a 5 Zar re Bıiologisches Centralblatt. 1910. ' K.B. Hof- und Univ.-Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. ° * jologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professoren in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal, Professor der Physiologie in Erlangen. Dirzesnsisı eg stern Bra nad. IgIO. Mit ıgo Abbildungen. Leipzig. Verlag von Georg Thieme. IgIo. Inhaltsübersicht des dreilsigsten Bandes. 02=, Original; Ar=saReferat Seite Auerbach, Felix. Lebenstheorien. R 652 Awerinzew, S. Über die Stellung im System und die Klassifizierung der Protozoen. O0. 2, SOME: J 465 Babäk, Edward. Über die Oberflächenentwickelung bei Organismen und ihrewAnpassungstahigkeit. 0. . 2 EEBE el e . Beyer Baume, La, W. Über den Zusammenhang primärer und sekundärer Ge- schlechtsmerkmale bei den Schmetterlingen und den übrigen Glieder- tieren. O Bar.» 72 Baur ıRrwin Pfropfbastarde: 0 . 2 0E uee 497 Börner, Carl. Die phylogenetische Bedeutung der Protura. 0 633 Braem, F. Die ungeschlechtliche Fortpflanzung als Vorläufer der geschlecht- lichen. O .. NY. ehr Sun 367 Braune. Über Fütterungsversuche mit Anilinfarbstoffen. O . 750 Brun, Rudolf. Zur Biologie und Psychologie von Formica rufa und anderen REISEN) en enanee, 5. vol 92.122042 9D24.520, Capparelli, A. Über das Verhalten einiger fester, in Flüssigkeiten schweben- den, Körper bei den Phänomenen der Hygromipisie. O0. 37 Comes, Salvatore. Sui movimenti di maneggio e sul loro significato nella teoria segmentale. 0 Sl Der achte internationale Physiologenkongress 624 Doflein, F. Lehrbuch der Protozoenkunde AR SPANIER TE 623 Ehrlich, Paul, Beiträge zur experimentellen Pathologie und Chemotherapie. Rt 557 VI Inhaltsübersicht. 2 Eriksson, Jakob. Über die Mykoplasmatheorie, ihre Geschichte und ihren Tagesstand. 0 SUSE BELN Srein = NEE? Bee el, Ewald, Wolfg. F. Über N Lokomotion und Lichtreaktionen einiger Öladoceren und deren wo: für die Theorie der Tro- pismen. O0. : AN, Franz, V. 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Über „extraintestinale“ Verdauung im allgemeinen und bei Carabus auratus im besonderen. 0) — Die Leistungen des Gehirns bei den krebsartigen Tieren, besonders bei Cancer pagurus. 0) i Kanitz, Aristides. Das Energieprinzip in der Biologie in der neuesten Literatur. R. 2 Kapterew, Paul. Experimentaluntersuchungen über die Frage vom Ein- flusse der Dunkelheit auf die Gefühlsorgane der Daphnien. O Khainsky, A. Physiologische Untersuchungen über Paramaecium cau- datum. ©. 5 - Korschelt,E. und Heider,K. Lehrbuch der N chende Entwickelungs- geschichte der wirbellosen Tiere. MR. 4 Kranichfeld, Hermann. Wie können sich Mutanten bei freier Kreuzung durchsetzen?) "ONE 7% fer See Küster, Ernst. Über organoide Gallen. O ER Landau, E. Einige Worte zur karyokinetischen Zellteillung. ©. Lebedeff. Einige Beobachtungen über Trypanosoma rotatorium. OÖ Liesgang, Raphael E. Beiträge zu einer Kolloidchemie des Lebens. R . Lindman, Ü. A. M. 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Zur Biglogie der Gattung Uhermes (1. a. S.) III. 0... 16. — Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. 0. . . ....... 402. Ostwald, Wo. Grundriss der Koloidchemie. R . Papanicolau, Georg. Über die Bedingungen der sexuellen Differenzierung bei Daphniden. 0. Ne ; ER AR — Experimentelle Untersuchungen über die Fortpflanzungsverhältnisse bei Daphniden (Simocephalus vetulus und Moina rectirostris var. Lillje- BO ON N. 2 ee en EB 02: Preisausschreibung 5 Ä Rimsky-Korsakow, M. Zur Biologie der Süßwassernemertine Stichostemma graecense Böhmig. 0 Ber? Robertson, T. Brailsford. Explanatory Remarks concerning the Normal Rate of Growth of an Individual and its Biochemical Significance. 0) Semons Biehard., Der Reizbestitt.. O0 . Br ne ran. Stiasny, Gustav. Kleiner Beitrag zur Kenntnis der Entwickelung von Balanoglossus clavigerus Delle Chiaje. 0 — Zur Kenntnis der gelben Zellen der Sphaerozoen. ©. Stieda, L. Über Hirnfurchen und Hirnwindungen. R. . . . . . 580. Stöhr, Adolf. Der Begriff des Lebens. KR. Tschermak, Armin v. Über den Einfluss der Bastardierung auf Form, Farbe und Zeichnung von Kanarieneiern. OÖ. TR Uhlenhuth, P. und Weidanz, O. Praktische Anleitung zur Ausführung des biologischen Eiweißdifferenzierungsverfahrens, mit besonderer Be- rücksichtigung der forensischen Blut- und Fleischuntersuchung, sowie der Gewinnung präzipitierender Sera. A a er Nr Viehmeyer, H. Ontogenetische und phylogenetische Betrachtungen über die abhängige Koloniegründung von Formica sanguinea. 0. 440 192 430 560 569 VIII Inhaltsüber sicht. Walter, Emil. Der Flussaal. R Wasmann, E. Über das Wesen und den ne der Symphilie. 0 97. 129. — Nils Holmgren’s neue Termitenstudien und seine Exsudattheorie R — Nachträge zum sozialen Parasitismus und der Sklaverei bei den Ameisen. (U NER IE RE =. en, aan il) Winterstein, Ernst und Trier, Georg. Die Alkaloide. R . . Woltereck, R. Weitere experimeutelle Untersuchungen über Artverände- rung, speziell über das Wesen quantitativer Artunterschiede bei Daph- niden. R 679 Biologisches Centralblatt Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Der Abonnementspreis für 24 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen. Bd. XXX. 1. Januar 1910. AU, Inhalt: Ewald, Ueber Orientierung, Lokomotion und Lichtreaktionen einiger Cladoceren und deren Bedeutung für die Theorie der Tropismen. — Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Chermes (i. a. S.) III. — Capparelli, Ueber das Verhalten einiger fester, in Flüssigkeiten schwebenden Körper bei den Phänomenen der Hygromipisie. — Heidenhain, Plasma und Zelle. — Aufforderung. — Berichtigungen. U Über Orientierung, Lokomotion und Lichtreaktionen einiger Cladoceren und deren Bedeutung für die Theorie der Tropismen. Von Wolfg. F. Ewald. Einleitung. Den Anstoß zu meinen im folgenden zu beschreibenden Ver- suchen über die Lichtreaktionen einiger Süßwassercladoceren gab der Wunsch, eine Erklärung des merkwürdigen Phänomens der täglichen Vertikalwanderungen dieser Tiere zu versuchen. Es wird daher nötig sein, der Arbeit einige Worte über diese biologische Erscheinung vorauszuschicken, um die Problemlage klarzustellen. Schon von Weismann und Forel, später auch von Hofer, Steuer und neuerdings besonders Ruttner wurde gezeigt, dass ein großer Teil der zu aktiven Schwimmbewegungen befähigten Plankton- organismen nachts in ungeheuren Mengen an der Oberfläche des Wassers anzutreffen ist, während tagsüber die höheren Wasserschichten fast frei von Zooplankton bleiben. Es zeigte sich, dass die Haupt- menge der Tiere während des Tages in einer Tiefe anzutreffen war, die augenscheinlich ganz von der Klarheit des Wassers abhing. So fand Forel für den Genfer See als untere Grenze der täglichen XXX. 1 3 Ewald, Über Orientierung, Lokomotion u. Lichtreaktionen einiger Oladoceren ete. Wanderung die Tiefe von 20 m, während sich nach Apstein in den flachen trüben Seen der norddeutschen Tiefebene die Wande- rung innerhalb der ersten 2 m abspielt. Auch die Jahreszeiten bringen hier naturgemäß einen Wechsel, da im Herbst und Winter das Wasser klarer, also auch die Wanderung größer zu sein pflegt. Schon diese Beobachtungen wiesen auf das Licht als Ursache der Wanderungen hin. Noch wahrscheinlicher wurde ein solcher Zu- sammenhang, als Ruttner genaue Zahlen für das Anwachsen und Abnehmen der Planktonmenge an der Oberfläche des Plönersees lieferte. Es wurde für alle Tages- und Nachtstunden die relative Anzahl von Individuen jeder vorkommenden Planktonspezies in einem Liter Oberflächenwasser bestimmt. Dabei zeigte sich, dass für die meisten Spezies die Menge der Tiere im Laufe des Nach- mittags langsam zunahm, um gegen oder nach Mitternacht ihr Maxi- mum zu erreichen. Bei Sonnenaufgang wurden die Zahlen schnell geringer; manche Arten verschwanden ganz. Um die Mittagszeit war das Minimum erreicht und es begann wieder das Ansteigen. Leider fehlen bis jetzt noch Angaben über den Verbleib der Tiere unterhalb der Oberfläche, und doch wären solche Untersuchungen zur Erkenntnis der Ursachen des gesamten Phänomens dringend notwendig. Nur Steuer hat bisher ın der alten Donau mit an- einandergereihten Glasrohren Versuche gemacht, die im Wasser versenkt wurden und in verschiedener Höhe gegeneinander abgesperrt werden konnten. Es ließ sich in dieser Weise feststellen, in welchem Teil der Gesamtlänge des Rohres die vorher eingesetzten Tiere sich zurzeit aufhielten. Es ergab sich, dass stets nur ein Teil der Tiere einer und derselben Spezies sich an der Wanderung beteiligte, die übrigen aber gleichmäßig ın der ganzen Länge des Rohres verteilt waren. Gegen die Versuchsanordnung lässt sich allerdings manches einwenden. Sowohl von Steuer wie von Ruttner wird konstatiert, dass die jungen Tiere (Nauplien, Oyelopidstadien) regelmäßig früher an der Oberfläche erscheinen und später verschwinden als die er- wachsenen. Nach Untersuchungen von France u. a. soll auch die Witterung (Wind, Regen) einen Einfluss auf die Wanderungen haben, ebenso starker Mondschein. Ostwald hält die Zunahme der inneren Reibung des Wassers durch die nächtliche Abkühlung für die Ursache der Erscheinung, berücksichtigt dabei aber nicht, dass dann auch das Phytoplankton an der Wanderung teilnehmen müsste, was nach Ruttner nicht der Fall ist. Aus Untersuchungen von Regnard und Verfasser geht hervor, dass die Absorption des Lichtes innerhalb der ersten 2 m eines (Gewässers bereits so stark ist, dass die Lichtstärke auf mindestens !/,, ihres Wertes an der Oberfläche reduziert wird. Wir haben demnach ın der Abnahme des Lichtes im Wasser ein sehr kräftiges physiologisches Agens vor uns, welches wohl geeignet erscheint, zur Erklärung der besprochenen Ewald, Über Orientierung, Lokomotion u. Lichtreaktionen einiger Cladoceren ete. 5 Erscheinungen herangezogen zu werden. Das ist denn auch ge- schehen und es war zuerst Loeb, der über die physiologischen Bedingungen einer solchen W irkung des Lichtes größere Klarheit schaffte: "Loeb untersuchte als erster den Berischen „Heliotropis- mus“ und schloss aus dem Vorhandensein dieser Reaktionsform bei zahlreichen Planktonorganismen, dass die täglichen Vertikalwande- rungen zu dem Heliotropismus in Beäichuns, stehen müssten. Da Ir Loeb die neueren Untersuchungen ee die Wanderungen ‘nicht zur Verfügung standen und auch sonst der in dieser Weise angedeutete Zusammenhang nicht näher untersucht worden ist, so schien mir in dieser ne eine Lücke in unseren Kenntnissen vorzuliegen. Ich habe daher er unter Berücksichtigung aller erreichbaren Arbeiten über tierische und pflanzliche Lichtreaktionen sowie der erwähnten Beobachtungen über die täglichen Wande- rungen, das ganze Problem von einer neuen Seite anzugreifen, sowohl praktisch wie theoretisch. Ich habe dabei in den biologischen Be- obachtungen ein äußerst; wertvolles Corrigens des physiologischen Experimentes gefunden. Meine Versuche lem in der Hauptsache unter Anleitung von Herrn Professor Doflein, dem ich für seine wissenschaftliche Unterweisung zu bleibendem Danke verpflichtet bin, im Münchener Zoologischen Institut angestellt. Wo es die Sache erfordert, beziehe ich mich außerdem auf eine Reihe von Versuchen, die ich selbständig im Jahre 1906 angestellt und in einem Vortrage vor dem zoologischen Seminar des Instituts im Juli 1906 zusammengefasst habe. Die verwendete Versuchsanordnung ist aus der Abbildung 1 ersichtlich. Ich bin davon abgekommen, für gewöhnliche Versuche mit flachen Schalen zu operieren, wie dies bisher meist geschehen ist, weil die natürlichen Bewegungen der Tiere sich vorwiegend in vertikaler Richtung abspielen und durch seitlichen Lichteinfall wesentlich modifiziert werden, wie sich weiter unten ergeben wird. Flache Schalen wurden nur verwendet, wo dies im Wesen des Versuches lag. Tr. Deskriptiver Teil. A. Die Orientierung. Zu einer genauen Betrachtung lokomotorischer Reaktionen eines Tieres ist es notwendig, sich ae die Orientierungsmittel des Ver- suchsobjektes im Raum klar zu sein. Während de höheren Urusta- ceen, aber auch die Medusen, mit Statocysten ausgerüstet sind, die ihnen eine Orientierung mit Hilfe der Schwerkraft ermöglichen, scheinen den Cladoceren wie vielen anderen planktonischen Orga- nismen solche ÖOrientierungsorgane zu fehlen. Es ist von vorn- herein nicht anzunehmen, dass die Schwerkraft für diese Tiere eine orientierende Bedeutung hat, wenn ihnen die Organe fehlen, um 1* 4 Ewald, Über Orientierung, Lokomotion u. Lichtreaktionen einiger Öladoceren ete. Schwerkraftsreize zu rezipieren!) und auf den lokomotorischen Apparat zu übertragen. Sollten dennoch primitive Organe dieser Art vorhanden sein, so spielen sie jedenfalls für die Orientierung der Tiere eine ganz untergeordnete Rolle. Denn aus den weiterhin zu beschreibenden Erscheinungen der Orientierung zum Licht wird sich ergeben, dass eine Orientierung zur Schwerkraft sich im Ver- halten der Tiere in keiner Weise bemerkbar macht. Dagegen wirkt die Schwerkraft stets dadurch, dass ein Absinken der Tiere eintritt, sobald die lokomotorischen Bewegungen aufhören. Je nach der besonderen Bauart des Organismus wird hierbei eine ganz bestimmte Körperlage eingehalten, welche sich aus der Ver- teilung von Widerständen und Massen am Körper des Tieres ergibt. Bei Daphnia z. B., wo die Antennen mit ihrem großen Reibungs- widerstand am oberen Teile des Leibes angesetzt sind, der Schwer- punkt dagegen ziemlich tief liegt, tritt das passive Gleichgewicht bei annähernd senkrechter Körperstellung ein, während bei Aytho- trephes der ungeheure Schwanzstachel ganz andere Reibungswider- stände und damit eine andere, etwa horizontale, passive Gleich- gewichtslage bedingt. Die Schwerkraft wirkt also in direkter (nicht durch ein statisches Organ vermittelter), durch die Körperbeschaffen- heit der Tiere bedingter Weise allein auf die passive Orientierung ım Raum. a) Augen. In ganz anderer Art wirkt das Licht, welches für die aktive Bewegung, und nur für diese, von ausschlaggebender Bedeutung ist. Auf die näheren Umstände dieses Vorganges hat m. W. zuerst Rädl hingewiesen, der die Abhängigkeit der Orien- tierung vom Licht für eine große Anzahl von Tierformen durch sorgfältige Versuche festgestellt hat. Ich habe diese Versuche an zahlreichen Cladocerenarten nachgeprüft und dabei mit einigen Ab- weichungen die Rädl’schen Befunde bestätigt gefunden. Rädl experimentierte u. a. an Daphniden und entdeckte bei ihnen die eigenartige Tatsache, dass ihre Augen zur Lichtquelle eine feste Einstellung behalten, wie auch die Körperstellung wechselte. Legt man eine Daphnia auf einen Objektträger, der auf dem Tisch eines Mikroskops befestigt wird, so vollführt das Tier solange Be- wegungen mit den Antennen, bis es in eine bestimmte Lage zur Lichtquelle (Fenster, Lampe) kommt. Diese Lage ist die gleiche, wie sie von im Wasser freischwebenden Exemplaren eingehalten wird. Das Tier steht dabei mit seiner Längsachse in einem kleinen Winkel (etwa 20°) zur Vertikalen und zwar so, dass der ganze Körper um diesen Winkel kopfübergedreht zu sein scheint. Dreht man nun den Tisch des Mikroskops langsam herum, nachdem man 1) Ich nenne im folgenden nach Beer, Bethe und von Uexküll „Vor- schläge zur Einführung einer objektivierenden Nomenklatur in die Physiologie“ die Wahrnehmung eines Reizes Rezeption, das Sinnesorgan Rezeptor. Ewald, Über Orientierung, Lokomotion u. Lichtreaktionen einiger Cladoceren ete. 5 zuvor die Daphnia durch ein Deckgläschen festgeklemmt hat, so muss der Körper des Tieres der Drehung folgen. Das Auge da- gegen behält seine Einstellung zum Licht bei und beginnt daher, sich gegen den Körper zu drehen. Dabei sieht man, wie der obere und untere Augenmuskel, die in der Ausgangsstellung gleich lang waren, sich in ıhrer Länge verändern. Der dem Licht zugewendete verkürzt sich, der Antagonist wird gedehnt. Das Tier macht dabei mit den Antennen heftige Bewegungen, um der Verschiebung ent- gegenzuarbeiten und die Spannungsdifferenz der beiden Muskeln auszugleichen. Nach einer Winkel- strecke von 45—60° von der Aus- gangslage hat die Kontraktilität des einen Augenmuskels ihre Grenze annähernd erreicht und das Auge Obere Lampe Schirm vermag nun das Licht nicht mehr zu a fixieren. Es muss jetzt ebenfalls der Körperdrehung immer mehr folgen. Dieser Zustand hält an bis die Maßstab Drehung des Objekttisches 180 — 280° beträgt. Auf dieser Strecke sieht man das Auge erst hin und her zucken und dann plötzlich in die entgegen- gesetzte extreme Stellung über- springen. Der vorher kontrahierte Muskel erschlafft, während der Anta- gonist maximal kontrahiert wird. Dadurch kann das Auge wieder ın der alten Weise die Lichtquelle fixieren, nur diesmal von der an- —i__ deren Seite. Bei weiterer Drehung Fig. 1. Versuchsanordnung: wird dann bald die Ausgangsstellung Der Apparat wird in einer Dunkel- und damit die gleichmäßige Kon- kammer aufgestellt. Obere und traktion der Augenmuskeln wieder untere Lampe können für sich ein- erreicht. Diese Körperstellung, welche geschaltet werden. für den Beobachter durch den gleich- mäßigen Kontraktionszustand der Augenmuskeln angezeigt wird, ist die Normallage zum Licht. Dadurch, dass das Tier diese Lage reflexmäßig einzuhalten bestrebt ist, zeigt es sich im Raume orien- tiert. Da das Licht im Wasser äußerst gleichmäßig von oben kommt (der schrägste Einfallswinkel des Lichts beträgt 48° zur Vertikalen) und reflektiertes Licht wegen der starken Absorption im Wasser keine große Rolle spielt, so sind die lichtorientierten Planktonten fast genau so eindeutig orientiert wie die statisch orientierten Formen; die orientierende Kraft greift in einem Falle von oben, im anderen von unten an. A — Glascylinder Kiste Untere Lampe 6 Ewald, Über Orientierung, Lokomotion u. Lichtreaktionen einiger Cladoceren ete. Die vorstehend geschilderten Augendrehungen beobachtete ich außer bei Daphnia auch bei Bythotrephes, während ich sie bei Sida und Leptodora nicht feststellen konnte, obwohl sich diese beiden Formen in ihrem Verhalten zum Licht sonst nicht abweichend zeigen. Ich muss daraus schließen, dass die Beweglichkeit des Auges zur Orientierung nicht nötig ist und wohl nur die Bedeutung hat, das Fixieren der Lichtquelle hei den fortwährenden Lagever- änderungen des schwimmenden Tieres zu erleichtern, ihm gewisser- maßen mehr Spielraum zu lassen. Wenn also die Augendrehungen auch zur Erklärung der ganzen Orientierungserscheinungen wesent- lich beigetragen haben, so sınd sie doch nur ein Nebenumstand. Nimmt man an, dass die Reizung der einzelnen Augennerven auf dem Weg über das Ganglion opticum und G. cerebrale Reflex- bewegungen der Antennen auslöst, die ihrerseits die Regulierung der Lage herbeiführen, so folgt daraus ohne weiteres, dass die Be- wegungen der Augenmuskeln sekundäre Erscheinungen sind. Der Bau des ÜUladoceren-Auges, das aus einer größeren Anzahl auf der Peripherie einer Kugel ın allen Richtungen des Raumes angeordneter Kristallkegel besteht, an deren Grunde Optikusfasern endigen, legt eine solche Auffassung nahe. b) Körper. Wenn die angeführten Beobachtungen über die Orientierung im Raum richtig sind, so muss sich zeigen lassen, dass die Cladoceren sich auch bei ihren freien Bewegungen in be- stimmter Weise zur Lichtquelle einstellen. Das ist auch tatsäch- lich der Fall. Rädl führt die Beobachtung an, dass sich Daphnia stets mit dem Rücken der Lichtquelle zuwendet, sei es, dass das Licht von oben, von der Seite oder von unten komme. Das ist richtig mit einer Einschränkung, die ich weiter unten behandeln oc (kleine Lokomotionsperioden). Ich habe in dieser Richtung an einer ganzen Reihe von Olado- cerenarten Versuche angestellt RN fand De das gleiche Ver- halten. Daphnia dreht seitlichem Licht den Rücken zu und kann durch von unten kommendes Licht stundenlang in verkehrter Körper- lage gehalten werden, wobei die Tiere aber schließlich stets zu- grunde gingen. (Die Heizwirkung der elektrischen Lampe wurde bei diesen Versuchen durch eine Umströmung des Versuchsgefäßes mit kaltem Wasser aufgehoben.) Eine Spezies, Daphnia sima aus dem Starnberger See, welche von Natur mit abwärts gewendetem Rücken schwimmt, wendet diesen bei Unterlicht nach oben. Einige Exemplare von Sida erystallina brachte ich in einem Glaszylinder zwischen zwei gleich starke Glühlampen. Die Tiere hielten sich genau in der Mitte zwischen beiden Lichtquellen auf und da sie abwechselnd der oberen und der unteren näher kamen, schwammen sie bald aufgerichtet, bald verkehrt. So beschrieben sie dauernd in der Mittelzone Kreise, wie sie in Fig. 2 dargestellt sind. Die Ewald, Über Orientierung, Lokomotion u. Lichtreaktionen einiger Oladoceren ete. Erklärung für die Regelmäßigkeit der Bewegung ist in dem weiter unten zu beschreibenden negativen Phototropismus der Tiere zu finden. Ich habe einigen Daphnia magna die Augen durch Quetschen oder Ausstechen mit einer feinen Nadel zerstört. Die so operierten Tiere krochen stundenlang mittels kurzer rascher Antennenschläge auf dem Boden einer Glasschale umher, konnten sich aber nur äußerst langsam vom Fleck bewegen und die Normallage nicht mehr einnehmen. Obwohl ich so vorsichtig wie möglich verfuhr, ist natürlich bei der Kleinheit des Objektes nicht mit Bestimmtheit zu sagen, ob die beobachteten Ausfallserscheinungen, was Kraft und Orientierung der Lokomotion betrifft, allein auf Rechnung der Augen- exstirpation zu setzen sind. Aus den vorstehend zusammengestellten Tatsachen geht jeden- falls hervor, dass die aktiven Schwimmbewegungen der Cladoceren vom Licht orientiert werden, d. h. dass diese Tiere ıhre Lage im Raum A | dadurch einhalten, dass sie stets die es Lichtquelle fixieren und gewöhnlich ! 2 den Körper zur Augeneinstellung in RR eine bestimmte, als Normalstellung zu 25 5 I bezeichnende Lage bringen. Die Körper- lage ist nicht notwendig immer die = u gleiche; sie kann unter ungleicher 6 e ge Spannung der Augenmuskeln verändert - werden. Wann das geschieht, soll im —- folgenden gezeigt werden. Vorwiegend vollziehtsich die Bewegung der Ulado- Fig. 2. Daphnia. ceren so, dass sie in der Richtung auf die Lichtquelle durch Abwärtsschlagen der Antennen der Schwer- kraft entgegenarbeiten. B. Die Lokomotion. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich nun merkwürdigerweise, dass die Antennenschläge durchaus nicht gleichmäßig stattfinden. Vielmehr konnte ich bei allen von mir untersuchten Formen, ein- schließlich einiger Copepodenarten, feststellen, dass ihre aktiven Bewegungen periodischen Intensitätsschwankungen unterworfen sind, die mitunter große Regelmäßigkeit zeigen. Ich habe, um die loko- motorischen Reaktionen meiner Versuchstiere möglichst einwandfrei beschreiben zu können, zu dem Aushilfsmittel der graphischen Dar- stellung in Form einer Kurve gegriffen. Das Beobachtungsgefäß war mit einem Zentimetermaßstab versehen, so dass ich die auf- und abführenden Bewegungen des Versuchstieres (es wurden nie mehrere Tiere gleichzeitig ım Gefäß belassen) in ein Koordinaten- system eintragen könnte, ın welchem die Zeit (von Minute zu 8 Ewald, Über Orientierung, Lokomotion u. Lichtreaktionen einiger Cladoceren ete. Minute) die Abszisse, die Höhe des Tieres über dem Gefäßboden (in Zentimetern) die Ordinate bildet. Ich registrierte, indem ich mit dem Bleistift den Bewegungen des Tieres folgte, dessen Stellung im Gefäß von Minute zu Minute. Einige Beispiele solcher Kurven finden sich in den beigegebenen Figuren abgedruckt. Die graphische Regi- strierung der Bewegungen zweier Daphnia pulex geben z. B. die Kurven 1 u. 2. Die große Regelmäßigkeit der Bewegungen kommt darin sehr deutlich zum Ausdruck. (Auffallend ist die bedeutende Ampli- tude der Perioden; sie lässt darauf schließen, dass sich die Tiere in einem Erregungszustand befinden, dessen Ursache vielleicht darauf zurückzuführen ist, dass der Versuch nach 24stündigem Aufenthalt der Tiere im Dunkeln stattfand.) Die dargestellten Bewegungen sind von Kurve I. 3. VI. 1908. N 4 Ma WEOR H EL SET HM, J24 4 IND 55 BREERN m BER; ei Dap hnia magna 1. Spontane Lokomotionsperioden bei gleichmäßigem Oberlicht (elektrisch). beiden Versuchstieren bei konstanter Beleuchtung, unter Ausschluss aller weiteren Reizursachen, während je fast einstündiger Beobach- tungsdauer ausgeführt worden. Ähnliche periodische Bewegungen zeigten nun alle untersuchten Formen. Die Amplituden der Perioden können kleiner und größer sein, die Perioden selbst können sich über längere und kürzere Zeiträume ausdehnen, sie können mehr oder weniger unregelmäßig sein oder bei geringer Beweglichkeit der Tiere fast ganz verschwinden. Wenn sich aber deutliche Loko- motionen finden, so zeigen sie sich periodischen Schwankungen innerhalb gewisser Grenzen unterworfen. Der genaue Ablauf der periodischen Lokomotion ist ebenfalls sehr verschieden und hängt von dem Reizungszustand resp. der Beweglichkeit der Tiere ab. Bei Abwesenheit besonderer Reize pflegt der aufsteigende Teil der Ewald, Über Orientierung, Lokomotion u. Lichtreaktionen einiger Cladoceren etc. 9 Kurven durch verstärkte, der absteigende durch verringerte Antennen- schläge herbeigeführt zu werden. Es sieht aus, als ob das Tier periodisch zu einer größeren Beweglichkeit angetrieben werde, die es dazu bringt, mit ziemlicher Geschwindigkeit auf die Lichtquelle loszuschwimmen. Nach einer Weile werden aber die Antennen- schläge langsamer, größere Bewegungspausen treten ein und das Tier sinkt wieder abwärts. Je nach dem Erregungszustande können diese Bewegungen auch heftiger ausgeführt werden, indem die Bewegung zum Licht hin rascher erfolgt und das Abwärtsgehen nicht nur durch passives Sinken, sondern auch zum Teil durch aktive, nach unten gerichtete Schwimmbewegungen bewirkt wird. Kurve II. 4. VII. 1908. WM HH CBE WR WTB 3032 MIET 40 H2 Mi Daphnia magna2. Spontane Lokomotionsperioden bei gleichmäßigem Oberlicht (elektrisch). Aus dem über die Orientierung Gesagten geht hervor, dass die Lokomotion auch dann nach der Lichtquelle gerichtet sein muss, wenn diese sich seitlich oder unterhalb des Gefäßes befindet. Im ersteren Falle erhalten wır jedoch durch das Zusammentreffen von Licht und Schwerkraftwirkung Mischreaktionen, die dadurch veran- lasst werden, dass bei dieser Anordnung beide Kräfte rechtwinkelig zueinander angreifen. Das Tier wird gezwungen, nicht nur der seitlichen Lichtquelle zuzustreben, sondern auch der Schwerkraft entgegenzuarbeiten. Da nun z. B. Daphnia dem seitlichen Licht den Rücken zudrehen kann, ohne sich dabei wesentlich aus der Normallage zu entfernen und da außerdem die Bewegungsorgane durch ihre Anordnung am vorderen Körperpole von selbst eine auf- 40 Ewald, Über Orientierung, Lokomotion u. Lichtreaktionen einiger Cladoceren etc. wärts gerichtete Bewegung begünstigen, so wird die Seitenlicht- periode leicht undeutlich. Außer der horizontalen Wanderrichtung kommen schräg aufwärts oder abwärts führende Perioden vor, die mitunter sehr unregelmäßig werden. Charakteristisch für diese Ver- suchsanordnung ist, dass die Bewegung vom Licht fort niemals durch Absinken, sondern nur durch aktive Schwimmbewegungen erfolgen kann. Bedingung für ıhr Zustandekommen ist demnach ein gewisser Reizungszustand der Tiere, wie er weiter oben schon für aktive Abwärtsbewegungen vorausgesetzt wurde. Nimmt man den Tieren durch einen sehr niederen Wasserstand die Möglichkeit, sich anders als ın horizontaler Richtung zu bewegen und sind außerdem die erforderlichen Bedingungen für das Zustandekommen einer leichten Erregung erfüllt, so kann man die rein horizontalen periodischen Bewegungen sehr augenscheinlich beobachten. Folgen- der Versuch soll dies verdeutlichen. Versuch vom 8. VI. 1906. In einer flachen Schale wurden nacheinander Cyclops, Diaptomus, bosmina, Daphnia qua- drangula, einem mäßigen Lichte ausgesetzt. Sie sammelten sich in der dem Fenster zugekehrten (positiven) Ecke des Gefäßes, jedoch waren stets einige Individuen durch das Gefäß zerstreut oder in der entgegengesetzten (negativen) Ecke zu bemerken. Ich fing nun eine Zeitlang alle am negativen Pol des Gefäßes erscheinenden Tiere mit einer Pipette heraus. Der Erfolg war, dass nach einiger Zeit alle Tiere aus dem Gefäße entfernt waren. Somit hatten sich sämtliche Individuen an dieser Wanderung beteiligt und die sogen. „positive Reaktion“ charakterisierte sich als ein längeres Verweilen am positiven Pol des Grefäßes. Ich kann bei Gelegenheit dieser Befunde auf die Einschränkung zurückkommen, die ich mit bezug auf die Rädl’sche Beobachtung über die Orientierung von Daphnia machen musste. Diese Tiere sind tatsächlich nicht immer mit dem Rücken gegen seitliches Licht orientiert, sondern nur dann, wenn sie keine Wanderungen unter- nehmen. Der positive Teil der Perioden nötigt die Tiere bei hori- zontaler Wanderung, ihre Einstellung zum Licht zu ändern und der Lichtquelle die Stirn zuzuwenden. Die auffälligste Wirkung auf die Lokomotion hat von unten kommendes Licht. Da bei dieser Anordnung Licht und Schwer- kraft in einer Richtung wirken, so muss notwendigerweise die Lokomotion völlig aufgehoben werden und die Tiere können nur mehr gegen den Boden des Gefäßes gerichtete Bewegungen aus- führen. Das ist auch tatsächlich der Fall. Eine Ausnahme bildet 2) Im folgenden soll wie üblich der dem Licht zugekehrte Teil des Gefäßes und der Lokomotionen als positiv, der entgegengesetzten als negativ bezeichnet werden. Ewald, Über Orientierung, Lokomotion u. Lichtreaktionen einiger Oladoceren etc. 11 aber der negative Teil der Perioden, insofern das Tier die Be- wegung vom Licht fort durch aktive Ruderschläge unterstützt. Da aber aktive Bewegungen vom Licht fort, wie wir sahen, nur unter gewissen Bedingungen stattfinden, so werden wir oft beobachten können, dass Daphnien bei Unterlicht nach einiger Zeit wie fest- geleimt am Boden des Gefäßes liegen und das Abdomen nach oben, den Kopf nach unten gerichtet, rasche Zuckungen mit den Antennen ausführen, die höchstens ein Umherkriechen auf dem Boden zur Folge haben. Bei gewissen kleinen Formen, z. B. Daphnia quadrangula, Bosmina, gelingt es leicht, die spontanen Perioden der Lokomotion zu beobachten. Diese Tiere ordnen sich gewöhnlich in großen Scharen an einer bestimmten Stelle des Aquariums zu einer verti- kalen Säule von einigen Zentimetern Breite an. Innerhalb dieser Säule von Tieren ist ein fortwährendes Auf und Ab, ein Steigen und Fallen zu beobachten, welches zunächst ganz regellos und un- kontrollierbar erscheint. Fängt man aber eine Menge der Tiere mit einem Male heraus und setzt sie dann zusammen in das Gefäß zurück, so sammeln sie sich direkt unter der Oberfläche zu einem Haufen und fallen dann plötzlich alle gleichzeitig um einige Zenti- meter herab. Mehr oder weniger schnell beginnen dann die ein- zelnen Individuen wieder aufwärts zu streben, um, an der Ober- fläche angelangt, abermals abwärts zu sinken. Da aber ın der . Schnelligkeit der Lokomotion Unterschiede bestehen, so kommt es immer weniger zu einem Zusammenfallen der individuellen Perioden und schließlich entsteht wieder das oben geschilderte Bild regellosen Auf- und Abwimmelns. Es scheint mir in diesen „kleinen Lokomotionsperioden“ ein sehr weit verbreitetes Phänomen vorzuliegen, dessen Bedeutung für die Planktonorganismen ich im zweiten Teile meiner Arbeit teilweise zu erklären versuche. Nicht nur zeigen scheinbar alle planktonischen Entomostraken solche Perioden kurzer Dauer neben den täglichen, die eingangs beschrieben wurden; auch von Ciliaten ist mir münd- lich ein Gleiches berichtet worden. Für die Mysiden finden wir eine kurze Beobachtung über „regelmäßiges Hin- und Herschwimmen in der Richtung des Lichteinfalles“ bei Bauer. Bei Medusen habe ich im klaren Wasser der norwegischen Fjorde dieselbe Erscheinung be- obachtet, und Oltmanns beschreibt bis ins einzelne entsprechende Vorgänge bei Volvociden, die er als „Reihenmarsch der Volvor- Weibchen“ bezeichnet. Auch Pfeffer spricht von autogenen, perio- dischem Wechsel der Lichtstimmung bei Pflanzen. Dass man auch in Mückenschwärmen, bei Eintagsfliegen und ähnlichen Insekten ein Gleiches bemerkt, sei nebenbei auch ins Gedächtnis zurück- gerufen. Das Fliegen der Insekten zum Licht ist ebenfalls von periodischen entgegengesetzt gerichteten Flugbewegungen unter- 49 Ewald, Über Orientierung, Lokomotion u. Lichtreaktionen einiger Cladoceren ete. brochen, so dass auch hier kleine Lokomotionsperioden auftreten. Es ist selbstverständlich, dass im engen Beobachtungsgefäß der Ausfall der Perioden durch Anstoßen an die Gefäßwände, chemische Beschaffenheit des Wassers (s. weiter unten) etc. wesentlich modi- fiziert wird. Die Erscheinung selbst lässt sich aber, wie ich glaube, ganz einwandfrei beobachten. Diese Tatsache wirft auf viele bis- herige Versuche über Reizreaktionen planktonischer Organismen ein neues Licht und ist für die Kritik offenbar von großer Bedeutung. C. Die Reaktionen auf Lichtreiz. Das geschilderte normale Verhalten der Cladoceren ist die Folge einer Anzahl von Reizwirkungen, deren Analyse im folgenden ver- sucht werden soll. Zu diesem Zwecke ist es nötig, die Einwirkung Kurve III. 2. VI. 1908. 2 4 6 ER RULKHM Wr 426 3 30 32 3 36 Daphnia quadrangula 1. 5b Normales Wasser. 5h 10° Sauerstoffarmes Wasser. 5h 28° Sauerstoffreiches Wasser. Diffuses Tageslicht. verschiedener Reizursachen auf die Lokomotion der Cladoceren zu untersuchen. Aus der großen Zahl äußerer und innerer Reize, die einen Organısmus zu Reaktionen veranlassen, kommen zunächst das Licht und die chemische Zusammensetzung des Wassers, ferner die Temperatur, Erschütterung und elektrische Ströme für das Experi- ment in Betracht. Von diesen kann nun das Licht, wie wir ge- sehen haben, bei Ausbildung eines Lichtorientierungsorgans be- wegungsrichtend wirken, da die Lichtstrahlen ım allgemeinen von einer eng begrenzten Fläche, der Lichtquelle auszugehen pflegen. Im folgenden wollen wir versuchen, diejenigen Wirkungen des Lichts, die allein von seiner Intensität abhängen, von denen zu scheiden, die durch seine örtliche Konzentration zur Lichtquelle bedingt a + s % ” + [ + Ewald, Über Orientierung, Lokomotion u. Lichtreaktionen einiger Cladoceren ete. 13 werden. Die Ergebnisse der Versuche werden die Berechtigung dieses Vorgehens ergeben. Ich war bisher nicht in der Lage, meine Untersuchungen für eine größere Anzahl von Reizmitteln durchzuführen. Immerhin habe ich neben meinen Experimenten mit Lichtreizen einige Vor- versuche über die Einwirkung von Sauerstoffmangel und -überfluss sowie ein paar Beobachtungen über Erschütterungsreize gemacht, die mich zu der Ansicht brachten, dass die verschiedensten Reiz- mittel häufig zu gleichen Reizwirkungen Anlass geben können. Ein Reizmittel kann entweder durch seine absolute Intensität oder aber durch Schwankungen derselben wirken. Die Intensitäts- schwankungen können entweder in einer Erhöhung oder Herab- setzung der Intensität bestehen. Wir werden ım folgenden sehen, welche dieser Reizarten für die Cladoceren in Betracht kommen. Werfen wir zunächsteinen Blick auf die” Kurve‘ IV, Kurve IV. 4. VI. 1908. welche das Verhalten von Daphnia bei Lichtreiz (Er- höhung der Lichtintensität) veranschaulicht. Wir sehen das Versuchstier zunächst ın kleinen Ruheperioden auf- und abschwimmen, dann aber nach Eintritt des Reizes eine ‘starke Beweglichkeit zeigen, die es in rascher Folge von einem Ende des Gefäßes zum Daphnia quadrangula 2. 11h 25° Diffuses anderen führt. Die einzelne Licht (Öberlicht). 11h 35° Sonne Periode umfasst 2—5 Mi- 11h 55° Diffuses Licht. nuten. Meist bewirkt das Anstoßen an die Gefäßwand, resp. die Oberfläche, mehr oder weniger schnell die Umkehr; mitunter kehrt das Tier aber auch spontan im freien Wasser um. Die Reaktion auf den Lichtreiz ist momentan. — Man sieht zunächst, wie die Reizursache eine Vergrößerung der Amplitude der periodischen Bewegungen veranlasst. Man kann diese Reaktion als eine allgemeine Reizbeantwortung ansehen, die als Folgeerscheinung verschiedener Reizursachen auftritt. Bei weiterer Betrachtung der Kurve zeigt sich aber, dass die Amplituden der Bewegungen kleiner und kleiner werden, um schließ- lich den gleichen Umfang zu erreichen, den sie vor der Reizung be- saßen. Der Reiz ist abgeklungen, resp. das Tier hat sich der ver- änderten Belichtung adaptiert. Wir sehen hier ein Charakteristikum der Lichtreizung vor uns; der Lichtreiz wirkt nur ganz kurze Zeit, die Adaption tritt sehr schnell ein. Daraus geht schon hervor, dass nur Veränderungen der Lichtintensität als Reize wirken können, Ben A ERHEHBERTENE A Filsehl bejese EN EEE 144 Ewald, Über Orientierung, Lokomotion u. Lichtreaktionen einiger Cladoceren etc. nicht aber deren absolute Höhe. Die besprochene Lichtreizkurve ist typisch. Ich konnte bei Cladoceren auf Lichtreiz niemals Dauer- reaktionen erhalten; stets trat, wie in dem dargestellten Fall, nach kurzer Zeit Adaptation ein. Wenn im Endresultat doch dauernde Wirkungen der Lichtreizung auftreten, so müssen diese durch fort- gesetzte Einzelreize verursacht sein. Dass das tatsächlich stets der Fall zu sein scheint, wird sich weiter unten ergeben. Ich habe mir Mühe ge- geben, über das Wesen der Adaptation bei den Oladoceren Klarheit zu bekommen, indem ich die Augen von hell- und dunkeladaptierten Tieren teils in vivo, teils an Schnittserien untersuchte. Ich konnte aber weder Pigmentwanderungen noch sonst eine Veränderung konstatieren. Es wird sich dabeı also wahrscheinlich um feinere (chemische?) Vorgänge im Sehapparat, resp. den ner- vösen Üentren, handeln. Fig. 3. Bythotrephes. 2. Bewegungsreflexe. Wenden wir uns nun wie- der der Kurve zu, so sehen wir weiter, wie unmittelbar nach Einsetzen des Lichtreizes eine : rasche Entfernung des Ver- suchstieres von der Lichtquelle erfolgt. Damit zeigt sich uns i eine zweite, für die Be- > antwortung von Licht- 8 s „5 reizen bei Cladoceren Fig. 4, Lepiodora. u ganz charakteristische Erscheinung. Ebenso durchgehends ist das gegenteilige Phänomen zu beobachten: das Auf- suchen der Lichtquelle bei Verdunkelung. Diese beiden Bewegungs- reflexe, den positiven und negativen phototropischen Reflex, konnte ich an sämtlichen untersuchten Cladoceren und auch an einigen Copepoden (Diaptomiden) konstatieren. Sie dürften ebenfalls zu den allgemeinen physiologischen Eigenschaften des Zooplanktons gehören. Über den genaueren Ablauf dieser Reflexe möchte ich noch einige weitere Angaben machen. Was "zunächst die Analyse der dabei Ailireierlaen Bewegungen Ewald, Über Orientierung, Lokomotion u. Lichtreaktionen einiger Cladoceren ete. 15 betrifft, so können die Skizzen 2,3 u. 4 für Daphnia, Bythotrephes und ZLeptodora darüber Auskunft geben. Stellung 1 (in Fig. 4, Stellung 2) stellt die Normallage dar, während die beiden folgenden Stellungen während des Fluchtreflexes, also z. B. nach Erhöhung der Belichtung eintreten. Bei Erhellung werden nämlich die An- tennen rückwärts gedrückt und damit der Körper vornübergeneigt, erst in die Horizontale, dann abwärts. Darauf lassen die Antennen- schläge nach und das Tier sinkt in die Normallage langsam herab. Bei Verdunkelung dagegen erfolgt stärkeres Abwärtsschlagen der Antennen bei fast vertikaler Einstellung des Körpers. Die übrigen Figuren der Skizzen stellen die Veränderungen der Lage dar, welche das Versuchstier durchmacht, sobald es ın den Bereich einer zweiten, gleichstarken, aber unterhalb des Gefäßes angebrachten Lichtquelle gerät. Der Fluchtreflex erfolgt hier einfach in verkehrter Körperlage. Kurve V. 1. VI. 1908. 3 EHE are BEE Fe SE Peseen eene Se A ea E) = Se See = Sn Daphnia magna 3. Elektrisches Oberlicht. 94 40' Eine Papierblende aufgedeckt. 9h 48° Blende abgedeckt. 9h 55° Zwei Blenden aufgedeckt. 10h 20° Noch zwei Blenden aufgedeckt. 105 40° Zwei Blenden abgedeckt. a) Das relative Optimum. Aus der Tatsache der Adaptation geht bereits hervor, dass es bei den besprochenen Formen kein festes Optimum der Belichtung geben kann. Vielmehr muss das „Optimum“ jeweils bestimmt werden durch die Lichtintensität, für die das Tier adaptiert ist; Erhellung und Verdunkelung müssen als von dieser Intensität ausgehend gerechnet werden. Werfen wir einen Blick auf die Kurve V, in deren Verlauf das Versuchstier dreimal einer Verdunkelung des Lichts durch eingeschaltete Paus- papierfilter ausgesetzt wurde. Jedesmal sieht man das Tier auf den Reiz durch promptes Aufsteigen antworten; vier und zuletzt sechs Schichten Pauspapier wirken in gleicher Weise. Als aber zum Schluss durch Abdecken zweier Schichten eine geringe Er- hellung eintritt, geht das Tier sofort auf den Boden des Gefäßes herab, und zwar durch rasche, aktive Bewegungen. Obwohl also die absolute Lichtintensität zuletzt die gleiche war, die vorher als 16 Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Chermes (i. a. S.) III. Verdunkelungsreiz Aufsteigen veranlasst hatte, so kann sıe trotzdem ein Abwärtsgehen des Tieres bewirken, wenn sie auf eine geringere Intensität folgt. Das durch diese Kurve festgelegte Verhalten findet durch zahlreiche, weitere für Leptodora, Bythotrephes, Daphnia magna u. Ss. f. ausgiebige Bestätigung. Ein einfacher Versuch verdeutlicht diese Verhältnisse äußerst sinnfällig. Versuch vom 23. V. 1906. In einem länglichen Aquarium, dessen Längsachse dem Lichteinfall parallel stand, waren Daphnien ziemlich gleichmäßig verteilt. Wurde der Fenstervorhang zur Hälfte herabgelassen, so eilten sofort alle Tiere zur Lichtseite. Wurde er ganz geschlossen, so verstärkten sich diese Bewegungen. Öffnete ich aber wieder zur Hälfte, so erfolgte ein eiliger Rückzug der Tiere an die Zimmerseite. Es lässt sich demnach für die Cladoceren der Satz aufstellen: das „Optimum“ der Belichtung ist relativ bestimmt durch die Licht- intensität, an welche die Tiere adaptiert sind. Herabsetzen der Intensität hat Bewegung zum Licht hin, Erhöhen die Flucht vom Licht fort zur Folge. Streng genommen ist es also nicht richtig, von einem Optimum zu sprechen, da dieses Wort zunächst für absolute Werte in Anspruch genommen wird. Man sollte daher ausdrücklich von einem „relativen“ “oder „adaptiven* Optimum sprechen, resp. -diesen Ausdruck überhaupt vermeiden und „Adap- tationsintensität“ dafür setzen. Diejenige örtliche Region, in der das Licht die Adaptationsintensität besitzt, kann als „Adaptations- zone“ bezeichnet werden. (Schluss folgt.) Zur Biologie der Gattung Chermes (i. a. S.) III. Von Prof. Dr. O0. Nüsslin (Karlsruhe). Mit 4 Figuren. I. Wirtsrelation und Migrationstheorie. Die Börner’sche Hypothese der Umkehrung der Wirtsrelation bei den Chermesinen veranlasste mich schon zweimal (15, 16), in dieser Zeitschrift das Wort zu ergreifen, um das Irrtümliche dieser Hypothese auseinanderzusetzen. Börner hat darauf erwidert (10) und seine Hypothese neuerdings vollständig zurückgezogen. Er ist aber in bezug auf die mit seiner Hypothese zusammenhängenden Neu- benennungen und phylogenetischen Auffassungen, sowie in bezug auf die Wertungen der verschiedenen Generationen der Chermesinen- heterogonie und ihrer Wirte keineswegs zu den bewährten früheren Auffassungen zurückgekehrt, wie dies doch selbstverständlich hätte vorausgesetzt werden dürfen. Es liegt nicht im sachlichen Interesse, wenn ein Autor, der eine neue Grundhypothese aufgestellt und auf der Grundlage der- Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Chermes (i. a. S.) III. 17 selben die Nomenklatur und die biologischen und phylogenetischen Wertungen geändert hat, später infolge besserer Einsicht zwar die ‘ Grundhypothese fallen, die auf derselben beruhenden Änderungen aber bestehen lässt. Im Gegensatz zu dieser Handlungsweise war und bleibe ich ein Verteidiger der alten Lehre, so hoch ich auch die Verdienste Börner’s um die Systematik und Biologie von An- fang an geschätzt habe, wie aus verschiedenen Stellen meiner Ver- öffentlichungen (15, 16, 17) deutlich hervorgeht. Börner wirft mir in seiner Erwiderung (10, S. 119) mit Un- recht!) vor, ich hielte seine Hppothese der Umkehr der Wirts- relation für wesentlicher als seine anderen Funde. Und doch hatte ich ıhn als „Reformator“ der Uhermesinensystematik anerkannt, und seine Entdeckung der embryonalen hiemalis-aestivalis-Differen- zierung als eines der „wichtigsten“ Ergebnisse seiner Forschungen hervorgehoben (15, S. 122). Börner vergisst heute, dass nicht ich, sondern er selbst das Hauptgewicht seiner biologisch-phylogenetischen Forschungen auf die jetzt von ihm aufgegebene Hypothese der Um- kehrung der Wirtsrelation gelegt hatte. Ich schulde ihm für diese Behauptung einige Hinweise auf seine Schriften und will solche im nachfolgenden geben. In der Einleitung zu dem biologischen Kapitel seiner Monographie (2) sagte er S. 274: „Der Kenner wird beim Lesen der vorstehenden Abschnitte so- gleich bemerkt haben, wie ganz anders die Biologie der Chermiden bewertet wird, wenn man die sogen. „Zwischenkoniferen“ zu den ursprünglichen Wirtspflanzen, die Rottannen als Gallenträger zur Zwischenstation umstempelt. Und in der Tat ist mit dieser an- scheinend geringfügigen Verschiebung der Schlüssel zu meiner zwar neuen, aber einzig möglichen Auffassung der kom- plizierten Lebensgeschichte der Chermiden, wie ihrer Phylogenie gegeben’). Man vergleiche ferner die nicht nur gesperrt, sondern sogar fett gedruckten Stellen auf S. 277, 278 und 280 seiner Mono- graphie und die zuversichtlichen Ausdrucksformen dieser und anderer Stellen, und man wird mir beipflichten, dass nicht ich in meinen Abhandlungen, sondern Börner selbst besonders in seinem Haupt- werke seine Theorie der Umkehr der Wirtsrelation als den „Schlüssel seiner biologischen Auffassungen“ für die Cher- mesiden einst aufgefasst hatte. Börner irrt sich auch darin, dass er nach dem Wortlaut (10, S. 119) glauben macht, mir seine Ansichtsänderung in Sachen 1) Ich muss leider diesen Punkt berühren, weil er in der Korrektur bei Börner stehen geblieben ist, obgleich dieser ihn nach brieflichen Vorstellungen meinerseits hatte streichen lassen. 2) Vom Referenten gesperrt gedruckt, XXX, ID 18 Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Chermes (i. a. 8.) III. der Wirtsrelation „lange vor Erscheinen“ meines Aufsatzes brieflich mitgeteilt zu haben. Sein erster Brief, in dem mir diese Änderung mitgeteilt wurde, datiert vom 21. IX. 1908. Mein Aufsatz war aber schon am 11. IX. 1908 abgeschlossen und am 18. IX. 1908 abge- schickt! Noch in einem Briefe vom 19. VIII. 1908 hatte sich Börner zweifelhaft und skeptisch über eine event. Zurücknahme seiner Theorie der Wirtsrelation ausgesprochen. Seine Bekehrung von seiner „Hypothese der Umkehr“ zur alten Wirtsrelation schreibt Börner ausschließlich den Resultaten der Mordwiiko’schen Forschungen zu, welche gelehrt hatten, dass die ursprünglichen Pflanzenläuse vielfach polyphag gelebt hatten und dass mit der speziellen Anpassung einzelner Generationen an spe- zielle Wirte die diözische Heterogonie entstanden sein wird. Alle von mir beigebrachten Beweisgründe gegen Börner’s frühere Hypothese und gegen seine damit zusammenhängenden Neuerungen sind für ihn rein subjektive‘) Meinungen, welche ebenso für als gegen die alte Wirtsrelation ausgelegt werden könnten. Ich glaube, es ruhig dem Urteil der Fachgenossen überlassen zu können, ob das, was ich in Sachen der Wirtsrelation (16, S. 711—722) gegen Börner angeführt hatte, die obige Charakteristik Börner’s ver- dient und ob er mir in seiner Erwiderung (10, S. 119—135) gerecht) geworden ist. 3) 10, S. 135 zensiert mich Börner, indem er schreibt: „(Nüsslin unter- scheidet nicht streng genug zwischen subjektiven und objektiven Beweis- gründen).“ Dazu bemerke ich, dass ich allerdings im Texte niemals diesen Unter- schied betont habe, ich halte alle Annahmen in den schwierigen Fragen der Chermidenbiologie für hypothetisch. Börner hat dagegen in seiner Monographie (2, 8. 278) zwischen zwei subjektiven und einem objektiven Beweisgrund unter- schieden. In seiner Erwiderung (10, S. 130), nachdem er das ganze doch gewiss nur subjektive Gebäude seiner Wirtsrelation selbst wieder niedergelegt hat, das er doch zuvor mit so vielen gesperrt und fettgedruckten Sätzen gestützt hatte, gibt er selbst zu, dass auch seinem früheren einzigen „objektiven“ Beweis- grund „kein objektiver Wert“ zukomme. 4) An manchen Stellen legt Börner mir Ansprüche und Auffassungen unter, die ich nie geäußert hatte. Man vergleiche seine Darstellung auf S. 123 u. 124 (10) mit meinem vorsichtigen, zu nichts verpflichtenden und rein abwehrenden Text (16, S. 714 unter 4.). Ich hatte Protest erhoben gegen so dogmatische Meinungen Börner’s, wie sie der Satz: es sei „unmöglich?), die Artengliederung der Cher- miden auf ihre gemeinsame Gallenpflanze zu verlegen‘, indem ich sagte: „Die wirk- lichen Motive für die generische, z. T. auch für die artliche Spaltung, entziehen sich unserer Beurteilung.‘ Die einzige Tatsache, dass auf einer Wirtspflanze (Larix) so heterogene Formen, wie abietis, strobilobius und viridanus leben, hätte Börner doch warnen sollen, seine Meinungen in so schroffer Weise wie oben auszusprechen. Unter „Arten- gliederung“ hatte Börner in seinem obigen Zitat offenbar die früheren „Arten“ der Gattung C'hermes im Auge, nicht etwa die Artengliederung seiner Gattung Pineus, für welch letztere ich selbstverständlich den artbildenden Einfluss der Wirtspflanzen anerkenne, sagte ich doch selbst (16, S. 722), „Der Anstoß zur Änderung wird durch die Anpassung an den Zwischenwirt ausgelöst . . .“ Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Chermes (i. a. S.) III. 19 Ich fühle mich dem Leser dieser Zeitschrift gegenüber ver- pflichtet, auf längere polemische Erwiderungen zu verzichten. Im nachfolgenden ist es ohnehin öfters notwendig, aus sachlichen Gründen auf Börner’s polemische Darstellungen näher einzugehen. Ich möchte mich jetzt zu einem wichtigen Gegenstand wenden, zu der Frage, ob wir der durch die umfangreichen Forschungen Mordwilko’s (12, 13) veranlassten Theorie der Entstehung der Diözie aus der Polyphagie eine für alle Pflanzenläuse, oder aber eine nur für einen Teil derselben geltende Anerkennung zuerkennen dürfen. Ich bekenne mich zur letzteren Entscheidung und gestehe gern, dass obige Theorie für die ursprünglicheren Aphidinen, Lachninen und Schizoneurinen, bei welchen der Zwischenwirt eine einjährige Pflanze ist, welche zu Ende der Saison keine Gewähr für das Ge- deihen der Sexuales-Weibchen bietet, ein einleuchtendes Erklärungs- vermögen besitzt. Ich selbst habe (16, S. 715—717) aus dem Mord- wilko’schen Rohmaterial eine Theorie der Genese der Diözie aus der Polyphagie zu einer Zeit aufgestellt, als Mordwilko in seinen deutschen Publikationen (12) nur das Rohmaterial und einige Andeutungen gegeben hatte. Trotzdem kann ich dieser Theorie keine für alle Pflanzenläuse bindende Gültigkeit zusprechen. Überall da, wo die späteren Zwischenwirte mehrjährige Pflanzen sind, welche die Sexuales und Fundatrix aller Mutmaßung nach ebensogut zu ernähren vermögen, wie es die Urwirte vermochten, liegt kein zwingender Grund vor zur Rückkehr der Schlussgenerationen auf den Urwirt, und die Motive, welche Mordwilko speziell zu- gunsten seiner Theorie für die Chermesinen beigebracht hat (13), erscheinen kaum befriedigend. Börner lässt neuerdings (10, S. 134) die Urchermesinen poly- phag auf Laub- und Nadelhölzern leben und erblickt in „der Spezialisierung gewisser Generationen in Anpassung an die eine der beiden Wirtstypen“ (Haupt- und Zwischenwirt) den Anstoß zur Entstehung der Diözie. Obgleich ich gern zugebe, dass alle Äußerungen über die Ent- stehung der Diözie nur mehr oder weniger plausible Hypothesen darstellen, möchte ich doch für einen Teil der Pemphiginen und für die Chermesinen zu der alten Annahme zurückkehren, dass die Diözie durch gelegentliche Verirrung einer virgoparen Fliege und Anpassung ihrer Nachkommen an eine Zwischenpflanze ent- standen sein wird. Zugunsten dieser Annahme möchte ich ganz besonders dıe Pem- phiginen, z. B. P. nidifieus-poschingeri anführen. Hier ist der Ur- wirt die Esche und die virgopare Migransfliege lebt auf deren Blättern, die Fundatrix auf den Blattstielen. Die virgopare Migrans- fliege sitzt reif, schwer und geburtsschwanger geworden, an Blättern und Stielen, und ist bei jedem Wind und Wetter in der Gefahr, 30 Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Ohermes (i.a. 8.) IH. herabgeschleudert zu werden. Ihr Flug ist schwerfällig und un- sicher, ım Gegensatz zur Sexuparafliege derselben Spezies, die statt 30--40 Junge wie die erstere nur 4—8 Junge im Leib enthält und dazu weit zahlreichere Riechgruben an den Fühlern trägt, also viel flug- und orientierungsfähiger ist. Dazu kommt, dass die Migranstliege, reif geworden, ihre Jungen sofort ablegen muss. Als die Spezies noch monözisch lebte, hatte die Migransfliege von Esche zu Esche zu fliegen. Wie viele mögen im Laufe der phylogenetischen Entwickelung unfreiwillig zu Boden gefallen sein! Diese mussten aber ihre Jungen rasch gebären, und zwar Junge von besonderer Behendigkeit und mehrtägiger Lebensdauer selbst ohne Ernährung. Solche Exsulans-Jungläuse, die heute nur an Tannenwurzeln gedeihen können, mögen einstens, durch Zufall an Tannen ver- schlagen, die Anpassung eingeleitet haben. Wissen wir doch, dass nicht selten Schädlinge, die für monophag gegolten haben, durch Gelegenheit an ganz andere als die gewohnten Wirte gegangen und daselbst gediehen sınd. Wollten wir die Enntstehung der Diözie aus der Polyphagie ableiten, so müssten wir in dem speziellen Falle von P. nidificus- eine extrem weitgehende Polyphagie annehmen: ein Leben an den Blättern der Esche einerseits und an den Wurzeln der Tannen andererseits, und dazwischen an allen möglichen anderen Wirten, kurz gesagt eine Allerweltspolyphagie. Eine solche extreme und ausgedehnte Polyphagie erscheint im höchsten Grade unwahrscheinlich, um so mehr, als die Pemphiginen auch ın zahlreichen anderen Arten zwei so extreme Wirte zeigen, einerseits Laubholzblätter, andererseits unterirdische Wurzeln, so dass die Hypothese des unfreiwilligen Abstürzens zum Boden und der gelegentlichen Anpassung an Bodenpflanzen nahegelegt wird. Da speziell für die Öhermesinen die Ableitung der Diözie aus der Polyphagie durch keinerlei Tatsache gestützt sind, so liegt kein Grund vor, die frühere Migrationshypothese, welche von der Migrans abgeleitet wird, zu opfern. Man könnte sich vorstellen, dass es einst eine Anzahl monözisch lebender Chermes-Arten auf der Fichte gegeben hat, die sich ins- besondere durch den verschiedenen Ort der Saugstelle der Fundatrix (bei Pineus fern von den Knospen, bei strobilobius an der Basıs der Knospen, bei abietis und pectinatae auf der Knospe selbst) und durch Modifikation des Gallenbaus differenziert hatten. Diese Spezies passten sich durch Verschlagung ihrer geflügelten Wanderläuse, die wie bei Mindarus abietinus ın bezug auf die Tanne zunächst nur die Aufgabe und Tendenz gehabt hatten, von Fichte zu Fichte fliegend für die räumliche Ausdehnung ihrer Ver- breitung zu sorgen, durch gelegentliche Flüge auf Kiefern, Lärchen, Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Chermes (i. a. 8.) III. 21 Tannen an diese Wirte an, indem die Nachkommen der Migrantes zum Teil auf diesen fremden Wirten Gedeihen fanden. Ihre nächsten oder übernächsten Generationen lieferten geflügelte Sexuparen, deren vererbter Geruchsinstinkt zur Fichte zurückführte. Im Laufe der Zeit wurden solche zufällige Vagabunden zu ge- wohnheitsmäßigen Emigranten, weil die erhöhte Anpassung ihrer Nachkommen die Vererbungstendenzen der folgenden Generationen in diesem Sinne beeinfiusst hatten, indem sie neue mnemetische Potenzen zu den altvererbten gemischt hatten. Diese Vermischung der alten Potenzen mit den Quoten, die durch die Anpassung auf verschiedene neue Nebenwirte hinzugekommen waren, wirkten ım Sinne der Artbildung umgestaltend und erweiterten die Kluft der ehemaligen Ohermes-Arten zu Chermiden-Gattungen, bezw. Untergattungen. Andererseits entstanden neue Arten durch An- passungen an verschiedene Kiefern und Tannen-Arten. In diesem Sinne möchte ich auf die Gattung Pineus hinweisen. Sie war vielleicht schon im monözischen Fichtenstadium generell von den anderen Chermesinae geschieden, so verschieden ist sie ın morphologischer und biologischer Hinsicht, so verschieden ist auch der Ort der Saugstelle der Fundatrix und der Bau der Galle, welche letzteren Charaktere wir als die primären Wurzelmotive zur Artsonderung betrachtet haben. Nachdem hei Pineus die obligatorische Diözie mit Migration auf die Kiefer eingeführt war, kam eine neue Artsonderung in Fluss, indem sich in Anpassung an verschiedene Kiefernarten (oder Arten- gruppen) neue Formen sibirieus, pini, strobi entwickelten. Vielleicht müssen wir sogar noch Varietäten unterscheiden. Vielleicht ist orientalis doch nicht synonym mit pini, andererseits scheint sich durch Rückanpassung an Fichte aus strobi, einer Art, die bei uns unter Schwächung der Geschlechtsgeneration zu energischer Par- thenogenese neigt, pineoides gebildet zu haben. Ein Teil der Migrantes war aber der Fichte treu geblieben und lieferte ohne Emigration Sexuparen und Sexuales. Da aber nach und nach der diözische heterogenetische Zyklus größeren Er- folg gewonnen hatte, wurde die Sexualität der Fichtenserie ungünstig beeinflusst und letztere zu einer rein parthenogenetischen bimorphen Heterogonie herabgemindert (mein „B-Zyklus“). Bei einem Teil der Arten (Pineus-Arten, piceae, pectinatae) verschwand der B-Zyklus vollständig. An dessen Stelle gediehen hier die O-Zyklen, insbe- sondere infolge der Anpassung an die Rinde, welche nüsslini, piceae und strobi heute bis zur Gefährdung der Amphigonie geführt haben. Das Vorhergehende sind rein hypothetische Exkurse, welche ich nur aus dem Grunde weiter ausgesponnen habe, weil neuerdings Börner und Mordwilko, ersterer mit eiliger Preisgebung seiner biologischen Grundhypothese, die alte Auffassung verlassen haben , 22 Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Chermes (i. a. S.) III. ohne bei den Chermesinen für die Entstehung der Migration aus der Polyphagie annehmbare und gewinnende Motive beigebracht zu haben. Behalten wir doch die bisherigen Anschauungen bei, ehe wir etwas Besseres an ihre Stelle setzen können. 11. Phylogenetische Wertung der Wirte und Generationen. Nomenklatur. Wie aber auch die Entscheidung ausfallen mag, ob wir mit Mordwilko die Diözie aus der Polyphagie ableiten oder nach früherer Auffassung aus dem gelegentlichen Überflug der virgo- paren Fliege monophager Arten und Anpassung ihrer Nach- kommen auf dem neuen Wirte, ın beiden Fällen müssen wir uns bewusst bleiben, dass eine der Wirtspflanzen der Haupt- bezw. Urwirt ist, die andere der Neben- oder Zwischenwirt. Bei Anerkennung der älteren Migrationshypothese ist diese Folgerung von Anfang an selbstverständlich, bei Annahme der Mordwilko’- schen Hypothese tritt der Unterschied zwischen Haupt- und Zwischen- wirt von dem Momente an deutlich in Erscheinung, wann die fakul- tative in die obligatorische Diözie übergeht. Von dem Moment an vermag nur ein Wirt den Anfang und den Schluss des diözischen Heterogoniezyklus zu ernähren, das ist eben der Hauptwirt, bei den Chermesinen die Fichte, während der Neben- oder Zwischenwirt nur die mittleren Generationen er- nähren kann. Da ferner in einer früheren Periode, in einem ursprünglicheren Stadium die Heterogonie eine geringere Anzahl von Generationen enthielt, die pentagenetische bezw. pentamorphe Heterogonie aus einer tetra- bezw. trimorphen Heterogonie hypothetisch abgeleitet werden muss, da ferner die Diözie aus der Monözie entstanden ist, so muss die Fichte bezw. die auf der Fichte lebende Generations- serie als archaistischer betrachtet werden als die Generations- serie auf den übrigen Koniferen: auf Lärche, Tanne und Kiefer. Wenn ich daher in meiner ersten Erwiderung die penta- bis hepta- genetische diözische Heterogonie heutiger Chermiden von einer trigenetischen monözischen Heterogonie, wie wir solche heute bei Mindarus vorfinden, abgeleitet hatte, so war dies durchaus logisch, gleichgültig, ob Mindarus heute abgeleitet oder primär trigenetisch ist. Jene Ableitung war rein hypothetisch gemeint und in diesem Sinne auch berechtigt. Börner war es, welcher den Wirt, auf welchem die Fundatrix und die Sexuales leben, als sekundären Zwischenwirt einführen, und Kiefer, Lärche, Tanne als ursprüngliche Wirte anerkannt wissen wollte. Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Chermes (i. a. S.) III. 33 Börner war es ferner gewesen, welcher die auf der Kiefer, Lärche, Tanne lebenden „Virgo“-Generationen als den Ausgangs- punkt, als die ursprünglichen Generationsformen aufgefasst hatte und die Sexupare auf die Fichte ausschwärmen ließ, um auf diesem Zwischenwirt durch Anpassung der Sexuales und der nachfolgenden Generationen neue Arten entstehen zu lassen. Börner gegenüber halte ich es für sehr geboten, die nach- folgenden Folgerungen aus beiden bisher vertretenen Migrations- hypothesen mit allem Nachdruck zu betonen. 1. Haupt- oder Urwirt und Neben- oder Zwischenwirt müssen scharf unterschieden werden. Börner hält es für „nicht zweckmäßig, den einen oder anderen zum ‚Nebenwirt‘ zu degradieren, da die Versuchung zu groß ist, die auf diesem Zwischenwirt lebenden Generationen als, Schaltglieder‘ nicht recht als vollwertig zu betrachten“ (10, S. 134). In dieser Schlussbegründung liegt der gegensätzliche Charakter seiner ganzen Auffassung gegen- über Cholodkovsky und mir deutlich ausgesprochen, wie sich in der Folge zeigen wird. 2. Die Reihenfolge der Generationen muss in der Weise numeriert werden, dass die erste und letzte Gene- ration des Hauptwirtes Anfang und Ende darstellt. Börner hatte „nach reiflicher Überlegung die einzelnen Generationen der Chermiden nicht mehr numeriert...“ (10, S.135). Früher hatte er jedoch im Sinne seiner umgekehrten Wirtsrelation numeriert, und er wendet sich neuerdings mit Unrecht gegen diese Darstellung meinerseits). 3. Der Migrationscharakter der Chermesinenhetero- gonie muss deutlich markiert werden und in der Nomen- klatur der Generationsserie zum Ausdruck gelangen. Der- jenigen Generation, welche als virgopare Fliege die Wanderung vom 5) (10, S. 136): „Wenn übrigens Nüsslin meiner Virgo den Sinn beilegt, dass sie die erste Generation des ganzen Zyklus sei?).. ., so befindet er sich damit in einem mir nicht begreiflichen Irrtum“. Ich möchte darauf Börner erwidern, dass der Irrtum doch auf seiner Seite liegen muss. Weshalb hat er denn die Virgo (das Stammvolk) mit 1. numeriert (1, S. 427), weshalb begann er die morphologische und biologische Darstellung der einzelnen Arten stets mit der III. Generation, statt mit der Fundatrix, weshalb stellte er die dichotomische Tabelle (2, S. 292) so dar, dass sie mit der Hiemalis beginnt? Diese Frage wird er heute am besten mit dem Eingeständnis beantworten können, dass er eben irrtümlich den Zwischenwirt für den Hauptwirt und das Zwischenvolk (Exsulans) für das Stamm volk gehalten und damit eine Konfusion in der Chermidenbiologie veranlasst hatte. Gewiss hätte Börner z. B. seiner Gattung Pineus, als sie noch monözisch war, die Reihenfolge im Sinne unserer bisherigen Darstellung gegeben. Nachdem Pineus aber diözisch geworden war und die Funda- trix sich auf den Zwischenwirt verschoben hatte, begann Börner seinen Zyklus mit dem Stammvolk (Virgo, Hiemalis) als der ersten Generation. 24 Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Chermes (i. a. S.) III. Haupt- zum Zwischenwirt bewirkt hat und immer wieder aufs neue bewirkt, muss der Name Migrans erhalten bleiben, mag man adjektivisch ihren cecidogenetischen Charakter durch Migrans cel- larıs kundgeben oder nicht. Ebenso müssen die ausschließlich auf dem Zwischenwirt lebenden direkten oder späteren Abkömmlinge der Migrans mit einem charakteristischen Namen belegt werden. Blochmann hatte sie 18389 „Alienicolae“ genannt. Dieser Name, obwohl einfach und zutreffend, fand weder bei Dreyfus noch bei Cholodkovsky Aufnahme. Cholodkovsky, dessen fruchtbare und erfolgreiche O'hermes-Forschungen fast zwei Dezennien die Vorherrschaft geführt hatten, führte die Namen Emigrans und Exsul, daneben Funda- trix spuria und intermedia ein. In meiner letzten Publikation (16) verwendete ich die allgemein gebräuchlich gewordenen Namen Cholodkovsky’s ım strengsten Sinne, d. h. in dem Sinne, dass Emigrans immer die Tochter einer Migrans sein muss, Exsul oder Exsulans dagegen der ungeflügelte Nachkomme einer Emi- grans, gleichgültig in welchem Deszendenzgrade. Ich habe deshalb folgerichtig bei Dreyfusia piceae, bei welcher Art wir noch nicht sicher die Migrans kennen, nur von Exsuläntes gesprochen. Börner hat mit Recht den alten Namen Emigrans für eine Generation, welche nicht mehr aktıv wandert, sondern ein Kind eines Wanderers ist, sprachlich gerügt. Da ich ıhm darın beistimme, andererseits auch den strengeren Unterschied zwischen Emigrans und Exsulans nicht für besonders wichtig halte, lasse ich jetzt Emigrans ganz fallen und setze schlechtweg Exsulans an Stelle von Emigrans — Exsulans, um so mehr als ich hierdurch bei derjenigen alten Nomenklatur, die auch sprachlich richtig ist, verbleibe und das Neue, insbesondere die besonders wichtige Ent- deckung einer embryonal fixierten Aestıvalis, event. in adjek- tivischer Form, annehmen kann. An Stelle meiner früheren „Emigrans“‘) setze ich jetzt 6) Börner hat mit Unrecht die Gleichsetzung meiner Emigrans mit seiner Hiemalis gerügt, wenn er (10, S. 136) sagt: „Ebenso ist Nüsslin’s Homologi- sierung meiner (Virgo) Hiemalis mit der alten Emigrans unzutreffend.“ Sehen wir einmal, welche Bezeichnungen Börner an Stelle meiner Emigrans bei den einzelnen Chermesinen-Arten gesetzt hat, so gelangen wir nach Ausweis seines Hauptwerkes zum Nachfolgenden: 3ei Chermes abietis: statt Emigrans: Hiemalis (2, S. 125). „ Dreyfusia peiceae: statt Emigrans: Hiemalis (S. 138). „ Dreyfusia pectinatae: statt Emigrans: Hiemalis (S. 147). „ Onaphalodes strobilobius: statt Emigrans: Hiemalis (S. 153). „ Pineus-Arten: statt Emigrans: Hiemalis (S. 258, 267) oder Virgo (-Hie- malis (S. 172, 184, 188). Wo liegt nun das Unzutreffende, zumal ich, auf Pineus anspielend, hinzufügte (16, S. 725): „Wo nun Emigrans und Exsulans morphologisch gleichwertig sind, vermied Börner die Ausdrücke Hiemalis und Aestivalis und setzte dafür Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Chermes (i. a. S.) III. 25 Exsulans vernalis, als derjenigen Generation, deren Entwicke- lung und Reife normal durch die Frühjahrssäfte ausgelöst wird. Dass unter günstigen Spätsommerverhältnissen die Exsulans vernalıs vor der Überwinterung zur Entwickelung gelangen kann, ist kein Grund, um die Richtigkeit der Namengebung zu erschüttern, solche Ausnahmen kommen vielfach vor. Wie wir wissen, überwintern der Pappelspinner und die Nonne als Ei (junge Larve ım Ei), der Maikäfer als unterirdische Imago, ausnahmsweise können aber erstere als Larven, letzterer als Imago sich schon im Spätsommer oder Herbst bemerkbar machen. Aus Ausnahmen können Regeln werden, wie ich solches bei Dreyfusia für erwiesen halte, und wie eine solche Regel z. B. bei dem Schwammspinner in Amerika eingetroffen ist, der dorthin ver- schleppt wurde und daselbst zwei Generationen erzeugt, während bei uns nur eine zustande kommt. Wie schon früher (16) muss ich auch heute den Börner’- schen Ausdruck Hiemalis bekämpfen, sowohl für dıe erwachsene Frühjahrsgeneration, als für die in der Regel überwinternden Larven. Denn auch auf die durch Chitinsklerite und Wollaus- scheidung gefestigte „Latenz“- oder „Beharrungs“-Larve würde der Ausdruck Hiemalis nicht passen, abgesehen davon, dass der Namengeber unter Hiemalis die ganze I. Generation der auf dem Zwischenwirte lebenden Serie verstanden hat. In bezug auf die Latenzlarve sagt Börner (10, S. 142) mit Unrecht: „Aber die Latenzlarve ist nicht das Hauptcharakteristikum des Hiemalistypus, sondern seine Winterfestigkeit überhaupt, die den Aestivales nicht eigen ist.“ In ähnlicher Weise sagte Börner schon früher (1) S. 423: „Den Winterläusen ist die Winterruhe zur Notwendig- keit geworden, während die Sommerläuse unfähig sind, einen Winter zu überdauern ?).“ Börner beharrt mit obigem auf seiner Benennung der ersten Frühjahrsgeneration als Hiemalis und er- blickt nicht in der Latenz, sondern ın der Winterfestigkeit das Hauptmoment. Demgegenüber kann ich heute feststellen, dass schlechtweg Virgo, oder er wählte Zusammensetzungen wie Virgo-Hiemalis...? Da Börner mir unter dem 20. August 1908 geschrieben hatte, dass er „prinzipiell Hiemalis — Emigrans setze“, so kann ich obige Charakteristik mir gegenüber nur dadurch erklären, dass er durch das Hin- und Herschwanken und Ändern seiner Nomenklatur selbst in der Auffassung der Namen irre geworden sein muss. Die Verwirrung muss noch wachsen, nachdem er jetzt an Stelle der Hiemalis Virgino- genia hiemalis gesetzt hat, eine Neuerung, derich an anderer Stelle entgegengetreten bin. Auch mit dem Ausdruck Aestivalis hat Börner zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten nicht streng das gleiche gemeint. Obgleich eine Aestivalis im Börner’schen Sinne erst da zu Recht besteht, wo dieselbe von der Hiemalis geschieden ist, spricht er doch bei Pineus von Virgo-Aestivalis (2, 8. 175) und sogar schlechtweg von „Aestivalis‘“ (2, S. 258)! 26 Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Ohermes (i.a. S.) III. einerseits in den Jahren 1907, 1908 und 1909 aus nüsslini-Latenz- larven schon im August und September „Hiemalis“-Mütter massen- haft hervorgegangen sind, wie andererseits 1909 die von Börner als „Aestivales“ aufgefassten piceae-Spätsommergenerationen den Winter über als Mütter mit ihren Eiern ausgedauert haben und, um Mitte März ins Zimmer gebracht, alsbald Jungläuse auskommen ließen. Da 1909 erst am 19. März das Frostwetter vorübergehend aufgehört hat, konnten die am 17. März gefundenen lebenden pireae- Mütter und Eier nur vom Spätsommer stammen. Ich kann damit die Beobachtung Cholodkovsky’s, dass auch pectinatae im Eizu- stande zu überwintern vermag, auch für Dreyfusia bestätigen und bin genötigt, meine frühere Vermutung der ausschließlichen Über- winterung der Chermesiden im Larvenzustande zu berichtigen. Wir wissen jetzt, dass es Chermesiden gibt, welche für die überwinternde Exsulansgeneration sowohl als Mutter, wie Ei, sowohl als weich- häutige nackte Larve (Pineus), wie als chitingefestigte, zum Teil auch durch Wolle geschützte Larve überwintern können. Andererseits überwintert die phylogenetisch ältere Fundatrix stetsals chitingefestigte und durch Wachswolle geschützte Larve, wodurch eben der sekundäre jüngere Charakter der der Fundatrix parallelen Zwischenwirtsgeneration (Exsulans) hervorgeht. Nicht die Winterfestigkeit, sondern die Latenzfähigkeit ist das charakteristischste Moment der Exsulanslatenz- larve: die Sommermitte lässt die Tannenlatenzlarven latent ver- harren. Ein Teil erwacht schon im August, September und Oktober zur Tätigkeit, ein Teil erst im Frühjahr, und zwar höchstwahrschein- lich durch Saftströmungen ım Wirt. Da die große Mehrzahl der Latenzlarven der Tannenspezies und, wie es scheint, die Exsulanslarven der Lärchenspezies erst im Frühjahr zu Wachstum und Fortpflanzung erwachen, so darf die betreffende erste Generation auf der Zwischenkonifere nicht Hie- malis, sondern muss Exsulans vernalis genannt werden, letzterer Ausdruck an Stelle der früheren Emigrans bezw. der überwintern- den Exsulans ı. e. S. Ihre Larven müssen aber Latenzlarven genannt werden, nicht Hiemales, denn der Charakter der Überwinterung trifft nur für einen Teil zu, die Latenz für alle. Wir handeln sowohl mit der Kreierung des Namens Vernalis wie mit dem Vorschlage, an Stelle der „Winterlarve* Latenz- larve zu setzen, in voller Analogie zu den ähnlichen biologischen Verhältnissen bei Entomostraken, wo wir besser von Latenzei als von Winterei sprechen. Auch für die oben erwähnten Vorkommnisse gibt es Analogien bei den Entomostraken, nämlich bei denjenigen polyzyklischen Formen, bei welchen die vorzeitige Entwickelung der Latenzeier zur Regel geworden ist. Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Chermes (i. a. S.) III. Dr Aller Wahrscheinlichkeit nach kommt auch bei Chermesiden eine solche zur Regel gewordene vorzeitige Entwickelung der Exsulanslatenzlarve vor, wodurch Zyklen von Exsulansgenerationen entstehen, die aus Latenzlarven hervorgehen. 4. Die Generationsserie auf dem Hauptwirt muss, ent- sprechend der Genese der Diözie aus der Monözie, als archaistischer aufgefasst werden, als die Generations- serie auf dem Zwischenwirt. Weil die Generationsserie auf der Fichte älteren Ursprungs ist als die Exsulansserie auf dem Zwischenwirt, deshalb konnten sämtliche Chermidenarten gefestigte Fundatrix-Latenzlarven er- werben ?). Aber nicht alle Chermiden haben es auch in der Exsu- lans-Generation zu Latenzlarven gebracht. Die Pineus-Arten, die wegen der Reduktion ihrer Stigmenzahl als jüngere Glieder des Chermidenphylums angesehen werden müssen, sind auf einer niederen Stufe stehen geblieben, mdem ihre Exsulanslarve den ursprüng- lichen nackthäutigen Zustand bewahrt hat. Weil die Fichtenserie älter ist, erscheint nicht nur die Funda- trixlarve bei allen Gattungen gefestigt und mit Wolle ausgestattet, sondern diese Larve ist, soweit bekannt, stets der Winterruhe bedürftig geworden. Anders bei der Exsulans auf der Zwischenkonifere. Hier gibt es einmal überwinternde Larven, welche noch keine schützenden Attribute erworben haben (Pineus); es finden sich auch Formen, bei welchen die Exsulans-Latenzlarve der 7) Börner ist (10, S. 131) gar nicht auf meinen Gedankengang eingegangen, sondern polemisiert gegen Dinge, die ich nirgends vertreten hatte. „Die Diffe- renzierung virgogener Winterlarven hat mit der Entstehung der Fun- datrix-Winterlarve nichts zu tun...“ Gewiss nicht? Wer hat das be- hauptet? Mein Abschnitt 9 (16), S. 720 sucht wahrscheinlich zu machen, dass die Fundatrix die ursprünglichere Form und damit die Fichte der Urwirt ist, weil bei allen Arten der Chermiden schon Fundatrix-Latenzlarven gebildet worden sind, während bei den auf den Zwischenwirten lebenden Exsulans-Gene- rationen Latenzlarven noch nicht durchweg zur Ausbildung gelangt sind, und zwar noch nicht bei der phylogenetisch jüngeren Pinerni-Gruppe. Wäre eine Zwischenkonifere, wie dies Börner mit so großem Nachdruck ver- fochten hat, der Urwirt, dann wäre die auf dem Börner’schen „Zwischenwirt‘“ (1), S. 427 (Fichte), entstandene Fundatrix eine jüngere Form, die erst durch Anpassung der Sexuparen an die Fichte (1), S. 426, entstanden ist. Gerade für die Pineini müsste aber eine Exulans-Latenzlarve zur Ausbildung gelangt sein, wenn die Börner’sche Anschauung zu Recht bestanden hätte, sagte er doch (1) S. 419: „Cholodkovsky beginnt mit Chermes abietis-viridis und strobilobius-lapponicus, ich halte diese hingegen für die jüngsten Zweige des Chermidenphylums?. Wir müssen die Pineus-Arten als die bio- logisch tiefste Stufe zum Ausgangspunkt unserer biologischen Unter- suchungen machen.“ Es soll hier nicht verschwiegen werden, dass Börner in seinem Hauptwerk (S. 123) C'hermes (abietis-viridis) als die „relativ ursprünglichste Gruppe‘ bezeichnet hat und auch ganz in meinem Sinne Pineus als abgeleitet, aber biologisch auf einer niederen Stufe stehen geblieben aufgefasst hat. 28 Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Chermes (i. a. S.) III. Winterruhe gar nicht bedarf (Dreyfusia), es können desgleichen Exsulans-Mütter und Eier überwintern (Eier bei pectinatae und piceae). Diese noch nicht gefestigten, noch schwankenden Charaktere müssen wir mit dem jüngeren phylogenetischen Alter der Exsulans in Zusammenhang bringen. Das jüngere phylogenetische Alter der Exsulans erklärt uns auch die große Mannigfaltigkeit der Exsulans-Zyklen (meiner C-Zyklen). Sıe sind wahrscheinlich heute noch in der Weiterbildung begriffen, wie dies aller Vermutung nach bei Dreyfusia der Fall sein wird, bei welcher sich wohl die Stammrindenform (piceae Ratz.) aus der Trieb- und Nadelform (nässlini CB) entwickelt hat‘) oder noch entwickelt. Auch die große Variabilität und Anpassungsfähigkeit einzelner Exsulansformen gegenüber der Fundatrix°), ıhr Auftreten an verschiedenen Wirten und Wirtsorten, die Sonderung in Ver- nalıs und Aestivalis, die bei den verschiedenen Gattungen in verschiedenem Grade ausgesprochen ist, die Neigung zur Degenerierung der amphigonen Nachkommen, zur Bildung rein parthenogenetischer Fortpflanzungszyklen, welche noch ıimpotente Rückfälle zur Amphigonie enthalten können (Dreyfusia nüsslini CB), sprechen für eine nur jüngeren Formen eigene Umbildungstendenz. (Gerade umgekehrt ıst in der phylogenetisch älteren Fichten- serie eine regelmäßige Starrheit und Einfachheit entstanden. Der alte „B“-Zyklus (16, S. 740 und 747) zeigt keine Rückfälle zur Gamogenese mehr, tritt regelmäßig nur bigenetisch auf, was auf eine lange phylogenetische Periode schließen lässt, ın welcher der völlige Ausfall der Sexupara- und Sexuales-Generationen ohne jegliche Neigung zum Rückfall Gesetz geworden ist !P). 111. Parthenogenetische Spezies. Nur in einem Punkte scheint heute noch eine Weiterentwicke’ lung der Fichtenserie, in dem Sinne einer Divergenz zwischen den Generationen des „A*- und „B*-Zyklus, stattzufinden. Cholodkovsky hat zuerst diese Unterschiede hervorgehoben und ist so weit gegangen, dass er beide Zyklen zuletzt als ver- schiedene Arten (Chermes viridis und abietis, Onaphalodes strobilobrus und /apponicus) getrennt hat. 8) Börner vertritt die entgegengesetzte Entwickelungsrichtung. 9) Börner selbst spricht (7, S. 16) bei der Reblaus von der „beschränkten Anpassungsfähigkeit der Fundatrix“, und sagt weiter, „nur die Virgogenia‘ (die der Exsulansserie entspricht) „der Reblaus, die verderbliche Wurzellaus, hat es verstanden, sich der Europäerrebe weitgehend anzupassen, was der Fundatrix bis auf den heutigen Tag nicht recht geglückt ist“. 10) Im Gegensatz zu meiner Auffassung hält Börner den „Monoeca“- Zyklus für das jüngste Glied des Uhermidenphylums. Nüsslin, Zur .Biologie der Gattung Chermes (i.a. S.) III. 99 m Börner hatte bekanntlich die genannten Arten als Parallel- reihen je einer Art Ohermes abietis und Cnaphalodes strobilobius wieder vereinigt. Er hat dies getan, einmal weil er keine kon- stanten Unterschiede innerhalb der Fundatrices finden konnte, vor allem aber, weil er glaubte, in einer von ein und derselben Fun- datrix erzeugten Galle sowohl monözische Fliegen des „B-Zyklus“ als auch diözische Fliegen des „A-Zyklus“ gefunden zu haben. Ich hatte dieses letztere Argument als ein experimentell gesichertes und völlig beweiskräftiges aufgenommen und war mit Börner zur älteren Dreyfus’schen Auffassung zurückgekehrt (15, 16). Neuerdings hat jedoch Cholodkovsky (11, 8. 77Ofl. und 771, Fußn. 5a) einerseits seine Experimente zugunsten seiner Auffassung zum ersten Male mitgeteilt, andererseits die Möglichkeit nahegelegt, dass in dem Börner’schen Falle der Mischgallen Fundatrices von beiden Formen die Galle erzeugt und ın eine und dieselbe Galle ihre Larven entlassen haben konnten, so dass die endgültige Ent- scheidung über Trennung oder Vereinigung obiger Formen zurück- gestellt werden muss. Bis dahin müssen wir zu der Nomenklatur Cholodkovsky’s zurückkehren. Phylogenetisch sehr interessant wäre es, wenn der Unterschied zwischen der Fundatrix von Oh. abietis und viridis wirklich als konstant befunden würde, wie dies Öholodkovsky will, Börner aber bezweifelt. Da auch Cholodkovsky zugegeben hat, dass bei Cnaph. strobilobius und lapponicus‘!) keine konstanten Unter- schiede in der Fundatrix nachweisbar sind, so wäre die Divergenz der „A“- und „B“-Zyklen von Ch. abietis CB schon bis zur spezi- fischen Trennung von abietis und viridis fortgeschritten, während die „A“- und „B“-Zyklen von Cnaph. strobilobius noch nicht zu einer bis auf die Fundatrix zurückgreifenden spezifischen Trennung geführt hätten. Wir hätten somit zwei verschieden weit gediehene, zur Art- bildung führende Werdeprozesse vor uns, und auch hier träte uns wieder entgegen, dass die Gattung Ühermes es weiter gebracht hat als Cnaphalodes, weil erstere eben die älteste Chermidengattung darstellt. Die absolute Zurückweisung der Möglichkeit einer Artbildung durch Parthenogenese von seiten Börner’s (3, S. 170): „Da es schlechterdings nicht vorstellbar ıst, dass die im normalen Zyklus 11) Neuerdings erkennt Börner (8) einen Unaphalodes lapponicus Chld. jedoch in einem anderen Sinne als Cholodkovsky an, indem er den Unaphalodes lap- ponicus als eine neue nordische, aber diözische Art auffasst. Diese Auffassung begründet Börner zunächst mit seiner Entdeckung einer Exsulans-Latenzlarve auf Lärche, welche von der strobilobius-Latenzlarve vor allem durch die Trennung des Kopfpronotalschildes in 4 Teile und durch die mediane Trennung der mesonotalen Spinal- und Pleuraldrüsen abweicht. 30 Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Chermes (i. a. S.) III. einer Organismengruppe verbreitete Parthenogenese die Ursache zur Entstehung neuer Rassen, Varietäten oder Arten sein kann,“ finde ich nicht gerechtfertigt, wie ich schon frühere (16, S. 75) ausge- sprochen hatte !?). Ich möchte gegenüber Börner auf das 10. Kapitel Winkler’s (20, S. 147) verweisen, in welchem die Frage über den Zusammen- hang von Variation (Mutation) und Parthenogenese diskutiert und die Möglichkeit bejaht wird, dass die Variation auch nach dem Ein- tritt des Geschlechtsverlustes fortschreiten kann. Ja es scheint sogar, dass es gerade die Parthenogenese gewesen ist, welche bei einzelnen Ohermiden der Gattungen Dreyfusia und Pineus zur Va- riation geführt hat und zwar verbunden mit einer Schwächung oder dem völligen Verlust der Sexualität. Ich habe schon 1903 (14, S. 15 u. 17, S. 206) wahrscheinlich zu machen gesucht, dass infolge des besonderen Gedeihens der Exsu- lans auf der Tanne bei Dreyfusia piceae (jetzt nüsslini CB) und der Tendenz zur Wiederholung virgoparer Nachkommen sowie ihrer Variabilität, eine Schwächung der Sexualität hervorgerufen werden konnte. Auch Strassburger hatte 1904 und 1907 nach Winkler (20, S. 147) angenommen, „der Polymorphismus habe eine schließ- lich bis zur Sterilität führende Geschlechtsschwächung verursacht“. Dass aber aus solchen zur reinen Parthenogenese neigenden Formen konstante Typen, also „Spezies“ werden können, scheint keineswegs ausgeschlossen. Auch Winkler sagt (20, S. 148): „Und da das ausgleichende Moment der Amphimixis bei apomiktischen Pflanzen ja wegfällt, so können sich eben auch alle durch Mutation entstandenen apomiktischen Einzeltypen konstant erhalten.“ Was also auch die letzte Ursache der parthenogenetischen Ten- denz sein mag, ob sie in Ernährungsbedingungen oder chemisch- physikalischen Erscheinungen zu suchen ist, sobald sie aus der fakultativen in die habituelle Erscheinungsform übergeht und zum Greschlechtsverlust geführt hat, ıst kein Grund vorhanden, an der Entstehung neuer Spezies durch Parthenogenese zu zweifeln. IV. @enese der Zwischenwirtszyklen. Die Ableitung der Diözie aus der alten Monözie auf der Fichte führt auch zu der Erklärung, weshalb die Exsulans- Serien auf dem Zwischenwirt eine so große Verschiedenheit von 12) Wenn Börner (19, S. 17) sagt: „überall haben sich bis jetzt ... die rein parthenogenetischen Arten als Teilglieder heterogenetischer Arten herausgestellt,“ so ist dies lediglich eine zuversichtliche Meinung Börner’s, der jedoch ebensowohl andere Meinungen, wie zahlreiche Beobachtungen entgegenstehen. Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Chermes (i. a. S.) ITI. 31 Gattung zu Gattung zeigen, und allem Anschein nach noch in der Jetztzeit in Umbildung begriffen sind. Der normale Weg führte von der ungeflügelten Virgopara, wie heute noch bei monözischen Aphiden, zur Sexupara. Auch in den ersten Phasen der obligatorischen Diözie wırd aus der Exsulans die Sexupara entstanden sein; d. h. es werden alle Kinder der Exsulans vernalis zu Sexuparen geworden sein (16, S. 139 und Schema IV, Fig. 1). Aus diesem ursprünglichsten und einfachsten Verhalten lassen sich nun drei Varianten ableiten: a) Ein Teil der Eier bleibt latent auf den Organen des Zwischen- wirts und entwickelt sich erst im Folgejahr, der andere Teil ent- wickelt sich zu Sexuparen, dıe auf den Urwirt zurückwandern. Da auf solche Weise in einfachster Weise die Fortexistenz der Exsulans auf dem Zwischenwirt gesichert werden konnte, wird die erfinderische Natur, um mich bequem auszudrücken, diesen Weg vor allem beschritten haben. Dass bei der speziellen Tendenz der Chermiden, im ersten Larvenstadiıum zu überwintern, durch welche sie sich vor allem von den Aphiden unterscheiden, an Stelle des Eies bald eine Larve und bei der ältesten Gattung eine geschützte Larve mit Chitinskleriten und Wachswolle getreten ıst, also eine echte Latenzlarve, das bedeutet keinen prinzipiellen Unterschied gegenüber der Eilatenz. Wır haben oben gesehen, dass es in der Exsulans-Serie noch heute Arten gibt, welche zum Teil als Eı, zum Teil als gefestigte Larven überwintern, also teils Ei-, teils Larvenlatenz zeigen. Von den drei oben genannten Varianten erscheint diese erste unter den Chermiden einzig noch bei Chermes (viridis) (Schema V, Fig. 1). Deshalb bildet diese Gattung für unsere Auffassung den Ausgangspunkt der Biologie für alle Chermiden mit Larven- latenz, also für Dreyfusia, Aphrastasia und Onaphalodes. Es verdient hier hervorgeboben zu werden, dass O'hermes 1. e. S. auch morphologisch die ursprünglichste und einfachste Form ist, da zwischen der Fundatrix und der Exsulans in der Bildung der Drüsen kein, ın der Bildung der Platten nur ein minimaler Unterschied besteht, indem bei der Exsulans die vier pronotalen Einzelplatten der Fundatrix zu einem einzigen Schilde verwachsen sind. Die Exsulans von Ohermes ı.e.S. ist also auch morpho- logisch auf einem ursprünglicheren Stande stehen geblieben, als bei allen anderen Chermesini. b) Eine zweite biologische Variante wurde dadurch ermöglicht, dass die Larven der Exsulans noch kein Ruhebedürfnis, keine La- tenz erworben haben, sondern Generation auf Generation je nach der Saison in größerer oder geringerer Anzahl fortzeugen (Fig. 1, Schema III). Diese Variante hat zu dem biologischen „U!-Zyklus“ 32 Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Chermes (i. a. S.) III. (16, S. 743) der Pineini geführt. Schon die im Sommer aus den Eiern der Migrans entstandene Junglarve kann, wie eigene Ver- suche bei orientalis gezeigt haben, sich häuten und weiter ent- wickeln, die Tochter der Exsulans vernalis spaltet sich erst im späteren Larvenstadium (nach Börner erst im zweiten oder dritten) in Sexupara und Exsulans. Die Sexupara konnte hier aus der Exsulans entstanden zu sein, nicht umgekehrt, obwohl auch die entgegengesetzte Auffassung möglich ist. I I u NW v u MT IT R «X Pemphıgus Periymbia Pineus Hypotklkform Übermes Dreyfusia Cnaphalodes Dreyf zussl Dreyfusia Cholodkorskya 18. n /luss, . Evern. Eivern. Evern. Evern. Ewvern. Evern Evern. E.vern. = en Evern. | Ları. Larlı Lahy, Bud Exul. Asst, Aest Sexup. Sexup. Sexup. Aesk Sexup. 24 Fa Assk'? Larl. [ Exul3$ Exurd Aesr Exul? Aest?? datt. Exul. Exol* Aes Sexup. Sexup. Fig. 1. Genese der Zwischenwirts-Serie. Die dicken Striche bedeuten die Ent- wickelungslinie zur Sexupara. Von I—III rückt die Sexuparadifferenzierung immer weiter nach dem Frühjahrsbeginn und in die erste Exsulansgeneration vor. Bei allen Chermesini ist sie ab ovo jünger als die echte Aestivalis. In IX und X ist sie ganz erloschen. Wir wollen im Hinblick auf die Biologie von Pineus nicht unterlassen, an die Biologie einzelner Pemphiginen zu erinnern, 2. B. des Pemphigus nidificus-poschingeri Fig. 1, Schema Il, oder an die näher verwandte Phylloxerine Peritymbia vitfolii (Reblaus) "), Fig. 1, Schema II. Bei nidificus-poschingeri entsteht die Sexupara erst durch die Kühle des Herbstes (September, Oktober) aus einem späten Glied der Exsulantenserie, kann aber künstlich durch Kälte- wirkung aus einem früheren Gliede der Exsulanskette erzeugt 13) Das Schema Börner’s von der Biologie der Reblaus (4, S.4) zugrunde legend, gelangen wir zu Schema II in Fig. 1. Es zeigt sich hier, dass die den Chermesinen so nahe stehende Phylloxerine biologisch noch viel näheren Anschluss an die Pem- phiginen zu erkennen gibt als etwa Pineus. Weshalb Börner die Reblaus diözisch nennt, ist nicht recht klar. Wenn verschiedene Organe und Orte eines und des- selben Wirtes schon „Diözie‘“ bedeuten, wie soll man dann die Biologie einzelner Chermesinen, deren Exsulanten-Serie teils an Nadeln, teils am Stamm leben, benennen ? Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Chermes (i.a. S.) II. 35 werden (18). Dass die Tochter der Migrans von nzdificus-poschingeri, welche 1909 am 30. Mai entschlüpfte, schon am 20. Juni Exsulans- larven einer zweiten Generation zu erzeugen vermochte, konnte ich heuer feststellen (19). Hier geht also zweifellos die Sexupara nicht aus dem ersten Nachkommen der Migrans, wie normal bei Pineus, sondern aus einer späteren Generation hervor. Ein Hauptunterschied zwischen der Biologie von Pemphigus nidifieus-poschingeri und Pineus liegt in folgenden Momenten: 1. Pemphigus vollendet seine polygenetische diözische Heterogonie in einem Jahre, Pineus in zweı Jahren. 2. Trotz der kürzeren Ablaufsfrist ist die Pemphigus-Heterogonie reicher an Generationen als diejenige von Pineus. 3. Der Grund hierzu liegt in dem Fehlen irgendeiner Latenz bei Pemphigus, bei welcher nur das im Oktober und November abgelegte Winterei ruht, während bei Pineus eine relative Latenz schon zur Entwickelung gekommen ist. Die Anfang Juli der Migrans entschlüpfenden Larven bleiben zum Teil im ersten Stadium stehen, zum Teil erzeugen sie noch ver- frühte Mütter, deren Junglarven (oder Eier) überwintern. In diesem Falle tritt eine Parallele zu Pemphigus insofern hervor, als die Sexupara aus einer späteren Generation der Exsulansserie entstanden ist, jedoch nicht ım Herbst, sondern im ersten Frühjahr. Nach dem Vorgetragenen stehen sich Pineus und Pemphigus biologisch nicht so ferne. Jedenfalls bildet Pineus einen Gegensatz zu allen O'hermesini (vgl. 16, S. 750). c) Eine dritte Variante führt zu den Vorkommnissen bei Ona- phalodes, Aphrastasia und Dreyfusia. Hier entstehen echte Sommer- generationen (O?-Zyklus), (16, S. 745 u. 747), Aestivales (Börner), sie sind jedoch nicht aus den Latenzlarven der Exsulans vernalis entstanden, sondern aus den Sexuparalarven derselben (vgl. Fig. 1, Schema VI, VII, VIII) und zwar auf der Stufe zu Ende des ersten Larvenstadiums, sie sind daher infolge einer späteren Abspaltung entstanden und haben nichts gemein mit der Abspaltung der Latenzlarven von Chermes ı. e. S., oder der Teilung bei Pineus und Pemphigus in Exsulanten und Sexuparen. Infolge dieser phylo- genetisch später erfolgten Aestivalıs-Differenzierung bei den ge- nannten Chermesini stehen sich Aestivalis und Sexupara morpho- logisch näher als beide den Exsulans-Latenzlarven. Auch erfolgt die Aestivalis-Sexupara-Differenzierung ontogenetisch auf einer späteren Stufe als die Sonderung der Exsulans-Latenzlarve. Es ist eines der Hauptverdienste Börner’s, festgestellt zu haben, dass die Sonde- rung von Latenzlarve einerseits und Aestivalis-Sexuparalarve anderer- seits schon embryonal erkennbar ist. Diese Entdeckung konnte ich für Dreyfusia nüsslini CB vollauf bestätigen (17, S. 221). XXX. 3 Bi Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Chermes (i. a. $.) Ill. In meinem Stuttgarter Vortrage (17) hatte ich angegeben, „dass auch die Sexupara im ersten Stadium der Junglarve (17, Fig. 2) an ihrem deutlich größeren Vorderhirn unterschieden werden kann“, so dass danach „die von einer und derselben Mutter stammenden, später so verschiedenartigen Nachkommen: die Hiemalis-Behar- rungslarven, die Nadelaestivales und die Sexuparen auch schon ab ovo verschieden“ wären. Auf diese Stelle bezugnehmend hat später Börner (5, S. 648) meine obigen Angaben nachgeprüft, aber nicht bestätigen können. Ich habe deshalb eine Untersuchung meiner sämtlichen Prä- parate vorgenommen, eingehender, als es mir im vergangenen Mai möglich gewesen war, damals, als der schon früher ausgearbeitete Vortrag infolge der unterdessen neu erschienenen Monographie Bör- ner’s rasch allerlei Ergänzungen erfahren musste. Fig. 2. Dreyfusia nüsslint. Sexupare (Nymphe) im 4. Sta- dium. Gehirn groß, infolge der Sehlappen hufeisenförmig herabgezogen. 2 Ocellen sicht- bar. Genitalien noch klein. Fühler und Beine relativ groß. 0,53 mm 1. Schematisch. Fig. 3. Dreyfusia nüsslıni. Aestivalis im 4. Stadium. Eier- legerin. Gehirn klein und quer, 3ocellige Larvenaugen. Fühler und Beine klein. Genitalien (sichtbare Endfächer und Ei- fächer) groß. ca. 0,8 mm |. Schematisch. Die Ergebnisse dieser Nachprüfung veranlassen mich zu der nachfolgenden wesentlichen Berichtigung. Danach ist zwar ın bezug auf das Gehirn eine Unterscheidung im ersten Stadium der Junglarven der Exsulans, Aestivalis und Sexupara bei Drey- fusia nüsslini CB möglich, aber für die Aestivaliıs und Sexupara nicht ab ovo, sondern erst gegen das Ende des ersten Sta- diums vor der Häutung zum zweiten Stadium. Dagegen ıst für Aestivalis und Sexupara einerseits und Exsulans-Latenzlarve andererseits der Unterschied, wie ım Hautskelett und ın der Borsten- bildung, so auch im Bau des Gehirns, schon ab ovo vor- handen. Die Exsulans-Latenzlarve hat vom Ausschlüpfen an ein von vorn nach hinten schwach entwickeltes Gehirn. Die beiden Oberschlundganglienhälften sind außerdem in einem äußerst stumpfen Winkel zueinander gerichtet, indem die längeren Achsen ihrer Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Chermes (i. a. S.) IIT. 35 ellipsoiden Formen fast genau quer (bilateral) gerichtet sind (17, Fig. 1, S. 221). Die größte Breite des Gehirns der Latenzlarve ist keines- wegs stets geringer als die größte Breite beim Aestivalis- und Sexupara-Gehirn. Nach meinen Messungen schwankt die erstere zwischen 17 und 25°/, der Gesamtlänge des Körpers, die größte Breite des Gehirns der Aestivalis und Sexupara zwischen 18 und 24°/, der Gesamtlänge'*). Trotzdem macht das Gehirn der Latenzlarve einen wesentlich kleineren Eindruck. Seine prozentual große Breite rührt einmal von dem stumpfen Winkel her, unter welchem die beiden Hälften in der Quere angeordnet sind, dann aber von der gestauchten Gestalt des Körpers der Latenzlarve. Der wesentlichste Charakter des Gehirns der Latenzlarve gegenüber der jüngsten Aestivalıs- und Sexuparalarven liegt: 1. in der queren Richtung der Längsachsen der beiden Ge- hirnhälften, 2. ın der geringen Entwickelung von vorn nach hinten, 3. in der geringen Entwickelung nach hinten überhaupt, indem sein Hinterrand entweder ın der Linie zwischen den beider- seitigen hintersten Ocellen, oder vor derselben gelegen ist (vgl. 17, Fig. 1). Im übrigen kann der stumpfe Winkel der beiden Hälften des Gehirns, die relative Größe der langen und kurzen Achse der Einzelhälften, sowie die Gesamtgröße und die Lage nicht unerheblich schwanken. Im Gegensatz zu dem Gehirnbau der Latenzlarve steht nun der Gehirnbau der jüngsten Larvenform bei Sexupara und Aestivalıs. Er kennzeichnet sich dadurch, dass es: 1. eine dem rechten Winkel sich nähernde Winkelstellung der beiden Längsachsen der Gehirnhälften annımmt (17, Fig. 2, S7221).°), 2. von vorn nach hinten stark entwickelt ıst, 3. eine mehr oder weniger starke Ausladung hinter das Ocellen- auge erleidet. Je jünger die Aestivalis-Junglarve ist, desto ähnlicher ist ihr Gehirnbau demjenigen der Sexupara. Aber schon gegen Ende des ersten Stadıums macht sich eine Divergenz geltend, indem bei der Sexupara die Winkelstellung der Gehirn- hälften den rechten Winkel erreicht oder zum spitzen Winkel hin überschreitet und die Ausladung nach hinten zunimmt, während die Aestivalis in diesen Charakteren den umgekehrten Ent- wickelungsgang einschlägt. Noch deutlicher zeigt sich diese 14) In diesem Sinne sind also sowohl meine früheren Angaben (17), als auch die Angaben Börner’s (5, S. 648, Fußnote 2 und a. a. O.) zu berichtigen. 15) Ob die in 17, Fig. 2 abgebildete Larve eine Aestivalis oder Sexupara ist, wird in diesem jungen Stadium kaum zu entscheiden sein. Das Präparat stammt I* 19] 36 Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Chermes (i. a. 8.) II. Divergenz in den späteren Stadien der Sexupara und Aestivaliıs, in dem zweiten Stadium oder gar im vierten Stadıum der erwachsenen Aestivalis (Fig. 3) und der Nymphe der Sexuparen (Fig. 2). Jetzt ist das Gehirn der Aestivalis-Mutter zu dem Typus zurückgekehrt, welchen die Latenzlarve zeigt und welcher überhaupt bei allen ungeflügelten Generationen, auch bei der Fundatrix und bei den Sexuales der Chermiden die Regel ist'®). Dass die junge Aestivalis im jüngsten Stadium ihrer Entwicke- lung den Gehirntyp der Sexuparen-Schwester trägt, gibt uns deut- lich zu erkennen, dass sie aus der Sexupara phylogenetisch entstanden ist, als eine ungeflügelte Schwester der Sexupara, der die Aufgabe zuteil geworden war, auf der Zwischenkonifere zu ver- bleiben !?). (Schluss folgt.) aus dem Jahr 1902 und war damals als Sexupara etikettiert worden, zu einer Zeit, als es noch keine Aestivalis-Hiemalis-Unterscheidung gab. Was die Fig. 1 betrifft, so ist dieselbe in der Tat, wie Börner hervorhebt, eine Exsulans-Latenzlarve, auch ich hatte sie nie anders gedeutet (bei der Demonstration in Stuttgart wurde sie auf der beigegebenen Zeichnung Hiemalis genannt), ich hatte im Text (17, S. 222) nur deshalb auf die Fig. 1 hingewiesen, weil ich Fig. 2 für eine differenzierte Sexupara gehalten und geglaubt hatte, dass die Aestivalis im Gehirnbau mit der Exsulans übereinstimme. Das war ein Irrtum, den Börner mit Recht betont hatte. 16) Der Gehirnbau in diesem Stadium zeigt deutlich, dass die Aestivalis sich regressiv gegenüber den jüngeren Stadien entwickelt. Es erscheint diese Tatsache nicht gleichgültig bei der Entscheidung der genetischen Frage, ob sich die Aesti- valis aus der Sexupara entwickelt, oder ob das Umgekehrte der Fall gewesen ist. 17) Das Gesagte gilt natürlich nur für die Chermesini mit Aestivalis- Differenzierung und späterer Abspaltung der Aestivalis aus der Sexupara, nicht für Pineus und Pemphigus, wo die Sexupara aus der Exsulans hervorgehen kann. Umgekehrt scheint Börner bei Pineus im Texte (2, S. 170) seine Pineus-Aestivalis eine Zeitlang „die gleiche Entwiekelung zur Sexupara“) einschlagen, dann spätestens aber vor der zweiten Häutung zur Aestivalis-Virgo zurückkehren zu lassen. Dieser Auffassung widersprechen aber seine graphischen Schemas (10, S. 139, Fig. 1 und 5, 8. 657), auf welchen die Tochter der Hiemalis eine Zeitlang zur Aestivalis läuft und erst in der Mitte ihres Weges (von 1 zu 2) sich mit einem Teil ihrer Nachkommen zur Sexupara entwickelt. Ebenso lässt Börner auch bei den Chermesini an den meisten Stellen seines Textes und überall in der graphischen Darstellung umgekehrt die Sexupara aus der Aestivalis in dem Sinne hervorgehen, dass die Entwickelung zuerst in der Aestivalis-Richtung läuft und erst später unter günstigen Witterungsverhältnissen die Sexuparen entstehen. Selbst bei Uhermes abietis, bei der es gar keine Aestivalis gibt, lässt Börner die Nymphen aus „Aestivalis-Larven“ entstehen (2, 5.247), bei Unaphalodes leitet er die zur Sexupara führenden Bestandteile auf dem 3. Sta- dium der Aestivalis ab (S. 159), ebenso deutlich geht diese Anschauung Börner's aus seinem Schema auf S. 292 hervor, wo die Sexupara auf einer gewissen Stufe aus der Aestivalis abgeleitet wird. Capparelli, Über das Verhalten einiger fester Körper ete. 57 Über das Verhalten einiger fester, in Flüssigkeiten schwebenden, Körper bei den Phänomenen der Hygromipisie. Von Prof. A. Capparelli. Gegenwärtige Mitteilung schließt sich den bereits ım Biol. Centralbl. erschienenen an'). Ich hatte bereits früher das Verhalten einiger, ın fein zerteiltem Zustand in destilliertem Wasser schwebend erhaltenen festen Körper untersucht. Doch zeigten solche anorga- nische Körper, wie fein sie auch immer verteilt sein mochten, offenbar die Neigung, sich niederzusetzen, sich am unteren Ende der Flüssigkeitssäule D (der niedersteigenden Flüssigkeit) zu ver- sammeln, während es die Genauigkeit des Versuchs erheischt hätte, dass der schwebende Körper während des zur Feststellung der hygromipisimetrischen Zeit erforderlichen Zeitraums, gleichmäßig auf die gesamte flüssige Masse verteilt bliebe. Folglich ersetze ich in einer Reihe von Versuchen das destillierte Wasser als Flüssig- keit A und D durch eine kolloidale Lösung, damit diese die ein- geführten Körper während der Beobachtungszeit schwebend erhielte. Zur Verwendung kamen von anorganischen Stoffen: Talk und feinster Schmirgel, von organischen, Stärke und rote Blutkörperchen. Zuerst machte ich jedoch den Versuch, den Schmirgel in destil- liertem Wasser zu suspendieren; da es sich um ein äußerst feines Pulver handelte hielt sich dasselbe eine genügende Zeit schwebend. Die Versuchsergebnisse sind in Tabelle 1 zusammengestellt. Tabelek Fr) el = a 215° Flüssigkeit D Erle Flüssigkeit A ee PER een Fu Be Ye Anaslges 28 Ein - -J I mm mm | 115,5, Destilliertes Wasser mit | Schmirgel Nr.0 10°),. | 23 Destilliertes Wasser > Hakan ZN aD A KO Tale er a RER 23 a 2 1..0:9°2, 7304 zu Tdene ; 23 Br EN 0,9 ! 44" 221 19,521,10..1.20.%],, 23 ” ? 17. 0:92 112392 5001 99181040:62:°]., 23 » HR 0.922.202 Bud) 23 FR 4 09913302 7|15,5) Id. 10°/,, nachträglich filtriert Br LEER | 23 ” „ 0,9 IE 1) Ein physikalisch-chemisches Phänomen .und seine Anwendung in der Bio- logie. Biol. Centralbl. Bd. XXVIJI, Nr. 20, 1. Okt. 1907. — Die Phänomene der Hygromipisie. Ibid. Bd. XXVIII, Nr. 15—16. August 1908. 38 Capparelli, Über das Verhalten einiger fester Körper ete. Aus der Tabelle ist ersichtlich, dass sich der einfach suspen- dierte Schmirgel gerade so verhält als ob er ın der Flüssigkeit D gelöst wäre. In anderen Worten, die Flüssigkeit D verhält sich den Phänomenen der Hygromipisie gegenüber wie eine Flüssigkeit von größerer Dichte. Um den Verdacht zu eliminieren, dass im Schmirgel wasserlösliche Stoffe enthalten sein könnten, wurde die betreffende Flüssigkeit filtriert; das Filtrat machte keinen Wechsel mehr mit der Flüssigkeit A, da es durch die Filtration wieder zu destilliertem Wasser wurde. Zum weiteren Beweis setzte ich beiden Flüssigkeiten A und D Schmirgel zu; zu D jedoch in größerer Menge als zu A. Tabelle 2 zeigt, dass sich D wie die dichtere Flüssigkeit benimmt. Tabelle 2. u a Rules EI Sie: arEEaS EIERS Flüssigkeit D ERDE Flüssigkeit A BEER 518 Bus a g | © = >58 A| mm mm 5 1| 15 | Destilliertes Wasser mit Destilliertes Wasser mit Schmirgel A100] 2 2... 28 Schmirsel DI Er 20.9%| 194 2A Id. 23 TE 2DR Io. ‚ERW 0,9 18 Sul x" 23 139:1,25:015,, Sa. 0,9 12“ 4| 15 A 23 10 EAN OA Fe rs 0,9 112 Hull e 23 IIH031.0 1, reed 9u6 6| 15 5 23 Destilliertes Wasser . . 0,9 Su a1 % 23 2191d2 mit. Schmirgel 59, nachträglich filtriert . | 0,9 8% Die mit obigen übereinstimmenden Angaben über Talk wurden bereits ın der zweiten der oben zitierten Arbeiten mitgeteilt und brauche ich sie hier nicht zu wiederholen. Auch organische Körper, z. B. Stärke, zeigen dasselbe Verhalten, wie aus Tabelle 3 u. 4 er- sichtlich ist. Wie bei den vorigen Versuchen wurde auch die stärkehaltige Lösung durch nachträgliche Filtration kontrolliert und das Ergebnis war, dass die hygromipisimetrische Zeit mit der für reines destil- liertes Wasser genau übereinstimmte. Bei den weiteren Versuchen kamen nicht mehr, wie früher, destilliertes Wasser, sondern Gummilösungen zur Verwendung, in welchen auch schwerere anorganische Körper, wenn genügend fein gemahlen und gleichmäßig in der Flüssigkeit verteilt, eine Zeitlang suspendiert bleiben, die bequem zur Bestimmung der hygromipisi- metrischen Zeit ausreicht. ‘Die so gewonnenen Resultate scheinen mir zuverlässiger als die mit destilliertem Wasser erhaltenen. Capparelli, Über das Verhalten einiger fester Körper etc. 39 Tabelle 3. z|5 538 ‚duo iz © |S. SBEH EEE E 2e Flüssigkeit D = EPE Flüssigkeit A 3 & E ER 38 eu: r en © fe >= A mm mm | 1 .15,5| Destilliertes Wasser mit 10°/, Stärke 23 Destilliertes Wasser 0,9710213 2|15,5| Id. mit 5°], Stärke 23 nn = 0,9 | 322 3115,5| Id. mit 2,5°/, Stärke 23 a R 0,97 2502 415,5! Id. mit 1,25°/, Stärke 23 55 „ 0,972,21.462 515,5! Id. mit 0,62 °/, Stärke 23 | h, a By 2a 6|15,5| Id. mit 0,31°/, Stärke . | 23 » 5 0,9 | 4,47 7\15,5| Id. mit 10°], Stärke filtr. | 23 5 n 0,9 = Tabelle 4. FAE 555 SWelz BE; Flüssigkeit D EIERTE Flüssigkeit A 3333 568 =|8 las 3 | | = N22=| Sul mm mm 5 = | ne een 114,6) Destilliertes Wasser mit | Destilliertes Wasser mit | Or EeStärke le 2 23), 25910,Starker 2 5.0.9 ae 214,6 Id. 23, ,| Id“ mit 2:581078tärker . 1.094252 3114,6| a 23 | Id. mit 1,25°], Stärke‘. | 0,9 | 234 4 14,6 » 23. |.Idi.mits 0,62. 005Stärke 18.0.9 72, 5 14,6 : 923 | Id. mit 0,31°/, Stärke . | 0,9 | 18“ 6 14,6 = 23 Destilliertes Wasser . . 0,9 | 16" 72114,6| s ı 23 | Id. mit 5°/, Stärke nach- | | träglich filtriert 1.0.94 \gelint Folglich wurde die hygromipisimetrische Zeit für zwei Gummi- lösungen von bekannter Konzentration bestimmt und zwar diente als Flüssigkeit D eine 10°/,ige wässerige Gummilösung, als Flüssig- keit A eine solche zu halbem Titel (5°/,), die ich noch allmählich verdünnte, wie aus Tabelle 5 ersichtlich ist. Nachdem ich so über das Verhalten beider Lösungen näher unterrichtet war, suspendierte ich in denselben der Reihe nach Schmirgel Nr. 0, Talk, Stärke und rote Blutkörperchen. So wurde nach Möglichkeit dem Übelstande des allzuraschen Niedersinkens der schwereren Körper und de. daraus entspringenden Fehlerquellen vorgebeugt. Man ersieht aus Tabelle 6, dass ın Hinsicht auf die Phä- nomene der Hygromipisie der Schmirgel der Flüssigkeit die näm- lichen Eigenschaften verleiht als wäre er in der Gummilösung gelöst. 40 Capparelli, Über das Verhalten einiger fester Körper ete. Tabelle 5. = = „5 ©:u "z Si S®25 ERICH = 2 Flüssigkeit D San 2 Flüssigkeit A Ä 255 SsERg 3|8 =Rg ame ® 2|o 7 == AT | mm mm | 1/14,5| Wässerige 10°|,ige Lö- Wässerige Lösung von sung v. Gummi arabicum | 23 Gummi arabicum 5°, | 0,9 | 2:28 214,5 Id. 23 ad 2,521, - REN | 0) EM re 314,5 r 23 0 Bldır 1,2925 SU are. rer Mr: 9 eo 414,5 n 238 1d..0.622], a0. 955 SE) 5 231m ald.0, 31%, FE a a 6 |14,5 en 23 Destilliertes Wasser 0,9 45 | Tabelle 6. = |# as SR in Ss See PER EN TZz|=- Mar . 28 Ei j 0823 Ma 238 Flüssigkeit D SEN 2 Flüssigkeit A S333 SE8 =ı3 TEg ame © RS en ı>5& Ar mm mm | 1/14,5| Wässer. 10° ige Lösung von Gummi arabicum Wässerige Lösung .von mit 10°, Schmirgel . 23 Gummi arabicum 5°), | 0,9 | 22. 2 |14,5 Id. N23 aletd. 23515. Er OO RE SE 314,5 ss Zn 1,259], 0 ee 709 4114,5 4 2321 7142.0:62.9],, BE a A En el 514,5 h Ze A ER a et 613,8 y 23 Destilliertes Wasser . . 023 Die Wirkung der suspendierten Körper ist eine unverkennbare, gleichwohl ob dieselben in der einen oder der anderen der beiden Flüssigkeiten enthalten sind, wie Tabelle 7 zeigt. Ebenso verleiht der zwei gleichdichten Gummilösungen in ver- schiedener Menge einverleibte Schmirgel denselben alle die er- wähnten Eigenschaften, so dass sie sich gegeneinander wie zwei Flüssigkeiten von verschiedener Dichtigkeit verhalten (s. Tabelle S). Für Talk, der in wässerigen Lösungen rasch zu Boden sinkt, wurden ebenfalls in Gummiaufschwemmungen Versuche angestellt, deren Ergebnisse mit den ım destillierten Wasser gewonnenen identisch sind (s. Tabelle 9 u. 10). Über das Verhalten der Stärke, erst in der Flüssigkeit D, so- dann ın A, geben die Tabellen 11 u. 12 Aufschluss. Man ersieht daraus, dass sich Stärke genau wie die anorga- nischen Körper verhält. Obwohl dieses Resultat mit, unseren Er- Capparelli, Über das Verhalten einiger fester Körper etc. 41 Tabelle 7. u en 2 Eee EEE 77 TER ale DE Sl =8 Flüssigkeit D a3g8 Flüssigkeit A s233 32% 3507 SE AEgE non e = BE = SR Sr mm mm |FE 1|14,5| Wässer. 10°/,ige Lösung Wässer. Lös. von Gummi | von Gummi arabicum . | 23 arabicum 5°/, mit 5°, Schmizsel.NrA0 728. 2.1.70,9% 110415: 21145 Id. 23. | Van 25, Schmirsel NE0r2 22 | 50,925 Wolf 3|14,5 % 23. | Tas l2arın mit 1,2585 Schmirgel Nr. 0. . 0.912 ,121:97 414,5 ” 23' |,10.3.0,62%, mt 0,62], Schmirgel Nr.0na: Bann: 51145 5 23.) TIOEO SL] mit 03101 Schmirgel INLIOm 0,9 | 49" 6 | 14,5 er 23 Id. 20:192/,2 mit 0,152, | Schere NTA0e le 089 | 48‘ Tabelle 8. =) mh EUR 28 SaE: ass as 3185 Flüssigkeit D 2238 Flüssigkeit A EEE 328 418 Zug Er 1 & | er >= >j mm mm |H 1, 15 | Wässer. Lös. von Gummi ' Wässer. Lös. von Gummi arabicum 5°/, mit 10°/, ı arabicum 5°, mit 9.0], Schmnrgel/Nr.0. .. ..| 23, | SchmirgelöNT.0 7.721,09 444 2 1) Id. 1,23: 1) Id2sHN amt 2,950], Schmirgel Nr.O. . .| 0,9 41 3 5) Ne 23 Id. 2 7.25% mit 1,257, | Schmirgel INT: 702,270: 0,9 31% Aa all ” 23 Id. 0,62°/, mit 0,62%, Schmirgel Nr. 0. . 0,9 26. Duelo 66 23 14.203120 910/31 o) | Schmirgel NEO 0 25 | | | | | fahrungen bei den Aufschwemmungen in destilliertem Wasser ın Widerspruch steht, halte ich es doch für glaubwürdiger; in der Gummilösung verteilt sich die Stärke gleichmäßig und bleibt eine genügende Zeit schwebend, während diese Bedingungen für destil- liertes Wasser nicht wohl herzustellen sind. Die Tabelle 13 zeigt weiter, dass in den Flüssigkeiten D und A der Zusatz von verschiedenen Stärkemengen zu den gleichen Er- gebnissen führt wie bei den anorganischen Körpern, die in Gummi- lösungen suspendiert werden. 42 Capparelli, Über das Verhalten einiger fester Körper etc. Tabelle 9. E sEä 8..| a 23a, ar52l88 28° Flüssigkeit D ds Flüssigkeit A 533 82% 385 8 Se ne FEREIERSIS ls Ey: ur sr mm mm | 1/ 14,5, Wässer. 10°|,ige Lösung ı Wässer. Lös. von Gummi von Gummi arabicum . | 23 ı arabicum 5°/, mit 5°, j Balkan 0 Te 0,9 | 10:5." 2|14,5 Id. 23 Id. eh mit 2,5°/, Talk | 0,9 | 1:35“ 314,5 > 23 muld.a1,25°),. mit 125905 Mallew.; 7. N. 0,9 1% 4\14,5 3% 23 Wild 0,02°], mit 0,620], Balka.ı € 050 56 51145 R 23.001450, 31°, mit 0, 31 0), in 0,9 48" 614,5 = 23 Maldl 10,15°], mit 0,15 0), HBallkk 21... See 46“ Tabelle 10. AE EREN „23328 3|8e N RC 88 om Rs a2 Ne Eo=ale we =|85 Flüssigkeit D age Flüssigkeit A Sen: 32% > (=) mE = n Ei = D N =) 15) pe) sche & mn Sie) mm mm | 1/14,5| 10°/ ige wässerige Lösung | von Gummi arabicum | Wässerige Lösung von rnit OO Dalk san en 223 Gummi arabicum 5°, . | 0,9 | 39 214,5 Id. Zu Alde2,50l,. . 2 ee: 334 314,5 h 11.232 Id: 1,25° |, . ea a RO 4 114,5 er 2310 .1d: 0,62 YR ; 0,92 72354 514,5 ® 230 0310, er 0,9 224 6 14,5 n 23 Destilliertes Wasser 0,9 204 Ein von dem aller untersuchten organischen Körper abweichendes Verhalten zeigt jedoch das Blut. Um eine bestmögliche Trennung der roten Blutkörperchen vom Serum zu erzielen, wurde das Blut sorgfältig zentrifugiert, die oben- auf schwimmende Serumschicht abgeschüttet und die letzten Serum- reste mit Löschpapier aus der Körperchenmasse entfernt. Die auf diesem Weg ermittelten Werte können offenbar bloß annähernde sein, da gewiss nicht alles Blutserum entfernt wurde, aber ich glaube durch obiges Verfahren letzteres auf einen unscheinbaren Rest reduziert zu haben, besonders in Anbetracht der größeren Blutkörperchenmengen, mit denen ich arbeitete. cs Capparelli, Über das Verhalten einiger fester Körper ete. 4 Tabelle 11. | “iu RE ın I ss 383 | PEN = Se RE a ME SIT = 2»23[5 SE EIERS) Flüssigkeit D BEN Flüssigkeit A 8321588 &|5 Be | Eee = © az >= ur | mm | mm |ES 1/14,5 Wässer. 10°|,ige Lösung ı Wässer. Lös. von Gummi von Gummi arabicum 23 | arab. 5°), mit5°/, Stärke | 0,9 | 10'18' 2|14,5 Id. 23 | Ian 2300| 11 2Stärkegengy 2.5. DIEB EIEHS 3| 14,5 > 23, | Id os zmit 250], | Stone era 4, 14,5 ” 23 | Id. 0,62°, mit 0,62), | „Starkes we 70,9 Fon 514,5 „ 23 | Id. 0,31°), mit 0,31%), |. Slankeng 0,9 48" 6 14,5 5 23. | Id. 0a. mit 041507, | | Stärke ea 0,9 44" | | Tabelle 12. =ue I.:5 | 2, zz 3 g Flüssigkeit D & 5 e Flüssigkeit A 235 ä EEE sa mm | mm IF | 114,5) Wässer. 10°/,ige Lösung | ' von Gummi arabicum Wässerige Lösung von mirSl0 0 Starker 0... |, 23 Gummi arabicum 5°), - | 0,9 | 1:10 2 114,5 Id. 1623. TAB ne. 2 0:9, 31145 @ 1 23. | Tolas nr 0,9 | 55% 414,5 ” | 23 | | Id. 0,62 JR ga 5 14,5 % |* 23. | I Oslo ee 70 A 6 14,5 N | 23 Destilliertes Wasser . . | 0,9 | 48% | | Tabelle 13. -_ = | OR nn 2 Be. PEN H Ss! Flüssigkeit D Flüssigkeit A E 15E SE & > 24: & ES | ’— Al mm 5 1| 15 | 5°, ige Lösung v. Gummi 5°/,ige Lösung v. Gummi | | arabicum im Wasser mit arabicum im Wasser mit | | 10, eStarker Ber... '23 58% Stärke . B Sal OREHEI ar 2115| Id. 1.23 (Id. mie&5.%% Stärke . OR 35" a 15] ” 23 Id. mit 1.25 eastanker | 2.0,95.2149% 4| 15 | ” 23 Id. mit 0,62°/, Stärke . | 0,9 1:57 I 15 ss 23: damals Busstärke.:|. 0,9 11 91:3°° | | | 44 Capparelli, Über das Verhalten einiger fester Körper etc. Das defibrinierte Blut wurde erst einige Zeit sich selbst über- lassen, dann durch gewöhnliches Filterpapier filtriert, und hierauf wurde das Serum samt der Blutkörperchenmasse zentrifugiert. Die Tabellen 14 u. 15 zeigen, dass die roten Blutkörperchen dem allgemeinen Gesetz der suspendierten Körper nur zwischen gewissen Grenzen gehorchen: es kommt ein Augenblick, wo das Steigen der Zahl der roten Blutkörperchen nicht mehr eine ent- sprechende Verkürzung der hygromipisimetrischen Zeit zur Folge hat, sondern, gegen alle Erwartung, eine ausgesprochene Neigung zur Umkehrung an den Tag tritt. Somit entsprechen sowohl den sehr dichten als den sehr dünnen Lösungen die gleichen oder nahezu die gleichen hygromipisimetrischen Zeiten. Tabelle 14. ZE 1533 ‚Sgs2a = sure = na Q|8° Pe: omas 3 ee near =|®.. Flüssigkeit D auye Flüssigkeit A Ban3| 3.535 oO Da AagessnN 58 ua > ie = = a y ı mm mm [5 114,3, Wässerige 5 °/,ige Lösung von Gummi arabicum Wässerige 5 °/,ige Lösung | 9cem-+ 1 ccm zentr. Blut 23 von Gummi arabicum . ı 0,9 | 745 ale Ro en) » 23 Id. 0,9 78451 Sa a a 3 N 0,9 12,204 A 14,3 6 „ 4 „ „ „ 23 „ 0,9 1:45“ 912330, FD ” 3 a 0,9 | 1:38“ 61143 47,66, , A 23 h 0,9 1:34“ A EBNDN en > 33 ss TE NEN 8 14,312. , 0.82, 0, N, 23 3 0,9 1:36" Sa re en 7. Ne N 0,9 | 128° 10| 14,3, Rückstand des zentri- “ 0,97 110% | fugierten Blutes . . . | 23 l Tabelle 15. Se es Sr m ken = D ım| m FE SEE, PRIER IR: 318° Flüssigkeit D 275° Flak SSEn B.2% EIS üssigkei Sage üssigkei 352558 =58 "us aM ®|20© =|o® - >58 = I mm mm IH = === —— — = —Z —— == Ze} T- BE €, 3 — — l | | 1 14,3) Wässerige 5°|,ige Lösung | Wässerige 1°/,ige Lösung | ' von Gummi arabicum . | 23 von Gummi arabicum . | 0,9 | 1:20’ 214,3] Id. 23 9 ccm + 1 ccm zentr. Blut | 0,9 | 1'36' 3114,3 N | 120 BT A027 a, R, 0,9 | a 4\14,3| 5 2 | en a 0 he 0,9 20° 5 | 14,3 | „ 23 6 PR + 4 „ „ „ 0,9 ST Für diesen sonderbaren Vorgang habe ich mich umsonst be- müht eine befriedigende Erklärung zu finden, ıch musste darauf Heidenhain, Plasma und Zelle. 45 verzichten und sehe mich daher veranlasst, mich in dem Sinne zu äußern, dass hier ein noch unbekanntes Verhältnis vorliegt zwischen den Blutkörperchen und den Flüssigkeiten, in welchen ich dieselben suspendiert habe (Gummi und Blutserum). Dieses Verhältnis ist unabhängig von dem ähnlichen, bei einfachen Gummilösungen nach- weisbaren Phänomen, es besteht in der Tat, auch wenn die Blut- körperchen in physiologischen (also Kristalloid-)Lösungen suspendiert werden. Alles in allem scheint mir das Verhalten der suspendierten Körper in den Erscheinungen der Hygromipisie ein neues Licht auf gewisse neuere Ansichten über die Theorie der Lösungen zu werfen und dieselben zu bestätigen. Schlussfolgerungen. 1. Bei den Erscheinungen der Hygromipisie zeigen in Flüssig- keiten suspendierte, gleichmäßig verteilte Körper dasselbe Verhalten als wären sie in der Flüssigkeit selbst gelöst. Die hygromipisı- metrische Zeit steht im Verhältnis zur Menge des suspendierten Körpers. 2. Die zur Untersuchung gekommenen mineralischen Körper zeigen alle ein übereinstimmendes Verhalten. Die organischen Stoffe (Stärke) verhalten sich wie die mineralischen. Die roten Blutkörperchen jedoch folgen diesem allgemeinen Gesetz nur zwischen gewissen Grenzen; oberhalb derselben sinkt die hygromipisimetrische Zeit nicht mehr mit dem Steigen der Zahl der roten Blutkörperchen, sondern zeigt die Neigung, auf ihren anfänglichen Wert zurückzu- kehren. Labor. f. exp. Physiologie der Kgl. Universität von Catania. Februar 1909. Martin Heidenhain. Plasma und Zelle. I. Abt. Allgemeine Anatomie der lebendigen Masse. 1. Lief. Die Grundlagen der mikroskopischen Anatomie, die Kerne, die Centren und die Granulalehre (14. Lief. des Handbuchs der Anatomie des Menschen, herausgeg. von v. Bardeleben). G. Fischer, Jena 1907, 506 S, 276 Abb. Es ist eine schwere, ja beinah unmögliche Aufgabe, das Werk mit dem langen Titel in der Form einer kurzen Anzeige auch nur annähernd seiner Bedeutung entsprechend zu würdigen. Es wäre aber eine noch viel schlimmere Versäumnis, die Leser dieses Blattes nicht auf dieses Werk hinzuweisen Es beginnt mit einer historischen Darlegung der Zellenlehre und ihrer Wandlungen. Sein Hauptinhalt ist aber der Versuch, zu zeigen, dass diese Lehre in ihrem Hauptinhalt, die Zelle als Elementarorganismus und den Metazoenkörper als einen Zellenstaat zu betrachten, heute von den bekannten Tatsachen überholt und 46 Heidenhain, Plasma und Zelle. ihre Aufrechterhaltung ein Hemmnis für die weitere Forschung sei. H. führt aus, wie es im Körper wichtige lebende, d. h. eigenen Stoffwechsel und selbständige Leistungen besitzende Gewebsteile gebe, die sich dem Zellenbegriff nicht fügen, die Interzellular- substanzen, und wie man innerhalb der Zellen selbständig sich ver- mehrende, sich selbst regulierende Lebenseinheiten annehmen müsse. In Erörterungen, die sich häufig auf der Grenze zwischen Philo- sophie und Naturwissenschaft bewegen, aber immer von einer er- staunlichen Beherrschung des Tatsachenmateriales getragen sind, weist er gebräuchliche Begriffe und Vorstellungen zurück, um neue, mit neuen Terminis bezeichnete einzuführen, zu definieren und zu begründen. Der erste Abschnitt, die Grundlagen, schließt nach der Kritik der Zellenlehre mit einem Abschnitt, „Prolegomena zu einer Strukturtheorie der lebendigen Masse“. Hier wird der Begriff von- einander übergeordneten und eingeordneten Struktursystemen als Bestandteilen des tierischen Körpers entwickelt, „die effektiv oder dem Ursprunge nach das Vermögen der Vermehrung durch Teilung besitzen bezw. durch Teilung aus ihresgleichen entstanden sind“. „Sie entsprechen nur zum Teil (Zellen, Metameren) freilebenden Personen des Tierreichs. Die weitaus größere Zahl bietet in ihrem Verhalten nur allgemeine entwickelungsphysiologische Analogien zum Verhalten der freilebenden Geschöpfe, und die hauptsächlichste Analogie betrifft gerade die Form der Vermehrung (durch Teilung, Spaltung, Knospung). Alle Systeme dieser Art fassen wir als Bio- systeme zusammen.“ „Von diesen stellen sich die meisten als zusammengesetzte Histosysteme dar, als eine Vergesellschaftung von Histomeren ver- schiedener Ordnung, welche unter sich keineswegs homolog sind.“ Als provisorische Aufrechnung dieser Biosysteme, aus denen der Tierkörper zusammengesetzt sei, gibt H. folgende von niederen zu höheren Organismen aufsteigende: . Chromiolen, Centriolen, Chromatophoren. II. a) Chromosomen, Mikrozentren; b) Myofibrillen, Neurofibrillen; c) leimgebende und elastische Fibrillen. Ill. Kerne. IV. Zellen; Muskelprimitivbündel; Nervenfasern bezw. Neuronen. V. Muskeln, Sehnen, Nerven, Skeletteile, Drüsenorgane. VI. Metameren (event. Antimeren). In einem zweiten Abschnitt werden die Kerne, in einem dritten die Centren, Basalkörper u. ä& in der umfassendsten Weise be- handelt. Ganz hervorragend sowohl durch die gründliche und un- parteiische historische Einleitung, wie durch die klare Aufführung aller Einzeltatsachen und besonders durch den wieder die schwierigsten Probleme der Biologie berührenden Schlussabschnitt ist das Kapitel über die Granulatheorie, das die vorliegende Lieferung abschließt. Nachdem gezeigt ist, dass die Altmann’sche Granulatheorie ın ihrem eigentlichen Sinn als allgemeine Protoplasmatheorie den Be- obachtungen nicht entspricht, weil es in allen Zellen homogenes, oft wichtige Funktionen erfüllendes Protoplasma gibt, wird erörtert, Heidenhain, Plasma und Zelle. 47 ob es überhaupt eine allgemeine Protoplasmatheorie geben könne. H. erkennt die Forderung als berechtigt an, dass sich die mannig- fachen (Faser-, Körner- und Waben-) Strukturen des lebenden Proto- plasma als zusammengesetzt aus gleichartigen Elementen müssten erklären lassen, aber er hält die Annahme von Flemming, Alt- mann, Bütschli und ihren Nachfolgern, dass diese Urelemente mikroskopisch sich müssten darstellen lassen, für unbegründet und durch die Erfahrung widerlegt. Man müsse also, da die Leistungs- fähigkeit unserer Mikroskope beschränkt sei, eine unsichtbare „Meta- struktur“ und histologisch nicht darstellbare Urelemente der leben- digen Substanz annehmen. In einem kurzen, mit Nägeli’s Micellen beginnenden Rückblick führt er die zahlreichen Bezeichnungen für solche Elementargebilde an, dabei eine scharfe Grenze ziehend zwischen den rein spekulativen Hypothesen, die auf eine Erklärung der Vererbung hinzielen, und jenen Vorstellungen, die durch Rück- schlüsse aus den erkennbaren Strukturen abgeleitet sind. H. schließt sich am meisten an Wiesner an, wählt aber doch wieder einen anderen Ausdruck für dessen Plasomen, nämlich Proto- meren. Die Berechtigung, die reale Existenz derartiger, durch direkte Beobachtung nicht nachweisbare Gebilde anzunehmen, sucht er auf folgendem Wege zu erweisen: Zunächst, da alle Biosysteme höherer Ordnung sich als zusammengesetzt aus teilungsfähigen Teil- körpern, die zunächst wieder Biosysteme niederer Ordnung sind, erweisen, sei es eine berechtigte Hypothese, die Reihe über die Grenze des Sichtbaren um mindestens ein Glied zu verlängern; sie sei aber auch durch besondere Gründe gestützt, nämlich „1. Aus der anscheinend homogenen Plasmamasse wachsen durch Isolation und Selbstbegrenzung Organula der Zelle, die Drüsengranula empor, von unmessbaren Anfängen beginnend. Ebenso sınd alle besonderen Histomeren des Zellkörpers auf dieser Basis während der Phylogenese (bezw. Ontogenese) entstanden zu denken. Die Tatsache dieser Selbstbegrenzung oder Abgliederung (Zirkum- differentiation) einzelner Teile der lebendigen Masse hat zur Voraussetzung, dass letztere ın sich selbst schon jene Begrenzbar- keit in vorgebildetem Zustand enthält und dieser Zustand kann ja nur als eine metamikroskopische Gliederung oder Protomeren- struktur aufgefasst werden. 2. Dieses normale Geschehen hat sein natürliches Korrelat auf pathologischem Gebiete. Es können einzelne Teile innerhalb des Plasmaleibes der Zelle absterben, gerinnen und zur Resorption kommen; hierbei begrenzt sich das abgestorbene Teilchen gegen die lebendige Substanz. Diese Sequestrierung oder Selbstbegrenzung kranker oder toter Teilchen könnte nicht statthaben, wenn nicht die Möglichkeit hierzu schon in der besonderen Form der Meta- struktur gegeben wäre. Wäre der Zellenleib in gemeinem Sinne nach der Schablone einer Maschine gebaut, so würde der Wegfall irgendeines Teiles eine Zerstörung oder Lahmlegung des ganzen Systems bedeuten. ‘Da dies indessen nicht der Fall ist, da selbst größere Teile der 48 Neapler zoologische Station. Zelle ohne Schaden wegfallen können, so muss, abgesehen von allen gröberen Einzelheiten der Struktur, in allen Teilen des Zelleibes eine im Grunde gleichartige einfachere Organisation vorhanden sein, welche Träger der Lebenserscheinungen ist und welche u. a. auch die Sequestrierung toter und kranker Teile erlaubt.“ Es werden dann noch die Eigenschaften erörtert, die wir diesen Protomeren zuschreiben müssen. Die Vorstellung von ihnen soll den späteren Abschnitten, in denen die höheren, oben angeführten Biosysteme behandelt werden sollen, zugrunde liegen, aber auch noch weitere Beweise für die Berechtigung ihrer Annahme sollen dort gegeben werden. Dass das Werk mit ebenso naturwahren wie klaren, technisch vollendeten Abbildungen reichlich ausgestattet ist, braucht bei den Namen des Autors und Verlegers nicht erst besonders hervor- gehoben zu werden. Wir können nur den lebhaften Wunsch nach seiner baldigen Fortführung in der begonnenen Weise aussprechen. W.R. Bei der Durchsicht der von Anton Dohrn hinterlassenen Schriften und Aufzeichnungen hat sich mancherlei gefunden, was von dem Entstehen und der Weiterentwickelung der von ihm begründeten Neapler zoologischen Station berichtet. Inwieweit diese Daten das historische Bild von der Entwickelung der Station wiederherzustellen vermögen, lässt sich noch nicht übersehen. Gewiss aber würden die zahlreichen von Dohrn an seine wissenschaftlichen Freunde ge- richteten Briefe imstande sein, manche Lücke auszufüllen oder an anderen Punkten eine wertvolle Bereicherung des Bildes zu liefern. Es ergeht deshalb die herzliche Bitte an alle, die gewillt sind, in dem angedeuteten Sinne mitzuwirken, die in ihrem Besitze befindlichen Briefe Dohrn’s seiner Familie zu überlassen oder doch deren Abschrift zu gestatten. Man bittet die Sendungen an Frau M. Dohrn, Neapel, Rione Amedea 92, zu richten. Berichtigungen zu dem Artikel „D. Th. Ssinitzin, Studien über die Phylogenie der Trematoden,“ Bd. XXI N. 21. S. 665 Z. 12 von oben muss es heißen: Miracidie statt Miroecidie. »„ 665 „ 25 » „muss es heißen: schwimmen. „ 669 „ 40 „ „lies: Reifungsprozessen statt Reifungsprozesren. „ 672, 30 5, 5 lies: Zamellibranchiatae statt Lamellibronchiatae. „ 672 „ 3 der Anmerkung 7 lies: wiederholt infiziert werden. „ 673 „ 14 von oben lies: den statt dem. »„ 673, 23 „ lies: Ceritholium statt Ceritholiums. „ 674 „ 19 „ ,„ lies: welche veranlassen könnten, dieselben zu ungeschlecht- licher Fortpflanzung für fähig zu halten. 676 „ 23 5, lies: (pedogenesis) statt (patogenesis). „ 679, 24 „ „lies: die von der statt die vor. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der kgl. bayer. Hof- u. Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und DER. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Der Abonnementspreis für 24 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen. Bd. XXX. 15. Januar 1910. AR. Inhalt: Ewald, Ueber Orientierung, Lokomotion und Lichtreaktionen einiger Cladoceren und deren Bedeutung für die Theorie der Tropismen (Schluss). — Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Chermes (i. a. S.) III (Schluss). — La Baume, Ueber den Zusammenhang primärer und sekundärer Geschlechtsmerkmale bei den Schmetteriingen und den übrigen Gliedertieren, — (omes, Sui movimenti di maneggio e sul loro significato nella teoria segmentale. — Jordan, Ueber „extraintestinale* Verdauung im allgemeinen und bei Carabus auratus im besonderen. Über Orientierung, Lokomotion und Lichtreaktionen einiger Cladoceren und deren Bedeutung für die Theorie der Tropismen. Von Wolfg. F. Ewald. (Schluss.) b) Reizschwellen. Die Verkleinerung der Amplitude der periodischen Lokomotion bei Herabsetzung der Lichtintensität lässt sich ebensogut beobachten, wie wir es bei der entgegengesetzte Er- scheinung gesehen haben. Es kann bei ausreichender Verdunkelung bei manchen Formen sogar bis zu völliger Bewegungslosigkeit kommen. Kurve VI zeigt solche Ruheperioden bei Leptodora nach Einschalten eines Filters aus rotem Papier zwischen Lichtquelle und Gefäß, während auf Kurve V gut erkennbar ist, wie nach Auflegen der größten Filterzahl eine merkliche Verkleinerung der Perioden ein- tritt. Nach Entfernung zweier Schichten erreicht dort die Bewegung wieder ihren alten Umfang. Im ersteren Falle sank die Belichtungs- intensität unter die „untere Reizschwelle“, d. h. diejenige Stärke, bei der das Licht überhaupt noch Reizwirkungen ausüben kann. Aus dem Vorhandensein einer unteren Lichtreizschwelle geht hervor, dass es möglich sein muss, die verstärkte Reizwirkung bei OS 4 50 Ewald, Über Orientierung, Lokomotion u. Lichtreaktionen einiger Cladoceren etc. Änderungen der Lichtintensität zu vermeiden, wenn der Unterschied ın der Zeiteinheit sehr gering bleibt. Man muss also imstande sein, durch ganz allmähliches Steigern der Lichtintensität einen Licht reiz „einzuschleichen“, wie das für den elektrischen Reiz der Fall ist. Man wird dabei keine momentane Reaktion, sondern nur eine allmähliche Verschiebung der Perioden beobachten können. Ich füge hier einen Versuch ein, der das Einschleichen des Licht- reizes zeigt. Kurve VI. 8. VII. 1908. Kurve VII. 7. VII. 1908. 10 „2 2 _ nr nm BR on % R 3 ut HE Leptodora hyalina. Oberlicht (Liliput-Bogen- Bythotrephes longimanus. lampe). 10b 11° Blende aus rotem Papier auf- Elektr. Oberlicht und gedeckt. 10h 23° Blende abgedeckt. Unterlicht. 10h 31° Blende wieder aufgedeckt. 11558. 9 Oberlicht 11h 59° Unterlicht Versuch vom 23. V. 1906. Ich deckte 12h 2° Oberlicht auf ein Gefäß mit Daphnien ganz i24 4 Unterlicht allmählich eine Schicht eines sehr 12h 4,‘ Oberlicht . . 12h 5!/,‘ Unterlicht dünnen Pauspapieres nach der an- 12h 81(„* Oberlicht deren. Es zeigte sich kein positiver 12h 1211,* Unterlicht Reflex. Wenn ich dagegen mehrere Blätter abdeckte oder wieder aufdeckte, so erfolgte deut- liche Reizbeantwortung. “ Erhöht man den Lichtreiz plötzlich um einen großen Betrag, so treten Schreckreaktionen ein, die auf Überreizung beruhen. Das Versuchstier beginnt dauernd kopfüber zu purzeln and schließlich wie ein Kreisel in horizontaler Richtung um sein Auge als Mittel- punkt zu rotieren. Diese Bewegung stellt eine krampfartige Sum- mation von Fluchtbewegungen der weiter oben beschriebenen Art dar. Man kann diese übermaximale Lichtreizung sehr lange fort- setzen, wenn man abwechselnd Licht und Dunkel auf das Tier wirken lässt. Bis zum Eintreten eines Tetanus konnte ich aber die Summation nicht verstärken. Ewald, Über Orientierung, Lokomotion u. Lichtreaktionen einiger Cladoceren ete. 51 Eine ähnliche, wenn auch weniger heftige und andauernde Reizwirkung konnte ich oft durch Erschütterung des Beobachtungs- gefäßes erzielen, besonders wenn die Tiere schon erregt waren. Es ist dies ein deutlicher Beweis dafür, dass verschiedene Reiz- mittel gleiche Effekte herbeiführen können. c) Bewegungsintensität. Nachdem über die Relativität des Optimums Gesagten ist es wohl selbstverständlich, dass die Reaktions- bewegungen der Cladoceren auf Lichtreiz nicht immer proportional zur Intensitätszunahme des Lichts an Stärke (d. h. Wegstrecke pro Zeiteinheit) zunehmen, wie dies von Parker behauptet wurde. So- lange die Lichtintensität innerhalb derjenigen Grenzen bleibt, die überhaupt das Zustandekommen normaler Reaktionen erlaubt, d.h. weder inframinimal noch supramaximal wird, hat die absolute Licht- stärke keine Bedeutung für die Reaktionsgröße. Vielmehr besteht die Proportionalität nur für die relative Reizintensität, und zwar ebensowohl für Verdunkelungs- wie für Erhellungsreiz. Die Kurve VIII Kurve VIII. 30. VI. 1908. Daphnia magna. Reaktionsgrößen bei Verdunkelungsreizen. Ordinate: Anzahl der Pauspapierfilter. Abszisse: Zahl der Sekunden, die zur Zurücklegung von l cm Weg benötigt wurden. (Interpolierte Kurve.) zeigt die Reaktionsgrößen bei zunehmenden Verdunkelungsreizen für eine Daphnia magna. Es wurde bei jeder Reizung die Zeit ge- messen, die das Versuchstier nach Eintreten des Reizes zur Zurück- legung einer bestimmten Strecke benötigte. Diese Kurve bedarf allerdings noch der weiteren Bearbeitung. Auch hier will ich noch einen Versuch anführen: .‚ Versuch vom 22. V. 1906. In einem Glaszylinder befanden sich Daphnien verstreut. Durch Aufdecken eines Paus- papierfilters wurden alle zum Aufsteigen gebracht. Weitere Filter verstärkten diese Bewegung beträchtlich. Als aber acht Filter aufgedeckt waren, ließen die Bewegungen sicht- lich nach und es erfolgte langsames Absinken der Tiere. Aus diesem Versuch geht ebenfalls das Anwachsen der Re- aktionsgröße mit der relativen Reizgröße hervor. Außerdem ist die Wirkung ersichtlich, welche durch das Überschreiten der unteren Reizschwelle, also inframinimale Belichtung, hervorgebracht wird. 4* 59 Ewald, Über Orientierung, Lokomotion u. Liehtreaktionen einiger Öladoceren ete. Ich habe versucht, die Augenbewegungen von Daphnia auch zu ihren Reizreaktionen in Beziehung zu setzen. Die Versuchstiere reagierten aber auf Beschattung des Auges meist durch Kontraktion des oberen Augenmuskels, gleichgültig, wie sie zum Licht orientiert waren. Die Reaktionen waren zudem so unsicher, dass ich von einem genaueren Eingehen auf diese Frage Abstand nehme. 3. Hemmungsreflexe. Es erübrigt sich noch, über eigenartige Lähmungserscheinungen bei Lichtreizen zu berichten, dıe ich an Daphnia pulex aus einem be- stimmten Waldteich bei München beobachtete. Diese Tiere reagierten auf Lichtreize jeder Art nur durch Verlangsamung der Schlag- frequenz ihrer Antennen unmittelbar nach Veränderungen der Licht- intensität. Fünf Exemplare, die ich genauer daraufhin unter- suchte, brauchten normaliter für fünf Antennenschläge die Zeit von 10 Sekunden. Bei Verdunkelungsreiz wuchs die benötigte Zeit auf 20 Sekunden, also um das Doppelte, bei Erhellung sogar auf 25 Se- kunden. Es sind bei der Berechnung nur die ersten fünf Antennen- schläge nach der Reizung in Betracht gezogen worden. Ich muss hinzufügen, dass das Gewässer, aus dem die Tiere stammten, tief- braun und sehr undurchsichtig war und dass alle darın befindlichen Cladoceren und Copepoden merkwürdig intensiv rot oder blau ge- färbt waren. Die schön durchsichtigen pelagischen Formen des klaren Starnberger Sees reagieren dagegen mit größter Feinheit auf Lichtreize. Es ist aus dieser Tatsache ersichtlich, eine wıe große Rolle das Milieu der Tiere für ıhr biologisches Verhalten spielt. Ebenso sahen wir verschiedene Altersstufen verschieden reagieren, und es ist selbstverständlich, dass auch die einzelnen Spezies Ab- weichungen zeigen, die durch ihre Organisationsunterschiede bedingt sind. Durch diese Mannigfaltigkeit der Erscheinungen entstehen dem Beobachter ganz besondere Schwierigkeiten, die sich auch ın der Verschiedenheit der Befunde und theoretischen Anschauungen der Autoren aussprechen, welche auf diesem Gebiete gearbeitet haben. Zusatz: Als Zusatz möchte ich noch eines Versuches über den Einfluss der chemischen Beschaffenheit des Wassers auf die Licht- reaktion bei Oladoceren Erwähnung tun, der mir nicht ohne Inter- esse zu sein scheint. Versuch vom 15. VI. 1908. In einem schmalen hohen Glase, das fauliges Wasser enthielt und mit seiner Längsachse parallel zum Lichteinfall stand, sammelten sich Daphnia quadrangula an der Fensterseite dicht unter der Oberfläche. Ich deckte eine Kiste von oben über das Glas, die den oberen Teil der Wassersäule beschattete. Die Daphnien sammelten sich nun unterhalb des unteren Randes der Kiste an der oberen Grenze des Lichteinfalls. Durch weiteres Ewald, Über Orientierung, Lokomotion u. Lichtreaktionen einiger Oladoceren ete. 53 Senken der Kiste konnte ich die Daphnien beliebig lange zwingen, sich in der Nähe des Bodens aufzuhalten. Wurden die Tiere in frisches Wasser gesetzt, so verschwand die Reaktion. Hier verursacht also die chemische Zusammensetzung des Wassers eine Verschiebung der Perioden auf das Licht hin. Dieser Fall zeigt, wie schwer es ist, bei der Anstellung von Versuchen Nebenwirkungen auszuschließen. Ganz besonders schwierig denke ich mir diese Aufgabe bei den in dieser Beziehung so heiklen See- wassertieren. IE Theoretischer Teil. A. Literatur. Vom Licht orientierte Bewegungen wurden zuerst bei Pflanzen entdeckt und unter dem Namen der heliotropischen Krümmungen beschrieben. Später kamen zu den Heliotropismen der festsitzenden Pflanzen ähnliche Erscheinungen bei beweglichen Schwärmsporen, Bakterien u. s. w., die sich bei ihrer Lokomotion ebenfalls nach dem Licht richteten. Man stellte diese Vorgänge als Phototaxis dem Phototropismus der festsitzenden Organısmen gegenüber. Nach Strasburger’s Untersuchungen nahm man an, dass die Licht- strahlen den phototaktischen Organısmus nötigen, eine „Symmetrie- achse* seines Körpers in die Richtung des einfallenden Lichtes einzustellen und sich in dieser Richtung entweder ın positivem oder negativem Sinne zu bewegen. Ersteres geschieht in normalem, letzteres ın sehr starkem Licht. Loeb entdeckte später im Tier- reich ganz analoge Verhältnisse, die er als Heliotropismus der Tiere bezeichnet. Er ist der Ansicht, dass das Licht durch besondere photochemische Wirkungen auf die Plasmaspannung der beleuchteten Körperseite das Tier zwinge, seine Körperachse in die Richtung der Lichtstrahlen einzustellen. Er glaubt auf Grund seiner Ver- suche annehmen zu müssen, dass die Lichtintensität für das Zu- standekommen dieser Orientierungserscheinungen keine Bedeutung besitze; denn es zeigte sich, dass bei geeigneter Versuchsanordnung negativ heliotropische Tiere gezwungen werden konnten, in stärkeres Licht zu schwimmen und umgekehrt (dass dieser Versuch den daraus gezogenen Schluss nicht rechtfertigt, wird sich weiter unten ergeben). Folgerichtig bezeichnete Loeb dann Tiere, die auf Unter- schiede der Lichtintensität, ohne Rücksicht auf die Strahlenrichtung, als Reiz reagierten, nicht als heliotropisch, sondern als „unter- schiedsempfindlich“. Nur innerhalb weiter Grenzen hatte die Lichtintensität für den echten Heliotropismus insoferne eine Bedeutung, als „starkes Licht positive Tiere negativ machte, schwaches dagegen negative positiv*. 54 Ewald, Über Orientierung, Lokomotion u. Lichtreaktionen einiger Cladoceren ete. Positivität und Negativität des Tieres werden also durch eine be- stimmte physiologische Disposition bestimmt. Äußere Agentien, wie z. B. extreme Lichtverhältnisse, können diese Disposition beein- flussen. Nicht allein starkes und schwaches Licht haben diese Wirkung. Loeb machte vielmehr die wichtige Entdeckung, dass Änderungen in der Konzentration des Seewassers sowie in der Temperatur umkehrend auf den Charakter des Phototropismus wirken und zwar war nicht die Änderung, sondern die absolute Höhe der Konzentration resp. der Temperatur für das Verhalten der Tiere maßgebend. Bei Reizung durch galvanische Ströme be- obachtete Loeb einseitig lähmende Wirkungen auf den Bewegungs- apparat der Versuchstiere, die zu einem Galvanotropismus genau nach seiner Tropismentheorie führte. Im Jahre 1892 veröffentlichte Oltmanns eine Arbeit über die Lichtreaktionen von Volvox und anderen niederen Pflanzen, die zu den bahnbrechenden Werken auf diesem Gebiet gehört. Er benutzte zu seinen Versuchen ein Aquarium, dessen Seitenwände aus keil- förmigen Gelatine-Tusche-Prismen bestanden, in dem also eine gleich- mäßig abgestufte Lichtintensität herrschte. In einem solchen Gefäß suchten nun sämtliche Volvox-Individuen stets eine ganz bestimmte, durch die Lichtintensität bedingte Zone auf. Durch Verändern der Intensität der Lichtquelle konnten die Volvocinen veranlasst werden, sich hinter eine andere Stelle des Gelatinekeils zu begeben, wo die Intensität der Beleuchtung offenbar der vorherigen etwa entsprach. War die Ansammlung an einer bestimmten Stelle erfolgt, so be- gannen die Weibchen periodische Vertikalwanderungen, die Olt- manns als „Reihenmarsch“ bezeichnet und die nach der Beschreibung ganz mit den von mir an Cladoceren beobachteten periodischen Lokomotionsschwankungen übereinstimmen. Der Reihenmarsch war durch die Schwerkraft hervorgerufen, also vertikal. Ein absolutes Optimum der Lichtintensität wurde nicht festgestellt; vielmehr trat für alle verwendeten Intensitäten Adaptation ein. Demgemäß be- wirkten nur Veränderungen der Intensität einen Reiz und die Be- wegungen wurden um so stärker, je weiter die Intensität sich von der jeweiligen Adaptationsintensität nach oben oder unten ent- fernte. — Auf Grund dieser Befunde bestritt Oltmanns die An- schauung, als handle es sich beim Phototropismus allein um eine Einstellung des Körpers ın die Achse der Lichtstrahlen. Die Inten- sıtät des Lichtes schien ihm das maßgebende, die Einstellung nur als ein Mittel, die dem Organismus zusagende Intensität aufzusuchen. Er nannte die Fähigkeit, Unterschiede der Lichtintensität zu empfinden, Photometrie. Ich übergehe die zahlreichen Arbeiten von Verworn, Yerkes, Parker, Holt und Lee, Davenport und Cannon und vielen anderen, da sie der bestehenden theoretischen Kontroverse keine Ewald, Über Orientierung, Lokomotion u. Lichtreaktionen einiger Cladoceren ete. 55 neue Wendung geben konnten, trotz mannigfacher Versuche zur Klärung und Entscheidung der Frage. Erst Jennings gelang es in einer Serie äußerst exakter Arberten, weitere Gesichtspunkte zur Kenntnis des Phototropismus zu gewinnen. Ich muss diese Ver- suche genauer beschreiben, da sie für die nachfolgende theoretische Betrachtung von grundlegender Bedeutung sind. Unter den von Jennings untersuchten Formen lassen sich zwei Typen unter- scheiden. Der erste wird repräsentiert durch Stentor, eın ciliates Infusor. Dieses Tier bewegt sich in mäßig erleuchtetem Wasser, ohne eine bestimmte Richtung einzuhalten, indem es dabei Schrauben- drehungen um seine Längsachse ausführt. Sobald es aber mit dem vorderen Körperpol in eine Zone helleren Lichtes gerät, hält der Schlag seiner Cilien an und setzt sich in umgekehrter Richtung fort: das Tier führt eine Rückzugsbewegung aus. Dabei dreht es sich nach einer bestimmten, durch seime Organisation bedingten Seite, so dass der vordere Körperpol etwas nach dieser Seite hin gewendet wird. Alsbald beginnt wieder die Vorwärtsbewegung und zwar in der neuen Richtung; sie wird solange fortgesetzt, bis das Tier wieder an eine Intensitätsgrenze stößt; dann erfolgt die gleiche Reaktion von neuem. Das Resultat ist, dass das Tier stets in einer Zone gleichmäßiger Lichtintensität gehalten wird. Bestrahlt man es mit starkem Licht, so fährt es solange fort, die angegebene Be- wegungsreaktion auszuführen, bis sein vorderer Körperpol direkt vom Licht fortgewendet ist. Solange das Licht stark genug ist, muss jede Abweichung aus dieser Richtung eine stärkere Belichtung des vorderen Körperpols und damit einen Reiz herbeiführen, so dass das Tier dauernd vom Licht fortzuschwimmen genötigt ist. Der zweite Typ wird durch Euglena, eine Flagellate, dargestellt. Auch dieses Tier bewegt sich normalerweise durch Schrauben- drehungen um seine Längsachse vorwärts. Sobald es dabei eine Verminderung der Liehtintensität verspürt, was eintritt, wenn eine vom Licht abgewendete Lage des lichtempfindlichen vorderen Körper- pols eingenommen wird, hält die Vorwärtsbewegung an und es treten Kreiselbewegungen um den hinteren Körperpol ein. Dabei beschreibt der vordere Körperpol eine Kreisbahn von größerem Durchmesser als bei der normalen Schraubenbewegung, und es muss in dieser Bahn eine Stelle geben, in der der vordere Körperpol voller vom Licht getroffen wird als vorher. In dieser Stellung tritt also eine Abnahme des Reizes ein und das Tier schwimmt von neuem vorwärts. Ist auch jetzt die Lage ungünstig, so wird die Reaktion wiederholt, solange bis das Tier auf das Licht hinge- wendet ist. Eine allgemeine Herabsetzung der Lichtintensität ver- anlasst natürlich auch die angegebene Bewegungsreaktion, ohne aber eine neue Richtung der Bewegung zu bewirken. — In sehr starkem Licht kann sich die Bewegung auch umkehren. Die Tiere 56 Ewald, Über Orientierung, Lokomotion u. Lichtreaktionen einiger Cladoceren ete, drehen dann den vorderen Körperpol aus dem Licht fort und schwimmen in dieser Richtung weiter. Wir sehen also hier zwei sorgfältig beobachtete Fälle vor uns, bei denen das Licht zweifellos eine bewegungsregulierende Wirkung besitzt und doch keine Orientierung des Körpers stattzufinden braucht. Sowohl Stentor wie Euglena sind mitunter ganz unorientiert und finden eine Einstellung zum Licht nur durch eine Reihe nicht direkt zum Ziel führender Bewegungen. Jennings wies daher daraufhin, dass seine Befunde mit der Tropismentheorie von Loeb schlechterdings unvereinbar seien. Das oben beschriebene Verhalten von Kuglena ist auch als Vergleichsstück zu Loeb’s Bemerkungen über Inten- sitätswirkungen von Interesse. Kuglena würde ebenfalls, obwohl positiv phototropisch, vom Helleren ins Dunklere gehen, wenn sie sich dabei auf die Lichtquelle hin bewegt. Trotzdem ist aber die Lichtintensität allein für ihre Bewegungen verantwortlich, .da jede Abweichung aus der Richtung des Lichtstrahls als Reiz empfunden wird. Nur können allgemeine Veränderungen der Intensität, die nicht mit Richtungsänderungen der Lichtquelle verbunden sind, keine neue Orientierung herbeiführen. Jennings zeigte ferner, dass auf chemische Reize ganz analoge Reaktionen seiner Versuchs- tiere stattfanden, wie auf Lichtreiz, und dass der „Galvanotropis- mus“ einen Spezialfall darstelle, der zur Erklärung der Tropismen nur mit Vorsicht herangezogen werden darf. Er nannte die Re- aktionsweise durch stereotype Bewegungen, die nicht direkt zum Ziel führen müssen, „the method of trial and error“. Etwa gleichzeitig mit Jennings publizierte Rothert eine Ar- beit, ın der er von ganz entsprechenden Reaktionen bei einer großen Zahl von Bakterienarten berichtet. Er nennt diese Reaktionsform „apobatische Phototaxis“ (Fluchtbewegungen) im Gegensatz zur „strophischen Phototaxis* (Wendebewegungen). Von letzterer nimmt er an, dass sie nicht durch Intensitätsunterschiede der Belichtung, sondern durch Richtungswirkungen des Lichtes hervorgerufen wird. Eine ganz andere Behandlung erfuhr die Frage des Phototropis- mus um dieselbe Zeit durch Rädl, dessen Befunde ich zum Teile ım I. Abschnitt dieser Arbeit bereits zitiert habe. Rädl legte allen Nachdruck auf die Tatsache der Orientierung und nennt jede Orien- tierung zum Licht einen Phototropismus, seien es die Krümmungen der Pflanzen oder die Augendrehungen der Daphnien, Insekten und höheren Tiere. Die „gerichtete Bewegung“ ist nach ihm nur eine Folge der Augenorientierung und hat mit dem Phototropismus als solchem nichts zu tun. Er verwirft demgemäß die Unterscheidung zwischen Phototropismus und Phototaxis. Auf seine vortreffliche Kritik der bestehenden Begriffe einzugehen, verbietet mir der Raum. Nach Abschluss meiner Versuche lernte ich noch eine weitere Ar- beit über Lichtreaktionen kennen, die ebenfalls zum theoretischen Ewald, Über Orientierung, Lokomotion u. Lichtreaktionen einiger Cladoceren ete. 57 Verständnis des Phototropismus wertvolle Beiträge liefert. Es ist die Abhandlung von Viktor Bauer über „die reflektorische Regu- lierung von Schwimmbewegungen bei den Mysıden®. Diese hoch- stehenden Krustazeen besitzen bereits Statocysten und es ist von großem Interesse, zu sehen, wie die Lichtorientierung neben der Sch wer- kraftsorientierung bestehen kann. Um ein kurzes Resume der Ar- beit zu geben, zitiere ich Bauer selbst. „Die Statocysten regulieren reflektorisch den Tonus des als Horizontalsteuer wirkenden Ab- domens.“ „Auf den Bewegungsapparat sind die Statocysten ohne Einfluss.“ „Bei starkem Lichteinfall von oben tritt eine Haltung des Abdomens ein, welche die Tiere in die Tiefe führt.“ „Die Augen beeinflussen reflektorisch die Ruderfüße der Gegenseite und zwar im Sinne einer Hemmung.“ — Demnach erfolgt die seitliche Orientierung der Tiere in der Weise, dass bei Lichtreizung des einen Auges die Ruderfüße der Gegenseite gehemmt werden, also eine Regulierung der Bewegungen in bezug auf das Licht erfolgt. Sowohl Zu- als Abnahme des Lichtes wirken als Reiz, und zwar in derselben Weise, wie ich sie für die Daphniden beschrieben habe. — „Wir kommen also zu dem Resultat, dass die Mysiden nach vorhergehender Verdunkelung negativ, nach Aufenthalt im hellen Licht positiv phototaktisch reagieren. Des weiteren zeigte sich, dass diese Reaktion bald aufhört und in ein Hin- und Herschwimmen in der Richtung des Lichteinfalles übergeht, welches die Tiere ab- wechselnd vom Hellen ins Dunkle und zurückführt.“ — Letztere Angabe deutet ebenfalls auf kleine Lokomotionsperioden der von mir beschriebenen Art. Bauer legt sich auch die Frage nach dem Zustandekommen der Adaptation vor und stellt fest, dass Pigment- verschiebungen nicht dafür in Betracht kommen, da sie zu lang- sam vor sich gehen, und da außerdem auch bei maximaler Pigment- verschiebung noch Adaptation eintritt. B. Zur Theorie der Liehtreaktionen der Cladoceren. Vergegenwärtigen wir uns nach dem Gesagten kurz das Ver- halten der Cladoceren dem Licht gegenüber, um zu sehen, wie sich die Ergebnisse meiner Versuche zu denen der anderen Autoren verhalten. Wır sahen zunächst, dass dıe Öladoceren durch das Licht dauernd genau im Raum orientiert waren und zwar dadurch, dass ihre Augen die Lichtquelle stets in einer bestimmten Lage zu fixieren suchen und dass der Körper zur Augeneinstellung mit Hilfe der Lokomotionsorgane eine bestimmte Normallage einzuhalten strebt. Ferner sahen wir, dass die Lokomotion der Cladoceren dauernd periodischen Schwankungen unterworfen war. Unter nor- malen Bedingungen äußerten sich diese Schwankungen einfach als ziemlich regelmäßiger Wechsel zwischen verstärkter und herab- gesetzter Bewegungsintensität. Sowie jedoch aus irgendeinem Grunde 58 Ewald, Über Orientierung, Lokomotion u. Liehtreaktionen einiger Clad oceren etc. eine Erregung eintrat, schwammen die Tiere mit etwa gleichmäßiger Geschwindigkeit abwechselnd auf das Licht hin und vom Licht fort. Die Bewegungsrichtung hing in allen Fällen von der Stellung der Lichtquelle ab. Eine Untersuchung der Reizreaktionen lieferte für diese Erscheinung die Erklärung, denn es zeigte sich, dass die Cladoceren jede Erhöhung der Lichtintensität mit einer Bewegung vom Licht fort, jeder Herabsetzung mit einer Bewegung zum Licht hin beantworteten. Nach der Reaktion trat jedoch sehr schnell eine Adaptation an alle Lichtintensitäten ein, so dass die Abwesen- heit eines absoluten Optimums der Belichtung klar hervortrat. Wir haben uns also die Bewegungen der ÜUladoceren so vorzustellen, dass sie unter normalen Bedingungen durch regelmäßigen Wechsel von Phasen lebhafter Bewegung und Ermüdung sich abwechselnd auf das (von oben kommende) Licht hin bewegen und wieder ab- sinken. Tritt nun aus irgendeinem Grunde eine Erregung ein, so bewegt sich das Tier stärker und kommt dadurch in kurzer Zeit ın eine Region erheblich größerer Lichtintensität. Es rezipiert hierbei einen Erhellungsreiz, der es, wie wir sahen, zur Umkehr und aktiven Bewegung vom Licht fort, also abwärts führt. Dabei gerät es wieder schnell ın eine Zone geringerer Beleuchtung und der ent- gegengesetzte Reflex tritt ein. So pendelt das Tier zwischen einer positiven und negativen „Reizschwelle* hin und her, bis es sich allmählich beruhigt und nur noch der normale Wechsel zwischen Bewegungs- und Ermüdungsphasen eintritt. Als Ursache der Er- regung, welche Bedingung der geschilderten, durch Lichtreize hervorgerufenen Perioden ist, kommt außer der chemischen Be- schaffenheit des Wassers vor allem das durch zu lange dauernde Ermüdungspausen verursachte Absinken in Zonen geringerer Licht- intensität in Betracht. Dabei muss jedesmal ein Verdunkelungsreiz erteilt werden, der zu einer Erregung und damit zu verstärkter Bewegungsintensität führt. Wie verhalten sich nun diese Tatsachen zu den bisherigen Untersuchungen ? Zunächst sehen wir, dass für die Frage, ob die Bewegungen in positiver oder negativer Richtung erfolgen, die Lichtintensitäten resp. deren Veränderungen bei normaler chemischer Beschaffenheit des Wassers das allein maßgebende sind. Darin stimmen meine Befunde mit denen Bauer’s vollkommen überein. Aber auch zur Erklärung der Orientierung spricht nichts für die Annahme be- sonderer Richtungswirkungen des Lichtes, wie sie Loeb für ganz einfach organisierte Formen annehmen zu müssen glaubte. Schon für augenlose Ciliaten hat Jenning’s nachgewiesen, dass es allein die Veränderungen der Liehtintensität sind, welche als Reize wirken und indirekt vermittels besonderer stereotyper Bewegungsreflexe zu einer Orientierung führen. Ewald, Über Orientierung, Lokomotion u. Lichtreaktionen einiger Cladoceren ete. 59 Noch weit einfacher und zugleich vollkommener ist der Orien- tierungsvorgang für die zusammengesetzten Augen der Gladoceren anzunehmen. Denn es ıst klar, dass bei jeder Lageveränderung dieser Tiere dem Licht gegenüber ein anderes der zahlreichen Einzel- augen in die Strahlenrichtung des Lichtes fällt und dass dadurch Intensitätsschwankungen und damit auch Lichtreize für die betreffen- den Einzelaugen gegeben sind. Nimmt man nun an — und das erscheint mir das nächstliegende —, dass die Reizung eines jeden der Einzelaugen eine spezifische Reflexbewegung der Antennen aus- löst, die zu einer Korrektur der Lage führt, so hat man damit eine ganz zwanglose Erklärung der Orientierung auf Grund der Inten- sitätsschwankungen des Lichtes. Es scheint mir demnach, dass für eine ganze Reihe von Orga- nismen, die auf ganz verschiedene Organisationshöhe stehen, die Schwankungen der Lichtintensität zur Erklärung aller Erscheinungen des Phototropismus vollkommen ausreichen. Die theoretischen Folgerungen aus diesen Anschauungen zu ziehen, sei mir in einer später zu veröffentlichenden Fortsetzung der vorliegenden Arbeit gestattet. C. Zur Theorie der täglichen Wanderungen. Es erübrigt sich, noch einiges über die biologischen Ergebnisse meiner Versuche zu sagen. Ihre Bedeutung für die Erklärung der täglichen Vertikalwanderungen liegt vor allem in den über die kleinen Lokomotionsperioden angestellten Beobachtungen. Nehmen wir an, dass die periodischen Schwankungen der Lokomotionsstärke auch im Freien eintreten — und es entspricht nach meinen Be- obachtungen nichts gegen, wohl aber vieles für diese Annahme —, so ließe sich etwa folgendes Bild von der täglichen Periode ent- werfen. Wenn ich von der mittleren Tageszeit ausgehe, so werden die kleinen Lokomotionsperioden am Nachmittag bei abnehmendem Licht durch Höherrücken der Zonen, in denen beim Absınken Verdunke- lungsreize eintreten, ganz allmählich verschoben werden. Je nach der Tiefe, in der sich die Individuen aufhielten, werden sie nach Ein- treten der Dämmerung früher oder später ın der Nähe der Ober- fläche erscheinen. Bei Beginn der Morgendämmerung setzen die Perioden mit abwärts gerichteter Tendenz wieder ein, so dass nach einiger Zeit die Tagestiefe wieder erreicht ist. Es ist einleuchtend, dass ohne die Existenz der periodischen Lokomotionsschwankung eine Tagesperiode, die sich direkt nach dem Licht richtet, nicht in der angegebenen Weise zustande kommen könnte. Denn, da die Tiere eine sehr allmähliche Lichtveränderung nicht als Reiz empfinden, würden sie höchstens bei der rapiden Erhellung und Verdunkelung in den Dämmerungszeiten zu Re- aktionen veranlasst werden. Das mag auch für manche Arten zu- 60 Ewald, Über Orientierung, Lokomotion u. Lichtreaktionen einiger Cladoceren etc, treffen. Es ist von Fol gezeigt worden, dass der Wechsel von Tag und Nacht im Wasser ein ganz plötzlicher ist und mit dem Augenblicke eintritt, wo die Sonnenstrahlen von der Oberfläche total reflektiert werden. Ich habe im Aquarıum oft beobachtet, dass eine Zunahme der Bewölkung genügt, um bei Daphnia den positiven Reflex auszulösen. Andererseits ist es nach Ruttner’s Untersuchungen unzweifelhaft, dass für viele Arten das Aufsteigen an die Oberfläche schon bald nach der Mittagsstunde beginnt. Diese Formen müssten also die geringe Lichtabnahme am Nachmittag bereits wahrnehmen können. Eine solche Annahme ist nur für den Fall denkbar, dass die Tiere entweder nicht adaptieren oder aber eine periodische Lokomotion besitzen. Der erste Fall widerspricht allen Beobachtungen. Im zweiten Fall dagegen macht die allmäh- liche Verschiebung der Reizungszone das Eintreten einer wahrnehm- baren Lichtveränderung überflüssig; der Lichtreiz (beim Absinken) ist unter allen Umständen gegeben und es braucht nur die Stelle verschoben zu werden, an der er emtritt. Diese Einrichtung lässt sich wohl mit dem sogen. subtraktiven Anemometer vergleichen, einem Windmesser, der vom Winde nicht ın Rotation versetzt, sondern gebremst wird. Ein Uhrwerk besorgt die Bewegung. Das Instrument ist weit empfindlicher als die sonst üblichen, da der leiseste Windhauch eine geringe Verlangsamung der Bewegung veranlassen kann, während er nicht ausreichen würde, das Windrad in Umdrehung zu versetzen. Es ist wohl kaum ein Zweifel möglich, dass bei den Oladoceren tatsächlich eine derartige Reguliervorrichtung besteht und dass zum mindesten die regelmäßigen Bewegungspausen und das damit ver- bundene Absinken zur Erteilung von Lichtreizen führen. Trotzdem ist damit noch keine genaue Einstellung des Tieres in ein bestimmtes Intensitätsfeld bewirkt, da die Adaptationsfähigkeit unter allen Um- ständen Verzögerungen und Ungleichheiten in der Reaktion zur Folge haben muss. Damit stimmen aber, wie es scheint, die Be- funde im freien Wasser sehr gut überein. Denn auch dort zeigen sich, wie wir in der Einleitung bereits gesehen haben, ganz unge- heure Verschiedenheiten im Verhalten der einzelnen Tiere. Können doch nach Steuer die Wanderungen oft überhaupt unterbleiben. Es ist also von vornherein anzunehmen, dass die zugrunde liegenden physiologischen Vorgänge sehr variabel und komplex sein werden. Ziehen wir nun noch in Betracht, dass verschiedene chemische Zusammensetzung des Wassers und verschiedene physiologische Zu- stände des Organismus erwiesenermaßen bestimmend auf den Aus- fall der Lichtreaktionen einwirken können, so wird es unmittelbar einleuchten, dass erst aus dem Studium aller Einzelfaktoren sich ein befriedigendes Gesamtbild entwickeln kann. Ich möchte daher zum Schlusse ausdrücklich betonen, dass ich mir wohl bewusst bin, Ewald, Über Orientierung, Lokomotion u. Lichtreaktionen einiger Cladoceren ete. $1 zur Erkenntnis des Gesamtproblems nur durch das Studium einer einzelnen Teilerscheinung einen Beitrag geliefert zu haben. Aller- dings. glaube ich, dass die Phänomene des Phototropismus die wesentliche Grundlage bilden, ohne deren Erforschung ein Ver- ständnis der übrigen Faktoren, welche die Erscheinung der Vertikal- wanderungen bedingen, undenkbar ist. Zusammenfassung. I. Teil. A. Orientierung. 1. Die Oladoceren sind zur Schwerkraft nur durch ihre passive Gleichgewichtslage orientiert, welche durch die Körperform be- dingt wird. 2. Zum Licht sind sie dadurch genau orientiert, dass die Augen die Lichtquelle stets in bestimmter Lage fixieren und dass der Körper zur Augeneinstellung mit Hilfe der Lokomotionsorgane eine bestimmte Normallage einzuhalten strebt. 3. Die Augen brauchen zur Erzielung dieser Körpereinstellung nicht beweglich zu sein. Die Augenbewegungen von Daphnia und Bythotrephes sınd also wahrscheinlich sekundäre Erscheinungen. 4. Augenexstirpation bewirkte Desorientierung und Verringerung der Schlagstärke der Antennen. B. Lokomotion. Die Lokomotion der Cladoceren zeigt sich periodischen Inten- sitätsschwankungen von der Dauer weniger Minuten unterworfen, die mitunter große Regelmäßigkeit zeigen. 6. Unter normalen Bedingungen äußern sich diese Schwan- kungen als periodischer Wechsel zwischen lebhafter und herab- gesetzter Lokomotion, die das Tier abwechselnd zum Licht hin und durch passives Absinken vom Licht fortführt. 7. Im Zustande der Erregung werden die Bewegungen zum Licht hin heftiger und die Bew egungen vom Licht 2 in von aktıven Se unterstützt. 8. Bei seitlich angeordneter Lichtquelle erfolgt die periodische Lokomotion in horizontaler Richtung, soweit nicht die Schwerkraft störend wirkt. Der negative Teil der Periode muss hier stets aktiv erfolgen, so dass eine gewisse Erregung Voraussetzung für das Zustandekommen von horizontal gerichteten periodischen Loko- motionen ist. 9. Bei von unten kommendem Lichte werden die Lokomotionen im allgemeinen verhindert, da Licht und Schwerkraft in gleicher Richtung wirken. 10. Die Erscheinung der kleinen Lokomotionsperioden lässt sich bei zahlreichen der schwimmenden und fliegenden Tiergruppen be- obachten. 62 Ewald, Über Orientierung, Lokomotion u. Lichtreaktionen einiger Cladoceren etc. C. Reizreaktionen. 11. Ein Charakteristikum der Reaktionen auf Lichtreize ist die schnelle Adaptation der Tiere an die reizbewirkende Lichtintepsität. Der Lichtreiz wirkt somit nur durch die Schwankungen seiner Intensität. 12. Die Oladoceren bewegen sich bei Verdunkelung zum Licht hin, bei Erhellung vom Lichte fort (positiver und negativer photo- tropischer Reflex). 13. Erhellung und Verdunkelung müssen als von derjenigen Intensität ausgehend gedacht werden, an die das Tier adaptiert ist (Adaptationsintensität). Die örtliche Region, ın der das Licht die Adaptationsintensität besitzt, heiße Adaptationszone. Ein abso- lutes Optimum ıst nıcht vorhanden. 14. Bei Herabsetzung der Lichtintensität tritt eine Verkleine- rung der Amplitude der Lokomotionsperioden ein, die bis zur Be- wegungslosigkeit führen kann, wenn die Lichtintensität unter die untere Reizschwelle sinkt. 15. Veränderungen der Lichtintensität, die ın der Zeiteinheit ein bestimmtes Maß nicht erreichen, werden nicht als Reiz empfunden (Einschleichen des Lichtreizes). 16. Maximale Lichtreize führen zu Schreckreaktionen, die als summierte negative Reflexe aufzufassen sind. Der Reiz wird durch periodische Unterbrechung gesteigert. Erschütterungsreize können die gleiche Wirkung haben. 17. Die Intensität einer Reaktionsbewegung ist der Größe der Lichtveränderung innerhalb der ersten Sekunden nach der Reizung proportional, und zwar in einem konstanten Verhältnis, das noch näherer Untersuchung bedarf. Von der absoluten Lichtintensität bleibt sie unbeeinflusst. 18. Exemplare von Daphnia pulex aus einem bestimmten Ge- wässer reagierten auf alle Lichtreize nur durch Verlangsamung der Schlagfrequenz ıhrer Antennen. 19. Verschiedene Altersstufen, Tiere aus verschiedenen Ge- wässern und in verschiedenen physiologischen Zuständen sowie verschiedene Spezies zeigen charakteristische Verschiedenheiten ın der Lichtreaktion. 20. Die chemische Zusammensetzung des Wassers (Sauerstoff- reichtum ete.) beeinflusst im sinnfälliger Weise den Ausfall der Lichtreaktion. II. Teil. B. Zur Theorie der Lichtreaktionen der Cladoceren. 1. Die Reaktion auf Schwankungen der Lichtintensität genügt bei den Cladoceren infolge der Anordnung ihrer Lichtrezeptions- organe vollkommen zur Erklärung des Verhaltens zum Licht. Nicht nur der Charakter der Reaktionsbewegung (positiv und negativ), Ewald, Über Örientierung, Lokomotion u. Lichtreaktionen einiger Cladoceren ete. 63 sondern auch die Orientierung im Raum wird offenbar dadurch hervorgebracht, dass der Lokomotionsapparat auf Reizung jedes der Einzelaugen, und zwar sowohl durch Zunahme als durch Ab- nahme der Belichtung, in verschiedener Weise durch spezifische Bewegungsreflexe reagiert. C. Zur Theorie der täglichen Wanderung. 2. Die Wanderungen sind wahrscheinlich eine Folge der Re- aktıon auf Lichtreize, hervorgerufen durch Verschiebung der Adap- tationszonen. Die kleinen Lokomotionsperioden ermöglichen das Eintreten zum mindesten der Verdunkelungsreize auch bei sehr langsamer Lichtveränderung. | 3. Die chemische Zusammensetzung des Wassers sowie physio- logische Eigenschaften der Tiere müssen die Lichtreaktion auch ım Freien wesentlich beeinflussen. Literaturverzeichnis. Apstein, Das Süßwasserplankton. Kiel und Leipzig 1896. Bauer, Viktor, Über die reflektorische Regulierung von Schwimmbewegungen bei den Mysiden. Zeitschr. f. allgem. 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Bei I (Pineus und Pemphigus) geht die Sexupara und Exsulans in einem früheren oder späteren Stadium. aus einer indifferenten Larve hervor, ım Ei ist die Anlage noch neutral. In II (O’hermes ı. e. S.) ıst infolge der Entwickelung einer schon im ersten Stadium geschützten Latenzlarve die Differenzierung zwischen Exsulans und Sexupara schon in das Embryonalleben zurückverlegt, wir können daher schon ab ovo Latenzlarven und Sexuparen unterscheiden !*°) (der Kreis umschließt die embryonale Entwickelung). In III beginnt die Aestivalis-Differenzierung, und zwar aus der Sexupara, wahr- scheinlich zu Ende des ersten Larvenstadiums, also noch vor der ersten Häutung. Schema III zeigt uns, dass dıe Entwickelung der I I IH N Pıneus Chermes Dreyfusıa 125. Exul. vern. Exul vem. Exrul. vern. Beul Ir Latenst. latens!. Kapens Exul% Sexup. Sexup. Aesiv. Jexup. Exu1? Aastin sexup. Fig. 4. Schematische Darstellung der Genese der Exsulans vernalis-Nachkommen. -Die Kreise umschreiben die embryonale Entwickelungsperiode. Schema I Pineus, IT Ohermes i. e. S., III Dreyfusia nüsslini nach Börner’s Auffassung; IV Drey- fusia und Aphrastasia nach Nüsslin’s bezw. Cholodkovsky’s Auffassung. Aestivalis wobl in mancher Hinsicht (flügellos, dreiocellig, klein- hirnig) parallel zur Latenzlarve verläuft, aber als phylogenetisch spätere Erwerbung keinerlei näherer genetischen Beziehungen zur Latenzlarve hat. Nur insofern steht auch die Aestivalıs ihrer Mutter Exsulans vernalis nahe, als ıhre Kinder entweder durchweg zu Exsulans-Latenzlarven und Exsulans-Müttern werden. (Dreyfusia), oder doch zum Teil, während der andere Teil sich zu Aestivaliıs- Müttern entwickelt (Onaphalodes). Der erstere Fall ist durch das Schema VIII der Fig. 1 ın der Biologie von Dreyfusia nüsslini, gegeben. Aus der Vernalis entstehen wie bei Chermes i. e. S. zum Teil Exsulans-Latenzlarven, zum Teil Sexuparen, von denen als- dann eine einzige Aestivalisgeneration (Nadelaestivalis) abzweigt, deren Nachkommen sämtlich zu Exsulans-Latenzlarven werden, 18) Aestivalis gibt es bei Chermes ji. e. S. noch nicht, und es erscheint voll- ständig willkürlich und irreführend, wenn Börner in dieser Gattung immer wieder von Aestivales spricht. Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Chermes (i. a. 8.) III. 65 aus denen im nächsten Jahre wieder, wie aus den ersten Latenz- larven der Vernalis Exsulantes vernales werden). Der zweite Fall wird durch das Schema VII der Fig. 1 (Onapha- lodes) wiedergegeben. Außer den Latenzlarven entstehen als Kinder der Vernalis Sexuparen und Aestivales (an Nadeln), ihre Nachkommen werden aber nur zum Teil zu Latenzlarven, zum Teil zu Aestivales, wodurch sich die Zahl der Aestivalesgenerationen innerhalb der Saison vermehrt. Bei jeder folgenden Aestivalisgeneration wiederholt sich die Scheidung?®) in Latenzlarven und Aestivales, bis die letzte Aestivaliıs nur noch Latenzlarven erzeugt. Bei Aphrastasia pectinatae und nach meiner Auffassung auch bei Dreyfusia scheint eine weitere Komplikation dadurch vorzukommen, dass neben der Aestivalis, die sich aus einer Sexuparalarve entwickelt, eine zweite Exsulans- generation auftritt, die aus einer Latenzlarve entsteht. Fig. 1, Schema VIIlu. Fig. 4, Schema IV sollen diesen Fall deutlich machen. Diese zweite Exsulansgeneration sitzt bei pectinatae ebenfalls an Nadeln. Dass solche späte Exsulans-Mütter bei pectinatae vorkommen, beweist eine Sendung vom September 1908, die ich Herrn Prof. Cho- lodkovsky verdanke. An den Zweigen dieser Sendung saßen an den Nadeln noch lebende Mütter, deren Eier Latenzlarven ent- stehen ließen, aus denen ich ım folgenden Frühjahre (1909) Ver- nales, Aestivales und Sexuparae erziehen konnte. Sowohl die Vernalis als die Aestivalıs hatten, letztere ausschließlich, Exsulans- Latenzlarven geliefert, die (zwei noch unsichere Vorkommnisse ausgenommen) von Mai bis November ım Beharrungszustande verblieben oder abgestorben sind. Ein ähnliches Ergebnis hatte Herr Dr. Börner, wie er mir kürzlich mitgeteilt hatte. Es scheint fast, als ob unser Klıma nicht geeignet wäre, die Latenzlarven von pectinatae noch innerhalb der Saison zum Wachstum zu fördern, vielleicht infolge ungünstiger Beeinflussung des Wachstums der Sıbir. Tanne. Dagegen sind auch in diesem Jahre wieder, ähnlich wıe 1907 und 1908, zahlreiche Latenzlarven von Dreyfusia, nachdem sie den Hochsommer über latent geblieben waren, schon Anfang September zu eierlegenden Müttern geworden. Das Schema VIII der Figur 1 besteht also zweifellos zu Recht für Dreyfusia, wahrscheinlich auch für pectinatae ın seiner Heimat, 19) Dass ein Teil der Latenzlarven bei Dreyfusia nüsslini schon in der Saison zu Exsulansmüttern wird, hält Börner für ausgeschlossen, wir werden noch weiter unten auf diese Frage eingehen. 20) Cholodkovsky bekämpft für Unaphalodes die Börner’sche Auffassung, wonach bei den Nachkommen der Aestivales zwischen Junglarven der Hiemalis und Aestivalis zu unterscheiden sei, er lässt hier die späteren Aestivales alle aus Latenz- larven hervorgehen. 10, S. 775 sagt Cholodkovsky: „Alle“ (nämlich die aus den Eiern der Aestivales gezüchteten Larven) „ohne Ausnahme erwiesen sich der ,Hiemalis‘ähnlich, d.h. mit der charakteristischen Winterstruktur der Haut versehen.“ XXX. 5) 66 Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Ohermes (i. a. 8.) II. falls die späteren Mütter nicht wie im Schema VII der Aestivalis- serie zuzuzählen sind, wie bei Onaphalodes, bei welcher Form aller- dings der Unterschied zwischen der Exsulans vernalis und Aestivalıs der denkbar größte innerhalb der ganzen Chermidengruppe ist, in- dem die Vernalis groß, dorsal völlig drüsenlos und nackt, die Aestivalıs dagegen klein, überaus drüsenreich und in Wolle ge- hüllt erscheint. Aber trotzdem entstehen aus einem Teil der Eier dieser Aestivales dieselben Latenzlarven, wie aus den Eiern der Vernalıs. Bei Dreyfusia ıst die Spätsommerentwickelung der Latenzlarve von mir außer Zweifel gestellt. Hier ıst auch der Unterschied zwischen der Vernalis und Aestivalis geringer, am geringsten bei Dreyfusia piceae, bei welcher Art wir im Zweifel sein können, ob die Exsulans vernalis-Nachkommen als Exsulantes oder als Aestı- vales anzusprechen sind, ob also das Schema IX der Fig. 1 zu gelten hat oder nicht. Auch bei Aphrastasia pectinatae unterscheidet sich die erwachsene Aestivalıs von der Vernalis fast nur durch die größeren Fühler der letzteren, wodurch eine Analogie zu der Gattung Pineus insofern hervortritt, dass die Aestivalisserie wohl ın der Genese von Pineus abweicht, nicht aber ın bezug auf die morpho- logische Differenzierung der erwachsenen Stadien. Bei Dreyfusia piceae (Ratz.) CB ist auch der Unterschied in der Larve zwischen Latenzlarve und Aestivalislarve geringer als bei Dreyfusia nüsslini CB, wie Börner (6, S. 744) hervorhebt. Ich selbst halte die Entscheidung über diese Differenzierungen ?!), sowie über die systematischen Werte und die Beziehungen zwischen piceae und nüsslini noch nicht für endgültig aufgeklärt. 21) Börner gibt für die piceae-Aestivalis-Junglarve spinale Drüsenfazetten zu. Ich hatte (17, S. 221, Fig. 3) bei der Aestivalislarve von Dreyfusia nicht nur spinale, sondern auch pleurale Drüsen angegeben; Börner erklärte das Präparat der betreffenden Fig. 3 für ein Artefakt (5, S. 742). Nachdem ich jedoch dieses Präparat einem als Mikroskopiker bekannten Kollegen zur Prüfung vorgelegt habe, kann ich Börner auch jetzt entgegenhalten, dass meine Dreyfusia-Aestivalis- Larve deutliche pleurale Fazetten hat, eine Feststellung, die weder mit der Abbildung Börner’s (6, Fig. 2a und 2b), noch mit seinen textlichen Angaben übereinstimmt. Mein Befund, der durch die Abbildung der Fig. 3 (17) wiedergegeben ist, erklärt sich einesteils aus dem frühen Stadium und aus der sehr schonenden Behandlung des Objekts. Die Objekte wurden mit schwacher kalter Kalilauge behandelt, die Eischalen waren teilweise noch sichtbar und durch die Eischale hindurch ließ sich die Latenzlarve von der Aestivalislarve unterscheiden. Das Objekt der Fig. 3 war ohne Schale, wahrscheinlich eine frisch ausgeschlüpfte Larve. Börner hat wahr- scheinlich nie so frühe Stadien zu sehen bekommen. Die Pleuraldrüsen gehen wahr- scheinlich bald verloren, ebenso die Spinaldrüsen bei nüsslini. Die Tatsache, dass Börner bei piceae- Aestivalis undeutliche, nicht selten überhaupt nicht wahr- nehmbare?) Spinaldrüsen gefunden hat (5, S. 744), dürfte ihn vorsichtig machen, Anderen gegenüber leichtweg von „Artefakten“ zu sprechen. Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Chermes (i. a. S.) IIT. 67 V. Nachträge. Im nachfolgenden will ich noch zwei Punkte der Chermiden- biologie berühren, in denen ich mit Börner nicht übereinstimmen kann: die Frage nach den Ursachen für die Entstehung der Sexu- paren, und nach dem Zusammenhang zwischen der Entstehung der Diözie und der Artbildung. Wodurch und wann entstehen Sexuparae? Es ist die Mei- nung Börner’s (7, S. 18 und a. a. O.), dass die Sexuparen nur unter besonders günstigen Verhältnissen, vor allem bei trockener, warmer Witterung entstehen. Meine eigenen Beobachtungen, ins- besondere meine Versuche mit Dreyfusia in geheizten Zuchtzwingern, haben in keiner Weise diese Auffassung bestätigt. Im Gegenteil, in den Zellen mit konstanter Temperatur von 20° und 24° C., sowohl in den feucht, wie ın den künstlich trocken gehaltenen, kamen keine Sexuparen zur Entwickelung ”?). Andererseits kamen sie auch im Frühjahr 1909 wieder, sowohl bei nüsslini wie bei pectinatae, ım Freien zur Entwickelung. Auch entstehen die Sexuparen der Chermiden immer frühzeitig, in einer Saisonperiode, in welcher warme trockene Witterung nicht die Regel zu sein pflegt. Andererseits fand ich bei nüsslini wiederholt, dass besonders an verkümmerten, lange Jahre in Töpfen gehaltenen Tannen mit zwerghaften Maitrieben die spärlichen Nadeln mit Sexuparen überfüllt waren, während die Aestivalen besonders an üppigen Maitrieben zur Entwickelung gelangten. Ich schließe daraus in Übereinstimmung mit Morde dass Nahrungs- armut die sexupare In een befördert. Mordwilko wollte auch mein Kälteexperiment bei poschinger‘ nicht auf die direkte Wirkung der Kälte, sondern auf die durch das Experiment hervorgerufene indirekte Wirkung der Nahrungsverschlechterung im Eisschrank zurückführen. Bei dem Experiment war zwar nur der Topf, nicht die oberirdische Pflanze im Eisschrank eingebettet ge- wesen, trotzdem wird der Kälteeinfluss indirekt dıe Säftezirkulation verschlechternd beeinflusst haben und es konnte das Experiment somit ausschließlich durch indirekte Beeinflussung der Ernährung der Tannenwurzelläuse, nicht durch direkte Kältewir kung auf die Schmarotzerläuse gewirkt haben. Keineswegs ist es cal nach den bisherigen Erfahrungen an- gängig, die Entstehung und das Gedeihen der Sexuparen, wie es Börner tut, von besonders günstigen Wärme- und Nahrungs- verhältnissen abhängig zu machen. Gerade das Gegenteil scheint 22) Die Witterung scheint nur insoweit einzuwirken, als bei kühler, nasser Witterung die späteren Stadien der Sexuparen, insbesondere bei der letzten Häutung und beim Ab- und Überflug ungünstig beeinflusst werden. So ist in Karlsruhe in einzelnen Jahren der Anflug der Sexuparen an Picea orientalis eine direkt augen- fällige Erscheinung, in anderen Jahren eine Seltenheit. 5*F 68 Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Ühermes (i. a. 8.) IH. die Regel zu sein, während andererseits die parthenogenetisierenden Generationen durch Wärme und Saftfülle begünstigt werden, da- her besonders zur Zeit der Frühjahrs- und Spätsommersaftströme gedeihen, während sie dagegen um die Zeiten der Sommermitte eine Unterbrechung finden. Zu dieser Zeit schläft die Exsulans gleichsam in der Form der Latenzlarve einen Sommerschlaf. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal die Frage über die Wirkung der durch Anpassung an den Zwischenwirt geförderten Parthenogenese berühren. Eingehend habe ich meine Anschauung in 16, S. 71Sff. zur Darstellung gebracht. Börner hat nicht er- klärt, weshalb bei uns weder Dreyfusia piceae und nüsslini, noch Pineus strobi, pineoides und vielerorts pin?, noch seine neue Gattung Cholodkovskya unfähig geworden sind, erfolgreich die Gamogenese zu erzeugen?). Dass bei Dreyfusia nüsslini wohl alljährlich noch in mehr oder weniger beschränktem Maße sexuelle Weibchen und Männchen hervorgebracht werden, diese aber trotzdem nicht fähig sind, entwickelungsfähige Eier und Fundatrices zu erzeugen, ist heute mehr wie je als festgestellt zu erachten, da die vermeint- liche Fundatrix Börner’s (Monographie S. 146) nichts anderes, als eine auf Fichtenmaitrieben entwickelte Exsulans-Latenzlarve gewesen ist, wie meine diesjährigen Erfahrungen gezeigt haben °*). Börner verweist auf den Kaukasus, als das mutmaßliche novmalheterogenetische Paradies für Dreyfusia, aber selbst wenn diese noch unsichere Hypothese richtig wäre, bleibt doch bestehen, dass in Europa die Sexualität der genannten Arten impotent geworden oder ganz erloschen ist. Es erscheint sogar höchst wahrscheinlich, dass sich aus der „Tannentriebchermide* (Dreyf. nüsslini) mit impotenter Sexualıtät die „Tannenaltrindenchermide* Dreyf. piceae mit ganz erloschener Sexualität entwickelt hat, und zwar durch, oder auf dem Wege der 23) Neuerdings (4, $S. 19f.) hat Börner durch künstliche Zuchten im Treib- haus einige befruchtete Reblauswintereier erhalten. Bei der ersten Zucht erhielt er aus 1980 Sexuparen 28 Eier und mehrere Sexuales, die munter umher- liefen, also im ganzen „auf 200 Sexuparen nicht ganz 3 Wintereier“, während es „niedrig bemessen 400600“ hätten sein sollen. Diesem glücklichen Resultat stehen viele vergebliche Versuche, insbesondere Balbiani’s, aber auch neuerdings Grassi’s entgegen. Solche unter künstlichen Bedingungen erzielte Resultate haben doch kaum eine Bedeutung gegenüber den Tatsachen, wie sie sich bei Dreyfusia und anderen Formen in der ungestörten Natur alljährlich abspielen. Auffallenderweise sagt 3örner (4, 8. 20) selbst: „es ist denkbar, dass eben deshalb die Reblausfliegen so schwer zur Eiablage zu bringen sind, weil?) die dargebotenen Reben nicht die Wirtspflanze der wilden Reblaus darstellen.“ Börner gibt damit selbst die Geschlechtsschwächung durch Anpassung an einen neuen Wirt zu. 24) Experimente vom Frühjahr 1909 haben mir gezeigt, dass die Junglarven der Nadelaestivalis, wenn man die mit letzterer besetzten Maitriebe in die Nachbar- schaft von Fichtenmaitrieben bringt, sehr leicht auf letztere übergehen und hier zu charakteristischen Latenzlarven mit harten Skleriten und Wollkämmen werden. Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Chermes (i. a. S.) III. 69 Parthenogenese. Schon in meinem Stuttgarter Vortrag (17, S. 217) sagte ich: „Ich fasse daher die piceae-Altrindenlaus als eine ım Werden begriffene Varietät auf, welche zurzeit in der Hauptsache nur biologisch scharf charakterisiert ist, welche aber auch morpho- logische Merkmale anzunehmen im Begriffe steht. Biologisch ist sie charakteristisch durch den Ausfall der an Nadeln lebenden II. Generation der Aestivalis und Sexupara und durch die Wiederholung gleichartiger Generationen.“ Diese Auffassung ist neuerdings von Börner (6) in über- raschend schneller Weise dahin erweitert, oder nach der Ansicht Börner’s aufgeklärt worden, dass meine piceae-Altrindenlaus und die Zweig-Nadelrindenlaus zwei deutlich getrennte Spezies seien, Ich bin heute noch nicht in der Lage, sagen zu können, ob die Unterschiede wirklich konstant genug sind, um eine spezi- fische Trennung zu rechtfertigen. Manche Darstellungen in Börner’s Studie stimmen keineswegs völlig mit meinen Präparaten überein, so diejenige über die Charaktere der Exsulans vernalis und Exsulans aestivalis-Larven und Mütter bei Dreyf. piceae. Es bleibt aber sicher ein Verdienst des scharfsichtigen Systematikers Börner, in der zentralen grubenartigen Umgrenzung der Spinaldrüsen für nüsslini-Latenzlarven ein gutes Merkmal zur Unterscheidung von den entsprechenden piceae-Larven gefunden zu haben, gleichgültig, ob es sich um Art- oder Varietätunterschiede handelt, und ob piceae noch heute aus nüsslini hervorzugehen vermag oder nicht. Zum Trost für die Biologen möchte ich hier betonen, dass die bio- logische Erkenntnis der Differenzen von piceae und nüsslini der systematischen vorangegangen ist und die letztere gleichsam veranlasst und ermöglicht hat. So ist es ja in der ganzen Cher- mesinenforschung seither gegangen, und Börner hat sich nicht ganz mit Recht (1) S. 414 darüber beklagt, dass die rein syste- matische Forschung mit der biologischen nicht parallel?) ge- gangen, erstere vielmehr „in unvergleichlicher Weise vernachlässigt“ worden sei, um so weniger, als diese reiche biologische Forschung dem Systematiker Börner so große Ausbeute ermöglicht hatte. Ja vielleicht hätte Börner mit seinen systematischen Publı- kationen besser noch einige Jahre gewartet. Es wären ıhm dann Umwandlungen, wie diejenige von Pineus viridanus in Cholodkovskya und andere erspart geblieben. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Entstehung der Diözie und der Artsonderung wird von Börner an verschiedenen Stellen seiner Arbeiten verneint, besonders deutlich in (10, S. 130): „Nur ist eben die Artfrage unab- hängig von jener nach der Entstehung der Diözie.“ Ich habe schon oben gelegentlich der Behandlung der Migra- tionshypothese meine Ansichten über die vorliegende Frage in 10 Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Chermes (i. a. S.) III. dem Sinne geäußert, dass die Artbildung mit der mehrmals ent- standenen Migrationsfixierung parallel und korrespondierend ver- laufen sein wird, wobei die ursprünglich, d. h. während der Monözie, auf der Fichte schon differenzierten Arten durch Diver- genz zur Bildung von Untergattungen oder Gattungen fortgeschritten sein werden. Die heutigen Triben der Pineini und Chermesini waren vielleicht vor der Diözie schon generisch geschieden, ver- treten sie doch heute morphologisch und biologisch ganz hetero- gene Typen, an deren Existenz gewisse parallele Konvergenzen der Morphologie und Biologie nichts ändern, welche letzteren vor allem niemals phylogenetischen Wertcharakter annehmen können. Börner hat zwar seine Hypothese der Wirtsrelation aufgegeben, aber er hält noch immer wie ehedem und zwar noch neuestens (9, S. 54) an dem „gemeinsamen Urahn, der bereits die obligatorische Migra- tion fixiert“ hatte, fest. Ich kann diesen Standpunkt nicht teilen. Wenn Börner (10, S. 136) rügt: „Hier unterscheidet Nüsslin die Artfrage nicht von derjenigen der polyzyklischen Biologie“, so hat er mich missverstanden. Börner’s Meinung ist, dass die Exsulans vernalis unserer Dreyfusia piceae (nüsslini) morphologisch gleich derjenigen sei, die normal diözisch im Kaukasus leben soll, ich bin der Meinung gewesen, dass unsere piceae-Exsulans, weil sie durch ausschließliche Parthenogenese und neue Anpassungen den Zu- sammenhang mit der mutmaßlichen Stammart verloren hat, eine andere geworden sei und deshalb nicht Tochter der Migrans, also nicht Emigrans ı. e. S. genannt werden dürfe. Denn die Migrans alata, ebenso wie die Fundatrix, kennen wir bis heute nicht, und es ist eine reine Vermutung, dass diese Generationen von unserer piceae oder nüsslini ım Kaukasus vorkommen. Nach der früheren engeren Definition (16) von Emigrans ist dieselbe ein Kind der Migrans alata. Es durfte der Name Emigrans ı. e. S. deshalb unserer Dreyfusia-Exsulans vernalis nicht gegeben werden, da wir bis heute noch nicht deren Eltern kennen. An dieser Stelle soll noch statt des von Börner gebrauchten Terminus Polyzyklie der Terminus Parazyklie in Vorschlag gebracht werden. Innerhalb der Arthropodenbiologie ist „Poly- zyklie* bereits vergeben, indem seit Weismann darunter das mehrmalige Vorkommen von Heterogonien mit amphigoner (Generation innerhalb der Zeitdauer eines Jahres verstanden wird, und zwar bei den Heterogonienzyklen der Entomostraken. Wie es mit Rücksicht auf die Biologie der Entomostraken ratsam erschienen war, den dort gebräuchlichen Terminus Vernalis an Stelle der Böner’schen Hiemalis für die erste Frühjahrsgeneration einzuführen, so erscheint es geboten, den Ausdruck Polyzyklie für die Chermiden zu vermeiden, da es hier keine Polyzyklie im Sinne des schon vergebenen Wortes gibt, indem uur eine einzige amphigone Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Chermes (i. a. S.) III. 71 Generation innerhalb eines zweijährigen Zyklus auftritt; Parazyklie trifft aber zugleich das Wesentlichste der Chermidenbiologie, näm- lich das parallele Nebeneinanderherlaufen der verschiedenen Zyklen der Chermidenarten. Zum Schlusse sei noch der Termin Fundatrigenia und Virginogenia, welche Börner (5) neuestens eingeführt hat, gedacht. Fundatrigenia wird an Stelle der bisherigen Migrans alata bezw. der von Börner neu eingeführten Cellaris gesetzt und drückt nichts anderes aus als „Tochter der Fundatrix*. Nach Obigem ist es aber weitaus charakteristischer, dass diese Generation einen geflügelten Wandertyp bedeutet. Ich hatte (16) in Vor- schlag gebracht, den Terminus Migrans cellaris in Anwendung zu bringen, um den Anschluss an die Börner’sche Nomenklatur zu erleichtern. Nachdem aber Börner selbst Cellaris (Galllaus) fallen ließ, hat es keinen Sinn mehr, diesen Namen zu behalten. Wiır wählen daher wieder einfach den Terminus Migrans alata, weil er längst in Gebrauch war und gerade für die Chermiden (und für andere diözische Läuse) den wichtigsten Charakter zum Ausdruck bringt, den des Wanderns und der Einführung der Diözie. Der Termmus Virginogenia ermangelt ebenfalls der Ausdrucks- form für jegliche Beziehung zur Diözie oder zum Zwischenwirt. Er ıst daher im höchsten Grade indifferent und nichtssagend, während der Terminus Exsulans (Exulans, Exul) in der oben gegebenen wei- teren Bedeutung beide Charaktere: Auswanderung und Zwischenwirt zugleich zum Ausdruck bringt. Exsulantes sind streng genommen nur die Vernalis sowie die ungeflügelten Nachkommen, seien die- selben der Vernalis gleich, also Exsulantes oder die morphologisch und genetisch geschiedenen Aestivales. Die Sexupara ist nur gene- tisch eine Exsulans, sie wird eine Remigrans. Virginogenia ist ein vager Ausdruck: Exsulantes und Aestivales, aber auch Sexuparae und Sexuales sind Virginogenien, wie alle eingeschlechtlichen Formen außer der Fundatrix nach Börner (9, S.53) Virgines heißen. Alle derartigen vagen Ausdrücke wie virgo und virginogenia sollten zur Bezeichnung einzelner Generationen vermieden werden. Literatur. 1. Börner, ©. Systematik und Biologie der Chermiden. Zool. Anz., Bd. XXXII, 1907, 8. 413. 2. — Eine monographische Studie über die Chermiden. Arbeiten a. d. Kais. Biol. Anst. f. Land- u. Forstwirtsch., Bd. VI, H. 2, 1908. 3. — Über das System der Chermiden. Zool. Anz., Bd XXXIII, 1908. 4. — Zur Biologie der Reblaus. Mitteil. a. d. Kais. Biol. Anst. f. Land- u. Forstwirtsch., 1908, H. 6. 5. — Über Chermesinen III. Zur Theorie der Biologie der Chermiden. Zool. Anz., Bd. XXXIII, 1908. 6. —, Über Chermesinen IV. Dreyfusia piceae Ratz. und Nüsslini nov. spec. Bd. XXXIII, 1908. 72 La Baume, Zusammenhang primärer u. sekundärer Geschlechtsmerkmale ete. ba | . Börner, ©. Über Chermesinen V. Die Zucht des Reblauswintereies in Deutsch- land. Ebenda Bd. XXXIV, 1909. 8. -—- Über Chermesinen VII. COnaphalodes lapponicus Chld. Ebenda. 9. — Untersuchungen über die Chermiden. Mitteil. d. Kais. Biol. Anst. f. Land- u. Forstwirtsch., 1909, H. 8. 10. — Zur Biologie und Systematik der Chermesiden. Biol. Centralbl., Bd. XXIX, 1909. ; 11. Cholodkovsky, N. Zur Frage der biologischen Arten. Biol. Centralbl., Bd. XXVIII, 1908. 12. Mordwilko. Beiträge zur Biologie der Pflanzenläuse. Biol. Centralbl., Bd. XXVII, 1907. 13. — Desgl. Bd. XXIX, 1909. 14. Nüsslin, OÖ. Zur Biologie der Gattung Chermes. Verhandl. d. naturw. Ver. Karlsruhe, Bd. XVI, 1903. 15. — Zur Biologie der Gattung Chermes. Biol. Centralbl., Bd. XXVIII, 1908. 16. — Desgl. II. Ebenda. 17. -— Zur Biologie der Chermes piceae Ratz. Verhandl. d. Deutschen zool. Gesellsch., 1908. 18. — Die Tannenwurzellaus. Allgem. Forst- u. Jagdztg., 1899. 19. — Zool. Anz., 1909, Bd. XXXIV, S. 746. 20. Winkler. Parthenogenesis und Apogamie im Pflanzenreich. Progressus rei botanicae. II. Bd., 3. H., 1908. Über den Zusammenhang primärer und sekundärer Geschlechtsmerkmale bei den Schmetterlingen und den übrigen Gliedertieren. Von Dr. W. La Baume. Während die mannigfachen, einer Lösung des Geschlechts- problems zustrebenden Bemühungen der neueren Zeit zumeist die Geschlechtsbestimmung der Keimdrüsen in den Vordergrund stellen, ging Meisenheimer bei seinen Untersuchungen von einem anderen (Gesichtspunkt aus, insofern dieselben zunächst eine Analyse der gegenseitigen Beziehungen durchzuführen suchten, in welchen die verschiedenen Geschlechtscharaktere, die in ihrer Gesamtheit den Begriff des männlichen oder weiblichen Geschlechtes ausmachen, zueinander stehen. Insbesondere galt es, nachdem heute die An- nahme einer bereits in der jungen Keimzelle sich vollziehenden Bestimmung der Geschlechtsdrüse kaum noch abzuweisen ist, die weitere Vorfrage des ganzen Problems in möglichst präziser Form zu beantworten, ob die übrigen Teile des Genitalapparates sowie die somatischen und psychischen sekundären Geschlechts- charaktere in ihrer Differenzierung abhängig sind von jener pri- mären Bestimmung der Keimdrüsen, oder ob der Impuls, welcher für ihre Ausbildung zum männlichen oder weiblichen Geschlecht entscheidend ist, ebenfalls unmittelbar von der jungen Keim- zelle ausgeht, ob also ihre Bestimmung von vornherein eine ebenso primäre ist wie diejenige des Geschlechtsdrüse. La Baume, Zusammenhang primärer u. sekundärer Geschlechtsmerkmale etc. 73 Der erste Teil dieser experimentellen Studien zur Soma- und Geschlechtsdifferenzierung, den Meisenheimer soeben veröffent- licht!), behandelt ausschließlich das Problem der Beziehungen zwischen Keimdrüse und den übrigen Sexualcharakteren und be- schränkt sich im wesentlichen auf die Klasse der Arthropoden oder Gliedertiere. Bei dem großen Interesse, welches dem Sexualproblem von allen Seiten dargebracht wird, und der Wichtigkeit der Ver- suchsergebnisse, zu denen der Verf. gelangte, erscheint es wohl angebracht, den Inhalt der zitierten Abhandlung hier ausführlich wiederzugeben. Als Versuchsobjekt dienten ausschließlich Schmetterlinge mit hoch ausgeprägten sekundären Geschlechtscharakteren. „Anordnung und Ausführung der Experimente wurde durch den Grundgedanken bestimmt, während des normalen Entwickelungsverlaufes das ur- sprünglich gegebene Verhältnis von primären und sekundären Ge- schlechtsmerkmalen vor deren definitiven Gestaltung dadurch zu modifizieren, dass zugehörige Bestandteile ausgeschaltet, fremdartige eingeschaltet wurden. Bestand ein bestimmtes Wechselverhältnis zwischen den einzelnen Charakteren, so waren unter den veränderten Bedingungen Abweichungen vom normalen Typus zu erwarten, die unmittelbar auf jene veränderten Beziehungen zurückzuführen sein mussten.“ Als besonders geeignetes Operationsmaterial erwiesen sich nach verschiedenen Versuchen die Raupen des Schwammspinners, ZLy- mantria dispar L. Da die Operationsmethode in der weitaus größten Zahl der Fälle auf direktem Schereneinschnitt und direkter Ent- nahme der Geschlechtsdrüsen vermittels einer feinen Pinzette be- ruhte, mussten die Anlagen der Geschlechtsdrüsen leicht und schnell in dem umgebenden Fettgewebe erkannt werden können, und zweitens mussten die Raupen genügende Widerstandskraft gegen- über den operativen Eingriffen besitzen. Beiden Anforderungen genügt der Schwammspinner in hohem Maße, ja er liefert in dieser Beziehung geradezu ein ideales Operationsmaterial. Für die Aus- wahl des Materiales musste ferner ein möglichst stark ausgeprägter Geschlechtsdimorphismus des ausgebildeten Schmetterlings maß- gebend sein. Auch in dieser Beziehung bildet Lymentria dispar ein hervorragend geeignetes Objekt, da sich beide Geschlechter wie bei kaum einem anderen einheimischen Schmetterling unterscheiden; bekanntlich ist das Männchen viel kleiner und schmächtiger als das Weibchen und dunkelbraun, während letzteres weiß ist. Die eingehende Schilderung der Anatomie des männlichen und bei den Schmetterlingen und den übrigen Gliedertieren, Von Prof. Johannes Meisenheimer. Jena 1909. 74 La Baume, Zusammenhang primärer u. sekundärer Geschlechtsmerkmale ete. weiblichen Genitalapparates von ZL. dispar L. sowie die Darlegung der Operationsmethoden seitens des Verf. müssen wir an dieser Stelle übergehen. Es genügt zum Verständnis des folgenden, her- nern. dass Hoden und Ovarien auf jüngeren Deinen als kleine, paarige Gebilde erscheinen, welche fast unmittelbar unter der Haut auf der Dorsalseite des 5. Abdominalsegmentes liegen und so einem operativen Eingriffe von der Rückenseite her leicht zugänglich sind. Für die sichere Ausführung der Transplantation ist es von großer Bedeutung, dass männliche und weibliche Ge- schlechtsdrüsen schon sehr frühzeitig leicht voneinander zu unter- scheiden sind. Als Operationsmethoden gelangten zur Anwendung: Exstirpation der Geschlechtsdrüsen (Kastration) und des übrigen Genitalapparates und Transplantation der Geschlechtsdrüsen von männlichen Individuen auf weibliche und umgekehrt sowie ver- schiedene Kombinationen beider Methoden. Betrachten wir zunächst die Resultate der Experimente vom rein anatomischen Standpunkte, so ergab sich folgendes. War die Kastration der männlichen Geschlechtsdrüse bei der Raupe völlig gelungen, so endigten die Samenausfuhrgänge (Vasa deferentia) bei dem ausgebildeten Schmetterling frei mit blind geschlossener, abgerundeter Spitze, ohne jegliche Spur eines Hoden- rudımentes. Außer dem Fehlen der Hoden waren an dem Ge- schlechtsapparat der kastrierten Tiere keinerlei Veränderungen eingetreten, einerlei, ob die Operation bereits auf dem ersten oder erst auf dem vierten Raupenstadium vorgenommen worden war. Das Fehlen der Geschlechtsdrüsen hatte also in keiner Weise Entwickelungshemmungen irgendwelcher Art zur Folge, obwohl die eigentliche Differenzierung der Anlagen von Ge- adlaahten gängen und Kopulationsapparat erst lange en der vor- genommenen Operation, ım wesentlichen während nn letzten Raupen- und während des Puppenstadiums vor sich geht. Eine sehr viel tiefer eingreifende Wirkung auf das Aussehen des männlichen Ge- schlechtsapparates übte die mit Kastration verbundene Exsstirpation des sogen. Herold’schen Organes aus, das sich im Bereich des 9. Abdominalsegmentes an der Ventralseite vorfindet. Dieses von Herold entdeckte Organ enthält die Anlagen des ganzen Genital- apparates (mit Ausnahme der Vasa deferentia) sowie eines großen Teiles des Kopulationsapparates. Dementsprechend mussten, wenn die Entfernung des Organes bei der Raupe gelang, dem ausgebildeten Falter alle diese Teile fehlen, was ın der Tat der Fall war. Daraus ergab sich gleichzeitig die Tatsache, dass die in dem Herold’schen Organ enthaltenen Komplexe keine Spur von Regeneration auf- wiesen, und es erhob sich die Frage, ob nicht das gleichzeitige Fehlen der Geschlechtsdrüsen für das Ausbleiben der Regeneration verantwortlich gemacht werden müsse. Würde dieselbe etwa bei . La Baume, Zusammenhang primärer u. sekundärer Geschlechtsmerkmale ete. 75 Gegenwart der Geschlechtsdrüsen eintreten, so wäre in diesem Falle ein Einfluss der Drüsen auf andere Abschnitte des Genitalapparates insofern erwiesen, als sie wenigstens deren Regeneration zu fördern vermöchten. Die Ausführung einer neuen Versuchsreihe, in welcher die Kastration unterblieb und allein das Herold’sche Organ exstir- piert wurde, hatte jedoch ein völlig negatives Ergebnis; keine der in dem Herold’schen Organ enthaltenen Anlagen vermochte sich aus dem stehen gebliebenen Rest der Gesamtanlage neu zu bilden. Auch bei den weiblichen Tieren konnte festgestellt werden, dass die Ausbildung der Ausführungsgänge und Anhangsdrüsen durch Kastration keine Hemmung erlitt. Im Gegensatz zum Ver- halten des männlichen Genitaltraktus gelangten hier aber an einigen Abschnitten des Genitalapparates Erscheinungen zur Beobachtung, die auf einen gewissen Einfluss der Kastration schließen lassen. So konnten die Kittdrüsen und das Receptaculum seminis Modi- fikationen erleiden, und namentlich wiesen die Ovidukte starke Veränderungen auf, die besonders eine Neigung zu exzessivem Längenwachstum zeigten. Besonders auffällig ließen die operativen Eingriffe bei den weiblichen Schmetterlingen eine Erscheinung er- kennen, welche schon bei den Männchen beobachtet werden konnte, dass nämlich eine Korrelation besteht zwischen der Größen- ausdehnung des Geschlechtsapparates und dem Umfang des zur Verfügung stehenden Leibesraumes. Die ÖOvarien zeigen diese Korrelation noch viel deutlicher als die männlichen Genitalapparate. Bei Zwergformen sank die Größe der einzelnen Eiröhren und damit die Zahl der produzierten Eier weit unter das Mittelmaß; 'im Gegensatz dazu war bei einseitiger Kastration eine übernormale Entwickelung der zurückgebliebenen vier Ovarial- schläuche festzustellen. Und wenn bei fast vollständiger Kastration der gesamte Leibesraum eines Weibchens normaler Größe einer einzigen intakt gebliebenen Eiröhre zur Verfügung stand, so konnte dieselbe die Produktionskraft von 3—4 normalen entfalten. In allen Abstufungen ließ sich endlich dieses Verhältnis bei transplan- tierten Ovarien nachweisen, wo ihr Ausbildungsgrad stets in ge- nauester Abhängigkeit von der Größe des betreffenden männlichen - Körpers steht. Bezüglich der Transplantationsversuche ist in anatomischer Hinsicht als wichtigstes Resultat zu verzeichnen, dass die Trans- plantation von Geschlechtsdrüsen aus dem einen in das andere Geschlecht als vollkommen gelungen gelten kann. Bisher war stets der Erfolg dieser Versuche, die allerdings nur an Wirbeltieren vor- genommen worden waren, ein negativer gewesen. Transplantationen von Hoden in weibliche Tiere wurden nur in geringer Anzahl aus- geführt, da einmal die Operation auf Schwierigkeiten stieß und zweitens die Hoden im ausgebildeten Zustande sehr viel weniger 76 La Baume, Zusammenhang primärer u. sekundärer Geschlechtsmerkmale ete. gut die erreichte Entwickelungsstufe erkennen lassen. Dagegen ist die Zahl der Ovarialtransplantationen eine außerordentlich große, und die auf diese Weise experimentellerzeugten Zwitter zeigten mannig- fache Variationen in der Gestaltung der Genitalorgane, je nachdem einseitige oder beiderseitige Kastration, mit Transplantation verbun- den, in Anwendung gebracht worden war. Im einfachsten Falle, bei einseitiger Kastration und Transplantation, lag, bei völlig normal ausgebildetem männlichen Geschlechtsapparat, an Stelle des ent- fernten Hoden ein wohl entwickeltes und zahlreiche reife Eier ent- haltendes Ovarıum, bestehend aus vier, mit ihren Eiröhrenstielen verwachsenen Eischläuchen, ım männlichen Körper; bis auf einen einzigen Fall war das Ovarıum beı dieser Anordnung nicht mit dem männlichen Genitalapparat in Verbindung getreten. Bei doppel- seitiger Kastration und Transplantation waren an die Stelle der beiden Hoden zwei, meist gleichmäßig stark entwickelte Ovarien getreten, von denen jedes für sich als selbständiger Komplex gänz- lich unabhängig vom männlichen Geschlechtsapparat im männlichen Abdomen gelegen war. Häufig traten jedoch bei dieser Art der Anordnung Komplikationen hinzu. Die beiden getrennt voneinander in den männlichen Schmetterling verpflanzten Ovarıen zeigten starke Neigung, an den freien Enden ihrer Ovidukte miteinander zu ver- wachsen, wodurch ein zweiter Typus transplantierter Ovarıien zu- stande kam, nämlich ein einheitlicher Komplex mit acht Eiröhren. Diese Verwachsungstendenz konnte weiterhin auch auf Teile des männlichen Geschlechtsapparates übergreifen, indem die ÖOvarien mit den freien Enden der Vasa deferentia, an denen ursprünglich die Hodenanlagen saßen, ın Verbindung treten, eine Erscheinung, die nicht weniger als 20mal bei 111 Faltern beobachtet wurde. Diese Vereinigung von männlichen Ausführgängen mit weiblichen Geschlechtsdrüsen war keine rein Äußerliche, sondern beruhte, wie Meisenheimer mit Hilfe von Längsschnitten feststellen konnte, auf einer innigen Verwachsung beider Komplexe. Trotzdem er- füllten aber nach den Beobachtungen des Verf. die männlichen Ausführgänge niemals die Funktion eines EKileiters, da ın keinem Falle der Übertritt eines Eies in das Lumen des Vas deferens er- folet war. Von besonderem Interesse ıst in dieser Hinsicht ein einzeln dastehender Fall, in welchem ein transplantiertes Ovar mit einem Vas deferens verwachsen war, obwohl dasselbe noch die zu- gehörigen Hoden trug; auch hier funktionierte das Vas deferens nur als Samenleiter. Nachdem wir so das Verhalten der experimentell beeinflussten Genitalorgane in anatomisch-morphologischer Beziehung betrachtet haben, kommen wir zum Kernpunkt dieser Untersuchungen, näm- lich zu der Frage, ob durch diese künstliche Reduktion bezw. Umgestaltung der Geschlechtsdrüsen ein ent- La Baume, Zusammenhang primärer u. sekundärer Geschlechtsmerkmale ete. 77 sprechender Einfluss auf die äußeren, sogen. sekundären Geschlechtscharaktere ausgeübt wird. Was zunächst die kastrierten Falter anbetrifft, so ist Meisenheimer hier zu demselben Ergebnis gelangt, welches be- reits Oudemans und Kellog übereinstimmend erhalten hatten, dass nämlich die Kastration den sekundären Geschlechts- charakteren gegenüber völlig wirkungslos ist. Die be- sondere Art der Aufzucht der Raupen ermöglichte einen unmittel- baren Vergleich zwischen normalen und kastrierten Faltern, indem beide ihre Entwickelung unter ganz gleichen Verhältnissen durch- machten; und obwohl die Kastraten bereits auf einer außerordent- lich frühen Stufe, wo sie als Raupen kaum 3—4 mm maßen, ihrer Geschlechtsdrüsen beraubt worden waren, unterschieden sie sich ın keiner Weise von ihren unbeschädigt gebliebenen Genossen: Aus- bildung der Fühler, Form des Abdomens, vor allem aber Umriss und Färbung der Flügel entsprachen in jeder Hinsicht dem Normal- typus. Ein weiterer vergleichender Gesichtspunkt war dadurch gegeben, dass männliche und weibliche Falter getrennt voneinander aufgezogen wurden. Die männlichen Raupen einer bestimmten Zucht hatten besonders kleine Falter geliefert, die eine auffallend helle Flügelfärbung zeigten, und es entstand die Frage, ob diese Abände- rung durch den Einfluss der Kastration hervorgerufen war. Ein Kontrollversuch mit nicht kastrierten Raupen bewies jedoch, dass diese Annahme nicht richtig war; es waren vielmehr lediglich äußere Verhältnisse für diese Farbenänderung verantwortlich zu machen. Bei den weiblichen kastrierten Faltern machte sich eine ähnliche Erscheinung bemerkbar, indem bei zahlreichen Exem- plaren der Grundton der Flügelfärbung Neigung zeigte, ins Gelb- lichweiße und sogar Bräunliche überzugehen. Auch hier wurde zur größeren Sicherheit in der Deutung dieser Färbungsanomalıen der Kastraten ein Kontrollversuch ausgeführt, der jedoch nicht zu dem gleichen Ergebnis führte wie bei den männlichen Faltern; demnach muss die Neigung der weiblichen Kastraten zu Färbungs- anomalien offenbar auf den Einfluss der Kastration zurückzuführen sein. Allerdings muss andererseits betont werden, dass dieser Eın- fluss keineswegs immer festzustellen ist und dass er ferner in keiner Weise den weiblichen Typus so stark zu verändern vermag, dass man auch nur einen Moment an dem weiblichen Habitus des betreffenden Falters zweifeln könnte. Besondere Aufmerksamkeit wurde naturgemäß denjenigen Faltern zugewandt, welche durch Kastration und nachfolgende Transplan- tation von Genitaldrüsen des entgegengesetzten Geschlechtes zu inneren Zwittern geworden waren. Von Weibchen mit voll ausgebildetem, transplantierten Hoden wurde nur ein Individuum erhalten; aus welchen Gründen wurde schon oben erwähnt. Das- 78 La Baume, Zusammenhang primärer u. sekundärer Geschlechtsimerkmale etc. selbe zeigte äußerlich keinerlei Abweichung vom nor- malen Typus. Sehr groß war dagegen die Zahl der männlichen Falter, welche neben den männlichen Geschlechtsgängen normal entwickelte Ovarıen zur Ausbildung brachten. Sie waren stets ın allen Charakteren typische Männchen; einige geringe Färbungsabweichungen, die in derselben, schon oben erwähnten Weise auftraten, standen zweifellos nicht mit den veränderten Ver- hältnissen der inneren Genitalorgane in Zusammenhang. Somit war es erwiesen, „dass die Geschlechtsdrüsen ın keiner Weise die Differenzierung der sekundären Ge- schlechtscharaktere regeln oder beherrschen. Weder ist die homologe Geschlechtsdrüse für den normalen Entwickelungs- verlauf und den vollen Ausbildungsgrad der sekundären Charaktere erforderlich, noch vermag die Gegenwart der Genitaldrüse des ent- gegengesetzten Geschlechtes irgendeinen hemmenden oder um- kehrenden Einfluss auf ihre definitive Gestaltung auszuüben“. Meisenheimer ıst bei diesem Resultat nicht stehen geblieben, sondern hat versucht, auf dem bisher beschrittenen Wege tiefer in das Problem einzudringen. Offenbar ıst das negative Ergebnis des Versuches, die sekundären Geschlechtscharaktere durch Ver- änderungen des primären Geschlechtsapparates zu beeinflussen, darauf zurückzuführen, dass die ontogenetischen Differenzierungs- vorgänge der sekundären Merkmale bereits so fest fixiert sind, dass ihnen gegenüber die Geschlechtsdrüsen gewissermaßen machtlos sind. Vielleicht gelang es aber, die Kraft des fixierten ontogene- tıschen Geschehens abzuschwächen, die Kontinuität in der Ent- wickelung eines sekundären Sexualcharakters zu unterbrechen, in- dem man die ursprüngliche Anlage desselben entfernte und nunmehr auf das Regenerat, welches an seine Stelle treten würde, das Mittel der Kastration und Ovarialtransplantation einwirken ließ. Zur Ausführung dieser Versuche boten sich von selbst, sowohl wegen ihres ausgeprägten Geschlechtsdimorphismus wie auch wegen ihrer leichten operativen Zugänglichkeit, die Flügel dar. Die Flügel gehen hervor aus sogen. Imaginalscheiben, d. h. aus kleinen Hauteinstülpungen, welche bereits auf ganz jungen Raupen- stadien zu beiden Seiten des zweiten und dritten Brustsegmentes auftreten. Nach der dritten Häutung sınd diese Anlagen so groß geworden, dass sie für Operationen zugänglich geworden sind. Die Operation bestand in einer sorgfältigen Entfernung der Flügelanlage des Vorder- und Hinterflügels, und zwar nur auf der rechten Seite, um in dem intakt gelassenen Flügel der linken Seite ein unmittel- bares Vergleichsobjekt zu besitzen. Die Flügelexstirpation wurde sowohl an geschlechtlich normalen wie an kastrierten Raupen und an solchen mit transplantierten Geschlechtsdrüsen ausgeführt. Wir müssen leider an dieser Stelle auf eine Wiedergabe der größten- La Baume, Zusammenhang primärer u. sekundärer Geschlechtsmerkmale ete. 79 teils außerordentlich interessanten Ergebnisse, die Verf. bei diesen Versuchen erzielte, aus Mangel an Raum verzichten. Es sei nur erwähnt, dass in der weitaus größten Zahl der Fälle Regeneration eingetreten war: von den insgesamt aus 377 operierten Raupen erzielten 147 Faltern zeigte nur ein Viertel keine Spur einer Regene- ration, die übrigen dagegen alle Zwischenstufen von ganz kurzen, stummelförmigen Bildungen bis zu nahezu vollendeten neuen Flügeln. Für die vorliegende Frage ist noch die Feststellung von Wichtigkeit, dass das Regenerat eine wirkliche Neubildung darstellt, der ein völlig neues Entwickelungszentrum zugrunde gelegen haben muss. Die Beantwortung der Frage nach dem Einfluss der Ge- schlechtsdrüsen auf die sekundären Geschlechtsmerkmale des regenerierten Flügels konnte sich so auf ein überaus reichhaltiges Material stützen, und die Sicherheit des Urteils wurde in hohem Maße dadurch gewährleistet, dass ın der normalen linken Seite stets ein unmittelbares Vergleichsobjekt zu dem Regenerat der rechten Seite vorhanden war. Bei den kastrierten Formen beiderlei Geschlechts wurden Geschlechtsdrüsen und Flügelanlagen gleichzeitig entfernt, und zwar in einem Stadium, wo beide noch außerordentlich klein und wenig differenziert waren. Die Ge- schlechtsdrüsen wurden nicht wieder ersetzt und fehlten auch dem Falter völlig, an Stelle der ursprünglichen Flügelanlagen bildeten sich dagegen neue Entwickelungszentren aus und lieferten Neu- bildungen von wechselndem Umfang. Obwohl nun diese Neu- bildungen während ihrer ganzen Entwickelung jeglicher Einwirkung einer Geschlechtsdrüse entbehrten, blieb ıhr ursprünglicher Ge- schlechtscharakter trotzdem absolut unverändert. Entsprechend den früheren Resultaten an Kastraten überhaupt behielt die linke, nicht regenerierte Flügelseite in allen Fällen den Charakter des ursprüng- lichen Geschlechtes bei und ebenso die rechte regenerierte Seite. Ganz ähnlich sind die Ergebnisse in den Versuchsreihen, wo männ- lichen Raupen bei gleichzeitiger Exstirpation der Flügelanlagen nach erfolgter Kastration junge Ovarialanlagen eingepflanzt wurden. Hier fand eine Weiterentwickelung beider Organanlagen statt, es musste sich also die gesamte Entwickelung der männlichen Flügel- neubildungen bei Gegenwart weiblicher Geschlechtsdrüsen vollziehen. Trotz Anwesenheit normal entwickelter Ovarien kam aber der ursprünglich männliche Typus des exstirpierten Flügels wieder vollausgebildet zum Vorschein; von irgendwelchem Ein- fluss der fremden, stets hochentwickelten Geschlechts- drüse war niemals auch nur eine Andeutung bemerkbar. Übereinstimmend mit all diesen anatomisch-morphologischen Befunden war auch die Einwirkung der Operationen auf die psychischen Sexualcharaktere eine durchaus negative. Hatte schon Oudemans festgestellt, dass kastrierte Falter von Zymantria 80 La Baume, Zusammenhang primärer u. sekundärer Geschlechtsmerkmale etc. dispar in keiner Weise ıhre Sexualinstinkte eingebüßt hatten, so war es von besonderem Interesse, zu erfahren, wie sich solche Männchen verhielten, denen nicht nur die (reschlechtsdrüsen, sondern auch der gesamte übrige Geschlechtsapparat sowie der Kopulations- apparat fehlten. Solche Männchen machten stundenlang die leb- haftesten Begattungsversuche, ohne dass natürlich ihre Bemühungen einen Erfolg hatten. Nicht minder interessant war das Verhalten der männlichen Falter, welche an Stelle der Hoden transplantierte Ovarien in ihrem Leibe beherbergten. In allen Versuchen gingen diese Männchen nach ganz kurzer Zeit mit beigesetzten Weibchen die Kopula ein und verharrten ın derselben bis zu 4 Stunden, ganz wie es den normalen Verhältnissen entspricht. Muss dabei das lange Verharren ın Kopula trotz fehlender Ejakulation auffallend erscheinen, so wird andererseits gerade dadurch das Fehlen jeglicher Abschwächung des normalen Geschlechtstriebes außerordentlich überzeugend dargetan. „Kaum können wohl schärfere Beweise,“ so bemerkt Meisenheimer dazu, „dafür erbracht werden, dass Ausbildung wie Betätigung der psychischen Sexualcharaktere völlig unabhängig von einer Beeinflussung seitens der Geschlechtsdrüsen oder anderer Teile des Genitalapparates sich vollziehen. Eine Wechselwirkung zwischen primärem Geschlechtsapparat und Ge- schlechtsinstinkten besteht in keiner Form und keinem Grade.“ Endlich hat Meisenheimer noch die Wechselbeziehungen von primären und sekundären Geschlechtscharakteren bei den bisher beobachteten natürlichen Arthropodenzwittern in den Kreis seiner Beobachtungen gezogen. Bekanntlich kommt Zwitterbildung bei Gliedertieren nicht selten vor, und Angaben über Zwitter von Schmetterlingen, Bienen, Blattwespen, Spinnen und Krebsen sind zahlreich in der Literatur vorhanden. Es hat sich herausgestellt, dass die morphologischen und anatomischen Verhältnisse dabei sehr mannigfache sein können. Für die vorliegende Frage ist aber die Feststellung einer Anzahl von Fällen entscheidend, in denen bei äußerer Zwitterbildung, also bei gleichzeitigem Auftreten der Cha- raktere beider Geschlechter im äußeren Habitus, innerlich nur die Genitalorgane des einen Geschlechtes vorhanden waren; denn diese Fälle führen mit zwingender Notwendigkeit zu dem Schlusse, dass die sekundären Charaktere eines Geschlechtes auftreten können, ohne dass die entsprechenden Geschlechtsdrüsen oder sonstigen homologen inneren Geschlechtsorgane vorhanden sind. Damit ist aber durch die vergleichende Betrachtung der von der Natur her- vorgebrachten Zwitterbildungen in der Klasse der Gliedertiere das gleiche Resultat gewonnen worden, zu dem Meisenheimer durch seine Versuche gelangt ist. „Mit dem Versagen des Prinzips,“ so schließt der Verf. seine interessante Abhandlung, „die Ausbildung der sekundären Sexual- er - ’ Comes, Sui movimenti di maneggio e sul loro significato nella teorıa segmentale. 1 charaktere auf einen formatıven Reiz der Geschlechtsdrüsen während der Ontogenese zurückzuführen, werden wir notwendig dazu ge- drängt, die Ursachen ihrer Differenzierung in weit zurückliegenden Entwickelungsperioden zu suchen. Sind primäre und sekundäre Geschlechtscharaktere ihrer Entstehung nach unabhängig voneinander, so muss es etwas drittes geben, das bestimmend für beide zugleich in ihrer Entwickelung zum männlichen oder weiblichen Geschlecht wirkt. Für die Geschlechtsdrüsen ist diese bestimmende Ursache sehr wahrscheinlich in der jungen Keimzelle zu suchen; die Ver- mutung liegt nahe, dass auch die Bestimmung der übrigen Sexual- charaktere schon hier erfolgt. Der bisher erbrachte Beweis für diese Annahme ist ein rein negativer, insofern die Möglichkeiten einer während der Ontogenese sich vollziehenden Bestimmung durch unsere Betrachtungen ziemlich ausgeschaltet erscheinen; positive Beweise zu schaffen, das ist nun die weitere Aufgabe des Experi- mentes. Wohl geben mancherlei Erfahrungen uns Anhaltspunkte für den neu zu beschreitenden Weg; ob und wann er zum Ziele führt, das kann erst sein Ende lehren.“ Sui movimenti di maneggio e sul loro significato nella teoria segmentale. Del Dottor Salvatore Comes. Libero Docente di Zoologia e di Anatomia Comparata (Dall’ Istituto di Zoologia, Anatomia e fisiologia comparate della Ra Universitä di Catania diretto dal Prof. A. Russo). In un precedente lavoro!) richiamavo l’ attenzione dei biologi sul fenomeno dı stereotropismo positivo presentato dallo addome della larva dı Myrmeleon formicarius L., ed attrıbuivo ad esso il movimento retrogrado della larva medesima. Fra le tante esperienze volte a dimostrare questo asserto, ricordo quella della sezione sagittale del capo della larva, cıo@ della sezione che nello stesso tempo e nello stesso senso si praticava sui ganglı sopra e sotto esofageo. Come effetto di questa esperienza, si otteneva un movi- mento dı maneggio perfettamente cırcolare, nel senso del lato integro, ed io mi sforzavo a dimostrare che esso dovevasi ancora al feno- meno dello stereotropismo, con una serie dı ragionamenti che adesso non interessa ricordare. Ora invece conviene analızzare meglio tale movimento. Appena avvenuta la emisezione cefalica, di cui & parola, la larva perde il suo movimento a ritroso, e, sempre movendo Faddome, si sposta lateralmente, col lato normale, descrivendo, nei 1) Stereotropismo, geotropismo e termotropismo nella larva di Myrmeleon for- micarius — S. Comes. Atti Accadem. Gioenia di Sc. Nat. in Catania, Ser. V. Vol. II. Mem. IV. EREXERE 6 S9 Comes, Sui movimenti di maneggio € sul loro significato nella teoria segmentale. diversi momenti, un cerchio, al cui centro sta il capo ed alla peri- feria l’apice addominale. Cio & stato rappresentato nello schema della figura 1. Dalla traiettoria d’un tale movimento, si puö e si deve inferire che ıl capo & ıl minimum movens e l’addome il maximum movens dell’animale, giacch& il secondo ruota attorno al primo. Facciamo subire adesso la medesima operazione ad un altro artropode, adulto, ad un millepiedi (Julus terr.) per esempio. @Quivi il movimento di maneggio sı verifica pure caratteristicamente, ma il cerchio descritto dalla traiettoria avrä per centro la coda e Ried, l’ estremo cefalico alla periferia, quest’ ultimo perciö segna ıl mas- simo spostamento dell’animale. Lo stesso effetto si avrä, com’ & noto, praticando su animali superiori quali i Vertebrati. Ora se & vero che i movimenti delle varie parti del corpo sono prodotti dalla reazione della parte del sistema nervoso centrale relativo, & indiscutibile che nel primo caso, cio® nel caso della larva, la parte del sistema nervoso che presiede al movi- mento, & essenzialmente costituita dai gangli addominalı, mentre nel secondo caso essa © data dai gangli cerebroidi o dal cervello. Infatti, se nel cerchio deseritto dalla larva operata di Myrmeleon Comes, Sui movimenti di maneggio e sul loro significato nella teoria segmentale. 83 sı dispone, con un medesimo orientamento, un animale ugualmente operato, che non presenti pero il movimento a ritroso, esso farä centro al suo estremo codale ed uscirä quindi dal cerchio prece- dente, per descriverne un altro dı raggio uguale ed intersecante il primo nei due punti in cui le traiettorie dei due movimenti si incontrano. Tale divarıcamento dei due movimenti & schematizzato nella figura 2. Evidentemente, perch& ı due anımalı operati segnino con la traiettoria dei loro movimenti lo stesso cerchio & necessario disporli secondo la figura 3, cio@ la larva con il capo al centro e la coda alla periferia, l’altro anımale in senso inverso alla larva, vale a dire capovolto rispetto a quest’ ultima. Ora & naturale che se per una medesima disposizione ı due anımalı divaricano, cio significa che le parti omonime del sistema nervoso non sono ana- loghe, eche, se ı due movimenti sono coincidenti in una disposizione inversa dei 2 individui, bisogna concludere che questa analogia & dovuta alla partı eteronime. In altrı termini, ciö che nella larva dı Myrmeleon compie l’addome, o, per meglio dire, la parte addo- minale della catena ganglionare, in un altro qualunque animale cade sotto l’influenza del .capo (ganglı cerebroidi, cervello). Dal movimento a ritroso della larva e dalla minima parte sostenuta in esso dai ganglı sopra e sotto esofagei io inferivo, nel citato lavoro, che non si puö accogliere come una funzione specifica del cervello la capacita dı muoversi all’innanzi come vorrebbe lo Steiner?), e consighavo di osservare i fenomeni conseguenti alla emisezione sagittale dı un altro qualunque ganglıo della catena nervosa per vedere sino a qual punto i movimenti di maneggio sono un effetto esclusivo della estirpazione d’una metä laterale dei gangli cere- broidi Evidentemente si porterebbe grande luce nelle quistioni che riguardano la teoria segmentale, se sı potesse dimostrare la produ- zione di movimenti di maneggio dopo l’emisezione d’un ganglıo qualsiası della catena. Esperienze in questo senso mi pare non se ne siano ancora fatte, ove sı eccettuino ı tentativi di Loeb°) che operö con insuccesso sul midollo spinale, ıl quale organo a dir vero ha perduta o quasi la disposizione segmentale. Bisogna pero operare non sopra un ganglio soltanto; tale operazione essendo diffieile ad effettuarsi e di non sicuro risultato, giacche ı ganglı cerebroidi sono in numero ed in dimensioni talı da compensare agevolmente il disturbo prodotto nella tonıcitä muscolare dall’ emisezione d’un altro ganglıo della catena. Bisogna operare su quei gruppi di gangli addominalı risultantı dalla fusione di 2, 3 e persino di 4 paia di ganglı: caso che si riscontra molto frequentemente nel tipo degli 2) Steiner, J. Die Funktionen des Zentralnervensystems wirbelloser Tiere. In Sitzungsber. der Berl. Akad. d. Wissensch., 1890. I. S., 39. 3) J. Loeb. Fisiologia Comparata del cervello e psicologia comparata. 1907. 6 * 84 Comes, Sui movimenti di maneggio e sul loro significato nella teoria segmentale. Artropodi. Io mi sono rivolto a questo nuovo ordine di esperienze, nelle quali continuo. Colla presente breve Nota ho voluto intanto far rilevare che & molto relativa, piuttosto che assoluta, I’ importanza attribuita generalmente al fenomeno dei movimenti dı maneggio per dimostrare la differenziazione del cervello o dei ganglı che lo rappre- sentano, o quella del midollo allungato (nei Mammiferi ecc.) come organı direttivi della locomozione in avantı (Steiner). Giacche dopo l’emisezione dei ganglı cerebroidi dı Myrmeleon noi siamo rıusciti ad ottenere un movimento dı maneggio sul generis, e questo ha sede nell’addome della larva, possiamo* attrıbuire tutto al pıiü all’organo su cuı & stata fatta l’operazione una causa Secon- darıa dı disturbo nell’ equilibrio muscolare 0, per dir piü compren- sıvamente, nella simmetria del corpo, per cuı non sı ha piü quel movimento a ritroso che sı effettua indipendentemente daı ganglı cerebroidi; ma un movimento composto verso quel lato in cui non & diminuita la tensione muscolare e che si traduce in un movi- mento circolare o rotatorio. Il caso dı Myrmeleon & certamente tipico, trattandosi d’una larva; in seguito, sia nell’adulto dı questa specie, sia negli anımalı superiori, gli’organı dei sensi, definitiva- mente concentrati nella porzione anteriore del corpo (capo) e la scomparsa del fenomeno dello stereotropismo dovuta a modificazioni anatomiche e biologiche (habitat differente e differente modo di nutrizione) avran potuto condurre al capo esclusivamente come maximum movens 1 movimenti dı maneggio che sı verificavano nell’addome in una condizione che bisogna ritenere primitiva. Per questo ragionamento noı dobbiamo ancora piü convincerci col Loeb*) che nel sistema nervoso dei Vertebrati (e tanto piü ın quello degli Invertebrati) sı presentano soltanto ganglı segmenta lı e riflessı segmentalı. Spiegazione delle figure. Fig. 1. Schema indicante il movimento di maneggio della larva di Myrmeleon dopo 1’ emisezione dei gangli cerebroidi (Il lato sano ® in bianco, la freccia indica la direzione del movimento). Fig. 2. Schema rappresentante il divaricamento nei movimenti di maneggio della larva di Myrmeleon a destra, e d’un altro animale (p. es. un vertebrato) a sinistra. Fig. 3. Disposizione che si dovrebbe dare ad un Julus terrestris o ad un vertebrato {quella capovolta rispetto alla larva di Myrmeleon) perch® le direzioni dei rispettivi movimenti riflessi coincidano — L’asterisco, dove e’®, segna il punto di partenza dell’ animale operato. 4) J.. Loeb. Id. Jordan, Über „extraintestinale“ Verdauung im allgemeinen ete. 85 Über „extraintestinale“ Verdauung im allgemeinen und bei Carabus auratus im besonderen. Von Hermann Jordan, Tübingen. Die Hauptabsicht, die ich in den folgenden Zeilen verfolge, ist, kurz einige Beobachtungen mitzuteilen, die ich bei der Nahrungs- aufnahme von Carabus machen konnte. Allein, es will mir scheinen, als habe in der Wissenschaft die Einzeltatsache erst vollen Wert durch ihre Zusammenhänge und als sei es recht eigentlich unsere Aufgabe, einen jeden Befund als Glied in die ganze Kette von Er- scheinungen einzufügen, denen er naturgemäß angehört. Der Käfer, welcher Gegenstand meiner kleinen Untersuchung war, nimmt seine Nahrung auf dem Wege der „extraintesti- nalen“ oder „extrasomatischen“ Verdauung auf. Das eben scheint der Kernpunkt des Mitzuteilenden zu sein. Und so erlaube man mir eine kurze Zusammenstellung der Fälle, bei denen diese Art der Aufnahme beobachtet worden ist. Abgesehen davon, dass solch eine Zusammenstellung noch niemals erfolgt ist, hoffe ich durch die darzustellende Mannigfaltigkeit dem Leser eine Vorstellung von der Bedeutung des Vorganges geben zu können. Verdauung außerhalb des, die Nahrung aufnehmenden Tieres findet jeweilig dann statt, wenn die Beute durch Größe oder Panze- rung oder Zähigkeit des Fleisches — alles natürlich im Verhältnis zur Größe und Stärke des Räubers — der gewöhnlichen Nahrungs- aufnahme allzugroße Schwierigkeiten in den Weg legt. Hierbei möchte ich unter „gewöhnlicher Nahrungsaufnahme“ ein Verschlucken des ganzen Beutetieres oder Abreißen bezw. -beißen einzelner Stücke verstehen, die dann ihrerseits, zerkaut oder nicht, eingeschluckt werden. Da es sich hier um das Verhältnis von Beute zu Räuber handelt, so kann naturgemäß die Notwendigkeit der „extraintesti- nalen“ Verdauung (fast) ganz am Räuber selbst, an seinen unvoll- kommenen Fresswerkzeugen, an der Enge seines Schlundes etc. liegen; in der Regel aber dürfen wir erwarten, dass die uns be- schäftigende Erscheinung sich bei Tieren abspielen wird, die sich von Muscheln, Schnecken, Echinodermen, Arthropoden u. dgl. er- nähren. Es kommt hinzu, dass die letzterwähnten Tiere besonders günstige Bedingungen für solche Auflösung bieten: Der Räuber wird sein Lösungsmittel, also vornehmlich ein eiweißlösendes Fer- ment ın das Tier einspritzen und das Fleisch der Beute in deren eigener Schale auflösen. Die verflüssigte Substanz kann dann ohne weiteres eingesogen werden. So bedarf es oft nur winziger Löcher ım Panzer oder in der Schale der Beute, um doch die Nahrung oft in erstaunlicher Weise auszunutzen: Durch ein kleines Loch ver- mag eine Spinne oder eine Dytiscuslarve ihre Beute derart auszu- saugen, dass nicht einmal dıe Muskulatur der Beine übrig bleibt. 6 Jordan, Über „extraintestinale“ Verdauung im allgemeinen ete. Wir haben noch ein Wort über den Saft zu sagen, mit dem die Lösung ausgeführt wird. In einigen Fällen sind bei Tieren, die sich der dargetanen Art, Nahrung aufzunehmen, bedienen, Vorder- darmdrüsen („Speicheldrüsen“) gefunden worden, deren Sekret Ei- weiß zu verdauen imstande ist. Man hat dann diesen Drüsen und ihrem Sekret die Hauptrolle bei der extraintestinalen Verdauung zugeschrieben. In der Mehrzahl der Fälle (und der unsrige gehört hierher) ist jedoch der ausgespiene verdauende Saft nichts als das Sekret des Mitteldarmepithels, der Darmsaft also, der bei den Wirbellosen mit seinem tryptischen Ferment die Eiweißverdauung durchaus allein zu besorgen pflegt!). Wir wollen ım folgenden diese beiden Fälle nicht getrennt voneinander betrachten, denn einmal interessiert uns hier vielmehr die Art, wie das Problem der Nah- rungsaufnahme unter den angedeuteten schwierigen Bedingungen von den in Frage stehenden Tieren gelöst wird: hierbei ist es von untergeordneter Bedeutung, wo der verdauende Saft herstammt. Ferner aber liegt ın keinem Falle der Beweis vor, dass bei den Tieren mit Eiweißferment führenden Speicheldrüsen, diese letzteren nun auch ausschließlich die extraintestinale Verdauung leisten, mit anderen Worten, ob der Unterschied zwischen den beiden von uns unterschiedenen Gruppen durchaus prinzipiell sei. — Eudes-Deslonchamps?) machte im Jahre 1826 folgende eigen- artige Entdeckung: In vielen Fällen beobachtete er, wie am Strande bei eintretender Ebbe je etwa 5 oder 6 Exemplare von Asterias rubens, zu einem Klumpen vereinigt — mit ineinandergeflochtenen Armen, auf einem großen Exemplar von Mactra stultorum L. saßen Die Ränder der Muschelschalen klafften und in diese Öffnung hatten die Seesterne dicke runde Blasen mit äußerst dünner Wand ein- geführt, die mit einer durchsichtigen Flüssigkeit erfüllt waren. Jeder Stern vermochte etwa 5 solcher Blasen auszusenden. An ihrem distalen Ende beschreibt nun unser Autor ein rundes weites Loch), durch welches der Blaseninhalt langsam und tropfenweise sich ergoss. Die Muscheln selbst waren oft fast völlig aus ihrer Schale herausgelöst und gefressen, in anderen Fällen aber kaum angedaut. Immer jedoch waren sie tot oder doch gelähmt, rochen aber frisch, so dass kaum daran zu zweifeln war: die Stachelhäuter hatten ihre Beute in wirksamer Weise abgetötet. Um was es sich nun bei diesen „Blasen“ handelt, lehrten MacAndrew und Barret*): Sie fanden, dass das Organ, welches Il) Ausnahmen sind eben jene Tiere mit eiweißverdauendem Speichel. 2) Eudes-Deslonchamps, 1826. Note sur l’Asterie commune Ann. Sc. nat. Paris. T. 9, p. 219—221. 3) Sicherlich ist solch ein Loch gar nicht vorhanden. 4) MacAndrew and L. Barret, 1857. List of Echinodermata dredged bet- ween Drontheim and the North Cap. Ann. Mag. nat. Hist. (2). Vol. 20, p. 43—46. Jordan, Über „extraintestinale“ Verdauung im allgemeinen etc. 87 ein Asterias bis in das hintere Ende der Windungen einer Littorina einzuführen imstande ist, nichts anders sei, als der ausgestülpte Magen. Der Inhalt der Blase ist die Leibeshöhlenflüssigkeit, unter deren Druck die Magenwand erektionsartig vortritt, und sicherlich hat diese Flüssigkeit nichts mit dem Saft zu tun, den der Seestern auf sein Opfer tropfen lässt: dem Sekret des Magens selbst. Und dies Sekret hat nun die doppelte Aufgabe: 1. die Muschel zu töten oder doch derart zu lähmen, dass der Schließmuskeltonus vernichtet wird?). 2. Das Fleisch der Beute, in ihrer eigenen Schale zu verdauen, so dass hierauf das Lösungsprodukt mit Leichtigkeit aufgenommen werden kann. Unsere in der Einleitung aufgestellte Behauptung, es sei die extraintestinale Verdauung nichts als eine Methode, solche Beute zu bewältigen, die auf dem gewöhnlichen Wege nicht zugänglich ist, erhält durch das Verhalten der Seesterne eine ganz besondere Stütze: Mit der Unzugänglichkeit der Beute fällt auch die Art der Nahrungsaufnahme fort; kleine Muscheln werden ganz verschluckt, z. B. lebt Astropecten, ein Seestern mit großer Scheibe und dem- entsprechend dehnbarem Munde, von kleinen Muscheln, die er ganz verschluckt, um die ausgedauten Schalen später wieder durch den Mund auszustoßen (ein After fehlt hier bekanntlich). Aber es gibt auch Arten, bei denen kleine Muscheln ganz verschluckt und innerhalb des Darmes — große Muscheln aber in der dargetanen Weise außerhalb des Darmes verdaut werden (ÖCuenotl.c. p. 41, Asterina gibbosa). Zu diesem, wie ich glaube, als erstes entdeckten Beispiele gesellten sich mit der Zeit eine Reihe anderer aus allen Gruppen der Wirbellosen®). Ja selbst bei den Protozoen dürften Fälle dieser Art vorkommen. So findet Cienkowski’), dass die amöbenähnlichen Jugendformen von Colpodella pugnax, Vampyrella spirogyrae und V. pendula Algenfäden eröffnen und den Zellinhalt aus- saugen. Dem Autor scheint es nicht unwahrscheinlich, dass dies Eröffnen (bei Abwesenheit jeden mechanisch verletzenden Apparats) auf chemischem Wege vor sich geht. Der Protist legt sich dem Algenfaden dicht an und dürfte wohl zwischen diesem und dem 5) Abgesehen von Eudes-Deslonchamps stellten L. Ou¬ (1887 Con- tribution ä l’&tude anatomique des Asterides. Arch. zool. exper. |2], T. 5, Suppl. bis; auf Seite 41) und W. Hess (Die wirbellosen Tiere des Meeres. Hannover 1878) diese Giftwirkung fest. 6) Anders bei den Wirbeltieren, deren weite Mundöffnung und deren starker Kauapparat (Zähne und Kieferhebelwerk) durchgehends die Einführung chemisch unveränderter Nahrung in Mund und Darm gestattet. In den wenigen Fällen, in denen die Beute nicht total überwältigt werden kann, gehört diese selbst zu den Wirbeltieren und liefert dem Räuber mit ihrem Blute eine reichliche, nahrhafte und dabei schon gelöste Nahrung. 7) Cienkowski,L., 1865. Beiträge zur Kenntnis der Monaden. Arch. mikr. Anat. Bd. 1, p. 203—232. 88 Jordan, Über „extraintestinale“ Verdauung im allgemeinen etc. eigenen Körper einen Tropfen Ferment ausscheiden, angetan, die Zellmembran zu lösen. Aus Cienkowski’s Abbildungen ist recht wohl zu erkennen, wie der Größe des Beuteobjekts wegen, dieses durch das Protozoon keineswegs eingeschlungen werden kann. Sehr bekannt ist ja wohl auch der Fall von Rhizostoma, die überhaupt keinen eigentlichen Mund besitzt. Man weiß, dass diese Tiere Fangarme haben, die von Kanälen durchbohrt sind, welche die Verbindung zwischen Magen und Außenwelt herstellen. Und zwar münden diese Kanäle in den Raum, den der Kranz von Fang- armen, die Trichterkrause, einschließt, also in den sogen. Trichter. In diesen Trichter wird die Beute gebracht und Hamann®°) be- obachtete, wie sie zerfällt und wie der Brei, der durch diese extra- intestinale Verdauung entsteht, durch die Kanäle aufgenommen wird. — Der Vollständigkeit halber sei hier an eine Angabe Darwin’s?) erinnert, derzufolge Regenwürmer ein alkalısch reagierendes Sekret auf große, als Nahrung dienende Blätter ausspeien, einen Saft, der das Chlorophyll bräunt (tryptisches Ferment) und die Stärke der Spaltöffnungsschutzzellen löst. Doch zerfallen weder die mit dem Sekret befeuchteten Blätter, noch saugt etwa der Wurm die Lösungsprodukte ein. Höchstens dient wohl die Be- feuchtung, vertrocknete Blätter weich, biegsam zu machen, so dass sie in die Wurmröhre eingezogen werden können; es wird hierzu der (fermenthaltige) Darmsaft'!‘) genommen, weil ein anderes Sekret nicht zur Verfügung steht. — Bei Arthropoden und Mollusken findet sich eine Anzahl Bei- spiele für extraintestinale Verdauung, bei der sich deutlich erkennen lässt, dass sie dem Zwecke dient, Nahrung, die dem Kauprozess unzugänglich ist, dem Räuber nutzbar zu machen. Ich erinnere vorab an die Tiere, die ihrer Beute, wie man zu sagen pflegte, das „Blut“ aussaugen. Das sind vornehmlich die Spinnen, bei denen Bertkau!!) nachwies, dass das „Aussaugen“ sich auf den Gesamt- inhalt des Chitinpanzers des Beutetieres erstreckt. Vorher ist diese 8) Hamann, 1881. Die Mundarme der Rhizostomen und ihre Anhangsorgane. Jenaer Zeitschr. Nat. Bd. 15, p. 278. 9) Darwin, Oharles. Die Bildung der Ackererde durch die Tätigkeit der Würmer. Ch. Darwin’s gesammelte Werke aus dem Englischen von J. Victor Carus, Bd. 14a, Stuttgart, E. Schweizerbart’scher Verlag 1882. 10) Dass es sich um Darmsaft und nicht um „Speichel“ handelt, ist zum min- desten sehr wahrscheinlich. Frederieqg und Krukenberg vermissen im Vorder- darm in der Tat jedes Ferment; und wenn Willem und Minne in Pharynx und Ösophagus eine tryptische Protease finden, eine Diastase aber vermissen, so spricht die Abwesenheit der Diastase schon gegen die Annahme, die extraintestinale Ver- dauung sei durch Vorderdarmsekret bewirkt. Ich konnte diese Protease nicht nach- weisen. 11) Bertkau, Ph., 1884. Über den Bau und die Funktion der sogen. Leber bei den Spinnen. Arch. mikr. Anat. Bd. 23, p. 214—245. Jordan, Über „extraintestinale“ Verdauung im allgemeinen etc. S P) ” ‚© ÖOrganmasse innerhalb genannten Panzers durch eingespritzten (ge- spienen) fermenthaltigen Saft gelöst worden. Hier haben wır nun den ersten Fall, bei dem diese Verdauung möglicherweise durch ein Sekret zuwege gebracht wird, das sogen. Speicheldrüsen ent- stammt!?). Es handelt sich um die „Unterkieferdrüsen“, Drüsen also, die „an der Innenseite, in der oberen Hälfte der langgestreckten Unterkiefer liegen, am reichlichsten und vollkommensten im Basal- teil entwickelt, in schwächerer Andeutung aber auch bis fast ın die Spitze reichend“. Der Extrakt dieser Drüsen (von zwei Exem- plaren von Tarantula inguilina 9) verdaute den Thoraxinhalt einer Schmeißfliege in 24 Stunden zu einer zähen breiigen Masse. Gleiches Resultat wurde auch bei anderen Arten erzielt. Die lange Zeit, welche diese künstliche Verdauung in Anspruch nımmt — ım Gegen- satz zur kurzen Dauer des wirklichen Aussaugeprozesses — ist mit geringer Wirksamkeit von Extrakten (mit reinen Sekreten ver- glichen), ferner mit dem Fehlen der mechanischen Wirkung der Mundwerkzeuge zu motivieren. Hiermit ist natürlich nicht bewiesen, dass dem Drüsensekret ausschließlich die extraintestinale Verdauung zuzuschreiben seı und dass der Mitteldarmsaft sich keineswegs an diesem Prozess beteilige. Die Bedeutung dieses Aussaugens durch die Spinne ist übrigens zwiefältig. Vorab bieten chitinisierte Tiere beträchtlicher Größe (mit dem Räuber verglichen) — es handelt sich um Insekten und Spinnen — dem Zerbeißen die Schwierig- keiten, von denen wir schon sprachen. Dazu aber kommt, dass die dem Vorderdarm angehörigen Organe der Nahrungsaufnahme bei den Spinnen gar nicht imstande sind, auch nur kleine Bissen zu bewältigen; sie sind ganz für das Aufsaugen von Flüssigkeiten eingerichtet. Man könnte den Begriff „extraintestinale Verdauung“ noch weiter fassen als wir das bislang taten, könnte die Fälle hier auf- zählen, bei denen die Nahrung (außerhalb des Darmes) nicht so sehr verflüssigt, als flüssig erhalten wird, wie dies bei denjenigen Tieren der Fall ist, die bei Wirbeltieren Blut saugen (Hirudo, Ixodes; diese sondern „Speichel“ ab, der Blutgerinnung hintanhält, ähn- liches sicherlich bei Stechmücken und Stechfliegen, Dochmium duo- denale u.a. m.). Schließlich gehören hierhin auch die Säureschnecken, die mit Hilfe eines Sekrets, das freie Säure enthält (Schwefelsäure bei Doleum galea, Pleurobranchaea merkeli u. a. m. — Asparagin- säure bei Tritonium etc.), imstande sind, die harte Körperbedeckung von Muscheln und Seesternen mit der Radula anzubohren. Durch das kleine, meist ziemlich kreisrunde Loch führt die Schnecke sich die Weichteile der Beute zu; und zwar geschieht dies sicherlich 12) Bertkau, Ph, 18$S5. Über den Verdauungsapparat der Spinnen. Arch. mikr. Anat. Bd. 24, p. 398—451. Vgl. auch Westberg, 1900. Korr.-Bl. Nat. Vers Riear 2 Bd. 43, P.-69. 90 Jordan, Über ‚‚extraintestinale“ Verdauung im allgemeinen ete. auf dem Wege der extraintestinalen Verdauung. Bei Sycotypus canaliculatus wurden diese Verhältnisse (soweit sie’ sich auf den letztgenannten Vorgang beziehen) von Mendel und Bradley®) genauer untersucht. Diese zu den Taenioglossen gehörende Art lebt (an der amerikanischen Küste des atlantischen Ozeans) auf Austernbänken. Auch diese Schnecken bohren ein Loch in die Austernschale und „saugen“ die Weichteile dann aus. Es ergab sich nun, dass das Sekret!*) der Speicheldrüsen eine auf Lackmus alkalisch reagierende Flüssigkeit ist, die reichlich Schleim enthält und die Fibrin und Gelatine zu verdauen imstande ist. Höchstwahrscheinlich löst dieser Saft das Austernfleisch in der eigenen Schale auf. (Gleiche Befunde bei Frlgur carica.) Ganz ähnlich liegen die Dinge bei Octopus. Von diesen Tieren war es längst bekannt, dass sie, fast ohne den Panzer zu verletzen, die Eingeweide und (Bein-)Muskeln eines Careinus maenas sich an- zueignen vermögen). Nachdem nun die Frage, ob das Sekret der hinteren Speicheldrüsen der Octopoden auf Eiweiß eine verdauende Wirkung ausübe, von verschiedenen Autoren in widersprechendster Weise beantwortet worden war, dürfte Krause!'‘) schließlich die definitive Lösung gebracht haben. Vor allem bedient sich Krause des reinen Speicheldrüsensekrets (im Gegensatz zu seinen Vor- gängern): Durch dieses wurden nach 4—5 Stunden ziemlich große Fibrinflocken vollständig verdaut! (Am besten gelang das bei schwach alkalıscher Reaktion). — Wir kommen nun zu der Tiergruppe, der die Art angehört, über die ich einiges Neue hier mitzuteilen gedenke: Es sind die Insekten, vornehmlich die Käfer. Auch hier wıll ich vorab einen kurzen Überblick über analoges Geschehen bei solchen Formen geben, die — zur gleichen Klasse gehörig — doch nicht Gegenstand (eingehender) eigener Untersuchungen gewesen sind. Mit Bestimmtheit wurde extraintestinale Verdauung bei der Larve von Dytiscus marginalis, und zwar von Nagel nachgewiesen '”). Dass diesen Larven praktisch ein Mund fehlt, ist bekannt. Tat- sächlich wird der Mund dargestellt durch eine Öffnung an der Unter- seite des Kopfes, die so verengt und verdeckt ist, dass man sie 13) Mendel, Lafayette, B. and Harold ©. Bradley, 1905. Experimental Studies on the Physiology of the Mollusces. 1. The Physiology of the Alimentary Canal of Sycotypus canalieulatus. Amer. Journ. Physiol. Vol. 13, p 17—29. 14) Durch eine Kanüle dem Ausführgang unter elektrischer Reizung der Drüse entnommen. 15) Schmidt, Oskar in Brehm’s Tierleben. Aufl. 3, Bd. 10, 1893, p. 265. 16) Krause, Rudolf, 1895. Die Speicheldrüsen der Cephalopoden. Centralbl. Physiol. Bd. 9, p. 273—277. — Über Bau und Funktion der hinteren Speichel- drüsen der Octopoden. Sitz.-Ber. Akad. Wiss. Berlin. Jahrg. 1897, p. 1085—1098. 17) Nagel, Wilibald A., 1896. Über eiweißverdauenden Speichel bei In- sektenlarven. Biol. Oentralbl. Bd. 16, p. 51—57. Jordan, Über „extraintestinale“ Verdauung im allgemeinen etc. 91 makroskopisch nicht nachweisen kann. Diese Öffnung nun steht mit je einer Rinne in den zangenartigen Mandibeln in Verbindung, Rinnen, die fast zu Kanälen geschlossen, je an der Spitze des Kiefers münden. — Die äußerst gefräßige Dytiscus-Larve erhascht mit den genannten Zangen so ziemlich alles, was sich in ihrem Bereiche bewegt. Handelt es sich hierbei um ein Tier (Insekten, Spinnen, junge Fische, Kaulquappen und Molgearten kommen ın Betracht), so werden der Beute die Zangen in den Leib gebohrt, aus der Kanalmündung tritt ein Tropfen, der nun vorab durch Giftwirkung das Opfer tötet, späterhin ıhr Fleisch auflöst. Den Speibewegungen (auf Grund deren Gift- und Fermentsaft in die Beute gespritzt wird) folgen regelmäßig Saugbewegungen, und nach einer Viertelstunde ist denn auch etwa eine Schmeißfliege völlig ausgesogen. „Von Insekten und Spinnen lässt sie (die Larve) fast nichts als die Chitinhülle übrig...“ Es ist an sich kaum zu be- zweifeln, dass der, durch die Zange in die Beute gebrachte Tropfen, neben Gift, ein eiweißlösendes Ferment enthält. Das lässt sich nun recht leicht noch durch Verfütterung etwa von Fleisch oder Eiweiß- würfelchen zeigen. An dem von den Zangen ergriffenen Fleische sieht man, dass an der Stelle, wo sich ın ıhm die Zangenspitzen befinden, eine bräunliche Verfärbung auftritt. Nagel sagt: „Es bleibt schließlich eine schleimig aussehende Masse zurück, welche indessen noch Eiweiß und sogar geformte Substanz, Muskelfasern, enthält.“ Ich nahm einer Dytiscus-Larve ein verfüttertes Stück Kalbfleisch nach ganz kurzer Zeit ab und ließ es dann einige Zeit (etwa '/, Stunde) stehen. Mikroskopische Untersuchung eines Zupfpräparates ergab eine fast völlige Ver- dauung der eigentlichen Muskelfasersubstanz, wie ich sie für Oarabus auratus sogleich beschreiben werde, während ein anderes Stück des gleichen Fleisches, das, abgesehen vom Biss der Larve, die nämliche Behandlung erhielt (gleiche Aufbewahrungsweise) normales Aussehen bewahrte. Dass es sich aber bei alledem um Sekrete des Vorderdarms handelt, wird keineswegs bewiesen und es scheint mir recht wahr- scheinlich, dass auch hier nichts anderes als der eigentliche Mittel- darmsaft die beschriebene Erscheinung hervorruft?°). Unter den Insekten, die eine ganz ähnliche Nahrungsaufnahme zeigen, nennt Nagel die Larven anderer Dytisciden, ferner von Myrmeleo und von der Florfliege. Aber andererseits gibt es sicher- lich auch viele fleischfressende Insekten. bei denen keinerlei che- mische Beeinflussung der Nahrung außerhalb des Jägers stattfindet, 18) Plateau (M&m. Acad. Belg. T. 41, Mem. 2, 1875) hält gleichfalls den braunen Saft, den die gereizte Larve durch die Zangenkanäle erbricht, für Mittel- darmsekret. Dieser Saft ist wohl gleich demjenigen, der die extraintestinale Ver- dauung erwirkt. 02 Jordan, Über „extraintestinale“ Verdauung im allgemeinen etc. bei denen also durch die Fresswerkzeuge das Fleisch der Beute zerkaut werden muss. Als Beispiel mag vorab Dytiscus marginals in ausgewachsenem Zustande dienen. Der extraintestinalen Ver- dauung, wie wir sie sogleich bei Oarabus auratus kennen lernen werden, würden sich ja bei diesem Wasserkäfer erhebliche Schwierig- keiten in den Weg stellen: das Wasser schwemmte das Ferment fort. In der Tat fand Plateau, wenn er ausgewachsene Exem- plare von Dytisceus marginalis und D. dimidiatus unmittelbar nach einer Fleischmahlzeit öffnete, im „Jabot“ (Kropf) Bissen, die 1—2 mnı in jeder Richtung maßen. | Pterostichus (Feronia) niger zerbeißt angebotenes Fleisch zu kleinen Stücken. Beı Eröffnung des Darmes findet man zerkaute Chitinreste erbeuteter Insekten !”). Das vom Käfer zerbissene Fleisch wurde in feuchter Kammer aufbewahrt und nach 24 Stunden mikro- skopisch untersucht: es zeigte keinerlei nachweisbare Veränderung. Anders bei Carabus auratus: Es ıst wohl schon längst bekannt, dass viele Käfer unter gewissen Umständen einen braunen Saft ausspeien. Die Ansicht, als sei dieser Saft das Darmsekret selbst und dementsprechend fermenthaltig, scheint recht verbreitet ge- wesen zu sein. Man meinte, der Saft weiche das Fleisch der Beute auf und mache es hierdurch geeignet, von den Mundwerkzeugen zerkaut zu werden. Dieser Änsıcht jedoch trat Plateau entgegen °°): Der braune Saft, Ösophagus- und Jabotinhalt, dient nur als Vertei- digungsmittel; „un carabe, qui devore un morceau de viande ne degorge aucun liquide colore“. Der ‚Befund am erwachsenen Dy- tiscrs, dass das Fleisch zu größeren Stücken zerkaut wird, über- trägt Plateau offenbar auch auf Carabus; zu unrecht, wie wir gleich sehen werden. Vorab scheint mir, dass das Schneidevermögen der Mundwerk- zeuge von Carabus auratus (und auronitens) äußerst gering ist. Mit der Wirkung unserer Zähne kann sich diejenige der Käfermund- werkzeuge wohl in keiner Weise messen. Weder sind die Schneiden so zweckmäßig, noch die Hebelverhältnisse so günstig. Wenn manche Käfer auch ganz ansehnliche Leistungen mit den Mund- werkzeugen zu verrichten imstande sind, so darf dies doch nicht verallgemeinert werden. Sicherlich aber bleibt es ein Problem, wie sich Tiere mit solcher Kaueinrichtung Bissen von derartig ge- ringer Dimension zurechtkauen können, wie sie die Enge des Mundes und des Ösophagus als Notwendigkeit erscheinen lässt. Freilich Säugetierfleisch ist nicht die normale Nahrung dieser Tiere, allein ich konnte mich davon überzeugen, dass der Hautmuskelschlauch eines 19) Ich habe nicht nachweisen können, dass das Fleisch von diesem Lauf- käfer wirklich in Form dieser kleinen Bissen aufgenommen wird, 20) Plateau, F&lix, 1875. Kecherches sur les ph@nom£nes de la digestion chez les insectes. M&m. Acad. Belgique T. 4l, M&em. 2, 124 pp. n- s . [3 ” ‘ Jordan, Über „extraintestinale“ Verdauung im allgemeinen ete. 95 ihrer gewöhnlichen Beutetiere, des Regenwurms, dem Kauprozess mindestens gleichen Widerstand entgegensetzt, als etwa ein Stück Rindfleisch. Der Käfer beginnt allerdings seine Mahlzeit am Regen- wurm dadurch, dass er ıhn zerbeißt, doch geschieht auch dies keineswegs derart, dass die Mandibeln den Wurm unmittelbar durchschneiden: sie packen und klemmen den Wurm, dessen heftige Bewegungen, dem Anscheine nach, am Zerreißen in der einge- klemmten Stelle ebensoviel Anteil haben, als der Druck der Zangen. Vom einfachen Zerschneiden unterscheidet sich dieser Vorgang schon durch seine lange Dauer ?'). Zur Untersuchung des eigentlichen Aufnahmevorganges eignet sich vor allem reines Muskelfleisch von Säugetieren; doch sei aus- drücklich bemerkt, dass das Folgende auch am Regenwurm, als Beuteobjekt, bestätigt wurde. Ganz ähnlich wie Nagel dies für Larven von Dytiscus be- schreibt, kostet es einige Mühe, selbst nach tagelangem Fasten, den Käfer zur Annahme des Fleisches zu bewegen. Bewegt man das Fleisch, so versucht ın der Mehrzahl der Fälle der Carabus zu fliehen. Dieselbe Bewegung veranlasst die Dytiscus-Larve, zuzu- packen, und es ist wahrscheinlich, dass ın der freien Natur Carabus durch (entsprechende) Bewegungen seines Opfers zum Angriff gereizt wird. Durch Hilfe irgendwelcher anderer Sinne erreicht man beim Experiment mit (arabus ebensowenig das Ziel der Futterannahme. Ich sah einen Regenwurm unter den Mundwerkzeugen eines Carabus langsam vorbeikriechen, den Käfer dabei berührend, ohne dass ein Angriff erfolgt wäre. Mit einem Male (etwa nach 10 Minuten) stürzte sich der Räuber auf seine Beute und durchtrennte sie, um sofort seine Mahlzeit zu beginnen. Ganz ebenso habe ich das mit Fleisch beobachtet, stets dauerte es lange, bis der Käfer es fand, um .es dann plötzlich anzupacken. Allein bei alledem sei nicht vergessen, dass unser Versuchstier sich unter ungewohnten Bedingungen befand, nämlich in einem Glase. Auch scheint der jeweilige Hungergrad eine Rolle bei allen diesen Dingen zu spielen. Hat unser Carabus die Beute gepackt, so begibt er sich un- mittelbar an die Mahlzeit, die stets ın gleicher Weise verläuft. Hartes Fleisch verließ der Käfer oft; weiches Fleisch aber, oder solches, das ein wenig zerkleinert worden war, behandelt er wie folgt: er versenkt den Kopf in das Fleisch, sich mit den Mandibeln den Weg bahnend. In die dergestalt entstandene Vertiefung wird nun der braune Saft gespien, der sich daselbst bis zu einem ge- wissen Grade ansammeln kann. Die Menge des Sekretes, die be- sonders das hungernde Tier abscheidet, ist keineswegs unbeträcht- lich. Nun beginnen die Mundwerkzeuge ihr rhythmisches Spiel, 21) Dies wurde auch an Laufkäferlarven beobachtet. 94 Jordan, Über „extraintestinale“ Verdauung im allgemeinen etc. das Plateau (l. c.) beschreibt. Mandibeln und Maxillen arbeiten genau alternierend. Wenn die Mandibeln sich schließen, öffnen sich die Maxillen und umgekehrt. Die Maxillenbewegung kann man zwar nicht immer sehen, doch erkennt man sie stets unschwer an der Bewegung der Maxillartaster, die auf dem Fleische liegend, passiv mitgeführt werden. Ober- und Unterkiefer unterscheiden sich recht wohl voneinander, was ihre Bedeutung und Bewegung betrifft: Die Oberkiefer führen die bekannten scherenartigen Be- wegungen aus. Dabei befindet sich zwischen ihnen der mit Darm- saft getränkte Fleischzipfel, der den vorderen, vor dem Kopfe ge- legenen Rand der Vertiefung bildet, die der Käfer in das Fleisch gearbeitet hat. Nur diesem Zipfel scheint die Arbeit der Mandibeln zu gelten: er wird gehörig verwalkt, nie aber wird der Teil, der durch die Zangen hindurchragt, abgeschnitten. Es sieht vielmehr so aus, als drückten die Oberkiefer aus dem Fleische etwas heraus und als würde dieses Etwas unmittelbar nach dem Ausdrücken von den Unterkiefern gepackt und zum Munde geführt. In der Tat ist die Bewegung der Unterkiefer ganz anders geartet als die der Oberkiefer. An Stelle der einfachen, eingelenkigen Scheren- bewegung der Mandibeln tritt die (mindestens) zweigelenkige Be- wegung der Maxillen, die etwa eine Kreislinie beschreiben: Von vorn-außen nach hinten-innen, derartig, dass bei der Bewegung in der Richtung zum Munde von der beschriebenen Linie in Bogen- form nach innen, bei der Rückbewegung in einem Bogen nach außen abgewichen wird. Hierdurch wird vorab wahrscheinlich gleichfalls eine Walkbewegung, sodann aber, und wohl vornehmlich ein Zusammenkratzen des abgedrückten (gelösten) Fleisches in der Richtung zum Munde erzielt. Langsam verkleinert sich der vor dem Kopfe gelegene Fleischzipfel dadurch, dass die Mandibeln all- mählich an ihm vorrücken; ehe er jedoch ganz verschwunden ist, lässt der Käfer ihn fahren, gräbt sich weiter hinten von neuem ein und das Spiel beginnt von vorn. Von Zeit zu Zeit ruht die Bewegung der Mundwerkzeuge, sei es zum Ausruhen, sei es dem Safte Zeit zu lassen, seine Wirkung besser zu entfalten, sei es endlich, weil den Käfer irgendeine Bewegung des Beobachters störte; ich vermag das nicht zu entscheiden. Langsam verschwindet das Fleisch und das Abdomen des Käfers schwillt unter den Flügeldecken hervor, bis (in einem bestimmten Falle) das Fleischstück von 1 cm Länge und !/, em Dicke, nach einer 3 Stunden 15 Minuten währenden Arbeit, fast völlig aufge- zehrt ist. (Die aufgenommene Fleischmenge hängt natürlich vom Hungerzustande des Tieres und wohl auch von der Härte des Fleisches ab.) Wir wollen uns nun von dem eigentlichen Schicksale des Fleisches Rechenschaft geben. Zu dem Zwecke setzen wir einen Jordan, Über „extraintestinale“ Verdauung im allgemeinen ete. 95 Käfer auf ein Stück Fleisch, das wir ihm nach etwa '/, Stunde wieder abnehmen. Ein kleines, gut mit Saft bedecktes, aber nicht zerkautes Stück kommt in eine feuchte Kammer (und etwas Chloro- form). Dazu tut man ein gleich großes Stück desselben Fleisches, ohne Saft des Käfers, das man mit etwas Wasser oder Kochsalz- lösung anfeuchten kann. Nach 24 Stunden?) wird von beiden Fleischproben je eine Reihe Zupfpräparate angefertigt (von ver- schiedenen Stellen) und es ergibt sich mit absoluter Regelmäßig- keit, dass die Kontrollpräparate vollkommen normal sind, während die Präparate vom angefressenen Fleische folgenden Befund zeigen: Es ist keine einzige Muskelfaser mehr zu erkennen. Die gesamte eigentliche Muskelfasersubstanz ist zu einer körnigen Masse auf- gelöst, die nur aus dem Grunde nicht allerorts zu einem Brei zer- fällt, weil die bindegewebigen Bestandteile dem Ferment größeren Widerstand bieten und demnach in den Präparaten unverändert erscheinen. Manch ein Perimysium ist als Schlauch wohl erhalten, sein Inhalt aber ist jene feınkörnige Masse. Lässt man solch ein Fleischstück längere Zeit stehen und dann eintrocknen, so kann man darin zahlreiche Tyrosindrusen nachweisen. Kurzum an der Tatsache, dass der ausgespiene braune Saft wirklich ein ver- dauendes Ferment für Eiweiß enthält, dürfte nicht zu zweifeln sein. Was aber leistet der Saft? In der feuchten Kammer tritt niemals eine Lösung des Fleisches auf. Bei der Nahrungsaufnahme des Käfers aber kommt zu der rein chemischen Wirkung des Saftes, noch die mechanische der Mundwerkzeuge. Das Resultat kennen zu lernen muss man einen Carabus auratus unmittelbar nach der Fütterung (und nachweislicher Nahrungsaufnahme), töten. Als ich diesen Versuch ausführte, erwartete ich nach Plateau im Kropf (Jabot) zerkautes Fleisch zu finden und war sehr über- rascht zu sehen, dass der ganze Kropf mit einer bräunlichen, äußerst zähen (viskösen) Flüssigkeit erfüllt war. Der enge Öso- phagus enthält gleichfalls nichts als die nämliche Flüssigkeit, wäh- rend Mittel- und Enddarm, wie dies schon Plateau angibt, total leer sind. Der mit dicken chitinösen Längsfalten versehene kurze Darmteil, der sich zwischen Kropf (Jabot) und blindschlauch- besetztem Mitteldarm einschiebt (Gesier), dient augenscheinlich lediglich dazu, den Inhalt des Kropfes vom Mitteldarm zeitweilig fernzuhalten. Späterhin mag der Apparat auch eine Art Filter- wirkung ausüben: in diesem ersten Stadium der Verdauung ist er nichts als ein Verschluss. Man kann den Ösophagus am Munde durehtrennen und mit der Pinzette aufheben, ohne dass der, immer- hin schwere, Inhalt des Kropfes imstande wäre, den Widerstand dieses Verschlusses zu überwinden und etwa in den Mitteldarm 22) Selbstverständlich ist solch lange Frist nieht notwendig! 96 Jordan, Über „extraintestinale“ Verdauung im allgemeinen ete. einzutreten. Man kann daher auch den ganzen Darmteil bequem herausnehmen, auf einen Objektträger legen; dann öffnet man ihn, breitet den Inhalt gut aus und untersucht sorgfältig: Im gesamten Inhalt wird man vielleicht 4—5 total isolierte Muskelfasern finden, der ganze Rest hingegen ist vollkommen aufgelöst. Das Fett des Fleisches ist in eine ziemlich feine Emulsion verwandelt, deren einzelne Tropfen sich unter starker Vergrößerung gut unterscheiden lassen: Fängt man den viskösen Inhalt des Kropfes auf und bringt ihn mit destilliertem Wasser in ein Reagenzglas, kocht dann nach Ansäuerung, so entsteht ein Niederschlag. Ich habe das Filtrat auszusalzen versucht, doch ohne Erfolg; möglicherweise war — der kleinen zur Verfügung stehenden Menge Kropfinhalts wegen — die Verdünnung zu groß. Doch hat diese Frage, die ich gelegentlich weiter untersuchen werde, für uns kaum Bedeutung, da nunmehr die Tatsache feststeht, dass das Fleisch durchaus außerhalb des Käfers in jene zähflüssige Lösung übergeführt wird, die ihrerseits bequem den Mund und den Ösophagus zu passieren imstande ist. Zum Schlusse möchte ich noch auf den Umstand hinweisen, dass die Nahrungsaufnahme von Carabus auratus sich vorzüglich zur Demonstration eignet und zwar nicht nur, um den immerhin speziellen Vorgang der extraintestinalen Verdauung zu demonstrieren, als vielmehr etwa Anfängern die Verflüssigung von Fleisch durch die Verdauungsorgane eines Tieres zu zeigen: Man setzt einen aus- gehungerten Carabus auratus an (weiches) Fleisch, was je nach Wunsch zu Beginn oder einige Zeit vor Beginn des Unterrichtes stattfinden kann. Ist ein bestimmtes Stück Fleisch (fast) total auf- gezehrt, so tötet man den Käfer unmittelbar durch eine der üb- lichen Vergiftungsmethoden, öffnet ihn (zu beiden Seiten natürlich) bis zum völligen Freilegen des angeschwollenen Kropfes, demon- striert diesen, entfernt ihn sodann, um ihn etwa auf einem Öbjekt- träger zu öffnen und auszubreiten. Eine mikroskopische Unter- suchung wird wohl meist nicht nötig sein. Auch der Versuch, ein Stück angefressenes Fleisch, neben Kontrollfleisch, einige Zeit in der feuchten Kammer zu halten und dann unter dem Mikroskop die Wirkung der Verdauung zu zeigen, dürfte, wenigstens für einen biologischen Kurs, zweckentsprechend sein. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2, — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und DIR: Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Der Abonnementspreis für 24 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen. BG. XIX, 1. Februar 1910. AM 8, Inhalt: Wasmann, Ueber das Wesen und den Ursprung der Symphilie. — Heider, Spekulatives zur Balanoglossus-Entwickelung. — Küster, Ueber organoide Gallen. Über das Wesen und den Ursprung der Sympbhilie. (173. Beitrag zur Kenntnis der Myrmekophilen und Termitophilen.) Von E. Wasmann 8. J. (Luxemburg). 1. Das Wesen der Symphilie. Das echte Gastverhältnis (Symphilie) bei den Gästen der Ameisen und der Termiten ist bereits in vielen meiner Arbeiten be- handelt worden, sowohl nach der biologischen als nach der morpho- logischen (Anpassungscharaktere), der histologischen (Exsudatgewebe) und der phylogenetischen Seite. Aus der großen Zahl meiner Publı- kationen, welche Beiträge zur Kenntnis der Ameisengäste und Ter- mitengäste enthalten!), ist es vielleicht erklärlich, dass manche 1) In der 2. Auflage meiner Schrift „Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen“ (Zoologica, Heft 26, Stuttgart 1909) ist ein Verzeichnis derselben bei- gefügt bis Nr. 163. Die 2. Auflage der „Psychischen Fähigkeiten“ ist Nr. 164. Seither sind noch folgende Beiträge erschienen oder im Druck begriffen: 165. Mwuyrmechusa, eine neue Gattung zwischen Myrmedonia und Lomechusa. (Ann. Mus. Civ. Genova XLIV, 1908, S. 39—42. Mit 5 Fig.) 166. Termitophilen. Ein neues termitophiles Staphylinidengenus (Termzito- telus Schultzei) nebst Bemerkungen über die Gäste von Hodotermes. Mit 1 Tafel. (L. Schultze, Forschungsreise im westl. u. zentral. Südafr. I. S. 239—243. In: Denkschriften Naturw. Ges. Jena, XIII, 1908, S. 441—445.) 167. Zur Geschichte des sozialen Parasitismus und der Sklaverei bei den Ameisen {Naturw. Wochenschr. 1909, Nr. 26, S. 401—407. Mit 5 Fig.) XXX. f 98 Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. Autoren noch immer im unklaren darüber zu sein scheinen, welche Anschauungen ich über das Wesen und die Entwickelung der Symphilie vertrete. Ich will daher meine Ansichten hier- über kurz zusammenfassen und mit kritischen Bemerkungen be- gleiten. Das echte Gastverhältnis, die Symphilie, ist im Gegensatz zur Synoekie, der Synechthrie, dem Parasitismus und der Trophobiose dadurch ausgezeichnet, dass freundschaftliche Beziehungen zwischen Gast und Wirt bestehen, aus denen aber nur der Gast einen Vorteil zieht, während der Wirt aus der Pflege jener Gäste nur Annehmlichkeit gewinnt, welche jedoch in manchen Fällen zum Schaden des Wirtes ausschlägt. Die Symphilie ist somit kein einseitiges, sondern ein wechselseitiges (reziprokes) Verhältnis. Die echten Gäste empfangen von den Wirten Pflege für sich und vielfach auch für ihre Brut und bieten dafür den Wirten eine Gegenleistung in Form von bestimmten Exsudaten (Nr. 134). Insofern die Ameisen (bezw. die Termiten) durch die Beleckung ihrer echten Gäste eine Annehmlichkeit (ein Genussmittel) erhalten, trägt die Symphilie einen mutualistischen Charakter, insofern jedoch der Nutzen ganz auf Seite des Gastes ist, nähert sie sich den parasitischen Beziehungen. Als klassisches Beispiel für die Symphilie kann das Verhältnis von Lomechusa strumosa zu Formica sanguinea gelten. Der Käfer ist mit gelben Haarbüscheln an den Hinterleibsseiten ausgestattet, die zur Verdunstung eines flüchtigen aromatischen Fettproduktes (eines Fettäthers?) dienen, welches auf die Ameisen gleichsam be- rauschend wirkt. Sie belecken deshalb den Käfer mit großem Kıfer, füttern ihn auch aus ihrem Kröpfcehen und erziehen sogar dessen Larven mit größerer Vorliebe als die eigene Brut. Und doch sind die Lomechusa-Larven die schlimmsten Feinde dieser Ameise, indem 168. Zur Kenntnis der Ameisen und Ameisengäste von Luxemburg, IIl. Teil. Mit 5 photogr. Tafeln. (Arch. trimestr. Inst. Grand-Ducal IV, 1909, Fasc. 3 u. 4, 8.1114) 169. Die „progressive Artbildung‘‘ und die Dinarda-Formen. Mit 2 Fig. (Natur u. Offenb. LV, 1900, 6 Heft, S. 321—346.) 170. Über den Ursprung des sozialen Parasitismus, der Sklaverei und der Myrmekophilie bei den Ameisen. (Biol. Centralbl. 1909, Nr. 19—22). 171 My; mecosaurus, ein neues myrmekophiles Staphylinidengenus. (Zoolog. Anz. XXXIV, 1909, Nr. 24/25, S. 765—768.) 172. Über gemischte Kolonien von Lasius. Kritische Bemerkungen und neue Beobachtungen. (Zool. Anz. XXXV, 1909, Nr. 4/5, S. 129-141.) Zu Nr. 166: P&@ringney und Brauns machen mich darauf aufmerksam, dass die von L. Schultze bei Hodotermes viator gefundenen, von Kolbe be- schriebenen Trichoplus aepytus und agis wahrscheinlich nicht Gäste von Hodo- termes, sondern von der Ameise Plagiolepis custowiens Sm. sind, die manchmal bei Termiten sich einquartiert. Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. 4 sie deren Eier und junge Larven massenhaft auffressen und über- dies durch ihre Fütterung aus dem Munde der Wirte den für die Ernährung der Ameisenlarven nötigen Nahrungsvorrat erschöpfen. Die Erziehung von Lomechusa vertritt in den infizierten sangwinea- Kolonien diejenige der Fortpflanzungsindividuen der Ameise, namentlich der Weibchen, und führt schließlich durch eine Aber- ration des normalen Brutpflegeinstinktes der Ameisen zur Erziehung krüppelhafter Zwischenformen zwischen Arbeiterinnen und Weib- chen, der sogen. Pseudogynen. Die Wirtskolonie degeneriert dadurch immer mehr, bis sie schließlich ausstirbt, während die Lomechusa ın benachbarte Nester derselben Ameisenart wandern, um sich dort aufnehmen und pflegen zu lassen (Nr. 1. 5. 11. 24, 38. 45. 46. 51. 56. 57. 59. 60. 64, 70. 75. 83. 85. 95. 118. 131. 155. 134. 136. 145. 146. 154. 157. 162, 164. 168). Hier haben wir einen Fall, wo die Symphilie ausgesprochen pathologische Folgen hat. Weniger hervortretend sind die- selben bei der mit Zomechusa nahe verwandten Gattung Atemeles, deren Arten als Käfer die Hälfte des Jahres (in der Wintersaison von September bis April) bei Myrmica rubra L. (scabrinodis, Iaevi- nodis, ruginodıs ete.) leben, dann aber zur Fortpflanzungszeit zu bestimmter Formica-Arten gehen —- jede Atemeles-Art zu einer anderen Formica-Art (oder Rasse) — um dort ihre Brut erziehen zu lassen (Sommersaison von April bis September). Die Pflege der Atemeles-Larven bei Formica führt viel seltener zur Pseudogynen- bildung und zur Degeneration der Kolonien als die Lomechusa- Zucht. Der Hauptgrund hierfür liegt darin, dass die Atemeles, wie eben schon bemerkt wurde, doppelwirtig sind. Sie verteilen sich im Herbste, von Formica kommend, in zahlreiche Myrmica-Nester, und wenn sie ım Frühjahr zu ıhren Formica zurückwandern, so lassen sie sich häufig in andere Kolonien aufnehmen als im Vor- jahr, so dass die Schädigung der Formica-Wirte durch die Larven- erziehung von Atemeles keine so andauernde ist wie bei der Lome- chusa-Pflege durch F. sanguwinea. Dabei bevorzugen jedoch wenigstens die größeren Atemeles-Arten (pubicollis und pratensoides) bestimmte Kolonien ihres Formica-Wirtes, die man als „Zentralkolonien* bezeichnen kann, und sammeln sich in denselben oft in großer Zahl an. In einem anderen Jahre wählen sie dann vielfach eine andere Zentralkolonie. Daher kommt es, dass man oft nur in einem ein- zigen Formica-Neste einer Gegend jene Atemeles in einem bestimmten Jahre antrifft, in diesem aber sehr zahlreich. So entdeckte ich im Frühling 1903 den Atemeles pratensoides Wasm. in einer pratensis- Kolonie bei Luxemburg-Stadt in Menge; seither aber fand ich kein einziges Individuum wieder, obwohl ich 1904—1905 sämtliche pra- tensis-Nester des betreffenden Gebietes bis auf den Grund durch- siebte (Nr. 140, 149). Aus demselben Grunde erklärt sich auch, 7x 100 Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. weshalb ich den Atemeles pwbicollis Bris., der bei Luxemburg in den Myrmica-Nestern wiederholt von mir gefunden wurde, daselbst noch in keinem der vielen r«fa-Nester antraf, obwohl er in den- selben seine Entwickelung durchmacht; es ist mir eben noch nicht gelungen, die betreffende Zentralkolonie von rufa durch einen glück- lichen Zufall zu entdecken. Dagegen fand ich eine solche 1893 bei Linz a. Rh. (Nr. 534) und 1599 bei Blijenbeck in Holländisch Lim- burg (Nr. 105). Im Juli 1909 begegnete mir eine Zentralkolonie von At. pubicollis in einem truncicola-Neste bei Lippspringe in Westf. Dasselbe lag mitten in einem rufa-Gebiet. Die rufa-Nester der Umgegend enthielten keine Atemeles-Larven, obwohl rufa der ge- wöhnliche Larvenwirt von At. pubicollis ist; in diesem Jahre scheint sich eben die Erziehung jenes Atemeles ganz in der truncicola-Kolonie konzentriert zu haben. Da die Atemeles-Zucht in diesem Neste schon 2 Monate angedauert haben musste, indem die Käfer im April oder Mai von Myrmica zu Formica übergehen, und da ich bei Unter- suchung des Nestes Ende Juli noch 150 Atemeles-Larven aller Alters- stadien fand und später noch 53 erwachsene Käfer, die im Begriffe waren, das Nest zu verlassen, abfing, so ist dıe Zahl der in diesem Jahre in jener truncicola-Kolonie erzogenen Atemeles-Larven wohl auf mindestens 500 zu schätzen. Einen eingehenderen Bericht über diese noch unveröffentlichten Beobachtungen werde ich an anderer Stelle geben. Dagegen sind unsere kleineren Atemeles-Arten, emarginatus und paradoxus, die ıhre Larven bei Formica fusca bezw. bei rufibarbis erziehen lassen, alljährlich in einer großen Zahl von Nestern ihrer Wirtsameise zu treffen. Obwohl auch paradoxus nach einer Be- obachtung von Herrn V. Ferrant bei Remich (Luxemburg) manch- mal zur Paarungszeit in großer Menge in einem einzigen rufibarbis- Neste sich ansammelt (Nr. 168), so verteilen sich doch die Käfer später zur Brutablage ın viele Nester derselben Gegend, in denen man dann ıhre Larven findet, ebenso wie die emarginatus-Larven bei F. fusca. Dafür ıst die Zahl der in einem Neste zur Brut- pflege aufgenommenen Alemeles um so geringer. Hieraus begreift sich auch, weshalb man bei Formica fusca und rufibarbis viel seltener Pseudogynen begegnet als bei rufa und pratensis, wie diese andererseits bei letäteren Ameisen viel seltener sind als bei sanguinea. Die Zucht der Lomechusa-Larven bei Formica sangwinea und, wenngleich in geringerem Grede, auch diejenige der Atemeles-Larven bei verschiedenen anderen Formica hat für die betreffende Formica- Art pathologische Folgen, wie aus der Pseudogynenerziehung klar genug hervorgeht. Die Ameisen züchten hier in der Tat ihre schlimmsten Feinde, die unter dem Deckmantel der Freund- schaft sich bei ihnen eingeschlichen haben. Ja, manchmal warten Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. 101 die Formica ım Frühjahr nicht einmal die spontane Ankunft der Atemeles ab, die um jene Zeit zu ihnen aus den Myrmica-Nestern kommen, sondern sie rauben dieselben mit Gewalt aus den letzteren. Einen klassischen Fall eines durch F. fusca vollführten Atemeles- Raubes beobachtete ich am 7. April 1890 im Exaten (Holland). Als ich an jenem Tage ein Nest von Myrmica scabrinodis mit einem Lubbockneste von F. fusca durch eine Glasröhre verband, und die Formica ın das Myrmica-Nest feindlich eingedrungen waren, raubten sie aus demselben zuerst in größter Eile sämtliche dort vorhandenen 15 Atemeles emarginatus und trugen sie in ihr Nest hinüber, wo sie dieselben sorgfältig pflegten und dann deren Larven auf Kosten der eigenen Brut aufzogen. Ähnliche Beobachtungen über Atemeles-Raub durch Formica aus Myrmica-Nestern habe ich auch später (1903) in Luxemburg gemacht. Die Paussus, die in zahlreichen Arten in den altweltlichen Tropen bei Ameisen — vorzüglich bei Pheidole — wohnen und als echte Gäste von ihren Wirten an den Exsudattrichomen und Exsudat- gruben beleckt, aber niemals aus ihrem Munde gefüttert. werden, ernähren sich nach den bekannten Beobachtungen von Peringuey und Escherich als Raubtiere von den Larven der Ameisen. Das- selbe gilt nach Böving?) auch für die Paussus-Larven, welche „typisch karnivor“ sind. Aber es wäre ein großer Irrtum, aus diesen Beispielen schließen zu wollen, dass alle echten Gäste der Ameisen in ähnlicher Weise wie die Lomechusini und die Paussiden ihre Wirtskolonien schädigten. Die Beziehungen von (laviger testa- ceus und longicornis zu ihren Lasius-Arten sınd weit harmloserer Natur. Obwohl sie als Käfer manchmal an einer weiblichen Ameisen- larve ragen, so sprechen doch alle bisherigen Beobachtungen da- gegen, dass sie ihre Wirtskolonien, die gewöhnlich in blühendem Zustande sind, schädigen. Ihre Larven sind überhaupt noch unbe- kannt. Was für unsere C/aviger gilt, müssen wir, bis zum Beweise des Gegenteils, auch für die zahlreichen Gattungen und Arten der exotischen Clavigeriden annehmen. Hetaerius ferrugineus, der bei vielen einheimischen Ameisen, besonders bei F. fusca, rufibarbis und sangwinea lebt und von seinen Wirten als echter Gast beleckt, manchmal sogar gefüttert wırd, kann ebenfalls nicht als ein „ver- kappter Ameisenfeind“ betrachtet werden, da er fast nur von Ameisenleichen und den als Beute eingetragenen Insekten sich nährt. Kranke oder verwundete Ameisenlarven oder Puppen, die von den Ameisen selber aus ihrer Brutpflege ausgeschieden werden, frisst auch er gerne; aber ich sah ıhn niemals an einer gesunden Ameisenlarve sich vergreifen, obwohl er mit Vorliebe auf oder . 