführt. Als bezeichnend dafür, wie die spezielle operative Technik manchmal zu vorherrschend das Interesse von der Frage der Wundbehandlung ablenkt, dafür haben wir hier auf dem Kongress noch letzten Sonnabend ein gutes Beispiel gehabt: Von allen den geehrten Rednern, welche über Nierenexstirpationen gesprochen haben, hat kein einziger den so wichtigen Umstand erwähnt, dass das Jodoform hier die Ope- rationsresultateverschlechtert und bei Nierenoperationen zu vermeiden ist. Keiner hat erwähnt, dass gerade hier nur die Aseptik
23
am Platze ist. Dass ferner die Resultate bei den Laparotomien jetzt unter der Aseptik als bessere geschildert worden, ist doch ebenso bekannt, als dass die Antiseptica, zumal das Jodoform, das Bauch- fell zu Verklebungen reizen, und Adhäsionen hervorrufen. Diese Verstimmung gegenüber der Aseptik hat also anscheinend keine objektive Begründung.
Weswegen soll der praktische Arzt auf die Aseptik verzichten ? Worin liegt denn die so viel grössere Schwierigkeit der aseptischen Wundbehandlung? Nehmen wir an, ein praktischer Arzt hat einen Abscess in der Wohnung des Patienten zu spalten. Seine Hände muss er genau ebenso sorgfältig waschen, mager nun anti- septisch oder aseptisch behandeln, ebenso genau die Haut des Patienten. Ihm das Kochen der Instrumente abzuraten, durch welches er überhaupt nur mit Sicherheit keimfreie Instrumente bekommen kann, wäre überflüssig, wenn er sie ohnehin nicht kochen könnte, aber unverantwortlich, wenn es ausführbar ist.
Und ausführbar ist es immer, wenn man nur von der Ueber- legenheit des Kochens gegenüber dem Carbol überzeugt ist. Kurz, er hat nun seinen Abscess gespalten, was nun weiter ?
Jetzt kommt der einzige Unterschied, dass er den Abscess nicht mit Sublimat etc. ausspült und dass er anstatt der allgemein ge- bräuchlichen Jodoformgaze, einfach sterilisierte Gaze nimmt. Jetzt gehört also zur vollen Aseptik nur, dass er vom Apotheker sterilisierte Gaze bekommen kann. Auch dass wird dann keine Schwierigkeit haben, wenn unter den Aerzten erst genügende Nachfrage nach sterilisierter Gaze vorhanden sein wird. Ja, infizierte Wunden lassen sich noch eher ohne Antiseptika behandeln, als frische, weil eine eiternde Wunde gewöhnlich viel schwerer mit einer anderen Infektion anzustecken ist, als eine frische. Man sollte lieber, ehe man laut proklamiert, dass in der Praxis Aseptik zu treiben unmöglich sei, erst etwas mehr dazu beigetragen haben, um diese Verhältnisse dem Arzte einfacher und bequemer zu gestalten.
M. H. Bei dem enormen Umfang des mir gestellten Themas konnte ich auf manche Einzelheiten, wie permanente Ueberrieselung, Wasserbad, feuchte Umschläge (Hydrotherapie) u. s. w. nicht näher eingeben. Die Diskussion hat da Gelegenheit, mich zu ergänzen.
Es ist fiir die Behandlung infizierter Wunden weniger wichtig, feine Unterschiede zu finden, ob das cine oder das andere Anti- septicum das bessere ist, als sich darüber klar zu werden, ob die Antiseptica überhaupt in infizierte Wunden ge- bracht werden sollen, ob sie überhaupt nötig sind. Denn wenn wir alle infizierte Wunden ausschliesslich nur antiseptisch behandeln, kämen wir in unserer Frage nicht weiter. Wir müssen erst wissen, wie weit die Wunden ohne Antiseptica heilen, um zu wissen, wo letztere vielleicht noch als Unterstützungsmittel hinge- hören. Nach dem, was ich selbst bei der Behandlung infizierter Wunden gesehen habe, muss ich die Bedeutung der Antiseptica für so fraglich halten, dass ich glaube, sie sind hier ganz überflüssig. Wenn man sich allgemein noch scheut, von der antiseptischen Behandlung infizierter Wunden abzugehen, und zur aseptischen über- zugehen, so möchte ich mir daran zu erinnern erlauben, dass sich in verhältnismässig kurzer Zeit unsere Ansichten auch bezüglich frischer Operationswunden sehr geändert haben. Auch für frische Wunden haben wir die Antiseptica bei der Behandlung einst für ganz unentbehrlich gehalten. Die nächsten Jahre werden uns gewiss zeigen, dass wir auch in Bezug auf die infizierten Wunden unsere Ansichten und die Behandlung werden ändern müssen, um hier vorwärts zu kommen. Eine durchgreifonde Reform in den von mir angedeuteten Richtungen halte ich nur für eine Frage der Zeit.
_Verantwortl. Redakteur: Hofrath Dr. Ernst Stadelman n in. Berlin. Druck von Albert Koenig in Guben. Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden direct
an den oben genannten Redakteur, Berlin SW., Anhaltstrasse 12, oder durch die Verlagsbuchhandlung erbeten.
Ueber Atypien bei Psoriasis vulgaris. Von Prof. Dr. Jadassohn in Bern.
Das Bild der Psoriasis vulgaris gehört zu den characteristischsten, schárfst umrissenen auf dermatologischem Gebiet. Es ist dem praktischen Arzt aus reichlicher Erfahrung gut bekannt und erscheint ihm wohl etwas monoton. Die typische Localisation, die scharf ge- schnittenen Ränder, die verschiedene Grösse, dabei aber die Uni- formität der mehr minder zahlreichen Herde, der Silberglanz der Schuppen, endlich die „Nagelprobe“, d.h. das leichte Bluten bei Ab- streifen des Psoriasishäutchens — all das ist so viel besprochen, so gut in jedem Lehrbuch beschrieben, dass der Praktiker, für den diese Vorträge bestimmt sind, wohl fragen mag: „Psoriasis? was lässt sich darüber Neues sagen ?“
Ich habe nicht die Absicht, Sie in dem Folgenden mit diesen allbekannten Dingen zu langweilen. Es liegt mir auch fern, vor Ihnen die ätiologischen Fragen aufzurollen und Ihnen in noth- gedrungen rein theoretischen Erörterungen auseinanderzusetzen, warum ich ein überzeugter Anhänger der parasitären Aetiologie der Psoriasis bin, und glaube, dass wir auf Grund aller unserer klinischen Kennt- nisse gezwungen sind, diese Krankheit zu den Dermatomykosen zu rechnen.
Ich glaube aber, dass es auch für Sie Interesse haben wird, die Abweichungen von dem Ihnen aus den Lehrbüchern, aus der „Schule“ so gut bekannten Bilde einmal etwas näher und im Zu- sammenhange zu betrachten. Jeder „Typus“ wird langweilig und wie uns unter den Menschen diejenigen ein besonderes Interesse abnöthigen, welche sich durch absonderliche, „originelle“ Eigen- schaften von dem grossen Tross abheben, su folgen wir auch den Krankheitsfällen mit gesteigerter Aufmerksamkeit, bei welchen nicht
alles „nach der Regel“ vor sich geht. 1
Neben diesem Interesse aber und neben der theoretischen Be- deutung, welche gerade die Atypien einer Krankheit häufig für deren allgemein-pathologische Auffassung haben, sind die Bemerkungen, welche ich Ihnen vortragen möchte, auch praktisch, wie ich glaube, nicht ohne Werth. Vielleicht bringen sie Manchem von Ihnen einen Fall in Erinnerung, der ihm unklar gewesen ist, vielleicht schützen sie Sie vor Verwechselungen in der Zukunft, vielleicht sichern sie Ihnen therapeutische Erfolge, wo solche ohne Diagnose nicht zu erzielen sind.
In diesem Sinne bitte ich Sie, die folgenden Darlegungen auf- zufassen, welche für den specialistisch Erfahrenen wenig Neues bringen werden.!)
Eine alte Lehrbuchregel sagt: Die Psoriasis juckt nicht, Wie fast alle solche als Gesetze formulirten Erfahrungen hat auch diese mannigfache Ausnahmen. Und weil ich so oft gehört habe, dass das Nicht-Jucken differentialdiagnostisch verwerthet wird, möchte ich die Umstände, unter denen die Psoriasis juckt, etwas näher bestimmen. Einmal kann die „Eruptionspsoriasis“ sehr heftiges Jucken veranlassen. Solche Eruptionen kleinster Psoriasisefflores- cenzen entstehen entweder ,,d’emblée“ — d. h. ohne dass vorher eine Psoriasis vorhanden war, oder sie schiessen ganz plötzlich auf, nach- dem durch Jahre oder Jahrzehnte eine oder einige kaum oder nicht
beachtete Psoriasisplaques bestanden haben. Zu einem derartigen Ausbruch kann eine andere juckende Dermatose, wie z. B. die Scabies, den Anlass geben; man kennt die Thatsache, dass die „Provocation“ bei der Psoriasis eine grosse Rolle spielt, schon seit Hebra, und ganz besonders überzeugend hat sie Koebner demon- strirt, als er durch Tätowirung Psoriasisfiguren auf den Körper zeichnen konnte. So kann der kratzende Finger des Scabiösen Psoriasisherde hervorrufen — eine Thatsache, bei der die Frage unentschieden bleiben mag, ob er an den gekratzten Stellen eine schlummernde Disposition weckt oder die supponirten Psoriasis-
1) Ich verzichte hier auch fast vollständig auf Citate aus der Litteratur; wer sich näher mit dem Gegenstand beschäftigen will, findet in den Arbeiten von Rosenthal, (Archiv für Dermat. u. Syph. 1893) und Nielsen (Mon. f. prakt. Derm. XV) reichlich Material und Litteraturangaben. Nur eigene Erfahrungen wollte ich hier besprechen.
3
keime von einem Herde aus in die Haut der verschiedensten Körperstellen einimpft. Das Jucken aber hört nicht auf, wenn die Scabies geheilt ist, sondern es dauert an, bis der Nachschub neuer Efflorescenzen sistirt.
Bei solchen Psoriasisherden ist die mehrfach discutirte Frage, ob sie Papeln oder Flecke darstellen, auf den ersten Blick ent- schieden, — bei ihnen hebt ein acut entstehendes Oedem die Ober- fläche der Haut ganz unabhängig von der Schuppenbildung in die Höhe. Die acuten Schübe einer an sich chronischen nicht juckenden Dermatose jucken — ganz so wie die unscheinbarste gleichgültigste Hautkrankheit, die Pityriasis versicolor, Entzündung bedingen und jucken kann, wenn sie, durch irgend eine Gelegenheitsursache an- gefacht, acut über den Körper sich ausbreitet.
Es ist ferner eine dem Specialarzte leider nur allzugut bekannte Thatsache, dass unter einer specifischen Chrysarobinbehandlung eine solche Eruptionspsoriasis durch die Chrysarobindermatitis provocirt werden kann. Gerade mit Rücksicht auf solche Fälle schien es mir wünschenswerth, von dem Typus der Chrysarobinanwendung, wie er allgemein üblich ist, abzuweichen und in einer viel allmählicheren Weise vorzugehen. Wenn man mit ganz schwachen Concentrationen (Vio —1 °/)) der Chrysarobinsalbe beginnt und den Körper allmählich an die energische specifische Wirkung dieses Medicamentes gewöhnt, sieht man solche unangenehme Zufälle kaum oder nur verschwindend selten. 1)
Aber noch unter ganz anderen Bedingungen juckt die Psoriasis: dann nämlich, wenn sie nicht mit acuter entzündlicher Hyperaemie, sondern mit chronischer Entzündung combinirt ist, wenn sie sich >eczematisirt«. Wie bei den Dermatomykosen, speciell bei der Trichophytie, so kann es auch bei der Psoriasis, wenn sie sich lange in loco hält, zu einer derberen und tieferen Infiltration der Cutis kommen; das findet besonders häufig an den unteren Extremitäten statt. Solche derbe Plaques sind oft nur schwer und nur durch die Combination mit typischen frischeren Herden vom Eczema chronicum zu unterscheiden; sie haben mit ihm auch das continuirliche oder exacerbirende Jucken gemein.
1) cf. Zeitschrift für prakt. Aerzte 1897. 1*
4
Und endlich kann die Psoriasis in allen ihren Formen und Localisationen jucken, weil — die individuelle Disposition des Er- krankten das bedingt. Wie der Schmerz, so ist auch das Jucken in eminentem Grade von der Toleranz des Individuums abhängig. Mit Staunen sehen wir manchmal, wie die hochgradigste Entwicklung typischer Scabiesgänge, wie die dichteste Anhäufung von Pediculi pubis, ja selbst wie eine so ausgesprochene Juckkrankheit wie der Lichen ruber planus ertragen wird, ohne dass der Patient — und zwar nicht blos der Nervenstumpfe — sich zu der Abwehrbewegung des Kratzens veranlasst sieht. Aber auf der anderen Seite genügt bei manchen Menschen schon die einfache Vorstellung, dass auf ihrer Haut etwas «nicht in Ordnung» ist, um sie zu energischem Aufkratzen der Haut zu zwingen.
So wird auch mancher Psoriatiker seines lebens nicht froh, weil ihn das Jucken nicht zur Ruhe kommen lässt — ein Mann aus den ärmeren Schichten der Bevölkerung, den ich jüngst sah, hatte sich in der That, trotzdem er eine ganz uncomplicirte Psoriasis hatte, die Plaques förmlich zerschunden, so dass sie mit blutigen Krusten in weitem Umkreise bedeckt waren — während Andere — und zwar glücklicherweise die Mehrzahl -— die ausgebreitetsten Eruptionen ertragen, ohne etwas Anderes als den „Schönheitsfehler“ zu beklagen.
Also — das Nicht-Jucken ist ein häufiges, aber kein constantes Symptom der Psoriasis; das Jucken darf nie von der Diagnose der Psoriasis zurückhalten, wenn die morphologischen Charactere dieser Krankheit ausge- sprochen sind.
Wie mit diesem Symptom, so steht es auch mit einer anderen Schulregel, nämlich, dass die Psoriasis vulgaris die Hand- flächen und die Fusssohlen frei lässt.
Die Dermatologen haben schon längst Ausnahmen auch von dieser Erfahrung betont — aber doch wie mir scheint, nicht mit der nöthigen Energie und noch im vorigen Jahre hat in der französischen Dermatologischen Gesellschaft ein geschätzter College, Herr Darier!) 3 Fälle von Psoriasis palmaris besprochen und damit zu einer lebhaften Discussion dieser Frage Veranlassung gegeben. Er hat
') Annales de Dermatologie et de Syphiligraphie 1896 p. 609.
5
besonders betont, dass es Fälle gebe, in denen der Localisations- typus der Psoriasis in Bezug auf die Hände und Füsse gerade- zu umgekehrt sei: gewöhnlich Hände und Füsse (nicht bloss Handteller und Fusssohlen) frei, wenn der übrige Körper befallen ist; in einzelnen Fällen aber nur Palmae et Plantae oder oft nur eine Palma oder eine Planta und eventuell auch die Dorsalflächen der Hände und Füsse befallen. Die oft sehr schwierige Differential- ` diagnose solcher Fälle gründet sich nach Darier dem Eczem gegen- über auf die dunklere Farbe, die schärfere Umgrenzung, die häufige Asymmetrie, der Lues gegenüber auf die geringere Infiltration und die eventuelle Betheiligung der Dorsalseiten bei der Psoriasis. Die Veränderungen der Nägel, auf die ich weiterhin noch zu sprechen komme, können bei Psoriasis und Eczem identisch sein.
Gewiss ist, dass es eine solche „Psoriasis vera palmaris et plantaris“ giebt, gewiss auch, dass sie differentialdiagnostisch gegen- über der psoriasiformen Syphilis der Früh- und der Spätperiode (der früher sehr unpassend sogenannten Psoriasis syphilitica) oft grosse Schwierigkeiten macht — in einem so grossen Umfange, dass die französischen Collegen die Diagnose ex juvantibus vorschlagen und zwar in der Form der Calomelinjectionen, denen gerade bei der in Frage kommenden, schwer heilbaren Form der Syphilis eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird’).
Aber diese Form ist jedenfalls nach meinen Erfahrungen sehr viel seltener, als eine andere, welche an Handtellern und Fuss- sohlen vorkommt und welche ich kaum erwähnt finde Sie ist freilich viel unscheinbarer als die eben erwähnte; sie kommt kaum isolirt vor, oder wird dann wenigstens kaum aufgefunden; fast immer bildet sie einen Nebenbefund bei typischer Psoriasis des Körpers mit und ohne characteristische Psoriasisherde der Hand- und Fuss- rücken.
In den hierher gehörigen Fällen finden sich in grösserer oder geringerer Zahl über die Handteller und Fusssohlen wie auch über die Volarflächen der Finger stecknadelkopf- bis linsengrosse und
1) Gerade in solchen Fällen zeigt sich die Superiorität der subcutanen Be- handlung gegenüber der in Frankreich so viel benutzten internen, aber auch gegen- über der percutanen Methode.
grössere Herde, an denen Röthung und Infiltration ganz oder fast ganz fehlt, an denen auch die Schuppung sehr gering ist und sich wesentlich auf den Rand der Efflorescenzen beschränkt, so zwar, dass diese in ihrer characteristischsten Ausbildung als glatte, runde und flache, scharf von einer schmalen „Hornfranse“ begrenzte Ver- tiefungen in der Hornschicht erscheinen; bei den kleinsten derselben hat man den Eindruck, als wenn mit einem spitzen Instrumente ein kleiner Theil der Hornmassen herausgeschabt wäre.
Diese wenig beachtete Veränderung gehört nun zweifellos der Psoriasis vulgaris an und ist bei ihr keineswegs selten; in einer Zusammenstellung, welche Radt!) auf meine Veranlassung gemacht hat, fand sie sich unter 68 Fällen 5 mal, d. h. in 7,3°/, der Fälle. Ich hatte allerdings ganz speciell auf diese Localisation gefahndet und betone besonders, dass sie in ihrer Unscheinbarkeit der Be- achtung sehr leicht entgehen kann. Interessant ist sie wegen ihrer klinischen Eigenthümlichkeiten. Das Feblen der entzündlichen Röthung ist auch bei anderen Affectionen dieser Regionen ein sehr auffallendes Symptom. Bei der sogenannten „Dysidrosis“ der Hände hat wohl wesentlich dieses negative Zeichen zur Abgrenzung dieser Affection von den Dermatitiden, resp. von den acuten Eczemen Anlass gegeben; und doch lässt weder die klinische noch die histologische Untersuhung einen Zweifel daran bestehen, dass es sich bei den wasserhellen Bläschen dieser Erkrankung um das Resultat einer acut entzündlichen Exsudation handelt, Ich habe erst jüngst wieder bei einem acuten, stark verbreiteten Eczem beide Handteller übersät mit weissen, scheinbar derben Efflorescenzen gefunden, deren jede einzelne sich beim Einstich als unter der dicken Hornschicht gelegenes Bläschen documentirte. Dabei war aber die Haut selbst ganz blass. Es liegt also auch wohl bei dieser Form der Psoriasis palmaris et plantaris der anaemische Character in den localen anatomischen Bedingungen begründet, — sei es, dass man annimmt, die dicke Hornschicht lasse die hyperaemische Farbe nicht durchscheinen, sei es, dass man dem starken und gleichmässigen Druck derselben die Kraft zuschreibt, die entzündliche Gefässüberfüllung zu verhindern. Schwieriger ist der eigenartige Character der Schuppung zu erklären.
1) Beiträge zur Psoriasis unguium. Aus der dermatologischen Abtheilung des Allerheiligen-Hospitals zu Breslau. Iu.-Diss. Leipzig 1895.
~l
Es ist, als wenn die ganze abnorme Horndecke der Psoriasis- efflorescenz, welche sich bei der gewöhnlichen Ausbildung derselben allmählich in der Form der typischen Psoriasisschuppen abhebt, hier auf einmal — vielleicht auf Grund der stärkeren Cohaerenz der Hornschicht dieser Gegenden — abgestossen worden wäre, und als wenn sich vor dieser Abstossung schon wieder eine normale Horn- decke unter der abzustossenden gebildet hätte. Dafür schien mir zu sprechen, dass in einem Falle diese anaemischen Efflorescenzen zum Theil nicht vertieft waren, sondern mit dicken hornigen Massen über das Niveau der umgebenden Haut sich erhoben.
Wichtiger aber als diese theoretischen Ueberlegungen ist die praktische, die differential-diagnostische Bedeutung der beschriebenen Affection. Es müssen zum Vergleich neben den chronischen Eczemen, die aber kaum je in so isolirten und disseminirten Herden auf- treten, wesentlich die psoriasiformen Syphilide, und zwar speciell die der Frühperiode herangezogen werden. Bei diesen ist die Röthung meist weit ausgesprochener und eine wenn auch geringe Infiltration nach- weisbar, die der Psoriasis fehlt. Aber es muss zugestanden werden, dass auch die Syphilide dieser Gegenden oft sebr blass sind, und dass die Derbheit der hier localisirten Papeln durch die Härte der Hornschicht vollständig verdeckt werden kann, so dass in einzelnen dieser Fälle die Entscheidung, wenn sonst characteristische Er- scheinungen der Lues einerseits, der Psoriasis andererseits (bei der letzteren ist speciell auf die unten beschriebenen Nagelveränderungen zu achten) fehlen, schwer, wenn nicht zeitweise unmöglich sein kann und die „Juvantia“ dann auch bei dieser Form zu Hülfe genommen werden müssen. Für den Praktiker ist es vor allem wichtig zu merken, dass es dem sehr populären psoriasiformen Syphilid der Hand- teller sehr ähnliche oder gleiche Efflorescenzen giebt, welche der echten Psoriasis angehören — wie gross die praktische Bedeutung dieser Kenntniss gelegentlich sein kann, lässt sich leicht construiren. Ich erinnere mich eines Falles, in welchem der Arzt die Psoriasis vulgaris einer Amme eben wegen dieser palmaren Form für Lues hielt; das Kind, das sie säugte, war auf hereditäre Lues nicht un- verdächtig, blieb aber glücklicherweise gesund. Doch hätte der Irrthum des Arztes verhängnissvoll genug werden können. Das Kind war wegen der supponirten Lues der Amme wirklich schon für
8
luetisch erklärt und dadurch die Eltern nicht bloss wegen der Er- krankung des Kindes, sondern auch wegen der Folgen für die Amme in höchste Angst versetzt worden. So grosse praktische Bedeutung können diese vielen als dermatologische Finessen erscheinenden Dinge gewinnen.
Neben Eczem und Lues palmaris kommen diagnostisch noch einzelne postscabiöse Herde in Frage, wie sie nach Scabiespusteln an den Handtellern gern zuriickbleiben; auch hier die glatte helle Fläche, von der Hornfranse umsäumt, meist aber daneben andere leichter als solche deutbare Reste der Scabies.
Dass gewerbliche Verletzungen ein ähnliches Bild erzeugen können, ist selbstverständlich.
An diese Bemerkungen über die Psoriasis palmaris und plantaris schliessen sich am besten einige Worte über die Psoriasis der Nägel an. Diese Localisation ist keineswegs selten. Bei der oben citirten Zusammenstellung, welche Radt von meinem Breslauer Material gemacht hat, ergaben sich unter 71 Fällen von Psoriasis 15, also 21 °/, Nagelaffectionen. Dieselben sind im Wesentlichen in zwei grosse Gruppen einzutheilen: einmal in solche, die gar nichts für die Psoriasis characteristisches haben, und die wir folgender- massen characterisirten: Weisse Flecke in der Nagelsubstanz, Opak- werden der gesammten Nagelplatte oder grösserer Theile derselben, Auftreten von Quer- und Längsfurchen und von quer und längs- stehenden, bald schärferen und schmäleren, bald breiteren und flacher gewölbten Verdickungen, Brüchigwerden der Nagelsubstanz vor Allem in ihren distalen Partien, Verbiegungen etc. etc. Alle diese Ver- änderungen treten auch bei anderen Dermatosen (chronischen Eczemen, chronischen universellen Erythrodermien, wie Pityriasis rubra Hebrae, Pemphigus etc.) auf; sie können auch isolirt vorkommen und sind bei dubiösen Hauterscheinungen diagnostisch nicht verwerthbar. Man bezeichnet sie als secundäre Psoriasis der Nägel und führt sie (z. B. Schütz) auf eine Psoriasis des Nagelbettes zurück. Im Gegensatz zu dieser Form steht eine zweite, welche nach meinen Erfahr- ungen wesentlich häufiger ist. Diese besteht in «einer grösseren oder kleineren Anzahl bald in Querreihen neben einander stehender, bald unregelmässig über einen Theil oder über die@esammtoberfläche der Nagelplatte vertheilter kleinster
grübchenförmiger Vertiefungen an der Oberfláche des Nagels, die selbst im übrigen ganz normal oder auch noch neben- bei rissig gefurcht, gestrichelt etc. sein kann. Die Farbe dieser Grübchen entspricht entweder ganz der normalen Nagelfarbe oder sie wird durch anhaftende Schmutzpartikel dunkler oder auch durch geringe Hornmassen mehr weiss gefärbt.» Diese Form wird von den französischen Dermatologen als «Etat pointill&» bezeichnet; in Deutschland hat sich Schütz um ihre Kenntniss besonders verdient gemacht und sie Tüpfelpsoriasis genannt; uns schien der Aus- druck «Grübchenpsoriasis» characteristischer zu sein. Die von Schütz beschriebenen rothen Pünktchen in der Lunula waren bei meinen Fällen nicht zu finden; vielleicht weil sie nur zu gewissen
Zeiten — der Eruption — vorhanden sind. Unter den erwähnten 71 Psoriasisfállen war diese Form — die primäre Nagelpsoriasis, die «Psoriasis der Nagelmatrix» — 12 mal, also in 16,9 %/, vor-
handen (bei Schütz in 11 °/, seiner Fälle). Sie kommt bei frischen wie bei alten, bei disseminirten und bei localisirten Psoriasiserkrank- ungen vor, auch dann, wenn die Hände zur Zeit frei sind oder es immer waren. Ich habe sie besonders zusammen mit der oben beschriebenen disseminirten Psoriasis palmaris gefunden und mit dieser stimmt sie auch in dem Fehlen der Röthung und in dem grübchenartigen Sub- stanzverlust überein.
