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ZEITSCHRIFT

VOLKSWIRTSCHAFT, SOZIALPOLITIK

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VERWALTUNG.

Organ der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.

H EH AUS (iE (iE BEN’

VON

EUGEN V. BÖHM-BAWEKK, KAHL THEODOR V. IN AMA STERNEGG, Ernst y. peexkk.

ZWÖLFTER BAND.

WIEN I NI. LEIPZIG. WILHELM BKA U M Ü L L E R

K. V. K. Hop- V, L-'XIVKRSITÄTit-BuCIHlANüI-KR.

1003.

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Druck toi ll'tdolf 34. R obrer io Brünn.

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Inhalt des XII. Bandes.

£rltt»

Dr. J. LanJmann: Die Xot» nbankirage in der Schweiz . l

H Kizzi: Daa österreichische Gewerbe im Zeitalter de* Merfcantili.nnn.s TI

Dr. Th. Bresiewicz: Das Recht der öffentlichen Arbeiten 141

Prof. l)r. A. v. Hai bau: Zur Ausgestaltung des rechts- und staatswissenschaftlichen

Studiums in Österreich 1 242,843

Dr. F. Frh. t. Myrbach -Rheinfeld: Die Reform Jer österreichischen Hauszinsateuer 279 F. Hertz: Die Diskont- und Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank

{1892 1902) 463

Dr. H. Schauer: Die Gewerbegerichte in Österreich 549

Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte 102, 306, 383

K. Th. v. Inama-Sternegg: August Meit/,»‘n llo

Dr. M. Mayr: Über staatliches Archivwesen in Österreich . 116

C. D. Carusso: Die vorgeschlagene Einlührung des Grundbuchsystents in Griechenland 321

R. Auspitz: Österreich -Ungarn und die Brüsseler Zuckerkonvention 409

Dr. Fr. Klein wiicliter: Die Landwirtschaft als Ausgangspunkt für ein System der

politDc len Ökonomie 430

K. v. Webern: Die Einführung der Neunstundenschicht beim österreichischen Kohlen- bergbau 527

Dr. G. Lippcrt: Die neuen Triester Hafenbauten 535

Dr. K. Braun von Fernwald: Abstufung der Gebäude-teuer nach dem Mall der

Verbauung der Grundfläche 581

E. v. PI euer, Berichtigung 645

Literatur:

Dr. R. Mever: Das Zeitverhältnis zwischen der Steuer und dem Einkommen und

seinen Teilen. Plener 120

B. Fuiating: Die GrundzDge der Steuerlehre, Meyer 122

Dr. 0. Müller: Die Einkoinmenstcuergeaetzgebung in den verschiedenen Ländern,

Reisch 127

Dr. K. Grflnberg: Die handelspolitischen Beziehungen Österreich-Ungarns zu den

Ländern an der unteren Donau. K. Plener 12S

M. Godet; Dm Problem der Zentialiaatiuii des &chfftkeriadii:n BaakDQteimrfcuttia.

Dr. La. ü_diaA»..l> , 131

Dr. E. v. Halle: Volks- und Seewirtschaft, Juraschek 134

Neuere Literatur über Wirtschaftsgeschichte, Inama-Sternegg:

A. v. Buhne rin cg: Zwei Kämmereiregister der Stadt Riga 328

W. Stic da: Die Anfänge der Porzellanfabrikation auf dem Thüringer Walde 328 Q. Brandt. Studien zur Wirtachalts- und Verwaltungsgeschichte der Stadt

Düsseldorf im 19, Jahrhundert 329

F. Lohmann: Die staatliche Regelung der englischen Wollindustrie vom 15. bis zu in 15. Jahrhundert ...... ...............

.il:W23i3l4 3 I -?69ü

8*5

Böhm-Bawcrk: Kapital and Kapitalzins 331

L. Braun: Die Frauen frage, ihre geschichtliche Entwicklung und ihre wirtschaftliche

Seite, Bauchberg 331

K. Hugo: Die deutsche StÄdteveiwaltung, Bauchberg 286

Dr. Zacher: Die Arbeiterversicherung im Auslände. Kogler 337

M. Bellom: Les lois d'assurance onvriere a l’etranger, Kogler 837

Dr. G. Sydow: Theorie und Praxis in der Entwicklung der französischen Staats- schuld seit dem Jahre 1870, Braun von Fernwahl 339

G. Brodnitz: Vergleichende Studien über Betriebsstatistik und Betriebsformen der

englischen Textilindustrie, Zifcek 340

L. v. Amran: Englands Land- und Seepolitik und die orientalische Frage nebst

Vorschlägen in Betreff der Meerengen und Isthm n d- s Mittelländischen und

de» Koten Meere», L. E.-M. ... 342

Dr. A. Buchenberger: Finanzpolitik und Staatshaushalt im GrvUlierzogtum Baden

iii den Jahren 1850 1900, B. Piene r 444

M. Schippe!: Zuckerproduktion und Zuckerprliuicn bis zur Brüsseler Konvention

1002, E. Planer 444

W. Sombart: Der moderne Kapitalismus, Hilfe rding 44*1

Püttmann; Die deutsche Arbeitervemcherung, Kögler 453

K. Funke und \V. Hering: Die reichsgeaetzliche Arbciterversioherung Kranken-,

Unfall- und Invalidenversicherung). Kögler 4*3

V. Heller: Der Getreidehandel und »eine Technik in Wien 454

Dr. X. K. Weill: Die Solidarität der Geldmärkte. Braun von Fernwald . . . .455 Cli. Znehlin: American Municipal, Progress, chaptera in mnnicipa! soci(dogv,

Braun von Fernwold 456

Dr. J. Runzel: Studien zur Sozial- und Wirtschaftspolitik Ungarns, Twardowaki . 457 Dr. J. Kün: Sozialhistorische Beiträge zur Landarbeiterfrage in Ungarn, Twar-

dowski 457

Dr. Th. Spickermann: Der Teilbau in Theorie und Praxis, Grünberg 459

Dr. L. Sinzheim er: Die Atbeiterwohnungsfrage. Griinborg 462

Ed. Bugno: Die Rochtssprechnng de» Verwaltungsgerichtshofes auf den» Gebiete des Gesetzes von» 25. Oktober 1896, R.-G.-Bl. Nr. 220, betreffend die direkten Personalateuern seit Beginn der Wirksamkeit des Gesetzes (1898 1901),

Reisch 543

Cb. Booth: Life and Labour of tbe pcople in London, Ziiek 545

Zeitscliriften-Übcrsicht 140

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DIE NOTENBANKFRAGE IN DER SCHWEIZ.

GESCHICHTE UND GEGENWÄRTIGER STAND.

VON

D«- JI LRS LANDMANN (BASEL).

Die drei Grundfragen der modernen Notenbankpolitik: Hankvielbeit oder Monopolbank. Bankfreiheit oder Bankgebundenheit, Staatsbank oder Privatbank, sind fflr das Deutsche Reich vor einem Vierteljahrhundert gelöst worden. Den Vertretern des Bankföderalismus stand im Reichstage eine zielbewußte, kompakte Mehrheit gegenüber, die mit aller Entschiedenheit für die Schaffung eines zentralen Noteninstitutes eintrat. Selbst die Minder- heit des Reichstages wagte es nicht, prinzipiell gegen die Zentralbank auf- zutreten: sie führte politische und taktische Argumente für ihre Haltung an. und wenn der Reichstag schließlich neben der Reichsbank eine Reihe einzelstaatlicher Institute fortbestehen ließ, so darf darin weniger eine Kon- zession an das System der Bankvielheit als ein Entgegenkommen an den noch starken staatlichen Partikularismus erblickt werden. Das System der Bankfreiheit ist aber schon durch das erste Bankgesetz des Deutschen Reiches, das Gesetz vom 21. Dezember 1871. das fast unverändert die Bestimmungen des Bankgesetzes des Norddeutschen Bundes vom 27. März 1870 auf das Deutsche Reich übertrug, für immer verlassen worden.

Der von den Theoretikern längst anfgestellte Grundsatz, das System der Bankfreiheit entspreche dem Aufangs-, nicht aber dem Reifestadium des Notenbankwesens, ist inzwischen auf der ganzen Linie auch in der Gesetzgebung zum Durchbruche gelangt und für eine Rückentwicklung fehlen selbst die leisesten Ansätze. Auch die in Österreich-Ungarn vor- handenen Bestrebungen bezwecken weder die Wiedereinführung der Bank- vielheit noch der Bankfreiheit. sondern lediglich eine Änderung der Or- ganisation der Österreichisch-Ungarischen Bank nach einer dualistischen oder föderalistischen Richtung hin. und diese letzteren haben, wenigstens für die nächste Zeit, keinerlei Aussicht auf Verwirklichung. Auf dem europäischen Kontinente ist die Schweiz das eiuzige Land, das in seiner Bankverfassung bis auf den heutigen Tag das System der Baukvielheit und mit einigen Beschränkungen auch das der Bankfreiheit beibehielt, und die Ergebnisse dieser Bankpolitik erscheinen uns auch außerhalb der Landes- grenzen der Beachtung wert.

Zelt*chrift für Volkswirtschaft, Social j>olmk und Verwaltung. XII. Band. 1

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2

Landmann.

Diese Streitfragen wurden aber von einer neuen abgelöst; die Erkenntnis der Snperiorität des Systems der Zentralbanken schlietlt noch in keinerlei Weise eine Antwort auf die Frage ein, ob das Monopol der Notenausgabe durch den Staat Reibst ausgeübt oder ob es einer Privatbank tibertragen werden solle. Denn aus der Tatsache, daß mit einziger Ausnahme Rußlands, Schwedens, Finnlands und Bulgariens alle europäischen zentralen Notenbanken auf privater Grundlage errichtet aind, dürfen nach unserem Dafürhalten keine weiteren Schlüsse gezogen werden als eben diese, daß die Mehrzahl der Emissionsbanken, vor allem die Bank of England und die Banque de France, zu einer Zeit gegründet worden sind, da die wirtschaft- liche Interessensphäre und der wirtschaftliche Interessenkreis des Staates enger gezogen waren, als dies heute der Fall ist, und daß die Ausgabe von Banknoten lange schon, wie die Ausstellung von Wechseln, ein Zweig des privaten Bankgeschäftes war, ehe die Banknote den Charakter des vor- nehmsten Geldsurrogates annahm, den sie heute trägt. Gewiß sind auch diese Erwägungen nicht geeignet, das unbefangene Urteil für eines der beiden Systeme der Durchführung des Banknotenmonopols irgendwie zu beeinflußen; sie sollen lediglich audeuten, daß die gegen das System der Staatsbank vorgebrachten historischen Argumente nicht zwingender Natur sind. Und wenn auch rflckhaltslos zugegeben werden muß, daß im Deutscheu Reiche in den Jahren 1 889 ') und 1899,’) in Frankreich im Jahre 1897,’) anläßlich der parlamentarischen Debatten über die, gelegent- lich der Verlängerungen der Privilegien der zentralen Notenbanken dieser Länder zum Ausdruck gekommenen Bank-VerstaaUichungstendenzen, sehr beachtenswerte Argumente gegen das System der Staatsbank vorgebracht wurden, so glauben wir doch nicht, daß die Frage damit als endgültig erledigt zu betrachten ist. Wir neigen vielmehr zur Überzeugung bin, daß die Ablehnung der Verstaatliclmngsanträge in Frankreich und Deutsch- land ihren Grund nicht ausschließlich in Erwägungen sachlicher und bank- technischer Natur findet, daß vielmehr ihr Motiv vor allem in der Be- fürchtung zu suchen ist, es könnte die Verstaatlichung der Zentralbank ihre Auslieferung an eine der politisch einflußreichsten wirtschaftlichen Interessengruppen nach sich ziehen, und es erscheint uns aus diesem Grunde der bisherige Verlauf des Streites um die Frage: Staat«- oder Privatbank? in der Schweiz, wo für derartige Befürchtungen die Voraussetzungen in nicht gleich hohem Grade vorliegen, wie dies in Frankreich oder Deutschland der Fall ist, eines ziemlich hohen Grades von allgemeinem Interesse nicht zn entbehren.

Als das dritte Moment endlich, das uns veranlaßt, der schweizerischen Notenhankfrago eine Ober die Grenzen der Eidgenossenschaft hinausgeheude

') Nasse, Dl« Kündigung des Privilegiums der Reichsbank nnd der Privat- notenbanken, Preuflische Jahrbücher, 1889, II.; v. Philippovich, Die Verlängerung dea Reiclisbankprivilegiums, Conrads Jahrbücher, N. F., XX, Rd , S. 275 ff.

Jj Helfferich, Zur Erneuerung des deutschen liankgesetzes, Leipzig, 1899. S.5I ff.; Landtnann. Zur Abänderung des deutschen Rankgesetzes. Kiel nnd Leipzig, 1899, S. 11 ff.

*j Charles Brouillet, Le nouveau rdgime de la Banque de France, Revue d'Economie politique, 1898, XIII. p. 817 sniv.

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Die Notenbankfrage in der Schweiz.

3

Bedeutung beizulegen, möchten wir die währungspolitische Seite der Frage bezeichnen. Es ist allgemein, auch im Auslande, bekannt, daß die Schweiz seit längerer Zeit und in stets steigendem Grade die Unzutritglichkeiten ihrer Zugehörigkeit zur lateinischen Münzkonvention empfindet.1) Wenn sie von dem ihr vertraglich zustehenden Kündigungsrechte bisher keinen Gebrauch machte, so liegt die Erklärung hierfür zum Teile gewiß in der Tatsache, daß die für die Schweiz günstigen Bestimmungen der Liqui- dationsklausel des lateinischen MOnzbundes es ihr gestatten, ohne Gefährdung ihrer eigenen Lage die Kündigung bis zum Augenblicke zu verschieben, wo sie für die Durchführung einer Währungsreform genügend gerüstet ist; insbesondere übt sie aber diese Zurückhaltung auch infolge von Erwägungen haukpolitischer Natur.’) So oft bisher die Frage einer Währungsreform in den eidgenössischen Bäten zur Sprache kam. wurde stets von allen Seiten anerkannt, daß der Austritt der Schweiz aus der lateinischen Münzkon- vention und ihr Übergang zur Goldwährung außer Zweifel stehe und lediglich eine Frage der Zeit sei. daß aber die nötigen Vorarbeiten nicht eher in Angriff genommen werden können, als bis an die Stelle des dezen- tralisierten Notenbanksystems eine starke Zentralbank getreten sei, die durch ihre Diskonto- und Valutapolitik genügende Sicherheiten für eine erfolgreiche Durchführung der Reform böte.’) Die in den Kreisen der schweizerischen Wirtschaftspolitiker vorherrschende Ansicht geht dahin, daß unmittelbar nach der Lösung der Bankfrage die Frage des Austrittes der Schweiz aus der lateinischen Münzkonvention in den Vordergrund tritt, und es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß der Eintritt dieses längst schon erwarteten Ereignisses geeignet sein könnte, auch die Frage der Liquidation des lateinischen Münzbnndes in den Vordergrund zu rücken. Daß aber von der Art und Weise der Lösung dieser Frage die weitere Entwickelung des Wäbrungsproblems sehr wesentlich abhängt, braucht wohl nicht weiter ausgeführt zu werden.

Überblicken wir nun an dieser Stelle den Komplex der Faktoren, von welchen der Verlauf der schweizerischen Bankfrage bisher beherrscht war. und deren zum Teile entgegenstehende Interessen es zur Folge hatten, daß sie bis heute eine Frage bleiben konnte, so finden wir, daß hier die gleichen Interessengegensätze im Spiele sind, die auch sonst einem großen Teil der politischen und wirtschaftspolitischen Entwickelung der Schweiz ihre Signatur aufdrücken:4) der Antagonismus zwischen den

’i Amtlich.» stenographische» Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, Dezembersession 1897. 8. 11170 11.

a> Bericht des eidgenössischen Finanzdopartements für daa Jahr 1889; Schweize- risches Finauzjahrbucli 1900/01. S. 11311.

Stenographisches Bulletin, DezeinberscBsion 1897, S. 1354, 1382; Charles Scherrer, La nationalisatiou du Systeme mondtaire suisse et l'adoption de l'etalon d’or, Geneve, 1893; Crainer-Frey, Iler gegenwärtige Stand der Münzfrage mit besonderer Berücksichtigung der schweizerischen Verhältnisse. Bern 1894.

*j Gustav Colin, Die Bundesgesetzgebung der Schweiz unter der neuen Ver- fassung. Supplement III der Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Jena 1879 ; desselben Darstellung der sehweizerisenen Kisenbahnpolitik im Archiv für Eisenbahn- wesen, 1898, 8 1124 ff.

1*

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4

Lamlmann.

Anforderungen der obersten Einheit des Bundesstaates und den Sonder- bedürfnissen der Kantone. Eine zentrale Notenbank und eine Bundesbank begegnen auf der einen Seite der Opposition der Kantone gegen die Durch- führung des Banknotenmonopols, der die Befürchtung zu Grunde liegt, daß ihre ohnehin ungünstige finanzielle Lage dadurch noch ungünstiger beeinflußt werden könnte, auf der andern Seite, in den Kreisen der Föderalisten der romanischen Schweiz und der konservativen Parteien der deutschen Schweiz, der Abneigung gegen jede weitere Erstarkung der Machtbefugnisse des Bundes.

Zu diesem Gegensätze, der den Prozeß der Zentralisierung des Notenbankwesens in der Schweiz verlangsamt, tritt ein zweiter hinzu, auf dem die Schwierigkeit einer Entscheidung der Frage: Staats- oder Privat- bank? beruht, der Gegensatz zwischen den linksstehenden politischen Parteien, die prinzipiell den wirtschaftlichen Aufgabenkreis des Staates viel weiter ziehen, als die Gruppen der Konservativen und das liberale Zentrum und die die zentrale Notenbank als reine Staatsbank organisiert zu sehen wünschen, während die letzteren, soweit sie Bich mit dem Gedanken der Monopolisierung der Banknotenausgabe überhaupt befreunden konnten, dieses Monopol für ein privates Bankinstitut in Anspruch nehmen. So stehen die antietatistischen und die föderalistischen Strömungen der Zentralisierung des Notenbankwesens in der Schweiz entgegen.

Die Institution des Referendums endlich bringt alle diese Gegensätze nicht nur viel schärfer zum Ausdrucke, sondern erschwert auch deren Überwindung. Das Referendum ist nicht nur eine Instanz mehr, deren Zustimmung es zu erlangen gilt, es ist auch gleichzeitig diejenige Instanz, die sich bei ihren Entscheidungen durch die parlamentarische Diplomatie nicht beeinflussen läßt und auf die gegenseitigen Konzessionen der par- lamentarischen Parteien keinerlei Rücksicht nimmt.1)

Wir hielten diese kurzen Ausführungen für notwendig, um das politische Relief der schweizerischen Bankfrage anzudeuten und die Ge- sichtspunkte knapp hervorzuheben, aus welchen die einzelnen Etappen ihrer Entwicklung beurteilt werden wollen.

1. Die Schweizerischen Notenbanken vor Erlaß des Bankgesetzes vom 8. März 1881.

Die erste schweizerische Notenbank, die gleichzeitig auch das Recht für sich in Anspruch nehmen darf, als erste reine Staatsbank Europas bezeichnet zu werden, ist die im Jahre 1834 gegründete Kantonalbank von Bern: es folgten dann in rascher Folge die Bank in Zürich (1836), die Bank in St. Gallen 1 1837), die Bank in Basel (1844) und in der romanischen Schweiz die Bsnque du Commerce (1843) und die Ilanque de Gcnhve (1848). Die Gesetzgebung über das Notenbankwesen war Sache der Kantone. Im allge- meinen begnügte man Bich mit der Vorlage der Baukstatuten und nur in manchen Kantonen setzte man zur Beaufsichtigung der Notenbanken einen Bankrat ein. ln keinem Kanton wurde für die im Kanton domizilierte

’) Curti, Die schweizerischen Volksrechte. IS48 J900, Bern, 1900, S. 02 ff.

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Di« Notäobttnhfrage in der Schweiz

a

Notenbank ein Spezialgesetz erlasse«, die meisten begnügten sich damit, einzelne Bestimmungen statutarisch festzulegeu und die Genehmigung der Bankstatuten galt eo ipso als Gewährung des Notenemissionsrechtes.

In Zürich, Bern, Luzern, St. Gallen, Graubünden, Thurgau haftete der Kanton solidarisch für alle Verbindlichkeiten seiner Kantonalbank; in Solothurn, wo die Bank einen gemischten Charakter hatte, haftete der Kanton in der Höhe der Hälfte der Notenzirkulation. In den meisten Kantonen wurde eine spezielle Notensteuer erhoben, von welcher die kanto- nalen Staatsbanken meistens befreit waren und die für die Privatbanken zwischen */, 1 Proz. der Notenemission p. a. schwankte. Nur der Kanton Neuenburg sah von einer direkten Besteuerung der Notenzirkulation ab, wogegen die Bank verpflichtet wurde, 10 Proz. des Reingewinnes an die Kantonalkasse abzuführen. Die Höhe der Notenemission und die Art der Deckung war von Kanton zu Kanton verschieden geregelt.1)

Kanton

Umfang der Notenemission

Xotendeckuug

Bern

Zürich

-

| '/ 3 der Notenzirkulation soll stets in der Kasse vorrätig sein.

Luzern

40 Proz. der Notenzirkulation j sollen metallisch gedeckt sein, j

Freiburg

Die Kantonalbank darf Noten bis zur Höhe des Bankkapitals, die Privatbanken bis J/, des eingezahlten Kapitals, die Caiase d'Amortissement de la Dette Publique bis */3 des Dotations- kapitals emittieren.

1

Basel-Land

Der Betrag der umlaufenden Banknoten und Kassenscheine soll 10 Proz. des Bankkapitais nicht übersteigen.

7* der Zirkulation soll metallisch,

2 3 durch Wechsel gedeckt sein, j

! Schaffhausen

1

Wird durch den Großen Rat bestimmt.

-

Graubünden

Die Kantonalbank ist verpflichtet, i stete 500.000 Franca in Gold in j ihren Kassen vorrätig zu halten, j

Aargau

Bis '/, des Bankkapitals.

Thurgau

Für die K&ntonalbank unbe- schränkt. für die Hypotheken- bank 760.000 Francs.

der RmisKioiissumine soll stets in der Kasse vorrätig sein. j

l) X. Sandoz, Les Banques suisaes d'emission avant l’entröe en vigueur de la loi du 8 mar s 1881, Zeitschrift für schweizerische Statistik, 1895, S. 189 fl.; Fick, Die schweizerische Bankgesetzgebung, Hildebrands Jahrbücher. I. Bd„ S. 79 ff.

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6

Liindmann.

Kanton Umfang der Notenemission Notendeckung

Tessin Der Betrag der Notenzirkulation

und der kurz fälligen Verbind- lichkeiten soll das Dreifache drs Bank-kapital* nicht übersteigen.

Waadt. Für die Kantonalbank Maxim ntn j Xotenzirkulatinn der Kantonal-

12 Mill. Francs. j bank zu */., die der Privat-

I banken zur Hälfte metallisch zu decken.

Neucbätel Das Doppelte des Bonkkapitala. I

I

Infolge dieser mikontrollierbaren und uneinheitlieliun Bankorganisation vermochten sich die Noten, an deren Solidität inan nicht mit Unrecht Zweifel hegte, nur schwer einzubärgeru; sie konnten außerhalb des Heimats- kantons entweder Oberhaupt nicht oder nur gegen ein Agio ausgegeben werden. Der Umfang der Notenzirkulation erreichte denn auch nur eine sehr bescheidene Höhe: bei der Bank in St. Gallen in den ersten Jahren ihres Bestehens rnnd 180.000 850.000 fl., bei der Bank in Zürich 300.000—500.000 fl. Die Zahl der Emissionsbanken stieg in einem viel rascheren Tempo als der Umfang der Notenzirkulation. 1

1848

1860

1862

1870

Zahl der Banken 8

15

16

24

Umfang der Notenzirkulation in Mill. Kranes 7

10

18

18

Notenumlauf per Kopf der Bevölkerung in Kranes 8-4*

898 j

4-91

6'76

Unter den Firmen, die im Zeiträume bis zum Jahre 1870 das Noten- emissionsrecht auszuüben begannen, befanden sich solche, die der ganzen Anlage ihres Geschfiftskreiscs nach von vornherein den Voraussetzungen für eine banktechnisch korrekte Anlage der Notenemission nicht entsprechen konnten. Es mag genügen, an die als Träger des Noteneinissionsrechtes so wenig geeigneten Finnen zu erinnern, wie es z. B. die „Tburgauische Hypothekenbank in Frauenfeld-, die .Spar- nnd Leihkasse von Nidwalden in Stans* und nicht zuletzt die .Caisse d’amortissement de la Dette Publique du Canton de Fribourg“ gewesen ist. Die Bankfreiheit war so vollkommen, daß sogar ein Privatbankier (die Finna Marquardt & Comp, in Bern ) unge-

') Regclj', Oie Bewegung für die Errichtung einer «chweizeriachen Bundesbank, Conrads Jahrbücher, III. F., X. Bd., S. 419 ff.

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Die Notenbankfrage in der Schweiz

7

hindert eine zeitlang Noten ausgeben konnte und diesen Geschäftskreis nur wegen mangelnder Rentabilität aufgab.

Die Deckung der von diesen Instituten ausgegebenen Noten bestand, neben einer ganz minimalen Metallreserve, nur zian geringsten Teile aus Diskontowechseln und sicheren Lombardforderungen; zum weitaus größten Teile bestand sie aus Hypothekarforderungen, aus Staatsobligationen, von welchen sich besonders die hochverzinslichen spanischen einer besonderen Beliebtheit erfreuten, aus schwerfälligen, nur auf kleinste Märkte angewiesenen Industrieaktien- und -Obligationen, und bei einzelnen Instituten, die das Pfandleihgewerbe betrieben, aus den Pfandbeständon.

Der erste Schritt zu einer Sanierung der Verhältnisse geschah durch das im Jahre 1862 abgeschlossene Konkordat,1) durch welches sich die liquiden Banken verpflichteten, ihre Noten einander ohne Abzug in Zahlung zu nehmen und untereinander eine Art Giro- und Mandatverkehr einzu- richten. Der Abschließung des Konkordats lag die Absicht zu Grunde, den Zustand zu beseitigen, daß die Noten einer Bank auf einem anderen Platze nur gegen Aufgeld eingelöst werden konnten; die Erfüllung dieser Aufgabe wurde aber dem Konkordate außerordentlich durch die feindselige Haltung erschwert, welche die in das Konkordat nicht aufgenommenen kleineren Institute der Ost- und Zcntralsehweiz den Konkordatsbanken gegenüber einnahinen.

Erst die Kriegsereignisse des Jahres 1870 gaben den Anstoß zum Ver- suche einer bundesrechtlichen Regelung des schweizerischen Notenbankwesens. Der vollständige Mangel an Spannfähigkeit des schweizerischen Notenumlaufes, mit der von Grund aus verfehlten Politik der Banken zusammenwirkend, führte zu einer nie vorher im Lande erlebten Geldklemme. Die Banken lösten selbst die geringsten, ihnen präsentierten Beträge ihrer Noten nur wider- willig und mit Schwierigkeiten ein, erhöhten ihre Diskontsätze bis auf 8 Pro?... verweigerten dabei aber jede Diskontierung und waren dennoch selbst in einer schwierigen Lage, da die Geldreservoire der Schweizer Banken, die der Schweiz benachbarten Filialen der Banque de France und die großen Pariser Geldinstitute, die bisher das Portefeuille der schweize- rischen Banken willig rediskontierten und den Gegenwert in Gold- und Silber- raünzeii nach der Schweiz schickten, teils infolge der großen Anforderungen, die die französische Regierung an den Geldmarkt stellte, teils aus Furcht vor Ausschreitungen des Pariser Pöbels, diesen Verkehr plötzlich unter- brachen und den schweizerischen Geldmarkt seinem eigenen Schicksal überließen.*)

Die Banken, die in erster Linie auf die Sicherstellung ihrer eigenen Lage bedacht waren, suchten in jeder Weise ihre Situation zu stärken; sie suchten alle möglichen Positionen zu reduzieren, wodurch sie die wenigen

’) Burckhardt-Biaehoff, Die Zettölbanken in der Schweiz. 2. Auflage, Basel, 1881, S. 10 ff.

*) Drei Gutachten Ober daa schweizerische Banknotenwesen (erstattet von Keer- Herzog, Küttimann, Keller und Pictct). Bern. 1871, S. 19 ff.

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Lamlniaim.

noch flüssigen Mittel dem Markte entzogen, anderseits lehnten sie es aber vom ersten Tage der Krisis an ab, auch gegen die besten Sicherheiten Kredit zu gewahren. Die Geldknappheit stieg zeitweise zn einer Höhe, daß selbst für Lohiiaiiszahlungen kein Geld zu haben war, es kam in mehreren Kantonen zu behördlichen M .ratoricn und zur Schaffung privater Geldsurrogate und erst die vom Dundesrate angeordnete Tarifierung englischer Goldmünzen konnte einem weiteren Umgreifen der Krise Einhalt gebieten.

In einer Reihe dem Bundesrate erstatteter Gutachten und Berichte kam die allgemeine Überzeugung zum Ausdruck, daß der Wiederholung derartiger Vorkommnisse für die Zukunft vorgebeugt werden müsse, und selbst diejenigen, die sonst jeden Eingriff der staatlichen Gesetzgebung in das Gebiet des wirtschaftlichen Verkehres am entschiedensten ablehnten, gaben zu. daß dieses Ziel nur durch eine für das ganze Gebiet der schweizerischen Eidgenossenschaft einheitliche Regelung des Notenbank- wesens erreichbar sei. Zwei verschiedene Gesichtspunkte kamen in diesen Eingaben und Berichten zum Ausdruck. Die einen erblickten die Haupt- aufgabe der Gesetzgebung in der Sicherung der stetigen Einlösbarkeit der Banknoten und erwarteten von der Besserung der Qualität der Banknote eine Hebung ihres Kredites im Verkehre, wodurch auch die Möglichkeit geschaffen würde, in kritischen Zeiten, in Fällen eines plötzlich gesteigerten Bedarfes au Zirkulationsmitteln, diesem Bedürfnisse ohne Zuhilfenahme des Zwangskurses oder Ausgabe von Staatspapiergeld durch bloße Erhöhung der Banknotenzirkulation nachzukommen. Als Mittel hierzu schien eine bloße gesetzliche Regelung der Bedingungen der Notenemission und der Pflichten der Emissionsbanken zn genügen. Die zweite der beiden Ansichten ging dahin, daß eine bloße gesetzgeberische Reform, unter Beibehaltung der bestehenden Bankvielheit, unmöglich zum erwarteten Ziele führen könne und trat damals schon für die Errichtung einer mit dem Noteumouopol auszustattenden Zentralbank ein. Sie wurde in zweien der eingereichten Gutachten vertreten: in dem der Herren Professor Rüttimann und Nationalrat Feer-Herzog und in dem des Herrn Nationalrat Dr. Kaiser. Das erste dieser Gutachten äußerte sich dahin: «La premiöie forme, qui nous semble digne d'examen, est la fondation d’une banque centrale d’emission. Ce terme ne signifie point nöcessairement une banque föderale. On peilt trouver im grand nombre de variantes entre la position d'une banque d'Etat et celle d'une banque independante.» Das Gutachten des Nationalrates Kaiser tritt zwar unverhohlener für eine Staatsbank ein, ohne aber eine Privatbank mit Staatsbeteiligung a priori abzulehnen und ohne für die zu schaffende Zentralbank ein Notenmonopol zu verlangen.

In den eidgenössischen Räten stand eben die Frage der Verfassungs- rerision im Vordergründe und sie sollte dazu benützt werden, um auch die Kompetenz der Notenbankgesetzgebung dem Bunde zu übertragen.1) Schon

l) Beilage IV. zu den XationalrataprotökoHen betreffend Kevision der Verfassung. Bern, 1873.

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Die Notenbankfrage in der Schweiz.

i)

am ö. Dezember 1870 legte der Bundesrat eine dahingehende Vorlage der Bundesversammlung vor, «ährend gleichzeitig im Nationalvate der Antrag gestellt wurde, es sei die Kompetenz des Bundes weiter zu fassen und ihm das Recht zur Errichtung einer Bundesbank zu erteilen. Die Mehrheit der Bundesversammlung war aber der Ansicht, daß diese Frage Überhaupt noch nicht spruchreif sei und begnügte sich damit, in die von ihr ange- nommene neue Bundesverfassung einen im Sinne der bundesritlichen Vor- lage ahgefaßten Artikel aufzunehmeu, durch welchen dem Bunde die Kompetenz ertbeilt wurde, allgemeine Vorschriften über die Ausgabe und Einlösung der Banknoten zu erlassen. Von praktischer Bedeutung ist aber dieser Artikel nie geworden, da das ganze Verfassungswerk dem Referendum vom 12. Mai 1872 zum Opfer gefallen ist, Im Jahre 1873, bei der Wiederaufnahme der Verfassungsrevisionsarbeiten, stellte der Nationalrat L)r. Kaiser den Autrag. es seien in die Verfassung als Artikel 30 folgende Bestimmungen aufzunehmen: .Die Gesetzgebung über die Errichtung von Zettelbanken

sowie die Ausgabe und Einlösung der Noten schon bestehender Banken ist Sache des Bundes. Der Bund ist befugt, eine Bank, die zur Emission von Noten berechtigt ist, zu errichten, ohne jedoch ein Monopol aufzu- stellen.“ Dieser Antrag wurde nun von der Bundesversammlung soweit akzeptiert, als er dem Bunde die Kompetenz der Notenbankgesetzgebung verleiht und den Grundsatz der Unzulässigkeit eines Notenmonopols aus- spricht; hingegen wurde das liecht, eine eigene Bank zu begründen, dem Bunde nicht gewährt. Der so modifizierte Artikel 39 wurde in die Bundes- verfassung vom 29. Mai 1874 aufgenommen und bildete bis zuui Jahre 1891 die Grundlage der schweizerischen Notenbankgesetzgebung. Er lautete: .Der Bund ist befugt, im Wege der Gesetzgebung allgemeine Vorschriften über die Ausgabe und Einlösung von Banknoten zu erlassen. Er darf jedoch keinerlei Monopol über die Ausgabe von Banknoten aufstellen und ebenso keinerlei Rechtsverbindlichkeit für die Annahme derselben aussprechen.“

In Vollziehung des Artikels 39 der Bundesverfassung legte der Bundes- rat schon im Juni 1874 der Bundesversammlung den Entwurf eines Bank- gesetzes vor,1) der am 18. September 1875 von den beiden Räten angenommen wurde. Das Gesetz übertrug dem Bundesrate die Verleihung der Ermächtigung zur Notenausgabe, filierte das Bankkapital jeder Notenemissionsbank auf mindestens ’/s Mill. Francs, begrenzte den Notenemissionsbetrag auf das Einfache des eingezahlten Bankkapitales und für eine Bank auf höchstens 12 Mill. Francs, es enthielt ein Verbot der Erteilung ungedeckter Kredite und der Ausführung ungedeckter Zeitgeschäfte; seine sonstigen Bestimmungen entsprachen fast völlig jenen des später zu besprechenden Gesetzes vom Jahre 1881. Gegen dieses erste schweizerische Notenhankgesetz wurde nun

*) S. R. Hlumrr, Zar Banknotenfrage, eine Kritik des Entwurfs des Banknoten, gesetzes, Glarus. 1874; A. Burckhardt-Bischoff, Referat aber den Entwurf eines schweizerischen Banknotengesetzes, Basel, 1875; Rapport ä la socidtd industrielle et commerciale du ranton de Vaud, sur la queation des biliets de banque eu Suisse, Lausanne, 1875.

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10

Landmaim.

ein Referendum augerufen und am 23. April 1870 wurde es vom Volke mit einer Majorität von 73.000 Stimmen verworfen.

Auf dem Wege der Gesetzgebung schien man also zu keinem Resultate kommen zu können, während andererseits die früher schon vorhandenen Miß- stände immer größere Dimensionen annahmen. Mit der Zahl der Banken nahm auch der Umfang der Notenzirkulation ständig zu und fast parallel mit der Vermehrung der fiduziären Geldsurrogate ging die Verschlechterung ihrer Qualität und Deckung. Einige Zahlen mögen diese Entwickelung knapp skizzieren.

4871

1872

1878

1874

1875

1876

1877

187«,

1879 1880

Zahl der Banken

28

29

29

32

32

32

,34

35

36

36

Einiaeionasnmme in Mill. Francs . .

24'8;

310

47-8

65-3

77-2

80*6

H3-1

82-6.

837

92 9

Notenumlauf per Kopf der Be- völkerung in Fraucs

9-2

11-7;

170

28 9

28 1

29 l1

298

29 9

29-7

32'7

Gewiss liegt der Gruud dieser zum Teile (z. 11. im Zeiträume 1871 bis 1875) überraschend starken Notenvermehrung auch auf währungs- politischem Gebiete1); zum weitaus größten Teile alter ist er in der Politik der Banken zu suchen, die unter Außerachtlassung aller bankpolitischen Prinzipien alle erdenklichen Geschäfte machten, um nur eiuen möglichst großen Teil ihrer Noten in den Verkehr zu bringen. Daran konnte auch ein neues, am 8. Juli 1870 abgeschlossenes Konkordat nicht viel ändern, dem 24 von den damals bestehenden 32 Banken heitraten, und welches durch Verpflichtung zur gegenseitigen Noteneinlösung und zur gegenseitigen Zusendung von Wochen- und Monatsbilanzen eine Besserung erzielen wollte. Von durchgreifendem Erfolge konnte dieses Konkordat schon deshalb nicht begleitet sein, weil die ihm nicht angehörenden Banken ihre eigenen Wege gingen und auch die Konkordatsbanken selbst in ihrer Geschäftsführung den bescheidensten Anforderungen nicht zu entsprechen vermochten.

Von den 21 Konkordatsbanken befaßten sich;

alle mit der Erteilung von Krediten im Kontokorrent gegen Hinterlage von Effekten.

IS) mit der Erteilung von Krediten gegen Bürgschaft.

II mit der Erteilung von Krediten gegen Verpfändung von Waren.

5 mit der Erteilung von Blankokrediten.

17 mit Übernahme oder Beteiliguug an Anleihen.

je 1S4 mit der Ausstellung laugsichtiger Tratten auf das ln- und Aus- land, mit Hypothekardarlehen und mit Akzeptation von Tratten,

l) Burekhardt- Bischof f. Das schweizerische Münzwesen. Jahrbücher für National- 0 konomie und Statistik, Bd. XXXII.

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,ie Notenbankfrage in der Schweiz.

11

5 mit Kontrahierung von Anleihen,

4 mit Reportgeschäften in Börseueffekten,

1 mit Ausgabe von Obligationen mit Gewinnanteil.

Die Fonds wären in allen möglichen Geschäften festgelegt und nicht realisierbar, und die nach Form. Inhalt. Währung, Betrag, Sprache, Große und Farbe verschiedenen Noten konnten als Symbol der Buntscheckigkeit der Bankorganisation angesehen werden. Womöglich noch regelloser ge- staltete sich die Gesrhäftsgeharung. Die Metalldeckung der Noten schwankte zwischen 02 und 18 l’roz. der Zirkulation und wie wenig einheitlich die Diskontpolitik geleitet wurde, kann aus der Tatsache ersehen werden, daß während eine Züricher Bank im Jahre 1878 17 mal ihre Rate änderte, eine andere Konkordatsbank in Genf sich nur 8tnal zu eine Änderung des Diskontsatzes veranlaßt sah.

Um die Mitt der 70er Jahre, fast gleichzeitig mit der Verwerfung des Gesetzes vom 18. September 1875. beginnt sich in der schweizerischen Bankfrage ein neues Moment bemerkbar zu machen. Bis dahin wurde der Frage lediglich in fachmännischen Kreisen ein größeres Interesse entgegen- gebracht, das Volk verhielt sich ihr gegenüber ziemlich passiv und folgte bei den Abstimmungen ohne viel eigenes Urteil den Weisungen seiner politischen Vertrauensmänner. In den führenden politischen Kreisen hatten die Freunde des Bestehenden eine sehr große Majorität und so konnte auch die parlamentarische Tätigkeit der Anhänger einer Zentralisierung des Noten- bankwesens nicht von Erfolg begleitet sein. Die Nationalräte Dr. Jons und Curti versuchten es nun, die Frage ins Volk hineinzutragen, um so ihre Lösung dem ausschließlichen Einflüsse der kantonalen Politiker zu entziehen.1) Ihre Tätigkeit richtete sich in erster Linie auf die Aufhebung des in der Verfassung festgelegten Verbotes des Notenmonopols, dessen Beseitigung notwendigerweise einer im Sinne der Zentralbankfreunde ge- haltenen Legislativarbeit voransgehen mußte. Sie veranlaßten zuerst den schweizerischen Volksverein, an die Bundesversammlung das Begehren zu richten, es sei eine Revisiou der Bundesverfassung in der vorhin ange- deuteten Richtung vorzunehtnen, und nachdem der Bundesrat sich in seiner Botschaft vom 28. November 1879* grundsätzlich gegen ein Notenmonopol und eine Staatsbank ausgesprochen hatte und auch die Bundesversammlung diesen Standpunkt zu dem ihrigen machte, allerdings nicht ohne daß sich in der nntionalrätlichen Kommission eine starke, dem Begehren günstige Strömung geltend gemacht hätte, entfalteten Joos und Curti eine Volks- agitation. die zu dem Ergebnisse führte, daß bis zum 8. August 1880 in der Bundeskanzlei 54.000 Unterschriften von Schweizerbürgern eingingen, die eine Revision des Artikels 39 der Bundesverfassung im Sinne einer

9 Curti, Daa Hanknotenmonopol, die zweizerische I, änderbar, k und die Initiative, Zürich, 1879; Argumente gegen dae Hanknotenmonopol, Antwort auf eine Rede des Herrn Th. Curti, I.urem, 1*79; Kaiser. Dichtung und Wahrheit oder der Hanknoten- »pektakel in der Schweiz im Herbst 1879. „Schweizerische Zeitfragen“, Heft 9, Zürich, 1880.

*, Schweizerisches Bundeeblatt. 1879, Bd. III, S. 107 1 ff

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12

Landmaim.

Aufhebung des Notenmonopolsverbotes und der Errichtung einer Staatsbank forderten.

Gemäß den Bestimmungen des Artikels 120 der Bundesverfassung soll über jedes im Wege der Volksinitiative geltend gemachte Begehren eine Volksabstimmung stattfinden. Der damalige Wortlaut dieses Artikels bestimmte aber auch, es könne dein Volke nur die Frage vorgelegt werden, ob eine Revision stattfinden solle oder nicht, nicht aber die Frage der Ab- änderung eines bestimmten Artikels. Auf diese Bestimmung gestützt und dessen bewußt, daß das Volk, des vor kurzem erst abgeschlossenen Ver- fassungskampfes müde, die Frage einer Verfassungsrevision nicht wieder werde entfachen wollen, formulierten im Nationalrate die Gegner des Be- gehrens die Fragestellung an das Volk folgendermaßen: .Soll eine Revision der Bundesverfassung stattfinden?*1) Das erwartete Ergebnis konnte nicht ausbleiben. In der Volksabstimmung vom 31. Oktober 1880 wurde das Begehren mit 260.126 gegen 128.090 Stimmen abgelelmt.

Aber auch in den Kreisen, di# unter Beibehaltung des Systemes der ßankvielheit eine gesetzliche Regelung anstrebten, fehlte es an Einheit- lichkeit.’) Die Vertreter des Handels wollten in dem zu erlassenden Gesetze die Bestimmungen aufgenommen sehen, daß das Recht der Notenemission lediglich den reinen Diskontobanken erteilt werden könne; sie wollten den Geschäftskreis der Noten ausgebenden Banken beschränken und verlangten die Deckung der gesammton Notenzirkulation durch Hartgeld und Wechsel. Die Vertreter der Kantone forderten dagegen Freigebung der Geschäfte der Banken, und Deckung der gesamten Noteuzirkulathm durch Hartgeld und Wertschriften. Jene legten das Hauptgewicht auf die jederzeitige Einlösbarkeit der Banknoten, für welche das Wechselportefeuille die beste Gewähr bietet, diese dagegen auf die Sicherheit der Noten, die sie durch Deckung des metallisch nicht gedeckten Teiles der Zirkulation durch Effekten am besten zu erreichen glaubten. Im Juni des Jahres 1880 legte nun der Bundesrat den eidgenössischen Räten den zweiten Entwurf eines Gesetzes „über die Ausgabe und Einlösung der Banknoten* vor, in welchem er zwar nach Möglichkeit den verschiedenen Wünschen und Forderungen gerecht zu werden bestrebt war, sich in der Hauptsache aber auf den Standpunkt der Vertreter des Handels stellte und demgemäß eine Deckung der Noten und der sonstigen kurz fälligen Veibindlichkeiten zu 50 Proz. durch Metallgeld und zu 50 Proz, durch Wechsel verlangte. Daneben nahm der Entwurf die Schaffung einer, allerdings nicht mit dem Noten- monopol ausgestatteten Bundesbank in Aussicht oder wollte ihr wenigstens einen Weg eröffnen. Der Ständerat, der in der Beratung dieses Gesetzes

') Schweizerisches Bundesblatt, 1880, Bd. III, S. 605 IT and 607.

*) W. Speiser, Die Neuordnung des Notenbankwesens in der Schweiz, Zeitschrift für schweizerische Statistik 1891, Bd. XXVII, S. 140 ff.; Craroer-Frej’, Die Regulierung Uea Bankwesens in der Schweiz, Schweizerische Zeitfragen, Heft 11, Zürich, 1880; Girard, L'article 39 de la constitutiun federal, :■ et les banqueB d'Sndssion en Sei- He, Cham de Fonds, 18:0.

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Die Notenbankfrage in (ier Schweiz.

13

die Priorität hatte, eliminierte nun nicht nur diese letztere Bestimmung, sondern formte auch den ganzen bundesrätlichen Entwurf derart um. daß der Hauptzweck des Gesetzes, nämlich die Herstellung einer gut fundierten stets einlösbaren Banknote, gegenüber dem fiskalischen Interesse einer größeren Anzahl von Kantonen völlig in den Hintergrund gedrängt wurde. Die im bundesrätlichen Entwürfe vorgesehene Beschränkung des Geschäfts- kreises der Notenbanken wurde gestrichen, die metallische Deckung von 50 Proz. auf 40 Proz. der Zirkulation reduziert und für die übrigen 60 Proz. eine Deckung in Wertscbriften vorgesehen. Der Bericht der nationalrätlichen Kommission äußerte sich Uber die Beschlüsse des Stände- rates folgendermaßen: „Wir können dem Ansmerzen aller auf eine eventuelle Bundesbank bezüglichen Bestimmungen um so weniger bei- stimmen. als wenig oder gar keine Aussicht vorhanden ist. in dem vorlie- genden Gesetze denjenigen Kegeln Geltung zu verschaffen, welche in den anderen Staaten für den Bankr.otenverkehr als die richtigen erkannt sind. Es ist deshalb sehr zweifelhaft, ob nicht früher oder später der Gedanke der Zentralisierung der Notenemission in Bundeshand mit oder ohne Monopol behufs durchgreifender Sanierung der dannzumaligen Umstände Oberwasser bekommt, und wir gestehen, daß so sehr wir geneigt sind, mit den bestehenden Verhältnissen zu rechneu und bestehende legitime Interessen zu berücksichtigen, wir den ständerätlichen Anträgen, insofern dieselben nicht modifiziert würden, ein Zentralinstitut auf gesunder, be- währter Grundlage, eine Bundesbank, die reine Emissionsbank wäre, bei weitem vorziehen würden“. Die Kommission selbst schlug eine Beihe von Abänderungen gegenüber den ständerätlichen Beschlüssen vor. wagte es aber nicht, an Stelle dieser die Bestimmungen des bundesrätlichen Entwurfes wieder einztisetzen. Sie willigte in die Reduzierung der Metalldeckung auf 40 Proz. der Zirkulation ein und statuierte als Deckung für die weiteren 60 Proz. das Wechselportefeuille bei den Banken, die den Charakter reiner Diskontobanken haben, für alle sonstigen Banken entweder Hinterlage von Effekten oder eine Garantie des Heimatskantons.

Am 15. Februar 1881 gelangte der Entwurf der Kommission zur Beratung vor den Nationalrat. Am gleichen Tage legte Nationalrat Dr. Alfred Esc her einen von ihm und dem späteren Nationalrat Cramer-Frey ausgearbeiteten Entwurf eines Bankgesetzes vor, welcher vom Entwurf der Kommission darin abwich, daß er eine getrennte Ver- waltung der Notenausgabe von den übrigen Geschäften der Bank verlangte, als Deckung neben dem Hartgeld nur Wechsel gellen lassen wollte und endlich den Banken die Verpflichtung auferlegen wollte, 10 Proz. ihrer Notenemission beim Bund in Effekten zu deponieren. Mit 68 gegen 21 Stimmen beschloß der Nationalrat das Eintreten in die Debatte auf Gruud des Entwurfes der Kommission, und als dann der Entwurf von dieser Behörde am 28. Februar erledigt wurde, konnte, nachdem über gewisse Differenzen zwischen dem National- und dem Ständerat Einigung erzielt war, am 7. März 1881 das Gesetz von beiden Käten definitiv

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u

Lftndm&nn.

angenommen und mit dem 1. Jänner 1882 in Kraft tretend veröffentlicht werden.

Das Gesetz, welches was nicht geleugnet werden soll die wildesten Auswüchse aus der Zeit der Kailtonssouveränität auf diesem Gebiete beseitigte, kann nicht anders aufgefaßt werden, als ein Kompromiß zwischen den Anforderungen des sich entwickelnden Großverkehrs auf der einen Seite und den fiskalischen und politischen Sonderinteressen der Kantone auf der andern. Das Gesetz beschränkt sich darauf, die bereits bestehenden Verhältnisse zu kodifizieren, und allgemeine, für alle Banken gültigen Normen aufzustellen, und zwar: 1. über die Berechtigung zur Notenausgabe und den Umfang derselben; 2. Aber die Deckungs- und Einlösungspflicht, Sicherstellung und die Privilegien der Noteninhaber: 3. Ober die Beziehungen der Notenbanken unter sich und den Geschäftskreis derselben; 4. über die Form der Banknoten und die Größe der einzelnen Abschnitte; 5. über die Kontrole durcli die Buudesbehörden; 6. Ober die Besteuerung der Notenemission.

Seme Huuptbestiiumungeu sind die folgenden. Jedes Bankinstitut mit einem Kapital von mindestens öOO.OOO Francs, das sich gewissen Normen unterwirft, hat das Recht, vom Bundesrate die Einwilligung zur Banknoten- emission im doppelten Betrage des Bankkapitals zu verlangen. Vom je- weiligen Betrage der zirkulierenden Notenmenge muß die Bank 40 Proz. in ihren Kassen in Barem liegen haben, ohne daß sie diese Barschaft zu irgend welchen andern Zwecken als nur zur Notenoinlösung verwenden dürfte. Als „verfügbare Reserve“ gilt nur der Betrag, der über 40 Proz. des Notenumlaufes hinaus in den Kassen der Bank vorhanden ist. Die restlichen 60 Proz. der Notenzirkulation können in dreifacher Weise gedeckt werden: durch Hinterlage von Wertschrifleu, durch Kantonsgarantic und endlich durch Verpfändung des W'echselportefeuilles als Spezialsicherheit für die Noteninhaber. Nur die Banken mit der zuletzt gedachten Deckungsart sind auf die regulären Geschäfte einer Notenbank, Diskonto- und Lombard- geschäft Giroverkehr u. 8. w. beschränkt: die übrigen dürfen alle

Arten von Geschäften betreiben: sie sind Kreditbanken, gewähren hypo- thekarische Darlehen, erfüllen die Funktion von Sparkassen, beteiligen sich an industriellen Unternehmungen, übernehmen die Emission staat- licher und industrieller Werte, kurz: sie erfüllen alle Funktionen einer Eflektenbank.

Dem Bedürfnisse nach Vereinheitlichung der Notenzirkulation wurde in der Weise Rechnung getragen, daß die Banken zum Gebrauche einheitr licher Notenformulare, deren Herstellung und Bezug vom Bunde überwacht wird, verpflichtet wurden. Ungleich bedeutsamer für die Einheitlichkeit des Notenumlaufes ist die Bestimmung, daß jede Emissionsbank verpflichtet ist. jederzeit nicht nur ihre eigenen sondern auch die Noten aller anderen schweizerischen Emissionsbanken, solange letztere ihre eigenen Noten pünktlich einlösen, vollwertig in Zahlung zu nehmen, und außerdem die Verpflichtung hat, die an ihren Schaltern präsentierten Noten aller andern

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Die Votenbankfrage in der Schweiz.

15

.Voteninstitute binnen längstens 3 Tagen ohne irgend welchen Abzug ein- zulösen. Die Bilanzen aller Banken sind periodisch unter der Kontrolle der Kundesbehörde ’> zu veröffentlichen. Zur Bestreitung der Kosten dieser Kontrolle entrichten die Banken 1 Promille vom Betrage der ihnen bewilligten Emissionssumme an die Bundeskasse. Die Kantone sind ermächtigt, eine Steuer bis zu 6 Promille jährlich vom gleichen Betrage zu erheben.

Wir werden im nachfolgenden Gelegenheit haben, die Wirkungen einzelner dieser Bestimmungen genauer zu untersuchen. An dieser Stelle wollen wir lediglich die hauptsächlichsten Mängel des Gesetzes feststellen.

Vierzig Prozent der jeweiligen Notenzirkulation einer Bank müssen stets durch Barvorrat gedeckt sein, der von den übrigen Kassenbeständen der Bank getrennt gehalten und gebucht wird. Diese Bardeckung darf nicht für den sonstigen Geschäftsveikehr der Bank, sondern nur zur Ein- lösung ihrer Noten in Anspruch- genommen werden und haftet den Noten- inhabern als Spezialfonds. Die Reserve, die anderwärts überall ein Sicherheits- ventil darstellt, das man im Notfälle öffnen kann, ist hier demnach unangreifbar, und selbst der Rnndesrat besitzt nicht die Kompetenz, den Banken den Gebrauch des Ventils zu gestatten. Angesichts eines Kassenbestande3 von 40 Proz. ihrer Notenzirkulation kann eine Bank zur Zahlungseinstellung gezwungen werden, ln dieser Bestimmung kommt am deutlichsten die das ganze Gesetz beherrschende Tendenz zum Ausdruck, nicht so sehr die ständige Einlösungsfähigkeit der Notenbanken zu sichern, als vielmehr für den Fall einer eventuellen Liquidation die Noteninhaber voi einem definitiven Verluste zu bewahren. Die gleichen Erwägungen liegen auch den Bestimmungen des Artikels 12 des Gesetzes zu Grunde, wonach der bar nicht gedeckte Betrag der Notenzirkulation durch Effekten oderauch bloß durch einen Garantieschein seitens einer Kantonregierung gedeckt werden soll. Sind schon Effekten in kritischen Zeiten oft sehr schwer zu reali- sieren, so ist an die Realisierung einer Kantonsgarantie im Augenblicke einer Krise nicht zn denken. Fast alle kantonalen Staatsbanken haben von dieser Scbeindeckung Gebrauch gemacht, und doch unterliegt es keinem Zweifel, daß man aus allen diesen Scheiuen zusammen im Falle einer Geldkrise, d. h. wenn die Kantone für die Zahlungsbereitschaft ihrer Banken eintreten müssten, nicht zehn Millionen Francs Hartgeld herauspressen könnte.

Der ganze Kassenvorrat von 40 Proz. der Notenzirkulation haftet als Spezialfond den Noteninhabern; über die Verpflichtung der Noten- banken, die sonstigen kurzfalligen Verbindlichkeiten in ähnlicher oder sonst irgend einer zufriedenstellenden Weise zu decken, enthält das Gesetz keinerlei Bestimmungen, ln seinen Folgen muß dieser Mangel zu einer Gefährdung der ununterbrochenen Einlösbarkeit der Noten führen, insbesondere, wenn eine Reihe von Banken, wie dies tatsächlich der Fall ist, auf der Sollseite ihrer Ausweise kurzfristige Verbindlichkeiten in der Höhe von mehreren

1 Die Kontrdle wurde durch Vollziehungeverordnung vom 21. Dezember 1881 dem eidgenössischen Finanzdepartcment übertragen. welche» hierzu ein Inspektorat der Emmiesionsbanken („Banknoteninapektorat“) ins Leben rief.

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16

Landmann.

Millionen Francs verzeichnet, deren Deckung zum Teile jeden Augenblick telegraphisch gefordert werden kann, ohne daß aber Aber die unantastbare Reserve von 40 Proz. der Notenzirkulation hinaus mehr als einige Hundert- tausend Francs in den Kassen1) vorhanden wären. Hierzu kommt, daß ein sehr großer Teil der schweizerischen Emissionsbanken auch die Funktion von Sparkassen erfüllt, was selbstverständlich gefährdend auf die Situation der Banken einwirkt, da die Erfahrung lehrt, daß Sparkassenglänbiger. wo nicht gefährlicher, so doch gewiß dringlicher sind, als die Banknoteninhaber.

Endlich sei hier noch der in ihren Folgen bedeutungsvollen Be- stimmung gedacht, wonach die Kantone das Recht haben, eine Steuer bis zu 6 Promille der bewilligten Emissionssumme zu erheben. Wir werden im nachfolgenden Gelegenheit haben, nachzuweisen, wie ungünstig diese Bestimmung die gesamte Entwickelung beeinflußte.

2. Die Entwickelung des Schweizerischen Notenbankwesene unter dem Bankgesetz vom 8. März 1881.

Bevor wir an die Schilderung der Entwickelung gehen, die sich unter dem Gesetze vom 8. März 1881 vollzog, wollen wir den Zustand festhalten. der im Augenblicke des Inkrafttretens des Gesetzes herrschte.

Es bestanden im Augenblicke des Inkrafttretens des Gesetzes:

Zahl

(kr Banken

Hauptgeschäft

Bank-

(Dotation«-)

Kapital

Durchschnittliche

Notenzirkulation

in 1000 Francs

6

Diskontohanken

30.000

39.762

10

Handelsbanken

20.500

14.459

H

Hypothekenbanken

17.398

10.233

ii

Verschiedene Geschäfte . . . .

