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aller Art, soweit sich dieselben zur Aufnahme eignen, gelangen Ankündigungen zum Preise von M. 1.— für die gespaltene Nonpareillezeile zum

Abdruck. Aufträge auf gan: ganze und halbe Seiten nach Vereinbarung. Annahme von Anzeigen dürch die Union Deutsche VENIGBEREREIIDINNN in $tuttgart, Berlin, Leipzig, «a « «

a artenlaube- => ° Kalender 1904

Neunzehnter Jahrgang.

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Der „Gartenlaube-Kalender“ - für das Jahr 1904 enthält u. a. die neuefte Erzählung von

W.MNeimburg: „Alte Lieber,

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Unterhaltung en < «= und des Wissens

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Jahrgang 1904 = Dritter Band

Stuttgart = Berlin = Leipzig Union Deutsche Verlagsgesellschaft

a Drum ber NY. Unten Deutfce Verlagsgeſellſchaft

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J nbalts- Verzeichnis. ?

Versiegelte Lippen. Roman von Hermann Giersberg (Fortsetzung) -

Schlendertage. Ein kErlebnis von Paul Oskar höcker . Mit Illustrationen von Adolf Wald.

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Seite

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6 Inhalts⸗Verzeichnis.

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Sparsame Kriegführung Mit Tllustration. .

Eine Spinnengeschichte

Pariser Speisepomade .

Ein Konkurs, der bald hundert Jahre an wird Höfische Schmeichelkunst .

Die Satisfaktion .

Sataler Druckfehler .

Seite 234

236 237 238 239 239 2410

AIINAUNNUN!

Versiegelte Lippen. Roman von Hermann &iersberg.

DT

(Fortsetzung.) (Nachdruck verboten.) Vierzebntes Kapitel.

allo, Herr Neferendar! Sind Gie jo ftolz geworden, daß Sie Ihre Freunde gar su mehr erkennen?“

Paul RKeilig, der jich am Fuße der großen Strandtreppe mit diefen Worten angerufen hörte, hemmte feinen Schritt. „Ad, Sie find es, Herr Konful verzeihen Sie, ich hatte Sie nicht gejehen.”

„Wahrſcheinlich find Sie verliebt, und einem jungen:

Manne in diefer Gemütsverfaffung muß man fchon einiges zu gute halten.“ Das dicke rote Geficht des Herrn Lüders jtrahlte in wohlmollendfter Heiterkeit. Paul Keiligs belle Fijch- augen glitten an feiner Gejtalt herab und blieben an dem ledernen Kuriertäſchchen haften, daS er an feiner Seite herabhängen jah.

„Sie wollen wohl abreifen, Herr Konſul?“

„sa, ich gehe nach dem Süden. Der Aufenthalt bier ift mir durch die Geichichte mit meinem armen Freunde gründlich verleidet, und dann habe ich auch

8 Berftegelte Lippen.

OD RIED RD DD ED DDr DD ED ED DE DE DD jehr wenig Luft, mic) weiteren Scherereien mit Ver: nehmungen und dergleichen auszufeßen.“

„Man hat Sie vernommen?“ fragte der Referendar. „Ras wollte man denn von Ihnen erfahren?“

„Man wollte allerlei Ausfünfte über die Lebens: germohnheiten meine armen Freundes von mir haben, und man wollte vor allem wiffen, mit wem er hier ums gegangen iſt.“

„Haben Sie auch meinen Namen genannt?”

„Rein, mein mwerter junger Freund. Ich habe e3 für beffer gehalten, mich ein bißchen gedächtnisfchwad) zu jtellen. Die Herren vom Gericht brauchen nicht gleich alles zu wiſſen. Wozu follte ich Ihnen und den an- deren Herren unnütze Weitläufigleiten verurfachen?”

„sh bin Ihnen dafür aufrichtig dankbar, Herr Konful. Sie meinen alfo, daß man mich nicht in diefe Angelegenheit hineinziehen wird?“ -

„Dafür kann ich natürlich Teine Bürgfchaft über: nehmen, denn das wird wahrjcheinlich davon abhängen, wie fich die Gefchichte mit dem Wechſel abwickelt.“

Das blaffe Geficht des jungen Mannes ſchien nod) um eine Schattierung fahler zu werden. „Was miljen Sie von dem Wechfel? Hat Herr Dane aunnen! Davon gefprochen?”

„Sp beiläufig. Wir waren ja gute Freunde. Und da ich mich auch als Ihren Freund betrachte, Herr Neferendar, möchte ich Ihnen einen wohlgemeinten Rat geben. Suchen Sie die Gefchichte fo bald als möglich aus der Welt zu jchaffen.” -

„sch verftehe Sie nicht, Herr Konful. Möchten Sie fich nicht etwas deutlicher erklären?”

. „a, ich denke wohl, daß Sie mich öfter: Sie haben doch das Briefchen befommen, in dem der arme Bendhein Sie zu einer. Befprechung in feine Wohnung einlud?“

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Roman von Hermann Gtersberg. 9 DDr Dre re AD TED DDr Dr ED DE Dre DE Dre D

„Allerdings.”

„Aber Eie find nicht hingegangen?“

„Woraus ſchließen Sie, daß ich nicht hinging?“

„Die Leute in der Billa Rothe haben doch aus— gefagt, daß an jenem Abend niemand mehr bei ihm gemwefen ijt. Oder follten Sie etwa doch —“

„Nein, ich) war natürlich nicht da,” unterbrach ihn der Neferendar. „Ich wurde im legten Augenblid ver: hindert. Ich Fonnte mir auch gar nicht denten, was Ihr Freund mir noch zu fagen haben follte. Die An gelegenheit zmijchen ihm und mir war doch geordnet.“

„Vielleicht jah er fie noch nicht al3 geordnet an. Es tonnte ihm ja möglicherweife inzwifchen etma3 zu Ohren gelommen jein, das ihn beunruhigte. Unter anderen Umftänden würde ich fagen, daß Sie fehr unklug ge- handelt hätten, nicht hinzugeben. Wie fich jet aber die Dinge gejtaltet haben, war es vielleicht ein Glüd für Sie, denn wer weiß, melde Unannehmlichleiten Ihnen erwachfen wären, wenn man Gie an jenem Abend bei ihm gejehen hätte.“

Der Referendar blickte angelegentlich auf die See hinaus, die doch in ihrer ſchwarzgrauen Einförmigfeit heute durchaus nichts Bemerkenswertes darbot. Dann fagte er: „Sie raten mir, die Gefchichte aus der Welt zu fchaffen, aber mie fol ich das anfangen? Der Wechſel befindet ſich mahrfcheinlich unter den Papieren, die gleich dem übrigen Nachlaß des Berftorbenen mit Beichlag belegt worden find.“

„Ohne Zweifel. Und das ijt gerade das Unan- genehme an der Sache. Ob am Berfalltage oder fpäter oder früher einmal dürfte er Ihrem Freunde Cordes

ficherlich präfentiert werden, wenn Sie nicht ein Mittel finden, ihn vorher herauszufriegen.“

„Könnten Sie mir ein folches Mittel nennen?”

10 Berfiegelte Lippen. DDr Dre Dr xD

Der dicke Herr zudte die Achfeln. „Bedaure, lieber Freund in ſolchen Dingen babe ich nicht viel Er: fahrung, aber Sie können ſich ja deswegen mit der Staat3anmwaltfthaft in Verbindung fegen. Möglicher: weije liefert man Ihnen gegen Zahlung des Betrages den Wechjel aus. Dann hätten Sie gewiß begründete Urjache, mit dem Verlauf der Dinge zufrieden zu fein.” Ä

Paul Reilig ſchüttelte den Kopf. „Mit der Staats⸗ anmwaltjchaft? Nein, das ift unmöglid. Man dürfte mir ja auch das Papier gar nicht aushändigen. Es wäre eine offenbare Pflichtverletzung.“

„Das müſſen Sie als Juriſt freilich beſſer wiſſen als ich, Aber ih muß zuſehen, daß ich meine Ab⸗ fahrt3zeit nicht verfäume. Begleiten Sie mich an das Schiff?“

„Ich bitte um Entſchuldigung, wenn ich dazu nicht im ſtande bin. Ich habe eine dringende Verabredung.“

„Na, dann alſo Gott befohlen! Hoffentlich erwachſen Ihnen feine weiteren Widerwärtigkeiten aus der Ge- ſchichte. Ich wünſche es Ihnen von Herzen. Vielleicht ſehen wir uns übrigens nochmal gelegentlich am grünen Tiſche wieder.“

Er drückte ihm die Hand, nickte ihm mit einem pfiffigen Augenzwinkern zu und wendete ſich der Lan— dungsbrücke zu.

Paul Keilig aber ſchlenderte auf der Strandprome: nade weiter.

Eine halbe Stunde ſpäter trat er in das Hotel: zimmer feines Freundes Cordes, der gemächlich rauchend . bei der Lektüre eines Romans auf dem Ruhebett lag.

„Sieb da, Baul! Läßt du dich auch mal wieder blicken? Ich glaubte fchon, du feieft frank, und wenn

Roman von Hermann Giersberg. 11 ADARD DAAD AD ADD AD AD AD ADD Dre DD

ich nicht wüßte, daß du immer fo jämmerlich ausſiehſt, glaubte ich es noch jetzt.“

Der Referendar feste fich auf einen Stuhl und 309 fein Bigarettenetui aus der Taſche. Aber er brauchte eine ganze Weile, ehe er mit dem Anzünden fertig ge- worden war, denn feine Hände zitterten, und zwei oder drei GStreichhölzger zerbrachen ihn zwiſchen den Fingern.

„Deine Bemerkungen über mein Ausfehen find nicht gerade wohltuend,” fagte er, als es ihm endlich gelungen war, feiner Bigarette die erſten Rauchwolken zu ent- Ioden. „Es Tann nicht jeder deine bärenhafte Gefund: heit haben, und es iſt jedenfall3 genug, daß ich mich ganz wohl fühle. Übrigens ich babe an diefem Morgen ein Telegramm von meiner Tante befommen.“ .

„Bon der Mutter deiner Angebeteten jo? Hat fie dir etwa telegraphifceh die Hand ihrer Tochter an- getragen ?*

„Keine jchlechten Wite, wenn ich bitten darf. Im Grunde aber ift e3 nicht viel weniger als das. Sie iſt mit Martha in Wiesbaden und hat mich eingeladen, den Reit der Gerichtsferien dort mit ihnen zu verbringen.”

„So reife mit Gott, du Glüdlicher! Hoffentlich kann man dir nad) Verlauf einiger Wochen zur Berlobung gratulieren.”

Paul Keilig zerdrüdte die halbgerauchte Zigarette im Ajchbecher. „Es würde fich machen gewiß; wenn ich) nur fort könnte.“

„Was hindert dich daran? Wenn dein Reifegeld für die erjte Klaſſe nicht ausreicht, kannſt du ja in der vierten fahren.”

„Du bift Heute ausnehmend gut gelaunt, Cordes. Aber e3. ijt natürlich nicht die Frage des Reiſegeldes, die mich hier zurücdhält. Wenn nur diefe unglücliche

12 Verſiegelte Lippen.

DDr ED ET Dre Dr Deere DEI AD Dre DE Der Gejchichte nicht paffiert wäre du weißt wohl, welche ich meine.” |

„Was denn? Das mit diefem Subjekt, dem Holn- jtein, etwa? Was geht dich denn da3 an? Du warft Doch mit ihm in Ordnung.“

Der Referendar ftarrte eine Weile auf den Fuß—⸗ boden, dann fam e3 gepreßt und heifer von feinen Lippen: „Nicht ganz, Cordes. Ich Habe mich nur geniert, dir die volle Wahrheit zu jagen.“

Der Angeredete richtete fich ein wenig aus feiner bequemen Stellung auf und blidte ftirnrunzelnd auf den Freund,. der in fchlaffer, gleichfam gebrochener Haltung vor ihm faß. | Was heißt das?“ fragte er fcharf. „Du weißt, daß ich alles vertragen kann, nur feine Schmwindeleien. Ich habe mich durch mein gutes Herz bewegen laffen, dir das Geld zur Bezahlung deiner Spielfchuld zu geben, und du haft mir am nächiten Tage auf meine Frage erwidert, daß du die Angelegenheit giett gemacht hätteſt. War das eine Lüge?“

„Ich hatte die Abſicht, es zu tun, Cordes, aber es fam mir ein unerwartete Hindernis dazmifchen, und ich Fonnte doch nicht ahnen, daß es am nächſten Tage zu fpät fein würde. Als ich hingehen wollte, ihm das Geld zu bringen, hörte ich zu meinem Schreden, daß er nicht mehr am Leben jei.”

„Ermordet worden fei millft du fagen, aber da3 ift ja gleichgültig. Die Hauptfache ift, daß du mich in einer fehr wenig ehrenmwerten Weife angelogen haft. Natürlich haft du inzmwifchen das Geld zu anderen Zwecken verwendet?“

„Rein, bei meiner Ehre, nicht einen Pfennig. MWenn du an der Wahrheit meiner Worte zmeifelit, bin ic) bereit, es bier auf den Tifch zu legen.”

Roman von Hermann Gierdberg. 13

„Es wäre auch eine Erbärmlichkeit gemefen, die ich dir niemals hätte verzeihen fönnen. Aber was foll denn | nun aus der Sache werden? Weshalb mußt du durd)- aus bier bleiben, wenn du doch im ftande bijt, das Geld in jedem beliebigen Augenblid zu zahlen?“

„Du vergißt, daß er ein Papier von mir in der Hand hatte.“

Doktor Cordes horchte auf. „Was für ein Papier ift das, Baul? Vielleicht ein Wechjel?*

Reilig fah zu ihm hinüber. Wenn e3 vielleicht bis zu dieſem Augenblick feine Abficht geweſen war, ein Geftändnis abzulegen, fo nahm ihm der Anblid der tiefen Falte zwifchen Cordes’ Brauen jet im entjchei- denden Moment den Mut dazu.

„Nein fein Wechfel, * jagte er unficher. „Du weißt doch, was man in folchen Fällen unterjchreibt.”

„Ein Ehrenfchein alſo?“

„a, ein Ehrenfchein.“

„Es ijt mir lieb zu hören, daß e3 nichts anderes ift, denn jet, da du mich beruhigt haft, kann ich dir’s ja fagen, daß mir diefer fogenannte Konſul gemiffe Andeutungen gemacht hatte über einen Wechjel mit meiner Unterfchrift, den du Holnftein hatteſt bringen wollen. Daß ich ein folches Papier niemals unter: jchreiben würde, haft du doch von vornherein gemußt, nicht wahr?“

„Natürlich. Dieſer Ronful ift ein nichtsmürdiger Berleumder.”

„Rege dich nicht unnötig auf, mein Lieber! Was braucht uns das Gefchwäß diefes Menjchen zu küm— mern? Beljer jedenfalls, daß er gelogen hat, al3 wenn etwas Wahres an feinen Worten gemejen wäre, denn es gibt Dinge, in denen ich feinen Spaß verftehe. Und wenn es mein leiblicher Bruder wäre, den ich bei einer

14 Berfiegelte Lippen.

DAAD DE DDr DDr DDr Dre Dre Dr DE DE DE DE Dr Ehrlofigfeit ertappte, ich würde ihn unbedenklich der Beitrafung überliefern.”

Es war durchaus nicht fehr warm im Zimmer, aber der Referendar wifchte fich nichtsdeftumeniger die Schweiß: tropfen von der Stirn. „Ich weiß nicht, weshalb du mir das ſagſt, Cordes. Ich kam hierher, dich um Nat zu fragen. Sage mir, was ich tun foll, um das be: wußte Bapier den Ehrenjchein meine ich heraus: zubefommen, denn ich muß ihn haben. Ich merde feinen Augenblid Ruhe finden, folange ich ihn in fremden Händen weiß und jtündlich darauf gefaßt fein muß, daß man davon gegen mich Gebrauch macht.“

„Da wirst du dich wohl an die Erben des Herr Holnftein wenden müfjen.“

„Aber wer find diefe Erben? Bermutlich doch jeine Stieftochter, die für mich nicht erreichbar ift.“

„Allerdings da fie als feine Mörderin im Ge: fängnis fit. Da wirft du dich alfo entweder in Geduld fafjen oder einen Rechtsanwalt um Nat fragen müfjen, wenn deine eigenen juriftifchen Kenntniſſe wicht aus: reichen, dir den geeigneten Weg zu zeigen.” -”

„Daran habe ich auch ſchon gedacht. Aber es müßte jo ſchnell als möglich gefchehen, und woher foll ich hier einen vertrauenswürdigen Anmalt nehmen?“

„Da ann ich dir vielleicht mit einer Adreſſe aus- helfen. Ich bin hier wiederholt dem Rechtsanmalt Boll: mar aus Berlin begegnet. Wenn er noch hier fein follte, fo kann ich dir Leinen befjeren empfehlen als ihn. Er bat für meinen Vater verjchiedene ehr ſchwierige Prozeſſe geführt, und wir haben bei diefem Anlaß Gelegenheit genug gehabt, ebenfojehr feine Tüchtigkeit als feine Gemijjenhaftigfeit zu bewundern. Du kannſt dich ja auf mich berufen.“

„sch werde ihn auffuchen. Du glaubft aljo, daß

Roman von Hermann Gieräberg. 15 DDDDrE DE DE DD ET ED Dre Dr ED ED ED Dr- ED DD ich mich auf feine Verſchwiegenheit werde verlafjen können?“

„Das iſt doch ſelbſtverſtändlich. Als Anwalt iſt er ja ohnehin dazu verpflichtet. Der Sicherheit halber kannſt du dir's u ausdrücklich von ihm verjprechen laſſen.“

Der Referendar ſtand auf. Seine kraftloſe Geſtalt war dem robuſten Freunde niemals hinfälliger und mit— ——— erſchienen als heute.

„Wenn du die Geſchichte mit dem Cenſchein in Ordnung gebracht haſt, ſollteſt du aber ſo ſchnell als möglich abreiſen. Das Seeklima bekommt dir entſchieden ganz ſchlecht. Vielleicht wird dir die Wiesbadener Luft und die Geſellſchaft deiner Angebeteten beſſer an— ſchlagen.“

Keilig hielt es nicht für nötig, ſich für dieſen wohl— wollenden Rat zu bedanken. Ohne dem Doltor die Hand zu reichen, eilte er davon.

Fünfzehntes Kapitel.

Ohne große Schwierigkeiten hatte Rindleben von feinem alten Korpsbruder die Erlaubnis erhalten,- Dag: mar allein zu fprechen. Obwohl er fich ohne weiteres hätte zu ihr führen laſſen können, ſchickte er Doch zuvor den Polizeidiener in ihre Zelle, um anzıfragen, ob fie geneigt fei, ihn zu empfangen. Der Mann fam alsbald mit einer bejahenden Antwort zurüd.

Es war ein troß feiner Kahlheit und Nüchternbeit nicht gerade abſchreckender Raum, den der Rechtsanmalt betrat. Das Licht fand durch daS hohe, unvergitterte Fenfter vollen Eintritt und umfloß mit einem goldigen Schinmer die ſchlanke Mädchengeftalt, die, aufrecht am Tiſche ftehend, den Befucher erwartete. Man Hatte ihr

16 Berjiegelte Lippen.

DIMDAD ED REDE D Dre D ED ED Dr ED DE Dr Dre DD geftattet, fi) Kleidungsftüde und Wäſche aus ihren Borräten Fommen zu laffen, und fie hatte das elegante weiße Koſtüm, welches fie bei ihrer Verhaftung getragen, mit einem dunklen Hauskleide vertaufcht, dem einfachiten, da3 fie in ihren reichen Garderobenvorräten gefunden. Rindleben, der fie bi3 dahin immer nur in ausgefucht eleganter Toilette gejehen, fand fie jehr verändert, aber er fagte fich im jtillen, daß es Feine Veränderung zu ihrem Nachteil jei, denn fie erjchien ihm faft noch jchöner und vornehmer als fonft. Auch ihr Geficht zeigte zu feiner Überrafchung nicht mehr den entjeßten und verjtörten Ausdrud, den er zulegt darauf wahrgenommen. Wohl war fie noch immer fehr bleich, und ihre Wangen waren entjchieden jchmaler geworden, aber e3 war eine ruhige Entfchlofjenheit in ihren Zügen. Ihr klar und felt auf den Eintretenden gerichteter Blick Hatte nicht mehr von der tödlichen Angft, die am Abend nach der Flucht aus der Vila Rothe in ihren Augen gefladert.

Er hatte erwartet, daß fie ihm die Hand reichen würde, aber fie tat e3 nicht, jondern begrüßte ihn nur mit einem leichten Neigen des Kopfes.

„Ich danke Ihnen, daß Sie gelommen find, Herr Rechtsanwalt. So finde ich doch Gelegenheit, Sie noch einmal wegen der Unbequemlichkeiten um Verzeihung zu bitten, die mein unüberlegter Schritt Ihnen be- reitet bat.“

„Wie mögen Sie nur fo fprechen, Fräulein Holn- jtein,“ erwiderte er’ herzlich. „Sie haben mir feine Un- bequemlichkeiten verurfacht, und ich komme im Gegen: teil, um Ihnen meine Dienfte voll und rüdhaltlos zur Verfügung zu Stellen. Es ift im allgemeinen nicht ſchick— lich, daß em Rechtsanmalt fich jelbft als Beiltand an: bietet, aber außergewöhnliche Umftände können wohl auch) einmal einen Bruch mit dem Herlommen recht:

Roman von Hermann Gteräberg. 17 EDDIE ED ED ED ED Dr ED re DDr Dr DD Dee DD re fertigen. Ich würde mich aufrichtig freuen, wenn Sie fich entfchließen wollten, mir die Führung Ihrer An— gelegenheit anzuvertrauen.” |

„Das ift fehr großmütig, Herr v. NRindleben, und ich weiß Ihr Anerbieten nach feinem ganzen Wert zu ichäßen. Aber ich möchte e8 doch Lieber nicht annehmen. Sie würden wenig Befriedigung davon haben.“

„sch hoffe das Gegenteil. Eine Befriedigung würde e3 mir jedenfalls ſchon gemähren, einiges zur Erleichte: rung Ihrer äußeren Lage zu tun.”

„Deſſen bedarf es nicht. Ich Habe feine Urfache, mich über die Behandlung zu beklagen, die man mir zu teil werden läßt.“

„Aber Sie weifen meine Pienfte doch wohl nicht ernftlich zurüd?”

„Ich war allerdings entjchlofien, feinen Verteidiger zu nehmen.”

„Erlauben Sie, da3 fteht gar nicht in Ihrem Be: lieben. Wenn e3 wirklich bis zur Erhebung einer An: Hage fommen follte, jo muß Ihnen nad) dem Geſetz von amtswegen ein Verteidiger geftellt werden, falls Sie ‚auf die Berufung eines folchen verzichten.”

„Ein Verteidiger muß an die Schuldlofigfeit feines Klienten glauben nicht wahr?”

Das mar eine unvermutete Frage, die Rindleben einigermaßen in Berlegenheit ſetzte. Aber nachdem er noch einen Blick auf die in ihrer Ergebung doppelt rührende Mädchengeftalt geworfen, hatte er fich fchnell gefaßt. „ES wird Syhnen nicht ſchwer fallen, Fräulein Holnftein, mich von der Ihrigen zu überzeugen.“

Wie der Schatten eines wehmütigen Lächeln Hufchte e3 über ihr Geficht. „Wenn Sie in diefer Erwartung gefommen find, werden Sie allerdings arg enttäufcht

werden. Ich kann nichts von dem entfräften, was man 1904. III. 2

18 Berfiegelte Lippen. DDr EDDIE De Dre Dre Dede DreD gegen mich vorbringt. Ich babe auch gar nicht die Abficht, es zu verfuchen.“

„Das wäre ein fehr tadelnsmertes Beginnen, wenig— jten3 dann, wenn Sie Ihr Gemiffen frei fühlen von Schuld.“

„And wenn e3 nicht fo wäre? Sch Habe inzwischen Zeit genug gehabt, mich auf jene Vorgänge zu befinnen, und ich bin mir darüber klar geworden, daß vielleicht nur ein Zufall mich verhindert hat, zu tun, weſſen man mich befchuldigt. Hätte mein Stiefvater in dem Augen- blid, da ich nad) dem Meſſer gegriffen hatte, feine Hand an mich gelegt, wer weiß, ob ich nicht wirklich zur Mörderin geworden wäre.“

„Aber man will Sie nicht zur Rechenjchaft ziehen für das, was unter unglüdlichen Umftänden möglicher: weiſe hätte gejchehen können, jondern für das, was Gie in Wahrheit getan haben jollen. Es märe aljo der törichtefte und verhängnisvollite Einfall, wenn Sie aus irgend einem felbjtquälerifchen Grunde beides mitein- ander vermijchen wollten.”

Er hatte e3 ſehr ernft und eindringlich gejagt, aber es jchien nicht, al3 ob er damit einen bejonderen Ein- druck auf fie gemacht hätte.

Sie jah ein paar Sekunden lang vor fich hin, dann fragte fie: „Wenn man mid) fehuldig fpricht, wird man mich dann zum Tode verurteilen?“

„Welch ein Gedante! Man bejchuldigt Sie ja gar nicht, diefen Mann mit Vorfa oder Überlegung ge: tötet zu haben. Selbft bei der ungünftigften Auffafjung wird man zu feinem anderen Schluffe gelangen, al3 daß Sie in der Wahl Ihrer Verteidigungsmiitel über das gefeglich Zuläffige Hinausgegangen feien. Eine kurze Freiheitsſtrafe wäre das Außerſte, mas Sie zu fürchten hätten.”

Roman von Hermann Gieräberg. 19

DD ADDED DDr Dr ED Dr Dre Dr ED

Er hatte geglaubt, ihr etwas Beruhigendes zu Jagen, aber er erkannte, daß er fie nur erjchredt hatte.

„Wie? Man würde mich nicht im Gefängnis be- halten? Man würde mich wieder in das Leben hinaus: ftoßen? Aber das wäre entjeglich. Das könnte ich nicht ertragen.”

Jetzt endlich glaubte er zu erraten, was in ihrer Geele vorging und was ihr unbegreifliches Verhalten beitimmte. „Iſt es das, Fräulein Holnftein, was Sie veranlaßt bat, auf alle an Sie gerichteten Fragen zu fchweigen und damit den falfchen Verdacht zu unter: ftüßen, den man gegen Sie hegt?”

Dagmar ſchlug die Hände vor das Geficht, und er hatte Mühe, fie zu verftehen, als fie fagte: „Ich hoffte, daß man mid) dann für immer einjperren würde. Es wäre ja das beſte geweſen für mich. Was joll ich denn noch da draußen unter den Menjchen, die ich verab- ſcheue und die mich verabjcheuen würden?“

„So mögen Ihnen mohl in diefem Augenblic die Dinge erjcheinen, aber wenn Gie den erjten Eindrud des GSchredlichen überwunden haben, das über Sie bereingebrochen ift, fo werden Sie alles wieder mit anderen Augen anjehen. Sie werden ertennen lernen, Daß es auch gute und rechtfchaffene Menjchen gibt, und Sie werden bald genug den Beweis dafür erhalten, daß man Gie nicht verabfehent. Es wird Ihnen gemiß nicht an wahren und aufrichtigen Freunden fehlen.”

Sie ließ die Hände ſinken und fehüttelte mit einem bitteren Lächeln den Kopf. „Freunde? Nein, es gibt feine. Ich bin nicht mehr jo unerfahren, um daran zu glauben. Ich weiß, daß fich Hinter der fogenannten Freundfchaft eines Mannes für ein Mädchen immer der Wunfch nach anderem verbirgt, und mir graut vor ſolcher Freundfchaft.”

20 Berfiegelte Lippen. DD DADD ED ED Dee Dee Dr DDr DDr Dre D ED ee

„Es find die Erfahrungen aus der Umgangsiphäre Ihres GStiefvaters, die jebt aus Ihnen fprechen, aber ich verbürge mich dafür, Fräulein Holnftein, daB Sie nach Ihrer Befreiung das Leben von einer anderen Geite kennen lernen werden. ych bitte Sie jebt noch viel dringender al3 zuvor: unterfchreiben Sie die Boll- macht, die mich zu Ihrem Nechtsbeiftand bejtellt.*

Er Iegte da3 Blatt und das Tafchenfchreibzeug, das er mitgebracht hatte, vor fie auf den Tifch.

Dagmar ftreifte mit einem unentjchloffenen Blick darüber hin, aber fie ftredte ihre Hand nicht nach der Feder aus. „Möchten Sie mir eine Frage beantmor- ten, Herr Rechtsanwalt? Glaubt Ihr Freund an meine Schuld?”

Er hatte ja darauf gefaßt fein müſſen, daß fie Her: bert3 Erwähnung tun würde. Nun aber, da e3 ge: fchab, fühlte er fich von einer eigentümlichen Empfin- dung bejchlichen, einer Empfindung, der er bei un befangener Selbjtprüfung einen anderen Namen als den der Eiferfucht hätte geben können. Deſſenungeachtet zögerte er feinen Augenblid, ihr der Wahrheit gemäß zu antworten: „Nein, Fräulein Holnftein, er glaubt nit daran.“

Er beobachtete fie feharf, aber ihr Geficht gejtattete ihm nicht, in ihrer Seele zu lejen.

„Sie werden Herrn Vollmar jehen, nicht wahr? Und wenn es ihm auch vielleicht widermärtig ift, von mir fprechen zu bören, jo werden Gie doch eine Ge- legenheit finden, ihm zu jagen, daß ich nur durch äußere Umftände verhindert worden bin, ihm zu jchreiben. Jetzt bedarf es deſſen ja freilich nicht mehr, denn feitdem er den wirklichen Namen meines Stiefvaters erfahren, weiß er ohnehin alles, was ich ihn hätte ſchreiben können.“

Roman von Hermann Giersberg. 21 Dre Dre De Dre Dr Dre Dre Dede

„Ich glaube wohl, mein Fräulein, daß er es weiß.”

Dagmar nidte. „Er kann natürlich nur noch die tiefite Verachtung für mich hegen. Nein, nein, wider: jprechen Sie mir nicht. Es Tann nicht ander jein, denn ich habe fie ja verdient. Aber ich weiß, daß Ihr Freund von großmütigem Charakter ift, und wenn er mich, wie Sie jagen, für fehuldlos hält an diefem Ber: brechen, fo könnte möglichermeife fein Mitleid mit meinem Schidjal größer fein als feine Verachtung. Er Tönnte vielleicht den Wunſch hegen, mich zu jehen und mir feine Hilfe anzubieten. Das aber ijt es, Herr v. NRindleben, was Sie unter allen Umjtänden ver: hindern müfjen. Wenn Sie mir verfprechen können, daß mir jede Begegnung mit Herbert erjpart bleiben wird, jo will ich Ihren Wunfch erfüllen.“

Er würde ihr das verlangte VBerjprechen gegeben haben, auch wenn er nicht aus der Erklärung des Freundes gewußt hätte, daß ihre Beforgnis eine un- gerechtfertigte war. Auch Herbert hatte ihm ja gejagt, daß er Dagmar unter keinen Umſtänden wiederjehen wolle. Wie gering mußte doch das Vertrauen diefer beiden Menjchen in ihre Widerjtandstraft fein, daß fie vor der Möglichkeit einer Begegnung zitterten wie vor einer jchredlichen Gefahr!

„sh werde Vollmar von Ihrem Wunjche in Kennt- nis jeßen,” fagte er. „Und wie ich meinen Freund fenne, weiß ich, daß er feinen Verſuch machen wird, Ihnen feine Teilnahme oder feinen Beiftand aufzu- drängen.”

„Ich Dante Ahnen,” fagte Dagmar leije, und dann griff fie nach der Feder, um mit einem tafchen Zuge ihren Namen unter da3 bis auf die Unterjchrift bereits ausgefüllte Vollmachtsformular zu feten.

Nindleben nahm das Papier fo raſch an ich, als

22 Verſiegelte Lippen. ö—AAAAA fürchte er, ſie könnte ihre Nachgiebigkeit noch bereuen. „Und nun, Fräulein Holnſtein, da Sie Ihr Schickſal gewiſſermaßen in meine Hand gelegt haben, nun emp⸗ fangen Sie von mir die Verſicherung, daß ich nicht ruhen und nicht raſten werde, bis ich den Mörder Ihres Stiefvaters ermittelt und Ihnen volle Genug: tuung verjchafft habe für das, was Gie jeßt erdulden müſſen.“

Es war eine ſo ehrliche Wärme, eine ſo aufrichtige Überzeugtheit, die aus ſeinen Worten klang, daß feine Auffafjung der Sachlage während diefer kurzen Unter: redung in der Tat eine volljtändige Wandlung erfahren haben mußte, und doch Hatte Dagmar nichts getan, um die fchmeren VBerdachtsgründe zu entkräften, die gegen fie vorlagen. Einzig der Zauber, der von ihrer Perjönlichleit ausging, konnte feine Belehrung bemirkt haben. |

Da er fich in feiner nunmehrigen Eigenfchaft als der Verteidiger der Angefchuldigten zunächſt Einblid in die Alten und die Protofolle verfchaffen wollte, ehe er fih von Dagmar Auskunft erbat, und da er über- dies entſchloſſen war, fie nach Möglichkeit zu fchonen, bielt er es für angemeffen, feinen Befuch zu beenden. Er verſprach ihr, daß er fich an einem der nächſten Tage wieder einfinden würde, gleichviel ob fie noch hier fei oder ob man fie inzmwifchen nach dem Sitze des zu: ftändigen Landgerichts gebracht hätte. Es verletzte ihn ein wenig, daß fie diefe Mitteilung fo gleichgültig und ohne jedes Anzeichen von Freude aufnahm. Auch das Dankeswort, mit dem fie ihn entließ, hatte bei aller Freundlichkeit einen ſehr gleichmütigen Klang.

Roman von Hermann Giersberg. 25 Dr LED

DD

Sechjehntes Kapitel.

Während Bollmar feine Morgentoilette fonft inner: halb weniger Minuten zu beenden pflegte, hatte er heute mehr als eine Stunde dazu gebraucht, denn er war immer wieder genötigt gemejen, fich zu fegen und minutenlang die Augen zu fehließen, weil der raſende Ropffchmerz, von dem er nun ſchon feit zwei Tagen gepeinigt wurde, ihn ſchwindeln machte. Er hatte feinem Freunde nicht die Wahrheit gejagt, al3 er gejtern feine Beforgniffe mit der Bemerkung bejchwichtigte, daß ähn⸗ liche Zuftände ihn ſchon öfter heimgefucht hätten. In MWirklichleit hatte er einen Schmerz wie diefen noch nie zuvor empfunden. Es war ihm, als ob jemand mit einem jcharfen Meffer in feinem Gehirn wühle Alle Mittel, die er bis jet zur Linderung der faft uners träglichen Marter angewendet hatte, waren volllommen wirkungslos geblieben.

Aber er verfügte über ein ungewöhnliches Maß von Energie, und da er entjchloffen war, den Schmerz nicht Meifter werden zu laſſen über fich, verriet er feiner Umgebung in der Tat nur durch fein fchlechtes Aus» ſehen, daß er litt.

Bon dem Frühftüd, das man ihm auf feinem Zimmer jerviert hatte, vermochte er nicht3 zu genießen, und er wollte eben den Verjuch machen, ob ihm ein Gang ins Freie Erleichterung verjchaffen würde, als ihm der Rellner die Karte eines Beſuchers brachte.

„Der Herr bittet fehr dringend, den Herrn Rechts» anmalt jprechen zu dürfen, wäre es auch nur für wenige Minuten.”

„Paul Reilig, Rammergerichtöreferendar ‚” Hatte Bollmar auf der Karte gelefen. Er erinnerte fich nicht, den Namen fchon früher gebört zu haben, aber da

24 Verſiegelte Lippen. ⏑⏑ Dreier Dre Dre dem Manne offenbar fo viel an der Unterredung ge: legen war, gewann er e3 nicht über fich, ihn abzumeijen.

Den Eindrud, den er von der äußeren Erfeheinung des Eintretenden empfing, war ein menig günftiger. Dies blaſſe, vorzeitig verlebte Sünglingsgeficht mit den hervortretenden hellen Augen, die fo unruhig von einer Stelle zur anderen irrten, konnte nicht anders al3 unſympathiſch auf ihn wirken, die ganze jchlotterige Gejtalt, die fo fchlaff und hinfällig ausfah, al3 hielte fie fih nur mit Anftvengung aufrecht, offenbarte zur Ge- nüge, daß der Herr Rammergerichtäreferendar jener goldenen Jugend angehörte, die in einem unfinnigen Taumel des Lebensgenuſſes ihre Kräfte vorzeitig ver- geudet.

„Habe ich die Ehre, mit Herrn Rechtsanwalt Boll: mar zu fprechen? Ich bitte um Entfchuldigung, wenn ich mir herausgenommen habe, Sie zu fo früher Stunde zu ſtören. Aber die Angelegenheit, die mich zu Ihnen führt, liegt mir wirklich fehr fehwer auf dem Herzen, und ich würde Ihnen aufrichtig dankbar fein, wenn Sie mir Ihren Rat nicht verweigerten.”

Bollmar deutete mit einladender Handbemegung auf einen Stuhl. „Sch übe allerdings während meines Aufenthaltes Hier im Bade feine Praxis aus. Aber wenn ich Ihnen als PBrivatmanıı und als Kollege dienen fann, Herr NReferendar, jtehe ich gern zur Verfügung.“

Keilig jehüttelte den Kopf. „Es ift mir gerade darum zu tum, mich Ihnen in Ihrer Eigenfchaft als Anwalt anzuvertrauen. Sch verfpreche Ihnen, daß Ihnen nicht viel Arbeit daraus erwachfen fol.“

„Run, fo laſſen Sie hören.“

„Es handelt fich, wie ich ſchon angedeutet babe, um eine Bertrauensfache von delifatefter Natur. Gie dürfen es mir darum nicht verübeln, wenn ich zuvor

Noman von Hermann Bieräberg. 25 De Der Dee Dr EDer Dee Dre DeeD die ausdrüdliche Zuficherung Ihrer Verſchwiegenheit haben möchte.”

Herbert VBollmar runzelte die Stirn. Das Gebaren diefes jungen Menfchen wollte ihm immer weniger ge fallen. „ALS Juriſt jollten Sie eigentlich wiljen, Herr Neferendar, daß es derartiger Zuficherungen nicht be- darf. Sch bin duch das Geſetz und durch die Ehr— begriffe meines Standes zur bedingungslojen Wahrung des Berufsgeheimnijjes verpflichtet.”

„Verzeihen Sie da3 war mir allerdings befannt. Aber Sie müffen fich in die Lage eines Menfchen hinein: denfen, der im Begriffe ift, gewiſſermaßen fein ganzes Schidfal in die Hand eines anderen zu geben. Es ift daher wahrhaftig fein Zweifel an Ihrer Ehrenhaftigteit, wenn ich Sie recht Herzlich bitte, mir Ihr Wort darauf zu geben, daß ich Ihnen unbefjorgt alles jagen kann, was mich quält.”

„Kun alfo ich gebe Ihnen mein Wort darauf.”

„isch bin das Opfer einer unglücjeligen Leidenfchaft, Herr Rechtsanwalt oder vielmehr, ich bin es ge: mwejen, denn um nichts in der Welt würde ich nad) meinen le&ten Erlebniſſen jemals mieder eine Karte anrühren. Aber das, was einmal pajftert ift, laßt fih mit allen guten Vorfägen nicht mehr ungefchehen machen. Ich habe gefpielt und dabei eine Summe ver: loren, die ich nicht befaß. Ich hätte die Schuld inner: halb vierundzwanzig Stunden begleichen müffen, und ich hatte gehofft, durch die Freigebigfeit eines reichen Freundes, der ſich bier aufhält, dazu in den Stand gefegt zu werden. Allein er verweigerte mir anfangs feine Hilfe, und der Gläubiger drohte, fich an meinen Bater zu wenden, wenn ich ihn nicht auf der Gtelle befriedigte. Er war eben ein ausgemachter Halunte, dieſer Holnitein.”

26 Berfiegelte Lippen. De DreDeeD Dre Dee Dr eD

Vollmar, der bi3 dahin nur widermillig zugehört hatte, fuhr empor. „Was jagen Sie? Holnftein? Syit es der vor einigen Tagen Ermordete, von dem Gie reden?”

„Derjelbe. Sie haben vielleicht ſchon von anderer Geite gehört, daß er ein gemerbsmäßiger Spieler war.”

„Allerdings ich habe e3 gehört.”

„Run denn, ich hatte fechstaufend Mark an ihn verloren. Da ihm ein einfacher Schuldfchein mit meinem Namen nicht genügte, mußte ich ihm einen Wechjel mit der Unterjchrift meines Freundes bringen einen Wechſel über fechstaufend Mark, fällig in acht Tagen. Dies Papier muß fich noch in feinem Nachlaß befinden. Was fol ich nun anfangen, um e3 wieder in meinen Bett zu bringen?”

„Wenn der Wechfel fich unter den nachgelafienen Bapieren de3 Verſtorbenen vorgefunden bat, wird wahrjcheinlich der Alzeptant am Fälligfeitstermin da: von benachrichtigt und zur Einlöfung aufgefordert werden. Wenn Gie aber ein bejonderes Intereſſe daran haben, daß es nicht etwa verabfäumt wird, fo können Gie ja eine bezügliche Eingabe beim Gericht machen.”

„Gerade das, was Gie für das Wahrfcheinliche halten, möchte ich verhindern. Der Wechfel darf meinem Freunde nicht vorgelegt werden, und er darf überhaupt nichts von feiner Eriftenz erfahren, denn ich babe feinen Namen darauf gefett, ohne zuvor feine Ermäch— tigung einzuholen.”

„ah!“

„Begreifen Sie nun, daß ich mich Ihrer Verſchwie— genheit verjichern mußte, ehe ich Ihnen dies Geftändnis ablegte? Ich babe eine Fälſchung begangen, daran ift nichts zu ändern. Aber Sie dürfen mich darum

Roman von Hermann Gieräberg. 27 DD ADDED D De Dre Dre Dre Der Der Dre Dr Dre der Dr ed nicht gleich für einen Verbrecher halten, denn ich ftand unter einem furchtbaren Drud. Diefer Holnftein mußte ganz genau, daß die Unterfchrift nicht von meinem Freunde herrührte. Ich war ja auch ganz ficher, den Wechſel rechtzeitig einlöjen zu Fönnen; denn zum Verfall: tage hatte mir mein Freund die Summe versprochen.”

„Sie vermuten, daß Holnftein den Wechſel von vornherein für gefälfcht hielt?”

„Ich vermute es nicht nur, jondern ich habe die ungmweideutigften Bemweife dafür. Wenige Stunden, nachdem er das Papier aus meinen Händen empfangen, befchied er mich zu fich und fagte mir's auf den Kopf zu. Sch mar inzmwifchen bereit3 in den Beſitz des Geldes gelangt und forderte ihn auf, mir den Wechſel gegen Zahlung zurüdzugeben.”

„Dazu wäre er verpflichtet gewefen. Warum bat er es nicht getan?”

„Weil es ihm von allem Anbeginn nur um eine ſchamloſe Erprefjung zu tun geweſen war. Er drohte mir, fich die Fälſchung von meinem Freunde beftätigen zu laſſen und fich dann ſowohl an meinen Vater wie an meinen richterlichen Vorgefeßten zu wenden, wenn ich nicht fein Schweigen durch Zahlung einer Summe von dreißigtaufend Mark erkaufte.“

„Sie waren nicht im ftande, feinem Verlangen zu willfahren ?”

„Rein. Woher hätte ich einen folchen Betrag nehmen ſollen?“

„Aber Holnſtein hat ſeine Drohung auch nicht wahr gemacht?“

„Es blieb ihm keine Zeit mehr dazu, denn er ſtarb noch in derſelben Nacht.“

„Er ſtarb in derſelben Nacht?“

Dem Referendar ſchien der ſeltſame Tonfall dieſer

28 e Berfiegelte Lippen.

DAMDD DAAD DD DD ED ED Dr Dr Worte nicht aufgefallen zu fein. „Sa, in derfelben Nacht,“ wiederholte er. |

Herbert Vollmar aber fah plöglich einen feurigen Nebel vor feinen Augen auf und nieder wogen, und jeine Hände drücten frampfhaft die Serviette zufammen, die noch auf feinen Knieen lag. Er mußte feine ganze Willenskraft aufbieten, um ſich feinem Besucher gegen- über noch weiter den Anfchein der Ruhe zu geben. „Sagen Sie mir noch, Herr Referendar: wann hatten Sie mit Herrn v. Bendheim oder Holnftein, wie wir ihn ja meinetwegen nennen können, gefpielt? Am Abend vor feinem Tode, wenn ich Sie recht verjtanden habe?”

„sa, am Abend vor feinem Tode.”

„Und alles, wa3 Sie mir da erzählt haben, hätte fich dann alfo im Laufe eines einzigen Tages abgefpielt im Laufe des Tages, der der lebte feines Lebens war?”

Paul Reilig, der das Rinn auf die filberne Krücde ſeines Spazierſtockes geſtützt hatte und mit leerem Blid vor fich hin ſtarrte, machte eine bejahende Be- mwegung.

Herbert Vollmar bemühte fich, in feinem Geficht zu leſen. Es war fein Berbrechergeficht im landläufigen Sinne, aber e3 war ein Antlit, in daS alle Laſter ihre Spuren eingezeichnet zu haben jchienen. „Wenn ich Ihnen einen Rat geben joll, müfjen Sie mich zuvor ganz Klar jehen laffen. Wann hatten Sie denn dem Manne Ihren Wechjel gebracht? Vermutlich Doch im Laufe des Vormittags?“

„a. Sch hatte ihm noch am Abend vorher einen Brief gefchrieben, worin ich ihn um Gewährung einer furzen Frift für die Begleichung meiner Gpieljchuld erfuchte. Aber er ſchlug es mir rundweg ab und be: ftand auf fofortiger Begleichung. Es Toftete mich

Roman von Hermann Gieräberg. 29 DD DD rede Dre Dre DDr re DrE Dr ED ED ED Mühe genug, ihn zur Annahme des MWechfels zu be- wegen.”

„Und dann, fagen Sie, befchieb er Sie durch ein Billen in ſeine Wohnung. Das wäre alſo am Nach— mittag geweſen?“

„Ja, am Nachmittag.“

„Und Sie leiſteten der Aufforderung Folge? Sie gingen zu ihm in die Villa Rothe? Es kam zu einer heftigen Auseinanderſetzung nicht wahr?“

„Wie hätte ich ruhig bleiben können einer ſo ab— gefeimten Schurkerei gegenüber?“

„Gewiß, Sie hatten alle Urſache, ſich aufzuregen, und ſchließlich kam es ſogar zu Tätlichkeiten?“

Mit einem Ruck erhob der Referendar den Kopf und ſtarrte den Fragenden an. „Woher wiſſen Sie das? Wie kommen Sie darauf? Ich habe nichts Derartiges geſagt.“

„Vielleicht haben Sie es nicht geſagt, aber es iſt nicht ſehr ſchwer, es zu erraten. Wie war es doch, Herr Referendar? Holnſtein konnte ſeine Drohung nicht mehr ausführen, denn er ſtarb noch am nämlichen Abend. Als Sie ihn verließen, da wußten Sie bereits, daß er ſeine Drohung nicht mehr würde ausführen können?“

Paul Keilig war leichenfahl geworden. Alle Mus- keln ſeines mageren Geſichts ſchienen in zuckender Be— wegung. Plötzlich warf er laut aufſchluchzend die Arme über den Tiſch. „Wenn ich mich doch ſchon verraten babe ja, ja, es iſt, wie Sie vermuten. Einem Men—⸗ ſchen muß ich es doch geſtehen, wenn ich nicht daran erſticken oder darüber verrückt werden ſoll. Und Sie Sie müſſen ja ſchweigen!“

„Sie geben zu, daß Sie ihn getötet haben?“

„Sie müſſen ſchweigen Sie haben mir Ihr Ehren⸗

30 Berfiegelte Lippen.

DrneDr DDr DDr DreDeD wort gegeben! Sagen Sie mir noch einmal, daß Sie ſchweigen müſſen.“

„Ja, ich muß ſchweigen.“

„So will ich Ihnen alles erzählen ganz ſo, wie es geweſen iſt. Ich bin fein Mörder, nein, wahrhaftig, ich bin es nicht. Aber diefer Menfch mit feinen kalt— blütigen Drohungen brachte mich um den Verftand. Ich babe mich vor ihm gedemütigt wie noch nie vor einem Manne. Unter Tränen babe ich ihn angeflebt, mir das Bapier herauszugeben. Aber ich hätte eher einen Stein rühren Tönnen als ihn. Zuletzt wies er mir geradezu die Tür. Ich war außer mir, ohne alle Überlegung, denn ich mußte mir ja jagen, daß es nun feinen anderen Ausweg mehr für mich gab als den Tod. Trotzdem mollte ich gehen. Aber beim erxjten Schritt jtieß mein Fuß an einen klirrenden Gegenftand. Als ich mich büdte, ihn aufzuheben, war es ein fcharf geſchliffenes Dolchmeſſer. Ich weiß nicht, wie es über mich fam und ich fann nicht fagen, ob ich in jenem Augenblic überhaupt eine Flare Vorftellung Hatte von dem, was ich tun wollte ich erinnere mich nur noch, daß ich die Hand mit dem Meſſer auf meinem Rüden verbarg. Holnſtein hatte fich von mir abgewendet und fah zum Senfter Hinaus. Als er bemerkte, daß ich noch immer zögerte, zu gehen, drehte er fich wieder nach mir um und tat einen Schritt auf mich zu, indem er feine beleidigende Aufforderung in einem noch fehärfe: ren Tone wiederholte. Da erfaßte mich eine finnlofe Wut gegen den Elenden, der mich fo graufam gepeinigt und befehimpft. Es wurde mir dunkel vor den Augen, und ich fprang auf ihn zu. Ob er einen Verſuch ge: macht hat, den Stoß abzumehren, oder ob er gefchrieen hat, ich kann es nicht jagen, denn ich habe nur noch eine ganz unbeſtimmte Erinnerung an das, mas weiter

Roman von Hermann Gieröberg. 31 geſchah. Ich ſah ihn mit beiden Händen in die Luft greifen und dann langfam zu Boden finten. Blut habe ich überhaupt nicht wahrgenommen, wohl aber eine chredliche Veränderung auf feinem Gefiht. Wie ich ihn jo gräßlich die Augen verdrehen ſah, da fam mir exit zum Bemwußtfein, was ich getan hatte. Es erfaßte mich eine unfinnige Angft. Ich warf das Meſſer fort und fchlich mich aus dem Zimmer. Auf der Treppe begegnete mir niemand, wie mir auch bei meinem Kommen niemand begegnet war. Ich ging in mein Hotel und trank eine ganze Flaſche Kognak, die ich auf meinem Zimmer hatte. Dann faß ich und wartete, daß man mich verhaften würde. Aber es Tam niemand, und endlich fchlief ich ein. Da haben Gie die ganze Ge- jehichte meiner Tat.”

„Warum haben Sie fich nicht felbjt den Gericht geſtellt?“

Der Referendar ſah ihn verſtändnislos an. „Warum ich mich nicht geſtellt habe? Ja, weshalb hätte ich denn das tun ſollen? Wenn man doch keinen Verdacht auf mich hatte?“

„Aber Sie wußten doch, daß eine andere Perſon der Tat verdächtigt worden war? Fühlten Sie denn da nicht ſogleich das Bedürfnis, die Unglückliche aus ihrer ſchrecklichen Lage zu befreien?“

„Man kann ſie doch nicht verurteilen wegen etwas, das ſie nicht getan hat. Es iſt doch ganz ſicher, daß man ſie binnen kurzem wird freilaſſen müſſen.“

„Und darauf wollen Sie es ankommen laſſen? Darauf wollen Sie warten? Können Sie ſich gar nicht vorſtellen, welche unſägliche Pein jede Stunde der Gefangenſchaft, jeder Tag, während deſſen ſie unter dieſem falſchen Verdacht ſteht, für die unglückliche junge Dame bedeutet? Wahrhaftig, ich begreife nicht,

32 Berfiegelte Lippen.

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mie Sie e3 über fich gewinnen fonnten, jo lange zu ſchweigen?“

Der Referendar war aufgeſprungen. Ein furchtbares Erſchrecken ſpiegelte ſich in ſeinem Geſicht. „Was heißt denn das? Sie wollen mich doch nicht etwa zwingen, mich ſelbſt anzugeben?“

„Das will ich in der Tat. Ich enthalte mich jedes Urteils über das, was Sie getan. Aber wenn Sie darauf rechnen, ſich trotzdem noch einen kleinen Reſt von Achtung zu erhalten, wenn noch ein Funken von Ehre in Ihnen iſt, ſo dürfen Sie nicht einen Augenblick länger zögern, zu tun, was Sie ſchon längſt hätten tun müſſen.“

„Das iſt ſchändlich das iſt unerhört! Sie haben mein Vertrauen erſchlichen, um es zu mißbrauchen. Sie haben alles aus mir herausgelockt, was ich Ihnen doch wahrhaftig nicht hätte zu jagen brauchen. Gie haben es nur getan, um mich zu verderben.”

Er begann wie ein Verrüdter im Zimmer umber- zulaufen, und dabei fprudelten unaufhörlich die Worte von feinen Lippen.

„Aber Sie richten fich felber zu Grunde, wenn Sie etwas gegen mich unternehmen,” jagte er. „Sie jind verpflichtet, zu ſchweigen, und Sie haben mir außer: dem Ihr Ehrenwort darauf gegeben.”

„sh bin verpflichtet, zu ſchweigen, und ich werde nicht gegen dieſe Pflicht verftoßen. Sie aber werden felbit hingehen, fich dem Gericht zu ftellen.”

Es war, als fei dem anderen plößlich eine gewal— tige Laſt vom Herzen gefallen. „Vielleicht werde ich e3 tun. Sie müfjen mir nur Beit laffen, mit mir dar- über zu Rate zu gehen. ch muß Doch auch vorher meine Angelegenheiten ordnen. Inzwiſchen aber werden Sie feinem Menfchen etwas von meinem Geftändnis verraten nicht wahr?“

Roman von Hermann Giersberg. 33 IRRDFEDrEDe ED EDDIE DD De Dre EDDIE DD ED re „ie viel Zeit werden Sie zur Überlegung brauchen, ehe Sie fich auf das befonnen haben, mas jedem anderen ohne Überlegung fofort Har jein würde?”

„Ich weiß nicht vielleicht ein paar Tage, oder auch etwas mehr. Sehen Sie, es fann doch fein, daß inzmwifchen die Unfchuld der jungen Dame auch ohne da3 an den Tag kommt. Wenn das der Fall ift, wes⸗ halb jollte ich mich dann noch ganz nutzlos zum Opfer bringen? Am Ende war e3 doch nur ein abfcheuliches Neptil, das ich zertreten babe, und die menfchliche Geſellſchaft wird wohl darüber hinmeglommen, wenn meine Tat ungefühnt bleibt. Ich bin geftraft genug da3 dürfen Sie mir glauben.”

„Und wenn Syhre Hoffnung fich nicht erfüllt? Wenn der Verdacht nicht von dem jungen Mädchen genommen wird?”

Der Referendar jah an ihm vorbei und ftotterte: „Dann dann werde ich wohl tun müffen, mas Gie von mir verlangen. Aber Sie dürfen nicht verfuchen, mich dazu zu zwingen, denn ich will aus freier Ent- jchließung handeln. Wenn ich merke, daß Sie einen Drud auf mich ausüben wollen, jo tue ich es ficher nicht.”

Bollmar fühlte, daß er mit feiner Kraft, fich zu beherrijchen, am Ende war, aber er wollte fich dieſem Menfchen gegenüber nicht zu einer Übereilung hinreißen lofien. Darum entjchloß ex fich, der Unterredung ein Ziel zu jegen. „Wir werden morgen weiter darüber Iprechen, Herr Referendar. Ich bitte um Ihre Adreſſe.“

„sh bin nicht verpflichtet, fie Ihnen zu geben,“ erklärte der Referendar troßig. „Sie dürfen nicht glau- ben, daß Sie mir etwa jet bejtändig auf dem Halſe ſitzen können. Sie müſſen warten, bis ich zu einem Entſchluß gekommen bin. Drängen laſſe ich nicht,

1904. III.

34 Berfiegelte Lippen.

DD DD

das fage ich Ihnen noch einmal. Vergeſſen Sie nicht, daß Sie gar fein Mittel bejiten, mich zu zwingen, nachdem Sie mir Ihr Ehrenwort gegeben haben, zu Tchmeigen.“

Er konnte die Berufung auf Bollmars Pflicht zur Verſchwiegenheit augenscheinlich gar nicht oft genug wiederholen.