Die wichtigste Frage ist aber natürlich die: Wie weit sind diese Veränderungen für die Psoriasis characteristisch? Da ist denn ohne Weiteres zuzugeben, dass sie ein wirklich pathognomonisches Symptom, wie einzelne Autoren zu meinen scheinen, nicht sind. Ich habe sie bei chronischen Eczemen der Hände und besonders bei den akuten recidivirenden Eczemen mit wasserhellen Bläschen speziell an den Seitenflächen der Finger, wie sie als Dysidrosis bezeichnet worden sind, in characteristischer Ausbildung gesehen; dagegen ist es mir trotz speziell darauf gerichteter Aufmerksamkeit nie gelungen, sie in Zusammenhang mit Syphilis zu beobachten, wie das Hans Hebra gelegentlich erwähnt. Andere Angaben fehlen in dieser Beziehung und es ist das um so auffallender, als mir eigentlich gerade wegen der Analogie der Psoriasis palmaris und der palmaren Syphilis auch eine Analogie in der Nägelerkrankung bei beiden Prozessen nicht unwahrscheinlich schien.
10
Trotzdem also von einer pathognomonischen Bedeutung der Grübchen- psoriasis keine Rede sein kann, so ist doch ihr diagnostiscehr Werth nicht gering anzuschlagen; denn es ist nach den von mir ge- sammelten Erfahrungen nicht zweifelhaft, dass diese Grübchen mit spärlichen Ausnahmen wirklich zur Psoriasis vulgaris gehören und jedesmal wenn sie vorhanden sind, zur sorgfältigen Nachforschung nach anderen Localisationen der Psoriasis Anlass geben müssen. Ich erinnere mich dreier Fälle, in denen dieses Symptom mich schnell auf die richtige Diagnose führte: in dem einen handelte es sich um eine auf den Penis beschränkte Affektion, bei welcher der Verdacht auf ein papulöses Syphilid bestand, nachdem ein — nicht von mir beobachtetes — Ulcus ohne Allgemeinerscheinungen einige Monate vorher bestanden hatte; ich entschied mich auf Grund der Nägelgrübchen, welche in ausgeprägter Weise vorhanden waren, für eine Psoriasis penis und der weitere Verlauf — Heilung unter schwacher Pyrogallussalbe, vollständiges Ausbleiben aller weiteren syphilitischen Symptome — gab mir Recht. In einem 2. Fall bestanden einzelne infiltrirte Plaques an den Handrücken, die ich zunächst für ein Eczem hielt; als ich die Grübchen an den Nägeln entdeckte, forschte ich weiter und fand eine der Patientin selbst verborgen gebliebene typische Psoriasisplaque am Ellbogen. Endlich wurde ich bei einer Dame mit starker und diffuser scheinbar seborrhoischer Erkrankung des Kopfes durch die Nägeluntersuchung darauf geführt, die Schuppen- - bildung der Kopfhaut als psoriatisch zu betrachten und zu behandeln — während die vorher befolgte Schwefeltherapie immer nur vorüber- gehende und Scheinerfolge erzielt hatte, brachte eine Pyrogalluscur schnelle und, wie ich erfahren habe, längere Zeit anhaltende Heilung.
Ich habe bisher schon wiederholt von isolirten, localisirten Psoriasisherden gesprochen und möchte bei diesen noch einen Augen- blick stehen bleiben. Es ist in der Thatsache auffallend, wie oft man, wenn man genau auf die gesammte Hautdecke seiner Patienten zu achten gewöhnt ist, einzelne Flecke, hier und da am Körper und besonders häufig an den Praedilectionsstellen der Psoriasis sieht, welche in Allem und Jedem der Psoriasis entsprechen, nie aber peripber gewachsen, nie zu einer tieferen Infiltration gekommen sind, nie zu Dissemination geführt haben. Wer über diese Herde, weil sie zu unscheinbar sind, ohne weiteres zur Tagesordnung übergeht, dem
11
werden sie natiirlich kein Kopfzerbrechen verursachen; wer aber ge- wohnt ist, vom mehr naturwissenschaftlichen oder vom rein ärztlichen Standpunkt aus auch das Kleine zu beachten und zu achten, dem werden solche Herde zu denken geben und es haben mir gelegentlich Collegen Patienten mit solchen unscheinbaren Flecken zugeführt, weil sie Klarbeit über dieselben haben wollten und weil sie diese selbst nicht fanden — nur weil sie sich unter Psoriasis ein immer durch die Grösse oder durch die Zahl der Herde imponirendes Krankheitsbild vorstellten.
Nun haben ja solche Efflorescenzn an sich keine Bedeutung für den Patienten. Wenn man aber gesehen hat, dass von ihnen aus ge- waltige Schübe von Psoriasis auch bei Menschen ausbrechen können, welche ein höheres Alter ohne eine allgemeine Proruption der Er- krankung erreicht haben, so wird man auch diese primären Locali- sationen der bei jeder grösseren Verbreitung doch sehr lästigen Er- krankung wohl berücksichtigen. Vor Allem wird das derjenige thun, welcher die Psoriasis für eine Dermatomykose hält. Auch er kann den Begriff der psoriatischen Disposition nicht entbehren. Worin diese besteht, das wissen wir freilich ebensowenig, wie etwa bei der so oft zum Vergleich herangezogenen Pityriasis versicolor, und: dar- um können wir sie auch leider durch keinerlei diätetische Mittel bekämpfen. Wir müssen aber selbstverständlich sehr verschiedene Grade dieser Disposition voraussetzen; schon die Praedilection für bestimmte Stellen weist auf solche Differenzen hin. Das Isolirtbleiben einzelner Psoriasisherde durch viele Jahre beweist, dass die Er- krankung sich auch bei solchen Individuen einnisten kann, bei denen die Disposition eigentlich eine sehr geringe ist. Wie die Tuber- culose in der Form eines Leichentuberkels oder eines Inoculations- lupus bei einem Menschen Fuss fasst, bei dem von tuberculösem Habitus keine Rede ist und wie sie bei ihm stationär, local beschränkt bleiben kann, so auch die Psoriasis. Aber wir können nicht leugnen, dass im einen wie im anderen Falle die „Constitution“ durch nachweisbare oder unerkannt bleibende Ursachen sich ändern kann, und dass dann bei der Tuberculose die ernste Gefahr, bei der Psoriasis die Unannehmlichkeit der Verallgemeinerung droht.
Deswegen ist es unter allen Umständen richtig, die Herde, die noch leicht zu beherrschen sind, zu vernichten, was bei der Psoriasis durch unsere specifischen Mittel leicht möglich ist. Ich kenne solche
Falle, in denen dann in Jahren kein Recidiv eingetreten ist, was bei den gewöhnlichen Formen der Psoriasis jedenfalls zu den grossen Seltenheiten gehört. Immerhin werden diese Erfahrungen uns die Regel einschärfen müssen, jedem Psoriatiker bei der Beendigung einer Cur den Rath zu geben: er solle, sowie die leiseste Spur eines Recidivs sich zeigt, die specifische Therapie wieder aufnehmen und mit peinlichster Sorgfalt jede Effloresceenz behandeln. Ich weiss von Patienten, welche sich auf diese Weise durch lange Zeit hindurch in einem sehr salonfähigen Zustande erhalten haben, wonach sie sich früher vergebens sehnten. Bei Anderen freilich — und das ist die Mehzahl aller schwereren Psoriasisfälle — folgt auf jede, auch die gründlichste Behandlung bald ein disseminirtes Recidiv. Wer an die parasitäre Aetiologie der Psoriasis glaubt, der erklärt sich diese Differenzen leicht: Ist, wie wir annehmen müssen, der Psoriasiskeim — wie das Microsporon furfur — überall vorhanden, so siedelt er sich auf der Haut des stark Disponirten immer und immer wieder auch nach gründlichster Zerstörung mit grösster Leichtigkeit an; beim weniger Disponirten bedarf er bestimmter Hilfsursachen, besonders günstiger localer Umstände, wie sie nicht immer gegeben sind, und deswegen kann ein solcher durch längere Zeit frei bleiben.
Der individuellen Disposition — das ist immer noch kein wissen- schaftlicher Begriff und doch wie oft muss er sich bei dem denkenden Mediciner einstellen —- können wir auch bei einer bestimmten, in ihren wesentlichen Zügen wohlbekannten Form der Psoriasis nicht entbehren, wenn wir sie unserem Verständniss näher bringen wollen. Ich meine die serpiginösen Psoriasisplaques, die Psoriasis anu- laris und gyrata. Ihnen allen sind die eigenartigen Figuren be- kannt, welche diese Abart der Psoriasis auf die Haut der Kranken zeichnet. Sie sind auf 2 Principien zurückzuführen: Einmal auf das spontane Abheilen der Psoriasisplaques im Centrum, ihr Fortschreiten nach der Peripherie mit mehr oder weniger breitem Saume; und dann darauf, dass, wo Kreise dieser Erkrankungsforn zusammen- treffen, an ihrer Berührungsstelle die Krankheit erlischt; handelt es sich um zwei solche Kreise, so wird aus der Achterform sehr schnell die Form einer Doppelsemmel etc. etc.
Der Gegensatz, welcher zwischen dieser sehr häufigen und der
13
gewöhnlicheren Entwicklungsform der Psoriasis (bei welcher ein centrales Abheilen mit peripherem Fortschreiten, also eine Ring- bildung nicht statt hat) besteht, findet sich auch bei manchen anderen Hautkrankheiten, so bei der Lues und zwar sowohl in der secundären (gewöhnliche lenticuläre Papeln einer-, circinäre anderer- seits) als auch in der tertiären Periode (eigentliches Hautgumma und tuberöse, tubero-serpiginöse, resp. tubero-serpigino-ulceröse Syphilide), so beim Lupus, dessen serpiginöse Form mit ihrer cen- tralen spontanen Vernarbung einen merkwürdigen Gegensatz bildet zu den häufigeren Fällen, in denen eine Spontanheilung in Jahr- zehnten nicht einzutreten braucht, so auch bei den Dermatomycosen: der Favus des behaarten Kopfes heilt erst dann, wenn die Haare definitiv zerstört sind, der sog. Favus herpeticus der unbehaarten Körpertheile kommt schnell zu centraler Abheilung; die Tricho- phytie ist meist typisch circinär, in selteneren Fällen aber hält sie sich auch im Centrum lange Zeit hindurch florid.
Es ist selbstverständlich, dass bei allen diesen Krankheiten das centrale Abheilen auf eine Erschöpfung des Nährbodens im Centrum am einfachsten zurückgeführt wird. Wenn diese schnell eintritt, so wird das characteristische Bild der serpiginösen Formen zu stande kommen. Nun lehrt die Erfahrung bei der Psoriasis, dass bei dem einzelnen Patienten meist entweder diese seltenere oder die gewöhnlichere — ohne centrales Abheilen — Ausbreitungsart über- wiegt oder auch dass ausschliesslieh die eine oder die andere vor- handen ist. Wir sehen ferner, dass an den besonders praedisponirten Stellen (Ellbogen, Kniee) die nicht central abheilenden Stellen bei weitem häufiger sind. Diese Thatsachen weisen darauf hin, dass bei den Kranken mit Psoriasis gyrata die Disposition eine relativ ge- ringe ist. Ganz in Uebereinstimmung damit steht die Thatsache, dass diese Form therapeutisch oft sehr leicht günstig zu beeinflussen ist. Ich habe noch in letzter Zeit einzelne Fälle gesehen, in denen eine mehrmalige Anwendung von Chrysarobinsalbe in der Concentration von 1:1000 eine vollständige Abheilung erzielt hat.
Neben den meist grössere Flächen überziehenden Plaques der Psoriasis gyrata giebt es aber auch noch anscheinend recht seltene Formen, die man als klein-circinäre Psoriasis bezeichnen könnte. Ich habe erst jüngst 3 solche Fälle beobachtet: Im ersten
14
war das ganze Gesicht mit einem ausserordentlich zierlichen ara- beskenartigen Netzwerk von rothen Linien überzogen, von denen jede die Hälfte oder 3/, eines Kreises bildete; manchmal war der Kreis auch ganz geschlossen. Die Linien selbst waren !/,—1 mm breit und ein feines Psoriasishäutchen bedeckte sie; die zwischen ihnen liegenden 1/,—1 cm im Durchmesser haltenden rundlichen Feldchen waren normal. Ein diesem ähnliches Bild fand sich auch an einigen Stellen des Rumpfes, während die Ellbogen Plaques von ganz gewöhnlicher Psoriasis trugen.
Ein analoges Exanthem sah ich bald darauf am Thorax eines Patienten, der mit Bestimmtheit angab, dass sich diese Erkrankung seit Jahren immer im Winter einstelle, wenn er Jiger’sche Wäsche anlege. Diese Thatsache liess an das von Lassar be- hauptete Auftreten der (jetzt auch in Deutschland immer allgemeiner anerkannten) Pityriasis rosea Gibert’s im Anschluss an die Be- nutzung frischer Wollwäsche denken. Aber die kleinen zierlich arabeskenförmig angeordneten Halb- und Viertelkreischen sind mir auch bei den typischen circinären Formen der Gibert’schen Der- matose noch nicht vorgekommen, die Abkratzung ergab typisch lamellöse Schuppung und Blutung und endlich fanden sich an den Ellbogen characteristische Psoriasisplaques, welche der Patient nie be- achtet hatte. Man wird also wohl annehmen müssen, dass hier unter dem Reize der Wollwäsche auf die disponirte Haut das beschriebene Exanthem zu Stande kommt.
In dem dritten Fall endlich war der dünn behaarte Kopf eines Patienten, der sonst keine Zeichen von Psoriasis aufwies, mit solchen . Arabesken von typisch psoriatischen, schmalen und kleinen Kreis- bögen übersät.
Wie bei der Psoriasis so kann auch bei der secundären Lues eine ganz ähnliche zierliche Arabeskenzeichnung zu Stande kommen — nur sind dann die Ränder etwas derber und nicht characteristisch schuppend.?)
Worauf solche ganz eigenartige Abweichungen von dem ge- wöhnlichen Typus beruhen, darüber haben wir keinerlei Vorstellung.
1) Für Dermatologen verweise ich zum Vergleich auf die Baretta’sche Monlage hin, welche in dem Atlas des Musée de |’ höpital St. Louis als Tafel 7 reproducirt ist — in dem ersten der oben erwähnten Fälle war im Gesicht genau dieselbe Anordnung vorhanden, wie bei diesem seltenen circinären Syphilid.
15
Sie kommen nach den verschiedensten Richtungen hin vor. In sehr eigenartiger Weise hat sich mir das bei einem Falle gezeigt, der erst vor Kurzem in der Berner Klinik zur Beobachtung gekommen ist und den Herr Dr. Gassmann fiir die dermatologischen Fach- kreise eingehend beschreiben wird. Da hatte ein junges Madchen eine ganz auffallende Neigung, dicke trockene Borkenmassen auf ihren spärlichen Psoriasisherden abzulagern («Psoriasis ru- pioides») und diese Neigung hatte an dem Kopfe zur Bildung förm- licher Hauthörner geführt, die sich steil aus der normalen Haut erhoben und 1—-11/, cm. hoch waren; man konnte dieselben, ohne dass die Patientin etwas spürte, an der Basis glatt abschneiden und dann lag eine punktförmig blutende Fläche vor.
In einem anderen Falle, dessen ich mich von früher her er- innere, war fast das Umgekehrte eingetreten. Es hatten sich auf der Glatze eines an hochgradiger Psoriasis leidenden Patienten eben- falls dicke, trockene und sehr fest zusammenhaftende Borkenmassen gebildet; aber diese ragten nur minimal hervor; dagegen hatten sie sich tief in die Haut eingedrückt, so dass nach ihrer Entfernung durch Salbenverbände eine tief deprimirte höckerige Fläche vorlag, die nur sehr langsam wieder das Niveau der umgebenden Haut er- reichte; hier hatte in ganz aussergewöhnlicher Weise der Druck der Psoriasisborken etwa so gewirkt, wie wir es bei den Favusborken zu sehen gewohnt sind: eine Druckatrophie hervorbringend.
Mehr als über diese Abnormitäten, welche kaum beschrieben sind, findet man in der Litteratur über Verrucositäten, zu welchen die Psoriasis führt. Sie thut das, wie die meisten chronischen Haut- krankheiten es thun können, wenn sie sich lange Zeit hindurch an einer Stelle hält; das Warzigwerden chronischer Eczeme, speciell an den Unterschenkeln, die jetzt viel besprochene verrucöse Form des Lichen ruber planus sind Beispiele für diese Neigung, durch Papillar- hyperplasie und Hyperkeratose eine unregelmässig höckerige, den Verrucae vulgares der Hände ähnliche Oberfläche anzunehmen. Bei der Psoriasis kommt das in einzelnen Fällen an den Unterschenkeln und an den Händen vor und zwar nicht bloss, wie man wohl ge- meint hat, bei solchen Fällen, bei denen Arsenmedication, wie das zweifellos geschehen kann, eine solche warzige Hyperkeratose be- günstigt. Ich möchte auf die in Bezug auf ihre Pathogenese dubiöse
16
carcinomatöse Degeneration solcher Psoriasisplaques hier nicht ein- gehen; und ich möchte auch nur erwähnen, dass es neben dieser verrucösen Psoriasis naturgemäss auch eine Combination von Psoriasis mit den verschiedenen Arten der rein äusserlich durch den Namen „Warzen“ zusammengefassten Gebilde giebt. Wenn verrucöse Naevi oder senile Warzen sich neben oder mitten in Psoriasisplaques finden, so ist das natürlich nur eine zufällige Combination und ohne jede Bedeutung. Interessanter ist ein — ebenfalls von Dr. Gass- mann detaillirt zu schildernder — Fall, in welchem sich bei einer stark juckenden und hochgradig zerkratzten Psoriasis zahlreiche ganz typische Verrucae vulgares über den Körper zerstreut entwickelten, nachdem die Psoriasis abgeheilt war. Hier war ganz gewiss nur das Kratzen und nicht die Psoriasis die Gelegenheitsursache für die Autoinfection und Dissemination der sicher infectiösen Warzen.
Es kann nicht in meiner Absicht liegen, Ihnen die verschiedenen Möglichkeiten der Combination der Psoriasis mit anderen Dermatosen aufzuzäblen. Sie können sich leicht denken, dass sie speciell mit der Lues zusammen nicht selten vorkommt. Meist sind beide Krank- heiten ganz ohne Einfluss auf einander; in anderen Fällen wirken die Psoriasisefflorescenzen, wie auch andere Herde chronischer Ent- zündung provocirend auf die Lues und die papulösen Efflorescenzen dieser siedeln sich auf den Psoriasisherden an; oder man hat um- gekehrt den Eindruck, dass das luetische Exanthem eine Disse- mination von Psoriasisherden nach sich führt.
Eine Krankheitsgruppe aber muss ich noch erwähnen, weil sie in der modernen Dermatologie eine grosse Rolle spielt und wegen der viel- fachen Analogien mit der Psoriasis in enger Beziehung zu ihr steht, ja oft genug schwer von ihr abzugrenzen ist. Es sind das diejenigen Formen, welche Unnaals seborrhoische, andere als parasitäre oder psoriasiforme Eczeme bezeichnet haben, welche aber meines Er- achtens überhaupt von den Eczemen abzusondern und neben die Dermatomycosen zu stellen sind, freilich mit dem offenen Zugeständniss, dass uns ihre Aetiologie noch vollständig unbekannt ist Die einzelne Plaque dieser Form kann sehr psoriasisähnlich sein; sie ist im Allgemeinen nicht ganz so scharf begrenzt, von weniger lamellöser Schuppung, sie giebt die „Nagelprobe“ meist nicht; sie hat eine ausgesprochenere Neigung eczematös zu werden; die Localisation
17
dieser Formen ist der der Psoriasis in vielen Punkten gerade entgegen- gesetzt; sie bevorzugen die Beugeseiten der grossen Gelenke, die Sternal-, die Nabelgegend; in den behaarten Kopf theilen sich beide Erkrankungen. Nun giebt es aber atypische Formen der Psoriasis in geringerer und atypische Formen dieser sogenannten Eczeme in grósserer Zahl und zwischen ihnen finden sich „faits de passage“, bei welchen, zum mindesten in einem gegebenen Augen- blick, die Zuweisung nach der einen oder nach der anderen Seite nicht mit Sicherheit gelingt. Wir sehen auch Fälle, in denen sich die Eigenschaften beider Affectionen zu summiren scheinen. So habe ich erst jüngst einen Patienten beobachtet, bei dem Nabel und praesternale Region grosse Plaques aufwiesen, die ganz dem para- sitären Eczem glichen, während zu gleicher Zeit an beiden Ellbogen typische Psoriasisplaques bestanden — solche „hybride“ Erkrankungen sind keineswegs sehr selten — wie man sie aber auch deuten möge: sie geben keinen Grund, an der Specificität des Krankheitsbildes der Psoriasis zu riitteln. So interessant vom theoretischen Stand- punkt aus die Discussion dieser Fälle ist, practisch hat sie glück- licherweise eine geringere Bedeutung, weil die Therapie der Psoriasis mit der der „parasitären Eczeme“ vielfach übereinstimmt und der Praktiker wird vorderhand genug thun, wenn er festhält: dass bei atypisch speciell an den Beugeseiten localisirten der Psoriasis sehr ähnlichen Laesionen, die durch grössere Neigung zu nässen ausgezeichnet sind, eine anfänglich mild antieczematöse Therapie mit allmählichem Uebergange zu Schwefel, Schwefel-Resorcin, Theer, und endlich zu Pyrogallussäure und Chrysarobin in schwacher Concentration am sichersten zum Ziele führt und dass man sich in solchen „hybriden“ Fällen hüten muss, brüsk mit einer energischen specifischen Psoriasis- behandlung zu beginnen. |
Gestatten Sie mir nun noch einige Worte über die Pigmentirungs- verhältnisse bei der Psoriasis. Diese heilt im Allgemeinen ohne eine Veränderung der Pigmentvertheilung in der Haut ab. Aber auch von dieser Regel giebt es Ausnahmen. Es kommt gelegentlich besonders anı Unterschenkel augenscheinlich unter der Einwirkung der Stauung, aber auch an anderen Körperstellen zu einer haemor- rhagischen Verfärbung der Psoriasisplaques, nach deren Abheilung
dann ein dunklerer oder hellerer Pigmentfleck längere oder kürzere 2
18
Zeit zurückbleibt; doch kann die Haemorrhagie auch vollständig fehlen und trotzdem stellt sich diese Pigmentirung ein. Es ist ja bekannt, wie verschieden die Neigung der einzelnen Individuen ist, bei entzündlichen Reizungen Pigment zu bilden und wie verschieden das Beharrungsvermógen des Pigments am Orte der Erkrankung ist. Besonders neigen, wie schon längst bekannt ist, diejenigen Psoriasis- fille zu Abheilung mit Pigmentirung, bei welchen eine länger- dauernde Arsentherapie vorangegangen ist. Es ist eine sehr auf- fallende Thatsache, dass die Anschauungen über die Heilwirkung des Arsens bei der Psoriasis noch immer so sehr auseinandergehen. Gegenüber dem günstigen Urtheil Kaposi’s muss ich in Ueberein- stimmung mit vielen anderen Autoren erklären, dass ich trotz reich- licbster Versuche auch mit subcutaner Arsendarreichung nur wenige Fälle gefunden habe, welche wirklich mit Heilung der psoriatischen Plaques — NB. ohne gleichzeitige locale Therapie! — auf das Arsen reagirt haben. In einzelnen dieser Fälle, aber auch in einzelnen, in denen erst die locale Therapie nach der Arsenmedication die Involution der Plaques herbeigeführt hat, sind diese nachträglich auf- fallend pigmentirt gewesen. Die Thatsache der diffusen Arsen- pigmentirung ist ja durch die zahlreichen Publicationen der letzten Jahre allgemein bekannt geworden. So dunkel die Entstehungs- weise derselben auch ist, so leicht ist es doch verständlich, dass diese Pigmentirungen sich vorzugsweise oder auch ausschliesslich an chronisch entzündlichen Stellen localisiren.
Ein spontanes Abheilen der Psoriasisplaque mit Depigmentirung, mit Pigmentverlust ist jedenfalls ausserordentlich viel seltener; ich finde in meinen Notizen nur einen Fall, in welchem jede locale Therapie geleugnet wurde und trotzdem hellere Flecke auf dunklerem Grunde nach einer Psoriasis zurückgeblieben waren. Ein solches Vorkommniss hat practisch eine grosse Bedeutung für die Frage, ob es ein auf Psoriasis beruhendes Analogon des syphilitischen Leucoderms giebt, das natürlich den diagnostischen Werth des letzteren einschränken könnte. Verwerthbares Material nach dieser Richtung ist kaum vorhanden. Ganz abgesehen davon, dass gewiss fast stets die Anwesenheit von Psoriasisplaques auf die richtige Diagnose eines solchen spontanen Psoriasisleucoderms hinlenken könnte, ganz abgesehen davon, dass das syphilitische Leucoderm
19
auch durch seine typische Localisation am Hals characterisirt ist, kann die diagnostische Bedeutung des letzteren durch die Psoriasis kaum beeinträchtigt werden, weil diese jedenfalls nur extrem selten zu einem spontanen Pigmentverlust führt.
Solche Verwechslungen werden auch nur sehr selten ermöglicht werden durch die eigenthümlichen Farbenvariationen, welche die specifische Behandlung der Psoriasis, speciell die mit Chrysarobin, an der Haut des Psoriatikers hervorruft. Es ist eine bekannte, uns in ihrer Entstehung aber noch nicht erklärliche Thatsache, dass die characteristische Chrysarobinverfirbung der Haut die Psoriasis- plaques selbst frei lässt; je mehr die letzteren von ihrer Röthung unter dem Einfluss des oft rapid wirkenden Chrysarobins einbüssen, um so mehr heben sie sich von dem chrysarobingefärbten Grunde ab. In den meisten Fällen gelingt es dann, durch eine Fortsetzung der Chrysarobinbehandlung auch der ursprünglichen Psoriasisplaque den durch Entzündung und Eigenfarbe des Chrysarobins bedingten Farbenton zu verleihen, den die umgebende Haut schon längst hat. In anderen Fällen aber ist das auch in langer Zeit unmöglich; ich habe in einem Fall experimenti causa Wochen hindurch ganz glatt und weiss gewordene Plaques mit Chrysarobinsalben in stärkster Concentration einreiben lassen, ohne eine Verfärbung derselben erzielen zu können. Dabei ist es in der That, als wenn eine locale Immunität gegen die Chrysarobinwirkung sich ausgebildet hätte.