2) Om Paussiderne og Larven til Paussus Kannegieteri Wasm. (Vidensk. Meddel. fra d. Naturh. Foren. 1907, p. 109—136, mit: 1 Tafel). 102 Heider, Spekulatives zur Balanoglossus-Entwickelung mitten unter ihnen zu sitzen pflegt. Für die übrigen zahlreichen Hetaeriini, die, nach der stärkeren Entwickelung ihrer Exsudat- trichome zu urteilen, auf einer höheren Stufe der Symphilie stehen als unser Hetuerius ferrugineus, ıst anzunehmen, dass ihre Ernährungs- weise ebenfalls eine für den Bestand der Wirtskolonie unschäd- liche ıst. Wheeler?), der den nordamerikanischen Hetaerius brun- neipennis näher beobachtet hat, berichtet über seine Fütterung aus dem Munde von F. subsericea,;, außerdem lebt er von toten und verwundeten Ameisen und anderen Insektenresten gleich unserem H. ferrugineus. Wollte man einen Olaviger oder einen Hetaerius deshalb, weil er gelegentlich auch eine kranke Ameisenlarve an- frisst, zu den „Parasiten“ der Ameisen rechnen, so würde eine biologische Einteilung der Myrmekophilen und Termitophilen über- haupt illusorisch gemacht. (Fortsetzung folgt.) Spekulatives zur Balanoglossus-Entwickelung '). Von K. Heider in Innsbruck. Im Verlaufe dieses Sommers konnte ich einige Beobachtungen über die erste Entwickelung der Tornaria von Balanoglossus clawi- gerus anstellen und ich habe hierüber im Zoologischen Anzeiger berichtet?). Diesbezüglich hier nur kurz folgendes: Auf eine totale, annähernd äquale Furchung folgt eine Cölo- blastula mit ziemlich dicker, aus hohen prismatischen Zellen be- stehender Wand und entsprechend verengtem Blastocöl. Die (astrula ist eine typische Invaginationsgastrula, deren Blastoporus sich bald durch zirkuläre Verengerung der Urmundränder verschließt. Diese Stelle entspricht der späteren Afteröffnung der Tornaria. Am gegenüberliegenden Pole (anımaler Pol), welcher durch die Richtungskörperchen gekennzeichnet ist, entwickelt sich als Ekto- dermverdickung die Scheitelplatte (Fig. 1, sp) der Larve. Die vordere, apıkale Partie des Urdarms wird als sogen. Wassergefäß- blase (Anlage des Eicheleöloms) frühzeitig abgeschnürt (Fig. 1, v). Letztere gewinnt bald bei seitlicher Betrachtung dreieckige Gestalt, so dass wir drei Zipfel der Wassergefäßblase unterscheiden (Fig. 1). Von diesen wächst der vordere, apikale Zipfel, den ich als Scheitel- fortsatz der Wassergefäßblase bezeichne, gegen die Scheitelplatte 3) Studies on Myrmecophiles. II. Hetaerius. (Journ. New-York Entom. Soc. XVI, Nr. 3, 1908, p. 135—143.) 1) Der vorliegende Aufsatz ist die Wiedergabe eines Vortrages, den der Ver- fasser in der Abteilung 10 (Zoologie) der Sl. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Salzburg am 22. Sept. 1909 gehalten hat. 2) K. Heider. Zur Entwickelung von Balanoglossus clavigerus Delle Chiaje. Zool. Anz. Bd. XXXIV, Nr. 22/23, 1909. Heider, Spekulatives zur Balanoglossus-Entwickelung. 103 aus, an die er sich ansetzt (Fig. 2). Er wird später zu dem be- kannten, die Scheitelplatte mit der Wassergefäßblase verbindenden muskulären Strange (Fig. 5). Im übrigen liefert er auch Mesen- chymzellen. Die beiden anderen Zipfel (Fig. 1) der Wassergefäß- blase sind ungleich lang. Der längere kennzeichnet die Dorsalseite des Embryos. Er verbindet sich nun mit dem Ektoderm (Fig. 2) und öffnet sich am Rücken nach außen (Fig. 3). Dieser so ge- gebildete „Rückenporus oder Hydroporus* der Larve wird später zum Eichelporus des ausgewachsenen Balanoglossus (vgl. Fig. 6). Fig. 1. Fig. 2. Fig. 1. Embryo von Balanoglossus elavigerus in seitlicher Ansicht. sp Scheitelplatte, w Wassergefäßblase. Fig. 2. Eben ausgeschlüpfte, freischwimmende Larve von Balanoglossus elavigerus. sp Scheitelplatte, ww Wassergefäßblase. Der ventrale Zipfel ist der kürzeste. Er liefert die Muskulatur des Ösophagus und vielleicht auch Mesenchymzellen. Der Darm des Embryos entsendet nun einen Fortsatz in die Gegend, in welcher später die Mundöffnung zum Durchbruch kommt (mel. Eig...1,,2 1,3). Die aus den Eihüllen ausschlüpfende junge Larve (Fig. 2) ist zunächst — wie bereits Spengel?) wusste — allseitig be- wimpert. An der Scheitelplatte befindet sich ein mächtiger Wimper- schopf. 3) J. W. Spengel. Die Enteropneusten in: Fauna und Flora des Golfes von Neapel. 18. Monogr. 1893, p. 382. 104 Heider, Spekulatives zur Balanoglossus-Entwickelung. Nun brechen Mund- und Afteröffnung durch (Fig. 3). Der Mund entsteht, indem der oben erwähnte Fortsatz des Darmes sich mit einer kleinen ektodermalen Mundbucht ın Verbindung setzt, der After einfach durch Wiedereröffnung der Stelle, an welcher der Blastoporus zum Verschlusse kam. Der Darm gliedert sich nun in drei Abteilungen: Ösophagus, Magen und Intestinum, welche sämtlich aus dem entodermalen Mesenteron hervorgehen. Die Umwandlung der jungen Larve in die ausgebildete Tor- naria vollzieht sich, indem, wie erwähnt, der Scheitelfortsatz der Fig. 3. Fig. 4. Fig. 3. Jüngstes Tornaria- Stadium von Balanoglossus clavigerus. Fig. 4. Oberflächenansicht desselben Stadiums, wie Fig. 3. Wassergefäßblase unter Abgabe von Mesenchymzellen in einen muskulösen Strang umgewandelt wird (Fig. 5). Es bildet sich die Ringmuskulatur des Ösophagus, die Augenflecken der Scheitel- platte und die typischen Wimperreifen (Fig. 4), welche später durch sekundäre Buchtenbildungen einen komplizierten Verlauf ge- winnen (Fig. 6). Auffällig sind an der jungen Tornaria zwei Diver- tikel der Wassergefäßblase, die sogen. Hörner derselben, welche den Ösophagus rechts und links umfassen (Fig. 5). Man hat in ihnen die Anlage der sogen. Sporne der Wassergefäßblase zu erblicken. Später treten in der Tornaria neue Organbildungen auf. Es entstehen die rätselhafte Herzblase und am hinteren Ende des Darm- kanals zwei neue Paare von Oölomsäcken, die Anlagen des Kragen- cöloms c? und des Rumpfcöloms c? (Fig. 6). Von diesen wird das Heider, Spekulatives zur Balanoglossus-Entwickelung. 105 Rumpfeölom ec? zuerst angelegt und zwar in der Form paariger Divertikel des Intestinums (Bourne, Spengel)*). Vgl. das Schema Fig. 9B, ce’. Das Kragencölom, welches sich etwas später ent- wickelt, liegt anfangs seitlich dem hinteren Ende des Magens an. Nach Bourne und Spengel wird es vom Rumpfcölom nach vorne abgeschnürt, während man nach den Angaben von Morgan’) für die Tornaria von New-England schließen möchte, dass es aus dem Magen in der Form selbständiger kleiner Proliferationen hervor- wächst. Im übrigen sind die Angaben über die erste Entstehung - der verschiedenen Cölomabteilungen bei den differenten Formen der Enteropneusten ungemein diver- gent. Ich komme hierauf später zum Teil zurück, ohne im übrigen eine er- schöpfende Darstellung des Sachver- haltes geben zu wollen. Das in Fig. 6 B abgebildete, nach Angaben Morgan’s entworfene Schema bezieht sich auf die Meta- morphose der Tornaria, d. h. auf die Umwandlung der Larve in die aus- gebildete Form. Durch das Auftreten von Einschnürungen wurden die drei Körperregionen: Eichel E, Kragen X und Rumpf ZR, voneinander geschieden. Es sind in km die Anlage des dorsalen Kragenmarkes, in dn dessen Fort- setzung, der dorsale Nervenstrang der fie. 5. Tornaria von Balano- Rumpfregion angedeutet. Was an glossus, etwas älter wie Fig. 3 u. 4. dem Schema nicht ersichtlich ist, ist, dass am Ösophagus nun die Kiemenspalten sich auszubilden beginnen. In theoretischer Hinsicht wäre folgendes zu bemerken. Der After (an in Fig. 6) des ausgebildeten Tieres entspricht der Lage nach der Stelle des verschlossenen Blastoporus (vgl. Fig. 1 u. 2). Da wir nun andererseits aus Beobachtungen über die Metamor- phose der Tornaria (so z. B. von Morgan in Journ. Morph., Vol. IX, 1894) wissen, dass die Scheitelplatte der Tornaria, an welcher ım Embryo die Richtungskörperchen zu beobachten sınd, sich ‚später an der vordersten Spitze der Eichel vorfindet (vgl. Fig. 1, 2 u. 6), 4) Bourne, G. C. On a Tornaria found in British seas. Journ. Mar. Biol. Assoe. (2), Vol. 1, 1889. Spengel, J. W. Die Enteropneusten in: Fauna und Flora des Golfes von Neapel. 18. Monogr. 1893, p. 425ff. 5) Morgan, T. H. The anatomy and transformation of Tornaria. J. Hop- kin’s Univ. Cire., Vol. X, Nr. 88, 1891 and Journ. Morph., Vol. V, 1891. 106 Heider, Spekulatives zur Balanoglossus-Entwickelung. so ergibt sich, dass die Körperachse der ausgebildeten Form mit der Gastrulaachse und der primären Eiachse zusammenfällt. Der- artige Formen hat Hatschek als Protawonia bezeichnet und er rechnet hierzu die Stämme der Spongiaria, Unidarıa und Üteno- phora®). Balanoglossus tritt durch dieses Verhalten in einen merk- würdigen Gegensatz zu sämtlichen Bilaterien, welche als Hetera- xonia ım Sinne von Hatschek zu betrachten sind. Die isolierte Stellung der Enteropneusten wird schon durch dieses Verhalten gekennzeichnet. Fig. 6. A Tornaria, B Tornaria iu Metamorphose, Schemata im Anschlusse an Morgan. an After, c! Eicheleölom, ce? Kragencölom, c?® Rumpfeölom, dn Dorsalnerv, E Eichel- region, K Kragenregion, km Kragenmark, m Mund, po Rückenporus, A Rumpf- region, sp Scheitelplatte. Im übrigen treten im Bau der Tornaria und in ihrer Ent- wickelung ziemlich nahe Beziehungen zu den Echinodermen zu- tage. Der Besitz eines dorsal gelegenen Hydroporus (Mündung der Wassergefäßblase) wurde schon seit langem in diesem Sinne gedeutet. Es kommt noch hinzu, dass in beiden Gruppen der Blastoporus ausschließlich Beziehungen zur Afteröffnung aufweist und dass die drei Abschnitte des Darmkanals, welche ich als Oso- phagus, Magen und Intestinum (Vorderdarm, Mitteldarm und End- darm) bezeichne, hier wie dort entodermalen Ursprungs sind. Auch in der Art der Entstehung und der späteren Verwendung der 6) Hatschek, B. Lehrbuch der Zoologie. Jena 1888, p. 40 u. 69. Heider, Spekulatives zur Balanoglossus-Entwickelung. 107 Cölomsäcke sind gewisse allgemeine Ähnliehkeiten nicht zu ver- kennen. Es frägt sich, wie weit wir die Homologien hier führen dürfen. Für die Echinodermen nimmt man ja derzeit auf Grund der Untersuchungen von Bury, MeBrideu. a. das Vorhandensein von drei Paaren hintereinander gelegener Cölomsäcke an. Ich ver- weise diesbezüglich nur auf das von Bather’) m Ray Lan- kester’s Treatise on Zoology entworfene Schema der Echino- dermen-Dipleurula (Fig. 7), welches auch von Delage und Herouard°) in ihrem Trait& de Zoologie Concrete abgebildet ist. Es liegt die Versuchung nahe, diese drei Paare von Cölomräumen den bei Balanoglossus als Eichelcölom, Kragencölom und Rumpf- Fig. 7. Schema der hypothetischen Echinodermen-Dipleurula (nach Bather). an After, c! vorderstes Paar von Cölomsäckchen = Anlage des Axialsinus, c? mittleres Paar von Cölomsäckchen — Anlagen des Hydrocöls (von e! und c? erhalten sich im ausgebildeten Echinoderm nur die Bildungen der linken Körperseite), c* hinteres Paar von Oölomsäckchen — Anlage der Leibeshöhle, m Mund, po Hydroporus, sp Scheitelplatte, st Steinkanal. cölom unterschiedenen Kompartimenten der Leibeshöhle zu ver- gleichen. In diesem Falle würde der Eichelporus dem Hydroporus der Echinodermen gleichzusetzen sein, während wir im Kragen- cölom das Homologon des ambulakralen Gefäßringes der Echino- dermen zu erblicken hätten. Es ıst aber auch eine andere An- nahme denkbar. Man kennt schon seit längerer Zeit die oben erwähnten zwei Divertikel der Wassergefäßblase der Tornaria, welche den Ösophagus halbkreisförmig umfassen (Fig. 5). Diese sogen. Hörner der Weassergefäßblase wurden von Morgan’) für die Tor- naria von den Bahamas beschrieben und ich habe sie an der Tor- naria von Bal. clavigerus als die Anlagen der sogen. Sporne der 7) E. Ray Lankester, A treatise on Zoology Part. III. The Echinoderma by Bather, Gregory and Goodrich. London 1900, p. 4ff. 8) Delage et H&rouard, Trait@ de Zoologie concröte. Tome III. Les Echinodermes. Paris 1903, p. 432 ff. Bezüglich der Berechtigung dieses Schemas vgl. auch Caswell Grave. On the occurence among Echinoderms of Larvae with eilia arranged in transverse rings, with a suggestion as to their significance. Biol. Bull., Vol. V, 1903. 9 Morgan, T. H. The development of Balanoglossus.. Journ. Morph., Vol. IX, 1894. 108 Heider, Spekulatives zur Balanoglossus- Entwickelung. Wassergefäßblase gedeutet. Man könnte geneigt sein, in ihnen ein Homologon des ambulakralen Gefäßringes der Echinodermen zu erblicken. In diesem Falle müsste das Kragencölom als eine dem Balanoglossus eigentümliche Bildung aus dem Vergleiche mit den Echinodermen ausgeschaltet werden. Die erstangeführte An- nahme wird wohl manchem wahrscheinlicher dünken. Ich sehe derzeit keine Möglichkeit, zwischen diesen beiden Varianten exakt zu entscheiden. Man wird vielleicht gegen eine Homologisierung der Cölom- abteilungen von Balanoglossus und den Echinodermen einwenden, dass die Art der Entstehung dieser Bildungen ın beiden Gruppen eine verschiedene ist. Über die Art der Entstehung der Cölomsäcke bei den einzelnen Enteropneusten- Formen sind die mannigfaltigsten An- gaben gemacht, die sich noch nicht gut vereinigen lassen. Bekannt ist das Bateson’sche Schema, wonach Kragen- und Rumpfeölom als seitliche paarige Urdarmdivertikel angelegt werden!P. Für die 7ornaria kann wohl folgendes als festgestellt ange- sehen werden: das Eicheleölom (Wasser- gefäßblase) entsteht frühzeitig als Fig. 8. Schema der Entstehung abgeschnürter Teil des vordersten, der Cölomräume bei Dolichoglossus apikalen Endes des Urdarms (Fig. 1). i pusillus (nach Davis). Später legt sich das Rumpfcölom c! Eicheleölom, ce?” Kragencölom, - . . 1 c® Rumpfeölom, ud Urdarm. in der Form paariger Divertikel des Enddarms (Intestinums) an (Bourne, Spengel). Das Kragencölom entwickelt sich zuletzt. Ob es, wie Bourne und Spengel meinen, vom Rumpfeölom nach vorne ab- geschnürt wird, oder ob es sich, wie man nach Angaben von Morgan für die Tornaria von New England (1591) schließen möchte, in der Form selbständiger Zellproliferationen des Magens anlegt, will ich dahingestellt sein lassen. Jedenfalls wird man derzeit daran festhalten können, dass bei jenen Enteropneusten, die sich durch eine Tornaria entwickeln, das Eicheleölom und das Rumpfeölom zeitlich und örtlich verschiedenen Ursprungs sind. Das erstere ent- wickelt sich frühzeitig an dem Scheitel des Urdarms, das letztere später durch paarige Ausstülpung am Enddarm, also hinten in der Nähe der Blastoporusstelle. Bei den Echinodermen entwickeln sich im allgemeinen die 10) Vgl. Korschelt u. Heider. Lehrbuch der vgl. Entwickelungsgeschichte der wirbellosen Tiere Spec. Th. 1. Heft, p. 252. Heider, Spekulatives zur Balanoglossus-Entwickelung. 109 verschiedenen Abteilungen der Leibeshöhle aus einer einheitlichen Anlage, welche sich als gemeinsame Hydro-Enterocölblase von dem Scheitel des Urdarms abschnürt, also ganz ähnlich, wie die Eichel- cölomanlage (Wassergefäßblase) bei Balanoglossus. Von dieser ge- meinsamen Anlage werden die Cölomsäcke (Lateralscheiben) und die ursprünglich paarigen Hydrocölsäckchen seitlich nach hinten abgeschnürt. Es muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass eine ganz übereinstimmende Art der Abschnürung des Kragen- und Rumpfeöloms von B. M. Davis!!) für eine Enteropneusten- form, nämlich für Dolichoglossus pusillus angegeben worden ist Fig. 9. Schema der Abschnürung der Cölomsäcke bei Balanoglossus. A in der An- sicht von der linken Seite, B Dorsalansichtt Es sind in dem Schema Bildungen vereinigt, welche in Wirklichkeit zeitlich weit auseinander liegen. Vgl Fig. 9A mit Fig. 6A. Die Entstehung des Kragencöloms ce? durch Abschnürung von der Magen- region, wie sie das Schema angibt, ist in Wirklichkeit zweifelhaft. bp Blastoporus, ce! Eicheleölom, c* Kragencölom, ce” Rumpfeölom, r Richtungs- körperchen, “d Urdarm. (Fig. 8). Ich halte derartige Differenzen in der Art der Ausbildung der einzelnen Cölomkompartimente im Kreise der Enteropneusten für möglich. Auch im Kreise der Echinodermen ist das oben angedeutete Schema der Cölombildung keineswegs allgemein gültig. Bei Comatula wird, wie man aus der Arbeit von Seeliger!?) er- sehen kann, die gemeinsame Anlage von Hydrocöl (c?) und Parietal- kanal (c!) vom Scheitel des Urdarms abgegeben, während sich die Cölomsäcke (ec?) hinten in der Nähe der Blastoporusstelle auf eine eigentümliche Weise abschnüren. Comatula würde sonach in bezug auf ihre Cölementwickelung mit den Tornarien übereinstimmen, während die übrigen Echinodermen sich dem Schema von Dolicho- 11) Davis, B. M. The early life-history of Dolichoglossus pusillus Ritt. Univ. of Calif. Publications in Zoology, Vol. 4, 1908. 12) Seeliger, O. Studien zur Entwickelungsgeschichte der Crinoiden. Zool, Jahrb., Anat. Abt., 6. Bd., 1892. 110 Heider, Spekulatives zur Balanoglossus-Entwickelung. glossus pusillus anschließen würden. Kurz, wir finden in beiden Gruppen anscheinend parallel laufende Differenzen in der Art der Cölombildung und ahnen so die Möglichkeit eines ihnen allen zu- kommenden gemeinsamen Schemas. Nach meinen Vorstellungen würde sich dieses Schema dem oben angeführten Bateson’schen nähern (Fig. 9.) Es sei noch auf eine Übereinstimmung hingewiesen, welche sich zwischen der Entwickelung der Comatıla und der Tornaria findet. Seeliger beschreibt (auf p. 257) einen hohlen Fortsatz des Parietalkanals (erstes Cölomsäckchen) von Comatula, welcher sich nach vorne bis unter die Anheftungsgrube (neben der Scheitel- platte) erstreckt und in welchem ich das Homologon des von mir sogen. Scheitelfortsatzes der Wassergefäßblase der Tornaria er- blicke. Wir würden auf diesem Wege vielleicht dazu geführt, die Eichel von Balanoglossus mit dem Vorderende der Comatla-Larve, mit dem larvalen Anheftungsorgan der Asterino-Larve und mit den Brachiolaria-Armen zu vergleichen. Eine Homologisierung des sogen. Eichelglomerulus von Balanoglossus mit dem Axialorgan der Echino- dermen läge dann im Bereiche der Möglichkeit. Derartige Aus- blicke sollen hier nur mit einigem Vorbehalt vorsichtig angedeutet werden. W. E. Ritter'?), welcher in einem Sammelreferat'die Ergeb- nisse von Davis an Dolichoglossus bespricht, lenkt die Aufmerk- samkeit auf die Tatsache, dass sich zwischen der Entwickelungsweise dieser Form und von Amphioxzus wenige Ähnlichkeiten ergeben. Diese Tatsache, die unbestreitbar ist, wird vielleicht manchem eine gewisse Enttäuschung bereiten. Dass nach Davis im Furchungs- ablauf von Dolichoglossus Anklänge an die von Cerfontaine neuer- dings so eingehend dargestellte Amphiorus-Furchung gegeben sein sollen, ist eine etwas magere Kompensation. Nach den Mitteilungen und Abbildungen von Davis möchten wir diese Übereinstimmung nicht allzuhoch veranschlagen. Ich glaube überhaupt, dass man von falschen Voraussetzungen ausgegangen Ist, wenn man von der Entwickelungsweise von Balano- glossus und Amphioxus besonders auffallende Übereinstimmungen erwartete. Die nähere Durchführung dieses Vergleiches hat für mich etwas ungemein Anziehendes. Ich gehöre zu jenen Zoologen, welche in Balanoglossus etwas wie eine entfernte Vorstufe von Amphioxus erblicken. Ich glaube (mit Ritter, gegen Willey), dass man den sogen. Eicheldarm von Balanoglossus mit dem Vorder- ende der Chorda von Amphioxus homologisieren darf, das dorsal 13) W. E. Ritter, Recent Literature on the Enteropneusta. Am. Nat., Vol. 42, 1908. Heider, Spekulatives zur Balanoglossus-Entwickelung. 4441 gelegene Kragenmark der ersteren Form dem Vorderende des Neural- rohres der Chordaten. Auch im Bau des Kiemenkorbes beider Gruppen scheinen mir übereinstimmende Züge gegeben zu sein. Zwar hat Spengel'*) auf gewisse sekundäre Differenzen in dieser Richtung hingewiesen; doch ist nach meiner Ansicht eine gewisse übereinstimmende Grundlage nicht zu verkennen. Auch möchte jenen Vorstellungen, auf Grund deren MacBride?!°) eine Zurück- führung der Cölomverhältnisse von Amphioxus auf die von Dalano- glossus versucht hat, eine gewisse Berechtigung zuzuerkennen sein. Wenn trotzdem in der Entwickelungsweise beider Formen nur verhältnismäßig geringe nennen zu erkennen sind, so erkläre ich mir das auf folgende We Die. Entwickelung von Balanoglossus führt uns auf entfernte Vorstufen, auf Urzeiten und Urformen zurück, von denen sich in der Amphioxus-Entwickelung nur spärliche Reste erhalten haben. Vor allem fehlt ın der Am- phioxus-Entwickelung ein der Tornaria vergleichbares Stadium. Der Balanoglossus-Entwickelung gegenüber erscheint die Am- phioxus-Entwickelung ın ıhren ersten Stadien abgekürzt und zu- sammengedrängt. Daher werden hier frühzeitig Organanlagen pro- duziert, welche bei Balanoglossus verhältnismäßig geringere Bedeutung besitzen und dementsprechend in der Ontogenie erst recht spät ın Erscheinung treten (Chordarudıment und Neuralrohr). In den späteren Gastrulastadien von Amphioxus, wenn der Urmund sich verkleinert hat und die abgeflachte Dorsalseite kenntlich wird, jedenfalls bereits ein recht ansehnlicher Teil der Rumpfregion an- gelegt, während ın der viel kleineren Gastrula von Dalanoglossus von der späteren Rumpfregion noch kaum etwas vorhanden ist. ‘Wir dürfen nicht vergessen, dass eigentlich dıe ganze Tornaria nur die Anlage der späteren Eichel repräsentiert (vgl. Fig. 6), dass die Kragen- nd Rumpfregion in der Tornaria nur einem kleinen hinteren Abschnitte entspricht und erst durch spätere Wachstums- prozesse hinzugebildet werden. Bei Amphioxus werden sofort nach erfolgter Verengerung des Blastoporus die Medullarplatte, die Chorda- platte und die Ursegmente gebildet. Bei Dalanoglossus entsteht von den Cölomsäckchen nur das vorderste (die Wassergefäßblase) annähernd ebenso frühzeitig, das Kragen- und Rumpfeölom werden viel später erst in der Torwaria gebildet. Das Chordarudiment und das Kragenmark entstehen noch viel später, erst während oder nach vollzogener Metamorphose der Tornaria. Im einzelnen ist folgendes zu beachten. Balanoglossus ist, wie wir eingangs hervorgehoben haben, ein Protaxonier. Bei Amphioxus 14) J. W.Spengel. Beitrag zur Kenntnis der Kiemen des Amphioxus. Zool. Jahrb. An. Abt., Vol. 4, 1890. 15) E. W. MeBride. The carly development of Amphioxus. Quart. Journ. Mier. Sc., Vol. 40, 1898. 112 Heider, Spekulatives zur Balanoglossus-Entwickelung. ist die primäre Eiachse gegen die spätere Körperlängsachse schräg gelagert, derart, dass der animale Pol vorne ventralwärts, der vegetative hinten dorsalwärts liegt. Dementsprechend ist der Blasto- porus bei Amphioxus eine dorsale Bildung, während er bei Balano- glossus am hinteren Körperende liegt. Bei Amphioxus treten früh- zeitig die Medullarplatte und die Chordaanlage auf und beide Bildungen haben entschiedene Beziehungen zum Blastoporus, sie gehören dem Urmundrande an, wenn wir uns, wie dies Hatschek und Cerfontaine taten, auf den Boden der sogen. Konkreszenz- theorie stellen. Bei Balanoylossus entstehen das Kragenmark und das Chordarudiment erst spät und vom Urmundrande weit entfernt (vgl. das Schema Fig. 10). Über die Entwickelung des Kragen- A — Fig. 10. Schema der Verteilung der Anlagen von Balanoglossus und ihrer Lage- beziehungen zum Blastoporus. Auch in diesem Schema sind, wie in Fig. 9, Bil- dungen vereinigt, die zeitlich auseinander liegen. Man vgl. Fig. 10 A mit Fig. 6B. Es sind hier die einzelnen Cölomsäcke zu einer gemeinsamen Mesodermbildungszone ms zusammengezogen gedacht. A Ansicht von der linken Seite, B Ansicht von der Dorsalseite. bp Blastoporus, ch Eicheldarm = Chordarudiment, dn Dorsalnerv, km Kragenmark, ms Mesoderm, sp Scheitelplatte, «« Urdarm. markes von Balanoglossus wissen wir einiges durch die Unter- suchungen von Morgan. Ebenso über die Entstehung des Chorda- rudimentes (Eicheldarms). Wenn die Tornaria sich metamorphosiert und die ersten Kiemenspalten sich anlegen, ist von der Anlage des Eicheldarmes noch nichts zu erkennen. Doch kann es keinem Zweifel unterliegen, dass er als Divertikel des Ösophagus nach vorne hervorwächst. Die Tatsache, dass Chordarudiment und Kragen- mark von Balanoglossus keine Beziehungen zum Blastoporus auf- weisen, während sie bei Amphioxus an diesen angeschlossen sind, ist recht auffallend. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass beide Bildungen der Enteropneusten nur dem vordersten Abschnitt der entsprechenden Anlagen von Amphioxwus gleichzusetzen sind. Das Kragenmark von Balanoglossus (km in Fig. 6 B und 10 A) setzt . Heider, Spekulatives zur Balanoglossus-Entwickelung. 113 sich nach hinten in den dorsalen, , epithelialen Nervenstrang (dr) fort, welcher bis an den After, also bis an die Region des Blasto- porus heranreicht. Auch das Öhordarudiment setzt sich bei manchen Enteropneusten etwas weiter nach hinten fort. W.E. Ritter!‘) hat nachgewiesen, dass bei einem von ihm untersuchten Entero- pneusten, Harrimania maculosa, der Eicheldarm in Zusammenhang steht mit einer durch die Kragenregion sich erstreckenden dorsalen Darmrinne, deren Epithel Chordacharakter besitzt und an welche sich Muskeln der Kragenregion inserieren (ähnliche Beobachtungen von Spengel und Morgan). Hier hat sonach die Chorda eine Tendenz, sich ım Darmkanal dorsalwärts nach hinten auszudehnen. Es ıst vielleicht nicht zu gewagt, wenn wir annehmen, dass bei den Enteropneusten auch im Darmkanal der Rumpfregion bis nach hinten entsprechend der dorsalen Mittellinie chordabildende Potenzen vorhanden sind (vgl. die gestrichelte Partie der Darm- wand im Schema Fig. 10) oder sich doch vorbereiten und unter diesen — wie ich zugebe, recht spekulativen — Voraussetzungen wäre auch bei Dalanoglossus sowohl der dorsale Nervenstrang, als auch die von uns als verlängert gedachte Chordaanlage an den After, also an die Blastoporusregion angeschlossen. Da das spätere Längenwachstum von Balanoglossıs sich doch wahrscheinlich unter starker Beteiligung der zirkumanalen Region vollzieht, so könnten wir uns vorstellen, dass hier wie bei Amphioxrus die Hinzubildung neuer Partien des dorsalen Nervenstrangs und jener Partien der Dorsalwand des Darmkanals, welche wir der Chordaanlage gleich- stellen, von der Analregion, also von der Gegend des Blastoporus aus stattfindet. Freilich nur mit einer gewissen Einschränkung. Während bei Amphioxus ein entschieden terminales Körperwachs- tum vorliegt, indem hier die neugebildeten Partien der Rumpfregion vom neurenterischen Kanal, d. h. vom hinten gelegenen Blasto- porusrest auswachsen, hat Morgan nachgewiesen, dass ın den Jüngsten auf die Metamorphose der Tornaria folgenden Stadien von Balanoglossus das Anwachsen der Rumpfregion durch interstitielles Wachstum stattfindet. Es ist nicht bekannt, ob und inwieweit in den späteren Stadien der Entwickelung von Balanoglossus terminales Wachstum eine Rolle spielt. Immerhin möchten vielleicht die vorstehenden Überlegungen dazu dienen, die Differenzen, welche anscheinend zwischen der Ent- wickelung von Balanoglossus und von Amphioxus sich finden, einiger- maßen zu überbrücken. Wenn wir an einem schematischen Quer- schnitte durch die hintere Körperregion einer Tornaria (Fig. 11 B), an welcher eben die Rumpfcölome (c?) aus dem Enddarm hervor- 16) W.E. Ritter. Harrimania maculosa, a new genus and species of Entero- pneusta from Alaska. Proc. Washington Ac. Se., Vol. II, 1900. XXX. 8 114 Heider, Spekulatives zur Balanoglossus-Entwickelung. sprossen, uns die Stelle notieren, an welcher im Ektoderm später der dorsale Längsnervenstrang zur Differenzierung kommt (dn) und wenn wir hier im Sinne der obigen Spekulationen den dorsal ge- legenen Teil der Darmwand (d) der Chordaanlage gleichsetzen, so ergibt sich eine ziemliche Übereinstimmung mit der Anlagen- verteilung im Amphioxus-Embryo, wie aus Fig. 11 A und B ersicht- lich ıst. Mit einem Worte: die Differenzen, welche in der Entwickelung von balanoglossus und Amphioxus vorliegen, sind nach meiner An- sicht keine prinzipiellen, sondern mehr gradueller Natur. Bei Balanoglossus tritt die Anlage von Chorda und Kragenmark onto- genetisch verhältnismäßig spät auf (die Tornaria hat ja ıhr eigenes Fig. 11. A Schematischer Querschnitt durch eiren Amphio.rus-Embryo mit der An- lage des ersten Ursegmentpaares (nach Hatschek). mp Medullarplatte, punktiert; e Cölomsäcke, geringelt; c/, Ohordaanlage, gestrichelt. B Schematischer Querschnitt durch das Hinterende einer Tornaria im Zeitpunkte der Entstehung des Rumpfcöloms c’. Die Stelle, an welcher sich später der Dorsal- nerv entwickelt, ist durch Punktierung gekennzeichnet (dr). Die dorsale Wand- partie des Enddarms (a), welche der Lage nach der Uhordaanlage von Amphioxus entspricht, ist gestrichelt. larvales Nervensystem). Die Beziehungen beider Bildungen zum Blastoporus sind mehr imdirekte. Bei Amphioxus ist die Anlage von Medullarrohr und Chorda — dieser Fundamentalorgane des Chordoniertypus — in die frühesten Stadien der Ontogenese verlegt und diese Anlagen erscheinen an den nun dorsalwärts ver- lagerten Blastoporusrand angeschlossen. Man könnte vermuten, dass zwischen diesen beiden Erscheinungen (frühzeitiges Auftreten der genannten Primäranlagen und dorsale Verlagerung des Blasto- porus) ein inniger, vielleicht kausaler Zusammenhang besteht. Der Blastoporusrand, als jene Region, in welcher sämtliche Keimblätter zusammenstoßen, enthält vielleicht das indifferente, bildungsfähigste Keimesmaterial. Er rückt ın die Region intensivster Organbildung des Embryos. Das ist bei den Chordaten die Dorsalseite des Heider, Spekulatives zur Balanoglossus-Entwickelung. 115 Keimes. Wir hätten so ein leises Verständnis dafür angebahnt, auf welche Weise aus Protaxoniern Heteraxonier Hernoreögangen sind. Doch führen uns diese Überlegungen vielleicht le in spekula- tive Gebiete. Die Beziehungen der Tornaria zur Trochophora, der Entero- pneusten zu jenen Formen, die sich durch eine Trochophora ent- wickeln, sind meiner Ansicht nach recht entfernte. Allerdings hat die Tornaria eine Scheitelplatte, welche an die der Trochophora erinnert. Auch besitzt ein Teil ihrer Wimperreifen eine quer- gestellte präorale und postorale Lage und der hintere Wimperreifen der Tornaria ließe sich dem Paratroch der Trochophora vergleichen. Ferner ist die allgemeine Konfiguration des hufeisenförmig ge- krümmten Vermerk in beiden Lar ventypen eine ähnliche. Damit sind die Übereinstimmungen zwischen diesen Formen so ziemlich erledigt. Ihnen stehen nee Differenzen gegenüber. Der Tor- naria fehlt das für die Trochophora charakteristische Exkretions- organ; bei der Tornaria ist der Ösophagus entodermalen Ursprungs, bei der Trochophora finden wir ein ektodermales Stomodäum. Die Art der Bildung der Cölomsäcke ıst in beiden Formen eine ver- schiedene. Bei der Tornaria geht aus dem Blastoporus nur die Afteröffnung hervor und die Mundbucht hat keine Beziehungen zum Urmund. Bei der Trochophkora hat sowohl die Mund- als die Afteröffnung Beziehungen zum Blastoporus, da die Stomatoblasten und die „Analzelle“ 2d?? dem Urmundrande angehören. Hier schließt sich bekanntlich der Blastoporus in einer von hinten nach vorne sich verlängernden ventral verlaufenden Urmundnaht. Bekanntlich hat Grobben!”) — wie schon früher G oette!?) — auf diese letztere Differenz eine Einteilung der Bilaterien gegründet, indem er als Protostomia alle jene Formen zusammenfasst, bei denen das Stomo- däum Beziehungen zum Urmund aufweist, wie dies bei der Trocho- phora der Fall ist, während als Deuterostomia jene Bilaterien be- zeichnet werden, bei denen der Urmund nur zum After Beziehungen hat und der Mund vom Blastoporus entfernt angelegt wird. Zu letzteren gehören die Chaetognathen, die Enteropneusten, die Echinodermen und die Chordaten. Ich halte diese Auf- stellung für durchaus berechtigt, und schon aus diesem Grunde Sdienıen mir die Beziehungen der Enteropneusten zu den Trochophora- Tieren recht ne Überhaupt muss man aus- sprechen, dass durch die neuere Üell-lıneage-Forschung der Trocho- phora-Typus als ein so wohl charakterisierter und scharf abge- 17) Grobben, ©. Die systematische Einteilung des Tierreiches. Verh. Zool botan. Gesellsch. Wien. 1908 und Claus-Grobben, Lehrbuch der Zoologie. 2. Aufl., 1909. 15) Goette, A. Lehrbuch der Zoologie 1902, 8. 123 gr 116 Küster, Über organoide Gallen. schlossener erkannt wurde, dass man ihm nur mit Vorsicht andere Formen wird anreihen dürfen, bei denen von diesem typischen Furchungsbilde nichts zu erkennen ist. Zum Schluss noch ein paar Worte über anscheinende Oteno- phoren-Ähnlichkeiten in der Entwickelung der Tornaria. Es be- steht ja seit längerer Zeit bei vielen Zoologen eine gewisse Neigung, die hypothetischen Stammformen der Bilaterien zu Üteno- phorenähnlichen Wesen in Beziehung zu setzen. Dieser Neigung wurde durch das auffallende Hervortreten vierstrahliger Radıiär- symmetrie an den Furchungsbildern der Trochophora-Tiere neue Nahrung zugeführt. Was die Tornaria anbelangt, so könnte man darauf hinweisen, dass sowohl die präorale als auch die postorale Wimperschnur mit ihren longitudinal verlaufenden Abschnitten nach vorne bis an die Scheitelplatte heranreichen!?). Man könnte sagen, dass von der Scheitelplatte in radıärer Richtung vier Wimper- streifen ausgehen, von denen die beiden ventralen sich vor dem Munde, dıe beiden dorsalen hinter dem Munde vereinigen. Ferner sei daran erinnert, dass jene muskulöse Verbindung, welche sich zwischen der Scheitelplatte und der Wassergefäßblase der Tornaria ausdehnt und als Retraktor der Scheitelplatte fungiert, im Embryo als ein hohler Fortsatz der Wassergefäßblase angelegt wird. Dieser Fortsatz, welchen ich als Scheitelfortsatz der Wassergefäßblase be- zeichnet habe und welcher sich auch, wie erwähnt, ın der Comatula- Larve vorfindet, erinnert durch seine Beziehungen zur Scheitelplatte einigermaßen an das Trichtergefäß der Ütenophoren. Über organoide Gallen. Von Ernst Küster in Kiel. In der Lehre von den Geschwülsten des menschlichen Körpers unterscheidet man zwischen organoıiden und histioıden Bildungen. Eine ähnliche Unterscheidung wird, wie ich glaube, auch den Gallen der Pflanzen gegenüber zweckmäßig sein, die — ungeachtet aller Unterschiede!) — in mehr als einer Beziehung mit den Ge- schwülsten tierischer Organismen verglichen werden dürfen. Ich will versuchen, die Kennzeichen der „organoiden* Gallen im folgenden auseinanderzusetzen; vielleicht bewährt sich die vor- geschlagene Einteilung als Grundlage für ein „natürliches“ System der Gallen. — Bei der zusammenfassenden Besprechung der Gallen nach ana- tomischen Gesichtspunkten, die ich vor einigen Jahren gegeben 19) Vgl. Morgan. Journ. Morph., Vol. V, Pl. XXIV, Fig. 2, 4 u. 7. 1) Vgl. Küster, E., Vergleichende Betrachtungen über die abnormalen Ge- webe der Tiere und Pflanzen (Münch. mediz. Wochenschr. 1904, Nr. 46). Küster, Über organoide Gallen. AM habe), fiel mir naturgemäß nur die Aufgabe zu, diejenigen Gallen ausführlich zu behandeln, die sich in erster Linie durch anatomische Kennzeichen von den normalen Anteilen des gallentragenden Orga- nismus unterscheiden und als Gebilde eigener Art legitimieren. Bei einer überaus großen Anzahl von Gallen handelt es sich ın der Tat vorzugsweise um Produktion abnormaler Gewebsformen: die von der Untersuchung der entsprechenden normalen Organe her be- kannten Gewebsschichten erscheinen hinsichtlich der Qualität ihrer Zellen verändert, oder die Mächtigkeit des Gewebes erweist sich mehr oder weniger gefördert. Alle Erineumbildungen, alle Beutel- gallen, alle Mark- und Umwallungsgallen, die von Erregern ver- schiedenster Art hervorgerufenen Stengelknoten krautiger und holziger Gewächse, die von Uredineen oder anderen Pilzen oder von Insekten veranlassten Blattschwellungen u. v. a. m. liefern Beispiele für Gallen, bei welchen es sich nicht um Produktion ab- normaler Organe, sondern um die Bildung mehr oder minder gut gekennzeichneter abnormer Gewebe handelt. Eben aus diesem Grunde möchte ich alle Gallen dieser Art als histioide Gallen be- zeichnen. Ihnen steht eine andere, vielleicht nicht kleinere Schar von Gallen gegenüber, bei welchen die Produktion abnormaler Or- gane vor allem die Aufmerksamkeit des Forschers auf sich lenkt, — gleichviel ob Organe, die wir an entsprechenden normalen Pflanzen zu sehen gewöhnt sind, in abnormalen Formen zur Ent- wickelung kommen, oder ob Organe, die den normalen Pflanzen- teilen fehlen, unter dem Einfluss der gallenbildenden Parasiten entstanden sind. Die Gallen dieser zweiten Art möchte ich als organoıde zusammenfassen. — Die organoiden Gallen, die sich als Gruppe zusammengehöriger Erscheinungen vielfach mit den von Kerner’) als „Klunkern“ be- zeichneten Bildungen decken, zeigen, wie bereits angedeutet wurde, unter sich mancherlei wichtige, prinzipielle Unterschiede. a) Zu einer einheitlichen Gruppe ließen sich zunächst diejenigen Gallen zusammenfassen, bei welchen Organe, die wir am normalen Vergleichsmaterial wahrnehmen, in veränderter Gestalt erscheinen: Copium Teuerii verwandelt die Korolle von Teuerium montanum ın große weitbauchige Venen, die nur an ihrer Spitze und mit fünf kleinen, ungleichförmigen Zipfelehen noch die Zygomorphie der normalen Krone andeuten. Ähnliche Veränderungen rufen andere Parasiten an anderen Labiaten sowie an Papilionaceen hervor. Livia juncorum verändert sehr charakteristisch die Blätter von Juncus lamprocarpus und anderen Juncus-Arten: Die Scheidenteile 2) Pathologische Pflanzenanatomie. G. Fischer, Jena 1903. 3) Kerner, Pflanzenleben, Bd. II, p. 538. 118 Küster, Über organoide Gallen. der Blätter werden außerordentlich groß, die Spreitenteile bleiben klein oder verkümmern vollständig*). Aus den hinfälligen Neben- blättern werden beı Populus tremula unter dem Einfluss von Krio- phyes dispar stattliche Laubblätter, so dass immer drei Laubblätter annähernd gleicher Größe an den infizierten Trieben sich neben- einander auf gleicher Höhe zeigen’). Zahlreiche Pilze rufen organoide Gallen hervor, indem sıe z. B. aus Staubblättern oder Fruchtblättern Blumenblätter machen‘), und dieselben Leistungen kennzeichnen die Blütengallen vieler Eriophyiden. b) Eine zweite Gruppe von Gallen wird durch Neubildung von Organen gekennzeichnet: unter dem Einfluss von Pilzen, Milben oder Insekten entstehen Wurzeln, Sprosse, Blätter, Geschlechts- organe an Stellen, wo sie unter normalen Verhältnissen nicht auf- treten. Allbekannt sind die Gallen der Cecidomyia poae: an den Knoten des Halmes von Poa silwestris entstehen nach Infektion durch die genannte Fliege zahlreiche feine Würzelchen’). Adventiv- sprosse entstehen z. B. in den weiblichen Blüten der Weiden, wenn ihre Infloreszenzen sich zur Bildung sogen. „Wirrzöpfe“ anschicken?). Viele @allmilben und Parasiten anderer Art rufen „Durchwachsungen“ von Blüten hervor, an die hier ebenfalls zu erinnern ıst. Auf vegetativren Organen entstehen ebenfalls oft Adventivsprosse: Giesenhagen hat „hexenbesen*-ähnliche Sprosse beschrieben, die auf den Blättern von Pteris quadriaurita nach Besiedelung durch Taphrina Laurencia entstehen’). Auch die „Bedeguare* unserer einheimischen Rosen dürfen hier genannt werden, falls man mit Beyerinck!") in ihren langen, gefiederten, drüsentragenden Zotten Blätter sehen will. Kleine gestauchte Sprosse lässt Kriophyes fraxini auf den Blättern von Fraxinus Ornus entstehen !!). Atypisches Auftreten von Blättern beobachtete Peyritsch!?) bei Arabis, deren 4) Buchenau (Abhandl. d. naturwiss. Ver. zu Bremen, Bd. II, 1870, p. 390). 5) Küster, E., Zur Morphologie der von Eriophyes dispar erzeugten Galle (Marcellia Vol. III. 1904, p. 60). 6) Vgl. Molliard, M., Cecidies florales (Ann. d. Sc. nat., Bot., ser. VIII, u Ir 7) Vgl. Beyerinck, Die Gallen von Cecidomyia Poae an Poa nemoralis; Entstehung normaler Wurzeln infolge der Wirkung eines Gallentieres (Bot. Zeitg., Bd. XEIAT,N1885,,p: 321). 8) Vgl. z. B. Küster, Notiz über die Wirrzöpfe der Weiden (Naturwiss. Zeitschr. f. Land- u. Forstwirtsch., Jahrg. III, 1905, p. 124). 9) Giesenhagen, K., Über Hexenbesen an tropischen Farnen (Flora 1892, Bd. LXXVI, p. 130). 10) Beyerinck, Beobachtungen über die ersten Entwickelungsphasen einiger Cynipidengallen. Amsterdam 1882. ll) Küster, E, Über zwei organoide Gallen: Die Wiederholung blattrandiger Strukturen auf Blattspreiten (Marcellia Vol. V, 1906, p. 44). 12) Peyritsch, Zur Ätiologie der Chloranthien einiger Arabis-Arten (Jahrb. f. wiss. Bot., Bd. XIII, 1882). Küster, Über organoide Gallen. 1419 Infloreszenzen nach Infektion durch Aphiden abnormerweise mit Stützblättern ausgestattet erscheinen. Vermehrung der Blattkreise in Blüten und deren Füllung bedingen Eriophyiden und andere Parasiten. „Enation“ von kleinen Blättern auf den normalen großen Laubblättern veranlasst z. B. der bereits erwähnte Krvo- phyes fraxini. Schließlich sei noch auf die oft beschriebene Bil- dung von Staubblättern ın weiblichen, von Ustilago antherarum infizierten Blüten der weißen Lichtnelke (Zychnis vespertina) hin- gewiesen '?). c) Als dritte Gruppe von Erscheinungen möchte ich die Blatt- stauungen und die Bildung von Hexenbesen zusammenstellen. Blattstauungen sınd von den Gallen der Rhabdophaga rosaria auf Weiden her bekannt; ähnliche Schöpfe erzeugen Perrisia capitigena an Euphorbien u. m. a. Auch die seltsame Galle der Lonchaea lasiophthalma an Cynodon dactylon wäre hier ein- zureihen. Was die Hexenbesen betrifft, so dürfte es sich vielleicht empfehlen, diesen Terminus für die aus normalen Knospen hervor- gehenden, durch abnorm dichte Verzweigung gekennzeichneten Ge- bilde zu reservieren und vergleichbare Gebilde, die aus Adventiv- knospen sich herleiten '*), von jenen getrennt zu halten. Hexenbesen entstehen bekanntlich unter der Einwirkung von Uredineen, Exoas- caceen oder Milben’); ihren charakteristischen Habiıtus bekommen sie dadurch, dass mehr oder minder zahlreiche Knospen, die an entsprechenden normalen Sprossstücken sich nicht entwickelt hätten, an ihnen zur Entwickelung kommen. — Die weitaus meisten Gestaltungsprozesse, durch welche orga- noide Gallen zustande kommen, werden sich- in einer dieser Gruppen unterbringen lassen. — Dass die Einteilung der Gallen in organoide und histioide eine scharfe Gruppierung und Trennung ermögliche, darf nicht erwartet werden, — schon deswegen nicht, weil auch in den Gebilden, welche die organoiden Gallen aufbauen, abnormale Gewebe angetroffen werden. Auf die anatomische Struktur der organoiden Gallen will ich hier nicht näher eingehen; sie gleichen unter dem Mikroskop entweder den entsprechenden normalen Teilen in allen wesentlichen Punkten, oder unterscheiden sich von ihnen durch besonders ein- fachen Gewebebau, durch unvollkommene Gewebsdifferenzierung 13) Strasburger, E., Versuche mit diözischen Pflanzen in Rücksicht auf Geschlechtsverteilung (Biolog. Centralbl., Bd. XX, 1900, p. 657). 14) Vgl. Giesenhagen, a.a. O. 15) Vgl. Solereder, H., Über Hexenbesen auf Quercus rubra L. nebst einer Zusammenstellung der auf Holzpflanzen beobachteten Hexenbesen (Naturw. Zeitschr. £ Land- u. Forstwirtsch. 1905, p. 17). 120 Küster, Über organoide Gallen. und andere Eigentümlichkeiten, welche sie als Hypoplasien nach der von mir empfohlenen Nomenklatur!‘) kennzeichnen. Ich habe früher (1903, a. a. O. p. 191ff.) vorgeschlagen, die histioiden Gallen einzuteilen in kataplasmatische und prosoplas- matische. Als kataplasmatische wollte ich diejenigen bezeichnen, welche in ihrer histologischen Struktur außerordentlich einfach sind, wenig oder gar keine Gewebedifferenzierung erkennen lassen und insofern ähnliche histologische Kennzeichen an sich haben wie die Hypoplasien oder Hemmungsbildungen; es fehlen ihnen ferner bestimmte Formen- und Größenverhältnisse, die etwa die von einer Pilz- oder Insektenspezies erzeugten Gallenexemplare cha- rakterisieren könnten. Die prosoplasmatischen Gallen sind in ihrer Anatomie von den Hypoplasien durchaus verschieden; sie zeigen oft sehr weitgehende Gewebedifferenzierungen, welche die ihres nor- malen Mutterorganes an Kompliziertheit oft weit übertreffen und nicht selten durchaus neuartigen Gewebscharakter bedingen; Form und Größe sind bei ihnen stets konstant und bei den Produkten verschiedener Parasiten spezifisch unterschieden, so dass es leicht ist, viele Hunderte von Gallenerregern nach Gestalt und Größe ihres Gallenproduktes zu bestimmen !”). Ein Vergleich der histioiıden Gallen mit abnormen Gewebe- produktionen anderer Art ergab, dass die kataplasmatischen Gallen, die von vielen Milben, Hemipteren und insbesondere von Pilzen erzeugt werden, den Wundgeweben in allen wesentlichen Punkten durchaus gleichen — dem Kallus sowohl wie dem Wundholz; die prosoplasmatischen Gallen dagegen, die von Milben, Dipteren, Hemipteren und insbesondere von den Hymenopteren erzeugt werden, stellen durch ihre soeben angeführten Eigentümlichkeiten Gebilde sui generis dar, welchen die vergleichende Pflanzenpatho- logie nichts Ähnliches an die Seite zu stellen hat. 16) A. a. O. 1908, p. 21. Über Hexenbesen und Wirrzöpfe vgl. ebendort p- 209. —- Auf einen wichtigen Unterschied zwischen vielen organoiden Gallen tierischer und pflanzlicher Provenienz hat Peyritsch bereits aufmerksam gemacht; vgl. seine Abhandlung „Über Plazentarsprosse“ (Sitzungsber. Akad. Wiss. Wien, Math.-naturw. Kl. 1878, Abt. I, Sep.-A. p. 17). 17) Die Einteilung in kata- und prosoplasmatische Gallen war zunächst für Gallenhyperplasien ins Auge gefasst, d. h. für solche Gallen, welche durch Zellen- vermehrung zustande kommen. Auch diejenigen Gallen, bei welchen nur Zellen- wachstum ohne Teilung — Hypertrophie — iin Spiele ist, würden sich im allge- meinen ohne Zwang in die gleichen Gruppen unterbringen lassen: die Blasengalle von Viburnum, die Fenstergalle des Ahorns wären unbedingt den prosoplasmatischen Gallen zuzurechnen; die Erineumgallen gleichen diesen ebenfalls durch die eigen- artige und spezifische Form ihrer Zellen, unterscheiden sich aber von den proso- plasmatischen Gallen durch die wechselnde Ausdehnung, in der sich die Erineum- rasen auf den infizierten Ahorn-, Linden- und anderen Blättern zeigen. Küster, Über organoide Gallen. 12 Nachdem ich vorgeschlagen habe, den kata- und prosoplasma- tischen Gallen als weitere Hauptgruppe die organoiden Gallen an- zureihen, wäre auch für diese der Vergleich mit abnormalen Bil- dungen anderer Art zu fordern. — Es stellt sich bei einem Vergleich dieser Art bald heraus, dass die organoiden Gallen keinesfalls als Gebilde sui generis anzusprechen sind, dass vielmehr alle Arten der Organumbildung auch unab- hängig von Parasiten an Pflanzen der verschiedensten Art auf- treten und sogar im Experiment willkürlich hervorgerufen werden können. Die Verlaubung der Nebenblätter von Sambucus nigra, die man an Stockausschlägen beobachtet hat!°), entspricht durchaus der Ver- wandlung der Stipulae in Laubblätter, welche eine Gallmilbe — wie wir oben schon sahen — an Populus tremula hervorruft. Bei den Formabweichungen, die wir in diesem und bei ähnlichen Fällen an den Organen der Stockausschläge wahrnehmen, werden wir abnorme Ernährung -— vermutlich Vermehrung der den Organen zufließenden Nährstoffe — für die atypische Gestaltung verantwortlich machen dürfen. Ähnliche Ernährungsänderungen liegen höchstwahrschemlich den „Aseidien“ zugrunde, welche die teratologische Literatur für zahlreiche krautige und Holzgewächse anführt; mit Interesse hören wir, dass Montemartini bei Saxifraga erassifolia Ascidienbildung durch künstliche Impfung mit Milben erzielen konnte”). Bei den willkürlichen Entwickelungsänderungen, über welche Klebs berichtet — insbesondere interessieren uns hier die bei Sempervivum erzielten Blütenabnormitäten?°) —, sind in letzter In- stanz ebenfalls Änderungen in der Ernährung, welchen das Ver- suchsexemplar unterworfen war, die wirksamen Faktoren gewesen. Mit Blütenabnormitäten, welche nach vorübergehender Störung der normalen Ernährungsvorgänge durch Frost entstanden, hat Mottareale bekannt gemacht ?'). Bei anderen organoiden Abnormitäten, welche mit den Organ- umbildungen oder -Neubildungen in organoiden Gallen verglichen 18) Vgl. Göbel, Organographie. Bd. I, Jena 1898, p. 164. Daselbst Literatur- angaben und Schilderung ähnlicher Fälle. 19) Montemartini, Sull’origine degli aseidi anomali nelle foglie di Saxi- fraga erassifolia (Atti Ist. botan. Pavia [2], Vol. X, p. 14). 20) Klebs, Über künstliche Metamorphosen (Abhandl. Naturforsch. Gesellsch. zu Halle, Bd. XXV, 1906), Über Variationen der Blüten (Jahrb. f. wiss. Bot., Bd. XLII, 1905, p. 155). Vgl. auch von demselben Autor: Willkürliche Entwicke- lungsänderungen bei Pflanzen. Jena 1909. 21) Mottareale, G., Gelate e fenomeni cleistogami e teratologiei nel Solanum Melongena e nel Capsicum annuum e Ü. yrossum; Portiei 1904 wel, Botan. Jahresber. 1904, p. 828). 122 Küster, Über organoide Gallen. werden dürfen, handelt es sich um die Effekte lokal wirkender Eingriffe, die deswegen besondere Beachtung beanspruchen, weil ja auch die Gallen jederzeit Reaktionen auf lokale Angriffe und Reizungen darstellen. Ich erinnere zunächst an die bekannten Experimente Göbel’s, der an den Zweigen von Prunus padus durch Entgipfelung und Entblätterung Organumbildungen hervorrufen konnte: wo Knospen- schuppen zu erwarten waren, entstanden Laubblätter ??). Sehr mannigfaltig sind die Einwirkungen, welche nach Bla- ringhem Verwundung auf die Ausbildung der Organe haben kann: es können statt eingeschlechtlicher Blüten hermaphrodite entstehen, die Zahl der Blütenteile kann vermehrt werden, es können ascidien- artige Blätter (Trifokium pratense), röhrenförmige Randblüten statt zungenförmiger (Leucanthemum vulgare) erzeugt werden, es können Fasziationen entstehen?) u.a. m. Life sah an Ambrosia artemisüi- folia die Blüten vergrünen und führt die Erscheinung auf Ent- gipfelung der Pflanzen zurück**). Prohfikationen an Blüten von Senecio Jacobaea und Matriearia inodora führt Mollıiard auf Ver- wundung zurück”). Pandianı beschreibt die Bildung steriler Scheibenblüten und atypischer Involukralbrakteen in den Köpfchen von Bellis perennis als Folge von Verwundung®®); ob es sich bei diesen Befunden um Umbildung von Organen oder adventive Neu- bildung handelt, muss dahingestellt bleiben. Alle hier angeführten Gestaltungsvorgänge erinnern durchaus an die von den organoiden Gallen her bekannten Phänomene. Dass die Bildung von Adventivsprossen und Adventivwurzeln ebenso wie durch den Gallenreiz an sehr zahlreichen Objekten auch durch Verwundung hervorgerufen werden kann, ist allbekannt und bedarf keiner weiteren Erwähnung. — Die letzte Reihe von Beispielen, die ich hier anführen will, nähert sich den Gallen insofern wieder, als es sich bei den nach- 22) Göbel, Beiträge zur Morphologie und Physiologie der Blätter (Botan. Zeitg. 1882, Bd. XL, p. 353). Vgl. auch von demselben Autor: Über künstliche Ergrünung der Sporophylle von Onoclea Struthiopteris (Ber. d. D. Bot. Gesellsch. 1887, Ba. V, p- EX). 23) Von den zahlreichen Arbeiten Blaringhem’s vgl. z. B.: Anomalies here- ditaires provoquees par des traumatismes (©. R. Acad. Se. Paris 1905, T. CXL, p. 378), Action des traumatismes sur les plantes ligneuses (©. R. Soc. Biol., Bd. LVIII, 1905, p. 945), Production par traumatisme d’anomalies florales dont certaines sont hereditaires (Bull. Mus. d’hist. nat Paris 1904, p. 399). 24) Life, A. ©., An abnormal Ambrosia (Botan. Gaz. 1904, Vol XXXVIIL, p: 385). 25) Molliard, M., Teratologie et traumatisme (Rev. gen. de Bot. 1903, Bd. XV). 26) Pandiani, A., Note di Teratologia vegetale (Atti, Soc. Lig. Sc. nat. 1904, Vol. XV, p. 168; vgl. Botan. Jahresber. 1904, p. 829). Küster, Über organoide Gallen. 193 folgend aufgezählten Fällen um organoide Umbildungen handelt, die von Pilzen oder Tieren hervorgerufen werden. Molliard hat beobachtet, dass eine Reihe von Pflanzen ge- füllte Blüten entwickeln, wenn ihre Wurzeln durch Parasiten ge- schädigt werden?”). Bei Scabiosa columbaria sind es Älchen, welche die erforderliche Schädigung an den Wurzeln zuwege bringen (Heterodera radicicola) und fern von der Infektionsstelle gefüllte Blüten entstehen lassen; bei Primula offieinalis ıst ein Dematium- ähnlicher Pilz ın gleicher Weise wirksam, bei Saponaria officinalis ein Fusarium. Derselbe Forscher berichtete ferner von Vergrünung und Prol- ferationen der Blüten — morphologischen Veränderungen, die bei den organoiden Gallen eine Hauptrolle spielen —, wenn fern von den Blüten und Blütenständen tierische Parasiten die Stengel hohl fressen®®). Bei Trifolum pratense ıst es Hylastinus obscurus, bei Melilotus orvensis Apion Trifolii, bei Senecio Jacobaea ein Lixus, welche die geschilderten Blütenanomalien hervorrufen. Ähnliches beobachtete Rippa®’) am Kohlraps: oberhalb einer von Larven ausgehöhlten Stelle im Mark der Blütenstandachsen war Vergrünung und Kladomanie aufgetreten, unterhalb der Schädigungsstelle waren die Blüten normal. Massalongo°’) beobachtete bei Picris hiera- cioides hexenbesenartige Bildungen und Anomalıen ın der Blüten- bildung, wenn die Larve eines Gurculioniden Stengel oder Wurzel gehöhlt hatte°!). — Es kann sich hier nicht darum handeln, alle ın der Literatur niedergelegten einschlägigen Beobachtungen vollständig zusammen- zutragen, die beschränkte Zahl der hier angeführten Beispiele wird zur Genüge zeigen, dass es sich bei den Organumbildungen und -Neubildungen, welche die organoiden Gallen kennzeichnen, nicht 27) Molliard, M., Fleurs doubles et parasitisme (©. R. Acad. Sc. Paris 1901, T. CXXXII, p. 548). 28) Molliard, M., Virescences et proliferations florales produites par des parasites agissant & distance (C. R. Acad. Sc. Paris 1904, T. CXXXIX, p. 930). 29) Rippa, G., Studii su di un caso di cloranzia dovuto a parassitismo (Boll. Orto bot. di Napoli Vol. II, fasc. 1, 1904, p. 101). 30) Massalongo, Scopazzi di natura parasitaria osservati su piante di Picris hieracioides (Boll. soc. bot. ital. 1903, p. 154). 31) Es hängt von der Definition, die man von dem Begriff der „Galle“ geben will, ab, ob man die hier geschilderten Bildungsanomalien noch als Gallen bezeichnen will und darf — oder nicht. Nach meiner Auffassung bleiben die in Rede stehenden Gebilde besser außerhalb der als Gallen zusammengefassten Abnormitäten. Gleich den von mir früher erwähnten Fällen (Pathol. Pflanzenanatomie 1903, p. 190) scheinen sie mir die Auffassung zu stützen, dass die von Thomas (Zur Kenntnis der Milbengallen und Gallenmilben ete., Zeitschr. f. ges. Naturwiss. 1873, Bd. XLII, p- 513) gegebene Definition nicht immer ausreicht. Ich verweise auf die von mir a. a. OÖ. p. 190 gegebene Definition. 124 Küster, Über organoide Gallen. um Wirkungsweisen besonderer Art handelt, die nur von den be- treffenden Gallenerregern ausgehen, sondern dass dieselben und ganz Ähnliche Effekte von Ernährungsstörungen verschiedenster Art — allgemeinen und lokalen — ausgehen können. Ist das erwiesen, so werden wir zu der Annahme geführt, dass auch die organoiden Gallen lediglich die Produkte lokaler Ernährungsstörungen dar- stellen, und dass bei ıhrer Entstehung Giftstoffe von spezifischer Zusammensetzung und spezifischer Wirkung, wie sie insbesondere bei der Entstehung der prosoplasmatischen Gallen wirksam sein dürften ®), nicht im Spiele sind. Ich glaube, dass in diesem Sinne die organoiden Gallen auch eine ätiologisch gut gekennzeichnete Gruppe darstellen. x c.) * Schon vorhin war davon die Rede, dass die prosoplasmatischen Gallen durch ihre spezifische Struktur und durch die beachtens- werte Konstanz ihrer Formen- und Größenverhältnisse sich von den kataplasmatischen Gallenprodukten unterscheiden. Bei den orga- noiden Gallen liegen die Dinge wesentlich anders und für viele von ihnen muss der Mangel an spezifischer Gestaltung, die Inkonstanz der bei ıhrer Bildung sich kombinierenden Gestaltungsprozesse ge- radezu als wesentliche Eigentümlichkeit in Rechnung gezogen werden. Einige Beispiele sollen das Gesagte erläutern. Bei den Wirrzöpfen der Weiden ist die Wirkung der Gallen- bildner auf das Gynaeceum der Wirtspflanze außerordentlich ver- schieden: die Verlaubung des Fruchtknotens kann die verschiedensten Grade erreichen, die Bildung von Adventivsprossen neben und in dem Fruchtknoten in den mannigfaltigsten Kombinationen erfolgen. Bemächtigen sich die Gallenerreger einer vegetativen Sprossspitze, so verändern sie an diesen die Art der Blattstellung, veranlassen abnormale Verbreiterung und Drehungen der Achsenteile, geben den bei normaler Entwickelung ganz unscheinbaren Nebenblättern laubblattartige Formen u. s.w. Wie Tubeuf gezeigt hat°”), können dieselben Parasiten an denselben Wirten auch histioide Missbildungen hervorrufen. Bei den Vergrünungen korollentragender Blüten sind an den Blüten ein und desselben Blütenstandes sehr häufig die auffallendsten Unterschiede wahrzunehmen: man findet „schwache“ Vergrünungen neben „starken“ und oft genug kombiniert sich Phyllodie und Peta- lodıe mit Durchwachsungen verschiedener Art. Ich erwähne ins- besondere die an verschiedenen Trifolum-Arten (Tr. repens, Tr. 32) Vgl. Beyerinck, 1882, a. a. O. 33) Tubeuf, Wirrzöpfe und Holzkröpfe der Weiden (Naturwiss. Zeitschr. f. Land- u. Forstwirtsch,, Jahrg. II, Nr. 8). Küster, Über organoide Gallen. 125 hybridum u. a.) auftretenden, durch Gallmilben verursachten Chlo- ranthien oder die durch Eriophyes Rechingeri veranlassten Ver- grünungen und Proliferationen bei Orepis biennis; ich verweise im übrigen auf die Arbeiten Peyritsch's, die über zahlreiche weitere Beispiele für die Formenmannigfaltigkeit sehr vieler organoider Gallen berichten °*). Überall handelt es sich in diesen und zahlreichen anderen Fällen um dieselbe Mannigfaltigkeit und Inkonstanz, die bei analogen Monstrositäten nichtparasitären Charakters®’) anzutreffen sind. Über die Ursachen der morphologischen Mannigfaltigkeit lassen sich nur Vermutungen äußern. Höchstwahrscheinlich spielt der Grad der Infektion eine große Rolle; bei schwacher Infektion sind die Missbildungen den entsprechenden normalen Teilen noch nicht so unähnlich wie nach starker Infektion. Außerdem werden gewiss aber auch lokale Unterschiede im Ernährungszustand des infizierten Pflanzenexemplares — die ihrerseits meist durch irgendwelche äußere Faktoren bedingt sein werden — eine bedeutsame Rolle spielen und die Reaktionsfähigkeit und „Disposition“ der einzelnen Teile einer Infloreszenz u. s. w. stark beeinflussen. Diese und viele andere Fragen machen eine Wiederaufnahme und Fortführung der von Peyritsch angestellten Versuche sehr wünschenswert. Ob dieser Autor übrigens mit seiner ätiologischen Erklärung der Arabis- Chloranthien im einzelnen das richtige getroffen hat, scheint mir — wie schon aus dem oben Gesagten hervorgehen dürfte — nicht sicher °®). x * Weiterhin möchte ich noch auf einen wichtigen Punkt hinweisen, der mir zur Charakterisierung der organoiden Gallen beizutragen 34) Vel. z.B. Peyritsch, J., Über Plazentarsprosse (Sitzungsber. Akad. Wiss. Wien, Math. naturw. Kl., I. Abt., 1878. 35) Vgl. Klebs, a. a. O., 1903 und 1906. Über die Vergrünung von Stel- laria media vgl. Peyritsch, Zur Atiologie der Chloranthien einiger Arabis-Arten (Jahrb. f. wiss. Bot., Bd. XII). 36) Peyritsch (Zur Ätiologie der Chloranthien einiger Arabis-Arten a. a. O., S.-A. p. 21) sagt bei Besprechung der durch Aphiden verursachten Vergrünungen: „Die Larven hängen an der Pflanze, vorwiegend an den jugendlichen Teilen, sie bewirken die Missstaltungen des Blütenstiels, diese treten ohne Zweifel infolge von Verletzungen auf, welche ihm die kleinen Tiere zufügen; wahrscheinlich sondern sie ein Sekret ab, das von der Pflanze aufgenommen wird und spezifisch wirkt. Es wird nun im allgemeinen ganz von der Natur des von der Pflanze absorbierten Se- kretes abhängen, welche Form der betreffende Pflanzenteil durch die eingetretene Störung in der Eutwickelung annimmt. Da nun verschiedene Tiere gewiss nicht gleiche Sekrete absondern, so ist es begreiflich, dass Bildungsabweichungen und speziell Chloranthien ganz heterogener Natur — wie beispielsweise die von mir an Arabis alpina beobachteten — an einer und derselben Art durch verschiedene Tiere 126 Küster, Über organoide Gallen. scheint und ebenso wie der soeben erörterte die organoiden Gallen in Gegensatz zu den prosoplasmatischen bringt. Man hat so viel von den „zweckmäßigen“ Einrichtungen, welche an den Gallen wahrgenommen werden können, gesprochen. Man hat auf die komplizierte Struktur gewisser prosoplasmatischer Gallen, insbesondere der von ÜUynipiden erzeugten, hingewiesen und theo- retische Betrachtungen an den merkwürdigen Fall angeschlossen, dass mit den Gallen von den pflanzlichen Organismen Gebilde ge- schaffen werden, welche nicht für den sie produzierenden Organis- mus der Wirtspflanzen „zweckmäßig“ funktionieren, sondern für ein fremdes Lebewesen in diesem Sinne wirken”). In der Tat wird sich zumal bei den Oynipidengallen und manchen anderen nicht bestreiten oder widerlegen lassen, dass die im Gallen- gewebe liegende „Hartschicht“ als mechanischer Schutz für die tierischen Bewohner der Galle wertvoll werden kann und die Lokalı- sation großer Eiweiß- und Stärkemengen auf bestimmte Gewebs- lagen dem Nahrung suchenden Tier willkommen und förderlich sein muss. Immerhin möchte ich empfehlen, die Zweckmäßigkeit im Bau der Gallen nicht allzuhoch einzuschätzen und insbesondere nicht von allen und jeden Struktureigentümlichkeiten einer Galle voraus- zusetzen, dass sie für deren Erzeuger „zweckmäßig“ wirken müsste. Zumal bei Betrachtung der kataplasmatischen Gallen wird uns die Vermutung nahegelegt, dass viele Eigenschaften und vielleicht ge- rade manche der für die Galle besonders charakteristischen für Ent- wickelung und Gedeihen der gallenerzeugenden Parasiten völlig belanglos — weder nützlich noch schädlich sind. Auch wäre es recht gut vorstellbar, dass gar viele Gallenerzeuger sich auf der Wirtspflanze ebensogut ohne Gallenproduktion seitens der letzteren entwickein würden, wenn aus irgendeinem Grunde der gallen- erzeugende Reiz von dem Parasiten nicht ausgehen könnte oder das Pflanzengewebe auf diesen nicht mit der im allgemeinen ein- tretenden Gewebewucherung reagieren könnte. In der Tat hat Molliard unlängst mitgeteilt, dass ein gallenerzeugender Käfer — wohl ein Dorytomus — sich auf den männlichen Infloreszenzen von Salix caprea ebensogut entwickelt, wenn die für ıhn charakte- ristische Gallenbildung ausbleibt, wie wenn diese eintritt?®). Solche verursacht werden können.“ Der Vergleich der organoiden Gallen und den höchst mannigfaltigen nicht-parasitären Missbildungen (vgl. besonders Klebs, s. o.) führt mich zu der Meinung, dass wir gerade bei den organoiden Gallen ohne die Annahme spezifischer wirkender Gallengiftstoffe auskommen können. 37) Vgl. z. B. Guttenberg, H. v., Beiträge zur physiologischen Anatomie der Pilzgallen. Leipzig 1905. 35) Molliard, M., Une col&opteroceeidie nouvelle sur Salix caprea, type de cecidies facultatives (Rev. gen. de Bot. T. XVI, 1904, p. 91). 7 Küster, Über organoide Gallen. 497 „fakultative“ Gallen — der Terminus stammt von Molliard — sind weiterhin bereits von einem anderen Käfer (Apion semi- vittatum), der auf Mercurialis annua lebt, bekannt’”), und es lässt sich annehmen, dass unsere Kenntnis von dem „fakultativen“ Cha- rakter mancher Gallen schon jetzt sehr viel mehr Beispiele für die uns hier interessierende Wirkungsweise der Gallenerzeuger anzu- führen gestatten würde, wenn nicht ıhr Auffinden und Erkennen leicht erklärlichen Schwierigkeiten begegnen müsste. Wir wenden uns wieder den organoiden Gallen zu und werden bei vorurteilsfreier Beleuchtung ihrer Struktureigentümlichkeiten zugeben müssen, dass die bei vielen prosoplasmatischen Gallen so einleuchtende teleologische Erklärung ihrer Struktureigentümlich- keiten den organoiden Gallen gegenüber nicht am Platze ist. Die Exoascus-Arten gewinnen offenbar nichts dadurch, dass die von ihnen infizierten Knospen zu Hexenbesen auswachsen; die Ver- grünung der Blüten kann den in ihnen wuchernden Pilzen keinen ersichtlichen Nutzen bringen und dasselbe gilt für die von vielen Tieren erzeugten organoiden Umbildungen, auf die ich hier nicht noch einmal ım einzelnen eingehen will. Mit der Erklärung, dass bei vielen organoiden Gallen zwischen den dichtgedrängten Blättchen oder gestauchten Adventivsprossen eine große Menge feinster Schlupf- winkel zustande kommt, die den Milben ete. nützlich werden können, dürfen wir uns schon deswegen nicht zufrieden geben, weil die- selben Hohlräume und Zwischenräume auch beı den von Pilzen erzeugten Gallen entstehen, deren Mycel von jenen keinen Profit gewinnen kann. Die große Übereinstimmung zwischen den von Pilzen und den von Tieren erzeugten organoıden Grallen gehört ebenfalls zu den Punkten, in welchen die organoiden Gallen den kataplasmatischen nahe stehen. Schließlich wäre auch noch die Frage aufzuwerfen, ob die durch Parasiten hervorgerufenen von uns als organoide Gallen be- zeichneten Organumbildungen oder -Neubildungen erblich sein können. Von erblichen oder vererbten „Gallen“ ıst ja hier und da schon gesprochen worden, z. B. den Acarodomatien gegenüber; wir haben aber zurzeit durchaus keine Veranlassung, die Vererbbarkeit bestimmter Gallen als erwiesen oder auch nur als wahrscheinlich zu betrachten. Das gilt für die organoıden Gallen ebensogut wie für die histioiden. Die Frage nach der Vererbbarkeit der organoiden Gallen ist aber deswegen von besonderer Wichtigkeit und darf 39) Pierre, La Mercuriale et ses galles (Rev. scientif. du Bourb. et du Centre 1897, T. X); zitiert nach Trotter in Marcellia T. III, 1904, p. VII. 128 Küster, Über organoide Gallen. hier nicht übergangen werden, weil die ihnen ganz ähnlichen orga- noiden „Missbildungen“, die in der Natur spontan als „Mutationen“ auftreten, erblich sind. Ein Vergleich der organoiden Gallen mit den durch experimentelle Eingriffe erzielten organoiden Anomalien hinsichtlich ihrer Vererbbarkeit ist noch nicht recht durchführbar: unzweifelhaft vererbbare organoide Anomalien, die auf experimen- tellem Wege erzeugt worden sind, können zurzeit noch nicht ange- führt werden. Immerhin wäre es möglich, dass künftige For- schungen mit willkürlich erzeugten, vererbbaren, den organoiden Gallen formal vergleichbaren Bildungsabweichungen uns bekannt machten; man könnte sich vorstellen, dass unter abnormen Ent- wickelungsbedingungen, welche ein Pflanzenindividuum ın allen seinen Teilen irgendwie affızieren, organoide Anomalien entstünden, die als vererbbar sich von den ıhnen ähnlichen, nach lokaler Reizung entstandenen, allgemein nicht vererbbaren organoiden Gallen unterschieden. cJ * c.J Zusammenfassung: Es empfiehlt sich, diejenigen Gallen, welche vorzugsweise durch Umbildung oder Neubildung von Or- ganen gekennzeichnet werden, als organoide Gallen den histioiden gegenüberzustellen, bei welchen es sich um Produkte abnormer (rewebe handelt. Die organoıden Gallen stimmen in allen ihren morphologischen Eigentümlichkeiten mit den durch allgemeine oder lokal wirkende Ernährungsänderungen erzeugten Abnormitäten überein. Die Gruppe der organoıden Gallen darf daher auch als ätiologisch gut gekenn- zeichnet betrachtet werden. Die organoiden Gallen unterscheiden sich von den prosoplas- matischen durch den Mangel an Formenkonstanz. Morphologische (restaltungsvorgänge verschiedener Art können sich bei Gallen- exemplaren ein und desselben Parasiten in sehr verschiedener Weise kombinieren. Dass die Eigentümlichkeiten der organoiden Gallen für den sie erzeugenden Parasiten „zweckmäßig“ sind, erscheint durchaus fraglich. Kiel, Botan. Institut. Herbst 1909. VIII. Internationaler Zoologenkongress, Graz, 15.—20. August 1910. Der VII. Internationale Zoologenkongress, der im August 1907 zu Boston Mass., U.$. A. tagte, hat beschlossen, seine VIII. Tagung im Jahre 1910 in Österreich, und zwar in Graz unter dem Vorsitze des Herrn Ludw igvon Graff abzuhalten. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der. Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Der Abonnementspreis für 24 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen. Bay le) N 4, Inhalt: Wasmann, Ueber das Wesen und den Ursprung der Symphilie (Fortsetzung). — Neger, Neue Beobachtungen an körnersammelnden Ameisen. — Franz, Zur Physiologie und Pathologie der Chromatophoren. — Kanitz, Das Energieprinzip in der Biologie in der neuesten Literatur, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. (173. Beitrag zur Kenntnis der Myrmekophilen und Termitophilen.) Von E. Wasmann S. J. (Luxemburg). =» (Fortsetzung.) Hieraus ergibt sich folgendes: a) Die Symphilie als solche ist vom Parasitismus ver- schieden. Symphilen sind jene Ameisengäste und Termitengäste, welche wegen ihrer Exsudate, die ein direktes oder ein indirektes Fettprodukt sind (Nr. 1354), von ihren Wirten beleckt und gastlich gepflegt werden, ohne dass hieraus den Wirten ein Vorteil er- wächst, sondern nur eine Annehmlichkeit. Durch den ersten dieser beiden Punkte unterscheidet sich die Symphilie vom Para- sitismus und von der Synechthrie, durch den zweiten von der Trophobiose; denn die Blatt- und Schildläuse, die Membraciden- larven und die Lycaenidenraupen werden von den Ameisen als Nutztiere gehalten, welche durch ihre meist zuckerhaltigen Aus- scheidungen eine Hauptnahrungsquelle für ihre Wirte liefern. 1898 hatte Escherich*) die Symphilie nur für „eine spezielle Form des im Tierreich so überaus mannigfaltig auftretenden Para- 4) Zur Anatomie u. Biologie von Paussus tureieus (Zool. Jahrb. System. XER), S.69. XXX. 9 130 Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. sitismus“ erklärt. 1902) gab er selber diese Ansicht als „irrtümlich“ wieder auf, infolge der von mir 1901 (Nr. 118) erbrachten Gegen- gründe. Er glaubt jedoch immer noch, dass die Symphilie einen krankhaften Zustand darstelle, indem er 1906°) sagt: „Die Sym- philie bedeutet (wenigstens in weitaus den meisten Fällen) für die Ameisen eine soziale Krankheit, wie etwa der Alkoholismus für die Menschenstaaten.* Dem entgegen stelle ich folgenden Satz auf: b) Die Symphilie als solche ist keine soziale Krank- keit der Ameisenstaaten, sondern eine an sıch indiffe- rente Ausdehnung des Brutpflegetriebes der Ameisen auf fremde Tiere, die jedoch in manchen Fällen pathologische Folgen haben kann. Die Richtigkeit dieses Satzes erhellt aus folgenden Tatsachen. Die Lomechusini ‚und die Paussini, die ıhr echtes Gastverhältnis dazu benutzen, um die Brut ihrer Wirte schwer zu schädigen, bilden keineswegs die Mehrzahl, sondern weitaus die Minder- zahl der bisher bekannten echten Ameisen- und Termitengäste. Das „ex uno disce omnes“ kann demnach hier keine Anwendung finden. Wir kennen außer den Lomechusini noch manche andere Symphilen unter den myrmekophilen Staphyliniden und eine große Zahl von echten Termitophilen derselben Familie (physogastre Aleo- charinen), von denen wir keineswegs ohne weiteres annehmen dürfen, dass sie als Brutparasiten oder Bruträuber ıhren Wirtskolonien Schaden zufügen. Wir kennen ferner eine Menge symphiler Pse- laphiden und Clavigeriden unter den Ameisengästen, sowie zahlreiche myrmekophile und termitophilesfetaeriini(Fam. Histeridae), von denen wir nach der Analogie mit der Lebensweise der näher beobachteten Arten sagen müssen, dass ıhr Gastverhältnis wahr- scheinlich keine schädlichen Folgen für die Wirte hat. Wir kennen endlich viele andere Symphilen in den Käferfamilien der Sceyd- maeniden, Gnostiden, Ectrephiden, Silphiden, Scara- baeiden, Tenebrioniden (Rhysopaussini) und Brenthiden, für welche es ebenfalls meist sehr unwahrscheinlich ist, dass sie ihre Wirte schädigen. In der myrmekophilen Familie der Thorictiden treffen wır manche Arten (wie Thorictus Foreli und paueiseta), welche zugleich als echte Gäste von den Ameisen an den Thorakal- trichomen beleckt werden (Escherich) und als Ektoparasiten an die Antennen ihrer Wirte sich anheften (Nr. 90. 91. 94). Ebenso- wenig wie wir aus diesem Zusammentreffen von Symphilie und echtem Parasitismus bei manchen Thorictus schließen dürfen, dass diese beiden biologischen Verhältnisse identisch seien, ebensowenig 5) Biologische Studien über algerische Myrmekophilen (Biol. Centralbl. XXII), S. 662. 6) Die Ameise, S. 171. Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. 131 dürfen wir aus dem Umstande, dass die echten Gäste in manchen Fällen die Brut ihrer Wirte schwer schädigen, den Schluss ziehen, die Symphilie sei an sich „eine soziale Krankheit der Ameisen- staaten“. Zudem ist auch die Pflege der echten Gäste, in sich selbst betrachtet, keine krankhafte Erscheinung. Die Liebhaberei der Ameisen für bestimmte Exsudate des Fettkörpers, des Drüsen- gewebes oder des Blutgewebes ihrer Gäste ist an sich etwas In- differentes, und sie ist der tiefste biologische Grund, weshalb letztere in den Ameisennestern gehalten und gepflegt werden. „Krankhaft“ wird diese Liebhaberei nur in wenigen der bisher beobachteten Fälle, z. B. bei der Pflege der Larven der Lomechusini durch Formica. Escherich verwechselt offenbar die Symphilie selber mit ihren sekundären Folgen. Wie verkehrt diese Ver- wechslung ist, geht auch aus einem Vergleich mit der Sklaven- zucht bei den Ameisen hervor. Die Sitte mancher Formiciden, die Arbeiterpuppen fremder Arten als Hilfsameisen zu rauben, hat bei Polyergus dazu geführt, dass die „Herren“ in gänzliche soziale Abhängigkeit von ihren „Sklaven“ gerieten und sogar das selbständige Fressen verlernten. Das Beispiel von Strongylognathus testaceus zeigt uns ferner, wie dadurch bereits der Übergang der Dulosis zum permanenten sozialen Parasitismus eingeleitet wird, welcher die betreffenden Kolonien auf der Bahn der parasitischen Degene- ration immer weiter abwärts führt (Nr. 170. 4. Teil). Aber wer würde wegen dieser schädlichen Folgen der Überentwickelung der Dulosis diese selber als eine „soziale Krankheit der Ameisenstaaten“ bezeichnen wollen? Ganz dasselbe gilt aber auch für die Symphilie; auch hier müssen wir die Symphilie an sich von den schäd- lichen Folgen ihrer Überentwickelung sorgfältig unter- scheiden. Auf die phylogenetische Seite dieser Frage werde ich unten zurückkommen. Betrachten wir vorerst die sozialen Grundlagen der Sym- philie. Als eine ihrer biologischen Grundlagen von Seite der Wirte haben wir soeben bereits die Naschhaftigkeit der Ameisen kennen gelernt. Eine zweite sehr wichtige Grundlage ist der Adoptions- instinkt der Ameisen, welcher eine Ausdehnung des nor- malen Geselligkeits- und Brutpflegeinstinktes auf An- gehörige fremder Tierarten darstellt. Auf diesen ursächlichen Zusammenhang der Symphilie mit dem Adoptionstriebe, der auch bei höheren Tieren weit verbreitet ist, habe ich bereits 1897 (Nr. 59 und 60) aufmerksam gemacht. Trotzdem glaubte und glaube ich auch heute noch von einem eigenen „Symphilieinstinkt“ der Ameisen und Termiten reden zu müssen, der sich auf die Pflege ihrer echten Gäste bezieht. O*# 139 Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. 2. Die Annahme eines Symphilieinstinktes. Mein geschätzter Kollege Escherich hat zwar seit 1898 immer wieder behauptet, der Symphilieinstinkt sei „kein eigener Instinkt*, sondern er sei identisch mit dem Brutpflegeinstinkt; aber bewiesen hat er es bis heute noch nicht. Er verwechselt offenbar die Wurzel des Symphilieinstinktes mit diesem selber. Schon 1898 (Nr. 95, S. 124) wies ich diese Begriffsverwechslung zurück, indem ich zeigte, dass .der N meinskekı, mit allen der Symphilieinstinkt zUu- nächst zusammenhängt, zwar in seiner Wurzel nur eine Ausdehnung des Geselligkeits- und Brutpflegetriebes der Ameisen auf fremde Wesen bedeutet, dass er aber in seiner tatsächlichen Ausgestaltung als „Symphilieinstinkt“ hochgradig spezialisiert ist, indem vielfach die Neigung zur Pflege bestimmter Arten von Symphilen bei bestimmten Ameisenarten zu einem erblichen Instinkt eben dieser betreffenden Wirtsart (oder Wirtsrasse) ge- worden ist. Gegenüber den von Escherich 1902 erhobenen Einwendungen vertrat ich meinen Standpunkt 1903 (Nr. 134. S. 306ff.) nochmals eingehend. Seine Behauptung, dass bei der Symphilie nur eine einseitige Anpassung des Gastes an den Wirt, aber keinerlei korrelate Anpassung auf Seite des Wirtes vor- liege, suchte er dadurch zu begründen, dass die Wirte keine mor- phologische Anpassungen an jenes Verhältnis aufweisen, sondern nur die Gäste. Die letztere Tatsache ist zweifellos ale, aber ohne jede Beweiskraft gegen die Existenz eines 'Sym- philieinstinktes. Es kann nämlich eine Modifizierung und erbliche Spezialisierung bestimmter Instinktanlagen bei Ameisen sehr wohl stattgefunden haben, ohne dass deshalb die äußeren Organe irgendeine Veränderung zu erleiden brauchten. So ist z. B. der Nestbauinstinkt von Formica sanguinea sehr verschieden von demjenigen der F. rufa, und diese Verschiedenheit ist eine Folge divergenter Entwickelung der Arten und ihrer Instinkte. Trotzdem finden wir in der Bildung der Oberkiefer und der Beine jener beiden Ameisenarten, die ao als Werkzeuge für den Nest- bau dienen, keinerlei morphologische Werschdenheien, die sich als „Anpassungscharaktere“ an ihre spezifische Nestbauart deuten ließen. Ebenso können auch hei ber Ausbildung eines bestimmten Symphilieinstinktes, d. h. bei der Erwerbung einer erblichen Nei- gung zur Pflege und Zucht eines bestimmten echten Gastes, die betreffenden Modifikationen auf die Nervenzentren der Ameise beschränkt geblieben sein, ohne dass sich jene Instinktmodi- fikation in irgendeinem „morphologischen Anpassungscharakter“ kundzugeben braucht. Die Tatsache selbst, dass im Laufe der Phylogenese der Ameisen eine erbliche Modifizierung und Speziali- Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. 133 sierung des allgemeinen Brutpflegeinstinktes in bezug auf bestimmte Objekte, d.h. in bezug auf bestimmte echte Gäste stattgefunden hat, ist unleugbar. Diese Tatsache ge- nügt aber vollkommen, um mit Recht von bestimmten Sym- philieinstinkten der Ameisen zu reden. Wie deren Entwicke- lung zu denken ist, das ist eine andere Frage, die uns erst weiter unten zu beschäftigen haben wird. Hier haben wir uns nur mit den Tatsachen selber zu befassen. Formica sanguinea besitzt beispielsweise einen erblichen Instinkt zur Pflege von Zomechusa strumosa und ihrer Larven. Bei F. rufa ist die Neigung zur Larvenpflege von Lomechusa schon viel schwächer, bei F! pratensis und truneicola bereits gleich Null; hier werden die Larven dieses Käfers einfach aufgefressen statt erzogen zu werden, während dieselben Ameisen den Käfer sorgfältig pflegen! Ich frage deshalb: Warum machen denn die Zomechusa-Larven nur auf F. san- guwinea jenen bestimmten instinktiven Eindruck, dass sie dieselben nicht bloß erzieht, sondern auch ihren eigenen Larven vorzieht? Warum ist die psychische Wirkung der „Chemorezeption“, d. h. des Geruchseindruckes, welche die Lomechusa-Larve auf das Ameisen- gehirn hervorbringt, eine so verschiedene bei diesen nahe verwandten Formica-Arten? Ist dies nicht ein evidenter Beweis dafür, dass der allgemeine Brutpflegetrieb von Formica gerade bei F\. sangwinea in einer ganz bestimmten Richtung stammesgeschicht- lich spezialisiert worden ıst? Und diese Spezialisierung ist eben ihr Symphilieinstinkt, der auf die Brutpflege von Lome- chusa gerichtet ist. Escherich (1902, S. 657) meint zwar, aus der von mir be- obachteten Tatsache, dass in den normalen sangwinea-Kolonien weit- aus die meisten Larven von Lomechusa zugrunde gehen, weil sie von den Ameisen nach der Einbettung in ihrer Verpuppungshöhle nicht in Ruhe gelassen, sondern häufig wieder hervorgezogen und umgebettet werden, folge ganz offenbar, dass F. sanguinea keinen „spezialisierten Symphilieinstinkt“* für die Erziehung von Lomechusa. besitze; denn sonst dürfte sie diese Käferlarven nicht auch dann noch nach Analogie der eigenen Larven behandeln, die nach der Verpuppung (als Kokons) wieder ausgegraben werden, wenn diese Behandlungsweise für die Lomechusa-Larven verderblich wird. Meine Antwort hierauf ist folgende. Der Brutpflegeinstinkt von sanguinea ıst ın bezug auf die Erziehung von Lomechusa spe- zifisch determiniert, was den Gegenstand anlangt, aber nıcht, was die Behandlungsweise anlangt. Die Ameisen übertragen die Pflege ihrer eigenen Larven auf diejenigen des Gastes infolge eines erblichen Instinktes. Aber dieser Instinkt ıst nicht so weit entwickelt, dass er bis zu einer neuen Behandlungsweise der Adoptivlarven fortgeschritten wäre. Man kann also aus jener 134 Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. Tatsache nur folgern, dass der Symphilieinstinkt von sanguinea, vermöge dessen sie die Lomechusa-Zucht treibt, nicht allseitig und vollkommen entwickelt ist, aber keineswegs, dass er nicht existiert! Sonst müsste man beispielsweise auch aus der Tatsache, dass dıe Ameisen häufig einen Teil der Eier, manchmal selbst junge Larven ihrer eigenen Kolonie auffressen, nach Escherich den apodiktischen Schluss ziehen: wäre bei den Ameisen ein erblicher Brutpflegeinstinkt wirklich vorhanden, dann dürfte ein derartiger Fall überhaupt nicht vorkommen! Hier sieht jeder ein, wie unzulässig ein solcher Schluss wäre. Es sei übrigens darauf aufmerksam gemacht, dass in den pseudogynenhaltigen Kolonien, ın denen bereits viele Jahre hindurch Lomechusa-Larven erzogen wurden, die letzteren nach der Ver- puppung fast immer in Ruhe gelassen werden und daher glücklich zur Entwickelung kommen. Hier haben also die Ameisen gelernt, ihren Symphilieinstinkt auch in bezug auf die Behandlungs- weise der Adoptivlarven zu vervollkommnen, aber zu ihrem eigenen Schaden! Dass dieser für die Gäste sehr zweckmäßige, für die Wirte aber sehr unzweckmäßige Fortschritt in der Zome- chusa-Pflege erblich werden kann, ist schon dadurch ausgeschlossen, dass die betreffenden stark pseudogynenhaltigen Kolonien meist keine Fortpflanzungsindividuen mehr hervorbringen, nicht einmal mehr Männchen durch Parthenogenesis der Arbeiterinnen. Hier heisst es eben: Finis Poloniae; die betreffenden Kolonien werden zuerst für die Arterhaltung ausgeschaltet durch den Fortfall der Weibchenerziehung, dann auch der Männchenerziehung, und indem die Arbeitererziehung immer mehr mit der Pseudogynenerziehung sich mischt, verschwindet schließlich auch die Kolonie selber vom Schauplatze des Lebens. Aber gegen die Existenz spezifischer Symphilieinstinkte beweisen diese Tatsachen gar nichts. Vergleichen wir ferner die Beziehungen zweier äußerst nahe verwandter kleiner Atemeles-Arten, emarginatus und paradoxus, zu ihren Formica-Wirten. F. fusca”) nimmt nur den emarginatus auf und erzieht nur dessen Larven; rufibarbis”) nımmt nur den para- doxus auf und erzieht nur dessen Larven. Ich habe dies durch zahlreiche Beobachtungen sowohl in freier Natur wie in Versuchs- nestern während 25 Jahren sicher festgestellt. Aus meinen steno- graphischen Tagebuchnotizen über die „internationalen Beziehungen“ der Atemeles, d. h. über ıhr Verhältnis zu fremden Ameisenkolonien und Arten, sei hier bloß der folgende Versuch kurz erwähnt, der vom 9. April bis zum 20. Mai 1894 dauerte und gleichsam das 7) In ihren selbständigen Kolonien; denn wenn sie als Hilfsameise bei anderen Formica-Arten lebt, akkommodiert sie sich in ihrer Gastpflege der Herrenart. Über diese „Instinktregulationen“ vgl. 164, S. 148. Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. 4155 Experimentum crucis für die Zugehörigkeit des emarginatus zu fusca und des paradoxus zu rufibarbis bildet. Eine große Kri- stallisationsschale (Fig. 1) wurde durch senkrechte Scheidewände von Pappendeckel in vier Quadranten geteilt. In die Quadranten 2 und 3 wurde je eine Kolonie von Myrmica scabrinodis mit einer Anzahl Atemeles beider Arten gesetzt, in dem Quadranten 1 eine fusca-Kolonie ohne Atemeles, in den Quadranten 4 eine rufübarbis- Kolonie ohne Atemeles.. An der oberen Außenecke jeder Scheide- wand wurde ein kleiner Durchgang (d) gelassen, so dass die Atemeles von einem Quadranten in den anderen gelangen konnten, während die Kristallisationsschale mit einer Glasscheibe zugedeckt wurde. Das Ergebnis dieses Versuches war folgendes: Sämtliche emar- ginatus wurden nur bei fasca aufgenommen, sämtliche para- doxus nur bei rufibarbis! Die Versuchsanordnung war so ge- Fig. 1. troffen, dass häufig ein emar- e ginatus bei seiner Auswande- rung von Myrmica im das rufibarbis-Nest, und ein para- doxus ım das fusca-Nest ge- langen musste; aber sie wur- den stets wieder vertrieben, und ein emarginatus, dem es nicht gelungen war, rechtzeitig wieder ın das Myrmica-Nest zu entkommen, wurde am 27. April ‚von den rufibarbis getötet. Auch in freier Natur ist die Gesetzmäßigkeit des Vorkommens von emarginatus und seinen Larven bei fersca, und des paradoxus und seiner Larven bei rwfibarbis (and der dunkleren Varietät fusco-rufibarbis) eine so konstante, dass sie einen der haupt- sächlichsten biologischen Unterschiede zwischen jenen beiden so nahe verwandten Ameisenrassen bildet. Ist dies nicht abermals ein evidenter Beweis dafür, dass es eigene Symphilieinstinkte gibt, welche sogar bei zwei Rassen ein und derselben Ameisenart diametral verschieden sein können? Ist dies nicht ein sicheres Anzeichen für die stammesgeschicht- liche Differenzierung und Spezialisierung des Brutpflege- triebes der Ameisen in bezug auf bestimmte echte Gäste? Wer derartige Tatsachen, die sich noch in großer Zahl hier an- führen ließen, nicht kennt, mag allerdings behaupten, es gebe keine „Symphilieinstinkte“; wer sie aber kennt, kann ihre Existenz ohne ’ die größte Voreingenommenheit nicht leugnen. 156 Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. Escherich (Biolog. Centralbl. 1902, S. 656) hat es zwar ver- sucht, die Beweiskraft dieser Tatsachen abzuschwächen, aber ohne Erfolg. Dass Atemeles emarginatus nur bei Formica fusca, para- doxus nur bei rufibarbis aufgenommen und gepflegt wird, meinte er dadurch erklären zu können, „dass nur paradoxus (und nicht auch emarginatus) den nöligen Reiz auf F. rufibarbis ausüben kann.“ Aber warum, so ne ich, üben denn so nahe verwandte Gäste eine so spezifisch verschiedene „Reizwirkung“ auf zwei so nahe verwandte Ameisenrassen aus? Weil eben die Empfangs- station des Reizes, d. h. das Gehirn der Ameise, bei beiden Ameisenrassen gegenüber jenen echten Gästen verschieden ge- stimmt ist! Das heisst aber doch nichts anderes als: F\. fusca und rwfibarbis besitzen verschiedene erbliche Symphilie- instinkte. Dass der Geruchsstoff von emarginatus etwas abweicht von jenem des paradozus, ‘und dass ersterer nur auf fusca, letzterer nur auf rufibarbis besonders angenehm wirkt, gebe ich Escherich gerne zu. Aber mit dieser physiologischen Umschreibung der Tat- sachen sucht man sich vergeblich an dem Zugeständnis vorbeizu- drücken, dass hier verschiedene stammesgeschichtliche Differen- zıerungen des allgemeinen Brutpflegeinstinktes der Ameisen in bezug auf die Adoption und die Pflege verschiedener echter Gäste, d.h. verschiedene Symphilieinstinkte, vorliegen. Durch den hier nochmals erbrachten Nachweis, dass es Sym- philieinstinkte bei den Ameisen gibt, welche als im Laufe der Stammesgeschichte der betreffenden Ameisenart oder Rasse erworbene und erblich gewordene Speziali- sierungen des Adoptions- und Brutpflegetriebes der Ameisen sich darstellen, wird auch ein von Escherich noch 1906 (5. 171) erhobener Einwand widerlegt, welcher lautete: wenn wir einen „Sy mphilieinstinkt “ bei den een annehmen, so müssen wir auch einen — „Alkoholinstinkt“ bei der Men an- nehmen! Diese Parallele wäre nämlich nur dann zutreffend, wenn bei der Menschheit nicht bloß die Neigung zum Alkoholgenuss, sondern auch zur Schnapsbrennerei als „erblicher Instinkt“ aufträte. Zu meiner Überraschung las ich kürzlich in der übrigens recht gründlichen und interessanten Arbeit von Fritz Schimmer®) über Myrmecophila die folgende Stelle (S. 462): „Escherich (1902) hat überzeugend begründet, dass überhaupt ein spezialisierter, auf die Pflege der Gäste (Symphilen) gerichteter Instinkt nirgends festzu- stellen ıst, und dass die Ursache zu allen scheinbar instinktiv der ganz bestimmten Gastart erwiesenen Pflegehandlungen einzig und 8) Beitrag zu einer Monographie der Gryllodeengattung Myrmecophila Latr. (Zeitschr. f. wissensch. Zool. XCIII, Heft 3, 1909, S. 409—534.) Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. 137% allein im Gaste und in seiner spezifischen Anpassung an eine ganz bestimmte Ameisenart liege.“ Demgegenüber erkläre ich hiermit: Escherich hat nirgendwo den überzeugenden Nachweis für diese Behauptung er- bracht. Im Gegenteil, dieselbe ist mit den oben erwähnten Tatsachen unvereinbar. Es ist eine ganz einseitige Auffassung, bei dem Ver- hältnis der Symphilen zu ihren Wirten nur die Anpassung von Seite des Gastes zu berücksichtigen, dagegen nicht die reziproke Beeinflussung der Instinkte des Wirtes. Wenn man zugibt — und das geben sowohl Escherich als auch Schimmer zu, da ich es durch wirklich überzeugende Beweise außer Zweifel gestellt habe (besonders in Nr. 95. 162 und 164) —, dass die Ameisen ihr an- geborenes instinktives Verhalten gegenüber ihren Gästen in mannig- facher Weise zu modifizieren vermögen, so gibt man eo ipso auch zu, dass die Ameisen ihre Instinkte den betreffenden Gästen anzupassen imstande sind. Aus diesem Anpassungsvermögen können aber nicht bloß individuelle, sondern, wenn die äußeren Einwirkungen viele Generationen hindurch in derselben Richtung sich wiederholen, auch spezifische Instinktabänderungen hervor- gehen. Wenn wir überhaupt eine Entwickelung der Instinkte ım Tierreich und speziell der sozialen Instinkte bei den Ameisen an- erkennen, so kommen wir nicht daran vorbei, anzunehmen, dass solche neue Anpassungen auch erblich werden können°). Auf welchem Wege dies bei den Ameisen geschieht, ob durch die Par- thenogenese der Arbeiterinnen vermittelst des Keimplasmas der durch sie erzeugten Männchen, oder durch das Keimplasma der Jungen Weibchen, die nicht selten an der Gastpflege der Arbeiterinnen teilnehmen, das ist eine Frage, die noch der weiteren Erörterung bedarf. Mit dem früher so beliebten und auch von Schimmer (S. 463) noch adoptierten Satze: die Arbeiterinnen der Ameisen pflanzen sich nicht fort, also sind die von ihnen erworbenen In- stinktsmodifikationen nicht vererbbar — kann man heutzutage jeden- falls keinen peremptorischen Beweis mehr führen für die Unmög- lichkeit einer Vererbung erworbener Eigenschaften bei den Ameisen. Ich muss ferner gegen Schimmer’s durchaus unzutreffende Dar- 9) Schimmer (S. 462) vermisst bei mir eine Bezugnahme auf R. Semon’s „Engramme“ in der Entwickelung der Instinkte. Ich halte die Semon’schen Engramme und überhaupt seine ganze Mneme-Theorie nur für schöne Worte, durch welche die Vererbungsvorgänge mit neuen, aus der Psychologie entlehnten Aus- drücken umschrieben werden, ohne dass dadurch irgend etwas zur wirklichen Erklärung jener Vorgänge geleistet würde. Vgl. auch die Besprechung J. Rosen- thal’s von Semon’s „Mneme“ im Biol. Centralbl. 1905, Nr. 10, S. 335—368, und H.Kranichfeld: Das „Gedächtnis“ der Keimzellen und die Vererbung erworbener Eigenschaften (Biol. Centralbl. 1907, Nr. 20 u. 21). — Wertvoll sind dagegen die von Semon erbrachten neuen tatsächlichen Beweise für die Vererbung erworbener Eigenschaften. 138 Neger, Neue Beobachtungen an körnersammelnden Ameisen. stellung meiner Ansichten über den Symphilieinstinkt Verwahrung einlegen, der „den betreffenden Ameisen von ihren Gästen oktroyiert worden sei“ (S. 462). Hätte Schimmer meine diesbezüglichen Arbeiten!®) selbst genauer studiert und sich nicht allzusehr auf Escherich’s Autorität verlassen, so würde wohl dieser Teil seiner Arbeit besser und den übrigen Teilen gleichwertiger geworden sein. . Dass bei der Behandlungsweise von Myrmecophila acervorum durch die Ameisen, auf welche Schimmer besonders Bezug nimmt, kein spezifischer „Symphilieinstinkt‘ von Seite der letzteren anzunehmen ist, geht schon daraus hervor, dass Myrme- cophila gar nicht zu den Symphilen gehört, sondern eine eigentümliche Mittel- stellung zwischen den Synoeken und Symphilen einnimmt, welche insbesonders bei M. acervorum den Eindruck eines unfertigen Anpassungsverhältnisses macht, das zwischen den verschiedensten Wirten in verschiedenen Gegenden hin- und her- schwankt. Diese Art ist bei uns der nördlichste Zweig einer südlichen Gattung. Ihr Fehlen in einem großen Teil von Mitteleuropa (in Holland, Rheinland, Luxem- burg, Westfalen u. s. w.), sowie ihre eigentümliche Verbreitungsweise im Osten und Süden dieses Gebietes machen es wahrscheinlich, dass sie über Böhmen nach Sachsen vom Süden her vorgedrungen ist, wo sie (in Italien) zugleich mit M. ochracea vor- kommt. Letztere Art zeigt bereits eine viel festere und begrenztere Anpassung an das Leben bei Messor-Arten, während acervorum in den verschiedenen Teilen ihres Verbreitungsgebietes mannigfach verschiedene Wirtsameisen bevorzugt; bei Neapel ist sie z. B. nach Silvestri am häufigsten bei Tapinoma, während sie in Sachsen noch nie, und in Thüringen nur einmal bei dieser Ameise gefangen wurde. Hieraus erklärt sich wahrscheinlich auch großenteils die Abweichung meiner aus Böhmen stammenden Fundortsangaben über die „normalen Wirte“ dieser Grille von den- jenigen Schimmer’s und Viehmeyer’s aus Sachsen. Während ich die Imagines und die größeren Larven hauptsächlich bei Formica-sanguinea-fusca'') fand, da- gegen nicht bei Lasius niger und Myrmica laevinodis'”), obwaltet bei Leipzig und Dresden nach Schimmer und Viehmeyer das entgegengesetzte Verhältnis. (Schluss folgt.) Neue Beobachtungen an körnersammelnden Ameisen. (Vorläufige Mitteilung.) Von F. W. Neger (Tharandt). Während eines mehrtägigen Aufenthalts auf der Dalmatinischen Insel Arbe bot sich mir die Gelegenheit, das Leben und Treiben einer körnersammelnden Ameise zu verfolgen und dabei einige Beobachtungen zu machen, welche geeignet sind, auf die Lebens- weise dieser Tiere ein neues Licht zu werfen. Es handelt sich um Messor barbarus L., eine Ameise, welche auf der Insel Arbe sowie anderwärts in Dalmatien sehr verbreitet ist und deren Heerzüge eine sehr auffallende Erscheinung sind. 10) Besonders Nr. 60, 95, 118, 134, 143, 154, 157, 164. 11) Bei Prag fing Skalitzky die größere Myrmecophila-Form ebenfalls bei F. fusca (Collect. Wasmann). { 12) Ein bei Myrmica laevinodis zu Groß-Cerniz in Böhmen durch Herrn Otto Nickerl gefundenes Exemplar befindet sich in meiner Sammlung. Ferner zwei Exemplare (kleinere Larven) aus Bayern, in Pielenhofen bei Regensburg (Jura-Kalk) von Prof. Killermann bei Tetramorium caespitum gefangen. Neger, Neue Beobachtungen an körnersammelnden Ameisen. 139 Wie schon von anderen Beobachtern festgestellt worden ist, sind die körnersammelnden Ameisen hinsichtlich der Pflanzenarten, deren Samen oder Früchte gesammelt werden, durchaus nicht wählerisch. So fand ich, dass Messor barbarus in einem Wald von Pinus halepensis vorwiegend Kiefernsamen sammelte, an anderen Stellen, z. B. nahe dem Meeresufer waren die Früchte der dort verbreiteten Oentaurea spinoso-ciliata Seenus der Gegenstand eifriger Nach- forschungen. Hier spielt sich die Ernte in der Weise ab, dass die Fruchtstände der Pflanze von zahlreichen Ameisen erklommen werden und einige besonders geschickte Tiere die reifen Achaenien aus dem Körbchen herausholen, um sie dann an andere als Träger funktionierende Tiere abzugeben. Die letzteren schleppen die Frucht nach dem Nest. Die Ameisen unterliegen anscheinend zuweilen auch Sinnestäuschungen. Sehr häufig beobachtete ich, dass der verwelkte Blütenschopf dieser Pflanze, welcher sich bei der Reife der Früchte sehr leicht als Ganzes aus dem Köpfchen ablöst, von einer Ameise erfasst und nach dem Nest geschleppt wird. Die Erkenntnis, dass mit diesem Blütenschopf nichts anzufangen ist, scheint den im Inneren des Baues arbeitenden Ameisen vorbehalten zu sein. Ich beobachtete wenigstens, dass derartige verwelkte Blütenschöpfe später aus dem Bau wieder herausgetragen und auf dem Schutt- haufen, der jedes Ameisennest umgibt, abgelagert wurden, um ferner- hin unbeachtet liegen zu bleiben. In ähnlicher Weise wie bei Cen- taurea spinoso-ciliata erfolgt die Ernte mit den Samen anderer Pflanzen, z. B. Pallenis spinosa, Fruchtständen von Gramineen u. a. Wollte man aber eine Liste aller Pflanzen aufstellen, deren Samen und Früchte von der Messor-Ameise in das Nest geschleppt werden, so wäre dies fast identisch mit einer Aufzählung aller auf der Insel vorkommenden Blütenpflanzen. Hier seien nur einige angeführt, welche ich besonders häufig als Beute der Ameisen beobachtete: Spartium junceum, Ononis spinosa (Früchte), Plantago sp. (Früchte), Medicago-Arten (Früchte), Hedypnois eretica, Fruchtstände von Dac- tylis glomerata, Triticum repens, Polygonum sp. (Früchte), Anagallis arvensis (Früchte) u. s. w. Merkwürdigerweise werden nicht selten auch kleine Schnecken- schalen eingeschleppt; ob dieselben irgendeine Bedeutung für die Ameisen haben, kann ich nicht entscheiden. Möglicherweise handelt es sich auch hier um „Fehlgriffe* der Schlepperameisen; denn auf dem „Schutthaufen“ liegen diese Schneckenschalen oft in beträcht- licher Menge, ohne von den Ameisen weiter beachtet zu werden. Nach alledem scheint im Innern des Baues eine Art Auslese dessen, was brauchbar ist, stattzufinden: „Es wird die Spreu vom Weizen geschieden.“ Alle, welche körnerschleppende Ameisen beobachtet haben, sind 140 Neger, Neue Beobachtungen an körnersammelnden Ameisen. voll des Lobes über den Eifer, welchen diese kleinen Tiere bei ihrer Arbeit entwickeln. Die Emsigkeit des Betriebes ist in unver- kennbarer Weise abhängig von der äußeren Temperatur. An kühlen Morgen erwacht die Tätigkeit der Ameisen nur sehr langsam, um bei voller Sonnenglut um die Mittagsstunde ihren Höhepunkt zu erreichen'!); dann eilen die schwer bepackten Körnerträger, : wie von Furien gepeitscht, die Straße auf und ab, sie spannen ihre Kräfte offenbar aufs äußerste an. Fig. 1. Möglicherweise hängt damit zu- sammen, dass gegen Abend, wenn die Tätigkeit erschlafft, zahlreiche N ALE Y hin- und hertorkelnde, offenbar zum Tod erschöpfte Träger ın der Nähe des Nestes angetroffen 0% werden. Kaum ıst am Abend die Sonne hinter den Bergen | verschwunden, dann verödet die N ‘ Ameisenstraße, und die Bewegung der noch unterwegs befindlichen “ B' Tiere wird langsamer und träger. =, Es ıst bekannt, dass sich die Körnersammler an Objekte heran- i wagen, welche ihre eigene Körper- N & sröße um das vıelfache übertrifft. z oO em / Fig. 1 gibt eine Vorstellung davon, ın welchem Größenver- hältnıs oft die Last zum Träger steht. Die Frage, was mit den eingeschleppten Körnern geschieht, wird von den einzelnen Beobachtern nicht in übereimstimmender Weise beantwortet. Freilich mag die Behandlung der Erntevorräte bei den einzelnen Arten verschieden sein, und was für die eine Ameisenart als zutreffend erkannt worden ist, braucht nicht gleich- zeitig für andere Körnersammler gelten. Ich bin in der Lage, für die von mir beobachtete Art ein ziem- lich vollkommenes Bild der Behandlung der Körner zu entwerfen. 1) Diese Beobachtung scheint mir in ökologisch-tiergeographischer Hinsicht bemerkenswert zu sein. Nach Aussage von Herrn Prof. Escherich, welcher den Messor barbarus in Nordafrika (Erythraea) beobachtet hat, ist dort den Tag über Ruhe in der Umgebung des Ameisennestes und beginnt die Tätigkeit erst nach Sonnenuntergang. Vielleicht ist die Erntetätigkeit des M. barbarus an ein gewisses Temperaturoptimum gebunden. Arbe ist die nördlichste größere Insel Dalmatiens und dürfte einer der nördlichsten Punkte sein, wo M. barbarus vorkommt. Dem- entsprechend mag dort der Höhepunkt des Sammeleifers der Ameisen zu einer anderen Tageszeit erreicht werden als in der um ca. 34 Breitengrade dem Aquator näherliegenden Erythraea. Neger, Neue Beobachtungen an körnersammelnden Ameisen. 141 Zunächst möchte ıch nach meinen Erfahrungen die vielfach ausgesprochene Behauptung bezweifeln, die körnersammelnden Ameisen seien imstande, die Keimung der Samen dadurch, dass sie dieselben trocken halten, zu verhindern. Es ist allgemein bekannt, dass manche Samen schnell, andere erst nach längerer Ruhepause keimen. Die Zeit, welche ein Same braucht um zu keimen, hängt nicht nur von äußeren Faktoren (Wärme, Feuchtigkeit ete.), sondern auch von inneren Ursachen ab. Wiesner bezeichnet die Erscheinung, dass ein Same verspätet keimt, als Keimverzug. Die Samen von Colchicum, Robinia, Cytisus laburnum bleiben selbst dann, wenn sie fortwährend feucht ge- halten werden, auch nach Jahresfrist noch unaufgequollen, behalten aber dabei ihre Keimfähigkeit. Die Ursache des Nichtkeimens liegt in diesem Fall in der schweren Quellbarkeit der Samenschale. Als weiterer Faktor für den Keimverzug könnte die im Inneren eines Ameisennestes herrschende Dunkelheit in Betracht kommen. Es mehren sich die Fälle, in welchen mit Gewissheit erkannt wird, dass das Licht für die Keimung gewisser Samen von Bedeutung ist (Kiefernsamen?), Samen von Fiscum album?), Epilobium-Arten?) u. a.). Endlich gibt es Fälle von Keimverzug, deren Ursachen wir noch gar nicht kennen; es keimen die Samen gewisser Kuphorbia- Arten, z. B. E. Oyparissias, E. exigua, trotz günstiger Keimungs- bedingungen erst nach Jahren (E. exigua erst nach 9 Jahren)°). Wenn also ein Beobachter findet, dass die Samen gewisser Pflanzen im Nest einer körnersammelnden Ameise lange Zeit ungekeimt liegen bleiben, so kann dies in dem natürlichen Keimverzug seine Ursache haben und braucht nicht notwendig die Folge einer be- sonderen Behandlung von Seite der Ameisen sein. Jedenfalls müssten in dieser Hinsicht an Ort und Stelle besondere Versuche angestellt werden. Was den von mir studierten Messor barbarus anlangt, so habe ich die folgende Beobachtung. gemacht, welche dagegen spricht, dass die Ameisen die Samen durch Austrocknen (etwa wiederholtes Lüften) an der Keimung hindern. Ich fand nämlich, dass alle Samen, welche aus dem Nest heraus- gebracht und an einer sonnigen Stelle deponiert wurden, schon ausgekeimt waren. Allem Anschein nach werden die Samen erst dann auf den „Trockenplatz“ geschafft, wenn die Keimung schon begonnen hat. 2) Nach Haack (Zeitschr. f. Forst- u. Jagdw. 1906, p. 441). 3) Nach Wiesner (Berichte D. Bot. Ges. Bd. XV, 1897, p. 503). 4) Nach eigenen Beobachtungen (nicht veröffentlicht). 5) Nach Winkler (Berichte D. Bot. Ges. Bd. I, 1883, p. 452). 142 Neger, Neue Beobachtungen an körnersammelnden Ameisen. In weitaus den meisten Fällen war die Keimwurzel schon wohl entwickelt. So sah ich besonders ausgekeimte Leguminosensamen, 2. B. Ononis spinosa, Medicago sp., Spartium junceum, ferner Gra- mineensamen u. a., welche in großer Menge zum Trocknen an die Luft gelegt wurden. Die Samen waren meist säuberlich und sorg- fältıg geschält, und die Schale wurde gleichzeitig von anderen Ameisen am „Schutthaufen“ niedergelegt. Die Keimlinge aber wurden erst dann wieder ın das Nest zurückgebracht, wenn sie vollkommen trocken waren. Mehrmals legte ich Keimlinge, welche sich noch feucht anfühlten, ın die Nähe der Nestöffnung. Schon sehr bald machte sich eine zufällig passierende, gerade unbeschäftigte Ameise darüber her, betastete den Keimling mit den Fühlern und schleppte ihn wieder auf den „Trockenplatz“. Als „Trockenplatz“ kommen hauptsächlich ebene Stellen des Bodens in der Nähe der Nestöffnung, aber auch besonders oft der „Schutthaufen“ in Betracht. Ohne Zweifel eignet sich der letztere hierzu ganz ausgezeichnet. Die Unterlage ist hier gebildet von zahllosen Spelzen, Samenschalen und anderen pflanzlichen Abfällen, welche durchaus trocken sind und gewissermaßen ein poröses Sub- strat darstellen. Viele Keimlinge zeigen mechanische Verletzungen, diejenigen der Gramineensamen, z. B. Triticum repens, sind an beiden Enden abgebissen. Diese Verletzung kam wahrscheinlich gelegentlich des Schälens zustande. Es kann wohl kein Zweifel darüber bestehen, dass die der Samen- schale beraubten Keimlinge durch das gründliche Austrocknen voll- kommen getötet werden. Diesbezügliche sorgfältige Untersuchungen wären allerdings wünschenswert. Bei der Kürze meines Aufent- haltes auf der Insel Arbe war es mir nicht möglich, solche anzu- stellen. Welchen Zweck nun verfolgen die Ameisen bei diesem Verfahren? Es ıst schon die Vermutung ausgesprochen worden, dass der Vorgang als Mälzprozess aufzufassen sei. Bei der Keimung wird ja bekanntlich die Stärke durch diastatische Fermente ın Malz- zucker verwandelt. Das Trocknen der Samen an der Sonne würde dann dem bei der Malzbereitung üblichen Darrprozess entsprechen. Wenn dies der Fall wäre, d. h. wenn die Ameisen auf Ge- winnung von Malzzucker (auf dem, Weg der Keimung) ausgingen, dann wäre zu erwarten, dass die Unterbrechung des Keimungs- vorgangs erst erfolgt, wenn die Umwandlung der Stärke in Zucker vollendet ist. Die mikroskopische Untersuchung der vorgekeimten, entspelzten und ihrer Samenschale beraubten Körner aber zeigt, dass die Zellen des Endosperms noch dicht erfüllt sind mit Stärke- körnern. Der Prozess der Umwandlung von Stärke in Zucker kann eben erst begonnen haben, d. h. die Keimung wird unterbrochen, wenn die Samen durch Quellung die Samenschale gesprengt haben. Neger, Neue Beobachtungen an körnersammelnden Ameisen. 143 Es scheint mir demnach, dass die Keimung für die Ameisen weniger den Zweck hat, Malz zu gewinnen, als vielmehr die Ent- fernung der Samenschale zu erleichtern. Bei Leguminosensamen ist dies besonders einleuchtend. Es dürfte den Ameisen kaum ge- lingen, die überaus harte und dicke Samenschale von Spartium junceum im trockenen Zustand zu entfernen. Dagegen gelingt dies leicht, wenn die Samen angefangen haben zu keimen. Ich beobachtete, wie schon erwähnt, sehr häufig vollkommen geschälte Leguminosen- keimlinge, welche aus dem Nest auf den „Trockenplatz“ geschleppt wurden, und daneben, von anderen Ameisen geschleppt, Samen- schalen, welche unzweifelhaft von Leguminosensamen entfernt worden waren. Ob diese Arbeit von einer besonderen Kaste des Ameisen- volkes ausgeführt wird, wäre näher zu untersuchen. Auch Gramineensamen sind im trockenen Zustand sehr schwer zu schälen, während eben keimende Samen die Spelzen selbst sprengen und dann leicht daraus befreit werden können. — Was geschieht nun weiter mit den vorgekeimten und geschälten Samen, wenn sie an der Sonne getrocknet und schließlich wieder in das Nest zurückgebracht worden sind? Escherich führt in seinem Buch „Die Ameise“ p. 116 aus: „Moggridge beobachtete ferner, dass die Ameisen... die Samen an die Sonne zum Trocknen brachten und sie endlich wieder ın das Nest schafften, wo sie verzehrt wurden“. Ich weiß nicht, ob dies jemals von irgendeinem Forscher tat- sächlich beobachtet worden ist. Dagegen weiß ich aus eigener An- schauung, dass M. barbarus wenigstens einen Teil der gekeimten und geschälten Körner zu einer teigartigen Masse verarbeitet, welche bisher anscheinend von allen Ameisenforschern übersehen worden ist‘) und ım Haushalt der Ameisen wahrscheinlich eine bedeutende Rolle spielt. Die erwähnten teigartigen Massen, welche ich in Zukunft kurz- weg „Ameisenbrotkrümel“ nennen möchte, werden zu gewissen Tageszeiten in großen Mengen aus dem Nest herausbefördert und auf dem Trockenplatz abgelagert. Sie haben große Ähnlichkeit mit Krümeln eines hellen Schwarzbrotes, schwanken zwischen Steck- nadel- und Pfefferkorngröße und sind sehr unregelmäßig gestaltet; ihre Farbe ist hellrosa mit einem Stich ins Braune. Im frischen Zustand, d.h. wenn sie eben aus dem Nest herausbefördert worden sind, fühlen sich die „Ameisenbrotkrümel“ feucht an, sind knetbar und haben einen überaus bitteren Geschmack, der sich beim Liegen an der Luft mehr oder weniger, wenn auch nicht vollständig, verliert. Die mikroskopische Untersuchung der Brotkrümel ergibt, dass dieselben aus zerkleinerten Samen bestehen. Welche Samen zur Her- 6) Oder vielleicht für Erdkrümel gehalten wurde. 144 Neger, Neue Beobachtungen an körnersammelnden Ameisen. stellung der Brotkrümel verwendet werden, ist meist nicht ganz leicht zu entscheiden, weil die Zerkleinerung soweit geht, dass der charakteristische Gewebebau der verschiedenen Samen oder Keimblätter nicht mehr zu erkennen ist. Mit Sicherheit konnte ich nur folgende Bestandteile der Ameisen- brotkrümel wieder erkennen: 1. Stärkeführende Zellen von Gramineensamen. Diese Zellen sind stets noch dicht erfüllt mit Stärke und lassen noch keine Spur einer Auflösung durch diastatische Fermente erkennen. Auch geben die Stärkekörner mit Jod noch eine intensiv blauschwarze Reaktion, 210.2. nicht, wie bei beginnender Umwandlung in Malzzucker und Dextrin, eine rötliche Färbung. Die stärkeführenden Zellen, welche sich in den Ameisenbrotkrümeln vorfinden, sind durch Zerkauen meist soweit isoliert, dass sie einzeln oder zu kleineren Gruppen (von 2—5, seltener mehr) Zellen vereinigt auftreten. Häufig sind auch die Zellen selbst zerbissen, so dass zahlreiche Stärkekörner den übrigen Bestandteilen der Krümel lose beigemengt sind (Fig. 2, st.Z. und St.K.). 2. Aleuronführende Zellen der Kleberschicht von Grassamen. Diese sind meist nicht soweit zerkleinert, sondern in größeren Kom- 7) Die Art war nicht zu erkennen, jedenfalls war es in den mir vorliegenden Krümeln nicht Tritieum repens, deren Fruchtähren im Bau der Messor- Ameisen sonst häufig angetroffen werden. Neger, Neue Beobachtungen an körnersammelnden Ameisen. 145 plexen dem Krümelgemisch beigemengt (Fig. 2, A. Z.)°). Die unter 1 und 2 beschriebenen Bestandteile bilden häufig die Hauptmasse der Krümel; nicht selten sind die stärkeführenden Zellen in so großer Anzahl vertreten, dass die Blaufärbung durch Jod an auf- geweichten und zwischen zwei Objektträgern zerdrückten Krümeln schon makroskopisch sichtbar wird. In anderen Fällen bilden die Grassamenfragmente nur etwa die Hälfte der Krümelbestandteile oder sie treten auch noch mehr zurück. Ich möchte behaupten, die Grassamenbruchstücke beteiligen sich an der Zusammensetzung der Krümel im gleichen Verhältnis wie die Grassamen selbst an der Summe der von den Schleppern geernteten Samen. 3. Ein weiterer wichtiger Bestandteil der Ameisenbrotkrümel tritt in Form von Komplexen kleiner zartwandiger Zellen auf, welche keine Stärke, sondern nur Eiweiß enthalten. Allem Anschein nach sind dies Fragmente von Leguminosenkotyledonen; als solche kommen besonders in Betracht: Spartium junceum, deren Samen sehr viel eingeschleppt werden, deren vorgekeimte Samen auch. auf dem „Irockenplatz“ eine überaus häufige Erscheinung sind, ferner Ono- niso-, Medicago-Samen u.a. Diese stärkefreien, eiweißreichen Zellen machen oft die Hälfte (oder darüber) der Brotkrümel aus (Fig. 2, L.K.). Außer diesen Bestandteilen, deren Herkunft mit einiger Sicher- heit ermittelt werden konnte, treten in den Krümeln noch andere Gebilde auf wie Pflanzenhaare, Fragmente von Gefäßbündeln, Koni- ferenpollen, vereinzelt auch kleine Erdteilchen sowie Bruchteile anderer nicht näher bestimmbarer Samen. Die weichen, feuchten Krümel werden von den Ameisen auf den Trockenplatz gebracht und verbleiben dort solange, bis sie knusperig hart wie Zwieback sind. Leider habe ıch niemals be- obachten können, dass die Krümel in das Nest zurückgeschleppt werden. Dagegen beobachtete ich sehr häufig, dass am Vormittag der Trockenplatz ganz bedeckt war mit Ameisenbrotkrümeln und am Nachmittag war nichts mehr davon zu sehen. Halbtrockene Krümel, an den Eingang zum Nest gelegt, werden von unbeschäftigten Ameisen erfasst und wieder auf den Trocken- platz befördert. Das Schicksal der getrockneten Krümel mit Sicher- heit zu ermitteln, wird den wichtigsten Gegenstand weiterer Unter- suchungen bilden. Vorerst müssen wir annehmen, dass die Ameisen die Krümel zu einer gewissen Tageszeit wieder in den Bau zurück- tragen; denn es ist nicht wahrscheinlich, dass sie ein so wertvolles Material wie zerkleinerte Samen wie Abfallstoffe behandeln oder sie vollkommen zwecklos ins Freie schaffen, wo die Gefahr besteht, dass die Krümel von anderen Tieren geraubt werden. 8) Dazu kommen als unzweifelhaft von Grassamen stammend Fragmente der Samenschale (Fig. 2, $.S.). XXX, 10 146 Neger, Neue Beobachtungen an körnersammelnden Ameisen. Freilich, welche Bedeutung das Trocknen der Krümel an der Sonne haben kann, ist nicht ohne weiteres einzusehen. Denn, wie spezielle Versuche ergeben haben, sind die Krümel hygroskopisch und es unterliegt keinem Zweifel, dass sie, in das Nest zurück- gebracht, wieder Feuchtigkeit anziehen. Vielleicht aber wird das Trocknen jedesmal wiederholt, wenn die Krümel sich feucht an- fühlen. Es scheint auch nicht ausgeschlossen, dass das Zerkauen der Samen und Befeuchten mit Speichel zusammen mit dem hierauf folgenden Dörren an der Sonne eine Art Sterilisationsprozess dar- stellt. Man könnte ferner daran denken, dass das Kauen den Zweck hat, eine innige Mischung der bei der Vorkeimung entstehenden amylolytischen und proteolytischen Fermente mit den reservestofl- führenden Zellen zu bewirken und dass die Erwärmung an der Sonne den Lösungsprozess befördern soll. Indessen sind dies lediglich Vermutungen, für welche vorerst kaum einwandfreie Beweise herbeizuschaffen sein werden. Dagegen scheint darüber kein Zweifel zu bestehen, dass die aus zerkauten Samen bestehenden Krümel als Reservenahrung oder als Larvenbrot von Bedeutung ist und das Körnersammein der Messor-Arten erscheint jetzt in einem ganz anderen Licht als früher. Denn bei der Zartheit der Kauwerkzeuge der Ameisen war kaum verständlich, dass dieselben sich von solch kompakten Körpern wie Keimlingen ernähren sollten. Aus dem Bau der Mundwerkzeuge geht ja deutlich hervor, dass die Ameisenlarven nur flüssige und halbflüssıge, höchstens breiartige Nahrung zu sich nehmen können. Von diesem Standpunkt aus gesehen erscheinen freilich die an der Luft getrockneten, äußerst knusperigen Ameisenbrotkrümel als eine Nahrung, welche für diese Tiere kaum besser geeignet ist als die rohen Samen oder die getrockneten Keimlinge, selbst dann, wenn sie durch längeres Liegen ım Neste wieder Feuchtigkeit an- gezogen haben. Es liegt nun nahe, anzunehmen, dass bei der weiteren Löslichmachung der ın den Brotkrümeln enthaltenen Nähr- stoffe gewisse Pilze als Fermente eine Rolle spielen könnten. Soweit ich mit Apparaten, sterilen Nährböden etc. ausgerüstet war, habe ich diesbezügliche Versuche angestellt. Wie zu erwarten war, entwickelte sich eine reiche Pilzvegetation, wenn ausgekeimte und geschälte Samen, welche von Ameisen eben ans Tageslicht befördert worden waren, auf sterile Nährböden übertragen werden’). Diese Kulturen boten aber kein besonderes Interesse. Anders liegen 9) Gerade bei Reisen habe ich für derartige Zwecke Freudenreichkölbchen (meist mit Brot gefüllt) als unübertrefflich erprobt. Verunreinigung derselben erfolgt bei dem vorzüglichen Abschluss äußerst selten, und ebenso kommt ein Eintrocknen des Nährsubstrates bei diesen Gefäßen viel seltener vor als in Reagensröhren. Neger, Neue Beobachtungen an körnersammelnden Ameisen. 447 die Verhältnisse, wenn ich Ameisenbrotkrümel mit einem sterilen Instrument einer Ameise abnahm und auf steriles Substrat über- trug; Reinkulturen entstanden in diesen Fällen freilich auch nicht. Aber von sechs Kulturen, welche ich so anlegte, enthielten vier einen und denselben Pilz und zwar eine Aspergillus-Art, welche allem Anschein nach identisch ist mit Aspergillus niger!%). Mycel und Sporen dieses Pilzes fand ich auch in einigen Fällen in den Brotkrümeln selbst. Im übrigen sind die Brotkrümel, wenn sie zum Trocknen an die Sonne gelegt werden, meistens mycelfrei. Wenn demnach diese Frage auch noch lange nicht als entschieden bezeichnet werden kann — ich hoffe später die Versuche unter Anwendung eines viel größeren Apparates von Kulturgefäßen wiederholen zu können —, so gibt das häufige Auftreten eines Pilzes wie A. niger sehr zu denken, namentlich wenn die amylolytische und protolytische Wir- kung dieses Pilzes in Betracht gezogen wird!!). Zum Schluss möchte ich noch kurz einige weitere Beobach- tungen mitteilen, welche ich an den körnersammelnden M. barbarus machte und welche die Erfahrungen anderer Autoren teils be- stätigen, teils ihnen widersprechen. Eine sehr auffallende Erschei- nung in der Nähe des Ameisennestes sind diejenigen Tiere, welche damit beschäftigt sind, Blätter verschiedener Pflanzen an der Basis abzubeißen. Diese Gewohnheit wird von Escherich!?) als eine besondere Eigentümlichkeit der amerikanischen Ernteameisen be- zeichnet. Ich habe diesen Vorgang in der Nähe der Nester von Messor barbarus auf der Insel Arbe ziemlich häufig beobachtet. Pflanzen, welche in dieser Weise von den Ameisen „zurechtgestutzt*“ werden, sind: Triticum repens (dieses Gras ist überhaupt ın der Nähe des Nestes von M. barbarus eine sehr häufige Pflanze, was vielleicht damit zusammenhängt, dass Samen bezw. Fruchtstände der Quecke besonders gern und zahlreich eingeschleppt werden, und z. T. bei der Keimung sich zu Pflanzen entwickeln, wenn sie nicht zur rechten Zeit in ihrer Entwickelung gestört werden), ferner eine nicht näher bestimmbare Centaurea-Art, Tunica saxifraga und Plantago maritima, u.a. (Fig. 3). Der Vorgang spielt sich folgender- maßen ab. Die Ameise sucht das Blatt am Blattstiel oder an der 10) Herr Professor Wehmer-Hannover hatte die Güte, den Pilz zu unter- suchen und bestätigte meine Bestimmung; ich spreche ihm auch an dieser Stelle für seine freundliche Mühewaltung meinen besten Dank aus. 11) Bei der großen Vorliebe aller Ameisen für zuckerartige Stoffe erscheint es sehr plausibel, dass Samen erst dann Geschmack für den Gaumen dieser Tiere ge- winnen, wenn die Reservestärke durch diastatische Fermente in Zucker umgewandelt ist. Da, wie wir gesehen haben, in den geschälten Samen diese Umwandlung noch nicht stattgefunden hat, bedarf es eines weiteren Fermentes, um dieses Ziel zu er- reichen, und dies dürfte eben jener Pilz sein. 12) Die Ameise, p. 17, 10* 148 Neger, Neue Beobachtungen an körnersammelnden Ameisen. Basis, kurz da, wo es am schmalsten ist, zu durchbeißen. Große Schwierigkeiten bereiten ihr dabei die Gefäßbündel des Hauptnervs. In der Regel gelingt es ihr nicht, diese glatt durchzubeißen. Wenn das Blatt soweit gelockert ist, dass es nur noch an einigen Bast- fasern hängt, ergreift die Ameise das Blatt an der Spitze und zerrt so lange daran — eventuell von einer unbeschäftigten Gefährtin unterstützt —, (zuweilen unter Drehung um die Blattachse) bis auch die Gefäßbündel zerreißen. Ist ihr dies glücklich gelungen, so wird das Blatt eine Strecke weit vom Nesteingang abseits geschleppt und hier niedergelegt. In dieser Weise werden manche Pflanzen bis auf den Wurzel- hals gestutzt, indem nicht nur die Blätter, sondern auch die Achsen abgebissen und zerstückelt werden. Ich sah Pflanzen von Quecke, welche nur wenig über den Erdboden Fig. 3. emporragten; deutlich war an dem Br Stumpf zu erkennen, dass dies die Arbeit der Ameisen war. Es kann dem- nach kein Zweifel bestehen, dass es f ® ) / auch in Europa blattschneidende Ameisen gibt, wenn auch in an- derem Sınn und wahrscheinlich auch A \ zu anderen Zwecken als bei den be- ir | kannten tropischen Blattschneidern I allgemein angenommen wird. Welche Bedeutung hat nun dieses Dt a Zustutzen der Pflanzen ın der Um- gebung des Nestes? Für die nordamerikanischen Pogo- nomyrmex-Arten wird angenommen, dass die Ausrottung der Vegetation im Umkreis des Nestes den Zweck habe, die Beschattung durch diese Pflanzen zu beseitigen. Bei dem südeuropäischen Messor barbarus beobachtete ich aber, dass die abgebissenen Gras- und Laubblätter, wenn sie eine Zeit lang an der Sonne gelegen haben und verwelkt sind, in das Nest geschleppt werden. Wozu sie dort verwendet werden, weiß ich nicht. Im Ameisenbrot fand ich keine Blattfragmente. Jedenfalls aber lässt diese Beobachtung darauf schließen, dass die „Lichtung“ des Nestplatzes nicht der einzige Zweck bei der gärtnerischen Tätig- keit dieser Tiere ist. — Über die Anlage, Reinhaltung ete. der Straßen liegen schon zahlreiche Beobachtungen vor. Ich fand, dass tagelang eine und dieselbe Straße benutzt wird. In einem anderen Fall aber be- obachtete ich, dass die Straßen in ziemlich kurzen Zeitabständen gewechselt werden. So habe ich ein Nest ın Erinnerung, dessen Neger, Neue Beobachtungen an körnersammelnden Ameisen, 149 Zufuhrweg im Lauf eines Tages zweimal gewechselt wurde. Von welchen Umständen diese Maßregel bestimmt worden war, kann ich nicht sagen. Zusammenfassung. In folgenden kurzen Sätzen möchte ich die als unzweifelhaft feststehenden neuen Erfahrungen sowie die Gesichtspunkte, nach welchen fernerhin die Ernährungsfrage der Körnersammler zu be- handeln wäre, herausheben: 1. Die Keimung der Samen geht meist nicht über das Quellungs- stadium hinaus; in den Samen, welche von den Ameisen ge- schält und ausgetrocknet (gedarrt) werden, hat noch keine Umwandlung der Stärke ın Maltose und Dextrin statt- gefunden. 2. Die vorgekeimten, geschälten und gedarrten Samen werden im Nest (von besonderen damit betrauten Tieren?) zerkleinert, zerkaut und zu einem Teig verarbeitet. Dieser Teig wird in Form von Krümeln an die Oberfläche der Erde gebracht und in der Sonne zu Zwiebackkonsistenz getrocknet (Sterili- sation?). 3. Da die getrockneten Krümel wegen ihrer Härte sich zur Nah- rung wenig eignen und die Reservestoffe immer noch in Form von Stärke- bezw. Aleuronkörnern darin enthalten sind, so erscheint es wahrscheinlich, dass es noch der Enzymwirkung eines Pilzes bedarf, um jene Stoffe in eine dem Ameisen- gaumen mehr zusagende Form überzuführen. Es ıst zu unter- suchen, ob der ın den Brotkrümeln häufig vorkommende Aspergillus niger diese Aufgabe erfüllt. 4. Die Messor barbarus-Ameisen sind auch Blattschneider; da sie die abgeschnittenen Blätter in ihr Nest schleppen, so ist an- zunehmen, dass sie irgendwelchen Nutzen daraus ziehen. Auch diese Frage ist näher zu untersuchen. Herrn Koll. Escherich bın ich für die Bestimmung der Ameise, auf welche sich diese Beobachtungen beziehen, sowie für die freund- liche fachmännisch-kritische Durchsicht dieser Zeilen sehr zu Dank verpflichtet. Figurenerklärung. Fig. 1. Eine kleine Zusammenstellung von Früchten und Samen, welche den Schlepperameisen abgenommen wurden; oberste Reihe (von links nach rechts) zwei Samen von Pinus halepensis, Fruchtstand von Weizen, Früchte der Hedypnois eretica; zweite Reihe: Triticum repens (Teil der Fruchtähre), Medicago sp., Dac- tylis glomerata (oberster Teil der Rispe); dritte Reihe: eine Messor- Ameise (Körner- träger), Köpfchen von Centaurea sp., ete.; in der untersten Reihe in der Mitte zwei Schneckenschalen, rechts eine kleine Zwiebel. (”/,, der natürl. Größe.) Fig. 2. a) Ameisenbrotkrümel. ('/,). b) Wichtigste Bestandteile derselben, vergrößert (!%/,) und zwar: st.Z. = stärkeführende Zellen, st. X. = einzelne Stärke- 150 Franz, Zur Physiologie und Pathologie der Chromatophoren. körner, A.Z. — Aleuronführende Zellen der Kleberschicht, $.$. — Bruchstücke der Samenschale, L.C. — Bruchstücke aus Leguminosen-Cotyledonen. Fig. 3. Von Messor barbarus abgeschnittene Blätter und zwar: zwei Blätter einer kleinen Centaurea, ein Blatt von Plantago maritima, ein Blatt und ein Blüten- stiel von Tunica saxifraga, sechs Blätter und Blattfragmente einer kleinen Plantago- Art, zwei Blätter eines Grases (®/,, der natürl. Größe) Zur Physiologie und Pathologie der Chromatophoren. Von V. Franz (Helgoland). I. Zur Physiologie der Chromatophoren. Trophische Reizwirkung auf Chromatophoren. Da man weiß, dass das Chromatophorensystem in der Haut eines Amphibs oder Fisches innerviert ist, so liegt wohl die Frage nahe, ob es gleich anderen innervierten Geweben — Drüsen, Muskeln — auch trophischen Reizwirkungen unterliegt, d. h. ob es durch stärkere funktionelle Inanspruchnahme, durch Übung, eine Massenzunahme erfährt. Ich glaube, seitdem ich mir jene Frage gestellt, die folgenden Erscheinungen unter dem genannten Gesichts- punkte betrachten zu müssen. Es gibt Fälle, wo eine dunkle Umgebung des Fisches nicht nur den momentanen Zustand der Chromatophoren beeinflusst, sondern auch dauernd in der Weise wirkt, dass das Pigment an Menge zunimmt. Auf einem dunklen, an Braunalgen außerordent- lich reichen Grunde, leben die Schollen (Pleuronectes platessa) der westlichen Ostsee. Ihre Färbung ist demgemäß außerordentlich dunkel. Es ist kein Zweifel, dass auch eine Scholle der Nordsee, auf entsprechend dunklem Grunde, dieselbe Farbe annehmen kann. Auf einem Grunde von normaler, hellerer Farbe aber nimmt sie in kurzer Zeit wieder hellere Farbe an; die Ostseeschollen dagegen behalten ihre dunkle Tönung dauernd auch dann, wenn man sie, mit einer Marke versehen, in die Nordsee aussetzt. Denn es hat sich gezeigt, dass eine in der Nordsee wiedergefangene Ostseescholle meist sofort, bevor man die Marke besah, an ihrer dunklen Farbe und etwas rauheren Beschuppung als Ostseescholle erkannt wurde. Von den Süßwasserfischen sei ein ähnlicher Fall im Anschluss an G. Schneider!) erwähnt: Im Obersee bei Reval beobachtete Verf. außer normalen Exemplaren zwei ausgesprochene Farben- varietäten des Flussbarsches: eine „schwarze“ und eine „weiße“. Schneider deutet diese Variationen zum Teil als Anpassungen, die einen so ausgeprägten Charakter deshalb annahmen, weil der See flach ist und sein Grund daher überall beleuchtet wird. In 1) G. Schneider: Farbenvariationen des Flussbarsches (Perca fluviatilis). Korrespondenzblatt des Naturf. Vereins zu Riga 1908. Bd. 51. Franz, Zur Physiologie und Pathologie der Chromatophoren. 451 der Mitte des Sees ist der Schlamm graubraun, entsprechend der Farbe der normalen Fische. Die weißlichen Barsche können sich an die stellenweise weit ausgedehnten weißen Sandflächen ange- passt haben, die dunklen (schwarzen) an Stellen torfigen Grundes. Die Farbenabänderungen unterliegen aber nicht einem schnellen reflektorischen Wechsel, da die Fische auch oft auf solchem Boden gefangen wurden, dem sie durchaus nicht angepasst waren. Auch experimentell wurde keine Farbenänderung innerhalb mehrerer Stunden konstatiert, nicht einmal bei Vivisektion, Tod oder Konser- vierung in Formalın verloren die Tiere ihre Eigenart. Verf. neigt zu der — m. E. wohl berechtigten — Annahme, dass die Individuen verschiedene Mengen des Pigments besitzen, die sie wohl auf dem Stadium der jungen Brut erwarben. Die auffallendste Erscheinung aber, welche für eine trophische Reizwirkung auf Chromatophoren spricht, ist bei den allerersten Bodenstadien der Scholle zu konstatieren. Im Mai fängt man bei Helgoland erstens ım Plankton junge Schollen, die entweder bereits fertig asymmetrisch, oder doch beinahe so weit sind. Sie schwimmen weder senkrecht noch wagrecht, sondern schräg. Ins Wasserglas gebracht, haften sie am Boden oder an der Gefäßwand fest, sobald sie damit in Berührung kommen: es sind also Tiere, die gerade auf dem Übergangsstadium zwischen dem pelagischen und dem benthonischen Leben stehen. Sie sind glasdurchsichtig, nur mit sehr schwacher, freilich charakteristischer Pigmentierung. Zu gleicher Zeit kann man dieselben Stadien auch bereits vom flachen Sandgrunde ketschern, hier aber haben sie eine sehr hübsche, aus Schwarz, Weiß und Gelbbraun bestehende Pigmentierung ange- nommen. Die Tatsache ist auch schon von anderen Beobachtern ge- sehen worden, obwohl m. W. noch nicht publiziert. Es; ist klar, dass der Unterschied der Pigmentierung nicht lediglich mit dem Eintritt in irgendein Wachstumsstadium zusammenhängt, sondern vor allem mit dem Übergang zum Leben am Grunde, und es ist sonach sehr wahrscheinlich, dass die veränderten Lichteindrücke, die das Auge arfährt, eine Wirkung auf die Chromatophorennerven auslösen. Dass es sich um eine trophische Wirkung handelt und nicht bloß um eine pigmentomotorische, davon kann man sich mit Hilfe des Mikroskops überzeugen: bei der „Glasscholle* — diesen Ausdruck wollen wir in Anlehnung an das gebräuchliche Wort „Glasaal* für die noch durchsichtigen pelagischen Tiere gebrauchen — sind viel weniger Uhromatophoren vorhanden als bei der „Pigmentscholle“. Ich entwarf mittelst Zeichenprismas bei etwa 50facher Vergröße- rung Skizzen vom Chromatophorenmuster und sah zu, wieviele Pigmentzellen auf der Zeichnung auf einen Kreis von 2 cm Radius entfallen. Es waren ihrer bei vier Glasschollen nur 12—28, bei drei Pigmentschollen dagegen 40—45. Dass es der farbige Sand 152 Franz, Zur Physiologie und Pathologie der Chromatophoren. ist, der die Pigmentzunahme bewirkt, nicht etwa der Reflex des Festhaftens, zeigen folgende einfache Versuche. Eine Glasscholle wird, wenn man sie in ein Wasserglas auf Sandboden setzt, binnen wenigen Tagen allmählich von einer Pigmentscholle ununterscheid- bar durch ständige Zunahme des Pigments. Eine Glasscholle da- gegen, die in einem kleinen Wasserglase ohne Sand am Boden gehalten wird, welches seinerseits in seiner Umgebung nur Glas- wände hat (von kleinen Kastenaquarien), so dass die Scholle nur entweder helle Lichtreflexe oder noch die grünliche Farbe des Glases sieht, also sich in einem dem freien Meere möglichst ähn- lich aussehenden Milieu befindet, zeigte während einwöchentlicher Versuchsdauer keine nennenswerte Zunahme der Pigmentierung. Pigmentschollen endlich, in dem eben bezeichneten Milieu gehalten, zeigen kein Rückgehen der Pigmentierung mehr, höchstens eine Attraktion?) (Ballung) des Pigments auf die Zellzentren. Es gibt also ın der en: bei der jungen Scholle einen kritischen Zeitpunkt, der gegeben ist, sobald die Scholle die Farbe des Sandgrundes um sich sieht. In diesem Moment erfolgt die Zunahme der Chromatophorenmenge. | Nun stehen wır allerdings, wenn wır die genannten Erschei- nungen als trophische Reizwirkungen auffassen wollen, noch vor einer gewissen Schwierigkeit. Nach den bekannten Erfahrungen über die elektrische Reizung der Chromatophoren sowie über ihre postmortale totenstarre-ähnliche Kontraktion muss man den Zu- stand der Chromatophoren mit attratiertem zusammengeballtem Pigment als den Zustand der Reizung ansehen, und wenn die Rei- zung trophisch wirkt, so müsste man erwarten, dass gerade die Tiere, die in helleren Milieus leben, wo sie ıhr Pigment auf winzige Punkte anhäufen, eine vermehrte Chromatophorenmenge bekommen. Genau das Gegenteil ist aber der Fall. Wie ist die Schwierigkeit zu beseitigen ? Leicht zu beseitigen ist sie ın dem zuletzt erwähnten Falle, wo die ganz junge Scholle beim Übergang zum Leben am Grunde eine Zunahme der Pigmentierung erfährt. Während des pelagischen Lebens werden wahrscheinlich nur sehr wenige pigmentomoto- rische Reflexe ausgelöst, von dem Moment Ne Übergangs zum Bodenleben aber hat das Fischlein die Aufgabe, seine Farbe möglichst ganz genau der Farbe des Grundes anzupassen, und es wird, wenn es seinen Ort verändert, auch seine Farbe verändern müssen. Von jetzt ab fließen also dem Uhromatophorensystem viel mehr Innervationen zu als vordem, und es steht durchaus nichts der Annahme im Wege, dass hierdurch, also durch trophische Reizwirkung, die Menge der Chromatophoren vergrößert wird. 2) Vgl. V. Franz: Die Struktur der Pigmentzelle. Biol. Centralbl. 1908. Franz, Zur Physio'ogie und Pathologie der Chromatophoren. 1453 Wohl kaum schwieriger sind jene Fälle, wo Fische auf dunklem Grunde eine dauernde dunkle, oder auf hellem Grunde eine dauernde helle Farbe annehmen. Wıe schon gesagt, könnte man das gerade Gegenteil erwarten. Die Sache liegt aber auch nicht so, dass die maximale Expansion des Pıgments zur Vermehrung der Chromato- phoren führt, das beweist folgender Versuch, den ich hier noch erwähnen will: Maximale Expansion des Pigments bei jeder ein- zıgen schwarzen Chromatophore tritt ein, wenn man eine Glasscholle blendet°), die Tiere, die übrigens die Fähigkeit, Kopepoden zu er- haschen, nicht verloren haben, aber entschieden eine gesteigerte Lebhaftigkeit an den Tag legen, wirken dann recht schwarz; be- trachtet man sie aber unter dem Mikroskop, so sieht man, dass die Chromatophorenmenge bei ihnen sich nicht vergrößert hat, sondern nur die einzelnen Zellen maximal expandiert sind. Also die dauernde Expansion der Chromatophoren hat wiederum auch nicht ihre Vermehrung zur Folge. Vermutlich wird die Sache normalerweise so liegen: auf dunklem Grunde sind hauptsächlich die dunklen Chromatophoren tätig, um dem Fisch jeweils nach Mög- lichkeit die augenblicklich erforderliche Farbe zu geben, auf hellem Grunde aber fließen die meisten namentlich den helleren Chro- matophorenarten zu. Ist nun dies der Fall, so ıst es mit den An- schauungen über die trophische Wirkung der Reize durchaus ver- einbar, dass auf dunklerem Grunde dauernd dunklere, auf hellerem dauernd hellere Varietäten entstehen. Jedenfalls werden wir also annehmen dürfen, dass das Chro- matophorensystem der Fische trophischen Reizwirkungen unterliegt, und dass die beschriebenen Erscheinungen unter diese Kategorie gehören. Sie liefern dann auch eine neue Stütze für die heute wohl schon ziemlich allgemein anerkannte Meinung, dass es keine eigenen trophischen Nerven gibt, sondern vielmehr die motorische Innervation an sich zugleich trophisch wirkt. Denn man kann kaum glauben, dass von den feinen, jede einzelne Pigmentzelle umspinnenden Nervenendigungen die einen pigmentomotorische, die anderen trophische Funktion haben. 3) Es ist erstaunlich, wie gut die Enukleation der Augen von den etwa 1,3 cm langen Tierchen überstanden wird, auch wenn das Tier bei der Operation infolge des Festhaltens (mittelst Fließblatts) offenbar weitere Schädigungen davonträgt, die sich im Opakwerden ganzer Körperteile äußert. Die noch jüngeren, rein pelagischen, symmetrischen Stadien würden an solchen Eingriffen sicher zugrunde gehen, da sie gegen Verletzungen viel empfindlicher sind. Offenbar erhalten die Fischlein beim Ubergang zum Leben am Boden, und das heißt bei der Scholle so viel als: in der Brandungszone, auch eine bedeutende Widerstandsfähigkeit gegenüber mechanischen Läsionen, 154 Franz, Zur Physiologie und Pathologie der Ohromatophoren. II. Zur Pathologie der Chromatophoren. A. Angeborene Anomalien der Pigmentierung. Gar nicht selten findet man Schollen oder Plattfische anderer Arten, die nicht nur auf der Oberseite (Augenseite) pigmentiert sind, sondern auch auf der Unterseite (Blindseite), sei es, dass diese in ganzer Fläche, oder nur auf mehr oder weniger große Partien hin Chromatophoren führt. Schon viel seltener sind solche Fische, die auf der Oberseite höchst unregelmäßige große, schneeweiße Flecken haben, also Hautstellen, denen das Pigment ganz fehlt, oder auch Flecken von Orangegelb, wo also nur die gelblichen und rötlichen Chromatophoren entwickelt sind, die schwarzen aber fehlen. Es ist ein nicht ganz entfernt liegender Gedanke, den ich ım Anschluss an das Vorangehende noch aussprechen möchte, dass derartige, zumeist „angeborene“ (wenn auch natürlich erst post- larval auftretende) Pıgmentierungsanomalien ihre Ursache in Ano- malien ım Verlauf der Chromatophorennerven haben mögen. Ich beabsichtige aber ım folgenden nicht, diesen Gedanken weiter zu verfolgen, sondern wıll nur einige höchst augenfällige Erscheinungen erwähnen. Mir fiel auf, dass Pigmentierungsanomalien der Oberseite bei größeren Schollen viel seltener sind .als bei kleineren. Um dieser Aussage eine etwas festere Form zu verleihen, seien einige Zahlen genannt. Unter 1076 Schollen des ersten Jahrganges, die teils von Helgoland, teils von Norderney, teils aus der Ostsee (Eckern- förde, Travemünde, Schlutup) stammen und ungefähr 2—8 cm Länge messen, fanden sich 9 solche mit Pigmentierungsanomalien — weißen oder goldgelben, unregelmäßigen Flecken — auf der Oberseite. Der Prozentsatz der auf der Oberseite abnorm pigmen- tierten beträgt also hiernach 0,84, also annähernd 1. Mag er in- folge von „Zufälligkeiten* ein anderesmal größer oder kleiner aus- fallen, in jedem Falle wird er größer sein als bei älteren Schollen. Es ist ein Schulbeispiel für die Wirkung der natürlichen Auslese, wie man es nicht schöner wünschen kann. Ganz selten bekommt man wohl auch eine erwachsene Scholle mit unregelmäßiger weißer oder goldgelber oder auch (bei Hypertrophie der schwarzen Uhro- matophoren) schwarzer Flecken zu Gesicht, die dann trotz ihres sehr auffälligen Farbenmusters ihren Nachstellern entgangen ist. Als im Jahre 1906 der König von Sachsen das Helgoländer Aquarium besichtigte, konnte zufällig eine derartige, sehr dekorativ wirkende Scholle unmittelbar vorher von einem Fischer gekauft werden. Sie lieferte aber den Beweis dafür, dass diese Farbenanomalien das Tier sehr leicht verraten können, indem sie von einem großen Cancer pagurus angefallen und gefressen wurde, noch bevor sie ihren Zweck erfüllte. In der Absicht, eine Vorstellung von dem Franz, Zur Physiologie und Pathologie der Chromatophoren., 155 ungefähren Prozentsatz abnorm pigmentierter größerer Schollen zu gewinnen, habe ich im Juni 1908, als wir mit dem „Poseidon“ in 4 Sm. Entfernung westlich Helgoland 16697 erwachsene Schollen fingen, beim Sortieren und Messen der Fische darauf geachtet, wie viele von ihnen auf der Oberseite abnorm pigmentiert seien. Es fanden sich zwei solche. Wenn es sich in diesen Fällen um angeborene Anomalien gehandelt hätte, so wäre ıhr Prozentsatz unter diesen Schollen 0,012, also schon viel geringer 'als bei den Schollen des ersten Jahr- ganges. Man wird aber richtiger den Prozentsatz hier als absolut Null rech- nen müssen, denn in diesen beiden Fällen handelte es sich zweifellosum erworbene Anomalien als Folgen von Verletzung, wie wir sogleich sehen werden. B. Erworbene Anomalien der Pigmentierung. a) Degeneration des Pigments. Bei den genannten bei- den Fischen zeigte nämlich der „Rücken“, d. h. die Kante, an welcher die Dor- sale wurzelt, an einer Stelle eine eigenartige Narbe, die auf der Ober- wie Fig. 1. Narbe und Pigmentierungsanomalie Unterseite zu erkennen war an der Wurzel der Rückenflosse von Pleuro- n 7 on . und, etwa 1 cm Länge nectes platessa. Vergr. ca. 3:1. messend, quer zum Rand des Fisches verlief. Außerdem waren dort einige Flossenstrahlen ver- kürzt und etwas unregelmäßig gebogen. Ich möchte kaum be- zweifeln, dass die Narbe von dem Angriff einer Hummer- oder wahrscheinlicher Krabben- (Cancer pagurus-) Schere herrührte. Die Wunde mag vielleicht schon vor längerer Zeit beigebracht worden sein. Die Pigmentanomalie, ein unregelmäßiger weißer Fleck, gruppierte sich um jene Stelle und dehnte sich freilich im einen Falle bis über die Seitenlinie aus. Der Schwund des Pigments dürfte erst während der Wundheilung aufgetreten sein, indem der Farbstoff bei dem Regenerationsprozesse verbraucht wurde. Im September 1909 wurden bei Gelegenheit einer „Poseidon“-Fahrt, 156 Franz, Zur Physiologie und Pathologie der Chromatophoren. die von Helgoland aus in die nördliche Nordsee, dann in den Moray Firth, von hier nach der „Doggerbank“ und wieder zurück nach Helgoland führte, 3008 Schollen gefangen, unter allen befand sich wiederum nur eine abnorm pigmentierte, und sie zeigte abermals eine solche Narbe. Diesmal bin ich in der Lage, eine Abbildung davon zu geben, Fig. 1. Man sieht die Unregelmäßigkeit ın den Flossenstrahlen, und die Narbe, umgeben von einem weißen Fleck. Der Pigmentschwund beschränkte sich in diesem Falle auf eine ziemlich kleine Stelle. Ganz sicher ist es zwar nicht, dass das Pigment beim Regenerationsprozess der Wundverheilung verbraucht wurde, denkbar wäre es auch, dass es nach Durchschneidung von CUhromatophoren-Nervenästen degenerierte*). Wir wollen daher ın erster Linie die Tatsachen als solche beschreiben und für die Er- klärung zurzeit beide Möglichkeiten offen lassen. b) Hypertrophie des Pigments. Vielleicht ist den erwähnten Fällen der folgende Fall einer Pigmenthypertrophie gegenüberzustellen, der der Biologischen Station von der Fischereiinspektion Cuxhafen eingeliefert wurde. Es han- delte sich um einen großen Köhler (Kohlfisch, Gadus virens), der am Rücken unter der Haut eine „vom Kopf bis zur Rücken- flosse sich erstreckende, weiche schwarze Masse“ aufwies. Die schwarze Masse nahm einen Streifen von etwa 3 cm Breite auf der rechten Körperseite, in etwa 3 cm Abstand von der Rücken- linie ein und ging etwa 2 cm tief. Ich untersuchte die Erscheinung mikroskopisch, zuerst frisch (d. h. so frisch, wie noch möglich, denn das Tier mag schon 14 Tage oder mehr auf Eis gelegen haben). Es war eine schleimige Masse, die anscheinend in unendlich viele, größere und kleinere bis allerkleinste Pigmentklumpen bezw. Pig- mentkörnchen zerfiel. Die allerkleinsten maßen schätzungsweise 0,0002—0,0001 mm, sie waren etwa noch halb so klein wie die Strichlinien der Mikrometerteilung dick erschienen (Obj. 4, Oec. 7, Winkel). Durchschnitt man jene Stelle mit dem Mikrotom, so sah man dort an Stelle von Muskulatur wieder die großen Pigment- massen, außerdem erkannte man jetzt, dass dieselben eine unge- färbte, eosinophile, schleimige Grundmasse durchsetzten. Das Schwarz war ganz dasselbe wie das der Hautchromatophoren, und es gab zwischen der normalen Haut und der abnormen Stelle einige schwarze Punkte, bei denen man nicht mehr entscheiden konnte, 4) Anm. b. d. Korrektur. Ich habe seither bei Gadus morrhua Durchschnei- dungen des Tractus opticus (zwecks späterer Feststellung der Riechbahnen durch Degeneration) ausgeführt. Die Körperhaut vor der Schnittstelle zeigte sich am Tage nach der Operation in unregelmäßiger Umgrenzung weißlich (Chromato- phorenballung oder -reizung), dann wurde sie sehr dunkel (Ohromatophorenexpansion oder -erschlaffung) und blieb so 20 Tage bis zur Beendigung des Versuches. Franz, Zur Physiologie und Pathologie der Chromatophoren. 157 ob es Pigmentzellen sind oder nicht. Jedenfalls ist die abnorme Pigmentansammlung nicht zellig (vgl. Fig. 2). Eine Analogie dürfte die Erscheinung finden in pigmentreichen Wucherungen, wie sie die Netzhautneuroglia des Auges häufig zeigt. Ich kann, da das Material nicht genügend gut konserviert ist, nicht entscheiden, ob in unserem Falle ein Schwund von Muskulatur vorliegt oder nur eine eigenartige, schleimige Wucherung der Bindegewebssubstanzen. Letztere ist jedenfalls vorhanden, und es ist interessant zu kon- statieren, dass hierbei auch das Pigment eine derartige hyper- Fig. 2. Schnitt durch die Haut eines G@adus virens, mit subkutaner Pigment- hypertrophie. sch Schuppen, ce Cutis, bi Bindegewebe, m Muskulatur, pi Pigmentwucherung. trophische Zunahme erfahren hat. Diese Beobachtungen über die Hypertrophie des Pigments im Verein mit jener über die Degene- ration zeigen vielleicht an, dass das Pigment zum Teil die Be- deutung eines Reservestoffes haben kann, und geben wohl Stütz- punkte ab für diese neuerdings in bestimmterer Form von G. Tornier‘) begründete Hypothese. Schließlich möchte ich noch folgendes besonders hervorheben: Bei den Beobachtungen zur Physiologie wie zur Pathologie des Pigments habe ich zwar versucht, die festgestellten Erscheinungen 4) G. Tornier: Experimentelles über Erythrose und Albinismus in der Kriech- tierhaut. Sitzungsber. d. Ges. naturf. Freunde, Berlin, Nr. 4, Jahrg. 1907. Derselbe: Nachweis über das Entstehen von Albinismus und Melanismus und Neotenie bei Fröschen Zool. Anz. Bd. XXXII, Nr. 9/10, 158 Kanitz, Das Energieprinzip in der Biologie in der neuesten Literatur. durch ein geistiges Band zu verknüpfen. Das Gewissere aber sind natürlich auch in meinen Augen nicht die Hypothesen, ‚sondern die Tatsachen selbst. Dies gilt besonders bei den erwähnten patho- logischen Fällen. Das Energieprinzip in der Biologie in der neuesten Literatur. Von Aristides Kanitz. Mit dem außerordentlichen Anwachsen der Publikationen über biologische Einzelheiten hat die Zahl der Arbeiten zusammenfassender Natur nicht Schritt gehalten. Man weiß, dass bei der unüberseh- baren Mannigfaltigkeit des Lebens jeder Theorie Lücken und Wider- sprüche nachzuweisen sein werden und man will sich der Kritik nicht aussetzen. Darunter leidet aber die allgemeine Biologie. Denn da auch Gedanken sich erst im Kampfe stählen, besteht die Gefahr, dass in der Wissenschaft vom Leben in nicht allzuferner Zeit keine festen Grundanschauungen mehr über das Leben im allgemeinen anzutreffen sein werden. Wir müssen es deshalb mit Freuden begrüßen, dass Max Rubner sich mit seinem neuesten Werk „Kraft und Stoff im Haus- halte der Natur“!) der kleinen und mutigen Schar derer ange- schlossen hat, die die vorbezeichnete Entwickelung hintanzuhalten versuchen, indem sie das Lebensproblem in seiner Allgemeinheit zu behandeln versuchen. Eigene Untersuchungen dienen Rubner als Kardinalpunkte. Zu- nächst seine bekannte Arbeit, in welcher er den experimentellen Beweis der Gültigkeit des Satzes von der Erhaltung der Energie für die Lebewesen zu erbringen unternommen hat, soweit eben dieser Be- weis experimentell geführt werden kann. Sodann neuere zahlenmäßige Relationen: 1. Die großen Verschiedenheiten des täglichen Energie- umsatzes, welche auf die Gewichtseinheit bezogen ım Tierreich be- kannt geworden sind, gleichen sich weitgehend aus, wenn als Ein- heit die Oberflächeneinheit gewählt wird. 2. Von den Säugern Pferd, Rind, Schaf, Schwein, Hund, Katze wird in der Zeit, bis das Neugeborene sein Gewicht verdoppelt, eine annähernd gleiche Energiemenge umgesetzt. 3. Bei ‚denselben Tieren ist die während der Lebenszeit pro Gewichtseinheit umgesetzte Energie- menge ungefähr gleich groß. Sowohl bezüglich 2 wie 3 macht der Mensch eine Ausnahme, sein Energieumsatz ist ein sehr viel größerer. Energetische Gesichtspunkte sind es also, die Rubner’s Grund- lage bilden, und ein starker energetischer Zug geht durch das ganze Werk. Dem Sinn nach, nicht in der Form. Dass wie im Titel auch im Text mit Vorliebe der Ausdruck „Kraft“ anstatt Energie (= Arbeit) ge- braucht wird, obwohl wir seit mehreren Dezennien unter Kraft aus- 1): Kl. s; 181 S., Leipzig, Akadem. Verlagsges. 1909. Kanitz, Das Energieprinzip in der Biologie in der neuesten Literatur. 459 schließlich nur noch den Intensitätsfaktor der Distanzenergie ver- steben, würde wenig ausmachen. Bedenklicher ist, wie mit der freien Energie verfahren wird. Hier zwei Stellen: „Diejenige Energieform, welche im Bereich der organischen Welt vor allem eine Rolle spielt, ist die chemische Energie neben der freien Energie, welche in den Pflanzen durch Sonnenstrahlung den Chlorophylikörnern zu- geführt wird. Die Zufuhr chemischer Energie ist die allgemeine Form des Lebens, die Zufuhr freier Energie, ein Spezialfall dieser Erscheinungen“ (S. 32). — „Zwei Erscheinungen treten uns bei der Ernährung des Bionten entgegen — Materie (mit chemischer Energie) und freie Energie (Wärme); von beiden ist nur die Materie befähigt zur Ernährung“ (S. 42). In keinem dieser beiden Fälle wird man unter freier Energie das wieder erkennen, als was sie Helmholtz aufgestellt und mathe- matisch formuliert hat und als was sie zunächst von der Thermo- dynamik, später von ihrer Nachfolgerin, der Energetik in Gebrauch genommen worden ist. Am meisten aber muss diese Inkongruenz zwischen energe- tischem Denken und unenergetischer Form da auffallen, wo Rubner das Zustandekommen des Energiestromes, eines der Kennzeichen des Lebens, erklären will (S. 54—56). Die Stelle schreit förmlich nach dem zweiten Hauptsatz, dieser findet sich aber ım ganzen Buche nicht vor. Wer sich für diesen hochwichtigen Satz, wie für die moderne Energetik überhaupt interessiert, kann sich Jetzt in zwei Einführungen Aufklärung verschaffen, die beide, ohne die geringsten mathe- matischen Anforderungen zu stellen, vorzüglich orientieren. Die eine ist von Alfred Stein?) verfasst; sie ist mehr konservativ, hebt die mechanischen Bestandteile, die dem Energiebegriff anhaften, stark hervor. Die andere Einführung ist die Ostwald’s?). Für uns ist sie die wichtigere, nicht nur deshalb, weil sie im 9. Kapitel die Auflösung der „Materie“ zu einem Komplex von Energien virtuos durchführt, sondern weil sie auch eine energetische Theorie der Lebenserscheinungen enthält und dabei darlegt, wie auch das Be- wusstsein unter den Energiebegriff gebracht werden kann („Nerven- energie“) und dadurch erst die Möglichkeit für eine einheitliche Auffassung der Lebenserscheinungen schaft. Den neuesten Beleg für die Fruchtbarkeit dieser Anschauungs- weise hat Ostwald in den „Großen Männern“ *) gegeben, in einem Werk, worin die Bedingungen für das Auftreten großer Natur- forscher einer systematischen Untersuchung unterworfen werden. Neu ist dieses Problem nicht. Bereits Alph. de CGandolle?°) hat 2) Die Lehre von der Energie (Bd. 257 der Sammlung „Aus Natur und Geistes- welt“), Kl. 8°, 137 S., Leipzig, B. G. Teubner, 1909. 3) Die Energie (Bd. 1 der Sammlung „Wissen und Können“), Kl. 8°, 167 S., Leipzig, J. A. Barth, 1908. 4) 8, X +424 S., Leipzig, Akad. Verlagsges. 1909. 5) Histoire des sciences et des savants depuis deux sieeles. 2. Ed. Geneve, 1885, 460 Kanitz, Das Energieprinzip in der Biologie in der neuesten Literatur. ihm eine Lösung zu geben versucht. Bleiben aber die Erörterungen des großen Pflanzengeographen mehr akademischer Natur, so trifft man bei Ostwald sehr deutliche Hinweise, die sich an die Adresse der Unterrichtsverwaltungen richten. Auch methodisch verfährt Ostwald völlig abweichend. De Candolle war mit der Neigung seiner Zeit zur Statistik durch seine juristischen Studien vertraut und hat davon verschiedentlich Gebrauch gemacht. Ostwald hingegen nimmt konkrete Beispiele, sichtet den Lebenslauf von zunächst sechs Forschern (J. R. Mayer, Davy, Liebig, Ch. Gerhardt, Faraday und Helmholtz) und findet, dass die außergewöhnliche Begabung in so etwas wie einer auf dem Lebensweg mitgegebenen, beschränkten psychischen Energie- menge (vielleicht korrekter: Fähigkeit zur Energietransformation) besteht, wobei alles darauf ankommt, dass diese Energiemenge im Sinne des zweiten Hauptsatzes unter der geringsten Vergeudung in minderwertige Energiearten seinem Ziele zugeführt wird. Früher Wohlstand mit Unabhängigkeit gepaart, sind die Schmiermittel, welche dabei die Reibung auf ein Minimum reduzieren und eine solche Gedankenmaschine der idealen am nächsten bringen. Ein Ergebnis, welches von den allgemeinen Anschauungen kaum ab- weichen dürfte. Freilich weiß auch Ostwald keinen rechten Rat gegen die allgemeine Erfahrung, dass ein neuer Gedanke erst dann zur Herrschaft gelangt, erst dann ausreichende Apparate und In- stitute zu seiner Verfügung erhält, erst dann die Mitarbeiter sich einstellen, wenn die mit dem neuen Denkmittel lösbaren Fragen ın großem ganzen schon beantwortet sind. Die energetische Anschauungsweise bietet den großen Vorzug, dass sie eine hypothesenfreie Darstellung der Geschehnisse ermög- licht. Sie wird deshalb auch nicht überflüssig, wenn die geltenden Hypothesen einmal durch andere abgelöst werden sollten, — oder zur Wirklichkeit werden würden. Die neueste Entwickelung ın dieser Richtung findet man in den „Theorien der Chemie“ von Svante Arrhenius‘), deren soeben erschienene, erweiterte 2. Auflage sich im vieler Beziehung die Verteidigung der Atom- hypothese zur Aufgabe gemacht hat, obwohl Arrhenius’ Großtat, dıe elektrolytische Dissoziationstheorie, deren 25. Geburtstag wir vor kurzem feiern konnten, der zufälligen atomistischen Gestaltung, die sie aus ihrer Entstehungszeit behalten hat, vielleicht gar nicht bedarf. 6) Übersetzt von Alexis Finkelstein. X + 233 S., Leipzig, Akad. Ver- lagsges. 1909. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. ®& Gocbel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Der Abonnementspreis für 24 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen. Bd. XXX. 1. März 1910. 5. Inhalt: Wasmann, Ueber das Wesen und den Ursprung der Symphilie (Schluss). — Semon, Der Reizbegriff. — Ostwald, Grundriss der Kolloidehemie. Über das Wesen und den Ursprung der Sympbhilie. (173. Beitrag zur Kenntnis der Myrmekophilen und Termitophilen.) Von E. Wasmann S. J. (Luxemburg). (Schluss). Während Schimmer annimmt, dass Myrmecophila acervorum eine im Aus- sterben begriffene Art, und dass ihr Fehlen im größten Teile Mitteleuropas hier- durch zu erklären sei (S. 417), glaube ich im Gegenteil, dass sie erst in der Aus- breitung von Südosten her begriffen und dass ihre Anpassung an die mitteleuropäische Ameisenfauna erst im Werden ist. Hierfür spricht nicht bloß ihr geographisches Vorkommen, sondern namentlich auch die Tatsache, dass sie in verschiedenen Gegenden ihres Verbreitungsgebietes verschiedene Ameisenarten als „normale Wirte“ bevorzugt. Eine derartig lokal schwankende Poikilophilie '°) trägt sicher nicht den Stempel einer alten, durch lange Vererbung gefestigten und jetzt im Erlöschen begriffenen Anpassung, sondern umgekehrt den Stempel einer relativ jungen, noch nicht definitiv fixierten Anpassung. Vielleicht hängt auch die von Schimmer mit überzeugenden Gründen nachgewiesene parthenogenetische Fortpflanzungsweise von Myrmecophila acervorum mit dem Vordringen dieser Art nach Norden zu- sammen, während die südlichere M. ochracea sich noch zweigeschlechtlich fortpflanzt. 1901 (Nr. 115) hatte ich auf Grund meiner Versuche über die Aufnahme von M. acervorum bei böhmischen und bei holländischen Formiea sanguinea die An- sicht ausgesprochen, dass nicht bloß die „Unerwischbarkeit“ dieser Grille und die Reinigungsdienste, die sie den Ameisen leistet, sondern auch eine erbliche instinktive Gewöhnung bestimmter Ameisenarten an jene Gäste den Grund ihrer Duldung bei den normalen Wirten bilde. Hiergegen wendet sich Schimmer (8. 461ff.), indem er gegen die Annahme eines „Grilleninstinktes“ bei den Wirtsameisen von 13) Von aoixılos, bunt. XXX. 11 162 Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. Myrmecophila argumentiert und seine negative Schlussfolgerung sogar dahin aus- dehnt, dass es überhaupt keinen „Symphilieinstinkt“ gebe. Dazu bemerke ich vor allem, dass der Schimmer’sche ‚„Grilleninstinkt“ mit der Frage nach der Existenz oder Nichtexistenz eines Symphilieinstinktes gar nichts zu tun hat, weil die vage und schwankende Anpassung von Myrmecophila an die Ameisen weit entfernt ist von einem echten symphiletischen Verhältnis und vielmehr demjenigen mancher diebischen Synoeken wie Lepismina polypoda sich nähert. Der Umstand, dass die Myrmecophila nach Schimmer's interessanten Beobachtungen gelegentlich ihre Wirte sogar nach echter Ameisenart zur Fütterung auffordert (ähnlich wie die Ate- meles nach meinen Beobachtungen es tun), begründet noch kein echtes Gastverhältnis, weil die Pflege der Grille durch die Ameisen im übrigen ausgeschlossen ist. Selbst Parasiten wie Antennophorus reizen durch Streicheln der Kopfseiten ihrer Wirte mittelst der antennenähnlichen, verlängerten Vorderfüße dieselben „nach Ameisenart‘“ zur Heraufwürgung eines Futtersafttropfens, und ähnlich macht es auch Braula coeca (nach P €@rez), wenn sie auf der Oberlippe einer Honigbiene sitzt. Die Gründe, welche Schimmer gegen die Annahme eines Symphilieinstinktes überhaupt vor- bringt, habe ich bereits oben (S. 136ff.) hinreichend widerlegt und brauche hier nicht weiter darauf zurückzukommen. Dringt man etwas tiefer in das psychologische Problem ein, welches der instinktiven Duldung von Myrmecophila bei ihren Wirten zugrunde liegt, so wird man manche Analogien mit der instinktiven Duldung der Dinarda-Arten (bezw. Rassen) bei ihren normalen Wirtsameisen finden. Auch hier beruht die Duldung des Gastes im tiefsten Grunde auf seiner „Unerwischbarkeit‘‘, welche aus der Trutz- gestalt von Dinarda entspringt, während sie bei Myrmecophila aus der schnellen und seitwärts ausweichenden Bewegungsweise resultiert. Auch leisten die Dinarda ihren Wirten manche Reinigungsdienste, indem sie die Ameisenleichen und andere Insektenreste im Neste beseitigen; manchmal nehmen sie auch in diebischer Weise an der Fütterung zweier Ameisen teil (Nr. 85). Bei den Dinarda-Formen besteht allerdings eine weit festere und bestimmtere Anpassung an ihre Wirte, indem jede Dinarda-Form in freier Natur nur auf eine bestimmte Ameisenart (bezw. Rasse) angewiesen ist und nur bei dieser ihre normale Duldung genießt. Versetzt man aber die Dinarda zu fremden Ameisen, so werden sie von diesen oft heftig angegriffen und verfolgt, bis die Wirte entweder gegen den ungewohnten Eindruck, den der neue Gast auf sie anfangs machte, abgestumpft sind und die fruchtlose Verfolgung aufgeben, oder bis es ihnen endlich gelungen ist, die Käfer zu erhaschen und zu fressen. Dabei zeigte sich auch die sonderbare Erscheinung, dass in einem meiner Beobachtungsnester von Formica sanguinea, in welchem viele Jahre lang die Dinarda dentata in normaler Weise geduldet worden war, eine heftige Dinarda- Verfolgung ausbrach, nachdem ich einige Exeniplare einer etwas größeren, fremden Dinarda, D. Maerkeli hineingesetzt hatte, die normalerweise bei F. rufa lebt. Letztere waren nämlich von den sanguwinea und ihren Sklaven, auf welche sie einen ungewohnten und feindlichen Eindruck machten, verfolgt und schließlich aufgefressen worden. Daraufhin dehnten dann die Ameisen jenes Nestes dasselbe Verfahren auch auf ihre normale Dinarda-Art, D. dentata, aus und setzten die Dinarda- Jagd fort, bis sie sämtliche Exemplare ausgerottet hatten (Nr. 59, 95, 164). Diese „öfteren Insulte gegen Dinarda‘“ werden auch von Schimmer (S. 464) erwähnt, aber dabei nur Escherich als Quelle genannt. Der tiefere psychologische Sinn dieser Vorgänge dürfte sehr lehrreich sein zur richtigen Beurteilung der analogen Erscheinungen bei Myrmecophila. Tatsächlich werden ja die Dinarda-Formen bei ihren respektiven Formica-Wirten, D. dentata bei F. sangwinea, Maerkeli bei rufa, Hagensi bei exsecta und pygmaea bei rufibarbis normalerweise in- different geduldet, und zwar infolge eines erblichen Instinktes, welchen Schimmer vielleicht „Dinarda-Instinkt“ nennen würde Es ist die erbliche Gewöhnung der Ameisen an die Sinneseindrücke, die von diesen Gästen ausgehen, was die normale Duldung derselben bewirkt. Diese erbliche Gewöhnung Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. 1653 kann aber, wie meine Versuche gezeigt haben, durch anormale Verhältnisse aufge- hoben werden, indem die Ameisen dann durch eigene Erfahrung „lernen“, diese Gäste zu verfolgen und zu fangen. Wer wollte aber hieraus den Schluss ziehen, es gebe überhaupt keine erbliche instinktive Duldung von Dinarda bei ihren normalen Wirten? Das wäre eine Behauptung, die den Tatsachen ins Angesicht schlagen würde. Aber eben diesen falschen Schluss hat Schimmer aus seinen Versuchen über dieinternationalen Beziehungen von Myrmecophila gezogen. Da unter anormalen Verhältnissen die Aufmerk- samkeit der Ameisen in feindlicher Weise auf die Myrmecophila gelenkt werden, und es dann den Ameisen auch manchmal wirklich gelingen kann, diese Grillen zu fangen und zu töten, so folgert Schimmer hieraus, dass Myrmecophila auch bei ihren normalen Wirten unter normalen Verhältnissen nicht instinktiv geduldet werde; es gebe deshalb keinen „erblichen Instinkt“ der Myrmecophila- Duldung bei den Ameisen! Wie unbegründet diese Schlussfolgerung ist, sieht man sofort aus dem Ver- gleich mit den ebenerwähnten analogen Vorgängen bei Dinarda. Die Ameisen sind keine „Reflexmaschinen“, und deshalb kann auch ihre erbliche Gewöhnung an bestimmte Sinneseindrücke, welche die normale Duldung von Dinarda und von Myrmecophila zur Folge hat, durch neue Sinneseindrücke aufgehoben werden, indem mittelst der individuellen Erfahrung der Ameise neue Assoziationen sich bilden, welche die instinktive Handlungsweise der Ameisen abändern, modi- fizieren. Aber folgt hieraus etwa, dass der betreffende Instinkt, welcher auf diesem Wege modifiziert worden ist, gar nicht existiert habe? Das ist eben der falsche Schluss, welchen Schimmer gezogen hat. Wollte man wegen der ge- legentlichen Modifizierung eines Instinktes infolge der individuellen Erfahrung des Tieres den betreffenden Instinkt einfach leugnen, so müsste man folgerichtig die Existenz aller erblichen Instinkte bei den Ameisen und im Tier- reich überhaupt leugnen; denn diese Instinkte sind keine mechanischen Auto- matismen, sondern werden durch die Sinnesempfindung und die Sinneserfahrung des Tieres geleitet und können deshalb, namentlich unter anormalen Verhältnissen, mannigfache Abänderungen und Störungen in ihrer Außerungsweise erleiden. Dies ist beispielsweise auch beim Brutpflegeinstinkte der Ameisen der Fall, dessen Betätigung durch anormale Einflüsse so gestört werden kann, dass die Ameisen ihre eigenen Larven auffressen, oder dass sie krüppelhafte Zwischenformen von Weibchen und Arbeiterinnen (Pseudogynen) statt der normalen Weibchen erziehen. Will man deshalb etwa die Existenz eines Brutpflegeinstinktes bei den Ameisen in Abrede stellen? Ich glaube hiermit Schimmer’s Beweisführung in bezug auf den „Grillen- instinkt“ auf ihren wahren Wert zurückgeführt zu haben. Die Momente, welche von Seite der Myrmecophila ihre Behandlungsweise durch die Ameisen begründen, hat er recht gut dargelegt. Aber das psychische Korrelat dieses Problems von seiten der Wirte hat er ganz vernachlässigt und ist deshalb zu irrtümlichen Schlussfolge- rungen gelangt. Gegen die Annahme eines Symphilieinstinktes hat er dadurch jedenfalls nicht das geringste bewiesen. Als Schlussergebnis dieses Abschnittes stelle ich den Satz auf: Die Symphilieinstinkte der Ameisen (bezw. der Ter- miten) sind im Laufe der Stammesgeschichte erworbene, erblich gewordene Differenzierungen und Speziali- sierungen des allgemeinen Brutpflege- und Adoptions- triebes jener geselligen Insekten. Wegen ihrer erblichen Beziehung auf die Adoption und die Pflege bestimmter echter Gäste sind sie als „besondere Instinkte“ zu be- trachten. Ihre Annahme ist zur Erklärung der einschlä- gigen Tatsachen notwendig. 11* 164 Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. 3. Der Ursprung der Symphilie und die „Amikalselektion“. Die Symphilie beruht auf Anpassung fremder Insektenarten an die Symbiose mit Ameisen (bezw. Termiten). Sie ist das Er- gebnis eines Entwickelungsprozesses, durch welchen frühere Synoeken oder sogar Synechtren!*) allmählich eine höhere Stufe des Gast- verhältnisses erstiegen. Der Anpassungsprozess, dessen Ergebnis die heutigen symphyletischen Beziehungen sind, ist von einer doppelten Seite zu betrachten: von Seite der Gäste und von Seite der Wirte. Von seiten der Gäste umschließt er die Entwickelung jener morphologischen und biologischen Anpassungscharaktere, welche sie zu „echten Gästen“ machen: die Ausbildung bestimmter äußerer Exsudatorgane (Trichome, Hautporen, Hautgruben, Exsudat- knospen) und innere Exsudatgewebe (Fettgewebe, Drüsengewebe, Blutgewebe, vgl. Nr. 134), sowie auch jener Instinkte der Gäste, durch welche sie in geselligen Verkehr mit ıhren Wirten treten und sich deren gastliche Pflege sichern (aktive Mimikry in der Ameisen- ähnlichkeit des Benehmens, namentlich des Fühlerverkehrs und der Aufforderung zur Fütterung, in der Körperhaltung der Käfer (Lome- chusa, Atemeles) und ihrer Larven etc.). Auf seiten der Wirte entspricht dieser Entwickelung der Anpassungscharaktere der Gäste eine bestimmte Differenzierung und Spezialisierung des Adoptions- und Brutpflegeinstinktes, welche vielfach zur Entstehung erblicher Symphilieinstinkte führte. Die Beziehung zwischen der Entwickelung der Anpassungs- charaktere der Gäste und der entsprechenden Instinkte der Wirte ist stets als eine reziproke zu denken, die auf wechselseitiger Beeinflussung beruht. Indem jene Gäste, welche eine höhere Ausbildung der symphilen Exsudatorgane und Exsudatgewebe er- reichten, eine eifrigere Pflege von Seite ihrer Wirte genossen, er- hielten sie immer günstigere Bedingungen für die Vererbung und Weiterentwickelung ihrer Anpassungscharaktere; indem andererseits die Wirte ıhre Pflege immer eifriger bestimmten echten Gastarten zuwandten, wurden auch jene Instinktmodifikationen der Wirte, die sich auf die Symphilenpflege bezogen, immer mehr spezialisiert und gesteigert. I. Betrachten wir nun die Faktoren für die Entwickelung der Symphilie etwas näher, und zwar zuerst von seiten der Gäste. a) Den grundlegenden Faktor für diese Entwickelung bilden jene organisch-psychischen Eigentümlichkeiten, welche bei den Vor- 14) Über den doppelten Ursprung der Symphilie vgl. schon 130, S. 90. Wie aus ursprünglich feindlich verfolgten Eindringlingen zuerst geduldete Einmieter und dann echte Gäste werden können, zeigt sich besonders schön an der Familie der Paussiden (Nr. 76, 133, 142, 143, 157). Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. 165 fahren der heutigen Symphilen die Ausbildung bestimmter Exsudat- organe und Exsudatgewebe sowie die Anknüpfung gastlicher Be- ziehungen zu Ameisen oder zu Termiten ermöglichten; mit anderen Worten: die eigentümlichen organisch-psychischen Kon- stitutionen der Stammformen. So müssen wir beispielsweise für die Stammform der Lomechusini voraussetzen, dass sie die Anlage zur Verbreiterung der Körperform, zur Erweiterung und Aushöhlung des Halsschildes, zur reichlichen Entwickelung lateraler Trichome an den Abdominalsegmenten und zur Hypertrophie des Fettgewebes besaß; in der Beschaffenheit ihres Nervensystems musste ferner die Disposition zur Erwerbung einer aktiven Ameisen- mimikry, namentlich eines ameisenähnlichen Fühlerverkehrs, liegen. Alle diese Anlagen sind aber in den allgemeinen Eigentümlichkeiten des Kurzflüglertypus, wenngleich nur schwach ausgeprägt, schon vorhanden und boten deshalb die erforderlichen Anknüpfungs- punkte für die Entwickelung der Symphilie bei den Lomechusini. Wenn ich diese Anlagen als „innere Entwickelungsgesetze* bezeichne, so meine ich offenbar damit nichts „Mystisches* oder „Übernatürliches“, wie Escherich, Plate und andere befangene Kritiker mir wiederholt untergeschoben haben; denn die organısch- psychische Konstitution der Stammformen unserer Symphilen ist ihrerseits wiederum als das Endergebnis eines vorausgegangenen natürlichen Entwickelungsprozesses zu denken, durch welchen die Familien- und Gattungseigentümlichkeiten der betreffenden Stammformen ım Laufe der Phylogenese sich spezialisiert haben. Ebenso wie die Entwickelung der Färbung und Zeichnung der Insekten bestimmten inneren Gesetzen unterliegt, so unterliegt auch die Entwickelung der Körperform, des äußeren Hautskelettes mit seinen Trichomen und diejenige der Körpergewebe der Insekten bestimmten organischen Gesetzen, welche für die Anpassungs- charaktere der Ameisengäste und Termitengäste die Grundlage bilden. Einige Beispiele werden dies erläutern. Die Fühler der Paussiden zeigen die Eigentümlichkeit, unter den myrmekophilen Anpassungsverhältnissen die normale Glieder- zahl (11) in der verschiedensten Weise zu reduzieren bis auf 10, 6. (5) oder 2 Glieder, indem die benachbarten Glieder untereinander verwachsen; dabei kann die nur mehr eingliedrige Fühlerkeule alle nur denkbaren Gestalten annehmen. Bei keiner anderen Käfer- familie treffen wır eine so hohe Modifikationsfähigkeit der Fühler- bildung, und wır müssen deshalb annehmen, dass sie in der „orga- nischen Konstitution“, in den „inneren Entwickelungsgesetzen* der Paussiden in besonderer Weise begründet ıst und dadurch ihre Mitglieder zu den mannigfaltigsten symphilen Anpassungen befähigt. Ferner zeigt der Kopf der Staphyliniden in den Unterfamilien der Aleocharinen und der Paederinen eine auffallende Neigung zur 166 Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. Verlängerung statt zur Verbreiterung, wenn er im Vergleich zum Halsschild an Umfang zunehmen und dadurch den relativ großen Ameisenkopf „nachahmen“ soll; nur dadurch ist es erklärlich, wes- halb wir bei den Dorylinengästen des Mimikrytypus aus dieser Familie, bei Mimeeiton, Eeitophya, Dorylomimus, Dorylostethus, Eet- tonides u. s. w., welche die Körperform ihrer Wirte imitieren, einen exzessiv verlängerten, aber nur schwach verbreiterten Kopf als Abbild des betreffenden Ameisenkopfes antreffen (Nr. 164). b) Von den grundlegenden Faktoren, die wir in den inneren Entwickelungsgesetzen der Stammformen gefunden haben, wenden wir uns jetzt zu den treibenden Faktoren der Stammesentwickelung bei den echten Gästen der Ameisen und der Termiten. Es boten sich hier eine Reihe verschiedener Entwicke- lungsmöglichkeiten, die nur in der Anlage vorhanden und in ihren Grenzen vorbestimmt waren; aber wir müssen nun die Künstler- hand suchen, welche aus diesem Rohmaterial die oft so abenteuer- lichen Gestalten der Symphilen, die bei Formen wie Spirachtha und Termitomimus selbst die abenteuerlichste Phantasie übertreffen, herausgemeißelt hat. Für die Entwickelung der Exsudatorgane und Exsudat- gewebe der echten Gäste müssen wir wohl vor allem eine direkte Reizwirkung als fördernden Faktor annehmen, indem jene Körperteile der Gäste, an denen sie von ihren Wirten hauptsäch- lich beleckt werden, durch den auf die Trichome und Hautporen ausgeübten Reiz zur rascheren Zellvermehrung angeregt wurden. In diesem Sinne kann man hier wohl den beliebten Satz des La- marck’schen Prinzips der direkten Anpassung anwenden: „la fonetion erde l’organe.“ Diese Reizwirkung allein erklärt jedoch nicht in ausreichendem Maße die so mannigfaltige und hochgradige Entwickelung jener symphilen Anpassungscharaktere. Wir müssen für letztere auch verschiedene Formen der Selektion zu Hilfe nehmen und ihnen einen bedeutenden Anteil an dem hypothetischen Entwickelungsprozesse der echten Gäste zuschreiben. Die Personalselektion, das Überleben der passendsten Indi- viduen, diente zur Ausmerzung der minder gut ausgerüsteten Kon- kurrenten, welche für die oft gewaltsame Behandlung durch die Ameisen minder widerstandsfähig waren und ihren Wirten auch einen zu geringen Pflegereiz boten, weshalb sie schlechter ernährt wurden. Auch die Germinalselektion Weismann’s konnte in diesen Entwickelungsprozess eingreifen, indem sie jene Keimes- anlagen der Gäste verstärkte und befestigte, welche auf die Steige- rung der symphyletischen Beziehungen sich bezogen. Eine Haupt- rolle spielt jedoch die Amikalselektion, d.h. die positive instinktive Zuchtwahl, welche von den Ameisen und den Termiten gegenüber ihren echten Gästen ausgeübt wurde. Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. 167 c) Schon 1897 (Nr. 60) hatte ich den Begriff der Amikal- selektion aufgestellt, um die so ungeheuere Mannigfaltigkeit der Fühlerbildung bei den Paussini und Clavigerini zu erklären. Die- selbe übertrifft an Vielgestaltigkeit und Abenteuerlichkeit sogar die Produkte der künstlichen Zuchtwahl des Menschen an den ver- schiedenen Taubenrassen. Sie macht den Eindruck einer von be- stimmten „Geschmacksrichtungen“ geleiteten Auslese, welche bei den Ameisen und Termiten selbstverständlich nur als eine instink- tive Bevorzugung der ıhnen angenehmeren Gastformen gedacht werden kann, nicht aber als eine auf ästhetischen Motiven be- ruhende, bewusst zielstrebige Auslese, wie bei der künstlichen Zucht- wahl des Menschen. Ich hatte dann 1904 (Nr. 143, S. 258ff.) und 1906 (Nr. 157, S. 380ff.) des Näheren gezeigt, dass wir die spezifische Differen- zierung der Fühlerformen in der Gattung Paussus durch die Natur- züchtung Darwin’s nicht hinreichend zu erklären vermögen. Durch die Naturauslese konnten nur die minder zweckmäßigen Fühler- formen als nicht existenzfähig ausgemerzt werden; die strenge An- passungsnotwendigkeit, die diesem Prozesse zugrunde liegt, musste auf die Einförmigkeit der Fühlerbildung bei Paxussus hinarbeiten, auf die Heranzüchtung einer einzigen oder weniger Fühlerformen, die als Exsudatorgane und Transportorgane sich am „zweck- mäßigsten“ erwiesen. Die Tatsachen bieten uns aber das gerade Gegenteil hiervon, nämlich eine ungeheuere Mannigfaltigkeit der Fühlergestalten. Letztere muss daher einen anderen Grund haben, und diesen suchte ich in der instinktiven Vorliebe der Ameisen für gewisse Formen der Fühlerkeule bei ihren Paussus, und auch heute noch vermag ich keine bessere Erklärung für jene Erscheinung zu finden als die ebenerwähnte „Amikalselektion“. Dieselbe unterscheidet sich von der Naturzüchtung dadurch, dass sie kein bloß negativer Faktor —— das Überleben des Passendsten — ist, sondern eine positive Auslese darstellt, welche die Wirte gegenüber ihren Gästen ausüben. Dieselbe geht so weit, dass z. B. Formica sangwinea und rufa, wie ich in meinen Beobachtungsnestern wiederholt konstatierte (Nr. 162, S. 290), unter zahlreichen Lome- chusa, die man ihnen zugesellt, meist nur ein oder höchstens zwei Pärchen zur „Nachzucht“ auslesen, indem sie nur diese Pärchen zur Kopula gelangen lassen, die übrigen dagegen nicht; letztere sind dann schließlich gezwungen, das Nest zu verlassen und andere Kolonien ihrer Wirtsart zur Fortpflanzung aufzusuchen. Hieraus erhellt, dass die Amikalselektion als positive Selektionsform durchaus verschieden ist von der Naturalselektion, und sich weit mehr der künstlichen Zuchtwahl nähert, welche der Mensch gegenüber seinen Haustieren ausübt. Sie unterscheidet sich von letzterer jedoch dadurch, dass sie eine instinktive, keine intelli- 468 Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. gente Auslese ist. Von der Sexualselektion Darwin’s ist die Amikalselektion dadurch verschieden, dass sie nicht auf die Züch- tung von sekundären Geschlechtsdifferenzen, sondern von sym- philen Anpassungscharakteren gerichtet ist. Die Naturalselektion behält ihre Bedeutung hauptsächlich für jene Anpassungscharaktere der echten Gäste, welche die passive Dauerfestigkeit derselben gegenüber der Behandlung durch ihre Wirte bewirken. Hierher gehört z. B. die breite, kräftige Körper- gestalt von Lomechusa, die Standfestigkeit ihrer Beine, durch die sie sich auf der Unterlage festzuklammern vermag, wenn die Ameisen sie fortschleppen wollen, ferner auch die starke Verdickung der aufgebogenen Halsschildränder, welche, wie meine Beobachtungen an Atemeles gezeigt haben, durch die kräftigen Formica-Kiefer sonst leicht verletzt werden könnten, u.s. w. Aber für jene Charaktere, welche die Symphilen zu „Lieblingen“ ihrer Wirte machen und durch welche die Gäste eine instinktive Anziehungskraft auf letztere ausüben, glaube ich der Amikalselektion wenigstens die Hauptrolle zuschreiben zu müssen. In welcher Beziehung steht nun die Amikalselektion zum S'ymphilieinstinkt? Der Symphilieinstinkt ıst der Träger der Amikalselektion. Letztere ist nichts weiter als eine Funktion des ersteren; denn sie stellt die züchtende Wir- kung dar, welche der Symphilieinstinkt der Ameisen und der Ter- miten auf die Entwickelung ihrer echten Gäste ausgeübt hat und noch ausübt. Daher wird durch die Amikalselektion auch die direkte Anpassung der Gäste an ihre Wirte bewirkt, welche hauptsächlich auf der Entwickelung der Exsudatorgane und Exsudat- gewebe beruht; denn die letztere haben wir oben als eine Folge des Reizes kennen glernt, welcher bei der Beleckung der Gäste durch die Wirte auf die Organe der ersteren ausgeübt wird. Dass die Fütterung der Gäste aus dem Munde ihrer Wirte und die Brut- pflege ihrer Larven durch die Wirte in den Bereich der Amikal- selektion fällt, bedarf wohl keiner weiteren Erörterung. Wir dürfen daher mit Recht den Satz aufstellen: Die echten Ameisengäste und Termitengäste sind ein Züchtungsprodukt des Symphilieinstinktes ihrer Wirte vermittelst der Amikalselektion. d) Es erübrigt noch, einige Einwendungen zu prüfen, welche gegen die Annahme einer Amikalselektion erhoben worden sind. Escherich 1902 (Algerische Myrmekophilen S. 659) meinte, es sei nur bildlich und in gewissem Sinne anthropomorphistisch gesprochen, wenn man die Symphilen „Züchtungsprodukte der Ameisen“ nenne; deshalb müsse man sich dieser Ausdrucksweise besser gänzlich enthalten, da sie sonst zu Missverständnissen führen könnte. Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. 169 Hierauf ist zu erwidern, dass die Züchtung der echten Gäste durch ıhre Wirte allerdings insofern nur bildlich zu verstehen ist, als jene Züchtung keine absichtliche, zielbewusste, sondern nur eine instinktive, des Zweckes unbewusste, Auslese dar- stellt. Die „Missverständnisse*, welche Escherich befürchtet, sind dadurch wohl hinlänglich beseitigt. Sonst müsste man aus demselben Grunde a fortiori den Ausdruck „Naturzüchtung“ als missverständlich ablehnen, weil bei dieser Selektionsform nicht ein- mal eine instinktive Züchtungstendenz von seiten des „Züchters“ vorliegt. Letztere Ausdrucksweise ist also in noch höherem Grade „bildlich und anthropomorphistisch“, und doch ist sie zu allgemeiner Geltung gelangt. Ferner glaubt Escherich, es sei überhaupt unberechtigt, die „Amikalselektion“ als eine besondere Form der Selektion auf- zustellen; denn sie sei nicht verschieden von der Naturalselektion. „Überall, wo zwei verschiedene Organismen in irgendwelche Ver- bindung treten, finden solche ‚Amikalzüchtungen‘ statt. Auch wo Pflanzen mit Tieren miteinander in Beziehung treten, ist ähnliches zu beobachten, z. B. bei den fleischfressenden Pflanzen, und hier kann man doch gewiss nicht von einer ‚Amikalselektior‘ reden. Die auffallende Färbung von Nepenthes und die Honigdrüsen auf dem Rande der Kanne sind auch, wenn wir wellen, Züchtungs- produkte der honigsuchenden Insekten, trotzdem sie lediglich dazu dienen, letztere in die Falle, aus welcher es kein Entrinnen mehr gibt, zu locken.“ Hierauf erwidere ich folgendes. Dass die Amikalselektion, d. h. die instinktive Zuchtwahl, welche die Ameisen (und Termiten) gegenüber ihren echten Gästen ausüben, verschieden ist von der Naturalselektion, geht bereits aus ihrem Begriffe als einer positiven, vom Instinkte der Ameisen (Termiten) ge- leiteten Auslese hervor; die Naturalselektion dagegen ist ein rein negativer Faktor; sie besagt bloß das Überleben des Passendsten durch die Ausrottung des Unpassenden oder minder Passenden. Das von Escherich selbst gewählte Beispiel wird dies beleuchten. Dass die Insekten die auffallende Färbung von Nepenthes und dıe „Honigdrüsen“ auf dem Rande ihrer Kanne „ge- züchtet haben“, bedeutet mit anderen Worten bloß, dass jene Nepenthes, welche bessere Lockmittel besaßen, ın höherem Maße von Insekten besucht wurden und dadurch im Kampfe ums Dasein einen Vorteil vor ıhren Mitbewerbern hatten. Aber in diesem Vor- gange ist keineswegs eine aktive Züchtung der Eigen- schaften der Pflanze durch die Insekten eingeschlossen. Von „Amikalselektion“ kann daher hier keine Rede sein. Die Parallele, welche Escherich zwischen der Züchtung der Lock- mittel von Nepenthes durch die Ameisen, und der Züchtung der 170 Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. Exsudatorgane von Lomechusa weiterhin zieht, weist daher eine klaffende Lücke auf. Letztere Organe werden nicht bloß — wie Escherich allerdings behauptet —, durch die Naturalselektion gezüchtet, sondern sie sind auch das Produkt der direkten Reizwirkung, welche durch die Beleckung von Seite der Ameisen auf jene Organe der Gäste ausgeübt wird; sie sind ferner ein Pro- dukt der instinktiven Pflege, welche die Ameisen ihren echten Gästen angedeihen lassen. Hier können wir demnach wirklich von „Amikalselektion“ sprechen, bei Nepenthes dagegen nicht. Ebensowenig hat auch die von Escherich ebendaselbst er- wähnte „Züchtung“ von Sitaris durch Anthophora irgend etwas mit „Amikalselektion* zu tun. Hier haben wir eine rein einseitige Anpassung eines Parasiten an den Brutraub in den Bienennestern; die Bienen müssen sich rein passiv dazu hergeben, die Triungu- linus-Larven von Sitaris, die sich auf den Blüten an sie anklammern, in ihre eigenen Nester zu tragen. Escherich’s Frage, „brauchten wir da etwa noch einen Faktor wie Amikalselektion zu Hilfe zu nehmen“, war deshalb vollständig entbehrlich. Ich glaube, hiermit Escherich’s Einwendungen gegen die An- nahme einer Amikalselektion hinreichend widerlegt zu haben. Übrigens hatte ich dieselben bereits 1903 (Nr. 134, S. 308) als nicht beweiskräftig zurückgewiesen. Ferner hat mein geschätzter Kollege Dahl 1907'5) eingewendet, die „Amikalselektion“ sei ıdentisch mit dem von ihm schon 1884 aufgestellten Begriffe der „Überentwickelung“, wonach eine Eigenschaft, welche zunächst gewisse Vorteile gewährt, bei ihrer Weiterentwickelung schließlich sogar Nachteile erzeugen kann. So verhalte es sich auch mit der Lomechusa-Zucht der Ameisen; die Überentwickelung derselben habe schließlich für die Züchter selbst zu verderblichen Folgen geführt. Auch hier liegen wiederum Begriffsverwechslungen vor, wie ich bereits 190819) gezeigt habe. Der Begriff der Überent- wickelung hat mit dem Begriffe der Amikalselektion an sich gar nichts zu tun. Die Amikalselektion beruht auf dem Symphilie- instinkte der Ameisen, auf ihrer erblichen Neigung zur Pflege und Zucht bestimmter ihnen angenehmer Tierarten. Sie ist die durch jenen In- stinkt bewirkte Auslese, welche die Entwickelung der Anpassungs- charaktere der Symphilen aktiv fördert. Die nachteiligen Folgen, welche jener Instinkt bei der Lomechusa-Zucht für die Ameisen hat, gehören offenbar gar nicht in die Betrachtungsweise der Amikal- selektion von seiten der Gäste, sondern von seiten der Wirte, 15) Die Redeschlacht in Berlin über die Tragweite der Abstammungslehre (Naturw. Wochenschr. 1907, Nr. 40. Separat, Jena 1908). 16) Zur Diskussion über die Tragweite der Abstammungslehre (Naturw. Wochenschr. 1908, Nr. 4). Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. 471 mit der wir uns unten näher zu beschäftigen haben. Dass die Folgen der Amikalselektion in manchen Fällen — jedoch nicht allgemein, wie bereits oben im ersten Teile dieser Arbeit gezeigt wurde — für die Wirte selber nachteilig sind, beweist wohl, dass der Symphilieinstinkt der Ameisen einer für sie selber schädlichen Überentwickelung fähig ist, aber es beweist keineswegs, dass der Begriff der „Amikalselektion“ mit dem Begriffe der „Überentwickelung“ zusammenfällt, wie Dahl behauptet. Der Begriff der „Hypertelie“ ist bereits 1853 durch Brunner von Wattenwyl!’) für gewisse, über das Ziel hinausschießende Mimikryfälle aufgestellt worden. Er bezeichnet die Überentwicke- lung von ursprünglich zweckmäßigen Eigentümlichkeiten bis über die Grenze der Zweckmäßigkeit hinaus. Dahl hingegen will den Begriff der Überentwickelung nur für jene Fälle gelten lassen, wo die Weiterbildung einer anfangs nützlichen Eigenschaft schließlich nicht bloß indifferent, sondern für ihre Besitzer sogar schädlich wird!®). Nur dadurch unterscheidet sich seine „Überentwickelung* von der „Hypertelie* Brunner's. Solche Überentwickelungen kommen allerdings bei sehr verschiedenen Organen und Instinkten im Tierreich vor: bei den Hauern im Oberkiefer des Hirschebers, welche die Oberlippe durchbohren, bei den Augen mancher männ- licher Spinnen, welche exzessive Größenverhältnisse annehmen können (Dahl), bei der Sklavenzucht der Ameisen, welche in manchen Fällen die parasitische Degeneration der Herrenart herbeiführen kann, bei der Symphilie der Ameisen, welche manchmal die Wirts- kolonien schwer schädigen kann, u. s. w. Von der Form der Selektion, durch aldıa die betreffende Überentwickelung einge- leitet wurde, ist der Begriff der een lekeihune, gänz- lich unabhängig; denn sowohl die Naturalselektion als die Sexualselektion als die Amikalselektion können zu Überentwicke- lungen führen. Letztere beruhen einfach auf der „Nichtumkehr- barkeit phylogenetischer Prozesse“ (Dollo). Es war des- halb von Dahl völlig verfehlt, den Begriff der Amikalselektion deswegen ablehnen zu wollen, weil er mit Überentwickelung „gleich- bedeutend“ sei! hans mente als wir den Begriff der Sklavenzucht (Dulosis) bei den Ameisen mit dem Begriff Alan Überentwickelung verwechseln dürfen, weıl die me: einer Übers dkenn fähig ist, nenn: darf man den Begriff der Kalelkeldunes deshalb für überflüssig erklären, weil der Symphilieinstinkt, auf 17) Über hypertelische Nachahmungen bei den Orthopteren (Verh. Zool. Bot. Ges. Wien 1883, S. 247—249). 18) So a er diesen Begriff w enigstens neuerdings in der Naturw. Wochenschr. 1908, Nr. 11, S. 163, um ihn’ von Brunner’s Hy pertelie zu unterscheiden. Früher (Die Notwendigkeit der Religion, 1886, S. 5: Sf.) war von einer solchen Unterschei- dung noch keine Rede. RZ Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. welchem die Amikalselektion beruht, eine Überentwickelung auf- weisen kann. Hiermit dürften Dahl’s Eimwände gegen die An- nahme einer „Amikalselektion* erledigt sein. Die Ausdehnung, welche H. Friedmann 1904'°) dem Begriffe der Amikalselektion gegeben hat, indem er ihn auf alle friedlichen Beziehungen zwischen verschiedenen Organismenarten ausdehnte, hat mit dem ursprünglichen Begriff dieses Wortes wenig zu tun und schemt mir nur zu Unklarheiten zu führen. Als Amikal- selektion im eigentlichen Sinne darf man nur die Züchtung bestimmter echter Gäste oder Koloniegenossen durch den Symphilieinstinkt ihrer Wirte bezeichnen. Diese Erscheinung kommt aber, soweit bisher bekannt, nur in den Staaten der Ameisen und der Termiten vor. [Die soeben in die Definition der Amikalselektion eingefügten Worte „oder Koloniegenossen“ sind nötig geworden durch die neue, recht gut begründete Exsudattheorie N. Holmgren’s, welche auch die Züchtung bestimmter Kasten im Termitenstaate auf die Amikalselektion zurückführt. Die Grundlage ıst hierbei dieselbe wie bei der Züchtung der echten Gäste, nämlich die Ausscheidung von angenehmen Exsudaten durch die Pfleglinge, durch welche die Wirte (Ammen) zu einer bestimmten Pflegeweise derselben gereizt werden. Ich werde demnächst in einer eigenen Arbeit auf die neue Exsudattheorie Holmgren’s zurückkommen. (Auf den Korrekturbogen beigefügt. E. W.)] Wir haben bisher die Entwickelung der Symphilie inbezug auf die Gäste betrachtet; wenden wir uns nun zur Betrachtung des korrelaten Entwickelungsprozesses von seiten der Wirte. II. Der im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit (S. 132ff.) er- brachte Nachweis, dass es tatsächlich bestimmte erbliche Symphilieinstinkte bei den Ameisen gibt, welche stammes- geschichtliche Differenzierungen und Spezialisierungen des allge- meinen Brutpflege- und Adoptionsinstinktes darstellen, braucht hier nicht wiederholt zu werden. An dieser Stelle haben wir nur zu erwägen, wie diese Instinkte entstanden sein können, und in welchem Verhältnis sie zur Selektionstheorie stehen. a) Wir müssen für die stammesgeschichtliche Entwickelung jener Instinkte innere, grundlegende und äußere, treibende Faktoren unterscheiden. Die grundlegenden Faktoren sind be- reits im ersten und zweiten Abschnitte (S. 131ff.) dargelegt worden. Der Symphilieinstinkt beruht auf einer Ausdehnung des Gesellig- keits- und Brutpflegetriebes der Ameisen auf bestimmte fremde Tierarten; er ist daher aus dem letzteren ursächlich hervorgegangen. Seine zweite Grundlage ist der Nahrungsinstinkt der Ameisen, der 19) Die Konvergenz der Organismen, S. 187 ff. Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. 173 sich in ihrer Naschhaftigkeit äußert, in ihrer Vorliebe für die angenehmen Exsudate der Gäste. Wenn letztere auch keinen Nähr- wert besitzen wie die zuckerhaltigen Exkremente der Aphiden, so bieten sie doch eine angenehme Reizquelle, und eben wegen dieses Reizes hegen und pflegen die Ameisen ihre echten Gäste. Falls wir daher bei der Entwickelung der Symphilieinstinkte der Ameisen von „inneren Entwickelungsgesetzen“* reden, so meinen wir damit nichts anderes als die ebenerwähnten Grund- instinkte der Ameisen, aus deren Kombinierung und Differen- zierung die heutigen Symphilieinstinkte hervorgingen. Also auch hier bedeuten die inneren Entwickelungsgesetze nichts Mystisches oder Mysteriöses, sondern etwas durchaus Natürliches, was ich meinen Kritikern nochmals bemerken möchte. b) Zu diesen inneren, grundlegenden Faktoren mussten sich für die Entwickelung des Symphilieinstinktes aber auch äußere, treibende Faktoren gesellen; und diese müssen wir auch hier vor allem in der direkten Reizwirkung suchen, welche die Gäste auf die instinktiven Anlagen ihrer Wirte ausübten, also im La- marck’schen Prinzip der direkten Anpassung. Wenn auch auf seiten der Wirte keine besonderen morphologischen An- passungscharaktere an die Pflege ihrer echten Gäste sich ausgebildet haben, so spezialisierten sich doch ihre Instinkte in ganz bestimmter Richtung, indem die eine Art diese, die andere jene Symphilen vorzugsweise pflegte und dadurch allmählich einen erblichen Instinkt zur Pflege und Zucht bestimmter echter Gäste erwarb. Dass wir die Entstehung solcher erblicher Sym- philieinstinkte annehmen müssen, wird durch die Existenz derselben hinreichend bewiesen. Aber wıe sie sich durch Vererbung er- worbener Eigenschaften ausbilden konnten, das ist eine andere Frage, die schwieriger zu lösen ist. Schon oben (S. 137) wurde darauf aufmerksam gemacht, dass man sich gegen die Möglichkeit einer solchen Entwickelung keineswegs auf das beliebte Axıom berufen kann: „die Arbeiterinnen pflanzen sich nicht fort, also können sıe auch keine individuellen Instinkteigentümlichkeiten ver- erben.“ Denn durch die Parthenogenese der Arbeiterinnen ist eine solche Vererbung wohl möglich ?°), welche durch das Keimplasma der Männchen vermittelt wird, die von den Arbeiterinnen erzeugt werden. Da ferner die jungen Weibchen (manchmal selbst die alten Königinnen) an der Gastpflege ın den Nestern teilnehmen, ist auch eine direkte Beeinflussung des Keimplasmas der Weibchen keineswegs ausgeschlossen, wenn man nicht mit Weismann jeg- 20) 1891 (Nr. 21, S. 219) glaubte ich diese Erklärung ablehnen zu müssen. Seither habe ich mich jedoch davon überzeugt, dass die Parthenogenese bei Ameisen auch unter natürlichen Verhältnissen häufiger vorkommt, als man früher annahm (vgl. Nr. 149 u. 161). 174 Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. lichen physiologischen Zusammenhang des Somas mit dem Keim- plasma leugnet. Jedenfalls ıst die Vererbung erworbener Eigenschaften der einzige Weg, auf welchem die tatsächliche Existenz der Symphilieinstinkte erklärt werden kann. c) Dies führt uns auf das Verhältnis der Selektion zu jenem Entwickelungsprozess. Bei der Entstehung solcher Instinkte der Arbeiterinnen, welche für die Erhaltung der betreffenden Kolonien und der ganzen Art nützlich sind, kann ohne Zweifel die Natural- selektion eingreifen, um eine bestimmte Entwickelungsrichtung, die durch die inneren Faktoren bereits in ıhren Anfängen vorhanden ist, durch ihre negative Auslese zu fördern. Denn jene Ameisen- weibchen, in deren Keimplasma die Anlage zu zweckmäßigeren Instinkten der Arbeiterinnen latent war, vermochten existenzfähigere Kolonien zu gründen und hatten deshalb einen Vorteil im Kampfe ums Dasein, indem sie auch selber leichter und sicherer zur Fort- pflanzung gelangten als andere Weibchen, die mit den von ihnen gegründeten Kolonien zugrunde gehen mussten. So können wir uns die Entwickelung der Instinkte der Arbeiterinnen durch Ver- mittlung des weiblichen Keimplasmas bei jenen Arten, ın denen die morphologische und biologische Arbeitsteilung schon so weit fortgeschritten war, dass die Weibchen nicht mehr an den Tätig- keiten der Arbeiterinnen teilnahmen ?!), auf dem Wege der Natural- selektion vorstellen??). Dies gilt z. B. für die Differenzierung der Nestbauinstinkte innerhalb der Gattung Formica; ferner auch für die Entstehung des so sonderbaren Instinktes der Weberameisen aus den Gattungen Oecophylla, Polyrhachis und Camponotus, ihre eigenen Larven als „Webschiffchen* beim Nestbau zu benutzen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Instinktmodifikationen ursprüng- lich nicht zuerst bei den Weibchen auftraten, sondern bei den Ar- beiterinnen, und zwar anfangs durch rein zufällige individuelle Erfahrung. Die Vererbung erworbener Eigenschaften darf auch hier nicht außer acht gelassen werden; aber dass jene neuen In- stinktabänderungen der Arbeiterinnen erblich befestigt und in bestimmter Richtung weitergebildet wurden, dürfte doch großenteils auf Rechnung der Naturalselektion kommen, welche jene Weibchen bevorzugte, welche zweckmäßigere Instinktanlagen der Arbeiterinnen in ihrem Keimplasma enthielten. Für die Entwickelung der Symphilieinstinkte bei den Ameisen und den Termiten versagt jedoch dieser Entwickelungsfaktor gänzlich; denn die Pflege und Zucht bestimmter echter Gäste bringt den Ameisenkolonien keinen nachweisbaren Nutzen, wenn sie dieselben auch, wenigstens in den meisten Fällen, nicht in nennens- 21) Für jene Instinkte, die den Weibchen und Arbeiterinnen gemeinsam sind, ist die Erklärung selbstverständlich noch einfacher. 22) Vgl. hierüber schon Nr. 21, S. 220ff. Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. 175 wertem Maße schädigt. Jener Differenzierungsprozess des Adoptions- und Brutpflegetriebes der Ameisen, der zur Entwickelung bestimmter Symphilieinstinkte führte, kann deshalb nicht von der Natural- selektion geleitet worden sein. Die Amikalselektion, welche wir oben als einen Hauptfaktor für die Entwickelung der Symphilie auf seiten der Gäste kennen lernten, ist mit dem Symphilieinstinkt der Wirte sachlich ıden- tisch und kann daher ebenfalls an und für sich nicht als ein „Ent- wickelungsfaktor“ des Symphilieinstinktes betrachtet werden: die Amikalselektion ist eine Funktion des Symphilieinstinktes, nicht umgekehrt. Insofern jedoch durch die Amikalselektion die symphilen Anpassungscharaktere der Gäste sich immer vollkommener entwickelten, wurde auch der Symphilieinstinkt der Wirte ın be- stimmter Richtung gesteigert und spezialisiert, indem der Pflegereiz, welchen die Gäste auf ihre Wirte ausübten, immer stärker und immer einseitiger determiniert wurde. In dieser Hin- sicht kann man demnach die Amikalselektion auch als ein för- derndes Moment für die Entwickelung bestimmter Sym- philieinstinkte bezeichnen. d) Sehen wir uns nun zum Schlusse das Verhältnis, welches zwischen Amikalselektion und Naturalselektion besteht, etwas näher an. Die Beziehungen, welche zwischen diesen Faktoren in der Entwickelung der Symphilie von seiten der Gäste ob- walten, wurde bereits oben (S. 166ff.) dargelegt: hier baut die Amikalselektion auf der Naturalselektion auf und steı- gert und vervollkommnet den Anpassungsprozess der Gäste an ihre Wirte. Ganz anders gestaltet sich jedoch das Verhältnis dieser beiden Faktoren zueinander, wenn wir die Ent- wickelung der Symphilie von seiten der Wirte betrachten: hier tritt die Amikalselektion unabhängig von der Natural- selektion auf, ja sie tritt ihr sogar vielfach feindlich ent- gegen! Sobald man einmal anerkennt, dass es bestimmte Sym- philieinstinkte gibt, welche durch die stammesgeschichtliche Differenzierung des Geselligkeits- und Brutpflegetriebes der Ameisen in bezug auf bestimmte echte Gäste entstanden sind, ist diese Folgerung unvermeidlich. Die Pflege der Symphilen bringt den Wirten selber keinen Nutzen, in manchen Fällen sogar offen- baren Schaden. Die Entwickelung der Symphilieinstinkte der Ameisen muss daher völlig unabhängig von der Naturalselektion erfolgt sein. Letztere musste im Gegenteil auf die Unter- drückung und Ausmerzung jener spezifischen Gastpflegeinstinkte hinarbeiten, sobald dieselben auch nur anfingen, sich für ıhre Besitzer schädlich zu erweisen; denn wenn bereits die minimalsten Variationen nach der positiven Seite hin Selektionswert besitzen 416 Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. Weismann), so kann man ihnen denselben auch nach der nega- tiven Seite hin nicht absprechen, ohne eine handgreifliche Inkon- sequenz zu begehen. Ich Pre hieraus: Wäre die enorm: „allmächtig“, so könnte es überhaupt keine spezialisierten Sa Hilainenlihe bei den Ameisen geben. Dieselben existieren aber trotzdem; also ist die Naturzüchtung nicht allmächtig, sondern vielfach geradezu ohn- mächtig. e) Gegen diese Schlussfolgerung sind namentlich von Esche- rich und Dahl Einwendungen erhoben worden, welche wir "hier noch kurz prüfen wollen. 1898 (Paussus turcieus, 8. 62ff.) wollte Escherich den Satz, dass die Amikalselektion gegen die Allmacht der Naturalselektion spreche, dadurch widerlegen, dass er die Prämisse meiner Beweis- führung, nämlich „die Annahme eines spezialisierten Symphilie- instinktes“ bekämpfte. Dass ihm dieser Gegenbeweis nicht gelungen ist, wurde bereits oben (im 2. Teile dieser Arbeit S. 132ff.) zur Ge- nüge bewiesen. Ich brauche daher auf diesen Einwand Escherich’s hier nicht mehr zurückzukommen. 1902 (Algerische Myrmekophilen, S. 656ff.) wandte er sich abermals gegen dıe Annahme eines besonderen Symphilieinstinktes und einer Amikalselektion. Ersteren erklärte er für identisch mit dem Brutpflegetrieb der Ameisen, letztere für identisch mit der Naturalselektion. Diese beiden Punkte seiner Beweisführung sind bereits oben (S. 132ff. und S. 169 ff.) widerlegt worden und bedürfen deshalb keiner nochmaligen Berücksichtigung. Aber es kommt hier noch ein neues Moment hinzu, das ich 1898 (Nr. 92) und 1901 Nr. 118, S. 740ff.) besonders hervorgehoben hatte. Da Escherich von der Behauptung ausgegangen war, der Symphilieinstinkt sei kein „eigener Instinkt“, sondern bloß eine Ausdehnung des Brut- pflegeinstinktes auf fremde Tiere, so hatte ich zu zeigen gesucht, dass auch durch diese Annahme die der Selektionstheorie entgegen- stehenden Schwierigkeiten hier nicht beseitigt würden. Denn die Selektion müsse, wenn sie „allmächtig“ sei, nicht bloß der Ent- stehung eines besonderen, für seine Besitzer schädlichen Instinktes erfolgreich entgegenwirken, sondern auch der Ausdehnung eines an sich nützlichen Instinktes auf schädliche Objekte. Diese Voraussetzung enthielt allerdings einen doppelten Irrtum bezüglich des Symphilieinstinktes. Der erste Irrtum lag darin, dass sie den Symphilieinstinkt identisch sein ließ mit dem Brutpflege- instinkte der Ameisen, während letzterer doch nur eine der Wur- zeln des ersteren ist. Der zweite Irrtum lag ın der Annahme, dass die Symphilie schlechthin etwas für die Amen Schädliches sei, während sie doch in Wirklichkeit etwas an sich Indiffe- rentes ist, das aber manchmal (durch Überentwickelung) zu schäd- Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. 147 lichen Folgen für die Ameisen führen kann. Diese Voraussetzung war nur als „argumentum ad hominem“ von mir gebraucht worden, um mich dadurch auf Escherich’s Standpunkt zu stellen. Ich hatte darum 1898 (Nr. 92, S. 515) folgendermaßen argumentiert: „Wenn z. B. bei einem Tiere der Instinkt sich entwickelte, angenehm schmeckende Giftpflanzen zu fressen, obwohl dieselben sich dem Tiere als schädlich erweisen, so wird man nicht leugnen können, dass diese Erscheinung in direktem Widerspruch mit den Prinzipien der Selektionstheorie stehe.“ Um diesen Beweis zu ent- kräften, hatte Escherich 1899 (Zool. Centralbl. Nr. 1) folgendes geltend gemacht: „Nur da kann die Selektion wirksam sein als umbildendes Prinzip, wo die schädlichen oder überhaupt die veränderten äußeren Einflüsse auf die ganze Art (alle Individuen) gleichmäßig einwirken, nicht aber da, wo nur einige wenige Individuen davon betroffen werden. Nach Wasmann wäre ja auch jedes Schaf, das Pflanzen mit Cercarien frisst, ein Beweis gegen die Selektionstheorie; und viele andere parasitische und toxische Krankheiten müssten der Selektionstheorie das Todesurteil sprechen, wollte man die letzten Konsequenzen aus den Wasmann’schen Anschauungen ziehen. Auch die Symphilie ist nichts anderes als eine parasıtäre Infektionskrankheit, von der die verschiedenen Ameisenkolonien (Individuen 5. Ordnung nach Verworn) befallen werden.“ Hiergegen hatte ich schon 1901 (Nr. 118, S. 741) folgende drei Momente geltend gemacht: „Erstens. Es ist nicht richtig, dass die Selektion nur dort als umbildendes Prinzip wirksam sein könne, wo die veränderten äußeren Verhältnisse auf die ganze Art gleichmäßig ein- wirken. Es genügt völlig, dass sie auf eine bestimmte Indi- viduengruppe innerhalb der Art einwirke; diese Gruppe kann sich dann zu einer neuen Varietät, zu einer neuen Rasse und schließlich zu einer neuen Art unter den veränderten neuen Ein- flüssen entwickeln.“ „Zweitens. Es wird mir niemals einfallen zu behaupten, dass — wie Escherich mir nahelegen möchte — jedes Schaf, das mit Üercarien besetzte Pflanzen frisst, oder jede parasitäre oder toxische Krankheit einen Beweis gegen die Selektionstheorie bilde. Esche- rich hat hier ganz verschiedene Dinge miteinander verwechselt. Die Vorliebe der Ameisen für bestimmte echte Gäste und die Neigung zur Erziehung derselben ist ein erblicher Instinkt bei den betreffenden Ameisenarten, also ein erbliches Gemeingut der ganzen Spezies... Wie Escherich einen derartigen erblichen Instinkt mit Schafen vergleichen kann, die zufällig mit Cercarien XXX. 12 178 Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. besetzte Pflanzen fressen oder mit einer parasitären oder toxischen Krankheit, das ist mir völlig unverständlich.“ „Drittens. Der von Escherich durch Sperrdruck hervor- gehobene Satz: ‚Auch die Symphilie ist nichts anderes als eine parasitäre Infektionskrankheit, von der die verschie- denen Ameisenkolonien (Individuen 5. Ordnung nach Verworn) be- fallen werden‘ — ist durchaus unhaltbar. Er wird bereits durch die Tatsache widerlegt, dass nicht der allgemeine Adoptionstrieb der Ameisen, sondern ganz bestimmte spezifische Instinkte, welche sämtlichen Kolonien einer Art oder einer Rasse eigen sind, die nächste Grundlage der Symphilie bilden.“ (Folgen die Beispiele.) Von diesen drei Sätzen bedarf der zweite und der dritte keines weiteren Kommentars mehr. Denn die Existenz bestimmter Sym- philieinstinkte wurde im obigen (im 2. Teile dieser Arbeit) gegen alle Einwendungen festgestellt; ebenso wurde auch (im 1. Teile S. 129) gezeigt, dass es völlig falsch ist, die Symphilie als eine parasitäre Infektionskrankheit der Ameisenkolonien zu bezeichnen. Letzteres hat auch Escherich selber 1902 (S. 661—662) zuge- standen, indem er daselbst anerkannte, dass Symphilie und Para- sıtismus voneinander verschieden seien. 1906 (Die Ameise, S. 171) kehrt jedoch dieser Irrtum, allerdings in milderer Form, bei ihm wieder, indem er die Symphilie für eine „soziale Krankheit“ der Ameisenkolonien erklärte. Dass auch diese Ansicht unhaltbar ist, wurde oben (S. 130) zur Genüge gezeigt. Es bleibt also nur der erste der obigen drei Sätze zur weiteren Erörterung übrig. Gegen diesen hatte Escherich 1902 (S. 661) eingewendet, die Selektion könne erst dann der Lomechusa-Zucht bei den Ameisen entgegenwirken, „wenn die Existenz der Art durch Lomechusa wirk- lich gefährdet ıst“. Er trat hiermit bereits den Rückzug an von seiner 1899 aufgestellten, entwickelungstheoretisch unhaltbaren Be- hauptung, dass die Selektion nur dann umbildend wirken könne, wenn alle Individuen einer Art den umbildenden Einflüssen unter- liegen. Aber auch dieser Rückzug ist misslungen, wie ich schon 1903 (Nr. 134, S. 308) aus Weismann' nachgewiesen habe, welcher es in seinen „Vorträgen über Deszendenztheorie“ (I, S. 121ff.) als durchaus irrtümlich bezeichnet, „wenn man eine Verbesserung der Existenzlage einer Art durch Naturzüchtung nur dann für möglich hält, wenn dieselbe in ihrem Bestand schon bedroht ist“. In der Tat muss nach den Prinzipien der Selektionstheorie jeder noch so geringe Vorteil oder Nachteil, der mit einer Eigenschaft ver- knüpft ist, den erforderlichen Angriffspunkt zur Züchtung oder zur Elimination derselben bieten. Ich schloss daher hieraus schon da- mals (S. 309): „Die Naturzüchtung musste von jeher jene Kolonien von Formica (bezw. die Keimesanlage jener Formica-W eibchen) Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. 479 bevorzugen, welche keine oder nur eine geringere Neigung zur Lomechusa-Zucht hatten; daher konnte die Neigung zur Lomechusa-Pflege niemals zu einem erblichen Gemeingut ganzer Spezies werden, wie sie es tatsächlich doch ge- worden ist. Dass die Ameisen in den Lomechusini — und viel- leicht noch in manchen anderen ihrer Symphilen — tatsächlich „ihre schlimmsten Feinde selber züchten“, scheint mir daher auch heute noch in offenbarem Widerspruch mit der „Allmacht der Naturzüchtung zu stehen“. — Auch 1910 bin ıch noch derselben Ansicht und werde sıe beibehalten müssen, bis man sie mit besseren Gründen als bisher zu widerlegen vermag. Die Einwendungen, welche Dahl 19072) gegen meine Aus- führungen über das Verhältnis zwischen der Amikalselektion und der Naturalselektion erhob, gehen davon aus, dass er den Begriff der Amikalselektion mit jenem der „Überentwickelung“ identifiziert. Die Irrtümlichkeit dieser Begriffsverwechslung wurde schon oben (S. 170) hinreichend nachgewiesen. Die Symphilieinstinkte der Ameisen, die in der Amikalselektion sich betätigen, sind zwar der Überentwickelung fähig, wie so manche andere Organe und Instinkte ım Tierreich es sınd; aber deshalb fällt doch nicht der Begriff der Amikalselektion mit dem Begriffe der Überentwickelung inhaltlich zusammen. Übrigens ist es nach meiner Ansicht ein evidenter Beweis gegen die „Allmacht der Naturzüchtung“, dass es solche „Überentwickelungen“ gibt, durch welche ursprünglich nützliche oder doch wenigstens indifferente Eigenschaften auch dann noch in derselben Richtung sich weiterentwickeln, nachdem sie für ihre Besitzer bereits schädlich geworden sind. Dies trifft aber bei der Lomechusa-Zucht der Ameisen zu; man kann daher mit Recht sagen, „dass hier die Amikalselektion über die Natural- selektion den Sieg davon getragen hat“ (Nr. 157, S. 346). Diese Erscheinung ist nur eines der zahlreichen Beispiele für die „Nichtumkehrbarkeit phylogenetischer Prozesse“. Ein anderes Beispiel bietet die Entwickelung der Sklavenzucht (Dulosis) bei den Ameisen. Hier handelt es sich um eine ursprüng- lich nützliche instinktive Eigenschaft, nämlich um die Sitte, durch den Raub und die Erziehung fremder Arbeiterpuppen die eigene Kolonie zu verstärken. Solange die Herrenart noch ihre ursprüng- lichen Instinkte bewahrt und nicht in gänzliche soziale Abhängig- keit von ihrer Sklavenart gerät, mag die Naturzüchtung wenigstens beitragen zur Weiterentwickelung der Dulosis. Sobald jedoch die Uberentwickelung dieses Instinktes seine Besitzer auf die Bahn der parasitischen Degeneration geführt hat — z. B. bei Strongylognathus 23) In seiner Rede auf dem Diskussionsabend am 18. Februar. Siehe Was- mann, Der Kampf um das Entwickelungsproblem in Berlin, 1907, S. 83, woselbst auch meine Erwiderung beigefügt ist. 12* 180 Wasmann, Über das Wesen und den Ursprung der Symphilie. testaceus —, müssen wir vielmehr sagen: die Naturzüchtung ver- mochte die Überentwickelung der Dulosis nicht zu verhindern trotz ihrer für die Erhaltung der Art nachteiligen Folgeerscheinungen. Also erweist sie sich auch hier nicht als „allmächtig“, sondern ebenso wie bei der Überentwickelung des Symphilieinstinktes als ohnmächtig. Ganz ähnlich verhält es sich auch mit der Entwickelung des sozialen Parasitismus bei den Ameisen. Die Sitte mancher Ameisenweibchen (von £' truncicola, exsecta, consocians, mierogyna etc.), ihre neuen Kolonien mit Hilfe von Arbeiterinnen einer verwandten fremden Art (F. fusca, incerta u. s. w.) zu gründen, scheint auf den ersten Blick eine höchst nützliche Errungenschaft zu sein; denn jene Weibchen gewinnen dadurch tüchtige Gehilfinnen für die Er- ziehung der ersten Arbeitergenerationen ihrer Kolonie, welche daher gleich von Anfang an stärker und volkreicher werden kann, als wenn die Königin allein ihre erste Brut hätte aufziehen müssen. Aber schon in ihrem Ursprung ist jene Sitte keineswegs günstig für die Selektionstheorie. Sie setzt nämlich voraus, dass die be- treffenden Ameisenweibchen die Fähigkeit zur selbständigen Koloniegründung verloren haben). Dieser Verlust ist aber in seinen Folgen ein sehr bedenklicher „Fortschritt“. Wo der tem- poräre soziale Parasitismus noch fakultativ ist, z. B. bei Formica rufa, indem die Königin ihre neuen Niederlassungen meist noch durch Zweigkoloniebildung mit Hilfe von Arbeiterinnen der eigenen Art gründet, können die nachteiligen Folgen des’ Verlustes der Fähigkeit, selbständig neue Kolonien zu gründen, noch nicht her- vortreten. Wir sehen ja auch tatsächlich, dass diese große acer- vikole Formica-Art sehr häufig ist und ungeheuer starke, volkreiche Kolonien besitzt. Aber sobald der temporäre soziale Parasıtismus einmal obligatorisch geworden ist, indem die Weibchen regel- mäßıg fremder Arbeitskräfte bei der Koloniegründung sich be- dienen, wird hiermit auch schon die Bahn der parasitischen Degeneration der Herrenart beschritten, welche sich anfangs bloß in der geringeren Körpergröße der Weibchen äußert, aber ın ihrem weiteren Verlaufe, wie Emery°®) und ich (Nr. 170) gezeigt haben, bis zum Verlust der eigenen Arbeiterkaste und damit zur absoluten Abhängigkeit der Herren von ihren Hilfsameisen führen kann. Diese parasitische Degeneration einer Ameisenart ist keines- 24) An dem Beispiel von F. rufa habe ich gezeigt (Nr. 170, 2a), wie diese Erscheinung mit der acervikolen Lebensweise der Art zusammenhängt. Durch letztere wurde die selbständige Koloniegründung der Weibchen entbehrlich, und deshalb schwand sie allmählich, wozu das Aufhören der Selektion dieser ursprüng- lich nützlichen Eigenschaft jedenfalls beigetragen haben dürfte. 25) Über den Ursprung der. dulotischen, parasitischen und myrmekophilen Ameisen (Biol. Centralbl. 1909, Nr. 11) S. 359 ff. Semon, Der Reizbegriff. 181 wegs als „zweckmäßig“ im Sinne der Selektionstheorie zu bezeichnen, wie schon die Seltenheit der Kolonien extrem parasitischer Ameisen beweist; wir dürfen sie im Gegenteil die Vorstufe ihres Unter- ganges nennen. Viel „passender“ wäre es für diese Arten ge- wesen, wenn sie auf einer Anfangsstufe des temporären sozialen Parasitismus stehen geblieben wären. Aber auch hier ließen sich die einmal eingeleiteten Entwickelungsprozesse nicht mehr rück- gängig machen, trotz aller „Allmacht der Selektion“, die sich hier ebenfalls eher als „Ohnmacht“ erweist. Diese Erörterungen dürften genügen, um meine wirklichen Ansichten über die Natur des echten Gastverhältnisses, über die Existenz bestimmter Symphilieinstinkte, über die stammesgeschicht- liche Entwickelung der Symphilie, insbesondere aber über die Ent- wickelung der symphilen Anpassungscharaktere durch die Amikal- selektion und über das Verhältnis der Amikalselektion zur Natural- selektion klarzulegen. Zugleich ist hiermit allen, die sich für diese Fragen interessieren, ein Einblick in die diesbezügliche Kontroverse zwischen mir und meinen wissenschaftlichen Opponenten gewährt. Der Reizbegriff. Von Richard Semon. Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass die reizphysiologische Forschung auf dem Gebiet des Tier-, Pflanzen- und Protistenreichs ihre zahlreichen und bewunderungswürdigen Erfolge errungen hat, ohne dass es bisher zu einer schärferen Prägung und allgemein- gültigen Fassung eines ihrer Grundbegriffe, des Reizbegriffs selbst, gekommen wäre. Freilich handelt es sich hier um einen Begriff, der bereits als Niederschlag der Erfahrungen unseres täglichen Lebens eine leidlich feste Form angenommen hat, und welchem dementsprechend im gewöhnlichen Sprachgebrauch eine sinngemäße und im allgemeinen treffende Bedeutung beigelegt wird. Nur ist mit der Gepflogenheit, den Reizbegriff einfach im Sinne des täg- lichen Lebens zu gebrauchen und nicht genauer zu definieren, der Ubelstand verbunden, dass ihm dann eben die scharfe Abgrenzung, die „Definition“ fehlt, die seine wissenschaftliche Brauchbarkeit besonders in verwickelteren Fällen und bei der zusammenfassenden Betrachtung weiterer Gebiete bedingt. Noch viel bedeutendere Einwände, ja ganz unüberwindliche Bedenken erheben sich gegen einige besondere Auffassungen des Reizbegriffs, die neuerdings teils von tier-, teils von pflanzenphysio- logischer Seite vertreten worden sind, ohne dass aber ihre Vertreter eine konsequente Durchführung ernstlich versucht hätten. Wir werden unten noch gelegentlich darauf zurückkommen. 182 Semon, Der Reizbegriff. Mir selbst ergab sich die unumgängliche Notwendigkeit der Herausarbeitung eines scharfumschriebenen und in allen Fällen an- wendbaren Reizbegriffs bei der Untersuchung der zeitlichen Be- ziehungen zwischen dem Reiz und seiner spezifischen Wirkung auf die Organismen, der Erregung. Ich habe dieser Aufgabe einen großen Teil des ersten Kapitels meiner „Mneme“ gewidmet, und meine dortigen Darlegungen enthalten die Grundlage dessen, was ich im folgenden auszuführen haben werde. Sıe waren aber weder extensiv noch intensiv so erschöpfend, dass ich hoffen dürfte, die Frage entscheidend beantwortet zu haben. Eine noch ausführlichere Behandlung verbot sich aber an jener Stelle, wo sie den Eintritt in das eigentliche Thema zu sehr aufgehalten haben würde. Die folgende Untersuchung ist also einerseits bestimmt, jenes Werk zu entlasten, andererseits soll sie dieser grundlegenden Frage die selbständige, von keinen anderen Rücksichten beengte Behandlung zuteil werden lassen, die sie verdient. Wir gehen dabei zunächst, um einen Ausgangspunkt zu haben, von einer mit dem gewöhnlichen Sprachgebrauch übereinstimmenden und dabei so allgemein gefassten Definition aus, dass ein Wider- spruch gegen dieselbe wohl kaum denkbar ist, und sagen: Unter Reizen verstehen wir gewisse, von bestimmten Erfolgen begleitete Einwirkungen auf lebende Organısmen. Damit ıst bereits ausge- drückt, dass wir den Einwirkungen auf die Organismen nur dann Reizcharakter zuschreiben, wenn sie von ganz bestimmten Erfolgen begleitet sind. Der Erfolg charakterisiert also den Reiz als solchen. | Wir haben uns nun zunächst mit der Frage zu beschäftigen, wie beschaffen die Erfolge von Einwirkungen auf Organısmen sein müssen, um sie im Unterschied von anderen Einwirkungen zu Reizen zu stempeln. Wir können hierbei ein negatives Kriterium in den Vordergrund stellen und sagen, der Erfolg einer Einwirkung stempelt die letztere dann zum Reiz, wenn er in einer Verände- rung besteht, wie er gegenüber der entsprechenden Einwirkung bei einem anorganischen Körper oder bei dem betreffenden oder auch anderen Organismen nach Erlöschen des Lebens nicht auftreten würde. Wir pflegen derartige Veränderungen als Reaktionen des lebenden Organismus auf die Einwirkung zu bezeichnen. Unter diesen Reaktionen können wir nun, je nach der Art, wie der Untersucher sie wahrnimmt, zwei Hauptgruppen unter- scheiden. Die eine Gruppe pflegen wir als die der Empfindungsreaktionen zu bezeichnen. Sie beruhen darauf, dass der Erfolg gewisser Ein- wirkungen, die unseren eigenen Körper treffen, sich uns in unmittel- barer Empfindung: Licht oder Ton oder Druck oder Schmerz offen- bart. Diesen Erfolg kann jeder nur an sich selbst wahrnehmen, Semon, Der Reizbegriff. 183 und wir bezeichnen diese Reaktionen deshalb auch als subjektive. Aus den betreffenden Empfindungen schließen wir dann auf Grund ausgedehnter physiologischer Erfahrungen und Versuche auf ganz bestimmte Erregungsvorgänge in bestimmten Teilen unserer reiz- baren Substanz. Zu den nur subjektiv wahrnehmbaren Empfindungsreaktionen gesellen sich als zweite Hauptgruppe die objektiv wahrnehmbaren Reaktionen, die dadurch ausgezeichnet sind, dass ein Organısmus auf eine bestimmte Einwirkung mit einer den Sinnen des Be- obachters wahrnehmbar zu machenden, d. h. also physikalisch- chemisch nachweisbaren Veränderung antwortet; diese Veränderung kann eine Muskelzuckung oder ein Wachstumsvorgang oder irgend- ein Stoffwechselvorgang, z. B. eine Ausscheidung oder ein che- mischer Umsatz sein. Ein großer Teil dieser objektiv wahrnehmbaren Reaktionen ist dadurch ausgezeichnet, dass der Erfolg der Einwirkung nicht an derjenigen Stelle der reizbaren Substanz, an der die Einwirkung stattfindet. sondern an ganz entfernten Stellen des Organısmus zur Manifestation gelangt. Das markanteste Beispiel dafür liefert das- jenige Gewebe, in dem das Vermögen der Reizbarkeit die höchste Spezialisation erlangt hat, das Nervengewebe der Metazoen. Doch ließen sich auch Beispiele aus dem Pflanzenreich anführen. Was das Nervengewebe anlangt, so nimmt man bekanntlich weder am bloßgelegten Gehirn oder Rückenmark, noch an den von ihnen ausgehenden Nerven unmittelbar irgendwelche Veränderung wahr, wenn man diese Teile elektrisch, mechanisch, chemisch oder auf irgendeine andere Weise reizt. Dafür aber sieht man je nach der Stelle des Nervensystems, die der Einwirkung als Angriffspunkt dient, einmal diese, einmal jene Muskelgruppe zucken, die Atmung sich beschleunigen oder verlangsamen, den Herzschlag sich ändern, Speichel oder Tränendrüsen sezernieren ete. Wir beobachten den Erfolg der Einwirkung dann also nicht an der in erster Linie gereizten reizbaren Substanz, an der wir weder morphologisch noch chemisch eine Veränderung nachweisen können, sondern an ent- fernten „Erfolgsorganen*. Freilich schließen wir mit gutem Recht auf einen Erfolg der Einwirkung auch auf die zunächst gereizte Substanz, und man ist übereingekommen, diesen Erfolg, diese primäre Veränderung, deren sekundäre Folge nur die allein wahrnehmbare Reaktion am Erfolgsorgan ist, als Erregung zu bezeichnen. Erst lange, nachdem man sich über diese Sachlage völlig klar geworden war, fand Du Bois-Reymond in dem elektromotorischen Ver- halten der Nerven ein Mittel, den Erregungszustand der nervösen Substanz an dieser selbst nachzuweisen. Durch das veränderte elektromotorische Verhalten der Nervenströme bei der Reizung 184 Semon, Der Reizbegriff. (negative Schwankung) können wir den Erfolg der Reizung auf die nervöse Substanz selbst nachweisen, und auf demselben Wege können wir den direkten Nachweis des Reizerfolgs für die reizbare Substanz der Drüsen durch die negative Schwankung des Drüsen- stroms, des Reizerfolgs für die reizbare Substanz der pflanzlichen Parenchymzellen durch die Reizschwankung des pflanzlichen „Ruhe- stroms“ erbringen. Wir können nunmehr sagen: Wenn wir die spezifischen Er- folge der von uns als Reize bezeichneten Einwirkungen auf den Organısmus als Reaktionen auf den Reiz zusammenfassen, so be- greift diese Zusammenfassung sehr heterogene Dinge in sich: erstens unmittelbare Empfindungen; zweitens Beobachtungen, die wir an Erfolgsorganen oft ganz fern vom Angriffspunkt der Einwirkung machen; endlich Beobachtungen an der reizbaren Substanz selbst, die von der Einwirkung direkt betroffen ıst. In diesem hetero- genen (semisch gibt es aber ein einigendes Moment. Es ıst das, worauf wir aus allen diesen drei Arten von Reaktionen schließen: der Vorgang der Erregung in der reizbaren Substanz. Wir können demnach auf die Frage nach den charakteristischen Erfolgen einer Einwirkung, die wir als Reiz bezeichnen, die zusammenfassende Antwort geben: der Erfolg einer Reizung äußert sich in allen Fällen ım Auftreten einer Erregung in der reizbaren organischen Substanz. Der Vorteil, der durch diese Vereinigung aller der verschieden- artigen Reizerfolge auf einer gemeinsamen Basis, der des Auftretens einer Erregung der reizbaren Substanz, erzielt wird, ıst keineswegs der einer bloß formalen Ebenmäßigkeit, einer Uniformität. Es handelt sich dabei überhaupt nicht um die mehr oder weniger vorteilhafte Wahl eines zusamnmıenfassenden Ausdrucks, sondern um die Heraus- hebung des für die Reizwirkung wesentlichen und charakteristischen Moments. Beobachten wir z. B. auf äußere Einwirkungen hin Veränderungen an Organismen, beispielsweise Bewegungen ihrer einzelnen Teile, so hat es nur dann einen Sinn, diese Verände- rungen als Reizreaktionen zu bezeichnen, wenn wir mit hinreichender Sicherheit nachweisen können, dass diesen Bewegungen Erregungs- vorgänge in den reizbaren Substanzen des Organısmus zugrunde liegen. So ist es z. B. möglich, durch entsprechende elektrische Reizung bestimmter Facialiszweige eine Abwärtsbewegung des oberen Augenlides durch Kontraktion gewisser Fasersysteme des Musculus orbicularis oculi zu erzielen. Hier handelt es sich natürlich um eine typische Reizreaktion. Ein äußerlich durchaus ähnlicher Erfolg wird aber auch erzielt durch Ausschaltung der Wirksamkeit des M. levator palpebr. sup., ganz gleich ob es sich dabei um zentrale oder periphere Funktionsunterbrechung der nervösen Leitung oder etwa um Durchschneidung der Sehne des Muskels, kurz um Be- dingungen handelt, bei deren Herbeiführung keinerlei Erregungs- Semon, Der Reizbegriff. 185 vorgang in den reizbaren Substanzen ausschlaggebend gewesen ist. Das Charakteristikum einer Reizwirkung liegt also nicht im End- effekt der Reaktion, sondern einzig und allein in den durch die Einwirkung ausgelösten Erregungsvorgängen. Nicht immer lassen sich diese letzteren aus der Totalıtät der beobachteten Veränderungen deutlich herausschälen und scharf analysieren, und wo das nicht möglich ist, da kann es sich in der Tat empfehlen, eine Reizwirkung durch die summarische Angabe des veränderten Verhaltens (change in the behaviour) zu kenn- zeichnen. In einer derartigen Lage befinden wir uns nicht selten bei der Beschreibung von Reizwirkungen auf Protozoen, weil wir bei diesen die Mechanik ihres veränderten Verhaltens viel schwerer durchschauen können als bei höheren Organismen. Wenn wir ın solchen Fällen die Reizwirkung bloß durch den Wechsel des Ver- haltens beschreiben, so mag dies als Notbehelf!) seine Berechtigung haben. Als Norm muss aber der Nachweis des Auftretens von Er- regungsvorgängen verlangt werden, und dies Erfordernis muss in der Definition seinen entsprechenden Ausdruck finden. Wir bezeichnen also als das Charakteristikum des Reizerfolgs das Auftreten einer Erregung und wollen, ehe wir in unserer eigent- lichen Untersuchung weiter fortfahren, kurz auseinandersetzen, welchem umfassenderen Begriff wir den Begriff der Erregung unter- zuordnen haben. Für unsere Zwecke genügt es, dies zu tun, ohne den Versuch zu machen, tiefer in das Wesen des Erregungsvorgangs einzudringen. Erregung ist, wie wir betont haben, immer etwas Erschlossenes, und zwar bewegt sich das betreffende Schlussverfahren in einer Richtung, die wir als energetische Betrachtungsweise kennzeichnen können, ganz gleich, ob der Schluss auf Grund unmittelbarer Be- wusstseinsreaktionen?) oder auf Grund der Wahrnehmung solcher Erscheinungen, wie es die negative Schwankung der Ruheströme ist, oder endlich auf noch weiteren Umwegen auf Grund der Wahr- nehmung von allerlei Bewegungen, von plastischen Reaktionen, von Stoffwechseländerungen erfolgt. Was wir auf diesem Wege erschließen, ist ein energetischer Vorgang in der reizbaren Substanz, und somit können wir ganz allgemein die Erregung als einen energetischen Vorgang in der reizbaren organischen Substanz bezeichnen. Über 1) Die Anwendung dieses Notbehelfs hat ihre bedenklichen Seiten. Wenn man behufs Feststellung einer Reizwirkung zu großen Nachdruck auf den „Wechsel des Verhaltens‘ legt, wird man leicht dazu verführt, die Intensitätsschwankung als das eigentlich wesentliche Moment bei der Reizwirkung anzusehen. Die Abwege, zu denen eine solche Betrachtungsweise führen kann, werden wir unten bei Be- sprechung von Du Bois-Reymond’s „allgemeinem Gesetz der Erregung“ kennen lernen. 2) Vgl. darüber meine näheren Ausführungen in den „mnemischen Empfin- dungen“, Leipzig 1909, S. 5—11. 186 Semon, Der Reizbegriff. die Form oder die Formen der Energie, die den Erregungsvorgang bedingen, ist es zurzeit unmöglich, bestimmte Aussagen zu machen. Manche Autoren glauben, dass es sich dabei wesentlich um che- mische Energie handelt. Andere ziehen es vor, vorläufig einen summarischen Ausdruck für diese bisher nicht mit Sicherheit be- stimmte Energieform zu gebrauchen und sprechen von physio- logischer Energie oder (entschieden zu eng gefasst) von Nerven- energie, wobeı sie allerdings die Wahrscheinlichkeit betonen, dass eine Zurückführung bezw. Zerlegung dieser Energieform in die anderen durch Physik und Chemie genauer bekannte Energien, wie mechanische, thermische, elektrische, strahlende, chemische, die ich hier als elementare Energien bezeichnen will, möglich sein wird. Wir lassen diese Frage auf sich beruhen und sprechen einfach von dem energetischen Vorgang der Erregung oder von Erregungs- energie, die je nach der Reizpforte, durch die sie im Organismus ausgelöst wird, sich außerordentlich verschiedenartig manifestieren kann. Auch hierauf gehen wir an dieser Stelle nicht näher ein. Wenn wir nun sagen, dass eine bestimmte Einwirkung auf den Organismus sich dadurch als Reiz ausweist, dass sie gesetzmäßig von dem Auftreten einer Erregung in der reizbaren Substanz ge- folgt ist, so ergibt sich hieraus als eine zwar nicht notwendige, aber doch sehr naheliegende Folgerung, dass der gewöhnliche Zu- stand der reizbaren Substanz ein Zustand der Erregungslosigkeit, der Abwesenheit von Erregung sei. In der Tat wird bei reizphysio- logischen Untersuchungen fast immer stillschweigend von dieser Voraussetzung ausgegangen. Für den praktischen Gebrauch lässt sich auch, in den meisten Fällen hiergegen nichts emwenden. An sich ist aber diese Voraussetzung nicht vollkommen zutreffend, ‚sie enthält eine willkürliche Vereinfachung, die dem tieferen Ver- ständnis schädlich werden kann und sich dieser Schädlichkeit nur dadurch entkleiden lässt, dass man sich der vorgenommenen Schematisierung immer bewusst bleibt. Zunächst wird man ganz allgemein zugeben müssen, dass ein absolut erregungsloser Zustand in der reizbaren Substanz überhaupt nicht denkbar ist, weil wir zu der Annahme gezwungen sind, dass die nie ruhenden Stoffwechselprozesse schon selbst Erregungsprozesse bedingen bezw. mit solchen zusammenfallen. Die Prüfung der konkreten Fälle bestätigt die Richtigkeit dieser Erwägung. So wird für unsere reizbare Substanz, soweit sie für optische Erregungen in Betracht kommt, für die Sehsinnsubstanz J. Müller’s oder die Sehsubstanz Hering’s ein vollkommener Ruhezustand, ein Zustand der Erregungs- oder auch nur Reaktionslosigkeit erfahrungs- gemäß überhaupt nicht realisiert, da sich auch bei beliebig langem Aufenthalt in vollkommener Dunkelheit noch sehr deutliche Empfin- dungsreaktionen von Erregungen innerhalb der Sehsubstanz bemerk- Semon, Der Reizbegriff. 187 lich machen. Die bei vollkommener Dunkelheit vorhandene Empfin- dung steht in der Mitte zwischen Schwarz und Weiß. Dieses „mittle Grau“ scheint uns allerdings, wenn wir eine Skala vom tiefsten Samtschwarz bis zum hellsten sonnenbeschienenen Weiß zugrunde legen, nicht genau in der Mitte der Skala zu liegen, sondern ist von der Mitte etwas nach dem schwarzen Ende verschoben?). Die Tatsache, dass es unter solchen Umständen zu einer so ausge- sprochenen Gesichtsempfindung kommt, beweist mit Sicherheit, dass auch bei vollkommenstem Lichtabschluss ein Ruhezustand der Seh- substanz nicht vorhanden ist. Auf anderen Sinnesgebieten können wir in Hinsicht auf Em- pfindungsreaktionen schon eher von einer vollkommenen Reaktions- losigkeit, von einem Indifferenzzustand sprechen, wenn wir nur deutlich oberbewusste und gesondert in ıhrer Eigenart erkannte Empfindungen als zu berücksichtigende Reaktionen gelten lassen. Doch steht dem entgegen, dass ganz sicher in jedem Augenblick sich in der sensiblen Sphäre unserer reizbaren Substanz viel mehr Erregungsvorgänge abspielen, als uns selbst bei größter Aufmerk- samkeit unverhüllt zu Bewusstsein kommt. Dies könnte man aus sehr vielen Tatsachen beweisen. Ich möchte aber, da wir diese Frage hier bloß streifen, nur auf einige wenige Gruppen von Tat- sachen hinweisen. In jeder beliebigen Ruhelage und bei möglichst vollständiger Ausschaltung jeder Bewegung sind wir uns doch über die Lage und Stellung unserer Glieder zueinander klar, und wie wir dies auch im speziellen erklären mögen — bekanntlich ist dies ein vielumstrittenes Gebiet —, ob da Gelenk- oder Hautempfin- dungen oder auch andersartige Empfindungen die Hauptrolle spielen, soviel ist klar, dass in den betreffenden Abschnitten der reizbaren Substanz auch bei größter äußerer Ruhe dauernd Erregunsvorgänge sich abspielen und sich in der Einkleidung als Lageempfindungen sogar oberbewusst manifestieren, sobald man auf sie achtet. In einer noch- viel allgemeineren wiewohl weniger direkten Weise beweisen die Tatsachen der Regulation und der Regene- ration sowohl beim sich entwickelnden als auch beim ausgebildeten Organısmus das dauernde Vorhandensein von Erregungsvorgängen, die sich aus der gegenseitigen Beeinflussung der einzelnen Teile des Organismus, den sogen. „Positionsreizen“ herleiten. Ihr Vor- handensein ergibt sich aus dem Umstande, dass jede Störung des normalen Zustandes in der Mehrzahl der Fälle früher oder später durch regulierende Reaktionen ausgeglichen wird. Ich habe diese Erregungen als „morphogene Originalerregungen“ bezeichnet und bin auf dieselben im 8. Kapitel der Mneme (besonders S. 236— 245 3) Vgl. E. Hering, Zur Lehre vom Lichtsinne. Wien 1878. 5. Mitteilung Ss 31, 8. 87—89. 188 Semon, Der Reizbegriff. der 2. Auflage) näher eingegangen. Ich verweise hier auf jene Ausführungen und hoffe später noch gründlicher auf dieses sehr wichtige Problem eingehen zu können. Hier genüge der Hinweis, dass in jedem Organısmus das dauernde Vorhandensein von „mor- phogenetischen Erregungen“ mit großer Wahrscheinlichkeit ange- nommen werden kann, meiner Ansicht nach angenommen werden muss. Es lässt sich endlich leicht zeigen, dass wir auch in bezug auf die motorische Sphäre der reizbaren Substanz nicht das Recht haben, den scheinbar ruhenden Zustand der Nerven, Muskeln und anderen reizbaren Gewebe als schlechthin erregungslosen anzusehen. Es gibt nämlich sehr viele Fälle, in denen sich im scheinbaren Ruhezustand doch das Vorhandensein gewisser Erregungsvorgänge mit Sicherheit nachweisen lässt, und andererseits wüsste ich wenig- stens keinen Fall zu nennen, in dem ein solches Vorhandensein durch triftige Gründe auszuschließen wäre. Da ich glaube, dass man dies zugeben wird, ohne dass ich es noch durch Aufzählung der einschlägigen Tatsachen erläutere, so komme ich zu dem Schluss, dass die Annahme einer zeitweiligen absoluten Erregungslosigkeit der reizbaren Substanz oder einzelner Abschnitte derselben eine Fiktion ist, die man in erster Linie als solche anzuerkennen hat. Wir müssen uns also bewusst sein, dass, wenn wir den Reizerfolg als das Auftreten einer bestimmten Erregung kennzeichnen, wir uns schon etwas zu schematisch ausgedrückt haben. Korrekter wäre es zu sagen: der Reizerfolg besteht darin, dass der Erregungszustand innerhalb eines gewissen Bezirks der reizbaren Substanz des Orga- nismus verändert wird, oder: ein veränderter Zustand der energe- tischen Situation bedingt einen in bestimmter Hinsicht veränderten Erregungszustand. Es hat jedoch, dies vorausgeschickt, meiner Ansicht nach nichts Bedenkliches, bei der Untersuchung der Reizwirkungen einen zwar nicht ım strengsten Wortsinn zu verstehenden; aber für den prak- tischen Gebrauch doch bestimmbaren Indifferenzzustand, einen Zustand zwar nicht absoluter, aber relativer Reaktionslosigkeit (bezw. beim Gesichtssinn nach längerem Aufenthalt im Dunkeln einen Zu- stand neutraler Reaktion) anzunehmen. In diesem Sinne ist das zu verstehen, was ich in der Mneme (2. Aufl. S. 21, 31, 41) als Indifferenzzustand bezeichnet habe, und in diesem Sinne bitte ich es auch zu verstehen, wenn ich gesagt habe, die Reizwirkung cha- rakterisiere sich als solche durch das Auftreten einer Erregung. Das Korrektere aber bleibt es immer, zu sagen, der veränderte Zustand der energetischen Situation bedinge einen in bestimmter Hinsicht veränderten Erregungszustand und an diese Formulierung wollen wir auch zunächst weiter anknüpfen und sie schärfer analy- sieren. Semon, Der Reizbegriff. 189 Zu den Komplexen von Komponenten der gesamten energe- tischen Situation, die für einen Organismus jeweilig von Bedeutung ist, gehört auch sein eigener Zustand. Wenn also in dem obigen Satz eine Beziehung festgestellt wird zwischen energetischer Situation des Organismus und Erregungszustand des Organismus, so kann es sich bei dieser Beziehung logischerweise nur handeln um: einerseits die ganze übrige energetische Situation ausschließlich des Er- regungszustandes und andererseits eben diesen Erregungszustand. Wir können uns dieses Verhältnis durch folgende Einteilung noch klarer machen. Wir teilen die gesamte energetische Situation, die für einen Organismus jeweilig von Bedeutung ist, und in der er selbst als ein Teil figuriert, ein in: 1. Seine äußere energetische Situation. (Die energe- tische Situation außerhalb der Körperoberfläche des Organismus, soweit sie für ıhn von Bedeutung ist.) 2. Seine innere energetische Situation. Diese letztere wiederum muss geteilt werden in a) Die innere elementarenergetische Situation, b) die innere erregungsenergetische Situation. Unter der inneren elementarenergetischen Situation ist die gesamte innere energetische Situation zu verstehen, soweit ihre Komponenten nicht aus Erregungsenergien bestehen, sondern aus den elementaren Energien, die bisher ausschließlich den energe- tischen Studien der Physik und Chemie zum Gegenstand gedient haben. Man denke an den gegenseitigen Druck, den die Teile des sich entwickelnden wie des fertigen Organismus aufeinander aus- üben, an die Wärme, die durch die Funktion der Organe (z. B. Drüsen, Muskeln) erzeugt wird und sich als solche als energetischer Faktor bemerklich machen kann, an die chemische Wirkung eines im Organismus produzierten Enzyms, einer Säure, kurz an die un- zähligen elementarenergetischen Faktoren, die im Getriebe des Stoff- und Formwechsels des Organismus frei werden und dadurch in die Lage kommen, auf die reizbare Substanz einzuwirken. Unter der inneren erregungsenergetischen Situation wollen wir, wie dies auch der von uns gewählte Name ausdrückt, denjenigen Teil der inneren energetischen Situation verstehen, der aus Erregungszuständen der reizbaren Substanz des Organismus besteht. Wir können nun die äußere energetische Situation in ihrer Beziehung zum Organismus mit dessen innerer elementarenerge- tischen Situation zusammenfassen als gesamte elementarenergetische Situation oder schlechthin elementarenergetische Situation und sie der inneren erregungsenergetischen Situation, die wir dann schlecht- hin als erregungsenergetische bezeichnen können, gegenüberstellen. 190 Semon, Der Reizbegriff. Wir können danach den Satz, von dem wir oben ausgegangen sind, jetzt noch schärfer formulieren und sagen: Veränderte Zustände der elementarenergetischen Sıtuation bedingen veränderte Zustände der erregungsenerge- tischen Situation. In dieser Fassung ist der Satz allerdings noch nicht brauchbar, da wır mit der Methode induktiver Forschung nicht die Gesamtheit der Abhängigkeiten auf einmal erfassen können, sondern zunächst die speziellen Abhängigkeiten, diejenigen eines Einzelfaktors von einem anderen Einzelfaktor, ermitteln müssen. Wir müssen dazu analysieren, müssen Trennungen vornehmen und gegebene, also natürliche Zusammenhänge lösen. Dies ıst nun ın der Tat der Weg, auf welchem die induktive Forschung, mögen ihre Objekte in den Bereich der physiologischen oder der psychischen Forschung fallen, von jeher vorgegangen ist; ist es doch auch der Weg, den der naive Mensch, der gar nicht forschen, sondern sich nur in der Wirklichkeit zurechtfinden will, stets eingeschlagen hat. Was man festzustellen sucht, ist nicht die Abhängigkeit der erregungsenergetischen Situation im ganzen von der elementarenergetischen Situation, sondern eines speziellen Aus- schnitts der erregungsenergetischen Situation, d. h. dessen, was wir „eine Erregung“ nennen, von einem entsprechenden Ausschnitt der elementarenergetischen Situation, den wir dann als einzelnen Reiz zu bezeichnen pflegen. Indem wir demgemäß aus dem Ganzen der Faktoren einerseits der elementarenergetischen, andererseits der erregungsenergetischen Situation solche Einzelfaktoren aussondern, die ın speziellen Be- ziehungen zueinander stehen — und zu einer solchen Aussonderung sind wir wie gesagt gezwungen, wenn wir uns im Gewoge der Erscheinungen orientieren wollen —, tun wir dem uns wirk- lich vorliegenden Tatsachenmaterial bis zu einem gewissen Grade Gewalt an. Was die Aussonderung eines Einzelfaktors aus der elementar- energetischen Situation anlangt, so habe ich bereits in der Mneme (2. Aufl. S. 38) darauf aufmerksam gemacht, dass es fast nur unter den besonderen Bedingungen gewisser besonders günstig liegender Laboratoriumsversuche und auch dann meist nur unvollkommen möglich ist, die elementarenergetische Situation bloß in bezug auf einen einzigen Punkt zu verändern und so die Wirkungsweise eines sozusagen isolierten Faktors zu studieren. In der Tat pflegt das, was wir als Einzeleinwirkung, Einzelreiz, bezeichnen bei der Be- obachtung im gewöhnlichen Leben durchweg und bei Laboratoriums- versuchen in der großen Mehrzahl der Fälle aus zahlreichen Einzel- komponenten zu bestehen, deren Abgrenzung gegen die übrige energetische Situation eine mehr oder weniger willkürliche ist. Ich will indessen auf diesen Punkt nicht näher eingehen, weil die Semon, Der Reizbegrift. 191 Schwierigkeit der Isolierung der Einzelfaktoren für uns viel mehr auf dem Gebiet der erregungsenergetischen als dem der elementar- energetischen Situation liegt und wir uns der ersteren hauptsäch- lich zuwenden wollen. Ich habe dieser Frage bereits in den mnemischen Empfindungen (S. 14—15, 27—32, 144—146), soweit es sich um die Untersuchung der erregungsenergetischen Situation auf Grund von Empfindungs- manifestationen handelt, meine volle Aufmerksamkeit zugewandt und bin dabei zu dem Resultat gelangt, dass alle gleichzeitigen Erregungen (wenigstens die durch oberbewusste Empfindungen manifestierten) innerhalb des Organismus einen zusammen- hängenden simultanen Erregungskomplex bilden. (Auf diesen Vordersatz baute sich dann die weitere Erkenntnis auf, dass dieser zusammenhängende simultane Erregungskomplex als solcher engraphisch wirkt, d. h. einen zusammenhängenden und insofern ein Ganzes bildenden Engrammkomplex zurücklässt, eine Reihe von Feststellungen, die ich in ihrer Zusammenfassung als den ersten mnemischen Hauptsatz, den Satz der Engraphie bezeichnet habe.) Aber auch aus einer Untersuchung, die nicht von den Empfin- dungsmanifestationen der Erregungen ausgeht, lässt sich die Un- . möglichkeit, eine einzelne Erregung aus dem Ganzen der jeweiligen erregungsenergetischen Situation ohne gewaltsame Trennungen herauszuschälen, auf das zwingendste beweisen. Eine solche Iso- lierung wäre bei der Menge der stets gleichzeitig im Organismus ablaufenden Erregungen nämlich nur unter der Voraussetzung mög- lich, dass die Einzelerregung scharf auf einen ganz bestimmten Bezirk beschränkt sei, dass die Isolation der nervösen Leitungen eine absolute sei. Das ist sie aber, wie ıch schon ın der Mneme ausgeführt habe (2. Aufl. S. 162), keineswegs. Eine relative Iso- lierung findet ja insofern statt, als bei schwächeren Reizen und bei nicht gesteigerter Irritabilität das ‘Übergreifen der einzelnen Er- regung über einen bestimmten Bezirk hinaus, den ich ihren Eigen- bezirk genannt habe, nicht manifest wird. Sie wird es aber sofort bei Verstärkung des Reizes oder bei Steigerung der Irri- tabılität, und hieraus ist zu schließen, dass das Nichtmanifestwerden nicht mit Nichtvorhandensein identisch ist. Jede einzelne Komponente der erregungsenergetischen Situation eines Organismus, deren Wirkungskreis zwar in der Regel auf einen bestimmten, von Fall zu Fall wechselnden Eigenbezirk beschränkt erscheint, lässt also den Rest der reizbaren Substanz des Organis- mus keineswegs unberührt. Wie uns die Beobachtungen bei Reflex- krämpfen, die entweder bei erhöhter Irritabilität des Zentral- nervensystems (Strychninvergiftung, Tetanus, Hydrophobie) durch gewöhnliche sensible Reize oder bei normaler Irritabilität der Nerven 192 Östwald, Grundriss der Kolloidchemie. durch Steigerung der Reizstärke ausgelöst werden können, wie uns ferner die sogen. Mitbewegungen und auf sensiblem Gebiet die Irradiationen lehren, erfolgt auch dieses Fortschreiten der sogen. Einzelerregung über ihren Eigenbezirk hinaus, in ganz bestimmten Bahnen unter fortdauernder Abschwächung der Erregung. (Schluss folgt.) Wo. Ostwald. Grundriss der Kolloidchemie. 8. XIV und 225 Seiten. Mit einem Porträt von Thomas Graham. Dresden. Theodor Steinkopf. 1909. Die junge Wissenschaft der Kolloidehemie (ihr Anfang kann füglich von den Arbeiten Graham’s, 1861, datiert werden) hat trotz ihrer Unfertigkeit doch schon wichtigen Einfluss auf viele Zweige des Wissens und der Technik, insbesondere aber auch auf die Biologie gewonnen. Das rechtfertigt es, auf das Buch des jüngeren Herrn Ostwald an dieser Stelle hinzuweisen, trotzdem es über die uns gesetzten Grenzen hinausgehen würde, über seinen Inhalt im einzelnen zu berichten. Physiologen, welche in den einschlägigen Gebieten arbeiten, müssen sich die ihnen nötigen Kenntnisse aus .der trotz der kurzen Zeitspanne doch schon sehr umfangreichen Literatur mühsam zusammensuchen. Ihnen wird durch diese Zu- sammenstellung der experimenteller und theoretischen Grundarbeiten die Mühe wesentlich erleichtert werden. Herr Ostwald gibt zuerst einen Abriss der Geschichte des Forschungsgebiets von (Graham bis auf die neueste Zeit, sodann im zweiten Teil die Theorie des kolloidalen Zustandes, endlich unter der Ueberschrift „spezielle Kolloidehemie“ eine Uebersicht über das, was wir von den Kolloiden wissen, ihre Entstehung, ihre mechanischen, optischen, elektrischen und magnetischen Eigenschaften, dann ihrer Zustands- änderungen, Gelatinierung, Quellung, Adsorption u. s. w. Wenn auch die eigentlichen biologischen Aufgaben in dem Buche nur ganz kurz behandelt werden, so ist doch die ganze Gruppe von Erschei- nungen geeignet, auf manche Vorgänge in den Lebewesen helles Licht zu werfen. Sie spielen schon jetzt in der Physiologie eine wichtige Rolle und werden sicher immer mehr an Bedeutung ge- winnen. Wir empfehlen deshalb das Buch der Aufmerksamkeit der biologischen Forscher. BR. Hof- u. Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt, Unter Mitwirkung von DroRi.Goscbel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Der Abonnementspreis für 24 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen. .. R BAR, 15. März 1910. Ne 6. Inhalt: Semon, Der Reizbegriff (Seren _ Moroff, Bemerkungen Des ne und repro- duktive Erscheinungen bei Thalassicolla. — Meijere, Über getrennte Vererbung der Ge- schlechter. — Lebedeff, Einige Beobachtungen über Trypanosoma rotatorium. Der Reizbegriff. Von Richard Semon. (Schluss.) Es ist klar, dass, da sich somit schließlich jede „Einzelerregung“ über die gesamte reizbare Substanz des Organismus oder doch über den größten Teil derselben*) ausbreitet, bei der großen Zahl solcher jederzeit vorhandenen „Einzelbewegungen“ eine vollständige Tren- nung derselben innerhalb ihrer natürlichen Grenzen ein Ding der Unmöglichkeit ıst. Die ganz scharfe Abgrenzung einer Einzel- erregung aus dem Ganzen der jeweiligen erregungsenergetischen Situation tut vielmehr den tatsächlichen Befunden stets bis zu einem gewissen Grade Gewalt an. Dieser Gewaltakt ist, wie schon oben hervorgehoben, wenn man analytisch vorgehen, induktiv forschen will, nicht zu umgehen. Er ist aber nur dann zulässig, wenn man sich seiner stets bewusst bleibt und nicht die korlch gezogenen Begrenzungen für absolut gegebene hält, wenn man nie das Kunst- produkt für eine ann: Einheit ansieht: 2) 4) Über diese hier auf Grund der „spezifischen Energie“ zu machende Ein- schränkung vgl. Mneme, 2. Aufl. S. 165, Anm. 5) Die Nichtbeachtung der starken Dosis von Willkür, die in der Annahme einer absolut scharfen Abgrenzbarkeit der Einzelerregung von dem Gewoge ihrer gleichzeitigen Genossinnen liegt, hat zu folgenschweren Irrtümern in zwei biologischen Fundamentalfragen geführt. Erstens zu der Behauptung, die Übertragung von somatogenen Veränderungen auf das „Keimplasma‘“ durch organische Reizleitung KK: 13 194 Semon, Der Reizbegrift. Der Standpunkt, auf den wir nunmehr gelangt sind, ist der folgende: Wir unterscheiden auf der einen Seite eine elementar- energetische Situation mit den Komponenten a,b,c,d,e — u. s. w. und auf der anderen Seite eine erregungsenergetische Situation mit den Komponenten a, ß, y, ö, e u.s.w., und beobachten, dass diese letztere Situation in großem Umfange in einem Abhängigkeits- verhältnis von der ersteren steht. Um tiefer in das Wesen dieses Verhältnisses zu dringen, müssen wir die engeren Abhängigkeiten der einzelnen Komponenten untersuchen, wobei wir stets im Auge behalten, dass dıe scharfe Trennung der einzelnen Komponenten bis zu einem gewissen Grade als ein Willkürakt anzusehen ist. In dieser Weise vorgehend, konstatieren wir eine spezielle Abhängig- keit der erregungsenergetischen Komponente a von der elementar- energetischen a, der erregungsenergetischen ß von der elementar- energetischen b, u. Ss. w. Die Art dieser Abhängigkeit können wir nur dahin charakteri- sieren, dass das Auftreten von a die Bedingung ist für das Auf- treten von a, das Auftreten von b die Bedingung für das Auf- treten von ß. Es knüpft sich aber an diese Aussage die weitere Frage, ob es von Fall zu Fall die einzige Bedingung ist. Hier- auf muss ohne Einschränkung mit nein geantwortet werden. Dam» nämlich das Auftreten der elementarenergetischen Be- dingung a dasjenige der erregungsenergetischen a nach sich ziehen soll, das von b dasjenige von ß u. s. w., müssen stets noch eine Anzahl anderer Bedingungen erfüllt sein, Bedingungen, die eben- falls Komponenten der elementarenergetischen Situation sind und die wir mit r, s, t, u bezeichnen können. Soll z. B. die elek- trische Reizung a eines Nerven zu einer Erregung a führen, die sich durch eine Bewegung oder sonstwie manifestiert, so bedarf es dazu noch einer gewissen Temperaturkomponente (nennen wir sie r) der elementarenergetischen Situation, die als Bedingung betrachtet, in einem Grenzwert der Temperatur besteht; außerhalb dieses (srenzwertes, an dem wir ein Minimum, Optimum und Maximum sei „unvorstellbar“. Ich möchte das Gegenteil behaupten: meiner Meinung nach ist das gänzliche Unberührtbleiben der organischen Substanz der Keimzellen von den in der übrigen reizbaren Substanz des Organismus ablaufenden Erregungen eine physiologisch nicht begründbare und nicht vorstellbare Annahme. (Ich komme hierauf in einem demnächst erscheinenden Referat über den Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften ausführlicher zurück.) Zweitens hat der mangelnde Einblick in den notwendigen Zusammenhang aller im Organismus gleich- zeitig ablaufender Erregungen zu einer schiefen Auffassung des Wesens der Asso- ziation geführt. Der von mir unternommene Versuch, alle Assoziationsphänomene auf eine einfache, von mir in den beiden mnemischen Hauptsätzen ausgedrückte Grundgesetzlichkeit zurückzuführen, hat sein tiefstes Fundament in der Erkenntnis des primären Zusammenhanges aller gleichzeitigen Erregungen des Organismus (vgl. N} Mnemische Empfindungen S. 27—32, 145—158 u. s. w.). Semon, Der Reizbegriff. 195 unterscheiden können, zieht a nicht «a nach sich. Eine ähnliche Aufstellung lässt sich, besonders für pflanzliche Organismen, in bezug auf eine Komponente der elementarenergetischen Situation machen, die einen gewissen Feuchtigkeitsgehalt ausdrücken mag. Bezeichnen wir als Komponente t die Anwesenheit einer gewissen Menge von Sauerstoff, so ist bei der Mehrzahl der Organismen (allen Aerobionten) die Anwesenheit dieser Komponente notwendig, damit dem Auftreten von a das von a, dem von b das von ß folge. Es gibt aber bekanntlich auch Organısmen (Anaerobionten), wo umgekehrt a nur dann a, b nur dann ß nach sich zieht, wenn die Komponente t — 0 ist, d.h. wenn sich keine irgendwie nennens- werten Spuren von freiem Sauerstoff nachweisen lassen. Die eben gekennzeichneten Komponenten der elementarenerge- tischen Situation stellen allerdings ebenfalls Bedingungen vor, deren Vorhandensein für das Auftreten der Erregungen a, ß,y u.S. w. unumgänglich notwendig sind. Sıe unterscheiden sich aber von den elementarenergetischen Komponenten a, b,c,d u.s. w. dadurch, dass jede von ıhnen für das Auftreten aller Erregungen a, ß, y, ö, € u. s. w. notwendige Vorbedingung ıst, ohne dass sie zu den ein- zelnen Erregungen die speziellen Beziehungen besäßen wie a zu a, b zu 6, ezuy u.s. w. Ihr Verschwinden zieht nicht das Ver- schwinden einer einzelnen Erregung, sondern das zahlreicher und verschiedenartiger Erregungen nach sich; es bewirkt eine voll- kommene Umwälzung der erregungsenergetischen Situation. Man hat deshalb das Recht und ist verpflichtet, diese Bedingungen als Grundbedingungen oder allgemeine Bedingungen von den speziellen Bedingungen, wie sie durch a, b, ec, d u. s. w. dargestellt werden, zu unterscheiden und zu trennen, deren Auftreten das Auf- treten einer speziellen Erregung bedingt. Letzteres spezielle Abhängigkeitsverhältnis einer Kom- ponente der erregungsenergetischen Situation von einer Komponente der elementarenergetischen Situation besteht darin, dass das Auf- treten, die Dauer bezw. das Verschwinden der elementarenerge- tischen Komponente das Auftreten, die Dauer bezw. das Verschwinden der erregungsenergetischen Komponente nach sich zieht. Die erstere Komponente bezeichnen wir dann als Reiz, die letztere als Erregung. Ein solches Abhängigkeitsverhältnis pflegen wir im Sprachgebrauch als das Verhältnis von Ursache und Wir- kung zu bezeichnen. Nun hängt aber in allen Fällen, in denen wir die Kausalzusammenhänge verfolgen, „das als Wirkung Bezeichnete von einer Mehrheit von Bedingungen ab, so dass von einem schlichten Hervorbringen und Bewirken von seiten eines einzigen Etwas keine Rede sein kann“). Dies gilt auch, wie unsere obigen 6) Vgl. W.Schuppe, Grundriss der Erkenntnistheorie und Logik, Berlin 1894, S. 61. 13* 196 Semon, Der Reizbegrift. Ausführungen gezeigt haben, in besonders augenfälliger Weise für die Beziehung zwischen dem einzelnen Reiz und dem, was man als seine „Wirkung“ bezeichnet, der Einzelerregung. Wir haben, wenn wir diese Beziehung als die von Ursache und Wirkung be- zeichnen, daher immer ausdrücklich oder stillschweigend den Zusatz zu machen: beı Erfüllung der allgemeinen Bedingungen. Reiz nennen wir somit diejenige aus der elementarenerge- tischen Situation resultierende Bedingung, deren Auf- treten, Dauer bezw. Verschwinden bei Erfüllung der all- gemeinen Bedingungen das Auftreten, die Dauer bezw. das Verschwinden einer Einzelkomponente der erregungs- energetischen Situation, einer Einzelerregung, im Ge- folge hat, oder wie wir dies zu bezeichnen pflegen, „be- wirkt“. Die Formulierung des Abhängigkeitsverhältnisses von Reiz und Erregung, wie sie in dem obigen Satze geboten ist, rückt durchaus den zeitlichen Zusammenhang in den Vordergrund, sie beschreibt die zeitliche Abhängigkeit der Erregungskomponente von der elementarenergetischen Bedingung durch die Tatsache, dass un- mittelbar nach dem Auftreten des Reizes (vgl. Mneme, 2. Aufl. S. 18) die entsprechende Erregung auftritt, dass sie andauert, solange jener andauert und dass sie unmittelbar nach dem Verschwinden des Reizes zwar nicht immer gleich spurlos verschwindet, aber doch sofort rapıde abfällt und dass nach einem kurzen Zeitraum sich auch nicht mehr Spuren von ıhr nachweisen lassen. Dieser zeitliche Zusammenhang zwischen Reiz und Erregung ist dasjenige, was uns als gesicherte eindeutige Beobachtungs- tatsache vorliegt und hierauf hat sich meiner Ansicht nach die nähere analytische Beschreibung der Reizwirkung in erster Linie zu stützen. Ich habe eben bereits erwähnt, dass unmittelbar nach dem Verschwinden des Reizes zwar kein völliges Verschwinden, aber ein rapıder Niveauabfall der Erregung stattfindet. Nur während des Vorhandenseins des Reizes, unmittelbar nach ihm auftretend und unmittelbar nach seinem Verschwinden rapıd abfallend besteht also die Erregung in ihrer vollen Ausbildung. Ich bezeichne diese Phase, ın der man die Hauptphase der Reizwirkung zu erblicken hat, als die synchrone, und die durch sie bedingte Erregung als synchrone Erregung. Nach dem Verschwinden des Reizes erfolgt der rapide Abfall der Erregung, aber es dauert wohl in allen Fällen Sekunden, zu- weilen (vielleicht sogar immer?) Minuten, bis die letzten auf irgend- welche Weise nachweisbaren Spuren der betreffenden Erregungen völlig abgeklungen sind, und in dieser Hinsicht derselbe Zustand der erregungsenergetischen Sıtuation eingetreten ist, der vor Auf- treten des Reizes bestanden hat. Ich bezeichne diese abklingende Semon, Der Reizbegriff. 197 Phase der Erregung vom Verschwinden des Reizes und dem ent- sprechenden rapiden Niveauabfall der Erregung an bis zu deren gänzlichem Ausklingen als die akoluthe Phase der Erregung. Auch diese Phase kann als das Produkt der Reizwirkung aufgefasst werden; allerdings mehr als das mittelbare Produkt, denn das unmittelbare ist die synchrone Erregung, und deren Hinterlassen- schaft ist die akoluthe Erregung. Wenn wir diese letztere als mittel- bares Produkt des Reizes auffassen, können wir von einer ako- luthen Reizwirkung, einer „Nachwirkung“ des Reizes sprechen. Das Studium der akoluthen Erregungen ist bisher nur in äußerst sporadischer Weise betrieben worden. Auf dem Gebiet der durch Sinnesempfindungen manifestierten Erregungen haben bis jetzt nur die optischen akoluthen Empfindungen und die „Nachbilder“ eine inten- sive Bearbeitung erfahren. In viel geringerem Maße ist dies bei den akustischen akoluthen Empfindungen der Fall gewesen, und, was die übrigen Sinnesgebiete anlangt, so bleibt für sie in dieser Beziehung noch fast alles zu tun übrig (vgl. das 6. Kapitel der „mnemischen Empfindungen‘). Auf dem Gebiet der zentrifugalen, speziell der motorischen Erregungen sind besonders die akoluthen Erregungserscheinungen, die sich bei elektrischer Reizung der Muskeln und Nerven bemerk- lich machen, genauer studiert worden (Öffnungszuckung, Öffnungs- kontraktion, Öffnungstetanus, Öffnungserregung, Öffnungshemmung); nebenbei sei auch an den Reflextonus großhirnloser Frösche erinnert, doch handelt es sich dabeı offenbar um verwickelte, schwer zu deutende Verhältnisse. Auch auf pflanzenphysiologischem Gebiet sind verschiedene Fälle von „Nachwirkungen“ zur Beobachtung gelangt. Leider hat man aber auf diesem Gebiet fast durchweg nicht die akoluthe Reiz- wirkung von der gleich zu besprechenden engraphischen, die ako- luthe Erregung von der mnemischen in ausreichender Weise unter- schieden, und meines Wissens haben nur Francis Darwin und D. F. M. Pertz’) auf den fundamentalen Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen und auf die Unzulässigkeit, den Terminus „after effect“, Nachwirkung, unterschiedslos auf beide anzuwenden, mit der nötigen Schärfe hingewiesen. Die akoluthe Erregung ist dadurch charakterisiert, dass sıe die unmittelbare Fortsetzung der synchronen Erregung ist, der sie sich unter rapıdem Niveauabfall anschließt. In manchen Fällen, viel- leicht immer, besitzt sie einen oszillierenden Charakter; doch scheinen die Tiefpunkte der Oszillationen immer nur Abschwächungen, nicht Nullpunkte der betreffenden akoluthen Erregungen darzustellen. 7) Fr. Darwin an D. F.M. Pertz, On the artificial Production of Rhythm in Plants. Annals of Botany, Vol. XVII, 1903, S. 104. 198 Semon, Der Reizbeguiff. Einige Sekunden, höchstens Minuten nach Aufhören des Reizes ist endlich die akoluthe Erregung vollständig „ausgeklungen“ und von ihr als solcher, d. h. als sich in irgendeiner Weise mani- festierende Erregung ist durchaus nichts mehr nachweisbar. Die erregungsenergetische Situation befindet sich alsdann in bezug auf die nunmehr abgelaufene besondere Erregung in demselben Zustand, in dem sie sich vor Auftreten des betreffenden Reizes befunden hat. Wie wir schon oben gesehen haben, entspricht dieser „In- differenzzustand“ nicht einem Zustand absoluter, sondern nur relativer Erregungslosigkeit, und in diesem Sinne ist alles das- jenige zu verstehen, was ich in der Mneme über diesen Indiffe- renzzustand gesagt habe. Ich habe dort die beiden durch ein Zeitintervall getrennten Indifferenzzustände, von denen der eine vor Auftreten des Reizes liegt, der andere vom Verschwinden der letzten Andeutung der akoluthen Erregung an zu rechnen ist, als primären und sekundären Indifferenzzustand unterschieden. Eine Hauptaufgabe der „Mneme“, in zweiter Linie auch der „mnemischen Empfindungen“, hat darin bestanden, den Nachweis zu führen, dass die reizbare Substanz des Organismus, obwohl scheinbar im sekundären Indifferenzzustand gegen den pri- mären unverändert, doch eine bleibende, während des sekundären Indifferenzzustandes allerdings latente Veränderung erlitten hat. Diese Veränderung, von deren sonstigen Wesen man nur aussagen kann, dass sıe als Veränderung der reizbaren Substanz eine materielle Veränderung sein muss, habe ich als Engramm bezeichnet und die mittelbare Reizwirkung, die durch die Mittelglieder der syn- chronen und akoluthen Erregung das Engramm schafft, als engra- phische Reizwirkung. Wir können mithin folgende unmittelbare und mittelbare Re- sultate der Einwirkung eines Reizes auf die reizbare organische Substanz unterscheiden: Erstens als unmittelbarste Wirkung die Hervorrufung einer synchronen Erregung; zweitens die an diese anschließende akoluthe Erregung und endlich die Veränderung, die als zunächst latente Spur dieser Erregungen in der reizbaren Sub- stanz zurückbleibt, das Engramm. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, näher auf die engra- phische Reizwirkung oder die Engrammlehre überhaupt einzugehen. Uns interessiert an dieser Stelle nicht das Engramm als solches, sondern nur als Vorbedingung einer besonderen Art von Erregung, der mnemischen Erregung. Diese, die in ihrem Sein in den meisten wesentlichen Eigenschaften mit der Originalerregung über- einstimmt, unterscheidet sich von dieser letzteren fundamental durch die Art und Weise ihrer Hervorrufung. Ich wıll diesen Unter- schied hier in folgenden zwei Leitsätzen ausdrücken. Semon, Der Reizbegriff. 199 1. Jede Öriginalerregung ist in ihrem Auftreten, ihrer Dauer und in ihrem Verschwinden von Auftreten, Dauer und Verschwinden einer elementarenergetischen Bedingung, die wir als Reiz bezeichnen, abhängig. 2. Für die mnemische Erregung besteht eine solche Ab- hängigkeit von einer elementarenergetischen Bedingung nicht; die beiden notwendigen Voraussetzungen für das Auftreten einer mne- mischen Erregung sind: a) Das Vorhaudensein eines entsprechenden Engramms, dessen Beschaffenheit das für die Dauer der mnemischen Erregung in erster Linie Bestimmende ist. b) Das Auftreten eines ekphorischen Einflusses. Diese Ekphorie erfolgt nach einem Gesetz, das ich in den mnemischen Empfin- dungen (S. 173, 371) als zweiten mnemischen Hauptsatz folgender- maßen formuliert habe: „Ekphorisch auf ein Engramm (bezw. einen simultanen Engrammkomplex) wirkt die partielle Wiederkehr der- jenigen energetischen Situation, die vormals engraphisch gewirkt hat. In engerer Fassung: Ekphorisch auf einen simultanen En- grammkomplex wirkt die partielle Wiederkehr des Erregungs- komplexes, der seinerzeit den Engrammkomplex hinterlassen hat, und zwar eine Wiederkehr, sei es in Gestalt von Originalerregungen, sei es von mnemischen Erregungen.“ Da, wie unser Satz sagt, zur Ekphorie die Wiederkehr in Ge- stalt von mnemischen Erregungen genügt, und eine solche auf dem sukzessiven Wege des mnemischen Ablaufs, d. h. auf Grund der Erwirkung einer mnemischen Erregung durch eine andere erfolgen kann, so ist es klar, dass es zur Ekphorie einer mnemischen Er- regung nicht notwendig des Auftretens einer elementarenergetischen Bedingung, also eines eigentlichen „Reizes“ bedarf. Ein solcher kann dabei allerdings eine Rolle spielen, indem er eine Originalerregung auslöst und diese hinwiederum eine mnemische Erregung nach sich zieht. Der Reiz ist aber auch in diesem Falle nur der mittelbare Anstoß, und die Dauer der mnemischen Erregung ist auch in diesem Falle von seiner Dauer unabhängig. Noch größer ist natürlich diese Unabhängigkeit einer mnemi- schen Erregung von elementarenergetischen Faktoren, wenn die Ekphorie durch eine Kette sukzessiv verknüpfter mnemischer Er- regungen erfolgt. So kann man mit absoluter Sicherheit voraus- sagen, dass, wenn man einem Kenner Schiller’scher Balladen die Reizworte zuruft: „Fahre innerlich fort von den Worten: ‚Zum Kampf der Wagen und Gesänge‘“, unweigerlich in 6—7 Minuten die mnemische Sukzession eintreten wird: „Die Szene wird zum Tribunal“. Ganz ähnliche Beispiele ließen sich auf solchen Gebieten anführen, auf denen sich die mnemischen Erregungen durch moto- rische oder plastische Reaktionen manifestieren. Man wird zugeben, 200 'Semon, Der Reizbegriff. dass in allen diesen Fällen der durch Originalreiz (die elementar- energetische Bedingung) bewirkte Anstoß ein höchst indirekter ist, der oft nur durch ungeheuer lange und komplizierte Ketten von mnemischen Erregungen mit dem viel später erfolgenden Endeffekt zusammenhängt, den man ins Auge gefasst hat, und der in der Auslösung einer bestimmten mnemischen Erregung besteht. Es ist deshalb durchaus zweckmäßig, als ekphorisches Moment immer in erster Linie das Auftreten (partielle Wiederkehr) einer Erregung entweder in Gestalt einer Originalerregung oder in Gestalt einer mnemischen Erregung zu bezeichnen, und den eigentlichen Reiz- begriff für dıe elementarenergetische Bedingung zu reservieren, die eine Originalerregung auslöst und durch ihr Auftreten, ihre Dauer und ihr Verschwinden für das Auftreten, die Dauer und das Ver- schwinden dieser letzteren bestimmend ist. Es bleibt uns jetzt noch übrig, zu untersuchen, ob sich, ohne die Allgemeingültigkeit der Definition anzutasten, etwas Genaueres über die Natur jener Bedingung der elementarenergetischen Situation aussagen lässt, die wir als Reiz bezeichnen. Eine derartige Bedingung nun könnte in folgenden Formen auftreten: sie könnte entweder in dem Vorhandensein oder in der Abwesenheit eines bestimmten energetischen Faktors bestehen, und im ersteren Falle könnte dieser Faktor entweder ein aktuell-energe- tischer oder ein potentiell-energetischer sein. Vielleicht möchte man auf den ersten Blick geneigt sein, nur in dem Vorhandensein eines aktuell-energetischen Faktors einen wirklichen Reiz zu erblicken, und ich selbst bekenne mich schuldig, ın einem unbedachten Augenblick meine Feder nicht von einem solchen Lapsus zurückgehalten zu haben). Ein solcher Standpunkt lässt sich aber ın keiner Weise auf- recht erhalten. Nicht nur das Vorhandensein von potentiell-energe- tischen Faktoren, sondern auch die Abwesenheit irgendeines be- stimmten energetischen Faktors kann sich als Reiz darstellen. In einem ganz einfachen, über keine potentielle Energie verfügenden Systeme, wie es die Physiker, soweit als möglich, zur Unter- suchung ihrer elementaren Gesetzmäßigkeiten herzustellen und zu ver- wenden pflegen, liegen die Dinge ja anders. Nicht aber in kompli- zıerteren anorganischen oder gar in den unsäglich komplizierten und ungemessene Schätze von potentieller Energie besitzenden Systemen, die uns in den lebenden Organismen oder in Teilen der- selben vorliegen. Es wäre nicht schwer, ein anorganisches System zu konstruieren, in welchem bei Nichtvorhandensein gewisser Energien bestimmte Vorgänge vor sich gehen, die beim Vorhandensein der- 8) R. Semon, Kritik und Antikritik der Mneme. Arch. f. Rassen- u. Gesell- schaftsbiologie, 4. Jahrg. 1907, S. 210. Semon, Der Reizbegrift. 201 selben zum Stillstand kommen°). Auch in einem solchen anorga- nischen System stellt dann jenes Nichtvorhandensein eines be- stimmten energetischen Faktors die auslösende Bedingung für das Eintreten und die Andauer eines besonderen energetischen Vorgangs dar und kann bis auf den einen Unterschied mit dem Reiz ver- glichen werden, dass eben jener ausgelöste Vorgang kein erregungs-, sondern ein elementarenergetischer ist. Beispiele, wie das in der Anmerkung skizzierte, weisen uns bereits darauf hin, wie die Abwesenheit eines bestimmten energe- tischen Faktors als auslösende Bedingung für den Eintritt eines, sei es elementarenergetischen oder erregungsenergetischen Vorgangs zu verstehen ist. Natürlich kann eine solche „Abwesenheit“ nur indirekt, d. h. insofern wirken, als bei der Anwesenheit desselben Faktors andere Vorgänge ausgeschlossen oder gehemmt sind, Vor- gänge, die in der kausalen Kette als die noch unmittelbarer aus- lösenden Bedingungen zu bezeichnen wären. So kann man nach den Auseinandersetzungen Hering’s un- möglich daran zweifeln, dass die Abwesenheit des Lichts auf die je nach Umständen davon betroffenen Bezirke der Netzhaut genau so als Reiz wirkt wie die Einwirkung von Licht auf benachbarte andere Bezirke. Wır haben uns das so vorzustellen, dass nur beı Abwesenheit des Lichts in den betreffenden Netzhautstellen gewisse Prozesse vor sich gehen, die zu Erregungen führen, welche sich uns als Schwarzempfindung manıifestieren. Wir haben also bier folgende kausal zusammenhängende Kette von Vorgängen vor uns: Abwesenheit des Lichts — gewisse (unbekannte) chemische Pro- zesse — Erregung, die sich durch Schwarzempfindung manifestiert. Sollen wir nun das vollständig bekannte erste Glied (Abwesenheit . des Lichts) oder das erschlossene und seiner näheren Beschaffen- heit nach noch unbekannte oder hypothetische zweite Glied als eigentlichen Reiz bezeichnen? Man hat hier vollkommen freie Wahl, wie dies bei allen kausalen Zusammenhängen der Fall ist, die sich ja ausnahmslos bei genauerer Analyse als unvergleichlich verwickelter und vielseitiger bedingt darstellen, als sie dem naiven Beschauer auf den ersten Blick erscheinen. Wollte man nicht ın der Abwesenheit des Lichts, sondern ın jenen unbekannten che- mischen Prozessen den eigentlichen Reiz erblicken, so dürfte man auch die Anwesenheit bezw. Wirkung des Lichts nicht als Reiz ansprechen; denn auch in diesem Falle wirkt das Licht nicht direkt, sondern durch die Mittelglieder von chemischen Umsetzungen im Apparat der Netzhaut hindurch erregend. 