Unfähig, feinen widerwärtigen Anblid länger zu er- tragen, winkte ihm Herbert, fich zu entfernen. „Gehen Sie. Ich verzichte auf die Angabe Ihrer Wohnung; denn Sie werden fich doch wohl nicht einreden, daß Sie im ftande fein würden, fich vor mir zu verbergen, wenn ich entfchloffen bin, Sie zu finden. Und ich werde Gie finden, verlaffen Sie fi darauf. Wir werden morgen weiter über diefe Dinge reden.”

Der Neferendar jtand noch ein paar Selunden lang an der Tür, offenbar gemillt, etwas befonders Nach: drüdliches zu jagen. Aber es fiel ihm doch nichts anderes ein als das eine Wort, das er fchon jo oft wiederholt hatte: „Ihre Drohungen können mich nicht erjchreden,” erklärte er, „Sie müſſen ja jchmweigen.”

Damit verließ er das Zimmer.

Siebzehntes Kapitel.

Nindleben hatte, nachdem er fi) al3 Dagmars Nechtsbeijtand legitimiert hatte, bei dem Staatsanmalt jedes Entgegentommen gefunden, da3 ex fich nur immer wünfchen fonnte. Aber es war ihm nicht gelungen, den Glauben des Mannes an die Schuld feiner Klientin auch nur für einen einzigen Augenblick zu erjchüttern. Obwohl er jelbjt nun jchon einen ganzen Tag in raft- Iofer Arbeit darauf verwendet hatte, fich in dem undurchdringlichen Dunkel zurechtzufinden, das über

Roman von Hermann Giersberg. 35 EDDIE ED ED EDDIE ADDED ED re DE DD DD diefen Verbrechen lag, fo mußte er fich Doch mit einiger Entmutigung jagen, daß feine Bemühungen bis jebt ohne jedes Ergebnis geblieben waren.

Er hatte eine zweite Unterredung mit Dagmar ge: habt, und er hatte feinen ganzen Scharffinn aufgeboten, um alles aus ihr herauszubringen, was ihm als Singer: zeig in diefer Wirrnis dienen konnte. Doch die Aus: beute war fehr gering gemwefen, jo gering, daß er mit einem Gefühl tiefer Niedergejchlagenheit das Gefäng- nis verließ. Es gab in der Tat vorläufig feinen ande- ren Beweis für ihre Unfchuld als ihre eigene Verfiche- vung. Ihr Berhalten während der Vernehmungen, denen fie jeßt durch den Unterfuchungsrichter unter: morfen wurde, war fehr wenig danach angetan, diejer Verficherung Nachdrud zu verleihen. Sie gab noch immer nur zögernd und mwidermillig Antwort auf die an fie gerichteten Fragen, und manchmal machte ihr Zaudern ganz den Eindrud des Schuldbemußtfeins. In den eindringlichiten Worten hatte Rincdleben fie denn auch gebeten, dies Benehmen zu ändern und fi) mit aller Energie gegen die belaftenden Unterjtellungen zu mehren. Aber ihre immer wiederholte Ermiderung: „Das ift ja nun alles ganz gleich mag man doch mit mir tun, wa3 man will —“ gab ihm menig Hoffnung darauf, daß fie in der Folge ſeinen Rat be- berzigen würde.

Sn der jchlechteften Laune von der Welt war er nach diejer Unterredung in fein Hotel zurüdgefehrt. Schon der Portier hatte ihm gejagt, daß in feinem immer ein Herr auf ihn warte, und er war deshalb nicht überrafcht, al3 er bei feinem Eintritt Herbert auf dem Sofa fiten ſah. Er hatte wieder eine beforgte Bemerkung über fein jchlechtes Ausfehen auf den Lippen, aber er erinnerte fich an die Zurüctweifung, die

36 Berjiegelte Lippen.

MDRDRD DD RD ADD DD —— Der Dre feine teilnehmenden Fragen geftern erfahren, und er gab fich deshalb den Anfchein, es nicht zu bemerken.

Auh maren feine Gedanken jest viel zu fehr mit Dagmars Schidfal befchäftigt, als daß er irgend: welchen anderen Dingen eine ernjtliche Teilnahme hätte zuwenden können. Der Befuch des Freundes war ihm in hohem Maße willlommen; denn fein Rat Tonnte ihm ja nur von Vorteil fein. Rückhaltlos fehüttete er ihm fein ganzes Herz aus. Er fchilderte ihm die Ergebni3- loſigkeit aller bisherigen Bemühungen und verſchwieg ihm nicht, von welcher Sorge in Bezug auf Dagmars Schickſal er erfüllt fei.

Es fiel ihm auf, daß Herbert ihn jo jelten durch eine Frage oder eine Bemerkung unterbrah. Wenn er nicht jo fejt vom Gegenteil überzeugt geweſen märe, würde er beinahe verfucht geweſen fein, zu glauben, daß der Freund aufgehört habe, ein Intereſſe an Dag- mars Geſchick zu nehmen.

Schließlich aber konnte er ſich's Doch nicht verfagen, ihn geradeheraus zu fragen: „Was ift daS, Herbert? Weißt du mir denn gar nichts zu meiner Ermutigung zu jagen?”

„Leider nein. Aber wenn du fertig bift, möchte ich dich wohl meinerjeit etwas fragen.”.

„Sp frage doch! Ich habe nichts mehr zu berichten.“

„Die würdeſt du die Handlungsmeife eines Recht3- anmwalts beurteilen, der im Intereſſe einer anderen Perfon Gebrauch macht von Mitteilungen, die ihm unter dem Giegel der Amtsverjchwiegenheit gemacht worden find und zu deren Geheimhaltung er fich außer: dem noch durch fein Wort ausdrüdlich verpflichtet Hat?”

„Wie ich über eine ſolche Handlungsmeije denken würde? GSonderbare Frage! Diefer Rechtsanwalt müßte wahrhaftig ein ſehr trauriger Gejelle jein.”

Roman von Hermann Gieröberg. 37 OD EDRD RED TED DD DE DD ED ——

„Er würde die Verachtung eines jeden anjtändigen Meenjchen verdienen ?”

„Aber das ift doch felbftverftändlich. Darüber können wir wohl unmöglich verfchiedener Meinung fein.”

„Wir find es auch nicht, Rudolf. Es war mir nur von Wert, mir’3 von dir beftätigen zu lajfen. Denn, von dem Allgemeinen auf daS Befondere zu fommen: Nehmen wir einmal an, e8 wären durch die vertraulichen Mitteilungen eines dritten zufällig ge- wiffe Dinge zu meiner Kenntnis gelangt, deren Preis- gabe danach angetan wäre, Pagmen Schuldlofigteit zu erweiſen

Mit einem Satz war Rinckleben an ſeiner Seite und faßte ihn an der Bruſt. „Menſch, war es fo ge- meint? Iſt das wahr? Du meißt etwas, da3 fie entlajten könnte? Und du millft dich vielleicht gar befinnen, Gebrauch davon zu machen?“

„Ich babe es unter dem Siegel der Berufsverjchwie- genbeit erfahren, Rudolf und ich hatte überdies zuvor mein Wort gegeben, zu fehmweigen. Sagſt du nicht jelbft, daß es ein trauriger und verächtlicher Ge- jelle fein müßte, der ein folches Geheimnis verriete?“

„Ach, das ift ja alles Unfinn! Es kommt natür- lich immer auf den befonderen Fall an. Wenn es fich um die Ehre eines unfchuldig verdächtigten Menfchen handelt, kann man fich fehon einmal über einige Ge- wijjensbedenfen hinwegſetzen.“

„Es überrafcht mich, ſolche Worte aus deinem Munde zu hören. Prüfe dich doch einmal jelbit, und dann ſage mir, was du tun würdeft, wenn du dich an meiner Stelle befändeft.”

„Was ich tun würde? Bon allen Dächern würde ih es Schreien, den Teufel würde ich mich darum fümmern, ob ich damit meine Berufspflicht verleße

38 Berfiegelte Lippen.

IRADAD ADDED DDr DDr oder nicht! Wenn es fich darum handelt, fie von diefem entjeglichen Verdacht zu befreien, ihr ihren ehrlichen Namen wiederzugeben e3 gibt nichts, das ich nicht dafür tun würde nichts, fage ich div nichts!”

Geine Aufregung verriet, wa3 er unter anderen Umftänden gemiß ängitlich als ein Geheimnis gehütet haben würde.

Herbert preßte für einen Moment die Lippen zu- jammen, dann, als ihre Blide fich begegneten, jagte er leiſe: „Steht e8 jo? Für fie alfo würdeſt du deine Ehre opfern? Nur für fie?”

Vielleicht gefchah es Rudolf v. Rindleben zum erjten Male, daß er vor dem Blick eines anderen die Augen niederfchlug. Er fuchte nach einer Antwort, aber er brachte nur ein paar zufammenhanglofe Worte heraus, bis er plößlich mit energifchem Entjchluß die Befangen: beit wieder von fich abjchüttelte.

„Aber das find ja Torheiten!” rief er. „ES handelt fich doch nicht darum, was ich für fie tun würde, fon: dern was du unter allen Umftänden tun mußt, Herbert!“

„So bift du alfo jet von ihrer Schuldlofigfeit über- zeugt? Es ift noch nicht lange her, daß ich dich ganz anders jprechen hörte.“

„Ach was, damals urteilte ich eben nur nach dem, was ich von den anderen gehört hatte. Laß uns nicht noch einmal von der Hauptjache abjchweifen, Herbert! Du kennſt den Namen des Mörders?“

„sch Tenne ihn.“

„And du gehſt wirklich mit der Abficht um, ihn zu verſchweigen?“

„Ich hoffe, daß es mir gelingen wird, ihn zu einer Selbſtbezichtigung zu bewegen. Das iſt alles, was ich tun darf.“

„Und wenn wenn ich mich dem Unterſuchungs—

Roman von Hermann Gtersberg. 39 ADDED DD AD ED ED DD ED Dr DD Dre Dee Dre

trichter gegenüber der Mitteilung bediente, die Du mir ſoeben gemacht, wenn ich ihn aufforderte, dich als Zeu— gen zu laden?”

„Dann würde ich unter Berufung auf meine Amt3- pflicht daS Zeugnis verweigern.“

„Auch wenn es Dagmars Verderben wäre? Denn daran, daß diefer Mörder fich felbit ftellen wird, wenn. er deiner Verſchwiegenheit jicher fein fann, glaubit du doch jelbjt nicht. Und ich fage dir, daß man fie ver: urteilen wird, felbjt wenn ich fie mit Engelszungen verteidigen könnte. Es gibt nur eine Mlöglichkeit, fie zu retten das ijt die Entdedung des Schuldigen.”

Herbert mar aufgeftanden. Er hatte beide Hände an die Schläfen gedrüdt, und in feinen Augen war etwas Wirres, das Rinckleben erſchreckte. „Verzeih,“ fagte er mühſam, „ich fann jeßt nicht weiter darüber reden. Die Gedanken wollen mir entfliehen. Ich brauche eine Stunde Ruhe.“

„Ich jagte dir doch fchon gejtern, daß du krank biit. Soll ich dich in dein Hotel begleiten?”

„Nein, nein, jo ſchlimm ift e3 nicht, und ich bitte dich auch, heute nicht mehr nach mir zu ſehen. Es würde ja auch zu nichts führen, wenn mir noch weiter darüber fprächen. Vielleicht war e3 eine Torheit, daß ich dir überhaupt eine Andeutung darüber machte, aber e3 war mir, al3 ob mir in diefem Kampfe nachgerade da3 Unterfcheidungspermögen abhanden gefommen märe zwijchen dem, was vecht und was unrecht ift. Ach glaubte, es bei dir wiederzufinden, denn ich hatte ein fo grenzenlofes Vertrauen in deine unbejtechliche Ehren: baftigteit.” |

Rudolf war erjehüttert von dem tiefen Schmerz, der in der Stimme feines Freundes zitterte. Er trat neben ihn und legte den Arm um feine Schultern.

40 Berfiegelte Lippen.

ID DED EDDIE DD DD Der DDr DDr Dre „Ich Tann ja das alles recht gut begreifen. Es muß eine entfeßliche Lage fein, in der du dich befinbeft. Aber mie heißt unfer höchſtes Gebot? Gerechtigkeit über alles! Über alles, Herbert, auch über die Ehre des einzelnen.”

Herbert nidte. „Sei verfichert, Rudolf, daß ich alles bedacht habe, aber ich Tann zu feinem Entfchluffe fommen. Es iſt nicht fo leicht, in einem Augenblic alles über den Haufen zu werfen und zu vernichten, was man während eines ganzen Menfchenlebens auf: gebaut hat. Vielleicht wenn ich jest noch einmal mit mir zu Rate gehe, werde ich den rechten Weg finden.”

Nindleben machte feinen Verfuch mehr, ihn zurüd: zubalten. Er kannte feinen Freund zur Genüge, um zu wilfen, daß durch Überredung nicht auf ihn zu wirten fei. Aber das Herz war ihm fehr ſchwer, denn er mußte auch, daB das Leben diefes Mannes haltlos zufammenbrechen werde in demjelben Augenblid, mo ihm das ftolze Bemwußtjein feiner makelloſen Necht- fchaffenheit verloren gegangen mar.

Es war um die Zeit der Abenddämmerung, als Herbert fich in dem Hotel einfand, das er ohne große Mühe als die Wohnung des Neferendars Keilig er- mittelt hatte. Er erfuhr, daß der Gefuchte auf feinem Zimmer fei, und ſchickte einen Kellner hinauf, ihn an- zumelden. Da er aber auf eine Abmeifung gefaßt war, folgte er ihm auf dem Fuße nach und ftand zur peinlichen Überrafchung des Referendars ſchon auf der Schwelle der offenen Tür, als Keilig eben dem Kellner zurief, daß er für niemand zu prechen jei.

„sch dente, daß Sie mit mir eine Ausnahme machen - werden, Herr Referendar,” fagte er, indem er ohne wei— teres eintrat und fich in einen Stuhl am Tifche niederließ.

Roman von Hermann Giersberg. 41 erde Dee DDr rede Dr Dede Der junge Menfch, der dumpf grübelnd in der Sofaede gehodt Hatte, nahm in der neuerwachenden Herzensangſt jeine Zuflucht zu einem unhöflich barfchen Zon. „Uber ich habe Ahnen Doch ausdrüdlich ver- boten, mich zu drängen. Ich fage Ihnen noch einmal, daß Sie auf diefe Weife gewiß nicht8 erreichen werden.” „Sie haben mir nicht3 zu verbieten, junger Mann! Und ich warne Gie, fich in eine falfche Sicherheit zu wiegen.“

„Sol das eine Drohung fein? Sie wollen damit andeuten, daß Sie mich trog Ihrer Schmeigepflicht denunzieren könnten?“

„Ich drohe nicht, denn ich erwarte von Ihrer Mannhaftigkeit noch immer, daß Sie ſelbſt zu einem befreienden Entjchluß gelangen werden.”

„Das wird ja auch gefchehen. Aber warum muß es durchaus heute oder morgen fein? Bis e3 zu einer Gerichtsverhandlung gegen das junge Mädchen kommen könnte, müjjen noch Wochen oder Monate vergehen, und inzwifchen wird doch ohne jeden Zweifel ihre Schulölofigkeit ang Licht kommen. Schließlich bin ich ja auch bereit, fie in irgend einer Form für die er- littenen Unbequemlichteiten zu entjchädigen.“

Abmwehrend erhob Herbert die Hand, und in feinen Augen war ein Aufbligen des Zornes, das den anderen erfchredte. „Kein Wort mehr von diejer Art oder Sie laufen Gefahr, daß ich mich vergeffe. Und damit Sie mir nicht noch einmal von einer Entjchädigung prechen, die Sie Fräulein Dagmar Holnjtein für die unverjchuldete Schmach diefer Unterfuchhungshaft an- bieten mwollen, damit Sie überhaupt wiſſen, mit wem Sie e3 in mir zu tun haben, will ich Ihnen jagen, daß Fräulein Holnjtein bis vor wenigen Tagen meine Braut geweſen ift, und daß ich gefonnen bin, mich ihrer

42 Berjiegelte Lippen.

DIDI DD Dee ED AD Dane DD re Deere D Intereſſen anzunehmen, wie wenn fie e3 noch immer wäre.“

Zotenblaß war der Neferendar in die Polſter des Sofa3 zurüdgefunten. Es war, als ob ein aufzudender Blisftrahl grell das vor ihm liegende Dunkel erleuchtet und den Schleier zerrifjen hätte, der ihm bis jeßt über feiner Zukunft gelegen. Er Hatte im Lichte dieſes Blites etwas gejehen wie eine Kerkerzelle und mie das Bliten eines Henterbeiles.

Wenn der Mann da vor ihm das Mädchen liebte, das er mit einem einzigen Worte befreien und rechts fertigen konnte, wie durfte er fich dann irgendwelche Hoffnung auf feine Verfchwiegenheit machen!

AU fein Trog und feine bochfahrende Zuverficht waren mit einem Male dahin, und nichts war ge- blieben als die Tägliche Verzweiflung eines um fein armfeliges Dafein zitternden Menjchen. Er wagte es nicht mehr, fi) auf die Schweigepflicht des Rechts— anmwalt3 und auf das verpfändete Ehrenwort zu be- zufen, er nahm vielmehr feine Zuflucht jet zu jam- merndem Flehen. Schluchgend und mit gerungenen Händen beſchwor er Herbert, ihm wenigften3 eine kurze Frift für feine Entjchließung zu gewähren.

„Geben Sie mir eine Woche,“ bat er, „oder wenig: ſtens ein paar Tage. Es Tanıı Doch inzwifchen ein Wunder gejchehen. Und wenn es nicht gejchieht, fo werde ich inzwifchen wenigſtens Zeit gefunden haben, mich auf das Entfegliche vorzubereiten. Geben Sie mir zwei Tage Sie können nicht die Granfamteit haben, fie mir zu verweigern.“

Es war nicht Mitleid, was Herbert bei dem Schau- fpiel des fich in Todesängften vor ihm Windenden empfand, jondern nur ein Gefühl des Ekels, das ihm bis in die Kehle emvoritieg. „Gut,“ jagte er, „ih

Roman von Hermann Gierdberg. 43 Dr Dr DDr Dreier Der ee

will Ihnen zwei Tage Zeit laffen. Aber ich rate Ihnen dringend, fich dann zu einem Entjchlujfe auf: zuraffen. Ich rate e3 Ihnen in Ihrem eigenen Syuter- ejfe, denn Sie würden Ihre Lage nur verjchlechtern, wenn Sie es mir oder irgend einem Zufall überlafjen, Ihre Schuld ans Licht zu bringen.”

Es war zweifelhaft, ob FKeilig von feinen lebten Morten mehr gehört und verftanden hatte, als daß ihm die erbetene Galgenfrift gemährt worden fei. „Wäh— rend dieſer zwei Tage werden Sie nicht3 unterneh- men? Sie ſchwören mir, daß Sie nichts unternehmen werden?“

„sch ſchwöre Ihnen gar nichts,” fagte Herbert, der fih ſchon zum Gehen gewandt Hatte. „Damit, daß ich Ihnen dieſe Überlegungsfrift gemährte, iſt doch ſchon binlänglich gejagt, daß. Sie bis zu ihrem Ablauf nichts von mir zu fürchten haben.“

Achtzebntes Kapitel,

Mit dem leeren Blick eines Verrüdten ftarrte Paul Keilig auf die Tür, Durch welche fich der Rechtsanwalt entfernt hatte. So war denn jede Hoffnung auf Ret— tung dahin! Seitdem er den Grund von Herbert Voll: mars Intereſſe für Dagmar kannte, hegte er feinen

Zweifel mehr, daß der Rechtsanwalt ihn verraten würde. Was follte ihm die kurze Galgenfrift von zwei Zagen frommen, die er fich in feiner Todesangſt er- bettelt hatte? Er hatte bis zu diefem Augenblick bei dem Gedanken an da3 unfchuldig leidende junge Mäd- chen jein Gewiſſen damit zu betäuben gejucht, daß er fich jagte, man könne fie doch unmöglich für eine Tat verurteilen, die fie nicht begangen. Stündlich hatte er erwartet, die Kunde von ihrer Freilaſſung zu vernehmen.

44 Verſiegelte Lippen. Dre DnmeDer Dr Dr Dre DDr D DDr DneD me Dre Dee Erſt aus Vollmars Munde hatte er jebt erfahren, wie verzweifelt e3 mit ihrer Sache ſtand.

Daß man innerhalb dieſer zwei Tage zu der Über: zeugung ihrer Schuldlofigfeit gelangen jollte, ohne daß der wirkliche Täter entdeckt wurde, war ihm fo wenig mwahrfcheinlih, daß er nicht den Mut Hatte, fih an diefe ſchwache Hoffnung zu Hammern. Die Dinge würden vielmehr nach Ablauf der Frift genau jo liegen wie in dieſem Augenblid. Er würde noch einmal mie jegt vor die fürchterliche Wahl gejtellt jein, fich ent: weder felbjt des Totſchlags zu bezichtigen oder fich von dem Manne, der fein Geftändnis empfangen hatte, dem Gerichte überliefern zu laſſen.

Eiskalt überlief e3 feinen Körper bei der Borftellung des Gräßlichen, das ihn alsdann erwartete. Mit greif- barer Deutlichleit ſah er die Kerkerzelle vor fich, Die ihn aufnehmen würde, den Schmurgerichtsfaal, in welchem er die traurige Rolle des Helden eines Sen— jationsprozefjes würde fpielen müffen, und in feiner gemarterten Seele fchrie es auf: „Nein, nein! Lieber ein Ende mit Schreden als dies!”

Der Gedanfe an einen Selbſtmord hatte ihn ja jeit dem Augenblid feiner unfeligen Tat faſt unaus: gefett bejchäftigt. Er hatte alle ihm bekannten Arten eines freiwilligen Todes an feinem Geifte vorüberziehen lafien, um ſich für die leichtefte imd fchmerzlofeite zu entjcheiden, aber er war zu feinem Entjehluß gefom- men. Welches Mittel auch immer er wählen mochte, fein verpfufchtes Dafein zu enden, immer haftete dem Bilde, das feine aufgeregte Phantafie ihm von jenen letzten Augenblicden malte, jo viel Graufiges und Furcht: erregendes3 an, daß er in unübermindlicher Feigheit als vor etwas Unmöglichem davor zurüdjchauderte. Aber Tchlieglich e8 mußte doch fein! Geitdem das Ge:

Roman von Hermann Gieräberg. 45 DDr Dre rer DD DDr Dre Dre Dre Dre Dre Dre Dre DD beimnis nicht mehr ihm allein gehörte, gab es ja gar feinen anderen Weg mehr als diefen. Vielleicht, wenn er die Geijter des Alkohols zu Hilfe rief, würde er auch den Mut finden, e3 zu vollbringen.

Er Elingelte nach dem Kellner und ließ fich die Meintarte bringen. Der junge Menfch machte ein höchft verwundertes Geficht, als er den Auftrag erhielt, eine Slafche Champagner und eine Flafche alten Bur— gunder auf das Zimmer des Referendars zu bringen.

„Erwartet der Herr Referendar Beſuch?“ konnte er fich nicht enthalten zu fragen. „Soll ich gleich mehrere Gläfer bringen?” |

Aber er erhielt eine unmutig verneinende Antwort und leiftete nun ſtillſchweigend dem empfangenen Auf- trag Folge.

Den Widermillen, der ibm beim erſten Schlud au- gewandelt hatte, gewaltſam überwindend, jtürzte Keilig da3 zufammengemijchte feurige Getränt hinab. Dex er- hoffte Raufch ftellte ſich bald genug ein, aber ex brachte ihm nicht das erwartete Vergejjen, jondern nur eine bis ins Unerträgliche gejteigerte Qual. Schauer: liche Halluzinationen begannen ihn unter dem Einfluß des Weines zu peinigen, und er mußte endlich zu einer großen Dofis des Schlafpulvers greifen, an das fein zerrütteter Körper ſchon feit langem gewöhnt war, um fich diefer Folter zu entziehen.

Ein paar Stunden lang lag er in bleifchmerem Schlummer, dann aber begannen die. gewaltjam auf- geftachelten Nerven aufs neue ihr graufames Spiel, in- dem fie ihm die entjeglichiten Traumbilder vorgaufelten. In einem Zeitraum: von Minuten durchlebte er die ganze Zortur der Unterfuhung und der öffentlichen Verhandlung, die natürlich mit feiner Verurteilung endete mit feiner Verurteilung zum Tode. Er emp:

46 Berfiegelte Lippen. ADD fand alle Schredniffe der Todesangft, er ſah fich in der Armefünderzelle und heulte jammernd um fein junges Leben. Dann hörte er den Schlüffel des Wär- ters im Zürfchloß Fnirfchen. Er ſah die Männer ein: treten, die ihn zu feinem letzten Gange abholen woll- ten, den Gefängnisdirektor und den Geiftlichen in feinem ſchwarzen Ornat, ganz fo, wie er fie vor einigen Mo: naten bei einer Hinrichtung gefehen hatte, der er al3 Protofollführer hatte beimohnen müſſen. Er klammerte fih an feiner Bettjtatt feit und flehte, man möge ihm nur noch einen einzigen Tag, nur noch eine einzige Stunde Aufſchub gewähren. Aber er fühlte fich von Itarten Händen emporgeriffen und hinausgefchleift über den langen dunklen Gang bi3 in den grauen düfteren Zuchthaushof, den er von jenem grauenhaften Schau: . jpiel ber noch jo gut im Gedächtnis behalten hatte.

Er fah in verfchwimmenden Umriſſen die Eleine Ver: jammlung von Zufchauern, fah den grünverhangenen Tifeh, vor dem der Staatsanwalt ftand mit dem Todes: urteil in der Hand und ſah mit unfagbarem Ent- jfegen die beiden bochragenden Balten der Guillotine, neben denen fich undeutlich die Gejtalten des Scharf: richters und feiner Gehilfen abhoben.

Eine Qual, der fein anderer Eörperlicher oder fee- liſcher Schmerz fich vergleichen läßt, zerfleifchte feine Bruft. Noch einmal nahm er alle feine Kraft zufammen, um fich gegen das Fürchterliche zu ſträuben. Er riß fich von feinen Begleitern los und juchte zu entfliehen, aber in derfelben Sekunde ſchon fühlte er fich von einem balben Dutzend eiferner Fäuſte ergriffen und fortgejchleppt, die Stufen der kleinen Bühne empor, auf der das Fallbeil errichtet war. In der namen: loſen Verzweiflung der letzten gräßlichen Todesangit fchrie er noch einmal gellend auf und dieſer Schrei

DADeEDreDeDerD

Roman von Hermann Gieräberg. 4 Te I I aus feinem eigenen Munde ang ihm noch im Ohre nach, als er erwachte.

Er war in Schweiß gebadet, und fein Herz häm- merte jo ungeftüm, daß er zu fterben glaubte Am ganzen Leibe zitternd, richtete er fich auf und ftarrte durch das offene Fenfter in den dDämmernden Morgen hinaus. Eine geraume Weile verging, ehe er Klarheit in feine Gedanten gebracht hatte und ehe er im ftande war, Wirklichkeit und Einbildung mit voller Deutlich- feit voneinander zu fcheiden.

Daß es nur ein Traum gemefen mar, was er jo- eben durchlebt hatte, und daß man ihn nicht zum Tode verurteilen würde, bereitete ihm vorübergehend ein un- bejchreiblich Löftliches Gefühl der Erleichterung, aber zugleich wurde e3 ihm zur Gemißheit, daß er niemals fähig fein würde, freimillig aus dem Leben zu gehen. Jetzt erft hatte er ja erfahren, was Todesangft ſei. Zaujendmal eher wollte er jede Schmach, jede Demüti- gung auf ſich nehmen, als daß er diefe Dual aus freiem Entſchluſſe noch einmal über fich heraufbefchwor.

Die Törperliche Erfchlaffung, die fich jeßt als natür- liche Reaktion nach dem NRaufche einftellte, brachte ihm endlich eine Ruhe des Geiftes, wie ſie ihm feit feiner Tat noch feinen Angenblid zur Verfügung geftanden hatte. Er fing an, Taltblütig zu überlegen. Auf Her- bert Vollmars Verſchwiegenheit Tonnte er nicht auf die Dauer rechnen, an ein Wunder, das Dagmars Unfchuld ohne fein Zutun ans Licht bringen würde, wagte er nicht zu glauben. Aber er Hatte ja zwei Tage Zeit. Herbert Vollmar würde diefe Frift einhalten, deſſen glaubte er ſich gewiß. Wenn er fich jogleich auf die Flucht machte, Tonnte er in diefen zwei Tagen recht mohl einen gewaltigen Vorfprung vor feinen Verfol- gern gewinnen.

48 Berjiegelte Lippen. DEDEEDRD EDDIE DD DD Dee

Er mar ja glüdlicherweife nicht mittellos. Die fechstaufend Mark, die Cordes ihm zur Begleichung feiner Spieljchuld gegeben, befanden fich noch in feinem Beſitz. War dag auch nur eine geringfügige Summe für jemand, der-fich irgendwo in der Fremde ein neues Leben zimmern muß, jo war e3 doch jedenfalls genug, um ihn über den Ozean zu bringen. Ob er fpäter das Leben eines Tagelöhners führen oder fein Brot vor den Türen erbetteln müjfe, galt ihm in diefem Augen: blie völlig gleih. Wenn er nur vor dem Zuchthaufe bewahrt blieb und wenn er ſich nur nicht länger mit dem jchredlichen Gedanten des Selbſtmordes zu be- Tchäftigen brauchte!

Aber von Hamburg oder Bremen aus durfte er natürlich nicht fahren, dort würde man ihn ja zuerft fuchen, und es war wenig mwahrfcheinlich, daß es ihm gelingen würde, fich in jenen Häfen unentdecdt auf einen Baflagierdampfer zu ſchmuggeln. Er dachte erft an einen der holländischen Hafenpläße; aber dann ent- jchied er fich für Genua, wo er fich früher einmal aus Anlaß einer PVergnügungsreife ein paar Tage lang. aufgehalten. Die italienifchen Behörden waren vielleicht nicht jo ftreng in der Überwachung der Auswanderer wie die deutjchen, und wenn er mit einiger Borficht darauf bedacht war, jede Spur hinter fich zu verwifchen, wer jollte dann auf die Vermutung kommen, daß er fic) gerade nach Genua gewandt babe? Wohl dachte er an feinen Vater und an alles das, was er nun für immer aufgab, aber diefe Vorftellungen vermochten ihn nicht mehr wankend zu machen in feinem Entjcehluß. Das alles war für ihn ja fehon verloren geweſen in dem Augenblid, da er in finnlofer Verzweiflung die Todeswaffe gegen feinen Beiniger erhoben. Einen Zuftand wie den jebigen vermochte ex jedenfalls nicht

Roman von Hermann Giersberg. 49 Dre DreDreDreDreDre DDr DneDreD re Dre DreDreDne DDr länger zu ertragen. Schlimmer wie in diefem Augen- blid Tonnte ja feine Lage garnicht mehr werden. Warum alfo follte er es nicht mit m legten Ausfunftsmittel verjuchen!

Mit einer Umficht und Vedachtſamkeit, die in ſelt— ſamem Widerſpruch ftand mit feinem ruhbelofen, zer⸗ fahrenen Weſen während der lebten Tage, traf er un: verzüglich feine Vorbereitungen. Er fagte fich, daß e3 vor allem darauf antomme, bier feinen Verdacht zu erregen. Deshalb verzichtete er darauf, irgend etwas von feinem Gepäd mitzunehmen. Als er nach ein- genommenem Frühſtück die Treppe hinabging, fagte er dem ihm begegnenden Kellner, daß er einen Ausflug nach der Roten Rlippe zu machen beabfichtige. Und dann, als ob e3 ihm eben exft eingefallen fei, fügte er hinzu: „Sollte ich da Gefellfchaft finden, fo ift es nicht unmöglich, daß ich über Nacht ausbleibe.”

Dann ging er zum Landungsfteg hinab, von dem, wie er mußte, das PDampfichiff nach dem Feitlande heute ſchon ungewöhnlich früh abfahren jollte. Er ſah zu feiner Genugtuung unter den Paſſagieren fein be- fanntes Geficht. Als fich nach einer Heinen Weile das Schiff in Bewegung fette, als die Häufer des Bade: ortes immer kleiner wurden, und zule&t auch die Hügel: fette der Dünen in einem Nebelftreifen verſchwand, hob fich feine Bruft in einem Gefühl der Erleichterung, wie wenn feine Flucht bereit gelungen wäre.

Ohne jeden ftörenden Zmifchenfall fam er in Berlin an, das er als erſtes NReifeziel gewählt hatte, weil er der Meinung war, dort am beiten und unauffälligften die nötigen Vorbereitungen für feine Weiterreife treffen zu können. Er ftieg in einem Hotel zweiten Nanges ab, wo er ficher war, daß ihn niemand Fannte, fehrieb

fich unter dem erften beten Namen, der ihm eben ein: 1904. III, 4

50 Berfiegelte Lippen.

m Dr AD ED ED AD RD ED ED DDr Dre Dre Dre fiel, in das Fremdenbuch ein und begab ſich dann fogleich zur Ruhe, da er fid) nad) den Strapazen des Tages zum Tode ermüdet fühlte.

Diesmal fand er wirklich den erſehnten Schlummer, und er hatte fich feit langem nicht fo friſch und Fräftig gefühlt, al3 da er am nächſten Morgen erwachte. Die Zuverficht auf Errettung aber, die ihn gejtern erfüllt batte, wollte heute nicht mehr recht ftandhalten. Pie Furcht, daß Herbert Vollmar feine Flucht entdecdt und ihm die Polizei auf den Hals gehetzt haben könnte, beunrubigte ihn von Minute zu Minute ſtärker. Es foftete ihn Überwindung, fich aus feinem Gafthofzimmer herauszumagen. Er glaubte die Blicke des Wirtes miß— trauiſch auf fich gerichtet zu fühlen, während er feine Heine Rechnung bezahlte. Als er dann auf die Straße hinaustrat, ließ ihm der Anblick des erſten uniformier- ten Schugmannes, der feinen Weg freuzte, ein Er- ſchauern über den Rüden riefeln. Er hatte feine Reife in Berlin unterbrochen, weil er hier die Verwandlung mit fich vornehmen wollte, die ihn im Falle einer Ver: folgung für die Hafenbehörden untenntlich machen follte; denn er würde ja natürlich nicht unter feinem Namen fahren und nicht als ein Wann der höheren Stände, fondern in irgend einer Verkleidung al3 gemöhnlicher Arbeiter oder dergleichen.

Uber er Hatte fich die Verwandlung leichter vor: geftellt, al3 fie fich erwies. Es gab ja in der ärmeren GStadtgegend, in die er feine Schritte gelenkt, der Trödel: gejchäfte und Kleiderhandlungen genug, in denen er ohne weiteres gefunden hätte, was er fuchte, aber e3 fehlte ihm an Mut, in einen diefer Läden einzutreten. In feinem eleganten GStrandanzug hätte er, mie ex meinte, den Verkäufern ſogleich verdächtig werden müffen, wenn er mit feinen Wünfchen herauskam.

Roman von Hermann Giersberg. 51 EDDIE DD DD ED DD DDr DD DD ce Dann machte er eine Wahrnehmung, die feine Herzensangjt plößlich wieder bis ins Ungemefjene ftei- gerte. | Ein ziemlich ſchäbig ausfehender Menfch mit ſtarkem blonden Schnurrbart und ftechenden Augen hatte es ganz unverkennbar darauf abgejehen, jeden feiner Schritte zu belauern. Als der Referendar den uns angenehmen Blid des Menfchen zum erjten Male auf jich gerichtet gefehen hatte, hatte er nur geglaubt, durch jeine für diefe Gegend etwas auffällige Kleidung die Aufmerkſamkeit des Mannes erregt zu haben. Aber als er ihn dann beftändig hinter fich ſah, obmohl er doch abjichtlich ganz planlos durch die Straßen jchlen- derte, regte fich ein beflemmender Argmohn in feinem Herzen.

Wenn es ein Geheimpolizilt war, der den Auftrag Datte, ihn zu verhaften! Er wußte ja, daß dieje Leute fich oft in den fonderbarjten Verkleidungen bemegen. Der Mann war vielleicht feiner Sache nur noch nicht ganz gewiß, er wollte vielleicht nur warten, bi3 ex ihn auf einer Handlung 'ertappte, die an feinen Flucht: abfichten feinen Zweifel ließ.

Die Beharrlichkeit des Verfolger machte für den Neferendar die Vermutung bald zur Gemißheit, und mit einem Male kam es über ihn wie der Mut der Derzweiflung. Wenn e3 fich wirklich. jo verhielt, mie er argmwöhnte, warum follte er dann noch lange mit ſich fpielen laſſen? Dieſe unfinnige Angjt vor dem, was in der nächjten Minute gefchehen würde, brachte ihn fonft um den Verſtand.

So mandte er fich, als der andere eben wieder dicht Hinter ihm mar, kurz entjchloffen um und herrjchte ihn an: „Was wünſchen Gie eigentlich von mir? Warum laufen Sie beftändig hinter mir drein?“

52 Berfiegelte Lippen. —— FED DE Dre DD re re DD EDDIE AD ED

Er war darauf gefaßt, daB der Angeredete fogleich mit beiden Händen zupaden und ihn für verhaftet er» klären würde.

Aber ftatt deffen verzog ſich deſſen Geftcht zu einem breiten, gutmütigen Grinfen, und er fagte: „Seien Sie nur gemütlih, Herr Doktor! Ich wollte bloß herausfriegen, ob Sie e3 wirklich find. Es kam mir jo vor, als ob Sie was ſuchten. Wenn ich Ihnen vielleicht behilflich fein fann Gie werden midh Doch wohl noch kennen?“

Jetzt glaubte Baul Keilig in der Tat etwas Be- fanntes in dem Geſicht des Menfchen zu entdeden, aber er mußte doch nicht, welchen Pla er ihm in feinen Erinnerungen zumeifen ſollte. „Es ift mir allerdings, als hätte ich Sie ſchon gefehen, aber ich Tann mich nicht gleich befinnen, mo e3 gemejen ijt.*

„Ra ja, der Herr Doktor haben wohl mit fehr vielen Menjchen zu tun. Ich heiße Eichler, und der Herr Doktor hat mich verteidigt. Der Herr Rechts: anmwalt Steinit Hatte Sie als feinen Vertreter in die Verhandlung geſchickt. Ich konnte ſchon damit zufries den ſein, denn Sie haben die Sache ja ſo fein gedreht, daß ich richtig freigeſprochen wurde.“

„Ah, jetzt entſinne ich mich. Es war eine Sache wegen Fälſchung amtlicher Schriftſtücke, nicht wahr? Sie waren angeklagt, einen Handel mit ſelbſtgefertigten Legitimationspapieren getrieben zu haben.“

„Ganz recht, Herr Doktor,“ beſtätigte Eichler, und der Mund unter dem ſtruppigen Schnurrbart zog ſich noch mehr in die Breite. „Es hätte mir ſchlecht gehen können, wenn Sie die beiden Belaſtungszeugen nicht fo konfus gemacht hätten. Meine Freunde, die im Zu— Tchauerraum waren, meinten nachher auch, Gie hätten Ihre Sache großartig gemacht.”

Roman von Hermann Gieräberg. 53 DD ADDED EDDIE re DD DD ED ED DD

Sm erſten Moment hatte der Neferendar nur den Wunſch gehabt, fich jo ſchnell als möglich von der kom⸗ promittierenden Gefellfchaft feines ehemaligen Klienten zu befreien, dann aber ſchoß ihm plößlich ein Gedante durch den Kopf, der ihm felbft im Lichte einer wahr: haft genialen Eingebung erfchien.

Ohne Rüdficht darauf, ob diefe Vertraulichkeit irgend jemands Verwunderung errege, faßte er den anderen am Arm. „Jawohl, ich babe Ihnen damals einen großen Dienft erwiejen, Eichler, ohne mich mären Gie unfehlbar ins Zuchthaus gewandert. Wollen Sie mir jetzt Ihre Dankbarkeit bemeijen?” |

„Wenn's möglich ift, Herr Doktor, gewiß. Unfer: einer fann ja nicht viel bezahlen, aber wenn's auf andere Weile gutgemacht werden kann, lajjen wir uns gewiß nicht lumpen.“

„Können Sie mir ein paar Regitimationspapiere verfehaffen, mit deren Hilfe ich nach Amerika fomme? Ich babe nämlich ein Duell gehabt, da3 leider unglüd- lich ausgegangen ijt, und ich habe feine Luft, mich zwei Sabre auf die Feſtung fehiden zu laſſen. Darum möchte ich fort.“ |

Herr Eichler ſchien in die Richtigkeit feiner Mit- teilung nicht den mindeften Zweifel zu fegen. „Das fann ich Ihnen nicht verdenfen, Herr Doltor. Wiffen Sie auch, daß ich mir jo etwas Ähnliches gedacht hatte, al3 ich Sie vor jedem Kleiderladen ftehen bleiben fah? Sie möchten ſich jo 'n bißchen unkenntlich machen, nicht wahr?”

„Auch das, aber die Papiere find die Hauptfache. Gie befafjen ſich doch wohl noch mit dem Gejchäft?”

„Ra und ob! Seder bleibt Doch gern bei dem, was er mal gelernt hat. Aber Sie wollen mich doch wicht etwa ’reinlegen, Herr Doktor?“

54 Berfiegelte Lippen. DDR DAAD Dre DD DDr Dr Dr ED

„Was fällt Ahnen ein! Sch würde Ihnen im Gegenteil Ihre Arbeit ſehr gut bezahlen.“

„DO, darauf kommt es nicht an. Eine Hand wäſcht die andere, Herr Doktor. Sind Sie mir gefällig geweſen, warum joll ich Ihnen nicht wieder gefällig fein! Aber e3 trifft fich fehlecht. Ich habe in diefem Augenblick nicht3 auf Lager wenigſtens nichts, was für Sie pafjen würde. Sie werden fich fchon gedulden müſſen.“

„Das ift unmöglid. Zeit babe ich nicht. Gie müfjen mir die Dokumente fofort befchaffen, Eichler!“

Der andere dachte nach, aber er zudte dann Doc) wieder bedauernd die Achjeln. „Es wird fich wirklich nicht machen lafjen, Herr Poltor. Bis morgen früh müflen Sie unter allen Umjtänden warten. Dann werde ich Ihnen einen Heimatjchein und einen Militär: paß auf den Namen des Schneidergejellen Emil Fifcher beforgen. Es macht Ihnen doch nichtS aus, al ein- facher Schneidergefelle nach Amerika zu gehen?“

„Kein, es ift mir gerade vecht fo. Aber ich fürchte, bis morgen ift es zu fpät. Wenn die die Duell- gejchichte erjt einmal herausfommt, wird man natürlich . auch gleich Hinter mir her jein.”

„Ra, wenn's weiter nichts ift, dafür werden wir fhon Rat fchaffen. Wenn es Ihnen nicht zu armfelig ift, will ich Sie in ein Quartier bringen, wo fein Menſch Sie fuchen fol. Da können Sie denn auch in aller Gemütsruhe Ihre feine Kluft mit einem An: zug vertaufchen, wie er bejjer für einen Schneider- gejellen paßt. Wenn Sie wollen, will ich Ihnen da3

alles beforgen.” Reilig war geradezu gerührt von der Hilfsbereit- ſchaft feines alten Belannten. Die wahnwitzige Angit, die er während der letten Tage ausgeftanden, hatte ihn völlig unempfindlich gemacht für das Schmachvolle

Roman von Hermann Giersberg. 55 RITDRRD ED DD ED ARD ARD AED AD ED Dr ED re De De DdreD

und Gntmwürdigende einer Gemeinfchaft mit dieſem notorifchen Verbrecher. Er fühlte für den Mann viel- mehr eine Dankbarleit und eine Zuneigung, wie er fie noch für feinen feiner Freunde empfunden. Ohne jede Regung des Argwohns hinfichtlich der Lauterkeit feiner Abfichten vertraute er fich feiner Führung an. |

Neunzehntes Kapitel,

Während des ganzen Tages hatte Herbert nichts von feinem Freund Rindleben gehört. Er durfte fich nicht darüber wundern, denn er mußte ja nach feinen legten Äußerungen annehmen, daß Dagmar inzwifchen nach dem Landgerichtsgefängnis überführt worden fei, und er bielt e3 für felbftverftändlich, daB Rudolf ihr dahin gefolgt war.

Es waren fürchterliche vierundzwanzig Stunden geweſen, die er durchlebt hatte, denn zu den körper— lichen Schmerzen, die fich bejtändig fteigerten, und zu der phyſiſchen Erfchöpfung, gegen die er nur noch mit äußerjter Energie anzulämpfen vermochte, gefellten fich die Qualen eines feelifchen Zwieſpaltes, wie er graufamer eines Menfchen Herz kaum heimzufuchen vermag.

Auf den moralifhen Mut des Neferendarz durfte er nach allem, was er von ihm gehört hatte, nur ge= ringe Hoffnung jegen. Er ſah voraus, daß ihm jchließ- lich fein anderer Weg übrig bleiben würde, Dagmar zu retten, als der, auf dem er feine menfchliche und feine Berufsehre preisgeben mußte. Er war entſchloſſen, im äußerjten Yalle diefen Weg zu gehen, aber er gab ſich feinen Augenblid einer Täufchung darüber Hin, daß er damit zugleich fein eigenes Schickſal befiegelte. Benn als ein Anwalt, der jeine vornehmfte Pflicht

56 Berfiegelte Lippen.

IDrEDD ED D Fr ED EDerED ED ED ED ED ED De Der verlegt, al3 ein Mann, der fein Ehrenmort gebrochen, würde er ja fortan außerhalb der Gemeinfchaft der anjtändigen Leute geftanden haben. Daß er aber als ein Ausgeſtoßener, al3 ein von feinem eigenen Gewiſſen Verdammter nicht weiterleben fünne, mar ihm voll: fommen Kar.

Es war nicht feige Furcht, was ihn bei dem Ge: danken an die unvermeidlichen Folgen eines Vertrauens: bruches erjchauern ließ. Das Leben hatte für ihn in diefem Augenblid einen jo geringen Wert, er empfand es vielmehr al3 eine fo drückende Laſt, daß er ein Auf- hören diefer Pein nur wie eine Erlöfung begrüßen konnte. Aber die VBorjtellung eines Selbjtmordes war für ihn immer jo eng mit dem Begriff des Schimpf: lichen verknüpft gemejen, daß er nicht an die Befreiung Dachte, fondern nur an die Schmad).

Und dann gab es auch noch etwas anderes, das ihn peinigte. Er war irre geworden an jeinem Ur: teil über Dagmars Berfehlung gegen ihn. Seitdem Nindleben ihm fo ungmeideutig verraten hatte, welcher Art feine Empfindungen für Dagmar feten, mußte er ja an dem eiferfüchtigen Schmerz, der in feinem Herzen gewühlt hatte, wie tief die Liebe zu ihr noch immer darin mwurzelte. Er hatte es aufgegeben, jich gegen diefe Erkenntnis zu fträuben, wie er e3 unter Aufbietung al jeines männlichen Stolzes anfänglich getan, er hatte fich vielmehr mit einer Art von wollüftiger Graufam- feit gegen fich jelbjt alles ins Gedächtnis zurüdzurufen gefucht, wa3 fein kurzer Liebestraum ihm an glücjeli- gen Augenbliden gebracht hatte. Und mie dabei da3 Bild des geliebten Mädchens in all feiner Holdfeligkeit vor ihm geftanden, da war nicht nur fein Groll gegen fie mehr und mehr verftummt, fondern er war au wankend geworden in der Überzeugung, daB Dies all

Roman von Hermann Gieräberg. 57 ö⏑⏑ ED ED ED ED ED ED nur ein herzloſes Spiel geweſen fein ſollte. So ſchänd— lich konnten dieſe Augen, diefe Lippen nicht gelogen haben, jolcher Verjtellung war fein menſchliches Weſen fähig! Der Gedante, daß fie jelbjt das Opfer eines Betruges geweſen fein könnte gleich ihm, bohrte fich immer quälender in fein jchmerzendes Gehirn. Piel: leicht hatte fie gar nicht3 von jenem Teſtament gemußt; daß fie ihm den wirklichen Namen ihres Stiefvaters verfchmwiegen, hatte vielleicht eine ganz andere, harm— loſe Urfache gehabt, über die fie ihn möglicherweife in wenig Worten hätte aufflären können.

Aber wenn es jo war, hatte er ja überhaupt fein Recht, fie anzullagen. Wenn e3 fo war, lag alles Un⸗ recht bei ihm, und ihr freimilliger Verzicht auf die Ein- löfung ſeines Verſprechens war nicht eine Handlung ſchnöder Selbitfucht, ſondern eine edle und hochherzige Entjagung gemejen.

Zwiſchen Glauben und Zweifel beftändig hin und ber geworfen und unfähig, zu einer Karen Vorftellung der Dinge zu gelangen, hatte Herbert einen über alle Befchreibung peinvollen Tag verlebt. Inbrünſtig fehnte er das Ende der zweitägigen Frift herbei, die er fich durch die flehentlichen Bitten des Neferendard Hatte abringen lajjen, denn von Zeit zu Zeit, wenn e3 fich vorübergehend wie ein Schleier über fein Bewußtſein legte, erfaßte ihn eine entjegliche Angſt, daß er ernit- lih erkranken Tönnte, ehe dieſe Frift abgelaufen mar. Einmal dachte er ſogar daran, einen Bericht über Paul Keiligs Geftändnis niederzufchreiben, damit man denfelben bei ihm fände, aber er brachte die Abficht nicht zur Ausführung, weil fie ihm alS eine unzuläffige Umgehung de3 gegebenen Verſprechens erfchien, und weil er, dem e3 bisher noch immer gelungen war, feinen Körper unter die Herrfchaft feines Willens zu zwingen,

58 Berfiegelte Lippen.

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auch diesmal nicht an ein Unterliegen feiner Energie zu glauben vermochte.

Am Morgen des zweiten Tages trat Rudolf v. Rind» leben in fein Zimmer. Er fah finjter aus, und feine - Haltung war fteif und gemefjen wie die eines Frem— den. Ohne ihm die Hand zu reichen, begrüßte er den Freund. Der Aufforderung, fich zu ſeten— leiſtete er nicht Folge.

„Ich komme eben von Dagmar,“ * er. „Ihre Sache ſteht nicht gut.“

„Hat ſich irgend etwas ereignet, ſie zu verſchlech— tern?“

„Nicht gerade das, aber es zeigt ſich noch immer keine Spur, die zur Ermittlung des Täters führen könnte. Der Unterſuchungsrichter iſt, ebenſo wie der Staatsanwalt, felſenfeſt von ihrer Schuld überzeugt. Man hält ſie für ſo vollſtändig überführt, daß man mit dem Gedanken umgeht, die Vorunterſuchung ſchon in den nächſten Tagen zu ſchließen und das Hauptver— fahren einzuleiten. Es iſt hohe Zeit, daß ein Wunder geſchieht, um ſie zu retten.“

Herbert hörte aus jedem ſeiner Worte deutlich den Klang des Vorwurfs. Er wußte ja, daß Rinckleben ihn im Beſitz des Mittels glaubte, dieſes Wunder her— beizuführen, und er konnte nicht daran zweifeln, daß er nur in der Abſicht gekommen war, U Dazu zu ver- anlajjen.

Noch aber war der Augenblid nicht gefommen, da er Sprechen durfte, und fo blidte er ftumm vor fich hin.

Eine kleine Weile verhielt jich Nindleben abmwartend, ‚dann aber trat er auf ihn zu und erfaßte ihn mit einer ungeftümen Bewegung an beiden Schultern. „Was für ein Menſch bift du, Herbert? Du bift im jtande,

Roman von Hermann Gieräberg. 59 DDr ED re Dre Dr Dr ED ED DeD

er DrxD

ihr Martyrium zu enden, und du Fannjt noch immer zögern, es zu tun?“

„Ich darf nicht anders, ich habe dir ja gefagt, we3- halb ich nicht anders darf. Du mwürdeft genau fo han: deln, wenn du dich an meiner Stelle befändeft.“

Der andere ließ ihn los und durchmaß mit ftarfen Schritten das Zimmer. „Nein, nein,“ brach er endlich aus, „ich würde es nicht tun, denn ich bilde mir nicht ein, mehr als ein Menfch zu fein. Schließlich Fönnte e3 doch höchſtens das Leben fojten. Und für die Ehre des Mädchens, das er liebt, opfert ein vechtjchaffener Mann unbedenklich fein Leben.”

Das Wort, das ja nur eine Beftätigung deffen war, was er fich felbjt gejagt hatte, wirkte jeltfam befreiend auf Herbert. Er ftand auf und legte die Hand auf den Arm des Freundes. „a, du Haft recht e3 kann nicht mehr Toften als das Leben. Vielleicht wirft du mir eines Tages wieder die Freundlichteit erweifen, mich) unter die Leute zu rechnen, die du ſoeben die Rechifchaffenen genannt haſt.“

Betroffen und fragend ſah ihn Nindleben an. „Was willft du damit fagen, Herbert? Du nimmſt das doch Hoffentlich nicht buchftäblich.”

„sch nehme e3 fo, wie wir es wohl beide meinen. Noch einmal aljo: Dagmars Sache jteht ſchlecht?“

„Sp ſchlecht als möglih. Sie trägt unglüdlicher: weife durch ihr eigenes Verhalten noc immer dazu bei, den Verdacht zu verjtärten. Ich bin allen Ernſtes darauf gefaßt, Daß fie eines Tages rund heraus er- klären wird, fie hätte es getan, nur um fich eine lange Gefängnizftrafe zu fichern. Ihre Furcht vor der Rüd- tehr ins Leben iſt unübermindlich.”

„Es wird deiner Liebe Hoffentlich gelingen, fie zu überwinden.”

60 Berfiegelte Lippen. ADD AD AED De Dre Dre Dre DD

Rinckleben trat einen Schritt zurüd. Er war rot geworden wie ein Mädchen. „Meiner Liebe?”

„Warum millft du zu leugnen verfuchen, was du mir doch vorgejtern fo unzmeideutig verraten haft? Du fiehft ja, daß ich dabei ganz ruhig bin. E3 wird ung, wie ich hoffe, nicht trennen.”

„Schließlich hätteft du ja auch kaum ein Recht, mir Vorwürfe zu machen, denn es beftehen feine Beziehungen mehr zmwifchen Dagmar und dir. Ich weiß e3 aus ihrem Munde mie au dem deinigen. Aber du kannſt im übrigen unbejorgt fein. Welcher Art auch meine Gefühle für Dagmar fein mögen, darauf, daß fie ſelbſt nicht mehr als eine fehr laue Freundſchaft für mich empfindet, kannſt du dich ver- laſſen. Es bat überhaupt den Anfchein, als ſei ihr ‚Herz für jede wärmere Empfindung abgejtorben.”

Herbert hatte fich wieder am Tiſche niedergelaffen. Die Wendung, welche das Gejpräch genommen, fehien den peinlichen Drud noch geiteigert zu haben, der über ihnen lag. Hier war eine Wunde, an die nicht meiter gerührt werden durfte, wenn die unzarte Berührung nicht einen Paroxysmus des Schmerzes auslöfen follte.

Sie ſchwiegen lange. Dann fam Rindleben eigen finnig auf den Zweck feines Beſuches zurüd.

„Wenn ſie morgen vor die Gejchmorenen gejtellt würde, wäre ihre Verurteilung gewiß,” fagte er finfter. „Auch find feine Ausfichten vorhanden, daß die Dinge in einigen Wochen anders liegen werden al3 heute.“

„Sie werden anders liegen verlaß dich darauf, Rudolf! Gedulde dich nur noch einen einzigen Tag, dann mirft du mit mir zufrieden fein, ſelbſt wenn du gleichzeitig aufhören mußt, mich zu achten.”

Nindleben erfaßte mit beiden Händen feine Rechte. „Was du tuft, um fie zu vetten, wird bir niemals

Roman von Hermann Gieräberg. 61 EDDIE Dre DnrEDrED- DnmEDrEeDr Deren Dre meine Achtung foften. Und wenn die ganze Welt dich verdammen miürde, ich würde dir doch bis an mein Lebensende dafür danten.”

„Bo würde dich morgen eine Nachricht von mir erreichen? Du gedenfft doch vorläufig noch in Dag— mars Nähe zu bleiben?“

„Solange die VBorunterfuchung nicht gefchlofjen ift, jedenfalls! Ich gedachte mit dem Abendfchiff zurüc- zufehren.“ |

„Wohl. Du bift nicht böfe, wenn ich dich bitte, mich jetzt zu entjchuldigen, nicht wahr?“

Nindleben griff jofort nach feinem Hute. „Piel: leicht bringft du mir deine Neuigkeiten jelbit,” jagte er, ſich verabjchiedend. „Wenn fie von guter Art find, müßte es doch, wie ich meine, eine ſehr glüdliche Stunde für uns beide fein können.”

Herbert drüdte ihm mit einem mwehmütigen Lächeln die Hand.