Dass die nicht gefärbten Paoriasisplaques auf dem chrysarobin- gefärbten Grunde als ein Leucoderm imponiren können, dazu ist nur bei sehr geringer Uebung in der Beurtheilung von Farben- tönen der Haut Gefahr vorhanden; denn der violette Ton der Chrysarobinhaut hat etwas sehr Characteristisches. Wenn aber dieser geschwunden ist, dann bleibt in manchen Fällen eine rein braune diffuse Pigmentirung zurück, welche der Dermatitis als solcher ihre Entstehung verdankt. Und wenn die Psoriasisherde selbst, wie es meist der Fall ist, von der arteficiellen Entzündung frei geblieben sind, so werden sie sich hell von dem dunkelbraunen Grunde abheben. Dann kann ein dem Leucoderma syphiliticum täuschend ähnliches Bild vorhanden sein, und wenn der Zufall einmal bei dieser Form eine typische Localisation am Halse bedingen wollte, so wäre der
Täuschung Thür und Weg geöffnet. Aber die Thatsache der voran- or
20
gegangenen Chrysarobinhehandlung wird dem Arzte kaum verborgen bleiben und ihn auf den richtigen Weg leiten.
Ich wiirde Ihnen zum Schluss noch sehr gern etwas mittheilen über die interessantesten Complicationen der Psoriasis: Asthma und Gelenkleiden. Daaber muss ich mich mit sehr wenigem begniigen, da ich Ihnen heute nur von eigenen Erfahrungen sprechen will. Asthma habe ich bei Psoriasis nicht gesehen — der Beweis einer Zusammen- gehörigkeit ist auch für mich nicht erbracht. Die chronischen Arthropathien aber, von denen in den letzten Jahren auch in Deutsch- land — besonders im Anschluss an eine Publication Gerhardt’s — mehrfach gesprochen worden ist, sind mir auch aus eigener Er- fahrung an einigen Fällen bekannt geworden. Ich möchte Kranken- geschichten hier nicht reproduciren — sie würden blos bestätigen, was auch aus dem litterarischen Material hervorgeht, dass der Nach- weis des inneren Zusammenhanges des Gelenkleidens mit der Pso- riasis schwer zu erbringen ist. Doch kann auch ich mich dem Ein- druck nicht verschliessen, dass so selten auch im allgemeinen die erwähnte Combination ist (viel seltener bei meinem wie auch bei dem Kopenhagener Material, das Nielsen verwerthet hat, als z. B. bei Besnier) es doch gerade die schwersten Psoriasisformen sind, welche die Arthropathien aufweisen. Von anderen Fällen abgesehen haben speziell zwei einen dauernden Eindruck bei mir hinterlassen: bei dem einen war die Psoriasis in eine universelle « Erythrodermie » ausgeartet — jenesschwere Krankheitsbild der universellen Röthung und Schuppung, das die Franzosen als « Dermatite exfoliatrice maligne» bezeichnet haben und bei dem der Allgemeinzustand sehr bedenklich leidet; in diesem Falle war die multiple Arthritis deformans — anders konnte man die Gelenkerkrankung kaum rubriciren — zu- gleich mit der Generalisirung der Dermatose aufgetreten.
Und in dem zweiten Fall gab der hochgebildete Patient an, dass er den Anfang seiner Psoriasis wie seines Gelenkleidens auf seine Theilnahme an den Kriegen 1864, 66 und 70 zurückführen müsse, nach denen sich die ersten Symptome beider Krankheiten gezeigt haben. Als ich ihn 1893 sah, waren trotz aller Behandlungsver- suche Hände und Füsse hochgradig verkrüppelt und die Psoriasis war in einer so enormen Weise „inveterirt,“ in derben und tief infiltrirten, auch auf die energischsten Eingriffe erst ausserordentlich langsam reagirenden
21
Plaques entwickelt, dass der Krankheitsfall nach beiden Richtungen hin als ein ganz aussergewöhnlicher aufgefasst werden musste. Ein Verständniss für diese Complication fehlt uns noch vollständig — weder die nervöse, noch die „arthristische“, noch die parasitäre Theorie kann es uns vorderhaud verschaffen, — so unbefriedigend diese Fälle theoretisch, so unbefriedigend sind sie leider auch praktisch.
Ich habe hier flüchtig eine Anzahl von Absonderlichkeiten im Verlauf der Psoriasis berührt und mich dabei möglichst auf praktische Erörterungen beschränkt. — Wenn es mir gelungen ist, Sie davon zu überzeugen, dass auch auf einem klinisch sn lange und so sorgfältig bearbeiteten Gebiete die ärztliche Beobachtung noch manches von Interesse aufdecken kann, so ist das bescheidene Ziel, das ich mir gesteckt habe, vollständig erreicht. Wie übertrieben auch die moderne dermatologische Specialisirung manchem — und selbst Fachleuten — erscheinen mag, für den Ausbau unserer Wissenschaft ist sie notbwendig; aber auch in der Praxis kann die Vernachlässigung des Kleinen grosse Nachtheile zur Folge haben.
Verantwortl. Redakteur: Hofrath Dr. Ernst Stadelmann in Berlin. Druck von Albert Koenig in Guben.
Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden direct an den oben genannten Redakteur, Berlin SW., Anhaltstrasse 12, oder durch die Verlagsbuchhandlung erbeten.
Ueber Tuberkulose des Mittelohrs. Von Dr. Schwabach in Berlin.
Schon im Jahre 1844 machte Hamernyk! darauf aufmerksam, dass im Verlaufe von Tuberkulose Taubheit vorkomme; in den meisten Fällen dieser Art hätten die Kranken bereits seit Jahren gehustet, der tuberkulöse Process habe bereits eine bedeutende Ent- wickelung erreicht, ehe Zufälle zum Vorschein kommen, die eine Affection der Gehörorgane bekunden. Meist bekämen die Kranken flüchtige Schmerzen in einem oder dem anderen Ohre, anfangs ge- linder und unregelmässig intermittirend, später heftiger und an- haltender. — Hierauf erscheine ein eiterartiger Ohrenfluss eines oder seltener beider Ohren und erst um diese Zeit würden die Kranken zuerst schwerhörig und später taub. Bei der Untersuchung des erkrankten Ohres finde man das Tympanum theilweise oder gänzlich zerstört, den äusseren Gehörgang katarrhalisch erkrankt. Selten werde angegeben, dass der Kranke irgend ein Gehörknöchel- chen verloren habe. — H. erwähnt dann, dass Luis in der 2. Auf- lage seiner Recherches anatomiques, pathologiques et therapeutiques sur la Phthisie (Paris 1843) der Ansicht Meniére’s beitrete, wonach diese Taubheit von einer tuberkulösen Infiltration des Tympanum abhänge. In den meisten Fällen dieser Art, die während des Lebens von Ohrenfluss und Zerstörung des Tympanum begleitet waren, findet man, nach H., allerdings die ganze Paukenhöhle, die Zellen des Warzenfortsatzes und auch die Räume des Labyrinthes mit einem tuberkulösen Eiter gefüllt, die angrenzenden Wände mehr oder weniger erodirt. Der Felsentheil des Schläfenbeines sei äusserlich missfarbig, sein Gefüge gelockert, in seltenen Fällen seien die Gehirnhäute an den inneren Gehörgang durch ein tuberkulóses Ex-
sudat angelöthet und die angrenzende Hirnsubstanz erweicht, das 1
2
eiförmige und runde Loch offen, rauh und uneben, der Inhalt des Labyrinths verändert. Weit seltener als die Taubheit sei die halb- seitige Gesichtslihmung im Verlaufe von Tuberkulose; dieselbe rühre von der theilweisen oder gänzlichen Zerstörung des N. facialis im Canalis Faloppii her, welcher von der Paukenhöhle aus corrodirt und durchbrochen werde.
Eine kurze Notiz über Ohreneiterungen bei Phthisikern finden wir erst wieder im Jahre 1853 in Wilde’s°) „Beobachtungen über Ohrenkrankheiten“. Auch er hebt hervor, dass bei verhältnissmässig geringen Schmerzen hochgradige Schwerhörigkeit und eitriger Aus- fluss die ersten Klagen des Kranken sind. Hoffnung auf Besserung resp. Heilung dieses Leidens sei nicht vorhanden und man solle sich desshalb bei der Behandlung auf einfache reinigende Ausspülungen beschränken.
In dem bekannten Werke von Rilliet und Barthez wird die „Tuberkulose“ resp. „tuberkulöse Caries“ des Felsenbeines als eine häufige Ursache von Otorrhoén, welche namentlich bei Kindern unter Pyaemie oder Meningitis zum Tode führen, angeführt. v. Tröltsch,?) der zwar die Möglichkeit dieses Zusammenhanges nicht in Abrede stellt, glaubt jedoch, dass es sich in der Mehrzahl dieser Fälle von ,Tuberkel des Felsenbeins* um einfache eingedickte Eitermassen handele, die allmälich eintrocknen und dann verkäsen. Dabei bemerkt er jedoch, dass diese Massen eine perniciöse Bedeutung für den Gesammtorganismus gewinnen können. Er verweist diesbezüglich auf einen früheren Ausspruch in seiner „Anatomie des Ohrs“ S. 72 dahingehend, dass es ihm schon längst aufgefallen sei, wie unver- hältnissmässig viele der an chronischer Otorrhoé Leidenden rasch einem allgemeinen Siechthum verfielen und in den besten Jahren ziemlich schnell starben. Acut verlaufende Tuberkulose der Meningen, der Lungen oder des Darmes fanden sich nahezu in allen den Fällen, welche ihm überhaupt genauer bekannt wurden. Er war desshalb geneigt anzunehmen, dass manche Formen von rasch beginnender und rapid verlaufender Tuberkulose auf eine Infektion des Blutes von irgend einem Eiterherd (hier also des Ohrs) ausgehend, zurück- geführt werden könnten.
Virchow‘) machte im Jahre 1864/65 dagegen geltend, dass er wiederholt Kranke gesehen, bei denen bei chronischer Tuberkulose
3
secundär Caries des Ohrs sich einstellte. Tuberkulose des Felsen- beins, welche Rilliet und Barthez, sowie Nelaton als Ursache der chronischen Otitis bei Phthisikern annehmen, habe er nie als Ausgangspunkt beobachtet. Der ursprüngliche Grund der ungemeinen Häufigkeit von Otorrhoé, Perforation des Trommelfelles und cariöser Zerstörung des Felsenbeines bei Scrophulösen und Schwindsüchtigen sei noch nicht genügend untersucht, indess dürfte wohl ulceröse Tuberkulose des mittleren Ohrs dabei mit in Betracht kommen.
Im Jahre 1865 äussert sich Politzer 5) in seinen „Beleuch- tungsbildern des Trommelfelles“ gelegentlich der Besprechung der Trommelfellperforationen dahin, dass in einzelnen Fällen „eine plötz- liche, übermässige Luftdruckschwankung in der Trommelhöhle zu einem Riss in der Membran führe, doch nur in Fällen, wo die Trommelhöhlenschleimhaut bereits erkrankt ist und das Trommelfell- gewebe die eben angedeutete Veränderung (entzündliche Erweichung) erlitten hat“. Man beobachte dies nicht selten bei eitrigen Trommel- höhlenkatarrhen, wie sie häufig bei kachectischen, tuberkulösen und scropbulósen Individuen auftreten. Der Prozess beginne hier ge- wöhnlich mit kaum merklichen entzündlichen Symptomen, manchmal nur mit geringem Ohrensausen oder einzelnen Stichen im Ohre oder ohne subjektives Symptom, und die erste Erscheinung, durch welche die Kranken auf ein Ohrenleiden aufmerksam gemacht werden, sei das Durchzischen der Luft durch das Ohr beim Schnäuzen oder Niesen, worauf dann ein mehr oder weniger reichlicher Ohrenfluss folge. Nicht selten habe man bei Phthisikern Gelegenheit, solche Fälle, kurze Zeit nachdem die Affection entstanden, nach dem Tode zu untersuchen, und man finde dann die Trommelhöhlen- schleimhaut meist blass, selten hyperaemisch, mit einer dünnen Schicht eines rahmähnlichen, schleimig-eitrigen Secretes bedeckt, das Trommelfell gewöhnlich am unteren Segmente unregelmässig durchlöchert, die Umgebung der Oeffnung collabirt, faltig und erweicht.
Aus einer Bemerkung Sch wartze’s®) gelegentlich der Mittheilung zweier Fälle von Mittelohreiterung und Caries der Gehörknöchelchen resp. des Felsenbeines bei Tuberkulösen im Jahre 1867 ergiebt sich, dass auch ihm der eigenartige Verlauf dieser Affection bekannt war. Er sagt
in der Epicrise zu den 2 Fällen: „Wie so häufig bei Tuberkulösen 1*
4
ist weder im Beginn der Affection noch in ihrem ganzen Verlaufe ein stärkerer, bohrender Schmerz im Ohr empfunden worden, der sonst bei der Knochenverschwärung im Ohr ein so constantes und quälendes Symptom ist.“
Obgleich also aus den hier mitgetheilten Beobachtungen zu er- sehen ist, dass die in Rede stehende Affection nicht allein durch einen besonderen klinischen Verlauf sich auszeichnete, sondern auch den schwersten Formen von Ohreiterungen zugerechnet werden musste, scheint man ihr doch auch fernerhin noch wenig Beachtung ge- schenkt zu haben, da, so weit ich sehe, ihr selbst in den bekanntesten Lehrbüchern der Ohrenheilkunde bis zum Jahre 1877 keinerlei Er- wähnung geschieht.*) Erst in der 6ten Auflage seines Lehrbuches, welche in dem genannten Jahre erschien, giebt v. Tréltsch’) eine ausführliche Beschreibung des von ihm bei Phthisikern beobachteten Verlaufes eitriger Mittelohrerkrankungen. Er betont namentlich, dass sich manchmal ganz ungemein rapide Schmelzungsprocesse am Trommelfell beobachten lassen, denen gegenüber wir uns vollständig ohnmächtig fühlen. Auffallend sei es, wie bei Tuberkulösen manchmal colossale Zerstörungsvorgänge ohne jeglichen Schmerz und in aller- kürzester Zeit vor sich gehen. An einer anderen Stelle macht er darauf aufmerksam, dass manchmal Otorrhoén, welche von vornherein mehr einen torpid-ulcerativen als einen activ-entzündlichen Character zeigen, sich ganz besonders hartnäckig erweisen und ungemein rasch zu rapiden Schmelzungsprocessen führen, als erstes Symptom einer sonst noch nicht nachweisbaren Lungentuberkulose aufgefasst werden müssen. Nur zu oft habe sich ihm der nur der Eigenart gewisser Oturrhoén entsprungene Verdacht, dass hier ein tieferer constitutio- neller Process im Hintergrunde sei, durch den späteren Verlauf, aber auch öfter durch den grossen Nutzen einer klimatischen Kur, nach welcher das Ohr bedeutend gebessert oder sich doch viel zugäng- licher für die früher vergebliche örtliche Behandlung zeigte, als gerechtfertigt erwiesen.
Späterhin®) erweitert er seine Ansicht dahin, dass er mit Rück- sicht auf die von ihm gemachten Erfahrungen betrefís des Verlaufes der Ohreiterungen bei Tuberkulösen immer häufiger eine gründliche
*) Es wird nur von einzelnen Autoren erwähnt, dass die Tuberkulose den Verlauf eitriger Mittelohrentzündungen ungtinstig beeinflusse.
5
Untersuchung des Ohres für unerlässlich zu halten pflege, weil, sobald sich namentlich an der Sen Verdächtiges findet, der Eiterungsprocess des‘Ohres unter einem weit ernsteren Gesichtspunkte betrachtet werden müsse. Es ist auffallend, wie auch nach dieser ausgezeichneten Characterisirung der Mittelohreiterungen bei Phthisikern in der otiatrischen Literatur kaum Andeutungen darüber sich finden, dass thatsächlich bei den Letzteren ein fast als pathognomonisch zu bezeichnender klinischer Verlauf der eitrigen Mittelohrentzündungen beobachtet werde. Erst die Entdeckung des Tuberkelbacillus durch R. Koch gab Veran- lassung, dass man diesen Processen bei Tuberkulösen grössere Auf- merksamkeit schenkte und seitdem haben wir denn auch eine ganze Reihe von Arbeiten zu verzeichnen, die sich mit denselben be- schiftigen. So viel ich sehe, hat Bezold®) zuerst wieder den auf- fallenden Unterschied in dem Verlauf eitriger Mittelohrentzündungen bei Phthisikern von dem bei sonst gesunden Personen betont.
Die frisch auftretenden Fälle characterisiren sich, nach Bezold, gleich von Anfang an, ebenso wie im weiteren Verlauf, durch ihr meist schmerzloses Verhalten und die von Anfang an meist mit grosser Prägnanz ausgesprochene destructive Tendenz als eine eigenartige Erkrankung, welche für sich allein schon das Vorhandensein der phthisischen Diathese mit Sicherheit diagnosticiren lässt. Er bemerkt dann weiter, dass sich diese Eiterungsformen bezüglich ihrer Heilungs- verhältnisse als ganz auffällig ungünstig gegenüber der antiseptischen Behandlung (Borsäure) erweisen und dass alle übrigen constitutio- nellen Erkrankungen in ihrer Wirkung auf die chronischen Mittel- ohreiterungen dieser Allgemeinerkrankung weit untergeordnet sind. Es würde zu weit führen, wenn ich auf alle die Publicationen ein- gehen wollte, welche nunmehr folgten; es genüge, darauf hinzu- weisen, dass dieselben überwiegend sich mit der Frage von dem Vorhandensein des Tuberkelbacillus in dem Ohreiter bei Tuberku- lösen beschäftigten und die diagnostische Bedeutung desselben er- órterten. Am eingehendsten mit dieser Frage haben sich, nachdem zuerst von Eschle'%) in dem Obhrenausfluss zweier Phthisiker Tuberkelbacillen nachgewiesen worden waren, Nathan,!!) dem das betreffende Material der Bezold’schen Klinik in München zur Ver- fügung stand und Ritzefeld,!?2) dessen Beobachtungen der Poli- klinik Walb’s in Bonn entstammen, beschäftigt. Ich werde auf
dieselben, sowie auch auf einige andere einschlägige Arbeiten, später zurückkommen. Darin, dass eine ganz characteristische, durch ihren klinischen Verlauf sich auszeichnende Ohreiterung (Auftreten derselben ohne bemerkenswerthe reactive Erscheinung wie Fieber, Schmerzen, Schwellung bei rapid fortschreitender Zer- störung des Trommelfelles etc.) bei Tuberkulösen vorkommt, stimmen alle Autoren überein, nur darüber gehen die Meinungen ausein- ander, ob die genannte Form die einzige sei, unter welcher der Process bei Tuberkulösen verlaufe und dementsprechend die Prognose absolut ungünstig gestellt werden müsse, oder ob nicht doch auch Fälle vorkommen, die durch geeignete Behandlung im Fortschreiten gehindert resp. gebessert oder gar geheilt werden können. Hand in Hand mit dieser Frage geht dann die Be- trachtung darüber, ob man es in derartig günstig verlaufenen Fällen überhaupt mit einem tuberkulösen Process zu thun gehabt, oder nicht vielmehr eine gewöhnliche eitrige Entzündung vorgelegen habe. Die Entscheidung dieser Frage schien nun, nach der Ent- deckung des Tuberkelbacillus, nicht mehr schwierig zu sein und es fehlte nicht an Stimmen, welche sich dahin aussprachen, dass man von einer tuberkulösen Otitis nur sprechen könne, wenn im Secrete des Ohres der Bacillus nachzuweisen sei, während andere durch den eventuell negativen Ausfall der darauf bezüglichen Untersuchung noch nicht die Ueberzeugung gewinnen konnten, dass Tuberkulose auszuschliessen sei. Ja, von einzelnen Autoren wurde sogar die Behauptung aufgestellt, dass der Nachweis des Tuberkel- bacillus nicht mit absoluter Sicherheit den Schluss auf Tuberkulose gestatte. Unter den Vertretern dieser verschiedenartigen Ansichten treten uns die ausgezeichnetsten Ohrenärzte entgegen und es dürfte deshalb wohl nicht unangemessen sein, den vorstehend skizzirten Fragen an der Hand der in der Literatur vorliegenden, sowie unter Zuhilfenahme eigener Beobachtungen näher zu treten.
Bezüglich der letzteren möchte ich bemerken, dass ich zwar nicht über sehr grosse Zahlen verfüge, aber doch über ein Material, das an Brauchbarkeit manchen andern, namentlich poliklinischen Beobachtungen, deshalb überlegen sein dürfte, weil es mir möglich war, eine verhältnissmässig grosse Anzahl (90)*) der betreffenden Kranken
*) Ausser diesen 90 wurden noch 16 Fälle untersucht, die nur wenige Tage im Krankenhause waren.
7
Wochen- oder Monatelang auf hiesigen stationären Kliniken, dank dem freundlichen Entgegenkommen der Leiter der betreffenden Anstalten, zu beobachten und zwar zum Theil vom Beginn der Affection bis zum Exitus letalis resp. dem Austritt aus dem Kranken- hause und einzelne auch nach ihrer Entlassung mehrere Jahre lang fortdauernd von Zeit zu Zeit zu untersuchen. Dass auch poli- klinische Beobachtungen ihren Werth haben und namentlich für einzelne noch näher zu bezeichnende Fragen von Wichtigkeit sind, darf natürlich nicht geleugnet werden und ich habe deshalb auch die in meiner Poliklinik zur Beobachtung gekommenen Fälle bei den folgenden Mittheilungen zum Theil mit in Rechnung gezogen, von einer Benutzung derselben für einzelne Fragen jedoch z. B. von der diagnostischen Bedeutung der Tuberkelbacillen abgesehen, da nur in einer verhältnissmässig geringen Anzahl von Fällen eine allen An- sprüchen genügende mikroskopische Untersuchung des Ohrsecretes stattfinden konnte. Namentlich waren die Fälle, bei denen das Er- gebniss desselben negativ ausfiel, nicht zu verwerthen, da es, weil eine ganze Anzahl der Patienten wenn, wie so häufig, nach kürzerer oder längerer Beobachtungsdauer eine Besserung ihres Leidens nicht eintrat, aus der Behandlung wegblieb, nur selten möglich war, das Secret genügend oft zu untersuchen und ich mich namentlich an den stationär Behandelten von der Nothwendigkeit häufig wiederholter Untersuchungen überzeugte. Es ergab sich nämlich, dass zuweilen, nachdem zahlreiche Präparate in den verschiedensten Stadien der
_ - Affection erfolglos untersucht worden waren, schliesslich doch noch
der Nachweis von Bacillen gelang, dass aber auch nicht selten in der ersten Zeit des Auftretens der Ohraffection Tuberkelbacillen in dem Secret sich mit Sicherheit wiederholt nachweisen liessen, im weiteren Verlaufe der Affecticn die Untersuchung negativ ausfiel, eventuell nur das Vorhandensein anderer Mikroorganismen (Strepto- kokken etc.) konstatirt werden konnte.
Es würde nun zunächst die Frage zu erörtern sein, wie häufig Ohreneiterungen bei Tuberkulösen vorkommen und das Ver- hältniss festzustellen, in welchem dieselben zu allen Ohren- krankheiten und speciell zur Zahl der mit Ohreneiterung überhaupt behafteten Individuen stehen.
Was die Häufigkeit des Vorkommens von Ohreiterungen bei
8
Tuberkulösen anlangt, so liegen hierüber in der Literatur nur ganz vereinzelte Angaben vor. E. Fraenkel!) fand unter 50 zur Section gekommenen Phthisikern 16mal pathologische Veränderungen des Gehérorgans, Die Prozesse, um die es sich dabei handelte, waren, nach Fraenkel, in der weitaus grössten Zahl in directen cau- salen Zusammenhang mit der Phthise nicht zu bringen; nur in drei Fällen hält Fraenkel es für möglich, von einem solchen zu sprechen. In allen diesen drei Fällen lagen tief greifende Alterationen der Paukenschleimheit mit cariósen Veränderungen an den knöchernen Paukenhöhlenwandungen vor.
Habermann!*) fand unter 21 histologisch untersuchten Gehör- organen Tuberkulöser bei zwei Leichen (3 mal) eitriges Secret im Mittelohr, in dem zwar zahlreiche Coccen und Diplococcen, aber keine Tuberkelbacillen sich nachweisen liessen, ebenso wenig wie im entzündeten Gewebe selbst. In 5 Schläfenbeinen fand sich Tuber- kulose. Während also das Häufigkeitsverhältniss der Ohreiterungen bei Tuberkulösen überhaupt bei E. Fraenkel 8°/, ergeben würde, stellt sich dasselbe bei Habermann dagegen auf 33,3°/,; und wenn man nur diejenigen Fälle in Rücksicht zieht, bei denen E. Fraenkel die Möglichkeit eines Zusammenhanges der Ohreiterung mit der Tuberkulose zugiebt und diejenigen, bei denen Habermann den sicheren Nachweis desselben gebracht hat, so ergiebt sich der auf- fallende Unterschied von 6°/, bei Fraenkel, zu 23,8°/, bei Haber- mann. Letzterer berichtet dann in einer späteren Arbeit über weitere 17 von ihm untersuchte Schläfenbeine Tuberkulöser, bei denen während des Lebens Schwerhörigkeit oder Ohrenfluss be- obachtet worden war. Unter diesen konnte er wieder in 8 Fällen Tuberkulose des Gehörorgans nachweisen, während in den übrigen, in 7 Fällen die Erscheinungen der eitrigen Mittelohrentzündung und in 2 Fällen die des Mittelohrkatarrhs gefunden wurden. Meine eigenen Erfahrungen nach dieser Richtung hin ergaben folgendes: Unter 26 anatomisch untersuchten Felsenbeinen von 23 mit Mittel- ohreiterung behafteten tuberkulösen Personen wurde bei 16 der Nachweis der tuberkulösen Natur mit Sicherheit (das Nähere s. weiter unten) geführt, während bei 10 nur gewöhnliche Mittelohreiterung constatirt werden konnte.