9) Es wäre z. B. ganz leicht, ein Uhrwerk zu konstruieren, das stillsteht, so- lange bestimmte elektromagnetische Einflüsse auf gewisse Teile seines Gebietes ein- wirken, das aber sofort seinen Gang beginnt und fortsetzt, sobald und solange die Wirkung dieser energetischen Einflüsse nicht vorhanden ist. 202 Semon, Der Reizbegriff. Ebensowenig dürften wir dann einen Druck als Reiz bezeichnen, denn ein solcher ist ebenfalls nicht das vorletzte Glied der Kette. Er wirkt nur indirekt dadurch, dass er die Gestalt des Nervenend- organs ändert, dass in dem so veränderten Gebilde der Modus der Stoffwechselprozesse verändert ist und dass aus dieser Veränderung der Erregungsvorgang resultiert. Es wäre nun aber höchst un- zweckmäßig, auf eine solche, an sich vollkommen berechtigte, aber in ihren näheren Details bisher noch nicht schärfer präzisierbare Analyse hin jene erschlossenen Zwischenglieder als die eigent- lichen Reize zu bezeichnen und die der näheren Untersuchung zugänglichen Vorderglieder wie: Anwesenheit von Licht oder Druck, teilweise oder vollständige Abwesenheit von Licht u. s. w. nicht als die eigentlichen Reize anzuerkennen. Logische oder auch nur sprachliche Hindernisse gibt es für eine solche Anerkennung nicht, wenn man nur den Reiz nicht als eine Komponente der energe- tischen Situation, sondern als eine aus der energetischen Situation resultierende Bedingung definiert, wie wir es oben getan haben. Dort habe ich gesagt, eine solche Bedingung könne in der Abwesenheit eines bestimmten energetischen Faktors bestehen, und solche Fälle haben wir eben besprochen; ich fügte aber hinzu, sie könne auch in einem potentiell-energetischen Faktor bestehen. Einen solchen Fall haben wir bereits gestreift, wenn wir von einem Druck als auslösendem Reiz gesprochen haben, und auf diesen Fall wollen wir hier noch kurz eingehen, weil er recht belehrend ist. Man lege auf die flach ausgebreitete und auf dem Tisch rulende Hand ein Gewicht, beispielsweise von 500 g, das in ein wollenes Tuch eingeschlagen ist, um zu verhindern, dass es etwa auch als thermischer Reiz wirke. Solange das Gewicht auf der Hand liegt, übt es eine Einwirkung aus, die sich uns durch die Empfindung eines bestimmten Drucks manifestiert. Wenn wir die Hand mit dem Gewicht ruhig in ihrer Lage lassen, unsere Gedanken mit anderen Dingen beschäftigen, z. B. lesen, so empfinden wir, wenn wir nach einer halben Stunde unsere Aufmerksamkeit wieder entsprechend einstellen, immer noch den Druck ; vielleicht nicht so lebhaft wie im Anfang, weil eine gewisse Adaptation eingetreten ist, aber doch so unverkennbar, dass an dem Vorhandensein der Empfindung bezw. der durch sie manifestierten Erregung, mithin an der dauernden Reizwirkung des Gewichts nicht der mindeste Zweifel herrschen kann. Es ist nun klar, dass es sich beı dieser Versuchsanordnung um ein in dieser Himsicht in vollkommener Gleichgewichtslage befindliches System handelt, bei dem der Druck, nachdem er einmal die Gewebe des Organs, auf dem das Gewicht ruht, bis zu einem gewissen Grade zusammengedrückt hat, nicht mehr als kinetisch-, sondern nur noch als potentiell-energetischer Faktor anzusehen ist. Semon, Der Reizbegriff. 203 0 Das für unsere Betrachtung Wesentliche des Zustandes besteht dann darin, dass die Nervenendorgane des betreffenden Teils durch den Druck eine gewisse Veränderung ihrer Form, also im Vergleich zum druckfreien Zustand eine gewisse Deformierung erfahren haben, und dass mit dieser Formveränderung eine Veränderung der Lebens- prozesse ın jenen Teilen verbunden ist, die wir als Erregung be- zeichnen und die sich uns in diesem Falle introspektiv als Empfin- dung manifestiert. Dieser Fall bietet, abgesehen von den besonderen Eigentüm- lichkeiten, die die erregungsenergetischen Vorgänge von den elementarenergetischen unterscheiden, einige Analogien zu folgendem rein elementarenergetischen Vorgang. Lehne ich ein schweres Brett so gegen eine Zimmerwand, an der sich der Knopf einer elektrischen Klingel befindet, dass durch den Druck des Bretts der Knopf hinreichend tief nach innen gedrückt wird, so ertönt die Klingel, solange das Brett diese Stellung hat, und solange der Vor- rat von chemischer Energie, durch den dıe Batterie den zum Klingeln notwendigen Elektromagnetismus entwickelt, nicht erschöpft ist. Unter solchen Umständen ertönt die Klingel vielleicht tagelang, und ihre Tätigkeit wird durch den Druck des Bretts ausgelöst, ob- wohl, nachdem einmal der Knopf nach innen gedrückt ist, der Druck als solcher sich nur noch als potentielle und nicht mehr als kinetische Energie darstellt. In beiden Fällen, sowohl beim fort- gesetzten Druck des Gewichts auf unsere Haut als auch beim fort- gesetzten Druck des Bretts auf den Klingelknopf, findet nicht etwa ein Umsatz der auslösenden (potentiellen) Energie des Drucks in die ausgelöste kinetische Energie, sei es der Erregung, sei es der Bewegung des Glockenhammers statt, sondern letztere kinetischen Energien sind ın beiden Fällen Umsatzprodukte anderer ın den Systemen vorhandener potentieller Energien, nicht der auslösenden potentiellen Energien der Drücke. Besonders schön ersichtlich ist dies am Beispiel der Klingel. Die potentielle Energie des Drucks dient in diesem Fall dazu, einen elastischen Widerstand zu über- winden und dadurch einen Kontakt herzustellen, der zur Schließung einer Kette und dadurch zur Erfüllung einer Bedingung für Ent- wickelung von elektrischer Energie aus dem Vorrat von chemischer Energie führt. Noch auf einen bemerkenswerten Punkt möchte ich aufmerk- sam machen. Trotzdem sich, wie wir sahen, die potentielle Energie des Drucks nicht in die kinetische der betreffenden Erregung um- setzt, belehrt uns doch die Empfindungsmanifestation jener Er- regung, dass mit der Zunahme des Drucks auch eine ganz bestimmte Intensitätssteigerung der Empfindung stattfindet, worin sich natür- lich auch eine Verstärkung der Erregung manifestiert. Es ist nicht schwer, die Grundlinien dieser Beziehungen fest- 204 Semon, Der Reizbegriff. zustellen: Je stärker der Druck, um so größer die Deformation der Nervenendorgane, um so bedeutender die Veränderung der Stoff- wechselprozesse ın ihnen und mithin der Grad der Erregung, um so intensiver die Empfindungsmanifestation dieser letzteren. Solche Beziehungen lassen sich zwischen den Größenverhältnissen aller als Reiz wirkenden elementarenergetischen Bedingungen und der von ihnen ausgelösten Erregungen bezw. den Empfindungsmanifestationen dieser letzteren nachweisen. Unter dem Namen des „Weber’schen (Gresetzes“* hat bekanntlich G. Th. Fechner versucht, der Be- ziehung zwischen Größe des Reizes und Intensität der durch ihn ausgelösten Empfindung einen zahlenmäßigen Ausdruck zu verleihen. Dieses Weber’sche Gesetz Fechner’s wird sehr verschiedenartig beurteilt; meiner Ansicht nach ist es nicht schwer, den Nachweis zu führen, dass ein zahlenmäßiger Ausdruck der Beziehung zwischen Größe des Reizes und Intensität der Empfindung einen fundamentalen Widerspruch in sich enthält, der darauf beruht, dass Empfindungsintensitäten sich überhaupt nicht zahlenmäßig ausdrücken lassen. So kann man z. B. zwar sagen, eine Empfindung sei inten- siver als eine andere, nie aber, sie sei noch einmal so intensiv als jene. Jede Überwindung dieses Hindernisses, wie sie vielfach versucht worden ıst, beruht, wie ich glaube, auf einer Selbst- täuschung. Auf diese Frage gehe ich aber hier nicht näher ein. Sie verdient und erfordert eine besondere Behandlung. Wie dem aber auch sei: eine feste, wenn auch nicht durch Zahlen ausdrückbare Beziehung zwischen Größe des Reizes und Intensität der Empfindung ist zweifellos vorhanden. Und schon daraus ergibt sich eine feste Beziehung zwischen Größe des Reizes und dem Korrelat der Empfindungsintensität bei der Betrachtung dieser letzteren von der Erregungsseite her: nennen wir es kurz Erregungsintensität. Eine solche Beziehung zwischen Reizgröße und Erregungsintensität ist aber nicht bloß auf introspektivem Wege auf Grund der Empfindungsmanifestationen, sondern auch durch das Studium der sogen. objektiven Reaktionen nachweisbar. Ob sich die Beziehung zwischen Reizgröße und Erregungsintensität wird zahlenmäßig ausdrücken lassen, ist eine andere Frage, deren Erörterung auf später vertagt werden muss. Die Betrachtungen der letzten Seiten haben uns über die Be- zıehung zwischen Reiz und Erregung, die folgenden Aufschlüsse gebracht, die wir hier noch einmal kurz zusammenfassen wollen. Diese Beziehung ist für uns eine solche zwischen einer elementar- energetischen Bedingung zu einem erregungsenergetischen Faktor und besteht nicht etwa darin, dass die Elementarenergie eines Reizes in die Erregungsenergie umgesetzt wird. Oft stellt ja das, was wir als Reiz bezeichnen, gar nicht direkt eine Energie, sondern nur die Bedingung für die Produktion einer solchen durch den Semon, Der Reizbegriff. 205 Stoffwechsel des Organismus dar. Wie wir gesehen haben, gilt dies z. B. für die mehr oder weniger vollständige Abwesenheit des Lichts: Auch ist es evident, dass bei einem Druck nicht die kinetische Energie der Erregung durch die potentielle Energie edr Schwerewirkung gespeist wird, sondern dass ihre Bezugsquellen sich aus den im Körper vorhandenen und im steten Umsatz be- griffenen Energievorräten herleiten. Es ıst aus diesen Gründen vollkommen korrekt, zu sagen, dass der Reiz die Erregung auslöst, nicht dass er sich in sie umsetzt. Nur muss man, wenn man den Auslösungscharakter des Reizes betont, sich auch wieder darüber klar sein, dass es sich nicht etwa um eine Auslösung handelt, bei der, wie bei einer Spieluhr die Ent- fernung eines Sperrhakens, eine kleine, kurz andauernde Einwirkung genügt, um Ketten von erregungsenergetischen Vorgängen auszu- lösen, deren Ablauf die Dauer jener Auslösung um ein vielleicht vieltausendfaches übertrifft und mit ersterer nur noch durch zahl- lose Mittelglieder zusammenhängt. Derartigen Auslösungen ent- spricht vielmehr auf dem Erregungsgebiet das, was ich als Ek- phorie mnemischer Erregungen bezeichnet habe. Als solche kann ein einfacher, nur einen Sekundenbruchteil dauernder Anstoß einen Ablauf von Erregungsketten bewirken, der, wenn es sich um ein langes, auswendig gelerntes Dicht- oder Musikwerk handelt, viele Stunden dauert. Die Auslösung einer Originalerreguug durch einen Reiz unterscheidet sich von der Ekphorie einer mnemischen Er- regung in folgenden zwei charakteristischen Grundzügen. 1. Die Dauer der Hauptphase der Originalerregung entspricht genau der Dauer des Reizes, weshalb wir auch jene Phase als syn- chrone Phase bezeichnen. Die Dauer einer mnemischen Erregung ist ım Gegensatz dazu nicht durch die Dauer eines gleichzeitigen, sondern durch die Dauer eines früheren Reizes (desjenigen, der engraphisch gewirkt hat) bestimmt. 2. Die sogen. Intensität der Originalerregung steht in einer bestimmten Beziehung zur Größe des sie auslösenden Reizes. Die Intensität einer mnemischen Erregung dagegen ist ebenso wie ihre Dauer durch die Beschaffenheit eines früheren Reizes bedingt. (Dies gilt für die Intensität im engeren Sinne, nicht für die Vividität der mnemischen Erregung. Vgl. darüber die „mnemischen Empfin- dungen“ S. 238, 249, 386.) Ehe ich nunmehr daran gehe, die Ergebnisse unserer Unter- suchung in einer abschließenden Definition zusammenzufassen, muss ich noch kurz auf die Frage eingehen, ob es nicht Fälle gibt, in denen wir gezwungen sind, den Reiz nicht als eine Bedingung von längerer oder kürzerer Dauer, sondern als die Veränderung einer solchen Bedingung zu definieren. Ich will an zwei, ich möchte sagen klassischen Beispielen nachweisen, wie die ungebührliche 206 Semon, Der Reizbegriff. Hervorhebung des Begriffs der Veränderung, die sich psychologisch daraus erklärt, dass sich uns der Eintritt und das Aufhören einer Reizwirkung meist durch eine Veränderung der Form oder des sonstigen Verhaltens des gereizten Objekts manifestiert, dem Ver- ständnis der reizphysiologischen Tatbestände hindernd in den Weg tritt !°). Nach dem berühmten, von du Bois-Reymond aufgestellten „allgemeinen Gesetz der Erregung“ soll der elektrische Strom nicht erregend wirken durch seine absolute Dichte, son- dern durch seine Veränderung derselben von einem Augenblick zum anderen; und zwar wäre die Anregung zur Bewegung, die diesen Veränderungen folgt, um so bedeutender, je schneller sie bei gleicher Größe vor sich ‘gehen oder je größer sie in der Zeiteinheit sind. Nun hat sich in der Folgezeit herausgestellt, dass die (negativ ausgedrückte) Hauptthese sich nicht aufrecht erhalten lässt, und dass im Gegenteil durch den in gleicher Dichte fließenden Strom stets eine dauernde Erregung ausgelöst wird, die sich allerdings zu- weilen nicht über weitere Gebiete der reizbaren Substanz fortpflanzt, sondern örtlich beschränkt bleibt und sich auch nicht immer am Erfolgsorgan in stetiger Weise ausprägt. Die dauernde erregende Wirkung durch den in gleicher Dichte fließenden Strom lässt sich aber stets auf dem einen oder dem anderen Wege nachweisen, ob man das Erfolgsorgan nun direkt oder durch Vermittlung mit dem Nerven reizt!!). 10) Verworn gibt in seiner allgemeinen Physiologie (5. Aufl. 1909, S. 411) folgende Definition des Reizes: „Reiz ist jede Veränderung in den äußeren Lebens- bedingungen.‘‘ Dieser Definition fehlt meiner Ansicht nach in erster Linie der Hin- weis auf das, was den Reiz als solchen charakterisiert: seine Beziehung zu einer bestimmten Komponente der erregungsenergetischen Situation. Ist die Definition dadurch viel zu weit gefasst, so wird sie zweitens durch den Zusatz „äußere“ zu Lebensbedingungen ungebührlich eingeengt. Wissen wir doch, dass ein im Inneren des Organismus zur Wirksamkeit gelangender Druck, ein in seinem Inneren produ- ziertes chemisches Agens genau so als Reiz wirkt, wie derselbe Faktor, wenn er im Gewande der „äußeren“ Lebensbedingung auftritt. Eine Definition endlich, die den Reiz nicht als Bedingung, sondern als Veränderung einer Bedingung charakterisiert, täuscht über ein fundamentales Verhältnis seiner Beziehung zur Erregung, das zeit- liche, und führt überhaupt auf Abwege, wie ich dies schon in der Mneme (2. Aufl. S. 4—8) ausführlich dargelegt habe und wie es sich auch aus den im Text der vor- liegenden Arbeit noch zu erörternden Beispielen klar ergibt. 11) Ich gehe hier natürlich nicht ausführlich auf die Tatsachen ein, aus denen sich dieser Schluss mit Notwendigkeit ergibt. In bezug auf die direkte Reizung sowohl des quergestreiften wie des glatten Muskels beweist vor allem die Schließungs- dauerkontraktion unwiderleglich, dass der konstante Strom den Vorgang der Er- regung während der ganzen Dauer seines Fließens auslöst (vgl. Biedermann, Elektrophysiologie, Jena 1895, S. 159). Derselbe Schluss ist auch aus der Tatsache zu ziehen, dass die Öffnungskontraktion um so kräftiger ausfällt, je länger die Durchströmung gedauert hat. Ebenso lässt sich aber auch für die indirekte (vom Semon, Der Reizbegriff. 207 Während die Intensität der Erregung in erster Linie von der Intensität, Dichte und Dauer des Stroms abhängt, ist, wenn der Erfolg der Erregung am Muskel abgelesen wird, dieser Erfolg auch noch abhängig ven der Steilheit des Ansteigens der Strom- intensität. Bei rasch zuckenden Muskeln ist ein steiler Einfall, beı langsam reagierenden ein wenig steiler für die Erzeugung einer Kontraktion günstiger. Durch diese Eigentümlichkeiten wird in- dessen nichts an der Grundtatsache geändert, dass der elektrische Strom als dauernde energetische Bedingung, nicht aber bloß durch sein Auftreten, Verschwinden oder die Veränderungen seiner Dichte erregend auf die reizbaren Substanzen wirkt. Auch diese Reiz- kategorie fällt also vollkommen unter die von uns aufgestellte Definition des Reizbegriffs. Nur kurz will ich endlich noch auf ein Beispiel aus der Pflanzen- physiologie eingehen, das man uns vielleicht bei oberflächlicher Be- trachtung als mit unserer Definition unvereinbar entgegenhalten wird, das aber bei genauerer Untersuchung nur wieder die allge- meine Gültigkeit der von uns gewonnenen Ergebnisse beweist. Bekanntlich werden beı Pflanzen ın vielen Fällen Bewegungen durch Beleuchtungswechsel hervorgerufen, und infolgedessen wird der Beleuchtungswechsel von Botanikern nicht selten als Reiz be- zeichnet. Das sind also, so könnte man daraufhin sagen, Fälle, in denen der Reiz naturgemäß als die Veränderung einer Bedingung zu bezeichnen wäre'?). Der Fehler dieser Schlussfolgerung liegt in folgendem. Es lässt sich nichts dagegen einwenden, wenn man sich so ausdrückt, dass die Bewegung durch den Wechsel hervor- Nerven aus erfolgende) Muskelreizung die dauernde Erregung durch den in gleicher Dichte fließenden elektrischen Strom bei Wirbeltieren wie bei Wirbellosen überzeugend beweisen, obwohl es von anderen Umständen abhängt, ob sich diese Dauerregung am Erfolgsorgan (Muskel, drüsige Organe) ausprägt oder nicht (vgl. darüber Biedermann, Elektrophysiologie S. 540—601). Auch der zweite Teil der du Bois’schen These, der besagt, dass, je steiler die Intensitätsschwankung, um so stärker die erregende Wirkung sei, ist nicht allgemein zutreffend. Es ist richtig für den rasch zuckenden quergestreiften Muskel des Froschs, aber trifft schon nicht mehr bei dem langsamer reagierenden Muskel der Kröte zu und versagt ganz bei den noch trägeren kontraktilen Substanzen (glatten Muskeln u. s. w.). Bei letzteren wirken, wie besonders Grützner nachgewiesen hat, langsam verlaufende Reize viel adäquater als jäh ansteigende, die oft, statt Kontraktionen auszulösen, nur die Gewebe schädigen. 12) Ganz etwas anderes und im Prinzip vom Beleuchtungswechsel zu unter- scheiden ist der Temperaturwechsel, der oft mit dem ersteren zusammen in einen Topf geworfen wird. Bringt man eine Pflanze aus einer Temperatur von 10° in eine solche von 15°, so erfolgt, bis die Temperatur des Pflanzenkörpers, die natür- lich auch zunächst 10° beträgt, sich mit der von 15° der neuen Umgebung aus- geglichen hat, eine thermische Energiewanderung, die natürlich im Sinne unserer Definition als Reiz wirkt. Beim Beleuchtungswechsel kommt dagegen eine solche Energiewanderung nicht in Frage. 208 Semon, Der Reizbegriff. gerufen oder bedingt wird, ganz entsprechend wie bei der Muskel- reizung durch den elektrischen Strom, bei der man den Muskel nur dann eine neue Bewegung ausführen sieht, wenn der Strom kommt oder verschwindet oder in seiner Intensität schwankt. In beiden Fällen wirkt als Reiz, d.h. als erregungsauslösend die ener- getische Bedingung als solche, also in dem einen Falle, wie wir gesehen haben, der konstant fließende elektrische Strom, im anderen die Anwesenheit oder die Abwesenheit des Lichts. Bei der elek- trischen Reizung der Muskeln sahen wir, dass die Steilheit der Intensitätsschwankung des Reizes wenigstens in gewissen Fällen erregungsfördernd wird. Bei Pflanzen lässt sich nicht einmal dies mit Sicherheit nachweisen, vielmehr werden, soweit die bisherigen Beobachtungen reichen, im wesentlichen dieselben Erfolge erzielt, ob man nun den Lichtwechsel ganz plötzlich vornimmt, oder ıhn durch besondere Einrichtungen ganz allmählich von Hell zu Dunkel oder Dunkel zu Hell im Verlaufe mehrerer Stunden eintreten lässt. Noch deutlicher geht aber die dauernd erregende Wirkung der Anwesenheit (bezw. Abwesenheit) des Lichts aus dem Umstande hervor, dass die Belichtung oder Verdunklung in vielen Fällen eine verhältnismäßig sehr lange Dauer haben muss, ehe über- haupt eine merkliche Bewegungsreaktion ausgelöst wird, dass diese Reaktion mit der Dauer der Belichtung zunimmt und zuweilen erst nach vielstündigem Verweilen ım Licht oder Dunkeln ihren Maximalwert erreicht. Bei den Blättern von Phaseolus bedarf es z. B. einer etwa zehnstündigen Beleuchtung, um diesen Maximal- wert zu erreichen'?). Während ihrer Dauer wirken also Licht und unter Umständen auch Dunkelheit erregend auf die reizbare Sub- stanz der Pflanze, ganz wie der elektrische Strom auf die des Muskels und Nerven, und die Gefahr des Missverständnisses wird ganz unnötigerweise heraufbeschworen, wenn man in diesen Fällen den Wechsel oder die Veränderung als den Reiz bezeichnet. Nur wenn man die Dauer der Erregung in ihrer Bedingtheit von der Dauer des Reizes zur Basis der Darstellung macht, kann man tiefer in das Verständnis der engraphischen Wirkungen jener Erregungen (sogen. Nachwirkungen) eindringen und sich vor der irrigen Auf- fassung bewahren, dass eine Pflanze sich unter photisch indiffe- renten, reizlosen Bedingungen befindet, wenn man sie in dauernder Belichtung hält. Eine so gehaltene Pflanze befindet sich vielmehr, wie. ich bereits in einer früheren Arbeit gezeigt habe!*), unter der Bedingung einer außerordentlich starken einseitigen Induktion. 13) W. Pfeffer, Untersuchungen über die Entstehung der Schlafbewegungen der Blattorgane. Abhandl. d. math. phys. Kl. d. K. Sächs. Ges. d. Wiss. 30. Bd., 1907,'8. 355. 14) R.Semon, Hat der Rhythmus der Tageszeiten bei Pflanzen erbliche Ein- drücke hinterlassen? Biol. Centralbl., 28. Bd., 1908, vgl. bes. S. 237—243. Semon, Der Reizbegriff. 309 Nachdem wir gefunden haben, dass auch die beiden zuletzt erörterten, auf den ersten Blick vielleicht zweifelhaft erscheinenden Gruppen von Tatsachen durchaus und ausschließlich unter die Reiz- definition fallen, die sich uns als das Resultat der vorliegenden Untersuchung ergeben hat, geben wir dieser Definition nunmehr abschließend folgende Fassung: Als Reiz bezeichnen wir eine aus der elementarenergetischen Situation resultierende Bedingung (kürzer ausgedrückt, eine elementarenergetische Bedingung), deren Auftreten, Dauer und Verschwinden bei Erfüllung der allgemeinen Bedingungen das Auf- treten, die Dauer bezw. das Verschwinden einer Kom- ponente der erregungsenergetischen Situation im Gefolge hat. Durch sie wird also jene Komponente, die einzelne OÖriginalerregung, nicht nur „ausgelöst“, sondern wäh- rend ihrer Dauer auch aufrecht erhalten, und zu ihren Größenverhältnissen steht die Intensität der durch sie bedingten Erregung in einem bestimmten Abhängigkeits- verhältnis. Dieser Definition möchte ich schließlich noch folgenden, die Auffassung der Intensitätsschwankung erläuternden Zusatz beifügen, Von unserem Standpunkt stellt sich jede hinreichend ausgiebige Intensitätsschwankung einer als Reiz wirkenden elementaren Energie dar als der Eintritt einer neuen elementarenergetischen Bedingung, also als Ersatz des bisher wirksamen Reizes durch einen anderen, sozu- sagen neuen Reiz. Diesem veränderten Reiz entspricht ein veränderter Erregungszustand, der sich bei hinreichender Größe des Unterschiedes durch veränderte Reaktionen manifestiert. Ein besonderes Moment ergibt sich dabei nur insofern, als in manchen Fällen, die Steilheit der Schwankung also der mehr oder weniger plötzliche Übergang von dem einen Erregungszustand in den anderen von Bedeutung für gewisse Eigentümlichkeiten dieses zweiten Erregungszustandes bezw. für das Auftreten oder Ausbleiben gewisser Reaktionen ist: Reaktion des quergestreiften Muskels auf Intensitätsschwankungen des elektrischen Stroms; manche Empfindungsreaktionen, bei denen Adaptation stattfindet und ein allmähliches „Einschleichen“ in stärkere bezw. schwächere Intensitäten ohne bemerkbare Neureaktion möglich ist, etc. In anderen Fällen aber ist die Steilheit der Schwankung von keiner oder doch von keiner ausgesprochenen Be- deutung für den schließlichen Erfolg: Verhalten der langsam reagierenden kontraktilen Substanzen gegen Intensitätsschwankungen des elektrischen Stroms; Unabhängigkeit des Reizerfolgs bei den Schlafbewegungen der Blattorgane von dem plötzlichen oder ganz allmählichen Übergang von Hell zu Dunkel oder Dunkel zu Hell, etc. Soweit ich den Gegenstand übersehe, dürften sich nunmehr der Durchführung unserer Definition auf keinem reizphysiologischen Ge- XXX. 14 340 Moroff, Bemerkungen über vegetative und reproduktive Erscheinungen ete. biet und in keiner Hinsicht Schwierigkeiten entgegenstellen. Als das Wesentliche an ihr betrachte ich, dass sie von der Erkenntnis aus- geht, 1. dass der Reiz sich nur mit Rücksicht auf seinen Erfolg, also nur als die Beziehung definieren lässt, die zwischen einer bestimmten Bedingung der elementarenergetischen Situation und einer Komponente der erregungsenergetischen Situation festzustellen ist, 2. dass der zeitliche Charakter dieser Beziehung in den Vorder- grund zu setzen ist (Synchronie des Reizes mit der Hauptphase der Erregung), 3. dass diese Definition gestattet, auch Bedingungen, die sich aus der Abwesenheit gewisser Faktoren (Licht, Sauerstoff u. s. w.) ergeben, als Reize zu bezeichnen und 4. dass, indem sie Reizauslösung und Ekphorie auf einfache Weise zu trennen ge- stattet, sie damit ein weiteres gut verwendbares Kriterium liefert, um die beiden Grundformen der Erregung, die Originalerregung und die mnemische Erregung scharf zu unterscheiden. Bemerkungen über vegetative und reproduktive Erscheinungen bei Thalassicolla. Von Dr. Theodor Moroff. Mit Textabbildungen. Im nachfolgenden erlaube ich mir kurz über die Resultate meiner Untersuchungen an Thalassicolla zu berichten; die ausführ- liche Arbeit wird in einer anderen Zeitschrift erscheinen. Zu meinen Untersuchungen standen mir eine größere Anzahl meistens er- wachsener Tiere zur Verfügung. Zuerst möchte ich mit einigen Worten der Entstehung der Pigmentschicht Erwähnung tun. In den jüngeren Tieren verdankt sie ihren Ursprung den Restkörpern der ausschwärmenden sym- biotischen Algenzellen. In den späteren Stadien von Thalassicolla können jedoch letztere nicht mehr bis zum Ende ihre Entwicke- lung durchmachen; vielmehr zerfallen sie frühzeitig; ıhr Körper wird verdaut; die unverdauten Überreste kommen zu der Pigmentschicht und tragen bedeutend zu ihrer Verstärkung bei. Von den Bestandteilen der Zentralkapsel selbst lenkt infolge seiner außerordentlichen Größe zuerst der Kern die Aufmerksam- keit des Beobachters auf sich. In seiner feinwabigen bis granu- lierten Grundsubstanz (Kernsaft, Brandt) sind eine größere Menge Chromatinfäden zu sehen, die in seiner Mitte zu einem sphärischen Gebilde etwas stärker verdichtet sind. Zwischen ihnen sind in größerer Menge Nukleolen (Karyosome) von wechselnder Gestalt und Größe vorhanden, die mehr an der Peripherie der Sphäre ver- teilt sind. Die Chromatinfäden sind einfach verlaufend oder zu mehreren in Form von Büscheln, nicht selten in Form von Knäueln Moroff, Bemerkungen über vegetative und reproduktive Erscheinungen ete. 941 vereinigt. Für gewöhnlich steht eine größere Anzahl benachbarter Chromatinfadenverdichtungen durch einfache Fäden miteinander in Verbindung, wodurch reich verästelte Verzweigungen hervorgerufen werden. Wie bereits Brandt, Hartmann und Hammer konstatiert haben, haben die Nukleolen ihre Entstehung den Chromatinfasern zu verdanken. Gewöhnlich findet an einzelnen Stellen eine starke Vermehrung der Chromatinfäden statt, wobei sich diese gleichzeitig miteinander verfilzen. Bald darauf tritt zwischen ihnen eine homo- gene Substanz auf, die immer stärker wird, bis die Fäden darin nicht mehr zu unterscheiden sind und das ganze Gebilde das Aus- sehen und die Struktur der Nukleolen bekommt. Die fertigen Nukleolen sind von keinem langen Bestand, da sie bald einer Auflösung anheimfallen; an ihrer Stelle werden neue gebildet, die dasselbe Schicksal erleiden u. s. w., so dass die Nu- kleolenbildung aus den Chromatinfäden keine gelegentliche Erschei- nung ist, sondern sie stellt einen lebhaften, mit der vegetativen Tätigkeit der Zelle in engster Beziehung stehenden Prozess dar. Durch die lebhafte Nukleolenauflösung findet andererseits eine starke Vermehrung der Kernsubstanz statt, d. h. durch die Nu- kleolenauflösung wird das Kernwachstum hervorgerufen. Der Kern treibt an seiner Oberfläche einfache oder verzweigte Auswüchse, die sich bald ablösen und mit dem Plasma vermischen. Auf diese Weise findet ein äußerst lebhafter Stoffaustritt aus dem Kerne statt. Über die Menge des aus dem Kerne austretenden Chro- matin kann man sich am besten eine Vorstellung aus den die ganze Kernoberfläche bedeckenden Kernauswüchsen machen. Mitunter treten auch größere Nukleolenstücke aus dem Kerne aus. Es werden außerdem zwischen den oder an den COhromatın- fäden selbst kleine bläschenförmige oder homogene Chromatin- körnchen gebildet, die bald ıns Plasma übertreten. Hier lösen sie sich jedoch nicht auf, wie diejenigen, welche durch den Zerfall der Nukleolen entstanden sind, sondern bleiben weiter bestehen. Sıe wachsen zu den sogen. Eiweißkugeln mit ihren Konkretionen heran. Das Wachstum der Thalassicolla wird also vornehmlich durch die große Menge des aus dem Kerne austretenden Chromatins verur- sacht. Mit dem Beginn der reproduktiven Tätigkeit lösen sich zuerst die Eiweißkugeln auf, indem sie meistens in größere und kleinere Körnchen zerfallen. Letztere färben sich zuerst mit Chromatinfarb- stoffen, bald erfahren sie jedoch eine weitgehende chemische Um- änderung und zeigen nur mehr die Eigenschaften des Fettes. Gleichzeitig löst sich ein großer Teil des Kernes auf, wodurch er an Umfang bedeutend abnimmt. Außerdem treten in bedeutender Menge Chromidien in Form von Körnchen und Stäbchen aus dem- 14* 912 Moroff, Bemerkungen über vegetative und reproduktive Erscheinungen etc. selben heraus, welche sich im Plasma verteilen. Der größte Teil der ım Kerne vorhandenen Chromatinfäden wandeln sich ın Nu- kleolen um, an ihre Stelle treten jedoch keine neuen mehr. Da- durch wird die aus den Chromatinfäden bestehende Sphäre bedeutend kleiner. Die meisten der übrig gebliebenen Chromatinfasern ordnen Fig. 1. Thalassicolla. Ein Teil vom großen Kern und vom Plasma der Zentral- kapsel. An der Kerngrenze sind zwei sekundäre (Geschlechts-)Kerne zu sehen. Vergrs20 sich radiär um einen zentralen Punkt an. Die wabige Struktur des Kernes erfährt ebenfalls eine strahlige Umordnung. Im Zentrum der Strahlung konnte jedoch kein Centriol konstatiert werden. Diese Erscheinungen am Kerne sind sowohl an den Individuen mit Isosporenbildung als auch an den mit Anisosporenbildung zu be- Moroff, Bemerkungen über vegetative und reproduktive Erscheinungen ete. 213 obachten. Offenbar kommt es in allen Fällen zur Bildung einer ersten Spindel, die ich jedoch nicht beobachten konnte. Bei den Individuen mit Isosporenbildung fand ich bei ein wenig älteren Individuen in dem großen Kern eine begrenzte An- zahl ganz kleiner Kerne, die sich durch die strahlige Umordnung der umgebenden Kernsubstanz kundgaben. Sie befinden sich in lebhafter Vermehrung; überall sind sie an die Kernperipherie hinaus- gerückt, wo sie gleichmäßig verteilt zu sehen sind. In Fig. 1 ist ein Teil des Kerns und des Plasmas gezeichnet. In dem ersteren sieht man dicht an der Kernperipherie angeschmiegt zwei von diesen Tochterkernen, die sich in Teilung befinden. Außer diesen Tochter- kernen ist noch eine beträchtliche Anzahl Chromatinkörnchen ım Kerne zu sehen, letztere verschwinden jedoch bald. * # Y ) EEE % eh r x ’ EZ Fig. 2. Thalassicolla. Mehrere in verschiedenen Teilungsstadien begriffene Sekundär- kerne, die sich in dem chromidienfreien Plasma befinden. Vergr. '7%%|,. Der große Kern zerfällt durch Zerdehnung in eine Anzahl Partien, die je einen oder mehrere der Tochterkerne in sich ent- halten. Diese Kernpartien verteilen sich gleichmäßig im Plasma, wobei sie in noch kleinere Stücke zerfallen. Dadurch entstehen eine große Anzahl von Kernen, die sich von dem umgebenden Plasma nur dadurch unterscheiden, dass in letzterem eine große Menge von Chromidien in Form von Körnchen verteilt ist, die ıhm ein stark gekörneltes Aussehen verleihen. Im übrigen haben die Kerne eine ähnliche wabige Struktur angenommen wie das Plasma und sind in dieser Hinsicht nicht mehr von ihm zu unterscheiden. Daher wird im folgenden von chromidienhaltigen und chromidien- freien Plasmapartien gesprochen. In der Mitte der chromidien- freien Stellen sind die winzig kleinen Tochterkerne zu sehen, die sich in äußerst lebhafter Vermehrung befinden. Im Ruhestadium stellen sie ganz kleine Bläschen von ca. 3 „ dar. Das Chromatin ist entweder diffus oder in Form ganz kleiner Körnchen darin ver- 944 Moroff, Bemerkungen über vegetative und reproduktive Erscheinungen etc. teilt. In der Mitte ist ein größeres Körnchen vorhanden, das die Kernteilung zu leiten scheint. Möglicherweise stellt es ein Centriol dar (Fig. 2). Zuerst teilt sich das Körnchen in zwei Stücke, die in entgegengesetzter Richtung zur Kernperipherie hinwandern, ohne jedoch ins Plasma überzutreten. Hier treten noch einige Körnchen auf, die sich mit dem Üentriol in einer Reihe stellen. Dadurch kommen zwei Körnchenreihen zustande, die die auseinanderrücken- den Platten aes sich teilenden Kerns darstellen könnten. Nachdem sich die beiden Platten voneinander beträchtlich entfernt haben, werden die Tochterkerne rekonstruiert. Mitunter kann eine starke Strahlung zwischen den Tochterkernen entstehen. Zuerst befinden sich die Chromidialkörnchen in beträchtlicher Entfernung von den Kernen. Später rückt jedoch eine ansehnliche Anzahl dieser Chromatinkörnchen zu den Kernen hin und verdichtet sich um sie herum (Fig. 3). Bei den späteren Kernteilungen werden Fig. 4. Fig. 3. Thalassicolla. Ein Stadium der Kernvermeh- rung, in welchem die Chro- midien zum Kerne hin- wandern. Verg. '"0%.. Fig. 4. Thalassicolla. Ein in Teilung begriffener Se- kundärkern, um den die bereits verdichteten Chromi- dien zu sehen sind. Verer 2. auch die Chromidialkörnchen ziemlich gleichmäßig auf die Tochter- kerne verteilt. Im weiteren Verlaufe entstehen oft Bilder, bei denen man meinen könnte, dass die Chromidialkörnchen den ganzen Kern repräsentieren und die darin eingeschlossenen echten Kerne nur die Centrosomen darstellen. Später verdichten sich die Chro- midialkörnchen noch mehr, so dass der darin eingeschlossene Kern in vielen Fällen nicht mehr unterschieden werden kann. Er ver- liert jedoch kaum seine Individualität (Fig. 4). Diese Chromidien erinnern lebhaft an die sogen. Mitochondrien (Chromidien), die von Meves, Duesberg, Wassilieff ete. bei der Spermiogenese verschiedener Insekten beschrieben wurde. Offenbar bekommt jeder Schwärmerkern bei Thalassicolla einen Teil dieser Chromidien, die möglicherweise zu ähnlichen Funktionen verwendet werden wie die Mitochondrien bei den Insektenspermien. Die letzten Kernteilungen zu beobachten gelang mir nicht. Bei anderen Individuen unterscheiden sich die Tochterkerne von den soeben beschriebenen nur dadurch, dass sie viel dichter, nukleolenähnlich aussehen, wodurch auch die Teilungsfiguren etwas Moroff, Bemerkungen über vegetative und reproduktive Erscheinungen etc. 215 anders aussehen; das übrige ist im Prinzip gleich. Offenbar handelt es sich hier um eine andere Art. Bei der sogen. Anisosporenbildung gelang es mir ebenfalls nicht, die Bildung der ersten Spindel zu sehen. Ich habe Stadien beobachtet, wo das Strahlungszentrum der Sphäre aus ihrer Mitte hinausgerückt war und mit letzterer zur Kernperipherie hingewandert war. In späteren Stadien war der große Kern nicht mehr zu kon- statieren, dafür waren eine Anzahl kleine, homogene Sekundärkerne zu sehen, die im Plasma zerstreut waren. Diese Kerne lockern sich auf und erfahren eine lebhafte Vermehrung durch Zweiteilung, oder aber sie zerfallen, nachdem sie bis zu einer beträchtlichen Größe herangewachsen sind, gleichzeitig in mehrere Tochterkerne; die kom- pakten Kerne können sich ebenfalls teilen. Es entsteht dadurch Fig. 5. Thalassicolla. Kernfiguren aus anisosporenbildenden Individuen. 00/ Verg. T0l. eine große Menge von Kerngruppen (Nester), die zuerst isoliert ım Plasma zu sehen sind. Später rücken infolge der starken Ver- mehrung die Kerne dicht aneinander. Dadurch bekommt man den Eindruck, als ob das Plasma von einem Chromidialnetz eingenommen würde, woraus die Schwärmerkerne entstehen. Bei diesen Kern- teilungen ist kein Centrosom resp. Centriol zu sehen. Es gelang mir außerdem nicht, eine Verschiedenheit in der Struktur und der Größe der Kerne zu konstatieren, die man als einen Dimorphismus deuten könnte. Brandt gibt nämlich an, dass in einem und demselben Tier sowohl die Makro-, als auch die Mikrogameten gebildet werden. Diese Angabe wurde in neuester Zeit von Hartmann und Hammer bestätigt. Andererseits hat aber Borgert auch mitotische Kernteilungen bei anisosporenbildenden Individuen beschrieben, eine Beobachtung, die wiederum von Hart- mann und Hammer bestätigt wurde. Es ist daher auch möglich, 216 de Meijere, Über getrennte Vererbung der Geschlechter. dass die Makro- und Mikrogameten von verschiedenen Tieren ge- liefert werden und dass die von den vorhin erwähnten Autoren gemachte Deutung der Bilder sich als unzutreffend erweisen könnte. Wien, Oktober 1909. Literaturverzeichnis. Borgert, A. (1909). Untersuchungen über die Fortpflanzung der tripyleen Radio- larien. Arch. f. Protistenk. Bd. 14, S. 134—261, Taf. 11—17. Brandt, R. (1905). Beiträge zur Kenntnis der Colliden. Arch. f. Protistenk. Bd. 6, p. 245—272, Taf. 11—14. Hartmann, M. (1909). Polyenergide Kerne. Biol. Centralbl. Bd. 29, S. 481—487, 491—506. — u. Hammer, E. (1909). Untersuchungen über die Fortpflanzung der Radio- larien. Sitzungsber. d. Gesellsch. Naturf. Freunde zu Berlin. Jahrg. 1909, S. 228—248, Taf. 3. Hertwig, R. (1876). Zur Histologie der Radiolarien. 91 S., 5 Taf. — (1879). Der Organismus der Radiolarien. 149 S., 10 Taf., Jena. Über getrennte Vererbung der Geschlechter. (Vorläufige Mitteilung.) Von J. C. H. de Meijere (Hilversum). Von Herrn Edw. Jacobson auf Java angestellte Züchtungs- versuche mit dem im weiblichen Geschlechte polymorphen Papilio Memnon L.'), deren Resultate er mir gestattete, hinsichtlich der Vererbungsgesetze zu untersuchen, veranlassten mich, mich mit der Vererbung sekundärer Geschlechtsmerkmale und das gegenseitige Verhalten der Geschlechter bei der Vererbung überhaupt zu be- schäftigen. Einige Ergebnisse meiner bezüglichen Untersuchungen möchte ich ın dieser vorläufigen Mitteilung niederlegen. Was zunächst Papilio Memnon selbst anlangt, so ergab sich, dass bei diesem Schmetterling, von welchem das immer gleiche Männchen auf Java drei verschiedene weibliche Formen (die Achates-, Agenor- und Laomedon-Form) besitzt, das Hervortreten dieser drei Formen von der Mendel’schen Regel beherrscht wird, unter der Voraussetzung, dass sich auch in das Männchen die weibliche Farbe vererbt, und wohl ganz wie beim Weibchen durch ein besonderes Determinantenpaar. Das Männchen besitzt neben dem Determinanten- paar für seine eigene Farbe (MM) noch ein Paar für die weibliche, welches Paar in diesem Falle aus allen möglichen Kombinationen der drei weiblichen Formen, welche drei Stufen einer selben allelo- 1) Ein ausführlicher Bericht über diese Zuchten von der Hand Jacobson’s ist in Bd. LII, 1909, S. 125 der Tijdschrift voor Entomologie erschienen. Meine be- züglichen Untersuchungen wird Heft 3 der Zeitschr. f. indukt. Abstammungs- und Vererbungslehre Bd. III, 1910, enthalten. de Meijere, Über getrennte Vererbung der Geschlechter. 947 me morphen Reihe bilden, zusammengesetzt sein kann. Die nähere Untersuchung der von Jacobson äußerst genau gezüchteten Fa- milien, eine bis in die 5. Generation, ergab, dass die Achates-Form dominiert über die beiden anderen, und die Agenor-Form über die Laomedon-Form. Es gibt also z. B. Männchen mit den Deter- minanten MM (männliche Farbe), Ach. Ag. (weibliche Farbe), und umgekehrt Weibchen mit den Determinanten MM (männliche Farbe), Ach. Ag. (weibliche Farbe); letztere werden wegen der Dominanz von Achates das Kleid dieser Form tragen. Werden zwei solche Tiere gekreuzt, dann ergibt sich für die männliche Farbe die Formel MM x MM = MM (alle Männchen bleiben also von der Farbe des Vaters); für die weibliche Farbe Ach. Ag. X Ach. Ag. —=!/, Ach. Ach. + !/, Ach. Ag. 4 !/, Ag. Ag. Indem das Zahlenverhältnis zwischen den beiden Geschlechtern ein konstantes ist (bei dieser Art nach Jacobson’s Zuchten ca. 46 Männchen auf 54 Weibchen), wird immer das gleiche Prozent von jeder Kombination zu Weibchen; von der MM, Ach. Ag.-Form z. B. wird also 46°/, zu Männchen, 54°, zu Weibchen, so dass auch die verschiedenen Weibchen nach dem Mendel’schen Zahlenverhältnis vorhanden sein müssen; in diesem Fall werden also unter den Weibchen ?/, wie Achates, !/, wie Agenor aussehen. Bei den Männchen findet sich dasselbe Zahlenverhältnis, aber in ganz unsichtbarer Weise, und nur bei weiteren Zuchten sich offenbarend. Bei der Kombination MM, LL x MM, LL (L= Laomedon) werden alle gezüchteten Weibchen nach der Formel LL X LL = LL zu der Laomedon-Form gehören, u. S. w.. Das hier erhaltene Ergebnis führt also zum Schlusse, dass die sekundären Geschlechtsmerkmale des einen Geschlechts in dem anderen unsichtbar vorhanden sind, aber dennoch, wie jede sicht- bare Eigenschaft, durch je zwei Determinanten vertreten sind, welche sich bei der Vererbung in ganz derselben Weise benehmen wie die Determinanten der sichtbar getragenen Eigenschaften. Die schon von Darwin vielfach hervorgehobene, aber immer in ihrem Wesen noch wenig gekannte Vererbung der Merkmale durch das andere Geschlecht erfährt hiermit eine bedeutend ge- nauere Präzisierung. Jedes Männchen enthält nicht nur ım allge- meinen die besonderen Merkmale des Weibchens seiner Art, sondern eines ganz bestimmten Weibehens und die gewöhnlichen Vererbungs- gesetze sind auch für diese latenten Geschlechtsmerkmale von Geltung. Es lag jetzt nahe, zu untersuchen, wie sich die Sache verhält, wenn wir es mit einer Eigenschaft zu tun haben, welche in beiden Geschlechtern vorhanden sein kann, also nicht sekundär geschlecht- licher Natur ist. So z. B. der Melanismus bei einem Schmetter- ling, wie derjenige der Var. ferenigra von Aglia tau. Hier kann das melanistische Kleid sowohl bei dem Männchen wie bei dem 218 de Meijere, Über getrennte Vererbung der Geschlechter. Weibchen zutage treten und es fragt sich jetzt, ob auch in einem solchen Fall das weibliche und das männliche Kleid durch besondere Determinantenpaare in beiden Geschlechtern vertreten sind. Gibt es für die Färbung beider Geschlechter zusammen nur ein einziges Paar, dann muss bei einem bestimmten Individuum diese Färbung für beide Geschlechter die gleiche sein; gibt es dahingegen zwei verschiedene Paare, dann braucht dies nicht der Fall zu sein und kann z. B. ein helles Männchen, was die weibliche Farbe anlangt, zu der melanotischen Form gehören, und überdies kann es bei der Dominanz der Form ferenigra bezüglich dieser weiblichen Form homo- oder heterozygot sein, also nach der für Papilio Memnon angenommenen Bezeichnungsweise der Formel TT, FF oder TT, FT entsprechen, wenn T die gewöhnliche helle tau-Form, F die Form ferenigra bedeutet. Bei der Annahme eines einzigen Determinanten- paares würde nur das Paar TT vorhanden sein. Wie sich m Wirk- lichkeit die Sache verhält, wird sich bei der Kreuzung ergeben. Bei letztgenannter Annahme kann die Kreuzung zweier dunkler Exemplare der Formel FFXFF=[FF, oder FFX FT=!,FF-+',FT oder FTXFT=', FF-+ !,FT--!/, TT entsprechen, und es ist von vornherein kein Grund vorhanden, weshalb die er- wähnten Kombinationen nicht gleichartig auf beide Geschlechter verteilt sein sollten. Ich wähle gerade dieses Beispiel, weil diese Kreuzung seinerzeit von Standfuß mit dem Resultat ausgeführt wurde, das er aus 89 abgelegten Eiern von ferenigra-Männchen X. ferenigra-W eibchen 10 Männchen, 21 Weibchen ta 34 r 21 e ferenigra erhielt, also 31 tau:55 ferenigra, was keinem der obigen Möglichkeiten ent- spricht. Auch die eigentümliche Verteilung auf die beiden Ge- schlechter muss hier auffallen. Bei der Annahme zweier getrennter Determinantenpaare wäre es möglich, dass diese Kreuzung dem folgenden Schema entspricht: FT, FT x FT, TT, was für die männ- liche Farbe ergeben würde FT x FT= !},FT-+!,FF=,TT, für die weibliche Farbe FTX TT='!/,FT-+!/,TT. Daraus ergeben sich folgende Kombinationen: TI Weil die Zahl der Männchen und Weibchen dieser Art fast gleich groß ist, so wird von jeder Kombination die Hälfte zu Männ- chen, die Hälfte zu Weibchen werden, das Zahlenverhältnis wird de Meijere, Über getrennte Vererbung der Geschlechter. 219 6 dadurch also nicht geändert; weil F dominiert, ist somit von den Männchen °/, als ferenigra, '/, als tau typic. gefärbt, von den Weib- chen !!, als ferenigra, !/, als tau typic., was somit den von Stand- fuß erhaltenen Zahlen fast genau entspricht. Ich muss gleich hinzufügen, dass sich bei den auf derselben Seite von Standfuß mitgeteilten Kreuzungen von der hellen mit der dunklen Form eine Komplikation auftut. Nach seinen Mitteilungen ergab die Kreuzung von fau-Männchen X ab. ferenigra-W eibchen: 13 Männchen, 25 Weibchen ta, 26 3 ill N ab. ferenigra, also 38 tau: 37 ab. ferenigra, was der Mendel’schen Regel ent- spricht: nur bleibt unentschieden, warum auf die beiden Geschlechter die Farben ın so ungleicher Weise verteilt sind. Nach der gewöhnlichen Mendel’schen Regel ist obiges Resultat nur Bervder-Korme" LT X FT = !/, FT, TR verständlieh; warum jedoch von den Männchen !/, tau und ?/, ab. ferenigra sınd, bleibt unaufgehellt. Bei der Annahme zweier getrennter besonderer Determinanten- paare kann in obiger Kreuzung folgender Fall vorliegen: I ET dies gibt für die männliche Farbe !/, FT +!/, TT, für die weibliche Farbe '/,FT+-!/,TT, also folgende Kombinationen: FT, FT; FT, TT; TT, FT; TT, TT, welche wieder gleichartig auf beide Geschlechter verteilt zu denken sind. Es würden also von den Männchen !/, FT und !/, TT, was die männliche Farbe anlangt, sein, was mit dem erhaltenen Züchtungsresultat nicht stimmt. Wir haben aber jetzt in einem Teil der Individuen die beiden Deter- minantenpaare FT und TT gleichzeitig, und weil beide in beiden Geschlechtern auftreten können, so liegt die Möglichkeit eines Aus- tausches auf der Hand. Es wäre denkbar, dass bei einem Teil der zu Männchen sich entwickelnden Stücken der Kombination TT, FT die eigentlich weibliche Farbe FT, statt im latenten Zustande zu verbleiben, aktiv wird und TT latent; dann würden diese also zu FT, TT übergeben, wodurch die Zahl der dunklen Männchen ver- größert werden würde. Andererseits wäre anzunehmen, dass bei einem Teil der Weibchen TT, FT die Umwechslung in FT, TT stattfindet, was eine relativ zu große Zahl von hellen Weibchen zufolge haben würde. Die relativ große Zahl der hellen Weibchen erklärt Standfuß dadurch, dass die Weibehen mehr zum Rückschlag geneigt sein sollen. Über die Möglichkeit eines solchen Vorgangs und über die Weise, in welcher sich dieser Prozess vollzieht, macht er keine weitere Angabe, während meine Auffassung dieses auf einen Um- tauschprozess zweier Determinantenpaare zurückführen lässt. Einen IV de Meijere, Über getrennte Vererbung der Geschlechter. bestimmten Vorzug des Melanismus dem männlichen Geschlecht gegenüber muss auch ich hier annehmen, jedoch scheint mir obige Erklärung einfacher, als wenn man etwa auf selektive Verbindung der Determinanten für die dunkle Farbe mit männlich präformierten Gameten bei der Reduktionsteilung zurückgreifen wollte, wie es zur Erklärung solcher Verhältnisse von anderer Seite geschehen ist. Gerade durch die Fähigkeit des Umtausches wird es veranlasst, dass ein solches Merkmal, welches zunächst vielleicht nur bei dem einen Geschlecht aufgetreten ist, später ın beiden Geschlechtern auftritt und also die Bedeutung eines sekundären Geschlechtscharakters ver- liert. Die Übertragung der Merkmale des einen Geschlechts auf das andere wird hierdurch besser verständlich; man könnte sie sich entweder durch Umtausch der korrespondierenden Determinanten- komplexe oder durch Verteilung des einen Komplexes auf beide Geschlechter und Latentwerden des korrespondierenden Komplexes des einen Geschlechts denken. Dass sich solche Fälle, in welchen die verschiedenen Formen in bestimmter, ungleicher Weise auf die Geschlechter verteilt sind, nicht zahlreicher in der Literatur vorfinden, wird wohl da- durch veranlasst, dass in bei weitem den meisten Fällen auf das Geschlecht bei den Zuchten nicht geachtet ist. Wohl sind öfters Abweichungen von den Mendel’schen Zahlenverhältnissen begegnet worden,’ welche man nicht erklären konnte; es wäre möglich, dass ein nicht geringer Teil dieser Abweichungen durch eben diese Ur- sache veranlasst wird. Selbst das Auftreten ganz unerwarteter Formen ist nach der Theorie der getrennten Vererbung der Ge- schlechter möglich ; so könnten aus der Kombination TT, FF X FF,TT, also zweier heller ta«-Exemplare, dunkle Männchen und Weibchen hervorgehen. Andererseits möchte ich darauf hinweisen, dass wohl in vielen Fällen bei geschlechtlicher Gleichartigkeit die Determinanten- komplexe für beide Geschlechter sich von vornherein immer gleich- zeitig umändern, und auch die oben erwähnte verschiedene Kombi- nation in einem und demselben Individuum überhaupt nie zu finden ist. Dann ist, auch wenn getrennte Determinantenpaare vorliegen, eine Abweichung von der gewöhnlichen Mendel’schen Regel nicht zu erwarten. Das Beispiel von Aglia tau scheint mir indessen darauf hinzuweisen, dass wir auf die Möglichkeit verschiedener Geschlechts- anlagen vorbereitet sein müssen und bei abnormen Zahlenverhält- nissen auch diese Möglichkeit zur Erklärung ins Auge fassen müssen, dass also in den jetzt so häufigen Züchtungsversuchen die Angabe des Geschlechts der erzielten Formen nicht zu vernachlässigen ist. — Indem wir jetzt noch eine Stufe weiter gehen, so begegnen wir der Frage, ob denn nicht nur diejenigen Merkmale, welche in beiden Geschlechtern verschieden sind, sondern auch die beiden Ge- de Meijere, Über getrennte Vererbung der Geschlechter. 991 Dre schlechtern gemeinsamen in jedem Individuum durch gesonderte Anlagen vertreten sind. Auch hierfür scheinen mir mehrere Tat- sachen zu sprechen. Ich will hier nur einige bezügliche Punkte berühren. Oft findet sich eine Variation, z. B. Kurzflügeligkeit, nur bei einem der Geschlechter. Die Ursachen, welche diese Kurz- flügeligkeit hervorgerufen haben, haben also nicht auf eine allge- meine Artanlage für die Flügel, sondern auf eine bestimmte An- lage der weiblichen Flügel hinwirken müssen, woraus jedenfalls hervorgeht, dass es gesonderte männliche und weibliche Anlagen gibt. Man könnte sich denken, dass das Weibchen nur den weib- lichen Komplex, das Männchen den männlichen enthält. Sobald jedoch ein derartiger sexueller Dimorphismus einmal vorhanden ist, dann lässt sich nach Analogie der Verhältnisse bei Papilio Memnon erwarten, dass beide Geschlechter beiderlee Komplexe mit sich führen: daraus folgt die Wahrscheinlichkeit, dass dies auch vor dem Auftreten des Dimorphismus schon der Fall gewesen ist, obschon es sich damals schwierig nachweisen ließ. Enthalten beide Ge- schlechter beide Komplexe, dann wäre eine Umänderung des männ- lichen Komplexes im Weibchen möglich, konnte also irgendeine Einwirkung auf das Weibchen aberrante männliche Nachkommen hervorrufen. Genügend konstatierte Beispiele eines solchen Ereig- nisses gibt es wohl nicht viele; ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass z. B. in der Zucht von durch Frostexperimente erhaltenen aber- rativen Vanessa urticae unter den Nachkommen des am meisten aber- rativen Weibehens gerade nur einige Männchen in derselben Weise aberrativ entwickelt waren. Es lässt sich nach meiner Auffassung annehmen, dass hier außer den somatischen Zellen des Weibchens durch die Einwirkung des Frostes gerade die Determinanten der männlichen Flügelfarbe eine Abänderung erfahren haben. Somit scheint mir auch diese Erscheinung dafür zu sprechen, dass in jedem Individuum eines getrennt geschlechtlichen Tieres ein vollständiger Determinantenkomplex eines bestimmten Indı- viduums des anderen Geschlechts vorhanden ist. In weitaus den meisten Fällen bleibt dieser ganz latent, in vereinzelten Fällen, so z. B. im Falle von Hahnenfedrigkeit bei Hühnern tritt ein geringerer oder größerer Teil in die Öffentlichkeit. Im allgemeinen treten die verschiedenen Elemente jedes Geschlechtskomplexes in festem Zu- sammenhang, doch ist eine Trennung, ein partielles Aktivwerden, möglich. Auch jeder Keim enthält schon die beiden Komplexe, und desgleichen jede Eizelle und jedes Spermatozoid. Bei der Frage der Geschlechtsbestimmung ist stets das zu bedenken, dass beide Komplexe immer von rasen vorhanden sind und es sich bei der Bestimmung immer nur um ein Überwiegen des einen Ge- schlechts handeln kann. Ein Umtausch durch ee Reize des einmal bestimmten Geschlechts in das andere ist, falls der Reiz 299 de Meijere, Über getrennte Vererbung der Geschlechter. zeitig genug einwirkt, a priori als möglich zu betrachten, wie auch von Correns betont worden ist. Das Auftreten von Männchen nach zahlreichen parthenogenetischen Generationen bei Blattläusen, Blattwespen u. s. w. erscheint demnach nicht wunderbar, während sie durch mehrere heurige Geschlechtsbestimmungshypothesen keine Erklärung finden. Auf diese Verhältnisse einzugehen, muss ich mir auf später verschieben. Nur möchte ich noch dem sehr ver- schiedenartig gedeuteten Gynandromorphismus einige Worte widmen. Ich möchte dieselben im allgemeinen auffassen als Fälle, wo die Konkurrenz zwischen den beiden geschlechtlichen Komplexen zu keinem einheitlichen Resultat geführt hat. Beide Anlagen sind hier teilweise im aktiven Zustande. Sogar die von Meisenheimer besonders hervorgehobenen halbierten Zwitter, ın welchen die männ- liche Hälfte einer anderen Varietät angehört als dıe weibliche, sind nach dem oben bezüglich Ayla tau aufgeführten nicht schwer zu deuten. Eine Agka tau von dem Schema TT, FT wurde, wenn zu einem halbierten Zwitter auswachsend, an der männlichen Seite der hellen, an der weiblichen der dunklen Varietät angehören. Man braucht also gar nicht mit Meisenheimer anzunehmen, dass ein solcher Zwitter von Argynnis Paphia z. B., welcher einerseits der typische Form, andererseits der Var. Valesina angehört, entstanden zu denken wäre aus der unvollkommenen Vereinigung einer Var. typica-Geschlechtszelle mit männlicher Geschlechtsbestimmung und einer Var. Valesina-Geschlechtszelle mit weiblicher Bestimmung, und ebensowenig ist mit Morgan Polyspermie als Ursache zu betrachten. Dass überhaupt der Gynandromorphismus nicht von geschlechtsbestimmenden Befruchtungsprozessen abhängig zu sein braucht, das lehren schon die von Perez ausführlich beschriebenen, von parasitischen Stylopidenlarven bei wilden Bienen erzeugten Gynandromorphen. Hier liegen Fälle vor, wo die junge Bienenlarve erst nachträg- lich von dem wahrscheinlich dann schon im Prinzip bestimmten Geschlecht abgelenkt werden, ohne dass irgendwelche abnormale Befruchtung die Ursache sein kann. Wahrscheinlich findet die Be- stimmung des Geschlechts schon sehr früh statt; dass die bei Insekten häufig beobachteten halbierten Zwitter bezw. Gynandromorphen darauf zurückzuführen sind, dass hier die definitive Entscheidung zur Zeit der ersten Furchungsteilung stattgefunden hat, ist m. E. nicht unwahr- scheinlich. Von diesem einfachen Verhalten bis zu den gemischten Gynandromorphen, von welchen die stylopisierten Anthrena-Exem- plare ein extremes Beispiel bilden, gibt es allerhand Übergänge. Je später Eigenschaften beider Geschlechter gleichzeitig aktıv auf- treten, um so sauberer scheint mir die Vermischung. Dass wir in dem Fall der Anthrenen die Ursache durchschauen können, ändert das Wesen der Erscheinung nicht. Auch die Hahnenfedrigkeit ge- Lebedeff, Einige Beobachtungen über Trypanosoma rotatorium. 2953 hört zu diesen extremen Fällen des Gynandromorphismus und auch hier kommt es vor, dass die sich zeigenden männlichen Charaktere nicht zu der Rasse der Henne passen, was mit dem oben über Argynnis Paphia mitgeteilten im Prinzip ganz übereinstimmt. Einige Beobachtungen über Trypanosoma rotatorium. (Vorläufige Mitteilung.) Von Dr. Lebedeff. (Aus dem Bakteriologischen Institut zu Moskau.) (Hierzu 1 Textfigur.) Mit dem Studium von Trypanosomen beschäftigt, habe ich folgende Resultate erzielt, die ich hier kurz veröffentlichen will. Meine Beobachtungen bestätigen die Angaben früherer Autoren, dass bei den Fröschen die Trypanosomen in zwei verschiedenen Modifikationen vorkommen. Eine Form hat einen ausgestreckten Leib, sehr stark entwickelte undulierende Membran und ist gewöhn- lich mit einer sehr starken Geißel versehen. Der Blephoroplast liegt am vorderen Ende. Die andere Form hat eine rundliche Ge- NdOB stalt und plumpes Aussehen. Die undulierende Membran ist ver- hältnismäßig schwach, die Geißel fehlt und der Blephoroplast liegt neben dem Kern. Nach der Lage des ‘Blephoroplasten ıst diese zweite Form mehr „embryonal“. Gewöhnlich findet man die Frösche im Zustand chronischer Erkrankung. Die Trypanosomen kommen in einigen Gegenden sehr oft vor (bis zu 95°, hei untersuchten Fröschen), jedoch niemals in großer Zahl (1—5 im Präparat). Ganz sichere Teilungsformen habe ich niemals beobachten können. Die Impfungen des trypanosomhaltigen Blutes der Frösche und anderer Amphibien bleiben stets negativ. In dem Kondenswasser von Agaragar mit gleichen Volumen des Froschblutes gemischt, machen die Trypanosomen einen ganz merkwürdigen Entwickelungsgang durch, allmählich nämlich wandeln sie sich in die Chritidienformen um, was auch im besten Einklang mit den Angaben anderer Autoren steht, 224 Lebedeff, Einige Beobachtungen über Trypanosoma rotatorium. Dabei kann man die Verstäubung der chromatischen Substanz, d. h. Bildung von Chromidien beobachten. Dann zerfällt die Zelle in viele, 6-8 birnenförmige Stücke. In diesen bilden sich die Kerne von neuem aus den Chromidien heraus. Jedes Teilstück fängt an, sich energisch zu teilen und auf solche Weise entstehen eine Menge von chritidienähnlichen Organismen. Letztere ver- mehren sich sehr lebhaft und differenzieren sich schließlich in zwei Typen. Einige Tiere haben die Gestalt von typischen Chritidien und besitzen einen verhältnismäßig großen Körper. Die anderen dagegen sind langgestreckt und haben mehr das Aussehen von Spirochaeten. Nun konnte ich die Verschmelzung der beiden Formen be- obachten. Nach dem Verschmelzungsakt bekommt man schließlich, wie die Textfiguren zeigen, amöboidbewegliche Körperchen, die aller Wahrscheinlichkeit nach wiederum die Gestalt der Trypano- somen annehmen und gelegentlich die Neuinfektion verursachen können. Wenn auch selten, so konnte man doch gelegentlich in Kul- turen Tiere beobachten, welche ihren Eigenschaften nach eine mittlere Stufe zwischen Uhritidien und echten Trypanosomen dar- stellen. Wie es scheint, sind diese Formen vollständig identisch mit den Trypanosomen, welche ich bei den Fröschen im Zustande der akuten Erkrankung gesehen habe. Nur zweimal ist es mir gelungen, solche akute Infektion zu finden und zwar in beiden Fällen im Anfang des Frühlings, wobei solche Frösche sehr zahlreiche Parasiten beherbergten. Es ist höchstwahrscheinlich, dass der definitive Wirt, der Tryp. rotatorium iwgendwelcher Blutegel ist. Aus Gründen, die ich eingehend in meiner ausführlichen Arbeit behandle, bin ich zur Ansicht gekommen, das die Art der Blutegel für die Übertragung der Tryp. rotatorium keine besondere Rolle spielt. Als Wirte für die definitive Entwickelung der Tryp. rota- torium können verschiedene Arten von Hirudineen dienen. Ebenso kann der gleiche Vorgang auch in dem künstlichen Medium seinen Platz finden. Die Impfungen mit Froschblut aus der akuten Periode der Er- krankung sind für die Frösche stets positiv. Das gleiche gilt auch für die Einspritzungen von Chritidienkulturen, welche beinahe immer die Erkrankung der Frösche veranlassen; nur ist es mir bis jetzt noch nicht gelungen, eine sehr starke akute Erkrankung zu bekommen. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr.!KrGorcbel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Der Abonnementspreis für 24 Hefte beträgt 20 Mark < jährlich. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Lujisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen. Bd. XXX. a April 1910. MR, Inhalt: Babäk, Über die Oberflächenentwickelung bei Oreananent, und ihre Anpasungstänekeie, = Kapter ew, Experimentaluntersuchungen über die Frage vom Einflusse der Dunkelheit auf die Gefühlsorgane der Daphnie. Über die Oberflächenentwickelung bei Organismen und ihre Anpassungsfähigkeit. Von Prof. Dr. Edward Babäk (Prag). Ik Die äußere Oberfläche der Organismen, wodurch der Stoff- austausch zwischen dem Körper und dem äußeren Medium voll- zogen wird, ist gemäß den Bedürfnissen jedes Organısmus quantitativ entwickelt und qualitativ eingerichtet. Bei den niedersten Tieren ist die äußere Oberfläche des einzelligen Körpers relativ sehr groß, indem sein Volumen gewöhnlich sehr klein ist. Die Stoffaufnahme geschieht hier entweder durch die sämtliche Oberfläche (Sauerstoffaufnahme, Auf- nahme von gelösten Stoffen) oder auch durch speziell geformte Partien derselben (Cytostoma ete., besonders bei der Aufnahme von festen Nahrungspartikeln, welche allerdings bei Rhizopoden ebenfalls auf beliebiger Stelle der Körperoberfläche eingezogen werden können); ähnliche Verhältnisse werden bei der Stoffabgabe aufgefunden. Nebst der äußeren Oberfläche sind schon bei den Protozoen auch innere dem Stoffaustausch dienende Oberflächen entwickelt, indem z. B. um die aufgenommenen Nahrungskörperchen Vakuolen entstehen, welche man als Verdauungsvakuolen bezeichnet; man XXX. 15 226 Babäk, Über die Oberflächenentwickelung bei Organismen ete. führt gewöhnlich an, dass diese Vakuolen einerseits von der mit der Nahrung zugleich aufgenommenen Wassermenge gebildet werden, wonach andererseits aus der Protoplasmawand verdauende Fermente in diese Wasserschicht sezerniert werden; nach Stolc!) darf man wenigstens bei den Amoeben zwischen den aufnehmenden Va- kuolen, welche das mit dem Nahrungskörperchen mitgerissene Wasser enthalten, welches allmählich verschwindet und den eigent- lichen Verdauungsvakuolen unterscheiden, welche sich bei der strömenden Bewegung des Protoplasmas in bestimmter Partie des Amoebenkörpers um die Nahrung durch Sekretion bilden. Die Protoplasmawände dieser Verdauungsvakuolen müssen wir gleich- zeitig als resorbierende und wohl auch als die resorbierten Stoffe synthetisch (assimilatorısch) verarbeitende Oberflächen betrachten. Außerdem kommen bei den Protozoen eigene absondernde Vakuolen vor, welche als Exkretionsorgane fungieren. Man kann selbst vom „inneren Milieu“ (Claude Bernard) bei den Protozoen sprechen, soweit sich z. B. bei den kontraktilen, rhythmisch pul- sierenden Vakuolen ein ganzes System von Kanälchen, welches den Protoplasmakörper durchzieht und mit den Vakuolen und oft auch mit dem äußeren Medium kommuniziert, sicherstellen lässt: es handelt sich wohl um eine Einrichtung, welche dem Zirkulations- apparate, vielleicht auch den Atmungs- und Exkretionsorganen der höheren Tiere ähnlich ist. Bei den Pflanzenzellen kommt ganz gewöhnlich eine mäch- tige Entwickelung der äußeren und zugleich der inneren Protoplasma- oberfläche zustande dadurch, dass Safträume entstehen, bei dem Zellenwachstum sich vergrößern und oft zusammenfließen so, dass das Protoplasma nur einen dünnen Überzug der Zellenwand bildet: dadurch wird wohl ein ausgiebiger Stoffaustausch zwischen dem äußeren Medium und dem Protoplasma, sowie zwischen diesem und dem Saftrauminhalte ermöglicht. Ja man könnte überhaupt die Zellstruktur der Organismen von dem Standpunkte der Entwickelung der physikalisch- chemischen Reaktionsoberfläche begreifen, indem auf diese Weise das in winzige Klümpchen zerklüftete Protoplasma relativ zum kompakten Massenvolumen eine ungeheure Oberfläche besitzt, wobei gleichzeitig das differenzierte Kernplasma ebenfalls eine mächtige Kontaktfläche erreicht, auf welcher die stofflichen Beziehungen zwischen Karyoplasma und Öytoplasma intensiv ge- pflegt werden können. Man darf auch die Gestaltung der anderen Zellorgane auf diese Weise beurteilen: so z. B. würde es sich bei den Chloroplasten nicht nur um die Beziehung zu den chemischen Reaktionen, sondern auch zur Energieaufnahme handeln. 1) Stole, a. Sitzungsber. d. kgl. böhm. Gesellsch. d. Wissensch. 1910. Prag. Babäk, Über die Öberflächenentwickelung bei Organismen ete. 3237 Endlich ist es auch berechtigt, bei der alveolaren oder Schaumstruktur u.s. w. des Protoplasmas dieselbe Betrachtungs- weise anzuwenden. — Bei den höheren Tieren, wo weitgehende Organdifferen- zierung vorkommt, finden wir die stoffaufnehmenden und stoffabgebenden Oberflächen, zugleich mit ihrer auffälligen quantitativen Entwickelung, hochgradig qualitativ differenziert. Die Aufnahme der Nahrungsstoffe wird hauptsächlich durch die Oberfläche des Verdauungstraktes vollführt; derselbe kommt ausschließlich bei der Aufnahme der festen Nahrung ın Betracht, wogegen das Wasser (und darin gelöste Stoffe) z. B. besonders bei den Amphibien durch die äußere Körperoberfläche aufgenommen werden können, ähnlich auch der Sauerstoff, welchen man eben- falls als Nahrungsstoff betrachten darf. Neuerdings macht Pütter?) mit großem Nachdruck darauf aufmerksam, dass die Ernährung der Wassertiere überhaupt zu hohem Grade oder sogar ausschließlich durch äußere Körper- oberfläche und ihre Differenzierungen (Kiemen) zustande kommt, indem vorwiegend im umgebenden Medium gelöste Stoffe als Nahrung dienen. Die Sauerstoffaufnahme geschieht oft durch besondere atmende Oberflächen der Tracheen, Kiemen oder Lungen, wobei die übrige Körperoberfläche dann nur in untergeordneter Weise respiratorisch tätig ist (bei den Amphibien hat aber die Atmungstätigkeit der Haut große Bedeutung: bei den Fröschen wird während des Winters der Gaswechsel vorwiegend durch die Haut vollzogen (Krogh°); auch der Verdauungstraktus kann den Gaswechsel verrichten, z. B. bei den lungenlosen Salamandriden die Schleimhaut der Mundhöhle, welche bei den sämtlichen Amphi- bien eine gewisse respiratorische Funktion besitzt, oder die Labyrinth- organe der Mundhöhle bei den Labyrinthfischen, der Mitteldarm se Meisgurnus, der Enddarm bei den Libellulidenlarven u. s. w.). Die Stoffabgabe findet oft durch dieselben Oberflächen statt, welche der Stoffaufnahme dienen, was besonders für die Atmungs- oberflächen gilt, welche einerseits Sauerstoff aufnehmen, anderer- seits Kohlensäure sezernieren. Auch die Verdauungsoberflächen geben Stoffe ab, welche entweder im Haushalte des Körpers weiter tätig sind — sogen. Sekrete (Verdauungssäfte mit ihren Fermenten u.s. w.) oder welche als Auswurfsstoffe, Exkrete entfernt werden müssen (nach manchen Autoren werden die Exkremente der fleisch- fressenden Tiere größtenteils als Exkrete der Verdauungsröhre aufgefasst); die Drüsen des Verdauungstraktes sind speziali- sierte stoffabgebende Organe, welche sich oft durch außer- 2) Pütter, A., Zeitschr. f. allg. Physiol. VII, 1907, S. 281 u. 321, IX, 1909, S. 147. 3) Krogh, Skand. Arch. f. Physiol., Bd. 15, 1909, S. 328. 228 Babäk, Über die Oberflächenentwickelung bei Organismen etc. ordentliche Oberflächenentwickelung auszeichnen. Endlich gibt es spezielle, Stoffe ins äußere Medium abgebende Organe, eigentliche Exkretionsorgane: Nieren u. S. w. Die Entfaltung der äußeren Oberflächen kann man sich durch einige Beispiele veranschaulichen. Die Atmungs oberfläche der Lungen eines erwachsenen Mannes wird etwa mit 100 m? (nach verschiedenen Autoren 90—130 m?) angegeben; man schätzt die Zahl der Lungenalveolen auf etwa 400 Millionen von je 0,25 mm Durchmesser und 0,3 mm? Oberfläche. Auf diese Weise lässt sich begreifen, dass das auf so großer Fläche sich ausbreitende Blut sich so vollkommen mit Sauerstoff sättigen kann, dass es auch nach künstlicher, womöglich ausgiebiger Durchschüttlung mit Sauerstoff von demselben nicht merklich mehr aufnimmt, als in dem Blute der Lungenvenen gefunden wird. — Die resorbierende Ober- fläche des Dünndarms wird durch eine bedeutende Anzahl feiner Zotten (beim Menschen etwa 4 Millionen) mächtig vergrößert. — Die Anzahl der auf einer einzigen von den zahlreichen Nierenpapillen mündenden Harnsammelkanälchen wird auf 6000 geschätzt, von denen aber jedes wiederum aus vielen kleineren entsteht, welche wieder Fortsetzungen der kompliziert gewundenen Harnkanälchen der Rindensubstanz der Niere sind. — Ähnliche Verhältnisse werden bei den Hodenkanälchen etc. angetroffen. Bei den höheren Tieren, insbesondere bei den Wirbeltieren ist das innere Medium — Lymphe, Blut — als Vermittler zwischen dem äußeren Medium und den Gewebselementen hochgradig ent- wickelt: hier kommen die eigentlichen inneren Oberflächen in auffallender Entfaltung vor (gegenüber den „inneren“ Drüsen-, Verdauungs- und Atmungsoberflächen, welche mittelbar oder un- mittelbar mit dem äußeren Medium in Berührung sind). Das Ge- fäßsystem, besonders seine Kapillaren zeichnen sich durch groß- artige Oberflächenentfaltung aus, und im Blute nehmen wiederum die Erythrocyten, welche als Sauerstofftransportmittel fungieren, eine hervorragende Stellung in dieser Hinsicht ein. Wenn man die Zahl der roten Blutkörperchen beim erwachsenen Manne auf etwa 5 Millionen in 1 mm? Blut schätzt, die Oberfläche eines Erythrocyten auf etwa 130 u?, so beträgt die Oberfläche der in 1 mm? Blut enthaltenen roten Blutkörperchen etwa 650 mm}, ım sämtlichen Blute des Mannes etwa 3000 m?. 1. Die Ausdehnung der äußeren und inneren Oberflächen des Organısmus ist den jeweiligen Verhältnissen der äußeren Lebensbedingungen sowie der Bedürfnisse des Körpers vollständig angepasst (ähnlich wie ihre intime strukturelle Be- schaffenheit). Babäk, Über die Oberflächenentwickelung bei Organismen ete. 299 So sehen wir z. B., dass die pflanzenfressenden Säuge- tiere eine großartige Oberflächenentwickelung des Ver- dauungstraktes zeigen im Vergleiche mit den Fleischfressern‘): beim Schafe und bei der Ziege beträgt die Darmlänge in Körper- längen ausgedrückt 26—28, beim Rinde 20 gegenüber den Raub- tieren, wo der Wolf 4, die (wilde) Katze 3 zeigt; höchst auffallend sind die Unterschiede bei nahe verwandten, aber ganz ver- schieden sich ernährenden Säugetieren, z. B. bei Fleder- mäusen, wo die karnıvoren Gattungen die relative Darmlänge 2—3, die pflanzenfressenden 6—7 aufweisen. Bei den Vögeln sollen die Fleischfresser die relative Darmlänge 1,7—3, die Pflanzenfresser sogar bis 9 besitzen, obwohl hier sonst sehr komplizierte Verhält- nisse herrschen (in bezug auf die Abhängigkeit der Längeentwicke- lung der Verdauungsröhre von der Anwesenheit und vom Ent- wickelungsgrad der Blinddärme u. s. w.). Ebenfalls bei den Rep- tiılıen a ähnliche Beziehung zwischen der Verdauungsröhre und der Art der Nahrung in vielen ler konstatiert (z. B. meh Lönn- berg weisen die insektenfressenden Iguaniden eine relative Dünn- darmlänge zwischen 114—126°/,, Diekdarmlänge 28—-59°/, auf, während die pflanzenfressenden Iguaniden sich durch außerordent- lich langen Dünndarm 180-291 °/, und Dickdarm 88—143 °/, aus- zeichnen, oder insektivere Lacertiden weisen eine Dünndarmlänge 8S0—91°/,, Diekdarmlänge 25—31°/,, während die omnivore Zacerta Galloti 163°/, und 42°/, misst). Selbst bei den Fischen bemerkt man Andeutungen von solchem Verhalten, indem z. B. Milne- Edwards beim Hecht die relative Darmlänge 1, beim Karpfen dagegen 2 angibt. Große Bedeutung für unsere Frage müssen wir den verhältnis- mäßig seltenen Fällen zuschreiben, wo ein und derselbe Orga- nismus während seines Lebens die Nahrungsweise wesent- lich wechselt und zugleich bedeutende Unterschiede in der Entwickelung der Verdauungsfläche aufweist: dies kommt bei den metamorphosierenden Tieren vor — vor allem aber bei den Anuren. Die Länge der Verdauungsröhre bei den aus- gewachsenen Geschlechtstieren von Rana esculenta beträgt (nach Gaupp)°) im Mittel 2,9 (bei Rana fusca 2,1) Rumpflängen, en ich bei den in freier Natur gefangenen Kaulquappen von Rana esculenta die relativen Darmlängen von 16 (bei den mit winzigen Knospen der hinteren Extremitäten versehenen Stadien), 12 (mit etwas größeren, schon deutlich gegliederten hinteren Extremi- täten), 9 (mit vollständig ausgebildeten und ausgiebig als Loko- ) Babäk, E.: Über den Einfluss der Nahrung auf die Länge des Darm- Bi Biol. Centralbl. XXIII, 1903, S. 477. — Experim. Untersuchungen über die Variabilität der Verdauungsröhre. Arch. f. Entwickelungsmech. XXT, 1906, S, 611. 5) Gaupp, E., Anatomie des Frosches. 1899. 230 Babäk, Über die Oberflächenentwickelung bei Organismen ete. Er motionsorgane tätigen hinteren Extremitäten) gemessen habe. Nun sind die Kaulquappen typisch omnivor, während die meta- morphosierten Tiere insektivor, überhaupt fleischfressend sind. Ohne Zweifel müssen wir diese Unterschiede einerseits mit der weniger ausgiebigen Nahrung der Larven (welche sich un- unterbrochen ihren Darm mit Schlammerde füllen und damit Infu- sorien, Rädertierchen, Diatomeceen u. s. w. einschlürfen, sowie die Pflanzenteile benagen) in Beziehung bringen, andererseits aber mit den relativ weit größeren Nahrungsbedürfnissen der mächtig heranwachsenden und sich entwickelnden em- bryonalen Organismen der Kaulquappen; demgegenüber findet der verhältnismäßig langsam wachsende und dann stationär bleibende Körper des metamorphosierten Frosches in den Insekten, kleineren Amphibien etc. höchst kon- zentrierte und leicht verdauliche Nahrung. Es liegt hier also vor uns gleichsam ein von der Natur durchgeführter anschau- licher Beweis, dass sich ein und derselbe Organısmus eine Verdauungsoberfläche je nach seinen Bedürfnissen her- stellt. . Die Beziehung der Oberflächenentwickelung der Ver- dauungsröhre zum relativen Nahrungsbedarf des Körpers ergibt auch die Vergleichung der poikilothermen und homo io- thermen Wirbeltiere; bei Fischen, Amphibien, ja selbst Rep- tilien kommen Verdauungsröhren vor, welche kaum die Körperlänge überschreiten, wogegen die Vögel und Säugetiere, deren hohe be- ständige Körpertemperatur bedeutende Intensität des Stoffwechsels erfordert, vielfach gewundene, die Körperlänge immer weit über- schreitende Darmlängen besitzen; nebstdem erreicht die Oberflächen- vergrößerung durch Falten- und Zottenbildung vorwiegend erst bei den Homoiothermen ihren Gipfelpunkt. Aber selbst in einem und demselben Körper findet die mor- phologische Durchmusterung der einzelnen Abteilungen des Darmes auffällige Beziehungen zur Größe der funktio- nellen Betätigung derselben: so hat der Dünndarm der Fleisch- fresser nach der weitgehenden Verflüssigung und sogar auch schon chemischen Bearbeitung der aufgenommenen Nahrung durch den Magen die gründliche Verdauung, Resorption und Assımulation des Hauptanteiles der Nahrungsmenge durchzuführen, während der Dickdarm nur die Resorption (vorwiegend von Wasser) zu Ende bringt und sonst hauptsächlich als Reservoir der Exkremente dient, deren Menge bei den Karnivoren etwa nur 1°/, der festen Bestand- teile der Nahrung ausmacht; wir begreifen im Zusammenhange mit dieser kleinen Funktion, dass bei den ganz ausgesprochenen Fleischfressern, z. B. bei dem Löwen und Seehund, die Dickdarm- länge nur 3°/, der gesamten Verdauungstraktuslänge erreicht. Beim Babäk, Über die Oberflächenentwickelung bei Organismen ete. 231 Pflanzenfresser aber fällt dem Dickdarm noch eine weitgehende Verdauungs-, Resorptions- und Assimilationsarbeit zu, da der aus dem Dünndarm kommende Inhalt noch wenig ausgenützt ist; der Dickdarm nimmt auch die Beförderung der voluminösen bis 40°/, Unverdautes und Unverdauliches enthaltenden Kotmassen über (nach Sussdorf); damit erklären wir uns, dass die Dickdarmlänge bei den Pflanzenfressern sogar 40°/, der gesamten Verdauungsröhre betragen kann. — Ähnliche Verhältnisse liegen auch vor, wenn wir die Aus- dehnung der atmenden Oberfläche des tierischen Organismus in Erwägung ziehen. Die homoiothermen Wirbeltiere besitzen den poikilothermen gegenüber ungemein komplizierte, durch groß- artige Oberflächenentwickelung sich auszeichnende Lungenorgane. Es ist höchst lehrreich, z. B. die getrocknete aufgeblasene Frosch- lunge mit den Präparaten der menschlichen Lunge zu vergleichen; die winzigen mit mikroskopischen Alveolen dicht besetzten.Alveolar- gänge derselben sind strukturelle Analoga der ganzen Amphibien- lunge, so dass die mächtige Ausdehnung der atmenden Oberfläche bei den mit intensivem Gaswechsel ausgestatteten Warmblütern ganz anschaulich zutage tritt. Und wiederum können wır auf dieser Stelle das schon oben bei der Gelegenheit der Entwickelung der verdauenden Oberfläche angeführte Beispiel des embryonalen und metamorpho- sierten Froschorganismus zitieren: die Froschlarve atmet einer- seits, wie der ausgewachsene Frosch, mittelst der äußeren Körper- oberfläche; dieselbe ist bei der ganz kleinen Larve relativ weit bedeutender als bei dem ausgewachsenen Tiere, trotzdem ist sie aber noch durch äußere Kiemen mächtig vergrößert; andererseits atmet das Geschlechtstier durch Lungen, wogegen man bis vor kurzem geneigt war, die Lungenatmung erst den metamorphosieren- den Tieren zuzuschreiben; aber unsere Beobachtungen haben sicher- gestellt ®), dass schon junge Larvenstadien aus der Zeit, wo sich die äußeren Kiemen rückbilden, Lungenatmung zeigen: sie kommen zur Wasseroberfläche, um Mund- und höchstwahrscheinlich auch die Lungenventilation zu vollführen, was im sauerstoffarmen Wasser weit öfters geschieht als im gut durchgelüfteten; außerdem findet man bei der Präparation ganz junger Froschlarven die Lungen mit Gas prall gefüllt, und, wenn man den Tieren den Zutritt zur Wasser- oberfläche verhindert, gelingt es schwer, selbst im gut durchgelüfteten und rasch gewechselten Wassermedium die Larven längere Zeit zu züchten — obzwar sie nach dem Verluste der äußeren weit mäch- tigere „innere“ Kıemen entwickeln. Es wird also bei etwas 6) Babäk, E.: Über die Ontogenie des Atemzentrums der Anuren etc. Pflüg. Arch. f. Physiol., Bd. 123, 1909, S. 481. 2339 Babäk, Über die Oberflächenentwickelung bei Organismen etc. älterer Froschlarve der Gaswechsel durch die relativ große äußere Körper- sowie die Lungenoberfläche und dann durch die stark ausgedehnte Fläche der „inneren“ Kiemen vollzogen, in Übereinstimmung mit dem relativ inten- siven Stoffwechsel der Larve, dagegen beim metamorpho- sierten Tiere nur durch die Haut- und Lungenoberfläche, wiederum in Übereinstimmung mit dem relativ kleinen Stoffwechsel des Geschlechtstieres (neuere in Bohr’s Labora- torıum durchgeführte Versuche zeigen, dass die Lungenatmung beim ausgewachsenen Frosche hauptsächlich während des Geschlechts- lebens vorkommt, während im Winter der Froschorganismus vor- wiegend durch die Haut atmet)”). Den relativ weit bedeutenderen Sauerstoffbedarf der Anurenlarven den Geschlechtstieren gegenüber haben die von Amerling®) durchgeführten Untersuchungen sichergestellt: das Zentralnervensystem der Larven ist gegen Sauerstoffmangel weit empfindlicher als bei den ausgewachsenen Tieren. Nun lassen sich aber noch folgende interessante Beziehungen konstatieren: die ganz jungen Entwickelungsstadien z. B. von Rana fusca, welche soeben der Gallerthülle entschlüpft sind und nur äußere Kiemenbüschel mit relativ kleiner Oberfläche besitzen, sind verhältnismäßig dem Sauerstoffmangel gegenüber bedeutend widerstandsfähiger als spätere Entwickelungsstadien ohne äußere Kiemen, bei denen aber die „inneren“ Kiemen mächtig entwickelt sind; ich möchte die Ent- wickelung der „inneren“ Kiemen bei Anurenlarven als den morphologischen Ausdruck des stark anwachsenden Sauerstoffbedürfnisses ansehen, dem die äußeren Kiemen bei weitem nicht Genüge leisten können, nicht einmal vielleicht durch stärkere Herausbildung, welche wiederum mit mancherlei Inkonvenienzen verbunden würde, so dass die erforderliche Ver- größerung der Atmungsoberfläche durch die Hervorbringung der gedeckten „inneren“ Kiemen, also durch Einschlagen einer neuen Entwickelungsrichtung zustande kommt; die äußeren Kiemen werden dann bei den Anurenlarven nur als vorübergehende Organe ange- legt, gleichsam als Reminiszenzen auf den Bauplan des embryo- nalen Amphibienkörpers, nachher verkümmern sie als überflüssige Organe neben den geeigneteren „inneren“ Kiemen (doch man kann ihre Verkümmerung durch erhöhtes Sauerstoffbedürfnis experimentell etwas aufhalten, wie weiter unten geschildert wird). Auch ver- gleichende Betrachtung der verschiedenen Anurenarten kann man in derselben Richtung verwerten: so haben wir gefunden, dass die jungen Larven von Rana esculenta weit minder entwickelte 7) Bohr in Nagel’s Handb. d. Physiol. d. Menschen, Bd. I, S. 161. 8) Amerling, K.: Über die Widerstandsfähigkeit gegen Sauerstoffmangel etc. während der Ontogenie des Frosches. Pfllüg. Arch. f. Physiol., Bd. 121, 1908, S. 363. Babäk, Über die Oberflächenentwiekelung bei Organismen etc. 233 äußere Kiemen besitzen als die Kaulquappen von Rana fusca, was in voller Übereinstimmung mit unserer Erfahrung ist, dass die - Jungen Larven von Rana esculenta gegenüber dem Sauerstoffmangel merklich resistenter, also merklich weniger sauerstoffbedürftig sind, als die entsprechenden Entwickelungsstadien von Rana fusca, d.h. die sonst nahe verwandten Arten entwickeln die Atmungs- oberflächen je nach ihrem Bedarfe. Endlich muss ich noch auf die neuerdings von mir gemachten Erfahrungen über die Physiologie des Atemzentrums bei den Am- phibien aufmerksam machen, denen eine große ökologische Bedeu- tung beizumessen ist. Die Anurenlarven zeichnen sich’) durch den Besitz eines regelmäßig rhythmisch tätigen Atemzentrums aus, welches ähnlich wie dasjenige der Homoiothermen und besonders wie dasjenige der Süßwasserfische und mancher Arthropoden !°) durch Oszillationen des Sauerstoffgehaltes im Zentralnervensystem seine Tätigkeit reguliert: im sauerstoffarmen Wasser werden die Atembewegungen öfters und stärker ausgeführt, im sauerstoffreichen Wasser seltener und schwächer. Dies bildet einen auffälligen Gegen- satz den metamorphosierten Tieren gegenüber, deren Atemzentrum vom Sauerstoffgehalte des äußeren Mediums, was die Regulation der Kehlatmungsbewegungen betrifft, unabhängig ist. Das mächtige Sauerstoffbedürfnis des embryonalen Froschorganismus_ stellt sch nicht nur große Atmungsoberfläche her, Sonden schafft sich auch die oe le Satan) sche Resulauon ihrer Ventilation, je nach dem Sauerstoffgehalte des äußeren Mediums, eben durch diesen Sauerstoffgehalt. Der metamorphosierte Froschorganismus aber besitzt entsprechend seinem geringen Stoffwechsel nur kleine Atmungs- oberfläche ohne die feine Regulation durch Blutreizung des Atem- zentrums. Von den Urodelenuntersuchungen!!) führe ich die bei Ambly- stomalarven sichergestellte Tatsache an, dass ganz junge Larven in ihrer durch äußere Kiemen vergrößerten Körperoberfläche vollständig ausreichende gaswechselverrichtende Fläche besitzen, so dass über- haupt keine Atembewegungen nötig sind; erst mit dem wachsenden Körpervolumen entwickelt sich das Bedürfnis der Atembewegungen, durch welche der Wechsel des äußeren Mediums vollführt wird, und man kann Schritt auf Schritt die „Entstehung des Atem- zentrums“ bei diesen Tieren verfolgen. 9) Babäk, E., Über die Ontogenie des Atemzentrums der Anuren ete. Pflüg. Arch. f. Physiol., Bd. 123, 1909, S. 481. 10) Babäk, E. und Dedek, B.: Unters. üb. d. Auslösungsreiz d. Atembeweg. b. Süßwasserfischen. — Babäk, E. und Foustka, O.: Unters. üb. d. Auslösungs- reiz d. Atembeweg. b. Libellulidenlarven. Pflüg. Arch. f. Physiol., Bd. 119, 1907. 11) Babak,E. und Kühnovä, M.: Über den Atemrhythmus und die Onto- genie d. Atembeweg. b. Urodelen. Pflüg. Arch. Bd. 130, 1909. 234 Babäk, Über die Oberflächenentwickelung bei Organismen etc. In Beziehung zu den äußeren Lebensbedingungen und dem Sauerstoffbedürfnisse stehen wohl auch die verschiedenen morpho- logischen Tatsachen der Lungenentwickelung bei den Urodelen: man findet hier alle Übergänge bis zum vollständigen Schwund der Lungen (Wilder?) bei I nelerenhen nen Desmognathus, Plethodon, Gyrinophilus; Camerano') bei den italienischen Arten Spelerpes fuscus, Salamandrina perspieillata); der Gaswechsel wird hier nur durch die Hautatmung und durch die Mundventilation vollzogen. Ebenfalls bei den metamorphosierten Anuren hat die Mund- schleimhaut große respiratorische Bedeutung, die Kehlatmungs- bewegungen dienen ja hauptsächlich zur Ventilation der Mundhöhle; bei den landlebenden Urodelen (Salamandra maculosa) haben wir *) sichergestellt, dass die Kehlatmungsbewegüngen gewöhnlich ununter- brochen vollführt werden, als wichtige Bedingung der Atmungs- tätıgkeit der Mundschleimhaut, welche vielleicht ausgiebiger ist als die Gaswechseltätigkeit der Haut; beim Sauerstoffmangel ın der Atmosphäre wird die Lungenventilation angefacht, indem das Lungen- atmungszentrum seine Tätigkeit je nach der Sauerstoffversorgung ändert, wogegen das Atemzentrum für die Kehlatmung von Oszil- lationen der Sauerstoffversorgung in hohem Maße unabhängig ist. Weitere Untersuchungen werden wohl noch manche interessante Tatsachen für die Ökologie der Atemtätigkeit bringen. Die Mundventilation hat sich bei gewissen Fischen einerseits zur Luftatmung der Mundschleimhaut, andererseits zur Luftatmung der Verdauungsröhre herangebildet. Von den „Labyrinthfischen*, bei denen die zarte blutreiche Schleimhaut der kompliziert gebauten labyrinthartigen Organe in dorsaler Erweiterung der Kiemenhöhle zur Verrichtung des Gaswechsels zwischen dem Blute und der durch die Mundöffnung aufgenommenen Luft dient, haben wir von den Osphromeniden besonders die sogen. Makropoden, und dann die Anabantiden studiert und gefunden, dass diese Luftatmung bei ge- eigneten Versuchsanordnungen den respiratorischen Gaswechsel ohne Kiemenatmung vollständig besorgen kann ’°). Bei den Cobitidinen konnten wir besonders bei Mösgurnus fossilis die Ausgiebigkeit des Gaswechsels zwischen der Darmschleim- haut und der verschluckten Luft sicherstellen, sowie die phylogene- tische Entwickelung der Darmatmung auf Grund der vergleichenden Untersuchungen (bei den Cobitidinen Nemachilus barbatula und 12) Wilder, H.H.: Lungenlose Salamandriden. Anat. Anz. IX, 1894, S. 216. 13) Camerano, L.: Ricerche anatomofisiol. intorno ai Salamandridi normal- mente apneumoni. Anat. Anz. IX, 1894, S. 676. 14) Babäk, E. und Kühnovä, M. siehe Anm. 11. 15) Babäk, E. und Dedek, B.: Untersuch. üb. d. Auslösungsreiz d. Atem- beweg. b. Süßwasserfischen. Pflüg. Arch. f. Physiol. Bd. 119, 1907, S. 1907. Babäk, Über die Oberflächenentwickelung bei Organismen etc. 235 Cobitis taenia) aus der Luftventilation der Mundhöhle („nach Luft schnappen“, oder „Notatmung“, wie es zuletzt Winterstein!%) genannt hat) wahrscheinlich machen '”). Die Verwendung der Darmoberfläche zur Verrichtung des Gas- wechsels kommt auch bei den Libellulidenlarven vor, bei denen wir eingehende Untersuchungen über das Zustandekommen der rhythmischen Atembewegungen vollführt und ähnliche Bedingungen dieser Automatie gefunden haben, wie bei den Fischen und Anuren- larven!®). Es ist bemerkenswert, dass bei den Libellenlarven, welche wahre Räuber unter den im Wasser lebenden Arthropoden vor- stellen, als Anpassung an die Bedürfnisse des intensiven Stoff- wechsels großartig entwickelte gaswechselverrichtende Oberflächen im Enddarme vorkommen, zugleich mit der äußerst feinen auto- matischen Regulierung des Atmungswasseraustausches je nach dem Sauerstoffgehalte des äußeren Mediums — eine in sämtlichen wesent- lichen Zügen ähnliche Einrichtung, wie wir sie oben bei den Anuren- larven beschrieben haben. In zwei voneinander so weit entfernten Gruppen der Tierwelt sehen wır also unter den gleichen ökologischen Verhältnissen ganz ähnliche morphologische und physiologische Ein- richtungen auftreten, nämlich bei starkem Sauerstoffbedürfnisse mächtige Entfaltung der atmenden Oberflächen und vorzügliche automatische Regulation ihrer Ventilierung (der Atembewegungen) durch den Grad der Sauerstoffversorgung des Zentralnervensystems; diese Analogie erstreckt sich auch auf die zeitlichen Verhältnisse der Ontogenie, indem es sich in beiden Fällen um larvale Organismen handelt. Auf Grund der vergleichenden Untersuchungen über die Ent- stehung der Atemregulation in der Ontogenie und Phylo- genie der Wirbeltiere kann ich bisher ungefähr folgende Vor- stellung darüber konstruieren. Solange die atmende Körperoberfläche ausreicht, das Sauerstoffbedürfnis des Körpers vollständig zu decken, treten keine Atembewegungen zum Vorschein (Embryonen und kleine Larven von Amphibien); wenn das Sauerstoffbedürfnis des Organismus stärker anwächst (durch das fortschreitende All- gemeinwachstum des Körpers), wird die atmende Oberfläche entsprechend vergrößert (z. B. durch Ausbildung der äußeren 16) Winterstein, H., Beitr. z. Kenntnis der Fischatmung. Pflüg. Arch. Bd. 127, 1909. 17) Babäk, E.: Vergleichende Untersuchungen über die Darmatmung der Cobitidinen und Betrachtung über die Phylogenese derselben. Biol. Centralbl. XX VII, 1907, S. 697. 18) Babäk,E. und Foustka, O.: Untersuch. üb. d. Auslösungsreiz d. Atem- beweg. b. Libellulidenlarven etc. Pflüg. Arch. f. Physiol. Bd. 119, 1907, p. 530. — Babäk, E. und Rocek, J.: Über die Temperaturkoeffizienten des Atemrhyth- mus bei reicher und ungenügender Versorgung d. Atemzentrums mit Sauerstoff. Pflüg. Arch. Bd. 130, 1909. 936 Babäk, Über die Oberflächenentwickelung bei Organismen ete. und inneren Kiemen bei Anurenlarven) und es erscheinen spezielle Muskelbewegungen, durch welche der Wechsel des äußeren Mediums über der atmenden Oberfläche durchgeführt und dadurch der Gasaustausch zwischen demselben und dem inneren Medium erleichtert wird. Diese Atembewegungen treten zuerst selten und unregelmäßig, gewöhnlich bei Allgemeinbewegungen des Körpers, später dichter und rhythmisch hervor („primär automatisch tätige Atemzentren“* bei den jungen Urodelenlarven, bei aus- ‚gewachsenen Amphibien die Atemzentren für Kehlbewegungen der Anuren und Urodelen); sie werden reflektorisch beeinflusst, aber sind von Sauerstoffversorgung des Zentralnervensystems in hohem Maße unabhängig. Bei sehr intensivem Stoffwechsel ent- wickeln die Organismen Atemzentren, welche durch Oszillationen der Sauerstoffversorgung des Zentralnervensystems ihre Tätigkeit feın regulieren („sekundär automatisch tätige Atemzentren*: niedere Stufe derselben bei älteren Amblystomalarven und bei den Lungenatemzentren der Urodelen, höhere bei Anurenlarven, Fischen, die höchsten bei den Homoiothermen). — Was die Entfaltung der inneren Reaktionsoberflächen des tierischen Organismus betrifft, finden wir bei der vergleichenden Betrachtung der Erythrocyten bei Wirbeltieren höchst lehrreiche Verhältnisse, welche ebenfalls die Anpassung an die Sauerstoff- bedürfnisse des Stoffwechsels kundgeben. Die Erythrocyten sind spezielle Formelemente, welche gleich- sam als Sauerstoffdepots dienen, indem sie ihren Sauerstoffvorrat in das Blutplasma diffundieren lassen, wo derselbe in dünner Lösung zur Disposition der Gewebszellen steht; dazu sind sie einerseits chemisch angepasst (da sie vorwiegend aus sauerstoffbindendem Hämoglobin bestehen), andererseits morphologisch (da sie abge- plattet sind und demnach große Oberfläche aufweisen; es scheint mir, dass der Verlust ihres zelligen Baues — ın den kernlosen Blutkörperchen der Säuger — ebenfalls der Ausdruck ist der weit- gehenden speziellen Anpassung). Bei den Amphibien kommen die größten Erythrocyten vor: 2. B. bei Rana fusca 22,3 u der große, 15,7 der kleine Durchmesser der ovalen Blutkörperchen, bei Triton eristatus 29,3 und 19,5, Pro- teus 58 und 33, Amphiuma sogar 80 u. Die Fische besitzen durch- wegs kleinere Erythrocyten, z.B. die Teleostei 13—17 u im großen Durchmesser, ebenfalls die Reptilien, z. B. die Eidechse 15,7 und 9,1, die Schildkröte 21,2 und 12,4. Die ovalen und ebenfalls kern- haltigen Blutkörperchen der Vögel sind kleiner als bei den Poikilo- thermen: z. B. beim Sperling 11,9 und 6,8, beim Huhn 12,1 und 7,2, bei der Ente 14,7 und 6,5. Bei den Säugern sind die Erythro- cyten kernlos und (die Kameeltiere ausgenommen) rund, sämtlich kleiner als bei den übrigen Wirbeltieren: z. B. bei Moschus javanıcus Babäk, Über die Oberflächenentwickelung bei Organismen etc. 337 2,5 u, Ziege 4,1, Schaf 5, Pferd 5,6, Schwein 6, Katze 6,5, Kaninchen 6,9, Hund 7,3, Meerschweinchen 7,5, Faultier 9,1, Elefant 9,4. Man kann schon in diesen großen Verhältnissen die Beziehung der Erythrocytengröße zum relativen Sauerstoffbedarfe der einzelnen Wirbeltierstämme erblicken; die poikilothermen Wirbel- tiere reichen mit relativ kleinerer sauerstoffaufnehmenden und -ab- gebenden Erythrocytenfläche aus als die Homoiothermen, demnach besitzen sie große Erythrocyten; und hier wieder die Amphibien die größten, während die weit sauerstoffbedürftigeren Fische und Reptilien kleinere Blutkörperchen mit relativ größerer Oberfläche aufweisen. Wir haben es versucht, noch weitergehend diese Beziehungen zu erforschen; wenn man Tritonen in Wasserstoffatmosphäre ein- schließt, so verlieren sie die spontane, dann auch die reflektorische Beweglichkeit um einige Stunden später als die Frösche: in Über- einstimmung mit dem relativ kleineren Sauerstoffbedürfnisse sind ihre Erythrocyten größer ausgebildet als bei den Anuren. Aber weit auffälliger und wichtiger noch sind diese Beziehungen bei den drei einheimischen Cobitidinenarten, welche verschiedene Lebens- weise zeigen und dementsprechend auch bei experimenteller Unter- suchung verschieden starkes Sauerstoffbedürfnis. Misgurnus fossilis (Schlammpeitzger), der größte von ihnen, hält sich in flachen Gegenden in schlammigen Bächen, Sümpfen und Wassergräben auf, wo er sich gerne in Schlamm verbirgt; das kleinste Tier, Cobitis taenia (Steinbeißer) lebt sowohl ın fließenden wie ın stehenden (Gewässern mit steinigem oder sandıgem Boden, gewöhnlich unter den Steinen, Nemachilus barbatıla (Bartgrundel) sowohl in der Ebene als auch in Gebirgsgegenden, aber ausschließlich im fließenden Wasser mit steinigem oder sandigem Grunde. Dementsprechend lässt sich Misgurnus und auch Cobitis in der Gefangenschaft leicht, Nemachilus aber weit schwieriger halten. Misgurnus weist typische und regelmäßige Luftatmung mittelst der Darmoberfläche auf, während bei Cobitis, aber noch weit mehr beı Nemachihıs die Atem- tätigkeit des Darmepithels geringer entwickelt ist. Diese drei nahe verwandten Fische (man führt sie ja manchmal noch heutzutage an als Arten einer einzigen Gattung Cobitis) unterscheiden sich von- einander bedeutend, was die Widerstandsfähigkeit gegenüber Sauer- stoffmangel betrifft. In der Tabelle geben wir bei den drei Fischen die Zeitintervalle an, welche erforderlich sind, um Sauerstoffmangel- paralyse (nach der Einschließung der Tiere im gut ausgekochten Wasser) zu erzielen, sowie die Durchmesser ihrer Blutkörperchen. Bei diesen ganz nahe verwandten Fischen hat derjenige, welcher zum Sauerstoffmangel am widerstandsfähigsten ist, also den kleinsten relativen Sauerstoffbedarf hat, die größten Blutkörperchen, dagegen der zum Sauerstoffmangel empfindlichste die kleinsten. Denn mit De 238 Babäk, Über die Oberflächenentwickelung bei Organismen etc. der Volumverkleinerung wächst die relative Oberfläche, welche hier Atmungsfunktion verrichtet. Nemachilus Misgurnus Cobitis Die Zeit, welche zur Lähmung im Sauer- 1 Std. 30 Min. 2 Std. 30 Min. 3 Std. 30 Min. stoffmangel nötig ist Der große 13,0 15 19,2 und der kleine 8,6 12 12 Durchmesser der Ery- throcyten in u Von diesem Standpunkte lässt sich wahrscheinlich auch die relativ größere Volumentwickelung der Erythrocyten bei den Säuge- tierembryonen begreiflich machen; der 9 mm menschliche Fötus z. B. hat Erythrocyten von 9—16 u (Paget) gegen 7,7 beim Er- wachsenen (dieser Unterschied fällt noch größer aus, da die embryo- nalen Blutkörperchen kugelig sind, also ganz kleine relative Ober- fläche aufweisen), ähnlich der 8 mm. Fötus des Schafes 11—14,6 u (gegenüber 5 beim erwachsenen Tiere); außerdem ist ihre Anzahl in der Volumeinheit des Blutes weit kleiner. Nun ist der Fötus gleichsam im Wärmekasten eingeschlossen, so dass er die Wärme- verluste durch intensive Zersetzungsprozesse nicht zu decken braucht. - Endlich lässt sich die nämliche Beziehung auch bei der Ver- gleichung verschiedener Säugerarten zeigen, worüber man bisher gezweifelt hat. Man darf allerdings nicht die zu vergleichen- den ‘Tiere nach der Größe der Erythrocyten aneinanderreihen (s. oben!), wie es regelmäßig geschieht, denn dann findet man, dass gar keine Beziehung der Erythrocytengröße zur Körper- größe besteht, da z. B. das Meerschweinchen weit größere Erythro- cyten als das Pferd, die Ziege weit kleinere als das Pferd u. s. w. besitzt. Ich habe verwandte Tiere ihrer Körpergröße nach ın die Reihe zusammengestellt, und da kam die interessante Beziehung zur Erythrocytengröße zum Vorschein: das kleinste Huftier, Moschus javanicus, hat die kleinsten Blutkörperchen von 2,5 u, die Ziege 4,1, das Schaf 5, das Rınd und das Pferd 5,6 (und aus der verwandten Ordnung der Elefant 9,4 «). Mit der sinkenden Körper- größe wächst die relative Oberfläche an und dement- sprechend werden die Wärmeverluste größer, also der Stoffwechsel intensiver (ein 3 kg wiegender Hund weist auf 1 kg des Gewichtes eine Hautoberfläche von 720 cm? und die Wärmeabgabe von 88 großen Kolorien pro Tag, dagegen ein Hund von 30 kg nur 340 cm? und 36 Kolorien, nach Rubner); mit dem sinkenden Körpergewicht wird also relative Vergröße- rung der atmenden Oberfläche erforderlich, was sich durch die kleinen Durchmesser der Erythrocyten bei Moschus, Ziege u. s. w, Kapterew, Experimentaluntersuchungen etc. 239 kundgibt (gleichzeitig steigt ihre Anzahl an, so z. B. wird sie ın 1 mm? Blut bei der Ziege auf 19 Millionen angegeben). — Ebenfalls von dem Standpunkte der Anpassung der Größe der Reaktionsflächen an die jeweiligen Bedürfnisse lassen sich ver- schiedene morphologische Verhältnisse in einem und dem- selben Körper erklären. So weisen z. B. die intensiv tätigen Abschnitte des Nervensystems bei den Wirbeltieren — die graue Substanz — dichte Blutkapillarennetze auf, während zur Deckung der unbedeutenden Vorgänge in der weißen Substanz ganz geringe Blutversorgung genügt; bei großen Nervenzellen wird sogar das Innere derselben durch Kapillaren durchquert; so werden auch z. B, bei den Insekten die Nervenzellen mit dichtem Tracheenkapillaren- geflecht umsponnen u. S. w. (Schluss folgt.) Experimentaluntersuchungen über die Frage vom Einflusse der Dunkelheit auf die Gefühlsorgane der Daphnien. (Vorläufige Mitteilung.) Von Paul Kapterew. (Aus dem zoolog. Institut der Moskauer Universität. Laboratorium des Herrn Prof. N. v. Zograf.) Im Frühling 1908 versuchte ich einige Experimente aus dem (Gebiete der „Experimentalmorphologie“ anzustellen, d. h. ich wollte die Veränderungen feststellen im Organismus einiger Tiere, und zwar niederer Krebse, die unter dem Einfluss der Züchtung unter für sie neuen Bedingungen standen, wie z. B. im Wasser von ver- schiedener chemischer Beschaffenheit, bei mangelnder Nahrung, fehlendem Sauerstoff, Mangel an Licht u. s. w. Meine größte Aufmerksamkeit wandte ich der letzteren Art von Experimenten zu — der Erziehung von Tieren im Dunkeln, da diese mir am interessantesten erschienen und am dankbarsten; wenn man die Möglichkeit einer „direkten Anpassung“ und der Reduktion eines Organs infolge eines Nichtgebrauches zugibt, so müsste hier sehr anschaulich der Zusammenhang zwischen dem Mangel an Licht und der Reduktion der Gesichtsorgane einerseits und der Hypertrophie anderer Gefühlsorgane andererseits zutage treten. Es ıst richtig, dass hier sofort die Frage. auftaucht, ob es in der Tat möglich ist, die Veränderungen an den Empfindungsorganen der Tiere in relativ kurzem Zeitraume wahrzunehmen, oder ob das Experiment ein vergebliches ist. In gewisser Beziehung geben hierauf die auf diesem Gebiete einzig dastehenden Versuche von Armand Vire über Krebse aus den Gattungen Gammarus und 240 Kapterew, Experimentaluntersuchungen etc. Asellus!) eine Antwort. Man muss bemerken, dass bei Gammarus eine entsprechende blinde Form vorkommt ın der Höhlenfauna, — die Gattung Niphargus, und dem Asellus aquaticus entspricht ebenso der blinde Asellus cavaticus und Vire’s Aufgabe als Biospeleologen bestand eigentlich darin, auf experimentellem Wege die Entstehung der unterirdischen Fauna aus der oberirdischen festzustellen und im gegebenen Falle, wenn möglich, den Übergang von Gammarus zu Niphargus und von Asellus aquatieus zu A. cavaticus. In einiger Beziehung gelang der Versuch — in anderer nicht. Es gelang nämlich Vir& glänzend nachzuweisen, dass 1. die Versuchstiere nach 15—20 Monaten eines Aufenthalts im Dunkeln ihre gewöhn- liche Färbung verlieren und farblos werden, bei Licht sich aber wieder färben; 2. dass die Riechorgane und die Fühlborsten bei A. aquaticus nach 15monatlichem Aufenthalt im Dunkeln um drei- mal länger wurden; in etwas geringerem Maße gelang es, dieses auch bei anderen Versuchstieren zu beobachten. Das Wichtigste bei diesen Versuchen ist der Umstand, dass so bedeutende Verände- rungen ın der Färbung und an den Empfindungsorganen an einer Generation der Tiere sich vollzogen, was auf eine erstaunliche Schmiegsamkeit und Anpassungsfähigkeit des Organismus an plötz- lich veränderte Bedingungen hinweist. Vire’s Experimente hinsichtlich der zweiten Kategorie von Veränderungen, der Atrophie der Gesichtsorgane, ergaben keine merkbaren Resultate: im besten Falle gelang es vielleicht, ein schwaches Bleicherwerden des Augenpigments und ein kaum merk- liches Auseinandertreten der Elemente der Hornhaut wahrzunehmen und nicht mehr, und das nach einer 20 Monate dauernden Züchtung der Versuchstiere im Dunkeln?). Dafür hat aber Vir6 bis zu einem gewissen Grade das Bild dieses Prozesses rekonstruiert, nach den Übergangsformen, die ihm bei seinen biospeleologischen Untersuchungen begegneten. So sind z. B. bei A. aquatieus aus den unterirdischen Partien der Seine die Augen zuweilen normal, zuweilen aber verkleinert im Umfange und mit einem rötlichen Anfluge, wie bei Albinos. Bei Asellus aus den natürlichen Quellen der Pariser Katakomben, wo sich Vıir&’s Labora- torıum befindet, fehlen die Augen entweder ganz, oder an ihrer Stelle befinden sich 4—5 runde, rötliche Pigmentflecken; bei dem typischen Höhlenbewohner aber, bei A. cavaticus, fehlen die Augen ganz. Eine ähnliche Reihe von Formen mit Übergangsstadien der 1) Arm. Vire, La faune souterraine de France, Paris 1900. 2) In seiner letzten Arbeit, die dieser Versuche erwähnt, fügt Vir& hinzu, dass nach einer eingehenden mikroskopischen Untersuchung der Augen solcher Tiere sich keine merkbaren Veränderungen, weder in den Elementen der Retina, noch im Nervensystem feststellen ließen. Comptes Rendusde1’Acad. des Sciences, 1904, pp. 706— 708. Kapterew, Experimentaluntersuchungen etc. 341 Augendegradation kann man auch für einige andere Höhlenformen feststellen. Somit sehen wir, dass langdauernde Versuche in den besten Fällen nur einen teilweisen Erfolg gaben, den Hauptprozess aber, die Reduktion des Gesichtsorgans, gelang es nicht hervorzurufen’), folglich war kaum darauf zu rechnen, ihn mit den primitiven Mitteln zu erreichen, die mir zu Gebote standen. Aber bei Vire’s Ver- suchen sah ich die Hauptursache des Misserfolgs darin, dass 1. er zu hochorganisierte Tiere benutzte; 2. dass er so tiefeingreifende Veränderungen, wie eine Reduktion des Auges, bei einer Gene- ration von Tieren erreichen wollte. Um dieses zu vermeiden, nahm ich als Objekt meiner Versuche nicht Gammarus und Asellus, sondern die gewöhnlichen Bewohner unserer Teiche und Pfützen — Daph- nien und Öyelopen und diesen Umstand sehe ich als die Haupt- ursache an, dass es mir gelang, mit eigenen Augen zu beobachten, wenn auch nicht bis zu Ende, den Prozess der Reduktion des Auges. Die Daphnien erscheinen entschieden als das dankbarste Objekt für diesen Versuch. Bei einer relativ einfachen Organi- sation vermehren sie sich parthenogenetisch sehr schnell (die Gene- rationen können sich wöchentlich ablösen) und außerdem machen ihr großes, schwarzes Auge und die Durchsichtigkeit ihres Körpers alle Beobachtungen sehr einfach und leicht. Es ist richtig, dass man Daphnien bisher in unterirdischen Gewässern nicht gefunden hat und blinde Parallelformen derselben fehlen, so dass ıch mit meinen Versuchen keinen natürlichen Vorgang wiederholte, sondern etwas ganz Neues vornahm, aber ich führte die Versuche aus, nicht, um die Entstehung von Höhlenformen klarzustellen, wie es Vıire tat, sondern zu rein theoretischen Zwecken. An meinen Versuch ging ich mit den allerprimitivsten Werk- zeugen und Vorrichtungen: zum Zwecke der Erreichung vollster Dunkelheit wählte ich in einem kleinen halbdunklen Zimmer ein Regal, bedeckte es mit einer dieken Schicht Zeitungspapier und stellte darauf die Gefäße mit den Daphnien, welch erstere einige- mal mit schwarzem Kattun umwickelt waren und bedeckte sie mit umgekehrten Tontöpfen, wie sie gewöhnlich für Zimmerpflanzen benutzt werden. Jeder Tontopf wurde von außen nochmals, an der Berührungslinie mit dem Papier mit einer mehrmals zusammen- gelegten wollenen Decke umwunden. Bei so primitiven Hilfsmitteln war der Versuch natürlich be- deutend erschwert und verlangsamt durch den Umstand, dass ich 3) Im oben angeführten Referat von A. Vire wird erwähnt, u. a. auch vom Aal, bei dem nach 5 Jahren Aufenthalt im Dunkeln das Auge um das Doppelte an Umfang zunahm, während die Sehteile des Nervensystems atrophierten. Da Vire nichts Genaueres hierüber sagt, kann man nicht näher auf die Beurteilung des Mitgeteilten eingehen. XXX. 16 949 Kapterew, Experimentaluntersuchungen etc. oft die Daphnien nachsehen, das Wasser wechseln oder es durch- lüften musste, da sie sonst krank wurden und starben. Im Durch- schnitt sah ich einmal in 10 Tagen nach. Ich muss bemerken, dass der Wasserwechsel als eines der gefährlichsten Experimente erscheint, dem man die Versuchsdaphnien unterziehen musste, Das Wasser entnahm ich stets ein und demselben Teich und dennoch starben die ım alten Wasser sich eingewöhnt habenden Daphnien stets nach 1—2 Tagen nach ihrer Überführung in frisches Wasser, deshalb musste man erst vorsichtig frisches Wasser zum alten zufüllen und dann erst sie gänzlich in frisches überführen. Gewöhnlich hörten die lange in ungewechseltem Wasser ge- haltenen Daphnien auf sich zu vermehren, wurden weniger beweg- lich und starben oft ab, und wenn sie leben blieben, erzeugten sie Nachkommenschaft nur bei Wasserwechsel, was denn auch etwa einmal im Monat (ausgenommen den Winter) geschehen musste, wobei dennoch der Prozentsatz an Toten sehr groß war. Das Wasser gab ich ihnen unfiltriet, seihte es aber zweimal durch Zug von mittlerer Dichtigkeit, welches Daphnien, Cyclopen u. s. w. zurück- halten konnte, aber einen großen Teil Mikroorganismen durchließ, von denen sich die Daphnien offenbar ernährten. Am 23. Mai 1908 brachte ich einige Exemplare Daphnia pulex aus einem Teiche, den ich mit dem Buchstaben A bezeichnen will, in solche Bedingungen. Nach einem Monat, am 26. Juni, setzte ich ein Exemplar Daphnia pulex davon in ein besonderes Gefäß, wobei ich an ıhm keinerlei besondere Veränderungen bemerkte. Freilich hatte es seine rotbraune Färbung vollkommen verloren und war farblos geworden, aber es fällt schwer, diese Erscheinung in direkten Zusammenhang mit dem Lichtmangel zu bringen, da D. pulex überhaupt leicht seine Farbe verliert infolge von allerlei ungünstigen äußeren Umständen. Das Auge dieser Daphnie erschien normal. Wieder nach einem Monat, am 25. Juli, fand ich in diesem Gefäße 4 Exemplare, 1 älteres und 3 junge; beim alten Exemplar bemerkte ich zuerst den interessanten Beginn zur Reduktion des Auges: aus- einander tretende Partikelchen des schwarzen Augenpigments, das an den Rändern gleichsam etwas zerrissen erschien, und von ihm trennten sich unregelmäßig Klümpchen schwarzen Pigments, die sich über den Kopf, teilweise über den Rumpf verteilten u. s. w., und ich sah sie z. B. in den Muskeln der Herzgegend. Einige der Pıgmentklümpchen, die sich in die Region des Nebenauges begeben hatten, erschienen als eine Art überzählige Pigmentflecke. Bei einer der drei jüngeren Daphnien bemerkte ich eine andere interessante Erscheinung: während das große (paarige) Auge der- selben mehr oder weniger normal erschien und von ihm sich keinerlei Pıgmentklümpchen abtrennten, war das kleine Nebenauge (Pigment- fleck) deutlich in zwei Teile geteilt, die von annähernd gleicher Kapterew, Experimentaluntersuchungen etc. 343 Größe waren und in einer horizontalen Linie lagen. In diesem Zustande konnte ich dieses Exemplar über einen Monat beobachten, wonach es starb. Die beiden anderen Daphnien in diesem Gefäße erschienen normal. Die erste Daphnie mit partieller Depigmentation des Auges setzte ich am 2. August in ein besonderes Gefäß und gegen den 10. August lieferte sie dort eine recht zahlreiche Nachkommenschatft. Bald starb dieses interessante Exemplar, die erste Generation, die von ihm herstammte, erreichte die Geschlechtsreife, es traten Männ- chen auf und begann die geschlechtliche Periode. Diese dauerte ziemlich lange und während derselben sah ich weder bei den Männ- chen noch bei den Weibchen irgendwelche merkbare Veränderungen. Die Zahl der Daphnien nahm allmählich ab, die Männchen starben aus und gegen Ende November bis Mitte Dezember überstieg ihre Zahl nicht 8-9, aber auf dem Boden des Gefäßes lag eine Menge Ephippien, die ich einstweilen nicht anrührte. Das äußere Aus- sehen dieser Daphnien bot nichts besonderes, obwohl am 23. De- zember bei dem einen Exemplar von mir ein schwacher Anfang des Prozesses der Augendepigmentation bemerkt wurde, der aber nicht weiter fortschritt und im ersten Anfangsstadium stehen blieb. Auch späterhin konnte ich bei den Exemplaren dieser Generation zuweilen 2—3 Pigmentklümpchen beobachten, die sich vom Auge abtrennten, doch erreichte dieser Prozess bei weitem nicht den Um- fang, wie der für den Julifall beschriebene. Im allgemeinen aber war das Auge dieser Daphnien verändert — es stellte nicht mehr jenes kompakte und bewegliche Organ dar, das für normale Tiere charakteristisch ist; es hatte zuweilen eine unregelmäßige Form angenommen, war fast unbeweglich, die Linsen lagen unordentlich und erschienen zuweilen wie geplatzt, am interessantesten aber waren die Abänderungen des Nebenauges. Fast bei allen Exem- plaren varlierte seine Gestalt; meistens war es von vorn nach hinten in die Länge gezogen (in der Horizontallinie), wobei zuweilen gleich- sam eine sich vorbereitende Teilung in 2 und sogar 3 Teile ange- deutet war. Bald darauf, im Anfang Januar 1909, bemerkte ich bei einigen von diesen Daphnien in den Ovarien reifende Eier, die aber nicht voll zur Reife kamen. Am 19. Januar fand ich ein Exemplar, bei dem der Pigmentteil des Nebenauges voll- kommen geschwunden war (die Nerven aber waren natürlich an der Stelle geblieben), und diese ungewöhnliche Daphnie, die ihr Genusmerkmal eingebüßt hatte (z. B. nach dem System von Richard), sahen in lebendem Zustande die Professoren N. J. Zograff, G.A. Koshewnikow und Privatdozent N. W. Bogojawlenskij. Am 16. Februar bemerkte ich bei einer anderen Daphnie den Pigmentfleck deutlich in zwei Teile geteilt, ein kleineres vorderes und ein etwas größeres hinteres. Am 14. März lebten nur noch drei 16% 944 Kapterew, Experimentaluntersuchungen ete. Exemplare, darunter auch das mit dem geteilten Nebenauge (s. die Abbildung 1). Das Rostrum und die Antennen des ersten Paares hatten mit den Tastborsten bei diesen Daphnien eine recht unge- wöhnliche Form angenommen: das Rostrum war sehr verkürzt und stumpf geworden und die Antennen des ersten Paares mit den an ihnen sitzenden Tastborsten waren stark nach vorn vorgetreten. Am 4. April fand ich das letzte Exemplar von dieser partheno- genetischen Serie tot, das wahrscheinlich in der Hälfte August ge- boren war. Da ich dieses voraussah, hatte ich schon Ende Januar aufs Geratewohl mehr als 20 Ephippien mit den in ihnen eingeschlossenen Wintereiern vom Boden des Gefäßes genommen und sie in einem Glase mit Wasser ın den Frost gebracht, indem ich es in einen Kasten mit Schnee stellte. Das Wasser gefror und in diesem Zu- stande hielt ich sie 1!/, Monate, wonach ich sie ım Eisstück ins Zimmer überführte, in das Gefäß mit dem Wasser, ın dem früher die Daphnien gelebt hatten, und da erschienen zwischen dem 16. und 21. März genau 20 Stück junger Daphnien, die ich am 21. März wieder ins Dunkel setzte, einstweilen im alten Wasser. Da wuchsen sie heran und bei ihrer Besichtigung am 23. April fand ich ein Exemplar mit vollkommen deutlich in zwei Teile geteiltem Neben- auge. Somit war das schon der dritte Fall. Ich muss bemerken, dass ich die Wintereier vom Boden des Gefäßes aufs Geratewohl entnahm und es konnten dort zu ver- schiedener Zeit gelegte sich befinden, beginnend mit dem Ende des August und bis zum Anfang Dezember, so dass von der Gesamt- zahl der 10 Monate (vom Mai 1908 bis März 1909), die vom Be- ginne des Versuches verflossen waren bis zum Erscheinen der jungen Daphnien aus den Wintereiern, 3!/,—7 Monate ausgeschlossen werden müssen, während welcher die Wintereier ruhig im Wasser lagen. Die neue Daphniengeneration vermehrte sich, aber ich konnte im Bau ihrer Augen keinerlei besondere Veränderungen wahr- nehmen. Am 27. Juni fand ich ein Exemplar, bei dem vom Auge sich zwei ziemlich große Piıgmentklümpchen in der Richtung zum Nebenauge hin abtrennten. Bei den übrigen hatten die Augen einen großen Umfang, eine etwas unregelmäßige Form mit unordentlich verteilten Linsen. Danach trat gleichsam plötzlich eine Wendung im Gange des Prozesses ein, es begannen plötzlich scharfe Veränderungen und dabei gleichzeitig an einer bedeutenden Individuenzahl. Bei der Durchsicht am 5. Juli, d. h. nach 8 Tagen, war ich erstaunt, als ich bei dem oben beschriebenen Exemplar schon ein scharfes Bild der Augendepigmentation bemerkte und in dem anderen Gefäß (alle Daphnien lebten in zwei Gefäßen) noch drei Exemplare, bei denen Kapterew, Experimentaluntersuchungen ete. E die Augen ein erstaunliches Reduktionsbild darboten. So z. B. hatte das eine von ihnen mitten im Auge ein Lumen. Verände- rungen am Nebenauge konnte ich nicht wahrnehmen. Im ganzen Fig. 1. Fig. 2. hatte ich an diesem Tage 10 erwachsene Daphnien und von ihnen hatten vier, d. h. 40°/,, stark veränderte Augen. Zum 12. Juli war von diesen vier noch eine am Leben, die isoliert, am 13. Juli 5—6 Junge zur Welt brachte. Am 23. Juli fand ich schon unter diesen 246 Kapterew, Experimentaluntersuchungen etc. Jungen zwei Exemplare, bei denen die Augen stärker verändert waren (Abbild. 2) als bei der Mutter. Sie stellten einen ziemlich unordentlichen Haufen von Linsen mit einem Rest von gleichsam zerrissenem Pigmentteil des Auges dar. Was aber am erstaun- lichsten ıst — diese Exemplare waren nur 10 Tage alt. In ge- rıngerem Grade wurde die Depigmentation des Auges bei einer bedeutenden Anzahl von Individuen beobachtet. Am 31. Juli stellte ich eine Inventur aller Exemplare, außer den 1—2 Tage alten, auf, die in diesem Gefäße von der einen oben beschriebenen Mutter zur Welt gebracht waren. Es fanden sich 15 Exemplare. Von ıhnen waren: 3 Daphnien mit stark depigmentiertem Auge von der ersten Brut (13.—14. Juli); 3 n mit nur leicht depigmentiertem Auge von der- selben Brut; 4 „ „, sehr jung (4—5 Tage alt) mit bedeutend depigmen- tiertem Auge; von der zweiten Brut; 2 . mit leicht depigmentiertem Auge, aus derselben Brut; 3 R ohne Spur von Depigmentation, aus derselben Brut. Äußerst interessant ist es, dass hier fast alle (außer drei sehr jungen) Daphnien, die von einer Mutter abstammten, in geringerem oder größerem Grade depigmentierte Augen besaßen, darunter sehr junge, bei weitem nicht erwachsene Exemplare. In zwei anderen Gefäßen fand ich am selben Tage zwei junge Daphnien mit stark depigmentiertem Auge, zwei ältere mit leichten Anzeichen von Depigmentation und zwei normale Exemplare. Nachdem ıch das Wasser erneuert hatte, beschloss ich, meine Daphnien 15 Tage lang nicht ans Lickt zu bringen, damit die weiteren Veränderungen am Auge unbehindert vor sich gehen konnten. Am 7. August sah ich auf einige Sekunden zu ihnen hinein — alle waren am Leben und offenbar gesund, aber als ich am 18. August sie ans Licht brachte, um sie zu besehen, erwies es sich, dass von der ganzen Serie (mit den jungen Exemplaren waren es etwa 30 Stück) nur vier nachgeblieben waren, darunter zwei er- wachsene. Bei der einen von ihnen beobachtete ich den äußersten Grad von Zerfall des Auges in dieser Serie (s. Fig. 3). Ungeachtet der täglichen Durchlüftung, oftes Wechseln des Wassers u. s. w. waren diese vier Exemplare offensichtlich dem Tode geweiht und es starben zuerst die drei mit mehr oder weniger normalem Auge, und am 27. August war ich genötigt, schon das letzte sterbende Exemplar mit dem sehr stark depigmentierten Auge in Spiritus zu legen. So endete denn offenbar durch zufällige Umstände mein Ver- such nach 15 Monaten und 4 Tagen nach seinem Beginne. Viele- Kapterew, Experimentaluntersuchungen etc. 947 mal hing er an einem Haar und nur dank dem glücklichen Zu- sammentreffen gewisser Umstände wurde er nicht früher unterbrochen, als ich noch keine sichtbaren Resultate erreicht hatte. Bei weitem nicht immer kann man die Daphnien zwingen, unter für sie so ungewöhnlichen Umständen zu leben, wie völlige Dunkelheit, un- zweifelhaft herabgesetzte Sauerstoffmenge, vielleicht auch Mangel an gewohnter Nahrung u. s. w., und oft drohte ihnen völliges Aus- sterben. Viele neue Serien, die ich 1908 und 1909 vornahm, starben zuweilen schon nach einigen Tagen vollständig ab, zuweilen auch nach einem Monat u. s. w. Mehr Erfolg hatte eine Serie, die ich am 12. Juni aufstellte, wo ich eine Daphnie (D. pulex) ins Dunkel setzte, die ich aus einer austrocknenden Pfütze genommen hatte, und deren Nachkommenschaft sich eingewöhnte. Nachdem ich das Muttertier in Spiritus gelegt, rührte ich die andern genau einen Monat lang nicht an und holte das Gefäß erst am 13. Juli ans Licht und musterte seine Bewohner unter dem Mikroskop. Zu meinem Erstaunen fand ich neben sieben erwachsenen normalen Exemplaren zwei, bei denen in ziemlich bedeutendem Grade der Depigmentationsprozess am Auge begonnen hatte, darunter ein sehr junges, noch nicht erwachsenes Exemplar (s. Fig. 4—5). Gegen Anfang August starben alle diese Exemplare, nachdem sie eine Nachkommenschaft von 15—16 Stück hinterlassen hatten, die gar keine Veränderungen aufwies, außer zweien, bei denen man höchstens den Beginn eines Depigmentationsprozesses des Auges wahrnehmen konnte. Diese Serie erlitt zur selben Zeit wie die erste, d.h. etwa um den 18. August, dasselbe traurige Schicksal — am Leben blieben nur sechs Exemplare, darunter die zwei oben erwähnten mit leichter Depigmentation des Auges. Gegen Anfang September starb diese ganze Serie ab. Endlich am 24. August 1909 begann ich eine dritte Versuchs- serie mit Daphnia pulex. Ich setzte eine Daphnie ins Dunkel aus dem Teiche B (der sich bedeutend von dem Teiche A unterschied, dem die Stammutter der ersten Serie entnommen wurde), und am 6. September fand ich, als ich nachsah, ein normales Exemplar (das Muttertier), mit kaum bemerkbaren sehr winzigen schwarzen Körnchen neben dem Ganglion opticum, und außerdem etwa 15 Männ- chen, bei denen sechs an ihren Augen das Bild einer sehr starken Depigmentation aufwiesen, indem das Auge als ein unregelmäßiges Aggregat von Linsen und Pigmentklümpchen erschien, die teilweise auseinandergetreten waren, sogar auf den Körper hin. Eine ge- ringe Menge der letzteren war in der Partie um das Herz sichtbar und neben der Schalenspitze (Abbild. 6). Diese Männchen waren also höchstens 12 Tage alt. Bei der Durchsicht am 14. September bemerkte ich bei noch einigen Männ- 248 Kapterew, Experimentaluntersuchungen etc. chen den Beginn des Depigmentationsprozesses. Leider war diese interessante Serie dem Untergange geweiht, da das Muttertier ge- storben und nur Männchen, nicht ein einziges Weibchen nachblieb. Außer mit der Art Daphnia pulex versuchte ich 1908 auch mit D. longispina zu experimentieren, doch wollten diese absolut nicht im Dunkeln leben und starben regelmäßig ab. Am 12. Juli 1909 setzte ich ein Exemplar D. longispina aus dem Teiche B ins Dunkle und diese lieferte dort eine ganze Serie. Nach 12 Tagen bemerkte ich bei einem der Stücke die Anzeichen einer stark aus- Fig. 6. Fig. 7. geprägten Depigmentation des Auges, wobei Pigmentklümpchen buchstäblich über den ganzen Körper verstreut ge- funden wurden (Abbild. 7). Am 31. Juli bemerkte ıch den Beginn dieses Prozesses bei einem anderen Exemplare, aber diese Veränderungen hatten offenbar keinen dauernden Charakter, da beı den Nach- kommen dieser Daphnien ich keine Ver- änderungen wahrnehmen konnte bis zum 27. August, wo ich sie zuerst wieder bei zwei Exemplaren fand, aber nur in sehr schwachem Grade. Beim ersten Exemplar mit depigmentiertem Auge verlor sich zu dieser Zeit dıe Pigmentpartie des Nebenauges — das war also der zweite derartige Fall. Endlich will ich einige Worte über meine Versuche an Cyelops sagen. Am 7. April 1908 setzte ich 5—6 Cyclops ins Dunkle, die eine gewisse Zahl Junge lieferten, doch hörte ıhre Vermehrung bald auf, da ich ıhnen lange Zeit kein frisches Wasser gab. Meine weiteren Versuche mit den Daphnien zogen meine Aufmerksamkeit von den Cyclopen ab und sie lebten in ein und demselben Wasser vom Juli 1908 bis zum Mai 1909, wo ich einen Wasserwechsel vornahm, was den Tod aller in wenigen Tagen zur Folge hatte, obwohl die Cyelopen in jeder Beziehung leichter als Daphnien die Veränderungen äußerer Verhältnisse ertragen und überhaupt zäher Kapterew, Experimentaluntersuchungen etc. I49 sind. Dagegen aber bieten sie ein viel weniger geeignetes Objekt zur Beobachtung im lebenden Zustande, als die Daphnien, und schon die geringe Größe ihres Auges lässt geringere Veränderungen schwer erkennen. Ferner vermehren sich die Oyclopen stets auf geschlechtlichem Wege, viel langsamer als die Daphnien und so ist hier kein so schneller Generationswechsel möglich wie bei letzteren. Das einzige, was mir hier zu beobachten gelang, war die Ver- änderung der Augenfarbe, sie ging fast bei allen Uyclopen vom Schwarzen ins Rote von verschiedener Abstufung der Nuancen über. Im Juni 1909 begann ich eine zweite Versuchsserie an Cyclopen und zum 20. August fand ich eine starke Veränderung der Augenfarbe (in diesem Falle wechselte ich regelmäßig das Wasser und die Vermehrung ging normal vor sich). Diese varlierte bei verschiedenen Exemplaren (unabhängig vom Alter) von dunkelrot bis gelbrosa, wobei ich letztere Erscheinung auch bei sehr alten Exemplaren beobachtete. Interessant ist es, dass unter normalen Ver- hältnissen bei den Nauplius der Cyclopen und bei jungen Exemplaren die Augen anfangs grellrot sind, dann dunkler werden und bei er- wachsenen Tieren gewöhnlich schwarz sind, so dass die Züchtung im Dunkeln hier gleichsam eine Rückwärtsbewegung des Prozesses hervorrief. Es ist wahr, dass ich es nicht wagen möchte, die be- schriebenen Veränderungen hier in direkten Zusammenhang mit dem Lichtmangel zu bringen, da ich mich nicht mit der Züchtung von Üyelopen unter verschiedenen veränderten Bedingungen be- schäftigte, wie ich es in bezug auf die Daphnien tat!). Somit beobachtete ich an vielen Exemplaren zweier Arten von Daphnien Veränderungen unter dem Einflusse der Züchtung in voll- ständiger Dunkelheit und diese Veränderungen gingen gewöhnlich in allen Fällen nach: einem allgememen Plane: das Auge verlor seine gewöhnliche, mehr oder weniger regelmäßige Form, erschien an den Rändern gleichsam wie zerrissen, danach lösten sich von ihm in geringerer oder größerer Menge kleine Pigmentklümpchen, die dann erst über den Kopf, später auch über andere Teile des Körpers sich verteilten. Ich sah sie auch in den Muskeln (besonders in der Umgebung des Herzens), neben dem Darm und vor allen Dingen 4) Diese Mitteilung war schon druckfertig, als es mir gelang, alle Stadien des Zerfalles und der Depigmentation des Nebenauges bei einer Spezies von Uhydorus zu beobachten. Die Uhydorus lebten bei mir ungefähr 3 Monate in einem Gefäße, wo sie sich massenhaft vermehrten. In den letzten Tagen vom September setzte ich sie ins Dunkle, und nach 20—25 Tagen war das Nebenauge des meisten Teils der Tiere ganz geändert. Das schwarze Pigment des Nebenauges war in verschiedene Mengen Pigmentklümpchen zerfallen, welche in einigen Fällen in alle Körperteile wanderten. In diesen Fällen verschwand der pigmentierte Teil des unpaaren Auges gänzlich, oder es blieben an seinem Platz fast annehmbare Spuren von Pigment- körnern. Das paarige Auge zeigt noch keine wahrnehmbare Änderungen. 250 Kapterew, Experimentaluntersuchungen etc. in der Epithelialschicht unter der Chitindecke des Körpers dieser Tiere. Worin der Mechanismus des Auseinandertretens der Pigment- körnchen eigentlich besteht, ob wir hier ein Bild der Phagozytose oder sonst eine kompliziertere Erscheinung vor uns haben, ist einst- weilen unmöglich zu entscheiden und das bleibt weiteren Unter- suchungen vorbehalten. Ich will hinzufügen, dass die Körnchen schwarzen Pigments sich nur im Körper derjenigen Daphnien finden, deren Auge sich auflöst, d. h. dass dieses Pigment dem Auge ent- stammt und keine Neubildung darstellt. Die Depigmentation des Auges erscheint offenbar als eines der wichtigsten Stadien der Reduktion des Auges und die hier statt- habenden Erscheinungen beschränken sich bei weitem nicht bloß auf Teilung und Wanderung des schwarzen Pıgments; wir sehen, dass das Auge hierbei zu einer formlosen Masse wird von Linsen, die mit Pigmentkörnchen gemischt sind; die normalen Verhältnisse der wichtigsten Elemente des Daphnienauges sind total zerstört, der Gesichtsapparat ıst in Teile zerfallen, aber die Bruchstücke dieses Apparates entfernen sich ziemlich langsam von ihrem ur- sprünglichen Platz; indem sie sich über den ganzen Körper ver- teilen, bleiben die Pigmentkörnchen ziemlich lange an den neuen Stellen stehen, zuweilen bis zu einem Monat und verschwinden dann allmählich durch Aufsaugung. Ungeachtet der so erfolgenden Ver- minderung des schwarzen Augenpigments erscheint sein nach- bleibender Teil ziemlich groß dem Umfange nach, oft sogar größer als das normale Auge; bei aufmerksamer Betrachtung aber unter stärkerer Vergrößerung erweist es sich größtenteils nicht gleichartig und kompakt, wie bei normalen Exemplaren, sondern aus vielen individualisierten runden oder länglichen Klümpchen Pigments von verschiedener Größe bestehend, die zuweilen kettenartig ver- bunden sind u. s. w. Diese Klümpchen bringen aufeinander liegend bei oberflächlicher Betrachtung den Eindruck einer gleichförmigen Masse hervor. Sehr interessant ist der Umstand, dass der eigentliche Prozess des Zerfalles beim Auge sehr rasch vor sich geht, zuweilen ım Laufe einiger Tage. Offenbar wird dieser Prozess im Verborgenen vorbereitet und entwickelt sich dann plötzlich mit voller Kraft. Ich will hier nur an die Plötzlichkeit des Eintritts der Verände- rungen bei den Daphnien aus der ersten Serie, nach vielen Monaten fast resultatloser Züchtung ım Dunkeln erinnern. Die Anfangs- stadien dieses Prozesses kann man recht oft sehen, die mittleren Stadien selten. Gewöhnlich genügen einige Tage, dass das bis dahın dem Anschein nach kompakte und mehr oder weniger normale Auge, sich in eine unordentliche Ansammlung von Trümmern ver- wandelt. Natürlich kann man in der Schnelligkeit dieses Prozesses sehr starke individuelle Schwankungen beobachten und bei einigen Kapterew, Experimentaluntersuchungen etc. 251 Exemplaren gehen die Veränderungen langsam, bei anderen schnell vor sich. Jetzt drängt sich uns die Frage auf, ob die beschriebenen Ver- änderungen in den Gesichtsorganen eben unter der direkten Ein- wirkung des Lichtmangels vor sich gehen oder aber unter dem Einflusse irgendwelcher anderer, uns vielleicht unbekannter, aber mit dem Dunkel verbundener Faktoren? Unter natürlichen Be- dingungen habe unbedingt weder ich und sicher auch niemand anders jemals lebendiges Daphnienexemplar mit den beschriebenen Veränderungen am Auge und mit auseinandertretendem Pigment auf dem Körper gefunden, obwohl ich bei meinen systematischen Unter- suchungen an den Daphnien unter dem Mikroskop viele tausende lebende Exemplare aus allen möglichen Wasseransammlungen durch- mustert habe. Was aber das Nebenauge anbetrifft, so hatte ich bei natürlichen Verhältnissen Gelegenheit, Exemplare der Arten Daphnia pulex und longispina zu finden, bei denen es in der Form varııerte; es kamen nämlich (am häufigsten) solche Augen von läng- licher Form vor, die von vorn nach hinten ausgezogen waren, drei- eckige, herzförmige u. s. w., aber kein einzigesmal sah ich das Nebenauge in zwei Teile geteilt, oder noch weniger, dass der Pigmentfleck ganz verschwunden wäre. Außer dem allgemeinen Interesse sind die Veränderungen des Nebenauges hier schon des- halb bemerkenswert, weil sie darauf hinweisen, dass viele mit Un- recht dasselbe als ein fast rudımentäres Organ ansehen. Es ist offenbar, dass es ein so oder anders funktionierendes Organ ist, sonst könnte eine Veränderung der äußeren Verhältnisse an ihm keine Veränderungen hervorrufen, und außerdem befinden sich seine Funktionen so oder anders im Zusammenhange eben mit den Licht- bedingungen. Aber das Leben der Daphnien in Freiheit ist etwas ganz anderes als ihre Kultur ın Gefäßen ım Zimmer; hier sind die Lebens- bedingungen für sie wesentlich verändert. Vor allen Dingen ist die Verminderung der Sauerstoffmenge zu beachten, da eine An- reicherung des Wassers mit Sauerstoff in den Gefäßen durch die gewöhnlich vorhandene Schicht von bakterialer Herkunft auf der Oberfläche des Wassers hintangehalten wird. Ebenso wirkt die beständige Bewegungslosigkeit des Wassers, die Eigenschaft der Zimmerluft überhaupt, u. s. w., ungünstig. Ferner spielt die ver- minderte Nahrungsmenge eine Rolle, besonders im Dunkeln, wobei den Algen und allen Geschöpfen, die Chromatophoren besitzen, die Existenz erschwert ist. Zuweilen ernähren sich die Daphnien auch im Dunkeln gut, wenn nur die ihnen als Futter dienenden Mikro- organismen gut gedeihen. Endlich ist bei lange lebenden Exem- plaren (in der ersten Serie lebten bei mir einige Daphnien je ein halbes Jahr), und ebenso auch bei der ganzen Serie eine Umbildung 252 Kapterew, Experimentaluntersuchungen etc. der Organe, somit auch des Auges, auf Grund der Degeneration möglich. Um einige meiner Beobachtungen zu kontrollieren, züchtete ich sehr viele Daphnien von den verschiedensten Arten und Varietäten in besonderen Gefäßen und unter verschiedenen Bedingungen. Ich verfolgte genau alle Veränderungen in ihrer Organisation und be- merkte unter anderem auch, dass Mangel an Sauerstoff und Nahrung vor allen Dingen eine Verminderung der Nachkommenschaft bei den Daphnien zur Folge hat, ja sogar die völlige Einstellung der Eiablage; ferner führt dieses zu einer sehr baldigen Verblassung der Farbe der Daphnien, die sehr oft an völliges Verlieren der Farbe grenzt. Deshalb schreibe ich auch dem Umstande, dass die Daphnien und ein großer Teil der Cyclopen im Dunkeln fast farblos waren, keine besondere Bedeutung zu. Außerdem fanden sich auch andere Veränderungen morphologischen Charakters, aber an den Gesichtsorganen waren entschieden keinerlei Veränderungen wahr- nehmbar, obwohl einige Serien bei mir ohne Unterbrechung fast ein Jahr lebten. Außerdem lebten im Herbst und Winter 1908 in zwei Gefäßen D. pulex aus demselben Teiche A, dem ich das Muttertier der ersten Serie meiner Versuche entnahm; sie lebten bis zum März 1909 bei sehr wenig Wasser, das ich vom August an nicht gewechselt hatte. In diesen Gefäßen waren 5-6 Monat alte Exemplare, ebenso wie die, welche zur selben Zeit im Dunkeln lebten, ein Alter, das für Daphnien unter natürlichen Verhältnissen ganz ungewöhnlich erscheint. Kine Zeitlang wandte ich bei der Durchsicht der Exemplare, die im Dunkeln gehalten wurden, ähnlich dem auf Fig. 1, meine Aufmerksamkeit dem Umstande zu, dass ihr Rostrum sehr klein und stumpf war und die Antennen des ersten Paares mit den Tast- borsten sehr stark nach vorn vorgestreckt waren, und dachte un- willkürlich, dass dieses das Resultat der Anpassung an das Leben im Dunkeln sei, wenn eine solche Stellung der Tastborsten dem Tiere von Nutzen sein konnte. Vielleicht verhält es sich auch so, doch sah ich bei der Durchsicht der Exemplare, die gegen ein halbes Jahr bei Tageslicht gelebt hatten, dass ihr Rostrum und die Antennen des ersten Paares dieselbe Form hatten, wie das Exem- plar, das auf Fig. 1 dargestellt ist. Überhaupt sind die Tastborsten bei Daphnien, die im Dunkeln erzogen wurden, gewöhnlich etwas vergrößert in der Länge, jedoch nicht so sehr, dass diese Erschei- nung besonders in die Augen fiele. Bei den Exemplaren der ersten Serie erreichte diese Verlängerung im Durchschnitt nur ein Viertel ihrer Gesamtlänge. Was aber das Auge dieser Daphnien anbetrifft, die bei Tages- licht erzogen wurden, so erschien es nur insofern verändert, wie das immer bei sehr alten Exemplaren zu bemerken ist, die zuweilen Kapterew, Experimentaluntersuchungen etc. 353 in den Teichen vorkommen, aber es gab keinerlei besondere Ver- änderungen, die auch nur etwas an die im Dunkeln zustande ge- kommenen erinnerten: es hatte weder an Beweglichkeit‘ noch an Kompaktheit verloren. In ihrem Körper fanden sich keine Spuren von Klümpchen schwarzen Pigments. Außerdem kann die Möglichkeit einer anderweitigen Degene- ration leicht durch die Fälle widerlegt werden, wo scharfe Ver- änderungen schon nach 12 Tagen nach dem Hineinsetzen der Stamm- mütter der Serien in die verdunkelten Gefäße auftraten (Daphnia longispina, dritte Serie D. pulex), da noch weder Nahrungsmangel noch Luftmangel sich geltend machen konnte und eine bedeutende Veränderung der Lebensverhältnisse nur in der Beleuchtung statt- gefunden hatte. Bei vielen Versuchen der Züchtung von Daphnien in Wasser von verschiedener chemischer Beschaffenheit (Kalkwasser, alkalisches Wasser, verdünntes Seewasser u. s. w.) beobachtete ich ebenfalls kein einzigesmal irgendwelche besonderen Veränderungen an den Gesichtsorganen, und auf Grund alles dieses bin ich zur Überzeugung gekommen, dass die von mir beschriebenen Erschei- nungen eben nur durch den Mangel an Licht hervorgerufen werden. Jetzt entsteht die Frage: woher kommt diese große Differenz in der Zeitmenge, die erforderlich ist für das Auftreten der Ver- änderungen an den Gesichtsorganen bei den drei Serien von Daphnia pulex und ebenso im Vergleich zur Serie der Art Daphnia longispina? Nach meiner Meinung liegt die Antwort auf diese Frage darin, dass die Stammütter aller drei Serien von Daphnia pulex aus drei ganz verschiedenen Wasserbehältern ent- nommen waren. Alle Wasserbehälter kann man, so scheint mir, auf zwei Typen zurückführen: solche mit konstanten Bedingungen und solche mit wechselnden. Freilich sind Gewässer, die ganz in die erste Rubrik passen dürften, selten, aber viele von ihnen kann man als konstant, wenigstens annähernd, bezeichnen. In der ersten Gewässerkategorie liefern die Daphnien nur geringe Schwankungen der Merkmale ın den Artgrenzen (öfter der Lokalvarietät); ein Exemplar gleicht voll- kommen den anderen, und die Exemplare, die von einem Indı- viduum abstammen, unterscheiden sich fast gar nicht voneinander. In den Gewässern des zweiten Typus aber kommt freilich ein domi- nierender Grundtypus vor, aber neben ihm gibt es eine bedeutende Menge abweichender Formen und die Exemplare aus solchen Ge- wässern liefern zuweilen bedeutende Schwankungen der Merkmale und die Unterart selbst erscheint schwankend, inkonstant, und die Individuen, die von einer Mutter herstammen, unterscheiden sich oft scharf voneinander. 254 Kapterew, Experimentaluntersuchungen etc. 20 Mehr als einmal fand ich und züchtete ich?) Exemplare solcher schwankenden Unterarten, die ein höchst interessantes Material für spezielle Untersuchungen bieten, und sie fügen sich wahrscheinlich leichter dem Einflusse äußerer Verhältnisse als die Arten aus den Gewässern der ersten Kategorie. Zur Zahl der konstanten Unterarten gehören größtenteils die Bewohner der Teiche und der tiefen, nicht austrocknenden Pfützen, überhaupt die der größeren Wasserbehälter. Die schwankenden Unterarten können dagegen überall vorkommen, öfter jedoch in kleinen, austrocknenden Pfützen, wo die Wassertemperatur scharfen Schwankungen unterworfen ist, ebenso die Beleuchtungsstärke, der Sauerstoffgehalt und sogar die chemische Zusammensetzung des Wassers u. s. w. Am häufigsten aber erhält man schwankende Unterarten von den konstanten, wenn diese in neue Verhältnisse, und sollten es beständige sein, gebracht werden, so z. B. Seespezies, die in Flussaltwasser gerieten, Teicharten, die ın Pfützen gelangten, u. s. w., geben schwankende Merkmale, indem sie sich den neuen Verhältnissen anpassen. Konstante Arten, die bei wenig sich ändernden Verhlätnissen leben (natürlich mit Außerachtlassung der Saisonänderungen), erwerben einen bestimmten Typus des Orga- nismus, der den gegebenen Bedingungen entspricht, der sich mit dem Laufe der Zeit befestigt. Um ihn zu einer Änderung zu ver- anlassen, muss man vor allem die von ihm erworbene Konstanz, das Beharrungsvermögen, überwinden. Die schwankenden Arten besitzen diese Konstanz nicht, haben sich nicht zu einer bestimmten Form gefestigt und lassen Schwankungen nach verschiedenen Seiten zu. Die Stammutter der ersten Serie von D. pulex war einem Teiche mit mehr oder weniger konstanten Verhältnissen entnommen worden und diese Art erscheint als einzige und Stammart in diesem Teich (ihre Variationen sind unbedeutend); dementsprechend sehen wir auch, dass viel Zeit erforderlich war, um das Beharrungs- vermögen derart zu überwinden, ihren Widerstand, und als dieses geschah — etwa ganz gegen Ende Juni 1909 — da begannen plötz- lich die charakteristischen und scharf ausgeprägten Veränderungen. Die Stammutter der zweiten Serie entnahm ich schon absicht- lich aus einer kleinen, austrocknenden Pfütze, mit wechselnden Verhältnissen. Und in der Tat, meine Erwartung wurde bestätigt: schon nach einem Monat erhielt ich ein deutliches Bild der Auf- lösung des Augenpigments u. s. w., dennoch aber waren diese Ver- änderungen offenbar weniger tiefgehende als in der ersten Serie, da ihre Intensivität im August bedeutend nachließ und sie über- 5) Das in dieser Hinsicht von mir gesammelte Material ist noch nicht ab- schließend bearbeitet. Kapterew, Experimentaluntersuchungen etc. 255 haupt nicht bis zu dem Maße gediehen wie bei den Exemplaren der ersten Serie. Die Stammutter der dritten Serie endlich kam aus einem anderen Teich, in dem zwei variierende Abänderungen von D. pulex und D. longispina leben und — was am interessantesten erscheint — bei D. pulex erscheint als varıierendes Merkmal u. a. auch das Auge, es variiert nämlich ın seiner Größe, ın der Zahl und An- ordnung der Linsen, es kommen sogar Extreme vor: Exemplare mit anormal großem Auge und geringer Zahl ın das Pigment ge- tauchter Linsen. Diese Art beobachtete ich besonders 2 Jahre lang, züchtete sie vielemal in Gefäßen, untersuchte sie ım lebenden Zu- stande, zu verschiedener Zeit, mehr als tausend Exemplare und fand ohne Ausnahme weder bei den Weibchen noch bei den Männ- chen die geringsten Spuren einer Depigmentation des Auges. Die Männchen der ersten Generation im Dunkeln gaben dieser Serie ein wunderbar scharfes Bild der Veränderung des Auges. (Vielleicht sind die Männchen überhaupt variabler unter dem Ein- flusse äußerer Umstände, was u. a. auch Darwın feststellt und ebensoviele Arbeiten aus der experimentellen Lepidopterologie). D. longispina stammte aus demselben Teiche wie die dritte Serie von D. pulex und äußerte ebenfalls sehr bald (in 12 Tagen) eine Veränderung des Auges, obwohl es möglich ist, dass die Art D. longispina überhaupt für Veränderungen äußerer Umstände empfindlicher ist als D. putlex. Jetzt kommen wir zu der wichtigsten Frage: was ıst die theo- retische Bedeutung der erhaltenen Resultate und welche allgemeinen Schlüsse können auf Grund derselben gezogen werden? Vor unseren Augen liegt die Tatsache einer fundamentalen Veränderung des Auges in Abhängigkeit von der Abwesenheit des Lichtes; wie soll man das erklären? Offenbar kann hier die gewöhnliche Erklärung eines orthodoxen Selektionismus nicht angewandt werden, nach dem solche Veränderungen allmählich, ım Laufe vieler Jahre, nach Dutzenden und Hunderten von Generationen, stattfinden müssten, während hier die Veränderungen fast immer plötzlich, zuweilen im Verlaufe von 2—3 Generationen, die im Dunkeln gelebt hatten, sich einstellten und nicht nach Ablauf vieler Jahre, sondern zu- weilen nach einigen Wochen, sogar Tagen. Außerdem isolierte ich beständig Daphnien in besonderen Gefäßen zu einem Stück, die den Beginn der Merkmale einer eintretenden Depigmentation des Auges aufwiesen, so dass hier von irgendeinem Kampf ums Dasein gar keine Rede sein kann und überhaupt spielte hier die natürliche Auswahl offenbar keine besondere Rolle und die Ver- änderungen gingen ohne deren Beihilfe vor sich. Mir scheint, dass wir hier ein klares, auf experimentellem Wege erlangtes Beispiel des Auftretens des Lamarck’schen Prinzips vor 256 Kapterew, Experimentaluntersuchungen etc. uns haben — die Reduktion eines Organs wegen Nichtgebrauches. Freilich ist dieses Lamarck’sche Prinzip noch wenig entwickelt, un- geachtet seines hohen Wertes; es hängt gleichsam in der Luft, da die dasselbe betonende Schule der Neolamarckisten sich sehr wenig um eine Befestigung auf Grund experimentell erlangter Tatsachen kümmert. Wenn man die Veränderungen ım Daphnienauge, die ın allen vier Serien vor sich gingen, aufmerksam betrachtet, so muss man mit mir zur Überzeugung gelangen, dass die Erscheinung der Depigmentation des Auges in der ersten Serie in der Form, wie sie ım Juli 1909 vor sich ging und die ihr so ähnlichen Erscheinungen in den anderen Serien, ihrem Wesen nach ver- schieden sind: in allen Serien, mit Ausnahme der ersten, tragen sie mehr oder weniger den Charakter von Zufälligkeiten, die nicht vererbt werden, oder nur in sehr geringem Grade, weshalb sie sehr bald auftreten können, großen Umfang erreichen, aber nach diesen Abweichungen kehrt ihre Nachkommenschaft wieder mehr oder weniger auf den normalen Weg zurück. Etwas anderes ist es mit den Veränderungen in der ersten Serie: während sie im Juli 1908 zufällige waren, erwerben sie nach einem Jahre, im 15. Monat des Versuches schon einen ausgeprägten Charakter, haben sich fast auf alle vorhandenen Individuen erstreckt und — was das Wichtigste ist — sind wahrscheinlich erblich geworden, da sie sogar bei 4—5 Tage alten Exemplaren auftreten, die von einer Mutter mit depig- mentiertem Auge (31. Juli 1909) abstammten; wahrscheinlich liegt hier eine Vererbung auf natürlichem Wege, unter Einwirkung äußerer Einflüsse erworbener Veränderungen vor. Moskau, den 20. Sept. 1909. Erklärung der Abbildungen. Fig. 1. Daphnia pulex 2, I. Serie, mit geteiltem Nebenauge, 6 Monat alt; ge- zeichnet 16. Februar 1909). Fig. 2. 2. % I. Serie, 10 Tage alt; gez. 25. Juli 1909. Fig. 3. En en I. Serie, äußerster Grad von Zerfall des Auges, das letzte Exemplar dieser Serie; gez. 18. August 1909. Fig. 4. 3 » II. Serie, noch nicht erwachsenes Exemplar; gez. 27. Juli 1909. Fig. 5. 2 II. Serie, erwachsenes Exemplar; gez. 27. Juli 1909. Fig. 6. Dapımia longispina, 2, gez. 26. August 1909; Pigmentteil des Nebenauges bei diesem Exemplar ist später verschwunden. Fig. 7. »» pulex ', III. Serie, 12 Tage alt, gez. 7. Sept. 1909. 6) Die Abbildungen 1—6 sind nach dem lebenden Objekt gezeichnet, Abbild. 7 ist nach dem Präparat gezeichnet. az von en TREE in a ne 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Der Abonnementspreis für 24 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Lujisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen. Bd. XXX. 15. April 1910. N 8. Inhalt: Babäk, Über die Oberflächenentwickelung bei Organismen und ihre Anpassungsfähigkeit (Schluss). — Khainsky, Physiologische Untersuchungen über Paramaecium caudatum. — Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten als Grundlage der Symbiogenesis, einer neuen Lehre von der Entstehung der Organismen. Über die Oberflächenentwickelung bei Organismen und ihre Anpassungsfähigkeit. Von Prof. Dr. Edward Babäk (Prag). (Schluss.) IR Die sämtlichen Fälle, welche wir bisher übersehen haben, zeugen insgesamt davon, dass einerseits einzelne Organe desselben Körpers durch ihre Oberflächenentwickelung einander voll- ständig angepasst sind, andererseits dass ein jeder Organismus seinen Lebensbedingungen gemäß charakteristisch entwickelte äußere Reaktionsoberflächen besitzt. Dieses Angepasstsein, oder diese „Ängepasstheit“ führt uns zur historischen Betrachtung: wir fragen nach dem Anpassungs- geschehen, wodurch dieses Angepasstsein entstanden ist. Dieses abgelaufene Anpassungsgeschehen lässt sich abschätzen, wenn wir zur empirischen Messung der Anpassungsfähigkeit der heutigen Organismen schreiten. Auf diesem Gebiete sind aber bisher nur ganz spärliche Unter- suchungen gemacht worden, da es sich eben um ein Grenzgebiet handelt, wo die Morphologie und die Physiologie zusammenfließen; seit langer Zeit werden diese gesondert gepflegt, erst in den letzten XXX. 17 358 Babäk, Über die Öberflächenentwickelung bei Organismen ete. Jahren erscheinen immer zahlreichere Forscher, welche physiologisch und morphologisch geschult die Bearbeitung der Unzahl der harren- den Probleme unternehmen. Was die Anpassungsfähigkeit der Verdauungsröhre betrifft), werden ältere Angaben angeführt, welche z. B. über die Unter- schiede der Darmlängen bei verschiedenartig ernährten Tieren be- richten, besonders bei den wilden und bei den gezähmten oder Haustieren. So ist nach Daubenton der Darmkanal der Haus- katzen weiter und um ein Dritteil länger als bei wilden Katzen derselben Größe, was eine Folge von ihrer weniger strengen karni- voren Kost sein soll. Nach Gurlt beträgt die Länge des Darm- kanals beim Wolf 4, beim Haushund 5—6 Körperlängen. Ebenfalls das Wildschwein und andere wilde Tiere sollen verhältnismäßig kurze Verdauungsröhren besitzen (Cuvier, Landois). Nach Taranetzky wird bei den Kindern der niedersten Volksschichten in Russland ganz auffallend große Darmlänge angetroffen. Lucksch?®) hat durch seine Messungen an Leichen der ländlichen Bewohner von Bukowina, welche fast ausschließlich von Pflanzennahrung leben, sichergestellt, dass bei ihnen merklich längere Verdauungsröhren vorkommen als bei den Einwanderern. Rudkoff?!) hat den Ein- fluss der Nahrung auf die Verdauungsröhre bei Hunden studiert, indem er 16 Jungen (von zwei Hündinnen derselben Rasse) in vier Gruppen einteilte und mit Fleisch, Milch, gemischter Nahrung und reiner Pflanzenkost fütterte; die Vepelariäner (mit Brot, Be Erd- äpfeln und Hafermehl ernährten) sind nicht lange am Leben ge- blieben, die fleisch- und milchfressenden Tiere haben das beste (edeihen gezeigt: die fleischfressenden besaßen die kürzeste Darm- länge, nach ihnen die milchfressenden, wogegen die Vegetarianer die längste Verdauungsröhre aufwiesen; sowohl Dünn- als auch Dickdarm (aber nicht Blinddarm) wurden durch die Nahrungsweise verändert; die Milchfresser zeichneten sich auch durch sehr dünne Magenwände aus. (Gegen Rudkoff’s Versuche lässt sich allerdings einwenden, dass er Fleischfresser zur Erforschung der Wirkungsweise der Nah- rung verwendet hat, was unzutreffend ist, ähnlich wie es bei den Pflanzenfressern der Fall wäre. Von der (1882) russisch verfassten Abhandlung Rudkoff’s bekam ich erst dieses Jahr Nachricht, während ich seit dem Jahre 1902 große Reihen von experimentellen Untersuchungen über die Variabilität der Verdauungsröhre bei den 19) Babäk, E.: Experiment. Untersuch. üb. die Variabilität der Verdauungs- röhre. Arch. f. Entwickelungsmech. XXI, 1906, 8. 611. 20) Luksch: Zur Ätiologie der Darmverschlingung. Verh. d. deutsch. pathol. Gesellsch. 1905. 21) Rudkoff, M.: Einfluss der Nahrung auf die Größe und Form des Ver- dauungsapparates u. s. w. 1882. Petersburg (russisch). Babäk, Über die Oberflächenentwickelung bei Organismen ete. 359 omnivoren Froschlarven angestellt habe. Die Omnivoren bieten die höchste Wahrscheinlichkeit für die normale Ernährung mit der verschiedenartigsten Nahrung dar; wenn man sie sogar ausschließ- lich mit Pflanzennahrung oder nur mit Fleischnahrung füttert, so ändert man eigentlich nur die quantitativen Verhältnisse der üb- lichen gemischten Nahrung. Die Fütterung der Larven von Rana fusca (und andere Anuren) mit frischem zerriebenem Froschfleisch einerseits, mit reingewaschenen Pflanzenteilen von Stellaria media andererseits geschah bald, nach- dem die Tiere angefangen haben, Nahrung aufzunehmen, und wurde durch Wochen, manchmal bis vor die Metamorphose fortgesetzt. Wenn man die Froschfleischlarven als Kontrolltiere zum Ausgangs- punkt der Vergleichung heranzieht, so betrug die Verlängerung der Darmlänge bei den Pflanzenfressern in den „verschiedenen Versuchs- reihen 25—91°/,; das Verhältnis der Darmlänge zur Körperlänge belief sich bei den Fleischfressern auf 4,4—6,43, bei den Pflanzen- fressern auf 8,06—8,67. Sehr bemerkenswert ist eine von den Versuchsreihen, wo die Froschlarven einerseits mit frischem Frosch- fleisch, andererseits mit faulendem Froschfleisch, worauf üppige Pilzflora gedieh, sich ernährt haben: bei den ersten war die relative Darmlänge 6,9, bei den zweiten (gleichsam mit gemischter Nahrung ernährten) 8,4. — Ähnliche Ergebnisse hat dann auch Yung publ- ziert, welcher sich unabhängig von mir mit Fleisch- und Pflanzen- fütterung der Froschlarven beschäftigt hatte??). Der teleologische Zusammenhang zwischen der Entwicke- lung der Darmoberfläche und der Fütterungsart scheint hier ganz klar vorzuliegen; doch es handelte sich mir darum, ihn durch ein- gehende kausale Analyse zu beweisen. Es genügt ja nicht die bloße oberflächliche Konstatierung, dass die Pflanzenkost größere Darmoberflächenentwickelung hervorruft, „weil“ sie weniger aus- giebig und schwerer verdaulich ist, sondern es müsste gezeigt werden, dass es gerade die wichtigsten Nahrungsbestandteile der Pflanzenkost sind, die das auffällige Längenwachs- tum der Darmröhre bewirken, um mit Berechtigung schließen zu können, dass hier eine typische teleologische Reaktion vor- kommt: ein Anpassungsgeschehen an die Bedürfnisse des Organismus. Vom kausalen Standpunkte aus stellt die Pflanzenkost eine durchaus andere Reizgruppe vor als die Fleischkost, indem sie durchaus verschiedenartige mechanische und chemische Beeinflussung der Darmoberfläche ausübt. Ich habe zuerst die mechanische Wirkungsweise analysiert. 22) Yung, E.: De l’influence du regime alimentaire sur la longueur de l’in- testin etc. Compt. rend. Ac. 1904, Congr. internat. de zoolog. Revue 1904. = 60 Babäk, Über die Oberflächenentwickelung bei Organismen etc. Um den gegebenen Körper ausreichend zu ernähren, muss die Pflanzennahrung in weit größerer Menge in der Zeiteinheit aufgenommen werden, als die Fleischnahrung; durch die weit voluminösere Pflanzennahrung entsteht ein größerer Seitendruck auf die Darmwände. Dann stellt die grüne Pflanzenkost, nachdem sie durch die Hornzähnchen der Tiere zu kleinen Bröckeln bear- beitet wurde, einen starken Reibungsreiz dar. Demgemäß wurden Versuchsanordnungen in zweierlei Richtung angestellt: es wurden die Froschlarven mit Froschfleischfasern, welche aber auf ein viel- faches Volumen von chemisch reinen, unverdaulichen Zellulosefasern verteilt waren, ernährt, wovon sie große Mengen aufzunehmen ge- nötigt waren, um die erforderliche Dosis der nährenden Frosch- fleischfasern, welche durch dıe Masse der Zellulose gleichsam ver- dünnt waren, zu erhalten. Andere Tierabteilungen wurden mit Froschfleisch ernährt, welches aber mit etwa zwei- oder dreifachem Volumen von Glaspulver gründlich zerrieben wurde. Die Nahrungs- stoffe waren in diesen beiden Versuchsreihen die gleichen wie bei den Kontrolltieren (welche fein zerriebenes reines Froschfleisch er- hielten), doch in der ersten Versuchsanordnung wurde durch die Menge der Zellulose eine mächtige Druckwirkung, ın der zweiten durch das Glaspulver hauptsächlich nur eine starke Reibungswirkung auf die Darmfläche ausgeübt. Die Verlängerung der Darmlänge, welche durch diese monatlange Fütterung entstand, betrug bei den Zellulosetieren 5°/,, bei den Glaspulvertieren 3—11°/, (aber bei der Pflanzenkost über 43°), Demnach besteht der Mecha- nismus der Darmverlängerung bei der Pflanzen- kostkaum in denDruck- und Reibungsreizen der- selben. Vielmehr müssen wir bei der Pflanzennahrung ihre chemische Wirkungsweise in Betracht ziehen. Davon zeugen schon die Ver- suche, wo das Froschfleisch mit ganz kleinen Keratinmengen zer- rieben wurde; es ist bekannt, dass die Hornspäne mächtige peri- staltikfördernde Einwirkung auf die Darmwände der Säugetiere ausüben, chemisch aber ıst Keratin sehr stabil, so dass es durch die Verdauungssäfte der Wirbeltiere unberührt bleiben soll: durch geringe Keratinzugabe zum Froschfleisch wollte ich also ursprüng- lich nur die mechanische Reibungswirkung erzielen. Doch diese kleine Keratinzugabe führte zu einer auffälligen Darmverlängerung um 14—36°/, (gegenüber den mit reinem Fleisch ernährten Tieren). Da uns aber die früheren Versuche (mit Zellulose und Glas- pulver) über unbedeutende diesbezügliche Wirkung der mechanischen Reize belehrt haben, so können wir die darmverlängernde Einwir- kung des Keratins nur als irgendwie chemisch bedingt ansehen, wofür die weiteren Experimente zeugen, nebst anderen Beobach- tungen an den Keratintieren. Babäk, Über die Oberflächenentwiekelung bei Organismen ete. 261 Von den chemischen Bestandteilen der Fleischnahrung?®) und der aus grünen Pflanzenteilen bestehenden vegetabilischen Kost, denen man eine gestaltende Wirkungsweise zuschreiben könnte, sind erstens Proteinstoffe zu nennen, welche quantitativ und qualitativ ganz verschieden in der beiderlei Nahrung enthalten sind (und vielleicht gewisse organische Stickstoffverbindungen in den Pflanzen, wie z. B. Asparagin, wogegen die Unterschiede der übrigen organischen Bestandteile in beiderlei Kost in den Hintergrund treten, da z. B. die Zellulose der Pflanzenteile unverdaulich ist, die Kohlehydrate und Fette aber in Fleisch und in den grünen Blättern nur in kleinen Mengen vorkommen); an zweiter Stelle kann man dann an die Unterschiede in dem Gehalte an anorganischen Salzen denken, besonders an den hohen Kalziumgehalt der grünen Pflanzenteile. Durch hohe Zugabe von Kalziumsalzen (sowie anderen in grünen Pflanzenteilen vorkommenden Salzen) zur Fleischnahrung kann man wirklich eine Verlängerung der Darmröhre bis um 18°/, bewirken, ebenso kann man bei der Verabreichung von Asparagin eine merkliche Verlängerung des Darmkanals erzielen. Aber bei weitem ausgiebiger ist dedarmverlängernde Einwirkung der Pflanzenproteine: durch reichliche Fütterung mit künstlich hergestellter Pflanzen- protemsubstanz kann man die Darmröhre bis um 26°/, verlängern. Die große Bedeutung der Proteine für die Ausgestaltung der Ver- dauungsröhre ıst durch die weitere große Versuchsreihe dargetan worden, welche in Fütterung mit verschiedener Muskelsubstanz bestand: während die mit Wirbeltierfleissch — Frosch-, Fisch-, Pferdefleisch — ernährten Tiere fast genau gleich große Verdauungs- röhren besaßen, kam bei Muschelfleischfütterung eine auffällige Verkürzung des Darmkanals um 11°/,, bei der Krebsfleisch- fütterung eine auffällige Verlängerung desselben um 14°/, (und bei Pflanzenproteinfütterung um 25 °/,) zustande. Nun unterscheiden sich aber diese verschiedenen Muskeln voneinander hauptsächlich durch ihre Proteine, wie wenigstens durch die neueren For- schungen über die Antikörperbildung nach der parenteralen Ein- führung von Muskelserum verschiedener Tiere bewiesen wurde. Es ist bemerkenswert, dass die sonst chemisch inaktiven Proteinstoffe eine so hochgradige Einwirkung auf das Wachstum der Verdauungsröhre besitzen. Aus den neueren Versuchen über die Beziehung der Verdauungssäftesekretion zur Nahrung wissen wir, dass die pflanzliche und die tierische Nahrung sowohl die Quantität als auch die Qualität dieser Sekretion 23) Babäk, E.: Experiment. Untersuch. üb. d. Einfluss d. Nahrung auf die Länge des Darmkanals. Centralbl. f. Physiol. XVIIT, 1905. — Über die morpho- genetische Reaktion des Darmkanals auf Muskelproteine verschiedener Tierklassen, Hofm. Beitr. z. chem. Physiol. VIl, 1905, S. 323. 262 Babäk, Über die Oberflächenentwickelung bei Organismen etc. bestimmen, so dass durch die Fleisch- und Pflanzenkost verschiedene sekretorische Tätigkeit des Darm- und Darmdrüsenepithels hervor- gerufen wird (Pawlow). Die bei der Verdauung der verschiedenen Proteine entstehenden Spaltungsprodukte werden sich von- einander unterscheiden (wie es auch durch künstliche che- mische Spaltung sichergestellt wird) und demgemäß wird auch ihre Einwirkung auf die Epithelwand verschieden sein; ebenfalls ihre Absorption wird verschiedenartige Ansprüche an die Darmwand machen, und endlich wird auch die synthetische Tätigkeit der Darmwand, die Assımilation, durch welche aus den Spaltungs- produkten der fremden Proteinstoffe arteigene Blutproteine des sich ernährenden Tieres aufgebaut werden, verschiedenartig ablaufen. Praktisch sprechen wir von der verschiedenartigen „Verdaulich- keit“ und „Ausnutzbarkeit“ der Nahrung, und aus den Ver- suchen an Säugetieren und Menschen ist es bekannt, dass die Pflanzennahrung hier weit hinter der Fleischnahrung steht, sowie dass die pflanzlichen Proteine hinter den tierischen stehen. Durch die Fleisch- und Pflanzenkost werden also nicht nur ganz verschiedene chemische Reizgruppen in die Verdauungsröhre aufgenommen, sondern es werden auch die Hauptfunktionen derselben — Sekretion, Ab- sorption, Assımilation — ganz verschieden in Anspruch genommen, wodurch auch die Wachstums- und Gestal- tungsprozesse derselben ungleich beeinflusst werden. Als das Ergebnis dieser komplizierten kausalen Vorgänge er- scheint dann, dass sich die Oberfläche der Verdauungs- röhre der Bearbeitung verschiedener Nahrung anpasst; bei der Pflanzennahrung entwickelt der Organısmus eine verhältnis- mäßig größere Darmoberfläche, weil er sie zur Bewältigung dieser unausgiebigen, schwer verdaulichen und schlecht ausnutzbaren Kost braucht: die Darmröhre wird unter gleichzeitiger Verengerung stark verlängert, wodurch ihre Fläche absolut (und relativ zu den mit Fleisch gefütterten Tieren) anwächst; werden die Bedürfnisse der Ernährung reichlich und leicht gedeckt, wie es in unseren Ver- suchen besonders bei dem Muschelfleische der Fall ist, so genügt dem Organismus eine ganz kleine Darmoberfläche, es entwickelt sich ein kurzer und relativ breiter Darmkanal. Durch Ausmessungen der Verdauungsröhre kann man folgende Zahlen erhalten: nımmt man die mit Froschfleisch ernährten Tiere als Ausgangspunkt, wo auf 100 Einheiten des Darminhaltes 447 Oberflächeneinheiten kommen, so beträgt dieser Koeffizient bei den pflanzenfressenden Larven 543 (oder der auf 1 mm der Darmlänge auffallende Inhalt wird von 0,61 mm? auf 0,41 mm?, d.h. um 32°/, verkleinert). Dem- gegenüber wird bei der Muschelfleischfütterung die Darmober- fläche merklich verkleinert, woraus man schließen darf, dass die ER Babäk, Über die Oberflächenentwickelung bei Organismen ete. 963 Proteine der Muscheln relativ leicht verdaulich und gut ausnutz- bar sind. — Bei der Besprechung dieser und anderer Ergebnisse meiner Versuchsanordnungen habe ich (1906) bezüglich der Darmoberflächen- adaptation der Säugetiere die Möglichkeit hervorgehoben, dass hier, wo schon normalerweise die Darmoberfläche durch Darmzotten be- deutend vergrößert ist, bei Einwirkung der Nahrung vorzugsweise die Zottenbildung beeinflusst wird, wogegen die Darmröhre in toto keine auffälligen Differenzen in der Längsentwickelung aufzuweisen braucht. Neuerdings ist eine experimentelle Untersuchung von Revilliod°*) über den Einfluss der Nahrung auf das Wachstum und die Struktur der Verdauungsröhre der Ratten erschienen, welche beiderlei Einwirkungen sicherstellt, sowohl auf die totale Längs- entwickelung als auch auf die Zottenbildung. Aber die eingehende Betrachtung dieser an omnivoren Säugetieren gewonnenen Ergeb- nisse sind bei weitem nicht so klar wie die meinigen an Frosch- larven, ohne Zweifel wegen der weit komplizierteren Bedingungen. Die Milchernährung ist mit sichtlicher Reduktion des Dünn- sowie Dickdarms verbunden, was in Übereinstimmung ist mit der leichten Verdaulichkeit und großer Ausgiebigkeit dieser Nahrung; doch die fleischfressenden Tiere haben ganz auffällig lange Verdauungsröhren (eigentlich hauptsächlich den Dünndarm, während der Dickdarm redu- ziert war) entwickelt, was Revilliod darauf zurückführt, dass einerseits das Pferdefleisch in solchen Mengen aufgenommen wurde, dass es im Durchschnitte eine tägliche Verarbeitung von 5 g Protein- stoffe gegenüber 2 g bei der Pflanzenkost erforderte, andererseits dass das Pferdefleisch vielleicht spezifisch einwirkt (indenı es schwer verdauliche Proteine enthält, ähnlich wie es aus meinen Versuchen an Kaulquappen bei den Krebsproteinen der Fall sein wird ım Gegensatze zu den Muschelproteinen, und nebstdem oft toxisch ist, wie Pflügeru.a. angeben). Wirklich haben auch die reines Pferde- fleisch fressenden Ratten eine Reihe von Störungen des Allgemein- befindens gezeigt. Demgegenüber gediehen die Vegetarianer sehr gut; die Verlängerung des Darmkanals war bei ihnen, was den Dünndarm betrifft, kleiner als bei den Fleischfressern, aber auffällig in der Dickdarmabteilung. Die Darmzotten der mit Milch ernährten Tiere sind denjenigen der Neugeborenen und der säugenden Jungen ähnlich, bei den pflanzenfressenden werden sie oft ın mancher Richtung hin ver- schiedenartig ausgebildet, aber hauptsächlich bei den fleischfressen- den sowohl in ihrer Form als auch in ihrer Dichtigkeit und Lokalı- sation auffallend beeinflusst. Genauere Angaben über die relative 24) Revilliod, P.: Influence du regime alimentaire sur la croissance et la structure du tube digestif. Revue suisse de zool. T. 16, 1908, S. 241. 2654 Babäk, Über die Oberflächenentwickelung bei Organismen etc. Darmoberflächenentwickelung kommen in der Revilliod’schen Arbeit nicht vor. Aber ohne Zweifel ist damit ein weiterer wich- tiger Schritt zur Bearbeitung des Problems der Anpassungsfähigkeit des Verdauungskanals gemacht worden. — Ein ganz anderer Weg als der durch die bisher geschilderten experimentellen Untersuchungen befolgte ist aber noch offen: man hat die verschiedenen Nahrungsstoffe in verschiedener Konzentration auf die angeborene Verdauungsröhre wirken lassen, wodurch einer- seits durch direkte oder indirekte Reizwirkung des Darminhaltes dieselbe beeinflusst wurde, anderseits aber die Bedürfnisse des Körpers entweder leicht, ohne anstrengende Verdauungsarbeit, oder erst bei intensiver Verdauungstätigkeit (d.h. Sekretion, Absorption und Assimilation) gedeckt wurden. Nun könnte man eben von dem Nahrungsbedürfnisse des gegebenen Organismus ausgehen, so, dass man die Darmoberfläche durch ausgiebigere Darmresektion verkleinern könnte: es müsste nun durch die übriggebliebene Ver- dauungsoberfläche der ungeschmälerte, bedeutende Nahrungsbedarf des Organismus gedeckt werden, was zu ihrer erhöhten Verdauungs- tätigkeit führen und geeignete morphogenetische Vorgänge (Darm- zottenentwickelung, Regeneration u. s. w.) bedingen würde; diese Untersuchungen würden einen hohen praktischen Wert besitzen, da die Darmresektionen unter ganz übliche chirurgische Eingriffe gehören. Bei den poikilothermen Tieren könnte man aber auch bei gleichbleibender Nahrungsweise und ohne Operationseingriffe das Nahrungsbedürfnis durch hohe Temperaturen verstärken, durch niedrige herabsetzen, bei den homoiothermen Vögeln und Säuge- tieren durch niedrige Temperaturen in die Höhe treiben, woraus sich ohne Zweifel nach gewisser Zeit merkliche allgemeine und spezielle Anpassungen der Verdauungsröhre erzielen ließen. Einige von diesbezüglichen Versuchsanordnungen habe ich schon unter- nommen, ohne bisher über ihre Ergebnisse berichten zu können. — Durch die unzweideutigen Resultate der Forschungen über die Anpassungsfähigkeit der verdauenden Oberfläche aufgemuntert, habe ich mich den atmenden Oberflächen zugewendet?”). Als geeignetes Objekt habe ich mir wiederum die Larven von Amphibien erwählt, als ungemein plastische Organismen. Durch die Herabsetzung des partialen Sauerstoffdruckes auf das zum Leben nötige Minimum lässt sich die sauerstoffabsorbierende Tätigkeit der Atmungsorgane — der äußeren und inneren Kiemen und der Lungen — hochgradig steigern; durch geeignete Vorrichtungen wurde Tag und Nacht dafür gesorgt, dass sich die Tiere immer die unbedingt not- wendige Menge des Sauerstoffs, wenn auch erst durch angestrengte 25) Babäk, E.: Über die funktionelle Anpassung der äußeren Kiemen beim Sauerstoffmangel. Centralbl. f. Physiol. XXI, 1907. Babäk, Über die Oberflächenentwickelung bei Organismen etc. 265 Tätigkeit, versorgen konnten, während die Kohlensäure fortwährend aus dem äußeren Medium entfernt wurde. Das erste auffällige Ergebnis wurde bei den sonst vergänglichen äußeren Kiemen der Anurenlarven erzielt, nachher bei den äußeren Kiemen der Sala- mandriden; die Versuche an „inneren“ Kiemen der Anurenlarven sowie an Lungen sind noch im Gange. Von den äußeren Kiemen der Froschlarven habe ich schon oben einiges angeführt, was ıhre Beziehung zum relativen Sauer- stoffbedürfnis der verschiedenen Arten betrifft. Diese vergänglichen Atmungsorgane werden besonders bei den Kaulquappen von Rana fusca mächtig entwickelt. doch sie werden während der zweiten Woche rückgebildet, indem die Gaswechselfunktion dann weit aus- giebiger durch die an Kiemenbogen ventral sprossenden Kiemen- plättehen verrichtet wird. Es ist uns gelungen, einerseits das Wachstum dieser äußeren Kiemen im niedrigen Sauerstoffpartial- druck zu beschleunigen, andererseits aber ihr Verschwinden um einige Tage aufzuhalten; dagegen in reiner Sauerstoffatmo- sphäre wird ihre Entwickelung verspätet, ja es kommt überhaupt keine solche Ausbildung derselben zustande, wie in den gewöhn- lichen Verhältnissen (z. B. in der Natur), und bald werden diese verkümmerten „Sauerstoffkiemen“ rückgebildet. Wenn man die äußeren Kiemen wegschneidet, regenerieren sie üppig im Sauer- stoffmangel, während im durchgelüfteten Wasser nur geringe Regene- rationserscheinungen vorkommen (es ist ausdrücklich zu betonen, dass der Sauerstoffmangel ganz spezifisch fördernd nur auf die Regeneration der Kiemen, also der atmenden Organe, einwirkt, denn die Kontrollversuche über die Sauerstoffbedingungen der Regene- ration des Schwanzflosssaumes oder des Schwanzes der Froschlarven haben nichts ähnliches ergeben). Bei denjenigen Froscharten, welche in den natürlichen Verhältnissen kaum merkliche äußere Kiemen entwickeln (z. B. Rana arvalis, Rana esculenta, Bufo u. a.), konnte durch Sauerstoffmangel ganz auffälliges Wachstum derselben erzielt werden. Bei genauen Nachforschungen ließ sich zeigen, dass nicht nur die Länge der Kiemenfäden, sondern auch ihre Anzahl und Form sowie innere Struktur bedeutend durch den Sauerstoffgehalt des äußeren Mediums geändert werden. Bei den Salamandralarven, welche monatelang im großen Sauer- stoffmangel einerseits, in reiner Sauerstoffatmosphäre andererseits gezüchtet wurden, werden die äußeren Kiemen allmählich sehr ver- schieden ausgebildet. Die Sauerstofflarven besitzen nur ganz kurze, wie verstümmelt aussehende Anfangsteile der Kiemen mit ganz kleinen, wenigen, runden, borstenartigen Kiemenfäden; die Sauer- stoffmangellarven entwickeln mehrfach längere Kiemen, mit vielen, langen, abgeplatteten, haarförmigen Kiemenfäden. Die innere Struktur dieser Respirationsorgane ist merkwürdig abweichend von denjenigen 966 Babäk, Über die Oberflächenentwickelung bei Organismen etc. aus Sauerstoffmedium. Das Epithel ist nur durch eine einzige Lage ganz flacher Zellen gebildet, während es im Sauerstoffüber- schuss aus zwei Schichten dicker Zellen besteht; die Kapillaren sind in den Sauerstoffmangelkiemen weit zahlreicher und auch weiter, was von schneller Durchblutung zeugt, und sie liegen gewöhnlich so oberflächlich, dass man sie in das umgebende Wasser ganz nackt hinauszuragen glaubt, so dünn sind die schüppchenartigen Epithelien- zellen (dieses Bild erinnert uns lebendig an die Epithelialwand der Lungenalveolen beim Menschen; andererseits kann man an die neuerdings von Calugareanu beschriebene morphologische Adap- tatıion der Darmwand von Misgurnus fossilis — s. oben — denken, wo die respiratorisch funktionierenden Kapillaren sich zwischen den Epithelzellen fast auf die Darmoberfläche hervordrängen); ich möchte auf Grund dieser Strukturverhältnisse die Kapillarendo- thelien als eigentliche „atmende“, d.h. Sauerstoff ins Blut und Kohlensäure in das äußere Medium sezernierende Elemente ansprechen. Im Vergleiche zu dieser großartigen Ober- flächenentwickelung, welche durch die eigentlich mit mehr Recht als Kiemenplättchen zu bezeichnenden Kiemenfäden und ihr Gefäß- system zustande kommt, sehen die borstenartigen Kiemen der Sauer- stofflarven als überhaupt keine respiratorischen Organe aus, in Anbetracht ihrer kompakten, wenig durchbluteten, mit dicken Epithel- schichten versehenen Struktur. Außer den angeführten Unter- schieden bestehen aber noch auffallende zytologische Verschieden- heiten, was die Beschaffenheit der Kerne, ihre Färbbarkeit u. s. w. betrifft. Damit sind wir zur Frage über die experimentelle Beein- flussbarkeit der inneren Oberflächen des Organismus über- gegangen, und’ gleichzeitig haben wir ın den eben geschilderten Verhältnissen einen unzweideutigen positiven Be weis davon erbracht. Der Organismus entwickelt sich je nach den Bedürfnissen seine Gefäße: in den als intensiv tätige Atmungsorgane im Sauer- stoffmangel sich gestaltenden äußeren Kiemen stellen vielleicht die Gefäße nebst den Epithelien Organe dar, welche sich im Dienste des ganzen Körpers aktiv entwickeln bis zu dem Maße, dass sıe den Gaswechsel genügend versorgen. Die auffälligen Unterschiede in der Färbbarkeit und den osmo- tischen Eigenschaften der Erythrocytenkerne der ım Sauerstoff- überschuss und Sauerstoffmangel gezüchteten Salamanderlarven weisen ebenfalls auf die Möglichkeit der strukturellen Beeinflussung dieser Elemente. Die bisherigen Versuche, welche wir behufs experimenteller Beherrschung der Erythrocytengröße unternommen haben, sind noch nicht geeignet, um etwas Sicheres darüber auszusagen; die Durchmusterung der bisherigen Unter- suchungen über den Einfluss des Höhenklimas auf die Erythrocyten FEPOWWTT Khainsky, Physiologische Untersuchungen über Paramaecium caudatum. 267 führt ebenfalls zu keinen unzweideutigen Ergebnissen, indem hier und da von Mikrocytose gesprochen wird, sonst aber selbst die Erythrocytenvermehrung u. s. w. angezweifelt werden. — Durch diese gedrängt abgefasste Übersicht einer Fülle von vergleichend morphologischen und physiologischen Tatsachen sowie der Anfänge einer experimentellen Untersuchung der Entwickelungs- bedingungen der äußeren und inneren Oberflächen des Organismus ist wohl über jeden Zweifel dargetan, dass in dieser Hinsicht ein hochgradiges Anpassungsvermögen des Organismus an die jeweiligen Bedürfnisse besteht im Sinne der Autoteleologie (Pauly) der lebenden Wesen, sowie dass durch diese Fähigkeit die Entstehung der im ganzen konstanten Eigenschaften der heutigen Tiere, welche ihr Angepasstsein zu den gegebenen Lebens- bedingungen kundgeben, sich dem Verständnis nahe bringen lässt. Physiologische Untersuchungen über Paramaecium caudatum. Von A. Khainsky'). Die physiologischen Prozesse, die in ihrem Wesen physikalisch- chemische Wechselwirkungen der Zellenstoffe sind, werden von entsprechenden morphologischen Veränderungen im Bau der ein- zelnen Teile des Zellkörpers begleitet. Alle Eigentümlichkeiten einer solchen Metamorphose sind durch diejenigen Veränderungen bedingt, welchen die Struktur des Zellprotoplasmas unterworfen ist. Von diesem physikalisch-chemischen Standpunkt aus ist die Struktur des Protoplasmas als polymorph und inkonstant zu be- zeichnen. Der ganze Entwickelungsgang und Charakter der in der Struktur des Protoplasmas sich vollziehenden Veränderungen ist unmittelbar von der Richtung abhängig, in der sich die physio- logischen Prozesse der Zelle bewegen. Die Struktur des Zell- plasma (y) kann ausgedrückt werden als Funktion seiner physio- logischen Tätigkeit (x), d. h.: vv TI Br nd) In dieser Gleichung (1) bedeutet x die ganze Summe der physi- kalisch-chemischen, resp. physiologischen Prozesse der Zelle, die durch äußere nen normiert werden. Die Nahrung in quantitativer und qualitativer Hinsicht (a, d), die Temperatur (t?), der Gaswechsel (o), das Licht (l), die Bewegung (v), der Druck (p) und andere physikalisch-chemische Faktoren bestimmen den Verlauf der physiologischen Prozesse der Zelle und beeinflussen die Struktur 1) Arbeiten aus dem zootomischen Laboratorium der Universität zu Warschau, unter der Redaktion von Prof. P.Mitrofanow. Bd. XXXV, 101 S. mit111 Abb. 1906. 268 Khainsky, Physiologische Untersuchungen über Paramaecium caudatum. ihrer Bestandteile. In der Gleichung (1) lässt sich somit das x durch eine ganze Reihe seiner Bestandteile ausdrücken: y Ila/7d tod ) f ee ) Die funktionelle Abhängigkeit der morphologischen Verände- rungen von der physiologischen Tätigkeit der Zelle eröffnet die Möglichkeit der Erforschung des Einflusses eines jeden Gliedes der Gleichung (2) auf die Struktur des Zellkörpers, in diesem Fall wird sich die Struktur der Zelle ändern, als die Funktion der einen un- abhängigen Variablen. Vorliegende Untersuchungen sind der Frage über das Hungern der Paramaecien und über die Wirkung des reinen Sauerstoffs auf die Infusorien gewidmet. Zum Schluss werden auch Beobachtungen über den Mechanismus der Teilung bei den Paramaecien mitgeteilt. Die bei den Untersuchungen angewandte Methode kann als physio- logisch-histologische bezeichnet werden. Physiologische Beobach- tungen der lebendigen Organismen unter Zuhilfenahme vitaler Färbung wurden durch histologische Untersuchungen an fixierten Präparaten ergänzt. Ehe mit den Experimenten über das Hungern der Paramaecien begonnen wurde, wurde zunächst mittelst vitaler Färbung mit Methylenblau und Neutralrot die Evolution der Nahrungsvakuolen, ihre Struktur und ihr physiologischer Zustand festgestellt. Der ganze Entwickelungsprozess der Nahrungsvakuole zerfällt in zwei Perioden. Die Vakuolen der ersten Periode erleiden vom Augen- blick ihrer Bildung an folgende Veränderungen: die an Umfang großen und fast ungefärbten Nahrungsvakuolen nehmen allmählich an Größe ab, ihre vitale Färbung mit Neutralrot gewinnt an Inten- sität, ıhr Inhalt weist eme kompakte Struktur auf. Bei der Färbung mit Neutralrot wird die Farbe nach und nach zu karmoisinrot (himbeerrot), was auf das Vorhandensein einer sauren Reaktion ın den Nahrungsvakuolen der ersten Periode hinweist. Beim Weiter- schreiten der physiologischen Prozesse gewinnen die Nahrungs- vakuolen wiederum an Umfang, ihr Inhalt zerfällt in kleine runde Körnchen resp. Tröpfehen, die karmoisinrot (himbeerrot) gefärbt sind. Die Färbung der gesamten Nahrungsvakuole bleibt zunächst schwach karmoisinrot, verschwindet aber später vollständig. Die Körnchen der Nahrungsvakuole der zweiten Periode sind den endo- plasmatischen Körnchen vollkommen analoe. Zwischen der Zahl der Nahrungsvakuolen und der Menge der endoplasmatischen Körnchen war ein bestimmtes umgekehrtes Ver- hältnıs zu konstatieren. Mit dem Rückgang der Zahl der Nahrungs- vakuolen vermehrten sich die endoplasmatischen Körnchen. Es können einige Typen von Paramaecien nachgewiesen werden, bei denen das Verhältnis zwischen Körnchen und Nahrungsvakuolen verschieden ist. Bei den Paramaecien, die eine Menge der Nahrungs- Khainsky, Physiologische Untersuchungen über Paramaecium eaudatum. 269 vakuolen der ersten Periode aufweisen, sind fast keine endoplasma- tischen Körnchen zu beobachten (1). Mit dem Übergang aber zu Nahrungsvakuolen der zweiten Periode beginnen die endoplasma- tischen Körnchen sich zu vermehren (2). Es wurden einzelne Indi- viduen beobachtet, deren Körper von Körnchen ganz angefüllt war und die fast keine Nahrungsvakuole aufwiesen (3). Dieser Prozess der Entwickelung der Nahrungsvakuolen und ihres Verhältnisses zu den endoplasmatischen Körnchenbildungen verläuft äußerst anschaulich beim Hungern der Paramaecien, wenn die Nahrungsvakuolen der ersten Periode allmählich in solche der zweiten übergehen und sich keine neuen Nahrungsvakuolen bilden. Sodann verschwinden die Nahrungsvakuolen und es bilden sich Fig. 1-3 endoplasmatische Körnchen, die mit dem Fortschreiten des Hungerns schließlich ebenfalls verschwinden. Von anderen physiologischen Merkmalen des Hungerns ist die anfängliche Volumverringerung der Paramaecien hervorzuheben, die durch die Abwesenheit von Nahrungsvakuolen u. a. erklärlich ist. Im weiteren Entwickelungsverlauf des Hungerns aber findet eine Vakuolisation des Protoplasmas, eine große Zunahme des Körper- volums und ein Aufquellen des Kernes statt. Der allgemeine Ver- lauf der beim Hungern stattfindenden Prozesse hängt von der Ge- nauigkeit der Experimente und dem dem Hungern vorausgegangenen Zustand der einzelnen Individuen ab. Nach den morphologischen Eigentümlichkeiten der Verände- rungen zerfällt das Hungern ın zwei Perioden. Das Hauptmerkmal 370 Khainsky, Physiologische Untersuchungen über Paramaecium caudatum. dieser Perioden ist: der Zustand des Kernes. Im Gegensatz zur länglichen und äußerst unregelmäßigen Form in den gewöhnlichen Verhältnissen, nımmt der Makronukleus beim "Beginn des Hungerns eine merkwürdig regelmäßige sphäroidale Form und eine feine vakuolare Struktur an (Fig. 1,2 u. 3). Der Mikronukleus liegt von ıhm entfernt und die Vertiefung, in der er gewöhnlich seine Lage hat, wird verwischt (Fig. 5, 6,7). Vom Standpunkt der funktionellen Abhängigkeit aus ıst die sphäroidale Gestalt des Makronukleus un- zweifelhaft das Anzeichen eines bestimmten physiologischen Zu- standes, da beim Hungern die physiologischen Veränderungen nur von den ersten zwei Gliedern unserer Gleichung (2) abhängig sind: eat EEE) d. h. von den allgemeinen Assımilations- (a) und Dissimilations- prozessen (d). Die Assimilationsprozesse werden an einen bestimmten Zeit- punkt des Hungerns ganz aufhören (a = 0) und die an ihnen teil- nehmenden Organe kommen in einen physiologischen Ruhezustand. Der sphäroidale Kern ist in dieser Beziehung ein Anzeichen dieses physiologischen Ruhezustandes. Die Richtigkeit dieser Auffassung wird auch durch mathematische Erwägungen unterstützt. Wenn wir annehmen, dass am ersten Tage des Hungerns aus der Gesamt- zahl x der Paramaecien eine bestimmte Anzahl y von Individuen zu hungern angefangen haben, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein hungerndes Individuum zum Präparat entnommen wird, gleich y/x. Nehmen wir ferner an, dass a Paramaecien mit rundem Kern und b Paramaecien mit dem gewöhnlichen Kern zum Präparieren ge- langt sind, so ist ıhr Verhältnis gleich ab Het. ee en Für das nächste Präparat bleiben sodann nur noch x—a—b=x, Paramaecien übrig, von denen — sagen wir — y, hungern. Da das Hungern jetzt längere Zeit stattgefunden hat: y, >y und da x >x,, So ist die Möglichkeit, dass ein hungerndes Individuum zum zweiten Präparat entnommen wird, jetzt größer: y,[x, > y/Xx. Auf Grund dieser Ungleichheit bei den Brüchen müssen in das zweite Präparat mehr hungernde Individuen gelangen, als zum ersten. Wenn der runde Kern ein Zeichen des Hungerns ist und vom Aufhören der Assimilationsprozesse zeugt, so muss auf dem zweiten Präparat die Anzahl der rundkernigen Paramaecien größer sein als auf dem ersten. Nehmen wir an, dass es auf dem zweiten Präparat a, rundkernigen Paramaecien und b, aller übrigen Arten gibt, so ist a /be=al len, EN EEOBETERDDN BE) und alb< aller Ile, N. AR (6) Auf diese Weise müssen wir, kraft immer wachsender Wahr- scheinlichkeit Khainsky, Physiologische Untersuchungen über Paramaecium caudatum. IT ya < YolX, See N a eine Reihe stets ansteigender Brüche, als Quotient des Verhältnisses er le, << 1/C ee ee u. 4 .(8) erhalten. Diese theoretischen Erwägungen sind durch die unmittelbaren Zählungen der Paramaecien in den Präparaten voll bestätigt worden. Vom ersten Tag an ist die Zahl der rundkernigen Paramaecien oO Oo ständig gestiegen, der Quotient des Verhältnisses (8) ebenfalls bis zu einem bestimmten Zeitpunkt; sodann begann die Zahl der Para- maecien mit sphäroidalen Kernen sich zu verringern, bis diese end- lich ganz verschwanden. Der ganze Prozess hat seinen Ausdruck in Kurven gefunden, in denen die Zahl der mit sphäroidalen Kernen ausgestatteten Paramaecien sich als Funktion der Zeit veränderte. Die Kurven sind für das umgekehrte Verhältnis bla € . as ee 9.) konstruiert (Fig. 4). Im idealen Fall müssen alle Individuen zu einem bestimmten Zeitpunkt einen sphäroidalen Kern haben und in der Gleichung (9) ist dann c—=0, weil b=0 (9). In Wirklich- keit aber werden wir für das Minimum der Funktion stets eine ganze Zahl erhalten, die den Koeffizient K des Hungerns darstellt. Das Minimum der Funktion entspricht jenem Zeitpunkt bei den hungernden Paramaecien, wo die Assimilationsprozesse aufgehört 272 Khainsky, Physiologische Untersuchungen über Paramaecium caudatum. haben und die Funktion sich nunmehr in Abhängigkeit von den Dissimilationsprozessen verändert verlderure See Nach Erreichung ihres Minimums beginnt die Funktion wiederum zu wachsen, aber wird dabei negativ, da die Zahl der mit sphäroi- dalem Kern Paramaecien sich jetzt verringert, also ein umgekehrter Prozess vor sich geht. Der ganze Prozess drückt sich in Kurven aus, die die Abszisse schneiden und sich jenseits derselben fort- setzen (Fig. 4). Fig. 8-10. Fig. 12. Das Minimum der Funktion ist auch das Moment, welches das Hungern in zwei Perioden scheidet. In der Physio- logıe des Einzelindividuums schließt der sphäroidale Zustand des Kernes die erste Hungerperiode ab. In dieser Periode wird das Protoplasma hell und klar, es werden keine Nahrungsvakuolen und keine endoplas- matischen Körncehen wahrgenommen. Die Art und Weise des Auf- tretens und Verschwindens dieser Körnchen zeigt, dass sie die ersten Produkte der Assimilation sind. In der Struktur des Ektoplasmas und seiner Bestandteile werden während der ersten Periode keine Veränderungen beobachtet. Der Mikronukleus wird bei der Bildung des sphäroidalen Kernes passiv aus seiner Vertiefung herausgestoßen und erleidet keine sichtbaren Strukturveränderungen (Fig. 1, 2, 3). Die Veränderungen in der zweiten Hungerperiode sind von denen der ersten wesentlich verschieden. Wenn in der ersten Khainsky, Physiologische Untersuchungen über Paramaecium caudatum. 273 Periode das Hungern keinerlei pathologische Veränderungen in der Struktur des Zellkörpers zur Folge gehabt hatte, so wird die weitere Wirkung des Hungerns von solchen morphologischen Erscheinungen begleitet, die von Grund aus das gegenseitige Verhältnis der ein- zelnen Teile des Körpers der Paramaecien stören. Die größten Umwandlungen erfahren der Kern und das Endoplasma. Äußer- lich wird der Charakter dieser Veränderungen durch eine sehr kom- plizierte Umgruppierung der Elemente gekennzeichnet. Die ganze Summe der physikalisch-chemischen Veränderungen des Endoplasmas findet in einer stets fortschreitenden Vakuolisation ihren Ausdruck. Dieser Prozess ist mit einer zweifellosen Verringerung der Quantität des Endoplasmas verbunden und hängt vom Zerfall seiner Bestand- teile ab. Der allgemeine Typus der Veränderungen des Makro- Fig. 13. er RE & ET, Sn NIARSSTARATT Kor ec? RR nukleus wird durch die Entwickelung der Vakuolisation und durch eine Aufquellung charakterisiert. Im Fortgang dieses Prozesses. geht das Chromatin zurück und verliert seine gewöhnliche körnige Struktur, es erleidet einen komplizierten chemischen Prozess des Zerfalls und des Übergangs in Stoffe des Kernsaftes. Durch das allmähliche Ansammeln dieses letzteren wird auch die fortschreitende Vakuolisation und das Aufquellen des Makronukleus erklärlich (Fig. S, 9 u. 19). In ihrem äußeren Erscheinen ist dieses Aufquellen nach Größe und Grad sehr mannigfaltig und wird durch die vorhandenen mechanischen Voraussetzungen innerhalb der Zelle bestimmt (Fig. 8, 9, 10, 11, 12). In einem bestimmten Augenblick platzt der Makro- nukleus vollständig und verliert seine Individualität (Fig. 13, 14, 15,20). Vom Kern bleiben nur kleine Teilchen oder feine Häutchen mit etwas Chromatin übrig, die im Laufe der Zeit ganz verschwinden: XXX, 18 974 Khainsky, Physiologische Untersuchungen über Paramaecium caudatum. die Paramaecien haben dann keine sichtbaren Anzeichen der Kern- elemente mehr (Fig. 16, 17 u. 18). Bei weit fortgeschrittenem Hungern ist auch in dem Ekto- plasma die Bildung kleiner Vakuolen und ein Mangel an Tricho- zysten bemerkbar, die nach dem allmählichen Auswerfen nicht wieder erneuert worden (Fig: 19 u. 20). Der Mikronukleus aber erleidet während der ganzen Dauer des Hungerns keinerlei sichtbare Ver- änderungen und ist stets vorhanden, selbst bei solchen Individuen, die keine Spur des Makronukleus mehr aufweisen. Die Grundlage aller Strukturveränderungen des Zellkörpers der Paramaecien während der zweiten Hungerperiode bildet der che- mische Zerfall der Stoffe, der die Quelle der kinetischen Energie bildet. Die Messungen der kinetischen Energie der hungernden Paramaecien, die mit Hilfe von isotonischen Lösungen vorgenommen wurden, zeigen, dass mit fortschreitendem Hungern und mit der Zerstörung der Zellenstoffe auch die lebendige Kraft der Paramaecien abnimmt. Die Frage, was für Stoffe — die des Endoplasmas oder Khainsky, Physiologische Untersuchungen über Paramaecium caudatum. 275 die des Kernes — die Hauptquelle der kinetischen Energie während des Hungerns bilden, wird mit Rücksicht auf die Leichtigkeit der Oxydation dieser Stoffe gelöst. Um das Verhältnis der verschiedenen Stoffe des Zellkörpers zu den Oxydationsprozessen klarzulegen, wurden über die Wirkung des reinen Sauerstoffs Experimente gemacht. Zu diesem Zweck wurde ein Apparat hergestellt, der die Möglichkeit gewährte, gleich- zeitig physiologische und histologische Beobachtungen zu machen. Für die ersteren wurde die Recklinghausen - Geissler’sche Kamera benutzt (g); sie war mit einer anderen nach meinen An- weisungen konstruierten Kamera (ch) verbunden; diese bestand aus einem zylindrischen Gefäß von 2—3 cm im Diameter und 2 cm in Höhe (Fig. 21). Von den Seitenflächen, unter der oberen Fläche, zweigen sich zwei horizontale Röhren ab — für Gaszufuhr und Gasabfuhr. Von der oberen Fläche geht an der Seite eine dritte Fig. 21. schiefe Röhre ab, durch die man in bestimmten Zwischenräumen eine Anzahl Paramaecien für histologische Präparate herausholen kann. Damit in die Kamera keine Luft gelangen könne, wurde in diese dritte Röhre eine mit langer Kapillare versehene und mit der Röhre durch einen Gummischlauch verbundene Pipette eingefügt (Fig. 21). Das Ende der Kapillare war in die Flüssigkeit versenkt, die in ihr über das allgemeine Niveau hinaufstieg und die Öffnung der Kapillare vers Das obere Ende der Be wurde vom Gummischlauch verschlossen. Wenn man eine Anzahl Infusorien herausholen wollte, wurde das obere Ende der Pipette geöffnet und durch die Öffnung eine zweite Pipette soweit eingeschoben, dass ihre Wände sich mit denen der Kapillare eng berühren; dann stieg die Flüssigkeit mit den Infusorien in die zweite Pipette und sie wurde dann herausgenommen. Nachdem dies geschehen, trat das Wasser wieder in die Kapillare der ersten Pipette ein a verschloss ihre Öffnung (Fig. 22). Auf diese Weise konnte keine Luft in die Kamera gelangen und es blieb darin stets eine Atmosphäre reinen Sauerstoffs erhalten. 18% 376 Khainsky, Physiologische Untersuchungen über Paramaecium caudatum. Die physiologische Wirkung des reinen Sauerstoffs äußert sich anfänglich in einer erhöhten Bewegung der Paramaecien in der radialen Richtung von der Oberfläche des Tropfens in der Reck- linghausen-Geissler’schen Kamera bis zum Zentrum. Mit der gleichmäßigen Auflösung des Sauerstoffs nimmt die Bewegung einen normalen Charakter an und verlangsamt sich allmählich; hierauf bleiben die Paramaecien nach einiger Zeit stehen und sind von da an fast total unbeweglich; nur gegen Schluss des Experimentes be- wegen sie sich langsam und träge, aber in einem bestimmten Augen- blick bleiben sie rotierend in einem Platz stehen und platzen. Die ersten Anzeichen der Wir- kung des Sauerstoffs werden am Endoplasma wahrge- nommen, indem darin eine Vakuolisation beginnt. Die Vakuolen erreichen im Laufe der Zeit eine außerordent- liche Größe, der Körper der Paramaecien schwillt infolge des inneren Druckes stark an. Bei der vitalen Fär- bung mit Neutralrot voll- zieht sich der Umwandlungs- prozess der Nahrungsvaku- olen rasch; die kompakten Nahrungsvakuolen erster Periode vergrößern sich, der Inhalt zerfällt in Körnchen, dann verschwinden die Nahrungsvakuolen und die Körnchen gehen ins Endoplasma über. Möglich sind auch Fälle, wo die Nahrungsvakuolen nebst den in ihnen enthaltenen Exkretresten erhalten bleiben. Zu Beginn des Experimentes wird der rasche Verlauf der physiologischen Prozesse ın den Nahrungs- vakuolen ebenso rasch durch neugebildete Nahrungsvakuolen er- setzt, aber dies hört im Laufe der Zeit auf, die Nahrungs- vakuolen verschwinden bald gänzlich, ebenso wıe bald darauf die mit Neutralrot gefärbten endoplasmatischen Körnchen, und das ganze Paramaecium verliert seine Färbung. Das Zunehmen der Nahrungsvakuolen hört mit dem Beginn der Vakuolisation des Endo- plasmas auf. Ähnliche Erscheinungen sind auch an anderen Infu- sorien beobachtet worden; von den Holotricha werden Loxodes rostrum, Dileptus anser, Colpidium colpoda, Urocentrum, Paramaecium caudatum, Frontonia acuminata untersucht; von den Heterotricha: Spirostomum ambignum und Stentoren. Bei allen verschwanden die Nahrungsvakuolen, worauf zunächst eine Vakuolisation des Endo- plasmas eintrat und dann der Tod infolge Ruptur des Zellkörpers. Das Wesentliche war die ungleiche Geschwindigkeit, mit der sich Fig. 22. in ı Khainsky, Physiologische Untersuchungen über Paramaecium caudatum. 277 die Oxydationsprozesse entwickelten. In der Geschwindigkeit der Vakuolisation und des Sterbens wurde eine stetige strenge Gesetz- mäßıgkeit je nach der allgemeinen Größe und Oberfläche des Zell- körpers beobachtet: je größer seine Fläche und je geringer sein Volum, desto rascher entwickeln sich die Oxydationsprozesse (I) und die obengenannten Infusorien starben stets in einer bestimmten Reihenfolge aus (II). Die Schnelligkeit der Oxydationsprozesse geht auch derjenigen der Auflösung des Sauerstoffs im Wasser proportional. Experi- mente mit einem bis zu zwei Atmosphären erhöhtem Druck haben gezeigt, dass die Schnelligkeit der Oxydationsprozesse mit dem Druck, resp. mit dem Anwachsen der Auflösungsfähigkeit des Sauer- stoffs im Wasser, wächst (III). Morphologische Veränderungen gehen entsprechend den physio- logischen Beobachtungen hauptsächlich ın dem Endoplasma vor sich, parallel mit der Entwickelung der Vakuolisation. Bei Indi- viduen, die einer starken und dauernden Einwirkung des Sauerstoffs unterworfen waren, war auch das Ektoplasma vakuolisiert und ver- schwanden allmählich die Trichozysten. Der Makronukleus erhält mit dem Fortschreiten des Experimentes eine typisch sphäroidale Form und eine feine Vakuolisation, wie in der ersten Hungerperiode. Im Stadium des sphäroidalen Kernes ist das Endoplasma stets schon vakuolisiert. Physiologische Beobachtungen haben ergeben, dass während dieser Zeit sich keine neuen Nahrungsvakuolen bilden; somit befindet sich der Makronukleus im Stadium physiologischer Ruhe. Im weiteren Verlauf des Experimentes müsste der Makro- nukleus eigentlich einen komplizierten Prozess der Metamorphose durchmachen, aber das rasche Vorsichgehen der Oxydationsprozesse ım Endoplasma, die ein rasches Absterben zur Folge haben, ver- hindert die Entwickelung dieser Metamorphose des Makronukleus. Im Verlauf des Experimentes mit Sauerstoff hatte der Makronukleus seinen einheitlichen individualisierten Zustand nie eingebüßt, obwohl einige Anfangsstufen der für die zweite Hungerperiode charakte- ristischen Veränderungen teilweise zu bemerken waren. Der Mikro- nukleus blieb völlig unverändert und war stets vom Makronukleus ım Stadium des sphäroidalen Kernes abgetrennt. Auf Grund der morphologischen Veränderungen muss geschlossen werden, dass die Stoffe des Endoplasmas und des Kernes ihrer chemischen Natur nach verschieden sind: die Stoffe des ersteren sind einer raschen und energischen Oxydation unterworfen, während die Stoffe des Kernes keine solche Reaktion aufweisen. Aus den Hungerexperimenten resultiert, dass die Stoffe des Endoplasmas, teilweise auch die des Ektoplasmas, dank ihrer leichten Oxydations- fähigkeit die Hauptquelle der kinetischen, lebendigen Energie der Paramaecien sind, während Tatsachen darauf hinweisen, dass der Chemismus der Kernstoffe mit den Assimilationsprozessen eng ver- 378 Khainsky, Physiologische Untersuchungen über Paramaecium caudatum. bunden ist; ım besonderen kann man annehmen, dass der ım Makro- nukleus produzierte Kernsaft für Verdauungsprozesse gebraucht wird, sich beim Hungern ansammelt und dadurch die komplizierte Metamorphose des Makronukleus bedingt. In Verbindung mit den oben dargelegten Tatsachen können einige Eigentümlichkeiten im Teilungsmechanismus des Makronukleus bei den Paramaecien begriffen werden. Der physiologische Zustand derjenigen Individuen, die sich im Anfangsstadıum der Teilung be- finden, ist durch verstärkte Zunahme der Nahrungsvakuolen cha- rakterisiert: der ganze Körper ist von ihnen erfüllt, besonders aber sein hinteres Ende, wo ein starker Vorsprung entsteht. In diesem Stadium befindet sich der Mikronukleus stets im Prozess der Tei- lung. Im weiteren Verlauf der Teilung kommen keine neuen Nahrungsvakuolen mehr hinzu, ebenso auch eine Zeitlang nach dem Ende der Teilung. Die energische physiologische Tätigkeit des Makronukleus im Anfangsstadium der Teilung hat einen großen Verbrauch an Stoffen des Kernsaftes und eine Zusammenschrumpfung des Kernes zur Folge. In der zweiten Teilungsphase, wenn keine Nahrungsaufnahme mehr erfolgt, tritt eine Ansammlung des Kernsaftes ein; unter dem Druck dieses letzteren nimmt der Kern anfangs infolge mecha- nischer Gesetze die Form einer nach der großen Achse des Para- maeciums verlängerten Platte und sodann die eines zweizentrisch aufquellenden Körpers an; der Prozess der Aufquellung selbst führt aber zur vollen Teilung des Kernes. Diese mechanische Erklärung der Teilung des Makronukleus wird von den Fällen anormaler Teilung bestätigt, wo, sei es infolge der raschen Ansammlung des Kernsaftes oder der ungenügenden Verlängerung des Kernes, — der Aufquellungsprozess des Makronukleus sich monozentrisch vollzieht und nicht zu seiner Teilung führt: das eine der beiden durch Tei- lung entstandenen Individuen erhält in diesen Fällen überhaupt keinen Makronukleus. | Die Textfiguren 1, 2, 3 und 5—18 sind nach Totalpräparaten, Fig. 19 und 20 nach Schnitten von Paramaecien gezeichnet. Alle Abbildungen sind mittelst des Netzokular gemacht worden; Vergrößerung 1000mal. Theorie der zwei Plasmaarten als Grundlage der Symbiogenesis, einer neuen Lehre von der Entstehung der Organismen. Von Prof. Dr. €. Mereschkowsky. Inhaltsverzeichnis. Vorwort. — I. Zwei Plasmaarten. — II. Die Atmung. — III. Die Beziehung zur Temperatur. — IV. Die Synthese der Eiweißstoffe. a) Bakterien. b) Pilze. c) OÖyanophyceen. d) Chromatophoren. — V. Die Be- wegung. — VI. Chemische Zusammensetzung. — VII. Beziehung zu Giften und die Widerstandsfähigkeit im allgemeinen. — VIII. Die übrigen Unterschiede. — IX. Schlussfolgerungen aus der Theorie der zwei Plasmaarten. Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. 979 Vorwort. Bevor ein Problem nicht erkannt ist, kann es auch nicht bearbeitet werden. J. Reinke. Eine der allerinteressantesten und einnehmendsten Aufgaben, welche sich die biologische Wissenschaft stellen kann, ist die Frage nach der Entstehung der Organismen auf der Erde. Um so verwunderlicher ıst es, dass sich so wenige mit dieser Frage beschäftigen. Spezielle Arbeiten über dieses Thema aus letzter Zeit, abgesehen von einigen kleinen Bemerkungen, die nur geringe spezielle Fragen berühren, sind mir gar nicht bekannt. Die früheren Versuche der Lösung dieser Aufgabe (Darwin, Häckel, Nägeli) konnten nicht erfolgreich sein, weil in jener Zeit noch nicht alle Tatsachen vorhanden waren, die zu einer erfolg- reichen Lösung derselben nötig sind. Seit der Zeit haben sich aber so viele neue Fakta aus der Cytologie, aus der Biochemie, aus der Physiologie, besonders der niederen Organismen, aufgehäuft, dass der Versuch wünschenswert erscheint, von neuem den Schleier vom Geheimnis der Entstehung der Organismen, sich auf das neue Tat- sachenmaterial stützend, zu heben. Solch einen Versuch habe ich beschlossen zu machen, und meine vorliegende Arbeit, ebenso wie eine vorhergehende!) und eine andere, welche der gegenwärtigen folgen wird?), bilden die vorläufige Auseinandersetzung der neuen Theorie der Entstehung der Organismen, welche ich in Hinsicht dessen, dass die Haupt- rolle in ihr die Erscheinung der Symbiose spielt, vorschlage, die Theorie der Symbiogenesis zu nennen. Der vorliegende Artikel ist der Lösung der Grundfrage ge- widmet: aus wieviel Plasmaarten ist die organische Welt aufgebaut? Ich bemühe mich, darin zu zeigen, dass die Gesamtheit der orga- nischen Wesen zwei grundverschiedenen Plasmaarten ihr Dasein verdankt und dass also die organische Natur durchaus nicht als etwas Einheitliches in ihrem Ursprunge sowie ihrer weiteren Ent- wickelung angesehen werden kann, wie es bisher allgemein ange- nommen war. Im Grunde genommen gibt es viel mehr als zwei Sorten von Plasma, es sind ihrer wohl sehr viele, man kann sogar sagen — es gibt ihrer eine unbegrenzte Anzahl. Jeder Organismus, der sich vom anderen in irgendeiner Weise unterscheidet, besitzt auch ein in etwas vom anderen unterschiedenes Plasma. — Es handelt sich nun aber um die Frage, ob alle diese unzähligen Spielarten des 1) Mereschkowsky, C©., Über Natur und Ursprung der Chromatophoren im Pflanzenreiche. Biol. Centralbl. Bd. XXV, 1905, S. 593. 2) Ihr Gegenstand wird der Zellkern und im besonderen die Frage über dessen Natur und Entstehung sein. 280 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. Plasma Variationen eines einzigen oder mehrerer Plasmas sind? Bisher ist ein derartiges Problem in obenangeführter Form über- haupt nie aufgestellt worden. Aber nach stillschweigender Über- einkunft wird von allen die Einheit der organischen Natur aner- kannt. Alle nahmen und nehmen es auch noch heute an, dass als Grundlage aller Organismen ein Plasma vorliegt, mit anderen Worten, dass das Leben aus dem Nichtsein vermittelst einer Wurzel hervorging, aus welcher sich ein einziger weit verzweigter Baum der Organismen entfaltete, erst als gemeinsamer Stamm der Pro- tisten, dann bald sich in zwei Hauptäste spaltend — den Pflanzen- ast und den Tierast. Bis jetzt herrschte die allgemeine Überzeugung, dass der Baum des Lebens ein einziger sei. Die Aufgabe der vorliegenden Arbeit ist es, zu zeigen, dass es ihrer zwei gibt, dass jeder Baum selb- ständig, unabhängig vom anderen und wahrscheinlich in verschiedenen Perioden der Erdgeschichte auftrat und dass sie sich zum Teil selbständig und unabhängig, zum Teil mit den Zweigen eng ver- flechtend und verwachsend entwickelten, beide die Verschiedenartig- keit der organischen Lebewesen ergaben. Die Idee der Einheit der organischen Natur muss ver- lassen werden und der Idee ıhrer Dualıität Platz machen. 11. Januar 1909. C. S. v. Mereschkowsky. Il. Zwei Plasmaarten. Um den Leser von vornherein ın den Kreis meiner Vorstellungen über die organische Welt einzuführen, finde ich es am zweck- mäßiıgsten, den Sachverhalt des Gegenstandes zuerst durch ein bild- liches Beispiel zu illustrieren. Stellen wir uns also folgende zwei Bilder vor: einerseits — eine Familie Menschen bei sich zu Hause im Speisezimmer am Mittags- tische sitzend. Nehmen wir an, es sei Sommer, draußen eine unerträgliche Hitze von 25—30°, die Fenster sind weit geöffnet. Auf dem Tische stehen Speisen — Milch, Fleisch, Eier, Brot, von welchen die Familie isst; die Kinder haben ihr Mahl beendet, laufen um den Tisch herum, die Erwachsenen sind in ein lebhaftes Gespräch geraten, heftig mit den Händen gestikulierend. Die Stimmen werden immer lauter und lauter, es entspinnt sich augenscheinlich etwas wie ein Familiendrama, ein junges Mädchen läuft zum Schränkchen, entnimmt demselben ein Flacon — enthaltend Cyankalı —, trinkt den Inhalt und fällt momentan tot hin. Stellen sie sich andererseits folgendes eigentümliche Bild vor: der Raum ist hermetisch durch eine ungeheure Glasglocke abge- schlossen, aus diesem Raume ist alle Luft bis zum letzten Atom Sauerstoff ausgepumpt, anstatt der Luft sind Dämpfe von Schwefel- wasserstoff hineingelassen, die Temperatur im Raume ist über 90° u u 281 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. erhöht. Am Tische sitzen sonderbare Wesen, lebend, doch voll- ständig unbeweglich, als Nahrung dienen ihnen verschiedenartige mineralische Salze, Oyankali, Morphium, Kautschuk, Chitin, Paraffin, Horn. Sind sie nicht im Rechte, angesichts dieser beiden Bilder zu sagen, dass wir es in beiden Fällen mit Lebewesen zu tun haben, welche sich radıkal im ganzen Dasein ihrer Natur unterscheiden, dass beide Arten Lebewesen aus zwei Substanzen zusammengesetzt sind, die nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ total von- einander verschieden sind, dass zwischen diesen zwei Stoffen, die unter so verschiedenen Bedingungen leben, nichts Gemeinsames ist und nichts Gemeinsames sein kann. Es zeigt sich nun hieraus, dass diese zwei Bilder, welche ich hier vorgeführt habe, nicht von mir ausgedacht sind, sie existieren in Wirklichkeit, mit allen Details, welche in ihnen dargestellt sind, obgleich, wie sonderbar es auch scheinen mag, diese zwei Bilder bis jetzt keiner gesehen hat, oder richtiger: alle sie gesehen haben, alle vorbeigegangen sind, aber keiner sie bemerkt hat. Es gibt tatsächlich in der Natur zwei Plasmen so scharf von- einander verschieden, wie die Lebewesen verschieden sind, welche in den obenerwähnten zwei Bildern dargestellt sind, und jedes dieser Plasmen dient als Basıs für seine Gruppe von Organismen. Das erste Plasma gibt den Ursprung für Pflanzen, Tiere, zuletzt auch dem Menschen, das zweite — den Bakterien, Pilzen und Cyanophyceen. Wodurch unterscheiden sich nun beide Plasmaarten? Die unten angeführte Vergleichstabelle, in welcher nur die Hauptunterschiede aufgezählt sind, zeigt, was für eine Menge Unterschiede es gibt und wie wesentlich dieselben sind. Mycoides Plasma. Amöboides Plasma. (Mykoplasma.) . Kann ohne Sauerstoff leben (Bakterien). . Hält eine Temperatur bis 90° ©. und höher aus (Bakterien, Cyanophyceen). Ist fähig, aus anorganischen Substanzen Eiweiß herzustellen (Bakterien, Pilze, Cyanophyceen, Chromatophoren). . Bewegt sich nicht amöbenartig, bildet keine pulsierenden Vakuolen (Bak- terien, Pilze, Cyanophyceen, Chromato- phoren, Zellkerne). .Ist reich an Phosphor und Nuklein (Bakterien, Pilze, Zellkerne). . Blausäure, Strychnin, Morphium dienen zur Ernährung. Sehr widerstandsfähig. Das zweite Plasma, welches e . Hält eine Temperatur höher als 45 bis (Amöboplasma.) Kann nicht ohne Sauerstoff leben. 50°C. nicht aus. .Ist nicht fähig, Eiweiß aus anorga- nischen Stoffen herzustellen, erfordert organische Nahrung. . Bewegt sich amöbenartig, bildet pul- sierende Vakuolen. . Ist arm an Phosphor und enthält gar kein Nuklein. . Blausäure, Strychnin, Morphium wirken als stärkste Gifte. Wenig widerstandsfähig. als Basis der pflanzlichen und tierischen Organismen dient, schlage ich vor, Amöboplasma zu 282 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete. nennen, da sich in der Amöbe besonders grell und hervortretend die typischen Besonderheiten dieses zarten, stark beweglichen Plasmas, welches so empfindlich ıst für den geringsten Mangel an Sauerstoff, für die kleinste Menge Gift, welches nur auf fertiger zarter, teurer Speise, bestehend aus Eiweiß und Kohlenstoffen, leben kann, hervortreten. Als ganz etwas anderes zeigt sich das Plasma, welches der Welt der Mycoiden — wie ich die Gemeinschaft der Bakterien, Pilze, Oyanophyceen, aber ebenso die symbiotisch mit Amöboplasma lebenden Chromatophoren und einige Zellkernelemente nenne —, als Basis dient. Etwas Rauhes, Grob-Selbständiges, Festes zeigt sich in diesem unbeweglichen, die allerunmöglichsten Bedingungen vertragenden (siehe Kap. VII) Plasma, nicht wählerisch in der Nah- rung, selbständig sein Eiweiß bereitend, sich von Giften nährend, die für Amöboplasma in kleinsten Dosen tödlich sind. Der Abglanz irgendwelcher rauher Bedingungen, welche ohne Zweifel bei seiner Entstehung auf der Erde herrschten, lässt sich in ıhm deutlich er- kennen. Dieses Plasma schlage ich vor, Mykoplasma zu nennen. — Man wird mir vielleicht den Vorwurf machen, dass ich einen Terminus gebraucht habe, der früher von Eriksson zur Be- zeichnung eines besonderen hypothetischen Plasmas, vermittelst welchem einige Pilze ( Uredineae), wie es hieß, in den Samen höherer Pflanzen überwintern, um im Frühling den Zyklus ihrer Entwicke- lung wieder zu beginnen, eingeführt wurde. Aber die Existenz dieses Plasmas ıst bis jetzt nicht bewiesen, niemand glaubt daran, höchstwahrscheinlich existiert es gar nicht?) und darum kann man diesen Terminus als frei geworden ansehen. Deshalb und kraft der alten juridischen Regel „res nullius cedit primo occupantı“ habe ich beschlossen, diesen Terminus zu benutzen, ihn zur Bezeichnung eines neuen Begriffes anwendend, um so mehr, als ein anderer, mehr entsprechender Terminus als dieser kaum erdacht werden kann. Betrachten wir jetzt ausführlicher, eins nach dem anderen, alle die sechs Hauptunterschiede zwischen Mykoplasma und Amöbo- plasma, welche oben aufgezählt wurden. II. Die Atmung. Die Sauerstoffatmung ist, wie bekannt, eine der Hauptbedin- gungen des Lebens, sowohl der Tiere als auch der Pflanzen. „So 3) Ward wies nach, dass die Körperchen, welche Eriksson als erstes Merk- mal der Absonderung von Pilzplasma annahm, welche sich scheinbar in zusammen- fließendem Zustande mit dem Pflanzenplasma befinden, nichts anderes sind als Haustorien, d. h. Auswüchse von Pilzhyphen, eingedrungen ins Innere der Zelle, der den Pilz ernährenden Pflanze. Ward, Marshall, On the histology of Uredo dispersa (Eriksson) and the Mykoplasma hypothesis. Proc. Roy. Soc. Bd. 71, 1903, S. 355 and Philosophical Transactions Roy. Soc. London. Ser. B, Bd. 196, 1903, S. 29—46. Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. 383 lange, sagt Pfeffer®), die allgemeinen Lebensbedingungen in zu- reichendem Maße erfüllt sind, tritt überhaupt kein Stillstand der Atmung ein, die auch in ruhenden Organen, in Zwiebeln, Knollen u. s. w. unabhängig fortschreitet.“ Das Protoplasma der Tier- und Pflanzenzellen (Amöboplasma) ist derart gebildet, dass es ohne Zutritt von freiem Sauerstoffe schließlich nicht leben bleiben kann. Ohne Sauerstoff kann kein Tier und keine Pflanze?) leben, so dass „die Unterbrechung der Atmungstätigkeit als unfehlbarer Hinweis auf den eingetretenen Tod erscheint“ ®). Häufig schon nach 5— 10 Minuten, höchstens nach einigen Stunden — selten noch mehr, kommen alle Organısmen ın sauer- stofffreiem Medium um. Wenn auch bisweilen die normale Atmung zeitweilig durch eine Atmung auf dem Wege der Abspaltung des Sauerstoffes von anderen Stoffen, die ihn enthalten (Spaltungs- atmung), d. h. der sogen. Intramolekularatmung, wie diese ın bezug auf Früchte und andere Organe der Pflanzen’) stattfindet, oder ın bezug auf einige parasitische Würmer°), so kann man dieses nicht anders als eine pathologische Erscheinung betrachten’), da zum Schlusse bei Abwesenheit von Sauerstoffzutritt alle lebenden Orga- nismen früher oder später unausbleiblich umkommen. 4) Pfeffer, W., Pflanzenphysiologie, Bd. I, Leipzig 1897, 523. 5) Dude, M., Über den Einfluss des Sauerstoffentzuges auf ar Orga- nismen. — Flora, Bd. XCII, 1903, S. 205. Von Pflanzen kann nur Nitella, nach Angabe von Kühne, ungefähr einen Monat ohne Sauerstoff leben (Kühne, W., Über die Bedeutung des Sauerstoffes für die vitale Bewegung. Zeitschr. f. Biologie, Bd. 36, 1898, N.F., Bd. 18, S. 1), obgleich Ritter diese Tatsache nicht bestätigen konnte, indem er fand, dass dieses Gewächs die Abwesenheit des Sauerstoffs nur einige Tage aushalten konnte (Ritter, Abhängigkeit der Plasmaströmung und Geißelbewegung vom freien Sauerstoff. Flora, Bd. 86, 1899, S. 329). In bezug auf Tiere siehe Pütter, A., Die Atmung der Protozoen. Zeitschr. f. allgem. Physio- logie, Bd. V, 1905, S. 566. — Die parasitischen Infusorien Opalina und Balan- tidium können ohne Sauerstoff in Eiweiß 9-13 Tage leben, Nyetotherus sogar 50 Tage, Spirostomum nur 32—48 Stunden, Paramaecium je nach den Umständen von 4—240 Stunden. 6) Pfeffer, W., Pflanzenphysiologie Bd. I, S. 524. 7) Nach Palladin ist die Kohlensäure, welche bei der intermolekularen Atmung produziert wird, vor allem Nukleolarkohlensäure, d. h. eine solche, welche von Enzymen bedingt wird, die wohl als Produkte des Zellkernes anzusehen sind (Palladin, Über den verschiedenen Ursprung der während der Atmung der Pflanzen ausgeschiedenen Kohlensäure. Ber. der deutsch. botan. Gesellsch., Bd. XXIII, S. 240): Wenn dem so ist, so tritt der Unterschied zwischen Mykoplasma und Amöboplasma in bezug auf das Atmungsbedürfnis noch schärfer hervor. 8) Die letzteren können, ohne aufzuhören energische Bewegungen zu machen, in einem vollständig sauerstofffreien Medium 4—5 Tage lang leben. Bunge, Über das Sauerstoffbedürfnis der Darmparasiten. Zeitschr. f. physiol. Chemie, Bd. 8, 1883. 9) Dieses folgt schon daraus, dass, wie Godlewsky (Botan. Oentralblatt, 1906, S. 539) gezeigt hat, bei Intrazellularatmang nur Prozesse der Dissimilation der Eiweißstoffe, welche die Asparaginbildung als Produkt der Zerstörung des Ei- weißes, begleitet, möglich sind, synthetische Bildung des Asparagins als Anfang der Regeneration des Eiweißes findet bei höheren Pflanzen dabei nicht statt. 254 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete. „Ohne freien Sauerstoff kann kein Leben auf die Dauer be- stehen“, sagt Verworn!?). Als wunderbare Ausnahme von dieser Regel erscheinen die Bakterien — einer der Vertreter der Mycoiden. Einige Bakterien können, wie es zuerst Pasteur gezeigt hat, unbestimmt lange Zeit ohne Sauerstoff leben. Und diese Fähigkeit besitzen nicht nur einige wenige Bakterien, sondern eine große Anzahl von ihnen. Bakterien, welche nicht nur ohne Sauerstoff leben, sondern ihn nicht einmal vertragen können, d.h. die sogen. obligaten Anaöroben sind zahlreich, und noch zahlreicher sind die sogen. fakultativen Anaöroben. Hören wir, was darüber Schmidt und Weist!) sagen, indem sie über Bakterien, die ohne den freien Sauerstoff leben können, sprechen: „Wir kennen zurzeit eine große Anzahl von Bakterien, welche sich auf dieselbe Weise (d. h. ohne Sauerstoff) verhalten, außer einer noch größeren Anzahl solcher, die mitunter und unter besonderen Kulturbedingungen ebensowohl ohne als mit dem freien Sauerstoff gedeihen. Dagegen gibt es nur verhältnis- mäßıg wenige, die entschieden freien Sauerstoff bedürfen, um zu gedeihen. Da die Bakterien bis jetzt die einzige Gruppe von Orga- nısmen sind, von denen man weiß, dass sie fortwährend ohne freien Sauerstoff leben können, so nehmen sie auch in dieser Beziehung eine Sonderstellung unter den lebenden Wesen ein.“ Diese Tatsache scheint so ungewöhnlich, dass einige Gelehrte stark daran zweifelten, dass es in Wirklichkeit solche Organismen gäbe, welche so ganz ohne oxydierenden Prozess als Quelle der Energie auskommen könnten. — Man bemühte sich, diese Erschei- nung auf verschiedene Art zu erklären, um nicht den allgemeinen, für alle Lebewesen gültigen Regeln entgegenzutreten. So sprach besonders Beijerinck!?) die Vermutung aus, dass die anaöroben Bakterien zur Zeit ihres anaöroben Lebens auf Rechnung desjenigen Sauerstoffes existierten, welchen sie zur Zeit ıhres aöroben Lebens aufgenommen und in sich aufgespeichert hatten. Es wurden auch andere Erklärungen dieser Erscheinung gegeben. „Es hat sich doch gezeigt, sagen Schmidt und Weis!'?), dass keine dieser Erklärungen zutrifft; .es muss hingegen als endgültig bewiesen gelten, dass es wirklich Bakterien gibt, welche eine unbegrenzte Anzahl von Gene- rationen hindurch in Medien leben und sich vermehren können, wo freier Sauerstoff sich durch die allerfeinsten Reaktionen nicht nach- weisen lässt.“ Also ist das bakteriale Plasma imstande, ohne Sauerstoff zu leben, das Amöbenplasma aber kann es nicht. Dieser Unterschied ist äußerst wichtig und hat prinzipielle Bedeutung. Augenschein- 10) Verworn, M., Allgem. Physiologie. Jena 1901. 11) Schmidt, Johs und Weis, Fr., Die Bakterien. Jena 1902, S. 133 u. 134, 12) Beijerinck, M., zitiert nach Schmidt und Weis. c. 13) Schmidt und Weis, I. c., S. 136. Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete. 385 lich sind beide Plasmaarten in ihrem Baue grundverschieden. — Schmidt und Weis (l. c.) kommen deshalb vollständig gerecht- fertigt zum Schlusse, dass „die anaöroben Bakterien müssen daher sicher ihr Leben auf eine ganz andere Weise als die aöroben führen“; es müssen nur den anaöroben Bakterien nicht die aöroben, sondern die Gesamtzahl der Tiere und Pflanzen entgegengestellt werden. Das Plasma der anaöroben Bakterien muss auf eine ganz andere Weise leben als das Plasma der Tiere und Pflanzen. Wenn man in Betracht zieht, dass die größte Menge der Bakterien zu den ‘Anaörobionten gehört und verhältnismäßig nur wenige Bakterien nicht imstande sind, ohne Sauerstoff zu leben und auch diese allmählich an eine anaörobe Lebensweise gewöhnt werden können !?), so haben wir Grund, anzunehmen, dass die Anaörobie der erstälteste Zustand der Bakterien war. Aber hieraus folgt, dass die Urbakterien oder Protobakterien schon in einer solchen Epoche der Geschichte der Erde erscheinen konnten, als die letztere noch mit kochenden Gewässern bedeckt war, welche folglich noch nicht gelösten Sauerstoff enthalten konnten. — Das erste Plasma, welches auf der Welt erschien, war so beschaffen, dass es keinen freien Sauerstoff zum Leben nötig hatte, welcher damals im heißen Wasser gar nicht enthalten sein konnte. Von ihrem allerersten Entstehen an waren die Bakterien folglich Anaöro- bionten. Nur später, als die Temperatur derart niedriger wurde, dass der Sauerstoff in gelöster Form im Wasser erscheinen konnte, begannen einige Formen sich allmählich diesen neuen Bedingungen anzupassen und auf diese Weise zeigten sich zuerst fakultative Aörobionten, später auch einige oblıgate aörobe Bakterien. Die Tatsache, dass diese letzteren wieder in anaörobe Organismen ver- wandelt werden können, erscheint als wichtige Bestätigung der Richtigkeit der oben ausgeführten Ansicht. Als sich aus den Bak- terien die Pilze!’) entwickelten, so passte sich das Plasma dieser 14) Willimsky, W., Arch. f. Hygiene. Bd. LIV, Heft 4, 1905. 15) Die Pilze, wie es sich aus dem weiteren Gange der Auseinandersetzung der Theorie der Symbiogenesis ergibt, stehen den Bakterien, mit welchen sie viel Gemeinschaftliches haben, viel näher als irgendwelchen anderen Organismen. Aus diesem Grunde kann man sie als aus den Bakterien hervorgegangen ansehen. — Unter den letzteren können wir schon die Uranfänge der Erscheinungen beobachten, welche in ihrer weiteren Entwickelung zur Bildung der beiden Pilzgruppen — der Ascomycetes und Basidiomycetes -— führen. In der Tat, wenn wir uns aufmerk- sam in die Art der Sporenbildung bei den Bakterien im allgemeinen und beim Baeillus Bütschlii im besonderen (Schaudinn, Fr., Beiträge zur Kenntnis der Bakterien und verwandter Organismen. I Bacillus Bütschlöi n. sp., Arch. f. Pro- tistenkunde, Bd. I, 1902, S. 306) vertiefen, so müssen wir zugeben, dass die Art und Weise der Sporenbildung in beiden Gruppen wesentlich übereinstimmt. Bei Baeillus Bütschlii, kann man sagen, ist dieser Prozess identisch mit dem Prozess der Sporenbildung bei Ascomycetes und die Bakterien selbst kann man mit dem Ascus der Pilze nicht nur analogisieren, sondern auch homologisieren. Wir haben es hier mit 286 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete. hauptsächlich in der Luft lebenden Organismen vollständig dem Leben im Sauerstoffmedium an. Aus einer derartigen Anpassung des Pilzplasmas und des infolgedessen hervorgerufenen Bedürfnisses nach Sauerstoff darf man aber durchaus nicht schließen, dass das Mykoplasma seinen Bau verändert hat, indem es dem Amöboplasma identisch wurde. An und für sich kann die Sauerstoffatmung einiger Bakterien und der Pilze nicht als richtiger Beweis dafür angesehen werden, dass der Prozess der Atmung ungeachtet dessen, dass sein Anfang (Einatmung von Sauerstoff) und Ende (Ausatmung von C0O,) mit der Atmung des Amöboplasmas gleich erscheinen, auch in seiner Mittelphase in beiden Fällen identisch sei. Die Mittelphase kann identisch sein, sie kann aber auch total verschieden sein. Und da wir weiter sehen werden, dass zwischen dem Amöboplasma und dem Mykoplasma noch eine ganze Reihe anderer tieferer Unter- schiede besteht, die sich auch im Reiche der Pilze erhalten haben und auf das Vorhandensein von radikalen Unterschieden im Bau des Pilzplasmas vom Amöboplasma hinweisen, so kann man um so eher voraussetzen, dass im Atmungsprozess der Pilze, ungeachtet der Ähnlichkeit seiner Anfangs- und Endphase, in seiner Mittel- phase sich irgendwelche hervorragende Besonderheiten finden, die diesen Prozess vom selben Prozess beim Amöboplasma unter- scheiden !®). einem Ascus zu tun, welcher zwei Sporen bildet. Andererseits sind uns einige Facta aus dem Leben der Bakterien bekannt, welche an die Conidienbildung erirnern, ja bei der Gruppe Actinomycetes, welche von den einen zu den Bakterien, von den anderen zu den echten Pilzen gezählt wird, gibt es schon vollständig sichtbar aus- geprägte Conidien. Auf diese Weise sind zwei der allercharakteristischsten Züge der Pilzorganisation — Ascus und Conidien im Uranfang schon bei den Bakterien vor- handen. Hinzugefügt muss werden, dass sowohl bei den Bakterien als auch bei den Pilzen die Zellwand aus stickstoffhaltigen Stoffen besteht, dass weder die einen noch die anderen eine Spur von amöboider Bewegung des Protoplasma zeigen, dass Zoosporen sowie kontraktile Vakuolen den beiden vollständig fehlen u. s. w. — Einen ähnlichen Standpunkt nimmt in letzter Zeit auch A. Meyerein (Meyer, A., Studien über Morph. u. Entwickelungsgesch. der Bakterien. Flora, Bd. 84, 1907, S. 240). 16) Der Atmungsprozess der Pilze ist noch so wenig erforscht, dass man nicht einmal behaupten kann, alle Pilze hätten Sauerstoff zu ihrer Atmung nötig. Wenn man sich dessen erinnert, dass es Pilze gibt, die fähig sind, freien Stickstoff der Luft zu binden (siehe unten), ganz ähnlich wie es einige Bakterien tun — was kein Amöboplasma ausführen kann — dass ferner die Pilze die Fähigkeit besitzen, die Eiweißmoleküle synthetisch aufzubauen, so erscheint es klar, dass die Pilze sich so stark in physiologischer Hinsicht von den amöboiden Organismen unterscheiden, dass es nicht wunderbar wäre, wenn die Mittelphase der Pilzatmung sich als anders ver- laufend erweist als beim Amöboplasma. Sehr wahrscheinlich ist es, dass einige Pilze, besonders die, welche fähig sind, freieu Stickstoff zu binden, sich als fähig erweisen, ganz ohne Sauerstoff leben zu können, d. h. ebensolche Anaörobionten würden wie der größte Teil der Bakterien. Dies ist um so wahrscheinlicher, da bei den Bakterien, die fähig sind, freien Stickstoff zu binden, diese Fähigkeit nach der Meinung Beijerinck’s (Beijerinck, M., Botan. Centralbl. 1905, S. 298) immer im Zusammenhange mit der Fähigkeit, ohne Sauerstoff zu leben, steht. Wenn das die Eigentümlichkeit der Bakterien ist, so wird sie wohl aller Wahrscheinlichkeit Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete. 2387 Ill. Die Beziehung zur Temperatur. Kühne!”) war der erste, welcher es unternahm, umständliche Untersuchungen über das Verhalten der Amöben, Infusorien und diverser Gewebe gegenüber äußersten Temperaturen anzustellen. Aus diesen Experimenten über maximale Temperatur, welche die verschiedenen niederen Lebewesen ebenso wie Pflanzenzellen ver- tragen können, hat es sich erwiesen, dass schon bei 35° Amöben, welche sich bis dahin energisch bewegten, ihre Fähigkeit, sich zu bewegen, verloren, wobei ihr Körper sich zusammenzog, einstweilen aber leben blieb; bei Erhitzung bis zu 40-45° brachte die darauf folgende Abkühlung sie nicht wieder zum Leben. Dabei konnte Kühne verschiedene Beziehungen zur Temperatur bei den ver- schiedenen Plasmen feststellen, das kontraktile Plasma zog sich schon bei 40° zusammen und kam um, das übrige erst bei 45°. — Für das Protoplasma der Pflanzenzelle wurde von Max Schultze'®) 47°C. als Maximaltemperatur festgestellt, nach dieser erfolgte der Tod'!?). Seit der Zeit wurden viele Beobachtungen über die Wider- standsfähigkeit verschiedener Organısmen in hohen Temperaturen gemacht, welche in Tabellen von Fürth?®) und Davenport and Castle?!) zusammengestellt worden sind, die mir als Material für die folgende verkürzte Tabelle dienten: Tabelle der Maximaltemperaturen der amöboiden Organismen. Maxi- Opti- Maxi- Tiere. mum Pflanzen. mum mum IC, @: 1 Aethalium septium . . . . 40 Mucor racemosus. . . 20—25 33 Amoebaeı a2 2.0. 2 2240-45. Mueoripusilluse. . . = 50 INCEHNOPHEYBIEN 7 lan 42 SPIIOsyrase pe: _ 44 nach auch auf die Pilze anwendbar sein. Versuche in dieser Richtung wären des- halb im höchsten Grade wünschenswert. 17) Kühne, Untersuchungen über das Protoplasma und die Kontraktilität. Leipzig 1864. 18) Schultze, Max, Das Protoplasma der Rhizopoden und der Pflanzen- zellen. Leipzig 1863. 19) Nach Miehe „kann man für alle höheren Pflanzen und auch für die meisten niederen annehmen, dass ihre Existenzmöglichkeit zwischen den Grenzen 0—10° und 35—45° eingeschlossen sind... Für die Metazoen liegt die maximale Temperatur meist zwischen 30 und 40°, selten steigt sie auf 45°, so dass allgemein für die Hauptmasse der Lebewesen die Existenz oberhalb 45° ausgeschlossen ist. Miehe, H., Die Selbsterhitzung des Heues. Jena 1907, 8. 89. 20) Führt, Otto, Vergleichende chemische Physiologie der niederen Tiere. Jena 1903, S. 424. 21) Davenport und Castle, Studies in Morphogenesis. III. On the Aceli- matisation of Organisms to High Temperatures. Arch. f. Entwickelungsmechanik, Bd. II, 1896, 8. 227. 288 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete. Maxi- Opti- Maxi- Tiere. mum Pflanzen. mum mum 85 a Einige Flagellaten . . . . . 60 Eladophoran. ....). u: — Aa areBesum. gel e vn nn 47 Oedogonium . . . . — 44 SIentor = .7... 17.0: 44 50 Bloihasezonata nı = 15 24 ENEITEEV Dee ee a Er 38 Vaucheria repens . . — 30 Berns,oyatus in". 3 . na 40 Hydrurus foetidus . . 10 16 Westusfiyenenis” „iu. öspes ® 34 Pflanzenzellen nach Medusen, .,.lı“ +2 male van 8038 KSchnltze; 2... . 20 — 47-48 Verschiedene Mollusken . . . 30—40 Triticum vulgare. . . 29 42 Aplysiar.. = In U E peuhgERe 33 Simapıssalba . Ra. e 27 37 Antedon.. N... Peek er 30 Acer platanoides . . . 24 26 ° Seeigel ' .. 1... a0 TI AT Pinasasilvestris. 12.7.7): 27 34 Essig-Nematoden . . ... 30 Phaseolus multiflorus . 34 46 Turbellaria 204 es ı: 45 ZEAFMAIR,,.. une: 34 46 Ansuilluhdae. . . 2. 45 Cucurbita Pepo . . . 34 46 Terebellat 0. . © 5° 1.27--30. - Bilodea: canadensis.” .ı — 4223) Daphnatsımas zes 34 Cyelops quadricomis . . . .» 36 Gammarus“, east: van serie: 36 Palaemon, 22... 0. 2 Ge. 26 Culex pipiens (larva) . . . . 40 ENpPocampus a ur ns: 30 Brosch ne. Hr ZU HERE, 4 Salamandera nv. = 2... 44 Hund Sr een Rear ee An (Fortsetzung folgt.) 22) Dallinger, W. H., On a series of experiments made to determine the thermal deathpoint of known Monad germs, when the heat is endured in a fluid. Journal Royal Microse. Soc. 3, 1880, S. 1—16. — Bedauerlicherweise hatte ich nicht die Möglichkeit, mich mit der Originalarbeit bekannt zu machen, und so kann ich es nicht beurteilen, wie weit die Tatsachen, die von Dallinger angeführt werden, glaubwürdig sind. Zweifel erweckt hauptsächlich die Frage, was dieser Autor unter den Worten Monad Germs versteht, d.h. ob er wirklich die ganze Zeit mit Amöbo- plasma gearbeitet hat oder ob ihm nicht unter diesen Monaden auch echte Mykoiden vorlagen. In letzterem Falle wären die hohen Temperaturen, die besonders seine „Sporen“ fähig sind auszuhalten, begreiflich. 23) Bei dieser Temperatur trat der Tod noch nicht ein; die Bewegung setzte sich sogar bei 52°C. fort (Hauptfleisch, Jahrb. f. wiss. Botan., Bd. XXIV, 1892, 5.209), aber wie lange Zeit die Pflanze unter dem Einfluss dieser Temperatur blieb, ist nicht angeführt. Vollständig trockene Samen von Pisum sativum können eine Temperatur von 70° ©. vertragen, ohne ihre Keimfähigkeit zu verlieren, aber nicht länger als eine Stunde (Sachs, J., Lehrbuch der Botanik, 3. Aufl., Leipzig 1873, S. 639). — Hier haben wir es allerdings mit einem Körper von ungeheurer Größe im Verhältnis zu den Bakterien oder Pilzsporen zu tun. Wenn die Sporen der Bakterien die Größe einer Erbse hätten, so ist es sehr wahrscheinlich, dass sie eine viel höhere Temperatur aushalten würden als jetzt. Die Temperaturgrenzen der Samen sind also mit denen der Bakterien nicht vergleichbar. Siehe auch Schubert, Flora, 1909, S. 68. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. RK. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Der Abonnementspreis für 24 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen. Bd. XXX. 1. Mai 1910. NM 9. Inhalt: Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten als Grundlage der Symbiogenesis, einer neuen Lehre von der Entstehung der Organismen (Fortsetzung). — Wasmann, Nils Holm- gren’s neue Termitenstudien und seine Exsudattheorie. — Jordan, Die Leistungen des Gehirns bei den krebsartigen Tieren, besonders bei Cancer pagurus. — Robertson, Expla- natory Remarks concerning the Normal Rate of Growtlı of an Individual and its Biochemical Significance. Theorie der zwei Plasmaarten als Grundlage der Symbiogenesis, einer neuen Lehre von der Entstehung der Organismen. Von Prof. Dr. ©. Mereschkowsky. (Fortsetzung.) _ Aus der Tabelle S.288 kann man ersehen, dass das Amöboplasma in ungeheurer Mehrzahl der Fälle schon bei 45° umkommt, höchstens bei 50°, und nur in einem Falle geht die Dauerhaftigkeit in bezug auf einige Flagellaten bis 60° °%). 24) Dabei sind von mir einige mehr als zweifelhafte Fälle vom Aufenthalt von Tieren in heißen Quellen mit noch höheren Temperatären in Hinsicht auf die nicht besonders ausführlichen Beobachtungen dieser Art gar nicht in den Kreis der Be- obachtungen gezogen. In der Tat bleibt es unerklärt, ob die Temperatur in der ganzen Quelle dieselbe hohe bleibt oder ob es mehr kühlere Stellen gibt, in welcher diese Tiere gewöhnlich leben können, nur auf kurze Zeit in die heißen Stellen hinübergehend. Wir besitzen übrigens sehr sorgfältig ausgeführte Versuche von Dallinger (Dallinger, The Presidents Adress. Journal Royal Micros. Soc. 1887, S. 185—199) über Protozoen, deren Maximaltemperatur 60° betrug; indem er sie im Laufe einiger Jahre an immer höhere und höhere Temperaturen gewöhnte, gelang es ihm, eine Rasse heranzuzüchten, welche fähig war, eine Temperatur bis 70° aus- zuhalten. — Aber auch diese Tatsache muss hier unbeachtet bleiben, da diese künst- liche Widerstandsfähigkeit nicht mit den normalen Beziehungen des Organismus zu XXX. 19 90 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. Ganz anders verhält sich das Mykoplasma zu hohen Temperaturen. Öscillarien z. B. (zu den Oyanophyceen gehörend) der Wirkung heißer Dämpfe ausgesetzt, konnten nach Hoppe-Seyler?°) eine Temperatur von 64,7° vertragen und nach sehr sorgfältigen Be- obachtungen, welche in Amerika in den heißen Quellen des Yellow- stone-Parkes gemacht wurden, wurden diese Algen ?®) bei noch viel höheren Temperaturen lebend gefunden. So wurde eine Cyano- phycee Hapalosiphon laminosus im Wasser, das eine Temperatur höher als 90°?”) hatte, gefunden. Went sagt ebenfalls: „the highest temperature at which filamentous Myxophyceae (d. h. Öyanophyceen) are known to exist is 86° 0.?°)* — und setzt hinzu — „but uni- cellular Algae have been observed by Brewer in California in water at a temperature of 94,40° 0.?°).“ Man hat diese Tatsachen häufig angezweifelt?®), aber ohne allen Grund; wenigstens einige von diesen können als ganz sicher hingestellt angesehen werden, wie sich jeder darüber überzeugen kann, der die Beschreibung von ähnlichen Beobachtungen, die von de Vries®!) gemacht worden sind, liest. „Die Wassertemperatur, sagt er, erreicht nahe am Rande fast den Siedepunkt. In einigen Brunnen nahm ich Temperaturen von 86—90° C. wahr, während der Bulbus des Thermometers den lebenden Algen angedrückt war.“ hohen Temperaturen verglichen werden kann. In der Tat, wenn es Dallinger gelang, die Maximaltemperatur um 10° hinaufzuschieben, so wäre es vielleicht ge- lungen, wenn er die Methode der allmählichen Gewöhnung auf Bakterien oder Cyanophyceen angewandt hätte, diese Organismen ebenso auf eine höhere Maximaltemperatur zu bringen und nur dann hätte man beide Ziffern vergleichen können. — Jetzt ist die Höhe des ausnahmsweise hohen Maximums, welche von Dallinger gefunden wurde und die Höhe der Normaltemperatur für andere noch nicht gewöhnte Organismen untereinander nicht vergleichbar. Aus dem Öbenange- führten ist es klar, ‚wie wichtig es ist, Experimente ähnlich denen zu machen, wie sie Dallinger mit Protozoen machte, aber in bezug auf Bakterien und Oyano- phyceen. 25) Hoppe-Seyler,' Physiol. Chemie. Teil I, Berlin 1877. 26) Die Cyanophyceen, wenn auch zu den Mycoiden gehörig, werden ihrer grünen Farbe wegen Algen genannt, wozu sie früher auch gezählt wurden und von einigen noch heute gezählt werden. 27) Schmidt, Johs und Weis, Fr., Die Bakterien. Jena 1902, S. 144. 28) West, G. S., Some Algae from .Het Springs. Journal of Botany. July 1902, S. 241. 29) West, G. $., A Treatese on the freschwater Algae. 1904, S. 307, wo die Arbeit Brewer’s zitiert wird. Brewer, W. H., American Journal of Science. Ser. 2, Bd. XLI. 30) Die Zweifel fußten auf die Möglichkeit großer Temperaturunterschiede zweier sogar dicht beieinanderliegender Punkte in den heißen Quellen; wenn folg- lich der Thermometer nicht sorgfältig auf derselben Stelle eingestellt war, wo die Algen wuchsen, so ist ein Fehler sehr wohl möglich. Die Beobachtungen De Vries beseitigen, wie wir gleich sehen werden, den Zweifel vollständig. 31) De Vries, H., Arch. Neerland. V, 1870, S. 385. Die Zitate sind aus Lotsy (Vortrag über botan. Stammesgeschichte I, S. 374) entnommen. Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. 2991 Es unterliegt also gar keinem Zweifel, dass die Cyanophyceen imstande sind, bei einer Temperatur von 86—90 und sogar 94,40° 0. zu leben und sich zu vermehren, also fast im kochenden Wasser. Nicht weniger wunderbare Tatsachen dieser Art geben uns die Bakterien — andere Vertreter des Mykoidenreiches. Während die Mehrzahl der Tiere und Pflanzen bei einer Tempe- ratur von 40—45° umkommt, gibt es Bakterien, welche bei einer Temperatur, die niedriger als diese ist, überhaupt nicht mehr leben können, welche sich bei 60—70° ©. — einer Temperatur, die für dieselben also das Optimum ist —, am wohlsten fühlen und sich am raschesten vermehren °?). Und so erscheint das Wasser mit einer Temperatur von 70° C., bei welcher jeder Krebs, jeder Fisch, jedes Gemüse gerinnt, in welcher die hineingesteckte Hand sofort verbrüht wird, als beste Bedingung zum Leben des mykoiden Plasmas. — Bisweilen ver- mehren sich diese Bakterien noch bei einer Temperatur von 75° C., bei welcher jedes uns bekannte Eiweiß gerinnt, ja Miehe°®) und Karlinski°*) fanden Bakterien (Bacterium Ludwig, Bacillus cal- factor, Bac. Ilidsensis capsulatus), welche bei S0° C. leben können! Unter ihnen kann Bacterium Ludwigii überhaupt nicht bei einer niedrigeren Temperatur als 50° C. existieren, also unter solchen Bedingungen, unter welchen schon alle Tiere und Pflanzen längst vor Hitze umgekommen sind! Diese im höchsten Grade bemerkenswerten Bakterien, von denen hier die Rede ist, führen den Namen thermophile Bakterien oder einfach Thermobakterien. — Man trifft sie häufig ın der obersten Erdschicht, welche der Erhitzung durch Sonnenstrahlen ausgesetzt ist, in warmen Quellen, in Exkrementen und faulenden organischen Substanzen, wo dank der Gärung die Temperatur sich stark heben kann, bisweilen auch im Darmkanal von Menschen und Tieren, wo sie dank der Abwesenheit von Sauerstoff, wie Rabıno- witsch®®) denkt, auch bei einer Temperatur niedriger als gewöhn- lich leben können. 32) Äußerst interessant wäre es, Experimente über die Widerstandsfähigkeit der Chromatophoren (besonders bei niederen Pflanzen) in bezug auf hohe Tem- peraturen anzustellen und die Chromatophoren außerhalb und innerhalb der Zellen beobachtend, gelingt es vielleicht mit Hilfe der von Engelmann zur Aufdeckung der Assimilationstätigkeit der Chromatophoren angewandten Bakterienmethode nach- zuweisen, dass letztere fähig sind, höhere Temperaturen auszuhalten als das Amöbo- plasma. 33) Miehe, H., Die Selbsterhitzung des Heues. Jena 1907. 34) Karlinski, Zur Kenntnis der Bakterien der Thermalquellen. Hysgien. Rundschau Bd. 5, 1895, S. 685. 35) In letzter Zeit hat es sich erwiesen, dass die Meinung von Rabino- witsch grundlos ist, d.h. dass die Anwesenheit des Sauerstoffes nicht die Wirkung hat, welche Rabinowitsch diesem Faktor zuschreibt. 19* 399 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. Aber auch diese Tatsachen stellen noch nicht die äußerste Grenze der Widerstandsfähigkeit vor, welche den Bakterien eigen ist, wie dies aus den letzten Beobachtungen Eisenberg’s’‘) am Baeillus anthracis hervorgeht. Nach Einwirkung von 70° ım Laufe von 15 Minuten auf diese Bakterien in ihrem vegetativen Zu- stande kamen zahlreiche Keime aus und fuhren fort, sich zu ent- wickeln; nach einer Temperatur von 80°, die 15 Minuten lang ein- wirkte, war ihre Anzahl kleiner, aber sogar nach 5 Minuten langer Einwirkung einer Temperatur von 90° blieben noch einige Keime leben und waren fähig, sich zu entwickeln. Dabei konnte Eisen- berg sich vollständig davon überzeugen, dass nicht die Sporen der vorliegenden Bakterie eine so hohe Temperatur ausgehalten hatten. Zuletzt hielt ein Teil der Oidien aus einigen Kulturen die Tem- peratur von 98° im Verlauf von 15 Minuten aus. Und ebensolche Resultate erhielt er ın bezug auf eine Erdbakterie (Bac. tumescens Zopf) und zwei anderen Bakterien: Dac. megatherium und Bac. ramosus liquefaciens. Noch viel wunderbarer verhalten sich die Bakterien gegen hohe Temperaturen in ihrem Ruhezustande, d. h. als Sporen. Koch, Brefeld und viele andere zeigten, dass die Sporen der Milzbrand- bakterien (Bacillus anthracis) ebenso wie die Sporen der Heu- bakterie (Bae. subtilis) fähig sind, ohne ihre Lebenskraft einzubüßen, eine Temperatur von mehr als 100° C. auszuhalten. Besonders widerstandsfähig in dieser Beziehung sind einige Erdbakterien, welche bisweilen zusammen mit Verunreinigung beim Melken der Kühe ın die Milch geraten. Christen’”) fand z. B. Formen, welche vermittelst heißen Dampfes unter Druck (in der Autoklave) unter folgenden Temperaturen, abhängig von der Dauer der Dampfein- wirkung, getötet werden. Bei 100.27 Snurnach 16 Stunden 2) 105—110° b2) 2) a „ S Ian SEEN 30—60 Minuten $ 120° 3 9 190, a „ 125—-130° „ ,„ ungefähr 5 Re „ 1397 „ ”„ 1 b2) Noch widerstandsfähiger erwiesen sich die Sporen, welche von R. Koch und Wolffhügel gefunden wurden ’®). — Letztere hielten ohne umzukommen, eine Erhitzung in der Luft, im Verlaufe von 3 Stunden, bei einer Temperatur von 140° ©. aus; aber ungefähr 1 Stunde konnten sie ohne Schaden für sich sogar bei einer Tem- peratur von bis 150° C. aushalten. 36) Eisenberg, P., Über die Thermoresistenz der vegetativen Formen der a@roben Sporenbildner. Öentralbl. f. Bakterien (Abt. I), Bd. XCVII, 1908, S. 187. 37) Schmidt, Johs u. Weis, Fr., Die Bakterien. Jena 1902, S. 155. 38) Lafar, Fr., Handbuch der technischen Morphologie. Bd. I, Jena 1905, S. 447. Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete. 293 Es können also die Bakteriensporen, ohne umzukommen, fast 1 Stunde lang eine Temperatur von 150°C. aushalten! „Für diese rätselhaften Tatsachen“, sagt Verworn®®), „fehlt uns vorläufig noch jede Erklärung. Wir können nur annehmen, dass in diesen Organismen nur solche Eiweißverbindungen vorhanden sind, die durch hohe Temperaturen ... nicht zum Gerinnen gebracht werden können.“ Man hat versucht, diese wunderbare Widerstandsfähigkeit gegen hohe Temperaturen nicht durch besondere Eigenschaften des Proto- plasma, sondern der schützenden Wirkung der ungewöhnlich festen und undurchlässigen Hülle, mit welcher die Sporen bedeckt sind, zu erklären. Aber keine Hülle kann den Inhalt der: winzigen Spore gegen das Eindringen einer Temperatur von 120 oder 150° schützen, wenn man diese Sporen, die nur tausendstel Teile eines Millimeters im Durchmesser haben, der Wirkung einer so hohen Temperatur im Laufe einer ganzen Stunde aussetzt *°). Das widerspräche allen Gesetzen der Physik. Zuletzt darf man nicht außer acht lassen, dass nicht nur Sporen, d.h. Dauerzustände von lebenden Organismen eine ungewöhnlich hohe Temperatur, wie ungefähr 100° C. vertragen können, sondern auch die lebenden Organismen im vegetativen Zustande, die fähig sind, sich zu vermehren und zu wachsen und das sowohl unter den Bakterien als auch unter den Uyanophyceen. Augenscheinlich haben wir es hier mit einem Protoplasma, das ganz anders gebaut ist als das Amöboplasma, zu tun, und deshalb hat Pfeffer*!) recht, wenn er sagt: „es ıst klar, dass die thermo- philen Bakterien, welche noch bei 74° C. gut gedeihen (wir haben gesehen, dass sie auch noch bei 94° leben) oder die Sporen, welche im wasserdurchtränkten Zustande eme halbe Stunde Siedhitze aus- halten“), nicht solche Eiweißverbindungen enthalten, die schon bei niederer Temperatur koagulieren.* / Man hat auch versucht, die Widerstandsfähigkeit der Sporen und einiger Organismen gegen hohe Temperaturen damit zu erklären, dass ihr Plasma dichter sei, d.h. weniger Wasser enthält, sozusagen 39) Verworn, Max, Allgemeine Physiologie. Jena 1901, S. 305. Lange Zeit hat man sich geweigert, ähnlichen Tatsachen zu glauben, so unwahrscheinlich schienen sie. So sagt Sachs: „Verschiedene neuere Angaben über hohe Tempera- turen, welche Pilzsporen ertragen sollen, ohne ihre Keimfähigkeit zu verlieren, grenzen vielfach an das Unglaubliche und bedürfen so sehr der kritischen Sichtung, dass ich sie hier einstweilen übergehe“. Sachs, J., Lehrbuch der Botanik. 3. Aufl., 1873, Leipzig, S. 639. 40) Migula (siehe Lafar, Techn. Mykolog., Bd. I, S. 116) sagt, auch diese „Ansicht ist sicher nicht richtig“ und schreibt die Widerstandsfähigkeit der Bakterien gegen so hohe Temperaturen den Eigenschaften des Protoplasma zu. 41) Pfeffer, W., Pflanzenphysiologie, Bd. I, Leipzig 1897, S. 54. 42) In Wirklichkeit gibt es, wie wir gesehen haben, Sporen, welche in feuchtem Zustande eine Temperatur von 150° ©. im Verlaufe einer Stunde aushalten! 294 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. trockener ist. — Und in der Tat, wie Lewith®?) gezeigt hat, er- höht sich die Temperatur der Gerinnung bedeutend bei Verminde- rung des Wassergehaltes im Eiweiß. Pfeffer**) ist aber mit einer derartigen Erklärung nicht ein- verstanden. Er sagt: „Da diese Resistenz auch den soeben ge- bildeten und nicht aus der Kulturflüssigkeit entfernten Sporen zukommt, die ohne Frage von Wasser durchtränkt sind, so ist die Widerstandsfähigkeit in diesem Falle nicht durch das Austrocknen bedingt, wie es Cohn®?) und einige andere Forscher (Cramer, Davenport) annehmen.“ Nach der Ansicht Pfeffer’s ist der Tod in diesem Falle nicht durch Gerinnung des Eiweiß bedingt, um so mehr, als durchaus nicht alle Eiweißkörper dem Gerinnen ausge- setzt sind. Wenn man aber auch zulässt, dass die obenangeführte Erklä- rung über die Widerstandsfähigkeit der Organismen gegen hohe Temperaturen richtig ist, so schwächt das doch nicht den Grad des Unterschiedes zwischen Amöboplasma und Mykoplasma, welche sich in ihrer Beziehung zur Temperatur zeigt: ist das Mykoplasma fähig, sich derart zu verdichten, wie es das Amöboplasma nie tun kann, so weist das eben darauf hin, dass sich im Bau beider Plasmen irgendwelche verschiedene, bedeutende Unterschiede hervorbringen lassen. Diese Bedingungen erlauben es, dem einen Plasma sich im hohen Grade zu verdichten und damit ıhn äußerst widerstandsfähig gegen hohe Temperaturen zu machen, ebenso wie sie das andere Plasma, welches dieser Fähigkeit sich zu verdichten entbehrt, äußerst empfindlich und zart in dieser Hinsicht machen *®). Von den Mykoiden haben wir bisher die Beziehung der Cyano- phyceen und Bakterien zur Temperatur betrachtet. Was die Pilze anbelangt, so haben die Erscheinungen der Konvergenz allmählich die Lebensäußerungen des Mykoplasmas, aus welcher auch die Pilze gebaut sind, zu mehr oder weniger Ähnlichkeit mit den Lebens- erscheinungen des Amöboplasmas geführt. Das Plasma der Pilze hat sich, hauptsächlich unter dem Einflusse des parasitischen und saprophytischen Lebens, verzärtelt, wenn auch hier sehr bemerk- 3) Lewith, $., Über die Ursache der Widerstandsfähigkeit der Sporen gegen hohe Temperaturen. Arch. f. experim. Pathol. u. Pharmakol. Bd. 26, 1890, S. 351. 44) Pfeffer, W., Pflanzenphysiologie, T. II, Leipzig 1904, S. 294. 45) Cohn, F., Beiträge zur Biologie der Pflanzen, Bd. 2, 1887, S 266. 46) Möglich, dass beide Eigenschaften des Mykoplasma — die Fähigkeit, hohen Temperaturen zu widerstehen und die Unfähigkeit, amöboide Bewegungen auszu- führen, als Resultat irgendeiner allgemeinen Besonderheit des physischen Baues dieses Plasmas erscheinen. Möglicherweise liegt die allgemeine Ursache dieser beiden Phänomene in der größeren Dichtigkeit des Mykoplasmas. — Ich fordere die Lieb- haber vom Eindringen ins Wesen der Dinge ä la Nägeli auf, zwei Micellartheorien auszudenken, eine für das Amöboplasma, eine andere für das Mykoplasma, die derart konstruiert sein sollten, dass letztere gleichzeitig die Fähigkeit des Mykoplasmas, hohe Temperaturen zu vertragen und seine Unfähigkeit zur Bewegung erklären würde: Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. 995 bare Abdrücke des groben, rauhen, ursprünglichen Mykoplasmas, der Bakterien, aus welchem das Pilzplasma hervorging, bemerkt werden können. So hat z.B. Tsiklinsky“*”) einen fadenförmigen Pilz, welcher ın der Erde lebt und auf Brot einen schimmelartigen Do wie Baumwolle bildet, gefunden, der bis 60°C. ns Ein an Schimmelpilz war von Behrens*®*) auf feuchten Hirsekörnern be- obachtet worden. Tsıklinsky fand ebenso in der Erde zwei Arten Actinomyces, von welchen einer sehr verbreitet ın der Erde, auf Dünger, Heu, Stroh, Kartoffeln u. s. w. ist, und welcher von ıhr Thermoactinomyces vulgaris genannt wurde; er wächst am besten (Optimum) bei 57° C. und erreicht sein Maximum erst bei 70° C., seine Sporen halten aber eine Wirkung von feuchter Hitze in 100°C. 20 Minuten lang aus. In der untenstehenden Tabelle, welche auf Vollständigkeit keinen Anspruch macht, sind von mir einige besonders interessante Tatsachen in bezug auf die Widerstandsfähigkeit des Mykoplasmas gegen hohe Temperaturen zum Vergleich mit einer ebensolchen obenangeführten Tabelle, die auf das Amöboplasma angewandt war (3.9.1 2878.): Tabelle der Maximaltemperaturen der mykoiden Organismen®). Opti- Maxi- mum mum Beobachter IC. e. Bacillus Ilidsensis capsulatus . . = s0 Karlinski Cladornrea nv we Run. ,: 55 65 Kedzior Bacille Nr. : Nr. 58—60 70 Tsiklinsky Bacille Nr. : et ar EEE 210871 73@) Tsiklinsky Schimmelrasen auf Brot . . . 56 R Behrens Thermomyces lanuginosus . . . 54-55 63 Tsiklinsky Thermoactinomyces vulgaris . . 57 70 Tsiklinsky Dessen Sporen vertragen 20 Min. im Dampiem.e.. ae, ; _- 100 Tsiklinsky SirepioiBfix nr ee. 55 62 Sames Baeıllnstramesası "mn. ar, 25—28 38 W. Ward Aspergillus fumigatus. . . . . 38—40 60 Renon, Cohn Aspergillus Lignieresi . fa - — 53 Costantin et Lucet Aspergillus micro-virido- Gihrinus 5 - 45 Costantin et Lucet Thermophile Bakterien . . . . 60-70 75 Globig, van Tieghem, Same 47) Tsiklinsky, P., Sur les Mucedindes thermophiles. Annales de l’Instit- Pasteur. Bd. XIII, 1899, S. 500 und dieselbe: Sur les microbes thermophiles des sources thermales, 1. ce., S. 788. 48) Behrens, J., in Lafar, Handbuch der technischen Mykologie, Bd. I, Jena 1905, S. 449. 49) Es muss bemerkt werden, dass einige Maximalziffern sich hier auf das Wachstum beziehen, da aber der Organismus nach Einstellung des Wachstums noch einige Temperaturerhöhungen vertragen kann, dabei leben bleibend, so muss ein Teil der in vorliegender Tabelle angegebenen Ziffern in Wirklichkeit noch höher sein, 996 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete., Opti- Maxi- mum mum Beobachter IC: IE: Thermoidium sulphureum . . . 35-455) 53 Miehe (Ber. d. deutsch. bot. Ges. 1908) Baeillus-subtülie. .. ... - = 50 Brefeld, Schreiber Bacillus, allmählich sewöhnt bis ‚ Z— 58 Tsiklinsky ’Bacillus subtilis, Sporen 25—30 Nie. . 5 = 140 A. Meyer Ustilago carbo, Sonn trocken ö — 104-120 Hoffmann Ustilago destruens, ebenso . . . — 104-120 Hoffmann Oidium aurantiacum, ebenso . . — 140 Payen Penieillium glaucum, ebenso . . — 127—132 Pasteur Beziza. repanda,.. u. cn. = 138 Schnitz Cyanophyceser 7 . 0. Pan! — 86-90 De Vries Cyanophycesemrs m se — 85 Went Oyanophyceae . . 5 _ 94,5 Brewer Hapalosiphon laminosus ( (Cyan.) 2 — 90 : Schmidt u. Weis, Bakt. 144 Osallana er a -- 64,7 Hoppe Seyler Saccharomyces . . . . . . .. 28-34 34-40. Pedersen, Hansen Saccharomyeastmı er. = 60—65 Kayser Saccharomyces, trocken . . . . — 115-120 Manassein Saccharomyces, trocken . . . . — 2580 Zopt Thermoascus aurantiacus . . — 55 Miehe Sporen der Bakterien, feucht, kin _ 140 Christen Sporen d. Bakterien, 1 Stunde lang _ 150 Koch, Wolffhügel Baeterium Ludwigü . . . ... 55-57 ..80 Karlinsky Bacıllusgcallaetorl en, eu: — 65—70—50 Miehe Bacillus anthracis, vegetativ. Zu- stand der Sporenbildn., 15 Min. — 70 Eisenberg Bacillus anthraeis, dasselbe, 5 Min. — 90 Eisenberg Bacillus anthraeis, dasselbe, Oidien, 157 Min. ke Nee u 98 Eisenberg Bacillus tumescens Zopf, vegetat. — 70—98 _ Eisenberg Bacillus megatherium, vegetat. . — 70-98 . Eisenberg Bacillus ramosus rn! yegelatı . 2 EIS HEARNNS — 70—98 Eisenberg Das ee von Organismen, welche fähig sind, ım Wasser nahe am Kochpunkte zu leben und sich zu vermehren, ist vom theoretischen Standpunkte ein höchst wichtiger Faktor. Wir sahen oben bei der Untersuchung der Tatsachen, die die Atmung berührten, dass die ersten Organismen, in Gestalt der Bakterien, in einer solchen Epoche der Erdgeschichte erscheinen konnten, als das Wasser noch kochend war und folgedessen keinen Sauerstoff enthielt. Aber damit die Entstehung des Lebens in dieser Epoche möglich war, muss zugelassen werden, dass nicht nur die Abwesen- heit von Sauerstoff im Wasser, sondern auch die sehr hohe Tem- peratur nicht als Hindernis zu ihrer Entstehung dienen konnten. Und jetzt konnten wir uns überzeugen, dass sogar die Temperatur 50) Wächst noch vorzüglich bei 50° C. 51) Centralbl. für Bakt. (Abt. I), Bd. XCVII, 1908, S. 187. Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. 297 des Kochens oder eine dem sehr nahe, in der Tat nicht dazu als Hindernis erscheint. IV. Die Synthese der Eiweißstoffe. Das Mykoplasma besitzt die Fähigkeit, Eiweißstoffe zu produ- zieren, indem es dieselben aus sehr einfachen unorganischen Stoffen schafft —, eine Fähigkeit, die dem Amöboplasma gänzlich abgeht. Deshalb kann das letztere nur dann leben und sich vermehren, wenn es fertige Eiweißstoffe von außen erhält°?). Dass dieser Satz in bezug auf das Tierreich richtig ist, er- fordert gar keine weiteren Erklärungen. Doch dieser Satz kann auch vollständig auf die Pflanzen angewandt werden, da das Üyto- plasma der Pflanzenzelle selbst unfähig ıst, organische Stoffe aus unorganischen zu produzieren, selbst so einfache wie Kohlehydrate, sie hat ebenso wie das Plasma der Tierzelle fertige organische Nahrung nötig. Das klingt wohl recht paradox, da die Pflanzen immer als typische Vertreter der autotrophen Ernährungsweise angesehen wurden. Dennoch ist dieser Satz unbedingt richtig, weil, wenn die Pflanzen organische Stoffe synthetisch aus unorganischen herstellen, können sie das nur dank den eingeschlossenen Chromatophoren tun; diese letzteren sind es, die die Pflanzenzelle mit fertiger, organischer Speise versehen, da letztere nicht imstande ist, die Aufgabe des Aufbaues von komplizierten organischen Stoffen selbst zu erfüllen°®). Was nun die Chromatophoren anbelangt, so gehören 52) Dieser Satz klingt freilich recht paradox, da man überall, in allen Lehr- büchern und Spezialwerken, den ganz entgegengesetzten Satz finden kann, eben den, dass die Pilze sich durch Unfähigkeit, organische Substanzen selber zu produzieren, charakterisieren und dass sie deshalb zum Leben fertige organische Nahrung nötig haben. So sagt z. B. Zopf in seinem Werke „Die Pilze“ (S. 439): „A priori ist nur klar, dass die Pilze nicht imstande sind, organische Substanz selbst zu erzeugen (weil sie chlorophyllos sind), dass sie vielmehr die nötige organische Substanz in fertigem Zustande von außen beziehen müssen.“ Dieses ist aber nur richtig in bezug auf Kohlehydrate. Was die Eiweiße an- belangt, so sind die Pilze imstande, dieselben selbst auf synthetischem Wege herzu- stellen, indem sie den Stickstoff aus Salzen oder sogar aus der Atmosphäre in Form von freiem Gase schöpfen. Wenn für viele Pilze die ganze organische, auch die Eiweiß- nahrung in fertigem Zustande unumgänglich ist, so ist das eine sekundäre Erschei- nung, hervorgerufen durch Parasitismus und Saprophitismus. Aber ebenso wie es unrichtig wäre, die Phanerogamen durch Unfähigkeit, ihre organischen Körper aus unorganischen Stoffen herauszuarbeiten, zu charakterisieren, nur weil einige ihrer Vertreter unter dem Einflusse des Parasitismus diese Fähigkeit verloren haben, so ist es auch unrichtig, die Pilze für solche Organismen zu halten, „welche nicht im- stande sind, organische Stoffe selbst zu erzeugen.“ 53) Mir sind wenigstens keine unwiderleglich unzweifelhaften Tatsachen bekannt, welche beweisen könnten, dass in der Pflanzenzelle, welche keinerlei Art von Plastiden enthält, Kohlehydrate oder Eiweißstoffe selbständig ausschließlich aus unorganischen Stoffen entstehen könnten. 298 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. dieselben, wie ich schon an einer anderen Stelle gezeigt habe, gar nicht zur Pflanze selbst’*)., — In der Tat gibt es ernsthafte (Gründe, sie nicht für Organe oder Organoide der Zellen, von letzterer selbst hervorgebracht, zu halten, sondern für besondere Organismen aus dem Reiche der Mykoiden, welche von außen ins Protoplasma der Tierzelle eingedrungen und mit ıhr in eine Art inniger Symbiose getreten sind, welche „Pflanzen“ zu benennen üblich ist. Und gerade diese von außen her eingedrungenen Orga- nismen (Cyanophyceen) erscheinen als Lieferanten der organischen Stoffe für die Pflanzenzelle. Sie und nicht die Pflanzenzelle selbst erscheinen auf diese Art als autotrophe Organismen. Die Zelle selbst der Pflanze atmet und nährt sich ganz wie eine beliebige Tierzelle, nur mit dem Unterschiede, dass die Tiere fertige orga- nische Nahrung von außen erhalten, während die Pflanze dank dessen, dass sie im Inneren Zubereiter organischer Stoffe trägt, dieselben von innen erhält. Auf diese Weise ist das Amöboplasma weder bei den Tieren noch bei den Pflanzen fähig, synthetisch solche zusammengesetzte organische Stoffe wie Kohlehydrate, Amyde, Proteinstoffe zu pro- duzieren >). Ganz anders steht die Sache mit dem Mykoplasma. Dieses letztere baut mit großer Leichtigkeit die kompliziertesten Moleküle der organischen Stoffe aus den allereinfachsten unorganischen Kör- pern. Führen wir einige Beispiele an. Die Bakterien. Die Bakterien sind fähig, den Stickstoff der Luft zu assimi- lieren und mit Hilfe von Mineralsalzen und Wasser daraus die Eiweißstoffe zu erzeugen, aus welchen ihr Protoplasma besteht. Solche Fähigkeiten besitzen z. B. Bacterium, oder wie er häufiger genannt wird, Clostridium Pasteurianum. Nach den Versuchen Winogradsky’s’‘) kann diese Bakterie, welche im Boden lebt, 54) Mereschkowsky, C©., Über Natur und Ursprung der Chromatophoren im Pflanzenreiche. Biol. Centralbl. Bd. XXV, Nr. 18, 1905. 55) Im höchsten Grade wichtig wäre es, vermittelst ausführlicher und umständ- licher Experimente klarzustellen, ob die sogen. „Schimmelpilze‘“ aus der Gruppe der Phycomyceten fähig sind, Stickstoff in Form unorganischer Salze zu assimilieren. Auf diese Frage existiert ein positiver Hinweis von Laurent über Mucor racemosus (Laurent, E., Recherches sur la valeur comparee des nitrates et des sels amonia- caux comme aliment de la levure de biere et de quelques autres plantes. Annales d. ’Institut Pasteur Bd. 3, 1899, S. 362) und ein eher negativer Hinweis von Falk in bezug auf Sporodinia grandis (Falk, R., Beiträge zur Biologie der Pflanzen Bd. 8, 1901, S. 213). Abgesehen davon, dass die Beobachtungen beider Autoren einander widersprechen, muss man noch im Auge behalten, dass Laurent Okdium lactis (Ascomycet) „cette mucedinde“ (l. c. S. 370) nennt. Danach kann man be- zweifeln, ob er es in diesem Falle wirklich mit Phycomyceten zu tun hatte. 56) Winogradsky, S., Comptes rendus d. l’Ac. d. Sc. Paris, Bd. OXV], 1893. Daselbst: Bd. CXVIII, 1594 — Archiv des Sciences biologiques de l’Institut Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. 999 in solchen Flüssigkeiten wachsen und sich vermehren, welche keine Spur von Stickstoffverbindungen weder organischer noch unorga- nischer Natur haben, wenn nur zur Lösung eine Portion Zucker zugesetzt wird. Es ist klar, dass solche Bakterien den Stickstoff, aus welchem sie ihr Es baut, aus dem atmosphärischen Stick- stoffe erhält. Nach dieser Entdeckung von Winogradsky wurden ım Boden noch andere Bakterien gefunden, welche fähig sind, atmosphärischen Stickstoff zu binden. So fand Beijerinck’”) eine ähnliche Bakterie, von ihm Axotobacter genannt, welche sich als sehr verbreitet in allen Meeren erwies. Stoklasa°®) bewies, dass diese Fähigkeit eine andere Bodenbakterie, Radiobacter, besitzt, und „es ist möglich, dass sich im Boden noch eine große Menge ähn- licher Formen firden“ 5°) — wie viele Gelehrte voraussetzen. Eine andere Serie von Bakterien, die fähig sind, Stickstoff der Luft zu assimilieren, stellen uns diejenigen Bakterien vor, welche das Hervorsprossen von Geschwülstehen und Knöllchen auf den Wurzeln der Papilionaceen und anderen Pflanzen verursachen. Es sind dies Bacterium (Rhixobium) radieicola und B. (Rhixobium) Beijerinckii und noch eine ganz besondere Art, welche sich auf den Wurzeln von Datisca cannabina findet"). Doch Stickstoff können sich die Bakterien nicht nur aus der Atmosphäre als freies Gas aneignen, sondern auch aus der Erde in Form von Ammoniaksalzen oder in Form von salpetersauren Salzen, und solche Bakterien gibt es eine große Anzahl®!), wobei man sie in obligat autotrophe in bezug auf Stickstoff und in fakul- tativ autotrophe einteilt. Zu den obligat autotrophen, außer den nitrifizierenden Bakterien, welche uns durch die Forschungen Wino- gradsky’s bekannt sind, zählen wahrscheinlich auch die Schwefel- de Medecine Experimentale. St. Pötersburg, 1895, Bd. III, Hett4. — Clostridium Pasterianum, seine Morphologie und seine Eigenschaften als Buttersäureferment. Centralbl. f. Bakteriologie, Bd. 9, 1902, 8. 3. 57) Beijerinck, M., Centralbl. f. Bakteriologie (Abt. IT), Bd. VII, 1901, S. 561. — Der von diesem Autor entdeckte Azotobacter erweckte eine Zeit lang Zweifel daran, ob er wirklich fähig sei, Stickstoff der Luft zu assimilieren, zu diesem Zweifel hat man aber, wie die Experimente A. Koch’s (siehe Lafar, Handbuch der technischen Mykologie, Bd. III, Jena 1904, S. 9) gezeigt haben, gar keinen Grund. — Benecke und Reutner glauben, dass der Azotobacter gar keine Bakterie ist, sondern zu den Oyanophyceen gehört und fassen ihn als farblose Form von Aphanocapsa an. 58) Stoklasa, J.. Über die chemischen Vorgänge bei der Assimilation des elementaren Stickstoffes durch Azotobaeter und Radiobaeter. Berichte d. deutsch. botan. Ges. 1906, Bd. 24, S. 22. 59) Schmidt, Johs und Weis, Die Bakterien, Jena 1902, 8. 115. 60) Montemartini, L., Atti Acad. dei Lincei. Roma (5), Bd. XVI. 1906, S. 144, zitiert nach Czapek,l. c. 61) Lafar, Fr., Handbuch der technischen Mykologie, Bd. I, Jena 1904, S. 412, 300 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. bakterien Beggiatoa, Thiotrix u. s. w., außerdem noch die Eisen- bakterien und vielleicht auch die Purpurbakterien. Bakterien, welche fähig sind, sich Kohlenstoff aus CO, anzu- eignen und organische Moleküle aus diesem einfachen unorganischen Stoffe und aus Wasser aufzubauen, sind ebenfalls einige bekannt ®?). Czapek°) sagt sogar: „überraschend zahlreiche Mikrobenformen sınd imstande, die einfachsten Verbindungen ın der Kohlenstoff- chemie auszunutzen und stehen heute die nitrifizierenden Organismen mit ihrer chemosynthetischen Kohlensäureassimilation nicht mehr isoliert.“ Die Autotrophie der CO, bei den Bakterien, d. h. die Fähigkeit derselben, CO, zu binden, wurde zuerst von Wino- gradsky‘*) in bezug auf die nitrifizierenden Bakterien, welche dazu keine Strahlenenergie des Lichtes nötig haben, sondern CO, im Dunkeln assımilieren können, indem sie dazu chemische Energie, welche sie auf dem Wege der Oxydation des Ammoniaks in Nitriten oder der Nitrite in Nitraten gebrauchen, nachgewiesen. Die Erdbakterie Dacillus pantothrophus kann nach Kaserer‘®), den Wasserstoff oxydierend, die Kohlensäure in Formaldehyd und dann ın noch mehr zusammengesetzte organische Körper überführen. Eine andere von Beijerinck und Delden‘*) entdeckte Bakterie, Baeillus oligocarbophilus kann nach demselben Autor gleichfalls Kohlen- säure assimilieren, es anfangs in CO überführen, und aus letzterem seine Kohlenstoff enthaltende Stoffe, so dass dabei kein Sauerstoff produziert wird; und dieselbe Fähigkeit farbloser Bakterien 60, ohne Produktion von Sauerstoff zu assimilieren, hat Niklewskı°”) be- wiesen. — Das gleiche gilt auch für die Schwefelbakterien des Meeres (Thiobakterien), wie dies Nathansohn‘®) bewies. Beijerinck®°) bestätigte die Beobachtung Nathansohn’s und zeigte, dass zwei Süßwasserbakterien, welche in Gräben, im Schlamme leben, 7hio- baecillus thioparus und Th. denitrificans, imstande sind, CO? im Dunkeln zu assimilieren. Die Energie für diese Chemosynthese entnehmen 62) Uafar, 12 e.,8. A410! 63) Czapek, F., Die Ernährungsphysiologie der Pflanzen seit 1896, Progressus rei botanicae, Bd. I, Heft 2, Jena 1907, S. 479. 64) Winogradsky, S., ]. c. 65) Kaserer, H. Die Oxydation des Wasserstoffes durch Mikroorganismen. Centralbl. f. Bakteriol. (II. Abt.), Bd. XVI, 1906, S. 681. 66) von Delden, A., Centralbl. f. Bakter. (II. Abteil.), Bd. II, 1903, S. 81. 67) Niklewsky, M., Ein Beitrag zur Kenntnis wasserstoffoxydierender Mikro- organismen. Bulletin d’Acad. d. Sc. d. Cracovie. Classe des sc. mathem. et nat. 1906, 8. 911. 68) Nathansohn, Über eine neue Gruppe von Schwefelbakterien und ihren Stoffwechsel. Mitteil. a. d. zoolog. Station zu Neapel, Bd. 15, 1902, S. 655. 69) Beijerinck, M., Ph@nom®dnes de reduction produits par les microbes. Archives N6erland. des sc. ex. et natur. Ser. II, Bd. IX, 1904, S. 131. — Referat im Botan. Centralblatte, 1904, 8.298. — Siehe auch Centralblatt f. Bakter. (II. Abt.), 3d. XI, 1904, 8. 693. Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. 501 sie, die erstere aus der Oxydation des schwefeligen Kohlenstoffes in Schwefel oder Oxydierung von Na,S,O, und Na,S,O, in Na,SO, und S, die zweite aus der Oxydation des Schwefels und der Re- duktion, in Ermangelung freien Sauerstoffes der Nitrate in freien Stickstoff nach der Formel: 6KNO, +55 + 2CaC0, —= 3K,SO, + 2CaSO, + 200, + 3N;,. Wenn man diesen Bakterien als Quelle des Kohlenstoffes Zucker oder andere organische Nahrung bietet, so ziehen sie allemal Kohlensäure oder unorganische Salze der Kohlensäure, aus welchen sie ıhre organischen Stoffe bauen, vor. Auf solche Weise geht in gegenwärtiger Zeit im Schlamme der Kanäle und Teiche ebenso wie auf dem Boden des Meeres eine ununterbrochene Bildung organischer Stoffe aus unorganischen in Gegenwart von Schwefel oder Schwefelwasserstoff vor sich und dieser Prozess geschieht bei voller Dunkelheit. Zu solchen sich in bezug auf CO, autotroph ernährenden Orga- nismen gehören wahrscheinlich auch die übrigen Schwefelbakterien, die Eisenbakterien und möglicherweise auch die Purpurbakterien '®). Die Pilze. Nicht ein einziges Tier kann leben, wenn man ıhm als orga- nische Nahrung nur Kohlehydrate (Zucker, Stärke), Fette und überhaupt nicht stickstoffhaltige Stoffe gibt und dies darum, weil das Amöboplasma der Tiere nicht imstande ist, solche Stickstoff enthaltende organische Stoffe wie Eiweiß aus unorganischen Sub- stanzen zu erzeugen’!). Die Pilze aber, die aus Mykoplasma auf- gebaut sind, besitzen diese Fähigkeit und deshalb haben sie in der Mehrzahl der Fälle weder Eiweiß noch irgendeine andere Stickstoff enthaltende organische Nahrung nötig. Obgleich nun die Pilze organische Stoffe als Quelle des Kohlen- stoffes, wozu ihnen z. B. die Kohlehydrate dienen können, ge- brauchen, ist es, wie Pfeffer”?) richtig bemerkt, sehr möglich, dass sich hinter der scheinbaren Heterotrophie des Kohlenstoffes bei den Pilzen bisweilen echte Autotrophie verbirgt; möglicherweise 70) Lafar, Fr., Handbuch der technischen Mykologie, Bd. I, Jena 1904, S. 418. Diese Voraussetzung hinsichtlich der Purpurbakterien ist auf ihre unter Lichteinfluss vor sich gehende Produktion von Sauerstoff (W. Engelmann’s Methode) gegründet, was in letzter Zeit Molisch (Molisch, H. Die Purpurbakterien nach neuen Untersuchungen, Jena 1907) — starken Zweifeln unterzieht. Er lässt aber eine Assimilation von CO, ihrerseits zu, aber ohne Produktion von Sauerstoff, wie es auch einige andere Bakterien tun (siehe oben). 71) Im höchsten Grade wichtig wäre es, diesen Satz in bezug auf niedere Tiere zu prüfen. — Es hat ja keiner versucht, z. B. eine Hydra mit Salzen und orga- nischen, aber stickstofflosen Stoffen zu füttern. Es ist mir unbekannt, ob ähnliche Versuche mit Infusorien gemacht wurden, 72) Pfeffer, W., Pflanzenphysiologie, Bd. I, 2. Aufl., 1904, 302 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. erhalten die Pilze vermittelst Oxydation der Kohlehydrate diejenige Energie, welche sie nachher zur Assimilation von CO, gebrauchen ’”>). Dies ıst um so wahrscheinlicher, als von den Bakterien, aus welchen die Pilze hervorgegangen sind, zahlreiche Beispiele dieser Art be- kannt sınd. — Aber in bezug auf den Stickstoff erscheinen die Pilze als eben- solche autotrophe Organısmen wie Bakterien und Oyanophyceen. Sie können sich, wie schon längst bekannt, von Dingen nähren, welche, von den Kohlehydraten abgesehen, die als Quelle der Kohlensäure erscheinen, nur aus unorganischen Stoffen bestehen. Stickstoff er- halten sie folglich in Form von Stickstoff enthaltenden Salzen, wo- bei für Pilze, ım Gegensatz zu den Pflanzen, als die allerzuträg- lichsten die ammoniakhaltigen, aber nicht die salpetersauren Salze erscheinen "*). Aber die Pilze haben auch die Fähigkeit, den freien Stickstoff der Luft zu assimilieren, ganz wie es vielen Bakterien eigen ist ”®). In bezug auf parasitische Pilze der Mykorrhizen, wenigstens der der endotrophischen, kann diese Tatsache, wie es aus den Experi- menten von Nobbe und Hiltner mit Podocarpus, welcher üppig auf reinem Quarzsande, der vollständig jeden Stickstoffes entbehrte, wuchs, sowie aus der Beobachtung von P. E. Müller an Kiefern ersichtlich ist, kaum noch einem Zweifel unterliegen ’”®). Besonders interessant erscheinen in dieser Hinsicht die Ver- suche Ternetz’’’) mit einem Pilz, welcher auf den Wurzeln ver- schiedener Ericaceen wächst. Ternetz kultivierte ıhn in reinem Zustande in einer Flüssigkeit, die ganz frei von Stickstoff war, in dieser Flüssigkeit entwickelte sich der Pilz üppig und sie konnte mit genauen Analysen das bedeutende Anwachsen des Stickstoffes, welcher nur aus dem atmosphärischen Stickstoff stammen konnte, 73) Im höchsten Grade wichtig wäre es, durch direkte Versuche solch eine Existenz der Autotrophie in bezug auf Kohlensäure bei den Pilzen zu beweisen. 74) Lafar, Fr., Handbuch der technischen Mykologie, Bd. I, Jena 1904, S. 402. 75) Die Ansicht von Frank und einiger anderer, dass die grünen Pflanzen den Stickstoff der Atmosphäre assimilieren können, kann man jetzt auf Grund einer ganzen Reihe von Forschungen widerlegt ansehen, und auf solche Weise blieben die Resultate der klassischen Versuche Boussingault’s, welcher zuerst die Un- fähigkeit der Pflanzen, freien Stickstoff zu assimilieren, nachwies, wie auch früher, unerschütterlich. Denn was Frank u. a. der Fähigkeit der grünen Pflanze zu- schrieben, vollzog sich in der Tat durch die Bodenbakterien. Die Literatur über diesen Gegenstand siehe: Koch, A., Der Kreislauf des Stickstoffes in Lafar, Hand- buch der technischen Mykologie, Bd. III, Jena 1904, S. 12 ff. 76) Man muss jedoch im Auge behalten, dass Müller in letzter Zeit (Berichte d. deutsch. botan. Gesellsch. 1906, Bd. 24, S. 230) Versuche anführt, nach welchen die Mykorrhizen der Kiefer augenscheinlich nicht imstande sind, den Stickstoff der Luft zu assimilieren. 77) Ternetz, Ch., Assimilation des atmosphärischen Stickstoffes durch einen torfbewohnenden Pilz. Berichte d. deutsch. botan. Gesellsch. 1904, Bd. 22, S. 267. Wasmann, Nils Holmgren’s neue Termitenstudien und seine Exsudattheorie. 303 beweisen. Dabei erwies es sich, dass sie es mit einem zweifellosen Pilz zu tun hatte, da sein Mycel durch Querwände geteilt war und er die für Pilze charakteristischen Vermehrungsorgane — die Pik- niden — ergab. Es unterliegt überhaupt keinem Zweifel, dass die Mykorrhizen echte Pilzhyphen enthalten (zu den Hymenomyceten und Nektariaceen gehörend) und ebenso unzweifelhaft ist es, wenigstens in bezug auf die endotrophischen Mykorrhizen, dass diese Pilze den Stickstoff der Luft assimilieren und daraus ihr Eiweiß bauen’*). (Fortsetzung folgt.) Nils Holmgren’s neue Termitenstudien und seine Exsudattheorie. (175. Beitrag zur Kenntnis der Myrmekophilen und Termitophilen.) Von E. Wasmann S. J. (Luxemburg). Arbeiten, welche neue Pfade auf einem schon früher von anderen Forschern begangenen Gebiete eröffnen, sind verhältnismäßig selten, und auch dann ist es oft noch fraglich, ob nicht als Schild über dem Eingang des neuen Pfades „Privatweg“ oder sogar „Holzweg“ steht. Die vorliegende Arbeit Nils Holmgren’s!) schlägt einen neuen Pfad auf dem Gebiete der Termitenforschung ein, und nach sorg- fältiger Prüfung desselben scheint es mir in der Tat, daß er kein Irrweg ist. Eigentlich sind es mehrere verschiedene Pfade, die Holmgren in seiner neuen Termitenstudie verfolgt. Einer derselben betrifft die Systematik der Termiten, welche den Gegenstand des folgen- den Bandes bilden wird. Durch die klassische Monographie Hagen’s wurde die Termitensystematik um die Mitte des vorigen Jahr- hunderts (1855— 1860) ausschließlich auf die Imagoform begründet. Später hat dann Fritz Müller (1373) den Vorschlag gemacht, den Gattungsnamen Eutermes auf jene Arten zu beschränken, welche Nasuti-Soldaten besitzen. 1897 stellte ich dann zum erstenmal das Prinzip auf, dass man die Systematik der Termiten, und zwar speziell die generische und subgenerische Einteilung der Subfamilien, nicht bloß auf die Imagoform, sondern auch auf die Soldaten- form gründen müsse, und zwar in vielen Fällen sogar primär auf die Soldatenform, da diese die morphologisch spezialisierteste Kaste 78) Über die Fähigkeit der Schimmelpilze (Aspergillus, Penieillium) den freien Sauerstoff der Luft zu assimilieren, herrscht neuerdings eine vollständige Uneinig- keit der Ansichten. Einige (Saida) denken, dass auch der Mucor sogar diese Fähigkeit besitzt, das scheint aber sehr unwahrscheinlich in Anbetracht dessen, dass der Mucor gar kein Pilz ist. 1) Termitenstudien. 1. Anatomische Untersuchungen. 