Bon einer unmiderjtehlichen Unruhe getrieben, hatte fi Herbert eine Stunde fpäter in das von dem Neferendar bewohnte Hotel begeben. Vielleicht konnte er doch Dagmars Befreiung bejchleunigen, indem er ihm noch einmal ins Gemifjen zu reden verjuchte.

Aber e3 war eine niederjchmetternde Neuigkeit, die ihn erwartete. Der Portier, den er erjucht hatte, ihn bei Reilig anzumelden, zuckte bedauernd die Achleln. Der Herr Referendar ift ſchon feit geftern fort, und wir vermuten, daß er unter Zurüdlaffung feines Ge- päcks nach dem Fejtlande abgereift ijt.”

Herbert hatte die Empfindung, als ob ihm jemand einen Schlag vor die Stirn verjegt hätte. Ex zmweifelte feinen Augenblid an der Richtigkeit diefer Vermutung. Wenn ihm auch Keiligs offenbar ganz kopfloſe Flucht

62 Berfiegelte Lippen.

⏑⏑⏑C—⏑VUV ED als eine unbegreifliche Torheit erſchien, ſo preßte ihm doch der Gedanke, daß es dem Burſchen gelingen könnte, ſich in Sicherheit zu bringen, mit einer Empfindung ſchmerzlichſter Angſt das Herz zuſammen, denn er beſaß ja keinerlei greifbare Beweiſe für ſeine Schuld, es war nicht einmal gewiß, daß man in Anbetracht feiner früheren Beziehungen zu Dagmar feiner Erzählung von dem Gejtändnis des Referendars Glauben ſchenken würde, ganz abgejehen davon, daß von einer Beweis— fraft jeiner Erzählung faum die Nede fein fonnte. Die Flucht Keiligs fchten ja auch fehon durch die Furcht vor einer Entdedung der Wechſelfälſchung binlänglich begründet, ohne daß man ihn deshalb auch für den Mörder Bendheims zu halten brauchte. Syedenfalls bedeutete diefe unerwartete Wendung eine Verzögerung in Dagmars Erlöfung aus dem ſchmachvollen Zuftande, dem fie num fehon feit mehreren Tagen unterworfen war.

Aber vielleicht handelte e3 fich nicht um eine Flucht nach dem Seftlande, jondern um eine Flucht aus dem Leben. Das war natürlich noch taufendmal fcehlimmer, falls der Elende allen feinen früheren Schändlichfeiten auch noch die Nichtswürdigkeit hinzugefügt hätte, ohne Hinterlafjung eines ſchriftlichen Schuldbekenntniſſes den legten verhängnisvollen Schritt zu tun.

„Hat der Herr Referendar etwas für mich hinter- laſſen?“

„Rein, mein Herr. Er ſagte, daß er einen Aus— flug nach der Roten Klippe machen und vielleicht über Nacht fortbleiben würde. Im Laufe des Tages Tamen aber dann zwei dringende Telegramme für ihn an, und da wir meinten, daß es fich Doch wohl um etwas fehr Wichtiges handeln müffe, ſchickten wir einen Boten mit den Depejchen nach der Noten Rlippe. Aber dort war der Neferendar gar nicht geweſen. Es gibt ja

Roman von Hermann Giersberg. 63 DDr ED De Dr DD Dee Der DD nur. ein einziges Gaſthaus an der Klippe, und er wäre ohne Zweifel dort eingefehrt. Schließlich hörten wir dann auch noch, daß er am Morgen mit dem Dampfer nach dem Fejtlande abgefahren fein jol. Einer von unferen Hausdienern behauptet, ihn ganz deutlich er- fannt zu haben.”

„And die Depejchen? Hat jemand von ihrem In— halt Kenntnis genommen?”

„Das zweite Telegramm mar offen. Es war von dem Bater des Herrn Referendars und enthielt Die Aufforderung, er folle unverzüglich nach Haufe kommen.“

„So bat er fich vielleicht aus eigenem Antriebe Schon vor Eingang der Depefchen dahin begeben. Wiſſen Sie, mo der Vater des Herren Keilig lebt?”

„In Hartenftein, mein Herr; ich glaube, es liegt im Sächſiſchen.“

„Jawohl, dort gibt es eine Stadt diefes Namens. Irgendwelche weiteren Mitteilungen vermögen Gie mir nicht zu machen? Sie jind vor allem ganz ficher, daß der Herr Referendar keinen Brief oder dergleichen binterlajjen bat?”

Der Bortier rief der größeren Vorficht halber den Gejchäftsführer des HotelS herbei, aber auch dieſer tonnte feine andere Auskunft geben, als Herbert fie bereit3 empfangen hatte.

Jedenfalls gab es für ihn nun feinen Zmeifel mehr, daß FKeilig die zmweitägige Friſt nur verlangt hatte, um ſich aus dem Staube machen zu können, und daß er fih von dem Burfchen jchmählich hatte überliften laffen.

Einen Augenblid dachte er daran, unverzüglich An- zeige gegen den Ylüchtling zu erftatten. Aber dasfelbe fein ausgebildete Ehrgefühl, das ihm mährend der legten zwei Tage zu einer Duelle jo vieler Zwiefpältig- leiten und Seelenqualen geworden war, hielt ihn ab,

64 Berfiegelte Lippen.

DDRDAD ED ADD RD De De De Dre Dee Dre Dee Dre DreD diefen Gedanfen zur Ausführung zu bringen. Noch mar die Frijt, Die ex dem anderen bemilligt hatte, ja nicht abgelaufen, und daß jener fein Vertrauen getänfcht hatte, berechtigte ihn jeiner Meinung nach noch nicht, ihm auf gleiche Weiſe zu vergelten.

Aber er durfte keinenfalls untätig bleiben. Wenn ihm auch daS gegebene Wort verbot, fehon jebt die Behörden auf die Spur des Flüchtigen zu heben, fo war es ihm doch nicht verfagt, felbjt dieſe Spur zu ſuchen. Die Telegramme aus Hartenjtein mochten ihm dabei al ein Fingerzeig dienen, denn er hielt es für wahrſcheinlich, daß Keilig fich zunächſt in feine Heimat gewandt Hatte, um dort die Mittel für eine weitere Flucht zu erlangen.

Sp mar jein Entfchluß jchnell gefaßt. Mit dem Augenblid, wo der Schuldige den Badeort verlafjen hatte, gab es bier auch für ihn nichts mehr zu tun. Raſch ordnete er feine Rechnung im Hotel und ließ feine Sachen, die fertig gepadt dajtanden, nach der Dampf: Ihiffsbrüde bringen. Mit wenigen Beilen nur benach: richtigte er Nindleben, daß. er ihn morgen nicht er: warten möge, da er genötigt geweſen jei, in einer dringenden Angelegenheit abzureifen. Den Zmwed und das Ziel feiner Reife nannte er ihm nicht.

Als er über den fehmalen Landungzfteg auf das Schiff ging, hatte ex wieder einen jener Schmwindel- anfälle, von denen er jeit dem Beginn diefer unerträg- lichen Kopfſchmerzen ſchon wiederholt heimgejucht wor—⸗ den mar. Er wankte und wäre wahrjcheinlich zu Boden gefallen, wenn nicht einer der Matrojen rechtzeitig zu: gegriffen und ihn aufrecht gehalten hätte. Der Anfall ging zwar raſch vorüber, aber er hinterließ Herbert einen dumpfen Drud im Gehirn, der ihn von Biertel- ſtunde zu Viertelftunde peinlicher beläſtigte und es ihm

Roman uon Hermann Gieräberg. 65 IADRD AD ADD TED ADD AD ED ADD DI Dre Dre Dre faft unmöglich machte, feine ———— dauernd auf einen Gegenſtand zu richten.

Die Eiſenbahnfahrt nach Berlin, wo er nur wenige Stunden zu verweilen gedachte, wurde ihm unter dieſen Umſtänden zu einer wahren Folter. Es ent—

ging ihm auch nicht, daß die Mitreifenden ihn teils mitleidig, teil mit jener nur halbverhehlten Scheu betrachteten, die ein Kranter fremden Perſonen einzu- flößen pflegt. Bei der Ankunft auf dem Berliner Bahn: hof fragte ihn der Schaffner geradezu, ob er vielleicht einen Arzt holen lafjen ſolle. Herbert verneinte, ob⸗ wohl er jebt in der Tat nicht länger daran zweifeln tonnte, daß er ernftlich Frank ſei. Ein beftiges Fieber jagte in feinen Bulfen, und er nahm das, was um ihn ber vorging, nur noch ganz undeutlich und in einem chaotiſchen Gemifch mit allerlei Unmirklichem wahr.

Davon, wie er mit Hilfe des Gepäcträgerd in Die Drofchfe gelangt war, hatte er faum noch irgend welches Bemwußtjein. Ein paar Minuten lang ſah er wohl noch die Straßenlaternen an den regennajfen Wagenfenftern vorübertanzen, dann aber breitete fich ein dichter jchwärzlicher Nebel über die ihn umgebende Welt. Es mar ihm, als ob ihm jemand glühende Eiſen durch die Augen ins Gehirn bohre. Er wollte auffchreien, . wollte den Peiniger von fich abmwehren, aber feine Glieder waren gelähmt, und er brachte feinen Zaut über die Lippen.

Als der Kutjcher vor dem Haufe hielt, das ihm als Ziel der Fahrt bezeichnet worden war, mwunderte er fih, daß fein Fahrgaft feine Anjtalten machte, aus: zufteigen. Er Elopfte mit dem Peitfchenftiel gegen das Fenſter, und als dieſe zarte Mahnung ohne Erfolg blieb, entjchloß er fich, von feinem Bock herabzuflettern und felbjt die Droſchke zu öffnen.

1904. III. 6

66 Berfiegelte Lippen. Dre D Der DDr Dee Dre ee

Da erkannte er nun freilich, weshalb fich der Paſſa— gier fo till verhalten hatte. Leichenblaß und mit ge- chloffenen Augen lehnte er in den Polſtern, fo daß der erjchrodene Kutſcher nicht ander3 meinte, als er fei unterweg3 geftorben.

Er alarmierte den Portier des Haufes, damit er ihm über die Perfon des Toten oder Schmwerfranfen Auskunft gebe. Der Mann erkannte denn auch auf den erjten Blick den von ihm ſehr hoch verehrten Rechtsanwalt aus dem eriten Stod.

Nun waren fogleich eine Menge hilfsbereiter Hände zur Stelle, und eine PBierteljtunde jpäter lag der Be- mwußtlofe in den Kiffen feines Bettes. Auch ein im nämlichen Haufe wohnender Arzt war innerhalb meni- ger Minuten erjchienen und gab nach Turzer Unter: ſuchung der Haushälterin, die ihn in großer Angjt um feine Meinung befragte, nicht undeutlich zu verftehen, daß man gut tun würde, etwaige Angehörige VBollmars fo jchnell al3 möglich zu benachrichtigen, wenn fie nicht zu jpät kommen follten.

Zwanzigstes Kapitel.

Der dankbare Eichler hatte fein Verjprechen recht: Schaffen erfüllt, und Paul Keilig hatte gegründete Ver: anlafjung, den Zufall zu fegnen, der diefen früheren Klienten gerade zur rechten Zeit in feinen Weg geführt hatte.

Zwar hatte das Duartier, daS er dejjen Empfeh- lung verdantte, recht wenig Ahnlichleit mit einem Hotel erſten Ranges, und die Gefellfchaft, die der Re— ferendar fich dort gefallen laffen mußte, war von einer Art, wie er fie bisher nur hinter den Schranten der Anklagebank kennen gelernt hatte. Sein ehemaliger

Roman von Hermann Giersberg. 67 EIEDEDEL DEE DDr ED DDr Dre DrEDreD Klient aber erfreute fich unverfennbar eines gemiljen Anfehens bei den zweifelhaften Elementen, mit denen Reilig das niedere ſchmutzige Gaftzimmer der elenden Rneipe teilen mußte. Daß der neue Anlömmling offen- fichtlich unter Eichlers Schuß fand, veranlaßte die Leute zu einer gemwiffen Zurüdhaltung in ihrem Be- nehmen gegen den jungen Mann.

Trogdem begrüßte es der Neferendar wie eine Er- Iöfung, als ihm der Wirt mitteilte, e8 jei ein Zimmer für ihn zurechtgemadt. Wenn fich dies Zimmer bei näberem Zufehen auch als eine höchſt armjelige, un- faubere und faum mit dem Notwendigften ausgejtattete Rammer erwies, fo fehien ihm die Einfamteit der mit zerfetzten Tapeten bededten vier Wände der rohen Ge- felfchaft im Gaftzimmer doch bei weitem vorzuziehen.

Aber er Hatte nicht damit gerechnet, daB es volle vierundzwanzig Stunden waren, die er bier verbringen follte. Und wieder mußte er die graufame Wahrheit des Wortes an fich erfahren, das er Herbert Vollmar gegen: über gebraucht hatte, um ihn zum Mitleid zu bemegen.

Sa, er war jehon jeßt ſchwer genug beftraft, ſelbſt wenn er dem irdifchen Richter entging. Dieſer endlofe Tag in der elenden Kammer war taufendmal jchlimmer als ein Zag in der Gefangenzelle, denn er hatte nichts, womit er fich bejchäftigen, nicht3, womit er die ſchreck— lichen Gedanten betäuben Tonnte, die ihn unabläfjig peinigten. Auf die Straße wagte er fich in feinem eleganten Anzuge nicht mehr hinaus, denn es war ihm nachgerade zur firen Idee geworden, daß man ihn be- veit3 verfolge, in das Gajtzimmer aber mochte er ebenfomwenig wieder gehen. Unter den Leuten, deren Befanntfchaft er da gemacht hatte, waren Kerle mit wahren Galgenpbyfiognomien geweſen, mit Gejichtern, von denen er mußte, daß fie ihm als Schredgejpeniter in

68 Verſiegelte Lippen.

DDr Deere

jeinen Träumen erjcheinen würden. Much zu dem alten Betäubungsmittel, das ihm mwährend der leßten Tage mwenigfteng für kurze Zeit Vergeſſen gebracht hatte, konnte ex bier feine Zuflucht nicht nehmen, denn Bur- gunder und Champagner befanden fich nicht in den Kellern dieſes Haufes, und er konnte fich derartige Ge— tränte nicht von anderswoher holen lafjen, wenn er nicht gefährliches Auffehen erregen wollte. Der efle Gefchmad des Branntmweins aber, von dem er vorhin ein Glas binabgeftürzt Hatte, um einem feiner ueuen Bekannten Befcheid zu tun, brannte ihm noch immer in der Reble.

So verrannen ihm mit unerträglicher Langſamkeit die Stunden dieſes erſten Tages feiner Flucht. Er verfuchte zu fjchlafen, aber die Unrveinlichleit und der widerwärtige Geruch der mit grobem gemwürfeltem Stoff überzogenen Bettkiſſen jcheuchten ihn mieder von dem Lager empor, auch wollte er fich fein geringes Schlaf: bedürfnis für die Nacht aufjparen, für dieje jchredliche Nacht, vor der er fehon jest ein herzbeklemmendes Grauſen empfand. |

Gegen Abend erjchien der wadere Eichler mit einem Bündel von Kleidungsftüden, die zu befchaffen ihm, wie er jagte, einige Schmwierigfeiten gemacht hatte. Es mar ein gebrauchter und ziemlich abgenußter Anzug, wie felbft ein armer Schneidergejelle ihn wohl nur in den Tagen großer Not tragen mochte. Wieder mußte der verwöhnte Referendar eine Anmandlung des Ekels überwinden, ehe er fich entjchloß, feinen eleganten An- zug mit diefen Kleidern zu vertaufchen, aber er hatte ja feine Wahl und mußte feinem neuen Freunde im Gegenteil noch dafür dankbar fein, daß er die jchlech- tejten und ſchäbigſten Garderobenftüde für ihn aus: gewählt hatte, die er hatte auftreiben können.

Roman von Hermann Giersberg. 69 DEI ARD Dre DD ee Dre Dre Dee ne]

„Die Papiere bringe ich Ihnen morgen früh,“ jagte Eichler. „ES ift ſehr ſchade, daß wir uns nicht früher getroffen haben, da hatte ich noch verjchiedenes auf Lager. Aber das Zeug geht weg wie warme Semmelh. Ich liefere eben grundfäglich feine Pfufcharbeit, ſon⸗ dern nur wirklich brauchbare Sachen. Ein XLegiti- mationspapier von mir kann man getroft jeder Be- börde vorlegen.”

Der Künſtlerſtolz des Mannes mochte zwar etwas Beruhigendes für Paul Reilig haben, aber er bätte doch fehnlich gemwünfcht, daß der ehrenmerte Herr Eich- ler etwas weniger langjam und umftändlich geweſen wäre, denn nur die Verzögerung in der Bejchaffung feiner Papiere trug ja die Schuld daran, daß er noch bi8 zum nächlten Morgen unter dem Dache diefer Spe- lunke bleiben mußte. |

Die Nacht verlief ganz fo gräßlich, wie er e3 ge- fürchtet hatte. Er konnte es nicht über fich geminnen, fich in das ſchmutzige Bett zu legen, und jo faß er bis zum Morgengrauen auf dem harten Holzſtuhl, der neben dem wadligen Zifche faft das einzige Möbel in der Kammer war. Der wüſte Lärm, der von unten zu ihm beraufdrang, bewahrte ihn Hinlänglich vor der Verſuchung, fich in die Gejellichaft feiner Hausgenoſſen zurückzuflüchten.

Als die Dämmerung des jungen Tages endlich grau und fahl über den Dächern emporkroch, fühlte er ſich zu Tode ermattet und an allen Gliedern zerſchlagen, als hätte er die ungeheuerlichſten körperlichen Strapazen zu beſtehen gehabt. Zudem peinigte ihn die Furcht, daß ſein ehemaliger Klient doch vielleicht nicht Wort halten und ihn im Stiche laſſen könnte.

Aber er hatte dem Redlichen unrecht getan. Schon in früher Stunde fand dieſer fi) ein und legte mit un-

70 Berfiegelte Lippen.

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vertennbarem Stolz die jo heiß erfehnten Bapiere vor ihm auf den Tifh. ES waren, wie er e3 verfprochen hatte, ein Heimatjchein und ein Militärpaß, beide auf den Namen des Schneidergejellen Emil Sifcher aus Halle lautend, und beide von einer äußeren Bejchaffen- heit, die jelbjt in dem mißtrauifchiten Gemüt kaum einen Zweifel an ihre Echtheit auffteigen laſſen konnte. Zerdrüdt und ſchmutzig, mit durchgeftoßenen Bruch—⸗ falten und ausgefranften Rändern, fchienen fie ein jehr bewegte Dafein in den TQTafchen eines mwandernden Handmwerksburfchen geführt zu haben; die Stempel: abdrüde waren fo fcharf, die Namensunterjchriften fo unleferlih, wie es nur immer auf den echtejten amt- lichen Schriftftüden der Fall fein Tonnte.

„a3 bin ich Ihnen dafür fchuldig, Eichler?” fragte der Neferendar. „Sie haben mir wirklich einen großen Dienſt erwiejen.”

Aber der Treffliche wollte durchaus nichts von einer Belohnung wiſſen. Er fehien die geleiftete Gefälligfeit wirklich nur al3 Honorar für die erfolgreiche Berteidi- gung anzufehen. Erjt nach langem Sträuben entjchloß er fi), den Hundertmarkichein anzunehmen, den Paul Reilig ihm zugefchoben hatte. Vielleicht war es etwas unvorfichtig gemwefen, daß der Flüchtling ihn den ganzen Inhalt feiner Brieftafche hatte ſehen Iafien, aber mie hätte der Referendar dazu kommen follen, irgend ein Mißtrauen gegen diefen Dankbaren zu hegen, der ihm fo aufopfernd und uneigennüßig feinen Beiftand lieh.

„Sie haben nod) eine halbe Stunde Zeit, Herr Dok— tor. Wenn ich Ihnen raten foll, jo gehen Sie vorher in eine Wirtfchaft, um etwas Drdentliches zu früh: ftüden. Sie fehen ganz erbärmlich aus, und was Sie hier befommen würden, ift am Ende nur gut für Leute, die daran gewöhnt find.“

Roman von Hermann Giersberg. 71 DD DAAD D DE DEI Dre De De D re Dre Dre Der Dre

Der Rat war ficherlich gut gemeint, aber Paul Reilig hatte nicht den Mut, ihn zu befolgen. Selbſt in diejer Verkleidung fühlte er fich hier in Berlin, wo er jo viele Bekannte hatte, nicht ficher genug, um fich ohne die zwingendſte Not unter Menfchen zu bewegen. Er verfuchte aljo etwas von der BZichorienbrühe hin— unterzugießen,, die man ihm vorjegte. Nachdem er dann den unverfcehämt hohen Betrag bezahlt hatte, den der Wirt ihm für Wohnung und Belöftigung abforderte, machte er fich auf den Weg nach dem Anhalter Bahn- bofe, indem er beftändig darauf bedacht war, die ftill- ften und verfehrlofeften Straßen zu wählen.

Das Herz Flopfte ihm zum Berfpringen, al3 er an dem Schumann am Bahnhofsportal vorbeiging. Aber der Beamte jtreifte ihn nur mit einem gleichgültigen Bid. Er Hatte aljo in feinem Äußeren nicht Ver: dDächtiges gefunden, und der NReferendar fühlte dadurch feinen Mut wieder etwas belebt.

Um fo beftiger war jein Erjchreden, al3 er fich, gerade wie er am Fahrkartenſchalter ein Billett dritter Klaſſe nach Zürich verlangte, ziemlich derb an der Schulter berührt fühlte.

„Du kannſt für mich auch ein Billett nehmen,” hörte er eine unangenehm heifere Stimme jagen. „Lege es nur vorläufig aus, unterwegs können wir ja dann miteinander abrechnen.”

Reilig war beim erften Wort haftig herumgefahren und hatte in dem Sprechenden fofort einen der wider: mwärtigen Gefellen erlannt, mit denen er gejtern in dem Baftzimmer der Kneipe zufammen gemejen war. Es mar ein überlanger, magerer Burjche von un: beftimmbarem Alter. Alles Niedrige und Gemeine, das fih in dem Charalter eines Menfchen einnijten Tann, ſchien fich in dem bartlojen, fledigen Geficht mit der

72 Berfiegelte Lippen.

RDIERDRDEEDF ED ED ADDED ED ED ED ed langen Hafennafe und den dünnen blutlofen Lippen zu fpiegeln. Sein Organ war das eines Gewohnheits— trinfers, und beim Anblid feiner riefenhaften Hände mußte Paul Keilig unmilllürlich denken, daß dies fo recht die Hände eines Totſchlägers feien. Die Vor: ftelung, daß er jeßt vielleicht ftundenlang auf die Ge— fellichaft diefes unheimlichen Menfchen angemiefen fein jfollte, erfüllte ihn mit einem Gefühl unerträglichen Grauens.

Aber er tat trotzdem mechanifch, was der andere von ihm verlangt hatte, ftatt der einen Fahrkarte, Die er joeben gefordert hatte, löfte er deren zwei.

Ohne ein Wort des Dankes nahm der andere fie entgegen. „Wir wollen im Wartefaal noch einen Deinen genehmigen,“ ſagte er, „und ich möchte mir auch meinen Tröfter füllen lajjen. Wenn man fo 'ne weite Reife vorhat, muß man auch dafür forgen, daß einem unterwegs die Zeit nicht lang wird.”

Der Referendar war der Verzweiflung nahe, aber er hatte nicht den Mut, fich dem Willen feines neuen Gefährten zu widerjegen. Er folgte ihm wirklich an den Schenktiſch im Wartefaal und bezahlte ohne Wider: ſpruch fomohl die beiden Schnäpfe, die der andere be: ftelt hatte, al3 die anſehnliche Menge Branntwein, mit der er fich eine große flache Flafche füllen ließ. Dann gingen fie auf den Bahnfteig hinaus, und der Zange mit der Halennafe hielt Umſchau nach einem feinen Wünjchen entjprechenden Abteil. |

„Hier wollen wir einfteigen,” jagte er nach einigem Suden. „Es find zwar fehon ein paar Plätze belegt, aber ich will uns die Leute bald vom Halje fchaffen. Auf jo was verftehe ich mich ausgezeichnet, mußt du willen.”

Er verjtand ſich in der Tat darauf, das follte der

Roman von Hermann Giersberg. 73 IARD DD ED REDE ED ED ED Dre Referendar bald genug erfahren. Die fürchterlich duften- den Zigarren, mit deren beizendem Rauch ex das Abteil erfüllte, jobald der Zug ſich in Bewegung geſetzt hatte, fein rüpelbaftes Benehmen und die Art feiner Unter- haltung, die Paul Keilig immer auf neue die Nöte ins Geficht jteigen ließ, hatten binnen fürzefter Zeit zumege gebracht, wa3 er hatte erreichen wollen. Schon auf der nächſten Station beeilten fich die übrigen Fahr— gäfte, das Wagenabteil zu verlafjen, und der fchredliche Reifegefährte, von defjen PVerfünlichkeit der Neferendar noch immer nicht3 anderes wußte, als daß er Anton bieß, Tonnte fich in feiner ganzen Länge auf eine der Sitzbänke jtreden.

„Sp nun mwird’3 gemütlich,” fagte er, „nun fönnen wir auch eine befjere Sorte rauchen und in aller Gemütsruhe eines trinten.”

Er reichte Paul Keilig die Flafche, und als er fah, daß der junge Mann zögerte, fie an die Lippen zu jegen, jchlug er ein höhnifches Gelächter auf.

„Kur nicht jo zimperlich, mein unge, meint mohl noch immer, etwas Beſſeres zu fein wie unfereins? Da bift du aber auf dem Holzwege, fage ich Dir. Gleiche Brüder gleiche Kappen. Wer fich mit mir gut jtehen will, darf mir nicht jo hochmütig kommen wie du.”

Und Paul Keilig trant, nicht bloß dies eine Mal, ſon⸗ dern fo oft, als ihm der andere die Flafche anbot. Anfangs tat er e3 mit unfäglichem Widermillen, nur aus Furcht vor den ftechenden Augen, die, wie er meinte, mit un- heimlich) drohendem Ausdruck auf ihn gerichtet waren nach und nach aber mit wachfendem Wohlgefallen an der belebenden und ermutigenden Wirkung des feurigen Getränts, das feinen leeren Magen mit einem behaglichen Wärmegefühl erfüllte und die grauenhafte

74 Berjiegelte Lippen.

ADDED re DDr DD DDr Dre Dre Dee Dr Dre DreDr DD Angſt bejchwichtigte, die ihn im Beginn der Fahrt oft wie im Sieber hatte erjchauern lajjen.

Der unmilllommene Ramerad zeigte fich jet nicht mehr fonderlich gefprädjig. Er lag rauchend auf feiner Bank, pfiff gelegentlich die Melodie eines Gaſſenhauers vor ſich hin und raffte fich nur dann zu irgend einer unflätigen Bemerkung auf, wenn auf einer Gtation jemand Miene machte, zu ihnen einzufteigen.

Gegen Mittag Iud er den Neferendar großmütig zum Eſſen im Wartefaal einer größeren Station ein. Aber obwohl Paul Reilig feit länger al3 vierundzwan— zig Stunden nichts Ordentliches mehr gegejjen hatte, brachte ex doch kaum einen Bifjen über die Lippen. Der andere dagegen mit vortrefjlichem Appetit, bes jtellte nach) beendetem Mahle ein Dubend guter Zigarren und ließ fich auch den bis auf den legten Tropfen ge- leerten „ZTröfter” aufs neue füllen, diesmal nicht wie in Berlin mit einem verhältnismäßig harmlofen Schnaps, fondern mit altem Kirfchgeift, den er am Büfett pro- biert und für ein halbwegs menjchenwürdiges Getränt erflärt Hatte. Während er dem midrigen Gebaren de3 fchredlichen Reijegenojjen mit ohnmächtigem Zorn zugefehen, hatte der Referendar in feinem vom Brannt: wein erhitzten Gehirn allerlei tolllühne Pläne gewälzt, wie er fih von dem abjcheulichen Wienjchen befreien könnte. Als das erjte Signal zum Einfteigen gegeben wurde, machte er ihm dann auch wirklich den Vor— Schlag, fi) von ihm zu tremmen.

„Das Reifen zu zweien ift zu gefährlich,” meinte er, „Sie können fich wohl denten, daß ich Veranlaſſung habe, eine Berührung mit den Behörden zu fürchten. Und ſchließlich Fönnten ja auch Ihnen Unannehmlich- feiten Daraus erwachſen.“

Mit einem pfiffigen Augenzwintern hatte ihn der

Roman von Hermann Giersberg. 75 ED ED DE Dee Dre Dre Dr ED andere von der Seite angefehen. „Das heißt, du möch- teft mich gerne lo3 fein, mein Junge. Aber jo haben wir nicht gemettet. Ich habe mir’3 nun einmal in den Ropf gefett, daB wir gemeinfchaftliche Sache machen, und dabei bleibt’3. Ich mache mir nicht viel daraus, wenn e3 am Ende fchief gehen ſollte.“

„Aber Sie jehen doch, daß Sie mich zur Verzweif- lung bringen mit Sghrer entfeglichen Aufdringlichkeit,“ brach Reilig aus. „Wa3 für ein Intereſſe haben Sie denn daran, mich fo zu peinigen? Sagen Sie mir, was ich Ihnen dafür geben foll, daß Sie mich meines Weges allein weiterziehen laflen. Sind Sie mit. drei- hundert Mark zufrieden?“

„Nicht für Ddreitaufend. Ich habe dir ja gejagt, daß man’3 mit mir verdirbt, wenn man mir hochmütig fommt. Aber es ift höchfte Zeit, daß wir wieder ein- fteigen, und der Kellner wartet auf fein Geld. Du fannft es ja einftweilen auslegen.”

Da mußte der Referendar wohl die Hoffnung auf- geben, den unheimlichen Reifegefährten abjchütteln zu können, und er ergab fich mit ftumpfer Refignation in fein Geſchick.

als ihm der Genoffe, den der Kleine Zwiſchenfall nicht fonderlich erzürnt zu haben fchien, nach einer Weile wieder jeine Flaſche anbot, wies er fie nicht zurüd und tat einen fo langen Zug, daß Anton ihm lachend Bei- fall zollte.

„So iſt's vecht, mein Sohn! Mit der Zeit wirft du dich Schon machen!”

Etwa zwei Stunden waren fie gefahren, als Paul Keilig ſich von einer unmiderftehlichen Müdigleit er- griffen fühlte. Die mißhandelte Natur forderte endlich ihre Rechte, und der ftarfe Branntwein, der ihn vor: übergehend aufgereizt hatte, fing nun an, fein Gehirn

76 Berfjiegelte Lippen.

Deere DDr Dre DereDe iD zu umnebeln. Er hatte fich zwar vorgenommen, munter zu bleiben, aber es war ein ganz ausfichtSlofer Kampf, den er noch zehn Minuten lang gegen die lähmende Ermattung in Kopf und Gliedern führte. Immer wieder ſank ihm das Rinn auf die Bruft herab, und immer kürzer wurden die Zwiſchenräume, während deren er fich noch zu einer Art von Halbwachen aufzuraffen vermochte.

Als er an der ſchweizeriſchen Grenze Durch die Zoll: revifion geweckt wurde, brannte an der Dede des Ab: teilö bereits die Lampe. Er mußte alfo mehrere Stun- den feſt gefchlafen haben. Eine geraume Weile ver- ging, ehe er begriffen hatte, wo er fich befand und wie ex hierher gelommen war. Sein erjter klarer Gedante mar die Erkenntnis, daß fein fchredlicher Reifegefährte ihn verlafjen habe, denn die Bank ihm gegenüber war leer, und auch der zerfegte Negenfchirm, den Anton als einziges Gepäd mit fich geführt Hatte, lag nicht mehr in dem Net über den Gißen.

Ein Gefühl freudiger Genugtuung erleichterte das Herz des Referendars; noch in der nämlichen Sekunde jedoch durchzudte ihn jäher Schreden, denn fein an dem eigenen Körper herabgleitender Blick hatte wahr: genommen, daß fämtliche Knöpfe feines Rockes und feiner Weſte geöffnet waren, mährend er doch mit voller Beftimmtheit mußte, daß er fie forgfältig ge- fchloffen Hatte, nachdem er die Brieftajche- zum lebten Male in die Innentaſche feiner Weſte geftedt.

Ein rafcher angjtvoller Griff und wie von einem vernichtenden Schlage betäubt, ließ er die Hand finken. Die Tafche war leer; man hatte ihm feine Barjchaft geftohlen, und er konnte nicht im ungewiſſen darüber fein, wer e3 getan.

Der erjte und einzige Gedanke, den fein jehmerzen-

Roman von Hermann Giersberg. 77

der Kopf zu faſſen vermochte, war die Gemißheit, daß nun alles zu Ende fei, denn er hatte nicht mehr al3 einige Mark Silbergeld in der Zafche, und e3 wäre offenbarer Wahnwitz gemejen, mit diefem armfeligen Betrage an eine Fortfegung der Flucht zu denen.

Ebenfomwenig aber durfte er auf eine Wiedererlan- gung des gejtohlenen Geldes hoffen. Der Halunte, der fih ihm ungmeifelhaft in feiner anderen Abficht an: gefchloffen hatte, als um eine bequeme Gelegenheit zu feiner Beraubung zu finden, hatte jedenfalls feine Vor— kehrungen gut genug getroffen. Er fonnte ja nicht einmal daran denten, Anzeige zu erjtatten, ohne zugleich fich felbft an die Behörde auszuliefern. Vermutlich war e3 der hilfreiche Eichler gemefen, in deſſen Gehirn der Plan diefes Anfchlages gereift war, nachdem er feinen Schützling im Beſitz einer fo beträchtlichen Summe ge: jehen. Die würdigen Spießgejellen mochten fich nicht mwenig über die Leichtgläubigleit des dummen Teufels Iuftig machen, der ihnen jo bereitwillig ins Garn ge- laufen war.

Als der Zug in die nächte größere Station einlief, und der Schaffner die Tür aufriß, um einen längeren Aufenthalt anzulündigen, fragte ihn Paul Keilig mit tonlojer Stimme nach jeinem NReijegefährten.

„Wenn Sie den langen Menjchen mit der Frummen Naſe meinen der ift ja ſchon vier oder fünf Stationen vorher ausgejtiegen. Er bat übrigens gejagt, ich fol Gie recht jchön grüßen und Ihnen eine glückliche Reife wünjchen.”

(Forifegung folgt.)

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Schlendertage.

Ein Erlebnis von Paul Oskar höcker.

mit Tliustrationen rt

von Adolf Wald. (Machdruck verboten.) 3 war ein unverantwortlicher Leichtſinn von ihm, an der NRadelpartie durch den Thü- ringer Wald teilzunehmen, jegt, kaum ein Bierteljahr vor der Wiederholung des Re— ferendareramens. Fritz Halden fagte fich das jelbit, aber warum mußte auch gerade Heinz Duleit nach Jena kommen, und weshalb locdte der bunte, jonnige Herbſt da draußen jo unmiderjtehlich?!

Den Anftoß zu den eigenmächtigen Ferien hatte Edward Bromn gegeben. Der hatte fein Eramen vor fih, ev war nur Hojpitant an der Univerfität, war ein reicher Sportsmann, erbte dereinſt das weltbekannte Geſtüt feine Vaters und follte fich in Jena bloß ein bißchen „bebilden”. Das tat er auf feine bejondere Weile. Duleit, der Maler, der jich für ein paar Wochen bier in Thüringen niedergelajjen hatte, um Landſchafts— jtudien zu treiben, hatte natürlich mit beiden Händen zugegriffen, al3 Brown unter begeijtertem Hinweis auf das außergewöhnlich jchöne Wetter den Vorſchlag machte. Da hatte denn Halden auch nicht den Phi—

Bon Paul Oskar Höder. 79 EDRDAD ADD RED DD ADD EDDIE ARD Der De Dre Dr eD lifter fpielen wollen. Geld genug, um fich acht Tage in der Welt herumzutreiben, befaß ja weder der Stu- dent noch der junge Künftler. Aber Brown pumpte beiden, was fie brauchten. Das mar einer feiner lieben3- würdigſten Charafterzüge.

Um Mitternacht hatten fie in der Kneipe einander feierlich gelobt, fich zum erſten Frühzuge auf dem Bahn- hof einzufinden mit Rad, BZahnbürfte und Nacht: mwäfche. Und fiehe da: Teiner fehlte.

Brown, der Nerven wie Stride bejaß, hatte vier Stunden gejchlafen wie ein Sad, war bereits unter der Dusche geweſen und hatte im Bahnhofsreſtaurant fürft- lich gefrühſtückt. Duleit war jelbjtredend gar nicht erft zu Bett gegangen, jondern hatte bei den Teutonen durch- gefneipt. Halden kam zwar direkt aus den Federn, aber gefchlafen hatte er nur wenig. Die verflirten Gewiſſens— biffe waren daran jchuld. ©erade jett, wo er feiner Mutter nach Sondershaufen gefchrieben hatte, daß ex büffeln werde, was daS Zeug halte, gerade jegt packte ihn diefer leichtfinnige Bummeldrang wieder an e3 war jehredlich! Auch daß er bei Bromn wieder in die Kreide kam, ging ihm gegen den Strich. Seine Mutter hatte doch nur die knappe Penfion, und wenn fie von diefer neuen Verpflichtung hörte, ſchränkte fie ſich am Ende noch mehr als bisher ein. Hätte er fich nicht törichterweife vor den anderen gejchämt, er wäre ficher nicht zue Bahn gelommen.

Auf der froftigen Bahnfahrt im Morgengrauen war er daher noch ziemlich teilnahmlos, trogdem Duleit die ausgelafjeniten Künftleraneldoten erzählte und Bromn in feinem Kauderwelſch richtig Deutfch lernte er wahr: fcheinlich nie die fpannendften Sportsabenteuer zum beiten gab. Als der Zug aber in Blantenburg hielt, der Himmel wolkenlos war, und die Sonne lachte

80 Schlendertage.

DDR EDDIE DD ED re Dre DDr Dre Dre DD es war ein windftiller, milder, ganz wundervoller Herbft- tag gab fi auch Fri Halden einen trüben Be- trachtungen mehr hin.

„Rinder, man lebt doch nur einmal, iſt doch nur einmal jung!” und „Ad, Kinder, mie ſchön ift das bier, wie mwonnig!” unter folchen und ähnlichen Jauchzern ſauſten ſie auf den flinken, leichten Stahl⸗ roſſen in den goldenen Morgen hinein.

In allen Regenbogenfarben ſchillerte das romantiſche Schwarzatal. Mit verſchwenderiſcher Pracht hatte der Malermeiſter Herbſt das Blätterwerk gefärbt.

Duleit ſprang oft vom Rad, lehnte ſich dagegen und nahm die farbenreichen Bilder voller Begeiſterung in ſich auf. „Ein Farbenrauſch ein einziger, ſchwelge— riſcher Farbenrauſch!“ rief er. „Kinder, Kinder, iſt es nicht Stumpffinn, wenn man fich hinſetzt und fich unterfängt, mühfelig Kled3 bei Klecks auf die Lein- wand zu fchmettern, um fo etwas wiederzugeben? Reißt die Augen auf, ſeht, fehaut, genießt! Das it mehr als unfer bißchen ftaubgeborene Pinſelkunſt das iſt Allvater8 Zauberpalette, ihr Bonzen!“

Und er fang, er jauchzte. Halden, den die Begetite- rung mehr und mehr hinriß, fang und jauchzte mit.

Mr. Bromn genoß die Natur anders als die beiden Deutjchen; er genoß fie nach Kilometern. Statt auf die braunen, roten, grünlichgelben, orangefarbenen und goldenen Töne der jonnebeglänzten Herbitland- ſchaft zu achten, die fih vom Klaren Himmelsblau fo wirkungsvoll abhob, ftudierte ex die Generalitab3- farte.

„D, Mr. Duleit, uenn uir machen feine Station bi3 zum Dinner,” jagte er, „dann uir können fein um zehn Uhr auf dem Bahnhof in Koburg.”

Quleit lachte. „Was fol ich auf dem Bahnhof von

Bon Paul Oskar Höder. 81 D DD AD ee De Dr Dre Dr DD Dre Koburg? Ich will Natur, ich will Farbe! Ich will leben, die Welt jehen, wo ſie jchön ift, will genießen!“

Und nun fehmärmte er, erzählte von feinen Kunſt— ftudien, kramte wilde Pläne für die Zukunft aus, ſprach von feiner Sehnjucht nach Tyta- lien und auch Haldens Etim- ZLEHLTEN mung wuchs und wuchs.

LEN

Sie hielten jett in der warmen Sonne auf der großen Terrafje des Schwarzburger „Weißen Hirjchen“ die erjte Raft. Sn dem tiefen Tal zu ihren Füßen äfte Wild, befchaulich einfam lag der ſchmucke Gaſt—

1904. III. 6

82 Schlendertage. hof da es herrſchte wonniger Friede in der Land— ſchaft.

Grund genug für Heinz Duleit, eine Flaſche Rhein— wein zu ſpendieren.

Beim zweiten Glas wurde Halden wieder ein wenig ſentimental.

„Roh ein paar letzte ſchöne Herbſttage, und der Winter fängt an!“ ſeufzte er. „All die Sonne, all die Farbe, all der Jubel in der Natur muß einem gries— grämigen Grau Platz machen! Ach, Kinder iſt das nicht wie im Leben? Jetzt hängt einem der Himmel noch voller Geigen, man lebt glücklich und leichtſinnig in den Tag hinein, und ſchließlich kommt doch dieſe elende Examennot wieder, und hinterdrein trabt ein kärgliches Amt. Ach, könnte man die Stunde, könnte man die Sonne doch feſthalten!“

Duleit klopfte ihm munter auf die Schulter und ſang: „Noch iſt die fröhliche, goldene Zeit, noch ſind die Tage der Roſen!“

Auch Mr. Brown nahm in ſeiner Weiſe an der Begeiſterung teil. „Ich häbe eine grändioſe Idee,“ ſagte er. „Uir müſſen ſein heute abend um sehn Uhr auf dem Bahnhof von Koburg.”

„Run fommt und der Unglüdsmenjch wieder mit feinem Bahnhof von Koburg!” grollte Duleit. „Me. Bromn, ich will feinen Bahnhof, ich will Farbe, Farbe, Farbe!“

„Yes,“ fagte der Sportsmann gelafjen. „Uo aber haben Sie noch mehr Farbe als hier? In Sytälien. All right. Uir müffen machen alle zufammen einen Tour nach Itälien. Um zehn Uhr fünfzig Minuten geht ein Zug nad) Nürnberg, München, Kufjtein und Stälien.” |

Halden lachte. „Er Hat Einfälle mie ein altes

Bon Paul Oskar Höder. 83 nr re rer ED rer DDr Derek Dei DrkDr er eD Haus. Ka, wenn man gleich wie Mr. Brown Zeit und Geld hätte!“

Duleit war wie ftet3 fofort äußerjt unternehmung3: Iuftig. Es begann eine eifrige Debatte. „Ach was, Zeit und Geld! Denkſt du denn, Frite, das bringt man nicht bald wieder ein? Reiſen bildet, Bildung macht frei. Ich fage dir, mein Sohn, vierzehn Tage Italien geben dir für dein ganzes Xeben zehnmal eher Begeilterung und Rückhalt als ein volles Semefter Pandektenpaukerei.“

„Aber für den verflixten Referendar hilft leider nur büffeln, büffeln und wieder büffeln!“

„Himmel, iſt das ein veralteter Standpunkt! Fritze, ſtell dir mal vor: du fährſt mit dem Expreß über München und Innsbruck nach dem Brenner, ſteigſt dort aufs Rad und rollt nach Italien hinein, nad) Verona, kommſt nach Venedig und fiehft die Markus: firche, den Dogenpalajt, die blaue Adria, fährſt Gondel aufdem Sanal grande, ſiehſt die glutäugigen Italienerin— nen in ihren malerijcheh bunten Lappen, trinkſt Ajti fpumante, hörſt wimmernde Mandolinen und jchmelzende Singſtimmen bei den Serenaden, bewunderſt Tintoretto. Und dann kommſt du zurüd, ein neuer Menſch mit er: weitertem Horizont, mit geöffnetem Herzen, mit erfrifchten Sinnen was, und dann foll dir die Büffelet nicht gehen wie gefchmiert? Dann follft du das bißchen Referendareramen nicht wie tim Schlafe machen?”

„Sei Still, fei ftill, Heinz,“ ſagte der Student, fich an die heißgewordenen Schläfen fajjend, „das tommi ja über einen wie ein Rauſch.“

„<a, der Farbenraufch! Ach, die Sonne, die Lebens— freude macht einen toll! Und toll wollen wir fein!“

„Nein, ich nicht ich ich hab’ den Mut nicht. Meine Mutter —*

84 Schlendertage.

—— DDr DDr ee. ED

„Junge, unge! Mr. Bromn pumpt ung Doc, fo viel wir brauchen!“

Brown nickte, die Hände in den Tafchen.

„Und mit dem Zurückgeben hat e3 doch Feine Eile, wie?” verficherte ſich der Maler raſch.

„Sie uerden mir zurückgeben, nenn Sie häben ge— macht Ihr Examen.“

„Famos, famos!“ jubelte Duleit. Er füllte die Gläſer und erhob das ſeine. „Fritze Halden, das Glück pocht an deine Tür, ſei kein Tor, weiſe es nicht ab. Biſt du ſicher, ob dir's ſpäter noch einmal naht? Vielleicht hat die Zukunft mit ihrem Amt und ihren Würden bloß Ärger und bärbeißige Vorgeſetzte für dich. Aber jetzt biſt du noch ein freier, fröhlicher Burſch. Alſo greif zu, Junge, greif zu!“

Halden war in einen wahren Taumel geraten. Doch außerlich fträubte er fich noch gegen den abenteuerlichen Plan. „Italien jo eine weite, teure Reife! Kinder, das ijt Doch ganz unmöglich, wenn auch wenn auch wundervch.”

Der Maler hatte inzwifchen mit Bromu ſchon einen feften Pakt gefchlojfen. „Bleib du meinetwegen da- beim hinterm Ofen boden ich reife! Kellner, da3 Kursbuch! Kellner, zahlen! Kellner, unjere Räder! Hurra, es geht nad) Sytalien!”

Unter Schmagen und Schmärmen und Pläne fchmie- den ging die Fahrt weiter im goldenen Sonnenfchein. Es war die richtige Ferienftimmung ein herrlicher, frober Schlendertag. Und folcher Schlendertage follte nun noch eine ganze Reihe für fie anbrechen. Ach, wie ſchön war es doch, jung zu fein!

Über Ölze und Goldistal war ihnen die munter plätfchernde, oft auch über zadiges Felsgeſtein wild hinwegbraufende Schwarza eine treue Begleiterin ge-

Von Paul Oskar Höder. 85 ADD DE DD ED mwejen. Nun ging’3 mit einer Schmwenfung feitwärts in3 Gebirge, geradeswegs auf den Kieferle zu, der fein jtattliches Haupt über blaugrime Nadelwälder und luſtig⸗ | bunte Eis chenhaine empor- rechte. Die Nadler

In»

mußten tüchtig in die Eifen treten, denn es ging vielfach bergauf; da die Sonne ganz jommerlich auf die Sport3- müßen brannte, feuchtete fich bald ihre Stirn. Erſt nach ein paar Stunden anjtrengender Fahrt kamen fie in den Schuß eines barmberzigen Wolkenſchleiers, der fich vor die Sonne jchob und aufs enger werdende

86 Schlendertage.

u DDr Drr ED Dne Dre Dre Dre DDr De Tal fenfte. Die Radfahrer konnten nun endlich Die Köpfe wieder erheben.

Aber die feftliche Stimmung war mit der Sonne raſch aus der Landfchaft entſchwunden. Die Wollen: wand nahm eine mweißlichgraue Färbung an, ziemlich melancholifch roch der Abend heran, die näherrüctenden Talwände hatten fajt etwas Bellemmendes. Und je weiter fich die Touriften vorwärts und aufwärts ar- beiteten, dejto Fümmerlicher ward der Baumwuchs, dejto Schlechter der Weg.

„O,“ ſagte Brown endlich in der dunkelſten Fär— bung feines klangvollen Organs, „uiſſen Sie, Mr. Du: leit, nie man tut benennen dieſe Gegend?“

„Nee, Sie? Mir feheint e3 eine ziemlich jott- verlajjene Jegend!“ berlinerte der junge Künftler.

„Man tut e3 benennen Sibirien.”

„Erbarmen Sie fi, wir find doch nicht etwa aus Berjehen nach Rußland geraten?”

„No. Thüringens Sibirien. So fteht auf der Karte.”

„Menſchenskind, in was für Zonen verjchleppen Sie uns!”

Sie waren von den Rädern abgejprungen, um die Laternen anzuzünden. Halden fehnoberte dabei in der Luft. „Rinder,“ fagte er, „es riecht nach Schnee!“

Die anderen jchnoberten gleichfalls und konſtatierten ziemlich betroffen dasfelbe.

a, der fonnige Herbjttraum von heute früh war ausgeträumt. Hier. jehien ewiger Winter zu herrſchen in dieſer verlaffenen Gebirgsfchlucht, deren Tor der jegt halb von Mebelfegen verhüllte Kieferle drohend bewachte.

Der Treisrunde Schein der Laternen, der auf der Meiterfahrt zitternd ein paar Meter weit den Rädern vorangeilte, beleuchtete bald den Ausgang des fchmalen,

Bon Paul Oskar Höder. 87 wilden Tales. Dann hinderte der zerfahrene Weg die Fahrt. Alfo hieß es wieder abgefejlen. Schmweigend fehoben fie die Räder vorwärts, jeder mit feinen Ge- danken bejchäftigt.

Da endlich tauchte dicht vor ihnen im Dämmer eine einfame Bergestuppe auf nadt und baumlos. Bon ihrer höchſten Spitze ragte ein Kirchtürmlein in den düftergrauen Abendhimmel. Da und dort bligten Lich- ter auf.*) Ein feharfer Wind pfiff um die kahle Kuppe, eifige, Heine Flocken mit fich führend.

„Sibirien empfängt uns richtig mit Schnee!” jagte Halden zufammenjchauernd.

Schindelgededte Häufer lagen auf der unmirtlichen Höhe. Hinter den Kleinen Erdgefchoßfenftern brannte Licht. Eine leichte, flodige Schneehülle bededte bereits . den Boden; gleichmäßig zeichnete fich in ihn der Wider: fchein der Lichtquadrate ab.

„Iſt da nicht Muſik?“ fragte Duleit plößlich. „Wird da nicht irgendwo getanzt?”

Sa, man börte einen Baß, eine quietjchende Klari- nette, kratzende Geigen und dazwiſchen Schwatzen und Lachen und das Schurren von Gtiefeln auf fand- beftreuten Dielen.

Gleich darauf ſtand Duleit im Eingang eines Kleinen Dorfwirtshanfes und hielt mit feinen fofort wieder luftigen Augen Umfchau. Sn der Stube zur Linken jaßen die Honoratioren, recht3 im Tanzſaal drehten ſich die Paare. Er machte fich in feiner nie verlegenen Weiſe mit dem Wirt bekannt, der teils erſchrocken, teils erfreut ihm entgegengelommen war, und fragte ihn aus. Dann wandte er fich auf dem Abjah um und eilte zu jeinen Genojjen zurüd.

*) Siehe das Titelbild.

88 Schlendertage. ORDER ADD DD EDDIE ED DD

„Kinder,“ rief er vergnügt, „hier wird Polterabend gefeiert eine Glasbläſerstochter verheiratet fich mit einem Glasbläfer aus Lauſcha. Kommt, da müſſen wir mitfeiern helfen!“ |

Mit einem Schlag war die Iuftige Stimmung vom Morgen wieder da. Die drei Freunde jchüttelten den Schnee von den Sportmügen, ließen fich dem jungen Paar vorjtellen und beglücwünfchten e3.

Die Gäfte waren zumeift vecht blaffe Leutchen, offen: bar fchlecht genährt und in einem ungefunden Beruf tätig; aber e3 lag in ihnen allen doch die Lebensluſt de3 Thüringer Volles. Unter den Mädchen entdecten die Augen der drei jungen Stadtherren fofort ein paar hübjche Erfcheinungen. Einige ftießen einander Tichernd an. Dann ward auf der ganzen Linie getufchelt und geflüftert, die beherzteren lachten lauter, alle aber zupf- ten an irgend einem QJuchzipfel oder Bändchen oder Stirnlöckhen.

AS die Fremden fich bernach höflich verneigten, diefe und jene engagierten und fich als gute Tänzer erwiejen, war die Harmonie zwiſchen Stadt und Land überraschend fchnell hergeftellt.

Sobald man ein wenig warm geworden war, bat fih der Maler die Erlaubnis aus, ein Fäßchen Bier jtiften zu dürfen (natürlich mußte Bromn es bezahlen), und der Brautvater, ein alter Glasbläfer mit treu- berzigen, von der Arbeit freilich ſtark entzündeten Augen, genehmigte es ſchmunzelnd.

Unter dem Einfluß des feuchten Stoffes fam raſch noch mehr Leben in die Leutchen, auch in die, die fich bis dahin noch etwas abmwartend verhalten hatten. Beſonders DuleitS originelle, Iuftige Art gefiel den jungen Tänzerinnen. Sie fanden hernach jogar den Mut, troß der Anmefenheit der Stadtherren zmwijchen

Bon Paul Oskar Höder. 89 MDADADADADADADADADADADNDADADADAOADNAD den Tänzen ihre für das Felt einftudierten, recht hübſch klingenden Chorlieder zu fingen. Auch ein paar naive Bolterabendfcherze wurden unter allgemeinem Beifall aufgeführt.

Aber Brown drängte zum Aufbruh. Es war noch fajt zwei Stunden Talfahrt bis Koburg, und es ging ſchon auf acht Uhr.

Duleit wehrte fich energifch dagegen, das fchöne Feſt jest fchon zu verlaſſen. Impulſiv wie immer ſagte er: „Rinder einen Vorſchlag! Wir bleiben bier über Nacht und machen morgen die Hochzeit mit. Das Foftet höchftens ein Dugend Flaſchen Wein und das Gaudium dafür! Eine PDorfhochzeit! So was erleben wir vielleicht nie wieder!“

IIch mögen aber feine Dorfhochzeit, ich will nach Itälien!“ ermwiderte Brown hartnädig.

Halden hatte gleich Duleit mit den meiften Mädchen getanzt. Ihm war befonders eine Kleine Brünette auf: gefallen, eine der Brautjungfern, ein hübjches, etwas blafjes junges Ding mit großen jehmärmerifchen Augen.

„Sch bin ebenfalls fürs Hierbleiben!” rief er aus: gelaffen. „Nach Koburg können wir ja morgen nod) immer. Und dann machen mir eben ein paar Tage länger Ferien in Stalien. Was kommt's denn darauf an?“

Und trogdem Brown da3 fportliche Gewiſſen ſchlug (die heute gemachte Kilometerzahl erſchien ihm, da fie erſt zweiftellig war, bejcehämend niedrig), ließ er fich von der fidelen Stimmung der beiden Freunde Doch mitfortreißen. Er fand auch bald geeigneten Anfchluß: ein zwar ftumpfnafiges und rothaariges, aber jehr Iuftige8 und aufgewecktes Ding. Da er feinen Walzer tanzen Tonnte, gab fie ihm im Hausflur Unterricht, was ihm und den Zufchauern ungeheuren Spaß bereitete.

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90 | Schlendertage. DD ERDRD ED DD DD DDr Dr Dr Dee Dee

So ging es bis elf Uhr, ehe die Mufitanten, denen Bromn einen fast unverfiegbaren Duell an LTagerbier geöffnet hatte, die Inſtrumente abjegten. In der Tanzpaufe wurden die Fenfter geöffnet, der jtäubende Boden ward mit Waſſer bejprengt. Arm in Yım wanderten die Paare fo lange draußen auf der leicht befchneiten Dorjjtraße auf und nieder. Duleit hatte fih eine Feine Blonde erwählt, Halden machte feiner teinen, blaffen, brünetten Tänzerin den Hof.

Sie war Flüger, vielleicht fogar gebildeter al3 die anderen, gab ſich aber ebenfo fehlicht und natürlich wie ihre Gefährtinnen. Einige finnige Wendungen in ihrer Ausdrucksweiſe überrafchten ihn. Es lag bei aller Herzlichkeit und Naivität eine gewiſſe leife Schmermut über ihrem Wefen.

Als der Zug der Tanzpaare auf die Dorfgaſſe ge- langte, blieb Halden plöglich überrafcht ftehen. „Hier brennt ja überall noch Licht,” fagte er zu dem jungen Mädchen. „Iſt das nur heute zur Erhöhung des Feſtglanzes, oder find die Eingeborenen hier in ihrem „Sibirien“ alle Abend jo üppig?”