Da es sich bei diesen Beobachtungen, ebenso wie bei den zu-
9
letzt erwähnten Mittheilungen Habermann’s nur um solche Fälle handelt, bei denen Erscheinungen von Seiten des Ohres während des Lebens beobachtet worden waren, so lässt sich ein Rückschluss auf das Procentverhältniss derselben und speciell der eitrigen Procease bei Tuberkulösen überhaupt nicht machen, da verhältnissmässig viele Fälle von Ohraffectionen bei Phthisikern wegen ihres meist schmerz- losen Verlaufs bei Lebzeiten unbeachtet bleiben und deshalb auch bei der Obduction eine Untersuchung der Felsenbeine unter- bleibt. Aber der Umstand, dass unter 17 Fällen Habermann’s 8 mal und in 26 Fällen (Gehörorganen) meiner Beobachtung 16 mal Tuberkulose des Gehörorganes sicher nachzuweisen war, lässt doch in Verbindung mit Habermann’s ersten Beob- achtungen den Schluss gerechtfertigt erscheinen, dass die Affection nicht so selten ist, wie es nach den Angaben von E. Fraenkel der Fall zu sein schien. Immerhin sind natürlich weitere Untersuchun- gen über diesen Punkt um so wünschenswerther, als auch die bisher vorliegenden Angaben über klinische Beobachtungen be- züglich der Häufigkeit der Ohreiterung bei Tuberkulösen noch äusserst spärlich sind.
Moldenhauer!5) konnte aus den Protocollen über die inner- halb eines Jahres in der Leipziger medicinischen Klinik aufge- nommenen, erwachsenen Phthisiker, welche im Ganzen 294 Fälle umfassten, nur bei 28 Notizen über Herabsetzung der Hörfähigkeit eines oder beider Ohren, mit oder ohne eitrigen Ausfluss finden, und nur in 7 Fällen (2,4 °/,) konnte mit einiger Wahrscheinlichkeit auf tuberkulóse Otitis geschlossen werden. Nach Steinbrúgge's!*) Erfahrung kommen Erkrankungen der Hörorgane bei tuberkulösen Individuen ziemlich häufig vor, doch bestehe die Mehrzahl dieser Erkrankungen in einfachen, nicht eitrigen entzündlichen Pro- cessen oder deren Folgezuständen und bei diesen lasse sich meisten- theils nicht entscheiden, ob das Ohrenleiden in direkte Beziehung zur Allgemeinerkrankung gebracht werden dürfe, oder ob dasselbe auf Complicationen, welche durch andere Infectionsträger verursacht sein können, beruhe Die wenigen statistischen Angaben über die Häufigkeit tuberkulöser Ohrenerkrankungen scheinen, nach St., dafür zu sprechen, dass die Bedingungen für tuberkulöse Infectionen der Hörorgane, insofern dieselben zu zerstörenden eitrigen Processen
10
führen, nicht sehr günstig sein müssen. Bezold!”) dagegen hält die Tuberkulose des Ohrs für häufig (s. unten). Als ein Beitrag meinerseits zur Beantwortung dieser Frage möge Folgendes dienen: Auf der ersten medicinischen Klinik der Königl. Charité (Geh.-Rath v. Leyden) wurden in der Zeit vom 1. Dezember 1890 bis 31. März 1891 insgesammt 113 Tuberkulöse behandelt. Von diesen litten an Ohreiterung 8, also 6,9 %,. Im städtischen Krankenhaus am Urban wurden auf der Abtheilung für innerlich Kranke (Professor A. Fraenkel) in der Zeit vom 1. Februar bis 31. Mai 1891 insgesammt 139 Tuberkulöse behandelt. Von diesen litten an Ohreneiterung 11, also 7,9 °/,. Ich habe die betreffenden Zeitabschnitte desshalb für diese statistischen Angaben gewählt, weil es mir während derselben durch das freund- liche Entgegenkommen der Dirigenten und Assistenten der betr. An- stalten möglich war, sämmtliche Patienten, welche über Erscheinungen von Seiten des Gehörorgans klagten, oder bei welchen von den be- handelnden Aerzten solche, auch wenn die Patienten nicht darüber klagten, wahrgenommen worden waren, einer genauen Untersuchung zu unterziehen. Die obigen Zahlen bedeuten demnach das Mini- mum der bei den Tuberkulösen der betreffenden Anstalten vor- handenen Ohreneiterungen. Dass unter denselben noch mancher sich befunden haben wird, der der Untersuchung entgangen ist, scheint mir, mit Rücksicht auf die oft unglaubliche Indolenz vieler der hier in Frage kommenden, meist den niederen Ständen angehörenden Kranken, nicht zweifelhaft. Aber auch so ergiebt sich schon, dass diese Zahlen diejenigen Moldenhauers nicht esco Ron (um 4,5 °/, resp. 5,5 °/,) überragen.
Ueber das Häufigkeits-Verhältniss der bei Tuberkulósen vor- kommenden Ohreiterungen zur Zahl der Ohrenkrankheiten überhaupt und speciell zur Zahl der durch die verschiedenen anderen Ursachen bedingten Mittelohreiterungen finde ich in der Litteratur nur eine von Bezold*”) herrührende Notiz. Er hat in 9 Jahren 98 Phthisiker mit Mittelohreiterungen gesehen. Dieselben bildeten 0,8 °/, aller während dieser Zeit behandelten Ohrenkranken und 4,7°/, aller chronischen Mittelohreiterungen. Aus meinen eigenen Beobachtungen ergiebt sich, dass unter 12000 poliklinisch behandelten Ohrenkranken 94 mit Mittelohreiterung behaftete Tuberkulöse sich fanden; die Zahl der Mittelohreiterungen überhaupt betrug 3737. Es ergiebt
11
sich also bezüglich des Verhältnisses der Ohreiterungen bei Tuber- kulösen zur Gesammtzahl der Ohrenkrankheiten ein dem Bezold’schen sehr nahe kommendes Resultat = 0,7 °/,, bezüglich desjenigen zu den Mittelohreiterungen (acute und chronische) überhaupt = 2,5 %,. Berücksichtige ich, wie es Bezold thut, bei diesem Vergleiche nur die chronischen Mittelohreiterungen (2214), dann ergiebt sich wieder ein dem Bezold’schen sehr nahekommendes Procentver- hältniss von 4,2°/,. Aber auch dann, wenn die acuten und chronischen Mittelohreiterungen zusammen den bei Tuberkulösen constatirten eitrigen Processen gegenübergestellt werden, wird die Procentzahl als etwas grösser angenommen werden müssen, als die von mir ge- fundenen 2,5°/,, wenn man in Erwägung zieht, dass in der poli- klinischen Praxis eine ganze Anzahl von Fällen nur 1 oder 2 mal sich einstellen resp. nach wenigen Tagen aus der Behandlung fort- bleiben und dass unter diesen Fällen zweifellos manche, namentlich acut auftretende, sind, auf deren tuberkulösen Character man erst durch den protrahirten Verlauf resp. durch die unliebsame Beob- achtung, dass die übliche Behandlung wirkungslos bleibt, aufmerksam gemacht worden wäre. Soviel ergiebt sich aber wohl aus dem bis- her Mitgetheilten, dass die Ansicht derer, welche eitrige Mittelohr- entzündungen bei Tuberkulösen nicht für etwas seltenes halten, richtig ist; es bliebe dann nur noch die Frage zu erörtern, in wieweit diese Affectionen durch die Grundkrankheit bedingt werden, eine Frage, deren Beantwortung erst durch eine sorgfältige Analyse der einzelnen Beobachtungen möglich sein wird und auf die ich weiter unten zurückzukommen gedenke.
An dieser Stelle mag zunächst auf ein frappantes Missverhält- niss aufmerksam gemacht werden, welches, nach meinen Auf- zeichnungen, in der Disposition für eitrige Ohraffectionen bei tuberkulösen Personen männlichen und weiblichen Ge- schlechts besteht.
Unter den von mir beobachteten 200 Fällen (poliklinische und die an verschiedenen Krankenanstalten beobachteten zusammengenommen) von Mittelohreiterung bei Tuberkulösen fand sich das letztere nur mit 43 (21,5 °/,) betheiligt. Noch auffallender wird der Unterschied in der Betheiligung des weiblichen Geschlechts gegenüber dem männ- lichen, wenn man das Verhältniss derselben zu der Tuberkulose
12
überhaupt berücksichtigt. Unter den 252 Tuberkulösen, die ich auf den oben genannten stationären Kliniken in dem ebenfalls oben er- wähnten Zeitabschnitt zu beobachten Gelegenheit hatte, fanden sich 135 Männer und 117 Frauen und unter ihnen insgesammt 19 mit Mittelohreiterung behaftete; davon betrafen 17 Männer und zwei Frauen. Während also die Frauen an der Tuberkulose überhaupt mit 46,5 °/, betheiligt waren, nahmen sie nur mit 10,5 °/, an den Mittelohreiterungen Theil. Berücksichtige ich von sämmtlichen von mir klinisch genau beobachteten Fällen nur diejenigen, bei denen der tuberkulöse Character der Mittelohraffection mit Sicherheit nach- gewiesen werden konnte (40), so ergiebt sich ein Verhältniss von 18,2 °/, weiblichen zu 81,8 °/, männlichen Patienten. In der Literatur finde ich über dieses Verhältniss nur wenig Notizen: Morpurgo?®) fand unter 37 an Otorrhoé leidenden Tuberkulösen 25 Männer, 10 Weiber (2 Kinder, welchen Geschlechts?) E. Fraenkel (l. c.) hebt hervor, dass auffallender Weise in allen Fällen (8) von Mittel- ohraffectionen bei Tuberkulösen es sich um männliche Personen handelte und dass auch von den 8 anderen Fällen, wo Affectionen des Ohres mit solchen des Nasenrachenraumes complicirt waren, 7 Männer betrafen; nur 2 von diesen Fällen waren in direct causalen Zusammenhang mit der Phthise zu bringen. Ein auffallendes Ueber- wiegen des männlichen Geschlechts gegenüber dem weiblichen con- statirt neuerdings Hegetschweiler!?); auf 27 Fälle des ersteren kamen nur 8 des letzteren mit Mittelohreiterungen. Nur beiläufig sei erwähnt, dass Krause?) ähnliches bei tuberkulösen Knochen- und Gelenkleiden wenigstens bis zum 20. Lebensjahr beobachtet hat. Unter 248 Hüft- und Kniegelenksresectionen kamen 175 auf männ- liche, 73 auf weibliche Personen. Als Grund für diese eigenthüm- liche Thatsache kann man nach Krause wohl nur anführen, dass bei Knaben und Männern öfter als bei Mädchen und Frauen Verletzungen vorkommen, welche die Gelegenheitsursache zur Entstehung von Tuberkulose der Knochen und Gelenke abgeben. Dieses ätiologische Moment kommt für die Ohreneiterungen bei Tuberkulösen nicht in Betracht, da fast durchgehends angegeben wird, dass die Affection ohne nachweisbare Veranlassung auftrat. Es liegt natürlich die Frage nahe, ob nicht überhaupt das männliche Geschlecht mehr zu Ohren- eiterungen disponirt sei als das weibliche und so weit meine Er-
13
fabrungen reichen, ist dies allerdings, aber doch nicht in dem Masse der Fall, wie bei den Ohreiterungen der Tuberkulósen. Aus den hierauf bezüglichen Zusammenstellungen aus meiner eigenen Praxis ergiebt sich nämlich für die eiterigen Mittelohrentzündungen (acuten und chronischen zusammen) ein Procentverhältniss von 57,7 %/, männ- lichen zu 42,3 °/, weiblichen Personen; für die chronischen Mittel- ohreiterungen allein 55,7 °/, bei männlichen, 44,3 °/, bei weiblichen. Etwas grösser ist der Unterschied bei acuten Mittelohreiterungen mit 60,8 °/, männlichen gegen 39,2 °/, weibliche Personen. Es giebt demnach auch dieses Verhältniss keine Erklärung für die oben von mir gefundene Differenz in der Disposition der männlichen Tuberku- lösen zu der der weiblichen für Ohreneiterungen. Einen anderen plausiblen Grund vermag ich nicht zu finden; jedenfalls wird die Frage noch in suspenso bleiben müssen, bis eventuell von anderer Seite das Factum selbst Bestätigung findet.
Was das Lebensalter, in welchem die Patienten mit der be- treffenden Affection des Ohres in Behandlung kamen, anlangt, so stellten nach meinen Beobachtungen die Verhältnisse sich so, dass von den 176 Kranken (unter 200), bei denen Notizen über das Alter vorlagen, 19 auf das 1., 15 auf das 2., 63 auf das 3., 46 auf das 4., 26 auf das 5., 4 auf das 6. und 3 auf das 7. Dezennium entfielen. Berücksichtigen wir nur diejenigen Beobachtungen, bei denen die tuberkulöse Natur des Ohrenleidens mit Sicherheit con- statirt werden konnte, so fallen an den hier in Betracht kommenden 40 Fällen je 4 auf das 1. und 2., 11 auf das 3., 13 auf das 4., 7 auf das 5. Dezennium (in einem Falle fehlt die Altersangabe). Diese letzteren Zahlen stimmen, soweit es sich um Erwachsene handelt, auffallend überein mit den von Hegetschweiler (l. c.) gefundenen, bei dem ebenfalls das Maximum auf das 4. Dezennium fällt. Da das Maximum der allgemeinen Tuberkulose nach Rühle in das 2. und 3. Dezennium fällt, so glaubt Hegetschweiler, dass das spätere Auftreten der Ohrtuberkulose dadurch zu erklären sei, dass letztere beim Erwachsenen nur bei chronisch verlaufender Phthise und hier gewöhnlich erst in den späteren Stadien auftritt. Die Frage, ob diese Ansicht richtig ist, dürfte erst dann zu ent- scheiden sein, wenn man die Fälle daraufhin ansieht, in welchem Lebensjahr die Ohraffection zuerst aufgetreten ist. Der Zuver-
14
lässigkeit des Resultates wegen können hier nur die Fälle von wirk- lich nachgewiesener Tuberkulose des Ohres in Betracht kommen. Es er- giebt sich, dass in der Mehrzahl der Fälle (21) das Ohrenleiden auf einige Tage bis mehrere Monate, in 7 Fällen um 1—3 Jahre, in 1 Falle um 6—7 Jahre, in 8 Fällen (bei Kranken im 2., 3., 4. und 5. Dezennium) bis in die Kindheit zurückdatirt wurde; in 3 Fällen konnte keine sichere Angabe gemacht werden. Hiernach würde das Verhältniss nur in sofern sich etwas verschieben, als das 1. Dezennium einen Zuwachs an 8 Fällen erhält, so dass dasselbe in der Zusammenstellung mit 12 statt 4 Fällen vertreten wäre. Die 21 Fälle mit einer Krankheitsdauer von einigen Tagen bis mehreren Monaten, ändern in der obigen Zusammenstellung nichts, ebensowenig wie die Fälle mit einer Krankheitsdauer von 1--3 Jahren, während der Fall mit 6—7jahriger Krankheitsdauer aus dem 5. in das 4. Dezennium zurückdatirt werden müsste.
Es ergiebt sich sonach auch aus dieser Zusammenstellung, dass das Maximum der Ohrtuberkulose bei Erwachsenen in das 4. Dezennium, bei Kindern, ebenso wie Hegetschweiler es gefunden hat, in das 1. Dezennium fällt. Bezüglich der Ursache für das Ueberwiegen des 1. Dezenniums glaube aueh ich mit Hegetsch- weilerdiedurch die acuten Infectionskrankheiten gesetzte Prädisposition für Tuberkulose ansehen zu sollen und dürften hierbei namentlich die Masern in Betracht kommen. In dreien der von mir beobachteten Fälle (2 Erwachsene 1 Kind) wird als Ursache der Otorrhoé Masern, in einem Scharlach angegeben. Wie lange nach den Masern die ersten Erscheinungen der Lungentuberkulose aufgetreten waren, liess sich nicht mit Sicherheit feststellen. In dem einen Falle (fünf- jähriges Mädchen) war als erste Erscheinung im Anschluss an Masern die Tuberkulose des Ohres aufgetreten; es kam zur Radicalope- ration und dabei wurden Miliartuberkel mit typischen Langhanns- schen Riesenzellen in den Granulationen gefunden. Dass Masern eine Disposition zu tuberkulösen Erkrankungen schaffen, ist von ver- schiedenen zuverlässigen Beobachtern constatirt worden (Weigert, Baumgarten, Krause). Voltolini?!) beobachtete ein 41/,jähriges Kind, das nach Masern an doppelseitiger eitriger Mittelohrentziindung, zugleich mit Husten erkrankte und nach !/, Jahr an Marasmus zu Grunde ging. Im Ohrsecret fanden sich schon bei Lebzeiten und
15
ebenso in der Leiche massenhaft Tuberkelbacillen und ausgedehnte cariöse Zerstörungen. Tobeitz?!*) theilt den Fall eines 2jáhrigen Kindes mit, welches 3 Wochen nach seiner Aufnahme in das Hospital (wegen Masern) an acuter eitriger Mittelohrentziindung und Caries des Schläfenbeins erkrankte und an Meningitis tuberkulosa zu Grunde ging. Für die beiden von mir erwähnten, Erwachsene betreffenden Fälle, ist natürlich die Annahme nicht ausgeschlossen, dass es sich ursprünglich um die gewöhnliche Form der Otitis media purulenta in Folge von Masern gehandelt habe, und dass erst später, nachdem das Lungenleiden im Anschluss an die Masern sich entwickelt hatte, die Einwanderung der Tuberkelbacillen in den Locus minoris resi- stentiae, als welchen das eiternde Mittelohr angesehen werden musste, stattfand. Ein ähnliches Verhältniss dürfte auch zwischen der tuber- kulösen Ohraffection und Scarlatina bestehen. In dem von mir beobachteten Falle trat in der Kindheit (Pat. ist jetzt 22 Jahre alt) nach Scharlach doppelseitige Otorrhoé ein. Auf dem rechten Ohr ist die Affection mit Hinterlassung eines grossen Defectes geheilt, während links die Eiterung fortbesteht. Sowohl im Sputum des an doppelseitiger Spitzeninfiltration leidenden Patienten als auch im Öhrsecret wurden Tuberkelbacillen gefunden.
Es wäre ja nun wohl auch denkbar, dass nicht allein die nach Masern und Scharlach entstandenen Mittelohrentzündungen, sondern auch die durch rein lokale Ursachen (Schnupfen, Trauma etc.) bedingten, wenn die Eiterung nicht beseitigt wird, eine Disposition für die spätere Infection mit dem Tuberkelgift schaffen können, so dass auch bei den übrigen Patienten, bei denen wir gar keine Anhaltspunkte für einen Zusammenhang der in der Kindheit auf- getretenen Otorrhoö mit der Tuberkulose finden konnten, ein derartiger Causalnexus nicht ausgeschlossen ist.
Wenn demnach in den eben erwähnten Fällen die Erkrankung des Ohres bei den betreffenden tuberkulösen Individuen auf die eine oder andere Gelegenheitsursache vielleicht zurückgeführt werden könnte, so finden sich unter den übrigen Beobachtungen nur einige wenige, welche überhaupt eine Gelegenheitsursache für ihr Ohrenleiden anzugeben wussten. Ein mal wurde dasselbe auf Influenza und einmal auf ein Trauma (Bohren mit der Haarnadel) zurückgeführt. In beiden Fällen blieb die Heilung, trotz
16
sachgemässer Behandlung, aus, und gerade dieser Misserfolg war es, der zur Untersuchung der Brustorgane Veranlassung gab. Beide Patienten hatten über Beschwerden von Seiten der Lunge nicht ge- klagt. Die Untersuchung ergab bei dem einen eine doppelseitige Spitzen- infiltration, bei dem andern eine Infiltration der rechten Lungen- spitze (elastische Fasern im Sputum) und einen Tumor albus des rechten Kniegelenks. Hier mögen auch noch 2 Fälle Erwähnung finden, bei denen die Affection des Ohres während der Be- handlung mit Tuberkulin eintrat; in wie weit diese als Gelegen- heitsursache für das Auftreten der Otitis angesehen werden darf, lässt sich natürlich vorläufig nicht entscheiden. Soviel muss, wie aus dem Gesagten sich ergiebt, constatirt werden, dass in der übergrossen Mehrzahl der Fälle eine Gelegenheitsursache für das Auftreten der Otitis nicht nachgewiesen werden konnte. Es ist diesjedenfalls bemerkenswerth, wenn man berücksichtigt, dass die ge- wöhnlichen chronischen Ohreiterungen doch meistentheils von den Patienten selbst auf eine vorausgegangene Krankheit (Masern, Scharlach, resp. Katarrhe der Nase etc.) zurückgeführt werden, während Tuber- kulöse meist nicht einmal im Stande sind, mit Sicherheit anzugeben, wann die ersten Erscheinungen von Seiten des Ohres sich gezeigt hatten. Nur in den seltenen Fällen, wo die Affection mit heftigen Schmerzen, Fieber etc. also unter dem Bilde der acuten Otitis media purulenta auftrat, wurde von den Kranken, wie dies ja auch sonst zu geschehen pflegt, eine Erkältung resp. ein heftiger Schnupfen als Ursache angeführt.
Was nun die klinischen Erscheinungen und den Verlauf der Mittelohreiterungen bei Tuberkulösen anlangt, so stimmen wohl alle - Autoren darin überein, dass es eine, wenn ich so sagen darf, typische Form derselben giebt, die sich durch ihr schmerz- loses Auftreten und die Neigung, in kurzer Zeit zu aus- gedehnten Zerstörungen des Gehörorgans zu führen, charac- terisirt. Diese Form als tuberkulöse Otitis zu erkennen, hält gewöhnlich nichtschwer, da ein gleiches Verhalten bei keiner andern Form der Otitis media beobachtet wird. Wenn ich den Verlauf kurz skizziren darf, so sehen wir bei den meist auch in ihrem Allgemeinbefinden sehr gestörten, von Husten und Nachtschweissen gequälten, zuweilen fiebernden Patienten, die von Seiten des Ohres über nur mässiges
17
Sausen, aber hochgradige Schwerhörigkeit klagen, bei der objectiven Untersuchung im Gehörgang meist nur geringe Mengen zähen eitrigen Secrets oder spärliche käsige Massen, von deren Existenz die Pat. selbst nichts wissen, während andere angeben, dass sie ab und zu etwas Feuchtigkeit im Ohr gemerkt hätten. Seltener sind profuse Eiterungen.
Das Trommelfell ist diffus, aber nicht sehr intensiv geröthet, an einer oder auch mehreren Stellen perforirt Der Druck auf Tragus und Proc. mast. verursacht keine Schmerzen, Anschwellung ist weder im Gehörgang noch am Proc. mast. wahrzunehmen. Unter zunehmender Schwerhörigkeit, die oft in ganz kurzer Zeit zu voll- ständiger Taubheit sich steigert, nimmt auch meist die Secretion des Ohres zu. Der Ausfluss wird übelriechend, beim Ausspritzen zeigen sich in demselben käsige Bröckel und oft gelingt es, trotz wieder- holter sorgfältiger Reinigung nicht, die Secretmassen ganz aus dem Ohr zu entfernen. Sie liegen theils dem Trommelfellrest, theils der Labyrinthwand der Paukenhöhle, die nicht selten schon nach wenigen Wochen oder Monaten in Folge totaler oder wenigstens sehr aus- gedehnter Zerstörung des Trommelfelles frei liegt, fest an und sind auch durch Austupfen unter Leitung des Spiegels nicht immer zu beseitigen. Die selbstverständlich ebenfalls unter Leitung des Spiegels und mit grösster Vorsicht auszuführende Sondirung ergiebt sehr häufig, sei es im äusseren Gehörgang, sei es an den Paukenhöhlen- wandungen, das Vorhandensein von rauhem Knochen; ab und zu finden sich an derartigen Stellen Granulationen, die nur selten grösseren Umfang erreichen. Verhältnissmässig häufig tritt dann auch Facialisparalyse auf der entsprechenden Seite auf und zwar, wie ich aus meinen eigenen Beobachtungen sehe, gewöhnlich we- nige Wochen oder wenige Monate vor dem Tode, der meist unter zunehmendem Verfall in Folge des Fortschreitens der Lungenaffection, zuweilen durch allgemeine Miliartuberculose oder durch Meningitis basilaris erfolgt. Schmerzen treten während des ganzen Verlaufes entweder gar nicht oder nur in geringem Grade auf.
Aber nicht in allen Fällen gestaltet sich das Krankheitsbild so wie eben geschildert und namentlich sind es diejenigen Fälle, welche in der Poliklinik zur Beobachtung kommen, bei denen der Verlauf ein durchaus anderer ist. Wir haben es hier meist mit nicht fiebern-
den Kranken zu thun, deren Allgemeinbefinden, trotz der zweifellos >
18
vorhandenen Lungenaffection, noch ein verhältnissmässig gutes ist, die wenig husten, über Nachtschweiss meist nicht klagen und auch im Stande sind, ihrer gewohnten Thätigkeit nachzugehen. Auch sie klagen im Wesentlichen über Sausen und Schwerhörigkeit, zuweilen über ein unangenehmes Druckgefühl auf dem betreffenden Ohr und mehr oder weniger reichlichen Ausfluss. Ueber Schmerzen, die den genannten Erscheinungen vorausgegangen seien, wissen die Kranken nichts zu berichten.
Bei der objectiven Untersuchung findet sich mehr oder weniger reichliches schleimig- eitriges Secret, Perforation des meist nur — mässig gerötheten Trommelfelles. Zuweilen sind die Wände des Gehörganges geschwollen, die Epidermis zum Theil abgestossen. Die Hörfähigkeit zeigt sich im Verhältniss zu der kurzen Dauer der Affection und den sonst sehr geringen subjectiven Beschwerden, sehr bedeutend herabgesetzt. Die Uhr wird meist nur beim An- legen an das Ohr, vom Proc. mast. aus gar nicht gehört. Flüster- sprache wird oft gar nicht und zuweilen auch laute Sprache nur dicht am Ohr verstanden. Von Stimmgabeln werden die Töne der ungestrichenen, ebenso wie der drei- und viergestrichenen Octave schlecht oder gar nicht gehört. Der Weber’sche Versuch fällt nicht selten positiv aus (d. h. die auf dem Scheitel aufgesetzte tönende Stimmgabel (c) wird auf dem kranken resp. schlechteren Ohr besser gehört), meist jedoch ist ein Unterschied nicht zu constatiren. Die Perceptionsdauer vom Knochen aus für die Stimmgabel c er- weist sich in der ersten Zeit zuweilen verlängert (selbst wenn die Uhr vom Proc. mast. aus nicht gehört wird), meist entspricht sie der Norm oder ist geringer als diese. Der Rinne’sche Versuch fällt meist negativ aus. Unter sachgemässer Behandlung kann in der- artigen Fällen der Verlauf sich so gestalten, dass die Eiterung aus dem Ohr abnimmt, schliesslich auch ganz sistirt, während in den übrigen subjectiven Beschwerden: Sausen, Schwerhörigkeit, keinerlei Besserung eintritt. Auch bei Vornahme der Hörprüfung zeigt sich keine Aenderung und bei der objectiven Untersuchung findet man zwar, dass Gehörgang und Paukenhöhle, soweit dies durch Besich- tigung resp. Anwendung der Luftdouche zu constatiren möglich ist, frei von eitrigem Secret sind, aber die ursprünglich vorhandene Per- foration hat sich nicht geschlossen.