4°, 216 S. mit 3 Tafeln und 76 Abbildungen im Text. Upsala u. Stockholm 1909 (R. Svensk. Vetensk. Handl. Bd. 44, Nr. 3). 304 Wasmann, Nils Holmgren’s neue Termitenstudien und seine Exsudattheorie. ım Termitenstaat darstellt und deshalb auch die auffälligsten Unter- scheidungsmerkmale bietet. Silvestri (1902 etc.) schritt dann auf diesem neuen Wege der Termitensystematik weiter voran, während Sjöstedt und Desneux sich immer noch ablehnend gegen den- selben verhielten und ihn für einen Irrpfad erklärten. N. Holm- gren dagegen trat 1906 ebenfalls für die Verwertung der Soldaten- kaste in der generischen Systematik der Termiten ein?). Im zweiten Bande seiner vorliegenden neuen Termitenstudien wird er dann auf dieser Grundlage eine neue, detaillierte Systematik der Ter- miten entwerfen, welche nach Möglichkeit alle Kasten berücksichtigt. (Siehe N. Holmgren, Das System der Termiten, in: Zool. Anzeig. XXXV,.Nr.29[10,48.,284M): Der gegenwärtig vollendete erste Band beschäftigt sich dagegen — dem Titel zufolge — nur mit der Anatomie der Termiten. Dieser Titel ist jedoch insofern etwas zu eng, als er von der neuen biologischen Exsudattheorie nichts verrät, die wohl den interes- santesten und originellsten Abschnitt in dem ganzen Bande bildet. Die Anatomie der Termiten ist bisher, wie der Verfasser mit Recht bemerkt, etwas stiefmütterlich behandelt worden, und es ist ein zweifelloses Verdienst Holmgren’s, in der vorliegenden Studie zum erstenmal die vergleichende äußere und innere Morphologie der Termiten eingehend und allseitig bearbeitet und mit der Syste- matık ın Verbindung gesetzt zu haben. Es ist jedoch nicht meine Absicht, auf diese morphologischen Ausführungen, welche den vor- trefflichen Janet'schen Arbeiten über die Anatomie der Ameisen an die Seite zu stellen sind, näher einzugehen. Deshalb sei hier nur eine Übersicht der Kapitel gegeben. Verfasser behandelt zu- erst die allgemeine Morphologie des Termitenkopfes, dann Spezielles und Vergleichendes über den Termitenkopf. Hierauf folgt der Bau des Thorax und seiner Anhänge und die Muskulatur des Thorax. Dann kommen der Bau des Hinterleibes, die integumentalen Bil- dungen und Körperdrüsen, die Ganglienkette und das Tracheensystem, die Ernährungsorgane, das Genitalsystem, die Zirkulationsorgane, das Exsudatgewebe, die Imaginalentwickelung, und endlich die phylo- genetischen Verwandtschaftsbeziehungen der Termiten. Unter diesen Kapiteln ıst es das XIl., das uns hier besonders interessiert: „Exsudatgewebe und Kastendifferenzierung.“ Es ist ein durchaus orıginelles Kapitel, aber originell im guten Sinne des Wortes. Im Jahre 1903?) hatte ich zum erstenmal die Exsudatorgane und Exsudatgewebe der echten Ameisengäste und Termitengäste 2) Siehe mein Referat: Zur Kastenbildung und Systematik der Termiten (Biol. Centralbl. 1908, Nr. 3, S. 68—73). 3) Zur näheren Kenntnis des echten Gastverhältnisses (Symphilie) bei den Ameisen- und Termitengästen (Biol. Centralbl. XXIII, Nr. 2, 5, 6, 7, 8). Wasmann, Nils Holmgren’s neue Termitenstudien und seine Exsudattheorie. 305 auf Grund mikroskopischer Schnittserien der verschiedensten Typen untersucht und dabei gefunden, dass das Exsudatgewebe der myrmekophilen und termitophilen Koleopteren und Dipteren, welches die physiologische Grundlage für ihr „echtes Gastverhältnis* bildet, teils ein direktes, teils ein indirektes Fettprodukt seı. Bei den zur Käferfamilie der Staphyliniden gehörigen echten Gästen, deren Hinterleibsringe durch membranöse Bänder zusammenhängen, erwies es sich als wirkliches Fettgewebe; bei den myrme- kophilen Käferfamilien der Olavigeriden und Paussiden, sowie bei den symphilen Aphodiinen unter den Termitengästen, welche alle ein geschlossenes Chitinskelett besitzen, stellte es sich als ein fettkörperähnliches („adipoides“) Drüsengewebe heraus; bei den physogastren Termitophilen endlich aus den Käferfamilien der Staphyliniden und Carabiden und aus der Dipterenfamilie der Termitoxeniiden, welche sämtlich einen größtenteils membranösen Hinterleib haben, zeigte es sich als eine Modifikation des massen- haft entwickelten Blutgewebes, und dieses als Derivat des Fett- gewebes. Nun hat N. Holmgren an Schnittserien eine große Zahl von Termitenarten auf ihr Exsudatgewebe untersucht und gefunden, dass sämtliche ebenerwähnte Formen des symphilen Exsudatgewebes auch bei den Termiten sich vorfinden, und zwar vielfach mehrere derselben vereinigt; die höchste Ent- wickelungsstufe erreicht aber das Exsudatgewebe beiden Königinnen der Termiten. Auf diese Befunde hin stellt dann Holmgren eine neue Exsudattheorie auf. Nach derselben ist erstens der bio- logische Grund für die gegenseitige Beleckung der Termiten und namentlich für die eifrige Pflege der Imagines und ihrer Entwicke- lungsstadien in den Exsudaten der Termiten gelegen. Der Brut- pflegeinstinkt der Insekten wird hier durch ein neues Komplement ergänzt, welches dem „Symphilieinstinkt“* der Termiten ent- springt, der auf den Genuss angenehmer Exsudate gerichtet ist und deshalb den mit solchen Exsudaten versehenen Wesen auch eine besondere gastliche Pflege sichert. Zweitens wendet Holmgren sodann diese Exsudattheorie an auf die Differenzierung der Kasten im Termitenstaate und führt letztere auf die von mir für die Erziehung der echten Ameisengäste und Termitengäste schon 1897 aufgestellte „Amikalselektion* zurück. Dies ist in ihren Hauptzügen die neue Exsudattheorie Holm- gren’s. Ich will nun noch auf einzelne Punkte derselben näher eingehen. Bei dem Exsudatgewebe der Königin von Eutermes chaqui- mayensis beschreibt Holmgren (S. 192) dasselbe als „eine Art Fettgewebe“, welches große Lappen bildet, deren Zellen auf den Querschnitten strahlenförmig um einen Mittelpunkt geordnet er- XXX. 20 30U6 Wasmann, Nils Holmgren’s neue Termitenstudien und seine Exsudattheorie, scheinen. Fettropfen sind in diesen Zellen nicht vorhanden, da- gegen sehr zahlreiche Granula zwischen dem Fadennetz des Zell- leibes. Ich glaube mit Bestimmtheit annehmen zu dürfen, dass wir hier das von mir 1903 als adipoides Drüsengewebe be- zeichnete Exsudatgewebe vor uns haben. Auch die Angaben Holm- gren’s über die Färbbarkeit desselben stimmen genau mit meinen Erfahrungen überein. Vergleicht man z. B. die Abbildungen, die ich 1903 (S. 203 u. 240) von dem adipoiden Drüsengewebe von Olaviger und Paussus gegeben, mit der Fig. 75 bei Holmgren, welche Lappen des eigentümlichen Fettgewebes der Königin von Eutermes darstellt, so wird man sich der Vermutung nicht enthalten können, dass wir in beiden Fällen dieselbe Gewebsart vor uns haben. Was Holmgren als Lappen des Fettgewebes bezeichnete, sind wohl die Pseudoacini eines Drüsengewebes, in dessen strahlig angeordneten Zellen die Bläschen und die äußerst feinen Sammel- kanälchen wahrscheinlich nur übersehen wurden: Auch mir ist es namentlich bei Olariger sehr schwer geworden, sie zum erstenmal aufzufinden und dadurch das vermeintliche Fettgewebe als Drüsen- gewebe zu erkennen. Erst bei sehr starker Vergrößerung mit Zeiß’schen apochromatischen Objektiven für homogene Immersion und den entsprechenden Kompensationsokularen gelang es, besonders bei starkem elektrischem Lichte und schiefer Beleuchtung, die Bläschen und Sammelkanälchen deutlich und sicher zu sehen. Nachdem ich sie aber einmal gefunden, hatte ich ein zuverlässiges Kriterium für die Unterscheidung des adıpoiden Drüsengewebes von dem wirklichen Fettgewebe. Ich möchte daher Herrn Holmgren bitten, seine betreffenden Schnittbilder daraufhin nochmals zu unter- suchen. Es wäre ja möglich, dass ganz allmähliche Übergänge zwischen echtem Fettgewebe und fettgewebsähnlichem Drüsengewebe bei den Termiten vorkommen. Aber nach der Beschreibung und Abbildung Holmgren’s ıst es doch viel wahrscheinlicher, dass es bei seinem als Fettgewebe bezeichneten hauptsächlichen Exsudat- gewebe der Königin von Eutermes chaquimayensis um ein adipoides Drüsengewebe sich handelt. Außerdem hat Holmgren auch wirkliches Fettgewebe und adıpoides, als Drüsengewebe leichter erkennbares Gewebe in dem Exsudatgewebe der Termiten nachgewiesen. Ich gehe hierauf nicht weiter ein und wende mich zu der von mir als „Blutgewebe“ be- zeichneten Form des Exsudatgewebes, welche bei den physogastren Termitophilen eine sehr große Rolle spiel. Holmgren bemerkt S. 192, ich habe zwischen den Fettzellen des Exsudatgewebes von Xenogaster und der Hypodermis eine „granulierte Flüssigkeit“ ge- funden, die ich „Blutgewebe“ nannte. Auch S. 196 erwähnt er das nämliche Exsudatgewebe, dessen mächtige Entwickelung ich bei Orthogonius-Larven festgestellt habe. Bei der Königin von Eutermes 'Wasmann, Nils Holmgren’s neue Termitenstudien und seine Exsudattheorie. 307 chaquimayensis traf er die nämliche Flüssigkeit zwischen dem Fett- gewebe und den Drüsenzellen der Hypodermis an. Er will jedoch das eigentliche Exsudatgewebe trotzdem hier nicht als „Blutgewebe*, sondern nur als „Fettgewebe“ bezeichnen. Was ich Blutgewebe genannt hatte, hält er für ein flüssiges Produkt der Fett- zellen, welchem Körnchen des Blutgewebes beigemengt sind (S. 192). Hierin kann ich ihm nicht beistimmen. Gegen meine Ansicht, dass bei den physogastren Termitophilen als unmittelbares Exsudatgewebe das mächtig entwickelte, unter der Hypodermis in großen Lakunen angesammelte „Blutgewebe*“ diene, führt er nur den Satz an (S. 192): „Da diese Flüssigkeit kein Gewebe ist, so ist die Bezeichnung Blutgewebe unbrauchbar.“ Ich glaube, dass hier ein Missverständnis vorliegt. Wenn man nur feste, kontinuier- lich zusammenhängende Zellaggregate als „Gewebe“ bezeichnen will, dann ist allerdings das Blut kein Gewebe, obwohl es nach der älteren Terminologie im ganzen Tierreich zu den „Geweben“ gerechnet wurde. Genauer ist allerdings die von Richard Hert- wig ın der 8. Auflage seines Lehrbuches der Zoologie (S. 74) adoptierte Ausdrucksweise, welche Blut und Lymphe der Wirbel- tiere als „ernährende Flüssigkeiten“ bezeichnet. Ebenso müsste man dann auch das Blut der Insekten eine „ernährende Flüssig- keit“ nennen. Aber die terminologische Frage, ob man „Blut- gewebe“, „Blutsubstanz“ oder „Blutflüssigkeit* sagen soll, hat mit unserer Frage eigentlich wenig zu tun. Hier handelt es sich viel- mehr darum, ob das hauptsächliche Exsudat der physogastren Ter- mitophilen, welches Holmgren auch bei der Termitenkönigin ge- funden hat, Blut ist oder ein Fettsekret im gewöhnlichen Sinne. Ich muss mich, auf Grund meiner Schnittserien, für ersteres ent- scheiden. Die interlakunäre, zwischen Hypodermis und Fett- gewebe mächtig angesammelte Blutflüssigkeit ist es, die bei den Ortkogonius-Larven durch die feinen Porenkanälchen der Kutikula, und bei Xenoyaster durch eigene Filter der Hypodermis (Exsudat- knospen) ausgeschieden wird. Dass die Körnchen in dieser Flüssig- keit zum Blutgewebe gehören, gibt auch Holmgren zu. Wiır müssen daher folgerichtig diese Flüssigkeit selber als „Blut“ bezeichnen, weil sonst zu diesen geformten Elementen des Blutes, welche den roten Blutkörperchen der höheren Tiere analog sind ®), das flüssige Komplement fehlen würde. Allerdings stellt sich diese Blutflüssigkeit als ein Derivat, ein Produkt des Fettgewebes 4) Diese Analogie ist selbstverständlich nur eine sehr schwache, zumal bei den Arthropoden die Sauerstoffversorgung der Gewebe nicht durch das Zirkulations- system, sondern durch das Tracheensystem, also gerade umgekehrt wie bei den Wirbeltieren, erfolgt. Bezüglich der Leukozyten dagegen ist die Analogie eine voll- kommene. i 20% 308 Wasmann, Nils Holmgren’s neue Termitenstudien und seine Exsudattheorie. dar, wie ich schon 1903 hervorhob. Besonders bei den Orthogonius- Larven konnte ich auf zahlreichen Schnitten sehen, wie die Ränder der Fettzellen sich allmählich auflösen und in jene Blutsubstanz übergehen. Das Fettgewebe ist hier also als Blutbildungsgewebe aufzufassen; aber deshalb dürfen wir doch das Exsudat, um das es sich hier handelt, nicht ein „Fettsekret“ nennen, sondern — „Blut- flüssigkeit“. Und wenn man nach dem Exsudatgewebe fragt, welches jenes Exsudat liefert, so müssen wir nach der älteren Terminologie sagen: Das Blutgewebe ist hier das unmittel- bare Exsudatgewebe, das Fettgewebe dagegen nur das mittel- bare. Übrigens handelt es sich hier, wie ich nochmals hervorhebe, nicht um sachliche Verschiedenheiten zwischen meiner Ansicht und jener Holmgren’s, sondern bloß um Verschiedenheiten der Ausdrucksweise, über die wir uns leicht werden verständigen können. In recht sinnreicher Weise erklärt Holmgren (S. 194) die außerordentlich eifrige Beleckung der Termitenkönigin durch die Arbeiter und überhaupt die hochgradige Pflege, die ihr von letzteren zuteil wird, als eine Funktion der reichlichen Entwicke- lung ihrer Exsudatgewebe. Dies ist in der Tat ein neuer, der Symphilenkunde entsprungener Gesichtspunkt, welcher wohl auch für die Pflege der Königinnen bei den Ameisen und bei anderen geselligen Hymenopteren nicht ohne Bedeutung sein dürfte. Wenig- stens wird man künftig jenes Element auch bei letzteren ins Auge fassen und auch hier das Exsudatgewebe näher erforschen müssen. Originell ist auch die Beziehung, welche Holmgren (S. 199) zwischen dem „Exsudatverlangen“ der Termiten und ihrem „Reini- gungsbedürfnis“ aufstellt. Er glaubt, dieselben hielten sich einander das Gleichgewicht und verhüteten dadurch, dass die Termiten bei ihrer naschhaften Beleckung, die auf Erlangung der Exsudate ge- richtet ist, sich gegenseitig auffressen. Es scheint mir übrigens, dass der Geselligkeitstrieb als einer der Grundinstinkte der sozialen Insekten hier ebenfalls zu berücksichtigen ist. Derselbe Trieb dürfte wohl auch die Erklärung bieten für die gegenseitige Fütterung bei den Termiten, von welcher Holmgren glaubt, dass sie bei dem gegenwärtigen Stande der Forschung noch „ziem- lich dunkel“ sei. Diese Fütterung ist meines Erachtens nicht bloß ein Entgelt für die Annehmlichkeit, welche die gegenseitige Be- leckung den Mitgliedern einer Termitenkolonie bereitet, sondern sie muss vor allem auf den Geselligkeits- und den Brutpflege- trieb zurückgeführt werden, auf denen ja auch der Symphilie- instinkt beruht, welcher die Fütterung und Pflege der „echten Gäste“ bei diesen geselligen Insekten bewirkt. Gegenüber den fremden Tier- arten, die als Gäste bei ihnen wohnen, ist allerdings die Fütterung aus dem Munde der Wirte gleichsam ein Tribut, der ihnen gezollt Wasmann, Nils Holmgren’s neue Termitenstudien und seine Exsudattheorie. 309 wird für die angenehmen Exsudate, die sie den Wirten liefern. Aber die Erklärung dafür, weshalb dieser Tribut den Gästen ge- leistet wird, liegt auf seiten der Wirte nicht bloß in ihrem Exsudatverlangen, d. h. in ihrer Naschhaftigkeit, sondern auch ın ihrem Geselligkeits- und Brutpflegetrieb, deren Betätigung auf jene fremden Wesen ausgedehnt wird, weil sie ihnen so angenehm sind. Auf seiten der Gäste dagegen liegt die Erklärung für ihre gast- liche Fütterung hauptsächlich in ihrer aktiven Mimikry, d.h. ın der instinktiven Nachahmung des Fühlerverkehrs der Wirte und namentlich der Aufforderung zur Fütterung. Dementsprechend machte ich schon 1895°) darauf aufmerksam, dass bei manchen physogastren termitophilen Aleocharinen, z. B. bei Termitomorpha Meinerti, die Kiefertaster auffallend stark entwickelt und denjenigen der Wirte sehr ähnlich sind, weil die Aufforderung zur Fütterung hier wahrscheinlich durch Palpenschläge (statt durch Fühler- schläge wie bei den Ameisen) erfolgt. Dass Holmgren sich am Schlusse dieses Abschnittes für die von mir 1897 aufgestellte Amikalselektion ausspricht und die- selbe als Hauptfaktor für die Entstehung der verschie- denen Kasten im Termitenstaate verwendet, ist mir deshalb besonders interessant, weil Escherich, Dahl und manche andere Entwickelungstheoretiker sich bisher gegen jene Form der Selektion ablehnend verhalten haben®). Allerdings müssen wir, auf Grund der neuen Termitenstudien Holmgren’s, den Begriff der Amikal- selektion etwas erweitern, indem wir nicht bloß die Zucht und Pflege fremder Tierarten, die als „echte Gäste“ bei den Ameisen und Termiten leben, unter diesen Begriff fassen, sondern auch die Zucht und Pflege der eigenen Familienglieder, insofern die- selbe durch das „Exsudatverlangen“ jener geselligen Insekten be- stimmt wird. „Die Kastenbildung im Lichte der Exsudattheorie*“ (S. 200ff.) ist ebenfalls ein sehr originelles Kapitel und reich an wichtigen neuen Fingerzeigen für die biologische Termitenforschung. Anknüpfend an die von Grassi und Sandias schon 1893 begründete Ansicht, dass die Differenzierung der Kasten ım Termitenstaate hauptsächlich eine Wirkung der verschiedenen Ernährungsweise der Larven sei, bringt Holmgren die Verschiedenheiten der Brut- pflege in Verbindung mit den verschiedenen Exsudaten der einzelnen Entwickelungsstadien. Abgesehen von der Differenzierung zwischen männlicher und weiblicher Geschlechtsanlage, die wir wohl als blastogen betrachten müssen, lässt sich ın der Tat die Ent- 5) Die Myrmekophilen und Termitophilen, Leyden 1596 (Compt. Rend. III. Congr. Intern. Zool. P- 410—440). 6) Vgl. Uber Wesen und Ursprung der Symphilie (Biol. Centralbl. 1910, Nr. 3—5). 5310 Jordan, Die Leistungen des Gehirns bei den krebsartigen Tieren etc. wickelung der verschiedenen Kasten einer Termitenkolonie auf Grund von Modifikationen der Brutpflege am besten verstehen; und diese Modifikationen werden nach Holmgren durch die ver- schiedenen Exsudate der Pflegebefohlenen „ausgelöst“, durch welche letztere ihre Ammen zu einer bestimmten Pflegeweise reizen. Auch die Nachzüchtung einer neuen Königin nach dem Verluste der alten, und die Erziehung neotener Geschlechtsindividuen lässt sich aus dem „Exsudatverlangen* der Termitenarbeiter recht gut erklären, wenn wir den Brutpflegeinstinkt als selbstverständliche Grundlage dabei voraussetzen. Wenngleich manche Einzelheiten in Holmgren’s Ansichten noch verschiedene Veränderungen erleiden werden, so glaube ich doch, dass seine neue „Exsudattheorie* zutreffend ist und einen wichtigen Fortschritt in der Termitenbiologie darstellt. Die Abstammung der Termiten bespricht Holmgren im letzten (XIV.) Abschnitt seines Buches. Er hält die Termitidae für eine sehr alte Insektenordnung, welche ebenso wie die Blattoidea von den Protoblattoidew des Carbons abzuleiten sind, mit den Blattoideen aber keine direkten stammesgeschichtlichen Beziehungen haben. Er erwähnt hierbei auch (S. 212), dass ich bereits 1904 die australische Gattung Mastotermes wegen ihres Flügelgeäders als einen Kollektivtypus bezeichnet hatte, der noch manche Eigen- schaften der gemeinschaftlichen Vorfahren von Termiten und Blat- toideen bewahrt habe. Für diese Auffassung spricht auch Holmgren sich aus. Die deutschen Zoologen werden Herrn Nils Holmgren be- sonderen Dank dafür wissen, dass er seine „Termitenstudien“ ın deutscher Sprache geschrieben hat, trotz der großen Mühe, welche ihm diese Arbeit augenscheinlich kostete. Die kleinen Sprachfehler, die dabei unterlaufen sind, wirken nirgendwo sınnstörend, und es wäre schade gewesen, wenn der Verfasser, um dieselben zu ver- meiden, sein Buch in schwedischer Sprache abgefasst hätte. Wir haben ja an wissenschaftliche Arbeiten bei unserer Wertschätzung derselben nicht den Maßstab einer belletristischen Kritik anzulegen. Die Leistungen des Gehirns bei den krebsartigen Tieren, besonders bei Cancer pagurus. (Auszug.)') Von Hermann Jordan (Tübingen). Das niedere Metazoon, etwa eine Aktinie, zeichnet sich durch funktionelle Gleichberechtigung aller seiner, dem Nervenmuskel- 1) Siehe Pflüger’s Archiv Bd. 131, p. 317—386. Liu 4 Jordan, Die Leistungen des Gehirns bei den krebsartigen Tieren ete. 311 system angehörenden Teile aus. Jedes Teilchen des Hautmuskel- schlauches, mit Sinnesorganen, Muskeln und — zur Verbindung — mit sogen. Nervennetzen versehen, ist der vollen Reflexfunktion fähig. Aus dieser Reflexfunktion aber leiten sich alle übrigen Er- scheinungen ab, die wir an solch niederem Tiere beobachten können. Im Laufe der phylogenetischen Entwickelung kommt zu diesem Nervenmuskelsystem unterster Ordnung noch das Oberzentrum. Es entsteht wohl stets im Anschluss an die Hauptsinnesorgane. Dass, ganz allgemein, derartige Oberzentren eine Regulation ausüben müssen, ist verständlich genug: Sie empfangen die Eindrücke oder Reize der Hauptsinnesorgane, auf Grund deren ja die Bewegungen des Tieres beeinflusst werden sollen. Nicht das Geschehen inner- halb des Hirnes selbst, sondern diejenige Mechanik soll uns hier beschäftigen, durch die das Produkt dieses Geschehens, der „Im- puls“, das untergeordnete Nervenmuskelsystem zu beeinflussen vermag. Menschlich subjektiv ausgedrückt würde das Problem folgendermaßen lauten: Der Wille vermag den Ablauf der (mecha- nischen) Reflexe entscheidend zu beeinflussen (Willenshandlung). Wie ist die physiologische Mechanik beschaffen, durch welche der (Willens-) Impuls dies tut? Ich habe nun früher?) gezeigt, dass z. B. bei den Schnecken die Erregbarkeit der Bewegungsmuskeln (wir beschränken uns auf diese Erscheinungsart) durch das „Cerebralganglion* quantitativ reguliert wird. Die bloße Gegenwart des Ganglions bedingt ın allen Teilen der Muskulatur gleichmäßige Herab- setzung der Erregbarkeit. Entfernen wir nämlich das G. cere- brale, so findet eine wesentliche Steigerung dieser Erregbarkeit statt, und hierdurch werden auch die Bewegungen ausgiebiger, bei deren Zustandekommen übrigens das Gehirn durchaus entbehrlich ist: Eine enthirnte Aplysia schwimmt mit starkem Flossenschlage durch das Wasser, außerstande anzuhalten. Und wenn wir die nämliche Schnecke einseitig ihres Hirns berauben, so wird die ent- hirnte Seite schneller kriechen (oder schwimmen) als die normale — es wird Kreisbewegung wach der normalen Seite hin erfolgen. Es leuchtet ein, wie durch abgestufte quantitative Beeinflussung der Erregbarkeit, das Hirn imstande sein muss, der Schnecke jede beliebige Art und Richtung der Lokomotion aufzuzwingen. Nebenbei sei erwähnt (es dient uns diese Feststellung zur Ver- gleichung der Schnecken mit den Ürustaceen)}, dass, obwohl das Cerebralganglion der Schnecken ein Hemmungszentrum ist, die von ihm zur Peripherie ziehenden Bahnen, auf Reiz, Muskelverkür- zung erzeugen’). 2) Vgl. z. B. dies Centralblatt Bd. 26, 1906, p. 124—128 u. 143—158. 3) Bezüglich der Erklärung dieser Erscheinungen muss ich auf meine früheren Arbeiten verweisen, 349 Jordan, Die Leistungen des Gehirns bei den krebsartigen Tieren etc. Wie verhält sich dies alles nun bei den Crustaceen? Vorab konnte ich zeigen, dass unsere, für die Schnecken gültige Erklärung der in Frage stehenden Erscheinungen für Cancer pagurus picht anwendbar ist: Die Erregbarkeit eines irgendwie ge- reizten Beinmuskels ist von der Anwesenheit des Ge- hirns gar nicht abhängig*). Nun wissen wir aber durch eine Reihe älterer Untersuchungen, dass z. B. auch der Flusskrebs, ein- seitig enthirnt, Kreisbewegungen um die gesunde Seite ausführt. Bethe glaubte auch hier gesteigerte Erregbarkeit der ope- rierten Seite (ausgiebigere und schnellere Bewegung der Beine) als Ursache dieser Abweichung vom geraden Gange annehmen zu müssen. Doch war bei Anwendung dieser Erklärungsweise folgende Schwierigkeit zu überwinden: Die Brachyuren (Krabben) sind „Seiten- gänger*; die Beine der einen Körperhälfte ziehen das Tier nach ihrer Seite, während die Beine der anderen Hälfte, diejenigen der ersten unterstützend, schieben. Quantitatives Übergewicht einer Seite kann hier nie Kreisgang bedingen, der jedoch von den ent- sprechend operierten Krabben (Cancer pagurus, Carcinus maenas) mit großer Regelmäßigkeit ausgeführt wird. Bethe sah nun, dass bei der Krabbe die hirnlosen Beine bei jener Kreisbewegung sich bewegten als führten sie einen Vorwärtsgang aus, während die normalen Beine ruhig bei ihrem Seitengange verharrten. Dass diese Kombination zur Kreisbewegung führen muss, ist verständlich °). Bethe entschloss sich, für beide Gruppen von Crustaceen durchaus verschiedene Erklärungen der Kreisbewegungen anzunehmen: für Macruren wie dargetan; bei den Krabben aber sprach er das Cerebral- ganglıon als das Zentrum des normalen Seitenganges an; ohne dies Ganglion sei nur Vorwärtsgang möglich. In eingehenderer Untersuchung habe ıch mich mit der Frage beschäftigt: wie beeinflusst das Cerebralganglion von Cancer pagurus die ıhm unterstellte lokomotorische Muskulatur, und wie sind die Kreisbewegungen zu erklären. Denn die Kreisbewegungen sind ja eine Folge des einseitigen Ausfalles der uns beschäftigenden Regu- lation, deren Wesen in eben diesen Kreisbewegungen zum Aus- drucke kommen muss. 1. Beeinflussung der Beinmuskulatur von seiten des Gerebralganglions. Richet und Biedermann fanden, dass teizung einer Krebsschere (wenn die Elektroden z. B. am Scheren- nerven angebracht wurden) folgende Wirkung hat: Starke Ströme bedingen Scherenschluss, schwache Ströme hingegen Scherenöffnung. 4) Weitere Unterschiede zwischen Schnecken und Cancer siehe meine Publi- kation in Pflüger’s Archiv. 5) Wir wollen uns hier und in Zukunft auf Betrachtung desjenigen Falles beschränken, dass die Beine der operierten Seite — wie meist — vorangehen. Der umgekehrte Fall, dass sie nämlich schieben, bietet übrigens keinerlei Besonderheiten, Jordan, Die Leistungen des Gehirns bei den krebsartigen Tieren ete. 313 Ich fand, dass dieser Satz sich in folgender Weise auf die Gang- beine übertragen lässt: Die Gelenke dieser Beine haben abwechselnd vertikal und horizontal liegende Achsen. Der Beugung (von oben nach unten) bei den Gelenken mit horizontaler Achse entspricht bei der anderen Gelenkkategorie eine Bewegung von hinten nach vorn. So finden wir denn, dass Reizung des Beinnerven oder des Bauchmarks mit starken Strömen Beugung zur Folge hat (von oben nach unten bezw. von hinten nach vorn). Anwendung schwacher Ströme bedingt Streekung (von unten nach oben bezw. von vorn nach hinten). Der Einfluss, den auf diese Bewegung das Gehirn auszuüben vermag, basiert auf der Erscheinung, dass Reizung des Ge- hirns oder der von ihm ausgehenden Konnektive, genau die umgekehrte Wirkung hat, wie periphere Reizung. Am Hirn bedingen schwache Reize Beugung der Beine, starke Reize aber Streckung. Es ist leicht zu verstehen, wie — etwa bei einem äußeren, reflektorisch wirkenden Reize — der vom Hirn kommende Impuls mit dem Peripherischen interferieren, und wie dadurch jene Regulation, vorab Reflexhemmung, herbeigeführt werden kann. Diese Interferenz konnte nachgewiesen und mit graphischer Methode festgelegt werden: Ein peripherischer Reiz bedingt Beugung eines Beingliedes. Nun elektrisieren wir das Gehirn, ohne die periphe- rische Reizung zu unterbrechen, und erhalten unmittelbar Streckung des Gliedes, der wieder Beugung folgt, wenn wir die Hirnreizung unterbrechen. . Ob wir mit Hilfe dieser Erscheinung unsere Frage beantworten können, kann nur ein Studium der Kreisbewegungen lehren: Sie kommen ja bei unseren Kurzschwänzern dadurch zustande, dass die hirnlosen Beine, im Gegensatz zu den im Seitengange ver- harrenden normalen, Vorwärtsgang ausführen. D.h. aber, die hirn- losen Beine greifen bei jedem Schritt weit nach vorn und nicht, wie in der Norm, nach außen. Das liegt daran, dass sich alle Ge- lenke in der Beugerichtung übermäßig krümmen: Die Gelenke mit Vertikalachse biegen sich unmittelbar nach vorn; aber diese Be- wegung wird auch von den anderen Gelenken mit Horizontalachse unterstützt. Wenigstens von denjenigen unter ihnen, die dem distalen Ende des Beines genähert liegen. Ihre Achsen erscheinen nämlich durch die normale Torsion des Beines nicht rein horizontal gestellt, sondern derart geneigt, dass die zugehörigen Beinglieder nicht mit ihrer Unterkante, sondern mit ihrer Rückseite dem Boden aufliegen. Diese Beinglieder werden also in unserem Falle nach vorn-unten gebeugt‘). Und im ganzen bedeutet also Beugung 6) Was die Unterschiede im Verhalten der vier Beine der operierten Seite unter- einander betrifft, so muss auf die ausführliche Mitteilung verwiesen werden. Obiges 314 Jordan, Die Leistungen des Gehirns bei den krebsartigen Tieren ete. der Gelenke, den Ansatz zu einem Schritt im Vorwärtsgang. Dieser Ansatz aber, das Ausgreifen der Beine, das Gewinnen ihres An- griffspunktes bestimmt naturgemäß den ganzen Schritt. Übermäßige „Beugung“ aber können wir uns als jene rein peripherische Reizwirkung (vom Bauchmarke her) erklären, der die Gegenwirkung des Hirnreizes fehlt. Offenbar arbeitet das Zentralnervensystem dieser Tiere in der Regel mit Impulsen, die quantitativ unseren starken Reizen gleichzustellen sind, so dass der Impuls vom Bauchmark vornehmlich die Beuger, vom Hirn aber die Strecker zur Verkürzung bringt. Wenn unsere Überlegung richtig ist, wenn wirklich ein ein- facher, die Bahnen gleichmäßig durcheilender Hirnimpuls genügt, normalen Gang zu erzielen, so muss auch elektrische Rei- zung des vom Hirn ausgehenden Schlundkonnektivs diese Hirn- wirkung zu ersetzen imstande sein. Um dies zu untersuchen, wurde bei einer Anzahl Exemplaren von (Cancer pagurus das Hirn einseitig (rechts) entfernt, das be- treffende Konnektiv mit Elektroden versehen und der Panzer hierauf hermetisch verschlossen. Die Tiere führen (ohne Reizung) die beschriebenen Kreis- bewegungen aus, in unserem Falle nach links, im entgegengesetzten Sinne des Uhrzeigers. Reizen wir nun das enthirnte Schlund- konnektiv durch mittelstarke Ströme, so sehen wir, wie unmittelbar die zugehörigen Beine — anstatt wie bisher abnormal nach vorn — nach außen greifen’) und es kommt ein durchaus normaler Seitengang in gerader Linie zustande, wobei die Beine der operierten Seite stets voran gehen (ziehen). Verstärken wir den Strom, so nimmt die durch ihn veran- lasste Streckung überhand: Es erfolgt Kreisbewegung nach rechts, in der Richtung des Uhrzeigers, und in entgegen- gesetzter Richtung wie die Kreisbewegungen des unge- reizten, rechtsseitig enthirnten Tieres. Relatıv schwache Ströme wirken der abnormen Beugung der (selenke zwar entgegen, aber nicht hinreichend: Wir erhalten, wie ohne Konnektivreizung, Kreisgang nach links, doch sind die Bögen (je nach Stromstärke) wesentlich flacher als ohne Reizung. (senug, wir können durch Abtönung der Stromstärke dem Tiere jJedwede gewünschte Richtung aufzwingen, und die Annahme er- scheint nicht allzukühn, dass wir mit diesem Versuche den Hirn- bezieht sich vorab auf die beiden vorderen Beine, die beiden hinteren Beine ver- halten sich aber prinzipiell gleich. 7) Dies nach außen greifen ist eben nichts anderes als die oben beschriebene (relenkstreckung bei Gehirnreizung. 2 Jordan, Die Leistungen des Gehirns bei den krebsartigen Tieren ete.. 315 impuls ersetzt und ihn dadurch in seiner Wirkung ergründet haben °). Wir müssen uns die in Frage stehende Mechanik wie folgt vorstellen: Selbstredend bedarf es an sich nicht eines Oberzentrums, um den peripherischen, vom Bauchmarke kommenden Reiz in zweckmäßiger Weise auf die einzelnen Muskelgruppen einwirken zu lassen. Der eigenartige, die Beuger bevorzugende Reizerfolg peripherischer, .und seine Umkehrung bei Gehirnreizung hat viel- mehr folgende Bedeutung: Das Oberzentrum vermag der einseitigen Leistung der Peripherie eine solche entgegenzustellen, die, im um- gekehrten Sinne, ebenfalls einseitig ist (d. h. sie bevorzugt eine Muskelgruppe der Beine vor der anderen). Es ist dies der Gegen- satz, der zwischen Steuer- und Bewegungsmechanismus stets be- stehen muss. Durch ıhn ist dieses Oberzentrum ımstande, der Peripherie jedwede Bewegungsrichtung, sowie durch die von uns nachgewiesene Interferenz, einer besonders gearteten Hemmung, jedwede Bewegungsgröße aufzuzwingen?). Zum Schluss sei auf den Unterschied hingewiesen, der zwischen der Hirnmechanik der Schnecken und derjenigen der Krebse besteht: Bei den Schnecken allgemeine quantitative Beeinflussung der Erregbarkeitaller Muskeln; bei den Crustaceen einseitige Er- regung!P)besonderer Muskelgruppen. Bei Cancer pagurus ist die bloße Gegenwart des Cerebralganglions für die Bewegung (Erregbarkeit) der Extremitäten bedeutungslos; es bedarf eines Impulses zur Regulation, den wir durch elektrische Reizung ersetzen können; bei den Schnecken macht sich der Einfluss des CGerebral- ganglions auf die Gesamtbeweglichkeit dauernd geltend, und wenn wir diesen Einfluss mit elektrischer Reizung nach- zuahmen suchen, so erzielen wir genau den umgekehrten Effekt: Erregung anstatt Hemmung. Eine Schnecke, die seitwärts ginge, würde nach einseitiger Ent- hirnung keine Kreisbewegungen ausführen, so wenig wie bei Bra- chyuren Reizbarkeitsunterschiede zur Erklärung ihres Kreisganges hinreichte. In dieser Tatsache aber dürfte der Schlüssel zum Ver- ständnis des wesentlichen Unterschiedes zwischen den skizzierten Einrichtungen bei Schnecken und Krebsen zu finden sein: Mit der Erwerbung von Extremitäten, wie die Arthropoden sie besitzen, und die eine Bewegung in verschiedenem Sinne zulassen, wurde die rein quantitative Regulierung peripher präformierter 8) Die nämliche Erklärungsweise dürfte wohl auch für Macruren zutreffend sein. 9) Jede Erregung einer Muskelgruppe geht Hand in Hand mit der Hemmung (Erschlaffung) ihrer Antagonisten. 10) Die Spannung der Muskeln unterliegt allerdings einem dauernden Einflusse von seiten des Cerebralganglions; doch übermittelt dieses wohl nur die Einwirkung der Statocysten. 316 Robertson, Explanatory Remarks concerning the Normal Rate of Growth ete. Bewegungen unzulänglich. Sie reicht eben nur bei reiner Vor- wärtsbewegung hin, jede Richtungsänderung zu erzielen, ein Ver- mögen, das sich wohl stets bei einseitigem Ausfalle durch Kreis- bewegung offenbart. Im ganzen finden wir also bei Schnecken und Krebsen Gleiches ermöglicht, aber durch verschiedene Mittel, die sich der Verschieden- artigkeit der Organisation beider Tiergruppen angepasst haben. Explanatory Remarks concerning the Normal Rate of Growth of an Individual and its Biochemical Significance. By T. Brailsford Robertson. (From the Rudolph Spreckel’s Physiological Laboratory of the University of California.) Recent publications by the author!) on the Normal Rate of Growth ofan Individual and ıts Biochemical Significance have called forth certain eriticisms which, although for the most part devoid of significance, are nevertheless such as might mislead those who lack technical knowledge of the questions at issue, — questions which are, for the most part, mathematical in character. Enriques?) in a recent number of this journal, has devoted some space to pointing out that other formulae besides my formula x 2 log re Prag K (t — t,) where x is the amount of growth after time — X t and A, K and t, are constants, might be applied to the growth of organısms with equal success. Hence, he argues that there is no reason why the formula which I suggest should be regarded as representing the growth of organısms rather than one of the other formulae which he quotes or suggests. He overlooks the well- known mathematical fact that any regular (non-discontinuous) plane curve can be represented with close approximation to accuracy by a great number of very different formulae°). Thus, for example, any continuous plane curve whatever can be represented to any desired order ofaccuracy by some formula of the type y=a—-bx-+ cx?’+-dx? AH. 2 ‚ provided, only, that we include in our equation a sufficient number of terms. Hence, were we to carry out En- l) T. Brailsford Robertson. „On,the Normal Rate of Growth of an Individual, and its Biochemical Significance.‘“ Arch. f. Entwickelungsmech., 25 (1908), p-581. — „Further Remarks on the Normal Rate of Growth of an Individual and its Biochemical Significance.‘“ Ibid. 26 (1908). p. 108. 2) Paolo Enriques. „Wachstum und seine analytische Darstellung“. Biol. Centralbl., 29 (1909), p. 331. 3) Although this number is exceedingly small compared with the infinite number of formulae which will not represent a given curve. Robertson, Explanatory Remarks concerning the Normal Rate of Growth ete. 317 riques’ type of reasoning to its logical conclusion we should exelude quantitative evidence from natural science; for all quantitative evi- dence, depends, in ultimate analysis, upon the agreement between some theoretical formula connecting variables and the relationship between these variables which is actually observed, — but un- questionably the experimental relations could ınvariably be repre- sented, within the order of accuracy of the observations, by other and quite different formulae. Thus, to quote a familiar example, Rudolphi’s and van’t Hoff’s equations for the dependence of the dissociation of strong elecetrolytes upon their dilution are very diffe- ai (1— a)? V is the degree of ionisation and V the volume in which one gramme- molecule of the substance is dissolved, while van't Hoff's equation 3 . a R B iS ey — K!, where a and V have the same meaning as ın ud rent from one another, Rudolphi's being —K where. a Rudolphi’s equation. Yet these equations yield equally good con- stants when applied to the same experimental determinations; which equation, therefore, should we prefer? At present there is no evident theoretical foundation for either equation, — they are „empirical“ formulae. But if ıt should transpire that one of these formulae could be anticipated upon theoretical grounds, that is unquestionably the formula which we would prefer. To quote another example, when the experimental relation between the amount of material transformed (= x) and the time (= t) in a chemical a e reaction obeys the formula log - — Kt, where a and K are X constants, we conclude that only one molecule is undergoing trans- formation, because that is the relation which would be theoreti- cally antieipated if only one molecule were engaged in the reaction; but, arguing from Enriques’ standpoint, physical chemists have been mistaken in drawing this inference, because the experimental relations could certainly also be represented by the formula x=a +bt+ct?+dt?+........ ‚ and there is no reason, or Enriques percieves no reason, for assigning preference to the one formula rather than to the other. Or, to quote yet another example, a limited portion of the curve y = logx can be represented by the formula x=a-bx+cx’+dx?, and a still larger portion of the curve by the formula y—=a-+ bx + cx?- dx?-+ex* and so on, — from which we should conclude, following Enriques’ type of argument, that we are not justified in assuming that a table of logarithms is really and truly a table of logarıthms. When a certain relation, subsisting between experimentally determinate variables, is deduced from theoretical considerations, 318 Robertson, Explanatory Remarks concerning the Normal Rate of Growth ete. the relation thus predieted is only one among ‚an infinite number of relations which might be written down haphazard. Among an enormous number of chance relations or formulae which might be written down, only one or two would be found to represent, even approximately, the experimental relations observed. If, therefore, a relation which is deduced from theoretical considerations repre- sents even approximately the experimental relation, the probabilities are enormously in favour of the theoretical considerations being correct, since it is excessively unlikely that a formula chosen by chance will represent, even approximately, the given relation between the variables. The degree of approximation to the experimental relations which we demand as evidence of the probability that our theo- retical assumptions are valid depends upon the nature of the variables under consideration and upon the simplieity or complexity of the relations subsisting between them. Thus we demand a much greater precision of agreement between theory and experiment in an astronomical problem, where the varıables are few and can be measured with the utmost precision, than in a biological problem, where the varıables are many and diverse and can be measured only with approximate accuracy owing to the non-homogeneous character of our experimental material. In a recent paper Pearl*) has raised the objection that in many of my comparisons between the theoretical and experimental curves of growth the experimentally determined curve lies to a greater extent on one than on the other sıde of the theoretical curve. This objection of Pearl’s would be a perfectly valid one provided (I) that there were no systematic errors in the experi- mental determinations (Il), that there were no disturbing factors such as deposition of fat, senile decay etc. and (III) that the con- stants of the theoretical curve were computed from the experi- mental determinations by the method of least squares. Not one of these conditions is, however, fulfilled in the present investigation, and Pearl’s criticism is therefore deprived of its value It ıs a complex and excessively tedious matter to compute constants in a transcendental equation by a least squares method and the com- putation, unless the experimental determinations attain the greatest precision, is a very uncertain one. Having regard to the innac- curacy which necessarıly attaches to quantitative determinations upon living material, when these are not carried out in a strietly statistical manner upon an enormous number of individuals all under like conditions, ıt did not appear to me worth while to expend the amount of labour necessary to secure a probably fietitious 4) Raymond Pearl ‚„Biometrics“, The American Naturalist, 43 (1909), p. 302. Robertson, Explanatory Remarks concerning the Normal Rate of Growth ete. 319 appearance of precision®). One instance to which Pearl points with emphasis is not chosen fairly. The instance in question is one (Table I in my first paper, cited above) in which the total deviation from theory is very large (642) when the observed ordinate is greater than the calculated ordinate.and only small (19. 6) when the observed ordinate is less than the caleulated ordinate. Pearl omits to mention, however, that 578 of these units of total deviation, when the observed ordinate ıs greater than the caleulated, occur in a portion of the particular curve of growth under consideration to which, as is expressly stated in my paper, my equation does not apply. Possible reasons for this lack of agreement are adduced in the text accompanying my table; from Pearl’s statement one would gather the impression that I regarded this part of the experimental curve as lending confirmation to the theory. The remarks put forward above ın relation to Enriques’ eriticisms also apply, it is needless to say, to the eriticisms formu- lated by Pearl. Towards the conclusion of hıs remarks concerning my publi- cations Pearl states that „it would appear to be impossible to form any just and significant estimate, on the basıs of the only kind of evidence which Robertson presents, namely the com- parison of curves, as to the value of his theory as a general theory of growth... Can not evidence of another and more convincing kind than that adduced in the present papers be brought forward in its support?“ Pearl has evidently overlooked Ostwald’s paper 5) It may be mentioned, in passing, that Pearl cites, in his criticism, only those comparisons in my paper which utilise, as experimental data, the observations of Donaldson upon white rats and upon the growth of the brain in the frog. Pearl says „The tables which have been chosen as illustrations of the point under discussion have been taken in preference to others for two reasons; one that they were long tables, involving a fairly large number of ordinates, the other that the observational data in these tables were obtained by most careful and painstaking measuring and are absolutely trustworthy. On such data, if anywhere, a theoretical curve may fairly be expected to give good results.“ Without for a moment calling in question the accuracy of the measurements I nevertheless cannot agree with Pearl that „on such data, if anywhere, a theoretical curve may fairly be expected to give good results.“ We are dealing with living, that is to say with excessively variable material in other words, for example, the constants A, K und t, in the curve of growth differ widely in different individuals. No matter how precise our measure- ments may be, trustworthy results possessed of physico-chemical meaning can only be obtained if the determinations are performed upon a very large number of indi- viduals so that the mean group of individuals can be accurately ascertained and the growth of the mean individual accurately followed. Now Donaldson’s deter- minations were carried out upon only 19 individuals and the individual departures from the average weight frequently amounted to from 30 to 50°/, of the average! J consider that the determinations of the curve of growth in human beings, cited in my first paper, probably come most near to satisfying the requirements enumerated above, and in these, although the conditions are exceptionally complex, since there 320 Robertson, Explanatory Remarks concerning the Normal Rate of Growth etc. in which he independently and almost simultaneously suggested the same theory of growth as the author and adduced much evi- dence of a qualitative kınd in its support®). But, in addition, I contend that a comparison of curves, in the sense implied by Pearl, is not the only kind of evidence adduced in my papers. Perhaps the following recital of facts, which are quite independent of the existence or non-existence of algebraic identity between the theoretical curve of growth proposed by me and the curve of growth which has been experimentally determined, may assist in enlishtening Pearl. The experiments of Peter”) and of Loeb?) upon the temperature-coefficient of Growth have shown that the velocity of growth is determined by the velocity of chemical reactions. Now the growth of an organism, as the results of a very large number of investigators have shown, undergoes, in the first part of a growth-cyele, positive acceleration and, later, negative acceleration with time; the curve of growth therefore possesses a point of inflexion. Now, as I have pointed out elsewhere°?), only two groups ofchemical reactions are known which display positive acceleration, — the one group consists of the auto- catalysed reactions and the other of certain catenary reactions. But the curve expressing the extent of transformation with time, ın a catenary reaction, is almost invariably markedly assymetrice about its point of inflexion, whereas that expressing the extent of trans- formation with time in an autocatalytic reaction is symmetrical about its point of inflexion. Simple inspection of the numerous published curves of growth is sufficient to assure us that the eurve of growth, in any given growth-cyele, is almost invarıably notably symmetrical about its point of inflexion. We cannot, I think, avoid the conclusion, om these considerations alone, that the growth of living tissues and organiısms is the expression of an autocatalysed chemical reaction. are two or more catenary cycles of growth, the agreement between theory and experi- ment which are cited by Pearl. As regards Donaldson’s determinations of the EroM th of the brain in Frogs, these measurements, as a cursory glance at Donald- son’s paper will suffice to show, were subject to very considerable error. 6) Wo. Ostwald. „Über die zeitlichen Eigenschaften der Entwickelungs- vorgänge.“ Vorträge und Aufsätze über Entwickelungsmechanik der Organismen. Herausgeg. von W ih. Roux, Heft 5, Juli 1908. 7) Karl Peter. „Der Grad der Beschleunigung tierischer Entwickelung durch erhöhte Temperatur.“ Arch. f. Entwickelungsmech. 20 (1906), p. 130. S) Jacques Loeb. „Über den Temperaturkoeffizienten für die Lebensdauer kaltblütiger Tiere und über die Ursache des natürlichen Todes.“ Arch. f. d. ges. Phys. 124 (1908), p. 411. 9) T. Brailsford Robertson. „Sur la dynamique chimique du systeme nerveux central.“ Arch. Internat. de Physiol. 6 (1908), Bi 388. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz ER “Druck der k. _bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von DruR Goebel und@ADL AR Hertwie Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Der Abonnementspreis für 24 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen. Bd. XXX. 15. Mai 1910. Ne 10, Inhalt: Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten als Grundlage der Symbiogenesis, einer neuen Lehre von der Entstehung der Organismen (Fortsetzung). — Loeb, Uber den autokata- lytischen Charakter der Kernsynthese bei der Entwiekelung. — Hornyold, Über die Funktion und Autotomie der gemmiformen (globiferen) Pedicellarien. Theorie der zwei Plasmaarten als Grundlage der Symbiogenesis, einer neuen Lehre von der Entstehung der Organismen. Von Prof. Dr. ©. Mereschkowsky. (Schluss). Die Cyanophyceen. Obgleich direkte Versuche über Assımilation des Kohlenstoffes durch die Oyanophyceen, soviel mir bekannt, nicht ausgeführt worden sind’®), aber die Anwesenheit von Chlorophyll in ihnen und die Fähigkeit, Sauerstoff am Lichte zu produzieren, welche leicht durch die Bakterienmethode zu bestimmen ist, beweist zur Genüge, dass auch diese Organismen sich als autotrophe in Be- ziehung zur Assımilation des Kohlenstoffes zeigen. Sind die Öyanophyceen auch autotroph in bezug auf die Assi- milation des Stickstofles? Man hat viel Grund, zu glauben, dass sie ohne fertiges Eiweiß leben können, ihr Eiweiß selbst aus anorganischen Stoffen aufbauend. Darauf weist z. B. der Umstand hin, dass sie sich häufig in unge- 79) Kohl, F., Über die Organisation und Physiologie der Cyanophyceen- zelle. 1903. EXEXOR > 359 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete. heurer Menge im offenen Meere vermehren, die rote odek} gelbe Farbe des Meereswassers bedingend; aber im offenen Meere kann das Wasser schwerlich eine so große Menge stickstoffhaltiger orga- nischer Stoffe enthalten. Wir besitzen übrigens direkte Versuche von Loew, welche zeigen, dass Nostoc Stickstoff assimilieren kann, als Quelle des Stickstoffes nur ein unorganisches Salz erhaltend; diese Cyanophycee vermehrte sich stark in 0,1°/, Lösung von KNO.. Man hat sogar einigen Grund zu glauben, dass auch die Öyano- phyceen, ähnlich den Bakterien und Pilzen, freien Stickstoff der Luft assıimilieren können®!). Darauf weist der Umstand, dass die Oyanophyceen sich in Wurzeln aller Cicadeen finden, auf denselben besondere korallenartige Auswüchse bildend. Diese Auswüchse kommen oft üppig auf die Oberfläche der Erde und die Gärtner vermeiden es sorgfältig, sie zu beschneiden, weil sie es als schäd- lich für dıe Pflanze ansehen, voraussetzend, dass die Wurzeln der Uicadeen vermittelst dieser Auswüchse atmen. Diese Erklärung ist natürlich nicht richtig, aber ihr Nutzen für die Pflanze augenschein- lich und Koch°?) bemerkt dazu, „man geht wohl in der Annahme nicht fehl, daß sie auch mit der Stickstoffernährung der Pflanzen in Zusammenhang stehen“, d. h. dass ihre Rolle den Pilzen der Mykorrhizen analog ist, indem sie in Bindung des freien Stickstoffes besteht. Die Chromatophoren. Dass die Chromatophoren die Fähigkeit haben, Kohlensäure zu assımilieren und aus diesem Gas und Wasser komplizierte Mole- küle von organischen Stoffen und zwar Kohlehydraten — aufzu- bauen, ıst eine bekannte Tatsache. Weniger bekannt ist es, ob die Chromatophoren aus unorga- nischen Stoffen die noch komplizierteren Moleküle des Eıweißes aufbauen können. Es existieren nicht ganz stichhaltige Hinweise 80) Loew, O., Verhalten niederer Pilze gegen anorganische Stickstoffverbin- dungen. Biol. Centralbl., Bd. X, 1890, S. 591. S1) Siehe die Versuche von Bouilhac und Giustiniani (L’anne@e biologique, 1903, 8. 204), welche beweisen, dass Nostoc und Anabaena sich kräftig in einem Medium, welches ganz stickstofffrei ist, entwickeln können; den ihnen nötigen Stickstoff schöpfen sie aller Wahrscheinlichkeit nach aus der Luft. Leider war diese Oyanophyceenkultur nicht frei von Bakterien und deshalb ist es möglich, dass die Assimilation des Stickstoffes nicht nur von den Cyanophyceen, sondern auch von den Bakterien ausgeführt wurde, oder sogar nur von letzteren. Schwerwiegendere Tatsachen gibt Beijerinck, nach welchem Nostoe und Anabaena, zwei Cyanophyceen, imstande sind, selbständig Stickstoff der Atmosphäre zu fixieren (Beijerinck, Centralbl. f. Bakteriol., Bd. VII, 1901, S. 562). Aber Uzapek (Biochem. d. Pflanzen, Bd. II, S. 230) zählt auch diese Versuche, welche nicht von den nötigen Analysen unterstützt wurden, als ungenügend überzeugend. S2) Koch, A., Der Kreislauf des Stiekstoffes, in Lafar, Handb. d. techn. Mykologie, Bd. III, Jena 1904, S. 64. Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. 395 darauf, dass die Synthese des Eiweißes gerade in den Chromato- phoren vor sich geht: dort, wo ihrer am meisten sind — wie in den Blättern —, zeigt sich auch Eiweiß, andererseits sehen wir, dass der Salpeter, welcher zum Aufbau der Eiweißmoleküle dient und welcher leicht in der ganzen Pflanze nachgewiesen werden kann, plötzlich ın den Blättern, wo der Salpeter zum Aufbau des Eiweißes assimiliert werden muss, verschwindet. Und gleichzeitig vergrößert sich in den Blättern die Eiweißmenge. Endlich, wie es Sachs®?) zuerst gezeigt hat, gehen die Proteinstoffe aus den Blättern, und in ihnen bilden sich hauptsächlich auch die Amide, welche als der erste Schritt zur Bildung von Eiweißstoffen erscheinen. Und so weist alles darauf hin, dass die Bildung des Eiweißes in den Blättern Platz hat, aber in den Blättern ist auch am meisten Chlorophyll vorhanden, in den Zellen des Blattes sind hauptsäch- lich die Ohromatophoren konzentriert°®). Alles das gibt uns einigen Grund auf die Frage, „können die Chromatophoren. Eiweißmoleküle aufbauen?“ — ın bejahendem Sinne zu antworten. Diese Frage musste nun aber nicht in der Weise gestellt werden, wie sie oben gestellt wurde; richtiger wäre es, dieselbe auf folgende Art zu stellen: Wer vollführt in der Pflanzenzelle die Synthese des Eiweißes, sind es die Chromatophoren (Mykoplasma), oder ist es das Cyto- plasma der Zelle (Amöboplasma)? Es ist nun gar keine schwierige Aufgabe, auf solch eine Frage eine entscheidende Antwort zu geben; wir hätten nur aus der Pflanzenzelle, welche die Synthese des Ei- weißes aus unorganischen Substanzen herstellt, die Chromatophoren zu entfernen und zu beobachten, ob dann die Zelle diese Synthese weiter fortsetzen wird oder nicht. Wenn sie nach dieser Operation nicht imstande ist, es weiter zu machen, so besitzt nicht das Oyto- plasma die Fähigkeit, Eiweiß aus Salzen und Gase aufzubauen, sondern diese Fähigkeit kommt nur den Chromatophoren zu. Aber wie könnte man eine so delikate Operation, wie das Ent- fernen der Chromatophoren aus der lebenden Zelle ausführen, ohne diese Zelle selbst zu schädigen? Und ist überhaupt ein derartiges Experiment möglich? Es zeigt sich nun, dass so was möglich ist. Solch ein Fxperi- ment wurde schon längst und mit unnachahmlicher Kunst vom größten aller Experimentatoren, dessen Namen die Natur ist, aus- geführt. 83) Sachs, J., Vorlesungen über Pflanzenphysiologie, Leipzig 1882. — Siehe auch Pfeffer, W., Pflanzenphysiologie, Leipzig, Bd. I, 1897, S. 402, und Özapek, F., Biochem. d. Pflanzen, Bd. II, Jena 1905, 8. 211. 84) Wenn sich in den Pflanzenwurzeln auch Eiweißstoffe bilden und dabei augenscheinlich nur aus Amiden, so haben ja die Wurzeln auch Plastiden. 21* Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete. > I Es gibt einige Diatomeen, welche zur Gattung XNitxschia ge- hören, wie z. B. N. leucosigma Benecke und N. putrida Benecke°°), welche unter dem Einflusse des Lebens in schmutzigem Wasser, welches organische Stoffe gelöst enthält, ıhr Endochrom verloren haben und es so gründlich verloren haben, dass man dieselben mit keinen Mitteln restaurieren kann. Den Verlust des Endochroms kann man auch bei vielen anderen Diatomeen erreichen, indem man sie in Lösungen, welche organische Stoffe enthalten, kultiviert, aber dabei bleiben, wie Karsten‘) gezeigt hat, Reste von Chro- matophoren, entweder als farblose Plättchen oder in Form von farbigen, aber sehr kleinen Körperchen übrig. Diese reduzierten Chromatophoren nehmen, bei Kultivierung der Diatomeen in einer Lösung, welche nur unorganische Stoffe enthält, wieder ihre frühere normale Größe und Form an. — Dies geschieht aber nicht mit Nitzschia putrida. Hier wirkte der Einfluss der organischen Nah- rung, d. h. der Einfluss der heterotrophischen Nahrung, so lange Zeit, dass sich aus den farbigen Diatomeen eine besondere farblose Art entwickeln konnte, bei welcher jede Spur von Chromatophoren für immer verschwunden war und darum können die Chromato- phoren unter keiner Bedingung wieder hergestellt werden. Die Natur hat für uns ein Experiment gemacht, welches wir nicht imstande wären, selbst zu machen: sie nahm aus den Zellen die Chromatophoren so vorsichtig heraus, dass die Zelle selbst dabei gar nicht verletzt wurde. Es bleibt uns nur diese Zelle mit dem unverletzten, normalen Amöboplasma, welches in sich kein Mykoplasma mehr in Form von CUhromatophoren enthält, in einer Flüssigkeit, welche nur unorga- nische Stoffe enthält, zu kultivieren und zu sehen, ob die Zelle jetzt imstande ist, Eiweiß aus unorganischen Stoffen zu produzieren, d. h. ob sie unter solchen Bedingungen leben und sich vermehren kann oder nicht. Das ıst nun von Karsten gemacht worden, obschon dieser Autor gar nicht die Aufgabe ım Auge hatte, welche uns hier interessiert. Und was zeigte sich? „In reinem Meerwasser gingen die Individuen stets bereits innerhalb 24 Stunden zugrunde. Da- gegen hielten sie sich auch in schwächeren Nährlösungen, die Traubenzucker, Asparagin, Glykokoll, Pepton, Glyzerin enthielten, im Licht wie ım Dunkeln ganz gut und zeigten mehr oder weniger lebhafte Bewegungen °”).“ 85) Benecke, W., Über farblose Diatomeen der Kieler Föhrde. Prings- heim’s Jahrb. f. wissensch. Botanik, Bd. 35, 1900, S. 536. 86) Karsten, G., Über farblose Diatomeen. Flora oder allgem. botan. Ztg., Bd. 89, 1901, S. 404. S7) Karsten, G., Über farblose Diatomeen. Flora oder allgem. botan. Ztg., Bd. 89, 1901, S. 426. Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. 335 Aus diesen Versuchen, deren wichtige Bedeutung augenschein- lich Karsten selbst entgangen war, wird es klar, welcher Teil der Zelle der Diatomeen es eben ist, der die Synthese des Eiweißes aus unorganischen Stoffen vollführt: diese Funktion kommt ausschließ- lich nur den Chromatophoren zu‘®). Das Amöboplasma der Diato- meenzelle ist dazu nicht fähig; sie kommt vor Hunger um, wenn man ihr nicht fertige organische Stoffe gibt’). Auf diese Weise können wir folgende Formel aufstellen: Diatomeen— Chromatophoren — Tiere und davon Tiere + Chromatophoren — Pflanzen. So sehen wir denn, dass auf dem ganzen Gebiete des Mykoiden- reiches, wie bei den freilebenden Vertretern -— Bakterien, Pilzen, Cyanophyceen —, ebenso auch bei den symbiotisch lebenden Ver- tretern (Chromatophoren) uns zahlreiche Beispiele der autotrophen Ernährung vorliegen, d. h. der Fähigkeit des mykoiden Plasmas, komplizierte organische Stoffe aus einfachen unorganischen Körpern aufzubauen. Und wenn wir gleichzeitig nicht ein einziges Ähnliches Beispiel unter den aus Amöboplasma gebauten Organismen sehen, so schließen wir eben mit Recht, dass beide Plasmas, das Myko- plasma und das Amöboplasma grundverschieden voneinander sein müssen, dass das Reich der Mykoiden aus einem ganz anderen Plasma gebaut ist als das Tierreich und das Pflanzenreich. V. Die Bewegung. Das Amöboplasma besitzt die Fähigkeit, sich aktiv zu bewegen, entweder in Form von amöbenartigen Formveränderungen oder ın 88) Dieses ist eben so klar und unzweifelhaft, wie folgender Versuch es wäre: nehmen wir an, wir haben ein beleuchtetes Zimmer, in welchem auf dem Tische eine Lampe brennt; wenn wir die Lampe aus dem Zimmer forttragen und das Zimmer vollständig in Finsternis gehüllt jst und wenn wir diesen Versuch mit dem- selben Resultate mehrere Male wiederholen, 'so haben wir natürlich das Recht, zu behaupten, dass das Licht im Zimmer von der Lampe ausgeht. Dieser Schluss wird unbedingt richtig sein und genau in demselben Grade zeigt sich der Schluss aus den Versuchen Karsten’srichtig und unzweifelhaft, dass die Assimilation des Eiweißes bei den Diatomeen durch ihre Chromatophoren und nur durch diese vollbracht wird. Aber wenn die Chromatophoren solch eine Rolle bei den Diatomeen spielen, so müssen sie natürlich dieselbe Rolle auch bei allen anderen Pflanzen spielen. — Auf diese Weise haben wir jetzt einen dierekten Be- weis, dass die Synthese des Eiweißes in den Pflanzen in den Chromatophoren vorgeht. 89) Leider hat Karsten nicht den Versuch angestellt, Nitzschia putrida in einer Lösung, welche unorganische Salze und irgendeinen Kohlenwasserstoff, z. B. Zucker, enthielt, zu kultivieren. Dann wäre noch eine zweite Frage gelöst: Kann eine Diatomee, welche ihren Endochrom verloren hat, wie ein Pilz leben, d. h. sein Ei- weiß aus unorganischen Stoffen bauen, eine fertige organische Quelle für Kohlen- stoff erhaltend. Es wäre im höchsten Grade interessant, einen ähnlichen Versuch auszuführen. 326 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete. Form von Muskelkontraktionen; auch bildet häufig das Amöbo- plasma pulsierende Vakuolen. Das Mykoplasma ist vollständig un- fähig zur amöbenartigen Bewegung und bildet nie pulsierende Vakuolen. Von Tieren ist hier nicht die Rede, da ihre Fähigkeit zur Be- wegung von alters her als unterscheidende Eigentümlichkeit des Tier- reichs vor dem Pflanzenreiche angesehen wurde. — Aber auch unter den Pflanzen sind die Bewegungen verbreiteter als man gewöhnlich denkt und das Plasma der Pflanzenzelle bewegt sich oft innerhalb der Zelle ganz nach Art einer Amöbe oder eines Wurzelfüßers. Die amöbenartige Bewegung des Plasmas kann man z. B. bei den Diatomeen beobachten, wo es die Ursache der Ortsveränderung der Alge ist, weiter bei den grünen Algen aus den Gruppen Siphonales und Siphonocladales; so ıst z. B. bei der großen einzelligen, aber vielkernigen Alge Caulerpa die ganze innere Zone von Protoplasma- strängen durchzogen und in diesen letzteren bemerkt man sichtbare Strömungen des Protoplasmas. Sehr leicht kann man auch die Bewegung des Protoplasmas bei den Phycomyceten beobachten, welche, wie jetzt von allen anerkannt ist, nicht Pilze, sondern sich entfärbt habende Algen sind. Besonders bequem ist die Bewegung bei Saprolegnia zu beobachten. Bei einem anderen Phycomyceten, Monoblepharis, besitzen die Spermatozoiden amöbenartige Bewegung, sie kriechen ganz wie kleine Amöben auf den Oogonien umher. Bei der grünen Alge Draparnaldia sınd die Gameten anfangs mit Geißelfäden versehen, sıe verlieren dieselben aber schließlich und ihre weitere Annäherung und Kopulation geht mit Hilfe von amöben- artigen Bewegungen vor sich. Bei den Üharaceen ist die Kreis- bewegung des Plasmas eine der interessantesten Erscheinungen, welche man unter dem Mikroskope beobachten kann. Aber auch bei den höheren Blütenpflanzen bilden die Bewegungen des Proto- plasmas kreisförmige, wie bei der Valisneria spiralis und Hydro- charis, oder strömende, wie in den Härchen auf den Staubfäden von Tradescantia virginica, auf der Nessel, dem Kürbis u. s. w. eine ganz verbreitete Erscheinung”). Hierbei muss man ım Auge behalten, dass die Bewegung des Protoplasmas ın den Pflanzenzellen zweifacher Art ist: primäre 90) Siehe hinsichtlich dieser Frage Wigand, Botan. Hefte, Forsch. a. d. botan. Garten zu Marburg. 1. Heft, 1885, wo alle bekannten Fälle von Bewegung des Plasmas in Pflanzenzellen zusammengestellt und klassifiziert sind. Die von Keller ausgesprochene Ansicht in bezug darauf, dass alle Bewegungen des Plasmas in den Pflanzenzellen zu den sekundären Bewegungen gehören, d.h. durch Zerreißung der Gewebe und Verletzung hervorgerufen sind, erscheint ohne Zweifel als übertrieben und einseitig. Für unseren Zweck hat übrigens diese Frage keine Bedeutung. Für uns ist nur wichtig zu wissen, hat das Plasma überhaupt eine amöbenartige Bewegung, welcher Art es auch sei, primärer oder sekundärer. Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. 397 oder beständige, d. h. solche, welche normalerweise in jeder unbe- schädigten Zelle besteht und sekundäre, welche nur unter der Wirkung irgendwelcher äußerer Einflüsse auftritt, z. B. bei An- fertigung eines Schnittes oder unter der Einwirkung starker Ver- änderungen der Luft- und Temperaturbedingungen. Und wenn man auch diese Bewegung des anormal erregten Plasmas, welches sich unter gewöhnlichen Bedingungen in Ruhe befindet, in Betracht zieht, so ist die Anzahl der Fälle von amöbenartiger Bewegung des Pflanzenplasmas eine gerade ungeheurre. Außer der amöboiden Bewegung und den Muskelkontraktionen, welche von den ersten abgeleitet werden können, besitzt das Amöbo- plasma noch eine sehr eigentümliche Bewegung, die sich als kon- traktile Vakuolen kundgibt. Fälle, in welchen solche Vakuolen bei niederen Tieren vorkommen. sind allgemein bekannt. Aber auch unter niederen Pflanzen sind sie sehr verbreitet, nämlich ın ihrem beweglichen Zustande — in Zoosporen und Gameten. Bei den höheren Tieren und Pflanzen verschwinden die kontraktilen Vakuolen; bei den ersteren, weil zur Ausscheidung der Zerfall- produkte verschiedene komplizierte Apparate in Tätigkeit treten, bei der zweiten infolgedessen, dass sich auf der Oberfläche der Zellen eine Zelluloseschicht bildet, welche von außen das Plasına fest einhüllt und das Funktionieren ähnlicher Organe der Aus- scheidung unmöglich macht. Sehen wir jetzt, wie die Dinge im Reiche der Mykoiden stehen. Die Pilze haben ein vollständig unbewegliches Plasma, es sind keine Spuren von amöbenartiger Bewegung vorhanden und ebenso sind nie ın ıhr kontraktile Vakuolen bemerkbar. Wenn irgendwelche Bewegungen innerhalb der Hyphen der echten Pilze beobachtet wurden, so scheinen diese Bewegungen, wie es Ternetz°2) sehr wahrscheinlich gemacht hat, keine aktıven, den Bewegungen des amöboiden Plasmas ähnliche, sondern passive, bedingt durch den Zustand des Turgors in den Zellen, zu sein. Entsprechend diesem ist ihr Charakter auch ein ganz anderer, als der Charakter der amöboiden Bewegungen in den Pflanzenzellen, hier drängt sich die ganze Masse des Protoplasmas ähnlich wie 91) Hauptfleisch sagt: Die Strömung des Plasmas ist also in allen Gewebe- formen vorhanden, sie fehlt in keiner (Hauptfleisch, P., Untersuchungen über die Strömung des Protoplasmas in behäuteten Zellen. Pringsh. Jahrb. f. wissensch. Botan., Bd. XXIV, 1892, S. 185). 92) Ternetz, Ch., Protoplasmabewegung und Fruchtkörperbildung bei -1sco- phanus corneus Pers. Pringsh. Jahrb. f. wissensch. Botan., Bd. XXXV, 1900, S. 273. Ähnliche Bewegungen beobachtete Woronin an einem anderen Ascomy- ceten (Ascobolus pulcherrimus (Woronin, M., Beiträge zur Morphologie und Physio- logie der Pilze, II. Reihe). Ähnliche Bewegungen passiven Charakters beobachtete Arthur bei Rhizopus nigricans (Arthur, J., Annals of Botany, Bd. XI, 1897). 3928 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete. Ebbe und Flut, bald in eine Richtung, bald wieder in die andere zurück °°). Die Cyanophyceen°*) besitzen auch durchaus keine Bewegung des Plasmas, ebenso wie dieselben den Chromatophoren®5) mangelt. — Auch haben weder die einen noch die anderen kontraktile Vakuolen. Was die Bakterien anbelangt, so haben dieselben ebenfalls keine Spur von amöbenartiger Bewegung und die kontraktilen Va- kuolen mangeln ihnen gänzlich. Viele Bakterien bewegen sich aber als Ganzes mit Hilfe der Geißelfäden. Auf den ersten Blick unterscheiden sich diese Be- wegungen gar nicht von ähnlichen Bewegungen der Zoosporen, Infusorien oder Spermatozoiden. Wenn man aber aufmerksamer hinsieht, so kann man sehr wichtige und wesentliche Unterschiede zwischen den Geißelfäden der Bakterien und den Geißelfäden der Amöboiden finden. Die Geißelfäden der Amöboiden können als veränderte Fili- podien, d. h. als dünne, fadenförmige Pseudopodien der Wurzel- füßer, Heliozoa und Radiolarien betrachtet werden®®). Bei der Mehrzahl der Filipodien und bei allen typischen Geißelfäden des flimmernden Epithels existiert eine festere Zentralachse, welche sich 93) In bezug darauf, dass man in der Literatur bisweilen ausführliche Be- schreibungen der amöboiden Bewegungen bei Pilzen begegnet, begründet auf Miss- verständnisse ist es unumgänglich, wegen dieser Hinweisean Hoffmann zu erinnern. „Das Plasma der Sporen und der Keimfäden ist kontraktil und beweglich wie tierische Sarcode. Beides ist freilich nicht unmittelbar sichtbar, denn die Bewegung ist noch weit langsamer als die eines Uhırzeigers; aber nach einigen Stunden schon sieht man, wie das Plasma, mit der Verlängerung des Fadens vorwärtsschreitend, die vorhin noch von ihm erfüllten Teile des Fadens oft in integro (z. B. bei Agaricus Oreades) verlassen hat. Die Bewegung ist als fließend zu bezeichnen“ (Hoff- mann, H., Untersuchungen über die Keimung der Pilzsporen. Pringsh. Jahrb. f. wissenschaftl. Botan., Bd. II, 1860, S. 318). Aus dieser Beschreibung wird es klar, dass wir es in gegebenem Falle mit Wachs- tum, aber gar nicht mit amöboider Bewegung zu tun haben. Das Plasma der Pilze wächst, aber bewegt sich nicht „wie tierische Sarcode“. 94) Bei einigen fadenförmigen Cyanophyceen, z. B. bei Oscillaria, Beggiatoa und Spirochaete (die beiden letzten Formen zähle ich nicht zu den Bakterien, ob- schon sie farblos sind; es sind farblos gewordene Cyanophyceen) bemerkt man eine jewegung des ganzen Fadens, eine vorwärtsgehende und eine rückschreitende, welche, wie es scheint, bedingt sind von der Schleimproduktion auf der Oberfläche der Fäden; außerdem beobachtet man aber noch eine schlangenförmige Bewegung, deren Ursache vollständig unbekannt bleibt. 95) Die Veränderung der Form bei den Chromatophoren sind sehr be- deutende und gehen bisweilen, wie z. B. bei der Teilung der Diatomeen, verhältnis- mäßig sehr schnell vor sich, aber auch hier haben wir es mit einer Wachstums- erscheinung oder Teilung zu tun, aber nicht mit echter amöboider Bewegung, da die Veränderung der Konturen immerhin äußerst langsam vor sich geht und sehr passiven Charakter hat. Senn’s Beobachtungen widersprechen diesem Satze meiner Meinung nach nicht. 96) Gurwitsch, A., Morphologie und Biologie der Zelle. Jena 1904, S. 38 ff. Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete. 399 ins Innere des Protoplasmakörpers ın der Zelle fortsetzt, entweder ım Kern oder in irgendeinem festen, sich stark färbenden Körper endend. Belajeff?’) hat bewiesen, dass die Geißelfäden bei den Spermatozoiden der Wasserfarne an ıhrer Basis in dunkelgefärbte Körper übergehen, die Webber zuerst Blepharoplasten nannte und welche, wie Belajeff gezeigt hat, von Centrosomen abgeleitet werden können. Zu dieser Anschauung neigt auch Ikeno®*), welcher dieses in bezug auf Cycadeen bewies, in letzter Zeit aber auch in bezug der Lebermoose (Marchantia) feststellte. — Bei der Marchantia bleibt bei der Teilung der Zelle des Anteridiums, das Centrosom nach Verschwinden der Spindel und bildet die Geißel- fäden der Spermatozoiden, und dasselbe wurde mit großer Deut- lichkeit für die Zoosporen der Myxomyceten von zwei Beobachtern Plenge und E. Jahn") bewiesen. Bei der Teilung des Zellkernes bei den Zoosporen zeigen sich auf den Spitzen der Spindel Oentro- somen und nach der Teilung entlässt jede Centrosome einen Geißel- faden, welcher mit dem Kern durch die entsprechende Hälfte der Spindel verbunden bleibt. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass bei den Spermatozoiden der verschiedenartigsten Tiere (Mensch, Ratte, Salamander, Schmetter- ling, Helix) die Achse des Spermatozoidenfadens aus der Centro- some (richtiger aus der Centriole)!%) entspringt, dass weiter der Achsenteil des Pseudopodiums bei den Protozoen Acantocystis, kaphidiophris und Actinolophus aus dem zentralen, stark gefärbten Zellkern entspringen, dass bei Camptonema nultans jedes Pseudo- podium langsam "fliimmernd wie ein Geißelfaden im Inneren des Körpers mit einem besonderen Körperchen endet"), zuletzt, dass wie die Geißelfäden der Infusorien so auch die Geißelfäden der flimmernden Epithelien aller Tiere, ohne Ausschluss der Wirbel- tiere, im Innern der Zelle mit einem ähnlichen Körperchen endigen !%2), 97) Belajeff, W., Über die Centrosome in den spermatogenen Zellen. Ber. d. deutsch. botan. Gesellsch., Bd. 17, 1899. 98) Ikeno, S., Die Spermatogenese von Marchantia polymorpha. Beihefte zum botan. Centralbl., Bd. XV, 1903. Siehe ebenso: Die Blepharoplasten im Pflanzenreiche. Biolog. Centralbl., Bd. XXIV, 1905. — Von verschiedenen Be- obachtern wurde die Gegenwart von Centrosomen bei den Lebermoosen geleugnet (Miyake, Escoyez u. a.), da aber in letzter Zeit von v. Leeuven-Reijnwann (v. Leeuven-Reijnwann, W. et J., Über die Spermatogenese der Moose (Ber. d. deutsch. botan. Gesellsch., Bd. XXVI--a, 1908, S. 301) ihre Anwesenheit bei Fega- tella, Pellia und Mnium wieder bestätigt haben und das mit einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übrig lässt, so hat man keinen Grund mehr, diese Tatsache zu bezweifeln. 99) Jahn, E., Myxomycetenstudien. Ber. d. deutsch. botan. Gesellsch., Bd. 22, 1904, 8. 84. 100) Häcker, V., Praxis und Theorie der Zellen und Befruchtungslehre. Jena 1899. 101) Gurwitsch, A., Morphologie und Biologie der Zelle. Jena 1904, S. 45. 102) Gurwitsch, A., l. c., S. 64, Fig. 30, S. 93, Fig. 43. 330 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. so wird es wohl kaum eın Fehler sein zu sagen, dass solch ein Bau als allgemeine Regel erscheint, d. h. dass überhaupt die Geißel- fäden bei den Amöboiden sich in enger Verbindung mit dem Gentrosom befinden; in jedem Falle kann man behaupten, dass die Geißelfäden mit ihrer Basis mit dem sogen. Basalkörperchen ver- bunden sind, welcher aller Wahrscheinlichkeit nach vom Oentrosom entspringt!"®). Nichts derartiges beobachtet man bei den Bakterien, bei welchen die Geißelfäden die unmittelbare Verlängerung der Außenhülle des Körpers vorstellen. Statt dessen bemerkt man bei den Bakterien die sonderbare Erscheinung, welche Fischer!) konstatierte, dass wenn man vermittelst Plasmolyse die Außenhülle vom Körper trennt, die auf dieser abgeteilten Außeshülle sitzenden Geißelfäden fortfahren, sich wie früher zu bewegen und dadurch bewegt sich auch die Bakterie selbst. Nichts derartiges wırd bei den Amöboiden, d. h. bei Tieren und Pflanzen beobachtet. Auf diese Weise bemerkt man in der Art der Bewegung der (Geißelfäden einen tiefen und wesentlichen Unterschied zwischen Mykoidei und Amöboidei: das Prinzip selbst, von welchem die Bewegung ausgeht, ist augenscheinlich in beiden Fällen ein ganz anderes. Doch die Bewegung mit Hilfe der Geißelfäden ganz beiseite lassend, können wir uns aus den in diesem Kapitel angeführten Tatsachen überzeugen, dass, während bei den Tieren und Pflanzen überall die Fähigkeit des Plasmas zur amöboiden Bewegung be- merkt wird und bei vielen von ihren Vertretern kontraktile Vakuolen vorhanden sind, nicht ein einziger Vertreter des Mykoidenreiches weder eine Spur amöboıider Bewegung noch kontraktile Vakuolen hat. Das Plasma der ersteren ist im hohen Grade beweglich, das der letzteren unbeweglich. Aber das weist wieder darauf hin, dass zwischen dem Amöboplasma und Mykoplasma ein tiefer und wesent- licher Unterschied im Baue vorhanden sein muss. VI. Chemische Zusammensetzune. Auch in der chemischen Zusammensetzung bemerkt man augen- scheinlich einen wesentlichen Unterschied zwischen Mykoplasma 103) Man hat nicht wenige der allerbegründetsten Hinweise darauf, dass die Basalkörperchen aus dem Centrosom entspringen, obgleich in letzter Zeit Arbeiten erschienen sind, welche scheinbar die selbständige Entstehung dieses Körpers be- weisen. So beweist es Wallengren in bezug der Flimmerepithelien der Lamelli- branchiata (Wallengren, H., Zur Kenntnis der Flimmerzellen, Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. V, 1905, 8. 357). Im gegebenen Falle aber, in Anbetracht der äußersten Kleinheit der Centriolen und ihrer Unbeständigkeit in bezug auf ihre Färbbarkeit haben die positiven Hindeutungen mehr Bedeutung als die negativen. 104) Fischer, A., Vorlesungen über Bakterien. Jena 1903. Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete. 331 und Amöboplasma. — In dieser Richtung stoßen wir aber auf große Schwierigkeiten, bedingt durch Abwesenheit genügender Tatsachen zur vollständigen Aufklärung dieser Frage. Das findet seinen Grund darın, dass keiner bis jetzt die Existenz zweier Plasmaarten im Auge haben konnte, und deshalb ist es nicht verwunderlich, dass spezielle Beobachtungen, die auf die uns hier interessierenden Fragen antworten könnten, nur zufällig bei Lösung ganz anderer Aufgaben gemacht werden konnten. Wie J. Reinke!®) vollständig richtig bemerkt: „Bevor. ein Problem nicht erkannt ist, kann es auch nicht bearbeitet werden.“ — Daher auch die große Be- deutung jeder, sogar der fehlgeschlagenen wissenschaftlichen Hypo- thesen und Theorien — dieser größten Sporne wissenschaftlichen Fortschrittes. Nichtsdestoweniger, abgesehen von den spärlichen Tatsachen, kann man, wenn auch nicht mit voller Klarheit, so doch gewisser- maßen ziemlich deutlich recht wesentliche Unterschiede zwischen der chemischen Zusammensetzung beider Plasmaarten bemerken. Augenscheinlich ist das Mykoplasma reicher an Phosphor als das Amöboplasma. Darauf weisen folgende Tatsachen hin, welche von mir aus den Analysen verschiedener Aschenarten von Tieren und Pflanzen, die in großer Anzahl im Werke von W olff’s!%) „Aschenanalysen“ gesammelt sind, benutzt wurden. Nehmen wir vor alllem die Tatsachen, welche über die Pilze dort angeführt sind. Aus diesen ergibt sich, dass der Gehalt an P,O, in der Asche: verglichen mit Pflanzen ein sehr hoher ist. Wenn man den Prozentsatz des Gehalts an Phosphorsäure in der Asche gewöhnlicher Pflanzen, angefangen mit den Algen und endigend mit den höheren Pflanzen, die ın der linken Rubrik an- geführt sind, mit denselben Daten in bezug auf die Pilze vergleicht, so ist der Unterschied, wie man sieht, ein ungeheurer: Pflanzen. Bılze!®), Eucus vesiculosus (8)1%) . . . 2,89 Sphacelia segetum. . . . .... 15,44 Fserratus (el... 2 2.3.2096 Ditotaniikomgenegı 2: 272258lhh PN odoSusa (Oo) we 1,6 Pe: 5: „ en ee Laminaria digitata (6) . . . . 291 RN en EEE AA EN 105) Reinke, J., Ber. d. deutsch. botan. Gesellsch. 1904, S. 100. 106) Wolff, E., Aschenanalysen von landwirtschaftlichen Produkten, Bd. I, 1871. — Bd. II, 1880. — Siehe ebenfalls König, Chemie der menschlichen Nah- rungs- und Genussmittel. 3. Aufl. 1889. — Liebig, J., Chemie in ihrer Anwendung auf Landwirtschaft und Pflanzenphysiologie. St. Petersburg, 7. Aufl., 1864 (russisch). 107) Wolff, 1. c., Bd. I, S. 134 und Bd. II, S. 110. — Interessant ist es, dass die Flechten, weiche aus Mykoiden (Pilze) und Amöboiden (Algen) bestehen, schon einen viel kleineren Phosphorgehalt haben (Wolff, 1. e., 8. 135). 108) Die rechtsstehenden Zahlen (in Klammern) bezeichnen die Anzahl der Analysen, wobei ich die einzelnen Angaben von Wolff zusammenkombiniert und die Mittel aus allen bei ihm angeführten Fällen genommen habe. 332 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete. Pflanzen. Pilze. Laminaria saccharina 3) . . . 3,72 es Daat-Trespes nr A Ar, Sargassum vulgare (3) . . . . 1,84 Cryptococcus fermentum .: . . 53,84 Eolysiphoniarelonsata . .. .... 14622 Diiornlnterhefe 2 2220 7223207n088 Delesseria sanguinea 2) . . . 2,40 Weibbierheten 2 2 Geramiumyrzubrum nn 2,957 2:Tuberseibarium. "ee 73296 Enteromorpha intestinalis . . . 2,18 Helvella esculenta. . . . . . 39,10 Ulyalatissima '.. - 1.41% 222.0...21,60203Moerchella eseulenta,.. 2... 23903 Algen überhaupt (23) . . .. 238 en CODICA ‚ann es Sphagnum cuspidatum . . . . 3,00 Agaricus campestris!®) . . . . 15,43 Waldmoos . . . 0... 611 DBoletus,: Birkenschwamm!®) . .„ 18,61 Hypnum Schrosnen I ER NAT2, SSL SRETeTE SEE. NER REN RER NG r splendensge man 20 ee an Dt ER DT & tiguebzum en au: a as. En a a1 a A rt! Sphagnum-Arten . ..... 27931 Bu tell 2.016 ee 3. ” bei Berlin. . . ... 6,33 Saccharomyces mycoderma. . . 54,53 Aspidium felix femina . . . . 3,32 »» cerevisiae . . . 54,74 2 is Masten te 2,56 IBoletuszeculi spe Se ee 25,06 he KanBlätterss 218 2,0 He is annulatusk cr Asplenium trichomanes . . . . 10,13 » aurantiacus . . . . . 20,27 Osmunda spieant, » .. . >... .18260.Glayiceps' purpureus 0.2 2 0,12 45012 Pteris’aquilına „nen. PEBalsge N garıcusscantharellussnr we 3192 Farrenkraut Oje... ma er. Was Glayarla dlavau.Inar 33,0% Lycopodium (6) . u bass Sclerotinia Libertiana 21°) 8,0 Tanne, Zweige und Nadeln Eule Müutterhorn XFN. 2.0 enden (Bla en Rasse OO Pfitferling 210) 025 2:2 0 a a el Hafer.(38), 8 ren alas Possbare. Trutiel 2 sm ee ni Heu (100)% wre. ee Norchella''esculenta Br. Eurer 27 Graserid0n) ea De, rs. Vera luber (Gibariumarn- Ne Mari Klee in Blüten “(l13) . ©. „1.0... 963 Boletus: edulis: .. 20,12 Buübe. 49) 1.2. 092 122.012.28% 72. NoBlesı Essbare., Pilze (Mittel aus 9 Be Tabaksblätter) (63), = 2... u. 466 obachtungen) . . el Spinat la) ur Ve ee 028 Schimmelpilzsporen 21%) . eher! Nach Zopf!!!) enthält die Asche der Pilze im Mittel 40°7, Phosphorsäure, was bei keiner anderen Gruppe von Organismen, die aus Amöboplasma besteht, beobachtet wurde, und Fischer!!?) sagt von den Pilzen: „Die Phosphorsäure beträgt oft die Hälfte oder mehr der gesamten Asche, die infolgedessen saure Reaktion zeigt.“ Und durch einen ebenso großen Reichtum an Phosphor zeichnen sıch die Bakterien aus. „Auffallend ıst die große Menge von Phosphorsäure, die immer in Bakterienasche gefunden wird,“ be- 109) Diese beiden Fälle von schwachem Phosphorgehalt, wie auch einige andere, erklären sich durch den ungewöhnlich hohen Kali- und zum Teil Natrium- gehalt. 110) Diese Daten sind aus Lafar, Handbuch der technischen Morphologie, Bd. I, Jena 1904, S. 225, entnommen. 111) Zopf, W., Die Pilze, S. 388. 112) Fischer, H., Die chemischen Bestandteile der Schizomyceten und der Eumyceten, in Lafar, Handbuch der technischen Mykologie, Bd. I, Jena 1904, S. 225. Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete. 333 merken Schmidt und Weis!"). H. Fischer lenkt auch die Auf- merksamkeit auf den „abnorm hohen Phosphorsäuregehalt der meisten Pilz-- und Bakterienaschen“!!?), Nach Ausrechnung von Koppes!!5) ist der Gehalt an Phosphorsäure in der Asche von Bac. prodigiosus und Bae. xerosis gleich 38,01 und 34,45°/,. Für die Schwindsuchtsbakterien fanden Schweinitz und Dorset 55,23°/,, aber später fanden sie sogar 55,54—73,94°/, Phosphorsäure in der Asche dieser Bakterie. Die Bedeutung der obenangeführten Ziffern wird auf den ersten Blick dadurch abgeschwächt, dass sich auch bisweilen in der Asche der Pflanzen ein hoher Prozentsatz an Phosphorsäure beobachten lässt und in manchen Fällen nicht viel weniger als bei den Pilzen !!®). — In Wirklichkeit sind diese scheinbaren Widersprüche gar nicht vorhanden. Der hohe Prozentsatz an Phosphor wird in allen diesen Fällen ausschließlich in den Samen oder in solchen Teilen der Pflanze beobachtet, die Samen enthalten (Blumen z. B.) oder schließ- lich in solchen Teilen der Pflanze, welche reich an aufgespeicherten Stoffen sind (Zwiebeln, Knollen). Es ıst nicht schwer, sich zu überzeugen, dass in allen solchen Fällen der Phosphorreichtum nicht durch besondere Zusammensetzung des Protoplasmas der Pflanzen, sondern durch die Anwesenheit besonderer Stoffe teils eiweißhaltiger, teils nicht eiweißhaltiger, an Phosphor reicher Stoffe ın den Pflanzenzellen bedingt ıst, welche dort in den Zellen als Vorratsstoffe abgelagert sind. — Dieser Phosphor gehört durchaus nicht in die Zusammensetzung des Protoplasmas des gegebenen Organısmus, und die Stoffe, welche ıhn enthalten, erscheinen wie fremdartige Körper (z. B. in Form von Eiweißkristallen). Solche Körper, reich an Phosphor, gehören zum größten Teil zur Gruppe, welche GCohnheim !!’) Phosphorglobuline zu nennen vorschlägt, zu welchen vom Tierreich z. B. dıe Kaseine, vom Pflanzenreich aber die Phytoglobuline !!?) gehören. Rätselhafter erscheint der überaus hohe Gehalt an Phosphor- säure in der Asche des Muskelfleisches, wie dies z. B. aus der folgenden Tabelle, welche von mir aus der Arbeit Champion und Pellet!!?) entnommen sind, ersichtlich ist, in welcher die Ziffern 113) Schmidt, Johs und Weis, Fr., Die Bakterien, Jena 1902, S. 107. EIA)PRascher, H..1.e., S. 224. Ba e,. 8,229: 116) Wolff, E., Aschenanalysen. Teil I, 1571. — Teil II, 1880, Berlin, an verschiedenen Stellen. 117) Cohnheim, O., Chemie der Eiweißkörper, 2. Aufl., Braunschweig 1904. 118) Zum Teil gehören bierher noch andere Stoffe, in bezug darauf siehe Czapek, F., Biochemie der Pflanzen, Jena, Bd. II, 1905, S. 742, 119) Champion und Pellet, De la substitution equivalente des matieres qui entrent dans la composition des vegetaux et des animaux. Comptes Rend. d. l’Acad. d. sc. Paris, Bd. 83, 1876, S. 488. — Siehe auch Katz, J., Die mineralischen Be- 534 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete. den Prozentsatz von P,O, in der Asche der Muskeln oder der ganzen Tiere angeben. 730, 2,0; Mensch Muskeln? ı.1%. 10m BD Bier er 3 Eee Seh la Fler OD CHE rn 1: 00 Se a Pe 0 > ee een Kal ee rn Be. a8 OERSBEHRCHE RS RR 5) Bedauerlicherweise ist eine Analyse der Asche von Cyano- phyceen, soviel mir bekannt, noch gar nicht gemacht worden; schwerlich kann man übrigens bezweifeln, dass auch diese Mykoiden einen nicht weniger hohen Prozentsatz von Phosphorsäure zeigen werden als Pilze und Bakterien !!?»). Die Zellkerne aber, welche nach meiner Theorie zum großen Teil aus Mykoplasma bestehen '?°), sind jedenfalls reich an Phosphor, wie das schon lange bekannt ist: wo viele Zellkerne sind, wie z.B. in jungen Geweben oder im Sperma, da ist auch viel Phosphor vorhanden. Doch die Zellkerne erlauben uns, noch einen Schritt weiter zur Erklärung des Unterschiedes ın der chemischen Beziehung beider Plasmen -— des Mykoplasmas und des Amöboplasmas — zu gehen. Wiır sahen oben, dass das erstere überhaupt reicher an Phosphor ist, der Zellkern erlaubt es uns nun, zu bestimmen, in welcher Form der Phosphor sich im Mykoplasma findet, d. h. durch welche chemische Körper seine reichliche Anwesenheit in diesem Plasma bedingt ist. Es zeigt sich, dass der Reichtum an Phosphor im Zellkern durch die Anwesenheit von Nukleo-Proteiden hervorgerufen wird, welche im Amöboplasma (Cytoplasma) gänzlich fehlen, natürlıch von den Chromidien abgesehen, die aber, wie das neuerdings so schön von Digby!*!) nachgewiesen wurde, aus dem Kerne ab- stammen. standteile des Muskelfleisches. Pflüg. Arch. f. Physiol., Bd. 63, 1896, S. 84, wo aber der Prozentgehalt des Phosphors nicht zur Asche, sondern zu 100 Teile des trockenen Fleisches gegeben ist. — Siehe auch Wolff, E., Aschenanalysen, be- sonders Teil II. 119b) Neuerdings haben Stoklasa, Brdlik und Ernest überzeugend be- wiesen, dass auch im Chlorophyll eine ziemlich große Menge Phosphor enthalten ist (Stoklasa, J., Brdlik, W. und Ernest, A., Zur Frage des Phosphorgehaltes des Chlorophylis. Ber. d. deutsch. botan. Gesellsch., Bd. XXVII, 1909, S. 10). Die Verneinung dieser Tatsachen von Willsstätter ist augenscheinlich durch einen Fehler verursacht. 120) Der Erläuterung dieser Frage wird ein besonderer Artikel gewidmet, in welchem alle Tatsachen, die dafür sprechen, dass die Zusammensetzung der Zellkerne hauptsächlich aus Mykoplasma besteht, angeführt werden. 121) Digby, L., Observations on „Chromatin bodies“ and their relation to the nucleolus in Galtonia candicans, Annals of Botany, Bd. XXIII, 1909, S. 491. Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete. 335 Das gibt uns die Möglichkeit, beide Plasmen in chemischer Beziehung schärfer zu sondern als wir das früher, auf Grund des Überflusses an Phosphor, welcher ja auch im Amöboplasma und bisweilen, wie in Samen und Muskeln, in großer Menge vorhanden ist, machen konnten. Wir können jetzt behaupten, dass das Mykoplasma (Zell- kerne, Cyanophyceen, Bakterien) reich istan Nukleo-Proteiden, das Amöboplasma (Cytoplasma) dagegen gar nıchts davon besitzt. Beweisen wir zuerst die Anwesenheit von Nukleo-Proteiden und von Nukleinen in mykoiden Organismen. Die makrochemische Anwesenheit von Nuklein bei den Bak- terien wurde zuerst ım Jahre 1884!??) ın bezug auf Baec. subtilis und Bac. anthracis bewiesen. Später wurden bei vielen Bakterien entweder wirkliche Nukleo-Proteide oder Nukleinsäure und solche Hypoxantinbasen wie Xantin, Guanin, Adenin, welche die Anwesen- heit von Nukleo-Proteiden beweisen, gefunden. Stoffe, welche den Charakter von Nukleo-Proteiden hatten, sind ferner von Iwanoff!?) außer ın Bakterien auch bei Pilzen gefunden worden; diese Stoffe enthielten: Stickstoff Phosphor Schwefel Baeillus megaterium -. . . ... 16,32 1,85 2,10 5 anthracise eu al u, 16,00—16,27 2,16—2,25 1,95 Aspereillus nigeri) IH. 2 ur win... 15,66— 15,74 0,54 1,12 — 1,21 . Ve a tt. 15,19 0,99 1,23 Boletus edulis' (Hut)... =... - .!. 15,64— 15,54 1,08 rar! Claviceps purpurea (Selerotien) . . 16,02— 16,23 0,75 lan Am besten sind aber in dieser Beziehung die Hefepilze erforscht; Hoppe-Seyler entdeckte zuerst in ihnen denselben Nuklein, welcher vorher von Miescher in den Eiterzellen entdeckt worden war, und Rossel vermochte schon aus Hefe namhafte Mengen genügend reinen Nukleins herzustellen. Besonders interessant ıst die quantitative Bestimmung des Nukleins, welche von Stutzer'?*) in bezug auf Hefe und einem unbestimmt gebliebenen Schimmelpilz unternommen wurde und welcher den ungewöhnlich hohen Gehalt an Nuklein in den Zellen dieser Mykoiden zeigte. An stickstoffhaltigen Stoffen, welche in den erwähnten Organismen enthalten waren, ergaben sich: 122) Fischer, H., Die chemischen Bestandteile der Schizomyceten und der Eumyceten, in Lafar, Handb. d. techn. Mykologie, Bd. I, 1904, S. 245, wo auch die Literatur über diesen Gegenstand zusammengestellt ist. 123) Iwanoff, K.S., Hofmeister’s Beiträge z. chem. Physiol. u. Pharmokol., Bd, I, 1902, S. 524. 124) Stutzer, A., Zeitschrift f. physiol. Chemie, Bd. 6, 1882, S. 572. 336 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. Amidenu. Albumin Nuklein eptone Innereien N. 20.00 101100], 63,80 9], 26,09 9], Inzschimmelpilzen . ,„ .: „nm 19,86 ,, 39,39 „ A) Da bei den Hefepilzen sowie auch bei den Schimmelpilzen die Zellkerne einen sehr kleinen Teil des Zellinhalts ausmachen, so zeigt ein so hoher Prozentsatz von Nuklein, dass auch im Cytoplasma der Pilze augenscheinlich Nukleinstoffe enthalten sind, was sich in bezug auf das Cytoplasma der Hefepilze auf dem Wege der mikro- chemischen Untersuchung bestätigt hat!?°). Was die Öyanophyceen anbelangt, so sagt A. Fischer'*®): „Ich nehme an, dass Nukleinsubstanzen auch ın den Cyanophyceen vor- kommen, aber noch nicht zu besonderen Gebilden herausgeformt, sondern frei verteilt im Cytoplasma (d.h. nach seiner Terminologie im Zentralkörper). Zacharıas!?”) bestätigt ebenfalls die Gegenwart von Stoffen ım Zentralteile, welche sich der Reaktion nach nicht vom Nuklein der Zellkerne unterscheiden. Dass das Mykoplasma besonders reich an Nukleo-Proteiden ist, erhellt zum Teil aus der vergleichenden Analyse der Anzahl der verdaulichen und unverdaulichen Eiweiße einerseits bei den Pilzen, welche aus reinem Mykoplasma bestehen '?®), und anderer- seits bei den Pflanzen !?”), wo das Mykoplasma des Kernes (und der Chromatophoren) als stark verdünnt durch das Amöboplasma, d.h. durch das den Kern umgebende Cytoplasma erscheint. — Das er- sieht man aus folgenden zwei nebenstehenden Tabellen. Selbstverständlich besteht nicht die ganze unverdauliche Masse von Proteinstoffen aus Nukleo-Proteiden, ebenso wie nicht jeder Nukleo-Proteid unbedingt in salzsaurem Pepsin unverdaulich ist; nichtsdestoweniger haben die obenangeführten Ziffern ohne Zweifel Bedeutung für unseren Zweck, um so mehr, als ım gegebenen Falle es uns nicht um die absolute Menge der Nukleo-Proteide ankommt, sondern nur die vergleichende Untersuchung beider Gruppenorga- nismen in dieser Hinsicht interessiert. Aus diesen Ziffern ersieht man, dass in den Organismen, die aus reinem Mykoplasma bestehen (Pilze), im Mittel 33°/, unlös- licher Proteine enthalten ist, während in den Organismen, in welchen 125) Janssens, Fr. et Leblanc, A., La cellule, Bd. 14, 1898, S. 203. — Annales de microgr., Bd. 10, 1890, zitiert nach Lafar, Handb. d. techn. Mykol., T, S. 298. 126) Fischer, A., Die Zelle der Cyanophyceen. Botan. Ztg., I. Abt., 1595, S. 118. 127) Zacharias, E., Über die Zelle der Cyanophyceen. Botan. Ztg., Bd. 48, 1890, 8. 66. 128) Czapek, Fr., Biochemie der Pflanzen, Bd. II, Jena 1905, S. 79. 129) Özapek, Fr., l. c., S. 154, nach den Untersuchungen von Klingen- berg und Stutzer. Be Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete. 337 L das Mykoplasma nur als Kern teilnimmt, solcher Proteine nur 6°/, enthalten sind und dieser große Unterschied kann nichts anderem, als nur teilweise wenigstens dem Unterschiede in der Masse der Nukleo-Proteine zugeschrieben werden, welche in beiden Fällen vor- handen ist. N des unver- N des unver- daulichen daulichen Proteins Proteins — — Pilze .% .Z Pflanzen ken 4 en es SIE Er: X zog ou. Ze oo, og ES) = Si Sa SRH Ur) SE #5 ars 5, Agaricus, procerus, Hut. 74 20,4 Mohnkuchenwr u 222 2204.06, 0, nn campestris, Hut 16,7 11,0 Sesamkulchenee NA A 5% Stiel 80 18,0 Sojabohnen, „er. ie 2.500.270. 4 Lactarius deliciosus. . . 6,8 338 Erdnusskuchene 2 Er BA = torminosus . . 118 40,0 Koprakueben #7 E57 Au VB5A TH Cantharellus eibarius . . 40 54,6 Rapskuchen? 3 13:4 22007 au Boletus edulis, Hut . . lid Baumwollsamenkuchen . 0583 — & & Ener 93 20:3 Reismehless Per AO ® Scaber Ein n 2r Reistutterme hr 2,106 Da LE Buße zug 2853 Palmkuchen 2 2 2. SEE 2,520 n InteussRubr BI, 23877423 Baumwollsaatkuchen . . — 7,401 Polyporus ovinus . . . 63 46,6 Kokoskuchen . . . 2 ..— . 3,549 Hydnum imbricatum . . 5,0°29,8 Rapskuchen . . . . 20 — 5443 R repandum .„ . 93 44,0 Erdnussee sn ee 8,132 Sparassis crispa . . . . 68 374 Lupine A ER re Morchella esculenta . . 25 381 Malzkeime. . ». 2. 2.2. — 4,167 Lycoperdon bovista . . 5,2 22,5 Steinnus . . — 0,09 1 ws | | Im Mittel: Im Mittel: 0,456 6 Aus alledem ersehen wir also, dass die mykoiden Organismen und die Kerne der amöboiden Organismen reich an Nukleo-Proteinen ist. Enthält sie das Amöboplasma auch? Sehen wir, was in bezug darauf die Autoritäten sagen. „Es hat sich nämlich herausgestellt, sagt Verworn®®), dass sich im Kern ganz vorwiegend die phosphorsäurehaltigen Verbindungen der Eiweißkörper und zwar speziell die reinen Nukleine finden, die im Protoplasma dagegen ganz zu fehlen scheinen“, und dasselbe sagt Gurwitsch"?!) behauptend, „dass die strenge Lokalisation des Chromatins auf den Kern aufrecht erhalten werden muss“, wobei er unter Chromatin nur solche Körper versteht, die wirk- liches Nuklein enthalten und welche man streng vom Pseudo- oder Paranuklein, der im Cytoplasma vorkommt, unterscheiden muss: „Nur letztere, mit Nukleoalbuminen identische und keine echte Nukleinsäure resp. keine Xantinbasen enthaltende Körper kommen nach zahlreichen Untersuchungen im Plasma vor!??).“ 130) Verworn, Max, Allgemeine Physiologie. Jena 1901, S. 121. 131) Gurwitsch, A., Morphologie und Biologie der Zelle. Jena 1904, S. 163. 132) Gurwitsch, 1. e., S. 163. XXX. 22 338 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. Und so trifft man die echten Nukleine (d. h. Nukleo-Proteide), worauf zahlreiche chemische Untersuchungen hinweisen, ausschließ- lich nur im Mykoplasma, d. h. in Zellkernen, Bakterien, Pilzen, Uyanophyceen!°?), im typischen Amöboplasma, d. h. im Cytoplasma kommen sie gar nicht vor; hier werden sie durch Nukleo-Albu- mine vertreten. Wenn man diese allgemeine Verbreitung der Nukleo-Proteiden unter den freien wie auch unter symbiotisch lebenden Mykoiden mit ihrer vollständigen Abwesenheit im Amöboplasma (Cytoplasma) vergleicht, so geht es nicht anders an, als ın dieser Tatsache einen ernsten Hinweis darauf zu sehen, dass im Baue beider Plasmas ein tiefer und wesentlicher Unterschied herrscht. Weniger wesentlich, aber immerhin erwähnungswert ist der Umstand, dass das Mykoplasma und augenscheinlich dieses alleın, fähig ist, die allerverschiedensten Fermente und Enzyme zu produ- zieren. Die fermentbildende Fähigkeit der Bakterien ist allgemein bekannt, aber auch die Pilze besitzen diese Fähigkeit ın hohem Maße'’*), und wenn man auch bei Tier- und Pflanzenorganismen Produktion von Enzymen konstatieren kann, so erscheint der Zell- kern, wie es sich mehr und mehr herausstellt, als erste Quelle, aus der diese Enzyme entstehen, also wiederum das Mykoplasma. Schwerlich kann man auch nur einen einzigen sicher bewiesenen Fall anführen, wo das Enzym vom Cytoplasma selbst produziert wäre. Man kann die Aufmerksamkeit noch auf einem chemischen Körper lenken, welcher das Mykoplasma charakterisiert, da er ganz besonders intensiv unter den Mykoiden verbreitet ist, obgleich auch bei Tieren man ihn gelegentlich trifft. Ich meine nämlich das Glykogen. Errera!®:) war der erste, welcher feststellte, dass Stärke und Zucker, welche Vorratsstoffe der Pflanzen sınd, beı den Pilzen durch Glykogen ersetzt sınd. Glykogen und glykogenartige Stoffe wurden nicht einmal auch ın Bakterien gefunden, z. B. bei Granulobacter polymyza'?°), bei Axotobacter, und ebenso auch bei den Üyano- phyceen '"). 133) Im hohen Grade interessant wäre es, spezielle Untersuchungen zur Auf- hellung der Frage anzustellen, ob echte Nukleine im Oytoplasma der Pilze enthalten sind. Soviel hier bekannt, ist solch eine Untersuchung mit Ausnahme des oben- angeführten Hinweises in bezug auf die Anwesenheit von Nukleinstoffen im Cyto- plasma der Hefepilze (s. S. 335) noch nicht gemacht worden. 134) Dass die Chromatophoren Enzyme produzieren, ersieht man daraus, dass die Stärkekörner, welche in ihm eingeschlossen sind, oft angenagt erscheinen und zum Teil von ihnen „verdaut“ werden. 135) Errera, L., L’epiplasma des Ascomycetes et le glycogene des vegetaux. — These. Bruxelles 1882. 136) Czapek, Fr., Biochemie der Pflanzen, Bd. I, 1904, S. 238. 137) Fischer, A., Die Zelle der Oyanophyceen. Botan. Ztg. 1905. — Sehr interessant wäre es, festzustellen, ob nicht in den Pyrenoiden einiger brauner Algen, Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete. 339 Auf die verschiedene chemische Zusammensetzung beider Plasma- arten weist auch die Verschiedenheit der ersten Produkte der Assı- milation bei den Mykoiden einerseits und bei den Amöboiden andererseits. In allen grünen Gewächsen erweist sich der Rohr- zucker als sehr verbreitet. Es stellt, wie viele Physiologen, ange- fangen mit Brown und Morris, denken, das erste Produkt der Photosynthese dar, d. h. die Assimilation von CO,. In allen Teilen grüner Pflanzen kommt Enzym oder Ferment vor, welches Invertin heisst, welcher auf Rohrzucker einwirkend ihn invertiert, d. h. ıhn in einen anderen Zucker verwandelt, und dieser letztere erscheint als Material zur Bildung von Stärke und Inulin auf dem Wege der Polymerisation der Zuckermoleküle. Die Pilze dagegen haben an- statt Rohrzucker (der auch bisweilen bei ihnen vorkommt) !??) überall Trehalose verbreitet, während das Enzym Invertin bei ıhnen durch ein anderes Enzym — die Trehalase — vertreten ist !??). Aus dem vorgehenden Kapitel können wir u. a. auch die mannigfachen Lücken in unserem Wissen bezüglich der chemischen Zusammensetzung der Zellen ersehen und werden die Aufgaben klargelegt, deren Lösung vor allem vom Gesichtspunkte der Theorie der zwei Plasmaarten wünschenswert erscheint. Hier sind die Themata, auf welche ich die Aufmerksamkeit der Chemiker und Physiologen lenke: 1. Den Phosphorgehalt (P,O,) in der Asche zu bestimmen, von a) Cyanophyceen, b) Bakterien, c) reinem Cytoplasma der Amöboiden ohne Zellkern !*°), d) reinen Kernen ohne Öytoplasma. 2. Den Phosphorgehalt (P,O,) ım Inhalte der Zellen (Plasma und Kern) ohne Zellhaut bei Pilzen im Vergleich mit eben- demselben Inhalt bei Pflanzen und Tieren zu bestimmen. 3. Die Ursache des Reichtums an P in der Muskelasche zu er- klären. 4. Mikrochemisch die Zusammensetzung der Chromatophoren auf- zuklären a) in bezug auf P ım allgemeinen und besonders b) in bezug auf Nukleinsäure und c) auf Nukleo - Proteide. Auf dieselbe Weise die Chromiolen des Zellkernes zu unter- suchen. besonders der Diatomeen, Glykogen enthalten ist, was übrigens nicht schwer wäre zu konstatieren, da wir eine sehr charakteristische Farbenreaktion auf Glykogen besitzen. 138) Czapek, Fr., Biochemie der Pflanzen, Bd. I, Jena 1900, S. 229 u. 501. 139) Bourquelot, E. und H£rissey, H., Sur la tr&ehalose; sa pr&sence generale chez les champignons. Comptes Rend. Acad. Se. Paris, Bd. OXXXIX, 1904, 8. 874. 140) Das Trennen des reinen Uytoplasma vom Zellkern zum bedachten Zweck hat keine unüberwindlichen Schwierigkeiten; dazu gibt es einige Methoden. 22* 340 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarien ete 5. Den vergleichsweisen Gehalt an Nuklein und besonders den an Neukleo-Proteiden zu bestimmen bei a) Cyanophyceen, b) Pilzen, c) Bakterien, d) in reinem Oytoplasma'?!). VM. Die Beziehung zu den Giften und die Widerstandsfähigkeit im allgemeinen. Die Widerstandsfähigkeit des Mykoplasmas gegen Gifte und überhaupt alle äußeren schädlichen Bedingungen ist geradezu er- staunlich, und das weist darauf hin, dass dieses Plasma ganz anders gebaut sein muss als das zarte, leicht durch die kleinste schädliche Bedingung umkommende Amöboplasma. Wenn wır das Leben in Gewässern beobachten, anfangend mit vollständig reinem Wasser und durch eine Reihe Übergänge zu den allerschmutzigsten stinkenden Abflusskanälen übergehend, wie es 2. B. in sehr systematischer Form von Kolk wıtz und Marsson'#) gemacht wurde, so sehen wir, dass die Organismen, die aus Amöbo- plasma gebildet sind, welche zuerst, in reinem Wasser, entschieden diejenigen Organismen, welche aus Mykoplasmen bestehen, über- wiegen oder sogar als die allein herrschende waren, in dem Maße immer seltener und seltener werden, wie das Wasser unreiner wird, dagegen die Mykoiden durch Bakterien und Öyanophyceen repräsen- tiert, immer überwiegender werden, bis wir zuletzt in ganz ver- dorbenem, stinkendem Wasser schon gar keine anderen Vertreter des Lebens finden außer allein Bakterien und Uyanophyceen. Um nicht ohne Beweise zu sein, führe ich einige Tatsachen an, welche ich aus dem oben zitierten Artikel von Kolkwitz und Marsson entnehme. Diese Autoren teilen die Organismen — ım angeführten Artikel nur die Pflanzen — nach dem Grade des ver- dorbenen Wassers, welches sie imstande sind, auszuhalten in Oligo- saprobien, welche das verhältnismäßig reinste Wasser nötig haben (die Organismen des vollständig reinen Wassers Katarobien — sind zunächst nicht ins Auge gefasst), ın Mesosaprobien und Polysaprobien, die am allerwenigsten Wählerischen in dieser Beziehung. Die Zahl der Mykoiden und Amöboiden, die sich in diesen Gruppen finden, in Prozenten ausdrückend, erhalten wir folgende kleine, von mir auf Grund der im Artikel angeführten Tatsachen zusammengestellte Tabelle. Aus dieser Tabelle sieht man klar, dass sich mit dem Verderb des Wassers die Anzahl der amöboiden Organismen verkleinert, 141) Möglicherweise gelingt es, eine gehörige Menge reinen Oytoplasmas zur Analyse aus den Eiern der Seeigel zu erhalten, indem man nach vorhandenen Me- thoden (durch Schütteln) die Zellkerne ausschließt. In bezug auf die Menge von Nukleo-Proteiden in den Zellkernen existieren schon einige Daten (Kassel). 142) Kolkwitz, R. und Marsson, M., Okologie der pflanzlichen Saprobien. Ber. d. deutsch. botan. Gesellsch., Bd. XXVlIa, 1908, S. 505. Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. 341 während die Anzahl der Mykoiden verhältnismäßig immer größer und größer wird, und dieses Verhalten zeigt eben, dass die Mykoiden widerstandsfähiger sind als die Amöboiden. Oligosaprobien Polysaprobien Allgemeine Zahl der allerwenigst ver- Mesosaprobien am meisten. ver- dorbenes Wasser ’dorbenes Wasser Mykoiden’ „...% 0.2. 21 oder 13°], 27 oder 21°, 19 oder 90,5 °|, Amuoboidernaram re ae 87, NO N PAR In, Organismen überhaupt . 158 151 21 Auf dıe große Widerstandsfähigkeit der Pilze weisen die Spe- zialisten unter den Mykologen hin. „Nach dem Zeugnisse von Clark sind die Pilze überhaupt mehr imstande, ungünstigen Be- dingungen zu widerstehen als die höheren Gewächse!*?)“, und ım selben Sinne sprechen sich die ın bezug auf Bakterien als Autorität geltenden Schmidt und Weis!) aus, indem sie bestätigen, dass in bezug auf das Medium, ın dem die Bakterien leben, dieselben — „nehmen im allgemeinen eine Sonderstellung ein, anderen Pflanzen gegenüber“. Zu den Einzelheiten übergehend, betrachten wir zuerst die Wirkung der Gifte. Jedem ist es bekannt, wie empfindlich Tiere und Pflanzen gegen minimale Dosen Sublimat sind. So fand Mıquel!*), der die Wirkung mineralischer Gifte auf Diatomeen erforschte, dass folgende unbedeutende Dosen sıe töten. Leben noch bei Sterben bei Einwirkung Einwirkung Sublimabsrgr u al. do ee Kupfervitriole 227... alas on oo Zn ksvatmolee en Ulenınon Arsenige Säure . . . . — ons Nach Davenport und Nealy"**) tötet schon eine Lösung von 0,0001°/, Sublimat einige Infusorien (Stentor), aber 0,001°/, der Lösung tötet sie alle schnell. Für höhere Tiere (nach Behring) ist ein Teil Sublimat auf 60000 Teile des Körpergewichts unbedingt tödlich, für Bakterien ist aber erst ein Teil auf 100 Teile Serum an Menge nötig, um ihre Entwickelung anzuhalten (es ist von den Milzbrandbakterien hier die Rede), folglich erscheint unter diesen Bedingungen das Sublimat für höhere Tiere 6mal giftiger als für Bakterien'*”). Kossjakow hat Bakterien allmählich an noch viel 143) Massee, Text-Book of Fungi. London 1906, S. 127. 144) Schmidt, Johs und Weis, Fr., Die Bakterien, 1902, S. 104. 145) Just’s Jahresbericht für 1892, S. 175. 146) Davenport, ©. B. und Nealy, H. V., Acclimatisation of Organisms to poisonous Chemical Substances. Arch. f. Entwickelungsmech. d. Organismen. Bd. II, 1896, 5.570. — Auch nach Bokorny, Th., Arch. f. Physiol., Bd. CX, 1905, S. 203. 147) Schmidt, Johs und Weis, Fr., Die Bakterien, 1902, S. 171. 349 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete. 7 größere Dosen Gift gewöhnt, wie es aus folgender kleiner Tabelle ersichtlich: °/y, Borax °|,, Borsäure °/,, Sublimat von von von Bacillus subtilis . . . . 11—18 9-11 0,07—0,10 Bacterium anthraecis . . . 4—7 6—8 0,05—0,07 Bacillus (Thiothryx) tenuis . 16—21 9—11 0,10—0,17 Also während das Amöboplasma schon bei einer Wirkung von 0,0001°/, Sublimat umkommt, hält der Baeillus subtilis 0,01°/, aus, d.h. das Mykoplasma ıst 100mal widerstandsfähiger als das Amöbo- plasma; der Dac. tenwis verträgt sogar 0,017°/, der Lösung. Das ist aber noch alles nichts im Vergleich mit der Widerstandsfähig- keit der Actinomyceten, einer Gruppe von Organismen, die zwischen Bakterien und Pilzen steht. Actinomyces odorifer hält folgende un- glaubliche Mengen Gift!**) aus: Na0l Karbolsäure H,SO, AgNO, Sublimat Konzentrierte Lösung Dr, 0,22, O,.12.075 010% Während also das Amöboplasma schon von einer Wirkung von 0,0001°/, Sublimat umkommt, hält Actinomyces noch 0,1°/, der Lösung dieses Giftes aus, d. h. das Mykoplasma erweist sich im gegebenen Falle 1000mal widerstandsfähiger als das Amöboplasma. Wenn man Johan-Ohlsen!*) glaubt, so ist Aspergillus niger fähig, sogar 1°/, Sublimatlösung auszuhalten! Dasselbe hat man in bezug auf eine andere nicht weniger giftige Substanz beobachtet, den Lapıs. Während nach Bokorny') Infusorien schon der Wirkung von 0,001°/, Höllensteinlösung er- liegen, verträgt Actinomyces odorifer eine 100mal stärkere Lösung, de. 0,19), Nicht weniger widerstandsfähig erscheint das Mykoplasma in bezug auf andere giftige Stoffe und schädliche Bedingungen, von welchem jedes Amöboplasma schon längst umgekommen wäre. Alkohol z. B. tötet jedes Tier und jede Pflanze ın ganz kurzer Zeit. Russ!’!) hat aber bewiesen, dass trockene Bakterien von Alkohol gar nicht leiden, sogar nicht von absolutem, während Bakteriensporen vollständig widerstandsfähig gegen Alkohol jeder Konzentration sind. „Absoluter Alkohol hat so gut wie gar keinen desinfizierenden Einfluss auf Bakteriensporen“ '’?). 148) Rullmann, W., Die Eisenbakterien. Der Kreislauf des Schwefels, in Lafar, F., Handb. d. techn. Mykologie. Bd. III, Jena 1904, S. 212. 149) Just’s Jahresbericht, 1886, S. 475. 150) Bokorny, Th., Nochmals über die Wirkung stark verdünnter Lösungen auf lebende Zellen. Pflüg. Arch. f. Physiol. des Menschen. Bd. CX, 1905, S. 203. 151) Russ, v., Zur Frage der Bakteroidie durch Alkohol. Centralbl. f. Bakter. (Abt. I), Bd. XXXVII, 1904, S. 115. 152) Minervini aus Schmidt, Johs und Weis, Fr., Die Bakterien. Jena 1902, 8. 173. - 349 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. 3 Dasselbe hat man an Pilzen beobachtet. Hoffmann!) teilt mit, dass Schmitz beobachtet hat, wie die Sporen von Pexixa repanda auswachsen, nachdem sie ım Laufe von 24 Stunden in absolutem Alkohol gewesen waren. Ebensowenig empfindlich sind Bakterien gegen Kochsalzlösungen. Ohne Zweifel ist kein Tier, keine Pflanze imstande, längere Zeit in 25°/,iger Lösung von Kochsalz, noch weniger in konzentrierter Kochsalzlösung zu leben '’*). — Dagegen können viele Bakterien noch in 10°/,iger Lösung vollständig normal leben und sich ver- mehren, wobei sie noch fortfahren, die ihnen eigentümlichen En- zyme auszuscheiden !?°) und Fischer lenkt die besondere Aufmerk- samkeit darauf, dass die Bakterien in gegebenem Falle vollständig fähig sind, die Salzlösung durch ihre Häute durchzulassen, voll- ständig permeabel sind; auch kann Penieillium nicht nur in 13 "/,iger Salzlösung leben, sondern sogar wachsen !°®). Das ist aber noch nicht alles: Lewandowsky®!’’) kultivierte zwei Bakterien in 25°/,iger Salzlösung, in welcher dieselben noch sehr gut lebien. Und eine ganze Anzahl von Bakterien können sogar konzentrierte Kochsalzlösung während vieler Wochen aus- halten, so z. B. Bae. coli communis über 6 Wochen!'®), ohne ıhre Lebensfähigkeit zu verlieren. Die Sporen der Bakterien sind noch widerstandsfäher: so können die Sporen von Baec. anthracis ohne umzukommen in gesättigter Lösung von NaCl Monate lang liegen, die Sporen des Diphteritus Bacterıum während 3 Wochen !’”). 153) Hoffmann, H.,. Untersuchungen über die Keimung der Pilzsporen. Pringsh. Jahrb. f. wiss. Botan., Bd. II, 1860, S. 331. 154) Bei Oltmanns (Morph. und Biologie der Algen, Bd. II, S. 178) finden wir folgende Angaben in bezug auf die Widerstandsfähigkeit der Algen: „In Kul- turen wurden grüne Algen, die ja relativ (d. h. im Vergleich mit roten Algen) un- empfindlich sind, oft in recht konzentrierten Salzlösungen beobachtet. Stange zog Chlamydomonas marina in einer 23°, haltenden Sole und Pleurococcus spec. in 12°/, Salpeterlösung. Wiplel gelang mit Pleurococeus Ähnliches, während sich ihm Spyrogyren und Vaucherien empfindlicher erwiesen. A. Richter glückte es, verschiedene grüne Süßwasserformen in mehr oder weniger konzentrierter Salzlösung zu erziehen“ ... 7 Hier setzt Oltmanns aber hinzu: „Aus den Versuchen von Richter und Drews ergibt sich aber noch weiter, dass die Algen jene hohen Konzentrationen keineswegs dauernd ertragen.“ Schwerlich wird sich aber eine Alge finden, welche imstande ist, auch nur kurze Zeit in Heringslake oder in konzentrierter Salzlösung zu leben. 155) Fischer, A., Botan. Ztg. 1905, S. 104. 156) Eschenhagen, Einfluss der Lösungen verschiedener Konzentration auf Schimmelpilze. Dissert. Leipzig 188S. 157) Lewandowsky, F., Arch. f. Hyg., Bd. XLIX, 1904, S. 47. 158) Fischer, A., Vorlesungen über Bakterien, 1903, S. 29. 159) Freitag, C., Zeitschr. f. Hygiene, Bd. XI, S. 60, aus Czapek, Bio- chemie der Pflanzen, Bd. II, S. 900. 344 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. Bakterien können sogar in Heringslake leben, wenn sie sich in ihm auch nicht vermehren !*°), Augenscheinlich muss das Mykoplasma der Bakterien anders konstruiert sein als das Amöboplasma der Tiere und Pflanzen, wenn es imstande ist, in solch einem Medium wie Heringslake oder 25°/,iger, ja sogar konzentrierter Kochsalzlösung zu leben. Eines der stärksten Gifte für Amöboplasma ist Kupfervitriol. Die Diatomeen z. B., wie wır im Anfange des Kapitels gesehen haben, kommen schon bei einer Einwirkung von !/z9000 dieses Salzes um, sl Spirogyra und einige andere Algen, wie Nägeli!*) zeigt hat, noch empfindlicher gegen dieses Gift sind und schon von der Wirkung eines Teils Kupfervitriol auf 50 Millionen Teile Wasser, nach Bokorny!®?) sogar ein Teil auf 100 Millionen Teile Wasser leiden. Sehen wir jetzt, wie sich die Pilze zu diesem Gifte verhalten. „Gegen Kupfervitriol, sagt Bokorny!®?), sind merk würdigerweise manche Pilzzellen ziemlich wenig empfindlich, während Algen äußerst leicht geschädigt werden, ebenso Infusorien.“ Und De Bary!‘) sagt, „ich habe selbst fußgroße Häute von Penicillium glaucum untersucht, welche sich auf Kupfervitriollösung, die zu galvanoplastischen Zwecken benutzt wurde, gebildet hatten“, das- selbe teilt auch Berkley!‘‘) mit, welcher diesen Pilz auf Eisen- vitriollösung gesehen hat. Hoffmann!) beobachtete eine üppige Vegetation von Penieillium glaueum wit reichlichem Fruchtansatze auf gesättigter Lösung von arseniger Säure, und dasselbe beobachtete Jaeger!) Pulst!‘), welcher viele Versuche über die Wider- standsfähigkeit der Schimmelpilze gegen Kupfervitriol machte, fand, dass Penieillium glauceum ungewöhnlich widerstandsfähig in dieser Beziehung ist und erinnert gleichzeitig an dıe „relativ geringe Resiı- stenz des Mucor im allgemeinen“ und an die hemmende Wirkung 160) Fischer, A., Vorlesungen über Bakterien, 1903, S. 29. 161) Oltmanns, Fr., Morphologie und Biologie der Algen, Bd. II, Jena 1905, S. 184. — Siehe auch: Nägelı, Olygodynam. Erscheinungen in lebenden Zellen. 1893. 162) Bokorny, Th., Nochmals über die Wirkung stark verdünnter Lösungen auf lebende Zellen. Pflüg. Arch. f. Physiol. des Menschen, Bd. CX, 1905, S. 204. 163) Bokorny, .1.c.,.8: 203: 164) De Bary, Beiträge zur Morphologie und Physiologie der Pilze, Flechten und Myxomyceten. 1866, 8. 214. 165) Berkley, Outlines, S.30 (nach De Bary, Morphologie und Physiologie der Pilze, Flechten und Myxomyceten, 1866, S. 214). 166) Hoffmann, H., Untersuchungen über die Keimung der Pilzsporen. Pringsh. Jahrb. f. wissensch. Botanik, Bd. II, 1860. S. 330. 167) Jaeger, Wirkung des Arseniks auf Pflanzen. Stuttgart 1864 (nach De Bary, Morphologie und Physiologie der Pilze, Flechten und Myxomyceten, 1866, S. 214). 168) Pulst, ©., Die Widerstandsfähigkeit einiger Schimmelpilze gegen Metall- gifte, Pringsh. f. wiss, Botan., Bd. XXXVIL, 1902, 8. 214 u. 215. Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. 345 auf die Entwickelung dieses Giftes „bei den empfindlichsten der drei Pilze (Aspergillus, Botrytis, Mucor), dem Mucor.*“ Aber Muror ist ein Phycomycet, d. h. eine farblos gewordene Alge (Amöboid), während die drei übrigen am widerstandsfähigsten Organismen echte Pilze, d. h. Mykoiden sind. Dasselbe Verhalten ıst auch hinsicht- lich der Wirkung auf Organismen von Schwefelwasserstoff und 00, beobachtet worden. — Bakterien oder Öyanophyceen (Beggiatoa u. a.) atmen Schwefelwasserstoff ein, für Tiere und Pflanzen ıst dieses ein starkes Gift. Mucor (Amöboid) leidet schon bei 33°/, CO,, für den Pilz Penieillum sind erst S0°/, CO, schädlich, viele Bakterien leben aber ebenso frei in reiner Kohlensäure wie in der Luft!‘P). Zahlreiche Versuche Bokorny’s!”®) über die Wirkung ver- schiedener Gifte bestätigen ebenso die Tatsache der großen Wider- standsfähigkeit des Mykoplasmas, wie aus folgender Zusammen- stellung ersichtlich. Mykoplasma. Amöboplasma. Salzsäure. 1°), — 48 Stunden lang ein- 0,01°/, tötet Paramaecium (In- wirkend, tötet Baeillus anthracis fusor) und Zoosporen. nicht (Dyrmont). 169) Chopin, Flora, 1902, Ergänzungsband, S. 348. 170) Bokorny, Th., Nochmals über die Wirkung stark verdünnter Lösungen auf lebende Zellen. Pflüg. Arch. f. Physiologie des Menschen. Bd. CX, 1905, S. 174. — Bei Bokorny begegnet man übrigens einigen Fakta, welche der allge- meinen Ansicht über die Wirkung der Gifte auf amöboide und mykoide Organismen widersprechen. Aus dieser Arbeit kann man sich leicht überzeugen, welchen ungeheuren Ein- fluss auf wissenschaftliche Arbeiten schon das bloße Aufstellen dieser oder jener Probleme hat. — Sei diese Arbeit z. B. mit dem Zwecke unternommen, um meine Theorie der zwei Plasmaarten zu prüfen, so könnte sie sicher höchst wertvolle Tat- sachen zur kritischen Beleuchtung derselben darbieten. Jetzt kann man wenig zur Erklärung der uns interessierenden Frage aus ihr schöpfen, weil, bei Beobachtungen der Wirkung dieser oder jener Stoffe auf Tiere und Pflanzen, nirgends parallele Versuche über die Wirkung der Mykoiden gemacht wurden. Abgesehen von diesen Lücken sind die Tatsachen, welche von Bokorny angeführt werden, häufig noch dadurch ungenügend für unsere Zwecke, weil sie keine Hinweise auf die Be- dingungen geben, unter welchen ein gegebenes Gift auf einen Organismus wirkt. Diese Bedingungen zu wissen, ist aber äußerst wichtig, da Sublimat z. B. in Gegen- wart der kleinsten Menge Eiweißstoffe bedeutend von seiner Giftigkeit verliert. Bei Bokorny kommen Fälle vor, wo Bakterien (dabei stets Fäulnisbakterien) sich em- pfindlicher gegen Gifte zeigen als Infusorien und Algen, doch möglich ist es, dass die Bakterien in einem Medium lebten, das weniger reich an organischen Stoffen war als die Infusorien. — Andererseits ist es möglich, dass, wenn Bokorny die Wirkung dieses Giftes nicht nur in bezug auf Fäulnisbakterien durchversuchte, welche sich zufällig vielleicht besonders empfindlich dem vorliegenden Gifte gegenüber er- wiesen (bekanntlich haben verschiedene Gattungen und sogar verschiedene Arten auch verschiedene Empfindlichkeit), so könnte es sein, dass eine andere Beziehung der Organismen zu einigen Giften erhalten worden wäre. — Man kann zufällig Bakterien antreffen, welche von solcher Temperatur umkommen, die noch von Infu- sorien ausgehalten wird, doch das bedeutet nicht, dass die Infusorien widerstands- fähiger gegen hohe Temperaturen sind als Bakterien. 346 Ätzkali. Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete. Mykoplasma. 0,1°/, schadet dem Typhus- bakterium nicht und 0,14°/, schadet Amöboplasma. 0,1°/, tötet momentan alle Tiere und Pflanzen. den Cholerabakterien nicht, die in Gelatine lebten (Kitasato)!”"). Kupfervitriol. 0,1°/, stört eine Art Hefe, nicht zu wachsen und zu assimi- lieren; bei 1°/, wächst ein Schimmel- pilz (Bokorny, S. 204), bei 0,05°/, wachsen Bakterien. 0,01°/ „tötet Infusorien. 1:50000 tötet in 2 Tagen alle Tiere (Infu- sorien, Rädertiere, Würmer, In- sektenlarven) und alle Pflanzen (Cladophora, Conferva, Spiro- gyra, Vaucheria). 1: 100000000 tötet langsam Spirogyra (l. ce. S. 205). Zinkvitriol. „Das Leben der Fäulnispilze wird aber merk würdigerweise nicht einmal durch 0,1°/, Zinksulphat gänzlich gehindert“ (Bokorny, l.1e.18..209). 0,01°/, tötet Infusorien in 24 Stunden (l. ec. S. 209) und sogar 0,001], tötet sie langsam. Wur- zeln von Phanerogamen sterben bei 0,02°],. Aber besonders erstaunlich ist der Unterschied zwischen der Beziehung des mykoiden und amöboiden Plasmas zu solchen für letztere starken Giften wie Blausäure, Morphium, Strychnin. Schmidt und Weis!”?) sagen in bezug darauf, „Die Wirkungsweise der spezifischen Gifte ist in den meisten Fällen höchst rätselhaft, ... während sie für den einen Organısmus in den kleinsten Dosen tötend sein können, sind sie vielleicht für andere Organismen, selbst in großen Dosen, unschädlich. Dieses gilt z. B. für Cyanwasser- stoff (Blausäure) und die Alkaloide (Strychnin, Morphin u. a.), die bekanntlich zu den für höhere Tiere gefährlichsten Giften gehören, während sie Hefepilzen und Bakterien bisweilen sogar als Nährstoffe dienen können.“ Pfeffer'”®) führt ebenso die bemerkenswerte Tatsache an, dass einige Pilze (nach seiner eigenen Beobachtung) das Amygdalın oder sogar das Oyankalı als Nahrung aufnehmen und sich dieser für Tiere, wie bekannt, höchst giftigen Stoffe als Quelle bedienen, aus der sie den ihnen nötigen Stickstoff!”*) beziehen. Währenddem wirken nach Klebs!’’) schon 0,05°/, Strychnin schädlich auf einzellige Algen (Krrglena, Phacus), und auch für höhere Gewächse sind diese Alkaloide starke Gifte, besonders Strychnin. Ungewöhnlich ist auch die Widerstandsfähigkeit der Bakterien 171) Damit erklärt Bokorny ihre hohe Widerstandsfähigkeit. 172) Schmidt, Johs und Weis, Fr., Die Bakterien. Jena 1902, S. 171—172. 173) Pfeffer, W., Pflanzenphysiologie, Bd. I, Leipzig 1897, S. 398. 174) Sehr interessant wäre es, ausführlichere und systematischere Experimente über dieses Thema vorzunehmen, auch die Cyanophyceen einschließend, deren Be- ziehung zu den Giften noch so viel wie gar nicht erforscht worden ist. 175) Klebs, G., Organisation einiger Flagellatengruppen. 1883, 8. 59. Loeb, Über den autokatalytischen Charakter der Kernsynthese ete. 347 gegen Magensaft, worauf Ruziöka!”‘) hingewiesen hat. „Das 51 Tage und länger der Magensafteinwirkung ausgesetzt gewesene Milzbrandbakterium bietet im wesentlichen dem Auge dasselbe mikroskopische Bild wie ein Anthraxbakterium, das soeben der lebenden Kultur entnommen wurde.“ In dieser Hinsicht sind die Bakterien ganz identisch mit den Zellkernen, welche, wie bekannt, auch vom Magensaft fast gar nicht angegriffen werden. Von welcher Zelle, ob sie nun von Tier oder Pflanze stammt, kann man das- selbe sagen? (Schluss folgt.) Über den autokatalytischen Charakter der Kernsynthese bei der Entwickelung. Von Jacques Loeb, (From the Spreckels Physiological Laboratory of the University of California.) Bei meinen Arbeiten über das Wesen des Befruchtungsvorgangs wurde ich zu der Ansicht geführt, dass die Entwickelungserregung darin besteht, dass die oberflächliche Schicht des Eizytoplasmas — die Rindenschicht — zytolysiert wird. Das Spermatozoon bewirkt diese Zytolyse durch ein Lysin; bei der künstlichen Parthenogenese wird das Lysin durch eins der zytolytischen Mittel ersetzt, welche in der Bakteriologie und Hämatologie bekannt und gebräuchlich sind!). Nachdem die oberflächliche Schicht des Eizytoplasmas zytolisiert ist, beginnt die Entwickelung des Eis. Das Wesen dieser Ent- wickelung besteht in einer Beschleunigung der Oxydationsvorgänge im Ei, welche zu einer Synthese des Kernmaterials auf Kosten des Zytoplasmas führt?). Da ich gefunden hatte, dass ohne Sauer- stoff diese Synthese ausbleibt, so ist es möglich, dass es sich bej der Bildung von Kernmaterial um eine oxydative Synthese handelt. Bei dem Versuch, mir ein Bild von der chemischen Natur der Kernsynthese zu machen, wurde ich auf folgende Tatsache auf- merksam: dass nämlich die Masse der Kernsubstanz in der Reihe der aufeinanderfolgenden Zellteilungen (anfangs wenigstens) in geo- metrischer Progression zunimmt; ja dass man geradezu sagen kann, dass (in dieser Entwickelungsperiode) die während der Zeiteinheit gebildete Kernsubstanz der schon vorhandenen Kernmasse jedesmal angenähert proportional ist?). Nun nimmt das Ei der Seetiere, an dem ich arbeitete, während dieser Entwickelungsperiode keine Nahrung von außen auf, die 176) Ruzicka, V., Weitere Untersuchungen über den Bau und der allge- meinen biologischen Natur der Bakterien. Arch. f. Hygiene, Bd. LI, 1904, S. 307. 1) Loeb. Die chemische Entwickelungserregung des tierischen Eies. Berlin 1909. Das Wesen der formativen Reizung. Berlin 1909. 2) Loeb. Über den chemischen Charakter des Befruchtungsvorgangs und seine Bedeutung für die Theorie der Lebenserscheinungen. Leipzig 1908. 3) Loeb. Biochem. Zeitschrift. Bd. II, S. 34, 1906. 348 Loeb, Über den autokatalytischen Charakter der Kernsynthese etc. Masse des Zytoplasmas kann also während dieser Periode nicht zunehmen. Andererseits wird die Masse des Zytoplasmas durch die Bildung von Kernsubstanz fortwährend vermindert. In der Reaktion Zytoplasma -: Kernsubstanz wird also die aktive Masse des Ausgangsmaterials mit jeder Zellteilung vermindert und trotz- dem nimmt — anfangs wenigstens — die Geschwindigkeit der Re- aktion mit jeder neuen Zellteilung zu. Für dieses eigentümliche Verhalten gab es, soviel ich sehen konnte, nur eine Erklärung: nämlich dass die Kernsubstanz, das Reaktionsprodukt, selbst wieder als Katalysator auf die Kernsynthese wirkt?); dass also mit a. W. die Synthese der Kernsubstanz eine autokatalytische Reaktion ist. In diesem Falle ist es nämlich verständlich, dass zu Anfang der Entwickelung die Geschwindigkeit der Synthese der Kernsubstanz, anstatt stetig abzunehmen, zunimmt. Die Annahme, dass die Kernsubstanz ein Ferment oder Enzym für ihre eigene Synthese ist, hat aber, wie ich glaube, noch eine weitergehende Bedeutung. Es ist sicher, dass die erste Entwicke- lung des Eies nur eine Modifikation des Eizytoplasmas ist und es ist deshalb verständlich, dass alle Hybride in den ersten Entwicke- lungsstadien nur mütterliche Eigenschaften haben. Für den Er- wachsenen ist aber der Anteil des Vaters an der Vererbung im allgemeinen derselbe wie der der Mutter. Das weist darauf hın, dass der Kern, wenn nicht ausschließlich so doch in hervorragender Weise den Charakter der erblichen Eigenschaften des Erwachsenen bestimmt. Das Mendel’sche Segregationsgesetz lässt sich auf Grund dieses Umstandes ın die Form fassen, dass dıe beiden Kern- substanzen des Vaters und der Mutter ihre Individualität in den Nachkommen bewahren. Nehmen wir nun an, dass der Kern ein Enzym für die Synthese von Kernsubstanz ist oder enthält; und dass der Kern einer Spezies oder Varietät nur als Katalysator für die Synthese des spezifischen Kernmaterials der betreffenden Spezies oder Varietät dienen kann, so wird der mysteriöse Umstand in den Lebenserscheinungen an- schaulich, nämlich die Kontinuität der Lebewesen. Man möge es mir daher nicht verübeln, wenn ich meine Ansichten über die autokatalytische Natur der Kernsynthese gegen einige Missverständ- nisse von seiten des Herrn Enriques verteidige. Herr Enriques greift die Richtigkeit meiner Ansichten über die autokatalytische Natur der Nukleinsynthese von zwei Seiten her an’). Sein erster Einwand lautet folgendermaßen. „Fangen wir ab ovo an, so haben wir hier, in Übereinstimmung mit den herrschenden Anschauungen, eine große Menge Zytoplasma und DeRroebsr lc 5) P. Enriques, Biol. Centralbl. Bd. XXIX, S. 331, 1909. Hornyold, Über die Funktion und Autotomie der gemmiformen Pedicellarien. 349 wenig Kernstoff. Die Befruchtung verdoppelt den Kernstoff, ohne einen wesentlichen Einfluss auf die Plasmamenge auszuüben; und trotzdem fängt die Teilung der Zelle und das Wachstum gerade nun an, gerade im Augenblicke, wo das vermutete Ungleichgewicht zwischen Kern und Plasma augenscheinlich vermindert wird“ (S. 333). Der Leser, der mit meinen Arbeiten nicht vertraut ıst, wird hieraus den Schluss ziehen müssen, dass ich die Verschmelzung des Samenkerns mit dem Eikern als die Ursache der Entwickelungs- erregung ansehe. Meine Versuche über künstliche Parthenogenese haben aber doch gerade diese Hypothese der Entwickelungserregung (welche von Oskar Hertwig herrührt) beseitigt. Nicht die Ver- doppelung der Kernmasse (infolge des Eindringens des Spermato- zoons) veranlasst, das bisher ruhende Ei sich zu entwickeln, sondern die Zytolyse der Rindenschicht des Eies durch ein im Spermatozoon enthaltenes Lysin oder durch ein sonstiges zytologisches Agens. Ein zweiter Irrtum von Herrn Enriques liegt in folgenden Worten. „Die wiederholte Teilung des Eies macht die Kernmenge größer im Verhältnis zu dem Plasma, so dass man denken könnte, dass ein Gleichgewicht erreicht wird. Das Wachstum hört aber nicht auf.“ Enriques lässt hier einen wichtigen Umstand unbe- rücksichtigt, nämlich die Nahrungsaufnahme. Wenn keine Nahrungs- aufnahme stattfindet, so wird in der Tat ein Gleichgewicht erreicht und das Wachstum hört auf — ja noch mehr, beı Planarien findet beı dauerndem Hungern nicht nur Aufhören des Wachstums und Abnahme der Masse statt, ja sogar ein Zurückgehen auf eine mehr jugendliche Form. Ob dabei eme Abnahme der Kernmasse statt- findet, ist noch nicht untersucht. Schließlich noch eine Bemerkung: Der Umstand, dass es Wo. Ostwald und T. B. Robertson gelungen ist, zu zeigen, dass die schon von anderen Autoren angestellten quantitativen Untersuchungen über das Wachstum mathematisch genau der Annahme entsprechen, dass dem Wachstum autokatalytische Prozesse zugrunde liegen, ist doch wohl nach den ın der Naturforschung geltenden Grundsätzen als eine Stütze meiner Auffassung anzusehen. Über die Funktion und Autotomie der gemmiformen (globiferen) Pedicellarien. Von Dr. A. Gandolfi Hornyold. (Aus dem Biologischen Institut in Bergen.) (Mit 1 Textfigur.) Die gemmiformen Pedicellarien befinden sich auf der Dorsal- seite des Tierkörpers sowohl ın den Ambulakren als in den Inter- ambulakren. Jedoch steht die größte Anzahl an dem dorsalen Teil des hinteren Ambulakrum, nämlich auf einem schmalen Bezirk, der 350 Hornyold, Über die Funktion und Autotomie der gemmiformen Pedicellarien. “ sich in der Mitte des letztgenannten etwa von dem Apex der Schale bis zum Anus erstreckt. Sie sind äußerst selten in dem vorderen, Längsschnitt einer gemmiformen Pedi- cellarie von Hehino- cardium, Vergr. 90fach. „Kl. eingesenkten Ambulakrum zu finden. Ihre Zahl ist sehr ver- schieden, bei gewissen Exem- plaren etwa 60, bei anderen 3—6; es ist aber ziemlich selten, Individuen zu finden, bei denen sie gänzlich fehlen. Bei Betrachtung des Tieres fallen diese Pedicellarien gleich ins Auge durch ihre prächtige dunkelrote Farbe und samt- artiges Aussehen. Koehler(1) hat dieses Verhalten schon in folgender Weise erwähnt: „J’aı rencontre chez ’Echinocardium flavescens des pedicellaires gemmiformes parti- culiers analogue ä certains egards aux pedi- cellaires glandulaires des Sphaerechinus, mais en differant par plusieurs caracteres (pl. VII, fig. 59 et 60). Ils sont facılement reconnais- sables a leur couleur pourpre fonce due A un pigment soluble dans l’alcool et l’eau douce, comme le pigment qu’on rencontre en sı grande abondance chez le Spatangue. (es pedicellaires ne s’observent que sur la face dorsale du test de l’Echinocardium, repartıs irregulairement au milieu des piquants, et en nombre tres varıable, suivant les echantillons. (Juelques-uns en possedent une vıngtaine, d’autres troıs ou quatre seulement. Il est rare de rencontrer des ıindividus qui n’en possedent pas du tout.“ Mortensen (4) referiert „I find them, in accordance with Koehler, distributed quite irregularly over the abactinal side, in very different numbers, sometimes quite wanting.“ Die gemmiformen Pedicellarien sind wich- tige Verteidigungswaffen wie Prouho (2) und v. Uexküll (3) gezeigt haben, indem ihre Drüsen ein für Fremdtiere gefährliches Gift enthalten. EpKI. Den folgenden Versuch, der einen Einblick in diese Funktion gestattet, habe ich bei Eehinocardium flavescens oft wiederholt. Setzt man auf die Dorsalseite in der Nähe der gemmiformen Pedi- Hornyold, Über die Funktion und Autotomie der gemmiformen Pedicellarien. 351 cellarien einen kleinen Anneliden, so ıst bald zu sehen, dass die Stacheln auseinander fahren und die darunter gelegenen Pedicellarien zum Vorschein kommen, sich gegen den Wurm hinbewegen und öffnen. Falls der Wurm nahe genug kommt, wird er von den in der Nähe gelegenen Pedicellarien der Reihe nach gebissen, so dass er von mehreren Pedicellarien sukzessiv gefasst wird. Gleichzeitig fließt von dem Kopf der Pedicellarien reichlich eine rote Flüssig- keit aus. Die Giftwirkung ist eine sehr intensive; denn der Wurm ringelt sich heftig und stirbt in wenigen Minuten. Die Pedicellarien lösen sich dann von der Schale ab und bleiben samt ıhren Stiel am Wurm haften. Durch dieses Verhalten lässt sich die große Variation ın der Zahl der gemmiformen Pedicellarien bei verschiedenen Individuen erklären, denn nachdem sıe gebissen haben, lösen sie sich in größerer oder kleinerer Anzahl, je nach der Größe des Gegners und der Dauer des Angriffs, von der Schale ab. Was aber bei mikroskopischer Betrachtung der abgebrochenen Pedicellarien auffiel, war, dass sie sämtlich an der gleichen Stelle abgebrochen waren, und es lag der Gedanke nahe, dass eine be- sondere Einrichtung vorhanden sein musste, um diese so regel- mäßige Ablösung zu bewirken, und ferner die Vermutung, dass die abgelösten Pedicellarien wohl durch Regeneration ersetzt werden können, da dieselben so wichtige Verteidigungswaffen für das Tier sind. Um dies zu prüfen, habe ıch mittelst Lupe und Binokularstativ Tiere genau abgesucht und bald vermutliche Regenerationsstadien gefunden. Um indessen experimentell festzustellen, inwiefern eine Regeneration wirklich stattfindet, habe ich bei vielen Individuen sämtliche Pedicellarien entfernt, indem ich sie kleine Würmer etc. beißen ließ; ich fand tatsächlich, dass eine solche Regeneration stattfindet. Dieser Vorgang dauert etwa einen Monat vom Abbrechen bis zu der völligen Ausbildung der neuen Pedicellarien. Ich erwähnte soeben, dass die Pedicellarien immer an derselben Stelle abbrechen. Eine genauere Untersuchung zeigt, dass diese Stelle in dem Gelenke zwischen dem unteren Ende des Stieles (S) und der Schale liegt; die Pedicellarie ıst hier auf einen kleinen Knopf (X) eingelenkt. Rings um den proximalen Teil des Stiels befindet sich ein Muskel (WM), der zur Bewegung der Pedicellarie dient, ähnlich den Stachelmuskeln, die indessen sehr mächtig aus- gebildet sind, im Vergleich mit den dünnen Muskellagern der Pedi- cellarien. Proximal befestigt sich der Pedicellarienmuskel an dem dem Gelenkknopf benachbarten Schalenteile, distalwärts inseriert er, immer dünner auslaufend, an dem Pedicellarienstiele. Das Ganze wird vom Körperepithel (#£) bedeckt, das sich auch auf den Pedi- cellarienstiel fortsetzt. 352 Hornyold, Über die Funktion und Autotomie der gemmiformen Pedicellarien. Nachdem. die Pedicellarie gebissen hat, reisst der dünne Muskel kurz über der Gelenkstelle durch, und die Pedicellarie löst sich vom Gelenkknopf ab. In der Tat sieht man bei mikroskopischer Betrachtung abgebrochener Pedicellarien an dem Stiel nahe dem proximalen Ende eine Verdiekung, die durch dem Pedicellarienstiel noch anhaftende Muskelfasern gebildet wird, deren untere Enden durchrissen sind. Es ist auch sehr leicht, dıe Ablösung der Pedicellarien mecha- nisch zu erzielen, sei es durch leichte Berührung mit einer Nadel oder durch Anspritzen eines Wasserstrahls mit einer Pipette. Und es scheint deshalb, als ob eine durch direkten Nervenreiz hervor- gerufene Autotomie vorliegt und nicht etwa ein z. B. durch die heftigen Bewegungen eines gebissenen Feindes verursachtes Abreißen. Zuletzt seı noch in bezug auf den mikroskopischen Bau der gemmiformen Pedicellarien erwähnt, dass sie in der Tat, wie schon von Mortensen angedeutet, anders gebaut sind, als die der regu- lären Seeigel, „The blade is a narrow closed tube, with a small slit at the point. There ıs evidently no gland ın the interior of the blade; the edges of the basal part, as well as the apophysis are smooth.*“ Ein eigentlicher Drüsensack, wie er bei diesen vorhanden ist, fehlt hier. Die Epithelschicht jeder Klappe ist dagegen sehr dick (s. Figur) und besteht aus mehreren Arten von Zellen; darunter sind solche mit körnigem Inhalt (Giftzellen?) und, wenigstens bei jüngeren Pedicellarien, Schleimzellen. Die ausführlichen Resultate meiner Arbeit hoffe ıch bald ver- öffentlichen zu können. Zum Schlusse sei es mir gestattet, Herrn Dr. Appellöf für das stete Interesse an dem Fortgang meiner Arbeit meinen besten Dank zu sagen. Literaturverzeichnis. 1. R. Koehler, Recherches sur les Echinides des cotes de Provence. Annales du Muse d’Histoire Naturelle de Marseille 1833, Töme I, p. 24—25, 7 pl. 2. H. Prouho, Du röle des pedicellaires gemmiformes des Oursins (C. R. Ac. Se. Paris, vol. III, p. 62—64), 1890. 3.J. v. Uexküll, Die Physiologie der Pedicellarien. Zeitschr. f. Biolog., N.F., 19.7Bd2.1899: 4. Th. Mortensen, The Danish Ingolf Expedition, Vol. IV, Part. II, p. 134, 1907. Figurenerklärung. K. — Klappe, = ıBuel: MKI. — Muskel der Klappe, K. — Gelenkknopf, EpKl. — Epithel der Klappe, E. — Epithel. M. — Bewegungsmuskel der Pedicellarie. ) Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und WDraR. Hertwie Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Der Abonnementspreis für 24 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebieie der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen. Bd. XXX. 1. Juni 1910. 11. Inhalt: Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten als Grundlage der Symbiogenesis, einer neuen Lehre von der Entstehung der Organismen (Schluss). — Braem, Die ungeschleehtliche Fortpflanzung als Vorläufer der geschlechtlicehen. — Ewald, Über Orientierung, Loko- motion und Lichtreaktionen einiger Cladoceren und deren Bedeutung für die Theorie der Tropismen. — Liesgang, Beiträge zu einer Kolloidehe nie des Lebens. Theorie der zwei Plasmaarten als Grundlage der Symbiogenesis, einer neuen Lehre von der Entstehung der Organismen. Von Prof. Dr. C. Mereschkowsky. (Schluss). Man hat die merkwürdige Fähigkeit der Bakterien und Pilze, den schädlichen Einflüssen solcher Gifte wie starke Kupfervitriol- lösung oder Eisenvitriollösung, Cyankalı u. s. w. zu widerstehen, da- durch zu erklären versucht, dass diese Gifte gar nicht bis zum Protoplasma durchdringen, indem sie von der äußeren Zellmembran oder der äußersten Protoplasmaschicht zurückgehalten werden. Solch eine Erklärung ist aber in manchen Fällen faktisch nicht richtig, so z. B. ın bezug auf starke Kochsalzlösungen, welche, wie bekannt, leicht durch die Zellmembran der Bakterien durchgeht; ebenso wenn solche Stoffe wie Cyankalı, Morphium, Strychnin, den My- koiden als Nahrung dienen, müssen sie aller Wahrscheinlichkeit nach ins Innere der Zelle eindringen. Besonders unanwendbar aber ist diese Erklärung in bezug auf Bakterien, „die ja, wie bekannt, leichter und rascher als andere Zellen gelöste Substanzen durch XXX. 23 354 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete. Diffusion in sich aufnehmen“ !””). In der Tat ıst es ja ganz unzu- lässıg, den Widerstand gegen Gifte bei solchen Organismen, welche „leichter und rascher gelöste Substanzen durchlassen“ als andere, gerade dadurch erklären zu wollen, dass sie die Gifte nicht durch die Membran durchlassen! Wenn aber auch bewiesen wäre, dass die obenerwähnten Gifte, durch die Membrau nicht bis zum Protoplasma gelassen werden, so würde das die Bedeutung der oben beschriebenen Tatsachen durchaus nicht verkleinern, denn es müssen zwei sich sehr scharf voneinander unterscheidende Plasmen sein, die in einem Falle eine Zellmembran oder äußere Protoplasmaschicht bilden können, welche ?!/,o000000 Kupfervitriol leicht durchlässt und im anderen. Falle solche Häutchen bilden, welche dieses Gift ın so hoher Kon- zentration, wie sie zur Galvanoplastik gebraucht wird, nicht durch- lässt. Die große Widerstandsfähigkeit des Mykoplasmas ım Vergleich zum Amöboplasma zeigt sich ebenso ın der Art der Ernährung und in der Wahl der Nahrungsstoffe, welche für den einen und den anderen tauglich sind. Das Amöboplasma fordert sehr zarte, delikate Speisen, sein Menu besteht aus Eiweiß, Protoplasma, Fetten, Stärke und anderen Kohlehydraten. Das Mykoplasma verspeist alles mögliche und unmögliche, ist sogar mit so grober und unverdaulicher Nahrung zufrieden, das von derselben jedes Amöboplasma unaus- bleiblich umkommen müsste. — Benecke!”®) fand z. B. ein Bak- terıum (Bacillus chitinovorus), welcher sich von Chitin "ernährt. Der bekannte französische Bakteriologe Miquel!”®) beobachtete Bakterien, welche sich von Kautschuk nähren, einen Teil seines Stoffes assimilierend und Schwefelwasserstoff ausscheidend. Rahn !*°) zeigte, dass ein Pilz (Penieillium) sich von Paraffin oder paraffin- artigen Kohlenwasserstoffen nähren kann, dieselbe als Kohlenstoff- quelle benutzend. Es gibt auch Pilze, aus der Gruppe der Asco- myceten, welche sich von Horn nähren; hierher gehören Onygena equina und Onygena corvina!®!). Oben haben wir gesehen, dass das Mykoplasma sich von Cyansäure, Cyankalı, Morphium, Strychnin nährt, und im Kapitel IV haben wir gesehen, dass das Mykoplasma und nur dieses allein imstande ist, sich von unorganischen Salzen und Gasen zu nähren, Eiweiß aus ihnen produzierend. 177) Fischer, H., Die chemischen Bestandteile der Schizomyceten und der Eumyceten, in Lafar, Handb. d. techn. Mykologie, Bd. I, Jena 1904, S. 224. 178) Benecke, W., Über Baeillus chitinovorus, einen Chitin zersetzenden Spaltpilz. Botan. Ztg. 1905, I. Abt., S. 227. 179) Perrier, Les colonies animales. 2. Aufl., 1898, S. 39. 150) Rahn, O., Centralblatt für Bakteriologie (II), Bd. XVI, 1906, S. 382. 151) Ward, H., Marshall, Onygena eqwina Willd, a horn destroying Fungus. Philosoph. Transact. of the Royal Soc. London. Series B, Bd. 191, 1899, S. 269. ” Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete. 355 So tief können sich in bezug auf Nahrung aber nur solche zwei Plasmas unterscheiden, die in ihrer innersten Natur wesent- lich voneinander verschieden sind. Mit der ungewöhnlichen Widerstandsfähigkeit des Mykoplasmas in bezug auf hohe Temperaturen, ebenso mit seiner Fähigkeit ohne Sauerstoff auszukommen, haben wir uns oben (s. Kapitel II u. III) bekannt gemacht. Als Endresultat kommen wir auf diese Weise zum Schlusse, dass das Mykoplasma sich durch viel größere Robust- heit und Widerstandsfähigkeit ım allgemeinen auszeichnet, durch die Fähigkeit, stärker allen schädlichen physischen und chemischen Einflüssen zu widerstehen als das Amöboplasma. VII. Die übrigen Unterschiede. 1. — Das Mykoplasma unterscheidet sıch, wie es scheint, vom Amöboplasma durch Anwesenheit von Eisen (in gebundenem Zu- stande). Grund, um dieses vorauszusetzen, haben wir ın den For- schungen Macallum’s!‘?), welche zeigen, dass der größte Teil des in den Zellen gebundenen Eisens bisweilen auch seine ganze Masse bei höheren Tieren und Pflanzen ın den Zellkernen enthalten ist. und zwar speziell im Chromatinnetz oder in den Chromosomen. Andererseits ist Eisen auch ın Chromatophoren und in frei- lebenden Mykoiden konstatiert. So ıst es bei den Bakterien !°3) gefunden und nach den Versuchen von Raulın!®*) und Molisch'®) erscheint es als unumgänglicher Teil, auch der Pilze. Dass sich ohne Eisen keine normalen Chromatophoren entwickeln können, ist eine allgemein bekannte Tatsache: ohne Eisen wird die Pflanze chlorotisch, entwickelt sich schwach und geht schließlich zugrunde. Die Analyse der chemischen Bestandteile der Bakterien und Pilze zeigt ebenfalls überall die Gegenwart von Eisen !°°): die Essigbakterie enthält 8,15°/, Fe,O,, Flechten 5,5 — 6,6°/,, die Sporen der Schimmel- pilze 5°/),. In der Mehrzahl der Fälle ist aber die Eisenmenge . weniger bedeutend als ın den angeführten Beispielen und gewöhnlich niedriger als 1°/,, wenn es auch bei der Trüffel auf 5°/, steigt 152) Macallum, A., On the distribution of assimilated iron compounds other than Haemoglobin and Haematin, in animal and vegetabl cells. @Quart. Journ. of microsc. Sc. Bd. 38, 1896. 183) Stoklasa für Bacillus megaterium, s. Lafar, Handb. d. techn. Myko- logie, Bd. I, 1904, S. 397. 184) Raulein, Anales des sc. natur. Ser. V, Bd. XI, 1869, S. 93. 185) Molisch, H., Die Pflanze in ihren Beziehungen zu Eisen. Jena 1892. — Wehmer (Wehmer, C., Zur Frage nach dem Werte der einzelnen Mineral- salze für Pilze. Ber. d. deutsch. botan. Gesellsch., Bd. XIII, 1895, S. 257) meint allerdings, dass das Eisen nicht unumgänglich nötig für die Entwickelung der Pilze sei. 156) Fischer, H., Die chemischen Bestandteile der Schizomyceten und der Eumyceten, Lafar, Handb. d. techn. Mykologie, Bd. I, 1904. S. 227. 23* 356 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete. (Chatin) und diese Menge bleibt sogar auf sehr eisenarmem Boden die gleiche. Wenn die Beobachtungen Justus’!°”) richtig sind, wonach jeder Zellkern Jod enthält, so ist es möglich, dass die Gegenwart dieses Elements ebenfalls eine unterscheidende Eigentümlichkeit des Mykoplasmas ist. 2. — Das Mykoplasma der freilebenden Mykoiden ist immer mit einer Membran umhüllt, das Amöboplasma ist nicht selten nackt. — Doch selbst dann, wenn das Amöboplasma von einem Häutchen bedeckt ıst, wıe es die Pflanzen haben, bemerkt man den scharfen Unterschied in der chemischen Zusammensetzung der Menıbran der Mykoiden einerseits und der Amöboiden andererseits. Den Pflanzen ıst eine Membran aus Kohlehydraten, hauptsächlich aus Üellulose, eigentümlich, und diese Eigentümlichkeit erscheint so charakteristisch, dass Bonnier und Leclere du Sablon!#) die Unterschiede zwischen Tier und Pflanze feststellend, eben auf diese Fähigkeit des Pflanzenplasmas Cellulose zu produzieren, als auf einen Hauptunterschied hinweisen. „La presence ou l’absence de la -cellulose est encore le moins mauvais des criteriums que nous ayons examinds“. | Die Mykoiden haben eine ganz andere Zellmembran; sie be- steht aus stickstoffhaltigen Stoffen, ın einigen Fällen sich dem Chitin nähernd (Chitosan), ın anderen den Eiweißstoffen näher- stehend. Bei den Bakterien besteht die Zellmembran nach Schmidt und Weis!“) aus Eiweißstoffen, nahe dem Protoplasma, obschon die Mehrzahl der Autoren für die Bakterienzellmembran ungefähr dieselbe Zusammensetzung wie für die Pilze annımmt; die früheren Hinweise auf die Gegenwart von Üellulose ın der Membran der Bakterien haben sıch nicht bestätigt. Über die Pilze haben wir umständliche Untersuchungen von Van Wisselingh'°), nach welchen die Zellmembran der Pilze aus Stickstoff besteht und Stoffe enthält (Chitin nach seiner Mei- nung), welche bei Saprolegnieae und Perenosporeae, d.h. bei Phyco- 187) Justus, J., Virchow’s Archiv, Bd. CLXX, 1902, S. 501, ebendaselbst Bd. CLXXVIl, 1907. 158) Bonnier, G. und Leclere du Sablon, Cours de Botanique. Bd. I, Paris 1905, S. 16. 189) Schmidt, Johs und Weis, Fr., Die Bakterien. Jena 1902, S.21u. 22. 190) Wisselingh, C. von, Mikrochemische Untersuchungen über die Zell- wände der Fungi. Jahrb. f. wiss. Botanik, Bd. XXXI, 1898, S. 619. — Siehe die zahlreichen Arbeiten über diesen Gegenstand von Winterstein, Ber. d. deutsch. bot. Ges. 1893, 1894, 1895, ebenso auch in Zeitschr. f. physiol. Chemie, Bd. XIX, 1894 u. 1895) und die Arbeit von Iwanoff. Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. 357 inyceten '?') fehlen, wo das Zellhäutchen aus Öellulose besteht, was auch Mangin!®?) mikrochemisch bestätigt. Zuletzt, was die Cyanophyceen anbelangt, bei welchen wir, dank der Gegenwart von Chlorophyll am ehesten Gellulosemembran zu finden hoffen dürfen, so kommt auch hier Kohl!?’) zu dem Schlusse, dass in der Mehrzahl der Fälle die Zellhaut der vegetativen Zelle aus Chitin besteht und nur bei den Heterocysten besteht sie aus Oellulose. 3. — Außer allen aufgezählten Unterschieden in chemischer und physiologischer Beziehung, welche zwischen Mykoplasma und Amöboplasma existieren, kann man noch auf einige morphologische Unterschiede hinweisen. Jedem, der die eigentümliche Gestalt, welchen die Hutpilze, Bauchpilze, Feuerschwämme bilden, mit einer echten Pflanze, sei es eine Alge, Moos, Farrenkraut oder Blüten- pflanze vergleicht, muss sofort der ungeheure Unterschied zwischen dem einen und dem anderen Gewächs schon dem äußeren Aus- sehen nach in die Augen failen. Die Welt der Pilze mit ihren bizarren Formen macht den Ein- druck von etwas höchst Sonderbaren, uns Fremdartigen, als ob es Organismen nicht von unserem Planeten wären, sondern von irgend- einer anderen Welt gekommen. Kein anderer Pflanzenorganismus macht einen solchen fremdartigen Eindruck. Aber auch die innere Morphologie, d. h. der anatomische Bau beider Reiche — des Pflanzenreiches und des Pilzreiches — stellt uns einen tiefen und prinzipiellen Unterschied dar!’*). Die Pflanzen sind aus Geweben aufgebaut, die Pilze haben nie echte Gewebe. Angefangen mit den alleremfachsten Pilzen und endigend mit den kompliziertesten, sind sie immer und in allen ihren Teilen ausschließlich aus Verflechtung von Hyphen oder 191) Übrigens begegnet man chitinähnlichen Stoffen augenscheinlich bisweilen auch bei den mukoinen Phycomyceten. Siehe Bachmann in Pringsh. Jahrb. f. wiss. Botanik, Bd. XXXIV, 1900. 192) Mangin, L., Comptes rend. d. l’Acad. d. sc. Paris, Bd. XVII, 1893, S.816. — Die mikrochemischen Methoden sind übrigens wenig zuverlässig, weshalb Mangin auch bisweilen zu falschen Schlüssen kommt, z. B. in bezug auf die Gegenwart von Cellulose bei den Flechten Usnea barbata, was Wisselingh nicht bestätigt. Bei den Flechten konnte der letzte Autor ohne jeden Zweifel die Gegen- wart von Chitin in den Sporenhäutchen konstatieren. 193) Kohl, F., Organisation und Physiologie der Cyanophyceenzellen. 1903. 194) Und zu verwundern ist es nicht, dass dem so ist, denn wie schon längst von Claude Bernard behauptet wurde, ist der morphologische Unterschied nichts anderes als die Folge und der Ausdruck der chemischen Unterschiede. Im botanischen Gebiete wurde dieser Gedanke von Sachs entwickelt (Stoff und Form der Pflanzen- organe. Arb. d. botan. Inst. in Würzburg. Heft3, 1850, S. 452ff.). — Siehe aber die Kritik dieser Theorie von Vöchting (Bot. Zeit. 1880, S. 609ff. u. Pringsh. Jahrb. 1885, S.24ff.) und von Reinke (Pringsh. Jahrb. Bd. XXXI, 1895, S. 252#f.). 398 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete.! Pilzfäden aufgebaut, welche alle gleichzeitig wachsen, damit auch das ungewöhnlich rasche Wachstum bedingend, welcher die Pilze charakterisiert. 4. — Wir haben vollen Grund vorauszusetzen, dass das Myko- plasma eine bedeutend kompliziertere Struktur besitzt als das Amöboplasma. Das entspringt aus der Rolle, welches das Mykoplasma in bezug auf die Vererbung spielt. Wenn meine Theorie über die Entstehung der Zellkerne, welche ich in meiner nächsten Arbeit darlegen werde, richtig ıst, so erscheint das Mykoplasma als der Träger der Ver- erbung: denn die Chromosomen und namentlich die Chromiolen können nur aus diesem Plasma, aber nicht aus dem Amöboplasma gebaut sein. Erinnern wir uns jetzt, welche komplizierte Erscheinungen durch die Chromiolen, besonders bei den höheren Organısmen, vererbt werden. Nicht nur alle Details ihrer Organısation,. nicht nur die kleinsten Flecken der Färbung, sondern auch die psychischen Eigen- schaften, Neigungen, Talente, werden von einer Generation der anderen übergeben und müssen deshalb, wenn auch in ursprüng- licher und vereinfachter Form, in den beı stärkster Vergrößerung kaum sichtbaren Körnchen — den Chromiolen —- irgendwie aus- gedrückt sein. Wenn wir das alles im Auge behalten, so müssen wir unausweichlich solche Kompliziertheiten im Baue der Chro- miolen zulassen, welche an das Unmögliche grenzt!) Und währenddessen haben wir faktisch keinen Grund, eine ähnliche Kompliziertheit der Struktur im Amöboplasma zuzulassen. IX. Schlussfolgerungen aus der Theorie der zwei Plasmaarten. Wir haben in den vorhergehenden Kapiteln gesehen, dass eine Reihe tiefer Unterschiede zwischen den beiden Gruppen der Orga- nismen herrscht, welche wir Mykoiden und Amöboiden genannt haben, dass jedem derselben ein Plasma zugrunde liegt, welches derart abweichende Eigenschaften besitzt, dass wir darauf das Vor- handensein ernster Unterschiede im Bau dieser zwei Plasmen zu- lassen müssen. 195) Möglich wäre es, dass diese ungemeine Kompliziertheit der Struktur des Mykoplasmas mit einer anderen Eigenschaft dieses Plasmas — seiner Unbeweglich- keit in direktem Verbande steht. Denn eine sehr mobile Substanz kann nie den hohen Grad der Kompliziertheit erreichen, den eine wenig mobile Substanz er- reichen kann. Und dieser Umstand wiederum ist vielleicht mit der größeren Dichtigkeit des Mykoplasmas, die wir diesem Plasma voraussichtlich zuschreiben können und die seine große Resistenz gegen hohe Temperaturen erklären würde, in Zusammenhang zu bringen. Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. 359 Auf diese Art sind wir, anstatt eine Eimheit der organischen Natur anzunehmen, gezwungen, ihre Zweiheit anzuerkennen. Aber daraus entspringt eine ganze Reihe von Schlussfolgerungen, welche wir hier ın Kürze durchgehen. Wenn es zwei nach ihren Eigenschaften prinzipiell getrennte Plasmen gibt und entsprechend diesem zwei Welten organischer Lebewesen, so kann das nur dadurch erklärt werden, dass beide Plasmen unabhängig voneinander entstanden sind und dabei unter ganz verschiedenen Bedingungen, folglich in verschiedenen Epochen der Erdgeschichte. Die Erdgeschichte, soviel sie die Frage über die Entstehung des Lebens und der Organismen berührt, kann man in folgende vier Epochen einteilen, welche wahrscheinlich sehr verschiedene Zeiträume umfassten. I. Epoche. Feurig glühender Zustand der Erdoberfläche. II. Epoche. Die Erde ist nicht mehr glühend, aber noch sehr erwärmt (über 100° 0.) und desbalb absolut trocken. III. Epoche. Die Oberfläche der Erde ist mit kochendem oder heißem Wasser mit einer Temperatur von 50—100° C. bedeckt. 1V. Epoche. Die Temperatur des Wassers fällt unter 50°C. In welcher dieser Epochen konnte nun das Leben erscheinen? Nach Pflüger!’‘) konnten seine Anfänge als Hilfsmaterial, wie Oyanverbindungen und einige andere Radikale des Eiweißes schon dann erscheinen, als die Erde sich noch im glühend-feurigen Zustande befand, da diese Stoffe zu ihrer Bildung einer sehr hohen Temperatur bedürfen. Aber das Leben selbst, d.h. lebendes Proto- plasma, konnte erst mit dem Erscheinen des Wassers auf der Ober- fläche der Erde auftreten. Das können wir daraus schließen: 1. dass wir nicht einen einzigen, absolut trockenen Organismus kennen, alle Organismen ‘brauchen zu ihrem Leben eine bestimmte Quantität Feuchtigkeit, wenn nicht äußerlich, so doch innerlich, und 2. dass im Wasser, also in Lösungen, alle chemischen Prozesse leichter vor sich gehen, und so ist es ganz natürlich, vorauszusetzen, dass ein so schwieriger chemischer Prozess, wie ohne Zweifel die Bildung des lebenden Protoplasmas war, im Wasser vor sich ging unter Bedingungen, die viel günstiger waren als ein trockener Zu- stand des Mediums. Und so konnten die ersten Organısmen nur ın der dritten oder vierten Epoche der Erdgeschichte erscheinen. Aber in welcher von diesen beiden? Die Eigenschaften des Mykoplasmas, mit welchen wir uns oben bekannt gemacht haben, geben uns die Möglichkeit, auf diese Frage 196) Pflüger, Über die physiologische Verbrennung in den lebendigen Orga- nismen. — Pflüg. Arch. f. Physiol., Bd. X, 1875. 360 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. detaillierter zu antworten als es früher möglich war. Das Myko- plasma konnte ganz gut in der dritten Epoche erscheinen, als das Wasser noch heiß und kochend war, gesättigt mit jeglichen Mineral- stoffen und frei von Sauerstoff. Die rauhen Bedingungen, unter welchen dieses Plasma entstand, würden dann auch die wunder- baren Eigenschaften erklären, welche es besitzt, seine ungewöhn- liche Widerstandsfähigkeit gegen hohe Temperaturen, starke Lö- sungen verschiedener schädlicher Stoffe, seine Fähigkeit, ohne Sauerstoff zu leben, sein Eiweiß nur aus Mineralstoffen zu produ- zieren u. S. Ww. Wie waren nun die ersten Organısmen beschaffen, welche in dieser Epoche auf der Erde erschienen. Es waren ohne Zweifel die einfachsten der uns bekannten Organismen — die Bakterien, wie dieses aus der untenangeführten Vergleichstabelle ersichtlich, in welcher auf der einen Seite alle Forderungen angeführt sind, welche den ersten Organismen, falls sie in der dritten Epoche ent- standen sind, gestellt werden können und auf der anderen Seite die morphologischen und physiologischen Eigenschaften der Bakterien aufgezählt sind, welche, wie ersichtlich, sich als vollständig zu- sammenfallend mit diesen Forderungen erweisen. Forderungen, Eigenschaften der Bakterien, welche diesen Forde- rungen entsprechen. welche unumgänglich an die ersten Orga- nismen gestellt werden müssen. 1. Minimale Größe, unerreichbar für das 1.Die bakteriellen Nebel bestehen aus Mikroskop. unter dem Mikroskop unsichtbaren bakterienartigen Organismen — den Biokokken '""). 2. Abwesenheit von Organisation. 2. Bei solch einer geringen Größe, ent- sprechend dem Gesetze der Abhängig- keit der Organisation von der Größe, können die Biokokken keine Organi- sation haben. 3. Fähigkeit, hohe Temperaturen nahe am 3. Die Bakterien vertragen in vegetativem Kochpunkte auszuhalten. Zustande eine Temperatur bis 98°, in reproduktivem Zustande bis 150”, 4. Fähigkeit, ohne Sauerstoff leben zu 4.Die größte Mehrzahl der Bakterien können. kann ohne Sauerstoff leben. 5. Fähigkeit, Eiweiße und Kohlehydrate 5. Die Bakterien sind fähig, Eiweiß und (letzteres ohne Vermittlung des Chloro- Kohlehydrate (letzteres ohne Vermitt- phylis) aus unorganischen Stoffen zu lung des Chlorophylls) aus unorga- bilden. nischen Stoffen zu bilden. 6. Widerstandsfähigkeit in bezug auf 6. Bakterien vertragen Lauge, stark kon- Lauge, starke Salzlösungen, Schwefel- zentrierte Salze, Schwetelwasserstoff, verbindungen und verschiedene Gift- große Dosen verschiedener Giftstoffe. stoffe. 197) Siehe darüber: Löffler und Frosch, Berichte der Kommission zur Er- forschung der Maul- und Klauenseuche bei dem Institut für Infektionskrankheiten Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. 361 Dieses merkwürdige Zusammenfallen der Eigenschaften der Bakterien mit den Forderungen, welche wir an die ersten Orga- nismen stellten, gibt uns das volle Recht, zu behaupten, dass letztere eben Bakterien waren. Außerdem, da unsere Forderungen von der Voraussetzung ausgingen, dass die Organısmen in der dritten Epoche der. Erdgeschichte auftraten, als das Wasser eine Temperatur höher als 50° besaß, die Bakterien sıch aber als diese Forderungen voll- ständig erfüllend erwiesen, so haben wir das Recht, vorauszu- setzen, dass die Organismen schon in dieser dritten Epoche der Erdgeschichte erschienen. Das erste lebende Plasma, welches auf der Erde erschien, musste sehr widerstandsfähig und voll- ständig ausgerüstet für die rauhen Bedingungen sein, welche da- mals auf der Erde herrschten. Und dieses Plasma war eben das Mykoplasma. Also gab es eine Zeit, wo die einzigen Bewohner der Erde Bakterien waren. Die heißen, stellenweise noch kochenden Wasser dieser Meere, reich an Lauge, Salzen, Schwefelverbindungen, aber des Sauerstoffs entbehrend, wimmelten von zahlreichen Bakterien, welche entweder als sich weit erstreckende gallertige Schichten, die den Meeresgrund bedeckten oder als schwimmende gallertartige Klumpen und Platten auftraten oder zuletzt sich einfach als trübes Wasser aus einzelnen Lebewesen zusammensetzt, kundgaben. — Ganze tausende und hunderttausende Jahre fuhren wohl solche Bedingungen auf der Erde fort zu existieren, und dabei hatten die Bakterien Zeit, sich stark abzuändern. Aus einfachen unorgani- sierten Biokokken bildeten sich verschiedene andere größere und zusammengesetztere Formen heraus und zuletzt entwickelten sich aus den Bakterien auch andere, viel höher organisierte Gruppen von Organısmen — Pilze und Cyanophyceen. Die hier vorgeschlagene Theorie der Entstehung der Organismen hat noch den Vorteil, dass sie sich in voller Übereinstimmung mit der Theorie Pflüger’s von der Entstehung des Lebens auf der Erde befindet, von welcher Verworn sagt, dass es nicht eine einzige Tatsache gäbe, mit welcher man sie widerlegen könnte. Die Theorie der Entstehung des Mykoplasmas in der dritten Epoche der Erdgeschichte, welche als Folgerung der Theorie der zwei Plasmaarten erscheint, kommt der Theorie Pflüger’s ent- gegen, in gewissem Sinne als ihre Fortsetzung erscheinend. Wenn, wie es gewöhnlich angenommen wird, die Organismen in der vierten Epoche erschienen wären, d. h. in der Periode der erkaltenden in Berlin. Centralbl. f. Bakter., I. Abt., Bd. XXIII, S. 371. — Nocard et Roux, Annales del Institut Pasteur, 1898, Nr. 4. — Errera, L., Recueil de l’Institut botanique, universit& de Bruxelles, 1903. — Lafar, Handb. d. techn. Mykol., Bd. I, 1904, S. 32 u. 35. 362 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etec. (Gewässer, so müsste zwischen dem Momente der Entstehung der Elemente des lebenden Protoplasmas — den Bausteinen, aus welchen es konstituiert wurde, d.h. der eyanischen und anderen Radikalen, welche zu ihrer Bildung sehr hohe Temperaturen fordern — und dem Momente der Zusammensetzung dieser Radıkalen in lebendes Plasma, dann eine ungeheure große Lücke entstehen. Diese zwei Momente wären dann nicht zusammenzubringen. Meine Theorie bringt uns nicht zu einer derartigen Lücke, sie lässt die Ununter- brochenheit des Prozesses der Lebensbildung zu. In der Zeit, als auf den Polen der Erde die Oberfläche schon so erkaltet war, dass sich auf derselben die ersten noch kochenden Gewässer bilden konnten, konnte die Temperatur auf dem Aquator stellenweise noch and heiß sein zur Bildung oder wenigstens zur Be- wahrung derjenigen Radikale, welche, in Berührung Ei dem kochen- den Wasser kommend, die ersten Körnchen der lebenden Materie bilden mussten. — Dieser Übergangsmoment, wo einerseits irgendwo noch Reste der zweiten Epoche herrschten, andererseits auf den Polen schon Anfänge der Bedingungen der dritten Epoche sich zeigten, war wahrscheinlich der Moment der Bildung des Myko- plasmas. Früher mangelte es an der unumgänglichen Bedingung zum Dasein des Lebens, dem Wasser, später konnten sich die Elemente, welche unumgänglich zur Bildung des Plasmas waren, d.h. die Bausteine, aus denen es sich aufbaute, bei stark veränderten Bedingungen nicht mehr halten, sie fingen an zu zerfallen, zu ver- gehen, und neu bilden konnten sie sich nicht mehr. Kraft dieses verschwanden in der Folge die Bedingungen zur Bildung des lebenden Mykoplasmas und die weitere Entwickelung des Lebens konnte nur nach dem Prinzip: omne vivum e vivo vor sich gehen. So entstand zugleich eine der hauptsächlichsten unterscheidenden Besonderheiten des Lebens, — die Fähigkeit, sich zu vermehren, d. h. neuen Geschöpfen aus lebenden Teilchen des alten den An- fang zu geben. Denn es konnten nur solche Teilchen Eiweißes ge- deihen, welche diese Fähigkeit besaßen, und würden nicht solche entstanden sein, so gäbe es überhaupt kein Leben auf der Erde. — Das ganze weitere Auftreten von lebendem Mykoplasma erscheint auf diese Weise einfach als Wuchs des ursprünglichen Plasmas, als dessen unmittelbare Fortsetzung. Nur nachdem die Morensskrn des Wassers unter 50° 0. ge- sunken war und auf der Erde reichlich organische Nahrung in Ge- stalt der Bakterien erschien, konnte sich das zweite Plasma — das Amöboplasma — zeigen. Ganz andere Bedingungen, welche in der Epoche seiner Entstehung herrschten, Bedingungen, die viel weniger rauh waren als die, welche bei Entstehung des mykoiden Plasmas herrschten, riefen ganz andere Eigenschaften hervor, welche das Amöboplasma charakterisieren. Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten etc. 363 Dieses Plasma trat aller Wahrscheinlichkeit nach in Form kleiner Klümpchen'!®®) auf, als kleine kernlose Moneren, die sich amöbenartig auf dem Meeresgrunde bewegten und die dort in Über- fluss vorhandenen Bakterien verzehrten. In der Mehrzahl der Fälle wurden wohl die Bakterien von den Moneren verdaut, es mussten sich aber auch zwischen den Mikro- kokken solche Arten treffen, welche die Fähigkeit hatten, der ver- dauenden Kraft der Moneren zu widerstehen. Solche Bakterien blieben ım Innern des Körpers der Monere leben und bildeten mit ihr eine Symbiose; diese symbiotisch lebenden Mikrokokken, anfangs ungeordnet, diffus zerstreut ım Körper des Moners, dann sich in Form einer gesonderten Gruppe im Zentrum gruppierend und zu- letzt sich sogar mit einem Häutchen überziehend, bildeten den Zellkern '"®). Der Zellkern gab den Moneren vollständig neue Mög- lichkeiten im Sinne ihrer weiteren Evolution. Ohne diese Symbiose wären die kernlosen Moneren für immer verurteilt, dieselben niedrigen Lebensformen zu bleiben, welche sie ursprünglich waren. Ohne Eindringen der Bakterien — dieser Fermentbildner par excellence — ins Innere der ursprünglich kernlosen Moneren, hätten wir keine Tiere und kein Pflanzenreich mit der endlosen Mannigfaltigkeit ihrer Formen, Mannigfaltigkeit, die ja schließlich durch nichts anderes bedingt ist als durch die Mannigfaltigkeit der Fermente, welche, wie bekannt, aus den Zellkernen entspringen und die ganze organische Welt würde einerseits vertreten sein durch das große und verschiedenartige Reich der Pilze und andererseits — von ein- förmigen geringfügigen Moneren. Als sich aus den Bakterien — unter welchen es schon ver- schieden gefärbte Formen gibt: rote, gelbe, grüne — vermittelst Verstärkung der Pigmentbildung die Cyanophyceen bildeten, so drangen diese letzteren in die zu der Zeit schon vorkommenden aus einer Symbiose der Bakterien mit kernlosen Moneren ent- standenen zahlreichen Amöben und Flagellaten, als neue Symbionten, ein und gaben damit mit einem Male den Anfang zur Bildung einiger (von 6—9) selbständiger, unabhängig voneinander sprossen- den Baumstämme des Pflanzenreiches. Solch eine im hohen Grade polyphyletische Entstehung der Pflanzenwelt, welche jetzt als end- 198) Die vor kurzem in dieser Zeitschrift vorgebrachte Theorie, nach welcher zuerst eine kontinuierliche Masse organischer lebender Materie entstand, welche dann in mehrere einzelne Teilchen zerfiel, hält keine Kritik aus; sie befindet sich im direkten Gegensatze mit dem allgemeinen Gesetze der Evolution der Organismen, nach welchem die Evolution vom kleinen und einfachen zum großen und zu- sammengesetzten steigt (siehe meinen Kursus der allgemeinen Botanik, russisch). 199) Der Teil meiner Lehre von der Entstehung der Organismen, welcher die Zelle, seine Natur und Entstehung behandelt, bildet den Gegenstand eines be- sonderen Artikels, in welchem Tatsachen vorgestellt werden, die als Grund für die Sätze dienen, welche hier nur kurz geäußert sind. 364 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete. gültig festgestellt angenommen werden kann, erscheint als Kon- sequenz der Tatsache, dass in die Flagellaten einerseits verschiedene Cyanophyceen (grüne, braune, rote) eindrangen, andererseits dass dieses Eindringen der Cyanophyceen in verschieden gebaute Fla- gellaten stattfand, bald in solche mit einem Geißelfaden, bald in solche mit zwei gleichen, dann wieder mit zwei ungleichen Geißel- fäden ausgerüstet. Die übrigen Amöben und Flagellaten, welche mit den Cyano- phyceen nicht in Symbiose traten, fuhren fort, sich als Tiere aus- zubilden, dem Tierreich den Anfang machend. Somit erscheint als weitere Folge der Theorie der zwei Plasmen eine neue Klassıfikation der Organısmen und die Feststellung ganz anderer verwandtschaftlicher phylogenetischer Beziehungen zwischen den einzelnen Gruppen als diejenigen, welche heutzutage als allge- mein angenommen gelten. Ganz zuerst teilt sich von der organischen Welt ein neues Reich, das Reich der Mykoiden, bestehend aus reinem Myko- plasma. Es ist das einzige Reich, welches nicht als Resultat einer Symbiose erscheint, sondern eine aus sich selbst hervorgegangene unmittelbare Entwickelung der zuerst erschienenen Organismen in Gestalt der Urbakterien vorstellt. Die. übrigen zweı Reiche, das Pflanzenreich und das Tierreich, erscheinen als Resultate der Sym- biose; die Tiere als Resultat der einfachen Symbiose, die Pflanzen aber — der zweifachen Symbiose"). Die neue Klassifikation der Organismen drückt sich folgendermaßen aus: Bakterien Pilze Frei lebende Cyanophyceen. vH I. Das Mykoidenreich (keine Symbiose) Rt ) 1. Chromatophoren a an ! 2. Chromiole der Kerne DD a) Algae (autotrophe Orga- 2 2 nisnien) ray b) Leucophyceae (heterotrophe Organismen, Phycomycetes) I. Das Pflanzenreich \ (zweifache Symbiose) S . Bryophyta | . Pteridophyta 3. Spermaphyta Dow IIl. Das Tierreich (einfache Symbiose). Als weitere Folge der Theorie der zwei Plasmaarten ergibt sich die Notwendigkeit der Aufstellung anderer Beziehungen zwischen einigen Gruppen von Organismen als diejenigen, welche heutzutage als die allgemein anerkannten gelten. Unumgänglich ist es vor allem, die Phycomyceten aus der Zahl der Pilze auszuschließen, welche schon De Bary für farblos 200) Eine dreifache Symbiose stellen die Flechten vor. Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete. 365 gewordene Algen hielt. Aber De Bary zählte sie gleichzeitig zu den Pilzen. Wie weit jedoch die Phycomyceten von den Mykoiden stehen und wıe nahe den Pflanzen, ersieht man aus unten folgender Tabelle: Pflanzen. Phycomyceten. Mykoiden. 1. Das Plasma ist amöboid 1. Das Plasma ist amöboid 1. Das Plasma ist amöboid beweglich. beweglich. unbeweglich. 2. Kontraktile Vakuolen vor- 2. Kontraktile Vakuolen vor- 2. Kontraktile Vakuolen handen. handen. nicht vorhanden. 3. Vermehren sich durch 3. Vermehren sich durch 3. Vermehren sich nicht Zo0osporen. Zoosporen. durch Zoosporen. 4 Die Zellhaut besteht aus 4. Die Zellhaut besteht aus 4. Die Zellhaut besteht aus Gellulose. Cellulose ?"'). Fungin oder Chitin. 5. Die Sporen sind nackt, 5. Die Sporen sind nackt, 5. Die Sporen immer mit bilden sich durch Zer- bilden sich durch Zer- Zellmembran umgeben, spaltung des Protoplas- spaltung des Protoplas- bilden sich durch inneres mas, bisweilen mit Peri- mas, kein Epiplasma. Ausscheiden einzelner plasma. Teile aus der allgemeinen Masse des Plasmas, Epi- plasma immer vorhanden. Aber auch morphologisch stehen die Phycomyceten so nahe zu verschiedenen Typen der Algen, dass es keinem Zweifel mehr unterliegt, dass diese Organismen keine Pilze .sind, sondern farblos gewordene Algen, welche infolge ıhrer saprophytischen oder para- sitischen Lebensweise ihre Ohromatophoren verloren haben 22). Deshalb sehe ich auf die Phycomyceten wie auf einen Seitenzweig (richtiger wie auf eine Reihe von Zweigen) der Algen und finde es unumgänglich, die für sie ganz unpassende alte Bezeichnung Phycomycetes durch eine neue Bezeichnung — Leucophyceae?°) zu ersetzen. Diese Leucophyceen stehen in keiner Verwandtschaft mit den Pilzen. 201) Es muss jedoch bemerkt werden, dass es bei einigen Phycomyceten nicht gelang, die Gegenwart der Cellulose zu konstatieren. In anderen Fällen bleibt die Frage streitig, — Mangin z. B. fand die Oellulose beim Mucor, Wisserlingh aber nicht! 202) Im höchsten Grade interessant wäre es, von diesem Standpunkte aus eine Reihe Pilze zu studieren, welche gewöhnlich zu den Ascomyceten zugerechnet werden nämlich Ascordea, Dipodoscus, Laphridium, Protomyces, Monoscus. Be- sonders wichtig wäre es, folgende Punkte zu klären: Besteht die Zellmembran aus Cellulose oder aus Chitinstoff, hat das Protoplasma amöbenartige Bewegung, ähnlich wie bei den Leucophyceen, bleibt Epiplasma in den Sporangien nach. Un- umgänglich nötig ist es auch, die Empfindlichkeit dieser Organismen zu Temperatur und zu Giften zu bestimmen und festzustellen, ob sie fähig sind, Stickstoff und Kohlehydrat aus anorganischen Stoffen zu assimilieren. Möglicherweise ergibt es sich, dass alles keine Pilze, sondern Leucophyceen sind. 203) Einige Autoren neigen schon zu diesem Gesichtspunkte, obgleich die Mehrzahl der Botaniker (Brefeld, Blakmann, Harper [1900], Barker [1903|], H. Fischer [1904], Dangeard [1898—1905]) es fortsetzen, die Pilze von den Phycomyceten abzuleiten. 366 Mereschkowsky, Theorie der zwei Plasmaarten ete. Noch eine Schlussfolgerung meiner Theorie ist die Aufhebung des Reiches der Protisten — dieser Zoophyten des 19. Jahrhunderts, Vertebrets 4 Angiospermae 4 U Arthropoda ' ıf: U N A (*) 4 Cymnospermae ! F N fl: 4 Preridospermae\; r F 4 Pteridophyta DEN JE / \ ‘ \ \ \ \ \ \ \ {} ‘ \ 0 \ % B \ V \ l: I fe \ \ {) \ I \ \ \ { \ I \ i ‚j n2 (*) /nFusoria D Protomycetes N S Mollusca N D N ! 1 A Ö Basıdo- Ascamycetes - Nee w. . V ‘ [7 mycetes | e) A N) pa = Z Charse @ 5 N WW, ON & & N: 5 1.7 Echinoderm. SW Jy Ber (°) Chlorophycese 2) Phaeophycese n _ 7 A) " - HN, SQ Meocophye. Lotte? ee ) a L IR E \ = \ % 0 8 % (e) SE. > (*) [ N (©) Porıferi Fi 5 . ır . .. Löveophgeese N: \: s ıE 8 7 — (Phycomyce/e5) ' | S Hl 2 3 Fi e . U . : er kr or en SS . Kr ı I IR S ! Q YT 4j ‚oO 9P0r0208 =) Peridinese (e) Flagellafa Achinomycetes Trichobacteria TERN m & Tr, WERT: \ 2 R ! NS i R SAN N Haplobacteria 2 D . Mierococcus *% welche ein Reich von Übergangsorganismen vorstellen sollen, die sich noch nicht in echte Tiere oder echte Pflanzen differenziert hätten. Braem, Die ungeschlechtl. Fortpflanzung als Vorläufer der geschlechtlichen. 367 In Wirklichkeit gibt es keine derartigen Übergangsorganismen, weil es keinen Übergang zwischen Symbiose und Nichtsymbiose gibt. Entweder ist eine Symbiose mit ÖCyanophyceen vorhanden — und dann haben wir eine echte Pflanze vor uns, oder es ist keine Symbiose da — und dan haben wir es mit einem echten Tier ?°) zu tun — mit Ausnahme der Fälle, selbstverständlich, wenn ein Organismus, frei von Uhromatophoren, aus einem schon voll- ständig determinierten Gewächs hervorgegangen ıst. Jeder Orga. nısmus ist darum entweder ein Tier, eine Pflanze oder ein Mykoid. Alles Vorhergehende ist schematisch auf beiliegender Tafel aus- gedrückt. Auf dieser Tafel ıst das Mykoplasma durch dünne, das Amöbo- plasma durch starke Linien und die Öyanophyceen oder Chromato- phoren durch unterbrochene Linien bezeichnet. Aus der Tafel ist ersichtlich, dass die organische Welt aus zwei Stämmen zusammengesetzt ist, welche aus zweı selbständigen Wurzeln sprossen; der linke Stamm gebildet aus den Urbakterien — Biokokken, ist das Reich der Mykoiden, welches in seiner Fort- schreitung zwei große Gruppen Pilze ergibt — Basidiomycetes (Hut- pilze) und Ascomycetes (Schlauchpilze) und einen Seitenzweig der Uyanophyceen. Dieser Stamm erschien früher als der andere. Später entstand das zweite Plasma, das Amöboplasma in Form von Mo- neren. Die Mikrokokken, vielfach ın diese Moneren eindringend (I. Symbiose), bildeten den Kern und folglich die Zelle und gaben auf diese Weise den einfachen Tieren — den Amöben und Flagel- laten — den Ursprung. In die letzteren drangen in der Folge die Uyanophyceen ein (Il. Symbiose), das Reich der Pflanzen bildend. Ein Seitenzweig des letzteren (links) stellen die Leucophyceen vor. Die übrigen Amöben und Infusorien entwickelten sich zum Tierreich. Die ungeschlechtliche Fortpflanzung als Vorläufer der geschlechtlichen. Von F. Braem. Die Fortpflanzung der irdischen Lebewelt vollzieht sich auf zwei scheinbar ganz verschiedenen Wegen, geschlechtlich und unge- schlechtlich. 204) In bezug auf Pflanzen steht die Sache ganz ebenso wie in bezug auf die Flechten, welche von sich aus eine Symbiose von Pilzen mit Algen vorstellen. Entweder ist die Symbiose vorhanden, dann sind es Flechten, oder die Symbiose ist nicht vorhanden, dann sind es Pilze; es gibt keine Übergänge und kann auch keine geben. 368 Braem, Die ungeschlechtl. Fortpflanzung als Vorläufer der geschlechtlichen. Die geschlechtliche Fortpflanzung wird durch besondere Zellen, dıe Geschlechtszellen, vermittelt und ın der Regel erst durch die Befruchtung, d. h. durch die Vereimigung je zweier, als Ei und Samenkörper differenzierter Geschlechtszellen ausgelöst. Die unge- schlechtliche Fortpflanzung dagegen besteht in einer Vervielfältigung des aus dem Eı hervorgegangenen Individuums selbst, sei es, dass dieses schon völlig ausgestaltet ist oder dass es sich noch in jugend- lichem Zustande befindet. Wie das Individuum, namentlich auf den tieferen Stufen der Organisation, fähig bleibt, selbst auf die schwersten Verletzungen mit einer Neubildung der zerstörten Teile zu ant- worten, diese Teile also nicht nur einmal, sondern wiederholt her- vorzubringen vermag, so ist es auch fähig, sich als Ganzes spontan zu vervielfältigen, neue Individuen gewissermaßen durch bloßes Wachstum zu erzeugen. Die Entwickelungsenergie erschöpft sich also nicht in dem einzelnen Individuum, sondern reicht hin, deren mehrere, ja viele zu bilden. Die ungeschlechtliche Fortpflanzung. 1. Die Teilung. Im einfachsten Falle erscheint die ungeschlechtliche Vermehrung als Teilung: das Individuum zerschnürt sich ın einen oder mehrere Teile, und jeder derselben erwächst zu einem neuen Individuum. Bei sehr einfacher Organisation oder ın embryonalen Zuständen ist dies ohne weiteres möglich, weil sich da ın jedem Abschnitte des Körpers ungefähr alle Teile zusammenfinden, die der Gesamtorganis- mus braucht. Auf höheren Stufen können besondere Verhältnisse die Teilung anbahnen. So bestehen die Ringelwürmer aus einer großen Zahl gleichartiger Körperabschnitte, die wie die Glieder einer Kette aneinander gereiht sind. In jedem Gliede sind sämt- liche lebenswichtigen Organe des Tieres vertreten. Dadurch ist, trotz starker Kompliziertheit im Einzelnen, doch noch eine Teilung des Ganzen ermöglicht: die Kette zerschnürt sich, und jedes Stück der Kette ıst selbst eine Kette. 2. Die Knospung!). a) Durch mehrere Keimschichten (Somatoblastie). Weiter hinauf ın der Tierreihe als die Teilung reicht die Knospung, die andere Form der ungeschlechtlichen Vermehrung. 1) Nachträglich gestatte ich mir eine kurze Bemerkung über die Knospenbildung von Hydra hier einzufügen. Ich habe vor 16 Jahren in diesen Blättern (Bd. XIV, 1894, S. 140ff.) die Behauptungen einer Arbeit von Albert Lang zurückgewiesen, wonach die Knospen der Hydroiden lediglich vom Ektoderm des Muttertieres gebildet werden sollten, indem dessen Zellen durch Einwanderung in das Entoderm das Knospenentoderm begründen sollten. Nun ist neuerdings eine Untersuchung erschienen, die in dem Braem, Die ungeschlechtl. Fortpflanzung als Vorläufer der geschlechtlichen. 369 Ihr Wesen besteht darin, dass ein eng umschriebenes Feld am Körper des Individuums zu einem neuen Individuum auswächst, wie an der Pflanze ein Zweig. In diesem Knospungsfelde müssen aber wiederum alle zur Ausbildung eines Individuums der betreffen- den Art erforderlichen Gewebsteile vertreten sein, und da sich bei vielzelligen Tieren alle Organe aus 2—3 frühzeitig geschiedenen Zellschichten oder „Keimblättern“ entwickeln, so müssen zum wenigsten diese daselbst sich vorfinden, natürlich in einem noch bildungsfähigen, „embryonalen* Zustand. Infolgedessen heben sich die Knospungspunkte gleichsam als embryonale Inseln um so mehr von den übrigen Geweben des mütterlichen Körpers ab, je höher derselbe organisiert ist und je vielseitigere Leistungen er zu er- füllen hat. Das geht so weit, dass das Knospungsmaterial schließ- lich nur an einer ganz bestimmten Stelle des mütterlichen Körpers lokalisiert wird, und dass alle Neubildungen von diesem Materiale bestritten werden. Aus ıhm kann dann zunächst eine Urknospe in Gestalt eines langen Stabes hervorwachsen, von dem die Tochter- tiere entweder durch Teilung sich abschnüren oder an dem sie als Knospen zweiter Ordnung gebildet werden (Stolo prolifer der Tuni- caten). Oder die aus jenem Materıal sich entwickelnde erste Knospe verbraucht das Material nur zum Teil für sich selbst, einen anderen Teil lässt sie zurück für die nächste Knospe, die von dem durch Zellteilung sich stetig ergänzenden Material wiederum einen Rest für die dritte Knospe erübrigt und so fort (phylactoläme Bryozoen). Wir können dieses Verhältnis als Kontinuität des Knospungs- materials bezeichnen, in ganz gleichem Sinne, wie man von einer Kontinuität der Keimzellen oder des Keimplasmas zu sprechen pflegt. gleichen Fahrwasser segelt wie jene Arbeit, deren Resultat sie speziell für die braune Hydra bestätigt. Sie findet sich in den „Arbeiten aus d. Zool. Inst. d. Univ. Wien“, Bd. X VIII, 1909, S. 61 ff. und ist mir erst jetzt bekannt geworden. Der Verfasser ist J. Hadzi. Ich betone gegenüber dieser Arbeit auf Grund eines reichen Be- obachtungsmateriales an Hydra fusca und viridis auf das bestimmteste, dass in keinem gut konservierten, gut geschnittenen und richtig beurteilten Präparat irgend etwas zu finden ist, was den behaupteten Übergang von Zellen des Ektoderms in das Entoderm beweisen könnte. In keinem Stadium der Knospenbildung, auch nicht auf den frühesten, ist irgend- welche Unschärfe in der Begrenzung der beiden Hauptschichten des Körpers zu konstatieren, und an den Punkten der beginnenden Knospung sind reichlich embryonale Zellen und Teilungsfiguren im Entoderm vorhanden. Ich halte die Angaben, die ich in meiner zitierten Schrift gegen Lang gemacht habe, in jeder Beziehung aufrecht und bemerke ausdrücklich, dass die dort gegebenen Bilder, obwohl als Textfiguren reproduziert, doch in keiner Weise schematisiert sind, sondern in völliger Treue die Verhältnisse des Originals wiedergeben. Auf eine eingehende Würdigung der Arbeit von Hadzi und eine vollständigere Darlegung meines Materials, das dann nicht bloß in Textfiguren erscheinen soll, werde ich mich erst einlassen, wenn jene Arbeit in weiteren Kreisen ähnlich überschätzt werden sollte wie seinerzeit die Arbeit von Lang. XXX, 24 370 Braem, Die ungeschlechtl. Fortpflanzung als Vorläufer der geschlechtlichen. Wir sehen also, dass die ungeschlechtliche Fortpflanzung sich in ihrem Verlauf schließlich derart zuspitzt, dass sich ganz unge- sucht Anklänge an die geschlechtliche Fortpflanzung ergeben. Immer aber bleibt zwischen beiden jene wichtigste Schranke bestehen: die ungeschlechtliche Fortpflanzung arbeitet mit Zellen, die durch ihre Sonderung in verschiedene Keimblätter schon die ersten für das Individuum charakteristischen Differenzierungen durchgemacht haben, während die Keimzellen, das Material der geschlechtlichen Fort- pflanzung, von allen solchen Differenzierungen frei bleiben. Nun gibt es indessen einen Fall, der auch diese Kluft an- scheinend ausfüllt. b) Die Knospung durch Keimzellen (Gonoblastie). Vor 15 Jahren bereits entdeckte C. Chun die Tatsache, dass bei der Medusengruppe der Margeliden, Tieren, die der allbekannten Hydra unserer Flüsse und Seen verwandt sınd, Knospen gebildet werden, die nur aus einer Keimschicht, dem Hautblatt, ıhre Ent- stehung nehmen. Embryonale Zellen dieser Hautschicht beginnen sich an bestimmten Punkten zu häufen, zu ordnen und weiterhin alle die Differenzierungen durchzumachen, die zur Herstellung eines neuen Individuums erforderlich sind. Ist dieses erwachsen, so löst es sich von dem Muttertier los und führt ein selbständiges Dasein. Hier liefert also ein aus zwei scharf gesonderten Keimschichten bestehender Organismus eine Knospe, die wiederum aus zwei ganz gleichgebildeten Keimschichten besteht, die aber nur aus einer der beiden mütterlichen Keimschichten ıhren Ursprung genommen hat. Dieser Befund war zu seltsam und zu gut verbürgt, als dass er nicht vielfach Beachtung gefunden hätte. Aber die Beachtung, die er fand, entsprach lange nicht seiner Bedeutung: man registrierte ihn als eine Anomalie. Uhun selbst verwertete ıhn zur Bekämpfung der Ansıcht, dass die Keimblätter Primitivorgane seien: „Den Keim- blättern sind weder histologische noch auch organogenetische Prä- dispositionen eigen“, daher lassen sich auch keine allgemeinen Regeln über ihre Beziehung zur Knospenbildung aufstellen. Ohne Zweifel ging das zu weit. Abgesehen von dem neuen Fall spricht sich die organbildende Kraft der Keimblätter ın der Knospenbildung sonst sehr deutlich aus. Und auch dieser neue Fall zeigt sich bei näherer Betrachtung keineswegs als so umstürz- lerisch, wie es zur Zeit seines Bekanntwerdens schien. Er ıst viel- mehr eine höchst wertvolle Erweiterung unseres Wissens, indem er von der ungeschlechtlichen zur geschlechtlichen Fortpflanzung eine Brücke schlägt. Es handelt sich bei ıhm offenbar um eine ganz neue Form der Knospung, um die Knospung durch Keimzellen, also eben das Zellmaterial, aus dem auch die geschlechtliche Fortpflanzung ihren Braem, Die ungeschlechtl. Fortpflanzung als Vorläufer der geschlechtlichen. 371 Bedarf deckt. Eine nähere Begründung dieser Auffassung habe ich in einem früheren Aufsatz der vorliegenden Zeitschrift (Bd. X XVII, 1908, S. 790 ff.) zu geben versucht. Jetzt genüge der Hinweis, dass die knospenbildenden Zellen den jungen Keimzellen vollständig gleichen, dass beide in derselben Keimschicht, dem Hautblatte, ge- legen sind, dass Knospen und Geschlechtszellen an denselben Punkten der Körperoberfläche auftreten, und dass die Knospung_ erlischt, wenn die Keimzellen sich zu Eiern und Samenkörpern umwandeln und so ihrem eigentlichen Berufe zu dienen beginnen. Das prinzipiell Wichtige ist hier dies, dass es nicht mehr die Körperzellen des Individuums sind, welche die Knospung vermitteln. Die knospenbildenden Zellen sind auch von der ersten und ursprüng- lichsten Arbeitsteilung, welche der individuelle Zellenstaat durch- machte, von der Differenzierung in Keimblätter, frei geblieben. Es bedarf keines Zusammenwirkens verschiedener Zellsorten mehr, um den Gresamtorganismus zu erzeugen. Eine einzige Zellsorte bewirkt dies. Rein und restlos stellt sich ın ıhr die bildende Kraft des Gesamtorganısmus dar, und eben dadurch steht das Knospungs- material auch physiologisch den Keimzellen gleich. Nur der eine Unterschied bleibt noch: ın der Knospe vereinigen sich zahlreiche Keimzellen zu gemeinsamer Tätigkeit, während die Keimzellen als Greschlechtsprodukte jede für sich ihren Weg verfolgen. Wenn uns der Sprung von den Körperzellen zu den Keimzellen zunächst wie ein schroffer Bruch mit einem bis dahin befolgten Prinzip erscheint, so kommt das daher, dass die Keimzellen in ganz besonderem Grade von dem Geheimnis der Zeugung umwittert sınd. Im Grunde aber ıst das Geheimnis bei ahnen nicht größer als bei jeder Entwickelung überhaupt. Die Keimzellen sind nichts anderes als embryonale Zellen, die von allen Differenzierungen des Individuums frei und im vollen Besitz der ursprünglichen Ent- wickelungsfähigkeit des Eies, der Urzelle, geblieben sind. Wenn also die Knospung bei den Margeliden von den Körperzellen zu den Keimzellen hinübergreift, so bedeutet das nur, dass sie um eine Stufe tiefer ins Embryonalleben zurückgeht und statt des ın zwei Zellsorten gespaltenen Bildungsmaterials die vollkommen indiffe- renten Embryonalzellen wählt. Es ist tatsächlich nur ein Schritt auf einem längst eingeschlagenen Wege: denn die Tendenz, em- bryonale Zellen in ihren Dienst zu ziehen, spricht sich im ganzen Verlauf der ungeschlechtlichen Vermehrung deutlich genug aus. Wichtig aber bleibt dieser Schritt gleichwohl, weil er, als der letzte am Ziel, die ungeschlechtliche Fortpflanzung mit der ge- schlechtlichen in unmittelbare Verbindung bringt. Das Tor ist ge- sprengt und die Bahn liegt nun frei nach beiden Seiten. Werfen wir einen Blick auf die Aussicht, die sich uns damit eröffnet. 24* 372 Braem, Die ungeschlechtl. Fortpflanzung als Vorläufer der geschlechtlichen. Die geschlechtliche Fortpflanzung. Das Problem der geschlechtlichen Fortpflanzung ist so eng ver- knüpft mit dem Problem der Befruchtung, dass beide uns fast zu- sammenzufallen scheinen. Ist doch die Befruchtung, d. h. die Ver- einigung zweier verschiedener Vererbungselemente, gerade das, was der geschlechtlichen Fortpflanzung ihren biologischen Wert gibt. Durch die Befruchtung wird die Vereinzelung der Individuen durch- brochen, die Lebenswellen getrennter Wesen fließen zusammen, und der Erwerb des einen vereinigt sich mit dem des andern, teils aus- gleichend, teils steigernd, in der Nachkommenschaft. Durch die Befruchtung werden die Individuen gleicher oder ähnlicher Art zu einem Ganzen verknüpft, zu einem einzigen Körper, dessen zahllose Glieder durch beständigen Säftetausch unter sich und mit dem (sanzen zusammenhängen. Ohne Befruchtung würde das Organısmen- reich nur aus individuellen Anpassungsformen bestehen, unbegrenzt wechselnd wie die Lebensverhältnisse selbst, aber es gäbe keine durch Blutmischung zusammengehaltenen Formenkreise, keine Fa- milie, keine Art keine in sich gefestigte Gruppe. So bedeutsam aber die geschlechtliche Mischung auch ist, so braucht sie doch darum noch nichts Ursprüngliches zu sein. Ein anderes ıst das Werkzeug und em anderes der Gebrauch, der davon gemacht wird. Das Werkzeug, in unserem Falle die Geschlechts- zellen, musste vorhanden sein, ehe dıe Natur es zum Zweck der Befruchtung in ihren Dienst stellen konnte. Bevor der kompli- zierte Mechanismus der Befruchtung ın Tätigkeit trat, muss es Zellen gegeben haben, die als geschlechtslose Keimzellen die Fort- pflanzung vermittelten. Es bedarf jedoch nicht einmal dieser Erwägung, um festzu- stellen, dass die Befruchtung ın der Tat etwas Sekundäres, etwas für das regenerative Grundvermögen der Geschlechtszellen gar nicht Notwendiges ist. Wir wissen, dass alle Geschlechtszellen, Eier wie Samenkörper, auch in ihrer gegenwärtigen Differenzierung das mikrokosmische Äquivalent des Individuums sind, zu dem sie ge- hören, dass jede für sich die Kraft hat, dieses Individuum wieder zu erzeugen, und dass sie dazu in gewissen Fällen nicht bloß potentiell, sondern tatsächlich ımstande ist. So liefert bei der im Tier- und Pflanzenreiche verbreiteten Parthenogenesis dıe unbefruchtete Eizelle den fertigen Organismus, ın anderen Fällen gelingt es durch bloße chemische Beeinflussung das normalerweise befruchtungsbedürftige Ei zur Entwickelung anzuregen, und selbst vom Samenkörper ist es glaubhaft bezeugt, dass er für sich allein ein neues Individuum hervorzubringen vermag, wenn man ihm nur das geeignete Arbeits- material (ein kernloses Eifragment) zur Verfügung stellt. Bei den Protozoen endlich sind die Geschlechtszellen nichts anderes als die leicht veränderten Individuen selbst, die unter Umständen auch Braem, Die ungeschlechtl. Fortpflanzung als Vorläufer der geschlechtlichen. 373 ohne Befruchtung fortleben und sich weiter auf ungeschlechtlichem Wege vermehren können. Sind nun die Geschlechtszellen ursprünglich nur Zellen von absoluter Embryonalität, die auch ohne Befruchtung entwickelungs- fähig waren, so ergibt sich von selbst, dass auch sie im Dienste einer ungeschlechtlichen Vermehrung gestanden haben. Diese Ent- wickelung durch einzelne Embryonalzellen würde nur als der Gipfel und Schlussstein jener Zeugungsweise erscheinen, die wir bei der Knospung der Margeliden noch durch mehrere solcher Zellen be- wirkt sehen. Die geschlechtliche Fortpflanzung aber, die mit Be- fruchtung verknüpft ist, würde die ungeschlechtliche Fort- pflanzung voraussetzen und als eine weitere Komplikation derselben zu betrachten sein, indem die Fortpflanzungszellen zweier verschiedener Individuen miteinander verschmolzen und ın gemein- samer Tätigkeit das neue Individuum bildeten. Wie es kam, dass bei den ursprünglich geschlechtslosen Keim- zellen allmählich ein Bedürfnis nach Konjugation sich einstellte, das bleibt natürlich ein ungelöstes Problem. Aber dieses Problem ist kein neues. Es ist identisch mit dem, wie es kommt, dass bei unseren Infusorien, die sich hunderte von Generationen hindurch mittels einfacher Teilung vermehren, schließlich doch eine Er- schöpfung, eine Art Krankheit eintritt, für die die Verschmelzung mit einem anderen Individuum das Heilmittel ist. Mag man diesen Zustand als einen Altersverfall, oder als Ermüdung, oder als eine Verarmung des Stoffwechsels auffassen — alles das dürfte auf eins herauskommen —, sicher ist, dass er einen äußersten Grad indı- vidueller Differenzierung darstellt, über den der Organismus aus eigener Kraft nicht hinweg kann und den er durch die Ver- einigung mit einem Individuum der entgegengesetzten Differen- zierungsrichtung zu paralysieren sucht: die Konjugation wirkt ent- spannend für beide Teile, und indem sie die Differenzierungen ausgleicht, stellt sie in dem Verschmelzungsprodukt die normale Organisation und die ursprüngliche Entwickelungsfähigkeit wieder her. Wie sie also bei den Infusorien die Folge und das spontane Ergebnis bestimmter Differenzierungen ist, so ließe sich denken, dass auch bei den Keimzellen, oder den Individuen, denen sie an- gehörten, ein Drang nach Kopulation zuerst da aufkam, wo der Organismus in einseitiger Anpassung an bestimmte Verhältnisse die Grenze seines Differenzierungsvermögens erreicht hatte und dem Verfall entgegenging: ein Notbehelf der Natur, die an gefährdeter Stelle durch ein Bedürfnis sprach und einen neuen Weg zur Er- haltung des Lebens wies. Wir können uns vorstellen, dass dieser Weg anfangs nur selten beschritten wurde und dass nach einmal erfolgter Konjugation zweier Keimzellen das daraus hervorgehende Individuum wieder fähig war, 374 Braem, Die ungeschlechtl. Fortpflanzung als Vorläufer der geschlechtlichen. sich viele Generationen hindurch in der früheren Weise geschlechtslos fortzupflanzen. Durch die Konjugation waren der individuellen Ent- wickelung neue Quellen erschlossen worden, indem durch Zuführung neuer Vererbungsmomente neue Variationsmöglichkeiten geschaffen waren. So konnte abermals eine Periode der ungeschlechtlichen, d.h. rein individuellen Fortpflanzung beginnen, bis die Erschöpfung der durch die erste Konjugation gesetzten Entwickelungsmöglich- keiten eine Wiederholung des Geschlechtsaktes nötig machte; ein Verhältnis, wıe es ähnlich noch heute beim Generationswechsel be- steht, dessen verschiedene Formen wir wohl als Reste aus sehr alter Zeit und nicht bloß als Anpassungen der Entwickelung an besondere Lebensumstände zu betrachten haben ?). Für die Verschmelzung werden zunächst vermutlich die Zellen der gleichen Keimdrüse ın Betracht gekommen sein, falls nämlich unter ıhnen Variationen auftraten, welche die zur Befruchtung nötige Affinität zueinander besaßen. Durch emen solchen der Selbst- befruchtung entsprechenden Vorgang war aber doch nur eın be- scheidener Gewinn zu erzielen, weil ja die Keimzellen eines und desselben Individuums nur ın ganz engen Grenzen variieren können und im wesentlichen immer die Eigenart ihres Erzeugers reprodu- zieren müssen. Anders verhielt es sich, sobald die (etwa ın das umgebende Wasser entleerten) Keimzellen des einen Individuunıs Gelegenheit fanden, sich mit denen eines anderen zu begatten: ın diesem Augenblick erst hatte die Befruchtung ıhre volle und unab- sehbare Bedeutung erlangt. Jetzt erst war die Schranke des Einzel- wesens durchbrochen, und die vererbbaren Eigenschaften zweier verschiedener Individuen vereinigten sich in dem Nachkommen zu einem Wesen mit anders gearteten Kräften und neuen Entwicke- lungsmöglichkeiten. Ja, ım Laufe der Zeit flossen in dem einzelnen Individuum nicht nur die Eigenschaften von zwei, sondern die von unzähligen Vorfahren zusammen, in buntem Wechsel gemischt, zu immer neuen Kombinationen verwoben. Ein ganzer Formenkreis verkörperte sich in dem Nachwuchs. An Stelle der individuellen Entwickelung trat die Entwickelung der Art, an Stelle der Fortpflan- zung des Einzelwesens die Fortpflanzung eines sexuellen Verbandes. Die systematische Art ıst ein Produkt der geschlechtlichen Mischung. Sıe ıst gleichsam ein Individuum neuer Ordnung, ein Individuum von ungeheuren Dimensionen, und, infolge der wechseln- den Kombinierbarkeit seiner Teile, von einer Gestaltungsfähigkeit, wie sie der festgefügte Organısmus niemals erreichen könnte, 2) Eine solche Auffassung des Generationswechsels findet sich schon bei W. Wedekind, „Generationswechsel, Metamorphose und direkte Entwickelung“, Zool. Anzeiger, Bd. 29 (1906), S. 790ff. Auch W. sieht in der ungeschlechtlichen Fortpflanzung ‚überall das Ursprüngliche“. Obwohl er dabei in einigen Punkten zu weit geht, enthält sein Aufsatz doch manches Beachtenswerte. Braem, Die ungeschlechtl. Fortpflanzung als Vorläufer der geschlechtlichen. 375 Phylogenetische Fragen. Teilung und Knospung, Sporogonie und geschlechtliche Fort- pflanzung, sie alle sind Äußerungen eines und desselben organischen Grundvermögens, nämlich der Kraft, aus einem Teil das Ganze zu bilden. In dieser Kraft spricht sich das Lebensprinzip am unmittel- barsten aus, und, selbst unerklärbar, bietet sie die Erklärung für alle Erscheinungen der Fortpflanzung und Entwickelung. Ohne Frage arbeitet unter den verschiedenen Fortpflanzungs- arten die Teilung mit den einfachsten, die geschlechtliche Fort- pflanzung mit den kompliziertesten Mitteln. Besteht also ın der organischen Welt ein Fortgang vom Einfachen zum Komphlzierten und vom Allgemeinen zum Besonderen, so müssen wir annehmen, dass dıe Teilung die ursprünglichste Form der Fortpflanzung war, die Knospung ihr folgte und die Befruchtung zuletzt auftrat. Zu der gleichen Annahme führt noch ein anderer Weg. Überall, wo wir ım Leben der Individuen der ungeschlechtlichen Fortpflan- zung noch heute begegnen, ist sıe das Frühere, die geschlechtliche Fortpflanzung das Spätere. Immer ist die ungeschlechtliche Ver- mehrung am lebhaftesten ın der Jugend, später erst, bei den aus- gestalteten Formen, folgt die Geschlechtsreife, oft so spät, dass sie geradezu den Charakter einer Alterserscheinung gewinnt. Wenn nun der alte Satz, dass die ontogenetische Entwickelung ein Abbild der phylogenetischen ist, nur irgendwie sich bewährt, so müssen wir folgern, dass ın der Urzeit des Lebens die ungeschlechtliche Fortpflanzung die herrschende war und erst in einer späteren Periode der geschlechtlichen wich. Dass dieser Schluss mit den Tatsachen der Entwickelung ver- einbar ist, und dass fortlaufende Übergänge von der Teilung zur Knospung, von der Knospung zur Keimzellenbildung und zur ge- schlechtlichen Fortpflanzung hinführen, ıst oben gezeigt worden. Unsere Auffassung weicht aber doch so sehr von der landläufigen ab, dass wir noch einen Augenblick bei dieser verweilen müssen, freilich nur, um unsere Stellungnahme ihr gegenüber zu kennzeichnen. Der wichtigste Einwand. der uns gemacht werden kann, er- wächst aus folgender Überlegung. Die Geschlechtsprodukte sind gleich den Protozoen einfache Zellen. Auch die Protozoen unterliegen am Ende ihres individuellen Lebens einer Differenzierung, die einen geschlechtlichen Vorgang vermittelt. Da nun die höheren Organısmen aller Wahrscheinlich- keit nach von einzelligen abstammen, die man sich in der Art unserer heutigen Protozoen vorstellt, so könnte die geschlechtliche Fort- pflanzung bereits von diesen Urwesen her übernommen sein. Sie wäre demnach bei den höheren Organısmen nicht erst erworben, sondern würde deren angestammten Besitz bilden. 376 DBraem, Die ungeschlechtl. Fortpflanzung als Vorläufer der geschlechtlichen. Diese Ansicht hat auf den ersten Blick etwas bestechend Ein- faches, bei genauerem Zusehen ist sie jedoch weder einfach noch zwingend. Nicht einfach, weil sie für das Auftreten der unge- schlechtlichen Vermehrung bei den vielzelligen Formen überall erst nach besonderen Motiven suchen muss und es hier aus der ge- schlechtlichen Fortpflanzung herleiten, bei den Protozoen aber den umgekehrten Weg einschlagen muss; nicht zwingend, weil sie von der unsicheren Annahme ausgeht, dass die einzelligen Urwesen, die sich zu vielzelligen Organısmen entwickelten, schon im Anfang alle die biologischen Eigenschaften besaßen, die wir heutzutage bei unseren Protozoen beobachten. Aber die letzteren sind ja, gerade nach der landläufigen Anschauung, das Produkt einer millionen- jährigen Entwickelung, die von den Anfängen des Lebens bis ın unsere Zeit hinaufreicht. Muss das, was gegenwärtig bei ıhnen be- steht, darum schon ın der Urzeit bestanden haben? Kann nicht auch bei den Protozoen die geschlechtliche Differenzierung erst spät, später vielleicht als bei den übrigen Tieren, erworben sein? Was zwingt zu der Annahme, dass diese bis zur heutigen Stunde ım Einzellenstadium verbliebenen Wesen die Abbilder jener Zellen sind, die fähig waren, sich bis zu den höchsten Spitzen des Tierreiches zu erheben? Eine ganze Welt scheint zwischen beiden zu liegen. Doch wır können diesen Fragen hier nıcht weiter nachgehen. Es sollte nur angedeutet werden, dass die herrschende Ansicht von der Ursprünglichkeit der geschlechtlichen Fortpflanzung keineswegs so sicher begründet ıst, dass nicht für andere Auffassungen Raum bliebe. — Ein weiteres Problem. das wir berühren müssen, ıst die Ent- stehung der Arten. Wird das Verständnis derselben nicht er- schwert, wenn wir annehmen, dass die ungeschlechtliche Fort- pflanzung eine Zeit lang alleın die Entwickelung beherrscht habe? Darüber noch einige Worte. Es wurde bereits betont, wie hoch die geschlechtliche Fort- pflanzung als artbildender Faktor zu bewerten ist. Wir sehen sie nicht nur, wie üblich, als ein Hilfsmittel der Artbildung an, sondern halten sie für die erste und eigentliche Ursache jeder artlichen Begrenzung. Mit dem Auftreten der geschlechtlichen Mischung entsteht die systematische Art als semeinschaft der sexuell vertretbaren Individuen. Indem die geschlechtliche Mischung diesen Formenkreis mehr und mehr zu einer blutsverwandten Ein- heit verbindet, grenzt sie ıhn erstlich durch feste Schranken nach außen ab und stellt ihn in einen Gegensatz zu der belebten Um- welt. Sodann wirkt sie nivellierend in seinem Innern, indem sie die Variationen ausgleicht und die Nachkommenschaft der abirren- den Glieder auf das Niveau des Durchschnittes zurückführt. Wo aber äußere Umstände oder innere Triebkräfte der freien Mischung Braem, Die ungeschlechtl. Fortpflanzung als Vorläufer der geschlechtlichen. 377 entgegenstehen, wo z. B. räumliche Isolation eine Auslese herbei- führt, oder wo, unter der Zahl der möglichen sexuellen Verbin- dungen, gleichgerichtete Variationen zusammentreffen, da werden sich neue Anpassungsformen behaupten, neue Varietäten und Arten entwickeln können. Die ursprüngliche Art wird sich allmählich zur Gattung, die Gattung zur Ordnung, die Ordnung zum Kreise auswachsen. Soweit also Arten und geschlossene systematische Gruppen bestehen oder bestanden haben, sehen wır ın ıhnen eın Produkt der geschlechtlichen Mischung. Daraus folgt aber auch, dass wir die Art ebensowenig für etwas Ursprüngliches halten können wie die geschlechtliche Fortpflanzung selbst. Ist dıe letztere, wie wir annehmen, erst auf einer gewissen Stufe der Entwickelung aus der ungeschlechtlichen Fortpflanzung hervorgegangen, so kann es vor ihrem Auftreten lediglich individuelle Anpassungsformen gegeben haben, die, so verschiedenartig sie sein mochten, noch keine scharf begrenzten Verbände bildeten, sondern durch fortlaufende Über- gänge miteinander verknüpft waren. Die monogene Fortpflanzung vermehrt zwar die Individuen, aber sie zerstreut sie zugleich, weil sie keine sexuellen Verbindungen schafft. In dem urzeitlichen Stadium, das der Artbildung voraufging und das ıhr den Weg bahnte, wird die Entwickelung der äußeren Form nicht etwa gestockt haben. Auch die geschlechtliche Mischung schafft ja nicht Etwas aus Nichts, sondern sie arbeitet mit vor- handenen Anlagen: sie varıiert und differenziert dieselben, indem sie sie in verschiedener Weise kombiniert. Von einer solchen Kom- bination kann bei dem Organısmus, der sich geschlechtslos fort- pflanzt, natürlich nicht die Rede sein. Die Anlagen selbst aber sind auch ıhm eigen und sie werden von Generation zu Generation fortgeführt, um sich in dieser Folge von Individuen zu gestalten und auszuleben. Sprungweise Abänderungen werden dabei nicht vorkommen können, in ruhigem Fluss wird die Entwickelung fort- schreiten, bis die Grenze des Differenzierungsvermögens der be- treffenden Form erreicht ıst. Wo diese Grenze lag, das können wir nicht einmal mehr vermutungsweise ermitteln. Immerhin aber dürfen wir annehmen, dass sie der Ausgestaltung jener frühesten Lebewelt einen weiten Spielraum bot, einmal, weil es sich um sehr ein- fache Organısmen handelte, bei denen die Teile noch nicht so fest miteinander verknüpft waren wie bei komplizierteren Wesen, und dann, weil wir es mit phylogenetischen Jugendformen zu tun haben, von deren Entwickelungsfähigkeit wir uns nur nach der Organısationshöhe ihrer fernen Nachkommen eine Vorstellung machen können. Je mehr die entwickelungsgeschichtlichen Anlagen sich orga- nisch ausgestalteten, um so mehr musste ihr Substrat, die embryo- 378 Braem, Die ungeschlechtl. Fortpflanzung als Vorläufer der geschlechtlichen. nalen Zellen, verbraucht werden, bis davon schließlich nur eine Art, die indifferenten Keimzellen, übrig blieb. Wir haben gesehen, wie schon bei der Knospung das embryonale Zellmaterial auf einen engen Bezirk am Körper des Individuums eingeschränkt wird, und wie dann bei fortschreitender Reduktion dieses Materials die Keim- zellen als die letzten Vertreter desselben dastehen. Eine solche Reduktion der embryonalen Zellen als der Träger der unverbrauchten Entwickelungsenergie ist die notwendige Folge der zunehmenden Differenzierung, bei der jene Zellen allmählich ın tätige Organe über- geführt werden. Das muss für die phylogenetische Entwickelung ebenso gelten, wie es für die ontogenetische gilt. Wenn nun mit dem Aufkommen der geschlechtlichen Mischung inmitten einer schon mannigfach differenzierten Lebewelt die gleich- artigen Formen zu sexuellen Verbänden zusammentraten, so standen diese Urarten offenbar zunächst völlig unabhängig voneinander da, als koordinierte, genetisch nicht weiter vereinbare Gruppen. Aber in ıhrem Bau müssen sie doch zum Teil sehr nahe Beziehungen aufgewiesen haben, da sie aus einer nach allen Seiten durch Über- gänge verbundenen Masse von Anpassungsformen hervorwuchsen. Die Arten, in die sich der einzelne Anpassungskreis gliederte, müssen also schon damals in einem scheinbaren Verwandtschafts- verhältnis gestanden haben, ob und wieweit dasselbe jedoch ein wirkliches war, darüber würde nichts zu ermitteln sein, auch wenn wir die Formen selbst kennten. Das Fehlen artlicher Grenzen in einer Zeit der geschlechtslosen Fortpflanzung würde jede Kontrolle der Abstammung ausschließen, weıl man nie wissen könnte, was Übergang und was Zentrum ist, und ob eine scheinbare Einheit homophyletische oder nur konvergente Formen umfasst. Diese Hypothese bietet den großen Vorteil, dass sie die An- nahme einer polyphyletischen Entwickelung im Tier- und Pflanzenreiche erleichtert oder vielmehr überhaupt erst möglich macht. Denn wenn man die Art als geschlossene sexuelle Gemein- schaft schon in der frühesten Schöpfungsperiode bestehen lässt, so erscheint eine Polyphylie nur- unter der Voraussetzung verschiedener Schöpfungsakte verständlich: Art folgt dann aus Art, und die Ge- samtheit aller muss entweder auf eine einzige oder auf so viele zurückführen, als ursprünglich geschaffen waren. Sind aber die Arten selbst erst aus einer schon weit verbreiteten und reich ent- wickelten Formenwelt hervorgegangen, die sich unter dem Einfluss der geschlechtlichen Mischung in einzelne Gruppen zugleich auflöste und verdichtete, so versteht sich die Polyphylie von selbst. Mit jeder der neuen Gruppen ist dann ein besonderer Stammbaum ge- geben, der selbständig in der ungegliederten Masse der urverwandten Formen entspringt, wo seine Wurzeln sich mit denen der übrigen Stämme zu einem unentwirrbaren Geflechte vereinigen. Ewald, Über Orientierung, Lokomotion und Lichtreaktionen etc. 379 Wie beim Generationswechsel die ungeschlechtliche Fortpflan- zung der geschlechtlichen in die Hände arbeitet, indem sie das jugendliche Individuum in viele zerlegt und dadurch ın kurzer Zeit eine große Zahl von Geschlechtstieren hervorbringt, so würde es nach unserer Auffassung sich auch bei der Phylogenie verhalten, die gleichsam einen ins Riesenhafte vergrößerten Generationswechsel darstellen würde: im Zeichen der ungeschlechtlichen Vermehrung würden die ersten Lebensformen sich ausgebreitet und bis an die Grenze ihres individuellen Differenzierungsvermögens entwickelt haben, und dann erst würde die geschlechtliche Fortpflanzung ıhr Werk begonnen und mit dem dafür vorbereiteten Material den Bau der organischen Welt vollendet haben. Die ungeschlechtliche Fortpflanzung zerstreut die Anlagen des einzelnen Individuums und verteilt sie auf viele; die geschlecht- liche Fortpflanzung sammelt die Anlagen vieler Individuen und konzentriert sie in einem. Dieses Widerspiel der beiden Ver- mehrungsarten scheint auch in ihrer phylogenetischen Wirksamkeit seinen Ausdruck zu finden. In einer Zeit ursprünglicher Lebens- fülle konnte die ungeschlechtliche Fortpflanzung mit freier Hand den Samen auswerfen; als ıhr Vorrat erschöpft war, musste die geschlechtliche Fortpflanzung das Gegebene zusammenhalten, um für die Zukunft zu sorgen. Indem sie bei jeder Vermehrung die Anlagen zweier verschiedener Individuen auf die Nachkommen über- trug, bewirkte sie, dass mit der Zahl der Generationen auch die Erbmasse wuchs und so der Verarmung vorgebeugt wurde. 3. Januar 1910. ” Über Orientierung, Lokomotion und Lichtreaktionen einiger Cladoceren und deren Bedeutung für die Theorie der Tropismen. Von Wolfg. F. Ewald. Teıl II A. Zur Theorie der Orientierung. Im vorausgegangenen Teil dieser Arbeit wurden neben meinen eigenen Versuchen eine Reihe von Beobachtungen von Jennings, Rädl und Bauer angeführt, welche den Vorgang der Reaktion auf Lichtreize bei einer Anzahl von Organismen sehr verschiedener Organi- sationshöhe genauer analysieren. Überblicken wir die Resultate dieser Untersuchungen, so drängt sich uns die Tatsache auf, dass die Frage nach dem Vorhandensein und der Ausbildung der Lichtsinnesorgane von eminenter Bedeutung für das Verständnis der Phototaxis ist — eine Tatsache, die, so naheliegend sie ist, doch, soweit mir bekannt, in der Literatur noch nicht die zu er- 380 Ewald, Über Orientierung, Lokomotion und Lichtreaktionen etc. wartende Würdigung gefunden hat. Es liegt dies wohl hauptsäch- lich an dem Mangel zusammenfassender Arbeiten auf diesem Gebiet, zumal erst die neueren Versuche genügend auf die Einzelheiten des Reaktionsvorganges eingehen. Ich will im folgenden versuchen, die Entwickelung der Phototaxis nach den bisher bekannten Stich- proben kurz zu skizzieren. Zahlreiche Tiere, bei denen keine spezifischen Lachtsinnes- organe gefunden. wurden, können auf Lichtreize reagieren, ohne natürlich eine Orientierung zur Lichtquelle zu zeigen; aber auch bei augenbegabten Tieren sehen wir den Lichtreiz einfach als Reiz wirken, vergleichbar jedem anderen Reizmittel. Er bewirkt, wie auch andere Reize, Erregung, die zu bestimmten Bewegungsreflexen führen kann. Ein solcher ganz einfacher Vorgang ist die Licht- reaktion der Ciliaten, deren Übereinstimmung mit der Reaktion auf chemische und andere Reize von Jennings zur Evidenz bewiesen worden ist. Eine Einstellung des Körpers findet nur unter Um- ständen statt. Regelmäßig vorhanden ist allein eine stereotype Be- wegungsreaktion, dıe schließlich zu einer zweckmäßigen Lokomotion führen muss, ohne dass man von einer dauernden Orientierung ım Raum sprechen könnte. Denn zur vollkommenen Orientierung gehört die Ausbildung verschiedener spezifischer Lokomotionsreflexe auf solche Reize, die aus verschiedenen Richtungen kommen. Diese Bedin- gung kann allein durch die Anordnung der lichtempfindlichen Körper- stellen und deren reizleitende Verbindungen mit den Bewegungs- organen in mehr oder weniger komplizierten Weise erfüllt werden. Eine einfache Orientierung durch das Licht könnte dann ge- geben sein, wenn ein hochgradig symmetrischer Organısmus, wie der vieler Protozoen, nach allen Seiten des Raums mit Bewegungs- organen ausgerüstet ıst, die selbst auf Lichtreiz reagieren resp. von dem nach allen Seiten gleichmäßig lichtempfindlichen Protoplasma in ihren Bewegungen beeinflusst werden. Sei es nun, dass auf Beschattung oder Erhellung einseitige Reiziımpulse auf die Be- wegungsorgane treffen, so müssen diese an verschiedenen Körper- seiten ungleichmäßig schlagen und dadurch eine Orientierung her- beiführen. Meines Wissens ist aber eine derartig schematische Orientierungsweise noch nicht mit Sicherheit festgestellt worden. Sınd die Bewegungsorgane an ein oder zwei Körperstellen zentralisiert, so bedarf es unbedingt eines ziemlich komplizierten Systems von Reizübertragungen, um sie auf Impulse von verschie- denen Körperstellen her in spezifischer Weise reagieren zu lassen. Wir finden daher bei zahlreichen primitiven Organısmen, auch solchen mit hochgradiger Symmetrie und allseitiger Bewimperung (Paramaeciun), einen weit einfacheren Weg eingeschlagen, der sie wenigstens unter Umständen zur Reizquelle orientieren kann, und werden sehen, dass die Entwickelung zur vollkommenen Orientierung en ne Ewald, Uber Orientierung, Lokomotion und Lichtreaktionen etc. 381 durch Verbesserung dieser einfachen Methode vor sich gegangen ist. Es braucht nämlich nur die Lichtempfindlichkeit auf einen Körperpol beschränkt zu sein, um sofort eine Art Orientierung herbeizuführen (Stentor). Die Lichtempfindlichkeit kann für Er- höhung oder Herabsetzung der Intensität bestehen. Jedesmal, wenn der lichtempfindliche Körperpol aus der Richtung der Lichtstrahlen fortgedreht wird, erhält er das Licht unter einem weniger günstigen Winkel, der die Intensität verändert. Er rezipiert einen Reız und es erfolgt ein Bewegungsreflex, der erst mit der Beseitigung des Reizes aufhört. Bei dieser Reaktionsform ıst das Tier aber nicht ın der Lage, sofort zweckmäßıge Korrekturbewegungen auszu- führen, denn das Tier reagiert nicht auf die Winkeländerung der Lichtstrahlen als solche, sondern nur auf den Reiz schlechthin. Außerdem sind derartige primitive Lichtsinnesapparate, wie es scheint, nicht sehr empfindlich, denn bei mäßigen Intensitäten, an die das Tier adaptiert ist, wirken auch Winkeländerungen nicht mehr als Reiz und es erfolgt desorientiertes Umherschwimmen. Nach dem gleichen Prinzip sind nun, wie es scheint, auch die ein- fachsten „Augen“ konstruiert. Sie bestehen aus einem lichtbrechen- den Körperchen und einem Pıgmentfleck, auf den, wie man annımmt, das Körperchen als Linse das Licht konzentriert (Kuglena). Wenn Linse und Pigmentfleck ın der Bewegungsachse des Tieres liegen, so muss sich jede Abweichung der Achse aus der Strahlenrichtung des Lichts als eine Verminderung der Lichtintensität auf dem Pigmentfleck bemerkbar machen, der nicht mehr durch das von der Linse konzentrierte Licht bestrahlt wird. Ein solcher Apparat kann natürlich nur die Lichtabnahmen rezipieren, er kann also den mit ıhm ausgerüsteten Körperpol nur auf das Licht hin richten. Dem diffus lichtempfindlichen Körperpol gegenüber hat das einfache Auge den Vorzug größerer Lichtempfindlichkeit und genauerer Ein- stellung. Es teilt mit ihm den Mangel, dass es Abweichungen aus der eingeschlagenen Richtung nur allgemein als Reiz rezipiert, da- gegen keine Auskunft darüber geben kann, nach welcher Seite die Abweichung stattfand. Auch die Organismen mit einfachen Augen müssen sich also durch „probieren“ (method ‘of trial and error) wieder zurechtfinden. Ich möchte diese Orientierungsweise, um anthropomorphisierende Ausdrücke möglichst zu vermeiden, als indirekte Orientierung bezeichnen. Im Verlauf der Entwicke- lung wird diese primitive Methode dadurch verbessert, dass mehrere Lichtrezeptionssysteme der beschriebenen Art ın verschiedenen Richtungen angeordnet werden und durch besondere Reizleitungen mit dem Bewegungsapparat in Verbindung treten. Jedes dieser Einzel-„Augen“ rezipiert Reize aus einer besonderen Richtung und veranlasst den Bewegungsapparat zu einer besonderen Reflexbewe- gung. Bei jeder Körperdrehung müssen die Einzelaugen ihre Stellung 382 Ewald, Über Orientierung, Lokomotion und Lichtreaktionen ete. u zum Licht ändern und sind Reizungen durch Zu- oder Abnahme der Intensität ausgesetzt. Eine Gruppe solcher Einzelaugen, zu einem zusammenhängenden, nach allen Richtungen des Raums ge- richteten Organ vereinigt, finden wir bei den Cladoceren, die, wie wir eingangs dieser Arbeit sahen, tatsächlich durch das Licht jeder- zeit vollkommen im Raum orientiert sind. Im letzten Stadium der Entwickelung finden wir zwei solche Gruppen von Photorezeptoren zu beiden Seiten des Kopfes vor, denen dann hauptsächlich die seitliche Orientierung zukommt, während die „Statocysten“ bereits daneben eine Orientierung mit Hilfe der Schwerkraft, also zum Erdzentrum vermitteln (Mysiden). Es können also sehr wohl zwei Orientierungsweisen bestehen, die sich unter normalen Umständen einfach ergänzen. Es ist schade, dass von Bauer keine Versuche mit Unterlicht gemacht worden sind, um herauszufinden, wie sich beide Orientierungsweisen zu- einander verhalten, wenn ein zweckmäßiges Zusammenwirken aus- geschlossen ist. Einer der beiden Reize müsste sich dann als der stärker richtende herausstellen. Die Lichtsinnesorgane bieten also diesen Tieren, soweit nicht andere Reize mit lokalısierter Reizquelle den Erfolg des Lichtreizes aufheben, in mehr oder weniger vollkommener Weise einen Ersatz für statische, d. h. Balanceorgane, eine Tatsache, auf die schon der Bau dieser Organe hinweist. Bei der Statocyste läuft der Bauplan des Organs auf die Möglichkeit der Rezeption von Reizen aus ver- schiedenen Richtungen und die Ausbildung besonderer Reflex- bewegungen auf jede der verschiedenen Reizwirkungen hinaus; beim Auge der Daphniden fanden wir den gleichen Typus wieder. Logisch dürfte man also nicht von der Statocyste als dem statischen Organ schlechthin sprechen. Man müsste sie vielmehr als barostatisches Organ vom photostatischen Organ unterscheiden. Da aber vermut- lich sowohl die Statocyste als auch das Auge verschiedene Funktionen besitzen können, so ist eine Benennung nach der Funktion überhaupt nicht zweckmäßig und man spräche am besten einfach vom Schwer- krafts- und Lichtsinnesorgan (Baro- und Photorezeptor), also nicht nach der Funktion, sondern nach der spezifischen Reizbarkeit. Als (ualifikation ist aber der Begriff der Photostatik, der Orien- tierung mit Hilfe des Lichtreizes von bedeutendem Wert, insofern er den vollendeten Parallelismus der statischen Erscheinungen deut- lich zum Bewusstsein bringt. Em. Rädl gebührt das Verdienst, auf diese Verhältnisse zuerst hingewiesen zu haben!). Wir sehen hier also eine lange Reihe vor uns, in der wir immer wieder zwei Erscheinungen begegnen, die aufs engste ver- 1) Die Veröffentlichung Räd!’s, in der sich diese Hinweise finden (Arch. f. d. ges. Phys. Bd. 87, 1901), ist mir erst nach Drucklegung des ersten Teils dieser Arbeit zu Ge- sicht gekommen. Ich hätte sonst Rädl’s Beobachtungen noch eingehender gewürdigt. Ewald, Über Orientierung, Lokomotion und Lichtreaktionen ete. 383 knüpft sind, ja ohne einander undenkbar wären: die Reaktion auf Liehtveränderungen durch Bewegungen und die Regulierung dieser Bewegungen in der Weise, dass weitere Lichtreize vermieden, resp. die bereits eingetretenen abgeschwächt werden. In der Art aber, wie die Regulierung erreicht wird, finden wir die mannigfachsten Abstufungen. Diese beziehen sich zunächst darauf, ob, wie bei Euglena, meist nur zum Licht hinführende Bewegungen auf Licht- reiz ausgeführt werden, oder, wie bei Stentor, nur vom Licht fort- führende, oder endlich, wie bei den ÜOladoceren, beide Arten, Zweitens aber auf die soeben behandelten Unterschiede ın der Art und Vollkommenheit der Orientierung, die bis zu einer vollendeten Photostatik führen kann. Trägt nun die bisherige Nomenklatur diesen Verhältnissen Rechnung? Das scheint mir nicht der Fall zu sein. Nach der ursprünglichen, in Loeb’s grundlegenden Arbeiten mit der größten Schärfe ausgesprochenen Definition fasst man als Heliotropismus (Phototropismus, später für Organismen mit freier Ortsbewegung Phototaxıs) alle diejenigen Erscheinungen zusammen, welche mit Hilfe einseitig regulierender Bewegungen zu einer Orientierung des Organısmus zur Lichtquelle führen, d. h. die Einstellung einer „Symmetrieachse* des Körpers in die Rich- tung des Lichteinfalles bewirken. Dabei nimmt man an, dass das einmal orientierte Tier sich von selbst auf das Licht zu oder vom Licht fort bewegen müsse, je nachdem auf Grund einer be- stimmten Disposition die Regulierbewegung eine Einstellung des vorderen Körperpols zum Licht hin oder vom Licht fort be- wirkt. Diese Disposition kann sich ın ihrem Sinne umkehren, je nachdem das Tier „schwachem“ oder „starkem“ Licht ausgesetzt ist. Jedenfalls wird die Positivität oder Negativität der Bewegungen von der Einstellung des Körpers ın die Strahlenachse abhängig gemacht und es können daher nach dieser Definition Tiere, die keine derartige Orientierung zeigen, nicht phototaktisch sein. Orga- nismen, die auf Lichtreize reagieren, ohne sich zu orientieren, heißen nach Loeb „unterschiedsempfindlich“, nach Oltmanns photometrisch, nach Davenport und Cannon photopathisch. Sie sind dadurch charakterisiert, dass allein der Unterschied resp. die Intensität der Belichtung bei ıhnen als Reiz wirkt, was für die phototaktischen Tiere nicht angenommen wird. — Diese Gedanken- gänge finden sich besonders bei Loeb, aber auch bei Rädl mit aller wünschenswerten Deutlichkeit ausgesprochen. Der erstere betont wiederholt, die „heliotropischen“* Tiere seien „gezwungen, ihre Körperachse ın die Richtung der Lichtstrahlen einzustellen“. Rädl seinerseits vergleicht das „phototropische“ Tier mit der Magnetnadel, die von einer richtenden Kraft mit zwingender Notwendigkeit in eine bestimmte Richtung eingestellt wird, sofern nicht andere Kräfte störend dazwischentreten. Die gerichtete Bewegung ist für ihn eine 384 Liesgang, Beiträge zu einer Kolloidchemie des Lebens. einfache Konsequenz der „phototropischen Orientierung“. Halten wir gegen diese Auffassung die Experimente von Jennings, so wird uns ihre volle Tragweite bewusst. Hier haben wir Tierformen, die der Beobachter zunächst für „positiv“ oder „negativ“ photo- taktisch halten müsste, und doch findet sich von einer festen Ein- stellung, wie sie nach der Theorie Loeb’s erwartet werden sollte, keine Spur. Betrachten wir andererseits die Oladoceren. Zahl- reiche Beobachter haben, von Loeb’s Arbeiten angeregt, an Daphnien und verwandten Arten Versuche über Phototaxis angestellt und haben diese Tiere in der Regel als positiv phototaktische bezeichnet. Und doch verdienen die Daphnien weder das Prädikat der posi- tiven noch der negativen Phototaxis ım Sınne der alten Theorie. Sie sind zwar vollkommen —- ım allgemeinen positiv — nach der Lichtquelle orientiert, aber sie bewegen sich bald auf die Licht- quelle zu, bald von ihr fort, ın periodischem Wechsel, je nach der Stärke der Belichtung?). Will man alle diese Erscheinungen aus den Phototaxien ausschließen, so wird dieser Begriff sich auf einige wenige Fälle beschränken müssen, von denen ich nicht einmal sicher bin, ob sie einer genauen Untersuchung standhalten könnten. (Schluss folgt.) Raphael E. Liesgang. Beiträge zu einer Kolloidchemie des Lebens. Dresden 1909. Verlag von Th. Steinkopff. Der Autor des Buches ist seit langem bei denjenigen, welche sich mit der Kolloidchemie beschäftigt haben, durch interessante Versuche über die Niederschlags- bildung in Gallerten bekannt. Auch sein vorliegendes Buch hat zum tatsächlichen Inhalt eine große Zahl ähnlicher Versuche, an welche jedoch weiter noch Betrach- tungen über den möglichen Zusammenhang des Beobachteten mit Vorgängen in den lebenden Wesen angeknüpft werden; so werden die mannigfachsten Erscheinungen, wie z. B. die Stoffaufnahme und -abgabe, die Verdauung, die Kontraktion, das Wachs- tum, die Zellteilung, die Vererbung, die Ablagerung von Salzen in Knochen- und Knorpelsubstanz und noch vieles andere an die Gallertversuche angeschlossen. Leider geschieht dies aber in einer Form, welche lebhaften Einspruch herausfordert; das ganze Werk ist ein Monstrum der Systemlosigkeit, sowohl dadurch, dass die vielen Experimente, wertvolle und gleichgültige, einfach der Reihe nach hergezählt werden, als noch viel mehr dadurch, dass die Hinweise auf die Biologie nur in Gestalt kurzer Gedankensplitter, halber Sätze, kleiner Fragestellungen, offenbar so, wie sie dem Autor gelegentlich der Anstellung seiner Versuche durch den Kopf gegangen und notiert worden sind, hier reproduziert werden, so dass dem Leser zugemutet wird, was Sache des Autors war, durch kritische Durchdenkung und Sichtung die Spreu vom Weizen zu trennen. So ist denn die Lektüre alles eher als ein Genuss, und das Buch ist ein beklagenswertes Beispiel dafür, wie eine geleistete, an sich wertvolle experimentelle und gedankliche Arbeit durch den Verzicht auf die letzte notwendige Überarbeitung weitgehend entwertet werden kann. Rudolf Höber. 2) Daher scheint es mir auch unzweckmäßig, die eigentliche Ursache aller Tropismen, die Reaktion auf Intensitätsschwankungen durch Bewegungsreflexe, in der Definition gänzlich auszuschalten, wie dies z. B. Rädl tut. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der kgl. bayer. Hof- u. Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und: Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Der Abonnementspreis für 24 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen. : Yo Bd. XXX. 15. Juni 1910. N 12. Inhalt: Ewald, Über Orientierung, Lokomotion und Lichtreaktionen einiger Cladoceren und deren Bedeutung für die Theorie der Tropismen (Schluss). — Heiberg, Ein paar Bemerkungen über die Zellkerne und die Granula experimenteller Careinome wie auch über Abstrich- präparate aus diesen Tumoren. — Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. Über Orientierung, Lokomotion und Lichtreaktionen einiger Cladoceren und deren Bedeutung für die Theorie der Tropismen. Von Wolfg. F. Ewald. ; (Schluss.) Der Sinn einer Benennung scheint mir, das Wesentliche der Vorgänge herauszugreifen; wenn die Definition nur auf einen kleinen Teil der Erscheinungen passt, so muss sie als spezieller Unterbegriff einem Hauptbegriff eingeordnet werden. Wır sahen aber, dass unter allen vom Licht in ihren Bewegungen regulierten Tieren eine vollkommene Orientierung mit Sicherheit nur bei höheren Formen nachgewiesen ist, als letztes Glied einer Entwickelungskette, die bei mehr oder weniger unorientierten Formen anfängt. Das Wesent- liche und unmittelbar Auffällige für uns, das einer ungeheuren Zahl einfacher Organismen gemeinsam ist, besteht ın der regulierenden Wirkung des Lichts auf ihre Bewegungen. Wir müssen uns daher meines Erachtens entschließen, den Orientierungsbegriff als sekun- där aus der Definition der Phototaxiıs auszuschalten und für sich zu betrachten. — Weiterhin ist es unzweckmäßig, der Phototaxis die Unterschiedsempfindlichkeit (Photometrie, Photopathie) gegen- über zu stellen. Vielmehr ist die Empfindlichkeit für Unterschiede XXX. 25 386 Ewald, Über Orientierung, Lokomotion und Lichtreaktionen ete. der Belichtung in allen auf den Reaktionsvorgang selbst unter- suchten Fällen als die reizbewirkende Ursache festgestellt worden. Da diese Fälle den verschiedensten Stufen der Organisationshöhe 'entnommen sind, scheint mir kein Grund vorzuliegen, die Existenz von Dauerwirkungen des Lichtreizes anzunehmen. Eine solche müsste erst einwandfrei bewiesen werden. Die schnelle Adaptation auf Lichtreize scheint vielmehr ein Charakteristikum aller dieser Reiz- wirkungen zu sein. Im ersten Teil vorliegender Arbeit ist der Versuch unternommen worden, den ÖOrientierungsvorgang genau zu analy- sieren, und es hat sich dabei, wie ich hoffe, zweifellos herausgestellt, dass ein Gegensatz zwischen Intensitätswirkungen und Richtungs- wirkungen des Lichts nicht besteht. Um zu wiederholen: Es können auch die Richtungswirkungen des Lichts nur von dessen Intensitäts- schwankungen abhängen und kommen dadurch zustande, dass an- statt einer einzigen, mehrere lichtempfindliche Körperstellen in spezifischer reizleitender Verbindung mit dem Lokomotionsapparat oder Teilen desselben stehen. Der Lokomotionsapparat wird bei dieser Anordnung instand gesetzt auf Reize von den verschiedenen Rezeptoren in verschiedener spezifischer Weise zu reagieren. In den Lichtreaktionen der Cladoceren spricht sich diese Tatsache be- sonders augenfällig aus; man muss aber zu der Auffassung kommen, dass bei der adaptiven Natur der Lichtreizreaktionen gar keine andere Lösung des Orientierungsproblems denkbar ist. Wir sehen somit, dass die alte Definition der Phototaxis zweı Begriffe voneinander abhängig macht, die es nicht zu sein brauchen: Den Sınn der Reizbeantwortung (positiv und negatıv) und die Orientierung. Dass dies unzweckmäßig ist, ergibt sich schon daraus, dass gerade unter solchen Organismen, die orientiert sind, viele existieren (Oladoceren, Mysiden), die weder als positiv noch als negativ bezeichnet werden können, sondern fortwährend zwischen beiden Reaktionsformen abwechseln, mit dem Erfolg, dass sie dauernd in gleichmäßiger Beleuchtung bleiben. Solche Tiere dagegen, die man als vorwiegend positiv oder negativ bezeichnen kann, sind oft (Ciliaten, Bakterien) mehr oder weniger unorientiert. Wir stehen also vor der Notwendigkeit, die Nomenklatur um- zuändern, um den Verhältnissen, wie sie sich nach den Untersuchungen der letzten Jahre darstellen, Rechnung zu tragen. Die zugrunde liegende Erscheinung ist die Beantwortung von Lichtreizen durch lokomotorische Bewegungen. Diese Erscheinung nenne ich Photokinesis und folge dabei Engel- mann, der diesen Ausdruck bereits 1883 in ähnlichem Sinne an- wendet. Ich befinde mich dabei auch in Übereinstimmung mit den Vorschlägen zur Einführung einer objektiven Nomenklatur ete.* von Beer, Bethe und v. Uexkuell. Diese Autoren nennen die Beant- wortung von Reizen mit Hilfe eines Nervensystems Antikinesen, Ewald, Über Orientierung, Lokomotion und Lichtreaktionen ete. 387 LE ohne ein solches Antitypien. Letztere Unterscheidung erscheint mir allerdings innerhalb des kleinen Gebietes der Lichtreizbeant- wortung vorläufig nicht ratsam zu sein, da es nicht sicher ist, ob das Fehlen eines Nervensystems für die Lichtreaktionen charakte- rıstische Besonderheiten ım Gefolge hat. In entsprechender Weise, wie den Begriff der Photokinesis kann man auch den der Chemo- kinesis bilden (Rothert). Die Photokinesen unterscheiden sich nach Intensität und Dauer. Bei den Öladoceren war die Intensität der Photokinesis innerhalb gewisser Grenzen der Inten- sıtät des Reizes in einem bestimmten Verhältnis proportional. Wie weit das auch für andere Formen zutrifft, ist mir nicht bekannt und bedarf auch noch weiterer Untersuchung. — Reizanlass für die photokinetischen Lokomotionen einer Tierform ist eine mehr oder weniger umfangreiche Veränderung der Lichtintensität, und zwar wirkt entweder die Erhöhung: additive Photokinesis, oder die Herabsetzung: subtraktive Photokinesis, als Reiz, zusammen- gefasst als anısodynamische Photokinesen; oder der Reizanlass kann sowohl in Erhöhung als in Herabsetzung der Intensität be- stehen: iısodynamische Photokinesis. Die Phototaxis ist das Resultat gewisser photokine- tischer Lokomotionen. Wir müssen diesen Hauptbegriff so weit wie möglich fassen und definieren daher nach dem Erfolg als Phototaxien die regulatorischen photokinetischen Lokomotionen?), d. h. diejenigen, welche eine Regulierung der Lage des Tieres in bezug auf die Lichtquelle herbeiführen, und zwar sowohl auf deren Intensität als auf deren Richtung. Diese Lokomotionen unterscheiden wir weiterhin nach zwei Richtungen: Erstens nach dem Sinne (Vorzeichen) und zweitens nach der Ausbildung der dabei auftretenden Bewegungsreflexe. In ersterer Beziehung unterscheiden wir positive (+), negative (—) und amphitrope (+ —) Phototaxien, je nachdem die Be- wegung auf Lichtreiz das Tier zum Licht hin oder vom Licht fort führt, oder beide Richtungen einschlagen kann. In zweiter Hin- sicht müssen wir unterscheiden, ob das Tier auf Lichtreize aus ver- schiedenen Richtungen mehrere Bewegungsreflexe ausführt oder nur eine stereotype Reaktionsform besitzt. Wir scheiden demnach die Phototropismen in direkte und indirekte. In engstem ursächlichem Zusammenhang mit der Phototaxis steht die Photostatik, und zwar so, dass die Photostatik eine Folge der Phototaxis sein kann, aber nicht muss. Das Verhältnis ist also das gleiche wie zwischen Phototaxis und Photokinesis. 3) Lokomotorische Bewegungen verhalten sich zu Lokomotionen wie die Ur- sache zur Wirkung. In% dad € 388 Ewald, Über Orientierung, Lokomotion und Lichtreaktionen ete. Wir können auf Grund der oben verfolgten Entwickelung der Photostatik entsprechend der Ausbildung der photostatischen Organi- sation der Begriffe die Astatik, Dysstatik und Eustatik auf- stellen. Je nachdem eine Orientierung im Raum gar nicht, nur unter gewissen Umständen oder völlig vorhanden ist, sagen wir von einer Tierform, sie sei astatisch, dysstatisch oder eu- statisch. In die Definition der Phototaxis nicht einbegriffen ist die etwas ferner liegende Frage, auf welchen Reiz hin überhaupt die Tiere dauernd lokomotorische Bewegungen ausführen. Auch hier kommen neben noch unerkannten inneren Reizen sicher auch äußere Agentien, wie chemische und besonders photische Reize in Betracht. Diese Ver- hältnisse sind aber vorläufig nicht genügend untersucht. Es sei nur betont, dass es sich bei der angeführten Nomenklatur der phototaktischen Erscheinungen lediglich um die regulatorischen Lokomotionen handelt, also diejenigen, die eigens zum Zweck einer Veränderung der Lage des Tieres in bezug auf die Lichtquelle unternommen werden, — sei es im Sinne einer Annäherung oder Entfernung, sei es zur statischen Orientierung. Zu einer ent- scheidenden Untersuchung über der Phototaxis einer Tiergruppe gehört also eine genaue Analyse der Reaktionsvorgänge. Der Nach- weis positiver oder negativer Reaktionen allein genügt dazu nicht. Zur ersten Gruppe der Bezeichnungen ist ferner zu bemerken, dass, wie es nach den bisherigen Untersuchungen scheint, letzten Endes die positiven Phototaxien die Folge einer Herabsetzung, die negativen aber die Folge einer Erhöhung der Lichtintensität sind. Die ersteren kommen also durch subtraktive, die letzteren durch additive Photokinesen zustande. Es gibt Tiere, die nur die Erhöhung und solche, die nur die Herabsetzung der Intensität als Reiz rezipieren und demgemäß auf Lichtreiz stets nur negative, resp. nur positive Lokomotionen ausführen. Von diesen führen wahrscheinlich zahlreiche Übergänge zu den Arten, die sowohl auf Erhöhung wie auf Herabsetzung der Intensität durch einen be- sonderen Reflex reagieren, also doppelsinnig reizbar sind (isodyna- mische Photokinesis) und daher amphitrope Phototaxis zeigen. Eine Übergangsform ist z. B. Euglena, die für alle gewöhn- lichen Intensitätszunahmen ganz unempfindlich ist, dagegen auf maximale Helligkeiten doch ihre Reaktion umkehren kann. Bei dieser Form ist also die Empfindlichkeit für Lichtzunahmen sehr viel geringer als für Lichtabnahmen. Bei wirklich amphitropen Formen (Cladoceren) sind beide Empfindlichkeiten annähernd gleich feın ausgebildet. Man wırd sich dazu entschließen müssen, viele Tiere, die heute schlechthin als positiv phototropisch gelten, noch einmal genauer auf ıhre Phototaxis zu untersuchen. Es wird sich dabei, wie ich Ewald, Über Orientierung, Lokomotion und Lichtreaktionen ete. 389 glaube, bei vielen herausstellen, dass sie nur vorwiegend positiv oder gar amphitrop sind — wie das sogar für die so viel unter- suchten Daphnien zutrifft. Jedenfalls ist es durchaus erforderlich, stets bei Angabe des Vorzeichens der Phototaxis die Reizintensität zu erwähnen, für welche die betreffende Reaktion gilt. Das zu erstrebende Ziel wäre, für jede phototaktische Form das Verhältnis von subtraktiver zu additiver Photokinesis, d. h. die Reizbarkeit für Ab- oder Zu- nahmen des Lichts, zahlenmäßig durch einen Bruch auszudrücken: P/N=X. Praktisch geschieht das, indem man von der Adaptations- intensität ausgehend, Erhellungs- und Verdunkelungsreize auf das Tier einwirken lässt und die Größe der Reaktionsbewegung nach der Formel: S/t = Weg/Zeit oder umgekehrt bemisst, wie dies im ersten Teil dieser Arbeit geschehen ist. Für die amphitropen Daphnien ist z. Be P=N, oder doch mit großer Annäherung. Für Euglena dagegen ist P>N. Alle Tiere, bei denen P>N, heißen vorwiegend positiv, solche, bei denen P< N, vorwiegend negatıv. Die Zahl der Tierformen mit einseitig vorwiegender Reiz- barkeit dürfte äußerst groß sein. Was die dritte Gruppe von Bezeichnungen (Photostatik) be- trifft, so wurde bereits gesagt, dass sie sich der Entwickelung des Örientierungsvermögens anpasst, wie wir sie weiter oben verfolgt haben. Ob es astatische Formen gibt, d. h. solche, die unter keinen Umständen orientiert sind, ist mir nicht sicher bekannt. Denkbar sind sie wohl, denn man braucht sich nur vorzustellen, dass ein Stentor an allen Teilen seines Körpers gleich lichtempfindlich wäre, um sich ein Bild von völliger Astatik machen zu können. Eine Phototaxis wäre auch in diesem Falle möglich, denn die bloße Ausbildung von Rückzugsbewegungen auf Lichtreiz genügt bereits, um das Tier in Zonen bestimmter Lichtintensität zu halten. Ich glaube, dass dieser Fall bei den von Oltmanns untersuchten Volvox vorliegt. Diese Tiere reagieren, wie es scheint, nur auf die Unter- schiede in der Belichtungsintensität, und zwar in sehr empfindlicher Weise. Von einer Einstellung in die Strahlenachse berichtet Olt- manns nichts, im Gegenteil bestreitet er sogar das Vorhandensein einer solchen Einstellung aufs entschiedenste. Es ist auch von vornherein nicht wahrscheinlich, dass diese kugelförmigen Indi- viduenkolonien mit ihren nach allen Seiten des Raumes symmetrisch ausgebildeten Einzelzellen eine feste Einstellung zum Licht behalten, die zu wesentlichen Unterschieden zwischen dem einen, stets vom Licht abgewendeten Teil der Kolonie und seinen Antipoden führen müsste. Zudem lässt sich die rollende Bewegung dieser Flagellaten schlecht mit der Auffassung von einer Orientierung vereinbaren. Wenn also dieser Fall auch vielleicht einer erneuten Untersuchung nach den angeführten Gesichtspunkten bedarf, so scheint es mir 390 Ewald, Über Orientierung, Lokomotion und Lichtreaktionen ete. doch wahrscheinlich, dass die Volvocinen astatisch phototaktische Organısmen sind. Gleichzeitig sind sie nach Oltmanns’ Beschrei- bung offensichtlich vollkommen amphitrop. — Nach diesen Fest- stellungen scheint es mir ratsam, den Begriff der astatischen Photo- taxis wenigstens vorzusehen. Die dysstatischen Formen sind didureh charakterisiert, dass sie, einmal desorientiert, ihre Orientierung meist nur auf Umwegen wiederfinden, während die eustatischen Tiere direkt zweckmäßige Regulierbewegungen machen, gleichgültig, in welcher Lage zum Licht sie sich befinden mögen. Dabei ist aber hervorzuheben, dass die sta- tische Orientierung zum Licht jederzeit durch hinzutretende stärkere Reize vorübergehend aufgehoben werden kann (Wettstreit der Reize). Über ve Unterscheidung in direkte und indirekte Photo- taxıs ist nur weniges zu sagen, da ihre Berechtigung und ihre Anwendung auf der Hand liegen. Es ıst klar, dass diese Begriffe von grundlegender Bedeutung für die Betrachtung der photo- taktischen Erscheinungen sind, indem sie die höheren von den niederen Organisationen trennen. Insbesondere sind sie auch für die Photostatik wesentlich, da direkte und indirekte Phototaxien verschiedene Ausbildungen der Photostatik im Gefolge haben. Zur Eustatik gehört unbedingt direkter, zur Dysstatik indirekter Photo- tropismus. Die Astatık könnte sich a priori mit beiden Arten der Phototaxis verbinden; wie es in Wirklichkeit ist, kann sich erst durch zahlreiche weitere Versuche ergeben. Eine Unterscheidung der verschiedenen Reaktionsformen auf Lichtreize ist bereits von Rothert versucht worden, der die Re- aktionen durch Rückzugsbewegungen apobatisch, die Reaktionen durch Wendebewegungen strophisch nannte. Es will mir aber scheinen, als seien diese Bezeichnungen aus verschiedenen Gründen nicht ganz glücklich gewählt. Erstens beziehen sie sich auf ganz bestimmte Reflexbewegungen, wie sie z. B. auf Kuglena gar nicht passen wollen, denn diese Form macht keine Rückzugsbewegungen, sondern nur Kreiselbewegungen. Zweitens treffen sie auch nicht den Kern der Erscheinung dadurch, dass sie die einfachen, stereo- typen Reaktionen von den höher differenzierten trennen. Die Aus- drücke „direkt“ und „indirekt“ haben den Vorzug, ohne neue Wort- bildung alles nötige auszudrücken. Die vorgeschlagene Nomenklatur findet, wie sich wohl von selbst versteht, zum Teil auch für die übrigen Tropismen An- wendung. Ausgenommen ist die Unterscheidung nach dem Grade der Orientierung, die, soweit sie nicht etwa in der Entwicke- lungsgeschichte des Schwerkraftsinnesorgans wiıederkehren sollte, ein Uharakteristikum der Phototaxis zu sein scheint. Denn beı der Ausbildung von speziellen Orientierungsvorrichtungen werden nur solche Reize ausgenutzt werden können, die regelmäßig ın Ewald, Über Orientierung, Lokomotion und Lichtreaktionen ete. 391 genügender Stärke auf den Organismus einwirken. Es wäre zwar an sich denkbar, dass sich auch thermische oder chemische Be- dingungen fänden, die zur statischen Orientierung geeignet wären; doch sind diese Verhältnisse wohl im allgemeinen zu veränder- licher Natur, um so weitgehende Anpassungserscheinungen, wie sie die Photo- und Barostatik zeigen, hervorzurufen. Auch ist die Reizquelle nicht in der vollendeten Weise lokalisiert wie bei Licht und Schwerkraft. Es wird also für diese Reizmittel ge- nügen, wenn man den Reizanlass (chemo-, thermokinetisch), resp. den Erfolg der Reaktion (Chemo-, Thermotaxis ete.), den Sinn der Reizbeantwortung (positiv, negativ, amphitrop) und die Aus- bildung der Reaktionsreflexe (direkt und indirekt) beschreibt. Es ist aber besonders darauf zu achten, dass nicht Antikinesen mit Tropismen verwechselt werden, wie das bis jetzt geschieht. So z. B. kann ich mir Mechanotaxis bei beweglichen Organismen nicht vorstellen. Be- wegungsreflexe auf mechanischen Reiz sind reine Mechanokinesen. Es würde zu weit führen, wenn ich die Anwendung dieser Nomenklatur auf sämtliche bisher untersuchte Formen von Fall zu Fall erläutern wollte. Ich habe, soweit es mir möglich war, ver- sucht, bei Aufstellung der Begriffe alle in der zoologischen und physiologischen, sowie eine Anzahl der in der botanischen Literatur mitgeteilten Fälle zu berücksichtigen und bin dabei bis jetzt nicht auf Widersprüche gestoßen. Im Gegenteil schienen sich alle mir bekannten Tatsachen diesem Rahmen willig einzufügen. Zwar ist es wohl unausbleiblich, dass Systeme dieser Art bei zunehmender Erkenntnis Mängel zeigen und der Revision bedürfen. Andererseits schien es mir aber unaufschiebbar, die Konsequenzen der neueren Untersuchungen klar auszusprechen und zusammenhängend zu be- handeln. Damit ergab sich die Notwendigkeit der neuen Nomen- klatur ganz von selbst. In dem nachstehenden Schema sind die einzelnen Termini so geordnet, dass die auf gleicher Höhe stehenden Begriffe in Kausal- nexus stehen, und zwar die links vom Doppelstrich stehenden unter sich, die rechtsstehenden gleichfalls. Über die Zusammenhänge zwischen Vorzeichen und Reaktionsform bei der Phototaxis lässt sich nichts Allgemeingültiges sagen. Schema zur Nomenklatur. Phototaxis | Photokinesis nn | Photostatik Vorzeichen | Reaktionsform | —— — = e — — 1 — _— | | astatisch subtraktiv | A positiv ee En din anisodynamisch negativ | indirekt dysstatisch isodynamisch amphitrop | direkt eustatisch | 399 Ewald, Über Orientierung, Lokomotion und Lichtreaktionen etc. B. Zur Theorie der kleinen Lokomotionsperioden. Im ersten Teile dieser Arbeit ist der Ablauf der Lokomotion bei den Cladoceren einer genaueren Untersuchung unterzogen worden. Wiederholen wir kurz die wesentlichen Punkte der dort beschriebenen Versuche. Es zeigte sich, dass die Lokomotion spontan periodischen Schwankungen unterworfen war, die zum Teil große Regelmäßig- keit zeigten. Weiterhin ergab sich, dass das Zustandekommen und die Intensität der Lokomotion von Reizwirkungen abhängt, an denen diejenige des Lichtes hervorragend beteiligt ist. Es ließ sich zeigen, dass beim Heruntergehen der Lichtintensität unter eine gewisse Schwelle die Lokomotionsintensität stark herabgesetzt wird. Es war also daraus zu schließen, dass die normale Lokomotion vom Vorhandensein gewisser Lichtreize abhing. Der Lichtreiz hatte aber keine Dauerwirkungen; vielmehr adaptierten die Cladoceren an alle mittleren Lichtintensitäten. Wir bezeichneten diejenige Lichtintensität, an welche die Tiere adaptiert waren, als Adaptations- ıntensität und diejenigen Teile des umgebenden Mediums, ın denen die Adaptationsintensität herrscht, als Adaptationszone Von der Adaptationsintensität ausgehend führte jede Veränderung der Inten- sıtät Reflexbewegungen herbei, und zwar Erhellung den „negativen Reflex“ oder zum mindesten eine Herabsetzung der Schlagfrequenz, die zu passivem Absinken führt, Verdunkelung den „positiven Re- flex“. Diese Reflexe traten aber nicht ein, wenn die Verände- rung der Lichtintensität in der Zeiteinheit ein gewisses Maß nicht erreichte (Einschleichen des Lichtreizes). Wenn man diese Erscheinungen in Zusammenhang bringt, so ergibt sich für den Ablauf der periodischen Lokomotion durch Licht- reize folgendes Bild. Die Adaptationszone charakterisiert sich da- durch, dass das Tier ihre Überschreitung als einen Reiz empfindet. Man muss sich also diese Zone theoretisch von zwei Flächen be- grenzt denken, die aus alle den Punkten bestehen, ın welchen der besagte Reiz von dem Tier rezipiert wird. Die erforderliche Reiz- intensität bezeichnet man als Reizschwelle; man kann daher die genannten Flächen als positive und negative Schwellenfläche bezeichnen. Genau in der Mitte zwischen den beiden liegt die theoretische Adaptationsfläche®), welche jede Lokomotionsperiode in einen lichtnahen und einen lichtfernen Teil zerlegt. Die voll- ständige Periode besteht aus einem positiven und negativen Schenkel. Das Tier bewegt sich zunächst im positiven Teil der Periode zum Licht hin, erreicht die positive Schwelle, die es zur Umkehr durch 4) Diese Fläche existiert in Wirklichkeit nicht, denn sie würde die Existenz einer mathematisch genauen Adaptation voraussetzen. Tatsächlich sind die Tiere nur für eine Intensität adaptiert, die innerhalb etwas weiterer, durch den Abstand der Schwellenflächen voneinander gekennzeichneter Grenzen liegt. Ewald, Über Orientierung, Lokomotion und Lichtreaktionen ete. 393 den Erhellungsreiz veranlasst und legt darauf den negativen Teil zurück. Die Erreichung der negativen Schwelle bezeichnet das Ende der Periode. Jede Veränderung der Lichtintensität verschiebt die Periode einseitig, indem die Schwellen und damit die ganze Adaptationszone an eine andere Stelle des Raumes gerückt werden. Natürlich spielt sich der Vorgang niemals in der geschilderten schematischen Weise ab. Es ist vielmehr im allgemeinen der Fall, dass die Tiere nach einer Reizung so stark motorisch erregt werden, dass sie bei der Reaktionsbewegung die Schwelle zunächst wesent- lich überschreiten. Die Folge ist dann eine Gegenreaktion von ziemlicher Heftigkeit, die das Tier wieder beträchtlich über die gegenüberliegende Schwelle hinausführt. Auf diese Weise kommt wohl die Erweiterung der Perioden bei stärkerer Reizung zustande, wie sie aus meinen Kurven hervorgeht. Schema einer kleinen Lokomotionsperiode. Lichteinfall NE Y Oberer ae Umkehrpunkt Oberer Umkehrpunkt x“ - —— Öbere Schwellenfläche / — © Tal) = \ 8 \ 3 I \ A iz) =) \ R=) Z = $ _ 2 . = Adaptationsfläche N "© / We} \ - / © 2 P = { e\ 5 /8 va — 2\ 3 /S © ey BONES So, A 1 —— Unterer Umkehrpunkt —_ Untere Schwellenfläche Wenn man den Versuch machen will, sich nun auch eine Vor- stellung über das Zustandekommen der spontanen kleinen Loko- motionsperioden zu machen, so wäre es wohl naheliegend, die eben entwickelten Anschauungen über die Lokomotion bei Veränderung der Lichtintensität dabei zugrunde zu legen. Die Existenz von 394 Ewald, Über Orientierung, Lokomotion und Lichtreaktionen ete Schwellenflächen vorausgesetzt, müsste ganz von selbst eine periodisch sich umkehrende Lokomotion zustande kommen, die sich ebenfalls in jedem Umfang halten kann. Durch das passive Absinken müsste die untere Reizschwelle überschritten und eın Reizimpuls gegeben werden’), der zur Aufwärtsbewegung und unter Umständen zur Überschreitung der oberen Schwelle veranlasst. Dadurch würde dann entweder ein entgegengesetzter Impuls erteilt, resp. eine Ver- minderung der Schlagfrequenz veranlasst, oder das Absinken könnte auch ohne neuen Impuls einfach durch Eintreten einer Bewegungs- pause bewirkt werden, wie es ähnlich von Bethe für die Pulsationen von Medusen gezeigt worden ist. Da bei zunehmender Adaptation die Schwellenflächen immer näher zusammenrücken müssen, so wäre auch für sehr kleine Perioden eine Erklärung denkbar. In manchen Fällen von kleinen Lokomotionsperioden werden vielleicht auch periodisch eintretende Bewegungspausen ım Wechsel mit Perioden lebhafter Beweglichkeit ohne Zuhilfenahme von Lichtreizen zur Hervorbringung der Erscheinung genügen. (Das würde z. B. von den Perioden bei Bosmina (s. S. 13), vom Reihenmarsch der Volvox-Weibchen (s. S. 26) und vom Tanzen der Mücken gelten können.) Nun ist aber eine zweifellos konstatierte Beobachtung mit dieser Anschauung zunächst schwer zu vereinbaren, nämlich die periodisch wechselnde Lokomotion ın horizontaler Richtung. Rädl führt einige Fälle solcher Lokomotionen bei Insekten an; ich selbst beschrieb im ersten Teil dieser Arbeit aktive horizontal gerichtete Lokomotionsperioden bei verschiedenen planktonischen Urustaceen, die in flachen Schalen von oben beleuchtet wurden. Von einem Intensitätsgefälle, wie ich es oben voraussetzte und wie es im freien Wasser zweifellos, bei den Versuchen im vertikalen Zylinder wahr- scheinlich in ausreichendem Maße vorhanden war, kann hier nicht die Rede sein. Ebensowenig von Ermüdungspausen. Wir haben es vielmehr offensichtlich mit einer ganz allgemeinen Eigenschaft in Wasser oder Luft schwebender Tiere zu tun, die einer Erklärung in ıhrer Gesamtheit bedarf. Was bewegt die Tiere zur Umkehr? Ein selbsttätig periodisch sich umkehrender endogener Impuls wie beim Herzschlag einiger Ascidien? Dem widerspricht aber die Tatsache, dass nur die horizontalen Lokomotionsperioden stets aktıv erfolgen, die vertikalen dagegen meist zur Hälfte passıv (Absinken). Es muss also ein äußerer Reiz sein, der die Umkehr bewirkt. Dass dieser Reiz optischer Natur ist, scheint mir ebenfalls sehr wahr- scheinlich. Das Verhalten der Insekten spricht dafür. Hädl brachte Mückenschwärme dazu, über seinem Hute oder Stock zu 5) Oltmanns sagt vom Reihenmarsch der Volvo.c-Weibchen auf Grund einiger, von ihm angeführter Versuche: „Die Fallbewegungen werden offenbar sistiert, so- bald eine Zone von bestimmter Intensität des Lichtes erreicht wird.‘ Ewald, Über Orientierung, Lokomotion und Lichtreaktionen ete. 395 tanzen und konnte den ganzen Schwarm durch Höher- oder Tiefer- halten des Hutes oder Stockes zum Steigen oder Fallen bringen. Ebenso folgte der Schwarm in horizontaler Richtung dem unter- gehaltenen Gegenstande. Es ist also offenbar, dass sich die Tiere in eine bestimmte Entfernung von einem bestimmten Fixpunkte einstellen und nun um diesen Punkt oszillieren, indem sie zuerst auf- steigen, sich dann wieder fallen lassen, bis sie dem Fixpunkte zu nahe kommen, wieder aufsteigen u. s. f. Sollten nun nicht auch die horizontalen Lokomotionsperioden ähnlich erklärt werden können ? Es scheint mir, dass in allen beschriebenen und von mir beobach- teten Fällen stets eine Grenzlinie irgendwelcher Art nachzuweisen war, die als Reiz die Umkehr der Bewegungsrichtung bewirken konnte und zwar wird es sich auch hier sehr häufig um eine Intensitätsgrenze handeln, die den Bewegungsreflex auslöst. Rädl beschreibt die Bewegungen einer Phryganıde, die er dauernd über einer etwa 4m langen Pfütze ın deren längstem Durchmesser hin- und herschweben sah. Hier war offenbar der Uferrand der Pfütze die reizbewirkende Grenze. Entsprechendes lässt sich beim Flug der Insekten gegen die Flamme annehmen, wo entweder die plötz- licke Abnahme des auf die Augen fallenden Lichts nach Passieren der Flamme oder die Wärme der Flamme oder aber das Anstoßen an die Scheibe der Lampe die Umkehr bewirken. Nicht anders ist es offenbar auch bei den Planktonten im Versuchsgefäß. Hier ist das Anstoßen an die Gefäßwand oder den Wasserspiegel die Ursache zur Umkehr, wie ein Blick auf die dem ersten Teil meiner Arbeit angefügten Kurven lehrt. E. Towle hat gezeigt, dass bei Oypridopsis Berührung mit festen Wänden sogar eine Umkehr im Sinne der phototaktischen Reaktion zur Folge hatte. Aus allen diesen Tatsachen scheint mir mit ziemlicher Deutlichkeit hervorzu- gehen, dass wir die Umkehr ın der Richtung aktiver Bewegungen einesteils den wirklichen phototaktischen Reflexen, andernteils aber gewöhnlichen Fluchtreflexen zuzuschreiben haben, die bei Eintritt gewisser Reize bei weitaus der Mehrzahl aller Tiere ausgelöst werden und in einer Umkehrung der Bewegungsrichtung bestehen. Dass Tiere, die mehr eder weniger ausschließlich mit Hilfe ihrer Photo- rezeptoren orientiert werden, für optische Reize besonders empfind- lich sınd, kann nicht wundernehmen. Was schließlich die vertikal gerichteten kleinen Lokomotions- perioden betrifft, so gibt es für ıhr Zustandekommen mehrere Er- klärungsmöglichkeiten. Mitunter genügt es, die regelmäßig ein- tretenden spontanen Bewegungspausen zur Erklärung heranzuziehen, wie wir das schon weiter oben andeuteten. Sıe sınd offenbar beı den meisten schwebenden Tieren die Regel, soweit nicht eine be- sondere Reizung und damit eine angestrengtere Lokomotion eintritt. Das Wiedereinsetzen der Bewegung wird hier durch einen regel- 396 Ewald, Über Orientierung, Lokomotion und Lichtreaktionen ete. mäßig beim Absinken eintretenden, meist wohl optischen Reiz be- wirkt, sei es durch einen Verdunkelungsreiz nach zu schnellem Durchmessen eines Intensitätsgefälles wie bei den Cladoceren; sei. es durch zu starke Annäherung an einen Fixpunkt, wie bei den tanzenden Mücken und Phryganıden. Ebenso wie am unteren, so kann auch am oberen Wendepunkte das Umkehren, resp. Sistieren der Bewegung statt durch spontane Pausen durch Lichtreize bewirkt werden. In welcher Weise dieses Phänomen bestimmend auf die täg- lichen Vertikalwanderungen des Zooplanktons einwirken muss, habe ich am Ende des ersten Teils dieser Arbeit zu zeigen versucht. Wir sahen dort, dass die periodisch pendelnde Lokomotion eine Reaktion auf feine Intensitätsschwankungen des Lichts ermöglichen muss. Den Tieren wird die „Nullpunktseinstellung* (in diesem Falle Einstellung in die Adaptationsfläche) durch die hin- und her- führende Bewegung ebenso erleichtert wie z. B. dem Physiker, der ein Telephon mit Hilfe des Schiebers der Wheatstone’schen Brücke auf Stromlosigkeit einstellen will. C. Uber die tonusregulierende Wirkung des Lichts. Ich habe ım ersten Teile dieser Arbeit gezeigt, dass innerhalb gewisser Grenzen die Intensität der Bewegungen der Lichtreiz- intensität proportional ist und dass bei Herabsetzung der Licht- intensität eine Verkleinerung der Amplitude der Periode eintritt, die bis zur Bewegungslosigkeit führen kann (Kurven V und VI). Beobachtet man Daphnien in der Dunkelkammer bei rotem Licht, so ist die Verringerung der Amplitude ihrer periodischen Loko- motionen höchst auffallend. Die Tiere halten sich durch gleich- mäßige Ruderschläge stets annähernd auf der Stelle, statt wie sonst mehr oder weniger lebhaft auf und ab zu schwimmen. Meine Versuche brachten mich auf den Gedanken, dass das Zustandekommen der normalen Tageslokomotion auf Lichtreiz- impulsen annähernd gleichmäßiger Intensität beruht, und ich kam folgerichtig dazu, diese Erscheinung als Phototonus aufzufassen. Zu meiner Freude fand ich neuerdings in der älteren Literatur zwei Angaben, die auf ganz analoge Verhältnisse bei freischwimmenden Pflanzen hinweisen. Die erste stammt von Engelmann und ist in seinen Untersuchungen über das Bacterium photometricum ent- halten. Dieser Organısmus vollführt überhaupt nur dann Bewegungen, wenn er vom Licht getroffen wird; sonst verfällt er ın „Dunkel- starre“. Die Lokomotionen sind um so kräftiger, je höher die Licht- intensität ist. Bei diesen Formen hängt also die gesamte Loko- motion allein von der Lichtstärke ab. Ganz ähnliche Beobachtungen hat auch Oltmannns an Volvocinen gemacht. Er konstatiert, dass bei starker Verdunkelung die Volvox-Kugeln fast unbeweglich am Ewald, Über Orientierung, Lokomotion und Lichtreaktionen ete. 397 Boden liegen und in der Nacht oder bei starker Bewölkung nur träge mit ganz langsamen Bewegungen ım Wasser umhertreiben. Die Annahme eines Phototonus erscheint noch verlockender, wenn man bedenkt, dass bei den untersuchten Formen das Lichtsinnes- organ die Funktion eines statischen Organes mit übernommen hat, welches ja nicht nur eine orientierende, sondern auch eine tonus- regulierende Eigenschaft in den meisten Fällen zu haben pflegt (s. auch J. R. Ewald’s Theorie vom Tonuslabyrinth, meine eigenen Versuche an Aalen und besonders Bauer’s Untersuchungen an Mysiden). Da die Tiere sich allen mittleren Lichtintensitäten adap- tieren, erhalten sie die nötigen Reizimpulse vielleicht unter normalen Umständen durch das Überschreiten der Lichtreizschwellen. Das Absinken bei unzureichender Lokomotion muss ganz von selbst bewirken, dass stets von Zeit zu Zeit eine Reizschwelle überschritten wird. Starke Reize veranlassen eine ausgiebige Schwellenüber- schreitung, während Herabgehen der Gesamtintensität unter ein gewisses Maß, die untere Lichtreizschwelle, vorübergehend ein völliges Aufhören der Reizimpulse zur Folge haben kann. Auch hier scheint eine sehr allgemeine biologische Erscheinung vorzuliegen, die dringend noch näherer Untersuchung bedarf. Meine kurze Notiz hat nur den Zweck, auf das interessante Problem er- neut hinzuweisen. Zusammenfassung. IT. Teil A. Theorie der Orientierung. 1. Der einfachste Orientierungsvorgang, wie er von verschie- denen Autoren theoretisch postuliert worden ist, bestände in einer direkten Reaktion symmetrischer Bewegungsorgane, resp. des sie beeinflussenden Körperplasmas, auf Licht durch Änderung der Be- wegungen auf der bestrahlten Seite. 2. Der einfachste tatsächlich nachgewiesene Orientierungsapparat besteht in der Lokalisation der Lichtempfindlichkeit am vorderen Körperpol in Verbindung mit der Ausbildung von Bewegungsreflexen, die bei Reizung des empfindlichen Pols eintreten und die Be- wegungsrichtung des Tieres ändern (indirekte Orientierung). 3. Dieser Apparat wird zunächst durch die Entstehung eines einfachen Auges verbessert. Er wird genauer und lichtstärker. 4. Durch Zusammenstellung mehrerer nach verschiedenen Rich- tungen angeordneter Einzelaugen in Verbindung mit der Ausbildung verschiedener spezifischer Bewegungsreflexe bei Reizung eines jeden Einzelauges wird eine direkte Orientierung ermöglicht. 5. Im letzten Stadium teilen sich die Augen mit den Stato- cysten in die Orientierung. 398 Ewald, Über Örientierung, Lokomotion und Lichtreaktionen etc. 6. Man ist also berechtigt, den Augen mancher niederer Wasser- tiere eine photostatische Funktion zuzuschreiben, deren Entwicke- lung vom Unvollkommenen zum Vollkommenen sich verfolgen lässt. Die bisherige Tropismentheorie lässt das Vorhandensein von positiver oder negativer Phototaxis von dem Vorhandensein einer direkten Orientierung abhängen und setzt die Phototaxis ın Gegen- satz zur Empfindlichkeit für Unterschiede der Beleuchtung. Die „Unterschiedsempfindlichkeit“ wird gar nicht zu den Tropismen gerechnet. 8. Diese Definition gibt zu Missverständnissen Anlass, da jede Reizwirkung des Lichtes auf Intensitätsschwankungen beruhen muss. 9. Die Entwickelungsgeschichte der Orientierung mit Hilfe des Lichtes zeigt, dass die Einstellung des Körpers in die Strahlen- achse nicht das wesentliche Charakteristikum der Phototaxis sein kann, sondern nur auf dem Grade der Ausbildung der Rezeptoren und Bewegungsreflexe beruht. Die gemeinsame Grundlage besteht in der Beantwortung von Lichtreizen durch regulatorische Be- wegungsreflexe. 10. Die bisher gültige Nomenklatur, die nur positiv oder negativ phototaktische Tiere unterscheidet und sich dabei auf die Defi- nitionen der alten Theorie stützt, genügt nicht zur Charakterisierung der durch die neueren Untersuchungen ermittelten Erscheinungen. Vor allem fasst sie die Definition der Phototaxis zu eng. 11. Es wird daher folgende Definition vorgeschlagen: Beant- wortung von Lichtreizen durch lokomotorische Bewegungen: Photo- kinesis, unterschieden in: ıisodynamische und anisodynamische; letztere weiter ın: additive und subtraktive. Phototaxien: regu- latorische, photokinetische Lokomotionen, unterschieden: nach dem Sinne (Vorzeichen) in positive, negative und amphitrope; nach der Ausbildung der Bewegungsreflexe in indirekte und direkte. Photo- statik: ansahieklen ah der Ausbildung, resp. dem Vorhanden- sein einer photostatischen Orientierung, in: Kustatik, Dysstatik und Astatik. Diese Nomenklatur findet mit Ausnahme der letztgenannten Unterscheidung auch auf andere Tropismen Anwendung. B. Theorie der kleinen Lokomotionsperioden. 12. Im Zustande der Erregung pendelt das Tier zwischen posi- tiver und negativer Reizschwelle hin und her. Es entsteht also das Bild einer Adaptationszone begrenzt von einer positiven und negativen Schwellenfläche. 13. Im Zustande der Ruhe wird zumeist der negative Reflex durch einfaches Verringern der Schlagfrequenz und demzufolge passives Absinken bewirkt. Diese Wirkung kann entweder auf einer Schwellenüberschreitung oder auf dem Eintreten einer Er- müdungspause beruhen. Ewald, Über Orientierung, Lokomotion und Lichtreaktionen ete. 399 14. In gewissen Fällen lassen sich die kleinen Lokomotions- perioden allein durch regelmäßiges Eintreten von Ermüdungspausen erklären. 15. In anderen Fällen genügt weder Schwellenüberschreitung noch Ermüdungspause zur Erklärung des negativen Teiles der Periode, und es müssen teils Fluchtreflexe, hervorgerufen durch anderweitige optische Reize, teils Mechanokinesen (Berührung fester Wände) angenommen werden. 16. Zur Regulierung der Lage der Planktonten zur Lichtintensität genügt das Eintreten von Verdunklungsreizen bei Überschreitung der unteren Schwelle. C. Uber den Phototonus. 17. Die Abhängigkeit der Bewegungsintensität der Cladoceren von der Lichtintensität legt den Gedanken nahe, dass das Licht vermittelst der Photorezeptoren eine tonusregulierende Wirkung auf die Muskulatur der Tiere ausübt. Literaturverzeichnis zu Teil 1. Bauer, V. Die reflektorische Regulierung von Schwimmbewegungen bei den My- siden. Ztschr. f. allg. Physiol., Jahrg. 1908, Heft 3. Beer, Bethe und v. Uexküll. Vorschläge z. Einf. einer objekt. Nomenklatur in d. Physiologie. Biol. Centralbl. Bd. XIX, 1899. Engelmann, Th. W. Bacterium photometricum. Arch. f. d. ges. Physiol., Bd. 30, 1883. Ewald, J. R. Physiol. Untersuchungen über d. Endorgan d. Nervus octavus. Wiesbaden 1892. — Wolfg. F. Die Fortnahme des häutigen Labyrinths und ihre Folgen b. Flussaal. Arch. f. d. ges. Phys., Bd. 116, 1907. Jennings, H.S. Contributions to the study of the behaviour of lower Organisms. Washington 1904. Loeb, J. Der Heliotropismus der Tiere und seine Übereinstimmung mit dem der Pflanzen. Würzburg 1890. — Vorlesungen über die Dynamik der Lebenserscheinungen. Leipzig 1906. ÖOltmanns, Fr. Über die photometrischen Bewegungen der Pflanzen. Flora, Bd. 75, 1892. Rädl, Em. Untersuchungen über die Lichtreaktionen der Arthropoden. Arch. f. d. ges. Phys., Bd. 87, 1901. Rothert, W. Beobachtungen und Betrachtungen über taktische Reizerscheinungen. Flora, Bd. 88, 1901. Towle, Eliz. A study in the heliotropism of Cypridopsis. Amer. Journ. of Physiol., Bd. III, 1900. 400 Heiberg, Ein paar Bemerkungen über die Zellkerne ete. Ein paar Bemerkungen über die Zellkerne und die Granula experimenteller Carcinome wie auch über Abstrichpräparate aus diesen Tumoren. Von K. A. Heiberg. Aus dem kgl. Frederiks Hospital (Kopenhagen), Abt. A. (Direktor: Prof. Chr. Gram.) Es ist eine häufig erscheinende und längst bekannte morpho- logische Eigentümlichkeit der Kerne des Krebsgewebes, dass sie die Gewebskerne, deren Nachbildung sie wahrscheimlich sind, an Größe übertreffen). Was das Jensen’sche Mäusecarcinom betrifft, stellt sich die Sache so, dass die Kerne einem großen Typus angehören, größer sind als in mehreren anderen untersuchten Mäusetumoren. Wegen der etwas varııerenden und langgestreckten Form der Kerne und wegen der verschiedenen Weise, wie sie getroffen werden, erhält man durch Messung einer willkürlich gewählten Anzahl (hier 50) eine sehr unregelmäßige Verteilung, z. B. bei folgenden drei: Messstriche: le | 8 | Sen a ee ia Mg || 5 | u | zu | 8 | 9 | 9% [ton run | 12 | 229, | 15H, TE IR: al ea 1 we Moers BR ae. 16. | ea a I nn a 1. ER Zum Vergleich mag dienen, dass die Kerne in der Epidermis von Mäusen 6—7 (5—8) u, in den Talgdrüsen der Haut (5—) 6—7 u, im Mammagewebe 5—6 (—7) u messen. Das Chromatin der Mitosen misst bei beginnender Protoplasma- teilung von Seite zu Seite 6 bis (meistens) 8 «; die Breite der Zelle beträgt ın demselben Stadium an den stärksten Stellen 10—11 «, die Länge der ganzen Zelle ca. 18 .u. Nachdem man nun (im ganzen 20) Mäuse ausschließlich mit Glykose (und Wasser), oder ausschließlich mit gekochtem Fleisch oder gekochtem Brissel (und Wasser) gefüttert hatte und darauf das Verhalten der Kerne in Schnittpräparaten untersuchte, bemerkte man zwar keinen Unterschied weder des Volumens noch der Länge, welche letztere so groß war, dass es gelang, sie mittelst mehrerer angestellten Messungen wahrscheinlich zu machen, — es ließ sich 1) Vgl. K. A. Heiberg: Sitzungsber. d. biolog. Gesellsch. in Kopenhagen 1907—1908 (Skand. Arch. f. Physiol. Bd. 21, 1908, S. 280f.). — K. A. Heiberg: Über die Erklärung einer Verschiedenheit der Krebszellen von anderen Zellen (Nord, med. Arch. 1908, II. Abt., Nr. 4, S. 1-20). Heiberg, Ein paar Bemerkungen über die Zellkerne etc. 401 aber doch nicht bestreiten, dass die Kerne durch die erstgenannte Fütterungsart ein ein wenig geringeres Volumen erhalten zu haben schienen. Es ıst möglich, dass bei den mit Zucker gefütterten Mäusen die zentralen Teile des Tumors sich ın stärkerem Zerfall befanden, mit Sicherheit ließ dies sich aber wegen der bekannten großen individuellen Variation nicht feststellen. 4 Tage lang er- trugen die Tumormäuse gewöhnlich sehr gut die Brisselfütterung, wenigstens 7 Tage lang die Glykosefütterung. Zur Untersuchung kamen auch „Trockenpräparate* in Anwen- dung, die durch das Abdrücken von Tumorschnittflächen gegen Objektträger dargestellt wurden — mithin nicht ganz, was man sonst unter „Abstrichpräparaten“ versteht —, und die man darauf an der Luft trocknete, fixierte und in verschiedener Weise färbte. Die besten Bilder schien teils die Romanowsky-Giemsa-Färbung, teils z. B. nach Fixierung in Pikrinsäure Hansen’s Eisenhämatein zu geben, indem diese beiden Methoden sich gegenseitig ergänzen; erstere bringt die dichteren Partien des Protoplasmas hübsch zum Fig. 1. Fig. 2. Fig. 3. Fig. 4. so oe “io a a se“ Vorschein, letztere hebt die Begrenzung sicherer hervor, indem sich in diesen „Trockenpräparaten“ auch sehr intim verbundene Kerne finden können, was übrigens Bildern entspricht, die auch ın Schnittpräparaten vorkommen. Die „Granula“ des Protoplasmas traten vielleicht am schärfsten in Präparaten aus brisselgefütterten Tumormäusen hervor; es schien gleichsam 2 Typen zu geben, kleinere Granula (ca. °/, «), die sich sehr scharf gegen die Umgebungen abzeichneten, und größere Gra- nula (1'/,—2 u oder noch mehr — ganz bis 4 u), die in der Regel weniger scharf konturiert waren. Die Anzahl betrug oft gegen ein Dutzend; nie fanden sich beide Typen zugleich in derselben Zelle. Sehr häufig befindet der Kern sich nicht mehr im Protoplasma, sondern ist bei der Darstellung des Präparates herausgerissen worden. Alles in allem muss hervorgehoben werden, in wie hohem Grade der Jensen’sche Tumor sich zur Darstellung von Abstrich- präparaten eignet, indem die Konsistenz dieses Gewebes dasselbe besonders befähigt, mittelst dieses Verfahrens seine Elemente abzu- geben. Jensen?) gab eine sehr ausführliche Erörterung der in dem beschriebenen Mäusecarcinom vorkommenden „Zelleinschlüsse“ und 2) Hospitalstidende 1903 (Centralbl. f. Bakt., Parasitenk. u. Infektionskrankh., I. Abt., Bd. 34, 1903: Experimentelle Untersuchungen über Krebs bei Mäusen). 