Da bujchte ein ſeltſam trauriges Lächeln über ihre

"Züge, das ihn eigenartig ergriff. „Das ift immer fo,“

verjegte fie. - „Die Leute figen noch bei der Arbeit.”

„Jetzt kurz vor Mitternacht?” fragte der Stu: dent verblüfft.

„sa, es iſt doch bier ein Glasbläferdorf. Faft in jeden Haus ift eine kleine Fabrif.” Schüchtern fragte fie dann weiter: „Haben Sie noch nicht von unjeren Berlismachern gehört?“

„Gehört wohl. Es iſt eine fehr harte Arbeit, nicht wahr?”

„Ach, Hart nicht,” fagte fie in ihrem leifen Ton, „nur wenig lohnend.”

Bon Paul Oskar Höder. 9

DT DD DAAD AD AD AD ADD AD ADD ED FED FD ED Sie waren vor einem kleinen Haufe jtehen ge- blieben. Durch die Scheiben ſah man in den bejcheidenen Kaum, der von einer Hängelampe erhellt wurde. Er— ftaunt bemerkte Halden, daß es aus halbgefüllten Kift- chen und Schachteln blitte und blinkte wie von Silber und Gold. Und heißwangige, da— bei aber müde und jchmale Kin- dergejichter tauch-

ten inmitten all der Spieljachen, die den ganzen Raum erfüllten, auf: der filbernen und goldenen Kugeln, der gläjernen Trompeten, Klingeln und Sterne, der jchneeigen Tannenzapfen und roten Apfel, der frijtallenen Eis: zapfen, bunten Engelsföpfe, Perlenfetten und all des anderen farbigen Tands.

„Was tun denn die Kinder zu jo fjpäter Stunde noch bei dem Spielzeug?” fragte er jeine Tänzerin.

„D, ſie jpielen nicht. Es ift eben Hausinduftrie, da muß alles von Klein auf mithelfen.“

92 Schlendertage.

DD ED ADDED Dr Dre Dee

[2 —)

Gie fagte das, als ob es das Natürlichite von der Welt wäre; er mufterte die Inſaſſen des Tleinen Rau- me3 aber mit wachfenden Ernft. Ja, wirklich, wäh⸗ rend im Tale drunten längst allenthalben Feierabend mar, arbeiteten fte bier oben im thüringifchen Sibirien vom Sfüngften an, dem müde längft das Köpfchen auf die Brut zu finfen drohte, bis zu dem flinfen Bürfch- chen, das da neben Vater und Mutter, Ohm oder Ahn faß und im gleichmäßigen Luftzug des Tleinen Blaſe⸗ balgs mit kundiger Hand immer neue bunte, zerbrech- liche Glasgebilde aus der unfcheinbaren Mafje hervor: zauberte.

„Und das geht nun fo jahraus, jahrein, Sommer und Winter?” fragte er, von Mitleid ergriffen.

„Unfer Dörfchen liefert Millionen von Schmudjtüden file viele taufend Weihnachtsbäume fie gehen jogar bis nach Amerita!” fagte fie ſtolz. „Aber es ift viel, viel Fleiß nötig, bi3 man fich an einem Tag eine halbe Mark verdient hat.”

„Eine halbe Mark?”

„rüber, al3 ich meine Geige noch nicht hatte, war ic) auch mit dabei tätig, aber nur beim Verfand. Sch führte dem Herrn Paftor die Bücher. Ach, der Syubel im Dorf immer, wenn er ihnen eine neue große Be- ftellung brachte!“

Es Hatte ich zmwifchen ihnen und den anderen Tanzpaaren eine große Lücke gebildet. Man hörte aber fortwährend Duleits Iuftige Stimme und das dantbare Lachen feiner Zuhörerin.

Halden verlangjamte noch feine Schritte. „gebt treiben Sie alfo Muſik?“ fragte er.

In ihren großen Augen leuchtete e3 auf. „Sa. Nächjte Oftern fol ich nach Leipzig auf die Hochfchule, das beißt, nur wenn ich eine Freiftelle befonme, denn

Bon Paul Oskar Höder. 93 ———— die Mittel hat ja Vater nicht. Ende März iſt die Prüfung.“

„Sind denn immer viele Bewerber da?“

„O ja. Auf acht Bewerber kommt gewöhnlich nur eine Annahme.“ Sie atmete tief auf. „Aber ich habe etwas vor, das mir die Freiſtelle ſicher verſchafft.“

Er mußte über ihre ſtrahlende Miene doch ein wenig lächeln. „So? Wie wollen Sie's denn anſtellen?“

„Wenn ich zur Prüfung hinkomme, dann kann ich ihnen alle vierundzwanzig Präludien und Fugen von Bach auswendig vorſpielen.“

„Auswendig?!“

Sie nickte ſtolz. „Ich lerne ſeit dem Frühjahr daran. Jetzt kann ich ſchon die Hälfte. Ach, es iſt ja furchtbar ſchwer, aber bis zu Oſtern kann ich ſie alle.“

„Das ſagen Sie ſo ſiegesgewiß? Wenn es nun doch mißlingt?“ |

„Es gebt, wenn man den ernjten Willen hat! Und den habe ich, es hängt ja mein ganzes Lebensglück da= von ab. Künftlerin zu werden ift mein größter, felig- ſter Traum.“

„Aber old) eine ungeheure Arbeit zuvor da üben Sie wohl den ganzen lieben langen Tag von früh Morgens bis jpät Abends?“

„ja, zum Arbeiten ift man auf der Welt. Gonft würde einem auch der Felttag nicht fo behagen, wie zum Beifpiel heute.”

„Heute gefällt es Ihnen?“

Gie ſah ihn treuberzig an. „Ach ja, ſehr.“

„Zangen Sie nicht oft?“ fragte ae.

Etwas verlegen zudte fie die Achſeln. „Nein, gar nicht oft.” Nach einer kleinen Baufe fette fie hinzu, während ihr das Blut ein wenig in die Schläfen ftieg: „Das ift heute nämlich mein erſter richtiger Ball.“

24 Schlendertage. nn DT ED rk DDr Dr Dr DDr Dee D Dr Dre re

Er wollte darüber lachen, aber er Fonnte nicht; der Ton ihres naiven Geftändniffes rührte ihn ganz ſeltſam.

„Ja, es iſt aber auch eine Schulfreundin von mir,“ fuhr fie wichtig fort, „die ſich morgen verheiratet.” Sie machte wieder eine kleine Baufe und fah ihn ſtrah— lend an. „Es freut mich für das junge Paar, daß fo fröhlicher Befuch nach unferem armen Sibirien ge- kommen ift. Vater fagte zuerft, Sie wollten jich gewiß nur luftig über uns machen. Aber ich ſah dod) gleich, daß er fich irrte.“

„Woran fahen Sie’s denn?“

Sie lächelte. „Sie haben fo ehrliche Augen!”

Soeben waren fie wieder am Tanzfaal angelangt, die Kapelle fette ein, und im Nu drehten fich alle Paare im Kreije. |

Halden tanzte aber nicht mehr fo flott wie vor der Pauſe. Er war nachdenklich geworden. Der Vater feiner Leinen Tänzerin hatte im Grunde ganz recht gehabt: in ihrer übermütigen Ferienlaune war ihnen das Felt, in das fie da fo zufällig hineingefchneit waren, eben gut genug für einen Studentenulf erfchienen. In— zwifchen hatte er die Leute aber bei der Arbeit gejehen, einen Einblid in ihren werktätigen Fleiß auch in ihr Elend getan, und er hatte Achtung vor dem Leinen Glasbläſervolke bekommen. Ganz mwunderfam imponiert hatte ihm dieſe blaſſe, kunſtbegeiſterte, kleine Lehrerstochter.

Er nahm Duleit zur Seite, um ihm einen Wink zu geben, denn ſein Freund hieb meiſtens über die Stränge, wenn er etwas im Kopfe hatte. Aber der junge Maler lachte ihn aus. „Was geht das mich an, Fritze, ob ſie am anderen Abenden tanzen oder nicht? Heute tanzen fie, und ich tanze mit. Und es ift eine Luft, fage ich

Bon Paul Osfar Höder. 95 Dr DD DD DD DD DD Dr Drr Dee Dre dir, alter Schwede. Mein blonder Wuſſelkopf ift ein Nader, und linfsherum tanzt fie wie eine Tomplette Fee!“

Auch Brown war keinen Vernunftgründen mehr zu— gängig. Er gab den vor Lachen ſich wälzenden Leuten einen Niggertanz zum beſten, fletſchte dabei die Zähne, und als Halden ihn am Kragen nehmen wollte, ſtellte ex ſich ihm gegenüber in Boxerſtellung auf.

Nach Mitternacht follte nicht mehr getanzt werden. Duleit lieg Mein auffahren und bejchwatte feine Blonde und ihren Anhang, noch dazubleiben. Auch das junge Baar hielt aus. Hand in Hand faßen die beiden nebeneinander am Dfen, fehweigend, aber glüd- felig, und blidten mit glänzenden Augen über die Ba: liche Verfammlung hin.

„Spielen Sie uns Doch ein bißchen Geige vor!” bat

Halden die Lehrerstochter, als die Wiederholung eines der Ehorlieder nicht gelingen wollte, da ſchon ein paar Stimmen fehlten. Der Lehrer wollte es zuerjt nicht dulden. Es fei jchon zu fpät, die Stimmung auch nicht recht dafür ge- eignet, jagte er. Aber eine aus dem Kreife hatte ihr ſchon die Geige gebracht.

Es ward fofort flill in dem engen Heinen Raum, al3 ſie zu fpielen begann. Auf ein paar Männer darunter Duleit und Brown wirkte die ernite Muſik einjchläfernd, auf Halden legte ſich's wie ein belleminen- der Druck.

Die Geigerin ftand in der Flurtür. Die Augen hatte fie geſchloſſen. Ihre Geige taugte nicht viel, aber ihr Strich war rein und voll, viel großzügiger, al8 man ihn der unfcheinbaren Fleinen Spielerin zu— trauen mochte. Es war ein Bachfches Stüd, würdig und ſchlicht und mit großer innerer Anteilnahme vor:

96 Schlendertage.

AD AD AD AD AD AD AD AD AD AD DE DD getragen. In den übermütigen Ton des Abends paßte es nicht, aber fie fand troßdem reichen Beifall, al3 fie endete. Bejonders herzlich dankte ihr Halden. Er

Schüttelte ihr die Hand, fagte jedoch nichts. Ba— nales wollte er nicht ja- gen, und was ihn be— megte, fonnte er erſt recht nicht geftehen.

Da3 war e3 nämlich: er ſchämte fich vor der ernten, fleißigen, ehrlich ringenden, in heißer Arbeit auf ein großes Ziel losjtrebenden Kleinen Perſon.

Endlich leerte jich die Wirtsftube. Duleit fing laut zu gähnen an und verlangte energijch nach dem Bett.

„Aber morgen wieder luſtig!“ rief er unter Dehnen und GStreden. „Ich freue mich ſchon darauf. Ach,

Bon Paul: Oskar Höder. 97 DIDI EDDIE AED Deere DD ereDneD ee Kinder, und dann Abends auf die Bahn und nad) Stalien! Schade, daß mir nicht gleich bis Florenz fönnen oder gar bis Nom.”

Brown hing bedenklich ſchwankend in feinem Arme. „DO, Rom!“ wiederholte er mit unficherer Stimme. „Wenn Sie mir verjprechen, daß ich uerde finden in Itälien ebenfo lieben Mädchen. al3 hier dann ich reifen mit Syhnen bis Neäpel!”

In jeinem freudigen Schred über das Wort Neapel ließ Duleit ihn los; Brown hätte beinahe die nähere Belanntjchaft mit dem Erdboden gemacht.

„Neapel! Neapel!“ jchrie der Maler voller Be- geifterung und pacte Halden bei der Schulter. „Men fchensfind, haft du Ohren, um zu hören? Menfchenstind, jo rühre dich doch! Neapel Brown fagt Neapel!“

Der lange Engländer taftete um fich, weil er nur ſchwer balancieren konnte. „Yes. Ich häbe gejagt: Neäpel. Und ich uerde bezahlen alles. Weil ich mir köſtlich amüſiere. Yes.”

Duleit klatſchte in die Hände und führte eine Art Indianertanz auf.

„Zopp, es gilt! Mr. Bromn, Gie find ein Wohl- täter der Menjchheit! Hurra, Rinder, nun geht es gar nach Neapel!”

Der Wirt unterftüßte Halden bei der ſchweren Ar- beit, die beiden die Treppe hinauf nach der Kammer zu bringen, wo ein einfaches Lager ihrer harrte. Im Umſehen war ſowohl Duleit al3 auch Bromn felig ent: ſchlummert.

Halden kehrte nach dem Erdgeſchoß zurück, führte ſein Rad in den Flur und zündete die Laterne wieder an. Er müſſe noch in der Nacht weiter, erklärte er dem Wirte, dem er beim Abſchied noch verſchiedene

Aufträge für ſeine beiden Reiſegefährten Be 1904. III.

08 Schlendertage. EDDIE ED DIDI DE DD DD DD DDr ed

Langfam und nachdenklich führte er darauf fein Rad die ftile Dorfitraße entlang.

Nun lagen faſt alle Häufer völlig im Dunkeln. Da und dort ftand aber noch ein Liebespärchen oder eine Gruppe Hochzeit3gäfte, die ihre Meinung über die Inftigen jungen Fremden austaufchten.

Bei der kleinen Dorflicche fah er auch den Lehrer im Gefpräch mit ein paar Alten. Die Heine Geigerin lehnte müde, auf den Vater wartend, in der nächlten Haustür.

„Da treffe ich Sie alfo doch noch!” begrüßte Halden fie fröhlich.

Erfehroden blickte die Kleine auf. Die anderen, die herzutraten, waren gleich ihr erſtaunt, daß er mitten in der Nacht ſchon wieder weiter wollte und allein.

„ya, meine Freunde bleiben noch hier. Die nehmen auch morgen am Feſte teil. Das find luftige Vögel, die frei find, die feine Pflicht bindet. Aber ich muß wieder an die Arbeit.”

„sh dachte, Sie wollten auch nach Italien?“

„ga, die anderen reifen morgen abend nach dem Brenner und radeln nach Italien hinein bis nad) Neapel.”

„Jteapel 0, muß das ſchön fein!” Es Teuchtete wieder in ihren Augen auf. „Wenn ich exjt eine tüch- tige Künftlerin geworden bin, dann reife ich auch ein- mal nad) Neapel!”

Halden nidte ihr freundlich zu. „Sie werden es ficher zu jehen befommen.”

„Aber das ift noch lange bis dahin!” lachte fie. „Die großen Freuden des Lebens, die muß man fich ſchwer verdienen.”

„Und liegt nicht auch fchon im Verdienen felbft ein großer Reiz?“

Don Paul Oskar Höder. 9

Die. anderen verabjchiedeten fich gerade; jo hörten

fie das nicht, was er leije hinzufeßte, indem er ihre Hand feithielt.

„Sehen Sie, bisher glaubte ich nicht daran. Ich

war noch heute abend, als ich Sie kennen lernte, im beiten Zug, eine große Dummheit zu begehen. Ich wollte nämlich mit nach Stalien. Aber da hätte ich Schulden machen müſſen und wäre im nächjten Tyahre ficher nicht durchs Sramen gelommen. Nach unjerem

100 Schlendertage.

DD ——— Dreier Dr De Dee Der D re Spaziergang auf der Dorfftraße vorhin habe ich mich aber entfchlofjen, jchleunigft heimzufahren und mir die Ferien und Neapel und das Glück erjt zu verdienen. Gerade fo wie Sie es machen.”

„Spotten Sie nicht über mich?” fragte fie zweifelnd.

„Nein, ich ſpotte nicht. Sie haben mir wirklich imponiert.” Er drüdte ihr noch einmal herzlich die Hand. „Willen Sie, Fräulein, wenn mich wieder ein- mal im Leben die Luft ankommt, Feierabend zu machen, bevor ich ihn mir verdient habe, dann werde ich immer an Sie und Ihre vierundzmwanzig Präludien und Fugen denten und an Ihre Nachbarn bier, die armen Glasbläfer, und an all die fleißigen Kleinen Kinder: bände!”

Er ſchwang fich aufs Nad, lüftete zu letztem Gruß fröhlid die Mütze und radelte an der Kirche vorbei der Tanditraße zu, wo er fich im Schein des DOllämp- hens am Wegmeijer orientierte.

Sm erften Morgengrauen führte ihn der Zug nach Jena zurüd.

Seine Wirtin war wie zur Salzſäule erjtarrt, als fie, vom Markt fommend, ihn über feinen Büchern fand.

Gein leichtfinniger Freund Duleit aus Berlin und Brown, der Erzbummler, hatten ihn mitgefchleppt und er war ihnen tatfächlich entwifcht, um zu arbeiten!

„Die Welt geht unter!” fagte das alte Frauchen.

Er fehüttelte den Kopf. „Ganz im Gegenteil, liebte Frau Franke,” jagte er lächelnd, „mir ijt eine neue Melt aufgegangen!“

Eine europäische Wüste.

Streifzug durch die Camargue. Uon Rudolf Bendrichs.

iv

mit 9 Jliustrationen. (Machdruck verboten.)

es in dem von der Natur jo verſchwenderiſch be-

dachten jüdlichen Frankreich, in unmittelbarer Nach- barjchaft fruchtbarer Gefilde, die mit allem Reiz und aller Üppigfeit einer beinahe tropifchen Vegetation ge- ſchmückt find, eine weite Landjtrece gibt, die mit vollem Recht als eine Wüfte bezeichnet werden kann, iſt nur wenig befannt. Und doch wäre die zur jagen und gefangsreichen Brovence gehörige Spnjel Samarguein ihrer nirgends in Europa miederfehrenden Eigenart interefjant genug, um ein lohnendes Wanderziel für alle Tourijten zu bilden, denen es mehr um neue und überrafchende Eindrüde als um Bequemlichkeit und Naturjchönheit im eigentlichen Sinne des Wortes zu tun it.

DBelanntlich teilt ſich der Ahonefluß bei Arles in zwei Arme, die getrennt dem Meere zuftrömen. Das Landdreied, das jie zwifchen fich einjchließen, und das analog dem Nildelta Agyptens vielfach das franzöfifche Delta genannt wird, iſt die Inſel Camargue. Sie bat eine Längenausdehnung von 42 Kilometer und

102 Eine europäische Wüſte. DrDRDD EI DEI AD DD Dee einen Flächeninhalt von ungefähr 790 Duadratlilo: meter. Durch die Anfchmemmungen des mächtigen Stromes entitanden, zeigt fie alle charakteriftifchen Merk— male eines reinen Alluvialbodens. Auf der ganzen großen Inſel, die fich nirgends über eine Höhe von 3 Meter erhebt, findet fich nicht ein einziges Steinchen, fie ift flach wie ein Teller und gleicht namentlich in ihrer dem Meere zuliegenden Hälfte ganz den morajti- gen Salzmüften Kaliforhiens. Gie zu durchwandern, kann allerdings nur Leuten angeraten werden, die auch vor erheblichen Strapazen nicht zurüdichreden, denn ein bequemer Spazierritt ift der Ritt durch die un— fruchtbaren Streden der Camargue faum zu nennen.

Der Anblid, der fich dem mit dem Dampffchiff von Lyon heranlommenden Befucher darbietet, ift ein ziemlich trojtlofer. So weit das Auge reicht, vermag es weder einen Baum, noch einen Gtein oder einen Hügel zu erſpähen. Endloje Grasflächen, nur unterbrochen durch Streifen rötlicden Sandes oder durch größere oder kleinere Lachen falzigen Waſſers, geben der Landjchaft ihren eintönigen, melancholifchen Charakter. Keine Landſtraße, ja nicht einmal ein erfennbarer Weg führt durch Ddieje traurige Ode. Wer fich ohne einen ein: heimifchen Führer in fie hineinwagt, muß fchon ein ausgezeichnetes Drientierungsvermögen befiten. Aber auch dann wäre ihm das Wagnis nicht zu empfehlen. Denn man muß mit den mancherlei Eigentümlichkeiten der Inſel vertraut fein, um bei ihrer Durchquerung vor Schaden bewahrt zu bleiben.

Das einzige brauchbare Beförderungsmittel auf der Camargue ift das Neitpferd. Und an folchen ijt wahr: lich fein Mangel, denn man fehägt die Zahl der in großen Herden und in fat ungebundener Freiheit auf der Inſel lebenden Pferde durchaus nicht zu hech,

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104 Eine europäiſche Wüſte.

DIDI ADDED DDr Dre Dre DD Dre Dr Dr Dr ů wenn man fie auf mindeſtens 3000 beziffert. E3 find . Heine, aber ungemein miderjtandsfähige und aus— dauernde Gefchöpfe, die in ihrem Körperbau wie in ihren jonftigen Eigenfchaften an die Muftangs der teranifchen Prärien erinnern. Und fie find von kaum geringerer Wildheit und Unbändigfeit als jene. Durch ein mit glühendem Eifen in den Schentel gebranntes Zeichen für ihren Eigentümer: fenntlich gemacht, müffen fie für die Benugung jedesmal erft mit ſchwerer Mühe eingefangen werden, und e3 bedeutet oft ein hartes Stück Arbeit, ihnen Sattel und Zaumzeug aufzulegen. Hat aber der Reiter erſt einmal feine Füße in den Bügeln, jo weiß er recht gut mit ihnen fertig zu wer— den. Sie find von unglaublicher Ausdauer, Fönnen Durft, Hige und Moskitoftiche beroifch ertragen und was für den Camargnolen das wichtigite ift legen in den mehr oder weniger ernſten Scharmüßeln, die fie unaufhörlich mit den milden Stieren zu bejtehen haben, einen bemwundernsmwürdigen Mut und eine jehr fchägenswerte Gewandtheit an den Tag.

Denn, um es vorweg zu jagen, die wilden Stiere - find nicht nur die wichtigfte Erwerbsquelle, jondern auch der Stolz der fpärlichen Bevölkerung der Camargue. Man Sagt, fie feien ebenjo mie die Pferde und Die 80,000 Schafe, die auf der Inſel meiden, vermilderte Nachlommen des einjt von den Sarazenen bier zurüd: gelafjenen Viehs. Ihre Zahl mag fich, abgejehen von etwa 600 halbgezähmten Zugochjen, auf 2 bis 3000 be- laufen. Sie erreichen nur eine verhältnismäßig geringe Größe, aber was ihnen an Mächtigkeit der Formen abgeht, erjegen fie reichlich durch ein äußerſt leiden: fchaftliches Temperament und durch eine recht gefähr- liche Bewaffnung mit Starken, ſchön geſchwungenen und mörderifch fpigen Hörnern.

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106 Eine europäiſche Wüſte. DD ADD DD DDr DDr Dre Die Stiere find es, um die fich für den Camar⸗ gnolen alles dreht. Wie e3 bei der erjchrecdenden Armut und Dürftigfeit der Scholle, auf der er lebt, nicht anders fein kann, ift er ein anjpruch3lofer, mäßi- ger und arbeitjamer Menſch, der dem Fremden gajt- frei und liebensmwürdig entgegentommt. Wer aber je: mal3 dem Hirtenfeit der „Ferrade“ oder einem der Stiergefechte beigemohnt hat, die felbjt in dem kleinſten und armfeligften Dorfe fehr oft ftattfinden, der bat auch Gelegenheit gehabt, die minder angenehmen Seiten des Camargnolen, feine leidenfchaftliche Heftigfeit, feine oft mit elementarer Gewalt hervorbrechende Brutalität und fein Wohlgefallen an graujfamen Schaujpielen, fennen zu lernen.

Ferrade heißt im provenzalijchen Dialekt das Brennen der Pferde und der jungen Stiere. Bei der unbeſchränk— ten Freiheit, der man die Tiere notwendig überlajfen muß, bat man fein anderes Mittel, fie als das Eigen: tum ihres Befigers Tenntlich zu machen, und es ijt bezeichnend für den Charakter des Gamargnolen, daß die Vornahme der immerhin graufamen Prozedur für ihn ein richtiges Feſt bedeutet, zu welchem von nah und fern alles herbeiftrömt, jung und alt, Mann und Weib, um fich an den aufregenden Szenen zu meiden, die das Gebrüll und der verzweifelte Widerftand der eingefangenen, halb zu Tode geängftigten Tiere, ihre durch den heftigen Schmerz bis zur Raſerei geftachelte Wut und ihre immer erneuten Sluchtverfuche herbei: führen.

In der Regel fchließen fich der Ferrade denn auch einige improvifierte Stierfämpfe an, oft jehr gegen den Wunfc der Beliger, denen, wenn e3 bis zu ernftlichen Berleungen oder zur Tötung de3 als Opfer aus: erjehenen Tieres kommt, ja ein empfindlicher Schaden

Bon Rudolf Hendrichs. 107 DD ADAD AD AD ED AED ED ED ID AD DD DD ED ED erwächſt. Die „Gardians“, die für die Ochjenherden der Camargue find, was der berühmte Cowboy für die Ninderherden in Teras ift, bemühen fich denn auch auf alle erdenkliche Weije, die gezeichneten Stiere Jo jchnell als möglich aus den Händen ihrer Beiniger zu befreien

Auf dem Wege zum Stiergefecht.

und in die Freiheit binauszujagen. Aber es ergeht ihnen Dabei oft jehr übel, da fich Die einmal gemeckte KRampfesleidenjchaft der Menge leicht gegen die Störer des erhofften Vergnügens kehrt, und es ift nicht gerade jelten, daß es bei jolcher Gelegenheit zu blutigen Raufe— reien oder gar zu einem Totjchlag kommt.

Ein beneidenswertes Dafein iſt es nach unferen Le. griffen überhaupt nicht, das ein Ochjenhirt der Samargue

1

108 Eine europäifche Wüfte. IDEE EDDIE ED EDDIE ED EDEED EDER DE DEN führt. Täglich und ftündlich jeßt ex im Verkehr mit den feiner Obhut anvertrauten Tieren fein Leben aufs Spiel. Und man meiß nicht, ob man mehr die Toll- kühnheit oder die Gefchiclichkeit bewundern foll, mit der fich diefe Hirten ſelbſt in äußerft Fritifchen Augen: bliden unverfehrt aus der Affäre zu ziehen wiſſen.

Das Inſtrument, deſſen fie fich zur Bändigung mie zur Abwehr der Stiere bedienen, ift ein an einer langen Stange befejtigter Dreizad, von dem fie ebenfo gemandt als energifch Gebrauch zu machen mwifjen. Ihrer wenige find im ftande, eine aus zahlreichen Köpfen bejtehende Herde in Schach zu halten, und es gejchieht verhältnis mäßig felten, daß einer von ihnen das Opfer feines Berufes wird.

Bei den Stierfämpfen der Camargue fommt es nicht fo fehr darauf an, den Stier zu erlegen, als darauf, in dem Spielen mit der Gefahr jeinen Mut und feine Gefchieklichkeit zu bemeifen. Perjenige erntet den Bei- fall der Zufchauer am reichlichiten, der es am häufig- ften fertig gebracht hat, von einem in die Arena ge- ftellten Stuhle aus oder mit Hilfe einer langen Stange in dem Augenblid über den Stier hinmegzufpringen, wo er eben den Kopf zum todbringenden Stoße geneigt bat. Daß es trogdem hie und da nicht ohne Unfälle abgeht, ift felbjtverftändlich; aber fie tun dem Ber: gnügen an der nationalen Beluftigung nicht den ge- ringften Eintrag.

Diefe Leidenschaft für Stierfämpfe findet fich übri- gens nicht nur auf der Inſel Samargue, jondern aud) jenfeit3 des Stromes, der fie vom franzdfifchen Feit: lande trennt. Syn den kleinen und größeren Städten der Provence gibt e3 fein aufregendere3 Ereignis als das Ausbrechen eines Stieres, an escapa, wie es im dortigen Dialekt heißt. Die Kunde davon pflegt fich

Bon Rudolf Hendrichs. 109 DEI EDrE DD AD ED AD ED ED AD AED ED AED ED AD ED ED mit Bligesjchnelle durch den ganzen Drt zu verbreiten und bringt jung und alt auf die Beine, da niemand es verfäumen will, dem Einfangen des Flüchtling3 bei- zumohnen, felbjt auf die Gefahr hin, bei der Gelegen- beit von dem in feinen Bewegungen oft unberechenbaren Vierfüßler aufgejpießt zu werden.

Der Sprung über den Stier,

Man erzählt zur Illu— Itration dieſer Leidenfchaft eine nette kleine Gejchichte.

Ein Fremder aus dem nördlichen Frankreich, ein „Sranchimand“, ift in das Städtchen Ehateaurenard gefommen, um Angelegenheiten von größter Wichtigkeit mit einem dortigen Notar zu erledigen. Auf dem Wege vom Bahnhofe begegnet er einigen Gardianz, die im vollen Galopp daherjprengen und ihren Dreizad ſchwingend rufen: „An escapa!“ Er— jtaunt tritt er in ein Eafe, um fich nach der Bedeutung diefes ihm unbefannten Rufes zu erkundigen. Aber faum hat erjein Erlebnis erzählt, als alles in wilder Haft da:

110 Eine europäiſche Wüſte.

vonſtürmt, die Gäſte, die Kellner und der Wirt. Kopf— ſchüttelnd jegt der Mann feinen Weg fort. Er kommt an einigen Höferweibern vorüber, von denen er fich Auskunft erbitiet. Aber fie haben noch faum gehört, um was e3 jich handelt, al3 fie auch jchon ihren Kram im Stiche lafjen und mit fliegenden Nöden davon

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Die Berausforderung.

rennen. Er glaubt in eine Stadt von Verrückten ge: fommen zu fein, und al3 er in dag Arbeitszimmer des Notars eintritt, ift feine erjte Frage: „Was in aller Melt bedeutet denn diejes Wort „an escapa“ ?“

„Was?“ jchreit der Notar. „Wo haben Sie es ge: hört?” |

„In der Bahnbofitraße.“

Che der Fremde fich’S verfieht, ift der Mann des Rechts auf der Straße und läßt fich nur cben noc)

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112 Eine europäiſche Wüſte.

Zeit, zu den Fenſtern ſeiner Wohnung emporzurufen: „Marion, Fanchette, Marius, an escapa!“

Dann verſchwindet er im vollen Laufe, um nicht wiederzukommen, und der Fremde muß nach zweiſtün⸗ digem vergeblichen Warten wieder abreiſen, ohne über die Bedeutung des mit ſo ſeltſamen Folgen verbunde— nen Wortes aufgeklärt worden zu ſein.

Von der Dürftigkeit der Vegetation auf der Inſel Camargue haben wir ſchon oben geſprochen. Wohl gibt es in ihrem oberen Teil einige fruchtbare Strecken, wo der Pflanzenwuchs ſich üppiger entfaltet, wo das Getreide gedeiht, und mo man ſogar einen ganz trink—⸗ baren Rotwein erzeugt. Aber dies der Kultur ge- wonnene Land bildet nur einen verfchwindend Kleinen Bruchteil der Camargue. Mehr als vier Fünftel find morajtig oder jandig, jalzig, jeder Bebauung unzugäng- lich, und wo fie nicht feuchtes, ſumpfiges Weideland abgeben, nur zur Salz» und Sodageminnung zu be: nußgen. Unermeßliche Scharen von Mosfitos bilden eine furchtbare Plage diefer nioorigen Streden. Wehe dem Reiter, der es hier verfäumen wollte, Geficht und Naden durch einen Schleier zu fehügen! Türen und Fenſter der armfeligen Lehmbütten, die über diefen Teil der Inſel nur ſehr fpärlich verftreut find, müſſen ftet3 ängſtlich gefchlofjen gehalten werden. Aber felbjt durch den Heinen Spalt, der fich für einen Moment geöffnet bat, um dem Bewohner Eintritt oder Austritt zu ge: währen, fehlüpfen jofort Hunderte der geflügelten Duäl- geifter in das Tynnere, und das Leben der Bedauern3- werten, die hier ihre Tage verbringen, iſt ein beftän- diger Kampf mit den winzigen blutgierigen Inſekten.

Auch eine andere Borfichtsmaßregel darf der Reifende nicht außer acht laffen, der die wüften Teile der Camargue durchſtreift. Er muß fich in ausgiebigjter Weife mit

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1904

114 Eine europäifhe Wüfte.

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Getränk und durititillenden Mitteln verfehen, wenn er: nicht in Gefahr geraten will, zu verfchmachten. Tenn ein ſchier umerfättlicher Durst ftellt ſich mit Sicherheit ſehr bald ein, und menn auch überall kleine Waſſer— lachen oder ſelbſt ausgedehnte Strandfeen blinfen, fo wäre e3 dem Reiſenden doch nicht anzuraten, von dem einladenden Naß zu koſten, denn er würde fich alsbald entjeßt vor dieſer Fonzentrierten Salzlöſung fehütteln.

Die Hite ift in den Sommermonaten geradezu un: erträglich, und die unbarmberzige Sonne läßt den im Frühling ziemlich üppig auffchießenden Grasmuchs bald jo vollftändig verdorren, daß zwar die genügfameren "Schafe eine fümmerliche Nahrung finden, aber die GStiere Hungers fterben müßten, wenn man ihnen nicht andere Weidegelegenheit verjchaffte. Zu diefem Zweck werden fie alljährlich in der heißen, völlig regen- lofen Zeit über den Fluß getrieben.

Dies iſt eine der fehmierigften Aufgaben für die Hirten, denn ihre Schußbefohlenen find nur durch die Anmendung brutaler Gemalt zu der bei der Breite des Stromes allerdings recht bejchwerlichen Schwimm— partie zu bewegen. Sn großen Herden werden die Rinder an einer befonders tiefen Stelle, mo fie fofort den Boden unter den Füßen verlieren müſſen, an den Fluß getrieben, und die hinterften werden fo lange mit dem Dreizack gejpornt, bis die vorderen dem un: geftümen Andrängen nicht mehr widerjtehen können und ins Waſſer fallen. Der Trieb der Celbiterhaltung zwingt fie alsdann, dem jenfeitigen Ufer zuzuſchwimmen, und ift erft einmal der Leitjtier im Strome, jo folgen die anderen freiwillig nach, abgejehen von einigen be— fonders waſſerſcheuen Ausfneifern, die man indeljen mit Hilfe des Dreizads ebenfalls bald zum Gehorfam bringt. |

pi4syaaııs 4ap Bunpuez

116 Eine europäiſche Wüſte.

IDMDMDAD AD ED AD AD AD ADD AD AD AD AD AD AD DD Faſt noch aufregender als diejes Eintreiben geftaltet

jich in der Regel die Landung. Denn fobald fie wieder

fejten Boden unter den Hufen fühlen, haben die Tiere

da3 Bejtreben, nach allen Richtungen hin davonzulaufen,

und ohne die Unterjtügung durch ihre Elugen und mutigen

Die Kirche von Saĩntes-Maries.

Pferde würde es den Hirten kaum gelingen, Die Herde zujfammenzubalten und in die gewünschte Nich- tung zu bringen. |

Auf demjelben Wege erfolgt dann mit dem Beginn des Herbites die Rückkehr. Aber die Herden find oft in der Zwijchenzeit durch Krankheiten und allerlei Un:

Bon Rudolf Hendrichs. . 117 fälle ſtark gelichtet, jo daß der Samargnole der Zeit, wo er feine Rinder am anderen Ufer der Rhone weiden laffen muß, jtet3 mit Beforgnis entgegenfieht.

Die Inſel Samargue, auf der fich auch ein Leucht- turm erhebt, umfaßt neun Gemeinden, deren Hauptort da3 an der Mündung des weſtlichen Rhonearmes ge: legene dorfähnliche Städtchen Saintes-Maries mit feinen ungefähr taufend Einwohnern iſt. Es ift bemerkenswert durch feine fehr alte, noch au3 dem , 12. Jahrhundert ftammende Kirche, die in ihrer äußeren Geftalt mehr einer Burg als einem Gotteshaufe gleicht. Sie ift an der Stelle errichtet, wo nach der Legende die drei heiligen Marien, als fie nach dem Tode des Heilandes flüchten mußten, in einem weder mit Segeln noch mit Rudern ausgerüfteten Boote ge- landet fein jollten.

Der fromme König Rene, der im 15. Jahrhundert lebte, und der nicht nur ein tapferer Krieger, fondern auch ein Maler und Dichter war, muß von der Wahr: beit diejer Überlieferung feſt überzeugt gemejen fein, denn er ließ den Boden der Kirche umgraben, um nach den irdifchen Überrejten der heiligen Frauen zu ſuchen. Es wird erzählt, daß er in der Tat menfch- liche Gebeine zu Tage gefördert habe, von denen ein wunderſamer, herrlicher Duft ausging. Es follen das die nämlichen Gebeine geweſen fein, die in der Kirche der heiligen Wlarien als koſtbare Reliquien in goldenen Behältern aufbewahrt und alljährlich zur Zeit der großen MWallfahrten den Gläubigen gezeigt werden.

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Die Waldfrau.

Novelle von Gustav Johannes Krauss.

* (Nachdruck verboten.)

1.

I: Hühner des Manharterhofes zu Gupfing waren

auf den Heuboden über dem Kuhjtall mie ver- jejfen. Die jchönjten LXegenefter unten im Stall ver: achteten fie. Weder das Strauchwerk des Gemüfegar- tens noch die Strohſchober in der Scheune erfreuten fich bei ihnen jonderlichen Anjehens, jo gerne das ge: fiederte Volk fonjt jeine Eier an dieſe Orte „verträgt“. Der Heuboden allein jchien ihnen der rechte Ort. Wenn eine Henne aufgeregt und ruhmredig gacerte, brauchte man nur da hinaufzuflettern, und man hatte das Ei.

Eines jonnigen Julimorgens gaderte es um den Düngerhaufen ber wie toll. Mindeſtens ihrer vier mußten ihre Hennenfchuldigfeit ſoeben getan haben. Sp konnte es nicht auffallen, daß die hübjche, braun: ängige Mierl, der verwitibten Manharterin Alteſte, die gerade vom Garten ber über den Hof fam, fich nach der zum Heuboden hinaufführenden Leiter wandte und dieje in ziemlicher Eile emporitieg. Daß fie oben nicht gleich die Eierjuche begann, war auch zu begreifen. Der Heuboden Hatte nämlich noch eine zweite Luke,

Novelle von Guſtav Kohannes Krauf. 119 ⏑⏑ ED DDr Dre DE De UV der erſten gegenüber. Die ſtand gleichfalls auf, und zu ihr hinaus hatte man eine wunderſchöne Ausſicht. Da das Dorf etwa auf Drittelhöhe des mwaldigen Nein: bardsberges lag, ſah man von hier aus über die weite, faatengoldene, von heißem Licht überflutete fruchtbare Ebene bis hinüber zur majeftätifchen, filberhellen Breite der Donau. Die ganze Dorfftraße konnte man über: bliden, die Landftraße, in die fie einmündete, verfolgen, bis fie fich in der graublau duftigen Ferne verlor wie ein immer fehmäler mwerdendes weißes Band.

Die Leine Manharterfche Dirn fchien eine merk: würdig leidenfchaftliche Verehrerin landfchaftlicher Schön- heit zu fein. Ihre Faftanienbraunen Augen gudten mit dem Ausdruc völliger Selbftvergeffenheit da hinaus ins Weite. Darüber hatte fich allmählich in die ge: funde, hafelnußähnliche Farbe ihrer runden Wangen ein dunklerer Ton gemifcht. Der Lleine, hübfch ge: formte, Tirfcehrote Mund ftand halb offen und ließ den Atem aus: und einjtrömen, den die junge Bruft unter dem bunten Bujentuch zu ihrer auffallend lebhaften Tätigkeit gebrauchte. Hätte die Mierl fonft nicht fo Fern- gefund ausgefehen, man hätte anein Lungenübel denten können, weil ihr das Brufttüchel fo auf und nieder ging von dem bißchen Keiterflettern.

Auf einmal zucdte Mierl ſchreckhaft zufammen. Je⸗ mand hatte fie von rückwärts am Ellbogen gefaßt. Sie wandte ſich um und fah ihrer Mutter, deren Her: auffommen fie fo völlig überhört hatte, verwirrt und errötend in das derbe, ftrenge Geficht.

„Guat verftedt hab'n ſ' es, d' Hendeln ihre Dar,*) ba?” fragte die Bäuerin ironisch. „Vor aner halben Stund’ bift da auffi af'n Heuboden, aber g’funden haft j’

*, Eier.

120 Die Waldfrau. ö—— DD ED wohl nit, d' Dar. Nie in Händen Haft und nir im Fürtuch.”

„Muatter ... i ... i ...“

„A A ‚) bumme Urfchel bift!“ metterte die herbe Frau zwischen das verlegene Stammeln ihrer Tochter. „3 G'ſchau im blauen Himmi ſtecken laſſen haft wieder amal. Oder” der feifende Ton murde leifer, aber noch bijjiger, die Lalten grauen Augen der Mutter fahen durchbohrend auf das verlegene Mädchen „hätt'ſt am End’ gar nit auffi g'ſchaut afn Himmi? ?leicht haft auf d' Straßen aufpaßt, ha? Weil halt d’ Urlauber heunt hoamkommen ſoll'n.“

„Muatter —!“ Mierl fchluchzte beinahe, in ihrem Tone lag etwas wie ein hervordringendes Geſtehen.

Die Mutter jchnitt ihr aber das Wort raub ab. „Stad fein! % will gar nir willen. Aber fagen will i dir was: drei Buab'n ſan's, wo heunt z’rüd- temmen vo’ d' Soldaten. Zwoa hab’n ſcho' ihre Schäß', bleibt der Simmerl. Und mit dem Findelbalg wann du mir daherkümmſt, nachher gibt’3 Watjchen**), fo viel als Pla hab’n auf dein’ G’ficht, und ihn ſchmeiß' i vom Hof verjtanden? A Findelbalg iS er, und wann ihn zehnmal der reiche Größinger aufg'nummen hätt’! Und hab'n tuat ’r gar nie. Dös büld dir nur nit ei’, DaB der Großbauer dem mas vermach’n tat. a, wenn er dös jungi Weib nit g’numma hätt’, der alti Ejel, dann ehender. Aber fo erbt die amol die ganze Sach’. Dös hat fie ausg’macht. 13 g’fcheiter wie du. Pfiff'n hat ſ' auf d' Liab und zu aner Verſor— gung g'ſchaut, di g’fintelte, niederträchtige Figur, die! So, jegt’n tuaft mei’ Meinung willen und jeßt’n

*) Berträumte. **) Obrfeigen.

Novelle von Guſtav Johannes Krauß. 121 Id DS ED DET DD De Dee De De DD re DD marſch! Was arbet’n tu! Im Kuhftall ſchaut's no’ aus wie in ein’ Sauftall.”

Ihre Tränen mühfam niederfämpfend, haftete Mierl nad) der Rufe und die Leiter hinunter. Aber fo leicht: füßig das Mädchen mar, e3 hatte noch die legte Sproſſe unter feinem Fuße, als oben die Bäuerin den ihrigen auf die erite feste. In der Schürze trug fie ‚bereit3 die verjchleppten Eier. So kurze Zeit hatten die fchar: fen grauen Augen, denen nichts entging, gebraucht, um die weißen Dinger durch das Heu hindurch, das über fie gefragt war, zu entdecen.

Sm Kuhſtall ließ Mierl ihrer Aufregung freien Lauf. Manche heiße, Fugelrunde Träne fiel in den Dung hin: ab, den die Diru unter den breit gewölbten Bäuchen der Schedin, der ſchwarzen Liefel und der Bläß mit der Holzſchaufel hervorkratzte.

Als die Arbeit getan war, und Mierl etwas erleich— terten Gemütes den Stall wieder verließ, traf ſie im Hofe auf ihre Schweſter Annerl, ein ſechzehnjähriges, pfiffiges blondes Ding mit keckem Stumpfnäschen, das zu den frommen Blauaugen ſo wenig ſtimmte, daß man ſehr leicht dazu gelangen konnte, hinter dem from— men Blick allerlei Schalkheit zu ſuchen.

„Du, Annerl!“

Mit unterdrüdter Stimme klagte Mierl der jungen Schweſter ihr Herzeleid. So gefreut habe fie fich auf die Rückkehr des Simmerl, und nun habe fie die Mutter erwifcht, wie fie auf die Straße hinunterguckte, ob denn noch feine blaue Urlaubermüte zu jehen ſei, und dann babe fie fo böſe Worte über den Simmerl gejprochen. Aus und vorbei ſei es nun mit allen Hoffnungen.

Das arme Ding war nahe daran, in neue Tränen auszubrechen. Annerl aber lachte, als habe ihr die Schmweiter einen guten Spaß erzählt.

122 Die Waldfrau. | DDr EDDIE ADD DDr DDr DDr De Der Dre

„Bah, bah, bah!” machte fie. „Symrings *) amal bat jo’ a Muatter fo g’fcehimpft und hat do’ nix g’nüßt, 3 MWörteln. Laß guat fein, Mierl, i hilf dir ſchon.“

„Bit a gut’3 Dirndl, du!” rief die ältere dankbar. „Dadrum hab’ i di’ ja grad angeh’n woll’n.”

„ga, aber” die blonde Feine Anna machte ein ungeheuer wichtiges Geficht bei diefem Vorbehalt, „ums junft iS der Tod!”

„Ra, was willft denn nachher hab’ 1? fragte Mierl.

Annerl wurde ein wenig rot, ein ganz kleines bißchen nur. „Du mußt mir verfprechen, daß d’ mir aa bilfft, übers Jahr, wenn der Xaverl frei wird vom Militär,” bedang fie fich aus.

Mierl war mit ihren eigenen Liebesforgen viel zu bejchäftigt, um fich groß darüber zu wundern, daß ihre junge Schmwefter auch ſchon welche hatte. Sie fagte furz: „Aber freilich, Annerl.“

Damit war das Bündnis gejchloffen, und die Schweſtern trennten fich eiligft. Ein Handſchlag auf das Abkommen unterblieb. Den hätte die Mutter, die in der Küche am Herde mirtjchaftete, durch das Fenſter beobachten Fünnen, in welchem alle fie ficherlich recht unbequeme Fragen geftellt hätte.

Pech hatte fie übrigens mit ihren Töchtern, die ehr- geizige Manbarterin. Der Kaverl, von dem das blonde Annerl geredet hatte, war zwar fein Findellind, aber ein armer Tagmwerlersjohn, der al3 Bauernknecht frem- der Leute Brot aß.

2. „Dö is g’feheiter wie du. Pfiff'n bat f’ auf d' Liab und zu aner Verſorgung g’fcehaut.”

*) Ofter.

Novelle von Guftan Johannes Krauß. 123

DD RDTEDED AD —— D DD

Dre

Hätte die Witwe Manbarter jehen lönnen, was Die Gefcheite, deren Klugheit fie mißgünftig rühmte, in eben dem Augenblicde tat, ihre fcharfen Augen Hätten mehr erſpäht als jämtliche feharfe Zungen des Dorfes in einem ganzen langen Winter, der die Arbeitszeit der Dorfzungen ift, weil die Dorfhände raften, er- ichöpfend erörtern können. Auf dem Dachboden des Größingerhofes ftand nämlich auch eine und fpäbte durch die Luke hinaus auf die Landftraße, die man von bier aus beinahe noch bejjer überfab wie vom Manharterſchen Heuboden herunter. „Sauber“ war auch diefe Ferneguderin, fogar noch fauberer als Mierl, nur war fie feine Inofjpenhafte Dirne mehr, jondern ein voll erblühtes, reifes Weib von etwa ſechsund— zwanzig Jahren, mit ſtarkem, jchönlinigem Naden und ſchwerem, metallifch glänzendem Blondhaar. Die großen, feuchtblauen Augen der Frau blickten mit jeltfamer Spannung hinaus in den Sonnenglaft, die Flügel der geraden Nafe zitterten leife dabei, der blutrote, ein wenig zu üppig geratene Mund unter diefer Naſe atmete ebenfo rafch, noch vafcher vielleicht, als Mierl geatmet hatte, da fie von ihrer Mutter überrumpelt murde. Ä

Nachdem fie eine Weile fo am Dachfenfter geitanden hatte, trat das Weib an eine Truhe, die bier oben ftand und allerlei gelehrten Kram enthielt, von dem Bruder des Großbauern her, der auf einen geiftlichen Herrn jtudiert hatte, aber jung geftorben war, noch vor den erften Weihen. Diefe Truhe öffnete die Bäuerin und mwühlte unter den Büchern und Papieren herum, bis ihr ein Fernrohr in die Hand kam. Sie ſchob das Ding auseinander, trat wieder ans Senfter und gudte durch das Rohr in die Weite, dahin, mo fich die Land— ftraße dem unbemwaffneten Auge in graublauem Dunſt

124 Die Waldfrau.

DET ED TED ED ED EDDIE DA DD De Dre De Dre Dre DD verlor wie ein immer fchmäler merdendes weißes Band.

Sie mußte aber auch mit dem Rohr nicht gejehen haben, was fie juchte, denn fie jchüttelte unmutig das fchöne Haupt, ſchob das Inſtrument wieder zufammen und legte es in die Truhe zurüd.

„Wann i nur wüßt’, wie mir is?“ murmelte fie dann, während fie ſich mit der Fräftigen, aber wohl: geformten Hand über Stirn und Scheitel ſtrich. „So g'ſpaßig!“ |

Sie grübelte ein wenig nach über fich felber, aber ſie vermochte Tein Licht in das Dunkel zu bringen, das fie heute fo ruhelos durch Haus und Hof, durch Küche, Stall und Keller umbergetrieben hatte vom frühen Morgen au, bi3 e3 fie endlich gar hierherauf führte auf den Dachboden, damit fie ſich an der Fenſterluke töricht benehme wie ein Sternguder am hellen lichten Tage. Was ging fie der Simmerl an, der heute von den Soldaten zurückkommen follte?

Am Ende befchied fich die junge Bäuerin, daß ihre Unraft wohl „im Geblüt“ jteden müffe. Damit ver: ließ fie den Bodenraum. In der Milchlammer gab’3 für fie zu tun, alle Hände voll. Sie mußte die Butter ausmwiegen, die nach der Stadt follte, große Körbe voll Gier, die den gleichen Weg antreten follten, mußten nachgezählt werden. Die Arbeit half vielleicht Tlare Gedanken in den Ropf und Ruhe in3 Geblät friegen.

In der großen Stube im Oberftod des Haufes ſaß der reiche Jakob Größinger in feinem Lehnftuhl am Senfter. Seit zwei Syahren, feit ex fo viel fränfelte, faß er da oft und gern.

Mit vorgeneigtem Kopf, das grauftoppelige Kinn in die Hand geftügt, ſah der Bauer durch die Kleinen, in Blei eingefaßten SFenfterfcheiben, an denen die Flie-

Novelle von Gustav Johannes Krauß. 125 EDDIE DD DD DDr Dre DE Dre DD De Dre DD ED gen fummten, hinab auf die Straße. Verdrofjen, bei: nahe furchtſam war fein Blid. Auf feinem fahlen, fchlaffen, Fränflichen Geficht lag ein unbehaglicher Aus: drud. |

Der ungewohnte Müßiggang, zu dem ihn feine Kränklichkeit verurteilte, befam dem Größinger nicht. Seit er jo viel in der Stube boden mußte, hatte er fih das Grübeln angewöhnt. Der Gegenftand, über den er fpintifierte, war immer der nämliche: feine Reſi, feine junge Frau. Heute nun waren die Gedanten, die der Bauer machte, ganz beſonders grau und trüb— finnig. Er fehsundfünfzig, fie ſechsundzwänzig, das paßte doch gar nicht zufammen. Das mußte ja ein Unglücd geben!

Bor ſechs Jahren, als er feine Zmeite nahm, war er ja auch um dreißig Jahre älter gemwejen als fie. Trogden aber Hatte e3 noch befjer gepaßt damals, viel befjer. Sein Haar mar voll und fehwarz, fein Körper füllte die Joppe prall aus, und eine Kraft ſpürte er in fich, eine Kraft, deren Gefühl ihm manch— mal die Sinne umnebelte wie ein leichter Rauſch. Wie ein Vierziger fah er aus damals, mit jedem Dreißiger nahm er's auf. Den fchweren Erntewagen, den zu regieren der lange Hies, der ſtärkſte Knecht auf dem Hofe, alle Mühe hatte, 309 er mit einer Hand aus dem Schuppen, ganz leicht, juft jo, wie irgend ein kleiner Hofenmaß jein Spielzgeugmägelchen hinter fich her zieht.

Heute aber...

Mit grämlichem, wehleidigem Lächeln befah der alte Jakob feine hageren Hände, auf denen die Adern Did und jchwarzblau lagen. Seine Oberarme betaftete er, und Dabei ftieg ihm’3 heiß und feucht in die Augen. Wie das dünn gemorden war! Die Kleider jchlotterten ihm ja nur fo am Körper. Und das bißchen Fleiſch,

126 Die Waldfrau.

DrRDRD ED ED EDDIE AED AD Dre De Dee Dre Dr ED das auf feinen Knochen faß, jo weich und fchlapp. Ja, ja, das Schlagerl vor zwei Jahren! Ein ganz leichtes Schlagerl war’3 bloß geweſen, aber alt wurde er ſeit— dem, zum Erjchreden ſchnell alt.

Das graue Haupt des Sinnenden fenkte fich tief auf die Bruft herab. Es fah aus, als ob die Wucht einer unfichtbaren Laſt den hochmütigen Bauernnaden beuge. Die Gedanken Hinter der niedrigen Stirn aber gingen ihren alten, gewohnten Weg meiter.

Damals, als er den Erntewagen mit einer Hand aus dem Schuppen 308, konnte er ſchon lachen darüber, wenn die Nachbarn jchiefe Mäuler zogen und heimlich Iofe Reden führten über die zwei, die ein Ehepaar vorjtellen. wollten und dabei viel beſſer als Bater und Tochter zueinander gepaßt hätten. Ex Tannte die MWeibsleute. Die ſchauen bei einem Mannsbild vor allem auf die Stärke. Und für den einen Unterjchied, daß er ſchon ein paar „Katzkrallen“, etliche Rrähenfüße in den Augenwinkeln, hatte, während Reſi das glattejfte, ſauberſte Mädchengeficht auf viele Meilen im Umkreis ihr eigen nannte, fonnte er einen anderen, viel ge— wichtigeren Unterfchied in die Wagfchale legen. Er war der reiche Größinger, faß auf dem fchönften Hofe in Supfing und hatte in feiner Schlafftube eine richtige eiferne Geldkaſſe ftehen, eine, wie fie die großen Kauf: herren hatten, und drin in der PDiebes- und Einbrud)- feften mehr Bargeld und Wertpapiere als mancher jener Kaufleute, die fürchterlich Died und vornehm taten, in der feinigen. Sie aber war das Kind des ärmſten Häuslers im Nachbardorf und hatte noch fünf Ge- ſchwiſter.

Im Anfang war ja auch alles ganz gut gegangen, ſehr gut ſogar. Reſi blühte förmlich auf. Daran war freilich in der Hauptſache das gute und reichliche Eſſen

Novelle von Gustav Johannes Krauß. 127 ID DD EDDIE DT ED DD ED Dr ED Dr De Dee ſchuld, das fie jebt hatte, während es bei ihr.zu Haufe Inapp genug bergegangen war. Aber auch fonft merkte man’3 der inngen Frau an, daß fie fich völlig glüdlich fühlte in'ihrer neuen Lage, daß fie nichtS vermißte. Ihr Bli war klar und fühl und verftändig, über die Gefchich- ten in den Ralenderbücheln, in denen die Liebe jo brenn- heiß und rofenrot bejchrieben wird, daß es gar nichts zu jagen hat, wenn fo ein verliebtes Baar dabei zufammen Hunger leiden muß, lachte fie und wollte daS dumme Zeug gar nicht mehr lefen. Kam fie zufällig dazu, wie einer der Knechte mit der Stalldirn ſchäkerte nament- li der lange Hies war ein rechter Galgenſtrick den Weibsleuten gegenüber fo tat fie, als fähe fie nicht3. „Man muß die Augen nit juft überall haben,” war ihre Rede, „und den Dienftboten einen Spaß vergönnen, jolang er nit gegen Zucht und Ehrbarkeit geht.” .