57 700

34.208

1

Caisse d’amortisseiuent de la publique

Dette

739

36 Batiken

125.598

99.401

davon 24

im Konkordat mit

11G.650

92.262

davon 11

Staatsbanken mit

•!

87.398

83.659

Zur

Beurteilung der Bedeutung

h

und der Situation

der einzelnen

Banken mögen die Ziffern der Spezialtabelle dienen.

') Beispielshalber 6ei angeführt, daß die Freiburger Kantonalbank (rund 1 Mill. bis 1,250.01)0 Franca Noteuzirknlation und rund 6 Mül. Francs kurzfälliger Verbindlich- keiten) im Durchschnitte des Jahres 1901 eine verfügbar« Barschaft von 93.000 Francs aufweist; die ßamjue cantonale Neuchäteloise, weist bei einem Notenumlauf von rund 8 Mill. Kranes und einem Bestände von kurzfälligeu Verbindlichkeiten im Betrage von rund 13-5 Mill. Francs im Jahresdurchschnitt eine verfügbare Barschaft von 513.000 Francs auf. Zu Zeiten großer Anspannung sank der Betrag der verfügbaren Barschaft bei der Freiburger Kantonaibank bis auf 29/00 Francs, bei der Ncuenburger bis auf 190.01.10 Francs.

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Die Notenbank frage in der Schweiz.

17

Durchschnittliche

Firma

Noten-

zirkulation

Kassen-

bestand

Deckung der Noten in

in 1000

Francs

Zirkulation

*Kantonalbank vou Bern

7.257

2.876

39-7

•Bank in Zürich

4.502

4.001

88#

Ersparniskause des Kantons Uri

287

in

38-7

•Bank in St. Gallen

8.995

1.448

362

•Bank iu Basel

7.505

3.751

508)

•Banque du Commerce in Genf

14 074

4.757

83-8

•Banque cantonale vaudoise

5172

2.114

408

•Banque de Geneve

4 080

1.041

25-8

Spar- und Leihkuste, Luzern

982

871

887

•Banque cantonale Fribourgeoise

1-703

697

409

•Thurgauer Hypothekenbank

725

812

430

•Glarner Bank

1.160

870

31-9

Banque populaire de la Gruyi*re

160

54

33-7

•Bauque cantonale urk&tcloUc ....

5.656

1.661

29-4

Caisse hyputh«kaire de Fribourg

26

CO

h-

6654

•Aargauische Bank

2.326

836

85-9

•Luzerner Kantonalbank

1.953

881

451

•Solothumische Bank

1.878

855

455

Banca cantonale ticinesc

2.060

318

154

•Bank in Schaffhauaen

652

259

39-8

•Graubündner Bank .

285

180

63-2

Leihkasse Glarus

293

134

45 7

•Eidg. Bank, A. G

4 783

2.24«

470

Toggenburger Bank

970

386

84-6

Banque populaire de la Broye

18

29

1611

Crldit agricole et industriel de la Broye .

214

74

34-5

•St. Gallische Kantonalbank

5980

2.374

397

Caisse d'ainort. de la Dette Publique . .

789

163

221

•Basellandschaftliche Kantonalbank . . .

690

290

42 0

•Thurgauer Kantonalbank

1.806

551

422

Graubündner Kantonalbank

1.958

657

836

•Züricher Kantonalbank

12.276

7.109

57-9

•Banca della Srizzera italiana, Lugano . .

1.437

516

860

Credit Gruyärien .

165

27

16-4

•Appenzell a. Rh. Kantonalbank

1.947

704

361

Kantonale Spar- und Leihkasse von Nid- walden, St;» na

237

73

30-8

Zusammen

99.401

42.851

48 1

Die mit einem * versehenen Banken gehörten dem Konkordate an.

Zeitschrift für Volkuwlrtacbaft, Sozialpolitik und Verwaltung. XII. Hand.

2

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18

Landmann.

Nach Inkrafttreten des Gesetzes stellten von den angeführten 36 Banken 29 an den Bundeerat das Autorisationsbegehren zur Ausgabe von Bank- noten. Diese Autorisation ist an 26 Banken, welche sich Ober die gesetzlichen Vorbedingungen ausgewiesen haben, vor dem 1. Juli 1882 erteilt worden; an die übrigen 3 Banken konnte sie erst später erteilt werden, und zwar an eine am 11. Juli, an die zwei übrigen am 1. September 1882. Von diesem Tage an unterstanden dem Gesetze 29 Emissionsbanken mit einer effektiven Notenzirkulation von 102,174.055 Francs. Über die Entwickelung während der bald 20 Jahre, die seither verflossen, sollen die nachfolgenden Tabellen Auskunft geben.1)

Decknngsart

Jahr

Zahl fl er | Banken

Eingezahltes 1 Kapital in

In Proz. der Gesamt- kapital«-

Effektiv© Emission in , Mill. Francs

Iu Proz der Gesamt- 1 emission*-

stimme

i

1885

17

13-0

19-91

68 5

.50*7

Kantons- ] garantie j

1890

19

71-2

53 00

82-5

470

1

1901

22

124*7

88-70

1455

60*6

i

1885

10

17-3

26-49

11-6

8*6

Effekten- 1 binterUge I

1890

10 ,

19*6

1500

141

8*0

l

1901

10

80*0 |

15*30

21-0

8-7

|

r

1885

6

350

53-60

550

407

Wechsel- J| ! portefeuille j j

1890

6

43-0

410

3200

775

450

1901

4

1

2100

74 0

308

Bewilligte Emissions- summe in Mill. Francs

18 8 5

18 9 0

19 0 1

s

3 S «1 ts TS

Betraf der KinUaion io Kill. Franca

W <s 8

SuBi

Mi

Zahl

der Banken

R«irac der Eralaaion in Mill. Franca

liii

a £ a

a

b

Im ~ ß Betraf der Io u g « Koiiaaion in £ £ J S Mill. Fraoca; - ~

bis 2

17

196

1409

19

22*4

1234

12

1675

0-95

2 bis 5

8

29-5

21 21

8

81-2

17-18

12

43-75

1818

5 , 10

5

420

8027

*

290

15-96

5

8800

ab

o

10 . 20

8

47-0

34-48-

3

750

41*29

4

6400

2661

20 , 25

1

>

240

18-28

2

48 00

19-95

über 25

_

|

'

1

8000

12-51

| Zusammen

33

1881

100-00#

85

1816

100-00

.36

240 50

100 00

Zwei Entwickelungstendenzen kommen in diesen Zahlen zum Ausdruck. Vorerst die Tendenz der Zuräckdrängung der durch Kffektenhinterlage oder

l) Alle Zahlenangaben der nachfolgenden Darstellung sind den, in den Geschäfts- berichten des Bundesrates an die Bundesversammlung erscheinenden Jahresberichten des Banknoteninspcktoratea und den Jahresberichten der einzelnen Banken entnommen

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Die Notenbankfrage in der Schweil.

19

Wechselportofeuille ihre Noten deckenden Danken durch die diese Deckung in der Forui einer Kantonsgarautie leistenden. Der Anteil der letztem an der Gesamt- emission stieg von 50'7 Proz. ira Jahre 1885 aufßO'5 Proz. im Jahre 1901. Hand in Hand ging damit auch eine Vermehrung der Zahl dieser Banken von 17 auf22, während die Zahl der erstgenannten im gleichen Zeiträume von 16 auf 14 sank.

Die zweite Tendenz, die wir konstatieren, ist ein Steigen des Anteiles der großen, kapitalkräftigen Institute auf Kosten der kleinen. Auch auf diesem Gebiete vollzieht sich langsam der Prozess der Konzentration des Bankbetriebes durch die Großbanken. Der Anteil der Banken mit einer Emissionssumme bis 5 Mill. Francs sank von 35.30 Proz. an der Gesamt- emission im Jahre 1885 auf 25' 13 Proz. im Jahre 1901; im gleichen Zeit- räume stieg der Anteil der Banken mit einer Emissionssumme von mehr als 10 Mill. Francs von 34'43 Proz. auf 59 07 Proz. War im Jahre 1885 das Maiimum der EraiBsionssumme einer Bank 20 Mill. Francs, so stieg es bis 1901 bis auf 30 Mill. Francs und die eine Bank mit dieser bewilligten EmisBionssumme nimmt auch absolut eine höhere Stellung ein als die 12 Banken mit einer Emissionssumme von je bis 2 Mill. Francs.

Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes stieg der Gesamtbetrag der bewilligten Emission von 108 auf 240-5 Mill. Francs. Zur Beurteilung der Frage, mit welchem Wahrscheinlichkeitsgrade aus den Betrage der bewilligten Emissionssumme Schlösse auf die effektive Zirkulation gezogen werden dflrfen, fOgen wir hier die Zahlen för das Jahr 1901 ein.

Durchschnitt j

Maximum

i Minimum

i n

Mill. Franca

Angewiesen« lj Zirkulation . . . .

... | 2145

2336

2055 |

Effektive*) Zirkulation

... 197-5

2204

1B6-7

Xotenreüere«*)

... I 25-5

400

141 j

Auf den Kopf der Bevölkerung gerechnet weist demnach die Schweiz gegenwärtig einen Notenumlauf vou 64 05 Francs per Einwohner auf, gegen einen solchen von 30 Francs im Deutschen Reiche, und 25 Francs in Großbritannien.

Die unverhältnismäßige Ausdehnung der Notenzirkulation, die durch die Art der Stflckelung seitens der Banken bewußt gesteigert wurde, ist durch die Art der Erhebung der Notensteuer kausal bedingt und hängt in ihren Folgen so eng mit der Diskontpolitik zusammen, daß es am zweck- mässigsten erscheint, diese drei Erscheinungen zusammen zu behandeln.

’) Die „ausgewiesene Zirkulation“ repräsentiert den Betrag der von ailen Banken dem Verkehre übergebenen Noten, mit Einschluß der in den BankkaBsen liegenden -nicht eigenen) Noten anderer schweizerischen Emissionsbanken.

3) Die „effektive Zirkulation“ repräsentiert die ausschließlich in H&ndcn Dritter befindliche Notensnmme.

3) Die „Noteureserve“ stellt den Betrag der in den Kassen der Banken vorhandenen eigenen Banknoten and der anderer schweizerischen Emissionsbanken dar.

o.

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20

Landmann.

Da die schweizerischen Notenbanken, wie vorhin ausgeführt, nicht nach dem Umfange der effektiven Zirkulation, sondern nach dem Betrage der bewilligten Emissionesumme besteuert werden, so haben sie die natür- liclie Tendenz, ihre Notenemission möglichst auszudehnen, da sie ja die ganze bewilligte Emission versteuern mdssen, was, beim Brachliegen eines Teilbetrages dieser Summe, einen direkten Verlust bedeuten würde. Die Banken müssen 40 Proz. der Zirkulation unbedingt haar in den Gewölben liegen lassen, und wenn da eine Bank etwa 20 Proz. ihrer Emissionssumme überhaupt nicht in Zirkulation hat, so sind nur 40 Proz. der Emissions- Summe nutzbringend angelegt, was im Resultate einen Gewinn von etwa 2 2'/j Proz. der Emissionssumme bedeutet. Wenn nun die Bank gleichzeitig bis zu 6 Promille der ganzen bewilligten Emissionssumme an den Kanton, 1 Promille an den Bund versteuert, so macht dies rund 1 Proz. Abzug vom berechneten Gewinne, der dann auf etwa 1 lls Proz. sinkt Es ist deshalb uur zu leicht begreiflich, daß die Emissionsbanken bestrebt sind, das ganze bewilligte Kontingent in die Zirkulation zu bringen, damit wo- möglich jede steuerbare Note auch wirbt, und sie erreichen dies auch, aller- dings nur auf Kosten einer doppelten Verletzung der Prinzipien jeder gesunden Diskontopolitik; der Prinzipien der Auswahl des DiBkontomateriales und der Prinzipien der Regelung der Bankrate.

Nach den Berichten des eidgenössischen Banknoteninspektorates gliederte sich die Anlage der schweizerischen Emissionsbanken im Jahres- durchschnitte folgendermaßen:

J a

h r

_ :

1885

1895

1901

1885

1895

1901

In Mill. Francs j

In Proz. der Gesamtanlage

1. Kurzfristige Anlagen:

*

a) Diskont-Schweizwechsel

14982

16311

163 36

21 88

15 97

10-95

b) Diskontdevisen

3086

15-56

45-79

4 49

1*52

307

c) Lombardwechsel

31-34

48-50

48-21

4 53

4-26

3-23

d) Guthaben bei anderen Banken . .

100

288

5-70

0-18

0-28

038

e) Koiresp.- Debitoren

2928

25 83

56-22

433

2*52

3-77

f) Diverse

1 94

2-50

2-58

032

024

0-17

Summe a) bis f) . . . .

243-74

253-88

821-86

3578

24 79

21-57

2. Langfristige Anlagen:

a) Konto- Kurrent -Debitoren

65-23

11336

223-83

960

1109

1500

b) Schuldscheine

61-61

9612

143-90

907

941

9*64

c) Anlage in Hypotheken

23675

408 65

656-86

54-78

39-99

44-03

d) Anlage in Effekten

74*99

14926

144-47

10-74

1461

9-69

e) Diverse

024

113

l-oa

008

O-Il

0-07

Summe a) bis e) ... . Geaamrotsumme

488-82

768-52

117008

64 27

7521

78-43

682 56 1021 90 1491 94

100 00 100 00 100 00

1 1 1

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Die Notenb&nkfrage in der Schweiz.

21

Das Verhältnis zwischen der Summe der kurz- und der der langfristigen Anlagen verschob sich von 86 : 64 im Jahre 1885 auf 25 : 75 im Jahre 1895 und bis auf 22 : 78 im Jahre 1901. Dabei ist aber stets die Tat- sache im Auge zu behalten, daß die in der vorstehenden Zusammenstellung als kurzfristige Anlage bezeichneten Diskonto- und Lombardwechsel diese Eigenschaft durchaus nicht in einem gleich hohen Grade besitzen als die gleichen Werte in den Portefeuilles der großen Zentralnotenbanken. Der Kreis der als bankfähig betrachteten Wechsel ist in der Schweiz viel weiter gezogen als anderswo; infolge der ewigen Wechselsuche, auf welcher sich die Banken befinden, ist der Diskont demokratisiert und demgemäß steht auch die Qualität des schweizerischen Wechselportefeuilles' durchaus nicht auf der gleichen Höhe mit der Diskontanlage etwa der Deutschen Keichs- bank oder der Bank von Frankreich. Den besten Beweis hierfür liefert die Tatsache, diß während bei der Deutschen Keichsbauk auf je 1000 Mark durchschnittlicher Wechselanlage nur 0'09 Mark Verlust kommen, bei der Bank von Frankreich auf je 1000 Francs 0'02 Francs Verlust;, bei den schweizerischen Emissionsbanken auf je 1000 Francs durchschnittlicher Wechselanlage in dem gleichen Jahre (1901) 2p46 Francs verloren gegeben werden mußten.

Auch die Anlage in Lorabardwecbseln verlor nach und nach infolge der von seiten der schweizerischen Emissionsbanken im umfangreichsten Maße geübten Prolongationspraxis völlig ihren kurzfristigen Charakter und stellt heute in Wirklichkeit eine nur schwer realisierbare lang- fristige Anlage dar. Zur Ausdehnung ihres Umfanges trug nicht wenig der Umstand bei, daß die schweizerischen Emissionsbanken - eine in der gesamten Bankgeschichte einzig dastehende Tatsache ihren eigenen Diskontosatz durch einen niedriger gehaltenen Lombardsatz unterboten.

Betrachten wir endlich das Tempo des Anwachsens der einzelnen Positionen der beiden Teile der Anlage, so erhalten wir folgende charak- teristischen Resultate:

Anlage

im Jahresdurchschnitt

Jahr

Schweizer- ! Wechsel

Devisen

Lombard - wechsel

Wechsel ||

1 aller Art

Alle

kurzfristigen

Anlagen

Mül.

Franc«

106 = KO

Mil]

Franca i

JflHft « 1U0 ||

Min. ;

Kran>*a

I8&’> cs HO

Min. | Franc* 1

1885 = 100

'HU.

Frau««

IO& | 1UU j

1885

149-82

! 100-00,

30'8«

10OOO

80 14

100-00

210 32

100 00

248-74

1 00*00 j

7895

16311

109 47

15-56

51*86

43-50

14500

222 1 7 !

105 80

253*38

103-42:

1901

163*36

109*64

4579

152-63

48-21 1

1 00-70 257-30

122 65

321*861

131-84

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Lundm&on.

22

Anlage im Jahresdurchschnitt

a li r

Schuldscheine

Hypotheken

Effekten

Alle

langfristigen

Anlagen

MIO

Knuir*

188A

<s 1110

Mills

Kraue*

IHK?» = 100

*•111. j I8H5

Kt aucs =3 11»

Will.

Kraue*

IHM?» = |(U

1885

«1-61

100 00

236 75

100 00

74-99 100 00

438-82

100-00

1895

98 12

15757

408t>5

187 16

149 26 201-70

768-52

175 45

1901

14390

235-90

«56-86

278-33

144-47 195-23

1170*08

267-14

Wahrend die Wechselanlage, mit Einschluß der Lonibardwechsel, in den Jahren 1885 1900 von 100 auf 122, und die Summe der gesamten kurzfristigen Forderungen von 100 auf 131 stieg, stieg die Anlage in Hypotheken von 100 auf 278, die in Effekten von 100 auf 195 und die Gesamtsumme der langfristigen Anlagen von 100 auf 267.

W'elchen Einfluß eine derartige Gliederung der Anlage auf die Liquidität der Banken ausQbt, wird in den nachfolgenden Untersuchungen zu Tage treten.

Der zweite der beiden erwähnten Verstöße gegen die Prinzipien einer gesunden Diskontopolitik betrifft die Art der Festsetzung der Bankrate.

Das 1881er Gesetz begnügte sich mit einer äußern Itegelung der Notenausgabe; die innere Itegelung wurde nicht in den Kreis seiner Auf- gaben gezogen. Eine gemeinsame, für alle schweizerischen Notenbanken verbindliche Festsetzung der Bankrute sieht das Gesetz nicht vor, und es war infolgedessen unvermeidlich, dass die einzelnen Banken, vom Wunsche beseelt, einen möglichst großen Notenbetrag in der Zirkulation zu erhalten, in ihren Diskontosätzen einander unterboten. Jeder Bankplatz publizierte einen eigenen Diskontosatz und es kam nicht selten vor, daß eine Bank ihren Diskontosatz ermäßigte, während eine andere ihn gleichzeitig erhöhte. Es kam sogar vor. daß auf ein und demselben Bankplatze zwei Banken verschiedene Sätze aufstellen zu sollen glaubten. Der Diskontoarbitrage zwischen den einzelnen Bankplätzen war Ttir und Tor geöffnet und im Zusammenhänge damit gingen wirtschaftlich völlig ungerechtfertigte Hin- und Herschiebungen von Hartgeld zwischen den einzelnen Plätzen vor sich. Hierzu kam erschwerend dei Umstand, daß die mit einer großen Notenemission ausgerüsteten Banken auf kleineren Plätzen für den Teil ihrer Notenemission der für den Verkehr des betreffenden Platzes keine Verwendung finden konnte, auf den großen Verkehrszentren, in Basel, Genf, Zürich. St. Gallen, Anlage suchen und durch ihr Geldangebot oft die Bankrnten dieser Plätze herunterdrücken mußten.

Erst im Jahre 1893’) beschlossen 28 von den damals bestehenden 35 Banken „um die Barbestände im Lande zu schützen, den Diskontosatz auf

*) Gygai, Kritische Betrachtungen über das schweizerische Notenbank» eseu mit Beziehung auf den Pariser Wechselkurs, Zürich, 1901, S. 192 ff.

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Die Nolenbankfrage in der Schweiz.

28

einer entsprechenden Höhe zu halten*, und setzten ein aus 5 der größten Banken bestehendes Komitee ein. dem die Aufgabe zugewiesen wurde, einen einheit- lichen offiziellen Diskontosatz festzusetzen, welcher allen Diskontgeschäften als Basis dienen sollte. Mit der Einführung des einheitlichen offiziellen Diskonto satzes wurde eine entschiedene Wendung zu einer Besserung der Verhältnisse vollzogen. Doch bald schon erwies sich diese Vereinbarung als ungenügend.

Fast alle Notenbanken, mit Ausnahme der Bank von England, betrachten ihre offizielle Kate nicht als Minimal- sondern als Maximalsatz.1) Sie gewinnen dadurch die Möglichkeit, ihre offizielle Rate längere Zeit hindurch stabil erhalten zu können, ohne durch die oft vorkommenden, in der realen Situation des Geldmarktes ungenügend begründeten lokalen und temporären Schwankungen des Privatsatzes eine Einbuße am Umfang oder an der Qualität ihres Wechselportefeuilles erleiden zu müssen: sie kommen dadurch in die Lage, ihr Diskontogeschäft mehr den Bedürfnissen der einzelnen, lokalen Geldmärkte anzupassen, ohne deshalb doch ihre einheitliche Diskonto- politik preiszugeben ; sie steigern ihre Konkurrenzfähigkeit gegenüber den privaten Bankinstituten, sie erweitern das ihren werbenden Mittel offen- stehende Operationsgebiet, sie ziehen auch Primabank- und Kommerzdis- konten in ihr Portefeuille, ohne sich deshalb doch den privaten Instituten unterzuordnen, ohne ihre den Geldmarkt beherrschende Stellung aufzugeben-

Auch die schweizerischen Notenbanken, die auf dem Diskontomarkte einer scharfen Konkurrenz der großen Kreditinstitute in Zürich, Basel und Genf ausgesetzt sind, müssen notwendigerweise ebenfalls einen Privatsatz handhaben, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, daß ihnen das erstklassige Wechselmaterial vorweggenommen wird und sie für ihr Portefeuille lediglich minderwertiges Papier erhalten. Doch ist es klar, daß auch dieser Privatsatz einheitlich festgesetzt werden mußte, wenn nicht sonst alle Vorteile der Übereinkunft über den offiziellen Satz verloren gegeben werden sollten. Es schlossen denn auch im Mai des Jahres 1894 22 Bauken ein Konkordat zur Festsetzung eines einheitlichen Minimums des Privatdiskontosatzes ab. Doch schon im Dezember desselben Jahres wurde diese Übereinkunft, der von Anfang an die beiden Bauken von Neuenburg und die von Aarau, Solothurn. Liestal und Chur nicht angehörten, aufgehoben, und der alte zügellose Zustand trat von neuem ein.

Angesichts dieses Mißerfolges ist es begreiflich, daß man die Ange- legenheit nun ein paar Jahre nihen ließ und nur unter dem Drucke der fortwährenden Verschlechterung der Valuta sie neuerdings in Angriff nahm.’) Erst im März des Jahres 1898 versuchten es die Emissionsbanken zum zweitenmale. ein Einverständnis auf diesem Gebiete zu erzielen, aber schon im Oktober des Jahres 1900 mußten die damals aufgestellten Bestimmungen abgeändert werden, und zwar in der Weise, daß die durch das Komitee erfolgende Festsetzung des Minimums des Privatdiskontosatzes für die ein- zelnen Banken nicht verbindlich sein sollte; das festgesetzte Minimum sollte

: Landmann. System üer Diskontopolitik. Kiel un-l Leipzig. 190(1, S. 117 ff.

*) GjgftX, a, a. 0. S. 204 ff.

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24

Lamlmsmn

den Banken telegraphisch mitgeteilt und jeder einzelnen Bank überlassen werden zu beurteilen, wie weit sie in der Anwendung dieses Satzes gehen will. Zum Überflufle enthielt die Übereinkunft noch die Bestimmung, daß jede einzelne Bank lediglich .soviel als möglich“ verpflichtet sei. diese Minimalgrenze zu beachten, und das Recht habe, .für Bankwechsel und erstes kommerzielles Papier oder zum Zwecke, ihren Wechselbestand auf der von ihren Statuten vorgeschriebenen Höhe zu halten, bis 1 4 Proz. unter dem festgesetzten Minimum zu diskontieren.“

Es bestanden sonach in der Schweiz drei .offizielle* Bankraten: 1. der sogenannte offizielle Bankdiskont für die breiten Schichten des Handels und der Industrie; 2. der nicht minder offizielle Privatdiskont für die Wechsel erstklassiger Kaufleuteund Industriellen und fflr diejenigen, die ihrem Wechsel eine zweite oder dritte tTnterschrift gehen konnten, auch fßr die Rediskon- tierungen durch kleinere Bankiers und Banken: 3. der ebenfalls offizielle Minimaldiskont fflr erstklassige Bankunterschriften.

ln den Jahren 1899/1900 schien sich diese Regelung zu bewähren. Der große Geldbedarf, der sich in diesen Jahren geltend machte, milderte den Konkurrenzkampf der Emissionsbanken auf dem Diskontomarkte, dem Privatsatze war eine untere Grenze gesetzt, wodurch auch der offizielle Diskontosatz einen größeren Halt bekam, und die daraus resultierende größere Beherrschung des offenen Geldmarktes kam den Banken in ihren Anstrengungen zur Bekämpfung der mißlichen Folgen der ungünstigen Wechselkurse zu statten. Wie alle anderen Vereinbarungen der schweizeri- schen Emissionsbanken litt aber auch diese darunter, daß sie keinen obliga- torischen Charakter hatte. Nicht alle Banken schloßen sich dem Konvenium an, angeblich weil es ihnen nicht möglich gewesen wäre, ihr Portefeuille zu ergänzen, wenn sie nicht unter das vom Komitee festgesetzte Minimum hinabgehen dürften. Auch von den 29 Banken, die anfänglich dem Konvenium beitruteu, konnten sich einige fflr die Dauer dem Regime des Diskontokomitees nicht unterordnen und erklärten ihren Austritt, wodurch natürlich die den Kon- veniuinbankon auf dem Diskontomarkte entgegentretende Konkurrenz bedeutend verstärkt wurde. Zu der Konkurrenz der der Vereinbarung nicht angehörenden Emissionsbanken und der sonstigen Bankinstitute trat noch die verschiedener Verwaltungen hinzu, die ihre verfügbaren Kassenbestände in Diskontowechseln anlegen wollten,1) während anderseits seit Anfang des Jahres 1001 die geschäftliche Stagnation eine Verminderung des Wechselangebotes nach sich zog. Die Stellung der dem Konvenium treu gebliebenen Institute gestaltete sich so schwierig, daß eine neue Revision der Konveniums- bestimmungen in Aussicht genommen wurde, die den einzelnen Banken eine größere Bewegungsfreiheit sichern sollte. Diesem vermittelnden Plane trat jedoch die von einer sehr großen Anzahl der Banken gehegte Abneigung gegen dieses Konvenium entgegen und in der am 23. November 1901

*) Vor allem kommt Her in Betracht das nicht unbedeutende Diskontogeschkft der eidgenössischen Staatskasse, dessen Rentabilität dauernd um etwa 1 Proient unter dem Diskontosatre der Emissionsbanken bleibt, vgl. Landmann, a. a. 0., S. 26 ff.

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Die Notenbaiikfrage in der Schweiz.

abgehaltenen Generalversammlung der Emissionsbanken wurden die Bestim- mungen betreffend den Minimalsatz vollständig aufgehoben, wodurch der frohere Zustand der Zügellosigkeit wieder hergestellt ist.

Die Wirkungen dieser Verhältnisse auf den Diskontoverkehr kommen am deutlichsten in der realen Gestaltung der Diskontosätze zum Ausdruck. Zwei Momente möchten wir von diesem Gesichtspunkte ans in den Vorder- grund rücken. Als ersten die Tatsache, daß es zeitweilig möglich ist, auf dem offenen Geldmärkte in der Schweiz zu niedrigeren Sätzen zu diskontieren, als es die der Geldmärkte von Paris, Berlin oder London sind, ohne daß hierfür ein anderer Grund vorhanden wäre als lediglich die Konkurrenz der Banken unter einander. Als zweite Wirkung trat die Tatsache hervor, daß das Verhältnis zwischen dem durchschnittlichen Diskontosatze und der durchschnittlichen Rentabilität der Wechselanlage in der Schweiz sich wesentlich anders gestaltet als bei den großen Notenbanken. Während z. B. die Rechnungsergebnisse für das Jahr 1901 für die Deutsche Reichsbank einen den durchschnittlichen Üiskontosatz um 005 Proz. übersteigenden Gewinn des Portefeuilles aufweisen, der der Banque de France deren durch- schnittlichen Diskontosatz um O'll Proz. überschreitet, steht die Rentabilität das Wechselportefeuilles der schweizerischen Emissionsbanken um 0'05 Proz. unter ihrem durchschnittlichen Diskontosatze. Daraus darf zum mindesten der Schluß gezogen werden, daß der Kreis der Wechsel, die in der Schweiz unter dem officiellen I »iskontosatze diskontiert werden, viel weiter gezogen ist als dies z. B. im Deutschen Reiche der Fall ist, ohne daß auch hierfür eine andere Erklärung gefunden werden könnte als die der Konkurrenz der Banken untereinander.

Diese drei Grundsätze ihrer Politik: das gegenseitige Unterbieten auf dem Diskontomarkte, die Anlage großer Summen in langfristigen Geschäften und endlich das Diskontieren beziehungsweise die Erteilung von Lombard- krediten unter dem offiziellen Satze, ermöglichte es den Banken, größere Mengen ihrer Noten in Zirkulation zu erhalten, als es den realen Bedürf- nissen der schweizerischen Volkswirtschaft entsprechen würde. Dies konnten sie allerdings nur auf Kosten der Elastizität des Notenumlaufes erreichen, was seinerseits wieder zur Unmöglichkeit führt, zu Zeiten eines gesteigerten Geldbedarfes dem Markte größere Mittel zur Verfügung zu stellen. Die nachstehende Tabelle mag hierfür den Beweis erbringen

Ausgewiesene Zirkulation

Schweiz. Emissions- banken

Deutsche Reichsbank

1800

189S

1901

1890

1895

1901

Mill. Francs

Mill. Mark

1. Durchschnittliche Zirkulation .

152*4

179*2

214*5

983-88

1095-59

1109-26

2. Höchste Zirkulation .....

168*3

189!)

233-6

1131-73

1320-08

1465-78

3. Niedrigste Zirkulation ....

144- 1

169*5

205*5

886-05

968*21

1044*82

4. Spannung zwischen 2 und 2 .

24*2

20-4

28-1

245-68

351-87

420*96

5. Spannung in Proz. der durch- schnittlichen Zirkulation . . .

15-92

11*39

13 12

26-19

82-13

37*95

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26

Lnndmann.

Stellt mau diese Zahlenreihen nebeneinander, so tritt auf den ersten Blick die Erscheinung entgegen, daß die in ihnen für die schweizerischen Emissionsbanken zum Ausdruck kommende Entwickelungstendenz eine völlig andere Kichtung einschlfigt. als die gleiche Tendenz im Geschäfte der Heichsbank. Während die Spannung zwischen dem Maximum und dem Minimum der Notenzirkulation bei den schweizerischen Emissionsbanken im Laufe der letzten elf Jahre von 15 9 auf 13-1 Proz. sank, stieg sie zur gleichen Zeit bei der Heichsbank von 26'1 auf 3T-0 Proz. Uber die Bedeutung dieser Verschiebung kann keine Meinungsverschiedenheit obwalten, sobald man sich den unbestrittenen Grundsatz in Erinnerung ruft, daß es eine der wichtigsten Aufgaben der Notenbankpolitik ist, dem Zahlungsmittel- Umlauf. ohne seine Sicherheit zu beeinträchtigen, eine größere Elastizität zu verleihen, als sie ein rein metallischer Zahlungsmittelumlauf besitzen kann. Die Schwankungen des Geldbedarfes, sowohl innerhalb längerer Perioden als auch innerhalb der einzelnen Jahre sind in dem gegenwärtigen Entwickelungsstadium der Volkswirtschaft gegenüber den früheren Ver- hältnissen außerordentlich groß geworden. Der Grad der Möglichkeit aber, diesen Schwankungen des Bedarfes nachzukommen hängt für eine Notenbank vom Grade der Elastizität ihres Notenumlaufes ab: der der schweizerischen Emissionsbanken sinkt kontinuierlich von Jahr zu Jahr.1)

Treffend charakterisierte Kalkmann diese Politik mit folgenden Worten:

.Indem die Notenbanken bei geringer Nachfrage nach Umlaufsmittel eine möglichst große Zahl ihrer Noten in den Umlauf pressen, berauben sie sich der Möglichkeit, bei vermehrter Nachfrage den Bedürfnissen des Verkehrs entgegenzukommen; denn dem Notenumlauf ist eine starre obere Grenze gezogen; die einzelne Bank daif das Kontingent, das ihr von Bundes wegen bewilligt ist, nicht überschreiten. Unter solchen Umständen sind denn die Banken genötigt, um ihre Geschäftsverbindung aufrecht erhalten zu

■) Der Vollständigkeit halber mag au dieser Stelle erwähnt werden, daß die für das Jahr 1901 mitireteilten Zahlen nicht mehr als völlig zuverlässige Gradmesser der Spumiungafühigkeit des schweizerischen Banknotcnumlaufes angesehen werden dürfen. Sehen in der zweiten Hälfte der 90er Jahre tauchte in den Kreisen der Emissionsbanken der Plan auf. in der Bekämpfung der ungünstigen Wechselkurse die Diskontopolitik durch eine direkte Notenpolitik zu unterstützen. In Zeiten eines großen Geldbedarfes wurde Ausgeführt besitzen die Emissionsbanken bei hohen Diskontosätzen eine gewisse Kontrolle über den Geldmarkt; bei sinkendem Bedarf sinken auch die Sätze, was daun ungünstig auf die Wecheelkurse eiuwirkt. Um dem vorzuheugen. wurde beantragt, sei in seichen Zeiten die Notenemission zu reduzieren; der dadurch entstehende Verlust konnte durch höhere Diskontosätze wettgemaeht werden. Der Vorschlag begegnete zuerst einer lebhaften Opposition seitens der ihren Gewinn bedroht sehenden Banken, die erst durch die ständig sich verschlimmernden Wechselkurse bewogen werden konnten, ein Bpczialabkoimneu zu treffen, dein anläßlich der am 9. Juni 1900 in Basel abgehaltenen Generalversammlung 27 Institute beitrsten. .Das Komitee ist befugt, sobald die allgemeine Lage des Geldmarktes es erheischt, nnd die Summe der Noten in den Kassen der Emissionsbanken stark anwächat, eine Beschränkung der gesamten Notenzirkulation anzuordnen. Eine einmalige Beschränkung darf 5 Proz. dor bewilligten Emissiotissumme nicht übersteigen, eine weitere Beschränkung ist vor Ablanl von vier Wochen vom Datum der vorhergehenden nicht zulässig, die Beschränkung daTf im ganzen 10 Proz. der

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Die Notenbankfiage in der Schweiz.

27

können, ihre Haibestände anzugreifen, was ihnen aber, da ihr Vorrat das gesetzliche Minimum nicht allzusehr zu überschreiten pflegt, sehr unangenehm ist Zur Beschaffung von Bargeld präsentieren sie sich gegenseitig ihre Roten zur Einlösung, sie jagen sich gegenseitig die Barschaft ab und ver- suchen aus dem In- und Ausland Barmittel an sich zu ziehen. Allgemein wird über Notenmangel geklagt, woraus dann einzelne Notenbanken die Notwendigkeit ableiten, ihr Aktien- oder Dotationskapital zu erhöhen, um sich vom Bunde ein größeres Kontingent bewilligen lassen zu können. Damit fängt aber der Tanz von vorne an; die neuen Noten müssen in den Umlauf gebracht und darin erhalten werden, dazu noch gewöhnlich in einer Zeit, in welcher der Geldbedarf wieder abgenommen hat: die Banken unter- bieten sich abermals durch niedrige Diskontosätze; es kommt wiederum zu Auswanderung von Kapital und zu Goldabflüssen ins Ausland; und wenn dann eine stärkere Geschäftstätigkeit einen größeren Umlauf verlangt, so stellt sich auch der Notenmangol wieder ein, womit das Signal zu aber- maliger Erhöhung der Emission gegeben ist. Infolgedessen hat die Schweiz immer zu viel Geld, wenn sie keines braucht, und keines, wenn sie desselben bedarf. So geht es nun schon seit fünfzehn Jahren: im ersten Halbjahr Geldüber- fluß. im zweiten HalhjahrNotenmangel! Jahr für Jahr wird die Emission erhöht, Jahr für Jahr wachsen der effektive und der ungedeckte Notenumlauf, und Jahr für Jahr steht der Wechselkurs auf Frankreich, dessen Diskontosatz eine große Stabilität zeigt, im ersten Halbjahr erheblich schlechter als im zweiten.* Nach dieser Übersicht der Entwickelung des schweizerischen Notenbank- wesens unter dem Gesetze vom 8. März 1881 wollen wir noch zwei Seiten der Frage erörtern, die uns ein abschließendes Urteil ermöglichen sollen über das Gesetz selbst und seine Wirkungen : wir untersuchen den Grad der Liquidität der schweizerischen Emissionsbanken *) und sodann die Frage, ob und bis zu welchem

bewilligten Emissionssumtne nicht ubersteigen.* Über die Art der Durchführung dieser Vereinbarung mögen die nachfolgenden Zahlen für das Jahr 1901 ein Urteil erlauben.

Datum

Zahl

1 der Tu»

He*rbrtükno( in Prot. Em'aaioDMUinm*

1. Jänner bin

25. Jänner . .

25

25. Jänner

1. März . . .

.85

5

1. März *

25. März . . .

24

10

25. März *

1. Juni . . .

«0

•V

1. Juni *

23. September

114

10

23. September

18. Dezember .

86

5

18. Dezember

31. Dezember .

1.8

361

Es liegt durchaus nicht in unserer Absicht, die günstigen Wirkungen dieses Spezialabkommens leugnen zu wellen; anderseits dürfen wir aber nicht verschweigen, daü wir seinen Wert allzu hoch nicht veranschlagen, und zwar aus dem Grunde, weil das Abkommen einen freiwilligen Charakter trägt, jede einzelne von den ihm beigetretenen 27 Banken jederzeit austreten kann, und die bisherigen Erfahrungen mit derartigen freiwilligen Vereinbarungen der schweizerischen Emissionsbanken es befürchten lassen, daü es gerade im Augenblicke, wo es am notwendigsten wire, den Dienst versagt.

*) Schweizer, Zur Beurteilung des schweizerischen Notenbankwesens, Zeit- schrift für schweizerische Statistik, 1888, 2. Quartalheft, und Speiser, Einige Bemerkungen betreffend die Schrift von F. F. Schweizer: .Zur Beurteilung des schweizerischen Noetnbankwesens“, Zeitschrift für schweizerische Statistik. 1888. 8. Quartnlbcft.

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28

Landmann.

Grade sie der vornehmsten Aufgabe einer Notenbank, der Verteidigung und der Hochhaltung der Valuta ihres Landes, gerecht zu werden vermochten.

Deckungsvsrhfiltnisse der schweizerischen Emissionsbanken auf Grund der Generalbilanzen vom 31. Dezember der Jahre 1885 und 1901.

1885

1901

Passiven.

In Mill

Francs

60 Pro», der eigenen Noten in Zirkulation

82

134

Andere kurzfällige Schulden

89

188

Kurzfälliger Teil der Spareinlagen . *

39

118

Total der stets fälligen Verbindlichkeiten

209

440

Aktiven.

VerfQgbare Barschaft

13

22

Andere Kassenbestände und kurzfällige Guthaben

19

62

Verfügbare Kasse und kurzfäJlige Guthaben

32

84

Portefeuille (Diskontwechsel und Devisen)

191

233

Bankmäßige Deckung

223

317

In runden Prozenten

Deckung der ungedeckten Zirkulation durch die verfügbare Barschaft

16

16

w * * * und der kurzfälligen Ver- bindlichkeiten dnreh die verfügbare Barschaft

6

5

Deckung der ungegeckten Zirkulation und der kurzfälligen Schulden durch die verfügbare Barschalt und die kurzfälligen Guthaben

15

18

Bankmäßige Deckung aller stets fälligen Verbindlichkeiten . .

106

95

Zur Ergänzung der vorstehenden Zahlen fügen wir noch eine Über- sicht des Gesamtstatus der schweizerischen Emissionsbanken am 81. Dezem- ber 1001 bei, der nach anderen Grundsätzen als die vorstehende Tabelle aufgestellt ist. In der letztem wurden, gemäß den Bestimmungen des Batik- gesetzes, 40 Proz. der Notenzirkulation, die nicht der freien Verfügung der Bank unterstehen, von der Summe der Kassenbestände, und ebenso auch der gleiche Betrag von der Summe der Notenzirkulation in Abzug gebracht. In der nachfolgenden Tabelle ist diese Position an beiden Stellen mit- berücksichtigt worden, wodurch die Möglichkeit gegeben ist, die Wirkungen der erwähnten Gesetzesbestimmung auf die Liquidität der Banken am deut- lichsten wahrzunehmen. Es schien uns außerdem geboten, uns bei der nachfolgenden Tabelle nicht lediglich mit der Reproduktion der vom Inspektorat der schweizerischen Emissionsbanken aufgestellten Generalbilanz aller 36 Banken zu begnügen, vielmehr sollte diese Generalbilanz durch drei weitere ergänzt werden, von welchen jede ein Urteil über eine der drei, gesetzlich zulässigen Bankkategorien erlaubt, und die auf Grund der Jahresschlußbilanzen der einzelnen Banken berechnet wurden.

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Generalstatus den schweizerischen Emissionsbanken am 31. Dezember 1901.

30

I.tn<lmami.

Deckungsverhältnisse nach Maßgabe des Generalstatus vom 31. Dezember 1901.

Art der Notendeckung

Alle

Banken

Kantons-

garantie

Effekten-

hinterlage

Wechsel-

portefeuille

Deckung in

Prozenten

Deckung durch den Barvorrat: a) der Notenzirkulation * . . .

52-82

00*69

4607

5066

b) der Notenzirkulation und der kurzfälligen Schulden

16-24

10-93

36-28

1825

c) aller .Schulden an Dritte

6 10

4-07

85-78

750

Deckung durch Barvorrat, sonstige Kassen bestände und kurz fällige Gut" haben:

a) der Xotenzirknlation und der kurzfälligen Schulden

4844

48 45

41'87

46 11

b) aller .Schulden an Dritte

16-82

21-68

41-41

1903

Bankmäßige Deckung:

a) der Notenzirkulation und der knrzfälligen Schulden

79-81

79 63

9670

82 13

b) aller Schulden an Dritte

29-85

30*41

95-23

83 77

Nach Abzug von 40 Proz. von der Noten- zirkulation und vom Kassen bestand:

Deckung durch den Barvorrat:

der Notenzirkulat ion und der kurzfälligen Schulden

6-77

552

832

6*00

Deckungdnrch Kasse und kurzfällige Guthaben:

der Notenzirkulalion und der kurzfälligen Schulden

32-54

54 05

15*27

33-60

In mehr als einer Beziehung erscheinen uns die vorstehenden Zahlen beachtenswert. Vor allem drängt sich uuserer Aufmerksamkeit die Tatsache auf, daß die bankmäßige Deckung aller kurzfälligen Verbindlichkeiten von 106 auf 95 Proz. zurüekging und daß die Progression im Steigen der Position »verfügbare Barschaft* und „kurztällige Guthaben* fast um die Hälfte langsamer war als die der Positionen .ungedeckte Notenzirkulation* und „kurz fällige Verbindlichkeiten*; nicht unbedeutend erscheint uns dabe auch der Umstand, daß innerhalb dor letzterwähnten Position es gerade der kurzfällige Teil der Sparkasseneinlagen war, der die stärkste Ver- mehrung erfuhr, was qualitativ die Deckung ungünstiger erscheinen läßt als dies hei bloß quantitativer Betrachtung der Zahlenverhältnisse den Anschein hätte.

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Die Nntenbankfrage io der Schweiz.

31

Wie nicht anders zu erwarten, gestalten sich die Verhältnisse bei den einzelnen Bankkategorien sehr verschieden. Während die, die metallisch ungedeckten 60 Proz. der Notenzirkulation durch Wechsel deckenden Banken in jeder Beziehung nahe an den Status heranreichen, den man als den Normalstatus einer Notenbank bezeichnen darf, weichen die diese 60 Proz. durch Kantonsgarnntie deckenden Banken von diesem Normalstatus am weitesten ab. Bei den ersteren sind Notenzirkulation und alle sonstigen kurz- fälligen Verbindlichkeiten mit 35*73 Proz. metallisch gedeckt, bei den letzteren mit 16*21 Proz.; die metallische Deckung aller Schulden an Dritte erreicht bei den ersteren 36 bei den letzteren bloß 610 Proz., die bank- mäßige Deckung aller Schulden an Dritte hei den ersteren 95*23 Proz. bei den letzteren bloß 29*85 Proz. Zieht man endlich die gesetzlich festgelegten 40 Proz. der Notenzirkulation von der Summe der Kassenbestände ab, so weisen bei den Wechselbankeu die verbleibenden 60 Proz. der Noten- zirkulation und die kurzfälligen Verbindlichkeiten eine metallische Deckung von 8*32 Proz., bei den Banken mit Kantonsgarantie eine solche von 6*77 Proz. auf.

Diese Verschiedenheiten sind aber nicht allein fflr die einzelnen, schwachsituierten Banken gefahrdrohend, sondern gefährden die Lage des ganzen schweizerischen Notenbankwesens. Wenn einige Banken hundert- tausenden von sofort rOckzahlbaren Passiven einen verfügbaren Kassenhestand von nur wenigen tausend Francs gegenüberzustellen vermögen, so stellen sie hierdurch nicht allein ihre eigene Liquidität in Frage sondern gefährden auch die Stellung der Gesamtheit; den es unterliegt keinem Zweifel, «laß wenn bei einer einzelnen Bank die Fatalität der. wenn auch nur vorübergehenden Zahlungsstockung eintreten sollte, die Wirkungen einer Bolchen auch für alle anderen Banken sich fühlbar machen würden, und zwar in solchem Maße, daß auch für die Zahlungsbereitschaft der mit stärksten Barbeständen aus- gerüsteten Institut« sich, wenn auch allerdings nur vorübergehend, Schwierig- keiten ergeben würden.

Fassen wir nun nochmals den Gesamtstatus aller Banken ins Auge so erregt vorerst der Umstand unsere Aufmerksamkeit, daß von je 100 Francs der Aktiva nur 16*16 auf die Barbestände entfallen, nur 12*65 auf das Wcchselportefeuille, und der ganze Best auf langfristige Anlageu, von welchen wieder die am schwierigsten realisierbaren Hypothekenanlagen, die der Hauptsache nach die Position .andere Forderungen auf Zeit* bilden, 57*08 Proz. ausmachen. Auch hier ist nicht außer Acht zu lassen, daß diese Gliederung der Anlage sich bei den einzelnen Kategorien verschieden gestaltet. Bei den Banken mit Wechseldeckung der Noten entfallen von je 100 Francs der Aktiven 63*31 auf die bankmäßige Deckung, 1204 auf Effekten, und vom verbleibenden Best nehmen die .anderen Forderungen auf Zeit* nur 9*83 Francs in Anspruch; hingegen beträgt von 100 Francs der Aktiven bei den Banken mit Kantonsgarantie die bankmäßige Deckung nur 26*68 Francs, die EflVktenanlage 7*09 Francs, und die .anderen For- derungen auf Zeit*, der Hauptsache nach also die Hypothekuranlagen,

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32

L&mlmann.

62-90 Francs. In der Mitte zwischen den beiden, ebenso ihrer Bedeutung als der Qualität ihres Status nach, stehen die Banken, die die metallisch nicht gedeckten 60 Proz. ihrer Notenzirkulation durch Hinterlage von Wert- papieren den Koteninhabern sicherstellen.

Zum Zwecke einer abschließenden Beurteilung dieser Zahlen stellen wir dem Gesamtstatus der schweizerischen Emissionsbanken vom 31. De- zember der Jahre 1886 und 1901 den der Deutschen Beichsbank, der Banque de France und der Belgischen Nationalbank von gleichem Datum, und den der Niederländischen Bank vom 31. März der Jahre 1886 und 1902 gegenüber. (Siehe Tabellen S. 35 und 36.)

Zu allererst drängt sich unserer Beobachtung bei Betrachtung dieser Zahlen die Erscheinung auf, daß auf der ganzen Linie die Deckungsver- hältnisse eine Verschiebung nach unten erfuhren. Es sank die metallische Deckung der Noten bei den schweizerischen Emissionsbanken von 53 auf 51 Proz., bei der Beichsbank von 66 auf 59 Proz., bei der Bank von Frankreich von 88 auf 87 Proz., bei der Belgischen Nationalbank von 27 auf 18 Proz. und bei der Niederländischen Bank von 77 auf 61 Proz.; es sank ferner die bankmäßige Deckung aller kurzfälligen Schulden bei den schweizerischen Emissionsbanken von 111 auf 82 Proz., bei der Deutschen Beichsbank von 96 auf 81 Proz., bei der Banque de France von 87 auf 86 Proz.. bei der Belgischen Nationalbank von 95 auf 91 Proz. und hei der Niederländischen Bank von 90 auf 86 Proz. Fragen wir nach den Ursachen dieser Verschiebungen, so erhalten wir eine für die Beurteilung der Qualität des Stätus für die einzelnen Institute verschiedene Antwort. Wir sehen hierbei von der Belgischen Nationalhank ab, die in mancher Beziehung eine Ausnahmstellung einnimmt, da sie einen großen Teil ihrer speziellen Noten- deckung statt in gesetzlicher Barschaft oder Barren in Devisen halten darf; ebenso sehen wir von der Niederländischen Bank ab, bei der die Ver- schiebungen sich in sehr engen Nahmen bewegen und die überhaupt keine bedeutendere Änderungen ihres Status aufweist. Es verbleiben demnach die schweizerischen Emissionsbanken, die Banque de France und die Beichs- bank, für die dieses Sinken des Deckungsverhältnisses erklärt werden soll. Ein Blick auf die tabellarische Übersicht genügt, um die Antwort zu finden: bei der Banque de France und der Deutschen Beichsbank rührt die Verschiebung von der außerordentlich raschen Vermehrung der dem Giro- verkehr zu Grunde liegenden unverzinslichen Depositengelder her, die auf der Sollseite der Bilanz eine bedeutende Steigerung der Position der stets Billigen Verbindlichkeiten nach sich ziehen, während ihnen auf der gegen- überstehenden Seite keine entsprechende Vermehrung der stets verfügbaren Mittel entspricht, und auch aus banktechnischen Gründen nicht in gleich

hohem Grade wie den Noten zu entsprechen braucht; denn es ist ehen der

durch diese unverzinslichen Depositeneinlagen getragene Giroverkehr, der die Differenz zwischen der Summe der Umsätze auf der einen und der

Summe der für diese Umsätze benötigten Zirkulationsmittel auf der

anderen Seite immerfort erweitert und dadurch der Bank die Möglichkeit

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Schweizerische Emissionsbanken und ausländische Notenbanken.

Summarische Bilanzen auf Jahresschluss 1886 und 18U1.

Die Notcnbankfra^e in der Schweiz.

33

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Gliederungs- und Deckungsverhältnisse nach Maßgabe der summarischen Berichte.

34

Landm&nn.

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Die Noten bank frage in der Schweis.

35

gibt, hei der Zusammensetzung ihrer bankmäßigen Deckung das Verhältnis zwischen Bargeld und Wechselportefeuille zu Gunsten des letzteren zu verschieben. Von je 100 Francs der Aktiven betrug denn auch der Kassen- bestand bei der Reichsbank im Jahre 1886 58 Francs, im Jahre 1901 46 Francs, während gleichzeitig der Anteil des Wechselportefeuilles an der Gesamtsumme der Aktiven von 32 auf 44 Proz. stieg. Anderswo liegt die Erklärung bei den schweizerischen Emissionsbanken. Mit wenigen Aus- nahmen gehört der Giro- und Umschreibuugsverkehr nicht in den Kreis ihrer Geschäfte und es erscheint deshalb von vornherein ausgeschlossen, daß bei ihnen der gleiche Grund wie bei den beiden vorerwähnten Banken zur Erklärung der Verschiebung der Deckungsverhältnisse herangezogen werden könnte. Bei ihnen liegt der Grund in einer von der der anderen Banken völlig abweichenden Entwickelung der Gliederung der Anlage auf der einen und der Entwickelung der Passivgeschäfte auf der anderen Seite. Wohl stieg bei ihnen die Summe der Kassenbestände und der disponiblen Gut- haben von 96 auf 180 Mill. Francs, d. h. fast um das Doppelte, aber andererseits stieg auch die Summe der Notenzirkulation und der stets fälligen Verbindlichkeiten ebenfalls um fast das Doppelte, während das Wechsel- portefeuille lediglich von 203 auf 223 Mill. Francs stieg, und somit die bankmäßige Deckung der kurzfälligen Verbindlichkeiten von 111 Proz. im Jahre 1886 auf 82 Proz. im Jahre 1901 sinken mußte. Der völlig ver- schiedenartige Charakter dieser Verschiebungen kommt am deutlichsten in der Tatsache zum Ausdruck, daß während die bankmäßige Deckung der Banknoten bei der Deutschen Reichsbank von 124 auf 130 Proz. stieg, sie hei den schweizerischen Emissionsbanken von 223 auf 185 Proz. sank, ob- wohl die Banknoten bei der Reichsbank immer noch 71 Proz. aller kurz- fälligen Verbindlichkeiten, bei den schweizerischen Emissionsbanken nur 42 Proz. derselben bilden. Ebenso sehen wir auf der Seite der Aktiven die ungünstigste Zusammensetzung im Statns der schweizerischen Emissions- banken. Von je 100 Francs der Aktiven entfallen auf die bankmäßige Deckung bei der Deutschen Reichsbank 85, bei der Banque de France 81, bei der Belgischen Nationalbank 81, bei der Niederländischen Bank 77 und bei den schweizerischen Emissionsbanken 24 Francs.

Die einzige Lichtseite, welche die schweizerischen Emissionsbanken aufweisen, ist das Verhältnis zwischen den eigenen Geldern ' Aktienkapital plus Kevervefond) und den Schulden an Dritte: dies ist darauf zurOckzu- fflhren, dass das Gesetz vom 8. März 1881 das Notenkontingent jeder ein- zelnen Bank auf die doppelte Höhe des Aktien- beziehungsweise Dotations- kapitals limitiert, was in der Folge ein starkes Steigen der eigenen Bank- kapitalien bewirkte. Die eigenen Gelder bilden bei den schweizerischen Emissionsbanken rund 14 Proz. der Passiven, hei der deutschen Reichshank nur rund 8 Proz., bei der Banque de France kaum 5 Proz.; es liegt außer aller Wahrscheinlichkeit, auch wenn sehr pessimistisch gerechnet wird, daß annähernd der siebente Teil aller Aktiven der schweizerischen Emissions- banken endgültig verloren gehen könnte und für so viel bieten die eigenen

8*

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36

Landmann.

Gelder Sicherheit. Die schließlich« Liquidität der Banken, auf die es den Gesetzgebern im Jahre 1881 hauptsächlich ankam. erscheint demnach über jeden Zweifel sichergestellt. Dieses Resultat wird auch durch die Prüfung der einzelnen Posten auf ihre Disponibilität hin nicht beeinträchtigt. Es ist aber auch nie in Frage gestellt worden.

Für die anderen in Frage kommenden Punkte ergibt die vergleichende Untersuchung folgendes Resultat: 1. bezüglich der Bardeckung der Noten Zirkulation stehen die schweizerischen Emissionsbanken hinter der Keichsbank, der Ranque de France und der Niederländischen Bank, und nur die Belgische Nationalbank weist hierfür ein noch ungünstigeres Ver- hältnis auf; 2. bezüglich der metallischen Deckung aller kurz- fälligen Schulden nehmen sie ebenfalls den vierten Platz ein und werden auch hier nur von der Belgischen Nationalbank unterboten; 3. be- züglich der metallischen Deckung aller Schulden an Dritte nehmen die schweizerischen Emissionsbanken den letzten Rang ein: sie beträgt bei ihnen 7 Proz.. bei der Belgischen Nationalbank 15 Proz., bei der Reichsbauk 42 Proz., bei der Niederländischen Bank 60 Proz., bei der Banque de France 69 Proz.; 4. bezüglich der bankmäßigen Deck'ung aller Schulden nehmen die schweizerischen Emissionsbanken ebenfalls den letzten Rang ein, und es ist hier die Differenz zwischen ihnen und den sonstigen Banken am allergrößten: sie beträgt 33 Proz. gegenüber einer zwischen 90 und 81 Proz. sich bewegenden Deckung bei den vier übrigen untersuchten Instituten.

Wir fassen das Ergebnis dieser Untersuchungen in den Worten zu- sammen: der Zweck des Gesetzes vom 8. März 1881, die Noteninhaber vor definitiven Verlusten zu bewahren, ist in vollem Umfange erreicht worden; von dem Normalstatus einer Notenbank, der nicht bloß die definitive, sondern die aktuelle Liquidität der Bank jederzeit sichert, haben sich die schweizerischen Emissionsbanken seit dem Inkrafttreten des Gesetzes je länger je mehr entfernt.

Der Wertgang der schweizerischen Valuta kommt am deutlichsten in der Entwickelung des Kurses der Devise Paris zum Ausdruck. Paris ist der Platz, auf dem über den weitaus größten Teil der schweizerischen Verbindlichkeiten im internationalen und besonders im überseeischen Ver- kehr abgerechnet wird. Die meisten Bezüge von Korn, Baumwolle, Seide, Kaffee, Öl, Petroleum u. s. w., die aus Italien, Nord- und zum Teil auch Südamerika, Rumänien, Rußland stammen, können nur durch Rimessen auf Paris reguliert werden; ein Teil der Bezüge, namentlich der aus Indien und Südamerika, wird zwar in London zahlbar gestellt, im Resultate aber fast stets durch Vermittlung des Pariser Platzes beglichen. Betrachten wir nun die Entwickelung des französischen Wechselkurses, so bietet sich uns ein überraschend ungünstiges Bild dar.

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Die Notenbankfrage in der Schweiz.