90.88 26 402 Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. Körperchen anderer Natur; zum Studium der tinktoriellen und strukturellen Verhältnisse derselben ist das obengenannte Verfahren sehr wohl geeignet, wenngleich es große Geduld erfordert. Burkhardt?) hat die Altmann’schen Granula menschlicher Tumoren dargestellt; auch beim Mäusekrebs lassen sich derartige Präparate darstellen; das Protoplasma, das bei dieser Technik nur als ein schmaler Saum zwischen den Kernen erscheint, kann ganz mit Granula angefüllt sein. Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. Von Prof. Dr. 0. Nüsslin (Karlsruhe). Mit 12 Abbildungen. 2.1) Die systematische Stellung der Gattung Mindarus. Nachdem zuerst ©. Börner?) für die Öhermiden Klage er- hoben hatte, dass mit der Vertiefung der biologischen Forschungen das rein systematische Studium vernachlässigt und „die Biologie zur Herrin der Systematik und Phylogenie wurde“, gibt neuestens auch Alb. Tullgren?) demselben Gedanken für die Blattläuse überhaupt Ausdruck: es müsse die morphologisch-systematische Untersuchung vorausgehen. Seine Bearbeitung der Pemphiginen sei „ein Versuch, die systematischen Fragen klarzulegen‘“. Es wird darin die im Anschluss an Mordwilko®) aufgefasste Unterfamilie der Pemphiginae in sechs Triben geteilt, und als einen dieser Tribus („Möndarina“) stellt sich jetzt die frühere Schizo- neuridengattung Mindarus dar, während noch Mordwilko nur vier Pemphiginengruppen unterschieden, und im Gegensatz zu Tullgren die Gattung Mindarus wie früher in der Gruppe der Schixoneurina untergebracht hatte. Mordwilko hatte sich noch nicht vollständig von der Wert- senätzung der Merkmale, die in der Verzweigung der sogen. dritten Schrägader des Vorderflügels gelegen sind, befreit, er trennt die Gruppe der Schixoneurina mit gegabelter dritter Schrägader von der Gruppe der Pemphigina mit einfacher dritter Schrägader. Tull- 3) Das Verhalten der Altmann’schen Granula in Zellen maligner Tumoren und ihre Bedeutung für die Geschwulstlehre. Arch. f. klin. Chir. Bd. 65, 1902. 1) Vgl. 1. Die Eiablage und das Auskommen der Fundatrix aus dem Winterei. Biol. Centralbl. Bd. XX, Nr. 14, 15, 1900. 2) Systematik und Biologie der Ühermiden. Zool. Anz. Bd. XXXI, Nr. 14, 1907. 3) Aphidologische Studien. Arkiv för Zoologie Bd. 5, Nr. 14, 1909. 4) Tableaux pour servir ä la determination des groupes et des genres des Aphididae Passerini. In L’Annuaire de Musee Zoologique de l’Akad&mie Imp£riale des sciences de St.-Pertersb. T. XIII, 1908. Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. 403 gren hat zwar auch einen Tribus Schizoneurina aufgestellt, aber er fasst ihn ganz anders auf und charakterisiert ihn nach Befunden der letzten Abdomensegmente und der Drüsen, infolgedessen sogar Tetraneura bei Tullgren zu Schizoneura gestellt wird. Das Gesagte soll genügen, einen Einblick in die Unstimmigkeit der neuesten Autoren zu geben; der Aufruhr im Gebiete der Syste- matık und Biologie der Pflanzenläuse wird zweifellos zunehmen in dem Maße, als sich neue Autoren diesem hochinteressanten Gebiete zuwenden. Die Gattung Mindarus, die durch Tullgren zu einem Tribus gehoben wurde, wird zweifellos diese Stellung zum mindesten be- haupten, und zwar auf Grund ihrer Biologie und Morphologie. Gewiss verdient die Mahnung ©. Börner’s, das Morphologisch- Systematische nicht zu vernachlässigen, Beachtung, und Börner selbst hat bei Chermes das System wesentlich gefördert. Aber wir haben nicht die geringste Ursache, für die Aphiden den Vorsprung zu beklagen, durch den die Biologie der Systematik vorangeeilt ist. Im Gegenteil, dieser Verlauf ist gerade für die Pemphiginae der einzig richtige gewesen. Ohne die erstaunliche Fülle von biologischen Entdeckungen, welche wir insbesondere Mord- wilko verdanken, wären systematisch-phylogenetische Betrachtungen ohne erheblichen Wert. Zuerst muss der Schluss der Kette für die zusammengehörigen Generationen einer Art, oder mit anderen Worten die gesamte Artbiologie bekannt sein, ehe wir hoffen dürfen, die natürliche Verwandtschaft der größeren Gruppen er- kennen zu können. In ersterer Hinsicht liegt noch ein großes Arbeitsfeld vor uns, ebenso bedürfen wir zur Erforschung des Zusammenhanges der Gruppen eine tiefere Kenntnis ihrer Anatomie, weil die Aphidinen und Pemphiginen eine weit größere Mannigfaltigkeit ın ihrer Anatomie zeigen als die Chermesinae und Phylloxerinae. Der Tribus: „Mindarina“ mit der einzigen Gattung Mindarus nimmt ın der bisherigen Unterfamilie der Pemphiginae eine bio- logisch-morphologische Sonderstellung ein, welche nach keiner Seite hin nähere Anschlüsse zeigt, mit keiner der Gattungen „intim verwandt ist“, wie sich Tullgren S. 29 (l. c.) ausgedrückt hat. Andererseits erscheint Mindarus durch die hohe Organisations- stufe der Sexualespersonen, durch die Größe und Fruchtbarkeit der amphigonen Weibchen, durch die Art der Ablage des Winter- eies und durch die Fortpflanzungsbiologie den Lachninen weit näher gerückt als irgendeine der übrigen Pemphiginengattungen, so dass die Frage aufgeworfen werden muss, ob Mindarus nicht etwa als eine selbständige Unterfamilie zwischen Lachninen und Pemphiginen Platz zu finden hat. 26* 404 Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. Zur Diskussion über diese Frage erlangen ganz besonders eine Anzahl von Charakteren eine große Bedeutung, welche entweder ausschließlich Mindarus zugehören, oder aber neben Mindarus nur bei den Lachninen (oder Aphidinen), nicht aber bei den Pemphiginen Verbreitung finden. | Nach unseren bisherigen Kenntnissen sind zwei Merkmale bis jetzt nur für Mindarus bekannt geworden und bezeugen damit die Selbständigkeit dieser Gruppe: nämlich die Schutzhülle des Wintereies und die Rückbildung der Wachsdrüsen beim Übergang von der Nymphe zur Imago. Die Bildung der Schutzhülle des Latenzeies und das Auskriechen der Fundatrix ist früher das Thema einer besonderen Abhandlung!) des Verfassers gewesen. Danach erzeugt das relativ große amphigone Weibchen nach dem Vollzuge der 3. Häutung auf der Ventralfläche des 5. und 6. Segmentes jederseits am Seitenrande eine große Drüse, welche relativ kurze, aber dicke und starre Wachsfäden ausscheiden, die von gleicher Länge wie über einen Kamm geschoren erscheinen. Diese brutfleckartigen ventralen Seitendrüsen sind völlige Neu- bildungen, nach ihrem Entstehungsorte ohne Homologa bei irgend- einer Pflanzenlaus. Die Eier von Mindarus mit brauner Chitin- schale werden zum Schutze, wahrscheinlich gegen Feuchtigkeit, mit den Wachsfäden dieser Dieter wie mit einer ahniln EA sadenschicht bedeckt, indem die Mutter ihre Brutflecke an der klebrigen Schale ihrer Eier abreibt. Das so geschützte Latenzei hat 10—11 Monate, frei und äußerlich an die Knospen, Triebachsen und Nadeln abgelegt, den Einflüssen zu trotzen, gleich den meisten Eiern der Aphidinen und Lachninen, während das einzige Ei der Pemphiginen unter Rinde versteckt abgelegt wird und nur eine kurze Latenzdauer zu überstehen hat. Ein zweiter für Mindarus typischer Charakter liegt in der Rück- bildung der Wachsdrüsen beim Übergang von der Nymphe zur Imago. Während sowohl die Fundatrix als auch die Sexuales relativ drüsenarm sind und Wachswolle fast nur am Hinterrande abscheiden, ist die geflügelte Generation bis zum 4. Stadium von vorn bis hinten mit Wachsdrüsen versehen und scheidet enorme Massen von Wachswolle aus, welche die Tiere und die Maitriebe, an denen die geflügelte Generation saugt, bedeckt. Kurz vor der letzten 4. Häutung findet aber eine Auflösung (Histiolyse)aller Wachs- drüsen statt, derart, dass an der Geflügelten nichts mehr von Drüsen nachzuweisen ist und auch die Zerfallprodukte der großen zahlreichen Drüsenzellen völlig aufgebraucht erscheinen. Die Ge- flügelte ıst nackt und ohne Wachswolle. In ähnlicher Weise gehen auch beim Männchen im vorletzten Häutungsstadium die Drüsen verloren. Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. 405 Die geflügelte Mindarus wird durch den Verlust der Wachs- drüsen und Wachswolle den Lachninen ähnlicher. Noch eine weitere Eigenart in der Biologie bringt die Gattung Mindarus den Lachninen näher. Die Sexuales erscheinen nicht wie bei den Pemphiginen gegen Ende der Saison, sondern wie bei manchen Lachninen (Lachnus hyalinus Koch und L. pieeicola Chld.>) schon frühzeitig. Auch kann ein und dieselbe Mutter (Geflügelte wie Ungeflügelte) neben parthenogenetischen Weibchen auch Sexuales hervorbringen, wie solches längst von Witlaczil®) für Siphonophora pelargonii Kalt. schon festgestellt worden ist. Bei Mindarus abietinus Koch beginnt das aktive Leben mit dem Säftestrom in den terminalen Regionen der Tanne. Im Jahre 1900 begann die Fundatrix nach Beobachtungen in Karlsruhe zwischen dem 21. und 24. April dem Winterei zu entschlüpfen, schon am 4. Mai zeigten sich die ersten Geflügelten, schon am 12. Mai konnten Latenz- oder Wintereier beobachtet werden. Es verliefen daher die drei Generationen Fundatrix, Sexupara und Sexuales innerhalb ca. 20 Tagen, so dass auf eine Generation durchschnittlich eine Woche kommt. Mit der Ablage des Wintereis beginnt aber die Latenzperiode, denn das Ei bleibt bis zum folgenden Frühjahr latent liegen. Zwei Drittel Monat Aktiv-, und über 11 Monate Latenzleben, gewiss ein einzig dastehender biologischer Charakter! Mindarus ıst ein ausschließlicher Parasit des zarten „Maitriebes“, am erstarkten Trieb und an den hartgewordenen Nadeln können die beiden parthenogenetischen Generationen sich nicht entwickeln. Dagegen kriechen die Junglarven der 1. Generation mit Vorliebe schon frühzeitig unter die Schuppen in die zartesten Teile der im Wachstum begriffenen Knospe. In ähnlich rascher Weise vollzieht sich das Leben der anderen Spezies Mindarus obliquus Chld. an Picea alba. Im Jahre 1900 waren am 25. Mai ebenfalls schon zahlreiche Latenzeier zu treffen. Da jedoch nicht alle Eier und Triebe gleich frühzeitig auskommen, kann die aktive Lebensperiode der Mindarus-Arten individuell noch in den Mai, im Gebirge bis in den Juli fortdauern. Die beiden ersten Generationen verlangen jedoch stets eine zarte Beschaffenheit der Triebe. Aus dem Gesagten geht hervor, dass die systematische Stellung der Gattung Mindarus nach unseren heutigen Kenntnissen eine ganz unsichere ist. Möndarus hat keine nähere Verwandtschaft zu irgend- einem Tribus der Pemphiginen i. Sinne Mordwilko’s, sie lässt sich 5) Cholodkovsky, Beiträge zu einer Monographie der Koniferen- läuse. II. Teil. Horae Soc. entom. Ross. t. XXXI, 1898, 8. 23. 6) Witlaezil, Entwickelungsgeschichte der Aphiden. Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. 40, 1884, S. 611. 406 Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. aber auch nicht den Lachninen direkt anreihen, ihre Stellung wäre zwischen den Lachnina Mordw. und Pemphiginae Mordw. anzu- weisen. Mit den Zachnina verbindet sie auch das lineare Pterostigma. In der Einfachheit der Fortpflanzungsbiologie, im Charakter der amphigonen Weibchen, in der Erzeugung, im Bau und in der Ablage der Latenzeier steht Mindarus den Lachninen näher als den Pemphiginen. Im übrigen hat Mindarus in morphologischer wie auch in bio- logischer Hinsicht so zahlreiche besondere Charaktere, dass eine Sonderstellung als Unterfamilie Mindarinae gerechtfertigt erscheinen muss, wobei allerdings die beiden Unterfamilien Aphidinae und Pemphiginae Mordwılko’s aufgegeben und in zahlreichere Unter- familien aufgeteilt werden müssten. Soweit ich es heute überblicken kann, möchte ich die nach- folgende Klassıfikation in Vorschlag bringen. Familie Aphidae, Unterfamilie Aphidinae, " Lachninae, a Mindarinae, x Pemphiginae”), 2 Hormaphidinae?), Familie Phylloxeridae?). Charakteristik der Unterfamilien. 1. Unterfamilie Aphödinae: 3. Schrägader der Vorderflügel doppelt gegabelt (außer Toxoptera). Erwachsenes flügelloses Weibchen mit mehr als drei Korneallinsen. Männchen geflügelt, amphigones Weibchen relativ groß, Sexuales mit Rüssel, mehr als ein Winterel. Ohne Wachsdrüsen und Woll- fäden. Erwachsenes Weibchen mit sechsgliedrigen Fühlern (außer Cerosipha). Letztes Fühlerglied distal von der Riechgrube mit langem fadenartigen oder borstenförmigen Fortsatz, Honigröhrchen meist lang, Schwänzchen meist vorhanden. Pterostigma trapezoid. 7) Die Unterfamilie der Pemphiginae in unserem Sinne umfasst den Rest, der nach Ausscheidung der Mindarinae und Hormaphidinae von der gleichnamigen Unterfamilie im Sinne Mordwilko’s geblieben ist. Ob diese Unterfamilie nicht noch weiterhin aufzuteilen ist, lässt sich nach den recht verschiedenen Auffassungen Mordwilko’s und Tullgren’s heute noch nicht beantworten. 8) Die Sonderstellung der Hormaphidinae als Unterfamilie hatte schon Börner in seiner Monographie der Chermiden Fußn. 2, S. 282 angeregt. 9) Mordwilko hatte in seinen „Tableaux‘‘ die Afterblattläuse als Unter- familie Phylloxerinae den Aphidinae und Pemphiginae systematisch ebenbürtig gegenübergestellt, sicherlich ein Rückschritt gegenüber Dreyfus und Börner. Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. 407 2. Unterfamilie Zachninae!P): 3. Schrägader der Vorderflügel doppelt gegabelt (außer Trama und Schixolachnus). Erwachsenes flügelloses Weibchen mit mehr als drei Korneallinsen (außer Trama). Männchen meist geflügelt, amphigones Weibchen relativ groß, Sexuales mit Rüssel (außer Stomaphis-Männchen), mehr als ein Winterer Ohne Wachsdrüsen und Wachswolle (außer Phyllaphis). Erwachsenes Weibchen mit sechsgliedrigen Fühlern (außer Sipha), letztes Fühlerglied distal von der Riechgrube mit kurzem kegelförmigem Endstück. chen. warzenförmig. Schwänzchen fehlt meist. Ptero- stigma meist linear. 3. Unterfamilie Mindarinae (mihi): 3. Schrägader der Vorderflügel einfach gegabelt, erwachsenes flügelloses Weibehen mit dreilinsigem Larvenauge. Männchen ungeflügelt klein, mit Rüssel und geradem (verein- fachtem) Darm, amphigones Weibchen relativ groß, mit normalem Darmtrakt, mehrere Wintereier mit Wachswolle-Schutzschicht. Mit wohlentwickelten Wachsdrüsen und Wollausscheidungen, be- sonders bei der Nymphe, die sich bei der Häutung zur Imago völlig rückbilden. Erwachsenes Weibchen mit sechsgliedrigen Fühlern, die jüngsten Stadien stets mit fünfgliedrigen Fühlern, letztes Fühler- glied wie bei den Lachninen. „Honigröhrchen“ warzenförmig, Schwänzchen vorhanden. 8. Ventralplatte senkrecht gestellt. Ptero- stigma linear. 10) Die Teilung der Unterfamilie der Aphidinae Mordw. in die drei Gruppen der Aphidina, Callipterina und Lachnina in Mordwilko’s „Tableaux“ ist auch als Provisorium ohne besonderen Vorteil, weil die Gruppe der Callipterina allzu heterogene Gattungen umschließt und deshalb durch keinerlei durchgreifende Merkmale zu diagnostizieren ist. Weder Merkmale, die sich auf das Schwänzchen beziehen, noch solche für das letzte Fühlerglied. noch solche der „Saftröhrchen“ sind für alle Callipterina übereinstimmend gültig. Gewiss wird diese Gruppe bei besserer Kenntnis der Biologie und Morphologie in eine größere Zahl von Triben, vielleicht selbst von Unterfamilien zerlegt werden müssen. So steht z. B. die Gattung Phyllapkıs heute ganz isoliert unter allen Lachninen und Aphidinen, nur die doppelte Gabelung der 3. Schrägader stellt sie zu ihnen, durch die Wachsdrüsen und Woll- ausscheidung sind sie an die Pemphiginae angeschlossen. Ebenso stehen die Gattungen Bradyaphis und Sipha fremd den Gattungen Pterocallis, Myzocallis u. a. gegenüber, die doch viel besser unter den Aphidina untergebracht worden wären, wie andererseits Dryobius u. a. ohne Bedenken an die Lachnina anzureihen wären. Es ist daher besser, nach altem Brauch durch die bekannten Charaktere des letzten Fühlergliedes die Oallöpterina zu scheiden und ihre Gattungen auf die beiden Unterfamilien Aphidinae und Lachninae zu verteilen. Die von uns unterschiedenen fünf Unterfamilien der Familie der Aphidae repräsen- tieren ein systematisches Provisorium, welches nur mit Rücksicht auf die mutmaß- liche Stellung der Gattung Mindarus veranlasst wurde. Die Zahl der Unterfamilien wird später zweifellos vermehrt werden, insbesondere infolge einer Verbesserung unserer Kenntnisse in bezug auf die Sexualesgeneration und die Erzeugung und Beschaffenheit der Wintereier. 408 Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. 4. Unterfamilie Pemphiginae Mordw. (nach Loslösung von Min- darus und Hormaphis): 3. Schrägader der Vorderflügel einfach gegabelt oder ungegabelt. Erwachsenes flügelloses Weibchen mit dreilinsigem Larvenauge. Männchen ungeflügelt zwerghaft, amphigones Weibchen zwerghaft, Sexuales ohne Rüssel, erwachsen ohne Darmlumen, nur ein Winterei. Wachsdrüsen und Wachswolle vorherrschend, erwachsenes Weibchen mit fünf- oder sechsgliedrigen Fühlern, jüngste Larven mit viergliedrigen Fühlern, letztes Fühlerglied distal von der Riechgrube mit kurzem stumpfem Ende, „Honigröhrchen“ warzen- förmig, meist rückgebildet. Schwänzchen vorhanden (Vacuna, Proci- philus), oder fehlend. Pterostigma trapezoid. 5. Unterfamilie Hormaphidinae C.B.: 3. Schrägader der Vorderflügel ungegabelt. Erwachsenes flügel- loses Weibchen mit dreilinsigem Larvenauge. Sexuales ungeflügelt, „werghaft, aber mit Rüssel, nurein Winterei. — Eigenartige Wachs- absonderungen, bei der Larve der Exsulans in Form von Wachs- schildern (Aleurodes-ähnlich). Erwachsenes Weibchen mit fünfgliedrigen Fühlern, Larven mit drei(4?)gliedrigen Fühlern. Letztes Fühlerglied distal von der Riechgrube mit kurzem kegel- förmigem Ende. „Honigröhren“ warzenartig., Schwänzchen deut- lich, 8. Ventralplatte breit zweilappig. Pterostigma trapezoid. 3. Die Artendifferenzierung der Gattung Mindarus. Bis jetzt sind nur zwei Arten dieser Gattung unterschieden worden: Mindarus abietinus Koch (1857)'!) und M. obliquus Chld. (1896) ?). Beide Arten leben relativ monophag auf Nadelholz, abietinus auf der mitteleuropäischen Weißtanne, auf Nordmannstanne, Balsam- tanne, auf Abies concolor und sibirica, obliguus auf der nordameri- kanischen Weißfichte (Picea alba). Trotzdem ıst Mindarus in Nord- amerika unbekannt, wie gelegentliche Erkundigungen bei Spezialisten ergeben haben. M. abietinus ist sowohl im Norden (in Russland, Schweden) als auch in Italien, sowie im Westen (Belgien), ganz besonders aber in Mitteleuropa gefunden worden. M. obliquus ist eine Seltenheit, die bisher nur bei Narva von Cholodkovsky und vom Verfasser in Karlsruhe gefunden worden ist. Die beiden Arten sind trotz ihrer nahen Gattungsverwandtschaft durch mehrere Merkmale voneinander geschieden, welche zum Teil ein mehr als bloß systematisches Interesse verdienen, indem die 11) Koch, Ch. Die Pflanzenläuse. Aphiden. Nürnberg 1857. 12) Cholodkovsky, N. Zool. Anz. 1896, p. 257. Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. 409 Unterschiede in den Charakter der einzelnen Generationen der Heterogonie eingreifen. Bei abietinus ist die Heterogonie in der Regel scharf aus den drei Generationen: ungeflügelte Fundatrix, geflügelte Sexupara und Sexuales zusammengesetzt, bei obliguus scheint es Regel zu sein, dass außer der Fundatrix und der geflügelten Sexupara noch eine Generationszwischenform, welche wohl als verkümmerte Geflügelte aufzufassen ist, hinzutritt, und zwar gegen Ende des Auftretens der Geflügelten. Wir werden über diese Generationszwischenform ein- gehender berichten, nachdem wir die Differentialdiagnose der beiden Arten für die normalen Generationen besprochen haben. Die letztere wird am besten für die Fliege und für die erwachsenen Unge- flügelten getrennt behandelt, da die letzteren, auch die erwachsene Nymphe, gemeinsame Unterschiede miteinander teilen. A. Differentialdiagnose für die erwachsenen Ungeflügelten von M. abietinus und M. obliquus. a) M. abietinus ıst größer als M. obliquus. Die Fundatrix von abietinus ca. 1,9 mm lang; von obliquus ca. 1,6 mm lang „ Nymphe „ „ „ 2 „ „ „ „ „ 1,7 „ „ Das amphigone® „ „ „ 1,2 „ „ ” ”„ ”„ 1,0 „ ” L} ” d „ >} eb) 0,6 ER LE} ’ „ be} 0,4 „ 2} b) M. abietinus hat relativ längere Fühler, insbesondere ein längeres 3. und 4. Fühlerglied als M. obliquus. Bei der Fundatrix von abietinus misst das 3. Glied 28 °/, der Gesamtfühlerlänge FARUERFE ” 4 a5 0 BR ENE r, x en 55 „obliquus a A Fr Be; er ; 5; ,, vn Aseen al, 955 075; » » „ Nymphe Penheekinus) „ Ce e en ih . ix 2 5 A ee: ; ll lıss n, „ obliquus , BRWET: 0 MON .T Be rs; R A .> un. at A ae „ = dem amphigonen.? ,„ abieimus „ .» Im 20, = N ” er x 1 15 But, > 2 ,„ obliquus (SEEN, 1, r 5 PER 5 Sr 5; Be | 0.00.05 „ hrs a5 dus abielinus.. 5-1) Se ;: N ER 55 E ». obliguus: „ 2.0 le ,, R c) M. abietinus zeigt ın bezug auf die Entwickelung der Wachs- drüsen eine geringere Entwickelung als M. obliquus. a) Fundatrix. Bei M. abietinus fehlen marginale Wachsdrüsen an Mittel- und Hinterbrust, bei M. obliquus sınd marginale Wachsdrüsen an Mittel- und Hinterbrust vorhanden, beı M. abietinus bleiben die Marginaldrüsen noch am 5. Hinter- leibssegment sehr klein oder fehlen, bei obliquus ıst das 410 Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. 5. Drüsenpaar fast so stark entwickelt wie die Drüsen am 6. und 7. Segment, die auch bei abietinus kräftig ausgebildet erscheinen. b) Nymphe. Obgleich die Nymphen beider Arten am Abdomen wohlent- wickelte Drüsen besitzen, ıst doch ein deutlicher Unter- schied darın gelegen, dass bei abietinus dıe 5. Marginal- drüse viel kleiner als die 6. und 7. ıst, während bei obliquus der Unterschied der Größe der 5. und 6. oder 7. Marginal- drüse nur unbedeutend erscheint. c) Amphigones Weibchen. Bei M. abietinus finden sich am 6. Segment sehr kleine, am 7. Segment kleine, bei obliguus am 6. und 7. Segment mittelgroße Marginaldrüsen. Bei abvetinus fehlen die Pleural- drüsen an allen Segmenten, bei obliguus sind solche am 5., 6. und 7. Segment vorhanden. Die größere Fruchtbarkeit des abietinus-Weibchens äußert sich am deutlichsten im Abstand der Hinterhüften. Hier ist das Verhältnis dieses Abstandes zum Abstand der Vorderhüften wie 25:10, bei obliguus wie 16:10. B. Differentialdiagnose für die Fliegen. a) M. abietinus ıst größer, ca. 1,5—2,7 mm lang, M. obliquus ca. 1—1,5 mm lang. M. abietinus ist fruchtbarer, erzeugt 1S—40 Junge, M. obliquus nur 2—8 Nachkommen. b) M. abietinus hat am 3. Fühlerglied 12—19 Riechgruben (nur einmal und nur einseitig nur 11), M. obliquus T7—12 (nur einmal 13). Dagegen erscheint die Länge des 3. Gliedes bei beiden Arten nicht wesentlich verschieden, sie schwankt zwischen 30—35°/, der Ge- samtfühlerlänge. Als wichtiger Unterschied erscheint die Zahl der Riechgruben am 4. Fühlerglied; M. abietinus trägt nur eine Riech- grube am distalen Ende, M. obliquus dagegen zwei, selten drei (nur einmal und nur einseitig war nur eine Riechgrube entwickelt). Die Drüsen fehlen im Stadium der Fliege bei beiden Arten. Cholodkovsky hatte bei der Entdeckung von M. obliquus „bei der Mehrzahl“ der Fliegen eine Asymmetrie des Flügel- geäders gefunden, und zwar einseitig eine einfache Gabelung der 3. Schrägader, auf dem anderen Flügel den einen oder beide Gabeläste der 3. Schrägader nochmals terminal gegabelt und mit Rücksicht auf diese Asymmetrie der Art den Namen „obligua“ (Schixoneura) gegeben. Auch ich habe solche Anomalıen sekun- därer Gabelung gesehen, aber auch bei M. abietinus, sie stellen jedoch Ausnahmen dar und können nicht für die Artdiagnose ver- Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. 411 wertet werden. Dagegen möchte ich sie als Atavismen auffassen und zugunsten meiner obigen Auffassung der Mindarinae als Ver- wandte der Lachninae verwerten. Auch in der Färbung lassen sich Unterschiede feststellen, ob- wohl die Färbung beider Arten großen Schwankungen ausgesetzt ist. Frisch gehäutete Tiere sind gelblichweiß oder blassgrün, oft von den jungen Maitriebteilen schwer zu unterscheiden, bald nach der Häutung dunklen sie, können aber durch Ausscheidung eines weißlichen Wachsreifes wieder heller werden. Andererseits können quere dunkle Pigmentflecken entstehen, die bei der erwachsenen Fundatrix, gelegentlich auch beim amphigonen Weibchen, unter- brochen strichweise quergerichtet sind und dunkle olivenbräunliche Töne erzeugen. Die Geflügelte hat später fünf breite schwarzgraue @Querbänder, Kopf und Metathorax werden schwarz, der Prothorax hat auf gelbgrünem Grunde zwei, der Mesothorax drei graue Flecken. Die obliguus-Fliege ıst meist undeutlicher gefleckt und heller, mehr gelblichgrün, während abietinus dunkelgrün wird. Das Männchen ıst bei beiden Arten hell spangrün und von dem graugrünen bis braungrünen Weibchen leicht zu unterscheiden. M. obliquus übertrifft abietinus in der Intensität der Produktion von Wachswolle. Die graugrünen Maitriebe von Picea alba er- scheinen Ende Mai und Anfang Juni in bläulichweiße Wolle ein- gehüllt und fallen bei starkem Besatz schon von Ferne auf, da- gegen ist hier die Nachwirkung auf die Pflanze äußerst gering. Nach einigen Regengüssen ist jede Spur der Laus verwischt, die Nadeln selbst werden nicht deformiert. Bei M. abietinus dagegen ist die Wachswolleausscheidung nie so umfangreich. Um so auffälliger kann die Nachwirkung sein, indem die Nadeln des Maitriebs verkrümmt, die helle Seite nach oben gekehrt und die Endtriebe statt dunkelgrün blaugrau werden können. In manchen Jahren sehen die Tannen von oben bis unten wie erfroren aus, indem die Maitriebe durch das Saugen der Läuse zum Absterben!?) gebracht werden. In Vorstehendem ist zur Genüge ausgeführt worden, dass abietinus und obliguus zwei gut getrennte Arten sind, nicht synonym, wie Tullgren (l. c. S.59) auf Grund der unzulänglichen Diagnose Cholodkovsky’s neuestens vermutet hatte. Sie lassen sich in allen (renerationen unterscheiden. Von besonderem Interesse erscheint es, dass M. obliquus ın vieler Hinsicht einen unbeständigen Charakter trägt und eine ‚ Spezies darstellt, die deutliche Degenerationssymptome auf- weist. Vor allem ist die geflügelte Generation in Degene- ration begriffen. Dies äußert sich nicht nur in der Unbeständig- 13) Nüsslin, Allgem. Forst- und Jagdzeitung 1899 und 1904. 412 Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. keit des Flügelgeäders, in dessen Neigung zur Asymmetrie, in der geringen Fruchtbarkeit (in der Regel erzeugt die Fliege nur etwa vier Nachkommen gegen ca. 30 bei abietinus), sondern ganz be- sonders im Auftreten von Zwischenformen zwischen der Unge- flügelten (Fundatrix) und der Fliege, und ın der tatsächlichen Rück- bildung der schon angelegten Flügel und Flügelmuskeln im Ver- laufe bereits vorgerückter Nymphenstadien. Im 3., ja selbst ım 4. Stadium, nachdem schon die Flügelstummeln äußerlich als taschen- artige Fortsätze aufgetreten sind, kann der Prozess der Rückbildung durch Histiolyse der Zellen der Flügelanlagen und der schon ge- bildeten Muskeln vor sich gehen. Die Zwischenformen zwischen der fundatrixähnlichen Unge- flügelten und der Fliege sind so häufig, die Fliegen selbst kommen so spärlich zur Entwickelung, dass es denkbar erscheinen muss, dass die geflügelte Form im Laufe der Phylogenese vollständig aus dem Generationenzyklus von M. obliquus verschwindet. 4. Die Zwischenform zwischen der Fundatrix und der Fliege bei Mindarus obliqgwus. Die typische Zwischenform (Fig. 1) zeigt die nachfolgenden Merkmale. Meso- und Metathorax sind stärker entwickelt, insbe- sondere länger, der Mesothorax auch breiter als bei der Fundatrix (Fig. 2), sie entbehren beide der Wachsdrüsen, welche die Fundatrix von obliquus, nicht aber diejenige von abietinus, besitzt. Die übrigen Wachsdrüsen sind bei der Zwischenform durchweg größer als bei der Fundatrix und erinnern an das Verhalten der Nymphe. Auch gehen bei der Zwischenform ähnlich wie bei der Nymphe die Pleural- drüsen weiter nach vorn, ın Fig. 1 lässt sich rechts eine Pleural- drüse noch bis zum 2. Segment erkennen, während die Fundatrix Pleuraldrüsen nur am 5., 6. und 7. Segment zeigt. Ganz besonders ist die Zwischenform durch die Komplexaugen und durch die Sehlappen des Gehirns ausgezeichnet und von der Fundatrix unterschieden. Beide Organe erreichen jedoch niemals die Ausdehnung und Gestaltung wie bei der Nymphe. Die Komplex- augen bestehen zwar aus zahlreichen Fazetten mit Korneallinsen, sind jedoch niemals so in die Länge gezogen wie bei der Nymphe; korrespondierend damit sind auch die Sehlappen des Gehirns mehr in die Quere entwickelt und lassen das Gehirn der Zwischenform zwar sehr breit, aber relativ kurz erscheinen. Augen und Gehirn der Zwischenform tragen danach einen deutlich intermediären Cha- rakter, der zwischen den Vorkommnissen bei Fundatrix und Nymphe die Mitte häit. Die Zwischenform unterscheidet sich von der Nymphe noch ganz besonders durch das Fehlen von Flügelanlagen und Muskeln, welch letztere bei einer entwickelten Nymphe von der Ausbildung Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. 413 der Zwischenform der Fig. 1 schon angelegt sind. Die Tiere der Fig. 1 und 2 sind nicht nur völlig ausgewachsen, sondern haben auch alle ihre Nachkommen geboren, wie an den eingeschrumpften Enden der sekundären Eileiter zu erkennen ist. Sehr bemerkenswert ist es nun, dass die Zwischenform in bezug auf die Entwickelung der Komplexaugen und des Gehirns inner- halb erheblicher Grenzen bald gegen die Fundatrix, bald gegen die Nymphe hin schwankt. Es gibt Individuen, welche sich kaum von der Fundatrix unterscheiden, wenn nicht das Fehlen der Drüsen an Mittel- und Hinterbrust und die größeren Dimensionen dieser beiden Körperteile auf den Unterschied von den Fundatrix hinweisen würden. Dann gibt es Formen, welche nur einseitig ein kleines Fig. 1. Mindarus obliquus Generationen- „Zwischenform“ zwischen Fundatrix und Fig. 2. Mindarus obliquus Fundatrix. Nymphe. 35:1. 3. Komplexauge (Fig. 3), dementsprechend auch nur auf dieser Seite eine Anschwellung der Sehlappen zeigen, oder die Komplexaugen sind ebenso wie die Sehlappen beiderseits, jedoch minimal, und erstere kleiner als die Larvenaugen zur Ausbildung gelangt (Fig. 4), oder die Komplexaugen haben die Größe oder übertreffen um weniges die Larvenaugen, korrespondierend damit ist das Gehirn entsprechend gewachsen (Fig. 5). Diese letztere Figur zeigt wieder eine leichte Asymmetrie. In Fig. 1 ist das Komplexauge bedeutend größer und fazettenreicher als das Larvenauge und die Sehlappen sind ent- sprechend in die Quere entwickelt. Von Wichtigkeit ist weiterhin der Unterschied in bezug auf das Entwickelungsstadium, in welchem der Prozess der Ausbildung zur „Zwischenform“ anhebt. Da die „Zwischenformen“ als rück- 414 Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. gebildete Nymphen aufzufassen sind, tragen sie von Anfang an keine Marginaldrüsen an Mittel- und Hinterbrust, daran und anderer- seits am Fehlen der Epithelverdickung, welche die Anlage der Flügel bei der normalen Nymphe vom 2. Stadium, bezw. zum Teil schon vom Ende des 1. Stadıums an charakterisieren, lassen sich in der Tat „Zwischenformen“ nachweisen, die schon ım 2. Stadium der geflügelten Generation auftreten. Andere sind erst ım 3. Stadium erkennbar. Andererseits steht es aber außer Zweifel, dass die Umbildung erst sehr spät beginnen kann. So zeigt die Fig. 6 den Fall, in welchem schon die Flügelstummeln äußerlich hervorzutreten be- gonnen hatten, auch schon Scheitelaugen angelegt waren, wo also die Umbildung zur „Zwischenform“ in einem vorgerückten Zeit- Fig. 3. Mindarus obliquus „Zwischen- Fig. 4. Mindarus obliquus „Zwischen- form“, fandatrixähnlich, unsymmetrisch, form“, Komplexauge kleiner als Larven- links ohne Komplexauge. 90:1. auge 90:1. punkt des 4. Stadiums begonnen haben musste. Die Komplex- augen und die Sehlappen des Gehirns sind bei dem Individuum der Fig. 6 schon so mächtig entwickelt, dass die Sehnerven nur noch sehr kurz erscheinen. Bei einem anderen Individuum war die Nymphe fast zur 4. Häu- tung gelangt. Die Flügelstummeln hatten ihre größte Länge er- reicht, die Flügelmuskeln in Meso- und Metathorax waren schon entwickelt, die Komplexaugen so groß, dass sie die Scheitelaugen und die Sehlappen des Gehirns direkt berührten. Der Beweis für die Umbildung zu einer Zwischenform war ın diesem letzteren Fall nur aus der einseitigen Histiolyse einzelner Flügelmuskeln und der Gewebsmassen der Flügelanlagen zu er- bringen. Das betreffende Individuum hatte noch acht Junge von teilweise zurückgebliebenem Reifungsstadium im Leib. Dieser Fall, wie auch derjenige der Fig. 6, machen es höchst wahrscheinlich, dass Nährstoffe zur Reifung der Nachkommen Du re Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. 415 auf dem Wege der Histiolyse, der Einschmelzung schon gebildeter ÖOrgananlagen, die entbehrlich erschienen, flüssig gemacht werden mussten. Tritt doch auch normal bei der Gattung Mindarus beim Übergang von der Nymphe zur Imago kurz vor der letzten Häutung ein gewaltiger Einschmelzungsprozess in Form der Histiolyse der mächtigen Wachsdrüsen in Erscheinung, der Stoffmassen frei macht, welche bei der Geflügelten restlos verbraucht erscheinen. Bei M. obliquus machen die histiolytischen Prozesse, welche in späteren Stadien der Nymphe auftreten, einen pathologischen Eindruck. Aber auch der Charakter der in früheren Stadien sich Fig. 5. Mindarus obliquus „Zwischen- form“, Komplexauge von gleicher Größe wie das Larvenauge. 90:1. Fig. 6. Mindarus obliquus Nymphe in der Rückbildung der Flügelanlagen be- gritfen.2 739.1. umbildenden Zwischenformen kann durch das Schwanken in der Ausbildung, sowie durch häufige Asymmetrien pathologische Züge nicht verleugnen. Die Zurückverlegung der Ausbildung der „Zwischenform“ in frühere Häutungsstadien zeigt uns den Werdeprozess, durch welchen abnorme Einzelfälle, die gelegentlichen Bedürfnissen zu entsprechen scheinen, zur Norm sich auszubilden bestreben, eine Tendenz, welche einerseits durch ein dauerndes Bedürfnis, andererseits durch be- günstigende Verhältnisse, unter denen M. obliguus zu leben scheint, zur Erfüllung gelangt. Vielleicht liegen die begünstigenden Verhältnisse, welche bei M. obliquus zur Umbildung der Geflügelten in eine flügellose Sexu- para führen, in dem Fehlen der Gelegenheit, durch Flüge von Baum zu Baum die Erhaltung und Verbreitung der Art zu sichern, lebt doch M. obliguwus ausschließlich auf der nordamerikanischen Weiß- fichte, welche bei uns nur vereinzelt gepflanzt wird. 416 Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. Die Tendenz zur Sesshaftigkeit, zum Verbleiben an dem Baum der Entstehung kann für die Arterhaltung bei uns günstiger sein als der Flug in die Ferne. Das sporadische Auftreten der Art und das im Vergleich zu M. abietinus höchst spärliche Auftreten der Geflügelten sind Folgeerscheinungen des Vorkommens der Art an einem fremdländischen Pflanzenwirte und der Tendenz zur Um- bildung zu flügellosen Sexuparen. Zugleich sind das Auftreten der Anomalien im Flügelgeäder und die geringe Größe und geringe Fruchtbarkeit der obliguus-Fliege aller Wahrscheinlichkeit nach Symptome und Begleiterscheinungen der in Rückbildung begriffenen geflügelten Form. Da auch bei M. abietinus „Zwischenformen“ als gelegentliche Ausnahmen vorkommen, ist die Potenz hierzu ein Gattungscharakter. Dass dieser bei M. obliquus in solchem Umfang auftritt, dass er ein normales Kennzeichen der Art bildet, kann uns nach Obigem nicht befremden. Das Selektionsprinzip tritt hier zweifellos in Aktion. Die obliquus-Fliegen, welche das Weite suchen, werden meistens nicht zur Fortpflanzung, d. h. zur erfolgreichen Ab- setzung ihrer Sexuales-Nachkommen gelangen, weil Picea alba nur ganz vereinzelt vorkommt. Umgekehrt werden die gelegentlichen flügellosen Varianten der Sexuparen, welche am Baum ihrer Geburt bleiben, ihre Nachkommen, und zuletzt die Dauereier an richtigen Orten absetzen und ihre Art so lange erhalten, als das Leben der Picea alba währt. Eine engere Sesshaftigkeit, die allein durch flügellose Sexuparen für den Baum der Geburt gewährleistet wird, ist also von größtem Interesse für die Erhaltung von M. obliquus an den Orten ihrer Entstehung. Ein ausschließliches Vorkommen wechselbedürftiger Sexuparafliegen würde der Art nur in wenigen Fällen zum Vorteil gereichen, in den meisten zum Nachteil. Für nächst benachbarte Pflanzen ist auch die Beweglichkeit im ersten Larvenstadium der Fundatrix zur Ausbreitung genügend. M. obliquus wird aber stets nur ein sporadisches Vorkommen bei uns erreichen und ein seltener Gast bleiben, von dem besonders auffällig ist, dass er ın seiner Heimat unbekannt zu sein scheint !). (Schluss folgt.) 14) Eine Anfrage bei Mr. Theodor Pergande am U. S. Dep. of Agric. hatte 1899 eine Antwort des Herrn H. Ashmead, damals Assist. Curator, Division of Insects zur Folge, dass in Nordamerika keine Mindarus-Spezies an der Fichte bekannt sei. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der kgl. bayer. Hof- u. Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr.;K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Der Abonnementspreis für 24 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen. Bd. XXX. 1. Juli 1910. NM 13. Inhalt: Stiasny, Zur Kenntnis der gelben Zellen der Sphaerozoen. — Franz, Zur Struktur der Chromatophoren bei Crustaceen. — Papanicolau, Über die Bedingungen der sexuellen Differenzierung bei Daphniden. — Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch (Sehluss). — Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus und der Sklaverei bei den Ameisen. Zur Kenntnis der gelben Zellen der Sphaerozoen. Von Dr. Gustav Stiasny (Triest). (Aus der k. k. zoologischen Station in Triest.) (Mit 10 Figuren im Text.) Die gelben Zellen (Zooxanthellen) der Sphaerozoen sind bereits Gegenstand zahlreicher Untersuchungen gewesen. Die darüber vor- liegende umfangreiche Literatur behandelt zumeist die Frage, ob die gelben Zellen Bestandteile der Radiolarienkolonie oder des Radiolars sind oder nicht. Genauere Beschreibungen rühren bloß von Haeckel!) und Brandt?) her. Merkwürdigerweise hat noch kein Botaniker die Zooxanthellen der Radiolarien näher untersucht. Wir wollen hier die Frage nach der Beziehung der Zooxanthellen zu den Radiolarien nicht erörtern, da wir uns diese Diskussion für einen andern Ort vorbehalten. Wir wollen im folgenden lediglich einige zytologische Befunde an den gelben Zellen besprechen, ohne auf deren Entwickelung näher einzugehen und betrachten sie erst von jenem Zeitpunkte der Entwickelung an, wo sie als „gelbe Zellen“ unmittelbar erkennbar sind. l) Ernst Haeckel, Die Radiolarien. Eine Monographie 1862. 2) Karl Brandt, Über die morphologische und physiologische Bedeutung des Chlorophylis bei Tieren. Mitt. Zool. Stat. Neapel. Bd. 4. XXX. 27 418 Stiasny, Zur Kenntnis der gelben Zellen der Sphaerozoen. Nach Haeckel!) und Brandt?)?) sind die gelben Zellen der Sphaerozoen von mehr oder weniger rundlicher oder ellipsoider Gestalt. Sie besitzen eine feste, derbe, scharf konturierte Mem- bran, die aus Zellulose besteht. An der Innenseite der Membran befinden sich die gelben, nicht scharf abgesetzten Chromatophoren und deren Assımilationsprodukte. In der Mitte oder etwas exzen- trisch liegt der große Zellkern, der ein granuliertes Aussehen hat und sich mit Kernfarbstoffen intensiv färbt. Er ist nicht immer scharf konturiert, sondern manchmal mit kleinen Fortsätzen ver- sehen. Von Assimilationsprodukten, die zum Teil in den Chloro- phylikörpern, zum Teil außerhalb derselben liegen, unterscheidet man nach Brandt 4—12 „Stärke“-Körner, die dünnwandige Hohl- kugeln darstellen, eine große Vakuole enthalten und im optischen (Querschnitt als Ringe erscheinen. Sie sind nicht doppeltbrechend und färben sich mit Jod rotbraun bis violett. Da diese Körper nicht doppeltbrechend sind, hält Brandt sie für eine Modifikation des Amylum. Außerdem sieht man in den gelben Zellen feine kompakte doppeltbrechende Körnchen von unregelmäßiger Gestalt, die bei Behandlung mit Jod nicht verändert werden und ım Leben rötlich bis violett erscheinen. Die gelbe Färbung der Zellen rührt, wie Geddes?) nachge- wiesen hat, von einem dem Chlorophyll sehr nahe verwandten Farbstoffe her. Er durchsetzt das ganze Plasma der Zooxanthellen, doch ıst der periphere Teil stets viel stärker gefärbt als der zentrale, Ich komme jetzt zur Besprechung meiner eigenen Befunde. Das mir zur Verfügung stehende Material stammt zum Teil aus Messina, zum Teil von der Zoologischen Station ın Neapel. Die Konservierung erfolgte in Fleming’scher Flüssigkeit und in Sublimat-Eisessig, die Färbung mit Delaf, Hämatoxylın, Eisenhäma- toxylin nach Haidenhain, nach dem Benda’schen Verfahren, mit Safranın und Gentianviolett. Bei einem kurzen Aufenthalte in Neapel konnte ich auch lebendes Material beobachten. — Ich erlaube mir, auch an dieser Stelle den Herren der Zoologischen Station in Neapel, insbesondere Herrn Dr. S. Lobianco für die mir zuteil gewordene Unterstützung meinen besten Dank zu sagen. Der Zellkern (Fig. 1, 2, 3, 9, 10) ist meist von polygonaler oder rundlicher Gestalt und zeigt in einer homogenen blaßgefärbten Grundsubstanz eine Körnelung, die von zahlreichen Chromatın- partikelchen herrührt. Viele davon lösen sich am Rande ab und wandern in das Plasma aus, wodurch die Kernkontur unscharf wird. 3) Karl Brandt, Die kolonienbildenden Radiolarien des Golfes von Neapel. In Januarflora des Golfes von Neapel. 1885. 4) On the Nature and Fonction of the Yellow cells’ of Radiolarians & Coelen- terates. In: Proc. Roy. Soc. Edinburgh 1882. Vol. XI. ee Stiasny, Zur Kenntnis der gelben Zellen der Sphaerozoen. 419 In der Regel ist der Kern von einem hellen Hofe umgeben, der von plasmatischen Strängen durchsetzt wird. In manchen Fällen zeigt der Kern amöboide Fortsätze. Fig. 4 zeigt, wıe der Kern nach allen Seiten Kernsubstanz strahlenförmig aussendet, die das Plasma netzförmig durchsetzt. Die chromatischen Kernfortsätze erstrecken sich bis an den Rand, stellen so eine kontinuierliche Verbindung der übrigen Zellbestand- teile mit dem Kerne her. Einzelne Kernfortsätze sind keulenförmig verdickt, manche im Begriffe sich abzuschnüren (Fig. 5). Die dick angeschwollenen Enden sind durch eine dünne Brücke chromatischer Substanz mit dem zentralen Kern in Verbindung. Manche haben sich schon ganz abgeschnürt und liegen nach Art von Nukleolen frei im Plasma herum. Um jedes dieser „Nukleolen“- ähnlichen Gebilde ist ein heller Hof ausgebildet, der es vom um- gebenden Plasma trennt und welcher von einzelnen Plasmafäden durchsetzt wird. — In anderen Fällen sieht man, wie rundliche Partien chroma- tischer Substanz, von einem hellen Hofe umgeben, sich vom Kern abschnüren. Sie scheinen in einer Nische des Kernes zu liegen (Fig. 2 u. 3). Hier handelt es sich zweifellos um den Austritt geformter Chromatinsubstanz aus dem Kerne. Die Chromatın- ballen treten ins Plasma aus und nehmen da an Größe zu. Man kann bis zu 8 und 10 solcher „Kernpartien“ zählen. Sie sind beim lebenden Objekte gelblichgrün gefärbt. Auf gefärbten Schnitt- präparaten ist die chromatische Substanz in diesen Gebilden nicht gleichmäßig verteilt, sondern in eine lichtere Grundsubstanz ein- gebettet, erscheint sie oft in Form eines Malteserkreuzes, eines Sterns, einer Spange. Es scheint, dass diese beiden Substanzen sich nicht während der Kernteilungen differenzieren, sondern dass sie von Anfang an zweierlei Ursprunges sind. Manchmal weisen die Nukleolen noch dieselbe Granulierung auf wie der Zellkern selbst (Fig. 3). Den hellen Hof um die „Nukleolen“ halte ich für das Stroma des Chromatophors, in welchem sich die Assı- milationsprodukte bilden. Bei älteren Stadien mit stärker ausge- bildeten Assimilaten ist das Stroma als scharf konturierte dünne Schicht rings um die Assimilate wahrnehmbar (Fig. 7, 8). Darüber, ob die nukleolenartigen Bildungen im Zentrum der Assımilate als Pyrenoide aufzufassen sind, wage ıch nicht mich mit Bestimmtheit zu äußern. Auffallend ist, dass die „Nukleolen‘“ im Verhältnis zu den Chromatophoren sehr groß erscheinen, ja eigentlich mit den Assımilaten die Hauptmasse der Chromatophoren ausmachen, wäh- rend das Stroma ganz zurücktritt. Um die Chromatinballen sieht man in vielen Fällen Kristalloide, lichtbrechende Körper von unregelmäßiger Gestalt und Größe ge- lagert (Fig. 7—10). Diese Kristalloide sind keine Artefakte, sondern 27% 420 Stiasny, Zur Kenntnis der gelben Zellen der Sphaerozoen. auch am lebenden Objekte besonders deutlich nach Zusatz von Essigsäure zu sehen. Es sind dies zweifellos die von Brandt be- schriebenen Stärkekörner mit einer großen Vakuole, die im optischen Querschnitt als Ringe erscheinen. Brandt hat offenbar mit zu schwachen Vergrößerungen gearbeitet, so dass er nur die Konturen der Kristalloide wahrnehmen und die darin befindlichen nukleolen- ähnlichen Gebilde als Vakuolen deutete. Stiasny, Zur Kenntnis der gelben Zellen der Sphaerozoen. 421 Diese Kristalloide treten in größerer oder geringerer Anzahl auf und bewirken durch ihr starkes Lichtbrechungsvermögen, dass die gelben Zellen in diesem Stadium stark glänzend erscheinen. Die Kristalloide zeigen eine Schichtung von undeutlich konzen- trischem Charakter. In ihrer Mitte liegt der Chromatinballen, der in kleinen Kristalloiden dunkel. ın größeren hell erscheint. Offenbar steht derselbe mit dem Aufbau und der Bildung der Kri- stalloide ın einer Beziehung. Vielfach sieht man auch Kristalloide ohne Nukleolen darin, die nur mehr Bruch- stücke von viel geringerer Größe darstellen. Die Kri- stalloide haben beim leben- den Objekt eine ziemlich lebhaft gelbliche Färbung. Ihre Form ist rundlich, manchmal eckig, ihre Oberfläche ıst nicht glatt, sondern eher uneben. Mit Brandt glaube ich, dass hier Assimilate vor- liegen, da die Kristalloide nur bei während des Tages beobachteten und fixiertem Materiale, während des Nachts dagegen nicht oder nur in viel geringerem Maße beobachtet wurden. Erst bei an- 422 Stiasny, Zur Kenntnis der gelben Zellen der Sphaerozoen. dauernder Belichtung werden sie neu gebildet. Es ist keine reine Stärke, sondern eine Modifikation derselben. Die deutlichste Reaktion ıst die rotbraune bis violette Färbung der Assımilate nach Zusatz von Jod. Nie erhielt ich eine tiefblaue Färbung. Auch lösen sie sich zum Teil bei Behandlung mit Kalilauge und Zusatz von Schwefel- säure. Um viele dieser Kristalloide sieht man eine dünne Zone leicht körnigen farblosen Plasmas (Stroma), welche dieselben von dem übrigen netzförmig verteilten Plasma trennt. In vielen Fällen liegen aber die Assimilate direkt im Plasma und sind nicht von der farblosen oder blaßgelb gefärbten Schicht umgeben. — Aus stark herangewachsenen gelben Zellen sieht man vielfach Kristalloide heraustreten und sich ın die Gallerte verteilen. Hier lösen sie sich auf und gehen in das Plasma resp. die Gallerte der Radiolarien- kolonie über. Sie dienen zweifellos zur Ernährung derselben. Brandt hat bei Collozoum durch Jodbehandlung in der Gallerte Assımilate nachweisen können, was ich bestätigen kann. — Zwischen den Chromatophoren, dem Zellkern und der Membran spannt sich ein spongiöses Gerüst von plasmatischer Substanz aus, das beim lebenden Objekte grünlichgelb gefärbt erscheint und mehr oder minder stark ausgebildet sein kann (Fig. 1, 2, 3). Es durchsetzt die ganze Zelle netzförmig und ist vielfach besonders stark um den, den zentralen Kern umgebenden Hof angesammelt (Fig. 2). Es färbt sich stark mit Kernfarbstoffen und entsteht durch die Aus- wanderung chromatischer Substanz aus dem Kerne, die ja sehr häufig zu beobachten ist. Auch sieht man oft Kernfortsätze, die allmählich in das Gerüste übergehen und dort anastomosieren. Da das spongiöse Gerüst ebenso wie die Nukleolen aus dem Kerne hervorgeht, besteht ein priszipieller Unterschied zwischen beiden nicht. Das spongiöse Gerüst kann vielleicht als ein Chromatophor aufgefasst werden, der eine starke Verästelung erfahren hat. — In diesem Plasma sind kleinere und größere Körnchen zu bemerken, auch Bruchstücke der Kristalloide (Fig. 7). — Ein weiterer wesent- licher und regelmäßiger Bestandteil der gelben Zellen sind die „ÖIl- tropfen“. Brandt (s. o.) bildet sie auf Taf. 19, Fig. 51, 53, 56 ab, erwähnt sie aber im Texte nur nebenbei als selten vorkommend. Diese fettartigen Einschlüsse entstehen nach Angabe der Autoren in direkter Abhängigkeit von Chromatophoren entweder an der Peripherie oder in unmittelbarer Nähe derselben. Sie werden als Assimilate gedeutet, die unter dem Einflusse der Ohromatophoren entstehen und sich erst nachträglich in anderen Partien des Proto- plasmas verteilen. Ich habe darüber folgendes beobachtet. Diese ovalen, länglichen oder rundlichen Gebilde sind beim lebenden Objekte durch starken Fettglanz ausgezeichnet und färben sich durch Kern- farbstoffe sehr intensiv. Sie werden manchmal so groß wie der ‚ Stiasny, Zur Kenntnis der gelben Zellen der Sphaerozoen. 493 Kern selbst. Diese Ölkugeln entstehen aus dem Kerne. Man sieht oft, wie ein Teil des körneligen Kerns sich zu einer homogenen Masse umwandelt, die noch mit demselben in Zusammenhang ist. Dann aber rücken beide Teile auseinander, so dass die Fettkugel neben dem Kern zu liegen kommt (Fig. 1). Sie entsteht aber auch durch Umwandlung und Verschmelzung der Nukleolen. 'Man kann beobachten, wie einzelne Nukleolen allmählich zu einer Fettkugel werden und sich dann allmählich zur Bildung des großen Öltropfens vereinigen (Fig. 6). Über die chemische Natur dieser Bildung ver- mag ich nur zu sagen, dass sie sich mit chromatischen Farbstoffen stark färbt und in Terpentinöl sich nicht löst. Sie zeigt beim lebenden Objekte Fettglanz, doch ist es fraglich, ob wirklich hier ein Ol vorliegt. Eher scheint die fettige Substanz an ein Substrat gebunden. Bekanntlich existiert innerhalb der Zentralkapsel der Sphaerozoen eine ganz ähnliche Bildung, bei der die gleichen Schwierigkeiten vorliegen. Ich nehme davon Abstand, mich an dieser Stelle in eine — sehr naheliegende ausführliche Diskussion der Befunde ein- zulassen, die in mannigfacher Hinsicht (Entstehung der Chromato- phoren, Bildung der Assımilate, Chromidialbildung, Austritt ge- formter Nukleolarsubstanz aus dem Kerne, Doppelwertigkeit des pflanzlichen Zellkerns) nicht des Interesses entbehren. — Diese letzteren Fragen, welche schon seit langem auf der Tagesordnung zoologischer Forschung stehen, haben seitens der Botaniker, soweit ich Einblick in die Literatur genommen habe, noch nicht die ge- bührende Beachtung gefunden. So sind z. B. Chromidien in vielen Fällen gefunden, doch die diesbezüglichen Beobachtungen stets nur ganz nebenbei erwähnt worden, die gebührende Berücksichtigung, die ihnen vom theoretischen Standpunkte zukommt, haben sie nicht gefunden, mit anderen Worten, die prinzipielle Seite der Frage ist seitens der Botaniker noch gar nicht betont worden. Aus mehreren in der letzten Zeit erschienenen Arbeiten zeigt sich jedoch, dass die seit Jahren zoologischerseits betriebenen zytologischen Studien ein Echo auf botanischer Seite erweckt haben und sich auch hier das Interesse für diese Fragen zu regen beginnt. — Ich beschränke mich hier lediglich auf Anführung von Tat- sachen und hoffe, dass die vorliegende kurze Mitteilung weniger interessanter Befunde auch anderen Forschern, namentlich Bota- nikern, Anregung bieten möge, die gelben Zellen der Sphaerozoen einem genaueren Studium zu unterziehen. Herrn Dr. Th. Moroff danke ich für einige Ratschläge und Winke auf das Herzlichste. 424 Franz, Zur Struktur der Chromatophoren bei Crustaceen. Figurenerklärung. Sämtliche Figuren sind mittelst Zeichenapparates auf die Höhe des Objekt- tisches entworfen. Vergrößerung durchwegs **%°/,.. Sie stellen Zooxanthellen ver- schiedener Sphaerozoengenera, meist aber von Collozoum inermis, dar. Fig. 1. Gelbe Zellen und Kern, Öltropfen, „Nukleolen“. Öltropfen und „Nukleolen“ bereits abgeschnürt. Flem. E.H. „ 2. Nukleolus in Abschnürung begriffen, verdichtetes plasmatisches Gerüst um den Kern. Sublim.-Eisessig E.H. » 3. „Nukleolus“ in Abschnürung. Ein „Nukleolus‘“ in Fettropfen verwandelt. Subl.-Eisessig E.H. „ 4. Chromatische Zellfortsätze vom Kern zur Peripherie und Anastomosen- bildung. Fleming, Benda. „ 5. Abschnürung von „Nukleolen“, von denen die meisten noch mit dem Kern durch chromatische Brücken in Verbindung stehen. Fleming, Benda. „ 6. Vereinigung mehrerer Öltropfen neben dem Kern. Fleming E.H. Kristalloid im Chromatophor neben dem Kern. Im Plasma kleine Bruch- stücke von Kristalloiden. Subl.-Eisessig E.H. „ 8, 9, 10. Kristalloide in kleinerer und größerer Zahl neben dem Zellkern mit und ohne Chromatinballen. Subl.-Eisessig E.H. =] Zur Struktur der Chromatophoren bei Crustaceen. Von Vietor Franz, Abteilungsvorsteher am Neurolog. Institut zu Frankfurt a.M. In einer früheren Arbeit, welche die Struktur der Pigment- zellen bei Fischen behandelte!), habe ich zunächst die von Brücke und in bestimmterer Form von Solger ausgesprochene Ansicht be- stätigt, dass die Veränderungen der Chromatophoren nicht in amöboiden Bewegungen — wie z. B. Verworn noch annımmt —, sondern lediglich ın intrazellulären Pigmentkörnchenströmungen bestehen. Ferner habe ich eine neue Ansicht von der „plas- matischen“ Radiärstruktur aufgestellt; diese zuerst von Solger ge- sehene, später von Zimmermann färberisch dargestellte Struktur rührt von einem intrazellulären Stäbeskelett her, dessen Dasein seine durchaus hinreichende biologische Erklärung in dem Statt- haben der lebhaften intrazellulären Bewegungen findet. Auch sprach ich die vielfach angenommene Fähigkeit des amöboiden Kriechens den Pigmentzellen in hohem Grade ab und betonte vielmehr, dass mir die Pigmentzelle als Ganzes einen recht starren Eindruck mache. Die einschlägige Literatur ıst am angegebenen Orte ge- nannt und braucht hier nicht wiederholt zu werden. Die Beobachtungen bezogen sich nur auf Fische und ich habe es mit vollem Bewusstsein vermieden, außer den Wirbeltieren noch andere Tiergruppen in den Kreis meiner Betrachtungen zu ziehen. Das Ergebnis galt daher zunächst nur für Fische. Namentlich die bei Cephalopoden herrschenden, genau bekannten Verhältnisse 1) Biolog. Centralbl. 1908. Franz, Zur Struktur der Chromatophoren bei Crustaceen. 4925 zwangen mich zu dieser Vorsicht im Generalisieren. Nur in einer Fußnote wurde erwähnt, dass nach Keeble und Gamble auch bei den Crustaceen die Chromatophoren an ihrer Stelle festliegen. Nun wird aber neuerdings von Minkiewicz?) für die Pigment- bewegungen der Crustaceen (Phronima u. a.) behauptet: Le cours du phöenomene est identique au retractement relativ des pseudo- podes chez les Rhizopodes, und es wird meine Ansicht wenigstens für Krebse ausdrücklich abgelehnt. Das musste mein Bedenken erregen. Denn nachdem ich die alte Ansicht, die von amöboiden Bewegungen sprach und die an Wirbeltieren gewonnen war, an Wirbeltieren widerlegt glaube, wie sollte ich ihr da bei einer anderen Tiergruppe Gültigkeit zuerkennen. Trotz der allgemein verbreiteten anthropozentrischen und bei ganz objektiver Be- trachtung wohl kaum stichhaltigen Ansicht, dass die Wirbeltiere den Gipfelzweig des Tierstammes repräsentierten, wird doch wohl niemand sagen wollen, dass wir bei ihnen einen besonders hoch- differenzierten Chromatophorentypus erwarten müssten. Schon bei genauer Kenntnis der hervorragenden Arbeiten Keeble’s und Gamble’s über die Physiologie des Farbenwechsels der höheren Crustaceen?) muss die Annahme, dass die Pigment- bewegungen amöboide wären, ganz unmöglich erscheinen. Die Chromatophoren sind bei den Krebsen, nach den genannten Autoren, noch viel kompliziertere Gebilde als bei den Fischen, schon deshalb, weil oft jede Chromatophore ein vielkerniges, zusammengesetztes Gebilde ist, ferner weil sie meist je zwei verschiedene Pigmente bergen. Jedes der beiden bewegt sich auf denselben Bahnen — in denselben Zellausläufern — wie das andere, also herrscht keine amöboide Beweglichkeit, keine Fähigkeit, an jeder beliebigen Stelle Pseudopodien auszustrecken. Da wird ferner eine den zentralen „Sack“ (Scheibe) umkleidende Zellmembran beschrieben, ferner eine fibrilläre Streifung der Fortsätze. Was hätte dies alles mit der amöboiden Bewegung zu tun? Es wird zur Stütze meiner Ansicht über die Chromatophoren dienen, wenn ich im folgenden an der Hand von Beobachtungen, 2) Ramuald Minkiewiez: Memoire sur la biologie du Tonellier de mer (Phronima sedentaria Forsk.). Chap. I: La coloration normale des Phronimes et son developpement par migration progressive des chromatophores. Bulletin de !’In- stitut oc&anographique, Fondation Albert Ier, Prince de Monaco. Bd. 146. — 10 Juillet 1909. 3) F. Keeble und F. W. Gamble: The Colour Physiology of Higher Crustacea. Philosoph. Transact. of the Roy. Soc. of London Series B. Vol. 196. London 1904. F. W. Gamble und F. W. Keeble: Hippolyte varians: a Study in Colour- Change. Quaterly Journal of Mier. Science vol. 43, N. S., 1900. F. Keeble und F. W. Gamble: The Colour Physiology of Higher Crustacea. — Part, III. Philos. Transact. of the Roy. Soc. of London Series B. Vol. 198. 1906. 496 Franz, Zur Struktur der Chromatophoren bei Crustaceen. die ich während meiner 3t/,jährigen Helgoländer Zeit gelegentlich sammelte, darlege, welche Ansicht ich über die „fibrilläre Streifung“ bei Crustaceen gewann. Die Beobachtungen, die ich an Chromato- phoren des Thorax von Pandalus und Orangon machte, bestätigen nämlich die Annahme, die sich mir, nach meinen früheren Ergeb- nissen, bei der „fibrillären Streifung“ der genannten Autoren auf- drängen musste: auch sie rührt von einem intrazellulären Stäbe- skelett her. Ich habe wiederholt einige Amphipoden, Copepoden und Eu- phausiiden ohne Erfolg untersucht. Wichtige Verhältnisse wurde ich zuerst bei Pandalus gewahr, wo die Pıgmentzellen®) oder Chro- matophoren feuerrot sind. Die reich verästelten Fortsätze sind, soweit von rotem Pigment frei, hochgelb (vgl. Keeble und Gamble, 1904, Taf. 35, Fig. 22). Man kann ganz genau konstatieren, dass viele Pigmentzellen — meist diejenigen, welche mehr isoliert liegen — mit ihren feinen Ausläufern frei endigen, andere aber miteinander kommunizieren. Dieselbe Beobachtung machte ich darauf auch an den schwarzen, richtiger dunkelgrauvioletten Chromatophoren von Orangon vulgaris. Bei Pandalus sah ich ferner stellenweise neben hochgelb gefärbten pigmentfreien Fortsätzen manchmal auch farb- lose, doch noch sehr deutliche Fortsätze. Es gelingt also hier viel leichter als bei Fischen, der gänzlich von Pıgment entblößten Zellfortsätze ansıchtig zu werden. Man könnte nun noch glauben, was hier durch deutliche Kon- turen und meist auch durch Gelbfärbung sichtbar wird, seien nicht Zellfortsätze, sondern jene Räume, welche nach der vermeintlichen Einziehung der Zellfortsätze frei werden. Dass dem nicht so ist, erkennt man schon bei Anwendung mäßig starker Trockensysteme, sicher aber bei Ölimmersion. Dann fällt nämlich sofort eine ziem- lich deutliche, obschon feine Längsstreifung der Zellfortsätze auf, und sie ist nicht nur den vom Pigment erfüllten Fortsätzen eigen, sondern auch den Teilen der Fortsätze, welche von Pigment gänz- lich frei sind. In Fig. 1 habe ich mit Zeiß Apochr. 1,30 Apert. 2 mm, Komp. Oec. 8 von einer solchen Zelle die Mitte gezeichnet, und man sieht hier sehr deutlich, wie die Parallelstreifung der Fort- sätze beim Eintreten in die Zentralscheibe der Zelle einen mehr zirkulären Verlauf annimmt°). Die Mitte der Scheibe sehe ich er- 4) Pigmentzellen sage ich ohne zu entscheiden, ob es einzellige oder viel- zellige, oder wenigstens vielkernige Gebilde sind. „Zelle“ also ausnahmsweise im all- gemeinen Sinne als im zytologischen. Die Kerne werden in vivo meist nicht sichtbar. 5) Keeble und Gamble bezeichnen die Fortsätze in ihren Fig. 22 und 23 (1904) als „slightly fibrillated“ (p. 304), die Streifung ist jedoch, im Gegensatz zu meiner Beobachtung, eine durchaus radiäre, bis die Streifen nach der Mitte zu auf- hören. Ob dies am Unterschied des Materials liegt oder ob nur meine Beobach- tung genauer ist, kann ich nicht entscheiden, möchte aber fast das letztere glauben. Franz, Zur Struktur der Chromatophoren bei Crustaceen. 497 füllt anscheinend von einer feinen Körnelung. Nur an einigen Stellen zieht die Streifung quer über die Scheibe hinweg. Über den wahren Sachverhalt kann m. E. nach meinen Beobachtungen an den Fischehromatophoren kaum mehr ein Zweifel sein: die Parallel- streifung rührt von einem Stäbeskelett her — man könnte wohl auch sagen, von Stützfäden, nur dass der Vergleich eines Stütz- gebildes mit Fäden wenig passt. Der Verlauf der Stäbe ist im Zellfortsatz ganz ähnlich wie bei Fischen, dagegen in der Zellscheibe ein anderer. Bei Fischen bilden sie an der Peripherie der Zell- scheibe noch keine Umbiegungen zum zirkulären Verlauf, sondern sie treten schön radiärstrahlig fast bis zum Zentrum der Zelle, und Riezle erst hier bilden sie ein kleines, fachwerkartiges Gerüst. Ein solches scheint übrigens auch bei den Krebsen nicht zu fehlen, sondern im Gegenteil sehr stark entwickelt zu sein. Ich möchte nämlich glauben, dass die erwähnte Körnelung nur davon herrührt, dass hier, ın der Zellscheibe, die Stäbe nach allen Richtungen laufen und ein sehr dichtes Gerüst bilden. Etwas erschwert wird die Beobachtung bei Pandalus dadurch, dass das rote Pigment an- scheinend eine dicke, ölige Flüssigkeit bildet, welche wenigstens ich nicht in Körnchen auflösen konnte. Erleichtert wird sie. hin- gegen bei Orangon, wenigstens ın densZellfortsätzen, dadurch, dass hier das Pigment aus Körnchen besteht, wenn auch aus viel kleineren als bei Fischen. In ganz derselben Weise, wie ich es vormals bei 428 Franz, Zur Struktur der Chromatophoren bei Crustaceen. Fischen mitteilte, konnte ich auch bei Crangon die Gewissheit ge- winnen, dass die Streifung von Stäben herrührt, zwischen denen sich die Pigmentkörnchen bewegen. Dass die Stäbe sich ineinander stützen, kann man sich beim Anblick der Fig. 1 wohl einigermaßen vorstellen. Es ıst nun kaum mehr nötig, noch einen bestimmten Nach- weis für das Vorhandensein einer Zellmembran an den von Pigment entblößten Fortsätzen zu führen, wie ıch mich auch beı Fischen mit der Aufweisung des intrazellulären Stäbeskeletts und der Zell- konturen an den Fortsätzen begnügt habe. Doch seien einige zufällige Beobachtungen, welche mir auch die Zellmembran zeigten, noch erwähnt. Wie bei Fischen eine gewisse Moribundität des (Gewebes die Erkennung mancher Besonderheiten erleichtert, so auch hier: ich betrachtete unterm Mikroskop die roten Chromato- phoren einer Mysidee (Mysis vulgaris?), die ich in etwas anver- dautem Zustande dem Darm einer jungen Scholle (Pleuronectes platessa) entnahm. Die Zellförtsätze waren auch hier parallelstreifig, aber weniger dicht und regelmäßig gestreift. Ich glaube, dass der Zellinhalt geschrumpft und die Zellmembran daher in Falten gelegt war, welche naturgemäß entsprechend dem Verlauf der Sklettstäbe verliefen. Daher hier die Parallelstreifung. Da und dort war schließ- lich auch die Kontur eines Zellfortsatzes auf kurze Strecken in eine Wellenlinie verwandelt, es waren also auch kleine Querfältchen an der Zellmembran aufgetreten. Nach alledem ıst klar, dass wir es auch bei den Pigmentzellen der Krebse nicht mit nackten, amöboıd beweglichen Plasmamassen zu tun haben, sondern mit viel komplizierteren Gebilden. Es be- stehen Unterschiede gegenüber den Fischen: sie liegen in der An- ordnung der Skelettstäbe ın der Zellscheibe, sowie darin, dass das schwarze Pigment aus viel kleineren Körnchen besteht als bei Fischen, das rote — soweit erkennbar — überhaupt nicht aus Körnchen. Indessen können wir die ehemals für Fischehromato- phoren aufgestellten Sätze mit geringen Modifikationen auch für Krebse gelten lassen, indem wir sagen: 1. Der Ballungsvorgang der Pigmentzellen beruht auf intrazellulären Pigmentströmungen, nicht auf amöboiden Bewegungen, 2. die plasmatische Radıärstruktur der Pigmentzellen besteht in einem ıntrazellulären Stäbeskelett, dessen Vorhandensein wegen der regen intrazellulären Strö- mungen genügend erklärt ist, dessen Bau in einigem an Acantharienskelette erinnert. Übrigens nicht nur an Acantharienskelette, sondern auch an das Stützskelett der Ascaris-Muskelzelle, worüber zurzeit eine Franz, Zur Struktur der Chromatophoren bei Crustaceen. 429 Polemik zwischen Goldschmidt und Bileck entbrannt ist‘), auch — entfernter — an Achsenstäbe von Heliozoenfüßchen, schließlich an zelluläre Differenzierungen der Pellieula bei Protisten und ähn- liche „Morpheträger zweiten Grades“ (Prowazek)’). Mit Vorbehalt wäre auch der Fibrillen der Ganglienzellen zu gedenken. Gerade die vorstehende Fig. 1 ruft uns die Neurofibrillen ins Ge- dächtnis, obschon deren Stützfunktion noch bezweifelt werden kann. Wie war es möglich, dass Minkiewicz bei seinen Unter- suchungen an den Chromatophoren von Phronima etc. zu der Vor- stellung einer amöboiden Beweglichkeit der Chromatophoren kommen konnte? Die Beobachtung mag nicht an allen Objekten gleich leicht sein, vor allem aber hat der Verfasser nicht hinreichend starke Vergrößerungen angewandt und vielleicht nicht anwenden können insofern, als die Pigmentzellen bei Phronima vielleicht sehr viel kleiner sind als bei Cranyon und Pandalus und schon deshalb in jedem Falle eine starke Vergrößerung erfordern. Die größte Chromatophore, die Verfasser überhaupt zeichnete (mit Zeiß BB, Oce. 6) hat in der Figur etwa 2 cm Scheibendurchmesser (Fig. 5 seiner Arbeit), andere noch weniger, bis 2 mm. Es ist ganz natür- lich, dass man in diesem Falle noch nicht die Details erkennen kann, die ich sah, denn die von mir in Fig. 1 dargestellte Chro- matophore, durchaus nicht die größte, die mir vorlag, hat etwa 60 mm Scheibendurchmesser, ıst also ın der Fläche noch neunmal größer als die von Minkiewicz dargestellten. Natürlich kommt es nicht auf die Größe der Zeichnungen an, sondern vielmehr auf das Vergrößerungsvermögen des betreffenden Systems und sein Auflösungsvermögen und noch mehr auf die richtige Handhabung des Mikroskops, doch geben die Zahlen schon einige Anhaltspunkte. Übrigens entdeckt man vielleicht auch in einer oder gar in einigen Zeichnungen des Verfassers Spuren vom Sichtbarwerden der Radiär- stäbe, nämlich da, wo Verfasser ın Fig. 6a den Rand einer Chro- matophore zeichnet. Die feinen zerschlissenen Fortsätze, welche der Verfasser hier zeichnet, sehen mir ganz so aus wie solche, die auch ich oft am Ende der roten Piıgmentmasse eines Zellfortsatzes sah und die man einfach darauf zurückführen muss, dass das Pig- ment, wenn es sich nach dem Zentrum hin ballt, durch die Stäbe hier und da etwas gehemmt wird, vielleicht auch an ihnen adhäriert (ich spreche vom roten Pigment, welches ich nicht körnig fand). 6) Bileck, Fr., Über die fibrillären Strukturen in den Muskel- und Darm- zellen der Ascariden. Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. 93, 1909. Goldschmidt, R., Das Skelett der Muskelzelle von Ascaris nebst Bemer- kungen über den Uhromidialapparat der Metazoenzelle. Arch. f. Zellforschung Bd. 4, 1909. . 7) Prowazek, S. v., Studien zur Biologie der Zellen. Biolog. Centralbl. Bd. 28, 1908. 430 Papanicolau, Über die Bedingungen der sexuellen Differenzierung ete. Nun betont allerdings Minkiewicz, die Chromatophoren be- tätigten ın der Postembryogenese auch das Vermögen, ihren Ort zu verändern. Darin ist zunächst kein absolutes Gegenargument gegen meine Ausführungen zu finden, sodann aber heisst es beim Verfasser immer, die Chromatophoren wandern aus, indem sie sich schnell vermehren, und weder aus: dem Texte noch aus den Figuren kann ich bestimmt entnehmen, dass sie jemals von einer Stelle, an der sie einmal sichtbar werden, wirklich ver- schwinden. Wenn ich hierin den Verfasser richtig verstehe, so ist auch die Annahme zulässig, dass die Ohromatophoren durch Neu- entstehung schrittweise sich weiter ausbreiten und nicht durch amöboides Kriechen. Ich habe es für meine Pflicht gehalten, zu versuchen, die Argu- mente des Verfassers zu entkräften. Ob er finden wird, dass ich ıhm ganz gerecht geworden bin, kann ich nicht wissen. Wie dem aber auch sei, ich darf meine Argumente für vollständig hinreichend und beweisend erachten. Ich bin keinen Augenblick im Zweifel darüber, dass’ die Krebs- chromatophoren hinsichtlich ihrer Struktur und ihrer Veränderungen noch erschöpfender studiert werden können, denn — ich sage es nochmals — es handelt sich bei mir nur um einige gelegentliche Beobachtungen. Aber sie genügen durchaus, um das prinzipiell Wichtige, worauf es ankommt, zu zeigen. Und diesem Ergebnis kommt wohl noch eine besondere Bedeutung zu. Mit den Ge- danken etwas weiter schweifend, möchte ich nämlich die Meinung aussprechen, dass die Uhromatophoren nur einen von den Fällen repräsentieren, in welchen wir von einer rein physikalischen Auf- fassung einzelner Lebenserscheinungen zu einer mehr biologischen zurückkehren müssen. Den Glauben, dass die Lebensvorgänge in letzter Linie mechanischer oder physistischer Natur sind, dürfen wir zwar keineswegs aufgeben. Aber wir dürfen uns auch nicht darüber täuschen, dass das Problem meist tiefer liegt als wir ın manchen Fällen schon annehmen. Über die Bedingungen der sexuellen Differenzierung bei Daphniden. Von Dr. Georg Papanicolau. (Aus dem zoologischen Institut von München.) Im Jahre 1905 hat Issakowitsch durch Experimente an Simocephalıs vetulus und Daphnia magna nachgewiesen, dass äußere Faktoren — namentlich Nahrung und Temperatur — einen Einfluss auf die zyklische Entwickelung der Daphniden haben. Diese Resultate von Issakowitsch sind von Strohl und Keilhack angefochten worden, die, auf Grund ihrer Beobachtungen an Polyphemus pedi- Papanieolau, Über die Bedingungen der sexuellen Differenzierung ete. 431 culıs die Anschauung W eismann’s verteidigten, nach welcher die Sexualität im Ablauf eines Zyklus nach einer bestimmten, bei den verschiedenen Arten verschiedenen Anzahl von parthenogenetischen Generationen eintritt, ganz unabhängig von äußeren Einflüssen. Auf Anregung R. Hertwig’s entschloss ich mich, die Versuche von Issakowitsch zu wiederholen und im Mai 1909 legte ich die ersten Kulturen von Simocephalus vetulus an, später auch solche von Moina rectirostris!), wobei ıch alle aus Dauereiern züchtete. Die Resultate, die ich erhalten habe, werde ıch kurz in diesem Bericht angeben, während ich in bezug auf Einzelheiten auf meine ausführ- liche Arbeit verweise, die in nächster Zeit erscheinen soll. Inzwischen sınd aber noch drei neue Arbeiten über dasselbe Thema erschienen: die von Frl. Kuttner, Woltereck und Lang. hans. Kuttner kultivierte unter verschiedenen Kulturbedingungen mehrere Daphnidenarten und fand, dass weder Nahrung noch Tem- peratur einen Einfluss auf das Auftreten und den Grad der Sexualität üben können. Sie ist damit zu dem Resultat gekommen, dass die äußeren Faktoren ganz ohne Bedeutung sind. Woltereck konnte im Gegenteil einen solchen Einfluss bestätigen, da er durch reich- liche Nahrung das Auftreten der Sexualität verhindern konnte. Er meint trotzdem, dass das, was uns „am meisten das Wesen der Cladocerenfortpflanzung enthüllt“, nicht diese „Abhängigkeit des Phänotypus vom Milieu“ ist, sondern die genotypische Grundlage, die Weismann in der Lehre der zyklischen Periodizität festgestellt hat. Langhans dagegen findet, dass die „Theorie Weismann’s von der bestimmten Generationenzahl einer aufmerksamen Beobach- tung nicht standhält“ und betrachtet als Hauptursache für das Auftreten der Sexualität die Verunreinigung des Wassers durch Ansammlung von Stoffwechselprodukten. Diese neueren Arbeiten, die über die Fortpflanzung der Cladoceren in der letzten Zeit er- schienen sind, ergeben, wie man sieht, kein einheitliches Bild. Aus den Arbeiten von Strohl, Keilhack und Kuttner soll hervorgehen, dass die äußeren Faktoren ganz unwirksam sind, aus denen von Issako- witsch, Woltereck und Langhans, dass sie einen größeren oder geringeren Einfluss haben. Aus meinen Untersuchungen ergibt sich, dass beide Ansichten etwas Richtiges enthalten. Bevor ich aber die Resultate bespreche, welche ich rücksichtlich des Einflusses der äußeren Bedingungen auf den Generationszyklus der Daphniden erhalten habe, muss ich ein Bild vom Ablauf eines Zyklus unter normalen Bedingungen geben. Bis jetzt hat man die Aufeinanderfolge der Parthenogenesis und der Sexualität immer mit einer bestimmten Generationenzahl verknüpft. Man hat nämlich sämtliche Tiere einer und derselben 1) Var. Lilljeborgü, Schödler, 439 Papanicolau, Über die Bedingungen der sexuellen Differenzierung etc. Generation, was ihre Tendenz zur Sexualität betrifft, als etwas Ein- heitliches betrachtet. Das stimmt aber nicht mit den Tatsachen überein. Schon bei der dritten Generation, manchmal auch bei der zweiten, zeigen sich Verschiedenheiten zwischen den Tieren, die aus den ersten Geburten hervorgegangen sind und denen, die aus den späteren stammen. Die Tiere der ersten Geburten haben eine große Tendenz zur Parthenogenesis, die der späteren eine kleinere oder größere Tendenz zur Sexua- lität. Wenn man durch eine zweckmäßige Selektion immer die aus den ersten Würfen stammenden Tiere weiter kultiviert, kann man eine sehr große Reihe von parthenogenetischen Generationen bekommen, ohne eine Spur von Sexualität. Bei Simocephalus z. B. habe ich bis jetzt 17 Generationen von solchen Tieren gehabt, ohne ein Männchen oder ein Geschlechtsweibchen zu beobachten. Wenn man dagegen Tiere, die aus späteren Würfen stammen, weiter kultiviert, erhält man schon sehr frühzeitig Geschlechtstiere. Bei Simocephalus z. B. habe ich Geschlechtsweibchen schon in der dritten Generation gehabt, aber erst aus dem zehnten Wurf dieser Generation, während die Tiere der früheren Würfe unter denselben Bedingungen parthenogenetisch geblieben sind. Von dieser Regel muss man die aus den letzten Geburten stammenden Tiere aus- nehmen, da sie immer eine große Tendenz zu Abnormitäten haben und meistens ın ıhren ersten Entwickelungsstadien zugrunde gehen. Deutlicher als bei Simocephalus sind diese Verhältnisse bei Moina zu erkennen, denn dieses Tier hat die Eigentümlichkeit, ver- schieden gefärbte Subitaneier zu bilden. Man findet bei ıhm violette, blaue und trübe Eier mit Übergängen von der einen Färbung zur anderen. Es ist nun merkwürdig, dass jede Färbung eine ver- schiedene Bedeutung hat. Aus den violetten Eiern entwickeln sich bei unveränderten äußeren Bedingungen fast ohne Ausnahme par- thenogenetische Weibchen. Im Gegensatz dazu gehen die aus blauen Eiern stammenden Weibchen meistens zur Dauereibildung über. Die violette Färbung verrät also das Vorhandensein einer inneren Tendenz zur Parthenogenesis, die blaue einer solchen zur Sexualität. Was die Männchen betrifft, so stammen sie vor allem aus violett- blauen Eiern, sie treten also nach den parthenogenetischen und vor den geschlechtlichen Weibchen auf. Die trüben Eier endlich haben eine ganz andere Bedeutung. Aus diesen kommen Tiere heraus, welche sehr häufig abnorm sınd und meistens in sehr frühen Lebensstadien absterben. Die trübe Färbung zeigt also, dass die Tiere, von denen sie abstammen, erschöpft sind und ihre Lebens- kraft verloren haben. Wenn man nun das Auftreten dieser ver- schiedenen Färbungen im Ablaufe des Zyklus verfolgt, so sieht man, dass es nicht nur vom Generationsalter, d. h. von der Zahl der Generationen, sondern auch vom Individualalter, von der Papanicolau, Über die Bedingungen der sexuellen Differenzierung ete. 433 Zahl nämlich der vorausgegangenen Würfe abhängig ist. In der ersten Generation sind zumeist alle Gelege violett gefärbt; in der zweiten pflegen die letzten Gelege violettblau, blau oder gar ver- färbt zu sein. Mit Zunahme des Generationsalters tritt die Eiver- färbung in immer früheren Gelegen ein, bis schließlich bei der Endgeneration schon das erste Gelege die Zeichen der Degeneration erkennen lässt. Wenn man nun Tiere, die aus den rein violetten Eiern der ersten Eibildung stammen, weiter kultiviert, bekommt man, wie bei Sömocephalus, eine große Zahl von parthenogenetischen Generationen, während bei Kulturen, die von Tieren späterer Würfe abstammen, schon bei einer früheren Generation Geschlechtstiere auftreten. Es ıst nun interessant, dass, wenn man Tiere, die aus den ersten Geburten hervorgegangen sind, weiter kultiviert, man eine so große Zahl von parthenogenetischen Generationen bekommt, wie sie in der Natur nicht vorkommen können. 17 Generationen von Simocephalus, wie ich sie in der Zimmertemperatur (16°) in 9Monaten bekommen habe?), können nicht in der Natur vorkommen. Denn die Tümpel, in welchen Simocephalus lebt, frieren im Winter aus, so dass eine Kolonie sich nicht länger als 7—8 Monate am Leben er- halten kann’). Aber in dieser Zeit können mit einer Mitteltempe- ratur ‚von 14° nicht über 12 Generationen entstehen, vorausgesetzt, dass die Nahrung immer reichlich ıst. Ganz eklatant ist in dieser Hinsicht ein Beispiel von Woltereck, der Daphnia pulex (obtusa) über 1 Jahr lang in reiner parthenogenetischer Fortpflanzung er- halten hat, während Tiere derselben Art ım Freien ın 4 Monaten ihren Zyklus durchmachen. Woltereck will diese lange Erhaltung der Tiere und zwar in reiner Parthenogenesis als Resultat der günstigen Bedingungen — und besonders der reichlichen Nahrung — unter denen er seine Tiere kultiviert hat, erklären. So lange er aber nicht die genaue Genealogie seiner Kulturen anführt, kann man behaupten, dass es sich hier um eine unbewusste Selektion handelt*). Denn bei solchen, so lange dauernden Kulturen nımmt man gewöhnlich die erstgeborenen Tiere zur Anlage neuer Kulturen, sonst hätte man zu viele Zeit umsonst verloren. Jedenfalls ıst aus diesem Fall so wenig der Einfluss der Nahrung bewiesen, wie aus 2) Meine Kulturen sind noch nicht erschöpft, so dass ich vielleicht noch einige Generationen erhalten werde. 3) Der Tümpel, aus welchem meine Tiere stammen, wird jedes Jahr im No- vember künstlich ausgetrocknet. 4) Woltereck wusste schon aus Beobachtungen seines Schülers v. Scharffen- berg, dass die Tendenz zur Sexualität von Wurf zu Wurf zunimmt, er scheint aber dieser Tatsache keine größere Bedeutung beigemessen zu haben, vielleicht weil er über die starke parthenogenetische Tendenz der aus den ersteren Geburten stammenden Tiere nicht unterrichtet war. XXX 28 434 Papanicolau, Über die Bedingungen der sexuellen Differenzierung ete. den Experimenten von Langhans der Einfluss der chemischen Zusammensetzung des Wassers. Um diesen Einfluss und speziell die Einwirkung der von den Tieren selbst produzierten Stoffwechsel- produkte zu beweisen, hat Langhans seine Tiere vor allem in Massenkulturen gehalten. Es ist nun selbstverständlich, dass bei solchen Kulturen Tiere nicht nur aus den ersten, sondern auch aus den späteren und letzten Würfen vorkommen also Tiere, welche sowohl eine größere Tendenz zur Sexualität als auch eine solche zur Abnormität zeigen. Beı Einzelkulturen der ersten Würfe aber ist das Vorkommen solcher Tiere, wie ich schon oben erklärt habe, fast ausgeschlossen, deshalb auch sowohl die geschlechtliche Fort- pflanzung als das Auftreten von Abnormitäten viel seltener. Aus den von ihm festgestellten Tatsachen hat nun Langhans den Schluss gezogen, dass Geschlechtlichkeit und Abnormitätenbildung ein Resultat der ungünstigen äußeren Bedingungen, und zwar der ım Wasser sich ansammelnden Stoffwechselprodukte der Tiere, sein soll. Und er ging noch weiter. Da er bei einer unter sqlchen Bedingungen gezüchteten Abnormität — der Verkürzung der Spina von Daphnia pulex -— eine Erblichkeit feststellen konnte, ist er zu dem Schluss gekommen, dass „die spinalose Daphnia obtusa aus der Daphnia pulex nıcht durch Selektion entstanden ist, sondern durch Vererbung einer infolge der Einwirkung konzentrierter Stoff- wechselprodukte eingetretener Formänderung, also durch das, was man eine Vererbung erworbener Eigenschaften nennt“. Nach dem oben analysierten Vorgang des Ablaufes eines Zyklus ist, meiner Meinung nach, diese Beweisführung von Langhans hinfällig. Nach diesen notwendigen Auseinandersetzungen, die ein richtiges Bild der normal verlaufenden Vorgänge gegeben haben, kommen wir nun zur Besprechung der vielumstrittenen Frage, welchen Ein- fluss die äußeren Bedingungen auf den zyklischen Verlauf der Ent- wickelung der Daphniden haben. Aus meinen Untersuchungen geht hervor, dass wır durch äußere Einwirkungen einen solchen Einfluss ausüben können, aber nicht zu jeder Zeit, sondern nur in einer begrenzten Periode. Wir können nämlich weder die kräftigen par- thenogenetischen Tiere der ersten Generationen und Geburten zur Sexualität bringen, noch die erschöpften geschlechtlichen Tiere der späteren Generationen und Geburten zur Parthenogenesis zurück- zuführen. Nur bei einer mittleren Periode, bei welcher die Kolonie den Übergang zwischen Parthenogenesis und Sexualität durchmacht, können wir durch äußere Einwirkung einen Einfluss zugunsten der einen oder der anderen Fortpflanzungsweise geltend machen. Be- trachten wir nun zuerst den ersten Fall: Bei den kräftigen parthenogenetischen Tieren der ersten Generationen und der ersten Geburten späterer Generationen kann man nicht durch äußere ungünstige Papanicolau, Über die Bedingungen der sexuellen Differenzierung ete. 435 Faktoren die Sexualität hervorbringen. Solche ungünstigen Bedingungen können, wenn sie auf mehrere Generationen wirksam sind, zu Degeneration und Absterben der Kolonie führen, aber nicht zur Sexualität. Um das zu beweisen, werde ich einige wenige Beispiele aus meinen Kulturen anführen: I. Simocephalus. A. Von einem am 7. Mai 1909 aus einem Dauerei ausge- schlüpften Tier erhielt ich am 18. Mai 1909 23 junge Weibchen von der ersten Geburt, die ich unter verschiedenen Bedingungen kultivierte. Die in der Zimmertemperatur gezüchteten Tiere haben eine große Nachkommenschaft gegeben und leben noch weiter in der 18. Generation. Die in die Kälte gebrachten Tiere konnte ich bis zum 19. November 1909, d. h. 6 Monate lang, ın einer Tempe- ratur von 5—8° halten. Das Resultat gebe ich hier ın der Tab. I, in welcher die Kreuze die degenerierten Gelege bezeichnen. Tabelle L 7 — ; Ri Q 0 II. Generation Aa Rn Em 2 0) (SR Ko Ian De aaa 2 Eve ze Aus dieser Tabelle sieht man, dass das Stammtier achtmal nacheinander Subitaneier gebildet hat. Die Nachkommen der sieben Geburten waren alle parthenogenetische Weibchen. In der achten Geburt, die am 15. Oktober 1909, ım Alter von 5 Monaten stattgefunden hat, sind alle Embryonen bei der regel- mäßigen Häutung tot abgeworfen worden. Aus den Tieren der III. Generation habe ich zwei Reihen weiter kultiviert: die eine aus der ersten Geburt, die zweite aus der vierten. Die letztere war bald ausgestorben. Das Tier der ersten Geburt hat viermal nacheinander Subitaneier gebildet. Aus diesen Eiern sind bei den drei ersten Geburten parthenogenetische Weibchen herausgekommen, während die Eier bei der vierten Eibildung im Brutraum aufgelöst worden sind. Aus den Tieren der IV. Generation habe ich nun nur eine Reihe aus der dritten Geburt weiter kultiviert; das Resultat war ein Gelege aus degenerierten, nicht entwickelungsfähigen Eiern und bald der natürliche Tod des Tieres. Aus diesem Beispiel geht ganz klar hervor, dass, wenn die innere Tendenz zur Parthenogenesis sehr mächtig ist, wie das bei den ersten Generationen und den aus den ersten Geburten ge- 28* 436 Papanicolau, Über die Bedingungen der sexuellen Differenzierung ete. züchteten Tieren der Fall ıst, man nicht durch die Einwirkung der Kälte Geschlechtsgenerationen hervorrufen kann. Das einzige Re- sultat, das man durch eine solche längere Einwirkung bekommt, ist die Degeneration des Stammes und das Aussterben der Kolonie. B. Die aus derselben Geburt vom 18. Mai 1909 dem Hunger ausgesetzten Tiere der II. Generation haben das gleiche Resultat ergeben wie aus der beigegebenen Tabelle II zu entnehmen ist. Tabelle U. _—I II. Generation er et N Be / RTL TER 2 2 Bauen = ZI » 2 S IL 7 # N A e / = N % = + Ben aaa N 5 Nach einer Dauer von etwa 2 Monaten sind alle Kulturen aus- gestorben, ohne ein einziges Geschlechtstier zu geben. Das Resultat war auch hier nichts mehr als eine degenerative Störung der Organi- sation der Tiere. Das sieht man deutlich, wenn man solche in Hungerkulturen geborenen Tiere in Futterkulturen bringt, wie ich das bei den aus der achten Geburt des Stammtieres ausgekommenen Jungen (eingeklammert) gemacht habe. Aus dieser Zucht habe ich drei degenerierte Gelege nacheinander gehabt, was mir sonst unter normalen Bedingungen äußerst selten vorgekommen ist. Dies be- weist, dass die Tiere durch längere Einwirkung des Hungers in ihrer Organisation geschädigt werden. Also weder durch Kälte noch durch Hunger kann man die Sexualität zu jeder Zeit herbeiführen. Es bleibt noch ein Faktor übrig, der von Langhans betonte Einfluss der Beschaffenheit des Wassers und vor allem der spezifischen Stoffwechselprodukte der Tiere. Um diesen Faktor zu prüfen, habe ich das Wasser zweier verschiedener Kolonien, von denen die eine in parthenogenetischer, die andere in beginnender geschlechtlicher Fortpflanzung sich be- fanden, umgetauscht. Die parthenogenetische Kolonie gehörte der XI. Generation an und bestand aus 93 Tieren: 24 Weibchen mit Subitaneiern, 41 unreifen Weibehen und 28 neugeborenen Tieren’). Die geschlechtliche Kolonie gehörte der XIII. Generation an und bestand aus 113 Tieren, von denen 12 Weibchen mit Subitaneiern, 3 Weibehen mit Ephippien, 64 unreife Weibchen und 34 neuge- borene Tiere. Ich habe das Wasser am 31. Dezember 1909 um- 5) Bei Söimocephalus konnte ich nicht vor der ersten Häutung das Geschlecht der Tiere durch die sekundären Geschlechtscharaktere mit Sicherheit unterscheiden. Papanicolau, Über die Bedingungen der sexuellen Differenzierung ete. 437 getauscht und habe in den nächsten Tagen die beiden Gläser sorg- fältıg untersucht. Am 4. Januar 1910 waren in der parthenogenetischen Kultur der XI. Generation 74 Tiere, von denen 26 Weibchen mit Subitaneiern, 25 unreife Weibchen, 23 neugeborene —- also keine Spur von Sexualität. In der geschlechtlichen Kultur der XIII. Gene- ration waren 123 Tiere, von denen 10 Weibchen mit Subitaneiern, 14 Weibchen mit Ephippien, 69 unreife Weibchen, 1 Männchen und 29 neugeborene — die Sexualität war also weiter fortgeschritten, obgleich die Tiere in neues, aus einer parthenogenetischen Kultur stammendes Wasser gebracht worden waren. Daraus ist zu schließen, dass die Beschaffenheit des Wassers nicht die Fortpflanzungsweise umändern kann). Nach diesen drei Beispielen von Sömocephalus werde ich meine Ergebnisse bei II. Moina besprechen, da hier wegen der durch die Färbung der Eier ent- hüllten Tendenz der aus diesen entstandenen Tiere die Wirkung der äußeren Faktoren deutlicher hervortritt. Wie schon gesagt zeigen violette Eier eine Tendenz zur Parthenogenesis. Wenn man nun Tiere, die aus solchen Eiern entstanden sind, durch äußere ungünstige Faktoren zur Geschlechtlichkeit bringen könnte, würde man mit großer Wahrscheinlichkeit schließen können, dass dieses Resultat durch die Wirkung der äußeren Einflüsse hervorgebracht worden ist. Das ist aber nicht der Fall. Sowohl im Hunger wie in der Kälte bilden solche aus violetten Eiern hervorgegangenen Tiere nur Subitaneier. Der einzige Unterschied von Sömocephaluıs ist, dass hier der Prozess der Degeneration und des Aussterbens, sowie alle Lebensäußerungen, schneller verlaufen, so dass man kaum bei etwas stärkerer Einwirkung eine zweite Generation bis zur Fortpflanzungsfähigkeit züchten kann. Es ıst also unmöglich, hier umfangreichere Tabellen zu geben. Die einzelnen Fälle be- weisen aber so viel wie die Tabellen von Sömocephalus, da hier die Eifärbung erlaubt, die Geschlechtstendenz der Tiere mit großer Wahrscheinlichkeit vorherzusagen. Jedenfalls ist von allen früheren Experimentatoren bis jetzt nicht bewiesen, dass eine äußere Wirkung in jeder Zeit möglich ist Die Experimente von Issakowitsch geben keinen solchen Beweis. Issakowitsch hat in seiner Kulturmethode drei Fehler gemacht: erstens hat er nicht Dauereier selbst gezüchtet, sondern er hat Tiere, die in einem größeren Zuchtglas des Instituts ausgeschlüpft 6) Auch die Abnahme in der Zahl der Tiere der Kultur XI ist bei diesem Fall nicht als ein Resultat des Wasserumtausches zu betrachten, da von den zwei Kolonien die XIII. in regelmäßiger Zunahme, die XI. in Abnahme in der Zahl der Individuen noch vor jener Einwirkung begriffen war. 4538 Papanicolau, Über die Bedingungen der sexuellen Differenzierung etc. waren, als Stammtiere für seine Kulturen verwandt, so dass er weder die genaue Zahl der Generationen, zu welchen seine Tiere gehören, noch die Zahl der vorausgegangenen Würfe angeben kann. Zweitens hat er nicht kräftige Tiere direkt aus dem Freien ge- nommen, sondern solche, die ın einem Zuchtglas unter unnatür- lichen Bedingungen vielleicht in ihrer Organisation geschädigt waren. Und drittens hat er nicht für alle Kulturen, die er durchgeführt hat, auch Nebenkulturen unter normalen Bedingungen gehalten, um diese als Vergleichsmaterial zu verwenden, so dass man die innere Tendenz seiner Tiere nicht kontrollieren kann. Deshalb haben seine Experimente nur eine bedingte statistische Beweiskraft und bezeugen, dass die Fortpflanzungsweise der Daphniden nicht unab- hängig von äußeren Faktoren ist. Aber wie groß die Wirksam- keit dieser Faktoren ist, kann man nicht aus seinen Resultaten schließen. Nachdem wir nun den ersten Fall betrachtet haben, können wir zur Erörterung der zweiten übergehen: Wenn einmal die Tendenz zur Bildung von Männchen und Geschlechts- weibchen sehr stark geworden ist, so kann sie durch äußere Einwirkung nicht zurückgedrängt werden. Das konnte ich bei zwei Kolonien von Moina während der zwei letzten (renerationen beobachten. Die Tiere hatten eine so starke Tendenz zur Sexualität und waren gleichzeitig so abgeschwächt, dass man auf keine Weise die Parthenogenesis zurückbringen konnte. Bei der geringsten Veränderung der Lebensbedingungen starben die Tiere ab, so dass es mir trotz aller Bemühungen nicht gelang, durch günstige Kulturbedingungen die parthenogenetische Fortpflan- zung zurückzubringen und die Kolonie längere Zeit am Leben zu erhalten. Ganz anders sind nun die Verhältnisse bei den mittleren Gene- rationen und Geburten. Hier sind die Tiere so labil, dass wir durch Modifizierung der Kulturbedingungen einen ausschlaggebenden Einfluss ausüben können. Das kann durch einige Beispiele ersicht- lich werden: i A. Aus einem Tier der III. Generation — bei einer kurz- zyklischen Kolonie — habe ich von der zweiten Geburt 22 Weib- chen aus violettblauen Eiern gehabt. Ich ließ 11 unter denselben jedingungen (Zimmertemperatur), während ich die übrigen in ein neues Glas unter höherer Temperatur (22—24°) überführte. Von den ersten bildeten 5 Subitan-, 6 Dauereier; die letzten bildeten alle Subitaneier. B. Aus der dritten Geburt desselben Tieres habe ich 13 Weib- chen aus bläulichen Eiern gehabt. Ich ließ wieder acht unter den- selben Kulturbedingungen (Zimmertemperatur) und brachte die anderen fünf in die Wärme und zwar zu spät, nur einen Tag vor Papanicolau, Über die Bedingungen der sexuellen Differenzierung ete. 439 der Eıbildung. Die ersten acht Tiere bildeten alle Dauereier, von oO n \ 3 i i 12 den letzten ein Tier ein Dauerei. Die anderen vier aber Subitaneier. ©. Aus einem Tier der VII. Generation — bei einer aus einem anderen Dauerei gezüchteten stärkeren Kolonie — habe ich von der zweiten Geburt 18 Weibchen aus violettblauen Eiern gezüchtet. Ich ließ die eine Hälfte unter denselben Kulturbedingungen (Zimmer- temperatur), während ıch die andere Hälfte in die Kälte (8—10 °) überführte. Die in der Zimmertemperatur gebliebenen Tiere bildeten alle Subitaneier, die anderen dagegen Dauereier. D. Aus der dritten Geburt desselben Tieres habe ich 23 Weib- chen aus violettblauen Eiern gehabt. Ich kultivierte 12 unter den- selben Bedingungen (Zimmertemperatur) und brachte die anderen 11 ın die Kälte. Von den ersten bildeten sechs Dauereier, sechs Subitaneier, während die letzten alle ohne Ausnahme Dauereier gebildet haben. Dieselben Resultate haben mir die Experimente bei Simocephalus gegeben. Legte ich Massenkulturen mit Ausgangstieren an, die aus einer mittleren Generation stammten, so konnte ich immer nach einigen parthenogenetischen Geburten einige wenige oder mehrere Geschlechtstiere in der Zimmertemperatur oder ın der Kälte be- kommen. Wenn ich aber solche Kulturen von Anfang an in die Wärme brachte oder die Nachkommen einer jeden Geburt in neuen Gläsern mit reinem Wasser und reichlicher Nahrung getrennt züchtete, konnte ich die Tiere in parthenogenetischer Fortpflanzung erhalten. Wenn wir nun alle diese experimentellen Tatsachen zusammen- fassen, so müssen wir in jedem Zyklus drei Perioden unterscheiden. Eine erste, die Periode der Parthenogenesis, bei welcher jede Spur von sexueller Tendenz fehlt. Hierher gehören die Tiere, die aus den ersten Generationen und den ersten Geburten der mittleren (renerationen stammen. In dieser Periode, die bei Moina durch die violette Färbung der Subitaneier charakterisiert ist, kann man nicht durch äußere Einwirkung die Sexualität herbeiführen. Eine zweite, die Periode des Übergangs von der Partheno- genesis zur Sexualität, bei welcher die Tiere äußerst labil sind. Hierher gehören die Nachkommen der mittleren Generationen und der ersten Geburten der späteren. In dieser Periode, die bei Moina durch die violettblaue Färbung der Subitaneier charakterisiert ist, kann man durch Kälte einen Ausschlag nach Seite der Sexualität, durch Wärme einen Ausschlag nach der Seite der Parthenogenesis erzielen. Endlich eine dritte, die Periode der Sexualität, bei welcher jede Tendenz zur Parthenogenesis fehlt. In dieser Periode, zu der die späteren Nachkommen der späteren Generationen gehören und die sich bei Moina durch die blaue oder blautrübe Färbung der Eier charakterisiert, kann man nicht durch äußere Faktoren zu- 440 Nitsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. gunsten der Parthenogenesis wirken. Tiere, welche dieser Periode angehören, sind zur sexuellen Fortpflanzung unabänderlich bestimmt und gleichzeitig sehr abgeschwächt; das, was unsere Einwirkung in diesem Fall leisten kann, ist das Ende der erschöpften Kolonie zu beschleunigen. München, den 27. Januar 1910. Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. Von Prof. Dr. 0. Nüsslin (Karlsruhe). (Schluss). Das Vorkommen von Generationszwischenformen bei der Gattung Mindarus darf uns nicht erstaunen, da bei dieser Gattung, und zwar bei beiden Arten, die parthenogenetischen Generationen in bezug auf die Art ihrer Nachkommenschaft keineswegs streng fixiert sind. Obgleich die beiden Arten normal in dem Sinne trigenetisch und trimorph sind, dass ım einzigen heterogenetischen Zyklus des Jahres (von April zu April) die drei Generationen Fundatrix, Sexuparafliege und Sexuales aufeinanderfolgen, kommt es doch gar nicht selten vor, dass sowohl die Fundatrix neben Sexuparen direkt Sexuales, als auch die Sexuparafliegen neben Sexuales auch parthenogenetische Weibchen erzeugen und zwar in der Weise, dass einzelne Fundatrices und Sexuparae ausschließlich nur Sexuales oder parthenogenetische Weibchen, oder aber beide gemischte zu erzeugen vermögen. Zuchtversuche einzeln eingezwingerter Weibchen sowohl, als insbesondere Schnitte durch konserviertes Material, oder Öffnung des letzteren haben dieses Ergebnis zu einem völlig gesicherten gemacht ’°). Durch diese Anomalien in bezug auf die Fortpflanzungsprodukte der einzelnen Generationen kann selbstverständlich der Heterogonie- zyklus Modifikationen im Sinne einer Kürzung oder Verlängerung, Verminderung oder Vermehrung der Generationen erfahren. Anderer- seits aber erklärt sich aus diesen Vorkommnissen, dass die partheno- genetischen Generationen auch in ihren morphologischen Charakteren nicht so scharf fixiert sind und dass Übergänge zwischen den beiden parthenogenetischen Generationen leichter auftreten als in anderen Gruppen der Pflanzenläuse mit streng gesondertem Fortpflanzungs- charakter. Das Vorkommen von Generationszwischenformen, welche bald mehr der Fundatrix, bald mehr der Geflügelten ähneln, ist dadurch unserem Verständnis viel näher gerückt. 15) Vgl. Nüsslin, Über eine Weißtannentrieblaus (M. abietinus Koch). Allgem. Forst- u. Jagdzeitg. 1899, S. 210, 211, und „Zur Biologie der Gattung Ohermes“, Biol. Centralbl. Bd. XXVIII, 1908, S. 337. Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. 441 Aus der obigen Differentialdiagnose der beiden Arten «abietinus und obliguus hatte sich ergeben, dass bei obliguus der Unterschied zwischen der Fundatrix und der Nymphe an sich, insbesondere in bezug auf die Anordnung der Wachsdrüsen geringer erscheint als bei abietinus. Daraus wird es a priori erklärlich, dass bei obliquus die „Zwischenformen“ leichter entstehen können als bei abietinus, bei welcher Art dieselben seltene Ausnahmen darstellen. Aller Wahrscheinlichkeit nach spaltet sich bei M. obliquus der normal trigenetische Zyklus von der 2. Generation an normal in zwei Parallelgenerationen, die einerseits zur Geflügelten, anderer- seits zu einer 2. Ungeflügelten, nämlich zur „Zwischenform“ führen. Beiden Formen der 2. Generation sind aber normal nach ihrem Fortpflanzungscharakter Sexuparae. Während aber bei M. abietinus die Geflügelten die Geburtspflanze verlassen und an andere Tannen überfliegen, wo sie sich der Beobachtung, da sie keine Wachswolle abscheiden, leicht entziehen, bleiben bei M. obliguus die ungeflügelten Sexuparen leichter sichtbar, da sie während der Geburt der Sexuales massenhaft Wolle ausscheiden. Außerdem scheint die aktive Lebensperiode bei obliquus etwas länger zu währen, da die „Zwischenformen“ auch an den schon härter gewordenen Nadeln der Maitriebe von Picea alba zu saugen vermögen und dieselben in bläuliche Wolle einhüllen, während abietinus als Fundatrix und Nymphe nur an zarten Maitrieben lebt (s. o.). 5. Der Verlust der Wachsdrüsen beim Übergang von der Nymphe zur Imago. Wie oben hervorgehoben wurde, ist es gerade die geflügelte Generation, welche bei Mindarus bis zum 4. Stadium der Nymphe einen besonderen Reichtum an Wachsdrüsen, und korrespondierend hiermit eine besonders üppige Entwickelung von Wachswolle zeigt. Während nun bei den Pemphiginen und bei Phyllaphis (Lachnide) die Wachsdrüsen in das 5. Stadium der Imago übernommen werden und die Fliegen ebenso Wachswolle ausscheiden wie die Nymphen, vollzieht sich bei Möndarus vor der letzten Häutung eine Rück- bildung sämtlicher Wachsdrüsen, so dass die Fliege völlig nackt und glatt, auch gänzlich unbereift, erscheint. Fig. 7 stellt einen Querschnitt durch die Nymphe von M. abietinus im 3. Stadium in der Gegend des 6. Hinterleibssegments dar, an welchem sich die dorsalen Spinal- und Pleuraldrüsen zu den ge- wöhnlichen Marginaldrüsen gesellen, welcher also die drüsenreichste Gegend des Körpers darstellt. Die Wachsdrüsen stoßen hier in der Quere nahezu aneinander. Fig. 7 gibt auch einen Begriff von dem erheblichen Zellen-, bezw. Nährstoffmaterial, welches durch die Rückbildung der Wachsdrüsen frei gemacht werden kann. 442 Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. Fig. 8 zeigt nun die Gegend einer Wachsdrüse auf dem Längs- schnitt durch eine Nymphe, welche sich gerade in dem Stadium der Rückbildung der Wachsdrüsen befindet. Man sieht zu äußerst, halb von der Fläche, die gefelderte Chitindecke einer Drüse. Unter dieser Decke liegen nicht die großen Drüsenzellen wie ın Fig. 7, sondern längliche flache Kerne einer sich neu schließen- den Hypodermis, und in der Tiefe Kerne und Zerfallprodukte der ehemaligen Drüsenzellen. Die dunklen Punkte, teils in den Kernen, teils frei, sind Kernbestandteile, welche sich mit Methylenblau intensiv gefärbt hatten. Die Häufchen von Zerfallprodukten, welche Fig. 7. Mindarus abietinus, im 3. Stadium, Querschnitt durch das Nymphe 6. Abdominalsegment. 140:1. Man siehtdie kleinen Spinaldrüsen sowiedie gleichgroßen Pleural- und Marginaldrüsen. Auf der Ventralseite erkennt man median den Querschnitt des Enddarms sowie die Fig. S. Mindarus abietinus, Nymphe im vorgerückten 4. Stadium, medianer Längsschnitt, Randpartie der 6. Pleural- drüse. Zu äußerst ein Stück der ge- felderten Chitinkutikula dieser Querschnitte der engen paarigen primären Eileiter. Das Lumen des Segmentes zeigt Gruppen der maschenartig gebauten Binde- gewebszellen mit verästeltem Kern, außer- dem 2 größere und mehrere kleinere Zellen mit abgerundetem Kern. Dorsal lässt sich zwischen den Spinaldrüsen das Rückengefäß erkennen. Drüse, darunter längliche Kerne der sich neu konstituierenden Hypodermis. Anstoßend eine Gruppe von Zerfallprodukten der Drüsenzellen, 5 große maschige Binde- gewebszellen mit zackigem Kern und 4 kleine Zellen mit homogenem Plasma und rundlichem Kern. 140:1. sich unter jeder der chitinigen Drüsenplatten finden, sind umgeben von großen Bindegewebszellen (Fettkörperzellen), welche einen zackıgen Kern besitzen, dessen Zacken sich in das Maschengewebe der Zelle fortsetzen. Ein Vergleich dieser Zellform zwischen Fig. 7 und Fig. 8 zeigt die viel lockeren und größeren Maschen in Fig. 8, welche zugleich äußerst zart und durchsichtig erscheinen. Besonders hervorzuheben wäre, dass sowohl ın den Zellkernen als auch in den Fäden des protoplasmatischen Netzes dieser Bindegewebszellen gleichfalls von Methylenblau gefärbte Partikel gelegen sind, während die Kerne selbst am Präparat durch Karmin gefärbt erschienen. Außer den maschigen Bindegewebszellen mit zackigem Kern finden Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. 443 sich noch größere und kleinere Zellen mit abgerundetem Kern, die ersteren öfters mit Fortsätzen (Fig. 7). In späteren Stadien der Nymphen sowie bei den Geflügelten sind die Zerfallprodukte der Wachsdrüsenzellen völlig verschwunden, auch die maschigen Bindegewebszellen und jene anderen Zellen lassen sich nur noch in äußerst verminderter Zahl zwischen den vergrößerten Embryonen entdecken. Es darf wohl als gesicherte Tatsache angesehen werden, dass die Zerfallprodukte der Drüsen- zellen, geradeso wie vorher die Zellen des „Pseudovitellus* zum Wachstum der Embryonen verwendet wurden. 6. Die Vereinfachung des Darmtrakts bei dem Männchen der Gattung Mindarus. Gegenüber den Pemphiginen (1. S. Mordwilko’s), zu welchen Mindarus bisher gestellt wurde, unterscheidet sich die Geschlechts- generation dieser Gattung durch den Besitz von Mundwerk- zeugen und Darm, wodurch sich Mindarus den höheren Aphiden nähert. Bei dem amphigonen Weibchen von Mindarus lässt sich der Darmtrakt im Bau nicht von demjenigen der übrigen partheno- genetischen Weibchen unterscheiden. Er zeigt (Fig. 9) die enge Speiseröhre, welche, nach dem Durchtritt durch den Schlundring in fast rechtem Winkel umbiegend, gerade zum Magen verläuft, in dessen Lumen sich eine kurze Strecke einstülpend. Der Magen geht deutlich abgegrenzt ın den übrigen Mitteldarm über, der 5—6mal geknickt bald nach vorn bald nach hinten verläuft. Der Enddarm ist im Fall der Fig. 9 stark erweitert. Von diesem mit den Befunden bei allen weiblichen Mindarus- Generationen übereinstimmenden Verlauf des Darmtraktes weicht das Männchen sehr wesentlich ab, indem (Fig. 10) die Speiseröhre allmählich in den Mitteldarm übergeht, eine Magendifferenzierung ganz fehlt und der Mitteldarm gerade nach hinten verläuft. Diese Bildung erinnert an die gerade verlaufende Darmanlage bei Pem- phiginen (Fig. 12), unterscheidet sich jedoch von den letzteren durch das der ganzen Länge nach vorhandene Lumen und die Funktionstüchtigkeit, während bei Pemphiginen (Nidificus-poschingeri) der Darm nur embryonal und in der Hauptsache nur als solider Zellstrang auftritt. Nach dem Verhalten des Darmtrakts beim Mindarus-Männchen ist die Tendenz zur Vereinfachung der Organisation der Sexuales- Generation deutlich erkennbar. Dass sie nur beim Männchen in Erscheinung getreten ist, lässt sich aus der sexuellen Frühreife des Männchens leicht verstehen. Fig. 10 zeigt, dass der Hoden schon im Embryo geformte Spermatozoen besitzt, dass also die Spermato- genese von der selbständigen Nahrungsaufnahme des Männchens 444 Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mendarus Koch. nahezu unabhängig ist. Auch ist schon bei den männlichen Embryonen die Nahrungsmasse, welche von den maschigen Bindegewebszellen Fig. 9. Mindarus obliquus, ein Weibchen nach eben vollzogener 1. Häutung. Der mit enger Speiseröhre und mit deutlicher Magensonderung versehene, in mehreren Schlingen aufgerollte Darmtrakt deutlich erkennbar. Von den Genitalien ist der linke primäre Ovidukt (Ov), der zu 2 Eiröhren führt, der Pseudovitellus (Pr) und die mediane sekundäre Gecnitaleinstülpung zwischen 7. und 8. Segment sichtbar. Marginaldrüsen am Prothorax und 2. bis 7. Abdominalsegment, Pleuraldrüsen am 4. bis 7. Segment. Speicheldrüsen im Mesothorax. 140:1. Fig. 10. Mindarus abietinus, männlicher Embryo aus einer Sexuparen entnommen. Der Darmtrakt verläuft fast gerade, die Magendifferenzierung fehlt. Im mäch- tigen noch unpaaren Hoden schon die Spermatozoen differenziert, teilweise paarige Samenleiter (Vd), paarige An- hangsdrüsen (Adr) und sekundäre Genital- einstülpung sichtbar. Speicheldrüsen im Mesothorax (//). Marginaldrüsen vom Prothorax fortlaufend bis zum 7. Ab- dominalsegment. Scheiteldrüse. 120:1. geliefert wird, frühzeitig zur Reifung des Hodens fast ganz auf- gebraucht worden, weshalb die männlichen Embryonen frühzeitig durchsichtig erscheinen, während die weiblichen Embryonen zur Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. 445 gleichen Zeit noch von trüben nahrungsreichen maschigen Binde- gewebs- und von Pseudovitelluszellen gefüllt sind und daher dunkel und wenig durchsichtig erscheinen. Das Männchen von Mindarus häutet sich und wächst rasch. Von seinen Genitalorganen haben nur die Anhangs-(Schleim-)drüsen eine bedeutendere Zunahme zu erfahren. Die Wachsdrüsen gehen beim Übergang ins letzte Stadium ebenfalls wie bei den Geflügelten verloren. Der Nahrungsbedarf durch selbständige Nahrungsaufnahme ist daher ein kleiner, der Darmtrakt konnte sich vereinfachen und hierdurch selbst Stoffe für das Wachstum der Genitalien opfern. Das Weibchen von Mindarus hat mehrere große Eier zu entwickeln, außerdem gewaltige Kittdrüsen, eine wohlgebildete Samentasche und die für Mindarus charakteristischen ventralen Wachsdrüsen zu bilden. Es hat ein relativ langes Leben und ein erhebliches Wachstum. Es musste daher seinen Darmtrakt voll ausbilden, da es höchst unreif geboren wird. In diesen Beziehungen steht das Mindarus-Weibchen den Pem- phiginen fern und schließt sich den Lachninen und Aphidinen an. Wie langsam die Reife des Weibchens von Mindarus verläuft, zeigt das Weibchen der Fig. 9, welches bereits eine Häutung voll- zogen hat und bei welchen nur die eine der linksseitigen Eiröhren ein differenziertes Ei, die andere noch indifferente Zellen im End- fach enthält. 7. Der Bau der 6enitalorgane bei der Gattungz Mindarus. Zur Beurteilung der systematischen Stellung der Gattung Min- darus sei zunächst noch auf den eigenartigen Bau der männlichen Genitalorgane aufmerksam gemacht, insbesondere auf die proximale und distale Vereinigung der paarigen Samenleiter, während der Hoden sich später, wenn auch unvollständig teilt. Im Gegensatz hierzu steht die vollständige Trennung der paarigen Samenleiter bei Pemphiginen, für welche uns Prociphilus nidificus-poschingeri als Beispiel dienen soll (Fig. 12). Die Samenleiter von Mindarus sind gegen den Hoden und gegen das Atrium zu vereinigt, divergieren jedoch ım mittleren Verlauf, eine breite Spalte bildend, durch welche der Enddarm hindurchzieht. Bei Prociphilus verlaufen die Samenleiter im ganzen Verlauf paarig, rechts und links von dem zum Zellstrang gewordenen rudimentären Enddarm gelegen (Fig. 12). Wenn schon hierin ein wesentlicher anatomischer Unterschied liegt, so erscheinen die Differenzen in bezug auf die Bildung der Schleimdrüsen noch bedeutender! Bei Mindarus sind die Schleim- drüsen abgesonderte Bildungen und zwar schon in der embryonalen Anlage (Fig. 10, Adr). Im reifen Zustand werden sie zu nahezu kugeligen Gebilden, die auf dicken Stielen (Ausführgängen) dem 446 Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. Atrium aufsitzen (Fig. 11). Bei Prociphilus sind die Schleimdrüsen nur Erweiterungen der Samenleiter selbst (Fig. 12). Als weiteren Unterschied in bezug auf die männlichen Geni- talien sei hier noch kurz erwähnt, dass bei Mindarus eigentliche Penisbildungen fehlen, das männliche Atrium wird röhrenartig aus- Fig. 11. Mindarus abietinus, Männchen im 3. Stadium, vor der letzten Häutung stehend, vom Rücken gesehen. Im Hoden liegen reife aufgerollte Spermatozoen. Der Hoden setzt sich in einen zunächst unpaaren Samenleiter fort, der sich bald gabelt (vd), den Enddarm durchlassend, und dann wieder vereinigt. Die jetzt vollentwickelten Anhangsdrüsen (Adr) am inneren Ende kugelig erweitert mün- den mit breiten paarigen Ausführgängen ventralwärts getrennt im männlichen Atrium. Darm, Speicheldrüsen und die in Rückbildung begriffenen Wachsdrüsen sichtbar. 130:1. Fig. 12. Prociphilus nidificus-poschingeri, männlicher Embryo. In den büschelig abgeteilten Hoden geformte Spermato- zoen, deren gefärbte Köpfchen erkennbar sind. Zwei getrennte Samenleiter, deren oberer Abschnitt sekretorisch wirkt und zu einer Art Schleimdrüse geworden ist (Adr). Der Darm zieht zwischen dem linken und rechten Samenleiter und den Hodenpartien hindurch und ist mit Ausnahıne des vordersten Teiles, der ein Lumen besitzt, ein solider zelliger Strang. Der Embryo liegt in seiner Hülle 120:1. gestülpt, bei Prociphilus sind dagegen chitinisierte spangenartige Penisgebilde vorhanden, auch scheint hier eine Art Präputialsack vorzukommen, welcher taschenartig ausgestülpt werden kann. Wie die männlichen Genitalorgane von Mindarus einen wesent- lich anderen Bauplan zeigen als die gleichnamigen Organe bei Pemphiginen, so auch die weiblichen. Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. 447 Schon der weibliche Embryo zeigt bei Mindarus eine größere Zahl von Eiröhren (Endfächer), bei obliquus 4—6, bei abietinus das doppelte und darüber, bei Prociphilus sind ähnlich wie bei dem amphigonen Weibchen der Chermesinen nur zwei meist ungleiche Eiröhren vorhanden, von denen immer nur die eine zur Entwicke- lung gelangt, die andere sehr bald resorpiert wird. Das Mindarus- Weibchen legt mehrere Eier, Prociphilus immer nur ein Ei. Dieses eine Ei ist schon ım Mutterleib der Sexuparen weit über die halbe Größe herangereift, während bei Mindarus (Fig. 9) selbst nach der ersten Larvenhäutung noch ganz undifferenzierte Endfächer vor- handen sein können. Das Prociphilus-Ei kann auf Kosten der Zellen im Endfach und der Nährstoffe der Pseudovitellus zur vollen Größe ohne jegliche Nahrungsaufnahme heranwachsen, während die Reifung der Mindarus- Eier reichliche Nahrungsaufnahme von seiten der Mutter bean- spruchen (s. 0.). Während bei Mindarus sich geräumige Kittdrüsen und eine große Samentasche entwickeln!*), sind diese Organe als gesonderte Bildungen bei Prociphilus nicht nachweisbar. Es findet sich hier nur ein unpaarer Eileiter ohne Anhangsorgane. Die für Mindarus so typischen ventralen Wachsdrüsen der gamogenetischen Weibchen fehlen bei den Pemphiginen, deren Ei von dem Weibchen verborgen untergebracht wird, wobei sich das Weibchen selbst an diese Stelle begibt. Zuletzt wird die Haut des Weibchens über das relativ riesige Ei von hinten nach vorn zusammengezogen und das völlig eingeschrumpfte Weibchen, jetzt viel kleiner als das Ei, sitzt seinem vorderen Ende noch kurze Zeit an. Bei Mindarus werden die Eier in größeren Zwischenräumen abgelegt und zwar frei und äußerlich, dafür jedoch geschützt durch eine Palisadendecke aus Wachsfäden'!”). Die S-hilderung der von Pemphiginen so abweichenden Ver- hältnisse im Bau der männlichen und weiblichen Genitalorgane bei Mindarus war als ein weiterer Beleg für unsere obige Auffassung über die systematische Stellung dieser Gattung an dieser Stelle zur Darstellung gebracht. 8. Das Prinzip der Sparsamkeit bei den Pflanzenläusen, insbesondere bei der Gattung Mindarus. An dieser Stelle interessieren uns besonders diejenigen Fälle, in denen das Prinzip der Sparsamkeit zu partiellen Einschränkungen führt, zu Vereinfachungen oder Verkümmerungen einzelner Organe 16) Vel. 1. Fig. 2 8. 481. 17) Vgl. 1. Fig. 4 8. 483. 448 Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. oder zu Einrichtungen zum Zwecke der Verbesserung und Ver- mehrung anderer. Diese Vorkommnisse finden sich vielfach bei den Pflanzen- läusen. Gerade die obigen Betrachtungen, welche die Gattung Mindarus betreffen, lieferten hierfür einleuchtende Beispiele. 1. Sobald die Pflanzenlaus am Wirte sesshaft wird, werden Bewegungs- und ÖOrientierungsorgane mehr oder weniger rückgebildet (eingespart). Vor allem gehen die Flugorgane ver- loren, mit ihnen mehr oder weniger die zusammengesetzten Augen, welche meist nur den fliegenden Insekten eigen sind. Mit den Flügeln werden die Flugmuskeln, mit den zusammengesetzten Augen die betreffenden Gehirnteile zurückgebildet. Auch die Fühler können reduziert werden und ebenso die daran befindlichen Riechorgane. Mit Flügeln und Flugmuskeln bilden sich die betreffenden Körper- segmente, Mittel- und Hinterbrust, zurück. Das Tier erhält eine wesentlich veränderte Gesamtgestalt. Da aber die gleichen Nahrungs- quellen wie für das flugfähige Insekt (die Generation) zur Verfügung stehen, wird die Nahrung für andere Zwecke, für die Produktion von Eiern verwendet. Infolgedessen erscheint der die Eier er- zeugende Körperteil, der Hinterleib, enorm vergrößert. In zweiter Linie wird auch in bezug auf die Beine gespart, die flugunfähige Pflanzenlaus hat auch kleinere Beine. 2. Neben den Einsparungen, die infolge des Sesshaftwerdens der parasitischen Pflanzenläuse vor sich gehen, kommen insbesondere Ersparnisse ın Betracht, die durch die Vereinfachung der Fort- pflanzungsweisen erzielt werden. Die Zweigeschlechtlichkeit stellt zwar ımn Tier- und Pflanzenreich die Regel dar, sobald Tiere und Pflanzen überhaupt über die Fortpflanzung durch Teilung und Knospung fortgeschritten sind. Trotzdem erscheint die Zwei- geschlechtlichkeit keineswegs als eine unbedingte Naturnotwendig- keit, sie kann bei Parasiten deshalb wieder mehr oder weniger rückgebildet werden. Überall da, wo- bei einer Pflanzenlaus innerhalb der Saison mehrere Generationen auftreten, bleibt die Zweigeschlechtlichkeit nur bei einer Generation (der amphigonen oder gamogenetischen Generation) erhalten, während die anderen Generationen einge- schlechtlich werden. Die eingeschlechtlichen Generationen sind immer weiblich (parthenogenetisch), weil ohne Ei keine geschlecht- liche Fortpflanzung möglich ist, wohl aber ohne das männliche Element. Es entstehen auf solche Weise Generationsketten, in denen parthenogenetische Generationen mit einer amphigonen Gene- ration abwechseln, sogen. Heterogonien. Bei allen Pflanzenläusen im engeren Sinne außer den Schild- läusen ist die Heterogonie zur Regel geworden. Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. 449 Der Vorteil der Heterogonie ist bedeutend. Die partheno- genetische Generation kann alle die Einrichtungen, welche das amphigone Weibchen braucht, einsparen. Es braucht keine Organe, welche der Begattung dienen (Begattungstasche, Samentasche) und ist in bezug auf die Fortpflanzung unabhängig von den Zufällen der Begattung geworden, was einen enormen Zeitgewinn bedeutet. Anfangs wechseln nur wenige parthenogenetische Generationen mit einer amphigonen ab, dann werden es immer mehr partheno- genetische Generationen, und zuletzt wird auch die einzige amphi- gone Generation überflüssig, erscheint zunächst nicht mehr alljähr- lich und geht zuletzt ganz verloren, so dass aus rein parthenogenetischen Zyklen parthenogenetische Arten entstehen können. Es steht außer Zweifel, dass eine Anzahl von Chermesinen- Arten sich heute ausschließlich parthenogenetisch fortpflanzen. Wir wissen auch, dass der Verlust der amphigonen Fortpflanzung sich in stufenweise weiterschreitender Genese vollzieht. So finden sich bei Dreyfusia nüsslini zwar noch alljährlich Weibchen und Männchen einer amphigonen Generation, diese ist aber impotent geworden, es kommt nicht mehr zur Bildung eines befruchteten entwickelungsfähigen Eies. Bei Pineus strobi gibt es zwar noch eine sexupare Generation, sie geht jedoch vor der Er- zeugung der Sexuales zugrunde, und bei Dreyfusia piceae ist auch die sexupare Generation ausgefallen, hier blieben nur noch flügel- lose Exsulantengenerationen übrig. Es gibt: Autoren, welche sich gegen die Anerkennung des defini- tiven „ewigen“ Ausfalls der Gamogenese und gegen die Möglich- keit der Entstehung rein parthenogenetischer Kategorien (Spezies) erklärt haben. So der ausgezeichnete Chermesinensystematiker C. Börner. Er musste aber zugeben, dass jene Formen sich heute (ortsweise) ausschließlich: parthenogenetisch fortpflanzen, ja er ge- steht sogar zu, dass die parthenogenetische Fortpflanzungsweise solcher Formen Jahrhunderte hindurch denkbar sind. Aber irgend- wann oder irgendwo müssten sie zur Gamogenese zurückkehren, weil die zweigeschlechtliche Fortpflanzung eine phylogenetisch uralte Einrichtung sei. So Börner. Ich möchte es dagegen für viel wahrscheinlicher halten, dass diese parthenogenetischen Arten eher überhaupt aussterben, als dass sie nach Jahrhunderten wieder zur Gamogenese zurückkehren. Den Grund für diese Auffassung suche ich in der steigenden Rückbildung und Verkümmerung der amphigonen Generation selbst. Während die parthenogenetischen Generationen an Größe und Fruchtbarkeit zunehmen, und häufig neben flügellosen Generationen solche von vollkommenstem Imagocharakter erzeugen können, wie dies ins- besondere bei den zur Wanderung von Pflanze zu Pflanze bestimmten „Migrantes alatae“-Generationen der Fall zu sein pflegt, ist die XXX. 29 450 Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. amphigone Generation mit dem Auftreten der Parthenogenese und Heterogonie zu einem allmählich von Stufe zu Stufe fortschreitenden Herabsinken der Organisation verurteilt. Zuerst wird das amphi- gone Weibchen flügellos, während das Männchen noch Flügel besitzt (viele Aphidinen), dann werden Weibchen und Männchen flügellos (alle Pemphiginen, allePhylloxeriden), darauf nimmt die Größe der amphigonen Geschlechter ab: es entstehen Zwerg-Männchen, oder Zwerg-Männchen und Zwerg-Weibchen, und zuletzt sinkt die Organisationshöhe, indem die Mundteile und der Darmtrakt ver- kümmern und zuletzt verloren gehen (viele Pemphiginen). In bezug auf die Vereinfachung oder die Rückbildung der Ernährungsorgane zeigt das Männchen häufig einen Vorsprung vor dem Weibchen (Mindarus), während in bezug auf die Rückbildung der Flügel um- gekehrt das Weibchen vorangegangen war. Es ist dies leicht zu erklären, da das Männchen immer beweglicher sein muss als das Weibchen, aber für die Anlage seiner winzigen Samenzellen keiner selbständigen Nahrungsaufnahme bedarf. Beı Mindarus, bei welcher Gattung das Weibchen noch mehrere Eier ablegt, ist der Darm- trakt des amphigonen Weibchens nicht von dem des partheno- genetischen Weibchens zu unterscheiden, das Männchen hat dagegen emen geraden kurzen Darmtrakt, besitzt meist schon im Mutter- leibe geformte Spermatozoiden und vollzieht seine Häutungen in wenigen Tagen. Bei Pemphiginen ıst der Darmtrakt beim frisch geborenen Männchen und Weibchen verloren gegangen oder nur noch in Form von rudimentären Zellsträngen vorhanden, ım Embryonalleben kommen jedoch noch Lumina an gewissen Stellen des Darmes vor. So sind die gamogenetischen Geschlechtsindividuen zuletzt zu denkbarst kleinen und in der Organısation herabgesunkenen Per- sonen geworden. Die Sparsamkeit der Natur hat damit die Re- duktion der zweigeschlechtlichen Sexualität auf die äußerste Spitze getrieben. Die heute geborenen Sexuales häuten sich von Tag zu Tag, oft innerhalb weniger als 24 Stunden (Pemphiginen), das einzige Ei ist hier nach kaum einer Woche „abgelegt“, d. h. die weibliche Haut wird über dem rasch herangewachsenen Ei ab- gestreift. Liegt da nicht die Frage und der Gedanke nahe, dass die Sexualpersonen zuletzt an ihrer fortschreitenden Degeneration zu- grunde gehen? Sollte es ein Zufall sein, dass überall da, wo zwerg- haft gewordenen Männchen (z. B. bei Rotatorien, Cirrhipedien) vorkommen, oder wo Heterogonie Regel ist (z. B. bei Phyllo- poden, Gallwespen) einzelne Arten bekannt geworden sind, bei denen die Männchen sehr selten sind oder überhaupt fehlen, ähn- lich wie bei Chermesiden die ganze amphigone Generation bei manchen Arten tatsächlich nicht mehr vorkommt? Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. 451 Das Motiv für alle diese Erscheinungen einer regressiven Meta- morphose der Geschlechtsgenerationen und der Geschlechtspersonen ist Sparsamkeit, die Bedingungen, unter welchen dieses Prinzip in so erstaunlicher Mannigfaltigkeit und mit solch gesteigerter Intensität in Erscheinung zu treten vermag, sind in dem sesshaften Parasitismus gegeben. Die Energien, welche unter den Bedingungen des sesshaften Parasitismus sich auszulösen vermögen, mussten sich in der Richtung der Fortpflanzung, bezw. Vermehrung äußern, andere Möglichkeiten sind oft nicht gegeben. Die Ernährung, d.h. der Nahrungserwerb ist dem sesshaften Parasit so leicht gemacht, dass. Betätigungen von Bewegungs- und Sinnesenergien zeitweise ganz ausgeschlossen sind. Für ganze Generationen kommt nur die Bewegung vom Ort des Eies zum Ort des Saugens in Betracht, dieser ist nur vom jüngsten Larvenstadium zurückzulegen und oft ein sehr kurzer. Für diese erste Jugendzeit hat die Natur die Möglichkeit für eine Betätigung motorischer und sensibler Energie geboten, und in der Tat sind die Junglarven nicht selten äußerst mobil und ver- einzelt sogar mit besonderen nur im 1. Larvenstadium auftretenden Sinnesorganen (Sinnespolster der Junglarven von Prociphilhıs nidifieus- poschingert) ausgestattet. Ist der Ort der Saugtätigkeit erreicht, so kann ihn die Pflanzenlaus in Fällen nicht mehr verlassen, sie ist bei Nahrungsarmut infolge von Überfüllung zum Darben (Kümmer- formen) und selbst zum Hungertod verurteilt, weil die Bewegungs- organe durch ihre Verkümmerung den schweren Körper nicht von Ort zu Ort zu tragen vermögen. Nur einzelne Generationen machen hiervon eine Ausnahme, es sind die zu Imagines heranwachsenden Generationen, deren Be- wegungs- und Sinnesorgane von Häutungs- zu Häutungsstadium sich vervollkommnen, Generationen, denen die Verbreitung der Spezies von Ort zu Ort, von Pflanze zu Pflanze obliegt. Dass aber auch bei diesen vollkommenen Imagogenerationen Rückbildungen vorkommen können, lehrt uns Mindarus, bei welcher Gattung kurz vor der Umbildung der Nymphe zur Imago die voll- kommene Rückbildung der mächtigen Wachsdrüsen stattfindet, sei es zugunsten der Entwickelung der Nachkommen, sei es zu- gunsten der Imago selbst, zum Zwecke der Festigung ihrer Chitin- kutikula und zur Erzeugung der Hautpigmente. Während in diesem Falle zum Zwecke der Erreichung des Imagostadiums, gleichsam im letzten Augenblicke, nahe am Schluss der Nymphenperiode, Organe geopfert werden, um Nährstoffe (Baustoffe für die Imago) flüssig zu machen, zeigen uns die bei M. obliquus geschilderten Vorkommnisse ein gerade entgegengesetztes Phänomen: die Opferung des Imagostadiums selbst kurz vor dem Ende der Nymphenperiode und den Rückschritt von der schon erreichten Höhe der letzten 29° 459 Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Mindarus Koch. Nymphenstufe zu fundatrixähnlichen Zwischenformen, wobei schon gebildete Organe (Flügelmuskeln, Flügelanlagen) wieder aufgelöst werden. Wir haben oben wahrscheinlich zu machen gesucht, dass diese Rückbildungen mit Rücksicht auf die fremdländische Wirtspflanze ım Interesse der Art gelegen sein konnte und deshalb solche Fort- schritte gemacht hat, dass sie erblich und in frühere ontogenetische Stufen zurückverlegt wurde. Das Prinzip der Sparsamkeit hatte in allen bisher erwähnten Fällen in partieller Richtung sich geltend gemacht, in dem Sinne, dass einzelne Organe oder Einrichtungen zugunsten anderer ge- schmälert oder geopfert wurden. Die Pflanzenläuse liefern jedoch auch zahlreiche Beispiele für die gleichförmige Wirkung des genannten Prinzips auf alle einzelnen Teile und Organe eines Individuums oder einer Generation. Es gibt individuelle Kümmerformen, esgibtaber auch ganze Kümmer- generationen. Im ersteren Falle sehen wır ein ausnahmsweises und gelegent- liches Auftreten einzelner Kümmerer unter dem Einfluss der Un- gunst der Verhältnisse des Wirts oder der Überfüllung und Nah- rungskonkurrenz. Im zweiten Fall handelt es sich um regelmäßige Erscheinungen, welche insbesondere mit der Jahreszeit, dem Klıma oder der Höhen- lage ursächlich zusammenhängen. Auch die Saftverhältnisse der Wirte sind verschiedene ım Frühjahr, Hochsommer und Herbst. Es ıst deshalb die Annahme naheliegend, dass die Generationen des Frühjahrs üppiger gedeihen, größer und fruchtbarer werden können als die späteren, die letzteren sind den ersteren gegenüber normale Kümmerformen. Ebenso sind die Orte am Wirt verschieden ın bezug auf den Nahrungsreichtum. Parallele an verschiedenen Wirtsarten lebende (senerationen werden hierdurch verschieden gedeihen. Die minder begünstigten werden zu normalen Kümmerformen. Insbesondere die Chermesinen liefern viele Beispiele. Bei Aphrastasia pectinatae ist die Exsulans aestivaliıs gegen die allgemeine Regel größer und fruchtbarer als die Exsulans vernalis, weil letztere an den saftıgen Nadeln des jungen Maitriebs, erstere an vorjährigen Nadeln zur Entwickelung kommt. Die Rinde junger Triebe ist stets nahrungs- reicher als die Nadeln, den Rindengenerationen des Frühjahrs gegen- über (Vernales von Dreyfusia nüsslini, Onaphalodes strobilobius) verhalten sich deshalb die entsprechenden Aestivales als normale Kümmerformen. Besonderen Nahrungsreichtum liefern die Gallen, weshalb die an Nadeln entstehenden Sexuparae stets als normale Kümmerer erscheinen gegenüber den in Gallen entstehenden Mi- grantes alatae. Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus etc. 453 Nachträge zum sozialen Parasitismus und der Sklaverei bei den Ameisen’). (Zugleich 177. Beitrag zur Kenntnis der Myrmekophilen.) Von E. Wasmann S. J. (Luxemburg). 1. Pleometrose und Allometrose. (Zu 1909, 8. 594 u. $. 663, Anm. 2.) Unter „Pleometrose“ verstehe ich das Vorkommen mehrerer Königinnen derselben Art oder Rasse in einer Kolonie; als „Allometrose* dagegen bezeichne ich mit Forel das Vorkommen von Königinnen verschiedener Arten oder Rassen in einer Kolonie. Sowohl die Pleometrose als die Allometrose umfassen ver- schiedene Formen, welche der Klarheit halber unterschieden werden müssen: I. Pleometrose: 1. Primäre Pleometrose: Allianz von zweien oder mehreren Weibchen derselben Art und Rasse bei Grün- dung einer Kolonie. Wenn man in ganz jungen Ameisenkolonien mehrere Königinnen trifft, so liegt wohl fast immer primäre Pleometrose vor. Beispiele: 2 Königinnen in einer jungen fesca-Kolonie bei Luxemburg (1909, S. 665). Ein noch auffallenderes Beispiel von primärer Pleometrose ist das Folgende. Am 29. September 1909 fand ich auf der Höhe von Pulver- mühl bei Luxemburg unter einem Steine in einer kleinen, nur 2\/, cm tiefen und 1!/, cm weiten Erdhöhle fünf Königinnen von Lasius flavus beisammen mit ihren Eierklumpen. 4 Königinnen lebten noch und saßen, mit den Köpfen einander zugekehrt, um die Eierklumpen. Von der 5. lag nur der abgetrennte Hinterleib in der Höhle, der Vorderkörper vor derselben. Wahrscheinlich war sie von den übrigen Weibchen im Kampfe getötet worden. Die 4 Königinnen samt den Eierklumpen wurden mitgenommen und ın eine Glasröhre mit feuchter Erde gesetzt, welche Raum genug für 4 verschiedene, kleine Nesthöhlen bot. Aber auch hier gruben sie sich wieder eine gemeinschaftliche Nesthöhle und saßen dort bei- sammen, ohne an die Oberfläche zu kommen. Ihre Stellung zu- 1) Siehe Biol. Centralbl. 1905, Nr. 4—9 u. 19: Ursprung und Entwickelung der Sklaverei; 1908, Nr. 8-13 u. 22: Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus und der Sklaverei; 1909, Nr. 19—22: Über den Ursprung des sozialen Parasitismus, der Sklaverei und der Myrmekophilie bei den Ameisen. — Wenn bei Literatur- angaben in der folgenden Arbeit nur die Jahreszahl gesetzt wird, bezieht sich das Zitat stets auf das Biologische Centralblatt. — Da das Manuskript dieser Arbeit schon vor einem halben Jahre eingesandt worden war, habe ich die späteren Ergän- zungen durch Klammern kenntlich gemacht. 454 Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus etc. einander blieb konstant die nämliche: den Hinterleib nach oben, den Kopf nach unten gerichtet, wo die Eierklumpen lagen, saßen sie enge beisammen. Bis zum Anfang Januar 1910 blieb das Bild dasselbe. Dann erschienen die ersten Larven. Am 11. Januar hatten die 4 Königinnen sich in 2 Gruppen von je 2 getrennt, von denen jede Gruppe einen Klumpen kleiner Larven bewachte und pflegte. [Später vereinigten sie sich wieder. Im April 1910 waren kleine Arbeiterkokons vorhanden, Anfang Maı erschienen die ersten Arbeiterinnen. | Da man beı Lasius flavus ebenso wie bei niger fast immer nur eine alte Königin ın jeder Kolonie trifft, muss im Falle einer pri- mären Pleometrose später eine Spaltung in mehrere Kolonien ein- treten; oder es muss durch Kämpfe der Königinnen untereinander die Einzahl derselben hergestellt werden‘ wie es v. Buttel und Mräzek bei Zastius niger beobachtet haben. 2. Sekundäre Pleometrose: Mehrheit der Königinnen derselben Art und Rasse in einer Kolonie, die erst nach- träglich zustande kommt, und zwar entweder: 2a. Durch Nachzucht von Weibchen der eigenen Kolonie, deren Befruchtung in oder nahe beim Neste stattgefunden hat. Dieser Fall ist besonders häufig bei Formica rufa, pratensis, sanguinea, fusca, Tapinoma erraticum, Myrmica scabrinodis und laevinodis etc. Ferner auch bei vielen ausländischen Ameisen, z.B. bei Prenolepis longicornis ın Ostindien nach Assmuth?). 2b. Durch Adoption von Weibchen aus fremden Kolonien derselben Art und Rasse. Dieser Fall dürfte besonders beı Formica rufa nicht selten sein, da hier die Aufnahme fremder Königinnen nach meinen Versuchen relativ sehr leicht erfolgt. Falls die aufgenommenen Weibchen zu derselben Rasse gehören, kann man es selbstverständlich einer rufa- Kolonie ın freier Natur nicht ansehen, ob die Mehrzahl ihrer Königinnen durch a oder durch b entstand. Leichter ist die Ent- scheidung, wenn die Königinnen verschiedenen Rassen der- selben Art angehören, während die Arbeiterinnen nur von einer Rasse sind, z. B. bei den 7 Königinnen der pratensis-Kolonie Nr. 4 bei Luxemburg, unter denen 5 pratensis-Königinnen, 1 rufa- und 1 iruncicolo-pratensis-Königin sich befand, während die Arbeiterinnen nur pratensis waren; die 2 letzteren Weibehen mussten demnach aus einer späteren Adoption stammen. Diese Fälle gehören jedoch nicht mehr zur Pleometrose, sondern bereits zur Allometrose (Il, 2a). Bei F. fusca halte ich trotz der Häufigkeit ihrer polygynen Kolonien (1909, S. 594) die Erklärung der Pleometrose durch 2) Einige Notizen über Prenolopis longicornis Ltr. (Ztschr. f. wiss. Insekten- biologie 1907, Heft 10—12). Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus etc. 455 Adoption für einen seltenen Ausnahmefall, da nach meinen Ver- suchen die Aufnahme einer fremden fasca-Königin nur sehr schwer erfolgt, falls die Kolonie nicht bereits weisellos ist. Dagegen glaubt Schimmer?) eine polygyne Kolonie von F. rufibarbis Var. fusco- rufibarbis, welche 15 Königinnen mit nur 2U—30 Arbeiterinnen enthielt, durch nachträgliche Adoption von Weibchen aus fremden Kolonien erklären zu müssen, zumal die Färbung und Zeichnung derselben sehr beträchtliche Verschiedenheiten aufwies und manche darunter der hellen reinen rufibarbis 1. sp. anzugehören schienen. Die oft große Zahl der alten, meist aber mageren Königinnen in solchen sanguönea-Kolonien, welche durch die Lomechusa-Zucht degeneriert sind, ıst zum größeren Teil aus der nachträglichen Konzentration ehemaliger Zweigkolonien zu erklären *), zum kleineren Teil wohl auch durch die Aufnahme fremder Weibchen in der er- heblich geschwächten Kolonie. 2c. Durch Allianz von verschiedenen Kolonien derselben Art und Rasse. Am 18. September 1909 richtete ich ein dreifach zusammen- gesetztes Nest eın, indem ich in ein kleines Janet-Nest, das zwei größere und eine kleinere Kammer besaß, die untereinander nur durch enge Gänge verbunden waren, folgende Kolonien einwandern ließ: in die große Kammer (a) eine kleine frsca-Kolonie mit einer großen Königin; ın die große Kammer (b) eine andere kleine fusca- Kolonie mit einer kleinen Königin; in die kleine Kammer (c) end- lich eine schwache Kolonie von Myrmica laewinodis. Die Verbin- dungen der Kammern untereinander waren durch kleine Korkstücke unterbrochen. Letztere wurden allmählich von den fasca durch- nagt. Die Myrmica wurden hierauf von den fusca zum größten Teile getötet; nur ein kleiner Teil blieb in einer Ecke der Kammer (ce) von Erdmauern eingeschlossen. Die beiden fusca-Kolonien be- kämpften sich, aber nicht heftig, einige Wochen lang. Allmählich trat indifferente Duldung ein und schließlich vereinigten sie sich zu einer Kolonie, die nun zwei Königinnen hatte. Nach 10 Tagen begann die Misshandlung der großen Königin, die zur Kolonie (a) gehört hatte. Am 27. Oktober waren beide Kolonien in die Kammer (b) übergesiedelt, wo die Kolonie mit der kleinen Königin früher allein gewohnt hatte. In der Kammer (a) waren nur 3 fusca zurück ge- blieben, welche die große Königin an Fühlern und Beinen umher- zerrten. Am 6. November war letztere getötet und ıhr Hinterleib vom Rumpfe getrennt. Kämpfe der beiden fesca-Weibchen unter- einander habe ich nicht gesehen; die Beseitigung der Königin (a) 3) Beitrag zur Ameisenfauna des Leipziger Gebietes (Sitzungsber. Naturf. Ges. Leipzig XXXV, 1908, S. 11—20), 8. 19. 4) Vgl. Die Ameisen u. Ameisengäste v. Luxemburg III, 1909, S. 52. 456 Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus ete. erfolgte hier durch die Arbeiterinnen, ob durch jene von (a) oder von (b), ließ sich nicht entscheiden, da sie von derselben Größe waren; wahrscheinlich aber geschah es durch diejenigen der ur- sprünglich fremden Kolonie (b). — Dieser Versuch war angestellt worden, um die Beziehungen von 4 Atemeles emarginatus, die bei den Myrmica (c) wohnten, zu den fusca ım Herbste zu studieren, worüber an anderer Stelle. Hier wurde er nur erwähnt als Bei- spiel einer vorübergehenden sekundären Pleometrose, welche durch die Allianz zweier benachbarter fausca- Kolonien herbeigeführt worden war. In freier Natur ıst diese Form der Pleometrose selbstverständ- lich schwer zu konstatieren, zumal eine Allıanz zwischen verschie- denen Kolonien derselben Art und Rasse nur selten vorkommt. II. Allometrose: 1. Primäre Allometrose: Allianz zwischen Weibchen verschiedener Arten oder Rassen bei Gründung einer ge- mischten Kolonie. 1a. Allianz zwischen Weibchen verschiedener Arten. ‚ Dieser Fall liegt vor als wahrscheinlichste Erklärung für die Gründung der gemischten Kolonien von Strongylognathus testaceus mit Tetramorium caespitum (Wasmann, 1891)?). Es ist dies das ein- zige bisher bekannte Beispiel einer gesetzmäßigen primären Allo- metrose. Bei Formica sanguinea kann, wie eine Beobachtung Vieh- meyer’s (siehe unten im 2. Teil dieser Arbeit) nahelegt, manch- mal ihre Koloniegründung mit F. fusca ebenfalls durch primäre Allometrose erfolgen. 1b. Allianz von Weibchen verschiedener Rassen bei der Koloniegründung. Vielleicht sind auf diesem Wege manche der gemischten Kolo- nien von Formica rufa mit truneicola, rufa mit pratensis, pratensis mit Zruneicola zu erklären. Hierher gehört z. B. eine Kolonie trunciecolo-pratensis, welche Forel 1875 erwähnt (Etudes myrme- cologiques en 1875, Bull. Soc. Vaud. Sc. Nat. XIV, p. 59). Auch eine bei Exaten (Holl. Limburg) 1859 von mir beobachtete rafo- truneicola-Kolonie ließe sich so erklären, zumal ın jener Kolonie im April etwa 25—-30°/, der großen Arbeiterinnen die reine trun- cieola-Färbung besaßen, im September desselben Jahres nur etwa 5°/,; dies scheint auf die Anwesenheit zweier, ungefähr gleichalteriger Königinnen, einer von rufa und einer von truncicola, in dieser Kolonie hinzudeuten (Verzeichn. d. Ameisen u. Ameisengäste v. Holl. Limburg, 1891, Tijdschr. v. Entomol. XXXIV, S. 47). Eine andere 5) Vgl. auch den 16. Teil der vorliegenden Arbeit: Zur Koloniegründung von Strongylognathus testaceus. Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus ete. 457 rufo-truncicola-Kolonie bei Derenbach (N. Luxemburg) 1906 ist da- gegen nicht durch primäre Allometrose zu erklären (siehe unten bei 2a). Bei den gemischten Kolonien von F. rufa mit pratensis oder truncicola sind theoretisch fünf Erklärungsmöglichkeiten ge- geben. Erstens durch Variation der Keimesanlage der Weibchen von F. rufa. Auf diese Weise ist wohl in vielen Fällen die mannig- fach wechselnde Färbung der Arbeiterinnen in verschiedenen rufa- Kolonien zu erklären, deren kleine Arbeiterform manchmal von pratensis kaum zu ünterscheiden ıst und deshalb zur Var. rufo- pratensis For. gerechnet wird. Die Weibchen dieser rzfa-Kolonien haben jedoch meist den stark glänzenden Hinterleib der echten rufa-Weibchen, obwohl man auch Übergangsformen zu den pratensis- Weibchen (Hinterleib seidenglänzend) findet. Zweitens durch Kreuzung zwischen den geflügelten Ge- schlechtern der drei Rassen beim Paarungsflug. Von der Zeit des letzteren hängt ihre Kreuzungswahrscheinlichkeit wesentlich ab. Die frühere oder spätere Entwickelung der geflügelten Geschlechter ist ihrerseits aber wiederum eine Funktion des verschiedenen Nest- baues jener Rassen. Bei F. rufa beobachtete ich den Paarungsflug (nach meinen Tagebuchnotizen) schon von Mitte April an, bei pra- tensis von Mitte Mai an. Um Mitte Juli findet man nur noch selten geflügelte Geschlechter in den rufa- und pratensis-Nestern, wenigstens in den niederen Höhenlagen. Bei F. truncicola da- gegen sind die Männchen und Weibchen erst von Mitte Juli an und im August zu treffen. Die Kreuzungsmöglichkeit letzterer Rasse mit den beiden ersteren ist daher eine sehr beschränkte, zumal sie auch viel seltener ist als diese. Aufa und pratensis dagegen sind durchschnittlich ungefähr gleich häufig, und der Paarungsflug der letzteren beginnt nur wenig später als jener der ersteren. Deshalb sind zufällige Bastardierungen vielleicht das Hauptmoment für die Häufigkeit der rufo-pratensis-Kolonien, während rufo-truneicola- oder truncicolo-pratensis-Kolonien sehr selten sind. Da ferner nach den Mendel’schen Gesetzen der Rassenhybriden in der zweiten Hybridengeneration eine Spaltung der elterlichen Merkmale ein- tritt, könnten die aus Kreuzung von rufa und truncieola oder trun- crcola und pratensis stammenden Kolonien sogar Arbeiterinnen beider Formen scharf getrennt enthalten, ohne dass wir deshalb genötigt wären, auf die Anwesenheit von Königinnen beider Rassen, also auf Allometrose, in jener Kolonie zu schließen. Drittens durch primäre Allometrose (siehe oben bei II, 1b). Viertens durch sekundäre Allometrose, die auf Adoption beruht (siehe unten bei II, 2a?). Fünftens durch sekundäre Allometrose, die auf Allianz beruht (siehe unten bei II, 2b). 458 Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus ete. 2. Sekundäre Allometrose: Anwesenheit von Köni- ginnen verschiedener Arten oder Rassen in einer Kolonie, die erst nach der Koloniegründung zustande kam: 2a. Durch Adoption von Weibchen fremder Art oder Rasse: 2a!. Adoption von Weibchen fremder Arten. Hierher ge- hören alle temporär gemischten und die meisten permanent ge- mischten Kolonien der Ameisen, welche durch Aufnahme fremder Weibchen in einer Hilfsameisenkolonie entstehen. Falls bei der Aufnahme der fremden Königin noch eine Königin der Hilfsameisenart ım Neste vorhanden ist, so kommt es zu einer vorübergehenden Allometrose, bis die eigene Königin von der fremden getötet worden ist (Beseitigung der fesca-Königin durch das Weibchen von Polyergus oder von Formica rufa etc.) oder von den eigenen Ar- beiterinnen umgebracht wird (Beseitigung der Monomorinum-Königin nach Aufnahme des Wheeleriella-Weibchens). 2a?. Adoption von Weibchen fremder Rasse. Dass solche Fälle innerhalb der r«fa-Gruppe vorkommen, und zwar in Form einer dauernden Allometrose, zeigt das Beispiel der pratensis- Kolonie Nr. 4 bei Luxemburg, welche neben 5 pratensis-Königinnen ein rufa-Königin und eine truneicola-pratensis-Königin enthielt; die beiden letzteren konnten erst nachträglich aufgenommen worden sein, da die Arbeiterinnen der Kolonie rein pratensis waren (siehe oben S. 454). Vielleicht ist ebenso auch eine rufo-truncicola-Kolonie bei Deren- bach (N. Luxemburg) zu erklären‘), welche im Mai 1906 unter ca. 5000 Arbeiterinnen reine fruncicola, reine rufa und Übergänge beider enthielt. An der größten Arbeiterform traten die Unter- schiede am klarsten hervor, während die mittleren und kleineren Arbeiterinnen vorwiegend rufa-Färbung besaßen. Da an derselben Neststelle im August 1904 eine reine fruncicola-Kolonie sich befunden hatte, scheinen nur zwei Erklärungen dieses Falles unter den fünf obenerwähnten Möglichkeiten zulässig. Entweder war nur eine Königin im Neste — wie bei Zruneicola gewöhnlich’) —, und dann gehörte dieselbe einer durch Kreuzung entstandenen Bastard- form rufo-trumeicola an, bei welcher die Spaltung der Arbeiter- charaktere erst nach mehrjähriger Dauer der Kolonie klar hervor- trat; oder es waren mehrere Königinnen vorhanden, von denen die älteste der reinen truncicola-Rasse angehörte, während die jüngere, später aufgenommene, entweder eine rufa- oder eine rfo- truncicola-Königin war. Ich halte letztere Erklärung für die wahr- scheinlichere. Leider war eine nähere Untersuchung des von einem rufa-ähnlichen Haufen überragten Nestinnern nicht möglich, da das- 6) Vgl. Die Ameisen und Ameisengäste von Luxemburg III, 1909, S. 20. 7) Unter 20 truncicola-Kolonien von Luxemburg, die ich näher untersuchte, war keine, die mehr als eine Königin hatte. Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus ete. 459 selbe zwischen den soliden Steinplatten einer Mauer sich befand. Das Nest lag am Fuße des von zahlreichen r«fa-Nestern (Riesen- kolonie) bewohnten „Ameisenberges“ ®).. Die nachträgliche Auf- nahme einer rufa-Königin in eine trumcicola-Kolonie war hier ebenso leicht möglich wie die ursprüngliche Anwesenheit oder die nach- trägliche Aufnahme eines Bastardweibehens von rufa und truncicola. [Am 12. April 1910 entdeckte ich auf Schötter-Marial bei Luxem- burg unter einem Steine eine gemischte Kolonie von Formica pratensis mit Zrumneicola, welche mehrere Hundert reine pratensis-Arbeiterinnen von 4,5—8 mm, einige Dutzend reine truncicola-Arbeiterinnen von 5—8 mm und auch einige Übergänge zwischen beiden enthielt. Alte, entflügelte Weibchen zählte ich wenigstens 10—12. Unter denselben glaubte ich beim ersten Besuch des Nestes auch eine truneicola-Königin gesehen zu haben, später sah ich sie jedoch nicht wieder, sondern nur sehr dunkel gefärbte pratensis-Königinnen mit Ausnahme einer, ein wenig helleren (15. April). Mehrere dieser entflügelten Weibchen waren auffallend klein (ca. 9 mm), kaum größer als eine makrogyne fusca-Königin. Am 28. April sah ich eine Menge Eierklumpen unter dem Steine in Gesellschaft einer großen, dieken Königin von pratensis-Färbung. Vielleicht geben weitere Beobachtungen noch näheren Aufschluss über die Zusammen- setzung dieser Kolonie. Wahrscheinlich handelt es sich um eine stark geschwächte pratensis-Kolonie, in welcher auch eine Königin der Bastardform truncicolo-pratensis nachträglich Aufnahme gefunden hatte, ähnlich wie in der obenerwähnten pratensis-Kolonie Nr. 4 bei Luxemburg.] 2b. Durch Allıanz von bereits fertigen, aber schwachen Kolo- nien verschiedener Art oder verschiedener Rasse. Zwischen ver- schiedenen Arten dürfte eine derartige Allianz in freier Natur wohl äußerst selten sein, und auch zwischen verschiedenen Rassen nur dann erfolgen, wenn sie durch außergewöhnliche Umstände dazu getrieben werden. Nach einer mündlichen Mitteilung Skalitzky’s (1891), der in Böhmen viele Jahre hindurch Staphyliniden sammelte, kommen derartige Allianzen zwischen verschiedenen Kolonien und Rassen von rufa durch menschlichen Eingriff dort nicht selten vor. Die gewerbsmäßigen Sammler von „Ameiseneiern“ plündern oft unmittelbar nacheinander eine Reihe von Nestern der haufenbauenden Ameisen der r«fa-Gruppe, die an demselben Waldrand liegen und schütten dann die Kokons samt dem mitgebrachten Nestmaterial und den darin befindlichen Ameisen auf einen gemeinsamen Haufen, um die Kokons auszulesen. Hierbei kommt es nicht selten zur Allıanz zwischen den Arbeiterinnen verschiedener Rassen, welche die aus dem Haufen geretteten Kokons gemeinschaftlich in einem 8 Vgl. Ursprung und Entwickelung der Sklaverei, 1905, S. 197. 460 Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus ete. nahe gelegenen Schlupfwinkel unterbringen. Falls in dem aus ver- schiedenen Kolonien zusammengeschütteten Haufen auch Königinnen verschiedener Rassen sich fanden, kann dabeı eine sekundäre Allo- metrose durch Allianz entstehen. Selbstverständlich gibt es sowohl zwischen Pleometrose und Allometrose, als auch zwischen den verschiedenen Formen beider mannigfache Übergänge und Kombinationen. Einen Über- gang zwischen Pleometrose und Allometrose bildet beispielsweise die Aufnahme einer reinen rufa-Königin in eine rufo-pratensis-Kolonie, sowie überhaupt die Allometrose von Weibchen derselben Art, aber verschiedener Rasse oder Varietät. Eine Kombination von Pleometrose mit Allometrose bildet beispielsweise die erwähnte pratensis-Kolonie Nr. 4 von Luxemburg, unter deren 7 Königinnen 5 pratensis-, 1 rufa- und 1 truncicolo-pratensis-Weibchen waren. 2. Über die Gründung der Kolonien bei Formica sanguinea. (Zu 1905, 8. 201ff.; 1908, S. 369ff.; 1909, S. 589 ff. u. 598f.) a) In einer kürzlich erschienenen Arbeit „Beobachtungen und Experimente zur Koloniegründung von Formica sanguinea* (Ztschr. f. wissensch. Insektenbiol. V, 1909, Heft 11 u. 12, S. 353—356, 390—394) stellt Viehmeyer die Hypothese auf, dass die Kolonie- gründung von sanguwinea auch durch Allianz erfolgen könne, nicht bloß durch Puppenraub oder durch Adsption. Die von ihm hierfür angeführten Beobachtungen sind folgende: Erstens. Im Sommer 1909 fand Forel mit Wheeler, Schim- mer und Viehmeyer auf einer Exkursion bei Fully (Wallis) im Rhonetal unter einem Steine eine kleine sanguinea-Kolonie, welche 2 Königinnen und einige kleine Arbeiterinnen von sanguwinea ent- hielt, ferner einige kleine Arbeiterinnen von rufibarbis und etwa ein halbes Dutzend Puppen. Die rufibarbis waren noch unausge- färbt und schienen frischentwickelt. Aus den Puppen wurden nur rufibarbis erzogen. Eier und Larven fehlten. Zweitens. Mitte August 1909 fand Viehmeyer in der Nähe von Dresden unter einem Steine in einer kleinen Erdhöhle 1 san- gwinea-Königin mit 2 sehr kleinen sangwinea-Arbeiterinnen und 2 oder 3 ebenso kleinen fesca-Arbeiterinnen. In der nämlichen kleinen Höhlung saß überdies 1 fausca-Königin mit 2 kleinen fausca-Ar- beiterinnen und einer kleinen Arbeiterpuppe Zu Hause setzte Viehmeyer die Ameisen in ein Lubbocknest. Dort trennten sich sofort beide Kolonien, und zwar so, dass jede Königin 2 schwarze Arbeiterinnen bei sich hatte. Die Puppe nahmen die sangwinea in Beschlag; sie wurde nach einigen Tagen aufgefressen. Die erste dieser beiden Beobachtungen gestattet keinen Schluss auf eine Allianzkolonie, insofern damit eine Vergesellschaftung von Königinnen verschiedener Arten (oder wenigstens verschiedener Er Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus ete. 461 Rassen) gemeint ist. Es lag hier nur ein Fall von Pleometrose, nicht von Allometrose vor, da beide Königinnen sanguwinea waren. Die Anwesenheit der jungen rufibarbis-Arbeiterinnen und Puppen ist wahrscheinlich durch Puppenraub zu erklären von Seite der beiden sangwinea-Königinnen, welche nach dem Paarungsfluge in ein und dieselbe en Enz Junge Kolonie einge- drungen waren, die Besitzer vertrieben und der Puppen sich be- mächtigt hatten. Es würde sich also ın diesem Falle um eine Koloniegründung durch Puppenraub der sangwinea-W eibchen handeln. Es ist sogar möglich, dass diese Schweizer sanguinea-Kolonie überhaupt keine junge, im Entstehen begriffene Kolonie war, sondern ein Teil einer alten, im Aussterben begriffenen Kolonie. Ich habe wiederholt in Zomechusa-Bezirken solche kleine sanguinea- Kolonien getroffen, die oft nur noch wenige, kleine Arbeiterinnen und mehrere alte, aber magere Königinnen besaßen. (Siehe im dritten Teil dieser Arbeit.) Wie dieselben durch die Lomechusa- Zucht zustande kommen, habe ich an anderer Stelle?) näher erklärt. Dass es sich in dem von Viehmeyer erwähnten Falle um eine solche Kolonie handelte, wird dadurch noch wahrscheinlicher, dass in dem Versuchsneste, worin er dieselbe hielt, immer nur vereinzelte Eier erschienen, die bald wieder aufgefressen wurden (Heft 12, S. 391). Falls diese Erklärung zutrifft, so stammten die anwesenden jungen rufibarbis und deren Puppen aus einem Sklavenraube der sanguinea-Arbeiterinnen, die eine noch ganz junge rufibarbis- Kolonie geplündert hatten. Die zweite obenerwähnte Beobachtung Viehmeyer’s bezieht sich dagegen wohl sicher auf eine junge sanguinea-Kolonie, und zwar auf eine durch Allometrose gegründete. Die sanguinea- und die fusca-Königin hatten nach dem Paarungsfluge in derselben Erdhöhle unter einem Steine Zuflucht gesucht und sich anfangs friedlich vertragen, wobei die fusca-Königin nicht bloß ihre eigenen Eier, sondern auch die von der sanguinea-Königin gelegten pflegte und aufzog. Als die Larven in das Puppenstadium gekommen waren, vollzog sich die Trennung der beiden Kolonien. Die san- guinea-Königin behielt außer ihren eigenen Puppen auch noch einige fusca-Puppen bei sich, und die aus letzteren von ihr erzogenen fusca blieben fortan als Hilfsameisen bei ıhr, während die von der fusca-Königin erzogenen fusca-Arbeiterinnen zu dieser sich hielten. Genannte Erklärung des vorliegenden Falls ist wohl die allerwahr- scheinlichste. Auf die von Viehmeyer angestellten Experimente über die 9) Die Ameisen und Ameisengäste von Luxemburg, III. Teil, S. 46 u. 51ff. (Arch. trimestr. Instit. Grand-Ducal, T. IV, 1909, Fase. 3 u. 4.) 462 Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus etc. Allianz zwischen verschiedenen sangwinea-Weibchen und zwischen sanguinea- und fusca-W eibehen gehe ich hier nicht näher ein, sondern teile nur ıhr Ergebnis mit. Die sangwinea-Weibehen benahmen sich anfangs gegeneinander friedlich; die Kämpfe begannen jedoch, als ihnen Arbeiterpuppen von fusca gegeben worden waren, und endeten mit dem Tode von dreien unter 4 Weibchen. Zwischen den Weibchen von sanguinea und fusca kam es mehrmals zu einer dauernden Allianz nach vorübergehenden Feindseligkeiten. Schon 1906 (Die moderne Biologie und die Entwickelungs- theorie, 3. Aufl., S. 403, Anm. 1) hatte ich geschrieben: „Forel’s ‚Allometrose‘ (Bündnis zwischen Königinnen fremder Arten) bietet wenigstens auch eine Entstehungsmöglichkeit für gemischte Kolo- nien von Formica-Arten.“ Diese Annahme stützte sich auf die Versuche mit einem pratensis- und einem rufibarbis- Weibchen, welche unter einem Steine beisammen gefunden worden waren und auch in dem Beobachtungsneste sich alliierten!®), Viehmeyer’s Hypothese, dass die Koloniegründung von Formica sanguinea wenig- stens manchmal durch Allometrose erfolge, entspricht daher auch meinen Anschauungen. Immerhin dürfte dieser Fall tatsächlich ein recht seltener sein. Unter den mehr als 400 sanguinea-Kolonıen, die ich beı Exaten ın Holland von 1854—1899 untersuchte, befand sich keine einzige, die auf eine Entstehung durch Allometrose hin- deutete, indem auch die jüngsten Kolonien bereits eine beträchtliche Zahl alter fusca-Arbeiterinnen als Hilfsameisen besaßen!!). Diese Befunde sind für die Allıanzhypothese noch weniger günstig als für die Raubhypothese, wie sie wiederum für letztere weniger günstig sind als für die Adoptionshypothese. b) Ich komme nun zu Viehmeyer’s Stellung gegenüber der phylogenetischen Frage: In welcher Beziehung stehen sozialer Parasitismus und Dulosis zueinander? „Der Satz (Emery’s), ein Parasıt kann nie zu einem Räuber werden, wohl aber ein Räuber zu einem Parasiten, ist mir sehr sympathisch, aber ich möchte ihn nun nicht gleich wieder zum Grundsteine einer neuen Hypothese nehmen.“ Diese Worte Vieh- meyer’s (S. 353— 354) bezeichnen seine etwas schwankende Stellung in der vorliegenden Frage. Seine Sympathie neigt sich der Emery’- schen Hypothese von dem primitiven Raubweibchenstadium zu, aber er will sich doch nicht mehr auf sie stützen. Gegen meine Hypothese, dass bei Formica die Dulosis aus einem fakultativen Anfangsstadium des temporären sozialen Parasitismus hervorgegangen sei, erhebt er folgendes Bedenken: Auch die fakultative Kolonie- 10) Näheres hierüber ist mitgeteilt in: Weitere Beiträge zum sozialen Para- sitismus und der Sklaverei, Biol. Centralbl. 1908, S. 361—363. 11) Vgl. hierüber 1905, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei, S. 202 ff. Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus etc. $) oO gründung durch Adoption bedeutet „den Anfang der parasitischen Degeneration“, diese Entwickelungsrichtung muss daher „naturgemäß abwärts führen“, „und es ist schwer zu verstehen, wie dieselbe Form, deren Schwäche durch die Adoption verbürgt ist, sich arderer- seits zu einem so starken Räuber wie F, sanguwinea entwickeln konnte.“ Zur Lösung dieser Bedenken dürften folgende Erwägungen dienen: Der Grundsatz „Ein Parasit kann nie zu einem Räuber werden, wohl aber ein Räuber zu einem Parasiten“, klingt auch mir recht sympathisch; aber er ist trotzdem, wie ich (1909, 5. 589—590) ge- zeigt habe, leider ım vorliegenden Falle nichts weiter als ein Trug- schluss, der auf dem Doppelsinn des Wortes „Parasit“ beruht. Wenn man nämlich die abhängige Koloniegründung der Weibchen von F. rufa — sei es nun ihre Abhängigkeit von der Mitwirkung eigener oder fremder Arbeiterinnen — als „parasitische Kolonie- gründung“ bezeichnet, so gebraucht man offenbar das Wort „Para- sitismus“ ın einem ganz anderen Sinne, als wenn man von einem Parasiten im engeren Sinne spricht, bei welchem man den Begriff der organischen und psychischen Degeneration mit einschließt. Es wäre daher eigentlich richtiger, bei den temporär gemischten Kolonien von einer abhängigen Koloniegründung und nicht von einer parasitischen zu reden; dadurch würden die Missverständ- nisse, die durch das Wort „Parasitismus“ hineingetragen werden, leichter vermieden; aber man hat nun einmal den Namen „para- sıtisch“ dafür gewählt. Wie verfehlt die Schlussfolgerung ist: „Aus einem Parasiten kann nie ein Räuber werden, wohl aber ein Räuber zu einem Para- siten; also kann auch die parasitische Koloniegründung niemals zur Entstehung der Sklavenzucht bei den Ameisen führen“ — er- hellt, wie mir scheint, ganz handgreiflich aus folgendem, noch „evi- denteren“ Parallelsatze: „Aus einem Parasıten kann nıemals ein selbständig lebendes Tier werden, wohl aber aus einem selbständig lebenden Tier ein Parasit; also kann auch die parasitische Kolonie- gründung niemals zur Bildung selbständiger, ungemischter Ameisen- kolonien führen.“ Dass die letztere Schlussfolgerung falsch ist, liegt auf der Hand. Denn sie widerspricht einfachhin allen Beobachtungstatsachen über die Ontogenese der temporär gemischten Kolonien, welche sämtlich „parasitisch“ beginnen, um sich dann „selbständig“ weiter zu ent- wickeln, nachdem die ursprünglichen Hilfsameisen ausgestorben sind! Am klarsten zeigt sich die Widersinnigkeit jener Schluss- folgerung an der Koloniegründung von F\. rufa, deren Weibchen sich, wenn sie nach dem Paarungsfluge keinen eigenen Arbeiterinnen begegnen, bei fusca-Arbeiterinnen aufnehmen lassen. Aus dieser 464 Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus etc. „parasitischen Bettlerexistenz“ gehen doch tatsächlich riesig volk- reiche rufa-Kolonien hervor, welche unbestreitbare „Großmächte“ in der Ameisenwelt sind durch ihre Volkszahl, durch den Umfang ihrer Nestbauten und ihrer Nestbezirke! Wer somit a priori aus dem Axiom „aus einem Parasiten kann niemals ein selbständig lebendes Tier werden, sondern nur aus einem selbständig lebenden Tiere ein Parasit“ die Unmöglichkeit beweisen wollte, dass aus temporär parasitischen Kolonien selb- ständige Kolonien werden können, würde offenbar im Irrtume sein. Genau ebenso verkehrt ist es aber, aus dem parallelen Axiom „aus einem Parasıten kann niemals ein Räuber werden, sondern nur aus einem Räuber ein Parasit“ irgend etwas a priori beweisen zu wollen gegen die Möglichkeit, dass aus einem Anfangsstadiıum des sozialen Parasitismus die Sklavenzucht bei den Ameisen sich ent- wickelt haben könne. Sehen wir doch auch hier wiederum tat- sächlich, dass aus der parasitischen Koloniegründung der Weib- chen von Polyergus rufescens dıe auf dem Höhepunkt der Dulosis stehenden Amazonenkolonien ontogenetisch hervorgehen. Ebenso geht bei der gelegentlichen Koloniegründung von F. sanguinea durch Allometrose aus einem parasitischen Anfangsstadium eine Raubkolonie hervor. Vielleicht erwidert man hierauf, es handle sich bei unserem Problem nicht um sekundäre Anpassungen, wie sie die heutige Öntogenese der parasitischen und sklavenhaltenden Kolonien auf- weist, sondern um die Frage: welche Koloniegründung ist pri- märer, ursprünglicher, die parasitische oder die dulotische? Die Antwort hierauf, welche die Tatsachen uns geben, lautet: keine von beiden ist primär, beide sind sekundär; denn beide sınd abzuleiten von der ursprünglichen, selbständigen Form der Koloniegründung durch die befruchteten Weibchen. An diese primäre Form schließt sich aber bei Formica ein fakultatives Adop- tionsstadium der Koloniegründung viel naturgemäßer an als ein Raubweibchenstadium, wie ich im ersten und zweiten Kapitel meiner letztjährigen Arbeit näher gezeigt habe. Es wäre daher wünschenswert, dass man das theoretische Axiom „aus einem Räuber kann kein Parasit werden, sondern nur umge- kehrt“, endlich einmal bei der Frage nach dem Zusammenhange zwischen Sklaverei und sozialem Parasitismus der Ameisen aus dem Spiele ließe; denn es besitzt im vorliegenden Falle doch gar keinen praktischen Wert. (Fortsetzung folgt.) Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. AM Biologisches Gentralblatt, Unter Mitwirkung von DrnK- Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Der Abonnementspreis für 24 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen. Bd. XXX. 15. Juli 1910. Ne 14, Inhalt: Awerinzew, Über die Stellung im System und die Klassifizierung der Protozoen,. — Was- mann, Nachträge zum sozialen Parasitismus und der Sklaverei bei den Ameisen (Fort- setzung). — Preisausschreiben. = Über die Stellung im System und die Klassifizierung der Protozoen. Von S. Awerinzew, Professor an der landwirtschaftlichen Hochschule für Frauen zu St. Petersburg. Beim Studium der Protozoen muss der Forscher, wie mir scheint, unbedingt zum Schluss gelangen, dass dieselben sehr kom- plizierte und sehr hoch differenzierte Zellen sind, selbst in dem Falle, wenn er nur amöboide oder Flagellatenformen vor sich hat. Sowohl der komplizierte Fortpflanzungsprozess als auch die außergewöhnlich verschiedenartigen Anpassungen der Protozoen- zellen — an verschiedene Funktionen — zwingt uns, anzuerkennen, dass sie durchaus nicht einfachste Organismenformen darstellen, wofür sie gewöhnlich gehalten werden. Bei Betrachtung des Baues der verschiedenen Organe durchaus nicht ähnlicher und miteinander nicht verwandter Formen müssen wir nolens volens anerkennen, dass die Modifikationen der leben- digen Materie nicht unendlich verschiedenartig sind. Damit wird meiner Meinung nach unter anderem die Tatsache erklärt, dass einige Formen bei ihrer Entwickelung in einer bestimmten Richtung schließlich einen absterbenden Zweig der Form bilden, oder einen — dessen Vertreter das Leben noch fortsetzten, wobei jedoch beiderlei Formen nicht fähig sind neuen. eigenartigen Organismen den Ur- sprung zu geben. — XXX. 30 466 Awerinzew, Über die Stellung im System u. die Klassifizierung der Protozoen. Wird ein derartiges Verhalten anerkannt, so kann eine ent- sprechende Annahme über die gleichsam potentiellen Eigenschaften gemacht werden, welche der ursprünglichen lebendigen organisierten Materie zukommen. Beim Studium einerseits des Baues der Protozoen, der Struktur und Funktion ihrer Organoiden, andererseits der Struktur und Funktion der verschiedensten Metazoenzellen kann auf eine Reihe von Analogien zwischen ihnen hingewiesen werden. Ich führe hier einige Beispiele an. Die Myonemen und Myophrisken der Proto- zoen sowie die Muskelfibrillen der vielzelligen Tiere, haben nicht nur der Funktion nach, sondern auch dem Bau und der Entstehungs- weise nach vieles gemein. Besonders deutlich tritt dieses hervor beim Vergleich der Bildung der Myophrisken bei Acanthometriden und der Muskeln bei niederen Crustaceen (Moroff und Stiasny, 1909; Moroff, 1908). In den Sporen der Myxosporidien sind Pol- kapseln, bei verschiedenen Coelenteraten Nesselzellen vorhanden. Beide Gebilde erinnern ungemein lebhaft aneinander nicht nur ihrem Bau, sondern auch ihrer Entwickelungsgeschichte nach (A werinzew, 1908). Selbst derartige Gebilde ferner wie die amöboiden Fortsätze — Pseudopodien, Geißeln und Wimpern werden sowohl bei den Protozoa als auch bei den Metaxoa angetroffen. In dieser Hinsicht können eine ganze Anzahl analoger Gebilde aufgezählt werden, die sowohl ihrer Funktion, als auch ihrer Struktur als auch ihrer Entwickelungsgeschichte nach so vieles mit- einander gemein haben, dass es schwer fällt, ihnen dıe Bezeichnung bloß analoger Gebilde zu geben. Die Arbeiten von Neresheimer (1904) weisen auf die An- wesenheit wenigstens in den Zellen einiger Protoxoa besonderer Neurophanen hin, die den Nerven analog sind. Die Versuche von Metalnıkoff (1907) zwingen uns sogar zur Annahme eines niederen psychischen Lebens bei den Protoxoa. Die angeführten Versuche können zurzeit natürlich sehr gut von dem Gesichtspunkt von Herrn Prof. Pawloff, der dıe Lehre von den sogen. „bedingten Reflexen“ entwickelt hat, erklärt werden. Dieser beweist jedoch nur, dass die angegebene Lehre — welche das komplizierteste Verhalten zur Außenwelt klarstellt und bei den höchsten Vertretern der Mehr- zelligen — bei den Säugetieren — entwickelt ist, leicht auch für einzellige Tiere angewandt werden kann. Beim tieferen Einblick in die Organisation und das Leben der Protoxoa und der mehrzelligen Tiere, muss sich, meiner Meinung nach, immer mehr die Behauptung geltend machen, dass zwischen den Protoxoa und Metaxoa kein qualitativer, sondern bloß ein quan- titativer Unterschied vorhanden ist, welcher durch die Herkunft beider erklärt wird. 2 Awerinzew, Über die Stellung im System u. die Klassifizierung der Protozoen. 467 Bei unseren phylogenetischen Vorstellungen gehen wir häufig von den Protoxoa als Ausgangspunkt aus, von ihnen aus bauen wir dann den Stammbaum der organischen Formen weiter auf. Ich glaube, dass wir in diesem Falle vollkommen im Unrecht sind. Meiner Meinung nach sind nicht die Metaxoa aus den Protoxoa ent- standen, sondern beide haben ihren Ursprung aus einer Wurzel, aus denselben einfachsten Formen, genommen. Die Struktur dieser letzteren ist uns vollkommen unbekannt; bis jetzt sind in dieser Hinsicht sogar keinerlei Vermutungen möglich. Nur eın Umstand ist für mich vollkommen klar, dass nämlich diese Formen weder eine Zelle noch viele Zellen darstellten; ın diesen Formen war gleichsam bloß das potentielle Vermögen enthalten zur Ausbildung aller der Anpassungen, vermittelst derer die Organismen auf Ver- änderungen in der Außenwelt reagieren, in sich den beständigen Kreislauf der Substanzen erhalten u. s. w. Auf diese Weise sind die Protoxoa und die Metaxoa zwei parallele, vollkommen selbständige Zweige des Stammbaums der organischen Formen. — Es ıst selbstverständlich, dass, indem ich eine derartige Be- hauptung aufstelle, ich sämtliche Hypothesen über die Herkunft der Metaxoa aus Protozoenkolonien ın Abrede stelle. Die Eigen- schaft, Kolonien zu bilden, kommt einer Reihe von einzelligen als auch mehrzelligen Formen zu; hierbei ist jedoch von Belang, dass niemals zuerst Teile entstehen können und darauf ıhr Ganzes. Die Existenz von Protoxoa mit polyenergidem Kern (Hart- mann), sowie die Möglichkeit einer Entstehung in dem Orga- nısmus der Protoxoa vieler Kerne, dıe funktionell verschiedenen Elementen den Ursprung geben (Moroff und Stiasny, 1909) gestattet es, in derartigen Protoxoa gleichsam den Ausdruck der „potentiellen Tendenz“ zur Vielzelligkeit zu sehen, welche ich für ein Merkmal der primären organisierten lebenden Sub- stanz halte. Das Auftreten mehrerer besonderer Zellen bei der Sporen- bildung der Myxosporidien (Awerinzew, 1909) halte ıch desgleichen für eine Kundgebung derselben Eigenschaften und durchaus nicht für den Ausdruck irgendwelchen Zusammenhanges der Myxosporidien mit den vielzelligen Organismen. — Wie das Vorhandensein von Choanoflagellata und Kragen- zellen bei den Schwämmen, der Polkapseln der Myxosporidien und der Nesselzellen bei Coelenteraten u. s. w. nur auf die der leben- digen Materie zukommende Eigenschaft hinweist, diese oder jene Form bei einer gewissen Kombination von Bedingungen zu bilden (Konvergenz), so halte ich auch die Entstehung polyenergider Kerne, das Auftreten von kolonialplasmodialen Massen und die Bildung von vielzelligen Anlagen bei Vertretern der Protoxoa für Konvergenz- erscheinungen und durchaus nicht für einen Hinweis auf eine direkte 30° 468 Awerinzew, Über die Stellung im System u. die Klassifizierung der Protozoen. Verwandtschaft der Protoxoa und Metaxoa, d.h. auf eine Herkunft der letzteren aus den ersteren. Annähernd zu einer gleichen Anschauung über die Herkunft der Metaxoa, d.h. zu einer Leugnung der Theorie des Polyzoismus kam auch unlängst E. Schultz (1908), welcher jedoch von voll- kommen anderen Annahmen und Tatsachen ausgegangen war. — Die Ansicht über den Bau der vielzelligen Formen, wie sie besonders deutlich in der letzten Zeit von E. Rohde (1908) aus- gesagt worden ist, bestärkt desgleichen und ergänzt meine An- nahmen. E. Rohde schreibt u. a.: „Die Gewebszellen sind nicht, wie bereits angenommen wurde, die direkten Abkömmlinge von Embryonalzellen (der Protoblasten Kölliker’s), sondern Neubil- dungen, welche sekundär, bisweilen sogar tertiär, in der verschie- densten Weise oft organartig oder durch eine Art freier Zellbildung, aus vielkernigen Plasmamassen hervorgehen, die ihrerseits wieder entweder das Verschmelzungsprodukt von ganz indifferenten Em- bryonalzellen darstellen (Syneytien) oder schon primär im Ei ent- stehen, d. h. durch den Kernteilungsprozess vielkernig gewordenen Abschnitten des Eies entsprechen (Plasmodien).“ Ich nehme des- gleichen an, dass die vielzelligen Organismen nicht auf dem Wege der gewöhnlichen aufeinanderfolgenden Teilungen einer Zelle ent- standen sind, sondern vermittelst Bildung einer vielkernigen Masse und verschieden differenzierten Kernen, um welche sich darauf eıin- zelne Protoplasmabezirke abgesondert hatten. Ich schließe mich durchaus Rohde an, welcher schreibt: „De Bary hat den Satz vertreten, dass der pflanzliche Körper nicht von Zellen gebildet wird, sondern die Pflanze Zellen bilde. Das gilt auch für die Tiere: Die Tiere bilden Zellen, werden aber nicht von Zellen gebildet.“ Wird die von mir hier angeführte Ansicht über die Herkunft der Protoxoa und der Metaxoa als zu Recht bestehend anerkannt, so werden, wie mir scheint, auch die Unterschiede der geschlecht- lichen Fortpflanzung, wie sie bei den einzelnen Gruppen der Formen beobachtet sind, leicht. verständlich. — Der Geschlechtsprozess ist, nach meiner Ansicht über die Natur des Kernes, eine elementare Eigenschaft eines jeden Organısmus und wird bereits durch die Natur der primären organisierten Materie voraus bestimmt. Während bei der Entwickelung der Metazoen diese Eigenschaft besonderen, speziellen Elementen — den Ge- schlechtszellen — übergeben worden ist, ist sie bei den Protozoen unwillkürlich der einzigen, ihren Körper bildenden Zelle erhalten worden. Die Geschlechtszellen der Metazoen sind — dank ıhrer scharfen Differenzierung — frei von irgendwelchen anderen Funktionen, während die Protozoenzellen gleichzeitig eine große Anzahl ver- schiedener Funktionen ausüben; bei den Mehrzelligen müssen somit Awerinzew, Über die Stellung im System u. die Klassifizierung der Protozoen. 469 diese Prozesse eo ipso in einer einfacheren, gleichartigen Form verlaufen als bei den Einzelligen. Es ist daher möglich, in den Geschlechtsprozessen beider Gruppen analoge Merkmale zu suchen, Schlüsse über die Eigenschaften und Besonderheiten der primären Formen zu ziehen, es steht jedoch durchaus nicht an, in derartigen Erscheinungen bei den Protoxoa phylogenetisch die älteren Aus- gangspunkte zu sehen, für eine Erklärung der Besonderheiten des Geschlechtsprozesses bei den Vielzelligen. Ausgehend von der Annahme der verwandtschaftlichen Be- ziehungen der Protoxoa und der Metaxoa, wie ich sie oben ausge- führt habe, sowie bei Anerkennung überhaupt einer Einheit der organischen Formen kann keine scharfe Grenze zwischen einzelligen und mehrzelligen Organismen gezogen werden und kann nicht an- genommen werden, dass die Grundeigenschaften der einen den- jenigen der anderen durchaus nicht entsprechen. — Verhältnismäßig vor nicht langer Zeit war die Meinung recht verbreitet, dass das biogenetische Grundgesetz, wie es Haeckel klar und deutlich formuliert hat, auf die Protoxoa nicht anwendbar ist. Die Arbeiten einer Reihe von Forscher gestatten jedoch jetzt, die Behauptung auszusprechen, dass auch bei den Protoxoa eine Kontinuität des Keimplasmas (der geschlechtlichen Kernsubstanz), die von den somatischen Teilen unterschieden ist, besteht. Das biogenetische Gesetz ist auch auf die Protoxoa anwendbar; die Ent- wickelungsgeschichte der Malariaparasiten, der 'Tirypanosomen, Suctoria und vieler anderer Formen gewährt uns eine Reihe von Beispielen für eine Bestätigung dieser Behauptung. — Weismann und seine Nachfolger erkennen noch eine Eigen- heit an, welche die Protozoa von den Metaxoa unterscheidet: dass nämlich die ersteren potentiell unsterblich sind. Der Tod erscheint somit gleichsam nicht unbedingt notwendig im Leben der Orga- nismen. — Mir scheint es jedoch, dass die in letzter Zeit erhaltenen Befunde über die Rolle des Kernes und des Protoplasma ın den vegetativen und geschlechtlichen Prozessen uns unzweifelhaft zur Anerkennung des Todes gewisser Teile eines jeden Organismus, als einer unumgänglichen Bedingung der Lebenserscheinungen führen müssen. Derselbe Schluss resultiert auch aus dem, was weiter oben über die Allgemeinheit der wichtigsten Lebensäußerungen der verschie- denen Organismen ausgesagt worden ist. Beobachtungen bestätigen diese Behauptung. Es häufen sich immer mehr Tatsachen an, die darauf hinweisen, dass bei den Protoxoa somatische Teile, welche zu einer gewissen Zeit absterben, und generative Teile angetroffen werden. Besonders klar sind die Bei- spiele eines Absterbens von Teilen des Organısmus, wie sie von verschiedenen Autoren (Doflein, Keysselitz, Awerinzew u. a.) 470 Awerinzew, Über die Stellung im System u. die Klassifizierung der Protozoen. beschrieben worden sind, bei den Myxosporidien. Derselben Kate- gorie müssen wir fernerhin die sogen. Restkörper, die vegetativen Kerne oder das vegetative Chromatin der Gregarinen, Coceidien und anderen Protozoen zuzählen. Für eine gleiche Anerkennung einer Sterblichkeit der Protozoa hat sich auch früher bereits eine Reihe von Forscher wie R. Hertwig, Verworn, M. Hartmann u.a. ausgesprochen. Die Beobachtungen -und Forschungen von Gruber (1892), En- rıques (1908), MeClendon (1909) u. a. veranlassen, bei den Pro- toxoa eine „Vererbung“ anzuerkennen, jedoch auch ein Erben er- worbener Veränderungen. Auf Grund einer Anerkennung eines Parallelismus der Metaxoa und Protoxoa, sowie einer Anerkennung einer Identität ihrer Eigenschaften, wobei nur ein quantitativer und nicht qualitativer Unterschied in dem Ausdruck derselben besteht, muss auch bei den Mehrzelligen in gewissen Fällen ein Erben erworbener Eigenschaften beobachtet werden. Während ich die Herkunft der Vielzelligen von den Protozoen ın Abrede stelle, betone ich ausdrücklich das Gemeinsame in dem Wesen ıhrer Lebensprozesse; auf diese Weise fallen einige phylo- genetische Konstruktionen weg, es bleibt jedoch ein weites Feld für Verallgemeinerungen. Allmählich sınd die Protoxoa von der übrigen Zoologie gleich- sam abgesondert worden, mir scheint es jedoch, dass eine derartige Sonderung unmöglich und unzulässig ıst. Wie die Protoxoa und die Protophyta voneinander nicht gesondert werden können, so kann auch keine scharfe künstliche Grenze zwischen Protoxoa und Metaxoa gezogen werden. Die vollkommenste Erkenntnis der Ge- setze des organischen Lebens kann nur aus einem allseitigen Stu- dıum der verschiedensten Formen gewonnen werden. Die systematischen Konzeptionen, welche die Klassifikation irgendeiner Gruppe von Organısmen betreffen, haben natürlich immer und werden wahrscheinlich stets einen vorübergehenden Charakter haben. Jeder, auch der geistreichste, der am meisten allseitige Versuch, ein gewisses System aufzustellen, ist temporär, dem Wesen nach, und entspricht zweifellos nicht den wahren gegen- seitigen Beziehungen der Formen; daraus folgt jedoch durchaus nicht, dass diese gleichsam unfruchtbaren Versuche vollkommen auf- gegeben werden müssen, wobei der Bequemlichkeit wegen eine der vorhandenen Klassifikationen beibehalten werden kann. Diese Ver- suche sind der Ausdruck unserer Vorstellungen über die Evolution der Form, und zwar ein kurzer und klarer Ausdruck. — Nach dem Vorschlage von Doflein (1902), der fast allgemein anerkannt ist, werden die Protoxoa zurzeit gewöhnlich in zwei Untertypen geteilt: Plasmodroma und Oiliophora. Awerinzew, Über die Stellung im System u. die Klassifizierung der Protozoen. 471 Nach diesen Bezeichnungen kann es scheinen, dass die Grund- lage für eine derartige Teilung der Unterschied in dem Aufbau der Bewegungsorganoide abgibt. Doflein selber bemerkt jedoch, dass, wenn überhaupt dem Vorhandensein bei einem Subtypus von Cilien, bei dem anderen von Pseudopodien und Geißeln Bedeutung zuerteilt wird, so ist diese Bedeutung jedenfalls eine sekundäre, während das Grundmerkmal einer Teilung die Ungleichheit des Geschlechtsprozesses und das Fehlen eines Generationswechsels bei den Cilkiophora ıst. Ich bin kein Anhänger einer derartigen Teilung der Protoxoa, da ich der Meinung bin, dass zurzeit genügend Tatsachen vor- handen sind, welche sowohl die Geschlechtsprozesse bei den Plasmo- droma und den Ciliophora verallgemeinern, als auch auf einen Gene- rationswechsel bei letzteren hinweisen. In der Konjugation der Infusorien können wir nichts anderes als Spuren einer früher bei ihnen vorhanden gewesenen gametoiden Generation sehen. Diese Idee ist nicht neu, infolgedessen werde ich mich bei ihr nicht aufhalten; dieselbe ist verhältnismäßig vor langer Zeit von Lühe (1902) ausgesprochen worden; die folgenden Arbeiten von Popoff (1908) und Lebedeff (1908) haben sie bloß weiter begründet. Der Unterschied zwischen dem zweikernigen Apparat der Infu- sorien und dem Kern mit Chromidien der anderen P’rotoxoa kann zurzeit desgleichen nicht als scharf bezeichnet werden, da die Be- obachtungen von Neresheimer (1908) über die Bildung des Mikro- nukleus /chthiophthirius (Holophria) aus dessen Makronukleus voll- kommen sämtliche Hindernisse beseitigt haben für die Aufstellung einer Homologie zwischen dem Mikronukleus und den Geschlechts- chromidien von Plasmodroma. Die scharfe Teilung, welche Doflein eingeführt hat, isoliert beide Gruppen (Plasmodroma und Cihiophora) zu sehr und hindert oft die Durchführung einiger Parallelen, welche für die Entwicke- lung unserer Anschauungen über die Struktur der Zelle von Nutzen wären; mir scheint es natürlicher — die Teilung des Typus Protoxo«a in mehrere Klassen, deren Grenzen weniger scharf und fühlbar sind, beizubehalten. Die Plasmodroma werden bisher mit geringen Ausnahmen (Hart- mann, 1907) in drei Klassen geteilt: Sarcodina (Rhizopoda), Masti- gophora und Sporoxoa. Ich halte den Versuch von Hartmann (1907), derartige Formen, wie Trypanosoma, Crithidia, Trypanoplasma und Herpetomonas ın eine besondere Ordnung der Flagellaten mit zwei Kernen — den Binueleata zu vereinen für durchaus einer Anerkennung wert; zu denselben würden, infolge der Konstatierung eines Blepharoplasten, bisweilen auch einer Geißel, Babesia, Proteosoma, Plasmodium und 472 Awerinzew, Über die Stellung im System u. die Klassifizierung der Protozoen. die anderen parasitischen Formen, welche früher unter der Bezeich- nung Haemosporidia vereinigt wurden, zu stellen sein. Auf diesem Wege verändern wir natürlich beträchtlich den Bestand der Klasse der Flagellata und streichen aus dem System die Klasse der Sporoxoa, in Anbetracht ihres zusammengewürfelten, künstlichen Charakters. Die Gruppe der Sarcodina (Rhizopoda) muss meiner Meinung nach früher oder später beträchtlich umgeändert werden, da in der- selben wiederum eine Reihe von Arten vorhanden sind, deren verwandtschaftliche Beziehungen festgestellt waren zu einer Zeit, als ihre Morphologie und Entwickelungsgeschichte zu wenig be- kannt war. — Mir scheint es, dass die Ordnung Amoebina vollkommen von den echten Sarcodina (Rhizopoda) getrennt werden muss, unter den letzteren verbleiben dann nur die Foraminifera und einige Helioxoa; die Amoebina müssen natürlich mit einigen Flagellata vereinigt werden. Die Organismen, welche den Amoebina zugezählt werden, stellen eine Gruppe dar, die eng mit den Flagellata (conf. Mastigella und ihr verwandte Formen; Paramoeba) verknüpft ist. Die systema- tischen Beziehungen dieser zwei Gruppen können durch einen Ver- gleich mit einer Unterklasse der Hydroxoa, nämlich mit den Hydro- medusae klargestellt werden. Wie unter den letzteren, Hydridae, Tubularidae, Campanularidae und Trachymedrusae, d.h. Formen vor- handen sind mit einer deutlich ausgeprägten polypoiden und medu- soiden Generation, sowie im Gegensatz Formen bloß mit irgend- einer dieser Generationen, so werden auch unter den Amoeboiden und Flagellaten Organismen angetroffen mit deutlich wechselnden Zuständen — pseudopodialen und flagellaten —, oder aber Orga- nismen, in denen der eine Zustand vollkommen geschwunden oder nur schwach ausgeprägt ist, gleichsam in einer embryonalen, leicht angedeuteten, nur kurze Zeit andauernden Form vorhanden ist. Als Ausgangsform für sämtliche rezente Protoxoa halte ich somit die sogen. Amoeboflagellata (nov.); diese Formen waren be- reits sehr hoch organisiert, als sie allmählich den Ursprung sämt- lichen übrigen Protoxoa gaben. Die rezenten typischen Amoebina ohne Flagellatengeneration sind gleichsam vereinfachte Amoebo- flagellata, die ım Zyklus ihrer Entwickelung vollkommen die Reihe der Flagellatengeneration verloren und nur bisweilen eine Andeu- tung auf eine derartige Herkunft in Gestalt von Geißelgameten erhalten haben. Die Amoebina konnten entweder nackt bleiben oder aber Schalen bilden (hauptsächlich die Süßwasserformen), doch auch in diesem Falle wird bisweilen die Flagellatengeneration er- halten und verschwindet nur bei der Reihe von Formen wie Arcella vollkommen. Von den Amoeboflagellata entsprangen darauf die echten Flagellata und Dinoflagellata. Awerinzew, Über die Stellung im System u. die Klassifizierung der Protozoen. 473 Das, was für die Sarcodina zutrifft, ist natürlich auch für die Flagellata anwendbar. Die gegenwärtig von Bütschli (1850-89) und Blochmann (1895) vorgeschlagene Teilung dieser Klasse in Protomonadina, Polymastigina, Euglenoidina, Ohromomanidına und Phytomonadina, kann wohl kaum als der Wirklichkeit entsprechend anerkannt werden, da die hauptsächlichsten Merkmale, auf die diese Teilung begründet ist (hauptsächlich die Zahl und Verteilung der Geißeln) sekundär sind. Interessant sind ın dieser Hinsicht die von Prowazek (1903) entwickelte Anschauung; dieser Forscher hält es für unumgänglich, die Klassifikation der Flagellata auf die charakteristischen Merkmale im Aufbau ihres Kernapparates und dessen Abkömmlinge zu begründen. — Auch die Dinoflagellata, deren Geschichte uns fast unbekannt ist, sind meiner Meinung nach, die sich auf einige unzusammen- hängende Beobachtungen stützt, den Amoeboflagellata näher ver- wandt als den typischen Flagellata. Die Sporoxoa zerfallen gegenwärtig nach dem Vorschlage von Schaudinn (1900) in zwei vollkommen selbständige Ordnungen Telosporidia und Neosporidia. Den Telosporidia gehören die Coceidia und Gregarinida an. Obgleich letztere auf den ersten Blick vieles mit den Haemosporidia gemein haben, so ist die Sporogonie beider dermaßen verschieden, dass es vollkommen. natürlich ist, die Ähnlichkeit ihrer multipli- kativen, geschlechtslosen Fortpflanzung durch einen Einfluss äußerer Umstände, d. h. den intrazellularen Parasitismus zu erklären. Woher die Coccidien und Gregarinen ihren Ursprung nehmen, ist natürlich eine strittige Frage. Ich bin weder mit Bütschli (1880—89) noch mit Hartmann (1907) einverstanden, die sie von den Flagellata ableiten. Meiner Meinung nach sind die Gregarinen einerseits durch die Schixogregarinae mit den Amoebina und den Amoeboflagellata andererseits mit den Aygregata und den Coccidien verwandt. Aus den Neosporidia, welche nach der Meinung von Hart- mann — Myzxosporidia, Microsporidia, Actinomyzidia, Haplosporidia und Sarcosporidia enthalten, streiche ich zunächst die Sarcosporidia (conf. Awerinzew, 1908, p. 36fl.), die wahrscheinlich einigen Fla- gellatenformen näher stehen als den echten Neosporidia, worauf u.a. die besondere eigenartige Bewegung ihrer Sporen hinweist. In den Myxo- Mierosporidia und Actinomyzxidia sehe ich eine be- sondere Gruppe von Formen, die sich, ihrer Entwickelung nach, bereits weit von den echten Proioxoa entfernt haben. Meine Unter- suchungen über die Sporenbildung bei den Myxosporidien weist darauf hin, dass bei ihnen dieser Prozess ungemein an die Ent- stehung der sekundären nematogenen Individuen in den gewöhn- lichen primären Agamonten der Dieyemiden (Hartmann, 1907a) 474 Awerinzew, Über die Stellung im System u. die Klassifizierung der Protozoen- erinnert. Wenn die Befunde vorläufig auch nicht ım Sinne einer direkten verwandtschaftlichen Beziehung zwischen den Neosporidia und den Dieyemida erklärt werden kann, ist es nichtsdestoweniger klar, dass genannte Klasse der Protoxoa beträchtlich von dem ge- wöhnlichen Entwickelungstypus dieser abweicht. Die Haplosporidia können desgleichen nicht unter die Neosporidia eingereiht werden, da die Zeit der Sporenbildung und der morpho- logische Charakter dieser letzteren (der Mangel von Zellen oder wenigstens von Kernen der Hülle und der Polkapseln, das Fehlen der Polkörperchen selber) darauf hinweist, dass ein phylogenetischer Zusammenhang beider nicht vorhanden ist. Infolgedessen möchte ich vorschlagen, die Haplosporidia, welche den Mycetoxoa und den Amoebina verwandt sind, vorläufig, solange als sie noch nicht voll- ständig erforscht sind, in eine selbständige Gruppe auszuscheiden, welche ihren Ursprung gleichwie die Neosporidia und die Telosporidia von amoeboiden Formen (Amoebina) nehmen. Eine meiner Schülerinnen, welche die Entwickelungsgeschichte einiger Haplosporidia studiert, hat in der allerletzten Zeit Befunde erhoben, welche darauf hinweisen, dass die Sporenbildung bei ihnen den entsprechenden Prozessen bei den amoeboiden Formen äußerst ähnlich sınd. Hinsichtlich der Infusorien ist es schwer zu sagen, von welchen Formen sie stammen. Auch hier sprechen jedoch Tatsachen dafür, dass sie nicht von typischen Flagellaten ihren Ursprung nehmen, sondern eher von Amoeboflagellata-V orfahren. Als Schlussfolgerung muss somit ausgesagt werden, dass die Amoeboflagellata Zweigen verschiedener Länge den Ursprung gegeben haben: einerseits kurzen Endzweigen den Dinoflagellata und mög- licherweise den Radiolaria, einem längeren Zweig — den Flagellata, welche in verschiedene Binueleata übergehen und mit den Spiro- chaeta endigen und schließlich dem längsten Zweig, der von den Amoebina ausgeht und sämtlichen übrigen Protoxoa den Ursprung gibt. Literaturverzeichnis. 1908. Awerinzew, S. Studien über parasitische Protozoen I—VII. Trav. Soc. Natur. St. Petersburg. Vol. 36 (russisch). 1908. — Studien über parasitische Protozoen. I. Arch. Protistenk. Vol. 14. 1895. Blochmann, F. Die mikroskopische Tierwelt des Süßwassers. 1850—89. Bütschli, OÖ. Protozoa. Bronn’s Klass. u. Ordn. des Tierreichs. I. 1902. Doflein, F. Das System der Protozoen. Arch. Protistenk. Vol. I. 1908. Enriques, P. Die Konjugation und sexuelle Differenz der Infusorien. Ibid.', Vol 12, 1892. Gruber, A. Einzellige Zwerge. Festschr. z. 70. Geburtstag R. Leuckart’s. 1907. Hartmann, M. Das System der Protozoen. Arch. Protistenk. Vol. 10. 1907a. Untersuchungen über den Generationswechsel der Dieyemiden. Mem. Ac. Sci Brüssel. 1908. Lebedeff, W. Über Trachelocerca phaenicopterus. Arch. Protistenk. Vol. 13. Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus etc. 475 1902. Lühe, M. Über Befruchtungsvorgänge bei Protozoen. Schr. phys.-ök. Ges. Königsberg i. Pr. (43. Jahrg.). 1909. MeClendon. Protozoan Studies Journ. Exper. Zool. Vol. 6. 1907. Metalnikoff, S. Uber die Ernährung der Infusorien und deren Fähigkeit ihre Nahrung zu wählen. Trav. Soc. Nat. St. Petersbourg. Vol. 38. Nr. 4. 1909. Moroff, Th. Die physiologische Bedeutung des Kernes bei der Entstehung der Muskeln. Centralbl. f. Physiol. Vol. 22. 1908. — u. Stiasny, G. Über den Bau und Fortpflanzung von Acanthometra. Ibid. Vol. 22. _ 1909. — u.Stiasny,G. Über Bau und Entwickelung von Acanthometron pellu- cidum. Arch. Protistenk. Vol. 16. 1904. Neresheimer, E. Über die Höhe histologischer Differenzierung bei hetero- trichen Ciliaten. Ibid. Vol. 2. 1908. — Der Zeugungskreis des Ichthyophthirius. Ber. bayer. biol. Versuchst. München. Vol. 1. 1908. Popoff, M. Die Gametenbildung und die Konjugation von Carchesium polypinum. Zeitschr. wiss. Zool. Vol. 89. 1903. Prowazek, S. Flagellatenstudien. Arch. Protistenk. Vol. 2. 1908. Rohde, E. Histogenetische Untersuchungen. 1. 1900. Schaudinn, F. Untersuchungen über den Generationswechsel bei Coccidien. Zool. Jahrb. (Anat.). Vol. 13. 1908. Schultz, E. Beobachtungen über umkehrbare Entwickelungsprozesse. Trav. Soc. Nat. St. Petersbourg. Vol. 38 (russisch). Nachträge zum sozialen Parasitismus und der Sklaverei bei den Ameisen. (Zugleich 177. Beitrag zur Kenntnis der Myrmekophilen.) Von E. Wasmann 8. J. (Luxemburg). (Fortsetzung.) Übrigens gehört nicht bloß die Koloniegründung durch Adop- tion, sondern auch jene durch Allianz offenbar bereits zu den abhängigen Formen der Koloniegründung. Ob das betreffende Ameisenweibchen bei der Gründung seiner neuen Kolonie abhängig ist von der Mithilfe fremder Arbeiterinnen oder eines fremden Weibchens, ändert nichts an der Abhängigkeit und Unselbständig- keit ihrer Koloniegründung. Bezeichnet man also die erstere Form der Koloniegründung als eine „parasitische“, so muss man folge- richtig auch die letztere ebenso nennen; lehnt man es ab, aus ersterer den Ursprung der Sklaverei bei F sangwinea abzuleiten, weil die Koloniegründung durch Adoption eine „parasitische“ ist, so muss man auch die Koloniegründung durch Allıanz (Allometrose) mit demselben Maße messen; bezeichnet man die Koloniegründung durch Adoption bei fremden Hilfsameisen mit’ Viehmeyer als eine „Schwäche“, so muss man auch die Koloniegründung durch Allianz mit einem fremden Hilfsameisenweibchen ebenfalls als „Schwäche“ charakterisieren. Viehmeyer bemerkt allerdings, dass er die letztere ebenso wie jene durch Adoption bei F. sanguinea nur für sekundär 476 Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus ete. ansehe im Vergleich zur Koloniegründung durch Puppenraub. Aber genetisch liegen die Verhältnisse eher umgekehrt. Denn für die praktische Möglichkeit, dass die sangwinea-Königinnen in Nester der Hilfsameisenarten erfolgreich eindringen können, wird bereits die vorhergehende Betätigung des Raubinstinktes der Arbeiterinnen vorausgesetzt, durch welche die Sklavenkolonien der betreffenden Gegend geschwächt und eingeschüchtert werden (Weitere Beiträge, 1908, S. 436); daher müssen wir für sangrinea die Koloniegründung durch Adoption (oder Allianz) als primitiver ansehen im Vergleich zu derjenigen durch Puppenraub. Ich bin also mit Viehmeyer darin einverstanden, dass wir mindestens drei verschiedene ontogenetische Entstehungs- weisen der heutigen Kolonien von F\. sanguinea auf Grund der bisherigen Beobachtungen und Versuche anzunehmen haben: durch gewaltsamen Puppenraub des Weibchens, durch friedliche Adoption bei alten Arbeiterinnen der Hilfsameisenart, durch friedliche Allianz mit emem Weibchen der letzteren. Von diesen drei Gründungs- weisen scheint die erste gegenwärtig die häufigste zu sein. Aber für die phylogenetisch ursprünglichste kann ich sie aus den von mir 1908 und 1909 angeführten Gründen nicht halten, da uns die hypothetische Stammesgeschichte von F. sanguwinea sowohl bio- logisch wie morphologisch auf ein rufa-ähnliches Vorstadium hin- weist, aus welchem sich das sanguinea-Stadium am natürlichsten erklären lässt. Eine vierte ontogenetische Entstehungsweise der sangwinea- fusca-Kolonien wird ım folgenden Abschnitt (unter a) angedeutet werden. [Neuerdings hat Viehmeyer im Zool. Anzeiger 19101?) meine Ansichten über den Ursprung des sozialen Parasitismus und der Sklaverei in anerkennender und sachlicher Form besprochen. Er wendet sich jedoch auch hier gegen die Entwickelung der Dulosis bei Formica aus einem Anfangsstadium des sozialen Parasitismus und möchte sie lieber mit Emery auf ein primitives Raubstadium zurückführen. Ich beschränke mich auf folgende Bemerkungen: 1. Das Hauptargument Viehmeyer’s ist auch hier: ein Parasit kann nicht der Ahne eines Räubers sein. Ich betone dagegen noch- mals, dass ein rufa-ähnliches Stadium der abhängigen Kolonie- gründung keineswegs die Entstehung einer räuberischen Entwicke- lungsrichtung ausschließt, und zwar weder bei den Weibchen '°) noch bei den Arbeiterinnen. Die Wahrscheinlichkeit, dass durch 12) XXXV, Nr. 14/15, 8. 450ff.: „Bemerkungen zu Wasmann’s neuester Arbeit: Über den Ursprung des sozialen Parasitismus, der Sklaverei und der Myr- mekophilie bei den Ameisen.“ 13) Von einer ‚verminderten Körpergröße der Weibchen“ (Viehmeyer, S. 454) ist bei rufa i. sp. tatsächlich keine Spur vorhanden. Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus ete. TEN eine Änderung der äußeren Lebensverhältnisse, welche die Ar- beiterinnen zum Puppenraub drängt, aus einer rufa-ähnlichen Form eine sanguinea-ähnliche Raubameise hervorgehen könne (1909, S.599ff.), scheint mir unbestreitbar. Hierbei sehe ich den Wechsel der äußeren Verhältnisse nur als Entwickelungsbedingungen oder Entwickelungsreize an, nicht aber, wie Viehmeyer mir zuschreibt, als Entwickelungsursachen. 2. Die positiven Gründe für die Annahme eines ursprünglichen Raubstadiums bei F\. sangurnea, das aus der selbständigen Kolonie- gründung ohne Vermittlung eines Adoptionsstadiums hervorgegangen sein soll, versagen gänzlich, wenn wir die tatsächlichen Verhältnisse ın der Gattung Formica berücksichtigen. Dass die F. Flori des baltischen Bernsteins nur morphologisch der F. fusca geglichen, biologisch dagegen „sicher auf einer viel tieferen Stufe gestanden habe“, ıst völlig unbewiesen. Von einem fusca-ähnlichen Stadium ausgehend kommen wir aber, wie ich 1909 eingehend gezeigt habe, nur auf dem Wege eines acervikolen rwfa-ähnlichen Stadiums bis zu jenem Punkte, wo sich einerseits der temporäre soziale Para- sıtismus und andererseits die Dulosis abzweigen. Wenn Viehmeyer aus Rücksicht auf das irrtümlich ange- wandte Prinzip „aus einem Parasiten kann kein Räuber werden“, sogar die monophyletische Entwickelung der Gattung Formica schließ- lich preiszugeben geneigt ist, und wenn er die Antwort auf eine ganze Reihe von Fragen, die durch meine Hypothese befriedigend gelöst werden, lieber schuldig bleiben will, als auf die Anwendung jenes Axioms verzichten (S. 456), so kann ich ihm hierin nicht folgen. Erst wenn es gelänge, an die Stelle meiner Hypothese eine sachlich besser begründete zu setzen, könnte ich mich der- selben anschließen. | 3. Weitere Momente zur Koloniegründung von sanguinea. Neue Versuche mit senguwinea-Weibcehen 1909. (Zu 1905, S. 201ff.; 1908, S. 369ff.; 1909, S. 598 ff.) a) Am 21. Juli 1909 beobachtete ich bei Lippspringe (Westf.) die sangwinea einer ziemlich starken sangwinea-fusca-Kolonie auf dem Raubzug. 40 m weit von ihrem Nest überfielen sie ein an einem alten Strunke unter Moos befindliches fusca-Nest, legten dann die geraubten Kokons zum größten Teil unter Moos in der Nähe desselben beisammen nieder und zogen weiter. Ob sie diese Puppen dort vergessen oder ob sie dieselben später abgeholt haben würden, weiß ich nicht. Jedenfalls hätte ein nach dem Paarungsflug umher- irrendes sangwinea-Weibchen hier mit leichter Mühe und ohne Kampf mehrere Dutzend Arbeiterkokons von frrsca für ihre Koloniegründung erhalten können. 478 Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus etc. Durch diese Beobachtung wird der Gedanke nahegelegt, dass den sangwinea-Weibchen, welche ja nach meinen Versuchen wie nach jenen Wheeler’s und Viehmeyer’s mit der größten Heftig- keit angegriffen werden, wenn sie in ein Nest der Sklavenart ein- dringen, und diesen Angriffen vielfach unterliegen !*), die Erlangung der Sklavenpuppen bedeutend erleichtert wird durch die Raubzüge der sangwinea-Arbeiterinnen, und zwar nicht bloß durch Schwächung und Einschüchterung der betreffenden selbständigen Kolonien der Sklavenameisen, was ıch bereits früher (1908, S. 370 u. 436) her- vorhob, sondern auch durch gelegentliche Puppenfunde, indem die sanguinea-Weibchen zufällig an solche Stellen gelangen, wo ent- weder sangwinea-Arbeiterinnen während einer Expedition einen Teil der geraubten Sklavenpuppen versteckt haben, oder wo die fliehen- den fusca ihre Puppen zeitweilig unterbrachten. Zur Kolonie- gründung durch Puppenraub und durch Adoption, die wieder verschiedene Kombinationen untereinander eingehen können (1908, S. 376), und zur Koloniegründung durch Allianz, welche Vieh- meyer neuerdings betonte (s. oben S. 460 ff.), kommt somit als vierte ontogenetische Möglichkeit auch die Koloniegründung durch zu- fälligen Puppenfund. Ich traf auf der Heide bei Exaten (Holland) sehr häufig entflügelte sanguinea-Weibcehen nach dem Paarungsfluge umherlaufend zu derselben Jahreszeit und Tageszeit, wo die Ar- beiterinnen der dort sehr zahlreichen sangwinea-Kolonien auf Raub- zügen sich befanden. Das Zusammentreffen der für den Puppen- raub wie für den Puppenfund der sanguinea-Weibehen besonders günstigen Umstände dürfte daher nicht so selten sein, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte. Es soll nun noch über einige neue Beobachtungen und Ver- suche über sangwinea-Weibchen berichtet werden, die aus dem Sommer und Herbst 1909 stammen. b) Am 1. August 1909 fand ich bei Lippspringe ein entflügeltes sanguinea-Weibehen unmittelbar neben einem Tetramorium-Neste versteckt. Ich nahm es mit und setzte es zu 3 alten fusca-Arbeite- rınnen und etwa 40 Arbeiterkokons und unbedeckten Puppen von fusca ın ein Beobachtungsglas mit Erde. Die 3 fusca griffen als- bald die sangwinea-Königin heftig an und zerrten sie an Fühlern und Beinen umher. Letztere wehrte sich nicht. Nachdem sie von ihren Angreiferinnen losgelassen war, schenkte sie den fusca-Kokons und Puppen, die von den Arbeiterinnen auf einen Haufen getragen wurden, nicht die geringste Aufmerksamkeit. Nach 4 Stunden dauerten die Angriffe der fusca noch fort, aber weniger heftig. 14) Abgesehen von den 1908, S. 369ff. mitgeteilten Versuchsergebnissen sei hier noch eine Beobachtung, aus Exaten (Holland) erwähnt. Ich fand einmal eine san- guinea-Königin vor einem rufibarbis-Neste, von einer Anzahl rufibarbis an Fühlern und Beinen festgehalten; als ich sie befreite, war sie bereits getötet. Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus etc. 479 Eine halbe Stunde später saßen die 3 fusca sogar ruhig neben dem sanguinea-Weibehen; dann aber begann wieder das Umherzerren. Auch jetzt verteidigte sich die sanguwinea-Königin nicht, sondern suchte die Angreiferinnen zu beschwichtigen, indem sie lebhaft mit ihren Fühlerspitzen deren Köpfe betrillerte. Auch am nächsten Tag bestand noch dasselbe Verhältnis. Die 3 fusca zerrten häufig die sanguinea-Königin umher und suchten sie mit gemeinschaftlicher Anstrengung an der senkrechten Glaswand hinaufzuschleppen, um sie hinauszuwerfen. Keine Gegenwehr von Seite des sangwinea- Weibcehens war zu bemerken. Am 3. August wiederum dasselbe Bild. Am Abend saß jedoch die sangwinea-Königin ruhig in der Nähe der fusca-Puppen, aber abseits von den 3 Arbeiterinnen, die ihr auszuweichen schienen. Einen Versuch, fusca-Puppen sich an- zueignen, machte dieses sangıinea-Weibchen ebensowenig wie einen Versuch zur Verteidigung. Am Morgen des 4. August lag eine der 3 fusca tot im Neste; ob sie von der sangwinea-Königin getötet worden war oder nicht, ließ sich nicht feststellen. Letztere wurde jetzt von den 2 noch ührigen fasca ruhig geduldet, aber um die Kokons und Puppen, die von den Arbeiterinnen gepflegt wurden, kümmerte sie sich gar nicht. Am 5. August lebte nur noch eine alte fusca, die sich mit der sangwinea-Königin vollkommen alliiert hatte. Letztere allein besorgte die Puppen. Am 6. August waren schon 2 frischentwickelte fusca-Arbeiterinnen da. Das ganze Verhalten dieser sangeinea-Königin war offenbar auf Adoption bei den alten Hilfsameisen gerichtet, nicht auf Raub und Erziehung einer jungen Hilfsameisengeneration; es glich viel- mehr demjenigen einer truncicola-Königin als einer sanguinea- oder rufa-Königin: passive Resistenz gegen die fusca-Arbeiterinnen und völlige Indifferenz gegen die fusca-Puppen. Dass 2 von den 3 alten fasca während der 4 Tage und Nächte dauernden An- griffe schließlich durch einen Biss der sangwinea-Königin getötet wurden, ließ sich nur vermuten, ebenso wie es 1906 bei der Auf- nahme einer truneicola-Königin in einem fusca-Nest der Fall ge- wesen war (1908, S. 356, dritter Versuch). c) In meinen Tagebuchnotizen sind vom 27. August 1909 2 unter Steinen gelegene sangzinea-Kolonien in Hoscheid (Ösling, N. Luxemburg)'’) erwähnt, jede mit einer Königin und Arbeiter- kokons. Die eine zählte ungefähr 50 mittelgroße Arbeiterinnen, die andere nur etwa 20 und zwar kleine; letztere hatte auch weniger Puppen als erstere. Ich halte beide Kolonien nicht für junge sangainea-Kolonien, sondern für zersplitterte Zweige alter, durch Lomechusa-Zucht degenerierter Kolonien, die auf der betreffenden, 15) Als Sklaven fand ich in allen sanguine«-Nestern von Hoscheid nur F\. fusca. 480 Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus ete. 486 m über dem Meer liegenden Bergkuppe zahlreich von mir ge- funden wurden. Die Zweige solcher zersplitterter Kolonien täuschen manchmal, wie schon oben (bei Viehmeyer’s Bericht oben S. 461) erwähnt wurde, junge, erst im Entstehen begriffene Kolonien vor, wenn sie zufällig keine Pseudogynen enthalten. Letztere sind nach den in meinen Versuchsnestern gemachten Erfahrungen meist kurz- lebiger als die Arbeiterinnen und verschwinden daher rascher aus dem Neste. In einigen Fällen gelang es durch Experiment, die Zusammengehörigkeit von weit (viele Meter) voneinander entfernten Kolonien nachzuweisen. So hatte ich z. B. am 26. August auf jener Bergkuppe bei Hoscheid eine schwache, kaum 80 Arbeiterinnen zählende sangwinea-Kolonie ausgegraben, deren Nest unter kleinen (Grauwackesschiefern in einem morschen Wurzelstrunk sich befand und 3 Lomechusa, 4 Microdon-Larven und Weibchen und Arbeite- rinnen von Leptothorax acervorum enthielt; Pseudogynen fanden sich nicht in der Kolonie, auch keine Königin von sanguinea. Die Mehrzahl der Arbeiterinnen wurde mit den Gästen in ein Beobach- tungsglas gesetzt. Am 28. August gab ich in dasselbe 3 Königinnen aus einer wenigstens 15—20 m entfernten sangwinea-Kolonie, welche ca. 300 Arbeiterinnen, eine Anzahl Pseudogynen, darunter auch frischentwickelte, 30—40 fusca-Sklaven und 35 alte Königinnen ent- hielt; auch dieses Nest war ausgegraben worden, aber ohne Lome- chusa zu finden. Die 3 Königinnen wurden von den sanguinea des Beobachtungsglases unmittelbar aufgenommen, als ob sie aus demselben Neste stammten. Ich musste daraus schließen, dass es um Zweige ein und derselben Kolonie sich handle. In der Um- gebung des Nestes mit den vielen Königinnen, aber doch viele Meter von demselben entfernt, fand ich am 28. August noch mehrere andere, schwächere sangwinea-Kolonien, welche meist unter 100 Ar- beiterinnen, aber mehrere Königinnen besaßen. Ich sehe sie alle für durch Lomechusa-Zucht zersplitterte Zweige einer und derselben sehr alten Kolonie an. Ähnliche Fälle von Zersplitterung einer sanguinea-Kolonie durch die Pflege von Lomechusa und ihrer Larven konnte ich auch früher schon bei der Statistik von 410 sanguwinea- Kolonien bei Exaten (Holland) von 1895--1899 konstatieren, wenn- gleich die einzelnen Zweige meist viel volkreicher blieben als auf dem stärker mit Lomechusa infizierten Gebiete bei Hoscheid. So erwiesen sich z. B. die Exatener Kolonienummern 2, 2a, 2b, 3, saund 4 als zu einer, Pseudogynen und Lomechusa enthaltenden, Kolonie gehörig; ferner die Kolonienummern 240, 240a, 169 und 169a desgleichen u. s. w. Es ist daher auf sanguwinea-Gebieten, die von Lomechusa bewohnt werden, große Vorsicht nötig, wenn man kleine, anscheinend „junge“ sangwinea-Kolonien findet, damit man sie nicht mit Zweigen einer alten, degenerierten Kolonie verwechsle; denn mit der Degeneration der Brutpflege infolge der Lomechusa- Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus etc. 481 Zucht geht auch die Körpergröße der Arbeiterinnen oft so weit zurück, dass sie derjenigen der ersten Generationen einer jungen Königin gleicht. Meist bietet die Beschaffenheit der Königinnen einen guten Anhaltspunkt zur Unterscheidung junger Kolonien von alten. In ersteren findet sich bei sanguwinea fast immer nur eine, aber dicke Königin; in letzteren dagegen häufig mehrere, aber magere. Kommt zu letzterem Umstande noch die Anwesen- heit von Pseudogynen hinzu, so kann man sicher auf eine alte, erst zersplitterte und dann wieder konzentrierte Kolonie schließen. Die Tatsache, dass man auf sangwinea-reichen Gebieten nur äußerst selten ganz junge, ın der Gründung begriffene Kolonien findet, bedarf bei der relativen Häufigkeit junger Kolonien anderer Ameisen (wie F. fusca und rufibarbis) jedenfalls einer Erklärung. Wahrscheinlich sind die folgenden zwei Momente hierfür zu berück- sichtigen: Erstens, dass die Zweigkoloniebildung bei sangwinea ein sehr häufiger Vorgang ıst, der zur Entstehung neuer bereits relativ volkreicher Nester mit eigenen Königinnen führt (1905, S. 201ff.; 1908, S. 377). Zweitens, dass bei sangzwinea, namentlich in schwächeren Kolonien, auch die Aufnahme fremder Köni- ginnen relativ leicht erfolgt (1908, S. 373 u. 377); sogar zwei Fälle von Aufnahme einer pratensis-Königin in sanguinea-Kolonien in freier Natur (Kol. Nr. 135 und 247 der sangwinea-Kolonien bei Exaten!®) sind mir bekannt. Die in alten, degenerierten sangwinea- Kolonien so häufige Pleometrose kann daher zum Teil wohl auch auf Adoption fremder, nach dem Paarungsflug umherirrender Weib- chen der eigenen Art zurückzuführen sein. Wir hätten also bei F. sangwinea folgende Formen der Gründung neuer Niederlassungen durch befruchtete Weib- chen zu unterscheiden: 1. Mit Hilfe von Arbeiterinnen der eigenen Kolonie: durch Zweigkoloniebildung. 2. Mit Hilfe von Arbeiterinnen fremder Kolonien der eigenen Art: durch Adoption von Weibchen aus fremden Kolonien. 3. Mit Hilfe von erwachsenen Arbeiterinnen der Hilfsameisen- arten: durch Adoption von sanguinea-Weibchen in selbständigen Kolonien von fusca oder rufibarbis. 4. Mit Hilfe von gewaltsam geraubten Arbeiterpuppen der Hilfsameisenarten: Koloniegründung durch Puppenraub. 5. Mit Hilfe von Puppen der Hilfsameisenart, die bei Plünderung eines Sklavennestes von den sangwinea-Arbeiterinnen zurückgelassen worden sind: Koloniegründung durch Puppenfund (siehe oben S. 478). 16) Neues über die zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien (Allg. Ztschr. f. Entomol. 1901—1902), S. 17 u. 19 Separ. XXX. ai 489 Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus ete. 6. Mit Hilfe von Weibchen der Hilfsameisenart, indem ein sanguimea-Weibchen mit einem fusca- oder rufibarbis-W eibchen nach dem Paarungsfluge sich zusammenfindet: Koloniegründung durch Allometrose (siehe oben S. 462). d) Am 30. August 1909 hatte ich bei Hoscheid zwei entflügelte sanguinea-Weibchen umherlaufend gefangen; sie wurden in ein Be- obachtungsglas mit Erde gesetzt, wo sie, ohne sich zu bekämpfen (vgl. 1908, S. 371f£.), bis zum 5. September blieben. An diesem Tage ließ ich sie in ein leeres Lubbocknest (b) einwandern, welches durch eine Glasröhre in Verbindung stand mit einem anderen Lubbocknest (a), das eine starke, mehrere Hundert Arbeiterinnen zählende fasca-Kolonie mit drei (eigenen) fusca-Königinnen enthielt, sowie auch zahlreiche Arbeiterkokons. Durch die Verbindung dieser beiden Nester sollte den sanguinea-Weibchen Gelegenheit gegeben werden, entweder durch Puppenraub oder durch Adoption ihre neue Kolonie zu gründen. Bald darauf kam eine fusca-Arbeiterin von (a) nach (b) herüber, griff aber die beiden, ın der Nähe der Verbindungsröhre sitzenden sanguwinea-Weibchen nicht an. Am 6. September saßen die letzteren immer noch ın (b), meist in der Nähe der Verbindungsröhre mit (a). Diese war an der Seite des fusca-Nestes mit Erde verstopft, an der Seite nach (b) dagegen offen. Die fausca ın (a) hatten offenbar die Anwesenheit der san- guwinea-Königinnen bemerkt und sich deshalb gegen (b) abgeschlossen. Auch waren sie mit ıhren Kokons in diejenige Ecke des Nestes (a) gewandert, welche von der Verbindungsröhre am weitesten entfernt war. Eine vereinzelte fusca ging aber auch heute ım Neste (b) umher, wobei sie den sanguinea-Weibchen auswich, welche ihrer- seits ebensowenig Aggressive gegen die fusca zeigten. Am 7. Sep- tember derselbe Stand. Jedoch war jetzt die Verbindungsröhre zwischen beiden Nestern auch auf der (b)-Seite mit Erde verstopft und bedeckt worden durch die beiden sanguinea-Weibchen. Da dieselben keine Miene machten, in das fusca-Nest einzudringen, nahm ich eine am Nachmittag heraus und ließ sie durch eine Glas- röhre in ein anderes Lubbocknest einwandern, welches ca. 30 fusca- Arbeiterinnen und eine exsecta-Arbeiterin (ohne Kokons oder Larven) enthielt!”). Als die sangwinea-Königin erschien, flüchteten die fusca sofort in die äußerste Ecke des Nestes, griffen sie aber bald darauf so heftig an, dass sie schon am Morgen des 8. September tot war. 5 fusca waren ın dem Kampfe mit ihr getötet worden. Fast alle übrigen fusca hatten sich mit der exsecta in ein Anhang- glas an der entgegengesetzten Seite des Nestes zurückgezogen, möglichst weit fort von dem sangwrnea-W eibchen. 17) Die fusca dieses Nestes waren von den exseeta aus Arbeiterkokons erzogen worden, die ich ihnen gegeben hatte (siehe ewseeta-fusca II, 1908, S. 726ff.). I, Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus etc. 483 Die im Lubbocknest (b) zurückgelassene sangwrnea-Königin saß am 8. September immer noch allein dort. Obwohl jetzt die ganze Verbindungsröhre nach (a) von den fusca mit Erde angefüllt worden war, hätte sie sich doch leicht hindurchgraben können, um nach (a) zu gelangen. Da dies nicht geschah, gab ich an diesem Tage in das Nest (b) 50 Arbeiterkokons von F. rufibarbis. Die sanguinea- Königin begann sofort, die Kokons zusammenzutragen. Bei Er- hellung des Nestes ergriff sie stets einen Kokon, um mit demselben zu flüchten. Am Morgen des 9. September war von ıhr schon eine junge, noch weißgelbe rufibarbis-Arbeiterin aus dem Kokon gezogen worden. Die fusca in (a) saßen noch immer an der von der Verbindungs- röhre nach (b) am weitesten abgelegenen Stelle ihres Nestes; 3 Ar- beiterinnen hielten jedoch Wache an der Mündung der verstopften Verbindungsröhre. Am 10. September waren schon 2 junge rufi- barbis vom sanguinea-Weibchen aus den Kokons gezogen, ferner 2 noch weiße Puppen. Die sangwinea-Königin hatte nun auf ihrer Seite den Eingang der Verbindungsröhre ringsum mit Erde zuge- baut, um das Eindringen der fsca zu verhindern. Am Nachmittag holte ich aus demselben rufibarbis-Neste, aus welchem am 8. Sep- tember die Kokons genommen worden waren, 3 alte rufibarbis- Arbeiterinnen mit 8 Arbeiterkokons und setzte sie in ein Glas, das mit einer der Öffnungen im Holzrahmen des Lubbocknestes (b) ver- bunden wurde, wo die sangsinea-Königin mit den rufibarbis-Kokons und den 2 frischentwickelten Arbeiterinnen aus der nämlichen Kolonie sich befand. Eine alte rwföbarbis, die nach (b) hinüberging, ergriff sofort einen der dort liegenden Kokons, um ihn in das An- hangglas zu tragen. Sofort begann die sangwinea-Königin damit, die übrigen Kokons an die entgegengesetzte Seite des Nestes zu bringen. Bald darauf tötete sie eine der alten rwufibarbis, von welcher sie angegriffen worden war. Am Abend hingen auch die Leichen der zwei anderen alten r«fibarbis an den Beinen der sanguinea-Königin. Im Laufe des Nachmittags hatte ich noch 60 weitere Arbeiterkokons aus demselben r«föbarbis-Neste ın das Lub- bocknest (b) gegeben. Am Morgen des 11. September lief die sanguinea-Königin unruhig im Neste umher, kehrte aber dann zu den von ihr zusammengetragenen Kokons zurück. Es waren bereits 4 frischentwickelte rufibarbis vorhanden, die bei ihr saßen, 2 davon noch weißlich. Die fusea des Nachbarnestes (a) waren unterdessen in die Mitte ihres Nestes zurückgekehrt und schienen keine Gefahr mehr von der sanguinea-Königin in (b) zu wittern. Am 13. September hatte das sangwinea-Weibchen eine dichte Erdwand an einem Ende des Nestes (b) erbaut, welche die rufibarbis- Kokons und die (jetzt 5) von ihr erzogenen jungen Hilfsameisen vom übrigen größeren, leeren Teile desselben Beobachtungsnestes 31* 484 Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus etc. ringsum abschloss. Am 17. September waren 7 rufibarbis ent- wickelt. Nur noch etwa ein Dutzend rufibarbis-Kokons lagen in dem von der sanguinea-Königin umwallten Nestteil. Die übrigen (gegen 100) waren von fusca-Arbeiterinnen, die aus dem Nachbar- nest (a) während der Nacht herübergekommen waren, gestohlen worden und lagen, weit von dem sanguinea-Nest entfernt, nahe an der Verbindungsröhre mit (a) aufgestapelt. Ungefähr die Hälfte dieser Kokons wurden von den fusca allmählich ın ihr Lubbock- nest (a) hinübergetragen und dort adoptiert. Ich unterbrach nun am 13. September die Verbindung zwischen (a) und (b), indem ich die Glasröhre fortnahm und die Nester schloss. In (b) waren 2 fusca mit etwa 50 rufibarbis-Kokons zurückgeblieben. Am 16. September waren 8 junge rufibarbis bei der sanguinea- Königin zu sehen. Die bereits ausgefärbten unter ihnen beteiligten sich jetzt auch an der Aufführung von Erdwänden gegen den übrigen Nestraum, wo die 2 frrsca mit den gestohlenen Kokons saßen. Die bei der sanguinea-Königin zurückgebliebenen (10-12) Kokons schienen bereits viel reifer zu sein (dunkler durchscheinend) als die bei den fusca liegenden; ob diese Beschleunigung der Entwickelung mit der Pflege der Kokons durch die sanguinea-Königin zusammen- hing, wage ich nicht zu entscheiden. Weder im Neste (b) noch ım Neste (a) hatten die fusca bisher eine rufibarbis aus den Kokons gezogen. Am 17. September noch derselbe Stand in (a) und (b). Am 19. lag jedoch die sangwinea-Königin tot und mit abgetrenntem Kopfe in dem umwallten Nestteil von (b), etwas abseits von den 8 durch sie erzogenen rufibarbis. Dass sie von letzteren getötet wurde, ist sehr unwahrscheinlich; vermutlich starb sie an den Folgen der Kämpfe mit den alten rufibarbis (10. September), die einer sehr großen, kräftigen Rasse angehört hatten. Die 2 fusca, welche außerhalb des Walles des sangzuinea-Nestes in (b) sich aufhielten, hatten unterdessen 7 junge, noch ganz weiß- liche rufibarbis aus den Kokons gezogen; 3 derselben waren getötet, 4 lebten noch. Im Lubbocknest (a) war jedoch aus den gleich zahlreichen rwufibarbis-Kokons noch keine einzige Ameise erzogen worden. Am 22. September ebenso. Dagegen waren an diesem Tage im Neste (b) bereits 12 junge rufibarbis bei den 2 fusca, welche sie erzogen hatten, zu sehen; sie schienen ganz adoptiert zu sein. Die von der verstorbenen sangwinea-Königin aufgezogenen 8 rufibarbis hielten sich, obwohl aus Puppen der nämlichen Kolonie stammend, mit dem Reste ihrer Puppen völlig getrennt von ihren durch fusca erzogenen Schwestern. Ich verband jetzt wieder die beiden Nester (a) und (b) durch eine Glasröhre, um zu sehen, wie die durch fasca ın (b) erzogenen und adoptierten jungen rufibarbis von den fusca derselben Kolonie Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus etc. 485 in (a) behandelt werden würden. Am 23. hatten die 2 fusca mit ihren Koloniegenossen ın (a) sich wieder vereinigt und alle Kokons waren in das letztere Nest herübergeschafft; die jungen von den fusca ın (b) aufgezogenen rufibarbis waren jedoch sämtlich getötet worden und lagen vor dem Eingang der Verbindungsröhre beider Nester in (a). Am 26. waren mehrere Dutzend junger, noch weiß- gelber rufibarbis ım Neste (a) aus den Kokons gezogen worden, lagen aber alle als Leichen ın der Mitte des Nestes aufgehäuft, teilweise stark angefressen. Eine definitive Aufnahme von rufibarbis-Arbeiterinnen in einer selbständigen faxsca-Kolonie findet also selbst dann nicht statt, wenn die rufibarbis durch isolierte Arbeiterinnen jener Kolonie er- zogen worden sınd, obwohl fusca und rufibarbis nahe verwandte Rassen derselben Art sind. Neue Versuche über die Aufzucht von fusea-Kokons durch rufa und truncicola werden unten folgen. In bezug auf die Koloniegründung von sanguinea ergab die ebenerwähnte Versuchsreihe keine neuen Resultate. Sie zeigt jedoch, dass das Benehmen der sangwuinea-Weibchen gegenüber den Arbeiterkokons der Hilfsameisenarten ein sehr verschiedenes sein kann. Die rufibarbis-Kokons wurden von der Königin der letzten Versuchsreihe mit großem Eifer ın Beschlag genommen und erzogen, während die obenerwähnte sangıwwnea-Königin (S. 479) für die fusca- Kokons nicht das geringste Interesse gezeigt hatte. Und doch stammten beide Königinnen aus Gegenden, wo ich (sowohl beı Lipp- springe als bei Hoscheid) stets fusca, und zwar nur fusca, als Hilfsameisen in den sanguinea-Kolonien gefunden hatte. Inwieweit die Verschiedenheiten des individuellen Verhaltens der sanguinea- Königinnen bei ıhrer Koloniegründung auf äußere Umstände oder auf ererbte Anlagen zurückzuführen ıst, können erst spätere For- schungen ergeben. Möglicherweise stellen auch die sanguwinea- Kolonien ein und derselben Gegend einen aus verschiedenen Bio- typen gemischten Phänotypus dar, ähnlich wie die Gerstenpflanzen eines und desselben Ackers nach Johannsen'*). 4. Tötung von sangwinea-Arbeiterinnen durch die eigenen Sklaven (fusca). (Zu 1909, Kap. 2, S. 599 ff.) In einem meiner Versuchsnester machte ıch 1908 und 1909 interessante Beobachtungen über das anormale Verhalten von fusca-Sklaven zu den sanguinea-Arbeiterinnen, dıe von ihnen selber aus den Eiern der sangeinea-Königinnen der betreffenden gemischten Kolonie erzogen worden waren. Das Beobachtungsnest war, wie bei den früheren Versuchen 18) Elemente der exakten Erblichkeitslehre, Jena 1909. 486 Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus etc. von 1897, 1898, 1900 — 1907!) eigens eingerichtet worden, um die Frage zu beantworten, ob die Pseudogynen blastogenen Ursprungs seien, d. h. auf einer bestimmten Keimesbeschaffenheit der be- treffenden sanguinea-Königinnen beruhen oder nicht. Die beiden ersten dieser Versuche waren resultatlos verlaufen, weil die Kolonie einging. Der dritte Versuch hatte das positive Ergebnis, dass in dem Neste, welches zwei Königinnen aus einer stark pseudogynen- haltigen Kolonie mit Arbeiterinnen (sanguinea und rufibarbıs) aus normalen Kolonien enthielt, von 1903—1907 alljährlich eine Anzahl kleiner, aber völlig normaler sanguinea-Arbeiterinnen erzogen wurden, niemals jedoch auch nur eine einzige Pseudogyne. Das Resultat war also das nämliche wie bei den Versuchen Viehmeyer’s von 1902— 19042). Die obige Bemerkung über das anormale Verhalten der fusca- Sklaven gegenüber den von ihnen erzogenen sangwinea-Arbeiterinnen bezieht sich auf einen vierten Versuch, welcher im Mai 1906 be- gann. Ich hatte aus einer pseudogynenhaltigen Kolonie vom Johannis- berg bei Kayl (S. Luxemburg), welche zahlreiche stenonote ent- flügelte Weibchen enthielt?!), 7 dieser Weibchen, ferner eine Anzahl Pseudogynen und Arbeiterinnen von sangwinea mitgenommen und in ein Lubbocknest einquartiert. Hier erhielten sie Arbeiterkokons von fiusca aus normalen Kolonien zur Erziehung. Schon im Sep- tember 1906 waren alle alten Pseudogynen und Arbeiterinnen von sanguinea in dem Beobachtungsneste gestorben, und es lebten nur noch 4 Weibchen mit etwa 50 seither erzogenen fusca-Sklaven. Die Sterblichkeit der sangninea in diesem Neste erkläre ich mır daraus, dass sie aus einer sehr alten, durch langjährige Lomechusa- Zucht degenerierten Kolonie stammten; zudem scheinen die meisten der Weibchen unbefruchtet gewesen zu sein. Durch Aufzucht neuer Sklaven aus den im Neste noch vorhandenen fusca-Kokons stieg die Sklavenzahl bis November auf 8S0—100. Von den 4 Weibchen war unterdessen noch eines gestorben. Im folgenden Jahre (1907) erschienen zwar seit Anfang März Eierklumpen und seit Anfang Mai auch junge Larven, aber sie wurden bis Ende Mai alle wieder aufgefressen. Im Januar 1908 waren wieder Bierklumpen vorhanden; es lebten noch 2 sanguinea- Weibchen und etwa 50 fusca-Sklaven im Neste. Am 23. März waren bereits zahlreiche Arbeiterlarven sichtbar, am 8. April schon 19) Näheres über diese Versuche siehe in: Ameisen und Ameisengäste von Luxemburg, III, 1909, S. 64—69. 20) Experimente zuWasmann’s Lomechusa-Pseudogynentheorie (Allg. Ztschr. f. Entomol. IX, 1904, Nr. 17—18). 21) Die große Zahl derselben ist wahrscheinlich durch nachträgliche Zentrali- sierung der früher in viele Zweignester zersplitterten Kolonie zu erklären. Vgl. Ameisen von Luxemburg, III, S. 52. Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus etc. 487 4 kleine Arbeiterkokons, die aber bis auf einen wieder verschwanden. Anfang Juni waren 10 Kokons da, am 15. zahlreiche, am 26. Juli nur noch 9; die übrigen Puppen waren wieder aufgefressen worden. Die am 29. Juni und den folgenden Tagen aus den Kokons ge- zogenen jungen Arbeiterinnen waren sämtlich normal, wenngleich klein; eine Pseudogyne war nicht darunter. Insoweit bestätigte auch dieser Versuch die Ergebnisse des dritten, obenerwähnten. Aber merkwürdigerweise wurden die sämtlichen frischentwickelten sangwinea-Arbeiterinnen in dem Versuchsneste Nr.4 von den eigenen fusca-Sklaven wie feindliche Ameisen umhergezerrt und vor der Aus- färbung getötet. Ebenso ging es 1909. Am 8. Februar sah ich Eierklumpen im Neste, am 21. schon junge Larven, am 5. April bereits zahl- reiche erwachsene Larven und 6 Arbeiterkokons. Am 28. Juni erhielt die Kolonie 20 Arbeiterkokons von rafibarbis zur Ver- stärkung, die jedoch sämtlich geöffnet und die Puppen gefressen wurden. Von den zahlreichen sangrinea-Kokons, die aus den Larven dieser Kolonie hervorgingen, wurden die meisten als Puppen ver- zehrt, und die aus den übrigen erzogenen Arbeiterinnen vor ihrer Ausfärbung durch die fusca getötet. Am 7. September waren außer den 2 Königinnen von sanguinea noch 20 fusca-Arbeiterinnen am Leben. Das merkwürdige Verhalten der fusca dieser gemischten Kolonie gegen die aus den Eiern ıhrer eigenen sanguinea-Königinnen stammen- den und von ihnen selber erzogenen Arbeiterinnen erklärt sich viel- leicht daraus, dass die fusca-Sklaven mehrere Jahre lang nur mit den sanguwinea-W eibchen zusammengelebt hatten, bevor es zur Aufzucht der ersten Arbeiterinnen aus den Eiern der letzteren kam. Es scheint, dass infolgedessen der Arbeitergeruch von sanguinea auf sie einen fremden, „feindlichen“ Eindruck machte. Anthro- pomorphistische Momente, wie „erwachendes Unabhängigkeitsgefühl der Sklaven“ u. s. w. dürfen wir jedenfalls zur Erklärung dieser Erscheinung nicht herbeiziehen. 5. Neue Versuche mit Zruneicola-Weibchen 1909. (Zu 1908, S. 354ff.; 1909, S. 684.) In jener truneicola-Kolonie zu Lippspringe (bei Paderborn), die 1909 als Zentralkolonie für die Erziehung von Atemeles pubicollis diente??), hatte ich außer einer Anzahl geflügelter Weibchen auch einige ungeflügelte gefangen, die gleich ersteren auf der Nestober- fläche oder nahe beim Neste umherliefen. Zwei der letzteren, die 22) Siehe: Ursprung und Wesen der Symphilie (Biol. Centralbl. 1910, Nr. 3ff.), S. 100, 488 Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus ete einen .etwas dickeren Hinterleib hatten und vielleicht befruchtet waren), nahm ich zu Versuchszwecken mit. Das erste derselben wurde am 18. Juli in ein Beobachtungsglas mit Nestmaterial aus dem truncicola-Haufen gesetzt, und 5 unbedeckte Arbeiterpuppen und 4 Arbeiterkokons von fusca dazu gegeben. Das Weibchen grub sich eine Höhlung im Nestmaterial und trug auch einige der unbe- deckten fusca-Puppen hinein. Weiterhin gab es sich jedoch mit der Pflege der Kokons und Puppen von fusca gar nicht ab. Ich setzte deshalb am 20. Juli ungefähr zwei Dutzend truneicola-Arbeite- rinnen aus der nämlichen Kolonie hinzu, un durch sie die fusca- Puppen erziehen zu lassen. (Die Fortsetzung dieses Versuches siehe ım 6. Abschnitte.) Das zweite entflügelte trancicola-W eibchen, das ıch unmittelbar neben dem Nesthaufen jener Kolonie einige Tage später fing, wurde ebenfalls in dieses Beobachtungsglas gesetzt. Nach Luxemburg zurückgekehrt übertrug ich am 18. August die beiden truncicola-Weibcehen in ein leeres Lubbocknest (b), in welches ich vorher ca. 50 Arbeiterkokons von fusca getan hatte. Dann verband ich dieses Nest durch eine Glasröhre mit einem anderen Lubbocknest (a), in welchem eine starke fusca-Kolonie mit 3 Königinnen sich befand *). Die beiden truncicola-Weibchen leckten eifrig an dem Zucker, den ich in das Lubbocknest (b) gestreut hatte, um die fusca aus dem Neste (a) herüberzulocken. Gewöhn- lich saßen die beiden Weibchen nahe beisammen. Einzelne fusca- Arbeiterinnen, die von (a) kamen, griffen die trumeicola-W eibchen nicht an, sondern begannen sofort, die fusca-Kokons aus (b) nach (a) zu tragen. Nach zwei Stunden waren sämtliche Kokons hinüber- gebracht. Die Zremeicola-Weibchen hatten sich um dieselben gar nicht gekümmert; sie saßen, ohne von den vorüberkommenden fusca behelligt zu werden, nahe am Eingang der Verbindungsröhre beider Nester. Am 19. August morgens hatten sie den Eingang der Röhre mit Material aus dem trumneicola-Nest verschlossen. Am 20. derselbe Stand; die beiden trumeicola-Weibchen saßen immer noch in (b), nahe vor dem verstopften Eingang der Verbindungs- röhre. Am 21. nahm ich eines der beiden Weibchen heraus und setzte es in das Vornest eines Zruncicola-Lubbocknestes, ın welchem ich zahlreiche truneicola-Arbeiterinnen aus derselben Lippspringer Kolonie mit den von ihnen erzogenen fusca-Arbeiterinnen hielt. Vier truncicola, die im Vorneste anwesend waren, nahmen das Weib- 23) Männchen von truncicola habe ich in dieser Kolonie 1909 nicht gefunden, wohl aber eine sonderbare gynendromorphe Form mit männlicher Präponderanz, die anderswo beschrieben werden soll. Zwei andere truncicola-Kolonien auf demselben (Gebiete hatten dagegen zahlreiche Männchen; eine Befruchtung der obigen Weibchen auf der Nestoberfläche durch fremde Männchen ist daher nicht ausgeschlossen. 24) Mit diesem Doppelnest wurden auch die oben (S. 482) erwähnten Ver- suche angestellt. Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus etc. 489 chen sofort auf; am 22. lag es jedoch tot im Vorneste, ohne dass sich die Todesursache feststellen ließ. Das andere im Lubbockneste (b) zurückgelassene Weibchen blieb von den benachbarten fusca völlig unbehelligt; den Eingang zur Verbindungsröhre hatte es jetzt durch einen kleinen Haufen Erde und Nestmaterial bedeckt. Es schien vor dem fusca-Neste „Quarantaine“* zu halten, ähnlich wie die Atemeles es meist tun, wenn sie beim Nestwechsel zu einer fremden Wirtsart übergehen; dadurch nehmen sie allmählich den Nestgeruch der letzteren an, wodurch ihre Aufnahme erleichtert wird. Endlich, am 23. August morgens, saß die truncicola-Königin mitten ım fusca-Nest (a). Der kleine Erdhaufen, der den Eingang der Verbindungsröhre von (b) nach (a) verschlossen hatte, zeigte ein Loch, durch welches sıe während der Nacht hinübergegangen war. Sie saß jetzt auf der Unterseite der oberen Glasscheibe des fusca-Nestes, unmittelbar über einer Anzahl fusca und Arbeiterkokons; auch bei der Erhellung des Nestes wurde sie von den fusca nicht angegriffen. Eine von den 3 fusca-Königinnen des Nestes (a) hatte sich allein in eine Ecke geflüchtet, abseits von den übrigen Ameisen. Ob das mit der Ankunft der truncicola-Königin zusammenhing, wage ich nicht zu entscheiden; später kehrte sie wieder unter die Arbeiterinnen zu- rück. Bald darauf sah ich, wie eine fusca das truncicola-W eibchen mit den Fühlern streichelte, während eine andere es an einem Beine festhielt. Einige Stunden später hatten die fusca ihre Kokons und Larven von der Stelle, wo die Zruncicola-Königin saß, fort- gebracht; 3 fusca-Arbeiterinnen waren bei ihr, von denen eine auf ihrem Rücken herumstieg und sie zu beißen suchte; die anderen verhielten sich ganz friedlich gegen sie; sie reagierte auch nicht gegen die vorübergehenden Angriffe einzelner Arbeiterinnen, sondern blieb, abgesehen von ihren beschwichtigenden Fühlerschlägen, völlig passiv. Allmählich wurden die Angriffe häufiger; um 2 Uhr nach- mittags wurde die Zrunecicola-Königin von 2 fusca umhergezerrt, um 4 Uhr von einer; dann blieb sie wieder unbehelligt, saß aber jetzt abseits von den um ihre Königinnen und ihre Kokons ver- sammelten fusca. Am Morgen des 24. August saß sie allein und fern von den fusca nahe dem Eingang der nach (b) führenden Verbindungsröhre. Sie verhielt sich dort völlig unbeweglich und wurde von den ihr begegnenden fusca nicht angegriffen, sondern nur mit den Fühlern berührt. Von da ab wurde ihre Anwesenheit überhaupt vollkommen ignoriert, aber sie machte auch ihrerseits keine neuen Annäherungs- versuche an die fusca, sondern blieb an jenem Platze sitzen bis zum 3. September. Am 2. sah ich, wie einige fusca sich ihr näherten und sie mit den Fühlern streichelten. Am 5. vormittags wurde sie von mehreren fusca an den Fühlern und Beinen umhergezerrt, 490 Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus ete. während 2 andere ihren Kopf und ihren Hinterleib beleckten; sie schien bereits halbtot. Am 6. September lag ihr Hinterleib vom Vorderkörper getrennt; sie war definitiv getötet worden. Wenn die fusca-Kolonie, mit deren Nest ich diese truncicola- Königin in Verbindung gesetzt hatte, nicht so stark gewesen wäre (einige Hundert Arbeiterinnen mit 3 Königinnen), wäre höchst- wahrscheinlich ıhre Aufnahme erfolgt, da ıhr erster Annäherungs- versuch am 23. August ohne Feindseligkeiten von Seite der fusea gelungen war. Neue Versuche sollen mit einer schwachen fusca- Kolonie angestellt werden, die nur 1 Königin besitzt, um zu sehen, ob die trumeicola-Königin vielleicht gleich der rufa-Königin (1909, S. 663ff.) nach ıhrer Aufnahme die Königin der Hilfsameisenart tötet. Meine früheren Versuche (1908, S. 354fl.) waren mit weisel- losen Beobachtungsnestern von fusca angestellt worden. 6. Neue Versuche über die Aufzucht von fusca-Arbeiterinnen durch Formica truneicola. (ZuN1905,18. 16788; 1908,93232178,,9726 11.190957 52600) Bei meinen früheren Versuchen zeigten die Arbeiterinnen von FF. truneicola und exsecta, deren Weibchen ıhre Kolonien durch Adoption bei fusca gründen, nach dem Aussterben ihrer ursprüng- lichen Hilfsameisen in der betreffenden Kolonie immer noch die Neigung, fusca-Arbeiterinnen zu erziehen, während die Arbeiterinnen anderer Arten gar nicht, und jene von anderen Rassen der eigenen Art (truncicola 1908, S. 326) nur in geringerer Zahl aufgezogen wurden. Ja sogar ın alten, bereits mehr als 6jährigen ‚Kolonien, deren Arbeiterinnen keine individuelle Erinnerung (Geruchsgedächtnis) an die ursprünglichen Hilfsameisen mehr haben konnten, blieb diese Neigung bestehen. Neue Versuche über die Aufzucht von fusca-Puppen durch truncicola- Arbeiterinnen einer alten, schon lange selbständigen Kolonie begann ich im Juli 1909 in Lippspringe. In ein Beobach- tungsglas, welches 2 entflügelte Weibchen und 20 Arbeiterinnen jener Kolonie enthielt, waren auch 5 unbedeckte Arbeiterpuppen und 4 Arbeiterkokons von fusca gegeben worden (siehe oben S. 488). Am 21. Juli wurden noch 80 Arbeiterkokons von fusca dazu gesetzt, am 22. noch 20 alte Zrumncicola-Arbeiterinnen. Die truncicola adop- tierten zwar die frsca-Kokons und schichteten sie auf; aber sie gaben sich mit der Pflege derselben weniger eifrig ab als die Luxemburger trauncicola bei meinen früheren Versuchen es getan hatten. Sıe öffneten jedoch die Kokons nicht, um die Puppen zu fressen, wie sie es mit Puppen fremder Arten zu tun pflegen. Auch einige erwachsene Arbeiterlarven von fusca waren mit den Kokons am 21. ihnen gegeben worden; auch diese wurden nicht gefressen, sondern adoptiert. Am 1. August war noch keine fusca-Arbeiterin Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus ete. 491 erzogen. Ich gab nun abermals ca. 100 Arbeiterkokons und unbe- deckte Puppen von fusca in das Beobachtungsglas und nahm dasselbe später nach Luxemburg mit. Am 17. August war noch keine fusca- Arbeiterin zu sehen; die Kokons wurden immer noch gepflegt, aber die unbedeckten Puppen waren gefressen worden. Am 18. be- merkte ich endlich eine bereits ausgefärbte fusca-Arbeiterin, als ich die Ameisen aus dem Beobachtungsglas in ein Lubbocknest über- wandern ließ. Von da an nahm die Zahl der fusca täglich zu; am 19. waren schon 5 sichtbar. Am 20. gab ich ın ein Vornest noch ca. 200 neue Arbeiterkokons von fusca aus Luxemburg; sie wurden von den Lippspringer truneicola sofort abgeholt und im Hauptnest aufgespeichert. Am 25. August waren schon gegen 50 fusca-Ar- beiterinnen aufgezogen, viele darunter noch unausgefärbt; sie wurden von den truncicola niemals gewaltsam behandelt, sondern völlig wie ihresgleichen. Am 3. September betrug die Zahl der fusca schon ungefähr 100, am 5. September 150, gegenwärtig (Januar 1910) mehrere Hunderte. Im Vergleich zu meinen früheren Versuchen mit trumeicola von Luxemburg ergab sich nur insofern ein Unterschied, als die Lippspringer truneicola sich in den ersten Wochen mit der Pflege der fusca-Kokons weniger eifrig abgaben, als es bei den Luxem- burger Versuchen der Fall gewesen war. Vielleicht waren hieran auch die beschränkten Verhältnisse in dem Beobachtungsglase teil- weise schuld; denn nach der Übersiedlung in das Lubbocknest ging die Erziehung der fusca rasch voran. 7. Vergleichsversuche über die Aufzucht von fusca-Arbeiterinnen durch Formica rufa. (Zu 1908, S. 330ff. und 1909, S. 601.) Zu derselben Zeit, als ich ım Juli 1909 die neuen Versuche über Erziehung der fusca-Puppen durch F. truncicola begann, richtete ich auch ein Kontrollnest ein mit F. rufa. Es wurden ungefähr 50 Arbeiterinnen einer großen, hellen rufa-Form in ein Beobachtungsgias mit Nestmaterial gesetzt und ihnen über 100 un- bedeckte Arbeiterpuppen von fusca und einige wenige Arbeiter- kokons gegeben. Wenn die Erziehung der fusca durch truncicola einfach darauf beruhte, dass einige „zufällig‘ in dem fremden Neste zur Entwickelung gekommene fxsca durch die Arbeiterinnen der anderen Art adoptiert wurden, wie es Darwin’s Hypothese vom Ursprung der Sklaverei bei F\ sangwinea annimmt (vgl. 1905, S. 117ff. und 1909, S. 601), so war zu erwarten, dass in dem Kontrollneste von rufa ein weit größerer Prozentsatz von fusca zur Entwickelung kommen würde, da hier eine große Zahl un- bedeckter Arbeiterpuppen von fuwsca vorhanden war, die einer 492 Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus ete. Hilfe beim Ausschlüpfen viel weniger bedurften als die in Kokons eingeschlossenen „bedeckten* Puppen. Am 17. August waren jedoch sämtliche frsca-Puppen und Kokons ın dem rafa-Neste teils gefressen, teils verschimmelt. Die rufa hatten sich mit ihrer Pflege gar nicht abgegeben und es war auch keine fusca-Arbeiterin „zufällig“ zur Entwickelung gekommen. Dieser Versuch bestätigt somit die früheren Ergebnisse, dass eine Auf- zucht von feusca-Puppen durch rufa-Arbeiterinnen alter Kolonien nicht stattfindet. 8. Weitere Schicksale der natürlichen Adoptionskolonie rufa-fusca 1. von Luxemburg. (Zu 1908, 8. 260ff.; 1909, S. 601, Anm. 1.) Nachdem, wie 1909, S. 601 berichtet wurde, diese Kolonie in dem Versuchsneste fast ausgestorben war, und außer der rufa- Königin nur noch 5 rufa-Arbeiterinnen am Leben waren, hatte sich aus den ihnen gegebenen, aber völlig vernachlässigten Arbeiter- kokons von fusca eine Arbeiterin selbst befreit (30. Juni 1909). Am 1. Juli sah ich eine zweite fusca, die gerade im Begriffe war, aus dem durchbissenen Kokon sıch selbst zu befreien. Von einer rufa, die hinzukam, wurde sie hierbei nicht unterstützt, sondern mit ge- öffneten Kiefern angefahren und umhergezerrt wie eine feindliche Ameise. Diese beiden fusca zogen dann bis zum 6. Juli noch 5 weitere Gefährtinnen aus den Kokons, so dass also jetzt 7 fusca vorhanden waren, die sich mit der Königin und den 3 noch übrigen rufa-Arbeiterinnen alliierten. Die Kolonie sollte nun durch neue fusca-Hilfsameisen verstärkt werden. Mein Kollege P. H. Klene S. J. gab ihr deshalb während meiner Abwesenheit eine große Zahl Ar- beiterkokons von fausca. Als ich zurückkam, waren am 16. August schon ca. 60 fusca aufgezogen; von den rzfa-Arbeiterinnen lebte noch eine. Am 4. September gab ich ihnen abermals etwa 100 Ar- beiterkokons von fusca. Am 27. September waren ca. 150 fusca- Arbeiterinnen bei der rwfa-Königin vorhanden; die letzte rufa- Arbeiterin war unterdessen gestorben. Die Kolonie war hiermit wieder ım Stadium 1 angelangt, in welchem sie sich vor ihrer Ent- deckung (April 1906) im Jahre 1905 befunden hatte. Auch in diesem Versuchsneste hat somit keine Aufzucht von fusca-Puppen durch rufa-Arbeiterinnen stattgefunden, obwohl es sich um eine junge, natürliche Adoptionskolonie rufa- fusca handelte, und die rwfa-Arbeiterinnen dieses Nestes von den fusca erzogen worden waren. Wie schon 1909, S. 601 bemerkt wurde, ist dieses Verhalten der rufa gegen die Arbeiterkokons von fusca wahrscheinlich dadurch zu erklären, dass bei den Weibchen von rufa die Koloniegründung mit fausca noch nicht obligatorisch, sondern bloß fakultativ ist, Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus etc. 493 9. Aufnahme fremder Königinnen bei F. rufa. (Zu 1905, S. 198.) Da die Weibchen von F. vufa ihre neuen Niederlassungen ge- wöhnlich durch Zweigkoloniebildung mit Hilfe von Arbeiterinnen der eigenen Kolonie gründen, ist es von besonderem Interesse, wie sich die rwfa-Arbeiterinnen gegenüber befruchteten Weibchen fremder Kolonien verhalten. Wenn sie dieselben relativ leicht aufnehmen, sind die roufa-Weibchen um so seltener genötigt, bei fusca-Arbeiterinnen sich adoptieren zu lassen. Schon auf Grund der früheren Versuche hatte ich festgestellt, dass die Adoption von Königinnen fremder Kolonien bei # ruufa ohne besondere Schwierig- keiten erfolgt. Im Juli 1909 (Lippspringe) stellte ich hierüber noch die zwei folgenden Versuche an. Am 29. Juli wurde eine r«fa-Königin, die aus einer Kolonie von kleiner, dunkler Rasse (der Var. rufo-pratensis sich nähernd) gefangen worden war, in ein Beobachtungsglas gesetzt, welches 80 rufa-Arbeiterinnen einer fremden Kolonie von sehr großer, reiner Rasse enthielt. Anfangs wurde sie von mehreren Arbeite- rınnen an den Fühlern und Beinen umhergezerrt und sogar mit eingekrümmtem Hinterleib gebissen; andere Arbeiterinnen dagegen begannen sie zu belecken. Nach 5 Minuten hatten die Misshand- lungen aufgehört; die fremde rwfa-Königin war völlig aufge- nommen, wurde von den Arbeiterinnen konstant umlagert, mit den Fühlern gestreichelt, beleckt und gefüttert. Aın 4. August nahm ich abermals aus einer anderen rufa- Kolonie von kleiner, der Var. rufo-pratensis nahestehenden Rasse eine Königin und setzte sie ın ein Beobachtungsglas zu 50 großen, hellen Arbeiterinnen von reiner rufa-Rasse. Der Vorgang spielte sich genau ebenso ab wie beim obigen Versuch. Anfangs vorüber- gehendes Umherzerren, dann Beleckung durch einzelne Arbeiterinnen, dann in wenigen Minuten vollständige Aufnahme. Da befruchtete Weibchen, die schon als Königinnen in fremden Kolonien gelebt haben, schwerer aufgenommen werden als solche, die gerade vom Paarungsfluge kommen, haben diese Versuche um so mehr Beweiskraft für die Adoption der letzteren durch Arbeite- rinnen der eigenen Art. 10. Temporärer sozialer Parasitismus bei Lasius-Arten. Für diesen Gegenstand verweise ıch auf die Arbeit Nr. 172 „Über gemischte Kolonien von Lasius-Arten“ (Zool. Anz. XXXV, Nr. 4—5, 9. November 1909, S. .129—141), woselbst außer einer kritischen Übersicht über die bisher berichteten Fälle auch eine neue temporär gemischte Kolonie von Zasius umbratus mit niger erwähnt ist. 494 Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus etc. [Über die Aufnahme von Königinnen des Lasius umbratus in Versuchsnestern von Lasius niger berichtete W. ©. Crawley 19092), Diese Versuche, welche mir erst nach Erscheinen meiner obigen Arbeit bekannt wurden, ergänzen meine Beobachtungen über eine natürliche mäöxtus-niger-Kolonie. Wheeler macht mich darauf aufmerksam, dass er schon 1905 2°) mehrere gemischte Kolonien von ZLasius-Arten aus Nordamerika er- wähnt hat. Zwei derselben bestanden aus Lasius myops und ameri- canus (Rockford, Ill.), vier aus Zasius latipes und americanus (Cole- brook, Conn.). Alle diese Kolonien waren klein, und eine Königin war in ihnen nicht zu finden. Er glaubte, ihre Entstehung (mit Adlerz) durch Puppenraub (Dulosis) erklären zu sollen.] 11. Uber zusammengesetzte Nester von Leptothorasx-Arten mit anderen Ameisen. (Zu 1909, S.633 und 692.) Über die mannigfaltige Lebensweise der Leptothorax-Arten in Gesellschaft fremder Ameisen, auf welche schon Wheeler 1901 aufmerksam machte, sind folgende Beobachtungen vom Juli und August 1909 hier noch zu erwähnen. Leptothorax acervorum ist bei Lippspringe (Westf.) in alten Strünken unter Rinde sehr häufig. Die Kolonien dieser Ameise be- gegneten mir dort wiederholt in den Nestern von Formica trunei- cola, rufa, sanguinea, fusca, Myrmica ruginodis und laevinodis, d.h. bei fast allen an oder ın morschen Strünken daselbst bauenden Ameisenarten. Nur mit Zasius niger scheint sich der ZLeptothorax nicht so häufig zusammenzufinden, weil die Körpergröße beider weniger verschieden ist. Es handelte sich in den obenerwähnten Fällen stets um durch- aus friedliche Formen zusammengesetzter Nester. Meist wohnten die Leptothorax abseits von den größeren Ameisen in Spalten des Holzes oder der Rinde, so dass ıhr Nest, wenn es auch von jenem der letzteren umgeben war, doch von demselben getrennt blieb. Am 25. Juli dagegen traf ich mitten in dem Neste einer starken Kolonie von Myrmica ruginodis eine kleine Kolonie jenes Leptothoraz, Arbeiterinnen, geflügelte Weibchen und Männchen. Das ruginodis- Nest war unter der Rinde eines morschen Strunkes, und die ZLepto- thorax liefen unter den Myrmica umher, als ob es um eine ge- mischte Kolonie sich handle. Auch Leptothorax muscorum fand ich dort mehrmals in Strünken, die von F. truncicola bewohnt waren, besonders in dem Neste der 25) Queens of Lasius umbratus Nyl., accepted by colonies of Las. niger L. (Entom. Monthl. Mag. April 1909, p. 94—99). 26) An interpretation of the slave-making instinets in ants, p. 10 u. 11 (Bull. Am. Mus. Nat, Hist. XXI, 1905). Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus etc. 495 truneicola-Kolonie Nr. I, welche zahlreiche Larven von Atemeles pubieollis beherbergte. In demselben Strunke wohnte auch eine Kolonie von Leptoth. acervorum. Die kleinen Ameisen beider Arten wurden, wenn sie im Nesthaufen, der den Strunk umgab, den trunei- cola begegneten, von diesen stets vollkommen ignoriert oder nur flüchtig mit den Fühlern berührt. Während ich dieses Nest am 8. August abends längere Zeit beobachtete, um die Atemeles abzu- fangen, welche einzeln hervorkamen, um zu Myrınica überzugehen, sah ich eine Kolonie von Leptoth. muscorum beim Nestwechsel. Sie kam von einem anderen Teile des Nestes her und wanderte in eine Spalte des Strunkes ein; die Ameisen trugen sich in der bei Myrmieinen gewöhnlichen Weise, indem die eine Ameise die andere an den Kiefern über ihrem Kopfe hielt, während die letztere in schwach gekrümmter Stellung mit angezogenen Fühlern und Beinen über den Vorderkörper der Trägerin nach rückwärts ragte. Am 26. August traf ich bei Hoscheid in einem von sangwinea bewohnten Wurzelstrunk (siehe oben S. 480) auch eine Kolonie von Leptoth. acervorum mit mehreren Königinnen. Das Verhältnis zwischen den Nachbarn war hier ebenfalls ein völlig friedliches. Diese Beobachtungen bestätigen, dass für Zeptothorax die fried- liche Nachbarschaft mit fremden Ameisenarten als der gewöhnliche und ursprüngliche Zustand anzusehen ist. Wie sich aus demselben ein räuberisches Verhältnis gleich jenem von Harpagoxenus (Tomognathus) entwickeln konnte, wurde 1909 (S. 632ff.) erörtert. 12. Über parasitische Ameisen der Tropen. (Zu 1909, Kap. 2, S. 632.) Ich hatte es als ein Rätsel bezeichnet, „weshalb gerade in der arktischen Fauna die dulotischen und die parasitischen Ameisen zu Hause sind“. Tatsächliche Beobachtungen über Parasitismus oder Sklaverei bei Ameisen liegen allerdings nur für paläarktische und nearktische Arten bisher vor. Myrmekophile Ameisen dagegen, die meist als „Diebsameisen“ ın fremden Ameisen- oder Termiten- nestern hausen, kennen wir aus den Tropen ın beträchtlicher Zahl in den Gattungen Solenopis, Carebara, Monomorium u. Ss. w.?”). Wheeler macht nun in seiner Arbeit „The ants of Casco Bay etc.“ (Bull. Amer. Mus. Nat. Hist. XXIV, 1908, S. 644) darauf aufmerksam, dass ın der zu Uremastogaster gehörigen Untergattung Oxygyne For., welche in Madagaskar, Ostindien und der malaischen Region ein Dutzend Arten zählt, die Weibchen auffallend klein und glatt sind und sichelförmige, ungezähnte Mandibeln haben. Er knüpft hieran die Vermutung, dass die Oxygyne-Arten ihre Kolo- 27) Eine Übersicht über dieselben siehe in meiner Arbeit: „Neues über die zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien der Ameisen“ 1901-1902 (Allgem. Ztschr. f. Entomol. VI—VII), S. 44—57 Separat. 496 Preisausschreibung. nien als soziale Parasiten mit Hilfe von anderen Oremastogaster- Arten gründen, und dass die sichelförmigen Kiefer ihrer Weibehen dazu dienen, die Königin der Wirtsart zu töten, wie es die Köni- ginnen von Polyergus ans und Formica a bei uns tun. reich werden direkte Beobachtungen bald darüber Aufschluss geben, inwieweit diese Hypothese für Oxygyne zutrifft. [Von den südlichen und südöstlichen Grenzen des paläarktischen Gebietes sind parasitische Ameisen bereits bekannt durch Santschi’s vortreffliche Beobachtungen über Wheeleriella Santschii und Bothrio- myrmex meridionalis (1906 und 1907) in Tunesien. Neuerdings be- schreibt Aug. Forel?®) eine neue parasitische Ameisengattung, Hagioxenus Schmitzi aus Palästina, die bei Tapinoma erraticum lebt. Merkwürdig ist, dass Hagioxenus zu den Myrmicinen gehört, die Hilfsameise dagegen zu den Dolichoderinen, während sonst die parasitischen Ameisen stets zu derselben Unterfamilie zählen wie ihre Hilfsameisen (Emery). Ferner beschreibt Forel ebendort 7) auch eine neue ostindische Art der Gattung Wheeleriella, Wh. Wroughtoni aus Poona, welche bei Monomorium Salomonis indicum lebt. Das Vorkommen parasitischer Ameisen in den Tropen ist ‚hiermit erwiesen.] (Schluss folgt.) 28) Glanures myrme&cologiques S.8 (Ann. Soc. Ent, Belg. LIV, 1910, 1. Heft). Preisausschreibung. Die k.k. Gesellschaft der Ärzte in Wien schreibt neuerdings den von Dr. med. Moritz Goldberger gestifteten Preis im Betrage von 2000 K. für die beste Be- antwortung des vom Präsidium gestellten Preisthemas: „Uber die biologischen Grundlagen der sekundären Geschlechtscharaktere‘“, aus. Um diesen Preis können Ärzte aus Österreich-Ungarn und ganz Deutschland konkurrieren. Berücksichtigung finden nur Arbeiten, welche in deutscher Sprache verfasst, bis längstens 15. Mai 1912, an das Präsidium der k. k. Gesellschaft der Ärzte in Wien, mit einem Motto versehen, eingesendet werden. Dazu ist ein mit dem- selben Motto versehenes verschlossenes Kuvert einzusenden, welches Name und Adresse des Autors enthält. Die Zuerkennung des Preises erfolgt in der ersten, im Monat Oktober 1912 stattfindenden Sitzung der k. k. Gesellschaft der Ärzte in Wien, die Ausfolgung desselben an den preisgekrönten Bewerber am 28. Oktober, als dem Sterbetage des Stifters. Hat die preisgekrönte Arbeit mehr als einen Verfasser, so kann der Preis unter den Verfassern zu gleichen Teilen geteilt werden. Die k.k. Gesellschaft der Ärzte in Wien behält sich das Recht vor, die preisgekrönte Arbeit zu publizieren. Im übrigen behält der Autor alle Rechte an seinem geistigen Bigentume!'). 1) Nach $ 1b des Statuts kann der Preis, falls die ausgeschriebene Preis- frage überhaupt keine oder keine befriedigende Beantwortung erfahren hat, dem Verfasser der besten im Laufe der letzten drei Jahre vor Schluss des Einreichungs- termines erschienenen oder ad hoc im Manuskripte dem Präsidium der k. k. Ge- sellschaft der Arzte vorgelegten Untersuchungen aus dem Gebiete der medizinischen een, mit Einschluss der theoretischen Fächer, verliehen werden. Verlag ı von Georg Thieme in ı Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der a an in Erlangen. Der ee für 24 Hefte beträgt 20 Mark ehrliche Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen. B4:.ZXX., er August en N 15, Inhalt: Baur, Efropfbastirde. _ ann Nachträge zum sozialen Parasitismus und der Sklaverei bei den Ameisen (Schluss). — Brun, Zur Biologie und Psychobiologie von For- mica rufa und anderen Ameisen. Pfropfbastarde. Von Erwin Baur (Berlin). In der alten Streitfrage nach der Natur der Pfropfbastarde dürfte wohl jetzt die endgültige Entscheidung gefallen sein. Frei- lich ist des Rätsels Lösung eine andere, als die große Mehrzahl der Biologen wohl noch vor kurzem gedacht hat. Ich benütze gern die mir dargebotene Gelegenheit, an dieser Stelle eine kurze zusammen- fassende Darstellung dessen zu geben, was man heute über diese Fragen weiß. Man hat unter der Bezeichnung Pfropfbastardierung vielfach ganz verschiedene Dinge zusammengeworfen, zunächst die Erscheinung, dass aus der Verwachsungszone von zwei Pfropflingen Adventiv- sprosse hervorgingen, die sich in mancher Hinsicht wie Bastarde zwischen den beiden zusammengepfropften Arten verhielten. Das bekannteste Beispiel dieser Art ist der Oytisus Adami, hierher ge- hören die Crataegomespili von Bronvaux, ferner das Winkler'sche Solanum tubingense und wahrscheinlich auch die Bixzaria. Eine zweite Gruppe von Erscheinungen, die man hierhergezogen hat, ist die Übertragung von einer es Kategorie von Ei blätteriskeit, die man ud ja wohl meist als infektiöse Chlorose bezeichnet. Drittens endlich gebrauchte man den unklaren Terminus vege- tatıve Bastardierung auch für die oft sehr ausgesprochene ve XXX. BD) 498 Baur, Pfropfbastarde. Beeinflussung, die vielfach zwei zusammengepfropfte Pflanzen auf- einander ausüben. Heute ist man sich aber wohl ganz allgemein klar darüber, dass diese formative Beeinflussung im Grunde ge- nommen nur eine bestimmte Art von Ernährungsmodifikation ist, die mit Bastardierung nichts zu tun hat und die in keiner Weise etwa den modifizierten Pfropfling in seinen erblichen Eigenschaften ändert. Hier sollen uns nur die beiden erstgenannten Gruppen von Er- scheinungen, älso die „Pfropfbastarde* im engeren Sinne und die Übertragung der Buntblätterigkeit näher beschäftigen. 1. Die Pfropfbastarde im engeren Sinne. Das meiste Interesse hat stets die erste dieser drei so skiz- zierten Gruppen erweckt. Man hat vielfach freilich überhaupt daran gezweifelt, dass die sogenannte Pfropfbastarde, der Cytisus Adami und die Orataegomespili wirklich auf vegetativen Wege erzeugt worden seien. Man dachte, dass sexuell entstandene gewöhnliche Bastarde vorlägen. Mit allen unseren Vorstellungen vom Wesen der Vererbung wäre eben eine solche Entstehung von Bastarden auf einem anderen Wege als auf dem der Vereinigung von zwei verschiedenartigen Sexualzellen nicht recht ın Einklang zu bringen. Es ist das Verdienst von Hans Winkler'), durch seine mit großer Sorgfalt und Geduld durchgeführten Pfropfversuche mit Tomate Solanum Iycopersicum und Nachtschatten 8. nigrum den Nachweis erbracht zu haben, dass tatsächlich als Adventivsprosse aus der Verwächsungszone zweier Pfropflinge bastardähnliche Mittelbildungen entstehen können, Winkler hat in seinen Versuchen ja eine ganze Anzahl derartiger „Pfropfbastarde* zwischen Tomate und Nacht- schatten erzeugen können. Alle entstanden aus dem Wundeallus der Verwachsungszone. Ich darf aber wohl die Kenntnis der wichtigsten Versuchs- resultäte Winkler’s als allgemein bekannt voraussetzen. Vom größten Interesse ist es, dass diese neuen Winkler’schen Pfropfbastarde, soweit sie genau untersucht sind, sich als völlig analog dem Oytisus Adami und den Crataegomespili erweisen. Vor allem spalten sie, wie diese es tun, häufig vegetativ in ihre Komponenten oder doch den einen davon auf, und ihre sexuelle Deszendenz (aus Selbstbefruchtung gewonnen) erweist sich als rein einelterlich. So- lanum tubingense z. B. gibt nur reine S. nigrum-Keimlinge und l) Winkler, H., Solanum tubingense, ein echter Pfropfbastard zwischen To- mate und Nachtschatten. Ber. Deutsch. Botan. Ges. 26a. 1908. S. 595—608. — Derselbe. Weitere Mitteilungen über Pfropfbastarde. Ztschr. f. Botanik. 1. 1909. S. 315—344. — Derselbe. Über die Nachkommenschaft der Solanum-Pfropf- bastarde und die Chromosomenzahlen ihrer Keimzellen. Ztschr. f. Botanik. 2. 1910, S. 1-—38 Baur, Pfropfbastarde. 499 S. proteus gibt nur reine Tomatenkeimlinge. Ebenso sind ja die Sämlinge von Oytisus Adami, soweit man weiß, rein Laburnum vul- gare?) und die Sämlinge von Orataegomespihus Asnieresii vein Cra- taegus monogyna?). Eine Erklärung für das Zustandekommen und für das ganze eigentümliche Verhalten der Pfropfbastarde haben die Versuche Wınkler’s zunächst nicht gegeben. Schon vor Winkler’s erster Publikation über die experimentelle Erzeugung eines Pfrofbastardes habe ıch nun an Pelargonium eine Reihe von Beobachtungen machen können, die den ‚Schlüssel zum Verständnis der „Pfropfbastarde“ liefern). Ich habe die entsprechenden Schlüsse gezogen und sie auch, allerdings nur ın ganz kurzer Form veröffentlicht‘). Viel Zustim- mung habe ich nicht gefunden, am wenigsten bei Winkler®). Weiterhin haben mir freilich die Ereignisse recht gegeben. Es gibt von Pelargonium vein weißblätterige Rassen, die beı vegetativer sowohl wie bei sexueller Fortpflanzung konstant sind (Fig. 1b). Da jegliche Assimilationstätigkeit für sie unmöglich ist, können diese Rassen nur gewissermaßen als Parasiten auf grünen Pelargonien leben. Man kann sie aber vermehren und erhalten da- durch, dass man z. B. einen weißen Zweig auf eine kräftige grüne Pflanze pfropft. Der rein weiße Zweig wächst dann auf Kosten der grünen Unterlage üppig weiter, blüht und trägt Früchte. Auf einem zwar ziemlich komplizierten, aber doch experimentell leicht gangbaren Wege, den ich in der zitierten Abhandlung be- schrieben habe, kann man auch Pflanzen bekommen, die halb grün, halb weiße Vegetationskegel besitzen, also „UOhimären“ ganz analog den von Winkler erzeugten Chimären zwischen Tomate und Nacht- schatten”). Blätter, die ın einem weißen Sektor des Vegetations- kegels einer solchen Sektorialchimäre zwischen grün und weiß ge- bildet werden, sind rein weiß. Blätter in einem grünen Sektor sind 2) Hildebrand, F., Über Sämlinge von Oytisus Adamiü. Ber. Deutsch. Botan. Ges. 26a. 1908. S. 590—59. 3) Noll, F., Die Pfropfbastarde von Bronvyaux. Sitzungsber. niederrhein. Gesellschaft für Natur- und Heilkunde 1905. S. A20—A53. 4) Baur, E, Das Wesen und die Erblichkeitsverhältnisse der ‚Varietates albo- marginatae hort“ von Pelargonium zonale. Ztschr. f.ind. Abstamm. u. Vererbungs- lehre. 1. 1909. S. 330—351. 5) Baur, E., Referate über Winkler’s Arbeiten in Ztschr. f. ind. Abstamm. und Vererbungslehre. 1. 1909. S.400. 2. 1910. S. 111 und 2. 1910. S. 223; ferner: Pfropfbastarde. Periklinalchimären und Hyperchimären Ber. Deutsch. Botan. Ges. 27. 1910... 603. 6) Winkler, H., Weitere Mitteilungen über Pfropfbastarde. Ztschr. für Botanik. 1. 1909. S. 343 unten. 7) Winkler, H., Über Pfropfbastarde und pflanzliche Chimären. Ber. Deutsch. Botan. Ges. 25. 1907. S. 568. 32* 500 Baur, Pfropfbastarde. rein grün und Blätter, die zufällig gerade auf der Grenze aufsitzen, sind entsprechend geteilt (Fig. 2). Diese grün-weißen Sektorialchimären von Pelargonium sind Pflanzen von höchst sonderbarem Habitus. Außer diesen Sektorialchimären zwischen der weißen und der grünen Rasse gibt es nun auch noch eine zweite Art von Chimären, nämlich Chimären, bei denen der Vegetationskegel periklinal ge- teilt ist, wo z. B., wie in Fig. 3 abgebildet, die zwei periphersten Zellagen weiß, alle übrigen aber grün sind. Pflanzen, die einen der- artigen Vegetationskegel haben, sind gebaut wie Fig. 4 schema- tisch darstellt und ın natura sieht ein Blatt einer solchen außen Blatt einer grün- weißen Sectorial- chimäre von Pe- largonium _20- nale, das genau auf der Grenze a b der beiden Ge- Fig. 1. Blätter einer grünen (a) und einer weißblätterigen websteile inseriert Sippe (b) von Pelargonium zonale. war. weißen, innen grünen Periklinalchrmäre aus wie Fig. 5b. Im Schnitt ist ein solches Blatt in Fig. 6a und 7a abgebildet. Über die Ent- stehungsweise dieser Periklinalchimären habe ich an anderen Orten berichtet?) und darf hier wohl auf das dort Gesagte verweisen. Ich besitze verschiedene derartige Periklinalchimären, u. a. eine, beı der nur die alleräußerste Zellage der weißen, alles andere aber der grünen Sippe angehört. Ein Blatt einer solchen Pflanze ist ın Fig. 5a abgebildet. Wir haben hier also verbo tenus eine grüne Pelargonium-Pflanze, welche in der — ıhr hier deutlich zu engen - Haut einer weißen steckt. Ich besitze ferner eine Periklinalchimäre, welche außen zweı Zellschichten grün, dann alles übrige weiß und S) In der oben S. 499 zitierten Abhandlung. Baur, Pfropfbastarde. 501 ferner eine dritte, welche außen zwei Zellschichten grün, dann alles übrige bis auf einen grünen Strang im Plerom weiß hat. Vegetativ, durch Stecklinge, sind diese Periklinalchimären zwischen der weißen und der grünen Pelargonium-Sippe leicht zu vermehren. Es kommen aber doch gelegentlich Störungen in der Verteilung der Komponenten am Vegetationskegel vor, meist wohl infolge von kleinen Verletzungen. Das hat dann je nach der Art der Störung verschiedene Folgen. Es können z. B. bei einer außen weißen, innen grünen Periklinalchimäre vom Typus der Fig. 5b die äußeren weißen Zellschichten verletzt sein und von der grünen dritten Schicht her regeneriert werden, es schaut dann quasi die grüne Pflanze durch ein Loch in der weißen Haut heraus und wenn ein solches Loch z. B. gerade über einen Seitenvegetationspunkt Fig. 3. Schnitt durch den Vegetationskegel a und durch den Rand eines jungen Blattes b einer Periclinalchimäre von Pelargonium mit zwei peripheren Zellschichten der weißen Sippe. Fig 3b soll veranschaulichen, wie dadurch, dass die dritte — grüne — Zellschicht im Blatt schon ein Stück vom Rande entfernt auskeilt, der breite weiße Saum der Blätter zustande kommt. (Vgl. Fig. 5b und 6a). liegt, dann entsteht ein rein grüner Spross. Es erfolgt eine „vegetative Aufspaltung“ der Chimäre. Öfters kommt es auch vor, dass ein Vegetationskegel in einer Blattachsel nur aus den äußersten zwei Schichten entsteht, das hat dann natürlich die Entstehung eines rein weißen Astes zur Foige. Die sexuelle Deszendenz der Periklinalchimären zeigt ein aufs erste merkwürdiges Verhalten, das aber aus ihrer Anatomie völlig verständlich wird. Wir wissen, dass die Sexualzellen der Angio- spermen wohl immer entwickelungsgeschichtlich von Zellen der zweit- äußersten Zellschicht des Vegetationskegels abstammen. Danach ist zu erwarten, dass bei den Periklinalchimären die sexuelle Deszen- denz immer völlig rein derjenigen Sippe angehören muss, von welcher in der betreffenden Chimäre die zweitäußerste Zellschicht gebildet wird. Damit steht das Verhalten der Sämlinge meiner Periklinal- chimären von Pelargonium vollkommen im Einklang. Alle Chimären, 502 Baur, Pfropfbastarde. bei denen die erste subepidermale Zellage der grünen Sippe an- gehört, haben nur rein und konstant grüne Sämlinge. All die- Fig. 4. Schematischer Längsschnitt durch eine außen weiße, innen grüne Periklinalchimäre von Pelargonium. b a jenigen Chimären dagegen, bei wel- chen die zweitäußerste Zellage der weißen Sippe angehört, haben rein weiße Sämlinge. Bei der Untersuchung dieser Periklinalchimären von Pelargonium drängte sich mir nun schon vor zwei Jahren immer mehr der Gedanke auf, dass am Ende die bisher so rätselhaften alten Pfropfbastarde Cytisus Adami und die Orataegome- spili nichts weiter seien als Peri- klinalchimäre zwischen ihren beiden vermutlichen Stammarten. Undauch das Solanum tubingense sah ja nach Winkler’s Beschreibung genau so aus und verhält sich so wie eine Periklinalchimäre mit Solanum Iıyco- persicum außen und Solanum nigrum innen. Dieser Gedanke, den ich ganz kurz auch schon vor einem Jahr ver- öffentlicht habe, ıst bei mir längst zur Gewiss- heit geworden. Das ganze Verhalten der alten sowohl wie der neuen Winkler’schen Pfropfbastarde und vor allem aber die Ana- tomıe des Oytisus Adam und der Orataegomespili steht im Einklang damit. Zunächst finden die ziemlich häufig bei den Pfropfbastarden auf- Fig. 5. Blätter von zwei Periklinalchimären von tretenden vegetativen Pelargonium zonale. Fig. a von einer Pflanze mit „Rückschläge* ın die einer einzigen Zellschieht der weißen Sippe außen, Stammformen nach dem Fig. b von einer Pflanze mit zwei Zellschichten der weißen Sippe außen. Obengesagten ja ihr vollständiges Analogon bei den Periklinalchimären von Pelargonium. Störungen in der Verteilung der Komponenten, d. h. also Produktion von rein Baur, Pfropfbastarde. 503 weißen oder von rein grünen Zweigen, Blättern oder Blatteilen kommen z. B. bei den Weißrandpelargonien (Fig.5) ungefähr ebenso häufig vor wie die analogen Erscheinungen bei den Pfropfbastarden, Fig. 6. Schnitt durch ein Blatt einer rein grünen Pflanze (b) und einer Periclinal- chimäre mit zwei Zellschichten der weißen Sippe außen (a). Die beiden Rechtecke sind in Fig. 7 stärker vergrößert wiedergegeben. - = >’ ——. es > L) v | -® Fig. 7. Vergrößerte Wiedergabe der beiden Rechtecke in Fig. 6. Chromatophoren in den Zellen, welche der grünen Sippe angehören, mit Schwarz dargestellt. Chro- matophoren der Zellen der weißen Sippe farblos, mit punktierter Kontur gezeichnet. DieSexualzellenstammen, wıe oben gesagt, entwickelungsgeschicht- lich immer von Zellen der zweitäußersten Zellenlage des Vegetations- punktes ab. Daraus folgt, dass alle Pfropfbastarde eine sexuelle Deszendenz ergeben müssen, die derjenigen Art angehört, welche in 504 Baur, Pfropfbastarde. ihnen die zweitäußerste Zellenlage bildet. Ganz genau so verhalten sich tatsächlich die „Pfropfbastarde*. Orataegomespilus Asnieresii ıst nach seiner Blattanatomie zu schließen eine Periklinalchimäre, die eine einzige periphere Lage Mespilus-Zellen, im übrigen aber nur Orataegus-Zellen im Vegetations- punkt hat. Mit anderen Worten dieser COrataegomespilus ist ein Orataegus in einer Mespilus-Epidermis. Die zweite Zellage gehört also danach Crataegus an, und damit stimmt zusammen, dass die Sämlinge dieses Pfropfbastardes rein Orataegus sind. Oytisus Adami ist nach der Blattanatomie zu schließen ein Zabur- num vulgare mit einer Epidermis von Oytisus purpureus, und damit steht in Einklang, dass seine Sämlinge rein Laburnum vulgare sind. Bei den Pelargonien ist es leicht, des auffallenden Farbenunter- schiedes wegen, an einem Blatt z. B., zu sehen, welche Zellen dem einen, welche dem anderen Komponenten angehören. Bei den „Pfropfbastarden“ ist das nicht so leicht und vor allem ist es schwer, die Unterschiede im Bild zu demonstrieren, aber immerhin sind die Befunde doch deutlich genug. Zunächst bei Crataegomespilus As- nieresüi, dessen Blätter ich oft geschnitten und mit denjenigen der Eltern verglichen habe, ist mit aller Sicherheit zu sagen, dass die Blattepidermis vollkommen derjenigen von Mespilus gleicht. Glück- licherweise ist die Blattepidermis von Crataegus sehr von der von Mespilus verschieden, vor allem sehr verschieden behaart. Das ganze Blattinnere des Orataegomespilus Asnieresii ist nicht von dem von Crataegus zu unterscheiden und deutlich von denjenigen von Mespilus verschieden. Ein sicheres Urteil bekommt man natürlich nur, wenn man eine große Zahl von Schnitten vergleicht. Die Orataegomespili sind ja in allen botanischen Gärten zu finden und eskann jedermann leicht versuchen, sich selber ein Urteil zu bilden. Was für die Anatomie der Blätter gilt, das gilt auch mutatis mutantis für die Frucht, die eine typische Orataegus-Frucht mit Mespilxs-Epidermis ist. Die Anatomie der übrigen Teile gibt wenig Anhaltspunkte, weil Orataegus und Mespilus in dem mikroskopischen Bau des Holzes, der Rinde u. s. w. sich ungemein ähnlich sehen. Eine genaue ent- wickelungsgeschichtliche Untersuchung des Pfropfbastardes und damit verglichen seiner Eltern dürfte aber wohl noch mancherlei Anhaltspunkte liefern. Orataegomespilus Dardari ist nach der Blattanatomie zu schließen ein Orataegus mit zwei Zellschichten Mespilus außen, das ist für mich das Resultat der Vergleichung einer großen Anzahl von Blättern. Damit stimmt auch der Bau der Früchte, deren genauere entwicke- lungsgeschichtliche Untersuchung gerade hier wohl ganz klare Resul- tate geben wird’). 9) Da ich selber auf lange Zeit hinaus mit anderen Arbeiten vollauf beschäftigt Baur, Pfropfbastarde. 505 Laburnum Adami ıst nach der Blattanatomie zu schließen Laburnum vulgare mit einer Epidermis von Oytisus purpureus. Blüten und Früchte habe ich nicht untersucht, aber nach einer brieflichen Mitteilung von Dr. J. Buder, Leipzig hat er auf Grund der Unter- suchung der Farbenverteilung in den Blüten ebenfalls den sichern Schluss ziehen können, dass nur die Epidermis dem Cytisus pur- pureus alles andere aber dem ZLaburnum vulgare angehört. Dass bei Oytisus Adami gerade die Epidermis ausgesprochen den Charakter von Cytisus purpureus, alles andere den Charakter von Laburnum vulgare hat, das ist schon 1891 Macfarlane!°) auf- gefallen. Macfarlane gibt eine detaillierte Beschreibung der Ana- tomie des Oytisus Adami und seiner Eltern und sagt u. a. (p. 268): But the very striking resemblance which the epidermis of the hybrid portion has to that of ©. purpureus, not only in the general structure of the cells, but m the size and structure of the cell nucleus, the distribution of the stomata, and specially of hairs, would seem at first sight to prove that the hybrid portion was wrapped round, so to speak, by an epidermis of ©. purpureus.” Offenbar war demnach Macfarlane sehr nahe daran, die Sachlage richtig zu erkennen. Summa summarum steht also mit meiner Deutung, dass die „Pfropfbastarde“ Laburnum Adami und die Crataegomespili Periklinal- chimären sind, alles in Einklang, was man an ihnen hat beobachten können. Alles, was sonst unverständlich und rätselhaft an ihrem Verhalten ist, erklärt sich in der einfachsten Weise ohne jede kom- plizierte Hypothese. Die einzige Schwierigkeit, die noch zu überwinden ist, besteht darin, dass es bisher nicht möglich’ war, schon an den Vegetations- kegeln den Aufbau als Periklinalchimäre zu demonstrieren. Das ist deshalb nicht ausführbar, weil die embryonalen Zellen derjenigen Spezies, welche die bisher bekannten alten Pfropfbastarde zusammen- setzen, nicht zu unterscheiden sind, auch nicht mit den feineren cyto- logischen Untersuchungsmethoden wie Chromosomenzählung u. Ss. w. In dieser Hinsicht boten nun die Winkler’schen Pfropfbastarde be- gründete Aussicht, dass auch diese letzte Schwierigkeit behoben werden könne. Solanum nigrum und 8. Iycopersicum, die Kom- ponenten der Winkler’schen Pfropfbastarde haben nämlich, wie Winkler gefunden hat, so verschiedene Chromosomenzahlen, dass eine cytologische Untersuchung der Vegetationskegel von 8. tubiny- ense u. Ss. w. mit absoluter Sicherheit entscheiden musste, ob ich bin, werde ich nicht dazu kommen, derartige Untersuchungen auszuführen. Iclı bin auch gern bereit, aus meinem Garten Material abzugeben. 10) Macfarlane, J. M., A Comparison of the Minute Structure of Plant Hybrids with that of their Parents, and its Bearing on Biological Problems. Transact. Roy. Soc, of Edinburgh. 37. 1895. S. 203—286. 506 Baur, Pfropfbastarde. mit meiner Deutung der Pfropfbastarde als Periklinalchimären recht habe oder nicht. Das habe ich schon vor einigen Monaten Winkler gegenüber, der sich gegen meine Deutung damals völlig ablehnend verhalten hatte, betont !!). Winkler hat derartige Untersuchungen des Vegetations- kegels seiner Pfropfbastarde inzwischen ausgeführt'?) und danach ist 5. tubingense wirklich eine Periklinalchimäre mit einer Zellage S. Iycopersicum außen, und im übrigen 8. nigrum innen, entspricht also seinem Aufbaue nach ın gewisser Hinsicht dem Orataegomes- pilus Asnieresii und ebenso sind drei andere von den Winkler’schen Pfropfbastarden (8. proteus, 8. Gaertnerianum, 8. Koelreuterianum) zweifellos Periklinalchimären. Als was der fünfte von den Winkler’schen Propfbastarden, das S. Darwintanum zu deuten ıst, müssen erst weitere Untersuchungen lehren. Die ganze Frage steht also heute so, dass Oytisus Adami, die Orataegomespili und vier von den Winkler’schen Pfropfbastarden Periklinalchimären sind, wie ich es auf Grund meiner Untersuch- ungen über die Pelargonium-Chimären schon vor einem Jahre mit aller Bestimmtheit ausgesprochen habe. Dagegen liegt in dem von Winkler erzeugten 8. Darwinianum, nach den bisher darüber ver- öffentlichten Angaben zu schließen, vielleicht etwas anders vor. Die Periklinalchimären bringen jetzt eine Fülle von neuen Fragestellungen mit sich. Vor allem für Fragen der experimen- tellen Morphologie bieten die aus zwei ineinander geschachtelten Arten bestehenden Periklinalchimären ein prachtvolles Material. Wünschenswert ist es nun freilich immer noch, dass es gelänge, die alten Pfropfbastarde Cytisus Adami und die Orataegomespili aufs neue zu erzeugen. Wie diese seinerzeit entstanden sind, ist un- gewiss. Man hat vermutet, dass sie als Adventivsprosse aus dem Oallus der Verwachsungszone entstanden seien, so, wie die Winkler’- schen S. tubingense, S. proteus u.s.w. Mir ist es auf Grund von rund 1000 Versuchen mit Pfropfungen von Crataegus und Mes- plus, von Laburnum vulgare, Cytisus purpureus und einigen anderen Sträuchern sehr unwahrscheinlich, dass die Orataegomespili und der Oytisus Adami als Adventivsprosse aus dem Callus entstanden sind. Diese Stammpflanzen zeigen nämlich ein ganz minimales Regene- rationsvermögen aus dem Wundecallus, man bekommt nur äußerst selten überhaupt einmal einen wirklichen Callusspross zu sehen und Adventivsprosse aus dem Callus von Okulationen!?) von Uytisus ll) Baur, E., Referate über Winkler in Ztschr. f. ind. Abstamm. und Ver- erbungslehre. 