19
Die Röthung des Trommelfelles ist verschwunden und in einzelnen Fallen kann man späterhin constatiren, dass der Process in der Weise zum Abschluss gekommen ist, dass die Perforations- ränder mit der Labyrinthwand der Paukenhöhle verwachsen sind. Häufiger jedoch sistirt auch die Eiterung, trotz sorgfältigster lokaler und allgemeiner Behandlung nicht, vermindert sich höchstens von Zeit zu Zeit, um dann, oft ganz ohne nachweisbaren Grund, wieder stärker aufzutreten. Die ursprünglich vorbandene Perforation hat sich nicht oder nur wenig vergrössert und es können Monate, zuweilen, wenn auch selten, sogar Jahre vergehen, während welcher die Patienten sich oft der weiteren Beob- achtung entziehen, bis eine Wendung zum schlechteren eintritt. Dieselbe erfolgt dann meist gleichzeitig mit dem Fortschreiten der Lungentuberkulose. Sehr oft entwickeln sich mit dem Eintritt der Verschlimmerung des Ohrenleidens auch tuberkulöse Prozesse in anderen Organen, namentlich dem Larynx- und dem Verdauungs- apparat und es tritt nun dasselbe Bild auf, wie ich es oben geschildert habe, indem unter rapider Einschmelzung des Trommel- felles, Verlust der Gehórknóchelchen bald absolute Taubheit ein- tritt, bis schliesslich der Tod den vielfachen Leiden dieser Unglück- lichen ein Ende macht.
Die Frage, ob ausser in der bisher beschriebenen Weise die Ohreiterung bei Tuberkulösen nicht auch unter dem Bilde der acuten eitrigen Mittelohrentzündung, d. h. mit heftigen Schmerzen unter Fiebererscheinungen und Nachlass dieser beiden Symptome nach Eintritt der Perforation des Trommelfelles mit nachfolgender, meist profuser, schleimig - eitriger Secretion, auftreten könne, wurde bisher von den Autoren recht verschieden beantwortet. Die meisten sprachen sich dahin aus, dass ein derartiger Verlauf entweder über- haupt von ihnen nicht beobachtet worden sei, oder aber nur dann, wenn man es mit einer zufälligen Complication, einer Otitis, die in keinem ursächlichen Zusammenhange mit der Tuberkulose stehe, zu thun gehabt habe. Andere waren der Meinung, dass in denjenigen Fällen, wo die Affection unter heftigen Schmerzen aufgetreten war, es sich nicht um eine wirkliche Otitis media, sondern um eine primäre Entzündung des Proc. mastoid. gehandelt habe. So sprechen
os-
20
sich Rhoden und Kretschmann??) gelegentlich der Mittheilung eines von Schwartze operativ geheilten Falles von tuberkulöser Otitis resp. Ostitis mastoidea dahin aus, dass die Eiterung und Ent- zündung des Proc. mastoid. die Primäraffection gewesen sei und erst secundär bei dem mit Tuberkulose behafteten Patienten die Tuberkeln sich an dem Locus minoris resistentiae entwickelt haben. „Zu dieser Auffassung“ fahren die Vff. fort, „berechtigt uns die Thatsache, dass, während die Ohreiterungen bei Phthisikern ohne Schmerzen auf- treten, unser Patient heftige Schmerzen ausgestanden hat, in ähn- licher Weise wie die gewöhnlichen acuten Mittelohreiterungen zu beginnen pflegen.“ Ritzefeld (l. c. S. 17) hebt hervor, dass die bedeutende Schmerzhaftigkeit, das hohe Fieber und der ganze Sturm der Erscheinungen, welcher sonst eitrige Mittelohrentzündungen ein- zuleiten pflegt, ganz fehlen können, doch würden auch Fälle be- obachtet, wo diese Symptome „in ausgesprochenem Masse vorhanden sind, ja noch weitgehender als bei den idiopathischen Formen, so dass dann gerade die ungemeine Heftigkeit ebenso auf Rechnung der zu Grunde liegenden Diathese zu setzen ist, als im anderen Falle der symptomenlose Verlauf.“
Ich selbst verfüge über zwei Fälle, bei denen die Tuberkulose _ des Mittelohrs unter dem Bilde der acuten Otitis media purulenta auftrat, die insofern durchaus beweiskräftig sind, als bei ihnen die tuberkulúse Natur des Processes durch den Nachweis der Tuberkel- bacillen im Ohrsecret erbracht werden konnte.
Der eine Fall betrifft einen 27jährigen Kaufmann, der zuerst im Jahre 1888 von Haemoptoe befallen worden ist, die sich seitdem mehrmals wiederholt hat. Am 1. November 1890 erkrankte er unter Fiebererscheinungen mit heftigen Schmerzen im rechten Ohr (früher nicht ohrenkrank), die, nachdem eitriger Aus- fluss aus dem Ohre eingetreten war, zwar nachliessen, aber nicht ganz ver- schwanden. Patient liess sich deshalb am 2. November in das städtische Kranken- haus am Urban aufnehmen. Daselbst wurden die Erscheinungen der acuten eitrigen Mittelohrentztindung (Röthung und Perforation des Trommelfells) gefunden; im eitrigen Secret des Ohres, sowie im Sputum wurden Tuberkelbacillen nach- gewiesen. Die Untersuchung der Brustorgane ergab doppelseitigen Spitzenkatarrh. Bis zum 22. November wurden nur reinigende Ausspiilungen mit lauem Salzwasser gemacht; die Secretion verminderte sich und über Schmerzen klagte Patient nicht mehr. Von dem genannten Tage an wurde mit der Tuberkulinbehandlung nach Koch in der damals tiblichen Weise (mit Injectionen von 0,001) begonnen. Nach
y —
dieser ersten Injection nahm zunächst die Eiterung wieder beträchtlich zu, auch die Schmerzen steigerten sich und in dem eitrigen Secret liessen sich jetzt massenhaft Tuberkelbacillen nachweisen, während die Zahl derselben vorher nur eine geringe gewesen war (in jedem Deckglaspräparat 1—3). Nach wenigen Tagen liess die Eiterung wieder nach, die Schmerzen verschwanden, der vermehrte Bacillengehalt hielt jedoch an. Als ich Patient am 27. December untersuchte, fand ich noch wenig eitriges, Bacillen enthaltendes Secret im Ohr, das Trommelfell leicht geröthet, getrübt ; Manubr. mallei perspectivisch verkürzt, stecknadelkopfgrosse Perforation im hinteren oberen, Verkalkung im vorderen unteren Quadranten. Die Uhr wurde 10 Centimeter vom Ohr entfernt und durch den Proc. mast. deutlich gehört. Flüsterzahlen (drei) wurden in 1*/, Meter Entfernung nachge- sprochen. Stgbl.c. vom Scheitelaus nach rechts, vom Process. mastoid. aus beträchtlich länger (30 “) als normal gehört. Rinne'scher Versuch negativ. Am 3. Februar 1891, als ich Patient zuletzt sah, war kein eitriges Secret mehr im Ohr vorhanden, das Trommelfell leicht getrübt, die Perforation geheilt. Die Uhr wurde in ?/, Meter, Flüstersprache (Wolff’s Prüfungsworte) in 6 Meter Entfernung gehört. Der andere Fall betrifft einen 34 jährigen Kaufmann, der wegen vorgeschrittener Phthisis pulm. et laryngis (reichliche Tuberkelbacillen im Sputum) im städtischen Krankenhaus am Urban behandelt wurde. Pat. früher nie ohrenkrank, erkrankte im December 1890 mit heftigen Schmerzen im rechten Ohr, die nach einigen Tagen, als sich reichlicher eitriger Ausfluss einstellte, nachliessen. Der Ausfluss hat seitdem bis zu der Zeit, als ich Pat. zum ersten male sah (19. April 1891) nicht aufgehört. Das Allgemeinbefinden hat sich stetig verschlechtert. Pat. klagt jetzt über anhaltenden Husten und reichlichen Auswurf, profuse Nachtschweisse, grosse Schwäche und ist vollständig aphonisch. Der Gehörgang (rechts) ist voll übelriechenden käsigen Eiters, nach dessen Entfernung durch Ausspritzen sich an der hintern untern Partie des knöchernen Gehörganges eine stecknadelkopfgrosse Granulation befindet, unterhalb welcher der Knochen sich rauh anfühlt. Das Trommellfell ist in der ganzen unteren Hälfte defect, die obere Partie mit dem noch erhaltenen Manbr. mallei stark retrahirt. Die Berührung des Gehörgangs mit der Sonde ist sehr empfindlich, Druck auf den Proc. mast. dagegen voll- ständig schmerzlos. Die Uhr wird weder durch Luft- noch durch Knochenleitung percipirt, laute Sprache am Ohr (auch bei verschlossenem kranken Ohr, also nicht mit diesem) gehört. Im eitrigen Secret des Ohres finden sich Tuberkelbacillen in grosser Menge Im Laufe der nächsten Wochen trat nur insofern eine Aenderung ein, als die Einschmelzung des Trommelfelles stetig zunahm, so dass am 10. Mai von demselben nur noch die den Hammergriff einschliessende Partie erhalten war, die Secretion reichlich, intensiv stinkend, trotz täglich melırmaliger Ausspülungen und Drainage mit Jodoformgaze Erst am 28. Juni hatte ich Gelegenheit, den Pat. wieder zu sehen. Sein Allgemeinbefinden war äusserst schlecht, seit 3 Wochen besteht rechtsseitige Facialisparalyse, die Eiteruug aus dem Ohr unverändert, Druck auf Proc. mast. empfindlich. Von Trommelfell und den Gehörknöchelchen keine Spur zu sehen. Labyrinthwand in der Gegend des Promontoriums geröthet, im übrigen mit zähem, fest haftendem auch durch Aus-
22 spülen nicht ganz zu entfernendem Secret bedeckt. Am 9. Juli trat der Exitus letalis ein. Die Obduction wurde nicht gestattet.
Diese beiden Beobachtungen zeigen, dass die zunächst unter dem Bilde der acuten Mittelohrentzündung auftretende Tuberkulose des Ohres sowohl einen günstigen Verlauf nehmen, als auch unter Umständen genau so wie die eigentliche tuberkulöse Mittelohreiterung schliesslich ausgehen kann. Auf die Frage, worin der Grund für die auffallende Verschiedenheit in dem Verlaufe dieser Affection zu suchen ist, kommen wir später zurück. Gleichsam als Ergänzung dieser Beobachtungen kann ein Fall dienen, bei welchem zwar, wegen der bestehenden Benommenheit des Sensoriums des betreffenden Pat. über die subjectiven Erscheinungen keine Angaben erhalten werden konnten, der jedoch bei der objectiven Untersuchung mittelst des Ohrspiegels die ausgesprochendsten Zeichen der beginnenden Otitis media acuta zeigte und bei dem durch die Obduction resp. die mikroskopische Untersuchung der Paukenhöhle und des Trommel- felles der Nachweis einer ausgedehnten Tuberkulose dieser Theile erbracht werden konnte,
Es handelt sich um einen 29jährigen, hereditär nicht belasteten Brauer (Weiss), der seit Februar 1889 an Heiserkeit, seit Mai 1890 an Husten mit Aus- wurf und heftigen Nachtschweissen litt und am 19. Februar 1891 sich im Kranken- haus am Urban aufnehmen liess. Im Sputum waren Tuberkelbacillen nach- weisbar, die physikalische Untersuchung ergab Infiltration beider Lungenspitzen, Cavernensymptome, zu denen sich später sub finem vitae die Erscheinungen von Basilarmeningitis gesellten. Wenige Tage vor dem Tode (3. Mai 1891) constatirte der Assistenzarzt der betr. Abtheilung, Herr Dr. Brentano, dass das rechte Trommelfell intensiv geröthet und hervorgewölbt war und ich selbst hatte Gelegen- heit, am nächsten Tage diesen Befund zu bestätigen. Das Bild entsprach genau dem, wie wir es bei einer heftigen acuten Otitis media in den ersten Tagen zu sehen gewohnt sind: Intensive Röthung des ganzen Trommelfelles, Hervorwölbung der hinteren, oberen und unteren Partie; Manubr. mallei resp. Proc. brevis nicht zu erkennen. Im Gehörgang kein Secret. Von subjectiven Beschwerden verlautete nichts, da Patient seit pp. 8 Tagen mit kurzen Intervallen bewusstlos war, doch hatte er sich oft nach dem rechten Ohr gefasst, ein Umstand, der eben den Collegen Brentano zur Untersuchung dieses Ohres veranlasste. Vorher hatte er niemals über das Ohr geklagt. Nur um mich tiber die Natur der vorliegenden Affection zu informiren, machte ich eine ausgiebige Paracentese im hinteren unteren Quadranten, wobei sich nur eine geringe Menge blutig-seröser Flüssigkeit ent- leerte, eine zweite etwas weiter nach oben von der ersteren. Auch jetzt ent- leerte sich nur dieselbe blutig-seröse Flüssigkeit, deren Untersuchung auf Tuberkel-
23 bacillen negativ ausfiel. Der Exitus letalis erfolgte bereits am nächsten Tage und bei der Obduction fand sich eine ausgebreitete Meningitis tuberculosa basi- laris et convexitatis; in den Lungen beiderseits in grosser Zahl erbsen- bis hühnereigrosse Cavernen in beiden Oberlappen, in den Unterlappen spärliche miliare Tuberkeleruptionen; Lymphdrüsen stark geschwollen, zeigen ebenfalls Tuberkelinfiltration. Am Felsenbein, das mir zur anatomischen resp. mikroskopischen Untersuchung überlassen wurde, fanden sich äusserlich keine Veränderungen; das Tegmen tympani dünn, fast durchscheinend, nach Abtragung desselben sowie des Tegmen antri mast. zeigt sich die Schleimhaut der Paukenhöhle mässig geschwollen mit zähen schmutzig gelben Massen bedeckt, welche letztere auch das Antrum mast. ausfüllen. Nachdem das Präparat in der üblichen Weise in Müller’scher Flüssig- keit gehärtet, dann entkalkt (10%, Salpetersäure) und in Celloidin eingehettet war, wurde es in Serienschnitte (senkrecht zur Axe des Felsenbeines) zerlegt und mikroskopisch untersucht. Es ergab sich, dass die knorpelige Tuba keinerlei Ver- änderungen zeigte, das Epithel war überall sehr gut erhalten. In der Schleimhaut der knöchernen Tuba fanden sich, namentlich an der oberen Wand zunächst ver- einzelte, je mehr die Schnitte sich dem Ostium tympanicum näherten, um so reichlichere miliare Tuberkel, meist mit einer oder mehreren charakteristischen Langhanns'schen Riesenzellen, einzelne von diesen Tuberkeln zeigten bereits centrale Verkäsung. Das Epithel fehlt an den meisten Stellen. Die freie Fläche der Schleimhaut ist bedeckt mit einer mehr oder weniger dicken Schicht käsiger Masse.
In der Schleimhaut der Paukenhöhle selbst finden sich zwar überall zerstreut miliare Tuberkel, am zahlreichsten jedoch sind sie in der Gegend der vorderen und hinteren Tröltsch’schen Tasche und in den Nischen des ovalen und runden Fensters, in welchem sich ausserdem verschiedene Schleimhautfalten zeigen. In der Nische des runden Fensters ein der Membrana tympani secundaria aufliegendes Blutextra- vasat, das Trommelfell ist in seiner ganzen Ausdehnung auffallend verdickt, in der stark kleinzellig infiltrirten Cutisschicht sind die Gefässe strotzend gefüllt, die Schleimhautschicht, an ihrer freien Fläche mit käsigen Massen bedeckt, zeigt eine diffuse Infiltration mit Rundzellen, in welche an verschiedenen Stellen Riesenzellen eingestreut sind. Die Untersuchung zahlreicher Schnitte auf Tuberkel- bacillen, sowohl nach der Koch-Ehrlich’schen Methode als auch nach der von Ziehl-Neelsen und Gabbet, fiel negativ aus. Dies war übrigens, wie gleich hier bemerkt werden soll, auch bei der Untersuchung der Schnitte sämmtlicher, später zu erwähnenden, Felsenbeine der Fall. Es braucht nicht gesagt zu werden, dass damit nicht das Fehlen dieser Bacillen bewiesen ist, da ja, wie schon Haber- mann hervorgehoben hat, die Färbung dieser Mikroorganismen in Präparaten, die längere Zeit mit Salpetersäure behandelt worden sind, nur schwer gelingt. Die Markräume des Knochens zeigten nur bie und da geringe entzündliche Infiltration, die Knochensubstanz erwies sich überall intact; in den Zell- räumen des Warzenfortsatzes, von denen nur das Antrum mit käsigen Massen erfüllt war, die Schleimhaut oberflächlich ulcerirt.
24
Der Beweis, dass wir es in diesen) letzten Falle wirklich mit entzündlichen Vorgängen zu thun hatten, ist durch die mikroskopische Untersuchung erbracht, bei welcher sich neben der diffusen klein- zelligen Infiltration der Schleimhautschicht des Trommelfelles, welche mit Rücksicht auf die vorhandenen Riesenzellen als tuberkulöser Natur zweifellos aufgefasst werden muss, zugleich eine ausgesprochene Vascularisation der Cutisschicht neben diffuser, kleinzelliger Infiltration derselben fand. Aehnliche Befunde hat übrigens auch Habermann in seiner 2ten Mittheilung über die Tuberkulose des Gehörorgans registrirt, wo neben ausgesprochener Tuberkulose resp. Bildung von Miliartuberkeln mit Riesenzellen eine in den ver- schiedensten Stellen der Paukenhöhle gefundene entzündliche Infiltration bestand und der von ihm unter Nr. 6a beschriebene Fall ent- spricht fast vollkommen dem von mir oben mitgetheilten. Auch H. fand das Trommelfell stark geröthet, geschwollen, nach aussen vor- gebaucht ohne Perforation, also jedenfalls die objectiven Zeichen einer acuten Mittelohrentzündung, ganz wie in meinem Falle, wäh- rend doch auch hier in der Paukenhöhlenschleimhaut selbst bereits vorgeschrittene Tuberkulose bestand. In einem anderen Falle (No. 8) H.’s waren 11/, Jahre vor dem Tode bei dem schon damals an Husten mit Auswurf, wiederholter Haemoptoe, Fieber und Nacht- schweiss leidenden Patienten Schmerzen im rechten Ohr aufgetreten, die, als sich einige Tage später Ausfluss einstellte, wieder abnahmen resp. aufhórten. Auch der Ausfluss sistirte nach 10 Tagen, der Kranke litt dann wieder zeitweise an Kopfschmerzen, das Gehör blieb sehr schlecht, weshalb er 6 Wochen nach Beginn des Ohren- leidens wieder in H.’s Behandlung kam. H. fand das Trommelfell stark geröthet und geschwollen, nach aussen vorgebaucht, so dass die Hammertheile nicht zu unterscheiden waren, keine Secretion. Die Hörfähigkeit war bedeutend herabgesetzt (Uhr schwach durch Kuochen- leitung, Flüstersprache 15 cm), 2 Tage später trat ohne Schmerzen wieder Ausfluss ein und ganz unten am Trommelfell zeigte sich eine kleine Perforation. Patient entzog sich der Behandlung und 11/, Jahre später erfolgte der Exitus letalis. Bei der Untersuchung des rechten Felsenbeines fand sich ausgedehnte tuberkulöse Caries desselben, chronische Tuberkulose des inneren Ohres und des N. facialis.
5
bo
H. selbst meint, dass die Schmerzen und der Ausfluss, an denen der Kranke sechs Wochen vor dem Eintritt in H.’s Behandlung litt, sich vielleicht am besten durch eine Mischinfection zu Beginn des Leidens erklären liessen, während er die später aufgetretene schmerz- lose Otorrhoö auf die vorhandene Tuberkulose des Mittelohres zurück- führt. Angaben darüber, ob das Secret bei dem ersten Auftreten der Eiterung unter Schmerzen einer bacteriologischen Untersuchung unterworfen wurde, liegen nicht vor und es ist also die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass dieselben ebenso wie in dem oben von mir mitgetheilten unter der Behandlung mit Tuberkulin geheilten Falle, das Vorhandensein von Tuberkelbacillen ergeben hätte Und wenn es auch im Allgemeinen richtig ist, was H. l. c. S. 137 sagt, dass die Tuberkelbacillen im Vergleich zu den übrigen Mikroorga- nismen, die Mittelohrentzündung veranlassen, viel langsamer wachsen, und dass durch den tuberkulösen Process mehr käsige Massen ge- bildet werden, nicht aber ein so reichlich schleimig-eitriges Exsudat, das bei den anderen Formen der Mittelohrentzündung oft schon im Verlaufe von Stunden die Paukenhöhle füllt und durch die starke Spannung und Zerrung, die dabei das Trommelfell und die übrigen Gebilde des Mittelohres erfahren, zu starken Schmerzen führt, so ist es doch nach der Ansicht anderer Autoren, z. B. Ribbert?3), nicht ausgeschlossen, dass die Tuberkelbacillen auch acute Entzündung und Eiterung bedingen können, wie wir das an den tuberkulösen Abscessen des Knochensystems, der Meningen etc., sehen. Eine exsudative Entzündung in den tuberkulösen Herden wird nach Ribbert eintreten können, wenn entweder die Giftwirkung der Bacillen intensiver oder die Widerstandsfähigkeit des Gewebes ge- ringer wird. Und nach Buchner?!) ist der Tuberkelbacillus Ent- zündungserreger oder er ist es nicht; er tritt sogar als Eiterungs- erreger auf, je nach den Bedingungen an Ort und Stelle; und diese verschiedenen Möglichkeiten können sehr wohl gleichzeitig im nämlichen Individuum nebeneinander realisirt sein. B. hält eine gradweise Verschiedenheit der Reizungszustände tuberkulöser Ge- webe für eine unzweifelhafte Thatsache und sie scheint ihm bedingt durch den grösseren oder geringeren Untergang von Tuberkelbacillen im Gewebe, d. h. von der stärkeren oder schwächeren Ausscheidung von Protéinen aus dem Tuberkelbacillus. Nach Günther”) hat
26
übrigens auch R. Koch für den Tuberkelbacillus die Anwesenheit einer eiterungserregenden chemischen Substanz in den Bakterienzellen nachgewiesen und schon im Jahre 1887 hat A. Fraenkel ?*) sich dahin ausgesprochen, dass der T. B. an und für sich zur Eiterung führen kann. In dem von ihm mitgetheilten Falle von tuberkulösem Hirnabscess fand sich wirklicher Eiter, nichtsdestoweviger aber keine Spur von den gewöhnlichen Eitermikrobien, sondern eine Rein- cultur von T.B., von welchen auch die innere (Granulations-)Schicht der Balgmembran durchsetzt war.
Zur Beantwortung der oben aufgeworfenen Frage, weshalb in dem einen der beiden oben erwähnten und unter dem Bilde der acuten Mittelohrentzündung einsetzenden Fälle, der eine zur Heilung kam, der andere zu ausgedehnten Zerstörungen führte, dürfte wohl das Allgemeinbefinden der beiden Kranken in Be- rücksichtigung gezogen werden müssen. Während nämlich bei dem letzteren zur Zeit, als die Otitis auftrat, das Lungenleiden bereits sehr weit vorgeschritten, das Allgemeinbefinden ein recht schlechtes war, handelte es sich in dem ersteren Falle um einen noch wenig Beschwerden verursachenden Spitzenkatarrh bei einem in seinem Allgemeinbefinden noch wenig gestörten, namentlich nicht durch Nachtschweisse und Fieber heruntergekommenen Mann, Wir werden also wohl nicht fehl gehen, wenn wir den auffallend ver- schiedenen Verlauf der tuberkulósen Erkrankung des Ohres in diesen beiden Fällen mit dem ebenso verschiedenen Verlauf der Grundkrankheit in Zusammenhang bringen und wir werden also bei Stellung der Prognose auf dieses Moment ganz besonderen Werth legen müssen, mögen nun in dem Secret des Ohres Tuberkelbacillen nachzuweisen sein oder nicht. Es gilt dies übrigens nicht allein von den unter dem Bilde der acuten Otitis media verlaufenden Fällen von Ohrtuberkulose, sondern auch namentlich von denjenigen Formen, die, wenn ich mich so ausdrücken darf, mehr subacut d.h. zwar auch ohne Schmerzen auftreten, dann aber monate- oder auch jahrelang bestehen, ohne dass sich besondere Fortschritte, weder nach der guten noch nach der schlechten Seite hin zeigen, oder aber auch nach monatelangem Bestehen der Eiterung mit persistenter Perforation heilen.
Es dürfte nunmehr angezeigt sein, an der Hand der in der Literatur vorliegenden Beobachtungen und unter Berücksichtigung
27
meiner eigenen Erfahrungen diejenigen Momente einer näheren Betrachtung zu unterziehen, auf Grund deren wir im Stande sind, die Diagnose auf das Vorliegen einer tuberku- lösen Affection zu stellen, denn es leuchtet ohne Weiteres ein, dass nicht allein die Zuverlässigkeit der Prognose wesentlich von diesem Nachweis abhängt, sondern auch unser therapeutisches Handeln nach ihm sich zu richten hat.
Schon aus der Schilderung des Verlaufes ergiebt sich, dass es in einzelnen Fällen nicht schwierig sein wird, die Diagnose auf das Vorhandensein einer tuberkulösen Ohraffection zu stellen, nämlich dann, wenn wir es mit den wiederholt als typisch bezeichneten Fällen zu thun haben, bei denen es unter geringer oder mangelnder Schmerzhaftigkeit in kurzer Zeit zu einer ganz rapiden Ein- schmelzung des Trommelfelles und schliesslich zu ausgedehnten Zerstörungen nicht nur der Weichtheile, sondern auch der knöchernen Partien des Gebörorganes kommt. Alle Autoren sind darin einig, dass an der tuberkulösen Natur dieser Krankheitsformen nicht zu zweifeln ist, selbst wenn es nicht gelingen sollte, in dem Ohrsecrete während des Lebens Tuberkelbacillen nachzuweisen.