87

Jahr

Durchschnittlicher

Kurs

Niedrigster

Kurs

Höchster

Kurs

1889 .

. . . 10014

99-90

100-32

1890 .

. . . 10016

100-00

100-32

1891 .

. . . 100-22

100-00

100-45

1892 .

. . . 10010

9985

100-31

1893 .

. . . 10013

99-90

100-39

189 t .

. . . 100 04

99-89

100-26

1895 .

. . . 10010

99S5

100-34

1896 .

. . . 100-24

99-85

100-48

1897 .

. . . 100-35

100-00

100-69

1898 .

. . . 100-36

10012

100-71

1899 .

. . . 100-49

10022

100-80

1900 .

. . . 100-54

100-29

100-80

1901 .

. . . 100 -14

9975

100-52

Diese Zahlen sprechen eine selten deutliche Sprache. Sie bezeugen, daß der Kurs der Devise Paris auf den schweizerischen Börsen seit dem Jahre 1804 bis inkl. 1900') in einem ununterbrochenen Steigen begriffen ist; er erreichte im Jahre 1900 einen Durchschnittsstand, der höher ist, als der höchste Kurs der Jahre 1889 1896, und auch der niedrigste Kurs des Jahres 1900 steht über dem Goldpnnkte und ist höher als der Durch- schnittskurs der Jahre 1889 1896.

Vergleichen wir nun mit dem Kurse der Devise Paris die Kurse auf London und auf die deutschen Bankplätze, so ersehen wir, daß zwischen den beiden letzteren und dem erstgenannten ein vollständiger Parallelismus vorherrscht.

Jahr

Durchschnittlicher Jahreskurs der Devisen auf

Paris >)

London *)

Deutsche Bankplätze4)

1892 .

. . 10013

100-72

12354

1893 .

. . 10013

100-84

123-63

1894 .

. . 10004

100-64

123-38

1895 .

. . 10010

100-96

123-51

1896 .

. . 100-24

100-92

123-71

1897 .

. . 100-35

100-92

123-88

1898 .

. . 100-36

10140

12106

1899 .

. . 100-49

101-32

12391

1900 .

. . 100-54

101-04

123-48

1901 .

. . 10014

100-76

123-33

Zur Erklärung dieser steigenden Tendenz der auswärtigen Wechselkurse wurde vor allem die dauernde Steigerung der Passivität der schweizerischen

*) Die Besserung des Jahres 1901 findet ihre ursächliche Erklärung bei der Dar- stellung der Geldmarktverhältnisse des überhaupt eine Ausnahmestellung einnehmenden Jahres 1901 auf 8. 48. 47.

7) Für 100 Francs.

*) Für 4 Pf. Sterl.

*) Für 100 M.

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88

Land mann.

Handelsbilanz und als deren Folge eine ungünstige Gestaltung des Saldos der Zahlungsbilanz herangezogen.

Es ist bekannt, daß die schweizerische Handelsbilanz sich in den letzten 15 Jahren wesentlich verschlechtert hat. Eine Keilte der das Land sie umgebenden Staaten ist zum Schutzzoll flbergegangen und es konnte in der Folge eine Reihe von Artikeln nicht mehr in den früheren Quantitäten oder überhaupt gar nicht mehr nach Frankreich. Deutschland, Österreich und Italien ausgeführt werden; auf der anderen Seite nahm die Einfuhr der fremden Produkte stets zu und es konnte nicht ausbleiben. daß das Saldo der Handelsbilanz ein immer größeres Minus aufweist. Die Mehreinfuhr, die im Jahre 1885 bloß 47 Mil). Francs betrug, stieg bis zum Jahre 1899 bis auf 363 Mill. Francs. Zur Beurteilung dieser Ziffern darf allerdings nicht unerwähnt bleiben, daß die Steigerung der Mehreinfuhr nur zum weitaus geringsten Teile auf die Steigerung der Einfuhr von Fabrikaten zuröckzuführen ist, vielmehr in der Hauptsache ihren Grund in der seit Mitte der 90er Jahre in der Schweiz vor sich gehenden bedeutenden wirt- schaftlichen Expansion findet, die die Festlegung größerer Mittel in aus- ländischen Maschinen etc., eine gesteigerte Bautätigkeit und einen sehr gesteigerten Bedarf nach ausländischen Rohstoffen und Halbfabrikaten nach sich zog. Gegenwärtig sind auch schon die Früchte der Gründung neuer und der Erweiterung der bestehenden Industrien zu erblicken. Seit Mitte des Jahres 1898 ist der Export der Schweiz unausgesetzt von Quartal zu Quartal gestiegen; wäre nicht der gewaltige Aufschlag in den Preisen der Roh- stoffe eingetreten, so wüide schon int Jahre 1899 eine Abnahme der Mehreinfuhr zu konstatieren gewesen sein; trotz dieser, noch 1900 andauernden Hausse sank der Betrag der Mehreinfuhr von rund 363 Mill. Francs im Jahre 1899 auf 375 Mill. Francs im Jahre 1900 und auf 213 Mill. Francs im Jahre 1901.

Betrachten wir die ziffermüßige Entwickelung des Saldos der Handels- bilanz mit der Entwickelung des französischen Wechselkurses, so ist ein Parallelismus zwischen den beiden Entwickelungsreihen unverkennbar.

Jahr

Einfuhr (

1

Ausfuhr

übem-hull der Einfuhr

Mehreinfuhr in Proz. der

Durch* schnittakure der Devise

i n

Mill. F r a n c 8

auf Paris

1895

915*85

663 8G

252-49

381

100-10

1896

993-85

668*26

305-59

457

100-24

1897

1081-21

693-17

338-04

48-8

100-35

1898

1065-30

728-82

841-47

47-2

100-36

1899

1159 94

796-01

863-93,

31-5

100-49

1900

1111-11

836-08

27.V03

32-8

100-54

1901

1050 00

836-56

213-43

25-5

100-14

1902')

529-

417-85

111*16

26-8

100 39

*) Erstes Halbjahr; provisorische Werte.

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Die Notenbankfrage in der Schwein.

39

Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß diesem Parallelismus ein Kausalnexus zwischen den beiden Erscheinungen, der Verschiebung des Saldos der Warenbilanz und der Gestaltung der auswärtigen Wechselkurse, zu Grunde liegt. Zu ihrer Erklärung diente in der Schweiz längere Zeit hindurch eine .Verschulduiigstheorie*, die mit einer scharfen Zuspitzung auf die Warenbilanz am geschicktesten von Dr. Geering1' vertreten wurde; er erblickt in der Handelsbilanz den ziffermäßig am sichersten greifbareu und fflr die Schweiz den weitaus wichtigsten Teil der Zahlungsbilanz und nimmt daher keinen Anstand, die Bewegung der schweizerischen Wechselkurse im besondern Maße vom Saldo der Handelsbilanz abhängig zu erklären.

Gegen Ende der !>0er Jahre beginnen die der G e e r i n g’schen Theoiie gegenflberstehendcn skeptischen Stimmen laut zu werden.’) Der Jahresbericht des schweizerischen Handels- und Industrievereines fflr das Jahr 1898 bemerkt: ,Es scheint fast, als ob die ungflnstige Handelsbilanz der Schweiz gegenüber dem Auslande zur Begründung der Entwertung der Valuta nicht mehr aus reichte.* Die weitere Entwickelung scheint die Geering’sche Theorie nicht zu stützen: nach der in den Jahren 1899 und 1900 eingetretenen beispiellosen Besserung der schweizerischen Handelsbilanz ist der durch- schnittliche Jahroskurs der Devise Paris nicht entsprechend gesunken, und sein Sturz im Jahre 1901 kann nicht ausschließlich durch die Besserung der Handelsbilanz erklärt werden. In einer anderen Variante wurde die Verschuldungstheorie von W. Speiser vertreten, der im Gegensätze zu Geering den Hauptnachdruck nicht auf die Passivität der Schweiz im Warenverkehr«, sondern auf die Passivität in der internationalen Kapital bilanz legte. Er schiebt die starke Verschuldung der Schweiz dem AuBlande gegenüber in den Vordergrund, die auf die starke Beteiligungen ausländischer, besonders französischer Kapitalien an schweizerischen Unternehmungen, und auf den sehr bedeutenden Anteil der im Auslande, speziell in Frankreich untergebrachten schweizerischen Wertpapiere zurflekzufflhren ist. Das durch die, die Unternehmungslust im eigenen Lande einschläfernde Wirtschafts- politik Herrn M e 1 i n e s freigewordene französische Kapital habe sich dem Auslande, und aus einer Beibe teils historischer, teils wirtschaftlicher Gründe in ganz besonders hohem Grade der Schweiz zugewendet, und zwar ebenso in der Form fester Anlagen, als zur vorübergehenden Verwendung. Die in der Folge nach Frankreich zu leistenden Zinszahlungen, die nach Frankreich remittierten Dividenden und endlich die gelegentlich vorkommenden Kapitalsrückzahlungen steigern in sehr hohem Grade den Umfang der nach Frankreich zu leistenden Zahlungen und damit natürlich auch den Stand der Devisenkurse.

') Geering, Die Statistik der auswärtigen Wechselkurse, Zeitschrift für schwei- zerische Statistik. 1897, 6. Lieferung, und Derselbe, Die Vaintsfrage, Separatabdruck aus der Neuen Züricher Zeitung vom 8 20. Juni 1900.

’) Eggenberger, Zur Beurteilung unserer Handelsbilanz, Schweizerische Blatter fflr Wirtschafte- und Sozialpolitik, 1898, 8. 3 l't ff .

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40

Landiuann.

Was von vornherein gegen die , Verschuldungstheorie* in der von Geering vertretenen Fassung zu sprechen scheint, ist die Tatsscfce. daß wenn die schweizerische Volkswirtschaft tatsächlich von Jahr zu Jahr so erhebliche Defizite machen würde, wie es der durch diese Theorie erklärten Hohe der auswärtigen Wechselkurse entspräche, dies notwendigerweise im Lande selbst nach zwei Seiten hin uicht ohne Wirkung verbleiben könnte: es müßte mit Notwendigkeit zu einer Abnahme der Steuerkraft des Landes und zu einer Verschlechterung der Lebensführung der breiten Massen des Volkes fahren. Nun ist aber in fast allen Kantonen die Steuerkraft in einem kon- tinuierlichen Steigen begriffen, und es läßt sich kaum beweisen, daß die steigenden Anforderungen an den Standard of life, von Rückschlägen in Zeiten der Krise abgesehen, nicht befriedigt werden könnten.

Beide Theorien sind wohl geeignet, eine Erklärung der steigenden Devisenkurse zu geben, keine der beiden genügt aber, um die Tatsache zu erklären, daß der Kurs der Devise Paris sich in den Jahren 1896 bis 1900 im Jahresdurchschnitte um 4 (1896) bis 34 (1900) Punkte über dem Goldpunkte zu halten vermochte, daß die Kursmaxima lange Zeit hindurch über dem Goldpunkte standen und daß selbst die Kursminima in den Jahren 1899/1900 den Goldpunkt nicht erreichen konnten.

Eine Erklärung dieser Erscheinung gab zum ersten Male Kalkmanu in seinen .Untersuchungen über das Geldwesen der Schweiz und die Ursachen des hohen Standes der auswärtigen Wechselkurse*, die zwar von mancher Seite einer scharfen Kritik begegneten, bis heute aber keine Widerlegung erfuhren. Seine Ausführungen liegen den nachfolgenden in der Hauptsache zu Grunde, ohne daß wir aber seinen Standpunkt in allen Details zu teilen vermöchten.1)

Das System der Goldprämienpolitik der Bank von Frankreich ist bekannt; es ist auch bekannt, daß die Goldprämienpolitik bisher in Frank- reich selbst keine ungünstigen Folgen hatte, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil Frankreich, angesichts des günstigen Saldos seiner Zahlungs- bilanz, einer Goldprämienpolitik eigentlich nicht bedarf.’) Bei dem zeitweilig sich umstellenden größeren Geldbedarf für Zahlungszwecke nach dem Aus- land macht es der mit Gold gesättigte französische Geldumlauf möglich, Gold aus dem freien Verkehre zu ziehen, wodurch dem Steigen der Gold- prämie eine Grenze gesetzt ist: zur Zeit dauernd ungünstiger Gestaltung des internationalen Geldmarktes hat die Bank von Frankreich stets die Goldprämienpolitik verlassen und zu einer Diskontoerhöhung schreiten müssen, da die Goldprämienpolitik nicht im stände war, die Goldbestände zu verteidigen.

Anders sind die Wirkungen der französischen Goldprämienpolitik auf die Schweiz, die als Mitglied der lateinischen Münzkonvention in inniger Verbindung zum französischen Geldmarkt« steht, und infolge ihrer ßank-

*) Kalkmann, a, a. 0., passim.

’) Itosendorff, Die Goldprämienpolitik der Banque de France und ihre deutschen Lobredner, Conrads Jahrbücher, Ul. F.. XXI. Bd , S. 682 ff.

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Die Notcnbaulifrago in der Schweiz.

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Verfassung zwar die Nachteile, nicht aber die Vorzüge dieser Verbindung geniefit.

Seit Jahren rüstet man sich in der Schweiz für den Übertritt zur Goldwährung und in Anbetracht dieses bevorstehenden Währungsweehsels und der starken Entwertung der silbernen 5 Francs-Stücke sahen sich die Banken veranlaßt, ihre Silberbestände abzustofien. Während ihre gesamte Metallreserve vom Jahre 1883 bis 1901 von 57 auf 117 Mill. Francs stieg, sanken im gleichen Zeiträume die Silberbestände von 35 auf 11 Mill. Francs und bilden gegenwärtig nur noch etwa 10 Proz. der gesamten Barbestände.

Es sind nun zwei Gründe, die die Banken veranlassen, trotz dieser reichen Goldbestände kein Gold in die Zirkulation zu setzen und die im Resultate dazu führen, daß die Schwankungen des Barvorrathes sich fast ausschliefilich an den Silberheständen vollziehen. Die Banken halten das Gold fest, um bei Einführung der Goldwährung gerüstet dazustehen und sind obendrein durch die französische Goldprämie zu dieser Politik gezwungen.

Da infolge der Bestimmungen der lateinischen Mttnzkonventiou die französischen und schweizerischen Goldmünzon und silbernen 5 Francs-Stücke in beiden Ländern unbegrenzte Zahlungskraft haben, so würde der französische Verkehr beim Vorhandensein einer Goldprämie in Paris und bei gleichzeitig vorhandener Möglichkeit, an den Schaltern der schweizerischen Banken Gold ohne Prämie zu erhalten, seine gesamten Zahlungsverpflichtungen nach dem Auslande auf dem Umwege über die Schweiz begleichen; die inter- nationale Arbitrage würde gewiß auch nicht versäumen, Vorteil aus einer derartigen Sachlage zu ziehen, sie würde aus Frankreich Silbergeld nach der Schweiz versenden, es hier al pari gegen Gold einwechseln, das Gold dann nach Frankreich importieren, dort mit einem Aufgeld verkaufen, und diese Operationen würden sich so lange wiederholen, bis der Goldbestand der schweizerischen Banken auf Nichts geschmolzen wäre. Ist nun die Schweiz Deutschland oder England gegenüber zahlungsverpflichtet, oder bewirken Differenzen zwischen der Anspannung des schweizerischen und der der fremden Geldmärkte Kapitalabfluß nach dem Ausland und übersteigt der Betrag der nach dem Auslande zu leistenden Zahlungen die Summe der in der Schweiz befindlichen Devisen, so muß der Fehlbetrag durch Gold- versendung erfolgen. Da aber die Notenbanken kein Gold al pari heraus- geben, dieses auch im Verkehre nicht vorhanden ist und deshalb nicht, wie in Frankreich, aus dem Verkehre gezogen werden kann, so erhöhen sich die Kosten des Goldexportes um den Betrag der Goldprämie, was im Besultate gleichbedeutend ist mit einer Erhöhung des Goldpunktes um den gleichen Betrag. Da jedoch stets die Möglichkeit vorhanden ist, mit den Silber- münzen des lateinischen Mflnzbundes gegen Bezahlung der Prämie Gold aus Frankreich zu beziehen, so ist dem Steigen der Devisenkurse auf die dem lateinischen Mflnzbunde nicht angehörenden Staaten eine obere Grenze gesetzt, die stets gefunden werden kann, wenn man dem Betrage der Kosten der Versendung von Gold aus Frankreich nach dem die Zahlung empfangenden Lande und der Umwandlung derselben in Zahlungsmittel des betreffenden

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LamiinRnn.

Landes den Betrag der Versendungskosten des Silbers aus der Schweiz nach Frankreich und den der in Paris zu bezahlenden Prämie zuzählt.

In der Zugehörigkeit der Schweiz zur lateinischen Münzkonvention und in den Wirkungen der französischen Goldprämienpolitik Hegt demnach die Erklärung der Steigerung der Devisenkurse auf alle dem Münzbunde nicht angehörenden Staaten über den Goldpunkt. Die Frage ist nun: wie ist die Tatsache zu erklären, daß auch der Kurs der französischen Devisen trotz der Währungseinheit die Goldpunkte so beträchtlich überschreiten konnte?

Der Zahlungsverkehr zwischen der Schweiz und Frankreich gestaltet sich in der Regel in der Weise, daß die zu leistenden Zahlungen durch Devisen und Checks nach Frankreich remittiert werden. Da in der Regel aus den aHsgefflhrten Gründen der Betrag der nach Paris zu leistenden Zahlungen größer ist als der Betrag der schweizerischen Guthaben, so kann die Nachfrage nicht gedeckt werden und der Kurs der Devise Paris schnellt empor. Erreicht er 100 25. so wird Silbereiport nach Frankreich rentabel.

Die meisten großen Notenbanken, so vor allem die Deutsche Reichs- bank und die Österreichisch-Ungarische Bank gehen in ähnlichen Situationen folgendermaßen vor: sie werfen einen Teil der in ihren Portefeuilles liegenden Devisen auf den Markt, wodurch der Kurs der Devise gedrückt wird und die Gefahr eines Goldeiportes fürs nächste abgewendet ist. Diese den Devisenkurs drückende Wirkung der Devisenverkäufe seitens der Zentral- bank wird durch ein weiteres Moment unterstützt: da eine langjährige Erfahrung lehrt, daß im Augenblicke, wo die Reichsbank z. B. englische Devisen zu verkaufen beginnt, der Devisenkurs auf London schon seinen Höhepunkt erreicht hat und eine weitere Steigerung nicht mehr wahr- scheinlich, vielmehr ein Sinken des Kurses mit Sicherheit zu erwarten ist, so hat sich die Gewohnheit herausgebildet, daß, sobald die Reichsbank Devisen abzugeben beginnt, auch alle anderen Institute dasselbe tun, da sie wissen, daß in diesem Augenblicke der beste Kurs zu erzielen ist. Durch dieses Steigen des Angebotes sinkt natürlich der Kurs der Devise und wenn es sich wirklich nur um eine momentane ungünstige Verschiebung des Wechselkurses handelte, so ist auch die Gefahr des Goldabßusses beseitigt, ohne daß die Reichsbank es uötig gehabt hätte, ihren Diskont- satz zu erhöhen.

Dieser Politik direkt entgegengesetzt ist die der schweizerischen Noten- banken iD den gleichen Fällen. Die Bardeckung des Notenumlaufes beträgt, wie vorhin ausgeführt, etwa 50 bis bestenfalls 55 Proz., wovon etwa 40 Proz. der jeweiligen Zirkulation unangreifbar sind. Da diese Bardeckung obendrein zu etwa 90 Proz. aus Gold besteht, die Banken aber den Goldvorrat nicht angreifen dürfen, es sei denn auf die Gefahr hin, den Goldbestand an Frankreich abgeben zu müssen, so ist es in Wirklichkeit der auf 86 Banken zersplitterte minimale Silberbestand, auf dem der gesamte gchweizerisch- französische Zahlungsverkehr basiert. Überschreitet der Kurs der Devise Paris 100'20/25 und wird infolge dessen Silber zum Eiport entzogen, so müssen die schweizerischen Notenbanken, um nicht ganz ohne verfügbare

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!>ic Xotenbankfrage in der Schweir.

48

Barschaft dazustehen, Wechsel auf Frankreich kaufen, uni das ihnen ent- zogene Silber so bald als möglich nieder zu importieren. Während also die Keicbsbank oder die Österreichisch-Ungarische Bank im Augenblicke, wo der Goldpunkt überschritten wird, Devisen zum Verkauf anbieten, um dadurch den Kurs zu drücken, treten die schweizerischen Emissionsbanken bei der gleichen Situation selbst als Devisenkäufer auf und treiben durch ihre Ankäufe den Kurs nur umso höher hinauf.

Dies die Erklärung der Möglichkeit einer Überschreitung des Gold- punktes der Devise Paris trotz vorhandener Währungseinheit: die durch Silberexporte eintretende Entlastung des Wechselmarktes wird durch die Devisenaukäufe seitens der Emissionsbanken kompensiert. Für die Steigerung des französischen Wechselkurses ist keine obere Grenze mehr vorhanden, denn jeder Export von Silber nach Frankreich zieht eine neue Steigerung der Nachfrage nach französischen Wechseln nach sich und parallel damit ein weiteres Steigen des Kurses dieser Devise. Trägt schon die Abhängigkeit des Wertganges der schweizerischen Valuta von der Höhe der französischen Goldprämie viel dazu bei, daß der Goldpunkt, eine sonst stabile Größe, in der Schweiz einen variablen Charakter aufweist und parallel mit der Höhe der Pariser Goldprämie steigt und fällt, so hat die vorhin geschilderte Sach- lage vollends zur Folge, daß für die Steigerung des Kurses der Devise Paris der Goldpunkt überhaupt nicht mehr in Betracht kommt und daß die schweizerische Währung in dieser Hinsicht völlig den Charakter einer unterwertigen Papierwährung aunahm.

Es konnte nicht lange ausbleiben, und die Spekulation begann diese Situation auszunfltzen. Wir denken dabei nicht an die Ausfuhr von Metall- geld zur Tilgung von geschäftlichen Verbindlichkeiten, vielmehr an den berufsmäßigen Transport silberner 5-Fiancsstücke über die französische Grenze, der in den Geschäftskreisen als .Drainage* bezeichnet wird. Der ganze Vorgang ist höchst einfach, für den Spekulanten mit keinem Kisiko verbunden, und trägt einen zwar nicht großen aber sichern Gewinn, der durch die Möglichkeit einer sehr häufigen Wiederholung der Spekulation nicht unbeträchtlich gesteigert werden kann. Die Manipulation ist die folgende: der Spekulant präsentiert an den Schaltern einer schweizerischen Emissionsbank schweizerische Banknoten und läßt sich diese, wozu die Bank gesetzlich verpflichtet ist. in Hartgeld einlösen; dieses Hartgeld spediert er über die französische Grenze, wo es ebenfalls gesetzliches Zahlungsmittel ist. tauscht es dort gegen Noten der Bank von Frankreich ein oder kauft dafür Checks auf Paris. Diese bringt er nach der Schweiz, wo es ihm nie schwer fällt, sie wieder zu verkaufen, was mit einem, je nach der Höhe des Kurses der Devise Paris größeren oder kleineren Gewinn verknüpft ist. Die in Zahlung erhaltenen schweizerischen Banknoten werden an den Schaltern einer schweizerischen Emissionsbank wieder in Hartgeld nmgetausclit, und das Ge- schäft beginnt von neuem. Die zweifellose .Legitimität“ der Drainage macht jeden direkten Kampf gegen sie unmöglich. Die kleinen Mittelchen aber, deren sich anfangs die Banken gegen sie bedienten, konnten keinerlei Wirkung augülren.

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4

Laadmann.

Über den Umfang dieser Schiebungen mag die nachfolgende Tabelle eine Auskunft geben : *)

Ein- und Ausfuhr von .Silbergeld aus. beziehungsweise I

nach der Schweiz in Mill. Francs ! Wechselkurs auf

Jahr

J Paria

Gesamtverkehr

Schwei g.-frausö«iMh*r Verkehr

Einfuhr

Ausfuhr

Mahr *3 (+) oder Minder = (-) Einfuhr

Ein-

fuhr

Aus-

fuhr

Mehr- Durch-

ei.fnhr „choitt

1892

SIS

266

+ * 7

27-9

24-2

4- 3-7 100-10 100-31

1893

33 &

42-6(31 2) 91 (4-2*3)

29-7

27-3

+ 2-4 100 13 100-39

1894

26-3»)

340(16 5)

- 7-7 (+9-8)

22-6

141

4- 8-5| 100 04 100-26

1895

44-2

23-9

4-20-3

41-9

20-8

4-211; 100 10 100-34

1896

49-3

28-6

+20-7

47-6

27-3

f 20-3 100-24 100-48

1897

67 '0

37-2

+29-8

53-3

34-1

4-19-2 100-35 100-69

1898

76-9

40-5

-f3«-4

68-9

37-2

4-81-7 100-36 100-71

1899

110-2

453

4-649

1030

41-7

4-61-3 10049 100-80

1900

840

32-0

4-52-0

75-5

28-2

4-47-3: 100-54 100-80

1901

343

11-3

4-23-0

80-2

8-7

+21-.3 100 14 100-52

1902*)

27 4

8-5

18-9

28-9

8-0

+ 15-9 100-39 100-70

Über die Ursachen dieser exorbitanten Vorgänge im schweizerisch- französischen Metallgeldverkehr brauchen wir an dieser Stelle kein weiteres Wort zu verlieren; ihre Erklärung ist im vorstehenden gegeben worden.4)

*) Bei der Beurteilung der vorstehenden Zahlen darf nicht auUcr Betracht gelassen werden, da 13 die EinfuhrziffVrn einen viel zuverlässigeren Maßstab darstellen als die AQsfuhrzahlen. l>a die Drainage sich der Ausfuhrkontrolle ihrem ganzen Wesen nach zu entziehen bestrebt ist, entgeht sie zum weitaus größten Teile den Organen der Handelsstatistik. Während somit dieser Maaßtab versagt darf die Einfuhr von gemünzten Silber nicht nur als viel zuverlässiger ermittelt, sondern gleichzeitig auch als Ausdruck für die Stärke des Silberabflusses einschließlich der ganzen Drainage angesehen werden. Znr Bekräftigung dieser Ansicht führen wir besonders die Zahlen für das Jahr 1899 an, in welchem die deklarierten Exporte nur um 4'5 Mill. Francs dem Vorjahre gegenüber gestiegen sind, die nicht deklarierten dagegen um zirka 30 Mill. Francs, d. h. nahezu um das doppelte des Vorjahres. Vgl. Öeering, Die Valutafrage, S. 4 ff.

*) Die starken Kiporte der Jahre 1893/94 erklären sich aus der vertragsmäßigen Abstoßung von zirka 29 Mill. Francs italienischer Scheidemünzen. Die einge klammerten Zahlen stellen den Verkehr nach Abzug der schweizerisch-italienischen Umsätze dar.

*) Erstes Halbjahr; provisorische Werte.

4) Einer Erklärung bedarf lediglich die mit dem .Sinken des Kurses der Devise Paris parallel verlaufende Verschiebung der Jahre 1901/02. Wir Anden sie, wenn wir, neben der Verschiebung des Saldos der schweizerischen Handelsbilanz, die Vorgänge auf dem schweizerisch- französischen Geldmärkte ins Auge fassen. Ende Februar 1901 sank der Kur« der Devise Frankreich zum ersten Male seit 2*/^ Jahren wieder unter den Goldpunkt, und hielt sich bis etwa anfangs Oktober auf einem so günstigen Staude, daß Goldbeztige aus Frankreich ohne Aufgeld möglich und zeitweilig sogar für Frank- reich rentabel waren. Forschen wir nach den Ursachen dieser Erscheinung, so finden wir sie im starken Zuflüsse französischer Kapitalien nach der Schweiz zu Anlagezwecken. Nachdem schon im Oktober 1900 eiu Berner Anlehen von 20 Mill. Francs in Paris

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Die Xotenbankfrage in tier Schweiz.

45

Was ihre Wirkungen und ihren Einfluß betrifft, so müssen hierbei zwei Seiten der Frage unterschieden werden: ihr Einfluß auf die Emissions- banken selbst und ihr Einfluß auf die schweizerische Volkswirtschaft.

Für die Emissionsbanken bedeutet diese Sachlage eine so ungeheuere finanzielle Belastung, daß sie sieb, unter dem Drucke dieser Verhältnisse, entgegen allen ihren sonstigen Gepflogenheiten zu einer Verteidigung der Valuta aufrafften, und eine Reihe von Spezialabkommen abschlossen. Wie groß diese Opfer für die einzelnen Banken sind, ist aus der Tat- sache zu ersehen, daß z. B. die Berner Kantonalbank ihre an der französischen Grenze in Pruntrut gelegene Filiale schließen mußte, und daß die Banque de Genfcve. die der Drainage am meisten ausgesetzt war, im Frühjahr des Jahres 1899 auf ihr Notenemissionsrecht verzichtete, nachdem sie in den Jahren 1895 1899 für Bezüge von rund 173 Hill. Francs Silbergeld aus Frankreich nicht weniger als 1.070.000 Francs auf- zuwenden gezwungen war.

Schon im Jahre 1893 trat innerhalb der Konkordatsbanken der Plan zu Tage, die Kosten des Importes von Silbermünzen, welche infolge der geographischen Lage der Banken von Genf, Neuenbnrg, Basel und Bern hauptsächlich von diesen getragen wurden, auf alle Banken, pro rata ihrer Notenemission zu verteilen, da die Bargeldeinfuhr im Interesse der Gesamtheit erfolgt, und auch die Noten, die die Draineure den Grenz- banken zur Einlösung präsentiereu. sich auf alle BaukeQ verteilen.1) Es ist begreiflich, daß die unmittelbar nicht beteiligten Banken lange Zeit

aufgelegt und vom französischen Kapital vollständig aufgenommen wurde, sind im Laufe des Jahres 1901 viel bedeutendere Beträge von Seiten Frankreichs zum Ankauf der beiin Rückkauf der Zentralbalin neu kreierten 4proz. eidgenössischen Eisenbahnrente verwendet worden, die für den französischen Kapitalisten eine günstige Anlage dar* teilt, während sie sich in der Schweiz selbst einer nur mäßigen Vorliebe erfreut. Hierzu kamen endlich auf hunderte Millionen geschützte Überführungen französischer Kapitalien nach der Schweiz, die seitens französischer Orden unter dem Eindrücke des neuen Vereinsgesetzes vorgenommen wurden. All dies bewirkte eine Verschiebung im Angebot und Nachfrage schweizerischer und französischer Wechsel in einer für die Schweiz günstigen Richtung. Wie wenig aber diese ausnahmsweise günstige Sachlage während einiger kurzer Monate an der Totalität der Situation zu Andern vermochte, beweist die Weiterentwicklung seit Oktober 1901. Im Zufluß der französischen Kapitalien trat eine Stockung ein, während sich gleichzeitig infolge starker Investierung dieser Kapitalien in schweizerischen Werten eine vermehrte Zinsen- und Dividendenleistungspflicht nach Frankreich bereits geltend zu machen begann; hierzu kam ein vermehrter Einfuhrbedarf infolge der schlechtem einheimischen Ernten, und so ist denn inzwischen das Disagio der schweizerischen Valuta zeitweilig bis auf 7 Promille gestiegen, was wieder an die Situation der Jahre 1899/900 lebhaft erinnert. Während in den ersten 9 Monaten des Jahres 1901 der Kurs der Devise Paria durchschnittlich 100*11 betrug und sich während der Monate Juli, August und September sogar um 12 15 Punkte unter Pari hielt, stieg er im Durchschnitte des letzten Quartals 1901 auf 100 52. im ersten Quartal 1902 auf 10057. Dementsprechend stellte sich im letzten Quartal 1901 von neuem die Drainage ein, und die seitherige Entwicklung der Verhältnisse scheint den Schluß zu rechtfertigen, daß der schweizerischen Valuta für die nächste Zeit eher ein Sinken als eine Besserung bevorsteht.

*) Gvgai, a. a. 0. S. 39 ff.

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Landmann.

hindurch diesem Plane ihre Zustimmung versagten und erst unter dem Eindrücke der Ereignisse des Jahres 1899 wurde ein von den Grenzbanken ausgearbeiteter Vereinbavungsentwurf angenommen, dessen Restimmungen im wesentlichen die nachfolgenden Bind: „Die Banken kommen überein, denjenigen unter ihnen, welche Barschaft vom Auslande kommen lassen einen Teil ihrer bezüglichen Auslagen zu vergüten. Auf diese Vergütung haben ebenfalls Anspruch die Banken, welche durch besondere Abmachungen den Bareiport verhindern. Das Komitee wird durch ein besonderes Regulativ das Nähere festsetzen. Zu diesem Zwecke verpflichtet sich jede Bank, einen jährlichen Beitrag zu leisten in der Höhe von Mazimum 1 Promille ihrer wirklichen durchschnittlichen Emissionssumme.* Die Vereinbarung trat am 1. Juli 1899 in Kraft. Über ihre Wirksamkeit, die Kosten der Silber- bezüge und die Belastung der Banken vor und nach ihrem Inkraftreten enthält die nachfolgende Tabelle die nötigen Angaben.

Kosten d* r SilberbezQge in Franca

Banqoedu

Commerce

Zdrieher

Bank in Baael

Jahr

Ranqno da Comnirrc#

Züricher

Bank in Baue]

Alle

Jahr

bank

Kantonal - bank

Banken

Heit raff tu den gemeimamen Kotten in Franc«

1897

226.000

75.000

60.000

1900

23.794

26.304

23.496

1901

22.548

25.991

22.375

1899

ZZd.UGV

438.000

170.000

133 000

Betrag der Kdckeralauuncen

1900

365,000

153.151

116.489

896.899

1900

1901

100.333

54419

42.035

16.069

31.975

26.875

1901

80.955

19 941

26.084

170.134

Effektive Belastung

1900

289.014

137.420

108.010

1901

49.084

29.866

21.584

Bedeutungsvoller als diese den Banken erwachsenden Verluste ist die Schädigung der schweizerischen Volkswirtschaft und die Gefährdung des schweizerischen Zahlungsverkehres, die sich aus der, in der Geschichte des Bankwesens wohl vereinzelt dastehenden Erscheinung ergeben, daß die Notenbanken eines Landes mit geordneten Wirtschafte Verhältnissen ihre Zahlungsbereitschaft nur dadurch aufrecht erhalten können, daß sie fort- während und mit großen Kosten, zu den ungünstigsten Bedingungen und mit Schädigung ihres eigenen Wirtschaftsgebietes Metallgeld aus dem Auslande beziehen müssen. Für die schweizerische Volkswirtschaft wirkt diese Entwertung ihrer Valuta in gleicher Weise wie prohibitive Zoll- schranken. Wenn der Jahresbericht der Züricher Seideninuustriegesellschaft für 1898 konstatiert: „Unser Dröge-Import aus Ostindien empfindet das Disagio gegen die französische Valuta als eine bedeutende Erschwerung und Belästigung*, so ist dies lediglich ein Ausdruck für die allgemein vorhandene, wenn auch vielleicht nicht allgemein empfundene Belastung des Bezuges aller ausländischen Waren, die auf Grund der Ausweise der

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Die Notenbank frei.'*- in der Schweiz.

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Handelsstatistik bei einem Disagio von 6 7 Promille auf rund eine halbe Mill. Francs im Durchschnitte der letzten Jahre berechnet wird.

Für den schweizerischen Zahlungsverkehr bedeuten die geschilderten Verhältnisse die ständige Gefahr einer im Gefolge einer Geldkrisis drohenden Zahlungseinstellung der Notenbanken. Es ist blott nötig, daß durch ein starkes Anwachsen der Spekulation, im Vereine mit anderen ungQnstigen Momenten, eine solche Steigerung des Silberexportes eintritt, daß die Notenbanken gezwungen sind, Gold abzugeben und ftlr Wechsel auf Frankreich jeden Preis zu zahlen, daß die Differenz zwischen Wechselkurs und Goldpunkt die Entnahme größerer Mengen Metallgeld aus dem Umlaufe lohnt. Es liegt durchaus nicht außerhalb des Bereiches der Möglichkeit, daß den schweizerischen Notenbanken an einem Tage 10 bis 15 Mill. Francs Metallgeld abverlangt werden. Geschieht dies, und es kann geschehen, wenn der spekulative Silberexport uud die Devisenspekulation planmäßig in großem Maßstabe betrieben wird, dann müssen sich die Banken um jeden Preis mit Metallgeld versehen, sie werden jeden von der Spekulation verlangten Preis für französische Wechsel bezahlen, sie werden sich gegen- seitig in größter Eile ihre Noten zur Einlösung präsentieren: sie müssen Gold für die Ausfuhr hergeben, womit der Export von Bargeld natürlich nur noch einträglicher wird, sie bieten jedem, der ihnen Bargeld für ihre Noten abgibt ein Aufgeld an, und einzelne, besonders exponierte Banken sehen sich vielleicht gezwungen, da sie die 40proz. Notendeckung nicht angreifen dürfen und die Spekulation ihnen neben ihren Noten ebenso gut andere Forderungen zur Honorierung präsentieren kann, ihre Zahlungen einzustellen.

So gelangen wir denn zum Schluß der Untersuchung der Leistungen der schweizerischen Emissionsbanken auf dem Gebiete der Valutapolitik zu einem für sie ebenso ungünstigen Resultate wie bei der Untersuchung des Grades ihrer Liquidität. Der vornehmsten Aufgabe der Notenbanken, der der Verteidigung und Hochhaltung der heimischen Valuta, vermochten sie nicht gerecht zu werden, und wenn sie auch nicht im Ganzen für die ungünstige Gestaltung der auswärtigen Wechselkurse verantwortlich gemacht werden dürfen, so ergaben doch die vorstehenden Untersuchungen zur Genüge, daß sie durch ihre Deckungs- und ihre Anlagepolitik an dieser Gestaltung mitschuldig sind.

3. Der Kampf um die Zentralisierung des Notenbankwesens.

Von politischen und kantonalfiskalischen Rücksichten beeinflußt, gehört das Bankgesetz von 1881 zu jener Art von Koinpromißgesetzen, die schon bei Erlaß niemand ganz befriedigen und von allem Anbeginn an den Keim der Revisionsbedflrftigkeit in sich tragen. Zu wiederholten Malen wurde, be- sonders vom Nationalrat Cramer-Frey. auf das Unbefriedigende des durch das Bankgesetz geschaffenen Zustandes hingewiesen1), und er war es auch,

l) Cramor-Frey, Zur Keform de» schweizeriachen Notenbankweaena, Zürich, 1886; Keller, Die Kegulierung des schweixerisehe» Hanknotenweaena, Wald, 1888; Siedler,

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Landmanu.

der im Nationalrate zum ersten Male die Notwendigkeit einer Reform zur Sprache brachte. Seine am 4. Juni 1885 gestellte Motion lautete: „Der Bundesrat wird eingeladen, die Frage zu prüfen und darüber baldmöglichst Bericht zu erstatten: ob nicht Artikel 89 der Bundesverfassung ira nach stehenden Sinne zu revidieren sei: »Die Gesetzgebung über das Banknoten- wesen ist Bundessache. Der Bund ist befugt, einer seiner Aufsicht und Leitung zu unterstellenden Bank das ausschließliche Recht zur Ausgabe von Banknoten zu verleihen“. In der Begründung der Motion wies Cramer-Frey zuerst auf die durch das Banknotengesetz vermehrten Übelstände, auf die Dnhaltbarkeit und die zum Teile durch das Gesetz geschallenen Gefahreu der schweizerischen Bankverfassung hin; er zeigte sodann, daß das Cbel in dem System der Vielheit der Banken mit ihren verschiedenartigen Aufgaben und widerstreitenden Einzelinteressen wurzle, welches die vitalsten Verkehrs- interessen dem Spiele des Zufalls und der Konkurrenz preisgebe; daß end- lich mit dem System selbst gebrochen werden müsse, da mit bloßen Än- derungen am Banknotengesetz nicht geholfen werden könne.

Mit 71 gegen 43 Stimmen wurde die Motion Cramer-Frey abge- lehnt. Eine Widerlegung hat die Begründung seiner Motion nicht gefunden. Den von ihm ziffermäßig erbrachten Nachweis der Unhaltbarkeit der be- stehenden Zustünde glaubte man mit der Behauptung abtun zu können: .daß die Solvabilität unserer Banken über jeden Zweifel erhaben und der- jenigen jeder Bank des Auslandes vorzuziehen sei.“

Die allernächste Zeit sollte schon den schweizerischen Notenbanken die Möglichkeit geben, die Frage zur Entscheidung zu bringen, ob die gegen sie erhobenen Vorwürfe berechtigt seien oder nicht.*) Schon gegen Ende des Jahres 1886 tauchten Kriegsgerüchte auf und zu Anfang des Jahres 1887 war die politische Situation so düster, daß das eidgenössische Finanzdepar- tement sich veranlaßt sah, an die Emissionsbanken ein vertrauliches Zirkular ddto. 1. März 1887 zu versenden, in welchem die Befürchtung ausgesprochen wurde, daß die stetige und sofortige Einlösbarkeit der Noten in kritischen Zeiten in Hinblick auf die vielerorts unzureichenden Barbestände und den teilweisen Mangel an auderen kurzfälligen oder leicht realisierbaren Aktiven nicht bei allen schweizerischen Emissionsbanken gesichert sei; die Banken wurden im gleichen Zirkular aufgefordert „auf eine Verminderung der Noten- zirkulation hinzuarheiten und gleichzeitig ihre Barreserven zu verstärken, um auch genugsam mit Barschaft versehen zu sein, für den Fall, daß es infolge unerwarteter Ereignisse einmal nicht möglich sein sollte. Barschaft aus Frankreich zu beziehen*: es schloß mit der Erklärung, daß der Bund im Falle kriegerischer Verwicklungen keine Verantwortlichkeit für die Ver-

Zur Revision des Banknotengesetzeg, Luzern, 1887; derselbe. Über die Dringlichkeit der Revision des Banknotengeseue», Luzern, 1888: W. Speiser, Untersuchungen Ober das Bankuoteuwesen der Schweiz, Zeit» chrift für schweizerische Statistik, 1888; J. Wolf, Zur Reform des schweizerischen Banknotenweseus. Zürich, 1888.

b Das schweizerische Banknotenweseu. Gutachten des schweizerischen Handels- und lndustriercreines. Zürich. 1887.

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Die Notenbankfrage in der Schweiz.

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bindlichkeiten der Banken übernehmen könne und sich strikte an die Be- stimmungen des Gesetzes halten müsse. Im Augenblicke, als dieses Zir- kular versandt wurde, oszillierte der Kurs der Devise Paris knapp um den Goldpunkt; der Metallimport aus Frankreich war nur mit nicht unbeträcht- lichen Verlusten möglich, und trotz der von militärischer Seite laut gewor- denen Drohung, es werde die Silberansfuhr verboten werden, konnte man es nicht verhindern, datl mehrere hunderttausend Francs nach Frankreich ab- flossen. Gleichzeitig machten sich auch weitere Geldentzflge an den Schaltern der Emissionsbanken bemerkbar: dem Zirkular des Finanzdepartements folgten unmittelbar, gleichsam zu dessen Bekräftigung, Bezöge von Barschaft und Kündigung der Depositen seitens der Buudesknssen, die zur Bezahlung der Einkäufe der eidgenössischen Verwaltung von Kohlen, Lebensmitteln, Getreide und Fuurage dienen sollten; gleiche Geldentzflge erfolgten auch seitens sonstiger öffentlichen und privaten Verwaltungen und zu ihnen gesellten sich bedeutende Anforderungen, die an die Banken seitens der Privaten und Industriellen gestellt wurden, welche gleich bei Beginn der drohenden politischen Lage sich zum Teil sehr große Barreserven anzulegen bestrebt waren.

Die Krisengeschichte kennt mehrere Fälle, wo eine starke Zentral- notenbank spielend leicht eine derartige Panik in den Anfängen niederzu- halten vermochte.') Es ist nur nötig, daß die Bank, wenn auch bei er- höhten Diskontosätzen, liberal und koulant diskontiert, um in jeder Weise das Aufkommen der Befürchtung zu verhindern, es sei überhaupt kein Geld zu haben. In klassischen, heute noch durchwegs zutreffenden Worten schildert diese Politik der Governor der Bank von England während der Tage der Panik im Jahre 1825; „Wir verliehen von allen möglichen Mitteln und in vorher nie dagewesener Weise; wir nahmen Werte gegen Sicherheit, wir kauften Staatsschatzscheine, gaben Vorschüsse darauf, und diskontierten nicht nur drauf los, sondern machten auch Vorschüsse gegen deponierte Wechsel zu ungeheueren Beträgen; mit allen möglichen Mitteln, die mit der Sicherheit der Bank verträglich erschienen, und manchmal waren wir nicht sehr gewissenhaft, suchten wir dem Geldbedürfnisse nachzukommen. Und nach zwei Tagen eines solchen Verfahrens legte sich die Panik und die City war wieder ganz ruhig.“

Anders war die Politik der Schweizerbanken: mehrere Institute wiesen alle Diskontobegehren rundweg ab, andere erschwerten sie durch exorbitant hohe Sätze und durch eine übertrieben rigorose Prüfung der eingereichten Wechsel: obendrein machte eine Reihe von Banken Schwierigkeiten bei der Noteneinlösung*), was, wenn durchaus nicht zu entschuldigen, so doch zu verstehen ist, da eine Reihe der großen Banken, die mehrere Millionen

'i Landmaun, a. a. 0. S. 144fT.

*) Es sind Fälle vorgekommen, wo die Emiasionabanken, unter Berufung auf den Wortlaut, aber faktisch im Widerspruche zuin Sinne des Artikels 21 des Bankgeseties sich weigerten, für die ihnen per Post zur Einlösung eingcBandten Noten den Gogenwcrt in Metall zuruckzuschicken, indem eie erklärten, sie seien zur Einlösung ihrer Noten nur „gegen Vorweisung an ihren Kassen* verpflichtet.

Zeitschrift fflr Volkswirtschaft, SoclalpoUlIk und Verwaltung. XII. Baad. 4

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I.IQ'imiDD.

Hartgeld in ihren Kellern liegen hatten, hart an der Grenze der 40proz. Notendeckung angelangt war, die sie nicht überschreiten durften. Erat nachdem es bekannt wurde, daß der Bundesrat den Beschluß faßte, für den Fall einer ernsten Verwicklung die Ausgabe von Bundeskassenscheinen anzuordnen, legte sich die Panik, aber mit elementarer Gewalt gelangte in- zwischen flberall die Erkenntnis zum Ausdruck, daß ein auf einer so hohen Stufe der wirtschaftlichen Kultur stehendes Land wie die Schweiz unmög- lich für die Dauer bei dieser, beim geringsten Anlaß den Dienst ver- sagenden Bankverfassung verbleiben köune.

Unmittelbar nach der Klärung der politischen Lage begann mit Wucht der Kampf um Reform. Im April 1887 wurde die Frage in der in Lausanne abgehaltenen Delegiertenversammlung des schweizerischen Handels- und Industrievereines erörtert, und im Oktober des gleichen Jahres erstattete der Verein auf Grund einer von ihm veranstalteten Enquete dem Bundes- rate ein Gutachten über das schweizerische Banknotenwesen. Es wurden ferner im Laufe des Jahres 1887 die Emissionsbanken selbst seitens des BanknoteninspektoratS aufgefordert. Vorschläge zu einer Revision des Gesetzes zu erstatten, von Bankdirektoren und Gelehrten wurden Gutachten eingeholt und im ganzen Lande eine Reihe von Versammlungen abgehalten.

In dem für die damals herrschenden Ansichten typischen Gutachten des schweizerischen Handels- und Industrierereines standen sich zwei An- schauungen entgegen. Die eine kam zum Teile im Resume des Vorortes selbst zum Ausdruck, das zwar im Postulat der Errichtung einer Zentral- bank gipfelte, aber auch den Fall vorsah. dass dieses Postulat nicht durch- dringen könnte und für diesen Fall die als Minimum anzusehenden Kevisions- begehren darlegte. Als solche wurden bezeichnet: 1. Erhöhung des Minimums des eingezahlten Kapitals jeder zur Notenausgabe berechtigten Bank auf mindestens 2 Mill. Francs; 2. Erhöhung der speziellen Metalldeckung der Noten von 40 Proz. der Emissionssumme auf 50 Proz. der Zirkulation unter gleichzeitiger Auf- hebung der unbedingten Unangreifbarkeit der Bardeckung und Ermächtigung der Banken, unter Anzeige an das Banknoteninspektorat für die Dauer von höchstens acht Tagen die Bardeckung bis auf 80 Proz. der Zirkulation sinken zu lassen; 3. Deckung der übrigen ßO Proz. der Notenzirkulation und des gesamten Betrages der stets fälligen Verbindlichkeiten durch das Wechsel- portefeuille; 4. Beschränkung des Geschäftskreises, bezw. Ausscheidung der für eine Notenbank nicht geeigneten Geschäfte; 5. Erhebung der Noten- steuer vom durchschnittlichen Zirkulationsbetrage, an Stelle der bisherigen Erhebung von der bewilligten Emissionsumme.

Die zweite Richtung, die vornehmlich durch die Nationalräte Cramer- Frey, Joos und Cur ti vertreten war. stellte sich die Begründung einer zentralen Notenbank zur Aufgabe, wobei die Nationalrate Joos und Cnrti die Be- gründung einer Staatsbank, Nationalrath Craraer-Frey die einer privaten Zentralbank im Auge hatten; Voraussetzung hierfür war die Abänderung des Artikels 39 der Bundesverfassung.

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Der Bundesrat selbst wartete mit der Ausarbeitung eines Gesetzes- entwurfes, bis das damals in Beratung stehende Bundesgesetz Ober Schuld- betreibung und Konkurs, welches einem wesentlichen Teile des Banknoten- gesetzes zur Basis dienen sollte, verabschiedet war. Inzwischen wurden Vor- arbeiten in Angriff genommen, eine Kommission nach Bern einberufen und ihr ein Vorentwurf zur Beratung und Begutachtung vorgelegt. Erst am 23. Juni 1890 wurde den eidgenössischen Käthen der Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Revision des Bankgesetzes vom 8. März 1881 vorgelegt, in welchem der Bundesrat sich zwar auf die Seite der Befürworter einer bloßen Revision des bestehenden Gesetzes, unter Beibehaltung des Systems der Bankvielheit, stellte, und die vorgeschlagenen Reformen im wesent- lichen auf das Gutachten des schweizerischen Handels- und Industrievereines stützte, gleichzeitig aber in der Botschaft die Neigung zu Gunsten einer Zentralbank durchblicken ließ. Es war nicht zu verwundern, daß bei den vielerlei Interessen, die bei einer Revision notwendigerweise berührt werden mußten, der Entwurf vereinzelt heftigem Widerspruche begegnete. Im all- gemeinen herrschte aber die Ansicht vor. daß eine Revision des bestehenden Gesetzes lediglich als Übergangsstadium zur Monopolisierung des Noten- bankwesens aufzufassen sei.

Indessen ist dieser Entwurf überhaupt nicht zur parlamentarischen Behandlung gelangt; eine Volksbewegung, und die inzwischen in der Bundes- versammlung selbst stark angewachsene Strömung zu Gunsten einer Zentral- bank schoben ihn in den Hintergrund.

Der im April 1890 in Olten abgehaltene allgemeine schweizerische Arbeitertag faßte auf Antrag des Nationalrates Joos die Resolution: „Der schweizerische Arbeitertag spricht die Erwartung aus, daß die eidgenössischen Räte in der kommenden Junisession den Artikel 89 der Bundesverfassung einer Revision unterziehen im Sinne der Einführung des Banknotenmonopols. Sollte dieser Erwartung nicht entsnrochen werden, so wird der schweizerische Arbeiterbund die Sammlung von 50.000 Unterschriften in die Hand nehmen, um auf dem Wege der Volksbewegung die verlangte Verfassungsänderung durchzusetzen. Die schon durch die Botschaft des Bundesrates beein- flußten Mitglieder der eidgenössischen Räte setzten nun zwar in der Junisession je eine Kommission zur Beratung des bundesrätlichen Gesetzes- entwurfes ein, bevor aber diese Kommissionen ihre Arbeiten begonnen hatten, wurde in der Herbstsession der Bundesversammlung im Nationalrate mit großer Mehrheit eine Motion Keller erheblich erklärt, welche den Bundesrat einlud, Bericht und Antrag über die Revision des Artikels 89 der Bundesverfassung im Sinne der Monopolisierung der Notenausgabe und Schaffung eines zentralen, mit dem Notenmonnpol auszustattenden Bank- institutes zu erstatten. Der Bundesrat, der hierfür nur die Initiative der Bundesversammlung abwartete, erstattete schon am 30. December 1890 Bericht und Antrag im Sinne der Motionssteller, und nachdem die Samm- lung von Unterschriften, die von Joos inzwischen eifrig betrieben wurde, zum Resultate führte, daß 82.000 Schweizerbürger das Begehren nach

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Landm&Jiu.

einer Abänderung des Artikels 39 der Bundesverfassung im Sinne eines Monopols und einer Bundesbank stellten, arbeitete der Bundesrat einen neuen Artikel 39 der Bundesverfassung aus. der das Notenmonopol aus- sprach, und die Lösung der Frage der Verwirklichung dieses Monopols der Legislative überließ. Nach langen parlamentarischen Debatten gelangte die Vorlage an das Volk, und am 18. Oktober 1891 wurde mit einem Mehr von 73.000 Stimmen der revidierte Artikel 39 in die Bundesverfassung auf- genommen. Er lautet:

»Das Hecht 7.ur Ausgabe von Banknoten und anderen gleichartigen Geldzeichen steht ausschließlich dem Bunde zu.

Der Bund kann das ausschließliche Hecht zur Ausgabe von Bank- noten durch eine unter gesonderter Verwaltung stehende Staatsbank aus- tlben, oder es, vorbehaltlich des Kfickkaufsrechtes, einer zu errichtenden zentralen Aktienbank flbertragen, die unter seiner Mitwirkung und Aufsicht verwaltet wird.

Die mit dem Notenmonopol ausgestattete Bank hat die Hauptaufgabe, den Geldumlauf des Landes zu regeln und den Zahlungsverkehr zu er- leichtern.

Der Reingewinn der Bank, über eine angemessene Verzinsung beziehungs- weise eine angemessene Dividende des Dotations- oder Aktienkapitals und die nötigen Einlagen in den Reservefonds hinaus kommt wenigstens zu zwei Dritteln den Kantonen zu.

Die Bank und ihre Zweiganstalten dürfen in den Kantonen keiner Be- steuerung unterzogen werden.

Eine Rechtsverbindlichkeit für die Annahme von Banknoten und an- deren gleichartigen Geldzeichen kann der Bund, außer bei Notlagen in Kriegszeiten, nicht aussprechen.

Die Bundesgesetzgebung wird über den Sitz der Bank, deren Grund- lagen und Organisation sowie über die Ausführung dieses Artikels über- haupt das Nähere bestimmen.“

*

*

ln der Botschaft zum Revisionsentwurfe erklärte der Bundesrat. daß obwohl er sich keineswegs der Überzeugung verschließe, es könne durch eine Revision des auf dem System der Vielheit der Banken beruhenden Bankgesetzes eine durchgreifende Reform des schweizerischen Notenbank- wesens nicht erzielt werden, eine solche vielmehr nur durch die Zentrali- sierung der Notenausgabe, durch die Schaffung einer mit dem Notenmonopol ausgestatteten schweizerischen Landesbank zu erreichen wäre, er dennoch nur den Entwurf eines revidierten Banknotengesetzes auf Grundlage des bestehenden Systems einbringe, .weil wir daran zweifeln müssen, daß weitergehende, durchgreifende Reformanträge, denen eine Revision des Artikels 39 der Bundesverfassung voranzugehen hätte, Aussicht auf An- nahme finden würden, und zu befürchten wäre, daß mit der Ablehnung auch diejenigen Verbesserungen an dem gegenwärtigen Zustande, welche

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eine blotäe Revision de3 Gesetzes bringen kann, in die Ferne gerückt würden.“ :i .

Seit der Annahme des neuen Artikels 39 der Bundesverfassung sind nun bald 12 Jahre ins Land gegangen; die im Jahre 1891 vom Bundes- rate geäußerten Befürchtungen trafen vollinhaltlich zu: eg ist bisher den Trägern der schweizerischen Souveränität nicht gelungen, sich auf ein Bank- gesetz zu einigen und die Mängel und Schäden des schweizerischen Bank- notenwesens, die durch eine Revision des Gesetzes zum Teile wenigstens hätten beseitigt werden können, konnten sich ungehindert zu einer direkten wirtschaftlichen Kalamität herausentwickeln.