3. 1910. S. 223. 12) Winkler, H., Vortrag auf der Generalversammlung der Deutsch. Botan. Gesellschaft zu Münster am 15. Mai 1910 (noch nicht gedruckt). 13) Lab. Adami soll aus einer Okulation von Uytisus purpureus auf Lab. vulgare entstanden sein. Baur, Pfropfbastarde. 507 purpureus auf Laburnum vulgare habe ich überhaupt nie beobachtet, auch nicht unter Anwendung von fördernden Eingriffen, wie zweck- entsprechende Ringelung, Sorge für feuchte Luft u. s. w. Freilich ist damit doch nicht bewiesen, dass nicht doch einmal eine der- artige Regeneration erfolgen könnte. Am plausibelsten scheint mir aber nach meiner Erfahrung jetzt die Annahme, dass der Oytisus Adami entstanden ist dadurch, dass, wie es oft vorkommt, beim Ablösen des zur Transplantation bestimmten Rindenschildehens von Cytisus purpureus das Auge, wie die Gärtner sagen, ausgehöhlt, dass „der Knospenkern herausgerissen“ wurde, und dass Callus- gewebe der Unterlage in dieses ein Stück weit hohle Purpureaus- auge hineinwuchs. Systematische Versuche, auf diesem „direkten“ Wege den Cytisus Adami und andere Pfropfbastarde neu zu er- zeugen werde ich diesen Sommer ausführen lassen. 2. Die Übertragung der Panaschierung und andere als vegetative Bastarderzeugung gedeutete Erscheinungen. Darüber, dass ein Pfropfreis, das kürzere oder längere Zeit mit einer anderen Spezies in Verbindung ist, von diesem anderen Pfropf- symbionten gewisse Merkmale annähme, gibt es eine unendliche Fülle von Gärtnermärchen. Ich habe ım Lauf der letzten sieben Jahre mit einer großen Anzahl von Sträuchern und von krautigen Pflanzen zahlreiche Pfropfversuche durchgeführt. Die Versuche haben gezeigt, dass an der Übertragung der Panaschierung von einem Pfropfling auf den andern etwas Wahres ist, von allen den vielen anderen Angaben darüber, dass einzelne Merkmale, wıe rote Blattfarbe, bestimmte Blütenfärbung, Art der Behaarung u. s. w. auch in ähnlicher Weise von dem einen auf den andern Pfropfsymbionten übertragen werden können, hat sich aber keine einzige bei der Nachuntersuchung als stichhaltig erwiesen. Auf Einzelheiten will ich hier nicht eingehen, ich will nur einige wenige Beispiele heraus- greifen und zeigen, in welcher Weise die Fehlschlüsse zustande kommen können. Z. B. gibt es zahlreiche Angaben, dass beim Pfropfen eines Zweiges einer rein grünblätterigen Rasse auf eine andere mit rot gefärbten Blättern (etwa grüne Hasel auf Bluthasel) die Rotfärbung auch den grünen Pfropfling infiziere. Fälle, die ein kritikloser Beuvbachter so deuten könnte, sind nicht selten. Die Sache hat aber andere Ursachen. Die Fähigkeit zur Bildung von mehr oder weniger Anthocyan ın den Zellen der Blätter u. s. w. besitzen auch sehr vielfach die grünen Rassen, aber die Menge des gebildeten Anthocyans wird sehr stark modifiziert von Außenfaktoren, speziell Ernährungsbedingungen. Im allgemeinen gilt die Regel, dass Wassermangel verbunden mit intensiver Belichtung den Antho- ceyangehalt vermehrt. Pfropfreiser haben nun vielfach besonders in der ersten Zeit nach der Verwachsung eine relativ schlechte 508 Baur, Pfropfbastarde. Wasserversorgung und werden dunkler gefärbt als sonst für ge- wöhnlich. Diese dunklere Färbung tritt aber, ihrer oben genannten Ursache entsprechend, auf, einerleiı ob man die helle Rasse auf eine dunkle gepfropft hat, oder auf eine helle. Also wenn beim Pfropfen einer hellen Rasse auf eine dunklere eine derartige Änderung der Färbung des Pfropfreises zu beobachten ist, so handelt es sich nur um eine Ernährungsmodifikation des Pfropfreises, aber nicht etwa um eine non ang eines Merkmales auf vegetativem Wege von einer auf die andere Pflanze. In dieser oder jener, meist sehr einfachen Weise sınd alle ähnlichen Fälle von scheinbarer Merkmalsüberwanderung zu ver- stehen gewesen, die ich habe beobachten können. Diese Ernährungs- modifikationen, welche Pfropfreiser aufweisen, sind dabei allerdings oft ziemlich weitgehend. Z. B. ist es häufig der Fall, dass Pfropfreiser auf ganz artfremder Unterlage 2.B. G as auf Zaburnum rulgare ein ganz auffällig üppiges Wachstum zeigen, viel üppiger als auf eigenen Wurzeln. Okuliert man von zwei gleichwertigen Augen von Cytisus hirsutus das eine wiederum auf einen Cytisus hirsutus, das andere auf ZLaburnum vulgare, dann wird das Auge auf Oytisus hirsutus in zwei Jahren höchstens zu einem !/, cm dicken, etwa !/, m lange Zweige auswachsen, das auf ZLabernum okulierte Auge dagegen entwickelt sich in der gleichen Zeit zu einem 1 bis 1'/, cm dieken, ungefähr meterlangen reich verzweigten Aste. Ernährungsmodifikationen haben wohl auch vorgelegen bei den Versuchen von Daniel, der z. B. bei Zusammenpfropfen von Tomate mit Eierfrucht sehr eigentümliche Erscheinungen beobachtete. So soll nach Daniel eine Rasse von Eierfrucht, die sonst ungefähr birnenförmige ungelappte Früchte hat, ganz ausgesprochen tomaten- artig ne Früchte bekommen, wenn sie als Pfropfreis auf einer Tomatenunterlage wächst. Ich habe im Jahre 1904 eine große Zahl von entsprechenden Pfropfungen ausgeführt, aber nie eine derartige weitgehende Beeimflussung beobachtet. Ich kann mich des Ver- dachtes nicht erwehren, Daniel mit einer Eierfruchtsorte ex- perimentiert hat — es gibt solche —, welche gelegentlich mehr oder weniger tomatenähnliche Früchte bildet, auch wenn sie nicht auf Tomate gepfropft wird. Daniel hat dann ferner auch über Versuche berichtet, wo zwar nicht das Pfropfreis selbst gewisse Merkmale von der Unterlage angenommen haben soll, wo be die Sämlinge des Pfropfreises eine derartige Beeinflussung erkennen lassen sollen. Über ähnliche Be- obachtungen hat kürzlich auch Edler!°) berichtet. Edler hat be- 14) Daniel, L., La variation dans la greffe et l’heredit& des characteres acquis. Ann. des Sciences. Nat., Botan. S VIII. T. S. 1899. ) Edler, W.. Ein Beitrag zur Frage des Vorkommens von Pfropfmischlingen. Fühling’s Landw. Zeitung. 57. 1908. S. 170. Baur, Pfropfbastarde. 509 obachtet, dass, wenn man helle Rübensorten (Zuckerrüben) Beta vul- garis auf rote Salatrüben pfropft und von diesen Zuckerrübenreisern Samen erntet, ein Teil der Sämlinge deutlich rote Färbung zeigt. Diese Versuche sind aber, ebenso wie die entsprechenden von Daniel nicht einwandfrei Es ist nicht festgestellt worden, ob z. B. in dem Falle von Edler die betreffende helle Rübenpflanze nicht auch ohne, dass man sie auf eine rote Rübe pfropft, einzelne rote Sämlinge produziert. Dass eine helle Rübe auch bei gesicherter Bestäubung durch eine zweite helle einen größeren oder kleineren Teil roter Sämlinge ergibt, kommt häufig vor und kann sehr verschiedene Ursachen haben. Die einzigen Angaben über „Merkmalsübertragungen“, welchen etwas anderes zugrunde liegt, als bloße Ernährungsmodifikationen, betreffen die Übertragung der Buntblätterigkeit von einem Pfropf- symbionten auf den anderen. Hierüber existiert heute schon eine sehr große eigene Lite- ratur, weitaus am besten untersucht ist eine in der Malvaceengattung Abutilon zuerst auftretende derartige Buntblätterigkeit. Diese „infektiöse Chlorose der Malvaceen“ hat eine eigentümliche Geschichte. Im Jahre 1868 trat in der Gärtnerei von Veitch and Sons ın England unter einer Kollektion von Abutilon-Pflanzen aus Westindien ein Exemplar von Abutilon striatum Dicks. auf, das statt der grünen sehr schön grün und gelb marmorierte Blätter auf- wies. Die Pflanze wurde eifrig vermehrt — durch Steeklinge —, und als Neuheit mit dem Namen A. Thonpsoni in den Handel gebracht. Mit Stecklingspflanzen davon machte im Jahre 1869 Lemoine!t) in Nancy die erste Beobachtung über die Übertragbarkeit dieser Buntblätterigkeit auf andere vorher grüne Abutilon-Pflanzen der gleichen oder einer anderen Art. Weiterhin haben dann besonders Morren!’) und Lindemuth!®) viel mit dieser Buntblätterigkeit gearbeitet. Tatsache ist danach, dass eine grüne Abutlon-Pflanze, mit welcher eine bunte zusammengepfropft ist, kürzere oder längere Zeit nach dem Pfropfen ebenfalls nur noch bunte Blätter hervor- bringt. Die vor der Pfropfung schon fertig entwickelten Blätter bleiben dagegen dauernd grün. Im blattlosen Zustande transplan- 16) Lemoine, Journal de la societ@e imp. et centrale d’horticulture de France. 1869. 2 ser. t. 3. 8.47. 17) Morren, Contagion de la panachure. Bull. del’Acad. royale de Belgique. 1869. 2. ser. t. 28. S.. 434 18) Lindemuth, H., Zahlreiche kleine Notizen in den Sitzungsberichten der Ges. naturf. Freunde zu Berlin. Juli 1870, Februar und Oktober 1871, ferner in Gartenflora Bd. 46. 1897. S. 1. Bd 48. 1899. S. 431. Bd. 49. 1900. Bd 50. 1901. Bd. 51. 1902. Bd. 53. 1904. Außerdem: „Vegetative Bastard- erzeugung durch Impfung“ landwirtsch. Jahrbücher 1878 und: „Studien über die sogenannte Panaschüre und über einige begleitende Erscheinungen.“ Landwirtschaft- liche Jahrbücher 1907. 510 Baur, Pfropfbastarde. tierte Reiser infizieren erst, nachdem sie selbst Blätter gebildet haben. Ebenso wie ganze Zweige genügen auch schon einzelne transplantierte bunte Blätter, um eine Unterlage zu infizieren. Ob man einen bunten Zweig auf eine grüne Pflanze oder einen grünen Zweig auf eine bunte Pflanze pfropft, ıst für die Infektion einerlei, immer werden die neu entstehenden Blätter des grünen Kompo- nenten bunt. Wenn eine früher grüne Pflanze durch Pfropfinfektion von einer bunten Pflanze her erst einmal bunt geworden ist, dann kann man das Pfropfreis, das die Infektion bewirkt hat, abtrennen und trotzdem bleibt die einmal bunt gewordene Pflanze dauernd bunt, bildet weiterhin nur noch bunte Blätter, und man kann von ihr aus jetzt andere grüne Pflanzen mit der Buntblätterigkeit infizieren u. S. W. Sämlinge von bunten Pflanzen sınd immer rein und dauernd grünblätterig. Die verschiedenen Malvaceenarten sind ungleich empfänglich für die Annahme der Buntblätterigkeit. Darüber verdanken wir besonders Lindemuth eine Reihe von Angaben. Es gibt danach Arten, die sehr hochgradig empfänglich sind und am andern Ende eine Reihe von Übergängen Arten, die ganz immun sind. Auf einem anderen Wege als dem der Infektion von einem Pfropfsymbionten aus erfolgt keine Übertragung der Buntblätterig- keit. Von großem Einfluss auf die Entwickelung der Buntblätterig- keit ist das Licht, stellt man bunte Pflanzen schattig, so werden die neu gebildeten Blätter viel weniger bunt, fast rein grün, stellt man sie wieder sonnig, so werden die späteren Blätter wieder mehr bunt. Diese Tatsachen sind alle lange bekannt und von Lemoine, Morren, Lindemuth u. a. völlig sicher gestellt. Um über die Natur dieser sonderbaren übertragbaren Buntblätterigkeit ins Reine zu kommen, habe ich dann in den Jahren 1904—-1907 eine Serie von Untersuchungen durchgeführt'!?). Zunächst war ja an eine ge- wöhnliche parasitäre Infektionskrankheit zu denken. Aber die Sache liegt doch anders. Zunächst ist es nicht möglich, in den bunten 19) Baur, E., Zur Ätiologie der infektiösen Panachierung. Ber. Deutsch. Botan. Ges. 22. 1904. 8. 454. — Derselbe. Über die infektiöse Chlorose der Malvaceen. Sitzungsb. kgl. preuß. Akad. d. Wissensch. 1906. 8. 11. — Der- selbe. Weitere Mitteilungen über die infektiöse Chlorose der Malvaceen und über einige analoge Erscheinungen bei Ligustrum und Laburnum. Ber. Deutsch. Botan. Ges. 24. 1906. 8. 416. — Derselbe. Über infektiöse Chlorosen bei Ligustrum, Laburnum, Fraxinus, Sorbus und Ptelea. Ber. Deutsch. Botan. Ges. 25. 1907. S. 410. — Derselbe. Bemerkungen zu der Arbeit: „H. Lindemuth, Studien über die sogenannte Panaschüre und über einige begleitende Erscheinungen.“ Land- wirtsch. Jahrbücher. 1908. S. 895. — Derselbe. Über eine infektiöse Chlorose von Evonymus japonicus. Ber. Deutsch. Botan. Ges. 26a. 1908. 8. 711. Baur, Pfropfbastarde. Ha Pflanzen mikroskopisch einen Parasiten nachzuweisen, es könnte also nur ein ungemein kleiner Parasit ın Frage kommen. Dann aber ist mit einer parasitären Ätiologie vor allem nicht vereinbar, dass der einzige Weg, auf dem eine Infektion erfolgen kann, der ist, dass ein Stück assimilierendes Gewebe einer buntblätterigen Pflanze auf eine grüne übertragen wird. Irgendein anderer Weg der Infektion ist nicht bekannt. Pressaft aus bunten Pflanzen be- wirkt keine Infektion. Da ferner die infektiöse Buntblätterigkeit durch Samen nicht auf die Kinder übergeht Sämlinge bunter Pflanzen sind immer grün — ist die Krankheit und damit der eventuelle Erreger gar nicht existenzfähig, sondern wird nur durch die Gärtner künstlich erhalten. Obgleich nun aber nach allem, was wir wissen, ein parasitärer Organismus als Erreger der Infektion nicht in Frage kommen kann, so muss dennoch das stofiliche Etwas, das die Infektion bewirkt, das „Virus* die Eigenschaft haben, in kranken Pflanzen an Menge zuzunehmen. Wir können, wie ıch schon früher ausgeführt habe, durch Transplantation eines einzigen kranken Blattes eine bis dahin gesunde Pflanze infizieren; diese produziert eine unbegrenzte Menge kranker Blätter; mit jedem einzelnen von diesen Blättern können wir wieder eine ganz andere Pflanze infizieren u. s. f. ad infinitum. Würde das „Virus“ nicht in der kranken Pflanze an Menge zu- nehmen, so würde es bei jener Weiterinfektion, ja schon durch das Wachsen der betreffenden Pflanze selbst weiter verdünnt werden, und diese Verdünnungsmöglichkeit wäre natürlich begrenzt. Die Infektionsmöglichkeit ıst nun aber nicht begrenzt; es muss also zweifellos das „Virus“ innerhalb der kranken Pflanze an Menge zu- nehmen. Ich habe nun weiterhin zeigen können, dass eine buntblätterige Pflanze nur deshalb buntblätterig bleibt, weil von den einmal bunten Blättern aus immer die neu entstehenden infiziert werden. Man kann diese Autoinfektion auf verschiedene Weise verhindern, und dann werden die weiterhin neu entstehenden Blätter nicht mehr bunt, sondern grün, und wenn eine Pflanze erst einmal nur grüne Blätter hat, bleibt sie dauernd grün, es sei denn, dass man sie wieder durch Pfropfinfektion ınit einem buntblätterigen Zweige neu infiziert. Ein Weg, die Autoinfektion zu verhindern ist der, dass man sorgfältig alle gelben Flecken in den Blättern ausschneidet, die ersten Blätter, die darauf in den nächsten 8 bis 14 Tagen zur Entwicke- lung kommen, erweisen sich dann noch als infiziert, auch auf ihnen muss man die gelben Flecke ausschneiden und bekommt dann schliess- lich nur noch rein grüne Blätter. Aus diesem Versuche folgt mit großer Wahrscheinlichkeit, dass das infizierende „Virus“ in den gelben Flecken der fertigen Blätter 912 Baur, Pfropfbastarde. entsteht, ferner folgt daraus, dass ın einer Pflanze in einem ge- gebenen Zeitpunkte nur eine begrenzte Menge „Virus“ vorhanden ist, nur so viel, als genügt, um etwa 3 bis 4 neu entstehende Blätter an den Sprossenden noch zu infizieren. Mit dieser Infektion wird das „Virus“ offenbar völlig aufgebraucht, entfernt man diese infizierten Blätter rechtzeitig ebenfalls, so ıst damit die betreffende Pflanze völlig viırusfrei und bleibt grün. Ein zweiter Weg ist der, dass man die sämtlichen assimilieren- den Blätter einer bunten Pflanze verdunkelt, auch dann werden zwar noch die ersten weiterhin an den Vegetationspunkten entstehen- den Blätter gelbfleckig, aber wenn man auch diese verdunkelt, ehe sie zu assımilieren beginnen, dann werden auch hier die späteren Blätter schließlich grün. Bei dieser Prozedur darf also die Spross- spitze selbst belichtet sein, nur die assımilationsfähigen Blätter müssen verdunkelt werden. Auch aus diesen Versuchen läßt sich schließen, dass das Etwas, das die Infektion bewirkt, also das „Virus“ ın den gelben Flecken: der ausgewachsenen Blätter gebildet wird und zwar nur ım Lichte. Weiterhin habe ıch dann durch entsprechende Ringelungs- versuche zeigen können, dass die Weiterleitung des „Virus“ nur in der Rinde vor sich geht. Abutilon-Arten oder andere Malvaceen, die selber immun sind gegen das „Virus“, leiten es meist auch nicht weiter, es gibt aber einige immune Abutilon-Arten z. B. eine immune Sippe von A. arboreum, welche zwar selbst nicht buntblätterig zu machen sind, die aber trotzdem das „Virus“ weiter leiten. Man kann das in der Weise demonstrieren, dass man auf eine buntblätterige Pflanze einen Zweig von einem immunen A. arboreum aufpfropft und auf diesen arboreum-Zweig dann einen Zweig einer stark empfänglichen Art etwa von A. Awicennae, dann bleibt der arboreum-Zweig und alle an ihm entstehenden Seitenzweige grün, aber der Awticennae-Zweig wird trotzdem durch diesen arboreum-Zweig hindurch von der bunten Unterlage her infiziert. Wir haben also ın dieser durch Pfropfung übertragbaren Bunt- blätterigkeit der Malvaceen, der infektiösen Chlorose, eine höchst eigentümliche Erscheinung vor uns. Es liegt hier nach allem, was wir wissen, eine Infektionskrankheit vor, die aber nicht von einem Parasiten hervorgerufen wird. In welcher Weise im einzelnen die Infektion erfolgt, was für ein Stoff das „Virus“ ıst, das ist alles noch unbekannt. Ich habe schon früher eine Art von Arbeits- hypothese über die Natur des „Virus“ ausgesprochen, die vorläufig mit allen bekannten Tatsachen in Einklang steht und die weiterhin durch neue Versuche zu prüfen wäre. Die Hypothese ist folgende: Das „Virus“ ist ein Stoffwechselprodukt der erkrankten Pflanze selbst, das aber in gewissem Sinne die Fähigkeit des „Wachsens“ Baur, Pfropfbastarde. a besitzt. Ich nehme an, wir haben in dem „Virus“ einen chemisch hoch organisierten Stoff vor uns. Dieser Stoff wirkt auf bestimmte Molekülgruppen in den embryonalen Blattzellen in analoger Weise ein, d. h. hängt sich an sie, wie nach der Ehrlich’schen Theorie die Toxine sich an die Seitenketten an den von ihnen vergifteten Plasmakomplexen anhängen. Von den bisher bekannten Toxinen, die damit ihre Wirksamkeit beendet haben, unterscheidet sich das hypothetische Toxin der infektiösen Chlorose nun aber dadurch, dass es imstande ist, unter gewissen Bedingungen zu wachsen, d. h. Stoffe, die mit ihm identisch sind, aus anderen Verbindungen ab- zuspalten oder Stoffe dieser Art synthetisch neu aufzubauen. Wäh- rend nun aber die ursprünglichen Toxinmoleküle ın den einmal in- fizierten Zellen an den Seitenketten der vergifteten Plasmakomplexe festhängen, gebunden sind, sind die in dieser Weise neu entstehen- den nicht gebunden, da ja ın den alten infizierten Blättern, ın denen allein diese Neubildung des Toxins erfolgt, die Seitenketten bereits sämtlich belegt sind. Vielleicht sind aber auch nicht deshalb keine freien Seitenketten hier vorhanden, weil sie alle mıt Toxinmolekülen belegt sind, sondern aus der Tatsache, dass auch alte Blätter ge- sunder Pflanzen kein „Virus“ finden, könnte man schließen, dass die in den embryonalen Blättern eine Zeitlang — solange sie ın- fizierbar sind — vorhandene freien Seitenketten auch auf andere Weise als durch die Toxinwirkung verschwinden, sowie die Blätter ein gewisses Entwickeiungsstadium überschritten haben. Die neu gebildeten Toxinmoleküle wandern daher mit anderen löslichen Stoffen, bis sie ın den Zellen kommen, wo sie unbelegte Seiten- ketten vorfinden, d. h. bis sıe in embryonale Blattzellen kommen. Ich glaube nicht, dass die Annahme von in diesem Sinne wachstums- fähigen Stoffen allzu phantastisch ist. Von den bisher bekannten Tatsachen steht keine mit dieser Hypothese in Widerspruch, und manche fürs erste schwer verständ- liche Erscheinungen werden durch sie sogar sehr gut erklärt. Dies gilt zunächst für die eigentümliche Erscheinung, dass das anfangs in der ganzen Pflanze verbreitete „Virus“ sich in den embryonalen Blattzellen fast restlos ansammelt. Wır haben eben nur in den embryonalen Blattzellen freie Seitenketten. An diesen Seitenketten bleiben die zirkulierenden Toxinmoleküle haften, müssen ja also schließlich fast restlos angesammelt werden, hineinkommen können sie, aber nicht wieder hinaus. Genau dasselbe Gebundenwerden der Toxinmoleküle in den durch sie gerade affizierten Gewebearten haben wir ja auch bei den sonstigen Toxinen, für die Ehrlich seine Theorie aufgestellt hat. Bei den Malvaceen existiert nicht bloß diese eine von Abutilon Thompsoni herrührende infektiöse Chlorose, sondern ich kenne auch noch zwei andere, ihre ın jeder Hinsicht analoge, aber doch deutlich XXX. ' 39 514 Baur, Pfropfbastarde. unterscheidbare infektiöse Chlorosen, die wahrscheinlich unabhängig von ıhr zuerst spontan in einer Erfurter Gärtnerei aufgetreten sind. Nähere Untersuchungen mit diesen beiden anderen Malvaceen- chlorosen habe ich aber noch nicht ausgeführt. Auch in anderen Pflanzenfamilien kommen infektiöse Chlorosen vor. Schon in der älteren Literatur?’) finden sich vielerlei Angaben über solche übertragbare Buntblätterigkeit bei Fraxinus Jasminum u.s. w. Über eine Anzahl von Versuchen mit anderen Pflanzen habe ich selbst in den letzten Jahren einigemal berichtet. Ich kenne heute ınfektiöse Chlorosen, die ın allem mit der Thompsoni-Chlorose der Malvaceen übereinstimmen in den Gattungen Zaburnum Sorbus, Ptelea, Fraxinus, Ervonymus, Ligustrum. Nach dem Aussehen der Blätter kann man nie sagen, ob in einem gegebenen Falle eine infektiöse oder eine nicht infektiöse Buntblätterigkeit vorliegt. Z. B. bei der infektiösen Chlorose von Laburnum vulgare sind die Blätter nicht fleckig, sondern ganz gleichmäßig gelb-grün, sehen genau so aus wie sonst diejenigen von nicht infektiösen samenbeständigen „Aurea“-Rassen. Bei Fraxinus, Ptelea und Ligustrum sınd die Blätter infektiös-chlorotischer Individuen ın ähnlicher Weise gelb und grün marmoriert, wie bei der infektiösen Chlorose der Mal- vaceen. Bei diesen infektiösen Chlorosen handelt es sich also um eine ın den verschiedensten Pflanzenfamilien vorkommende Erscheinung, deren nähere Aufklärung vom Standpunkte der allgemeinen Patho- logie aus und dann aber auch für viele Fragen der Pflanzenphysio- logie von hohem Interesse wäre. Es ıst schade, dass diese Fragen bisher so wenig untersucht worden sind. Mit einem Bastardierungs- vorgang hat freilich die Übertragung der Buntblätterigkeit ebenso- wenig gemeinsam, wie die Entstehung von Periklinalchimären. Man wird wohl gut tun, die Ausdrücke Bastardbildung auf vegetativem Wege, Pfropfbastarde u. s. w. zu kassieren, und für wirkliche, durch Verschmelzung von vegetativen Zellen entstandene Pfropf- bastarde zu reservieren, von denen wir freilich heute noch keinen kennen und die es vielleicht überhaupt nicht gibt. 20) Literatur bei Cramer, P. J. 8., Kritische Übersicht der bekannten Fälle von Knospenvariation. Natuurkundige Verhand. Hollandsche Maatschappij der Wetenschappen. 3. Verzamel., Deel VI 3. Stuk. Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus etc. 515 Nachträge zum sozialen Parasitismus und der Sklaverei bei den Ameisen. (Zugleich 177. Beitrag zur Kenntnis der Myrmekophilen.) Von E. Wasmann S. J. (Luxemburg). (Schluss). 13. Über Pheidole symbiotica Wasm. (Zu 1909, S. 693—69.) P. W. Deckelmeyer sandte mir auf mein Ersuchen das ganze Material aus der betreffenden Pheidole-Kolonie, das er am 4. Juni 1908 gesammelt und zum Teil mit nach Rio Grande do Sul (Bra- sılien) genommen hatte. Es liegen mir jetzt im ganzen aus dieser Kolonie (Nr. 79) vor: a) Von der als Pheidole symbiotica beschriebenen Schmarotzer- ameise, ergatoide Weibchenform: 2 ausgefärbte Exem- plare, 2 unausgefärbte und 1 noch ganz weiße Puppe. b) Von der dazu gehörigen Männchenform: 6 Puppen, unter denen 2 fast ausgefärbt sind, 2 ganz ausgefärbt, 1 davon schon glänzend schwarzbraun, aber die Flügel wie bei den übrigen Exemplaren noch als scheidenförmige, graue Lappen den Körperseiten anliegend. c) Von der Soldatenform von Pheidole pallidula: 1 altes, aus- gefärbtes Exemplar, keine Puppen. d) Von der Arbeiterform von Pheidole pallidula: 19 ausgefärbte Exemplare, keine Puppen oder Larven. [e) Von der Weibchenform von Pheidole pallidula: kein Exemplar, auch keine Larven oder Puppen.] Deckelmey er schreibt mir ferner nochmals: Die „Gastameisen“ wurden gar nicht von den Pheidole belästigt, die sonst (beim Um- drehen des Steines, der 2 Nester bedeckt) wütend über die Ein- dringlinge herfallen. Wie die Ameisen selber, so waren auch die Puppen beider Formen (Deckelmeyer hielt nämlich die männ- lichen Puppen für solche von Pheidole pallidula) untereinander ver- mengt. Ob noch andere Brut im Neste war, könne er sich nicht mehr erinnern. Er nennt die betreffende Kolonie „ein starkes Nest“. Sie muss also noch eine große Zahl von Arbeiterinnen und Soldaten der Pheidole pallidula enthalten haben, die er nicht mit- sandte, weil er nur die „wenigen Gastameisen“ für bemerkenswert hielt. Wäre eine Königin von Pheidole pallidula vorhanden ge- wesen, so würde er sie jedoch sicher mitgesandt haben. Ich gebe nun die Beschreibung der Männchen nach den beiden ausgefärbten Puppen: Pheidole symbiotica, d'. Sehr ähnlich jenem von Pheidole pallidula, aber durch die Fühlerbildung verschieden. Die Geißel der gelbbraunen Antennen 294 [9 797 516 Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus ete. ıst schlanker als bei letzterer Art, das erste Geißelglied nur sehr wenig verdickt, kaum breiter als die folgenden; es ist nicht kugelförmig, sondern kurz zylindrisch, so lang wie breit. Die folgenden Glieder nehmen an Länge allmählich zu gegen die Spitze der Geißel.e Das Endglied ıst doppelt so lang wie das vorletzte. Der die Ozellen tragende Stirnhöcker ist stark entwickelt, die Ozellen selber sehr groß. Länge 4,3 mm. Beim Männchen von Pheidole pallidula ıst das erste Geißelglied stark kugelförmig verdickt, doppelt so breit wie die folgenden. Das Endglied der Geißel ist nur um die Hälfte länger als das vor- letzte. Da die Männchen der verschiedenen Pheidole-Arten untereinander sehr ähnlich sind, dürften diese Unterschiede der Fühlerbildung genügen, um die Berechtigung von Pheidole symbiotica als eigener Art zu bestätigen, welche durch Mutation der Weibchenform ihrer ursprünglichen Stamm- und jetzigen Wirtsart zu einer neuen Schmarotzerameise wurde. 14. Über Myrmica myrmecophila. (Zu 1909, 8. 693.) Während wir bei Pheidole symbiotica eine eigene ergatoide Weibchenform und eine Männchenform von der Stammart abge- grenzt finden, bin ich im bezug auf das folgende ergatoide Myrmica- Weibchen noch ım Zweifel, ob es um eine konstante Mutation sich handelt, zumal nur ein einziges Exemplar bisher gefunden wurde. Da jedoch Forel eme bei Myrmica lobicornis ın der Schweiz durch Bugnion entdeckte anormale Weibchenform, die er schon 1874 (Fourmis d. l. Suisse p. 78) beschrieb, 1905 (Mitt. Schweiz. Ent. Ges. XI, Heft 2, S. 88) definitiv als eine eigene Schmarotzerart unter dem Namen Myrmica myrmicoxena aufgestellt hat, dürfte es angezeigt sein, auch auf folgende anormale Weibchenform aufmerk- sam zu machen, die ich bei Myrmica swleinodis am 27. August 1891 auf der Höhe des Arlbergpasses an der Grenze von Tirol und Vor- arlberg (1800 m) in einer starken Kolonie jener Ameise fand. Das Individuum ist eine ergatoide Königin, nur 5,2 mm lang, also von der Größe der größten Arbeiterinnen von szleinodis, aber der Kopf bedeutend kleiner und heller, gelbbraun, nur ın der Mitte der Stirn mit bräunlichem Schatten. Eine mittlere Stirnzelle ist vorhanden, aber viel kleiner als beim Weibchen. Stirnfeld stärker vertieft als bei Weibehen und Männchen. Der Thorax ent- spricht ganz demjenigen der Arbeiterin. Der Hinterleib ist viel größer als hei letzterer, 2,4 mm lang und 1,5 mm breit, der Rücken des ersten Segmentes braun, sonst wie der übrige Körper hellgelb- braun. Der Umfang des Hinterleibes ıst derselbe wie bei den fast 7 mm langen echten befruchteten Weibchen in jener Kolonie, Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus etc. 517 während der Kopf nur halb so groß ist. Die Skulptur von Kopf und Thorax entspricht derjenigen der Weibchen und Männchen von Myrmica suleinodis, ist aber etwas weniger grobrunzlig. Die abstehende gelbe Behaarung ist etwas länger und dichter als bei letzteren. Während diese Eigentümlichkeiten mit Ausnahme des tieferen Stirnfeldes nur auf ein ergatoides Weibchen von Myrmica suleinodis hindeuten, ist die Bildung der Epinotumdornen ganz verschieden. Bei swleinodis sind die Dornen mäßig lang, schräg aufgerichtet, gerade, von der Basis bis zur Spitze allmählich verengt, letztere manchmal schwach aufgebogen. Bei der anormalen Weibchenform dagegen sind sie länger, die Mitte des ersten Stielchengliedes über- ragend, nicht aufgerichtet, sondern horizontal, nicht divergierend, sondern parallel, nicht gerade, sondern zweimal gebogen; nahe der schräg aufrecht gerichteten Basis biegen sich die Dornen erst bogen- förmig abwärts und dann vor der Spitze wieder aufwärts; auch sind sie dünner, nahe der Basis stark verengt und von da an all- mählich zugespitzt. Ich schlage für diese Weibchenform, die durch die Bildung der Epinotumdornen auffallend von Myrmica suleinodis abweicht, den Namen Myrmica myrmecophila vor. Dass es sich hier um ein aberrantes ergatoides Weibchen handelt, welches von Myrmica suleinodis sich abgezweigt hat, dürfte wohl nicht zweifelhaft sein. Aber ob diese Aberration bereits konstant fixiert ist und damit den Beginn zur Entwickelung einer neuen parasitischen Spezies bildet, müsste erst durch weitere Beobachtungen entschieden werden. 15. Wheeler’s neue Ansichten über die Koloniegründung von Formica rufa. (Zu 1905, 8. 194ff.; 1908, S. 258ff., 358ff.; 1909, S. 594ff., 663 ff.) In einer soeben mir zugesandten Arbeit: Observations on some European Ants (Journ. New-York Entom. Soc. XVII, Nr. 4, Dez. 1909, S. 172—187) berichtet Wheeler einige Beobachtungen über junge rufa-fusca-Kolonien, die er im Sommer 1909 ım Kanton Wallis (Schweiz) fand, ferner über eine von ihm neuentdeckte Sub- spezies (alpinus)2®) des Strongylognathus Huberi For. bei Zermatt, und über einige Anergates-Tetramorium-Kolonien ebendort. Hier sollen nur seine Ausführungen über die Koloniegründung von F. rufa (S. 172—176) näher besprochen werden. 1. Wheeler’s neue Beobachtungen sind folgende: Er fand am 20. Juli 2 rufa-fusca-Kolonien ım 'Turtmanntale in Höhen von 2000 und 1900 m, von denen die erste mehrere 29) Er hält dieselbe (S. 180) noch für fähig, Sklavenpuppen zu rauben. 518 Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus ete. Hundert fusca-Arbeiterinnen, einige Larven und Puppen ®°) und eine schöne raufa-Königin enthielt; die andere Kolonie war viel schwächer, etwa 50-80 fusca-Arbeiterinnen, mehrere Larven von Geschlechts- tieren dieser Art und eine rufa-Königin umfassend; außerdem lagen 4 noch frische r«fa-Königinnen tot, mit abgetrenntem Hinterleibe, in einer der oberflächlichen Nestkammern. Ferner fand er am 11. August unterhalb des Bodengletschers bei Zermatt in einer Höhe von ca. 2000 m eine kleine gemischte Kolonie mit etwa einem Dutzend fusca-Arbeiterinnen, zwei Dutzend sehr kleinen r«fa-Ar- beiterinnen, einer rufa-Königin und gegen 50 Larven und Puppen der letzteren Art. Eine fusca-Königin fehlte in allen diesen 3 Kolo- nien, während Wheeler in den selbständigen fusca-Nestern, die er bis fast 3000 m Höhe auf dem Gorner Grat fand, 2--6 fusca-Köni- ginnen antraf®!). Zahlreiche, nach dem Paarungsfluge umherlaufende, entflügelte rufa-Weibchen sah er ım Turtmanntale am 19. Juli, also einen Tag vor der Entdeckung der obigen zwei ersten Adoptions- kolonien. 2. Wheeler’s Schlussfolgerungen aus diesen Beobach- tungen sind: a) Er habe hier zum ersten Male die parasitische Koloniegründung von F\. rufa mit Arbeiterinnen von fusca entdeckt. b) Diese parasitische Koloniegründung von rufa sei eine obli- gatorische, gleich jener von consocians und truncicola, und sie stelle die gewöhnliche Form der Gründung neuer Nieder- lassungen bei rufa dar. c) „Wasmann’s Ansicht“, dass die Koloniegründung von rufa wie („like“) jene von sanguwinea vor sich gehe, sei falsch. d) Man müsse deshalb die Hypothese Wasmann’s, dass die Dulosis bei Formica von einem Anfangsstadium des sozialen Parasıtismus abzuleiten sei, völlig aufgeben. Ich gehe nun zu meinen kritischen Bemerkungen über. Zu a). — Wheeler hat übersehen, dass ich schon 1906 die parasitische Koloniegründung von rufa durch Adoption ihrer Weib- chen ın fusca-Nestern entdeckt habe®?). Man vergleiche meine Arbeit von 1908 (Biol. Centralbl. XXVIIIL, Nr. 8—-13), S. 258, Kap. 1: „Zwei natürliche Adoptionskolonien rufa-fusca bei 30) Von welcher Art, ob von fusca oder rufa, ist nicht angegeben; wahr- scheinlich ist fusca gemeint. 31) Über die Pleometrose von F. fusea bei Luxemburg siehe: Ameisen von Luxemburg III, 1909, S. 76—77. 32) Bei der großen Zahl unserer beiderseitigen Publikationen ist ein solches Versehen leicht begreiflich. Auch ich hatte z. B. bei meiner Arbeit über die ge- mischten Kolonien von Lasius (1909) vergessen, dass Wheeler schon 1905 solche Kolonien aus Nordamerika erwähnte (siehe oben S. 494), und bin ihm dafür zum Danke verpflichtet, dass er mich brieflich darauf aufmerksam machte. Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus etc. At ’ 5 Qlx Luxemburg“. Die zwei von mir daselbst (S. 260) beschriebenen, im Frühling 1906 entdeckten Kolonien entsprechen genau den von Wheeler gefundenen. Die erste derselben (vom Stadium 3) ist analog der dritten der Wheeler’schen Kolonien, die zweite (vom Stadium 1-2) ıst analog den beiden ersten Wheeler’schen Kolo- nien; letztere gehören jedoch wahrscheinlich einer jüngeren Ent- wickelungsstufe des Stadiums 1 an; sicher ist dies für die zweite der Kolonien von Wheeler, die noch Larven der Geschlechtstiere von fusca enthielt, und in welcher auch außer der aufgenommenen rufa-Königin noch 4, wahrscheinlich von den fusca bei ihrem Ein- dringen in das Nest getötete rufa-Weibchen sich fanden. Den Ur- sprung der beiden, 1906 von mir entdeckten rufa-fusca-Kolonien habe ich ferner 1908 ebenso erklärt, wie Wheeler es 1909 mit seinen Kolonien tut: durch Adoption eines befruchteten rufa- Weibchens in einer fasca-Kolonie. 1909 (S. 663 ff.) konnte ich dann weiterhin feststellen, dass die r«fa-Königin nach ihrer Aufnahme im fusca-Neste die Königin der Hilfsameisenart tötet. Wheeler’s neue Beobachtungen sind also eine Bestätigung meiner Be- obachtungen von 1906 und ihrer Erklärung derselben von 1908 3). Zu b). — Wheeler hält jedoch die parasitische Koloniegrün- dung von rzfa durch Adoption ihrer Weibchen bei fusca für die obligatorische, normale Form der Gründung neuer Nieder- lassungen von rufa. Ich hatte dagegen schon 1905 (S. 195 ff.) ausdrücklich hervorgehoben und durch zahlreiche Beobachtungen damals und seither bewiesen, daß die befruchteten Weibchen von rufa gewöhnlich ihre neuen Niederlassungen mit Hilfe von Ar- beiterinnen der eigenen Art durch Zweigkoloniebildung gründen; auch für die Adoption von r«fa-Königinnen durch fremde Kolonien und fremde Rassen derselben Art habe ich zahlreiche Belege er- bracht. Nur wenn die befruchteten rufa-Weibchen keine Arbeite- rinnen der eigenen Art finden, wenden sie sich zur Aufnahme an fusca. Dieser Fall trifft aber gerade auf jenes Gebiet zu, wo Wheeler seine drei neuen Adoptionskolonien rufa-fusca fand. Das- selbe liegt an der oberen Grenze des rufa-Gebietes im Wallis, in einer Höhe von 1900-2000 m; das fusca-Gebiet reicht dort noch höher 33) [Ob die Priorität für die Entdeckung der parasitischen Koloniegründung von rufa mir zukommt oder vielleicht Escherich, ist noch nicht aufgeklärt. Letzterer zeigte mir im November 1905 bei einem Besuch in Straßburg eine rufa- Königin, die er bei einigen fusca-Arbeiterinnen im Schwarzwald gefunden hatte. Aber es wurde mir nicht klar, ob die Königin bereits aufgenommen war bei den fusca oder noch von ihnen getrennt, wie es bei einer meiner Beobachtungen von 1902 (Biol. Centralbl. 1908, S. 259) der Fall gewesen. Escherich hat 1906 in seinem vortrefflichen Buche „Die Ameise‘ diese seine Beobachtung bei der Kolonie- gründung der Ameisen nicht erwähnt und auch seither nichts darüber publiziert. 520 Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus etc. 6 hinauf, nach Wheeler bis fast 3000 m°®). Es kann daher gar nicht befremden, dass die beim Paarungsfluge®’) nach oben ver- schlagenen rufa-Weibchen relativ häufig bei fasca Aufnahme suchen. Aber daraus schließen zu wollen, dass rufa bei der Gründung ihrer neuen Niederlassungen ebenso regelmäßig wie truncicola und con- socians sich der Adoption durch Arbeiterinnen von Sklavenarten be- diene, ist unbegründet, ja gegenüber der so häufigen Zweig- koloniebildung von F. rufa überhaupt unrichtig. Zu c). — Wheeler schreibt mir ferner die Ansicht zu, die Koloniegründung von rufa erfolge wie bei sanguinea, mdem er sagt (S. 174): „These three colonies... lend no support to Was- mann’s view, that the rufa-queen, under natural conditions, be- haves like sangwinea“ °%). Hier liegt wohl ein Missverständnis von Seite Wheeler’s vor. Ich habe niemals und nirgendwo be- hauptet, dass die rufa-Königin sich bei ihrer Koloniegründung ebenso verhalte wie die sangeinea-Königin. Ich habe vielmehr wiederholt betont, dass die r«fa-Königin, wenn sie in fusca-Nester eindringt, ihre Kolonie durch Adoption bei den alten Arbeite- rinnen gründet, nicht durch Puppenraub, wie es die sangwinea- Königin wenigstens meist zu tun scheint. Daher habe ich auch die 1906 entdeckten rufa-fusca-Kolonien als „Adoptionskolonien* erklärt (1908, S. 259), nicht als „Raubkolonien“. Ich habe ferner aus meinen Versuchen über die Koloniegründung von reufa-Weibchen (1908, S. 358— 369) den Schluss gezogen, dass ihre Adoption durch Arbeiterinnen von f/usca unter günstigen Verhältnissen gelingen könne, während von einem Gelingen ihrer Koloniegründung durch Puppenraub daselbst gar keine Rede war. Nur insofern hatte ich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Benehmen der rufa- und der sangwinea-Königin gefunden, als auch erstere manchmal aber nicht immer —, wenn sie von den fusca angegriffen wird, sich energisch verteidigt; dass sie ferner diesen Angriffen manchmal unterliegt, wofür auch die 4 frischgetöteten rufa-Königinnen in der zweiten Kolonie Wheeler’s wahrscheinlich Zeugnis ablegen; dass endlich 2 von den rufa-Königinnen, mit denen ich bisher experi- mentierte, ein auffallendes Interesse für die Arbeiterkokons von 34) Dies dient auch zur Ergänzung meiner Angaben von 1909 (S. 629) über die oberen Grenzen der rufa- und der fusea-Region in den Alpen. Indem südlicher gelegenen Wallis reicht die Grenze beider höher hinauf alsin Vorarlberg und Nordtirol. 35) Dass derselbe in der hochalpinen Region später als in der Ebene erfolgt, zeigt Wheeler’s Beobachtung vom 19. Juli. 36) In dem Worte „like“ liegt für die deutsche Übersetzung ein Doppelsinn ; es hann heißen „so wie“ oder auch „ähnlich wie“. Dass die »wfa-Königin sich manchmal ähnlich wie die sangwinea-Königin verhalte, gibt auch Wheeler zu, wie wir unten sehen werden. Auf diese Bedeutung des Wortes „like“ kann sich also seine Polemik nicht beziehen, es sei denn, dass er eine vollständige Ähnlichkeit meinte, die auch von mir nicht behauptet worden war. Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus ete. ai fusca zeigten, dieselben sammelten und verteidigten und auch einige Puppen aus den Kokons zogen; später aber ließen sie sich auch in diesen Fällen von den alten fxsca-Arbeiterinnen adoptieren. Eine Arbeiterin von fausca ist in meinen Versuchsnestern niemals durch eine rufa-Königin erzogen worden, während mehrere sanguinea- Weibchen auf diesem Wege ihre neuen Kolonien gründeten (1908, S. 369 ff.). Ich betone also nochmals, dass ich die zwischen dem Benehmen der Königinnen von rufa und sangwinea bestehenden Verschiedenheiten ebenso hervorgehoben habe wie die Ähn- lichkeiten. Übrigens fügt Wheeler selbst (S. 176) einen Satz bei, der offen zugesteht, die rzufa-Königin könne sich manchmal ähnlich benehmen wie die sanguinea-Königin: „Possibly the rwfa-queen, like the queen of sangwinea and of other species of Formica may be, as I have suggested’”), an opportunist to the extent of regu- lating her behavior according to the behavior of the particular fusca-colony which she enters. If the fusca are aggressive, she may act more like sanguinea, whereas if they are timid or indiffe- rent she probably permits herself to be passively adopted.“ Das ist doch dasselbe, was auch ich aus meinen Versuchen (1908, S. 369) einige Monate früher geschlossen hatte °®). Zu d). — Die letzte Schlussfolgerung Wheeler’s, dass man nämlich die Hypothese Wasmann’s, wonach die Dulosis in der Gattung Formica von einem Anfangsstadium des sozialen Parasitis- mus abzuleiten sei, infolge seiner neuen Entdeckungen von 1909 vollständig aufgeben müsse, erledigt sich hiermit von selber. Denn Wheeler hat gegen dieselbe in seiner neuen Arbeit gar nichts bewiesen; ım Gegenteil, er hat in Wirklichkeit meine 1908 ausge- sprochene Ansicht über die fakultative Koloniegründung der Weib- chen von rufa durch Adoption bei Arbeiterinnen von fusca nur bestätigt. Meine Arbeit von 1909, welche die Entwickelung des sozialen Parasitismus und der Sklaverei ın der Gattung Formica zu- sammenfassend behandelte, war ıhm, wie er in einer an kung mit- 37) The ants of Casco Bay, Maine, with observations on two races of Formiea sanguinea (Bull. Am. Mus. Nat. Hist. XX1V, 25. Sept. 1908), S. 633ff. — In dieser Arbeit referierte Wheeler meine Ausführungen von 1908 (Weitere Beiträge) über die Ähnlichkeiten im Verhalten gewisser rufa-Weibchen mit den sangwinea- Weibchen in richtiger Weise und schloss sich (S. 637—638) meinen Anschauungen über die hypothetische Entwickelung des sanguinea-Stadiums aus einem rufa-ähn- lichen Stadium sogar teilweise an, obwohl er auch die Schwierigkeiten hervorhob, die ihnen nach seiner Ansicht entgegenstanden. Letztere dürften durch meine neue Arbeit von 1909, in welcher Emery’s Theorie der primitiven Raubweibchen zurück- gewiesen wurde, wohl großenteils schon beseitigt sein. 38) Diese Arbeit (Weitere Beiträge etc.) hatte ich am 20. Juli 1908 an Wheeler gesandt. Er zitierte sie auch schon in seiner Publikation vom 25. September 1908 (siehe oben Anm. 37); in seiner letzteren Publikation vom 4. Dezember 1909 ist sie ebenfalls in einer Anmerkung (S. 173) zitiert. 522 Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus etc. Dez teilt, noch nicht näher bekannt. Ich habe deshalb auf letztere Arbeit im obigen keinen Bezug genommen, sondern nur auf jene von 1908. [Neuerdings hat Wheeler in seinem schönen Buche „Ants“ (New-York 1910), S. 440 eine Tabelle der hypothetischen Ent- wickelung des sozialen Parasıtismus und der Sklaverei beı den Ameisen gegeben. In derselben leitet er aus der selb- ständigen Koloniegründung zuerst die fakultative Adoption der Königinnen durch Arbeiterinnen der eigenen Art ab, dann aus dieser die obligatorische Adoption durch Arbeiterinnen der eigenen Art, und aus dieser die obligatorische Adoption durch Arbeiterinnen fremder Arten; von diesem Stadium aus zweigen dann der soziale Parasitismus und die Sklaverei nach verschiedenen Richtungen hin ab. Zu dieser Tabelle ist zu bemerken, dass der soziale Parasitis- mus in seiner primitivsten Form schon mit dem dritten der oben genannten Stadien beginnt, weil daselbst bereits die Fähigkeit zur selbständigen Koloniegründung der Königinnen verloren gegangen ist. Also leitet auch Wheeler heute noch die Entwickelung des obligatorischen sozialen Parasitismus einerseits und der Sklaverei anderseits von einem Anfangsstadium des temporären sozialen Parasıtismus ab. Dieses Anfangsstadium wird uns aber ın der Gattung Formica am besten durch ein „rufa-ähnliches Stadium“ repräsentiert, in welchem die Koloniegründung für ge- wöhnlich mit Hilfe von Arbeiterinnen der eigenen Art, in Ermange- lung derselben aber auch schon mit Arbeiterinnen einer fremden Art erfolgt. Ich glaube daher ın dieser neuen Tabelle Wheeler’s eine Bestätigung der von mir 1908 (Weitere Beiträge S. 440) und 1909 (Ursprung des sozialen Parasitismus S. 626) gegebenen Tabellen sehen zu dürfen. Man braucht sie nur miteinander zu vergleichen, um sich davon zu überzeugen.] 16. Zur Koloniegründung von Strongylognathus testaceus. (Zu 1908, 8. 420 ff.) Dass ın den gemischten Kolonien von Strong. testaceus mit Tetramorium caespitum auch eine Königin der letzteren Art vor- kommt, hatte ıch 1890 ın zwei Kolonien bei Prag ın Böhmen entdeckt’) und darauf die Hypothese aufgestellt‘), dass diese ge- mischten Kolonien durch Allianz eines befruchteten Strongylo- gnathus-Weibehens mit einem Tetramorium-Weıibchen, also durch primäre Allometrose (siehe oben S. 546), entstehen. 1907 fanden dann Forel und Wheeler*!) in der Schweiz ebenfalls in einer 39) Die zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien der Ameisen, BIS, N0ZIN2: 40) Ebenda, S. 114. Siehe auch 1908, S. 420-422. 41) Comparative Ethologie of the European and North-American Ants (Journal f. Psychologie and Neurologie XIII, 1908), S. 428-429. Wasmann, Nachträge zum sozialen Parasitismus etc. 593 dieser gemischten Kolonien eine Tetramorium-Königin. Neuerdings veröffentlichte auch Al. Mräzek in den Acta Societatis Entomo- logicae Bohemiae (V, 1908, Heft 4, S. 144—146) eine Mitteilung „Zur Biologie der gemischten Strongylognathus-Tetramortum- Kolonien“, durch welche obige Beobachtungen und deren hypo- thetische Erklärung bestätigt werden. Ich lasse das deutsche Resume (S. 146) seines ezechischen Berichtes hier wörtlich folgen: „Es wird zunächst ein weiterer Fund einer Tetramorium-Königin in eimer Strongylognathus-Kolonie (Juni 1908 bei Celakovice in Böhmen) erwähnt. Im weiteren wird über eine gelungene Allianz beider Königinnen berichtet. Einer im Freien (27. Juli 1908 bei Celakovice) gefundenen entflügelten Tetramorium-Königin, welche im Begriffe stand, eine neue Kolonie zu gründen, wurde im künst- lichen Neste ein entflügeltes Weibchen von Strongylognathus bei- gesellt. Dasselbe wurde nach einigen Drohungen durch aufgesperrte Mandibeln weiter ganz unbehelligt gelassen, und die beiden Weib- chen hielten sich fortan ın demselben Kämmerchen auf, obgleich es dem Strongylognathus-Weibchen möglich war, durch einen engen, für ihre weit größere Genossin unpassierbaren Gang zu entweichen und sich so den event. Feindseligkeiten zu entziehen. Bereits am zweiten Tage sah ich ein Häuflein abgelegter Eier, die von dem Tetramorium-Weibchen gepflegt wurden. Es ist leider nicht ge- lungen, die beiden Weibchen bis zum Ausschlüpfen der ersten Ar- beiterinnen am Leben zu erhalten (beide starben im Laufe des November), aber immerhin bildet dieser Versuch einen guten und zwar ersten direkten Beweis für die Wahrscheinlichkeit der von Wasmann hypothetisch angenommenen Entstehungsweise der Strongylognathus-Kolonien durch Allianz der Königinnen.“ Bezüglich der Koloniegründung von Lasius niger konstatiert Mräzek (Acta Soc. Ent. Boh. V, 1908, S. 76) nochmals, dass bei Prag und insbesondere in der hochgelegenen gebirgigen Umgebung von Pribram die Zasius-Königinnen bei der Gründung neuer Kolo- nien mit der Eiablage regelmäßig erst nach der Überwinterung im Frühjahr beginnen. Ich hatte dagegen im Sommer 1906 bei lapp- springe ın Westfalen beobachtet, dass die Weibchen von Lasius niger schon wenige Tage nach dem Paarungsfluge mit der Eiablage begannen, während die Weibchen von Lasius umbratus und flavus noch nach mehreren Wochen keine Eier gelegt hatten (1908, S. 332—333). Bei den 4 Königinnen von Lasius flavus dagegen, die ich Ende September 1909 bei Luxemburg fand (siehe oben S. 453), hatte die Eiablage schon im Herbste begonnen. Die Verschiedenheit der Wahrnehmungen Mräzek’s von den meinigen ist wahrschein- lich auf lokale Ursachen zurückzuführen. Es sei noch erwähnt, dass Mräzek (Acta Soe. Ent. Boh. V, 1908, S. 146) auch über Brachypterie bei Mermithogynen von 524 Brun, Zur Biologie und Psychologie von Formica rufa und anderen Ameisen. Lasius alienus (d.h. über Weibchen, die mit Mermis infiziert sind) berichtet (Piibram bei Prag). Dagegen hängt die von mir bei Weibchen von Formica sangwinea beobachtete Brachypterie mit der Pseudogynenerziehung und durch diese mit der Zucht der Lome- chusa-Larven zusammen. Über diese makronoten brachypteren sanguinea-Weibehen vergleiche „Ameisen und Ameisengäste von Luxemburg“ III, 1909 (Arch. trim. Inst. Grand-Ducal, IV, fasc. 3 4),.8.. 57,0. Day MI, Eıe 212 u. 2 Inhaltsübersicht. Seite 1. Pleometrose und Allometrose. 1. Bleometrose 1 ss er . Le Tl, '.„ II. Allometrose . . U IE EL OIRER 916 2. Über die Gründung der Kolonien bei Formica sanguinea: a) Viehmeyer’s Allianzhypothese . . 460 b) Die phylogenetische Beziehung zwischen Parasitismus und Dulosis 462, 475 Weitere Momente zur Kolonieeründung von sanguwinea. Neue Versuche mit sangwinea-Weibchen 1909: ww a) Koloniegründung durch zufälligen Puppenfund . . 2... ..2.....47 b) Versuche mit einem sanguinea-Weibchen . . . . ... 2.478 c) Zur Beurteilung kleiner sangwinea-Kolonien . . . 2 2... 479 d) Versuche mit zwei sanguinea-Weibchen . . . N ce 4. Tötung von sangwinea-Arbeiterinnen durch die eigenen Sklaven a 5. Neue Versuche mit truneicola-Weibehen 1909 . . - . I A MER 6. Neue Versuche über die Aufzucht von fusca durch truncieola . . 490 7. Vergleichsversuche über die Aufzucht von fusca durch rufa . . . . . 491 8. Weitere Schicksale der Adoptionskolonie rufa-fuseca I. . . . .... 49 9% Aufnahme iremder Königinnen Ber. ruf... I NER 295 10. Temporärer sozialer Parasitismus bei Lasius-Arten . . 493 11. Uber zusammengesetzte Nester von Leptothorax-Arten mit anderen Ameisen 494 12. Über parasitische Ameisen der Tropen . . Sep Ada 13% Über Pheidole symbiotica W asm. Beschreibung des Männchens ana als‘ 14. Über Myrmica myrmecophila . . : : RR 15. Wheeler’s neue Ansichten über die Koloniegründung von F ruf RB 16. Zur Koloniegründung von Strongylognathus testaceus . . INSEATURNE RD 22 Zur Biologie und Psychologie von Formica rufa und anderen Ameisen. Verhalten von Angehörigen fremder Kolonien gegeneinander. — Adoption fremder Könieinnen. — Zur Frage der Koloniegründung bei F rufa. 5 5 5 5 Von Rudolf Brun. Zürich. Im Laufe der letzten Jahre habe ich, zum Teil gemeinschaft- lich mit meinem Bruder, Herrn Edgar Brun in Kemptthal, eine Reihe von Experimenten und Beobachtungen an Formica rufa und einigen anderen Arten angestellt, die sich namentlich auf das gegen- seitige Verhalten von Angehörigen fremder Nester unter verschie- denen Umständen sowie auf Adoption fremder Königinnen erstreckten. Bei den Versuchen der ersten Art wurde stets mit relativ großen Mengen von Ameisen und unter möglichst natürlichen Verhältnissen (in freier Natur) operiert; einige Parallelversuche und Beobach- tungen, die mein Bruder in Kemptthal machte, bilden eine gute Brun, Zur Biologie und Psychologie von Formica rufa und anderen Ameisen. 525 Kontrolle meiner Experimente und ergänzen sie aufs beste. Das Schicksal einer künstlichen Misch- und Adoptionskolonie konnte mehrere Jahre hindurch verfolgt werden, ein Umstand, der es er- möglichte, die jeweilen erzielten Resultate nicht nur nach ihrem momentanen Anscheine, sondern nach ihren Folgen zu beurteilen und so über allen Zweifel festzustellen. — Zum Schlusse teile ich noch einige zufällige Beobachtungen mit, die geeignet sind, die ın neuerer Zeit von Wasmann und Wheeler vertretenen Ansichten über den Modus der Koloniegründung bei F. rufa und Verwandten zu bestätigen. i& @eschiehte einer künstlichen Misch- und Adoptionskolonie von F. rufa i. sp. und pratensis de Geer. vom Frühjahr 1907 bis Frühjahr 1910: mit vielen Zwischenexperimenten. Am 10. Mai 1907 verpflanzte ich aus dem Zollikoner Walde in unsern Garten bei Zürich einen großen Sack voll Ameisen, die sich aus folgenden, weit auseinanderliegenden Kolonien rekrutierten: I. Aus einem mittelgroßen, stark bevölkerten Neste von F\ pra- tensis: Eine große Zahl von Arbeitern, viele männliche Puppen und weibliche Larven in vorgerückten Stadien, eine enorme Menge von Eiern und jungen Larven, die wahrscheinlich die neue Arbeiter- generation repräsentierten. Eine Königin war nicht auffindbar. 1I. Aus einem kleinen pratensis-Neste, 3 Min. oberhalb des ersten: Verhältnismäßig wenig Arbeiter, dagegen viele Eier; keine Königin. III. Aus einer sehr volkreichen Kolonie von F. rufa 1. sp.: Enorme Mengen von Arbeitern mit Brut, keine Königin. IV. Aus zwei großen, etwa 30 m auseinanderliegenden rzfa- Nestern, mindestens !/, Stunde von Kolonie III entfernt: Das Gros der Arbeiter und der Brut. Keine Königin. Die Einsammlung der Tiere erfolgte innerhalb 2 Stunden, von 10—12 Uhr vormittags, bei sonnigem, heißem Wetter. Eine be- sondere Mischung im Sacke nahm ich nıcht vor. Um 1!/, Uhr, also nach 1!/,stündigem Verweilen der IV. Kolonie im Sacke, öffnete ich diesen im Garten und legte ıhn an den Rand einer Wiese auf ein schmales Rosenbeet in der Nähe einer Gruppe junger Tannen. Die Tiere entströmten in ungeheuren Mengen, be- setzten sofort alle vorhandenen Erdspalten längs des Wiesenbords und bargen ihre Brut darin, soviel irgend Platz hatte. Dabei war von feindlicher Reaktion zwischen den verschiedenen Parteien absolut nichts zu bemerken: Alles befand sıch ın bester Eintracht. Ich grub nun am anderen Ende des Rosenbeetes (4 m vom Sacke entfernt) einige Lagen morsches Holz, Reste eines ausgedienten Vogelkästchens, locker ın die Erde, derart, dass mehrere geräumige Kammern übereinander entstanden, in deren oberste das Flugloch 526 Brun, Zur Biologie und Psychologie von Formica rufa und anderen Ameisen. Eingang gewährte. 3!/, Stunden nach der Öffnung des Sackes waren die Tiere allgemein dorthin orientiert und es entwickelte sich ein kolossaler Umzug, der in den ersten Tagen auch während der Nacht anhielt; erst nach 14 Tagen war der letzte Rest der in den Erdspalten provisorisch untergebrachten Brut im neuen Neste ver- sorgt! Beim Umzuge waren die rufa und pratensis gleichermaßen tätig und schienen keinen Unterschied zwischen ihresgleichen und der fremden Rasse zu machen. Da ich die Ameisen während der ersten 4 Tage mit Zuckersaft fütterte, fühlten sie kein Bedürfnis, in der Umgegend zu fouragieren. Am 14. Mai reichte ich ihnen kein Futter mehr; die Folge war, dass schon um 10 Uhr morgens ganze Heere in der Richtung einer Gruppe von Haselnussbäumen ausschwärmten. Um 11 Uhr hatten sie an deren Fuße bereits ein großes Nest von Lasius niger erobert, das den Schlüssel zu den ausgedehnten „Blatt- lausparks“ jener Bäume bildete. Von nun an bildete die „Blatt- lauszucht“ ihre Hauptnahrungsquelle, der sie stets mit großem Eifer nachgingen. Ich stellte nun folgende Experimente an: 1. Versuch: Am 22. Mai entnahm ich dem Neste III (im Walde) einige Hundert Arbeiter, ohne Brut, und setzte sie neben dem Mischneste an der großen Heerstraße aus. Erfolg: Die Ankömm- linge, die sehr ängstlich und verwirrt schienen, wurden sofort angegriffen und teils zersprengt, teils festgehalten und „a froid* (d.h. ohne Anwendung von Gift) exekutiert. Einige wenige wurden indessen, nach längerem „Parlamentieren“ mit den Fühlern, zu Gnaden angenommen und ins Nest trans- portiert, alsbald aber von anderen Nestbewohnern wieder heraus- gezerrt und nun möglichst weit weg „deportiert“. Dabei war es sehr komisch, zu sehen, mit welcher Hast die Trägerin, nach- dem sie ıhr Opfer, etwa 3m vom Neste entfernt, losgelassen, kehrt machte, zurückeilte, und wie die Verbannte sofort ihre Spur aufnahm, um fast gleichzeitig mit der Trägerin wieder am Neste anzukommen! Vereinzelte Szenen dieser Art beobachtete ich auch noch tags darauf; — ob die Deportierten nicht doch schließlich, nach immer wieder- holter Rückkehr, im Neste geduldet wurden, entzog sich meiner Kontrolle; es ıst aber wohl wahrscheinlich. Die naive, echt ameisen- hafte Art der Nestbesitzer, die neuen Eindringlinge vor die Türe zu setzen, ist ganz dieselbe, die Forel'!) an jenen Zeptothorax be- schrieb, von denen er zwei Nester, A und B, im gleichen Raume einquartiert hatte. — 2. Versuch: Am folgenden Nachmittage wiederholte ich das Experiment mit folgenden Modifikationen: In den mittlerweile gewaschenen großen Sack raffte ich aus den beiden Nestern IV die Mehrzahl der noch vorhan- 1) Forel: Fourmis de la Suisse, 1874, p. 264. Brun, Zur Biologie und Psychologie von Formica rufa und anderen Ameisen. 527 denen Ameisen mit massenhaft Brut (darunter einige bereits ausgeschlüpfte Männchen) und leerte den Inhalt (sicher einige Tausend Arbeiter) um 11 Uhr vormittags vor dem Gartennest aus. Nach einigen Sekunden stürzten von der zugewendeten Seite des Nestes eine Menge Bewohner den Ankommenden entgegen; auf der abgewendeten Seite dagegen ging alles ruhig seinen Gang; der Umzug z. B. schien nicht im geringsten gestört zu sein. Wo beide Parteien sich trafen, gab es heftige Ruckbewegungen, An- fahren mit offenen Kiefern, lebhaftes Fühlerspiel. Zahlreiche Neue nähern sich dem Neste von verschiedenen Seiten, dringen uner- schrocken vor bis auf die Kuppel, scheinen sich orientieren zu wollen und eilen schließlich, ohne ins Innere einzudringen, wieder zurück. Keine einzige wird feindlich angehalten; nirgends entspinnen sich Kämpfe! Die anfängliche Aufregung der Nest- bewohner legt sich sehr bald; allenthalben mischen sie sich ihrer- seits unter die Neuen und beschäftigen sich angelegentlich mit deren Brut, die sie genau untersuchen und schließlich nestwärts fort- schleppen. Schon nach !/, Stunde werden die ersten Puppen ein- gebracht und nach einer weiteren Stunde sind die Neuen bereits allgemein nach dem Neste orientiert: Die gesamte Brut ist auf der Wanderschaft, Tausende von Trägern eilen auf den Platz und um 3 Uhr nachmittags haben fast alle Neuen gastliche Aufnahme gefunden. Auch während dieser ganzen Zeit konnte ich absolut nichts von feindlicher Reaktion zwischen den beiden Parteien wahrnehmen. Dazu noch einige Kontrollexperimente, die Herr Edgar Brun in Kemptthal machte. Ich entnehme seinen diesbezüglichen Notizen wörtlich folgendes: 1. „Ich setzte zwei in einem Neste von F\ pratensis gefundene Königinnen mit etwa 40 Arbeitern in ein 12 cm hohes Glas. Einige Tage später entnahm ich einem fremden pratensis-Neste B ('/, Stunde von A entfernt) ca. 400 Arbeiter, schüttete sie ın das Glas zu den ersten und leerte das Ganze unmittelbar darauf an sonniger, ameisenfreier Halde aus. Resultat: Völliger Friede, der dauernd anhielt!“ (Im folgenden Jahre bestand an jener Stelle eine kleine pratensis-Kolonie.) 2. „Ich nahm einen kleinen Sack, füllte ihn mit Arbeitern und sehr viel Brut eines rufa-Nestes A und leerte ihn etwa 1 m ent- fernt von einem zweiten, weit abliegenden rufa-Neste B aus. Resultat: In Massen stürzten die Ameisen aus ihrem Nest, umzingelten die Fremden und griffen teilweise an; die meisten machten sich aber alsbald über die Brut her. Nach etwa 15 Minuten herrschte völliger Friede zwischen den beiden Parteien und gemeinschaft- lich wurde die Brut ins Nest gebracht. — Dieses Experiment machte ich im August, abends 6 Uhr, bei mäßig warmer Temperatur und Sonnenschein.“ 528 Brun, Zur Biologie und Psychologie von Formica rufa und anderen Ameisen. 3. „Dasselbe Experiment wiederholte ich Ende August an einem schwülen Nachmittage mit den gleichen Nestern, ohne aber den Arbeitern A Brut mitzugeben. Resultat: Sämtliche Fremden wurden zersprengt oder vernichtet.“ 4. „Dasselbe Experiment Anfang September: Ich gab dem- selben Neste B wieder einen, diesmal größeren Sack voll Ameisen aus Nest A, auch wieder ohne Brut, aber mit massenhaft Geflügelten beider Geschlechter. Nach einem Geplänkel von 20 Minuten vollkommene Eintracht und Aufnahme der Ar- beiter und Geflügelten aus Nest A im Neste B.* Es seı mir gestattet, an diese Experimente einen kurzen psycho- logischen Exkurs zu knüpfen. Bei meinem ersten Versuche waren es selbstverständlich die alten Nestgenossen?), die einige der Neuankommenden sofort wieder erkannten und ohne weiteres ıns Nest brachten. Aus diesem wurden sie dann von den stammesfremden Mitbewohnern wieder hinausgeworfen: diese waren es auch, welche viele der Neuen „a froid“ exekutiert oder verjagt hatten. Jene hatten also, neben der Gewöhnung an den neu entstandenen „Mischgeruch‘“, das En- gramm ihres alten Nestgeruchs getreulich bewahrt, das diesen fehlte und die deshalb auf den reinen Il1ll-Geruch feindselig reagierten, allerdings bei weitem nicht mehr so intensiv, wie sie das ursprüng- lich getan hätten, d. h. ohne die Gewöhnung an den „Mischgeruch“, in dem ja die Komponente Ill enthalten war. Der psychische Faktor des „Mischgeruches“ reichte also höchstens dazu aus, die “Intensität der feindlichen Reaktion gegenüber solchen Individuen, die eine Komponente desselben besaßen, abzuschwächen, nicht aber, sie aufzuheben. Wie kommt es nun aber, dass ım zweiten Falle von Anfang bis zu Ende des Experimentes kaum Andeutungen von Feindselig- keit zu beobachten waren, m. a. W.: dass offenbar auch die Indi- viduen, welche das Engramm des reinen Nestgeruches IV nicht besaßen, freundlich (resp. nicht feindlich) reagierten? Dabei waren ja die Verhältnisse in bezug auf die Geruchskomponenten, mutatis mutandıs, ganz dieselben, auch ıntensiter, denn ım neuen Misch- neste waren ja Angehörige der Nester III und IV ın ungefähr gleichen Mengen vertreten! Wir dürfen hier also das positive Resultat nur zum geringsten Teile der Wirkung der erfolgten Ge- ruchsmischung zuschreiben. (Schluss folgt.) 2) Vel. Forel’s analoges und sehr detailliert geschildertes Experiment an einer künstlich von ihm erzeugten Allianzkolonie sanguinea-pratensis, in „Fourmis de la Suisse‘“ 1874, p. 281. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der kgl. bayer. Hof- u. Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt, Unter Mitwirkung von Dr. R- Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Der Abonnementspreis für 24 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen. Ba. XXX. 15. August 1910. 12 16, Inhalt: Brun, Zur Biologie und "sychologie von Formica rufa und anderen Ameisen (Schluss). — Nusbaum und Oxner, Über Enzystierung regenerierender Nemertinen. — Ehrlich, Bei- träge zur experimentellen Pathologie und Chemotherapie. — Uhlenhut und Weidanz, Prak- tisehe Anleitung zur Ausführung des biologischen Eiweifsdifferenzierungsverfahrens, mit besonderer Berücksichtigung der forensischen Blut- und Fleischuntersuchung, sowie der Gewinnung präzipitierender Sera. Zur Biologie und Psychologie von Formica rufa und anderen Ameisen. Von Rudolf Brun, Zürich. (Schluss.) Ganz stutzig werden wir aber ım Hinsicht auf die „Misch- geruchstheorie‘°), wie ich diese Deutungsweise kurz bezeichnen möchte, wenn wir die Kontrollexperimente meines Bruders in Dis- kussion ziehen: Im ersten Falle sofortige Allianz nach nur ganz kurzer Mischungszeit und nach etwa !/, Stunde in den Fällen 2 und 4, wo überhaupt keine Mischung stattgefunden hatte! Die Dinge liegen also wesentlich komplizierter. Es ist ja auch von vorn- herein gar nicht einzusehen, weshalb die Plastizität eines Ameisen- gehirns mit der allmählichen Gewöhnung an neue Geruchsengramme erschöpft sein sollte, — abgesehen davon, dass auch bei den Mischungs- 3) Natürlich wäre auch der Begriff des „Mischgeruches“ im psycho-physio- logischen Sinne und nicht etwa im Sinne der Bethe’schen Reflextheorie, das wäre: chemo-physiologisch zu fassen! Denn mit der Annahme, der Mischgeruch stelle gleichsam ein chemisches Amalgam dar, dessen Komponenten sich reizphysiologisch nicht mehr herausdifferenzieren lassen, steht das Verhalten der Tiere im ersten Ver- such in unlösbarem Widerspruch, — ganz abgesehen davon, dass ja „Reflexe“ starr sind und also durch einen neuen Reiz (was ein physiologisch einfacher Misch- geruch wäre) — niemals der alte „Freundschaftsreflex“ auslösbar wäre! XXX. 34 530 Brun, Zur Biologie und Psychologie von Formica rufa und anderen Ameisen. experimenten zum Teil wohl ganz anderen Faktoren als der dabei stattfindenden innigen Mischung der Nestgerüche die Hauptrolle beim Zustandekommen der Allianz zufallen dürfte. Das wissen alle, die solche Experimente gemacht haben: Die enorme Verwirrung der Tiere, das tolle Durcheinander von Freund und Feind, die Zwangs- lage — und nicht zuletzt gemeinsame Ziele und gemeinsame Ge- fahr, das sind die Mächte, welche zunächst die Instinktmechanismen der Ameisen überrumpeln und den Sıeg über sie davontragen. Wohl mag dann ın der Folge die allmähliche Bildung eines neuen, reizphysiologisch einheitlich wirkenden Mischgeruches die unter dem Drucke der Not entstandene Allianz festigen und dauerhaft ge- stalten), — für sich alleın aber vermag sıe das niemals, denn wenn man Ameisen von allzu verschiedener Körperstruktur und biologischen Zielen, z. B. aus verschiedenen Unterfamilien, auch noch so lange zusammensperrt, so verbinden sie sıch doch niemals. Dass aber auch ohne solche „Instinktüberrumplung“ unter be- stimmten Umständen Allianzen vorkommen können, beweisen eben die vorstehenden Experimente, die wir daher einer kurzen Analyse unterziehen wollen. In meinem zweiten Falle waren die Neuankommenden erstens sehr zahlreich. Das ließ einen Kampf mit ihnen nicht ohne weiteres zu, um so mehr, als die Bewohner meines Mischnestes zweitens infolge ihrer Weisellosigkeit doch wesentlich an Courage verloren haben mussten. Drittens hatten aber die Neuen auch massenhaft Brut bei sich; auf Schritt und Tritt stießen die „Alten“ bei der Rekognoszierung auf Larven und Puppen; dadurch wurde der „Brutinstinkt‘“ geweckt und die Aufmerksamkeit der Tiere vom „Kampfinstinkt“ auf ıhn abgelenkt (wozu auch wieder die Weisel- losigkeit beigetragen haben mag). Dazu kam endlich, dass viertens die Neuen einer Menge von Nestbewohnern befreundet waren und ihr Geruch den übrigen wenigstens ın einer Komponente des „Misch- geruchs“ bekannt war. Alle diese günstigen Faktoren wirkten hier zusammen, um überhaupt keine feindliche Reaktion aufkommen zu lassen. Im ersten Falle meines Bruders war zunächst jedenfalls der Schreckstupor und die durch ihn erzeugte sekundäre, psychogene Orientierungs- oder besser: Auffassungsstörung?’), einem Kampfe hinderlich. Dann aber, nach Überwindung desselben, kam den Tieren zunächst das Unangenehme ihrer Lage zum Bewusstsein: 4) Es dauert doch sicher länger als !/, Stunde, wahrscheinlich mehrere Tage, bis sich ein neuer, physiologisch einheitlicher „Mischnestgeruch‘“ gebildet hat, auf den die Ameisen nunmehr mittelst eines sekundären Automatismus eingestellt sind! ‚Aber auch dann bleibt natürlich das Engramm des alten Heimatnestgeruches noch längere Zeit haften. 5) Absperrung der Apperzeption durch den Angsteffekt. Brun, Zur Biologie und Psychologie von Formica rufa und anderen Ameisen. 531 Überall stießen sie auf unsympathische Gerüche, sie fanden ihr Nest nicht, konnten sich in der neuen Gegend nicht zurechtfinden u. s. w. Unter so misslichen Umständen wirkte die Gegenwart der Köni- ginnen infolge des Kontrastes‘®) direkt als angenehmer Reiz, der stark genug war, die instinktive Abneigung gegen den fremden Geruch dauernd niederzukämpfen. Hätte man dieselben Weibchen neben das wohlorganisierte Nest der fremden pratensis gesetzt, so wären sie ohne Zweifel angegriffen und vielleicht getötet worden. Das Gemeinsame der drei folgenden Versuche ist, dass dabeı nicht nur keine Mischung der Parteien vorgenommen wurde, son- dern dass sogar die eine derselben unter völlig normalen Verhält- nissen (Vgl. auch 1I, die Beobachtung auf S. 539 dieser Arbeit!) stand und dass die Fremden in relatıv kleiner Zahl waren. Diese Versuchsanordnung stellt also an die plastischen Fähigkeiten der Ameisenpsyche noch höhere Anforderungen als diejenige Forel's, der Allianz zwischen zwei verschiedenen rufa-Staaten beobachtete, nachdem er große Partien ıhrer Nester an fremdem Orte neben- einandergesetzt hatte”). — Im zweiten Falle waren die ‚„Neuen“ zwar ın geringer Zahl, hatten aber sehr viel Brut bei sich. Das genügte also, um einen nur sehr lauen Kampf aufkommen zu lassen, der schon nach !/, Stunde gänzlich abflaute! Im dritten Falle war dagegen das negative Resultat vorauszusehen, da hier das kleine Häuflein der Fremden keinerlei „Mitgift‘“ (sit venia verbo!) zu- brachte, welche die Kampfeswut der Nestbewohner von ıhnen auf den Brutinstinkt hätte ablenken können. Um so verblüffender ist der Ausfall des vierten Versuches, denn dass ın diesem Falle die Geflügelten als „Brut“ wirkten, ıst nach allem, was man über die Behandlung solcher durch fremde Arbeiter weiß, mehr als unwahr- scheinlich. Allerdings war diesmal die Zahl der Neuankommenden eine größere; das könnte den Vergleich befördert haben; auch hatte ja immerhin das Kampfstadium etwas länger gedauert. — Zusammenfassung: Die künstlichen und noch mehr die natürlichen Allianzen bei F. rufa sınd Erscheinungen komplizierter psychisch-plastischer Tätigkeit, wobei, bald für sich allein, bald kombiniert, teils „Überrump- lung“ der normalen Instinkte durch übermächtige neue Engramme, teils Überwiegen eines Instinktes über andere, teils psychische Kontrastwirkungen, endlich sogar, in vielen Fällen, rapide kombinierte Assoziationen neuer Engramme untereinander und mit mnestischen Elementen (vgl. S. 534) eine Rolle spielen. 6) Vgl. Forel, „Das Sinnesleben der Insekten‘“ 1910, p. 304 über „Kontrast- wirkung“. 7) Forel: „Die Ameise“, M. Harden’s „Zukunft“, 2. April 1898. 34* 532 Brun, Zur Biologie und Psychologie von Formica rufa und anderen Ameisen. Dasselbe dürfte in noch höherem Grade der Fall sein bei ver- wandten Arten, deren psychoplastische Fähigkeiten diejenigen von F. rufa noch übertreffen, z. B. bei F. sanguinea. Ich kehre zur Geschichte unserer Mischkolonie zurück. Vom 28.— 30. Mai erhoben sich zahlreiche Männchen zum Hoch- zeitsfluge, unter ihnen nur ein einziges geflügeltes Weibehen. Auch bei wiederholtem Aufstochern des Nestes konnte ich nie ein Weib- chen entdecken. Die Kolonie gedieh kräftig während des ganzen Sommers, nur wurde sie häufig von Vögeln heimgesucht, die nicht unbeträchtlich unter den Arbeitern und Puppen aufräumten. — Im Frühjahr 1908 machte der Staat einen stark reduzierten Eindruck: Nur während der warmen Tage gegen Ende des Monats März schwärmten kleine Trupps von Arbeitern aus, um dann in der Folge ein sehr zurückgezogenes Dasein zu fristen. Die Bau- tätıgkeit war gering, die aufgeführte Nestkuppel äußerst dürftig, das Benehmen der Tiere scheu und feige: Dem hingehaltenen Finger wichen die meisten aus, selbst in nächster Nähe des Nestes. Bei wiederholtem tiefem Aufgraben des Nestes kamen stets nur Arbeiter zum Vorschein, größtenteils rzfa, doch waren immerhin auch noch zahlreiche pratensis darunter. Alles wies darauf hin, dass die Kolonie weisellos und daher auf dem Aussterbeetat war. 1. Adoptionsexperiment. Da fand ich Anfang April auf der „Rehalp“ bei Zürich auf der Straße ein umherschweifendes, flügelloses rzfa-Weibchen. Da aus neueren, von Forel°) publizierten Beobachtungen Miss Fielde’s hervorgeht, dass solche flügellose Weibchen (normale Entwickelung vorausgesetzt) in der Regel befruchtet sind, beschloss ich, einen Adoptionsversuch zu machen: Ich sperrte das Weibchen in einen kleinen, mittelst ausgehöhlten Flaschenkorks und Gitter aus In- sektennadeln improvisierten Käfig, den ich nun mitten auf das Nest legte. Große Aufregung! Der ‚„Weiselkäfig‘‘ wurde von einer Meute anscheinend wütender Ameisen umschwärmt und belagert, das Weibchen an Fühlern und Beinen gepackt, wenn es sich zu nahe ans Gitter heranwagte. Am Abend schien es schon sehr gelitten zu haben, wankte kraftlos im Käfig umher und am folgenden Mittag fand ich es tot. Herausgenommen, wurde es von den Arbeitern eifrig beleckt. Äußere Verletzungen wies es nicht auf. Nicht allein deshalb, sondern namentlich auch auf Grund der folgenden Er- fahrungen kann ich nicht recht daran glauben, dass das Weibchen von den Arbeitern, trotz dem Käfig, umgebracht worden sei. Sein Tod kann durch zufällige, schon vorher erworbene Verletzungen 8) Forel: Recherches biologiques r¢es de Miss Ad&le Fielde, Bull. Soc. Vaud. Sc. nat. 1903, 4° S., Vol. 39, Nr. 146. Brun, Zur Biologie und Psychologie von Formica rufa und anderen Ameisen. 55; innerer Art bedingt gewesen sein. Endlich bliebe die Möglichkeit, dass es gar nicht befruchtet war. Es wäre von Interesse, das Ex- periment zu wiederholen, — event. auch bei anderen Arten. 2. Adoptionsexperiment. Mitte April fand mein Bruder in einem mächtigen rufa-Neste A 3 flügellose Weibchen. Tags darauf hatte er das Glück, in einem zweiten, von A weit entfernten Neste B etwa 15 ungeflügelte Weib- chen in einer Kammer beisammen zu finden. Sie wurden nebst einigen Arbeitern in dasselbe Glas zu den A einquartiert. Am folgenden Tage wurden sämtliche Weibchen gleichzeitig unserer Gartenkolonie ausgeliefert, so zwar, dass die eine Hälfte direkt aufs Nest, die andere an dessen Fuß geschüttet wurde. Das Wetter war warm und sonnig. Resultat: Die Ameisen brachen in dichtem Schwall hervor und stürzten sich zunächst auf die am Fuße des Nestes sitzenden Weibchen, während sie die anderen, mitten im Gewühl, zuerst gar nicht zu bemerken schienen. Die angegriffenen Weibchen versuchten wohl zu fliehen, die meisten wurden aber sofort festgenagelt und in der gewöhnlichen Weise nach allen Seiten gezerrt. Mittlerweile hatten sich ihre Schwestern oben auf dem Neste ge- schickt in Positur gesetzt: In kleine Fugen und Nischen der Ober- fläche zusammengeduckt, das Abdomen unter den Thorax gekrümmt, Fühler und Beine tunlichst an den Leib gezogen, saßen sie da und boten wirklich geringe Angriffspunkte; nur die Mandibeln waren drohend geöffnet. Die Ameisen umkreisten sie von allen Seiten und suchten anzupacken, was die Weibchen durch äußerst gewandte Drehungen und Wendungen zu verhindern wussten. So ging das Spiel eine geraume Zeit; schließlich beschränkten sich die Angreifer auf lebhaftes „Parlamentieren“ mit den Fühlern und nach etwa einer Stunde, während der die umstellten Weibchen ihren Platz kaum geändert hatten, wurden einige bereits freundschaftlich be- leckt und konnten frei auf dem Neste umherspazieren, gefolgt und umdrängt von einer stets wachsenden Zahl von Tra- banten! Von den unten Fixierten dagegen wurden einige ın der bekannten Weise mutiliert, andere, denen es gelungen war, sich frei zu machen, waren in der angrenzenden Wiese verschwunden. Am nächsten Tage bemerkte ich einen auffallenden Zug nach jener Wiese, sogar Träger gingen nach ihr ab. Ich verfolgte ihrem Weg und fand an verschiedenen Stellen, stets in der Umgebung von Erdspalten und Löchern, große Ansammlungen von Arbeitern, von denen beständig welche ein- und ausschlüpften, zum Teil mit „Re- kruten‘ beladen. Am dritten Tage sah ich aus einem dieser Zweig- nester ein Weibchen herauskommen, von großem Gefolge umgeben, und langsam dem Hauptneste zuwandern! Diese Filialen, deren jede einem dorthin geflüchteten Weibchen ihren Ursprung verdankte, wurden dann im Laufe der nächsten Woche sukzessive eingezogen. 534 DBrun, Zur Biologie und Psychologie von Formica rufa und anderen Ameisen. Andererseits wurden noch im Laufe von 8 Tagen vereinzelte Weibchen tot aus dem Neste getragen. Ich beobachtete allerdings nur drei solche „Leichenzüge*, — möglicherweise war aber die Zahl der getöteten Weibchen eine größere. — Die wenigen fremden Arbeiter waren alle schon dem ersten Angriffe zum Opfer gefallen. 3. Adoptionsexperiment. S Tage später wurden in dem erwähnten Kemptthaler Neste B weitere sieben Weibchen gefunden und auf unserem Gartenneste ausgesetzt (eines von ihnen hatte schon im Glase zahlreiche Eier gelegt). Sämtliche sieben Weibchen wurden sofort ohne jeden Kampf angenommen, die Eier versorgt! Diese Adoptionsexperimente bestätigen, wie man sieht, durch- aus die Resultate Wasmann’s®), demzufolge Königinnen von weisel- losen rufa-Kolonien sehr leicht adoptiert werden !®). Interessant ist ın meinen Fällen immerhin, dass hier die Weibchen gleich so en gros akzeptiert wurden !!). Die Promptheit, mit der jener Nach- schub von sieben Weibchen aufgenommen wurde, ist vielleicht auf Mitwirkung mnestischer Faktoren vom vorhergegangenen Versuche zurückzuführen; auch damals entstammte ja die Mehrzahl der Weib- chen dem Neste B. (Möglich, dass unter den wenigen Toten ge- rade die Weibchen des Nestes A waren? Leider hatte ich es versäumt, die Tiere zu zeichnen.) — Auch beim folgenden Experiment dürfte das positive Resultat durch Erinnerungsspuren an den Nestgeruch B, der an den adop- tierten Königinnen haftete, in etwas bedingt gewesen sein, ‘doch ist auch hier wieder hauptsächlich an all das zu denken, was ich im vorstehenden psychologischen Exkurse auseinandergesetzt habe. Anfang Juni, also fast 1!/, Monate nach jenen Adoptions- experimenten, holte mein Bruder aus dem Kemptthaler Neste B einen Sack voll Arbeiter mit großen Mengen von Brut. Diesmal wurde aber der Inhalt nicht einfach beim Gartennest aus- geschüttet, sondern ein Teil desselben zu den neuen B in den Sack gesteckt und dieser eine Nacht geschlossen liegen gelassen: erst am folgenden Morgen wurde dann das Ganze neben dem Neste ausge- leert. Das Experiment, das wir in der Absicht unternommen hatten, den stark zusammengeschmolzenen Arbeiterbestand unserer Kolonie zu efgänzen, gelang vollkommen: Nur anfänglich gab es einige kaum ernst zu nehmende Sticheleien, die ın der Hauptsache von den im Nest zurückgebliebenen „Alten“ ausgingen. Das Staats- 9) Wasmann: „Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen,“ Biol. Centralbl. 1905, Bd. XXV, Heft 7, p. 198. 10) Anmerkung bei der Korrektur: Inzwischen habe ich noch eine Reihe von Adoptionsversuchen in künstlichen Nestern gemacht, die gleichfalls ohne Aus- nahme positiv ausfielen urd deren Publikation ich mir vorbehalte. 11) Den sicheren Beweis dafür werde ich weiter unten erbringen. Brun, Zur Biologie und Psychologie von Formica rufa und anderen Ameisen. 535 wesen nahm denn auch in der Folge einen neuen, blühenden Auf- schwung. Kleinere Nachschübe, die wir noch wiederholt aus Nest B hinzufügten, wurden ohne weiteres aufgenommen. Im Juli fand mein Bruder in einem stark bevölkerten Neste von F. rufa ı. sp., das ich © nennen will, einige ungeflügelte Weib- chen. Sie wurden nebst einigen zwanzig Arbeitern in einem Glase untergebracht, wo sie gleich eine Menge Eier legten. 3 Tage später wurde aus dem beim zweiten Adoptionsversuch erwähnten Neste A ein Sack bis über die Hälfte, dann aus Nest © bis zum Rande ge- füllt, das Ganze mittelst Tannenzweigen gründlich durcheinander gemischt; zuletzt jene Weibchen aus Nest C obenauf geschüttet und nun der geschlossene Sack eine Nacht ruhig liegen gelassen. Tags darauf wurde sein Inhalt neben dem Gartenneste sukzessive in der Weise entleert, dass sich die Ameisen auf eine Bodenfläche von etwa 4 m? verteilten. Resultat: Die Ameisen der Mischkolonie besetzten sofort ın dichten Haufen die Nestoberfläche und zogen ım Verlaufe einer Viertelstunde ihre sämtlichen Verkehrskolonnen nahezu ein; alles eilte so schnell wie möglich zur Verteidigung des Nestes heim- wärts. Nun wurde eine dicht geschlossene Front gegen das fremde Heer gebildet; ein Angriff erfolgte jedoch nicht, sondern die Verteidiger beschränkten sich darauf, einzelne der Fremden, die ihnen zu nahe kamen, zu überfallen und zu töten. Aber keines- wegs alle!, sondern merkwürdigerweise konnte eine ganze Anzahl Fremder mitten durch die Phalanx der Verteidiger hindurch bis auf die Nestkuppel gelangen, ohne mehr zu riskieren als beständige, misstrauische Untersuchung, die jedesmal den Erfolg hatte, dass ihnen Freipass erteilt wurde! Ich setzte nun zwei Weibchen der Neuen aufs Nest: Sie wurden wütend angegriffen! Die Fremden ihrerseits zeigten gleichfalls wenig Neigung zum Angriff, sondern sammelten sich allmählich jenseits des Kiesweges im Wurzelwerke einer Gruppe alter Haselsträucher, wo sie sich provisorisch an- siedelten. Die Bevölkerung der Gartenkolonie nahm schon am nächsten Tage ihre gewohnte Beschäftigung wieder auf und schien sich um die nahe Gegenwart des fremden Invasionsvolkes gar nicht mehr zu kümmern. Da aber eine ihrer Straßen nur 1!/, m entfernt von der Ansiedlung der Fremden, in der Wiese, vorbeiführte, kam es häufig zu kleinen Scharmützeln, in denen die „Neuen“ regelmäßig den Kürzeren zogen: diese beständigen Reibereien veranlassten sie schließlich, weiter weg, an den Fuß einer mächtigen Tanne zu ziehen. Dort waren sie auch ıhren Weıdeplätzen näher. Anderer- seits bestand jener eigentümliche Zwischenverkehr unter den beiden Parteien, den ich gleich zu Anfang schon beobachtet hatte, auch in der Folge fort: Es gab immer einzelne Individuen, die vom Lagerplatz der Neuen geradenwegs, ohne jedes Besinnen, ins alte 536 PBrun, Zur Biologie und Psychologie von Formica rufa und anderen Ameisen. Nest wanderten, wobei sie weder unterwegs noch bei ıhrer Ankunft Anfeindungen erfuhren. Auch in umgekehrter Richtung waren be- ständig einzelne unterwegs. Nie sah ich dagegen einander tragende Individuen. Auch am neuen Ort blieben die Eingewanderten nur kurze Zeit, indem sie schließlich ein epheuüberschattetes Felsloch zwischen den Steinen einer kleinen Grotte vorzogen. Dort führten sie einen kleinen Oberbau auf und lebten von nun an sehr zurückgezogen. Aber auch jetzt noch waren vereinzelte Überläufer zum alten Garten- neste zu beobachten! — Die Bewohner des alten Nestes dagegen blieben munter bis tief in den Herbst hinein und breiteten ihr Machtgebiet allmählich über einen großen Teil des Gartens aus. Ihren Wohnsitz hatte ich inzwischen durch eine Art Pavillon aus Drahtgeflecht vor den Nachstellungen der Vögel geschützt. Im Frühling 1909 war von den „Neuen“, die in jenem Fels- loche anscheinend überwintert hatten, nichts mehr zu entdecken: Nur ein einziger Arbeiter kam bei ganz eingehender Durchmuste- rung zum Vorschein '?). Und das zu einer Zeit, wo die alte Kolonie bereits eine große Machtentfaltung zeigte, ganz ım Gegensatze zu ihrem Verhalten im vergangenen Frühjahr: Waren sie damals wenig unternehmend und feige, so rückten sie jetzt allmorgentlich in starken Trupps aus, jagten Insekten, kultivierten Tannenläuse und griffen bei jeder Störung wütend an; auf dem Nest entfalteten sie rege Bautätigkeit. Mit einem Worte, sie machten den Eindruck selbstbewusster Bürger eines aufstrebenden, mit Stammüttern wohl versehenen Staates. Die weiteren Ereignisse der Saison recht- fertigten diesen Eindruck: Schon Anfang Mai fand ich im Neste zahlreiche Eierpakete und junge Larven vor und Ende Juni waren große Holzkammern dicht vollgepfropft mit Arbeiterpuppen, deren Zahl ich auf einige Tausend schätzte. Dieser kostbare Besitz sollte bald das Verderben der Kolonie werden! Expedition von F!. sangwinea gegen die Kolonie. Der sichtbare Beweis der Gegenwart zahlreicher Königinnen im Neste ward mir nämlich anlässlich einer schweren Katastrophe, die gegen Ende Juli über den Staat hereinbrach: Die Eroberung und Plünderung des Nestes durch F. sangwinea. (Im Juni hatte ich eine sehr volkreiche [aus zwei Nestern gemischte] sangwrnea- Kolonie mit zwei Königinnen und zahlreicher Brut, dagegen relativ wenig /usca-Sklaven in den Garten verpflanzt [30 m von den rufa 12) Ich vermute, dass die Tiere während des Winters von Feldmäusen gefressen wurden. Oder hatten sie sich schließlich mit dem alten Nest vereinigt? Beobachtet habe ich einen Umzug nicht.‘ Brun, Zur Biologie und Psychologie von Formiea rufa und anderen Ameisen. 537 entfernt]. Ich muss es mir leider versagen, diese an sich hoch- interessante Expedition hier mit allen Einzelheiten zu schildern; doch steht ja der Fall, dass sangwinea ın Ermangelung von Kolo- nien ıhrer normalen Sklavenameise, der F\ fusca, ihren Sklaven- bedarf bei andern Arten deckt, keineswegs vereinzelt da. Forel'?) hat schon 1874 die Plünderung eines pratensis-Nestes durch san- guwinea geschildert; es gelang ihm auch (mit vielen andern) experi- perimentell, im künstlichen Apparat ein Menge Arbeiter rufa, exsecta, presstlabris, ja sogar Polyergus rufescens, durch seine sangwinea aus den Puppen erziehen lassen **). Ich erinnere ferner an den hoch- interessanten Fall Wasmann’s®5), wo eine normale Kolonie sangwinea- fusca erst zur sekundären, dreifach gemischten Raubkolonie sanguinea- fusca-pratensis und schließlich zur einfachen pratensis-Kolonie wurde, nachdem die ursprüngliche sanguwinea-Königin gestorben war und die pratensis-Sklaven nun ihre eigene Königin aus ihrem alten Stammneste geholt hatten. All das zeigt zur Genüge, in wie wenig einseitiger Weise der Sklavereiinstinkt bei der blutroten Raub- ameise bezüglich des Objektes fixiert ist. Genug, am 22. Juli, einem sehr warmen Tage, wagten die sanguinea den Angriff auf unsere doch immerhin recht volkreiche und streitbare rufa-Kolonie und nach 2'!/,stündigem, heißem Kampfe, den sie mit der gewöhnlichen ungestümen Frechheit durchführten, waren sie Herren der Situation: Nachdem plötzlich einige Hundert sanguinea sich tollkühn mitten unter den wimmelnden Heerbann der rafa gestürzt und die eine Hälfte des Nestes von ihnen gesäubert hatten, brach die Panik unter den Verteidigern aus und es erfolgte das Signal zur allge- meinen Flucht: In dunklem Schwalle quollen sämtliche Bewohner aus den Tiefen des Nestes hervor, unter ihnen etwa zwanzig Königinnen, deren rundliches Abdomen in der Sonne glänzte! Noch einige Sekunden regellosen Durcheinanderrennens, während- dessen die sanguinea, ohne sich weiter um die Feinde zu kümmern, in alle Pforten des Nestes eindrangen, dann erfolgte wilde Flucht nach allen Seiten; auch die Holzpfosten des Drahtpavillons waren dicht mit Flüchtlingen besetzt, die dort volle 2 Tage kampierten und erst im Laufe des dritten allmählich herabzusteigen wagten, um den Anschluss an die m die Wiesen geflohenen Gefährten zu erreichen. Diese hatten sich allmählich mit ihren Weibchen in der östlichen Wiese gesammelt und begannen dort, nur Am vom alten 3) Fourmis de la Suisse, 1874, p. 281. 14) Forel, Ibid., p. 324, 15) Wasmann, Über Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. Biol. Centralbl. 1905, Bd. XXV, p. 258ff. Daselbst auch weitere Fälle natürlicher Mischkolonien F', sanguinea-rufa. 538 Brun, Zur Biologie und Psychologie von Formica rufa und anderen Ameisen. Wohnsitz, ein neues Nest zu bauen; sie hatten nur ganz wenige Puppen retten können. Mittlerweile hatten die sanguinea den größten Teil ihres Raubes in ıhr Nest geschafft, indessen blieb eine kleine „Garnison“ im eroberten Neste mit dem Reste der Puppen zurück und wurde erst ım Verlaufe der nächsten 4 Wochen mitsamt den unterdessen aus- geschlüpften rufa-Arbeitern evakuiert. Am vierten Tage nach Eroberung des Nestes gab ich einige der ın demselben zurückgehaltenen Puppen ıhren rechtmäßigen Be- sitzern wieder zurück. Sie wurden anfänglich unbeachtet liegen gelassen und dann schließlich nur zögernd, im Laufe zweier Tage, eingeholt. Tags darauf wurden jedoch etliche wieder hinausgetragen und in aller Form „deportiert“; sie enthielten, wie ich mich über- zeugte, lebende, fast fertig entwickelte Arbeiter. Die inmitten der sanguinea (im eroberten Nest) ausgeschlüpften rufa-Arbeiter wurden von der Besatzung der „Garnison“ völlig indifferent behandelt. Als ich jedoch einige neben das Stammnest der sanguinea setzte, wurden sie von verschiedenen Arbeitern herumgezerrt und miss- handelt, schließlich aber von einer ergriffen und ins Nest getragen. Nun setzte ich mehrere dieser jungen raufa auf das neue Nest ihrer ehemaligen Erzieher: Sie wurden alle sofort exekutiert. Am 30. Juli holte ich aus einem großen rufa-Neste V ım Zollikoner Walde einige Hundert Ameisen mit etwa 2000 Arbeiterpuppen und leerte sie !/, m vor dem neuen Neste der geplünderten rufa aus. Diese eilten sogleich herbei und machten sich mit Gier hinter die Puppen her; nirgends gab es Kampf, nur lebhaftes „Fühlerparlamentieren“. Nach 2 Stunden war die Brut samt ıhren Begleitern im Neste untergebracht, das die neue Fülle kaum fassen konnte und daher bedeutend erweitert werden musste. Nun wurde auch sofort eine Nestkuppel gebaut, die bis dahin, weil unnötig, nıcht errichtet worden war. Am 1. August beobachtete ich, dass aus einer Erdspalte ın der Nähe wiederholt große Eierpakete ins Nest hinübergeschafft wurden; nach einiger Zeit kam aus der Spalte eine Königin hervor und begab sich ebenfalls ins neue Heim. Am 7. August entnahm ich demselben Neste V wieder Arbeiter und Puppen in ungefähr gleichen Mengen wie das erstemal. Auch dieser Nachschub wurde von den Einwohnern des Gartennestes sofort ohne irgendwelche Reibereien und selbst ohne jenes Misstrauen, das immerhin beim ersten Versuche noch zu bemerken war, aufgenommen. Tags darauf vergrößerte sich die Nestkuppel auf das Doppelte des früheren Umfanges! Nach den früheren Untersuchungen kann das positive Resultat dieser beiden Experimente nicht wundernehmen, namentlich wenn man an die „psychische Kontrastwirkung‘ denkt, die eime solche Brun, Zur Biologie und Psychologie von Formica rufa und anderen Ameisen. 53 Menge neuer Puppen auf die kurz vorher so gründlich ausgeplün- derten Tiere hervorbringen musste. Die Kolonie gewann nun allmählich ihre alte Initiative wieder; die Bewohner gingen auf die Jagd, besuchten ihre Blattläuse wieder und eroberten sogar ım nahen Tannenwäldehen einen von ZL. fuli- ginosus frequentierten Baum. Nur ihr ehemaliges Nest mieden sie streng, auch nachdem es längst von den sangwinea geräumt worden war. Frühjahr 1910. Die rufa erschienen am 12. März in der Nähe ihres neuen Nestplatzes, den sie nach ihrer Vertreibung durch die sanguinea bezogen hatten: Ihre Zahl war aber sehr gering, auch führten sie dementsprechend in der Folge ein sehr zurückgezogenes Dasein, verhielten sich aber immerhin bei Störungen agressiv. Am 22. März fand ich unter einem Stückchen Baumrinde- auf dem Neste ein Eierpaket vor; Weibchen waren nicht sichtbar. Gegenwärtig ist noch keine Nestkuppel aufgeführt; die Tiere leben still unter dem Gras, bei Störung erscheinen ihrer immerhin an die Hundert. BE Spontane Allianz zwischen zwei starken raurfa-Staaten anlässlich eines gemeinsamen Kampfes mit Lasius fuliginosus. In einer Waldlichtung oberhalb Kemptthal existiert in weitem Umkreise keine andere Ameisenart als Z. fuliginosus, die dort einen Großstaat mit zahlreichen Einzelnestern bilden. Etwa 60 m vom Zentrum dieses Reiches gibt es jedoch ein ziemlich starkes Nest von F. rufa, die dort ım Unterholze ıhr Wesen treiben und eine ihrer Heerstraßen bis an die Grenze des fuliginosus-Gebietes senden, wo sie sich verliert. Ende Mai 1909 füllte mein Bruder drei große Säcke mit Ameisen verschiedener, voneinander unabhängiger rufa-Kolonien samt großen Mengen Brut (Eier und Larven) und einigen Königinnen. Nach etwa !/, Stunde leerte er die Säcke mitten im Gebiete der ful- ginosus aus, gerade auf eines ihrer (unterirdischen) Nester. Die rufa blieben unter sich vollkommen einträchtig, organisierten sich sehr bald und fingen an, die Ausgänge mehrerer fuliginosus-Nester (im Umkreise von etwa 10 m) zu belagern. Gleichzeitig brachten andere die Larven in Sicherheit und begannen sich unter einem Aste provisorisch einzurichten. Schon wenige Minuten nach dem Erscheinen der rufa waren in weitem Umkreise die sämtlichen Verkehrswege der fuliginosus wie auf Zauberschlag verödet, die Tiere wie in der Versenkung verschwunden. Auch aus ihren Nestern kamen sie nicht hervor. Nach etwa 1 Stunde jedoch tauchten plötzlich inmitten des rufa-Heeres die fuliginosus ın wahren Legionen auf, zum Teil aus winzigen, kaum auffälligen Erdspalten, so dass binnen kurzem der ganze Boden schwarz von ihnen erschien. Die rufa kämpften verzweifelt; da ihnen aber der Geruch der Gegner 540 PBrun, Zur Biologie und Psychologie von Formica rufa und anderen Ameisen. ganz unerträglich zu sein schien, waren sie völlig machtlos und wurden sehr bald gegen den Waldsaum in der Richtung des vorerwähnten rufa-Nestes abgedrängt, verfolgt von immer neu erscheinenden fuliginosus-Massen. Sie organisierten nun einen wunderbar geord- neten Rückzug, wobei sie allerdings einen großen Teil ihrer Brut zurücklassen mussten. Immer kämpfend und gut konzentriert wan- derten sie mit bedeutender Schnelligkeit und ohne jedes Zögern genau in der Richtung der genannten rufa-Kolonie, als ob sie es darauf abgesehen hätten, und kamen so nach etwa ?/, Stunden mitten ın deren Heerstraße hinein. Diese, die Bewohner des rıfa-Nestes, schienen schon kurz nach Beginn des Experimentes auf die Vorgänge aufmerksam geworden zu sein, wenigstens hatten sie bis zur Ankunft der Vorhut der ge- schlagenen Armee ihre Vorposten bereits bedeutend verstärkt. Jetzt aber, kaum einige Minuten nach dem ersten Zusammenstoß mit dieser, verließen enorme Mengen von Ameisen das Nest und eilten in größter Hast dem Kampfplatze zu, auf dem mittlerweile auch die fuliyinosus erschienen waren, ohne dass man eigentlich be- griff, woher, denn ihre Zahl wurde bald wieder eine viel größere, als den ursprünglichen Verfolgern entsprochen hatte. Nun herrschte während einiger Minuten große Verwirrung; überall sah man ängst- liches „Fühlerparlamentieren“ unter den rufa, nirgends Feindselig- keiten! Aber nur wenige Minuten! Dann vereinigten sich die beiden Heere zu gemeinsamem Kampfe gegen die fuliginosus, die nun in enormer Zahl getötet und sehr bald zum Rückzug in ihr Gebiet gezwungen wurden. Das Ende war, dass noch am gleichen Abend die gesamte fremde Armee „mit Sack und Pack“ ıns Nest der neuen Verbündeten überzusiedeln begann: Es kam zu einem großartigen, 3 Tage währenden Umzug, wobei die Neuen größtenteils von den Nestbesitzern getragen wurden. Diese prachtvolle Beobachtung bedarf wohl keiner näheren Er- Jäuterung; die Tatsachen sprechen in ihrer eindeutigen Klarheit für sich selbst. Ill. Zur Koloniegründung bei F. rufa und pratensis. 1. Spontane Spaltung eines Nestes in zwei später feindliche Kolonien. — 2. Zwei natürliche Mischkolonien F\ rufa-glebaria und eine solche F'\, pratensisglebaria. — 3. Eine natürliche Mischkolonie F. rufa-fusca i. sp.'*). Im folgenden teile ich in Kürze einige Beobachtungen meines Bruders, Herrn Edgar Brun, mit, die sich auf die Verhältnisse der Koloniegründung bei der Artgruppe F. rufa beziehen. Wır sind zwar, namentlich dank den schönen Entdeckungen von 16) Der Fall wurde von mir ganz kürzlich, während der Drucklegung der Arbeit, beobachtet, . Brun, Zur Biologie und Psychologie von Formica rufa und anderen Ameisen. 541 Wheeler!”) und Wasmann!®) über die verschiedenen Modi der Artausbreitung der meisten Formica-Arten nunmehr orientiert, da aber gerade bei F. rufa und prateusis die einschlägige Kasuistik bisher noch eine recht kleine ist!?), so dürfte jeder Beitrag in dieser Richtung immer noch willkommen sein. Ich kann nichts Besseres tun, als die Angaben meines Bruders, der ein vorzüglicher Be- obachter ist, wörtlich zu zitieren: Er schrieb mir am 23. April 1908 über F. rufa?°): . „Bemerkenswert ist, dass kaum je kleine, eben im Ent- stehen begriffene Kolonien zu entdecken sind. Eine Erklärung dafür läge darin, dass bei rufa (und anderen Formica-Arten) die Kolonie- gründung zum Teil in ganz anderer Weise geschieht als bei anderen Gattungen (z. B. Lasius), nämlich durch Auswanderung einer großen Zahl von Einwohnern einesalten Nestes mit vielen Weibchen zum Zwecke der Neubildung eines Staates. Zur Stütze dieser Theorie kann ich die folgende Beobachtung anführen: Im September 1907 verließen anscheinend sämtliche Bewohner einer gewaltigen rufa-Kolonie ihr altes Nest und siedelten sich in relativ großer Entfernung (ca. 60 m) wo anders an. Ich durchwühlte den verlassenen Haufen verschiedene Male, ohne mehr eine einzige Ameise darin zu finden. Ein paar Schritte weiter lınks waren in- dessen noch einige Hundert Ameisen, die es vorgezogen hatten, dorthin zu ziehen. — Anfang April 1908 besuchte ich die Stellen wieder und fand zu meinem größten Erstaunen, dass an jener kleinen Stelle links vom alten Haufen, wo anscheinend nur einige Hundert Ameisen überwintert hatten, jetzt Tausende in dichten Massen dem Boden entquollen! Beim Aufstöbern fand ıch ın relatıv geringer Tiefe eine Kammer mit etwa 15 ungeflügelten Weibchen, offenbar Stammüttern, die ich nahm und in unsern 17) Wheeler: „A new type of social parasitisme among ants“: Bull. Americ. Mus. Nat. Hist. 1904, 20. — „How the queens of the parasitic and slavemaking ants establish their colonies“: Ibid. V, Okt. 1905. — „On the founding of colonies by queen-ants; ... .“ Ibid. 1906, XXII. — „The polymorphism of ants, .. .“ Ibid. 1907, XXIII. 18) Wasmann: „Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.“ Biol. Centralbl. 1905, Bd. XXV, Heft 4—9. — „Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus und der Sklaverei bei den Ameisen.“ Ibid. 1909, Bd. XX VIII, Heft S—13. 19) Die jüngste Arbeit Wasmann’s (l. c. 1909) über diesen Gegenstand, in der er zwei von ihm schon 1906 gefundene, natürliche Mischkolonien F. rufa-fusca (meines Wissens die ersten Fälle in der Literatur) beschreibt, kam mir erst nach Abschluss dieses Manuskriptes zu Gesichte, so dass ich annehmen musste, mit der Publikation der beiden Fälle meines Bruders die Priorität dieser Entdeckung zu haben. Die Spaltung eines ruja-Staates in zwei, später feindliche Kolonien ist da- gegen, soviel ich weiß, seit Forel’s bekannter Mitteilung (l. ec. p. 285) nicht mehr direkt beobachtet worden. 20) Mein Bruder hatte damals keine Kenntnis von den Arbeiten Wasmann’s und Wheeler's. 542 Brun, Zur Biologie und Psychologie von Formica rufa und anderen Ameisen. Garten verpflanzte (vgl. 2. Adoptionsexperiment!). Diese Ameisen verhielten sich den im letzten Herbste weggezogenen gegenüber sehr feindselig, so dass da, wo vorher ein Staat war, jetzt zweı sich feindlich gegenüberstehende existieren?!)!“ „Die außergewöhnlich große Anzahl befruchteter Weibchen — ich fand auch im andern Neste noch eine Menge! — lässt auf teilweise Unterdrückung des Hochzeitsfluges der letzten Saison schließen, die also in diesem konkreten Falle den Zweck gehabt hätte, mittelst Nestbefruchtung eines Teiles der jungen Weibchen- generation die Ausbreitung der Rasse zu befördern. Ein Argument dafür, dass bei F. rufa diese Art der Koloniegründung tatsächlich häufig vorkommen dürfte, läge auch darin, dass r«fa immer nur in gewissen, eng begrenzten Bezirken, dann aber stets in zahlreichen Kolonien, zu finden sind; vereinzelte Nester sind eher die Ausnahme, namentlich junge, in Entstehung begriffene.“ „Nach langem Suchen entdeckte ich jedoch folgendes: Ich fand zwei junge Kolonien von F. rufa und eine solche von F. pratensis, die indessen ganz eigentümliche Verhältnisse aufwiesen: Die rufa- Nester lagen nicht im Walde, sondern beide in Bauernwiesen nahe dem Waldrande und zeigten im ganzen den Typus der Bauten von FF. glebaria: Auf kreisrundem Areal eine flache Erdkuppel mit nur ganz spärlich eingeflochtenen vegetabilen Materialien. Dem ent- sprach auch die Einwohnerschaft: zwischen den etwas größeren und lebhafter gefärbten rufa liefen zahlreiche fusca, Rasse glebaria, herum! Zuerst traute ich kaum meinen Augen; wiederholte Prüfung bewies mir jedoch unzweifelhaft, dass ich es hier in der Tat mit Mischkolonien rufa-fusca zu tun hatte. An den vwfa fiel mir auf, dass fast alle Individuen ungewöhnlich klein waren. An Brut schienen die Tiere nur einige Eierpakete zu besitzen; eine Königin konnte ich leider weder in der einen noch in der andern Kolonie auffinden, trotz eifrigem Suchen.“ [Mein Bruder hatte inzwischen die Schicksale der einen Misch- kolonie weiter verfolgt (die andere schien eingegangen zu sein, wenigstens konnte er sie im Jahre 1909 nicht mehr finden). Im Juli 1909 besuchte er jene Wiese wieder und war erstaunt, einen Meter waldwärts von der Stelle, wo sich die Mischkolonie befunden hatte, nunmehr eine reine r«ufa-Kolonie zu finden, zwar noch immer klein, aber relativ stark bevölkert. Die Tiere hatten eine Straße, die sich im Unterholz des Waldsaumes verlor; sie schienen im Umzuge dorthin begriffen zu sein, wenigstens sah man zahlreiche Träger im der Richtung wandern. Die Rasse war bedeutend größer und stärker als im letzten Jahre. Weit und breit 21) Vgl. den analogen Fall Forel’s in: Fourmis de la Suisse, p. 285. Brun, Zur Biologie und Psychologie von Formica rufa und anderen Ameisen. 543 existiert kein anderes rwfa-Nest, dessen Zweigniederlassung diese Kolonie etwa hätte sein können. In der Wiese gibt es dagegen zahlreiche fusca-Nester und auch an der Stelle, wo sich damals die Mischkolonie befand, war nun (wieder?) eine reine fusca-Kolonie. — | „In einem dritten Falle fand ich mitten ın einer Bauernwiese (15. Aprıl 1908) eine junge, immerhin schon erheblich erstarkte pratensis-Kolonie, deren Bewohner in geringem Maße mit fusca (oder glebaria) durchsetzt waren. In derselben Wiese existieren noch zahlreiche reine fusca-Nester. Weibchen konnte ich so wenig wie ın den beiden andern Fällen auftreiben; das ist aber gerade in jungen Kolonien oft sehr schwierig.“ Eine natürliche Mischkolonie F. rufopratensis-fusca 1. sp. In allerjüngster Zeit, am 4. Juni dieses Jahres, hatte ich selbst das Glück, gemeinschaftlich mit meinem jungen Freunde Heini Kutter aus Zürich einen sehr schönen Fall von natürlicher Mischkolonie F. rufa, bezw. rufa-pratensis mit fusca 1. sp. zu entdecken: Auf dem Albisgrat bei Zürich fanden wir inmitten einer kleinen Rasen- fläche zweı kleine r«fa-Nester in einer Entfernung von nur 1!/, m nebeneinander, beide ungefähr von gleicher Größe, mit sehr zier- lichen, rundlich-ovalen, stark gewölbten Kuppeln aus relativ feinem vegetabilem Materiale, ca. 15 cm hoch bei 30 cm Durch- messer. Gleich bei oberflächlichem Aufstöbern kam eine rufa- Königin zum Vorschein, die von den aufgeregten Arbeitern in ziemlich roher Weise gepackt wird, offenbar in der Absicht, sie wieder ins Innere zu versorgen. Im andern, südlichen Neste fand sich ein Paket junger Larven, das sorgfältig weggetragen wurde. Im übrigen zunächst nichts Auf- fällıges, es sei denn die durchschnittliche Kleinheit und Zartheit der Arbeiter, ein Umstand, der den Verdacht in mir aufkommen ließ, es hier vielleicht mit einer Kolonie in den Anfangsstadien zu tun zu haben. Und richtig! Als mein Freund mit den Händen tiefer in den nördlichen Bau eingriff, förderte er eine ganze Menge fusca-Arbeiter (fusca ı. sp.) zutage, meist große, z. T. sogar riesige Exemplare; sie lebten vollkommen einträchtig mitten unter den rufa. Sie fanden sich in beiden Nestern vor, jedoch zahl- reicher im nördlichen, das die Königin beherbergte. In weitem Um- kreis existiert keine zweite rufa-Ansiedelung, wohl aber zahlreiche fusca-Nester. Da wir keine geeigneten Instrumente bei uns hatten, quartierte ich vorläufig nur einen kleinen Teil der gemischten Ge- sellschaft in ein Zubbock-Nest ein. 14 Tage später wurde das Nest (das südliche war inzwischen verlassen) ziemlich vollständig aus- gegraben und die Bewohner mit dem ersten Teile im Apparat ver- einigt. Der Grund des Nestes war durch einen alten Maulwurfsgang gebildet, in den die Tiere ihre Zentralkammern eingebaut hatten. Es 544 Brun, Zur Biologie und Psychologie von Formica rufa und anderen Ameisen. zeigte sich, dass eine ziemliche Menge junger Brut (Larven) vorhanden ist ; eine zweite rufa- oder gar eine fusca-Königin war nicht vorhanden. Im Apparat sitzen die rufa-Arbeiter in dichten Klumpen um ihre Königin und um die Brut: zusammengedrängt, während die fusca ın auffallender Weise die Peripherie zu bevorzugen scheinen. Das Fouragieren geschieht unterschiedslos durch beide. Ich schätze die Gesamteinwohnerzahl auf etwa 700—-800; das Zahlenverhältnis der fusca zu den rufa beträgt ungefähr 3—5°/,. Dieses Missver- hältnis der relativen Zahlen (sehr wenig fusca bei relativ großer Gesamteinwohnerzahl), sowie auch die bedeutendsten Mengen junger Brut, endlich der Umstand, dass unter den rufa doch nicht wenige sehr stattliche Exemplare sind, scheint mir dafür zu sprechen, dass die Königin bereits von der zweiten (oder dritten) Arbeitergeneration umgeben ist, m. a. W. dass ihre Adoption schon vor zwei Jahren erfolgte und dass also die Kolonie unmittelbar vor ihrem Über- gang aus dem Ill. Stadıum Wasmanns ins vierte (nach Aus- sterben der letzten fusca) stehen dürfte. Der Fall von Spaltung eines r«ufa-Staates ın zwei feindliche Kolonien ıst in mehr als einer Beziehung interessant. Einmal, dass hier die Entfremdung so rasch, schon in der nächsten Saison, ein- getreten war. Dann die Gegenwart zahlreicher ungeflügelter Weib- chen in beiden Nestern, woraus mein Bruder, wie mir scheint, mit gutem Recht, auf teilweise Unterdrückung des Hochzeitsfluges und stattgehabte „Nestbefruchtung“ schließt. Letzterer Vorgang wurde auch von Escherich??) durch direkte Beobachtung fest- gestellt. Es ist wohl zweifellos, dass solche im Neste kopulierenden Paare darin von vornherein zurückgehalten werden und nicht etwa nach dem Fluge dahin zurückgekehrt sind??). Im Anschluss hieran möchte ich betonen, dass ich aus eigener Erfahrung die Angaben Wasmann’s°*), dass ın größeren Nestern von rufa und pratensis meist zahlreiche Königinnen zu finden sind, nur bestätigen kann. (Die Weibchen sitzen gewöhnlich alle in einer Kammer, in der Peripherie des Nestes an dessen Basis, beisammen.) Die Poly- gynie ist also bei f!. rufa und pratensis die Regel. Sie ist eine sekundäre, durch Inzucht?®) herbeigeführte und hat zweifellos den Zweck, Zweigkolonien des Stammnestes mit Stammüttern zu versorgen. Auch dieser Befund spricht demnach sehr zugunsten der schon 1905 von Wasmann?) geäußerten Ansicht, dass bei 22) Escherich: Die Ameise, Braunschweig 1906, p. 58, Anmerkung. 23) Natürlich bleibt für viele Fälle die durch Wasmann gegebene Erklärung, dass Weibchen nach dem Hochzeitsfluge (wobei sie event. von fremden Männchen befruchtet wurden) ihre alte Kolonie wieder finden, zu Recht bestehen. Fälle, wie die Escherich’s, lassen sich dagegen ungezwungen nur als Inzucht erklären, bei vollständiger Unterdrückung des Hochzeitsflugs der betreffenden Paare. 24) Wasmann: Biol. Centralbl. 1905, p. 196 u. 199. 2H)2loe. cit. p. 196. Brun, Zur Biologie und Psychologie von Formica rufa und anderen Ameisen. 545 F. rufa die Koloniegründung durch Spaltung der gewöhnliche Modus sein dürfte?%). Wie aus vorstehendem Schreiben ersichtlich, kam mein Bruder auf Grund seiner Beobachtung zu ganz ähnlichem Schlusse. Auch sein weiteres Argument, die lokalgeographische Ver- breitung der r«ufa-Kolonien betreffend, scheint mir beachtenswert. Der Fall, dass Zweigkolonien sich dem Stammneste völlig ent- fremden, dürfte wohl, wie das Forel bei seiner oben zitierten Beobachtung schon klar auseinandergesetzt hat, nur dann eintreten, wenn die Wanderung in relativ große Entfernung (so auch im hier mitgeteilten Falle) stattgefunden hatte, und wenn dabei die Inter- essensphären der beiden Nester weit divergierten, so dass ein Be- dürfnis gegenseitigen Verkehrs nicht mehr besteht. In meinem Falle mag auch der Umstand, dass die Trennung gerade im späten Herbste erfolgt war und nun der lange Winter, der jeden Verkehr unmöglich machte, dazwischen kam, sehr viel zur Entfremdung bei- getragen haben. Neben der Kolonienausbreitung durch Spaltung gilt aber auch bei F. rufa (und pratensis) für die Gründung neuer Kolo- nien zweifellos der Modus der „Adoption“, wie er von Wheeler bei nordamerikanischen, von Wasmann bei europäischen Formica- Arten (in jüngster Zeit auch bei rwıfa) nachgewiesen wurde. Leider sind die vorstehenden drei Beobachtungen nicht ganz vollständig, indem der Nachweis der Königin nicht gelang; indessen dürfte es sich dabei doch kaum um etwas anderes gehandelt haben, als um Adoption eines rufa- (resp. pratensis-) Weibchens in einer fusca- Kolonie. Dafür liegen die Verhältnisse bei meinem eigenen Falle um so klarer. Muss eine solche fusca-Kolonie aber immer weisellos sein? Die weitere Verfolgung des zweiten Falles ließe fast die Deutung zu, dass (in der dritten Periode Wasmann's) die bei den fusca erstarkte junge rufa-Gesellschaft sich samt ihrer Königin von ihren Wirten abgetrennt und waldwärts gewendet habe, wohin sie ihre biologischen Interessen zogen. Am alten Ort wäre dann die fusca-Kolonie in ihrer ursprünglichen Form, d. h. rein, zurückge- blieben!? Das würde also eine interessante Modifikation des sozialen Parasıtismus im Sinne W heeler’s, bezw. eine nächsthöhere Stufe des- selben bedeuten. Bei dem gänzlichen Mangel genauerer Anhaltspunkte scheint mir aber die Annahme emer solchen vorläufig noch verfrüht. 26) Anmerkung bei der Korrektur. Wie ich der jüngsten, meiner Ar- beit unmittelbar vorangehenden Abhandlung Wasmann’s: Nachträge zum sozialen Parasitismus.. .““ ete., Biol. Centralbl. 1910, 15, S. 517 entnehme, will Wheeler neuerdings auch für F. rufa die parasitäre Koloniegründung (bei fusca) zum ge- wöhnlichen und geradezu obligatorischen Modus stempeln. Ich kann mich indessen mit dieser extremen Ansicht ebensowenig befreunden wie Wasmann, mit dessen Darlegungen meine eigenen Beobachtungen und Überlegungen, wie man sieht, im ganzen übereinstimmen. XXX. 35 \ 546 Nusbaum u. Oxner, Über Enzystierung regenerierender Nemertinen. Über Enzystierung regenerierender Nemertinen. Von Prof. Dr. Jözef Nusbaum und Dr. Mieezyslaw Oxner. (Zoolog. Inst. Lemberg.) (Ozeanogr. Museum Monaco.) Im „Bulletin de l!’Acad. de Sciences A Cracovie“ 1910 haben wir eine vorläufige Mitteilung über die inneren Vorgänge bei der Regeneration der Nemertine Lineus ruber (Müll.) veröffentlicht. Eine ausführliche diesbezügliche Arbeit erschien im „Arch. für Ent- wicklungsmechanik der Organismen“ (Bd. XXX) im laufenden Jahre). In den obigen Arbeiten haben wir nachgewiesen, dass der Lineus ruber und zwar die von uns sogen. dünne Form?) desselben in sehr hohem Grade regenerationsfähig ist, wobei geringe, selbst halbmillimeterlange Stückchen eines in viele Teile querdurch- schnittenen Wurmes in kleine, aber vollständige, wie Miniaturen des ausgewachsenen Tieres aussehende Tierchen, durch eine Art von Morphollaxis regenerieren. Es liegt hier ein neues, sehr inter- essantes Beispiel eines harmonisch-äquipotentiellen Systems im Sinne Driesch’s vor. Bei der morphollaktischen Regeneration der verschiedenen Körperabschnitte des Wurmes haben wir eine merkwürdige Um- differenzierung mancher Gewebe vermittels migrierender Zellen und einer ausgiebigen Phagozytose?) beobachtet, was wir ın den er- wähnten Arbeiten ausführlich beschrieben haben. Besonders inter- essant erscheint der von uns gelieferte Nachweis, dass in dem Körperteile, welcher vollständig des alten Darmkanals beraubt worden ist (und zwar im Vorderteile des Wurmkörpers, welcher vor der Mundöffnung in ein vorderes und hinteres Stück quergeschnitten worden ist, so dass in dem ersteren keine Spur des Darmes, in dem letzteren der ganze Darmkanal zurückgeblieben ist), der ganze Darmkanal aus der Wand des Rhynchocöloms, die bekanntlich, so weit die bisherigen embryologischen Untersuchungen richtig sind, mesodermalen Ursprunges ist, neugebildet wird. Außer diesen vom allgemein -morphologischen Standpunkte nicht unwichtigen Tatsachen haben wir (s. Oxner, 1910, Ann. 1) Den biologischen Teil hat einer von uns (Öxner) in „Ann. de l’Institut Oc&anographique‘“ Monaco, 1910, veröffentlicht. 2) Wir unterscheiden zwei Formen des Lineus ruber, eine breite und eine dünne (M. Oxner, Compt. rend. Acad. Sc. Paris, 1909, 4. Mai), von welchen diese letztere eine merkwürdig große Regenerationsfähigkeit aufweist, während bei der breiten dieselbe in vielen Hinsichten begrenzt erscheint. 3) Wir haben dieselbe als „Diphagozytose“ (Nusbaum und Oxner, Arch. f. Entwick.-Mech. 1910) bezeichnet, da hier die Wanderzellen zuerst aktiv auf phagozytotischem Wege verschiedene Reservestoffpartikelchen (Pigmentkörnchen des Parenchyms und der Augen, Teile der zugrunde gehenden Drüsenzellen) aufnehmen und dann, nachdem sie in diejenigen Gegenden des Regenerates migrieren, wo die Regenerationsprozesse energisch vor sich gehen, von den sich bildenden Geweben passiv verzehrt werden und somit zugrunde gehen. Nusbaum u. Oxner, Über Enzystierung regenerierender Nemertinen. 547 Inst. Oc.) u. a. konstatiert, dass in manchen Fällen und zwar bei besonderen Bedingungen die regenerierenden Körperstücke sich mit Zysten umgeben, was eine besonders interessante biologische Erscheinung darstellt. Da dies eine verhältnismäßig seltene Tatsache bei den Metazoen ist, verdient sie eine besondere Aufmerksamkeit. Bei den Nemertinen hat Al. Mräzek bei einer Süßwasserform Stichostemma graecense eine Enzystierung beobachtet (Bürger, Nemertinen in Bronn’s Klass. u. Ordnungen), und Bürger (Monographie 1895) sah einmal bei Drepanophorus eine 2 Monate dauernde Enzystierung nach der Exstirpation des Rüssels. Bei verletzten Nemertinen bildet das Sekret einen „Kokon“, in welchem die Verwundung ausheilt (Bürger, Nemertini, in Bronn’s Klass. u. Ordnungen, S. 296). Es ist eine allgemein bekannte Tatsache, dass die Nemertinen von den Drüsen ihrer Haut ein reichliches, hühnereiweißartiges Sekret absondern können. Manche Arten scheiden ein etwas resistenteres Sekret aus, aus welchem sie be- sondere Röhrchen aufbauen, die sie länger oder kürzer bewohnen, was besonders bei Tubulanus (Joubin, 1894, Arch. Zool. Experim., Bürger, 1895) vorkommt und auch bei manchen Tetrastemiden und Lineiden nicht selten zu beobachten ist (Öxner, 1910). Andere Nemertinen bauen aus ihrem schleimigen Hautsekret Röhrchen nur während der Eiablagerungsperiode auf. Die Bildung dieser Röhrchen wird durch zwei folgende Momente bedingt: 1. das Hautsekret der betreffenden Formen erhärtet recht schnell im Seewasser, 2. das Tier verändert nicht seine Lage während der Formation des Röhrchens und es kontrahiert nur langsam seinen Körper wellenförmig, so dass die Kontraktionswelle der Körper- muskulatur von hinten nach vorn und von vorn nach hinten ab- wechselnd verläuft, währenddessen der Schleim regelmäßig den ganzen Körper umhüllt und etwa einen feinen Abguss seiner Ge- stalt bildet. Dieselben zwei Momente, d. h. eine schnelle und starke Erhärtung des Hautsekretes und eine verhältnismäßige Ruhe des Körpers bedingen auch die Bildung der Zysten, von welchen die Regenerate umgeben werden !). 4) Die kleinen in Regeneration begriffenen Fragmente (dünne Form), die sich nicht bewegen können, würden schnell zur Beute der Bakterien und Infusorien fallen. Diese letzteren Organismen reizen die Haut des Tierchens und rufen als Reaktion eine gesteigerte Absonderung des Schleims, der bald erhärtet. In normalen Verhältnissen geschieht ebenfalls die Schleimabsonderung infolge solcher Reize; das Tier scheidet viel Schleim aus und wird schlüpfrig; in normalen Verhältnissen be- wegt sich aber das Tier vorwärts und lässt nach einigen Minuten den Schleim (mit Bakterien, Infusorien, Detritus) hinter sich. Diese Eigenschaft wurde dazu ver- wendet (Öxner, 1910), um die Tiere zu „baden“ und um sie auf diese Weise von Schmutz, Bakterien u. s. w. von der Operation zu befreien. Auf diese Weise „sterilisiert“ man ziemlich gut die Tiere und die Sterblichkeit der operierten Frag- mente wird gering. 35* - z [I 548 Nusbaum u. Oxner, Über Enzystierung regenerierender Nemertinen. Die Zysten erscheinen, wenn der Körper des Wurmes in kleine, kopflose Stücke von !/,—5 mm Länge quergeschnitten wird; in größeren regenerierenden Körperstücken erscheinen sie gewöhnlich nicht (nur ın sehr seltenen Fällen, z. B. im Hinterteile der breiten Form, die zwischen dem Gehirn und den ÜCerebralorganen quer- geschnitten wurde, beobachteten wir eine Enzystierung). Ein jedes kleines, kopfloses Körperstück, wenn es ganz ruhig und ungestört liegt, umgibt sich mit einer dicken und resistenten Zyste, in welcher es so lange bleibt, bis es ın ein kleines, vollständiges Tierchen regeneriert, wobei es in der Zyste mehr oder weniger knäuelförmig zusammengewickelt liegt. Gleicherweise entstehen die Zysten, wenn die kleinen Körper- fragmente noch in der Längsrichtung (median) durchgeschnitten werden, wobei solche seitliche Körperteile ebenfalls vollständig regenerieren. Außerdem enzystieren sich auch die nicht operierten Individuen der dünnen Form, wenn sie sehr lang in hungerndem Zustande und in der Dunkelheit gehalten werden (bei den breiten Formen von Lineus ruber haben wir die Bildung der Zysten im Hungerzustande nicht beobachtet). Wir sehen also, dass entweder nur die bloße Kleinheit des regenerierenden Körperstückes oder die sehr schlechten Ernährungs- bedingungen dieses letzteren (ein längeres Hungern bei der dünnen Form) zur Bildung der Zyste führen, wobei ın beiden Fällen noch eine wichtige Bedingung erfüllt werden muss; der regenerierende Körperteil muss nämlich in voller Ruhe liegen und von äußeren Reizen, z. B. Erschütterung, Licht u. s. w., die die Bewegung seines Körpers veranlassen könnten, frei sein. Die Zysten der Regenerate können nicht einfach als schleimiges Hautsekret gleich demjenigen eines Röhrchens oder einer gewöhn- lichen Schleimhülle des Körpers betrachtet werden. Sie sind viel komplizierter und weisen manche Eigentümlichkeiten auf, welche niemals bei der gewöhnlichen Schleimabsonderung der Hautdrüsen, auch im Falle einer Erhärtung dieses Schleimes hervortreten. Und zwar finden wir folgende Eigentümlichkeiten in der Struktur der Zysten: 1. Die Zyste wird sukzessive in Etappen schichtenweise ge- bildet, weshalb die Wand derselben einen mehr oder weniger aus- geprägten konzentrischen Schichtenbau zeigt. 2. An der Bildung der Zyste beteiligen sich sowohl die Schleim- drüsen wie auch die Eiweißdrüsen’) und zwar die oberflächliche 5) Nach unseren Untersuchungen gibt es bei Zineus ruber drei Arten von einzelligen Hautdrüsen, und zwar auf der Höhe der Epithelzellenschicht sind stäbchen- förmige tubulöse Fiweißdrüsen vorhanden und in der tieferen Drüsenschicht unter dem Epithel finden wir zum größten Teil in Paketen liegende und mit langen dünnen Ausführungskanälen versehene schlauchförmige Drüsen zweierlei Art: Schleim- drüsen und Eiweißdrüsen. a — Nusbaum u. Oxner, Über Enzystierung regenerierender Nemertinen. 549 und die tiefe Schicht dieser letzteren, weshalb die Zyste aus schleimiger und einweißartiger Substanz besteht. Gewöhnlicher „Schleim“ besteht gleicherweise nach unseren Untersuchungen aus mucinhaltiger und seröser Substanz. 3. In der sich bildenden Zystenwand erscheinen außerdem Zell- elemente, die in derselben zugrunde gehen und zwar: a) viele Wanderzellen dringen in die Zyste hinein, deren zahlreiche mit Pigmentpartikelchen beladen sind, b) stellenweise werden auch ganze Partien vom Hautepithel vom Körper des Wurmes abgelöst, um Bestandteile der Zystenwand zu werden und hier zugrunde zu gehen, c) ganze Drüsenzellen, und zwar die Eiweißdrüsen, dringen hier und da in die Zyste hinein, d) wenn die Geschlechtsprodukte reif sind, dringen auch ganze Massen von denselben in die Substanz der Zyste hinein, wo sie gleicherweise zugrunde gehen; wir haben das wenigstens in bezug auf männliche Geschlechtsprodukte kon- statiert, e) auch fremde Körper aus dem durchschnittenen Darme oder durch die Afteröffnung können gleicherweise in die Zyste hineintreten, z. B. die im Darme parasitierenden Gregarinen. Betrachten wir etwas näher diese Eigentümlichkeiten im Bau und in der Entwickelung der Zysten. Die erste Spur der Zyste erscheint in Gestalt einer sehr dünnen, resistenten, homogenen, schleimigen Schicht, welche als eın Häutchen das knäuelförmig zusammengewickelte Würmchen ringsum umgibt und noch leicht zerreisst, wenn das Tierchen gereizt, heftigere Be- wegungen ausführt. In 7—10 Tagen alten Zysten fanden wir ge- wöhnlich nur solche schwach entwickelte Hüllen, aber manchmal waren die selbst so jungen Zysten viel stärker und dieker. Über- haupt treten in dieser Hinsicht sehr große individuelle Schwan- kungen hervor. Es beginnt bald die weitere Ausscheidung des Schleimes und der Eiweißsubstanz, weshalb die Wand der Zyste einer ansehnlichen Verdickung unterliegt. Die färberischen Mittel beweisen uns, dass die Wand der Zyste wirklich sowohl aus der mucinhaltigen, wie auch aus der serösen Substanz besteht. Bei der Färbung z. B. mit Hämatoxylın und Eosin tingieren sich manche Partien der Zystenwand bläulich, andere rötlich, bei Färbung mit Eisenhämatoxylın und Nachfärbung mit Orange tingieren sich manche Partien der Zystenwand bläulich oder schwärzlich, andere orange-gelblich, bei Anwendung von Mucinkarmin färbt sich die Zystenwand nur stellen- weise rötlich. Die Ausscheidung des Schleimes und der Eiweißsubstanz erfolgt nicht gleichmäßig, sondern schichtenweise, wobei manche Schichten dünner, andere dicker erscheinen; hier und da trifft man zwischen den Schichten größere oder kleinere Unterbrechungen, Lücken, und stellenweise häuft sich das Sekret netzförmig an. Infolge einer un- 550 Nusbaum u. Oxner, Über Enzystierung regenerierender Nemertinen. gleichmäßigen Ausscheidung der Zystensubstanz bilden sich manch- mal papillenartige oder fingerartige Fortsätze an der Oberfläche der Zyste, welche derselben ein sehr eigentümliches Aussehen verleihen. Die Zyste verdickt sich schichtenweise immer mehr, so dass z. B. in den zweimonatlichen Zysten die Dicke der Zystenwand größer erscheint als der Durchmesser des Querschnittes durch den Wurm- körper. Die Dicke der Zyste kann stellenweise mehr als zweimal diesen Körperdurchmesser über- schreiten, wie es z. B. in Fig. 2 zu sehen ist. In dem Maße, als die Zysten- wand sich verdickt, werden die Drüsen der tiefen Schicht und zwar sowohl die Schleimdrüsen, wie auch die serösen Drüsen, fast vollkommen verbraucht. Wir haben Gründe anzunehmen, dass diese Drüsen, nachdem ihr In- halt vollkommen ausgeschieden wird, auch gänzlich zugrunde gehen und die neuen Drüsen der tiefen Schich- ten bilden sich im weiteren Ver- lauf des Regenerationsprozesses aus dem Epithel. Eine gewisse Zeitlang ist deshalb nur die ober- flächliche, im Niveau der Epithel- schicht sich befindende Drüsen- schicht im enzystierten Regene- rate zu sehen und bei ganz regenerierten oder schon aus der Zyyste herausgeschlüpften Würm- chen sieht man wieder beide Drüsenschichten. In Fig.2, welche eine photographische Aufnahme darstellt, sehen wır nur die ober- flächliche Drüsenschicht, von der tiefen ıst keine Spur geblieben. In Fig. 1 sind beide Schichten sichtbar. Nachdem schon die große Mehrzahl der tieferen Drüsenzellen verbraucht worden ist, beginnen auch die oberflächlichen, stäbchen- förmigen Drüsen im großen Maße zu sezernieren; manchmal erfolgt der Ausscheidungsprozess beider Drüsenschichten gleichzeitig. Man sieht sehr oft das seröse Sekret der oberflächlichen Drüsen ın Ge- stalt von gekrümmten Tropfen nach außen hervorquellen, manch- mal werden aber ganze Drüsenzellen, samt dem Plasmamantel und Nusbaum u. Oxner, Über Enzystierung regenerierender Nemertinen. 551 dem Kerne nach außen in die Zyste ausgeworfen. Man findet näm- lich nicht selten solche Zellen mit Eiweißsekret in der Zystenwand, wobei dieses Sekret sich z. B. bei Eosinfärbung sehr stark rötlich tingiert. Manche der Eiweißdrüsenzellen enthalten das Sekret als eine homogene Masse, andere — als eine feinkörnige Substanz, und beide Arten des Sekrets, oder richtiger gesagt, beide Zu- stände seiner Bildung fanden wir auch in den in der Zysten- wand vorhandenen, ausgestoßenen Drüsenzellen. In einigen Fällen haben wir eine große Anzahl solcher ausgestoßenen, außerhalb des Hautepithels sich befindenden serösen Drüsenzellen ange- troffen (Fig. 3). Nicht nur das Sekret der beiden Arten von Drüsenzellen und die ganzen einzelnen serösen Drüsenzellen treten aus der Körperwand des Würmchens heraus, um zur Bildung der Zyste bei- zutragen; vielmehr lösen sich auch stellenweise indifferente Haut- epithelzellen von der Körperwand des Würm- chens ab und bilden Bestandteile der Zyste, indem sie in derselben zugrunde gehen. Es kommt hier also ge- wissermaßen zu einer Art von Häutung; es erscheint ein ähnlicher Prozess wie bei der Ent- wickelung der Pilidium- Larve, aber verhältnis- mäßig in viel geringerem Maße, da hier nicht die ganzealte Epithelschicht abgeworfen wird, sondern nur stellenweise und nicht überall simultan lösen sich Fetzen von Epithelzellen ab. In Fig. 4 sehen wir links das Hautepithel in einem regene- rierten Körperteile des Würmchens gut ausgeprägt; es besteht aus einer Schicht zylindrischer, mit kurzen Wimpern versehenen Zellen; mehr nach rechts dagegen wird das Epithel niedriger und indem es aus einigen Schichten etwas abgeplatteten Elementen besteht, zeigt es einen allmählichen Übergang seiner oberflächlichen Zellen- schichten ın eine freie Schicht abgeplatteter Zellen, die schon ganz von der Haut abgelöst sind; das sind abgeworfene Epithelzellen, die bald zugrunde gehen. Sie sind sehr vakuolenreich, in der Mitte gewöhnlich verdickt und seitlich gehen sie in dünne Fortsätze über, vermittelst deren sie sich stellenweise miteinander verbinden, so dass hier und da ununterbrochene Zellenmembranen entstehen, eine 552 Nusbaum u. Oxner, Über Enzystierung regenerierender Nemertinen. Art von unvollkommenen Hüllen bildend, die das Würmchen von außen umgeben (Fig. 4, 5). Sehr oft finden wir in der Zyste Wanderzellen, rundliche oder mit stumpfen, kurzen Fortsätzen versehene Zellen, welche gewöhn- lich sehr stark mit Pıgmentkörnchen beladen sind. Wie wir es an anderer Stelle nachgewiesen haben, spielen diese Wanderzellen eine sehr wichtige Rolle ın den Regenerationsprozessen. Sie entstammen dem Bindegewebe und dem Parenchym, nehmen phagozytotisch zahlreiche Pigmentkörnchen und andere Zerfallsprodukte der einer Involution unterliegenden Gewebsteilen (z. B. des Augenpigmentes, Fig. 4. C mancher zugrundegehenden Drüsenzellen des Hautepithels) auf und so mit Reservestoffpartikelchen beladen, gegen diejenigen Distrikte des Körpers migrieren, wo die Regenerationsprozesse am ener- gischsten vor sich gehen und wo sie selbst zugrunde gehen, indem sie von den Zellen der lebensfähigeren und sich neubildenden Ge- weben des Regenerates auf phagozytotischem Wege verzehrt werden. Nun ist es sehr interessant, dass diese Wanderzellen, welche hier bei der Umdifferenzierung und Verarbeitung der Gewebe ın den morphollaktisch-regeneratorischen Prozessen eine so bedeutende Rolle spielen, auch bei der Zystenbildung tätıg sind. Sie wandern nämlich in großer Anzahl aus dem Körper des Wurmes ın die Zyste ein, um hier zugrunde zu gehen, indem sie einem Zerfalle Nusbaum u. Oxner, Über Enzystierang regenerierender Nemertinen. 555 unterliegen und die Pigmentkörnchen frei lassen, welche stellen- weise, wie schon erwähnt, größere oder geringere Anhäufungen in der Zystenwand bilden (Fig. 3, 4, 5). Sie wandern auf einem zweifachen Wege aus. Erstens kriechen sie aus dem Körperparenchym noch vor dem Wundverschlusse heraus und zwar hauptsächlich ın denjenigen Fällen, in welchen das aus der Querteilung hervorgegangene Körperstück noch in der Längsrichtung durchgeschnitten wurde, da in diesen Fällen die Heilung der großen Wunde etwas länger dauert; durch die offene Körperspalte treten dann zahlreiche Wanderzellen nach außen. Zweitens kriechen sie sehr wahrscheinlich durch das Hautepithel selbst nach außen heraus und zwar ın den sich neubildenden Körper- abschnitten des Regenerates, wo das Epithel eine längere Zeit aus einer Schicht kubischer oder platten Zellen besteht, und wo noch keine Drüsen vorhanden sind, mit einem Worte, wo die Haut noch sehr dünn, locker und zart ıst. Und zwar haben wir schon ın unserer oben erwähnten Arbeit nachgewiesen, dass bei der Regeneration des Lineus ruber sehr oft ım Regenerate sogen. blasige Auftreibungen entstehen, in welchen das Hautepithel größere oder kleinere, buckelförmige Ausstülpungen bildet, wobei es an diesen Stellen gewöhnlich aus kubischen oder abgeplatteten, manchmal weit voneinander entfernten Zellen besteht und wo unter dem Epithel ein freier Raum mit spärlichen mesen- chymatischen Elementen und Wanderzellen erfüllt vorhanden ist. An solchen Stellen, wo das Epithel recht dünn erscheint, dringen 554 Nusbaum u. Oxner, Über Enzystierung regenerierender Nemertinen. sehr wahrscheinlich die Wanderzellen zwischen den Epithelelementen nach außen heraus. In Fig. 6 sehen wir einen kleinen Teil des Querschnittes durch die Zyste samt dem Würmchen, wo das Hautepithel eine solche blasige Auftreibung bildet; manche der sehr niedrigen, plasmaarmen Epithelzellen entsenden basal unregelmäßige Fortsätze; unter dem Epithel sieht man einzelne verästelte Mesenchymelemente und Wanderzellen; nach außen vom Epithel, zwischen diesem letzteren und der dünnen Zystenwand sehen wır eine Anzahl rundlicher oder rundlich-ovaler Wanderzellen, mit exzentrisch gelagertem Kerne und mit vielen Reservestoffpartikelchen, besonders mit Pigment- körnchen beladen. Diese Wanderzellen, welche wir sowohl in jungen Zysten wie auch in älteren in größerer oder geringerer Anzahl ge- funden haben, unterliegen hier, wie erwähnt, einem Zerfalle, und als ihre Reste bleiben hier und da größere oder geringere Pigment- anhäufungen übrig. Da diese Pigmentkörnchen bräunlich, gelblich oder grünlich sind, so stellt sich bei Hämatoxylin-Eosinfärbung die ganze Zyste an Schnitten sehr bunt gefärbt dar, da manche Teile dieser letzteren blau (schleimige Teile), andere rot (seröse Teile), noch andere violett (gemischter Ursprung), und die Pigmentkörnchen- anhäufungen bräunlich, gelblich und grünlich erscheinen. Wie wir schon oben erwähnt haben, können noch andere Körperbestandteile in die Zyste hineindringen; wir bemerkten z. B. beı einem männlichen Individuum in den innersten Schichten der /,yste zahlreiche Anhäufungen von Geschlechtsprodukten. Es ist interessant, dass manchmal bei den mit Gregarinen ım Darmkanale behafteten Individuen diese Parasiten in großer Anzahl durch die noch nicht geschlossene Wunde oder durch die neugebildete After- öffnung nach außen hervortreten und zwischen der Zystenwand und dem Körperepithel des Wurmes frei liegen bleiben. In Fig. 6, welche wir schon oben betrachtet haben, sieht man eine intakte Nusbaum u. Oxner, Über Enzystierung regenerierender Nemertinen. 555 Gregarine unter der Zystenwand liegen; wir fanden gewisse Stadien, welche darauf hinweisen, dass die Gregarinen hier zugrunde gehen, indem sie einem Körnchenzerfalle unterliegen. Die aktive oder passive Auswanderung der histologischen Elemente, und zwar der Wanderzellen, der Drüsenzellen, der Haut- epithelzellen und der Geschlechtselemente in die sich bildende Zyste erfolgt oft m so großem Maße, dass der Wurmkörper äußerst dünn, schlank und entpigmentiert wird und die Zyste dagegen sehr dick erscheint. Besonders wenn alle Drüsenzellen der tiefen Schicht, so- wohl die serösen wie auch die schleimigen, ihren Inhalt der Zyste abgegeben haben und vollkommen verschwanden, und wenn viele Wanderzellen aus dem Wurmkörper in die Zyste übergegangen sind, erscheint der Körper des regenerierenden Würmchens äußerst dünn, wie esz. B. in der Fig. 2 zu sehen ist. Man kann wohl sagen, dass in diesen Fällen der Wurmkörper alles, was ihm nicht unmittelbar zum Leben nötig ist, der Zyste abgibt und somit durch eine sehr dicke und starke Hülle von der Außenwelt abgegrenzt bleibt, bis er in eine, sozusagen kleine Miniatur eines vollkommenen Tierchens regeneriert, welches sich aus der Zyste befreit, indem durch die heftigen Bewegungen des Tierchens die Zyste an einer Stelle platzt. Es erübrigt nun die Frage zu beantworten, was für eine Bedeutung dem Enzystieren der regene- rierenden kleinen Körperstücke des Zineus zugeschrieben werden muss? Die Enzystierung tritt im Tierreich als verschiedenartige An- passungserscheinungen auf, z. B. sie erscheint unter dem Einflusse drohender Schädigungen verschiedener Art, bei der Teilung, Ver- mehrung, nach der Befruchtung u. s. w., überhaupt tritt sie am öftersten in denjenigen Fällen auf, in welchen entweder komplı- zierte innere Vorgänge sich im Organismus abspielen, bei denen eine temporäre Abgrenzung von der Außenwelt nötig ist (z. B. bei der Vermehrung), oder wenn eine solche Abgrenzung bei dem Ein- flusse schädlicher Agentien vorteilhaft erscheint. Nun sind wir der Meinung, dass die Bildung eines vollkommenen Würmchens aus dem kleinen halbmillimeter- oder höchstens einige millimeterlangen Körperstücke, währenddessen eine sehr weitgehende Umdifferenzierung und Verarbeitung der Gewebe vermittels der Wanderzellen (wie wir es andererorts gezeigt haben) stattfindet, zu der Kategorie sehr komplizierter innerer organischer Vorgänge gehört und dass eine temporäre Abgrenzung eines solchen winzigen Organismus von dem direkten Einflusse der Außenwelt ebenfalls sehr wahrscheinlich eine nicht wichtige physiologische Anpassung darstellt. Wir haben gesehen, dass das enzystierte Würmchen viele histologische Bestandteile seines Körpers verliert, um die Verdickung und Verstärkung der Zyste zu erzielen. 556 Nusbaum u. Oxner, Über Enzystierung regenerierender Nemertinen. Nun ıst es sehr interessant, dass ın manchen, recht seltenen Fällen alle Gewebe des Würmchens sich an der Bildung der Zyste beteiligen, alle werden zu diesem Zwecke verbraucht, weshalb der ganze Wurmkörper in eine zystenartige Bildung übergeht; es erfolgt, sozusagen, eine Art Mumifikatıion des ganzen Körpers, welcher auf diese Weise endlich zugrunde geht. Wir haben sehr inter- essante Stadien dieser involutiven Prozesse gesehen. Alle Zellen des Hautepithels, des Darmes, des Körperparenchyms lösen sich voneinander ab und es erscheint zwischen denselben eine homogene oder körnige Masse, als Produkt dieser Elemente, welche endlich gänzlich zugrunde gehen, indem sie ihre Kerne verlieren, immer blasser werden und teilweise ın Körnchen zerfallen. Die ganze Zyste erscheint dann an Schnitten solid und anstatt die Geweben des Wurmes sieht man nur lose Zellen, Gruppen von Zellen oder Spuren von diesen letzteren in der Zyste eingebettet. Diese patho- logische Erscheinung ist also als ein zu weitgehender Verbrauch der lebenden Gewebe des sich enzystierenden Wurmkörpers zum Zwecke der Bildung einer Zyste zu betrachten. Eine solche Invo- lution erscheint sehr wahrscheinlich hauptsächlich in denjenigen Fällen, ın welchen die Regeneration überhaupt nicht stattfindet, z. B. ın den Fragmenten mit durchschnittenem Gehirne (vgl. Nus- baum u. Oxner, 1910, Arch. f. Entw.-Mech.). Endlich müssen wir noch die interessante Tatsache hervorheben (vgl. Oxner, 1910, 1. cit.), dass die enzystierten Wurmfragmente 2--3mal so lang regenerieren als die nichtenzystierten. Das ist ın denjenigen Fällen leicht zu konstatieren, in welchen das operierte Körperstück noch in longitudinaler Richtung in zwei vollkommen gleiche Teile medial durchschnitten wird. Es ereignet sich nun manchmal, dass die eine Hälfte sich enzystiert, während die andere keiner Enzystierung unterliegt, und nun sieht man nach dem Ver- laufe z. B. von 10—15 Tagen, dass die nichtenzystierte Hälfte viel weiter in der Regeneration fortgeschritten ist als die enzystierte, bei welcher immer die Regenerationsprozesse verspätet erscheinen. Die Erklärung dieses Umstandes ist sehr leicht, wenn wir ım Erwägung ziehen, dass: 1. das enzystierte Tier fast vollkommen ihr Pigment verliert, welches der Zyste abgegeben wird, 2. zahl- reiche Wanderzellen den Körper des Tieres verlassen, 3. die tiefe Schicht der Hautdrüsen fast vollkommen zugrunde geht, 4. zahl- reiche Epithelzellen und noch andere Elemente sich von dem Körper des Fragmentes ablösen, indem sie ın der Zystenbildung eine Rolle spielen. Es ist also ersichtlich, dass das enzystierte Fragment sehr viel lebendiges Gewebsmaterial und damit eine nicht geringe (Juantität der Lebensenergie verliert; die Regeneration des Tierchens ist deshalb einigermaßen erschwert und sie muss auch länger dauern als ın denjenigen Fällen, wo kein Verlust an Geweben und an Ehrlich, Beiträge zur experimentellen Pathologie und Chemotherapie. 557 Lebensenergie stattfindet. Wir wissen ja, dass in allen denjenigen Fällen, in welchen die Entwickelung eines Tieres mit einer Invo- lution verschiedener Körperbestandteile verbunden ist, z. B. bei der Metamorphose der Insekten (histolytische Prozesse) bei der post- embryonalen Entwickelung der Amphibien u. s. w., der Entwicke- lungsprozess in beträchtlichem Grade verlangsamt wird, was zu- gunsten unserer obigen Annahme zu sprechen scheint. Erklärung der Abbildungen. Fig. 1. Eine durchgeschnittene Zyste des Lineus ruber mit fast schon fertigem regenerierten Wurme (der knäuelförmig zusammengerollte Körper ist hier fünfmal durchgeschnitten); U — Zystenwand, DA —= Darmkanal, d = die äußere Drüsen- schicht, d‘ — die innere Drüsenschicht. Photographische Aufnahme bei 100facher Vergrößerung. Fig. 2. Eine durchgeschnittene sehr stark entwickelte Zyste des Lineus ruber mit dem Wurmregenerate; @— Gchirnanlage im Kopfteile des Regenerates, R= Rüssel im Längsschnitt, W — Parenchym des Wurmes, U —= Zystenwand (man sieht sehr gut den konzentrischen Schichtenbau derselben). Photographische Aufnahme bei 100facher Vergrößerung. Fig. 3. Ein Teil der Zystenwand und der Haut des regenerierenden Körper- fragmentes von Lineus ruber im Durchschnitte; U — Zystenwand, p = Pigment- körnchenanhäufungen, D — Drüsen der oberflächlichen Schicht, Dr — nach außen ausgeworfene Drüsenzellen, Dis = Schleimdrüsen der tiefen Schicht, Die = Eiweiß- drüsen der tiefen Schicht. Oc. 4. S. hom. Imm. !/,, Zeiß. Mit Cam. gezeichnet. Fig. 4. Ein Teil der Zystenwand und der Haut des regenerierenden Körper- fragmentes von Lineus ruber im Durchschnitte; U — Zystenwand, D — heraus- tretendes Drüsensekret, ep — epitheliale Verdickungen der Körperwand, aep — ab- gelöste epitheliale Zellen. Oc. 4. S. hom. Imm. !/,, Zeiß. Mit Cam. gezeichnet. Fig. 5. Ein Teil der Zystenwand und des Körpers des regenerierenden Frag- mentes von Lineus ruber im Durchschnitte; © = Zystenwand, X —= stark ange- quollene Kerne in der Zyste, p = Pigmentanhäufung, ap — abgelöste Epithel- elemente, ep — epitheliale Körperbedeckung, g —= Gehirn (regeneriert). Oc. 2. 8. hom. Imm. '/,, Zeiß. Mit Cam. gezeichnet. Fig.6. Ein Teil eines Schnittes durch die dünne Zystenwand und die Körper- wand des Fragmentes von Lineus ruber in der Gegend einer blasigen Auftreibung; Ü = Zystenwand, D = Drüsenzelle, Gr = Gregarine, ep = dünne epitheliale Schicht der Körperwand, Wd = Wanderzellen, Wda = Wanderzellen, die nach außen ausgetreten sind. Das Tier wurde den 8. XII. 1909 operiert und den 10. I. 1910 fixiert. Oc. 4. S. hom. Imm. '/,, Zeiß. Mit Cam. gezeichnet. Paul Ehrlich. Beiträge zur experimentellen Pathologie und Chemotherapie. Leipzig, Akad. Verlagsges. 1909, gr. 8°, 247 8. Der vorliegende Band enthält eine Reihe von Vorträgen, die der Verfasser in verschiedenen Orten, in London, Amsterdam, Frank- furt und zuletzt, als er den Nobelpreis empfing, im Dezember 1908 in Stockholm gehalten hat. Diese Entstehung bedingt natürlich, 558 Ehrlich, Beiträge zur experimentellen Pathologie und Chemotherapie. dass die Darstellung nicht die systematische eines Lehrgangs ist, dass sie auch nicht lediglich Neues bringt und dass manche Wieder- holungen sich in dem Buche finden. Gleichwohl ist es sehr zu begrüßen, dass das Buch ın dieser Form erschienen ist; denn so können alle die Leser, denen das Ehrlich’sche Gedankengebäude noch nicht vertraut ist, in einzelnen kürzeren Kapiteln sich in dasselbe hineinfinden an der Hand des Meisters selber, während eine systematische Darstellung des Ganzen (die es übrigens mit Berücksichtigung der letzten Fortbildung noch gar nicht gibt) durchzuarbeiten, eine Aufgabe ist, die nur selten Leute leisten werden, die sich nicht speziell mit der Immunitätslehre beschäftigen wollen. Mehr aber, als man nach diesem Aufbau erwarten sollte, er- füllt das Buch auch die Ziele, die einer kurzen systematischen Dar- stellung gestellt sind. Die ersten Vorträge bringen nämlich das Wesentliche von jenen älteren Forschungen, die als die eigentliche Seitenkettentheorie bekannt sind und auch von seinen noch älteren Untersuchungen über die Verteilung von Arznei- und Farbstoffen im Organısmus, die nicht nur eine meist wenig beachtete Grund- lage der Seitenkettentheorie, sondern auch das Bindeglied bilden zu jenen neueren Untersuchungen über die Wirkung organischer Substanzen auf die einzelligen Parasiten im Tierkörper, die haupt- sächlich in diesem Bande dargestellt werden und die Ehrlich als Uhemotherapie bezeichnet, um ihre mehr systematische chemisch- spekulative Grundlage gegenüber dem herkömmlichen, auf empirischer Grundlage mehr ins Blaue hinein experimentierenden Verfahren der Pharmakologie hervorzuheben. So leuchtet aus diesem Buche mehr als aus irgendeiner der früheren Darstellungen der Grund- gedanke aller Theoreme und Hypothesen des Verfassers hervor, dass alle spezifischen Wirkungen auf ganz begrenzten chemischen Affinitäten zwischen der Struktur des wirkenden Stoffes und der chemischen Struktur von Protoplasmabestandteilen beruhen müssen. In dem letzten Vortrag „Ueber Partialfunktionen der Zelle“ wird dann die letzte Konsequenz aus diesem Grundgedanken gezogen, dass es durch unablässige Aufsuchung immer neuer solcher spezi- fischer Reaktionen und ihrer Bedingungen gelingen werde, einen Einblick ın die Struktur des lebenden Protoplasmas zu gewinnen, der es zuletzt erlauben müsse, es, wenigstens in Gedanken, aus allen seinen Einzelbestandteilen synthetisch aufzubauen, eine Aut- gabe, die ebenso wie für die mikroskopische, schon an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gelangte Untersuchung auch für die analy- tische Chemie, die doch ımmer nur die Bestandteile der toten Materie isolieren könne, unlösbar sei. Es kann hier nicht der Ort sein, auf alle die neuen Annahmen und Begriffe und Bezeichnungen einzugehen, die nicht nur in diesem Ehrlich, Beiträge zur experimentellen Pathologie und Chemotherapie. 559 Schlusskapitel gebracht werden, sondern auch in den mittleren Vor- trägen des Bandes, die über so anscheinend einander fernliegende Gebiete wie die Zusammensetzung und Wirkung der Schlangen- gifte, die Ernährung der Trypanosomen und Widerstandsfähigkeit gegen Gifte, die Immunität des Menschen und der höheren Tiere gegenüber den Pocken und den mit diesen ähnlichen Infektions- krankheiten, und die Biologie und histologische Umwandlung der bei Mäusen vorkommenden und künstlich übertragenen gut- und bösartigen Tumoren berichten und aus jedem dieser Gebiete nicht nur Tatsachen erzählen, die von Ehrlich oder seinen Schülern in den von ihm geleiteten Instituten erhoben worden sind, sondern auch sie in Beziehung zueinander setzen und eben daraus gemein- same und wieder in den anderen Kapiteln fruchtbare Hypothesen ableiten. Demjenigen, der diesen Forschungen fernersteht, mögen die kühnen Hypothesen die für ihn unkontrollierbaren Tatsachen manch- mal zu überwuchern scheinen und in ihm Zweifel wachrufen, ob wir uns hier immer noch auf dem Boden der exakten Induktion befinden. Demgegenüber kann immer wieder darauf hingewiesen werden, wie außerordentlich fruchtbar zur Auffindung von ganz unzweifelhaften, auch abgesehen von jeder Theorie wertvollen neuen Tatsachen sich alle diese Annahmen des Verfassers schon erwiesen haben. Sein letzter Triumph in dieser Hinsicht, der in dem Buche noch nicht angedeutet sein kann und doch in engstem Zusammen- hang steht mit den Trypanosomenstudien, die dort einen so breiten Raum einnehmen, ist die Auffindung eines Mittels, das gegen die Syphilis wirksamer zu sein scheint als irgendeines der bisher be- kannten und als es auch die sanguinischsten Aerzte wohl kaum zu hoffen wagten. Dabei hat der nicht vorauszusehende Umstand als Glücksfall mitgespielt, dass die noch so wenig erforschten Erreger der Syphilis sich dem neuen Mittel gegenüber genau so verhalten, wie die Trypanosomen, die dem Hauptteil der Untersuchungen zur Grundlage dienten, aber das Hauptverdienst bleibt doch Ehrlich selbst, der nicht nur das wissenschaftliche Experiment, das Pro- bieren neuer Mittel in einer noch nie gesehenen Weise systematisch ausgedehnt hat, sondern auch durch seine Theorien und Hypothesen diesen Versuchen ganz bestimmte Bahnen gewiesen hat, die zum Erfolg geführt haben. We. 560 Uhlenhuth u. Weidanz, Praktische Anleitung zur Ausführung ete. P. Uhlenhuth und O. Weidanz. Praktische Anleitung zur Ausführung des biologischen Eiweilsdifferenzierungs- verfahrens, mit besonderer Berücksichtigung der forensischen Blut- und Fleischuntersuchung, sowie der Gewinnung präzipitierender Sera. Gustav Fischer, Jena 1909, 8°, 246 S., 38 Fig. Die biologischen Reaktionen, d. h. der Nachweis spezifischer Substanzen, die im Tierleib nach Einführung von hochmolekularen Körpern entstehen und ausschließlich mit diesen Körpern Reaktionen eingehen, die man, wie z. B. die Bildung eines Präzipitats aus den klaren Lösungen beider Reagenzien, unmittelbar sehen, oder aber mittelbar zur Beobachtung bringen kann, haben in den letzten Jahren ebenso ausgedehnte theoretische wie praktische Anwendung gefunden. Die praktische ist in erster Linie die für gerichtliche Aufgaben, nämlich zum Nachweis von Menschenblut bei Mord- prozessen oder auch neuerdings zum Nachweis bestimmter Fleisch- sorten in der Nahrungsmittelkontrolle. Insbesondere die erste so verantwortungsvolle Aufgabe hat zur Ausbildung einer sehr sorg- fältigen, mit allen Kautelen und Kontrollen umgebenen Technik geführt, um die sich gerade Uhlenhuth sehr große Verdienste erworben hat. Aus seinen reichen Erfahrungen nun hat er diese Anleitung verfasst, die darauf Rücksicht nımmt, dass um der prak- tischen Zwecke willen viele Personen sich auf diese Methode ein- arbeiten, oder die mit ihr gewonnenen Ergebnisse beurteilen müssen, deren eigentliches Arbeitsgebiet ein anderes, der Immunitätslehre fernliegendes ist. Aber nicht nur die genannten forensischen Zwecke behandeln die Autoren, sondern auch alle anderen praktischen Verwertungen der Methode, z. B.: die relative Verwandtschaft verschiedener Tier- arten miteinander durch quantitative Vergleichung der mit ihrem Blutserum zu erzielenden biologischen Reaktionen zu erforschen. Und sie stellen nicht nur das von Uhlenhuth besonders bearbeitete Präzipitationsverfahren ausführlich dar, sondern auch die beiden Methoden, die mit ihm konkurrieren und es zuweilen ergänzen oder kontrollieren können: die Komplementbindung durch spezifische Re- aktion und das Phänomen der spezifischen Ueberempfindlichkeit. Das Buch behandelt seinen Stoff in erschöpfender Weise. Es ist heute schon für jedes Laboratorium, in dem derartige Unter- suchungen ausgeführt werden, ein unentbehrliches Handbuch, es ist aber auch sehr geeignet, bei Fernerstehenden Verständnis für das Wesen und für die verwickelte Technik dieser Untersuchungs- methoden zu wecken. Werner Rosenthal. Verlae von Geore Thieme in Leipzie, Rabensteinplatz 2. — Druck der kgl. bayer. © > } >) x o- Hof- u. Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt, Unter Mitwirkung von Dr.Kr Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Der Abonnementspreis für 24 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen. Bd. XXX. 1. September 1910. a ıR. Inhalt: Rimsky-Korsakow, Zur Biologie der Sü(swassernemertine Stichostemma graecense Böhmig. — Viehmeyer, Ontogenetische und phylogenetisehe, Betrachtungen über die abhängige Koloniegründung von Formica sanguinea. — Stieda, Uber Hirnfurehen und Hirnwindungen. Zur Biologie der Sülswassernemertine Stichostemma graecense Böhmig. Von M. Rimsky-Korsakow. Süßwassernemertinen sind jetzt bekanntlich ın vielen Gegenden Europas, in Amerika und Afrika aufgefunden worden. Abgesehen von mehreren sehr ungenau beschriebenen Arten!) scheinen alle näher bekannten Arten zu der Gattung Stichostemma Montgomery zu gehören. Bürger (op. cit.) hat zwar die beiden Gattungen Stichostemma Montgomery und Tetrastemma Ehrenb. zusammen- gefasst und das alte Genus Prostoma Ant. Duges wieder hergestellt; allein er selbst ıst von seiner Meinung bald wieder zurückgekommen’) und nimmt jetzt das Genus Stichostemma an. Dieser letzten Auf- fassung kann man sich nur anschließen, da die hierher gehörigen Süßwasserarten sich durch mehrere Merkmale von den marinen 1) Zusammenstellungen über die Süßwassernemertinen findet man bei Mont- gomery, T. M., Stichostemma Eılhardi nov. gen. nov. spec. Ein Beitrag zur Kenntnis der Nemertinen. Zeitschr. wiss. Zool., Bd. 59, 1895; de Guerne, J., The History of the Fresch-Water Nemerteans, their Geographical Distribution and their Origin, Ann. a. Magaz. Natur. Hist., 6 Ser., Vol. 10, 1892; Bürger, O., Nemertinen, Tierreich, Lief. 20, 1904. 2) Vgl. Bürger, Nemertini in Bronn’s Klass. u. Ordn. d. Tierreichs, Bd. IV, Supplement. 1897—1907. XXX. 36 562 Rimsky-Korsakow, Zur Biologie der Süßwassernemertine Stichost. graecense, ir f Formen unterscheiden, wie es Böhmig?) hervorhebt und Bürger ın dem letztgenannten Werke ausführt. | Im Jahre 1903 hatte ich die Gelegenheit gehabt, Stiehostemma graecense Böhmig ım Neckar bei Heidelberg zu beobachten. Im Sommer 1909 fand ich dieselbe Art in Straßburg ın dem Teiche des Botanischen Instituts*). Da über das Vorkommen von Stich. graecense ın Deutschland noch gar nichts bekannt ist und auch über die Biologie der Nemertine nur wenige Mitteilungen von Böhmig (op. eit.) und Mräzec?®) vorliegen, so halte ich nicht für unnötig, einiges über diese interessanten Vertreter der Süßwasserfauna mit- zuteilen. Als ıch während der Arbeit ın dem Zoologischen Institute von Heidelberg die Nemertine im Neckar gefunden hatte, so glaubte ich eine neue Art der Gattung Stichostemma vor mir zu. haben. Die eigenartige Verteilung des schwarzen Augenpigmentes zwischen : & > Fig. 1. Verschiedene Formen der Stiletbasis. Zeiß D, Oe. 2. den Augen, die etwas andere Form der Stiletbasis, die angebliche Getrenntgeschlechtlichkeit und einige andere kleinere Differenzen, die man ım Vergleich mit der genauen Beschreibung Böhmig’s an meinen Exemplaren bemerken konnte, schienen mir die Auf- stellung einer neuen Art der Gattung Stichostemma zu rechtfertigen. Da ich im Besitze nur weniger Exemplare des Tieres war und da doch im allgemeinen eine große Ähnlichkeit mit Stich. graecense unverkennbar war, so zögerte ich, eine neue Art aufzustellen, zumal da ein Exemplar sich als zwitterig erwies (wie Stich. graecense). Jetzt, da ich zahlreiche Exemplare der Nemertine in Straßburg ge- funden habe, kann ich mit Sicherheit behaupten, dass auch die Tiere aus dem Neckar zu der Böhmig’schen Art gehören. Ich wıll näm- ich hier hervorheben, was für künftige Funde der Nemertine von 3) Beiträge zur Anatomie und Histologie der Nemertinen, in Zeitschr. wiss. Zool., Bd. 64, 1898. 4) Es sei mir an dieser Stelle erlaubt, dem Direktor des Zoolog. Instituts Straßburg, Herrn Prof. A. Goette, meinen besten Dank für die Aufnahme in das Institut auszusprechen. 5) Über das Vorkommen einer freilebenden Süßwassernemertine (Stichostemma graecense Böhm.) in Böhmen. Sitzungsber. k. böhm. Gesellsch. Wien. II. Klasse, v. XXXV], 1902. Rimsky-Korsakow, Zur Biologie der Süßwassernemertine Stichost. graecense. 5693 Wichtigkeit ist, dass die Stich. graecense in manchen Beziehungen eine sehr variable Art ist. Abgesehen von der Färbung der Tiere, die, wie auch frühere Autoren erwähnen, sehr verschieden sein kann (je nach dem Alter und Ernährungszustande), kann die Verteilung des Augenpigmentes stark variieren, worauf wir noch weiter zurück- kommen werden, und auch die Form der Stiletbasis ist nicht be- ständig, wie man aus der Beschreibung und der Abbildung Böhmig's annehmen könnte. Nämlich die Untersuchung zahlreicher Straß- burger Exemplare hat mir gezeigt, dass die Stiletbasis entweder kegelförmig oder mehr birnförmig sein kann (s. Fig. 1). Was die äußere und innere Organisation von Stich. graecense anbetrifft, so kann ich in dieser Beziehung die Angaben von Böhmig nur bestätigen. Die Länge meiner Exemplare betrug 1--20 mm. Sehr auffallend ist bei der Nemertine die Zerstreuung des schwarzen Augenpigmentes. Bei den meisten Exemplaren waren 3 Augenpaare vorhanden; einige aber nicht nur kleine, sondern auch ganz große = \ P; r ; N I } . “| x | WW a Se ER \ KR EN t r : \ | BE ; | ii “ | A . | | ! } j | | 10. VI. DAS: 19. VII. 28. VII. Fig. 2. Die Veränderung in der Verteilung des Augenpigmentes bei einem Stichostemma-Exemplar aus Straßburg. geschlechtsreife Tiere hatten 4 Augen; auch die Zahl 5 (2 Augen von einer Seite, 3 von der anderen) und 7 kam beı einigen Tieren vor. Bei den meisten Exemplaren von Stichostemma befindet sich das schwarze Augenpigment nicht nur ın den Augen selbst, sondern auch zwischen und neben denselben. Die Verteilung dieser Pigment- körnchen kann äußerst verschieden sein und ändert sich mit der Zeit, wie es mir genaue Beobachtungen an den ın Aquarien leben- den Tieren gezeigt haben. Manchmal sieht man nur einzelne ganz kleine Pigmentkörnchen liegen, in anderen Fällen befinden sich größere Massen des Pigmentes von äußerst verschiedener Form neben den Augen. Oft sind die einzelnen Augen durch das Pigment miteinander verbunden. An lebenden Tieren ıst es manchmal nicht leicht, die Augen von den Ansammlungen des Pigmentes zu unter- scheiden. An Schnitten erkennt man sofort die becherförmigen Augen. Wie die Verteilung des Pigmentes sich ändert, kann aus folgendem Beispiel ersehen werden (Fig. 2). Wie die Verlagerung des Pigmentes geschieht und worin der Grund dieser Erscheinung liegt, konnte nicht ermittelt werden. 564 Rimsky-Korsakow, Zur Biologie der Süßwassernemertine Stichost. graecense. Child®) beschreibt für die nordamerikanische Stich. assensoriatum Montgomery dieselbe Erscheinung. Man muss noch zufügen, dass Böhmig, welcher den Bau der Augen von Stich. graecense unter- sucht hatte, gar nichts von der Zerstreuung des Pigmentes erwähnt; auch bei Mräzec (op. eit.) fehlen die Angaben darüber. Über die anderen Arten von Stichostemma (Stich. eilhardi und Stich. lacustre) wird von den Autoren nichts derartiges mitgeteilt. Bei dem Rüsselapparat ist an einem Exemplare eine Abnormität beobachtet worden, welche auch von Mräzec angeführt wird; es befinden sich nämlich an einer Basis zwei Hauptstilete (Fig. 3). Stich. graecense ıst ein Hermaphrodit, doch lässt sich das Vor- handensein von beiderlei Geschlechtsprodukten nicht so leicht kon- statieren. An lebenden Exemplaren kann man die Eier, besonders wenn sie groß sind, auch bei schwacher Vergrößerung und sogar mit bloßem Auge wahrnehmen. Was die Spermatozoen anbetrifft, so sind sie an lebenden Tieren nur in seltenen Fällen zu sehen und auch an Schnitten findet man in den Gonaden oft nur die verschiedenen Entwickelungsstadien weiblicher Geschlechtsprodukte. Nach Böhmig entwickeln sich bei Stich. graecense die beiderlei Geschlechtsprodukte gleichzeitig. An meinen Präparaten finden sich eben- en solche Bilder wie bei dem letztgenannten Autor. Die San Gonaden, welche eine ansehnliche Größe erreicht einer Basis. haben, enthalten reife Spermatozoen. Solche Gona- Zeiß F, Oe.2. den, wo ausschließlich männliche Geschlechtsprodukte vorhanden wären, habe ich nie getroffen. Dem- nach könnte man vielleicht annehmen, dass hier eine Protogynie vorliege; aber um das behaupten zu können, müsste man recht viele Individuen verschiedenen Alters und verschiedener Jahres- zeiten untersuchen, was meinerseits nicht ausgeführt werden konnte. Neuerdings hat Oxner’) bei einer verwandten marinen Nemertine Oerstedia rustica Joubın einen beständigen Hermaphroditismus während des ganzen Jahres beobachtet. Wie die Befruchtung bei Stich. graecense vor sich geht, ist keinem Beobachter zu sehen geglückt. Selbstbefruchtung halte ich für sehr wahrscheinlich, da ein Exemplar ın Straßburg nach sechs- tägıgem Aufenthalt in einer kleinen Wasserdose Eier abgelegt hat, die sich entwickelt hatten und augenscheinlich befruchtet waren. Entwickelung. Über die Entwickelung der Süßwassernemertinen ist bis jetzt nur von Ohild®) für Stich. assensoriatum einiges mitgeteilt worden. 6) The Habits and Natural History of Stichostemma. American Naturalist, vol. 35, 1901. - ‘) Comptes Rend. Acad. Sciences Paris, 1909. Rimsky-Korsakow, Zur Biologie der Süßwassernemertine Stichost. graecense. 565 y 91079) Böhmig und Mräzec konnten die Tiere nicht zum Eierlegen bringen. Mir ist es gelungen, in einem Falle, wie oben erwähnt, entwickelungsfähige Eier zu erhalten. Am 20. Juli legte das Tier 104 Eier ab. Die Eier wurden an einem kleinen Stück Schilf an- geklebt, waren von Schleim umgeben und bildeten ein 1 cm langes Gelege, in welchem sie zweireihig angeordnet waren. Das Tier hatte wahrscheinlich seinen ganzen Vorrat von reifen Eiern auf einmal abgelegt. Die ganz undurchsichtigen kugeligen Eier sind von einer durch- sichtigen Hülle umgeben. Die Furchung verläuft fast äqual und führt zu einer regelmäßigen Blastula. Am nächsten Tage ıst der Embryo an der ganzen Oberfläche mit Cilien bedeckt und fängt bald an, rotierende Bewegungen auszuführen. Es bildet sich am ..® > > a > | | j \ / | / Ei mit reifem Ur j \ 7 Embryo, nach e Nr TBebannges Fig.5. Die Veränderung der Augen bei Ei S den jungen Stichostemma graecense. zeichnet, 9. Sau, 0 erde Zeiß B, Oc. 2. C — 22. VIII. dritten Tage eine zweite innere Hülle, die aus mehreren feinen Schichten besteht. Da die dotterreichen Eier, wie gesagt, undurch- sichtig sind, so können die inneren Entwickelungsprozesse an leben- den Eiern nicht beobachtet werden. Am Schluss der Embryonal- entwickelung ist der Dotter schon größtenteils verbraucht und der Embryo wird etwas durchsichtiger; man bemerkt alsdann den Darm- kanal und drei paar Augen; die zweı vorderen sind größer als das hintere. Die Embryonen fangen an, sich sehr stark auszustrecken und zusammenzuziehen und befreien sich schließlich von der inneren Hülle (Fig. 4). Die ganze Embryonalentwickelung dauert 6, 7 oder S Tage; die Tierchen schlüpften nämlich nicht alle auf einmal heraus. Während der Entwickelung gingen viele Eier infolge der Infizierung mit Pilzen und Bakterien zugrunde. Die eben ausge- schlüpften Nemertinen sind länglich-oval, am Hinterende zugespitzt, 0,5—0,7 mm lang und schwimmen sehr rasch im Wasser herum. Anfangs sind bei ihnen nur die Nebenstilete ausgebildet (je zwei 566 Rimsky-Korsakow, Zur Biologie der Süßwassernemertine Stichost. graecense. 0) N » 8 g beiderseits). Bald kommt die Stiletbasis zum Vorschein und end- lich bemerkt man auch das Hauptstilet auf der Basıs. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass eins von den Nebenstileten zum Hauptstilet wird, wie es auch Bürger für andere Metanemertinen beschrieben hat, obgleich ich den Prozess der Verlagerung des Stiletes nicht direkt beobachtet habe. An der Stelle, wo das Hauptstilet sich befindet, sind keine Zellen vorhanden, welche als Bildungszellen des Stilets angesehen werden könnten. Hier liegen nur einzellige Drüsen, deren Sekret die Stiletbasis liefert. Die Nebenstilete werden in besonderen Taschen (einzellige Drüsen) gebildet. Montgomery findet in den Neben- stilettaschen von Stich. eilhardi mehrere Kerne, bei Stich. graecense sind sie aber sicher einkernig. Somit schließe ich mich der Meı- nung Bürger’s an, dass die Nebenstilete der Metanemertinen als Ersatzstilete aufzufassen sınd. Die jungen Nemertinen lebten bei mir über einen Monat in kleinen Schalen. Während dieser Zeit verschmelzen allmählich die zwei vorderen Augenpaare miteinander, so dass die Tiere, die 1 mm lang sind, bloß vier Augen haben; das vordere Paar ist größer, das hintere kleiner (vgl. Fig. 5). Wie es schon oben erwähnt worden ist, besitzen die erwachsenen Tiere meistenteils drei Paar Augen, es bildet sich also von neuem das hintere Paar. An einem 1 mm langen Exemplare, welches in Aquarien aufgefunden worden war, konnte ich die Bildung eines hinteren Auges durch die Ab- trennung vom mittleren verfolgen. Die Abtrennung ist im Laufe einiger Tage vor sich gegangen. Eine ähnliche Teilung der Augen ist bei Polycladen (Lang) und Tricladen (Hesse) beobachtet worden. Die Embryonalentwickelung unserer Nemertine ist eine direkte und besitzt keine Anklänge an irgendeine Metamorphose. Bei der nahe verwandten Metanemertine Prostoma (Tetrastemma) vermeiculus schlüpft nach den Untersuchungen von Lebedinsky*®) aus dem Eı ein Embryo aus, der viel weniger entwickelt ist als bei Stich. grae- cense, ıhm fehlen noch die Augen und er ist am Vorderende mit einem Schopf von langen Cilien versehen (eine Reminiszenz an Pilidium). Bemerkenswert ist der Umstand, dass bei Prostoma vermieulus, während der postembryonalen Entwickelung drei Augen- paare angelegt werden. Da das fertige Tier aber bloß vier Augen besitzt, so muss man annehmen, dass eine Verschmelzung von zwei Augenpaaren auch hier, wie bei Stich. graecense stattfindet. Vorkommen und Lebensweise. Die ersten Exemplare der Nemertine wurden zufällig in Aquarien des Zoologischen Instituts zu Heidelberg, in welchen das Wasser 8) Bevbachtungen über die Entwickelung der Nemertinen. Arch. f. mikrosk. Anat., Bd. 49, 1897. Rimsky-Korsakow, Zur Biologie der Süßwassernemertine Stichost. graecense. 56% aus dem Neckar genommen wurde, aufgefunden. Später aber beim sorgfältigen Nachsuchen im Neckar (an der neuen Neckarbrücke) gelang es mir, die Tiere an der Unterseite der im Wasser am Ufer liegenden Steine zu entdecken. Es ist überaus schwer, die Tiere zu bemerken, da sie beim Herausnehmen der Steine aus dem Wasser als unscheinbare gelbliche oder rötliche Klümpehen erscheinen. Im ganzen fand ich zehn Exemplare, von welchen die meisten im August gesammelt worden sind. In Straßburg, wıe schon gesagt, fand ich die Nemertine in dem an verschiedenen Wassertieren überaus reichen Tümpel im Garten des Botanischen Instituts. Schon seit mehreren Jahren ist die Nemertine von dem Personal des Zoologischen Instituts mehrmals gefunden und sogar zu Demonstrationszwecken gebraucht worden. Durch den liebenswürdigen Hinweis von Prof. Goette auf die Nemertine aufmerksam gemacht, untersuchte ich genauer das Wasser mit verschiedenen Pflanzen (Schilf ete.), welches aus einer Stelle des Tümpels stammte, und mit Er- folge, da ıch ın der Zeit vom 7. bis zum ff 27. Juli 33 Exemplare von Stich. graecense gesammelt habe. Am leichtesten sind die- jenigen Exemplare zu bemerken, die an der Oberfläche und an den Wänden des Wasser- behälters erscheinen. Es ist mir aber auch Ki 6. EN gelungen, die Tiere an den Pflanzen zu gezeichnet. Zeiß B, Oec. 2. finden, an welchen sie sich wahrscheinlich e — ausgeschiedene Exkre- auch ım Freien aufhalten. Es sind nämlich mente. modernde Schilfstengel und Blätter. Auch in diesem Falle muss man äußerst sorgfältig die Pflanzen durch- sehen, um die denselben an Farbe ähnlichen Tiere zu bemerken, Die Tiere können gut auch in ganz kleinen Wasserbehältern längere Zeit leben. Es kommt aber oft vor, dass die Tiere aus dem Wasser herauskriechen, auf den Wänden des Behälters ver- weilen und bald eintrocknen. Diese negative Hydrotaxis ist hier also den Tieren lebensgefährlich; worin der Grund, dass sie über- haupt das Wasser verlassen, liegt und weshalb sie nicht zurück ins Wasser kriechen, bleibt ganz unverständlich. Was die Ernährung von Stich. graecense anbetrifit, so habe ich bis jetzt ın dieser Beziehung keine Erfahrung gemacht. Böhmig sagt, dass er ım Magen des Tieres Reste von Copepoden u. dgl. gefunden hatte. Auch Mräzec gibt zwei Tubificidenarten als Nah- rung von Stich. graecense an. Ich habe aber nie ım Darme irgendwelche Reste von Tieren gefunden und auch nicht gesehen, wie das Tier seine Beute er- hascht und verzehrt. Niemals ist mir ein Tier mit ausgestülptem 568 Rimsky-Korsakow, Zur Biologie der Süßwassernemertine Stichost. graecense. Rüssel aufgefallen. Für Stich. (Emea) lacustre beschreibt du Plessis?) sehr ausführlich, wie die Tiere den Rüssel ausstrecken, die Beute fangen und sie aussaugen. Mräzec hat die Zysten von Stichostemma beschrieben. Ich habe ebenfalls die Zysten beobachtet und da keine Abbildung der- selben vorliegt, so gebe ich eine solche (Fig. 6). Geographische Verbreitung. Durch den Fund von Stich. graecense in dem Bache Rokytka bei Prag durch Mräzec sowie durch den meinigen im Neckar ist die frühere Meinung von der möglichen Einschleppung der Stich. graecense aus irgendeiner (tropischen) Gegend endgültig widerlegt. Was das Vorkommen der Nemertine im Teiche des Botanischen Instituts in Straßburg anbelangt, so muss auch in diesem Falle ange- nommen werden, dass die Nemertine hier nicht eingeschleppt worden ist. Der Tümpel stammt nämlich aus einem ehemaligen Festungs- graben, der in Verbindung mit dem Flusse Ill (Nebenfluss vom Rhein) stand. Es ist daher höchstwahrscheinlich, dass die Nemertinen auch im Ill vorkommen; der Umstand aber, dass sie da bis jetzt nicht aufgefunden worden sind, steht wohl im Zusammenhange mit den Schwierigkeiten, die Nemertinen in Flüssen aufzusuchen. Das Leben in den Tümpeln mit reichem Pflanzenwuchs_ ist augenscheinlich für die Nemertine viel günstiger; sie pflanzt sich hier verhältnismäßig stark fort und ist daher leichter zu finden als in den Flüssen. Vermutlich kommt Stich. graecense auch im Rhein vor. In der Schweiz ist eine andere Art, Stich. lacustre du Plessis, im Genfersee, Zürichersee und in Mooren bei Basel verbreitet. Es wäre sehr interessant, die geographische Grenze zwischen den beiden Arten festzustellen. Zykow!®) hat eine Nemertine in der Wolga bei Saratow ge- funden, welche seiner Meinung nach auch Stich. graecense ist. Außerdem glaube ich behaupten zu können, dass die in mehreren Orten Deutschlands und Frankreichs gefundene Stich. clepsinoides Ant. Duges'') sehr wahrschemlich mit Stich. graecense 1dentisch ist. Die Beschreibungen von Stich. (Prostoma) clepsinoides, die ın der Literatur vorliegen, sind äußerst mangelhaft. Als das einzige Unterscheidungsmerkmal von Stich. clepsinoides wird angegeben, dass die Geschlechter getrennt seien. Nun habe ich oben erwähnt, wie schwer es ist, bei Nemertinen festzustellen, ob wir mit einem hermaphroditischen Tier zu tun haben oder nicht. Ohne Sehnitt- methode kann man Geschlechtsverhältnisse bei Stichostemma eigent- 9) Organisation et genre de vie de l’Emea lacustris. Revue Suisse de Zoologie, un t. 1, 1893. 10) Über die Nemertine des Wolgaflusses bei Saratow. Zool. Anz. 1901, Nr. 689. 11) Annales d. Sciences Natur., v. 15, 1828 und v. 21, 1830. Viehmeyer, .Ontogenetische und phylogenetische Betrachtungen etc. 569 lich gar nicht erkennen. Alle Angaben über die Getrenntgeschlecht- lichkeit von Stieh. clepsinoides sind aber ohne Schnittmethode ausgeführt worden, da sie meistenteils von alten Autoren stammen. Falls die Richtigkeit meiner Voraussetzung sich herausstellen würde (es kann nur durch das Auffinden von Stich. graecense in den für Stich. clep- sinoides angegebenen Orten geschehen), so hätten wir in Stich. graecense eine Art, welcher eine sehr weite geographische Verbrei- tung zukommt. Weiteres Nachsuchen der Nemertinen in verschie- denen Flüssen, Seen und Teichen wird überhaupt vermutlich er- geben, dass unsere Tiere keine so seltene Erscheinung ım Süß- wasser sind, wie man gewöhnlich annimmt 2). Die Frage nach der Abstammung von Süßwassernemertinen ist von Montgomery!) und de Guerne (op. cit.) besprochen worden. Dass die Süßwasserformen von den marınen abstammen, ist natür- lich ohne weiteres anzunehmen; und zwar ist es wahrscheinlich, dass die Vertreter der artenreichen marinen Gattung Prostoma (Tetrastemma) als Vorfahren der Stichostemma-Arten angesehen werden können. Sind nun die Vertreter der Gattung Stichostemma als Relikten oder als Eindringlinge in die Süßwasserbecken anzusehen ? Diese Frage ist natürlich nicht leicht zu beantworten; für Stieh. graecense muss sie, meiner Ansicht nach, ım letztgenannten Sinne entschieden werden, da Reliktennatur der Wasserbecken, in welchen Stich. grae- cense vorkommt, nicht angenommen werden kann. Die Fähigkeit der Enzystierung kann eine gewisse Rolle in der passiven Ver- breitung der Nemertine spielen. St. Petersburg, den 17. März 1910. Ontogenetische und phylogenetische Betrachtungen über die parasitische Koloniegründung von Formica sanguinea. Von H. Viehmeyer, Dresden. Seitdem im Jahre 1905 von Wheeler und Wasmann der temporäre Parasitismus der Formica-Arten consocians und truncicola nachgewiesen worden ist, mühen wir uns, die Gründungsgeschichte der Kolonien von F. sanguinea klarzustellen. Man kann nicht be- 12) Nach einer mündlichen Mitteilung von Prof. F. Doflein ist auch in der Umgegend von München eine Nemertine (möglicherweise ebenfalls Stich. graecense) in einem Tümpel gefunden worden. Ich möchte noch zufügen, dass in der neulich erschienenen „Süßwasserfauna Deutschlands‘‘, herausgeg. von A. Brauer (Heft 19, Nemertini, von R. Hartmeyer, 1909) keine weiteren Angaben über das Auffinden von Süßwassernemertinen in Deutschland vorliegen. (Zusatz bei der Korrektur.) 13) The Derivation of the Freshwater and Land Nemerteans and allied Questions. Journal of Morphology, v. X, 1895. 570 Viehmeyer, Ontogenetische und phylogenetische Betrachtungen ete. haupten, dass dieses Mühen ganz vergebens gewesen ist; zu voll- kommen sicheren und eindeutigen Ergebnissen hat es aber bis jetzt noch nicht geführt. Zweifellos ist heute nur eins: die Unmöglich- keit der selbständigen Koloniegründung von F. sanguinea. Vom Hochzeitsfluge kommende junge Weibchen, die man einzeln in kleinen, mit feuchter Erde beschickten Gläschen hält, sterben regel- mäßıg nach kürzerer oder längerer Frist, ohne zur Koloniegründung gekommen zu sein. Reste der zur selbständigen Koloniegründung gehörigen Instinkte sind allerdings bei ihnen noch zu erkennen. Die Weibchen beschäftigen sich mit Erdarbeiten, aber ihre Tätigkeit macht den Eindruck des Planlosen. Ganz selten nur kommt es zur Eiablage. Die Eier werden an irgendeiner Stelle des Behält- nisses verloren und entweder vernachlässigt oder gefressen. Auch die auf die Pflege der ersten Stadien der Brut bezüglichen Instinkte sind noch nicht völlig erloschen. Ich sah, dass ein sanguinea- Weibchen bei einer Störung zwei am Vortage gelegte Eier ergriff und in den Kiefern forttrug. Dass alle diese Instinktrudimente aber nicht zur Aufzucht der eigenen Brut ausreichen, beweisen meine Versuche mit ganz jungen sanguinea- und fusca-Larven, die ich befruchteten Weibchen der Raubameisen zur Pflege gab. Die Weibchen kümmerten sich nicht um sie oder betrachteten sie als Beutetiere und fraßen sie auf. Anders verhielten sie sich halb- und ganzerwachsenen Larven gegenüber; diese wurden regelrecht eingebettet. Die fertigen Puppen wurden aber bei weitem nicht mit der Sorgfalt behandelt, die wir an den Weibchen der Arten mit selbständiger Koloniegründung wahrnehmen. Von einer eigent- lichen Brutpflege kann also bei den Weibchen von F\ sangwinea keine Rede sein. Morphologisch findet diese Untüchtigkeit zur Aufzucht der eigenen Brut ihren Ausdruck in der relativ geringen Größe der Weibchen und dem sehr wenig umfangreichen Hinterleibe. Die abhängige Koloniegründung ıst damit für F. sangwinea sichergestellt; es fragt sich nur, in welcher Form sıe vor sich geht. Drei Arten der Koloniegründung von F, sanguinea. In Analogie von F. consocians und truneicola schrieb man den Weibchen von F. sanguinea zunächst das Verfahren der temporär parasitischen Arten zu. Die befruchteten Weibchen sollten also ın könıginnenlose fusca- oder rufibarbis-Kolonien eindringen und von den fremden Arbeitern adoptiert werden. Wheeler’s!) und meine?) Experimente schienen dieser Auffassung zu widersprechen. Nach ihnen hatten die sangwinea-W eibehen genau denselben räuberischen I) On the Founding of Oolonies by Queen Ants. Bull. Am. Mus. of Nat. Hist. New-York 1906, Vol. XXII, Art. IV, pp. 33—105. 2) Zur Koloniegründung der parasitischen Ameisen. Biol. Centralbl. XXVIII, Nr. 1, 1908. Viehmeyer, Ontogenetische und phylogenetische Betrachtungen ete. 51 Charakter, wie er sich durch die bekannten Sklavenjagden bei den Arbeitern der Art dokumentiert. Die Weibchen drangen in die kleinen Versuchskolonien ein, raubten die Puppen und töteten die Arbeiter. Von Adoptionsneigungen war nichts zu bemerken. Das Hauptinteresse der sanguinea-Weibchen war gar nicht den Arbeitern, sondern den Puppen der Sklavenart zugewandt, die sie ihren recht- mäßıgen Besitzern abnahmen, sammelten, bewachten, und gegen die Angriffe ihrer früheren Eigentümer verteidigten. Leider geben uns die Beobachtungen in freier Natur nur wenig Anhaltspunkte zur Klärung der Streitfrage. In nur ganz verein- zelten Fällen ist es uns gelungen, frisch gegründete Kolonien von F, sanguinea aufzufinden, und es geringe Beobachtungsmaterial lässt nicht einmal eine eindeutige Erklärung zu. Wasmann?) berichtet, I die jüngsten sanguinea-Kolonien, die er während 16 Jahren “e Exaeten fand, stets eine beträchtliche Anzahl alter fusca-Arbeiterinnen, aber keine fusca-Kokons mehr be- saßen. Die jüngste Kolonie (23. Mai 1889) enthielt etwa 90 fausca und nur 5 frischentwickelte sangarinea mit der Königin der letzteren“. Von einem anderen Funde sagt er*): „Am 15. September 1887 fand ich, ebenfalls bei Exaeten, eine kleine sanguinea-fusca-Kolonie, in welcher die sanguinea-Arbeiterinnen höchstens 100, die fausea-Ar- beiterinnen, lauter sehr große und schöne Individuen, etwa 200 betrugen. Die Königin war ein sanguinea-Weibchen, die sanywinea- Arbeiterinnen durchschnittlich klein und teilweise noch unausgefärbt, die fusca dagegen sämtlich vollkommen ausgefärbte alte Individuen.“ Bei der Bewertung dieser Beobachtungen ist zunächst in Rech- nung zu stellen, dass sie zu einer Zeit gemacht worden sind, als man sich noch nicht mit der abhängigen Koloniegründung von sanguinea beschäftigte. Es ist daher leicht möglich, dass in den Tagebuchnotizen das eine oder das andere für die Erklärung wert- volle Momente nicht die Würdigung fand, die ihm heute zuteil werden müsste. Das Schwergewicht ruht auf der großen Zahl und dem Alter der fusca-Sklaven. liegt hier kein Irrtum vor, so muss ich Was- mann beistimmen, wenn er glaubt, dass diese Kolonien durch Adoption der sanguinea-Weibchen bei fusca entstanden sind. Aller- dings denke ich mir die Adoption so, dass die sangwinea-W eibehen in einer vollständigen fusca-Kolonie Aufnahme fanden, dort das Weibchen töteten und sich an seine Stelle setzten. Nun zeigen aber meine Experimente vom Jahre 1908 deutlich, dass auch noch eine andere Möglichkeit der Koloniegründung be- 3) Weitere Beiträge zum sozialen el und der Sklaverei bei den Ameisen. Biol. Centralbl. XXVIII, 1908, p. 37 4) Ursprung und Entwickelung der an bei den Ameisen. Biol. Centralbl. XXV, 1905, p. 203. 572 Viehmeyer, Ontogenetische und phylogenetische Betrachtungen etc. steht, nämlich die durch Puppenraub. Die Weibchen dringen in kleine Kolonien oder Koloniefragmente von F. fusca (rufibarbis) ein, rauben einige Puppen und erziehen sich daraus Hilfsameisen, mit deren Unterstützung dann die sanguwinea-Brut aufgezogen wird. Noch heute erfreut sich eine der vielen im Versuchsneste auf diese Weise erzielten Kolonien in meinem Garten des besten Wohlseins. Sie war kurz nach dem Ausschlüpfen der fusca-Arbeiterinnen in Freiheit gesetzt worden, überwinterte gut und gedieh ohne irgend- welche Unterstützung (Puppengaben)’). Wie ich schon letzthin her- vorgehoben habe, schätze ich die Beweiskraft unserer Experimente nicht allzuhoch ein. Bei dem mehr oder weniger hypothetischen Charakter dieser Auseinandersetzung muss aber doch auch diese Möglichkeit erwogen werden, zumal sie dem Charakter der Art am meisten entspricht. Zu betonen ist, dass bei dieser Form der Koloniegründung die Beobachtung in der freien Natur stets ver- sagen muss, da hinterher kaum festgestellt werden kann, ob die älteren Arbeiterinnen der Hilfsameisen aus geraubten Puppen stammen oder ob sie die Königin adoptierten. Kürzlich habe ich diesen beiden Formen der Koloniegründung eine dritte zugesellt‘). Das befruchtete sanguinea-Weibchen gesellt sich zu einem ebensolchen fasca- oder rufibarbis-Weibchen, das die beiderseitigen Gelege aufzieht. Hat die Brut das Puppenstadium erreicht, so tritt eine Separierung der Kolonien ein. Die Beobach- tungsgrundlagen für diese neue Hypothese sind zwei ganz junge sanguinea-Kolonien, die eine mit rufibarbis, die andere mit fusca als Hilfsameisen. In beiden Fällen war die Zahl der Arbeiterinnen, namentlich gegenüber den Wasmann’schen Beobachtungen außer- ordentlich gering, ihre Größe auffallend klein und die Herrenart nicht jünger, bei der einen Kolonie sogar ca. 14 Tage älter als die Sklavenart. In der sangwinea-fusca-Kolonie war noch das fusca- Weibchen vorhanden. Der Hinweis auf das Alter der Hilfsameisen genügt alleın, um zu erkennen, dass hier weder von Adoption noch von Puppenraub die Rede sein kann. Die einzige mir mögliche Erklärung ist eben die Allianz der Weibchen. Ich habe in verschiedenen Experimenten mit Erfolg versucht, sanguinea- und fusca-Weibchen zu alliieren und will hier nur einige Worte zur weiteren Charakterisierung dieser Allianz hinzufügen. Das Benehmen der sangsinea-Weibehen glich fast durchaus dem be- fruchteter Weibehen von truneicola unter fusca-Arbeiterinnen; es unterschied sich von ihm nur dadurch, dass die sangwinea nicht 5) Über das weitere Schicksal der Kolonie siehe Nachtrag p. 579. 6) Beobachtungen und Experimente zur Koloniegründung von Formica san- guinea Latr. Zeitschr. f. wiss. Insektenbiol. V, 1909. Heft 11 u. 12. Viehmeyer, Öntogenetische und phylogenetische Betrachtungen ete. 573 ganz so duldsam gegen die Angriffe der feusca-Weibchen waren. Hinter aller Friedlichkeit schien doch immer die überlegene Kraft zu stehen, die durch zu starke Abwehr herausgefordert, dem san- guinea-Weibchen naturgemäß zum Siege verhelfen musste. Der schließliche Friede beruhte also bei den beiden Alliierten nicht auf vollkommen gleicher psychologischer Basis. Die offenbare Stärke gab dem Gebahren der sanguinea etwa das eines siegreichen, aber großmütigen Feindes; die Ohnmacht der frsca prägte ihrem Benehmen eine gewisse Hilflosigkeit und Ergebung in das Unabänderliche auf. Dieses eigentümliche Verhältnis kam auch sehr deutlich darin zum Ausdruck, dass Beleckungen, überhaupt Liebkosungen, nur von seiten der sanguinea wahrgenommen wurden, die fusca verhielten sich ganz passiv. Leider ist es mir bis jetzt noch nicht gelungen, die Versuche bis zur Separierung der Kolonien fortführen zu können. Bei meinem letzten Experimente starb das sangwinea-Weibchen, als fünf Puppen fertig waren. Die Todesursache war nicht zu ermitteln. An der Brutpflege hatte das Raubameisenweibchen nicht teilgenommen. Es hielt sich gewöhnlich außerhalb, aber ın nächster Nähe des kleinen Erdloches auf, ın dem das fusca-Weibchen seinen Pflichten oblag. Bei Störungen verschwand es schleunigst unter der Erde. Als die ersten Puppen fertig waren, trat eine Änderung in dem Verhalten des sanguinea-Weibchens insofern ein, als es von jetzt ab öfter als bisher in dem gemeinsamen Neste weilte. Niemals aber sah ich beide Weibchen Leib an Leib gedrückt, wie es vor der Eiablage recht häufig, während der Brutpflege seltener zu be- merken war. Immer saßen sie, durch das Puppen- und Larven- häufchen getrennt, einander gegenüber. Fusca hatte den hinteren Teil des Erdloches, sanguinea den vorderen besetzt. Streitigkeiten habe ich nicht bemerkt. Eine Änderung in dem gegenseitigen Ver- halten war aber unverkennbar auch aus der großen Ängstlichkeit zu schließen, mit der das fusca-Weibchen jede Berührung mit dem von sanguinea vermied. Öfter fand ich auch das Puppenlager in zwei getrennte Häufchen gesondert, deren jedes von einem Weib- chen bewacht wurde. Die Trennung ist wohl von sangwinea aus- gegangen; denn sowie das Raubameisenweibchen seine Puppen auf einen Augenblick verließ, versuchte fzsca dieselben den ihrigen wieder hinzuzufügen. Allem Anscheine nach stand also die Sepa- rıerung der beiden Kolonien nahe bevor. Nach dem Tode der sanguinea wurde das fusca-Weibehen recht lebendig. Leider fraß es aber einige Tage später zwei Puppen auf, ohne dass es mir fest- zustellen möglich war, welcher Art sie angehörten. Die Artange- hörigkeit der übrigen drei Puppen steht noch aus’). 7) Siehe Nachtrag p. 580. 574 Viehmeyer, Ontogenetische und phylogenetische Betrachtungen ete. Nach unseren bisherigen Erfahrungen müssen wir also drei verschiedene Möglichkeiten der Koloniegründung von f. sangwinea annehmen: durch Adoption, durch Puppenraub und durch Allianz mit darauffolgendem Puppenraube. Diese drei Formen der ab- hängigen Koloniegründung folgen aber nicht derart aufeinander, dass eine die andere ablöst, sie sind auch nicht direkt auseinander entstanden, sondern wir haben in ihnen augenscheinlich nichts anderes zu sehen als Anpassungen an die jeweiligen Verhältnisse, in denen sich die zur Koloniegründung benötigten Hilfsameisen befinden. Die befruchteten Weibchen von sangwinea brauchen zur Grün- dung ihrer Kolonien die Hilfe der fusca oder rufibarbis. Welchen Weg sie bei der Koloniegründung einschlagen müssen, hängt von den Hilfsameisen ab. Treffen die Raubameisenweibchen auf eine schwache Hilfsameisenkolonie mit Puppen, so gelingt es ihnen wohl auch heute noch, durch Raub einige Puppen in Besitz zu bekommen, die sie zu Ammen ihrer zukünftigen Brut erziehen. Meinen Be- obachtungen nach scheint der Hochzeitsflug von sangwinea etwas später als der von fzusca stattzufinden. Es ist daher leicht möglich, dass die Raubameisenweibchen schon erste Kolonieanlagen von fusen fanden, deren Brut bereits bis zum Puppenstadium gelangt war. Hier war die Beraubung natürlich sehr leicht. Andere noch nicht so weit gediehene Kolonieanfänge der Hilfsameisen gaben keine Möglichkeit mehr zum Puppenraube. Den Weibchen dieser Kolonien zwangen die Raubameisen ihre Gegenwart bis zu dem Zeitpunkte auf, wo deren Larven zur Einbettung kamen und be- raubten sie dann. Daraus mag sich allmählich die Gewohnheit entwickelt haben, sich dem Weibchen der Hilfsameisen zu alliieren und ihm die Aufzucht der eigenen Eier ın Gemeinschaft mit den- jenigen der Sklavenart zu überlassen. Wesentlich anders liegen die Verhältnisse, wenn die sangwinea- Weibchen auf eine starke Kolonie von Hilfsameisen stoßen. Der Puppenraub hat hier keine Aussicht auf Gelingen. Die Weibchen müssen darum ganz andere Wege gehen und auf friedlichem Wege zu erreichen suchen, was die Kraft nicht mehr erzwingen kann. Vorbereitet mag die Koloniegründung mittelst Adoption durch die Allianzbestrebungen sein. Andererseits liegt in der Überzahl der Hilfsameisen ganz allein schon eine psychologische Nötigung zu einem anderen Verhalten der Weibchen, so dass die Koloniegründung durch Adoption den anderen beiden Arten gegenüber nicht gar so inzigartig dasteht. Wir müssen jetzt noch die Frage erörtern, wie sich die Phylo- genie der parasitischen Koloniegründung von F. sanguinea gestaltet. Viehmeyer, Öntogenetische und phylogenetische Betrachtungen etc. 975 Zur Phylogenie der parasitischen Koloniegründung von ‚v . sun guinea. Wasmann vertritt bekanntlich den Standpunkt, dass die Raub- staaten von F! sanguinea ontogenetisch und phylogenetisch aus Adoptionskolonien hervorgegangen sind. Er leitet F. sanguwinea von F. rufa ab, wenigstens sollen die Raubameisen ein rıfa-ähn- liches Stadium durchgemacht haben. Die Schweizer Beobachtungen Wheeler’s®) lassen kaum einen Zweifel darüber, dass rufa ihre Beie. nien durch Adoption gründet; sie ıst also gleich ihren beiden Rassen: pratensis und truncicola eine temporär parasitische Art. Diese Ab- leitung der sangwinea von parasitischen Vorfahren benutzt Was- mann erstens, um eine psychologische Erklärung für die Entstehung der Sklaverei zu geben und zweitens, um die Entstehung des sozialen Parasıtismus bei den Raubameisen zu begründen. Schon Darwin’) hat versucht, die Entwickelung des eigen- artigen Sklavereiinstinktes zu erklären. Er meint, dass die Puppen ursprünglich nur als Futter eingetragen wurden. Als sich aber die zufällig aufgezogenen fremden Ameisen der Kolonie als nützlich erwiesen, wurde die Gewohnheit, Puppen als Futter einzusammeln, durch die natürliche Zuchtwahl see. und für den Zweck, ae zu erziehen, abgeändert und dauernd befestigt. Wasmann!®) betont dagegen, dass aus dem zufälligen Vor- kommnis der Aufzucht fremder Puppen kein erblicher Instinkt ent- stehen könne, weil die Königinnen der Kolonien an der Ausübung des neuen Instinktes nicht teilnahmen, ihn also auch nicht vererben konnten. Eine indirekte Selektion durch Auswahl jener Kolonien, in deren Keimesanlage die Fähigkeit zur Erziehung von Arbeiterinnen, welche die neuen Instinktanlagen besaßen, zufällig vorhanden war, seı zu umständlich und zu weit hergeholt. Seiner Ansicht nach wurde der Grund für den Sklavereiinstinkt in dem r«fa-ähnlichen Adoptionsstadium gelegt. In diesem hypothetischen Stadium der unselbständigen Koloniegründung erwarben die sanguinea erst die instinktive Neigung, Arbeiterpuppen eben jener fremden Ameisen- arten zu rauben und aufzuziehen, mit deren Hilfe sie ihre Kolonien heute gründen. Nun ist aber die Aufzucht fremder Puppen in den Kolonien der Raubameisen durchaus kein zufälliges Ereignis, sondern mit Naturnotwendigkeit durch die aufblühenden räuberischen Gewohn- heiten gegeben. Die Überfülle der zu Ernährungszwecken geraubten 8) Observations on some European ants. ‚Journ. New-York, Gent. Soc. XVII, Nr. 4, Dezember 1909. 9) Entstehung der Arten, Reclam, p. 350. 10) Ursprung und Entwickelung ....., p. 120 u. 281. — Weitere Beiträge. p. 439. — Über den Ursprung des sozialen Parasitismus, der Sklaverei und der Myrmekophilie bei den Ameisen. Biol. Centralbl. XXIX, 1909, p. 626. 576 Viehmeyer, Ontogenetische und phylogenetische Betrachtungen etc. Brut drängte ganz von selbst zu der Aufzucht. Ermöglicht wurde sie durch die nahe Verwandtschaft von Räubern und Beraubten, die ein Übergreifen der Brutpflegeinstinkte auf die im Neste aus- schlüpfenden fremden, aber verwandten Arbeiterinnen als sehr naheliegend und durchaus den natürlichen Verhältnissen nicht wider- sprechend erscheinen lässt. Weiter nahmen die Königinnen von F. sanguinea ursprünglich zweifellos an den Raubzügen ihrer Kolo- nien teil, darauf weisen die noch heute bei ihnen vorhandenen und ausgeübten räuberischen Instinkte hin. Die Weibchen der Raub- ameisen waren also sehr wohl imstande, den neuerworbenen Sklaverei- instinkt zu vererben. Endlich hat Wasmann!!) es nicht jederzeit für nötig gefunden, die Entstehung der Sklaverei aus parasitären Gewohnheiten abzuleiten, denn bei Harpagoxenus soll, wie auch er annimmt, der Puppenraub aus diebischen und räuberischen Ge- wohnheiten direkt und ohne Vermittlung eines Adoptionsstadiums entstanden sein. Wir haben also durchaus nicht nötig, den Sklavereinstinkt von F. sanguinea auf einen früheren temporären sozialen Parasitismus zu gründen, und wäre er auch nur ein fakultativer. Wir können vielmehr Darwin ruhig zustimmen; die ursprünglich räuberischen Gewohnheiten der Art genügen vollkommen, um die Entstehung der Sklaverei begreiflich zu finden. Auch für die Entwickelung des sozialen Parasitismus bei F'. san- guinea ıst ein vorausgegangenes r«ufa-ähnliches Stadium durchaus un- nötig. Der soziale Parasıtismus ist zweifellos eine Degenerationserschei- nung und als solche charakterisiert durch einerelativ schwächliche und kleine Körperkonstitution der betreffenden Weibchen und durch den Mangel der normalen Brutpflegeinstinkte. Überall also, wo dieser soziale Parasitismus auftritt, haben wir es mit einem Herabsinken der Art zu tun, auch dort, wo, wie bei F! sangwinea und Polyergus, das Räuberhandwerk und die Sklaverei noch in der Aufwärtsbewegung begriffen, resp. auf dem Höhepunkte angelangt sind. Alle diese Arten sind durch die bei der Koloniegründung zutage tretende un- bedingte Abhängigkeit von ihren Hilfsameisen in ihrer Ausbreitung stark gehemmt, und je weiter diese Abhängigkeit fortschreitet, desto weniger Aussicht haben sie, ihre Art zu erhalten. Sie sind unrett- bar dem Aussterben verfallen. So angesehen, wäre vielleicht die Zweigkoloniebildung von F. rufa nicht als eine Einrichtung anzu- sehen, aus der der soziale Parasitismus der Art resultiert, sondern vielmehr darin ein Mittel zu erkennen, dem Verfalle zu begegnen oder doch die Weiterentwickelung zu sichern. Das sind natürlich müßige Betrachtungen, die eigentlich nur den Zweck haben, zu zeigen, dass auch andere Auffassungen möglich sind. 11) Über den Ursprung ..., p. 632. Viehmeyer, ÖOntogenetische und phylogenetische Betrachtungen etc. 577 Ich kann mir auch nicht denken, dass an der Definition des sozialen Parasitismus als einer Degenerationserscheinung etwas ge- ändert wird, wenn man ihn als äußerst gering ansieht, wie Was- mann?) dies bei seiner hypothetischen r«fa-ähnlichen Vorstufe für F. sangwinea tut. Der Parasitismus kann nie so unbedeutend werden, dass er kein Parasitismus mehr ıst. Die räuberischen Ge- wohnheiten der sanguinea geben einen viel besseren und natür- licheren Anknüpfungspunkt für die Entwickelung ihres sozialen Parasitismus, als das Zurückgreifen auf die Zweigkolonien von F. rufa. Haben wir die Sklaverei allein auf die Raubinstinkte der Art gegründet, so ist es ganz selbstverständlich, dass wir auch die parasitären Gewohnheiten mit diesen in Zusammenhang bringen müssen. Die Sklaverei ıst die Ursache des sozialen Parasitismus und nicht umgekehrt. Ganz allgemein betrachtet scheint es schon wenig einleuchtend, dass ein werdender Parasıt der Ahne eines Räubers sein soll. Nach Handlirsch'?) dürfte allerdings eine derartige Ableitung keine besonderen Schwierigkeiten machen, obwohl er das Ungewöhnliche derselben dadurch betont, dass er sagt, sie scheine auf den ersten Blick absurd. Er selbst lässt ja die höchststehenden Hymenopteren aus den Ichneumoniden entstehen, deren Larven ausschließlich parasitisch leben. „Es erscheint mir der Ableitung der höheren Hymenopteren aus tiefstehenden phytophagen durch Vermittlung parasitischer Formen vom biologischen Standpunkte kein Hindernis entgegenzustehen ... .“ Meines Erachtens besteht hier aber noch ein großer Unterschied. Bei uns handelt es sich um den Para- sitismus der Imago, bei Handlirsch um den der Larven. Der Parasitismus der Larven hat aber mit dem des Insekts absolut nichts zu tun. Wir wissen, dass die Larven sich relativ unabhängig von den Imagines durch Anpassungen an besondere Lebensverhältnisse entwickelt haben!*.. Der Parasitismus der Ichneumonidenlarven ist also ein sekundärer, der meiner Ansicht nach für die Phylogenie der höheren Hymenopteren bedeutungslos ist und gleich gar nicht in Betracht kommt, wo es sich, wie hier, um den sozialen Para- sitismus der Formiciden handelt. Übrigens soll die Urform der Ameisen auch nach Handlirsch eine räuberische gewesen sein, er lässt die Formiciden sich aus scoliidenähnlichen Formen entwickeln. Mir scheint, ganz abgesehen von der längst anerkannten Ableitung der Ameisen von den Mutilliden, die Annahme von räuberischen Vorfahren der Ameisen schon allein um deswillen richtig, weil da- mit der hervorstechendste Charakterzug der Ameisengesellschaften 12) Über den Ursprung ..., p- 590 in seiner Entgegnung an Emery. 3) Die fossilen Insekten, Leipzig 1906—1908, p. 1282. 14) Vergleiche hierzu: Deegener, Die Metamorphose der Insekten, Leipzig und Berlin 1909, XXX. 3 578 Viehmeyer, Öntogenetische und phylogenetische Betrachtungen etc. getroffen wird. Damit wäre nun freilich für die Vorfahren von F. sangwinea noch nichts bewiesen. Welchen Aufschluss gibt uns nun die Ontogenie der Kolonie- gründung von F. sangwinea hierüber? — Wir haben drei ver- schiedene Wege der Koloniegründung kennen gelernt. Alle drei sind Anpassungen an die unselbständige Koloniegründung, also Ent- wickelungsstufen des sozialen Parasitismus bei F. sanguwinea. Ob- wohl den sangwinea-Weibchen heute noch jeder dieser Wege offen zu stehen scheint, zeigen die drei Arten der Koloniegründung uns doch, wie die phylogenetische Entwickelung des sozialen Parasitis- mus bei den Raubameisen verlaufen ist und welchem Ziele sie zu- strebt. Die ursprünglichste Form der Koloniegründung ist offenbar die durch Puppenraub, weil hier noch die der Art eigentümlichen primären räuberischen Instinkte überwiegen. Dann folgt die Ver- bindung des Puppenraubes mit vorausgehender Allianz. Diese Stufe entspricht schon einer weitergehenden parasitischen Degeneration. Die sanguinea-Weibchen erscheinen als relativ schwächliche Wesen, die den Puppenraub nur noch unter gewissen Bedingungen auszu- üben vermögen, wenn nämlich an Stelle der Arbeiterinnen eine durch die aufgezwungene Allianz eingeschüchterte Königin der Hilfs- ameisen tritt. Die dritte Stufe ist die der Adoption mit Tötung der Königin der Sklavenart, also der vollkommene temporäre soziale Parasıtismus, wie ıhm F\. rufa, pratensis, truncicola und jedenfalls auch Polyergus huldigen. Dass auch die Amazonenameisen, wenig- stens bei uns, ihre Kolonien durch Adoption gründen, darauf scheint mir vor allem Emery’s') Polyergus-Experiment zu deuten, dann aber auch die Tatsache, dass der ganze Charakter der Amazonen- weibchen mehr an F\. truncicola als an F. sangwinea erinnert. Bei der Koloniegründung durch Adoption kommen, entsprechend der wieder weiter fortgeschrittenen parasitischen Entartung, die Raub- instinkte der sangwinea-Weibehen überhaupt nicht mehr zur Geltung. Phylogenetisch entsprechen also die Wege der Koloniegründung den verschiedenen Stufen des sozialen Parasitismus, ın denen F. sangwinea abwärts schreitet. Die Adoption ist gegenüber den beiden anderen die tiefste Stufe, die der soziale Parasitismus bei I, sanguinea erreicht hat. Sie steht am Ende der Entwickelung, nıcht etwa am Anfang. Fassen wir die Hauptpunkte unserer Betrachtung noch einmal zusammen: 1. F. sanguinea ist ursprünglich eine Raubameise, ihre Sklaverei und ıhr sozialer Parasitismus sind direkt aus ihren räube- rıschen Gewohnheiten, nicht aus einem vorausgegangenen Adoptionsstadium zu erklären. 15) Nuove osservazioni ed esperimenti sulla Formica Amazzone. R. Acc. Sc. 3ologna 1909. Viehmeyer, Öntogenetische und phylogenetische Betrachtungen ete. 579 2. Sie gründet ihre Kolonien auf drei verschiedene Arten: durch Puppenraub, durch Allianz mit darauffolgendem Puppenraub und durch Adoption. 3. Ontogenetisch erscheinen diese drei Formen der abhängigen Koloniegründung als Anpassungen an die jeweiligen Verhält- nisse, in denen sich die zur Koloniegründung benötigten Hilts- ameisen befinden. 4. Phylogenetisch entsprechen sie den Stufen, in denen die Degene- ration (der soz. Parasitismus) von F\. sangwinea fortschreitet. Nachtrag. Bedauerlicherweise trifft die Korrektur dieser Arbeit mit dem Erscheinen von Wasmann'’s „Nachträgen zum sozialen Parasitismus“ zusammen, Es wäre mir lieb gewesen, Wasmann hätte meine Darlegungen lesen können, vor allem die Begründung meiner Auf- fassung der Phylogenie von Formica sanguinea; er würde dann ge- sehen haben, dass ich mich durchaus nicht allein auf das theo- retische Axiom: ein Parasıt kann nie ein Räuber werden, stütze, sondern meine Schlussfolgerungen vor allem auf den Charakter der Ameise und die ontogenetische Entstehungsgeschichte ihrer Kolonien gründen. Ich fasse F. sanguinea als ursprüngliche Raubameise auf, die infolge ihrer räuberischen Gewohnheiten zur Sklaverei und ım engsten Anschluss daran zum sozialen Parasitismus gelangt ist. Im Gegensatz zu Wasmann halte ıch die Bezeichnung parasitische Koloniegründung für außerordentlich bezeichnend. Dass es sich nicht um einen Parasitismus im engsten Sinne handeln kann, das ist selbstverständlich; aber das Lebensverhältnis der beiden bei der Gründung der Kolonie beteiligten Ameisenarten ist charakterisiert durch die Ausnützung der Hilfsameisen zum Zwecke der Erhaltung der Herrenart. Die Merkmale, die Wasmann für den Parasıtismus verlangt, die organische und psychische Degeneration, sind meines Erachtens in der Kleinheit der Weibchen und in dem Verluste der Brutpflegeinstinkte gegeben. Auch die Arbeiter sind entschieden, trotz des Besitzes von mit Kaurand ausgestatteten Kiefern, schon degeneriert und für die ihren Haushalt betreffenden Arbeiten mehr oder weniger untauglich. Das geht sehr deutlich aus der Beobach- tung der Seite 572 erwähnten kleinen Versuchskolonie hervor. 1908 war sie durch einen künstlich inszenierten Puppenraub gegründet worden. Sie enthielt ca. 40 fusca-Hilfsarbeiter und gedieh ım folgen- den Jahre (zur Zeit der Niederschrift obigen Manuskriptes) vortreff- lich. In diesem Jahre (1910) aber zeigt die kleine Kolonie einen merkwürdigen Stillstand in der Entwickelung. Das alte Nest ist verlassen worden und ein neues unter einem Steine gegründet. Es fehlt dieser Anlage aber fast jede Minierarbeit; es ist einfach die vorhandene Höhlung ausgenützt. Die fusca-Sklaven sind alle ge- om%k of 580 Stieda, Über Hirnfurchen und Hirnwindungen. storben, die sanguinea-Bevölkerung hat sich seit vorigem Jahre nicht vermehrt, und es sind auch nur ein paar mittelgroße Larven und ein kleines Eierpaket vorhanden. Da die Kolonie in meinem Garten ohne jede Störung lebte, aber andernteils auch keine Möglichkeit hat, sich durch Raubzüge neue Hilfsarbeiter zu verschaffen, so kann ich den Grund ihres auffallenden Zurückbleibens in der Entwickelung lediglich in der Abwesenheit von Sklaven suchen. Wasmann’s Parallelsatz: „Aus einem Parasiten kann niemals ein selbständig lebendes Tier werden, wohl aber aus einem selb- ständig lebenden Tiere ein Parasit; also kann auch die parasitische Koloniegründung niemals zur Bildung selbständiger ungemischter Ameisenkolonien führen,“ scheint mir nicht stichhaltig zu sein. (Gewiss kann man die Ameisengenossenschaft einer Kolonie als einen Organısmus auffassen, aber man hat in bezug auf die Entwickelung des sozialen Parasitismus zwischen der Degeneration der Weibchen und der der Arbeiter zu unterscheiden. Bei den temporär parasıtischen Arten (F. rufa u. s. w.) ist zweifellos die Arbeiterschaft viel weniger degeneriert als bei den dulotischen (F. sanguwinea u. s. w.); infolge- dessen ist auch bei den ersteren die Entstehung eines unge- mischten Staates noch möglich. Selbständig kann man aber die ungemischten temporär-parasitischen Kolonien auf keinen Fall nennen; denn durch das Aussterben der fremden Arbeiterschaft ist keine neue Kolonie entstanden, und wir können den späteren unge- mischten Zustand der Kolonie dem gemischten Anfangsstadium derselben nicht als einen neuen Organismus gegenüberstellen. Richtig gestellt muss der Schlusssatz Wasmann’s also lauten: „also kann auch aus einer parasıtisch lebenden Ameise niemals eine selbständig lebende werden,“ zumal es sich um phylogenetische Schlussfolge- rungen und nicht um ontogenetische handelt. Zu Seite 573: Da das fusca-Weibcehen noch eine weitere Puppe auffraß und die beiden überlebenden fusca-Arbeiter ergaben, lässt sich leider nicht feststellen, ob sangwinea-Puppen ursprünglich vor- handen waren. Ausgeschlossen ist nicht, dass die gefressenen drei Puppen zu sangwinea gehörten. Über Hirnfurchen und Hirnwindungen. Von L. Stieda. Es sind ın den letzten Jahren einige sehr bedeutungsvolle Ab- handlungen auf dem Gebiete der Hirnanatomie erschienen; in den Fachschriften der Neurologen sind diese Abhandlungen genügend berücksichtigt worden, darüber hinaus aber kaum. Das hängt zum Teil davon ab, dass die betreffenden Abhandlungen schwer zugäng- lich sind, zum Teil auch, weil das größere Publikum, das sich wohl für biologische Fragen interessiert, nicht imstande ist, alle Sonder- schriften eingehend zu studieren. Deshalb ist es wohl berechtigt, Stieda, Über Hirnfurchen und Hirnwindungen. 581 wenn hier ein kurzes Referat über einige Hirnarbeiten erscheint. Ich. beginne mit den Arbeiten des bekannten Dr. Kohlbrugge. Es erscheint um so notwendiger, mit dieser Arbeit zu beginnen, weil die Arbeiten Näcke’s auf Kohlbrugge’s Ergebnisse Bezug nehmen. 1. Dr. J. H.F. Kohlbrugge, Die Gehirnfurchen der Javanen. Eine ver- gleichend-anatomische Studie. Amsterdam 1906. 193 Seiten mit 9 Tafeln. Joh. Müller (Verhandelingen der Koninklijke Akademie van Weten- schappen te Amsterdam [Tweede Sectie]). Deel XII. Nr. 4. Die hier vorliegende Abhandlung des gelehrten Naturforschers und Arztes schließt sich an eine frühere, „die Variationen an der Großhirnfurchen der Affen“. Die neue Arbeit bringt eine Rassen- anatomie des Gehirns der Javanen und vergleicht außerdem die Gehirnfurchen des Menschen mit denen der Affen. Der Verfasser sagt ausdrücklich: die Gehirnfurchen des Menschen und nicht der Javaner, weil kein anderes als Javanerhirn untersucht werden konnte. Dem Verfasser standen 62 Hirnhemisphären von Javanern zur Verfügung, davon wurden 25 linke Hemisphären genau be- schrieben. Die Hemisphären stammten von Männern von 16-30 Jahren; die Männer gehörten alle zur Klasse der Bauern oder länd- lichen Arbeiter. Der Verfasser liefert keine Photographien, sondern Zeichnungen, der größeren Deutlichkeit wegen, die durch Zeichnungen erreicht werden kann. Zunächst gibt der Verfasser einige Betrachtungen über das Gewicht des Gesamtgehirns mit der Pia und den Blutgefäßen. Die Gewichte schwanken zwischen 985 und 1675 g. Das Alter der be- treffenden Individuen war 7—50 Jahre. Das Gehirn des 7jährigen Knaben wog 1303 g, das des alten Mannes 985, das Mittel aus den Wägungen von 19 Gehirnen ist 1284 g. — Dass das Gehirn des ?jährigen Knaben schon 1303 g wog, darf uns nicht in Verwunde- rung setzen; durch die Arbeiten von Marchand wissen wir, dass schon 5jährige Kinder fast das Gehirngewicht Erwachsener haben können. Dann vergleicht der Verfasser das Javanische Mittel mit den verschiedenen, von anderen Autoren bei anderen europäischen wie außereuropäischen Gehirnen gewonnenen Gewichtszahlen — wir können die Zahlen hier nicht wiederholen. Bemerkenswert sind die Schlüsse, die der Verfasser aus diesen Vergleichen zieht. Er unterscheidet schwerhirnige und leichthirnige Völker — erstere auch außerhalb Europas. Zu den Schwerhirnigen wären die Japaner und Chinesen zu zählen. Es ist behauptet worden, dass mit der Kultur und mit der Intelligenz das Gehirngewicht der Menschen zunimmt und dass mehr Gehirngewicht in irgendwelcher Beziehung zu höher entwickelter Psyche und Kultur stände. Man meinte, von zwei gleich großen Individuen derselben Rasse müsse das Individuum mit größerem Hirngewicht auch größere Intelligenz zeigen (Manouvrier). Der Verfasser ist anderer Ansicht — er schreibt p. 18: „Ich bedaure, dass diese besonders für berühmte Männer gern verteidigte Auffassung aufkam, und zwar erstens, weil sie gleich der Theorie 582 Stieda, Über Hirnfurchen und Hirnwindungen. der hochstehenden Dolichocephalen in bedenklicher Weise den Chau- vinismus anregt und so den Beobachter blendet, zweitens, weil meiner Meinung nach kein Grund dazu vorliegt, diese Beziehung zu fordern.“ — Und weiter: „Es liegt doch mehr auf der Hand, bei Verschiedenheit der psychischen Entwickelung an den Unter- schied ın der Qualität (feinerer, komplizierterer Bau, vollkommenere Elastizität u. s. w.) als an das Quantum zu denken. Er zitiert einen anderen Autor, dessen Worte wir hier wiedergeben. Weigner (Anat. Heft 71, 1903) schreibt: Wenn also das Gehirngewicht von den somatischen Eigenschaften nicht direkt abhängig ist, so ist es ratsam, von den Versuchen, eine Parallele zwischen Gehirngewicht und psychischer Potenz zu ziehen, abzulassen, weil die Lösung solcher Fragen einer anatomischen reellen Basıs vollkommen ent- behrt.* — Als Vertreter der Ansicht, dass zwischen Gehirngewicht und Intelligenz Beziehungen zu suchen sind, müssen genannt werden: Manouvrier, Buschan, Bolk, Spitzka, Ammon, Matiegka. Spitzka fand für die Hırne von 96 hervorragenden Männern ein Mittel von 1473 g, und in einer späteren Untersuchung für 100 hervor- ragende Männer 1469,6 g; diese Gehirne würden demnach mit über 100 g über den Durchschnitt der Europäer (1350 g) stehen. Der Verfasser Kohlbrugge behauptet gegenüber der Ansicht, dass das Gehirn eines intelligenten Menschen größer sein müsse als das eines dummen Menschen, dass Intelligenz und Hirngewicht zwei voneinander unabhängige Größen sind. Er versucht seine Meinung zu begründen. Da es nicht möglich ist, diese sehr inter- essante Auseinandersetzung ausführlich wiederzugeben, so muss ich mich auf einige kurze Sätze beschränken. Ich empfehle aber allen denen, die sich für diese Streitfrage interessieren, ein eingehendes Studium dieser wenigen Seiten (S. 20—29). Der Verfasser sagt: 1. Es gibt auch berühmte Männer mit niedrigem Gehirngewicht. 2. Das Gehirngewicht nımmt mit der Körpergröße, Muskelentwicke- lung, dem Knochenbau, dem Ernährungszustand u. s. w. ab und zu. Ein schweres Gehirn bei einem großen Mann (z. B. Bismarck) ist sofort erklärlich, ohne an Gewichtszunahme wegen hochstehender Intelligenz zu denken. 3. Alle berühmten Männer gehören zu wohl- habenden, gut ernährten Klassen — Matiegka fand für das Gehirn der Vertreter höherer Klassen ein Hirngewicht von 1500 g —, es haben die hervorragenden Menschen ım Vergleich mit anderen Menschen ihrer Gesellschaftsklasse kein besonders großes Hirn. 4. Mit Rücksicht auf die Verwandtschaft zwischen Genie und Irrsinn erscheint die Frage berechtigt, ob das höhere Hirngewicht be- rühmter Männer nicht eine pathologische Erscheinung sein kann’? (Cuvier, Turgenjew, Helmholz, Guido Gezelle, Richard Wagner u.a.). — Der Verfasser bezweifelt (S. 25), dass die Größe- zunahme des Kopfes eine höhere Intelligenz andeutet. — Was ist Intelligenz? Für den Verfasser ist der Ausdruck intelligent gleich- bedeutend mit reich an eigenen Gedanken, reich an Kombinations- gabe. „Eine Reproduktionsmaschine, es sei, dass sie als Primus ın Stieda, Über Hirnfurchen und Hirnwindungen. 583 der Klasse sitzt oder als Chinese umherschweift, kann in meinen Augen nicht zu den intelligenten Leuten gerechnet werden. Für mich ist darum Zunahme des Gehirnvolumens nicht gleichbedeutend mit Intelligenz, vielleicht eher gleichbedeutend mit einer Schatten- seite unseres "Kulturlebens, den „surmenage intelligent“. (Das Hineinziehen des Chinesen in dem oben zitierten Satz spielt auf eine Bemerkung Buschan’s an; Buschan hat behauptet, dass der einzelne Chinese auf einer höheren Stufe der Durchschnittsbildung steht als der Deutsche. Kohlbrugge meint dazu, dass er den Söhnen des Reiches der Mitte dieses von Buschan gespendete Lob gönne, dass er aber — auf Grund langjährigen Umganges mit Chinesen — der Ansicht Buschan’s nıcht zustimme.) Kohlbrugge geht aber noch weiter: — Wenn man zugibt, dass wirklich das Gehirn durch Kultur (oder Ueberkultur) zuge- nommen hat, so wünsche er zu wissen, ob in solchem Gehirn wirk- lich die Nervensubstanz zugenommen habe oder nur das Binde- gewebe, oder vielleicht auch nur der Wassergehalt. Zum Schluss macht Kohlbrugge dann noch eine Bemerkung, die freilich sich nicht auf das Gewicht des Hirnes bezieht, sondern auf die Win- dungen, auf das Oberflächenrelief. Er schreibt (p. 27): „Ktwas tiefer ın den Bau des Gehirns berühmter Männer dringen die Studien des Oberflächenreliefs, denen wir jetzt eine An- zahl ausgezeichneter Monographien verdanken; und doch scheinen mir auch diese Studien noch viel zu grob anatomisch zu sein, um auch nur einen Zipfel des Schleiers zu lüften, welcher die Be- ziehungen zwischen Hirn und Seele bedeckt. Ich bezweifle, ob es den Autoren möglich wäre, das Gehirn eines berühmten Mannes, welches ich mit 20 anderen Gehirnen aus Seziersälen (oder mit Ge- hirnen von Australiern) mischte, aus diesen herauszufinden; denn aus der ausführlichen Beschreibung der Gehirnfurchen von Gylden, Helmholz und Sonja Kowalewska geht doch hervor, dass ihre Furchen und Windungen sich nicht von denen anderer Gehirne unterscheiden.“ — — Der zweite, viel umfangreichere Teil der Arbeit Kohlbrugge’s beschäftigt sich mit den Gehirnfurchen und deren Variationen. Es ist hier unmöglich, einen Auszug zu liefern, weil es sich um viele Einzelheiten handelt. Ueberdies gibt der Verfasser selbst keine Zusammenfassung seiner Untersuchungen. Aus der Einleitung zu der Beschreibung der Furchen muss ich aber einiges hervorheben. Der Verfasser kommt zunächst auf die embryonale Entwickelung der Furchen zu sprechen. Eine endgültige Beantwortung der sich hier ergebenden Fragen ist noch nicht gegehen. Als Kräfte oder Ursachen, die die Faltungen des Gehirns (Furchen) bedingen, werden angeführt: der äußere Druck der Schädelkapsel und die verschie- dene Energie der Entwickelung der einzelnen Gehirnteile. Weiter meint der Verfasser, dass sich theoretisch noch ein Resultat beider genannten Kräfte als Ursache für eine dritte Gruppe von Furchen konstruieren lasse. Es seien zu unterscheiden primäre und sekun- däre Furchen; die primären entstehen durch die eben genannten 584 Stieda, Über Hirnfurchen und Hirnwindungen. Kräfte, äußeren Druck und inneres Wachstum, wohlbemerkt, be- herrscht durch den Faktor der Erblichkeit. Sekundäre Furchen sind Parallelbildungen oder kompensierende Querfurchen im Sinne von Retzius, oder sie entstehen unter dem Einfluss benachbarter Furchen. Die Kräfte können nun sagittal oder transversal wirken, — es kann aber ein gewisser Kongruenzstreit zwischen den Kräften entstehen, so dass eine Gruppe von Furchen auf das Gebiet der anderen Gruppe hinüberzieht. Dadurch entsteht eine große Menge von Variationen. Nach der Meinung des Verfassers scheint jede einzelne Furche um ein bestimmtes Mittel zu varlieren. Wenn sich dies bestätigen sollte, wenn die gegenseitige Beeinflussung der Furchen anerkannt wird, so können die Variationen auch keine ver- gleichend-anatomische Erklärung finden. — Es lässt sich gewiss nicht leugnen, dass vielleicht eine Variation sich bei einer Rasse häufiger zeigen wird als bei einer anderen, und dass sich bei der statistischen Methode Unterschiede der verschiedenen Rassen zeigen werden, — aber bei einer genügend großen Anzahl von Gehirnen werden die Unterschiede verschwinden. Der Verfasser schließt die Einleitung mit folgenden sehr be- merkenswerten Worten (p. 36): „Gilt das für alle Variationen, dann werden die vermeintlichen Rassenunterschiede, welche man nach Untersuchung von 50 Hemisphären der Letten, und 100 Hemi- sphären der Schweden fand, reine Kunstprodukte sein, es würden alle Unterschiede bei Untersuchungen von je 2000 Hemisphären beider Völker verschwinden; dann wäre damit aber auch die Rassenanatomie der Gehirnoberfläche zu Grabe getragen, und ich kann leider den entmutigenden Gedanken nicht unterdrücken, dass insofern die Resultate auch dieser Arbeit nur rein negativ sein können.“ — Er fährt dann fort: „Möge die Arbeit aber darin ihren positiven Wert finden, dass 1. viel unnütze Arbeit in Zukundt ver- mieden würde, 2. dass die Arbeit zur Klärung des Begriffes der Variationen beitrage, sei es auch in dem Sinne, dass diese die ilınen früher zuerkannte Bedeutung verlieren.“ Der Verfasser schließt mit der Bemerkung, dass die hier vor- getragenen Schlusssätze das Ergebnis aus den nachfolgenden Einzel- untersuchungen sind. Er hätte deshalb vielleicht die Schlussfolge- rung ans Ende setzen können; — aber er sei einer sehr verbreiteten Sıtte gefolgt, allgemeine Betrachtungen vorauszuschicken. Es werden nun ausführlich beschrieben: A, die Furchen der lateralen Flächen des Gehirns (Fissurae cerebri laterales), die Furchen der mittleren, der vorderen Hirnteile, die Furchen der orbitalen Fläche, die Furchen der hinteren und der temporalen Hirnteile, schließlich B, die Furchen der medianen Fläche. — Die Beschrei- bung ıst außerordentlich eingehend und sorgfältig, unter stetem Verweisen auf die 25 Abbildungen, die auf 9 Tafeln stehen. Eine Aufzählung der einzelnen Mordın können wir übergehen: Die Ab- bildungen sind sehr einfache Skizzen, an denen die Furchen durch Zahlen, die Windungen durch Buchstaben bezeichnet sind, Stieda, Über Hirnfurchen und Hirnwindungen. 585 2. J. H. F. Kohlbrugge, Die Gehirnfurchen Malayischer Völker, ver- glichen mit denen der Australier und Europäer. Ein Beitrag zur Evolutionslehre. Amsterdam, Joh. Müller, 1909. 50--CXX nebst 17 Tafeln. (Verhandelingen der Koniuklijke Akademie van Wetenschappen to Amsterdam — Tweede Sectie, Deel XV, Nr. 1.) Die hier vorliegende, außerordentlich sorgfältige und umfang- reiche Untersuchungen der Gehirnfurchen der malayischen Völker umfassende Abhandlung schließt sich als Fortsetzung an die früher erschienene Abhandlung über die Gehirnfurchen der Javanen. Der Zweck der Zusammenstellung sollte die Beantwortung der Frage sein, ob sich Rassenunterschiede im Gehirn nachweisen lassen. Die Abhandlung zerfällt, wie die erste, in zwei Teile. Der erste Teil (S. 3—50) gibt allgemeine Betrachtungen und die Schluss- folgerungen; der zweite Teil (I-UXX) gibt die Variationstabellen. Das Bedürfnis, Rassengehirne zu untersuchen, liegt längst vor, aber das Material fehlt. Es gibt bis jetzt nur eine Sammlung von Rassenhirnen in Berlin (W aldeyer) und eine zweite Sammlung ist im Besitz des Verfassers. Die Gehirne dieser Kohlbrugge’schen Sammlung sind zum Teil hier beschrieben; die Rassen, die nur durch ein einziges Hirn repräsentiert sind, blieben unberücksichtigt; dagegen wurden nur solche Rassen in den Kreis der Beobachtungen gezogen, von denen mindestens sechs Gehirne zu Gebote standen. Eine Ausnahme wurde nur mit einem Neuseeländergehirn gemacht, dessen Beschreibung auch aufgenommen worden ist. Es wurden untersucht: INDEtraler a ar Te. Ri Hemisphären Nenseelanderst an. ge... 2 , Menangkabo (Sumatra, Indonesier) 6 2 Bugi (Celebes, Indonesier) . . . . . 12 r Sassak (Lombok, Indonesier) . . 6 5 Boloang Mongondo (Üelebes, Indonesier) 6 R Timorezen (Indonesier, Papuas) EEG 5 Malayen von Sumatra (Palembang) . . 10 2 Jayanen(Ost-Java)e ter... en 02 r Europäer (Niederländer) . . . . . . 20 & 150 Hemisphären. Demnach 130 Hemisphären dunkler Rassen, die mit 20 Hemi- sphären von Europäern verglichen werden konnten. In betreff des Gehirngewichts der Javanen bemerkt Kohl- brugge, dass das von ihm angegebene mittlere Gehirngewicht der Javanen (1284 g) bestätigt wurde. In der Irrenanstalt Buitensorg ermittelte man für das männliche Gehirn im Durchschnitt 1262 g, für das weibliche Gehirn 1147 g. Das Gehirn der Javanen ist dem- nach SO— 100 g leichter als das der Europäer, Chinesen, Japaner und Eskimos. Auf die möglichen Beziehungen zwischen Intelligenz und Hirngewicht geht Kohlbrugge hier nicht weiter ein. Die früheren Arbeiten waren vergleichend-anatomisch. Verfasser versuchte die Variationen der Gehirnwindungen durch Vergleich mit 586 Stieda, Über Hirnfurchen und Hirnwindungen. den Primaten zu erklären; — in dieser Arbeit beschäftigt sich der Verfasser nur mit dem Menschengehirn. Die Literatur über Rassen- gehirne blieb unberücksichtigt. — Die Detailbeschreibungen der Einzelgehirne sind außerordentlich genau durchgeführt, und was war das Ergebnis? Ich lasse den Verfasser selbst reden. Er sagt: „und leider führt auch das uns wieder zu dem Resultat, dass die Schwierigkeiten in das Ungeheure wachsen, wenn durch Betrachtung vieler Gehirne die Varietätsbreite wächst. Dann wird alles schließlich so flüssig, dass man einsieht, dass Schematisierung nur durch Vergewaltigung der Tatsachen zu erreichen ist. Es eignen sich die Gehirnfurchen mit ihrem gewundenen Verlauf, ihren zahllosen Kombinationen und Nebenfurchen fast ebensowenig zu einer Beschreibung, als die Win- dungen der Lianen im tropischen Walde. — — — Zu diesem Ergebnis wird wohl ein jeder gelangen, der sich die Mühe geben wird, die Tabellen zu studieren; man wird dann einsehen, dass die Beurteilung der Furchen stets eine ebenso subjektive oder indi- viduelle bleibt, wie — die vom Charakter des Menschen. Wenn mein fünfjähriges eifriges Bemühen nur zuwege bringt, dass das allgemein anerkannt wird, dann wird viel unnütze Arbeit in Zukunft vermieden werden. Ich bin überzeugt, dass gerade die hier vor- liegenden Bemühungen, die Kenntnis der Furchen durch großes Material zu vertiefen und sie allgemein gültig zu beschreiben, zu dem Ergebnis geführt hat, dass wir etwas zu beschreiben, zu ver- gleichen suchen, was sich weder beschreiben noch vergleichen lässt. -— — Gelangt man zu dieser Ueberzeugung, dann hat auch die Totenglocke geschlagen für alle solche Untersuchungen, und es wäre nur zu wünschen, dass ıhr Läuten nun auch überall so ver- nehmlich klänge, dass dıe Zeitschriften hinfort keine Artikel mehr über die Gehirnfurchen der Rassen bringen würden. Das Resultat meiner Arbeit wäre dann ein rein negatives — — und mutlos ge- worden, möchte ich mein eigener Totengräber sein. Das ist für einen Forscher nicht erfreulich, besonders wenn der Weg so lang, so mühevoll war. Es ist doch weit schöner, nach langer Arbeit auf ein neuerrichtetes Gebäude hinweisen zu können, als auf einen Trümmerhaufen. — Aber man muss sich den Tatsachen fügen.“ — — — Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit einer Methode der Unter- suchung, die der Verfasser „Schälung des Gehirns“ nennt (S. 14—23). In seiner früheren Schrift hatte der Verfasser angenommen, dass man die Gehirnfurchen in zwei Gruppen teilen könne: 1. die aus den primo-radiären Furchen hervorgegangenen und 2. die unter dem Einfluss der inneren Ganglienmassen gebildeten. Aus diesen beiden an und für sich hypothetischen Formen ließe sich — meint der Verfasser — eine dritte Gruppe von Furchen konstruieren, nämlich solche Furchen, die unter dem Einfluss beider Faktoren gleichzeitig entstehen könnten. Die Untersuchung von Querschnitten des Gehirns hat bekannt- lich kein Ergebnis geliefert, — der Verfasser hoffte durch „Schälen* Stieda, Über Hirnfurchen und Hirnwindungen. 587 des Gehirns etwas zu erreichen. Es ist das bisher nicht versucht worden. Was versteht man unter Schälung des Gehirns? „Ich verstehe darunter — schreibt der Verfasser —, dass man eine gleich- mäßige Schicht vom ganzen Gehirn herunterschält, so dass die ab- geschälte Schicht überall gleich dick ist.“ Mit Hilfe besonders dazu konstruierter kleiner Messer entfernte der Verfasser eine 5 mm dicke Schicht von der lateralen Oberfläche der Hemisphären. Waren vier solche Schichten nacheinander entfernt, dann blieb nur die weiße Substanz übrig, von der die zentralen Gehirnmassen um- geben werden. Keine Furche dringt tiefer als. 20 mm; die Furchen treten demnach nirgends zwischen die Ganglien hinein, nirgends berühren sie die Ganglien; dadurch wird die Ueberzeugung gestützt, dass die Furchen zu den zentralen Ganglienmassen keine Beziehungen haben. — Wenn man aber nicht die laterale Fläche, sondern die basale Fläche schält, so öffnet man sehr bald das Ammonshorn, weil „von allen zentralen Ganglienmassen das Ammonshorn der Gehirnoberfläche am nächsten liegt. Referent bemerkt hierzu, dass nicht das Ammonshorn, sondern das Unterhorn — geöffnet wird; — das ıst selbstverständlich. Uebrigens muss weiter bemerkt werden, dass das Ammonshorn nicht als eine zentrale Ganglienmasse ange- sehen werden darf; das Ammonshorn ist eine zusammengesetzte Windung, eine eigentümlich geartete Faltenbildung der ursprünglich einfach glatten Wandung der Großhirnblase. Der Verfasser gibt nun Auskunft über die Befunde, die sich ihm nach jeder einzelnen Schälung (1—4) der Gehirnoberfläche dar- geboten haben, — aus diesen Einzelbeschreibungen, die nicht wieder- gegeben werden können, hebe ich nur einen Passus hervor. Bei der Schilderung der Gehirnoberfläche nach der ersten Schälung sagt der Verfasser: „Es sind die Furchen also aufzufassen als Striche, wo das Wachstum frühzeitig aufhört, so dass die einliegenden Teile nun über die Striche hervorquellen. Dann ist es aber auch ganz unrichtig, wenn man von Faltungen der Gehirnrinde spricht oder Furchen durch mechanischen Druck erklären will; dann sind auch nicht die Gyri das primäre, sondern die Sulci, die Striche, wo die Gehirnsubstanz nicht mehr wächst.“ — Nach meiner Meinung ıst der Gedanke, den Kohlbrügge aus- sprechen will, richtig, aber die Fassung, die der Verfasser seiner Behauptung gegeben hat, ist nicht diejenige, die ich diesem Ge- danken gegeben hätte. Es kommt meiner Meinung nach darauf an, was man mit dem Ausdruck „Faltungen“ des Gehirns bezeichnen und wie man sich die Entstehung der Furchen erklären will. Wenn ich ınir die Hemisphäre als eine große, aber dünnwandige Blase vorstelle, und wenn ich weiter diese große Blase in einem kleinen Raum unterbringen will, so kann das nur geschehen, indem ich die Wandungen der Blase in Faltungen bringe. — Die Gehirnblase kleiner Tiere entspricht der Schädelkapsel, eine Faltung ist nicht notwendig. Bei großen Tieren entspricht der Umfang der Gehirn- blase nicht dem Schädelraum, die Blase ist zu groß, — die Blase muss sich adaptieren, sie faltet sich. — Diese sehr verbreitete und 588 Stieda, Über Hirnfurchen und Hirnwindungen. geläufige Anschauung ist aber gewiss nicht berechtigt. — Die wach- sende Gehirnblase ist niemals größer als der Schädelbinnenraum — von einer wirklichen Faltung darf daher gar nicht gesprochen werden — nur bildlich darf man davon reden. Ich habe oben gesagt, das Ammonshorn sei eine Falte; ich sollte gesagt haben, das Ammonshorn sei einer Falte zu vergleichen. Kohlbrugge hat recht — man darf die Entstehung der Furchenwindungen nicht durch mechanischen Druck erklären wollen. Aber wie soll man sich die Entstehung vorstellen? Kohlbrugge geht von der Ansicht aus, dass die Furchen das Primäre sind — und dass die Windungen über die Furchen heraus vorwachsen; in den Furchen („Striche“) steht das Wachstum gleich- sam eine Weile still. — Ich meine, dass es gerade umgekehrt ist. Es ist wohl selbst- verständlich, dass die Windungen und Furchen der ursprünglich glatten Hirnblase durch ungleichmäßiges Wachstum der Rinde (der Wandung) entstehen. Ich glaube nicht, damit etwas Neues gesagt zu haben. — Es ist so einfach, dass gewiss schon andere Autoren vor mir — ich weiß nicht wer und wo? — eine solche An- sicht ausgesprochen haben. — Ich meine die Sulci sind nicht primär, sondern gerade die Windungen, genau die Höhe der Windungen. Die Sulcı sind sekundär: die Wandung der Gehirnblase wächst — sıe will sich ausdehnen — sie kann sich nicht ausdehnen, weil sie durch die Schädelkapsel daran gehindert wird — die Schädel- kapsel dehnt sich nicht in dem Maße aus, wie die Hirnwandung zunimmt. Was wird die Folge sein — einige Stellen der Gehirn- wandung sinken ein; sie sinken in die Tiefe — dadurch entstehen die Sulci, die Furchen. — Nach innen ist eine Einsenkung möglich, weil die Blase hohl und mit Flüssigkeit gefüllt ist. — Wenn man will, kann man dann von einer Faltung nach innen reden. — Ich glaube, dass Kohlbrugge auch eine ähnliche Auf- fassung hat. — — Sehen wir nun weiter zu, was der Verfasser für allgemeine Resultate und Schlüsse aus den Ergebnissen seiner Schälungs- methode gewonnen hat (S. 24—50); er stellt die Resultate von 16 Abschälungen zusammen. Wir geben selbstverständlich die 16 Ab- schnitte in stark verkürzter Form wieder, nur die Worte der Ein- leitung geben wir vollständig; der Verfasser schreibt (S. 24): „Die Form, in welcher diese Arbeit angeboten wird, hat durch die zahllosen Tabellen sicher wenig anziehendes, und auch die Forscher, welche sich sonst für Gehirnstudien interessieren, werden sich nicht leicht daran machen, sie durchzustudieren. Doch ist dies notwendig, wenn man das allgemeine Resultat der ganzen Arbeit kennen lernen will. Darum habe ich mich entschlossen, die Folge- rungen, welche meiner Auffassung nach aus den Tabellen und An- merkungen zu ziehen sind, zusammenzufassen, ohne aber die Tat- sachen, aus denen sie sich gründen, zu wiederholen. Wer sie nachzu- prüfen wünscht, wird aber auf die Tabellen zurückgreifen müssen.“ Stieda, Über Hirnfurchen und Hirnwindungen. 589 Die Schlussfolgerungen des Verfassers sınd: 1. Jede Gehirnfurche ist so variabel oder so mit benachbarten Furchen, direkt oder indirekt -— durch Nebenfurchen —, verbunden, dass ihr häufig keine scharfen Grenzen zu geben sind. Man kann keine solche Beschreibung von einer Furche geben, dass dadurch die Möglichkeit geboten wird, die Furche auf allen Gehirnen abzu- grenzen. Sogar für eine so konstante Furche, wie der Sulcus cen- tralis, kann man nicht immer angeben, wo die Furche anfängt und wo sie aufhört. 2. In solchen zweifelhaften Fällen ist jede beliebige Auffassung berechtigt — die Resultate zweier Autoren sind nicht miteinander zu vergleichen, das subjektive Element ist nicht auszuschalten. Auch die Auffassung eines und desselben Autors ändert sich durch die Suggestion, die eine besondere Anomalie (Varietät, Ref.) ausübt. 3. Eine statistische Bearbeitung der Gehirnfurchen, die auf Notizen nur eines Autors beruht, hat nur relativen Wert; die sta- tistische Bearbeitung, die auf Notizen verschiedener Autoren beruht, kann fast wertlos genannt werden. — 4. Man soll keine Beschreibung des Gehirns mehr liefern, wenn man kein Riesenmaterial gesammelt hat. Ungefähr 100 oder mehr Gehirne sind nötig, um ein vertrauenerregendes Mittel zu finden. Die Materie muss von einem und demselben Autor bear- beitet werden. Auch er wird leider noch viele Fehler machen, weil nirgends scharfe Grenzen zwischen den Varietäten der Furchen vorliegen. 5. Es gibt keinen einzigen fixen Punkt am Gehirn, einen solchen also, der an allen Gehirnen sofort wiederzufinden wäre. 6. Es ist der Verfasser nur selten auf die Gyri eingegangen, — man wird das vielleicht als Fehler betrachten, weil man mit Rücksicht auf die Idee von der mechanischen Faltung des Gehirns die Gyri für die primäre und die Sulci als die Folge der Faltung ansah; — der Verfasser ist zu der Ansicht gelangt, dass die Suleci die primären sind; und die Sulci sind als Striche verlangsamten oder besser noch fast stillstehenden Wachstums aufzufassen. Wie die Striche entstehen, wissen wir nicht, aber die Sulci stehen ebensowenig fest wie die Gyri. Referent kommt hier nochmals auf die oben schon ausgesprochene Meinung zurück. — Man darf die Striche (Sulci) nicht als Stellen des verlangsamten oder stillstehenden Wachstums auffassen, aber in etwas anderer Weise als der Ver- fasser. Nach der Auffassung des Verfassers treten gleichsam die Stellen des vermehrten Wachstums als Gyri über das Niveau der Striche (Sulei) hervor. — O nein: das ist nicht der Fall. Die ur- sprünglich glatte Gehirnblase hat dünne Wandungen und ist hohl. Beim Wachstum des Gehirns bei der Zunahme der Mächtigkeit der anfangs dünnen Wandungen wachsen einige Stellen mehr, andere weniger, — die Stellen, an denen die Wandungen wachsen, sinken in die Tiefe, so entstehen die Sulei. — Man darf aber nicht über- sehen, dass das Gehirn oder richtiger die Gehirnhemisphären dünn- wandige, mit Flüssigkeit gefüllte Blasen sind. 590 Stieda, Über Hirnfurchen und Hirnwinduugen. 7. Wir können die Gehirnränder nicht als Grenze benutzen. 8. Zwischen der linken und der rechte Hemisphäre zeigen sich konstante Unterschiede, die durch die verschiedene Ausdehnung der Fissurae laterales bedingt werden. Ist beispielsweise die Fissura lateralis linkerseits einen Zentimeter länger als rechts, so dringt die linksseitige Furche tiefer in das Parietalhirn ein — da- durch erklären sich viele Unterschiede zwischen links und rechts —, diese verschiedene Länge hat auch ihre Fernwirkung. Es ist merk- würdig, dass dıese konstanten Unterschiede zwischen den Furchen beider Hemisphären von den Autoren nicht beachtet worden sind. Diese Nichtbeachtung hat zur Folge, dass die bisherigen Statistiken über die Frequenz gewisser Formen von Varietäten wertlos sind, weil nicht genau angegeben ist, auf wieviel rechten und wieviel linken Hemisphären ihre Statistik beruht. y. Die linke und die rechte Hemisphäre eines Gehirns können auch einerseits große Unterschiede ın sehr seltenen Varietäten (Anomalien) zeigen und andererseits an anderen Stellen große Ueber- einstimmung. Im allgemeinen kann man davon sagen, dass die Furchen der linken und der rechten Hemisphären selbständig variieren können. 10. Viele Furchen, z. B. Suleus centralis, werden embryonal in getrennten Teilen angelegt; diese Teile vereinigen sich später, sie können aber auch getrennt bleiben, das gibt die sogen. Ueber- brückungen der Furchen. Es kann hierbei aber vorkommen, dass die beiden getrennten Teile einer und derselben Furche nicht immer die gleiche Richtung zeigen, wie man erwarten sollte; es erscheint der peripherische Teil einer tranversalen Furche senkrecht zur transversalen Furche gestellt. Der Verfasser ıst der Ansicht, dass diese Tatsachen gegen die Auffassung der Entstehung der transver- salen Furchen durch mechanische Faltung in der Richtung von vorn nach hinten spricht. Er kommt zur Erklärung der Tatsachen wieder auf seine schon oben mitgeteilten Ideen zurück. Die Furchen ent- stehen als Striche, wo das Wachstum stillsteht, und die anliegenden Teile zu beiden Seiten der Furche (richtiger des „Strichs“) quellen durch Wachstum vor. Dadurch entsteht ein Streit der beider- seitigen Wälle um den Raum, und diesem Streit sind die Trennungen aller Furchen, alle Varietäten zuzuschreiben. So wird es begreif- lich, dass eine Furche an der Oberfläche eine andere Richtung zeigen kann als im Innern. Durch direkte mechanische Faltung von vorn nach hinten lässt sich aber nicht erklären. — 11. Die Variationen der Furchen sind in der früheren Arbeit (l. ec. S. 32—36) behandelt. Die Betrachtung der kompensatorischen (uerfurchen von Retzius, der Parallelfurchen, die Verdoppelung einzelner Furchen, nötigen den Verfasser zu der Aeußerung, dass er heute jeden Gedanken an eine mechanische Faltung der Gehirn- oberfläche sowie den Gedanken an eine Beeinflussung auf die Ent- stehung der Furchen durch die zentrale Gehirnmasse vollständig aufgegeben hat. 12. Was lehren uns nun die Tabellen (die den zweiten Teil der Arbeit ausmachen), für die Rassenanatomie? Der Verfasser Stieda, Über Hirnfurchen und Hirnwindungen. 59 bietet uns in seinen Tabellen S00 Nummern — d.h. 800 Varietäten sind auf ihre Frequenz hin untersucht. In seiner älteren Arbeit hat er meistens Javanen und Letten verglichen — heute hält er sich nicht mehr für berechtigt, Unterschiede zwischen Javanen und Letten anzunehmen; er behauptet sogar, dass Letten und Javaner in auffallender Weise übereinstimmen. Wenn die bisher so genau untersuchten Gehirne dieser beiden Völker, die ethno- logisch so verschieden sind, übereinstimmen, so darf man annehmen, dass ein Gleiches auch für andere Rassen gelten wird, wenn die Untersuchung an hinreichendem Material vorgenommen wird. — Der Verfasser zieht nun aus seinen Tabellen folgende Schlüsse: Die Tabellen machen es in hohem Grade wahrscheinlich, ja be- weisen es fast sicher, dass jede Varietät bei jedem Volke vorkommen kann. Daraus folgt: Erstens, dass es keine Varietät gibt, die auf eine Rasse be- schränkt ist, die ein Rassenmerkmal sein kann, dass also nur noch Unterschiede denkbar, aber nicht wahrscheinlich sind in bezug auf die Frequenz dieser Varıetät. Zweitens, dass die Furchen und Gyri bei allen Rassen gleich stark variieren. Drittens, dass es absolut unmöglich ist, ein Gehirn als zu einer bestimmten Rasse gehörig zu erkennen, oder mit anderen Worten, dass wir nicht einsehen können, warum ein gewisses Hirn einem Australier angehört hat und warum es nicht ebensogut in den Schädel eines Europäers passen würde. 13. Was ist die Bedeutung der Variation? Der Ver- fasser antwortet: Die Variation hat keinen rechten anatomischen Wert. — Die Varietäten sind — auf Grund der vorliegenden Ta- bellen — Schwankungen um ein Mittel nach den vier denk- baren Richtungen, nach links und rechts, nach oben und unten. (Warum soll das nicht lieber anders ausgedrückt werden? sie schwankt um ein Mittel nach den bekannten drei Richtungen — sagittal, frontal oder transversal, — und vertikal — man mag dabei die Gehirnhemisphären legen wie man will. Ref.) Die Schwan- kungen der Furchen sind so groß, wie die angrenzenden Teile es zulassen. 14. Es gelingt nicht, in den Gehirnfurchen Rassenmerkmale zu finden. Sergi teilt nach Untersuchung des Gehirns der Herero diese Ansicht. Ebensowenig gelang es bisher, Unterschiede zwischen hochbegabten und ungebildeten Menschen nachzuweisen (Retzius). Der Verfasser verweist dabei auf die Arbeiten von Hansemann und Stieda. — Sergi will Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen in bezug auf die Furchen nachgewiesen haben, — aber Sergi’s Material war zu klein und zu ungenügend, um diese Behauptung zu begründen. — Waldeyer’s Untersuchungen haben die Behauptungen Sergi’s nicht bestätigt. — Dann schreibt der Verfasser (p. 45): „Trotzdem berechtigen uns diese negativen Resultate nicht, die Konsignation der Oberfläche 599 Stieda, Über Hirnfurchen und Hirnwindungen. des Gehirns für psychische Prozesse für bedeutungslos zu erklären. Es könnte doch noch sein, dass diese Furchen, wenn auch in einer für uns unlesbaren Schrift, den Charakter der Rassen bestimmen. Da nun alle nur denkbaren Charaktere mit allen nur denkbaren Uebergängen bei jedem Volke vorkommen und sich sowohl bei (Genien wie bei ungebildeten Leuten die verschiedenste Charakter- bildung zeigt, so hätten wir denn auch alle Variationen und Kom- binationen der Furchen bei allen Völkern, bei Blödsinn, Talent und Genie zu erwarten. Die Unterschiede, welche höhere Entwicke- lung, Begabung, Talente bedingen und möglich machen, sind nicht im Aufbau und in Konvolutionen zu suchen; ein Aufbau, dessen Untersuchung aber nicht auf anatomischem Wege, sondern auf ıdeal gedachten physiologischem oder chemischem Wege zu führen wäre. Anatomisch kann man allerdings noch den Schritt versuchen, um mikroskopisch die Zellenlagen zu studieren und zu zählen, wie Mott unlängst es tat und wie durch Stieda empfohlen wurde: auch Sergi erwartet noch Gutes vom Mikroskop. Ob das noch Resultate brächte, hätten wir abzuwarten.“ 15. Sind die nn der Gehirnfurchen vererbbar? Haben Eltern, Kinder und Geschwister ähnliche Gebilde von Gehirnfurchen ? Wenn die Gehirnfurchen in irgendeiner Beziehung zum Charakter des Menschen stehen, so wäre die Aehnlichkeit der Hirnfurchen zu erwarten, weil Familienangehörige häufig ähnliche Charaktere zeigen. Spitzka und Karplus haben sich mit der Beantwortung dieser Frage beschäftigt. Karplus gelangt zu dem Schluss: „Es gibt eine Vererbung der Gehirnfurchen.* Kohlbrugge meint, dass dieser Schluss richtig sein könnte, aber bewiesen ist er durch die Arbeit von Karplus nicht. 16. Es ist schon früher (13) hervorgehoben worden, dass die Variationen der Gehirnfurchen der hier untersuchten Rassen neu- traler Art sind, d.h. nur Schwankungen um ein Mittel. Es können daher die Schwankungen der Furchen in phylogenetischer Be- ziehung keine Bedeutung haben, weder ın regressivem oder atavistischem noch in progressivem Sinne. Nichts berechtigt uns, das Gehirn eines Australiers unter das eines Europäers zu stellen und wäre es das Gehirn eines Mommsen und Busch. Die Varie- täten in der Rassenanatomie lehren uns nichts über hoch und niedrig, oder mit anderen Worten, es gibt im evolutionistischen Sinne keine Rassenanatomie. Was man früher dafür hielt, beruht entweder auf neutralen Variationen: ist soziologisch oder physio- logisch zu erklären. — Zum Schluss weist der Verfasser auf die Anatomie der Rasse- schädel — er meint, es seien heut schon starke Zweifel erlaubt, ob die Rassenanatomie der Schädel gegen unsere heutigen Kenntnisse noch zu halten ist. (Schluss folgt.) Verlag von En Teen in in Leipzig, _Rabensteinplatz 2. — Du der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt, Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Der Abonnementspreis für 24 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen. Bd. XXX. 15. September 1910. N 18, Inhalt: Kranichfeld, Wie können sich Mutanten bei freier Kreuzung durchsetzen? — Nusbaum, Zur Beurteilung der Geschichte des Neolamarckismus. — Stieda, Uber Hirnfurchen und Hirnwindungen (Schluss). — Eriksson, Uber die Mykoplasmatheorie, ihre Geschichte und ihren Tagesstand. — Winterstein und Trier, Die Alkaloide. — Der achte internationale Physiologenkongress. Wie können sich Mutanten bei freier Kreuzung durchsetzen? Von Hermann Kranichfeld. Für einzelne Mutanten, welche nicht durch besondere Ver- hältnisse wie geographische und ökologische Isolation geschützt sind, besteht bekanntlich auch dann, wenn sie zufällig die kritische Periode überstanden haben und zur Fortpflanzung gekommen sind!), eın fast unbesiegbares Hindernis ihrer Erhaltung in der freien Kreuzung mit der Stammart. Nach den Versuchen von Gärtner verschwindet bei dieser das neue Merkmal schon in der 3.—6. Gene- ration vollständig. Plate?) glaubt nun einen Ausweg aus dieser Schwierigkeit in den Mendel’schen Kreuzungsgesetzen entdeckt zu haben. Er nimmt an, dass die Anlagen der progressiven Mutanten, die ja für die phylogenetische Entwickelung vor allem von Bedeutung sind, in ‚der Regel dominieren. Lässt man dies gelten, dann ergibt sich tatsächlich auch bei fortgesetzter Kreuzung der Mutanten mit der Stammart eine steigende Anzahl von Nachkommen mit dem Habitus 1) Cfr. Biolog. Centralbl. Bd. XXV, S. 657. 2) Plate, Selektionsprinzip und Probleme der Artbildung. 3. Aufl., 1908, D2.36381: XXX. 38 594 Kranichfeld, Wie können sich Mutanten bei freier Kreuzung durchsetzen? der Mutante. Nach Plate soll nun diese Zunahme genügen, um der Mutante allmählich das Übergewicht über die Stammart zu ver- schaffen und letztere schließlich ganz zu verdrängen; er erblickt gerade darin „die große deszendenztheoretische Bedeutung der echten Mendel’schee Regel“. Seine Schlussfolgerung beruht jedoch auf einer unvollständig durchgeführten und darum irreführenden Rechnung. Da der Fehler auch in der 3. Auflage seines Buches wiederkehrt, dürfte bei der Wichtigkeit, welche Plate selbst diesem Punkte für die Deszendenztheorie beimisst, eine Richtigstellung seiner Auffassung angezeigt sein. Nimmt man an, dass jedes Paar 4 Nachkommen hat, bezeichnet man ferner die dominierende Anlage der Mutante mit D, die rezes- sive Anlage der Stammart mit R und die Nachkommenschaft der aufeinanderfolgenden Generationen mit F,, F,, F, ..., so erhält man nach Plate bei fortgesetzter Kreuzung der Stammart mit der Mutante bezw. mit Kindern der Mutante folgende Nachkommen- schaft: Aus der ersten Paarung (R X D) gehen nach dem Mendel’- schen Gesetz 4 Bastarde (Hybriden) hervor, in welchen die domi- nierende und die rezessive Anlage verbunden sind. Sıe haben alle den Habitus der dominierenden Mutante. Brauchen wir für die Verbindung von dominierender und rezessiver Anlage im Kinde das Zeichen DR, so ist in der 1. Generation: Re Dan) EDER: Bei dem Überwiegen der Stammform sollen sich nun die 4 Bastarde DR nicht unter sich, sondern wieder mit der Stamm- form paaren. Wir erhalten dann 4 Kreuzungen oder 4 (DRXR), die für die 2. Generation 16 Nachkommen ergeben. Von diesen sind nach dem Mendel’schen Gesetz die eine Hälfte Bastarde mit den Anlagen DR, die andere Hälfte sınd Kinder mit den Anlagen RR. Letztere repräsentieren die reine Stammform. Es ist daher ın der 2. Generation: F,:4(DRxXR)=8DR-SRR. Setzen wir auch bei der 3. Generation mit Plate zunächst immer noch Rückkreuzungen der Bastarde mit Stammarttieren vor- aus, so erhalten wir 8 Kreuzungen der 8 Bastarde DR mit der Stammart R, also 8 (DRxXR) mit 32 Nachkommen, zur Hälfte wieder Bastarde DR, zur andern Hälfte reine Stammtiere RR. Es soll daher nach Plate sein: F,:8(DRxXR)= 16 DR-+ 16 RR. In der 4. Generation ergeben die 16 DR als Nachkommen 32DR+352RRu.s. w. Plate hat so vollkommen recht, wenn er annımmt, dass die Bastarde mit den Anlagen DR und dem Habitus ‚der Mutante beständig zunehmen. Es beträgt ihre Anzahl unter den gemachten Voraussetzungen tatsächlich in jeder folgenden Gene- Kranichfeld, Wie können sich Mutanten bei freier Kreuzung durchsetzen? 595 n \ ratıon das 9 fache 5) der vorhergehenden, wenn n die Zahl der Nach- kommen aus jeder Paarung ist. Falsch ist dagegen der Plate’sche Schluss, dass für den Fall, dass die Entwickelung keine Störung durch katastrophale Elimination erfahre, die dominierende Mutante, „selbst wenn sie als extreme Sıingularvariation beginne, die größte Aussicht haben werde, allmählich die Stammform zu verdrängen.“ Das ist, wie er sagt, „die große deszendenztheoretische Be- deutung der echten Mendel’schen Regel, dass sie zeigt, wie eine aus wenigen Individuen bestehende Varietät (Singularvariation) die volkreiche Stammform (Plural- varıation) zu verdrängen vermag“?)..., „ohne dass der Kampf ums Dasein oder geographische bezw. biologische Isolation hierbei mitwirken.“ E Der Fehler Plate’s besteht, wie gesagt, darin, dass er die Rechnung nur unvollständig durchgeführt hat. Er zieht die Tat- sache nicht in Betracht, dass nicht nur die Bastardformen mit dem Habitus der Mutante in jeder Generation an Zahl zunehmen, sondern dass sich auch die Nachkommenschaft RR, welche die Stammform repräsentiert, vermehrt, und zwar in einem außerordentlich viel schnellerem Tempo als die Bastarde DR. Es wird am einfachsten sein, dies zunächst an einem Schema zu zeigen. Behalten wir die Plate’schen Voraussetzungen und Bezeichnungen bei, so gehen aus dem Plate’schen Paare (D x R) in den aufeinanderfolgenden Gene- rationen hervor: (Generationen Gesamtzahl Darunter DR- und RR-Kinder der Kinder F, = Ar 4DR | ee lo DR SER | | FR = 64 = kDR + 16 RR -- 32 RR | | | R 256277 32 DR 32 RR-+64 RR -+H 125 RR In der 3. Generation (F,) stehen also nach dem Schema den 16 Bastarden DR mit dem Habitus der Mutante 48 RR-Kinder gegenüber; in der 4. Generation (F,) den 32 DR-Kindern 224 RR- Kinder u. s. w. Allgemein haben wir, wenn man mit m die Anzahl der Gene- rationen, mit n die Anzahl der Kinder aus jeder einzelnen Paarung bezeichnet, in der m Generation im ganzen n"-Kinder. Von 3) Es ist jedenfalls nur ein Versehen, wenn Plate sagt, dasssie um —- zunimmt. 4) Bei Plate durch Druck hervorgehobener Leitsatz. 596 Kranichfeld, Wie können sich Mutanten bei freier Kreuzung durchsetzen ? diesen sind, wenn wir nach dem Schema die einfache mathematische Reihe bilden, in der m“® Generation DR- bezw. RR-Kinder: il ı1\m-—1 j]\m-2 r.=(}) ‚n=DR+(}) ‚nm RR-+(5)” -nmRR 1 m—3 Ei 1 = +(3)” -neRR-+... + Inm RR oder wenn man die Glieder der Reihe zusammenzieht: 1 m—1 1 m—1 Fn—(r) nm pr +[1 (5) * RR. Wir haben nach dieser Formel in der 1. Generation, da Ce) — list: EB, — mDR. ferner: F,— on? DR-+ ,n® RR RB, = an °DR-+ Int RR F ae an 4 8 8 1 15 es ok .S.Ww. cn DR + 762 RR u. s. w Setzen wir für n 4 ein, so erhalten wir die”Werte des obigen Schemas. Die Anzahl der RR-Kinder nähert sich daher mit wachsendem m immermehr dem Werte n", die Anzahl der Bastarde DR wird da- 2 : : eier 5 gegen ein immer geringerer Bruchteil ie von.n2,, Dos Ist auch der Plate’sche Weg über die Mendel’schen Gesetze nicht gangbar. Auch eine dominierende Mutante ıst bei der Kreuzung mit der Stammart rettungslos verloren. Obgleich die Anzahl der DR-Tiere absolut zunimmt, verschwindet sie schließlich vollständig ım Verhältnis zur Zahl der RR-Tiere. Nach wenigen Generationen muss die Stammart die Mutante verdrängen. Die Spur der letzteren wird aber bei den Mendel’schen Kreuzungen um so vollständiger ausgetilgt, als die neuen Anlagen in den RR-Kindern wahrschein- lich in den meisten Fällen nicht nur latent geworden, sondern total eliminiert sind. Mehr Aussicht auf eine Lösung der in Rede stehenden Schwierig- keit dürften die von de Vries entdeckten Gesetze der Mutationen und der Mutationskreuzungen während der Mutationsperioden bieten. Nach diesen treten die Mutanten in den Mutationsperioden nicht vereinzelt und zufällig, sondern in einer größeren Anzahl und mit einer gewissen Regelmäßigkeit längere Zeit hindurch auf. Schon Kranichfeld, Wie können sich Mutanten bei freier Kreuzung durchsetzen? 597 dadurch wachsen bei den Mutanten die Aussichten auf Erhaltung. Nennen wir den Prozentsatz, in welchem die Mutanten während der Mutationsperiode jährlich in der Aussaat erscheinen, mit Hugo de Vries den Mutationskoöffizienten, so beträgt derselbe bei der Mutante Oenothera gigas etwa 0,01°/,, bei Oenothera rubrinervis O,1°|, und bei der Oenothera oblonga 1°|,. Den Beweis, dass er event. sehr viel höher steigen kann, haben wir nach Hugo de Vries in Plantago lanceolata ramosa und ın der White’schen Tomate. Bei ersterer betrug der Mutationskoöffizient 50°%,, bei letzterer sogar 100°/,, d.h. die halbe bezw. die ganze Ernte bestand aus Mutanten. Dazu kommt, dass sich die Mutanten der Mutationsperiode auch bei der Kreuzung mit der Mutterart wesentlich anders verhalten als die, welche außerhalb der Mutationsperiode auftreten. Die Nach- kommen aus jener sind nämlich 1. schon in der ersten Generation dimorph; sie treten zum Teil einseitig in der Form der Mutterart, zum Teil einseitig in der Form der Mutante auf; 2. besitzen diese beiden Formen nicht den Charakter der Bastarde, sie sind vielmehr bei Selbstbefruchtung von Anfang an konstant. Das Zahlenverhältnis, in welchen bei der Kreuzung die Formen der Mutante bezw. der Mutterart erscheinen, ist verschieden je nach der gekreuzten Mu- tante. Bei Oenothera lata X Oenothera Lamarckiana waren von den Kindern 4—45°/, Oenothera lata (im Durchschnitt 21—-24°/,); bei Oenothera nanella X Oenothera Lamarckiana waren 2—48°/, Oeno- thera nanella (im Durchschnitt 17—24°/,). Ein ähnlicher Prozent- satz ergab sich auch für andere Mutanten der Oenothera Lamarckiana. Doch stieg für Oenothera rubrinervis X Oenothera Lamarckiana die Erbzahl der Mutante auf 74°/, und bei Oenothera gigas X Oenothera Lamarckiana sogar auf 100°/,. Verstehen wir unter Erbzahl einer Mutante das relative Vor- kommen der Mutantenform unter den Nachkommen einer Kreuzung von Mutterart und Mutante, so muss, wenn sich ein hoher Mutations- koöffizient mit einer hohen Erbzahl verbindet, die Stammart von der Mutante gleichsam verschlungen werden, d. h. es muss die letztere, wenn sie sonst erhaltungsfähig ist, die Stammform in kürzester Zeit verdrängen. Bei dieser Annahme werden dann auch eigentümliche Erschei- nungen in der zeitlichen Aufeinanderfolge der Typen, wie sie uns die Paläontologie zeigt, verständlich. Besonders in der relativ gut gekannten Geschichte der Ammonitenfamilie wiederholt sich be- kanntlich außerordentlich häufig ein plötzlicher Wechsel der Sippen. In vielen Fällen kann man ıhn auf die Einwanderung einer über- legenen neuen Art zurückführen. In anderen, wo der Umschlag in allen uns bekannten Gebieten in gleich unvermittelter Weise ein- tritt, reicht diese Hypothese allein zur Erklärung der Tatsache nicht aus. Es gilt das schon für die älteren Formen der Ammonoideen, 598 Kranichfeld, Wie können sich Mutanten bei freier Kreuzung durchsetzen? die Goniatiten. Bei ihnen treten z. B. mit einem Schlag ganz neue Gattungen an der Basis des Oberdevons und ebenso wieder in der oberen Etage desselben auf. Nur eine einzige Gattung Drancoceras steigt ferner unverändert aus dem Öberdevon ins Carbon hinauf. Sonst findet man im Carbon gleichzeitig ın Indiania, Irland, Belgien und Nassau ganz neue Genera. Derselben Erscheinung begegnen wir dann, wie besonders Moısisovics nachgewiesen hat, bei den Ammoniten der Trias. Am meisten fällt sie im unteren Jura auf. Es stellen sich hier an der Basıs plötzlich Ammoniten aus der Gat- tung Psiloceras ein unter Ausschluss aller anderen Formen. Diese verschwinden aber schon ın der nächsten Zone vollständig. Die Gattung Schlotheimia (A. angulatus) gelangt zur Alleinherrschaft, um in der weiter nach oben folgenden Zone ebenso schnell und voll- ständig von den eigentümlichen Arıetiten verdrängt zu werden. Der Wechsel ist so durchgreifend, dass nie eine dieser Formen aus einer Zone in die andere aufsteigt und erfolgt, was das Selt- samste ist, in allen uns bekannt gewordenen Gegenden in gleicher ‚ Weise. Es setzen z. B. die Zonen mit Psiloceras, Schlotheimia und den Artetiten gleich scharf ab ım Jura Deutschlands, Frankreichs und Englands, auf Timor und Rotti ın Hinterindien, ın Japan, Mexiko, Peru, Chile, Argentinien — kurz überall, wo wir über- haupt den unteren Lias antreffen. Es taucht da die Frage auf, wie es möglich war, dass die neue Art die alte überall so glatt aus dem Sattel heben konnte, trotz der verschiedenen Verhältnisse, unter denen sie letztere antraf. Die Sedimente, in denen wir die aufeinanderfolgenden Typen finden, sınd in der einen Gegend kalkiger, ın der anderen toniger oder sandiger Natur. Die verdrängte Sıppe hat also zum Teil ın der Küstennähe, zum Teil auf der Hochsee gelebt. Ebenso hat der Wechsel wahrscheinlich unter verschiedenen klimatischen Zonen stattgefunden. Wenn nur der Kampf ums Dasein im Spiel ge- wesen wäre, müsste man unter solchen Verhältnissen erwarten, dass sich die Überlegenheit der neuen Art an der einen Stelle schwächer als an der anderen geltend gemacht hätte und wir darum an einzelnen Orten auch ein Nebeneinander der alten und der neuen Form anträfen. Dass letzteres an den vielen oben angeführten Fund- stätten niemals zu beobachten ist, ist jedenfalls sehr merkwürdig. Diese Schwierigkeit fällt aber hinweg, wenn wir voraussetzen dürfen, dass die für die Mutanten in der Mutationsperiode der Oenothera Lamarckiana geltenden Gesetze auch während der phylogenetischen Entwickelung eine Rolle spielten. Dann mussten die alten Formen unter bestimmten Bedingungen ganz von selbst verschwinden und in der von uns beobachteten Weise der neuen Form Platz machen. Man könnte nun freilich meinen, dass damit zugleich die An- Nusbaum, Zur Beurteilung der Geschichte des Neolamarckismus. 599 nahme einer nicht nur stoßweisen, sondern im eigentlichen Sinne sprunghaften Mutation geboten wäre. Das würde in der Tat der Fall sein, wenn die Stammart stets durch die Tochterart ersetzt würde. Aus den Mutationsgesetzen selbst folgt letzteres aber an sich noch nicht. Es lässt sich aus ihnen wohl die Möglichkeit konstruieren, wie sich eine Mutante durchzusetzen vermag. Es kann daher die Tochterart Successor sein; sie kann aber auch nur zum Totengräber der Mutterart werden. Sind die betreffenden Mutanten nicht erhaltungsfähig, wie es bei allen im de Vries’schen Versuchs- garten erscheinenden Mutanten der Fall war, so ist die einzige direkte Wirkung der Mutationsperiode, dass der Vermehrungs- koöffizient der Stammart sinkt. Er nimmt ab um die Größe des Mutationskoöffizienten. Da bei Beutetieren und -Pflanzen mit der Verminderung der Individuenzahl aber umgekehrt der Vernichtungs- koöffizient wächst -- ich erinnere an die bekannte Erfahrung Dar- win’s, der niemals Getreidesamen auf Gartenbeeten gegen Vögel schützen und zur Reife bringen konnte — so kann schon ein ge- ringes Zurückgehen des Vermehrungskoöffizienten zum Untergang der Stammart führen. Eine etwa vordringende neue Art, die bis dahin gegen die alte Art nicht aufkommen konnte, kann sich nun ausbreiten. Nicht weil sie die alte Art im Kampfe besiegt hätte, sondern weil diese dem Kampf mit den äußeren Verhältnissen nicht mehr gewachsen ist und darum das Feld räumt. Die eigentüm- lichen paläontologischen Erscheinungen nötigen uns allerdings noch die beiden Voraussetzungen zu machen, dass für die Art an jedem Ort, wo sie vorkommt, einmal eine Mutationsperiode emtritt und dass diese an einem bestimmten Ort durch die äußeren Umstände gleichzeitig für viele Arten ausgelöst wird. Dagegen braucht sie an verschiedenen Orten nicht gleichzeitig aufzutreten. Wenn wir auch überall im unteren Lias auf die Schlotheimia die Arieten folgen sehen, so haben wir doch keineswegs anzunehmen, dass etwa die Arietenschichten in Württemberg und auf Timor und Rotti synchron sind. Zur Beurteilung und Geschichte des Neolamarckismus, Von Prof. Dr. Joseph Nusbaum (Lemberg). In einem größeren, soeben in polnischer Sprache erschienenen Werke unter dem Titel „Idea ewolucyi w biologu*!) (Die Evolu- tionsidee in der Biologie) habe ich mich bemüht, unter anderen den Begriff des sogen. Neolamarckismus näher zu definieren. 1) J. Nusbaum, „Idea ewolucyi w biologi“; Groß. 8°, 560 Seiten mit vielen Abbildungen und mit Porträts von: Linne, Lamarck, Geoffroy, St. Hilaire, Cuvier, Buffon, Darwin, Haeckel, Wrzeiniswski, Weismann, de Vries. Lemberg 1910. Verlag von H. Altenberg. 600 Nusbaum, Zur Beurteilung der Geschichte des Neolamarckismus. Hier möchte ich nur einige Grundideen meiner diesbezüglichen Anschauungen ganz kurz darstellen. Prof. Ludwig Plate hat ın seinem so äußerst inhaltsreichen und einem jeden Biologen, der die verschiedenartigen modernen An- schauungen über das Entwickelungsproblem des Organischen kritisch und objektiv zu behandeln strebt, so äußerst sympathischen Werke „Selektionsprinzip und Probleme der Artbildung“ (3. Auflage, 1908) auf die Vieldeutigkeit des Begriffes Lamarckismus (S. 449) hinge- wiesen. Er unterscheidet vier „Formen“ von Lamarckismus: 1. Den Funktionslamarckismus, der ın dem Satze gipfelt, dass neben den von außen kommenden Reizen (Klima, Ernährung u. s. w.) die Funktion der Organe für die Umbildung der Arten von größter Bedeutung ist, indem intensiver Gebrauch ein Organ stärkt und Nichtgebrauch es schwächt, was zum Fortschritte oder Rück- tritte des betreffenden Organes in der Generationsreihe führt. 2. Den Vererbungslamarckismus d.h. die Annahme einer : Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften (eine einfache Konsequenz von ID). 3. Den Adaptionslamarckismus d. h. die Annahme einer direkten Anpassungsfähigkeit. 4. Den Psycholamarckismus d. h. die Anschauung, dass jedes Bedürfnis die Mittel zu seiner Befriedigung hervorruft. Nur die erste und zweite These passen, sagt Plate, in die kausalmechanische Naturauffassung hinein, da die Wirkungen des Gebrauches und Nichtgebrauches, sowie die somatische Vererbung sich auf unzweckmäßige Bildungen beziehen können. Die dritte und vierte These hingegen haben, nach Plate, ein vitalistisches Gepräge, denn sie legen in den Organismus die zielstrebige, zweck- mäßige Reaktionsfähigkeit auf Grund eines psychischen Faktors hinein. Nun scheint es mir, dass die obige Einteilung des Begriffes Lamarckismus oder, richtiger gesagt, wenn wir von den modernen Richtungen sprechen, des Neolamarckismus nicht ganz zutreffend ist. In dem Neolamarckismus, als in einer Summe von modernen deszendenztheoretischen Anschauungen, die sich auf Lamarck’sche Prinzipien stützen, sehe ich drei Hauptrichtungen, welche den drei Hauptideen des Lamarck’schen Evolutionismus ent- sprechen. Ich bezeichne dieselben als: 1. Intrakausaler Progressivismus. 2. Mechanolamarckismus. 3. Psycholamarckismus. Diese drei Richtungen unterscheiden sich voneinander sehr wesentlich und bildeten, wie erwähnt, drei verschiedene Grundideen bei Lamarck selbst, wobei sie bei diesem Denker auch dem Um- Nusbaum, Zur Beurteilung der Geschichte des Neolamarckismus. 601 fange nach große Differenzen zeigten, da Lamarck den von uns sogen. „intrakausalen Progressivismus“ als einen Faktor der Ent- wickelung der ganzen organischen Welt, den „Mechanolamarckismus“ als einen Entwickelungsfaktor der Pflanzen und niederen Tiere und den „Psycholamarckismus“ als den wichtigsten Entwickelungsfaktor der höheren Tiere betrachtet hat. Die erste Grundidee Lamarck’s wurde bis jetzt sehr wenig beachtet. Der scharfsinnige Kenner der Lamarck’schen Anschauungen Prof. L. Plate hat diese Idee Lamarck’s gar nicht beachtet und erwähnt sie mit keinem Worte in seinem trefflichen Werke „Selektions- prinzip und Probleme der Artbildung*“ (3. Auflage). In einigen meiner früheren, teilweise in polnischer Sprache erschienenen Schriften allgemein-biologischen Inhaltes (1908, 1909, 1910) habe ich diese Seite der Lamarck’schen Entwickelungslehre hervorgehoben und auch in einem in deutscher Sprache im vorigen Jahre erschienenen Artikel?) habe ich dieselbe nachdrücklich betont. In A. Wagner’s „Geschichte des Lamarckismus“ 1909 wurde gleicher- weise dieser Gedanke Lamarck’s hervorgehoben. „Der Zustand — sagt der französische Denker in seiner „Philo- sophie Zoologique (deutsche Übersetzung von Arnold Lang 1903, Seite 113) — in dem wir alle Tiere antreffen, ist . ... einerseits das Ergebnis der wachsenden Ausbildung der Organisation, die darauf. ausgeht, eine regelmäßige Stufenfolge herzu- stellen, und andererseits die Folge der Einflüsse einer Menge sehr verschiedenartiger Verhältnisse, welche beständig bemüht sind, die Regelmäßigkeit in der Stufenfolge der wachsenden Ausbildung der Organisation zu vernichten.“ Lamarck nimmt also an, dass, falls die Einflüsse verschieden- artiger Verhältnisse d. h. überhaupt die äußeren Einflüsse auf den Lebenslauf der Organismen nicht gewirkt hätten, diese letzteren eine regelmäßige Stufenfolge „von den unvollkommensten bis zu den vollkommensten“ bilden würden. Er ist also der Meinung, dass die immer wachsende Kompliziertheit m der phylogenetischen Entwickelung der Organismen d. h. der Progressivismus dieser letzteren durch einen inneren, den Lebenswesen selbst implizierten und von den äußeren Ursachen unabhängigen Bildungstrieb bedingt wird und dass die äußeren Einflüsse eben diese sozusagen innere, intrakausale Regelmäßigkeit der Stufenfolge „vernichten“ und eine „durchgehende aber unregelmäßige Abstufung“ in der Organı- sation und in den Funktionen der Pflanzen und Tiere bedingen. Die unabhängig von äußeren Einflüssen existierenden inneren Triebe oder inneren Ursachen, wie wir sie nennen möchten, wurden 2) Neue Weltanschauung 1909. 602 Nusbaum, Zur Beurteilung der Geschichte des Neolamarckismus. nicht nur von Lamarck, sondern bekanntlicherweise auch von manchen späteren Biologen ganz unabhängig angenommen, vor allen aber von Karl Naegeli (Mechanisch-physiologische Abstammungs- lehre 1884), dessen Vervollkommnungsprinzip, nach welchem aus inneren Ursachen, intrakausal eine immer steigende phylogenetische Entwickelung vor sich geht, vollständig ım allgemeinen mit der betreffenden Grundidee Lamarck’s übereinstimmt. Da die Anhänger dieses Prinzips innere Ursachen, als Faktoren der phylogenetischen Entwickelung, annehmen, möchten wir dieselben als Intrakausalisten und die ganze betreffende Richtung als intrakausaler Progressivismus bezeichnen. Dieselbe deckt nur sich teilweise mit dem Begriff der Orthogenesis Eımer’s, da dieselbe, wie Plate ganz richtig bemerkt hat, eine durch äußere Faktoren veranlasste, bestimmt gerichtete Stammesentwickelung bezeichnet. Lamarck sucht nicht näher zu bestimmen, worin dieser innere Entwickelungstrieb besteht, Naegeli dagegen sieht im Bau und in den Funktionen des Idioplasmas, welches sich nach diesem Forscher ‘von Generation zu Generation in bestimmten Bahnen verändert, die Ursache der Vervollkommnung. Eine große Übereinstimmung in den Anschauungen Lamarck’s und Naegeli’s sehe ich auch darin, dass nach beiden Forschern die äußeren Einflüsse auf den inneren Entwickelungstrieb modifizierend einwirken. Naegeliunterscheideteine „vervollkommnende Variabilität“, die durch innere Ursachen bestimmt und eme „Anpassungs- varıabılıtät“, welche durch die äußeren Ursachen bedingt wird. Diese äußeren Ursachen modifizieren das ldioplasma und rufen so- mit indirekt gewisse Modifikationen im Bau des Organısmus in An- passung an die äußeren Bedingungen hervor z. B. eine stärkere Entwickelung des Haarkleides infolge des Einflusses der Kälte. Auf eine nähere Begründung der Idee der „wachsenden Organi- sationsentwickelung“ lässt sich Lamarck nicht ein, weil er sie für ganz klar und keines Beweises bedürftig hält. Er behandelt da- gegen ausführlich den Grundsatz über den Einfluss der äußeren Um- stände auf die Entwickelung der Organısmen. Nun wirken nach Lamarck die äußeren Umstände auf die Pflanzen und auf die niederen Tiere, die eines gut entwickelten Nervensystems vollständig oder teilweise entbehren und demnach auch kein „inneres Gefühl“ besitzen, unmittelbar eın. Unmittelbar üben die äußeren Verhältnisse ihren Einfluss auf diejenigen Organismen aus, bei welchen es noch keine „wirklichen Gewohnheiten“ gibt. „Bei den Pflanzen — sagt Lamarck — bei denen es keine Tätigkeiten und keine wirklichen Gewohnheiten gibt, rufen größere Verhältnisänderungen nichtsdestoweniger große Veränderungen in der Entwickelung ıhrer Teile hervor, so dass die einen von ihnen Nusbaum, Zur Beurteilung der Geschichte des Neolamarckismus. 603 sich stärker ausbilden, während die anderen sich abschwächen und verschwinden. Hier entsteht jedoch alles infolge der Änderung in der Ernährung der Pflanze, in ihrer Absorption und Transpiration, in der Wärmemenge, in der Licht-, Luft- und Feuchtigkeitszufuhr und zuletzt in dem Übergewicht mancher Lebensregungen über andere.“ Dasselbe bezieht sich gleicherweise auf die niedrigsten Tiere, welche noch schwach entwickelte intellektuelle Fähigkeiten und gleich den Pflanzen „noch keine eigentlichen Gewohnheiten“ und keine „inneren Gefühle“ besitzen. Die Annahme eines solchen direkten Einflusses der äußeren Faktoren auf die Veränderung der Organisation muss als rein mechanistisches Prinzip angesehen werden. In welcher Kategorie des „Lamarckismus“ der Plate’schen Einteilung gehört nun dieses Prinzip? Nicht zum „Funktions- lamarckismus“, weıl es sich in diesem letzteren vor allem um den Gebrauch der Organe handelt. Nicht zum „Vererbungslamarckis- mus“, welcher speziell die Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften anbelangt, aber auch nicht zum „Adapionslamarckismus“ und zum „Psycholamarckismus“, weil die beiden letzteren Prinzipien nach Plate ein vitalistisches Gepräge haben, und im Organismus eine zielstrebige, zweckmäßige Reaktionsfähigkeit hineinlegen, während das Lamarck’sche Prinzip des direkten Einflusses der äußeren Be- dingungen auf die Organismen ein rein mechanistisches Prinzip ist. Die äußeren Einflüsse bedingen direkt gewisse Organisationsver- änderungen ganz ähnlich, wie sie auch auf anorganische Körper modifizierend wırken können; es ist dabei keine Rede von einer zielstrebigen, zweckmäßigen Reaktionsfähigkeit. Lamarck gibt uns viele Beispiele solcher direkten Wirkung der äußeren Bedingungen, besonders bei den Pflanzen und in heutigem Neolamarckismus haben wir eine ganze Fülle von Tatsachen, welche dieses wichtige Prinzip bestätigen und erweitern. Der Einfluss der veränderten Temperatur auf die Färbungsmodifikationen der Schmetterlinge (die Unter- suchungen von Standfuß, Fischer u. s. w.) möge als Beispiel solcher Wirkungen dienen, die gar nicht mit einer „zweckmäßigen“ Reaktion des Organısmus zu tun haben. Das obige, rein mechanistische Prinzip bezeichnen wir also als „Mechanolamarckismus“; dasselbe beruht, kurz gesagt, auf einem direkten Einflusse verschiedener äußerer Agentien auf die Ver- änderlichkeit der Organismen. Mechanolamarckismus ist ein Entwickelungsprinzip vom sehr allgemeinen Charakter und wurde schon in seinem ganzen Umfange auch von Charles Darwin angenommen, nach welchem die äußeren Verhältnisse einen direkten Einfluss auf die Organismen ausüben, wobei jedoch dieser Einfluss immer durch die Selektion reguliert wird, 604 Nusbaum, Zur Beurteilung der Geschichte des Neolamarckismus. Ehe wir zum dritten Prinzip des Lamarckismus übergehen, be- merken wir im Anschluss an die oben erwähnte Stellung der Selek- tion Darwin’s zum Mechanolamarckismus, dass es ganz falsch ist, wie dies viele Feinde, aber leider auch viele Anhänger der Darwin’- schen Lehre annehmen, dass nach dem englischen Denker die natür- liche Auslese die ursprüngliche Ursache irgendwelcher Modifikationen der Organismen wäre. Variabilität ıst nach Darwin, wie auch nach den meisten unseren modernen Anschauungen, eine von der Selektion und von der Anpassung ganz unabhängige Erscheinung. Das Variieren wird ın erster Linie durch die äußeren Einflüsse oder durch die Kombination der erblichen Anlagen der Eltern und weiteren Vorfahren bedingt, welche Anlagen ihrerseits ebenfalls durch die äußeren Einflüssen bedingt worden sind, da alles, was jetzt in den Organismen selbst steckt, einstweilen außerhalb der- selben lag. Mechanolamarckısmus ist deshalb das wichtigste das Variieren der Pflanzen und Tiere bedingende Prinzip. Es ist aber eine ganz andere Frage, auf welchem Wege die nützlichen, adaptiven Eigenschaften, besonders aber die verwickelten Adaptationen der Organismen entstehen? Eine mechanische, wenigstens teilweise Erklärung dieser Frage gibt uns zurzeit, meiner Ansicht nach, nur die Selektion, deren Wirkung von de Vries ganz richtig mit einem Sieb verglichen worden ist. Die Selektion wirkt als ein Sieb, auf welchem Gutes, d. h. den Bedingungen Angepasstes übrig bleibt und durch welches Schlechtes d. h. Unzweckmäßiges durchläuft und verloren geht. Es ist jedoch ganz falsch, wenn manche Gegner der Selektion, um die Bedeutung derselben herabzusetzen, behaupten, dass die Selektion nur „ver- nichtend“, negativ wirkt, keineswegs aber positiv, bildend. Wenn sie die zweckmäßigen Kombinationen der organischen Eigenschaften erhält und die unzweckmäßigen eliminiert, so ist ihre Wirkung nicht nur eine vernichtende, negative, sondern eine schöpferische, eine positive, da dank der Selektion zum größten Teil nur zweckmäßige organische Einrichtungen in der langen Reihe der Generationen übrig bleiben und somit richtet sich die Organismenwelt in gewisse, durch die Selektion bedingte Bahnen, was keineswegs lediglich als eine negative Wirkung bezeichnet werden kann. Darwin hat sich, ganz ähnlich wie de Vries, die Wirkung der Selektion als diejenige eines Siebes gedacht, obwohl er diesen Vergleich nicht durchgeführt hat. Die Selektion ist keineswegs ın der Beziehung ein aktiver Faktor, dass sie irgendwelche Variationen hervorruft; die Variationen entstehen unabhängig von der Selektion, und diese letztere wählt nur zwischen den schon vorhandenen Variationen. Darwin hat nur in diesem Sinne die Wirkung der Selektion verstanden. Nusbaum, Zur Beurteilung der Geschichte des Neolamarckismus. 605 Und in diesem Sinne ist de Vries ein ebensolcher Selektionist wie Charles Darwin, indem er durch die Selektion .die Genese der nützlichen Anpassungen zu erklären sucht; er sagt z. B.°): „Die unterscheidenden Merkmale der elementaren Arten sind nur sehr gering. Wie weit verschieden sind sie von den schönen Anpassungs- einrichtungen der Orchideen, der insektenfressenden Pflanzen und so vieler anderer! Hier liegt der Unterschied in der Anhäufung zahlreicher elementarer Eigenschaften, die alle zu demselben End- ziele beitragen. Der Zufall muss sie hervorgebracht haben, und dies würde vollkommen unwahrscheinlich, sogar unmög- lich erscheinen, wenn nicht Darwin’s geistvolle Theorie wäre. Der Zufall spielt dabei eine Rolle, aber nicht mehr als überall sonst. Es geschieht nicht durch den Zufall allein, dass die Variationen sich in der erforderlichen Richtung bewegen. Sie be- wegen sich in Wirklichkeit gemäß Darwin’s Anschauung in allen Richtungen oder wenigstens in vielen. Wenn diese die nützlichen einschließen und wenn sich dies eine Anzahl von Malen wiederholt, so ist Anhäufung möglich; wenn es nicht der Fall ist, so gibt es einfach keinen Fortschritt, und der Typus bleibt durch die Jahr- hunderte stabil. Die natürliche Zuchtwahl wirkt beständig wie ein Sieb, welches die nutzlosen Veränderungen beseitigt und nur die wirklichen Verbesserungen zurückbehält. Daher... die zunehmenden Anpassungen an die spe- zialisierten Lebensbedingungen“. Und was wollte Darwin mehr mit seiner Selektionstheorie erklären? Nichts mehr als de Vries. Eine von der Selektion ganz unabhängige Sache ist aber die Frage, wie die Veränderungen selbst entstehen, die der Wirkung der Selektion unterliegen, ob sie allmählich oder sprungweise entstehen; beide Entstehungsarten der Variationen nahm schon Darwin an, und beide nimmt de Vries an, indem er je- doch im Gegensatz zu Darwin den letzteren (sogen. Mutationen) eine hauptsächliche Bedeutung, den ersteren (sogen. Fluktuationen) eine nur sehr untergeordnete Rolle zuschreibt. Von der Frage, wie die Veränderungen entstehen, ob fluktuierend oder sprungweise, ist weiter diejenige ganz unabhängig, wodurch die ersteren zustande kommen. Inwieweit Darwin und de Vries der Wirkung äußerer Einflüsse eine nicht unwichtige Rolle in dieser Hinsicht zuschreiben, sind sie beide Mechanolamarckisten. Es ist aber sehr falsch und irreleitend in Anbetracht des oben Gesagten de Vries unbedingt als einen Antiselektionisten, als einen Antidarwinianer im engeren Sinne zu erklären, wie dies viele mo- 3) de Vries, Arten und Varietäten und ihre Entstehung durch Mutation. Deutsch von H. Klebhan. Berlin 1906. S. 350. 