Anders verhält es sich mit denjenigen Fällen, bei denen die Affection zwar auch ohne Schmerzen mehr subacut auftritt, jedoch nicht in der rapiden Weise fortschreitet, sondern oft monate- ja Jahrelang stationär bleibt. Nach meinen Beobachtungen kommt gerade diese Form der Mittelohrerkrankung bei Tuberkulösen recht häufig, und dem Ohrenarzt vielleicht noch häufiger zur Be- obachtung, als die typische Form.
Es erklärt sich dies wohl zur Genüge daraus, dass diese letztere meist fiebernde, von Husten und Nachtschweissen gequälte und da- durch hochgradig herabgekommene Individuen betrifft, welche nicht im Stande sind, die Polikliniken aufzusuchen, sondern in den sta- tionären Kliniken und Krankenhäusern, nicht sowohl wegen ihres oft genug vernachlässigten Ohrenleidens, als eben wegen der hoch- gradigen Allgemeinstörung sich aufnehmen lassen. Ob die Ohren- affection daselbst überhaupt Berücksichtigung findet, hängt dann oft gar nicht von dem Patienten selbst, sondern von der grösseren oder
28
geringeren Sorgfalt, mit welcher die ärztliche Untersuchung vor- genommen wird, ab. Manche der von mir untersuchten Fälle waren solche, bei denen lediglich durch die Aufmerksamkeit der Herren Assi- stenten der betreffenden Krankenanstalten, das Vorhandensein der Ohr- affection constatirt wurde. In noch viel grösserem Umfange gilt das eben gesagte, d. h. die Vernachlässigung des Ohrenleidens Seitens des Kranken selbst, von derjenigen Form, die subacut, ohne Schmerzen auftritt mit mehr oder weniger hochgradiger Schwerhörigkeit bei ge- ringer Secretion und dem Patienten, namentlich, wenn die Affection ein- seitig ist, keine weiteren Beschwerden verursacht. Dass diese Form mit dem Fortschreiten des Allgemeinbefindens schliesslich auch in die erste Form übergehen kann, wurde bereits oben erwähnt und es frägt sich nur, welche Merkmale es sind, die uns im gegebenen Falle, bevor die letztere Eventualität eintritt, die Diagnose auf das Vor- handensein einer tuberkulösen Affection ermöglichen.
Von dem schmerzlosen Auftreten der tuberkulósen Mittel- ohrerkrankung ist bereits ausführlich die Rede gewesen und es mag deshalb hier nur noch ein Mal darauf hingewiesen werden, dass so characteristisch dieses Zeichen auch im Allgemeinen ist, doch auch, wie wir gesehen haben, Fälle vorkommen, die ganz unter dem Bilde der acuten Mittelohrentzündung mit Schmerzen, Fieber etc. beginnen. Dass im weiteren Verlaufe hie und da wieder Schmerzen auftreten, und zuweilen ununterbrochen bis zum Tode fortbestehen, ergiebt sich aus verschiedenen Beobachtungen und ich selbst habe derartige Fälle gesehen. Hier handelt es sich gewölinlich um rapide fortschreitende cariöse Zerstörungen der knöchernen Theile des Gehör- ganges oder der Paukenhöhle resp. des Proc. mastoid.; aber auch in diesen Fällen können Schmerzen vollständig fehlen.
Bezüglich der Hörfähigkeit ergiebt sich, dass in der Mehrzahl der Fälle, selbst wenn sie frühzeitig zur Beobachtung kommen, eine ausserordentlich hochgradige Herabsetzung für Uhr und Sprache besteht, und zwar auch in den Fällen, bei denen der objective Befund noch nicht auf eine besonders hochgradige Ver- änderung im Schallleitungsapparate schliessen lässt. Eine Erklärung für diese auffallende Erscheinung finden wir in dem patho:ogisch- histologischen Befund, wie ich ihn in zwei Fällen von Tuberkulose des Mittelohrs im Anfangsstadium erheben konnte. In dem einen
29
dieser Fälle (Weiss) fand sich, abgesehen von den übrigen, oben aus- führlich geschilderten Veränderungen, dass nicht nur eine auffallende Verdickung des Trommelfelles in seiner ganzen Ausdehnung bestand, und dass die Schleimhautschicht desselben, an ihrer freien Fläche mit käsigen Massen bedeckt, eine diffuse Infiltration mit Rundzellen zeigte, in welche an verschiedenen Stellen Riesenzellen eingestreut waren, sondern dass vor Allem in der Nische des ovalen und runden Fensters eine ausgedehnte Tuberkeleruption in der diffus kleinzellig infiltrirten Schleimhaut stattgefunden hatte und auch die die Gehör- knöchelchen umgebende Schleimhaut neben zahlreichen Tuberkel- eruptionen beträchtliche kleinzellige Infiltration aufwies. Knochen überall intact. Im Labyrinth waren keine pathologischen Veränderungen nach- weisbar, die geringe kleinzellige Infiltration der Arachnoidalscheide des N. acusticus ist wohl auf die Meningitis basilaris, welche das letale Ende bedingte, zurückzuführen. In dem anderen Falle (Czimney), (ausführlich weiter unten mitgetheilt), fanden sich nahezu dieselben Veränderungen, nur war die Schwellung der Schleimhaut an den meisten Stellen noch eine viel beträchtlichere als im Falle Weiss. Dabei zeigte auch die Cutisschicht des Trommelfelles eine beträchtliche Verdickung bei starker Vascularisation. Ebenso wie im vorigen Falle war auch hier die Schleimhaut, sowohl in der Nische des ovalen und der des runden Fensters, als auch die die Gehörknöchelchen umgebende stark kleinzellig infiltrirt, geschwollen und überall mit zahlreichen, typische Langhanns’sche Riesenzellen enthaltenden Tuberkeln durchsetzt. An einzelnen Stellen das Epithel der Pauken- höhle (theils kubisch, theils cylindrisch flimmernd) noch wohl erhalten. Im cavum tympani reichlich käsige Massen. Knochen überall intact, Labyrinth und N. acusticus überall frei von pathologischen Ver- änderungen, das Corti’sche Organ zum Theil gut erhalten. Dass der- artige Veränderungen im Schallleitungsapparat geeignet sind, hoch- gradige Hörstörungen zu veranlassen, bedarf weiter keines Beweises. Es mag hier nur hervorgehoben werden, dass neuerdings auch Barnick**) die initiale hochgradige Schwerhörigkeit in derselben Weise, wie hier geschehen, erklärt. Die späterhin fast ausnahms- los eintretende, nahezu vollständige Taubheit auf dem betreffenden Ohr erklärt sich ohne Weiteres aus den schweren Zerstörungen im Mittel- ohr und im Nervenapparat, von denen weiter unten die Rede sein wird.
30
In den meisten Fällen tritt eine Besserung des Hörvermögens auch dann nicht ein, wenn es, wie ich dies in zwei Fällen noto- rischer Tuberkulose des Ohrs (Nachweis von T. B.) constatiren konnte, eine wesentliche Besserung der objectiven Erscheinungen, (Aufhören der Eiterung mit und ohne Verschluss der Perforation) die in dem einen Falle pp. 2, in dem anderen nahezu 4 Jahre lang von mir beobachtet werden konnten, zu constatiren war. In einem Falle freilich, dem oben mitgetheilten, unter dem Bilde der acuten Mittelohreiterung verlaufenen und unter Behandlung mit Tuberkulin- injectionen geheilten, trat eine nahezu vollständige Restitutio ad integrum nicht allein bezüglich des objectiven Befundes sondern auch bezüglich des Hórvermógens ein, ob in Folge der Tuberkulin- behandlung oder trotz derselben muss einstweilen unentschieden bleiben.
Zu den frühesten Symptomen tuberkulöser Mittel- ohrerkrankungen gehören die subjectiven Geräusche. Sehr oft, noch ehe die Kranken der zuweilen schon hochgradigen Herab- setzung ihres Hörvermögens sich bewusst geworden sind, klagen sie über continuirliche subjective Geräusche. Dieselben bestehen in den meisten Fällen auch dann noch fort, wenn es zur Perforation gekommen ist und wenn sie auch im Grossen und Ganzen nicht so intensiv zu sein scheinen wie bei chronischen einfachen Mittelohrkatarrhen, so haben sie mit diesen doch das gemein, dass sie selten ganz wieder verschwinden. Unter den von mir beobachteten Fällen konnte ich nur bei einem von den- jenigen, bei denen an der tuberkulösen Natur ihres Ohrenleidens nicht gezweifelt werden konnte (Nachweis von T. B.), constatiren, und zwar noch vier Jahre nach dem Beginne der Affection, dass die subjectiven Geräusche vollständig verschwunden waren, während die Hörfähig- keit sich um nichts gebessert hatte.
Es ist dies ein als „relativ geheilt“ zu bezeichnender Fall, bei dem, trotz der vier Jahre lang stetig fortgesetzten Controle und ohne dass seit einem Jahre irgend welche Medication stattgefunden hat, keine Spur von Secretion mehr eingetreten, die Perforation geschlossen ist und das Trommelfell im Ganzen nur wenig getrübt sich zeigt.
Was nun die objectiven Symptome bei den Mittelohreiterungen Tuberkulöser angeht, so haben wir von diesen natürlich zuerst das
31
Secret daraufhin anzusehen, ob es uns irgend welche Anhaltspunkte dafiir bietet, in einem gegebenen Falle aus seiner Beschaffenheit die Diagnose auf eine zu Grunde liegende tuberkulöse Affection zu stellen.
Wenn auch die Erfahrung lehrt, dass in denjenigen Fällen, die sich bei der Obduction als durch Tuberkulose bedingt erweisen, das Secret meist ein dickes, zähes, den Wänden des äussern Gehörganges resp. der Paukenhöhle fest anhaftendes, durch sorgfältiges Aus- spritsen und Austupfen kaum zu entfernendes ist, in andern Fällen fast nur aus übelriechenden, käsigen, klumpigen Massen besteht, die erst bei der otoskopischen Untersuchung gefunden werden, während der Pat. behauptet, nie an Absonderung aus dem Ohr gelitten zu haben, so ist doch nicht zu übersehen, dass einerseits, namentlich in den mit acut entzündlichen Erscheinungen auftretenden Fällen, die Secretion auch eine profuse, schleimig-eitrige sein kann, die sich makroskopisch in nichts von der gewöhnlichen bei Otitis media acuta vorkommenden unterscheidet, andererseits aber auch, und dies gilt namentlich für die typischen, mit rapider Schmelzung des Trommel- felles verlaufenden Fälle, als profuse, intensiv stinkende, jauchige Secretion documentiren kann. Eine absolut characteristische Be- schaffenheit hat also das Secret nach dieser Richtung hin nicht, und es bleibt noch übrig zu eruiren, ob uns die mikroskopische Untersuchung, speciell die Untersuchung auf Tuberkelbacillen brauch- barere Resultate zur Unterscheidung der tuberkulésen von der nieht tuberkulösen Mittelohreiterung liefert. Ich habe bereits oben kurz auf diejenigen Arbeiten hingewiesen, in denen zuerst der Nachweis von Tuberkelbacillen bei Mittelohreiterungen von Tuberkulösen geführt wurde, und es erübrigt nur noch, die Ansichten derjenigen Autoren nachzutragen, welche im Anschluss an die Untersuchungen von Eschle, Nathan und Ritzefeld sich mit der in Rede stehenden Frage beschäftigt baben. Da muss zuerst die Ansicht Voltolini’a?!) registrirt werden, wonach Ohrenfluss bei einem Lungenschwind- süchtigen nioht immer ein tuberkulöser zu sein braucht und dann könne er geheilt werden. Dies werde aber der Fall sein, wenn wir keine Bacillen im Ausflusse finden. Während also Voltolini offenbar der Meinung ist, dass in den Fällen, wo sich keine Bacillen im Ohrsecret finden, Tuberkulose ausgeschlossen werden könne, spricht sich Gottstein?”) dahin aus, dass auch bei der Otorrhoé die
32 diagnostische Verwerthbarkeit der Bacillen nicht zu hoch geschätzt werden dürfe, ebenso wie bezüglich des Nachweises derselben im Eiter tuberkulöser Abscesse und besonders im Secret tuberkulöser Knochen- Driisenerkrankungen. Aus meinen eigenen Erfahrungen ergiebt sich, dass unter 90 klinischen Fällen, welche längere Zeit beobachtet wurden, von denen 24 doppelseitige, 66 einseitige Eiterung hatten, so dass also 114 afficirte Ohren in Betracht kommen, bei 38 der letzteren im eitrigen Secret Tuberkelbacillen in grösserer oder geringerer Menge nachzuweisen waren.
Es ist selbstverständlich, dass in allen Fällen, um Verwechse- lungen mit Smegmabacillen zu vermeiden, die bekanntlich im äusseren Gehörgang nicht allzu selten gefunden werden, die Praepa- rate nach der Färbung mit Carbolfuchsin mittels Salzsäure-Alkohol (3°/,) entfärbt wurden. Im Secret der übrigen 76 eiternden Ohren war der Befund bezüglich der Bacillen ein negativer. Der tuberku- löse Character konnte nun aber in 6 von diesen Fällen durch die Obduction nachgewiesen werden. In 2 Fällen handelte es sich um Frühstadien des tuberkulösen Processes im Mittelohr, mit zahlreichen riesenzellenhaltigen Miliartuberkeln in derSchleimhautder Paukenhöhle, in 4 Fällen um ausgedehnte cariöse Zerstörungen im Felsenbein mit nur vereinzelten miliaren Tuberkeln in der Paukenhöhle resp. den Zellräumen des Warzenfortsatzes. Derartige Fälle beweisen also, dass man aus dem Fehlen der Tuberkelbacillen in dem eitrigen Secrete des Ohres weder in den Anfangs- noch auch in den Endstadien des Processes einen Schluss auf den nicht tuberkulösen Character der betreffenden Affection machen kann.
Mit Rücksicht auf die oben erwähnte Ansicht Politzer’s, dass der positive Nachweis von Tuberkelbacillen im Obrsecret noch keinen absolut sicheren Schluss auf Tuberkulose des Ohres gestatte, will ich nur bemerken, dass ich in allen Fällen, bei denen Tuberkel- bacillen von mir bei Lebzeiten im Ohrsecret gefunden worden waren, auch die specifischen Producte der Tuberkulose im Ohr gefunden wurden, wenn sie zur Obduction kamen.
Neben den objectiv nachweisbaren Symptomen haben wir weiter- hin die Veränderungen am Trommelfell zu berücksichtigen und zu untersuchen, inwieweit sie Anhaltspunkte für die Diagnose der tuberkulösen Otitis geben.
33
Buck?) hält das Auftreten der Trommelfellperforationen im hinteren oberen Quadranten für ebenso characteristisch für die tuberkulése Natur des Processes, wie die Schmerzlosigkeit des Verlaufes etc. — Biirkner?*%) kann diese Angaben Buck’s nicht bestätigen; er hat die Trommelfelldefecte mindestens ebenso oft in der unteren Hälfte entstehen sehen, dagegen ist, nach Bürkner, die ungemein schnelle Vergrösserung der Perforation, sowie das Confluiren mehrerer Löcher eine gewöhnliche und für den Process characteristische Erscheinung. Schwartze*) hatte schon früher auf das Confluiren mehrerer anfangs haarfeiner Perforationen, die sich durch eitrigen Zerfall der Ränder schnell vergrössern, auf- merksam gemacht und sie auf den Zerfall von Tuberkeln im Trommelfell zurückgeführt, welche er bei Kindern mit Miliar- tuberkulose und bei chronischer Lungentuberkulose Erwachsener in der Form von gelblich-röthlichen Flecken von Stecknadelkopfgrösse oder noch grösser in der. intermediären Zone des Trommelfelles beobachtete. Auch Politzer!) sah in „recenten Fällen das blasse, mit einer rahmähnlichen Schicht bedeckte Trommelfell in der inter- mediären Partie oder an der äussersten Peripherie erweicht und perforirt.“
Aus meinen eigenen Beobachtungen ergiebt sich, wenn ich zu- nächst alle Fälle von Mittelohreiterungen bei Tuberkulösen berück- sichtige (200 Fälle), dass auch bei diesen, ebenso wie bei den ge- wöhnlichen Mittelohreiterungen, die Zerstörungen des Trommelfelles überwiegend häufig (49,5°/,) die untere Partie desselben allein be- treffen, viel seltener (12,9°/,) die obere allein und dass unver- hältnissmässig häufig (14,0°/,) multiple Perforationen und noch häufiger (23,62 %/,) ausgedehnte, fast das ganze Trommelfell einneh- mende Defecte zur Beobachtung kommen.
Wenn ich nur den Befund derjenigen Ohren berücksichtige, bei denen der sichere Nachweis der tuberkulösen Natur des Leidens sei es durch den positiven Befund von Tuberkelbacillen im Ohrsecret beim Lebenden (38 Fälle resp. Ohren), sei es durch das Ergebniss der mikro- skopischen Untersuchung post mortem (Nachweis von Miliartuberkeln) ge- führt werden konnte (6 Fälle), so ergiebt sich folgendes: Nach Abzug von 2 Fällen, bei denen vor der Aufnahme die Radicaloperation der
Mittelohrräume gemacht worden war, das Trommelfell demnach fehlte, 3
34 von ferner 2 Fällen, bei denen, da sie sich im Anfangsstadium der Obraffection befanden, eine Perforation noch nicht vorhanden war und endlich von 2 Fallen, bei denen sich keine Notiz findet, bleiben 38 Fälle resp. Ohren, bei denen 19 mal (50°/,) das Trommelfell ganz resp. fast ganz defect war (es war entweder nur ein schmaler Rand oder, wie öfters, nur der vordere obere Theil mit dem Proc. brev. resp. einem Rest des Manubr. mallei erhalten); 8 mal (21,1 %,) fanden sich multiple Perforationen, 10 mal (26,3°/,) mehr oder weniger grosse Perforationen in der unteren Hälfte und nur einmal (2,6°/,) in der oberen Partie des Trommelfelles allein.
Es kommen also die letzteren gegenüber den Defecten im unteren Theile des Trommelfelles kaum in Betracht, während die verhältniss- mässige Häufigkeit multipler Perforationen und noch mehr die der nahezu totalen Defecte ohne Weiteres in die Augen springt. Was das sonstige Aussehen des Trommelfelles anlangt, so bietet dasselbe im Ganzen nichts besonders characteristisches dar. Nach Schwartze?°) ist neben den schon erwähnten gelben Flecken (Miliar- tuberkel?) anfangs nur eine Abflachung des röthlichgelb verfärbten Trommelfelles und Dilatation der radiäreu Cutisgefässe vorhanden bei verdecktem Hammergriff. Politzer®!) spricht von einem blassen, mit einer rahmähnlichen Schicht bedeckten Trommelfell in recenten Fällen. Nach Ritzefeld (l. c.) findet man, wenn die Krankheit noch nicht lange bestanden hat, ein mässig geschwollenes und ge- röthetes Trommelfell. Nach meinen Erfahrungen zeigt das Trommel- fell, da wo noch keine grösseren Zerstörungen eingetreten sind, eine mehr oder weniger diffuse, meist jedoch nur wenig ausge- sprochene Röthung, stets eine beträchtliche Trübung und sehr oft eine Verdickung der Cutisschicht, die sich besonders dadurch kenn- zeichnet, dass das Manubr. mallei, zuweilen auch der Proc. brevis gar nicht oder nur undeutlich zu erkennen sind resp. in ihren Um- . rissen unförmig erscheinen. Dass in der unter dem Bilde der acuten Otitis media auftretenden Form das Trommelfell stark ge- röthet, geschwellt resp. hervorgewölbt erscheint, wurde schon oben erwähnt und es mag hier nur an den oben ausführlich mitge- theilten Fall (Weiss) erinnert werden, bei dem die Affection sich erst wenige Tage vor dem Tode lediglich durch die genannten Erscheinungen documentirte und bei dem die Post-mortem-Unter-
35
suchung das Vorhandensein einer ausgesprochenen Miliartuberkulose der Paukenhöhlenschleimhaut ergab.
In manchen Fällen zeigen sich weissliche Epidermisschuppen dem Trommelfell aufgelagert, namentlich dann, wenn der Gehörgang in Mitleidenschaft gezogen ist. Knötchenbildungen, die man als den Ausdruck von Miliartuberkeln im Trommelfell hätte an- sehen können, habe ich nur in einem einzigen Falle beob- achten können. An Stelle jedes Knötchens zeigte sich später je eine Perforation, die weiterhin confluirten. Tuberkelbacillen waren im Ohrsecret nicht nachzuweisen. Der Process kam später zum Stillstand und Pat. verliess deshalb das Krankenhaus. Eine beträchtliche, meist auf Betheiligung des Periostes zurück- zuführende Schwellung resp. Verengerung des Gehörganges konnte ich in einigen Fällen constatiren, bei denen theils schon bei der ersten Untersuchung, theils im weiteren Verlaufe sich ergab, dass auch der Warzenfortsatz resp. die knöchernen Wandungen der Paukenhöhle von dem tuberkulösen Process ergriffen worden waren. Die Berührung der betreffenden Partien war meist ausserordentlich empfindlich, wenn auch sonst weder spontan noch bei Druck auf den - Proc. mast. oder bei Berührung der übrigen Stellen des knóchernen Gehörganges Schmerzen bestanden. Hier und da kommt es zur Bildung von schmutzig gelblich aussehenden Borken, unter denen sich, nach- dem sie entfernt sind, mit der Sonde rauher Knochen nachweisen lässt. In anderen Fällen finden sich kleinere oder grössere, leicht blutende Granulationen, unter denen ebenfalls der Knochen bei der Sondenuntersuchung rauh erscheint. Was nun den durch die objective Untersuchung festzustellenden Befund an der Paukenhöhle an- langt, so zeigt sich die Schleimhaut derselben, da wo die Perforation gross genug ist, um einen Einblick zu gestatten, in manchen Fällen, ebenso wie bei der gewöhnlichen chronischen Otitis media purulenta, leicht geröthet, geschwollen, zuweilen granulirt, in anderen, häufigeren Fällen erscheint die Labyrinthwand schmutzig weiss oder gelblich mit zähem, festhaftendem uft auch durch wiederholte Ausspülungen nicht zu entfernenden Secret oder mit ausgesprochen käsigen übel- riechenden Massen bedeckt, zuweilen ganz nackt. Bei der Unter- suchung mit der Sonde findet man besonders an der Labyrinthwand
cariöse Stellen, theils frei liegend, theils mit leicht blutenden 3*
7 36
Granulationen bedeckt. Die Gehörknöchelchen können, auch bei grossem Defect des Trommelfelles, noch erhalten sein, der Hammer- griff ist dann beträchtlich nach innen und oben retrahirt; in anderen Fällen, wenn das Trommelfell, wie nicht selten, bis auf seine vordere obere Partie zerstört ist, ist nur der kurze Fortsatz des Hammers noch zu erkennen, vom Hammergriff selbst, der auch hier noch er- halten sein kann, aber stark retrahirt oder aber mehr oder weniger cariös zerstört ist, n?@hts zu sehen. Im letzten Falle fehlt natürlich auch der Amboss ganz oder zum grössten Theil, während über den Befund am Steigbügel, wegen seiner versteckten Lage, selten sichere Anhaltspunkte gewonnen werden können. Aus den Obductions- befunden ergiebt sich, dass das Köpfchen und die Schenkel desselben nicht selten vom cariösen Process betroffen resp. ganz zerstört sein können, während die Fussplatte nur wenig in Mitleidenschaft ge- zogen ist und noch fest im ovalen Fenster haftet.
Es mag hier gleich noch eines Symptomes gedacht werden, das in directer aetiologischer Beziehung zur Caries der Paukenhöhlen- wandungen steht, nämlich der Lähmung des N. facialis. Dass die- selbe auch bei den gewöhnlichen Formen der Mittelohrentzündung namentlich den chronischen mit destructiven Knochenprocessen einher- gehenden Mittelohreiterungen vorkommen kann, ist zur Genüge be- kannt, jedoch ist das Procentverhältniss, in welchem sie vorkommt, wie sich z. B. aus den Beobachtungen Bezold’s®?) ergiebt, im Ganzen kein irgendwie erhebliches. Unter 227 acuten und 623 chronischen Mittelohreiterungen, worunter auch Polypenbildungen, Caries und Necrose, Cholesteatom und Otitis media purulenta phthisica eingeschlossen sind, also im Ganzen unter 850 Mittelohreiterungen, die innerhalb dreier Jahre zur Beobachtung kamen, fand sich nur 9mal Facialisparalyse. Danach würde sich die Häufigkeit dieser Laesion bei Otitis media purulenta im Ganzen auf nicht höher als 1°/, beziffern. Bezüglich der Häufigkeit der Gesichtsnervenlihmung in Folge chronischer Mittelohreiterung bei Tuberkulösen liegen keine genaueren Mittheilungen in der einschlägigen Literatur vor, und eigentlich statistisches Material über diese Frage fehlt nahezu ganz.
Habermann (l. c.) beobachtete bei seinen 8 ausführlich mit- getheilten Fällen 3 mal Facialisparalyse, ausserdem wurde noch in
37
drei Fällen durch die Obduction nachgewiesen, dass die Scheide des Nerven schon erkrankt oder die knöcherne Wand des Fall- opischen Canals cariös war; in einem Falle „erstreckte sich die entzündliche Infiltration schon bis zwischen die Nervenbündel“. Ueber kurz oder lang wäre es also auch in diesen Fällen voraussichtlich zu Lähmungserscheinungen gekommen.
Aus meinen eigenen Beobachtungen ergiebt sich, dass unter 200 Fällen von Mittelohreiterungen bei Tuberkulösen 9 mal Gesichts- nervenlähmungen vorkamen, d. h. in 4,5°/, der Fälle. Berücksichtigt man nur die Fälle, bei denen die tuberkulöse Natur der Mittelohr- eiterung unzweifelhaft, sei es im Leben durch den Nachweis von T. B. im Ohrsecret, sei es post mortem durch den Nachweis von Miliartuberkeln festgestellt werden konnte, so steigt das Procent- verhältniss noch sehr erheblich, denn es fallen von den obigen 9 Fällen von Facialisparalyse 8 auf 44 notorisch -tuberkulöse Gehórorgane, d. h. 18,1°/).
Beziiglich des Zeitpunktes, in welchem die Faciklisperalree bei tuberkulösen Mittelohreiterungen einzutreten pflegt, ergiebt sich, dass in 25 Fällen (17 in der Litteratur vorliegenden, 8 von mir selbst beobachteten) die Laesion 17 mal in der letzten ZeitvordemTode (1 Woche bis 4 Monate) auftrat, nur 1 mal 8 Monate, 2 mal 2 Jahre vor demselben constatirt wurde. In den übrigen 5 Fällen, bei denen die Angaben fehlen, handelt es sich ebenfalls um weit vorgeschrittene Fälle von Tuberkulose, die bald nach der Aufnahme in die Kranken- anstalt zur Section kamen.