Das Prinzip des Notenmonopols war ausgesprochen; die Frage: Staats- oder Privatbank blieb der Entscheidung der Legislative überlassen; um diese Frage entbrannte nun ein leidenschaftlicher Kampf, der bald ins politische Gebiet überschlug. In unzähligen Brochüren, Flugschriften und Zeitungs- artikeln wurde die Frage erörtert; die großen wirtschaftlichen Interessen- verbände der Schweiz, der Grütliverein, der Bauernbund und der schweizerische Handels- und Industrieverein beteiligten sich intensiv an der Agitation. Der Bundesrat selbst nahm vorerst eine abwartonde Stellung ein und gab den Vertretern der verschiedenen Anschauungen Gelegenheit, sieb zu äußern. Nicht weniger als 10 verschiedene Vorschläge sind nun dem Bundesrate zugegangen: 1. Projekt, eingereicht von den Freunden einer reinen Staats- bank (von Mitgliedern der Bundesversammlung ausgehend': 2. Bemerkungen und Vorschläge von Herrn W. Speiser; 3. Gutachten des Herrn National- rates Forrer; 4. Eingabe des Banknoteninspektorats; 5. Leitende Ge- danken zum Ausführungsgesetz zum Artikel 39 der Bundesverfassung, dem Finanzdepartement eingereicht vom Banknoteninspektor Schweizer; 6. Projekt der Bank in Basel, eingereicht namens der Gruppe der reinen Privatbanken; 7. Gutachten der gemischten Banken, eingereicht durch die Kantonalbank von Waadt: 8. Organisationsprojekt der Gruppe dev Kantonal- banken; 9. Projekt des Herrn Dr. Konrad Esc her; 10. Projekt des Alt- Nationalrates J. J. Keller.

ln diesen verschiedenen Eingaben kamen im wesentlichen drei Gesichts- punkte zum Ausdruck. Für die reine Staatsbank traten der linke Flügel der freisinnigen Partei, vertreten durch Nationalrat Hirter in Bern, die sozial- politische Gruppe der Bundesversammlung, vertreten durch Nationalrat Curti, der schweizerische Grütliverein und der schweizerische Bauernbund ein. Die treibenden Motive waren der allerverschiedensten Natur: bei den einen, so vor allem bei den Fachmännern, die für die Staatsbank eintraten, waren es rechtliche und volkswirtschaftliche Erwägungen, bei den anderen Abneigung gegen das Privatkapital und staatssozialistische Tendenzen, boi der großen Masse Abneigung gegen die Börse und Spekulation und im Hintergründe dies darf nicht verschwiegen werden schlummerten unklare Hoffnungen auf billigen Zins und leichten Kredit. Für eine private Zentralbank traten vor allem die Kreise der haute finance ein und unter der Führung des schweizerischen Handels- und Industrievereines der Handels-

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stand; politisch vertraten diesen Standpunkt der rechte Flügel der frei- sinnigen Partei und unter der Führung von Cramer-Frev das liberale Zentrum und ein Teil der Liberal Konservativen, bei welchen auch die Abneigung gegen eine Verstärkung der Bundesgewalt mitwirkte, ln der französischen Schweiz endlich und in den Kreisen der kantonalen Finanz- politiker erhoben die alten Gegner der Zentralbank die Forderung einei .Notenbank mit föderalistischer Basis* aufs Schild. Sie schlugen die Errichtung einer .Bank der Eidgenossenschaft* vor, die die Noten aus- fertigen sollte, um sie sodann an die bestehenden Emissionsbanken zu ver- teilen; diese worden ihre besonderen Finnen opfern und zu Filialen des Zentralinstituts werden, im übrigen aber ihre Selbständigkeit wahren, eine eigene Direktion und einen eigenen Verwaltungsrat beibehalten, solidarisch lediglich für die Noteneinlösungspflicht haften und in einer Delegierten- versammlung und einem Zentralbureau gemeinsame Organe besitzen.

Bedeutungsvoll für den ganzen weiteren Verlauf der Frage war der im Jahre 1891 vollzogene Wechsel in der Leitung des schweizerischen Finanzdepartements ; auf den Bundesrat Hammer, einen entschiedenen Freund des Gedankens einer mit dem Notenmonopol auszustattenden Privatbank, folgte ein Demokrat, der frühere Vorsteher des Finanzdepartements des Kantons Zürich, Bundesrat Hauser, eine Persönlichkeit mit ausgebreitetem fach- männischen Wissen und von ausgeprägt autoritativem Charakter. Nachdem er zuerst die verschiedenen Vorschläge und Projekte einer sorgfältigen Prüfung unterzogen hatte, trat er zuletzt ganz auf die Seite der Staatshank- freunde und legte schon am 30. November 1893 dem Bundesrate seine Anträge zur Entscheidung der Frage: Staatsbank oder Privatbank? vor, in welchen er sich zu Gunsten der reinen Staatsbank aussprach und gleich- zeitig in einer Reihe von Thesen die Art der Ausführung vorzeichnete. Diese Thesen, auf Grund welcher der Gesetzentwurf nachher ausgearbeitet wurde, lauteten: .Als Sitz der Bank ist Bern in Aussicht genommen.

Hauptaufgabe der Bank ist, durch eine einheitliche und vorsorgliche Diskontpolitik den Geldumlauf des Landes zu regeln und durch Ausbildung des Giro- und Mandatverkehres den Zahlungsverkehr zu erleichtern. Sie hat ferner den ganzen Knssenverkchr des Bandes uneutgeltlich zu besorgen. Der Goschäftskreis der Staatsbank wird zu diesem Zwecke auf denjenigen einer reinen Noten-, Giro- und Diskontobank beschränkt; insbesondere sollen das Darlehensgeschäft in laufender Rechnung (Kreditoren-Kontokorrent), der Hypothekarverkehr, das Sparkassewesen, An- und Verkauf von Wertpapieren für Rechnung Dritter den Kantonalbanken beziehungsweise Privatbanken erhalten bleiben. Die Kantonalhanken, welche sämtlich kantonalen Gesetzen unterworfen und kantonalen Behörden verantwortlich sind und Geschäfte betreiben, welche der Staatsbank verboten werden sollen, können nicht Filialen dieser letzteren sein. Dagegen wird die Staatsbank vorzugsweise mit den Kantonalbanken in enge Verbindung treten betreffend die Rück- diskontierung von Wechseln, die Belehnung von Wertpapieren, den Verkehr in Check- und Girorechnung, den Inkasso- und Mandatverkehr. Die Staats-

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bank ist ferner befugt, bereits bestehende Notenbanken (staatliche oder private) mit Aktiven und Passiven, soweit sich deren Übernahme mit dem der Staatsbank vorgeschriebenen Geschäftskreis verträgt, vertraglich zu erwerben und als Filialen der Staatsbank zu organisieren. In diesem Sinne sind mit der Inkrafttretung des Ges-etzes die Unterhandlungen zu eröffnen. Die unentgeltliche Besorgung des Kassewesens des Bundes ist nicht als blotler Giroverkehr zu betrachten, sondern als eine Verpflichtung der Staats- bank und als ein besonderer Geschäftszweig derselben zn behandeln; sie ist zu verpflichten, für Rechnung des Bundes kostenfrei Zahlungen anzunehmen und zu leisten, beziehungsweise die Zahlungsmandate der Staatskasse an ihrer Hauptkasse und allen Filialen einzulösen, immerhin aber nur bis zur Höhe des jeweiligen Guthabens der Staatskasse. Sie kann ferner verpflichtet werden, die Verwaltung der dem Bunde gehörenden Wertschriften zu über- nehmen. Abgesehen vom Zweidrittelanteil am Reingewinn, welchen der Verfassungsartikel den Kantonen zusichert, sollen letztere an der Beschaffung des Gründungskapitals der Staatsbank partizipieren dürfen. Die Verwaltung der Bank soll innerhalb der aufzustellenden gesetzlichen Vorschriften eine durchaus selbständige, jedem Einfluß der politischen Behörden entzogene sein. Immerhin steht die Bank unter der Oberaufsicht und Kontrolle der Bundesversammlung. Nach Ablauf einer angemessenen Frist für den Rück- zug der alten Noten wird die Staatsbank zur Einlösung aller noch zirku- lierenden Noten verpflichtet, wogegen die bisherigen Emissionsbanken den Gegenwert in bar und Diskontowechseln an erstere abzuliefern haben. Die Bestimmung des gegenwärtigen Bankgesetzes, daß nach Ablauf einer 30jährigen Frist der Gegenwert der nicht zur Einlösung vorgewiesenen Noten dem schweizerischen Invalidenfonds verfalle, wäre auch in das neue Gesetz wieder aufzunehmen.*

In der Sitzung des Bundesrates vom 21. Jänner 1891 gelang es dem Bundesrat Hauser eine Abstimmung des Bundesrates zu erzielen, in welcher mit 3 gegen 3 Stimmen und Stichentscheid durch das Votum des Präsidenten die Thesen des Finanzdepartements angenommen und dieses beauftragt wurde, den Entwurf eines Staatsbankgesetzes auszuarbeiten. Das Finanzdepartement legte nun am 24. Mai 1894 dem Bundesrate einen Gesetzesentwurf vor, der vom Bundesrate in der Sitzung vom 5. Juli 1894 behandelt und angenommen und sodann von dieser Behörde mit Botschaft vom 23. Oktober 1894 der Bundesversammlung vorgelegt wurde. Der Nationalrat, der in dieser Angelegenheit die Priorität batte, beschloß in der außerordentlichen Frühlingssession 1895, unter Ablehnung der Rück- weisungsauträge, das Eintreten auf den bundearätlichen Entwurf und ging in der nächsten Sommersession zur Einzelberatung über. Die hauptsäch- lichsten vom Nationalrate am bundesrätlichen Entwurf vorgenommenen Änderungen bestanden iu Zugeständnissen an die Kautone und betrafen die Teilnahme derselben an der Beschaffung des Grundkapitals und der Wahl des Bankrates, die Herabsetzung der Verzinsung des Grundkapitals von 4 auf 37j Proz. und die Erhöhung des Anteils des Kantone am Reingewinn

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Landmann.

von zwei Drittel auf drei Viertel. Im Dezember 1895 kam die Vorlage an den Ständerat, der den meisten der vom Nationalrate angenommenen Ände- rungen zustimmte, sich jedoch fflr die Wahl aller Mitglieder des Bank- rates durch den Bundesrat und die Zuweisung des ganzen Beingewinnes an die Kantone auBsprach. In der nächsten außerordentlichen Märzsession und in der Junisession 1896 erfolgte zwischen den beiden Räten eine Verständigung auch Ober diese strittigen l’unkte; es wurde beschlossen, 25 statt nur 15 Proz. des Reingewinnes an den Reservefonds abzufübren, den ganzen verbleibenden Gewinn aber den Kantonen zu überlassen, welchen man 10 Kantonsdelegierte im Bankrate zugestand, wählbar durch ein Wahl- kollegium, in welchem jeder Kanton und Halbkanton durch je ein Mitglied vertreten sein sollte. Das Gesetz wurde vom Nationalrat« in der Sitzung vom 16. Juni 1896 mit 89 gegen 27 Stimmen, bei 3 Stimmenthaltungen und 26 Abwesenden, im Ständerate am 18. Juni 1896 mit 24 gegen 17 Stimmen, bei 2 Stimmenthaltungen, angenommen und mit dem Datum vom 18. Juni 1896 als .Gesetz über die Errichtung der schweizerischen Bundesbank* am 10. Juli 1896 im Bundesblatte veröffentlicht.

Unmittelbar nach der Verabschiedung des Gesetzes wurde seitens der Gegner des Staatsbankgesetzes eine rege Referendumsbewegung ins Leben gerufen,1) an der sich natürlich auch die Gegner der Zentralbank überhaupt in jeder Form lebhaft beteiligten, und angesichts der seit Jahren schon vorhandenen Erhitzung der Gemüter fiel es nicht schwer, in kurzer Zeit mehr als die doppelte Anzahl der gesetzlich erforderlichen 30.000 Unter- schriften aufzubringen. Obwohl schon im Oktober 1896 in der Bundeskanzlei die mit 79.123 Unterschriften bedeckten Referendumsbogen eingelaufen waren, setzte der Bundesrat durch Beschluß vom 30. Oktober die Volksabstimmung erst auf den 28. Februar des nächsten Jahre3 an, während welcher langen Zwischenfrist die Agitationsreisen und Vorträge für das beanstandete Gesetz nicht aufhörten. Ungeachtet dieser Anstrengungen wurde dasselbe jedoch mit 255.984 gegen 195.764 Stimmen verworfen und was noch ausschlaggebender war, von der Mehrheit in 16 Kantonen und Halbkantonen; bejahend stimmte bloß die Volksmehrheit in Zürich, Bern, Glarus, beiden Basel, Schaffhausen, Appen- zell a. Rh., Aargau und Thurgau. Die romanische Schweiz stimmte völlig geschlossen dagegen; in Züiich, Bern. Aargau ergaben sich starke Minderheiten.

Je nach dem politischen Standpunkte, den man einnimmt, wird man das Zahlenergebnis dieser Volksabstimmung verschieden zu interpretieren geneigt sein; das Eine steht aber fest:’) daß die 200.000 Schweizerbürger,

V; Dubois, Une Banque centrale, Chaux de Fonds, 1896; Lombard. Contra la banque d’etat, (lenere. 1896; r. Watten wyl, Staatsbank and Kriegsgefahr Bern, 1896; Richard, (legen die .Staatsbank, Zürich, 1897; r. Wattcnwyl, (legen die .Staatsbank, v. Steiger, Der Sprang ins Ungewisse and Därrenmatt, Eidgenössische Staatsbank und Berner Kantonalbank, in .Zur Tagesfrage!!*, Bern, 1896.

*) Bundesrat Hauser im Protokoll über die Verhandlungen der vom Bundes- rat bestellten Expertenkommission betreffend Ausführung von Artikel 69 der Bundes- verfassung, Bern, 1999, 8. 22 ff.; Hartnng, Die schweizerische Bundesbank, Conrads Jahrbücher, III. K„ XIII. BJ„ 8. 31 ff.

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Die Notenbankfrage in der Schweiz.

die sieh zu Gunsten einer reinen Staatsbank aussprachen, eine homogenere Masse darstellen als die 260.000, die gegen das Gesetz stimmten. Unter den Annehmenden können drei Gruppen unterschieden werden: die Linke, die grundsätzlich gewisse Aufgaben dem Bunde zuweisen will, die über- zeugten .Staatsbankfreunde und endlich diejenigen, und ihre Zahl war nicht gering, welche, nur um den herrschenden Zuständen ein Ende zu setzen, mit ,ja* stimmten, obwohl sie einer Privatbank den Vorzug gegeben hätten. Unter den Verwerfenden können vier Gruppen unterschieden werden: die Kreise der politischen Opposition, die bei jedem Referendum grundsätzlich mit .nein* stimmen und deren Zahl auf etwa 150.000 veranschlagt wird; die zweite Gruppe der Verwerfenden lieferte in der Hauptsache die romanische Schweiz, die von der Bundesbank eine Stärkung der zentralistischen Bundes- gewalt befürchtete und in der unbeschränkten Haftbarkeit des Bundes eine Vermischung des Bundes- mit dem Bankkredite erblickte; bei der dritten Gruppe waren es Erwägungen kantonal-finanzpolitischer Natnr. Befürchtungen einer Schmälerung der Kantonseinnahmen infolge des Sinkens der Rendite der Kantonalbanken; als vierte Gruppe traten endlich die Kreise des schweizerischen Handels- und Industrievereines auf, die grundsätzlich nur einer auf privater Grundlage aufgebauten Zentralnotenbank ihre Zustimmung zu geben bereit waren.

Der Artikel 39 der Bundesverfassung verlangte auch nach der Volks- abstimmung die Schaffung einer zentralen Notenbank und eine ganze Reihe von Anzeichen sprach dafür, daß auch die Gegner des verworfenen Ent- wurfes oder wenigstens ein Teil derselben von der Notwendigkeit der Zentralisierung der Emission trotz des negativen Volksentscheides durch- drungen seien.1)

In der unmittelbar nach der Volksabstimmung abgehaltenen außer- ordentlichen Märzsession 1897 der Bundesversammung sind im Nationalrate gerade aus Kreisen, aus welchen die schärfsten Angriffe gegen die Staats- bank ausgingen, zwei Motionen eingebracht worden, die beide die Errichtung eines zentralen Noteninstituts im Auge hatten. Die erste dieser Motionen. Motion Gaudard und Genossen, lautete: .Der Bundesrat wird eingeladen,

in einer der nächsten Sessionen Bericht und Gesetzentwurf betreffend die Errichtung einer Nationalbank vorzulegen, welche beschränkte Haftbarkeit und eine vom Staate unabhängige juristische Persönlichkeit besitzen und deren Kapital durch den Bund, die Kantone und eventuell die Kantonal- banken geliefert werden soll. Die Nationalbank soll ihren Sitz in Bern haben. Das Gesetz wird den Wahlmodus ffir die Organe der Bank fest- stellen, welche unter der Leitung und Aufsicht des Bundes stehen soll.* Die zweite Motion ging vom Nationalrat C r a m e r- Fr ey, Präsidenten des schweizerischen Handels- und Industrievereines, aus und lautete: .Der Bundesrat wird eingeladen, unter Würdigung des Volksentscheides vom

l) Feibelmann. DU swriierUchen Notenbanken und der gegenwärtige Stand der Zentralisationsfrage. Zeitschrift für die gesamte Staatawissensehaft, 1397, S. 633 tf

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28. Februar 1897 und mit möglichster Beförderung einen neuen Gesetzes- entwurf betreffend die Ausführung des Artikels .89 der Bundesverfassung vorzulegeu.*

Auch der schweizerische Handels- und Industrieverein bat schon während der Campagne gegen das Staatsbankgesetz die förmliche Verpflichtung über- nommen, dem Bundesrate unverzüglich den Entwurf eines neuen, auf dem Boden der zweiten im Artikel 39 vorgesehenen Alternative (zentrale Aktien- bank unter Mitwirkung des Bundes bei der Aufsicht und Verwaltung) stehenden Baukgesetzes vorzulegen. Im Mürz des Jahres 1898 wurde dieser Entwurf dem Bundesrate eingereicht; er wurde zuvor durch die am 5. März 1898 abgehaltene Delegiertenversammlung des schweizerischen Handels- und Industrievereines einstimmig gutgeheißen.

Der Entwurf dos Handels- und Industrievereines sah eine gemischte Bank vor: zwei Fünftel des Bankkapitals sollten von den Kantonen, ein Fünftel von den bestehenden Emissionsbanken und zwei Fünftel vom Privat- kapital aufgebracht werden. Auf die finanzielle Beteiligung des Bundes wurde völlig Verzicht geleistet, und zwar mit der Begründung, daß das Scheitern der Bundesbankvorlage zunächst auf die Abneigung eines großen Teiles des Volkes gegen die finanzielle Haftbarkeit des Bundes und gegen die Verknüpfung des Kredits des Bundes mit dem einer Bank zurückgeführt werden müsse. Als Hauptsitz der Bank wurde Zürich in Aussicht genommen, ihr Geschäftskreis auf den einer reinen Giro-, Noten- und Diskontobank beschränkt; die Dividende wurde mit 4 Proz. nach oben limitiert und der ganze verbleibende Gewinn den Kantonen zugewiesen. Neben einer General- versammlung, der im wesentlichen bloß Formalien überlassen werden sollten, sah der Entwurf als Organe der Bank einen Bankrat vor, zu welchem die Generalversammlung 25, der Bundesrat 20 Mitglieder und den Präsidenten wählen sollte und dem die Feststellung der Geschäfts- berichte und der Jahresrechnung, die Vorbereitung der Vorlagen für die Generalversammlung und Beschlußfassung bei Abschluß von Geschäften über 5 Hill. Francs obliegen sollte, ferner einen durch den Baukrat zu wühlenden Bankausschuß, der zusammen mit der ebenfalls durch den Bank rat zu wählenden Bankdirektion die Geschäfte der Bank zu leiten hätte.

Zu gleicher Zeit wurde dem Bundesrate ein zweiter Entwurf ein- gereicht: .Grundzüge für die Errichtung einer schweizerischen Bundesbank. Als Vorschlag unter Ausschluß des Privatkapitals eingereicht von einer Gruppe von Mitgliedern der Bundesversammlung.' Dieser Entwurf ging von den Freunden des vom Volke verworfenen Projektes einer reinen Staats- bank aus, den Nationalräten Fa von, Gaudard, Heller. Hirter und Jordan - Martin; das Grundkapital dieser Bundesbank sollte zu einem Drittel durch die Kantone aufgebracht werden, ein Drittel durch diejenigen der bestehenden Emissionsbanken, die unter Mitwirkung der kantonalen Behörden verwaltet werden, und ein Drittel durch den Bund, dem eventuell auch der durch die Kantone beziehungsweise Kantonalbanken nicht gezeichnete Teil der Anteilscheine zufallen sollte. Indem aus 60 Mitgliedern bestehenden

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Die Notenbankfraffe iii der Schweiz.

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Bankrate sollten die Kantonalbanken durch 5. die Kantone durch 25 und der Bund durch 30 Mitglieder vertreten sein.

Endlich reichte der Alt-Nationalrat J. J. Keller einen dritten Ent- wurf ein: es sollte eine mit subsidiärer Haftung des Bundes ausgestattete Bundesbank begründet werden, der das Notenmonopol zu übertragen wäre; ihr Notenemissionsrecht sollte mit 250 Mill. Francs limitiert werden, wovon sie 180 Mill. Francs den zur Zeit bestehenden Kantonalbanken unverzinslich zu überlassen hätte. Die privaten Emissionsbanken sollten des Notenemissions- rechtes verlustig gehen und als Organe der Bundesbank erklärt werden.

Diese drei Entwürfe lagen der durch das eidgenössische Finanz- departement nach Bern einberufenen Expertenkommission vor, die in der Zeit vom 9. Juli bis zum 24. November 1898 tagte. Schon in den Eröffnungsworten brachte der Bundesrat Hauser seinen Standpunkt zum Ausdruck, der im wesentlichen dahin ging, die Ergebnisse der Volks- abstimmung vom 24. Februar 1897 dürften nicht in dem Sinne gedeutet werden, als ob nun lediglich die Alternative einer mit dem Notenmonopol auszustattenden privaten Aktienbank noch offen wäre. .Sie werden es mir nicht fibelnehmen, wenn ich sage, daß ich dem Bundesrate von mir aus nichts empfehlen werde, was ich vor mir nicht verantworten kann. Das Maß der Verantwortlichkeit ist bei mir ein größeres als bei Ihnen und mit einer solchen Gesetzesvorlage bleibt mehr oder weniger für alle Zeiten der Namen des betreffenden Departementchefs verknüpft. Ich bin bereit, Konzessionen zu machen, es fragt sich nur, welcher Art dieselben sind.“ Im wesentlichen durch die Haltung des Bundesrates Hauser beeinflußt, faßte die Kommission über eine Reihe der Streitpunkte Beschlüsse, mit welchen auch die Freunde einer Staatsbank sich befreunden konnten, ohne daß aber das Privatkapital von der Beteiligung an der zu errichtenden Zentralbank völlig ausgeschlossen worden wäre. Auf Grund dieser Ergebnisse arbeitete das Finanzdepartement den Vorentwurf eines Bundosgesetzes über die Errichtung einer zentralen Notenbank aus und nachdem dieser Vor- entwurf durch eine engere Expertenkommission begutachtet wurde, wurde am 24. März 1899 den schon im voraus bestellten parlamentarischen Kommissionen der definitive Gesetzesentwurf überwiesen.

Der neue Entwurf suchte nach beiden Seiten hin Konzessionen zu machen, allerdings ohne die größere Zuneigung seines Urhebers zur Staats- bank zu verleugnen.') Je ein Drittel des mit 36 Mill. Francs angesetzten Grundkapitals der mit eigener juristischer Persönlichkeit auszustattenden .Schweizerischen Bundesbank* sollte durch den Bund, die Kantone und das Privatkapital aufgebracht werden; der von den Kantonen nicht beanspruchte oder bei der öffentlichen Subskription nicht gezeichnete Teil sollte dem Bunde zufallen. Der Geschäftskreis der Bank wurde analog den Vorschlägen des schweizerischen Handels- und Industrievereines beschränkt, ffir die Noten- deckung war eine Metalldeckung durch 40 Proz. und eine Deckung der

') Ssjoui. De U Creation en Suiese d'unc banque centrale d'emission, Paris, 1900.

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Landmann

öbrigen 60 Pro z. durch Banen, Diskontowechsel und Devisen vorgesehen. Vom Reingewinn sollten 15 Proz. vorweg dem Reservefonds zuflie&en, so- lange dieser 30 Proz. des Grundkapitals nicht erreichte, Bodann eine Dividende von 4 Proz. verteilt und der ganze übrige Rest an die Kantone abgefQhrt werden. Unter Ablehnung jeder Generalversammlung wurde als oberstes Organ der Bank ein aus 75 Mitgliedern bestehender Generalrat bestimmt, der zu je ein Drittel durch den Bund, die Kantone und die privaten Anteils- eigner bestellt werden sollte und dessen Präsident und Vizepräsident vom Bundesrate zu ernennen wären. Diesem Generalrate wurden die Rechte zugewiesen, die sonst eine Generalversammlung ausflbt. Der Generalrat sollte ferner aus seiner Mitte 13 Mitglieder des im ganzen aus 15 Mit- gliedern bestehenden Bankrates wählen; die weiteren zwei Mitglieder, die die Funktionen des Präsidenten und Vizepräsidenten ausüben sollten, wären vom Bundesrate zu ernennen. Der Bankrat hätte sich mindestens einmal vierteljährlich zu versammeln und erhielt als Aufgaben die Feststellung des Geschäftsberichtes, die Vorbereitung der Vorlagen an den Geneialrat und die Ausarbeitung der vom Bundesrate zu genehmigenden Reglements zu- gewiesen; außerdem erhielt er ein unverbindliches Vorschlagsrecht für die vom Bundesrate zu vollziehende Wahl des Direktoriums. Der Präsident und Vizepräsident des Bankrates und drei weitere vom Bankrate aus seiner Mitte gewählten Mitglieder bildeten den Bankausschuß, der die Aufsicht und die Kontrolle über die Geschäftsführung auszuüben, bei der Festsetzung der Bankrate sein Gutachten abzugeben und die Lokalkomitees zu wählen gehabt hätte. Das Direktorium, die eigentliche leitende Behörde, sollte auf unverbindlichen Vorschlag des Bankrates durch den Bundesrat für eine Amtsperiode von sechs Jahren gewählt werden; es sollte aus 3 5 Mit- gliedern bestehen und gemeinsam mit dem Bankausschusse operieren. Der Bundesrat nahm für sich auch das Recht der Wahl der Lokaldirektoren in Anspruch, während die Revisionskommission vom Generalrate zu wählen gewesen wäre. Das Privilegium sollte der Bank für 20 Jahre erteilt und in den Obergangsbestimmungen den bestehenden Emissionsbanken 2 '/j Jahre FriBt zum Einzug ihrer Noten gegeben werden. Als Sitz der Bank wurde Bern bestimmt.

Die nationalrätliche Kommission behandelte den Entwurf in den Tagen vom 19 22. April, das Plenum des Nationalrates hatte ihn in der Juni- session durchberaten und in der Schlußabstimmung vom 13. Juni 1899 mit 92 Ja gegen 23 Nein und 30 Stimmenthaltungen angenommen.

Die vom Nationalrate am bundesrätlichen Entwurf vorgenommenen Änderungen wareu bloß nebensächlicher Natur. Er ersetzte den in der Vorlage gebrauchten Ausdruck .Hauptsitz* durch .Zentralsitz*, von der Erwägung ausgehend, daß dieser Ausdruck zutreffender und für die Be- deutung der einzelnen Plätze weniger präjudizierend sei; der Zentralsitz, d. h. der Sitz der Zentralverwaltung, könne gesetzlich in Bern festgelegt werden, zu Hauptsitzen würden sich aber naturgemäß die großen Handels- plätze entwickeln, Zürich, Basel, Genf. St Gallen. Ferner hat der National-

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Die Xotenbankfr&ge in der Schweiz. 61

rat die Wahl des Vizepräsidenten des Qeneralrates der Kompetenz des Bundesrateg entzogen und sie dem Qeneralrate selbst zugewiesen und die Dauer des Privilegiums auf 15 Jahre reduziert.

Die ständerätliche Kommission hatte sich zwar auch rechtzeitig zur Beratung des Entwurfes versammelt, beantragte aber, nachdem der National- rat das Gesetz bereits verabschiedet hatte, zu Beginn der Dezembersession 1899, in dieser Session in die Beratung des Gegenstandes nicht einzu- treten. Es schien den Mitgliedern des Ständerates nicht opportun, ihre Beratungen Aber die Baukvorlage in einem Augenblicke zu beginnen, da der Wechselkurs auf Frankreich 50 Punkte über dem Goldpunkte stand, da diese Tatsache wohl geeignet gewesen wäre, ihre Vertretung der Interessen der Kantonalbanken und der kantonalen Bankpolitik in einem ungünstigen Lichte erscheinen zu lassen.

Erst in der Dezembersession 1900 gelangte die Vorlage im Ständerate znr Beratung und konnte in der gleichen Session schon von ihm verab- schiedet werden. In sieben Punkten wiesen die Beschlüsse des Ständerates wesentliche Änderungen gegenüber der bundesrätlichen Vorlage und den Beschlüssen des Nationalrates auf. Im Interesse der Privat- und Kantonal- banken nahm der Ständerat der Bundesbank das Recht der Annahme verzinslicher Depositen, mit einer Ausnahme für den Verkehr mit der Bundesverwaltung, und das Recht der Annahme von Wertschriflen zur Ver- wahrung und Verwaltung; er erhöhte die Dividende auf 41/, Pro'z.; er übertrug die Wahl der dem Direktorium am Hauptsitze der Bank unterstellten Beamten und Angestellten dem Bankausschuß und die des Personals der Filialen den lokalen Bankkomitees; er verlängerte die erstmalige Dauer des Bankprivilegiums von 15 auf 20 Jahre, mit zehnjähriger Prolongationsperiode und die Frist zum Rückzug der bisher zirkulierenden Noten von 2% auf 3 Jahre mit entsprechender Reduktion der vierteljährlichen Einlflsungsquoten von l/,0 auf */„ der Emissionssumroe; außerdem sollte die Bundesbank den bisherigen Notenbanken den Rückzug der Noten durch Vorschüsse auf Wertpapiere nach Möglichkeit erleichtern; endlich sollte die Bezeichnung Zentralsitz wieder durch .Hauptsitz* ersetzt und dieser von Bern nach Zürich verlegt werden, wofür die Stadt Zürich einen geeigneten Bauplatz für das Bank- gebäude oder einen entsprechenden Geldbetrag zu leisten verpflichten werden sollte.

Im Mai 1901 wurden die Abänderungen des Ständerates vom Nationalrate behandelt und in der Junisession des gleichen Jahres sollten die noch bestehenden Differenzen ausgeglichen werden. Die Ausgleichs- Verhandlungen begannen im Nationalrate. Er hielt fest an seinen Beschlüssen betreffend die Bezeichnung .Zentralsitz*, den Sitz der Zentrale in Bern, die Annahme von Wertschriften zur Verwahrung und die Dividende von 4 Proz.; er stimmte hingegen den ständerätlichen Beschlüssen zu, wonach der Bank nur im Verkehre mit den Bundesbehörden das Recht zur Annahme verzinslicher Deposition zustehen sollte. In den weiter folgenden Verhand- lungen stimmte der Ständerat zuerst der Bezeichnung .Zentralsitz* zu,

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Lantlmann.

hielt jedoch an der Dividende von 41/, Pro*., am Verbot der Annahme der Wertschriften zur Aufbewahrung und Verwaltung und an der Verlegung des Zentralsitzes nach Zürich fest Nachdem dann der Nationalrat seine Beschlösse in Bezug auf diese drei Punkten als definitiv erklärt hatte, stimmte der Ständerat zwar in der ersten zwei Punkten den Beschlössen des Nationalrates zu, entschied sich aber, in vollem Bewußtsein, daß die Vorlage dadurch zum Scheitern gebracht wird, abermals für Zürich als Zentralsitz, worauf der Präsident des Ständerates kalt lächelnd verkünden konnte: „Sie haben sich somit för Zürich als Sitz der Bank ausgesprochen. Da der Nationalrat erklärt hat. definitiv bei seinem Beschlüsse zu beharren, so ist das Gesetz somit nicht zu Stande gekommen“.1)

Das Scheitern der Vorlage hat innerhalb der Kreise der Bundes- versammlung selbst eine verschiedene Interpretation gefunden: die einen erklärten das Verhalten des Ständerates als Ausfiull einer starken Abneigung der Mehrzahl seiner Mitglieder gegen die Idee der Zentralbank überhaupt; die anderen wollten es aus lediglich taktischen Erwägungen heraus erklären: das Gesetz, gegen welches das Referendum gewili angerufen worden wäre, hätte gar keine Aussicht gehabt, beim Volke dnrehzudringen, die romanische Schweiz und die durch die Konzession an das Privatkapital gegen das Gesetz voreingenommene äußerste Linke hätten gemeinsam mit den Vertretern der kautonalen Finanzinteressen bei der Volksabstimmung das Gesetz mit Wucht ver- worfen, und es seien daher Opportunitätserwägungen gewesen, die den Ständerat veranlaßt hätten, die zwischen den beiden Räten vorhandene Differenz zum Vor- wand zu nehmen, um deu Gesetzentwurf zum Scheitern zu bringen, statt ihn durch ein Referendum verwerfen und den damit verbundenen erbitterten und unerquicklichen Kampf zum zweiten Male das Land durchziehen zu lassen. ’)

') Es hat somit drn Anschein, daß die Bankvorlage lediglich an der Rivalität der Städte Bern und Zürich scheiterte. Betrachtet man aber genaner die Resultate der einzelnen Abstimmungen, so sieht man, daß diese Rivalität lediglich zum Mittel anderer Interessen verwertet wurde.

Datum <l»r Abstimmung. Zahl <tor abgegebenen Stimmen ffln

7. Dezember

1900 .

. . . St.-R. Zürich

24

Bern

16

18. Juni

1901 .

. . . N.-K.

58

69

26. Juni

1901 .

. . . St.-R.

29

14

27. Juni

1901 .

. . . N.-K.

50

81

28. Juni

1901 .

. . . St.-R.

•24

17

In der Abstimmung des Nationalrates vom 18. Juni erhielt Bern 69 Stimmen, in der vom ’Si. Juni 81 Stimmen; woher rührt dieser Zuwachs? Die dein Gedanken einer Zentralbank mehr oder weniger feindlich gegeniiberstehendeii, im Ständerate über die Majorität verfügenden und auch im Nationalrate stark vertretenen Sachwalter der kanto- nalen Finanzinteressen, die ein Scheitern der Vorlage wünschten, stimmten im St&nderate am 26. Juni geschlossen fiir Zürich, im Nationalrate tag« darauf geschlossen für Bern, und abermals tags daran! im Ständerate für Zürich. Da sie ferner im Nationalrate für die Definitiverklärung des Beschlusses stimmten, und eine Majorität für Bern im «Stänie- rate ausgeschlossen war, so war ein Scheitern der Vorlage unvermeidlich, ohne daß der Ständerat es nötig gehabt hätte, in den rein sachlichen Fragen dem Nationalrate seine Zustimmung zu versagen, was immerhin einen schlechten Eindruck gemacht hätte.

*) Sten. Bull., Aprilseision 1902, S. 95.

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Die Notenbankfrage in der Schweiz.

63

Durch das Scheitern der Vorlage ist der Kampf um die Zentralbank, der die letzten 15 Jahre der schweizerischen ßaukpolitik beherrschte, zum toten Punkte gelangt. Beide im neuen Artikel .19 der Bundesverfassung vorgesehenen Alternativen versuchte man nach einander zu verwirklichen, ohne daß es gelungen wäre, die Frage um einen Schritt vorwärts zu bringen: sie befindet sich heute in demselben Stadium wie unmittelbar nach der Verfassungsrevision vom Jahre 1891. Heute, wie vor elf Jahren, wird das verfassungsmäßig ausschließlich dem Bunde zustehende Hecht der Banknotenausgabe von 36 kantonalen und privaten Instituten ausgeübt, und so sehen wir uns dem, jedenfalls nicht normalen Zustande gegenüber daß die Bestimmungen der Bundesverfassung und die zu Hecht bestehende Organisation des Notenbankwesens sich in direktem Widerspruche befinden.

Nachdem die zweite Vorlage eines Bankgesetzes am Widerstande des Ständerates gescheitert war. machte sich auf der ganzen Linie große Verzagtheit geltend; mancherorts wurde die Frage aufgeworfen, ob es überhaupt möglich sein werde, einen Ausweg zu finden, der allen einander widerstreitenden Interessen gerecht werden könnte. Aus den Kreisen der Gegner einer Zentralbank wurden nun Stimmen laut, das Scheitern der Vorlage bedeute nicht notwendigerweise einen Schiffbruch aller Hofinungen, die sich an die Annahme des Gesetzes knöpften: die zweifellos vorhandenen Mängel der heutigen Bankverfassung könnten beseitigt und eine lieihe von Verbesserungen könnte durchgefflhrt werden, wenn die gesetzgebenden Behörden die Schaffung einer zentralen Notenbank ffirs erste in den Hinter- grund rflckeu und eine Hevision des Bankgesetzes vom Jahre 1881 in Angriff nehmen wollten. Ihren parlamentarischen Ausdruck fand diese Strömung in der am 17. Dezember 1901 im Ständerate eingebrachten Motion von Arz und Mitunterzeichner, die in der Sitzung des Ständerates vom 18. April 1902 erheblich erklärt und dem Bundesrate Oberwiesen wurde.

Die Motion von Arx lautet: .Der revidierte Artikel 39 der Bundes- verfassung sieht die Gründung einer mit dem Banknotenmonopol ausge- rösteten Bundesbank vor. Alle bisher zur praktischen Durchführung dieser Forderung gemachten Anstrengungen sind entweder am Widerstand des Volkes oder an der Uneinigkeit der Behörden gescheitert. Ob eine Aus- gleichung der bestehenden Gegensätze in absehbarer Zeit gefunden werden kann, scheint dermalen mehr als zweifelhaft. Anderseits haften unserem Banknotenwesen Übelstände an, welche dringend der Abhilfe rufen und deren Abstellung nicht auf Jahre hinaus verschoben werden sollte. Die Unterzeichneten laden deshalb den Bundesrat ein, zu untersuchen und der Bundesversammlung Bericht zu erstatten, ob nicht das Gesetz vom 8. März 1881 Ober die Ausgabe und Einlösung von Banknoten einer Revision zu unter- werfen sei, und ihr bejahendenfalls einen bezüglichen Gesetzesentwurf zu unter- breiten. Unbeschadet der Hevision des Banknotengesetzes soll die Durchführung des revidierten Artikels 39 der Bundesverfassung weiter verfolgt werden.“

Als die wesentlichsten Punkte, die anläßlich einer derartigen Hevision ins Auge zu fassen wären, wurden in der Sitzung des Ständerates vom

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Landmann.

18. April 1902 durch den Ständerat von Arx die folgenden bezeichnet: 1. Begrenzung der Notenemission durch den Bundesrath oder die Bundes- versammlung; 2. Festsetzung der prozentualen Anteile der Kantone an der Gesamtemission, nach Maßgabe ihrer bisherigen Notenausgabe, der Bevölkerungszahl und ihrer wirtschaftlichen Bedeutung; 3. Einräumung der Befugniß an den Bundesrat, nötigenfalls eine Beschränkung der Gesamt- notenemission anordnen und die einzelnen Emissionsbanken zu einer ver- hältnismäßigen Reduktion ihrer Notenzirkulation anhalten zu dOrfen;

4. Deckung der gesamten Notenzirkulation durch Barschaft und Wechsel;

5. Verpflichtung der Banken, die Beschlösse des Diskontokomitees als ver- bindlich anzuerkennen und zu befolgen; 6. Gründung einer zentralen Abrechnungsstelle als staatliches Organ; 7. Besteuerung der Emissionsbanken nach der Höbe der wirklichen Notenzirkulation statt der bisherigen Besteuerung nach Maßgabe der bewilligten Emissionssumme: 8. Schaffung einer ein- heitlichen schweizerischen Banknote, zu deren Einlösung alle bestehenden Emissionsbanken solidarisch verpflichtet wären.

Über die Nützlichkeit der hier vorgeschlagenen Reformen ist es kaum nötig, ein Wort zu verlieren; es unterliegt keinem Zweifel, daß wenn es gelingen würde, diese Reformvorschläge zu verwirklichen, die krassesten der heute vorhandenen Auswüchse der schweizerischen Bankverfassung beseitigt werden könnten. Daß aber mit dem Erlaß einer Novelle zum bestehenden Bankgesetz nicht alle diese Auswüchse beseitigt werden könnten, und daß vor allem auch dann die 36 Banken nicht in der Lage wären, den währungs- politischen Aufgaben einer zentralen Notenbank gerecht zu werden, kommt in der eingangs wiedergegebenen Motion von Arx selbst zum Ausdruck, die in einer Revision des bestehenden Bankgesetzes lediglich eine Vorarbeit für die Schaffung einer zentralen Notenbank sehen will.

Fragen wir nach den Aussichten der Motion von Arx, so scheinen uns drei Reihen von Gründen dafür zu sprechen, daß weder der Bundesrat noch der Nationalrat geneigt sein dürften, dieser Anregung Folge zu leisten. Sie stößt auf Schwierigkeiten verfassungsrechtlicher, prinzipieller und politischer Natur.

Der Artikel 39 der Bundesverfassung vom Jahre 1874 gab dem Bunde die Kompetenz, im Wege der Gesetzgebung Vorschriften über die Ausgabe und Einlösung von Banknoten zu erlassen; er wurde durch die Verfassungs- änderung vom Jahre 1891 aufgehoben, und das gegenwärtige eidgenössische Verfassungsrecht überträgt dem Bunde das Monopol der Banknotenausgabe, überläßt der Legislative die Entscheidung über die Art der Ausübung dieses Monopolrechtes, enthält aber keinerlei Bestimmungen, die als verfassungs- mäßige Grundlage einem auf der Basis des Systemes der Bankvielheit stehenden Bankgesetze dienen könnten. Zwar wurde anläßlich der Beratung der Motion von Ari im Ständerat die Ansicht geäußert, der alte Artikel 39 der Bundesverfassung stehe solange in Kraft, bis der neue nicht durch- geführt ist,1) doch steht diese Ansicht in direktem Widerspruche zum Ingreß des neuen Verfassungsartikels: .Artikel 39 der Bundesverfassung

') Stand, -rat Usteri in der Sitzung rout 18. April 1902, Sten. Bull. S 101 ff.

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Die Notenbankfrage in der Schweiz.

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wird aufgehoben und an seine Stelle folgender Artikel gesetzt*: wenn ferner im Ständerate die Ansicht zum Ausdruck kam. der neue Artikel 39 der Bundesverfassung bedeute eine Erweiterung der Bundeskompetenzen und schliesse deshalb eo ipso die früheren Kompetenzen der Bundesgewalt implicite ein, so wurde dieser Auflassung mit Recht entgegengehalten, >) der neue Artikel 39 sei keine Erweiterung des alten, die beiden schließen vielmehr einander aus, und es unterliegt keinem Zweifel, daß weder der Bundesrat noch der Nationalrat sich bereit linden werden, um zu einer so flagranten Verfassungsverletzung die Hand zu bieten, wie dies eine Revision des Bankgesetzes auf Grund eines außer Kraft gesetzten Verfassungsartikels wäre. Eine Revision des Bankgesetzes würde eine neuerliche Abänderung des Artikels 39 der Bundesverfassung voraussetzen, für die weder in den eidgenössischen Räten und noch viel weniger im Volke eine Majorität zu finden wäre.

Zwei weitere, schwerwiegende Reihen von Erwägungen scheinen uns gegen eine Revision des Gesetzes zu sprechen.

Vorerst Erwägungen politischer Natur: es ist klar, und wird selbst von den Vertretern der Idee einer Revision des Gesetzes vom Jahre 1881 zu- gegeben, daß eine derartige Revision, wenn sie wirklich eine Sanierung der Verhältnisse nach sich ziehen sollte, notwendigerweise tiefeinschneidend sein müßte, eine Beschränkung des Geschäftskreises der Banken, eine Erhöhung der metallischen Notendeckung und eine Verschiebung in der Gliederung der Anlage zu Gunsten der weniger rentablen kurzfristigen Anlagen zur unumgänglichen Voraussetzung hätte, was in der Folge ein Sinken des Erträgnisses dieser Banken nach sich ziehen würde. Damit wäre aber auch die Opposition der Vertreter der fiskalischen Interessen der Kantone wachgerufen, die sich gegen eine derartige Revision des Gesetzes ebenso sträuben würden, wie gegen den Plan einer Zentralbank. Und nicht mit Unrecht wurde denn auch hervorgehoben, daß die eventuellen Vorteile einer Revision des Gesetzes nicht bedeutend genug wären, um den Aufwand der politischen Kräfte zu lohnen, der nötig wäre, um diese Opposition zu überwinden.

Zuletzt sprechen Erwägungen prinzipieller und taktischer Natur gegen eine Gesetzesrevision. Denn wenn auch in der Motion von Arz der Hoffnung Ausdruck gegeben wurde, es könne unbeschadet einer späteren Durchführung des Artikels 39 der Bundesverfassung eine Revision des gegenwärtig zu Kraft bestellenden Bankgesetzes vorgenommen werden, so würde doch tatsächlich eine Revision des Gesetzes den Erfolg haben, daß sie die Errichtung einer zentralen Notenbank wenn nicht völlig verhindern so doch gewiß in weite Zukunft rücken würde. Eine künstliche Verlängerung des gegenwärtig herrschenden Zustandes aber ist weder im Interesse der schweizerischen Volkswirtschaft gelegen, noch mit den Ergebnissen der Volksabstimmung vom 18. Oktober 1891 in Einklang zu bringen.

Wir glauben deshalb nicht fehl zu gehen, wenn wir auf Grund all dieser Bedenken den Schluß ziehen, daß einer Verwirklichung der in der Motion von A r i zum Ausdruck gelangten Tendenzen kaum geringere Schwierigkeiten

•) Ständerat Scherl) in derselben Sitzung, a. a. 0. S. 103 !f

2eit«rbrlfl fAr VolkiwiriMhtft, Koeiilpolitlk und Verwraltnng. XII. Hand. 5

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Landrnann.

entgegenstehen als es jene waren, die bis heute die Errichtung einer Zentralbank unmöglich machten. Daß dieser letztere Plan aber, trotz der Hindernisse, die seiner Verwirklichung entgegenstehen, immer noch hochgehalten wird, beweist die Antwort, die aus den Kreisen des Nationalrates der ständerätlichen Majorität nach dem Scheitern der zweiten Hankvorlage erteilt wurde.

Nachdem am 28. Juni 1901 der Präsident des Ständerates die Bank- vorlage als nicht zu stando gekommen bezeichnete, wurde am 29. Juni durch mehrere Mitglieder der gouvernementalen Linken und der socialpoliti- schen Gruppe des Nationalrates folgende Motion gestellt:

»Der Bundesrat wird eingeladen, den eidgenössischen Bäten be förderlich einen neuen Gesetzentwurf zur Ausfflhrung des Artikels 39 der Bundesverfassung vorzulegen, wesentlich auf Grundlage des verworfenen ßundesgesetzes vom 18. Juni 1896 (reine Staatsbank! und unter möglichster Berücksichtigung der Interessen der Kantonalbanken.*

Wir dürfen an dieser Stelle von der Tendenz der Motionsteller, an das Gesetz vom 18. Juni 1896 anzuknöpfen, fflglich abseben: wie so oft schon wird auch diesmal ein Kompromiß zwischen den beiden Parteien geschlossen werden können, und wenn dieses Kompromiß mehr zu Gunsten der Anhänger einer reinen Staatsbank ausfallen sollte, so wäre dies nur eine natürliche Konsequenz der Erfahrungen, diewährend der Beratungen der zweiten Bankgesetzvorlage gemacht wurden, und die geeignet waren, den Nachweis zu erbringen, daß Konzessionen nach der Seite des Privatkapitals eine Verstimmung in einem Teile der Freunde der Idee einer Zentralbank zur Folge haben, ohne gleichzeitig für diese Idee von der zweiten Seite her eine entsprechende Anzahl neuer Anhänger zu werben.

Überblicken wie die Gruppierung der Machtfaktoren von der zuerst in den eidgenössischen Räten der weitere Verlauf der Bankfrage abhängt, und die bei eventuellen Volksabstimmungen entscheidend sein wird, so scheint uns die Situation gegenüber der Gruppierung anläßlich der Volksabstimmung vom 24. Februar 1897 nur nach einer Richtung hin eine Verschiebung erlitten zu haben. Heute wie damals würden für eine zentrale Notenbank die Kreise der politisch linksstehenden Parteien stimmen, ein großer Teil der Kreise des Handels und der Industrie, ein Teil des Bauernstandes und endlich alle, die die Bankfrage nicht vom politischen sondern vom volkswirtschaftlichen Gesichtspunkte aus zu betrachten vermögen: dagegeu würde sich eine Mehrheit der Stimmen der französischen Schweiz ergeben, die Stimmen der konservativen Parteien und falls ein Gesetz auf der Basis einer reinen Staatsbank zu stände käme, der Anhang des schweizerischen Handels- und Industrievereincs. Entscheidend wären somit die Stimmen derjenigen, für deren Haltung die finanzpolitischen Interessen der Kantone ausschlaggebend sind, und hier scheint uns eine Verschiebung sich dahin vollzogen zu haben, daß ihre Zahl heute größer ist als im Jahre 1897.

Die finanzielle Lage der Kantone hat sich in den letzten Jahren erheblich verschlechtert: 1 1 während ihre Verwaltungsausgaben im Jahre

') Steiger, Betrachtangen über den Finanzhaushalt der Kantone and ihre Beziehungen zum Bund, Zeitschrift für echweizerische Statistik, 1899, S. 29S IT.: Schweizerisches Finanzjahrbuch. 1901, S. 73 ff, S. 95 ff.; 1902, S. 89 ff.

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Die Notenbankfmgc in der Schweiz.

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1885 nur 66 MilL Francs betrugen, stiegen sie bis zum Jahre 1891 auf 81 Mill.. bis zum Jahre 1898 auf 11S Mül. und erreichten für das Jahr 1901 rund das Doppelte der Summe für das Jahr 1885, während die Bevölkerung im gleichen Zeiträume nur um rund 15 Proz. zunahm. Weitaus das Hauptkontingent der Steuervermehrung fallt auf neue, direkte Steuern mit Einschluß von verschärften Erbschaftssteuern und einem immer strafferen Anziehen der Gemeindesteuerschraube. Nicht weniger als 12 Kantone er- ließen seit dem Jahre 1885 neue Steuergesetze, in 5 Kantonen steht die Steuerreform auf der Tagesordnung, in 8 Kantonen steht sie unmittelbar bevor. Wenn es nun auch keinem Zweifel unterliegt, daß die Steuerkraft in einem viel rascheren Tempo gestiegen ist als die Bevfllkerungszahl, so beweisen doch die Ergebnisse der kantonalen Volksabstimmungen der letzten Jahre, daß diese Vermehrung der Steuerkraft durch die neuen Steuergesetze bereits antizipiert wurde. In vielen Kantonen, so in Zürich, Bern. Basel Stadt, Appenzell a. Rh., St. Gallen, Thurgau, Tessin und Waadt, ist die Steuerschraube bereits am Ende ihrer Ergiebigkeit angelangt; neue Steuererhöhungen haben hier keine Vermehrung der Einkönfte zur Folge, sondern lediglich größere Steuerhinterziehungen und mancherorts Auswanderung der Kapitalien. Auch in den Kantonen, in welchen keine allzu hohen Steuerquoten erhoben werden, ist man steuermäde und reform- feindlich: in Solothurn, Bern, Luzern und Aargau sind die neuen Steuer- gesetze vom Volke verworfen worden, während die bisherigen kantonalen Einnahmen zur Bestreitung der großen, den Kantonen zufallenden kulturellen und sozialen Aufgaben nicht hinreichen. Während die Rechnungsergebnisse noch im Jahre 1896 einen Einnahmenäberschuß von rund einer

Million Francs ergaben, schlossen sie für das Jahr 1898 mit einem Defizit von etwa 74.000 Frans, für das Jahr 1899 mit einem Defizit von 2,300.815 Francs., welches in den Budgets für das 1901 bis auf 7.577.658 Francs anstieg.

Angesichts einer derartigen Sachlage ist eB erklärlich, daß die Kantone keine Neigung haben, auf die, wenn auch geringe, Einnahme zu verzichten, die sie aus den kantonalen Banknotensteuern und aus dem Reingewinn ihrer Kantonalbanken beziehen. Die Vertreter der Kantone im Ständerate dürfen hier mit ziemlicher Zuversicht darauf rechnen, daß bei eventuellen Volksabstimmungen eine nicht geringe Anzahl von Stimmberechtigten sich vor allem die Frage vorlegt, welchen Einfluß ein neues Bankgesetz auf die Gestaltung der mit den Steuerverhältnissen so innig verknüpften kantonalen Finanzen ausüben würde. Gelingt es in irgend welcher Weise den finanziellen Ausfall zu decken, den die Kantone infolge des Verzichtes auf die kantonale Banknotensteuer und der Verminderung der Erträgnisse der Kantonalbanken erleiden würden, dann wäre diese Schwierigkeit für die Annahme eines Bankgesetzes beseitigt.

Fragen wir nun, wie groß diese Einnahmen sind, so finden wir, daß das Totale der Einkünfte der Kantone aus ihren Kantonalbanken sich auf etwa 3'5 Mill. Francs beläuft.

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Einnahmen der Kantone aus den Kantonalbanken,

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Landinann.

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III. Kantonale Bnnknotenstcner der 14 pri- | 2,997.1 18’69

raten Emnmsionsbanken . . . I 474.871*66

jl Total der Einkünfte der Kantone au« dem Notcnemiasioiwgeschäft . ' 3, 4? 1.4 DÜ- 85

Die Notrnbaukfrage in der Schweiz.

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Diese Summe setzt sich aus zwei Positionen zusammen: aus den Nettoablieferungen der Kantonalbanken an die Kantonkassen und aus dem Ertrage der kantonalen Bunknotensteueru. Der weitaus größte Teil, 2'9 Mill. Francs, entfällt auf die Kantone mit Kantonalbanken, und nur eine knappe halbe Million Francs auf die Kantone, in welchen die Noten- emission den Privatbanken überlassen wurde, und die nur durch die Banknoten- steuer an der Erhaltung des gegenwärtigen Zustandes interessiert sind.

Bei Beurteilung der Frage, wie hoch der Ausfall sich belaufen dürfte, der den Kantonen durch den Entzug des Einissionsrechtes ihrer Kantonalbanken erwachsen wird, darf natürlich nicht die Gesamtsumme von 2'9 Mill. Francs zu Grunde gelegt werden: schon der letzte Entwurf eines Bankgesetzes bewies die durchgehende Tendenz, den Kantonalbanken durch die zentrale Notenbank so wenig Konkurrenz als möglich zu bereiten; diese Tendenz dürfte in einem künftigen Gesetze noch stärker zum Ausdruck gelangen, und so darf man annehmen, daß die Kantonalbanken bei Er- richtung einer zentralen Notenbank nur durch Wegfall des Gewinnes aus der Notenemission betroffen werden.

Wir schlagen bei der Berechnung dieses Gewinnes das gleiche Ver- fahren ein. das Hclfferich für die Deutsche Reichsbank zum ersten Male mit Erfolg eingeschlagen hat.1) Verteilt man die verfügbare Barschaft und die sonstigen Kassenbestände der Kantonalbanken auf die Deckung der 60 Proz. der Notenzirkulation und die Deckung der sonstigen täglich fälligen Verbindlichkeiten nach dem Verhältnis dieser beiden Passivposten, so erhält man auf Grund der Durchschnittszahlen für das Jahr 1901 bei einem Notenumlauf von rund 141 Mill. Francs eine spezielle Notendeckung von rund 62 Mill. Francs, so daß sich als ungedeckter Notenumlauf in diesem besonderen Sinne ein Betrag von rund 79 Mill. Francs ergiebt. Veranschlagen wir die durchschnittliche Rentabilität der Notenanlage auf 4 ö Proz.. so erhalten wir einen Betrag von 3 4 Mill. Francs, den wir als Bruttoertrag der Notenemission der Kantonalbanken ansehen dürfen. Ziehen wir von diesem Betrage den Teil der Verwaltungskosten ab, der sich, nach Maßgabe des Verhältnisses des Bruttoertrages aus dem Noten- emissionsgeschäft zum Gesamtenbruttoertrag, als spezielle Verwaltungs- kosten der Notenausgabe qualifiziert, ziehen wir die Kosten der Anfertigung der Banknoten und den Betrag der an den Bund entrichteten Banknoten. Steuer ab, so verbleibt als Nettoertrag aus dem Notenemissionsgeschäft ein Betrag von rund 2-5 Mill. Francs. Stellen wir nuu diesem Verluste den Gewinn gegenüber, den die Banken über den heutigou hinaus dadurch erzielen könnten, daß sie nicht mehr verpflichtet sein werden, einen Betrag, der 40 Proz. der jeweiligen Notenzirkulation entspricht, in ihren Kellern liegen zu lassen, so glauben wir eher zu hoch denn zu niedrig den finanziellen Ausfall der Kantone mit 2 Mill. Francs veranschlagen zu dürfen. Wie gering diese Summe an sich auch sein mag. sie ist, in Anbetracht der sehr bedrängten

*) Helffcrich. a. a. 0., S. 55.

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Landmann.

Finanzlage der Kantone groß genug, um sie zur Opposition gegen ein Gesetz zu veranlassen, das einen Ausfall dieser Summe nach sich ziehen würde. Und wenn es auch gesetzlich festgelegt wurde, daß der ganze Reinertrag der zentralen Notenbank nach Verzinsung des Bankkapitals den Kantonen zufallen soll, so sind von ihrer Seite nicht ganz ohne Berechtigung Zweifel daran geäußert worden, oh die Bank in den ersten Jahren, in welchen sie naturgemäß größere Aufwendungen für Organisations- etc. Kosten wird machen müssen, überhaupt einen über eine normale Verzinsung des Bank- kapitals hinausreichenden Gewinn ergeben wird. Für die kantonalen Finanzen aber, die mit steigenden Defiziten nnd dem Mangel an neuen Einnahms- quellen zu kämpfen haben, fällt ein Ausfall der Einnahme gerade für die nächsten Jahre schwer in die Wagschale.