606 Nusbaum, Zur Beurteilung der Geschichte des Neolamarckismus. derne Deszendenztheoretiker zu tun pflegen (z. B. France, Buekers a. A... De Vries, wie wir gesehen haben, schreibt dem Darwin’- schen Selektionsprinzip eine hervorragende Rolle bei der Erklärung der Genese der zweckmäßigen organischen Anpassungen, und das war ja die Grundidee Darwin’s Zuchtwahlslehre. Es ist auch ganz falsch, wie wir schon erwähnt haben, den Mutationismus der Selek- tionstheorie ın bezug auf die Art und Weise des Variierens gegen- überzustellen, da Darwın selbst ja außer den kleinen Variationen auch die sprungweise entstehenden (single variation) angenommen hat, obwohl er denselben nicht eine so große Bedeutung zugeschrieben hat, wie de Vries. Aber andererseits eliminiert, sozusagen, die Mutationslehre die größte Schwierigkeit des Selektionismus, d. ı. die Wirkung der Selektion bei den Anfangsstadien nützlicher Eigen- schaften. Wenn nützliche Eigenschaften auch sprungweise entstehen können, d. h. von Anfang an einen gewissen höheren Entwickelungs- grad zeigen, so ist in diesen Fällen natürlich die Wirkung der Auslese viel verständlicher. In dieser Hinsicht findet der Selektionis- mus ın der Mutationslehre eine nicht unwichtige Stütze. Kehren wir jetzt wieder zu den Lamarck’schen Anschauungen. In diesen letzteren herrscht, wie schoen erwähnt, ein stark ausge- prägter Dualismus und zwar einerseits in bezug auf die Pflanzen und niederen Tiere und andererseits auf die höheren „mit Gewohn- heiten und mit dem Willen“ begabten Formen. Auf die ersteren wirken die äußeren Faktoren direkt, auf die letzteren aber — auf indirektem Wege und zwar folgendermaßen: jede größere und be- ständigere Änderung der „Verhältnisse“, in denen die betreffenden, mit gehörig entwickeltem Nervensystem begabten Tiere sich be- finden, wird von denselben gefühlt, wodurch sie „neue Bedürfnisse“ hervorruft. Jede Änderung der Bedürfnisse ruft nun behufs ihrer Befriedigung neue Tätigkeiten, somit auch neue Gewohnheiten her- vor; neue Tätigkeiten bewirken nun ihrerseits, dass das Tier manche Organe, die bis dahin wenig tätig waren, öfter gebraucht, wodurch diese Organe einer Vergrößerung oder einer Veränderung in einer gewissen Richtung unterliegen, wogegen andere durch Nichtgebrauch rückgebildet werden oder sogar gänzlich verschwinden. In den zuletzt erwähnten Fällen wırken also dıe äußeren Agen- tien auf den Organismus nur indirekt, wobei in der Kette der Ur- sachen und Wirkungen folgende Elemente vorhanden sind: der äußere Faktor, das innere Gefühl — also ein psychisches Moment, Gebrauch des Organes, Funktionsänderung desselben, morphologische Veränderung des Organes. Infolgedessen, dass diese Kette ein psychisches Element um- fasst, bezeichnen wir diesen ganzen Wirkungskreis als Psycho- lamarckismus; derselbe umfasst im Sinne der Lamarck’schen Theorie auch den von Plate sogen. Funktionslamarckismus, der Nusbaum, Zur Beurteilung der Geschichte des Neolamarckismus. 607 nicht als etwas Selbständiges im Lichte der Lamarck’schen An- schauungen gelten kann. Der Psycholamarckısmus ıst also nur ein Teil des Lamarckismus und er bezieht sich im Sinne den Anschauungen des französischen Denkers nur auf die höheren Tiere, die mit einem gehörig ent- wickelten Nervensystem und mit dem Willensvermögen begabt sind. Es ist deshalb ganz falsch und irreleitend, den heutigen Psycho- lamarckismus -— wie es die vielen Anhänger dieser modernen Rich- tung tun — als die Weiterentwickelung der Lamarck’schen Lehre überhaupt zu betrachten; er ist nur eine Anwendung eines Teiles der Lamarck’schen Lehre (welcher sich auf die höchsten Organismen bezog) an das sämtliche Tierreich und Pflanzenreich (Franc6e, Reinke), was jedoch der französische Forscher, als ein sehr kritischer Denker, nie zu tun gewagt hätte und auch nicht getan hat. Die heutigen Psycholamarckisten haben die Anschauungen des französischen Forschers übertrieben, einen Bruchteil seiner Theorie haben sie auf die ganze organische Welt angewendet, Willenstätig- keit haben sie nicht nur den niederen Tieren, welche nach vielen neueren überzeugenden Experimentaluntersuchungen z.B. von Bette größtenteils bloß als Refiexmaschinen angesehen werden müssen, sondern auch den Pflanzen, die des Nervensystems gänzlich ent- behren, zugeschrieben. Das ist ein ganz naiver Anthropomorphis- mus, mit welchem die exakte Naturwissenschaft nichts zu tun hat. Hier kann man gut den tiefgreifenden Satz anwenden, dass wo Begriife fehlen, stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein. Den Höhe- punkt dieser naiven psycho-lamarckischen Anschauungen finden wir in den Auseinandersetzungen Frances, in dessem Werke „Das Sinnesleben der Pflanzen“ 1905. Die Anpassungen der Pflanzen, meint der Verfasser, entstehen durch eigene Bewirkung dieser Organismen, aber nicht auf passivem Wege. Die Tätigkeit des ÖOrganısmus wirkt nach zweckstrebenden Prinzipien, indem er nach seinen durch Reize vermittelnden Empfindungen so handelt, dass seine Tätigkeit zwischen den verschiedenen Erregungen auswählt. In den Tätigkeiten des Organismus verrät sich also „Urteilskraft“ und da nun kein Urteil ohne Empfindung, Wille und Vorstellung zustande kommt, diese aber die Elemente des seelischen Lebens sind, so haben wir das Recht — sagt France — die pflanzlichen Anpassungen auf eine „pflanzliche Seelentätigkeit“ zurückzuführen, wobei es vorläufig gleichgültig bleibt, ob diese „als bewusst oder unbewusst zu betrachten seı“*). Noch interessanter sind die Aus- einandersetzungen France’s über die „drei Seelen“ der Pflanzen und Tiere: einer „Zellenseele*, einer „Körperseele* und einer „Ge- hirnseele“. 4) Mir scheint „Urteilskraft ohne Bewusstsein“ überhaupt undenkbar zu sein. 608 Nusbaum, Zur Beurteilung der Geschichte des Neolamarckismus. Wenn man solche Sachen liest, glaubt man, dass es keine Schrift eines Naturforschers des XX. Jahrhunderts, sondern eine Frucht des Denkens eines Vitalisten des XVII. oder anfangs des XVII. Jahr- hunderts sei. Sind diese verschiedenen Seelen France&’s nicht dem Seelenduumvirate des Paracelsus oder den verschiedenen zweck- mäßig handelnden Archaeis van Helmont’sähnlich? Ist das wirk- lich eine wissenschaftliche Erklärung, wenn wir sagen, dass die „Seelen“ der Zellen urteilen und zweckmäßig handeln? Wie kann man etwas mit Begriffen erklären, die selbst vollständig unklar sind? Der deutsche Psycholamarckismus der Gegenwart lenkt, meiner Meinung nach, die wahre Wissenschaft in schlechte Wege und ist sogar gefährlich für die exakte wissenschaftliche Forschung. Hypo- thesen sind wohl nur dann nützlich, wenn sie als gute Arbeits- hypothesen d. h. als Konstruktionen gelten, die der weiteren Forschung neue Wege eröffnen, aber mit den „Seelenhypothesen“ wird die exakte Wissenschaft nicht weit vorwärts gehen. Der heutige deutsche Psycholamarckismus wird meiner Meinung nach in der Zukunft ein ebenso dunkles und unfruchtbares Kapitel in der Geschichte der Wissenschaft darstellen, wie der weit größte Teil der deutschen Naturphilosophie des XVIII. Jahrhunderts. Aber noch interessanter als die ganze obige Seelenhypothese ist die Meinung France’s, dass übrigens die „Seelentätigkeit“ der Organismen nicht in direkter Beziehung zu der Veränderlichkeit der Arten, also zur Deszendenz steht, in welcher Hinsicht der moderne Psycholamarckismus sich sehr beträchtlich von den entsprechenden Lamarck’schen "Anschauungen unterscheidet. Die Entstehung der Arten — sagt Franc& — scheint in erster Linie durch ganz andere nur „indirekt psychische“, aber bis jetzt noch nicht ge- nügend erforschte Fähigkeiten des Plasmas bedingt zu sein, von welchen die wichtigste ıst: die Fähigkeit zu rapıden Organisations- veränderungen (Mutationen). Die ganze Sache verwickelt sich also noch viel mehr als bei Lamarck und gibt uns in der Wirklichkeit absolut keine Erklärung der Faktoren der organischen Entwickelung. Ich bin also sehr weit davon entfernt, dem heutigen Psycho- lamarckismus?) eine größere wissenschaftliche Bedeutung zuzu- schreiben, und ich halte die ganze Richtung für ein temporäres Kapitel in der Geschichte der Deszendenzlehre, von welchem in der Zukunft wenig Dauerhaftes übrig bleiben wird. Jede Richtung in der Wissenschaft, sogar eine ganz verfehlte, ist aber vom historischen Standpunkte interessant, und nun möchte 5) Zu den psycholamarckischen rechne ich nicht die tiefgreifenden Ideen Semon’s (Mneme), welche von manchen modernen Psycholamarckisten ganz falsch als zugehörig dieser Richtung erklärt worden ist. Nusbaum, Zur Beurteilung der Geschichte des Neolamarckismus. 609 ich die Aufmerksamkeit derjenigen, die sich für die Geschichte des Deszendenzgedankens interessieren, darauf lenken, dass zu den aller- ersten Vorläufern der psycholamarckischen Schule der berühmte polnische Dichter Julius Slowacki gehört, der in seinem Werke „Genesis z ducha“ d. h. „Genesis durch den Geist“, welches zwar Prosa, aber ın höchst dichterischer und äußerst schöner Form ım Jahre 1844 niedergeschrieben wurde, aber erst ım Jahre 1874, lang nach dem Tode des Dichters (1849), zum erstenmal im Drucke (in Lemberg) erschienen ist, Ideen ausgesprochen hat, die uns sehr an die heutigen psycholamarckischen Anschauungen erinnern. Wir kennen ja manche Dichter, die dank ihrer Intuitionsgabe auf ganz deduktivrem Wege Gedanken ausgesprochen haben, durch welche sie als Vorläufer gewisser wissenschaftlicher Theorien anerkannt worden sind. Zu solchen Dichtern gehören z. B. in der Geschichte der Deszendenzlehre Titus Lucretius, Herder, Goethe. Zu den Vorläufern des modernen Psycholamarckismus gehört nun Julius Slowackı. In seinem Werke erzählt der Dichter dem Gotte, wie die orga- nischen Wesen von den niedrigsten zu den höchsten und endlich bis zum Menschen sich selbst durch die Tätigkeit ihrer seelischen Kräfte oder des „Geistes“ gebildet haben. Zuerst waren nur Anorganısmen vorhanden, aber ın denselben schlummerten schon Kräfte, Geister, die sich weiter herausbilden sollen. Sie haben „sich teilweise geopfert“ und dieses erste Opfer war der Tod; von nun an entstanden die Organısmen, welche sich eben von den Anorganismen dadurch unterscheiden, dass sie dem Tode unterliegen. „In den Felsen — sagt S. — liegt schon der Geist, als ein Monument der vollkommenen Schönheit; er schlum- merte noch zwar, aber er war bereit, selbst die Menschenformen zu bilden.“ Die ersten Lebenswesen entstanden, meint S., ım Schoße des Ozeans. „Die enormen Spongiarien und Zoophyten entstammten den silbernen Wellen.“ Die kleinen Mollusken und die großen, mit ansehnlichen Augen versehenen Cephalopoden gehörten eben- falls den frühesten Lebenswesen, welche sich im Ozeane heraus- gebildet haben. In diesen Lebenswesen war „ein Gedanke und eın Fühlen“ vor- handen, ihr Geist wollte neue Formen schaffen und so entstanden die ersten „Reptilien“, ıhre Köpfe aus dem Wasser des Ozeans emporhebend. Ihr „Geist mit einem immer größeren Fühlen ver- sehen, strebte zu einer vollkommenen Entwickelung der Form“ und so „erschien bei ihnen neben dem Herzen die Brust, die Ernährerin, als ein Zeichen der Mutterliebe ... und das Blut der Reptilien .. . verwandelte sich (teilweise) ın Milch.“ XXX. 39 610 Nusbaum, Zur Beurteilung der Geschichte des Neolamarckismus. So entstanden die ersten Säugetiere, aus welchen dureh die weitere Tätigkeit des Geistes, welcher zur Bildung immer höherer Formen strebte, der Mensch entstanden ist „als das finale Ziel des schöpfenden Geistes auf der Erde*. Aus den Reptilien entwickelten sich unabhängig von den Säugern die ersten Vögel, welche sich zuerst „als Echsen mit einem Vogel- Oo RL 2] oO schnabel und mit Flügeln“ darstellten. Die Pflanzen entwickelten und vervollkommneten sich ebenfalls infolge der immerwährenden Tätigkeit „der Pflanzenseele*. Indem der Dichter über die Entwickelung der menschlichen Seele und speziell der ethischen Eigenschaften des Menschen spricht, sagt er: „Die seltenen Tugenden in den Menschen besaßen auch ihre ..... Vorbereitungsformen in den alten Reichen der Geschöpfe, und das ist für mich ein Beweis, dass wir es eben dieselben ım Geiste sind, welche wir diese Formen ehemals geschaffen haben.“ „Für die (künftige) Ausbildung der Arbeitsamkeittugend ım Menschen arbeitete der Geist in den Bienen und Ameisen und in der ganzen unzählbaren Masse anderer Tiere“. „Und zu den tierischen In- stinkten und Tugenden kamen dem Menschen noch viele Produkte der Tätigkeit des Menschengeistes selbst hinzu...“ Alle diese Ideen sind bei S. ın einer wunderschönen und hoch dichterischen Form ausgedrückt, vieles ist in diesen Ausführungen mystisch und unklar, aber der Gedanke, dass der Geist, dass das psychische in den Organismen selbst steckende Element ein Bildner der organischen Formen und Tätigkeiten war, wurde von ihm sehr klar ausgedrückt und in dieser Hinsicht gehört er zu den Vorläufern der ersten Psycholamarckisten, wie Vignal (1877), Salomon Butler (1878), Delpino (1887) und der modernen Verteidiger dieser Richtung. Wir müssen jedoch hinfügen, dass was in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, bei dem so niedrigen Zustande der biologischen Disziplinen und in der Seele eines Dichters, dem keine exakten Forschungsmethoden bekannt waren, als wirklich genial uns erscheint, das kann jetzt kaum als zutreffend und keineswegs mit dem exakten wissenschaftlichen Denken vereinbar erscheinen, da wir keine Be- weise dafür anführen können, dass das höchst einfache‘ psychische Leben der niederen Tiere die Entwickelung der hoch komplizierten und äußerst zweckmäßigen Einrichtungen im Baü und alle die so sehr zielstrebenden physiologischen Funktionen derselben bedingt hat, und auch keinen einzigen Beweis dafür haben, dass den Pflanzen psychische Fähigkeiten und irgendwelche Willenstätigkeiten über- haupt zukommen, trotzdem dass in der Pflanzenwelt ebenso viele und ebenso wunderbare zweckmäßige Anpassungen im Bau und in den Funktionen vorhanden sind, wie bei den Tieren. Stieda, Über Hirnfurchen und Hirnwindungen. 611 Beim Menschen und den höchsten Tieren kann zwar bekannt- lich die Psyche zweckmäßige, zum Erhalten des Lebens und zum Sieg ım Kampfe ums Dasein führende Handlungen hervorrufen und direkt auf die entsprechenden physiologischen Tätigkeiten teil- weise modifizierend einwirken (z. B. die Verstärkung gewisser Muskel- gruppen nach dem bewussten verstärkten Gebrauch derselben), aber erstens ist es noch sehr fraglich, ob solche erworbene Eigenschaften sich auf die Nachkommen übertragen und zweitens ist es unbe- gründet, dies auf die ganze organische Welt zu übertragen und ver- allgemeinern. — Über Hirnfurchen und Hirnwindungen. Von L. Stieda. (Schluss.) 3. P. Näcke — Hubertusburg. Vergleichung der Hirnoberfläche von Paralytikern mit der von Geistesgestörten. (Erweiterter, auf der Jahresversammlung des deutschen Vereins für Psychiatrie im April 1908 zu Berlin gehaltener Vortrag.) Separatabdruck aus der Zeitschrift für Psychiatrie und psychjatrisch-gerichtliche Medizin. Bd. 65. S. 856--900. Mit 12 Ab- bildungen. 4. Näcke — Hubertusburg. Die Gehirnoberfläche von Paralytikern. Ein Atlas von 49 Abbildungen nach Zeichnungen, erläutert und mit einer Einleitung versehen. Mit einem Vorwort von Geheimrat Dr. Flechsig in Leipzig W. — Leipzig, Vogel, 1909, II, S. 98. 5. P. Näcke, Beiträge zur Morphologie der Hirnoberfläche. 40 Seiten. (Sonderabzug aus dem Archiv für Psychiatrie. Bd. 46. Heft 2.) Ehe ich zu dem Bericht über die drei hier vorliegenden Ar- beiten Näcke’s schreite, muss ich mit wenig Worten auf die Er- gebnisse der vorher besprochenen Arbeiten Kohlbrügge’s zurück- kommen. Es geschieht dies in der Voraussetzung, dass auch solche Leser diesen Bericht über Näcke’s Arbeiten in die Hände bekommen, die die Arbeiten Kohlbrugge’s bisher nicht gelesen haben. Kohlbrugge ist auf Grund außerordentlich fleißiger und müh- samer Untersuchungen verschiedener Gehirne (Javanen, Malayen und Europäer) zu der Ueberzeugung gelangt, dass die Hırnwindungen und Furchen bei den verschiedenen Rassen sowie bei verschiedenen Menschen, bei hoch und niedrig stehenden, bei begabten und unbe- gabten, außerordentlich varııeren. Die Variationen aber haben, so schließt Kohlbrugge, keine besondere Bedeutung, — es fehlt uns zunächst, trotz vielfacher Arbeiten, an einer Grundlage, um feststellen zu können, inwieweit die Windungen der einzelnen Hirne von einer mittleren Form abweichen. Er bezweifelt ferner, dass es den Forschern gelingen würde, aus einer größeren Anzahl beliebiger Gehirne, ganz einerlei, woher die Gehirne stammen, ob aus einem Seziersaal Europas oder aus anderen Weltteilen (Rassen), das Gehirn eines berühmten Mannes herauszufinden. Er zweifelt an der Existenz bestimmter Rassenmerkmale an den Gehirnen, ebenso 39* 612 Stieda, Über Hirnfurchen und Hirnwindungen. wie er daran zweifelt, dass sich die Gehirne berühmter Männer oder Frauen durch gewisse anatomisch erkennbare Merkmale aus- zeichnen. Er findet, dass die Beschreibung einzelner Gehirne solcher berühmter Männer einstweilen eine undankbare Arbeit ist. Sergi (Rom), der das Gehirn der Hereros untersucht hat, ist auch zu der Ansicht gelangt, dass es nicht möglich ist, Rassenmerkmale an den Gehirnfurchen zu finden. Unabhängig von Kohlbrugge bin ich, freilich auf einem ganz anderen Wege, zu einem gleichen Ergebnis gelangt, dass die Hirn- windungen und Furchen außerordentlich variieren und ihre Variationen deshalb ohne jegliche Bedeutung sind. Als ich meine Abhandlung über das Gehirn Sauerweins, des großen Sprachkundigen, abschloss, kannte ich die erste vorher schon erschienene Arbeit Kohlbrugge's noch nicht. Die zweite Arbeit Kohlbrugge’s ıst nach meiner Ab- handlung ım Druck erschienen, und zu meiner nicht geringen Be- friedigung finden meine Ansichten durch Kohlbrug gge nicht nur freundliche Berücksichtigung, sondern auch Anerkennung. Ich bin nun, wie bemerkt, auf einem anderen Wege zu dem- selben Ergebnis wie Kohlbrugge gelangt. Ich sage — nach Unter- suchung des Gehirns Sauerweins und mit Hinweis auf die ein- schlägige Literatur (Retzius, Hansemann, Sernow u. a.) aus der morphologischen Verschiedenheit der Hirnwindungen kann man nichts schließen. Die anatomische Untersuchung der verschie- den gestalteten Hirnhemisphären ergibt keine Anhaltspunkte, auf deren Grundlage die höhere oder geringere Begabung des Hirn- besitzers, oder einzelne hervorragende Fähigkeiten, geistiger wie manueller Art, erkannt werden können. Aus dem materiellen Sub- strat kann man auf die Verrichtungen nıcht schließen. — Ich habe weiter gesagt: die verschiedene morphologische Beschaffenheit der Hirnoberfläche, d.h. die verschiedenen, so überaus stark wechselnden Formen und Gestalten der Windungen und Furchen der Gehirnhemi- sphären haben keineswegs die große Bedeutung, die man behauptet hat. Gewisse Furchen und gewisse Windungen sind allen Menschen- gehirnen in gleicher Weise eigen — ganz einerlei, wie die geistigen Eigenschaften der Hirnträger während des Lebens beschaffen waren. Auch diese Furchen und Wiındungen lassen unzweifelhaft Unter- schiede erkennen nach Alter, Geschlecht und Rasse. Es ist Auf- gabe der morphologischen Wissenschaft, diese festen und bestimmten Windungen festzustellen. Aber viele Furchen und Windungen, die außerdem ım Gehirn vorkommen, sind ohne jegliche Bedeutung. Sie sind zufällig, sie sind individuell; eine funktionelle Bedeutung haben sie nıcht. Ich bin, dem Rat Hansemann'’s folgend, auf einem anderen Wege zu demselben Resultat wie Kohlbr ug gg e gelangt. Ich habe meine Ansicht scharf und deutlich ausgesprochen: meine Absicht war, den Glauben an die Wichtigkeit der grob anatomischen Unter- suchung der Hirnoberfläche zu erschüttern, die Meinung von der Bedeutung der individuellen Verschiedenheit der Furchen und Win- dungen für die psychische Funktion zu untergraben. Stieda, Über Hirnfurchen und Hirnwindungen. 613 Ich suche in dem feineren Bau des Hirnes die Ursache für die Verschiedenheit der psychischen Funktionen — aber das gehört wohl nicht hierher. Näcke steht nun auf einem ganz anderen Standpunkt als Kohlbrugge und ich, und zwar auf einem vollkommen entgegen- gesetzten Standpunkte. Er hat sich sowohl gegen meine Ansicht als auch gegen Kohlbrugge ausgesprochen. Er meint, Kohl- brugge träte ziemlich revolutionär auf. Näcke hat die vorgefasste Meinung, dass das Gehirn der Geisteskranken, insonderheit das (rehirn der Paraly tiker, schon äußerlich gewisse anatomische Charak- tere zeigen müsse, aber, dass die Eigentümlichkeiten der psychischen Tätigkeit mit grob anatomischer, ‚dem unbewaffneten Auge sicht- baren Verschiedenheiten der äußeren Gehirnoberfläche — Furchen und nee in Beziehung zu setzen sind. Näcke verglich deshalb das Gehirn normaler Menschen (was man so normal nennt, d. Ref.) mit dem Gehirn von Paralytikern. Näcke hat nun einen ausgezeichneten Atlas mit außer- ordentlich gut dargestellten Abbildungen der Hirnhemisphären von Paralytikern geschaffen — die Abbildungen sind von bleiben- dem Wert —, das ist das Hauptverdienst der Arbeit. Der den Atlas begleitende Text ist sehr kurz, eine ausführliche Darstellung gibt Näcke in den beiden anderen Abhandlungen. Flechsig, der Psychiater, hat zur Arbeit Näcke’s ein Vor- wort geschrieben. Er weist darauf hin, dass unzweifelhaft zwischen Syphilis und progressiver Paralyse Beziehungen bestehen. Er fragt aber dann, woher es komme, dass trotz der großen Verbreitung der Syphilis doch nur ein kleiner Teil aller syphilitisch Erkrankten von der Paralyse befallen wird. Man muss hier eine individuelle Disposition annehmen. Worin besteht diese Disposition? Gibt sich vielleicht eine individuelle Disposition in der Anordnung der Furchen und Windungen — ın der äußeren Hirnoberfläche kund? Sind die Paralytiker vielleicht schon durch die Anordnung der Furchen und Windungen ihrer Hirnhemisphären zur Paralyse disponiert? Das aber wıll Näcke, der den Lehren Lombroso’s in vielen Stücken huldigt, hier erforschen. Flechsig sagt mit Recht, Näcke habe sich auf ein sehr schwieriges Gebiet begeben. Dann sagt Flechsig, es ıst sehr fraglich, ob es einen normalen Windungstypus gibt. Es ist ferner fraglich, innerhalb welcher Grenzen der normale Windungstypus — ohne pathologische Veränderung — variieren kann. Referent stimmt dieser Meinung Flechsig’s ohne weiteres zu. Wir sind über die Art und Weise der Bildung der Gehirn- windungen und Furchen noch wenig unterrichtet, — "doch ich will nicht abschweifen. Flechsig weist mit Recht auf die verschiedene Entwickelung und Entstehung der Leitungsbahnen — gewiss mit vollem Recht. Vorderhand sind die Anlagen und das Wachstum der Leitungsbahnen das am besten bekannte mechanische Moment bei der Entstehung der Windungen und Furchen. Inwieweit nun in Paralytikergehirnen sich ganz besonders im Bereich der Asso- ziationszentren solche Auomalien (Varietäten) der Furchen und 614 Stieda, Über Hirnfurchen und Hirnwindungen. Windungen finden, kann erst durch genaue Abbildungen möglichst zahlreicher Gehirne erkannt werden. Flechsig meint, dass die Arbeit Näcke’s den Anstoß zu einer weitgreifenden Bewegung auf wissenschaftlichem Gebiet, besonders mit Rücksicht auf die funda- mentalen Fragen nach der Bedeutung der äußeren Form der Hirn- hemisphäre für die geistige Konstitution geben wird. Gehen wir nun zu Näcke’s eigener Mitteilung über. Näcke ist der Ansicht, dass die Paralytiker durch ihre Gehirnorgani- sation zur Paralyse disponiert sind; er schließt das aus der Tatsache, dass die Syphilitischen häufiger an Paralyse erkranken als andere. Ob dieser Schluss an und für sich richtig ist, will ich hier nicht erörtern; es ließe sıch vielleicht die häufigere Erkrankung von Syphilitischen an Paralyse in anderer Weise erklären als Näcke es meint. Allein ich wıll mich hier nicht auf ein fremdes Gebiet begeben. Ferner könnte nach Näcke auch die Erblichkeit eine Rolle spielen. Weil Näcke nun die Gehirnorganisation, insonder- heit die Hirnoberfläche, als diejenige Lokalität des Gehirns ansieht, die ‘zur Paralyse disponiert, so hat er eben gerade die Gehirn- windungen und Furchen von Paralytikern einer genauen Unter- suchung unterworfen und mit den Gehirnen sogen. normaler Menschen verglichen. Näcke hebt hervor, dass man im allgemeinen der Hirnoberfläche weniger Aufmerksamkeit geschenkt hat als den anderen Teilen des Gehirns, worin ich meinem verehrten Freund nicht beistimmen kann: die Literatur über die Gehirnwindungen und Furchen ist ganz außerordentlich groß. Vielleicht hat Näcke aber recht, wenn er die eingehende Untersuchung pathologischer Gehirne für wünschenswert hält — er meint damit offenbar die Untersuchung der Gehirne Geisteskranker. Er weist auf die Lom- broso-Schule, auf die Erforschung der Verbrecherhirne (Benedikt Tenchini u. a... Dann schreibt der Autor: „Es lag nun nahe genug, hier am Gehirn (der Verbrecher) Entartungszeichen, Stigmata, anzunehmen, wie man solche an dem übrigen Körper aufgestellt hat. Man erkannte jedoch sehr bald, dass die Verbrecher auch nicht ein einziges charakteristisches Symptom an Gehirnrelief besitzen, man beobachtet, dass die sogen. Stigmata sich gleichfalls und meist in gleicher oder gar größerer Häufigkeit bei Irren und Idioten vorfanden, ja, gar nicht selten sogar, bei geistig Gesunden vorhanden waren. Man erkannte nunmehr, dass es sich nur um eine Frage der Quantität und nicht der Qualität handelt, ganz wie bei den sonstigen körperlichen Degenerationszeichen.“ — Ueber Näcke’s Auffassung in betreff der Stigmata will ich mich hier nicht ausführlich äußern. Ich erkenne den sogen. Stigmata gar keine Berechtigung der Existenz zu — es sind das nichts weiter als Varietäten und Variationen. Um nun einen Vergleich der Gehirne sogen. normaler Menschen und den Gehirnen von Geisteskranken zu ermöglichen, brachte Näcke in seinem Atlas eine große Anzahl von Abbildungen der Gehirne paralytischer Kranker. Näcke hat damit unzweifelhaft der Wissenschaft einen großen bleibenden Dienst erwiesen. Stieda, Uber Hirnfurchen und Hirnwindungen. 615 Die gelieferten Abbildungen sind sehr gut ausgeführt, in natürlicher Größe; sıe sind besser als Photographien. Näcke untersuchte Paralytiker und Normale, um die Gehirne miteimander vergleichen zu können, 112 Hemisphären von Para- Iytikern und 60 Hemisphären von Normalen, darunter 30 Gehirne von Paralytikern aus Hubertusburg und Colditz, 26 Gehirne aus der psychiatrischen Klinik ın Leipzig und 15 Gehirne von Geistes- gestörten aus dem Krankenhause Dresden-Friedrichstadt. Ein Teil dieser Gehirne ist in dem Atlas abgebildet. Die Methode der Kon- servierung der Gehirne kommt hier nicht in Betracht. Eine Zu- sammenstellung der Ergebnisse in Form einer Tabelle findet sich auf S. 4 des Atlas und auf S. 892 der ersten Abhandlung. Die Untersuchungen und die Vergleiche sind hier im Text zum Atlas kurz und bündig mitgeteilt. Näcke schreibt: „Es fällt uns nun bei Betrachtung dieser Tabelle zunächst auf, dass sogar für selten gehaltene Bildungen, wie sıe Taschen, Trichter, Deckelgebilde, Affenspalte bei den Normalen gleiche, z. T. höhere Zahlen sich zeigen“ Referent hätte hieraus geschlossen, dass die Gehirne von Paralytikern sich von den Gehirnen normaler Menschen -— soweit hierbei die Hirnwindungen und Furchen berücksichtigt werden —, nicht unterscheiden. Und wie schließt Näcke? Er schließt, dass seine 15 sogen. Normalgehirne z. T. gewiss von Minderwertigen stammten, wie solche ja in öffentlichen Kranken- häusern oft genug sich finden. Die sogen. Normalgehirne weichen nämlich in ihrer Konstitution so sehr von dem üblichen Normal- schema ab, dass Näcke überzeugt ıst, der Zufall habe ihm einen losen Streich gespielt. Um aber doch in gewissem Sinne seine Ansıcht über die vom Normalen abweichende Beschaffenheit der Paralytiker hier doch zu begründen oder einwandfrei zu verteidigen, weist Näcke darauf hin, dass gewisse Bildungen bei Paralytikern häufiger auftreten als bei Normalen und dass gewisse andere Ano- malien nur bei Paralyse sich zeigten. Referent muss hier gegen den Ausdruck Anomalıen Einspruch erheben — dass die „gewissen Bildungen“ Anomalien sind, soll erst noch bewiesen werden; vor- läufig dürfen wir sie nur als Varietäten (Variationen) bezeichnen. Näcke sieht sich genötigt, hier zuzugeben, dass das paralytische Gehirn nichts Charakteristisches in seinem Aeußern auf- weist — aber, meint er, so sehen wir doch immerhin bedeutsame Quantitätsunterschiede in der Häufigkeit gewisser seltener Gebilde — ım Vergleich mit dem normalen Gehirn auftreten. „Da nun,“ heisst es, „wie ich in früheren Arbeiten zeigte, so- wohl die äußeren als auch die inneren Degenerationszeichen, end- lich auch die seltenen Variationen an der Hirnoberfläche bei den Paralytikern entschieden häufiger sind als bei Normalen — besonders aber die Hemmungsbildungen, so ist die Annahme, dass die para- lytischen Gehirne zumeist ab ovo minderwertig, weniger resistent, mehr oder weniger invalide sind, uns wahrscheinlich geworden.“ — Schließlich weist Näcke auf die vielfach verbreitete und, wie es scheint, sicher bestätigte Ansicht hin, dass die Paralyse erblich ist. 616 Stieda, Über Hirnfurchen und Hirnwindungen. (Erste Abhandlung, S. s78—879.) Die Frage, ob die Paralyse erb- lich ist oder nicht, können wir hier beiseite lassen. — Zum Schluss halte ich es für zweckmäßig, noch einige Worte über das Hirngewicht zu sagen. Ich selbst lege der Verschieden- heit des Hirngewichts gar keinen Wert bei. Hansemann sagt bezüglich des Hirngewichts: „Darüber sind heutzutage alle Unter- sucher einig, dass das Gewicht des Gehirns außer allem Zusammen- hang mit den geistigen Fähigkeiten des Menschen steht.“ Hanse- mann gibt auf das Hirngewicht — nichts! Ich verweise auf die Ergebnisse in betreff des Hirngewichts. — Kohlbrugge hält auch nichts von der Bedeutung des Hirngewichts. Im Gegensatz dazu stellt Spitzka fest, dass das Hirngewicht amerikanischer Männer (137 resp. 115 große Männer) weit über das Durchschnittsgewicht hinausgeht. Näcke schließt sich an die Ergebnisse Spitzka’s an und schreibt: „Auf alle Fälle haben wir also in dem Hirngewicht einen der Faktoren bezw. der Intelligenz- höhe vor uns. Dasselbe gilt, fährt Näcke fort, auch sehr wahr- scheinlich von dem Windungsreichtum, — meiner Ansicht nach varıiert das Hirngewicht auch um ein bestimmtes Mittel, aber die Verschiedenheit des Gewichts ist bedeutungslos. Um darzutun, zu welchen sonderbaren Schlüssen man gelangt, wenn man dem Hirngewicht eine gewisse Bedeutung zugesteht, zitiere ich hier die Worte eines wahrscheinlich wenig bekannten Autors; Dr. Ed. Richter, früher Privatdozent an der Universität Greifswald, schreibt ın seinem Grundriss der normalen mensch- lichen Anatomie 1896, S. 5857: Das menschliche (soll heißen: das männliche) Gehirn wiegt durchschnittlich 1375 g, das der Weiber ıst um 100 g leichter. Am schwersten ıst das Gehirn der Ana- tomen, Dichter und Chinesen (ca. 1800 g), am leichtesten das der Physiologen, Neger und Indianer (ca. 1300 g). Das Gehirn enthält ca. 80°), Wasser. — — Richter hat sich doch nicht diese Zahlen ausgedacht, sondern er hat sie — mir Ist es nicht bekannt, woher — genommen. Zugegeben, dass wirklich ein Physiologe ein leichtes Gehirn (ca. 1200 g) und ein Anatom ein schweres Gehirn von ca. 1800 g gehabt hat, darf man daraus auf die Intelligenz dieser Gelehrten einen Schluss ziehen? — Spitzka hat für die Amerikaner ein größeres Gehirn gefunden als für Eu- ropäer — sind alle Amerikaner wirklich intelligenter als die Europäer ? Buschan gibt das Hirngewicht der ehren größer an als das der Europäer und schließt daraus, dass die durchschnittliche Bildung der Chinesen bedeutender als die der Deutschen ist. Sınd das nicht Beispiele genug, um darzutun, dass für die Be- urteilung der Intelligenz das Hirngewicht keine Bedeutung hat? Näcke sieht in dem Hirngewicht einen Faktor der Intelligenz — ın dem Windungsreichtum einen anderen Faktor. Ich ver- weise auf die Ergebnisse Kohlbrugge’s, dem ich vollkommen bei- stimme. Weder das Hirngewicht noch der Windungsreichtum liefern einen Beweis für die Intelligenz. Soll ich zum Schluss noch auf den Windungsreichtum eines Tierhirns hinweisen? Üetaceen und Stieda, Uber Hirnfurchen und Hirnwindungen. 617 Schafe haben bekanntlich sehr windungsreiche Hirne — wie steht es mit der Intelligenz dieser Tiere? — Zwischen den Ansichten Näcke’s einerseits und Kohlbrugge’s und meinen eigenen andererseits besteht eine große Kluft — Kohl- brugge wird von Näcke als revolutionär bezeichnet, Kohl- brugge urteilt über die Arbeit Näcke’s: das Hauptverdienst der Arbeit liegt in dem unvergänglichen Wert der Abbil- dungen. — Es bleibt anderen Forschern überlassen, die Kluft zu über- brücken und zu entscheiden, welche von beiden Ansichten die richtige ist. Die Zukunft wird entscheiden. 6 Prof. W. von Bechterew und Prof. Weinberg, Das Gehirn des Che- mikers D. J. Mendelejew. 22 S. Leipzig 1909. Mit einem Bildnis Mendelejews und S Tafeln. (Anatomische und entwickelungsgeschichtliche Monographie, herausgeg. von Prof. Wilhelm Roux, 1 Heft.) Der in St. Petersburg ını Alter von 74 Jahren verstorbene russische Chemiker D. J. Mendelejew war ein hervorragender Gelehrter und ausgezeichneter Mensch. Das gab dazu Veranlassung, dass die oben genannten Forscher das Gehirn Mendelejew’s ein- gehend untersuchten. Sie hofften, das Gehirn würde eine andere Beschaffenheit darbieten als das Gehirn gewöhnlicher Menschen. Das Gehirn wird im Museum des psycho-neurologischen In- stituts ın St. Petersburg aufbewahrt. Eas absolute Gewicht betrug unmittelbar nach der Entnahme aus der Schädelhöhle ohne Dura mater 1571 g; das Gehirn wurde in einer 2°/,igen Lösung von Formaldehyd gehärtet und dann mit besonderer Berücksichtigung der Oberfläche genau untersucht. Wir können selbstverständlich die Einzelbeschreibung hier nicht wieder- holen; doch seı bemerkt, dass das Gehirn eurencephal ist. Aus der kritischen Beurteilang des Befundes hebe ich hervor: Nach der Ansicht der beiden oben (p. 13) genannten Forscher „verkörpert das Gehirn in morphologischer Beziehung kaum eine bloße Wiederholung des gewöhnlichen durchschnittlichen Aufbaues der Furchen in sich“. Vielmehr sind bestimmte Abweichungen von diesem Typus vorhanden, die sich schon der oberflächlichen Be- trachtung nicht entziehen. Diese charakteristischen Merkmale finden sich vor allem in zwei Regionen, nämlich am Stirnhirn und am Scheitelhirn. Nämlich: die als sogen. Sprachwindung unterschiedene Stelle nımmt in der linken Hemisphäre ein größeres Areal ein als rechts. Das sei in gewissem Sinne nicht anders zu erwarten. Doch muss bemerkt werden, dass diese Differenz zwischen rechts und links an gewöhnlichem Seziermaterial sehr häufig nicht in so deut- licher Weise ausgesprochen gefunden wird. Eine besonders reiche Form ist ın unverkennbarer Weise der Parietalregion aufgeprägt, auch hier tritt die linke Gehirnhälfte als dominierend hervor. Aehn- liche Entfaltungen hat man im Gehirn hervorragender Naturforscher (z. B. Liebig’s) getroffen. 618 Eriksson, Über die Mykoplasmatheorie etc. Es ıst außerordentlich zu bedauern, dass die beiden Autoren die früher erschienenen Arbeiten Kohlbrugge’s nicht gekannt haben, — sie würden sich dann etwas überlegt haben, ob sie die unzweifelhaft hervorragenden Geisteskräfte Mendelejew’s und den Befund der Hirnwindungen so direkt miteinander in Verbindung gebracht hätten. Die Befunde von Mendelejew’s Gehirn findet man auch an anderen gewöhnlichen Gehirnen. Die Autoren fällen gelegentlich über meine Arbeit und meine Ansicht!) ein sehr abfälliges Urteil. Ich finde keine Veranlassung, hier in eine Diskussion einzutreten — ich empfehle den beiden Autoren aber das eingehende Studium der Arbeiten Kohlbrugge’s und die anerkennende Kritik desselben Autors über meine Arbeit. Und wie beurteilt Kohlbrügge die Arbeit der beiden Autoren? Er sagt: „Uebrigens ist die Beschreibung solcher Gehirne einstweilen eine undankbare Arbeit, denn wir besitzen noch viel zu wenig, um allgemeine Schlüsse zu ziehen. — Die Verfasser drücken sich zwar sehr vorsichtig aus, aber es fragt sich, ob ıhre Auffassung, dass die gefundene außerordentliche Ausbildung des Frontal- und Parietalhirns irgendetwas mit den genialen Anlagen zu tun hat, "richtig ist.“ Dieser Kritik muss ich auch zustimmen. Wir sind heutigen Tages noch weit davon entfernt, irgendwelche positive Aussage über die Beziehungen der verschiedenen Formen, Windungen und Furchen zu besonderen geistigen Fähigkeiten zu machen. Der Schwerpunkt liegt nicht ın der äußeren Form der Windungen, sondern ın dem feineren histologischen Aufbau der Hirnrinde. Es ist gewiss eine sehr verdienstvolle und pietätvolle Handlung, das Gehirn hervorragender Personen zu untersuchen, aber weiter auch nichts. — Ob eine Leber einige Einschnitte hat oder nicht, ist für die Sekretion der Galle sehr gleichgültig, — das Gleiche gilt für die Windungen des Hirns, ob ein paar Furchen mehr oder weniger sind, ıst für die psychische Fähigkeit sehr gleichgültig. Man nehme die Arbeit Näcke’s ın betreff des Gehirns normaler und paralytischer Individuen ın die Hand; — die Autoren aber, deren Arbeiten — trotz allen Fleißes auf so unsicherer Grund- lage beruhen, sollten nicht über die abweichende Ansicht anderer Autoren so hart aburteilen — die Zukunft wird lehren, wer recht hat. Über die Mykoplasmatheorie, ihre Geschichte und ıhren Tagesstand. Von Prof. Dr. Jakob Eriksson. Neuerdings hat Prof. Dr. ©. Mareschkowsky (Kasan) in einem Aufsatze „Theorie der zwei Plasmaarten als Grundlage der Symbiogenesis“ (Biol. Centralbl. 1910, S. 231—282) als Bezeich- l) L. Stieda. Das Gehirn eines Sprachkundigen (Zeitschr. f. Morphologie u. Anthropologie Bd. XI, Heft 1, S. 83—138 mit Taf. V). Eriksson, Über die Mykoplasmatheorie etc. 619 nung für eine von ihm beschriebene Plasmaart das Wort „Myko- plasma“ gewählt, welches Wort früher von mir einem plasma- tischen Entwickelungsstadium gewisser Uredineen gegeben worden ist. Professor Mareschkowsky motiviert seine Wahl damit, dass das von mir mit demselben Namen bezeichnete Plasma '„höchst- wahrscheinlich nicht existiert“ und dass man „darum diesen Terminus als frei geworden ansehen kann“. Er beruft sich für diese seine Meinung auf eine Publikation von H. Marshall Ward, „On the hıstology of Uredo dispersa (Eriıksson) and the Mykoplasma Hypothesis (Proc. Roy. Soc., Vol. 71, London 1903, March 12, S. 353; — Phil. Trans. Roy. Soc., Ser. B, Vol. 196, London 1903, S. 29-—-46). Es scheint aber dem Prof. Mareschkowsky voll- ständig entgangen zu sein sowohl meine auf die Ward’sche Arbeit gleich folgende Erwiderung, „The researches of Professor H. Marshall Ward on the Brown Rust on the Bromus and the Mycoplasm Hypothesis“ (Kgl. Sv. Vet.-Akad., Arkiv f. Botanik, Bd. 1, May 13, Stockholm 1903), wie auch die ganze folgende Literatur über dasselbe Thema. Unter solchen Umständen fühle ich mich aufgefordert, über die Entstehung, die Entwickelung und den Tagesstand der Myko- plasmatheorie hier kurz zu berichten. Im Jahre 1890 begann ich eine eingehende Untersuchung über die Getreideroste. Schon ın den ersten Jahren dieser Untersuchung wurde ich dadurch überrascht, dass ich beim Streben, meine Wahr- nehmungen mit der allgemein herrschenden Lehre von der Natur und Entwickelungsgeschichte der betreffenden Pilze in Einklang zu bringen, wieder und wieder Schwierigkeiten auffand, die mir unver- ständlich, ja unlöslich, waren und blieben. Die Resultate der Stu- dien und Versuche aus den fünf ersten Jahren wurden teils in dem größeren Werke „Die Getreideroste“ (Stockholm 1896) teils in einer Reihe von kleineren Spezialabhandlungen dem wissenschaft- lichen Publikum vorgelegt. Im Laufe der Jahre war ich mehr und mehr zu der Überzeugung gekommen, dass man neben den schon längst bekannten Sporen- und Mycelium-Stadien bei diesen Pilzen noch ein drittes, früher unbeachtetes Stadium voraussetzen müsse, in welchem der Pilz als Plasma im Inneren der Zellen der Nähr- pflanze lebe. Jedem aufmerksamen Leser des Buches „Die Getreide- roste‘“ muss dieser Gedanke von einer eventuell vorhandenen inneren Krankheitsquelle in der Pflanze selbst als ein durchscheinender roter Faden aufgefallen gewesen sein, wenn auch das Wort nicht offen ausgesprochen wurde. Dies geschah erst im Jahre 1897, als ich kurze Notizen über diese innere Krankheitsquelle, die ich im Worte Mykoplasma einbegriff, teils der Pariser Akademie („Vie latente et plas- matique de certaines Uredinees“; Compt. rend., 1 Mars, “ 620 Eriksson, Über die Mykoplasmatheorie ete. S. 475—477) teils der Deutsch. Botan. Gesellsch. („Der heutige Stand der Getreiderostfrage“; Ber. d. Deutschen Botan. Ge- sellsch., 24. März, S. 193— 194) vorlegte. Einige Jahre später moti- vierte ich meine Meinung ausführlicher in dem Werke „Sur l’orı- gine et la propagation de la Rouille des ÜO6reales par la Semence“ (Ann. d. Sc. Nat., Ser. 8, 1900, S. 1—124; 1901, S. 1— 160). Zu dieser Zeit hatte ich jedoch nicht das wirkliche Mykoplasma gesehen. Ich nahm es nur hypothetisch an. Was ich mit meinen da benutzten einfacheren Schneide- und Färbungsmethoden hatte entdecken können, das war eine Anzahl in gewissen Gras- blattzellen vorhandener „eigentümlicher, länglicher, meistens schwach gebogener, plasmatischer Körperchen (corpuscules speciaux)*, die ich als die erste sichtbare Form, in welcher der Pilz aus dem plas- matischen in den hyphenbildenden Zustand .hervortrat, betrachten wollte. In den Jahren 1902 und 1903 wurde die Mykoplasmafrage mit Hülfe der modernen ceytologischen Einbettungs-, Schneide- und Fär- bungsmethoden zu erneuter Behandlung aufgenommen. Ich hatte das Glück und das Vergnügen, bei dieser Untersuchung den ge- schickten Cytologen Professor Dr. Georg Tischler in Heidelberg als Mitarbeiter zu erwerben. Durch diese Untersuchung wurde die Mykoplasmafrage auf einem festen Boden gestellt. Es gelang uns nämlich, und zwar schon ım ersten Sommer (1902), in gewissen chlorophyllführenden Blattgewebezellen vor dem Hervorbrechen der ersten Uredopusteln ein mehr oder weniger trübes Plasma zu entdecken, das wir als ein inniges Gemisch von gewöhnlichem Zellprotoplasma und Pilz- plasma, d.h. als wirkliches Mykoplasma betrachten müssten. Gleich- zeitig wurde es uns auch klar, dass die von mir früher als „corpus- cules speciaux* beschriebenen Bildungen nicht anders sein könnten als abgeschnittene Haustorienzweige. Im darauffolgenden Frühjahre (1905) erschien die von Prof. Mareschkowsky zitierte Arbeit von Marshall Ward, wo dieser auch die wahre Natur der „corpuscules speciaux“ beschreibt, aber außerdem noch sein verwerfendes Urteil über die Mykoplasma- hypothese im ganzen ausspricht. Gleich folgte meine oben zitierte Krwiderung „Researches etc.“, wo ich zeige, dass M.-W. das nach Infektion mit Uredosporen direkt entstehende Mycelium mit meinem Mykoplasma verwechselt hat!) und wo ich übrigens zu dem Schlusse l) Ein Missverständnis von dem, was ich mit Mykoplasma verstehe, findet man auch bei seinem Schüler, Pole Evans, indem dieser in seinem Aufsatze, „Ihe cereal rusts“, I (Ann. of Bot., Vol. 21, London 1907), wo er das Ein- dringen des uredogeborenen Myceliums beschreibt (S. 441), „the Mycoplasm hypo- thesis“ damit kennzeichnet, dass „the mycelium perennates in the form of a naked intercellular plasma“. Nach meiner Darstellung überwintert dasMycelium nicht, Eriksson, Über die Mykoplasmatheorie ete. 621 komme, „that the histological research which M.-W. tells us that he has carried out... has in no degree refuted, or even touched upon the theory 1 have advanced“. Die erste Mitteilung über die aus der neuen cytologischen Untersuchung gewonnenen Resultate wurde der Pariser Akademie bei der Sitzung am 12. Oktober 1903 in der Notiz „Sur l’appareil vegetatif de la rouille jaune des Cereales“ (Compt. rend., T. 137, S. 578—580) vorgelegt. In dieser Notiz beschrieb ich sehr kurz die verschiedenen vegetativen Entwickelungsstadien des Gelb- rostpilzes (Puccinia glumarum): 1. Mykeplasma, 2. Protomyce- lium, 3.Mycelium und Pseudoparenchym und 4. Hymenium. Im Jahre 1904 erschien der erste Teil der Publikationsserie „Über das vegetative Leben der Getreiderostpilze“ (Kel. Dv. Vet. Akad, Handl., Bd. 37, Nr. 6, Stockholm, S. 119: Mit 3 Tafeln), in welchem Prof. Tischler und ich zusammen die in meiner vorläufigen Mitteilung besprochenen Entwickelungsstadien des Gelbrostpilzes ausführlicher beschreiben und in Bildern veran- schaulichen?). Rücksichtlich der „corpuseules speciaux“ sagen wir (S. 17, Fußnote 1) folgendes: „Dass abgeschnittene Teile der Hau- storienstadien früher als Mycelienkeime unter den Namen ‚corpus- cules speciaux® mit Unrecht von J. Eriksson gedeutet wurden, war uns schon im Sommer 1902 offenbar, also viel früher als M. Ward seine Arbeit ‚On the histology ete.‘ der Londoner Aka- demie vorlegte.“ In den bis dahin vorliegenden Untersuchungen und Publ- kationen fand sich aber noch eine ärg ee Bücke2 Den Zusammenhang zwischen dem ne erzellin Ionen Plasmastadium und dem interzellularen Myceliumstadium hatten wir nicht in befrie- digender Weise darlegen können. Diesen Mangel heben wir (S. 15) in folgenden Worten hervor: „Nach den Bis jetzt vorliegenden Auseinandersetzungen und Untersuehn unterliegt es für uns keinem Zweifel, es das intrazellulare My koplasma m das inter- zellulare Protomy celium genetisch zusammengehören. Nur sind die Einzelheiten im ÜBerene von jenem zu diesem Stadium noch nicht so vollständig und end aufgeklärt worden, dass wir jetzt auf diese nee Hehe eingehen können oder wollen.“ Diese as Koriarke ich doch bald ausfüllen. Das geschah ın nächstfolgenden Publikationen aus den Jahren 1904 und 1905. Die erste Notiz davon gab ich wieder der Pariser Akademie bei ihrer und das Plasma lebt auch nicht interzellular. Das Mykoplasma ist ein über- winterndes intrazellulares Plasma. 2) Von dieser Untersuchung spricht auch G. Tischler selbst in seinem Auf- satze, „Kurzer Bericht über die von Eriksson und mir ausgeführten Untersuchungen über das vegetative Leben des Gelbrostes“ (Biolog. Centralbl., Bd. 24, 1904, S. 417-423). 622 Eriksson, Über die Mykoplasmatheorie ete. Sitzung am 4. Juli 1904 im Aufsatze „Nouvelles recherches sur l’appareil vegetatif de certaines Uredinees“ (Compt. rend., T. 139, S. 85—87) und ausführlicher wurde das Thema in neuen Teilen der Publikationsserie „Über das vegetative Leben der Getreiderostpilze* (ll, „Puccinia dispersa in der heran- wachsenden Roggenpflanze* und Ill, „Puceinia glumarum ın der heranwachsenden Gerstenpflanze,“ Kgl. Sv. Vet. Akad. Hand., Bd. 38, Nr. 3, Stockholm 1904; — und IV, „Puceinia gra- minis in der heranwachsenden Getreidepflanze,* Ib., Bd. 39, Nr. 5, Stockholm 1905) behandelt. Ich beschreibe hier zwei ver- schiedene Stadien im Plasmaleben der Pilze. Das erste ist das Ruhestadium, in welchem der Pilz nur als ein mit dem Zell- plasma symbiotisch zusammenlebendes Plasma auftritt. Dieses Sta- dium kann Monate lang fortdauern. Am Ende desselben tritt eine auffallende Hypertrophie des Zellkerns in der plasmaführenden Zelle zum Vorschein. Damit beginnt auch das zweite Stadium des Myko- plasmas, das Reifestadium, das sich durch andere, schnell auf- ‚einanderfolgende, wesentliche Strukturveränderungen der Zelle und des Gewebes kennzeichnet. Der hypertrophisch umwandelte Kern löst sich allmählich auf. Im allgemeinen wandert der Kernnukleolus in das umgebende Plasma der Zelle aus. Gleichzeitig entstehen im Plasma noch andere Nukleolen, mehrere in jeder Zelle. Dann folgt der Austritt des Pilzkörpers in die Interzellularräume durch die äußerst kleinen, dem Auge unsichtbaren Wandporen. Man findet die größeren Plasmanukleolen mit je einem schmalen fadenförmigen Fortsatz versehen, der sich gegen die Zellwand hinausrichtet, und außerhalb der Berührungsstelle sieht man ein kleines Plasmaklümpchen, den ersten Anfang des interzellularen Myceliums. Mit der Entdeckung des Nukleolarstadiums des Myko- plasmas hat die Mykoplasmatheorie eine kräftige, ja wie es mir scheint, eine definitiv entscheidende Stütze er- halten. Es lässt sich nicht länger mit Recht bezweifeln, dass ın dem dieken Plasmainhalt, der schon vorher in gewissen Zellen be- obachtet war und der mit dem Namen Mykoplasma bezeichnet wurde, etwas anderes als ein gewöhnliches Protoplasma steckt, dass darin zugleich der Stoff eines fremden Organismus eingemischt vor- kommt, ein fremdes Ding, das nur den richtigen Zeitpunkt abwartet, um aus seinem Gefängnis auszubrechen und als selbständiger Orga- nısmus hervorzutreten. Im Teile IV der oben genannten Publikationsserie, sowie auch in einer anderen gleichzeitig damit erscheinenden Arbeit, „Zur Frage der Entstehung und Verbreitung der Rostkrank- heiten der Pflanzen“ (Kgl. Vet. Akad., Arkiv f. Botanik, Bd. 5, Nr. 3, Stockholm 1905), habe ich außerdem eine kritische Betrach- Doflein, Lehrbuch der Protozoenkunde. 623 tung über die alte und allgemeine Auffassung der Getreiderostfrage gegeben und habe gesucht, sämtliche gegen meine Lehre gerichtete wichtigere Einwände ins richtige Licht zu stellen. Niemand hat die hier beschriebene cytologische Untersuchung nachgetan und die in den zitierten Schriften dargelegten Beobach- tungen und Deutungen auf ihre Richtigkeit geprüft. Dies ıst zu bedauern, da die Frage der Mykoplasma eine wesentliche Bedeu- tung hat, nicht nur für das Verständnis der Rostkrankheiten der Pflanzen und für den fortgesetzten Kampf gegen diese Krankheiten, sondern für die Pflanzenpathologie im weitesten Sinne. Es treten nämlich fast jedes Jahr neue andere Krankheitsfälle hervor, wo man in der Tat gegenüber einem eventuellen Plasmastadium eines Krankheitserregers gestellt wird. Möchte eine eingehende Kontrolluntersuchung auf diesem Gebiete baldmöglichst zustande kommen! Experimentalfältet (Stockholm), den 9. Juli 1910. F. Doflein. Lehrbuch der Protozoenkunde, Eine Darstellung der Naturgeschichte der Protozoen mit besonderer Berücksichtigung der parasitischen und pathogenen Formen. 2. Auflage der Protozoen als Parasiten und Krankheitserreger. Gustav Fischer, Jena 1909, gr. S°, 914 S., 825 Abbild. im Text. Das wohlbekannte und hier schon in der ersten Auflage be- sprochene Werk ist in einer sowohl der Absicht wie dem Umfang nach außerordentlich vermehrten Gestalt erschienen. Es ist dem Verfasser wohl zu glauben, dass er, bei dem ungeheuren Anschwellen der Literatur gerade auf dem Gebiet der parasıtischen Protozoen ın den letzten Jahren, während der Arbeit verzagen wollte, ob er sich nicht eine zu große und unlösbare Aufgabe gestellt habe. Es ist ihm aber tatsächlich gelungen, diese Literatur ganz zu beherrschen und alles wesentliche in übersichtlicher und leicht verständlicher Form darzustellen. So ıst das Buch ein Werk geworden, das so- wohl den Zoologen wie den Medizinern, die auf dem im früheren Titel genauer bezeichneten Gebiet zusammenarbeiten müssen, nicht nur ein unentbehrliches Nachschlagewerk sein wird, sondern auch noch den Spezialforschern auf den beiden Gebieten wertvolle Be- lehrung bieten wird. Der erste Teil behandelt auf 310 Seiten die Naturgeschichte der Protozoen, und zwar in den Kapiteln: Allgemeine Morphologie, allgemeine Physiologie, Fortpflanzung, Biologie, System und end- lich kurz die Technik der Protozoenuntersuchung; am ausführlichsten sind die drei ersten Kapitel gehalten. Der zweite spezielle Teil behandelt dann, dem Titel und Zweck des Buches entsprechend, die pathogenen Protozoen ganz besonders ausführlich; die Kapitel über die Spirochäten, die als Proflagellaten aufgefasst werden, über die Trypanosomen und die Hämosporidien scheinen dem Referenten 624 Der achte internationale Physiologenkongress. ganz besonders in ihrer vorsichtigen Stellungnahme und doch klaren Darstellung gelungen. Die Abbildungen, Literaturverzeichnisse und Register sind über jedes Lob erhaben. W. Rosenthal (Göttingen). Ernst Winterstein u. Georg Trier. Die Alkaloide. Eine Monographie der natürlichen Basen. Gr. S. VII und 340 Seiten. Berlin. Gebr. Borntraeger. 1910. Die sehr verdienstvolle Monographie gibt eine Zusammenstellung alles dessen, was über die Alkaloide bekannt ıst. Ein allgemeiner Teil behandelt die Chemie, das Vorkommen, die physiologische Be- deutung und Wirkungsweise der Alkaloide, ein Schlussteil bespricht ihre Bedeutung und ihre Entstehungsweise in den Pflanzen. Da- zwischen schiebt sich ein spezieller Teil, in welchem die einzelnen Alkaloide, nach chemischen Gruppen geordnet, einzeln abgehandelt werden. Das Werk wird zur Belehrung und zum Nachschlagen ‚gute Dienste leisten. Reichliche Literaturnachweise und ein aus- führliches Register unterstützen seine Benutzung. R; Der achte internationale Physiologenkongress findet vom 27.—830. September d. J. zu Wien unter der Leitung des Herrn Sig- mund Exner statt. Anmeldungen sind zu richten an Herrn Assistenten F. Hauser, Wien, Physiologisches Institut, IX. Währingerstr. 13. Programm: Montag, 26. Sept. abends 8 Uhr zwanglose Zusammenkunft in der Volkshalle des Rathauses. — Dienstag, 27. Sept. 10 Uhr vorm. Eröffnungs- sitzung im Hause der k.k. Gesellschaft der Ärzte. Festvortrag des Herrn Charles Richet „L’humorisme ancien et Vhumorisme moderne. — 2—5 Uhr Sitzungen. — 8 Uhr abends: Empfang beim Herrn Bürgermeister von Wien, Herrn Dr. J. Neu- mayer, im Rathause. — Mittwoch, 28. Sept. 9—-12 und 3—5 Uhr Sitzungen und Demonstrationen. — Donnerstag, 29. Sept. 9-12 und 2—5 Uhr Sitzungen und Demonstrationen. 7 Uhr abends Festbankett. — Freitag, 30. Sept. 9-12 Uhr Sitzungen. 2 Uhr Schlusssitzung. Vortrag des Herrn V. Ebner, R. v. kofen- stein: Gedenkrede zum 100. Geburtstage von Th. Schwann. Abends, zwang- lose Zusammenkunft in der Jagdausstellung im Prater. — Samstag, 1. Okt. Ausflüge. Als Ausflüge sind in Aussicht genommen: auf den Kahlenberg, nach Bos- nien, Herzegowina und Dalmatien (wofür namhafte Preisermäßigungen gewährt werden). Am 1. Okt. Vorm. 10 Uhr: Enthüllung des Mendel-Denkmals in Brünn. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der kgl. bayer. Hof- u. Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt, Unter Mitwirkung von DreRuGoebrel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Der Abonnementspreis für 24 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen. Bd. XXX. 1. Oktober 1910. 19. Inhalt: Lindman, Ergologie. — Harris, Correlation in the Inflorescence of Sanguinaria. — Börner, Die phylogenetische Bedeutung der Protura. — v. Tschermak, Ueber den Einfluss der Bastar- dierung auf Form, Farbe und Zeichnung von Kanarieneiern. — Landau, Einige Worte zur karyogenetischen Zellteilung. — Korschelt u. Heider, Lehrbuch der vergleichenden Entwickelungsgeschiehte der wirbellosen Tiere. — Auerbach, Lebenstheorien. — Stöhr, Der Begriff des Lebens. Ergologie, ein vorgeschlagener neuer Name für Delpino’s „Biologie“. Von €. A. M. Lindman. Das Wort „Biologie“ hat gegenwärtig in der Botanik eine zwie- fache Bedeutung. Während der letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts hat sich diejenige Bedeutung des Wortes eingebürgert, die man noch heute vielfach mit Vorliebe ın der Botanik gelten lässt: die Lehre von gewissen Lebenserscheinungen der Pflanzen. In diesem Sinne wurde das Wort zuerst von F. Delpino 1867 vorgeschlagen; in seinen Pensieri sulla biologia vegetale etc. macht er einen Unter- schied zwischen der Biologie als der Lehre von den äußeren Lebens- beziehungen der Pflanze und der Physiologie als der Lehre von den Vorgängen des inneren Pflanzenlebens. (Die deutschen Ausdrücke sind hier nach Ludwig wiedergegeben.) Die anregenden Forschungen und Entdeckungen auf diesem Gebiet durch hochbegabte und fleißige Naturforscher, wie Ch. Darwin, Delpino,H.Müller, A.Kerneru.a., und das allgemeine Interesse für diesen Teil der Botanik, selbst unter den Laien, haben dazu beigetragen, eine sehr umfassende Literatur in der „Pflanzenbiologie“ hervorzurufen und die Bedeu- XXX. 40 2 626 Lindman, Ergologie. tung dieses Wortes fest zu begründen. Ausführliche Lehrbücher sind dieser Wissenschaft gewidmet, wie F. Ludwig’s Lehrbuch der Biologie der Pflanzen (1895), J. Wiesner’s Biologie der Pflanzen (2. Aufl. 1902), W. Migula’s Pflanzenbiologie (1909), u.s.w. Als Zweige dieser von zahlreichen Verfassern behandelten Wissenschaft findet man in der Literatur die „Blattbiologie* (Hansgirg u. a.), die „Blütenbiologie* (Loew, Knuth u. a.), die „Verbreitungs- biologie“ (Sernander) u. s. w. Die älteste Bedeutung des Wortes Biologie, schon von alters her, ıst indessen eine andere: die Lehre von der ganzen lebenden oder organischen Natur. In diesem Sinne ist das Wort in neuerer Zeit von Lamarck wieder aufgenommen worden, und dieselbe Bedeu- tung verteidigt Haeckel in seiner Generellen Morphologie (1866). Bei den britischen Naturforschern ist diese Bedeutung die vor- herrschende (vgl. z. B. Hemsley’s „Biologia centrali-americana or contributions to the knowledge of the fauna and flora“ u. s. w., 1579 u.£.J.). In B. Daydon Jackson’s Glossary (1905) findet man jedoch eine etwas engere Auffassung: „Biology... investigates vital phenomena both of plant and anımal.“ In diesem Sinne ist die „Biologie“ nicht eine Wissenschaft in der gegenwärtigen Bedeutung, sondern fasst (im Gegensatz zur „Anorganologie“ oder „Abiologie*) die gesamte Zoologie und Botanik in sich; die verschiedenen botanischen Disziplinen, die Morphologie, die Physiologie, die Systematik u. s. w. sind alsdann Zweige oder Abteilungen der Biologie im weitesten Sinne. Die schon 1881 gegründete Zeitschrift Biologisches Centralblatt hat von Anfang an der Biologie eine ziemlich weite Bedeutung bei- gemessen, da sie in der Einleitung zur ersten Nummer als ihren Zweck angegeben hat, die Fortschritte der „biologischen Wissen- schaften“ zusammenzufassen. Seit einigen Jahren kann sich diese ursprüngliche Bedeutung der Biologie eines häufigeren Gebrauches erfreuen. Man hat z. B. „biologische“ Vereine gebildet. Im Schulunterricht ist hier und da das Wort „Naturgeschichte“* durch „Biologie“ ersetzt worden. Am 3. internationalen botanischen Kongress in Brüssel d. J. wurde von den Berichterstattern der Kommission für phytogeographische Nomen- klatur vorgeschlagen, die Biologie in ihrem älteren, weiteren Sinne, als die Gesamtkunde von den Lebewesen gelten zu lassen. Von seiten der ‚Pflanzenbiologen“ kann ein Einspruch gegen diese Ausdehnung des Begriffes Biologie leider nieht mit Erfolg erhoben werden, da die Auffassung der Biologie im Sinne von Delpino, Ludwig, Wiesner u. s. w. sich nicht auf die Priorität berufen kann. Indessen fahren viele „Pflanzenbiologen“ fort, das Wort „Biologie“ wie vorher zu gebrauchen; man liest noch immer von der „biologischen Bedeutung“ eines gewissen Organs, von Lindman, Ergologie. 627 „morphologischen und biologischen Schilderungen“ einer Pflanze oder eines Gebietes, von „Beiträgen zur Blütenbiologie“ u. dgl. Mit diesem doppelsinnigen Namen kann sich die Wissenschaft nicht begnügen; er ist ein Übelstand, der nicht bestehen kann, — sonst müsste sich jeder Botaniker verpflichtet fühlen, entweder das Wort „Biologie“ gänzlich zu vermeiden oder jedesmal anzugeben, für welchen Begriff der doppelsinnige Term gebraucht wird. Einige Verfasser haben dieserhalb das Wort „Biologie“ im engeren ihm (oder die „Lebensgeschichte“, Kirchner, Loew, Schröter) durch „Ökologie“ ersetzen wollen. Genau decken sich jedoch diese beiden Ausdrücke nicht. Nach der allgemeinen Auf- fassung ist die Ökologie etwas enger beschränkt, sie kann nur einen Teil dr Biologie (Delpino) ennakslaiisen oder betrachtet das Pflanzenleben unter einem engeren Gesch Schon die Ety- mologie des Wortes lsalloret (Haushaltslehre) hat die Natur- forscher veranlasst, in dieser Disziplin ausschließlich das Pflanzen- leben in seiner Beziehung zu den Hilfsmitteln darzustellen, namentlich zu den äußeren, zur Ssrhenilen Natur im allgemeinen‘). 50,72» Kirchner, ee und Schr öter, von denen die Ökologie folgender- maßen bestimmt wird (Lebensgeschichte der Eeninzen Mittel- europas, I: 1, 1904, p. 2): „. ... die Schilderung der besonderen Lebenserscheinungen und Lebensgewohnheiten der Pflanzenarten, oder die Art und Weise, wie die einzelnen Arten dazu ausgerüstet sind, unter den gegebenen äußeren Verhältnissen ıhre Lebens- bedürfnisse zu befriedigen“ etc. In einer schwedischen Publikation (Vegetationen ı Rio Sosmle do Sul) habe ich selbst (1900) als den Inhalt der Ökologie oder Haushaltslehre der Pflanzen „die Diät, die enge ssrlhahensenn und die Anwendung ıhrer Hilfsmittel im Kampf ums Dasein“ angeführt. Neben dieser Auffassung des Wortes „Ökologie“ gibt es Beh auch andere, z. B. die von Goebel (Pflanzenbiolog. Schilderungen, I, 1889) nesehune Erklärung: „Die Ökologie sucht zu zeigen, alkdke Br jedes einzelne Se al zu den een der betreffenden Pflanze hat, wie Form und Funktion sich gegenseitig bedingen.“ Vor allem aber wurde das Wort Ökologie mit Vorteil von der Pflanzen- geographie benutzt, um dadurch die Erscheinungen in der Vege- tation eines Landes (und in der Pflanzenwelt überhaupt) zu be- zeichnen, welche in der Abhängigkeit von den verschiedenen äußeren Faktoren ihren Grund haben. Man darf wohl sagen, dass demnach die Ökologie schon ziemlich allgemein als ein Zweig der Pflanzen- geographie (oder als diese selbst von einer gewissen Seite gesehen) 1) Als das Wort „Ökologie“ zum erstenmal vorgeschlagen wurde, inE. Haeckel’s Genereller Morphologie, I, p. 8 (1866), wurde es durch folgende Erklärung erläutert: „die Wissenschaft von der Ökonomie, von der Lebensweise, von den äußeren Lebens- beziehungen der Organismen zu einander ete.“ 40* 625 Lindman, Ergologie. betrachtet wird. Der internationale botanische Kongress dieses Jahres in Brüssel hat diese allgemeine Auffassung berücksichtigt und, auf Vorschlag der Berichterstatter der Kommission für phyto- geographische Nomenklatur, folgende Bedeutung der Ökologie in der Pflanzengeographie gutgeheißen: „Die ökologische Pflanzen- geographie studiert die Pflanzen und ihre Assoziationen in ihren Beziehungen zu den Existenzbedingungen.“ („La phytogeographie ecologique &tudie les plantes dans leurs relations A leur milieu“.) Die klare Bedeutung dieses Begriffes und der evidente Zusammen- hang zwischen der Pflanzengeographie und der „Haushaltslehre“ werden wahrscheinlich die meisten Verfasser dazu veranlassen, das Wort Ökologie nicht mehr außerhalb des Bereiches der Pflanzen- geographie anzuwenden. Wir befinden uns also jetzt im der Lage, dass einerseits der Name „Biologie“, der einen reichen Zweig der Botanik bezeichnet, in dieser Bedeutung bald nicht mehr existieren wird, während andererseits der Name „Ökologie“, den man dafür hat einführen wollen, nieht genau denselben Begriff ausdrückt und demzufolge auf dem besten Wege ist, eine ganz spezielle Bedeutung anzunehmen. Zu meiner eigenen Bequemlichkeit habe ich daher seit Jahren anstatt „Biologie“ im Sinne Delpino’s das Wort Ergologie ge- braucht und erlaube mir, dasselbe hiermit zu veröffentlichen und als Namen für die Lehre von der Lebensweise, den Lebensgewohn- heiten, dem Auftreten, Wirken und Treiben der Pflanze vorzu- schlagen. Die Ergologie hat also dieselbe Bedeutung wie die Biologie im engeren Sinne. „Ergon“ bedeutet teils Werk, Arbeit, Tat, Hand- lung, teils (im Plural: Wirksamkeit, Beschäftigung, Profession, und „Ergologie* scheint somit als Ausdruck für die Erforschung und Darstellung der „Pflanzenverrichtungen“ leicht verständlich zu sein; der Name „Ergologie“ deutet sogar bestimmter den Gegenstand dieser Wissenschaft an, als das Wort „Biologie“, das, gerade wegen seiner unbestimmteren Bedeutung, der Gesamtlehre von den Lebe- wesen überhaupt überlassen werden kann. „Ergologie* ist wört- lich die Lehre von den Leistungen der Pflanze; dies wird ja aber in der Darstellung eben die „Lebensgeschichte“ derselben. Der Ausdruck „Ergologie* soll selbstverständlich der Pflanze keine andere Art von Tätigkeit, Handlungstendenz oder Aktivität zuschreiben, als die Verrichtungen oder Funktionen, die sie schon als Lebewesen besitzt. In formeller Beziehung sagt „Ergologie“ weder mehr noch weniger als „Ökologie“; wenn man die Pflanze einen Ökonomen, eine Haushälterin nennen kann, so darf man sie auch als nach ihrer Art „tätig*, „beschäftigt“, „handlungsfähig“ bezeichnen. Überall, wo es Werkzeuge (organon, organa) gibt, muss man von „Werk“ oder „Arbeit“ (ergon, erga) reden können. Hin- Harris, Correlation in the Inflorescence of Sanguinaria. 629 sichtlich des Inhaltes ist dagegen „Ergologie“ ein besserer Name als „Ökologie“ (im weiten Sinne) für eine Wissenschaft, die so vielerlei Lebensvorgänge, Einrichtungen, Anpassungen und sonstige Leistungen der Pflanzen erforschen und darstellen soll. Correlation in the Inflorescence of Sanguinaria. By J. Arthur Harris. The subjeet of correlation has received considerable attention from botanists. Goebel!) was a pioneer in the consideration of these problems, and nearly ten years ago De Vries?) named corre- lation as one of the most important problems in future evolutio- nary work, and emphasized the necessity for the use of quantitative methods. The purpose of this note is to state in non-technical terms the results of a biometric study of the inflorescence of the Blood Root, Sanguinaria Öanadensis. The data for two series, of 1000 and 400 inflorescences, are presented and analyzed in detail elsewhere?) and here only the chief points will be touched upon. In Sanguinaria, a monotypie genus of the Papaveraceae, the fruit ıs borne on a slender pedicel sent up from the root-stalk. It is one-celled with two parietal placentae upon which the ovules are arranged in two or more irregular rows. Diagram of upper portion of inflorescence. The fruit is opened on one side, showing the two placentae with the matured seeds and the abortive ovules. Our problem is to measure the degree of interdependence of the several parts or characters of the inflorescence. The relationships we shall record ın terms of the coefficient of correlation. 1) Goebel, K. Organographie der Pflanzen, p.:177—186, 1898. Also the literature cited there. 2) De Vries, H. Die Mutationstheorie. Vol. I, p. 113, 1901. 3) Harris, J. Arthur Biometrika. Vol. VII, 1910. In press. 630 Harris, Correlation in the Inflorescence of Sanguinaria. The coefficient of correlation of the statistieian lies between 0 and plus or minus 1, a constant with the value 0 indieating that there is no relationship between the two characters of the series of individuals under consideration, while constants of the magnitude of 1 show that the interdependence is perfect, i. e. such that knowing the magnitude of one character of an associated pair we can state positively the magnitude of the other. The biologist must remember that the statistiecians constant is purely deseriptive and not interpretative. Generally we cannot know which character influences the other, or indeed whether both are not merely depen- dent upon some group of causes external to themselves. Being merely a description of the materials in hand, the correlation con- stant may be influenced by age differences or other heterogeneity of the material, and cannot be taken at once as the equivalent of the conception of correlation which the physiologist holds. It would seem to me, however, the most trustworthy and usable tool for analyzing out and measuring this physiological correlation. Consider first the relationship between the length of the pedicel and -the length of the fruit. For the 1906 series we find a corre- lation of - 335 + - 019, showing that there isa very substantial rela- tionship between the two characters. This cannot be’ interpreted as meaning that the length of the stalk has a direet influence on the length of the fruit, or vice versa. Their interdependence may be due merely to their mutual dependence upon some other factor (age, physiological vigor, individual environment) but we have at least demonstrated the existence of the interdependence and measured its intensity on a scale directly comparable with other characters, thus allowing of further studies by comparative or experimental methods. In like manner the correlation between length of pedicel and the fertility of the fruit may be obtained. We find: Length of pedicel and total ovules per fruit, -323 + -019, Length of pedicel and total seeds per frutt, -363 + -019. The closeness of interdependence is therefore about the same as for length of peduncle and length of fruit. The correlation for length ei pedicel and number of seeds developing is slightly higher than that for length of pedicel and number of ovules formed, but the difference is only -040 + 027, hence no biological signifieance can be attached to it. If the degree of development of the peduncle furnishes some indication of the vigor of the individual one would rather expeet to find a closer correlation between it and the number of seeds developing than between it and the number of ovules formed. Im Sanguinaria as I have studied it over 75 per cent. of the ovules develop into seeds 4) Pearson, K. Proc. Roy. Soc. Lond. Vol. LIX, pp. 301—305, 1896. Harris, Correlation in the Inflorescence of Sanguinaria. 631 and the correlation between these and a third character would necessarily be of the same general order of magnitude. I fancy it would be well worth while for some one to work out such relationships as we have here in some form in which the numbers of ovules and of seeds are not so nearly the same. Indeed the whole field of problems presented by the relationship between somatic characters and fertility and feceundity seems worthy of intensive eultivation. At present our knowledge is very meagre. For anımals Pearson’) has secured evidence that tall women are more fertile than short ones, and he tells me that data for other mammals will be published. In agricultural literature much has been written on the amount of straw and grain in cereals, but the methods of experiment and record leave much to be desired. In Nothos- cordiıum and Allium ıt has been shown?) that there is a correlation of about -500 or over for length of fiowering stalk and number of flowers per umbel. In Cercis®) and Celastrus”), however, when we work within the individual there seems to be no relationship between the size of the inflorescence as measured by the number of flowers produced and the fertility of the ovaries. There must be reasons for differences such as these and it lies before the biologist to find out what they are. Size and fertility of fruit — both number of ovules formed and number of seeds developing — are found to be correlated, the degree of the interdependence being about -500—700. The con- stants for both ovules and seeds are obout -100 higher ın 1907 than in 1906, possibly due to the somewhat more mature condition of the fruits which must be taken before they are quite ripe if the countings are to be made for the placentae. The constants for length of fruit and number of seeds maturing are slightly higher than those for length of fruit and number of ovules formed, but the difference is of no practical value. Since both length and fertility of fruit are correlated with pedicel length there would necessarily be some statistical correlation between length and fertility whether they were in any measure biologically interdependent or not. By means of a suitable formula we can remove the influence of the correlation of the two cha- racters with pedicel length upon their own interdependence. We find that the removal of this factor disturbs only very slightly the values as given above, and conclude that the correlation must be due chiefly to other factors than pedicel length. The correlation between the number of ovules formed and the number of seeds developing per placenta or per fruit is high, Iyıng 5) Harris, J. Arthur. Ann. Rept. Mo. Bot. Gard. Vol. XX, pp. 105—115. 1909. 6) Harris, J. Arthur, Biometrika. In press. 7) Harris, J. Arthur. Ann. Rept. Mo. Bot. Gard. Vol. XX, pp. 116—122. 1909. 632 Harris, Correlation in the Inflorescence of Sanguinaria. in the neighborhood of -800. This would be the expected condition from the high percentage of seeds which develop, and is of interest chiefly in comparison with the results from other species. A con- stant showing the relationship between the number of ovules per fruit and the capacity of the fruit for maturing its seeds, gives discordant results for the two series of material, thus leaving it still an open question whether there is any difference in the capa- city of the pods for maturing their ovules into seeds depending upon the number of ovules which they bear. The correlations between the number of ovules formed or the number of seeds developing on the two placentae of the fruit are high. The actual constants are as follows: Characters of the two Correlation and Probable Error Placentae 1906 1907 | Difference Ovules of „First“ Pla- | centa and Övules of „Second“ Placenta ... || - 9239+ - 0031 PER 8868 + - 0072 —& 37216220078 " Seeds of „First“ Placenta | | and Seeds of „Second“ | Plaeentaran mer, - 8014 + - 0076 - 8443 + : 0097 + : 0429 + - 0123 Aborted Ovules on | „First“ Placenta and Aborted Ovules on „Second“ Placenta. . || - 6793 + - 0115 - 7070 + » 0169 +: 0277 + - 0204 Ovules on „First‘‘ Pla- centa and Seeds Deve- loping on „Second“ Placenta as. . 7356 + - 0098 - 7191 + - 0163 — + 0165 + - 0193 So large correlations between the two sides of the fruit as those for ovules per placenta indicate great symmetry, and so a high degree of perfection in the morphogenetic processes giving rise to the fruit. The relationship for ovules is obviously quite independent of that for the other fertility characters, but the converse is not at all true. The number of seeds developing on a placenta ıs closely correlated with the number of ovules formed and so a correlation between the number of seeds on the two placentae would neces- sarily be found even though there were no physiological relationship between the two placentae. Again we may have recourse to a rather complex partial correlation formula which removes the in- fluence of the correlation between the numbers of ovules on the two sides upon the correlation for the numbers of seeds for the two sides. Comparing the results for the correlations for seeds we find: 1906 1907 Ineoss. Correlation .. * 0.2 un .844 Influence of correlation for ovules removed -590 . 714 Börner, Die phylogenetische Bedeutung der Protura. 633 It is clear, therefore, that while a certain amount of the corre- lation for number of seeds developing is due to the influence of the correlation for ovules, it is mainly due to physiological and ecological factors upon which the development of ovules into seeds depends. The reader who cares for further details may consult the original paper. The purpose of the present resum& will have been amply fulfilled ıf it interests other workers in the biometrie method of approaching some of the problems of vegetable morphology. Cold Spring Harbor, March 19, 1910. Die phylogenetische Bedeutung der Protura. Von Carl Börner. Die Auffindung des von Silvestri!) zuerst aus Italien be- schriebenen Acerentomon doderoi und des bald darauf von Berlese?) entdeckten Eosentomon transitorium in einem Walde bei Frank- furt a.M. gibt mir Gelegenheit, die systematisch-phylogenetische Stellung der für Acerentomon und seine Verwandten begründeten Ordnung Protura hier in aller Kürze zu besprechen, da ich sie vor Jahresfrist bei Aufstellung meiner vier Hauptgruppen der In- sekten aus Mangel an Untersuchungsmaterial noch nicht hatte be- rücksichtigen können. Inzwischen haben allerdings bereits Sche- potieff’) und Berlese*) dieser Frage einige Worte gewidmet, ohne indessen zu einem befriedigenden Ergebnis gelangt zu sein. Wie Sılvestri halten auch Berlese und Schepotieff die Protura für recht altertümliche Insektenformen, indem sie be- sonderes Gewicht auf die Zwölfzahl und die stummelförmigen Extremitätenreste der vorderen Abdominalsegmente legen. Dass die Protura daneben auch stark spezialisierte Eigenschaften besitzen, wird nur nebenbei erwähnt, und Berlese wie Schepotieff glauben gar, dass die Protura Myriopoden und Insekten phyletisch zu ver- binden geeignet seien. Aus diesem Grunde taufte Berlese die Protura Silvestri’s in Myrientomata um, indem er die Möglichkeit zugab, sie könnten den Pauropoda nächstverwandt sein. Ich darf hier gleich anschließen, dass mir Silvestri dazu verwundert schrieb, er könne die Insekten nicht mehr definieren, wenn seine Protura I) Descrizione di un nuovo genere di Insetti Apterigoti, rappresentante di un nuovo ordine. Bollett. Labor. Zool. gen. ed agraria di Portici. Vol. I. 1907. p- 296—311, 18 Textfig. 2) Nuovi Acerentomidi. Redia, vol. V, fasc. 1°, 1908, p. 16—19, Tab. 1. 3) Studien über niedere Insekten. I. Protapteron indieum n. g., n.sp. Zool. Jahrb. Abt. Syst. ete. 28. Bd., 2. Heft, 1909, p. 121—135, Taf. 3—5. 4) Monografia dei Myrientomata. Redia, vol. VI, fasc. 1°, 1909, 182 p., XVII tab. und 14 Textabb, 634 Börner, Die phylogenetische Bedeutung der Protura. keine solchen sein sollten! Und in der Tat ist nichts leichter, als diese in ihrem Formenreichtum immer aufs neue überraschende Arthropodenklasse zu umgrenzen, nichts mehr verfehlt, als zwischen Insekten und irgendwelchen progoneaten Tausendfüßlern lebende Bindeglieder zu erwarten! Ich selbst habe wiederholt Gelegenheit genommen, vor einer Überschätzung der archaistischen Charaktere der Apterygoten, und insbesondere der Entotropha, zu warnen. Gerade Campodea, das tausendfach genannte Beispiel eines primitiven Urinsekts, ist wirk- lich altertümlich doch nur durch sein Paar Beinstummel am 1. Ab- dominalsegment. Die übrigen archaistischen Merkmale, und ihrer sind nicht viele, teilt sie mit anderen Apterygoten. Campodea, und mit ıhr Japyx, ıst weitgehend modifiziert in den Mundteilen und redu- ziert ın den äußeren Genitalien und dem Telson (fehlen des mittleren Schwanzanhanges), während wir bei Machilis ın vieler Beziehung weit ursprünglichere Merkmale bewahrt finden, die uns trotz mancher begreiflicherweise unvermeidlicher Spezialisierung gestatten, von . Machilis als Mittelpunkt Ausschau nach den Chiliopoden wie nach den Orustaceen und den übrigen Insekten zu halten. Aber auch Machilis ıst ein echtes Insekt, alle Brücken, die wir zwischen den fraglichen Arthropodenklassen bisher gebaut haben und wohl auch die nächstkünftigen sind spekulative, mehr oder minder gut fundierte Geistesbrücken, an denen hypothetische Ahnenformen Wacht halten. DieProtura gehören nicht zu diesenSammel- typen, sie sind echte, einseitig modifizierte, gleichwohl hochinteressante Entotropha, die uns die Collembolen mıt den Dipluren verbinden helfen. Im folgenden will ich versuchen, diese letzte Annahme näher zu begründen. 1. Zunächst muss es auffallen, dass alle seither bekannt ge- wordenen Proturen der Öerci entbehren. Es ist aber der Besitz der Öerci ein archaistisches Merkmal ersten Ranges, wir begegnen ihm bei Apterygoten wie bei Pterygoten und den Ahnenverwandten der Insekten, den Chilopoden und Crustaceen. Der Verlust der Uerci gesellt deshalb die Proturen und Collembolen als einzige raifenlose Vertreter der Apterygoten zusammen. 2. DieEntotrophie der Mundteile teilen die Proturen mit den Dipluren und Collembolen, den letzteren nähern sie sich aber besonders durch das Vorhandensein einer labialen Median- rinne, die bei den Proturen am Kopfhimterrande endet, bei den Collembolen in die bis zum Ventraltubus des 1. Abdominalsegmentes reichende Ventralrinne übergeht. Auch das Fehlen einer me- dianen Kiınnplatte, wie sie bei den Dipluren, Eetotrophen und den meisten Pterygoten vorkommt, die Isolierung des ge- samten Labıums durch die seitlich hinter ıhm bis zur ventralen Mittellinie zusammengeschobenen Wangen- Börner, Die phylogenetische Bedeutung der Protura. 635 teile der Kopfkapsel sind typisch collembolenartig. Und neben- bei sei nur erwähnt, dass wir stiletartigeFormen der Mandibel und Maxilleninnenlade unter den Apterygoten wiederum nur bei gewissen Collembolen wiederfinden. 3.An denthorakalenExtremitäten konstatieren wir zwischen Proturen und Collembolen Übereinstimmung im Besitz des ein- klauigen Prätarsus, ein vielleicht primäres Merkmal, das sie den Chilopoden nähert, von den übrigen altertümlichen Hexapoden da- gegen trennt. 4. Bedeutungsvoll scheint mir auch die Lage der Genital- öffnung am Hinterrande des vorletzten Abdominalseg- mentes zu sein. Ist auch die Segmentierung des Collembolen- leibes eine jedenfalls sekundär vereinfacht, so widerspricht doch nichts der Annahme, dass ihr Genitalsegment wirklich das vorletzte des Abdomens vorstellt, die Reduktion der Abdominalringe mithin in einer davor gelegenen Zone stattgefunden hat. Ist diese An- nahme richtig, so kann uns die caudale Lage der Genitalöffnung bei den Proturen nicht mehr so sehr wundernehmen. Nicht zu ver- gessen ıst auch die Tatsache, dass die Genitalöffnung wie bei den CollembolenundDipluren bei beiden Geschlechtern im gleichen Abdominalsegment gelegen ist, während sonst die männliche dem 9., die weibliche dem 8. zugezählt zu werden pflegt. 5. Der Ventraltubus der Collembolen lässt sich unge- zwungen auf das erste abdominale Extremitätenpaar der Proturen zurückführen. Der erste Abdominalanhang ist bei allen Proturen ähnlich demjenigen der Campodeiden, er besteht indes aus zwei freien Gliedern und trägt am Ende ein einstülpbares Bläschen, während vor ıhm die epimerumartige Subcoxa gelagert ist. Lassen wir nun dies Anhangspaar der Proturen medianwärts zusammenrücken bei gleichzeitiger Verdrängung des Sternums, so erhalten wir den Ventraltubus der Collembolen mit seinem Schaft (den verschmolzenen Coxalgliedern), den beiden Valvulis und dem Bläschenpaar. Es ist noch zu bemerken, dass bei anderen bekannten Apterygoten keine Extremitätenreste mit terminalen Bläschen am ersten oder einem anderen Abdominalsegment vor- kommen, also wieder Proturen und Collembolen beisammen stehen. 6. Ob das jederseits am Tergit des 8. Abdominalsegmentes ausmündende Hinterleibsdrüsenpaar der Proturen mit dem dorsalen Drüsenpaar der Collembolengattung Allaema CB. identifiziert werden darf, wage ich noch nicht zu entscheiden. Letzteres gehört aller- dings scheinbar dem Furcal-, also dem 4. Abdominalsegment jener Sminthuride an. Es erscheint jedoch als möglich, dass bei einer Reduktion der prägenitalen Leibesringe der Collembolen dies ur- sprünglich dem 8. Segment angehörende Drüsenpaar auf das 4. Segment übergetreten ist. Dass bei den Acerentomiden nach 636 Börner, Die phylogenetische Bedeutung der Protura. Berlese noch drei weitere Öffnungspaare jenes Drüsenkomplexes im 9. bis 11. Segment liegen, kann nicht gegen den angedeuteten Vergleich angeführt werden. Damit sind die wichtigeren Charaktere erledigt, welche dafür sprechen, dass Proturen und Collembolen phyletisch relativ nahe beisammen stehen. Wieder sind es die Mundwerkzeuge, welche uns dabei besonderen Aufklärungsdienst geleistet haben, während uns die Gesamtorganisation beider Gruppen davor schützt, nun etwa die Collembolen unvermittelt von Proturen abzuleiten. Beide Gruppen sind im besonderen sehr selbständig, beide haben ebenso wie die übrigen Apterygotenordnungen gewisse Merkmale primitivster Art am reinsten bewahrt, und ein Protapterygot lässt sich nach Entdeckung der Proturen nicht gerade sehr viel natur- getreuer konstruieren, als wir es bei zweckmäßiger Kombination der übrigen Apterygoten schon vermochten. Wir haben indessen noch nachzuholen, in welchem Verwandt- schaftsverhältnis die Proturen zu den Dipluren stehen, und ob es berechtigt ist, sie nach dem Vorgange von Schepotieff mit diesen zu einer Gruppe der Prothysanura zusammenzufassen. Schalten wir die Mundwerkzeuge und die Üerci aus, Organe, über deren systematischen Wert kein Zweifel mehr besteht und die zu ver- nachlässigen, jeder systematisch-phyletischen Erfahrung widerspricht, so bleiben doch im Habitus und im Vorhandensein der vorderen abdominalen Anhangspaare noch Vergleichspunkte von großer Wichtigkeit übrig. Habituell schließen sich die Proturen an die Dipluren an im Gegensatz zu den ektotrophen Apterygoten mit ihren meist erheblich verbreiterten Tergiten. Ebenso besteht eine zweifellos überraschende Ähnlichkeit zwischen beiden Ordnungen im Bau und Insertionsmodus der vorderen Abdominalanhänge. Und hier taucht plötzlich die Frage aufs neue auf, ob die Styli den Extremi- täten selbst gleichwertig seien, ob und welche jener abdominalen An- hangspaare Styli oder Extremitätenstummel vorstellen. Bei Cam- podea ist zweifellos das erste Anhangspaar von den sechs folgenden wesentlich abweichend geformt, auch unterscheidet es sich durch das Fehlen der bekannten Versieulae, so dass man mit Rücksicht auf Machilis annehmen darf, dass das erste abdominale Anhangs- paar coxaler, die folgenden Paare dagegen styloider Natur seien, während die Coxa jener Segmente dem Urosternum einverleibt worden sei, das nun seinerseits die Versiculae trägt. Auch bei Acerentomon ist das erste Anhangspaar von den beiden folgenden Paaren verschieden. Aber bei Protapteron und Eosen- tomon ähneln sich die drei ersten Paare weitgehend, so dass wir sie für homolog halten müssen. Da sie überdies bei Kosentomon (vielleicht auch bei Protapteron) je ein terminales Bläschen tragen, Börner, Die phylogenetische Bedeutung der Protura. 637 ist man versucht, sie wie das erste Paar von (ampodea für echte Extremitätenstummel zu erklären. Vielleicht gelingt es noch em- mal, bei einer andersartigen Behandlung dieser Frage sie zu klären: zurzeit besteht die Möglichkeit einer Verschiedenartig- keit der abdominalen Anhänge bei Proturen, Dipluren und Thysanuren. Soviel ist indes gewiss, dass die Proturen selbst einer Cam- podea in dem Besitz abdominaler Anhangspaare zahlenmäßig nachstehen, dass sie diesem Charakter zufolge kein Anrecht auf das Attribut der relativ ältesten Apterygotenformen haben. So gelangen wir endlich zu dem interessantesten Punkt, der abdominalen Segmentierung der Proturen und ihrer da- mit zusammenhängenden anamorphen Postembryonal- entwickelung. Die jüngsten bekannten Proturen (und zwar nach Berlese die Acerentomiden, nach eigenen Beobachtungen auch die Eosentomiden) besitzen 9 Abdominalsegmente, die erwachsenen deren 12 (sofern man die weichhäutigen Afterklappen wie üblich nicht mitzählt). Zwischen dem 8. und dem späterhin 12. Segment werden im Laufe der Häutungen drei kleine Segmente eingeschoben; die Genitalöffnung liegt dann hinter dem Sternit des vorletzten (11.) Segmentes. Kein anderes Insekt zeigt ähnliche scheinbar ursprüngliche Verhältnisse, und doch kann ich mich vorderhand nicht davon über- zeugen, dass diese Segmentierung einen primären Zustand vorstellt. Denken wir uns die jugendliche Segmentzahl bis ins Reifestadium erhalten, so würde die Geschlechtsöffnung hinter das achte Leibes- segment zu liegen kommen. Indem sich aber zwischen dieses und das Aftersegment neue Segmente einschieben, rückt die Geschlechts- öffnung an das Hinterende des präanalen Ringes. So wäre es möglich, die Proturen an die übrigen Insekten auch in diesem Punkte anzuschließen, wenn man es nicht vorzieht, die Anamorphose als primär gegeben vorauszusetzen und eine anfänglich varıable Lage der Genitalöffnungen anzunehmen. Zieht man die unverkenn- bare Reduktion in Betracht, welche die hintersten Leibes- segmente der Proturen ın Zusammenhang mit dem Ver- lust der Öercı betroffen hat, so könnte sich die anamorphe Produktion neuer caudaler Segmente sehr wohl sekundär in Anpassung an das unterirdische Leben in schmalen Ritzen und Gängen herausgebild’et haben. Auch in diesem Falle wären die Proturen von unschätzbarer theoretischer Bedeu- tung für die Erklärung der Myriopoden-Anamorphose und -Segmen- tierung, über deren primären Charakter in neuerer Zeit wiederholt berechtigte Zweifel geäußert worden sind. Das System der Apterygoten erfährt trotz der gegen- teiligen Ansicht Schepotieffs durch die Proturen keine 638 Börner, Die phylogenetische Bedeutung der Protura. prinzipielle Neugestaltung. Es bedarf keiner neuen Begrün- dung, dass wir in erster Linie die Mund werkzeuge zu berück- sichtigen haben, die schon Grassi?) vor bald 25 Jahren zu dem gleichen Zwecke verwertet hat, als er seine Ekto- und Entotropha schuf. Diese beiden von mir kürzlich‘) neu gefestigten Gruppen bleiben bei einer richtigen Wertschätzung der Proturen unverändert bestehen. Die Proturen sind echte Entotropha, indem bei ihnen wie außer bei den übrigen Entotrophen bei keinem anderen Insekt und überhaupt keinem anderen Gliedertier die Mandibeln und Maxillen in toto eingestülpt worden sind. Die durch Reduktion der Fühler erhöhte Eigenartigkeit der Proturen wird durch Protapteron gemildert, welches noch feine fadenförmige Fühler behalten hat, ohne sich sonst irgendwie nennenswert von den anderen Proturen entfernt zu halten. Subelassis Apterygota Brauer (-Lang). 1. Supersectio: Eetotropha Grassı. Mandibeln und Maxillen normal ektotroph, nicht in das Kopf- innere eingestülpt. Hinter dem Labium eine große unpaare Kinn- platte. Maxillar- und Labialtaster groß, nicht rudimentär. Telson (obere Afterklappe) mit einem unpaaren Schwanzanhang. Prätarsus zweiklauig. Gonopoden meist gut entwickelt. Stylı der hinteren Abdominalsegmente stets vorhanden, caudalwärts an Größe zu- nehmend, an den vorderen Leibessegmenten oft fehlend. Fühler vorhanden. d’ Genitalöffnung dem 9., 9 dem 8. Abdominalsegment zugehörend. 1. Ordo. Archaeognatha CB. (ut subordo). (= Machiloidea Handl.) Maxillulen primitiv gebaut, selbständig, oberhalb des Hypo- pharynx eingefügt. Maxillartaster sehr verlängert, mit dreigliedrigem Tarsusabschnitt. Mandibeln mit Pars molaris, ohne Lacinia mobilis. Rumpftergite stark gewölbt. ÜCoxen des 2. thorakalen bis 9. abdo- minalen Segmentes bei ausgewachsenen Tieren mit Stylis, die vor- deren abdominalen (1—7) zugleich mit ausstülpbaren Säckchen. Coxen der Abdominalsegmente vom Sternum gesondert bleibend. Familie Machilidae. 5) I progenitori degli Insetti e dei Miriapodi. Atti dell’ Academia Gioenia di Scienze naturali in Catania. Ser. 3, vol. XIX, 1885. 6) Neue Homologien zwischen Crustaceen und Hexapoden. Die Beißmandibel der Insekten und ihre phylogenetische Bedeutung. Archi- und Metapterygota. Zool. Anz Bd. 34, Nr. 3/4, 1909, p. 100—125. Börner, Die phylogenetische Bedeutung der Protura. 639 2. Ordo. Thysanura Latr., CB. (= Lepismoidea Handl., Zygentoma CB) Maxillulen wie bei den meisten Pterygota mit dem Hypopharynx verwachsen, an dessen Spitze rudimentär nachweisbar. Maxillar- taster mit meist nur eingliedrigem Tarsusabschnitt. Mandibeln ohne Pars molaris, mit Lacinia mobilis. Rumpftergite wenig gewölbt. Styli höchstens in acht abdominalen Paaren (2.— 9. Segment), Ventral- säckchen meist nur in wenigen Segmenten entwickelt. Coxen der Abdominalsegmente 1—7 stets mit dem Sternum zum einheitlichen Urosternum verschmolzen. Familien Lepismatidae und Nöeoletiidae. 2. Supersectio: Entotropha Grassi. Mandibeln und Maxillen in toto (nicht etwa nur die Maxillarinnen- laden, wie bei den Pterygota Acercaria) in das Kopfinnere einge- stülpt. Labial- und Maxillartaster klein bis fehlend. Telson ohne Schwanzanhang. Gonopoden meist rudimentär, Styli der hinteren Abdominalsegmente (8—9) stets fehlend, die vorhandenen caudal- wärts meist an Größe abnehmend. Genitalöffnung bei und g im gleichen Abdominalsegment. Sectio a. Archinsecta Häckel. Cerci vorhanden. Hinter dem Labium eine mehr weniger breite Mentumplatte ohne Ventralrinne vorhanden. Mandibel ohne Pars molarıs, meist mit Lacinia mobilis. Prätarsus mit zwei Klauen. Ventralsäckchen an den abdominalen Coxalteilen (Urosternum), nicht terminal an den Stylis. Erste Maxille mit Lobus internus, externus und Taster. Genitalöffnung bei S und 9 hinter dem 8. Abdominal- sternit. 3. Ordo. Diplura CB. (= Campodeoidea Handl., ut classıs.) Mit den Merkmalen der Sektion. 1. Subordo. Rhabdura Silvestri. Maxillulen median bis zum Grunde getrennt. Maxillarinnen- lade ohne Kammlamellen. Oerci fühlerförmig, ohne Wehrdrüsen. Familie Campodeadae. 2. Subordo. Dicellura Haliday. Maxillulen median dicht aneinander gepresst”). Cerci zangen- förmig oder fühlerförmig mit Wehrdrüsen. Maxillarinnenlade mit Kammlamellen. Familien Anajapygidae und Japygidae. 7) Meine ältere Annahme (siehe: Collembolen aus Südafrika, nebst einer Studie über die I. Maxille der Collembolen, in Schultze’s Forschungsreise im westl. u. 640 Börner, Die phylogenetische Bedeutung der Protura. Sectio b. Ellipura CB. Cerci fehlen. Die Wangenteile des Kopfes sind hinter dem Labium fast bis zur gegenseitigen Berührung zusammengeschoben, nur noch für eine schmale Ventralrinne Platz lassend, die an der Innenecke der Labialcoxen beginnt. Mandibel ursprünglich mit Pars molarıs, ohne Lacinia mobilis. Prätarsus mit einer Klaue. Ventral- säckchen terminal am Ende der freien abdominalen Beinrudimente. Erste Maxille wohl stets ohne Lobus externus, mit Lobus internus, mit oder ohne Taster. Genitalöffnung im präanalen Segment, 4. Ordo. Protura Silvestri. Abdomen 9—12gliedrig, 1. bis 3. oder 4. Abdominalsegment mit Beinrudimenten, ihrer keines zum Springen geeignet. Maxillar- taster 2—3gliedrig. Jugendformen oligomer. 1. Subordo. Rhammatocera UB. Fädige Fühler vorhanden. Stigmen (am Vorderrande von Meso- und Metathorax) in der interskleritalen Haut gelegen. Prothorakale ‚Extremitäten kaum dem Tastsinn dienend. Familie Protapteridae. 2. Subordo. Myrientomata Berlese (ut Ordo). Fühler fehlen. Stigmen (wenn vorhanden) am Seitenrande des Meso- und Metanotums. Prothorakale Extremitäten der Tast- funktion dienend. Familien Eosentomidae und Acerentomidae. 5. Ordo. Collembola Lbk. Abdomen höchstens 6gliedrig. 1., 3. und 4. Abdominalsegment mit Beinrudimenten, das Paar des 4. Segmentes als Springgabel differenziert, bisweilen wıe dasjenige des 3. Segmentes fehlend oder rudimentär. Maxillartaster 1gliedrig oder fehlend. Fühler vor- handen. Jugendformen holomer. 1. Subordo. Arthropleona CB. Körper mehr weniger gestreckt, nicht mit kuglig oder birn- förmig aufgedunsenem Abdomen; wenigstens die zwei hinteren Thorakal- und die drei vorderen, meist alle sechs Abdominalsegmente selbständig. Meist prognath, selten hypognath. Familien Poduridae und Entomobryidae. 2. Subordo. Symphypleona CB. Körper mit mehr weniger kuglig oder birnförmig gestaltetem Hinterleib. Meist die Tergite der Thoraxsegmente reduziert oder zentr. Südafrika 1903—-1905, p. 63), dass die Maxillulen bei Japyx über dem Hypo- pharynx unter sich verwachsen seien, beruht nach erneuter Untersuchung auf einem Irrtum. Gleichwohl dürfen wir mit Lubbock daran festhalten, dass (ampodea den Collembolen in der Mundbildung näher steht als Japy.r. v. Tschermak, Über den Einfluss der Bastardierung ete. 641 überhaupt die Segmentierung bis auf das Genital- und Analsegment undeutlich. Meist typisch hypognath. Familien Neelidae und Sminthuridae. Über den Einfluss der Bastardierung auf Form, Farbe und Zeichnung von Kanarieneiern. Von Dr. med. Armin v. Tschermak, Professor der Physiologie an der Tierärztlichen Hochschule in Wien. Im Pflanzenreiche sind Fälle von „direkter Einwirkung des Pollens“ auf Form und Farbe der Frucht seit langem bekannt. Aller- dings haben diese von W. OÖ. Focke als sogen. Xenien bezeichneten Erscheinungen erst durch den Nachweis ihrer Regelmäßigkeit seitens Gregor Mendel, welcher beispielsweise an typisch grünsamigen oder runzelsamigen Erbsenrassen nach Bestäubung mit dem Pollen gelb- oder rundsamiger gelbe, runde Bastardsamen erhielt, sowie durch den Nachweis der Doppelbefruchtung seitens Nawaschin und Guignard Aufklärung und erhebliche Bedeutung erlangt so- wie lebhaftes Interesse erweckt. Zugleich ergab sich, dass die ältere Kasuistik unter dem Sammelnamen „Xenien“ sehr verschiedenartige Befunde von recht differenter Zuverlässigkeit zusammengefasst hatte, indem das einemal einfache Folgen der Bastardierung der Eizelle selbst vorlagen — so bei den Xenien des Speichergewebes der Legu- minosen, das anderemal z. B. beim Mais Wirkungen der Bastar- dierung des Endosperms, das drittemal angeblich korrespondierende Abänderungen der mütterlichen Fruchthüllen, ja des Fruchtstandes überhaupt oder gar des ganzen Mutterindividuums nach der Rich- tung der Vaterpflanze hin. So phantastisch, ja direkt abweisbar manche Berichte über Xenien der letzteren Art klingen, so fordern doch gewisse, mehrfach wiederholte Angaben z. B. betreffs korre- spondierender Qualitätsänderung: an Obstarten und dergleichen zu genauer, systematischer Nachprüfung heraus. Eine solche hat auf botanischem Gebiete mein Bruder E. v. Tschermak, zugleich neben Correns und de Vries, der Wiederentdecker von Gregor Mendel’s Lebenswerk (1960), in Angriff genommen. Er hat bereits eine korre- spondierende Vermehrung bezw. Verminderung des Zuckergehaltes an den Bastardfrüchten von Gurke X Melone bezw. Melone X Gurke festgestellt!). Für das Tierreich fehlen, soweit ich sehe, verlässliche Angaben über sogen. Xenien — sagen wir besser: korrespondierende oder patrokline Abänderungen der Hüllen von Bastardfrüchten oder 1) Über künstliche Kreuzung bei Pisum sativum. Zeitschr. f. d. landw. Ver- suchswesen in Österreich. 1900; Weitere Beiträge über Verschiedenwertigkeit der Merkmale bei Kreuzung von Erbsen und Bohnen. Ebenda 1901; Über den Einfluss der Bestäubung auf die Ausbildung der Fruchthüllen. Ber. d. D. Bot. Ges. 1902, H. 2; Kreuzungsstudien am Roggen. Zeitschr. f. d. landw. Versuchswesen. 1006; Die Züchtung neuer verbesserter Gemüsearten. Wiener landw. Ztg. 1907, Nr. 40. XXX. 41 642 v. Tschermak, Über den Einfluss der Bastardierung etc. gar des Mutterorganismus überhaupt — fast vollständig, zumal über reguläre Erscheinungen dieser Art. Wenn ich von den höchst unwahrscheinlichen Berichten über sogen. Telegonie, d. h. korre- spondierende Nachwirkung eines hybriden Befruchtungsaktes auf spätere Reinzuchtbefruchtungen, absehe, vermag ich nur die Mit- teilung von W.v. Nathusius (1868 und 1879) und von drei durch denselben befragten Züchtern — eingehend diskutiert von G.Seid- lıtz 1869 und Kutter 1880 — anzuführen, dass bei Reinzucht weichschalige Eier legende Hennen nach Befruchtung durch einen Hahn der Cochinchinarasse, welche bei Reinzucht rötlichgelbe Eier aufweist, nunmehr gelbe, also korrespondent abgeänderte Eier legen. Wenn nun auch eine Bestätigung dieser kasuistischen An- gabe und ihre Prüfung auf event. Regularität dringend zu wünschen bleibt?), so erscheinen doch jedenfalls die Vögel am ehesten geeignet, event. Xenien der Fruchthüllen erkennen zu lassen. Von diesem Gesichtspunkte ausgehend habe ich einen meiner Schüler, Tierarzt Max Reiner, veranlasst, an solchen Stubenvögeln, welche ver- hältnismäßig leicht zu züchten sind und besonders zur Bastardierung neigen, nämlich an Kanarien und an Zeisig, Hänfling, Girlitz, Stieglitz, Gimpel die Frage zu studieren, ob die Hybridisation einen Einfluss auf die Größe, Form, Färbung und Zeichnung der Eier erkennen lässt. Die Eier der genannten Wildvögel sind von jenen der Kanarıen an Größe und Form mäßig verschieden. In der Grun- dierung, welche bei den englischen Kanarien schwach bis deutlich bläulichgrün, beı den Harzer-Kanarien gelblichweiß, bei den Wild- vögeln gelblichweiß höchstens mit einem grünlichen Stich ist, auch in der unscharfen hellbraunen Fleckung oder Marmorierung vor- wiegend der stumpfpoligen Eihälfte oder bloß der Umgebung des Stumpfpoles bestehen nur geringe Differenzen. Hingegen ent- behren die Eier von Kanarıenreinzuchten der schwarzbraunen Zeichen, welche sich regelmäßig an den Eiern der bezeichneten Wildvogel- arten vorfinden und zwar in einer für jede einzelne Spezies cha- rakteristischen Größe, Form und Anordnung. Da demgegenüber die Kanarien, bei event. Übereinstimmung in der Grundierung und bei Ähnlichkeit in der hellbraunen Fleckung einer solchen schwarz- braunen Zeichnung so gut wie völlıg entbehren, zudem Wildvogel- weibehen schwerer zu erlangen und in der Gefangenschaft zum Brüten zu bringen sind, benützten wir zu den Versuchen aus- schließlich Weibchen von englischen und von Harzerkanarien und Männchen der Wildvogelarten, zum Reinzuchtvergleiche natürlich auch Kanarienmännchen. Die zahlreichen Paare wurden einzeln in 2) Unter Berücksichtigung der vielfachen Hybridisierung unserer Geflügel- formen, von denen gewiss viele Individuen kryptomere bezw. heterozygotische Natur besitzen, d. h. reaktionsfähige Anlagen oder Faktoren unmerklich in sich tragen bezw. ungleich veranlagte Geschlechtszellen produzieren. v. Tschermak, Über den Einfluss der Bastardierung ete. 643 geräumigen Käfigen in zwei sonst leeren, unbewohnten und gut ventilierten Zimmern gehalten. Einige dauernd isoliert gehaltene Kanarienweibehen wurden auch ohne Befruchtung zum Eierlegen gebracht. Die so gewonnenen Bastardeier, Reinzuchtseier und un- befruchteten Kanarieneier wurden dann aus dem Handel oder aus Sammlungen bezogenen Eiern der benützten Wildvogelarten gegen- übergestellt. Nach genauem Messen, Beschreiben und Photographieren wurden die Eier ım allgemeinen ausgeblasen — auf eine Aufzucht der Bastarde verzichteten wir zunächst —, dann zu einer Sammlung?) geordnet. Über die Resultate unserer Versuche orientiert die nachstehende Tabelle, der vergleichshalber eine Charakteristik des befruchteten Eies aus Kanarienreinzucht vorangestellt sei: Durchschnittliche Größe bezw. Langachse (17,35 mm) und Quer- achse (13,4 mm), durchschnittliche Form, in erster Linie charak- terisiert durch das Achsenverhältnis (1,5353: 1) als Vergleichsgrund- lagen gewählt. Grundierung bei englischen Kanarien spurenweise schwach oder deutlich bläulichgrün, bei Harzer-Kanarien gelblich- weiß; hellbraune polygonale bis rundliche Flecken, die größeren im allgemeinen auf die Stumpfpolhälfte beschränkt, nur vereinzelt bis zum Äquator reichend, die kleineren helleren Stippchen bis an den Spitzpol verstreut. Ganz selten und ganz vereinzelt schwarzbraune Pünktchen auf der Stumpfpolhälfte. Vergleichende Charakteristik der Bastardeier und der Eier aus Wildvogelreinzucht. Art des Wildvogels I. Zeisig. (Fr. spinus.) II. Hänfling. (Fr. cana- bina.) Bastardei (Kanarie 2 X Wildvogel 5‘) Langachse kürzer, Querachse breiter, Form deutlich plumper, Grundierung schwach bläulich- grün, reich an schwachen bis mittel- starken, rundlichen bis polygo- nalen hellbraunen Flecken; in der Stumpfpolhälfte zugleich schwarz- braune, ganz feine Punkte event. in Reihen, Kurzstriche, Kommata — zudem reich an feinen Geißeln oder haarförmigen Kratzern. Ei deutlich kleiner, Lang- und Querachse kürzer, Form etwas mehr länglich; Grundierung bläu- lichgrün; deutliche hellbraune Wildvogelei (Wildvogel 2 X. Wildvogel Z') Langachse noch kürzer, Quer- achse erheblich kürzer, Form mehr grazil; Grundierung gelblichweiß; reich an schwachen bis mittel- starken, rundlichen bis polygonalen hellbraunen Flecken, besonders in der Stumpfpolhälfte. Zahlreiche ganz feine schwarzbraune Punkte event. in Reihen, Kurzstriche, Kommata, dazu hie und da haar- förmige Kratzer. Ei erheblich kleiner, Lang- und Querachse erheblich kürzer, Form deutlich länglicher; Grun- dierung spurenweise grünlich ; deut- 3) Dieselbe habe ich neben den danach hergestellten Diapositiven gelegentlich eines Vortrages auf dem 8. Internationalen Physiologenkongress (Wien, 27.—30. Sep- tember 1910) demonstriert. Reproduktionen der Photogramme bringen. Die ausführliche Publikation unserer Versuche wird 41* 644 Art des Wildvogels II. Hänfling. (Fr. cana- bina.) III. Girlitz. (Fr. serinus.) IV. Stiglitz. (Fr. car- duelis.) V. Gimpel. (Pyrrhula rubicilla.) v. Tschermak, Über den Einfluss der Bastardierung ete. Bastardei (Kanarie 2 X. Wildvogel j‘) Flecken, etwas vom Stumpfpole abgerückt; bis zum Spitzpol ver- streut schwarzbraune feine Punkte (nicht so fein wie sub I), event. Doppelpunkte, Kurzstriche, Punkte und Striche event. in kurze ge- bogene Fädchen auslaufend, sepa- rate wellige Fädchenbögen. Langachse etwas länger, Quer- achse erheblich kürzer, Form stark länglich; Grundierung schwach grünlich; ganz schwache vom Stumpfpole abgerückte hellbraune Marmorierung und Fleckung; mittelgrobe (und zwar gröber als sub II), schwarzbraune, kreis- föormige bis elliptische Punkte event. in Diplokokkenform oder Kipfelform, kurze Striche event. Strichreihen, dazu ca. '/, cm lange wellige, spirillenähnliche Linien von geradem Zuge. Langachse verkürzt, Quer- achse kaum verkürzt, Form relativ plump; Grundierung schwach grünlich; hellbraune Fleckung hauptsächlich an der Stumpfpol- hälfte und speziell um den Stumpf- pol selbst; mittelgrobe, schwarz- braune Punkte und Kommata, dazu bogenförmig gekrümmte, ca. 1 cm lange mittelstarke Zeichen (erheblich dieker und plumper als beim Wildvogelei). a) (Englische Kanarien) Ei erheblich größer, Langachse stark. (uerachse mäßig vergrößert, Form mehr Jänglich; Grundierung schwach bis deutlich bläulichgrün. b) (Harzer Kanarien.) Ei etwas größer, Langachse etwas kürzer, (Juerachse etwas breiter, Stumpf- pol abgeflacht, Spitzpol verschärft; lichtbraune Fleckung und feine lichtbraune Punktierungim wesent- lichen auf die Stumpfpolhälfte be- schränkt; recht grobe, runde bis elliptische (0,5—1 mm) schwarz- braune Punkte und recht grobe, Wildvogelei (Wildvogel 2 X Wildvogel g'‘) lich hellbraune Flecken, etwas vom Stumpfpole abgerückt; bis zum Spitzpol verstreut schwarzbraune feine Punkte, event. Doppelpunkte, Kurzstriche, Punkte und Striche event. in kurze, gebogene Fädchen auslaufend, mitunter, jedoch ver- einzelt, kurze wellige und bogen- förmig gekrümmte Figuren. Langachse kürzer, Querachse etwas kürzer, Form mehr länglich ; Grundierung gelblichweiß; ver- schwommene, große, vom Stumpf- pol abgerückte hellbraune Marmo- rierung und Fleckung: mittelgrobe, schwarzbraune, meist elliptische Punkte, event. in Diplokokken- form, kurze, mittelstarke Striche und Kommata, z. T. in gerad- laufende Spirillenfäden ausgezogen, dazu lange, scharfe, wellige Faden- zeichnungen von geradem Zuge. Langachse und Querachse etwas vergrößert, Form etwas plumper; gelblichweiße, spuren- weise grünliche Grundierung; ganz schwache bis deutliche runde bis polygonale Fleckung, hauptsäch- lich der Stumpfpolhälfte, verstreut bis zum Spitzpol; schwarzbraune Kommata, dazu bogenförmig ge- krümmte, event. verschlungene und an einen Paraph erinnernde feine Linien. Ei erheblich g ößer, Lang- und Querachse erheblich größer, Form spurweise mehr länglich; Grundierung gelblichweiß ; blasse, lichtbraune Fleckung auf die Stumpfpolhälfte beschränkt; recht grobe, rundebiselliptische sch warz- braune Punkte und grobe, dicke, kurze Striche oder Kommata mit einem Geißelfaden. v. Tschermak, Über den Einfluss der Bastardierung ete. 645 Art des Bastardei Wildvogelei Wildvogels (Kanarie 2 X Wildvogel Z') (Wildvogel 2 X Wildvogel (') V. Gimpel. dicke, kurze Striche und Kommata, (Pyrrhula z. T. in ein kurzes, geschwungenes rubieilla) Fädchen ausgezogen — ähnlich einem Vibrio mit einer Geißel, dazu mitunter und vereinzelt zarte, mehrfach winkelig geknickte Kratzerlinien, 0,5—1l cm lang mit einem verdickten Ende. Aus der vorstehenden Übersicht ergibt sich, dass betreffs Größe bezw. Länge und Breite sowie betreffs Form zwar ein Einfluss der Bastardierung merklich ist, dass derselbe jedoch nicht allgemein ın der Richtung der Vaterrasse gelegen ist. Eine korrespondierende Abände- rung könnte nur aus der Bastardierung mit Hänfling und mit Gimpel herausgelesen werden. Jedenfalls sind andere Faktoren mitent- scheidend. Es sei nur an die allgemeine Erfahrung erinnert, dass das Wachstum von Bastarden sowohl ein vermehrtes als ein ver- mindertes sein kann. Bezüglich der Grundierung ist kein Einfluss zu entnehmen. Was die hellbraune Fleckung oder Marmorierung anbelangt, so sind schon die Unterschiede zwischen den Kanarien- eiern und den Wildvogeleiern sowie zwischen den einzelnen Wild- vogelarten nicht erheblich, doch mag man eine Andeutung von patrokliner Abänderung an den Bastardeiern herauslesen. Un- verkennbarist hingegen ein korrespondierender Einfluss bezüglich der schwarzbraunen Zeichnung, und zwar ist der- selbe ein so typischer, dass man daraufhin aus dem Aussehen des Bastardeies die Vaterart mit ziemlicher Sicherheit diagnostizieren kann und den Satz aufzustellen vermag: der Vater verrät sich an der spezifischen schwarzbraunen Zeichnung des erzeugten Bastard- eies. Dieselbe ist allerdings ım allgemeinen nicht einfach identisch mit jener der Reinzuchteier der Vaterart, jedoch derselben erheb- lich und unverkennbar angenähert. Dieses positive Ergebnis in der Frage nach Xenien, speziell Xeniochromien im Tierreiche mag verwunderlich erscheinen und alsbald einen Aufklärungsversuch her- ausfordern. Ein Fingerzeig hiefür ergibt sich aus dem Verhalten des unbefruchteten Kanarıeneies. Dasselbe zeigt nämlich — ab- gesehen von der Reduktion an Größe bezw. der Lang- und Quer- achse und von der mehr länglichen Form — ganz schwach grünliche Grundierung und nur ganz kleine, sehr lichtbraune Flecken und Pünktchen, dicht am Stumpfpole, in lockerer Verteilung bis zum Spitzpole reichend; doch kann die angedeutete lichtbraune Fleckung und Punktierung sich auf eine Eihälfte beschränken, ja geradezu fehlen. Aus diesem Verhalten erhellt, dass die Entwicklung und Verteilung des die Zeichnung bedingenden Pigments bei den Kanarien zwar nicht ausschließlich, so doch ganz wesentlich von der Befruch- 646 Tschermak, Über den Einfluss der Bastardierung etc. tung abhängt. Dies legt wiederum die Vorstellung nahe, dass der Samen es ist, welcher — wenigstens bei den hier behandelten Vogelarten — die Ausbildung der für die Vogelart charakteristischen hellbraunen und speziell schwarzbraunen Zeichnung bedingt. Diese chromogene Wirkung des Samens, welche in der Bestimmung der ersten Teilungsebene des Froscheies durch den Befruchtungsmeridian nach W. Roux eine gewisse Analogie besitzt, könnte man sich vorstellen als die Folge einer lokalen reaktiven Bildung oder Ab- lagerung von Pigment in der Eischale und zwar auf Grund einer spezifischen Reizwirkung des Samens bezw. des Samenfadens oder des befruchteten Eies auf seine Hüllen (intraovale Reaktion). Anderer- seits ist es aber auch möglich, dass die Samenflüssigkeit oder der Samenfaden oder das bastardierte Ei selbst die Schleimhaut des Eileiters in einen solchen abgestuften Reizzustand (extraovale Re- aktion) versetzt, dass eine Abscheidung von hellbraunem und speziell von schwarzbraunem Pigment in ganz bestimmter Anordnung erfolgt etwa aufGrund von minimalen oder gröberen oder ganz groben punkt- förmigen Blutaustritten (bezw. von hämatogener Sekretion) oder von solchen entlang einer kürzeren oder ausgedehnteren Kapillarstrecke. Allerdings entbehrt auch eine solche Vermutung der festen Grundlage, so lange wir noch über den Ort und den Vorgang der normalen Pigmentierung der Vogeleischale unzulänglich unterrichtet sind und zwar trotz der interessanten diesbezüglichen Angaben und Unter- suchungen von C.L.Gloger (1854), W. Pässler (1855), W. Wicke- Baldamus (1858), H. Landois (1865, 1884), Wiese (1867), B.Bla- sius (1867), W.v. Nathusius (1868, 1879), G. Seidlitz (1869), Kutter (1878), C. F. W. Kruckenberg (1883), H. Wiekmann (1893). Obzwar sonach meines Erachtens eine vollbefriedigende Er- klärung des merkwürdigen Einflusses, den die Bastardierung auf die Zeichnung von Kanarieneiern erkennen ließ, gegenwärtig noch fehlt, dürfte dieses Problem doch allgemeines Interesse seitens der Natur- und Vogelfreunde verdienen. Für freundliche Mitteilung etwaiger fremder Erfahrungen auf diesem Gebiete wäre ich sehr verpflichtet. Einige Worte zur karyokinetischen Zellteilung. Von Privatdoz. Dr. E. Landau aus Dorpat. (Vorläufige Mitteilung.) Diejenigen Theorien, nach denen die bei der Karyokinese auf- tretenden Strahlungen — welche beiderseits vom Kern von den Zentrosomen zum letzteren gehen — als aktive, ziehende Fäden oder kontraktile Stränge aufzufassen seien, müssen gegenwärtig als Landau, Einige Worte zur karyokinetischen Zellteilung. 047 durch die Untersuchungen von Teichmann, H. E. Ziegler, A. Fischel u. a. als überwunden betrachtet werden. Die Strahlen, die vom Zentrosom ausgehen, sind zweifacher Art: 1. die uns sichtbaren, die aus Körnchen zusammengesetzt sind, welche sich färben lassen; 2. die zwischen diesen liegenden, nicht färbbaren, aus Flüssigkeit bestehenden. Dass wir die sichtbaren Körnchenstrahlen als etwas Sekundäres und vollständig von den Bewegungen der Flüssigkeit Abhängiges zu betrachten haben, ist einleuchtend und durch ein von mir ausgeführtes kleines Experi- ment leicht zu erweisen. Wenn wir ein wenig Lykopodium auf ein Spindelgläschen schütten, etwas starken Spiritus darauf gießen, beides gehörig durchrühren und dann mit einer senkrecht in die Mitte des Gläschens gestellten Pipette den Spiritus vorsichtig aus- saugen, so erhalten wir eine schöne große Sonne, deren Strahlen aus nebeneinander gelagerten Lykopodiumkörnchen gebildet sind. Natürlich sind die zwischen den Lykopodiumstrahlen liegenden Strahlen die primären, denn dort hat die Bewegung der Flüssigkeit stattgefunden, durch welche dann die Lykopodiumkörnchen sekundär seitwärts abgedrängt sind und so, zwischen den Flüssigkeitsbahnen liegend, passiv die strahlenförmige Anordnung erhalten haben !). Bei diesem Versuch erhält man aber eine Sonne nicht nur, wenn man die Flüssigkeit, wie erwähnt, aussaugt, sondern ebenso auch, wenn man durch einen Ballon (Pipette) die Luft aus diesem mit starkem plötzlichen Druck gegen die Mitte des Gemisches hinaus- drängt. Die Erklärung dafür liegt auf der Hand. Durch die aus dem Ballon plötzlich nach allen Seiten der Oberfläche des Schäl- chens dringende Luft wird der Alkohol als der leichter bewegliche Bestandteil der Mischung schneller verdrängt, wobei die Flüssig- keit natürlich auch strahlenförmig auseinander geht und die Lyko- podiumkörnchen sich zwischen der Flüssigkeit passiv ablagern. Was nun die Strahlungen im Protoplasma der Zellen bei der Karyokinese anlangt, so ist es klar, dass wir, wie H. E. Ziegler, dıe Strahlen als feine Bahnen des Protoplasmas, auf welchen Strö- mungen stattfinden, zu betrachten haben. Es ist durchaus nicht notwendig, dass dabei nur ein Heranströmen von dotterfreiem Protoplasma stattfinde; diese Erscheinung kann ebenso bei dem Abströmen des Protoplasmas stattfinden (wie auch schon H. E. Ziegler?) bemerkt, ohne freilich für dieses Abströmen eine ge- 1) Bei dem eben erwähnten Experiment tritt schon in dem durchgerührten (zemenge eine interessante Erscheinung auf. Das anfangs ganz homogene Gemisch zeigt schon nach wenigen Sekunden eine Netzstruktur, die dadurch entsteht, dass die Lykopodiumkörnchen, die schwerer sind als der Spiritus, bevor sie sich zu Boden senken, sich zu kleinen Haufen vereinigen, so dass der zwischen diesen Häufchen befindliche Alkohol, von der Oberfläche aus gesehen, ein Netz zu bilden scheint. 2) H. E. Ziegler. Die ersten Entwickelungsvorgänge des Echinodermeneies u. s. w. Festschr. z. 70. Geburtstage von E. Häckel. Jena 1904. 648 Landau, Einige Worte zur karyokinetischen Zellteilung. nügende Erklärung zu geben); und dass beide Erscheinungen ab- wechselnd auftreten ist das Wahrscheinlichste. Käme bei der Zell- teilung ein ausschließliches Aufsaugen in sich vom Zentrosom aus ın Betracht, so könnte man nur eine einzige Zellenteilung erklären, da das Zentrosom, nachdem es mit den aus dem Protoplasma ge- sogenen Substanzen gesättigt ist, dann kein weiteres Heranströmen des dotterfreien Protoplasmas verursachen könnte. Meiner Ansicht nach sind die Zentrosomen als pulsierende Körper aufzufassen, die abwechselnd das Heranströmen und Abströmen (resp. Verdichtung und Verdünnung) des Protoplasmas bewirken. Danach wäre auch in einem Spermatozoon und ähnlichen Zellen das Zentrosom als Fig. 1. Fig. 2. Fig. 4. Die Figuren 1-4 haben den allmählich wachsenden Einfluss der pulsierenden Zentren auf den ruhenden Kern in schematischer Form zu veranschaulichen. Landau, Einige Worte zur karyokinetischen Zellteilung. 649 pulsierendes Zentrum und als die Bewegung der Zelle verur- sachender Grund zu betrachten. — So ist mir auch die von Bo- veri und H. E. Ziegler beobachtete Bildung kleiner Wellen an der Äquatorialebene (von Ziegler als Verdickung der Außenschicht°) aufgefasst) erklärlich. Durch das Pulsieren der Zentren bilden sich nämlich wellenförmige Bewegungen, die sich konzentrisch von dem pulsierenden Körper aus verbreiten; diese von beiden Zentren ver- laufenden Wellen heben sich zum Teil auf, zum Teil, wo sie ın gleicher Richtung fortschreiten, summieren sie sich. Bei der Zell- teilung ist jedenfalls der Querschnitt der Zelle in der Äquatorial- gegend die Stelle, an der diese Wirkung eintritt. In dem einen Falle würden wir also eine Teilung der Zelle von innen aus, ın dem anderen eine Durchschneidung der Zelle von der Oberfläche vor uns haben; in beiden Fällen aber müssen die Bestandteile des Kerns in gleiche Hälften auseinanderfallen (sich trennen), wobei meiner Meinung nach die Vorbereitungen und für die Karyokinese notwendigen Veränderungen im Kerne mit dem Augenblicke beginnen, wo beide Zentrosome sich voneinander trennen und zu den ent- gegengesetzten Polen des Kerns zu ziehen beginnen. In meiner Ansicht werde ich bestärkt durch die von V. Bjerknes angestellten experimentellen Untersuchungen der sogen. Strom- felder (V. Bjerknes, „Die Kraftfelder“, Braunschweig, Vieweg u. S., 1909). Man vergleiche die dabei sich bildenden hydrodynamischen Felder zweier gleich-, resp. entgegengesetzt pulsierender Körper (p. 32, 33), und man wird sogleich das große Interesse dieser Ex- perimente für den Zytologen einsehen. Zu meinem Bedauern habe ich bis jetzt nicht die Möglichkeit gehabt, ähnliche Versuche anzu- stellen. Mein Plan ist aber, zwischen beiden pulsierenden Zentren, ın gleichem Abstande von ıhnen, eine gefärbte Masse ins Gleich- gewicht zu bringen und dann auf diese Masse durch die Pulsatıon beider Zentren einzuwirken, um mich davon zu überzeugen, ob eine Trennung dieser Masse und ein gleichzeitiges Hinströmen zu den pulsierenden Zentren stattfinden wird. Da die Wellen in senkrechter Richtung zum Gleicher der Masse an diese anprallen, so muss wohl eine rückläufige Wellenbewegung stattfinden! Sollte dabei nicht durch diese vorwärtsgehende und rückläufige Bewegung der Wellen allmählich die Trennung der Masse (welche in diesem Experiment dem Zellkern entsprechen würde) zustande kommen’? 3) Diese „Außenschicht“ hat mit der von Frl. Krassuskaja und mir (Biol. Öentralbl. 1903) beschriebenen, um das Ei zu beobachtenden Gallertschicht nichts Gemeinschaftliches und teile ich wie früher in der Deutung der Gallertschicht den Standpunkt von R. Hertwig (s. auch J. Ries, ‚Zur Kenntnis der Befruehtung des Echinodermeneies“, Oentralbl. f. Physiol. Bd. XXI]). 650 Korschelt u. Heider, Lehrbuch der vergl. Entwickelungsgeschichte ete. E. Korschelt u. K. Heider, Lehrbuch der vergleichenden Entwickelungsgeschichte der wirbellosen Tiere. Allgemeiner Teil. Vierte Lieferung. Jena. Verlag von Gustav Fischer. 1910. Die vierte Lieferung des allgemeinen Teiles des bekannten Lehrbuches behandelt in dem über 18 Bogen starken VIII. Kapitel das wichtige Gebiet der Keimblätterbildung und zerfällt in vier Hauptteile: I. Zur Keimblätterbildung im allgemeinen. II. Die ver- schiedenen Typen der Gastrulation. III. Die Typen der Mesoderm- bildung. IV. Besondere Formen der Keimblätterbildung. I. Im Ei ıst vermutlich die Bilateralität des Keimes schon vor der Befruchtung vorhanden, während die polare Differenzierung wohl schon immer in dem unbefruchteten Ei sich findet. Diese wird vermutlich — ın manchen Fällen zweifellos — immer durch die Lage der Eizelle im Ovarıum bestimmt, falls die Anlage zu ıhr, wie allen Zellen des Metazoenkörpers, nicht schon von vornherein auch den Keimzellen in Form einer freien und basalen Seite innewohnt. Bei der Frage nach der Homologie der Keimblätter handelt es sich darum, ob bei normaler Entwickelung auf das Blastulastadıum ' Differenzierungsprozesse folgen, welche bei verschiedenen Formen vergleichbar sind und zur Ausbildung der gleichen Endresultate führen. Ob infolge latenter Potenzen der Keimblätter diese unter Umständen zu Leistungen befähigt sind, welche über die normale hinausgehen, das hat mit der Frage der Homologie der Keimblätter nichts zu tun: Es handelt sich nur um die prospektive Bedeutung, nicht um die prospektiven Potenzen der Keimblätter. Bei allen Metazoen — eine gewisse Ausnahmestellung nehmen nur die Spongien ein — sind die zwei primären Keimblätter — primäres Ekto- und Entoderm —, für welche die Anlage des Hautepithels und des Mitteldarmepithels typisch ist, homolog. Bezüglich der schwierigen Mesodermfrage unterscheiden die Verfasser zwei „histologisch ver- schiedene Formen“ das Mesenchym als ein Gewebe „amöboid gestalteter Zellen“ und das Mesepithel oder Mesothel, das sind epitheliale Mesodermlagen, welche zur Auskleidung „echter Cölom- räume“ dienen, wobei der Name „Endothel* für dıe Begrenzungs- schicht von Spalträumen reserviert wird, die ım Mesenchym ent- stehen. Genetisch besteht das Mesoderm aus zwei verschiedenen nicht miteinander homologisierbaren Formen: Ektomesoderm, stets mesenchymatisch und vom primären Ektoderm entstehend, und Entomesoderm, mesenchymatisch oder mesepithelial, ableit- bar vom primären Entoderm. So entstehen die drei sekundären Keimblätter: Ektoderm, Mesoderm, Enteroderm. Das Mesoderm ist da, wo es zugleich als Ekto- und Entomesoderm vorkommt, keine genetische Einheit. Die Keimzellen nehmen den Keimblättern gegenüber eine Sonderstellung ein und sind also keinem der drei Blätter zuzusprechen. Nach einem interessanten Abschnitt über Einwände gegen die Keimblätterlehre und Spekulationen über die Haeckel’sche Archigastrula folgt eine übersichtliche Darstellung der verschiedenen Blastulaformen in zum Teil neuer und zweck- mäßiger Einteilung. Die Verwendung des bereits anderweitig be- Korschelt u. Heider, Lehrbuch der vergl. Entwickelungsgeschichte ete. 651 nutzten Wortes Morula für eine besondere Form der Sterroblastula (bei einigen Cölenteraten) erscheint dem Verfasser unzweckmäßig. Il. Unter den in klarer Weise gruppierten verschiedenen Gastrulationsformen werden zunächst die Invaginationsgastrula (embolische Gastrula) und die Umwachsungsgastrula (epibolische Gastrula) und deren Ableitung von dem entsprechenden Furchungs- typus behandelt, wobei ‘auch die entwickelungsmechanischen Be- trachtungen (besonders Rhumbler’s) Berücksichtigung finden. Als Zwischenform der beiden genannten Typen fassen die Autoren den durch „polare Einwucherung“ auf; diese kann eine „wenig- zellige“ und eine „vielzellige“ sein. Es besteht jedoch keine scharfe Grenze gegen den Invaginationsmodus. In allen diesen Fällen geht die Entodermbildung stets von der vegetativen Hälfte der Blastula aus. Ihnen stellen die Verfasser den zuerst von Ray Lankester eingeführten Typus der Delamination gegenüber. Der Delami- nationsvorgang ist verschieden, je nachdem er sich an eine Oölo- blastula, Sterroblastula oder an superfizielle Furchung anschließt: primäre, sekundäre, synzytiale Delamination. Als besondere Form der primären Delamination erscheint die „multipolare Einwande- rung“, bei welcher ohne vorhergehende Zellteilung (?) von ver- schiedenen Stellen des Keimes einzelne Zellen in das Blastocöl gelangen und dieses ausfüllen. So entsteht eine (solide) Sterro- gastrula, in welcher später die Darmhöhle auftritt. Den Abschluss des zweiten Hauptteiles bilden die Diskogastrula Haeckels — mit einer zweckmäßigen, wenn auch streng genommen nicht in den Bereich des Lehrbuches gehörigen Besprechung der Gastrulation der meroblastischen Vertebrateneier, besonders der Amphibien und Selachier — und ein Kapitel über „die Schicksale des Blastoporus“ III. Unter den Typen der Mesodermbildung kommen zunächst das Ekto- und Entomesoderm zur Behandlung, dann die von zwei Urmesodermzellen ausgehende paarige Mesodermstreifenbildung, die Mesodermstreifbildung bei Anneliden und Arthropoden (letztere nur vorläufig, s. u.), sowie die Mesodermbildung bei den Entero- pneusten, bei denen die verschiedensten Typen der Cölombildung als einfache Enterocölbildung, durch solide Zellproliferation bis zur Ausbildung von Cölomsäcken durch Zusammentreten einzelner Mesenchymzellen vorkommen und die deshalb einen guten UÜber- gang zu der Enterocölbildung bei den Echinodermen, Chaetognathen, Brachiopoden und bei Amphioxus bilden. Dass die Mesoderm- bildung durch Abspaltung vom Urdarm nicht prinzipiell verschieden ist von der „durch solide Einwucherung“, lässt sich (abgesehen von Allgemeingründen, Ref.) schon aus der Tatsache entnehmen, dass letztere unter den Echinodermen bei Opkiothrix, unter den Brachio- poden bei Lingula und Theeidium vorkommt. Auch die Mesoderm- bildung der Vertebraten möchten die Verfasser „am besten auf eine solide Einwucherung“ beziehen“. Während die Beurteilung der Mesodermbildung bei “den Protostomia (Grobben), bei denen die Bildung vom Urmundrand ausgeht, in mancher Hinsicht noch Schwierigkeiten bereitet, liegen die Verhältnisse bei den Deutero- stomia (Grobben) (Enteropneusten, Echiniden, Chaetognathen, Chor- 692 Auerbach, Lebenstheorien. daten) viel einfacher. Zum Schluss dieses Teiles werden die En- terocöltheorie (Cölomtheorie), welche die Abschnürung von Urdarmdivertikeln als den ursprünglichsten Modus der Mesoderm- bildung betrachtet, die Gonocöltheorie, die in dem Cölom einen erweiterten Genitalfollikel sieht, und die Nephroeöltheorie, nach welcher das Cölom aus einem Protonephridium abgeleitet wird, kritisch behandelt. Nimmt man an, dass .das Enterocöl von Anfang an als Gono- und Nephrocöl funktionierte, so kann man wohl einen zwischen den drei Theorien vermittelnden Standpunkt gewinnen. IV. Der vierte Abschnitt füllt die zweite Hälfte der genannten Lieferung aus (150 Seiten). Hier werden die Poriferen, die Arthro- poden (91 Seiten), Amphioxus, Balanoglossus und die 'Aseidien be- sonders behandelt. Eine genauere Besprechung würde hier zu viel Raum beanspruchen. Gerade dieser Teil erscheint für denjenigen Embryologen, der sich spezieller mit der Keimblattbildung der Vertebraten befasst, besonders interessant. Die vorliegende Lieferung des so wertvollen, eingehenden und für jeden Morphologen und experimentell arbeitenden Embryologen unentbehrlichen großen Werkes enthält innerhalb des vortrefflichen Textes nicht weniger als 217 Abbildungen, die zum weitaus größten Teil den einschlägigen Originalarbeiten entnommen sind. 0. Schultze (Würzburg). Lebenstheorien. Felix Auerbach, Ektropismus oder die physikalische Theorie des Lebens. S. V und 99 Seiten. Leipzig. Wilhelm Engelmann. 1910. An Lebenstheorien fehlt es nicht und immer werden noch neue produziert. So hat man sich daran gewöhnt, die meisten derselben als gutgemeintes, aber die Erkenntnis des Lebens nicht förderndes, sogenanntes „schätzbares Material“ zur Kenntnis zu nehmen, ohne sich in der Forschung über die Lebensvorgänge von ihnen weiter beeinflussen zu lassen. Dementsprechend war es gegenüber dem Andrang von Einzelbeiträgen diesem Blatte, das den allgemeinen Interessen der biologischen Wissenschaften dienen soll, in der Mehr- zahl der Fälle nicht möglie h, auf jene Versuche zur Aufstellung allge- meiner Theorien einzugehen: sie mussten unbesprochen bleiben. Wenn wir diesmal dem oben genannten kleinen Schriftchen gegenüber anders verfahren, so geschieht das aus dem Grunde, weil es nicht von einem Biologen von Fach, sondern von einem Physiker herrührt, einem Manne, dessen Name in seiner Fach- wissenschaft einen guten Klang hat. Wir Biologen sınd daran ge- wöhnt, zu den Physikern hinaufzusehen, sie als unsere Vorbilder zu betrachten, von denen wir exakte F orschungsmethoden und Klar- heit des Denkens lernen wollen. Die neueren Ergebnisse der physikalischen und chemischen Forschung haben so erstaunliche Einblicke in das physikalische Geschehen gestattet, dass wir hoffen, auch etwas Nützliches und Förderndes für “die von uns mit heißem Bemühen studierten Vorgänge aus ihnen entnehmen zu können. Ich will versuchen, der Darstellung in ihren Hauptzügen zu folgen. Diese Darstellung ist sehr lebhaft, bilderreich, vielleicht Auerbach, Lebenstheorien. 653 mehr, als dem Zweck dienlich ist, und geht darauf aus, auch das Interesse eines großen Leserkreises zu fesseln. Der Verf. be- ginnt damit, den Stoffbegriff, eine der Grundlagen der modernen Naturwissenschaft, zu kritisieren. Er spricht dem Begriff der „Masse“ die grundlegende Bedeutung ab, welche ihm von den Naturforschern beigelegt wird, da er nur eine Seite der Wirkungen, welche die Stoffe auf unsere Sinnesorgane ausüben, berücksichtigt und andere, ebenso wichtige, unbeachtet lässt. Auerbach möchte deshalb (wie es in ähnlicher Weise schon Ostwald getan hat) den Begriff „Stoff“ ganz fallen lassen zugunsten des Begriffs „Energie* und das Ge- setz von der Erhaltung der Energie ist für ıhn das eigentliche Grundgesetz alles Geschehens. Aber alles Geschehen, soweit wır es verfolgen können, folgt einer Tendenz des Ausgleichs aller Unterschiede und der Tendenz, die Energie zu zerstreuen. (Dies führt, worauf wir gleich zurückkommen werden, zum zweiten Hauptsatz der Wärme- theorie und zum Begriff der Entropie.) Als dritten Grundfaktor für die Regelung aller Naturvorgänge führt Auerbach ein die Tendenz, die Energie zu entwerten. Er hält diese Einführung des Wertbeeriffs für gerechtfertigt und bemüht sich zu zeigen, dass er neben dem Energiebegriff Geltung besitze, wenn man die Sache von einem weiteren Gesichtskreis aus betrachte. Was er an Beispielen zur Erläuterung des Wertbegriffs anführt, deckt sich, soweit es sich um Naturprozesse handelt, vielfach mit dem, was man sonst als Potential oder als Energie der Lage zu bezeichnen pflegt!). Die Ausdrücke Ausgleich, Zerstreuung, Entwertung kommen nach Auerbach im wesentlichen auf dasselbe hinaus. Die Energie im Weltall findet sich zum Teil in freiem, zum Teil in gebundenem Zustand. Nur in ersterem ist sie ohne wei- teres wirkungsfähig, in letzterem nur zum Teil oder gar nicht. Die Tendenz der Weltprozesse führt nun zu einer fortwährenden Ver- minderung des freien Anteils der Energie. Die Umwandlung der freien Energie in die gebundene (d. h. weniger leistungsfähige) be- zeichnet Auerbach (mit Clausıus) als Entropie, die Umwand- lung gebundener Energie in freie als Ektropie. Diesen letzteren Ausdruck führt er neu ın die Wissenschaft ein?). Die Tendenz der Natur geht also auf fortwährende Steigerung der Entropie auf Kosten der Ektropie. Das ist aber, wie man weiß, der Inhalt des zweiten Hauptsatzes, wie ıhn Clausius entwickelt hat. Wenn nun auch dieses Gesetz für das Weltganze unabänder- lich gilt, so doch nicht für einzelne Teile des Ganzen. Das Welt- ganze besaß zur Zeit seines, uns freilich vollkommen unbekannten 1) Ich verweise wegen der von mir gebrachten Bezeichnungen der Begriffe auf die Auseinandersetzungen in meinem Lehrbuch der allgemeinen Physiologie, 4. und 5. Kapitel. Ebenda ist auch die Bedeutung des Massenbegriffs für die Kenn- zeichnung der Materie und die Frage, wie weit dem Äther Masse zuzuschreiben ist, besprochen. Ich bin hierauf im Text nicht eingegangen, um den Aufsatz nicht allzulang zu machen. 2) Nach A.’s Angabe hat ihn der in philosophischen und naturwissenschaft- lichen Se knlabonen dilettierende Herausgeber der ‚Jugend‘ Georg Hirth zuerst gebraucht. 654 Auerbach, Lebenstheorien. Anfangs ein gewisses Maximum freier Energie, welche seitdem fort- während abgenommen hat und immer weiter in gebundene Energie übergeht. In den Teilsystemen aber kann, auf Kosten anderer Teile, die Ektropie zunehmen, was durch das Gleichnis des Auf- ziehens einer Uhr erläutert wird. Da der Zuwachs an Entropie im einen System den Zuwachs an Ektropie im anderen System stets numerisch übertrifft, so wird dadurch an dem Gesetz, dass die Entropie der Gesamtwelt fortwährend einem Maximum zustrebt, nichts geändert. Für das aufgezogene System aber (um bei dem Gleichnis zu bleiben) ist für eine gewisse Zeit wieder die Möglıch- keit neuer und vermehrter Wirksamkeit gegeben. Es gibt aber nach Auerbach in der Natur eine Organisation, welche jener fortwährenden Zerstreuung der Energie entgegen- arbeitet, das ist das Leben. Durch dieses wird der Entwertungs- prozess des Weltalls verlangsamt, eventuell bis zu einem Grade, der zu einem Gleichgewicht der entwertenden und der wertsteigern- den Kräfte führt(?). Hierzu wirken die physikalischen und chemischen Eigenschaften der organischen Substanz mit, ihre Kompliziertheit des Molekularaufbaus bei der verhältnismäßigen Einfachheit in der Zahl der sie zusammensetzenden Elemente, ihre physikalischen Eigen- schaften (halbdurchlässige Membranen u. dgl.), welche die unge- ordneten Molekularbewegungen zum Teil in geordnete überführen. Bis hier sind wir den Ausführungen von Auerbach, wenn auch ın kürzestem Auszug, gefolgt. Wir übergehen, was er über Technologie, Geisteswissenschaften, Ethik, Politik, Soziologie und Kunst beibringt, die er alle von dem gleichen Gesichtspunkt aus, dem der Ektropie kurz beleuchtet. Wir wollen nun versuchen festzustellen, was die von ıhm aufgestellte Lehre leistet, wie weit wir in ihr eine wahre oder brauchbare Theorie des Lebens erkennen können. Alle Energie, welche von Lebewesen ausgegeben wird, kommt durch Oxydation kohlenstoffhaltigen Materials zustande. Durch sie entsteht Wärme, welche durch Abgabe an die Umgebung sich zer- streut. Da diese Abgabe von dem Überschuss der Temperatur des Lebewesens über die seiner Umgebung abhängt, so müssen die Lebewesen im allgemeinen, d.h. abgesehen von den Fällen, wo be- sondere Umstände stärkere Abkühlung bewirken, wie z. B. starke Wasserverdunstung, höher temperiert sein als die Umgebung und dieser Unterschied kann bei den sogenannten Warmblütern zu- weilen einen beträchtlichen Grad erreichen. Ein Teil der Energie- leistung tritt aber auch in Form mechanischer Arbeit auf, als innere oder äußere Bewegung, Arbeitsleistung aller Art, ein noch kleinerer Teil endlich in Form elektrischer Energie, eventuell als Licht. Alle diese Erscheinungen fallen unter den Begriff der Entropie; der Energievorrat bleibt unverändert, aber er sinkt auf ein niedrigeres Niveau, seine Arbeitsfähigkeit wird geringer. Aber das Lebewesen (wir wollen zunächst nur Tiere ins Auge fassen, weil bei diesen die Sache deutlicher hervortritt) nimmt neuen Energievorrat auf in Gestalt von Nahrung, und so kann es, wenigstens für eine gewisse, Auerbach, Lebenstheorien. 655 verhältnismäßig lange Zeit immer neue Arbeit leisten. Es erhält diese Nahrung, wie wir wissen, mittelbar oder unmittelbar aus der Pflanzenwelt, ın welcher unter Mitwirkung des Chlorophylis und unter der Einwirkung des Sonnenlichts fortwährend kohlen- stoffhaltige, verbrennbare Stoffe abgelagert werden unter gleich- zeitiger Abspaltung von freiem Sauerstoff. Zu dieser Arbeitsleistung wird also Energie der Sonnenstrahlen aufgewendet, und da diese Ener gie schließlich in Form von Wärme zerstreut wird, haben wir es im ganzen mit einer Vermehrung des Entropievorrats zu tun, wie überall im Weltgeschehen. Nur in der Pflanzenwelt ist vorübergehend ein Zuwachs an potentieller Energie eingetreten (durch Umwandlung der kinetischen Energie der Sonnenstrahlen) und dieser ermöglicht die Fortdauer des Lebens für eine Zeit, deren Dauer wır nicht bestimmen können. Alles das sind bekannte Dinge?). Gegen die Bezeichnung des Vorgangs in den Pflanzen als „Ektropie“ ist nichts einzuwenden. Aber haben wir damit enme Theorie des Lebens gewonnen? Wir nennen Theorie eine Annahme, welche zu dem Zweck gemacht wird, eine größere Zahl von Einzelerscheinungen und Naturgesetzen in allgemeiner Form zusammenzufassen®). Aus einer Theorie lassen sich auf deduktivem Wege, eventuell durch den analytischen Kalkül, Schlussfolgerungen ableiten, deren Richtigkeit an den Tat- sachen geprüft werden kann. Stimmen Schlüsse und Tatsachen überein, so gewinnt die Theorie an Wert. Eine gute Theorie hilft also einerseits zum Verständnis und zur Übersicht des schon be- kannten Tatsachenschatzes und führt andererseits zur Auffindung neuer noch nicht bekannter Tatsachen. Man denke an die Gravi- tationstheorie von Newton, an die Undulationstheorie des Licht- äthers u. a Kann das die Ektropietheorie des Lebens leisten? Vorläufig glaube ich es nicht. Wir sehen in ıhre eine kurze, und wie wir zugeben wollen, ganz zweckmäßige Bezeichnung für die dargelegten Erscheinungen, aber wir werden vergebens versuchen, aus ihr Schlüsse auf Einzelerscheinungen oder gar neue, bisher noch unbekannte Tatsachen abzuleiten, deren Richtigkeit wir an der Hand von Versuchen oder Beobachtungen prüfen könnten. Dass in der Natur kinetische Energie in potentielle umgesetzt wird und umgekehrt, ist allgemein bekannt und dass ersteres durch Auf- wendung eines Teils der Sonnenstrahlenergie in der Lebewelt er- folgt, gleichfalls. Was wir wissen möchten, und was, wenn wir es erfahren könnten, uns das Wesen der Lebensvorgänge wirklich verständlicher machen würde. als es bisher ıst, das wäre, wie die Beschaffenheit jenes Pflanzenprotoplasmas ıst, in welchem die Um- wandlung vor sich geht. Darüber sagt uns Herr Auerbach nichts. Er hat sich die Frage überhaupt gar nicht gestellt. Ihm genügt, von seinem physikalischen Standpunkt aus, die Erkenntnis, dass es sich dabei um einen Vorgang handelt, bei dem (vorübergehend) die Ektropie vermehrt wird. Aber das wussten, mit Verlaub gesagt, 3) Ich verweise u. a. auf die betreffenden Kapitel (16—20) meines Lehrbuches der allgemeinen Physiologie. 4) S. ebenda S. 35. 656 Stöhr, Der Begriff des Lebens. wir Biologen schon vorher, wenn wir es auch mit anderen Worten bezeichnet haben. Was wir aber wissen möchten, das bleibt leider auch jetzt noch unbeantwortet. Da heisst es leider, wie in einem bekannten Liede: „Frage nur immer, fragest umsonst.“ Trotz alle- dem bleibt die Schrift des Herrn Auerbach ein interessanter und lesenswerter Beitrag zur biologischen Literatur. Freilich hätten wir, nebenbei gesagt, sie noch mehr geschätzt, wenn sie etwas weniger mit hochtrabenden Worten, mit Bildern und Vergleichen gearbeitet hätte, und wenn sie freier "geblieben wäre von jener Ten- denz zur Personifikation der Natur, die nun einmal zu unserer jetzigen Naturauffassung nicht mehr passen will. J. Rosenthal. Adolf Stöhr (Wien), Der Begriff des Lebens. 8. VIII u. 356 Seiten. Heidelberg 1910. Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung. Das Buch ist als 2. Band einer „Sammlung historischer Mono- graphien philosophischer Begriffe“ erschienen, welche den Haupt- titel Synthesis trägt. Der Verf. beabsichtigt nicht eine Geschichte der Entdeckung der Tatsachen des Lebens, auch nicht der ver- schiedenen Hypothesen zu geben, sondern die Entwickelung des Begriffs Leben und der Merkmale dieses Begriffs auseinander zu setzen. Dementsprechend behandelt er, historisch und kritisierend, die einzelnen Unterbegriffe, in die man den Gesamtbegriff zerlegen kann. Nach einer Besprechung der antıken Lebensbegriffe werden nacheinander abgehandelt das Leben in der Bedeutung von Be- wusstsein, der Begriff der Urzeugung, der Assımilation und des Wachstums, der Selbstteilung und Vererbung, des passiven Geformt- werdens und der Selbstformung, der Formbeständigkeit und Formen- veränderung, der Anpassung, der Verwandtschaft, die sexual diver- gente Differenzierung, die Selbstbeweglichkeit, die Symbiose, das Wachstum durch Intussuszeption, der Rhythmus ın der Selbst- formung, die innere Zweckmäßigkeit, und schließlich die Vıitalismus- fragen. Ueberall werden die aufgestellten Hypothesen historisch und kritisch beleuchtet, auch eigene Hypothesen des Verf. einge- flochten, welche die an den anderen aufgedeckten Schwierigkeiten beseitigen sollen. Hervorheben möchte ich die im 7. Kapitel (Selbst- formung) entwickelte Hypothese über die Rolle der als fest be- trachteten Zellwand oder des Wandbelags.. Er nimmt an, dass an diese sich bestimmte Biomoleküle anlagern, wodurch bestimmte Erscheinungen der ontogenetischen Entwickelung und der Regene- ration einer plausiblen Lösung zugänglich gemacht werden sollen. Dem Verf. steht eine umfassende Kenntnis des Tatsachenmaterials zu Gebote, verbunden mit einer guten philosophischen Schulung, so dass er sich von allzu kühnen und vagen Vorstellungen fern- hält und immer dankenswerte Anregungen bietet, auch da, wo seine Betrachtungen nicht ganz als abschließende angesehen werden können. JR. Verlag \ von ı Georg Thieme in Leipzig, tabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt, Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Der Abonnementspreis für 24 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen. Bd. XXX. 15. Oktober 1910. Ne RO, Untersuchungen über Artveränderung, speziell über das Wesen quantitativer Artunterschiede bei Daphniden (Verh. deutsche zool. Ges. 1909). — Gaidukov, Dunkelfeldbeleuchtung und Ultramikroskopie in der Biologie und in der Medizin. Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. (Mit 34 Abbildungen im Text.) Von K. Goebel. In früheren Abhandlungen!) habe ich die Homologie zwischen der Bildung der männlichen -und der weiblichen Sexualorgane nach- zuweisen versucht. Arbeiten anderer Autoren?) haben die dort ge- gebenen Ausführungen bestätigt und weiter ausgeführt. Im Anschluss daran ist es vielleicht nicht ohne Interesse, hier ein weiteres Problem, oder vielmehr eine Gruppe von Problemen zu besprechen, über welches ich in der botanischen Literatur keine zusammenfassende Behandlung habe finden können. Es ist das des sexuellen Dimorphismus, d.h. die Tatsache, dass die sexuelle Diffe- renz sich nicht nur erstreckt auf die Sexualorgane selbst, sondern auch auf die Teile des Organısmus, welche die Sexualorgane her- vorbringen, eventuell, bei diöziıschen Pflanzen, auf den ganzen Pflanzenstock. 1) Goebel, Vergl. Entwickelungsgeschichte der Pflanzenorgane (Schenk’s Handbuch der Botanik, II (1883), p. 413, „Uber Homologien in der Entwickelung männlicher und weiblicher Sexualorgane“, Flora, 90. Bd. (1902), p. 279. 2) Vgl. z.B. Davis, The origin of the Archegonium (Annals of botany 1909); Schenek, Über die Phylogenie der Archegoniaten und der Characeen (Engler’s Bot. Jahrb. XLTII. 1908). XXX. 42 658 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus der Pflanzen. Dabei sei zweierlei von vornherein bemerkt: Einmal: bei Tieren ist der sexuelle Dimorphismus viel häufiger, weil Zwitter hier (wenigstens bei den höheren Gruppen) verhältnismäßig selten sind. Bei den Pflanzen dagegen ist (namentlich bei den höheren Gruppen) Zwitterbildung vorherrschend, und wo eine Trennung der Ge- schlechter eingetreten ist, ist sie z. B. bei den Samenpflanzen häufig eine sekundäre und nicht immer konstante. Wir werden also schon aus diesem Grunde einen weniger scharf ausgesprochenen Sexual- dimorphismus erwarten dürfen°). Zweitens sei erwähnt, dass wir als sexuell differenziert auch die Blüten der höheren Pflanzen be- trachten wollen. Streng genommen gehören sie ja der ungeschlecht- lichen (diploiden) Generation an; wo aber Mikrosporen und Makro- sporen ausgebildet werden, also schon in der Sporangienbildung ein Dimorphismus hervortritt, sind auch die Organe, welche die Mikro- und Makrosporangien hervorbringen, meist verschieden; es greift also die Sexualdifferenz auch auf die „ungeschlechtliche“ Generation über. Gerade an den Blüten lassen sich die hier zu erörternden Fragen am leichtesten darlegen. Männliche und weibliche Blüten (und Blütenstände) unterscheiden sich oft durch Zahl, Stellung und Ausstattung. Sind diese Verschiedenheiten verständlich als im Zu- sammenhang stehend mit der verschiedenen Funktion der beiderlei Blüten (oder Blütenstände)? Vielfach ist diese Frage ja leicht zu beantworten, namentlich dann, wenn die weiblichen Blüten Ein- richtungen zum Schutz der heranreifenden oder zur Verbreitung der fertigen Früchte aufweisen. So ist z. B. bei Eriocaulon nautiliforme *) das hintere Perigonblatt der weiblichen Blüten nautilusförmig aufgeblasen und klebt der Frucht an, für die es einen Schwimmapparat darstellt. Ebenso ist die Verschiedenheit der männlichen und der weiblichen Blütenstände des Hopfens (Humulus Lupulus) teleologisch ohne weiteres ausdeutbar. Aber in nicht wenigen Fällen versagt die teleologische Auffassung; nament- lich die oft geäußerte Formel, dass nutzlos gewordene Organe ver- kümmern. Es wird unten zu erwähnen sein, dass z. B. auch männ- liche Blüten von Kompositen einen „Pappus“ anlegen, obwohl hier ein Flugapparat natürlich nicht von Bedeutung sein kann. Auch die Verschiedenheit in den Zahlenverhältnissen der Blütenhülle männlicher und weiblicher Begonia-Blüten u. a. ıst nicht als An- passungsmerkmal zu betrachten. Ob nun solche Merkmale sich nachweisen lassen oder nicht, jedenfalls knüpft sich an den sexuellen Dimorphismus von Blüten 3) Selbstverständlich fehlen bei den festgewurzelten Pflanzen auch alle Ein- richtungen zum Erreichen der (und zum Kampf um die) Weibchen, wie sie bei Tieren in so reicher Mannigfaltigkeit auftreten. 4) Vgl. Lecomte, Journal de botanique Juni 1908. Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. 659 die weitere Frage: welche Veränderungen sind dem ursprünglichen zwitterigen Zustand gegenüber vor sich gegangen? Haben sich beide Blütenformen verändert oder nur eine, und, falls ersteres der Fall ist, ging die Veränderung bei männlichen und weiblichen Blüten in gleicher oder verschiedener Richtung vor sich? Eine dritte Kategorie von Fragen bezieht sich auf die Ur- sachen der Verschiedenheit. Diese ist naturgemäß am schwierigsten zu beantworten. Man wird sich bei dem jetzigen Stand unserer Kenntnisse schon begnügen müssen, wenn man für die beiden ersten Fragen Anhaltspunkte findet, welche dann auch für die Versuche die dritte zu erforschen von Bedeutung sein können. Bei diözischen Pflanzen kann es sich dabei handeln um Verschiedenheiten der ganzen Pflanzen, bei monözischen um solche in der Anordnung und Ausbildung der beiden Geschlechtsformen. I. Was die Verschiedenheit von Männchen und Weibchen bei diözischen Pflanzen anbelangt, so sei hier nur weniges angeführt, zumal eingehende eigene Untersuchungen darüber mir nicht zu Ge- bote stehen. Keine Differenz zwischen männlichen und weiblichen Pflanzen besteht z. B. bei den diözischen („heterothallischen“) Mu- corineen — man kann dem Myzel nicht ansehen, ob es „männlich“ oder „weiblich“ ist, zumal auch die Sexualorgane selbst ganz gleich sind. Nach Blakeslee’s Vorschlag spricht man deshalb von + und — Myzelien. In anderen Verwandtschaftskreisen lässt sich wohl im allge- meinen sagen, dass, wo Verschiedenheiten vorkommen, die weib- lichen Pflanzen die kräftigeren und langlebigeren sind’). In- des ist hervorzuheben, dass der Vergleich natürlich nur vor der Befruchtung (also präfloral) und zwischen unter denselben äußeren Bedingungen gewachsenen Pflanzen stattfinden darf, denn nach der Befruchtung (postfloral) entwickeln sich die weiblichen Pflanzen bezw. Blütenstände weiter, während die männlichen zugrunde gehen. Als Beispiel möge Petasites niveus dienen (Fig. 1). Tiefgreifende präflorale Verschiedenheiten zwischen Männchen und Weibchen sind bei Samenpflanzen nur selten anzutreffen. Darwin‘) erwähnt einen solchen Fall. „Es ist eine gegenwärtig unerklärliche Tatsache, dass bei einigen diözischen Pflanzen, von 5) Marian North sagt, dass auf den Seychellen die männlichen Exemplare der bekannten Palme Lodoicea Seychellarum größer seien als die weiblichen. Der- artige allgemeine Angaben lassen sich indes nicht verwenden. Es wäre z. B. mög- lich, dass die weiblichen Exemplare in ihrem Wachstum infolge der Fruchtbildung zurückbleiben. Man ‘müsste also männliche und weibliche, unter denselben Er- nährungsverhältnissen gewachsene Exemplare zur Zeit der ersten Blütenbildung ver- gleichen (M. North, recollections of a happy life II, p. 289). 6) Ch. Darwin, Die verschiedenen Blütenformen an Pflanzen der nämlichen Art (Übers. von J. V. Carus), 1877, p. 9. 42* 660 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. denen die Restiaceae von Australien und dem Kap der guten Hoff- nung das auffallendste Beispiel darbieten, die Verschiedenartigkeit der Geschlechter die ganze Pflanze in einer solchen Ausdehnung Fig. 1. Petasites niveus. Links männlicher, rechts weiblicher (in Fruchtbildung begriffener) Blütenstand, beide gleichstark verkleinert. affiziert hat (wie ich von Mr. Thiselton Dyer höre), dass Mr. Bentham und Pro- fessor Oliver eshäufig unmöglich gefunden haben, die männlichen und weiblichen Exem- plare einer und der- selben Spezies zusam- menzubringen“. Es wäre um so interessan- ter, über diesen Fall Näheres zu erfahren”), als er offenbar ein ziem- lich vereinzelter ist. Denn es ıst mir zweifel- haft, ob die für andere diözische Pflanzen an- gegebenen Verschie- denheiten wirklich all- gemein zutreffende sind. Eines der am öfte- sten erörterten Bei- spiele bietet der Hanf, Cannabis sativa. Be- kannt ıst ja, dass man ım Mittelalter die männlichen Pflanzen, weil sıe oft zarter und kleiner“) sind als die weiblichen, für letz- tere hielt (aus miss- verstandener Analogie mit tierischen Verhält- nissen), daher die Be- zeichnung „femeln“ für das Ausjäten der männlichen Pflanzen. Diese schließen ihr Wachs- 7) Namentlich darüber, ob sich die Verschiedenheit nur auf die Blütenstände oder die ganzen Pflanzen bezieht. Ersteres erscheint zunächst wahrscheinlicher. 5) Wobei präflorales und postflorales Verhalten nicht unterschieden wurden. ‚Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. 661 tum oft früher durch Blütenbildung ab als die weiblichen und bleiben demgemäß meist kleiner, haben auch durchschnittlich schmalere und weniger reich gegliederte Blätter als die weiblichen. Heyer°) findet, dass die männlichen Pflanzen schlanker sind als die weiblichen (mit längeren Internodien), dass ihre Blätter im Beginn der Blütezeit eine dunklere Farbe haben als die weiblichen, während es am Ende der Blütezeit umgekehrt sei. Indes scheint es fraglich, ob es wirklich konstante präflorale Verschiedenheiten zwischen männlichen und weiblichen Hanfpflanzen gibt oder nur quantitative, speziell eine verschiedene Reaktionsfähig- keit den äußeren Wachstumsbedingungen gegenüber. Mir selbst liegen darüber keine eingehenden Beobachtungen vor; ich kann nur sagen, dass einzelne Pflanzen, die ich vor der Blütezeit für weıb- liche hielt, männlich waren (dass also gut ernährte männliche Pflanzen eine bedeutende Höhe [fast 2 m] erreichen können). Es wäre zu untersuchen, ob derartige Pflanzen vielleicht (wie dies ge- legentlich vorkommt) auch weibliche Blüten hervorbringen. Einen stets deutlichen präfloralen Dimorphismus konnte ich also nicht wahrnehmen. Ich gebe aber gerne zu, dass eine genaue Prüfung vielleicht sichere Trennungsmerkmale ergeben wird. Einstweilen scheint mir das Vorhandensein von solchen auch beı diözischen Holzpflanzen noch unsicher. Wenn z. B. Blakeslee'’) meint, bei „Populus pyramidalis“ sei eine auffallende Sexualdifferenz vorhanden, da die männlichen Exemplare pyramidal, die weiblichen dagegen mit einer flacheren Krone versehen seien, so ist dies ein Irrtum; die Pyramidenpappel ist zweifellos nıcht einfach die männliche, sondern eine Mutations- form von P. nigra, die meist nur in der männlichen Form vor- handen ist. Es kommen aber auch weibliche Pyramidenpappeln vor, und jedenfalls hat die Wuchsform nichts mit der Geschlechts- differenz zu tun. Auch sonst scheinen mir die Angaben über weib- liche und männliche Holzpflanzen ziemlich fraglich. Ich habe bis jetzt wenigstens niemand getroffen, der mir bei einem nicht blühen- den (resp. fruchtenden) Taxus'!), Juniperus, Cycas das Geschlecht angeben konnte. Und wenn angegeben wird, dass bei Arlanthus glandulosa der männliche Baum schlanker und reichlicher verzweigt seı als der weibliche, dass er bei Ginkgo eine länger gestreckte Krone und weıter abstehende Zweige habe!?), während die weib- 9) Heyer, Untersuchungen über das Verhalten der Geschlechter ete. Dissert, Halle 1884. 10) Blakeslee, Differentiation of sex in Thallus, Gametophyte und Sporo- phyte, Botanical gazette vol. XLII (1906). 11) Taxus ist bekanntlich nicht selten auch monözisch, was auch bei Juni- perus — aber nur ausnahmsweise — vorkommt. Vgl. Renner, Über Zwitterblüten .bei Juniperus communis. Flora, 93 (1904), p. 297. 12) Heyera. a. OÖ. Nach Fuji haben die männlichen Exemplare stärker 662 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. lichen Pflanzen dichter gedrungen und schattiger seien, so wird sich fragen, ob diese Angaben allgemeine Gültigkeit haben. Bei Bryophyten und Thallophyten sind Fälle von sexuellem Dimorphismus häufiger. Bekannt sind z. B. die „Zwergmännchen“ mancher Moose. Ich möchte in dieser Beziehung auf früher Gesagtes hinweisen ’°). Auch bei den diözischen Characeen wird angegeben !*), dass die weiblichen Pflanzen oft größer und stärker entwickelt seien als die männlichen und bei den einjährigen länger am Leben bleiben. Ganz besonders bezeichnend sind ja die bei manchen Oedo- gonien vorkommenden „Zwergmännchen“ und ebenso die ungemein stark rückgebildeten männlichen Prothallien der heterosporen Pterido- phyten. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass äußerlich sicht- bare!°) sekundäre Geschlechtsdifferenzen bei diözischen Pflanzen vorhanden sein können, aber nicht vorhanden sein müssen. Sie sprechen sich dann vielfach darin aus, dass die männlichen Pflanzen . kleiner, weniger kräftig entwickelt sind als die weiblichen (während der umgekehrte Fall, von zufälligen Erscheinungen abgesehen, nie auftritt), und das um so mehr, in einem je früheren Stadium der Ertwickelung die Bildung der Sexualorgane eintritt. Dies ist aber bei den männlichen Pflanzen deshalb möglich, weil die männlichen Sexualorgane an das Vorhandensein von Baustoffen — wie wenigstens in einigen Fällen nachgewiesen ist — geringere Ansprüche stellen als die weiblichen (vgl. unten über Farnprothallien). Dasselbe Prinzip tritt vielfach auch zutage, wenn wir die Beschaffenheit nicht der ganzen Pflanze, sondern der Teile, welche die Sexual- organe hervorbringen, betrachten, namentlich auch bei monözischen Pflanzen. ut Aus der großen Gruppe der Thallophyten möchte ich hier zu- nächst die Characeen herausgreifen. Sie können als Beispiel da- für dienen, dass männliche und weibliche Organe sich durch ihre Stellung am Vegetationskörper unterscheiden in der Art, dass die weiblichen an den Stellen stehen, welche für die Zufuhr von Bau- stoffen die günstigsten sind. Früher folgerte man aus der verschiedenen Stellung der An- theridien und der Oogonien der Characeen sogar eine verschiedene „morphologische Bedeutung“ beider Organe. Man hielt die Anthe- aufsteigende Zweige als die weiblichen. Zitiert bei Lotsy, Vorträge über botan. Stammesgeschichte, II, p. 779. 13) Goebel, Archegoniatenstudien X (Flora, 96. Bd, 1906, p. 5öff.). 14) Migula, Die Characeen. Leipzig 1897, p. 5l. 15) Inwieferne bei diözischen Pflanzen Verschiedenheiten im Zellkernbau auf- treten, ist unbekannt. Ne Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. 6653 rıdien für umgebildete Blättehen, die Oogonien für umgebildete Sprosse. Zweifellos sind indes beiderlei Organe auch hier homolog'®), In ihrer Stellung unterscheiden sie sich vor allem dadurch, dass die Oogonien stets unmittelbar aus einem Knoten entspringen (so das Oogonium O0 ın Fig. 2 an dem Knoten des „Blattes“ b), wäh- rend die Antheridien das Ende am Blättchen einzunehmen pflegen, wenn also die abgebildete Nitella tenuissima nicht diözisch wäre, würde ein Antheridium am Ende von b stehen können. Nun sind die Knoten der Characeen die Stellen, an denen die Neubildungen stattfinden (Bildung von „Blättchen“, Seitenzweigen etc.), die Stellen also, wo eine Anhäufung von Baustoffen eintritt. Diese können, da die Oogonien an den Knoten stehen, auf kürzestem Weg in die Eizellen geschafft werden; tatsächlich zeichnen sich ja auch die befruch- teten Eizellen der Characeen durch eine sehr starke Anhäufung an Re- servestoffen aus, Obwohl mehrere Beispiele für dasselbe Verhalten — verschiedene Stellung männlicher und weiblicher Organe — beı höheren Pflanzen im Verlaufe der Darstellung noch her- vortreten werden, mag doch hier schon auf ihre weite Verbreitung hin- Fig.2. Nitella tenuissima. Blätt- gewiesen werden!”). chen b, an dessen Basalknoten ein Bei Pinus stehen die weiblichen Oogonium O (Wendungszellen punk- Blüten an Stelle der Langtriebe, die °'" “nd die Blätichen D, und D, : ie) I entspringen. männlichen an Stelle der Kurztriebe (dass die Langtriebe die besser ernährten sind, ist unzweifelhaft). Ahnlich ıst es bei Qxercus, wo die weiblichen Blütenstände im oberen, die männlichen im unteren Teil des Jahrestriebes ent- springen, entsprechend der Tatsache, dass die vegetativen Knospen um so kräftiger sind, je näher sie der Spitze des Jahrestriebes liegen. Dementsprechend können an schwächlichen Trieben die männlichen Blütenstände auch allein auftreten. Ganz entsprechend verhält sich auch Juglans regia. Die weiblichen Blütenstände treten hier als Abschluss der Jahrestriebe, die männlichen seitlich am vorjährigen Trieb auf. Meehan'®) gibt für Juglans nigra dreierlei 16) Goebel, Vergl. Entwickelungsgeschichte p. 418 und die dort angeführte Literatur. 17) Vgl. Goebel, Organographie, p. 654. 18) Th. Meehan, Law of sex in Juglans nigra. Proceed. of the academy of nat, Science, Philadelphia 1873, p. 291. 664 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. Knospen an. Die größten liefern die Sprosse, welche zur Fort- setzung des holzigen Gerüstes des Baumes dienen; andere weniger kräftige !°) schließen mit weiblichen Blütenständen ab, noch schwächere blühen gar nicht oder männlich. Von diesen klar liegenden Fällen aus werden auch andere zu beurteilen sein, nur muss man im Auge behalten, dass es bei der Verschiedenheit in der Stellung männ- licher und weiblicher Blüten (oder Blütenstände) nicht bloß auf ört- liche Verschiedenheiten, sondern auf Ernährungsdifferenzen ankommt. Nicht immer ist z. B. die Spitze eines Sprosses der in der Nahrungs- zufuhr begünstigte Teil, wie in den soeben angeführten Beispielen, namentlich bei Sprossen von begrenztem Wachstum können Seiten- knospen infolge der Erstarkung der Pflanze unter günstigeren Er- nährungsbedingungen als die Endknospen stehen. Solche Fälle werden z. B. für Funaria, Zea Mais u. a. anzuführen sein. Auch ist die Stellungsverschiedenheit zwischen männlichen und weiblichen Blüten nicht bei allen Pflanzen eine konstante. Wie Wittrock?’) gezeigt hat, kommen bei Acer platanoides fünf ver- schiedenartige Inflorescenzen vor: 1. solche, welche nur weibliche Blüten haben, 2. solche, bei denen die zuerst entwickelten Blüten weiblich und die später entwickelten männlich sind (der häufigste Fall), 3. solche, bei denen die zuerst entwickelte Blüte ı die Gipfelblüte) männ- lich ist, die folgenden sind teils männlich, teils weiblich, die zuletzt auftretenden meist männlich, 4. solche, bei welchen die zuerst ent- wickelten Blüten männlich und die später entwickelten weiblich sind, 5. solche, die nur männliche Blüten zeigen. Da im allge- meinen ein Baum nur einen und denselben Inflorescenztypus zeigt, so wäre es von Interesse zu wissen, wie weit die Verschiedenheiten hier erblich bedingt oder durch äußere Faktoren beeinflusst sind. Im übrigen dürfte aus den obigen Mitteilungen hervorgehen, dass die weiblichen Blüten in geringerer Zahl auftreten als die männlichen, eine Erscheinung, die uns auch bei anderen Pflanzen begegnet. Moose. Die Verteilung der Sexualorgane ist hier eine sehr verschiedene, teils eine monözische — in verschiedenen Modifika- tionen —, teils eine diözische. Auf Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden. Es sei nur erwähnt, dass meiner Ansicht nach hier wahrscheinlich die Verteilung die ursprünglichste war, dass Archegonien und Antheridien zusammen an einem Spross auftraten und zwar die Archegonien nach resp. über den Antheridien. Das kommt jetzt noch bei Laub- wie bei Lebermoosen vor, teils normal, teils ausnahmsweise bei solchen, die normal eine andere Verteilung 19) Es ist nicht zu bezweifeln, dass auch der Gehalt an Baustoffen bei diesen verschiedenen Knospen ein verschiedener ist. 20) V. B. Wittrock, Über die Geschlechterverteilung bei Acer platanoides und einigen anderen Acer-Arten (Botan. Oentralblatt III [1885]). Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. 665 haben. Bei Funaria z. B. stehen gewöhnlich die Antheridien- stände terminal am ersten Spross, die Archegonienstände am Ende von (seitlichen) Erstarkungssprossen. Gelegentlich traf ich aber auch Antheridienstände, in deren Mitte ein Archegonium zur Aus- bildung kam. Normal finden wir diese Verteilung unter den Leber- mosen z.B. bei Pellia calyeina und Radula complanata°'), in Fig. 3 ist ein Schema für diese Verteilungsart dargestellt. Es ıst klar, dass den Archegonien eine bessere Ernährung ermöglicht wird, wenn die vegetative Weiter- entwickelung des Sprosses entweder zeitweilig oder ganz ausgeschaltet wird; dies wird um so leichter möglich sein, je näher an der Sprossspitze die Arche- gonien stehen. Dasselbe Prinzip ist es, wenn die Ar- chegonien am (kräftiger aus- gebildeten) Hauptspross, aie Antheridien an kurzlebi- gen Seitensprossen stehen, wie dies z. B. bei Targionia 7, Be ® ih J Fig. 3. Schema für die Verteilung der Sexual- Eı Fal Ist. organe bei einem monözischen foliosen Leber- Wir nehmen also an, moose. Das Stämmchen ist im Längsschnitt dass beiderlei Sexualorgane gedacht. A Antheridium, Ar Archegonium, ursprünglich die gleiche .J die zunächst in der Entwickelung stark ge- 200. hemmten, miteinander seitlich verwachsenen eltung halten, NUFEIMEVET- Bjätter, welche. später das Perianth bilden. schiedene zeitliche Reihen- Scheitelzelle und Segmente sind angedeutet. folge, und dass die getrennte | Verteilung ebenso wie in den Blüten der Phanerogamen durch Ausfall des einen Geschlechtes zustande kam?*). Die Moose ver- halten sich dann ebenso wie die Prothallien der isosporen Farne, und die immer zahlreicher werdenden Fälle, in denen z. B. bei normal getrenntgeschlechtigen Lebermoosen eine zwitterige Ver- teilung der Sexualorgane auftritt, erscheinen historisch betrachtet als Rückschläge. Eingehender kann diese Hypothese hier nicht be- gründet werden, da unsere eigentliche Aufgabe vielmehr die ist, 21) Dass ein Archegonium hier aus der Sprossspitze selbst hervorgeht, ist ein für unsere jetzige Betrachtung nicht sehr wichtiger Spezialfall. 22) Dass bei den Laubmoosen in den männlichen Blüten der Sprossscheitel zur Antheridienentwickelung verwendet wird, wird dann also ebenso eine nachträg- lich entstandene Eigentümlichkeit sein wie die Tatsache, dass bei den akrogynen Lebermoosen ein Archegonium aus der Sprossspitze entspringt. 666 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. die Verschiedenheiten in der Ausbildung der Träger der männlichen und der weiblichen Sexualorgane zu besprechen. Diese seien an einigen Beispielen hier erörtert. 1. Thallose Lebermoose. Die Übereinstimmung von männlichen und weiblichen Sprossen (wenn wir zur Abkürzung diesen Ausdruck gebrauchen wollen) tritt meist ohne weiteres hervor. Doch finden sich auch in einigen Fällen Verschiedenheiten. Ein, wie mir scheint, besonders lehrreiches Beispiel habe ich kürzlich erörtert??). Es betrifft die Gattung Metzgeria, eine thallose Form, bei welcher die männ- lichen und die weiblichen Sprosse als kurze Seiten- zweige auf der Unterseite des Thallus entspringen. Sie haben eine verschiedene Ge- stalt und einen verschie- denen Bau. Die männlichen sind blasenförmig eingerollt, sie tragen auf ihrer Ober- seite die Antheridien. Die weiblichen sind meist nur eingefaltet; an derselben | Stelle, an der die männ- \ Yu lichen Sprosse Antheridien Fig. 4. Symphyogyne leptothele. Endstück tragen, bringen sie Arche- einer männlichen Pflanze. Nahe der Mittelrippe gonien hervor. Aber wäh- entspringen 24 Reihen von Schuppen, unter „end die männlichen Sprosse welchen je ein Antheridium sich befindet (etwa B a . » jöfech, verpr.) eine dünne Mittelrippe und einen verhältnismäßig gro- ßen flügelförmigen Teil des Thallus haben, zeigen die weiblichen eine dicke Rippe und einen weniger entwickelten Flügel, was offen- bar auch die verschiedene Gestalt beider Sprosse bedingt. Die starke Entwickelung des Gewebes unterhalb der Archegonien er- möglicht die Aufspeicherung von Reservestoffen für die Embryo-: entwickelung. Offenbar sind also auch hier die Archegonien an den besser ernährten Sprossen angelegt. Die männlichen stellen ephemere, nach der Entleerung der Antheridien zugrunde gehende Gebilde dar. Dasselbe Prinzip kann auch ähnlich wie bei den erwähnten Characeen eine andere räumliche Anordnung von Antheridien und Archegonien bedingen. Die merkwürdige Gattung Röella z. B. be- sitzt einen Thallus bestehend aus einer mehrschichtigen, als Lei- 23) Goebel, Archegoniatenstudien XIII. Flora, 101 (1910), p. 66. Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. 667 tungs- und Speichergewebe dienende Rippe („Stämmcehen“) und einem (vertikal stehenden) Flügel, welcher einschichtig ist. An ihm entstehen die Antheridien, die Archegonien dagegen an den Stämm- chen — was sich in ganz ähnlicher Weise auch bei den Prothallien vieler Farne wiederholt. Eine andere Art sexueller Verschiedenheit findet sich bei den Gattungen Blyttia, Symphyogyne u. a. Symphyogyne leptothele (im Orgelgebirge Brasiliens 1910 gesammelt) zeigt eine diözische Verteilung. Fig. 4 zeigt das Ende einer männ- lichen, Fig. 5 einer weib- lichen Pflanze. An den männlichen Pflanzen sehen wir die Antheridien (be- deckt von schuppenförmigen N Thalluswucherungen) längs der Mittelrippe in großer Zahl auftreten. Bei den weiblichen (Fig. 5) sitzen die Archegonien in Gruppen, welche von einer einzigen | Schuppe bedeckt sind; sie SE stehen hier auf einer Vor- wölbung, die embryonalen Charakter behaltend nach der Befruchtung die sogen. Calyptra bildet (indem sich der Embryo in das weiter wachsende Gewebe ein- bohrt). Ich habe früher die Ansicht ausgesprochen ?*), Fig. 5. Symphyogyne leptothele. Weibliche dass die Verschiedenheit in Pflanze (etwas über 3mal vergr.). Auf der Er Nord E At Mittelrippe über der Gabelung der Nerven eine a DUIE Von ne” Schuppe, unter welcher die Archegoniengruppe rıdienund Archegonien dazu sich befindet, rechts eine Schuppe vergrößert. PP g in Beziehung stehe, dass es bei den Antheridien auf die der Altersfolge nach vor sich gehende Entleerung der Spermatozoiden nach außen ankommt, während von den zahlreichen Archegonien nur eines einen Embryo 'entwickelt. Wenn also eine größere Anzahl von Archegonien verschiedener Entwickelung sich beisammen befinden, wird die Wahrscheinlich- keit der Befruchtung durch die Spermatozoiden, welche in den 24) Goebel, Organographie der Pflanzen, p. 307. 668 ‚Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. kapillar in: den Hohlraum unter der Schuppe einsogenen Wasser- tropfen sich befinden, erhöht. Dagegen ist mir eine weitere a. a. O. versuchte Ne an haft geworden, nämlich die Annahme, dass die An srikimms ‚der Antheridien das primitivere Verhalten darstelle, und die Archegonien eigentlich ihnen gegenüber zusammengerückt seien, eine Annahme, die man auch damit stützen könnte, dass die Schuppe des -Arche- gonienstandes sich öfters als ein zusammengesetztes Gebilde er- weise (vgl. Fig. Srechts). Wenn man aber damit die Archegonien- stände der Monoclea und mancher Marchantiaceen vergleicht, bei denen die die Archegoniengruppe deckende Wucherung sicher eine einheitliche ist, so wird es wahrschemlicher dies auch für Symphyogyne anzunehmen und den Antheridienstand, welcher bei Monoclea noch ein scharf be- grenzter- ist, als einen auseinander- gezogenen zu betrachten, in welchem die Antheridien statt in Gruppen versenkt zu sein, durch einseitige Thalluswucherungen (Schuppen) ge- schützt sind. Besonders oft erörtert sind die x männlichen und weiblichen Sprosse 4 beı den Marchantıaceen. Sıe sınd = A dadurch von Interesse, dass sie auf- Fig. 6. Preissia commutata. Links fallend verschieden gestaltet sind, Druck jenen männlichen Eflanzermie schon dadunchn.dassikscheinkardie Antheridienstand, rechts eine weib- Nr a i 2 liche, am weiblichen Träger sind zwei Antheridien auf der Oberseite, die Sporogonien sichtbar. V Ventralspross. Archegonien auf der Unterseite stehen. Die entwickelungsgeschicht- liche Untersuchung’) hat aber schon längst ergeben, dass in Wirk- lichkeit auch die Archegonien auf der Oberseite entstehen und auf die Unterseite erst im Verlaufe der Entwickelung verschoben werden, eine Stellung, welche sie nicht nur in eine besonders geschützte, sondern auch in eine für die Befruchtung günstige Lage bringt. Vor kurzem?®) habe ich versucht darzulegen, dass dıe männ- lichen Sprosse der Marchantiaceen, wenn wir den Zusammenhang der einzelnen Formen dieser Gruppe betrachten, plastischer sind als die weiblichen. Diese erfahren schließlich ganz ähnliche Rück- 25) Vgl. Goebel, Über die Verzweigung dorsiventraler Sprosse (Arb. a. d. bot. Institut Würzburg II, 1880, p. 371 und Leitgeb, Unters. über die Lebermoose, Heft VI). 26) Flora, 101 (1910), p. Söff, Goebel, Uber sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. 669 bildungen wie die männlichen. Darauf kann hier. nicht näher ein- gegangen werden, es sei nur auf Fig. 6 hingewiesen, welche einen männlichen und einen weiblichen „Träger“ von Preissia commutata zeigt. Man sieht, dass der männliche kleiner ist als der weibliche und dass sein scheibenförmiger Teil (der oben die Antheridien trägt) keine Gliederung mehr zeigt, während diese bei den weiblichen Ständen (namentlich in den jüngeren Stadien) noch deutlich hervor- tritt. Auch bei den Jungermanniaceen kommen ähnliche Verhält- nisse vor. Bei Hymenophytum (Umbraculum) flabellatum sınd die männlichen Sprosse zu kleinen, dem Thallus aufsitzenden Scheiben reduziert, die weiblichen viel weniger ?”). Wir können also, wenn wir damit das oben gesagte vergleichen, sagen, dass bei den thallosen Lebermoosen allgemein die Träger der männlichen Sexualorgane stärkere Um- und Rückbildungen aufweisen als die der weiblichen. Foliose Lebermooöse und Laubmoose. Auch bei ihnen sind die Antheridienstände plastischer als die Archegonienstände, das zeigt sich darın, dass 1. bei den foliosen (akrogynen) Lebermoosen die Antheridien- stände (entsprechend der Gestaltung des Vegetationskörpers) wohl nur dorsiventral sind, während bei den Archegonien- ständen radıäre Ausbildung sehr häufig ist, 2. dass sie leicht vegetativ auswachsen (was bei den Archegonien- ständen aus dem p. 665 erwähnten Grunde nicht möglich ist), dass die ganzen männlichen Pflanzen oft einer stärkeren Re- duktion unterliegen als die weiblichen. Es ıst dies aber keines- wegs immer der Fall, bei Monoclea z. B. sind männliche und weibliche Pflanzen oft anscheinend ganz gleich. Die anthe- rıdientragenden Zweige der Laubmoose zeigen nicht selten (so bei Mnium, Polytrichum) ein vollständiges Fehlen der Blatt- bildung, was bei den archegonientragenden Zweigen nicht vorkommt, ja bei Sphagnum ist (nach Leitgeb’s Auffassung) der ganze antheridientragende Seitenspross auf ein Antheridium reduziert. Dies Verhalten stimmt also mit dem für die Antheridienstände der Manchantiaceen oben angenommenen überein, und ebenso mit dem für die männlichen Pflanzen mancher Laubmoose oben erwähnten. Als Erläuterung dafür sei auf die Abbildung von Ephemerum (Fig. 7) verwiesen. Ebenso stimmt damit überein das Verhalten der männ- lichen Pflanzen mancher diözischen Laubmoose (vgl. S. 662). Eın noch auffallenderes Beispiel dafür bietet die Laubmoosgattung Bux- baumnma, bei welcher es in den männlichen Pflanzen (welche nur ein Antheridium besitzen) gar nicht mehr zur Ausbildung eines Stämm- 85) 27) Vgl. Goebel, Archegoniatenstudien X. Flora, 96: (1906), p. 175. 670 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. chens kommt und nur ein rudimentäres Blatt als Hülle des Antheri- diums vorhanden ist, während die weiblichen Pflanzen ein Stämm- chen mit mehreren Blättern (und bei B. aphylla auch mehrere Archegonien) besitzen. Es treten also überall gemeinsame Züge hervor, die kausal offenbar bedingt sind dadurch, „dass die Ent- stehung männlicher Geschlechtsorgane erfolgt unter Bedingungen, welche zur Bildung der weiblichen nicht hinreichen“?®), biologisch Fig. 7. Ephemerum serratum. An dem fadenförmigen Protonema haben sich zwei männliche Pflanzen (M, M) und eine weibliche gebildet. Letztere (welche ein Sporogon, Sp) entwickelt hat, besitzt viel größere Blätter als die männlichen Pflänz- chen und hat aus ihrer Basis Rhizoiden getrieben, was bei den männlichen Pflanzen nicht der Fall ist. (Vergr. etwas über 40fach.) dadurch, „dass die weiblichen Pflanzen, welche später den Embryo auszubilden haben, besser ausgerüstet sein müssen, als die männ- lichen“ 2°). Letzteres ist ebenso wie die Tatsache, dass die weib- lichen Sprossteile bei beblätterten Moosen in der Nähe der Arche- gonien vielfach besonders große Blätter hervorbringen, eine Folge der reichlichen Nährstoffzufuhr zu den Bildungsstätten der weib- lichen Organe. Pteridophyten. A. Geschlechtsgeneration. Unter den isosporen Pteridophyten sind die Verhältnisse der Geschlechtsverteilung am bekanntesten bei den Farnen. Der ge- wöhnlichste Fall ist hier der, dass am Prothallium zunächst die Antheridien, und erst dann, wenn die Assimilate in größerer Menge angehäuft sind, die Archegonien auftreten. Der instruktivste Fall 28) Goebel, Organographie der Pflanzen, p. 371. 29) Ebendaselbst. Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. 671 ist vielleicht der abgebildete: bei Trichomanes (Fig. 8) treten die Antheridien an Zellfäden auf, die Archegonien erst dann, wenn sich ein Zellkörper (das Archegoniophor) gebildet hat (was nur unter günstigen Ernährungsverhältnissen möglich ist). Dem entspricht die bekannte Tatsache, dass unter ungünstigen Ernährungsverhält- nissen — falls es überhaupt zur Bildung von Sexualorganen kommt — nur Antheridien auftreten®®). Es stimmt das, wie schon oben be- Fig. 8. Trichomanes rigidum. Diese Hymenophyllae besitzt Prothallien in Gestalt verzweigter Fäden. Links Stück eines Fadenprothalliums mit Antheridien An (un- mittelbar an den Fäden), rechts Prothalliumfaden, an welchem „Archegoniophore‘ sitzen, d. h. massive Zellkörper, an welchen erst die Archegonien (A) entstehen. merkt, mit zahlreichen Fällen bei andern Pflanzen überein. Dabei kommt es offenbar an auf die Produktion kompliziert gebauter “organischer Verbindungen. Denn die Verhinderung der Archegonien- bildung erfolgt offenbar sowohl bei mangelhafter C- als N- und P- Assımilation. Auch bei Egwisetum, wo normal nur „diözische* Prothallien auftreten, können, wie die vor Jahren auf meine Veranlassung von Buchtien ausgeführten Untersuchungen gezeigt haben, die weiblichen 30) Bei einzelnen Farnen (z. B. wie schon Prantl fand bei Ceratopteris) ge- nügen schon die in der Spore vorhandenen Reservestoffe, um nach der Keimung die Bildung der Antheridien zu ermöglichen. Das aus der Spore entwickelte Pro- thallium kann deshalb in solchen Fällen sehr klein sein, zuweilen nur aus zwei Zellen bestehen. Dagegen tritt die Entwickelung der Archegonien stets erst nach ausgiebiger Ernährung des Prothalliums ein. 672 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen Prothallien ®!) durch schlechte Ernährung in männliche übergeführt werden. Die männlichen Prothallien stellen sich den weiblichen gegenüber deutlich als Hemmungsbildungen dar, und ebenso ist es auch bei den heterosporen Pteridophyten, nur dass die „Hem- mung“ hier aus „inneren“ Gründen auftritt und schon bei der Sporenbildung erfolgt, wozu sich Übergänge vielleicht auch schon bei den isosporen Formen finden. Es wird sich also fragen, ob sich in der ungeschlechtlichen Generation der heterosporen Formen Einrichtungen finden, welche auf eine Verschiedenheit in den Bedingungen für die Bildung von Mikro- und Makrosporangien hinweisen, und welche Sporangien- formen der ursprünglichen (isosporen) Sporangienform näher steht. B. Ungeschlechtliche Generation. Wenn wir zunächst die letzte Frage dahin beantworten, dass die Mikrosporangien der ursprünglichen Sporangiumsform noch näher stehen als die Makrosporangien, so soll damit nicht gesagt sein, . dass sie gar keine, sondern nur, dass sie weniger starke Verände- rungen erfahren haben, als jene. Es spricht sich das ja schon darin aus, dass ın den Mikrosporangien normal noch alle Sporen- mutterzellen zur Sporenbildung gelangen (wie bei den isosporen Formen), ın den Makrosporangien bei den meisten Formen nur eine. Es ist aber kaum zu bezweifeln, dass z. B. bei Selaginella die vier Makrosporen eines Makrosporangiums nicht etwa eben- soviel Baumaterial beanspruchen wie die 256 Mikrosporen eines Mikrosporangiums, sondern mehr; das ist freilich zunächst nur eine auf den Augenschein gegründete Vermutung, da weder Gewichts- bestimmungen noch chemische Analysen vorliegen. Dass mit der Verschiedenheit der Sporenbildung auch eine solche ın der Gestalt und im Bau der Sporangien verbunden sein kann, wurde früher für Selaginella®?) gezeigt; die Beziehungen dieser Verschiedenheiten zu der Verbreitung der Sporen traten dabei deutlich hervor. Ferner ist die Frage zu erörtern, ob Mikro- oder Makro- sprorangien in ihrer Stellung verschieden sınd, und ob, falls dies der Fall ist, die Verschiedenheit der entspricht, welche für männliche und weibliche Organe oben (p. 663) erörtert wurde. In der Anordnung der Sporangien lassen sich zwei Fälle unter- scheiden: Bei den heterosporen Farnen sind (wenigstens ursprüng- lich) Makro- und Mikrosporangien in „Sori“ vereinigt und zwar so, dass die Makrosporangien über den Mikrosporangien stehen. Bei 31) Wie früher hervorgehoben wurde, ist die Eigentümlichkeit hier die, dass an den weiblichen Prothallien normal die Antheridienbildung, obwohl sie „potentiell“ vorhanden ist, ganz unterbleibt, was auch bei Farnen vorkommt. 32) Goebel, Sporangien, Sporangienverbreitung und Blütenbildung bei Selagi- nella. Flora 88 (1901), p. 207. Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. 673 “ den heterosporen Lycopodinen stehen die Sporangien einzeln in den Blattachseln und zwar bei den radiären Sporangienständen (welche wir als die ursprünglicheren betrachten) meist so, dass Makro- sporangien an der Basis stehen. Heterospore Farne. Hier zeigen Axolla und die Marsiliaceen meiner Ansicht nach das ursprüngliche, Salvinia ein abgeleitetes Verhalten. Bei den Marsiliaceen befindet sich im Sorus oben eine Reihe von Makrosporangien, unterhalb dieser stehen die Mikrosporangien. Analog ist es bei Axolla°®), nur verkümmern hier in den Makro- soris die Mikro-, in den Mikrosoris die Makrosporangien, die „zwit- terige“ Anlage der Sori tritt aber noch deutlich hervor. In allen diesen Fällen entstehen die Makrosporangien zuerst; sie sind durch ihre Stellung, durch ihren massigeren Stiel, ihre be- deutendere Größe den Mikrosporangien gegenüber deutlich als die besser ernährten kenntlich. Damit stimmen auch die experimentellen Untersuchungen von Shattuck überein °®%). Es gelang ihm in den Mikrosporangien einzelne Sporen von bedeutend größerem Volumen zu erzielen. Es geschah dies ın Kulturen, die sehr gut ernährt waren und denen nur wenige Sporokarpien gelassen worden waren. Andererseits zeigten sich die Makrosporangien im jugendlichen Stadium empfindlicher gegen un- günstige Ernährungsbedingungen als die Mikrosporangien. Salvinia zeigt insofern abweichende Verhältnisse, als Mikro- und Makrosori hier sich ontogenetisch nicht mehr wie bei Axolla von einer „zwitterigen“ Anlage ableiten lassen. Indes haben so- wohl Mettenius°®) als Heinricher°®) gelegentlich Sori mit Mikro- und Makrosporangien gefunden, und man wird letzterem nur bei- stimmen können, wenn er diese Erscheinung als Atavismus be- trachtet. Es werden also in den Makrosoris die Mikro-, in den Mikrosoris die Makrosporangien für gewöhnlich spurlos unterdrückt, wie denn auch in anderen Beziehungen (Entwickelungsfolge der Sporangien im Sorus, Verschiedenheit der Wasser- und Luftblätter, Wurzellosigkeit) Salvinia sich Azxolla gegenüber als der stärker veränderte Typus zeigt. Für die hier erörterte Frage ist es auch von Interesse, dass bei Salvinia natans an schwächlichen Seitenzweigen und am Ende der Vegetationsperiode (diese Art ist bekanntlich „einjährig*) nur 33) Vgl. z. B. die Abbildung in Goebel, Organographie, Fig. 448. 34) Shattuck, The origin of heterospory in Marsilia (The botanical gazette Vol. XLII [1910], p. 19.) 35) Mettenius, Beiträge zur Kenntnis der Rhizocarpeen. Frankfurt 1846. 36) Heinricher, Die näheren Vorgänge der Sporenbildung der Salvinia natans. Sitzungsber. d. Kais. Akad. der Wissensch. LXXXV, Wien 1882. XXX. 43 674 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. Mikrosori auftreten — ein deutlicher Hinweis darauf, dass diese weniger Ansprüche an die Ernährung machen als die Makrosori. Isoötes. Die Isoötes- Arten sind Pflanzen mit ausschließlich radıären Sprossen. Die Makrosporangien tragenden Blätter (Makrosporophylle) gehen normal den Mikrosporangientragenden voraus; sie treten in etwas kleinerer Zahl als letztere auf?’). Wenn wir bedenken, dass auf die Mikrosporophylle später sterile Blätter folgen, dass beischwäch- lichen Exemplaren von I. tegulensis die Zahl der Makrosporophylle auf eines reduziert sein kann, ferner dass bei dieser Art (und wohl auch bei anderen) junge Exemplare vorkommen, welche nur Mikro- sporophylle tragen®*®), so ist nicht zu bezweifeln, dass die Bildung der beiderlei Sporangien, resp. Sporophylle von Ernährungsbedin- gungen abhängig ist, in der Art, dass dıe Makrosporophylle größere Ansprüche an die Ernährungstätigkeit stellen, als die Mikrosporophylle. Es wird also bei jungen Exemplaren, ın welchen die Ablage- rung von Reservestoffen im Stamme noch eine geringere ist, ohne Zweifel möglich sein, experimentell die Bildung von Mikrosporo- phyllen allein hervorzurufen. Selaginella. Wenn man Abbildungen, wie die oft kopierte Sachs’sche von 8. inaegualifolia®’) ansieht, so könnte man glauben, dass bei dieser Gattung Mikro- und Makrosporangien sich in ihrer Stellung innerhalb der „Blüte“ nicht unterscheiden‘®),. Man sieht nämlich an dieser Figur links in den Achseln der Sporophylle Mikro-, rechts Makrosporangien. In Wirklichkeit aber liegt die Sache anders. Die Sachs’sche Abbildung ist vollständig richtig. Aber sie bezieht sich auf eine Selaginella mit annähernd horizontal stehenden „Blüten“. In diesen sind (gleichgültig ob die Blüten gleich große Sporophylle haben oder invers dorsiventral sind) normal die Mikrosporangien auf der Ober-, dıe Makrosporangien auf der Unterseite angeordnet. Die Sachs’sche Abbildung stellt also einen vertikalen Längsschnitt dar. Dies geht z. B. auch aus der früher von mir veröffentlichten Abbildung von Sel. chrysocaulos hervor (a. a.0O. p. 225 Fig. 14). Man hat die Anordnungsverhältnisse verschieden in Gruppen zu gliedern versucht. Spring*!) hatte vier Typen der Verteilung unterschieden: 37) A. Braun, Über die Isoötes-Arten der Insel Sardinien. Sitzungsber. d. phys.-math. Klasse der Berliner Akademie, 7. Dez. 1863, p. 563. 38) Analog der Tatsache, dass bei manchen monözischen Pflanzen in der Jugend nur männliche Blüten auftreten. 39) Goebel, Grundzüge der Systematik ete. Fig. 253, p. 326. 40) Dieser Irrtum kehrt noch wieder in der neuesten Arbeit über Selaginella (G. Mitchell, contributions tovereds of a knowledge of the anatomy of the genus Selaginella, Annals of botany Vol. 24, 1910, p. 22. Die Verf. führen hier als 4. Gruppe die an, welche ein „indiseriminate arrangement of mega- and micro- sporangia“ haben sollen. Wie das Folgende zeigen wird, ist das nicht der Fall. 41) Monographie des Lycopadiacees. Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. 675 1. Blüten (&pis) mit einem Makrosporangium an der Basis (größer als die Mikrosporangien). 2. 4-6 Makrosporangien, welche kaum größer sind als die Mikrosporangien. 3. Makrosporangien in unbestimmter Zahl gemischt mit den Mikrosporangien. 4. Eingeschlechtige Blüten, die aber nicht konstant bei den betreffenden Arten sind. Eingehender hat Hieronymus ®?) die Verteilung der Sporangien besprochen. Er unterscheidet drei hauptsächliche Blütentypen: 1. die aufrechten, radiären haben meist an der Basis, bisweilen auch in der ganzen unteren Hälfte, selten darüber hinaus Makro- sporangien, dann Mikrosporangien. Ein Spezialfall wird durch die Oligomakrosporangiaten dargestellt, bei denen nur ein sehr großes Makrosporangiunm sich an der Basis der Blätter befindet. 2. Hori- zontal liegende Blüten zeigen meist die Makrosporangien auf der dem Boden zugekehrten Seite, die Mikrosporangien auf der Licht- seite. 3. Hängende Blüten oder solche mit nach unten umgekehrten Spitzen zeigen nicht selten an der Spitze Makrosporangien. Hiero- nymus hält einen Einfluss der Schwerkraft auf die Sporangien- verteilung für wahrscheinlich. Indes könnte dieser doch nur ein ganz indirekter sein, denn die Entwickelung der Makrosporangien beginnt zu einer Zeit, in welcher diese wohl kaum „schwerer“ sind als die Mikrosporangien. Es möge an einigen Beispielen erörtert werden, welche Ver- schiedenheiten hier auftreten. Selaginellen des dritten Typus zu untersuchen hatte ich keine Gelegenheit, es mögen also nur die zwei ersten Typen erörtert werden. Für die orthotropen Blüten gelten wohl die für /soötes geltend gemachten Gesichtspunkte. Sie würden zu Versuchen besonders geeignet sein, indes sind gerade diese Arten wohl kaum in den Gewächshäusern vertreten; auch die einheimische hierhergehörige S. spinulosa gehört nicht zu den leicht zu kultivierenden Pflanzen. Eigentümliche Verhältnisse finden sich bei Selaginella rupestris*"), insofern als scheinbar hier nur Makrosporangien in einer Blüte vorhanden sind. Diese treten in großer Zahl auf, und sind bei der Untersuchung oft — wenigstens bei dem untersuchten Material aus Amerika — aliein vorhanden, so dass die Hypo- these von Hieronymus, es könne hier parthenogenetische Entwickelung der Ei- zellen stattfinden, zunächst nicht unwahrscheinlich erscheint. Tatsächlich erhielt ich auch von 1870 in Cambridge gesammelten Makrosporen, welche 1909 ausgesät wurden, zwei Keimpflanzen. Indes konnte es sich hier um die Weiterentwickelung 42) Engler-Prantl, Die natürlichen Pflanzenfamilien. 43) Für freundliche Zusendung lebenden Materials möchte ich Herrn Professor Farlow in Cambridge (Mass.) bestens danken. Bemerkt sei, dass die Bezeichnung „Selaginella rupestris‘‘ teils für eine Sammelart, teils für eine einzige Art benützt wird. Hier ist die letztere, im Sinne von Hieronymus gemeint. 43* 676 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen, schon befruchteter Eizellen handeln. Dies ist um so wahrscheinlicher, als die Mehr- zahl der Makrosporen steril blieb, und da nach den Angaben von Lyon*) die Blüten von Selaginella rupestris im Frühjahr weiter wachsen und Mikrosporangien hervorbringen, so liegt in den Blüten von Se elaginella rupestris eigentlich dieselbe Verteilung von Makro- und Mikrosporangien vor, wie bei anderen Selaginellen mit orthotropen Blüten, nur dass die Entwickelung hier eine Unterbrechung erfährt. Auffallend ist aber das Zahlenverhältnis zwischen Makro- und Mikrosporangien: letztere sind hier bedeutend in der Minderzahl, während sonst das Umgekehrte der Fall ist. Die Überzahl der Makrosporangien mag damit Zusammenhängen, dass diese Art an sonnigen Standorten wächst, welche zur Anhäufung von Assimilaten besonders geeignet sind. Selaginella rupestris ist auch sonst, wie Miss Lyon gezeigt hat, merkwürdig. Indes scheint mir die Angabe „that Selaginella rupestris normally at the present day produces seed-like sporangia®) with well developed embryos‘“ doch keine zu- treffende zu sein, denn die Ähnlichkeit der 8) Sporangien mit einem Samen ist eine sehr kleine. ©) Man kann sie in zwei Punkten finden. 1. Während sonst in den Selaginella- (& Makrosporangien vier (selten acht) Makro- (9 sporen sich finden, ist die Zahl der Makro- sporen bei Selaginella rupestris meist eine 1] kleinere — ich fand zwar einmal deren fünf, j meist aber sind nur eine oder zwei voll ent- Fig. 9. Selaginella rupestris. 1 Ge- wickelt, die anderen als kleinere Zellen sicht- öffnetes Makrosporangium mit Makro- bar*). Wo sie gar nicht mehr nachweisbar spore (Ma) II und III (stärker ver- sind, liegt wohl eine frühzeitige Verkümme- größert als I). Schnitte durch unreife rung vor. Makrosporangien mit Makrosporen ver- 2. Die Sporen werden nicht ausge- schiedener Größe. schleudert. Man findet die Makrosporangien in trockenen Makrosporangienständen durch einen Längsriss (welcher ebenso lang ist als bei den Makrosporangien anderer Sela- ginellen) geöffnet, und unter der Öffnung eine oder zwei Makrosporen liegen (Fig. 9). Gelegentlich fallen die Makrosporen auch heraus, da sie ziemlich lose im Makro- sporangium liegen. Der sonst so vortrefflich arbeitende Schleudermechanismus der Sporangienwand *”) versagt hier also — wenigstens in den beobachteten Fällen ®*). 44) F. A. Lyon, A study on the Sporangia and Gametophytes of Selaginella apus and Selaginella rupestris. Bot. gazette XXXII, 1901. — Bemerkt sei, dass, während bei anderen Selaginellen die Makro- und Mikrosporangien schon mit bloßem Auge unterscheidbar zu sein pflegen (die Mikrosporangien durch ihre Rotfärbung), dies bei Selaginella rupestris nicht zutrifft, hier sind auch manche junge Makrosporangien rot. — In meinen Kulturen konnte ich in den Blüten ‚während des Sommers nur Makrosporangien finden. Ende August aber traten in einigen auch Mikrosporangien auf, aber nur in geringerer Zahl (etwa 3), auf diese folgten dann weitere Makro- Sporangıen. 45) Sperrung von mir. G. 46) Es wäre nicht ausgeschlossen, dass diese kleineren Sporen als Mikrosporen keimen würden. Doch habe ich dafür keine Anhaltspunkte finden können. 47) Vgl. Goebel, a. a. O. 48) Das kann beruhen entweder auf einem abweichenden Bau der Sporangien- wand oder darauf, dass infolge der Verminderung der Sporenzahl das Heraus- „schnipsen“ der Sporen nicht eintritt. Soweit eine nicht sehr eingehende Unter- 5 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. 677 Bei Zutritt von Wasser können die Makrosporen, auch wenn sie im Sporangium liegen geblieben sind, keimen, und wenn zufällig Mikrosporen herein gelangen, auch Embryonen erzeugen. Aber in einem mit breitem Riss geöffneten Sporangium, in welchem ohne Zusammenhang mit der Sporangienwand eine (oder zwei) Makrosporen liegen, kann ich nichts Samenähnliches sehen, sondern nur eine Kümmerform eines normalen Selaginella-Sporangiums. Das spricht sich auch in der Reduktion der Sporen aus und darin, dass, wie auch Miss Lyon beschrieben und abgebildet hat, öfters noch zwei Sporen zusammenhängen. Es ist offenbar bei dieser Pflanze die geschlechtliche Fortpflanzung von ge- ringerer Bedeutung als die leicht eintretende ungeschlechtliche Vermehrung durch Selbständigwerden einzelner Zweige*”). Die erstere ist zwar nicht ausgeschlossen, aber die ganze Einrichtung sieht viel mehr wie eine senile Degeneration als wie ein Fortschreiten zur Samenbildung aus! Einmal nämlich werden viele Makrosporen unbefruchtet bleiben, und auch wenn die Embryonen sich entwickeln, werden die Keimpflanzen nur dann Aussicht auf Weiterentwickelung haben, wenn sie irgendwie in die Erde gelangen. Auch könnte man von „samenähnlicheu Sporangien“ doch wohl nur dann sprechen, wenn der Embryo innerhalb der in den Makrosporangien eingeschlossen bleibenden Makrosporen eine Ruheperiode durchmachen würde. Denn mit Ausnahme der seltenen Fälle „viviparer‘“‘ Pflanzen ist dies bei allen Samen der Fall. Bei Selaginella rupestris liegen die Makrosporen aber, wie wir sahen, in den geöffneten Sporangien, aus denen sie oft auch herausfallen, und sie können gewiss ebensogut auch außerhalb der Sporangien keimen, da sie nach ihrer Aus- bildung vom Sporangium ganz unabhängig sind. Der Embryo aber macht keine Ruheperiode durch. Wenn also Miss Lyon in einer späteren Abhandlung °°) sagt „Ihe female gametophytes and the young sporophytes are retained in the old stro- bilus until the latter have roots, stems and leaves; the tissue of the sporangium and megasporophyll decay, thus liberating the bodies that lack only inte- guments to bee seeds‘‘°!) — so möchte ich dagegen sagen, dass zur Samen- bildung noch sehr viel anderes fehlt als ein Integument. Es liegt eine kleine regres- sive Modifikation eines Selaginella-Stadiums vor, nichts Samenähnliches. Was die Zahl der Makrosporen anbelangt, so hatte schon Spring angegeben, dass bei einigen Arten eine kleinere Zahl als 4 auftritt, seine S. monospora hat ıhren Namen daher, dass er nur eine Makrospore in den Sporangien antraf. Ich fand die Verhält- nisse in zwei untersuchten Blüten dieser Art ziemlich wechselnd, doch stets mehr als eine Spore ım Makrosporangium. Z. B. eine große Spore, drei bedeutend kleinere; eine große, zwei mittlere, eine kleine; drei ziemlich gleich große, eine kleine. Immerhin ist eine Übereinstimmung mit dem Verhalten von S. rıpestris unverkennbar. Wir sehen also, dass die Makrosporenausbildung bei verschiedenen Selaginella-Arten von der Norm abweichen kann und dass bei 8. ru- pestris der Entleerungsmechanismus des Sporangiums versagt: eine suchung der Sporangien ein Urteil gestattet, scheint mir der Bau der Sporangienwand weniger scharf differenziert zu sein als bei anderen Selaginellen. 49) Das wird ermöglicht durch den Besitz von Wurzelträgern. sSelaginella rupestris unterscheidet sich dadurch scharf von Selaginella spinulosa, bei welcher ich eine Bewurzelung abgetrennter Sprossstücke nie zu erreichen vermochte. Diese Art ist ausschließlich auf die geschlechtliche Fortpflanzung angewiesen. 50) F.A. Lyon, The spore coats of Selaginella. Botanical gazette s. 48 (1905), p- 28 5l) Sperrung von mir. @. 678 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. an sich unzweckmäßige Eigentümlichkeit, welche aber die Verbrei- tung der Art deshalb nicht verhindert, weil diese auch auf vege- tativem Wege erfolgen kann. Die plagiotropen Blüten haben, wie Hieronymus zuerst her- vorhob, die Makrosporangien auf der Unterseite. Die Unterseite, auf welcher die Sporangien stehen, ist diejenige, welche am vegetativen Spross die geförderte ist, was sich schon dadurch ausspricht, dass hier die größeren Blätter stehen (vgl. die analogen unten für Pocris zu schildernden Verhältnisse). Wenn bei den invers dorsiventralen Blüten hier die kleinen Blätter auf- treten, so könnte man vermuten, dass hier eine Korrelation zur Bildung der Makrosporangien vorliege, d. h. dass das Auftreten der ernährungsphysiologisch anspruchsvollen Makrosporangien ein Kleinerwerden, das der anspruchslosen Mikrosporangien umgekehrt ein Größerwerden der zugehörigen Blätter bedinge. Diese Annahme wird, wie mir scheint, dadurch gestützt, dass — wie ich a. a. O. nachgewiesen habe —, die Umkehrung der Anisophyllie sofort ver- schwindet, wenn man die Blüten nötigt, unter Aufgabe der Spo- rangienbildung vegetativ weiter zu wachsen. Es wäre demnach die gewöhnliche Anisophyllie auch bei den Blüten latent vorhanden, nur verdeckt durch Korrelationsverhältnisse. Indes möchte ich nicht verschweigen, dass ich bei S. rubricaulis und meinima°?), welche invers dorsiventrale Blüten haben, auch in den Achseln der oberen (größeren) Sporophylle Makrosporangien fand, ein Fall, auf welchen die soeben vorgetragene Hypothese nicht passt. Indes mag sie trotzdem nicht unerwähnt bleiben denn es können ja noch andere Faktoren mitwirken, welche das Resultat ändern. Im übrigen sind die Verhältnisse recht mannigfaltig. Einige Beispiele mögen angeführt werden. Bei S. Pouxolziana var. obtusifolia fanden sich bei einer ziem- lich kümmerlich wachsenden Pflanze nur Mikrosporangien in den Blüten (sowohl auf der Ober- als der Unterseite), ohne dass sich darunter — wie dies sonst nicht selten vorkommt — verkümmerte Sporangien gefunden hätten, so z. B. bei einer gleichfalls kränk- lichen 8. viticulosa, welche ın ıhren Blüten neben vielen ver- kümmernden nur Mikrosporangien besaß, nur eine Blüte hatte ein einziges Makrosporangium. Bei S. erythropus fanden sich an der Spitze der Blüten nur Mikrosporangien, ım unteren Teil der Blüte auf der Unterseite bei l. 2 Mikrospor. 3 Makrospor. (dann Mikrospor.) ZA | 2 ” n N ” 52) Ob die von Sadebeck als $. minima bestimmte Pflanze des Münchener Herbars (gesammelt von Dinklage in Gabun, Westafrika) mit $. minima Spr. übereinstimmt, kann ich wegen Mangel an Vergleichsmaterial nicht feststellen. er Woltereck, Weitere experimentelle Untersuchungen über Artveränderung ete. 679 3. 2 Mikrospor. 1 Makrospor. (dann Mikrospor.) 4 ” $2] ” 2 Se ” ” n Analoge Verhältnisse wären von anderen Selaginellen zu be- richten. Indes würden die Zahlen kein weiteres Interesse haben. Sıe zeigen jedenfalls, dass die Verteilungsverhältnisse bei manchen Arten nieht konstant sind, dass zwar die Makrosporangien sich fast ausschließlich auf der Unterseite ausbilden, ıhre Zahl aber offenbar von Ernährungsverhältnissen abhängig ıst und dass die Makro- sporangienbildung durch ungünstige Ernährungsverhältnisse leichter unterdrückt werden kann als die Mikrosporangienbildung. (Fortsetzung folgt.) Woltereck, R.: Weitere experimentelle Untersuchungen über Artveränderung, speziell über das Wesen quantitativer Artunterschiede bei Daphniden. (Verh. deutsche zool. Ges. 1909.) Die Wiederentdeckung der Mendel’schen Gesetze, die Arbeiten der Forscher in Svalöf, dann vor allem Johannsen’s Untersuchungen über die Erblichkeit in Populationen und reinen Linien und nicht zum letzten die Mutationstheorie von Hugo de Vries haben uns auf dem Gebiet der Variation und Vererbung in neue Vorstellungs- bahnen gedrängt und einen schweren Konflikt mit dem bisher uns geläufigen Vorstellungskreis heraufbeschworen. Diesem Konflikt verdankt auch die vorliegende Untersuchung, die auf einem über- aus umfangreichen Beobachtungsmaterial und auf ausgedehnten, in Lunz und Leipzig ausgeführten Experimenten ruht, ıhre Ent- stehung. Ihr Hauptzweck ıst kritische Untersuchung zweier Thesen Johannsen’s, die etwa so formuliert werden können: 1, die erb- lichen Anlagen sind feste Größen, die weder bei Geschwistern (bezw. ım Keimplasma der Eltern derselben) fluktuierende Varia- bilität zeigen, noch im Lauf der Generationen kontinuierlich sich ändern können. Die einzig mögliche Aenderung dieser Anlagen besteht in den Mutationen. 2. Die Richtung dieser Mutationen steht in keinem ursächlichen Verhältnis zu den Milieubedin- gungen. — Hierdurch wird nicht nur der Lamarckismus negiert, sondern auch die Selektionstheorie ın ıhrer alten Bedeutung auf- gehoben. Der große Erfolg, der dieser neuen Lehre ohne Zweifel beschieden war, hatte seinen Hauptgrund wohl in dem Unistand, dass analytische Experimente eingeführt wurden. „In der Erblich- keitslehre“, sagte Johannsen, „gibt es immer noch zu viel loses Herumgerede“. Indem er seinen Gegnern Zahlenreihen und Kurven entgegenhielt, vermochte er der „exakten Erblichkeitslehre“ von vorn- herein em Uebergewicht zu sichern. Es war daher das erste Postulat für Woltereck’s kritische Untersuchungen, sich „der Waffen der 680 Woltereck, Weitere experimentelle Untersuchungen über Artveränderung ete. Gegner zu bedienen“ und zum analytischen Experiment zu greifen. Für das zu Artänderungsversuchen verwendbare Material sind drei Bedingungen erforderlich. 1. Das Vorhandensein quantitativ bestimmter Merkmale, 2. die Möglichkeit mit reinen Linien zu ar- beiten und 3. das Vorhandensein einer gewissen Mamnigfaltigkeit an kleinen Unterschieden. Diesen drei Bedingungen entsprechen nun die mannigfaltigen Lokalrassen der Daphnien. Nicht nur eine erstaunliche Zahl von Elementararten ist da gegeben (ihren Cha- rakter als Elementararten-Biotypen hat Woltereck in den Verh. d. D. Zool. Ges. 1908 bewiesen), sondern auch die Aufzucht in reinen Linien ist durch Parthenogenese ermöglicht und Länge der Spina, Helmhöhe, Stirnwinkel konnten als quantitative Merkmale benutzt werden. Während Johannsen z. B. bei seinen Getreideversuchen die reinen Linien erst aus den gemischten Populationen isolieren musste, bieten die Daphnien den weiteren Vorteil, dass die meisten Daphnia- Kolonien einheitliche Populationen darstellen. An diesem demnach sehr brauchbaren Material prüft der Verf. die Richtigkeit der von Johannsen vertretenen Anschauungen und ‘legt seiner Untersuchung folgenden Arbeitsplan zugrunde: 1. Analyse der vorhandenen Biotypen unter Berücksichtigung eines bestimmten Merkmales; d. h. Feststellung der ganzen Variationsbreite des betreffenden Merkmales unter allen mög- lichen Milieubedingungen. Feststellung jener Bedingungen, die einzelne Modifikationen des betreffenden Materiales hervor- rufen; und endlich Feststellung der (erblichen) Unterschiede, welche die sämtlichen Modifikationen des betreffenden Merk- mals bei verschiedenen Biotypen unter jeweils gleichen Milieuverhältnissen aufweisen. 2. Prüfung der so gefundenen Genotypusmerkmale durch Bastar- dierungsversuche. 3. Untersuchung, ob die in reinen Linien isolierten Biotypen durch Selektion oder durch andauernde Einwirkung bestimmter Milieubedingungen erbliche Aenderungen erfahren können. Zunächst wurde der sub 1. angeführte Fragenkomplex ın erster Linie in Angriff genommen, die sub 2. und 3. genannten Fragen konnten noch nicht eingehend berücksichtigt werden. Doch ergab sich da schon in Uebereinstimmung mit Johannsen, dass eine Veränderung des Genotypus durch Selektion nicht möglich ist. Die unter 1. zusammengefassten Fragen behandelt der Verf. in folgender Weise. Er stellt zunächst sämtliche Phänotypen des @Quantitativmerkmales Kopfhöhe fest und unterzieht dieselben einer Analyse. Die bei den Frequenzkurven ersichtliche Verschiebung kann auch künstlich erzeugt werden. Sie wird bedingt durch die Ernährung, indirekt auch durch die Temperatur und durch einen inneren Faktor, die Generationszahl. Bisher hat man bekanntlich der Wassertemperatur unter dem Eindruck der Arbeiten von Wesen- berg-Lund und Ostwald eine ausschlaggebende Rolle bei den Woltereck, Weitere experimentelle Untersuchungen über Artveränderung etc. 681 Formveränderungen der Daphnien zugeschrieben. Woltereck’s Experimente zeigen aber, dass dies nicht zutrifft. Von den äußeren Faktoren muss die Ernährung als fast allein bedeutsam bewertet werden, da von ihr der in Wirklichkeit ausschlaggebende Faktor, die Assimilationsintensität, in erster Linie abhängt. In Kul- turen, die hinsichtlich der Temperatur, des Salz- und Gasgehaltes, des Volumens und Lichtes völlig gleiche Bedingungen aufwiesen, vermochte Woltereck durch eine wertvolle, von ihm geschaffene Methodik die Ernährung als einzigen variablen äußeren Faktor in beliebigen Abstufungen zur Einwirkung zu bringen. Es ergab sich, dass die Quantitätsunterschiede der Assimilation den Quantitäts- unterschieden der Kopfhöhe direkt proportional sind. Der innere Faktor, die spezifische „Helmpotenz“, erwies sich daneben als wirksam, jedoch in den verschiedenen Generationen mit verschiedener Intensität. Ausführlich behandelt nun der Verf., wie die sämtlichen Phäno- typen der Kopfhöhe für eine Elementarart festgestellt und darge- stellt werden. Er sucht durch Konstruktion von Frequenzkurven die Mittelwerte der Kopfhöhe einer HYyalodaphnia-Rasse unter minimalen, mittleren und optimalen Ernährungsbedingungen festzustellen. Die so gefundenen Mittelwerte liefern die Ordinaten zur Konstruktion einer „Phänotypenkurve“, die als Abszissenwerte die Nahrungsquantitäten oder die Generationszahl zeigt. Zu einer einigermaßen vollständigen Darstellung der Phänotypengesetzmäßigkeit sind demnach 9 Phäno- typenkurven erforderlich, nämlich für die Helmhöhe 1. in den Anfangsgenerationen, 2. ın den mittleren Generationen, 3. in den alten Generationen bei a) minimaler, b) mittlerer, ec) optimaler Ernährung. Das Ergebnis dieser Kurvenbestimmungen ist die Erkenntnis, dass irgendein Quantitativmeıkmal ın seiner vollen spezifischen Be- schaffenheit nur durch eine große Zahl von Relationszahlen cha- rakterisiert werden kann. Deren Gesamtheit bezeichnet Wolter- eck als die spezifische Reaktionsnorm des analysierten Merkmals. Da nun alles, was an einer Art oder Elementarart spezifisch ist (sie von anderen Biotypen unterscheidet), in den Keimzellen auf die nächste Generation vererbt werden muss, muss eben auch die Reaktionsnorm mit allen ihren zahllosen spezifischen Relationen vererbt werden. Ferner müssen die verschiedenen Biotypen der Gattung Daphnia durch erbliche Veränderungen ın der Reaktions- norm entstanden sein, bezw. noch entstehen. Wird nun die Re- aktionsnorm nur durch Mutation ohne Milieubestimmung ver- ändert, oder kontinuierlich und durch Einwirkung des veränderten Milieus? An einer Daphnia longispina-Kultur aus dem Lunzer Untersee beobachtete W oltereck das Entstehen einer durch Rostrumverlänge- rung gekennzeichneten Daphnie; die für die Stammform und diese 682 Woltereck, Weitere experimentelle Untersuchungen über Artveränderung ete. neu aufgetretene konstruierten Phänotypenkurven verlaufen parallel und kennzeichnen diese sprunghaft aufgetretene, nicht vom Milieu bestimmte Daphnie als typische Mutation. Doch handelt es sich da um vereinzelte, seltene Erscheinungen. Ganz anders gestaltet sich der Verlauf der Phänotypenkurven bei drei Lokalformen der Hyalodaphnia eucullata. Bei minimaler Ernährung sahen alle drei einander so ähnlich, dass selbst ein ge- übter Beobachter sie kaum zu unterscheiden vermochte. Während jedoch die eine bei gesteigerter Ernährung keine nennenswerte Helmvergrößerung aufweist, zeigt die zweite schon bei mittlerer Ernährung eine starke Helmvergrößerung, die bei weiterer Nahrungs- Q S 11 Se NS S ii T Er I S Se S A zruillel reich —— > Quanüttal der Nahralgevr >> —> Mittlere Kopfhöhe wı %6 der Schalenlänge — SS Fig. 1. Graphische Darstellung der Kopfhöhe in ihrer Abhängigkeit von der Assimilation bei drei verschiedenen Lokalarten (Biotypen) von Hyalodaphnia: Bio- typus A erreicht eine Helmhöhe von S0°/, bei mittlerer, B bei optimaler Ernährung, Ü garnicht; bei spärlicher Nahrung sind alle drei Biotypen, bei mittlerer sind B C und annähernd gleich. zufuhr keine nennenswerte Steigerung mehr erfährt, und die dritte erreicht erst bei optimaler Ernährung Helme von der Größe, die die zweite Lokalform schon bei mittlerer Ernährung aufweist. Ein Blick auf die Kurven (Fig. 1) zeigt sofort den Gegensatz zu den Phäno- typenkurven der Mutationen. Hier liegen partielle Unterschiede der Reaktionsnorm vor, die auf eine partielle, nicht totale (also sprungweise) Veränderung der Reaktionsnorm schließen lässt. Dass diese partiellen und folglich kontinuierlichen Veränderungen milieu- bestimmte Veränderungen sind, konnte noch durch weitere Experi- mente gezeigt werden. Schon in den ersten Versuchsreihen (Verh. D. Zool. Ges. 1908) zeigte Woltereck die Möglichkeit, künstliche Uebergangsformen zu erzielen. Die bei Lunz als Elementararten auftretenden: Obersee- und Untersee-Daphnien konnte er durch Anwendung einer über- Woltereck, Weitere experimentelle Untersuchungen über Artveränderung ete. 683 trieben vertauschten Lebenslage nahezu ineinander überführen. Ferner lassen sich in den Mast- bezw. Hungerkulturen alle mög- lichen Uebergänge konstatieren. Daraus folgt: 1. dass die Merk- male der beiden Arten nicht diskontinuierlich, durch Mutation, verschieden geworden sind, 2. dass dieses Verschiedenwerden eine Funktion der Milieubesonderheiten gewesen sein muss. Weiters kommt die verschiedene Reaktionsnorm in verschie- denen Generationen zur Sprache. Die ersten Generationen nach dem Dauerei produzieren bei gleicher Nahrung einen niedrigeren Kopf als die mittleren Generationen. Woltereck sieht hierin eine erblich fixierte Verringerung oder Erschwerung der Helm- bildung bei den an minimale Nahrung gewöhnten Frühjahrsgene- rationen, also wiederum — wenn auch etwas versteckt -— eine Milieuwirkung. Ein besonderer Abschnitt ıst nun der Analyse der phäno- typischen und genotypischen Unterschiede des (JQuantitativmerkmals „Sexualität“ gewidmet. Diese wird als Tendenz eines Tieres, sich geschlechtlich statt parthenogenetisch fortzupflanzen definiert. Maß- stab für dieselbe ist der Prozentsatz an Männchen und Dauereiern so dass die Sexualität auf diese Weise eine ebenso messbare Quan- titativeigenschaft ist, wie die Kopfhöhe, Spinalänge etc. Es zeigte sich nun, dass auch hier jede Elementarart eine besondere Phäno- typenkurve aufweist und die ganz parallel zum Studium der Helm- höhe ausgeführte Untersuchung der Sexualität führte ebenfalls zu dem Resultat, dass die Sexualitätsdifferenzen der Biotypen kon- tinuierlich entstanden und milieubedingt sind. Ganz wie im den früheren Kulturen zeigte sich bei Unter- suchung der Sexualität das Auftreten natürlicher Uebergänge. Bei drei Biotypen, die ın dieser Hinsicht bei Unterernährung einander völlig durch 100°/ ige Sexualität glichen und bei Ueberernährung durch überwiegende Parthenogenese, zeigte sich bei mittlerer Er- nährung eine deutliche Differenzierung: die eine Form reagierte mit 50°/,, die andere mit 75°/,, die dritte mit 100°/, Sexualität. Bei solchen Elementararten, die unter natürlichen Milieuver- hältnıssen sich durchweg verschieden verhalten, konnten durch abnorme Ernährung „künstliche Uebergänge*“ veranlasst werden. Eine durch stark ausgeprägten Sexualitätszyklus ausgezeichnete Daphnia pulex aus den Almtümpeln bei Lunz konnte durch gleich- mäßig reiche Ernährung in eine rein parthenogenetische Kolonie umgewandelt werden. Es liegt demnach die Annahme nahe, dass der Uebergang von den Sexualverhältnissen der Hochgebirgsformen zur azyklischen Vermehrung vieler Seecladoceren nicht sprung- weise entstanden, sondern milieubestimmt ist. Recht einschneidend kompliziert sind hier die Reaktionsunter- schiede der Generationen. Durch Beobachtung einer größeren Zahl von Daphnia-Lokalformen kommt Verf. zur Aufstellung von vier Kategorien, die sich durch den Zeitpunkt des Eintritts der Sexualität und den Grad derselben unterscheiden. Nämlich: 684 Woltereck, Weitere experimentelle Untersuchungen über Artveränderung ete, 1. Die Sexualität steigt rasch ım Verlaufe weniger (1-3) Generationen von 0 auf 100°/, und wird dann obligatorisch. 2. Die Sexualität steigt im Verlaufe zahlreicher (10 und mehr) Generationen allmählich von O auf 100°, und wird schließlich obligatorisch. 3. Die Sexualität steigt zunächst rasch an, ohne aber allein- herrschend zu werden. 4. Alle Generationen sind obligatorisch parthenogenetisch. Die allmählichen Abstufungen unter dem Einfluss des Milieus ergeben sich aus den für verschiedene Generationen konstruierten Phänotypenkurven, zu denen eine zur zweiten Kategorie gehörige nur di’#Epkip j 1 1 ZU wuuuuag FSEBun BEE BE ——>Serualität N MH [ Bi Im] 1 ESenelezeie) HE 1 + A| aa IH IH EH 1 San jasnlejala) IH | | 1 1 25% nnaea FH jalaelefe Sala sjalela]: EB He: eiejajs LEN =i ja EDS ji ajalaje ee MA EHE BEHRSSSEIEE cnandı Iren HH . nn Sjejajajnlafaalslare HH Oo ne arm mittel reich, —— > fuanlität der Währalgen Fig. 2. Graphische Darstellung der Sexualität in ihrer Abhängigkeit von der Assimilation und der Generationszahl bei einer Lokalrasse von Hyalodaphnia: die ersten (renerationen (a) sind unter allen Umständen parthenogenetisch; bei den mittleren (b, c, d) ist eine immer größer werdende Assimilationsintensität nötig, um die steigende bisexuelle Tendenz zu unterdrücken; noch später (e) werden nur noch Männchen oder Dauereier erzeugt, von ganz vereinzelten Weibchen abgesehen, welche dann ihrerseits rein | isexuell produzieren. (also monozyklische) Hyalodaphnia cucullata das Material lieferte (Fig. 2). Ferner zieht Woltereck noch eine polyzyklische Tümpel- form ın den Kreis seiner Betrachtungen, als Beispiel der ersten Kategorie. Und zwar Daphnia magna, über deren Verhalten von Scharfenberg unter Woltereck’s Leitung arbeitete. Nicht nur von Generation zu Generation, sondern sogar von Wurf zu Wurf bei ein und demselben Weibchen wurde eine Steigerung der Sexualität konstatiert. Nach übereinstimmenden Ergebnissen von Fräulein OÖ. Kuttner und von von Scharfenberg wird die Pro- duktion der Männchen hier — im Gegensatz zu der von Woltereck analysierten Hyalodaphnia — durch Ernähr ungsgrade nicht beein- flusst, sondern nur die Bildung befruchtungsbedürftiger Dauereier und Ephippien. Eine der dritten Kategorie zugehörige dızyklische Daphnia galeata zeigt schon in der zweiten Generation ab ephippio bis zu 60°/, Ephippien und Männchen. Dann folgt eine asexuelle Pe- Woltereck, Weitere experimentelle Untersuchungen über Artveränderung ete. 685 riode und endlich unvermitteltes Wiederansteigen der Sexualität (80— 90 ",)- Diese Beispiele zeigen deutlich, dass die erblich fixierten Re- aktionsnormen durch die mannigfachsten Uebergänge von Biotypus zu Biotypus verknüpft sind. Sprungartiges Entstehen erscheint daher ausgeschlossen. Die periodischen, gesetzmäßigen Schwankungen der sexuellen Reaktionsnorm können nur durch entsprechende Schwankungen jener Agentien entstanden sein, welche noch heute, wenigstens ın den mittleren Generationen, den quantitativen Wert der Sexualität bedingen. Wenn in den Kulturen diese periodischen Schwankungen trotz gleichbleibender Intensität der Agentien ge- wahrt bleiben, so kann dies wohl nur als Fixierung eines milieu- bedingten Vorganges infolge lange dauernder Einwirkungen erklärt werden. Inwiefern stehen nun die eben angeführten Kategorien in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Milieu? Der Turnus der ersten Kate- gorie: Dauereier — 1 bis 3 parthenogenetische Generationen — hat seine normale Ursache in dem raschen Verbrauch der vor- handenen Nahrung, die durch das Missverhältnis zwischen Daphnien- zahl und dem von den Daphnien bewohnten Wasserquantum — die dieser Kategorie angehörigen Daphnien sind polyzyklische Bewohner kleiner Wasserbecken — schnell erschöpft ıst. Im Verlauf unend- lich vieler solcher Generationsfolgen wurde dieser Turnus so fixiert, dass er im Experiment bei gleicher Ernährungsintensität beibehalten wird. Es liegt also ein milieubedingtes genotypisches Merkmal vor, an dessen Zustandekommen nach Ansicht des Verf. auch die Natur- züchtung beteiligt ist, die ja übrigens ihrerseits selbst eine indirekte Miheuwirkung darstellt. In ähnlicher Weise fügt sich das Verhalten der monozyklischen Daphnien der zweiten Kategorie dem gegebenen Erklärungsversuch, obgleich hier die asexuelle Vermehrung der ersten Frühjahrgene- rationen einige Schwierigkeiten bereitet, die ja wahrscheinlich ärm- liche Nahrung vorfinden, wenn nicht das Zentrifugenplankton hier eine bisher übersehene Nahrungsquelle darstellt. Für das Verhalten der dizyklischen Daphnien gibt Woltereck zwei Erklärungsversuche, von denen ihm der erste plausibler er- scheint. Diese erste Erklärung sieht in den Nahrungsverhältnissen den Grund: durch starke Vermehrung wird die Nahrung rasch ver- brauecht; daraus resultiert ein Ansteigen der Sexualität und ein Rückgang der Individuenzahl der Population. Die Ueberlebenden finden wieder reichere Nahrung und es kommt zu einer zweiten, langsamer anschwellenden Geschlechtsperiode. Die zweite Erklärung hält die erste Sexualperiode für eine Reminiszenz an die Eiszeit, die zweite für eine Einrichtung, die unserer heutigen Sommerlänge ihre Entstehung verdankt. Eine Untersuchung des Referenten über das Zentrifugenplankton (cf. 686 Woltereck, Weitere experimentelle Untersuchungen über Artveränderung etc. Intern. Revue der Hydrobiol. 1910) spricht zugunsten der ersten Annahme. Azyklische Kolonien entstehen in Gewässern, die das ganze Jahr Mittel für eine hinreichende Assimilation gewähren. Selbst die sonst polyzyklische Daphnia pulex kann unter solchen Umständen, wie die Kolonie aus dem Astronisee bei Neapel zeigt, azyklisch werden. In einem dritten Abschnitt kommen regressive Varianten zur Besprechung, ihr Auftreten, sowie die Versuche des Verf. zur Her- vorrufung und Fixierung regressiver Varianten. Als solche kamen das Nebenauge und die Scheitelzähnchen der Hyalodaphnien in Betracht. In der Systematik spielte das Nebenauge bisher meist die Rolle eines Alternativmerkmals, — Daphnien mit und ohne Nebenauge wurden scharf geschieden und der Verdacht, dass die regressive Variante eine Mutation sei, lag nahe. Allein es zeigten sich alle Uebergänge vom vollständig entwickelten bis zum gänzlich fehlenden Nebenauge. Und zwar finden sich Uebergänge in zwei Richtungen: entweder sind die Zellen des Nebenauges mehr oder weniger er- halten und es fehlt das Pigment, oder es ist das Pigment mehr oder weniger vorhanden und die Zellen sind rückgebildet. Es zeigte sich ferner auch hier, dass der Prozentsatz der Rückschläge mit der Generationszahl steigt. Die reinen Linien zeigten bezüglich des Nebenauges große Regellosigkeiten. Eine Beeinflussung dieses regres- siven Merkmals durch das Milieu konnte nicht konstatiert werden. Auch die Scheitelzähnchen zeigen die mannigfaltigsten Ueber- gänge im Ausbildungsgrad, in der Häufigkeit des Auftretens, in der Erblichkeit und der Bevorzugung bestimmter Generationen. Es liegt also auch hier — wie beim Nebenauge — kein Alternativ- merkmal vor. Im Gegensatz zu den beim Nebenauge gemachten Erfahrungen zeigt sich bei den Scheitelzähnchen eine in ihrer Kau- salität noch unverständliche Beeinflussung durch das Milieu. Werden nämlich reife Weibchen aus hoher Temperatur (25°) plötzlich in niedrige (12°) versetzt, so besteht der Wurf derselben aus Daphnien mit Scheitelzähnchen. Es ergab sich aus allen über die regressiven Varianten ange- stellten Versuchen, dass dieselben hinsichtlich ihres Entstehens bezw. Verschwindens dieselben Verhältnisse zeigen wie die früher be- sprochenen Quantitativmerkmale Helmhöhe und Sexualität. Entgegen der von Johannsen vertretenen Meinung einer „geno- typischen Festheit“ kommt Woltereck durch eine weitere Serie von Experimenten zur Ueberzeugung, dass durch lange Einwirkung bestimmter Milieustufen neue genotypische Quantitativmerkmale hervorgebracht werden können. Schon aus einigen früher erwähnten Versuchsreihen geht dies hervor, am deutlichsten aber aus Kulturen der Lunzer Unterseedaphnie bei Ueberassimilation. Die auf diesem Wege angebahnte Annäherung an den Oberseetypus konnte von Stufe zu Stufe mehr gefestigt werden. Diese zunehmende Fixierung erfolgt in drei Perioden: In der ersten Periode stellt sich große N Woltereck, Weitere experimentelle Untersuchungen über Artveränderung ete. 687 Unbeständigkeit der Form ein; in das alte Milieu zurückgebracht nehmen die Tiere schon bei der nächsten Häutung ihre ursprüng- liche Form wieder an. In der zweiten Periode (3 bis 4 Monate nach dem Einsetzen in die Gefangenschaft) erschienen die Versuchstiere „akklimatisiert*. Es herrscht eine einheitliche Form; bei der Zurückversetzung ins alte Milieu gewinnen junge Tiere erst nach mehreren Häutungen, ältere überhaupt nicht ihre Körperform wieder. Die im früheren Milieu geborenen Nachkommen zeigen alle den ursprünglichen Bau. Die dritte Periode ist durch Konstanz des neuen Typus auch unter den alten Bedingungen gekennzeichnet. Ein Fortschritt von bloß phänotypischer zu genotypischer Veränderung ist unverkennbar. Ganz analog konnte Woltereck auch Beispiele für die erb- liche Wirkung anhaltender Milieuwirkung auf die Sexualität bei- bringen. In einem Zusatz über die Ursachen der kontinuierlichen Variation inJohannsen’s und seinen Versuchen zeigt Woltereck, dass sein Material eine Fehlerquelle vermeidet, die Johannsen nicht um- gehen kann und dass somit die Daphnia-Kulturen günstigeres Ma- terial darstellen. In einem zweiten Zusatz werden die schädlichen Wirkungen der Anhäufung von Stoffwechselprodukten ım Wasser besprochen. In einem dritten Zusatz setzt uns der Verf. auseinander, wie er sich die partiellen Veränderungen der Reaktionsnorm ent- standen denkt. In einem vierten und letzten Zusatz nımmt endlich Woltereck zu einem sehr aktuellen Thema Stellung, zur Frage nach den Gene- rationszyklen der Oladoceren. Während sich (von einem interessanten Vermittlungsversuch Keilhack’s abgesehen) bisher die Hertwig- Schüler (Sexualität eine Folge veränderter Kernplasmarelation) und die Weismann-Schüler schroff gegenüber standen, zeigt der Verf. an speziellen Beispielen, dass 1. äußere Milieufaktoren und 2. die innere, erbliche, spezifische Potenz als Ursache der Sexualität ın Betracht kommen. Bald können die äußeren Faktoren die Oberhand gewinnen (z B. bei D. obtusa von Lunz), bald die inneren (z. B. bei der Hyalodaphnia von Borsdorf). Ist es nun für die Cladocerensexualität charakteristischer, dass der Phänotypus derselben von Milieuverhältnissen verändert werden kann oder dass in diesem Merkmal eine zyklische genotypisch fest- gelegte und zuweilen den Einflüssen der äußeren Faktoren trotzende Periodizität hervortritt? Verschiebungen des Phänotypus durch Milieuveränderungen gilt für alle Quantitativmerkmale und entbehrt daher des speziellen Charakters. Die innere Periodizität, deren Macht durch Woltereck und seinen Schüler von Scharffenberg auch in solchen Fällen nach- gewiesen wurde, wo die äußeren Verhältnisse gleich bleiben oder dem typischen Ablauf entgegenwirken, muss als das eigentlich Charakteristische angesehen werden. „Es gibt doch Generations- 688 Gaidukov, Dunkelfeldbeleuchtung und Ultramikroskopie ete. zyklen im Sinne Weismann’s“, schließt Woltereck seine Aus- führungen, die Ziegler gleich nach dem Vortrage als die feinste Analyse dieser Vorgänge bezeichnet hat. Es ist zu hoffen, dass die von Woltereck selbst unternommenen und zum Teil ge- leiteten fortsetzenden Arbeiten auf diesem Gebiete von gleichem Erfolg gekrönt sein werden. Dr. V. Brehm. N. Gaidukov, Dunkelfeldbeleuchtung und Ultramikroskopie in der Biologie und in der Medizin. Gustav Fischer, Jena 1910, 8°, 83 S., 13 Abbild. im Text, 3 Lichtdruck- und 2 chromolithographische Tafeln. Als vor 7 Jahren Siedentopf und Zsigmondy eine Methode angaben, Teilchen im Mikroskop sichtbar zu machen, deren Größe unterhalb des Auflösungsvermögens der stärksten Linsensysteme lag, knüpfte man in den biologischen Wissenschaften große Hoff- nungen an diese neue Erweiterung der menschlichen Sinne; diese Hoffnungen haben sıch bis heute nicht erfüllt, und so kam die etwas ‚ umständliche „ultramikroskopische* Beobachtung nicht in allge- meinen Gebrauch. Erst neuerdings ist sie unter dem bescheideneren Namen der Dunkelfeldbeleuchtung und in verbesserter, bequemerer Form für manche mehr praktische Aufgaben, wıe z. B. zum raschen Auffinden der sehr zarten, aber doch auch im hellen Gesichtsfeld darstellbaren Syphilisspirochäten in Aufnahme gekommen, während ihr die Physiker und physikalischen Chemiker ein größeres Interesse entgegenbringen. Unter diesen Umständen ist die vorliegende Zusammenstellung sehr erwünscht und brauchbar, ın der der Autor wohl alle wesent- lichen biologischen ultramikroskopischen Beobachtungen zusammen- gefasst hat und zur vielfältigen Verwertung der Methode anregt und bequem anleitet. In den Referaten hätte er vielleicht etwas strengere Kritik an den Berichten einzelner Autoren üben dürfen. Am interessantesten und wichtigsten sind die Kapitel, in denen der Autor über seine eigenen Beobachtungen am Pflanzenprotoplasma berichtet und, auch historisch ausführlich, für die Nägeli'sche Micellartheorie plädiert. Er deutet die Bütschli’schen Waben- strukturbilder am lebenden Objekt als durch Beugungsscheibchen bedingt und legt dar, wie Nägeli’s Anschauungen durchaus in Uebereinstimmung mit dem neuesten Wissen von den Kolloiden stehen. Beim Absterben des Protoplasmas wandle sich das Hydrosol, das dieses im Leben darstellt, in ein Hydrogel um. Werner Rosenthal. van von ar Ne in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt, Unter Mitwirkung von DrIIK. Goebel und# DrsE, Fertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Der Abonnementspreis für 24 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen. R Bd. XXX. 1. November 1910. N R1. Inhalt: Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen über die Fortpflanzungsverhältnisse bei Daphniden (Simocephalus vetulus und Moina rectiroslris var. Lilljeborgii). — Goebel, Ueber sexuellen Dimorphismus bei Pilanzen (Fortsetzung). — Hollrung, Jahresbericht über das Gebiet der Pflanzenkrankheiten. Experimentelle Untersuchungen über die Fortpfianzungs- verhältnisse der Daphniden (Simocephalus vetulus und Moina rectirostris var. Lilljeborgii). Von Dr. Georg Papanicolau. (Aus dem zoolog. Institut München.) I. Geschichtliches. Die Geschichte der Fortpflanzungsverhältnisse bei der Familie der Daphniden beginnt mit Swammerdam (1637—80), dem ersten Naturforscher, der eine Daphnide näher untersucht und beschrieben hat. Die ersten Forscher, die, infolge des überwiegenden partheno- genetischen Fortpflanzungsmodus der Repräsentanten dieser umfang- reichen Gruppe, nür weibliche Tiere beobachteten, haben die Ver- mutung ausgesprochen, dass die Tiere zwittrig seien. Diese falsche Ansıcht wurde von O. Müller (1) widerlegt, der die ersten Männ- chen auffand und durch seine umfangreichen Untersuchungen die Grundlage für die späteren Forschungen legte. Weitere Schwierig- keiten machte den älteren Beobachtern die eigentümliche Bildung der Ephippien, welche die Aufgabe haben, die Dauereier vor der Austrocknung zu schützen. So hielt man dieselben lange Zeit für krankhafte Missbildungen, bis spätere Untersuchungen uns über ihre physiologische Funktion Klarheit brachten. Nachdem nun alle diese Eigentümlichkeiten der Fortpflanzung der Daphniden in ihrem Wesen erkannt worden waren und die Exı- XXX. 44 6I0 Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. stenz einer parthenogenetischen Fortpflanzung durch (sich ohne Befruchtung entwickelnde) Sommer- oder Subitaneier einerseits, andererseits einer in späterer Zeit auftretenden gamogenetischen?!) Fortpflanzung durch die Bildung von befruchtungsbedürftigen Winter- ‘oder Dauereiern bestätigt war, richtete sich die Aufmerksamkeit der Forscher auf die bis jetzt noch nicht in ihrem ganzen Umfange geklärte Frage, ob das Auftreten und die Dauer dieser zwei Fort- pflanzungsweisen nur durch innere Faktoren bedingt sei, oder ob vielmehr auch äußere Einflüsse dabei eine Rolle spielen. Erst Lubbock (2) und später Kurz (3) und Schmankewitsch (4) sind, teils durch Beobachtungen im Freien, teils durch experimentelle Untersuchungen zu der nah, gekommen, dass ungünstige Lebens- verhältnisse (Nahrungsmangel, he nskorkane Verunreinigung, Konzentration des Salzgehaltes des Wassers u. s. w.) die Ursache des Überganges von der Parthenogenesis zur Gamogenesis bilden. Einen Bekämpfer hat diese Auffassung in Weismann (5) (1880) gefunden, der auf Grund ausgedehnter Beobachtungen und Experi- mente die vollständige Unabhängigkeit der Fortpflanzungsverhält- ‚nisse der Daphniden von äußeren Faktoren verteidigte. Nach Weis- mann hat sich durch Selektion eine zyklische Periodizität der Fortpflanzungsmodi herausgebildet, die ganz unabhängig von jedem äußeren Einfluss einen je nach den verschiedenen Arten verschie- denen Verlauf nimmt?). Diese Auffassung Weismann’s von der vollständigen Unab- hängigkeit der Fortpflanzungsverhältnisse der Daphniden von allen äußeren Einflüssen focht erst L. R. de Kerherve (6) (1892) an, der durch Experimente an Daphnia magna und Daphnia lacustris zu der Ansicht gekommen war, dass die Ernährung als ein ge- schlechtsbestimmender Faktor zu betrachten seı, da der Hunger das Auftreten der gamogenetischen Fortpflanzung herbeiführen kann, reichliche Nahrung dagegen die parthenogenetische Fortpflanzung zu verlängern imstande ıst. Zu derselben Ansicht kam auch Issako- witsch (7) (1905), der eine Abhängigkeit der Fortpflanzungsverhält- nisse von Temperatur und Nahrung bei Söimocdphalus vetulus und Daphnia magna beweisen konnte. Diese Resultate von Issako- witsch wurden sofort von Keilhack (8) und Strohl (9) ange- fochten, die auf Grund von eigenen Beobachtungen an Ballen pedieulus die Weismann’sche Te meneloiıe verteidigten. 1) Die: Ausdrücke „gamogenetisch“ und ,„Gamogenesis“ im Gegensatz zu „parthenogenetisch“ und „Parthenogenesis“ scheinen mir besser als die bis jetzt gebrauchten Ausdrücke „sexuell oder geschlechtlich“ und „Sexualität oder Ge- schlechtlichkeit“ zu sein. 2) Weismann unterscheidet polyzyklische, monozyklische und azyklische Formen, je nachdem sie in einem Jahre mehrmals (Bewohner der kleinen Pfützen), einmal (Bewohner der größeren Tümpel‘, oder gar nicht (Bewohner der größeren Seen) eine gamogenetische Fortpflanzung durchmachen. Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen ete. 691 Dieselbe Ansicht vertrat in neuerer Zeit Fräulen Kuttner (10) nach Untersuchungen an mehreren Daphnidenarten, während anderer- seits Professor Woltereck (11) mit seinen Schülern und Dr. Lang- hans (12) einen Einfluss gewisser äußerer Faktoren (Nahrung, chemische Beschaffenheit des Wassers), bestätigten. Bevor ich nun in eine eingehendere Erörterung und Kritik dieser Arbeiten eintrete, will ich eine Beschreibung meiner eigenen Experi- mente geben, die ich auf Anregung von Herrn Prof. R. Hertwig im zoolog. Institut von München vom Anfang Mai 1909 bis Ende Februar 1910 durchgeführt habe. II. Material und Methoden. Ich habe meine Untersuchungen an zwei Daphnidenarten vor- genommen, einein Teichbewohner Simocephalus vetulus (O.F Müller) und einem Pfützenbewohner, Moina rectirostris var. Lilljeborgii (Schödler), beide aus Dauereiern gezüchtet. Die Dauereier von Simocephalus sammelte ich im Schlamm eines großen Teiches?) des Nymphenburger Parkes am Ende April 1909 und züchtete sie in großen Gläsern (2 Liter Inhalt). Am 17. Mai 1909 ist das erste parthenogenetische Weibchen ausgeschlüpft und aus diesem Exem- plar, welches ıch in Zimmertemperatur züchtete, stammen alle meine Simocephalus-Kulturen. Fünf andere parthenogenetische Weibchen, welche am 16., 17. und 19. Mai aus anderen Dauereiern ausgeschlüpft waren, kulti- vierte ich unter anderen Bedingungen (hohe und niedrige Tempe- ratur, Hunger), aber nur für die Dauer einer Generation. Die Dauereier von Moina stammten dagegen aus einem sehr kleinen Tümpel bei Irschenhausen, welcher Anfang Juli auszu- trocknen begann. Die Tiere waren in ausgesprochener gamogene- tischer Fortpflanzung; ich entnahm sie einem großen Glas, welches der Institutsdiener Schwenold ins Institut gebracht hatte; am 12. Juli 1909 konnte ich etwa 100 frisch abgelegte Dauereier sammeln, die ich unter verschiedenen Bedingungen (Kälte, Zimmertemperatur, Wärme, Austrocknung, Einfrieren) züchtete. Von den Tieren, welche aus diesen Dauereiern ausgeschlüpft waren (genauere An- gaben werde ich weiter unten in einem besonderen Kapitel geben), legte ich mehrere Kulturen unter verschiedenen Bedingungen an, von denen ich hauptsächlich eine aus einem Stammtier stammende Hauptkultur im Verlauf des ganzen Zyklus verfolgte. Zur Unterscheidung dieser verschiedenen Kulturen werde ich die großen Buchstaben S für Simocephalıs und M für Moina an- wenden, während ich mit den kleinen Buchstaben a,b, c,d u. s. w. die verschiedenen Stammtiere bezeichnen werde. 3) Zu bemerken ist, dass dieser Teich jedes Jahr am Ende Oktober künstlich ausgetrocknet und erst im Frühling wieder mit Wasser gefüllt wird. 44* 692 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. Ich habe drei Temperaturen angewandt: 1. Wärme (22—24°), in einer mit Wasser gefüllten Wanne, die ich durch eine Gas- flamme erwärmte, 2. Zimmertemperatur (14—16°), in einer anderen im Zimmer gehaltenen Wanne, deren Wasser ich während der heißen Tage des Sommers regelmäßig 2—3mal jeden Tag wechselte, 3. Kälte (6—8°), im großen Kälteschrank des zoologischen Instituts. Die Nahrung meiner Tiere bestand aus zerriebenen Diatomeen und Grünalgen, die ich jedesmal frisch aus dem botanischen Garten holte. Den so entstandenen Brei siebte ich durch ein sehr feines Netz hindurch, um die Beimischung von Eiern und kleinen Tieren zu vermeiden. Die Gefahr war jedenfalls nicht sehr groß, da die Tümpel, aus welchen ich diese Pflanzen herausholte, weder von Simocephalus noch von Moina bewohnt waren. Diese Ernährungs- methode erwies sich als sehr gut, während das Beimischen von Mehl sich als schädlich herausstellte, da es den Tieren durch das Verkleben der Beine große Schwierigkeiten bei der Bewegung und besonders bei der Atmung bereitete. Eine solche Vorbereitung der ‚Nahrung hat auch den Vorteil, dass man mit einer kleinen Pipette dıe Dose genau regulieren kann. Die Quantität der Nahrung, die ich für jedes erwachsene Tier gab, war bei den Nahrungskulturen etwa !/—!/, Pipette jeden Tag. Die Kulturgläser — gewöhnliche Trinkgläser von !/, Liter Inhalt — deckte ich immer zu, um die Entwickelung von Bakterien zu verhindern. Das Kulturwasser entnahm ich während der ersten Monate einem Aquarium im Garten des zoologischen Instituts und filtrierte es sorgfältig vor der Anwendung. Nur im Winter habe ich Brunnen- wasser angewandt, ohne dabei irgendeine Störung meiner Kulturen zu bemerken. (Fortsetzung folgt.) Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. Von K. Goebel. (Fortsetzung. Von Monokotylen sei zunächst erwähnt das merkwürdige Verhalten der (gewöhnlich diözischen) Orchideengattung Catasetum, bei welcher männliche und weibliche Blüten so verschieden sind, dass man sie früher als verschiedene Gattungen beschrieb. Das gelegentliche Vorkommen von männlichen und weiblichen Blüten in einer Inflorescenz oder an einem Exemplar der sonst diözischen Pflanzen hat den wirklichen Sachverhalt klargestellt. Die seinerzeit von Darwın°®) vertretene Annahme, dass außer männlichen und weiblichen Blüten auch noch Zwitterblüten vorkommen, hat sich 53) Ch. Darwin, Über die Einrichtungen zur Befruchtung heimischer und ausländischer Orchideen, Übers. p. 185. Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. 693 nach den Untersuchungen von Rolfe°*) nicht als zutreffend erwiesen. Darwin hebt hervor, dass die verschiedenen Blütenformen von Catasetum ın viel höherem Grade voneinander verschieden seien, als z. B. Pfauhahn und Pfauhenne. Dabei ist noch bemerkenswert, dass die weiblichen Blüten verschiedener Arten, wie Rolfe anführt, einander sehr gleichen, während die männlichen untereinander ver- schieden sind. Die Verschiedenheiten sind teils primäre, d. h. auf die Sexualorgane selbst bezügliche, teils sekundäre. Dass in den weiblichen Blüten die Pollinien und die merkwürdigen „Antennen“ des Rostellums, in den männlichen der Fruchtknoten und die Narbe rückgebildet sind, entspricht den auch sonst vielfach auftretenden Verschieden- heiten zwischen männlichen und weib- lichen Blüten. Aber besonders merkwürdig sind die sekundären Verschiedenheiten. Nicht nur ist z. B. bei Cat. barbatum (Fig. 10) ın den männlichen Blüten das Labellum nach unten gekehrt (eine Lagenverände- rung um 180°, welche bei den meisten Orchideen und auch bei den weib- lichen Blüten einiger Catasetum- Arten [vgl. Rolfe, a.a. O., p. 222] eintritt), in den weiblichen nach oben, auch das Perigon ist sehr verschieden geformt, wie das aus Fig. 10 hervorgeht. = s . % . Fig. 10. Catasetum barbatum r r°5) gibt an, dass bei Cat. Ent C use ) 5 ’ A männliche Blüte (früher als tridentatum die Pollinien in den weib- yyanthus beschrieben), B weib- lichen Blüten kleiner sind als in den liche Blüte („Monachanthus“;). männlichen und unmittelbar nach dem (Nach Botanical Register.) Öffnen der Blüten abfallen. Ihre Pollen- zellen können, auf die Narbe gebracht, nur wenige und rudimentär bleibende Pollenschläuche treiben. In den Fruchtknoten der männ- lichen Blüten fand ich Samenanlagen ohne Integumente. Sie sind nicht entwickelungsfähig, trotzdem bewirkt eine Bestäubung der männ- lichen Blüten (nach Crüger) eine Vergrößerung des Fruchtknotens und ein Abwelken des Labellums ete., nach kurzer Zeit aber fällt die Blüte ab. Es scheint, dass die männlichen Blüten variabel sind. Denn die „Übergangsformen“, welche Crüger (leider nur ganz kurz) erwähnt, sind, da sie steril bleiben, jedenfalls männlich. Fragen wir uns, welche von den beiden Blütenformen der ur- 54) R. A. Rolfe, On the sexual forms of Catasetum etc. Journal of the Linnean society, botany vol. XXVII (1895), p. 206. 55) H. Crüger, Few notes on the fecundation of Orchids and their mor- phology (Linnean societys journal vol. VIII, p. 127. 694 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. sprünglichen Zwitterblüte am nächsten steht, so scheint mir dafür maßgebend der Vergleich mit der Sektion Pseudo-Oatasetum der Gattung Catasetum, welche Zwitterblüten besitzt. Bei diesen gleicht die Gestalt der Blüten, namentlich des Labellums, mehr den weib- lichen Blüten der diözischen Formen, die Lippe ist nach unten gekehrt, die Antennen sind nicht vorhanden. Wir werden also wohl die männlichen Catasetum-Blüten als die abgeleiteten, am meisten veränderten zu betrachten haben, die Antennen als — viel- leicht in Korrelation zur Hemmung des Gynaeceums entstandene — Neubildungen, wie sie denn auch ontogenetisch erst spät auftreten. In den weiblichen Blüten ist nur insofern eine Änderung einge- treten, als bei manchen die Drehung, durch welche die Lippe nach unten gekehrt wird, unterblieb. Das ıst hier auch offenbar ohne Schädigung der Bestäubung möglich’), während bei den männ- lichen Blüten das Ausschleudern der Pollinien wahrscheinlich besser vor sich geht, wenn das Labellum nach unten gerichtet ist. Wie die Verschiedenheit des Perigons mit der Geschlechts- differenz zusammenhängt, bleibt gänzlich dunkel; es wäre von großem Interesse, wenn die von Crüger erwähnten Mittelformen näher untersucht würden. Mit der Annahme, dass bei den diözischen Catasetum-Arten die weiblichen Blüten die konservativeren, die männlichen die fortschrittlichen sind, stimmt auch die oben er- wähnte Tatsache, dass die weiblichen Blüten bei den verschiedenen Arten sich mehr gleichen als die männlichen. Nach der hier vorgetragenen Anschauung würde also eine stärkere Hemmung in der Ausbildung des Gynaeceums in den männlichen Blüten als ın der des Androeceums ın den weiblichen Blüten eingetreten sein; die abweichende Ausbildung der männlichen Blüten hin- gegen steht nicht mit einer Steigerung der „Männlichkeit“ (gegen- über den Zwitterblüten), sondern mit einer Abnahme der „Weib- lichkeit“ in Zusammenhang. Immerhin wäre der Versuch erwünscht, ın männlichen Blüten mechanisch eine Hemmung oder Schädigung der Staubblattbildung herbeizuführen, und dadurch — falls dies frühzeitig genug möglich ist — eine Annäherung der Blütengestaltung an die der weiblichen Blüten herbeizuführen. Aussichtsreicher würde freilich (wenn die oben entwickelte Anschauung richtig ist) der sein, die Entwickelung des Gynaeceums in den männlichen Blüten zu steigern und dadurch die Ausbildung der spezifisch-männlichen Charaktere der Blüten zu hemmen. Leider sind die Catasetum-Arten in der Kultur meist wenig reichliche Blüher. In den Tropen liegen natürlich die Ver- hältnisse wesentlich günstiger. 56) Die Hummeln drängen sich, durch den Geruch und das „Futtergewebe“ auf dem Labellum angezogen, in dies hinein. Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. 695 Catasetum dürfte das auffallendste Beispiel von Blütendimor- phismus darstellen. Zea Mais. Zunächst sei bemerkt, dass hier zwar männliche und weibliche Blüten örtlich scharf getrennt sind (von „abnormen“ Vorkommnissen abgesehen), dass aber die zwitterige Anlegung der Blüten noch sehr deutlich hervortritt. Fig. 11 zeigt z. B. ein weibliches Ährchen, in dessen Endblüte die Staubblätter (St), ehe sie verkümmern, weit entwickelt sind, sie weisen deutlich die Gliederung in Anthere und Filament auf. Bekanntlich ist der männliche Blüten- stand endständig an der ganzen Pflanze und rispig verzweigt. Die weiblichen Blütenstände dagegen stehen seitlich von großen Hüllblättern umgeben und sind unverzweigt. Dass sie erst angelegt wer- den, wenn der Vorrat der Pflanze von organischem Baumaterial ein beträcht- licherer ıst als zu der Zeit, in der die männlichen Blütenstände auftreten, lässt sich auch experimentell erweisen. Die Fig. 11. Zea Mais. Weib- Sachlage ist also ganz ähnlich wie bei liches Ahrchen mit Endblüte Funaria und den Farnprothallien,den Be- Dar Ge Bea Je DIE ? Br 5 = wickelter) Seitenblüte 5, gonva-Blütenständen u.a. Schlecht ernährte & Griffel, Sa Bamenanlape, Pflanzen bleiben auf dem männlichen Sta- st zwei der drei Staubblätter, dium stehen >”). pi palea inferior. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die Trennung der Blütenstände beim Mais eine später aufge- tretene ist. Sıe leitet sich ab von Blütenständen, welche an ihrer Basıs weibliche, an ihrer Spitze männliche Blüten besaßen, und diese wieder von rein zwitterigen Inflorescenzen. Bei Goix°®) lässt sich 57) Vgl. z. B. Goebel, Einleitung in die experimentelle Morphologie (1908), p- 119. Ebenso erzeugt Ambrosia artemisifolia nach Meehan (Bot. Jahresber. 1880, I) bei dichtem Stand fast ausschließlich männliche Blütenköpfe, bei vereinzelter Stellung auf gutem Boden vorwiegend weibliche. 58) Im Sommer 1908 traten bei Coxw Laerymae im Münchener Garten in den „männlichen‘ Blütenständen viele Zwitterblüten auf; angelegt werden sowohl bei Zea als bei Coix alle Blüten zwitterig. Vgl. hierüber und betreffs der Inflores- cenzen Gocbel, Beiträge zur Entwickelungsgeschichte einiger Inflorescenzen, Jahrb. f. wiss. Botanik XIV. Die männlichen und weiblichen Inflorescenzen sind bei (ocx sehr verschieden: die weiblichen sind auf ein Ährchen mit einer Blüte reduziert, während die männlichen zahlreiche Ährchen haben. Es wurde aber a. a. O. nach- gewiesen, dass gegen das Ende der Vegetationsperiode hin männliche Inflorescenzen auftreten können, welche genau so gestaltet sind wie die weiblichen, d. h. aus einem einzigen Ährchen bestehen, an welchem zwei Borsten stehen. Sie sind von beson- derem Interesse deshalb, weil sie zeigen, wie durch bloße Ernährungsänderungen aus dem reich ausgestatteten Sprosssystem der männlichen Inflorescenz ein Gebilde entstehen kann, wie wir es bei der weiblichen konstant vor uns haben. 696 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. der Vorgang, der zur Bildung von rein weiblichen Inflorescenzen führt, auch ontogenetisch noch nachweisen, der ganze männliche Endteil der Inflorescenzen verkümmert. Die Frage ist nur, wie dieser Vorgang bei Zea sich abgespielt hat? Man wird wohl geneigt sein, die männliche Inflorescenz von Zea als der ursprünglichen Form noch näher stehend zu betrachten, weil sie mit anderen Grasinfloreseenzen mehr übereinstimmt als der weibliche Blütenkolben, dessen fleischige dicke Achse die Ablage- rung von Baustoffen ermöglicht, welche später zur Samenbildung verwendet werden. Harshberger‘’) z. B. meint, der weibliche Blütenkolben sei zustande gekommen durch die emo. mehrerer getrennter Äste (mikes und sucht die Annahme nn die ahedhmae, zu stützen, dass gelegentlich verzweigte Maiskolben auftreten. Das erscheint indes sehr wenig wahrscheinlich. Es ist viel einfacher anzunehmen, dass im weiblichen Blütenkolben die Bildung der Seitenäste‘®) im Zusammenhang mit der starken Entwickelung. der Hauptachse und der sie msehendlen Hüllblätter unterdrückt ale Die Ausbildung der Blütenstandsachse ermöglichte dabei die Bildung einer viel größeren Zahl weiblicher Elisa und größerer Früchte als sie bei der Urform vorhanden war. Zea weicht von den meisten anderen Gräsern auch dadurch ab, dass die Ährehen an der Spindel nicht zwei- sondern mehr- reihig stehen; dies ist auch mit den Ästen an der Basis der männ- lichen Inflorescenz der Fall; an ganz ärmlichen weiblichen Blüten- ständen fand ich aber an der Spitze auch zweizeilige Stellung. Normal aber zeichnet sich die weibliche Inflorescenz dadurch aus, dass sie schon vor dem Auftreten der Ährchen relativ dick und drehrund ist®!). Wir leiten also Zea ab von einem Grase, das zunächst zwei- zeilig verzweigte end- und seitenständige Inflorescenzen mit Zwitter- blüten besitzt. Mit dem Dickerwerden der Inflorescenzachse trat mehrreihige Verzweigung ein. Ferner wurde die Basis der In- florescenzen weiblich, der obere Teil männlich. Sodann erfolgte eine stärkere räumliche Trennung der Inflorescenzen als bei den übrigen Maydeen. In den seitenständigen Inflorescenzen verküm- merte der männliche Endteil, in den männlichen unterblieb im Zusammenhang mit ihrer frühzeitigen Anlegung die Bildung weib- licher Blüten an der Basis. Ein analoger, hier aber nicht näher zu schildernder Vorgang, hat offenbar bei Carex stattgefunden. 59) Harshberger, On Mais (Contributions form the Pensylvanja botanical laboratory I (1897), p. 77. Ähnliche Auffassung bei Hackel (Engler-Prantl, Nat. Pflanzenfam.). } 60) Mit Ausnahme natürlich der zu Ahrchen werdenden. BunvelsGoebel, a. a. O.,'p.'7. Goebel, Über sexuellen Dimorpbismus bei Pflanzen. 697 Bei Cocos nueifera finden sich die weiblichen Blüten an der Basis der Äste des Blütenstandes. Sie zeichnen sich schon ım Knospenzustande durch eine bedeutendere Größe gegenüber den viel zahlreicheren männlichen aus. Auch das Perigon ist größer als das der letzteren, während sonst bei vielen weiblichen Blüten das Entgegengesetzte der Fall ist. Ebenso macht Drude®?) aufmerk- sam auf die „enorme weibliche Blüte von Borassus, mit der ım Vergleich dazu winzigen männlichen“. Es scheint, dass diese Ver- schiedenheit sich namentlich bei solchen Palmen findet, bei denen die Früchte (und Samen) sich durch Größe auszeichnen. Diese be- deutende Entwickelung des Gynaeceums spricht sich dann von vorn- herein in der Gestaltung der weiblichen Blüten aus, von denen anzunehmen ist, dass schon ihr Vegetationspunkt massiger ist als der der männlichen Blüten. Der ursprünglichen Zwitterblüte gegenüber dürften bei den genannten Formen so- wohl die weiblichen Blüten (durch Größen- zunahme) als die männlichen (durch Größenabnahme) verändert sein. Hier mag auch Sagittaria pugiont- formis erwähnt werden. Die weiblichen Blüten stehen hier an der Basis der In- florescenz. Sie blüben auf und sind be- fig. 12. Sagittaria pugioni- fruchtungsfähig zu einer Zeit, in welcher formis. Oben Querschnitt das die männlichen Blüten bergende durch den Stiel einer männ- Ende der Inflorescenz noch geschlossene lichen, unten durch denfoinez » - RR . weiblichen Blüte. Das Strang- Knospen zeigt. Dass hier ein ähnliches gewebe (teils aus Leitbündeln, Verhältnis wie bei’ Zea vorliegt, zeigt teils aus mechanischen Zellen die Tatsache, dass die Stiele der weib- bestehend) angedeutet. lichen Blüten (Fig. 12) beinahe doppelt so breit und dicker sind als die der männlichen; letztere haben eine größere Blumenkrone als erstere. Dikotylen. Männliche und weibliche Blüten zeigen hier ent- weder keine auffälligen sekundären Verschiedenheiten, oder es treten solche in der Blütenhülle, in dem Bau der Blütenstiele, der Anord- nung und der Zahl der beiderlei Blüten auf. Melandryum album°®). Männliche und weibliche Blüten dieser diözischen Pflanze sind auffallend unterschieden durch die Kelch- bildung. Der Kelch der weiblichen Blüten ist derber und bauchiger als der der männlichen, letzteren fand ich öfters rötlich gefärbt 62) Drude, Palmae in Engler-Prantl, Nat. Pflanzenfamilien II, 3 (1889). 63) Vgl. Strasburger, Versuche mit diözischeu Pflanzen. Biol. Centralbl. 20 (1900), p. 657 ff. 698 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. (speziell über den Nerven), ersteren grünlich, doch ist dies nicht konstant. Namentlich ist die Nervatur beider Kelche verschieden. Fig. 13 zeigt oben den Querschnitt einer weiblichen, unten den einer etwas jüngeren männlichen Blüte. Bei der weiblichen Blüte liegen zwischen den fünf Hauptnerven (welche in die fünf Spitzen der Kelchblätter gehen) je drei weitere Nerven („Kommissuralnerven“), bei der männ- lichen Blüte jeweils nur einer. Es kommt zwar bei männlichen Blüten in einzelnen Längsstreifen des Kelches gelegentlich eine An- näherung an die reichere Nervatur des Kelches der weiblichen Blüten vor, aber eine Übereinstimmungfand ichin den untersuch- ten Fällen nicht, viel- mehr konnte ich männ- liche und weibliche Kelche stets unter- scheiden ®%). Es fragt sich, wel- ches Verhalten man als das ursprüngliche Fig. 13. Melandryum album. Links Querschnitt durch ansehen soll, oder mit eine weibliche, rechts durch eine (etwas jüngere) männ- anderen Worten: hat liche Blüte. Der Kelch ist bei beiden verschieden. ım Kelch der männ- lichen Blüten eine Verminderung oder ım Kelch der weiblichen Blüten eine Ver- stärkung der Nervatur stattgefunden? Wenn man bedenkt, dass ım Kelch der männlichen Blüten noch Anzeichen einer reicheren Nervatur vorkommen, so wird man wohl die Reduktion des Kelches in den männlichen Blüten für wahrscheinlich halten dürfen ®5), also als Ausgangspunkt eine Zwitterblüte mit dem Kelch der weiblichen Blüte annehmen. Solche Zwitterblüten finden sich z. B. bei Stelene corstca. Man kann die Annahme, dass die Zwitterblüten von Mel. album eine solche Kelchgestaltung besessen haben, selbstverständlich nur als eine aus den angeführten Gründen wahrscheinliche bezeichnen, 64) An anderen Standorten ist das Verhalten des Kelches der weiblichen Blüten weniger von dem der männlichen Blüten verschieden. So fanden sich bei Am- bach weibliche Blüten mit Kelchen, deren Kommissuralnerven an drei Kelcehbuchten einfach waren, bei zweien waren zwei Nerven vorhanden. Ob es sich um durch den Standort bedingte oder um erbliche Verschiedenheiten handelt, vermag ich nicht zu sagen. 65) Dafür spricht auch, dass bei Melandryum rubrum die an fruchtenden Pflanzen zuletzt auftretenden Blüten (welche kleiner sind als die früheren) einen Kelch mit zehn Nerven haben, während er bei den früheren Blüten mehr Nerven hat, wenngleich nicht so viele wie bei Mel. album. Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. ’ 699 und wenn jemand die Kelchbildung der männlichen Blüten für die ursprünglichere halten will, so bleibt ihm das unbenommen. Am einfachsten wäre es, das Verhalten der Zwitterblüten von Melan- dryum selbst in Betracht zu ziehen. Wirkliche Zwitterblüten, d.h. solche, bei denen die Entwickelung der Antherenrudimente weib- licher Blüte nicht durch den Brandpilz Ustilago violacea veranlasst worden ist, sind aber sehr selten‘). Mir sind keine zu Gesicht gekommen. Jedenfalls aber ist eine Korrelation zwischen Kelch und Frucht- knotenausbildung hier vorhanden, die ja ernährungsphysiologisch unschwer verständlich ist. Eine Betrachtung der beiden Blütenquerschnitte könnte auch auf eine Verschiedenheit in der Deckung der Blumenkrone schließen lassen; es sei deshalb bemerkt, dass die bei der abgebildeten männ- lichen Blüte vorhandene gedrehte Knospenlage nicht immer sich findet. In der Größe der Blumenkrone konnte ich zwischen männ- lichen und weiblichen Blüten keine konstanten Verschiedenheiten wahrnehmen. A. Schulz®’) gibt an, dass die Blütenblätter der weiblichen Pflanzen kleiner seien als die der männlichen, wie dies auch sonst bei Sileneen der Fall zu sein pflegt. Vielleicht würde diese Verschiedenheit deutlicher hervortreten, wenn man nicht eine „Population“ (welche vielleicht aus einer Anzahl in der Größe der Blumenkrone verschiedenen Linien besteht), sondern die (unter gleichen Verhältnissen erwachsenen) Nachkommen einer Pflanze vergleicht. Bei Silene Otites®®) fand A. Schulz die männlichen Blüten (von der Ausbildung des Gynaeceums abgesehen) mit den Zwitterblüten übereinstimmend, die weiblichen mit kleineren Blumen- blättern und viel diekeren Stielen versehen (deren anatomische Be- schaffenheit nicht untersucht wurde). Urticaceen. 1. Pilea Spruceana. Die männlichen und die weiblichen Blüten finden sich hier in monözischer Verteilung. Meist ist ein basaler Ast des Blütenstandes männlich, der Rest weiblich. Entgegen der sonst geltenden Regel sind hier die männlichen Blüten den weiblichen gegenüber bedeutend ın der Minderzahl, was auch bei einigen anderen monözischen Urticaceen wiederkehrt, z. B. bei Urtica urens und der nachher zu schildernden Procris. Es mag dies damit zusammenhängen, dass die weiblichen Blüten nur eine 66) Neuerdings hat Shul! (Inheritance of sex in Lychnis, Botanical gazette XL [1910], p. 110) solche beschrieben, ohne indes über die Blütengestaltung Näheres mitzuteilen, er fasst die hermaphrodite Form als „a modified male“ auf. 67) A. Schulz, Beiträge zur Kenntnis der Bestäubungseinrichtungen und Ge- schlechtsverteilung bei den Pflanzen II, Bibl. Bot. 17 (1890), p. 182. — Die Ver- schiedenheit im Kelch hat Schulz nicht berücksichtigt. Gärtner hatte dagegen die männlichen Blüten „etwas kleiner und von zarterem Bau“ als die weiblichen gefunden (Gärtner, Versuche und Beobachtungen [1849], p. 44). 68) A. Schulz, Beitr. I (Bibl. Bot. Heft 10, 1888), p. 8. u. 9. 700 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. Samenanlage führen, also jeweils eine geringe Pollenmenge zur Be- stäubung erfordern. Außerdem sind die Antheren verhältnismäßig groß und durch die monözische Verteilung der Blüten ist zudem die Bestäubung gesicherter als bei diözischer. Wir werden auch sehen, dass bei diözischen Urticaceen meist ein anderes Zahlen- verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Blüten besteht. Bei Pilea Spruceana sind die männlichen Blüten von den weib- lichen unterschieden auch dadurch, dass sie viel länger gestielt sind als letztere (was natürlich die Verbreitung des Pollens er- leichtert) und ein bedeutend größeres Perigon besitzen (die Länge der Perigonblätter der männlichen Blüten betrug 2—2,4 mm, die Breite durchschnittlich 1,1 mm; bei den weiblichen Blüten be- trug die Länge des größeren Blütenhüllblattes 0,7—0,9 mm, die des kleineren 0,04 mm, ihre Breite 0,25 mm), das sich bei der Streckung der Filamente ausbreitet, während das kleine Perigon der weiblichen Blüten dem Fruchtknoten anlıegt. Teleologisch könnte man die bedeutendere Größe des Perigons der männlichen Blüten damit zu „erklären“ versuchen, dass sie durch das „Be- dürfnis“ die großen Staubblätter im Knospenstadium zu schützen bedingt sei. Wie bei anderen Urticaceen sind auch hier die Fila- mente ın der Knospenlage eingebogen. Die Perigonblätter, deren Spitzen aufrecht bleiben, haben vor jedem Staubblatt einen Aus- wuchs. Die vier Auswüchse (welche den Axillarstipeln der Laub- blätter entsprechen), bilden ein Dach über den Staubblättern. Bei den weiblichen Blüten könnte man die Kleinheit des Perigons in Beziehung bringen zu der Kleinheit des Fruchtknotens und der gedrängten Stellung der weiblichen Blüten. Jedenfalls kann man in ihnen von einer Rückbildung des Perigons sprechen. Diese macht sich auch darin geltend, dass die Perigonblätter nicht mehr in Vierzahl wie bei den männlichen Blüten, sondern (meist) in Drei- zahl auftreten. Eines davon ıst derber und hat auf seiner Vorder- seite einen Vorsprung, welcher dem der Perigonblätter der männ- lichen Blüten entspricht. Es sei auf diese Perigonverschiedenheit bei diesen windblütigen Pflanzen um so mehr hingewiesen, als man analoge Erscheinungen beı Pflanzen mit gefärbter Blütenhülle als mit der Bestäubung durch Insekten im Zusammenhang stehend hat „er- klären“ wollen. Procris. Diese Gattung gehört zu den Urticaceen mit aus- geprägt dorsiventralem Sprossbau: die Blätter stehen in vier Reihen, und zwar sind die auf der dem Lichte zugekehrten Seite stehenden viel kleiner als die anderen; außerdem sind die Blätter jeweils mit ungleich großen Hälften versehen. Der sexuelle Dimorphismus ist hier ein besonders interessanter. Einmal nämlich sind männliche und weibliche Inflorescenzen in ihrer Gestalt sehr verschieden, auch die Blüten in diesen Inflorescenzen Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. 701 sehen reht verschieden aus, sodann haben die beiderlei Inflorescenzen eine verschiedene Stellung. Wie Fig. 14 u. 15 zeigen, stehen nämlich die männlichen In- florescenzen in den Achseln der kleinen, die weiblichen dagegen in den Achseln der großen Blätter. Nun kann es keinem Zweifel unterliegen, dass die verschiedene Blatt- größe bedingt ist durch Ernährungs- differenzen. Die kleineren stehen auf der schlechter, die größeren auf der besser ernährten Sprossseite. Dem- zufolge stehen also auch die männlichen Inflorescenzen an Stellen, wo sie we- niger gut ernährt sind als die weıb- lichen ®®). Bei die- sen wird außerdem die Assımilations- tätigkeit des großen Blattes, in dessen Achsel sie stehen, den heranreifenden Früchten zugute kommen können. Außerdem unter- scheiden sich die männlichen Blüten- stände von den Fig. 14. Proeris laevigata mit männlichen Inflorescenzen weiblichen noch da- (von oben). Diese stehen in den Achseln der kleinen durch, dass sie viel Blätter und sind locker verzweigt. weniger aberziem- lich langgestielte Blüten haben, dass diese Blüten eine lockere eymöse Inflorescenz bilden, während die weiblichen Blüten einer fleischig verdickten Inflorescenzachse dicht gedrängt aufsitzen, und durch die verschiedene Ausbildung der Blütenhülle. Namentlich ist auch auf- fallend, dass die weiblichen Blütenknäuel alle nach der Schatten- 69) Andere anisophylle Pflanzen zeigen vielfach, dass nur die größeren Blätter noch Achselsprosse hervorbringen. So z. B. stehen bei Columnea purpurea die Blüten nur in der Achsel der größeren Blätter. 702 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. seite hin gewendet sind, also von den männlichen Blütenständen abgewendet. Es ist dies eine Erscheinung, welche mir biologisch bis jetzt nicht recht verständlich ist (wenn man sie nicht etwa als eine Einrichtung zur Fremdbestäubung betrachten will). Es ist ja doch anzunehmen, dass Procris wie andere Urticaceen windblütig ist; man sollte also denken, dass eine nach oben gerich- tete Lage der weib- lichen Blütenknäuel bessere Aussicht auf Bestäubung bieten würde. Nun wach- sen die Procris- Arten (wie ich mich von Java her er- innere), meist als Epiphyten; es ist also wohl möglich, dass auch von un- ten her kommende Luftströme ihnen Pollen zuführen. Auchvon oben kann dieser übrigens auf sie gelangen, da oberhalb der Blü- tenknäuel an dem asymmetrischen Deckblatte _sozu- sagen ein Stück der Blattspreite fehlt und Sprossachse Fig. 15. Procris laevigata mit weibl. Inflorescenzen (v. unten). wie Blattstiel glatt Diese stehen in den Achseln der großen Blätter, die Blüten . dr ledentallslE: sind sitzend und bedecken dicht die fleischige Inflorescenz, 1N4. a ten die weiblichen Inflorescenzen durch die zahlreichen Narbenhaare, welche sie wollig erscheinen lassen, einen vortrefflichen Auffangeapparat für die Pollenkörner dar. Selbstbestäubung dürfte durch diese verschie- dene Stellung männlicher und weiblicher Inflorescenzen immerhin erschwert werden. Trotz ihres verschiedenen Aussehens stimmen männliche und weibliche Inflorescenzen in ihrer Entwickelung überein. Die starke Anschwellung der weiblichen Inflorescenzachse erlaubt (wie bei den Kompositen) die vorläufige Ablagerung von Reservestoffen für die Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. 703 Samenbildung. Die fleischige (wenn man will eigentlich sympo- diale) Inflorescenzachse schwillt außerdem nach der Befruchtung zu einem fadsüßlich (einigermaßen wie eine Maulbeere) schmeckenden Körper an, auf welchem die zahlreichen kleinen Nüsschen sitzen, deren Perigon gleichfalls etwas angeschwollen ist. Es ist wohl nicht zweifelhaft, dass diese Blütenkuchen von Tieren gefressen und so die Früchte verbreitet werden. Man könnte diese Frucht- stände mit denen der Feigen vergleichen, nur dass bei diesen die weiblichen Blüten in einem konkav vertieften, bei Procris auf einem konvex gewölbten, fleischig gewordenen Achsengebilde sitzen. Für die auffallende Minderzahl der männlichen Blüten gelten natürlich dieselben Erwägungen wie bei Pilea. Was die Umhüllung der Blüten anbetrifft, so haben die männ- lichen ein fünfteiliges, unten glockenförmig verwachsenes Perigon. Das der weiblichen Blüten ıst viel kleiner, unscheinbarer, und be- steht aus nicht verwachsenen Blättern. Ich traf deren teils 5, teils 4, teils 3 an. Es dürfte die Reduktion des Perigons mit der dichten Stellung der weiblichen Blüten ım Zusammenhang stehen. Die märnlichen Blüten sind, was die Zahlenverhältnisse anbelangt, offenbar dem ursprünglichen Zustand der Blüten näher. Dies gilt auch von anderen Urticaceen, die aber nicht im ein- zelnen besprochen werden sollen. Erwähnt seı nur, dass bei Can- nabis die männlichen Blüten ein fünfzähliges Perigon haben, wäh- rend bei den weiblichen bei einigen Formen’’) (so bei der als ©. gigantea und (©. himalayana bezeichneten) zwar noch zwei Perigon- blätter angelegt werden, aber nur eine kümmerliche Ausbildung er- fahren. Bei (. sativa fand Zinger, dass auch von diesen beiden Blattanlagen eine ın der Entwickelung ganz zurückblieb, ja dass die Entwickelung des Perigons sogar bis auf kaum wahrnehmbare Reste gehemmt werden kann. Offenbar steht diese Hemmung hier in Beziehung zu der Umbhüllung der weiblichen Blüten durch ıhr stark entwickeltes Deckblatt, eine Erscheinung, welche — mutatis mutandis — auch sonst wahrnehmbar ist. So haben die männlichen Blüten von Casuarina eine Blütenhülle, die weiblichen nicht; bei ihnen wachsen aber die Vorblätter nach der Befruchtung noch stark heran. Ähnlich ist es bei Batis, bei welcher die weiblichen Blüten in Höhlungen des Blütenstandes eingeschlossen sınd. Bei (Cannabis und Humulus sind die männlichen Blütenstände sehr viel reichblütiger als die weiblichen, und das dürfte auch für andere diözische Urticaceen, wenngleich in geringerem Grade, gelten. Die bei Procris angeführte Verschiedenheit der männ- lichen und weiblichen Inflorescenzen, welche darin besteht, dass 70) Vgl. Zinger, Beiträge zur Kenntnis der weiblichen Blüten und Inflores- cenzen bei Cannabineen, Flora, 85 (1898), p. 207. 704 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. erstere durch Streckung der Achsen und der Blütenstiele viel lockerer sind als letztere, tritt auch bei anderen Urticaceenformen, z. B. U. pilulifera, auffallend hervor. Das sind verhältnismäßig kleine Verschiedenheiten, die sich leicht biologisch ausdeuten lassen. Aber auch in den Fällen, in welchen männliche und weibliche Blütenstände äußerlich sehr verschieden sind, hat sich doch die Übereinstimmung im Aufbau ergeben ’'). Betrefis der anatomischen Verschieden- heiten möchte ich auf die Untersuchungen von Gre- villius??2) verweisen. Erwähnt sei nur, dass ich bei Urtiea dioica ın den untersuchten Fällen die weib- lichen Inflorescenzachsen ursprünglich schwächlicher gebaut fand als die männlichen, welche zahlreichere, größere und schwerere Blüten zu tragen haben. Post- floral tritt aber in den Leitbündeln der weiblichen Blütenstandsachsen ein sekundäres Dickenwachstum ein, welches namentlich auch mechanisches Gewebe liefert. Auch die mechanischen Zellen des Grund- gewebes werden verstärkt, wie denn auch sonst eine mechanisch stärkere Ausbildung von weib- lichen Inflorescenz- resp. Blütenachsen vielfach wahrnehmbar ist. Sie wird er- möglicht durch den infolge der Befruch- tung eintretenden Zustrom von Baumate- rıalien. Dass dabei nicht etwa die durch das Schwererwerden der heranreifenden Blüten eintretende stärkere Belastung als Reiz wirkt — wie teilweise angenommen wurde — ist zweifellos ”°). Euphorbiaceen. Mercurialis peren- nis, eine diözische Pflanze, sei hier er- \N wähnt, weil, wie die Abbildungen Fig. 16 Fig. 16. Fig. 17. u. 17 zeigen, hier besonders deutlich die | rk en Tatsache hervortritt, dass die weiblichen ee Ba a Intlorescenzen viel ärmer an Blüten sind rialis perennis. Je2mal vergr. Als die männlichen; oft ıst bei ersteren sogar nur eine Blüte vorhanden, während bei den männlichen Blütenständen die Zahl wohl selten unter 12 heruntergeht. Erhebliche Unterschiede im anatomischen Bau der 71) Vel. Golenkin, Beitrag zur Entwickelungsgeschichte der Inflorescenzen der Urticaceen und Moraceen (Flora 18 (1894), p. 97. 72) Grevillius, Anatomiska studier ofver de florola axlarna hos diklina fanerogamer (Bihang till K. Svenska Vet. Akad. Handlingar, Bd. 16, Afd. III, Nr. 2, Stockholm 1890. 73) Vgl. z. B. Flaskämper, Unters. über die Abhängigkeit der Gefäß- und Sklerenchymbildung von äußeren Faktoren ete. Flora 101 (1910), p. 181. Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. 205 männlichen und weiblichen Inflorescenzachsen (wobei letztere, wie das bei Begonia u.a. der Fall ist, die besser ausgestatteten wären) konnte ich nicht feststellen, im Gegenteil, es scheinen die Leitbündel in den männlichen stärker entwickelt, was mit der größeren Zahl der Blüten zusammenhängen mag”*). Übrigens ist ja klar, dass die weiblichen Blüten schon durch ihre geringe Zahl in verhältnismäßig günstige Ernährungsbedingungen gelangen. Weibliche Pflanzen zeichnen sich oft durch besonders durkel- grüne Färbung und große Blätter aus. Ob das (unter sonst gleichen Wachstumsbedingungen) immer der Fall ıst, bleibt näher zu untersuchen. Noch sei erwähnt, dass die nach F. E. Weiss”’) als Nektarien funktionieren- den zwei Staminodien der weiblichen Blüten gelegentlich Antheren tragen, also auch hier wie in so vielen anderen Fällen die Geschlechtertrennung in den Blüten keine ganz konstante ist. Dalechampia Roezliana. Diese merkwürdige Euphorbiacee hat männ- liche und weibliche Blüten in dem- selben Blütenstande vereinigt. Die weiblichen Blüten sind sitzend, die männlichen gestielt, wobei hier wie bei anderen Euphorbiaceen (und Urti- caceen) die Gliederung des Blüten- . . . Fig. 18. Dalechampia Roezliana. stieles zu beachten ıst, welche die Links weibliche, rechts männliche spätere Abbruchstelle schon frühzeitig Blüte. Je 5fach vergr. erkennen lässt. Der Gegensatz zwischen den männlichen kurzlebigen, nach der Pollenreife abfallenden und den langlebigen weiblichen Blüten tritt also schon früh hervor. Die Blüten- hülle ist bei den männlichen Blüten bedeutend größer als bei den weiblichen. Ich fand sie aus 3—4 Blättchen bestehend, die der weiblichen aus 5—6°°). Vermutlich ist die ursprüngliche Zahl 5, eine Verminderung kann durch Verwachsung bedingt werden, die 6-Zahl in den weiblichen Blüten dürfte mit der Dreikantigkeit des Fruchtknotens in Beziehung stehen. 74) Auf die Veränderungen im Bau der weiblichen Inflorescenzachsen während der Fruchtreife soll nicht näher eingegangen werden, es sei nur erwähnt, dass die Leitbündel sich noch weiter entwickeln (vgl. Grevillius, a. a. O., p. 52). 75) F. E. Weiss, Die Blütenbiologie von Mercurialis (Ber. d. Deutsch. Bot. Gesellsch. Bd. XXIV (1906), p. 501. 