Sp war fie gemejen, die Reſi, früher, jo lange der Größinger feinen Erntewagen allein aus dem Schuppen ziehen fonnte. Seit ihn aber der Schlag gerührt hatte

Ticht, daß der Großbauer Grund zur Klage über jein Weib gehabt hätte. Kein Gedanke davon. Gie führte das große Wirtfehaftswefen fajt allein, da Grö— Binger fich nicht viel darum kümmern konnte, und pflegte ihren binfiechenden Mann auf das gemilfen:- baftefte. Aber ihr Blick gefiel dem mißtranifchen, Icharf aufpafjenden Kranken nit Der war jet mandı: mal verjchleiert, mit einem unruhigen Flimmern in der Tiefe. Das maren beinahe die Augen einer ledigen, auf Liebeshändel finnenden Dirn. Und einmal hatte Jakob jeine Frau dabei ertappt, wie fie die Gefchich- ten in den vorjährigen Kalendern, von denen fie nichts hatte wiſſen wollen, heimlichermeife nachlas. Das war feine Sünde, gewiß nicht, aber cin Anzeichen war's. Und wenn fie jegt den langen Hies dabei ermifchte, wie

128 Die Waldfrau.

RDADEDEDr ED ED ED ED DE DE D er ED ED ED ED EI ned ee er die Stalldirn in die roten Baden Eniff, ſah ſie erit ein Weilchen ganz hingeriffen zu, mit wogender Brujt, die Nafenflügel blähend wie ein Fohlen, das über den Zaun fpringen und querfeldein jagen möchte, un gleich darauf auf die beiden wie ein richtiger Speiteufel 1o3: zufahren, fo übertrieben heftig fcheltend, daß die Leute, die fich Feiner gar fo fchmeren Sünde bewußt waren, ihre Bäuerin ganz verdugt anftarıten.

Immer tiefer jant das forgenjchmere Haupt des Grübelnden gegen die Brujt herab. Es lag etwas in der Luft, mit der Bäuerin ging etwas vor. Ye älter Größinger wurde, deſto mehr verjüngte fich fein Weib. Bon Tag zu Tag jünger wurde fie, die Reſi. Wie, wenn das heiße junge Blut in ihr eines Tages jo über: mächtig ſtark würde, daß e3 die Geſetztheit, die Ehrbar- teit, den fühlen, erwägenden Verſtand, alle die ehren- fejten Eigenfchaften, die der Großbauer an feiner zweiten Frau jo hoch jchäßte, einfach mit fich fortriß?

Ein Echauer rann über den hageren Leib des Alten. Es war ihm zu Mut, als fehreite das Unglück irgendwo aus der Ferne auf fein Haus zu, als müſſe es jeden Augenblid die Dorfitraße entlang kommen, in den Größingerhof treten und fich mit ihm, dem Jakob, au den Tiſch fegen, als ein vollberechtigter Saft, dem er nicht die Tür weisen durfte.

Wie, wenn es gar eine blaue Rejervijtenmüße trüge, diejes Unglüd? ...

Der Kranke zog die Brauen finfter zufanımen. Heute Tam der Simmerl wieder! Ein alter, brejthafter Mann, deifen junges Eheweib und ein Burjch wie der Simmerl unter einem Dach, da hatte ja der Teufel alles hühſch nahe beifammen, was er gebrauchte, um ein Unglück zurechtzubrauen.

„Sie is ein brav’s Weib,“ murmelte Syalob Grö-

Novelle von Guſtav Johannes Krauß. 129 Dre DDr erde Binger zwifchen den Zähnen, „noch ... und der Bub is a grumdehrliche Haut, hängt an mir wie an fein’ leibeigenen Vatern für die Guttat, daß i das klan— winzige Bübl, was mir damals vor der Tür g’legen i3, angnommen und aufzog’'n hab’, als wär’3 mein eigen’3 Blut. Das hat freili’ mehr mei’ Gelige 'tan wie i ſelber. War ja glei’ rein vernarrt in das Kin— derl, die Selige. Na ja, bat ja auch recht b’halten fo mweit. Jetzt, wo er groß g'wachſen i3, fieht m'r's ja. Ein Kerl wie ein Baum, jo was Bornehm’3 in ihm, als wär’ er ein Graf. "leicht iS er einer. Wer weiß, wo fies g’stohlen g’habt haben, daS Buberl damals. Und a goldenes Herz hat er, der Bub, alles, was wahr is. Und der follte...? Aber, aber, aber... .!”

Es half nichts. Jetzt, da die Angſt vor dem Sim: merl, die Größinger in der letzten Zeit fo zugefegt hatte, ohne daß er recht mußte, was ihn quälte, fich einmal zur Klarheit eines in Worten faßbaren Gedankens durchgerungen Hatte, ließ fie fich nicht mehr abmeifeın. Noch lag ja nicht vor. Der Burſch war feit drei Jahren bei den Kürajfieren, und Größingers Krankheit hatte ja vor zwei Jahren exit angefangen. Simmerl war früher für Reſi nicht viel mehr gemefen als einer der Knechte. Wie aber würde es jet werden zwiſchen den beiden?

Die Miene des Bauern wurde immer finfterer. Zwei Kleine Züge waren ihm eingefallen, Dinge, die er Taum beachtet hatte, die aber jeßt fehmere Bedeutung gewannen in feinen Augen. Voriges Jahr mar Sim: merl ein paar Tage auf Urlaub dagemefen, um an der Hochzeit feines beten Freundes im Dorfe teilzunehmen. Auf diefer Hochzeit hatte der fehneidige junge Soldat auch mit Refi ein paarmal herumgetanzt: Größinger, der zufah, wunderte fich damals, daß fein fräftiges

1904. III.

130 Die Waldfrau.

junges Weib nach den paar Runden fo heiß und atem- lo8 war, und fragte Reſi beforgt, ob ihr was fehle. Sie hatte verneint. Sollte etwas anderes als körper⸗ liche Angegriffenheit ihre Wangen fo rot gefärbt, ihrer Bruft den Atem benommen haben? Ein halbes Jahr fpäter ſchickte Simmerl feine Photographie. Er war eben Gefreiter gemorden und hatte fich nach Soldaten: fitte aus diefem Anlaß photographieren laſſen. Das Heine Bild war bald verfchwunden, irgendwie in Ver⸗ luft geraten. Hatte etwa Reſi es an fich genommen? Und warum vermied fie e3 feit einiger Zeit jo forg- faltig, von dem Burfchen zu reden? Geit Monaten hatte jie feinen Namen nicht mehr in den Mund ge: nommen. SFürchtete fie, fich Dabei zu verraten?

Jakob Größinger nahm fich vor, auf feiner Hut zu fein, und wenn er etwas merkte, zur rechten Zeit da- zwilchen zu fahren. Dann ftüßte er beide Ellbogen auf die Armlehne feines Großvaterftuhls, jtemmte das Kinn auf die Handballen und ſah wieder auf die Gtraße hinab. Jetzt lugte auch er nach der blauen Reſerviſtenmütze aus, aber mit anderem Blid als die beiden jungen Weiber vom Heuboden aus. Angſt und Haß gliterten in feinen matten Augen, die Angft und der Haß, mit denen das Alter dem jungen Gefchlecht entgegenfieht, da3 da kommt, e3 zu verdrängen und zu berauben, um die Herrfchaft über die Welt und ihre guten Dinge für fi) in Beſitz zu nehmen.

3

Das Dorf Gupfing liegt drei Wegitunden von der Bezirfsftadt, bis zu der die Eifenbahn benugt werden fonnte. Die heimfehrenden jungen Krieger, die am frühen Morgen entlaffen worden waren, hätten aljo gut noch am Vormittag in Gupfing eintreffen können.

Novelle von Guftan Johannes Krauß. 131 EDDIE DD ED De DD DD ED ED re De Dre Der D ED Uber die Wege eines Häufleins junger Männer, die nach drei Jahren harten Drill3 zum erſten Male wieder SFreiheitsluft atmen, bilden eine munderliche Zidzadlinie, und an jeder Ede diefes Zickzacks fteht ein Wirtshaus, in dem ein Felt: und ubelfchoppen getrunten werden muß. Die Berechnung, wann ein aus der Garnifon heimkehrender Reſerviſt zu Haufe eintreffen werde, ijt daher auch ein Broblen, an dem felbft die ganz Gefcheiten, die die Wiederkehr eines Kometen auf den Tag auszutüfteln wiſſen, zu ſchanden werden müßten, falls fie fich überhaupt daran magten. Die drei Gupfinger hatten noch ziemliche Eile ent- widelt, da fie fchon am Spätnachmittag die heimifche Feldmark erreichten.

Etma eine Stunde vor dem Dorfe wurden die drei, die freuzfidel Arm in Arm inmitten der Yandftraße ein- herzogen und nun aus voller Kehle Soldatenlieder fangen, von einer Abordnung Gupfings feierlich ein- geholt. Eigentlich galt diefe Einholung nur zweien von den drei NRefervijten, da fie aus den halbwüchſigen Ge- fchwiftern des SSerdl und des Gepp bejtand. Dem jungen Bolt war das Warten zu Haufe zu lang geworden. Es hatte fich alfo aufgemacht, um den großen Brüdern, die fo lange bei den Soldaten geweſen waren, gemiß alfo eine Menge zu erzählen müßten und vielleicht fogar etwas Schönes mitbrachten, entgegenzugehen.

Simmerl, für den bei der freudig lärmenden Be- grüßung bloß etliche flüchtige Händedrücke abgefallen waren, ging mit ein wenig trübjeligem Lächeln Hinter den beiden Kameraden ber, die von dem unaufhörlich durcheinander ſchwatzenden und Fichernden Rudel flach3- baariger Buben und Dirnlein vorwärts gezogen und gedrängt murden. Er verlangfamte abfichtlich feinen Schritt, einmal blieb er gar jtehen und fingerte an

132 Die Waldfrau.

DIDI DE DD AD DD ED DD Dre De Dee Dre DD feiner kurzen Pfeife herum, um die freudig lärmende Schar ein Stück vorausgehen zu laſſen. Was follte er bei dem Jubel, er, das Findellind, das weder Bru— der noch Schmeiter hatte, die ihm entgegengelaufen wären, weil fie fein Heimkommen nicht erwarten fonnten!

Als die Pfeife in Ordnung war md wieder prächtig dampfte, reckte der Simmerl feine ſchlanke Geftalt mit jähem Rud, als wolle er etwas abfehütteln, und griff dann wieder nach feinem Handfoffer, den er neben fich auf den Straßenrain geftellt hatte Er nahm den Koffer aber noch nicht auf, fondern zog die Hand zu- rück und verſenkte fie in feine Hojentafche, aus der er fein nagelmeues, kürzlich erſt in der Stadt gelauftes Portemonnaie hervorzog. Aus einem der Fächer nahm er ein altes, vergilbtes Papier, das er jorgfam ent- faltete, um dann eine ganze Weile auf die wenigen, von ungeübter Hand mit großen Buchjtaben gemalten Zeilen niederzuftarren, die es enthielt.

„Ich bin fein Zigeunerfind, fondern von chriftlichen, aber unglüdlichen Eltern. Geboren bin ich am 2. Mat. ch bitte um die heilige Taufe auf den Namen Simon.”

Am 15. Mai hatten fie ihn in aller Herrgottsfrühe vor dein Tor des Größingerhof3 gefunden. Den Tag vorher waren Zigeuner durch Gupfing gezogen. Er war forgfältig in friſch gewafchene, gute Leinwand ohne jede Marke gehüllt, an der über feiner Bruft der Bettel mit einer Stecknadel befejtigt war. Die Nadelſtiche fah man noch am oberen Rande des Blattes. Diefes Stückchen Bapier da, das er feit feinem vierzehnten Jahre bei fich trug, und Die paar alten Lappen, die zu Haufe in feiner Truhe ruhten, waren alles, mas der Simmerl von feinen Eltern Hatte.

Wieder und wieder las der Burfche die taufendmal gelefenen Worte. &3 war, als wollten feine ſchwarzen

Novelle von Guſtav Johannes Krauf. 133 DD rrDerD ed DD AED TED ED ED re Dr Dre D Augen jeden der plumpen Buchftaben um und um drehen, um ihnen daS Geheimnis zu entreißen, daS fie bargen ...

„ge, der Simmerl! Na, grüß Gott halt dahoanı, Simmerl!”

Beim Klange der medernden Stimme, die dieje Worte zu ihm ſprach, fuhr der Burfche aus feinen Gedanken empor. Ein verhugeltes Weiblein ftand an feiner ©eite. Es mußte aus dem Buchholz, das ſich zur Linten der Straße hinzog, hervorgefommen fein, ohne daß Simmerl e3 gemerkt hatte. Die Greifin jah im hellen Nachmittagslicht mehr einem unbeimlichen, erbarmungsmürdigen Gefpenjte ähnlich als einem Men- fchenfinde. Das dürftige, in lumpiges Kleiderwerk von unbeftimmter Farbe gehüllte Körperchen war vom Kreuz an faſt wagrecht nach vorn gebüdt, fo daß es ausjah, al3 müſſe das Weiblein auf die große, rotgefrorene krumme Nafe fallen, wenn der derbe Hakenſtock, auf den fie fich fiügte, ihrer Hand entglitte. Unter dem alten Kopftuch hervor hing eine Strähne einjt offenbar ſchneeweiß gemwejenen, jet aber vör Alter ſchon wieder gelblich gewordenen Haares in ein Gelicht, das fo winzig Kein war, daß man ordentlich erjtaunen mußte, wie auf diefem bißchen brauner Haut fo viele taufend Falten und Runzeln Bla fanden. Bor dem tiefein- gefunfenen, faft freisrunden Xöchelchen, das den Mund in diefem Gefichte vorftellte, ftieß daS aufwärts ge- krümmte Kinn faft an die niederwärts ftrebende Nafen- jpiße.

„Die Waben!” *) rief der Reſerviſt und ftredte der Alten die Hand hin. „Na, wie geht’5 denn halt immer?“

Die Greifin miegte das Köpfchen. „Hoch in die

*) Abkürzung für Barbara.

134 Die Waldfrau.

Achtz’g geht's, Simmerl. ya, ja, ja, der Tod muß j’ rein vergeſſen hab'n, d’ alte Wab’n, d' Gupfinger Dorf: ber’, wie mi’ die lieben, braven Leut' heißen tun. Da i8 nit viel zu verzählen, wie’3 jo ein’ alten Häuferl Unglüd geht. Aber du, Simmerl?” Sie fah dem Burfchen mit ihren Fleinen Augen, die durch ihre Rlar- beit und Schärfe von dem verfallenen Gefichtehen merf- würdig, faſt unheimlich abjtachen, in das hHübjche, jonnenbraune Antlitz. „No’ größer und ftirfer fommit mir für, als wie d’ zu die Soldaten gangen bift, und der Schnauzer is dir woltern g'wachſen. Haſt's gut g’habt mit dein’ pechſchwarzen Schnurrbartel bei die Stadtdirndeln, ba?” Gie ficherte und murmelte unter der Hakennaſe wie närriſch. Dann fagte fie, auf einmal wieder ganz ernſthaft: „Groß und ftark bift mwor’n, aber luft! nit. Was haft denn da für a Zet— terl in der Hand? Wi je, jetzt'n kenn' 13, das Papierl, war an dei’ Wicelband ang’jpandelt, gel? Du armer Bub du, i3 dir halt recht ſchwar aufs Herz g’fallen, wie den andern ihre G'ſchwiſter entgegeng’rennt fein, daß d' jo allein daſtehſt in der Welt?“

Simmerl war duntelrot gemorden. Er fcehämte fich offenbar ein wenig vor den hellen, fcharfen Augen, die fo tief in feiner Seele lafen. Dann hielt er auf ein- mal der Alten das Blatt Hin und ftieß in mühſam unterdrücdter Bewegung hervor: „Waben die Xeut’ fagen ja, daB du mehr könnt'ſt, wie Brot ejjen .... Herauslejen tu mir’3 aus dem Zettel, wo ich her bin, wo ich hin g'hör', und i will dir geben, was d’ magjt!“

Die Alte jehüttelte grinfend das Köpfchen und ſchob die Hand mit dem vergilbten Zettel zurüd. „Aber Simmel! Wirſt do' das G’red’ nit glauben? Mehr wie Brot ejjen! Nit amal Brot ejjen Tann i immer, weil i halt öfter amal keins haben tu'!“ Gie

Novelle von Guſtav Johannes Krauß. 135 DD AD ADD DD DE DDr DD DDr DD Ticherte über ihren eigenen Spaß. „Und leſen kann i jcho’ gar nit. Du mein! Vor achtz'g Jahr’, wie i loan war, da war's no’ nit fo mit die Schul’n wie jebtn. Wann’3 d' mir geb’n willſt, was i gern möcht’, jo gib m'r halt a biffel ein’ Tabak für mei’ Pfeiferl, aber für ein Vergeltsgott.“

Der junge Mann zog fofort feine Tabatsblafe her: vor, und die Waben füllte ſich mit vor Gier zitternden Händen den kurzen, ſchwarzgerauchten Pfeifenftummel, den fie aus ihrem Rittelfad hervorgegraben hatte. Simmerl zündete ihr auch ein Streichholz an, und die Alte fog die erjten Züge fo baftig ein, daß fie huften mußte. Das Tabalsgeld mußte rar gemefen fein bei ihr in den letten Wochen.

Als fie wieder zu Atem gekommen mar, mecderte fie: „Mupt dir’s nit jo zu Herzen nehm’n, Simmerl. Schau, in frühern Jahr'n, mo die Leut’ no’ ein’ Glau- ben g’habt haben, da hab’ i öfter amal erzählen g'hört, daß über die armen Hafcherl, über die Findelkinder, wer gar G'waltiger fei’ Hand Halten tut, d’ Wald— frauen, die guten Feen. Wer waaß, ’leicht Haft du aa jo a Waldfrau, die fich annimmt um di...” Ihre Stimme war zu einem geheimnisvollen Raunen herab: geſunken, bei dem Simmerl, jo ftarknervig er war und fo wenig er an Märchen glaubte, regelrechte Schauer über den Leib liefen. Dann ging’3 in gewöhnlichen, ein wenig fchalthaftem Zone weiter: „Und entgegen: 'gangen iS dir do’ wer, wann's d’ auch fein’ G'ſchwiſter haſt, da kunnt' i drauf ein Jurament ablegen!”

„leicht du felber, Waberl?* fragte der Burfch mit melancholifchem Spotte.

Die Alte grinjte. „Schau mir aner die Einbildung an!* belferte fie jcherzhaft. „Meint der faubere Herr Soldat gar, die ftoanälteften Weiberleut’ jelber müßten

136 Die Waldfran.

Te FF en? I Ze? ZU um? um] U m) U 7 I m I um) I FR vernarrt fein in ihn! J nit, Simmerl, i hab’ di’ nur fo aus Zufall ’troffen. Kräutel fuchen tu’ i und Him— beer’ boden.” Sie wies ihm den Korb, der an ihrem rechten Ellbogen hing und in dem es dunlelgrün und blutrot fehimmerte. „Aber d' Manbarter-Annerl. Bor einer halben Stund’ Hab’ if’ a der Straßen herum: fchleichen und nach irgendwas auslug’n g’fehen. "leicht bat ſ' dir was 3’ beftellen von ihrer Schwefter, der Mierl. So, und jett’n jag’ i halt gelt’3 Gott für n Tabaf, Simmel. Muß mi’ fleißi' dazuhalten, daß i mei’ Sacherl z’jamm’broden tu’, bevor d’ Sonn’ untergebht.”

Mit dem Kopfe wadelnd und mächtige Rauchwolfen ausftoßend, humpelte fie ind Gebüſch zur Geite der Straße.

Der lange: junge Menfch mit der Reſerviſtenmütze fah ihr mit verdußten, zweifelnden Blicken nah. „Was bat denn die für Reden g’führt?” dachte Simmerl. „A Waldfrau ... a gute Fee! Nein zum Lachen! Man könnt’ frei glaub’n, fte is ein biffel narrifch, die alt’ Waben. Aber da iS do’ feine Spur davon. Pie fchaut do’ den Leuten durch und durch, die alt’ Her. Wie ſ' das mit der Mierl nur wieder heraus'kriegt hat?“

Mierl! Somie die alte Kräuterjfucherin den Namen nur ausgesprochen hatte, war die trübfelige Stimmung des harmlojen Burfchen auch fehon verflogen. Er fah ein ſüßes Gefichtehen vor ſich, das ihn aus den hüb- Schejten Braunaugen von der Welt zärtlich) angudte. Und ein roter Mund brannte in dieſem Gefichtchen. Simmerl ging e3 heiß durch die Adern, al3 er daran dachte, wie wonnig diefer rote Mund küſſen Tonnte. Er Hatte es jet auf einmal fo eilig, daß er die kalt: gewordene Pfeife in die Syoppentafche gleiten ließ, ohne

Novelle von Guſtav Johannes Krauß. 137 DDr ⏑⏑ ED ſie erſt auszuklopfen, und den vergilbten Zettel, ſein Heiligtum, ſo achtlos in den Hoſenſack ſchob, als wär's irgend ein gleichgültiges Stückchen Papier, um dann ſeinen Handkoffer aufzunehmen und mit langen Schritten die Straße dahinzuſtürmen.

Er war nicht mehr weit vom Dorfe entfernt, da raſchelte es zu ſeiner Linken im Gebüſch, gleich darauf brach ein Wildfang von Dirnl aus ſeinem Hinterhalt hervor und ſprang auf den Burſchen los, daß die Falten des Kittelchens mit den blonden Haaren der übermütigen Perſon um die Wette flatterten.

„Grüß Gott, Simmerl!“

„Grüß Gott, Annerl!“

Sofort nach dem fröhlichen Gruße zog die Kleine ein ſchiefes Mäulchen.

„Zeit 'laſſen haſt dir aber!“ ſchmollte ſie. „Die anderen ſein ſcho' vor einer guten Viertelſtund' vorbei⸗ 'kommen. Ord'ntlich verſchliefen hab’ i mi’ müſſen im Buſchwerk, daß ſ' mi' nit ſeh'n und mitſchleppen. Und warn i fo lang fortbleib' von dahoam, Tann i mi’ g'freu'n! Die Mutter hat a gar rogliche*) Hand, und der Watjchenbaum blüht alle Tag’ !”

Simmerl fehmungzelte feelenvergnügt. „Haft denn auf mi’ g’wart’t, Dirnl?* fragte er nedend.

„Freili'!“ bejtätigte Annerl eifrig. Sie war jebt auf einmal völlig ernjthaft, von dem Bemußtfein der eigenen Wichtigkeit fichtlich durchdrungen. „Schön grüßen ſoll i di’ von der Mierl. Und fie laßt di’ halt bitten, daß d' ſ' nit hoamfuchen follft und am Sunn- tag nach der Kirch'n nit zu ihr zu geh’n. Weißt, Sim- merl, es is halt weg'n unferer Mutter. Die hat heunt in der Früh d' Mierl dabei ermwifcht, wie ſ' vom Heu-

*) Bemwegliche.

138 Die Waldfran.

boden aus g’fchaut bat, ob f’ di’ nit auf der Landſtraßen ſieht. Ganz wild war |’ drüber, d' Mutter. G'ſcholten bat f’ und g’fagt, wann |’ mit dir mas anbandelt, d’ Mierl, jo fchlag fie ſ' Halb tot. Na, und da bat der arme Hajcher halt Angft. Aber am Sunntag nad): mittag woll'n m’r Himbeer’ ſuchen droben im Wald, fo um d’ Muttergotteseiche herum. Und da tät’ fich d’ Mierl halt von Herzen g'freu’n, wann du da wärft, Simmerl. Aufpafjen müßt'n m’r halt, daß uns feine Leut’ nit jeh’n. Aber da droben fommt ja felten wer bin am Sunntag.“

Simmerl war gehörig blaß gemworden über diefe Neuigleit. „a, was hab’ i denn angftellt, daß d’ Deanharterin gar jo harb iS auf mi’?” fragte er in heller Bejtürzung.

Annerl zuckte die noch ein wenig hageren Schultern. Sie war viel zu zartfühlend, um es dem hübſchen jungen Manne ins Geficht zu jagen, mit welchem Schimpfwort ihn die herbe Frau belegt hatte. Sie jah ihn nur aus ihren madonnenhaften Blauaugen bedeu- tungsvoll an. Simmerl errötete unter diefem Blid. Er Hatte verftanden. Gepreßten Tones jagte er: „J dan’ dir halt jchön, Annerl. Hoffentlich mußt nit gar zu arg büßen für den S’fallen, den du uns 'tan haft. Und die Mierl laſſ' i viel taufendmal grüßen. Sag ihr, warn nur fie fich nit ing Bodshorn jagen laßt und fi’ Iosreißen laßt von mir, i halt feit an ihr und mann ... i weiß nit, was gejchehen ſollt'. Und am End’ wird d’ Manharterin do’ Vernunft annehmen und nachgeben müffen. Borderhand aber will i’3 mein’ armen Schaß nit gar 3’ fehwer machen. Z'rückhalten tw’ i mi’ Schon, fo faner mi’3 ankommt. Am Sunntag bin i natürlich ſchon vom BZmölfeläuten an um d’ Muttergotteseich’n herum.”

Novelle von Guftav Johannes Krauf. 139 DD RD MEI ED Dr ED EDITED ED DEI ED ED ED D ED ED Annerl ſah den aufgeregten Burfchen mitleidig an. Dann lachte fie wieder und fagte ihm ein paar luftige, tröftende Worte, die freilich ihren Zweck, die düftere Miene Simmerl3 aufzuhellen, nur zum geringften Teil erreichten. Ein rafcher Händedrud noch, dann jagte Annerl dorfwärts davon, flüchtig wie ein Wiefel. Sie wollte nicht gern zu fpät nach Haufe kommen. Simmerl hatte e3 jeßt weit weniger eilig als vor: bin. Verdroffen fchlenderte er vorwärts und ftarrte Dabei zu Boden, als wolle er die Schotterfteine zählen, die da und dort auf der glatten Chauſſee lagen. Wieder ſchwebte ihm ein meibliches Antlitz vor dem Blid. Uber e8 war nicht mehr Mierl3 Liebliches Jungfrauen⸗ gefichtchen. Die ſtolze, vol erblühte Schönheit eines reifen Weibes jah er vor fich, dem das metallifch glän: - zende, fchwere Blondhaar um die marmorne Stirn jehimmerte, deſſen Lippen fchier gar zu rot und üppig prangten. Und in den großen, feuchtfchimmernden blauen Augen des Weibes flimmerte es wie Hohn, um die Winkel des prangenden Mundes zudte es ſpöttiſch... Sie allein war ſchuld an Simmerls Unglüd, fie, die zweite Frau feines Pflegevaterd. Darüber waren dem Burjchen vorhin, bei Annerl3 bedeutungsvollem Blid, die Augen urplößlich aufgegangen. Eine Menge Heiner Vorfälle, die er früher wohl bemerft und ge: fühlt, aber nach der leichtherzigen Art der Jugend wenig beachtet hatte, fielen ihm innerhalb einer Sekunde wieder ein und hatten nun Sinn und Bedeutung ge: wonnen. Welcher Wechfel jich in dem Verhalten der Dorfleute gegen ihn vollzog, damals, als Größinger zum zweiten Male heiratete und es befannt wurde, daß er feinem jungen Weibe für den Fall feines Todes alles verfchrieben habe. Früher hatte er fat das näm- liche Anſehen genofjen wie ein rechter Sohn des reichen

140 Die Waldfran.

DDr DD rkDn DDr rede DD DD Bauern, man fah in ihm den wahrfcheinlichen Hof: erben, da Größinger nahe Verwandte nicht hatte und mit den weitjchichtigen nicht eben im beiten Einver- nehmen jtand, dagegen auf Simmerl große Stüde zu halten jchien. Nach dem Einzuge Nefis auf den Hof war er mit einem Schlage nur noch das aus Barm- berzigleit aufgenommene Findelfind, das geduldet wurde, folange e3 jeine Echuldigfeit tat und folange es der neuen Herrin fo beliebte. Fiel e3 der jungen Bäuerin anders ein, fo konnte der hausfremde Burfch jich irgend- wo anders als Knecht verdingen. Und zu erben hatte er feinen voten Kreuzer.

Daß er nicht3 mehr zu erben hatte, war ficher der einzige Grund für daS beifpiellos feindfelige Verhalten der Manharterin. Pie mar auf das Geld aus mie der Teufel auf die armen Seelen. Daß er ein Findel— find war, konnte der Grund nicht fein. Das hatte fie doch früher nicht abgehalten, fehr füß und freundlich mit ihm zu tun. Die neue Größingerin war ſchuld an allem!

In ziemlich verbitterter Stimmung erreichte Simon endlich da3 Dorf. Er blidte nicht links noch rechts, auf die Grüße, die ihm da und dort über ein Zaun: gatter weg oder aus einer offen ftehenden Haus: tür zugerufen wurden, antwortete er faum. Wenn ihm einer oder der andere in den Weg trat, ihm die Hand bot und ihn fragte, wie es ihm gegangen fei unter den Soldaten, Foftete es ihn alle Mühe, mit der Schidlichen Freundlichkeit Aede zu ftehen. Gein leiden: Schaftliches Wefen ließ ihn, da einmal das Miptrauen in ihm mach geworden war, überall verlappte Gering- ſchätzung und Seindfeligkeit wittern. Findelbalg! Findel— balg! tönte es ihm von allen Geiten entgegen. Die Enten, die den Rinnjtein entlang mwatjchelten, fehienen

Novelle von Guftav Johannes Krauß. 141 DIDI ED DA DE De ED DD Dr DDr Dr Dre Dre es zu jchnattern, die Tauben auf den Dächern gurrten, die Hühner gaderten es, die jtaubigen, verlümmerten Bäume in der Dorfjtraße raufchten es im Abendmind.

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„Der Simmerl!! Mit diefem halblauten Ausruf ließ die Größingerin faſt den Löffel fallen, in den fie eben eine Medizin für den Bauern goß, als der Reſerviſt in die Stube trat. Der alte Jakob ſtreifte das Geficht feiner fo merkwürdig jchredhaften jungen Frau mit einem ſchrägen Blick und antwortete ziemlich Fühlen Tones auf das „Grüß Bott, Vater!” des Pflegejohnes: „Sa, bilt wieder da? Was gibt's Neu's?“

Ehe er fich fette und zu erzählen anhub, mußte Simmerl wohl oder übel auch der Bäuerin die Hand reichen und fie begrüßen. Der Kranke belauerte den Hergang mit Argusaugen und war nicht gerade un- zufrieden mit dem, was er fah, Reft war ja aufgeregt genug, wenn fie fich auch alle Mühe gab, gleichgültig zu ſcheinen. Der Bub aber fah fie beinahe finjter an. Der war wohl in der Stadt klug geworden und hatte eingejehen, wie arg ihm die Reſi ins Gehege gekommen war. Bor ein paar Tagen noch hätte Größinger Die Vermutung, der Pflegefohn könne jemals auf feinen Zod ſpekuliert haben, mit Entrüftung abgemiefen. Jetzt glaubte er feſt daran und freute fich darüber. Hatte er doch in diefem Groll Simmerl3 das Mittel gefunden, die beiden jungen Leute auseinander zu halten, nach: dem er fich den ganzen Tag das Hirn zermartert hatte. Wenn er diefe Abneigung Simmerl3 fleißig nährte, fam er vielleicht um die Notwendigkeit herum, den Burfchen aus dem Haufe tun zu müffen, mas Gezifchel nnd Munkeln unter den Nachbarn gegeben hätte und auch ſonſt nicht angenehm gemejen wäre. Simmerl

142 Die Waldfrau.

DREIRAD RD RD RD EDDIE REDE RED ED ED ED fuchte als Arbeiter feinesgleichen, und tüchtige Leute waren fchwer zu finden. Lief doch alles junge Volk in die Stadt, in die Fabriken.

Der Alte fing jofort an, das Eifen, da3 er fo un: erwartet im Feuer gefunden hatte, zu fchmieden. Sim- merl erzählte, fein Rittmeifter, der ihn fehr gern habe, habe ihm vorgejchlagen, zu Tapitulieren, er habe fich aber bedantt.

„Bar das nit ein biſſel unb’finnt von dir?“ fragte da der alte Bauer.

Simmerl machte große Augen. „Ihr redet fo, Vater? Wo doch Euer ewige Klag' iS, daß alles vom Land fortrennt in d' Großjtadt?”

Größinger. büftelte und warf einen beredten Blick zu feinem Weib hinüber. „J mein’ halt jo, Simmerl. Weil i dir alles Gute vergönnen tät’. Und in der Bäuerei haft halt fo gar Teine Ausficht nit, außer du tätft ein’ Hof derheiraten.”

Simmerl zudte die breiten Schultern. „Und wenn i wüßt’, daß i als Knecht ftirb, i hätt’ nein g’jagt,“ erwiderte er. „Das Stadtleben is nie für mi’. Ich hab’ 3’ wenig Luft zwijchen die Mäuer’.”

Größinger, deſſen Laune ſich nun zuſehends befjerte, zwinferte fchalthaft mit den Augen. „Haft 'leicht gar mas Xieb’3 da in Gupfing, Hallodri, du?” fragte er. „Weißt am End’ den Hof fchon, auf den du heirat’n möcht'ſt?“

Die neckende Frage hatte den Zweck, zu erproben, was für ein Geſicht Reſi zu dieſer Möglichkeit machen würde. Zu ſeinem Leidweſen konnte Jakob aber dieſes Geſicht nicht ſehen. Reſi hatte zufällig gerade den Kopf von ihn weggewandt. Ob's wirklich nur Zufall war?

Simmerl jtußte bei dieſer unerwarteten Frage. Einen Augenblid lang wandelte es ihn an, dem alten

Novelle von Guſtav Johannes Krauß. 143 Mann, der Vaterſtelle an ihm vertrat und zwar die Stelle eines gütigen Vaters, feine Liebesſorgen zu beich— ten und ihn zu bitten, er möge bei der Manharterin für ihn wirken. Dann verwarf er aber den Einfall wieder. Der alternde Mann ſtand ja ganz und gar unter dem Einfluß ſeiner Frau. Reſi hätte ihn aber ſicher abgehalten, ja ſogar die Manharterin erſt recht aufgehetzt, beides aus Angſt, Größinger könnte dem Pflegeſohn etwas in die Ehe mitgeben wollen. Geld— gierig war ſie ſicher. Warum hätte ſie ſonſt den alten Witwer, der reichlich ihr Vater fein konnte, genommen?

Aus diefen Erwägungen heraus ermwiderte er ab: lehnend: „Aber Vater! % bin do’ drei Jahr' fort g’wefen von Gupfing und in der ganzen Beit nur zwei- mal auf Urlaub Haus 'kommen. Pie Sonntagauss flüg’, wo i nur ein paar Stunden da hab’ je fönnen, zähl'n doch nit.”

Jakob Größinger ftrahlte förmlich. Simmerl hatte ein Weilchen berumgedrudit, ehe er dieje verneinende Antwort gab. Folglich Hatte er wirklich was, mochte aber noch nicht davon reden. Das war ja prächtig. Wer in die eine verjchoffen ift, iſt für die andere blind und taub. Und dieſe Sleichgültigteit Simmerl3 mußte Reſi, falls die wirklich im ftillen ein Auge hatte auf den hübjchen Burfchen, gar bald mit bitterer Feind Schaft gegen ihn erfüllen. Von allen Dingen auf Erden vertrugen die Weibsleute das eine am mwenigjten, einen falt zu finden, den gegenüber fie felber warm wurden.

In feiner Freude über diefe glüdlichen Entdedungen ließ der Großbauer zum Abendefjen, das er mit Frau und Pflegefohn heute oben auf der Stube einnahın, während die Leute unten in dem geräumigen Hausflur aßen, einen tüchtigen Krug Eigenbaumein aus dem Keller holen. Als er das zweite Glas im Leibe hatte,

144 Die Waldfrau.

DD rede Dre DD re Dre De Den DerEDreDn De edD fing er gar an, Schnaderhüpfel zu fingen, wenn auch mit etwas zitteriger Stimme, m ſchnakiſche Gefchich: ten zu erzäblen.

Reſi hatte bis jet faum ein Wort in das Geſpräch der beiden Männer geworfen. Als der Bauer es aber gar zu arg trieb, legte ſie ſich endlich ins Mittel. „Aber Mann wird dir's denn gut tun? Der Dok— tor ſagt do' alleweil, du ſollſt nit viel trinken.“

Viel hatte der Alte nun eigentlich noch nicht ge— trunken. Aber ſein herabgekommener Körper vertrug auch die mäßige Menge nicht mehr. Er hatte bereits einen ziemlichen Rauſch. In ſeinem Duſel empfand er die Mahnung wie einen Eingriff in ſein Mannesrecht. „Was willſt denn?“ brummte er unfreundlich. „Gunnſt ung 'leicht das biſſel Luſtigſein nit, ha?“ Er redete ſich in eine förmliche Zankſucht hinein und gab ſeinem jungen Weibe allerlei ſpitze Worte zu koſten.

Sie ſuchte ihn zu begütigen, hatte aber wenig Glück damit.

Simmerl ſaß wortkarg daneben. Der Bäuerin ge— ſchah ja offenbares Unrecht. Aber was ging's ihn an? Das konnte wirklich niemand von ihm verlangen, daß er ſich ſeiner Feindin annähme auch noch.

Auf einmal hörte der alte Jakob zu ſchelten auf und kicherte in plötzlicher Luſtigkeit vor ſich hin. Ein prächtiger Spaß war ihm da eingefallen. Daß die Reſi und der Simmerl einander ſpinnefeind waren, das war ja bombenſicher! Bombenſicher war's! Würden die Geſichter ſchneiden, wenn er ihnen auftrug, was ihm ſoeben eingefallen war. Zum Totlachen!

Er faßte mit der knochigen, dick geäderten Hand den vollen Arm Reſis und ſagte, mühſam das Lachen verbeißend: „Überhaupt den ganzen Abend biſt da- g’jeffen wie a ang’malene Heilige. Was is's denn

Novelle von Guftav Kohannes Krauß. 145 ID DDr DEI Dr ED Dre Dr nachher? G’freuft di’ denn gar nit, daß der Simmerl wieder da 18? Muß fi’ ja Tränten, der arme Bub, mann er glaubt, daß du ’n nit leiden magft. Jetzt'n geht's her al’ zwei und gebt’3 enk a ſchön's Buſſel, wie ſi's g’hört zwiſchen Mutter und Suhn.“

Der Burſch ſah finfter auf die Tifchplatte nieder, als er den Alten jo reden und Tichern hörte. Dem fchönen Weibe jchoß die jähe Glut ins Geficht, bis hin⸗ auf unter das fehimmernde Goldhaar.

„Aber Größinger .. .!”

Größinger klatſchte in die Hände und gludite vor Lachen. „Ein Bufjel tuft ihm geben! % jehaff’ dir's! J, dei’ Mann, der Herr im Haus!. Na, wird’3?”

Gegen diefen Eigenfinn de3 Halb Zruntenen half fein Sträuben. Reſi ftand endlich auf, trat an Sim- merl beran, neigte fich über ihn und preßte ihren Mund auf den feinigen.

Der alte Jakob wälzte fich förmlich in feinem Stuhle vor Vergnügen über diefen Anblid. Wie die beiden auseinander fuhren nach dem Buffel! Nicht Leiden fonnten fie fich, daS mar fonnenklar. Syn feinem Dufel merfte er nicht, wie fonderbar die beiden jungen Men- fchen ihre Gefichtsfarbe gemechjelt hatten bei dem Kuſſe. Sebt war Sinmerl blutrot bis in die Stirn hinauf, und Reſi Freidebleich. Nur ihr roter Mund leuchtete fürm- lich unheimlich aus dem weißen Geficht hervor. Und in ihren Augen mar ein fo fonderbares Glitern. Diefes Gligern ſah Größinger troß des Nebels, den ihm der Mein über die Augen gelegt hatte. Syn feinem Raufche war ihm aber die Einbildung, zmijchen den zweien be- ftehe erbitterte Feindfchaft, förmlich zur firen Idee ge: worden. So legte er fich diefen unruhigen, flimmern: den Blid des jungen Weibes als ein Zeichen ihres Ärgerd aus, daß fie den verhaßten Burfchen Hatte

1804, III. 10

146 Die Waldfrau.

ADDED Dre Dr DDr Dr DreD küſſen müſſen, und freute fich diebifch darüber. Er ſchwätzte noch allerlei ungereimtes Zeug. Dann murde er auf einmal ſchlaff und verlangte, Reſi folle ihn zu Bette bringen.

Als der Alte jo weit war, griff der Simmerl nach jeinem Hute. „ch lauf’ noch ein biffel durchs Dorf,“ fagte er und war au3 der Tür, ehe die Bäuerin etwas antworten konnte.

Draußen lag weißer, faft tagesheller Mondfchein über der Dorfitraße. Simmerl trachtete fo rafch als möglich das freie Feld zu gewinnen und wanderte tief atmend freuz und quer die von Kindheit auf vertrau- ten Wege und Steige.

Sein Blut, das unter dem wilden Kuß der Bäuerin fo ſchwül und heiß emporgemallt war, hatte fich bald beruhigt. Als er erft jo weit war, famen allerlei mwechjelnde Empfindungen über den jungen Mann: Neue und heiße, ehrliche Empörung. Neue darüber, daß er eine folche Anmwandlung überhaupt hatte haben fönnen. Das war ja beinahe Untreue an feinem armen, geliebten Mädchen, das um feinetwillen jo viel Schweres erdulden mußte. Der Zorn aber wandte fic) gegen das jchöne blonde Weib da hinter ihm im Größingerhofe. Was brauchte die ihn fo zu küſſen, da fie ihrem betrunfenen Manne den Willen fehon tun mußte? Sie war wohl eine Erzkokette, die ſchöne Reſi, eins jener Weiber, denen es Spaß machte, jedem jungen Menfchen, der ihnen über den Weg lief, den Ropf zu verdrehen. Da follte fie aber an den Unrechten gefommen fein. Nicht bloß um Mierls willen.

Simmerl erwog allen Ernſtes, ob er nicht bei Ge- legenbeit mit feinem Pflegevater reden ſollte. Aber er fand am Ende, daß dasmicht recht anging. Ein Manns⸗ bild, das fich darüber beklagte, daß ein Frauenzimmer

Novelle von Guſtav Johannes Krauß. 147 ar DreDreD DD DrDrED REDE Dee Dee D bei einem Scherzkuß den Mund zu feft auf den feinen gedrüdt habe, das war zu lächerlid. Wenn fie mit anderen ähnliches verjuchte, gingen dem Alten die Augen ſchon von felber auf. Blinde Vertrauenzfeligfeit war der Fehler Jakob Größinger3 nie gemefen.

Simmerl nahm fich ſchließlich vor, an die ganze fatale Gefchichte möglichjt wenig zu denken. Um fie fich jofort aus dem Sinne zu fchlagen, blieb er ftehen und blidte um fich ber in die helle Nacht.

Wie jchön das war! Er ftand auf einem SFeldrain inmitten eines Meers mogender Kornähren, über ſich den duntelblauen Himmel mit der weißen Bollmond- fcheibe, von der die Strahlen niederriefelten mie ein unendlich feiner, leuchtender Reif. In einiger Ent⸗ fernung, jenſeits der Getreidefelder, ftand ſchwarz und ernft und fchweigend der Hochwald. Und wie lebendig fie im Grunde war, die fcheinbar jo ftile Nacht, wie vol heimlicher Geräufche. Die ſchwankenden, ernte- reifen Halme raufchten leife, da und dort glitt etwas, büpfte etwas vafchelnd dahin, manchmal war's, als regte fich das ganze Feld. Und ganz aus der Ferne, wohl vom Walde herüber, fam manchmal ein unbeim- licher, Hagender Ton.

Dem jungen Manne wurde es ganz merkwürdig zu Sinn, jo finderfromm und märcdhengläubig. Er mußte an die krauſen Reden der alten Waben denken, daß vielleicht eine guttätige Waldfrau ihn, den eltern- lojen Findling, heimlich behüte. Einen Augenblid gab er fich der Vorftellung bin, daß diefes geheimnisvolle Mefen eben jet unjichtbar hinter ihm ftehe oder in irgend einer Tiergeftalt, etwa als buntes Schlänglein mit einem Funkelkrönchen auf den Haupte, irgendwo zwifchen den Halmen laufche und ihn anjehe mit menfch- licheflugen Tieraugen.

148 Die Waldfran. IRDD ED FD DE DD DE DD DDr

Schließlich mußte er über fich jelber lachen. So ein Unfinn! . Es ging ihm wohl wie dem alten Grö- Binger, der Wein mar ihm zu Kopfe geftiegen?

Halblaut vor ſich hin fummend, wanderte Simmerl nach dem Dorfe zurüd. Er mählte jeinen Weg fo, daß er am Manharterhofe vorüberfam. Nachdem er behutfam um fich geblict Hatte, ob ihn niemand be- obachte, blieb er ſtehen und jah nad) dem niedrigen Haufe hinüber, das ſchweigend dalag im Mondfchein. Es war ein fimples Bauernhaus, feine Spur von Bau: funjt war darauf verwendet, aber Simmerl erfchien es ſchöner und anziehender als der vornehmfte Palaft, den er in der Garnijon gejehen hatte. Wußte er doch feine Mierl drinnen. Da droben das Kleine Fenſter unter dem Giebel, in defjen Scheibe fich das Mond- licht glißernd brach, das gehörte wohl zu der Mädchen: fammer. Dahinter lag fie und jchlief janft und füß. Dder fie fchlief auch noch nicht, fondern lag wach und plauderte mit Annerl, von ihm natürlich. Licht brann- ten die Mädchen nicht dabei, weil ihnen der Vollmond jo ſchön in die Kammer jchien. Auch wohl aus Angft vor der geizigen Mutter.

Simmerl gudte jo lange zu dem blintenden Fenſter⸗ chen empor, bis ihm die Augen feucht wurden. Dann murmelte er halblaut: „Gute Nacht, du mein herzlieber Schatz!“ und wandte ſich zum Gehen.

Als er den Größingerhof betrat, fehlug der Hund an feiner Kette Inurrend an. Zugleich erhob fich von der Sitzbank neben der Haustür eine Geftalt. Ein großes, jchlantes Weib war's, mit weißem Geficht, über dem das Haar wie eine goldene Krone im Mondlicht ſchimmerte.

„Biſt lang draußen ’blieben, Simmerl,“ ſagte Reſi. |

Novelle von Guſtav Johannes Krauß. 149

DRDED DD re rede

Der Burfch antwortete mit der Frage: „So jpät no’ auf, Bäuerin?”

„J bab’3 auch gern, wann der Mond jo fchön fcheinen tut, und bei der Nacht in die Felder umſpazie⸗ ven ſchickt fi’ nit für unfereing.”

Die Frau plauderte in nachläffigem, jonderbar träumerifchem Tone noch von dem und jenem, offenbar ohne es zu bemerken, daß Simmerl nur furze und nicht eben freundliche Antwort gab. Auf einmal fragte fie ganz unvermittelt: „Simmerl, haft die Wahrheit g’red’t, wie du heut’ g’fagt Haft, du hätt'ſt no’ Fein’ Schaf, oder haft es bloß dem Größinger nit jagen mögen? Mir kannit es ſchon eing’ftehn. Wir Frauen verftehen uns beſſer auf folche Sachen mie ein alter Mann.”

„Wann i was 3’ erzählen hätt’, ermiderte der Burſch ablehnend, „fo hätt’ i's dem Bauern erzählt, der mein Lebtag wie ein rechter Vater g'weſen i3 zu mir.”

Reſi machte eine vermunderte Bewegung bei dem rauhen Tone diejer Antwort. Aber ehe fie etwas fagen fonnte, Trächzte es mit meckernder, erlofchener Greifen- ftimme von der Straße her über den Hofzaun: „Nau, fo fpat in der Nacht no’ auf? Ein biffel frifche Luft fehöpfen balt no’, ba?“

„Die Waben!“ jagte Simmerl. Er ging raſch auf die Stelle zu, wo daS gefpenftifche Köpfchen der Alten über den Zaun Iugte. Es mar gerade, al3 freue ex ſich, das Geſpräch mit der Reſi unterbrochen zu fehen, und wollte feine Freude recht gefliffentlich zeigen. Lang⸗ famer, wie unangenehm berührt, folgte ihm die Bäuerin.

Die ftechenden Augen der Alten funtelten bald dem einen, bald der anderen ins Geficht, während fie auf Simmerls Frage, wo fie jet noch herkomme, antwortete: „Kräuteln juchen will i no’, Simmerl. ’3 gibt folchene, die muß m’r beim Mon’fchein broden, mann f’ d’ rechte

150 Die Waldfrau. DODADE DDr DD ren Deere Kraft haben foll’n.” Dann wandte fie fich zu Reſi: „Ra, Bäuerin, wie geht's denn 'm Größinger?“

Die ftattliche Frau zudte die Achjeln. „Wie immer halt.”

Der lauernde Blid der Kräuterfammlerin tajtete förmlih an dem ſchönen Gefichte des jungen Weibes herum, während fie mederte: „Zuft mir rechtjchaffen lad, Größingerin. So a lebfrifch’3, fauber’3 jung’3 Meiberl und ein’ alten, krank'n Mann.” Gie blinzelte bedentungsvoll zu Simmerl hinüber, al3 wolle fie jagen, daß einer wie der beſſer zu Reſi gepaßt hätte. Dann mederte fie weiter: „Is übrig’ns jelber fchuld, der Größinger, daß 's ewi' nit wer'n will bei ihm mit 'm lieben G'ſund. Will ja nic milfen von der alten Waben und ihre Mitteln. Na ja, iS halt a Auf'klar— ter. Laßt fi’ lieber von ein’ jtudierten Doktor aus der Stadt verpagen, al3 von unferein’ auskurier'n mit Kräutertee und Sympathie. Jetzt'n muß i aber machen, daß i weiterkumm'. Guete Nacht allzmei, und guete Unterhaltung!”

Sie grinfte und kicherte auf ihre närrifche Art un heimlich unter der krummen Nafe hervor, nidte erſt dem Burjchen, dann dem jungen Weibe, danı wieder: um Simmerl bedeutungsvoll mit dem mwadelnden Kopf zu und humpelte davon.

Als die Alte fort war, wandte fich Refi, um zu Gimmerl, den fie noch an ihrer Seite glaubte, etwas zu jagen. Per Burfch war aber nicht mehr da. Gie fah ihn eben noch hinter der Haustür verfchwinden.

Als Jakob Größinger des anderen Morgen er: machte, ärgerte er fi) ganz gehörig über fich felber. Welcher kindiſche Leichtjinn von ihm, fich bei feinem Gefundheitszuftand zu betrinfen. Nun batte er die Folgen zu fpüren, Kopfichmerzen, ein elendes Gefühl

Novelle von Guftav Johannes Krauß. 151 DDr Dr ED Der ee Dee Dre Dre Dre Dre DreD-eD re Dr Dede im Magen, im Munde einen gallenbitteren Gefchmade. Und was noch fchöner war al3 alles: in feinem Rauſche hatte er eine geradezu riefenhafte Dummheit begangen. Er hatte fein Weib geheißen, den Simmerl füffen! Wie, wenn die zwei auf den Gejchmad ge: fommen wären dabei!

Die erfte Frage, die er an Reſi richtete, als fie her- einfam, nad) ihm zu fehen, galt dem Pflegejohne. Simmerl war längft nicht mehr zu Haufe, fondern mit dem langen Hies in den Weingarten gegangen. So gern es der Alte fonft hatte, wenn fich feine Leute be- triebjam zeigten, heute beachtete er dieſen Eifer des Simmerl gar nicht, der, faum vom Militär zurüd- gelommen, fich fofort in die Arbeit ftürzte. Er war übeljter Laune. Reſi hatte unter feiner NReizbarkeit tüchtig zu leiden. Sie nahm aber alles hin, ging ge- mütsruhig ab und zu und tat ihre Schuldigfeit in Haus und Hof und Krankenſtube mit dem nämlichen Geficht, das fie feit langer Zeit alle Tage zur Schau trug, in fich gelehrt und zerjtreut, mit einem Blick, als jet bloß ihr Körper, ihre Hand bei dem, was fte gerade tat, ihre Gedanken aber, Gott mochte wijfen, mo.

Mittagg kam Simmerl nicht nach Haufe. Den Leuten im abgelegenen Weingarten, die mit dem Hin: und Herwandern zu viel Zeit verloren hätten, wurde das Eſſen hinausgefchidt. So mußte Größinger feine brennende Begierde, die beiden Beargmöhnten neben: einander zu jehen, ihre Mienen zu belauern, auf den Zon zu borchen, in dem fie zueinander redeten, bis zum Abend binhalten. Als Simmerl endlich da war, bejjerte fich die Stimmung Größingers bald, Reſi zeigte fih jteif und zurüdhaltend, der Bub begegnete ihr kalt, beinahe rauh. Da war nichts zu fürchten, Simmerl trug ihr's nach, daß fie feine heimlichen Zukunftshoff⸗

152 Die Waldfran.

ADD DDr)

nungen durchkreuzt hatte, und fie fühlte fich durch fein unfreundliches Verhalten beleidigt.

Diefer Eindrucd vertiefte fich in Jakob Größinger von Tag zu Tag. Bald war er dahin gelangt, über fich felber zu lachen, wenn er der Befürchtungen ge- dachte, mit denen er der Rückkehr des Simmerl ent- gegengejehben hatte.

5.

Am eriten Sonntag nach feiner Heimkunft ging Simmerl wohl zur Kirche, aber gleich nach dem Gottes- dienfte wieder nach Haufe. Mit Mierl durfte er nicht reden, jo freute es ihn auch nicht, nach der Kirche auf dem Dorfplage berumzuftehen und mit den Leuten mwertlofes Zeug zu ſchwätzen. Er tat dafür Lieber eini- ges im Gemüfegarten. Auf das gemeinfame Mittag: effen, da8 am Sonntag auf dem Lande etwas fpäter eingenommen wird al3 Werktags, wartete er nicht, fon- dern ließ fich jchon vorher etwas zu eſſen geben. Er wolle einen Rompaniefameraden befuchen, gab er an, und müffe darum beizeiten fort, denn er habe gute drei Stunden Weges vor ich.

Kurz vor zwölf Uhr verließ er das Haus. Von der Zandftraße wandte er fich aber bald feitwärts in den Wald. Auf einfamen Fußpfaden jtieg er bergan, bis er nach einer Stunde etwa auf eine Waldlichtung kam. Inmitten de3 freien Plate jtand eine große Eiche mit Inorrigem Stamm und breit ausladendem Geäft. An der Rinde des Baumes war unter einem aus zwei vermwitterten Schindeln gebildeten Schutzdach da3 kunſtloſe Bildnis der heiligen Maria mit dem Sefustinde befeftigt, von dem der Baum die Mutter: gotteseiche hieß.

Simmerl trodnete filh den Schweiß von der Stirn.

Novelle von Guftau Johannes Krauß. 158 DIDI RD RED DEI De De DE Dre Dre Dre De Dee Dee DreD Der Tag war drüdend fchmül, und der Anftieg, den der Burjch gewählt hatte, um nur ja niemand zu be- gegnen, mar ziemlich fteil gemwefen. Dann warf er fich unter der Eiche ind Gras, zündete fich feine Pfeife an und fah hinaus ins Weite.

Die Ausficht war ſehr ſchön. Simmerl überjah von feinem Raftplage aus die ganze weite grüne Ebene, bi3 hinüber an die breite Wafferfläche der Donau. Zu feiner Rechten ſah er Gupfing liegen, mit winzig kleinen, wie aus einer Spielzeugfchachtel ausgepadten Häufern, zur Linken ragten in dunftumbüllter Ferne die Kirchtürme der nächiten Stadt. Jenſeits der Donau ſtand ein Gemitter. Der Bub betrachtete das ſchwarz⸗ blaue Wollengebirge und erwog die Möglichkeit, daß e3 über die Donau herüberziehen könnte. Das wäre jehlimm gemefen. Es gab am Ende Hagel auf die Der Schnitter harrenden Kornfelder von Gupfing. Aber wenn es auch bloß Regen gab, fo konnten die Man- harter Dirndeln nicht gut in die Himbeeren gehen. Für alle Fälle begann Simmerl von den Bufchen, die ganz dunkelrot von reifen Beeren waren, einen ziem— lichen Vorrat zufammenzupflüden. Wenn Annerl, die Doch nur im Wege geweſen märe, dann fleißig ‚weiter tat, fonnte Mierl ruhig mit ihm plaudern, und die Mädchen brachten doch jo viel beim, daß in dem alten Drachen, der Manharterin, kein Berdacht auf- fommen Tonnte.

Simmerl batte ſchon einen ganzen Berg der pur- purnen Beeren beifammen, jeine Taſchenuhr mies drei Uhr, das Gewölk drüben hatte den Strom nicht über- fehritten, fondern fich verzogen, aber von den Mädchen war noch immer nicht3 zu fehen noch zu hören. Der Bub legte ſich alſo wiederum, jo lang er mar, unter dev Muttergotteseiche in Gras, aß, um feinen Durft

154 Die Waldfrau. zu ftillen, Iangfam eine Handvoll Himbeeren und be- gann nachzudenken.

Die Sache mit Reſi wollte ihm nicht aus dem Sinn. Der allzu Iebhafte Kuß damals hatte ihn aus feiner Arglofigleit aufgerüttelt. Seither hatte er noch manchen merkwürdigen Blid aufgefangen, mit dem die Bäuerin, die jonjt fo bölzern tat, ihn anfah, wenn fie fich un- beobachtet glaubte. Simmerl3 Gemüt mar reiner, als es bei einem jungen Manne in den Zmanzigerjahren gewöhnlich zu fein pflegt, der Gedanke, die Frau feines Pflegevaters könne ihm verliebte Augen machen, empörte ihn immer wieder fo jehr, daß er ziemlich viel dafür gegeben hätte, nicht an dieſes Unerhörte glauben zu müſſen. Aber fchließlich hatte er eben exit drei Jahre in der Großjtadt zugebracht und bejaß dazu fcharfe Augen und einen hellen Veritand. So mußte er fich'3, jo fehr er fi) dagegen fträubte, am Ende doch ein- gejtehen: die Größingerin, die fich neben ihrem alten, tränlelnden Manne langmeilte, hatte es heimlich auf ihn abgejehen.