Aus diesen Erwägungen heraus stellte im Dezember 1900 anläßlich der Beratung des zweiten Bankgesetzentwurfes, eine Minorität der stände- rätlichen Kommission folgenden Antrag: „Als Ersatz für die den Kantonen durch Entzug der Emission von Banknoten eiwachsende Einbuße hat der Bundesrat von den zur Ausgabe gelangenden Banknoten der zentralen Notenbank alljährlich eine Steuer von '/« Proz. zu erheben, welche an die Kantone nach Maßgabe ihrer Wohnbevölkerung zu verteilen ist". Der Ertrag einer solchen Steuer wurde auf 1,200.000 Francs jährlich geschätzt. Daß dieser Antrag nicht angenommen werden konnte, ist selbstverständlich, wollte man nicht der Bank von vornherein ihre Aufgabe erschweren; der Antrag zeigt aber den Weg, auf dem es gelingen konnte, die Opposition der Kantone gegen die Monopolisierung der Banknotenausgabe zu überwinden; wühl bestimmt der oft zitierte Artikel 5 des Banknotengesetzes vom 8. März 1881 : „Die Ermächtigung znr Notenausgabe begründet keinen Entschädigungsanspruch der Emissionsaustalteu für den Fall, daß das Emissionsrecht durch spätere verfassungsmäßige und gesetzliche Bestim- mungen ganz oder teilweise wieder aufgehoben oder durch Bundesbeschluß eingeschränkt werden sollte", doch scheint sich der Kreis derjenigen stets zu erweitern, die zur Ansicht neigen, daß bei der gegenwärtigen Lage der Verhältnisse Gründe der Billigkeit dafür sprechen, daß der finanziell ver- hältnismäßig günstig situierte Bund den finanziell bedrängten Kantonen in irgend welcher Form ein Entgelt für die Einnahmeneinbuße ihrer Kantonal- bauken angedeihen läßt. Ist dies geschehen, so ist auch die grüßte Schwierigkeit für die Verwirklichung des Artikels 39 der Bundesverfassung beseitigt, und wir glauben am Schlüsse dieser Ausführungen der festen Überzeugung Ausdruck geben zu dürfen, daß der nüchterne Sinn des Schweizervolkes sich eben so wenig über die Gefahren des gegenwärtigen Zustandes wird hinwegtäuschen lassen, als er auf die Dauer dieser einen Schwierigkeit wegen auf die Vorteile des zentralisierten Notenbankwesens wird Verzicht leisten wollen.

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das Österreichische

GEWERBE IM ZEITALTER DES MERKANTILISMUS ')

VON

HANS R1ZZI (WIEN).

Inhaltsübersicht.

Stil«

I. Vorbemerkungen 71

II. Das Österreichische Gewerbe bis 1650 .* 72

III. Gewerbeverfassung und -Politik bis 1731 74

IV. Das Gencr&lpatent von 1731 und seine Durchführung 82

V. Die tberesianiach-joseflnischen Reformen 87

VI. Sonnenfels’ Grundzüge der Gewerbepolitik 94

VII. Soziale und Ökonomische Lage des Österreichischen Gewerbes in der zweiten

H&lftc des 18. Jahrhundert* 95

VIII. Schluflbemerkungen 100

I.

Gegenstand meiner Untersuchungen bildet die gewerbliche Produktion und Verfassung jenes Länderkomplexeg, den wir Westösterreich nennen können.

Ungarn, dessen Volkswirtschaft bis vor kurzer Zeit auf rein agrarischer Basis stand, das sich überdies nie in so engem staatsrechtlichen Konnex mit den österreichischen Erblanden befand, der eine einheitliche Volkswirt- schaftspolitik gestattet hätte, muß selbstverständlich wegbleiben. Ebenso aber auch die östlichen Kronländer, Galizien, Bukowina und Dalmatien; ihre Vereinigung mit Österreich vollzog sich zu einer Zeit, in der die gewerbepolitischen Reformen in ihren Grundzflgen zum Abschluß gekommen waren; sie wurden, im Sinne des damaligen Zentralismus, den neuerworbenen Gebieten dekretiert, in der stillschweigenden Voraussetzung, daß die gewerb- liche Entwicklung jener Länder der der westlichen Provinzen konform sei.

■) Vorliegende Abhandlung bildet einen Teil einer größeren Arbeit, die ich auf Anregung und unter Leitung des Herrn Professors Dr. Karl Oriinberg in dessen Seminar in Wien seit dem Winter 1901 unternommen habe. Das archivalisebe Material, auf dem sie beruht, entstammt dem Archiv des k. k. Ministeriums des Innern in Wien. Ebenso sind die ohne nähere Quellenangabe zitierten Patente und Verordnungen der Patent- und Zirknlarien-Sammlung desselben Ministeriums entnommen.

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Dali sie hier wesentlich noch in ihrem ersten Stadium, dem des Hausfleißes, sich befand, wußte oder beachtete man nicht.

Haben wir so das Untersuchungsfeld räumlich abgegrenzt, so erübrigt noch die Bestimmung des Zeitraumes, auf den die Untersuchung sich erstrecken soll. Da die gewerbliche Entwicklung im Anschluß an die gewerbe- politischen Regierungsmaßnahmen zur Darstellung kommen soll, können wir als Anfangspunkt die Mitte des 17. Jahrhunderts, den Regierungsantritt Leopolds I.. festsetzen, als den Zeitpunkt, in dem zum ersten Male eine ziel- bewußte Regierungspolitik systematisch in das Wirtschaftsleben eingreift zur Hebung des .Kommerzes und Flors der Länder*.

Als Endpunkt nehmen wir die Wende des 18. Jahrhunderts. Hier beginnt eine neue Kntwicklungsreihe: auf politischem Gebiet die gewerbe- politische Reaktion unter Franz 1.. die der Anfang vom Ende der zQnftlerisch merkantilistischen Regierungspolitik wurde, auf gewerblichem der Kampf des Kleingewerbes mit der Maschine, in dem wir heute noch stehen, und dessen Endergebnis, in Österreich wenigstens, sich noch nicht abschätzen läßt.

II.

Zuerst einiges zur Vorgeschichte.

Österreich war nie ein gewerbereiches Land. Während des ganzen Mittelalters und auch in den folgenden Jahrhunderten hatte sich die gewerb- liche Entwicklung enge an die des Städtewesens angeschlossen. Auf städti- schem Boden entstand das Handwerk, hier wuchs es im Kampfe mit den älteren Betriebsformen, Heimwerk uud Stör, heran. Die Schließung der Zünfte im 15. Jahrhundert bedeutet das vorläufige Ende dieses Prozesses.

Österreich hatte sich von dieser Entwicklung nicht ausschließen könneu; es hatte die deutsche Agrarverfassung, die dem Gewerbe am Land den Boden entzog und es nur in seinen kümmerlichsten Betriebsformen leben ließ, nach und nach mit dem Vordringen des Deutschtums übernommen. Aber die Entwicklung des Städtewesens hielt mit der im Deutschen Reich nicht Schritt; während sich hier in Entfernungen von nur wenigen Meilen Stadt au Stadt drängte, konnten es in Österreich nur wenige Munizipien zu verhältnismäßiger Bedeutung bringen. Der Umstand, daß der ganze Boden erst schrittweise besetzt und kultiviert werden mußte, die fortwährenden Kämpfe, die das Land als Grenzmark zu besteheu hatte, in den Alpcnländern die natürliche Bodenbeschalfenheit ließen jene Bevölkerungsverdiclitung nicht zu, als deren Ergebnis Stüdtebildung und Wachstum erscheinen.

Dazu kam die in den Grenzmarken früher und stärker ausgobildete landesherrliche Macht, die allen autonomen Gewalten einen Damm entgegen- setzte. Das einzige städtefördernde Element war hier der Handel; wichtige Handelsstraßen, von den adriatischen Häfen nach Deutschland, die Ost und West verbindende Donaustraße, bildeten den Stützpunkt, an dem sich Städte ent- wickeln konnten und entwickelten. Das Hauptelement derselben bildete dem- gemäß der Handel. Die Gewerbe kamen nie zu jener führenden Rolle, die sie in den Städten des deutschen Südens und Westens einnahmen. Sie konnten

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Da* österreichische Gewerbe im Zeitalter «les Merkantilismus.

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nur den gewöhnlichen Bedarf der Bewohner decken; bezog ja Wien sogar in seiner glänzendsten mittelalterlichen Periode unter den ersten Habsburgern alle feineren Gewerbeprodukte aus den Niederlanden und aus Deutschland.1

Die Hauptproduktionselemente in den österreichischen Ländern waren somit die Urproduktion und in den Städten daneben der Handel. Mit den Überschüssen derselben, Wein und Erzen, sowie mit den im Transithandel gewonnenen Werten zahlte man die Einfuhr, die übrigens wohl ziemlich unbedeutend war.

In den Sudetenländern setzt die Städtebildung zwei Jahrhunderte später als in Deutschland, zu Beginn des 13. Jahrhunderts, unter Haupt- mitwirkung deutscher Elemente ein und hier scheint es. als ob die rasch emporschießenden Neugründungen den Vorsprung ihrer deutschen Mutter- und Schwesterstädte bald erreichen, ja diese überflügeln wollten; so sehr waren sie von der zentralen Lage des Landes, seinen reichen Bodenschätzen wie von der trefflichen Merkantilpolitik der ersten Luxemburger begünstigt. Aber der erste nationale Kampf in Böhmen, die Hussitenkriege, machte diesem Aufschwung ein jähes Ende.

Das Jahr 1453, der Fall Konstantinopels, bedeutet in der Entwicklung des österreichischen Städtewesens eine Katastrophe. Seine Hauptlehensadem, die beiden Handelswege, waren durchschnitten. Die Vereinigung der öster- reichischen mit den böhmischen Ländern, 70 Jahre später, konnte den Vorteil, den sonst ein größeres Staatswesen der Volkswirtschaft bietet, nicht gewähren, solange diese Gebiete verwaltungstechnisch getrennt, wirtschaftlich fremd sich gegenüber standen. Die Errichtung einer gemeinsamen Hof- kammer 1527 hatte dagegen wenig zu bedeuten; sie hatte anfangs nur finanzielle Agenden. Während aber die österreichischen Länder das ganze folgende Jahrhundert durch die fortwährenden Türkenkriege zerrüttet und finanziell erschöpft wurden, regte sich in den Sudetenländern wieder der gewerbliche Eifer. Die Einführung der Spinnerei und Spitzenklöppclei sowie der Glasindustrie iu Böhmen, das Emporblühen des Iglauer Tuchmacher- gewerbes fällt in jene Zeit ln Schlesien stieg die Leinenindustrie rasch zu solcher Höhe, daß sich ein schwunghafter Export entwickeln konnte und die Nachbarländer ihre Leinenwaren nach Schlesien zur Veredlung brachten.

Und als der Dreißigjährige Krieg seine verheerenden Fluten Ober ganz Deutschland ergoß und alle Kultur so gründlich in den Boden stampfte, daß sie sich ein volles Jahrhundert nicht zu erheben vermochte, da bildete der Norden Böhmens, das .Königreich Wallenstein*, bis gegen Schluß des Krieges ein friedliches Eiland, auf dem dank der genialen Industriepolitik des Friedländers und der gewaltigen Bedürfnisse seiner Armee üevyerbe aller Art emporblflhten.'l

Währenddessen hatte im benachbarten Österreich die katholische Reformation die fähigsten Elemente des Bürgerstandes, die betriebsamen

’) Vgl. Fr. Kalenbarg, Dm Wiener Zunftwesen. «Zeitschrift für Surial- und Wirtschaftsgeschichte. Bd. I.. S. 264 ff und 11.. S. 62 ff.)

*) Vgl. Hallwich, Anfänge der Großindustrie in Österreich. Wien 1898, S. 14—24.

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Arbeiter der Bergwerke und Gewerkschaften, zur Auswanderung genötigt und so die innere Glaubenseinheit um den teueren Preis des bürgerlichen Wohl- standes erkauft.

Als Leopold 1. die Kegierung seiner Länder antrat, konnte er mit Recht beklagen, datt .aller Flor in den Kommerzien und Manufakturen und alle Tüchtigkeit im Handwerk nur in der Fremde zu sehen seien.*

III.

Das österreichische Gewerbe weist um die Mitte des 17. Jahrhunderts noch ausschließlich kleingewerhlichen Betrieb auf: in den größeren Städten war es bürgerliches Handwerk, das in einigen Zweigen und in ganz kleinem Umfang auf Verlag, zum größten Teil aber auf Bestellung arbeitete; in kleineren Orten war es überwiegend, am Land ausschließlich Lobnwerk. Die Organisation war in fast allen Zweigen zünftlerisch. Nur die eigent- lichen Landgewerbe, Bader. Müller, Leinweber, Halter, Schäffler, hatten es als Qrundhörige zu keiner Organisation gebracht und galten daher beim bezunfteten Stadthandwerk als unehrlich.1) Die Zunftprivilegien waren meist noch mittelalterlichen Ursprungs, von den verschiedenen territorialen Gewalten verliehen. Sie hatten die öfteren Zunftverbote, ein Charakteristikum der älteren österreichischen Gewerbepolitik, überdauert, waren immer bald nach jeder Zunftauflösung wieder aufgetaucht und vom selben Landesherrn, der sie annulliert, auf ewige Zeiten wieder bestätigt worden.*) Natürlich enthielten sie in ihrem konkreteren Teile viele gänzlich veraltete Bestim- mungen.

Alle Handwerksmißbräuche, die wir aus der Geschichte des deutschen Gewerbes kennen, sind auch in Österreich zu finden: Erschwerung des Zutritts zum Gewerbe durch hohe Aufnahmsgebühren und Unehrlicherklärung, willkürliche Preistaxen, steigende Auflagegelder, Gesellenaussperrung und übermäßige Lehrlingszüchtung von Seite der Meister, Ausstände, Schelten und Auftreiben, Feiern unter der Woche, übermäßige Handwerksgeschenke und daran anschließende Gelage der Gesellen.*) Sie deuten auf eine unbefriedigende materielle Lage des Handwerks hin.

Versuchen wir nun, die Tendenzen zu charakterisieren, die in der nächsten Zeit, von innen und außen an das Gewerbe herantretend, seine Weiterentwicklung beeinflußten. Wir müssen zu diesem Zwecke unsern Blick auf das Ausland, vor allem auf den europäischen Westen, werfen. Denn schon hatte Deutschland an diesen seine ehemals in ökonomischer wie geistiger Beziehung führende Rolle abtreten müssen. Während in langem, unheilvollem Kriege die deutschen Stämme sich zerfleischten, hatte der Westen Fortschritte gemacht, die nicht mehr einzuholen waren. Der über- seeische Handel und das Aufkommen der Manufakturen hatten den Anstoß gegeben zu jener Wirtschaftspolitik, die wir die merkantilistische nennen; das

‘) Cod. Aastr., I. Bd.. S. 508 u. ff.

2 Vgl. Euleobarg (a. a, 0. I. Bd., 8. 275 ff)

>) Cod. Austr., 1 Bd., 8. 508 u. ff.

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Dm Österreichische Gewerbe im Zeitalter ilee Merkantilismus.

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goldene elisabethinische Zeitalter und die Ara Crom well und in seiner prägnantesten Ausbildung das System Colberts in Frankreich bezeichnen die Siegeslaufbahn einer Richtung, die an der Wiege der Volkswirtschaft gestanden und sie durch mehr als zwei Jahrhunderte begleitet und groß- gezogen hat. Dies dürfen wir nicht vergessen, wenn wir von unserem heutigen Standpunkt aus geneigt sind, die Weisheit der damaligen Staats- männer und Nationalökonomen als ein mehr oder minder geistvolles Equi- librieren anzusehen; für seine mechanische Gesellschaftsauffassung künnen wir dieses juristische Zeitalter nicht verantwortlich machen.

Die allgemeine Bekanntheit mit den Grundsätzen des Merkantilismus enthebt mich der Aufgabe, auf dieselben näher einzugehen. Ebenso bekannt ist. daß die deutschen Fürsten, kaum daß sich die Wunden des Krieges geschlossen, sich auf ein System stürzten, daß ihrem Machtbedürfnis ent- gegenkam und bereits anderwärts so glänzende Resultate gezeitigt hatte. Nur auf einen Unterschied müchte ich hinweisen. der seine Erklärung in den anders gearteten Bedingungen diesseits des Rheins findet.

Während die Merkantilpolitik des Westens ihr Hauptaugenmerk auf die Vermehrung des Geldes richtet, ist in den deutschen Staaten, die hier in Betracht kommen Österreich, Preußen und Sachsen die Bevölkerungs- vermehrung der Angelpunkt aller wirtschaftlichen Bestrebungen. Die Ursache ist klar: Frankreich hatte mit Geld Krieg geführt, Deutschland sein Volk zum Kampf gestellt. Hier wie in Österreich war die Entvölkerung das Haupthindernis des wirtschaftlichen Aufschwungs, ln einem Erlaß Leopolds I. wird darüber geklagt, daß die Türkenkriege den Bevölkerungsstand Nieder- österreichs so dezimiert hätten, daß sieb nicht einmal die Handwerker zum Wiederaufbau der nötigsten Wohnstätten fänden, und es wird gestattet, bis auf weiteres Ausländer ohne Unterschied und auch Unzftnftige dazu zu verwenden.

Hier konnte nur die neue Regierungskunst helfen und so verschrieb man sich deren Adepten aus dem Deutschen Reiche.1)

Im Jahre 1666 kam J o h an n Joachim Becher nach Wien. Ein Jahr vorher hatte man schon den Wirkungskreis für die neuen Lenker einer neuen Wirtschaftspolitik geschaffen, das Hofkommerz-Kolleg. Becher, nach ihm Philipp W’ilhelm v. Hörnigk und Wilhelm v. Schröder wirkten an demselben.

Dem Kaiser handelte es sich vor allem um die Hebung der Steuerkraft der Bevölkerung; er hatte im Osten seine Erbländer gegen die drohende Türken- gefahr zu schützen, im Westen den Übergriffen Frankreichs zu begegnen, und aus jener Zeit stammt ja der berühmte Ausspruch Montecuccolis über das wichtigste Kriegsbedfirfnis Geld. Daß sich unter solchen Ver- hältnissen eine Industriepolitik großen Stils nicht durchführen ließ, ist begreiflich. Von den verschiedenartigen staatssozialistischen Ideen Bechers*):

l) Vgl. für das Folgende: Hoicher, Die österreichische Nationalökonomie nnter Kaiser Leopold 1. (Hildebrauds Jahrbücher, 1. Bd., 8. 455).

*) J. J. Bechere, Politischer Diskurs III. K iit . Frankfurt 16SH, 8. ‘J44 H

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Errichtung von Provianthäusern zum Absatz der Bodenprodukte, von Werk- hausern. die gleichzeitig der Strafpflege und Arbeitslosenversorgung dienen sollten, von Kaufhäusern zui Organisation des Groflhandels und einer Landesbank zur Regelung des Oeldverkehres kam nur dag Wiener Manu- fakturenhaus zur Ausführung. Es war für die damalige Zeit eine Muster- austalt, faßte den Großbetrieb und Absatz einer Anzahl von Gewerben in sich, wurde aber bei der Türkenbelagerung (1686) in Brand geschossen. Becher hatte schon vorher (1678) Wien verlassen müssen. Oie Vorschläge Hörnigks bewegten sich wesentlich in derselben Richtung wie jene Bechers. Schräder war durch und durch Fiskalist. Von ihm stammt der Gedanke der Errichtung einer Notenbank, die den Staat mit Papiergeld versorgen und dem Handel durch Wechseleskomtierung Zahlungsmittel ver- schaffen sollte.

Charakteristischer Weise kamen nur die kleinen Mittel des Merkan- tilismus zur Ausführung. Schon 1659 war ein Einfuhrverbot für Luxuswaren, 1665 ein Münzausfuhrverbot, 1689 eine ungemein ausführliche Taxordnung für alle möglichen Waren und Arbeiten erlassen worden.

In jene Zeit Rillt für Österreich das Aufkommen der Manufakturen, einer gewerblichen Betriebsform, die, durch die Regierung eingeftthrt, das ganze folgende Jahrhundert hindurch das Schoß- und Sorgenkind der wechselnden Staatsleiter wurde.

Machen wir uns zuerst klar, was darunter zu verstehen ist.

Der amtliche Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts wendetdie Bezeichnung Manufakturen und Fabriken bald abwechselnd, bald gleichzeitig als gleich- bedeutend an. Dies ist irreführend. Manufaktur ist der weitere Begriff und bezeichnet, wie 8 o n n e n f e 1 s* i richtig bemerkt, die Herstellung gewerblicher Produkte für den Verlag. Allerdings setzt derselbe Schriftsteller dann aus- einander. Manufakturant im engsten Sinne sei gleichbedeutend mit Fabrikant, demjenigen, der den ganzen Produktionsprozeß vom Rohprodukt bis zum Kaufgut leite. Dies war aber bei den Mannfakturanten jener Zeit größtenteils nicht der Fall. Daher hat sich auch die falsche Anschauung von dem Auf- kommen der Fabriksindustrie zu Beginn des 18. Jahrhunderts und von der Beeinträchtigung des Kleingewerbes durch dieselbe gebildet. Aber es ist doch merkwürdig, daß mau erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts und da nur vereinzelt Klagen des Handwerks,”) das doch sonst eifersüchtig auf Wahrung seiner Rechte und Interessen bedacht war, gegen die Manufakturen oder Fabriken begegnet und daß sie erst im 19. Jahrhundert ständige InvcntarstOcke der zünftlerischen Beschwerden werden. Tatsächlich berührten manche dieser neuen Betriebe, und zwar diejenigen, die man allenfalls als Fabriken bezeichnen kann, Zuckerralfinerien, Glashütten, Ölfabriken, die bis- herige Domäne des Kleingewerbes gar nicht, die weitaus größt« Anzahl aber,

1 Vgl. Sonnenfel», Grundsätze der Polizey, Handlung und Finanz. 3. Anfl Wien 1787. n. Bd„ 8. 149, 150.

*) Vgl. Beer, Die österreichische Industriepolitik unter Maris Theresia. Wien 1894. S. 16.

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Das Österreichische Gewerbe im Zeitalter des Merkantilismus. 77

nämlich die Textilmaniifakturen. waren ihm eher förderlich. Sie stellten ihre ganze Produktion im Verlage durch durchwegs selbständige Meister her, übernahmen nur gewisse technische Verbesserungen, die man bisher nicht gekannt hatte und besorgten den Vertrieb im gTOßen. So kam es. daß im 18. Jahrhundert Spinner und Weber es zu einer Zunftorganisation brachten, was doch für die persönliche Unabhängigkeit der Meister spricht. Aber auch dort, wo der Betrieb sich konzentrierte, wie in den Gewerkschaften und Hammerwerken, behielten die Meister ihre volle Selbständigkeit und Organisation. Es fehlte eben das wesentliche der fabriksmäßigen Produktion, der maschinelle Betrieb und die Arbeitszerlegung.

Daß die Manufakturen, die als kapitalistische Unternehmungen alle Vorteile der Technik sich zu eigen machen konnten, durch Aufnahme des maschinellen Betriebs zu Fabriken wurden, ist unbestreitbar. Ebenso scheinen sie einen zersetzenden Einfluß auf die handwerksmäßige Organisation aus- geübt zu haben, indem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Zilnfte in der Textilindustrie wieder verschwanden. Es zog eben, ein sehr gewöhnlicher Prozeß, die sachliche Abhängigkeit vom Verleger und Kapi- talisten die persönliche nach sich. Ich schließe mich also vollinhaltlich dem Urteil Bochers an. wenn er behauptet5): .Vor 100 Jahren beherrschte das Handwerk konkurrenzlos alles das. was es vom Mittelalter übernommen und im 16. und 17. Jahrhundert noch dazu gewonnen hat.*

Die Kegierungspolitik jener Zeit suchte uun auf jede Weise die Ein- fohrung der Manufakturen, in denen sie eine Zeitlang eine Panacee gegen die allgemeine wirtschaftliche Stagnation erblickte, zu fördern. Da dies im Kähmen des Zunftwesens nicht möglich, auch in österreichischen gewerb- lichen Kreisen das zum Großbetrieb nötige Kapital nicht aufzutreiben war. sah man sich gezwungen, ftlr derartige Unternehmungen privilegia privativa zu erlassen. Sie hatten sowohl den Zweck, den Unternehmer von den Zunft, schranken zu eximieren. als ihm durch ein auf eine Reihe von Jahren ein- geräumtes Monopol einen sicheren Gewinn zu garantieren. Solcher Privilegien wurden zu Ende des 17. und im Anfang des 18. Jahrhunderts eine große Anzahl verliehen.') So wurde 1691 die erste Wollzeugfabrik Böhmens in Osseg, 1701 eine Spiegelfabrik in Neuhaus, 1709 eine Ölfabrik in Wien, 1710 eine Tuchmantifaktur in Planitz mit Privilegien und weitgehenden Verkaufs- und Alleinverkaufsrechten ausgestattet. Ja, der Staat schritt selbst zur Anlegung von Manufakturen und einzelne Länder ahmten ihm darin nach.

Von der Gründung des Wiener Manufakturenhauses war schon die Rede. Im Jahre 1672 wurde in Linz eine staatliche Tuchmanufaktur errichtet, die es bald zu großer Blüte brachte und um 1720 gegen 80.000 Webern in Oberösteneich und Böhmen Verdienst gab:5) später ging sie in Privat-

s) Vgl. Bücher, Entstehung der Volkswirtschaft. 8. Auf!., S. 208.

') Vgl. Cod. Aostr., lU.Bd., S. 782 f.— Hall wich a a. 0„ 8. 40 ff. K. L. Neumann, Entwurf einer Geschichte der Zuckerindustrie in Böhmen. Prag 1891, S. 2. Bujatti, Geschichte der Seidenindustrie iu Österreich.

*) Vgl. F. Nieht, Für da» Kleingewerbe. Wien 1888, HL, S. 4.

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besitz (Iber, Auch die kärntnerischen Lundstände errichteten in Klagenfurt eine Landesmanufaktur, die jedoch bald einging. 1718 wurde eine staatliche Porzellanmanufaktur errichtet und die von Karl VI. ins Leben gerufene orientalische Kompagnie mit einer Reihe von Fabriksprivilegien aus- gestattet.

Hier glaubte man den gegen die Zünfte zu Felde geführten Grundsatz der Bekämpfung des Monopolismus nicht durchführen zu sollen; und in der Tat waren ja diese Monopolien anfangs der stärkste Hebel zur Überwindung der Schwierigkeiten, die sich in eiuem kapitalsarmen, volkswirtschaftlich unentwickelten Staate dem Dnternehmungsgeist entgegenstellten.

Gegen die Zünfte kam es unter Leopolds Regierung noch nicht zu den erforderlichen durchgreifenden Maßregeln. Zwar hatte schon Becher ihre Beibehaltung nur bei gleichzeitiger Abschaffung der zutage getretenen Übelstände befürwortet und als solche bezeichnet; .Das Monopolium, das die Populosität, das Polipolium. das die Nahrung hemme und das Propolinm, das die Gemeinschaft zertrenne.* Es wurden auch einzelne Schritte unter- nommen, die ärgsten Mißbräuche abzustellen; aber es zeigte sich, wie auch das ganze folgende Jahrhundert hindurch, daß den Zunftmißbräuchen mit gesetzgeberischen Maßnahmen nicht beizukommen sei. Außerdem machte sich auch jene ängstliche Scheu, an überkommenen und wie man glaubte, wohlerworbenen Rechten zu rütteln, bemerkbar, die dem ganz von juristischen Anschauungen durchsetzten Charakter jener Zeit eigen war. Die römisch- rechtliche Auffassung der Zunftprivilegien als privatrechtlicher Eigentums- objekte, die im schroffen Widerspruch zur deutschen stand, welche in den Zünften Ämter, ständische Organisationen sah,1) verhinderte jede Reform, die an der Handwerksverfassung selbst Hand anlegen wollt«.

In der Richtung der drei eben angeführten Grundsätze Bechers bewegten sich einige Verordnungen, die jedoch nur auf dem Papier blieben.

Nachdem der Kaiser schon 1661 von der niederösterreichischen Regierung und den Ständen sowie von Städten und Märkten Gutachten eingefordert hatte, kam es endlich 1689 zum Erlaß einer Verordnung, welche die schreiendsten Mißbräuche, besonders jene, die auf Abschließung der Zunft und Hochhaltung der Preise zielten, abstellte. *) Zur Hintanhaltung des Poli- poliums sollte wohl jene Verordnung dienen, die den Bauersleuten .Hand- thierung und bürgerliche Gewerb mit allerley Pfennwerthen zu treiben,* durch die .denen Städten und Märkten an ihren Gewerben Abbruch geschieht,* verbot.’) Ebenso wird das Verbot des Fürkaufs von Lebensmitteln und Rohprodukten in den Bauernhäusern erneuert.* i Die unzähligen Wieder- holungen aller dieser Verbote durch das ganze 18. Jahrhundert werfen ein Schlaglicht auf ihre Wirksamkeit.

') Vgl. Bruder. Über den Verfall der Zünfte zur Zeit des Absolutismus. (Histo- risches Jahrbuch der Gürres-Gesellschaft, 1. Bd.)

1 Cod. Austr.. I. Bd., S. 462.

*) Cod. Austr.. I. Bd., S. 455.

*) Gleichlautende’ Verbote 1640, 1568. 1570, 1571. (Cod. Austr. I. Bd.. S. 455).

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Das Österreichische Gewerbe im Zeitalter des Merkantilismus.

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Die kurte, durch Kriegssorgen ausgefüllte Regierungstätigkeit Josefs I. bewegt sich in derselben Richtung.

Hervorzuheben wäre, daß er 1709 dem bisher unbezunfteten Gewerbe der Schäffler (Schafscherer) eine Zunftordnung verlieh. Diese waren noch bei Lebzeiten Kaiser Leopolds darum eingekommen, man möge sie „in den Ehrenstand versetzen* und ihnen Iunungsartikol verleihen. Leopold hatte zwar jenen, die mit der Abdeckerei des gefallenen Viehes sich nicht beschäf- tigten, die Ehrenverwahrung erteilt, die andere Bitte um Zunftprivileg jedoch zurückgewiesen. Josef verleiht ihnen nun auch Zunftartikel in Anbetracht dessen, daß .durch solches ihr Begehren die Ehre Gottes nicht allein befördert, sondern auch unter ihnen Zucht und Ehrbarkeit erhalten werden könnte.* Die Bestimmungen dieser Artikel sind die damals noch allgemein flblichen. Interesse verdient nur Artikel IV der Ordnung, der begagt: Die Obrigkeit ist berechtigt. Freimeister und Gesellen zu machen, die die Zunft dann anerkennen müsse, .maßen eine jede Obrigkeit am besten wüßte, wer derselben tauglich und anständig sei.“ Hiemit ist, da die Schäffler ein länd- liches Gewerbe waren, jedenfalls die Grundobrigkeit gemeint und es läßt sich diese Durchbrechung der Zunftschranken allenfalls aus dem Verhältnisse der Grundhörigkeit erklären. Die Annahme aber, daß die Institution der Freimeister bei den bürgerlichen Gewerben viel älter ist als das bekannte Scbutzdekreterpatent Karl VI., findet ihre Bestätigung in einer Goldschmied- ordnung aus dem Jahre 1562, die allen Unbezunfteten die Verarbeitung von Gold und Silber verbietet, mit Ausnahme derer, denen es vom König gestattet ist. Vermutlich war diese Bestimmung in allen neueren Zunft- ordnungen enthalten.

In der Regierung Karls VI. gelangte der Merkantilismus in seinem vollen Umfange zum Sieg. Sie bedeutet den Anfang jener wirtschafts- politischen Ära, die sich unter ihm und seinen beiden Nachfolgern in steter Entwicklung fortbildet, bis ihr Abschluß unter Josef II. eine vom Anfang wesentlich verschiedene Prägung aufweist. Das wirtschaftliche Prinzip blieb während dieses Zeitraumes von fast 100 Jahren dasselbe: Vermehrung des sich in einer möglichst großen Summe wirtschaftlicher Güter äußernden Volkswohlstands durch staatliche Maßnahmen, deren erste und wichtigste die Hebung der Bevölkerungsziffer war. Was sich änderte, waren die treibenden Ideen und die leitenden Persönlichkeiten. Zu Beginn des Jahr- hunderts das in der römischen Juristenschule und im Kampf um das Welt- imperium herangereifte Machtbedürfnis eines durch und durch konservativen Herrschers, an der Neige des Jahrhunderts: salus publica suprema lex.

Mit voller Energie setzte Karl die Vermehrung der Manufakturen, die Hebung des Handels durch Errichtung der orientalischen und ostindischen Kompagnie, durch Anlegung von Verkehrswegen zwischen Zentrum und Peripherie des Reiches. Ausbau der Häfen und Kreierung zweier Freihäfen Triest und Fiume durch.

Besonderes Augenmerk wandte er der in den Sudetenländern schon zu hoher Blüte gelangten Leinen- und Tuchroanufaktur zu.

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Schon 1660 war auf die Beschwerde der holländischen Generalstaaten, dalt schlesische Kaufleute ein an Länge und Zahl minderwertiges Garn verkauften, die Aufstellung von Garnbeschauern in den größeren Orten nngeordnet. damit dem guten Rufe der Landesmanufakturen bei fremden Nationen kein Eintrag geschehe. Patente in den Jahren 1698, 1708. 1711 hatten sich eingehend mit Qualität und Quantität des zu verkaufenden Garns beschäftigt. Am 27. September 1714 erging ein ausfflhrlicheres Patent. Als Illustration zur merkantilistischen Gesetzgebung fahre ich hier seine wesentlichsten Bestimmungen an: ZuerBt erinnert es an das schon öfter erflossene Gebot: Garne streng nach Maß und Zahl herzustellen, und regelt ausführlich die Art der Herstellung. Die Weber werden beauftragt, falls das von ihnen gekaufte Garn nicht genau den Bestimmungen entspreche, dies bei der Obrigkeit anzuzeigen. Diejenigen, die sich das Sammeln des Garns zum Beruf machen, haben künftig sich dazu einen Erlaubnisschein ausstellen zu lassen. Damit aber durch diese Zwischenhändler den Garn- verarbeitern in den Städten kein Eintrag geschehe, sei diesen an Markttagen durch eine bestimmte Anzahl von Stunden der Vorkauf Vorbehalten. Auch solle kein Garn außer Landes geführt werden dürfen, damit es den ein- heimischen Fabricatores möglich sei, ihren Bedarf im Land zu decken. Nur mit königlichem Amtspaß versehenes Garn darf die Grenze passieren. Am Lande dürfen keine Packhäuser errichtet werden. Bauern und Dorfschulzen sollen keine Garne oder Leinwänden versenden oder damit ein negotium außer Landes treiben, damit das städtische Commercium, die beste Quelle des bürgerlichen Reichtums, blühe, die königlichen Städte dadurch aus ihrem tiefen Verfall gehoben, die Stenern einträglicher würden.

Mehrere Erlässe in den nächsten Jahren beschäftigen sich mit dem- selben Gegenstand. So suspendiert eine Verordnung aus 1725 das im Gam- patent enthaltene Ausfuhrverbot für Flachs wegen mehljähriger reicher Ernten, deren Erträgnis im Lande nicht mehr verarbeitet werden könne.

Auch die mährische Tuchmanufaktur, die im 17. Jahrhundert durch die Iglauer Tuchmucherkompaguie zu hoher Blüte gelangt, später aber durch betrügerische und leichtsinnige Manipulationen heruntergekommen war, wird mit einer Tuchordnung für Händler und Fabrikanten bedacht. Außerdem werden an jedem Fabrikationsort Beschauer aufgestellt, die jedes Stück Tuch prüfen und nur das fehlerfreie mit dem Siegel versehen sollten. 1724 erhält Schlesien eine Leinwandordnung. in der besonders den Nego- tianten eingeschärft wird, gutes Maß zu geben, da diesbezüglich Klagen aus dem Ausland eingelaufen seien. Ferner enthält sie ausführliche Bestim- mungen über Beschau.

Der Schaumeister wird in den Städten vom Magistrat, am Land von der Obrigkeit ernannt und beeidigt und soll ein anständiger Mann sein. Jede Leinwand muß gleich nach Verfertigung zur Schau gebracht und vom Beschauer mit dem an jedem Ort verschiedenen Stempel von roter Ölfarbe bezeichnet werden. Waren, denen der Stempel fehlt, werden am Markte konfisziert. Streitigkeiten zwischen Webern und Schaumeistem werden von

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Das östeiri'ichisfhe Gewerbe im Zeitalter des Merkantilismus.

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einer Versammlung anderer Schaumeister und Weber, in letzter Instanz vom Kommerzkollegium ausgetragen.

Die Anzahl der Mäkler auf den Wochenmärkten wird festgesetzt und ihnen ein Eid vorgeschrieben. Der Handel, heißt es weiter, gehört zwar in die Städte, da die Bauern aus dem Landbau und der Manufaktur ihren Unterhalt zögen. Da aber die gänzliche Abschaffung des Handels auf dem Lande Inkonvenienzen nach sich zöge, werden die Landleute auf gewisse Märkte beschränkt und ihnen verboten, nach Italien und dem Reich zu exportieren.

1731 wird den schlesischen Tuchmachern gestattet, neben ihren bis- herigen Webstflhlen holländische aufzustellen; doch darf auf denselben nur holländisches oder feines Aachener Tuch gemacht werden. Zur Beför- derung der Einführung dieser Stühle werden folgende Bestimmungen erlassen: diejenigen, die den neuen Stuhl einführen, erhalten das Prädikat .Kunstreich“; nur aus ihrer Mitte darf in einer Reihe namentlich auf- geführter Städte der Zunftälteste gewählt werden und die Erlangung der Meisterschaft ist künftig an die Anschaffung eines solchen Stuhls gebunden. Zur Durchführung dieser Bestimmungen wurde aus dem Kommerzkolleg eine eigene Kommission ernannt.

Ein wichtiger Schritt auf dem Gebiete der Gewerbeförderung geschah 1734: zur Förderung des Handels und Einführung neuer Manufakturen wurde in Prag ein eigenes Kommerzkolleg für Böhmen und Glatz geschaffen. Es sollte aus kaiserlichen Räten und Sachverständigen bestehen und mit Rat und Tat den Fabrikanten und Händlern zur Seite stehen.1) Besonders wichtig aber ist eine gleichzeitige Bestimmung, durch die fremden Fabrikanten und Artisten, die eine neue Manufaktur in Böhmen einführen wollten, ohne Rücksicht auf ihr religiöses Bekenntnis, Privilegien und Immunitäten zuge- sagt wurden. Wurde doch dadurch mit dem bisher ängstlich gehüteten Konfessionalitätsprinzip gebrochen.

Weniger energisch und durchgreifend war das Verhalten der Regierung gegen die Zünfte. Es war die Regelung und Ordnung des Zunftwesens auch in der Tat ein äußerst schwieriges Problem, das durch einzelne, zusammen- hangslose Maßregeln nicht zu lösen war. Das Wandern der Gesellen hatte eine enge Verbindung hergestellt zwischen dem österreichischen Handwerk und dem im Reiche. Gebräuche und Mißbräuche waren hier wie dort die- selben. Wollte man nicht diese Verbindung durchschneiden, wogegen sich aber das gesamte Handwerk wie ein Mann erhoben hätte, so war man gezwungen, eine gemeinsame Regelung für das ganze Reich zu treffen bei dem Mangel einer durchgreifenden Reichsgewalt und dem unentwickelten Solidaritätsgefühl der Stände eine äußerst schwierige Sache.

Mit der ökonomischen Hebung des Handwerks glaubte man, sich damals nicht beschäftigen zu müssen. Hatte man ja doch durch Einführung

') Seit 1714 hatte schon ein Merkantilkollegium als iudiciuin delegatum der böhmischen Hofkanzlei mit ziemlich beschränkten Kompetenzen bestanden. Vgl. A. Pfibram. Das böhmische Komraerakollegium and seine Tätigkeit. Prag 1868. 8. 27 (f.

Zritdchrlfl für VnlktwIrUoh&fi, Soclalpolltlk nnd V«?rw»lluDf. ZU. n*nd. 6

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und Begünstigung der Manufakturen den Weg gezeigt und eingeschlagen, der dem Wohl des einzelnen wie dem des Staatssäckels am förderlichsten schien. Es blieb also nur die soziale Frage zu lösen, die damals wesentlich Gesellenfrage war, und den Konsumenten gegen Übergriffe der Zünfte zu schützen übrig.

1724 erschien ein kaiserliches Reskript, welches die Behörden mit den Vorerhebungen zur Erlassung einer allgemeinen Zunftordnung betraute; gleichzeitig wurden die Verhandlungen mit den deutschen Reichsständen eingeleitet. Das Ergebnis war der Reichstagsschluß vom IC. August 1731, *) der in Österreich als Generalzunftpatent am 16. November desselben Jahres publiziert wurde.

IV.

Er bildete den Abschluß jener langen Kette politischer und ökono- mischer Ereignisse, die von dem stolzen Baue mittelalterlich deutscher Zunftherrlichkeit Stein um Stein abgebröckelt hatten. Kam er zur Durch- fflhrung, so war die Zunft tatsächlich nur mehr behördliche Polizeianstalt und Dekorationsstück für kirchliche Feste und Prozessionen.

Die erste Bestimmung behielt dem Herrscher das Recht der Zunft- bestätigung vor ein Recht, welches dieser in Österreich schon seit jeher in Anspruch genommen und seit Josef I. auch tatsächlich beständig aus- geübt hatte. Demzufolge mußten bei jedem Thronwechsel alle Zunfts- wie auch die übrigen Privilegien zur Bestätigung eingereicht werden.

Jedes korporative Vorgehen der Meister einer Zunft, noch mehr aber das Zusammengehen verschiedener örtlich getrennter Handwerke erscheint streng verpönt. Durch dieses Verbot sollen vor allem die Preisverabredungen der Meister, die sehr beliebte Fassung geheimer Handwerksschlüsse, die sich einerseits auf Beschränkungen der Meisterstellen, anderseits auf gemein- sames Vorgehen gegen die Gesellen bezogen, verhindert werden. Zum Zwecke der Überwachung sollte jeder Zunftversammlung der Zuuftinspektor beiwohnen. Korrespondenzen der Handwerke untereinander seien überhaupt überßüssig. Sollten sie sich aber doch einmal nötig erweisen, so müssen sie der Ortsbehörde vorgelegt werden. War auf diese Weise den Meistern jedes korporative Vorgehen unmöglich gemacht, so mußte konsequenterweise den Gesellen gegenüber dasselbe Verfahren eingehalten werden. Da die Gesellenverbände oder Bruderschaften tatsächlich nicht zum Wesen der Zunft gehörten, sondern sich nur als das Ergebnis einer späteren socialen Entwicklung darstellten. ’) da sie ferner eben auch in Konsequenz dieser Ent- wicklung und der von der Meisterschaft und den lokalen Gewalten dagegen ausgehenden Reaktion einen teilweise revolutionären und turbulenten Charakter angenommen hatten, so wurden sie schlechtwegs untersagt und jede Gesellenvcrsammlung sowie das schon damals viel gebrauchte Kampf-

*) Vgl. Mäscher. Das deutsche Gewerbewesen vou der frühesten Zeit bis aof die Gegenwart Potsdam 1866.

3) Vgl. Schanz, Zur Geschichte der Gesellenverbände. Leipzig 1*77.

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Das Gsterrcirhiache Gewerbe im Zeitalter des Merkantilismus. K3

mittel des Ausstands als Aufruhr mit Leibes- und Zuchthausstrafe bedroht. Von wie weittragender Bedeutung diese ultima ratio der Staatraison war, da sie auch die bisherigen sozialen Funktionen der Gesellenverbände unter- band, werden wir bei Besprechung der Durchführung des PatentB ersehen.

War so einerseits das korporative Wirken des Handwerks in seinem Nerv getroffen, anderseits die bisherigen öffentlich-rechtlichen Funktionen der Zünfte bis auf kleine Überreste beseitigt, so mußte die Staatsgewalt daran denken, wenigstens für diese öffentlich-rechtlichen Funktionen Ersatz zu schaffen. Das Verhältnis zwischen Meister und Gesellen, bisher ein Zunftinternum, wurde zum Lohnvertrag und als solcher der staatlichen Normierung und Gerichtsbarkeit unterworfen. Nur kleine Disziplinarstrafen im Höchstbetrage von 2 fl. rh. sollte der Zunftälteste noch verhängen können, ja selbst bei diesen stand der Rekurs an die Behörde offen.

Die zünftige Lebensmittel- und Warenpolizei war in Österreich schon lange der Beschau gewichen. Nur gingen diese staatlich angestellten Beschau- meister früher aus ihrem Gewerbe hervor.1) Jetzt aber sollten sie als behördliche Polizei organisiert werden.

Auf die Finauzgebarung der Zünfte, bisher nur durch die Handwerks- versammlungen kontrolliert, sicherte sich der Staat weitgehenden Einfluß. Den Jahresversammlungen, an denen die Zunftältesten Rechenschaft ablegen mußten, sollte der Zunftinspektor beiwohnen. Er erhält einen Schlüssel zur Zunftkasse. Die politischen Behörden sind jederzeit berechtigt, Vorlegung der Zunftrechnungen zu verlangen. Die Überschüsse werden anstatt wie bisher auf Gelage aufzugehen, durch den Staat ad pias cansas verwendet.

Die Gesellenfrage glaubte man nicht durch Beschränkung der Lehr- lingszahl. wie dies von vielen Behörden vorgeschlagen worden war,*) lösen zu sollen hätte dies doch der Populosität Eintrag getan man erleichterte vielmehr den Zugang zum Meisterrecht. Es wird daher den Zünften nicht mehr gestattet, die Zahl der Meister oder Gesellen festznsetzen. Dies kann fortan nur mehr durch die Obrigkeit geschehen, die aber jederzeit berechtigt ist. von der so festgesetzten Zahl wieder abzugehen. Die Meisterstücke dürfen nicht zu kostbar und müssen leicht verkäuflich sein. Die bei der Meisterwerdung üblichen Schmausereien haben ganz wegzufallen. „Mutungs- jahre“ das waren ein oder zwei Jahre, die zugereiste Gesellen auf die Meisterwerdung warten mußten, um vorher bekannt zu werden werden, wo sie bisher üblich waren, abgeschafft. Verheirateten Gesellen darf das Meister- recht nicht verweigert werden.

Um den Zutritt zum Gewerbe zu erleichtern, wird angeordnet, daß für mittellose Lehrlinge die Obrigkeit das Lehrgeld herahsetzen könne, und daß dem Meister, der auf das Lehrgeld Verzicht leiste, der Lehijunge nach seiner Freisprechung noch ein Jahr unentgeltlich dienen müsse. Alle die verschiedenen Makel aus dem Stande der Eltern und aus sittlichen Ver-

*) Vgl. Euletibnrg (a. a. 0., 1. Bd„ S. 308.)

T) Berichte de« königlichen Tribunals von Mahren snm 35. Jänner und 0. Mürz 1727.

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geben werden mit einer Ausnahme der Kinder von Schindern abge- achaft't. Der tatsächlichen Überfüllung vieler Gewerbszweige wurde also nicht Rechnung getragen, der Grundsatz der Nahrungs- und Volksvermehrung war allein maßgebend. Eine Theorie darüber, wie diese zu bewirken sei, wie wir sie am Ausgang des Jahrhunderts treffen, war noch nicht aus- gearbeitet.

Dem hier geschilderten Prinzip entsprach auch das Verhalten gegen Winkelarbeiter und Stöhrer, die besonders auf dem Lande einen großen Prozentsatz der Gewerbetreibenden bildeten.

Die Regierung hatte hier zwar schon 1725 durch die Einführung der Schntzdekrete teilweise Abhilfe geschaffen: gegen Zahlung einer jährlichen Taxe wurden Schutzbefugnisse an Gewerbetreibende, die den zünftigen Anforderungen nicht entsprachen, verliehen und diese so berechtigt, ihr Gewerbe unabhängig von den Zünften auszuüben. Aber diese Dokrcte scheinen nicht weit über Wien oder Niederösterreich hinausgedrungen zu sein. Auch erfaßten sie jene proletarischen Eiistenzen nicht, denen die Zahlung der Taie oder die damit verbundene Überwachung unbequem erschien. Der Regierung jedoch lag es daran, alle Gewerbetreibenden in Körperschaften zu vereinigen, da sich so die Überwachung leichter gestaltete. So wurde denn festgelegt, daß Stöhrer und Winkelarbeiter zwar nirgends geduldet und ihnen im Betretungsfall ihr Werkzeug konfisziert werden sollte, zugleich aber auch, daß ihnen der Eintritt in die Zünfte auf jede Weise erleichtert werden solle.

Was schließlich die Konfession der Gewerbetreibenden betrifft, so setzt die Aufoahme in die Zunft nach wie vor römisch-katholisches Bekenntnis voraus. Wir haben aber schon bei den Manufakturen eine Durchbrechung dieses Prinzips konstatiert. Ebenso enthielt das Schutzdekreterpatent keine Bestimmung über die Konfession. Da aber das katholische Bekenntnis als Voraussetzung der Erlangung des Bürgerrechts zugleich Bedingung der Aufnahme in die Zunft bildete, letzteres aber bei den Dekretern nicht gefordert wurde, so können wir annehmen, daß bei ihnen vom Bekenntnis abgesehen wurde.1)

Wollen wir in wenigen Worten den Charakter dieser ganzen Zunft- gesetzgebung feststellen, so können wir zusammenfassend sagen: Man ging von einigen a priori feststehenden Grundsätzen aus, ohne sich um das von den Unterbehörden reichlich beigeschaffte Tatsachenmaterial zu kümmern. Nicht auf Grund der tatsächlichen Verhältnisse, die eine so detaillierte ein- heitliche Regelung gar nicht gestatteten und ohne Abschätzung der Macht- mittel, die zu ihrer Durchführung zur Verfügung standen, wandte man schablonenhaft die Grundsätze eines Staatsabsolutismus an, den Roscher den despotischen nennt.

Es ist allerdings nicht wahrscheinlich, daß der Staat durch eine wie immer geartete Regelung des Zunftwesens den Verfall der Zünfte hätte

’) Vgl. Ite schauer. Geschichte des Kampfes der Handwerkerzünfte und Kauf- manusgremien mit der Bureaukratie, S. 10.

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Da* österreichische Gewerbe im Zeitalter des Merkantilismus.

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aufhalten können. Die ökonomische Entwicklung drängte zur Gewerbefreiheit, wie ja jede Entwicklung in ihrer Jugendzeit vor allem der Freiheit bedarf und erst, wenn das Gleichgewicht zwischen den ihr innewohnenden Eipan- äionsbestrebungen und den ihrer Befriedigung dienenden Wirtschaftselementen hergestellt ist, im Zustand der volkswirtschaftlichen Sättigung also, sich staatlicher Normierung und Beschränkung fügt.

Auch war der Staat damals noch nicht in der Lage, der Zünfte gänzlich entraten zu können. Das Behördenwesen stand noch in seinen Kinderschuhen und war zu einer so fein ausgebildeten Funktion, wie sie die Gewerbepolizei des 18. Jahrhunderts darstellt, absolut nicht befähigt. Schon die Anforderungen des Generalpatents waren, wie wir sehen werden, viel zu hoch gestellt. Als Registrierungsbehörde fOr alle Veränderungen des gewerblichen Status, als Machtmittel, dessen sich die Regierung zur Durchführung ihrer merkantilistischen Grundsätze, zur Regelung von Angebot und Nachfrage bedienen konnte, waren die Zünfte noch immer unentbehrlich.

Zur Prüfung und Rektifizierung der von den Zünften vorzulegenden Innungsartikel wurde beim Gubernium eines jeden Landes eine Kommission eingesetzt,1) die für jeden Handwerkszweig einen Referenten zu ernennen hat. Sie soll .das utile ab inutili* separieren und jenes in einem Aufsatz dem Kaiser zur Bestätigung vorlegen. Hierbei solle man sich an die Grund- sätze des Generalpatents, die aber in die Spezialartikel keine Aufnahme finden sollten, halten. Was in den Generalartikeln Normierung allenfalls nicht gefunden habe, sei beizurücken und „sensui et menti des General- patents zu konformieren.“ Die mallgebenden Grundsätze dabei seien: eines- teils .die Ersprießlichkeit und Aufhelfung der Zünfte selbst“, anderseits das „darunter waltende bonurn publicum et commerciale“.

Es ist anzunehmen, daß sich die Zünfte ohne Widerspruch in die Neuregelung der Verhältnisse fügten. Die Kommission fand wenigstens an den eingereichten Artikeln nicht viel zu ändern.1) Das System der behörd- lichen Überwachung hatte sich schon zu sehr eingelebt und die Zünfte durften hoffen, es werde künftig nicht strenger als bisher durchgeführt werden. Denn, welche Organe wollte man damit betrauen? Staatlich waren nur die oberen Behörden in den Frovinzhauptstädten. Die Magistrate der kleineren Städte und Märkte dagegen waren viel zu sehr mit gewerbe- treibenden Elementen durchsetzt, um sich über die widerstreitenden Einxel- interessen erheben zu können.

Die kaiserlichen Hauptleute in den königlichen Städten und auf den Domänen, die Herrschaftsbeamten in den untertänigen Orten und am Lande schließlich waren so sehr mit Agenden überhäuft, daß sie den gewerb- lichen Verhältnissen nur geringe Aufmerksamkeit schenken konnten.

') Patent vom 18. Jänner 1782, Direktiven für die bandesstelle zur Einrichtung der Innungsartikel.

*) Kommissiousanfsätze der böhmischen Kommission vom 24. Juli 1734 und 26. September 1736.

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Za Zunftinspektoren wurden meist Leute in untergeordneten Stellungen, wie Stadtschreiber und Marktaufseher, bestellt, die von finanzieller Gebarung womöglich noch weniger verstanden als die Gewerbetreibenden und mit den Zünften, wenn sie nicht mit denselben im Einverständnis oder wohl auch direkt bestochen, alle Ausgaben passieren lieben, das ganze Jahr wegen der ihnen aus der Zunftlade zukommenden Pauschalvergütung für ihre Mühe- waltung im Streite lagen.1) Rechnungen wurden nicht geführt und so kam es auch zu keinen Überschüssen ad pias causas. Ja. was früher doch teil- weise der Dnterstützung armer und kranker Gesellen zugeführt worden war, das wanderte jetzt, da man die vermittelnde Organisation aufgehoben hatte, in die Herberge. Es kam daher schon 1788 zu einem Notenwechsel zwischen der böhmischen und österreichischen Hofkanzlei, als dessen Ergebnis die Abänderung des Artikels betreffend die Gesellenzusammenkünfte für die neu zu erlassenden Generalzunftartikel beschlossen wurde. Es sollen aucli künftig, wie dies bisher Sitte gewesen, die Gesellen unter Beiziehung von zwei Meistern wöchentlich oder monatlich einmal sich versammeln und für die genannten Zwecke die Auflage von 2 4 kr. leisten dürfen. Doch sollte auf diesen Versammlungen kein Erkenntnis gefällt werden dürfen und das Geld abgesondert von der Zunfllade aufbewahrt werden.

Die Handwerkserkenntnisse oder Beschlüsse machten überhaupt der Regierung schwere Sorgen. Sie hatten nach Erlassung des Patents keines- wegs aufgehört, nur wurden sie geheimer gehalten und schienen dem ent- sprechend noch gefährlicher. So fordert die Regierung in einem Intimatum vom Jahre 1766 von der kärntnerischen Landeshauptmannschaft einen Bericht über die unter den dortigen Zünften bestehenden Handwerksschlüsse. Die Landeshauptmannschaft läßt durch die Kreisämter die Erhebung gleich bei deu Zunftladen selbst anstellen und erhält natürlich zur Antwort: sie hätten keinerlei geheime Schlüsse, sondern hielten sieb streng nach den General- artikeln. Statt der zu meldenden Mißbräuche kommt dieser interessante Enquetebericht mit einer Unzahl von Handwerksbeschwerden und Bitten zurück.

Ebensowenig hatten sich die Zustände in der Gesellenschaft gebessert, Handwerksgeschenke, Schmähen. Schelten und Auftreiben standen nach wie vor in Schwung. Bei einer schon 1727 eingeleiteten Erhebung über Hand- werksgeschenke in den Sudetenländern kamen die ungeheuerlichsten Dinge zum Vorschein und hierin hatte sich bis 1740 so wenig geändert,*) daß die Ergebnisse der damaligen Umfrage als Grundlage neuer gesetzgeberischer Maßrogeln gegen Gesellenmißbräuche genommen werden konnten.

Da die Normierung der einzelnen Bestimmungen des Generalpatents für die böhmischen Länder, in denen die gewerbliche Produktion am weitesten fortgeschritten war, zu wenig eingehend erschien, da Bich überdies bei der

*) Kaiserliches Reskript ex Augusto 1763. Hofdekret an das böhmische Guberniuni ex Julio 1769.

Berichte des mährischen Tribunals und des böhmischen Guberniums; Referat an die Kaiserin ex Aprili 1740.

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Du Österreichische Gewerbe im Zeitalter des Merkantilismus.

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praktischen Anwendung mancher Artikel Unzukömmlichkeiten herausgestellt hatten, sah man sich veranlaßt, fflr die böhmischen Länder 1739 eigene Generalzunftartikel herauszugeben als Erläuterung und Ergänzung des General' Patents. Sie sollten in den Zunftordnungen der verschiedenen Orte Gleich- förmigkeit schaffen in Bezug auf Lehrzeit, Wanderjahre, Gebühren u. a. m. Denn die Bestimmung des Generalpatents: daß der einmal erlangte Meister- titel überall Geltung haben solle, erforderte auch gleiche Vorbedingungen seiner Erlangung. Zur Durchführung teilte man die Städte in vier Größen- klassen, die auch bei Bemessung der Gebühren verschieden behandelt wurden. In der dritten und vierten Klasse sollten die Generalzunftartikel unum- schränkte, in den beiden anderen Klassen subsidiäre Geltung neben den Spezialprivilegien haben.

V.

Das folgende Jahrzehnt bildet einen Kuhepunkt im Flusse der gewerbe- politischen Entwicklung. Der österreichische Erbfolgekrieg und nach dessen Beendigung die von Maria Theresia durchgeführte Bebördenorganisation nahmen alle Kräfte der Verwaltung in Anspruch. Als dann nach ihrem Abschluß die Frage der Gewerbereform von neuem an die Staatsleiter her- antrat, fand sie einen wesentlich neuen Geist und frische Kräfte zu ihrer Lösung.