76) In den „Natürl. Pflanzenfamilien“ III, V, p. 67, gibt Pax für die männ- lichen Blüten 4—-6, für die weiblichen 5—12 Kelchblätter an, XXX. 45 706 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. Bei Hevea””) sind an den rispenförmigen Blütenständen die Endblüten weiblich, die Seitenblüten (mit kürzerem, gegliedertem Blütenstiel) männlich — und Ähnliches wiederholt sich auch in den sonderbaren „Oyathien* der Gattung Kuphorbia selbst, welche hier aber nicht näher erörtert werden sollen. Umbelliferen”®). Eine vollständige Trennung der Ge- schlechter ist hier verhältnismäßig sel- ten; dagegen finden sich männliche Blü- ten neben Zwitter- blüten bei sehr vielen. Untersucht wurden Scandıx grandiflora (in Dalmatien), Myr- rhis odorata (im Mün- chener Botan. Gar- ten), Astrantia major. Die zwei erstge- nannten bilden scheinbar männliche und weibliche Blü- = ten, ın Wirklichkeit 5 Zwitterblüten und u’ männliche Blüten aus “ (Fig. 19). Doch fallen e in den Zwitterblüten Fig. 19. Scandix grandiflora. Rechts Zwitterblüte (an die (übrigens normal der nur noch 2 Staubblätter erhalten sind). @ Griffel, entwickelten) Staub- darunter das Griffelpolster. Links männliche Blüte (gegen blaiter frühzeitig ab, die weibliche um 90° gedreht), an dem Griffelpolster 7 dass dient scheinbar keine Griffel vorhanden. Je 10fach vergr so dass In uten dann weiblich er- scheinen. Bei Scandix scheinen in den Zwitterblüten nicht immer alle fünf Staubblätter zur Ausbildung zu gelangen, so dass die Blüten vielleicht dazu hinneigen, weiblich zu werden. Zwischen den beiden Blütenformen bestehen erhebliche Ver- schiedenheiten. Die Zwitterblüten haben viel größere Blütenkronen als die männlichen, ferner derbere (und auch anatomisch anders 77) Vgl. Leeomte, Sur le dimorphisme des fleurs chez les Hevea. Bull. de la societ@ botanique de France, t. 57 (1910), p. 134. 78) Vgl. W. Burek, On plants which in the natural state have the character of eversporting varieties in the sense of the mutation theory (Kon. Ak. van Wetensch. te Amsterdam May 25, 1906). Daselbst weitere Literatur. Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. 707 gebaute) Stiele als die männlichen. In den letzteren sind die beiden langen Griffel der Zwitterblüten scheinbar ganz verschwunden, was um so auffallender wäre, als die als Nektarien dienenden Griffel- polster (P Fig. 19) — welche basale Anschwellungen der Griffel darstellen —, auch ın den männlichen Blüten stark entwickelt sind”). In Wirklichkeit sind aber auch die Griffel vorhanden, nur bleiben sie sehr klein®°) und sind, da sie auf der Innenseite des Griffelpolsters stehen, äußerlich nicht sichtbar. Auch die Fruchtknoten- höhle wird angelegt, bleibt aber bald stehen. Auffallend ist jedenfalls, dass die Hem- mung der Fruchtknotenent- wickelung die Griffelpolster o Ss nicht trifft, also gerade den “ Teil des Gynaeceums, wel- cher als Nektarıum auch für ö die männlichen Blüten von Wichtigkeit ist. Was den Blütenstiel anbetrifft, so ist er bei den männlichen Blüten bedeu- tend kleiner und schmäch- tiger als bei den weiblichen und zeigt nur drei kümmer- Fig. 20. Querschnitt durch die Stiele von Zwitter- lich auseebildete Leitbün blüten (links) und männliche Blüten (rechts), oben c fo) ' ’ de] sh a desıd Sn von Scandix grandiflora (außer den Leitbündeln Sr lNIeh DER er der Weilb- sind noch 3 Harzgänge vorhanden), unten von lichen Blüten sechs aufweist Myrrhis odorata. @ Leitbündel, H Harzgänge. (Fig.20, oben). Andere Ver- schiedenheiten seien hier nicht erwähnt, da sie für unsere Frage- stellung nicht von größerer Bedeutung sind. Dagegen ist der Stellungsverhältnisse zu gedenken. Die Zwitter- blüten finden sich an den zuerst auftretenden, am kräftigsten aus- gebildeten Dolden*®!), namentlich auch als deren Randblüten. Indes kann die Verschiedenheit zwischen Zwitterblüten und männlichen nicht etwa auf die zurückgeführt werden, welche zwischen den (mit größerer einseitig geförderter Blumenkrone versehenen) Randblüten und den inneren Blüten bei manchen Doldenpflanzen besteht. Denn 79) Sie sind etwas kleiner und flacher als die in den Zwitterblüten, hier haben die Griffelpolster einen etwas wulstig verdickten Rand, was an die unten zu er- wähnende Eigentümlichkeit bei Ferula erinnert. 80) Wenn A. Schulz (Beitr. I, p. 61) von Scandix Pecten veneris angibt, die männlichen Blüten hätten „keine Spur von Griffel und Fruchtknoten“, so hat er erstere sicher nur übersehen. 81) Diese haben nicht nur einen kräftigeren Stiel, sondern auch größere Hüll- blätter als die männlichen Dolden. 45* 08 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. die Verschiedenheit ist bei Myrrhis vorhanden, auch wenn eine Zwitterblüte und eine männliche auf gleicher Höhe nebeneinander stehen und in den oberen, rein männlichen Dolden sind die Rand- blüten nicht größer als die männlichen Blüten, welche in der Mitte einer Dolde mit zwitterigen Randblüten stehen. Von anderen Umbelliferen mit getrenntgeschlechtigen Blüten sei zunächst auf die Ferula-Arten hingewiesen, die selbst zu unter- suchen ich nicht ın der Lage war. Nach den Angaben von Berg und Schmidt°?) sind die weiblichen Dolden, z. B. von Ferula rubricaulis, endständig, umgeben von den männlichen. Die männ- lichen Blüten haben ein bedeutend kleineres Perigon als die weib- lichen, (1,5: 2,0—2,5 mm) Länge. Es ist klar, dass die „weiblichen* Blüten den Zwitterblüten von Myrrhis und Scandix entsprechen. Sonderbar ist die Verschiedenheit in der Gestaltung des Griffel- polsters: es ist bei den weiblichen Blüten schüsselförmig vertieft und am Rande gezähnelt, bei den männlichen flach kegelförmig, am Rande gewellt. Vermutlich ist letztere Form eine Hemmungs- bildung verglichen mit der ersteren. Astrantia major. Es finden sich bei dieser Pflanze Zwitter- blüten und männliche, vielfach auch Übergangsformen zwischen beiden, d. h. Blüten, bei welchen der unterständige Fruchtknoten, welcher den männlichen fehlt, in geringerer Ausbildung als bei den Zwitterblüten vorhanden ist. Von Interesse ist die Verteilung der beiderlei Blütenformen. Dolden, welche nur Zwitterblüten enthielten, traf ıch nicht an, stets waren wenigstens einige männliche vorhanden. Aber ihre Zahl ist eine wechselnde und offenbar von Ernährungsverhältnissen ab- hängige°®). Die besternährten haben am wenigsten, die schlechtest ernährten Dolden am meisten männliche Blüten. Ein Beispiel diene zur Erläuterung. Die Enddolde der ganzen Pflanze hat der Hauptsache nach Zwitterblüten. Am Rande und im Zentrum der Dolde aber auch männliche. Diese haben längere und etwas dünnere Stiele als die Zwitterblüten, es wird gewissermaßen das bei letzteren auf den (unterständigen) Fruchtknoten fallende Stück zum Stiel geschlagen. Dass die Seitendolden erster Ordnung weniger gut ernährt sind als die Hauptdolde, spricht sich schon in ihrem dünneren und schwächer gebauten Stiele aus, auch darin, dass sie eine kleinere Hülle haben als die Enddolden. Die Zahl der Zwitterblüten ist 82) Atlas der offizinellen Pflanzen. 2. Aufl. Bearbeitet von A. Meyer und K. Schumann. 83) H. Müller (Alpenblumen und ihre Befruchtung ete,, p. 542) sagt von A. minor: „Je schwächlicher die Pflänzchen sind, um so geringer ist die Zahl der zweigeschlechtigen Blüten, die schwächlichsten Exenplare produzieren ausschließlich männliche.“ Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. 709 hier eine bedeutend geringere, die der männlichen Blüten eine größere als in der Enddolde; bei einer an der Basıs der Pflanze stehenden Seitendolde 1. Ordnung war nur eine Zwitterblüte (nebst verschiedenen Zwischenformen) außer den männlichen vor- handen. Die Seitendolden 2. Ordnung endlich pflegen rein männ- lich zu sein. Bei kräftigen Pflanzen aber können auch sie noch Zwitterblüten führen. Kelch und Blumenkrone der männlichen Blüten sind nicht größer, sondern eher kleiner als bei den Zwitterblüten. Erstere sind zweifellos aus letzteren durch Reduktion entstanden. Dass diese mit den Ernährungsverhältnissen im Zusammenhang steht, zeigt die soeben erwähnte Verteilung. Für die Annahme, dass auch innerhalb der Dolden einerseits dıe Peripherie, andererseits das Zentrum die Stellen sind, welche für die Ausbildung der Blüten weniger günstige Ernährungsverhältnisse darbieten als ein mittlerer Gürtel der Dolde, spricht die Beobachtung, dass ın einer männlichen Dolde die peripherischen Blüten ganz verkümmerten (sie waren nur als kleine Stiele mit einer verkümmerten Knospe wahrnehmbar). Eine solche Verkümmerung geht am leichtesten bei den weniger widerstandsfähigen Teilen vor sich. Die genannten Umbelliferen stimmen also alle darin überein, dass die männlichen Blüten den Zwitterblüten gegenüber als unter- ernährt erscheinen. Dies trıtt sehr deutlich auch an den pracht- vollen Blütenständen von Heracleum Mantegaxzianum hervor (die Pflanze erreichte ın diesem Sommer in meinem Garten eine Höhe von über 3 m). Die letzten Dolden sind auch hier männlich; die wenigen daran befindlichen Zwitterblüten setzten keinen Samen an, obwohl sie gut entwickelte Griffel hatten, was dadurch bedingt sein dürfte, dass alle Assımilate zur Reifung der Früchte in den ersten Dolden verwendet werden. Ähnlich, nur weniger auffallend, ıst die Blütenausbildung auch bei unseren einheimischen Heracleum Sphondylium°*), bei Angelica silvestris u.a. Wie die letzten Mikro- sporangien von Axolla werden diese am Ende der Blütezeit auf- tretenden männlichen Blüten vielfach ganz nutzlos sein. — Burck (a.a. ©. p. S09) fand (entsprechend der Beobachtung von H. Müller), dass bei Anthriscus silwestris und Chaerophyllum temulum auf gutem Boden die Zahl der Zwitterblüten bedeutend größer war als auf schlechtem. Es liegen die Verhältnisse also ganz ähnlich wie bei den Pflanzen mit kleistogamen Blüten°°). Letztere entsprechen ın den Bedingungen 84) Diese Pflanze scheint sich in verschiedenen Gegenden verschieden zu ver- halten. Schulz (Beitr. II, p. 90) führt sie unter denen an, die neben hermaphro- ditischen Blüten keine eingeschlechtigen haben. 85) Vgl. Goebel, Die kleistogamen Blüten und die Anpassungstheorien, Biol. Centralbl. Bd. XXIV. — Betreffs anderer Fälle s. Düsing, Die Regulierung des Geschlechtsverhältnisses. Jen. Zeitschr. f. Naturwissensch. 17 (1884), p. SO3 ff. 710 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. ihres Auftretens den männlichen Blüten der Umbelliferen, und ganz analog verhalten sich die weiblichen Blüten der von Oorrens untersuchten gynodiözischen Pflanzen. Wenn A. Schulz*°) sagt, dass kräftige Ernährung bei manchen Umbelliferen das Entstehen männlicher Blüten begünstige, so ist dazu zu bemerken, dass eine kräftige Ernährung der Vegetationsorgane nicht zusammenzufallen braucht mit der der einzelnen Blüten, wofür z. B. die Viola-Arten°®”) mit kleistogamen Blüten einen Parallelfall darbieten. Wenn also auch z. B. ein größeres und vieldoldigeres Exemplar von Peuce- danum Cervaria weniger Zwitterblüten hervorbringen kann als ein kleineres, so beweist das nichts gegen die oben dargelegte auch von Burck vertretene Auffassung. Begonia. Herkunft und Verwandtschaft der in vielen Be- ziehungen merkwürdigen Familie der Begoniaceen sind dunkel. Es ist deshalb auch nicht möglich, mit einiger Sicherheit die Gestaltungs- verhältnisse der Blüten von anderwärts bekannten abzuleiten. Immer- hin nähert sich noch am meisten dem gewöhnlichen Dikotylentypus, . bei welchem eine doppelte Blütenhülle vorhanden ist, die Gattung Hillebrandia®®), welche auf den Sandwichsinseln vorkommt. Wie bei allen Begoniaceen sind auch hier die Blüten getrenntgeschlechtig. Aber männliche und weibliche Blüten stimmen in der Aus- bildung ihrer Blütenhülle der Hauptsache nach überein, während sie sonst meist auffallende Verschiedenheiten aufweisen. Bei beiden sind nämlich fünf weiße oder blassrote Kelchblätter und fünf sehr schmale Blumenblätter vorhanden, welche in den männ- lichen Blüten teilweise durch Staubblätter ersetzt sein können. Die weiblichen Blüten können (der Gattung Begonia gegenüber) als primitive angesehen werden auch deshalb, weil der Fruchtknoten, wie es scheint, nur halb unterständig ist, während er bei Begonia selbst unterständig ist. Sehen wir uns bei Begonia zunächst die Stellung der männ- lichen und weiblichen Blüten in den Blütenständen an, so kann hier auf Einzelheiten von nur morphologischem Interesse natürlich nicht eingegangen werden®). Von Interesse sind für die hier er- örterten Fragen nur drei Tatsachen. 1. Die Blütenstände (welche zu den „cymösen“ gehören) be- ginnen mit männlichen Blüten, welche die relativen Hauptachsen abschließen. 86) A. Schulz, Beitr. II, p. 47. 87) Vgl. Goebel, Chasmogame und kleistogame Blüten bei Viola, Flora 95 (1905), p. 234 und „Einleitung in die experimentelle Morphologie (1908), p. 134. 88) Abbildung in Gardener’s Chronicle. Dez. 12. 1908. 89) Vgl. diesbezüglich z. B. Fr. Benecke, Beitrag zur Kenntnis der Begonia- ceen. (Engler, Botan. Jahrbücher III [1882|.) Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. a4 2. Unter den weiblichen Blüten ‘geht gewöhnlich die Verzwei- gung des Blütenstandes nicht weiter (vgl. das Schema Fig. 21). Dieser Satz ist zwar kein ausnahmsloser°®), stellt aber wohl bei weitem das häufigste Vor- kommen dar; d. h. also, wenn einmal eine weibliche Blüte gebildet ıst, so findet von ıhr aus keine weitere, ja stets mit Verbrauch von Ar | (D) Baumaterialien verbundene Bildung seitlicher Organe | statt, es können den heran- reifenden Früchten also SU mehr Baumaterialien zu- fließen als wenn die Ver- zweigung weiter gehen Fig.21. Begonia hirsuta. Schema des Blüten- würde. standes im Querschnitt. Die Hauptachse (H), = Ms Sala Kl el welcher die Inflorescenz steht, ist dorsiventral, g ; * } sie hat eine Plus (+) und eine Minusseite. Nach lichen Blüten, welche ja ersterer hin stehen die größeren Blatthälften selbstverständlich nach dem der unsymetrischen Blätter und die größeren Verblühen (falls Befruch- Nebenblätter. Die Inflorescenz steht nach der tung eingetreten ist) an Minusseite hin. ‚Sie bringt nach drei männ- loreseöcheessitzen lichen Blüten eine weibliche (punktiert) IV hervor. bleiben, während die männ- lichen Blüten abgeworfen werden°!), haben einen anderen Bau als die der männlichen Blüten — wenigstens bei den Arten, welche ich aufs Geratewohl herausgriff und untersuchte®?). Für DBegonia Engleri z. B. zeigt Fig.22a den Quer- schnitt eines männlichen, o a b den eines weiblichen Blütenstiels bei derselben Vergrößerung. Es tritt ohne 7 d weiteres ‚die, größere Lei- Fig. 22. Begonia Engleri. Querschnitte des stungsfähigkeit des letzteren Blütenstiels, a von einer männlichen, b von hervor. Er enthält einen einer weiblichen Blüte. deutlichen, wenn auch ab- geplatteten Zentralzylinder mit neun Leitbündeln; er ist ferner be- deutend massiger als der männliche Blütenstiel, der nur vier Leit- bündel hat, keinen deutlich abgegrenzten Zentralzylinder besitzt und 90) Wenn in den Achseln der Vorblätter weiblicher Blüten weitere Blüten auftreten, sind sie weiblich. Wir können also selbst dann sagen, dass die Inflores- cenzen resp. Inflorescenzäste erst männlich, dann weiblich sind. 91) Es ist eine besondere Ablösungszone vorhanden, 92) Vgl. auch Grevillius a. a. O. p. 59ff. 112 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. kein Anthocyan, welches dem weiblichen Blütenstiel eine rote Fär- bung verleiht. Dass diese Differenz „zweckmäßig“ ist, ist klar, hat doch der weibliche Blütenstiel der heranreifenden Frucht die nötigen Baumaterialen zuzuführen, während die männliche Blüte nur den Blütenstaub hervorbringt und dann abgeworfen wird. Offenbar sind auch hier, wie bei den oben erwähnten Fällen, für die Ausbildung der weiblichen Blüten größere Mengen von Baumaterialien not- wendig als für die männlichen, was sich dann auch im Bau der Blütenstiele ausspricht°). Es erscheint wahrscheinlich, dass die weiblichen Blütenstiele in ihrem Bau dem der ursprünglichen Zwitterblüten näher stehen als die männlichen, die sich dann analog wie bei den oben besprochenen Umbelh- feren als eine „Minusvariante“ betrachten ließen. Bei einigen Begonia-Arten, die unten zu erwähnen sein werden (B. rhixocarpa [Fig. 23] und 2. attenuata) ıst eine Tren- nung der männlichen und weiblichen Blüten eingetreten. Die männlichen m Blütenstände sind mehrblütig und lang- Fig. 23. Begonia rhizocarpa gestielt, die weiblichen einblütig, fast (verkleinert), (der kriechende sitzend®®). Hier tritt das oben erwähnte Stamm nicht sichtbar). RT : © weibliche, d' männliche In- Prinzip besonders deutlich hervor, dass florescenz. mit der Bildung der weiblichen Blüte das weitere Wachstum der Inflorescenz- äste abgeschlossen ist”). Ebenso ist klar, dass die Zahl der männ- lichen Blüten die der weiblichen erheblich übertrifft. Die männlichen Blütenstände sind nicht nur viel zahlreicher, sondern auch reichblütiger; ich zählte in ihnen bis zu I2 Blüten, oft sind diese aber weniger zahlreich. Beide Blütenstände stehen an den kriechenden Rhizomen, offenbar in derselben Stellung. Die männlichen stehen, wie die Achselsprosse vieler dorsiventraler Sprosse unterhalb der Mediane ihres Deckblattes; ob dies bei den weiblichen auch zutrifft, konnte nicht festgestellt werden, da ich die seltene Pflanze der Untersuchung nicht opfern wollte. Der Fruchtknoten der weiblichen Blüte ist im Verhältnis zu ihrer sonstigen Gestaltung 93) Bei einer gelbblühenden Knollenbegonia waren die Stiele der großen männ- lichen Blüten dicker als die der weiblichen, auch ihr Leitbündelsystem stand hinter dem der letzteren nicht zurück. Doch dürfte dies ein Ausnahmefall sein. 94) Auf der Abbildung, welche eine im Moose steckende Pflanze darstellt, ist der kurze Stiel der weiblichen Blüte nicht sichtbar. 3) Ob die einzige weibliche Blüte hier den Abschluss eines Achselsprosses 1. Ordnung bildet, konnte wegen Mangel an Material nicht untersucht werden, indes ist dies wahrscheinlich. Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. 713 groß. Er hat oben einen Griffel entwickelt, der die Narben empor- hebt und so trotz der „sitzenden“ Stellung der weiblichen Blüte die Bestäubung erleichtert. Diese dürfte durch Insekten vor sich gehen, die Blüten besitzen, von ihrem Schauapparat abgesehen, auch einen deutlich wahrnehmbaren Geruch. Auch bei anderen Begonien dürfte die Zahl der weiblichen Blüten hinter der der männlichen zurückbleiben, wenngleich nicht in so hohem Grade wie bei B. rhixocarpa. So zeigt z. B. Fig. 21 eine Inflorescenz von B. hirsuta, in welcher auf drei männliche Blüten eine weibliche kommt. Männliche und weibliche Blüten von Beyonia unterscheiden sich namentlich auch durch ihre Blütenhülle. Der — wenigstens bei den von mir untersuchten lebenden Pflanzen — gewöhnlichste Fall ist der, dass die männlichen Blüten eine weiß oder rot (seltener gelb) gefärbte einfache, aus vıer Blättern bestehende Blütenhülle haben, die weibliche eine aus fünf Blättern bestehende. Vielfach, z. B. bei den Knollenbegonien, tritt dabei hervor, dass die männlichen Blüten durch ıhre größere Blüten- hülle viel mehr in die Augen fallen als die weiblichen, eine Er- scheinung, welche ja auch sonst wiederkehrt. Indes ist sie auch bei Begonia keine ganz allgemeine. Bei B. heracleifolia z. B. sind die Hüllblätter der männlichen Blüten zwar länger, aber schmäler als die der weiblichen. Welche Gestaltung der Blüten ıst nun die ursprünglichere, die der männlichen oder die der weiblichen? Meiner Ansicht nach die der letzteren. Sie zeigen die größte Annäherung an die von uns als verhältnismäßig primitiv betrachtete Flllebrandia. Es sınd bei Begonia offenbar die inneren Blätter der Blütenhülle nicht zur Aus- bildung gekommen, sondern nur die äußeren, dem Kelch anderer Pflanzen entsprechenden. Das braucht nicht auf eine Verkümmerung zurückgeführt zu werden, da die Begoniaceen ja auch „typisch“ apetal sein könnten. Hillebrandia hätte dann eine Anzahl der Staubblätter zu Blumen- blättern entwickelt, wie das etwa bei manchen Ranunculaceen vorkommt. Es ist auch nicht notwendig anzunehmen, dass die 5-Zahl der Blütenhülle die ursprüngliche sei. Wie der korollinische Kelch bei den Ranunculaceen bald in 5-, bald in einer höheren Zahl ausgebildet ist (letzteres z. B. bei Trollius), so kann dies auch bei Begonia eingetreten sein. Wir können also ausgehen von einer azyklischen Blüte mit einfachem Perianth, wozu bei Hillebrandia noch eine Umbildung einer Anzahl äußerer Staubblätter zu Blumen- blättern gekommen ist. Indes berührt das die hier behandelte Frage nicht näher. Für uns ist jedenfalls die Annahme berechtigt, dass männliche und weibliche Blüten ursprünglich gleich gestaltet waren. Die oben aufgestellte Meinung, dass die weiblichen Blüten bei De- 714 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. gonia weniger weit fortgeschritten sind als die männlichen beruht ferner auf folgenden Gründen: 1. Es gibt Übergänge in der Ausbildung der Blütenhülle zwischen männlichen und weiblichen Blüten. 2. Bei manchen Degonia-Arten sind die männlichen Blüten noch weiter verändert worden, indem die Zahl der Blütenhüllblätter bis auf zwei sinkt. Dies ist offenbar nur eine weitere Steigerung in der Verringerung der Perigonblattzahl; es gibt Begonia-Arten, bei denen auch die weiblichen Blüten dieselbe Veränderung erfahren haben. Es ist also eine „Tendenz“ zur Verringerung der Perigon- blätter vorhanden, welche von den männlichen Blüten früher durch- geführt wird als von den weiblichen. Zur Begründung sei Fol- gendes angeführt. Bei den Begonia- Arten, welche vier- zählige männliche und fünfzählige weibliche Blüten haben, kommen ge- Fig. 24. Querschnitte von weiblichen Blüten, links einer legentlich 5 vezll Knollenbegonie (Gartenhybride), rechts von Beg. parvifolia 150 weibliche und (foliosa) (um 90° gegenüber der anderen Biüte gedreht). fünfzählige männ- liche vor, und zwar das erstere offenbar infolge von „Verwachsung“ zweier Blätter. So bei Knollenbegonien, deren bei uns kultivierte Formen bekanntlich hybri- den Ursprungs sind. Die männlichen Blüten sind normal vierzählig ım Perianth, die weiblichen fünfzählig. Vierzählige weibliche sind aber nicht selten. Eines der vier Blumenblätter ist dann oft tief ausge- schnitten, oder zeichnet sich den drei anderen gegenüber durch seine Größe aus, welche auch darauf hindeutet, dass dies Blatt eigentlich an Stelle von zwei anderen steht). In Fig. 24 sind die fünf Perigonblätter mit Zahlen bezeichnet. In Blüten mit vier Perigonblättern sind offenbar die Blätter 3 und 5 durch eines ersetzt. Dabei können noch zwei Blattanlagen auf- treten, die aber auf einem gemeinsamen Stück emporgehoben werden, 96) Zu ganz Ähnlichen Anschauungen war schon viel früher F. Benecke ge- langt, auf dessen Abhandlung ich erst aufmerksam wurde, als das Obenstehende längst niedergeschrieben war. Er sagt, die Annahme, dass die vierzähligen Blüten sich von fünfzähligen ableiten, scheine berechtigt „und zwar in der Weise, dass die Divergenz der zwei ersten Perigonblätter geringer wird, das dritte Blatt erscheint in der größeren Lücke wie bei der weiblichen fünfzähligen Blüte, aber es füllt zu- gleich die Lücke des fünften Blattes vollkommen aus, es entsteht ihm gegenüber das vierte Blatt und das fünfte muss natürlich fortfallen‘. Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. 715 dann wird ein mehr oder minder tief zweispaltiges Perigonblatt sich finden, oder von Anfang an ein einziges. Damit ist dann die Perianthbildung der männlichen Blüten erreicht, welche aus der fünfzähligen zu einer vierzähligen geworden ist. Dies wird um so wahrscheinlicher, als, wie schon erwähnt, männliche Blüten mit ausnahmsweise fünfzähliger Blütenhülle vorkommen, wobei das sonst fehlende: Blatt kleiner ıst als die übrigen. Dies wurde außer bei Knollenbegonien auch bei einem anderen bekannten Begonia-Bastard, „Gloire de Lorraine“ beobachtet. Es ist dieser Fall nicht zu verwechseln mit dem Auftreten von „Fül- lung“, bei welchem einige oder alle Staubblattanlagen sich zu „Blumen- blättern“ entwickeln; es ist dies an der Stellung dieser überzähligen Fig. 25. Links oben Querschnitt einer weiblichen Blüte von Begonia rubella mit drei Blütenhüllblättern, rechts darunter (stärker vergr.) Durchschnitt einer weiblichen Blüte mit zwei Blütenhüllblättern. Rechts Querschnitt durch zwei männliche Blüten von Begonia manicata. d deren Deckblätter, » Vorblätter, p die zwei Blätter der Blütenhülle. Gebilde leicht zu erkennen. Die Verhältnisse werden aber dadurch . verwickelt, dass außer „Verwachsungen“, wie es scheint, auch „Spal- tungen“ (oder Ersatz eines Perigonblattes durch zwei) auftreten können. Bei Begonia Engleri, einer aus Ostafrika eingeführten, also sicher nicht zu den Gartenhybriden gehörigen Form kommen teils sechszählige, teils fünfzählige weibliche Blüten vor. Die Blütenhüll- blätter sind annähernd in zwei dreizähligen Kreisen angeordnet, so dass die inneren Blütenhüllblätter mit den drei Fruchtblättern alternieren. Dieselben Zahlenverhältnisse fand ich auch bei einer der Hy- briden von Begonia Rex des hiesigen Gartens, während sonst die weiblichen Blüten von B. Rex ein fünfzähliges Perianth haben. 716 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen In Fig. 26 rechts ist eine fünfzählige Blüte von Beyonia Engleri abgebildet, welche ein zweispaltiges Blütenhüllblatt besitzt. Die beiden „verwachsenen“ Blätter sind die mit 5 und 6 bezeichneten, sie sind in Fig. A vollständig getrennt. Wir erhalten so drei Blätter, welche den drei Fruchtblättern (deren Mediane durch die scharf vorspringenden Fruchtknotenkanten kenntlich ist) opponiert sind, und zwei, welche alternieren. Häufiger und bei manchen Begonien normal auftretend ist die Dreizahl. Diese findet sich z. B. bei den schon erwähnten merk- würdigen Arten, welche eine Trennung der männlichen und der weiblichen Blüten auf verschiedene Inflorescenzen zeigen, Begonia rhixocarpa und B. attenuata. A. Decandolle gibt ın der „Flora brasiliensis“ an „lobi tres florıs feminei aequales, quoad situm et evolutionem investigandi“. Die drei Blütenhüllblätter sind den drei Fruchtblättern annähernd opponiert. Es sind also die ın dem Blütenquerschnitt (Fig. 24) mit 1, 2,3 (+ 5) bezeichneten. Blatt 4 ist also verkümmert. Indes finden sich auch zweı Blüten mit vier Hüllblättern, der Stellung nach schien hier wirklich Blatt 4 noch ausgebildet zu sein. Die Fig. 26. Zwei weibliche Blüten männlichen Blüten haben nur zwei von Begonia Engleri. Blütenhüllblätter, es sind also die zwei inneren verkümmert (vgl. auch Fig. 25). Wenn in der systematischen Literatur die Staubblätter der männlichen Blüten dieser Arten allgemein als „verwachsen“ be- zeichnet werden, so ist dies keine zutreffende Bezeichnung. Der Vorgang ist vielmehr der, dass dıe Blütenachse zwischen den Staub- blättern und dem Perigon sich stielartig streckt und so die Staub- blattgruppe emporhebt. Von Begonien, deren weibliche Blüten nur zwei muschelschalen- förmig aufeinanderliegende Blütenhüllblätter haben, wurden unter- sucht Begonia rubella und B. imperialis. Die erstere Art war mir deshalb von Interesse, weil bei ihr auch noch dreizählige Blüten vorkommen. In diesem Falle sind (Fig. 25) die drei Blütenhüllblätier ebenso orientiert wie bei BD. rhixo- carpa, d.h. also den Fruchtblättern opponiert. Bei der Blüte, deren Querschnitt in Fig. 25 abgebildet ist, hingen aber die mit 2 und 3 bezeichneten Blätter unten zusammen. Wenn sie ganz zusammenfließen, resp. wenn Blatt 3 ganz aus- fällt, erhalten wir die zweizählige Blüte wie sie in Fig. 25 rechts 97) Sie zeichnen sich bei vielen Begonien ohnedies dadurch aus, dass sie be- deutend kleiner sind als die zwei äußeren, es ist also nur eine Steigerung dieses Verhaltens, wenn sie schließlich ganz ausfallen. Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. 71% abgebildet ist. Das ist das Ende der Entwickelung, welche, wie im Vorstehenden darzulegen versucht wurde, sich auch jetzt noch mit einiger Wahrscheinlichkeit rekonstruieren lässt. Für die hier verfolgte Hauptfrage lässt sich das Resultat dahin zusammenfassen: Männliche und weibliche Blüten waren ursprüng- lich auch bei Begonia gleichgestaltet und mit fünf (oder mehr) Perigonblättern ausgestattet (welche entweder einem Kelch ent- sprechen oder von Anfang an als einfaches Perigon zu betrachten sind). Es trat eine Reduktion ein, welche zu einer Verminderung der Zahl der Perigonblätter führte. Diese Veränderung wurde bei den meisten Begonia-Arten durch die männlichen Blüten früher er- reicht als durch die weiblichen, welche demgemäß die weniger stark umgebildeten darstellen. Es lassen sich auch, wie mir scheint, einigermaßen Gründe für das verschiedene Verhalten der männ- lichen und weiblichen Blüten angeben. Bei den weiblichen sınd, wie wir sahen, die inneren drei Peri- gonblätter den drei Fruchtblättern opponiert. Das Vorhandensein der letzteren wirkt offenbar auf das Bestehenbleiben der drei ersteren ein, davon müssen auch die zwei ersten Perigonblätter beeinflusst werden, trotzdem sie zeitlich den anderen vorangehen. Bei den männlichen Blüten fällt mit den Fruchtblättern auch deren Beein- flussung des Perigons weg. Die ersten Perigonblätter, die eine relative Vergrößerung er- fahren, werden vielmehr durch die Vorblätter beeinflusst, mit denen sie dann alternieren, während sie ursprünglich nach dem einen Vor- blatt hin konvergierten. Damit ist dann die räumliche Bedingung für den Ersatz zweier Perigonblätter durch eines gegeben. Dass von solchen Blüten mit vierzähligem Perigon die mit zweizähligem versehenen sich ableiten, ist ohne weiteres klar, es können entweder die inneren oder die äußeren Perigonblätter verkümmern, indes scheint nur ersteres eingetreten zu sein. Es stimmt dies damit überein, dass, wie zu zeigen versucht wurde, im allgemeinen die zuletzt angelegten Perigonblätter zuerst verkümmern, so dass schließ- lich nur noch 1 und 2 übrig bleiben. Valerianeen. In der Gattung Valeriana kommen neben Arten mit Zwitterblüten (z. B. V. officinalis) auch solche mit getrennt- geschlechtigen Blüten vor, allerdings mit „labiler“ Trennung. Hier soll auf die Einzelheiten der Geschlechtsverteilung nicht eingegangen, sondern nur erwähnt werden, dass die männlichen Blüten bei allen derartigen Arten (wie bei vielen anderen Sympetalen) bedeutend größere Blumenkronen haben als die weiblichen (Fig. 27) und dass die männlichen einen gut entwickelten Griffel, die weiblichen deut- lich sichtbare Staubblätter haben, die aber in der Entwickelung zurückbleibeu. 718 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. Welche der beiden Blütenformen ist die der Zwitterblüte näher stehende? Es kann meiner Ansicht nach nicht zweifelhaft sein, dass die Blumenkrone der weiblichen Blüten gegenüber der der Zwitterblüten eine Verringerung erfahren hat. Möglich ist es, dass die der männlichen Blüten der Zwitterblüte gegenüber etwas ver- größert ist, doch stehen die männlichen Blüten meiner Ansıcht nach den Zwitterblüten näher als die weiblichen. Die Gründe für diese Ansicht sind: 1. Gelegentlich fand ich in männlichen Blütenständen von V. montana Fruchtansatz, es waren hier also Zwitterblüten vor- handen, die in ihrer Gestalt von den sonst männlichen nicht ab- wichen. 2. Bei V. dioica fand H. Müller männliche Blüten ohne Stempel, welche mit sehr großen Kronen und solche mit Stempelrest und etwas kleineren Kronen (in seltenen Fällen auch Zwitterblüten) und weibliche Blüten mit „kleinerem Pistill und größeren Kronen“ und Fig. 27. Links männliche, rechts weib- solche mut größerem Pistill und liche Blüte von Valeriana montana. Sehr kleinen Kronen. Diese Beobach- G Griffel, st Staminodien. tungen beziehen sich nur auf die fertigen Blüten, sie sollten durch die Untersuchung der Frage, wie die verschiedenen Blütenformen sich im Knospenstadium verhalten, ergänzt werden. Aber auch aus ihnen scheint mir die Rückbildung der Krone in den weib- lichen Blüten hervorzugehen. Auf die Ansicht Müller’s über die biologische Bedeutung der größeren Auffälliskeit der männ- lichen Blüten wird unten kurz einzugehen sein. Hier seı nur er- wähnt, dass, wie schon Mohl hervorgehoben hat, bei vielen gyno- diözischen Pflanzen die weiblichen Blüten kleinere Blumenkronen haben als die männlichen, dass also offenbar zwischen der Aus- bildung der Blumenkrone und der Staubblätter eine Korrelation besteht, wenn sie auch nicht überall hervortritt. Ein schönes Beispiel für diese Beziehung hat Correns°°) bei Geranium pratense gefunden. Hier sind die Zwitterblüten durch- schnittlich 40 mm breit, die rein weiblichen etwa 30 mm. Bei den Übergangsformen, bei welchen einzelne Staubblätter rückgebildet waren, waren auch die unter ihnen stehenden Blumenblätter kleiner als die unter den normalen Staubblättern stehenden. (Schluss folgt.) 98) H. Müller, Befruchtung der Blumen durch Insekten, p. 115, 116. 99) Correns, Jahrb. f. wissensch. Botanik, Bd. XLIV (1907), p. 161. Hollrung, Jahresbericht über das Gebiet der Pflanzenkrankheiten. 719 Jahresbericht über das Gebiet der Pflanzenkrankheiten., Frstattet von Prof. Dr. M.Hollrung. 11. Band: Das Jahr 1908. Berlin, P. Parey, 8°, VII, 362 pp., la Mk. . Das Studium der Pflanzenkrankheiten zieht von Jahr zu Jahr weitere Kreise und die Literatur darüber schwillt mächtig an. Das Literaturverzeichnis dieses Bandes zählt 1373 Arbeiten auf, von denen 429 ausführlicher referiert werden; über die anderen unter- richten, soweit sie wichtiger sind, kurze Inhaltsangaben. — Dieses erhöhte Interesse an dem Studium der Pflanzenkrankheiten hat seinen Ursprung in erster Linie darin, dass man immer mehr dessen ungeheure praktische und wirtschaftliche Bedeutung erkennt. Am weitesten hierin sind die Vereinigten Staaten von Nordamerika fortgeschritten. Dort war es auch möglich, eine Statistik derjenigen Schäden wenigstens aufzustellen, die auf Insekten zurückzuführen sind. Einen solchen Versuch machte Washburn. Danach beträgt das jährliche Gesamterträgnis der Vereinigten Staaten aus Acker- bau und Forstbetrieb 7394 Mill. Doll. Der von Insekten verursachte Ausfall wird auf S00 Mill. Doll. geschätzt. Am größten ist er beim Weizenbau, wo auf 450 Mill. Doll. Erträgnis 100 Mill. Doll. Verlust angegeben werden. Auffällig gering ist er für die Forsten (20 Mill. Doll. gegen 200 Mill. Ertrag). Der tatsächlich in Forsten verur- sachte Schaden dürfte erheblich größer sein; doch ist die Forstwirt- schaft in den Vereinigten Staaten noch so wenig ausgebildet, dass nur ein Bruchteil der Forsten nutzbar gemacht ıst und die von In- sekten in den übrigen Teilen verursachten Schäden nicht beachtet werden, da sie vorläufig ja auch ohne Belang sind. — Zu den schäd- lichsten Insekten gehört immer noch die Hessenfliege, die ungefähr 20 Mill. Doll. jährlichen Verlust hervorruft. Doch ist gerade bei ihr der ungeheure Nutzen des Studiums der Pflanzenkrankheiten erkennbar; hat sie doch ın früheren Jahren 100-—-200 Mill. Doll. Verlust herbeigeführt. — Immer mehr Stimmen erheben sich, die darauf hinweisen, dass (wenigstens in sehr vielen Fällen; der Ref.) die augenfälligen „Krank- heitserreger“, Pilze und Insekten, erst sekundäre Begleiterscheinungen einer anderen, primären Krankheitsursache sind, die sich also für das aussprechen, was der Altmeister der deutschen Phytopatho- logie, P. Sorauer, schon seit 20 Jahren als die Disposition der Pflanzen für Krankheiten verficht. So fordert R. Jonas genaue Auf- zeichnungen über die Beziehungen zwischen Witterung und dem Massenauftreten von Insekten bezw. Pilzen, sowie Berücksichtigung der Oertlichkeit, Bodenbeschaffenheit und des Grundwasserstandes für das Auftreten von Pflanzenkrankheiten. So hat Issatschenko nachgewiesen, dass ein Gehalt der Luft von 2°/, Kohlensäure hin- dernd auf die Infektion durch Pilzsporen wirkt, feuchte Luft, Honig- TU Hollrung, Jahresbericht über das Gebiet der Pflanzenkrankheiten. tau, Vergilben der Blätter sie erleichtert. Die Infektion der Kar- toffeln durch Fhytophthora wird durch Dünnschaligkeit ersterer erleichtert, durch Dickschaligkeit erschwert. Kreitz hat nun fest- gestellt, dass Düngung mit Kainit die Schale verdünnt und lockert (208 u Dicke, mit 8,8 Zellagen), Superphosphat sie verdickt und festigt (320 «u Dicke, mit 13,3 Zellagen). In trockenem Boden wird die Schale dünner als in feuchtem. Längere Zeit an einem Orte ange- baute Kartoffeln vererben ıhre Schalendicke auf anderem Boden noch längere Zeit, so dass also Bezug des Saatgutes von einem Ort mit größerer Schalendicke Schutz gegen Phythophthora gewährt. Die Praktiker vertreten schon seit langem die Ansicht von dem „Altwerden“ bestimmter Pflanzensorten. Die wissenschaftlichen Botaniker treten dieser Ansicht mehr oder weniger scharf entgegen. Schellenberg erörtert diese Frage in für die Praktiker günstigem Sinn. Das Altern kommt nur bei Pflanzen vor, die auf unge- schlechtlichem Wege vermehrt werden, wie Obstbäume, Weinrebe, Kartoffel. Schellenberg betrachtet nun jede „Sorte“ einer solchen Pflanze als ein selbständiges Individuum, identisch mit der Mutter- pflanze. Ein neues Individuum kann nur durch Befruchtung ge- schaffen werden. Die ganze Sorte muss daher die Erscheinung des Alterns annähernd gleichzeitig zeigen. (Nach Beobachtungen des Referenten ıst das nicht der Fall. Zuerst altern die Pflanzen, die an den Entstehungsorten der Sorte weiter gezüchtet sind. Durch Ueberführung von Pflanzen unter neue, verschiedene Existenz- bedingungen kann der Sorte vorübergehend neue Lebensenergie zugeführt werden, die das Altern aber nur hinausschieben, nicht verhindern kann.) Unsicherheit des Ertrags, kleine, unvollkommene Früchte, Disposition für Erkrankungen sind Zeichen herannahenden Alters. Mehrere Arbeiten befassen sich mit der Einwirkung der Para- sıten auf die Anatomie der Wirtspflanzen. Petri untersuchte die Einwirkungen des Stiches der Komma-Schildlaus auf das Rinden- gewebe der Wurzel von Olivenbäumen und des der Reben-Schildlaus auf die Rebe, Börner die der Ohermiden auf die Kiefernnadeln bezw. die Entstehung und Bildung der Gallen derselben. Aus beiden Arbeiten geht hervor, dass für die Natur der Wirkung nicht nur der Bau des Pflanzengewebes, sondern auch die Eigenart des Tieres von Bedeutung ist. Ich glaube durch diesen kurzen Auszug gezeigt zu haben, dass auch dieser Jahresbericht das allgemeine Interesse der Biologen wohl verdienen dürfte. Reh. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr..K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Der Abonnementspreis für 24 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen. PR Bd. XXX, 15. November 1910. N AR. Inhalt: Goebel, Ueber sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen (Schluss). — Papanicolau, Experi- mentelle Untersuchungen über die Fortpflanzunssverhältnisse bei Daplıniden (Simocephalus vetulus und Moina rectirosiris var. Lilljeborgii) (Fortsetzung). — Braune, Uber Fütte- rungsversuche mit Anilinfarben. Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. Von K. Goebel. (Schluss). Compositen. In dieser großen Familie treten in den Blüten sehr mannigfache Verteilungsverhältnisse der Sexualorgane auf, es finden sich neben Zwitterblüten vielfach weibliche und männliche. Es ist klar, dass durch die große Anzahl der Blüten, welche in einem Köpfchen zusammenstehen, die Möglichkeit, verschiedene Blütenformen zu entwickeln, eine größere ist als bei den Pflanzen mit einzeistehenden Blüten. Hier sollen zunächst zwei Beispiele besprochen werden, bei welchen die männlichen und die weiblichen Blüten auf verschie- dene Inflorescenzen verteilt sind; daran wird sich die Besprechung der Gestaltverschiedenheit zwischen männlichen und weiblichen Blüten anschließen. 1. Petasites niveus. Die Trennung ist hier insofern keine ganz scharfe, als in den weiblichen Blütenköpfen auch (sterile) männ- liche Blüten vorkommen; indes können diese zunächst außer Be- tracht bleiben. Männliche und weibliche Inflorescenzen zeigen nach dem Abblühen, wie Fig. 1 zeigt, ein auffallend verschiedenes Ver- halten: die Hauptachse der männlichen Inflorescenz und die Stiele der Blütenköpfe entwickeln sich nicht weiter, während bei der weiblichen Inflorescenz eine Streckung und Verdickung eintritt. Es XXX. 46 72) Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. beruht dies auf einer Vergrößerung der Zellen; auch scheint der weibliche Inflorescenzschaft mehr Zellen auf dem Querschnitt auf- zuweisen als der männliche. Indes war die Zahl der Messungen zu klein als dass diese Angabe verallgemeinert werden könnte. Jedenfalls tritt schon beim Durchschneiden hervor, dass der weib- liche Inflorescenzschaft eine größere Härte erreicht als der männ- liche. Die Gollenchymbündel vor und hinter den Leitbündeln ver- holzen nämlich, ebenso das Grundgewebe zwischen den Leitbündeln. Auch ohne Versuche ist es kaum zweifelhaft, dass der weibliche Inflorescenzschaft biegungsfester wird als der männliche. Ein Inter- faszıkularkambium bildet sich nicht, auch in den Leitbündeln selbst ist nur ein unbedeutendes Dickenwachstum vorhanden. Die Frucht- reife findet rasch statt, dann stirbt auch der weibliche Blütenstand ab. Hier sind also die Verschiedenheiten zwischen weiblichen und männlichen (zusammengesetzten) Inflorescenzen hauptsächlich durch eine postflorale stärkere Entwickelung der weiblichen bedingt. Es wurde nicht untersucht, ob diese von der Befruchtung abhängig ‘ist, wie das ja kaum zu bezweifeln ist. Das nächste Beispiel betrifft einen Fall, bei welchem weibliche und männliche Inflorescenzen von vornherein stark verschieden sind. 2. Nanthium. Die Compositengattung Xanthium zeigt männ- liche und weibliche Blütenköpfe in monözischer Verteilung. Sie unterscheiden sich schon bei oberflächlicher Betrachtung sehr be- deutend. Die männlichen Blütenköpfe haben den ursprünglichen Charakter am meisten gewahrt. Sie zeigen in der Achsel von Deck- blättern (Fig. 29,1) eine Anzahl von Blüten, welche sich von den gewöhnlichen Compositenblüten hauptsächlich dadurch unterscheiden, dass die Fruchtknoten frühzeitig verkümmern (eine eigentliche Frucht- knotenhöhle fand ıch bei X. spinosum nicht mehr angelegt). Die weiblichen Blütenköpfe haben nur zweı Blüten, und die Blumenkrone ist sehr stark reduziert, sie scheint als verspätete Bildung nach Anlage des Fruchtknotens noch aufzutreten. Später ist sie als kurzer, schief abgeschnittener Saum sichtbar, von Staub- blattanlagen war nichts mehr nachweisbar. Die Früchte sind in eine mit Wıderhaken versehene harte, feste, mit zwei Fortsätzen versehene Hülle eingeschlossen. Das Zustandekommen der sonderbaren Hülle (welche ausge- zeichnet der Verschleppung durch Tiere angepasst ist) 1°), wird ver- schieden aufgefasst. Hofmann!") sagt, die weiblichen Blüten seien tief ın die „Blütenachse * 1%) eingesenkt, die Spreublätter umgeben jede Blüte 100) Bekanntlich gehören die Xanthium-Fruchtstände zu den unangenehmsten Woll-Kletten. 101) In Engler-Prantl Natürl. Pflanzenfamilien IV,5, p. 220. 102) So sagt Verf. statt Inflorescenzachse Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. 123 ringsherum und sind zu einem engen, oft harten Schnabel ver- längert, aus dessen gerader oder schief abgeschnittener Öffnung die Griffelschenkel herausragen. Die dornigen oder zum Teil wider- hakigen ... trockenhäutigen Hüllblätter sind ursprünglich in nor- maler Stellung zum Blütenboden angelegt. Bald jedoch senkt sich der Blütenboden in die Blütenachse ein; der untere Teil der Spreu- blätter verschmilzt mit der Blütenachse, und bei mehrblütigen Köpfehen verschmelzen zugleich die Spreublätter im unteren Teile unter sich, so dass eine einfache oder zwei-(bis vier-)fächerige Höhlung entsteht, an deren Außenseite die Hüllblätter, höchstens mit Aus- nahme eines äußeren Kreises von normalem Aussehen mehr oder minder hoch hinauf angewachsen erscheinen“ .. Es ist mir nicht gelungen, aus dieser Beschreibung eine klare Vorstellung darüber zu gewinnen, wie der Verfasser sich die Homo- logie zwischen männlichen und weiblichen Blütenköpfen eigentlich denkt, namentlich über das Zustandekommen der schnabelartigen Gebilde, aus denen seitlich die beiden Narben heraustreten. Jeden- falls geht seine Anschauung dahin, dass die Widerhaken der Hülle Blätter darstellen und dass aus der Verwachsung dieser „Spreu- blätter“ unter sich und mit der Inflorescenzachse die Hülle entstehe, was sicher kein richtiger Ausdruck des tatsächlichen Verhaltens ist. In Warming’s Handbuch der systematischen Botanik !") heisst es „In den weiblichen Köpfchen sind nur zwei Blüten, denen Kelch und Krone ganz fehlen; zwei stachelige Hüllblätter verwachsen zu einer eiförmigen, zweifächerigen Hülle, die in jedem Fache eine Blüte umschließt, mit den Früchten wächst und sie bei der Reife als eine harte Hülle einschließt, deren hakig gekrümmte Stacheln der Verbreitung der Früchte dienen.“ Hier werden also die „Hüllen“ als aus den Deckblättern der Blüten gebildet betrachtet, die der Ver- breitung durch Tiere dienenden hakig gebogenen Stacheln nicht als umgewandelte Blattorgane (sonst wären sie ja als Dornen zu be- zeichnen), sondern als „Emergenzen“, welche teilweise auf den Blättern stehen. Sie würden also einen anderen „morphologischen Wert“ besitzen als die der Funktion nach analogen Verbreitungs- organe, welche wir bei den Blüten resp. Fruchtköpfen von Lappa finden. Aus Gründen der vergleichenden Morphologie wie der Ent- wickelungsgeschichte (welche bei X. spinosum und X. Strumaria untersucht wurde) muss ich mich der Hauptsache nach der zweiten, auch von anderen Botanikern vertretenen Auffassung anschließen. 103) p. 427 der 1. Aufl. der deutschen Übersetzung. Schon A. Braun (Das Individuum der Pflanze, Berlin 1853, p. 104), fasst übrigens die beiden Schnäbel der „Frucht“ als die Deckblätter der Blüten auf, hielt aber die Stacheln für die äußeren Hochblätter, weil sie in deutlich erkennbare Spiralreihen angeordnet seien. 46* 194 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. Es lässt sich diese Auffassung schon durch Betrachtung des fertigen Zustandes stützen. Fig. 28 stellt ein Stück eines Sprosses von X. spinosum dar. Das Blatt D hat einen Achselspross A hervorgebracht, der zwei basale Seitensprosse besitzt, einen, welcher drei zu Dornen ent- wickelte Blätter (D) trägt, und einen, der als weibliche Inflorescenz ausgebildet ist. In dieser ıst eines der Hüllorgane, aus welchem Fig 28. Sprossstück von Xanthium spinosum. Links ein Kurztrieb mit den ver- dornten Blättern (Db), rechts eine weibliche Inflorescenz. Das eine Deckblatt (B) ist als Dorn ausgebildet. N Narben der in seiner Achsel stehenden weiblichen Blüte. die Narben (N) hervorragen, als Dorn entwickelt (was sonst auch bei dieser Xanthium-Art nicht der Fall ıst. Da nun die Dornen von Xanthium der Entwickelungsgeschichte nach als verdornte, an einem kurzen Zweige stehende Blätter zu betrachten sind, so gilt dies auch für die Schnäbel der weiblichen Köpfchen. In den männ- lichen Inflorescenzen stehen in den Achseln aller Hochblätter Blüten, in den weiblichen nur in den Achseln von zweien (Fig. 29, 1,II). Diese aber greifen um die Blüten so herum, dass die Ränder jedes Deck- blatts untereinander sich zusammenhängen. Der mit Sa, , Sb, bezeichnete Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. 725 zweiteilige Körper gehört dieser Auffassung nach nur teilweise, in seiner zwischen der Punktierung liegenden Partie zur Blütenstandsachse der weiblichen Inflorescenz. Die beiden Stücke «a und b gehen seitlich in die Ränder der Hüllblätter über. Es liegt also ein ähnlicher Vorgang vor wie etwa bei der Bildung eines apokarpen aus zwei Fruchtblättern bestehenden Fruchtknotens, die beiden Deckblätter der Blüten haben ihre Ränder so weit nach innen geschlagen, dass sie sich berühren. Dies tritt bei einer Oberflächenansicht (Fig. 29, IV) deutlich hervor. Eine „Einsenkung“ tritt dann dadurch ein, dass der peripherische Teil der Inflorescenzachse interkalar emporwächst; dadurch werden auch die obersten Anlagen der Haken mit empor- gehoben. Ebenso findet in der Mittelregion, wo die beiden Blüten- 1. nl. I Fig. 29. Xanthium (I—III X. spinosum, IV X. Strumaria). I Längsschnitt durch eine junge männliche Inflorescenz. S Deckblatt, 3 Blütenanlage. II Längs- schnitt durch eine junge weibliche Inflorescenz. Sa, Sb die zwei Deckblätter der zwei Blütenanlagen. Sa,, Sb, die nach innen geschlagenen Ränder dieser Deck- blätter. III Längsschnitt durch eine ältere weibliche Inflorescenz. Die weiblichen Blüten (bis jetzt nur aus dem Fruchtknoten mit zwei Griffeln bestehend) sind durch interkalares Wachstum der zwischen den gestrichelten Linien liegenden Gewebe „ver- senkt“. IV Weibliche Inflorescenz schief von oben. Man sieht außer den Borsten die zwei Deckblätter der (nicht sichtbaren) Blüten. «a Die Seitenteile des mit den Rändern eingeschlagenen Deckblattes der rechts liegenden Blüte. deckblätter zusammenstoßen, ein interkalares Wachstum statt. Die Haken stehen dann teilweise an der Inflorescenzachse, teilweise an den Hüllen. Wenn man also annımmt, dass der Teil der Hüllen, welcher die Haken trägt, eigentlich ein emporgewölbter Teil der Inflorescenzachse sei, so kann man den einheitlichen Ursprung der Haken retten und diese als umgebildete äußere Hüllblätter be- trachten. Dann müssten sie den Deckblättern der Blüten der männlichen Inflorescenz entsprechen, und die schnabelförmigen Bil- dungen, in welche die weiblichen Blüten eingeschlossen sind, wären die obersten Deckblätter. Sınd aber dıe Haken den männlichen Inflorescenzen gegenüber Neubildungen (Emergenzen), so wären die untersten Deckblätter die, welche in der weiblichen Inflorescenz die Umbildung erfahren. Welche der beiden Ansichten über die Natur der Haken zu- trıfft, wird sich wohl nur durch ein vergleichendes Studium der 726 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. 2 Inflorescenzbildung der mit Xanthium verwandten Formen — wozu ich keine Gelegenheit hatte — ermitteln lassen. Jedenfalls ist so viel klar, dass männliche und weibliche Inflorescenzen auch bei Xanthium ursprünglich gleich gewesen sein müssen und dass die weiblichen viel stärker umgebildet sind als die männlichen. Der Ausgangspunkt wird der dem Verhalten anderer Compositen ent- sprechende sein mit Köpfchen, in denen außen weibliche, innen männliche Blüten waren. Solche finden sich bei der Gompositen- gruppe, zu welcher Xanthium gehört, noch bei verschiedenen Gat- tungen, Iva, Oxytenia u. a. Bei Dicoria wird angegeben, dass die Blütenköpfe 1—2 weibliche Blüten in den Achseln großer Deck- blätter haben. Denken wir uns in den Blumenköpfen den männ- lichen, oberen Teil unterdrückt, so würde eine bedeutende Annähe- rung zu Xanthium sich ergeben. Diese Erwägung weist, wie mir scheint, darauf hin, dass die Deckblätter der Xanthium-Blüten dem untersten Teil der Inflores- cenz angehören, nicht dem oberen, und folglich die Haken Neu- ‚bildungen darstellen. Payer!") hat die Entwickelungsgeschichte von Ambrosia mari- tima untersucht, bei welcher in den weiblichen Blütenköpfen nur eine Blüte vorhanden ist. Ohne Zweifel liegt hier eine noch weiter gehende Umbildung des weiblichen Blütenköpfehens als bei Xan- thium vor. Indes geht aus Payer’s Angaben und Abbildungen nicht hervor, wie der „sac &epineux“, welcher die weibliche Blüte umschließt, zustande kommt. Staubblätter werden auch hier ın der weiblichen Blüte nicht angelegt. Da die männliche Inflorescenz keine sterilen Hüllblätter hat, ist esam wahrscheinlichsten, dass die zur Hülle ausgebildeten Deck- blätter der weiblichen Inflorescenz den untersten Deckblättern der männlichen entsprechen. Männliche und weibliche Inflorescenzen sind also prinzipiell gleich gebaut. Die weiblichen aber haben sich vom ursprünglichen Typus viel weiter entfernt als die männlichen, wobei ja die bio- logische Bedeutung ohne weiteres klar ist. Blüten. Über den sexuellen Dimorphismus der Blüten von Compositen liegt eine sorgfältige Untersuchung von M. v. Uexküll- Gyllenband vor!"). In der uns hier speziell interessierenden Frage kommt die Verfasserin zunächst zu folgenden Schlüssen : 104) Payer, Organog£enie de la fleur p. 638, Pl. 129 (nicht wie im Register steht 131). 105) M. v. Uexküll-Gyllenband, Phylogenie der Blütenformen und der Geschlechterverteilung bei den Compositen (Bibliotheca botanica herausgeg. von Lürssen, Heft 52, 1901). Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. 027 1. Sämtliche bei den Compositen gefundenen 14 Blütenformen lassen sich von einer gemeinsamen Urform, der röhrenförmigen Zwitterblüte ableiten. 2. In einem jugendlichen Zustand lassen sich zwitterige An- lagen auch bei in erwachsenem Zustand rein weiblichen Blüten nachweisen. 3. Die weiblichen Blüten zeigen eine starke Modıifikationsfähig- keit, sowohl in bezug auf die Corolle als auf den Stempel. 4. Bei den männlichen Blüten finden keine weiteren Modi- fikationen statt. Der erste Satz ıst unbestreitbar und gibt wohl auch die allge- meine Annahme wieder !%®%). Der zweite würde der normalen Entwickelungsfolge entsprechen, wenn die Ontogenie die Phylogenie wiederholt; es findet das viel- fach, aber nicht immer statt. Es ist diese Frage von Interesse, weil sie sich bezieht auf das allgemeine Problem, inwieweit bei der Einzelentwickelung der phylogenetischen gegenüber Abkürzungen vorkommen. Es sei deshalb hervorgehoben, dass — im Gegensatz zu der oben angeführten Angabe — bei den weiblichen Blüten von Cotula coronopifolia, Calendula, Filago arvensis und von Xan- thium keine Spur der Anlage von Staubblättern nachzu- weisen war!””), Es seien die Verhältnisse hier zunächst für Cotula kurz ge- schildert, um so mehr, als sie teilweise unrichtig beschrieben worden sind. Untersucht wurden kultivierte Exemplare des Münchener bota- nischen Gartens. Die Blütenköpfe besitzen außen weibliche, innen Zwitterblüten. Diese haben die Eigentümlichkeit, dass sie eine vierteilige Blumen- krone haben — eine Abweichung (gegenüber dem ursprünglichen fünfteiligen Bau), die auch sonst gelegentlich vorkommt!"*). Die 106) Goebel, Vergl. Entwickelungsgeschichte der Pflanzenorgane 1883 (Schenk’s Handbuch der Botanik II, p.290). Anm.3. „Als die phylogenetisch älteren dürfen wir wohl die Röhrenblüten betrachten, aus denen sich ja, wie die ‚gefüllten‘ Garten- formen vieler Compositen zeigen, auch durch Kultur Zungenblüten erzielen lassen.“ 107) p. 49 ihrer Abhandlung gibt Uexküll-Gyllenband an, dass sie bei Leontopodium alpinum keine Spur von Antherenanlagen in den schmalen röhren- förmigen Blüten gefunden habe. — Ebenso wie die Antherenentwickelung kann auch die Kelchanlage bei den Compositen vollständig ausgeschaltet (übersprungen) werden. So bei Xanthium. — Übrigens kommen analoge Fälle (des „UÜber- springens‘“) auch sonst vor. So werden in den unterirdisch entwickelten kleisto- gamen Blüten von (ardamine chenopodifolia die Blumenblätter ganz unterdrückt (Goebel, Die kleistogamen Blüten und die Anpassungstheorien, Biolog. Oentral- blatt XXIV, p. 746). 108) Das kann man bei Senecio vulnaris fast an jedem einzelnen Blütenköpf- chen beobachten. Gelegentlich finden sich unter den fünfzähligen Röhrenblüten auch solche, welche durch zwei kleinere, näher zusammenstehende Zipfel auffallen. Die 128 Goebel, Über sexuellen Dimorpbismus bei Pflanzen. weiblichen Blüten sollen nach Knuth!”®) „unfruchtbar mit aufge- blasener Röhre“ sein. Beides trifft nicht zu. Die Blumenkrone ist nur in Gestalt eines dreiteiligen Saumes vorhanden, welcher in das (der Fruchtknotenwand angehörige) „aufgeblasene“ (inter- cellularraumreiche) Gewebe übergeht, welches bei weitem den auf- fallendsten Teil der weiblichen Blüte darstellt. Die Blumenkrone ist also auch der Zahl der sie aufbauenden Blätter nach mehr redu- ziert als die der männlichen Blüten, sie stellt offenbar den kümmer- lichen Rest einer aus drei Blumenblättern aufgebauten Randblüte dar, von Staub- blattrudimenten ist nichts zu sehen, auch nicht ın den ; jüngsten Stadien (vgl. Fig. 30). re! ; Auch sind die weiblichen | 5 Blüten nicht unfruchtbar — IR sie enthalten im Gegenteil so ; frühzeitiz Embryonen, dass Fig. 30. COotula coronopifolia. I Längsschnitt R y MERTE durch den Rand eines Blütenköpfchens Rechts Man versucht sein könnte, eine noch nicht voll entwickelte weibliche an eine „parthenogenetische* Blüte, © verkümmerte Blumenkrone, @ Griffel. Entwickelung zu denken. Links eine Zwitterblüte, A Antheren. II Weib- Indes fand ich Pollen und liche Blüte in Außenansicht. Es sitzen auf dem Fruchtknoten eine Anzahl von Drüsen- ii ; haaren. @ Griffel, 1,2, 3 die (verkümmerten) ben, was eher für eine nor- Anlagen von drei Blumenkronblättern. male Befruchtung spricht; es kann ja in dem dichtge- drängten Blütenstand durch kleine, darüber kriechende Insekten eine Bestäubung stattfinden. Außerdem sind die weiblichen Blüten viel länger gestielt als die männlichen, wodurch, da der Griffel sehr kurz ist, die Narben in die für die Bestäubung günstige Lage emporgehob enwerden. Da die aus den Zwitterblüten hervorgehen- den Früchte anders gestaltet sind als die der weiblichen‘ Blüten, gehört Cot. coronopifolia zu den heterokarpen Compositen; beiderlei Früchte schwimmen übrigens auf dem Wasser !!°), Pollenschläuche auf den Nar- selbe Erscheinung traf ich auch bei Bidens tripartitus, vereinzelt treten hier sogar Röhrenblüten mit nur drei Zipfeln der Blumenkrone auf. Es liegt also eine Re- duktionserscheinung vor, welche bei anderen Compositen gelegentlich, bei Cotula regelmäßig auftritt. Bekanntlich fehlen bei Bidens tripartitus ebenso wie bei Senecio vulgaris die weiblichen Strahlenblüten so gut wie immer. Ich fand auch keine Rudimente daran, vielmehr stehen an ihrer Stelle gewöhnliche Zwitterblüten. Eine solche Rückbildung kann offenbar am leichtesten an Formen auftreten, welche auf Fremdbestäubung nicht angewiesen sind, sie findet sich auch bei Matriearia dis- coidea (bei welcher die Scheibenblüten gleichfalls eine vierzähnige Blumenkrone haben). Es ist von Bedeutung, dass derartige Formen mehr als ein Rückbildungs- merkmal zeigen. 109) Knuth, Handbuch der Blütenbiologie I, p. 607. 110) Genaueres über die Biologie der merkwürdigen Pflanzen an anderem Orte. Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. 729 Für Xanthium wurde die Tatsache, dass die Staubblätter ganz fehlgeschlagen sind, oben schon hervorgehoben. Bei Calendula sind bekanntlich die zungenförmigen Randblüten weiblich und fruchtbar, die Scheibenblüten männlich und deshalb unfruchtbar. Zunächst sei erwähnt, dass die Randblüten bei zwei untersuchten Calendula-Arten (C. offieinalis und ©. malacitana) keine Spur von Staubblättern aufwiesen, während Arciotis breviscapa, welche sich sonst ähnlich verhält wie Calendula, deutlich Staubblattrudimente in den weiblichen Blüten zeigt!!!). Auffallend ist, dass die Rand- blüten, welche später durch ihre große leuchtende Korolle die Scheibenblüten weit übertreffen, in der Entwickelung lange Zeit hinter den Scheibenblüten zurückbleiben, selbst zur Zeit der Pollen- reife sind sie kaum halb so groß als jene. Die Vergrößerung der NV Korolle erfolgt also ? 7 8 A erst verhältnismäßig E spät ım Streckungs- stadium. Die Verschieden- heit des Griffels und N der Narben ist ın den Blütenformen eine I sehr auffallende: in Fig. 31. Calendula officinalis. 1 Längsschnitt durch den männlichen Blü- eine junge weibliche Blüte. Obwohl die zwei Frucht- ten sind die Narben blätter (0) vorhanden sind, ist keine Spur von Staub- außerordentlich’ kurz blattanlagen sichtbar. II Griffel einer weiblichen Blüte. e F E N Narbe III Längsschnitt durch eine junge männ- und breiten sich nicht jiche Blüte. IV Oberer Teil des Griffels einer männ- aus, so dass über den lichen Blüte. Fegehaaren der Griffel scheinbar eine einheitliche Spitze besitzt (Fig. 31, IV). In den weib- lichen Blüten ist der Griffel (Fig. 32, II) viel kürzer, die Narben sind viel länger, von Fegehaaren fand ich keine Spur, höchstens könnte man die nicht sehr auffallende Zellwandvorwölbung der Epidermiszellen an der betreffenden Stelle für einen letzten Rest der Fegehaare halten. Für diese Verschiedenheit gibt auch die Entwickelungsgeschichte keine Aufklärung. Sie zeigt nur, dass in den männlichen Blüten die beiden Fruchtblätter früh miteinander verschmelzen und die Bildung einer eigentlichen Fruchtknotenhöhle unterbleibt, während der Griffel dem starken Wachstum der Korolle entsprechend sich verlängert. Wenn nun weiter gesagt würde, dass in den männ- 111) Es sind indes hier einzelne den Randblüten benachbarte Scheiben- blüten fertil. 730 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. lichen Blüten eine Hemmung der Narben — in den weiblichen eine Hemmung des Griffels und der Fegehaarbildung eintritt, so wäre das nur eine Umschreibung der Tatsachen, keine „Erklärung“. Ebensowenig liegt eine solche natürlich auch in der Annahme, dass die Teile gehemmt werden, welche nicht mehr gebraucht werden. Die männlichen Blüten der untersuchten Arctotis-Art haben z. B. einen (aus Spreublättern bestehenden) „Pappus“, obwohl sie ıhn gewiss nicht brauchen! Es soll unten eine Hypothese versucht werden, welche hier ın Betracht kommen könnte. Leichter verständlich ist eine andere Tatsache: Die weiblichen Blüten von Calendula sind ausgiebiger mit Leitbündeln versorgt als die männlichen. Letztere erhalten nämlich vom „Biütenboden nur 2—3, erstere gewöhnlich 4 Leit- bündel“ !!2), — Es entspricht dies den oben für Begonia und anderen Pflanzen angeführten Tatsachen. Dafür, dass die Leitbündelversor- gung der männlichen Blüten als eine Minusvariante anzusehen ist, spricht, dass z. B. bei Silphium, Lindheimera, Melampodium die Leit- bündel, welche in die fruchtbaren Randblüten eintreten, zwar nicht an Zahl, aber in ıhrem Aufbau die Fig. 32. Homogyne alpina. Links . . Ne . on Zwitterblüte, rechts weibliche Blüte. in die Röhrenblüten tretenden über- treffen. Calendula ıst ein Beispiel für die bei vielen, aber keineswegs allen Oompositen sich findende Eigentümlichkeit, dass die Blumen- krone der weiblichen Randblüten größer ist als die der männlichen oder zwitterigen Röhrenblüten im inneren Teil des Blütenkopfes. Das steht im Widerspruch mit der sonst allgemeinen, oben z. B. bei Valeriana erörterten Regel. Indes hat die Größe der Rand- blütenkrone mit der Geschlechtsverteilung bei den Compositen über- haupt nichts zu tun, sondern hängt mit ihrer Stellung zusammen. Die äußeren Blüten einer Blütengenossenschaft sind auch bei Dipsaceen, einigen Umbelliferen und Cruciferen (z. B. Iberis um- 112) Vgl. J. Nissen, Untersuchungen über den Blütenboden der Compo- siten. Dissert. Kiel 1897, p. 18. Der Verf. spricht dort von „zwitterigen Rand- blüten“, was auf einem Irrtum beruhen dürfte. Bei Helianthus, Uryptostemma u.a. konnte eine Verschiedenheit in der Leitbündelversorgung der unfruchtbaren (aber mit großer Blumenkrone versehenen) Randblüten und der fruchtbaren Röhrenblüten nicht festgestellt werden. Diese kann auch nicht für ‘die ursprüngliche (vor der Leitbündelausbildung erfolgende) Anlage der Blüten, sondern nur für deren spätere Entwickelung in Betracht kommen. Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. 731 bellata) die am meisten modifizierten. Es findet bei ihnen eine Ver- größerung der Blumenkrone statt, die man bei den Compositen vielfach als mit der Hemmung der Staubblattentwickelung korrelativ verknüpft betrachtet hat. Man wird indes Uexküll-Gyllenband beistimmen müssen, wenn sie eine solche Korrelation als nicht er- wiesen betrachtet. Denn in zahlreichen Fällen haben die weib- lichen Blüten kleinere Korollen als die männlichen oder die Zwitter- blüten. So bei Homogyne alpina (Fig. 32) und den oben beschriebenen Beispielen von Xanthium und Cotula. Wenn man auch derartige Fälle wenigstens teilweise als sekundär eingetretene gegenüber den mit großen strahlenden Korollen bei den Tubulifloren wird betrachten dürfen, sprechen sie doch gegen eine kausale Verknüpfung von Staubblattverkümmerung und Blumenkronenvergrößerung. Fig. 33. Petasites niveus. I Weibliche Blüte (auseinem weiblichen Blütenkopf). II Männliche Blüte, bei welcher der Griffel die Staub- blattröhre gerade durchwächst. III Ältere männliche Blüte. IV „Honigblüte“ aus einem männlichen Blütenkopf. Auch sonst dürften bei den Compositen die Anschauungen, welche der Pflanze eine ängstliche Sparsamkeit ın der Verwendung von Baumaterialien zuschreiben, kaum zutreffen. Zum Beleg dafür seien die Blütenverhältnisse von Petasites niveus, deren Inflorescenzen oben erwähnt wurden, kurz geschildert !??). Die untersuchten Blütenstände waren diözisch, die weiblichen viel unansehnlicher als die männlichen, was für die Einzelköpfcehen durch die Vergleichung der unscheinbaren weiblichen Blüten (Fig. 33, I) mit den viel stattlicheren männlichen (Fig. 33, II) leicht ersichtlich ist. Es haben aber auch die männlichen Blüten noch einen Pappus, obwohl dieser hier gänzlich überflüssig ıst. In den weiblichen Blüten sind die Fegehaare des Griffels, welche in den männlichen 113) Vgl. Uexküll-Gyllenbanda.a.O. und die dort aufgeführte Literatur. 32 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. den Pollen herausfegen, nur noch als kleine Papillen angedeutet, es fehlt auch die Anschwellung des Griffels unterhalb der Narben, welche beim Herausfegen des Pollens gleichfalls eine Rolle spielt (Fie.233, 2107). Diese Verschiedenheiten sind also ım Gegensatz zu dem Ver- halten des Pappus teleologisch verständlich, ebenso wie die Tat- sache, dass in den männlichen Blüten die Griffeläste sich meist nicht ausbreiten. In den weiblichen Blütenköpfen finden sich im Zentrum noch einige wenige „Honigblüten* (Fig. 33, IV) mit tauben Antheren, aber verhältnismäßig großen Honigdrüsen. Sie haben größere Ko- rollen als die weiblichen Blüten und, obwohl sie steril sind, einen Pappus. Es ıst also klar, dass alle diese Blüten sich von einer mit Pappus versehenen Zwitterblüte ableiten, dass die weiblichen Blüten wie sonst an der Peripherie der Köpfchen auftraten, bei den einen aber (mit Ausnahme der Honigblüten) eine Verweib- lichung eintrat, während bei den anderen die Ausbildung weiblicher Randblüten ebenso unterdrückt wurde, wie dies z. B. bei Senecio vulgaris der Fall ist, zu dessen Verhalten die Blütenköpfe von S. sölvaticus mit wenig auffallenden, eingerollten Randblüten einen Übergang bilden. Bei Matricaria inodora fanden sich Stöcke mit wohl entwickelten und solche mit rückgebildeten Randblüten. Wir werden also zweierlei Öompositen mit ausschließlicher Röhrenblüten- bildung zu unterscheiden haben: solche, bei denen dies Verhalten primitiv ist und solche, bei denen es auf Verkümmerung von Rand- blüten beruht. Filago arvensis. Die kleinen Blütenköpfehen dieser Com- posite haben im Zentrum einige Zwitterblüten, die umgeben sind von einer größeren Anzahl weiblicher Blüten, die hier also nicht nur als Randblüten auftreten, sondern gegen die Mitte des Blüten- standes hin vorgedrungen sind. Sie sind mit einer sehr unschein- baren, röhrenförmigen Blumenkrone versehen, welche meist drei-, zuweilen vierzipfelig ist. Die Pflanze ist dadurch von Interesse, dass schon die Anlagen der beiderlei Blüten auffällig voneinander unterschieden sind. Ein junges Blütenköpfchen, dessen Blütenanlagen noch ganz unge- gliedert sind, in der Oberflächenansicht (vgl. die Fig. 34 links), zeigt nämlich, dass die annähernd halbkugeligen Höcker, welche zu weiblichen Blüten werden, von Anfang an viel kleiner sind als die, welche sich zu Zwitterblüten ent- wickeln. Es ist also von vornherein die sexuelle Ausbildung be- stimmt; der geringere Materialaufwand, welchen eine weibliche Blüte gegenüber einer Zwitterblüte erfordert, spricht sich schon ın der ersten Anlage der Blüten aus. Kein Wunder, dass dann auch die Anlegung der Staubblätter in den weiblichen Blüten vollständig Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. 733 unterbleibt. Sie sind auch in späteren Entwickelungsstadien be- deutend schwächer als die Zwitterblüten; ihre Fruchtknotenwand z. B. ist schmächtiger als die der letzteren. Die ersten weiblichen Blüten stehen noch in den Achseln von Deckblättern, die späteren sind, ebenso wie die Zwitterblüten, ganz deckblattlos. Ihren Griffeln fehlen (von kleineren Papillen abgesehen) die Fegehaare, welche in den Zwitterblüten gut entwickelt sind. Die Haare entstehen verhältnis- mäßig spät. Ihre Entwickelung ist wahrscheinlich bedingt, durch Vorgänge, die sich in den Staubblättern abspielen, vielleicht durch bestimmte Stoffwechselprodukte, welche als Reiz wirken. Diese Annahme einer kausalen Beziehung zwischen Staubblattausbildung und Griffelgestaltung kann an anderen Compositen als an der wegen der Kleinheit der Blüten dazu sehr wenig geeigneten Filago viel- Fig. 34. Filago arvensis. Links junger Blütenstand schief von außen gesehen. Die kleineren Höcker werden zu weiblichen, die größeren zu Zwitterblüten (J'). + Rechts Längsschnitt durch einen älteren Blütenkopf. In der Mitte zwei Zwitter- blüten (g Griffel, s Staubblätter). Außen weibliche Blüten. Die Staubblattanlagen sind ganz unterdrückt. leicht auch experimentell geprüft werden. Sie würde verständlich erscheinen lassen, weshalb die Bildung der Fegehaare an den weib- lichen Blüten unterbleibt. Im übrigen dürfte aus dem oben Mitgeteilten hervorgehen, dass Correns!'*) recht hat,. wenn er sagt, „der Ort in der Inflorescenz entscheidet wohl nur dadurch über die Natur der Blüte, dass er die Entwickelungsbedingungen günstiger oder ungünstiger gestaltet, und zwar entstehen bei günstiger Ernährung die zwitterigen, bei ungünstiger die eingeschlechtigen, männlichen oder weiblichen Blüten“. Dass bei männlichen Blüten dieser Umstand sich nicht wie bei den soeben geschilderten weiblichen von FVlago von vorn- herein in der Größe des Blütenhöckers geltend machen wird, liegt 114) Correns, Zur Kenntnis der Geschlechtsformen polygamer Blütenpflanzen und ihrer Beeinflussbarkeit (Jahrb. f. wiss. Botanik Bd. XLIV (1907), p. 142. 134 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. darin begründet, dass für die Bildung der fünf Staubblätter ein beträchtliches Zellenmaterial erforderlich ist und dass ın den männ- lichen Blüten ja auch die beiden Fruchtblätter noch angelegt werden. Ein geeignetes Material für die Vergleichung von männlichen und Zwitterblüten bietet z. B. Dimorphotheca plwvialis. Bei dieser mit Calendula verwandten Pflanze sind die Randblüten weiblich (haben aber im Gegensatz zu Calendula noch deutliche Staubblatt- rudimente), dann kommen Zwitter- und schließlich männliche Blüten. Eine erhebliche Größenverschiedenheit zwischen den ersten Anlagen der beiden letzteren war nicht festzustellen, was aus den oben angeführten Gründen auch nicht verwunderlich ist. Die männlichen Blüten zeigen sogar noch die Anlage der Fruchtknotenhöhle und (wenigstens in manchen Fällen) die ersten Andeutungen einer Samen- anlage. Sie stehen also den Zwitterblüten noch recht nahe; „er- spart“ wird bei ihnen eigentlich nur die, bei den Compositen ver- hältnismäßig kleine Samenanlage, eine wesentliche Verschiedenheit in der Größe der Blütenanlage ist also nicht zu erwarten. Übrigens wird man zu unterscheiden haben zwischen den Faktoren, welche die erste Anlage, und denen, welche die weiteren Schicksale der Blüte bedingen. Wie oben erwähnt wurde, ist z. B. die (erst ver- hältnismäßig spät eintretende) Leitbündelversorgung der weiblichen Blüten von COulendula eine ausgiebigere als die der männlichen, ob- wohl letztere massiger angelegt werden als erstere. Wenn wir die Ausbildung der Blumenkrone bei den weiblichen Compositenblüten ins Auge fassen, so können wir die Verschieden- heit, welche sich dabei geltend macht, bildlich auf den Kampf zweier „Tendenzen“ zurückführen. Die eine sucht (wie bei vielen anderen Pflanzen) die Blumen- krone zu hemmen gegenüber der der Zwitterblüten resp. der der männlichen. Diese (mit der Hemmung der Staubblattbildung im Zusammenhang stehende) Verminderung der Korollengröße kann bis zum fast vollständigen Verschwinden der Korolle gehen. Die andere sucht sie zu vergrößern. Letztere Tendenz ist in der Stellung der weiblichen Blüten am Rande begründet, sie war bei den betreffenden Formen wahrscheinlich schon vorhanden, als die Randblüten noch zwitterig waren, hängt 'also mit dem Weib- lichwerden nicht direkt zusammen und ist demgemäß auch nicht immer mit ıhm verbunden. Dass zwei solcher „Tendenzen“ vorhanden sind, konnten wir auch entwickelungsgeschichtlich nachweisen. Wir sahen, dass z. B. bei Oalendula die weiblichen Blüten zunächst in der Entwickelung ihrer Blumenkrone gegenüber den männlichen auffällig zurückbleiben, während später dann ein ausgiebiges Wachstum der ersteren einsetzt. Andere Compositen mit „strahlenden“ Randblüten verhalten sich, soweit meine Untersuchungen reichen, ebenso. Z. B. Helian- Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. 735 thus, dessen Randblüten später so auffallend große Korollen haben. Auch die sterilen Randblüten von Centaurea Jacea bleiben den fer- tilen gegenüber zunächst erheblich zurück. Man könnte auch hierin eine Ähnlichkeit der Blütenköpfe der Compositen mit Einzelblüten sehen. Auch bei diesen ist ja die Entwickelung der Blumenkrone in den ersten Stadien gegenüber der der Staub- und Fruchtblätter oft (z. B. bei den Cruciferen) auffallend gehemmt. Auch bei den Compositen bleiben, wenn der „Randfaktor“ weg- fällt, die Blumenkronen der weiblichen Blüten erheblich kleiner als die der Zwitterblüten. Worin das X, welches wır als Randfaktor bezeichnet haben, besteht, bedarf selbstverständlich einer eingehenden Untersuchung, auch wenn wir es als „Exotrophie* bezeichnen würden, wäre da- mit nur ein anderer Name für die in ıhrer Bedingtheit derzeit un- bekannte Erschemung gewonnen. Immerhin liegen auch jetzt schon Anhaltspunkte für die An- nahme vor, dass die Ernährungsverhältnisse am Rande des Blüten- kopfes der tubulifloren Compositen andere sind als weiter innen. Bei den ligulifloren Compositen ist dies offenbar nicht der Fall. Wenigstens fand ich weder bei Sonchus oleraceus noch bei Orepis suceisifolia (den einzigen daraufhin untersuchten Ligulifloren) eine Verschiedenheit zwischen der Entwickelung der Rand- und der inneren Blüten. Dass beı „gefüllten* Blütenköpfen von tubuli- floren Compositen auch weiter nach innen liegende Blüten die Aus- bildung der Randblüten annehmen können, ist kein Grund gegen die Annahme, dass diese durch ihre Stellung zu der für sie eigen- tümlichen Ausbildung gelangt seien; es handelt sich bei der Füllung um eine Vermehrung einer schon vorhandenen Blütenform, nicht um ihre Entstehung. Zusammenfassung. 1. Bei dıözischen Pflanzen sind sekundäre Sexualcharaktere in der Gesamtgestaltung männlicher und weiblicher Pflanzen nicht immer wahrnehmbar. Wo dies der Fall ıst, sind die männlichen Pflanzen meist kleiner und schwächlicher als die weiblichen, um so mehr, je früher die Anlegung der männlichen Sexualorgane erfolgt. Diese ist dadurch möglich, dass die männlichen Organe geringere Ansprüche an Baustoffe machen als die weiblichen. 2. Dasselbe Prinzip zeigt sich bei monözischen Pflanzen. Die Pflanzenteile, welche die männlichen Organe tragen, sind die weniger kräftig ernährten. Dies tritt z. B. deutlich hervor bei den männ- lichen Blütenständen der Umbelliferen (die außer männlichen auch Zwitterblüten haben), namentlich aber auch bei Pflanzen, die männ- liche und weibliche Blüten besitzen. 736 Goebel, Über sexuellen Dimorphismus bei Pflanzen. Dabei wird eine anatomische Differenzierung am ehesten dort zu erwarten sein, wo postfloral eine Weiterbildung in den die weiblichen Organe tragenden Pflanzenteilen nicht eintritt (Farnpro- thallien, Zea Mais und andere Monokotylen, Begonia). Bei dikotylen Pflanzen ist dementsprechend der Bau der männlichen und weib- lichen Inflorescenzachsen präfloral oft nicht verschieden. Eine aus- giebigere Ernährung der weiblichen Blüten wird nicht nur durch die postflorale Weiterentwickelung der tragenden Achsen, sondern in manchen Fällen auch durch die geringere Anzahl der weiblichen Blüten ermöglicht (z. B. Mercurialis perennis). Dasselbe gilt für die Makrosporangien heterosporer Pteridophyten. Die eigenartigen Verhältnisse, wie sie z. B. bei Selaginella ru- pestris ah en sind nicht als eine Annäherung an die Samen- bildung, sondern 'als eine durch das Überwiegen vegetativer Ver- mehrung existenzfähige Rückbildung zu betrachten. 3. Den Zwitterblüten gegenüber sind sowohl die männlichen als die weiblichen als die mit geringerem Aufwand von Baumate- _ rialien zustande gekommenen zu betrachten. Am auffälligsten spricht sich dies aus bei einigen Compositen, bei denen schon von vorn- herein die Vegetationspunkte, aus denen weibliche Blüten hervor- gehen, beträchtlich kleiner sind als die, welche Zwitterblüten werden. Bei solchen Blüten sınd die Anlagen der Staubblätter ganz unter- drückt, während sie bei verwandten Formen noch auftreten können, eine Tatsache, welche die Annahme unterstützt, dass auch in anderen Fällen, in welchen die Verkümmerung des einen Geschlechtes in diklinen Blüten eine vollständige ist, doch diese Blüten sich von Zwitterblüten ableiten. In anatomischer Beziehung spricht sich im Bau des Blütenstiels bei manchen Umbelliferen an den männlichen Blüten eine „Unterernährung“ gegenüber den Zwitterblüten aus. 4. Bei getrenntgeschlechtigen Blüten kann ein Dimorphismus auftreten im Bau des Blütenstiels (vgl. unter 2) und in der Ge- staltung der Blütenhülle. Es handelt sich hier verhältnismäßig selten um qualitative Verschiedenheiten (so z. B. bei Catasetum), meist um eine Größenverschiedenheit in der Ausbildung der Blüten- hüllen. So haben die weiblichen Blüten von Melandryum album einen kräftiger entwickelten Kelch als die männlichen, und bei den weib- lichen Blüten der Kokospalme ist die ganze Blütenhülle größer als die der männlichen. Sehr häufig aber zeigen die weiblichen Blüten eine geringere Ausbildung der Blütenhülle als die männ- lichen. So bei den Urticaceen und vielen sympetalen Dikotylen, unter denen viele Compositen nnr scheinbar eine Ausnahme machen. Schon die Tatsache, dass diese Verschiedenheit der Blütenhülle auch bei windblütigen Pflanzen vorkommt, bei denen es sich nicht um einen „Schauapparat* handelt, macht für die Formen, bei Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen ete. 137 denen die männliche Blüte eine größere Blumenkrone als die weib- liche hat, die Annahme von H. Müller, dass dadurch Sicherung der Kreuzbefruchtung bewirkt werde, unwahrscheinlich. Eine Korre- lation besteht offenbar nicht nur zwischen der Entwickelung der Staubblätter und der Blütenhülle, sondern auch zwischen Staublatt- entwickelung und Griffelgestaltung. 5. Was die Frage anbetrifft, ob die männlichen oder die weib- lichen Blüten sich stärker von dem ursprünglichen Typus (der Zwitterblüte) entfernt haben, so war sie verschieden zu beantworten. Bei den Urticaceen, Valerianaceen und Compositen erschienen die weiblichen Blüten stärker verändert als die männlichen, bei den Begoniaceen sind sie als die konservativeren zu betrachten. Das- selbe ergab sich für die Archegonienstände der Marchantiaceen und mancher Laubmoose. F Die kürzere Lebensdauer der männlichen Blüten gegenüber den weiblichen spricht sich in manchen Fällen (Urticaceen, Euphorbia- ceen) von vornherein schon darin aus, dass der Blütenstiel mit einer Abbruchstelle ausgestattet ist. Die Ausstattung weiblicher Blüten mit besonderen Schutzapparaten und Einrichtungen zur Fruchtverbreitung (vgl. den merkwürdigen Fall von Xanthium) wird ermöglicht durch die (den männlichen Blüten gegenüber) reichere Ausstattung mit Baumaterialien, welche den weiblichen Blüten und Blütenständen in verschiedener Weise ermöglicht wird. Eine große Anzahl von Gestaltungsverhältnissen bei verschiedenen Pflanzen lässt sich so unter einen einheitlichen Gesichtspunkt bringen. Experimentelle Untersuchungen über die Fortpflanzungs- verhältnisse der Daphniden (Simocephalus vetulus und Moina rectirostris var. Lilljeborgii). Von Dr. Georg Papanicolau. (Aus dem zoolog. Institut München.) (Fortsetzung.) II. Fortpflanzungsverhältnisse unter natürlichen Kulturbedingungen. Bevor ich mich zur Besprechung der Frage wende, inwieweit künstliche Eingriffe einen Einfluss auf den Fortpflanzungsmodus ausüben können, werde ich eine genauere Analyse des Fortpflan- zungsvorgangs unter natürlichen Kulturbedingungen geben, weil er bis jetzt nur unvollkommen dargestellt worden ist. a) Übergang von der Parthenogenesis zur Gamogenesis ım Verlauf eines Zyklus. Unter Zyklus versteht man die ganze Aufeinanderfolge der Geburten und Generationen, die im Leben einer Kolonie von dem XXX. 47 138 Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. Geburten 5 97.10: E23 AT il 2 3 4 eattanın Pal | | | a I za |o,Jolelo Bi oo © 20) Ole (0) <|o (0) en e |. |® | .o+ (0) “ oO os © o so e® -—! [#) 1 e| — be oo vr 9. 1,0,1°0 o[°o| o %°| eo ° „ie | IL o® ZRE Mae] oA] BT ee Tafel I. Genealogie der Hauptkultur von Simoeephalus (Sa) in der Zimmertemperatur‘). Moment ihrer ersten Entwickelung aus Dauereiern bis zur neuen Dauereibildung auftreten. Dieser Zyklus der verschiedenen Daphnidenkolonien war bis jetzt von allen früheren Forschern sehr einfach beschrieben worden. Es sollten erst einige parthenogenetische Generationen auftreten, dann eine Zahl von gamogenetischen und damit die Erschöpfung und der natürliche Tod der Kolonie. Man hat trotzdem die Tat- 4) Aus jeder Generation sind 3—10 Tiere gezüchtet: hier ist das Gesamt- resultat gegeben. Die Tiere der XI., XII. und XIII. Generation sind vor allem in Massenkulturen gehalten worden; deshalb fehlt ihre Genealogie. Erklärung der Zeichen am Schluss der Arbeit. - Papanicolatı, Experimentelle Upiersüchungen etc. 139 Geburten 1 2 3 4 5 6 Gene- rationen Il II Dauerei Y Tafel II. Hauptkultur von Moina (Ma) aus einem ausgetrockneten Dauerei in der Zimmertemperatur gezüchtet?a)- sache erkannt, dass sowohl den ersten parthenogenetischen Gene- rationen einige Männchen und Ephippialweibchen, wie auch den letzten, gamogenetischen, einige parthenogenetische Weibchen sich beimischen können. Es ist nun sehr interessant und durch meine Untersuchungen mit Sicherheit bewiesen, dass die Ephippialweibchen und die Männchen, die in den ersten parthenogenetischen Gene- rationen auftreten, aus späteren Geburten stammen, dass sie metatoke®*) Tiere sind, während umgekehrt die parthenogenetischen der letzten Generationen aus den ersten Geburten stammen, proterotoke Tiere sind. Wenn man durch eine zweckmäßige Selektion immer nur proterotoke Tiere weiter kultiviert, kann man eine große Reihe von parthenogenetischen Generationen züchten. Bei Simocephalus z. B. (Kultur Sa) habe ich 18 parthenogenetische Generationen von proterotoken Tieren erzielt, ohne ein Männchen oder ein Ephippialweibchen zu beobachten (s. Tafel I), und bei Moina (Kultur Ma) beträgt die Zahl 5 (s. Tafel II), während nach den Angaben Weismann’s sowohl bei Söimocephalus wie bei Moina die Gamogenesis schon mit der zweiten Generation beginnen soll. 4a) Aus jeder Generation sind 3—10 Tiere gezüchtet: hier ist das Gesamt- resultat angegeben’ Erklärungen der Zeichen siehe Schluss der Arbeit. 4b) Zur Vereinfachung der Ausdrucksweise werde ich hier die aus den ersten, mittleren und späteren Geburten stammenden Tiere proterotoke, mesotoke und metatoke, die aus den ersten, mittleren und späteren Generationen protero- gene, mesogene und metagene nennen, 47° 740 Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen ete. Wenn man dagegen meso- und metatoke Tiere weiter kultiviert, erhält man schon sehr frühzeitig Männchen und Ephippialweibchen. Bei Simocephkahıs (Tafel I) sieht man, dass schon in der zweiten Generation Männchen aus der zehnten Geburt, in der dritten Gene- ration Männchen aus der achten, Ephippialweibchen aus der zehnten Geburt hervorgegangen sind. Ähnliches gilt für Moina (Tafel I), wo die ersten Männchen der zweiten Generation, aber der fünften Geburt, die ersten Ephippialweibchen der dritten Generation und der vierten Geburt entstammen. Dasselbe kann ich von allen übrigen Kulturen von Simocephalus und Moina sagen: überall traten die ersten gamogenetischen Tiere schon in den ersten Generationen, aber nur bei späteren Geburten auf, während die proterotoken Tiere in einer langen Reihe von Generationen eine starke Tendenz zur Parthenogenesis zeigten. b) Tiere der ersten Generation. Nur die aus Dauereiern stammenden Tiere der ersten Gene- ration scheinen in der Regel parthenogenetische Weibchen zu sein, aber nicht ohne Ausnahme. Wie Woltereck angıbt (11), hat schon sein Schüler von Scharffenberg, der übrigens auch die Zunahme der Tendenz zur Gamogenesis von Geburt zu Geburt bestätigte, einen Fall beobachtet, wo eine Daphnia pulex der ersten Generation, nach Produktion einer größeren Anzahl von partheno- genetischen Bruten, Dauereier bildete. c) Reihenfolge beim Auftreten der Männchen und - Ephippialweibchen. Eine zweite, sehr interessante Erscheinung ıst, dass die Männ- chen im Verlaufe eines jeden Zyklus vor den Ephippialweibehen auftreten. Das sieht man schon sehr deutlich aus den Tafeln I u. II, aber noch besser ist es in Massenkulturen zu beobachten, da bei Einzelkulturen öfters individuelle Störungen eintreten. Denn man muss die Sache nicht so verstehen, als ob jedes Tier erst partheno- genetische Weibchen, dann Männchen und zuletzt Ephippial- weibehen hervorbringen müsste, vielmehr sind bei den Einzeltieren alle Komplikationen möglich. Deshalb tritt bei Massenkulturen diese Tatsache deutlicher in Erscheinung. So habe ich z. B. in einer Massenkultur von Moina (Me), die ich in einem größeren Glas am 8. August 1909 mit einem aus einem ausgetrockneten Dauerei gezüchteten Stammtier anlegte, die ersten Männchen am 23. August, die ersten Ephippialweibchen am 2. September be- obachtet. Dieses frühzeitige Auftreten der Männchen ist sehr zweck- mäßig, da die Befruchtung vor der Ablage der Dauereier statt- finden muss. Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. AN d) Metatoke Tiere. Eine dritte, ebenso wichtige Erscheinung ist, dass die Tiere der letzten Geburt äußerst schwache, öfters sterile und abnorme Tiere sind und meistens in ihren ersten Entwickelungsstadien ab- sterben, viele schon im Brutraum des Muttertieres, andere nach der Geburt, und dass nur wenige die Geschlechtsreife erreichen. Dieselbe Degeneration zeigen in geringerem Maße auch die meta- token Tiere der mittleren und späteren Generationen. Die Weib- chen erreichen öfters die Geschlechtsreife und bilden sowohl Dauer- eier als Subitaneier (auch Sterilität ist bei ihnen sehr häufig); ihre Nachkommen zeigen aber immer stärkere Degenerationserschei- nungen und gehen, wenn die Tiere unter denselben Bedingungen bleiben, nach wenigen Generationen zugrunde. Durch verbesserte Kulturbedingungen (extreme Reinlichkeit, reichliche und frische Nahrung) kann man die Tiere etwas auffrischen und längere Zeit am Leben erhalten; es ist aber unmöglich, sie auf das Niveau der proterotoken Tiere zu bringen. e) Einteilung. Wenn wir nun das bis jetzt Gesagte zusammenfassen, so können wir im Ablaufe eines Zyklus drei verschiedene Phasen unterscheiden: die erste, welcher proterogenotoke Tiere angehören, besteht aus- schließlich aus parthenogenetischen Weibchen; der zweiten gehören die mesogenotoken Tiere an, welche sowohl parthenogenetische Weibchen als auch Männchen und Ephippialweibchen sind; die dritte Phase bezeichnen die metagenotoken Tiere, welche ebenfalls gamogenetische oder auch parthenogenetische, aber dabei äußerst schwache und degenerierte Individuen sind. Diese Einteilung ist in den Tafeln I u. II gegeben, wo die parthenogenetischen Weibchen mit O, die Männchen mit ©, die Ephippialweibehen mit ($ und die degenerierten Tiere mit @& be- zeichnet sınd. Das Bild, das ich hier gegeben habe, betrifft den Zyklus im ganzen und nicht die Einzeltiere, bei welchen alle Komplikationen möglich sind. Als Regel kann aber gelten, dass parthenogenetische Weibchen, die von einem Muttertier nach der Erzeugung von Männ- chen und Ephippialweibchen zur Welt gebracht worden sind, eine starke Minderung an Vitalität zeigen und, auch unter den besten Bedingungen, niemals mehrere Generationen hindurch gezüchtet werden können. f) Spezifische Färbung der Eier. Im engen Zusammenhang mit den oben geschilderten Vor- gängen steht eine merkwürdige Eigentümlichkeit der Moina, die spezifische Färbung ihrer Eier. Dass ihre Dauereier ziegelrot sind, 142 Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. war schon seit lange bekannt; dass aber ihre Subitaneier verschie- dene Färbungen besitzen, welche mit großer Regelmäßigkeit nach- einander auftreten und in Zusammenhang mit den Fortpflanzungs- verhältnissen stehen, war bis jetzt nicht beobachtet, und es ist überhaupt bei keiner anderen Daphnidenart eine analoge Erschei- nung beschrieben worden. Die Ursache liegt vielleicht darın, dass keiner von den früheren Daphnidenzüchtern eine Kolonie vom An- fang bis zum Ende des ganzen Zyklus mit Berücksichtigung mög- lichst vieler Generationen und Geburten gezüchtet hat. Die meisten haben als Stammtiere parthenogenetische Weibchen unbekannter Genealogie angewandt; und diejenigen, die Dauereier züchteten, haben deren Nachkommenschaft nicht bis zu ihrer letzten Entfaltung verfolgt. Deshalb sind auch andere wichtige Tatsachen, wie die oben erwähnte Verteilung der Fortpflanzungstätigkeit im Gesamt- bild eines Zyklus bis jetzt vollkommen unbekannt geblieben. Viel- leicht ist aber auch diese spezifische Färbung eine Eigentümlichkeit der Moina rectirostris und speziell der var. Lilljeborgii, so dass sie bei Experimenten mit anderen Arten nicht beobachtet werden kann. Das ist auch deshalb sehr wahrscheinlich, weil bei Simocephalus vetulus eine so ausgeprägte spezifische Färbung nicht vorhanden ist. Immerhin kommt bei dieser Art eine Verfärbung der grünen Subitaneier der protero- und mesogenotoken Tiere bis zu der trüben Farbe der Subitaneier der metagenotoken Tiere vor. Als eine Übergangsfarbe ist manchmal braun zu konstatieren, das übrigens für die Dauereier von Simocephalus vetulus charakteristisch ist. Bei Moina dagegen sind die Verhältnisse ganz anders: Die Subitaneier der proterogenotoken Tiere, die sonst, wie schon früher gesagt, eine große Tendenz zur Parthenogenesis zeigen, sind violett gefärbt. Die Subitaneier der mesogenotoken Tiere bilden den Übergang von Violett zu einem Blau, welches charakteristisch für diese zweite Phase ist. Bei den metagenotoken Tieren be- ginnt dagegen eine langsame Entfärbung der Eier, die mit einer Trübung Hand in Hand geht, wie sie für solche Eier charakte- ristisch ist, deren Nachkommen ihre Lebensenergie vollkommen eingebüßt haben. Bei einer näheren Betrachtung kann man nun feststellen, dass aus den violetten Eiern vorwiegend parthenogenetische Weibchen, aus den violett-blauen Eiern hauptsächlich Männchen, aus den blauen Eiern in der Mehrzahl Ephippialweibchen, aus den trüben Eiern degenerierte Nachkommen entstehen. Folgende Statistik, die aus verschiedenen Moina-Kulturen zusammengestellt ıst, gibt genaue Zahlen: Aus 538 violetten Eiern, deren Nachkommen ich bis zur Ge- schlechtsreife verfolgt habe (Zimmertemperatur), entstanden: 485 parth.'o, 53 '\, d.h. 90,14%, parth..e’zu 9,86%, ©". Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. 143 Aus 322 violett-blauen Eiern entstanden 103 parth. 9, 167 4, 52 Ephippialweibchen, d. h. 31,98°/, parth. 9 : 51,86°/, 5: 16,16°/, Ephippialweibchen. Aus 273 blauen Eiern stammten: 25 d (8,96°/,), 190 Ephippial- weibchen (68,20°/,), und 58 degen. 9 (22,84°/,). 204 trübe Eier lieferten 63 degen. g' (30,88°/,) und 141 degen. o (69,12 °),). Auch hier sınd die Verhältnisse wiederum nicht so aufzufassen, als ob jedes parthenogenetische Weibchen erst violette, dann violett- blaue, später blaue und endlich trübe Eier bilden müsste, sondern man begegnet im einzelnen allen möglichen individuellen Ver- schiedenheiten. Das Bild, das ich oben gegeben habe, betrifft den Zyklus der Tiere insgesamt und nicht jedes einzelne Individuum. Trotzdem gibt es einige Regelmäßigkeiten, die man in jedem Fall bestätigen kann. Man wird nämlich niemals bei einem und dem- selben Tier bei dem Auftreten der verschiedenen Färbungen eine der oben beschriebenen entgegengesetzte Reihenfolge beobachten. Erst trübe und dann violette oder blaue, oder erst blaue und dann violette Eier habe ich in keinem Fall bei einem und demselben Tier, natürlich bei konstanten äußeren Bedingungen, beobachten können. Häufig kann dagegen bei einem einzelnen Tier irgendeine Stufe ausfallen. So herrscht bei Beginn der Eibildung in den ersten (Generationen gewöhnlich die violette Farbe vor und geht dann entweder direkt, oder unter Dazwischentreten von Blau, ın den trüben Habitus über. Bei mittleren Generationen sind sämtliche Färbungen häufiger, und nicht selten kann man alle Übergänge an einem und demselben Tier beobachten, während bei späteren Gene- rationen die Eibildung mit einer blauen oder trüben Färbung be- ginnen kann. Eine Störung in diesem einfachen Prozess durch das Auftreten anderer Färbungen ist nicht ausgeschlossen, aber jeden- falls sehr selten und in den Fällen, die ich beobachtet habe, nur auf degenerierte Tiere der letzten Phase beschränkt. So habe ich z. B. 4 Fälle mit grauen, 3 mit blaugrünen und 1 mit ziegelroten Eiern gesehen, den letzten Fall unter Umständen, die ich unten erwähnen werde. Wie sich an zerquetschten Eiern feststellen lässt, sind diese Färbungen auf die Dotterkugeln beschränkt. Am stärksten sind sie ausgeprägt bald nach dem Übertreten der Eier vom Ovarium in den Brutraum, während mit dem Anfang der Entwickelung eine langsame Entfärbung beginnt, so dass in einem oder zwei Tagen keine Spur von der ursprünglichen Färbung wahrzunehmen ist, was den Nachweis dieser spezifischen Färbung noch schwieriger macht, besonders in Wärmekulturen, wo die Entwickelung viel schneller vor sich geht. Zu beachten scheint mir der Umstand, dass die Aufemanderfolge dieser Färbungen bei den Moina-Eiern eine ge- 144 Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen ete. wisse Übereinstimmung mit der Verteilung der Farben im Sonnen- spektrum aufweist. So sind. z. B. violett und rot zwei Extreme ım Spektrum, während blau einem mittleren Teil des Spektrums entspricht. Das gilt auch für die Moina-Eier: am Anfang des Zyklus herrscht de violette Färbung, in der mittleren Periode die blaue vor; und erst spä- ter, am Ende des Zy- klus, kommt bei der Bildung der Dauereier auch die rote Farbe zum Vorschein. g) Zahl der Eier. Die Zahl der Eier habe ich in den Kul- RR turen Ma und Sa ın Tab. 1. Zahl der Eier bei Moina (Ma) nach doppelter Weise berech- Generationen gerechnet. net: erstens nach Gene- rationen und zweitens nach Geburten (Gesamtzahl der Eier jeder Generation oder Geburt durch die Zahl der Fälle dividiert). Die Resultate sind in den Tabellen 1, 2, 3 und 4 ın der Form von Kurven angegeben. Mittlere Zahl der Eier. NNAWOUSNMES TE THIERRY EN VITGEITEIK: 19 A BER EEE] IESEEZZEE 1 SEN IN Ber Sad Mittlere Zahl der Eier. / BPABREEEHENE / EEE Generationen. Tab. 2. Zahl der Eier bei Sömocephalus (Sa) nach Generationen gerechnet, Aus der Betrachtung dieser Tabellen geht hervor, dass die Zahl der Eier sowohl bei Sömocephalus als bei Moina von Gene- ration zu Generation stetig abnimmt, während sie von Geburt zu Geburt erst eine Zunahme erfährt und dann wieder zurückgeht, wobei Simocephalus die größte Zahl der Eier in dem fünften Ge- lege, Moina in dem dritten aufweist. Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen ete. 745 Die Abnahme der Zahl der Eier von Generation zu Generation, die auch bei Massenzüchtung gut zu verfolgen ist, war schon von Stingelin (13) festgestellt worden, der eine Massenkultur von Daphnia pulex in einem Aquarium des zoologischen Instituts von Basel untersuchte. Stingelin beobach- tete, dass die Tiere am Anfang des Sommers be- sonders groß (2,5 mm) waren und viele Eier pro- duzierten. Im Juli und August bemerkte er die erste gamogenetische Pe- rıode, wobei die übrig bleibenden parthenogene- tischen Weibchen 2,2 mm groß waren und 5—8 Eier produzierten. Im Sep- tember verschwanden die Tab. 3. Zahl der Eier bei Moina (Ma) nach Geburten gerechnet. Mittlere Zahl der Eier. Geburtenzahl. gamogenetischen Tiere allmählich. Die Männ- chen hatten eine Größe von 1,5—2,0 mm. Die parthenogenetischen Weibchen bildeten 2—4 Eier. Anfang November begann die zweite & E 5 w = S N {eb} S = = Be BEE BEZIZEIRFINA 7 2 3 4 2 6 7 8 9 10 „4 12 13 13, Geburtenzahl. Tab. 4. Zahl der Eier bei Simocephalus (Sa) nach Geburten gerechnet. und letzte gamogenetische Periode, bei welcher die Ephippialweib- chen eine Mittel- größe von 1,5 mm hatten. Aber der eigentümliche auf- und absteigende Verlauf der Zahlen- kurve der Eier von Geburt zu Geburt, dıe nur bei Einzelkulturen zu verfolgen ist, ist bis jetzt nicht beschrieben worden, 746 Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen ete. Auch beim Einzeltier zeigen sich analoge Verhältnisse: Die Zahl der Eier, die ein und dasselbe Tier bildet, steigt bei den ersten Eibildungen und sinkt dann in den nächsten Würfen wieder. h) Zahl der Geburten. Wie die Zahl der Eier, so nimmt auch die Zahl der Geburten von Generation zu Generation bedeutend ab. Diese Abnahme tritt ganz deutlich ın den Tafeln I und II, besonders in der ersten her- vor, wo die Zahl der Geburten von 15 bis auf 3 sinkt. Bei Moina ist der Unterschied nicht so auffallend, da die Zahl der Geburten bei der letzteren Art viel geringer ist. i) Größe der Subitaneier. Die Größe der Subitaneier (Länge und Breite’) miteinander multipliziert und durch 2 dividiert), habe ich nur bei Simocephalus 70 ER EEE a aa a IE Pe “ BelnwrEsRei = STE Mittlere Größe der Eier. NS) Generationen. Tab. 5. Größe der Eier bei S?mocephalus (Sa) nach Generationen gerechnet. berechnen können und zwar möglichst auf demselben Stadium — einige Stunden nach dem Übergang vom Ovar in den Brut- raum —, da im Laufe der Entwickelung eine regelmäßige Wachs- tumszunahme eintritt. Bei Moina stößt eine solche Berechnung wegen der Schnelligkeit der Entwickelung auf große Schwierig- keiten. Die Resultate sind hier ın den Tabellen 5 und 6 angegeben: Aus der Betrachtung dieser zwei Kurven geht hervor, dass die Größe der Eier sowohl von Generation zu Generation als von Ge- burt zu Geburt beständig zunimmt. Die degenerativen Prozesse bei den metagamogenen Tieren sind also mit einer übermäßigen Vergrößerung der Eier verknüpft. Das entgegengesetzte Bild sieht man manchmal bei der ersten Eı- 5) In Strichen des Okularmikrometers, 60 Striche entsprechen einem Millimeter. Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. 7147 bildung, bei welcher die Eier übermäßig klein sind und ebenso- wenig entwickelungsfähig, wie die übermäßig großen Eier der meta- gamogenen Tiere. k) Wachstumsprozess. Da die Schale der Daphniden ganz hart ist und keine Größen- zunahme gestattet, ist der Wachstumsprozess auf das innigste mit dem Häutungsprozess verbunden. Nach jeder Häutung wachsen die Tiere plötzlich an, so dass unmittelbar nach jeder Häutung eine beträchtliche Größenzunahme stattfindet. Der Häutungsprozess ist gut erforscht; man wusste schon seit Anfang vorigen Jahr- hunderts, dass die Daphniden einige Häutungen vor der Geschlechts- reife durchmachen müssen und dass auch nach der Geschlechtsreife bis zum Ende des Lebens weitere Häutungen stattfinden. Auch de ERAIIN: Mittlere Größe der Eier. Geburtenzahl. Tab. 6. Größe der Eier bei Simocephalus (Sa) nach Geburten gerechnet. wusste man, dass diese letzteren Häutungen beı den parthenogene- tischen Weibchen nach jeder Geburt eintreten, während sie bei den Ephippialweibehen den Abwurf des Ephippiums begleiten. Man hat auch den Übergang der Eier vom Ovarium in den Brutraum beobachtet, der bei den parthenogenetischen Weibchen gleich nach der Häutung eintritt. Die Wachstumsverhältnisse sind aber gar nicht in Betracht gezogen worden. Durch genaue Messungen eines Teils meiner Simocephalus- Exemplare gleich nach jeder Häutung konnte ich einige Regel- mäßigkeiten feststellen, die in ihrer Beziehung zu den oben darge- stellten Tatsachen nicht ohne Bedeutung sind. Da diese Verhältnisse bei parthenogenetischen Tieren anders als bei gamogenetischen Tieren vor sich gehen, werde ich diese in besonderen Abschnitten behandeln. 748 Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. )) Wachstumsverhältnisse bei parthenogenetischen Weibchen. Die parthenogenetischen Weibchen machen gewöhnlich 4—5 Häutungen vor der Erreichung der Geschlechtsreife durch und zwar jeden dritten oder vierten Tag eine Häutung, so dass sie bei der in Tagen. Zeit zwischen den einzelnen I 2 mw v WM VI VI IX X XI Xu XoOI XIV XV XV XV XVoRIX xXX Generalionen. Tab. 7. Zeit zwischen den einzelnen Häutungen, die nach der Geschlechtsreife stattfinden bei Simocephalus (Sa) in Tagen und Generationen gerechnet. Be] ERRRELUHERAENN BEBHERERSERERIE Nılı tungen in Tagen. > o ann Zeit zwischen den einzelnen Häu- Geburtenzahl. Tab. 8. Zeit zwischen den einzelnen Häutungen, die nach der Geschlechtsreife stattfinden bei Simocephalus (Sa) in Tagen nach Geburten gerechnet. ersten Eibildung eine Länge von 1,50 mm (im Durchschnitt) er- reicht haben, was einen Mittelwert des Körperwachstums zwischen je zweı Häutungen von 0,16-—-0,20 mm ergibt, da die jungen Tiere bei der Geburt eine Länge von 0,68 mm besitzen. Diese Größen- zunahme wird nicht mit der Erreichung der Geschlechtsreife be- Papanieolau, Experimentelle Untersuchungen ete. 749 endigt, sondern dauert noch fort bis in die letzten Häutungsperioden, aber in abnehmendem Maße, so dass die letzten Häutungen eine minimale Vergrößerung des Körpers (0,015—0,025 mm) zur Folge haben. Es ist nun von besonderer Wichtigkeit, dass auf diesen letzten Entwickelungsstadien, bei welchen die Tiere ihre Wachstumsfähig- keit eingebüßt haben, nur entwickelungsfähige Keimprodukte, auf den mittleren Stadien, wo eine mittlere Wachstumsfähigkeit existiert, vor allem gamogenetische Tiere erzeugt werden, während die Er- zeugung von kräftigen proterogenotoken Tieren mit einer hohen Wachstumsfähigkeit zusammenfällt. Als Mittelwert für das durchschnittliche Wachstum zwischen je zwei Häutungen berechnete ich aus 30 Fällen bei kräftigen pro- terogenotoken Weibchen 0,124mm, wenn ich sämtliche, 0,196 mm, wenn ich nur die ersten sechs Häutungen in Betracht zog. Was die Zeit zwischen zwei aufeinanderfolgenden Häutungen betrifft, so nimmt dieselbe sowohl von Generation zu Generation als von Geburt zu Geburt bedeutend zu, wie es aus den beigegebenen Tabellen 7 und 8 zu entnehmen ist. Das Größenmaximum beträgt ber den parthenogenetischen proterogenotoken Weibchen etwa 2,5 mm, während die metageno- token Tiere selten mehr als 1,75 mm erreichen, da bei ihnen sowohl die Zahl der Häutungen und Geburten als auch die Größenzunahme geringer ist als bei den proterogenotoken Weibchen. m) Wachstumsverhältnisse bei den Männchen. Die Männchen besitzen bei der Geburt ungefähr dieselbe Größe wie die Weibchen. Mit dem Beginn des Häutungsprozesses macht sich aber eine Verlangsamung der Entwickelung bemerkbar, die einen doppelten Ausdruck findet: 1. Die Zeit zwischen je zwei Häutungen ist größer als bei den parthenogenetischen Weibchen, da sie bei den späteren Häutungen bis auf 5, 6 und 7 Tage steigt. 2. Die Größenzunahme bei jeder Häutung ist dagegen geringer. So fand ich als Mittelwert für alle Häutungen beı 30 Fällen 0,054 mm, für die ersten sechs Häutungen 0,076 ınm. Bei der Geschlechts- reife messen die Tiere 0,90-—-1,0 mm; ihre größte Länge beträgt 1,25—1,35 mm. n) Wachstumsverhältnisse bei den Ephippialweibchen. Die Ephippialweibchen wachsen ebenfalls langsamer und in kleineren Schritten als die parthenogenetischen. So ist der Mittel- wert bei solchen Tieren (30 Fälle) 0,112 mm für alle Häutungen, 0,136 für die ersten sechs Häutungen. 750 Braune, Über Fütterungsversuche mit Anilinfarbstoffen. Die Entwickelungszeit ist auch länger als bei den partheno- genetischen Weibchen. Das ist besonders deutlich aus gemischten Würfen, die aus parthenogenetischen Weibchen und Ephippial- weibchen bestehen. In solchen Fällen sieht man, dass die partheno- genetischen Weibchen 2—3, manchmal sogar 5—7 Tage vor den gamogenetischen ihre Geschlechtsreife erreichen. Da die Geschlechtsreife in der Regel, wie bei den partheno- genetischen Weibchen nach der vierten oder fünften Häutung ein- tritt, die Wachstumsgröße aber kleiner ist, so sind die Ephippial- weibchen bei der ersten Eibildung etwas kleiner als die partheno- genetischen Weibchen (1,39 mm). Die Zahl der Geburten ist immer sehr beschränkt. Gewöhnlich gehen nach 2—3 Dauereibildungen die Tiere bei einer Länge von 1,56 mm zugrunde. Eine sehr häufige Erscheinung ist der Über- gang zur Parthenogenesis. Die so gebildeten Subitaneier sehen trüb aus und geben in der Regel degenerierte Nachkommen. 0) Übersicht. Zur größeren Übersichtlichkeit werde ich hier eine Zusammen- fassung der oben angegebenen Zahlen geben: 1. Größe bei der Erreichung der Geschlechtsreife: parthenogen. 2. . . 1,50 mm Ephippialweibcehen . 1,39 „ Männchen 77 2 72:°77.0:95=55 2. Durchschnittswachstum zwischen je zwei Häutungen: a) Aus sämtlichen Häutungen berechnet: parthenogen.2 . . 0,124 mm Ephippialweibehen . 0,112 „ Männchen "2.0.30 2..0,05427% b) Aus den sechs ersten Häutungen berechnet: parthenogen.Q . . 0,196 mm Ephippialweibehen . 0,136 „ Männchen ar. .2..,.0:0007% 3. Größenmaximum: parthenogen. ©. . . 2,50 mm Ephippialweibchen . 1,56 „ Männchen vo. a. 1.30.05 (Fortsetzung folgt.) Über Fütterungsversuche mit Anilinfarbstoffen. Von Dr. med. Braune. Um Angaben nachzuprüfen, nach denen bei Fütterung mit ge- wissen Anilinfarbstoffen diese imstande sein sollten, bei Vögeln eine Färbung des Gefieders hervorzurufen, stellte ich vor mehreren Braune, Über Fütterungsversuche mit Anilinfarbstoffen. 751 Jahren eine Anzahl (5—6) Versuche an, die für die Beurteilung der letzthin so lebhaft erörterten Eosinfrage von Interesse sein dürften. Die betreffenden Angaben finden sich ın der „Gefiederten Welt“, Jahrgang 1890, p. 147. Analoge Angaben sollen — siehe Marshall, Bau der Vögel, Leipzig 1905 — in der Geflügelbörse, 11. Jahrgang, Nr. 44 stehen. Nach der dort gegebenen Vorschrift wurden die Körner — weiße Hirse und Glanz — ın einer ziemlich starken Anilinfarbstofflösung erhitzt, bis sie platzten, worauf der Kern sich intensiv mit dem betreffenden Farbstoff färbte. Dann wurden sie getrocknet und verfüttert. Als Farbstoffe (von Dr. Grübler, Leipzig) wurden Methyleosin (zu 3—4 Versuchen), Malachitgrün (1 Versuch) und Methylviolett (1 Versuch), sämtlich chemisch reine Anilinfarbstoffe, verwandt. Die Vögel, mit denen die Versuche angestellt wurden, waren die allen Exotenliebhabern bekannten Japanischen Mövchen und zwar sowohl die braunbunte (2 Pärchen) als die weiße (1 Pärchen) Spielart. Letztere ist besonders zart und hinfällig und pflegt bei irgendwie ungünstigen Verhältnissen zuerst einzugehen. Die Versuche wurden ın der Weise angestellt, dass die 3 Pär- chen, jedes in einem Käfig für sich, zur Zucht verwandt wurden. Es wurden 5—6 Bruten gemacht und während der ganzen Dauer einer solchen — ca. 6 Wochen — und schon 14 Tage vorher aus- schließlich obiges Körnerfutter und reines Wasser gereicht. Nur während der ersten 14 Tage, sobald Junge ausgekommen waren, wurde noch etwas Weichfutter gegeben, doch blieben auch dabei die Körner stets die Hauptnahrung. Die intensiv gefärbten Körner wurden, nachdem die erste Verwunderung darüber überwunden, stets gern genommen und gut vertragen. Das Verhältnis vom auf- genommenen Anilinfarbstoff zur Größe der Tiere (ca. die einer Meise) dürfte das bei Fütterung von Eosingerste an Schweine um das Vielfache übertreffen, von dem gewaltigen Unterschiede in der Kon- stitution — bezw. Vitalität — beider Tierarten ganz zu schweigen. Wieviel Farbstoff von den Tieren aufgenommen wurde, war am deutlichsten bei den in den ersten Tagen völlig nackten Jungen zu sehen. Der vollständig rote, bezw. blaue oder grüne Kropf- und Darminhalt leuchtete so intensiv durch die dünne Haut hin- durch, dass die Tierchen wie gefärbt und der Erfolg unausbleiblich erschien. Als nach ca. 8 Tagen die Kiele sprossten und die Federfahnen erschienen, war jedoch die Überraschung, wenigstens beim ersten Versuch, groß: Reinweiß! Auch nicht der leiseste Schimmer nach dem gefütterten Farbstoffe hın war zu bemerken. Die ge- machten Angaben erwiesen sich somit für Japanische Mövchen 752 Braune, Über Fütterungsversuche mit Anilinfarbstoffen. jedenfalls nicht als zutreffend, bezw. auf diese übertragbar, und die Versuche wurden deshalb schließlich als aussichtslos abgebrochen. Infolge der intensiv gefärbten Exkremente — die Farbstoffe schienen den Magendarmkanal unverändert passiert zu haben — wurden zwar, so lange die Jungen noch im Neste saßen, die Federn schließlich etwas von außen gefärbt, doch verlor sich dieser Anflug, trotz Weiterfütterns mit den gefärbten Körnern, nach einigen Bädern sehr rasch. Schon diese Versuche, während derer die Tiere sich des besten Wohlseins erfreuten und völlig normale Fruchtbarkeit zeigten, dürften für die absolute Ungefährlichkeit chemisch reiner Anilin- farbstoffe, in der geschilderten Weise angewandt, sprechen. Es gesellte sich jedoch diesen beabsichtigten Versuchen noch ein gänz- lich unbeabsichtigter hinzu. Ich habe Japanische Mövchen, nebst vielen anderen Pracht- finkenarten, im Verlaufe von mehr als 25 Jahren ın großer Zahl gezüchtet, Zweimal in diesem Zeitraum trat eine scharf charakteri- sierte Krankheit, offenbar eine infektiöse Magendarmaffektion, auf, die sich stets ausschließlich bei Nestjungen und nur bei Japanischen Mövchen zeigte. Die Jungen des zuerst ergriffenen Pärchens be- kommen dünnflüssige Entleerungen, magern ab, brauchen anstatt 3 gut 4 Wochen bis sie ausfliegen, kommen aber zumeist noch durch. Bei der nächsten Brut — sowohl desselben, als auch anderer Pär- chen — gehen die Jungen nach 2—3 Wochen ein, alsdann sterben sie regelmäßig schon im Verlaufe der ersten Woche. Völliges Aus- setzen der Zucht für mehrere Monate, gründliche Desinfektion be- wirken schließlich das Erlöschen der Seuche. Auffallend ist, dass die Alten dabei stets vollkommen gesund bleiben. Eine solche Epidemie brach nun zufällig gerade damals aus, als ich die erwähnten Färbeversuche anstellte. Ich war zunächst sehr wenig erfreut. Es kam jedoch anders als ich dachte: die mit den Anilinfarben gefütterten Jungen erfreuten sich des ausgezeich- netsten Wohlbefindens, während ihre ungefärbten Artgenossen sämt- lich der Seuche erlagen. Man kann also hier bei der Anilin- fütterung nicht nur von keinem Schaden, sondern sogar von einem Nutzen für das betreffende Tier sprechen. Hieraus aber, gewisser- maßen indirekt, dennoch einen Schluss auf eine Einwirkung des Anilinfarbstoffes auf das Tier zu ziehen, ist nicht angängig, denn der Farbstoff wirkt hier ganz offenbar nur fäulnishindernd auf den Darminhalt und damit die Krankheitsursache ausschaltend, nicht aber auf das Tier selbst. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Der Abonnementspreis für 24 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen. BIxxıY 1. Dezember 1910. M 23, Inhalt: Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen über die Fortpfllanzungsverhältnisse bei Daplıniden (Simocephalus vetulus und Moina rectivoslris var. Lilljeborgii) (Fortsetzung). — Näcke, Die Bedeutung der Hirnwindungen in physio-, patho- und anthropologischer Hin- sicht. — Marshall, Bombus hortorum L. an den Blüten der Kapuzinerkresse (Tropaeolum maius). — Walter, Der Flussaal. Experimentelle Untersuchungen über die Fortpflanzungs- verhältnisse der Daphniden (Simocephalus vetulus und Moina rectirostris var. Lilljeborgii). Von Dr. Georg Papanicolau. (Aus dem zoolog. Institut München.) (Fortsetzung.) p) Wachstumsverhältnisse bei Moina. Das, was wir für Simocephalus gesagt haben, gilt ım großen und ganzen auch für Moina. Kleinere Unterschiede ergeben sich ın folgenden Punkten: 1. Die jungen Tiere sind bei der Geburt etwas kleiner als die von Stimocephalus (0,55 — 0,70 mm). 2. Die erste Eibildung tritt auf zur Zeit der dritten oder vierten Häutung, wobei die Tiere eine Größe von 1,05—1,15 mm besitzen. 3. Die Zahl der Häutungen ist kleiner. 4. Die größte Länge der Tiere beträgt bei den proterogenotoken Weibchen 1,65 — 1,70 mm. 5. Die Männchen erreichen ihre Geschlechtsreife mit 0,90 —0,95 mm und erlangen eine Körpergröße von 1,20—1,25 mm. Ihre Ent- wickelung ist langsamer als die der parthenogenetischen Weibchen. 6. Langsamer als die parthenogenetischen Weibchen entwickeln sich die Ephippialweibchen, die bei der ersten Eibildung eine Größe XXX. 48 754 Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. von 1,25—1,35 mm erreichen. Wie bei Sömocephalus tritt auch hier öfters ein Übergang von der Dauereibildung zur Sommer- eibildung ein und zwar anfangs nach der ersten oder zweiten Ei- bildung, später nach der dritten oder vierten. Die Zunahme der Körpergröße zwischen je zwei Eiablagen ist sehr gering, so dass die Ephippialweibchen nicht so viel wie die proterogenotoken par- thenogenetischen Weibchen wachsen können. Die Tatsache, dass die Ephippialweibchen im Moment der Geschlechtsreife größer sind als die parthenogenetischen (das Gegenteil ist bei Söimocephalus der Fall), beweist nicht, dass sie kräftiger sind, da sie mehrere Häu- tungen durchmachen müssen, um die Geschlechtsreife zu erreichen. q) Langlebigkeit. Wenn man die Lebensdauer der Tiere betrachtet, so sieht man, dass die proterogenotoken parthenogenetischen Tiere langlebiger als die gamogenetischen sind. Männchen und Ephippialweibchen von Simocephalus leben selten über 1!/, Monate, während die pro- terogenotoken Tiere über 2!/, Monate leben können. Die degene- rierten metagenotoken Tiere haben dagegen eine kürzere Lebensdauer. Bei Moina sind die Unterschiede geringer, da die protero- genotoken Tiere selten über 25—:20 Tage, die gamogenetischen selten über 20--25 Tage leben können. Noch kurzlebiger sind die metagenotoken Tiere, die meistens in früheren Entwickelungsstufen absterben. r) Abnormitäten. Wie ich oben gesagt habe, sind die metagenotoken Tiere schwächer als die proterogenotoken und zeigen häufig abnorme Formen. Die häufigste Abnormität, die ich beobachtet habe, war das Fehlen des Pigments der Nebenaugen‘), die bei Sömocephalus, wie es die beigegebene Fig. 1 zeigt, besonders groß und lang aus- gestreckt sind. Den ersten Fall habe ich bei einem metatoken (5. Geburt) und mesogenen (7. Generation) Tiere gesehen. Aus einer isolierten Züchtung hat es sich ergeben, dass diese Entfärbung der Neben- augen nicht erblich ist, da die Nachkommen alle ein normal pig- mentiertes Nebenauge besaßen. Bei späteren Generationen war die Erscheinung so häufig, dass ich im ganzen über hundert Fälle beobachten konnte. Die Erblichkeit habe ich in 11 Fällen geprüft. Überall haben sich negative Resultate ergeben. Eine Entfärbung der Hauptaugen ist viel seltener und nur bei fortgeschrittener Degeneration zu beobachten. Zwei solche Fälle, 6) In den meisten Fällen waren die Nebenaugen gleich nach der Geburt normal und schwanden erst im Laufe der Entwickelung. Nur in wenigen Fällen fehlten sie auch bei den Neugeborenen vollkommen. Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen ete. 755 die ich gesehen habe, lieferten metatoke Moina-Individuen, das eine in der vierten, das andere in der neunten Generation, deren Eltern sehr geschwächt waren. Im ersten Fall bildete das Muttertier erst ein Ephippium, dann trüb aussehende Subitaneier, deren Nach- kommen ganz entfärbte Augen besaßen und schon bei den zwei ersten Häutungen abstarben. Häufiger besteht die Deformation der Hauptaugen in einer Zerstreuung des Pıgments. Solche Fälle habe ich bei Simocephalus f Fig. 1. Kopfumriss von Simocephalus Fig. 2. Kopfumriss von Simocepkalus vetulus: VII. Generation, 1. Geburt. vetulus: X. Generation, 7. Geburt. [ Fig. 4. Kopfumriss von sSimo- Fig. 3. Kopfumriss von Simocephalus vetulus: eephalus vetulus: IX. Generation, X. Generation, 7. Geburt. 5. Geburt. beobachten können, im ganzen 12, von denen ich drei in den neben- stehenden Figuren 2, 3 und 4 wiedergebe. Wie man sieht, ist bei diesen drei Tieren eine gleichzeitige Umformung der Stirn zu beobachten, wie es der Vergleich mit der Fig. 1, die von einem normalen Tier stammt, ergibt. Die meisten dieser Tiere habe ich auch isoliert gezüchtet, um die Erblichkeit dieser Umformungen zu prüfen. In allen Fällen habe ich negative Resultate bekommen. Die beschränkte Nachkommenschaft, die ich bei sorgfältiger Züchtung längere Zeit am Leben erhalten konnte; zeigte eine Rückkehr zur normalen Form oder andere verschieden- artige Umformungen. 48* 756 Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen ete. Ähnliche deformative Umgestaltungen der Hauptaugen mit viel stärker ausgeprägter Zerstreuung des Pigments hat in neuester Zeit (1910) Kapterew (14) bei Kulturen, die er in der Dunkelheit gehalten hat, ın viel größerer Zahl beobachten können. Da in der bisherigen Daphnidenliteratur solche Umgestaltungen unter normalen Beleuchtungsverhältnissen nicht angegeben worden sind’), hat Kap- terew seine Fälle als Resultat des Lichtmangels erklärt. Es ist möglich, dass auch dieser Faktor eine begünstigende Rolle für die Entstehung solcher Anomalien spielt, der Hauptfaktor ıst aber ein innerlicher und besteht in einer allgemeinen Schwächung der ganzen Organisation der Tiere. Das ist auch aus den Fällen ersichtlich, die Kapterew selber angibt: Bei der ersten Serie seiner Versuche (Daphnia pulex), bei welcher er als Stammtiere kräftigere (ein in einem größeren Teich am 23. Mai gefangenes Tier und andere aus Ephippien gezüchtete) Tiere verwandte, kommt die Deformation des Auges erst nach 2—3 Monaten zum Vorschein, während starke Entartungen nur in ‘den letzten Stadien des Zyklus zu beobachten waren; bei der zweiten Serie, wo als Stammtier ein parthenogenetisches Weibchen (Daphnia pulex) aus einer kleineren austrocknenden Pfütze in späterer Zeit (12. Juni) gefangen wurde, sind diese Deformationen viel früher, schon nach einem Monat aufgetreten. Bei der dritten Serie end- lich, wo er Stammtiere (Daphnia pulex und longispina) aus einem anderen Teich in noch späterer Zeit (12. Juli, 24. August) genommen hat, sind diese Deformationen schon nach 12—13 Tagen eingetreten. Es ıst nun klar, dass seine Stammtiere nicht dieselbe Lebenskraft besaßen, was auch daraus zu entnehmen ist, dass von den Kolonien der ersten Serie die eine JO dıe andere 6 Monate sich am Leben erhielt, die der zweiten Serie 3 Monate, die eine der dritten Serie (für die Daphnia longispina fehlen genauere Angaben) nur 20 Tage. Aus diesen Tatsachen ergibt sich, dass, solange die Tiere noch in den ersten Stadien der Entwickelung sich befinden, die hier be- schriebene Degenerationserscheinung infolge äußerer Einflüsse nicht eintreten kann. Nur dort, wo die Tiere durch die lange Partheno- genesis eine fortschreitende Schwächung erleiden, treten zwischen anderen Degenerationserscheinungen auch Veränderungen an den Augen hervor. Es ist also unmöglich, diese als Produkte einer äußeren Einwirkung zu betrachten, wie es Kapterew tut, indem er weiter die verschieden starke Labilität seiner Daphnia pulex- Arten für die Differenzen in der Schnelligkeit des Eintretens der Wirkung des äußeren Faktors verantwortlich macht. Er nimmt nämlich an, dass die Arten und Varietäten, welche größere Teiche bewohnen, eine größere Konstanz besitzen als solche, 7) Die Ursache liegt vielleicht darin, dass solche degenerierte Tiere im Freien meistens zugrunde gehen. Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen ete. wis: die in kleineren Pfützen leben. Da nun die Stammtiere der ersten Serie aus einem relativ größeren Teich genommen waren, sollten sie eine größere Konstanz und damit eine größere Widerstands- fähigkeit gegen äußere Faktoren besitzen. Deshalb ıst die Wirkung bei ihnen so verzögert, während bei den anderen Serien, deren Stammtiere aus kleineren Tümpeln stammten, sie viel schneller zum Vorschein gekonimen ist. Dass die Größe der Tümpel, aus denen Kapterew seine Stammtiere genommen, hier eine Rolle gespielt hat, ist sehr wahr- scheinlich, jedenfalls aber nicht in dem Sinne, wie Kapterew meint. Denn dass die Bewohner eines größeren Tümpels kon- stantere Merkmale als die eines kleineren besitzen, ist eine Hypo- these, die bis jetzt nicht experimentell bewiesen ist. Dass aber die Bewohner eines größeren Tümpels einen längeren Zyklus als die eines kleineren besitzen, ist eine von Weismann experimentell bewiesene Tatsache. Und in dieser Tatsache liegt die Erklärung der uns beschäftigenden Erscheinung‘). Die aus dem größeren Tümpel stammenden Tiere, die einen längeren Zyklus besaßen und die in früherer Zeit gefangen worden sind, mussten in ihre Degene- rationsperiode später eintreten als die anderen. Deshalb sind ın der ersten Serie die Degenerationsfälle später eingetreten, bei den zwei anderen dagegen viel zeitiger. Immerhin machen die Menge und der stark ausgeprägte Cha- rakter der Fälle, die Kapterew angegeben hat, es wahrscheinlich, dass der äußere Faktor des Lichtmangels eine begünstigende Rolle für diese Deformationen des Lichtempfindungsorgans gespielt hat. Doch kann man das nicht einwandfrei behaupten, denn die Kultur- methoden, die Kapterew angewandt hat, waren so ungünstig, dass es zu erwarten war, dass seine Kulturen einen außerordent- lichen Degenerationsgrad und eine sehr große Zahl degenerierter Nachkommen aufwiesen. Er hat seine Kulturgläser mit umge- kehrten Tontöpfen bedeckt, was natürlich eine schlechte Beschaffen- heit der Luft mit sich bringen muss und hat die Tiere jeden 10. Tag untersucht, was für so zarte Tiere, wie die Daphnien, zu wenig ist. Das Wasser hat er nur bei eintretender Erkrankung gewechselt und, was noch schlimmer, den Tieren gar keine Nah- rung gegeben, was aus folgendem Zitat zu entnehmen ist: „Das Wasser gab ich ihnen unfiltriert, seihte es aber manchmal durch Zug von mittlerer Dichtigkeit, welches Daphnien, Cyelopen u. s. w. zurückhalten konnte, aber einen großen Teil Mikroorganismen durch- ließ, von denen sich die Daphnien offenbar ernährten.* Dieses „offenbar“ beweist, dass die Tiere außer den im stehen- 8) Man muss natürlich auch in Betracht ziehen, dass die drei Stammtiere in verschiedener Zeit gefischt worden sind. 758 Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. den Wasser lebenden Mikroorganismen keine besondere Nahrung erhielten. Aber eine solche Ernährungsweise ist ganz sicher unge- nügend für Daphnien und wirkt degenerativ, wie ich weiter unten bei der Besprechung meiner Hungerkulturen beweisen werde. Man kann deshalb nicht entscheiden, ob bei diesen Fällen der äußere Faktor des Lichtmangels irgendeine Bedeutung bei der Entstehung dieser Anomalien ausgeübt hat, oder ob sie als Resultat einer wegen der ungünstigen Züchtung zu stark ausgesprochenen Degene- ration anzusehen sind. Eine zweite Schlussfolgerung von Kapterew finde ich eben- falls unberechtigt. Er betrachtet nämlich seine Resultate als eine Bestätigung des Lamarck’schen Prinzips, ohne durch seine Experi- mente den geringsten Nachweis für eine Erblichkeit der von ihm beobachteten abnormen Verhältnissen vorzubringen. So sagt er (5. 256): „In allen Serien, mit Ausnahme der ersten, tragen sie mehr oder weniger den Charakter von Zufälligkeiten, die nicht ver- erbt werden, oder nur in sehr geringem Grade, weshalb sie sehr bald auftreten können, großen Umfang erreichen, aber nach diesen Abweichungen kehrt ihre Nachkommenschaft wieder mehr oder weniger auf den normalen Weg zurück. Etwas anderes ist es mit den Veränderungen in der ersten Serie: während sie im Juli 1908 zufällige waren, erwerben sie nach einem Jahre, im 15. Monat des Versuches, schon einen ausgeprägten Charakter, haben sich fast auf alle vorhandenen Individuen erstreckt und — was das Wichtigste ist — sind wahrscheinlich erblich geworden, da sie sogar bei 4—5 Tage alten Exemplaren auftreten, die von einer Mutter mit depig- mentiertem Auge (31. Juli 1909) abstammten; wahrscheinlich liegt hier eine Vererbung auf natürlichem Wege, unter Einwirkung äußerer Einflüsse erworbener Verände- rungen vor.“ Wie ich bei allen von mir untersuchten Fällen, so hat auch Kapterew bei den zwei letzten Serien rücksichtlich der Erblich- keit ganz negative Resultate bekommen. Was er nur als wahr- scheinlichen Beweis einer Erblichkeit dieser jedenfalls inneren und nicht unter Einwirkungäußerer Einflüsse erworbener Veränderungen betrachtet, ist, dass bei der ersten Serie die Depigmentationsfälle am Anfang Juli seltener waren, während sie in der Mitte desselben Monats einen ausgeprägten Charakter an- nahmen, sich fast auf alle vorhandenen Individuen erstreckten und auf früheren Lebensstadien auftraten. Das zwingt aber nicht zur Annahme einer Erblichkeit. Es ist ja selbstverständlich, dass jeder Tag einen höheren Grad von Degeneration und einen größeren Prozentsatz an ausgesprochen degenerierten Tieren aufweisen musste. Und, wie Kapterew angibt, war diese Kolonie in ihrer Lebens- kraft vollständig erschöpft und ist nach kurzer Zeit (27. August) ı 2. u De a u Fe ne un Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. 759 ausgestorben. So beschreibt er allein die letzte Untersuchung, die er an derselben Kolonie am 18. August unternommen hat (S. 246): „Als ich am 18. August sie ans Licht brachte, um sie zu besehen, erwies es sich, dass von der ganzen Serie (mit den jungen Exem- plaren waren es etwa 30 Stück) nur vier nachgeblieben waren, darunter zwei erwachsene. Bei der einen von ihnen beobachtete ich den äußersten Grad von Zerfall des Auges in dieser Serie. Ungeachtet der täglichen Durchlüftung, öfteres Wechseln des Wassers u. s. w. waren diese vier Exemplare offensichtlich dem Tode geweiht, und es starben zuerst die drei mit mehr oder weniger normalem Auge, und am 27. August war ich genötigt, schon das letzte sterbende Exemplar mit dem sehr stark depigmen- tiertem Auge in Spiritus zu legen.“ Mit so zweifelhaften Argumenten kann man natürlich weder eine Erblichkeit der hier angeführten Fälle noch eine Bestätigung des Lamarck’schen Prinzips behaupten. Außer diesen Anomalien der Augenorganisation kommen bei metagenotoken Tieren noch andere Deformationen vor, welche die verschiedensten Organe betreffen. So sieht man sehr häufig Defor- mationen der Stirn (Fig. 4), Umformungen der Schale, Verkrüm- mungen der Antennen und Beine u. s. w., die alle das gemeinsame haben, dass sie nicht in derselben Form erblich sind. Das beweist, dass diese Degenerationsmerkmale das zufällige Resultat einer allge- meinen Schwächung der Tiere und nicht eine in bestimmter Rich- tung vor sich gehende Bildung darstellen. s) Entwickelungsbedingungen der Dauereier. Eine Eigentümlichkeit, durch die sich die Dauereier der Daph- niden von den Subitaneiern unterscheiden, ist, dass sie längere Zeit im Ruhezustand verharren müssen, bevor sie ihre Entwickelung abschließen. Nun entsteht die Frage: Kann man durch äußere Faktoren diese Latenzperiode verlängern oder verkürzen, oder müssen unter allen möglichen äußeren Bedingungen die Dauereier eine bestimmte Zeit im Ruhezustand bleiben, um später sich ent- wickeln zu können? Zur Lösung dieser wichtigen Frage hat bis jetzt nur Weis- mann ausführlichere Experimente bei Mona paradoxa, Daphnia pulex, Simocephalus vetulus und Ceriodaphnia quadrangula gemacht und ist zu folgenden Resultaten gekommen: 1. Die Dauer der Latenzperiode ist, soweit sie lediglich durch die Disposition des Eies bedingt wird, bedeutenden indi- viduellen Schwankungen unterworfen. 2. Die Latenzperiode kann abgekürzt werden: a) durch vollständiges Austrocknen der Eier, 760 Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen ete. b) durch Einfrieren der Eier mit nachfolgender Temperatur- steigerung auf 10—17° C. (möglicherweise auch schon bei niederer Temperatur). 3. Die Latenzperiode wird nicht abgekürzt: a) durch unvollkommenes Austrocknen der Eier, b) durch Temperaturen über 20° C. Diese Resultate kann ich aus den wenigen Fällen von Dauerei- züchtung bei Moina, die ich anführen kann, vollständig bestätigen. Ich habe nämlich im ganzen 100 frisch abgelegte Dauereier in verschiedenartiger Weise behandelt; 20 habe ich 5 Tage lang ausgetrocknet und dann in Wasser von 14—16° gebracht; 20 habe ich 6 Stunden lang auf Eisstücken einfrieren lassen und dann in Wasser von 14—16° eingetaucht; 20 habe ich die ganze Zeit in der Zimmertemperatur unter Wasser gehalten, 20 dauernd in 22—24°, 20 habe ich 5t/, Monate in der Kälte (6—8°) gehalten und dann in die Zimmertemperatur gebracht. Aus den ausgetrockneten Eiern schlüpften nun die ersten Nach- kommen 12 Tage nach dem Zurückbringen der Eier ıns Wasser aus; aus den ausgefrorenen Eiern erschienen die ersten Nachkommen 26 Tage nach dem Zurückbringen der Eier ıns Wasser; aus den in der Zimmertemperatur gehaltenen Dauereiern krochen die ersten Nachkommen nach 28 Tagen aus. Aus den bei 22— 24° gezüchteten Eiern erst nach 2 Monaten; aus den ın der Kälte gehaltenen Eiern ist innerhalb 5'/, Monaten kein einziges Tier ausgeschlüpft: das ge- schah erst, nachdem ich die Eier in die Zimmertemperatur brachte und zwar in relativ kürzerer Zeit (5 Tage). Was nun die Zahl der ausgeschlüpften Tiere betrifft, so sind aus den in Kälte-Zimmertemperatur gehaltenen Eiern die meisten (12) ausgekommen. Aus den ausgetrockneten Eiern sind S Nachkommen ausgeschlüpft, aus denen der Zimmertemperatur 7, aus den einge- frorenen nur 4 und aus den ın der Wärme gezüchteten nur 1 Tier. Die Zahl der ausgeschlüpften Exemplare steht also bei meinen Fällen nicht in Übereinstimmung mit der Geschwindigkeit der Ent- wickelung. Wichtiger erscheint es mir, dass die Lebenskraft der Nach- kommen dieser unter verschiedenen Bedingungen kultivierten Eier eine verschiedene war. Die Tiere aus der Kälte-Zimmertemperatur waren schwach und starben meistens frühzeitig ab, ohne eine lebens- fähiıge Nachkommenschaft hervorzubringen. Die kräftigste Kultur (Me) lebte etwas länger (8. Januar 1910 bis 21. Februar 1910) und hatte vier Generationen, aber nur bei der sorgfältigsten Züchtung, da die Tiere äußerst schwach waren und eine sehr große Sterbh- lichkeit zeigten. Das in der Wärme entwickelte Tier starb vor der Erreichung der Geschlechtsreife. Den längeren Zyklus (10 Gene- rationen) lieferte mir das erste der den ausgetrockneten Eiern ent- Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. 761 stammenden Tiere (Kultur Ma). Die Kultur Mb, die aus einem eingefrorenen Ei herausgezüchtet war, erwies sich als kurzzyklischer (6 Generationen im ganzen). Diese wenige Fälle machen es sehr wahrscheinlich, dass die äußeren Faktoren von großer Bedeutung auf die Entwickelung der Dauereier sind und vielleicht die Länge des Zyklus bestimmen können. Jedenfalls sind unsere Kenntnisse, was diese Frage an- geht, ganz gering. Zur Erklärung aller dieser Probleme sind um- fassendere Experimente erforderlich. t) Entwickelung der Tiere im Freien. Um die Entwickelung von Simocephalus ım Freien zu verfolgen, habe ich den Nymphenburger Park jeden 10. oder 20. Tag besucht und einige Tiere aus dem oben erwähnten Tümpel mit einem Gazenetz herausgefischt, jedesmal etwa 40--60 Exemplare. Der Tümpel war außerdem auch von anderen Cladoceren bewohnt, von denen am häufigsten Polyphemus pediculus, Scapholeberis mucro- nata, Chydorus sphaericus und Lynceus brachyurus vorkamen. Der Sommer war nicht sehr heiß, da es ım Juni viel geregnet hat. Im Laufe der ersten Sommermonate waren alle Cladocerenarten in parthenogenetischer Fortpflanzung. Eine gamogenetische Periode konnte ich während dieser Zeit bei keiner Art — auch nicht ein- mal bei Polyphemus — feststellen. Erst am 8. August 1900 ist die Temperatur etwas beständiger gestiegen, und bis zum 22. August war das Wetter meistens heiter, so dass der Tümpel während den Nachmittagsstunden Temperaturen über 20° besaß. Im Schatten war eine Temperatur von 16—18° ?). Das Resultat dieser Steigerung der Temperatur war das Ab- sterben des größten Teils der ganzen Uladocerenfauna, so dass am 23. August nur wenige Exemplare von allen Cladocerenarten auf- zufinden waren, — von Simocephalus z. B. konnte ich nur sechs Exemplare herausfischen, von denen zwei schon geschlechtsreif, aber ohne Eier waren. Nur die Wassermilben waren sehr häufig. In der nächsten Zeit stieg die Zahl der Tiere aufs Neue. Die Temperatur stand den ganzen September und Anfang Oktober hin- durch über 10°. Niedrige Temperaturen waren nur am 1. Sept. (9°), 3. Sept. (6°), 4. Sept. (7°), 6. Sept. (8°), 21. Sept. (8°), 22. Sept. (9°), 23. Sept. (9°) und 29. Sept. (5°). Die ersten gamogenetischen Tiere beobachtete ich erst am 5. Oktober bei Polyphemus, Scapholeberis und Chydorus. Bei Simo- cephalus und Lynceus traten sie erst am 16. Oktober auf. Bis zu dieser Zeit war es noch immer meistens wärmer als 10°. Aus- nahmen sind nur am 6. Okt. (2°), 8. Okt. (8°), 10. Okt. (7°), 11. Okt. (4°), 9) Münchener Wetterbericht 1909. 762 Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. 12. Okt. (7°), 13. Okt. (8°), 14. Okt. (7°) und am 15. Okt. (9°) ein- getreten. Die mittlere Größe der geschlechtsreifen Tiere und die mittlere Zahl der Eier nahmen während der aufeinanderfolgenden Entwicke- lungszustände ab. Beı einer Untersuchung am 16. Juni 1909 hatten die Tiere (Simocephalus) eine Mittellänge von 1,70 mm und eine mittlere Eierzahl von 11,5. Bei einer anderen Untersuchung am 16. September 1909, genau nach drei Monaten, war die Mittelgröße 1,55 mm und die mittlere Zahl der Eier 4,5. Das größte Tier (Sömocepkalus), welches ich ım Freien fing, hatte eine Körperlänge von 2,08 mm, während ich in meinen Kul- turen Tiere von 2,50 mm Länge öfters beobachtet habe. Das spricht vielleicht dafür, dass schwache Tiere viel leichter im Freien als ın künstlichen Kulturen zugrunde gehen. Deshalb trifft man möglicher- weise Abnormitäten im Freien viel seltener. Aus diesen Beobachtungen kann man drei wichtige Schlüsse ziehen: | 1. dass die längere Einwirkung einer höheren Temperatur (über 20°) eine Degeneration der meisten Uladocerenarten mit sich bringt, 2. dass das Auftreten der gamogenetischen Fortpflanzung mit einer nicht allzugroßen Herabsetzung der Temperatur verbunden ist, 3. dass die erste gamogenetische Periode des Sommers nicht immer auftritt, so dass man ihre Entstehung nicht bloß auf innere Faktoren zurückführen kann. IV. Einfluss der Wärme. Zum Studium der Wirkung der Wärme hat Issakowitsch bei seinen Experimenten eine Temperatur von 24° C. angewandt. Da meine Versuche im Anschluss an diejenigen von Issakowitsch gemacht worden sind, habe ich meine Wärmekulturen fast in der- selben Temperatur (22—-24°) gehalten. Dieselbe Temperatur haben auch Ostwald (15) (20—25°) und Fräulein Kuttner (25°) bei ihren Experimenten angewandt. Es ist nun von großer Wichtigkeit, dass diese Temperatur, die bei kürzerer Einwirkung scheinbar befördernd auf die Lebenserschei- nungen dieser Tiere wirkt. bei längerer Einwirkung eine degene- rative Störung der Kulturen mit sich bringt. So konnte ich nie- mals Sömocephalus durch sechs, Moina durch vier Generationen hindurch in einer so hohen Temperatur züchten. Sowohl von Gene- ration zu Generation, wie von Geburt zu Geburt waren die Tiere während 1!/,—2 Monaten so geschwächt, dass die ganze Nachkommen- schaft unter denselben degenerativen Erscheinungen (Abnormitäten, Auflösung der Eier im Brutraum, Störung des Häutungsprozesses Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. 7163 u. S. w.), zugrunde ging, die sonst bei den metagenotoken Tieren zu beobachten sind. Diese Entwickelungsstörungen infolge längerer Einwirkung einer hohen Temperatur hat auch Issakowitsch bei Sömocephalus vetulus und Daphnia magna bestätigt, für die erste Spezies bei der sechsten Generation, für Daphnia magna dagegen, die aus einem Becken eines Treibhauses des botanischen Gartens Münchens stammte, wo die Temperatur immer sehr hoch war, schon in der zweiten Generation. Kuttner hat keine solche Degeneration beobachtet, vielleicht weil sie nicht so lange Zeit kultivierte. Wie aus ihren Tabellen sich ergibt, hat sie nicht über vier Generationen andauernd in einer solchen Temperatur gezüchtet. Ostwald dagegen beschreibt trotz der großen Kürze seiner Kulturversuche (nicht über zwei Gene- rationen) analoge degenerative Erscheinungen (Auflösung der Eier im Brutraum, größere Sterblichkeit, Verkrüppelungen) bei Ayalo- daphnia. Dass diese Erscheinungen nicht das Resultat schlechter Kultur- bedingungen sind, ergibt sich daraus, dass ich sie auch im Freien beobachten konnte. Man muss deshalb diese Degeneration der Tiere als ein Resultat der andauernden Wirkung der hohen Tem- peratur betrachten. Jedenfalls ist nicht zu leugnen, dass andauernde Einwirkung hoher Temperatur die Parthenogenesis begünstigt und die Dauer der gamogenetischen Fortpflanzung auffällig beschränkt, manchmal sogar ganz und gar verdrängt. Das wird besser aus einigen wenigen Beispielen hervorgehen: A. Simocephalus. 1. (s. Tabelle 9). Aus der ersten Geburt eines Tieres der ersten Generation (Kultur Sa) habe ich eine Wärmekultur angesetzt. Wie man in der Tabelle 9 sieht, ist die kleine Kolonie in der achten Generation vollständig degeneriert und abgestorben. Unter der Nachkommenschaft war kein Ephippialweibchen und nur ein Wurf (der dritte) eines Tieres der fünften Generation bestand aus Männ- chen. Wenn man diese Nebenkultur mit der Hauptkultur (s. Tafel I), die in der Zimmertemperatur gezüchtet war, vergleicht, so sieht man, dass bei der letzteren die Männchen und Ephippialweibchen viel früher (zweite und dritte Generation) und in viel größerer An- zahl auftreten. Die Wärme hat also hier das Eintreten der gamo- genetischen Fortpflanzung stark verzögert, fast sogar vollständig verdrängt. 2. (s. Tabelle 10). Bei einer zweiten Nebenkultur, die aus der ersten Geburt eines Tieres der siebten Generation (Kultur Sa) stammt, sind die gamogenetischen Tiere etwas früher und in größerer Zahl aufgetreten, aber ebenfalls später und in geringerer Zahl als 764 Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. in der Hauptkultur (Tafel I). Daraus kann man schließen, dass die Verschiebung der gamogenetischen Fortpflanzung durch die Wärme um so geringer ausfällt, je später ihre Wirkung beginnt. Tab. 10. Wärmekultur B von Simocephalus vetulus (Sa). B. Moina. Ebenso deutlich tritt diese Wirkung der hohen Temperatur bei Moina ein, wie es aus den beigegebenen Tabellen 11 u. 12 zu ent- nehmen ist. 10) Erklärung der Zeichen am Schluss der Arbeit. Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. 765 In ersteren Fall (Tabelle 11) handelt es sich um eine ganz neue Kultur, die aus einem Ephippium (Md) gezüchtet wurde. Hier sieht man, dass die ganze Nachkommenschaft nur aus par- thenogenetischen Weibchen bestand, ohne Beimischung irgendeiner Spur von gamogene- tischen Tieren. In einem zweiten Fall (Tabelle 12) han- delt es sich um eine Abzweigung aus der Hauptkultur Ma (s. Tafel 2). Da der An- fang der Einwirkung der Wärme etwas spä- ter eingetreten ist, als es bei dem ersten Fall geschah, sieht man, dass hier schon einige gamogenetische Tiere aufgetreten sind, aber in geringerer Zahl als Tab. 11. Wärmekultur A von Moina (Md). bei der Hauptkultur. Aus diesen Beispie- len geht hervor, dass die Wärme bei längerer Ein- wirkung einen doppelten Einfluss besitzt: erstens verschiebt oder verkürzt sie die gamogenetische Fortpflanzung, zweitens beschleunigt sie den Ver- lauf des ganzen Zyklus, indem alle Phasen, be- sonders die mittleren, verkürzt werden. In der letzten Zeit hat Kuttner (10) durch experimentelle Unter- Tab. 12. Wärmekultur B von Moina (Ma). suchungen für mehrere Daphnidenarten den Nachweis erbringen wollen, dass die Temperatur keinen modifizierenden Einfluss auf die Fortpflanzungsverhältnisse der Daphniden ausübt. Aus den einzelnen Tabellen, die sie gibt, geht hervor, dass die gamogenetische Fortpflanzung sowohl in niedrigerer als in höherer Temperatur auftreten kann, was auch meine Untersuchungen gezeigt haben. 766 Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. Es ist aber gar nicht berechtigt, wenn Frl. Kuttner behauptet, dass die Temperatur gar keinen Einfluss auf die Zyklusdeter- mination bei den Daphniden hat und dass diese lediglich von inneren Faktoren bedingt wird. Kuttner gibt keine statistische oder irgendeine andere übersichtliche Zusammenfassung ihrer Resul- tate, aus welcher ein genaues Zahlenverhältnis der parthenogene- tischen zu den gamogenetischen Tieren in klarer Weise ersichtlich wäre. Eine solche Zusammenfassung der wichtigsten Kulturergeb- nisse Frl. Kuttner’s an Söimocephalns exspinosus habe ich gemacht; sie ergab mir folgende Resultate '). I. Wärmekulturen (A,B,0,D, E). Im ganzen 1844 Nachkommen, und zwar: 1243 parthenogenetische Weibchen, 331 Ephippialweibchen und Männchen, 270 nicht geprüfte Weibchen. Das Zahlenverhältnis zwischen parthenogenetischen und gamo- genetischen Tieren ist also 78, 98 : 21, 02. II. Zimmertemperaturkulturen (F, G,H, I, K). Im ganzen 1034 Tiere, nämlich: 299 parthenogenetische Weibchen, 306 Ephippialweibchen und Männchen, 429 nicht geprüfte Weibchen. Das Verhältnis zwischen parthenogenetischen und gamogene- tischen Nachkommen ist hier 49, 42 : 50, 58. Aus dieser kleinen Zusammenfassung sieht man, dass die Zahl der gamogenetischen Tiere im Verhältnis zu der der parthenogene- tischen viel größer in der Zimmertemperatur ist als in der Wärme. Der Schluss also, dass die Temperatur ganz ohne Einfluss auf die Zyklusdetermination der Daphniden ist, scheint mir nicht be- rechtigt zu sein. Für Simocephalus vetuluıs, von welchem Frl. Kuttner auch größere Wärmekulturen züchtete, fehlt ebenso eine genaue Angabe der Zahl der Nachkommen, so dass eine statistische Zusammen- fassung unmöglich ist. Deshalb kann man die Wirkung der hohen Temperatur nicht genau einschätzen. Bei Moina paradoxa wurden zwei kleine Kulturen gehalten, die keine große Beweiskraft besitzen, da wegen der Kürze der Züchtung und des Mangels der Genealogie?) die innere Tendenz der Tiere 11) Wo die genaue Zahl der Nachkommen einer Geburt nicht angegeben war, habe ich sie durch eine mittlere Zahl (15) ersetzt. 12) Die einzigen Kulturen Kuttner’s, bei welchen man die Entwickelung der Tiere genealogisch verfolgen kann, sind die oben erwähnten Wärme- und Zimmer- Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. 767 gar nicht zu kontrollieren ist. Bei der dritten größeren Kultur derselben Art fehlt eine Kontrollkultur in der Zimmertemperatur, so dass jede Vergleichung unmöglich ist. Von Ceriodaphnia reticulata entnahm Frl. Kuttner drei Ephippial- weibchen aus einem Tümpel und brachte sie in die Wärme. Die Tiere bildeten nochmals Ephippien, dann Sommereier. Die Nach- kommen der letzteren wurden auf drei verschiedene Temperaturen verteilt. Die sechs Weibchen der Wärmekultur brachten sämtlich Sommereier hervor; von den sechs Weibchen der Zimmerkultur starben fünf ab, das sechste produzierte Sommereier, von den sechs Weibchen der Kältekultur starben vier ab, die beiden anderen brachten ebenfalls Sommereier hervor. Natürlich kann man auf Experimente an Tieren, welche in den letzten Stadien der Degeneration standen, keinen großen Wert legen. Deshalb glaube ich, dass dieses Experiment, sowie alle anderen, die mit solchen degenerierten Tieren gemacht worden sind, weder einen positiven, noch einen negativen Wert zum Studium normaler Vorgänge be- sitzen können. Die Untersuchungen bei Daphnia longispina betreffen vor allem die Entwickelung einer Kolonie im Winter (Dezember bis Februar). Anfangs waren die Tiere in ausgesprochen gamogenetischer Fortpflan- zung; später (Mitte Januar) traten sie in die degenerative Phase ein, und am 20. Februar starb die ganze Kolonie aus. Kuttner brachte nun parthenogenetische und Ephippialweibchen, welche in der gamogenetischen Phase standen, in die Zimmertemperatur und beobachtete, dass nach acht Tagen abermals sowohl parthenogene- tische als Ephippialweibchen wieder auftraten. Da auch hier eine genaue Angabe der Zahl der Fälle fehlt, ist es unmöglich, sich von der Wirkung der Temperatur ein genaues Bild zu machen. Die mit Daphnia pulex angestellten Experimente haben vor allem wieder den Nachteil, dass Tiere der letzten Phase verwandt wurden. Das zeigt besonders deutlich die außerordentliche Sterb- lichkeit in dem ersten Versuch. Aus diesen Auseinandersetzungen geht hervor, dass die Arbeit Kuttner’s zwei große Nachteile hat: Erstens sind die Stammtiere bei fast allen Kulturen nicht aus Dauereiern gezüchtet worden, sondern stammen aus verschiedenen Fortpflanzungsperioden und zwar sehr häufig aus der letzten, so dass viele Resultate im Lichte der im ersten Teile dieser Arbeit analysierten Vorgänge ihre Be- weiskraft verlieren; zweitens fehlen genaue Zahlen und statistische Zusammenfassungen der wichtigsten Kulturergebnisse, besonders bei Simocephalus erspinosus, wo auch die Genealogie zu verfolgen kulturen von S7imocephalus exspinosus, insofern nur bei dieser Art Dauereier gezüchtet waren. Bei allen anderen Arten sind die Stammtiere unbekannter Abstammung. 768 Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. ist, vollständig. Im ganzen hat die Arbeit Frl. Kuttner’s einen ausgesprochen negativen Uharakter, da sie vor allem sich gegen Issakowitsch wendet und zu beweisen sucht, dass seine Schluss- folgerungen nicht richtig sind. Dass Issakowitsch den Einfluss der äußeren Faktoren überschätzt hat, kann ich auch zugestehen. Dass aber Kuttner ihrerseits in der Einschätzung der inneren Faktoren ebenfalls zu weit gegangen ıst, scheint mir aus den bis- herigen Auseinandersetzungen außer Zweifel zu stehen. Es hat sich ja klar erwiesen, dass eine längere Wirkung der hohen Tem- peratur die gamogenetische Fortpflanzung aufzuschieben und zu ver- kürzen vermag. Die Simocephalus exspinosus-Experimente von Frl. Kuttner selbst haben ergeben, dass die Zahl der gamogenetischen Tiere im Verhältnis zu den parthenogenetischen in der Wärme viel kleiner ıst als in der Zimmertemperatur. Ebenso klare Resultate für die die Parthenogenesis begünstigende Wirkung der hohen Temperatur kann man auch bei einer kürzeren Anwendung dieses Faktors in der Periode des Übergangs von der parthenogenetischen zur gamogenetischen Fortpflanzung bekommen, da die Tiere in diesem Moment sich in einem äußerst labilen Zu- stand befinden. Wenn man solche Tiere unter verschiedenen Tem- peraturen kultiviert, sieht man sehr häufig, dass die ın der mittleren Temperatur weiter kultivierten Dauereier bilden, während ihre in höherer Temperatur gezüchteten Geschwistertiere parthenogenetisch bleiben. Beı Moina sind solche Versuche durch die spezifische Färbung der Eier sehr erleichtert, da man hier die innere Tendenz mit großer Wahrscheinlichkeit äußerlich erkennen kann. Tiere mit violett- blauen oder blauen Subitaneiern geben, wie gesagt, meistens gamo- genetische Tiere. Wenn man nun solche Tiere in die Wärme bringt, so sind ihre Nachkommen zum größten Teil parthenogene- tische Weibchen. Ein analoges Resultat ergibt sich, wenn man Nachkommen von violettblauen oder blauen Eiern in zweı Teile trennt und den einen unter denselben Bedingungen weiter züchtet, den anderen in eine höhere Temperatur versetzt. Dann behalten die in die Wärme gebrachten Tiere in viel größerem Prozentsatz die Parthenogenesis bei. Um diese Verhältnisse deutlicher zu machen, werde ich einige Beispiele angeben: A. Simocephalus. 1. Aus der vierten Geburt eines Tieres der siebten Generation (Kultur Sa) erhielt ich 10 Nachkommen, von denen ich 5 unter denselben Bedingungen weiter kultivierte, die anderen 5 ın die Wärme brachte. Von den ersteren haben 3 Ephippien gebildet, 2 Subitaneier, die letzteren bildeten alle ohne Ausnahme Subitaneier. Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. 769 2. Aus der dritten Geburt eines Tieres der 10. Generation (Kultur Sa) erzielte ich 12 Nachkommen, von denen ich die eine Hälfte in Zimmertemperatur, die andere in Wärme kultivierte. Von den ersteren bildeten 2 Dauereier, 4 Subitaneier; letztere sind alle parthenogenetisch geblieben. 3. Die vierte Geburt desselben Tieres brachte mir 9 Nach- kommen, von denen ich 4 unter denselben Bedingungen, 5 in der Wärme züchtete. Die ersteren bildeten alle ohne Ausnahme Dauer- eier, von den letzteren hatten 2 Dauereier, 3 Subitaneier. B. Moina. 4. Aus zwei Tieren der dritten Generation (Ma), die in der Zimmertemperatur bei der vierten Eibildung bläuliche Eier bildeten, züchtete ich das eine Tier unter gleichen Bedingungen weiter, das andere in der Wärme. Die Nachkommen des ersten waren sowohl parthenogenetische wie Ephippialweibchen (10:7), die des zweiten alle Subitanweibchen. 5. Aus einem Tier der dritten Generation (Kultur Mb) erhielt ich aus der zweiten Geburt 22 Weibchen aus violettblauen Eiern. Ich ließ 11 unter denselben Bedingungen (Zimmertemperatur), während ich die übrigen in einem neuen Glase in die Wärme über- führte. Von den ersten bildeten 5 Subitaneier, 6 Dauereier, die übrigen (Wärme) bildeten alle Subitaneier. 6. Aus der dritten Geburt desselben Tieres hatte ich 13 Weib- chen aus bläulichen Eiern. Ich ließ wieder 8 unter denselben Be- dingungen (Zimmertemperatur) und brachte die anderen 5 in die Wärme und zwar sehr spät, erst einen Tag vor der Eibildung. Die ersten 8 Tiere bildeten alle Dauereier, von den letzten 1 Tier 1 Dauerei, die anderen 4 Subitaneier. 7. Aus der dritten Geburt eines Tieres der vierten Generation (Mb) gingen 11 Weibchen aus blauen Eiern hervor. Die 5 unter denselben Bedingungen gezüchteten Tiere haben alle Dauereier ge- bildet, von den 6 m die Wärme gebrachten bildeten 2 Subitaneier, 2 Dauereier und 2 starben vor der Geschlechtsreife. 8. Aus der zweiten Geburt eines Tieres der fünften Generation (Mb) bekam ich 4 weibliche Nachkommen aus blautrüben Eiern. Ich züchtete sie in der Zimmertemperatur weiter, bis ihre Ovarien eine deutliche ziegelrote Farbe annahmen, was nur bei der Anlage von Dauereiern vorkommt — und brachte sie sodann in die Wärme. 2 bildeten Dauereier, 2 andere aber Subitaneier, die merkwürdiger- weise die niemals unter normalen Verhältnissen vorkommende ziegel- rote Farbe der Dauereier besaßen. Aus diesen Beispielen geht wohl mit Sicherheit hervor, dass man durch höhere Temperaturen das Auftreten der gamogenetischen XXX. 49 770 Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen ete. Fortpflanzung verschieben kann und zwar um so entschiedener, je früher man eingreift. (ranz analoge Resultate ergaben mir meine Massenkulturen. Wenn man aus einem meso- oder metagenen aber proterotoken Tiere eine Massenkultur anlegt, kann man den Verlauf eines Zyklus, wie er sich im Freien abspielt, im Kleinen verfolgen. Die ersten Geburten geben fast ausschließlich parthenogenetische Weibchen, welche die erste Phase ausmachen. Nach längerer oder kürzerer Zeit beginnt die zweite Phase mit dem Auftreten der ersten Männchen und Ephippial- weibchen. Bis jetzt war die kleine Kolonie in beständiger Zunahme der Individuenzahl, und die Regel ist, dass die größte Individuen- zahl mit der höchsten Blüte der gamogenetischen Fortpflanzung zusammenfällt!?). Nach dem Ablauf der Gamogenesis beginnt eine beständige Abnahme der Individuenzahl, die den Beginn der dritten Phase anzeigt. Hier haben wieder die parthenogenetischen Weib- chen die Oberhand, während Männchen und Ephippialweibchen langsam verschwinden. Die Kolonie ist jetzt in ihrer Fortpflanzungs- tätigkeit erschöpft und geht dem natürlichen Tode entgegen. Individuelle Störungen dieses Bildes können natürlich auf jedem Stadium eintreten, da das Stammtier nicht immer dieselbe Lebens- kraft besitzt. Jede Phase kann von längerer oder kürzerer Dauer sein, manchmal wird — ebenso wie ım Freien — eine zweite gamo- genetische Periode!*), immer mit einer relativen Zunahme der Indi- 13) Eine rein gamogenetische Fortpflanzung konnte ich in keinem Fall kon- statieren und, soviel ich weiß, ist sie auch in der Natur bis jetzt nie beobachtet worden. In allen Stadien der Entwickelung sind einige wenige oder mehrere Subitanweibehen aufzufinden. 14) Das Verschwinden der Männchen und Ephippialweibehen nach der ersten gamogenetischen Periode und das häufige Auftreten einer zweiten in meinen Massen- kulturen ist, glaube ich, so zu erklären: Mit der übermäßigen Zunahme der Indi- viduenzahl beginnt natürlich ein größerer Kampf um Nahrung und Sauerstoff zwischen den einzelnen Individuen, dessen Folge eine passive Selektion ist. Die schwächeren Tiere gehen zum größten Teil zugrunde, und nur die kräftigeren bleiben am Leben, die, wie schon gesagt, eine größere Tendenz zur Parthenogenesis haben. So ist zu erklären, warum in Massenkulturen auf die Blüte der Gamogenesis wiederum eine fast reine parthenogenetische Periode folgt. Wenn die Kolonie noch kräftig ist, kommt es natürlich zu einer neuen stärkeren Vermehrung und zu einer neuen gamogenetischen Periode; sonst beginnt eine langsame Degeneration, die zum Tode der Kolonie führt. Ob man die Erklärung auch auf den dizyklischen Fortpflanzungsrhythmus vieler Daphnidenarten, wie er sich im Freien abspielt, anwenden kann, ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann, da ich die Lebensverhältnisse der Tiere im Freien bis jetzt sehr ungenügend studiert habe. Jedenfalls finde ich die herrschende Er- klärung, dass die erste gamogenetische Periode eine Reminiszenz an die eiszeitlichen klimatischen Verhältnisse ist, etwas gezwungen. Denn erstens wissen wir zu wenig Positives über die Herkunft der einzelnen Cladocerenarten und zweitens ist diese Eigentümlichkeit keine allgemeine und regelmäßige Erscheinung, wie das aus den Angaben der verschiedenen Beobachtern hervorgeht. Außerdem sind die Daphniden so labil, dass eine so starke Reminiszenz sehr unwahrscheinlich ist. Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. UM _ _ viduenzahl verknüpft, eintreten, bevor die Kolonie ganz erschöpft wird. Im großen und ganzen aber sieht man immer dasselbe Bild: Innerhalb eines Zyklus drei Phasen, in deren erster und dritter vorwiegend parthenogenetische Tiere auftreten, während in der mittleren eine größere oder kleinere Zahl von Tieren gamogene- tisch ist. Wenn man nun solche Massenkulturen, deren Stammtiere aus einer und derselben Geburt hervorgegangen sind, unter verschie- denen Temperaturbedingungen kultiviert, so bleibt das Bild im großen und ganzen unverändert; im einzelnen schwankt die Indi- viduenzahl der ganzen Kolonie, die Dauer der verschiedenen Phasen sowie das Verhältnis der gamogenetischen zu den parthenogene- tischen Tieren in verschiedenen Grenzen. Und zwar ist die Indi- viduenzahl wie die Dauer der verschiedenen Phasen und die relative Zahl der gamogenetischen Tiere immer größer bei niedriger als bei höherer Temperatur. Um das besser zu erläutern, werde ich zwei Beispiele von Simocephalus erwähnen: 1. Aus den Nachkommen der zweiten Geburt eines Tieres der 10. Generation (Kultur Sa) habe ich vier verschiedene Massen- kulturen angelegt: eine in der Wärme, eine bei Zimmertemperatur und Futter, eine dritte bei Zimmertemperatur und Hunger und eine vierte ın der Kälte. Die Resultate, die mir die zweı letzteren (Hunger, Kälte) gegeben haben, werde ich später im Anschluss an die betreffenden Kapitel besprechen; hier werde ich mich nur auf die zwei ersteren beschränken. Die Zimmerkultur hatte im Maximum ®) 185 Tiere, darunter 51 geschlechtsreife und zwar 16 Subitanweibchen, 18 Ephippial- weibchen, 17 Männchen, im ganzen 16 parthenogenetische Tiere gegenüber 35 gamogenetischen, d. h. 31,4°/, parthenogenetische, 68,6°/, gamogenetische Tiere. Die Wärmekultur hatte im Maximum 134 Tiere!°), darunter 37 geschlechtsreife und zwar 28 Subitanweibchen, 4 Ephippial- weibehen, 5 Männchen, was ein Verhältnis von 75,67°/, für die parthenogenetischen, 24,33°/, für die gamogenetischen Tiere ergibt. 2. Aus den Nachkommen der zweiten Geburt eines Tieres der zwölften Generation (Sa) legte ich drei Massenkulturen an: eine ın 15) Alle diese Massenkulturen habe ich in ihrer ganzen Entwickelung verfolgt und mehrmals in dieser Zeit untersucht. Wegen der Übersichtlichkeit bespreche ich hier nur den Zeitpunkt, wo die Kolonien die größte Zahl der Individuen und damit der gamogenetischen Tiere besaßen. 16) Das kleinere Maximum der Individuenzahl bei den Wärmekulturen erkläre ich dadurch, dass, infolge der Steigerung der Lebensenergie, die Tiere in der Wärme mehr Sauerstoff und Nahrung brauchen, deshalb einen stärkeren Kampf durchführen müssen, 49* 172 Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. der Zimmertemperatur, eine in der Wärme und eine dritte in der Kälte. Die Zimmerkultur hatte als Maximum 143 Tiere, darunter 30 geschlechtsreife und zwar 13 parthenogenetische Weibchen, 16 Ephippialweibchen, 1 Männchen, im ganzen 43,33°/, partheno- genetische und 56,67°/, gamogenetische Tiere. Die Wärmekultur gab als Maximum 111 Tiere, darunter 25 geschlechts- reife und zwar 20 Subitan- weibcehen, 2 Ephippial- weibchen, 3 Männchen, also im ganzen ein Ver- hältnıs von 80°), par- thenogenetischen zu 20°], gamogenetischen Tieren. Die Kältekultur werde ich später ın dem be- Mittlere Zahl der Eier. Generaflanen, treffenden Kapitel be- Tab. 13. Zahl der Eier bei Simocephalus nach sprechen. Generationen (Wärmekultur A). Aus diesen Beispielen ergibt sich, dass die Zahl der gamogenetischen Tiere in der Wärme viel kleiner ıst als ın der Zimmertemperatur, was sonst mit den oben ange- gebenen Resultaten der Einzel- kulturen vollständig überein- stimmt. Bevor wir nun das Kapitel Mittlere Zahl der Eier. Nous m m DO N 8% Generationen. vom Einfluss der Wärme schlie- Tab. 14. Zahl der Eier bei Simocephalus Ben, müssen wir in Kürze noch nach Generationen (Wärmekultur B). einige andere Änderungen er- wähnen, die durch die Ein- wirkung der höheren Temperatur hervorgerufen werden. 1. Die Zahl der Würfe und die Zahl der Eier wird etwas herabgesetzt. Das erste Resultat ist ersichtlich aus einem Vergleich der Tabellen 9 u. 10 mit der Tafel I und der Tabellen 11 u. 12 mit der Tafel II. Dass auch die Zahl der Eier bei den Wärmekulturen kleiner ist, ergibt sich aus einem Vergleich der Tabellen 13 u. 14, wo die Zahl der Eier bei zwei Wärmekulturen von Simocephalus tabellarisch angegeben ist, mit der Tabelle 2. 2, Die Größe der Subitaneier sowie die Größe der neugeborenen Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. area, Tiere steht gegenüber denen der Zimmertemperatur zurück. Da der Verlauf der Wärmekulturen von dem der Zimmerkulturen ver- schieden war, ist es nicht möglich, den Unterschied durch einen tabellarischen Vergleich ersichtlich zu machen; aber aus einer sta- tistischen Berechnung aller Fälle, die ich in der Zimmertemperatur (615) und in der Wärme (243) auf die Größe genau untersucht habe, ergibt sich ein bedeutender Unterschied: Die Eier haben in der Zimmertemperatur einen Mittelwert (Länge und Breite'”) miteinander multipliziert und durch 2 dividiert) von 89,34, ın der Wärme einen solchen von 79,13; die neuge- borenen Tiere ın der Zım- mertemperatur eine mitt- lere Länge von 0,68 mın, in der Wärme eine solche von 0,63 mm. 3. Die Zeit zwischen : 2 Generationen. zwei aufeinanderfolgen- FR at den Geburten ist in der Tab. 15. Zwischenzeit von Wurf zu Wurf bei Wärme kleiner, die Ent- Simocephalus (Wärmekultur A). wickelungsgeschwindigkeit also größer alsın der Zimmer- temperatur. Das ist ersicht- lich aus der Vergleichung der Tabellen 15 und 16, welche die Entwickelungs- zeit bei zwei Wärmekul- turen von Stimocephalus (Tab. 9 und 10) in Tagen und Generationen angeben, Generationen. mit der Tabelle 7. Bei Tab. 16. Zwischenzeit von Wurf zu Wurf bei der Zimmertemperatur be- Simocephalus (Wärmekultur B). wegt sich die Entwicke- lungszeit zwischen 3,14 und 4,75, bei der Wärme zwischen 2,14 und 3,0 Tagen. 4. Die Größenzunahme von Häutung zu Häutung ist kleiner als in der Zimmertemperatur. So fand ich als Mittelwert von 30 Fällen, wobei ich die Größenzunahme bei allen Häutungen in Betracht zog, 0,120 mm (in der Zimmertemperatur 0,124) und für die ersten 6 Häutungen 0,157 mm (in der Zimmertemperatur 0,196). Aus den voranstehenden Erhebungen ergibt sich das Resultat, dass die Tiere in der Wärme kleiner bleiben als in der Zimmer- einzelnen Würfen in Tagen. Mittlere Zeit zwischen den 4 einzelnen Würfen in Tagen. Mittlere Zeit zwischen den 17) In Strichen des Okularmikrometers, N: Näcke, Die Bedeutung der Hirnwindungen ete. temperatur. Bei der ersten Eibildung — die Zahl der Häutungen, die vor der Geschlechtsreife stattfinden, ıst in der Wärme dieselbe wie in der Zimmertemperatur — habe ich als Mittelwert die Länge von 1,40 mm gefunden, während sie in der Zimmertemperatur 1,50 mm beträgt. Die größten Tiere, die man in der Wärme findet, übertreffen selten die Länge von 2 mm. In Zusammenfassung der bis jetzt über die Einwirkung der Wärme gewonnenen Resultate können wir sagen: 1. Die Wärme verzögert das Eintreten der gamogenetischen Fortpflanzung und verkürzt sie, und das um so energischer, je früher sie angewandt wird. 2. Sie verkürzt den Verlauf des ganzen Zyklus, indem sie nach Ablauf relativ weniger Generationen zur Degeneration führt. 3. Sie vermindert die Zahl der Eier und Würfe. 4. Sie vermindert die Größe der Eier und neugeborenen Tiere. 5. Sie verkürzt die Entwickelungszeit; und 6. sie führt zu einer Herabsetzung der Körpergröße auf allen Stadien der Entwickelung. (Schluss folgt.) Die Bedeutung der Hirnwindungen in physio-, patho- und anthropologischer Hinsicht. Von Medizinalrat Prof. Dr. P. Näcke in Hubertusburg. Prof. Stieda hat in Nr. 17 und 18 (1910) des Biologischen Centralblattes einige hirnanatomische Arbeiten von Kohlbrugge, mir und Bechterew das Näheren analysiert. Seine interessanten Auseinandersetzungen geben mir Anlass zu einigen Bemerkungen, die allgemeinere Beachtung beanspruchen dürften und nicht zuletzt seitens des Biologen. Jeder, der viel mit Gehirnen Normaler und geistig Abnormer zu tun hatte, wird erstaunt sein über den schier unendlichen Reich- tum der Gliederung an der Hirnoberfläche und er wird lange Zeit brauchen, bis das Chaos sich lichtet, bis er den Grundplan des Reliefs im Kopfe und vor Augen hat und dann die Abweichungen beur- teilen lernt. Das hatte schon den normalen Anatomen frappiert, der sich daher damit begnügte, für die Gehirnoberfläche ein Schema zu entwerfen, das in den meisten Lehrbüchern in gleicher Form mehr oder minder wiederkehrt. Es ist aber nur ein Abstraktum! Die näheren Abweichungen von diesem Idealschema interessierten den Anatomen nicht weiter. Mehr dagegen die Phylogenese der Hauptfurchen, ihr Entstehungsmechanismus und die Faktoren, die bei der weiteren Ausgestaltung der Furchung maßgebend sind, Faktoren, die aber leider noch heute sehr unvollkommen bekannt sind. Näcke, Die Bedeutung der Hirnwindungen etc. 775 Die Hirnoberfläche lenkte aber mehr die Aufmerksamkeit auf sich, als die Physiologen zeigten, dass das Gehirn bezüglich der Funktion nicht überall gleichwertig sei, dass vielmehr von ge- wissen Stellen der Oberfläche aus ein Maximum bestimmter Wir- kungen ausging und dass diese Stellen mit ganz bestimmten Hirn- windungen in Relation standen, z. B. bei den verschiedenen Aphasien. So fanden sich Stellen für die Motilität, Sensibilität, für das Sehen, Hören, Sprechen etc. oder sie wurden wenigstens wahrscheinlich gemacht. Spätere Untersuchungen ergaben nun freilich, dass diese Windungen durchaus nicht immer gewisse Funktionsbezirke scharf umgrenzen. Eine weitere Einschränkung trat dann insofern noch ein, als man zeigte, dass die Größe der Zentren selbst nach der Tiefe zu variiert, ja dass es sich vielleicht gar nicht einmal um eigentliche Zentren handelt, sondern mehr um Prädilektionsstellen, Kraftanhäufungsstellen, und dass zur vollständigen Funktion einer Stelle sich schließlich immer noch eine Reihe anderer verbinden. Die Praxis suchte nun die wertvollen Ergebnisse der Physio- logen auszunützen. Die Klinik trat hier zuerst auf den Plan und wies nach, dass die verschiedensten pathologischen Prozesse in jenen sogen. Zentren ın der Tat diejenigen Funktionsstörungen resp. -Aufhebungen erzeugten, welche die Physiologen an Tieren durch ihre Experimente gefunden hatten. Der Kliniker konnte danach bereits ın vivo mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit die Diagnose einer bestimmten Hirnerkrankung, ihre Art, ihren Angriffs- punkt und Verbreitung feststellen, und die weitere Folge war natürlich das schließliche Eingreifen des Chirurgen. Dieser schnitt nach der Diagnose des Klinikers auf die betreffende Stelle ein und operierte. So ward viel Gutes geschaffen und heute leistet gerade die Hirn- chirurgie in Diagnose und Operation Ausgezeichnetes. Der Chirurg musste sich hierbei nicht nur um die grobe Anatomie der Hirn- oberfläche kümmern, die ıhn bisher sehr kalt gelassen hatte, sondern es galt jetzt auch die häufigsten Variationen an jenen Gehirn- zentren kennen zu lernen. Durch ıhn ward erst genau das Ver- hältnıs der Hauptflächen und ihre Abweichungen zum inneren und äußeren Knochenschädel und seinen Weichteilen an der Leiche ge- nau studiert, um sichere Angriffspunkte für den operativen Eingriff zu gewinnen. Also schon hier tritt eine gewisse Dignität be- stimmter Abweichungen der Furchung zutage, die ja schon längst der Kliniker erkannt hatte. Später erst beschäftigte sich der Anthropolog mit der Sache. Auch hier waren es weniger die reinen Anthropologen, als vielmehr die anthropologischen Anatomen, die ein Interesse dafür bekundeten, da jene vom Gehirn gewöhnlich nichts oder nur wenig wussten. Das war auch natürlich. Gehirne fremder Völker waren schwer zu beschaffen, besonders aus den Tropen, wo sie außerdem schnell 776 Näcke, Die Bedeutung der Hirnwindungen ete. verdarben, weshalb seinerzeit Virchow eigene Konservierungs- methoden angab. Allmählich kamen aber doch eine Reihe von Rassengehirnen nach Europa, die, obgleich noch gering an Zahl, doch den ersten Untersuchern oft durch die Einfachheit der Win- dungen, durch Hemmungsbildungen verschiedener Art, verschiedene Größe des Stirnhirns, geringeres Hirngewicht etc. auffielen. Man fand zunächst, dass ım allgemeinen das Hirngewicht vom Natur- menschen zum Zivilisierteren, von den unteren Volksschichten zu den höheren der gleichen Rasse zunahm. Nun hat ja allerdings vielleicht niemand so viel Rassengehirne untersucht und gewogen als Kohl- brugge, der zu dem Resultate gelangte, dass 1. bei der Rasse das Hirngewicht keine Rolle spiele, 2. ebensowenig die Variationen der Hirnfurchen. Diese Resultate bestätigte Stieda, der dazu auf anderem Wege gelangt war. Ich halte aber jene Untersuchungen für noch nicht abschließend, weil Kohlbrugge’s Material noch ein viel zu kleines ist und bezüglich des Hirngewichts die Zahl der untersuchten Schädel seitens anderer Forscher, die zu anderen Re- sultaten kamen, zusammengerechnet, eine viel größere ist als die Kohlbrugge’s. Wie schon a priorı nach dem Entwickelungsgesetz zu präsumieren war, spricht die Mehrzahlder Untersuchungen also dafür, dass ım allgemeinen mit der Evolution das Hirngewicht zunimmt, natürlich bei gleicher Rasse, gleichem Alter, &eschlecht und gleicher Körpergröße. Daran werden Kohl- brugge und Stieda kaum etwas ändern! Was nun die Bewertung der Hirnfurchen anbetrifit, so sind allerdings die Untersuchungen Kohlbrugge’s unübertrefflich in Methodik und Genauigkeit. Hat er doch gegen 2000 Variationen von Furchen an der Gehirnoberfläche studiert! Und doch halte ich auch seine Schlüsse für noch nicht bindend. Zunächst ist schon sein Material noch kein so großes, um eine so wichtige Frage definitiv zu lösen. Dann hat er meist Malayen und ihnen nahestehende Völker herangezogen, wenig andere Gehirne. Nun sind aber bekanntlich die Malayen ein hochentwickeltes, altes Kulturvolk und mit niedrig stehenden Naturvölkern nicht ohne weiteres vergleichbar. Wichtiger sind für uns hier speziell die Gehirne von Papuas, Negern, gewissen Indianern etc., von denen Kohl- brugge nur wenige untersucht hat. Andere Untersucher, deren untersuchte Gehirne zusammen viel mehr an Zahl sind als bei jenem, sind zum großen Teil zu entgegengesetzten Resultaten ge- langt. Vorderhand müssen wir also bei dem Satze bleiben, dass sehr wahrscheinlich auch im Reichtum der Win- dungen und besonders in dem Größerwerden des Stirn- hirns und dem Zurücktreten des Kleinhirns eine Ent- wickelung von den niederen zu den höheren Rassen statt- findet. Namentlich nehmen Entwickelungshemmungen Näcke, Die Bedeutung der Hirnwindungen etec. IT immer mehr ab. Man braucht bloß einige der vielen veröffent- lichten Abbildungen bei nur einiger anatomischer Kenntnis anzu- sehen, um dies sofort festzustellen. Dass auch hier Ausnahmen vorkommen, scheinbar wenigstens, besagt nicht allzuviel. Mehr an- hangsweise will ich endlich noch erwähnen, dass neuerdings, be- sonders durchSchwalbe, die Gehirnwindungen insofern von Wichtig- keit geworden sind, als sie teilweise sich in die innere Schädelkapsel eingraben. Nach diesen Gruben konnte man bei alten, auch prä- historischen Schädeln nicht nur die Lage der hauptsächlichsten Windungen festsetzen, sondern auch die Größe der Hirnlappen einigermaßen bestimmen und so vorsichtige Schlüsse auf den geistigen Hochstand des Trägers machen. Ist aber das Evolutionsgesetz richtig, dann muss auch mit der höheren Intelligenz das Hirngewicht, die Kom- pliziertheit der Hirnfurehung und die Größe des Stirn- hirns zunehmen. Und alles spricht dafür! Wir haben jetzt so viele Hirngewichte z. B. von Genialen und Hochtalentierten — man betrachte nur die Tabellen von Spitzka und Buschan —, dass wir wohl sicher sehen können, wie hier das Durchschnittsmaß über das der Normalen beträchtlich hinausgeht, selbst wenn man die nötigen Korrekturen nach Alter, Körpergröße und Rasse machen will!). Ausnahmen gibt es hier wohl; sie sind aber immerhin selten genug. Das Beispiel Gambetta’s, das die Gegner obiger Ansicht immer wieder anführen, ist total verfehlt. Der berühmte Franzose war klein und sein Hirngewicht unter dem Durchschnitt, aber bloß weil es durch die spezielle und lange Härtung stark zusammengeschrumpft war. Nach Berechnung des Schrumpfungskoeffizienten zeigte es sich nun, dass das Gehirn nicht unter dem Mittel war, sondern darüber. Und man vergesse nicht, dass Gambetta zwar ein großer Redner war, jedenfalls aber nicht zu den Intellektuellsten gehörte. Bezüg- lich des Verhältnisses von Genie und Hirngewicht, resp. Windungsreichtum haben einzelne Gehirne nur wenig Wert, und dasselbe gilt auch bezüglich der Rasse. Nur eine große Menge gut untersuchter Gehirne kann gewisse Schlüsse rechtfertigen. Sie werden wohl aber sicher nur die 1) Kohlbrugge und Stieda glauben nicht daran. Wenn Stieda als Kron- zeugen für seine gegenteilige Ansicht Hansemann anführt, der nur einige Gehirne untersucht hat und sehr rasch mit kühnen Hypothesen ist, so tut er sehr unrecht, wie auch Hansemann’s Ausspruch (Stieda, S. 616): „Darüber sind heutzutage alle Untersucher einig, dass das Gewicht des Gehirns außer allem Zusammenhange mit den geistigen Fähigkeiten des Menschen steht,“ nach Obigem durchaus falsch ist. Hansemann etc. sollte nur das Gehirn von 100 Idioten mit dem von 100 Normalen messen! Oder kann mir Stieda etwa einen Genialen nennen mit ge- ringem Hirngewichte, kleinem Stirnhirne und einfachen, plumpen Stirnwindungen ? Ich kenne wenigstens keinen solchen Fall. 713 Näcke, Die Bedeutung der Hirnwindungen ete. obigen Thesen bestätigen. Ein einzelnes, auch noch so gut unter- suchtes Gehirn ist und bleibt nur ein event. guter Baustein, der aber zu keinerlei Schlüssen berechtigt, will man nicht in das Blaue hineinphantasieren, wie es leider auch schon geschehen ist. Es lag nun nahe, weiterhin auch pathologische Gehirne auf ihre Oberfläche hin zu untersuchen und dies geschah zuerst bei Idioten. Ja, die letzteren wurden sehr wahrscheinlich sogar vor den Rassegehirnen untersucht, weil sie viel leichter erhältlich und die Anstaltsärzte mit den nötigen anatomischen Kenntnissen aus- gerüstet waren und eın größeres Interesse für solche Studien hatten. Man fand ım allgemeinen, dass, je dürftiger von Haus aus bei geistig Abnormen das Seelenleben war, desto ge- ringerauch das Hirnge wicht und die Hirnfurchung, ebenso die Entwickelung des Stirnhirns. Das gilt auch von vielen Verbrechern, die ja zum großen Teile bekanntlich minderwertig und schwachsinnig sind. Die Zahl der untersuchten Idioten- und Schwachsinnigen-Gehirne ist eine so große, dass an der Wahrheit jenes Satzes nicht zu zweifeln ist. Freilich muss man auch hier Alter, Körpergröße, Rasse mit in Anschlag bringen und nicht zu- letzt die pathologischen Wasseransammlungen (Ödem, Wasserkopf) ın Abzug bringen?'‘, Generell sehen wir also beim normalen und patho- logischen Gehirne, dass mit der Intelligenz die Masse der grauen Substanz und damit das Hirngewicht zunimmt, und weiter der Kampf um den Raum im Schädel, d.h. also die Faltung der Oberfläche. Damit ist freilich nicht gesagt, dass, abgesehen von Alter, Körpergröße, Rasse etc. die Breite der Hirnrinde (als Hauptsitz der grauen Masse) stets das Entscheidende wäre. Es kommt viel- mehr auf die Menge der darın enthaltenen Ganglienzellen an und endlich auch auf die mikroskopische Struktur derselben, die wir leider nur unvollkommen kennen. Bei gleicher Breite können also diese Momente verschieden sein und dadurch bei gleicher Rinden- breite verschiedene Intellektgrade bedingen. Immerhin sind das ge- wiss die selteneren Fälle, so dass jener obige Satz im allgemeinen nach wie vor besteht?). 2) Fälle echter sogen. Hirnhypertrophie, wo bei Schwachsinn trotzdem das Gehirn schwer ist, ohne Wasseransammlungen, sind selten genug, und dort wird, bei anscheinend normaler Hirnbreite, die Zahl der Ganglienzellen sehr reduziert sein, zum Unterschiede vom Normalhirn. 3) Bei Tieren dagegen ist die Breite der Hirnwindungen und ıhre Faltung durchaus nicht immer für den Intellekt entscheidend, wenn auch wohl für die Haupt- masse. Für den Menschen gilt es noch viel mehr, deshalb hat die Frage Stieda’s (l. e. S. 617): „Cetaceen und Schafe haben bekanntlich sehr windungsreiche Hirne, — wie steht es mit der Intelligenz dieser Tiere? —“ wenig Sinn. Hier sind eben die Ganglienzellen an Zahl nur sehr dürftig, vielleicht auch in der Struktur. Näcke, Die Bedeutung der Hirnwindungen etc. 2790 Nach den Idiotengehirnen wurden nun auch die gewöhnlicher Geisteskranken studiert und in meinem Hirnatlasse*) untersuchte ich speziell das Hirn von Paralytikern, verglichen mit Normalen, was bisher so gut wie nicht geschehen war. Ich brachte hier ein großes Material zur Vergleichung zusammen, das freilich immer noch nicht groß genug ist, um sichere Schlüsse zu gestatten, außer- dem noch an gewissen Fehlern leidet, wie auch das Vergleichs- material. Immerhin ist es doch ein Anfang. Die speziellen Unter- suchungen hatte ich einer späteren Arbeit vorbehalten’), während ich in dem kurzen Texte zum Atlas nur allgemeine Gesichtspunkte besprach und eine Tabelle darın abdruckte, die sämtliche Haupt- befunde zusammenstellt, wie ich sie in einer früheren Arbeit‘) aus- führlich dargelegt hatte. Ich fand nun, um es kurz zu sagen, dass „gewisse Bildungen bei den Paralytikern häufiger auftreten“; viel wichtiger aber war es, dass „gewisse andere Anomalien nur bei Paralytikern sich zeigten“ „Sie sind (fuhr ich weiter fort) um so bedeutsamer, als sie teils ua Entwickelungshemmungen hinweisen (Mikrogyrie, Trichterbildungen, kleine Sn etc.) ls auf mehr hypertrophische Zustände (großer F,, Vermehrung der Windungen, aufsteigende Furchenstücke etc.); sie können auch kombiniert vor- kommen. ‚Jedenfalls handelt es sich um abnormes Wachstum.“ Wenn wir nun auch für das Paralytikergehirn nichts Charakte- ristisches gefunden hatten, ebensowenig wie man es bei Idioten, Geisteskranken, Verbrechern und Rassengehirnen sah, so gibt es doch bei allen diesen Reihen zum Teil bedeutsame Quantitäts- unterschiede bezüglich der Bildungen Normalen gegenüber. Ja, bestimmte Hemmungsbildungen, wie Mikrogyrie, teilweises Freiliegen der Insel, doppelte Taschen- und Deckelbildungen an beiden Hemı- sphären u. s. f. fanden sich nur beı unseren Paralytikern, so dass „die Annahme, das paralytische Gehirn sei zumeist ab ovo minderwertig, weniger resistent, mehr oder weniger ıimalid, immer wahrscheinlicher geworden“ sei, nachdem ich schon m früheren Arbeiten gezeigt hatte, dass sowohl die äußeren als auch „inneren“ Degenerationszeichen häufiger hier wären, als bei Normalen, wie endlich auch die erbliche Belastung und die abnorme Veranlagung des Charakters von klein auf u.s.f. Manches weist endlich darauf hin, dass bei den Paralytikern auch gewisse embryonale Vorstufen der Ganglienzellen, Schichtenverlagerungen, Heterotopien und anderes häufiger sich vorfinden als bei armen, 4) Näcke: Die Gehirnoberfläche von Paralytikern. Ein Atlas von 49 Ab- bildungen etc. Leipzig, Vogel, 1909. 5) Näcke: Beiträge zur Morphologie der Hirnoberfläche. Arch. f. Psych. Bd. 46, Heft 2 (1910). 6) Näcke: Vergleichung der Hirnoberfläche von Paralytikern mit der von Geistesgestörten. Zeitschr. f. Psych. ete., Bd. 65. 780 Näcke, Die Bedeutung der Hirnwindungen etc. d. h. also, dass auch der mikroskopische Bau der Hirnrinde und des Markes angeborene Veränderungen im Sinne von Entwickelungs- hemmungen aufweisen, die aber streng von oft ähnlich aussehenden, aber durch die spätere Krankheit bedingten Gebilden zu trennen sind. Die gefundenen Daten sind nun sicher. Es käme zunächst Jetzt darauf an, dass sie auch bei größeren Nachuntersuchungen von anderen gefunden werden. Ich hoffe dies. Wenn dem so ist, dann ergibt sich von selbst die bedeutsame Wertung der Hirnoberfläche, d. h. der Windungen und der Größe der einzelnen Hauptlappen zueinander’). Daran werden die Gegen- ansichten Kohlbrugge’s und Stieda’s nichts ändern, welche beide pathologische und Verbrechergehirne nicht untersuchten. Sie können zunächst meine Befunde nicht leugnen, sie bemängeln nur die Schlüsse. Ich habe nie behauptet, dass der Paralytiker — ebenso- wenig wie der Verbrecher ete. — eine für ihn allein charakte- ristische Hirnoberfläche besitze oder dass die Hemmungsbildungen, welche ich nur bei meinen Paralytikern vorfand, nicht einmal auch bei Normalen sich zeigen könnten. Es handelt sich also — ich wiederhole es nochmals — bei Rassen- wie pathologischen Gehirnen bloß um Quantitätsunterschiede. Sie sind aber keine quantite negligeable, namentlich nicht die Ent- wickelungshemmungen. Letztere werden sich, das kann man wohl schon jetzt fast sicher annehmen, häufiger bei pathologi- schen Gehirnen vorfinden, sehr wahrscheinlich auch häufiger bei manchen niederen Rassen. Aber auch Häufig- keitsunterschiede gewisser weniger wichtiger Abweichungen werden sich wohl bei einzelnen Rassen, wie auch der Geschlechter®) auf- stellen lassen. Das alles gilt aber selbstverständlich nur für große Reihen, nicht für das einzelne Gehirn, das sich von anderen nicht zu unterscheiden braucht. Das gleiche gilt ja auch von sonstigen Rassenunterschieden ete. Es fragt sich nun zuletzt, wie wir diese selteneren Variationen, namentlich aber Entwickelungshemmungen, die sich mit dem Gange der Phylogenese nach vorwärts immer mehr verlieren, nennen wollen. Am äußeren Körper bezeichnen wir solche und ähnliche Bildungen 7) Es ist hierbei ganz gleichgültig, ob Flechsig (Stieda, 1. c., p. 613) sagt, es sel sehr fraglich, ob es einen normalen Windungstypus gäbe, wie auch innerhalb welcher Grenzen dieser variieren kann. Wir fragen bei unseren Untersuchungen nicht nach dem normalen Windungstypus und-seinen Variationen. Wir notieren einfach wieviele gewisser Bildungen bei Pathologischen, Rassen und normalen Eu- ropäern vorkommen. Ergibt sich bei dem Vergleich nun konstant ein großer Unterschied, so kann es sich nieht um reinen Zufall handeln, am wenigsten bei den Entwickelungshemmungen, besonders wenn auch ein gleiches Verhältnis bezüg- lich der „äußeren“ und „inneren“ Entartungszeichen sich ergibt. 5) Gewisse Unterschiede zeigen sich schon embryonal bei Knaben und Mädchen. Näcke, Die Bedeutung der Hirnwindungen etc. 181 als Entartungszeichen, Stigmata, indem wir von der einfachen Er- fahrung ausgehen, dass diese im allgemeinen mit der Minder- wertigkeit des Gehirns an Zahl zunehmen. Sie sind uns aber nur „Symbole, Zeichen, Signale“, die uns auf einen etwaigen ab ovo (selten später erworbenen) Defektzustand des zentralen Nervensystems aufinerksam machen sollen. Je zahlreicher diese Stigmata, je ausgebreiteter am Körper, besonders am Kopf, und je mehr sie wirkliche Hemmungsbildungen darstellen, um so mehr werden die Träger derselben auf einen ange- boren nervösen Defektzustand hin verdächtig erscheinen. Das wird immerhin von Psychiatern und Kriminalanthropologen anerkannt und gilt zunächst auch nur von großen Reihen. In con- creto wird man damit sehr vorsichtig verfahren und ja nicht den Betreffenden deshalb ohne weiteres als geisteskranken Verbrecher etc. hinstellen. Noch wertvoller als die äußeren Stigmata sind die „inneren“, d. h. Abweichungen in der Bildung der haupt- sächlichsten inneren Körperorgane, die meist in Menge und Dignität den „äußeren“ parallel verlaufen’). Wichtiger endlich als diese anatomischen Stigmata sind aber die physio-biologischen, auf die ich aber hier nicht näher eingehen will. Den anatomischen Stigmata kann man nun sehr gut gewisse seltene Variationen der Hirnfurchen an die Seite setzen, besonders die Hemmungsbildungen, und wir sahen, dass auch hier bis zu einem gewissen Grade ein Parallelgehen zur geistigen Höhe besteht. Ihre Menge und Dignität scheint endlich auch der der übrigen anato- mischen Entartungszeichen parallel zu gehen. Ob man nun diese Gebilde Stigmata nennen will oder nicht, ist ganz irrelevant. Um nichts zu präjudizieren, möchte ich sie an der Hirnoberfläche vor- läufig nur „seltenere Varietäten“ nennen. Sollte sich aber, wie ich hoffe, ihr Hand in Hand gehen mit den übrigen Degenerations- zeichen immer deutlicher herausstellen, so wäre auch gegen ihre Bezeichnung als „Stigmata* prinzipiell nichts einzuwenden. 9) Wenn Stieda (l. c., p. 613) meint, dass ich hier wie „in vielen Stücken“ den Lehren Lombroso’s huldige, so irrt er sehr. Ich war von jeher der größte Feind der Lombroso schen Übertreibungen und in Deutschland ihr heftigster Gegner. Das hindert aber nicht, dass unter dem Wuste unkritisch behandelten und verarbeiteten Materials sich auch Goldkörner befinden und das gilt besonders bezüg- lich der Entartungszeichen, was freilich auch nicht ganz neu war. Wenn auch jetzt nur ganz wenige mit Lombroso einen Verbrechertypus und einen „geborenen“ Verbrecher annehmen und den Verbrecher mit dem Epileptiker und dem moralisch Schwachsinnigen ohne weiteres identifizieren, so ist es zweifellos, dass im all- gemeinen Verbrecher, welche so viele pathologische Zugehörige zählen, mehr Stig- mata aufweisen als Normale, freilich keinerlei charakteristische. Und das bezieht sich sicher auch auf das Gehirn, trotzdem Lombroso hier, wie Sernoff und Spitzka namentlich nachwiesen, ganz liederlich und unkritisch arbeitete, 182 Näcke, Die Bedeutung der Hirnwindungen ete. Ich weiß nun, dass Stieda speziell keine solchen anerkennt und nur von pro- und retrogredienten Bildungen, „Variationen“ spricht, die sich überall und meist gleichzeitig vorfinden. Deshalb will er gewisse auch nicht „Anomalien“ oder gar „Stigmata“* nennen. Ob aber deutliche Entwickelungshemmungen (Freiliegen der Insel, des Kleinhirns, kleine Salkın an US: £) noch unter den Begriff von „Variationen“ fallen können, möchte ich doch sehr nal, zumal hier sehr oft ein sehr frühzeitiger intrauteriner krankhafter Prozess (oft von sehr geringfügiger Art) vorzuliegen scheint, also dann keine eigentliche ıidiopathische Entwickelungshemmung be- steht!"). Dass alle diese sog. Stigmen überall vorkommen, habe ich oben ja zugegeben. Die Hauptsache dabei ıst — und das übersehen offenbar Kohlbrugge und Stieda —, dass große Quantitäts- unterschiede hier ın den einzelnen Reihen bestehen, besonders in den pathologischen Fällen. Wenn wir dann hier von Stigmata reden, so haben wir dazu wohl einigermaßen ein Recht. Der Aus- druck soll nur empirisch-klinisch aufgefasst werden. Ob die Anatomen sich damit befreunden werden, darauf kommt es hier weniger an. Ich hoffe also, in kurzen Zügen selbst dem Nicht-Gehirnkenner dargelegt zu haben, dass auch die Hirnfurchung kein bloßes Ding des Zufalls ist'!), sondern nach festen Regeln vor sich geht, vor allem aber sehr wahrscheinlich eine gewisse Berlehune zum geistigen Wesen des Menschen aufweist. Ich habe NER he len oB ‚jeder Übertreibung enthalten und meine Erwägungen beruhen auf gr Hier Reihen von Gehirnen, nicht auf einem einzelnen Exemplar. Hirnfurchung, Hirngewicht — natürlich richtig verstanden! — und das gegenseitige Größenverhältnis der einzelnen Lappen sind also durchaus nicht gleich- gültige Dinge, wie sie manche, so Kohlbrugge und Stieda, hinstellen möchten. Sie sind sicher nicht is einzigen, aber immerhin wichtige Elemente zur Abschätzung des In- tellekts und sie lassen hoffen, dass wir auf diesem Wege viel- leicht einmal zur organischen Begründung von Genie dl Talent gelangen werden. Suede nidn, Kch übrigens zum Teil selbst. Auf S. 612 sagt er, dass „die Hirnwindungen und Furchen außerordentlich variieren und ihre Variationen deshalb ohne jegliche Bedeutung sind“. Gleich darauf schreibt er aber: „Auch diese Furchen und Windungen lassen unzweifelhaft Unterschiede erkennen nach Alter, Geschlecht und Rasse.“ Er gibt hierfür also wenigstens ihre 10) Wenn es eine solche überhaupt gibt! 1) Darauf weist schon die Vererblichkeit gewisser Furchen und Furchungs- stücke oder die Doppelseitigkeit derselben am selben Gehirn, wie das wiederholt kon- statiert ward. Sogar an einem Thorakopagen konnte Bolk (Ref. Neurol. Centralbl. 1910, p. 1032) solches bestätigen. Marshall, Bombus hortorum L. an den Blüten der Kapuzinerkresse. 783 Bedeutung zu und fährt dann fort: „Es ist Aufgabe der morpho- logischen Wissenschaft, diese festen und bestimmten Windungen festzustellen. Aber viele Furchen und Windungen, die außerdem im Gehirn vorkommen, sind ohne jegliche Bedeutung.“ Damit be- stätigt er zum Teil wenigstens das, was wir oben ausführten und nie habe ich ja behauptet, dass jede beliebige Furche von Belang sei. Und wenn er endlich S. 113 meint: „Ich suche in dem feineren Bau des Hirns die Ursache für die Verschieden- heit der psychischen Funktionen ...“, so ist derselbe wahrschein- lich allerdings noch wichtiger als dıe bloße äußerliche Konfiguration der.Windung, woraus aber noch nicht folgt, dass letztere ganz nebensächlich erscheint, wie ja auch Stieda dies selbst kurz vor- her ausführt. Bombus hortorum L. an den Blüten der Kapuzinerkresse (Tropaeolum maius). Von Dr. Marshall, Halle a. S. Als ein Beweis für die Wahrheit des Sprichwortes „Not macht erfinderisch“ kann folgende Beobachtung dienen: An der auf dem Balkon blühenden Kapuzinerkresse machte sich eine Hummel (bom- bus hortorum) eifrig zu schaffen. Da ich begierig war zu erfahren, wie sie es mit ihrem dicken Leibe anstellen würde, zu dem engen Honigbehälter zu gelangen, sah ich ihr eine Weile zu. Merkwürdigerweise versuchte sie gar nicht erst in die Blüte hineinzukriechen, sondern ließ sich stets auf dem Sporn der Blüte nieder, um an ıhm herabzukriechen, bis sie eine Stelle fand, an der sie eine Weile unter eifriger Benützung der Zunge sitzen blieb. So besuchte sie etwa 10 Blüten, bis ein unvorsichtig ausgestoßenes Zigarrenrauchwölk- chen sie vertrieb. Bei der Untersuchung der Blüten, an denen die Hummel gesessen hatte, zeigte sich am Sporn ein kleines Loch (s. Abbild. a), aus dem sich durch Saugen ein süßer Saft heraus- ziehen ließ. Im Innern enthielt der Sporn reichliche Mengen von Honig. Dass die Hummel während ihres kurzen Besuchs das Loch erst gebissen haben könnte, ist nicht anzunehmen. Wahrscheinlich hatte sie früher schon einmal die Wahrnehmung gemacht, dass hier reichlich Honig sei, zu dem sie aber auf natürlichem Wege schlecht 184 Walter, Der Flussaal. gelangen konnte, worauf sie sich Zugang schaffte, indem sie die Wandung des Sporns durchbiss. Seitdem mag sie den Blüten ge- wohnheitsmäßige Besuche abgestattet haben. An einer Blüte war das Loch bedeutend nach unten verlängert, hier hatte die Hummel den Honig jedenfalls schon weggeleckt, soweit ihre Zunge reichte und dann das Loch erweitert, um zu neuen Süßigkeiten gelangen zu können (s. Abbild. b). Zu einer Zeit, wo der Klee verblüht ist und auch sonst die Blumen im Freien spärlich zu werden beginnen, mag diese Nahrungsquelle dem Insekt sehr willkommen sein, und so macht es sich der Honighinterziehung oder einer Art Zech- prellerei schuldig, indem es den süßen Saft leckt ohne die dafür geforderte Gegenleistung, die Mitnahme des Blütenstaubes, zu ge- währen. Emil Walter. Der Flussaal. Eine biologische und fischereiwirtschaftliche Monographie. 122 Abb. 8. XII u. 348 Seiten. Neudamm 1910. J. Neumann. Eine Monographie über den Flussaal kann des allgemeinen Beifalls sicher sein. Ueber das Leben dieses Fisches hat die neuere Forschung vielfach Licht verbreitet. Noch ist nicht alles aufgeklärt, was ihn angeht. Aber das Gesicherte festzustellen, auf die noch klaffenden Lücken unserer Kenntnisse hinzuweisen, ist ein dankens- wertes Unternehmen. Und das ist dem Verf. wohl gelungen. Er behandelt nacheinander die geographische Verbreitung und den Körperbau, die Frage, ob es mehrere Arten von Flussaalen gibt, die Lebensweise, Wachstum und Ernährung, die Feinde und Krank- heiten, die Fortpflanzung, den Aaal als Objekt der Fischereiwirt- schaft, den Fang des Aaals, die Aufbewahrung, Versand und Ver- packung, den Konsum und Handel. Die Darstellung ist fließend und klar, allgemein verständlich und doch sachlich, so dass sie auch dem Mann der Wissenschaft Neues und Belehrendes bietet. Ueberall ist auf die Quellen verwiesen, welche zum großen Teil in fischerei- wissenschaftliche Blätter enthalten und darum den Zoologen und Biologen von Fach weniger zugänglich sind. Es scheint dem Be- richterstatter, dass die Zusammensetzung dieses massenhaften Ma- terials überall mit derjenigen gesunden Kritik erfolgt ıst, welche das Zuverlässige von den gemachten Behauptungen gut sichtet, so dass ein brauchehbares, auch wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht werdendes Buch zustande gekommen ist. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. RK. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. BI. XXX. 15. Dezember 1910. N RL. Inhalt: Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen über die Fortpflanzungsverhältnisse bei Daphniden (Simocephalus vetulus und Moina rectirostris var. Lilljeborgii) (Schluss). — Müller-Lyer, Der Sinn des Lebens und die Wissenschaft. — Hume, Untersuchung über den menschlichen Verstand. — Register. Experimentelle Untersuchungen über die Fortpflanzungs- verhältnisse der Daphniden (Simocephalus vetulus und Moina rectirostris var. Lilljeborgii). Von Dr. Georg Papanicolau. (Aus dem zoolog. Institut München.) (Schluss.) V. Einfluss der Kälte. Als niedrige Temperatur habe ıch 6—8° angewandt, ähnlich wie Issakowitsch (8°) und Kuttner (6°). Trotz der Einheitlich- keit der Methode haben diese zwei Forscher merkwürdigerweise ganz entgegengesetzte Resultate erzielt. Nach den Angaben Issakowitsch’s waren seine Kältekulturen immer kurzlebig; sie hatten eine noch stärkere Tendenz zur Bildung von gamogenetischen Tieren als die Zimmerkulturen. Es traten meist schon ım ersten Wurf Männchen auf und bald starb aus Mangel an Weibchen die Kultur aus. Manchmal bildeten die Tiere, in die Kälte gebracht, sofort Ephippien. Auf der. anderen Seite bestreitet Kuttner ganz und gar diesen Einfluss der Kälte und führt auch experimentelle Tatsachen als Stütze dieser Behauptung an. Die Fälle, die beide anführen, sind aber zu gering an Zahl (Kuttner hat nur bei Simocephalus vetulus und Daphnia pulex einige wenige Kälteversuche gemacht, die außerdem von zu kurzer XXX. 50 786 Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. Dauer waren), um sichere Schlüsse ziehen zu können. Eine längere Einwirkung der Kälte hat bis jetzt niemand studiert. Sonst würde es schon bekannt sein, dass die Kälte mehr als die hohe Tempe- ratur bei einer exzessiven Anwendung im Laufe relativ kurzer Zeit Degenerationserscheinungen einleitet. Folgende zweı Tabellen (Tab. 17 u. 18) werden das deutlich zeigen. I. Generation, 1. Geburt. Y @) II. Gener. YYN 1O 180 30 200 3D WOBOT@ II. „ 10 100° »o s® - I ;® ve Tab. 17. Kältekultur A von Simocephalus (Sa). Dauer der Kultur 6 Monate. Dauerei Y ®) I. Gener. L > :-BONOBO 20 DO XOR2OBOROU@IT. „, YYN Y Y SONO LOIG:® SQNO5® IO7T@ (UNE Ar Y 5 '@ :® ‘@ 4@ I: :® Var, Tab. 18. Kältekultur B von Simocephalus (Sb). Dauer der Kultur 6'/, Monate. Die Betrachtung dieser Tabellen zeigt, dass die niedrige Tem- peratur bei längerer Einwirkung eine frühzeitige Degeneration her- vorbringt. Dass hier nicht etwa schlechte Versorgung meiner Kältekulturen die Ursache dieser Degeneration war, beweist ein sehr interessantes Experiment, welches die Natur selbst zufällig gemacht hat und das von Stingelin (13) beschrieben worden ist. In einem kleinen Weiher bei Münchensteiner war Mitte August eine Kolonie von Moina brachiata in gemischter Fortpflanzung. Am 4. September war der Weiher gänzlich ausgetrocknet. Am Anfang Oktober hat es geregnet und es sind aus den im Schlamm liegenden Dauereiern neue Tiere ausgeschlüpft. Bis Ende Oktober waren alle Individuen der Kolonie parthenogenetische Weibchen, was der langsamen Entwickelung bei niedrigerer Temperatur zuzuschreiben ist. Im November sind die äußeren Bedingungen sehr ungünstig geworden; die Tiere sind trotzdem parthenogenetisch geblieben bis Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen ete. ar zu dem Moment, wo die ganze Kolonie zugrunde gegangen ist und zwar so vollständig, dass im nächsten Sommer in demselben Weiher keine Spur von Moina brachiata zu finden war. Alle diese Fälle beweisen, dass eine sehr niedrige Temperatur, wenn sie auf die ersten Stadien der parthenogenetischen Entwicke- lung angewandt wird, nicht imstande ist, die Gamogenesis herbei- zuführen, sondern direkt zur Degeneration führt. Bis hier scheint also Kuttner im Recht zu sein. In der Periode des Übergangs von der Parthenogenesis zur Gamogenesis kann man sich aber überzeugen, dass die niedrige Temperatur wirklich die Gamogenesis begünstigt, wie es vielfach bis jetzt behauptet worden ist. Um das zu beweisen, werde ich einige Experimente, die ın der Zeit des Überganges gemacht worden sind, erwähnen. A. Simocephalus. 1. Aus der fünften Geburt eines Tieres der sechsten Generation (Kultur Sa) habe ich 10 Weibchen bekommen, von denen ich 5 in der Zimmertemperatur weiter züchtete, die übrigen 5 in die Kälte brachte. Die ersten 5 haben Subitaneier gebildet, von den 5 Kälte- tieren hatten 2 Subitaneier, 3 Dauereier. 2. Aus der vierten Geburt eines Tieres der neunten Generation (Sa) sind 12 Weibchen geboren worden, von denen ich 6 in Kälte züchtete. Von denselben bildeten 2 Subitaneier, die 4 übrigen Dauereier, während die in der Zimmertemperatur weiter kultivierten ohne Ausnahme Subitaneier bildeten. 3. Aus der vierten Geburt eines Tieres der 14. Generation (Sa) entstammten 8 Tiere, von denen ich die Hälfte in die Kälte brachte. Alle 4 Tiere bildeten Dauereier, während von den in der Zimmer- temperatur weiter kultivierten 4 Exemplaren 2 auch Dauereier, die anderen 2 aber Subitaneier bildeten. B. Moina, 4. Von einem Tier der siebten Generation (Ma) wurden bei der zweiten Geburt 18 Weibchen aus violettblauen Eiern geboren, von denen ich die eine Hälfte in der Zimmertemperatur weiter züchtete, die andere Hälfte in die Kälte (s—10°)!°) überführte. Die ersteren haben alle Subitaneier gebildet, die der Kälte ausgesetzten ohne Ausnahme Dauereier. 5. Die dritte Geburt desselben Tieres ergab 23 Weibchen aus violettblauen Eiern. Ich kultivierte 12 unter denselben Bedingungen (Zimmertemperatur) und brachte die übrigen 11 in die Kälte. Von 18) Bei den meisten Kältekulturen von Moina habe ich eine relativ höhere Temperatur (—10°) angewandt, die in einer Wanne mit fließendem Brunnenwasser leicht zu erreichen war, da diese Tiere empfindlicher gegen Kälte sind. 50* 188 Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. den ersteren bildeten 6 Dauereier, 6 Subitaneier, während die letzteren ohne Ausnahme Dauereier bildeten. Ganz entsprechende Resultate haben mir die mit Simocephalus ausgeführten Massenkulturen angegeben, die ich unter verschiedenen Bedingungen züchtete. 1. Bei den Nachkommen eines Tieres der 10. Generation (2. Geburt) ergab dıe Wärmekultur (S. 771) als Maxımum 134 Tiere und zwar im anhelris von 75,67°/, parthenogenetischen zu 24,33, gamogenetischen Tieren. In der Zimmertemperatur betrug das Maximum 185 Tiere und zwar 31,4°/, parthenogenetische, 68,6°/, gamogenetische Tiere. Die Kältekultur °) hatte als Maximum 189 Tiere, darunter 58 geschlechtsreife und zwar 13 partheno- genetische Weibchen, 24 Ephippialweibehen, 21 Männchen, d.h. ein nehme von 22,42 °/, parthenogenetischen zu 77,58°/, gamogene- tischen Tieren. I Zahl der gamogenetischen Tiere war also größer ın der Kälte als in den anderen Temperaturen. 2. Bei den Nachkommen eines Tieres der 12. Generation (2. Ge- burt) ergab die Wärmekultur (S. 772) ım Maximum 111 Tiere und ein Verhältnis von 80°/, parthenogenetischen zu 20°/, gamogene- tischen Tieren. Die Zimmerkultur ergab mir als Maximum 143 Tiere und das Verhältnis von 43,33°/, parthenogenetischen zu 56,67°/, gamogenetischen Tieren. Das Maximum der Kältetiere betrug 156, darunter 37 geschlechtsreife Tiere und zwar 11 parthenogenetische Weibchen, 14 Ephippialweibchen, 12 Männchen, d.h, ein Verhältnis von 29,73 °/, parthenogenetischen zu 70,27 °/, gamogenetischen Tieren. Hier war also die Zahl der gamogenetischen Tiere in der Kälte größer als in der Zimmertemperatur und der Wärme. Aus diesen Beispielen kann man schließen, dass die Kälte die gamogenetische Fortpflanzungsweise begünstigt, dass aber eine un- vermittelte Abänderung der Kulturbedingungen, wie sie bis jetzt in der Regel ausgeübt wurde, eine rasch vor sich gehende Degene- ration hervorruft. Deshalb haben die mit den proterogenotoken Tieren gemachten Experimente nur negative Resultate ergeben, während die mit mesogenotoken ein ganz anderes Bild zeigten. Es ıst damit ganz klar, warum Issakowitsch einerseits, Kuttner andererseits bei der Prüfung desselben Faktors und bei Anwendung derselben Methode ganz entgegengesetzte Resultate be- kommen haben. Die Erklärung liegt darın, dass die Tiere, mit dienen Issako witsch und Kuttner experimentierten, verschiedenen Phasen angehörten. Die von Issakowitsch hatten schon eine starke Tendenz zur Gamogenesis, während die von Frl. Kuttner eine größere Tendenz zur Parthenogenesis besaßen. 19) Diese Massenkulturen habe ich zur Beschleunigung der Entwickelungs- vorgänge bei etwas höherer Temperatur, nämlich bei 10° geh: ılten. Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. 789 Weiterhin treten infolge der Kälteeinwirkung folgende Ver- änderungen auf: 1. Die Zahl der Eier vergrößert sich. Da die Kältekulturen sich nicht durch mehrere Generationen am Leben erhalten ließen, ist es mir unmöglich, einen tabellarıschen Beweis zu geben. Aber aus einem Vergleich der Zahlen, die ich aus der Berechnung der Zahl der Eier bei den Generationen 1 (Kältekultur B, Tabelle 18) und 2 (Kältekultur A, Tabelle 17) in der Kälte bekommen habe, mit den entsprechenden Zahlen der Zimmerkulturen, sieht man, dass ein Unterschied zugunsten der Kälte existiert. So fand ich ın der Kälte bei der ersten Generation einen Mittelwert von 19,4 für jede Geburt, bei der zweiten Generation 17,3, während die ent- sprechenden Zahlen in der Zimmertemperatur 17,4 und 15,9 be- trugen (s. Tab. 2 S. 744). 2. Die Zahl der Würfe wird verringert: so habe ich in der Kälte bei einem Tier der ersten Generation 10 Geburten, bei einem der zweiten Generation 8 Geburten bekommen, während die ent- sprechenden Zahlen in der Zimmertemperatur auf 15 und 13 stiegen. 3. Die Größe der Subitaneier und der neugeborenen Tiere nımmt zu. In der Kälte fand ıch als Mittelwert (statistische Be- rechnung aller 323 in der Kälte gemessenen Eier) 93,37 (gegen 89,34 in der Zimmertemperatur und 79,13 in der Wärme); für die neu- geborenen Tiere fand ich eine Mittellänge von 0,70 mm (Zimmer- temperatur 0,68 mm, Wärme 0,63 mm). 4. Die Entwickelungsgeschwindigkeit nimmt ab, da die Zeit von einer Häutung zur anderen beträchtlich zunimmt. So bekam ich als Mittelwert bei einer statistischen Berechnung aller in der Kälte beobachteten Fälle (6—8°) 17,23 Tage gegen 3,14—4,75 der Zimmertemperatur und 2,14—3,0 der Wärme. Die Entwickelungs- geschwindigkeit ist also viermal so klein in der Kälte als in der Zimmertemperatur. 5. Die Größenzunahme von Häutung zu Häutung nımmt zu. So fand ich als Mittelwert bei 30 Fällen mit Berechnung der Größen- zunahme in allen Häutungen 0,146 mm (in der Zimmertemperatur 0,124 mm, in der Wärme 0,120 mm); mit Berechnung nur der ersten 6 Häutungen 0,199 mm (Zimmertemperatur 0,196 mm, Wärme 0,187 mm). Das Resultat dieser größeren Wachstumszunahme von Häutung zu Häutung ist, dass die Tiere bei der ersten Eibildung — die Zahl der Häutungen, die vor der Geschlechtsreife stattfinden, bleibt dieselbe in allen Temperaturen — größer als bei höherer Temperatur sind: Mittellänge für die Kälte 1,56, für die Zimmer- temperatur 1,50, für die Wärme 1,40 mm. Die größten Tiere können über 2,6 mm erreichen. Zusammenfassend kann man nun sagen, dass die Kälte: 1. das Auftreten der gamogenetischen Fortpflanzung begünstigt, 790 Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. 2. bei längerer Wirkung degenerativ wirkt, 3. die Zahl der Eier vergrößert, 4. die Zahl der Würfe vermindert, 5. die Größe der Subitaneier und der neugeborenen Tiere be- fördert, 6. die Entwickelungsgeschwindigkeit vermindert, 7. die Wachstumsgröße zwischen zwei Häutungen befördert. VI. Einfluss des Hungers. Den Hunger habe ich in zweifacher Weise einwirken lassen: Einzelkulturen versetzte ich unvermittelt in den Hungerzustand, ebenso wie ich es bei der Anwendung der höheren und niedrigeren Temperatur getan habe: Ich brachte die Tiere in Gläser mit reinem filtriertem Wasser und ließ sie dort hungern. Die Gläser deckte ich immer sorgfältig zu, um die Entwickelung von Bakterien zu ver- hindern. Nur wenn die Tiere ganz erschöpft waren und nicht mehr Geschlechtsprodukte produzieren konnten, gab ich ihnen eine geringe Dose von Nahrung, so dass sie sich am Leben erhalten und Geschlechtsprodukte bilden konnten. Bei Massenkulturen da- gegen ließ ich den Hungerzustand allmählich eintreten: ich fütterte eine Kultur erst reichlich und ließ sie dann langsam die Nahrung aufbrauchen, ohne sie zu ersetzen. Die Resultate der ersten Kulturmethode waren ganz negativ. Es ist mir nicht gelungen, eine Begünstigung der gamogenetischen Fortpflanzung durch den Hunger zu bestätigen. Das einzige positive Resultat, was ich erhalten konnte, ist, dass der Hunger sowie die hohe und niedrige Temperatur bei unvermittelter Anwendung und längerer Einwirkung degenerativ auf die Organisation der Tiere wirkt. Das kann aus der folgenden Tabelle (19) ersehen werden, die eine Ab- zweigung von der ersten Geburt eines Tieres der ersten Generation von Simocephalus (Kultur Sa) darstellt. I. Generation, 1. Geburt. Y OÖ lIl.Gen. N Y — 30 50 40 60 60 40 50 303020 Il „ / | N SI ' IN RN 2)..,2 0) 2@ 20302:0O1@2:@1@|\. „, Yy Yy 2@ 1i@ VL D) Tab. 19. Hungerkultar A von Stmocephalus (Sa). Dauer der Kultur 2 Monate. Wie man sieht, ist die ganze Kultur innerhalb einiger Gene- rationen in ganz analoger Weise wie die Kältekulturen A und B Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. 791 (Tab. 17 u. 18) abgestorben, ohne irgendeine Tendenz der Gamo- genesis erkennen zu lassen. Alle Nachkommen waren Weibchen, von denen die bis zur Geschlechtsreife verfolgten parthenogenetisch waren. Eine ähnliche Degeneration sieht man auch bei den länger ge- führten Hungerkulturen Kuttner’s, die ausschließlich mit der ersten Methode gezüchtet hat — besonders bei der Kultur OÖ. Die Kultur N hat es länger ausgehalten (5 Generationen), vielleicht deshalb, weil Frl. Kuttner ihre Tiere reichlicher gefüttert hat als ıch. Issakowitsch dagegen hat nicht so lange kultiviert, da er von Anfang an positive Resultate gehabt hat. Bei allen seinen Kulturen traten nämlich ähnlich wie bei seinen Kältekulturen gleich gamogenetische Tiere auf, so dass keine längere Generationsfolge möglich war. Da Issakowitsch sowohl bei seinen Kälte- als bei den Hungerexperimenten dieselbe Methode der unvermittelten Ande- rung der Kulturbedingungen, wie Frl. Kuttner und ich angewandt haben, so muss die Abweichung seiner Resultate sich aus anderen Ursachen heraus erklären lassen und zwar wahrscheinlich daraus, dass er verhältnismäßig schwächere Tiere mit einer größeren Tendenz zur Gamogenesis als Stammtiere für seine Kulturen anwandte. Eine genaue Kontrolle seiner Stammtiere ist leider unmöglich, da über die Genealogie seiner Tiere keine Angaben gemacht worden sind. Jedenfalls scheint die Kolonie, aus welcher er seine Tiere genommen hat, sehr kurzzyklisch gewesen zu sein, wofür auch der Umstand spricht, dass die Tiere nicht direkt aus dem Freien, sondern aus einem Zuchtglas des zoologischen Instituts von München stammten. Sonst ist nicht zu erklären, wie er sowohl bei der Kälte als beim Hunger sofort gamogenetische Tiere in allen Fällen erzielt hat, während Frl. Kuttner und ich mehrmals negative Resultate er- halten haben. Ganz andere Resultate gab mir dagegen die allmähliche Nah- rungsentziehung bei Massenkulturen. Hier trat der die gamogene- tische Fortpflanzung begünstigende Einfluss des Hungers deutlich hervor, wie aus folgenden Beispielen hervorgeht: 1. Aus den Nachkommen des zweiten Wurfes eines Tieres der 10. Generation (Sa) legte ich verschiedene Kulturen an, von denen mir die gut ernährte (s. oben S. 788) als Maximum 185 Tiere gab, darunter 16 parthenogenetische und 35 gamogenetische, d. h. ein Verhältnis von 31,4°/, parthenogenetischen zu 68,6°/, gamogene- tischen Tieren. Die Hungerkultur ergab nun 111 Tiere als Maximum, darunter 27 geschlechtsreife Tiere und zwar 5 parthenogenetische Weibchen (3 ohne Eier im Brutraum), 7 Ephippialweibehen, 15 Männ- chen, d.h. ein Verhältnis von 18,51°/, parthenogenetischen zu 81,49°/, gamogenetischen Tieren. 2. Aus den Nachkommen der zweiten Geburt eines Tieres der 7192 Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen ete. 2 11. Generation legte ich zwei Massenkulturen in der Zimmertempe- ratur an, von denen ich die eine immer gut fütterte, die zweite anfangs gut ernährte, ohne dann das Futter zu ersetzen. Die Nahrungskultur gab mir als Maximum 203 Tiere, davon 53 geschlechtsreife und zwar 33 parthenogenetische Weibchen, 14 Ephippialweibchen, 6 Männchen, was ein Verhältnis von 62,27°/, parthenogenetischen zu 37,73°/, gamogenetischen Tieren ergibt. In der Hungerkultur betrug das Maximum 117 Tiere, darunter 28 geschlechtsreife und zwar 7 parthenogenetische Weibchen (3 ohne Eier im Brutraum), 8 Ephippialweibehen, 13 Männchen, d. h. ein Verhältnis von 25°/, parthenogenetischen zu 75°/, gamogenetischen Tieren. 3. Ein ähnliches Experiment habe ich mit zwei Nachkommen der ersten Geburt der 13. Generation (Sa) gemacht. Die Futterkultur ergab als Maximum 217 Tiere, nämlich 24 par- thenogenetische Weibchen, 12 Ephippialweibchen und 13 Männchen, d. h. ein Verhältnis von 48,98°/, parthenogenetischen zu 51,02°/, gamogenetischen Tieren. Die Hungerkultur hatte im Maximum 96 Tiere, nämlich 5 par- thenogenetische Weibchen, 6 Ephippialweibchen und 12 Männchen, was ein Verhältnis von 21,73°/, parthenogenetischen zu 78,27°/, gamogenetischen Tieren ergibt. Aus diesen Beispielen ist es klar, dass langsam und progressiv eintretender Nahrungsmangel das Auftreten der gamogenetischen Fortpflanzung begünstigt, während unvermittelte Nahrungsentziehung zur Degeneration führt. Zu ähnlichen Resultaten ist in der Neuzeit Woltereck (11) gekommen, freilich auf einem anderen Wege. Derselbe versuchte durch reichliche Nahrung und mittlere bis hohe Temperatur das Auftreten der Gamogenesis zu verhindern. Es ist ihm wirklich gelungen, eine Kultur von Daphnia pulex (obtusa) über ein Jahr lang in reiner parthenogenetischer Fortpflanzung zu erhalten, wäh- rend Kolonien derselben Art im Freien in vier Monaten ihren Zyklus durchmachen. Leider gibt uns Woltereck keine näheren Angaben darüber, ob er nur proterotoke Tiere kultiviert hat oder Tiere aller Geburten. Es ist deshalb nicht zu entscheiden, inwieweit hier eine Wirkung der günstigen äußeren Bedingungen vorliegt oder ob die Resultate einfach dadurch zu erklären sind, dass eine unbewusste Selektion proterogenotoker Tiere stattgefunden hat; dieselben be- sitzen aber, wie ich schon erläutert habe, bis in die letzten Gene- rationen hinein eine sehr starke Tendenz zur Parthenogenesis. Auf den Einfluss des Hungers lassen sich ferner noch folgende Erscheinungen zurückführen ?®): 20) Alle Angaben beziehen sich auf Simocephalus. Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. 193 1. Die Zahl der Würfe hungernder Tiere beträgt nicht mehr als 4—-5 (s. Tab. 19). 2. Die Zahl der Eier wird stark reduziert. In einer Kolonie, die schon längere Zeit (über eine Generation) dem Hunger ausge- setzt war, kann man sehr selten Tiere mit mehr als 2—-3 Eiern finden (s. Tab. 19). 3. Die Größe der Eier wird ebenfalls vermindert: eine statistische Berechnung aller Fälle (173), die ich genauer untersucht habe, er- gab eine Mittelgröße von 82,12 mm (Zimmertemperatur — Nahrung — 89,34 mm). 4. Die Größe der neugeborenen Tiere nımmt ab; eine statistische Berechnung aller Fälle (322) ergab die Mittellänge von 0,66 mm (Zimmertemperatur — Nahrung — 0,68 mm). 5. Das Tempo der Entwickelung wird verzögert: Die Zwischen- zeit von Geburt zu Geburt beträgt 4—7 Tage (in Futterkulturen 3,14—4,75 Tage). 6. Das durchschnittliche Wachstum zwischen je zwei aufeinander- folgenden Häutungen wird verringert: Die Mittelwerte des Wachs- tums von Häutung zu Häutung betragen bei Berechnung sämtlicher Häutungen 0,100 mm (gegenüber 0,124 mm in Futterkulturen). Bei Berücksichtigung nur der ersten 6 Häutungen 0,125 mm (gegen 0,196 mm der Futterkulturen). Die Tiere erreichen ihre Geschlechtsreife gewöhnlich bei einer späteren Häutung (5. oder 6.) mit einer Länge von 1,33—1,41 mm (in der Nahrung 1,50 mm). Die größten Tiere waren 1,66 mm lang (in der Nahrung 2,50 mm). Fassen wir die durch die Einwirkung des Hungers erzielten Resultate zusammen, so stellen wir demnach fest: 1. Bei allmählicher Überführung in den Hungerzustand be- günstigt derselbe die gamogenetische Fortpflanzung. 2. Der Hunger führt bei exzessiver und langandauernder Ein- wirkung zur Degeneration. 3. Er reduziert die Zahl der Eier und Würfe. 4. Er vermindert die Größe der Eier und der neugeborenen Tiere. 5. Er verlangsamt die Entwickelungsgeschwindigkeit. 6. Er vermindert das Wachstum zwischen zwei Häutungen. YH. Einfluss der Stoffwechselprodukte. In der letzten Zeit ıst Langhans (12) durch Experimente und Beobachtungen zu der Ansicht gekommen, dass die von den Tieren selbst produzierten Stoffwechselprodukte einen großen Einfluss auf die Lebens- und Fortpflanzungserscheinungen der Daphniden be- sitzen. Er hielt nämlich vier verschiedene Arten von Daphnia (magna, pulex, obtusa und longispina) ım Einzelkulturen und Massen- 794 Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. kulturen (die Genealogie der Tiere fehlt) und beobachtete, dass bei den letzteren die Vermehrung der Individuenzahl nach kurzer Zeit aufhört und bei einer großen Anzahl von Tieren degenerative Organisationsstörungen (Unregelmäßigkeit der Häutung, Herab- setzung der Fruchtbarkeit, Verlangsamung der Entwickelung, große Sterblichkeit u. s. w.) eintreten. Er bemerkte auch, dass die Dauerei- bildung stets zur Zeit des Maximums der Individuenzahl einsetzt. In den Einzelkulturen dagegen werden alle diese Erscheinungen vermisst. Langhans hat nun die Behauptung ausgesprochen, dass alle diese Erscheinungen als das Resultat der Ansammlung und der schädlichen Wirkung der Exkretstoffe der Tiere zu betrachten sind und suchte diese Auffassung auch auf das Leben im Freien zu übertragen. Ich glaube, dass diese Schlussfolgerung nicht ganz berechtigt ist. Denn es ıst ganz natürlich, dass in einer Massen- kultur, wo Nachkommen aller Geburten miteinander vermischt sind, sowohl gamogenetische als auch metagenotoke degenerierte Tiere ın größerer Zahl auftreten müssen, während bei Einzelkulturen, ‚wo gewöhnlich nur kräftige proterotoke Tiere weiter gezüchtet werden, solche Erscheinungen viel seltener sind oder gar nicht auf- treten. Auch die Tatsache, dass die Dauereibildung stets zur Zeit des Maximums der Individuenzahl eintritt, wıe ich auch oben angegeben habe, ist nicht durch den Einfluss eines äußeren Faktors zu erklären, sondern durch das relativ späte Auftreten der gamogenetischen Tiere und durch ihre langsame Entwickelung. Damit will ich natürlich nicht bestreiten, dass die Bestimmung der Individuenzahl in einem Kulturglas von den Exkretstoffen der Tiere abhängig sein kann; aber auch diese Wirkung ist nicht ganz klar erwiesen, da manchmal in ganz kleinen Gläsern — wie auch Woltereck (11, S. 169) angibt — eine ungeheure Menge von Individuen zusammenleben können, ohne dabei irgendeine Schädigung zu zeigen. Um das Vorhandensein einer spezifischen Wirkung der Stoff- wechselprodukte auf die Fortpflanzungsverhältnisse zu kontrollieren, habe ich folgendes Experiment angestellt: Ich habe das Wasser zweier verschiedener Kolonien von Simocephalus, von denen die eine in parthenogenetischer, die andere in beginnender geschlecht- licher Fortpflanzung sich befanden, umgetauscht. Die partheno- genetische Kolonie gehörte der 11. Generation an und bestand aus 95 Tieren: 24 Weibchen mit Subitaneiern, 41 unreifen Weibchen und 28 neugeborenen Tieren?'). Die geschlechtliche Kolonie gehörte der 13. Generation an und bestand aus 113 Tieren, nämlich 12 Weibchen mit Subitaneiern, 21) Vor der ersten Häutung konnte ich an den sekundären Geschlechts- charakteren das Geschlecht der Tiere nicht unterscheiden. Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen ete. 795 3 Weibchen mit Ephippien, 64 unreifen Weibchen und 34 neu- geborenen Tieren. Ich tauschte das Wasser am 31. Dezember 1909 um und untersuchte in den nächsten Tagen die beiden Gläser sorg- fältıg. Am 4. Januar 1910 waren in der parthenogenetischen Kultur der 11. Generation 74 Tiere und zwar 26 mit Subitaneiern, 25 un- reife Weibchen, 23 neugeborene; also keine Spur von gamogene- tischer Fortpflanzung. In der geschlechtlichen Kultur der 13. Gene- ration waren 123 Tiere, nämlich 10 Weibchen mit Subitaneiern, 14 Weibchen mit Ephippien, 69 unreife Weibchen, 1 Männchen und 29 Neugeborene. Die Gamogenesis war also weiter fortge- schritten, obgleich die Tiere in neues, aus einer parthenogenetischen Kultur stammendes Wasser gebracht worden waren. Daraus ist zu schließen, dass die Beschaffenheit des Wassers keine spezifische Wirkung auf die Fortpflanzungsverhältnisse der Daphniden besitzt. Aus allen diesen Erörterungen kann man nun den Schluss ziehen, dass die Konzentration der von den Tieren produzierten Stoffwechselprodukte eine Rolle bei der Bestimmung der Zahl in einem beschränkten Raum zusammenlebender Tiere spielen kann, dass es aber bis jetzt nicht bewiesen ist, dass sie auch eine spezi- fische Wirkung auf andere Lebenserscheinungen der Tiere besitzt und dass sie sogar als ein ım Freien wirkender Faktor betrachtet werden müsse. VIII. Einfluss der ehemischen Reaktion des Wassers. Da in meinen Kulturgläsern, wo mehrere Tiere zusammen- lebten und wo natürlich gamogenetische Tiere öfters aufzufinden waren, immer eine stärkere alkalische Reaktion festzustellen war, als im Wasser der Einzelkulturen, habe ich es als möglich be- trachtet, dass die alkalische Beschaffenheit des Wassers ein die gamogenetische Fortpflanzung begünstigender Faktor sei. Um die Richtigkeit dieser Vermutung zu prüfen, kultivierte ich einige kräf- tige Weibchen der proterogenotoken Periode in einer sauer reagieren- den Flüssigkeit (allmählicher Zusatz von Zitronensäure), andere, Geschwister der ersteren, in einer alkalisch reagierenden Flüssigkeit (allmählicher Zusatz von Natrium carbonicum), während ich eine Kontrollkultur unter normalen Kulturbedingungen führte. Die Tiere bildeten in allen drei Kulturen Subitaneier. Der einzige Unter- schied bestand darin, dass die in den unnatürlichen Verhältnissen kultivierten Tiere eine große Sterblichkeit und eine langsamere Entwickelung zeigten. Dieses Experiment wiederholte ich dreimal, immer mit protero- token Exemplaren von Simocephahıs und bekam überall negative Resultate. Die Art der Reaktion des Wassers scheint also ohne spezifische Bedeutung auf die Fortpflanzungsverhältnisse der Daph- niden zu sein. 796 Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. IX. Cytologische Befunde und theoretische Erörterungen. Für die eigentümlichen Fortpflanzungsverhältnisse der Daph- niden, welche in den voranstehenden Kapiteln besprochen wurden, hat in der letzten Zeit Issakowitsch (7) auf Grund der Kern- plasmarelationstheorie R. Hertwig’s eine kausale Erklärung ver- sucht. Wie es aus Untersuchungen R. Hertwig’s (16) und seines Schülers M. Popoff an Protozoen (Actinosphaerium, Paramaecium, Dileptus, Didinium, Frontonia, Stylonychia) sıch herausgestellt hat, führt fortgesetzte Teilung eines Tieres zur übermäßigen Vergröße- rung seiner Kernmasse ım Verhältnis zum Protoplasma und damit unter Umständen zu einem Depressionszustand. Die Tiere haben in diesem Zustand nicht mehr die Fähigkeit, sich durch Teilung zu vermehren und gehen zugrunde, wenn nicht eine Reorganisation ihres Baues durch Eliminierung eines Teils der Kernmasse oder durch Befruchtung eintritt. Diesen Tatsachen zufolge hat nun Issakowitsch die Vermutung ausgesprochen, dass die Fortpflan- zungserscheinungen der Daphniden auf diesem Wege einer einfachen kausalen Erklärung zugänglich sind. Die fortgesetzte parthenogene- tische Fortpflanzung ähnlich wie die agame Teilung bei den Proto- zoen führt zu einer Störung der Kernplasmarelation zugunsten der Kernmasse und damit zu einem Depressionszustand. Die Eierstock- epithelzellen der in Depression befindlichen Tiere können infolge ihrer herabgesetzten Lebenstätigkeit nicht mehr den Eiern die zu ihrer Entwickelung genügende Nahrung zuführen, so dass die letzteren zur Auflösung und Absorption anderer jüngerer Keim- gruppen gezwungen sind. Da aber auch die Eier selbst zum größten Teil sich in Depression befinden, können sie sich dieses angehäuften Nährmaterials nicht bemächtigen und verharren in einem Ruhe- zustand. So entstehen die durch ihre auffallende Größe charakteri- sierten Dauereier, die befruchtet werden müssen, um sich entwickeln zu können; sonst gehen sie zugrunde, wie das in ähnlicher Weise auch bei den ın Depression befindlichen Protozoen vorkommt. Gegen diese einfache und konsequente Erklärung Issakowitsch’s könnte man einwenden, dass sie ganz theoretischer Natur war; sie ist deshalb von Strohl (9b) energisch bekämpft worden. Um die Richtigkeit dieser theoretischen Auffassung und die Möglichkeit ihrer Anwendung auf die Fortpflanzungsverhältnisse der Daphniden zu prüfen, fixierte ich einen großen Teil meiner Kulturtiere??) und suchte ein Gewebe, auf welchem genaue Bestim- nungen der Zellen- und Kerngröße durchführbar wären. Als solches erwies sich das Epithelialgewebe des Darmes, welches aus poly- gonalen abgeplatteten Zellen besteht und leicht auf Zupfpräparaten°®) zu studieren ist. 22) Wegen der Einfachheit der Methode mit Carnoy’scher Flüssigkeit. 23) Als Färbungsmethode habe ich bis jetzt nur Boraxkarmin angewandt. Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. 7197 Das umfangreiche Material, welches ich zur Lösung dieser Fragen einlegte, konnte ich bis jetzt aus Mangel an Zeit nur teil- weise verarbeiten, deshalb sind noch meine Untersuchungen sehr beschränkt und können nicht als endgültige Lösung der Frage an- gesehen werden; da sie aber bedeutende Unterschiede in der Größe der Zellen und Kerne in verschiedenen Phasen der Fortpflanzung und bei verschiedenen Kulturbedingungen zeigen, werde ich diese hier besprechen und durch einige Zeichnungen erläutern (s. Taf. 3). Die Fig. 1 zeigt eine Zahl von Darmzellen eines parthenogene- tischen Weibchens der vierten Generation (Kultur Md) von Moina aus der ersten Geburt (proterogenotoke Periode) im Stadium der ersten Eibildung mit einer Totalgröße von 1,15 mm (Länge) zu 0,66 mm (Breite), welches in der Wärme geboren und kultiviert war. Die Fig. 2 zeigt eine Zahl von Darmzellen eines parthenogene- tischen Weibehens der zweiten Generation (Kultur Mb) ebenfalls von Moina aus der ersten Geburt (proterogenotoke Periode) ın demselben Stadium der ersten Eibildung, von 1,20 mm Länge zu 0,93 mm Breite, welches der Ziımmerkultur entstammte. Die Fig. 3 lieferte ein parthenogenetisches Weibchen der vierten Generation (Kultur Mb) von Moina aus der zweiten Geburt (Über- gang von der Parthenogenesis zur Gamogenesis) in demselben Sta- dium der ersten Eibildung, von 1,33 mm Länge zu 0,53 mm Breite, aus der Zimmerkultur. Die Fig. 4 gehört einem Ephippialweibchen der vierten Gene- ration (Kultur Mb) von Moina an, aus der zweiten Geburt (Ge- schwister des Tieres der Fig. 3) bei der ersten Eibildung, von 1,36 mm Länge zu 0,90 mm Breite, aus der Zimmerkultur. Die Fig. 5 gehört einem Tier der dritten Generation (Kultur Mb) von Moina an, aus der ersten Geburt (proterogenotoke Periode) bei der zweiten Eibildung, von 1,21 mm Länge zu 0,68 mm Breite, aber aus einer Hungerkultur bei Zimmertemperatur. Die Fig. 6 zeigt ebenfalls Darmzellen eines parthenogenetischen Weibchens von Simocephalus der zweiten Generation (Kultur Sa) aus der ersten Geburt (proterogenotoke Periode) bei der ersten Ei- bildung, von 1,55 mm Länge zu 1,06 mm Breite, aus einer Zimmer- kultur. Die Fig. 7 endlich zeigt Darmzellen eines parthenogenetischen Weibchens von Simocephahıs der dritten Generation (Kultur Sa) aus der ersten Geburt (proterogenotoke Periode) bei der ersten Ei- bildung, von 1,53 mm Länge zu 1,0 mm Breite, aus einer Kältekultur. Vergleicht man die Figuren 2, 3 und 4, welche die Verhält- nisse unter normalen Kulturbedingungen (Zimmertemperatur — Nahrung) zeigen, miteinander, so sieht man, dass Zellgröße, Kern- größe und Chromatinreichtum von der parthenogenetischen (Fig. 2) bis zur gamogenetischen Periode (Fig. 4) beträchtlich zunehmen. 798 Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. Der Übergang also von der Parthenogenesis zur Gamogenesis bringt eine Vergrößerung der Zellen, der Kerne und des Chromatinreich- tums mit sich. Wenn man nun die Zellen eines ın der Wärme gezüchteten proterogenotoken Tieres (Fig. 1) mit den Zellen eines in der Zimmer- temperatur kultivierten ähnlichen Tieres (Fig. 2), vergleicht, so sieht man, dass im ersten Fall die Zellen und Kerne kleiner sind als im zweiten. Die Wärme also verkleinert nicht bloß die Tiere im ganzen, sondern auch ihre histologischen Elemente. Die kleinere Gestalt der Tiere in der Wärme ist damit nicht auf die Beschränkung der Zahl der Zellen, sondern auf die Verkleinerung der Zellen zurückzuführen. Aus einer Vergleichung der Fig. 5 mit der Fig. 2 geht hervor, dass auch der Hunger (unvermittelte, plötzliche Nahrungsentziehung) eine beträchtliche Vergrößerung der Zellen bewirkt. Bei Simocephalus scheinen diese Unterschiede nicht so beträcht- lich zu sein — deshalb ist vielleicht dieser Art weniger empfindlich gegen äußere Einwirkungen als Moina —, auch die Isolation des relativ kleineren Darmes ist nicht so einfach wie bei Moina. Ich habe daher Sömocephalus wenig untersucht; der Vergleich der beiden auf Simocephalus sich beziehenden Figuren (6 u. 7) lehrt aber, dass auch hier Unterschiede bestehen zwischen den Zellen eines protero- genotoken Tieres, welches ın der Zimmertemperatur kultiviert war, und eines ebenfalls proterogenotoken Weibchens, welches in der Kälte geboren und aufgewachsen ist. Die Kälte wirkt also umge- kehrt wie die Wärme, indern sie die Zellen vergrößert. | Dass diese wenigen Fälle, die ich hier anführe, eine vollständige Beweiskraft besitzen, kann-ich natürlich nicht behaupten. Zur Lösung dieser wichtigen Frage müssen eingehendere Untersuchungen angestellt werden; vor allem muss die Variationsgröße der Darm- zellen eines und desselben Tieres, ferner von Tieren, die unter gleichen äußeren Bedingungen gezogen wurden und demselben Stadium der Kultur. entstammen, genau festgestellt werden. Immerhin ist es nicht wahrscheinlich, dass die hier angegebenen so beträchtlichen Größenunterschiede individuelle Verschiedenheiten darstellen. Wenig wahrscheinlich scheint mir auch die Annahme, sie seien einfache Zufallsprodukte, da diese zytologischen Befunde in voller Übereinstimmung mit den oben angegebenen Resultaten der Züchtung stehen. Es war ja bestätigt, dass die Wärme die Parthenogenesis begünstigt, während Kälte und Hunger eine ent- gegengesetzte Wirkung besitzen. Ganz analoge Ergebnisse liefert die zytologische Untersuchung: die parthenogenetischen Tiere besitzen kleinere Zellen und Kerne als die gamogenetischen; die Wärme verkleinert die Größe der Zellen und Kerne, wirkt also zugunsten der Parthenogenesis. Kälte und Hunger vergrößern die Zellen und Kerne, wirken also zugunsten der gamogenetischen Fortpflanzung. Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen ete. 799 Fig. 5. Tafel III. Fig. 7. Konturzeichnungen von Darmzellen aus Simocophalus (Fig. 6—7) Moina (Fig. 1—5). Oeul. 8, Obj. 7, Tub. 15. und 800 Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. Diese interessanten Beobachtungen, welche zugunsten der Kern- plasmarelationstheorie R. Hertwig’s und der auf Grund derselben von Issakowitsch gegebenen Erklärung der Fortpflanzungsverhält- nisse bei Daphniden sprechen, haben meine Auffassung über die Wirkung der äußeren Faktoren modifiziert. In meiner vorläufigen Mitteilung (18) vertrat ich die Ansicht, dass die äußeren Faktoren nur eine ganz beschränkte Wirkung ausüben, welche nur in einer kurzen Periode — der des Ulsnesnak von der Parthenogenesis zur Gamogenesis — zur Geltung gelangt. Ich habe jetzt die Auffassung gewonnen, dass die damals geäußerte Ansicht eine Einschränkung erfahren muss; ich glaube, dass die früher von mir erzielten nega- tiven Resultate bei Hunger- und Kälteeinwirkung dadurch bedingt sind, dass die beiden Faktoren zu rasch und unvermittelt einwirkten. Eine derartige exzessive Wirkung verändert die Zellen über die Grenzen hinaus, innerhalb deren sie ihre physiologischen Funktionen in normaler Weise auszuüben imstande sind. Infolgedessen können die Tiere unter solchen Bedingungen sich nicht mehr normal ent- wickeln und sterben nach längerer oder kürzerer Zeit infolge fort- schreitender Degeneration ab”). Deshalb betrachte ich weder meine Experimente noch die aller früheren Experimentatoren, von denen dieselben Methoden angewandt worden sind, als genügend, um von dem Grad der Wirkung der äußeren Faktoren ein richtiges Bild zu geben. Dass aber eine solche Wirkung existiert und dass die Fort- pflanzungsverhältnisse bei den Daphnıden (wenigstens bei den von mir geprüften Arten) nicht unabhängig von äußeren Ein- flüssen vor sich gehen, das scheint mir aus den oben gemachten Erklärungen als sicher bewiesen zu sein. Ich möchte meine Arbeit nicht abschließen, ohne nicht meinem verehrten Lehrer, Herrn Professor Richard von Hertwig, für die mir erteilten Anregungen und Ratschläge, sowie Herrn Professor Richard Goldschmidt und Herrn Dr. Max Jörgensen für das meine Untersuchungen fördernde Entgegenkommen aufrichtig zu danken Erklärung der Zeichen. ®) — parthenogenetische 9, (J) = nicht auf ihre Geschlechtlichkeit Ole geprüfte Q. (9 = Ephippialweibchen, @ == degenerierte Tiere. Literaturverzeichnis. 1. ©. F. Müller: Entomostraca seu insecta testacea, Lipsiae et Hanviae 1785. 2. Sir John Lubbock: An account of the two methods of Reproduction in 24) Interessant ist, dass im Hungerzustand nicht bloß das Aussterben meiner Kulturen früher eintrat, sondern auch die Zellenveränderungen beträchtlich größer waren, was es noch unwahrscheinlicher macht, die Zellveränderungen als zufällige anzusehen. co oa 10. 11. 12. 13. 14. 16 SB: Papanicolau, Experimentelle Untersuchungen etc. 801 Daphnia and of the structure of the ephippium. Philosoph. Transact. of Royal Soc. Lond. Bd. 5, 1857. . W. Kurz: Über androgyne Missbildung bei Cladoceren. Sitzungsber. d. K. Akad. d. Wissensch. Wien, Bd. 69, 1874. . Sehmankewitsch: Uber das Verhältnis der Artemia salina zur Artemia Mühlhausenii und dem Genus Branchipus. Zitschr. f. wiss. Zool. Sup- plementband zum 25. Band 1875. . A. Weismann: Beiträge zur Naturgeschichte der Daphnoiden. Abh. 7. Ztschr. f. wiss. Zoologie Bd. 33, 1880. de Kerherv6: a) De l’apparition provoqude des ephippies chez les Daphnies (Daphnia magna). Mem. soc. zool. 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Nov. 1902 u. 19. Mai 1903. c) Über Korrelationen von Zell- und Kerngröße und ihre Bedeutung für die geschlechtliche Differenzierung und die Teilung der Zelle. Biol. Centralbl. Bd. XXIII, Nr. 2, 1903. d) Über das Problem der sexuellen Differenzierung. Verh. d. deutsch. zool. Ges. in Breslau, 1905. e) Über neue Probleme der Zellenlehre. Arch. f. Zellforsch. Bd. 1, 1908. Dl 802 Müller-Lyer, Der Sinn des Lebens und die Wissenschaft. 17. M. Popoff: a) Depression der Protozoenzelle und der Geschlechtszellen der Metazoen. Arch. f. Protistenk. Festschr. f. R. Hertwig 1907. b) Experimentelle Zellstudien. Arch. f. Zellforsch. Bd. I, 1908 u. III, 1909. 18. G. Papanicolau: Bedingungen der sexuellen Differenzierung bei Daphniden. Biol. Centralbl. Bd. XXX, 1910, S. 430440. München, den 9. Juli 1910. F. Müller-Lyer. Der Sinn des Lebens und die Wissenschaft. München 1910 (J. F. Lehmann). 290 S. Das Buch ist der erste Band und zugleich die Vorrede eines großen literarischen Unternehmens des Verfassers. Es handelt sich um eine Gesellschaftslehre, die aus einer Reihe von Ueberblicken und Einzeldarstellungen besteht und den Gesamttitel führt: Die Entwickelungsstufen der Menschheit. Der zweite Band erschien schon im Jahre 1908 unter dem Titel: „Phasen der Kultur und Richtungslinien ‚des Fortschritts. — Die Thesen, die der Verfasser verteidigt, sind: 1. „... Eine Philosophie, die dem geistigen Be- dürfnis unserer Zeit genügen soll, muss durch Erfahrung, d. h. durch wissenschaftliche Bearbeitung von Tatsachen erschlossen, muss auf dem Boden der Wissenschaft aufgebaut werden. 2. Die Versuche, die gemacht wurden, um ausschließlich auf Grundlage der Natur- wissenschaften diesen Bau aufzurichten, waren sämtlich einseitig und deshalb irrig und unbefriedigend; sie müssen endgültig als fehlgeschlagen betrachtet werden. 3. Die moderne Kulturwissen- schaft (Soziologie) hat dem menschlichen Geist ein neues Reich des tatsächlichen Wissens erobert. Und wenn wir dieses Wissen vom Menschen mit unserem Wissen von der Natur vereinigen, dann sind wir imstand, eine Philosophie aufzurichten, die unserer Kultur würdig ist.“ Die Ansicht ist nun weit verbreitet, dass derartige Werke der Naturforschung keinen Nutzen bringen. Die Abweisung ist diesem Buche gegenüber schon darum nicht am Platze, weil die Ueber- tragung biologischer Erfahrungen auf Wissensgebiete, die bis in die neueste Zeit dem Einflusse naturwissenschaftlichen Denkens ent- zogen waren, die Aufmerksamkeit jeden Naturforschers verdient, wenn auch nicht immer seinen Beifall findet. Die gewünschte Klä- rung bringt das Buch Müller-Lyer’s und man möchte wünschen, es wäre schon vor 15 Jahren erschienen. Die Biologie erlebt den völligen Umschwung der Darwin’schen Lehre, aber — ıhre alten Missverständnisse und Irrtümer bewahren Geltung unter gewissen Philosophen, Soziologen u. a. m. (den Kulturzoologen), alle den Leuten, die bis vor kurzem auf die Naturwissenschaften hochmütig herabsahen. Wer sich darüber unterrichten will, wie weit das Uebel auf bestimmten Gebieten gediehen, der schlage das Buch von Fr. Hertz (Moderne Rassentheorien, Wien 1904) nach, eine Kritik, die der Verfasser allerdings nicht heranzieht, die jedoch anschau- Müller-Lyer, Der Sinn des Lebens und die Wissenschaft. 803 lich die wissenschaftlichen Produkte des modernen philosophischen Rassedünkels schildert. Soviel zur Entschuldigung des Referenten, wofern das Vorurteil eine solche verdient. Das Buch behandelt in sechs Abschnitten: die Natur, die Menschheit, die Soziologie, die Vollkultur, den neuen Menschen und die euphorische Philosophie. Uns interessiert besonders der ganze erste naturwissenschaftlich-philosophische Abschnitt, in dem der Verfasser zur Feststellung der „Kulturbeherrschung“ gelangt (p- 55), die Darlegungen über die Örganizisten, Kulturzoologie (Nietzsche) und die biologischen Soziologen im dritten Abschnitt (p. 64, 83, 115) endlich der Schluss seines Gedankenbaues, nämlich die euphorische Philosophie (p. 222). „Seit dem Altertum hat sich unser Wissen von der Natur ver- mehrt... und zugleich haben wir uns in dem Zwischenraum der Natur nicht genähert... der Kulturfortschritt hat uns von ıhr immer weiter entfernt.“ Die Ansichten unserer Zeitgenossen gehen weit auseinander. Abgesehen von der theologischen und pan- theistischen Lehre sind folgende Auffassungen vertreten. Nach den Materialisten ist das Weltall nichts als bewegte Materie, nach den Hylozoisten und Monisten ist es beseelte Substanz, während die Agnostiker behaupten, dass wir vom Wesen der Natur überhaupt nichts wissen und nichts wissen können. Jede dieser Schulen zer- fällt in verschiedene sich leidenschaftlich bekämpfende Sekten. So haben wir z. B. einen materialistischen und dynamistischen oder energetischen Monismus, einen idealistischen oder spiritualistischen, einen psycho-physischen, einen pantheistischen Monismus und viele andere. In diesem Gewirr finden wir uns nicht zurecht durch Spekulationen über das Wesen der Natur, sondern mit Hilfe der entwickelungsgeschichtlichen Methode. „Die erwähnten Auffassungen sind nämlich nicht gleichwertig, nicht ebenbürtige Richtungen, sie sind vielmehr Glieder einer fortschreitenden, aufwärtsstrebenden Entwickelungsreihe, die der menschliche Verstand ım Laufe der Jahrtausende durchlaufen hat. Jedes Glied dieser Reihe wird über- holt durch das folgende. Es handelt sich um Stufen, die der mensch- liche Geist nacheinander erstiegen hat, und jede neue Stufe be- deutete eine neue Form der Naturauffassung.“ Sein Stufenbau ist zwar schon längst durch Turgot und A. Üomte aufgezeigt worden, aber diese Entdeckung ist leider nicht zu allgemeiner Kenntnis und Verbreitung gekommen. In den Lehrbüchern wird vorwiegend ein nach der Zeitfolge geordnetes Nacheinander aller möglichen Denk- systeme dargelegt, das wenig Befriedigung gewährt. Der Verfasser unterscheidet fünf, wenn auch nicht scharf abgegrenzte Stufen der Naturauffassung, nämlich: 1. die naiv-utilitarische, 2. die theologische, 3. die metaphysische, 4. die kritizistische und 5. die positivistische Auffassung. Nach kurzer, doch erschöpfender Charakteristik der Stufen, macht Verfasser die zuletzt genannte ın origineller Weise sich zu eigen. Der Hauptvertreter der kritischen Auffassung war Kant. Wenn unsere Erkenntnis aus der Wechselwirkung von Ob- jekt und Subjekt stammt und ein Erzeugnis ist „objektiver Eın- 51* 804 Müller-Lyer, Der Sinn des Lebens und die Wissenschaft. wirkung und subjektiver Gestaltung“, so fragt sich weiter, was in unserem Bewusstsein als subjektiv und was als objektiv gilt. Darauf erteilt Kant die bekannten Antworten in seinen Anschauungs- formen und Kategorien. „Die Konsequenzen aus diesen Behaup- tungen zu ziehen, ist auch für die reichste Phantasie ein Ding der Unmöglichkeit.“ „Der auf die Spitze getriebene Kritizismus endigt mit dem All— Ich und mit der Leugnung der Natur.“ Verfasser bemerkt hierzu weiter: „Durch den Kritizismus war alles in Frage gestellt worden. .... Denn über unser Erkenntnisvermögen können wir nicht hinauskommen, und vor allem, wir können es nicht wechseln. — Keine Vorstellung kann hier mehr dem übermensch- lich gewordenen Gedanken folgen. Nur ein Schattenspiel des Abso- luten ist unser Wissen. Erst hinter der Erscheinungswelt liegt abgrundtief, vielleicht zeitlos, raumlos — die absolute Wahrheit, ewig für uns verhüllt durch den ‚Schleier der Maja‘... des ‚Sinnes- truges‘ “. Diese Erkenntnis führt zur pessimistischen Stimmung des. Inders, der sich nach dem Augenblicke sehnt, da aller Sinnes- trug von ihm abfällt. — Der Kritizismus übte bis auf die jüngste Zeit seine Wirkung, denn die Begriffe Kraft und Stoff des Materia- 'lismus erwiesen sich im Lichte des Kritizismus als bloße Worte. Nach Müller-Lyer führte die gesamte Entwickelung der Philo- sophie zu einer Stufe, die alle Fortschritte der vorhergehenden Stufen der Naturauffassung in sich enthält. Diese ist die positive Philosophie, der sogen. Positivismus, der schon bei Bacon in seinen Grundgedanken aufblitzte und dann in A. Oomte einen genialen Vertreter fand, „der Männer wie Littre, Bentham, St. Mill, H. Spencer, Lewes, Helmholtz u. s. w. zu seinen Anhängern zählt und in Frankreich und England herrschend geworden ist, während die Dichter und Denker unseres deutschen Volkes leider noch immer ın großer Anzahl in metaphysischen Systemen stehen geblieben sind.“ Das einzige Attribut des Absoluten ist das Uner- fassliche. Demgegenüber vertritt der Positivismus den Satz: Der menschliche Verstand ıst kein Werkzeug der (metaphysischen) Er- kenntnis, sondern er ist wie die Sinne ein Hilfsmittel, wodurch wir uns in der Welt der Erscheinungen zurechtfinden. Für diese Aufgabe eignet sich der menschliche Verstand in wunderbarer Weise, denn für das Leben ist es ganz gleichgültig, ob wir die „Dinge an sich“ oder bloß die „Erscheinungen“ erkennen. Das Wahrnehm- bare untersuchen und wissenschaftlich nach den Regeln der Logik bearbeiten, in der vollkommensten Weise beschreiben (Kirchhoff, Rich. Avenarıus und die empirischen Philosophen), die gesetz- mäßigen Beziehungen zwischen den Tatsachen feststellen, — damit begnügen sich die Positivisten. Das geheime Wesen, der Urgrund aller Dinge, das Absolute scheiden vollkommen aus den Betrach- tungen aus. „Die Antwort der Naturwissenschaft“ lautet: Zwar ver- danken wir unserem Naturwissen das Beste von dem, was wir bis Jetzt in geistiger wie materieller Beziehung erreicht haben, aber so unermess- lich groß der Nutzen der Naturwissenschaft war, „die spezifisch menschlichen Fı ragen kann die Naturwissenschaft nicht beantworten“ Müller-Lyer, Der Sinn des Lebens und die Wissenschaft. So Wie die Bemerkungen über die Sinnlosigkeit (die Anoia) in der Natur, die Richtungslinien als Wege des geringsten Wider- standes, die Kulturzoologie, d. h. die Anwendung Darwin scher Theorien auf die sogen. politische Anthropologie und die Philo- sophie besonders den Nietzscheanismus, so gehört die „Antwort der Naturwissenschaft* auf das Lebensproblem wohl zum hervor- ragendsten, was von naturwissenschaftlicher Seite über diese Gegen- stände geschrieben wurde. Sein weiterer Gedankengang ist unge- fähr folgender. „Der einzelne Mensch handelt meist zweck- und zıelbewusst. Das Ganze der Menschheit aber, dıe aus einer Un- summe von Einzelwillen besteht, wächst und entwickelt sich wie eine Pflanze oder ein Tier... nach Gesetzen, die ihr unbekannt sind... Vom Standpunkte des bewussten zielsetzenden mensch- lichen Denkens aus ist die gesamte Kulturentwickelung bıs jetzt ab- gelaufen als ein vollkommen sinn- und zweckloser Vorgang, desıh. wie jeder außermenschliche Naturvorgang, als das kalte fühllose Spiel blindwirkender Kräfte.“ Es kam das Erwachen. Der einzige vernünftige Zweck der Kultur kann nur die Wohlfart der Indı- viduen sein. Das Bewusstsein, dass die Kultur ein Vorgang, eine Entwickelung ist, trat sehr spät auf und nur unter dem Einflusse der Naturwissenschaften. Die weiteren Stadien des Bewusstwerdens der Kulturbewegung führen schließlich zur Beherrschung der Kultur und der Kulturrichtung, also zur vollständigen Umkehrung, wie paradox dies klingen mag, des Verhältnisses unserer Abhängigkeit von der Natur. Der Gedanke wird erschöpfend begründet, auch durch überzeugende Literaturnachweise beleuchtet. „Das Tier passt sich der Natur an, der Mensch passt sich die Natur an... ., die tierische Entwickelung bringt höhere Arten hervor, die menschliche höhere Kulturformen.“ Die Kultur liefert dem Menschen „wert- vollere Waffen für den Kampf ums Dasein, als eine weitere Um- wandlung seiner körperlichen Organisation es zu tun vermöchte.“ Es ıst also durchaus verfehlt, Darwın’sche Grundsätze der Tier- entwickelung auf die Geschichte der Kultur in Anwendung zu bringen. Ins einzelne greifende Darstellung scheint hier nicht ge- boten, man kann füglıch übergehen die treffsicheren Bemerkungen über soziologische Rassen, über den Dauertypus u. dgl. Die populäre Ansicht, dass die Rasse wichtiger seı als die Ent- wickelungshöhe, ist nur darum so verbreitet, weil die Entwicke- lungshöhe, Kulturstufe und das Milieu abstrakte Begriffe sind, der Mensch dagegen etwas Konkretes, weıl der primitive Verstand die Gegenstände leichter erfasst als die Umstände. Diesen funda- mentalen Fehler begehen Nietzsche und die seinen Fußstapfen folgenden Rassentheoretiker durch die Annahme, derzufolge die Kultur die vollkommen gleichartige Fortsetzung der tierischen Ent- wickelung sei und daher erklärbar sei durch die — obendrein miss- verstandenen Darwin’schen Schlagworte vom Daseinskampfe, der natürlichen Zuchtwahl, der Auslese der Starken u. s. w. Ohne die hier gebotene Grenze zu überschreiten, müssen schließlich die eigentlichen philosophischen Aufstellungen des Ver- 806 Hume, Untersuchung über den menschlichen Verstand. fassers kurz erwähnt werden. Unter Beziehung auf den Kant’- schen Satz, „alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln“, gelangt der Verfasser zum Schlusse, unsere Bestimmung sei die Erreichung des Zustandes eines harmonischen Ganzen. Der Mensch erreicht diese Phase, wenn das äußere und innere Urteil übereinstimmend Anerkennung aussprechen. „Diese Verbindung von subjektiver Glückseligkeit und objektiver Vollkommenheit des Lebens“, für die eine Bezeichnung fehlte, nennt Verfasser Euphorie. Die allgemeinen Ergebnisse der Naturwissenschaften liegen hier vor in einer gedrängten Form, wie sie nur ein Forscher geben kann, der sein Thema vollkommen beherrscht. Die logisch geschlossenen und sprachlich mustergültigen Entwickelungen weisen Stellen auf von hinreissend poetischer Beredsamkeit. Alles steht da im Lichte eines unbesiegbaren Optimismus, der Größe der Naturforschung würdig, groß und edel wie der Untertitel des Buches „Grundlinien einer Volksphilosophie*. A. Maurizio (Lemberg). David Hume. Untersuchung über den menschlichen Verstand. Deutsch von Carl Vogl. (Kröner’s Volksausgabe.) Gr. 8. IV u. 92 Seiten. Leipzig. Alfred Kröner. Seinen Volksausgaben hat der Kröner’sche Verlag nun auch eine deutsche Ausgabe von Hume’s berühmter Abhandlung, dem 1758 erschienenen „An enquiry concerning human understanding“ ein- verleibt. Wenn die Naturforscher in ihren erkenntnistheoretischen Voraussetzungen mehr und mehr auf Kant zurückgehen, so ist doch festzuhalten, dass Kant gerade in diesem Teile seiner Philo- sophie vielfach von Hume beeinflusst war und dass der moderne Naturforscher die Formulierung Hume’s seinen Anschauungen ın vielen Beziehungen noch entsprechender finden wird als die Kant’s. Es ıst daher nur anzuerkennen, dass ıhm Gelegenheit ge- boten wird, auch die grundlegende Abhandlung des englischen Philosophen zu dem mäßigen Preise erwerben und seiner Bibliothek einverleiben zu können. R. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Alphabetisches Namenreeister. A. Bette 607. Brown 339. Beyerinck 118. 124. 284ff. Brun 524. 529ff. el 399 ff. 322. Brun, Ede. 540. Bass i Biedermann 206. 207. Brücke 424. Appellöf 352 Bjerknes 649. Brunner 171. = or Blakeslee 659ff. Buchenau 118. PAeDy=. Blakmann 365. Buchtien 671. Arrhenius 160. Blari ne S jlaringhem 122. Bückers 606. Nele: asius 646. uder 505. > Blochmann 24. 474. Buffon 59. Assmuth 454. Böhmis 562 ff Bür 547 Auerbach 652 ff. Se eo: nn Börner 16 ff. 64 ff. 402.406. Burck 706 ff. Ben S 465 ff 633ff. 720. Bury 107. BINZER : Böving 101. Buschan 582ff. B Bogojawlenski 243. Bütschli 47. 473ff. = Bohr 232. 386. Buttel, v. 454. Babäak 225ff. 257 ff. Bokorny 341ff. Buttler, Salomon 610. Bachmann 357. Bois-Reymond, du 183. 185. Bacon S04. 206. 207. ©. Barker 365. Bolk 582. Barret 86. Bonnier 356. Camerano 234. Bary, de 344. 365. 468. Borgert 215. 216. Cannon 54. 383. Bateson 108. 110. Bouilhae 322. Candolle, de 159. 716. Bather 107. Bourne 105. 118. Capparelli 37. Bauer 57. 58. 382. 397. 399. Bourquelot 339. Carus 659. Baume, La 72. Boveri 649. Castle 287. Baur 497 ff. Bradley 90. Öerfontaine 110. 112. Bechterew 617. 774 ff. Braem 367. Champion 333. Beer 399. Brandt 210. 211. 215. 216. Child 564. Behrens 295. alT ff. Cholodkovsky 24ff. 64. 65. Behring 341. Brauer 569. 405. 408 ff. Belajeff 329. Braun 674. 723. Chopin 345. Beleck 429. Braune 750ff. Christen 292. Benecke 299. 324.354.710ff Brauns 98. Cienkowski 87. 88. Bentham 660. 804. Bralik 334. Clausius 653. Berkley 344. Brefeld 292. 365. Cohn 294. Berlese 633. Brehm 688. Cohnheim 333. Bernard, Claude 226. 357. Brewer 290. Comes, Salvatore 81. Bertkau SS. 89. Bronn 547. 561. Comte 803. 804. Bethe 386 394. 399. 529. Bronvaux 497 ff. Correns 641. 710. 718. 733. 808 Alphabetisches Namenregister. Cramer 294. 514. Farlow 675. Hagen 303. Crawley 494. Fechner 204. Hamann 88. Crüger 693 ff. Ferrant 100. Hammer 211. 215. Cuenot 87. Fielde 532. Handlirsch 577. Cuvier 258. Fischel 647. Hansemann 591. 612. 777. Uzapek 300. 322 ff. 333ff. Fischer 330 ff. 335 ff. 343 ff. Hansgirg 626. 3ö4ff. 365. 603. Harper 365 BD. Flaskämper 704. Harris 629ff. 2 - -g Flechsig 613. 718. Harshberger 696. Dahn Be in unse 47. en 211.72152 216: Er ocke 641. 4 . ee Forel 1.456.460. 496. 522#f. Hartmeyer 569. DB 88. 167. 168 197 5alff. Hatschek 106. 112. 217. 279, 491. 575. 599. France 2. 606 ff. Hauptfleisch 288. 327. 6OB#. 625f. 659. 6g2fr, Krank 302. Een nl 802 SoB. ; "777 Eranz 150ff. 4241. Heidenhain 45. benion 258 Fredericq 88. Heider 102. 650fF. Devenvort. ‚54.1287.,,204 Freitag 343. Heinricher 673. ea 0 nieder. Helmholtz 159 160. 804. Davis 108. 109. 110. 657. Frosch 2 Helmont, van 608 DE An ar ühling 508. emsley - u 626 Fuji 661. Herder 609. Delaee 107 FE Fürth 287. Hering 186. Delden,® 4500 ea A : G. Herold 74. 75. . Deckelmeyer 515. Herouard 107. Delpino 610. 625 ff. Gärtner 593. 699. = 5) Digby 334. Gaidukow 688. De Ex En jr 649 Dinklage 678. Gamble 425 ff. 687: Co 76 500: 801. Doflein 3. 469 ff. 569. 623. Gardener 710. Hosen "a Donaldson 319. Gaupp 229. Fresse 566 Dorset 333. Geissler 276. Heyer 661. Dreyfus 24. 29. 406. Gerhardt 160. Hieron re) Drude 697. Giesenhagen 118. Hilaire, St. 599. Dude 283. Giustiniani 322. Hildekrand0209, Duesberg 214. Gloger 646. Höber 384 \ Göbel 107. 12a oaraene | E. 6ö7ff. 692#f. 721 ff. Hoff rt Edler 508. Goethe 609. Hoffmann 328. 343. Ehrlich 557 ff. Goette 115. 562 ff. Hofmann 729, Eimer 602. Godlewsky 283. Hofmeister 335. Eisenberg 292, Goldschmidt 429. Hollnma 710: Emery 462. 496. 521. 578. Golenkin «04. Holmgren 172. 303 ff. Engelmann 386. 396. 399. Graham 192. Holt 54. Engler 675. 710. 722. Grassi 309. 638. Hoppe-Seyler 290. 335. Ehrlich 557 ff. Grevillius 704 ff, Hornyold 349 ff. Enriques 316ff. 348 ff. 470ff. Grobben 115. 651. Hume 806. Eriksson 282. 618 ff. Gruber 47Off. Ernest 334. Grübler 751. Errera 338. 361. Grützner 207. 1. Eschenhagen 343. Guerne, de 561. Issakowitsch 430. 690. 762 f. Escherich 101. 129#f. 165 ff. Guignard 641. 768. 785. 791. 796. 801. Escoyez 329. Gurwitsch 328 Er Issatschenko 719. Eudes-Deslonchamps 867. Guttenberg 126. Iwanoff 335. 356. Evans, Pole 620. Ewald, W. F. 1ff. 49#f. H. y 37918. 385ff. 399. Farce 1a ER . Hadzi 369. Jacobson 216. 217. F. Häckel 279. 417. 469. 599. Jaeger 344. Falk 298. 626. 647. 650 ff. Jahn 329. Faraday 160. Häcker 329. Janssens 336. Alphabetisches Namenregister. 809 Jennings 55. 56. 58. 380. Lamarck 173. 255. 599ff. Mendel 90. 216. 217. 220. 339. 626.093 348. 641. 593 ff. 679. Jensen 400. Landau 646ff. Mendelejew 617. Johannsen 485. 679 ff. Landois 258. 646. Mereschkowsky 278ff. 289. Johs 299. 333. 341ff. 356. Lang 368 566. 601. 298. 322353 1% Jonas 719. Langhans 431ff. 691. 793. Metalnikoff 466ff. Jordan 85. 310. 801. Mettenius 673. Just 341 ff. Laurent 298. Meves 214. Justus 355. l.ebedeff 223. 471 ff. Meyer, A. 286. Joubin 547. Lebedinsky 566. Miehe 287. 291. Leblanc 336. Migula 293. 626. 662. K. Leelere 356. Mill, St. 804. Kanitz 158. Lecomte 658. 706. Milne-Edwards 229. Kant 804. 805. Lee 54. 58. Minervini 342. Kapterew 239tf. 756 ff. 801. Leeuven-Reijnwann, v. 329. Minkiewiez 425ff. Karlinsky 291. Leitgeb 668. Minne 88. Karplus 592. Lemoine 509. Mitchell 674. Karsten 324 ff. Lewandofsky 343. Mitrofanow 267. Kaserer 300. Lewes 804. Miyake 329. Keeble 425 ff. Lewith 294. Mogsridge 143. Keilhack 430ff. 687. 690. Liebig 160. 331. Moisisovies 598. sol. Liesgang 384. Molisch 300. 355. Keller 326. Tüte 11222 Molliard 118. 122. 123. 126. Kellog 77. Lindemuth 509ff. Montemartini 121. 299. Kerherve, de 690. 801. Lindman 625. Montgomery 561 ff. Kerner 117. 625. Linn& 599. Mordwilko 18. 19. 21. 22. Keysselitz 469. Littr& 804. 67. 402 ff. 443. Khainsky 267. Loeb 3. 53. 56. 83. 84. Morgan 105. 106. 108. 112. Kirchhoff 804. 320. 347ff. 383ff. 399. 113. 116. 222. Kirchner 627. Löffler 360. Moroff 210. 423. 466. 475. Klebhan 605. Loew 322. 626. Morren 509. Klebs 121. 125. 346. Lombroso 613. 781. Mortensen 350. Knuth 626. 728. Lotsy 262. 290. Mottareale 121. Koch, A. 299. 322. Lubbock 640. 690. 800. Mräzek 455. 523. 547. 562 ff. Koch, Ch. 408. Ludwig 626. Müller, F. 303. Koch, R. 292. Lühe 471 ff. Müller, H. 625. 708. 718. Kölliker 468. Lürssen 726. Müller, J. 186. König 331. Lucksch 258. Müller, O0. 689. 800. Köhler 350. Lyon 676 ff. Müller, OÖ. F. 691. Kohl 321. 357. Müller-Lyer 802. Kohlbrugge 581 ff. 611ff. M. 774. Mac Andrew 86. Kolkwitz 340. Macallum 355. N. Korschelt 650 ff. Macfarlane 505. Koshewnikow 243. Mangin 357. 365. Näcke 6l1ff. 774ff. Kranichfeld 137. 593 ff. Manouvrier 581 ff. Nagel 90. 91. 9. Krassuskaja 649. Marchand 581. Nägeli 279. 602. Krause 90. Mareschkowsky 618 ff. Nathanson 300. Kreitz 720. Marshall 783. Nathusius, v. 642. 646. Krogh 227. Marsson 340. Nealy 341. Krukenberg 88. 646. Massalongo 123. Neger 138. Kühne 287. Massee 341. Neresheimer 466. 471ff. Küster 116. 118. Matiegka 582. Nietzsche 803. 805. Kurz 690. 801. Maurizio 806. Newton 655. Kutter 462. 646. Mayer, J. K. 160. Niklewsky 300 Kuttner431. 684. 762.765ff. MeBride 107. 111. Nissen 730. 785. 782. 291. 801. MeOlendon 470ff. Nocard 361. Meehan 663. 695. Noll 499. L. Meijere, de 216. North 659. Lafar 292.299 ff. 322. 332 ff. Meisenheimer 72. 73. 76.77. Nüsslin 16. 64. 402 ff. 440 ff. 353. 361. 80. 222. Nusbaum 546ff. 599 ff. s10 ®. Oliver 660. Oltmann 11. 54. 343ff. 383. 389. 394ff. 399. Ostwald 2. 680. 762. Ostwald, Wo. 192. 319. 349. 801. Oudemans 77. 79. Oxner 546 ff. P. Pässler 646. Paget 238. Palladin 283. Pandiani 122. Papanicolau 430ff. 689ff. 737 ff. 753ff. 7Sdff. 802. Parker 51. 54. Paracelsus 608. Pasteur 284. Pauly 267. Pawlow 262. Baxs7209: Payer 726. Pearl 31Sff. Pearson 630 ff. Pellet 333. Pergande 416. Perez 222. Peringney 98. 101. Pertz 197. Perrier 354. Peter 320. Petri 720. Peyritsch 118. 125. Pfeffer 11. ‘208. 283. 293. 294. 300. 323. 346. Pflüger 263. 359. 361. Plate 165. 593 ff. 600 ff. Plateau 92. 9. Plenge 329. Plessis, du 568. Popoff 471ff. 796. 802. Prantl 671. 675. 722. Pribram 524. Pringsheim 328. Prouho 350. Prowazek 429. 473fE£. Pütter 227. 283. Pulst 344. RB. Rabinowitsch 291. Radl 4. 6. 56. Rahn 354. Raulein 355. Ray, Lankester 107. 651. Recklinghausen, v. 276. 159. 160. 653. 382Tf. 399. Alphabetisches Namenregister. Regnard 2. Reh 720. Reiner 642. Reinke 331. 357. 607. Renner 661. Retzius 584ff. 612. Reutner 299. Revilliod 263. Rhumbler 651. Richard 243. Richter 616. Ries 649. Rimsky-Korsakow 561 ff. Rippa 123. Ritter 110. 113. 283. Robertson 316ff. 349. Rohde 468 ff. Rolfe 693. Rosenthal, J. 656. Rosenthal, W. 624. 688. Rothert 56. 387 ff. 399. Roux 361. 646. Rubner 158. 159. Rudkoff 258. Rudolphi 317. Russ 342. Ruttner 1. 2. 60. Rüzicka 347. Rullmann 342. S. Sachs 288. 293. 323. 674. Sadebeck 678. Sandias 309. Santschi 496. Scharffenberg, v. 433. 6S4 ff. Schattuck 673. Schaudinn 285. 473ff. Schellenberg 720. Schenk 657. - Schepotieff 633 ff. Schimmer 136. 137. 161. 162. 455ft. Schmankewitsch S01. Schmidt 284. 290. 299. 333. 34lff. 356. Schneider 150. Schödler 691. Schubert 288. Schull 699. Schultz, E. 468 ff. Schultze, L. 98. Schultze, Max 287. Schulz, A. 699. 707 ff. Schultze, ©. 652. Schumann 708. Schröter 627. Schwankewitsch 690. Schweinitz 333. Seeliger 109. 110. 113. 138. Seidlitz 642. 646. Semon 137. 1S1ff. 193 ff. 608. Senn 328. Sergi 591 ff. | Sernander 626. Sernow 612. Siedentopf 688. Silvestri 304. 633. Sjöstedt 304. Skalitzky 459. Slowacki 609. Solger 424. Sorauer 719. Spencer 804. Spengel 103. 105. 108. 111. 113: Spitzka 582 ff. 616. Spring 677. Standfuß 218. 219. 603. Stein 159. Steiner 83. 84. Steuer 1. 2. Stiasny 417ff. 466. Stieda 58S0ff. 611ff. 774. ROSE Stingelin «45. 786. 801. Stöhr 656. Stoklasa 299. 334. 355. Stole 226. Strass!urger 30. 53. 697. Strohl 430 ff. 690. 796. 801. Stutzer 335. Swammerdam 689. 2. Taranetzky 258. Teichmann 647. Tenchini 614. Ternetz 327. Thiselton Dyer 660. Thomas 123. Tischler 620 ff. Titus Lucretius 609. Tornier 157. Towle 395. 399. Trier 624. Trollius 713. Tschermak 641. Tsiklinsky 295. Tubeuf 124. Tullgren 402 ff. Turgot 803. U. Uexküll, v. 350. 386. Uexküll - Gyllenband, v. 726ff. V. Verworn 54. 177. 206. 284; 293. 337. 361. 424. 470. Viehmeyer 460ff. 476ff. 569 ff. Vignal 610. Virchow 776. Vire 240 ff. Vöchting 357. Vries, de 290. 596 ff. 629. 641. 679. W. Wagner 601. Waldeyer 585 ff. Wallengren 330. Walter 784. Ward 282. 354. Ward Marshall 619 ff. Warming 723. Washburn 719. Wasmann 97. 129ff. 161ff. 303 ff. 453 ff. 475£f. 515ff. 534ff. 56Y FE. Wassilief 214. Alphabetisches Sachregister. Wattenwyl, v. 171. Webber 329. Weber 204. Wedekind 374. Wehmer 147. 355. Weinberg 617. Weis 284. 299. 333. 356. Weismann 1. 70. 176. 431. 469. 599. 687 ff. 690. 739. 759. 801. Weiss 705. Wesenberg-Lund 680. West 290. Westberg 89. Wheeler 102. 460. 478. 494 ff. 5l5ft. 541. 569. White 597. Wicke-Baldamus 646. Wiekmann 646. Wiese 646. Wiesner 47. 141. 626. Wigand 326. Wilder 234. Willem 88. Willey 110. Willimsky 285. 811 Willstätter 334. Winkler 30. 141. 497 ff. Winogradsky 295. 299Ef. Winterstein 235. 356. 624. Wisselinsh 356. Witlaczil 405. Wittrock 664. Wolff 331. Wolffhügel 292. Woltereck 431. 679 ff. 691. 792. 801. Wrzeiniwski 599. Y. Yerkes 54. Yung 259. 2. Zacharias 336. Ziegler 647ff. 688. Zinger 703. Zograff 243. Zopf 297. 332. Zsigmondy 688. Alphabetisches Sachregiıster. A. Abiologie 626. Abutilon 509. Abutilon arboreum 512. Abutilon striatum 509. Abutilon Thompson’ 509. Acer platanoides 664. Acerentomon doderoi 633. Achates-Form 217. Actinomyces odorifer 342. Actinomycetes 286. Actinomyzidia 473. Adoptionsexperiment 352. Adventivsprossen 122. Adventivwurzeln 122. Agenor-Form 217. Aglia tau 222. Arlanthus glandulosa 661. Alienicolae 24. Alkaloide 624, Allometrose 453ff. Ameisen 97. Amikalselektion 164. 305. Ammonoideen 597. Amoebina 472. Amoebina flagellata 472. Amöboplasma 2S1ff. 331. Amphioxus 651 ff. Anergates-Tetramorium 517. Angelica silwestris 709. Anilinfarbstoffe 750. Anorganologie 626. Anpassungscharaktere 97. Anpassungsvariabilität 602. Antriscus silwestris 709. Aphidinen 450. Aplysia 311. Apterygoten 634. Archaeognatha 638. Archinsecta 639. Argynnis Paphia 222. 812 Alphabetisches Sachregister. Ascomycetes 255. 369. Asellus 240. Astrantia major 708. Astrantia minor 708. Assimilationsintensität 681. Astatik 388. Atembewegung 235 ff. Atemeles pubicollis 487. Augen der Daphniden 4. Augenmuskel 5. Azolla 673. Baeillus Bacillus Bacillus Bacillus Bacillus Bacillus Bacillus Bacıllus B. anthracis 292. 343. Bütschli 285. calfactor 291. chitinovorus 34. megatherium 292. ramosus liquefacens 292. subtilis 292. tumescens 292. Bacterium Beijerinckii 29. Bactersum Ilidsensis capsulatus 291. Bacterium Ludwigii 291. Bacterium photometricum 396. Bakterien, anaerobe 285. Bakterien, thermophile 293. Balanoglossus 110. Balantidium 283. Basidiomycetes 285. Batis 703. Begonia 658. 705. 710. Begonia attenwata 712. Begonia Engleri 711. Begonia hirsuta 711. begona manicata 715. Begonia parvifolia 714. Begonia rhizocarpa 712. Bewegungsintensität 50. Bewegungsreflexe 14. Bidens tripartitus 728. Binucleata 471. Biologie 625 ff. Blyttia 667. Bombus hortorum 783. Bosmina 10. 11. Bryophyten 662. Buxbaumia 669. buxbaumia aphylla 670. Bythotrephes 6. 15. C. Calendula 727. Calendula malacitana 729. Calendula offieinalis 729. Campodea 634. Cannabis gigantea 703. Cannabis himalayana 0». Cannabis sativa 66V. Carcinom 400. Cardamine chenopodifolia 727. Carex 69%. Catasetum barbatum 693. 736. Caulerpa 326. Ceriodaphnia quadrangula 759. Ohaerophyllum temulum 709. Characeen 662. Chemotherapie 557. Ohermes 16ff. 24. Chiliopoden 634. Chimären 499 ff. Choanoflagellata 467. Chromatophor 419. Ohydorus sphaerieus 761. Cladoceren 1. 379ff. 385 ff. Onaphalodes strobilobius 24. Cobitidenarten 237. Cobitis taenia 237. Collembolen 635. 640. Colpidium colpoda 276. Cotula coronopifolia 727. Orangon 426. Orataegomespilus 49S HE. Crataegomespilus Asnieresit 49). Crataegomespilus monogyna 439. (remastogaster 495. Cromatophoren 322ff. Crustaceen 424. 634. Oryptostemma, 730. Ctenophoren-Ähnlichkeit 116. Oyelops 10. Cyanophyceen 290. 328. Cytisus Adami 498ff. Cytisus hirsutus 508. D. Dalechampia Roezliana 705. Daphnia 4. 6. 8. 10. 11. 13. 15. 239Ef. Daphnia longispina 24847. 681. Daphnia magna 684. Daphnia pulex 247 ff. 686. 745. 756. Daphniden 430. 679 ff. 737 #f. 753 #f. TO FH, Darmverlängerung 260. Delamination 651. Deuterostomia 651. Diaptomus 10. Diatomeen 325. Dicoria 726. Dikotylen 697. Dileptus anser 276. Dimorphismus, sexueller 657. 692#F. el tkt. Diözie 19. 69. Diphtheritis- Bacterium 343. Diphagozytose 546. Diplura 639. Draparnaldia 326. Dreyfusia pectinatae 24. Dreyfusia piceae 24. Drepanophorus 547. Alphabetisches Sachregister. 813 Dunkelfeldbeleuchtung 688. Getreiderostpilze 621. Dysstatik 388. Ginkgo 661. Gonoblastie 370. E. Gonoeöltheorie 652. Eehinocardium flavescens 350. 2 H Echinodermen 106 ff. 5 Eetotrophen 634. 638. Haplosporidia 473. Eiweißdifferenzierungsverfahren 560. Helianthus 730. Ektoderm 650. Heliotropismus 3. 383. Ektropie 653. u Hemmungsreflexe 52. Ektropismus 002. Heracleum 4 antegazzianum 709. Ellipura 640. Heracleum Sphondylium 709. Emigrans 24. ? Heterogonie 33. 448. Energieprinzip 158. Hexenbesen 119. Engramm 198. Hiemalis 24. Enteroeöltheorie 652. Hirngewicht 778. Enteropneusten 105 ff. Hirnwindungen 5804f. 611ff. 77Aff. Entoderm 650. Hodotermes 97. Enntotropha 634. 639. Homogyne alpina 730. Entropie 653. Humulus 703. Enzystierung a Humulus lupulus 658. Eosentomon transitorium 6393. Hyalodaphnia 681. Ephemerum 669. Hyalodaphnia eueullata 682. Ephippialweibehen 740. 763. Hyeromipisie 37. Equisetum 671. Hypertelie 171. Ergologie 625ff. r Hirnfurchen 5SOff. 611ff. 778. Eriocaulon nautiliforme 698. Erregung 183 1 Erregung, akoluthe 196. 2 Erregung, synchrone 196. Ichthiophthirius 471. Erregungsenergie 186. Imago 441. Erythrocyten 22Sff. Immunitätslehre 558. 559. Erythrocytenkerne 266. Indifferenzzustand 188. Euglena 383. Invaginationsgastrula 651. Euphorbiaceen 704. Invertin 339. Eustatik 388. Iva 726. Exsudattheorie 303. Exsul oder Exsulans 24. J. Juglans nigra 663. BR. Juglans regia 66». Juniperus 661. Farn rerospore 679. ; arne, hererospore 673 Juniperus communis 661. Fichte, Chermesinen der : Filago arvensis 727 ff. 189} DD Flussaal 784. K. Formica rufa 454. 491. 518. Kapillarendothelien 266. Formica sanguinea 478. 520. 569. Kapuzinerkresse (T’ropaeolwm maius) 783. Fortpflanzung 372. Karyokinese 646. Frontania acuminata 276. Kernsynthese 347. Funaria 664. Körperseele 607. Fundatrix 440. Kolloidehemie 192. 384. Fusca rufa 518 ff. Kommissuralnerven 698. Kristalloide 419. &. £ L. Gallen, organoide 116ff. Gammarus 239. Laburnum vulgare 499 ff. Gamogenesis 690. 737. Lachnina 406. Gastverhältnis bei Ameiser u. Termiten 97”. Lachnus hyalinus 405. Gehirnseele 607. Laomedon-Form 217. Getreideroste 619. Larix 18. 814 Alphabetisches Sachregister. Lasius umbratus 494. Latenzlarve 26. 65. Laubmoose 669. Lebermoose, foliose 669. Lebermoose, thallose 666. Leptodora 6. 15. Leptothorax acervorum 480. Leucophyceae 365. Lichtreaktion 1. 12. 49. 57. 385 ff. Lindheimera 730. Lineus ruber 546. Lingula 651. Lodoicea Seychellarum 699. Lokomotion 1. 7. 61. Lomechusa 97. 480. Loxodes rostrum 276. Lynceus brachyurus 761. M. Machilis 634. Marchantiaceen 668. Matricaria discoidea 728. Mechanolamarckismus 603. Medicago spinosa 142. Medusen 11. Melampodium 730. Melandryum album 697. 736. Melandryum rubrum 698. Melanismus 217. Mercurialis perennis 704. 736. Mesenchym 650. Mesepithel 650. Metazoa 468. Mierodon 480. Microsporidia 473. Migrans 24. Migrationstheorie 16. Mimikry 309. Mindarus 22. 402 ff. Mindarus Koch 440ff. Mischkolonie 535 ff. Misgurnus fossilis 237. Mixosporidia 473. Mneme 193. Mnemische Empfindungen 185. Mnium 669. Moina 437. Moina brachiata 786. Moina paradoxa 759. Moina rectirostris 689ff. 737ff. 753 ff. 785 ff. Monoclea 668. Mucor 344. Mumifikation 556. Mutanten 593 ff. Mykoide 364. Mykoplasma 281ff. 331. 618 ff. Myriopoden-Anamorphose 637. Murmechusa 9. Myrmekophile Ameisen 98. 495. Myrmica laevinodis 494. Myrmica myrmecophila 516. Myrmica ruginodis 494. Myrmica scabrinodis 454. Myrmedonia 97. Myrrhis odorata 707. N. Naturalselektion 197 ff. Nemachilus barbatula 237. Neolamarckismus 599 ff. Neosporidia 473. Nephrocöltheorie 652. Nitella 283. 663. Nyctotherus 283. ®. Oberflächenentwickelung 225ff. 257 ff. Oenothera gigas 597. Oenothera Lamarckiana 597. Oenothera lata 597. Oenothera nanella 597. Oenothera rubrinervis 597. Ökologie 627. Ononis spinosa 142. Onygena corvina 354. Opalina 283. Ophiotrix 651. Optimum der Belichtung 15. Organismen, mykoide 295. Oxygene-Arten 495. Oxytenia 726. 155 Pandalus 426. Papilio-Memnon 218. Paramaecium 283. Paramaecium caudatum 267 ff. 276. Parasitische Koloniegründung 575. Parasitismus 97. 129. 180. Parazyklie 70. Parthenogenesis 432. 690. 737. Parthenogenetische Spezies 28. Partialfunktionen der Zelle 558. Pauropoda 633. Pelargonium zonale 499. Pellia calycina 665. Pedicellarien 349. Pemphiginen 19. 402. 450. Penicillium 343. Penieillium glauceum 344. Personalselektion: 166. Petasites niveus 659. 660. 731. Peucedanum Üervaria 710. Pflanzenkrankheiten 719. Pfropfbastarde 497. Phagozytose 546. Phaseolis 208. Pheidole pallidula 515. Alphabetisches Sachregister. Pheidole symbiotiea 515. Photokinesis 386. Photostatik 382. Phototaxis 379. 386; apobatische 56; strophische 56. Phycomyceten 326. 356. Phylloxeriden 450. Phythophthora 720. Pigment 150 ff. Pigmentzellen 428. Pilea Spruceana 69. Pineus 24. Pinus 663. Plantago lanceolata ramosa 597. Plasma 45. Plasmaarten 278. 289 ff. 321ff. 353ff. Plasmodroma 471. Pleometrose 453. Pluralvariation 595. Polyergus rufescens 496. Polymorphismus 30. Polyphagie 19. Polyphemus pedieulus 761. Polyphyletische Entwickelung 378. Polytrichum 669. Polyzyklie 70. Populus pyramidalis 661. Positive Reaktion 10. Prenolepis longicornis 454. Prociphilus nidifieus-poschingeri 445. Procris 699. Proeris laevigata 701. Prostoma vermiculus 566. Prothysanura 636. Protomerenstruktur 47. Protostomia 651. Protozoen 465ff. Protozoenkunde 623. Protura 633. 640. Puceinia glumarum 621. Pseudogynen 99. Psychische Fähigkeiten der Ameisen 97. Psycholamarckismus 603. Pteridophyten 670. ®. Quercus 663. R. Radiolarien 216. Radula complanata 665. Rana arvalis 265. Rana esculenta 233. 265. Rana fusca 233. 259. Reizbegriff 181 ff. 193 ff. Reizreaktionen 62. Reizschwellen 49. Reizwirkung, engraphische 198. Restiaceae 660. Rufibarbis 483. S. Sacordina 472. Sagittaria pugioniformis 697. Salamandriden 234. Salvinia 673. Salvinia natans 673. Saprolegnia 326. Sarcosporidia 473. Scandix grandiflora 706. Scapholeberis mucronata 761. Scheitelfortsatz 102. Schwellenfläche, negative 392. Schwellenfläche, pesitive 392. Segregationsgesetz 348. Selagınella chrysocaulos 674. Selaginella erythropus 678. Selaginella inaequalifolia 674. Selaginella monospora 677. Selaginella obtusifolia 678. Selaginella Pouzolziana 678. Selaginella rupestris 675. 736. Selaginella rubricaulis 678. Selaginella viticulosa 678. Selektionsprinzip 601. Sexuales 440. Sexuparafliege 440. Stlene corsica 698. Silene Otites 699. Silphium 730. Simocephalus 432. 435. Simocephalus exspinosus 768. Simocephalusvetulus 689 ff. 737 ff. 753 ff. 785ftf. Singularvariation 595. Sinn des Lebens S02. Siphonales 326. Siphonocladales 326. Siphonophora pelarganii 405. Sklaverei bei Ameisen 97, Sklavenzucht 131. Solanum Darwinianum 506. Solanum Iycopersicum 505. Solanum nigrum 505. Solanum tubingense 498. Somatoblastie 368. Sphaerozoen 417ff. Sphagnum 669. Spartium junceum 142. Spirostomum 283. 276. Sporozoa 472. Stäbeskelett, intrazelluläre 426. Staphyliniden 97. Stellaria media 259. Stentor 383. Stichostemma 561 ff. Stichostemma eilhardi 564. Stichostemma graecense 547. 563. Stichostemma lacustre 564. Stigmata 781. Strongylognathus 517 ff. 816 Alphabetisches Sachregister. en ne ff. Untersuchung über den menschlichen ymbiogenesis 278ff. 289 ff. Verstand 806. Symphilie 97 ff. 129ff. 161 ff. Uredineae 282. Symphilieinstinkt 131ff. 305. Urocentrum 276. Symphyogyne leptothele 660. Urodelen 234. Synechthrie 98. Urtica pilulifera 704. Synthese der Eiweißstoffe 297. Urtica urens 69. Urticaceen 699. rg Ustilago violacea 699. Tannentriebehermide 68. Vv. Tapinoma erraticum 454. Valerianeen 717. ee 665. Vanessa urticae 221. 02 o Volwox 11. Telosporidia 473. Termitenstudien 303. Ww. Termitophilen 97. 3 h \ k Termitotelus 97. Wirbeltiere, homoiotherme DBll- Tetrastemma 561. Wirbeltiere, poikilotherme 231. Thalasicolla 2108f. Wirrzöpfe 118. Thallophyten 662. Wirtsrelation 16. Theeidium 651. R Thysanura 639. x. Tornarien 109#f. Xanthium 722 ff. Tradescantia virginiea 326. Xanthium spinosum 722. en a br. Xanthium Strumaria 723. ropismen 1. 49. Truncicola 487 ff. 3. Trypanosoma 223. e ya: 5 Tubulanus 547. 2 Be ns 695. Tyrosindrusen 95. AELENEEEIE © I URN Zellkern 118ff. 400. 418. U. Zellmembran 428. Zentrosomen 646. Ultramikroskopie 688. Zirkumdifferentiation 47. Umbelliferen 706. Zooxanthellen 417. Umwachsungsgastrula 651. Zwischenwirt 24. ä a | “ s = E) je © E < - = = | Ill Il | WH 18BS B B- + © 2 SEE SEE nn Zi A .- TE nn TE EEE > an mer 2. DEE = Seren j ee . a = 2 i a SEEN, eg TE ee nn I sr EN = u z & \ - Es a EEE DE in u TE SE = in f £E y b / y age u de > | = ENT LEE, “ \ %2 Li a BR- FEN EL 5 e Sy je: ” 3 {#, 2, % ‚ 625 > % F. Ri Eee er u - e Er