Ich glaube nach dem Gesagten, sowohl auf Grund meiner eigenen Erfahrung, als auch in Hinsicht auf die, in der Literatur vorliegenden Fälle, sagen zu können, dass die Facialisparalyse ein verhältnissmässig häufig eintretendes Zeichen der tuberkulösen Mittelohreiterung, in specie der durch sie bedingten cariösen Processe ist, und dass sie mit Rück- sicht darauf, dass sie in den meisten Fällen erst in der letzten Zeit vor dem Tode zur Beobachtung kommt, als ein prognostisch recht ungünstiges Symptom angesehen werden muss.
Weniger häufig als die Lähmung des Gesichtsnerven aber prognostisch von noch üblerer Bedeutung, weil direct das Leben ge-
38 fährdend, ist eine ebenfalls durch den in der Paukenhöhle sich ab- spielenden cariösen Process bedingte Erscheinung: Blutung aus dem Ohr, als deren hauptsächlichste Quelle die Carotis anzusehen ist. Eigene Beobachtungen stehen mir hierüber nicht zu Gebote; selbst unter den 90 in den verschiedenen Kliniken längere Zeit beobachteten, zum Theil recht schweren (50 endeten mit dem Tode) Fällen, kam nicht ein einziges Mal Carotisblutung vor und bei den 23 zur Obduction gekommenen Fällen mit 26 afficirten Ohre nbei denen ich die anatomische resp. mikroskopische Untersuchung (letztere an 17 Schläfenbeinen) vornehmen konnte, habe ich eine Läsion der Carotis in ihrem Verlaufe durch den Canalis caroticus nur insoweit gefunden, als in einigen Präparaten die Gefässwand etwas verdickt erschien. Die Anzahl der Fälle, in denen Carotisblutung bei Mittel- ohreiterungen resp. Caries des Felsenbeins zur Beobachtung kommt, ist an und für sich eine sehr geringe. So weit mir die Literatur (s. diese unter No. 33) zugänglich war, habe ich bisher nur 18 einschlägige Fälle verzeichnet gefunden, bei denen profuse, fast ausnahmslos tödtliche Blutung aus dem Ohr erfolgte und durch die Obduction die Ursache in einer Arrosion der Art. carotis interna gefunden wurde. Nurin einem Falle (Broca) erfolgte der Tod erst (21/, Monat) später an Phthisis pulm. Die Blutung war durch Unterbindung der Carotis interna gestillt worden. Ausser diesen 18 Fällen sind noch 8 zu verzeichnen, bei denen zwar die Diagnose auf Blutung aus der Carotis gestellt werden musste, die Obduction jedoch nicht gemacht worden war. Unter diesen 26 Fällen finden sich 10 Phthisiker; imal war Verdacht auf Lungentuberkulose vorhanden; ausserdem sind noch 2 Fälle von Phthisikern zu verzeichnen (Voltolini, Gruber), bei denen zwar eine Blutung aus der Carotis nicht stattgefunden hatte, bei denen jedoch durch die Obduction vollständige cariöse Zerstörung des Canalis caroticus constatirt werden konnte. Wenn man berücksichtigt, dass in 11 weiteren Fällen Angaben über das Allgemeinbefinden der betrefienden Patienten, resp. über den Befund in anderen Organen (Lungen etc.) vollständig fehlen, demnach nur noch 5 Fälle übrig bleiben, bei denen ein aetiologisches Moment für die vorhandene Ohraffection angegeben wurde (2 mal Scharlach, 2mal Syphilis, 1 mal wahrscheinlich Trauma), so ergiebt sich, dass die Mittelohreiterung bei Tuberkulösen-verhältnissmässig häufiger zu tödtlichen
39
Carotisblutungen Veranlassung giebt, als die aus anderen Ursachen entstehende Otitis media purulenta chronica. Der Grund, weshalb viel häufiger der Knochenkanal des Facialis von der tuberkulösen Erkrankung des Mittelohres mitergriffen wird, als der Canalis caroticus ist vielleicht darin zu suchen, dass der erstere aus rein physikalischen Griinden der Infection mehr ausgesetzt ist, indem sich die käsigen Massen in der Paukenhöhle bei den meist bettlägerigen Kranken in den hinteren tiefer liegenden Partien der Paukenhöhle, der Gegend, welche dem Verlaufe des absteigenden Theils des Canalis Fallop. entspricht, leichter ansammeln können, als in der vorderen dem Canalis caroticus entsprechenden Partie. — Dass das Auftreten einer Carotis- blutung prognostisch noch viel ungünstiger zu betrachten ist, als die Facialisparalyse, ergiebt sich aus der Thatsache, dass unter 26 Fällen 23 tödtlich endeten, darunter sämmtliche Fälle bei Tuberkulésen. Nur in einem von diesen letzten wurde zwar die Blutung durch Unterbindung der Carotis gestillt (Broca bei Jolly 33), doch erfolgte 21/, Monat später der Tod an Phthis. pulmon.
Ich habe im Vorhergehenden schon zu wiederholten Malen Ver- anlassung genommen, auf die von mir erhobenen pathologisch-ana- tomischen Befunde, namentlich den mikroskopischen Theil derselben, in einigen Fällen einzugehen. Es war dies nöthig, um den Zu- sammenhang der im Leben beobachteten Erscheinungen des Ohrs mit der Tuberkulose nachzuweisen. Ich will nunmehr noch ganz kurz der bisher in der Literatur vorliegenden pathologisch-anato- mischen Untersuchungen der in Rede stehenden Affection ge- denken, um dann ebenfalls so kurz als möglich über meine eigenen Unter- suchungen zu berichten. Schon in der Einleitung zu dieser Arbeit habe ich auf einige ältere Mittheilungen über den anatomischen Befund bei Mittelohreiterungen Tuberkulöser hingewiesen. Keine derselben ist derart, dass sie uns ein richtiges Bild über die wirklichen tuberkulösen Veränderungen des Mittelohres geben könnte, und selbst spätere Arbeiten, bis zum Jahre 1885 hin, lassen uns diesen Mangel genauer Untersuchung empfinden. Der Grund hierfür ist vor allem darin zu suchen, dass erst im letzten Jahrzehnt die Untersuchungsmethoden, namentlich soweit es sich um die hier in Betracht kommende mikroskopische Technik handelt, dahin ver- bessert wurden, dass wir im Stande sind, alle Theile des Felsen-
40
beines, durch Zerlegung in Schnittserien, auf das genaueste zu durch- forschen; es wird sich zeigen, dass gerade hierdurch es in einzelnen Fällen noch möglich wird, durch Auffindung ganz ver- einzelter tuberkulöser Herde mit Sicherheit die anatomische Diagnose zu stellen. Es braucht nicht noch besonders hervorgehoben zu werden, dass auch die Einführung der bacteriologischen Unter- suchungsmethode uns ganz besonders in der Erkenntniss der vor- liegenden Affection gefördert hat.
Die ersten genauen pathologisch-anatomischen Beobachtungen beim Menschen,namentlich,soweit essich um die Ergebnisse der mikro- skopischen und bacteriologischen Untersuchung handelt, ver- danken wir Habermann, der zuerst im Jahre 1885 (1. c.) über 5 Fälle von Tuberkulose des Mittelohrs berichtete, die er unter 21 histo- logisch genauer untersuchten Gehörorganen tuberkulöser Leichen fand. In sämmtlichen 5 Fällen fand er Miliartuberkel im Mittelohr und in einem Falle auch im inneren Ohr; bei 4 von diesen Fällen fanden sich Tuberkelbacillen im eitrigen Secret des Mittelohrs und bei 4 Fällen wurden dieselben auch im erkrankten Gewebe selbst in grösserer Menge constatirt. Bis zum Jahre 1888 finden sich in der Literatur keine weiteren derartigen Beobachtungen; erst in dem genannten Jahre veröffentlichte Habermann (l. c.) selbst die Er- gebnisse seiner an weiteren 4 Fällen von Tuberkulose des Ohres vorgenommenen Untersuchungen; im Ganzen hatte er unter 17 Schläfenbeinen Tuberkulöser bei 8 Tuberkulose gefunden, doch konnten nur 4 genauer untersucht werden.
Das Studium der ausserordentlich sorgfältigen, die gefundenen Veränderungen mit grosser Genauigkeit wiedergebenden Darstellung Habermann’s kann jedem, sich für den Gegenstand Inieressirenden nur dringend empfohlen werden.
Weitere Mittheilungen über die pathologisch-anatomischen Ver- änderungen bei der Tuberkulose des Ohres liegen von Gon- perz®), Haug*5), Hegetschweiler l. c. und Barnick |]. c. vor. Letzterer hat sein Augenmerk besonders auf die bisher noch un- entschiedene Frage gerichtet, ob histologisch der Beweis zu erbringen sei, dass das erste Eindringen der Tuberkelbacillen in die knöchernen Wandungen oder in die Schleimhaut des Mittelohres vom Blutwege aus erfolgen könne. Zu diesem Zwecke wurden in 16 Fällen die
41
zu untersuchenden Schläfenbeine den Leichen solcher Pat. ent- nommen, welche an einer allgemeinen Miliartuberkulose zu Grunde gegangen waren, die sich an eine primäre Tuberkulose der Lymph- drüsen und in einem Falle an einen Solitärtuberkel der rechten Kleinhirnhemisphire anschloss. In 5 von diesen 16 Fällen konnte eine auf dem Blutwege entstandene Tuberkulose des Gehörorgans nachgewiesen werden. Ausserdem glaubt Verf. auch durch seine Untersuchungen die Frage der Entscheidung näher gebracht zu haben, ob die Tuberkulose des Warzenfortsatzes zumeist erst durch eine Miliartuberkulose hervorgerufen werde, oder ob der Process primär ossaler Natur sei. Das Ergebniss von Verf.’s histologischen Untersuchungen, gestützt durch klinische Beobachtungen, spricht dafür, dass die tuberkulösen Ostitiden des Schläfenbeins wahr- scheinlich häufiger vorkommen, als man bisher anzunehmen ge- neigt war.
Was meine eigenen Erfahrungen anlangt, so habe ich unter den oben erwähnten 90 in den verschiedenen stationären Kliniken beobachteten Fällen von Mittelohreiterung bei Tuberkulösen die pathologisch-anatomische Untersuchung von 26 Schläfen- beinen bei 23 Leichen vornehmen können. NeunSchläfen- beine wurden nur makroskopisch, 17 auch mikroskopisch untersucht. Bei den nur makroskopisch untersuchten Fällen fanden sich überall sehr ausgedehnte Zerstörungen im Mittelohr und zum Theil auch im Labyrinth. Die Zerstörung betraf in allen Fällen nicht allein die Weichtheile, sondern auch den Knochen. Im Wesentlichen stimmen die Ergebnisse dieser makroskopischen Untersuchungen mit denjenigen überein, wie sie von verschiedenen Autoren bereits früher ausführlich beschrieben worden sind (Bezold, Habermann, Hegetschweiler u. A.). Auf Einzel- heiten einzugehen, glaube ich deshalb verzichten zu können. Dass es sich in den betreffenden Fällen wirklich um Tuberkulose des Ohres gehandelt hatte, wurde durch den Nachweis von Tuberkelbacillen in den käsigen Massen des Mittelohres, wenigstens für 8 von den 9 Fällen, bewiesen; in dem 9. Falle waren bei Leb- zeiten keine Tuberkelbacillen im Secret des Ohres gefunden worden und über den eventuellen Nachweis derselben in der Leiche finde ich in dem Journal keine Notiz. Die tuberkulöse Natur dieses Falles
42
muss desshalb, wenn auch sonst der Befund mit dem bei den übrigen erhobenen übereinstimmt, unentschieden bleiben.
Unter den 17 Felsenbeinen, welche mikroskopisch untersucht werden konnten, wurde 8 mal Tuberkulose nachgewiesen, in den übrigen 9 fanden sich, obgleich dieselben in Serienschnitten unter- sucht wurden, keinerlei für Tuberkulose characteristische Veränder- ungen. Es ergiebt sich also, wie bereits oben erwähnt, dass unter den 26 anatomisch untersuchten Felsenbeinen tuberkulöser Personen (die tuberkulöse Natur des Allgemeinleidens war in allen Fällen durch die Obduktion festgestellt worden), die mit Mittelohreiterung behaftet waren, bei 16 mit Sicher- heit die Affection auf Tuberkulose zurückgeführt werden konnte, während bei 10 es sich theils um einfache chronische Eiterungsprocesse, theils um solche mit Betheiligung des Knochens handelte. Bezüglich des mikroskopischen Befundes am Felsenbein sind 2 meiner Fälle von besonderem Interesse, weil sie Anfangs- stadien der Tuberkulose des Mittelohres repräsentiren, wie sie bisher nur ganz vereinzelt (Fall 1 von Barnick |. c. und Fall 6a von Habermann) zur Beobachtung gekommen sind.
Der eine dieser Fälle ist bereits oben S.22 (Weiss) ausführlich mitgetheilt worden; der zweite (Czimney, S. 29 kurz erwähnt) betrifft einen 1'/,jährigen Knaben, der vom 9. Juni bis 24. December 1891 wegen Scrophulose im Krankenhause am Urban behandelt und gebessert entlassen worden war. Bei der Aufnahme wareitrige Otitis media beiderseits constatirt worden, bei der Entlassung bestand nur noch Ohrenlaufen rechterseits. Am 3. Januar 1892 wurde der Knabe wieder aufgenommen mit Otitis media purulenta dextra, Stomatitis, Speichelfluss. Am linken Ohr bestand ein nässendes Ekzem; starke Drüsenschwellung am Halse. Vom 17. Januar ab hohes intermittirendes Fieber, das am 21. in hohes remittirendes übergeht. Am selben Tage wird eine Pneumonia lobaris dextra constatirt, über der linken Lungen- spitze (hinten oben) spärliches Rasseln. Das Ekzem am linken Ohr abgeheilt, Gehörgang frei, ohne eitriges Secret, keine Perforation des Trommelfelles; rechts eitriges Secret im Ohr, das weder Tuberkelbacillen noch andere Mikroorganismen enthält, grosse Perforation des Trommelfelles. Exitus letal. am 26. Januar 1892. Bei der Obduction fand sich in der rechten Lunge unbedeutendes Hypervolumen und gleichmässig feste, leberartige Consistenz. Auf dem Durchschnitte zeigt das infiltrirte Lungenparenchym eine hellbräunlichrothe, glatte und feuchte, dem Durch- schnittsbilde einer gelatinösen Infiltration ähnelnde, aber weniger durchscheinende Schnittfläche. Innerhalb dieser gleichmässigen Infiltration feinste submiliare Tu- berkel in mässig grosser Zahl eingepflanzt. In der linken Lunge einige käsige Knoten bis Wallnussgrósse im Unterlappen, in der Spitze kleinapfelgrosse, mit
A3
Käsemassen erfüllte Caverne. Im Käseherde und in den Miliartuberkeln mässig reich- liche Tuberkelbacillen. — Beide Felsenbeine äusserlich intact. Bei der mikrosko- pischen Untersuchung der in Müller’scher Flüssigkeit gehärteten, in 5°/ iger Salpetersäure entkalkten und nach Einbettung in Celloidin in Serienschnitte zer- legten Felsenbeine fand sich rechts nur eitrige Entzündung, nirgends Tuberkulose,
links dagegen folgendes:
Die Tuba in ihrer ganzen Ausdehnung frei von Tuberkulose, nur in der Schleimhaut des knöchernen Theiles hie und da kleinzellige Infiltration bei voll- ständig erhaltenem Epithel. Das Trommelfell in der Cutisschicht stark vascularisirt, kleinzellig infiltrirt; in der Schleimhautschicht überall zerstreut, besonders in der oberen, vorderen Partie zahlreiche Miliartuberkel mit typischen Langhanns'schen Riesenzellen und zwar überall in der oberflächlichen Partie der Schleimhautschicht gelegen; die letztere zeigt sich an einzelnen Stellen ulcerirt und, ebenfalls nur in den oberflächlichen Partien, verkist. Hie und da erscheint die Schleimhaut stark geschwollen, diffus kleinzellig infiltrirt und mit der Schleimhaut der La- byrinthwand verschmolzen. Die Membrana propria ist fast durchaus unverändert, nur findet sich an einer kleinen Stelle dicht hinter dem Umbo eine Partie, an welcher die Fasern dieser Membran fehlen. Nach oben von dieser Stelle enden die Radiärfasern der Membrana propria in der Weise, dass sie nach innen hin umgeschlagen erscheinen. (Narbe.) In der die Gehörknöchelchen umgebenden Schleimhaut finden sich ebenfalls zahlreiche typische Miliartuberkel, ebenso im Cavum epitympanicum. Dasselbe gilt von der stark geschwollenen Schleimhaut in den Nischen des ovalen und runden Fensters. Am Boden der Paukenhöhle ist die Affection nur gering. Im Aditus ad antrum ganz vereinzelte Miliartuberkel mit Riesen- zellen, die Schleimhaut des Antrum selbst ganz intact. Ebenso findet sich am Knochen nirgends eine Spur krankhafter Veränderung und zwar weder im Proc. mast. noch in der Paukenhöhle, noch auch im Labyrinth. Auch die häutigen Theile des letzteren sind frei von tuberkulösen Veränderungen. In der Nerven- scheide des N. acusticus zahlreiche Corpora amylacea. Die Blutgefässe meist stark gefüllt.
Auf eine ausführliche Wiedergabe des mikroskopischen Befundes in den übrigen, weiter vorgeschrittenen (6) Fällen kann ich an dieser Stelle wohl verzichten (die Veröffentlichung derselben soll anderweitig erfolgen); es genüge hier das Ergebniss aller 8 Fälle in kurzer Zusammenfassung zu verzeichnen. Fassen wir zunächst die Localisation der Tuberkulose im Ohr ins Auge, so fand ich, dass die Tuba Eustachii in ihrem knorpeligen Theile im Wesent- lichen frei von pathologischen Veränderungen war (wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass dieser Theil des Gehörorganes nur in wenigen Fällen an den Präparaten vorhanden war), und dass
44
auch die knécherne Tuba, ausser einer mässigen, kleinzelligen Infiltration an den meisten Präparaten, keine tiefergehenden Lae- sionen, speciell keine Tuberkulose zeigte; nur in einem Falle zeigte sich in der medialen Wand der Tympanalmündung eine kleine cariöse Stelle, die auch auf die vordere Partie der Innenwand der Pauken- höhle übergegriffen und hier schon zur tieferen Zerstörung des Knochens bis gegen die Spitzenwindung der Schnecke hin geführt hat. — Das Trommelfell war in allen Fällen an dem Kraukheitsprozess betheiligt und zwar fand sich nicht allein in den Frühstadien, sondern auch überall da, wo nur noch Reste des Trommelfelles er- halten waren, eine beträchtliche Verdickung und kleinzellige In- filtration der Cutis- und Schleimhautschicht. In den beiden Fällen, welche die Anfangsstadien des tuberkulösen Processes repräsentiren, zeigte sich in der Cutisschicht eine ganz auffallend starke Vasculari- sation; die Schleimhautschicht war in dem einen Fall nur diffus kleinzellig infiltrirt, ohne deutliche Bildung circumscripter Miliar- tuberkel, aber mit ziemlich zahlreich eingestreuten Riesenzellen durchsetzt. In dem anderen Falle fanden sich deutlich abgegrenzte mit Riesenzellen versehene Miliartuberkel in der Schleimhautschicht des Trommelfelles, die übrigens an einzelnen Stellen bereits ober- flächlich ulcerirt resp. verkäst erschien. Die Membrana propria war an dem einen der beiden in Rede stehenden Praeparate vollkommen intact, während in dem anderen sich in der Gegend dicht hinter dem Umbo eine kleine Stelle fand, an welcher die Membrana pro- pria fehlte. An der oberen Partie dieser als Narbe aufzufassenden Stelle schlugen sich die Radiárfasern der Membrana propria nach innen um. Dieser Befund lässt darauf schliessen, dass bereits früher eine einfache Otitis media be- standen hatte (wie auf dem anderen Ohr desselben Kindes), die zur Heilung kam. Sehr stark betheiligt und überall deutliche Miliar- tuberkeln mit Riesenzellen zeigend, erwies sich die Schleimhaut in der Umgebung der Gehörknöchelchen und an den v. Tröltsch’schen Taschen, ebenso in den Nischen des ovalen und runden Fensters. In den beiden Fällen von frischer Tuberkulose waren die tuberkulösen Veränderungen hauptsächlich nur in der oberflächlichen Partie der Schleimhaut, sowohl am Trommelfell als auch in den übrigen Partien der Paukenhöhle nachweisbar, während die tieferliegenden Schichten
45
sich an den meisten Stellen ganz intact erwiesen, an anderen nur eine ganz geringe kleinzellige Infiltration zeigten.
In den Fallen von weiter vorgeschrittener Affection reichte die tuberkulöse Infiltration auch in die tiefen Schichten der Schleimhaut hinein und in einem Falle war überhaupt kaum noch ein Rest der- selben erhalten. Der Nachweis von Miliartuberkeln in diesem Falle war nur dadurch möglich, dass das ganze Präparat in Serienschnitten untersucht wurde, von denen nur einige wenige diese specifischen Producte der Tuberkulose er- kennen liessen. Die überall durch Caries mehr oder weniger zer- störten knöchernen Wandungen der Paukenhöhle waren theils mit käsigen, Tuberkelbacillen enthaltenden Massen, theils mit tief in den Knochen hinein sich erstreckendem Granulationsgewebe bedeckt.
Die Gehörknöchelchen waren in den beiden frischen Fällen vollkommen gut erhalten, in den andern Fällen in grösserer oder geringerer Ausdehnung zerstört, und zwar war in allen Prä- paraten der Hammergriff von der Zerstörung betroffen, in einem Falle fand sich an seiner Stelle ein, der Gestalt desselben voll- kommen entsprechendes Granulationsgewebe; demnächst waren am häufigsten zerstört die Schenkel des Steigbügels und der lange Fort- satz des Amboss. Wohl erhalten, wenn auch hier und da ober- flächlich cariös, waren zumeist der Kopf des Hammers und der Körper des Amboss. Nur in einem Falle waren Hammer und Am- boss ganz zerstört, ebenso die Schenkel des Steigbiigels. Die Fuss- platte des Steigbügels war in fast allen Fällen intact, nur in einem Falle mit ausgedehnter Zerstörung der Paukenhöhlenschleimhaut war das Ligamentum annulare der Stapesplatte an seinem unteren Um- fange zerstört; durch den Defect hindurch wucherte Granulations- gewebe von der Nische des ovalen Fensters aus in das Vestibulum hinein. In demselben Falle war, ebenso wie in einem anderen, auch ein Theil der Membr. tympan. secundaria zerstört und an der betreffenden Stelle Granulationsgewebe aus der Nische des runden Fensters iu die Basalwindung der Schnecke hineingewuchert. Der Warzenfortsatz war in den 8 hier in Rede stehenden Fällen in ver- schiedener Weise betheiligt: Während in einem Falle (Czimney) im Antrum mastoideum und den übrigen Zellräumen, keinerlei patho-
46
logische Veränderungen nachweisbar waren, das Auftreten vereinzelter Miliartuberkel mit typischen Langhanns’schen Riesenzellen im aditus ad antrum aber bereits darauf hindeutete, dass in kurzer Zeit auch sie von der tuberkulösen Infection würden betroffen worden sein, fanden sich in einem anderen Fall (Weiss), der ebenso wie der vorige als frische Mittelohrtuberkulose, wie schon wiederholt hervorgehoben, aufzufassen war, im Antrum bereits käsige Massen, die Schleimhaut oberflächlich ulcerirt, in den übrigen Zellräumen des Proc. mast. jedoch noch keine Veränderungen. Der Knochen war in beiden Fällen vollkommen intact. In zwei anderen Fällen fand sich die Schleimhaut des Antrums, in geringem Grade auch die der übrigen Zellräume, an verschiedenen Stellen diffus kleinzellig infiltrirt, an anderen Stellen sah man wohl characterisirte Miliartuberkel mit Riesenzellen, das Epithel zum Theil noch gut erhalten, an anderen Partien oberflächliche Ulcerationen und Verkäsung der Schleimhaut; in zwei anderen Fällen Antrum und Zellräume mit Granulations- massen erfüllt, in denen Miliartuberkel mit Riesenzellen zerstreut sich fanden. Nur an ganz vereinzelten Stellen ist eine tiefer gehende, bis zum Knochen reichende Zerstörung der Schleimhaut nachzuweisen, der Knochen selbst nur oberflächlich arrodirt. In den beiden letzten Fällen sind das Antrum und die übrigen Zellräume mit käsigen Massen erfüllt, die Schleimhaut zum grossen Theil zerstört, da, wo sie erhalten ist, zeigen sich vereinzelte, meist mehr oder weniger verkäste Miliartuberkel Der Knochen an zahlreichen Stellen cariös, mit Granulationsgewebe oder käsiger Masse bedeckt; in einem Falle finden sich auch in den Markräumen des Felsen- beines verkäste Tuberkel. Die knöchernen Wandungen der Paukenhöhle selbst erwiesen sich, wie schon erwähnt, in den beiden Fällen von frischer Tuberkulose vollkommen intact, in den übrigen sechs Fällen waren sie in grösserer oder geringerer Aus- dehnung in den Krankheitsprocess hineingezogen. Ueber dem Pro- montorium war in den meisten Fällen (5) die Schleimhaut zerstört, der Knochen freiliegend und zwar, wie in drei Fällen nur ober- flächlich arrodirt, deutliche Howship’sche Lakunen mit Osteo- klasten zeigend, oder wie in zwei anderen Fällen vollständig zerstört, durch Granulationsgewebe ersetzt, das bis dicht an die Basalwindung der Schnecke resp. die periostale Auskleidung derselben heranreicht.