Das wäre dem Sinmerl an fich ſehr gleichgültig geweſen. Mochte das Weibsſtück, wie er Reſi verächt- lich nannte, fich mit feinen fündhaften Gedanken her— umfchlagen. Was ging das ihn an? Wenn fie etwa die Schamlofigfeit jo weit trieb, ihm gegenüber etwas laut werden zu laſſen, wollte er ihr ſchon heimleuchten. Ihn quälten die Folgen, die jene widerliche Gefchichte für feine Beziehung zu Mierl haben Tonnte. Zwei Gefahren drohten aus diefem Wetterwinfel. Der alte Größinger Fonnte dahinterfommen, was in feinem Meibe vorging. Dann fonnte Simmerl auf der Stelle den Hof verlajjen und fich als Knecht verdingen, und zwar hübjch weit von Gupfing, denn jo weit der Einfluß des Großbauern reichte, nahm ihn fo leicht niemand.

Novelle von Guſtav Johannes Strauß. 155 IR D DE DD DD Dre Dre DD er Deren auf. Dann war er aljo von feinem Schaß getrennt, viel gründlicher noch) als jett jchon. Dder die Nefi fam dahinter, daB er und die Mierl fich gut waren. Dann fehrte fich ihre eiferfüchtige Wut gegen die arme Dirn. Sie machte fich an die Manharterin heran, und dann hatte Mierl die Hölle im Haufe, wenn fie nicht gar mit Gewalt an irgend einen verheiratet wurde.

Alle diefe Möglichkeiten, vor allen aber die lebte, trieben dem armen ungen den Angſtſchweiß aus allen Poren. Dazu hatte er das bejchämende Gefühl, daß einer, der gerifjener geweſen wäre als er, allen diejen Gefahren zu begegnen und fogar aus der Sachlage noch irgendwie Vorteile herauszufchlagen gemußt hätte. Er zerbrach ſich aus Leibesfräften den Kopf, wie das gemacht werden müßte, aber e3 wollte ihm nichts ein- fallen.

„Ich bin halt 3’ dumm,” fagte er fich endlich ent- mutigt.

Damit aber tat er fich unrecht. Er war zu ehrlich.

Da3 Grübeln nach der anjtrengenden Wanderung durch den heißen Sommernachmittag hatte ihn recht: Schaffen müde gemacht. Ehe er fich’3 verjah, fielen ihm die Augen zu. Er jehlief nicht völlig ein, fondern lag in einer Art Halbjehlummer, aus dem er fich nicht gleich aufzuraffen vermochte, al3 er nach irgend einer Zeit, über deren Länge er fich Leine Rechenfchaft zu geben vermochte, eilige Schritte heranfommen hörte.

Auf einmal fühlte er einen weichen, warmen Mund auf dem feinigen. Syn feiner Schlaftruntenheit bildete er fich ein, es wäre die Verfucherin, das Weibsſtück, und fuhr mit einem wahren Wutjchrei in die Höhe.

„Miſerablige Perfon, du!”

Da kniete jeine ſchlanke, braune Mierl neben ihm und jah ihn aus den Rehaugen ganz verftört an. Zu:

156 Die Waldfrau. DDr DE DDr Dr De D gleich lang ihm von der anderen Seite das übermütige, jilberne Lachen Annerl3 ins Ohr.

Der Burfch fuhr fich mit der flachen Hand über die Stirn und ftammelte: „Grüß Gott, Schagerl! Hab’ ich was g'ſagt?“

„Ganz wild haſt g'ſchrien: Du miſerablige Perſon!“ ſagte das junge Mädchen bedrückt.

Simmerl legte den Arm um ihren Hals und zog tröſtend ihre Wange an die ſeinige. „Sei nit bös!“ bat er. „J hab' halt ſo grauslich 'träumt.“

Zugleich zog er mit der freien Linken ſeine Uhr aus der Weſte und ſah nach der Zeit. Es war halb fünf. Mierl, die darin einen Vorwurf wegen ihres ſpäten Kommens ſah, begann ſich zu entſchuldigen. Die Mutter habe ſie gar nicht fortlaſſen wollen.

Simmerl verſchloß ihr lachend den Mund. „Aber Tſchapperl! J hab’ ja nur wiſſen woll'n, wie lang wir noch ung’fähr beifamm’ bleiben können. Gott jei Dant, daß d’ da biſt und daß 's no’ nit fpäter i3.”

Er wollte die Geliebte küſſen. Da legte ſich von der anderen Geite her eine Tleine, aber fräftige Hand auf feine Schulter, und eine helle Mädchenftimme jagte nedend: „Na weißt, Simmerl, grüß Gott fagen könnt'ſt mir Doch! Wo i meg’n euch verliebte Leut' in der Hit’ fo weit hab’ marſchier'n müaffen und nachher recht fleißig Himbeer’ broden fann für zwei!“

Der Burſch wandte fich haftig um und begrüßte Annerl, die er fo gar vergefjen hatte. Das Dirndl hatte ihm’3 aber offenbar nicht gar zu übelgenommen, denn es lachte über das ganze pfiffige Geficht. Annerl hatte den Haufen Himbeeren entdecdt. Sie deutete auf ihn bin und Ticherte: „Haft ſchon vorg’arbeiti! Na weißt, Simmerl, g'finkelt bift fchon, wie... wie...“ Ihr fehlte der Vergleich.

Novelle von Gustav Johannes Krauß. 157 ID DDr Dr ED Dre Dre Dr D Er DreD

Der Burfch Half ihr fehmunzelnd ein: „Wie a grad g’firmt’3 Dirndel.“

Schwapp! hatte er eins auf dem Mund. Annerl jhien das „rogliche” Handgelent ihrer Mutter geerbt zu haben. „Läftermaul, du! Gtatt ein Bergeltsgott für mein’ Beihilf’, ausfpotten auch noch!“

Sie ſprang auf, nicdte den beiden lachend zu und lief auf die Himbeerbüfche zu, wo fie eifrig in den großen Handforb, den fie mitgebracht Hatte, zu pflücen begann. Dabei wußte ſie's mit großem Gefchid fo ein- zurichten, daß fie die Muttergotteseiche fortwährend im Rüden hatte.

Die beiden unter dem Baume nubten die günftige Gelegenheit nad) Kräften aus. Sie umhalſten und füßten fich immer wieder, ehe fie zu plaudern begannen. Erfreuliche8 mar e3 gerade nicht, was das Pärchen zu bejprechen hatte. Das Mädchen klagte dem Burjchen fein Leid mit der böfen Mutter. Simmerl teilte ihr das jeinige mit der Mutter, die ihm gar zu gut zu jein jehten, nicht mit, jo jehr ihn die Sache im Herzen und auf der Zunge brannte. Er fehämte fich zu ſehr und wollte Mierl, die e3 ohnehin nicht leicht hatte, nicht die Qual der Eiferfuht antun auch noch. Er tröftete das arme, verzagte Mädchen, fo gut ex Fonnte, und begann dann, um fie zu zerjireuen, von feinem Soldatenleben zu erzählen. Als er von dem Antrag berichtet hatte, den fein Rittmeifter ihm machte, fehlug Mierl die Hände zufammen vor Aufregung.

„Und du haft es nit ang’nommen?” rief fie. „Sim: merl! G'wiß nur mein'tswegen hajt es ausg’fchlagen, das Glüd! Da muß i mir ja frei Vorwürf' machen.”

Sie jah dem Burfchen ganz faffungslos in das bübfche, kluge Geficht, daS fo vornehm ausfah mit feinen großen, Dunklen Augen, der Adlernafe und dem flotten

158 Die Waldfrau. EDDIE RD ED DE DDr DD ED ED Dre Schwarzen Schnurrbärtchen. „Ein Herr Beamter hätt'ſt jchlieglich werden können! Das hätt’ paßt für Di. Haft ja jo gut g’lernt in der Schul’, und ausfchau’n tuft ... gar nit wie a Bauer. Hätt’ft doch ja g’fagt, Simmerl. J hätt’ fchon g’wart’t auf di.”

„zehn Jahr'!“ ermwiderte Simmerl trübe. „Das war mir lang. Und wer weiß, wohin fie mich ver- fest hätten. Und nit amal jchreiben hätt'n wir uns fönnen, wie dei’ Mutter ſchon i3.”

„Ja, aber Simmerl, mein herzlieber Bub, ſo hab'n wir ja gar ka Ausſicht nit!“ klagte Mierl.

Das war nun freilich richtig, ſo richtig, daß der junge Mann nicht3 zu antworten mußte darauf. Um feinen lieben Schag auf heiterere Gedanfen zu bringen, griff er in die Brufttafche und brachte ein kleines, forg» fam in Seidenpapier gemideltes Päcchen hervor. „Da ſchau, was i dir mit’bracht hab'.“

Mit den freudeglänzenden Augen eines Kindes, das feine Weihnachtsbefcherung erhält, widelte Mierl das Päckchen auf. AlS das Papier offen war, fchrie fie entzücdt auf: „Annerl ... g'ſchwind! Da ſchau her!“

Wie von einem Wirbelwind herbeigetragen, fam die Beerenpflüderin geflogen und fah mit vor Erftaunen meit geöffneten Augen auf das dünne goldene Kettchen mit dem gleichfalls goldenen Herzlein daran, das die Schweiter in der Hand hielt und ganz verwirrt be- trachtete.

„Na, aber fo was!” fagte Annerl. „Haft bei ein’ Goldarbeiter ein’brochden in der Stadt, Simmerl?“

Der Burfch ſchmunzelte mit Mund und Augen über das Erftaunen der beiden Schweitern. „Wie i Ge- freiter wor'n bin, hat mir der Größinger ein’ Fufz’ger g'ſchickt,“ erflärte er. „Davon hab’ ich das Dinger! Ffauft.”

Novelle von Guſtav Johannes Krauß. 159 DRDAD ED ED ED EDDIE Der ED DekDrEDr ED Dre re Inzwiſchen war Mierl etwas ſchwer aufs Herz ge- fallen. „J kann's ja gar nit tragen,” klagte fie. „D' Mutter!“

Annerls Schlaufopf wußte jofort Rat. „Tragſt es halt unterifch, auf der bloßen Haut,” fagte fie rafch. Dabei blidte fie auf und fuhr leicht zufammen. „Dös i8 dumm! Da fummt die alt’ Waben.“

„Die ſchad't nix,” beruhigte Simmerl raſch, als er das Erfchreden Mierls ſah. „Rann mi’ gut leiden, die Alte. Ein Wörtl, wann ich ihr fag’, jo tut ſ' ſchweigen wie ein Totes.“ Er winkte der in einiger Entfernung über die Waldblöße manfenden Kräuter: fucherin und fchrie zu ihr binüber: „Geb halt her, MWaben! Hol dir ein Pfeiferl Tabak.”

Die Kräuterfucherin Fam eilig hevangehumpelt, grüßte, grinfte auf ihre unheimliche Art und machte fich fofort über die Tabafsblafe her, die Sinimerl ihr reichte.

Während fie ihre Fleine Pfeife füllte, fagte der Burfh: „Brauchſt aber nit grad 3’ erzählen unt’ im Dorf, Waben, daß d' uns drei da oben im Wald an- troffen bajt.“

Die Waben bob den wadelnden Kopf und jah den Simmerl ordentlich beleidigt an. „Wo wer’ i denn!“ mederte fie. „Kein' Menfchen ... fa Wörtel! J Tenn’ die Manbharterin do’... und die Größingerin.” Sehr ernfthaft fügte fie Hinzu: „Gib Obacht, Bub. Denk an d’ Waldfrau, die di’ b’hüten tut. Die kunnt' bös mwer’n, wann du nit brav bleibjt. Brav bleib’n und nit verzag’n! Sie Hilft dir jcho’, d' Waldfrau.”

Der dünne, dürre HBeigefinger, anzufehen wie ein morjches Stückchen Baumaſt, den die Waben warnend erhoben hatte zu ihrer fonderbaren Rede, ſank wieder herab.

In ihrem gewöhnlichen Tone mederte die Alte

160 Die Waldfrau. DAMIT DER DD ED ED reD re DIDI ED weiter: „Vergelt's Gott fürn Tabak, Simmerl ... und b’hüt Gott alle drei.”

Sie nidte und wadelte weiter. Pie drei jungen Leute unter dem Eihbaum fahen ihr ftumm nach, bis fie im Walde verfchmunden mar.

Die beiden Mädchen, denen bei den fraufen Reden der Alten bang geworden war, brachten fein Wort her- vor vor Grauen. Simmerl mar fehr blaß und fprach auch nichts. Wenigftens nicht laut. In feinem KRopfe rumorte die erjtaunte Frage, ob dieſes verhußelte Weib: lein denn wirklich durch Hauswände und menjchliche Köpfe hindurchſehen könne mit feinen fonderbar hellen Augen. Was fie da geredet hatte von auf der Hut jein und brav bleiben, das Lang doch wahrhaftig fo, als hätte die Waben jenen Kuß mit angefehen und da⸗ bei in Reſis Seele und in der feinigen erjpäht, was fi) dort verborgen regte...

Annerl war die erfte, die da3 Schweigen bradı. Sie fehüttelte fich und fagte: „Hub die alte Her, die graußliche! Frei fürchten könnt' m’r fih. Was bat j’ denn da z'ſamm'g'red't von einer Waldfrau, die dir hilft, wenn du brav bleiben tuft, Simmerl?”

Der Burfch zudte die breiten Schultern. Nach einem tiefen Atenzuge jagte er: „Bon der Waldfrau red't | öfter. Die fol den armen Sindelfindern bei- ſteh'n. Entweder i3 ein bifjel verrudt, die Waben, oder fie jtellt fi’ jo.“

„Und was bat j’ von der Größingerin g'ſagt?“ fragte Mierl nachdenklich.

Jetzt mußte Simmerl feinen Schatz anlügen, fo fchwer es ihm fiel. „Wird halt g’meint haben, daß die | gegen uns i3, aus Angit, der Bauer könnt' mir was geben wollen, wann i heiraten tät’,” jagte er langſam, die Worte zufammenfichend.

Novelle von Guſtav Johannes Krauß. 161 —⏑ DEI De DIDI EI eD

Mierl fehien nicht befriedigt von diefer Erflärung. Sie fam aber nicht dazu, Einwendungen zu machen, denn ihre Schweiter, deren Zünglein feine gewöhnliche flinfe Bemeglichleit wieder gefunden hatte, plapperte Dazmwifchen: „Und i bleib’ dabei, die Leut’ haben do’ recht, wenn |’ jagen, d' alt!’ Waben iS a Her’. Tau⸗ ſend Jahr' iS die 3’ mindeft alt.“

„Unfinn!” jagte Simmerl. „Ber alte Größinger, der Vater vom jebigen, bat ſ' al3 junge Frau fchon kennt.“ |

Das intereffierte die beiden Mädchen über Die Maßen. Die alte Waben als junge Frau, das Tonnten fie fi) gar nicht vorftellen. Simmerl mußte erzählen, was er mußte. Bor etwa fiebzig Jahren mar die Waben nad) Gupfing gefommen. Eine Böhmin follte fie fein. Ein Eleinerer Gupfinger Bauer, der gleichfalls aus jenem Lande ftammte, brachte fie alS feine Frau ins Dorf. Die einzige Tochter der beiden verheiratete ſich nach Wien. Bald nah dem Wegzug begann die Wirtſchaft zurückzugehen. Als der Mann jtarb, wurde feiner Witwe von den Gläubigern alles weggenommen. Nur ein Stüdchen Feld mitten im Walde blieb ihr, das niemand haben mochte, weil e8 fo weit vom Dorfe lag, und dag Wild immer wegfraß, was darauf much. Wit ihrer Tochter mußte fich die Waben wohl über: mworfen haben. Denn ftatt zu ihr in die Stadt zu ziehen, baute ſie fich auf jenem Waldader die Hütte auf, in der fie heute noch haufte, und verlegte fich dar- auf, Kräuter und Beeren zu fammeln, die fie an Die Apotheker in den Landftädten verkaufte. Nebenbei braute fie Tränklein für allerhand Leiden von Men: Ichen und Vieh, und Kartenlegen Fonnte fie auch. Aber furpfufchen und mwahrjagen, das taten am Ende die

meiften alten Weiber. Warum gerade die Waben da- 1904. III. 11

162 Die Waldfrau.

III BEDE II EDDIE IDEE REDE ED EEDI ED mit in den Geruch einer Here geraten war, fonnte Sim- merl nicht einfehen.

Inzwiſchen hatte fich die Sonne ziemlich ftark ge: neigt. Es war Zeit, an den Heimmeg zu denen. Annerl ging noch einmal an die Himbeerbüfche, um dem Liebespaar Gelegenheit zu geben, Abfchied zu nehmen.

Als fie, den bis zum Rande gefüllten Korb am Arme, zurüdlam, fagte jie mit jpigbübifchem Lächeln zu Simmerl: „Übrigens daß d’ es nur weißt, i hab’ meiner Mutter feſt jchimpfen g’holfen über di’, Die legten Tag’ ber.”

„Was?“ rief der Burfh. „Statt zum Guten 3’ reden? Ja, warum denn?“

Die Kleine lachte wie ein Kobold. „a, fchau, i bab’ halt mannigs Mal gar fo viel Kopfweh. Und alleweil grad auf d' Nacht, wann m’r auf d' Kammer geh’n. Da muß.i immer no’ ’naus in Öarten, an d’ Luft. D' Mierl geht natürli' mit. Wann d’ Mutter jest nit müßt’, daß i di’ nit leiden fan, du graus- licher Ding, fo tät’ P uns öfter nachjchleichen und fchau’n, ob du nit wo am Zaungattern ſtehſt, hint', wo der Garten ans freie Feld anraint. So aber ver- laßt fie fi? drauf, daß i ihr’s glei’ zutragen tät’, wann du di’ bliden laßt. Und fo bleibt j’ ganz ruhig in der Stuben, wann wir in 'n Garten geh’n. Ihr tut’3 gut, denn fie hat ’3 Reifen und Tann d' Nachtluft nit vertragen. Na, und dir wird’3 wieder grad gut tun, dv’ Nachtluft, Simmerl, was?“

„Du klaner Spigbub, du!“

Der Burfch wäre dem pfiffigen PDirnlein beinabe um den Hals gefallen vor Freude. Gleich morgen wollte er's verfuchen, erflärte er, wie ihm die Nacht: luft befäme, befonders die auf dem Feldfteig hinter dem Manharterfchen Garten eingeatmete.

Novelle von Guſtav Johannes Krauß. 163 IDEE EIER ERDE EDDIE ED ED ED ED ED Das Liebespaar mußte fich unter allen Umftänden noch . einen allerlegten Abjchiedstuß geben, obwohl es die Zeit, während Annerl Beeren fammelte, forgfam ausgenußt hatte. Die Kleine fah bei diefem Abfchieds- fuß neidifch zu, ſpitzte gleichfall3 das Mäulchen und Dachte dabei an den fernen Kaver. Dann trennte man

ſich endlich. 6.

Jakob Größinger hatte mit dem vielen Kranken eigentümlichen Scharfblid damals richtig gejehen, als er fich fagte, feine Nefi werde immer jünger, je mehr er felber alterte, und befinde fich zur Zeit in den Ger mütszuftande einer ledigen, nach einem Liebhaber aus— fugenden Dirn. Die junge Bäuerin gehörte zu jenen Frauen, in denen das Weib jpät, aber dann ungeftüm erwacht. Solchen Naturen widerfährt es fehr leicht, daß fie eine auf fühle, verftandesmäßige Berechnung be- gründete VBernunftehe ohne jedes innere Widerftreben eingehen, um dann nad) Jahr und Tag plöglich ein- zufehen, daß fie weniger als irgend eine in folche Ehe bineintaugen. Solches verjpätetes, dann aber mit der Gemalt eines vulkaniſchen Ausbruchs fich vollziehendes Erwachen der Sinne und des Herzens führt nur zu oft zum Selbſtmord oder zum Verbrechen.

Refi hatte als ledige Dirn über die Liebe ge: lacht, Beſitz und Anjehen vor den Leuten turmhoch über dieſes märchenhafte Ding geftellt, von dem in den Büchern allerlei Schönes zu lejen war, das ihr aber, wo ihr’3 im Leben begegnete, im beiten Falle als eine Art Lächerlicher Verrücktheit erſchien, in die fie jelber niemals verfallen könnte. Sie hatte in diefem Irrtum über das eigene tiefinnerfte Weſen den reichen Größinger ohne Befinnen genommen, fich auch die eriten Jahre troß des großen Altersunterfchiedes

164 Die Waldfrau.

IRA AD ADD DD AD ADD DDr Dre dee an feiner Seite wirklich glücklich gefühlt. Dann Fam der große Umſchwung in ihr. Die quälende Sehnfucht nach irgend etwas Wunderbaren, Gemaltigem, Köft- lichem, daS dem ganzen Leben erſt den richtigen Sinn gäbe, die nicht minder quälende Unrajt, die fich manch- mal bi3 zu der verrüdten, kaum zu bezähmenden An- mwandlung fteigerte, heimlich das Haus zu verlaffen und hinauszurennen in die weite Welt, ins Biellofe, dem Glück entgegen, das ſchon irgendwo am Wege fißen und auf fie warten werde.

In diefem Zuftande verfiel fie in eine wahre Leſe— wut. Gie verjchlang alles, was fie an Gefchichten- büchern erreichen konnte. Gutes mar nicht viel dar- unter. An dem Zeuge, das fie zufammenlag, überreizte fich ihre Vhantafie nur immer mehr.

Zu jener Eritifchen Zeit war Simmerl beim Militär. Wäre er im Haufe gemejen, hätte Nefi den jungen Menjchen in der Gewohnheit des täglichen Umgangs vielleicht faum beachtet. So aber fah fie ihn nur jelten, und jedesmal jah fie ihn jchöner, ftattlicher, männlicher als das vorige Mal. Dazu wirkte daS Geheimnis, das jeine Herkunft verhüllte, auf ihren Hang zum Un- gewöhnlichen. So ließ fie fich das Bild des jungen Mannes immer tiefer ins Herz hineinwachſen, ohne fich der gefährlichen Bahn, auf der fie wandelte, im ge: ringften bewußt zu werden, bis e3 fo weit war, daß fie bei jenem Tanze mit ihm faſt ohnmächtig wurde vor Aufregung, daß fie fein Bild heimlich auf die Geite brachte und e3 Tag und Nacht bei fich trug, daß fie an dem Tage, der ihn wieder aus der fernen Stadt nach Haufe bringen jollte, auf den Dachboden ftieg, um nad) ihm auszufpähen, und zu diefem Zweck jogar das alte Fernrohr aus der Truhe des toten Klerikers ausgrub.

Novelle von Guſtav Johannes Krauß. 165 Dre rede DDr Dee De Dre Dre Dre ⏑⏑⏑öCC

Noch aber war fie nicht eigentlich fehlecht. Gie gab fich Feine Rechenschaft über ihren eigenen Gemüt3- zuftand und dachte jo wenig daran, fich zu verftellen, daß der alte Jakob ziemlich richtig in ihrer Seele lejen fonnte. Sie war eher eine Nachtwandlerin zu nennen, die ohne Bemwußtjein, von einer dunklen, unmiderjteh: lichen Gewalt vorwärts getrieben, halsbrecherifche Pfade ging an gefährlichen Abgründen entlang, al3 eine Sün- derin.

Zu der wurde fie in dem Augenblid, als fie dem unbemwußt Geliebten auf Geheiß ihres trunfenen Mannes jenen Kuß gab, der fo verräterifch heiß ausfiel, daß der arglofe Simmerl fi fo böfe Gedanken machte feither. Jetzt mußte fie auf einmal, daß fie den Bur- fchen liebte, glühend, grenzenlos, bi3 zur Verachtung aller göttlichen und menschlichen Geſetze. Jetzt haßte fie auf einmal ihren Mann, für den fie vor wenigen Minuten noch ein mit Widermwillen gemifchtes Mitleid gehabt Hatte. Er ſtand zmifchen ihr und Simmer!l. ALS fie von dem jungen Manne zurüdtrat nach jenem Ruffe, war der glühende Wunjch in ihrer Seele, daß der alte Mann je eher je lieber fterben möge, damit fie frei werde, frei und Herrin über feinen reichen Be- fig. Sn jenem Augenblide wurde fie fih auch Kar darüber, daß Jakob fie belaure, daß fie fich veritellen müſſe vor ihm.

Zugleich aber jchoß, wiederum von Größinger jelber in ihre Seele gefchleudert, die Eiferfucht jählings in ihr empor, eine zitternde Angſt, eine andere könne ihr zuvorkommen, den Geliebten für fich gewinnen, ehe fie felbjt frei wäre. Sie hätte fich feinen Augenblid be= fonnen, mit Simmerl unter den Augen ihres Gatten und feines Wohltäters ein Xiebesverhältnis anzufangen, um ihn fejtzubalten. Aber mit dem bellfeberifchen Blick

166 Die Waldfrau. ADD ADr DD De DD er Dre der Leidenfchaft erkannte fie auch fofort, daß Simmerl viel zu ehrlich und zu reinen Sinne war für derlei Dinge, daß er fie mit Verachtung zurückweiſen würde.

Sie mußte aljo warten.

Diefes Warten wurde ihr zur Höllenqual. Pie halben Nächte lag fie wach und laufchte mit gejpann- ten Sinnen, ob fich nicht3 rege im Haufe, ob Simmerl nicht heimlich davonfchleiche zu ihr, zu der anderen, die fie nicht kannte, deren VBorhandenfein fie aber fühlte, und die fie tödlich haßte. Die andere Hälfte der Nacht verbrachte fie in wilden Träumen, um dann zu er: machen, müde, zerfchlagen, und den von den heimlichen Gemütsftürmen erjchöpften Körper mühſam durch ihr Tagewerk zu jchleppen.

Alles, was fie litt in diefen Tagen und Nächten, verwandelte fich in immer glühenderen Haß gegen ihren Mann. Wenn fie zu ihm in3 Zimmer trat, ſpähte fie immer gierig in jeinem Geficht nach Anzeichen einer Verſchlimmerung feines Zuftandes. Schien er ihr kränker geworden, jauchzte es wild auf in ihr, ſchien er ge befjert, wollte ihr eine verzehrende Wut das Herz ver- brennen. Immer öfter wandelte es fie an, das ſpitze Brotmejjer aus dem Tijchlaften zu reißen und den Alten, der immer kränkelte und niemals fterben wollte, niederzuftechen. Wenn der Jakob erſt fort war, wollte fie den Simmerl, der fie jest jo gefliffentlich mied, ſchon kriegen. Sie warfchön... und dann wurde fie auch reich. Ein Narr wär er geweſen, der Bub, wenn er da nicht mit beiden Händen zugegriffen hätte.

Mer doch einen Blick in die Zukunft hätte tum können!

Bei dieſem Wunſche, der ihr des Tages zwanzig— mal durch den Sinn ging, mußte Reſi jedesmal an die alte Waben denken, die ihr in der legten Zeit fehr oft

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Novelle von Guſtav Johannes Strauß. 167

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begegnete, viel öfter als früher, und fie dabei jedesmal fo fonderbar anfah, als wüßte fie, was in Reſi vor: ging. Von der Waben hieß es ja, daß fie einem die Zukunft auffchließen fünne. Zwar ... wahrjagen aus der Hand, Karten legen ... Reſi hatte an dieſe Dinge nie recht geglaubt. |

Eines Nachmittags aber ging fie doch inden Wald, nach der Hütte der Waben.

Die alte Rräuterfammlerin war zu Haufe. ALS die Großbäuerin zu ihr in den einzigen Raum trat, den die Hütte enthielt, und der Küche, Wohnzimmer und und Hühnerftall zugleich war, jah fie neugierig um fich. Herenhaft ſah e3 hier gar nicht aus, nur unfagbar ärmlich. Die zeriprungene Scheibe des kleinen Fenſters war mit ZBeitungspapier verklebt, ein Schragen mit etlichen Qumpen darauf war das Bett, ein offenes, aus toben Latten und Brettern zufammengejchlagene3 Ge- ftel, da8 mar der Schrank. Höchſtens der jchmarze, offene Feuerherd, über dem an eijerner Kette ein großer Keſſel hing, mährend allerlei ſeltſam geformte, drei- füßige Pfannen und Töpfe um ihn berumftanden, er: innerte an eine Hexenküche.

Die Waben, die auf einem Schemel an dem made: ligen Tiſch ſaß, zeigte beim Eintritt Nefis nicht das geringfte Erftaunen. Cie blinzelte nur flüchtig empor, mederte: „Da bift ja, Größingerin!” und deutete auf einen zweiten Schemel am Tiſch. „Da fe di’ bin und gib d' Hand her, d’ Linke.”

Nefi blieb der Atem aus vor Erftaunen und Auf: regung. Die Waben wußte, was fie hergeführt hatte, ehe fie noch ein Wort gejagt hatte außer „Grüß Gott!“ Man konnte alſo am Ende doch etwas erfahren von der.

Ganz benommen ließ fich das junge Weib auf den Schemel finten und reichte der Alten ihre linte Hand

168 Die Waldfrau. DDr De Dr De Dee De hin. Die fuhr mit dem dürren Zeigefinger die Linien in Reſis Handteller nach, murmelte und brummte aller- lei Unverftändliches unter der Nafe, und jah endlich der Bäuerin feharf in die Augen.

„gang leben wirft —“ mederte fie, „viel Geld wirft haben und Glüd in all'm. Fünf Rinder friegft. Aber nit mit'm Großinger. Der ftirbt bald! Sn zwei Jahrl'n. Dann heirat’ft wieder, ein’ jungen, fauberen Mann —“

Reſi atmete ſchwer. Zwei Jahre noch alfo! Wie endlos lange da3 war. Aber dann —! |

Verwundert fah fie es mit an, wie die Waben im Tiſchkaſten wühlte und endlich ein abgegriffenes Spiel Karten hervorkramte.

„Die Karten?“ fragte ſie. „Haſt eh' ſchon alles in meiner Hand g'ſeh'n?“

Die ſchüttelte mit geheimnisvoller Miene das Köpf: lein. In ſonderbarem, ſingendem Tone meckerte ſie:

„Einmal is trügeriſch, Hand is oft lügeriſch, Zweimal is wahr —“

ö—

Während des ſummenden Singſangs hatte ſie das Spiel mit unheimlicher Fingerfertigkeit gemiſcht. Nun ließ fie Reſi abheben, mit der linken Hand, und be- reitete die Karten auf der Tijchplatte aus. Auf die vor Schmuß kaum erkennbaren Blättchen ftarrend, be- gann fie ihre neue Prophezeiung eintönig herzumedern. Reſi jchlug das Herz bis in den Hals hinauf vor Empörung und Wut, als fie hörte, wie ganz anders dieje zweite Weisſagung klang.

„Da is er, dei’ Zweiter ein Junger, Schwarzer mer er is, fann i nit ſeh'n ’leicht ganz was Für- nehms aber ’3 fteht was zwiſchen ent a

Novelle von Guſtav Sohannes Krauß. 169 rEDTrEDD DE DE DD ADDED DD DD Dre Dre DD junge Dirn in zwei Jahrl'n ftirbt er, der Größinger aber a paar Wochen ehender wird der Schwarze die andere g’heirat’t bam —“

Da fuhr Refi empor und mwifchte mit wutbebender Hand die Karten vom Tifch, daß fte fich über den Lehn- ° boden verftreuten. „Nit wahr is's!“ fchrie fie auf. „Wie kann da3 eine wahr fein und 's andere dazua? Da fieht man, daß al’3 Schwindel is! Schwindel! Schwindel!”

Die beleidigte Wahrjagerin blieb ganz gemächlich fiten. Sie ſah Refi mit feinem Blide an, fondern wandte den Wadelfopf nach der dunkelſten Ede des dämmerigen Raumes und jtieß einen - fonderbaren, zifchenden Ton aus. Auf einmal ftand eine große graue Rabe neben dem Tiſch, ohne daß Reſi gejehen hätte, wo fie hergeflommen war. Das Tier faßte eines der umberliegenden Kartenblätter mit den Zähnen, trug es zu feiner Herrin, richtete fich an deren Knie empor und legte ihr die Karte in den Schoß. Dann brachte es die zweite, die Dritte, die vierte. Als alle hinabgefallenen Blätter aufgehoben waren, legte fich die Rate neben dem Herde auf den Boden und ließ die grün leuchtenden Augen zmifchen der Herrin und der Fremden hin und her wandern.

Reſi hatte mit mwachjendem Erſtaunen zugefehen. „8 die aber gut abg’richt’t!” fagte fie jetzt. Ein heimliches Grauen durchfröftelte fte aber doch dabei.

Darauf antwortete die Waben nur mit einem ftummen, eigentlich geringfchägigen Blid. Daun ließ fte die Augen wieder auf die Karten in ihrem Schoße finfen und murmelte: „Alsdann ſchwindeln tu’ i, meinjt? Schau, ſchau! Da muaß i dir do’ fagen, wie's i3, obwohl i eigentli’ nit jollt. Größingerin, die hab’n alle zwoa recht, d' Hand... und die Karten!“

170 Die Waldfrau. nr Dre DDr DDr DIDI ID RED LED ED

„a... aber...“

„Die Karten,” raunte die Alte in geheimnisvollen Tone, „die hat der Zuafall g’mifcht. Die künden an, wie’3 wird, wann du's geh'n laßt, wie’3 von jelber geht. Die Hand, mit der greift der Menjch zu. Drum fagt dei? Hand, wie’3 wird, wenn du was dazua Luft, daß ’3 nach dein’m Sinn wird. Und jegt’n geb, Größingerin.. Mehr fag’ i dir nit.”

Reſi ging aber nicht. Sie blieb fiten. Das fchöne Haupt gegen die Bruft gejentt, fann fie nach, lange, lange. Und die bellen Augen der unheimlichen Alten ruhten dabei jo feſt auf dem goldig flimmernden Scheitel der Sinnenden, al3 wollten fie durch Haar und Haut und Knochen in den Kopf Hineinfehen und die Ge- danken darin belauern in ihrem Wühlen und Ringen.

Auf einmal richtete fich die Bäuerin jählings auf. hr Geficht war Treidemweiß, aber jede Linie darin feit und hart, wie mit dem Grabftichel in weißes Metall geritt. Ihre Augen flammten nun in einem drohenden Teuer.

„Dös darf nit. fommen,” fagte fie mit feltjam ver- änderter Stimme, die viel tiefer Lang, als fie fonft ſprach, „dös mit der andern! D' Hand foll recht b’hal- ten d' Hand! Waben... wer jo viel jagen kann wie du, der kann no’ mehr. Du weißt fcho’ ein Mittel. Gib mirs! Was Haben willjt dafür, jollft kriegen.“

Die Kräuterfammlerin ſah das jchöne Weib eine Meile an, mit einem langen, ftarren, ſchweren Blid. „Thereſ' Größinger,” fragte fie endlich dumpf, „i8’8 dein feſter Vorfag und Will’n?*

„Mei' feſter VBorfag und Will’n!“ wiederholte die Gefragte.

Die Waben erhob fig mühſam und humpelte an den Schragen. Bon dem nahm fie ein Fläfchchen von

Novelle von Guſtav Johannes Krauß. 171 LDIADERDD AD AED EDDIE DD DD re Der DD ee weißem Glaſe, ohne Etikette, das eine wafferhelle Flüffig- feit enthielt. Das reichte fie Reſi. „Ein’ Löffel voll,” fagte fie bedeutfam. „E3 riecht nach nix, es ſchmeckt nach nix, fa Doktor findt's aus. Sollt’ di's aber g’reuen... nachher ... dann ſchick zu mir.”

Mit böjem Lächeln ermiderte Refi: „Es wird mi’ nit g’reuen. Was willft dafür?”

Wieder bohrte fich der Blid der Alten in die blauen Augen des fchönen jungen Weibes. „Dadrüber reden m'r nachher,” fagte die Waben langfam. „Und jebt’n geh, Größingerin.”

Neft wandte fi) und verließ feſten Schrittes Die Hütte. |

7.

Mit ſo feſter Stimme die Bäuerin auch erklärt hatte, es ſei ihr Vorſatz und Wille, drei Tage trug ſie das Fläſchchen, das ihre Freiheit barg, doch in der Taſche herum, ohne es zu gebrauchen. Jedesmal, wenn ſie in die Taſche griff, und ihre Finger das glatte Glas berührten, durchrieſelte es ſie: „Tu's! Heut' noch! Jetzt gleich!“ Aber immer wieder meldete ſich etwas anderes in ihrem Herzen, das da flüſterte: „Tu's nicht! Heut' noch nicht! Nicht jetzt!“ Und dieſe zweite Stimme trug immer wieder den Sieg davon.

Der gefeſſelte Tod hätte vielleicht noch länger in ſeinem gläſernen Kerker liegen müſſen, hätte Reſi nicht am Abend des dritten Tages Simmerl nach dem Nacht— eſſen noch einmal den Hof verlaſſen ſehen, ohne daß er vorher von ſeiner Abſicht, heute noch auszugehen, ein Wort hatte verlauten laſſen. Sofort fielen die alten Vorſtellungen wieder über ſie her, die ſie ſo oft ſchon bis zum Wahnſinn gequält hatten. Jetzt ſchlich er zu der anderen jetzt hielt er ſie in den Armen

172 Die Waldfrau. jest füßte er fie und fagte ihr alle die Liebesworte, die von ihm zu hören Reſi fich fo inbrünftig jehnte.

Diesmal dauerte die Dual ungewöhnlich Lange. Ein Uhr mochte nicht mehr fern fein, als Reſi, die noch fein Auge zugetan hatte, Simmerl3 leifen Tritt endlich auf dem Flur hörte. Ihre Pulſe flogen bei dem jachten Geräufch. Am liebften wäre fie aus dem Bette gefahren und hinausgeftürgzt.

Syn demfelben Augenblid tönte von dem Bette Grö- Bingers, daS an der anderen Wand der geräumigen Gtube ftand, die Stimme des Bauern durch die Finfier- nis: „Reſi! Bift munter? Eine Milch möcht’ i!“

Damit war das Schidfal befiegelt.

Reſi erhob fich raſch, warf noch im Dunkeln den Rod über und holte mit zornigem Griff das Fläfchchen aus der Tafche, ehe fie das Nachtlämpchen anzündete. Eine Kanne Milch hatte fie immer in der Schlafftube ftehen, meil folche nächtlichen Wünfche bei dem Kranken nicht3 Seltenes waren. Sie füllte ein Gla3 mit Milch und goß jo viel aus dem Fläfchchen hinzu, als nach ihrem Augenmaß ein Eplöffel enthalten mochte, eher etwas mehr al3 weniger. Dann trat fie an das Bett ihres Mannes und reichte ihm mit felter Hand das Glas. |

„Da, Größinger, trink!”

Der alte Jakob griff arglos zu und trank in durfti- gen Zügen. Nefi beobachtete ihn gejpannten Blid3.

Er merkte nichts. Bis zum legten Tropfen trant er es aus. Dann gab er das Glas zurücd, legte fich zu— recht und fchlief faft auf der Stelle wieder ein.

Das junge Weib ließ das Lämpchen brennen und blieb am Lager des Mannes ftehen, jeden feiner Atem- züge beobachtend. Reue fühlte jie nicht, nur eine dumpfe Neugier, vermijcht mit leifem Grauen.

Novelle von Guſtav Johannes Krauß. 173

IRA AD DD Dr xD

Auf einmal zuckte der Kranke. Gleich darauf riß

er die Augen weit auf, in ſeinem Blick lag ein namen⸗

loſes Entſetzen. „Reſi!“ wimmerte er. „Aus is's mit mir ...!“

„Was is dir denn?“ fragte Reſi lauernd.

„Schlecht ... fo totenübel ...“

Das Wimmern erſtarb in einem dumpfen Röcheln. Größinger begann ſich in fürchterlichen Krämpfen zu winden, zugleich ſtellte ſich Erbrechen ein. Sein Weib ſtarrte aus weit aufgeriſſenen Augen auf ihn nieder, von Entſetzen und Ekel geſchüttelt. Wie ſchauerlich die hageren braunen Arme durch die Luft fuhren, wie ent— ſetzlich der magere Körper, von dem das Deckbett längſt herabgeglitten war, ſich drehte und wand!

Auf einmal ſetzte ſich der Kranke mit einem Ruck in den Kiſſen auf. Er ſtreckte die Hände nach Reſi aus und ſtöhnte in grauenvollem, herzzerreißendem Tone: „Reſi ... Weib ... hilf ... tu mir doch helfen!“

Bei diefem jammervollen Hilferuf war es Reſi, als breche etwas nieder in ihr. Das war wohl der finjtere Troß, der böfe Vorſatz, in dem ihr Herz fich verhärtet hatte. Wie eine warme, unmiderjtehliche Flutwelle brach das Mitleid, das Erbarmen mit dem armen, leidenden Menfchen über ihre Seele herein und riß alles andere mit ſich fort. Sie brach in heiße Tränen aus, jchlug beide Hände vor das Geficht und ftürzte aus dem Zimmer.

An die Tür zur Rechten, die zur Kammer Simmerls führte, trommelte fie mit beiden Fäuſten. „Auf, Sim: merl, auf! Der Bauer mill verjterben! A Pferd reiß ausm Stall ... reit, mas d' kannſt, zu der MWaben! Die kann helfen!”

„Marandjoſeph ... gleich!” fchallte drinnen Die Stimme des Burfchen aufs höchſte erfchroden, und Reſi

174 Die Waldfrau. IDRDEDEDED ED EDDIE ED ADDED ED ELD AED ED flog in ihr Schlafzimmer zurüd, um am Bette Jakobs, der fich fehon wieder in Krämpfen Trümmte, in die Kniee zu finten.

„Kit Sterben tu!” jammerte fie fchluchzend. „Nur nit Sterben! Um d' Waben han i g’fdidt.... fie tummt, d' Waben, und tut dir helfen! Nur bis ſ' da 15, halt aus.“

Simmerl jagte bereit3 auf ungefatteltem, in aller Eile mit einem Stridzügel gezäumtem Pferde durch das Dorf, jo ſchnell der Gaul nur laufen konnte. Der gute unge war fürchterlich aufgeregt und den Tränen nahe vor Angft, feinen Pflegevater zu verlieren. So kam er gar nicht dazu, ſich zu wundern, daß er die Alte holen jollte, von deren Doktorkünſten Größinger nie» mals hatte etwas wiſſen wollen. Übrigen war Dabei nichts Auffälliges. Ein Arzt wohnte nicht in Gupfing, und mehr al3 der ewig angetrunfene Bader verftand das alte Kräuterweib auf alle Fälle.

est war Simmerl im Walde. Er trieb das Pferd, da3 in der Dunkelheit unficher über die Baummurzeln trat, zu immer rafcherer Gangart an. Eine fleine Ewigkeit jehien es ihm aber doch zu dauern, bi er an die Lichtung kam, auf der fich das Hüttchen der Waben erhob. Durch das winzige Fenſter flimmerte Lichtfchein.

Simmerl fteuerte auf das lichte Fenſterchen los. Ehe er die Hütte noch völlig erreicht hatte, fprang die Tür auf, und in ihr erjchien die verfrümmte Geftalt der Waben, von Düjterrotem Herdfeuerjchein umlodt.

„Simmerl?“ rief fie haftig. „Der Bauer will ver: fterben, gelt? Heb mi’ aufs Pferd!“

Der Burjche griff zu und bolte das federleichte Meibehen zu ſich herauf. Er jebte fie quer vor lich und wandte den Gaul um.

Novelle von Guftav Johannes Krauß. 175 Der RD RED DE DDr DDr Dre Dr Den

„Hüh, Bräunel, hüh!“

Das Roß merkte, daß es ſtallwärts ging und fiel in raſchen Trab.

Trotz ſeiner Erregung war in Simmerl ein grenzen loſes Erſtaunen. Die Waben hatte ihn allem Anſchein nach bereit3 erwartet, ihm feine Meldung aus dem Munde genommen und fragte auch jet nichts. Gie hatte aljo offenbar alles fchon gewußt. Das Mittel, das fie dem Kranten geben wollte, trug fie wohl gar fchon in der Zajche.

Sa, war dieſes merkwürdige alte Weib denn wirt: lich mit übernatürlichen Kräften begabt?

Das ungleiche Baar mwechjelte während des ganzen Rittes Fein Wort. Pie Waben redete nichts, und Simmerl ſcheute fich heute zu fehr vor feiner alten Freundin, als daß er gewagt hätte, fie anzufprechen.

Als der Größingerhof erreicht war, und Simmerl die Alte vom Pferde gehoben Hatte, behielt ex fie gleich auf dem Arme und ftürmte mit ihr die Treppe hin- auf wie mit einem Finde. Auf ihren eigenen wacke— ligen Beinen wäre fie ihm viel zu langfam hinaufge— fommen. Erſt vor der Tür des Krankenzimmers jtellte er fie auf den Boden. Sie humpelte jofort vorwärts” in die Stube hinein. Der Burjche folgte ihr.

Das Zimmer war voll verjtörter Leute, Hofgejinde, das der Waben ſcheu murmelnd Pla machte.

Die Alte warf einen kurzen Blid auf die ganz ver: nichtet daftehende Reſi, dann neigte fie fich über den Bauern, der gerade eine Ruhepauſe zwijchen zwei An- fällen hatte. Nach einer halben Minute fchon trat fie zurüd und wandte fid) zu Simmerl, dem fte ein Fläfch- chen aus dunklem Glafe und ein in grobes Papier ge- ſchlagenes Bäckhen übergab.

„Aus dem Flafchel jebt zwa Eßlöffel,“ befahl ſie,

176 Die Waldfrau. ADD D DD erde „da hören d' Krampf’ auf. In einer halben Stund’ wieder ein’, da wird er einfchlafen. Wann er dann munter wird, zwa Schalerln von dem Tee. Bis am Abend iS er wieder fo weit g’jund, mie er gejtern war.”

Aus dem ganzen Gebaren der Alten fprach fo viel fichere Ruhe, daß alles ringsumber wie erlöft aufatmete. Simmerl trat fofort zu dem Kranken, um die Verord⸗ nung auszuführen.

Indeſſen wandte fich die Waben zu Reſi, deren rot gemweinte Augen und ihr verjtörtes Geficht, um das Die aufgelöjten goldigen Haarflechten unordentlich hingen, mit fcharfem Blide mufternd. „Mit dir hätt’ i ein Wörtl 3’ reden, Bäuerin.”

Mit mühjamen, jchleppenden Schritten folgte Reſi der Alten binaus auf den Flur. Dort raunte die MWaben: „Haft mi’ g’fragt neulich, was i haben will dafür. Jetzt'n is's fo weit.” | |

Reſi zudte die Achfeln. „Wann der Bauer davon: kommt, gibt er dir ficher, was d’ verlangft. J hab’ ja nir.“

„Macht haft übern Größinger,” zifchte die Waben, „und die wirft brauchen müfjen, daß er tut, was i verlang’.”

„ya, was wär denn dös nachher?”

„Die Felder vom Wasnerhof, der amal uns g’hört bat, mein’ jeligen Mann und mir, fein jest alle beim Größingerhof. 's Häufel hat er aud, dei’ Mann. Jetzt'n fteht’S grad leer. Den Grund und 's Haus fol er 'n Simmerl verjchreiben, glei’ jegt’n, nit erft nach fein, Abjterben. Ein’ großen Hof gibt’3 ja grad nit, das biljel, aber grad g’nua, daß aner, der ’n hat, die Manharter-Mierl Friegt, wann der reiche Größinger mit der Alten red't.“

Novelle von Guſtav Johannes Kran. 177 a7 DDr D DD

Refi war bei dem Namen des Mädchens zuſammen— gefahren. „Die aljo!* murmelte fie. „Und i ſoll den zwei'n helfen, daß j’ z'ſamm'komm'n?“

Die Waben nidte.

„Ja,“ fagte fie ernft und geheimnisvol. „Haft was dazua 'tan, daß ’3 eine wahr wird, und es hat dr g’reut, fo mußt jetzt'n ’3 ander’ wahr machen helfen, und ’3 darf di nit g’reuen. So mwill’3 die Kraft. Geh nur dein’ Mann fein um 'n Bart, daß er dir 'n Willen tut. Willſt nit, fo kann's uns al zwoa'n ſchlecht geh'n.“ |

Refi nickte müde. „Hab’ mir eh’ fcho’ g’lobt, fo was 3’ tun, zur Buß’ für mei’ ſchwere Sind’. Die Mierl alsdann is's .. .“

Die Waben fah die in fchmerzvolles Sinnen Ver: lorene noch einmal prüfend an, dann humpelte fie ohne Gruß davon.

Das Gerücht von der Wunderkur, die die Waben am alten Größinger getan hatte, durchflog am nächften Nachmittag das ganze Dorf. Zum NAuslöfchen war er gemejen, der Großbauer. Da hatten fie die Wabern geholt, und jest faß der Mann wieder. in feinen Groß: vaterftuhl wie gejtern und vorgejtern.

Während die Leute das Unerhörte eifrig befprachen, redete Refi mit ihrem Gatten.

„Weißt, Größinger,” begann fie, „mir is fo, als müßtn m’r ein gut’3 Wert tun zum Dank für dei Rebensrettung.”

Jakob nidte ihr freymdlich zu. „An der alten Wab'n meinft?”

„Was du der gibit, is bloß dei’ Schuldigkeit. Aber...” das junge Weib ftocte und wurde vot, „am Gim:

merl.” 1904. II. 12

178 Die Waldfrau. Dr ED De De Der DDr DD

Der Kranke machte erjtaunte und zugleich miß— tranifche Augen. „Am Simmerl?* fragte er gedehnt.

„a. Der Bub hat ein’ Schat. Da wird er fi’ aber ſchwer tun mit die Eltern. Weil er halta Find: ling iS, und die Leut' jetzt'n wiſſen, daß er vo’ dir nix vermacht friegt. Und fo bin am End’ nur i d’ Schuld, wann ihm hart g’fchieht, dem Buben. Das drüdt mi’ fcho’ lang. Und fo tat i dir halt vorfchlagen, daß du ihm was gibjt, glei’ jest, für dei’ glüdliche Rettung aus fcehwerer Krankheit. Vielleicht den frühern Wasnerhof.”

Jakob Größinger jah feine junge Frau, der diefe Nede fauer genug geworden war, ganz verdußt an. <a, was war denn daS? Die Refi erbat jo etwas für den Simmerl, wollte ihren künftigen Befi fo exheblid) fchmälern, um ihm zum Heiraten zu verhelfen? Das war denn Doch... Da hatte er doch mit feinem Glau- ben arg vorbeigefchoffen! Wenn fie jelbjt verliebt war in den Buben, konnte fie das nicht tun, und wenn fie ihm feind geworden wäre, auch nicht...

Auf einmal brach ein Strahl des Verftehens aus dem Blide des alten Mannes. Er ſah Reſi ganz ge: rührt an. Die war doch vernarrt in den Simmerl. Und heute nacht, als er jelber am Sterben war, da war ihr die Gedantenfünde gegen ihn, ihren Mann, auf das Gewiſſen gefallen. Nun wollte fie büßen und zugleich die Verfuchung von fich tun.

Er zog Refi Liebevoll näher an fich heran. „Bilt a gut’3 Weiberl, du! J will's tun, dir z’lieb’. . Und mweil’3 mi’ felber jcho’ g’wurmt bat, daß der Bub jo leer ausgeh’n fol. Und jetzt'n fehid mir ’n Simmerl herein, daß i red’ mit ihm.”

Blutrot übergoffen von quälender Schamröte über diefes unverdiente Lob eilte das Weib hinaus. Durch das Flurfenſter rief jie Simmerl, den fie im Hofe

Novelle von Suftav Johannes Krauß. 179 Dre Dr Dre Dr DereD ſtehen ſah, zu, daß er zu Größinger kommen ſolle. Dann eilte fie in die Gewandkammer, wo die Schränke und Truhen mit dem Kleidervorrat und den Leinen- ſchätzen des Haufes ftanden, riegelte fich ein und brach in heiße Tränen aus.

Simmerl zeigte das fonderbarfte Geficht von der Melt, al er nach längerem Gefpräch mit feinem Adoptiv: vater aus der Krankenjtube wieder herausfam. In feinen Augen fladerte der helle Jubel, zugleich aber lag in feinen Zügen ein fo grenzenlofes Erftaunen, daß der gefcheite Simmerl beinahe dumm ausfah. Auf: geregt rannte er durch Haus und Hof und Garten und fragte, wer ihm begegnete, nach der Bäuerin. Aber niemand fonnte ihm fagen, wo die ftecte.

Als er, ärgerlich über die erfolglofe Suche, zum Haufe zurückkehrte, ſah er Reſi die Treppe vom Ober: fto& berunterlommen. Er trat rafch auf fie zu, er: griff ihre Hand und fagte herzlich: „Vergelt's Gott tw’ ich jagen und abbitten tw’ ich. Ich hab’ Dir viel Unrecht antan in meinem Sinn.“

Nefi 309 ihre Hand raſch zurück und wandte den Kopf feitwärts, fo daß Simmerl von ihren Gefichte bloß die Wangenlinie ſehen Fonnte. „Laß nur,” fagte fie matt. |

8.

Noch denfelben Abend fuchte Größinger mit Sim: merl die Manbarterin auf. Die beiden Mädchen machten große Augen, als die Männer anlamen und zur Mutter wollten. Als fie aber dann hereingerufen wurden und die Mutter ihnen fagte, Größinger habe für feinen Pflegefohn um Mierl angehalten, und fie, die Mutter, Habe ja geſagt, brachen der glücdlichen Braut die hellen Frendentränen aus den braunen Augen.

Huch das Annerl zeigte fi) ſehr gerührt, im Stillen

180 Die Waldfrau. | Deere re ee De Dre DD re Dee Dr ED er D ee Dee De ee mar fie aber beinahe unzufrieden mit diefem raſchen Wandel der Dinge Penn nun hörten die Heimlich- feiten auf und mit ihnen die wichtige Rolle, die Annerl als Vertraute und Gönnerin gefpielt hatte.

Im Spätherbit, nach der Weinlefe, war die Hoch- zeit, deren Koften Größinger trug. Die Größingerin nahm an dem Seite nicht teil, die lag frank zu Haufe an dem Tage. Pafür erjchien in der Kirche jemand anderes, den man feit Menfchengedenten an dem heiligen Orte nicht gejehen hatte. Die alte Waben war's, die durch ihr Erfcheinen bei der Trauung Ddiefe ohnehin hinreichend merkwürdige Hochzeit zu einer Dorfjenfation eriten Ranges machte, nebenbei auch dadurch, daß man fie heute zum erften Wale in anjtändiger Kleidung fah. Kittelvod, Jade und Kopftuch waren ja fichtlich uralt, mindeftens fünfzig Jahre, aber die Alte fah trogdem fehr ehrbar und reputierlic) aus in diefem Staat.

Etwas über ein Jahr jpäter ftand Annerl mit ihrem Xaver an der Stelle, mo Mierl und Simmerl zufammengegeben worden waren. Dieſem Paare hatten feine umerhörten Glüdsfälle den Weg zum Traualtar geebnet, fondern eine Krankheit. Diefe Krankheit war die Gicht, die fih aus dem Gliederreißen der Mutter Manharter entmidelt Hatte. Sie war jet froh, daß ihre zweite Tochter einen tüchtigen Mann ins Haus brachte, der das Anweſen, um das fich die Leidende faum mehr kümmern fonnte, im Gange erhielt. Gie hatte deshalb darüber mweggefehen, daß der Schwieger- fohn nichtS weiter mitbrachte als ein Paar fräftige Arme.

Bei dem Größingerfchen Ehepaare hatten fich die Dinge beinahe umgelehrt. Der alte Mann mar nun ziemlich gejund gemorden, dafür kränkelte die junge Fran. Sie war immer fehr blaß, die jchöne Reſi, und ihr Geficht war ganz fpigig und verhärmt.

Novelle von Guſtav Kohannes Krauß. 181 DREI EDTE DD EDDIE DD ED Dre DD re DD Dr

Die alte Waben, die der Großbänerin bei jeder Begegnung forfchend nach den Augen ſah, Tonnte diejes Herzeleid endlich nicht mehr mit anjehen. Einmal trat fie mitten auf der Straße auf die zufammenjchrecdende Größingerin zu und raunte: „Was i3’8, was di’ jo berunterbringen tut? Is's weg'n 'm Gimmerl, oder weil du dein’ Mann ans Leben haft woll’n?“

Mit zitternder Stimme entgegnete Refi: „Am Sim: mer! liegt mir nie mehr. Aber mei’ Sünd’, mei’ große Sünd', die drüdt m’r no’ ’3 Herz ab.”