Die Beamtenschaft war überall vom ständischen Einfluß losgelöst und durch Errichtung der Kreisämter der Bevölkerung und ihren materiellen Interessen näher gerückt. Daß aber nicht nur eine bureaukratisch polizeiliche Verwaltung die ständische Interessenpolitik ablöse, dafür sollten im Gebiet des Gesamtstaates das Kommerzdirektorium, in den einzelnen Provinzen die Kommerzkonsesse sorgen. Sie waren kollegial zusammengesetzt, hatten alle gewerblichen Erhebungen einzuleiten, Beschwerden entgegenzunehmen, Reformvorschläge zu erstatten oder zu begutachten und Ober alle Gewerbe Protokoll zu führen. Hatte man sich so exekutive und beratende Organe geschaffen, so konnten die diesbezüglichen Funktionen der Zünfte mehr und mehr überflüssig erscheinen und in der Tat richtete Maria Theresia schon 1751 eine Rundfrage an die Behörden: ob es nicht in Anbetracht der allenthalben obwaltenden Zunftmißbräuche geraten sei, das Zunftwesen gänzlich abzuschaffen?1) Gegen einen so radikalen Schritt erhoben sich aber allerorts Bedenken und so wurde vorläufig nur, eine allerdings äußerst folgenreiche Einrichtung, die Trennung des Gewerbes in zwei Gruppen, Polizei- und Kommerzialgewerbe, durchgeführt.

t) Kaiserliches Reskript an die gesamten Länderrepräsentationen, nnd Kammern vom 4. Dezember 1751, .daß in Ansehung deren durch allseitige erbländische Hand- werkszünfte dem Public» und Commercio zugewachacnen Bedrückungen nnd Incon- venienzen, nnd ob dahero aothane Zünften nnd Innungen gänzlich aufgehoben, was für Bedenklichkeiten etwa hierbei gcmachct, oder wie bei deren alienfaltigen Beibehaltung eine bessere Ordnung eingeleitet werden konnte, im geheimb and mit aller Behutsamkeit hierüber deliberieret und gutachtlicher Bericht erstattet werden solle.

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Rizzi.

Sonnenfels und seit ihm meines Wissens alle Schriftsteller, die Bich mit dem Gegenstand befaßten, geben als Einteilungsgrund die Absatz- verhältnisse an: Die Kommerzialgewerbe suchten mit ihren auf Verlag hergestellten Produkten den nationalen und internationalen Markt, die Polizei- gewerbe den örtlichen auf.1) Dies kann jedoch nur teilweise festgehalten werden. In erster Linie maßgebend waren verwaltungspolitische Momente. Alle Gewerbsarten, die wir heute unter dem Namen Approvisionierungs- gewerbe zusammenfassen oder die jetzt einer Konzession bedOrfen, erscheinen in der Liste der Polizeigewerbe, da man bei ihnen staatliche Überwachung für unentbehrlich hielt; ferner jene Gewerbe, die ein geringes oder gar kein Anlagekapital und keino große Geschicklichkeit erfordern oder die in persön- lichen Dienstleistungen bestanden. Hier wollte man den für Kommerzial- gewerbe aufgestellten Grundsatz der unbeschränkten Vermehrbarkeit nicht zulassen, da man wegen der geringen Anforderungen eine Überfflllung befürchtete. Alle anderen Gewerbe, darunter die meisten mit Kleinbetrieb, die damals, wie teilweise heute noch, auch nur für den lokalen Markt produzierten, wurden als Kommerzialgewerbe erklärt.’)

Die Kommerzialisten unterstanden in gewerblichen Angelegenheiten den Kommerzkonsessen, in letzter Instanz dem Kommerzdirektorium, später der Hofkammer. Sie erhielten keine Zunftprivilegien mehr, sondern Ordnungen für Meister und Gesellen, die den Bedürfnissen der Zeit besser angopaßt waren als die alten Innungsartikel.5) Die ganze Tendenz ging dahin, die Kommerzialgewerbe nach und nach zu voller Gewerbefreiheit überzuleiten. Zu diesem Zwecke wurden seit 1754 überhaupt keine neuen Zünfte mehr errichtet. Das hatte zur Folge, daß bei der starken Spezialisierung dieser Gewerbe in größeren Städten, besonders in Wien, die freien bald die zünftigen Gewerbe an Zahl übertrafen Auch entließ man nach und nach eine große Anzahl von Gewerben, zuerst die Textilgewerbe, dann zwischen 1760 und 1780 eine ganze Reihe anderer Beschäftigungen aus dem Zunftzwang.

Die Polizeigewerbe sollten den politischen Behörden, in letzter Instanz dem Directorium in publicis et cameralibus. später der vereinigten Hofkanzlei unterstehen. Sie sollten je nach Bedarf von den Behörden geschlossen und wieder geöffnet werden. Auch bei den Kommerzialgewerben war den Landes- behörden schon im Jahre 1754*) für Inländer, fünf Jahre darauf5) auch für Ausländer die Befugnis zur Verleihung von Bürger- und Meisterrecht erteilt worden; doch mußte dieses immer verliehen werden, wenn die gesetz- lichen Erfordernisse Vorlagen.

') Sonnenfels, Ausarbeitung über die Grundsätze wegen Aufnahme der Handwerker und Gewerbsleute in den Städten ex 1793.

b Profeseionistentabellen in den bobmilchen und innerösterreichischen Gubernial- berichten.

’) Die erste Profeseionsordnung erhielten die Papiermacher am ‘23. November 1754. die letite die Knrtenmaler iin Jahre 1787.

*) Reskript vom 13. Juli 1754 an alle Repräsentationen und Kammern.

*) Reskript ex Martin 1759.

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Das österreichische Gewerbe im Zeitalter des Merkantilismus.

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Auf die ungemein zahlreichen Eingriffe der Kegierung in die Gewerbe- verfassung ist hier nicht der Raum näher einzugehen. Sie bestanden teils in Wiederholungen der in Vergessenheit geratenen Bestimmungen des Generalpatents und Mallregeln zu ihrer Durchführung, teils gingen sie dar- über hinaus. Immer wieder mußten die Verbote gegen Zunft- und Gesellen- mißbräuche eingeschärft werden und fast wie Ironie klang os, wenn 1782 die österreichische Regierung auf ein Promemoria,) des preußischen Residenten v. Jakobi über gemeinsame Abschaffung der Handwerksmißbräuche in den beiderseitigen Grenzländern zur Antwort gab: man habe ja ohnehin die Generalartikel, die streng beobachtet würden.

Andere Aufgaben boten den Behörden die sehr oll von den Handwerkern selbst gewünschte Zusammenlegung schwächerer Zünfte,') die Inkorporierung der Landmeister, die diese, um den Zunftabgaben zu entgehen, auf jede Weise zu hintertreiben suchten, überhaupt die Regelung der Verhältnisse zwischen städtischem und ländlichem Gewerbe.

Die Generalartikel hatten die Einzünftung aller Meister angeordnet, sowohl der Überwachung als auch gewisser Abgaben wegen, die von den Gewerbetreibenden in corpore getragen wurden. Im Interesse des städtischen Gewerbes lag es, die Landmeister daran mittragen zu lassen; im Interesse dieser dagegen frei zu bleiben. Das hatte aber auch zur Folge, daß viele städtische Gewerbetreibende aufs Land zogen und die Städte so noch weiter beeinträchtigt wurden.') Die staatlichen Behörden, die ja auch auf dem Lande die Meisterrechte zu vergeben hatten, scheinen dies stillschweigend geduldet zu haben, bis Maria Theresia endlich auf die Klagen der Städte energisch die Inkorporation der Landmeister in die nächstgelegene Zunftlade befahl. Ja, es sollte überhaupt die Ansiedlung einer Reihe von Gewerben auf dem Lande verboten werden.

Dies geschah auch tatsächlich in Niederösterreich im Jahre 1764.*) ln Böhmen aber machten die Behörden Schwierigkeiten. Mehrmals mußte hier die Kaiserin ein Verzeichnis der auf die Stadt zu beschränkenden Pro- fessionisten und Kaufleute fordern. Auf die erste Note 1771 erwiderte das Gubernium erst 1774; die Kreisämter seien zu sehr beschäftigt, um diese Aufnahme durchführen zu können; es genüge, wenn sie jeden unbefugten Kaufmann oder Krämer auswiesen. Erst auf eine nochmalige Mahnung1 * * * 5) wird der von der Kommerzkommission ausgearbeitete Bericht eingesandt.®) Er beschränkt sich auf die Kommerzialzünfte. da Professionisten ohnehin nur

1 ; Das Promemoria beabsichtigte hauptsächlich Ausgleichung der beiderseitigen Gesetzgebungen mit den letzten ReichsschlQssen von 1771 und 1772.

b Berichte des böhmischen Gnberniums ex 1752 und 1753, 1754, 1755.

*) Vortrag des böhmischen Kommerxkonsesses ex 1753. Protokoll der kämtcerischen Repräsentation ex Maio 1754.

*! Kaiserliches Reskript ex Maio 1771.

Im September 1774; sie enthält eine Abschwächnng des 1771 ergangenen Reskripts.

*) Gubernialbericht ex Januario 1775.

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dort sich niederließcn, wo man ihrer bedürfe, aber auch unter den Komraer- zialisten sollen die Großbetriebe nicht einbezogen werden, da sie sich dort niederließen mußten, wo sie am besten und billigsten einkaufen konnten. Krämer sollten in jedem Ort zwei zugelassen werden, damit kein Monopol entstände, außerdem der Hausierhandel am Lande den Juden gestattet sein. Der Komraerzkonseß bemerkte zu diesen Vorschlägen, sie würden den Nieder- gang der Städte, der auf andere Ursachen zurückzuführen sei, nicht aufhalten. Das Gubernium hinwiederum meint, man solle lieber auf Ausbreitung der Hausindustrie, Leinen-, Woll- und Baumwollspinnerei. Weberei und Strickerei bedacht sein. Doch schloß sich die Kaiserin trotz des durchaus ablehnenden Gutachtens des Hofkommerzialrates den Anträgen der Kommerzkommission an. Nur sollte auf dem Dorf ein Krämer genügen.

Noch mehrmals hatten die Behörden Gelegenheit, eine freiere Auf- fassung der Gewerbepolitik gegen oben zu bekunden.

Auf die Anfrage, ob man nicht den Übergang von der Landwirtschaft zum Handwerk, der dieser viele tüchtige Kräfte entzöge und unter den Professionisten ein Polipolium schaffe, erschweren solle,*) wird geantwortet: dieser Übergang komme nur selten vor, da die Grundherren schon selbst auf Erhaltung ihrer Arbeitskräfte bedacht seien, die Zahl der Professionisten aber regle sich von selbst nach dem Bedürfnis. Ein andermal zieht gegen die geplante Festsetzung der Zahl von Professionisten und Kaufleuten der Kommerzialrat mit ganz manchesterlich klingenden Argumenten zu Felde. Beidemale war der Erfolg auf Seite der Behörden.*)

Wenden wir uns nun jenen Regierungsmaßregeln zu, die auf direkte Förderung des Gewerbes zielten.5)

Den Großbetrieben widmete die Regierung nach wie vor besonderes Augenmerk. Den Behörden wurden wiederholte Weisungen gegeben, die Eine Wanderung fremder Fabrikanten und Artisten auf jede Weise zu fördern; neu errichteten Manufakturen wurde Abgabenfreiheit auf eine Reihe von Jahren zugesichert, die Arbeiter erhielten Befreiung von der Militärdienst- pflicht. Dem Adel, der besonders in Böhmen, aber auch in Innerösterreich auf seinen Gütern großgewerblicbe Betriebe einführte, wurden Staatsvor- schflsse gewährt und der Staat ging nach wie vor durch Errichtung von Staats- manufakturen mit gutem Beispiel voran. I)a jedoch diese merkantilistischen Experimente mehr kosteten als sie Nutzen brachten und sehr bald den mühsam angesammelten Kommerzialfundus erschöpften.*) so wurde man in der späteren Regierungszeit Maria Theresias namentlich mit den Staatsvorschüssen, die gewöhnlich nicht zurückgezalilt wurden, vorsichtiger. Auch die Staatsmauufakturen rentierten sich meist schlecht und wurden teilweise wieder aufgelassen.5) Mit dem Monopoliensystem der vorangegangenen

*) Note an das böhmische Gubernium und den Kommerzkonsetl ex Martio 1771.

*) Gutachten des Kommerzialrates und Protokoll der Hofkanzlei ex 1774.

*) Vgl. Beer, Die Österreichische Industriepolitik unter Maria Theresia. Wien 1894.

«) Vgl Beer a a. 0., I., S. 11 ff.

9) Vgl. Beer a. a. 0., I., ebendaselbst.

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I>as Österreichische Gewerbe im Zeitalter des Merkantilismus

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Periode wurde jetzt allmählich gebrochen. Man hatte eingesehen, daß es das Gemeinwohl auf Kosten einiger weniger schädigte. Das Prinzip der freien Konkurrenz innerhalb des Staatsgebiets gewann immer mehr an Boden. Neue Privativprivilegien wurden nicht mehr bewilligt, die alten nach Ablauf nicht erneuert. Statt dessen suchte man die Industrie durch ein kompliziertes System staatlicher Maßregeln zu kräftigen und exportfähig zu machen. Man gewährte hohe Ausfuhrprämien, Zollerraäßigungen für die Ausfuhr und den Transit; Rohprodukte, die im Staat verarbeitet werden konnten, wurden mit Ausfuhrverboten belegt, der Import von Fertigfabrikaten durch hohe Einfuhrzölle verhindert.

Ein anderes Mittel der Gewerbeförderung waren staatliche Lohntaxen. So wurde in Mähren der Preis fflr die Gespinste festgesetzt. Ober den der Verleger bei Strafe nicht hinausgehen durfte.1) In einer andern böhmischen Industrie, der Glasfabrikation, die sich durch hohe technische Vollendung einen europäischen Ruf errungen hatte, wird der Mindestlohn fOr die Gesellen festgesetzt,*) um tüchtige Kräfte heranzuziehen, gleichzeitig aber Fabrikanten und Gesellen strenge verboten, das Land zu verlassen. Ja, zur besseren Überwachung dürfen sie sogar in Böhmen nur mit behördlichen Pässen reisen.*) Als Schlesien an Preußen verloren gegangen war. schloß man es durch Prohibitivzölle von Böhmen ab4) und brachte so in kurzer Zeit die nordböhmische Leinenindustrie zu ungeahnter Blüte.

In Brünn wurde 1751 ein staatliches Manufaktnrenaint eröffnet.*) Es hatte über Befolgung der Generalartikel zu wachen, Vorschläge über Neu- errichtung gewerblicher Korporationen zu erstatten, für Ausbreitung der gewerblichen Schulung zu sorgen und Warenproben vorzunehmen. Auch sollte es eine ständige HandwerkBberutschlagung unter Beisitz von sechs Repräsentanten der Gewerbe organisieren. Zur Vermittlung des Kredits diente die Btüuner königliche Lehenbank, die auch als Kommissionär der einzelnen Fabrikanten und Weberschaften den Warenverkauf besorgte.6)

Die Seidenindustrie war in Österreich schon länger eingeführt. Ein Gewerbescheins für Wien aus dem Jahre 1728 zählt schon 20 Seiden- fabricatores auf.1 Damit aber das Geld für die Rohseide nicht ins Ausland wandere, bemüht sich die Regierung den Bau des Maulbeerbaumes in Öster- reich heimisch zu machen. Nachdem von ihr selbst angestellte Versuche in Böhmen, Mähren und Kiederösterreicb günstig ausgefallen sind, ergeht an alle Städte, Obrigkeiten und Klöster der Auftrag, auf ihren Gründen Baumschulen anzulegen: den erforderlichen Samen stellt das Ärar bei;

*) Hofdekret iom 19. Dezember 1768.

3) Reglement för die Glasmeister und Glasarbeiter vom 5. Oktober 1765.

*) Patent vom 17. August 1752.

4) Vgl. Bach mann. Österreichische Reichsgeschichte, S. 394.

*) Patent vom 16. Jänner 1751, dazu Nachtragspatent vom 20. Oktober 1751.

•) Patent vom 15. Man 1762.

3) Bei S. Mayer, Die Aufhebung des Befähigungsnachweises in Österreich, S. 257.

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günstige Erfolge sollen durch Prämien belohnt, die jungen Bäume an die Untertanen verteilt und diese über ihre Pflege belehrt werden.1)

Nicht mindere Sorgfalt wurde der Ausbreitung der Garn- und Woll- spinnerei zugewandt. Kein Haus in Österreich sollte ohne Spinnrad sein, alle Städte, am Land die Obrigkeiten, Spinnschulen errichten,') die Kommer- zialkonsesse der einzelnen Länder durch Prämiierung besonders schöner Gespinste und unentgeltliche Verteilung der neuesten Spindeln und Web- stQhle die Betriebsamkeit fördern. In Mähren, wo die Gespinste vielfach von Spinnfaktoren gesammelt und verlegt wurden, sollten diese Faktoren den Spinnunterricht leiten, von Zeit zu Zeit alle Spinner visitieren und ihre Bäder ausbessern lassen.3) Beschränkungen der Anzahl der WebstQhle, die ein Meister aufstellen durfte, wurden untersagt.

Auch für die Metallindustrien tat der Staat, was er konnte, indem er seine von der K. Bergwerksprodukten-Direktion verschleißten montanistischen Produkte zu besonders günstigen Preisen abließ.')

Nicht vergessen darf man ferner die indirekte Förderung des gewerb- lichen Fortschritts durch die theresianische Schulreform.

Von besonderer Wichtigkeit aber ist das allmähliche Fallen der Binnen- zölle, zuerst für einzelne Länder und Warenkategorien,6) bis zum Ende der Regierungszeit Maria Theresias fflr das ganze Staatsgebiet.')

Die Regierung Josefs II. setzte auch hier, wie auf allen Gebieten des staatlichen Lebens: mit radikalen Maßregeln ein. Anfangs trug sich der Kaiser mit dem Gedanken, das Zunftwesen überhaupt abzuschaffen,7) aber seine Ratgeber, vor allem Sonnenfels, rieten ihm davon ab. So kam es denn nur zur Auflassung einiger Zünfte, merkwürdigerweise auch aus den Appro- visionierungsgewerben, die bisher des Zunftzwanges am wenigsten entraten zu können schienen. Die Gelder der aufgehobenen Zünfte wurden den Armen- instituton überwiesen. Alle Meisterrcchtsverleihungen sollten künftig von den Obrigkeiten und Magistraten vorgenommen werden können,*) die Ordnungen der Kommerzialgewerbe der Bestätigung nicht mehr bedürfen.9) Verwendung von Zunftgeldein für kirchliche Festlichkeiten sowie für alle nicht rein gewerblichen Zwecke ist untersagt-19) Meister, bei denen an den aufgehobenen Feiertagen nicht gearbeitet wird, werden mit Geldstrafen belegt.11) Die

’) Patent vom 16. August 1763 für Böhmen und Österreich.

T) Patent für die Erblande vom 27. November 1765. Vgl. auch das Hofdekret an das mährisch«! Gubcmium vom 17. Februar 1753 bei Grönberg, Studien zur öster- reichischen Agr&rgcschichte. Leipzig 1901, S. 193 f.

*) Instruktion fßr die mährischen Spinnfaktoren vom 19. Oktober 1765.

4) Hofdekrete vom 8. Dezember 1769.

s) Hofdekret vom 2. Oktober 1769 und 27. Jänner 1772 für Textilwaren.

e) Durch die Zollordnung vom 15. Juli 1775. Vgl. Hallwich a. a. 0., S. 58.

7) Sitzungsprotokoll der Hofk&nxlei ex Septembri 1782. Ordre an das inneröster- reichische Gnbernium ex Aprili 1784.

•) Hofdekret ex Aprili 1791.

*) Kaiserliche Resolution ex 1781.

10) Zirkular vom 17. Oktober 1785. n) Gubernialverordnung vom 24. Juli 17 6 fQr Böhmen.

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Das österreichische Gewerbe im Zeitalter <les Merkantilismus.

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Wanderpflicht der Gesellen aller Gewerbe wird abgeschafft.1) Alle Inländer, die in ein Gewerbe eintreten wollen, haben den zweijährigen Besuch einer Normalschule nachzuweisen.' i Dies neben Wiederholung vieler froherer Verordnungen die wesentlichsten neuen Bestimmungen der josefinischen Gewerbepolitik. Als die wichtigste und folgenreichste Maßregel aber erscheint wohl auch auf gewerblichem Gebiet die Aufhebung der Leibeigenschaft. Sie sollte besonders dem gewerblichen Großbetrieb zu gute kommen;*) war sie ja die erste Vorbedingung seiner Entwicklung zur modernen Fabriks- industrie.

Auch dem Toleranzpatent kann man nicht jede Bedeutung für die gewerbliche Entwicklung absprechen, obwohl es jedenfalls an der bisher schon sehr toleranten Präzis nicht viel änderte.

Wenn wir Josef II. in seiner staatspolitischen Tätigkeit als von den Ideen der Wol fachen Glflckseligkeitstheorie, die in Österreich ihren Ver- treter in Justi gefunden hatte, und der von der W o 1 fschen Schule aus- gehenden Aufklärung beeinflußt, auf ffnanz- und agrarpolitischem Gebiet als Physiokraten erklären können, so war er in seiner Handels- und Industrie- politik Merkantilist reinsten Wassers.

Die verkehrsfreundliche Richtung, die die theresianische Politik in ihren letzten Jahren eingeschlagen hatte, wurde wieder verlassen.

Alle Waren, von denen man annahm, daß sie in Österreich in genügender Menge erzeugt wflrden, wurden außer Handel gesetzt, d. h. ihre Einfuhr wurde verboten.4) Diejenigen österreichischen Gewerbsprodukte, die den Bedarf noch nicht deckten, durch hohe Einfuhrzölle geschlitzt. Um fremde Waren von den einheimischen unterscheiden zu können, wurden er stere bei ihrem Eintritt in das Reich einer Zollstempelung, letztere nach Verfertigung der Kommerzialstempelung unterzogen.5) Ja selbst die erst erworbene Zoll- einheit wurde diesem Prinzip zuliebe wieder aufgegeben, Tirol zollpolitisch als Ausland erklärt.'1) für manche Waren die Transitzölle wieder hergestellt. Die Zollgesetzgebung dieser zehn Jahre kam keinen Augenblick zur Ruhe. Ausfuhr- und Einfuhrzölle, Zollerhöhungen und Herabsetzungen, Einführung und Abschaffung von Ausfuhrprämien folgten einander in kurzer Zeit und konnten schon wegen ihrer Kurzlebigkeit keine Erfolge erzielen.

Das letzte Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts bringt auf wirtschaftspoli- tischem Gebiet nichts Neues. Wenn irgendwo, so kann man hier sagen, daß große Ereignisse ihre Schatten vorauswerfen. Der Geist der Demokratie, in Frankreich entfesselt, hatte ein wirtschaftlich gedrücktes, politisch unreifes Volk getroffen und war in Anarchie umgeschlagen. Die europäischen Staats- lenker. wie gewöhnlich die mitten in einer Bewegung stehenden, sahen

5i Kaiserliches Reskript ex Majo 1780.

*) Hofdekret vom 27. August 1787.

*) Vgl. Grünberg, „Bauernbefreiung“. 1. Bd., 8. 272 IT.; II. ßd., S. 360 ff.

In einer Reihe von Patenten aus den Jahren 1787 und 1788.

5) Patent vom SO. Jänner 1789.

*1 Zirkulare vom 20 Oktober 1783.

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Rini.

wohl die Wirkungen, nicht aber die Ursachen und konzentrierten all ihre Bestrebungen darauf, das Feuer auf seinen Herd zu beschränken. In Öster- reich wirkten noch die inneren Unruhen, die den josefinischen Neuerungen gefolgt waren und finanzielle Kalamitäten ruit, die Kegierung aller Initiative zu berauben. So beließ man alleB auf dem Status quo und ließ nur die Zügel lockerer.

Ein größerer Versuch, die ganze gewerbliche Verfassung einer Neu- regelung zu unterziehen, der seine Entstehung der Initiative Sonnenfels’' verdankt, scheiterte wegen seiner praktischen Undurchführbarkeit in seinen Anfängen. Es fehlte jener Zeit in der Tat der Beruf zur Gesetzgebung. Sie sah nur das Allgemeine, wo der Gesetzgeber den Einzelbedürfnissen Rechnung tragen sollte.

Als letzte Lebensäußerung des scheidenden Merkantilismus und als Kompromiß, das dieser in seinem geistvollsten Vertreter, Sonnenfels, mit der kommenden Entwicklung schloß, verdient er dennoch eine nähere Betrachtung.

VI.

1793 hatte der Kaiser von allen Läuderstollen Berichte abgefordert, wie Handwerker und Gewerbsleute in die Städte einzureihen seien, damit eine gerechte Verteilung zwischen Stadt und Land platzgreife.

Über diese Grundsätze hatte Hofrat v. Sonnen fei s ein Gutachten ausgearbeitet, das den Länderstellen als Grundlage ihrer Berichte zugeschickt wurde.

Seine Grundzüge will ich hier kurz mitteilen.

Es bestellen zwei entgegengesetzte Meinungen; die eine würde durch Kleinfögigkeit in Vorschriften und Anstalten Zwang und bedrückende Beschränkungen, die andere durch unrichtig angewandte Begriffe von Freiheit Ungebundenheit und Unordnung herbeiführen.

Produzent und Konsument werden durch beide gleicherweise geschädigt.

Die Mittellinie kann nur aus der Beobachtung der tatsächlichen Ver- hältnisse durch die Verwaltung gewonnen werden.

Angebot und Nachfrage werden durch das Bedürfnis hervorgerufen und richten sich auf dasselbe Objekt. Nur in der Preisbestimmung gehen sie auseinander. Die Dringlichkeit des Bedürfnisses entscheidet in letzter Linie über den Preis. Die Verwaltung hat für keinen von beiden Teilen Partei zu ergreifen. Sie hat nur zu sorgen, daß die freie Preisbildung, die schließlich beiden Teilen gerecht wird, ungehindert vor sich gehe. Dies ermöglicht die freie Konkurrenz, die Verkäufer und Käufer voneinander unabhängig macht. Die öffentliche Verwaltung hat die Aufgabe, dieses freie Spiel der Kräfte, wo es besteht, gewähren zu lassen, wo es gehemmt ist, wieder herzustelien. Es entsteht also die Frage: bei welchen Handwerken und Gewerben besteht das freie Spiel der Kräfte ? Bei diesen wären Zwang und Vorkehrungen nur von Nachteil. Bei welchen besteht es nicht? Hier ist die Regierung berechtigt, Vorkehrungen zu treffen.

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Das Oatfrreichiselie Gewerbe im Zeitalter des Merkantilismus,

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Zu unterscheiden sind vier Arten von Gewerben:

1. Gewerbe, die allein auf Geding arbeiten, ohne selbst den Stoff beizustellen :

2. Gewerbe die auf Geding mit eigenem Stoffe arbeiten:

3. Gewerbe, die hauptsächlich auf Verlag arbeiten;

4. Handelsgewerbe.

Die ersten zwei Klassen können wir als Handwerk zusammenfassen. Sie erfordern den Befähigungsnachweis, doch darf dieser nicht durch Taxen und andere Erschwerungen ausarten. Würde er fehlen, so wäre das betreffende Gewerbe wegen des geringen Erfordernisses an Kapital und Geschicklichkeit bald Oberfüllt. .Man sage nun nicht, diese Vorkehrungen legen der Fähigkeit Fesseln an, beschränken die Geschicklichkeit, verschließen die Wege der Erwerbung, nehmen in Ansehung des einzelnen Bürgers eine Sorgfalt über sich, die jeder am besten für sich selbst trage, da jeder sich gegen Beschädigung vorsehen wird. Vorschriften, welche nur Beweise der zureichenden Geschick- lichkeit zum Augenmerke nehmen, legen der Fähigkeit keine Fesseln an, schließen die Geschicklichkeit nicht aus; sie versichern vielmehr der Geschick- lichkeit vor der Unfähigkeit den Vorzug, worauf sie gewiß einen billigen Anspruch hat.* Die Zünfte seien in diesen zwei Klassen beizubehalten, doch dürfen sie nicht geschlossen werden.

Die Gewerbe, der dritten Klasse, die. auf Verlag arbeitend größere Geschicklickbeit und größeres Kapital erfordern, sollten frei sein, da die Kombination dieser zwei Umstände die nötigen Garantien für ihre Keellität und gegen allzu starkes Anwachsen gebe. Es ist hier nur Anmeldung und Nachweis eines genügenden Kapitals erforderlich.

Bei den Handelsgewerben endlich sind zu unterscheiden:

1. Die dem täglichen Bedarf dienen; sie sollen frei sein, müssen sich aber zur Haltung der nötigen Vorräte verpflichten.

2. Die Luxusgewerbe sind frei.

3. Krämer sind frei, dürfen aber keinen Vorkauf ausfiben.

4. Gastwirtgewerbe erfordern Beschränkung der Zahl.

5. Wandernde Gewerbe sind wegen Unkoutrollierbarkeit und Vorkauf immer nachteilig, daher möglichst zu beschränken. Vererbliche Personal- gewerbe, radizierte und verkäufliche Gewerbe .sind unglückliche Geburten einer an echten Hilfsquellen unfruchtbaren Finanz.*

So S o n n e n f e 1 s.

Von den Antworten der Gubernien. habe ich nur die des kärntnerischen und krainischen gefunden. Sie erklären zwar im allgemeinen ihre volle Zustimmung zu den hier ausgedrückten Grundsätzen und wollen auch die Möglichkeit ihrer Anwendbarkeit auf Wien nicht in Frage stellen, erklären sich aber gegen ihre Ausdehnung auch auf ihre Länder.

VII

Nachdem wir so der Gewerbeverfassung durch alle Phasen des Merkan- tilismus nachgegangen sind und sie bis an die Schwelle der ökonomischen

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Rizzi.

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Neuzeit begleitet haben, wollen wir in knappen Zogen das Bild zu zeichnen versuchen, das uns im Gewerbe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in seiner Verbreitung, seinen Betriebsformen und seiner Bedeutung fOr die Gesamtwirtschaft entgegentritt.

Beginnen wir beim städtischen Handwerk.

Es stellte zu jener Zeit noch immer den größten Prozentsatz zur städtischen Bevölkerung, aber es war schon lange nicht mehr reine Kunden- arbeit. In sehr vielen Gewerben hatte der Meister bereits einen kleinen Laden neben der Werkstatt, indem er seine Arbeiten zum Verkaufe ausbot. Eine feste Abgrenzung der Befugnisse bestand in den Kommerzialgewerben, die die Polizeiprofessionen an Zahl und Bedeutung überragten,1) nicht Ja, auch bei letzteren verschwand sie in der josefinischen Periode mehr und mehr und Sonnenfels konnte es geradezu als Aufgabe des Staates erklären, Gewerbe, die zur Fertigstellung eines Arbeitsproduktes erforderlich seien, womöglich in einer Hand zu vereinigen.9)

Die Meisterstellen vererbten sich meist vom Vater auf den Sohn, der Zuzug zum Gewerbe war gering und kam größtenteils aus dem Ausland. Denn die Landbevölkerung war bis 1783 an die Scholle gebunden und die Aufhebung der Leibeigenschaft kam vorerst hauptsächlich dem Großbetrieb zu gute. Ein Wiener Professionistenschema3') aus dem Jahre 1736 zählt 3345 bürgerliche, d. i. bezunftete Professionisten, 3216 Dekretor. 301 Hofbefreite und 2941 Störer auf. Interessant ist hier erstens die große Anzahl der Dekreter elf Jahre nach Erlassung des Schutzpatents, zweitens die der Störer. Da diese sich jedoch kaum einer Zahlung unterworfen haben, so läßt die genaue Zahlangabe nicht auf allzu große Zuverlässigkeit des Berichtes schließen. Tatsache ist. und die vielen Erlässe, die sich mit den Störern beschäftigten, bestätigen es, daß die Stör das ganze 18. Jahrhundert nicht nur auf dem Lande, ihrer eigentlichen Heimstätte, sondern auch in den Städten verbreitet ist. Die Behörden mochten weder die Macht noch den Willen haben, biegegen ernstlich einzusclireiten, und eine gewaltsame Keaktion der Zünfte, wie sie in Deutschland in weitgehendem Maß erfolgte, war bei dem Charakter und der Entwicklung des österreichischen Zunftwesens nicht denkbar.

Das hier fflr Wien angeführte Zahlenverhältnis galt wohl nur für die Reichshnupt8tadt und vielleicht noch Prag und Brünn. In den kleinen Städten konnte sich der Meister nicht so leicht der Zunft entziehen. Sie bot auch in ihrem ökonomischen Stillstand keinen Anldß dazu. Hier wurde, besonders in den Alpenländern, der gewerbliche Betrieb vielfacb noch neben der Land- wirtschaft ausgeübt. Arbeit auf Bestellung mit oft noch vom Auftraggeber beigestelltem Material herrschte fast ausschließlich. Das ganze gewerbliche Leben spielte sich in viel kleinlicheren Verhältnissen ab. Streitigkeiten wegen Befugnisüberschreitung kamen häufiger vor.

*) Ein Verzeichnis der kärntncrischen Polizei- und Kommemalgewcrbc enthalt von ersteren 37. von letzteren 50 Professionen.

*) In dem Gutachten über die Verteilung der Gewerbe.

*) Vgl. Bujatti a. a. 0.. 8. 22.

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Das Österreichische Gewerbe im Zeitalter des Merkantilismus.

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Die Anzahl der Gesellen nahm mit der Größe der Städte und von den Kommemal- zu den Polizeigewerben ab. So kamen 1756* i in ganz Kärnten in den Kommerzialgewerben auf 1845 Meister 1366 Gesellen, doch ist die Verteilung sehr ungleich. Die stärksten Gesellenzahlen weisen die Groß- betriebe der montanistischen Industrie und die Textilgewerbe auf, während bei den eigentlich städtischen Professionen immer zwei oder drei Meister auf einen Gesellen kommen. Ein Beispiel der ungemein rasch fortschreitenden Spezialisierung der Kommerzialgewerbe liefert die Vergleichung der Tabellen von 1756 und 1793:*) während erstere 13 Kommerzialgewerbe nennt, sind auf letzterer schon 50 vertreten.

Die Lage und Verfassung des ländlichen Gewerbes richtete sich natürlich nach der der bäuerlichen Bevölkerung, aus der es hervorging, und war demgemäß in den verschiedenen Ländergruppen verschieden. In den Sndetenländern, in denen das System der gewerblichen Gutsuntertänigkeit in seiner strengsten Form ausgebildet war. der Boden größtenteils in den Händen des Großgrundbesitzes sich befand und der Untertan einen großen Teil seiner Zeit und Kraft dem Herrendienste widmen mußte, konnte sich bis gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts kein eigentlicher Gewerbestand am Lande entwickeln. Der Grundherr ließ die gewöhnlichen Handwerksarbeiten durch die robotpflichtigen Untertanen verrichten, feinere gewerbliche Produkte bezog er aus der Stadt oder aus dem Ausland. Die Untertanen hinwiederum deckten ihren ganzen gewerblichen Bedarf im hauswirtschaftlichem Betrieb.

Nur die Textilgewerbe erscheinen seit alter Zeit auf dem Lande heimisch. Sie gaben dem Bauer Beschäftigung während des Winters und mit ihren Erzeugnissen konnte er in manchen Gegenden einen Teil seiner untertänigen Schuldigkeit bezahlen.1) Zu intensiverem Betrieb gelangten sie aber auch erst durch den Verlag. Mit der allmählichen Milderung des Untertänigkeits- verhältnisses und der gleichzeitigen Bedürfnissteigerung im Laufe des 18. Jahrhunderts begannen nach und nach auch die übrigen Gewerbe am Lande Fuß zu fassen. Die Generalartikel hatten zwjr nur für die ländlichen Leinweber Zünfte vorgesehen, den übrigen Landhandwerkern Inkorporation in die städtischen Zünfte befohlen. Aber bald kommen auch Bestätigungen ländlicher Zünfte vor,*) wohl in Verbindung mit der Entstehung der Groß- betriebe. die sich mit Vorliebe auf dem flachen Lande ansiedelten.

’) Tutaltabella deren gesamten Kommerzprofessionisten im ganzen Land Kärnten pro 1756.

*) Verzeichnis der kSmtnerischen Kommerzialgewerbe im kämtneriechen Gubernial- bericht ex 1793

■*) Vgl. Grünberg, Bauernbefreiung. I. Bl.. 3. 183 f, und Brentano, Über den grnndherrlichen Charakter des hausindustriellen Leinengewerbes in Schlesien (in der Zeitschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. I. Bd-, S. 325 ff); derselbe. Über den Kinüub der Grundherriichkeit und Friedrichs des Großen auf das schlesische Leinen- gewerbe (ebendaselbst II. Bd., 8. 299 ff.; Grünhagen, Über den angeblich grundherr- lichen Charakter des hausindustriellen Leinengewerbes in Schlesien (ebendaselbst II. Bd-, S. 241 ff.).

*) Bericht des bobmischen Guberniums und Kommerxialkonsesses ex 1753.

/.HUchrlft fflr Volkswirtschaft, Hucialpolitik und Verwaltung. XII. Rand. 7

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Rizxi.

In Nieder- und Innerösterreicb, wo das Untertänigkeit« Verhältnis ein viel loseres war, der Großgrundbesitz lange nicht die wirtschaftliche Macht wie in den Sudetenländern besaß, sowie in Deutschtirol mit seinem freien Bauernstände bestand ein ziemlich reich entwickeltes ländliches Gewerbe: wir finden da Professionen auf dem Lande, die heute wieder rein städtisch geworden sind, z. B.: Lederer, Hutmacher, Körschner, Färber, Hafner.1) Doch sind sie nirgends so zahlreich vertreten, um eigene Zünfte bilden zu kennen. Die Meister sind in die Laden der größeren Orte, die sogenannten Viertelladen, eingegliedert und diese unterstehen wieder der Hauptlade in der Landeshauptstadt. Lohnwerk überwiegt hier weit, nur ein geringer Teil wird auf Kirchtagen und Märkten zum Verkauf gebracht Die Teitilgewerbe arbeiten Bchon größtenteils für den Verlag.

Die materielle Lage des Handwerks in Stadt und Land ist keineswegs befriedigend. In vielen Städten Böhmens stehen oft große Bruchteile ein- zelner Gewerbe vollständig beschäftigungslos. Die Meister müssen sich durch Taglöhnern ihr Brot verdienen, die Gesellen ziehen fechtend im Land herum. In den meisten behördlichen Berichten aus der zweiten Hälfte des 18. Jahr- hunderts ist von dem Darniederliegen des Handwerks die Rede. Rin Bericht über das ländliche Gewerbe eines Kärntnerkreises erzählt, die Löhne im Gewerbe seien so schlechte, daß jeder lieber in die Gewerkschaften oder zum Holzfällen gehe.1)

Die Ursachen liegen, wie schon oben gezeigt, nicht im Aufkommen der Großbetriebe. Auch die Steuern waren nicht übermäßig. Außer den geringen Kealsteuern und der Klassensteuer hatten die Gewerbetreibenden nur ihre Zunftabgaben und Taxen zu zahlen, von denen die Regierung einen Prozentsatz für sich erhob. Die Schuld liegt vielmehr in den gewerblichen Verhältnissen selbst. Ich nenne: die Überfüllung vieler Gewerbe8) die Anzahl der Gewerbetreibenden stieg zu rasch, als daß das Bedürfnis zu folgen vermochte, ferner die technische Rückständigkeit und die vielen alteinge- wurzelten Mißbräuche, die Zeit- und Geldverschwendung bedeuteten. Auch die sprunghafte Zollpolitik der Regierung, die eine Stabilisierung der Markt- verhältnisse nicht zuließ, mochte in gleicher Richtung wirksam gewesen sein.

Über die Cntstehung des Großbetriebes und seine Betriebsforra wurde schon das Nötigste gesagt. In den wichtigsten Industriezweigen anfangs Verlag, nähert er sich durch Vereinigung der Arbeitskräfte in einer Betrieb- stätte, durch Anwendung des maschinellen Betriebs und Arbeitszerlegung immer mehr der Fabrik ein Prozeß, der in manchen Gegenden noch heute nicht zum Abschluß gekommen ist. Ich verweise mir auf die Leinenweber Schlesiens, Nordböhmens und Niederösterreichs, deren niedere Entlohnung die Konkurrenz mit der Fabrik noch immer gestattet. Auch einige Misch- formen des großgewerblichen Betriebes finden sich: die Tuchmacherkompanie

’) HaupttAbel über die in Hörzogthumb Kärnthen des oberen Kreisen befindliche Pro- fessiouisten, welche mit ihren fabricatis einen Kinschlag ins Commercium haben, ex 1754.

*) Gutachten des gräflich Lodronschen Land- and Stadtgerichtes Gmund, ex 1793.

*) Bericht dea kämtnerischen und krainischen Gubemiunts. ex 1793.

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Das Österreichische Gewerbe im Zeitalter dee Merkantilismus. <|{>

in Iglau, die teilweise genossenschaftlich produzierte und genossenschaftlich absetzte und eine besonders interessante Form, die Ferlacher Gewerkschaft in Kärnten. Sie lieferte hauptsächlich Gewehre, und zwar wurden die ein- zelnen Gewehrteile von den verschiedenen Meistern spezialisiert; sie wurden dann von den reichsten Meistern angekauft, zusammengesetzt und genossen- schaftlich dem Großabnehmer abgegeben.*)

Die rechtliche Grundlage des Großbetriebes bildete in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Privilegium privativum, in der zweiten die fabriks- mäßige Befugnis. Beide kamen nur der Person des Begünstigten zu. Dieser bedurfte weder des Bürger- noch des Meisterrechts.*) War er Akatholik, so hatte er bis 1781 um Dispens anzusuchen. Juden waren schon seit Maria Theresia allgemein zu Erlangung von Befugnissen befähigt.

Man unterschied am Ende des Jahrhunderts zweierlei Befugnisse:*) Einfache fabriksmäßige Befugnisse, die für den Begünstigten eine Anerkennung der Nützlichkeit seiner Unternehmung, die Befreiung von allem Zünftigkeitszwang und das Recht alle Arten gewerblicher Hilfsarbeiter in seinem Betrieb zu vereinen in sich schlossen, und .Landesfabriks- befugnisse*. Diese bildeten eine Anerkennung der besonderen Wichtigkeit und Solidität des Unternehmens. Sie berechtigten zur Führung des kaiserl. Adlers, zur Errichtung von Niederlagen in allen Hauptstädten4) und zur Aufdingung und Freisprechung von Lehrjungen, was bei der ersten Klasse den Zünften Vorbehalten war.

Der Absatz der gewerblichen Produkte erfolgte, wo diese nicht Kunden- arbeit waren, fast ausschließlich durch die Gewerbetreibenden selbst. li> größeren Städten im Laden, in kleineren am Wochenmarkt, am Land auf den Kirchtagen. Der Kaufmannsstand war mit Ausnahme des Großhandels noch ganz unentwickelt Er galt als volkswirtschaftlich schädlich, da er, ohne selbst zu produzieren, einen Gewinn bezog. Die wenigen Kaufleute in Städten und Märkten waren teils Krämer und Höcker, die Pfennwerte. Gegen- stände des täglichen Bedarfs, mit deren Anschaffung man nicht bis zum nächsten Wochenmarkt warten konnte, verkauften; teils handelten sie mit importierten Waren. Kolonialwaren u. a.

Am wenigsten beliebt bei den Behörden, wie bei der Bevölkerung war der Hausierhandel. Man ließ ihn nur bestehen, wo man seiner nicht entraten konnte.

Nachdem eine Reihe von Verordnungen Maria Theresias Bestim- mungen für den Hausierhandel in den einzelnen Provinzen enthalten hatten, kam es endlich unter Josef 11. zu einer einheitlichen Regelung für die böhmischen und österreichischen Erblande:5) Fremden Untertanen sollte das Hausieren Oberhaupt, den eigenen aber nur das mit fremden Waren

*) Vgl. Kränil, Statistik. Wien 1841. III. Bit, S. 838.

*1 Vgl. Wildner, Das Österreichische Fahrikenrecht. Wien 1838, S. 14 u. ff.

*) Vgl, Wildner a. a. 0., S. 4.

4) Vgl. Wildner a. a. 0., S. 55.

\ Hausierpatent vom 20. Jnni 1785.

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untersagt sein. Mit inländischen Waren dürfen sie hausieren, müssen sich jedoch von den Kreisäintern Erlaubnisscheine aussteilen lassen, die nur für den betreffenden Kreis gelten, ln Städten und grelleren Märkten, die mit Kaufleuten versehen sind, sowie zwei Stunden innerhalb der Landesgrenze darf überhaupt nicht hausiert werden.

Die Märkte als jener Ort. an dem sich Produzent und Konsument direkt trafen, fanden zunehmend Pflege und Berücksichtigung seitens der Regierungen. Unter Josef II. wurde der Besuch der Jahrmärkte in den Landeshauptstädten Inländern und Ausländern und für alle Waren freige- gegeben.1) Man wollte grolle Handelsplätze, wie es die deutschen Messen, vorzüglich Leipzig und Frankfurt, waren, schaffen.

Betrachten wir schließlich die Stellung des Gewerbes in der Gesamt- wirtschafl.

Österreich erzeugte seinen Bedarf an Massenprodukten vollkommen. Ja. es lieferte noch für den Export nach Italien und dem Osten. Luxus- waren, gegen Ende des Jahrhunderts auch Maschinen, bildeten die Haupt- importartikel in Fabrikaten.*'

Die Scheidung zwischen dem gewerbereichen Korden und dem gewerbe- armen, viehzüchtenden Süden war noch nicht eingetreten. Böhmische Waren kamen höchstens im Transithandel in die Alpenländer, denn die Textil- industrie war hier weit verbreitet, die montanistische Produktion und Metallwarenindustrie übertraf die der Sudetenländer. Die Elemente, welche diese Scheidung im 19. Jahrhundert herbeiführten, Steinkohle, Baumwolle und eine rücksichtslose kapitalistische Spekulation, kamen damals noch nicht zur Geltung.

VIII.

Stellen wir uns zum Schlüsse die Frage, welches die eigentlichen Ursachen waren, die die Entwertung der sozialen Organisation des Gewerbes, den Verfall der Zünfte herbeigeführt haben Denn, daß Regierungsmaßnahmen dies nicht vermochten, daß sie ohne die in den konkreten Verhältnissen liegende Berechtigung gar nicht auf die Dauer Bestand haben konnten, liegt auf der Hand. Um hierauf antworten zu können, müssen wir auf die Entstehung des Zunftwesens zurückgreifen.

Die Zünfte waren als Schutz- und Rechtsorganisationen des Gewerbe- standes entstanden und sie hatten diesen Charakter beibehalten, solange Rechts- schutz und Interessenvertretung ausschließlich durch ständische Organisation zu erlangen waren. Die ökonomische Bedeutung des Zunftwesens kam erst an zweiter Stelle und konnte die natürliche Produktionsentwicklung nur in geringem Maße beeinflussen. Als aber daun der Ständestaat vom absolutistischen Einheitsstaat abgelöst wurde, da wurden auch die ständischen Organisationen überflüssig. Neben der neuen, immer mehr erstarkenden Zentralgcwalt konnten sie nur ein Schattendasein fristen. Nicht mehr dem Bedürfnisse,

1) Zirkular \om 20. September 1788.

*) Vgl Fränzl a. a. 0., III. Bd„ S. 460 u. ff.

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Das österreichische Gewerke im Zeitalter des Merkantilismus. 101

sondern staatlicher Wohlmeinung verdankten sie ferner ihre Existenz. Der Staat war es fortan, der den Umfang ihrer Wirksamkeit bestimmte und dabei zum Gradmesser das bonum publicum et commerciale nahm. Der ökonomische Stand des Kleingewerbes hält sich vom Ende des Dreißig- jährigen Krieges bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts fast auf der gleichen Stufe und dennoch der rasche Rückgang in der Bedeutung des Zunftwesens.

Der Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts mußte auch mit den letzten Resten rechtlicher Ausnahmestellung und sozialer Gebundenheit aufräumen. Er mußte die Gewerbefreiheit gewähren. Wo er daun wieder an die Organi- sation des Gewerbes schritt, war dies nur soweit von Erfolg begleitet, als er die freie Genossenschaft auf ökonomischer Basis schuf. Die Wieder- herstellung der Zunft, der geschlossenen Standesvertretung erwies sich in der Tat als mittelalterliches Anachronistikon.

Der jetzt im Werden begriffene soziale Staat wird nur soweit an eine geschlossene Organisation des Gewerbestandes schreiten können, als er sie mit rein sozialen Elementen zu erfüllen vermag. Die rechtliche und politische Gestaltung der gewerblichen Verhältnisse wird er sich Vorbehalten, die ökonomische der freien Assoziation überlassen müssen.

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VERHANDLUNGEN DER GESELLSCHAFT ÖSTERREICHISCHER VOLKSWIRTE.

CXVIII. Plenarversammlung.

Über einige wünschenswerte Richtungen der Gebühre n- reforin hielt am 28. Oktober 1902 Herr Oberfinanzrat Dr. r. Koczynski einen Vortrag.

Die sehr beklagte Kompliziertheit entstamme lediglich einem Kedaktions- fchler bei Abfassung des Gebührengesetzes vom 9. Februar 1850, und käme es sonach darauf an. diesen Fehler wieder gut zu machen.

Die Gebühren im österreichischen Sinne sind eine spezifisch österreichische Einrichtung: außerhalb Österreichs kommen Abgaben dieses Namens entweder gar nicht vor, oder sie sind völlig verschiedener Natur. Auch in der Finanzwissenschaft hat die Bezeichnung „Gebühr" einen ganz anderen Sinn. Sieht man aber anf Objekt, Anlaß und Wesen unserer Gebührenabgabe, so korrespondiere ihr ander- wärts nicht eine einzelne Abgabe, sondern eine ganze Reihe verschiedenartiger Abgaben. So war os auch im alten vormärzlicbcn Österreich. Im Jahre 1840 gab es bei uns Rechtstaxen, Laude mien, Papi erstem pel und Erb- steuer.

1. Die Rechtstazen bestehen aus Verleibungstaxen und Sportel- taxen. Die Verleihungstaxen sind die Gaben, welche aus Anlaß der Belehnung an den verleibenden Landesherrn zu leisten waren, ihrem Wesen nach eher ein Geschenk als ein Entgelt. Auch die Sporteltaxen reichen weit in das altdeutsche Recht hinein. Sie waren regelmäßig in fixen Beträgen bestimmt; nnr drei der- selben hatten prozentuelle Gestalt: die D e p o s i t e n t a x e für die gerichtliche Verwahrung, die Raittaxe für die Prüfung von Verwaltungsrechnungen und das Mortuar für die Pfiege von Verlaßabhandlungen.

Die Verleihungstaxen waren eine ganz eigenartige, mit dem Lehonswesen im Zusammenhang stehende Gattung von landesherrlichen Einnahmen, die Sporteltaxon Gebühren im Sinne der Wissenschaft. Letzteres ist allerdings für die proportionalen Depositen-, Rait- und Sterbetaxen zweifelhaft. Nach der überwiegenden wissenschaftlichen Lehre soll die Gebühr reine Kostenvergütung, ein gewinnloses Entgelt sein; erübrigt ein Gewinn, so sei das Ganze oder mindestens der Überschuß eine Steuer. Dies würde hier zutreffen, und es müßten diese Taxen als Verkehrsstenern angesehen werden. Dies geht wieder nicht an,

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CXVm. Plenarversammlung.

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weil es an einem zu besteuernden Verkehrsakte völlig mangelt. So wird man dazu gedrängt, zu erwägen, ob nicht eine Revision jenes wissenschaftlichen Gebühren- begriffes statthaft wäre. Tatsächlich gibt es in der Praxis Gebühren in diesem Sinne der Wissenschaft gar nicht: bei jeder Gebühr bleibt ein kleinerer oder größerer Gewinn übrig. Ein absolutes Gleichgewicht von Kosten und Gebühr herzustellen ist technisch unmöglich. Kur die Tendenz besteht, sie so niedrig als möglich zu halten, was aber eine Konsequenz der Forderung ist, daß das Gemeinwesen bei der Erfüllung seiner Aufgaben seinen Gliedern so wenig als möglich Kosten verursachen solle.

2. Landenden sind die im Falle von Veränderungen im Haupte des Unter- tanen zu entrichtenden Veränderungsgebühren. Sie sind öffentlich-rechtlicher Matur. Die Gntsherrschaften waren im Patrimonialstaat die untersten Glieder der öffentlichen Verwaltung; das Laudemialbezngsrecht und das heutige Besteuerungs- recht der Gemeinden entspringen sonach der gleichen Wurzel. Unter den Steuern werden die Laudemien ihrer Katur nach den Verkehrssteuern zuzuweisen sein. Sie hatten eine für unsere Vorstellungen exorbitante Höhe. Zumeist betrugen sie 10 Proz., mitunter aber bis zu einem Drittel des Sachwertes.

3. Infolge der Türkennot entwickelte sich von der Mitte des XVI. Jahrhunderts an ein reiches Aufschlagswesen; es entstand im Jahre 1675 ein Papieraufschlag, welcher je nach Format und Qualität des Papiers abgestuft war. Im Jahre 1686 wurde er durch die Siegelabgabe ersetzt: alle rechtlich bedeutsamen Schriften mußten auf einem mit gewissen Stempelzeichen versehenen Papier geschrieben werden. Die Abgabe batte drei Abstufungen, zu 3 kr., 15 kr. und 60 kr. Jeder stempelpflichtige Gegenstand war einer dieser Stempelklassen zugewiesen, so daß die bezügliche Schrift zur Gänze anf Stempelpapier dieser Klassen geschrieben sein mußte. Die stempelpflichtigen Schriften zerfielen in Einschreiten nnd Ver- bescheidungen. Ungestempelte Schriften unterlagen strengen Sanktionen: Urkunden waren nichtig; über ungestempelte Eingaben durfte nicht beamtshandelt werden. Mach kaum sechsjährigem Bestände wieder abgeschafft, wurde sie im XVIII. Jahr- hundert erst in Innerösterreich und später in den Ländern der böhmischen Krone neuerlich eingeführt, um durch Maria Theresia wieder auf alle Erblande aus- gedehnt zu werden. Hierbei wurde eine weitere Stempeltaxe zu 2 ft. geschaffen. 1802 wurde die Zahl der Stempelklassen auf 14 vermehrt bis zu 100 fl. per Bogen.

Diese Abgabe von Urkunden und Eingaben ist das Schmerzenskind der Theorie. Keiner der bisherigen Versuche, dieselbe theoretisch zu konstruieren, hat ein einwandfreies Ergebnis geliefert. Die Qualifizierung des Eingabenstempels als Gebüb r muß aus historischen Gründen verworfen werden. Für den Urkunden- stempel ist die gleiche Ansicht von vornherein bedenklich, weil die Urkunde gestempelt werden nmß, ohne daß ein Objekt des Entgelts, eine Amtshandlung, irgend wie in Betracht käme. Der Urkundenstempel ist aber auch keine Verkehrs- steuer, weil die Stempelpflicht von der Realisierung des Verkehrsaktes ganz unab- hängig ist und die Abgabe sich mit jedem Exemplar und jedem Bogen der Schrift wiederholt, während nur e i n Verkehrsakt hinter der Urkunde steht.

Referent schlägt eine neue Erklärung und den Namen „Schriftsteuer* vor. Er geht dabei von der Wiederholung der Abgabe mit jedem Exemplar und

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Verhandlungen der Gesellschaft Österreichischer Volkswirte.

sogar mit jedem Bogen der rechtlich relevanten Schrift aus. Ke müsse angenommen werden, daß nnr dort die Abgabe mehrmals eingehoben wird, wo mehrere Steuer- objekte vorliegen. Daraus folge, daß der hinter dem Schriftstücke stehende recht- lich relevante Vorgang nicht das Steuerobjekt sein könne. Anch nicht die Beur- kundung selbst, da die Abgabe sich mit jedem Bogen der Schrift wiederhole. Objekt der Steuer sei vielmehr der rechtlich relevante Verbrauch von Schreibmaterial; es liegt also eine Konsumsteuer auf den Verbrauch von Schreibstoffen zu rechtlich relevanten Zwecken vor. Deshalb ist von einem schriftlichen Kaufverträge über eine Realität neben der Immobiliargebühr auch der Orkundenstempel zu zahlen; darum ist dio Stempelabgabe von der Realisie- rung des beurkundeten Geschäftes oder vom Erfolg des Einschreitens ganz unab- hängig, Befristungen und Bedingungen sind irrelevant.

4. Die Erbsteuer ist gleichfalls eine Besteuerung des Rechtslebens, und zwar eine Verkohrssteuer. Die Landenden beschränkten sich auf Immobilien und auf die Erfassung ihres Bruttowertes, traten aber bei allen Arten von Über- tragungen ein. Die Erbetener stellt die Beteiligung des Gemeinwesens am Znfalls- gewinne des Einzelnen (Bereicherungsgebühr) dar. Sie tritt daher nicht nur bei der Erbfolge, sondern bei allen unentgeltlichen VermGgenserwerbungen unter Lebenden und von Todes wegen ein, sie trifft nur die reine Zuwendung nach Abschlag aller Lasten, läßt den aus entgeltlichen Rechtsgeschäften resul- tierenden Gewinn unbestenert und macht zwischen Erwerbungen von Immobilien und von Fahrnissen keinen Unterschied. Die Steuer betrag regelmäßig 10 J’roz., Übertragungen zwischen Aszendenten nnd Deszendenten waren ganz, solche zwischen Eheleuten hinsichtlich eines Drittels des Vermögens befreit. Vom Ver- mögen der toten Hand war ein Erbsteueräquivalent zu entrichten. Die Steuer wurde im Jahre 1810 reformiert.