47
In vier Fällen hat sich die cariöse Zerstörung des Knochens weiter nach hinten hin ausgebreitet und namentlich die äussere Wand des absteigenden Theils des Canalis Fallopii mit einbegriffen, in zweien dieser Fälle ist der Nerv. facial. selbst, abgesehen von einer Verdickung der Nervenscheide, noch frei von Veränderungen geblieben, während in den beiden anderen Fällen derselbe in seinem Verlauf durch die Paukenhöhle in grosser Ausdehnung zerstört, durch Granulationsgewebe ersetzt is. Vom Ganglion geniculi bis zum Eintritt des Nerven in den Porus acusticus internus ist derselbe auch in diesen Fällen, wie in allen übrigen, intact. Am Tegmen tympani fand sich nur in-einem der 8 Fälle eine Veränderung am Knochen. Derselbe war hier in 10-Pfennigstückgrösse durch Caries zerstört. Die betreffende Stelle der Dura missfarbig mit zähen Massen bedeckt. Pia intact. (In einem der nur makroskopisch untersuchten Fälle fand sich eine sehr ausgebreitete Caries necrotica an der vorderen und hintern Fläche des Felsenbeines mit entsprechender Pachymengitis externa; auch hier die Pia frei. Im Secret der Paukenhöhle massenhaft Tuberkel- Bacillen). Am Boden der Paukenhöhle war in 4 der vorgeschrittenen Fälle der Knochen von Schleimhaut entblösst und zum Theil mehr oder weniger arrodirt. In einem einzigen Falle fand sich cariöse Zerstörung der knöchernen Kapsel eines horizontalen (des halbcirkelfórmigen) Kanals in der Gegend dicht hinter dem vom Canalis facialis gebildeten Wulste. Zahlreiche mikroskopische Sequester fanden sich in diesen 4 Fällen in den käsigen Massen der Paukenhöhle. Caries des äussern Gehörganges fand sich in 2 Fällen. — Bezüglich der pathologischen Veränderungen am Labyrinth ergiebt sich schon aus dem Gesagten, dass die knöcherne Kapsel desselben in 3 Fällen und zwar nur an circumsripten Partien: zweimal über der Basalwindung der Schnecke einmal über Spitzen- und Mittelwindung und zugleich über dem äusseren halbcirkelfórmigen Kanal durch Caries zerstört war, während in zwei anderen Fällen sich nur oberflächliche Arrosion nachweisen liess, und in drei Fällen der Knochen ganz intact war. In diesen letzten drei Fällen war auch im häutigen Labyrinthe ausser einer stärkeren Füllung der Blutgefässe keinerlei Veränderung erkennbar, das Corti’sche Organ sogar auf den meisten Schnitten verhältnissmässig gut erhalten, jedenfalls frei von pathologischen Veränderungen. In dem einen Falle der an verschiedenen Stellen
48
cariöse Zerstörung der Labyrinthkapsel zeigte, war nichts desto- weniger die häutige Schnecke selbst und ebenso die häutigen halb- cirkelfórmigen Kanäle noch intact, während in den anderen Fällen schon mehr weniger vorgeschrittene pathologische Veränderungen sich fanden.
Im Wesentlichen handelte es sich hierbei um Einwucherungen von Granulationsgewebe in die Basalwindung der Schnecke durch die zum Theil zerstörte Membr. tympani secundaria in einem Falle, um denselben Process bei theilweiser Zerstörung des Lig. annulare bas. staped. in die Cysterna perilymphatica hinein in einem anderen. Der Ductus cochlearis fand sich nur in einem Falle mit käsigen Massen erfüllt. Die Membrana Reissneri in einzelnen Präparaten verdickt. In den halbcirkelförmigen Kanälen nur ganz vereinzelt klein- zellige Infiltration in den Bindegewebssträngen der perilympha- tischen Räume. Auch im Stamme des N, acusticus hie und da geringe kleinzellige Infiltration.
Bezüglich der Pathogenese ergiebt sich aus meinen Beobach- tungen, namentlich soweit sie sich auf die mehrfach erwähnten 2 Fälle von Tuberkulose des Mittelohrs im Anfangsstadium beziehen, dass, wie dies bereits von Habermann hervorgehoben worden ist, der Prozess zuerst die Schleimhautoberfläche befällt und erst von hier aus in die tieferen Schichten resp. in den Knochen vordringt. Namentlich muss betont werden, dass auch am Proc. mast., selbst in schon weiter vorgeschrittenen Fällen, der Process zuerst die Schleimhaut befällt und dann erst weiter auf den Knochen übergreift, ein Umstand, der die von einigen Chirurgen (Küster u. A.) vertretene Anschauung widerlegt, wonach die Tuberkulose des Ohrs zumeist vom Knochen ausgehe.
Dass jedoch der Prozess auch als tuberkulöse Ostitis des Schläfenbeines beginnen kann, dafür sprechen die bereits oben erwähnten Beobachtungen Barnick’s, durch welche, wie ebenfalls schon hervorgehoben wurde, der Nachweis geliefert werden konnte, dass das erste Eindringen der Tuberkelbacillen in die knöchernen Wandungen oder in die Schleimhaut des Mittelohrs vom Blutwege aus erfolgen .kónne. Meine eigenen Beobachtungen, sowie auch die oben erwähnten von Habermann, geben für diesen
49
\
Entstehungsmodus keinen Anhaltspunkt, vielmehr muss, mit Riick- sicht auf die in allen diesen Fällen nachgewiesene Tuberkulose des Respirations- resp. Verdauungsapparates, angenommen werden, dass die Einwanderung der Tuberkelbacillen von diesen aus durch die Tuba Eustachii in die Schleimhaut der Pauken- höhle stattgefunden habe, während in den Fällen Barnick’s es sich um allgemeine Miliartuberkulose handelte, die sich an primäre Tuberkulose der Lymphdrüsen anschloss.
Auf einen Punkt, der für die Differential- Diagnose zwischen tuber- kulöser Mittelohreiterungund solcher ausanderen Ursachen entstandenen von Wichtigkelt ist, mag hier auf Grund des mikroskopischen Befundes noch hingewiesen werden. Ich habe bereits oben betont, dass in denjenigen Fällen, bei denen in sehr kurzer Zeit ein rapider Zerfall des Trommelfelles bei tuberkulösen Personen eintritt, die Diagnose auf tuberkulöse $ Mittelohreiterung gestellt werden darf, selbst wenn bei wiederholter Untersuchung des Ohrensecretes niemals Tuberkelbacillen nachgewiesen werden konnten. Es kann nun auch bei der Obduction selbst seine Schwierigkeiten haben, die specifischen Producte der Tuberkulose nachzuweisen, wenn die Zerstörung eine schon sehr weit vorgeschrittene ist. Wie ich in dem einen der oben kurz erwähnten Fälle meiner eigenen Beobachtung hervorgehoben habe, war es mir nur in Folge sorgfältigster Untersuchung an Serienschnitten möglich, einige wenige Miliartuberkel aufzufinden. Dass auch der letzte Rest dieser specifischen Producte der Tuberkulose schliesslich käsig zerfallen kann, so dass bei der Untersuchung nur käsige Massen und nekrotische Knochentheile sich finden, kann wohl kaum bezweifelt werden und es ist desshalb jedenfalls nicht richtig, wie dies von einigen Autoren geschieht, in derartigen Fällen den tuberkulösen Character der Ohraffection in Abrede zu stellen, wenn nicht wenigstens Tuberkelbacillen sich in den käsigen Massen nachweisen lassen. Es ist bereits oben betont worden, dass das Fehlen derselben ebensowenig wie bei tuberkulösen Knochenaffectionen an anderen Stellen des Körpers etwas gegen die tuberkulöse Natur der Krankheit beweisen kann. Der klinische Verlauf allein ist es, der in solchen Fällen die Diagnose sichern kann.
Die Prognose der tuberkulösen Mittelohreiterungen ist, wie aus dem bisher Gesagten schon hervorgeht, quaod sanationem, eine
4
50
recht ungünstige. Vollständige Heilung, wie ich sie in dem einen oben mitgetheilten Falle (unter Tuberkulinbehandlung) beobachtet habe, gehört jedenfalls zu den Seltenheiten; auch eine relative Heilung, d. h. Sistiren der Eiterung mit oder ohne narbigen Ver- schluss der Perforation und bleibender hochgradiger Herabsetzung der Hörfähigkeit dürfte nur selten vorkommen. Ein Beispiel dafür habe ich ebenfalls (S.30) oben mitgetheilt. Häufiger sind schon die Fälle, in denen der Process eine Zeit lang, zuweilen eine ganze Reihe von Jahren, stationär bleibt und dann erst, meist mit auffallender Ver- schlechterung der Allgemeinerkrankung, rapide fortschreitet. Pro- gnostisch am ungünstigsten sind natürlich die Fälle, bei denen von vornherein ein rapider Zerfall des Trommelfelles beobachtet wird, Fälle, bei denen auch das Allgemeinbefinden bereits ein sehr schlechtes ist, Fieber und Nachtschweisse den Kranken herunter- gebracht haben. Das Auftreten einer Facialisparalyse ist ein prognostisch ganz besonders ungünstiges Zeichen, da sie, wie wir gesehen haben, gewöhnlich nur bei sehr herabgekommenen Kranken sub finem vitae einzutreten pflegt. Die glücklicher Weise nur seltene Blutung aus der Carotis führt nahezu immer den tödtlichen Ausgang herbei. Abgesehen von dieser letzten Eventualität scheint jedoch die Ohrenaffection selbst nur ganz ausnahmsweise den Exitus letalis zu veranlassen. Dass eine tuberkulöse Mittelohreiterung, ebenso wie ein tuberkulöser Process in der Lunge, dem Darmkanal etc. schliesslich zu einer allgemeinen Miliartuberkulose Veranlassung geben kann, bedarf keiner weiteren Erörterung, der Beweis jedoch, dass dies im concreten Fall sich so verhalten habe, dürfte kaum zu erbringen sein, da eine für sich allein bestehende Tuberkulose des Ohres bisher. meines Wissens, nicht beobachtet worden ist.
Die Möglichkeit eines durch die Ohraffection bedingten letalen Ausganges ist ferner gegeben, wenn dieselbe auf das Gehirn, die Hirnhäute oder die grossen Blutleiter übergeht. Auch dieser Ueber- gang scheint, soweit die in der Literatur vorliegenden Obductionsbe- funde ersehen lassen, kein allzu häufiger zu sein und auch meine eigenen . Beobachtungen stimmen damit überein. Die Wege, auf welchen dieser Uebergang erfolgen kann, sind verschieden. Zunächst ist, wie sich aus dem, was wir über den pathologisch-anatomischen Befund gesagt haben, ergiebt ohne weiteres klar, dass der Process sich von der Pauken-
51
höhle aus auf das Labyrinth und von hier auf den verschiedensten Wegen, sei es vom Knochen, sei es vom Porus acusticus internus im Verlaufe des N. acusticus oder auch im Verlaufe des N. facialis auf die Meningen fortpflanzen kann. Ferner gewinnt, wie bereits Körner 3”) hervorgehoben hat, durch die Auffindung von Tuberkel- knötchen in der Adventitia der Carotis (Habermann, 1l. c.) die An- nahme von Pitt an Wahrscheinlichkeit, dass sich die Tuberkulose von der Paukenhöhle aus längs der Gefässe auf die Pia fortpflanzen könne. Bemerkenswerth ist, dass auch die Wege, von denen man annehmen sollte, dass sie nach Analogie der durch andere Ursachen bedingten chronischen Mittelohreiterungen, am häufigsten zum Ueber- gang auf die Meningen führen, nämlich der durch das Tegmen tym- pani resp. Antri mastoidei auf die mittlere Schädelgrube und der vom Sulcus transversus aus auf den Sinus transvers. resp. die hintere Schädelgrube pathologisch-anatomisch verhältnissmässig selten nach- gewiesen werden können. Aus meinen eigenen Beobachtungen er- giebt sich, dass von den wiederholt erwähnten 90 in den verschiedenen Krankenanstalten von mir untersuchten Fällen von Mittelohreiterung bei Tuberkulösen nureinmal der tödtliche Ausgang durch Thrombo phlebitis des Sinus transversus erfolgt war. In den dem Sinus entnommenen jauchigen Massen fanden sich, obgleich bei Lebzeiten und auch in der Leiche in dem Paukenhöhlensecret Tuberkel- bacillen nachgewiesen worden waren, lediglich Streptocokken neben nicht näher bestimmten Stäbchen, keine Tuberkelbacillen. Am Sulcus transversus wie auch sonst im Mittelohr ausgebreitete cariöse Zer- störung. |
In zwei weiteren Fällen wurden bei ebenfalls weit vorgeschrit- tener Caries am Tegmen tympani resp. auch am Tegmen ' antri und am Sulcus transversus nur an den entspechenden Partien der Dura Granulationen und schmutzig gelbe, der Dura fest anhaftende Auflagerungen gefunden (Pachymeningitis externa), während die Pia selbst frei war. Auch bei diesen beiden Fällen waren im Ohrsecret bei Lebzeiten Tuberkelbacillen und zwar in grosser Menge gefunden worden. Schliesslich sind 16 Fälle zu er- wähnen, bei denen die Obduction Meningitis tuberculosa als Todes- ursache angab. Davon betreffen 6 solche, bei denen die tuberkulöse
Natur des Ohrenleidens mit Sicherheit, sei es durch den Nachweis 4*
52
von Tuberkelbacillen im Ohrsecret, sei es durch den von typischen Tuberkeln, bewiesen war. Aber in allen diesen Fällen war, ebenso wie bei den übrigen 10, wo dieser Nachweis für das Ohr nicht geführt werden konnte, das Felsenbein äusserlich intact, keine Spur von Caries zu entdecken, so dass also jedenfalls ein directer, durch Contact bedingter Uebergang des tuberkulösen Mittelohrprocesses auf die Meningen nicht angenommen werden kann. Dass jedoch ein solcher vorkommen kann, unterliegt nach einigen in der Literatur mitgetheilten Fällen, von denen besonders ein von Kórner*8) beobachteter zu er- wähnen ist, keinem Zweifel. Dain den oben erwähnten Fällen meiner eigenen Beobachtungen auch eine Fortpflanzung durch den Porus acusticus internus nicht nachzuweisen war, so bleibt nur die An- nahme, dass die Meningitis als Folgeerscheinung der Allgemein- erkrankung anzusehen war, wenn natürlich auch nicht mit Sicherheit in Abrede gestellt werden kann, dass die Infection von dem tuber- kulösen Prozess der Paukenhöhle aus auf dem Wege der Blut- resp. Lymphbahnen erfolgt sei.
Die Behandlung der tuberkulösen Mittelohreiterungen ist, wie aus all’ dem Gesagten hervorgeht, keine sehr dankbare Aufgabe für den Arzt. Unter Berücksichtigung dessen, was wir oben über die Diagnose gesagt haben, dass nämlich trotz fehlenden Nachweises von Tuberkelbacillen im Obrsecret und selbst wenn der Verlauf der Ohrerkrankung nicht den bekannten typischen Character hat, die Affection doch auf tuberkulöser Basis beruhen kann, werden wir in allen Fällen von Mittelohreiterung bei Tuberkulösen an die Mög- lichkeit dieses ätiologischen Zusammenhanges denken und unsere Behandlung danach einrichten müssen. Demnach ist es ganz selbst- verständlich, dass eine möglichste Besserung des Allgemein- befindens, je nach den vorhandenen Indicationen, anzustreben ist; man wird gar nicht selten, wenn dabei eine sorgfältige lokale Behandlung des Ohres eingeleitet wird, eine Besserung in der Er- krankung des letzteren, zuweilen einen auf Jahre hinaus anhaltenden Stillstand constatiren und in, freilich nur sehr seltenen Fällen, auch Heilung erzielen können. Es braucht nicht besonders hervorgehoben zu werden, dass diese günstigen Eventualitäten um so eher dann zu erwarten sind, je weniger vorgeschritten die Allgemeinerkrankung ist.
Namentlich bieten diejenigen Formen der Ohrtuberkulose, die
53
unter dem Bilde der acuten Mittelohreiterung bei sonst noch kräftigen Personen auftreten, die verhältnissmässig besten Chancen der Heilung. Hier genügt es, neben der Allgemeinbehandlung, für gehörigen Ab- fluss des eitrigen Secretes durch zweckmässige Drainage mittelst steriler Gaze bei täglich 1—2 mal zu wiederholenden Ausspülungen mit abgekochtem lauem Wasser zu sorgen. Eine Restitutio in integrum kann, wenn auch nur ausnahmsweise, auf diese Weise erzielt werden. Häufiger wird es geschehen, dass die Secretion unter dieser Be- handlung nicht sistirt, die Perforation sich mehr oder weniger ver- grössert und nebenbei auch das Secret einen üblen Geruch annimmt. In solchen Fällen empfiehlt es sich, die Ausspülungen mit schwacher Carbollösung (1°/,) vorzunehmen und statt der sterilen Gaze Jodo- formgaze zur Drainage zu verwenden. Beim Vorhandensein einer grösseren Perforation leisten Einpulverungen von Borsäure (Acid. bor. subtil. pulver.) nach vorausgegangener Ausspülung und sorg- fältiger Austrocknung des Ohres unter Leitung des Spiegels gute Dienste. In dem einen meiner Fälle (S. 31) führte diese Be- handlungsmethode zu einer pp. 4 Jahre lang controlirten relativen Heilung (Beseitigung der Secretion und Schluss der Perforation). Wo zähe, den Mittelohrwandungen fest anhaftende Secretmassen sich finden, die durch Ausspülungen nur schwer zu beseitigen sind, haben mir vorherige, 1—2 mal täglich zu wiederholende Einträu- felungen von 5°/, Carbolglycerin oft recht gute Dienste geleistet, insofern als nachher die betreffenden Massen leicht durch Ausspritzen zu entfernen waren und nun die früher erwähnte Behandlungsmethode mit Vortheil angewendet werden konnte. Wo Granulationen im äussern Gehörgang oder in der Paukenhöhle sich finden, sind dieselben durch Aetzung mit Chromsäure in Substanz, von welcher ein kleiner Krystall an die Silbersonde angeschmolzen wird, (auch das Ein- tauchen der Sondenspitze in Acid. chrom. liquef. genügt) zu beseitigen. Grosse polypöse Massen müssen mit der Wilde’schen Schlinge ex- stirpirt werden. Wenn mit dieser Behandlung ein Erfolg nicht zu erzielen ist, wenn ferner im weiteren Verlaufe Erscheinungen auf- treten, welche auf ein Uebergreifen des Processes auf den Knochen schliessen lassen, dann wird die Frage an uns herantreten, ob wir, wie dies bei den gewöhnlichen chronischen Mittelohreiterungen neuerdings, und zwar recht oft mit günstigem Resultate geschieht,
54
die Ausräumung des Mittelohrs durch die Radicaloperation vornehmen sollen. Selbstverständlich ist die Beantwortung dieser Frage von dem Allgemeinbefinden des Kranken abhängig. Wo dasselbe ein gutes oder wenigstens relativ gutes ist, während die Erscheinungen Seitens des Ohrs, namentlich durch Caries bedingte anhaltende Schmerzen den Kranken sehr belästigen, da wird man zweifel- los zu dem operativen Eingriff berechtigt sein, selbst wenn man dem Kranken nicht mit Sicherheit eine vollständige Aus- heilung seines Ohrenleidens versprechen kann. Dass derartige Heilungen auf operativem Wege zu erzielen sind, dafür liegen in der Literatur einige Beispiele vor. Ich erinnere nur an den bereits im Jahre 1886 von Schwartze auf der Naturforscherversammlung in Berlin in der otologischen Section vorgestellten Fall, der von Rhoden und Kretsch- mann??) später ausführlich beschrieben wurde. Freilich scheinen derartige Fälle zu den Ausnabmen zu gehören; zumeist schreitet der Process trotz der Operation, allenfalls nach einer längeren oder kürzeren Zeit des Stillstandes, ebenso wie das Allgemeinleiden, weiter fort, zumeist ohne, wie bereits oben hervorgehoben, seinerseits eine Ursache zum letalen Ausgang abzugeben. Am günstigsten scheinen die Verhältnisse da zu liegen, wo es sich um primäre Tuberkulose der Pars mastoidea handelt, die, wie aus einigen Beobachtungen zu schliessen ist, durch die Operation vollständig geheilt werden kann.
Ganz aussichtslos und jeder Behandlung trotzend sind die Fälle mit rapid fortschreitendem Zerfall des Trommelfelles bei Kranken, die durch das Allgemeinleiden schon sehr heruntergekommen sind; ein operativer Eingriff wäre bei ihnen nicht zu rechtfertigen.
Literatur.
1) Hamernyk, Ueber Taubheit und halbseitige Gesichtslähmung im Verlaufe von Tuberkulose. Zeitschr. der K. K. Ges. der Aerzte zu Wien. 1844. S. 476.
2 Wilde, Practical observations on aural surgery. London 1853. 8. 338.
s) v. Tröltsch, Lehrb. d. Ohrenheilk. Würzburg 1862.
*) Virchow, Die krankhaften Geschwiilste. Berlin 1864/65. S. 652/53.
5) Politzer, Beleuchtungsbilder des Trommelfelles. Wien 1865. S. 65.
°) Schwartze, Beiträge zur pathol. Anat. des Ohres. Arch. ftir Ohrenheilk. Il. S. 279.
1) v. Tróltsch, Lehrb. d. Ohrenheilk. 6. Aufl. Leipzig 1877.
*) Derselbe, Gesammelte Abhandlungen zur pathol. Anat. des Ohres. Leipzig 1883. S. 103.
% Bezold, Gesammtbericht tiber die 1881—1883 behandelten Ohrenkranken. Arch. f, Ohrenheilk. XXI. $. 227.
1) Eschle, Tuberkelbacillen im Ausfl. bei Mittelohreiterungen von Phthisikern. Deutsch. med. Wochensch. 1883. No. 30.
11) J. Nathan, Ueber das Vorkommen von Tuberkelbacillen bei Otorrhoen. Inaug. Dissert. München 1884 und Deutsch. Arch. f. kl. Med. 35. Bd.
1» Ritzefeld, Ueber die Tuberkulose des Ohres. Inaug. Dissert. Bonn 1884.
18) E. Fraenkel, Anatomisches u. Klinisches zur Lehre von den Erkrankungen des Nasenrachenraums und des Gehörorgans bei Lungenschwindsucht. Zeitschr. f. Ohrenheilk. X. $. 113. |
14) Habermann, a) Mittheilungen über Tuberkulose des Gehörorgans. Prag. med. Wochenschr. 1885. No. 6. b) Ueber die tuberkulöse Infection des Mittelohres. Zeitschr. f. Heilk.
VI. 8. 367. c) Neue Beiträge zur pathol. Anat. der Tuberkulose des Gehörorgans. Sitzungsber. des Vereins deutscher Aerzte in Prag. März 1888.
15) Moldenhauer, Zur Statistik der Erkrankungen des Hörorganes in Folge von Lungentuberkulose. Monatsschr. für Ohrenheilk. 1885. No. 7.
16) Steinbrügge, Pathol. Anat. des Gehörorgans. Berlin 1891. S. 108.
11) Bezold, Ueber das Verhalten der im Verlaufe von Phthis. pulm. auftretenden Mittelohreiterungen unter dem Einfluss der Koch’schen Behandlung. Arch. f. kl. Med. 47. Bd. S. 622.
18) Morpurgo, Appunti sulla otite media piogenica che accompagna la tubercolosi, Bolletino delle Malatti dell’ orecchio. Anno I No. 6 8. A,
1% Hegetschweiler, Die phthis. Erkrankung des Ohres. Wiesbaden 1895.
2%) Krause, Die Tuberkulose der Knochen und Gelenke. Leipzig 1891. S. 110.
21) Voltolini, Ueber Tuberkelbacillen im Ohr. Deutsch. med. Wochenschr. 1884. No. 31.
56
231a) Tobeitz, Die Morbillen. Arch. f. Kinderheilk. VII $, 342.
2 Rhoden u. Kretschmann, Arch. f. Ohrenheilk. XXV. $. 115.
39) Ribbert, Die Wirkung des Tuberkulins etc. Deutsch. med. Wochenschr. 1892. No. 16; und Fortschr. d. Medic, 1894. No. 10 (Zur Anatomie der Lungenentztindungen etc.).
24) Buchner, Kurze Uebersicht über die Entwickclung der Bacterienforschung. Münch. med. Wochenschr. 1891. No. 25/26.
25) Günther, Einführung in das Stud. der Bacterienkunde. S. 221.
26) A. Fraenkel, Ueber den tuberkulösen Hirnabscess. Deutsch. med, Wochen- schrift. 1887. No. 18.
27) A. Gottstein, Die bisherigen auf das Vorkommen der Tuberkelbacillen bei der Otorrhoe gerichteten Untersuchungen etc. Zeitschr. f. Ohrenheilk. XIT.’ S. 202.
23) Buck, New-Yorkr med. Journ. 21. August 1896 (Refer. im Arch. für Ohr- heilk. XXIV S. 217.
2 Bürkner, Lehrb. d. Ohrenheilk. 1892. S. 243.
8%) Schwartze, Chir. Krankh. d. Oh®s. S. 124.
sı) Politzer, Lehrb. d. Ohrenheilk. III. Aufl. S. 348.
3?) Bezold, Labyrinthnekrose und Paralyse des N. facial. Zeitschr. f. Ohrenheilk. XVI S. 196.
88) Jolly, De Pulceration de la carotide interne. Arch. géner. de med. Juillet 1866.
Hessler, Ueber Arrosion der Art. carot. int. in Folge von Felsenbeincaries. Arch. f. Ohrenheilk. XVIII.
Moos und Steinbrügge, Zeitschr. f. Ohrenheilk. XIII. S. 149.
Gruber, Lehrb. d. Ohrheilk. S. 506.
Politzer, Lehrb. IH. Aufl. S. 412.
Sutphen, Zeitschr. f. Ohrenheilk. XVII. S. 286.
4) Gompertz, Beitr. z. pathol. Anat. des Ohrs. Arch. f. Ohrheilk. XXX, S. 216.
25) Haug, Die Krankheiten des Ohres in ihren Beziehungen zu den Allgemein- erkrankungen. Wien 1893. S. 127.
®) Barnick, Klinische u. patholog. anat. Beiträge zur Tuberkulose des mittleren u. inneren Ohrs. Arch. f. Ohrenheilk. XXXX. S. 81.
81) Körner, Das Fortschreiten von Krankheiten der Paukenhöhle durch den carotischen Kanal in die Schidelhthle. Zeitschr. f. Ohrenheilk. XXIII. S. 230.
*) Derselbe, Tuberkulose des Schläfenbeines; Uebergang der Tuberkulose auf die Basis des Schläfenlappens. Monatschr. f. Ohrenheilk. 1894. S. 277.
Verantwortl. Redakteur: Hofrath Dr. Ernst Stadelmann in Berlin. Druck von Albert Koenig in Guben.
Zuschriften und Zusendungen für die „Berliner Klinik“ werden direct an den oben genannten Redakteur, Berlin SW., Anhaltstrasse 12, oder durch die Verlagsbuchhandlung erbeten.