Die Alte ſah einen Augenblid finnend zu Boden. Dann fließ fie raſch hervor: „Beſuch mi’ heut’ abend. J hab’ was 3’ reden mit Dir.“

Nefi machte vermwunderte Augen zu der Einladung, faß aber ein paar Stunden fpäter doch in der Hütte der Alten, auf dem nämlichen Schemel, auf dem fie vor nun bald zwei Jahren geſeſſen hatte. | Die alte Waben hatte den Ellbogen auf Die

Tifehede geftügt und den Kopf in die Hand. „An: g’schwindelt hab’ i di’ mit meiner Wahrjagerei, Grö—⸗ Bingerin. 's Wahrfagen aus der Hand, ’3 Karten- auffchlagen und alle die Sachen jein nix wie Schwindel. Mögen tun ſ' uns nit, die Leut', uns alte Weiber, fo müffen m'r ſchau'n, daß |’ wenigſtens a biſſel a Angſt hab'n vor und. So fein die B’fchichten auf: fummen, mein’ ih. Wann ſ' mt’ nit für a Her’ hal— ten täten, hätten j’ mir ſcho' längft die Hütten ab’dedt aus Bosheit und Schabernad, die Dorfbub’n.”

Nefi wurde erſt freideweiß, dann purpurrot bei diefer Eröffnung. „a, aber...” ſtammelte fie.

Die Alte fuhr gleichmütig fort: „Wie i dir dann aus die Karten deine heimlichen Gedanten hab’ jagen fönnen, meinft? Die hab’ i dir ſcho' lang aus Die Augen und vom Bficht berunterg’lefen g’habt. Du

182 Die Waldfrau. ED RD RD ARD ED ED ED Dre Dre Dr —⏑ ⏑— mein! Wann eins an die Neunzig alt wird und b’Halt’t fein g’funden Verftand und hat von klein auf gute Augen g’habt, dann fein d' Leut' am End’ wie von Ölas. Is ja immer ’3 felbig’. Und jo hab’ i dir’s ang’jehen g’habt, daß dir dei’ Alter z'wider war, und dei’. Sinn nach 'm Simmerl g’ftanden i8. Das war m’r erft gar nit recht, weil du den Bub’n leicht hätt'ſt verderben und 3’ Grund’ richten Tönnen, und dann war’3 mir wieder wie g’wunfchen, um dem Simmerl zu dem 3’ helfen, was i ihm vergunnt hätt’. Und jo hab’ i das böje Feuer in dir recht an’blajen mit meine’ Reden und hab’ di’ auf amal dorthin g’ftellt, mo du fo Elanmeif’ mit der Zeit von jelber hin'kommen wärit, und Hab’ mi’ drauf verlaffen, daß di’ d' Reu' paden wird. Und fo war's ja. Brauchſt di’ nit fo z' kränken, Größingerin! Den Gedanken, dein’ Mann 3’ vergeben, hab’ i dir eim’blafen. Und dei’ Gift, das war fa Gift, jondern a Rräuterjaft, der Krämpf macht und die . Leut' zum Übergeben bringt, aber fonjt nix ſchad't. Dein’ Mann war's übrig’ns ganz g’fund, die Roßkur. Hat ihm wenigftens den verdorbenen Magen ordentlich aus’pubßt.“ |

Reſi ftarrte der Alten mit fait irrſinnigem Bli in das zufammengefchnurtte Antlitz. „Alfo dein’ Spaß haft "trieben mit mir?” ftieß fie vaub hervor. „Um nie und wieder nix hab’ i mi” halbjcheid 3’ Tod »kränkt? Warum haft mir das an’tan?”

„Weißt, aufbegehren brauchit grad nit,“ ermwiderte die Waben fühl. „Ohne meiner und mei’ Kumedi hätt'ſt am End’ dein’ Mann a paar Monat’ fpäter aus freien Stücden was ein’geben, wo nachher die Neu’ im lebten . AHugenblid nic mehr g’nüßt hatt’. Und dann tät'ſt jetztin im Kriminal ſitzen. Aufm beiten Weg dazu warſt. Aber desweg'n hätt’ i mi’ nit ang’ftrengt. So

Novelle von Gujtav Johannes Krauß. 183 OTEDRDRDER DD DD ADD ED ADDED ED was fümmt alle Täg' und überall vor. Aber wie g’fagt, fürn Simmerl hab’ 78 'tan. Der bat nit ruiniert wer'n ſoll'n von dir, und hat ’n alten Wasner- hof frieg’n foll’n, denn dir kann i's ja ſag'n, du plau- derſt es nit aus er iS mei’ Ürentel, der Simmerl.“

„Was??“ Die Bäuerin fiel beinahe von ihrem Sit vor Erſtaunen über diefe nenne Eröffnung.

Die Alte nickte traurig. „Bald fiebzig war i alt, feit mehr als dreißig Jahr' hab’ i nie mehr g’hört von meiner verheirat'n Tochter, da kummt auf amal auf d' Nacht eine zu mir herein und jagt, fie wär’ mei’ - Enteltind, und i fol!’ mi’ annehmen um ihr. Erft hab’ i "glaubt, daß f’ a betrog'n's und figen 'laſſen's Dirndel i3, aber da hat ſ'ſ mir ihren Trauring ’zeigt. Mit ein’ Italiener verheirat’t war's, das arme Hajcherl, und der hat im Gachzurn ein’ derjchlagen und iS durch— gang'n nach Amerifa, grad wie das arme Weib fer’ erft’3 Kinderl erwart’t bat. Und ob’ndrei’ hat ſ' ihr Bater aus'm Haus g’jagt. Na, das hat mi’ meiter nit g’wundert. Mein’ fauber'n Herrn Schwiegerfohn hab' i ja 'kennt. Er war ja d' Schuld, daß i mit meiner Tochter verfeind’t war. In ihrer Angft und Not i3 das arme Hafcherl zu mir 'kummen. Na, i hab’ ſ' vor alle Leut' verfieckt bei mir, und da in der Hütten i3 der Simmerl auf d' Welt 'kummen. Jetzt'n aber, was anfangen mit dem Buberl? D’ Mutten hätt's nit aufzieh'n können, i auch nit, dazu der verfchimpfierte Nam’, wo's ſcho' bejjer war, gar fein’ 3’ haben, fo hab'n m’v’3 halt den reichen Größingerleut’n vor die Zür g’legt. So hab’ i 'n wenigftens großwachſen jeh’n können. War mei’ einzige Freud’, das, denn wie mei’ Tochter g’ftorb’n is, hab'n f’ mi’ nit amal ans Toten bett g’holt, und von meiner Enkelin hab’ i auch nix mehr g’hört.“

184 Die Waldfrau. EIEDDRERDE DE DE DE DE Dr KD EDDIE DE LE Dr ED ED EDrED

Die Alte hatte immer leifer und leifer gefprochen. Jetzt jchwieg fie ganz und ließ das Köpflein ſchwer auf die Tiſchkante fallen.

Die Bäuerin blickte erſchüttert zu ihr hinüber. Dann erhob ſie ſich leiſe und ging davon.

Als ſie wieder draußen im abendlichen Walde ſtand, war ihr, als ſei ihr ein Mühlſtein vom Herzen ge— fallen. Sie hatte alſo ihrem Manne kein Gift bei— gebracht, ſie war keine fluchbeladene Verbrecherin, ſie konnte den Leuten wieder frei in die Augen fehen! -

Daß der Wille fürs Merk zählt, im Guten wie im Böen, fagte fi) das junge Weib nicht. Sie war über- glücklich und eilte leichtfüßig nad) Haufe.

Wenige Tage nach diefer Ausfprache fand man die alte Waben tot in ihrer armfeligen Hütte. Es war gerade, als hätte fie bloß deshalb nicht früher fterben lönnen, weil fie ihr Geheimnis noch niemals jemand enthüllt hatte. Jakob Größinger, der natürlich nach wie vor des feiten Glaubens war, daß er dem Weib- lein fein Leben verdante, ließ jie begraben und ihr einen Denkſtein fegen. _

An dem -fteht öfters der Simmerl und weiht dem fonderbaren alten Gejchöpfe, daS da unten ſchlum— mert, einen andächtigen Gedanken, ohne zu ahnen, daß er am Grabe feiner Ürgroßmutter fteht, und daß ſie jelber in feinem Leben die guttätige Waldfrau gefpielt bat, von der fie ihm vorfabelte, fie halte Die Hand über ihn und werde ihn zu feinem Glüde leiten.

DIE"

Deues aus dem Gebiete der Psychologie. Naturwissenschaftliche Skizze von Dr. Tr. Parkner.

Te mit 9 Tllustrationen. (Nachdruck verboten.)

ie Zehre von dem Leben der Sinne und de3 Getites,

ſowie von den Gefegen, denen fie unterliegen und nach denen fie tätig find, oder, wie man e3 wiſſen— fchaftlich bezeichnet, die Biychologie, it ein Forſchungs— gebiet, das in neuerer Zeit eine bedeutende Erweiterung und Vertiefung gefunden hat. Von Eleinen Anfängen ausgehend, hat jie allmählich alle Sinne in den Be: reich ihrer Unterfuchungen gezogen, das Empfindungs— vermögen der Haut, den Geruchsfinn, das Gehör, die Borgänge beim Sehen, und fie ift auch in die Gedanken: werljiatt eingedrungen, um einen Einblic in die Be- dingungen zu erhalten, unter denen fich das Denen vollzieht, die Vorftellungen fich verknüpfen und die Ausbildung des Gedächtnijjes erfolgt. Aber dabei ijt jie nicht flehen geblieben. Sie hat fich nicht damit be- gnügt, Experimente anzustellen, jondern fie hat die erperimentell gewonnenen Ergebnifje auch praftifch ver- wertet ımd dadurch nach den verjchiedeniten Seiten hin befruchtend und fördernd gemirkt.

186 Neues aus dem Gebiete der Piychologie. Dede uD DDr

Von großer Wichtigkeit über die Ginneswahr: nehmungen waren bereit3 die Unterfuchungen, die der Göttinger Phyfisloge E. H. Weber im fahre 1834 über daS Empfindungsvermögen der Haut anftellte. Das, was wir al3 Empfinden oder Fühlen bezeichnen, ijt Tein einheitlicher Vorgang, jondern e3 werden damit verjchiedenartige Wahrnehmungen zufammengefaßt. So unterfcheiden wir mittels der in der Haut eingebetteten Nervenendigungen die Temperatur der berührten Gegen: ftände und erkennen die ihnen eigene Wärme oder Kälte. Ferner erhalten wir durch die Berührung eine Borjtellung über die Gejtalt der betreffenden Gegen: ftände, indem die Eden und Kanten einen ftärferen Drud auf die Haut ausüben als die gleichmäßigen Flächen, und endlich vermögen wir auch durch das Ge- fühl Die Orte anzugeben, welche berührt werden. Man ipricht daher auch von den Temperaturjinn, dem Raumſinn und dem Ortsſinn der Haut.

Namentlid mit dem letteren befchäftigte fich nun Weber bei feinen Unterfuchungen. Er jeßte dabei einen Zirkel mit abgeftumpften Spigen auf die Haut bei ge: chloffenen Augen und beftimmte für die verjchiedenen Hautftellen den Abftand, den beide Zirkeljpigen von— einander haben dürfen, um noch al3 zwei getrennte Empfindungen wahrgenommen zu werden. Werden die Zirkelfpigen nur um eine Kleinigleit einander genäbhert, fo reicht an den unterfuchten Hautjtellen die Feinheit des Gefühls nicht mehr aus, fondern wir nehmen dann beide Zirkelfpigen nur als einen einzigen Berührung: punkt wahr. Das Unterfcheidungsvermögen binfichtlich des Abjtandes der Orte, die berührt werden, gibt dem- nach zugleich einen Maßſtab für die Feinheit des Taſt— finng der Haut überhaupt und feine Ausbildung an den einzelnen Hautitellen.

Von Dr. Fr. Parfner. 137

DD DdnnD. LFDOmDmD ADD AD ID ED ID ID ED ED; DD > Meber fand nun, daß das Taftgefühl am feinjten an der Zungenjpige und am gröbften an der Rumpf: baut ift. Für die Zungenjpige braucht der Abjtand der beiden Zirkelfpigen nur 1 Millimeter zu betragen, damit noch die beiden Berührungspunfte getrennt emp— funden werden. Dagegen ijt für die Haut der Innen—

Apparat zur gleichzeitigen Berührung mehrerer Körperstellen.

fläche des Zeigefingers bereits ein Abjtand von 2 Milli- meter nötig. Für die rote Lippenoberfläche muß er betragen 4 Millimeter, für die Spite des großen Zehen 11, für die Haut über den Fingerknöcheln 17, für den Handrüden 28, für die Knieſcheibe 35, auf dem Brujtbein 44 und für die Mitte des Rückens 66 Milli: meter. Geht man unter die aufgefundenen Abjtände herab, jo kann man, indem man die eine Hirkeljpige

188 Neues aus dem Gebiete der Piychologie.

Dre Dr DrDerD re Der ne DD rede De DE Dr ED DE DD red auf die betreffende Hautjtelle aufjfegt und die andere im Kreife um diefen Mittelpunkt herumdreht, je nach der Lage des Hantgebietes größere oder Fleinere Haut: bezirke umkreifen, innerhalb deren die Empfindung der beiden Birleljpigen nur als ein einziger Reiz aufgefaßt wird. Daraus ergeben fich die Empfindungstkreife der Haut.

Übung und Gewohnheit fpielen bei dem Taſtſinn eine große Rolle. Man erfieht dies ſchon aus folgen: dem Tleinen Experiment. Schlägt man den Mittel- finger fchräg über den Zeigefinger und jtedt dann zwifchen beide eine Exbfe, jo fühlt man ftet3 zmei runde Körper, weil bei der natürlichen Fingerftellung zwei Erbjen nötig wären, Damit die jet einander zugelehrten Fingerfeiten gleichzeitig berührt würden. Obwohl nun bei der veränderten Fingerftellung zur Be: rührung der fonft voneinander abgewandten Finger: feiten nur eine einzige Erbſe erforderlich ijt, fo fühlen wir dennoch zwei, weil wir durch die Macht der Ge: wohnheit fchließen, daß eine jede der beiden Finger: feiten von je einer Erbſe berührt wird.

Die Unterfuchungen über da3 Empfindungsvermögen der Haut und die Deutung der Wahrnehmungen find dann nach vielen Richtungen hin und mittel3 der ver: Ichiedenften Methoden fortgefegt worden. Go hat der ameritanifche Pſychologe Stanley Hall einen Apparat Tonjtruiert, bei der Die umbekleivete Verfuchsperfon zu gleicher Zeit von mehreren Korkſcheiben, die berußte Pinfel tragen, berührt wird, die Durch den Luftdrud eines Blaſebalgs leife an die Körperoberfläche angedrüdt werden. Die Augen der VBerjuchsperfon müſſen wäh— rend der Experimente gejchloffen fein. Später muß fie dann die Hautftellen angeben, die nach ihrer Meinung gleichzeitig berührt wurden. Dabei ftellen fich denn

Von Dr. Fr. Parkner. 189 —⏑ AD AD AD ADD AD AD ED AD ADD AD AD ED vielfache irrtümliche Angaben heraus, die zeigen, wie ſchwierig es ift, die Aufmerkſamkeit gleichzeitig über die ganze Körperoberfläche zu verteilen.

Der Geruch ift im allgemeinen ein jehr feharfer Sinn, wenn er auch beim Menjchen zurücdgegangen ift, da hier an die Stelle des Niechens vielfach das Sehen tritt. Um die Feinheit des Geruchs fejtzuftellen, be—

Apparat für wagrechte Drehung.

nutzt man verjchiedene Berfahren. Das eine befteht darin, daß man zu ermitteln fucht, wieviel von einem riechenden Stoff ein Liter Luft enthalten muß, damit fie riechbar wird. Die Erperimente ergaben, daß bier- für vom Banillin 0,005, vom Pfefferminzöl 0,5; und von der Drangenefjenz O0, Milliontel Gramm aus: reichen. Durchjchnittlich ift der Geruchsfinn dev Männer jehärfer als derjenige der Franen. Auch die Geruchs- empfindung iſt jtard von den Äußeren Umjtänden und

190 Neues aus dem Gebiete der Piychologie. DreD DDr EDrEDr-EDrED-DDEeED von der Einbildung abhängig. Der amerifanijche Phyfio- Ioge Nichols erklärte in einer Vorleſung, er werde ein Fläſchchen mit Roſenöl öffnen, und bat zugleich feine Zubörer, den Arm aufzuheben, fobald fie den Geruch wahrnehmen würden. In Turzer Beit gaben 35 ‘Ber: fonen an, daS Nofenöl zu riechen. Nur 5 Perſonen be- haupteten, nicht3 zu riechen. Und fie hatten recht, denn das Fläſchchen enthielt, wie Nichol3 fpäter mitteilte, fein Rofenöl, fondern reines Waſſer.

über das Gehör find die umfaflendften Unter- juchungen angeftellt morden von dem unlängjt ver: Itorbenen berühmten deutſchen Phyſiker Helmholtz. Er hat gezeigt, daß jeder einfache Ton nur durch gemille einzelne Nervenfafern empfunden wird, Töne von ver: Ichiedener Höhe verjchiedene Nervenfafern in Erregung fegen, und die Empfindung verfchiedener Tonhöhen biernad) eine Empfindung in verfchiedenen Nervenfafern ift. Er wies durch feine Forſchungen nach, daß ſchein— bar recht einfache Gehörswahrnehmungen jehr verwidel: ter Natur find, die man in ihre Bejtandteile zerlegen und wieder verjchmelzen kann. Bekanntlich gehen von den tönenden Körpern Schallmellen aus, die die Faſern des Gehörnervens treffen und durch ihre Reizung Die Gehörsempfindung hervorrufen. Die Tonhöhe wird nun beftimmt von der Anzahl der Schwingungen, die der tönende Körper in der Sekunde ausführt, und je höher ein Ton ift, deſto größer ift die Zahl der Schall: bewegungen. Der tiefite wahrnehmbare Ton entfpricht etwa 15 Schwingungen in der Sekunde, der höchite 41,000. Erwachſene und Kinder unterjcheiden fich in der Hörſchärfe erheblich voneinander. Manche Kinder, die geiltig zuxrücgeblieben find, verdanken dies einzig und allein ihrer Schwerhörigkeit.

Das Gehörorgan iſt aber aud) noch der Sitz de3

Bon Dr. Fr. Parfner. 191 Sleichgemwichtsjinns. Wird er in ungewöhnlicher Weife erregt, jo macht fich das Schwindelgefühl geltend. Das Drgan für den Gleichgewichtsfinn find die häutigen Bogengänge desjenigen Teiles des inneren Ohres, welcher als Labyrinth bezeichnet wird. Zur Beobacdh- tung der Empfindungen bei jchnellen Drehungen hat

Apparat für senkrechte Drehung.

man Apparate verfertigt, auf denen die Verſuchs— perſonen wagrecht und jenkrecht gedreht werden können. Wird die Bewegung nach einiger Zeit plößlich zum Stillftand gebracht, fo tritt der Drehſchwindel ein. Die Berfuchsperfon hat danı den Eindruck, als beweg- ten fich die Gegenjtände der Außenwelt in der urſprüng— lichen Drehrichtung weiter, oder als werde fie jelbit in entgegengejeßter Nichtung umgedreht. Man bat Die: jelben Verſuche auch mit Tieren angeftellt. Wahrend der Drehung felbit machten fie Bewegungen nach der

192 Neues aus dem Gebiete der Piychologie.

DD KDD ED ED DDr DE DA DE DE DE Dee Dee Dee Dr der Drehrichtung entgegengefegten Geite.. Wird die Drehbahn angehalten, jo führen fie Zwangsbewegungen aus, indem fie ſich in der urjprünglichen Richtung fortbewegen. Es ift dies die Foige des eingetretenen Schwindelgefühls. Sie glauben jet in der der frühe: ren Drehung entgegengefegten Richtung bemegt zu werden und machen daher Bemwegungsanftrengungen, durch die fie der vermeintlichen Drehung entgegen: juarbeiten juchen.

Der eigentliche Lichtempfindliche Teil des Auges ift die Netzhaut, die die innerſte der Augenhäute darftellt. In fie tritt der Sehnerv ein, der fi) in zahllofen Faſern zerteilt und in die Zapfen und Stäbchen fort: jeßt, auf welche die in daS Auge eindringenden Ticht: ftrablen ihre erregende Wirkung ausüben. Der Seh: nero ſelbſt ijt für Licht unempfindlich, da er nur Die dureh die Zapfen und Stäbchen empfangenen Reize nach dem Gehirn fortleitet. Man bezeichnet daher aud) die Eintrittsftelle des Sehnerven in die Netzhaut als den blinden Fled. Entwirft man fich einen Plan von der Netzhaut des rechten Auges, bei dem die Zapfen und Stäbchen als hHellgraue und die zwiſchen ihnen eingefchaltete Farbſtoffſchicht als dunkle Vierecke wieder: gegeben werden, fo liegt der blinde Fled in der Nähe der linten Schmalſeite. Wir bemerken für gemöhnlid) von dem blinden Fleck nichts, da erin jedem der beiden Augen auf eine andere Stelle trifft, Jo daß das, was das eine Auge wegen des blinden Fleds nicht jehen kann, daS andere Auge fieht. Bon dem blinden Sled aus verzweigen fich außerdem die feinen Blutgefäße, die die Neghant durchziehen und die Blutverforgung regeln.

Unfer Sehorgan ijt vielfachen Täuſchungen unter: worfen. Betrachten wir beifpielsmeife einen Waſſer— fall einige Zeit hindurch, fo haben wir den Eindrud,

Von Dr. Zr. Partner. 193 ADD ADED AED AD AD AD AD AD AD AED AD ET AD ADDED als ob daS beiderjeitige Ufergelände aufwärts zu fteigen ſcheint. Man kann dieſe Täufchung mit Hilfe eines feinen Apparates nachahmen. Dreht man die Kurbel desjelben, jo bewegt fich der mittlere Streifen, wie der Waſſerfall, abwärts, und wenn man dann plößlich an— hält, jo jcheinen die beiden feitlichen Streifen, ähnlich dem Ufergelände, in die Höhe zu fteigen. Dieſe Er-

Plan der Netzhaut mit dem blinden Fleck.

fcheinung beruht auf unbewußten, ruckförmigen Be: mwegungen der Augen. Wir verfolgen den abwärts gleitenden Streifen der Mitte unmillfürlich mit den Augen. Steht nun die Bewegung dieſes Gtreifens plöglich jtill, jo jegen die Augen ihren Weg nach unten noch einen Moment ruchweife fort, und hierdurch ent: jteht der Anjchein, als ob die beiden feitlichen Streifen nach der entgegengejegten Richtung bin zurückmeichen, aljo auffteigen. Die optifchen Täufchungen, wie man e3 nennt, laſſen ſich außerdem noch durch andere kleine Hausmittel dartun. Man hat zu diefem Zweck Zeich—

1904. III. 13

194 Neues aus dem Gebiete der Piychologie.

DD mDmDmAD DD ADD AD AD AD A DA DD De DD nungen von feheibenförmigen Figuren, bei denen helle Ringe mit dunklen abwechſeln oder ein gefchlängeltes helles Band über einen dunklen Hintergrund läuft, ent: mworfen. Seht man die jcheibenförmigen Figuren in

Wasserfallapparat.

eine drehende Bewegung, indem man die Blattfeite, auf der fie abgebildet find, einige Zeit im Kreife herum: bewegt, jo hat es den Anſchein, als ob fich die hellen Ninge jelbjtändig wie eine Spirale vorwärts drehen. Bewegt man über der Zeichnung mit dem gefchlängelten

Bon Dr. Fr. Parkner. 195 Band den Kopf mehrere Male fchnell von links nach recht3 und umgefehrt, jo jeheint bei der Wendung

Zeichnungen zur Untersuchung der optischen Täuschungen.

nach lintS das Band nach rechts und bei der Wendung nach rechts nach links zu rücen. Dieſe Erjcheinungen erklären fich Dadurch, daß die Augen jozufagen an den dunklen Ringen und dem dunklen Hintergrund fejihaften

196 Neues aus dem Gebiete der Piychologie. DDr DD Dre Dee DreDre DDr Dr ED Dede D und bei ihnen verweilen, während die hellen Teile der Zeichnungen fehnell vorübereilen und dadurch eine jelbftändige Bewegung zu erhalten feheinen.

Zwei mwagrecht verlaufende Linien in einer größe- ren Höhe, die wir von unten betrachten, erhalten leicht den Anjchein, als ob die Enden nach aufwärts gebogen find, weil wir dabei eine von unten nach oben auf: fteigende Blickrichtung anwenden müfjen. Dieſe fchein- bare Umbiegung wmwagrechter Linien nach oben erfann- ten bereit3 die griechifchen Baumeifter des Altertumsg, und fie bogen deshalb bei ihren Tempelbauten die auf den Säulen aufliegenden marmornen Querbalken etma3 nach unten um, jo daß nun die Längskanten diefer Balken völlig wagrecht zu verlaufen fcheinen.

Hin und wieder wird ein jeder jchon einmal beobach- tet haben, daß an feinen Augen jcheinbar Fleine dunkle Punkte vorbeifliegen. Diefe rühren von Trübungen im Augenwafjer des Glaskörpers ber, die ihre Schatten auf die Neghaut werfen.

Man ift jegt jogar jo weit gekommen, daß man die Zeit mejjen kann, welche vergeht, bis eine Empfindung von der Fingerfpige bis nad) dem Gehirn gelangt. Die Nervenerregung pflanzt fich 30 bis 40 Meter in der Sekunde fort. Auch die Gefete der Gedanlen- verbindung zu ergründen, hat man erfolgreich verfucht. - Profeſſor Stanley Hal in Boſton und Profeſſor Jaſtrow in Berlin nannten einer größeren Zuhörer: Schaft Worte und ließen fi) dann die Worte nennen, die den Zuhörern fofort einfielen. Die große Mehr⸗ zahl der Anmefenden ftimmte in ihren Antworten über- ein. So wurde auf Hund regelmäßig Rabe, auf Knabe Mädchen, auf Hand Fuß geantwortet.

Ein an wunderbaren Beobachtungen reiches Gebiet iſt das Studium des Zufammenhanges zwifchen Geijtes-

Bon Dr. Fr. Parkner. 197 —⏑ en? nee? Em? —⏑ et Pe um Un tätigfeit und der Berteilung des Blutdruds. Eine jede geiftige Anjtrengung ijt mit einem Zufluß des Blutes nach dem Gehirn verbunden. Man kann daher den Blutdrud in den einzelnen Rörperteilen als einen Grad- mejjer betrachten, der mit größter Genauigkeit anzeigt, ob und wie ſtark das Gehirn geiftig befchäftigt ift. Wie ein Schwimmer, den man zur Beobachtung des Waſſer—

Messapparat für den Blutdruck in den Fingern.

jtandes benußt, und dejjen Steigen oder Fallen Die Erhöhung oder das Zurücdgehen des Waſſerſpiegels anzeigt, jo fann man an der Vermehrung oder dem Nachlafien des Blutdruds erkennen, ob der Geijt aus: ruht oder angejtrengt wird. An einer Reihe finnreicher Apparate iſt diefe Wechſelwirkung zwiſchen Blutdrud und Geiſtestätigkeit deutlich zu verfolgen. Einer diefer Apparate führt es fichtbar vor, wie eng der Blutdrucd in den Fingern mit der Arbeit des Gehirns verknüpft

198 Neues aus dem Gebiete der Piychologie. DDr DDr Dre DDr Dr ED er Dre : ist. Richtet die Verfuchsperfon ihre Gedanken fcharf auf irgend einen Gegenjtand, fo ſinkt der Blutdrud in den Fingern, weil das Blut nach dem Gehirn hin- jtrömt. Die Finger fcehrumpfen dann eine Wenigfeit zufammen, und infolgedeſſen fällt auch die Kurve, Die eine Feder auf einer bexußten, fich drehenden Trommel aufzeichnet, nach unten. Iſt Dagegen das Gehirn un: beſchäftigt, fo verteilt fich das Blut gleichmäßig durch . den Körper, der Blutdrud ift dann in den einzelnen Teilen größer, die Finger fchwellen etwas an, und darum fteigt jebt die Feder, und ihre Kurve auf der Trommel geht in die Höhe.

Ebenſo hat man die rhythmifchen Bewegungen, die fi im Blutdruck vollziehen, auf verfchiedene Weife gemeſſen. Man benußt dazu unter anderem einen Pendelapparat, dejjen Pendel, der leicht mit der Hand berührt wird, durch feinen größeren oder geringeren Ausschlag das Gteigen oder Sinten des Blutdruds anzeigt. Dabei hat fich ergeben, Daß irgend eine geiffige Tätigkeit, bei der der Rhythmus mitſpielt, auc) den Verlauf des Blutdrucks rhythmiſch beeinflußt. Sagt die Berfuchsperfon beiſpielsweiſe eine Lieder: ſtrophe ber, bei der der Tonfall fich rhythmiſch hebt und ſenkt, und auch die geiftige Spannung mwechjelmeife wächſt und zurüdgeht, jo wächſt und fällt auch, wie es die Bendelfchwingungen zeigen, der Blutdrud rhyth— milch.

Alle für die pfychologifchen Forſchungen verfertigten Apparate find übrigens äußerſt fein Tonftruiert und arbeiten mit der größten Genauigfeit, fo daß fich die auf diefem Gebiete üblichen Forſchungsmethoden ge: vadezu al3 milroftopifche Unterfuchungen des Geiftes bezeichnen laffen.

Die Erforfchung des Sinnes- und Geifteslebens

Zn nl U 5)

Von Dr. Fr. Parfner. 199 ID DD DA DD AD ED AD AD ED ADD De Dre Dr Dr DD macht eine genaue DBertrautheit mit dem Bau der Nerven und des Gehirns erforderlich, deren Studium daher ebenfall3 in das Gebiet der Piychologie gehört. Denn nur dann können die Verjuche richtig angejtellt und gedeutet werden, wenn der Experi— mentator weiß, wie die Ner- venjtränge ver: laufen, wie fich die Nerven: zellen verzmei- gen und welche Aufgaben den einzelnen Ge— bieten des Ge- hirns zufallen.

Belanntlich

gibt es im Großgehirn ganz bejtimmte Gebiete oder Zentren, welche die durch Die Nerven über: Pendelapparat für Experimente über den Rhythmus mittelten Reize des Blutdrucks. umſetzen und verwerten, jo daß fie nun erſt in unjer Be: wußtfein eintreten. Umgelehrt werden von anderen Be: zirten wieder die Anjtöße gegeben, die fich Durch die Ner- ven fortpflanzen, jo daß wir nun die Arme und Beine zweckmäßig bewegen oder auch die Sprachwerkzeuge in die für die einzelnen Worte notwendigen Stellungen bringen. Bon den bisher wiljenjchaftlich feitgeftellten

200 Neues aus dem Gebiete der Pfychologie. DD rED erde Dr eD reD ED Gehirnbezirten fei beifpielämeije erwähnt das Zentrum des Gehörs, des Sehvermögens, das Sprachzentrum und das Zentrum der Bewegungsantriebe. Wird eines diefer Zentren beim Menfchen durch einen Krantheits- progeß oder bei Tieren durch einen operativen Eingriff zerjtört, fo wird damit auch die fich in ihm vollziehende Gebhirntätigfeit ausgefchaltet. Iſt das Zentrum des Gehirns zerjtört, jo werden zwar die Gehörnerven durch die Schallmellen erregt, und diefe Reize durch die Nerven auch noch bis zu dem Zentrum des Gehörs fortgeleitet, aber fie gelangen jest nicht mehr zum Bemußtfein, und der betreffende Menfch weiß Daher nicht mehr, was diefe Reize bedeuten, er Tann die Töne nicht mehr nach ihrer Höhe und ihrem Klang unterfcheiden und das gefprochene Wort nicht mehr verftehen. Einen folchen Zuftand bezeichnet man als Geelentaubheit. Alle diefe einzelnen Bezirke find miteinander verbunden, und aus ihrer Gefamttätigteit entjpringt das vernunft- mäßige Denken. Die engen Beziehungen zwifchen Ge: bien und Geiftestätigfeit zeigen fich auch an den Ver: änderungen, die die Gehirnzellen, aus denen fich das ganze Gehirn. aufbaut, erleiden. Die durch die voran gegangene Tätigkeit ermüdeten Gehirnzellen find trüb gefärbt, und ihre Kerne find unförmig, da fie mit den Ermüdungsftoffen angefült find. Am frühen Morgen dagegen, wo fich Körper und Geift durch den Schlaf erholt und erfrifcht haben, find die Gehirnzellen klar und hell, da während des Schlafes die angehäuften Ermüdungsitoffe vom Blute ausgewafchen und von ihm fortgetragen werden.

Weitere wichtige Ergebniffe hat das Studium der Blinden, Geijtesfchwachen und Irrſinnigen geliefert, denn gerade aus diejen Fehlgriffen der Natur, wie man e3 nennen Tann, lajjen fich mannigfache Schlüffe ziehen

Bon Dr. Fr. Barkner: 201

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über die normale Tätigkeit des Gehirns. Auch die Suggeſtion und der Hypnotismus gewähren tiefe Ein

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blie in die Geſetze des Geiſteslebens. Eine andere reiche Erfenntnisquelle ift endlich die Betrachtung und

Irrgarten aus Drahtwänden.

202 Neues aus dem Gebiete der Piychologie.

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Unterfuchung der geiftigen Entmwidlungsfähigkeit, über die durch Erperimente an Tieren, Kindern, ungebildeten und gebildeten Menfchen jehr wertvolle Anhaltspunkte zu gewinnen find. Namentlich lehrreich find die Tier- verfuche, da fie eine überrafchende Aufklärung über den Veritand der Tiere und feine VBervolllommnung geben. Auch für diefe Experimente hat man befondere Apparate erdacht. Sebt man beifpielämweije in einen aus Draht— mwänden verfertigten Irrgarten auf die in unferer Abbil- dung mit B bezeichnete Stelle eine Ratte und legt das Futter für fie in die Mitte des Irrgartens auf A, fo dauert e3 in den erften Tagen geraume Zeit, ehe fich die Ratte zu dem Futter hinfindet. Allmählich wird fie aber klüger und umfichtiger, immer mehr vermeidet fie die verfchloffenen Gänge, und zulegt läuft fie in einem kleinen Bruchteil der früheren Zeit ſchnell und jicher zu dem Sutter.

Ähnliche Experimente hat man mit Fifchen angeftellt. Set man in ein größeres Gefäß einen Raubfifch, den man mit Elrigen gefüttert bat, und ftellt nun in diefes Gefäß eine Glasbüchfe, die Elrigen enthält, ſo ſchwimmt der Raubfiſch anfänglich auf diefe fchnell zu, um fie zu verfchlingen. Natürlich erhält er dabei jedesmal von der fir ihn unfichtbaren Glaswand einen Stoß, und diefe Stöße belehren ihn mehr und mehr, daß er die Elrigen nicht erhafchen Tann. Man kann daher zuleßt die Elrigen frei im Waſſer umberjchwimmen laffen, ohne daß der Raubfifh einen Angriff auf fie unter- nimmt. Er weiß eben jett, daß er fich den Elrigen nicht nahen Tann, und kümmert fih nun nicht mehr um fie. Die Tiere jammeln aljo Erfahrungen und ermeitern allmählich ihre Kenntniffe. Dieſe Be- funde machen es wahrjcheinlich, daß bei den Wande- - rungen der Fiſche und Vögel, beim Neftbau, beim

Bon Dr. Fr. Partner. 203 m rede ee Dee Dre Dez DrEDre Dre Dre Der eD Futterfuchen, bei der Aufziehung der Jungen nicht allein bloße Inſtinkte wirken, fondern daß auch geijtige Erfahrungen und die Bererbung der erworbenen Kennt⸗ niffe dabei beteiligt find. | Die Piychologie ift noch eine junge Wiffenjchaft. Trogdem bat fie ſchon bedeutende Erfolge errungen. Unermüdlich arbeitet fie mit größtem Scharffinn weiter. Daher fteht zu erwarten, daß fie auf dem eingefchlage: nen Weg fiegreich meiterjchreiten und noch manche Punkte im Sinnes- und Geijtesleben, die bis jebt dunkel und rätjelhaft find, aufhellen und erflären wird.

*

Der labme Jörg.

Aus dem Leben eines Bettlers. Uon €. Krickeberg.

* (Machdruck verboten.)

Er ging in die Häuſer und ſprach um Eſſen, Geld und Kleider an was er gerade brauchte und er erhielt reichlich, weil er ein armer Krüppel war. Wenn Jörg dann am Abend ſeine Einkünfte überſchlug, ſo verzog ſich ſein Geſicht zu einem verſchmitzten Grinſen. Eigentlich war es überhaupt ſchade, daß ein Genie wie er ſo verkommen mußte.

Freilich, wenn man ein lahmes Bein hat...

Jörg war auf eine ganz merkwürdige Art zum Krüppel geworden. Eines Tages im Winter ex war als Gärtner jchon eine geraume Zeit arbeitslos hatte er, der Not gehorchend, bei einer reichen Dame um ein Scherflein zum Nachtlager gebeten, und fie hatte ihm erwidert, daß fie den Müßiggang nicht unter: ftüße, daß fie ihm aber. für jeden Korb Kohlen, den er ihr aus dem Keller heraufhole, zehn PBfennig geben wolle. Er, ein Kunftgärtner, follte Taglöhnerdienfte tun? Dies Anerbieten jchien Jörg beleidigend. Er fühlte fich herabgejegt, und weil ein Bettler folche Ge- fühle nicht ungefchminft äußern darf, erklärte er be:

Bon E. Krickeberg. 2)5 DD ED ED ED ED re Dre Dr DD De Dee Dre Dre Dee Dee DD dauernd, durch ein lahmes Bein an fjchmerer körper:

licher Arbeit verhindert zu fein.

Die Dame war gerührt und fchentte ihm gegen feine Erwartung auch ohne die Kohlen ein reichliches Almo- fen. Das erregte jonderbare Gedanken in Jörg, er war überhaupt zum Philoſophen geboren, nur daß er feine eigene Philofophie befaß, der andere Menjchen nicht ohne weiteres zu folgen vermocdhten. Wenn folch tleines Leiden eine fo vorzügliche Wirkung ausübte, fo wäre man ja PBrügel mert, überlegte Syörg, wenn man fich feiner nicht zu feinem Vorteil bedienen jollte. Jeder Menfch hat das Recht, die Arbeit zu jeinem Unterhalt zu wählen, die am bequemften und einträg- lichten für ihn ift. Die Bettelei al3 Krüppel iſt ein- träglicher al3 die Gärtnerei mit gefunden Gliedern, aljo: betteln mir fünftig!

Geitdem jchleppte Jörg das linke Bein nad), und er tat es mit einer Birtuofität, als ob er ſchon lahın auf die Welt gefommen wäre. Schließlich vergaß er felber beinahe, daß er eigentlich ein ganz normaler Mensch fei. . |

Der Kniff bewährte fich fo glänzend, daß Jörg eine große Verehrung und Zuneigung zu der Dame gewann, die die glüdliche Entdedung feiner Lahmheit bemirkt hatte, und er äußerte feine Anhänglichkeit dadurch, daß er fich öfter bei ihr einftellte, um fich mit einer guten warmen Mahlzeit bemwirten zu lafjen.

ALS das Frühjahr ins Land 309, und er Arbeit in Fülle. hätte finden können, da war er bereit3 fo in3 Bummeln bineingefommen, daß er nicht Luft Hatte, ſich danach umzuſehen. Wenn man fie ihm auf dem PBräfentiertellee angeboten hätte, dann würde er fich vielleicht bequemt haben, anzufafien und in der Arbeit auch wieder Gefallen an ihr gefunden haben, denn er

206 Der lahme Jörg.

DD DD re re Dee

EDDIE war im Grunde ein ganz ordentlicher Menfch und liebte jeinen Beruf; aber das Nichtstun hatte feine Energie erichlafft und die mit dem Betteln verknüpften Demüti- gungen fein Ehrgefühl abgeſtumpft. So ließ er e3 gehen, wie es gehen wollte, und anftatt um Eſſen, jprach er bei jeiner Gönnerin diesmal um leichtere Kleider für die warme Jahreszeit an; und im Herbft jtellte er fich pünktlich wieder ein und ließ fich mit warmen Hüllen bedenfen.

Das war zwei Jahre gegangen. Als er nun im dritten Winter wieder fam, öffnete ihm die Dame in tiefer Trauer die Tür, und ihr Geficht war fo blaß und vergrämt, daß Jörg ganz betroffen davon wurde.

„Ach, der lahme Jörg!“ fagte fie mit einem Ton, als ob fie fehon auf ihn gewartet habe. „Mein Mann ift geftorben, und ich werde Ihnen künftig nicht mehr mit abgelegten Kleidern aushelfen können. Aber mein Mann bat noch vor feinem Tode einen Rod für Sie bejtimmt, den follen Sie haben.“

Sie ging, ihn zu holen, und Jörg ftand und wartete mit einem fonderbar unbehaglichen Gefühl. Er hatte jo eine Empfindung, al3 ob er die Dame mit dem kummervollen Geficht nie mehr um etwas ansprechen dürfe.

Ein Mädchen von ungefähr zwölf fahren, traurig, blei und ſchwarz gekleidet wie die Frau, kam den Rorridor entlang und ftellte ſich an die Zür.

Jörg kannte die Kleine, e3 war das einzige Töchter: chen de3 verjtorbenen Rats, fie hatte ihm früher immer das Eſſen gebracht und ein paar freundliche Worte mit ihm geredet. Set nicte fie ihm nur ſchweigend zu, und in ihren Augen flimmerte e8 wie von verhaltenen Tränen.

Die Fran. Rat fam mit dem Rod zurüd, fie hielt

Bon E. Krideberg. 207 Dr De Dre Dre De Dee Dee D&D ihn feſt an die Bruft gepreßt, als ob ihr das Scheiden von ihm ſchwer würde. Da, nehmen fie ihn! „Gib ihn dem lahmen Jörg,“ hat mein Mann auf dem Totenbette gejagt, „der Rod ift zwar noch wie neu, aber es wird ja wohl das Letzte fein, daS der arme Krüppel von mir erhält.” ... Halten Sie ihn alſo gut, Jörg, verlaufen Sie ihn nicht etwa, und machen Sie ihm nicht Unehre! Der Mann, der ihn getragen bat, war ein guter Menfh und ein wahrer Freund aller Armen. Gie fehen, ex hat felbjt in Krankheit und Tod noch für Sie geforgt. Ich hoffe, Sie werden fich des Vermächtniſſes würdig zeigen.”

Tränen erflicdten ihre Stimme, haftig hing fie ihm den Rod über den Arm und eilte ind Zimmer zurüd.

Jörg Stand betreten da und wußte nicht, was er tun follte, jo wunderlich war ihm zu Mute. Der Roc war von feinem Stoff und vorzüglid) gehalten, einen fo guten hatte er in jeinem Leben noch nicht auf dem Körper gehabt, und doch) eine eigentliche Freude darüber empfand er nicht, und das wieder jegte ihn felber in Erftaunen.

Endlich wandte er fich zum Gehen. Daß die Kleine noch immer neben der Tür ftand und mit großen, un: ruhigen Augen, aus denen langjam Träne auf Träne tropfte, nach des Vaters Roc blidte, hatte er in feiner Verwirrung gar nicht beachtet.

Unſchlüſſig zögerte ex auf der oberjten Treppenftufe, da plößlich fühlte er fihd am Arm berührt. Die Kleine war neben ihm, ftrich mit zitternden Händen liebfojend wieder und wieder über den Rod, und plöß- lich bückte fie fich auffchluchzend und preßte einen Ab- fchiedsfuß auf das Kleidungsftüd, das einjt der heiß- geliebte Vater getragen. Als fie fich emporrichtete, fiel

208 Der lahme Jörg.

IRrDED ED ED EDDIE ED AED re De Dre De Dre DE Dre DE Dre ein brennender Tropfen auf die Hand- des Bettlers, und ehe er noch mußte, was ihm gefchah, war die Kleine in den Korridor gehufcht.

Jörg ging wie im Traum die Straßen entlang. Er Hatte nicht einmal den Rod zufammengejchlagen, breit hing er von feinem Arm herab, und die Hand hielt er ganz fteif, er fühlte noch immer den heißen Tropfen auf ihr.

In den Anlagen des Stadtparf3, mo es ganz ein- jam mar, fette er fich nieder. Die Beine taten ihm weh, zum erften Male hatte das Hinten ihn angeftrengt. Er ſaß da, ftarrte auf den Rod und die Hand und jehüttelte von Zeit zu Zeit den Kopf, al3 ob er die ganze Sache nicht faſſen könne.

Dem „armen Krüppel“ fol der Rod gehören, fo hatte der verftorbene Herr gejagt, und der war „ein guter Menfch” und ein „wahrer Freund aller Armen“ geweſen, der noch anf dem Zotenbett für ihn geforgt hatte. „Und machen Gie ihm feine Unehre!” Hatte die Frau eindringlich dazugefügt.

Sa, wenn der Rod einem armen Krüppel vermacht war, dann gehörte er ihm ja gar nicht, dann durfte er ihn von Rechts wegen auch nicht behalten, denn, wenn man auch jehr gejchidt das Hinten nachzuahmen ver: Steht, ift man doch noch lange fein Krüppel! ...

Zmei Jahre lang hatte Jörg die Menfchen mit feiner Rrüppelbaftigteit betrogen und nie etwas anderes dabei empfunden mie eine cynifche Genugtuung über die Dummbeit der Leute, und er hätte den Rod von irgend einem anderen auch ohne das geringfte Bedenken angenommen und mwahrfcheinlich fehleunigft in der näch- jten Rafchemme zu Geld gemacht ... aber daß er ge: rade von der Familie fommen mußte, mit der er fich nun einmal in einer gewiſſen Weife verbunden fühlte,

Bon E. Krideberg. 209 > DEDrDerED Der Dee Dede und daß die Frau, für die er eine Art Anbänglichkeit bejaß, fo elend und tief unglüdlich ausfehen mußte das Hatte ihn aus feiner Verkommenheit aufgerüttelt. Er Tonnte feinen Menfchen meinen fehen und nun vollends nicht die Frau, die es Doch eigentlich um ihn . verdient hätte, Daß es ihr gut ginge.

Wenn fie mwenigftens nicht verlangt hätte, daß er dem Vermächtnis ihres Mannes feine Schande machen follte! Dann durfte er doch nicht betteln, wenn er den Nod trug, oder gar hinten, er ein fräftiger, gefun- der Kerl! Wer dem lieben Gott die Tage abjtiehlt und noch dazu vom Schwindel lebt, der zeigt fich nicht als mwürdiges Glied der menschlichen Geſellſchaft.

Und wenn fchließlich das Kind nicht noch gefommen wäre! Wie lange fcehon Hatte ihn fein anftändiger Menſch mehr mit feinen Händen berührt, und die Kleine hatte an feinem Arm gehangen und Tränen über ihn gemeint. Jörg hatte die Empfindung, al3 ob ihm das felber gefchehen ſei und nicht dem Rod. Es wühlte und nagte in feinem Innern, und plößlich mußte er daran denken, was der große Menjchenfreund wohl dazu gejagt haben würde, daB gerade fein edelfinniger Entſchluß, den Bettler jede Gabe fich durch eine Fleine Verrichtung verdienen zu lafjen, ihn auf den Weg des Müpiggangs und der Verlotterung getrieben hatte.

Es jtieg ein Gefühl in ihm empor, ein Gefühl, das er feit lange nicht Fannte, das ihn deshalb mit doppelter Gewalt padte und eine heiße Nöte in feine Wangen trieb die Scham über fich felber.

Wie tief war er geſunken! Bon einem zwar ein- fachen, aber anftändigen Handmerler mar er zum Lump und Schwindler geworden, der die Gutherzigteit der Menfchen raffiniert ausbeutete, der mit dent nie= drigſten Gefindel Umgang hatte und in Spelunfen fein

1904. LI. 14

210 Der lahme Jörg. DDr DDr Dr Dre Dee D DD Dafein verbrachte! Aber da war nun einmal nichts mehr zu ändern, wer einmal bergab rollt, für den gibt e3 fein Halten.

Doh den Rod wollte er nicht nehmen, den das Kind geküßt und auf den die Tränen der Frau gefallen waren. Ein verfommener Kerl wie er war feiner nicht wert! Er hing ihm ſchwer wie Blei auf dem Arm.

Jörg zermarterte ſich den Kopf, mie er fich feiner entledigen könnte, ohne ihm eine Unehre anzutun. Sollte er ihn zurüdtragen und ihn heimlich an die Korridortür der Leute legen? Aber da konnte ihn fih ein anderer aneignen, und wenn nicht ... mie würde feine vermeintliche Undankbarleit die Frau und das Kind kränken, mie würde e3 fie beleidigen, wenn er den Rod nicht behielt, der ihm als Vermächtnis ein Heiligtum fein mußte! ... Nein, mweggeben durfte er ihn doch nicht.

Jörg mußte nicht aus noch ein. Dabei brannte ihm die Stelle jeiner Hand, auf die die Träne des Kindes gefallen war, bi3 in die ©eele. |

Und um das Wirrfal in feinem Innern noch zu vergrößern, jtieg plößlich, unvermittelt, noch ein Ge: danfe in ihm auf: Du haft fo lange mit großem Ge- fie den Krüppel gejpielt wie denn, wenn du zur Strafe wirklich zum Krüppel würdeſt? Er dachte nicht an einen gerechten Gott dabei, die unklare Vorftellung von irgend einer dunklen Schiefalsmacht, jo einer Art Fatum, das heimtüdifch auf den Augenblid lauert, wo e3 dem Menſchen Schlimmes zufügen fann, beherrjchte ihn. Aber er wollte nicht wirklich zum Krüppel werden, nicht zeitlebens hinten. Und nun legte fich ein dumpfer Drud über ihn, die Furcht vor etwas Unfaßbaren, Schredlichem, das ihm bevorftand.

Ter Abend jant herab, und es murde kalt. Da

Bon E. Krideberg. 211 DIDI RED DE DE De De Dede xD erhob ſich Jörg und ging langſam mit ſchweren Schrit- ten und gebeugtem Rüden nach der Herberge. Man hätte ihn für einen alten Mann halten können, und er war noch nicht dreißig Jahre.

Den ganzen Abend ſaß er in dem qualmerfüllten Raum der Schente ftill in einen Winkel gedrüct und dachte weiter, während die Kollegen um ihn herum lärmten, zechten, Karten fpielten oder Schacdhergejchäfte trieben. Als ſich ein verlotterter Kumpan, mit den er jonjt feinen Tauſchhandel zu machen pflegte, alter Gewohnheit gemäß zu ihm jegen wollte, wurde er grob. Man jolle ihn in Ruhe lafjen.

An einem Nebentifch ſaß ein altes Weib, eine „Zippelichichje”, die Fran eines invaliden Leiermanns. Er mar ein Trinter und des Abends gewöhnlich un- zurechnungsfähig, und das Weib, das jtruppig, ſturm— zerzauft, wetterhart ausjah wie ein alter Weidenbaum, mußte tagein, tagaus den ſchweren Leierlaften auf ihrem Rüden fchleppen und unermüdlich die Kurbel drehen, während der Mann, auf feinen Stod geftüßt, faul daneben ftand und das Geld einfammelte.

Die Frau hatte einjt beſſere Tage gejehen, und die Erinnerung daran ließ fie einen Reſt von Anftands- gefühl und Würde bewahren. Deshalb war fie auch eine der wenigen, mit denen Jörg gelegentlich Gemein: ſchaft machte.

Schon eine geraume Beit hatte fie gefeffen, jchein- bar emfig geftridt und ihn aufmerkſam beobachtet. „gebt ſchob fte fi) auf der Bank zu ihm Hin und fragte in ihrer kurzen Art: „Was haft du?”

„Was ſoll ich denn haben?“ brummte er mißmutig.

„Red nicht erſt, du haſt was!“

Er zuckte ungeduldig die Schultern und antwortete nicht.

212 Der lahme Jörg.

DDr Dre Dee Dee:

DDr DDr ED

Gie ſtrickte ruhig weiter, aber nach einer Paufe begann fie wieder: „Ich hab’ dich vorhin mit einem Rod unterm Arm kommen ſehen, du haft doch alſo ein gutes Gefchäft gemacht.“

Er fuhr ärgerlih auf. „Laß mich mit dem Rod in Frieden!” Und nach einer Weile ftieß er zwiſchen den Zähnen hervor: „Ich hab's jatt ... bis oben ran.”

„Was haft du fatt?”

„Das Zuderleben.”

Sie ließ das Stridzeug in den Schoß finten, beugte fich zu ihm, und ihm ſcharf in die Augen jehend, fagte fie: „Ich will dir jagen, wo's dir fißt ... hier!“

Sie tippte mit ihrem Inöchernen Finger an feine Stirn. „Wenn unfereiner erft zu grübeln anfängt, dann ift’3 aus mit ihm, dann fann er ſich man gleich einen Strid Laufen und fih am erjten beſten Baum auflnüpfen.“

Jörg brummte etwas Unverjtändliched. Er jtand auf und ging in die Kammer nebenan auf fein Stroh: lager. Den Rod breitete er unter feinen Kopf, damit er ihm nicht geftohlen werden konnte. Er wollte jchla- fen, denn er fühlte fid von der ungewohnten Arbeit des Denkens zerjchlagen an Leib und Seele, aber er fand feine Ruhe.

Ein leijer Geruch nad) reinen Tabak, wie er den Kleidungsſtücken ſtarker Raucher eigen zu fein pflegt, entjtrömte dem Rod, und er machte, daß der Mann, der ihn getragen, greifbar lebendig vor Jörgs Geele trat. Er Stand vor ihm mit feiner hohen, aufrechten Geftalt und blidte ihn mit den ernten, ehrlichen Augen jo unverwandt ftrafend und mahnend zugleich an, daß Jörg Diefelbe peinvolle Verlegenheit empfand, al3 ob die Gejtalt leibhaftig Dagemejen wäre.

Bon E. SKrideberg. 213 IDDDD ED ED re DD DD DDr DDr Sobald der Morgen graute, ftand er auf. Er hatte einen Entfehluß gefaßt. Ex mollte daS Grab des Mannes auffuchen, der ihm Gutes getan und den er dafür belogen und betrogen Hatte, und einen Kranz darauf niederlegen. Vielleicht, daß er danach feinen alten Gleichmut mwiederfand, ohne den ein Leben wie das feine unmöglich war.

Er machte forgfam Toilette, wufch fich, raſierte fich die Stoppeln ab und pußte fich die Stiefel bligblant. Zuleßt 308 er den neuen Rod an.

Als er die Straßen entlang jchritt, bemerkte er in den Schaufenftern, daß er wie ein anftändiger Menfch ausfah, und das freute ihn, wie ihn lange nicht3 ge- freut hatte. Heute hinkte er auch nicht, er trug ja den Rock.

Wieder ſchritt er dem Stadtpark zu, nach jener Stelle, wo über Reſte der alten Stadtmauer hundert— jähriger Efeu in üppiger Fülle wucherte. Da ſchnitt er eine Handvoll Ranken ab, brach noch Tannenzweige dazu und ſetzte ſich an einem einſamen Ort nieder, um ſie zuſammenzubinden. Es war ihm ganz ſelbſtverſtänd— lich, daß er als Gärtner nicht ohne eine Kranzſpende an das Grab ſeines Wohltäters treten könnte.

Und während er die Zweige zurechtſchnitt und ſie kunſtgeübt aneinander fügte, überkam ihn eine ſeltſam weiche, wehmütige Stimmung. Er beſaß eine an— geborene Liebe zu den Pflanzen, und er hatte ehedem mit Luft und innerer Befriedigung ſeinem Beruf ob- gelegen. Jetzt, da er nach fo langer Zeit das erfte Mal wieder die alte Befchäftigung ausübte, drängten fih mit Macht die Erinnerungen an jene Beit, da er noch fein arbeitsfcheuer Lump mar, in feiner ©eele; und num erft empfand er mit voller Schwere das Un: mwürdige feines jebigen Lebens.

214 Der lahme Jörg. EDDIE DI DD Dee DDr DDr Dre er D rede D

Die alte Frau Hatte recht gehabt. Denken durfte jo einer wie er nicht, dann nur lieber gleich den Strick um den Hals.

Ganz langfam ging er auf Ummegen nach dem Kirchhof.

Dom Totengräber erfragte er da3 Grab des Ge: heimrats. Es war provijorisch mit Rafen belegt, und Kränze aus Erila und Stechpalmen bededten es. Im Sommer würde er in den Wald gehen und einen Kranz aus Schlangenmoos und Feldblumen mwinden, der viel ſchöner fein follte al3 diefe hier. Er war immer wegen feiner Runjtfertigfeit im Blumenbinden gelobt worden.