Die vier dargestellten Abgaben vom Rechtsleben bestanden vor dem Jahre 1840 nicht nur nebeneinander, sondern sie konkurrierton auch oft mitein- ander. In den ersten Jahrzehnten des XIX. Jahrhundorts wurde der Ruf nach einer Reform der Besteuerung des Rechtslebens immer Unter. So entstand das Stempel- und Taxgosotz vom 27. Jänner 1840. Alle Abgaben vom Itechtsleben wurden zu einer einzigen, einheitlichen Abgabe vereinigt; an die Stelle der Erb- etener, der Schriftsteuer und deijenigen Sporteltaien, die dem landesfürstlichen Taxfonds zufließen, trat eine einheitliche, nur im Falle der Verwendung der Schriftlichkeit zu entrichtende Stempelabgabe. Die Schriftsteuer war der großen Aufgabe, die ihr derart zngemutet wurde, nämlich nahezu die gesamte Besteuerung des Rechtslebens zu vertreten, umsoweniger gewachsen, als gleichzeitig auch das Stempelwesen eine erhebliche Reduktion erfuhr, indem alle höheren Stempelklassen von mehr als 20 fl. abgeschafft wurden. Es gab keine prozentuelle Erbsteuer nnd vor staatlichen Gerichten kein prozentuelles Horlnar mehr. Selbst von Mil- lionenerbschaften war keine höhere Abgabe zu entrichten als der Stempel von 20 fl. zum Einantwortungsdekrete, wie er auch zu einem Nachlasse von 5000 fl. schon notwendig war. In einem zweiten Teile des Stempeltaigesetzes wurden die Verleihungsgebühren einer zusammoufassenden Kodiflzierung unterzogen. Nach bloß zehnjähriger Dauer wurde das Stempeltaigeaetz von dem jetzt geltenden Ge-

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hren ge.se tze vom 9. Februar 1850 abgelöst. Es realisiert «len Grundsatz der Allgemeinheit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung des Rechtslebens in einem bisher noch nicht dagewesenen Umfange. Mit der Übernahme der Kosten der gesamten Gerichtsbarkeit auf den Staat war dieser zum alleinigen Taxbezugsberech- tigten geworden und vermochte jetzt eine allgemeine Reform der Sporteltaxen eintreten zu lassen. Mit der Aufhebung des Untertansverbandes hatten ferner alle Urbariallasten einschließlich der Laudemien gegen Entschädigung der bisherigen Gutsherrschaften sofort aufzuhören. Hierdurch wurde eine immense Besteuerungs- fahigkeit frei, die vom Staate ausgenützt wurde.

Die Elemente der Reform des Jahres 1850 waren daher: Reaktivierung der Erbsteuer, Erweiterung der Schriftsteuer, Reform der nunmehr ausschließlich staatlichen Sporteltaxen und Inkamerierung der Laudemien. Dabei wurde versucht, diese Ziele durch ein einziges Gesetz und durch die Zusammenfassung aller dieser Abgaben unter die gemeinsame Bezeichnung „Gebühren u zu erreichen. In Wirk- lichkeit ist hier aber keine einheitliche neue Abgabe entstanden. Unsere Gebühren sind vielmehr nichts anderes als ein mechanisches Gemenge aus allen den er- wähnten Abgaben, nur zusammengehalten durch den schwächlichen Kitt eines gemeinsamen Namens und durch die Zusammenfassung in ein einheitliches Gesetz. Den zweiten Teil des Stenertaxgesetzes ließ man ungeändert und er besteht als solcher noch heute zu Recht. Bald machte es sich geltend, daß es ein großer Fehler war, den Schein einer einheitlichen Abgabe zu schaffen. Man nahm jetzt allgemein den Schein für das Wesen und mühte sich begreiflicherweise ganz vergeblich ab, eine passende Definition für die österreichischen Gebühren zu finden. Aber auch die Praxis und sogar die Gesetzgebung der Folgezeit wurden durch den Glauben, daß es sich um eine einheitliche Gebühren abgabe bandle, oft auf Irrpfade geleitet. In Wahrhoit leben die alten Abgaben im heu- tigen Gebührenrecht trotz des neuen gemeinschaftlichen Namens in ihrem Wesen unverändert fort. Blieb doch sogar das alte Stempelpapier der Emission 1836 in Geltung, welches die Reform des Jahres 1840 unbeirrt überdauert hatte. Die Erbsteuer finden wir in den Bereicherungsgebühreil wieder, da hier alle charak- teristischen Züge: die Besteuerung der unentgeltlichen Übertragungen, die Be- messung nach dem reinen Werte, die Einforderung eines Äquivalents vom Ver- mögen der toten Hand, die unterschiedslose Heranziehung von beweglichem und unbeweglichem Vermögen, ja sogar die ganze für die Erbsteuer ausgebildete Technik des Verfahrens wiederkehren. Die Laudemien sind in der Inimobiliar- gebühr zu erkennen, wie die Beschränkung auf Immobiliarübertragungen und die Bemessung nach dem Bruttowerte ergeben. In Hinsicht auf die Objekte hat diese Steuer eine große Erweiterung erfahren, da nunmehr alle Immobilien und nicht bloß die ehemals laudemialpflichtigen Bauerngüter die Steuer zu tragen haben. Die größten Veränderungen aber wurden im Sporteltaxwesen vorgenommen. Die Zahl der reaktivierten Sporteltaxen reduzierte sich auf zwei, denen prozentuelle Gestalt verliehen wurde: die Urteils- und die Eintragungsgebühren. Ihr Gebühren- Charakter (im wissenschaftlichen Sinne) dokumentiert sich darin, daß sie an Amts- handlungen geknüpft, durch deren Gültigkeit bedingt und von der Realisierung des ihnen zu Grunde liegenden Vermögenserwerbes ganz unabhängig sind.

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l(Mi Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.

In zahlreichen Beziehungen hat die Zusammenschweißung der erwähnten zier so verschiedenen Abgaben (einer Gebühr, einer Konsutnsteuer und zweier Verkehrsstenem) Verwirrung angerichtet. Besonders auch dadurch, daß diese von Hang aus verschiedenartigen, nunmehr so bedenklich miteinander vermischten Abgaben in dem alphabetischen Tarife unseres Gebührengesetzes auf die banteste Art durcheinander gewürfelt sind; so ist unser Gebührenrecht zu einem förm- lichen Irrgarten geworden.

Hauptforderung an die kommende Gebührenreform sei daher, daß der Bo- daktionsfebler aus dem Jahre 1850 wieder gutgemacht, die nichtssagende Sammel- bezeichnung „Gebühr“ aufgelassen, die Vereinigung der differenten Abgaben, welche keinerlei Vorteil gebracht und nur Verwirrung gestiftet hat, beseitigt und die Nounormierung dieser Abgaben in separaten Gesetzen vorgenommen werde. Ks sollten drei solcher Gesetze erlassen werden ; eines für die Schrift- steuer, eines für die Gerichtsgebühren (die Urteils- und Eintragungsgebühren) und eines für die Verkehrsstenem, worin die Bereicherungs- und die Immo- biliargebüliren zusammenzufassen wären.

Unter den Rechtstaxen ist die Entwicklung der Verkehrstaxen entschieden eine rückläufige; dieser Abgabenzweig ist offenbar in der Auflösung begrifTon, und dieser Prozeß müßte durch die bevorstehende Reform mit einem Schlage zu Ende geführt werden; dieser Abgabenzweig wäre gänzlich zu beseitigen. Eine Anzahl von Verleihungstaxen wird wohl in Abgaben anderer Natur übergeführt werden können. Die unleugbare Anomalie, die hinsichtlich der Staatsbeamten besteht, könnte damit beseitigt werden.

Auch die außerhalb des Steuertaxgesetzes bestehenden Verleihungstaxen : so die Lottotaxe, die Bergwerkstaxen und die Heimats- und Bürgerrechtstaxen, sollten einer solchen Umgestaltung entzogen werden.

Die zweite Art der Rechtstaxen die Sporteltaxen hat auf dem •Gobiete der autonomen Verwaltungen eine reiche Zukunft. Es sind auch schon Ansätze hierzu vorhanden, z. B. die Taxordnung der Stadt Triest, und die Ko- tierungsgebnhren an den drei österreichischen Effektenbörsen.

Die Verkehrssteuern sind offenbar noch in aufsteigender Entwicklung be- griffen. Sic waren seit 1850 geradezu das Lieblingsfeld der gesetzgeberischen Betätigung, und es ist auf diesem Gebiete eine ganze Anzahl von Keuschöpfungen zu verzeichnen. Die Novelle vom Jahre 1862 normiert gewisse fixe und skala- mäßige Gebühren, auch wenn kein Schriftstück ausgefertigt wurde; Anzahl und Umfang der Ausfertigungen sind dann, wenn sie einmal wirklich statthaben, ohne Einfluß auf die Höhe der Gebühr. Damit ist eine Verschiebung des Steuerobjektes eingetreten; dieses ist nicht mehr der Schriftakt, sondern der Verkehrsakt. Da- durch wurde eiue neue Klasse von Verkehrssteuern geschaffen, welche man als „denaturierte Stempelgebühren" bezeichnen könnte. Ferner emanzipierte man sieh für Fälle größerer Steuerkraft von der herkömmlichen fixen und skalamäßigen Abgabe und setzte für dieselbe prozentuelle Sätze fest, so für die Eisenbahn- hillettgebühr und für die Gebühr von Lotterie- und Totalisateurgewinsten. An diese neuartige Verkehrsbesteuerung auf das bewegliche Vermögen reihte sich dann die Effektenumsatzsteuer und die Fahrkartensteuer. Diese Richtung der

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Gesetzgebung, die intensivere Heranziehung des beweglichen Vermögens zur Tragung der Abgakenlast, ist von der Erkenntnis geleitet, daß das Gebührengesetz in seiner ursprünglichen Anlage den Wertungen einer früheren, heute bereits in voller Umwandlung begriffenen Wirtschaftsordnung entsprach.

Die Reform der Verkehrssteuern wird sich wahrscheinlich auch mit dem Progressionsprinzip und mit der Forderung einer differenzierenden Behandlung der Verkehrsobjekt« je nach ihrer wirtschaftlichen Funktion auseinandersetzen müssen.

Die Schriftsteuer hat während ihrer Entwicklung meist nur Einschränkungen ihres objektiven Anwendungsgebietes erfahren; so die grundsätzliche Beseitigung der Stempelpflicht von Amtsbescheiden im Jahre 1850 und die Einführung der denaturierten Stempelgebühren. Da letzteren falls Verkehrssteuern geschaffen wurdeu, sind jetzt die betreffenden Schriftstücke gegen die allgemeine Regel stempelfrei. Auch bezüglich der Amtsausfertignngen wäre die Rückkehr zu einem mäßigen Stempel angezeigt. Seit 1850 hat eine weitgehende Differenzierung und Spezia- lisierung der Schriftsteller stattgefunden, zum großen Schaden dieser Abgaben- gattung, deren Natur dieser Richtung der Ausbildung stracks zuwiderlief. Die Schriftsteuer ist von vornherein auf die Solbstentrichtung durch die Parteien ein- gerichtet gewesen. Dies setzt aber voraus, daß die Abgabe nur wenige Sätze sowie einfache und durchsichtige Bestimmungen besitze, welche sich leicht ein- prägen und mit Sicherheit zu einer Tatsache des allgemeinen Bewußtseins werden. Bei nns ist man von diesem Kardinalerfordernis weit abgekommen, da die Schriftsteuer in ihrer Verquickung mit den übrigen Gebühren lim öster- reichischen Sinne) an deren Schicksal teilgenommen hat. Unser Stempolrecht wird allgemein für eine Art Geheiinlebre angesehen, die nnr wenigen Eingeweihten zugänglich ist.

Die künftige Reform müßte hier gründlich anfränmen. Je einfacher die Stempelsätze sind, desto sicherer kann auf ihre allgemeine Beachtung gerechnet werden; jede Ermäßigung derselben würde durch die Masse der Fälle hundert- fältig wioder eingebracht werden. Die Vereinfachung und Verbilligung der Schrift- steuer sollte soweit als nur irgend tunlich ist gehen. Man könnte etwa für die große Masse der Schriftstücke bloß zwei Stempelsätze, einen ganz kleinen von 2 oder 3 Hellem, für die rücksichtswürdigen Fälle, in denen heute gar nichts entrichtet wird, und einen hohen zu 1 oder 2 Kronen für normale Verhältnisse einfübreu. Den kleinen Satz sollte schlechthin alles Geschriebene, was rechtliche Bedeutung hat. tragen. Es muß doch in allen diesen Fällen das Papier an sich gekauft werden, da es selbst den Armen niemand herschenkt, und es würden einige Heller in keinem dieser Fälle als eine erhebliche Mehrbelastung erscheinen. Im ganzen aber würden sie sich zu eiuem großen Betrag zusammensummieren, da ja bekanntlich bei uns sehr, sehr viel geschrieben wird.

Eine solche wesentliche Ermäßigung der Abgabenlast würde auch die Handhabe ergeben, um die unzähligen Befreiungen zu beseitigen, durch welche die Gebührennormen fast schon überwuchert worden sind. Die Gebührenbefreiung ist dadurch so sehr zu einem förmlichen Attribut der Gemeinnützigkeit geworden,

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Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.

daß man beinahe sagen könnte: wer beute noch Gebühren stahlt, ist dadurch fast schon als gemeinschädlich gekennzeichnet.

Mit der Reduktion der Stempelsätze sollte die Wiedereinführung des Stempelpapiers erfolgen. Dabei könnte der Staat, wenn er dieses Stempelpapier in einer staatlichen Fabrik herstellen ließe, auch einem andeien, immer drin- gender werdenden öffentlichen Interesse gerecht werden, nämlich der vom Stand- punkte der Rechtssicherheit zu stellenden Forderung nach einem haltbaren Papier für die rechtlich wichtigen Aufzeichnungen. Endlich erschiene es geraten, für manche Urkunden, die im Rechtsleben oft in gleichförmiger Gestalt Vorkommen, Spezialstempelzeichen zu schaffen. Solche Spezialstempelzeichen sind auch für die Statistik und für die Rechtspolitik wichtig, weil sie den Abgabenertrag jeder einzelnen Urkundengattung ersehen lassen. Auch erscheint es nicht empfehlens- wert, die bisherige Zweiteilung der Entrichtungsart, geringere Gebühren mittels des Stempels, größere hingegen bar, beizubehalten.

Wichtig sei endlich die Trennung der Gebührenjudikatur von der Ver- waltung des Gebührengefälles; die administrative und die jndizierende Tätigkeit wären verschiedenen Behörden anzuvertrauen.

Bei der an diesen Vortrag anknüpfenden Diskussion bemerkte Hof- und Gerichtsadvokat Dr. T b u m i m, die Reform des Gebührongesetzes müsse das Gesetz und seine Handhabung in klare, durchsichtige und einfache Formen bringen. Das Verfahren soll ein mündliches sein, dem in mancher Beziehung auch die Öffentlichkeit zuzugestehen wäre.

Reichsrateabgeordneter Dr. Ofner erklärt: Der vom Referenten vorgetragene Reformgedanke sei zu abstrakt entwickelt worden, unser Interesse an der Ge- bührenreform sei aber ein sehr konkretes. Jede Steuer und jede Gebühr soll im Verhältnisse stehen zu dem Vermögen und dem Einkommen der betreffenden Person, während heute die Erbsteuer, die Grundsteuer, die Gebäudesteuer u. s. w. den Ärmeren genau so trifft wie den Reichen. Das Gleiche gilt von allen Arten der Verkehrssteuer. Und doch müssen diese von dem Gesichtspunkte ihres Zu- sammenhanges mit dem Vermögen und Einkommen der davon betroffenen Per- sonen aus anfgefaßt und bemessen werden. Nach dieser Richtung muü sich die Kritik und die Reform der Verkehrssteuern vertiefen, mit einer blofien Neuein- teilung der Gebühren ist nichts erreicht. Viel wichtiger als die Einfachheit einer Steuer ist deren Größe und die Art ihrer Progression. Wenn nicht eine ent- sprechende Proportionalität der Verkehrssteuern eingeführt wird, so hätten wir lediglich das jetzige Gebührengesetz in einer anderen Fassung. Wir dächten aber doch, daß der Gedanke einer Gebührenreform nicht bloß formell, sondern vielmehr materiell zu fassen wäre, auch nach der Richtung hin, daß die Entrichtung der Steuer nur mit dem wirklichen Vermögenserwerb verknüpft sein soll, was nach der heutigen Präzis nicht zutrifft. Was die Schriftgebühr betrifft, so muß man sich doch fragen, warum denn eigentlich eine solche und wäre sie noch so gering überhaupt entrichtet werden soll. Der Gedanke einer Gebührenreform ist dahin zusammenzufasseu : Zusammenhang der Gebühr mit dem wirklichen Vermögenserwerb und Aufnahme einer Progression, welche die Reicheren inehr heranziebt, um die Armen zu entlasten.

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Sektionschef Or. Inania v. Sternegg wünscht gleichfalls, daß die Reform einen sozialen Einschlag erhalte: darin sei die Berechtigung der Pro- gression. ebenso aber auch die Berechtigung des Vorschlages des Referenten zu sehen, die vielen Einzelfälle auf allgemeine Formeln zu reduzieren. Dadurch werde die Gebühr den wirtschaftlichen Verhältnissen der Einzelnen und der ver- schiedenen Klassen angepaltt und für die ganze Bevölkerung leichter erträglich werden.

Nach einigen Bemerkungen des Oberbuchhalters Sch m i d (Österreichisch- nngarische Bank) replizierte noch Oberfinanzrat Dr. v. Koczynski, worauf Herr I)r. Ritter v. Dorn die Versammlung schloß.

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AUGUST MEITZEN.

VORTRAG, GEHALTEN VON DR v. INAM A-STERNEGG IN DER GESELL- SCHAFT ÖSTERREICHISCHER VOLKSWIRTE.

August Meitze n ist aui 16. Dezember 1822 zu Breslau gekoren, wo er auch seine erste Jugend verbrachte. Nach Vollendung seiner Studien machte er zunächst praktischen Jnstiz- und Finanzdienst. Aber schon bald drang seine vielseitige, aber doch spezifische Begabung durch. Als Achtundzwanzig- jähriger wurde er mit der Leitung der Deichregulierungsgeschäfte in Schlesien betraut; mit seinen geodätischen und agronomischen Kenntnissen war der junge Jurist eine Spezialität. Als er später als Kommissar für die Grundsteuerregelung in Schlesien wieder das Land bereiste, ging ihm auch das Verständnis auf für das historische Werden der Au Siedlungen und ihrer Feld- fluren. Unter AVattorbachs sachkundiger Führung drang Meitzen in die Quellenforschung ein und gab 1863 die Urkunden der Kolonisation von Schlesien heraus, womit er seinen Ruhm als bahnbrechender Entdecker der in den Flur- plänen verborgenen Zeuguisse der Ansiedlung des Landes begründete. So vor- bereitet übernahm er die Leitung dos grollen amtlichen Werkes »Der Boden und die landwirtschaftlichen Verhältnisse des prenlliscben Staates“, von dem er eben jetzt nach 35jähriger Arbeit den sechsten und letzten Band akschliefit. Inzwischen weitete Meitzen sein Forschungsgebiet zeitlich und räumlich immer mehr aus; auf seilten Reisen durch ganz Europa schaute er mit Scharfsinn und Genauigkeit der Beobachtung nach den Esistenzbedingungon der Landwirtschaft aus, immer zugleich den lebendigen Zuständen wie ihrer Entstehung aus kaum mehr erkennbaren Urformen seine Aufmerksamkeit zuwendend. Reiche Schätze an Urkunden. Zeichnungen. Plänen brachte er nach Hanse, wo er sie wohlgeordnet der Wissenschaft und der Lehre zugänglich machte. Ich war noch ein ganz junger Mann, als ich von ihm dort eingeführt wurde. Mich ergriff die Tatsache, daß hier aus der ganzen europäischen Welt die ältesten Spuren der Besiedlungs- weisen vor mir lagen, fast ebenso sehr, wie Meitzen selbBt davon erfüllt war, der ja in der Entzifferung dieser Pläne eine Lebensaufgabe sah. Es ist ein, wenn auch ganz bescheidener Beitrag zur Charakterisierung dieses Mannes, wenn ich mir gestatte, hier zu sagen: schon bei dieser ersten Begegnung hat er mich dauernd für derartige Forschungen zu fesseln und mir sofort sehr intensiv die Erkenntnis nnd die Tragweite dieser Untersuchungen zu eröffnen gewußt, so daß es fernerhin nur ein Genuß war, seinen späteren Arbeiten zu folgen. Bis spät

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August Meitzen.

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iu die Nacht hinein waren wir beisammen, Mitternacht war längst vorüber, auf der Erde lagen Flurpläue von Italien mid Gallien, von Schottland nnd Finnland au «gebreitet, lind wir krochen auf allen Vieren die kleine Lampe neben uns um Kaum genug zu haben, uns in dieser weiten Welt zu bewegen. Sein reiches, bis ins einzelne getreues Wissen von der Besiedelung Europas umspannte schließlich dessen ganze Kulturzeit. In diesem Sinne ist Meitzen unzweifelhaft der universellste Forscher unserer Zeit. Sein oberstes und größtes Verdienst ist aber die geniale Entzifferung der Runen, welche die Menschen der ältesten Knlturperiode mit ihren Ansiedtungen, ihren Hansformen, ihren Flurabteilnngs- nnd Feldstreifen unzerstörbar in den Boden eiugegraben haben. Seit Meitzen uns diese stumme Sprache gelehrt hat. erzählen sie uns, woher sie gekommen,, wohin sie gewandert sind und welche elementaren Gedanken die bedeutsamsten aller gesellschaftlichen Lebensäußernngen beherrscht haben die Begründung dauerhafter Gemeinwesen, den Ausbau der Heimat. Es ist ein eigener Reiz für jeden, dessen Interesse nicht mit den Grenzen seines Vaterlandes anfhören und. der gerne auch einen Blick werfen möchte über die engen Grenzen seiner eigenen Lebenszeit zurück zu den Anfängen menschlicher Kultur, an Meitzens sach- kundiger Hand sich iti die Zeiten zu versetzen, als zuerst nach der großen Eis- zeit, als noch die Polartiere in den Pyrenäen und den Alpen hausten, die Menschen ihre Holmen und Pfahlbauten errichteten. Aus Afrika, von dem vor- dringenden Wüstensaude über das Mittelmeer getrieben, kamen die einen (Iberer und Ligurer?) aus dem Nordosten, mit zunehmender Begrasung und Bewaldung der Moränen, die anderen (Finnen?) nach Europa und entfalteten hier die erBte Kultur. Dann schieben sich die Kelten, die Germanen und Slaven, alle zuerst weidend nnd dann erst fest angesiedelt, von Osten her durch ganz Mitteleuropa vor. Jeder der drei großen Volksstämme bringt eine eigenartige wirtschaftliche Kultur hervor; aus der Tiefe der Volksseele entspringt sie; in bestimmten festen Formen prägt sie sich aus, die zähe festgehalten, selbst jetzt noch an den Ansiedlungen, dem Uansbau, der Flureinteilung erkennbar sind.

Da vor allem setzt Meitzens eigenartige Forschung ein. Wenn uns die Prähistoriker ans den mit Steinen bedeckten Höhlen, den Dolmen, aus den Überresten der Pfahlbauten, aus den Knochen der Haustiere und aus den Spuren von Artefakten die älteste Kulturwelt anschaulich zu machen versuchen, wenn die Archäologen aus den Keilschriften der Assyrer nnd Babylonier uns die Grnndzüge einer längst verschollenen Bildung wieder erwecken, so hat Meitzen die stummen Zeugen der Fluranpassung wieder zum Sprechen gebracht. Ana loquuntur, kann er über sein Lebenswerk schreiben.

Wo immer sich menschlicher Haushalt und menschliche Arbeit dauernd an dem Boden fixiert, eine planmäßige Siedelang zu einer Austeilnng des Bodens gelangt, ist damit eine Tatsache geschaffen, die in aller Regel den Wechsel der äußeren Schicksale der Menschen überdauert, weil wohlerworbene Rechte und der gleiche Kreislauf des landwirtschaftlichen Betriebes sie erhalten; alles ist eher nmzustürzen als die Urform einer Volksansiedlung mit der dnreh sie gegebenen Ordnung der Feldfluren. Nun finden sich bis in unsere Zeit hinein in dem alten Keltenlande die Einzelhöfe mit vollkommen arrondierter Feldflur, auf reinem

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Inama-Sternegg.

Germanenboden die Haufendörfer mit regulärer Gewanneinteilung und Gemenge- lage der zu einem Gehöfte gehörigen Parzellen, in den Slavengebieten die Rund- dörfer mit ganz ungeregelter Felderteilung, aber sehr festen Gemarkungen au sehr vorherrschend, daß von drei deutlich unterscheidbaren Typen der Ansiedlung gesprochen werden kann. Und dieselbe Anordnung ihrer Ansiedelungen läßt sich zurück verfolgen bis in die Zeit des Überganges aus der Nomadenwirtschafi in feste Niederlassung mit Ackerbau. Als der Urgrund dieser verschiedenen Formen der Ansiedlnng und Flnreinteilung aber ergibt sich dio sehr differente politische Veranlagung der drei Völkerschaften. Bei den Kelten sind die politischen Abteilungen, die Klanes und Tates, auch zum Anfangs- und Endpunkt der Band- teilung geworden; dem festen, hordenmäßigen Zusammenhalt des Klan unter starker Obrigkeit entspricht die gleichförmige mechanische Landabteilung ebenso wie dem ausgeprägten Familiensinn die volle Absonderung der einzelnen Tates in Einzelhüfen. Bei den Germanen entspricht die vor allem auf vollkommene Gleichwertigkeit des Landloses berechnete Gewanneinteilung bei sehr verschiedener Form der Fluranlage dem entwickelten politischen Freiheits- und Unabhängig- keitssinn des Volkes; bei den Slaven ist die rein patriarchalische Form ihrer ältesten politischen Verfassung zugleich in der Flurverfassung ausgeprägt, die aus dem starken Übergewicht hausväterlicher Gewalt über Individualrechte und Individualinteressen zu erklären ist.

Führt uns so Meitzen an der liand der Flurpläue und der Kataster- operate des XIX. Jahrhunderts mit sicherem Schritte bis zu den Uranfängen der gegenwärtigen Besiedlung Europas zurück, welche noch durch kein schriftliches Denkmal erhellt werden, so geleitet er uns anderseits durch die Jahrhunderte des Mittelalters und der neueren Zeit bis zn den agrarpolitischen Pro- blemen der Gegenwart. Aus dem gesamten Entwicklungsgänge des Agrar- wesens erklärt er die agrarpolitischen Maßregeln der modernen Knlturstaateu. Mit unerreichter Klarheit stellt Meitzen in knappster Form dar, was an Ein- richtungen der älteren Agrarverfassung abgestorben und daher zu beseitigen, was noch entwicklungsfähig und daher beizubehalten ist. Ein überzeugter Verfechter der bürgerlichen Freiheit in Besitz und Erwerb betrachtet Meitzen die Bauern- befreiung von dem Joche der Hörigkeit und den Lasten der Gutsuntertänigkeit als den Anbruch einer neuen, wesentlich gebesserten Zeit der Landwirtschaft. Die Herstellung der persönlichen Freiheit des Landmannes erlangte ihre volle Bedeutung aber doch erst durch die Grundentlastnng und die Beseitigung der Reallasten, deren volle und endgültige Überwindung nur mehr eine Frage der Zeit ist. Mit großem Nachdrucke tritt Meitzen für die Regelung der Servituten und für eine einheitliche durch die Obrigkeiten zu leitende Kommassation ein; aber er verkennt nicht, daß der Erfolg von darauf sbtielenden Gesetzen wesent- lich abhängig ist von der alten Art der Flurverfassung sowie von der Bodenlage und den herrschenden Kulturarten. Gesetze, welche diese Verschiedenheiten der Voraussetzungen von Kommassationen unbeachtet lassen, bergen den Keim des Mißerfolges in sich.

Ebenso spricht sich Meitzen zwar gegen jede prinzipielle Beschränkung der Freiteilbarkoit von Liegenschaften ans, in der er eine unberechtigte Ein-

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August Meitzen.

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mischung der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privatwirtschaftlichen und daher freien Entschließung des Grundbesitzers erblickt; aber er erkennt es doch für notwendig an, Parzellierungen von ganzen Gütern zo erschweren, um nicht Unordnung in dein Kreise der Öffentlichen Rechte und Pflichten der Grundstücke einreiflen zu lassen und Landgüter nur zu Spekulationszwecken zu zerschlagen.

Einen besonderen Fürsprecher fand in Meitzen die neuerdings auch hei uns geschaffene Einrichtung der Kombinationen von Kataster- und Grundbuch, hauptsächlich wegen des dadurch erleichterten Verkehres mit Liegenschaften. Die Furcht von einer dadurch begünstigten Mobilisierung des Grundbesitzes teilt er nicht: eine solche müßte das gesamte agrarpolitische Streben treffen, das darauf .abzielt, dem Grundbesitzer freie Verfügung über sein Grundstück zu schaffen. Es liegt vielmehr im Wesen der fortschreitenden humanen Kultur, daß auch im Grundbesitz der Charakter des Kapitals immer mehr zur Geltung kommt Was von bestimmten Nutzungswerten und Anrechten das allgemeine Wohl gegenüber dem Grund und Boden fordert, anf dem die gesamte bürgerliche Gesellschaft besteht und verkehrt, kann und soll der Staat im vollen und fortschreitenden Maße als notwendige Beschränkungen für alles Grundeigentum zur Geltung bringen. Der nicht notwendig beschränkte Anteil an demselben aber, der der individuellen Verfügung überlassen bleibt, erfüllt nur dann seinen Zweck genügend, wenn er möglichst in die naturgemäßen Funktionen des Kapitals eintritt.“

Von anderen Gebieten seiner auf die Lösung praktischer Aufgaben der Wirtschaftspolitik gerichteten wissenschaftlichen Arbeit sei nur kurz des Problems der Binnenwasserstraßen gedacht, mit dessen gründlicher Behandlung Meitzens Namen eng verknüpft ist Seine Bearbeitung der Stromgebiete des Deutschen Reiches führt Meitzen auch jetzt noch rastlos weiter und auf Grund seiner genauesten Kenntnis der orographischen und hydrographischen Verhältnisse Preußens hat er schon vor mehr als 30 Jahren der praktischen Durchführung des norddeutschen Kanalsystems wesentliche Dienste geleistet.

Es gehört zu den Eigentümlichkeiten von Meitzens Vortragsweise, daß er die Ergebnisse seiner Forschungen immer begleitet mit der Darstellung des Verfahrens, durch welches sie gewonnen sind. Tiefe Ein- blicke in die Werkstatt seiner Geistesarbeiten sind dadurch ermöglicht, welche die Treue und Gewissenhaftigkeit seiner Forschungen erkennen lassen. Aus den Flurplänen rechnet er uns die Zahl der Hufen vor, die bei der ersten Besiedlnng einer Gemarkung gebildet sein mußten; an der Hand der Niederschlagsmengen, der Niveanmessungcn und Wasserstandsbeobachtungen demonstriert er die Mög- lichkeit der Kanäle, wie ans den Verkehrsmengen des Zufahrtsgebietes seine ökonomische Rechtfertigung. Seine vorsichtig abwägonden agrarpolitischen Urteil*' beruhen auf sorgsamster Beobachtung der Zustände der Landwirtschaft wie der historischen Notwendigkeiten im Verlaufe der Agrargesetzgebung. Kurz, er ver- läßt nie den Boden der gegebenen Tatsachen, auch wo er reformierend auf sie einwirken will und hinterläßt eben deshalb stets den Eindruck voller Sicherheit in seinen Ausführungen. Meitzen ist eben ein historisch wie statistisch gleich gut geschnlter Nationalftkonom. der dazu von der Naturwissenschaft hinlänglich gelernt hat, um zu wissen, daß sorgsam und verständig beobachtete Tatsachen

/.eiuchrift f«lr VoUuwtmchaft, Socialpolitik und Verwaltung. XII. Band. g

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Ioama*Sternegg.

die Wissenschaft mehr fördern als bodenlose Spekulationen und voreilig gezogene Schlüsse.

Seine streng methodische Schulung tritt am deutlichsten hervor in seinem Werke „Geschichte, Theorien und Technik der Statistik“, von dem ebon jetzt eine neue Auflage erschienen ist Es ist der geistige Niederschlag einer fast 40jährigen unentwegten Arbeit im Dienste der amtlichen Statistik des Deutschen Reiches und einer fast ebenso langen akademischen Lehrtätigkeit. Was Meitzen in diesem Werke bietet, ist nicht eines der langläufigen Schul- bücher über Statistik, sondern eine ernsthafte, von der grollen Wichtigkeit der Aufgabe erfüllte Darlegung der großen und kleinen Pflichten, welche die Statistik dem Staate, dem öffentlichen Leben überhaupt und der Wissenschaft insbesondere gegenüber zu erfüllen bat. Nie sind eindringlichere Worte über den Beruf der Statistik und gegen ihren so häufigen Mißbrauch geschrieben worden. Für den praktischen Statistiker ist es wie ein lebendiges Gewissen, das ihn auf Schritt und Tritt begleitet, um ihn an seine Pflichten zu mahnen; für die große Masse derer, die Statistik gebrauchen, ein beständiger lauter Warner gegen leichtfertigen, dilettantischen Gebrauch wie gegen tendenziösen Mißbrauch dieses hervorragenden Werkzeuges politischer Erkenntnis.

Wer Meitzen aber nur ans seinen Schriften kennt, der kennt ihn nur halb. Die vollendete Liebenswürdigkeit seines Wesens, sein unermüdlicher Eifer zu lernen und zu lehren, seine bescheidene Selbstkritik offenbaren sich doch voll- kommen erst im persönlichen Verkehr. Darum hängen auch seine Schüler so sehr an ihm und bereiten ihm honte in Berlin ein schönes Fest. Einige kleine Züge aus seinem Leben sollen dafür Zeuge sein. Als ich ihn vor fünf Jahren in Berlin besuchen wollte, fand ich ihn au einem herrlichen Augusttage endlich in Frankfurt a. 0. inmitten von Fiurplänen nnd Katasterprotokollen vergraben: -Ich suche hier die Hufen, welche Albrecht der Bär seinen Bittern ausgetan und ich finde sie.“ Im henrigen Frühjahr forschte er hier nnd in Brünn monatelang, um endlich die Grundzüge der Kolonisation der Ostmark festzolegen. über die er noch von niemanden sicheren Bescheid erlangen konnte. Als ich ihn damals bat, einem jüngeren Forscher einige Anleitnng za geben, wie er die alten Slavenansiedelungen im Gailtale am sichersten auffinden könne, ergriff den alten Herrn die Aufgabe so sehr, daß er sich gleich entschloß, mit ihm zu gehen, und verbrachte mehrere Wochen in Arnoldstein mit dem Studium der Fluren und der alten Gerichtsakten. Und dann ging er, veranlaßt durch die neuesten aufge- tauchten Zweifel über das Alter der südslavischen Hanskommunion nach W i n- dischmatrei and Lienz, am ihre Spuren in diesem altslavischen Siedlungs- gebiete von Tirol zu verfolgen.

Als ich mit ihm vor Jahren von der zunehmenden Not der Landwirtschaft sprach, bemerkt« Meitzen, ganz ernsthaft geworden, der Boden gehöre dem Bauer, er allein kann ihn heute noch mit Erfolg bewirtschaften, aber auch er muß es erst lernen. Und bei einem Besuch in den Botkschildgärten, während wir die herrlichen Blumen nud Früchte bewunderten, sagte er plötzlich, nach einer kleinen Pause im Gespräch; „Wenn er seine Diners in Kcchnung stellt, kommt Rothschild auch mit seinen Gärten anf seine Kosten.* Ihn beschäftigen fortwährend

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August Meitzen.

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die aktuellen Frage» der Wirtschaft ebensosehr wie die entlegensten Probleme aus den Anfängen menschlicher Kultur. Es ist nicht zn viel gesagt, wenn ich meine, ganz Europa ist Meitzen hente, an seinem 80. Geburtstage, vielen Dank schuldig für die wesentliche und grundlegende Bereicherung der Kenntnis seiner Urgeschichte und seiner ganzen agrarischen Entwicklung. Wir Österreicher haben noch einen besonderen Grund dafür: Kein einheimischer Forscher hat bisher für die Aufhellung der Besiedlungsgeschicbte und der Agrarverfassung Österreichs soviel geleistet als Meitzen. Ein warmer Freund unseres Vaterlandes, ebenso vertraut mit unserer deutschen Art wie mit den slavischen, magyarischen und romanischen Verhältnissen, hat er anch viele Freunde bei uns, die am heutigen Tage dankbar zn ihm aufblicken für all das Wertvolle, das er reichlich und freigebig spendend in seiner selbstlosen Weise für Österreich geleistet hat. zur Aufhellung unserer Vergangenheit, zum Verständnis unserer Gegenwart, ja selbst für den Ausbau unserer Zukunft. Denn die eine Wahrheit leuchtet aus Meitzens Lebenswerk auf: nicht im Kampfe der Volker, sondern in saurer Arbeit um des Lebens Notdurft baut sich ein Volk seine Heimat auf.

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ÜBER

STAATLICHES ARCHIVWESEN IN ÖSTERREICH.

VO.N

PROF. DK. MICHAEL MAYR (INNSBRUCK).

Uer eben beendigte, von den Fachkreisen mit Spannung verfolgte Adels- fälscherprozcß in Prag warf auch auf gewisse Mängel des österreichischen Archiv- wesens ein wenig freundliches Licht Sie sollen im besonderen hier ebensowenig erörtert werden als die im In- und Anslande vielbeklagte Rückständigkeit des österreichischen Herolds- oder Adelsamtes, soweit es auf die unbedingt erforder- liche wissenschaftliche Qualität desselben ankommt. Es ist übrigens für die selbst in wissenschaftlichen Kreisen vorhandene Geringschätzung des letzt- genannten Verwaltungszweiges bezeichnend genug, daß sogar ein anerkannter Lehrer des öffentlichen Rechtes in einem kürzlich erschienenen Artikel in der „Neuen Freien Presse* die hauptsächliche Bedeutung des Adelsamtes in der Befriedigung der menschlichen Eitelkeit erblicken konnte. Er übersah, welch wichtige reelle Werte (Stiftungen und Stipendien aller Art) wohl den Großteil der Parteien zur Benützung dieses Amtes veranlassen.

Viel beachtenswerter als dieser archivalische Sonderzweig erscheint uns die allgemeine Situation, in welcher sich das österreichische Staatsarchiv- wesen größtenteils befindet. Hier hat freilich gleich die notige Einschränkung Platz zu greifen. Die großen Archive dor (gemeinsamen) Reichsbehörden, Haus-, Hof- und Staatsarchiv und Hofkummerarchiv, entziehen sich von selbst dieser Besprechung, da Organisation und Aufgaben dieser Anstalten wesentlich andere sind als jene der Archive der österreichischen Staatsbehörden. Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv ist anerkannt trefflich geleitet und bildet, seit es vor kurzem in sein neues, luxuriös ausgestattetes und allen modernen Anforderungen ent- sprechendes Heim übersiedelt ist, eine wahre Zierde der Monarchie. Auch die Archive einzelner österreichischer Zentralstellen fallen aus dem Rahmen der nachstehenden Erörterungen, weil sie einerseits genügend organisiert sind, ander- seits auch einen verhältnismäßig einfachen und beschränkten Wirkungskreis haben. Es handelt sich hier vorzugsweise uni die staatlichen Archive in den Kronländern, welche den Landesregierungen angegliedert sind. Diese sind, ein paar Ausnahmen

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über staatliche* Archivwesen in Österreich.

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abgerechnet, im allgemeinen wenigor berufen der historischen Wissenschaft zu dienen; die Katar ihrer Bestünde bringt es mit sich, daß sie für die Verwaltung selbst eine ungleich größere Bedeutung besitzen. Diese Bedeutung wächst aber, wie die Beispiele lehren, im Verhältnisse zur unablässigen Erweiterung dieser Anstalten. Je mehr die Provinzialarchive ihrem natürlichen Berufe entsprechen: Sammelstätten für die wichtigen älteren Akten und Urkunden aller staatlichen Behörden eines Kronlandes zu werden, desto eindringlicher wird ihr Wert und Nutzen für eine geregelte Verwaltung zutage treten. Die wissenschaftliche Auf- gabe braucht darum keinerlei Beeinträchtigung zu erfahren.

Leider sind wir von den anzustrebenden Zielen sehr weit entfernt. Vielfach fehlt uns noch das richtige Verständnis für die wahre Bodcutung eines Archives überhaupt. Während unsere westlichen Nachbarn namentlich auch ihr Provinzial- archivwesen, in Erkenntnis der hohen Wichtigkeit desselben für eine moderne Verwaltung, längst geregelt haben, stecken wir damit noch tief in den Kinder- schuhen. In gewissem Sinne bestätigt das der Prager Prozeß neuerdings. Jeder Eingeweihte weiß, wie leicht es einem geriebenen Betrüger, und das gilt nicht bloß von Adelsfälschern, in unseren Archiven, sogar in den öffentlichen, ermöglicht ist, ihr dunkles Handwerk zu treiben, ohne daß in den meisten Fällen die Archiv- beamten irgend eine Schuld trifft. Viel bedauerlicher erscheint uns aber gegen- über den seltenen Fällen der Fälschung der Umstand, daß die Becht oder Auskunft suchenden Parteien oder der Staat selbst wegen mangelhafter Organisation der Archive oft genug die Grundlage ihrer Rechte oder Besitztitel entweder gar nicht oder mangelhaft oder nur durch blinden Zufall erfahren. Viele langwierige Prozesse, Streitigkeiten, Erhöhungen, Verluste an Geld und Arbeit könnten erspart werden, wenn unsere Archive tadellos funktionieren würden, oder auch, wenn der Weg zu den Archiven Parteien und Behörden geläufiger wäre. Jeder einigermaßen praktisch tätige Archivbeamte besitzt hierüber reichliche Erfahrung. Auf diesem Gebiete herrscht bei uns meist noch große Unkenntnis und Uqerfahrenheit. Kaum ein Lichtstrahl moderner Verwaltungs- grundsätze hat bisher dieses Dunkel erhellt, und nur selten sieht man dort und da eine gewisse Erkenntnis von den großen Vorteilen eines modern geregelten Archivwesens für die Verwaltung dämmern.

Bloß nach einer Seite, in wissenschaftlicher Beziehung, suchen die bestehenden Archive im allgemeinen ihrer Aufgabe zu entsprechen. Aber auch da Herrscht vielfach Planlosigkeit und Willkür. Die vorhandene Besserung auf diesem Gebiete verdanken wir dem vielversprechenden ersten Anlaufe, der im Jahre 1896 mit der staatlichen Archivorgauisation gemacht wurde. Seither sind wenigstens nur wissenschaftlich genügend vorgebildete Beamte angestellt worden. Die Hauptsache, mindestens für die Provinzialarchive, die Sorge für die Bedürf- nisse des Staates und seiner Untertanen, wurde entschieden hintangesetzt. Einzelne wissenschaftliche Kreise gingen in der allzu ausschließlichen Betonung ihres rein wissenschaftlichen Standpunktes wohl zu weit und sahen sogar eine andere intensivere Betätigung der Archive nicht besonders gerne. Für ihre Aus- gestaltung zu wichtigen Hilfsorganen der staatlichen Verwaltung scheint uns eben das richtige Verständnis noch zu fehlen. Deshalb sind die meisten Archive

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Mayr.

nach dieser Richtung im Grunde genommen auch heute noch nichts anderes als etwas besser behandelte, wenig benützte Registraturen der politischen Verwaltung. Vielleicht hängt es mit dem Hangei besserer Erkenntnis einigermaßen zusammen, daß die glücklich angebahnte Reform von 1896 stecken blieb, daß bisher nicht einmal für jedes Kronland ein staatliches Archiy besteht, was einer anderwärts kaum denkbaren Bedürfnislosigkeit gleichkommt, daß endlich auch die normale Weiterbildung der wenigen bestehenden Archive wiederum sehr in Frage gestellt wird. Die damals und seither angestellten jungen Beamten, von welchen mit Recht eine hohe wissenschaftliche Vorbildung verlangt wird, müssen mit ihrer Stellung und den trostlosen Aussichten unzufrieden werden. Die Vereinigung der Archivbeamten mit Bibliotheksbeamten zu einem Konkretalstatns erscheint uns überhaupt als ein Fehler, weil die Aufgaben beider grundverschieden sind. Da der erhoffte Nutzen für die praktische Verwaltung größtenteils ausgeblieben ist und für die wissenschaftlichen Leistungen allein weniger Verständnis herrscht, muß man gerade die tüchtigsten der jungen Beamten, auf denen die Zukunft ruht, wegziehen sehen und froh sein, daß dadurch wenigstens wieder Platz für andere wird. Gewiß ein recht bedenkliches Symptom

Nach unserer bescheidenen Anschauung fehlt es in den Grundlagen. Der wissenschaftlich gut vorgebildete Aspirant bringt naturgemäß nur geringes Verständnis für die seiner harrenden praktischen Aufgaben mit. Er findet im Dienste selbst keine oder nur ungenügende Schulung dafür. In jeder einzelnen Anstalt gelten andere oder gar keine rechten Normen. Meist geschieht alles uach einer gewissen, schon vorhandenen Tradition. Jedes Archiv lebt darnach für sich und kennt keine gemeinsamen Interessen. Es fehlt eben eine übergeordnete Behörde, welche überall verständnisvoll regelnd eingreift. Allerdings besteht seit einigen Jahren der Archivrat. Er ist gewiß berufen, in Zukunft viel Ersprießliches zu leisten. Die Aufgabe und der Wirkungskreis dieses schon seiner Zusammensetzung nach rein wissen- schaftlichen Beirates ist und kann aber nur auf diese eine Seite beschränkt bleiben. Kr vermag unmöglich einen genauen Einblick in den Betrieb einer Archiv werkstutte. wie es z. B. ein Kronlandsarchiv sein soll, zu gewinnen. Gerade in den wichtigsten Fragen des Amtes kann doch nur den ausübenden Archiv- beamten selbst ein richtiges Urteil zuerkannt werden. Manchmal wird sogar die rein theoretische Anschauung einer solchen fernestehenden Behörde unangenehme Verwirrung hervorrufen, mag sie noch so gut gemeint sein.

Ein wahrer Fortschritt in der Ausgestaltung unseres Archivwesens und die Behebung der angesammelten Übelstände wird sich dock nur erzielen lassen, wenn vorerst die genauen Kenner der wirklichen Verhältnisse und Bedürfnisse gemeinsame Beratung pflegen und eine feste, mit den kleinsten Details vertraute Hand die jetzt isolierten und nach Belieben schaltenden Anstalten nach bestimmtet) Grundsätzen leitet Erst dann vermag auch der bestehende Archivrat eine seiner Aufgabe entsprechende Bedeutung zu erlangen.

Wesen und Aufgaben der gleichartigen Archive sind im grossen und ganzen überall dieselben. Anerkannt erprobte Muster sollten deshalb auch, wenigstens in ihren Grundzügen, für uns maßgebend sein. Am nächsten liegt uns wohl die

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Über staatliches Archivwesen in Österreich. 1 19

preußische oder bayerische Organisation, welche übrigens von jener anderer Kultnrstaaten nicht erheblich abweicht. Auch bei uns werden endlich Kronlands- archive bei allen Landesregierungen erstehen müssen. Diese haben allmählich die Archivalien nicht bloß der politischen, sondern aller staatlichen Landesbehörden aufzunehmen und zu verwalten. Die Übernahmen müßten periodisch geschehen und sich bis auf ungefähr die letzten dreißig Jahre erstrecken, damit die ver- schiedenen Registraturen entlastet werden und Behörden und Parteien für alle mehr als ein Menschenalter zurückliegenden Fragen stets auf raschen und gründ- lichen Aufschluß vom Archiv rechnen könnten. Nur der Praktiker vermag zu ermessen, wieviel Zeit und Arbeit durch eine derartige Einrichtung erspart wird. Die geringen Kosten derselben würden sich von selbst decken. Diese Provinzialarchive hätten auch belebend und beispielgebend auf das Landes-, Gemeinde- und Privatarchivwesen, dessen Wichtigkeit auch bei uns mehr und mehr erkannt wird, einzuwirken und selbstverständlich ihre eigene wissenschaft- liche Aufgabe nicht zu vernachlässigen. In zweiter Linie sollten die heute zer- streuten und wohl auch ungenügend untergobrachten Archive der verschiedenen Zentralstellen zu einem Archiv der k. k. Ministerien vereinigt werden, wodurch die jetzige komplizierte Verwaltung wesentlich vereinfacht und verbilligt, die Benützung für alle Interessenten sehr erleichtert würde.

Die Oberleitung der Provinzialarchivo und des Archives der k, k. Ministerien wäre wie bei allen Fachanstalten einem aus 1 2 Fachmännern bestehenden Direktorium der k. k. Staatsarchive anzu vertrauen; denn nur auf diese Weise ist es möglich den einzelnen Anstalten Geist und Leben einznhauchen und ihrer Tätigkeit ein richtiges Ziel zu geben. Für wissenschaftliche Fragen hätte der bereits bestehende Archivrat als Beirat des Direktoriums zu fungieren.

Da die Provinzialarchive und das Archiv der k. k. Ministerien Urkunden und Akten aller Staatsbehörden verwalten, erscheint es selbstverständlich, daß die ganze Organisation, respektive das Direktorium, nach preußischem Muster dem Ministerratspräsidium, nicht inehr dem Ministerinm des Innern unter- zuordnen wäre.

Wir schließen mit der begründeten Überzeugung, daß nur diese oder eine ähnliche, anderwärts bereits erprobte Organisation, die sich mit Aufwendung unerheblicher Mittel leicht durchführen läßt, die berechtigten Hoffnungen und Erwartungen für Verwaltung und Wissenschaft erfüllen nnd Leben in heute ziemlich trostlose Zustände bringen werde.

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LITERATÜRBERICHT.

Dr. K. Meyer, Das Zeitverhältnis zwischen der Steuer und dem Ein- kommen und seinen Teilen. Wien. 1901 (Manz), X und 186 S.

Die moderne Steuergesetzgebung vertieft und verfeinert Bich gerade so wie andere wichtige Zweige des Verwaltungsrechtes, und auch das heutige Steuerrecht, strebt bereits eine Formvollendung und Präzision an, welche vor einer Generation ausschließlich das Vorrecht der strengen Zivilistik bildete. Wesentlich hat hierzu auch die Verwaltungs- gerichtbarkeit beigetragen, vor welcher die Verwaltungsbehörden auf der Hut sein müssen. Aber ebenso bat sich auch das allgemeine Niveau der Verwaltung gehoben, und dieser Entwicklung verdanken wir Monographien wie die vorliegende, in welcher ein Fachmann ersten Ranges auf dein Gebiet des direkten Steuerwesens eine interessante Detailfragc der Steuergesetzgebung in streng wissenschaftlicher Fonn behandelt und teilweise neue Vorschläge macht. Ks handelt sich uni die Fragen und Schwierig- keiten, welche sich aus der Nichtübereinstimmung des der Einkoinmensbemessung zu Grunde gelegten Jahres mit dem Steuerjahr d. i. dem Jahre der Veranlagung und Entrichtung der Steuer ergeben. Die Regierungsvorlage hatte für die Persunaleinkommen- steuer von feststehenden Einkommen die Besteuerung nach dem Einkommenstande im Steuerjahre und für schwankende Einkommen den Stand des Vorjahres vorgeschrieben. Dies war rationell, die feststehenden Einnahmen, namentlich fixe Bezüge sind in der Regel für das ganze Steuerjahr sicher und bekannt und können daher auch zu Beginn des Jahres als Bemessungsgrundlage für das laufende Jahr richtig veranlagt werden, umsomehr als die Steuer hier meistens direkt bei der Auszahlung der Bezugsraten im Wege des Abzugs erhoben wird. Ebenso wäre das Vorjahr für schwankende Einkommen ausreichend gewesen, weil im früheren dreijährigen Durschschnitte immer eine Fehler- quelle und eine gewiBBe Ungerechtigkeit liegt. Der Steuerausschuß hat trotzdem in Anknüpfung an die frühere Praxis für schwankende Einnahmen wieder den dreijährigen Durchschnitt und für feststehende Einnahmen das Vorjahr zur Grundlage bestimmt. Das einfachste allerdings wäre, wenn mau gar keine Unterscheidung machen und für alle Ein- kommensteile gleichmäßig das Vorjahr zu Grunde legen würde, dann wäre die Steuer eine aufgeBchobene Last des Voijahres, die im nächsten Jahre, dem Steuerjahr fällig würde. Die Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtshofes, daß das Steuerobjekt das Einkommen des Steuerjahrea ist, steht mit dem Gesetz in Widerspruch, welches ganz ausdrücklich die Besteuerung nach der Vergangenheit vorschreibt, es Bcheint jedoch durch mehrere Entscheidungen tatsächlich im Falle der Verzögerung der Veranlagung bis zum Zeit- punkt, wo das wirkliche Ergebnis des Steuerjahres bekannt ist, dieses letztere zur Grundlage gelegt zu werden. Der Verfasser, welcher der Berücksichtigung der Verhält- nisse des Steuerjahres unter gewissen Umständen nicht abgeneigt erscheint, proponiert schließlich als Reform Vorschlag den dreijährigen Durchschnitt für Einkummen aus dem Betrieb von Landwirtschaft, Bergwerken, gewerblichen und HandeUuntemehmungen, weil hier das einzige für den dreijährigen Durchschnitt anzuführendc Moment’ der Verlust- auBgleichnng eine Berechtigung habe; für alle anderen Einkommen, also nicht bloß für fixe Bezüge, sondern auch für Kapitalrenteneinkommen, wie Zinsen, Dividenden empfiehlt er mit Recht das Vorjahr. Eine sehr eingehende Kasuistik erfährt die Behandlung der

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Literaturbericht.

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Anfang- und Endstücke des Einkommens. Die drei verschiedenen Methoden (voraus- sichtlicher Erfolg im Steuerjahr, Vorjahr oder dreijähriger Durchschnitt) ergeben nach •der Meinung des Verfassers das gemeinsame Resultat, die Anfangstücke im Entstehungsjahr frei zu lassen, dagegen die Endstücke mindestens in diesem Jahre mit der Steuer fiir •einen vollen Jahresbetrag zu treffen, da gesetzlich Änderungen im Steueijahr nicht für dieses, sondern für die folgenden Veranlagungsperioden in Betracht kommen; eine Aus- nahme von diesem nach der Meinung des Verfassers unbilligen Grundsatz wird nur in besonderen Fällen der Bedürftigkeit zugestanden. Die Berechnung der Steuer für das Anfangstück im Steuerjahr wird nach den drei Methoden verschieden sein, die Besteuerung nach dem Toraassichtlichen Ertrag trifft das ganze neue Einkommen des Steuerjahres, der Besteuerung nach Voijahr unterliegt erst jetzt das Anfangstück, also regelmäßig weniger als ein Jahreseinkommen, die dreijährige Durchschuittskerechnung unterwirft im zweiten Jahr (d.J. hier das Steueijahr) erst ein Drittel des Anfaug>tückes u. s. w., so daß hier die Einnahmen, solange sie nicht drei Jahre bestauden haben, wie ein mehr- jähriges Anfangstück drei Jahre hindurch wirken. Diese Unzukömmlichkeiten bedürfen einer Korrektur, diese sei zwar durch den Absatz 2 des § 156 des Personaleinkommensteuer- gesetzes gegeben, welcher sagt, daß solche neue Einkommen nach dem Darchschnitt des Zeitraumes ihres Bestehens, nötigenfalls nach dem mutmaßlichen Jahresertrag in Ansatz zu bringen sind. Der Verfasser hält dies aber nicht für genügend und proponiert, aus dem Betrag des Anfangstückes verhältnismäßig das Ergebnis einer Jahresgebarung zu berechnen und dieses als Einkommen in die Besteuerung einzubeziehen. Dieser Vorschlag, der wohl mit Absicht keinen Uuterschied zwischen fixem und schwankendem Einkommen macht, ist aber meines Erachtens auch nicht einwandfrei, denn die Besteuerung eines nur einen Monat lang bezogenen Einkommens nicht nach seinem wirklichen Betrag sondern nach einer willkürlich fingierten J&hresxiffer ist auch nicht gerecht. Ist die Besteuerung nach dem Vorjahre die gesetzliche Grundlage, dann soll auch nur so viel besteuert werden, als im Vorjahr wirklich eingekommen ist, nicht mehr, geradeso wie der Verfasser selbst zeitweilige, anperiodische und kurz dauernde periodische Einnahmen nur mit dem tatsächlich im Vorjahr erreichten Ansmaß in die Besteuerungsgrundlage1 des Steuerjahres einbeziehen will. Dies ist die richtige Lösung. Alles was gegen die dreijährige Durchschnittsberechnung gesagt wird, ist vollkommen richtig, denn diese ergibt zu wenig Steuer bei Anfang des Einkommens und zu viel Steuer bei seinem Erlöschen.