Lange Stand er da, feinen Kranz zwifchen den Händen, das Auge ſtarr auf den Hügel gerichtet. Andächtig war er nicht, er Dachte auch nicht an den Mann, der hier rubte, er dachte überhaupt nicht, er hatte nur das Gefühl eines grenzenlojen Jammers in feinem Innern.

Endlich ermannte er ſich. Scheu blidte er umher, ob ihn auch Feiner beobachte. Da ihm fein Tun jelber ungewohnt und verwunderlich war, meinte er, es müſſe auch anderen jeltfam erfcheinen. Aber das Wetter war rauh und Fein Menjch zmwijchen den Gräbern zu fehben. Dann legte er den Kranz auf das Grab, Dabei ſchoß es ihm unmillfürlich durch den Sinn, was die Rumpane fagen würden, wenn fie ihn jeßt jehen könn⸗ ten, und wie in Verlegenheit über fich felber büdte er jich, zupfte die Kränze zurecht und drückte den Raſen an einer loder gewordenen Stelle fejt, mit jächten Fingern, beinahe liebfofend.

„Du guter Mann,” dachte er dabei, „du haft mir Liebes ermiejen, und ich bin ein Schuft. Und nun liegft du hier, während du doch noch jo nötig gebraucht wirft im Leben, und ich, den feiner vermiljen würde, laufe als Zunichtgut in der Welt herum.”

Bon E. Krideberg. 215 DDr DE DD ED RD ED Dre Dre Dre Der DL Dr eD

Es kam ihm etwas in3 Auge, und er mußte die Nafe fchneuzgen. Ihm mar er mußte felber nicht wie fo unruhig, fo, als ob ihm jemand aufgetragen habe, etwas Wichtiges zu verrichten, und er habe e3 vergejjen.

Er Hatte gemeint, daß er ruhiger werden mürde, wenn er dies Dankopfer gebracht hatte, aber das war nicht eingetroffen, troßdem er meinte, daß er nunmehr den Leuten freier ins Auge bliden könne al3 vordem.

„Das wird der Rod fein,“ dachte er, „du bift nicht mehr an anjtändige Kleider gemöhnt, nun fiehjt du äußerlich anftändig aus und immerlich bift du ein Lump, das verträgt fich nicht zufammen. Entweder du mußt den Rod wieder ablegen oder ein anderes innere dazu anziehen ... das eine ift jo fehmer wie das andere.” Noch einen Blick warf er über das Grab, dann wandte er fich zum Gehen. Aber fein Fuß zauderte. Früher es war freilich) lange her, Doch er erinnerte fich noch genau da hatte er am Grabe eines Belannten jtet3 ein jtilles Gebet gejprochen. Und jeßt?.... „Unfinn,” Dachte er wieder, „wenn dem Menjchen, wie manche glauben, nach dem Tode die geheimſten Dinge auf der Welt offenbar werden, dann wird der Mann bier fich ſchön bedanken für em Gebet von mir. Und wenn es ganz aus mit ihm ift, dann kann ihm ein Gebet auch nichts mehr nützen.“ Aber er jprach Doch einen Segenswunfch, ehe er feinen Weg fortiegte.

Ode und verlafjen lag der Kirchhof da. Die ent- laubten Afte der Trauerweiden und Ejfchen hingen melancholijch herab, die Thujafträucher ſahen fast Schwarz aus in der farblojfen Landfchaft unter dem grauen Himmel, und an den Eisbeerbüfchen hingen die weißen Früchte wie gefrorene Tränen.

216 Der lahme Jörg. ————⏑ DD

Es fröſtelte Jörg, aber er beſchleunigte ſeine Schritte darum nicht. Zwiſchen den friſch aufgeworfenen Grä- bern ging er entlang nach jenem Teil des Kirchhof3, wo die ſchon verfallenen Hügel ein recht trübjeliges Bild irdifcher Vergänglichleit boten. Und da kam er auch in die verwahrlofte Ede, mo nach einer veralteten barbarifchen Sitte mancher Gegend die Gelbjtmörder und Armenhäusler fang: und klanglos verjcharrt worden waren. Heute begrub man diefe Armften der Armen längft ſchon gerechtermeife als Menjchen in den Reihen der anderen Menfchen. Eine um fo ergreifendere Sprache aber redete diefer verlaffene und vergefiene Winkel.

Jörg blieb ftehen. So Wird man dich auch einmal einbuddeln, jo recht Haftig und mwidermwillig, um dich nur 103 zu werden, und nachher wird dein Grab aus: fehen mie die hier, denn feiner wird fich darum küm⸗ mern, fein Menfch auf der ganzen Erde fragt nach dir, wenn du weg biſt. Es wurde ihm ordentlich fchmer, fich von dem Anblick zu trennen, der ihm weh tat, denn feit gejtern Hatte ihn eine wahre Wolluft gepadt, fich jelber zu peinigen.

„Wohin gehft du jet?“ dachte er. „Im Grunde ift’8 ja ganz gleich, betteln mußt du auf alle Fälle, damit du Geld zum Nachtlager haft.” Plötzlich durch- zudte ihn mit heißem Schred der Gedante, daß er ja den Rod trug, und in dem bettelte er nun einmal nicht und hinkte er nicht, das hatte er fich zugeſchworen. Wie ein Troß gegen fich felber mar es über ihn ge: fommen, er wollte doch einmal fehen, ob fo ein Lump wie er nicht auch) wie anftändige Menfchen irgend etwas befiten könnte, was ihm heilig fei. Wenn er aber exit nach der weit abgelegenen Herberge zurück— tehrte, um den alten Kittel anzuziehen, dann mar der

Bon E. Krickeberg. 217 DDR Dre kurze Wintertag herum. Nun, dann mußte er eben den Riemen enger fehnallen und hungern und die paar Pfennige, die er noch befaß, zum Nachtlager nehmen.

Als er nad) dem Ausgang des Kirchhofs jchritt, traf er den Totengräber, der eine Gruft aushob neben einer ganzen Neihe fehon fertiger. Unmillfürlich blieb Jörg ſtehen. War denn ein Maffenfterben unter den Menfchen ausgebrochen?

„Der Erdboden wird vielleicht bald fteinhart frieren, und dann Tann ich die Radehade nehmen,” antwortete der Totengräber auf den vermunderten Blid. „Da muß ich mir Vorrat halten. Es ift ein wahres Elend mit den Tagelöhnern! Solange fie in Not find, laſſen fie fich ausfüttern, und wenn's ihnen ein bißchen beſſer geht, laufen fie aus der Arbeit. yet Tann ich mir die Gräber allein fchaufeln!“ |

Jörg Stand, die Hände in den Tajchen, und ſtarrte auf den Mann, ohne etwas zu erwidern. In ihm ging etwas Wunderliches vor. Wie er den Mann da graben und fchaffen fah, überkam ihn mehr und mehr die un- miderftehliche Luft, auch einmal wieder einen Spaten in der Hand zu haben und in der Erde zu wühlen nach Herzensluft, in der herrlichen Erde, Die er in feinem Beruf faft wie eine mundertätige Göttin ver- ehren gelernt hatte. Einmal wieder fich die Knochen müde machen in einer rechtfchaffenen Arbeit und in einer Arbeit, die er vor jeder anderen geliebt hatte, ehe ex ins Lumpen fam! Alles andere verfant neben diefem leidenschaftlichen Wunſch.

„sch werde Ihnen helfen!“

Hatte er es felber oder ein anderer aus ihm ber- aus gefagt? Und da war auch ſchon der Aod von den Schultern geworfen, und er hatte ein Grabjcheit in der Hand.

218 Der lahme Jörg. | DD ED ED ED AD re Dre DDr

„Sie find ein fleißiger und nüchterner Menſch. Sie fönnen morgen wiederfommen, wenn Sie wollen,” jagte am Abend der Totengräber.

Und Jörg kam wieder; er kam fo lange, bis es nicht8 mehr für ihn zu tun gab, und jeden Abend, ehe er den Kirchhof verließ, ging er zum Grabe feines ver- ftorbenen Wohltäters, und er ſah es mit Augen an, in denen die Frage ftand: Bift du zufrieden?

„Sie tennen wohl den Mann, der da iſt?“ fragte einmal der Totengräber.

„Ja,“ ſagte Jörg, „er liegt da wohl —— aber tot iſt er nicht! Es iſt einer von denen, die nicht ſterben Sie wiſſen ſchon, einer von denen, die Gutes getan haben, das länger lebt als ſie ſelber.“

„Sie haben manchmal eine kurioſe Art zu reden,“ meinte der Totengräber. „Was tot iſt, iſt tot, das muß ich doch wiſſen.“

Nun war die Arbeit vorbei, und Jörg ſtand wieder vor der Frage: Was beginnen? Aber jetzt hatte ſie doch einen ganz anderen Inhalt, dieſe Frage. Früher hätte ſie ebenſogut heißen können: Wo fängſt du am beſten zu betteln an? Jetzt lautete ſie: Was kannſt du anfangen, um nicht wieder betteln zu müſſen?

Jörg hatte die Arbeit ergriffen aus einem inneren Zwange, faſt widermillig, aber bald hatte er ſich auf fie geftürzt mit der Gier eines Menjchen, der fchon lange einen Heißhunger verfpürt hat, ohne zu wilfen auf was. Und daß er gerade die Arbeit verrich- ten durfte, die ihm von früher ber lieb und vertraut war, vollendete feine innere Wandlung. Mit jedem Spatenjtich hatte er ein Stüd mehr vom alten Jörg zu Tage gefördert, und nun war der Lump verjentt, und der Jörg jtand da wie einer, der lange im Finftern gemeilt hat und vom Sonnenlicht geblendet ijt. Ihm

Bon E. Krideberg. 219 Dede DD RD AED ED AD ED Dre D ED re Dr DDr De graute vor dem Betteln und Hinten. Aber was be- ginnen? Wo Arbeit finden jet im Winter?

Der Totengräber kam ihm zu Hilfe. „Mein Bruder hat die fchwedifche Eisbahn gepachtet, und er fucht einen Mann zur Aushilfe beim Fegen und Gieken. Ich habe jchon mit ihm gejprochen Ihretwegen, wenn Sie Luft haben, können Sie die Stelle annehmen; in der Gärtnerei gibt’3 ja jet Doch nichts zu tun. Gie tönnen am Tage Schlittjchuhe anjchnallen und Abends die Bahn in Ordnung bringen helfen.”

Jörg war ſchon am nächjten Tage auf der Eisbahn tätig. Der geringe Froft der lebten Zeit hatte doch genügt, die dünne Wafferfchicht der Fünjtlichen Bahn in blanfes &i3 zu verwandeln, da3 Schlittfchuhlaufen war im vollen Gange. Sörg hatte alle Hände voll zu tun.

Jetzt nahte ihm ein blafjes, hochaufgefchoffenes junges Mädchen in einfachem Trauergewande.

„Wollen Sie fo gut fein, mir die Schlittſchuhe an— zufchnallen?”

Ein heißer Schred durchzudte Jörg, feine Hände zitterten ihm, al? er die Schnallen anzog. Wenn fie ihn erkannte?! Er ſchämte fich glühend vor ihr und ‘war doch im Grunde feines Innern glückſelig über dies Zufammentreffen.

Als das Mädchen fich auf die Füße ftellte, fiel ihr Bid auf Jörgs Geſicht. Sie ftngte. „Sie kommen mir ja fo befannt vor... Mein Gott, find Sie nicht der lahme Jörg?“

„Das bin ich, gnädiges Fräulein,” fagte er etwas undenutlich, denn fein Herz klopfte ihm bis in den Hals hinauf.

Der Kleinen Blid glitt prüfend an ihm herunter, eine große Enttäufchung malte fich in ihren Zügen, fie

220 Der lahme Yörg.

IRDRD ERDE ED AED ED ED ED Dre Dre DreD re Dre Dee Dre D wollte etwa3 fragen, ſchien e3 aber nicht über die Lip— pen zu bringen.

Er erriet ihre Gedanken. „Der Rod iſt mir zu Ihade für die AlltagSarbeit,” jagte er fchnel. „Er hängt daheim im Schranf.“

„Iſt das auch wahr?”

„Ganz gewiß, gnädiges Fräulein. Ich wohne jebt nicht mehr in der Herberge, ich babe eine Schlafftelle mit einem Bett und einem Schrank.” Es Hatte ihn gedrängt, ihr das zu erzählen, fie meinte aber, er wollte ihre Aufmerffamtleit nur von dem Rod ablenken.

„Haben Sie ihn auch wirklich nicht verkauft, Jörg?“

„Rein,“ rief ex, „wahrhaftig nicht.”

Seine Entrüftung war echt, fie glaubte ihm. „Das wäre ja auch zu fchlecht geweſen,“ meinte fie altflug. Sie fing an, auf dem Eiſe umbherzugleiten, und er merkte, daB fie noch nicht recht laufen konnte.

„sch habe mir vor einigen “fahren daS Bein ge: brochen und e3 lange ſchonen müljen,” erklärte fie, „nun fange ich erſt richtig an, Schlittfcehuhlaufen zu lernen.” Plötzlich unterbrach fie fich: „Aber Sie hinten ja heute gar nit. Wie fommt das?”

Er hätte in die Erde ſinken mögen vor Scham. „Mein Bein ift nun wieder befjer,“ ſtotterte er, „ich... denfe, daß ich nun wieder ganz gejund merde.”

„Sind Sie operiert worden?“

„Ja ja, eine Operation war’3 ... es bat jehr weh getan.” |

„Kun iſt's ja, Gott jei Dank, vorüber, nun können Gie doppelt froh fein. Mama mird fi) auch jehr. freuen, fie hat fich mit Papa öfter um fie geforgt, und wenn Papa nicht gejtorben wäre, follten Sie in diejem Winter in ein Krankenhaus gebracht werden, denn die Eltern meinten, folche junge Arbeitsfraft dürfte nicht

Bon E. Krideberg. 221 ——— DD AD AD DDr ED Dre verloren gegeben werden, ehe nicht alles verſucht wor: den wäre, fie zu erhalten.”

Er ftand da, die Augen zu Boden gerichtet, blaß und ftill.

Sie begann auf dem Eife hin und her zu gleiten. Für fein Leben gern hätte er ihr feine Hand als Stütze geboten, aber er wagte nicht einmal, fie anzufehen. DVerjtohlen nur folgte er ihr mit den Augen, und er hatte die Empfindung, als ob der Bahn eine befondere Ehre gefchehen wäre, weil dies Heine Mädchen feine eriten ungefchiekten Laufverfuche darauf anitellte.

Als fie die Schuhe abjchnallen wollte, war er wieder zur Gtelle. Sie wollte ihm einen Grofchen in die Hand drüden, aber er lehnte ihn mit Entjchiedenheit ab.

„Das dürfen Sie mir nicht antun, gnädiges Fräu⸗ lein.” Dabei war ihm das Blut ins Geficht ge- jtiegen wie damals, als er das erite Mal aus Not um ein Almoſen bat.

Am anderen Tage fam fie wieder, und er trat ihr halb verlegen, halb glüdlich entgegen. Er batte ihres Vaters Rod angezogen. Sie ſah e3 fofort, und ihr Blid wurde feucht.

„Ich danke Ihnen, Jörg,“ fagte fte leife.

Heute wagte er auch), ihr die Hand beim Laufen zu bieten. Sie nahn fie ohne weiteres an, fie behandelte ihn überhaupt ganz wie einen Menfchen, vor dem man Achtung hat.

Wie wohl ihm das tat!

Während de Laufens unterhielt fie fich mit ihm, erzählte ihm von ihrem Bater und wie er jo gut und treu gemefen jei. Sie wurden beide warm dabei und da fam es wieder über ihn, mas ihn ſchon peinigte, jeitdem er die Kleine getroffen Hatte, das ungejtünte Verlangen, ihr feine Sünden geftehen zu dürfen, ihr

222 Der lahme Jörg.

DD DDr DDr Dre Dr Dr Dr Dre zu beichten und fich vor ihr zu erniedrigen, die fich nicht gefcheut hatte, ihn mit ihren Händen zu berühren, als er noch ein Lump war. Ein. wahrhaft leiden: ſchaftliches Mitteilungsbedürfnis padte ihn.

Und verlegen ftodend begann er: „Wenn der Herr Geheimrat gewußt hätte, daß ich gar nicht ein krankes Bein hatte, und daß ich bloß zu bochmütig war damals, die Kohlen zu tragen, weil ich mir ein- bildete, als Runftgärtner zu fchade dazu zu fein, und mich doch nicht fcheute, zu betteln ... dann dann hätte er mich gewiß von feiner Tür gejagt.“

Sie fah ihn groß, verjtändnislos an mit ihren un: fchuldigen Augen. „Sie haben gar fein franfes Bein gehabt? Aber dann hätten Sie uns doch belogen das wäre ehr jchlecht von Ihnen gemefen.“

„Schändlich war’3, gnädiges Fräulein! Die Haare könnte ich mir ausraufen, wenn ich jet daran vente. Das ift nun nicht mehr zu ändern. Aber vorbei ift’3, ein für allemal. Ich hab’ wieder Geſchmack an der Arbeit gefunden, und wenn ic) an die Qumperei dente, dann ekelt's mich. Nun werden Sie mohl nicht3 mehr von mir wiſſen wollen, gnädiges Fräulein. Aber um eine Gnade möchte ic) Sie noch bitten: Er- lauben Sie mir, daß ich das Grab im Frühjahr mit Efeu bepflanze und daß ich's pflegen darf.”

Sie blidte ihn finnend und prüfend an. Gein Ge ſicht ſah fo ehrlich reuevoll aus, und fie befaß die Herzensgüte ihrer Eltern. „Fallen kann jeder,” pflegte ihr Vater zu fagen, „nur liegen bleiben darf er nicht.”

„sh werde mit meiner Mutter reden,“ fagte fie, und lebhaft fuhr fie fort: „Aber wenn Sie Kunjtgärt- ner find, könnten Sie auch einmal zu uns kommen und Vaters Balme anjehen. Sie will gar nicht mehr ge- deihen, und jie war doch Papas Liebling. Wir ver:

Von E. Krideberg. 2923 OIRDRDERDED DD AD AED ADDED RD DE Dre Dede D ftehen wohl nicht, fie jo gut zu pflegen, wie er es ge- tan bat.”

„Ich will gern kommen, wenn die Frau Rat es geſtattet.“

„Aber natürlich! Sie hat ſich ſehr gefreut, daß ich Sie getroffen habe. Der Totengräber ſagte uns, daß ein fremder Mann, der Jörg hieß, den ſchönen Efeukranz auf Vaters Grab gelegt hat, und da haben wir gleich gewußt, daß Sie das waren.“

Am Sonntag morgen ging er den wohlbekannten Weg nach der Wohnung der Frau Rat. Er lief ſehr ſchnell in einer erwartungsvollen Stimmung, aber als er an der Korridortür ſtand, zögerte er, die Hand nach der Klinke auszuſtrecken. Hier hatte er ſo oft auf ein Almoſen gewartet in einer Zeit, an die er nicht mehr zurückdenken konnte ohne ein Gefühl der Demütigung und Scham. Jetzt ſtieg dies Gefühl erſtickend in ihm auf, er hätte nach einer Geißel greifen und ſich peit— ſchen mögen wie einen Hund.

Zaghaft, mit zitternden Fingern 308 er endlich die Glode. Die Kleine fam angehufcht, um ihm zu öffnen.

„Rommen Sie nur, wir warten ſchon auf Sie. Erſt trinfen Sie eine Taſſe Tee und eflen ein Butterbrot. Mama kommt gleich.”

Und als die Frau Rat erjchien, lief ihr das Töch— terchen entgegen. „Sieh, Mama, wie gut ihm der Rod paßt und fchaut er nicht überhaupt ganz anders aus?“

„Ja, jegt merkt man erft, daß Sie noch ein junger Menſch find,” meinte lächelnd die Frau Nat. Gie reichte ihm die Hand, die feine Dame dem einftigen Zumpen!

Es ftieg ihm heiß in die Augen, er konnte fein Wort hervorbringen, und er magte kaum, die Dar: gehaltene Hand zu berühren.

224 Der lahme Jörg. DADREDrEDr DE DDr Dr DD ED ED Fr De DrEDrEDreD

Aber fie nahm feine Finger mit feſtem Druck. „Seten Sie fih und ejlen Sie. Mein Mann würde eine innige Freude haben, wenn er Sie bier fehen könnte.“

Er ſaß alſo an demſelben Tiſch mit den vornehmen und edelherzigen Menſchen, als ob er niemals der ver— Iotterte Bettler, der „Iahme Jörg“ gemejen fei. Sein Herz ftrömte über in einem Gefühl leidenfchaftlicher Dankbarkeit und Verehrung. Ganz weich war ihm zu Mut, es fehlte nicht mehr viel, und er wäre in Tränen ausgebrochen.

Mit ihren Mugen, gütigen Augen erkannte fie jeine Geelenjtimmung und plauderte von barmlofen Dingen, um ihm Beit zur Sammlung zu geben. Gie fragte nach jeinem Beruf, und auf einmal fagte fie: „Mein Bruder, der Doktor Müllner, Sie Tennen ihn mohl, will feinen Gärtner von der fchweren Arbeit entlaften und deshalb einen Gehilfen annehmen, der auch Pförtner- dienste zu tun hätte. Die Stellung fünnen Sie haben, wenn fie Ihnen zufagt, fie verlangt einen zuverläffigen, nüchternen und ehrlichen Menjchen, und ich traue Ihnen zu, daß Gie da3 find.“

Ihm ſchwindelte. „Gnädige Frau, Sie ... Sie wiljen nicht, wen Sie Ihr Vertrauen ſchenken.“

Sie lächelte, fie kannte ihn beffer als er fich jelber. Gleich nachdem ihre Tochter ihr von Jörgs Beichte erzählt hatte, war fie zum Totengräber gegangen, um fich genauer nad) ihm zu erkundigen, und der hatte ihr erzählt, wie ftil und fleißig ex gearbeitet und daß er alle Tage an das Grab getreten fei und e3 wie ein Heiligtum betrachtet habe. „Der Menſch hat einen guten Kern,” war die Meinung des Totengräber3, „nur in die richtigen Hände muß er fommen. Er bat, wie ich glaube, eine Zeitlang geliedert, das hat ſchon mancher

Bon E. Krideberg. | 225 getan und ift doch noch ein brauchbarer Kerl geworden, er darf bloß nicht mehr zurückfallen, dann pflegt es gewöhnlich vorbei zu fein mit diefen Burfchen.”

„Ich ich habe freilich nie getrunfen und geſtoh— len... Gott im Himmel, nein! aber ob ich zu— verläjfig bin? ... Sie... Sie haben noch gar nicht bemerkt, daß ich nicht mehr hinke ... Wiſſen Sie noch, gnädige Frau, als Sie mir damals auftrugen, die Kohlen heraufzuholen? ... Da bat das Liederliche Leben erft richtig angefangen mit mir. Sie hätten nicht fo gut zu mir fein müffen! ... Das Betteln mar mir jo bequem gemacht. Aber das ift Feine Entjehuldigung und fol auch keine fein! Ich Habe Sie belogen und befchmwindelt, und ein Mrüßiggänger und ein Qump war ich, der nicht wert ift

„Zaffen Sie, Jörg! Ich weiß, daß wir in dem Wunſch, Ihnen nützlich zu fein, viel an Ihnen gefehlt haben, und es iſt unfere Pflicht, das wieder gutzu— machen.”

„Sie... Sie hätten an mir etwa gutzumachen?”

„Jun ja, natürlich, mein: Mann würde das als eine Lebensaufgabe angejehen haben. Wir haben ge- fehlt und Sie auch ... Sie haben jehr viel Verſäum— te3 nachzuholen. Ich denke, Sie nehmen die Gtelle an, damit Sie erjt einmal wieder in geordnete Ver: hältniſſe fommen.”

Da bielt er fich nicht länger. Er fchlug die Hände vors Geficht und weinte bitterlich.

*

1004. III. 15

@Dannigfaltiges. 4:

(Machdruck verboten.)

Das Sarufell des Sultans. „Karuſſell“ bedeutete in alter Zeit einen quadrilleartigen Prunfaufzug und Ringel— rennen zu Pferde. Bejonders bei Feitlichfeiten an fürjt- lichen ‚Höfen wurden ſolche Zujtbarkeiten, bei welchen Ka— valiere und Edeldamen, in den ſchönſten Koſtümen prangend, ihre efchieklichkeit in der höheren Reitkunſt anmutig zur Schau jtellen konnten, oft mit erjtaunlicher Pracht veran- jtaltet. Erſt vor hundert Jahren bekam das Wort den Sinn, den wir heute damit verbinden.

Spielende Kinder find unzweifelhaft die urfprünglichen Erfinder desjelben. Sie fanden wohl ein altes Wagenrad, legten es horizontal auf einen niedrigen Zapfenpfahl, fo daß es ſich drehen ließ, nachdem fie einige Bretter kreuzweiſe Darüber gelegt und fejtgebunden. Dann hatten fie ihr befcheidenes Vergnügen. Aber es dauerte bis zum Jahre 1802, bi3 man daran dachte, ihnen ein ebenfo jreundliches wie ſpekulatives Entgegenkommen zu beweijen. |

Ein richtiges Karufjell war in diefem Jahr in Hamburg auf dem Spielbudenplaß zu fehen und fam dann auch nach anderen norddeutichen Städten, wenn dort Jahrmärkte jtattfanden. Es wurde fo beliebt beim Publikum, bejonders natürlich bei den Kindern, und fo einträglich, Daß man bald auf nüßliche und angenehme Berbejjerungen zur weiteren Hebung des Geſchäfts fann.

Mannigfaltiges. 227 DD DD

Einige ſtrebſame Karuſſellbeſitzer gerieten auf den ſinn⸗ reichen Einfall, daS unterhaltende und aufregende Wing: itechen mit dem ergößlichen ARundfahrtvergnügen zu verz " einigen, und fo wurden alfo nunmehr die hölzernen Pferde eingeführt und jedem mutigen Knaben oder luftigen jungen Burfchen, der fie beftieg, ein Stecheifen in die Hand ger geben. Das verlodte und machte viel Spaß. Bis in die Bierziger- und SFünfzigerjahre hinein behielten aber Die Karufjels noch das alte ſchwerfällige Ausgehen, dann famen allmählich neue von eleganterer Bauart und erheblich ver: bejjerter Konjtruftion, nachdem, wie es ſcheint, einfichtige Mechaniker ſich gründlich mit der Sache befaßt hatten.

Die modernen, prächtig ausgeftatteten Tampffarufjells, fo folide in ihrer Bauart und bewunderungswürdig in ihrer geſchickten Konftruftion, bieten Abends einen herrlichen An- blick, wenn alles ftrahlt, funfelt, fchimmert und flimmert im Glanze der vielen elektrifchen Lichtflammen. Eines der Schöniten Dampfkaruſſells ließ fich der Sultan von Sanfibar bauen, und an dieſes knüpft jich eine Gejchichte.

Bor etwa zwanzig Jahren war auch nach dem fernen heißen Dftafrifa, in das Sultanat Sanfibar, auf irgend eine Weile die Kunde gedrungen von den wunderbaren großen neuen Dampfkaruſſells in Europa. Ber damalige Sultan, ein liebenswürdiger und lebensluſtiger Potentat, dem e3 auch nicht fonderlich aufs Geld ankam, weil er e3 ſtets fehr reichlich hatte, befchloß eines Tages, feinen Harems— damen eine rechte Freude zu machen, und bejtellte für fie durch Vermittlung eines europäischen Agenten ein prächtiges Dampffaruffel. Ein folches in denkbar fchöniter Ausitat- tung wurde alfo gebaut und zu Schiffe nach Sanfibar ge: ſchickt, wo es im beiten Zuftande ankam mit der dazu ge— börigen elektrijchen Beleuchiungsanlage und einem großen | wundervollen Orcheitrion.

Ein Monteur und einige Arbeiter begleiteten den Tranf- port und dann auch ein junger Mafchinift, der eigentliche Held dieſer romantijchen Begebenheit. Im Haremögarten, umſchattet von Palmen und Platanen und umduftet von

2928 Mannigfaltiges.

DD DARD AD ET Dr ee DD DD DE DD Rofen und Jasmin, wurde das pradhtvolle Karuffell aufge: baut, und als e8 in herrlicher Vollendung daftand, festen ſich der Sultan und deffen verfchleierte Haremsdamen hinein auf die feidenen weichen Sibpolfter. Darauf ging eines Abends die erfte Rundfahrt von ftatten bei eleftrifcher Beleuchtung und unter den Klängen der ſchönſten Orcheitrion- muſik. Der hohe Besteller bezeigte fich außerordentlich zu— frieden, und feine Damen gerieten vor Entzüden über da3 ihnen fo neue Vergnügen ganz außer fich.

Der Monteur und die Arbeiter wurden reichlich belohnt und reiften dann ab, der Mafchinift aber blieb. Er follte einigen Haremsdienern die richtige Handhabung und fichere Bedienung des Tomplizierten Mechanismus und der Dampfs maſchine des Karufjells beibringen. Es erwies fich aber bald, daß es unmöglich fei, einem oder dem anderen von ihnen Die eigentliche Leitung anzuvertrauen; dazu hatte feiner das nötige technifche Begriffsvermögen. Sie würden ficherlich früher oder jpäter daS Triebwerk in arge Kon: fufion gebracht, möglicherweife fogar mit der Dampf: mafchine irgend ein Unglüd angerichtet haben. Der Ma: Ihinift mußte alfo dableiben und wurde mit hohem Gehalt zum Oberhofdampffaruffelldireftor ernannt.

Eine Zeitlang ging alles auch ſehr gut; dann aber mifchte fich der nedifche Kleine Liebesgott hinein. Da war eine gewiſſe Haremsdame gerade feine vom erjten Range, fondern eine junge Odaliske, aber von fo ftrahlender uns vergleichlicher Schönheit, daß wohl eine jtolze Eultana aus ihr hätte werden können die verliebte ich in den Ma- Ichiniften und er fich in fie. Bei. den häufigen Dampf: faruffelfahrten fanden fie Gelegenheit, fich zu verftändigen, und eines fchönen Tages verfchwanden beide ſpurlos. Erfi nad) langen Sahren, al jede Verfolgung aufgegeben worden war, entpuppte ſich die Frau eines in Norddeutichland und Rußland herumreifenden Dampffarufjellbejigers als Die ehe: malige Ddaliste au dem Harem des Sultans von Sanfibar. Sie reift mit ihrem Mann noch heute, und mancher. unferer Leſer wird wohl ſchon auf ihrem Karuſſell gefahren fein. F 2.

Mannigfaltiges. 229 ADD DD AD ADD De Dre Dre Dre Dr Dr Dre De Dr xD Neue Erfindungen: I. Scherenfhärfen „Rapid“. Für das Schärfen von Meffern, feien es Tafchenmeffer oder die im Haushalte befindlichen Küchenmeffer, hat man Schär- fungsmittel in mehrfachen Arten. Für die Schere aber fehlte e8 bisher an einem wirklich geeigneten Schärfer, und man mußte gewöhnlich die Schere zerlegen. Erſt vermittels des neuen Scherenfchärfers „Rapid“ ift es möglich gemors den, beide Schneiden der Schere auf einmal und auf fchnellfte Weiſe zu fchärfen. | Der Scherenfchärfer „Rapid“ ift ein in einem Holzheft befindlicher Drahtbügel, der zwei Enden aufweist, welche

Scherenschärfer „Rapid“.

fi an einem Mitteldraht feit anlehbnen und genau auf die Schneide der Schere paſſen. Will man eine Schere fchärfen, fo nimmt man den Schärfer in die linke Hand, mobei Die Schleife des Schärfers nach unten gedreht ift, und jchärft die Schneiden Durch mehrmaliges Hin- und Herziehen.

I. Spirituskochapparat „Ercelfior”“. Unter den vielen Spiritusfochapparaten, beftimmt zur Anwendung im täglichen Haushalte, verdient der umſtehend abgebil- dete befonders hervorgehoben zu werden, da derfelbe nach einem ganz neuen Prinzipe fonftruiert iſt. Der Spiritus verbrennt nicht mit Hilfe eines Dochtes, jondern auf einer eigenartig geformten durchlöcherten Platte, welche gewifjer: maßen terrafjenförmig aufgebaut ift. Der im hinteren Teile des Apparates befindliche Behälter ift mit Spiritus gefüllt und kann durch Drehen eines Zeigers geöffnet werden. Der Spiritus fließt jegt Durch eine unterhalb des Apparate

230 | Mannigfaltiges.

OT ED ED ADD DD DD

angebrachte Eleine Nöhre zu der Brennfläche und ftrömt dort in der Mitte au. Dieje Brennfläche ift terrafjenförmig mit Löchern verfehen, wodurch erreicht wird, daß der Spiritus durch Vermifchung. mit der.Luft vollftändig und. rafch ver: brannt wird, wodurch wiederum eine intenfive Hige erzeugt wird. Se mehr. Spiritus zur Brennfläche fließt, deſto größer wird die Ausdehnung der Flamme und defto größer die Hiße. Der Apparat hat große Vorteile, da er volljtändig regulierbar ift, er braucht nicht ge= reinigt zu wer— den, beſitzt feinen —Docht, feine Dochtichraube, er iſt vollſtändig ges fahrlos, abſolut geruchlos, da nach dem Verlö— Spirituskochapparat „Excelsior“. chen der Flamme fein Spiritus ver: dunften fann, und ift, da infolge der Luftzuführung die höchſte Heizkraft erzeugt wird, auch der billigfte Kochapparat der Gegenmart. P. R Ein ſchöner Foften. Ein reicher ſchottiſcher Schiffs— reeder betrat eines Tages im Jahre 1853 das Kontor ſeines Geſchäftsfreundes George Lindſay in London. Da dieſer nicht anweſend war, wies ein Angeſtellter den Schotten in das Empfangszimmer ſeines Herrn, wo er ihn erwarten könne. An einem der Tiſche im Zimmer ſaß emſig ſchreibend ein junger Mann, der beim Eintritt des Schotten nur flüchtig aufblickte, um ſich gleich darauf wieder in ſeine Arbeit zu vertiefen. Der Schotte ging einige Male im Zim— mer auf und ab, blieb endlich dicht vor dem Tiſche des Schreibenden ſtehen und ſah ihm neugierig zu. Fragend blickte der Herr auf, und ihm zunickend meinte der Schotte wohlwollend: „Sie ſchreiben eine ſehr ſchöne Handſchrift, junger Mann.“ |

Mannigfaltiges. 231 ü DD AD ADD ADD AD AD ED

„Es freut mich, daß Sie daS finden,” ermwiderte der An- gerebete Tächelnd.

„Wirklich, Sie fchreiben gut, auch Ihre Zahlen find deut- ih und Har; Sie wären gerade der den 2 ge: brauchen könnte.“

„In der Tat?” meinte der Schreibende.

„Ja, in der Tat,“ wiederholte der Schotte; „ich bin ein Mann von wenig Worten, aber wenn Sie mit mir nach Schottland kommen wollen, ich gebe Ihnen ein Salär von hundertzwanzig Pfund jährlich. Das iſt eine Offerte, wie Sie Ihnen hier in London nicht jeden Tag gemacht wird. Nun, wie iſt es, entſchließen Sie ſich!“

Der Herr dankte dem Bewunderer ſeiner Handſchrift höflich für ſein Angebot und ſagte, er möchte doch Herrn Lindſay erſt einmal darüber zu Rate ziehen.

„Jawohl, jawohl, mein Freund,“ erwiderte der Schotte, „das iſt nicht mehr als recht und billig. Doch Lindſay iſt mein langjähriger Freund, und er wird Ihrem Glück feines wegs im Wege fein wollen.“

In diefem Augenblide betrat Lindſay en Raum und begrüßte den Schotten auf freundlichite Nun erhob ſich der Mann vom Tifche und machte ihm von dem glänzenden Angebot des Schotten Mitteilung.

„Sehr wohl,“ erwiderte Lindfay, ohne eine Miene zu vers ziehen, „eine Stelle mit hundertzwanzig Pfund jährlich ift ein fchöner Poften. Sie werden in meinem Freunde hier einen guten, liebenswürdigen Herrn finden, der zwar manchmal etwas geradezu ift, aber ein Herz von Gold beſitzt. Unter diefen Umftänden ift eg wohl am beiten, daß ich Die Herren miteinander befannt mache, denn je eher deſto bejjer werden Sie fich kennen lernen: Mr. Tomkins aus Sunderland Mr. W. E. Gladſtone, Schatfanzler Ihrer Majejtät der Königin!“

Gladſtone war eben befchäftigt geweſen, Notizen über die Schiffahrt für fein Budget zufammenzujtellen, al er von dem Schotten, der ihn natürlich nicht kannte, mit feinem „glänzenden Angebot“ überrafcht wurde.

Der Schotte, der zwar zuerft etwas Eleinlaut und ver

232 Mannigfaltiges.

DD rede Dre DekDr Dre DrxDe ED legen daſtand, erholte fich jedoch bald wieder und belachte nun die Situation ebenfo laut und herzlich als der Miniſter. W. St.

Wie der Schnupfen zu ſtande Rommf. Unſer Körper ift nicht nur außen mit einer Haut bekleidet, fondern auch die inneren, von außen zugänglichen Teile desfelben haben eine Ausfleidung mit einer zarten Haut, die man wegen ihrer Fähigkeit, Schleim abzufondern, Schleimhaut nennt. Wir fönnen deren Wirken befonders gut an der Nafe, dem Gaumen, der Kehle erfennen, die alle mit folchen Schleim- - häuten ausgefleidet find. Auch die Höhlung des Augapfels ift derart bededt, und alle diefe Schleimhäute ftehen nicht nur untereinander, ſondern auch mit der großen und der- beren Außenhaut unſeres Körpers in inniger Verbindung. Hierüber einige Aufklärung zu verbreiten, ift befonders in den Zeitläuften des gegenwärtigen Schnupfenjammers an- gezeigt; mancher wird dann leichter einem Schnupfen aus dem Wege gehen oder Doch fchneller zu deſſen Heilung ge- langen.

Die Wefenheit des Yäftigen Übels, das wir Schnupfen beißen, ijt an einem Kleinen Beifpiel leicht Elarzulegen. Wir wiffen, daß empfindliche, vermweichlichte Leute viel leichter als abgehärtete und metterfejte Perfonen den Schnupfen befommen. Und warum das? Sehen wir ung die Sache etwas näher an. Leute, die empfindlich. an ihrem Leibe find, haben vor allen Dingen eine empfindliche Haut. Der geringjte Lufthauch, der fie trifft, erſchreckt Ddiejelbe, ver: anlaßt die vielen winzigen Blutgefäße, die unfere Haut durch— fegen und die Ausläufer der großen, inneren Blutgefäße find, fich zufammenzuziehen. Das ift eine Äußerung des Erſchreckens. Und was gefchieht nun? Das Blut, das in die Haut gelangen follte oder ſchon darinnen war, zieht fich nach innen zurüd. Und wohin geht ed nun? Zu den inneren Schleimhäuten, wo es fich im Übermaße anhäuft. Da nun aber daS Blut ohnehin die Neigung hat, nad oben zu fteigen zwei Dritteile unferer Blutmaſſe verforgen den oberen Körper und nur etwa ein Dritteil den unteren,

DMannigfaltiges. 233 MIDI ADDED DIDI DIDI DIDI weshalb man auch viel häufiger über einen heißen Kopf al3 jiber heiße Füße Lagen hört —, fo wirft es fich mit Borliebe auf Schleimhäute des oberen Körpers: diejenigen der Nafe, der Mundhöhle, der Augen zc., und das Bild. des Schnupfens ijt fertig. Denn übermäßige Anhäufung von Blut in den Schleimhäuten bedeutet Beläftigung derfelben, Reizung, die zu EntlaftungSbejtrebungen führt.

Und wie äußern fich nun diefe EntlaftungSbeitrebungen, Diefe Bemühungen, den Blut: und Wärmeüberfchuß los zu werden und fehlimmere Entzündungserfcheinungen der be- drängten Teile zu verhüten? Nun, einfach durch Schleim- abfonderung und Flüſſigkeitsabgabe, die die überhigten Schleimhäute förmlich überſchwemmen. Daher der Schnupfen, ‚wobei fich dem ESchleimfluß der Nafe das Tränen der benacdh- barten Augenfchleimhäute, die vermehrte Speichelabfonde- rung aus dem Munde und ähnliche Erfcheinungen a beigefellen.

Wir jpringen aus dem warmen Bett, vielleicht öko fchweißgebadet, berühren einen Moment nur mit den warmen Füßen aus Verſehen Talte Steinfließen, und fiehe da es Dauert oft nur eine winzige Zeitfpanne und da3 Kribbeln in der Nafe ift da, die Augen fangen an zu brennen: wir haben den Schnupfen; die Füße find Talt geworden, und das von ihnen fortgefchredte Blut hat fich nach oben zurüd- gezogen.

Ein anderes Bild.

Wir fegen ung, erhigt von irgend einer Anjtrengung, an ein Fenfter, das nicht feit genug ſchließt, um jedweden Luft- zutritt zu verhüten. Eine geringe Strömung Falter Luft dringt Durch die Fugen und trifft uns an der fehmweiß- gebadeten Schulter: das Blut zieht fich aus Ddiefer zurücd, drängt zum Kopf, und der Schnupfen ift da.

Daß die Beziehungen zwifchen der Außen: und Innen— haut unſeres Körpers derartige find, wie fie im vorjtehenden geichildert, bemeijt die Tatfache, daß jeder Schnupfenkranke Fröfteln und Kältegefühl auf der Außenhaut hat. Man fieht, daß diefer das Blut fehlt, welches den Annenhäuten

234 Mannigfaltiges.

DD ED ED ED ED Dre DE Dee D re D ee DerEDrEDreDreD al3 ein Zuviel aufgebürdet wurde. Der Schnupfenfrante verjpürt fofort Erleichterung, wenn man die Außenhaut wieder in die richtige Tätigkeit bringt.

Deshalb find Bettruhe refpektive Aufenthalt in gleich: mäßig warmer Temperatur, heiße Zitronenlimonaden, Haut: abreibungen und milde Bäder immer noch die beften und ficherjten Mittel zur Heilung des Schnupfen, wie richtige zur Abhärtung führende Hautpflege auch das einzige Mittel zu feiner Vorbeugung ift. . . Ewald Paul.

Ein interefanter Zeſuch. In den letzten Jahren feines Lebens fühlte. fih Goethe durch die Menge der ihn be- juchenden Fremden ſehr beläftigt und kürzte die Unter- haltung mit ihnen möglichft ab. Eines Tages Tieß fich ein Engländer bei ihm anmelden. Die Engländer fürchtete er aber am meiften, weil er ficher fein konnte, daß jedes Wort, da3 er ſprach, aufgezeichnet und in den Zeitungen gedruct erjcheinen würde. Er nahm fich alfo vor, jo wenig als möglich zu fprechen und befonder® nur von ganz gleich- gültigen Dingen zu. reden. Der Engländer erfchien, und Goethe begrüßte ihn, ohne ein Wort zu jagen; der Eng: länder verbeugte fich und ſchwieg ebenfalls. Goethe zeigte mit der Hand auf einen Stuhl, und der Engländer febte ih, ohne den Mund zu öffnen, indem er ohne Zweifel er: - wartete, Goethe würde das Geſpräch anfangen. So ver: gingen fünf Minuten in dem tiefften Schweigen, dann deutete Goethe, indem er aufitand, feinem ftummen Gafte da3 Ende dieſes feltfjamen Befuches an. ALS er den Eng- länder durch das Vorzimmer begleitete, fühlte er aber doch Neue, er deutete auf eine Marmorbüjte, welche da ftand und fagte: „Walter Scott!“ 5

„Iſt tot!” antwortete der Engländer, und damit endigte diefer Befuch. C. T.

Sparſame Kriegführung. Zu den Verlegenheiten, in welche die Engländer bei ihrer Kriegführung gegen den „tollen Mullah“ Muhamed ben Abdullah im Lande der Somali nun ſchon mehrfach gerieten, gehörte der Mangel an Kamelen für die rechtzeitige Beförderung von Truppen

Mannigfaltiges. 235 m ED ED AD ADDED DIDI DIDI DIDI und Proviant: Als General Manning feine Operationen von Abbia, dem italienifchen Hafen an der öjtlichen So:

BES a ER de. RT 4 Engl'scher Offizier im Somalifeldzug,

maliküſte, aus begann, ſah er ſich genötigt, auf großen Tranfportdampfern von Berbera her die ihm fehlenden Kamele über 1200 Stück fommen zu lajjen. Bei der

—— ——— ———

256 Prannigfaltiges. eLDrLDdrED ED ED DEI EDDIE DD DDr Dede Verwendung derfelben wurde natürlich auf Außerfte ge- fpart. Bezeichnend dafür ift unfer Bild „das einen eng- liſchen Offizier famt feiner Ordonnanz auf einem Kamele darftellt. Das Bild gibt auch von den trojtlofen Wüfteneien einen Begriff, welche in Somaliland die Truppen zu durch— mejjen haben auf der Suche nach dem Feind, der fich jedem Zufammenftoß jo lange entzieht, big er die Verfolger aus ficherem Hinterhalt zu überrumpeln vermag. Für eine über: legene Kriegführung der Engländer iſt diefer Teil Nordoft afrikas noch viel zu wenig erforfht. 8.9. Eine Spinnengefhihte. An einem großen Spinnen: gewebe jah Br. Peterd, wie eines Morgen? die Eigen- tümerin nicht wie fonft in der Mitte, fondern am unteren Ende auf Beute lauerte. Den Grund zu erforfchen, brachte er eine gefangene Fliege fo nahe an die ausgejpannten Fäden, daß fie mit Flügeln und Beinen fich darin verfing. In dem nämlichen Augenblid fchoß von unten die Eigen- tümerin, von oben aber auch eine fremde Spinne heran, und jofort entjpann zwifchen beiden fich ein erbitterter Kampf un die Beute. Erftere jedoch war nicht ſtark genug, ihr Hausrecht zu wahren, und mußte fich nach einiger Zeit zum Rückzuge wenden. Plötzlich eilte fie dem äußerſten Rande ihres Gewebes mit großer Schnelligfeit zu. Was Dies zu bedeuten hatte, vermochte der Beobachter ſich anfangs durch- aus nicht zu erklären, bald aber wurde es ihm deutlich, denn er fah, daß dort, wo die Spinne fich befand, der An- heftungsfaden des Gewebes von der Mauer abgetrennt war. Hierauf hielt daS Tier einen förmlichen Rundlauf um fein Netz, überall die Fäden, welche dasſelbe an den Mauern feit- hielten, ablöfend, nur manchmal zögerte es einen Moment, um fich nach der kecken Eigentumsverlegerin umzufchauen. Endli war das vor furzem noch jo zierliche und Zunft: fertige Gewebe zu einem formlojen Fadenhaufen zufammen- gefallen und hing nur noch an einem einzigen ſtarken Yaden, und an dieſem Eletterte Die Spinne nun herab. Die Raubs fpinne hatte mittlerweile ihre Beute, die Fliege, kunſtgerecht umfponnen und mit ihren Fäden ummunden, hätte vielleicht

Mannigfaltiges. 237 DD AD DD ED Dr EDDIE Dr ED ED DD ED auch Schon mit deren Ausfaugung begonnen, wäre ihre Lage nicht von Augenblid zu Augenblic eine Fritifchere geworden. Mit einem Fuß feſt ihr Opfer haltend, bedurfte fie aller anderen, um fih an den Trümmern des Nebes feitzu- Hammern, und jo erwartete fie die Kataftrophe. Dieſe ließ denn auch nicht auf fich warten, das Ende des merkwürdigen Kampfes, worin Stärke, gepaart mit frecher Raubgier, der Schwäche, verbunden mit Lijt, gegenüberftanden, blieb nicht aus. Auch der legte noch haltende Faden wurde losgetrennt, und zuſammen ftürzten Gewebe, Raubfpinne und Beute zu Boden. | ©. T. arifer Speifepomade. Zur Zeit der Belagerung von Paris während des großen deutjch-franzöfifchen Krieges ge- hörten die Fabrifanten von Parfümerien und PBomaden zu den Gejchäftsleuten, deren Ermwerböverhältnifje große Einbuße erlitten. Nach den Provinzen und dem Auslande war gar fein Verſand mehr möglich und auch der Abſatz in der bedrängten Hauptitadt im Vergleich zu früheren guten Zeiten fajt bis zur Bedeutungslofigkeit herabgefunfen. Betrübt ſahen fie ihre großen Vorräte an und jtellten vor- läufig die Fabrikation ein. Letzteres war wohlgetan, denn viele von ihnen hatten recht anfehnliche Vorräte von Schweine: fett, welches zu Bomaden und Fettjchminten hätte verarbeitet werden follen, nun aber eine andere Verwendung fand. Butter und Schmweinefchmalz gehörten nämlich zu den Genußmitteln, die zuerft fehr Inapp und dann immer Tnapper wurden und demgemäß ungeheuer im. Preiſe ftiegen, im Laufe eines halben Sahres auf den zehnfachen, den fünf- zehnfachen und zuletzt fogar mehr als zwanzigfachen Be- trag des ursprünglichen Preifes. Die Pomadefabritanten verfauften alſo nun zu fol hohen Preifen ihr Schweine: fett zu Speiſezwecken und freuten fich des fchönen Profits. Sie bemühten ſich aber auch mit allem Eifer, aus halb: fertigen und ganzfertigen Pomaden und Schminfen die wohlriechenden Stoffe mit finnreicher Kunjt auf chemiſchem Wege wieder zu entfernen, um auf folche Weife noch mehr fojtbares Speifefett zu gewinnen.

233 Prannigfaltiges.

Das gelang ihnen bei einigen Riechftoffen recht gut; mit anderen aber glücdte es nicht fo ganz. Mofchus zum Beis ſpiel ließ fich nicht, gänzlich herausbringen; es blieb immer ein merklicher Duft davon übrig. Gleichwohl fand auch dieſes von Riechitoffen mehr oder weniger befreite Bomaden- fett guten Abſatz, wenn auch freilich zu erheblich geringeren Preifer. Sn den ReftaurantS und. Cafes wurde alfo eine Brotjchnitte mit ehemaliger Pomade oder Schminte, der noch ein wenig Moſchus- oder anderer Duft anbaftete, etwas billiger verabreicht al3 eine Brotſchnitte mit duft- freiem Schweineſchmalz. 5.8.

Ein Konkurs, der Bald hundert Zahre alt wird. Am Anfang des 19. Sahrhunderts, als Wittenberg noch kur⸗ ſächſiſch war, lebte dort der Eurfüritlich fächfifche Land: gerichtsdireltor Dr. Jungwirth. Er war ein fchlechter Wirtfchafter, denn wer dort nur irgendwie mit ihm in Berührung Fam, wurde fein Gläubiger; weder Dienftmädchen, noch Wäfcherinnen, noch Näherinnen Tonnten dieſem Schid- fal entgehen. Heute noch, alſo nach faft Hundert Fahren, find gegen 183,000 Mark Schulden zu deden. Daß der Konkurs noch immer nicht beendet ift, hat feinen Grund in folgens dem: Dr. Jungwirth war Beſitzer eines Lehngutes. Da dieſes nicht veräußert werden konnte, fo übernahm das fahlifche Hofgericht die Verwaltung der Maſſe und jchidte alle vier Zahre den Reinertrag nad) Wittenberg zur Vers teilung an die Berechtigten. Dieſes Verfahren bat fi) auch. nach der veränderten ftaatlichen und rechtlichen DOrd- - nung erhalten. Anfänglich waren es 46 zum Empfang bes zechtigte Gläubiger, deren Zahl aber Durch crbberechtigte Kinder und Kindesfinder auf mehr-al3 80 gejtiegen iſt und naturgemäß in fteigender Progrejfion noch immer wächſt, während die Abjchlagszahlungen immer Kleiner und Kleiner werden. Sp hat zur Zeit der lebten Verteilung der Ab- Ihlagszahlung ein Ehepaar aus Hohenihurm im Kreife Merfeburg vom dortigen Amtsgericht eine Vorladung zur Empfangnahme einer Abfjchlagszahlung aus der Konkurs—⸗ fache erhalten. Die Leutchen unternahmen die Fahrt dort—

Mannigfaltiges. 239 bin, und erhielten dann von. den zur Perteilung kom— menden Geldern gegen ordnungsmäßige' Quittung Die Sunme von 45, fage und fchreibe fünfundvierzig Pfennig ausbezahlt. ©2.

Söffhe Schmeichelkunſt. Keiner der Hofleute Hein- richs IV. von Frankreich verjtand fich befjer auf die Kunit, feinem Herrn Verbindliches in witziger Form zu fügen, als der Marſchall Bafjoınpierre. Eines Tages kamen beide von einem Jagdausflug an die zugefrorene Seine. Um den Weg abzufürzen, beftand Heinrich darauf, -über das Eis zu gehen. Baſſompierre riet ernitlich ab. |

„Ach was, hier ift nichts zu fürchten,” wendete "Hein: rich IV. ein, „denn ich jehe ja, daß a einzelne: Leute vor mir hinüber gegangen ſind.“

Baſſompierre verſetzte: „Die waren auch nicht von ſolchem Gewicht, Sire, wie Sie.“ EM

Die Satisfaklion. Richard Wagner fonnte mitunter, namentlich bei den Proben, recht grob werden. Bei’einer PBarzivalprobe Iehnte der Ballettmeifter eines Heinen Hof: theater3, der bei der Negieführung beteiligt war ganz „gral- verjunfen“ an einer Auliffe und lauſchte. Da entdedt ihn das Späherauge de3 rajtlofen Meijters.

„Was ftehen Sie denn da und himmeln, Sie alter Schafstopf,” dringt es plößlich aus des Meiſters Mund. „Sie verftehen ja doch nichts davon. : Scheren Sie fi lieber auf Ihren Poſten!“

Aus allen feinen Himmeln geriffen, dem heimlichen Kichern der Anwesenden ausgeſetzt, ſchleicht der ſo grob angefahrene Ballettmeiſter davon.

Nach der Probe lud der Meiſter ſeine Künſtler zum Abendeſſen nach der Villa Wahnfried. Der beleidigte Ballettmeiſter aber erklärte, er werde nur kommen, wenn der Meifter ihm genügend Satisfaktion gebe.

Das Theater leerte ſich, während der Speifefaal fich füllte, und richtig war auch der gelräntte Ballettmeijter zur Stelle.

„Nun,“ fragte ein Kollege „hat Ihnen der Meiſter Satisfaktion gegeben?“

240 Dannigfaltiges. DAAD RD ADD IDOAD AD AD ID ED ED ED ED ED ED ED „Allerdings,“ antwortete der Ballettkünftler und drehte verfchmisgt den Knebelbart dur) die Hand. „ALS der Meifter meinen Entjchluß, nicht zu Tommen, erfuhr, iſt er auf mich zugelommen und hat gefagt: ‚Nun fehe ich, daß Sie wirklih ein alter Schafskopf find! Da konnte ich natürlich nicht länger widerjtehen.” ©. T. Fataler Druffehfler. Der Druckfehlerteufel fpielt mit- unter den Zeitungsleuten recht unliebfame Poſſen, ‚lauert er nicht im Setzkaſten ſelbſt, jo macht er ſich auf andere MWeife bemerkbar. Es war zur Zeit einer Minifterfrife unter König Ludwig Philipp. Im „Sonftitutionnel”, dem

offiziellen Regierungsorgan, jtand nun eine® Morgens zu

lefen: Se. Majeftät der König hat geftern Herrn Thiers zu fich berufen und ihn mit der Bildung eines neuen Ka- binett3 beauftragt. Thiers beeilte fich dem König zu er: widern: „ch habe nur ein Bedauern, das iſt, Daß ich Ihnen nicht den Hals umdrehen fann wie einem indifchen Hahn.”

Einige Zeilen tiefer ſtand im felben Blatte zu leſen: Die Nachforſchungen der Juſtiz find raſch von Erfolg be- gleitet gemwefen. Der Mörder der Rue du Bot-de-Fer iſt bereits verhaftet worden. Bor den Unterfuchungsrichter - gebracht, Hatte der Elende die Kühnheit, fich zu groben Beleidigungen gegen diefen Beamten hinreißen zu laſſen. Er fchrie: „Gott und die Menfchen find alle Zeugen, Daß ich nie einen anderen Ehrgeiz gehabt, als treu und ergeben Khrer Perſon und meinem Baterlande zu dienen.”

Wie der Lefer bemerkt, ift beim fogenannten „Vers heben des Satzes“ das Unglüd paffiert, dad dem fran- zöſiſchen Staatsmann gegenüber feinem König die fchred- lichen Worte des Verbrecherd in den Mund legte und um- gekehrt. Mr.

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Theodor Freund in Stuttgart, in Öfterreich-Ungarn verantwortli Dr. Ernſt Perles in Wien.

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