Die Darstellung greift dann weiter aus und behandelt die Frage der verschiedenen Einkommensquellen. Bekanntlich legen die Personaleinkommensteuergesetze, im Bestreben sich möglichst von den Objektertragssteuern zu entfernen, das Hauptgewicht auf die Einheit des persönlichen Einkommens und „lassen nicht nur die Teileinkommen, sondern auch den ganzen Prozeß der Ertragsbildung außer Acht und führen an deren Stelle in sachlich unzutreffender Weise Elemente der Eiukommensbildung viel zu niedrigen Hanges, nämlich die Einnahmen und Ausgaben ein“. Die gesetzliche Terminologie wendet das Wort Einkommen sowohl auf das Gesamteinkommen als auf die EinkommeDspartialen an. legt aber kein Gewicht auf diese letztere, obwohl sich ökonomisch nur aus ihnen das Gesamteinkommen konstruieren läßt, und atomisiort statt dessen das Einkommen in Einnahmen und Ausgaben. Der tatsächliche wirtschaftliche Vorgaug und die geschäft- liche Auffassung des Einkommenempfängers läßt aber diese Einkommensteile als das Beeile und die Einheit deB Einkommens nur als Abstraktion erscheinen. Der Verfasser ist der Meinung, daß daher Abgaben und Schuldzinsen von dem Ertrag jener Einkommens- partialen abzuziehen sind, auf welche sie sich beziehen, nur Lebensversicherungsprämien und rein persönliche Zinsen und Lasten seien erst am Schluß vom Gesamteinkommen abzuziehen. Die so gewonnenen Resultate wendet dann der Verfasser auf sein eigent- liche« Thema, auf die Zeitfrage des Einkommens an und verwirft mit Recht die Behand- lung der einzelneu Einnahmen nur nach ihrer allgemeinen gleichartigen Ein n ahm e- eigenschaft, er verlangt statt dessen ihre Einreihung bei den verschiedenen Einkommens- zweigen, deren wirtschaftlicher Charakter dann darüber zu entscheiden hat, ob eine

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Literaturbericht.

einzelne, einem ihnen zugehörige Einnahme als fixe oder schwankende, als neu entstandene oder als periodische anzasehen ist. Bei Erhöhung fixer Bezüge entsteht die Frage, ob das neue Teilstück nnd der entsprechende Teil des alten Bezugs zusammen nach dem tatsächlichen Ausmaü des Vorjahrs oder ob der neue Bezug als neues Einkommen, das die allgemeine Leistungsfähigkeit verändert, nach seinem neuen höheren Gesamtausmaß sofort zu versteuern ist. ln der ersten Vollzugsvorschrift war diese letztere Auffassung enthalten, welche für die Beamten anläßlich der allgemeinen Gehaltserhöhung die ungünstigere war; der Verfasser, welcher überhaupt die Tendenz hat, für Bezüge den Standpunkt der Vorjahrsbesteuerung zu verlassen, erklärt die Erhöhung eines Bezugs als eine Erlangung einer neuen Einnahmsquelle und will den ganzen Jahresbetrag des neuen Dienstbezugs der Besteuerung zu Grunde legen. Angesichts einer lebhaften Agitation in Beamten kreisen gegen diese Auffassung gab die Finanzverwaltung bekanntlich nach und erließ einen Nachtrag zur Vollzugsvorschrift, welcher der Gehaltserhöhung die Eigenschaft der Erlangung einer neuen Einkommensquelle wieder absprach und im Steuerjahr nach der Erhöhung nur das höhere Teilstück des Vorjahrs heranzog. was meines Erachtens dem Grundsatz der Vorjahrbesteuerung mehr entspricht als die Bestimmung der ersten Voll- zugsvorschrift. Der Verfasser nimmt auch Anlaß, sich ausführlich mit der iu Preußen entwickelten sogenannten Quellentheorie auseinanderzusetzen, die das Einkommen aus einzelnen dinglichen Quellen hervorgehen läßt, die selbst wieder als Einzelnutzobjekte innerhalb der verschiedenen Einkon mensteile selbständig erscheinen. Die Besteuerung darf dort nnr nach dem Bestand der Quellen zu Beginn des Steuerjahres stattfinden, und insbesondere darf ein Einkommen aus einer Quelle, die zu Beginn des Steuerjahres nicht mehr vorhanden war, auch nicht in Anschlag gebracht werden, ebensowenig ein Verlust aus eiuer solchen erloschenen Quelle, ein Grundsatz der unserer Voijahrbesteuerung direkt widerspricht. Der Verfasser will für Dienstbezüge die Quellentheorie überhaupt nicht gelten lassen, wohl aber für Kapitaleinkoraroen, er weist aber mit Recht auf die Schwierigkeiten hin, die sich hieraus der Unterscheidung zwischen festen und schwankenden Einnahmen ergeben. Am Schluß wird eine neue Formulierung des § 156 des Personol- einkommensteuergesetzes vorgeschlagen, welche durch eine vielleicht allzu scharfsinnige Kasuistik einen etwas komplizierten Eindruck macht Das beste wäre, man kehrte zu der alten Regierungsvorlage zurück, fixe Bezüge nach dem Ausmaß des Steueijahrs, alle andern nach dem Ausmaß des Vorjahrs. Das Buch ist unter allen Umständen eine besonders lesenswert« interessante Denkarbeit, die hoffentlich auch zu einer neuen Gesetzformuliernng und geänderten Spruchpraxis beitragen wird. E. P len er.

B. Fulstlng, Wirklicher Geheimer Ober-Regienmgsrat und Seuatspräsident des königlich preußischen Oberverwaltungsgericbtes. Die Grundzüge der Steuerlehre. Berlin, Karl Hey in an ns, Verlag, 1902, XVI und 445 S.

Das vorliegende Werk folgt als vierter Band den bekannten ansgezeichneten Kommentaren deB Verfassers zum preußischen Einkommensteuer-, Ergänznngsstener- and Gewerbesteuergesetze und soll von einem fünften Bande, einer geschichtlich-systematischen Darstellung des preußischen Systems der direkten Steuern, gefolgt sein. Die „Grund- züge* sind aber gleichzeitig mit besonderem Titel auch außerhalb der Koimueiitarreihe erschienen.

Die allgemeinste Aufmerksamkeit wird der letzte Abschnitt der Werkes in An- spruch nehmen: er hat die Fortbildung des Systems der direkten Steuern zum Gegenstände und enthält meines Wissens zum ersten Male seit der Miquelschen Steuerreform den Vorschlag, an Stelle der VermOgensergänzungssteuer zn den allerdings gründlich un. zugestaltenden Ertragssteuern zurückzukehren.

Dem Umfang nach weit überwiegend ist die systematische Darstellung des Rechts- stoffes der Einkommensteuer.

Der Gegenstand in seinem gesamten Umfange hat meines Wissens bisher noch keine, die rechtliche und steuerpolitische Seite so innig verbindende Behandlung erfahren; dieser Teil des Werkes ist für den Fachmann, in erster Linie für den Praktiker eine reiche Fundgrube.

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Literaturbericht.

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Trete« gegenüber der Einkommensteuer schon die Ertragssteuern an Umfang und Eindringlichkeit der Behandlung bedeutend zurück, so stellen die Abschnitte über die Zolle, Verbrauchssteuern und Verkehrssteuem (S. 30 80) kaum mehr als eine allerdings klare aber recht kurte Übersicht dar.

Kaum ausführlicher sind die allgemeinen finanzwissenschaftlichen Kapitel über Begriff und Wesen der Steuer, Grundregeln der Steuerverteilung und das Steuersystem (S. 1-28).

Am Titel gemessen, bieten diese Abschnitte kaum das Notwendigste, während der Hauptinhalt des Werkes in seiner eindringlichen Behandlung einzelner Teile des Steuer- rechtes und der Steuerpolitik das Maß von „Grundzügen“ weit überschreitet.

Auf die Art der Darstellung werfen die in dem Vorworte enthaltenen Erklärungen, daß der „Verfasser seiner Überzeugung von der Unhaltb&rkeit einzelner theoretischen Meinungen lebhaften Ausdruck gegeben“, „eine Polemik“ aber „schon wegen der Be- schränkung auf eine übersichtliche Darstellungsweise ausgeschlossen“ habe (S. VII), ein bezeichnendes Licht. Er ist auch in seiner wissenschaftlichen Darstellung der Vorsitzende geblieben, der dirimicrt; schade, daß der Leser die Referate nicht gehört hat! Wenn auch bereitwillig xugestanden werden mag, daß der Verfasser, wenn auch nicht in allen Fällen, „auf eine überzeugende Begründung besonderes Gewicht gelegt“ habe (S. VII), so ist doch diese Methode, die den Gegner nie zum Wort kommen läßt, nicht ohne Gefahren, denen der Verfasser auch keineswegs immer entgangen ist.

Nach diesem allgemeinen Überblicke über das Buch wende ich mich nun den beiden Hauptteilen seines Inhaltes zu.

Die Ansichten des Verfassers über die Fortführung der Steuerreform stimmen insoweit mit der herrschenden Lehre überein, daß er in der Einkommensteuer das Rück- grat der direkten Steuern erblickt 125), und weder die Ertragsteuem in ihrer der- zeitigen, historisch gegebenen Gestalt noch eine allgemeine Zuscblagsbesteuerung der mehr za belastenden Einkommen im Rahmen der Einkommensteuer für durchführbar hält. Sowohl über das Maß als die Richtung der Ergänzungsbedürftigkeit der Einkommensteuer hingegen hat er seine eigene Meinung. Der eingehendsten Beachtung wert sind die gründlichen, wenn auch nicht in jeder Beziehung einwandfreien (s. unten) Ausführungen § 127 ff., welche den Verfasser zur Überzeugung führen, daß die Einkommensteuer über- haupt nicht die geeignete Steuerreform für die unteren Klassen sei, und za unverhältnis- mäßiger Belastung der unteren Volksklassen, insbesondere der kleinen Landwirte und Gewerbetreibenden führe. Gegenüber den Schlüssen, die Fr. Wieser aus der Vergleichung der preußischen und österreichischen Veranlagungsergebniss«- gezogen hat, mahnen diese Erklärungen eines so gewiegten Kenners der preußischen Praxis, die durch die Angaben S. 857 eine noch nähere Beleuchtung erfährt, zur größten Vorsicht.

Abgesehen davon, daß Fuisting hiernach das Gebiet der Einkommensteuer ein- geschränkt sehen will, sieht er anch den Grund der Ergänzungsbedürftigkeit weniger in einer ungleichmäßigen Erfassung der Leistungsfähigkeit, als darin, daß neben der Leistungsfähigkeit die Besteuerung nach dem Interesse ihren Platz zu finden habe. Keinem der Gesichtspunkte scheint ihm aber die Vermögenssteuer, insbesondere mit Rücksicht auf die in Preußen gemachten Erfahrungen zu entsprechen 142, 166).

Sein Vorschlag geht dahin: e9 seien der Einkommensteuer Ertragssteuern, und zwar Grundsteuer, Gebäudeateuern Erwerbsteuer (Gewerbe und freie Berufe) mit Kapital- rentensteuer zur Seite zu stellen.

Die Ertragaateuem sollen in der Regel den wirklichen durch Rechnung oder Schätzung zu erhebenden Ertrag, jedoch in weit ausgedehnterem Maße als bei der Ein- kommensteuer durch Rücksicht auf die Ertragsfähigkeit ergänzt, zur Grundlage haben. Die praktisch wichtigste Seite des Vorschlages ist wohl jene, die sich auf die Errichtung besonderer fachkundiger Schätzungekommisaionen für Grund-, Gebäude- und Gewerbeertrag bezieht; ihre Festsetzungen sollen für die Einkommensteuerkommission, bindend sein, nur der Kapitalsertrag soll von der Einkummenschätzungskommission un- mittelbar festgestellt werden ; auch sollen der Kapitalsrentensteuer Einkünfte aus

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Literaturbericlit.

j) rsönlichen lUbungsrechten, die steuerlich nicht anders behandelt werden können, als die Erträge reiner Arbeitstätigkeit 159) (?) entzogen bleiben. Passivzinsen und Lasten sollen bei der Grund-, Gebäude- und Erwerbsteuer nur insoweit in Betracht kommen, als der wirtschaftliche Zusammenhang mit der Quelle nachgcwn-gen wird, alle übrigen jedoch bei der Kentensteuer abzugsfällig sein.

Dieser gewiß auffallende Vorschlag ist nur ein Glied in einer Reihe von Äußerungen, die uns bei dem Srerfasser sagen wir eine ganz besondere Ängstlichkeit gegenüber den Einkünften des mobilen Kapitals entdecken lassen; wir werden im weiteren Verlaufe darauf noch zurückkonunen. Merkwürdig ist in dieser Richtung unter anderen die Ablehnung einer höheren Belastung der Aktiengesellschaften mit dem Argument, man würde zu der offenbaren Widersinnigkeit gelangen, daß diejenigen, welche wegen unzuläng- licher eigener Kapitalskr&ft sich zuB&mmenschließen .... eben auB diesem Grunde stärker belastet werden müßten, als solche, deren eigene Kapitalski aft aasreicht; das wäre eine Belastung mangelnder zu Gunsten vorhandener Kapitalskraft ($. 392; ; ebenso gehört hierher, daß er den Grad des Interesses bei dem einen räumlichen Teil des Staats- gebietes einnehmenden Grund- und Hauskesitz am höchsten, beim Kapitalsvermögen- hingegen am geringsten veranschlagt u. a. in.

Der Steuerfuß dieser Krtragsateuern soll ein gleichmäßiger sein und von etwa */2 Proz. des Ertrages progressiv bis 3 Proz. ansteigen.

Eine eigenartige Gestaltung gewinnt der Vorschlag des Verfass«« durch die veischiedenartige Feststellung der Untergrenze der Steuerpflicht und der Einrichtung der Interessebesteuerung“ ; der Verfasser versteht darunter die Norm, daß der Steuer- träger jedenfalls eine gewisse Minimalsteuer nach der „Ertragsfähigkeit“ zu ent- richten habe.

Die „Ertragsfähigkeit“ soll von den Kommissionen individuell für jede Quelle er- mittelt werden für den Grund- und Hausbesitz: bei Aktiengesellschaften sollen 4—5 Proz. des Grundkapitals, bei den mit Erwerbsvermögen ausgestatteten privaten Gewerbetreibenden die Zinsen dieses Vermögens die „Ertragsf&higKeit“ darstellen, kapitallose Gewerbe- treibende und Kapitaizins und Renteneinkommen sind von jeder Minimalbesteueruog befreit.

Bei der Grundsteuer soll der zum vollständigen Lebensunterhalte nicht ausreichende Kleinbesitz freigelassen, doch darf die Grenze nicht zu weit gezogen werden 172;; bei der Geb&udesteuer. die als Wohnhaussteuer, jedoch mit Ausschluß der landwirt- schaftlichen und gewerblichen, wenn auch nebensächlich den Wohnungszweckeu des Landwirtes oder Gewerbetreibenden dienenden Gebäude, gedacht ist, soll eine weitere ziffertnäßige Befreiung nicht statttinden.

Bei der Erwerbsteuer sollen die Grenzen der preußischen Gewerbesteuer (1500 Mark Ertrag, 3000 Mark Vermögen) durch die Erhöhung des Vermögensbetrages auf 5000 Mark etwa« erweitert werden; auch bei der Kapitalrentensteuer soll ein Einkommen von 1500 Mark die Untergrcnze für die sodann progressiv ansteigende Besteuerung bilden.

Dies die Grundzüge der Steuerreform des Verfassers.

Ist auch eine erschöpfende Kritik der Vorschläge an dieser Stelle von vorneherein ausgeschlossen, so braucht doch nicht verschwiegen zu werden, daß uns gar manches befremdlich aninutet. Mit dem großen Gewichte, welches der Verfasser dem Gegensätze zwischen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit und Interessebelastung beilegt, steht es nicht im Einklänge, daß in der Ertragsbestcuerung gerade uur der sogenanute Mindest- betrag der Interessebelastung entsprechen und jede höhere Belastung vou Rücksichten der Leistungsfähigkeit abhängig sein soll. Diese Mindeststeuer scheint uns auch kein ausreichender Grund, die Vorschläge des Verfassers als Ertragssteuersystem init der Zuschlagebelastung iin Rahmen der Einkommensteuer in Gegensatz zu stellen. Ja, die Forderung, daß die Feststellungen der Steuerausschüsse für die Einkommensteuer- behörderi bindend sein sollen, scheint einem solchen Gegensätze geradezu zu wider- sprechen. Es bleibt von demselben nichts anderes übrig, als daß er die Erträge zuerst ermittelt und daraus das Einkommen zusammengesetzt wissen will, während er

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Literaturberkhi.

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die Ableitung der besonders zu belastenden Erträge aus dem einheitlich ermittelten Einkommen ablehnt. Ob dieser formale Unterschied durch den Gegensatz Ertrag- und Einkommensteuer zutreffend bezeichnet wird, bleibe dahingestellt. In Bezug auf die Ausführbarbeit bleibt uns Verfasser eine nähere Erklärung schuldig, wie sich der Steuer- träger ohne allzuweit gehende Belästigung mit so vielen Kommissionen auseinander- setzen soll und wie diese Komm iss io non ihre Arbeit, deren Schwierigkeiten ja dem Ver- fasser so wohl bekannt sind, in der zur Veranlagung zur Verfügung stehenden Zeit bewältigen können.

Nach einer anderen Richtung hin vermissen wir in dem Werke jegliche Aus- führung darüber, wie die angeregte Reform an die in Preußen bereits vollzogene Über- weisung der Ertragsteuem an die KommunalkOrper angegliedert werden soll; auch über den finanziellen Erfolg derselben im Vergleich mit der bestehenden staatlichen Ergänzung»- steuer spricht »ich der Verfasser nicht aus.

Als der zweite Hauptgegenstand des Werkes stellt sich, wie gesagt, die rechtliche und kritische Behandlung der Einkommensteuer dar.

Die Fülle der in knappster Form gehaltenen, sowohl die Fragen des materiellen Steuerrechtes als des Verfahrens umfassenden, in alle Einzelheiten eingehenden Aus- führungen schließt eine Widergabe an dieser Stelle aus. Die reichste Erfahrung des seit vielen Jahren am obersten Tribunal tätigen Richters ist hier niedergelegt. Es muß ge- nügen, einige Hauptpunkte bervorzuheben.

Wenn ich den vortrefflichen Ausführungen des Verfassers über die Bedeutung des Ertrages für die Einkommensermittlung (§§29, dann 51 ff , 78, mit denen mir allerdings §75 in einem gewissen Widerspruche zu stehen scheint! vollkommen zustimme, so darf ich mich zur näheren Begründung auf meine im vorigen Jahre erschienene Arbeit BDas Zeitverhältnia zwischen der Steuer und dem Einkommen“ berufen, in welcher ich auf Grund eingehender Untersuchungen zu übereinstimmenden Ergebnissen gelangt hin. Ob sie auch vom Verfasser, der ihrer keine Erwähnung tut, benutzt wurden, bleibe dahingestellt. Auf die von mir ausführlich erörterte Frage, wie sich denn die einzelnen Quellen indi- vidualisieren, ist der Verfasser diesmal nicht eingegangen.

Jede sozialpolitische Funktion der Besteuerung lehnt Fuisting mit Nachdruck ab. Er beschränkt das Einkommen auf das „quellenmäßige Einkommen“ 41) und weist die Besteuerung außerordentlichen und zufälligen Einkommens, der Konjunkturengewinne ete. energisch zurück.

Solche Gewinne sollen aber merkwürdigerweise auch durch die Verkehrssteuern nicht getroffen werden (§§ 25, 27). Die auch nur subsidiäre Einschätzung nach dem Auf- wand« ist ihm ein Grenel und ein Widerspruch gegen den Grundgedanken der Ein- kommensteuer (§ 102). Meines Erachtems liegt schon in diesen Ansichten des Verfassers Ober die Grundlagen der Besteuerung die Gefahr, daß eine so geartete Einkommensteuer die Leistungsfähigkeit nicht gleichmäßig erfassen, sondern gerade sehr leistungsfähige Elemente frei ansgehen lassen werde.

Diese Gefahr wird nun durch gewisse Meinungen des Verfassers über das Ver- anlagungsrerfahren in hohem Maße verstärkt. Nach seiner Meinung sollen nämlich Schätzungen überhaupt aufs äußerste eingeschränkt und die genaue Beiechnung des Einkommens der Veranlagung zu Grunde gelegt werden. Die Veranlagung darf nicht dahin ausgedehnt werden, das Vorhandensein einer Quelle ohne vollkommen zwingende Beweise, „Unterlagen“, zu behaupten. Soweit nicht der Stand des Kapitalvermögens be- kannt ist, wird deshalb den Angaben des Pflichtigen über den Gesamtertrag seines Kapitalvermögens zu folgen sein 101).

Diese übrigens über die Kechtsanschauungen des preußischen Oberverwaltungs- gerichtes noch hinausgehenden Ansichten im Zusammenhang mit den oben angeführten Grundsätzen führen in ihrem praktischen Resultate doch wohl unvermeidlich zu einer weitgehenden Steuerentlastung der Einkünfte des mobilen Kapitals überhaupt und ganz besonders des Einkommens aus spekulativen Geschäften, sei es in BOrseeffekten oder Realitäten, aus Provisionsgeschäften u. s. w.

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Literaturbericht.

Dein auch von Fnisting anerkannten Gesichtspunkte gleichmäßiger Inanspruch- nahme der Leistungsfähigkeit wird hierdurch keineswegs entsprochen.

Damit stimmt es dann freilich überein, wenn Fuistiug eine Überlastung der kleinen und insbesondere der landwirtschaftlichen Einkommen durch die Einkommensteuer befürchtet )§§ 126 ff.. 12H). Einseitig und unrichtig ist ea aber, wenn er dies auf eine objektive Überlastung durch das Schätzungsweseu zurückführt, anstatt auf die objektive Entlastung, welche das mobile Kapital durch die von ihm geforderte ungleichmäßige An- wendung des Schätzungswesens. nämlich die Exemtion der Einkünfte des beweglichen Vermögens von demselben erfährt. Andere Stellen lassen allerdings darauf schließen, daß sich der Verfasser über die Faltbarkeit den Einkommens aus mobilem Kapital nach den von ihm gutgeheißenen Kegeln einem ziemlich weitgehenden Optimismus hingibt (Vgl. in dieser Beziehung n. a. § 126: „Die Unterlagen liir eine zahlenmäßige Berechnung des Einkommens sind hiermit (nämlich durch das Bekenntnis) regelmäßig gegeben**, ferner den Schluß des § 27 betr. Erbschaftssteuer). Gewiß ist es auch charakteristisch, daß er dein Strafwesen kein einziges Kapitel widmet, meines Wissens die einzige Lücke in diesem Teile des Werkes. Ganz gelegentlich kommt die allerdings bedeutungsvolle Bemerkung vor (S. 249) : „der Staat sei hinreichend geschätzt durch die im Strafverfahren gebotene Möglichkeit, die Bücbereinsicht zu erzwingen.“

Iti der Frage, oh die Besteuerung nach dem Durchschnitte der Vorjahre, nach dem Vorjahre o. a. w. stattfinden solle, nimmt Verfasser nach Jastrows Vorgang fiir die ausschließliche Besteuerung nach Vorjahr ohne jede Korrektur Partei (§§ 44, 45). Ich habe meine in vielen Punkten entgegenBtehenden Ansichten schon vorher in der oben erwähnten Arbeit entwickelt und kann mich daher kurz fassen. Den entscheidenden Punkt meiner Darlegungen, daß das wirkliche Einkommen des Vorjahres nicht die wirkliche Leistungsfähigkeit der Gegenwart erkennen lasse, hat der Verfasser, der auch in diesem Falle „jede Polemik vermeidet“, ebensowenig berührt, wie den Hinweis darauf1, daß nach seiner Methode bei anentgeltlichem Bcsitzwechel jeweils bis zu einem ganzen Jahreseinkommen aus der Besteuerung ausfällt.

Die schon von Jastrow vertretene Formel, es handle sich um allgemeine Nach- zahlung der Steuer (S. 133), widerspricht den tatsächlichen Wertungsvorgängen und euthält nur eine Umgehung der wirklich vorhandenen praktischen Schwierigkeiten. Es ist merkwürdig, daß der Verfasser die Fehler der Besteuerung nach dem Stande der Quellen zu Beginn des Steuerjahres genau wahrnimmt 47, i, aber gänzlich übersieht, daß einige derselben noch schlimmer werden, wenn man die Besteuerungsgrundlage noch weiter, nämlich ins Voijahr zurückzieht.

Auch mit den Ausführungen über die Notwendigkeit von Korrekturen bei den Ertragssteuern scheint mir seine einseitige Haltung bei der Einkommensteuer in Wider- spruch zu stehen. Tatsächlich unrichtig uud durch die von mir mitgeteilten Vorgänge bei der österreichischen Steuerreform widerlegt ist die Behauptung, die dreijährige Durchschnittsbr-rochnung beruhe auf einer doktrinären Schrulle (S. 122).

Die Kommissionen will Verfasser von den Behörden ganz unabhängig stellen und insbesondere die Beamten auch von dem Vorsitze ausschließen. Wie weit hierbei die grundsätzliche Auffassung der „Judikatur in Verwaltongssachen“ im Spiele ist, will ich hier nicht untersuchen. Vom praktischen Standpunkte ist mir nicht klar, wie unter solchen Umständen der Geschäftsgang in den Kommissionen aufrecht erhalten werden soll; auch in Preußen dürfte, nach der Praxis zu urteilen, die geschäftskundige Hand des Beamten tatsächlich als anentbehrlich betrachtet werden.

Seine Ausführungen scheinen mir überhaupt auf einer allzu vorteilhaften Meinung von den Tugenden der Kommissionen zu beruhen.

Das eigentliche Kreuz der Einkommensteuer, das Beanstandungswesen, die erfor- derlichen „Unterlagen“ zu einer vom Bekenntnisse abweichenden Veranlagung und die Mittel und Wege späterer Richtigstellung zu niedrigen Veranlagungen, findet eine der Bedeutung der Sache entsprechende sehr eingehende Behandlung.

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Auch in diesem Abschnitte zolle ich der Fülle reicher Erfahrungen und feiner Beobachtungen bereitwillig meine Anerkennung. Den Ergebnissen vermag ich nicht in allen Punkten zuzustimraen. Sie bringen meine« Erachtens doch zu sehr das formale In- teresse de« einzelnen Steuerträgers zum Ausdruck, der durch die Beanstandung leicht beleidigt ist und möglichst bald Kühe haben will.

Daß sich hinter diesem formal berechtigten Interesse sehr oft materielles Unrecht einer unrichtigen Veranlagung verbirgt, wird ebenso unterschätzt, wie das nicht minder berechtigte und gerade für den moralischen Erfolg der Einkommensteuer entscheidende Interesse der redlichen Steuerträger, daß ihre minder gewissenhaften Mitbürger nicht durch die Normen des Veranlagungsverfahrens den materiellen Erfog ihrer unrichtigen Bekenntnisse gesichert finden. Das Veranlagungsverfahren darf die Einkommensteuer nicht zu einer Extrabelastung für die Ehrlichen machen. Das aber ist die unausweich- liche Folge, wenn die Beweislast allzusehr zu Lasten der Veranlagungsorgane ver- schoben wird.

Aufs Geratewohl seien endlich noch einige Äußerungen hervorgehoben, die nach verschiedenen Richtungen Interesse erwecken können, z. B.: Alle untergeordneten politischen Verbände „können das Recht der Abgabenforderung uur vom Staate ableiten (S. 2.)

Die Ausübung des Besteuerungsrechtes des Staates muß „auf das Maß des Not- wendigen beschrankt bleiben. Hierbei muß das gegenwärtige Bedürfnis entscheidend sein.“ (S. 5.)

„Das Hauptziel praktischer Steuerpolitik muß stets die Zufriedenheit der großen Masse der Bevölkerung mit den bestehenden Einrichtungen sein.“ (S. 26, ähnlich S. 212.)

Recht merkwürdig ist die grundsätzliche Ablehnung einer höheren Leistungsfähigkeit des Besitceinkommens 31), dann aber doch der Vorachlag einer geringeren Belastung des reinen Arbeitseinkommens aus Rücksichten der Billigkeit und Zweckmäßigkeit 83).

Den mir nicht recht einleuchtenden Ausführungen über die verschiedenartige Be- handlung der selbstverbrauchten Erzeugnisse in der Landwirtschaft und gewerblichen Produktion 43) steht die ziemlich durchgreifende Ansicht gegenüber, daß bei der Wald- wirtschaft das Erträgnis der Abstockung im Gegensatz zum geltenden preußischen Recht schlechthin, ohne jede Unterscheidung, ob es eine gewöhnliche oder außer- gewöhnliche war, als Einkommen zu veranschlagen sei u. s. w.

Den Zweck der Anzeige, auch dem Nichtleser des Buches eine möglichst zutreffende Schilderung desselben zu geben und sie recht bald zu Lesern zu machen, glaube ich hiermit erfüllt zu haben. Robert Meyer.

Dr. Otto Müller, Die Einkominenstenergesetzgebung in den ver- schiedenen Ländern. 104 8. XXXIV. Band der Sammlung national-ökonomischer und statistischer Abhandlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu Halle, heraus- gegeben von Dr. Job. Conrad. Jena 1902.

Die Arbeit setzt sich zum Ziele, die Einkommcnbesteuernng in den verschiedenen Ländern darzustellen, zu vergleichen und ein .Schlußurteil über die beste Regelung abzugeben. Bei der großen Bedeutung, welche der direkten Besteuerung heute in den Steuersystemen fast aller Staaten zukonimt, und der hervorragenden Stellung, welche innerhalb der direkten Steuern die Einkonimenbesteuerung einnimrat, gewiß ein sehr berechtigtes und im Falle des Gelingens auch «ehr dankenswertes Unternehmen. Wie ein Großteil des Themas selbst, so ähnelt aber leider auch die Ausführung desselben in vielen Beziehungen der kürzlich hier(Bd. XI, S. 617) besprochenen Arbeit Feitelbergs, auch sie läßt es an einer festen Grundlegung über den Begriff des Einkommens fehlen und kann es daher naturgemäß auch nicht zu einer richtigen Abgrenzung des Begriffes der Einkommensteuer bringen. So behandelt denn die Arbeit tatsächlich die englische income tax, die italienische imposta sui redditi della riech ez za mobile und die holländische Vermögensteuer als ungefähr auf einer Stufe mit der preußischen oder österreichischen Personaleinkommensteuer stehend. Das englische Gesetz wird sogar als für die Um- schreibung des „Einkommenbegriffes“ (!) mustergültig hingestellt, „weil es in seinen fünf

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Literaturbericht.

Verzeichnissen ganz genau zwischen den einzelnen Einkommen quellen unterscheidet* (S. 101), and als Vorzug dieser als reine Einkommensteuer charakterisierten income t&r gerühmt, „an der Quelle erhoben zu werden“ (S. 10); von der italienischen Steuer wird behauptet, daß sie „im ganzen auf den Grundsätzen der Einkoinmcnbesteuerung der deutschen Gesetze“ beruhe (8. 4), u. ». w.! Wir sehen also die engen subjektiven Beziehungen, welche die Einnahmen erst zum Einkommen des Steuersubjektes werden lassen, ebenso vollständig ignoriert, wie die für jede wahre Einkommensteuer unerläß- liche Einheit des Einkommens, welche doch über der Aufzählung der einzelnen möglichen Einkommenszweige nicht vergessen werden darf. Letzteres geschieht aber in der immer wiederkehrenden Betonung der Notwendigkeit, innerhalb des Einkommens zu .speziali- sieren“, ebenso wie in dem ernsthaften Vorschläge, zwar die juristischen Personen der Einkommensteuer zu unterwerfen, hingegen den Dividendenertrag beim Aktionär aus dessen Einkommen auszuscheiden. Durch letzteres würde von vielen anderen abge- sehen — nicht nur eine durch gar nichts gerechtfertigte Bresche in das Prinzip der Besteuerung nach der Höhe des Gesamteinkommens unter Berücksichtigung der individuellen V erbältnisse gelegt, sondern auch der Praxis jede Kontrolle für eine richtige Einschätzung des Gesamteinkommens verlöten gehen, überdies aber die sehr schwierige Frage der Aufteilung etwa vorhandener Lasten provoziert.

Bei dem eben hervorgehobenen Mangel eines richtunggebenden Einkomnienbegriffes werden natürlich auch im Detail viele nicht anzuerkennende Thesen verfochten, z B. die Abrechenbarkeit der Verluste am Vermögensstamro vom Einkommen, .da das Ein- kommen tatsächlich dadurch vermindert wird“ (S. 15), bei gleichzeitiger Freilassung auüerordentlicher Einnahmen von der Einkommensteuer, da dieselben .keine Einkommens- vennehrung, sondern einen Vermögenszuwachs“ darBtellen (S. 22); oder die „Abrechen- barkeit der gesetz- und vertragsmäßigen Ausgaben“ schlechthin, jedoch mit Aus- schluß der Koinmunal&bgaben .wegen ihrer großen Ungleichmäßigkeit“ (S. 23), durch welch letztere Ausnahme eine theoretisch offenbar ganz unhaltbare Bestimmung des preußischen Gesetzes verteidigt werden soll.

Die Zusanimentragung der einzelnen positiv-rechtlichen Bestimmungen ist im großen ganzen sorgfältig durchgeführt, wenn freilich eine einseitige Bevorzugung der doch hinlänglich bekannten preußischen und einiger anderer deutschen Gesetze gegen- über den englischen und amerikanischen Gesetzen nicht zu verkennen ist und auch Systematik und Übersichtlichkeit dieser Zusammenstellung zu wünschen übrig läßt. So werdeu viele Fragen von verhältnismäßig untergeordneter Bedeutung (Abzugsposten, Steuerhühe, Kommissionen, Verfahren) ausführlich, hingegen sehr wichtige Prinzipien- fragen kursorisch behandelt; in dieser Richtung hätte das noch in den Kinderschuhen steckende internationale Steuerrecht einer Vertiefung bedurft und das so wichtige Moment, ob Subjekt der Einkommensteuer das einzelne Individuum, die Familie oder die Haushaltung sein solle, nicht mit der Bemerkung abgetan werden dürfen, daß sich „die Veranlagung des Haushaltungsvorstandes unter Hinzurechnung des Einkommens der

Familienglieder durch die Vereinfachung des Verfahrens“ rechtfertigen lasse

<S. 38) !

Nach dem Gesagten wird die vorliegende .Seminararbeit als handlicher Behelt zu einem vergleichenden Studium mancher Einzelfragen in den verschiedenen Einkommen- steuergesetzen Dienste leisten, jedoch als Förderung der theoretischen Erkenntnis auf dem Gebiete der Einkommenbesteuerung nicht angesehen werdeu können. Reisch.

I)r. Karl Grünberg, Die handelspolitischen Beziehungen Österreich- Ungarns zu den Ländern an der unteren Donau. Leipzig, Duncker & H um- blot, 1902. VH und 317 8. M. 6 60.

Ein sehr interessantes Buch, das gerade zu rechter Zeit erscheint, da die Handels- verträge nicht bloß mit Deutschland und Italien, sondern auch mit den Balkanliindem in der nächsten Zukunft zur Diskussion kommen werden. Der Außenhandel der Monarchie mit diesen Ländern nimmt in der gesamten Handelsbewegung zwar nur einen geringen Teil ein (ungefähr 5 Proz. der Ausfuhr), allein trotzdem hat sich die öffentliche Meinung

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von froher her gewöhnt, dieBe Länder als das natürliche Absatzgebiet nnscrcr Industrie anzusehen und ist darum gegen jede Zuriickdrängung unserer Ausfuhr nach jenen Märkten besonders empfindlich. Und leider geht die Entwicklung nicht aufwart«, unser Absatz wird durch fremde Konkurrenz, Schaffung einheimischer Industrien eingeengt, und wenn sich auch hie und da eine Zunahme findet, so ist diese relativ gegen andere Länder nicht bedeutend und steht nicht im Verhältnisse zu der wenn auch nur langsam steigenden Konsumkraft jener Länder. Der Verfasser schildert an der Hand amtlicher und anderer Publikationen die Geschichte unserer Handelsbeziehungen zu Rumänien, Serbien und Bulgarien. In der alten Zeit hatte die Monarchie geradezu eine Vorzugs- stellung, allmählich wurde sie im besten Fall auf formelle MeiBtbegQnstigungsverträge gestellt, die aber durch den Fortbestand autonomer Tarifpositionen gerade für Österrei- chische Importe eine ungünstigere Lage für einzelne wichtige österreichische Produkte schufen. Der Verfasser benützt für seine statistische Darstellung ausschließlich die Ziffern der Handelsausweise jener Länder, welche, wie dies ja immer der Fall ist, mit den Ziffern der österreichisch- ungarischen Handelsstatistik nicht übereinstimmen. So gibt z. B. die rumänische Handelsstatistik für 1900 eine Ausfuhrwertziffer nach Österreich-Ungarn von 44 27 Mill. Lei und eine Einfuhrwertziffer aus der Monarchie von 69 29 Mill. Lei, während unsere Handelsstatistik für jenes Jahr eine Einfuhr aus Rumänien im Werte von nur 33 3 Mill. Kronen und eine Ausfuhr nach Rumänien im Werte von nur 48‘8 Mill. Kronen ausweist. Unser Verkehr mit Rumänien bewegt sich auf absteigender Linie, im Durchschnitt der Jahre 1861 1865 betrug der Anteil der Monarchie an der Gesamteinfuhr Rumäniens 48’27 Prot., in jenem der Jahre 1871 1875 39 Pro* , die Ausfuhr Rumäniens nach der Monarchie betrug in jenen Zeitabschnitten 19 und 37*6 Pro*, der Gesamtausfuhr. Die Regulierung der Donaumündungen brachte vor allein einen Aufschwung des Handels mit England, dessen Tonnengehalt von 1865 auf 1875 von 14 auf 49 Pro*, aller aus- gehenden Schiffe Btieg. Die Handelskonvention, welche die Monarchie 1875 mit Rumänien schloß, war für unsere Beziehungen günstig, unser Anteil an der rumänischen Einfuhr stieg in der Zeit von 1876—1886 wieder auf 48 6 Proz. und England und Frankreich traten wieder etwas zurück, Deutschland fing erst an in Textil- und Metallwaren steigend abzusetzen. Der günstige Zustand dauerte jedoch nicht lange. Zunächst rief die deutsche Viehsperre gegen österreichisch-ungarische Provenienzen die weitere Maßregel der Sperrung unserer Grenze gegen rumänisches Rindvieh hervor, darauf antwortete Rumänien mit Zollplackereicn. man versuchte neue Verhandlungen aber ohne Erfolg und so trat nach Ablauf der Konvention (Juni 1886) der Zollkrieg ein. Rumänien wendete seinen inzwischen lertiggestellten hohen autonomen Zolltarif auf österreichisch-ungarische Waren an, während für andere Staaten noch die Konventionaltarife galten. Die autonomen Sätze waren zum großen Teile direkt gegen österreichische Importe gerichtet, insbesondere gegen Zucker, Mehl, Kleider, Sattler- und Schuh waren. Österreich- Ungarn sperrte dafür seine Grenze gegen rumänisches Vieh aller Art, sogar im Durchfuhrverkehr, und legte einen 30proz. Strafzoll auf alle rumänischen Eintrittsgüter. Der Zollkrieg brachte im gangen keine Einbuße des rumänischen Außenhandels, sowohl die Einfuhr als die Ausfuhr stieg während dieser Zeit, allerdings sank der Viehexport rapid, 30.654 Stück Hornvieh in 1879 auf 3464 in 1891, Schweine von 153.607 auf 5237 Stück. Nach anderen Ländern konnte Rumänien sein Vieh auch nicht bringen, der Versuch einer Beschickung des italienischen Marktes mißlang uud die ganze Viehzucht des Landes erlitt einen Schlag, von dem sie sich überhaupt nicht mehr erholte. Dies scheint übrigens auch sein einziger Nachteil infolge des Zollkrieges geweseu zu sein. Zum Ersatz für den Rückgang der Viehzucht wurde Weideland in Ackerboden umgewandelt, der Getreideexport möglichst forciert und tatsächlich die Unabhängigkeit Rumäniens von Österreich- Ungarn in der Verwertung »einer Cerealien erwiesen. Die Ausfuhr Rumäniens nach unserer Monarchie fiel von 85 Proz. seiner Gesamtausfuhr in der Konventionsperiode auf 7 Proz. während der Zoll- kriegaperiode. Die österreichisch- ungarische Einfuhr nach Rumänien sank v..n 48 auf 18 Proz. der Gesamteinfuhr. Wesentlich traten Deutschland und England an unsere Stelle, insbesondere in Leder, Möbel, Konfektions- und Blechwaren. Es ist selbstver-

KelUchrift frtr Volkswirtschaft, Suclalpolitik und Verwalt uns. XII. Baad. 9

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stündlich sehr schwer ziffermäßig auszudrücken, welcher der beiden Staaten mehr unter dein Zollkrieg gelitten hat, der Verfasser meint, daß, wenn kein Zollkrieg entstanden wäre und unsere Ausfuhr sich auf der Höhe der Konventionsperiode erhalten hätte, der Ausfall zu Ungunsten der Monarchie mit 420 Mill. Francs zu veranschlagen Bei, wogegen der rumänische Verlust am Viehexport fast vollständig verschwindet. Nach fünf Jahren endete der Zollkrieg, unsere Waren wurden nicht mehr der differentiellen Behandlung unterworfen, die österreichisch-ungarische Ausfuhr hob sich zwar wieder, konnte aber Deutschland von der ersten Stelle nicht sobald verdrängen. Indessen hatte auch eine nachdrückliche staatliche Industrie-Förderungsaktion stattgefunden. Steuerbefreiungen* Frachtbegünstigungen, direkte Subventionen und ähnliche Maßregeln, die Erfolge dieser Aktion waren übrigens nicht sehr groß, für die Deckung seines Bedarfes an Textil- und Metallwaren bleibt Rumänien auf absehbare Zeit auf ausländischen Bezug angewiesen, besser gelang die Förderung der heimischen Industrie bei Zucker, Spiritus, Bier, Mehl, wohlfeilem Glas und gemeiner Konfektionsware. 1891 wurde ein neuer Konventionaltarif eingeführt, wieder mit der Spitze gegen österreichisch*ungarische Provenienzen. 1893 schloß Rumänien einen Vertrag mit Deutschland ab, dessen Sätze Österreich-Ungarn in einer einfachen Meistbegünstigungskonvention annehmen mußte, während für alles nmlere der autonome Tarif in Geltung blieb und gerade für solche Artikel, welche speziell österreichische Ausfuhrartikel sind, wie Leder, Schuhe, Textilkonfektion, Wüsche, Papier, Glas. Wenn trotzdem Österreich -Ungarn wieder relativ an die erste Stelle im rumänischen Import gerückt ist, so Bind die absoluten Ziffern nicht sehr befriedigend, indem sie weit hinter jenen der früheren Jahre Zurückbleiben, wozu allerdings auch die infolge mehrmaliger Mißernten verminderte Konsumkraft des Landes beigetragen bat. Auch sind die Artikel, in welchen wir einen Vorsprung gewonnen haben, nicht gerade solche, auf welche eine Exportindustrie besonderen Wert legt, wie Kolonialwaren, Mineralien Halbfabrikate und Papier; in den zwei Hauptartikeln, den Textil- und Metallwaren, bleibon wir auch jetzt hinter Deutschland und England zurück. Ein gewisses Verschulden scheint auch in der mangelhaften Initiative unserer Exporteure zu liegen, wenn man liest, daß Deutschland in einem Jahre 3309 Reisende nach Rumänien Bendete und Österreich- Ungarn nur 154; in der Metallbranche war das Verhältnis ein österreichischer Reisender gegen 478 deutsche! Für die Zukunft hofft der Verfasser eine Besserung durch einen neuen Handelsvertrag, der wesentlich auf österreichisch-ungarische Produkte Rück- sicht nähme gegen Konzessionen für Getreide und Vieh. Um das Argument ungarischer Handelspolitiker gegen solche Konzessionen zu entkräften, die angeblich die ungarische Landwirtschaft zu Gunsten der österreichischen Industrie hart treffen würden, führt der Verfasser Daten an, wonach sich gerade die Ausfuhr ungarischer Industrieprodukte nach Rumänien im Laufe der Jahre außerordentlich gehoben hat und heute 85 Proz. der Gesamtausfuhr der Monarchie nach diesem Lande beträgt.

Serbiens Gesamtbandel ist viel geringer als jener Rumäniens, im Durchschnitt der Jahre 1894—1900 betrug die Gesamteinfuhr Rumäniens 337*2 Mill. Lei, aus Österreich- Ungarn 94*9 Mill. Lei, seine Ges&mt&uafuhr 259 8 Mill. Lei, nach Österreich -Ungarn 48 8 Mill. Lei, während in der Zeit von 1893 1900 die Gesamteinfuhr Serbiens 40 5 Mill. Dinar betrug, davon aus Österreich- Ungarn 22*7 Dinar, die Gesamtauafuhr Serbiens 54*5 Mill. Dinar, davon nach Österreich- Ungarn 47*6 Mill. Dinar. Der Verfasser gibt auch hier eine interessante geschichtliche Darstellung der Handelsbeziehungen zuerst bis und nach dem Handelsvertrag von 1881, ursprünglich hatte ein Teil unseres Imports nur den halben Zoll zu entrichten, wogegen die bekannten Grenzverkehts- erleichterungen für serbisches Getreide gewährt waren. Die Eisenbahn nach »Saloniki brachte keine wesentliche Änderung der Handelsrichtungen, die serbische Ausfuhr nach der Monarchie betrug in der Zeit bis 1891 immer noch 86*5 Proz. der Gesamtausfubr. die Einfuhr der Monarchie Bei allerdings von 70 auf 61*5 Proz. der Gesamteinfuhr Serbiens. Eine Erschwerung unseres Absatzes bedeuten auch die internen städtischen Akziseabgaben. 1892 kam ein neuer Vertrag zu Stande, welcher hohe Gewichtszölle ein- führte, die bisherige differentielle Begünstigung einiger österreichischer Artikel aufhob,

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dagegen das serbische Getreide zu begünstigten iwenn auch etwas höheren) Zollsätzen zuließ. Das Resultat dieses ungünstigen Vertrages ist der Rückgang der prozentuellen Quote Österreich-Ungarns an dein serbischen Import um 10 Proz., die deutsche Ausfuhr, die unmittelbar von unserem serbischen Vertrag Vorteil zog, hat sich dagegen erheblich gesteigert. Dagegen hat die Ausfuhr Serbiens nach der Monarchie außerordentlich zuge- noinmen, 89 Proz. seiner Gesaintauafuhr geht nach Österreich- Ungarn. Da Serbien in seiner Ausfuhr absolut auf die Monarchie angewiesen ist, andere Absatzwege für Beine Cerealien noch lange nicht finden wird und geographisch großenteils von der Monarchie eingeschlossen ist, so sei es die Aufgabe unserer künftigen Handelspolitik, diese günstige Position auch wirklich auszuniitzen und hält der Verfasser wieder eine differentiell günstigere Behandlung unseres Imports für durchsetzbar.

Das Verhältnis zu Bulgarien ist gegenwärtig durch den Vertrag von 1896 geregelt, mit Wertzollabstufungen für verschiedene Warenklassen, wobei gerade die meisten österreichisch-ungarischen Aitikel in die höchste Stufe fallen, dazu kommen noch Akzise- abgaben. Bulgarien genießt eine besonders günstige geographische Lage, die Monarchie partizipierte im Durchschnitte der letzten Jahre mit 32*5 Proz. an der Gesamteinfuhr, die rund 75 Mill. Lei beträgt, die einzelne Jalireszifftr nimmt aber stetig ab, während jene Deutschlands zunimmt, unser Zucker wird durch rumänischen verdrängt, Konfektions- waren teilweise durch selbständige Industrioförderung. Der Vertrag ist Ende Dezember 1902 gekündigt worden. Wenn man hört, dat5 Bulgarien selbst den früheren Wunsch nach einer Veterinärkonvention nicht mehr erneuern will, so steht vermutlich eine noch stärkere Ahschließung bevor.

Am Schluß wird auch das handelspolitische Verhältnis zwischen Österreich und Ungarn kurz aber charakteristisch besprochen und verdient das angezeigte Buch die Auf- merksamkeit aller jener, die sich um die Handelspolitik der Monarchie interessieren.

E. Ploner.

Marcel Godet, Da» Problem der Zentralisation des schweizerischen Banknoten wesens. 'Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen. Herausgegeben von Gustav Schmoller, Bd. XXI., Heft I.) 86 SS. Leipzig, Verlag von Duncker und Huroblot. 1902.

Adolf Wagner hat gelegentlich in einer seiner Abhandlungen über österreichische Valuta- und Bank Verhältnisse mit Bedauern der Tatsache gedacht, daß niemand diese ohne eingehende Kenntnis der politischen Einflüsse lediglich anf Grund volkswirtschaft- licher Erwägungen zu beurteilen im Stande »ei. Dasselbe gilt auch von der Valuta- und Bankfrage in der Schweiz. Nur muß mau hinzufügen, daß die Kenntnis der politi- schen Strömungen der Schweiz allein kein zutreffendes Urteil über bankorganisatorische Fragen gewährleistet.

Zu diesen Bemerkungen fühlt man sich veranlaßt, wenn inan sich mit der neuesten Schrift auf diesem Gebiete, jener von Marcel Godet, näher beschäftigt. Sie ist in ihrer Art ein vortreffliches Produkt der historischen Forschungsmethode. Sie orientiert in ver- läßlicher Weise über die Vorgeschichte. Allein das Interesse, das man an dieser Arbeit nimmt, gilt weniger den zwei ersten Abschnitten, die einen historisch-kritischen Abriß der Entwicklung des schweizerischen Notenbankwesens, des bisherigen Verlaufes der Bestre- bungen um die Zentralisierung der Notenbankverfassung und eine ziemlich knapp gehaltene Darstellung der gegenwärtigen Noten- und Geldmarktverbältnisse bieten, alB ihrem dritten Teile, in welchen der Verfasser positive Vorschläge zur Lösung des Problems vorbringt Es darf angenommen werden, daß die Frage der Durchführung der in Art. 39 der Bundesverfassung gestellten Aufgabe der Errichtung einer zentralen Notenbank in nächster Zeit abermals Gegenstand der Verhandlungen der eidgenössischen Räte bilden wird, und es erscheint uns aus diesem Grunde umsomehr geboten, die positiven Vorschläge Godets kritisch zu würdigen, als diese Vorschläge den Versuch darstellen, die bisherigen Gegner durch ein weitgehendes Entgegenkommen für den Gedanken einer zentralen Notenbank zu gewinnen.

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Literaturbericht

Wie wir tn anderer Stelle ausführen, findet der Gedanke der Errichtung einer mit dem Monopol der Notenausgabe auszustattenden Zentralbank die heftigsten Gegner in den Kreisen der Vertreter der kantonalen Finanzen, die insbesondere angesichts der seit Jahren sich verschlimmernden kantonalen Finanzverhiltnisse sich dagegen wehren, die zwar nicht großen aber sicheren Einkünfte der kantonalen Notensteuer und die in einzelnen Kantonen nicht unbeträchtlichen Reingewinne der Kantonalbanken preiszugeben. Diesen Kreisen sucht Godet entgegenzukommen, indem er für die zu gründende Zentral- bank eine Organisation verschlägt, die die Möglichkeit einer Einkünfteeinbuße für die kantonalen Fisken von vorneherein ausschließt. Seine Vorschläge betreffen: 1. die Art der Beschaffung des Grundkapitals, 2. den Geschäftskreis der künftigen Bundesbank.

Der Art. 39 der Bundesverfassung sieht bekanntlich zwei Eventualitäten für die Beschaffung des Grundkapitals vor: der Bund kann das ausschließliche Recht zur Ausgabe von Banknoten durch eine unter gesonderter Verwaltung stehende Staatsbank auBÜhen oder es einer zu errichtenden, unter seiner Mitwirkung und Aufsicht verwalteten zentralen Aktienbank übertragen. Der Versuch der Errichtung einer reinen Staatsbank, deren Grundkapital der Bund anfzubringen gehabt hätte, scheiterte an der Volksabstimmung vom 28. Februar 1897; der zweite Versuch einer gemischten Bank, deren Grundkapital zu je einem Drittel durch den Bund, die Kantone und das Privat kapital aufiubringen gewesen wäre, kam im Ständerate in der Junisession 190t) zom Falle. Godet stellt sich auf den Stadtpunkt der Anhänger der reinen Staatsbank ; als „Staat“ gilt ihm aber in diesem Falle nicht der Bund sondern die Kantone. Das Grundkapital der zu errichtenden zentralen Notenbank Bollte, mit völliger Außerachtlassung des Bundes, zu zwei Dritteilen durch die Kantone und zu einem Dritteil durch die bestehenden Emissions- banken aufgebracht werden.

Dieser Vorschlag ist nicht neu. Er lehnt sich an den im Jahre 1898 vom schweize- rischen Handels- and Industriedepartement herausgegebenen Gesetzentwurf an, der die Aufbringung des Grundkapitals zu je einem Drittel durch die Kantone, das Privatkapital und die bestehenden Emissionsbanken vorsah. Godet übergeht das Privatkapital und weist dieses eine Drittel den Kantonen zu.

Ob diese Art der Aufbringung des Grundkapitals eine glückliche Lösung des Konfliktes darstellt, bleibe dahingestellt. Es genügt auf die Tatsache hinzuweisen, daß nicht alle heute bestehenden Emissionsbanken kantonale Staatsinstitute sind: an zweien (Aarau und Waadt) ist der Staat nur mit der Hälfte des Kapitals beteiligt, fünfzehn sind reine Privatbanken, darunter die zwei größten Institute in Basel und Genf. Will man von einer Beteiligung des Privatkapitals absehen, dann entsteht die Frage: wo liegt der Grund für die Bevorzugung der privaten Emissionsbanken? und diese Frage würden sich auch gewiß die prinzipiellen Anhänger der reinen Staatsbank stellen, während auf der andern Seite der völlige Ausschluß des Privatkapitals nur geeignet ist. die Opposition der rechts und iin Zentrum stehenden Parteien und wirtschaftlichen Interessenvertretungen zu stärken.

Der zweite Vorschlag Godets betrifft die Beschränkung des Geschäftskreiseg der zu errichtenden Zentralbank. Eine Beschränkung des Geschäftskreises einer Notenbank ist die natürliche Konsequenz des obersten Prinzips der Bankpolitik, wonach eine Bank keinen andersgearteten Kredit erteilen darf als sie selbst nimmt, und wonach alle lang- fristigen Kreditgeschäfte für eine korrekt geleitete Notenbank von vornherein ausge- schlossen sind. Zu Gunsten der am Ertrage der Kantonalbanken interessierten kantonalen Fisken wurde in den ersten zwei Entwürfen eines Bundesbankgesctzes der Geschäftskreis der geplanten Zentralbank enger abgesteckt, als dies bei den meisten anderen zentralen Notenbanken der Fall ist; es sollte dadurch einer Unterbindung der Entwicklung der Kantonalbanken durch die Konkurrenz der Zentralbank nach Möglichkeit vorgebeugt und ersteren die Möglichkeit gegeben werden, auch nach Verlust deB Notenemissionsrechtes ihren Geschäftskreis aaszudehnen und finanziell günstige Abschlüsse zu erzielen. Es war auch oftmals betont worden, daß die kantonalen Bankinstitute ebenso für den Giro- verkehr als auch für das Diskontgeschäft der Zentralbank in erster Linie in Betracht kommen sollen.

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Literaturb» rieht.

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Godel geht nun bedeutend weiter auf diesem Wege. Die Zentralbank soll nur zu: 1. Ausgabe von Banknoten. 2. Annahme von Depositen im Giroverkehr, 3. Diskont- geschäften befugt werden. Um aber durch ihr Diskontgeschäft den bestehenden Emissions* banken keine Konkurrenz zu machen, soll die Zentralbank nur die ihr vou den „akkre- ditierten" Banken eingeieichten Wechsel rediskontieren; als „akkreditierte Banken" gelten aber die am Tage des Erlasses des Bankgesetzes vorhandenen Emissionsbanken.

Auch dieser Vorschlag ist nicht neu; er entspricht vollständig dem im Jahre 1H96 anfgestellten Projekte des ehemaligen Direktors der Banque Cantonale Neuchateloiae, Herrn Dubois, der. ebenso wie Godet, die Bundesbank als eine Rediskont-, Depositcn- und Girostelle der bisherigen Emissionsbanken organisiert sehen wollte. Die Zentralbank hätte weder Filialen noch Agenturen, sie käme mit dem Verkehre überhaupt nicht in unmittelbare Berührung, sie würde lediglich den akkreditierten Banken gegen zum Rediskont eingereicht Wechsel ihre Noten überlassen, die von diesen Banken in den Verkehr gebracht und an deren Schaltern eingelöst würden.

Nach Art. 39 der Bundesverfassung hat die mit den Notenmonopol ausgestattete Zentralbank die Hauptaufgabe, den Geldumlauf des Landes zu regeln und den Zahlungs- verkehr zu erleichtern. Es erscheint uns ausgeschlossen, daß eine nach den Godetschen Voi Schlägen organisierte Notenbank diesen Aufguben nachzukommeu vermöchte. Die einheitliche Regelung des Geldumlaufes wird mit dem Augenblick unmöglich, wo die Zentralbank nur formell das Notenmonopol ausübt, dieses aber tatsächlich, in einer völlig verfassungswidrigen Weise, einer Vielheit der akkreditierten Banken ausgeliefert ist, was unbedingt cintreten würde, sobald diese, und nicht die Zentralbank selbst, die Noten in den Verkehr zu bringen hätten.

Und weiter: die Bundesbank könnte die Ausgabe ihrer Noten nur durch die Ver- mittlung und mit Hilfe der akkreditierten Banken bewerkstelligen; für die Einlösung der Nuten wäre sie dagegen allein verantwortlich. Die Einlösung erfolgt an den Schaltern der akkreditierten Banken und folglich müßten die Barbestände der Bank auf etwa 36 Stellen dezent ralisieit werden, was eine Hemmung der Bewegungsfreiheit der Bank und eine wirtschaftlich nicht tu rechtfertigende Erhöhung der K&ssenbestände bedeutet.

Die Monopolstellung, die nach den Godetschen Vorschlägen «len akkreditierten Banken eingeräutnt würde, müßte notwendigerweise ein Gefühl der Erbitterung in den weitesten Kreisen erwecken. Die Spar- und Leihkasse des Kantons Niedwalden in Stans hätte das Recht, ihr Wechselportefeuille bei der Bundesbank zu rediskontieren, ein Institut dagegen wie die Züricher Kreditanstalt oder der Schweizerische Bankverein hätte dieses Recht nicht und müßte, wenn es sein Wechselportefeuille rediskontieren wollte, dies bei einer akkreditierten Bank tun, die ihm an wirtschaftlicher Bedeutung unendlich nachsieht.

Die Diskontopolitik würde nach wie vor in den Händen der 36 kantonalen Institute liegen; der offizielle Satz der Bundesbank käme nur für die akkreditierten Banken in Betracht, die dem ganzen übrigen Verkehre den Satz zu diktieren vermöchten. Sie wtiiden ihn notwendigerweise höher halten müssen als die Rate der Bundesbank, und der aus dieser Differenz resultierende Gewinn der akkreditierten Banken erhielte das Gepräge einer vom Verkehr an diese entrichteten Steuer. Die Sanierung der Geldmarktvcrhältniase, die von der Errichtung einer Zentralbank erwartet wird, müßte auBbleiben, sobald diese Bank nach den Godetschen Vorschlägen organisiert würde. Voraussetzung einer solchen Sanierung ist eine Reduktion des Notenumlaufes und Säuberung der Portefeuilles von den langfristigen Anlagen. Beides wäre undurchführbar, da die 36 akkreditierten Banken das größte Interesse daran hätten, möglichst viel Noten möglichst lange im Verkehre zu halten, da die Höhe ihrer Reingewinne davon abhängt, und die Zentralbank selbst dem gegenüber völlig machtlos wäre. Sie würde nicht direkt mit den Zedenten verkehren, könnte infolgedessen die Qualität nnd den Charakter der ihr zum Rediskonto vorgelegten Wechsel nicht beorteilen und in der Folge würden die Finanzwechsel, Gefälligkeits- akzepte etc. etc. nach wie vor von Jahr zu Jahr zunehtnen und v^n Jahr zu Jahr den Umfang der Bauknotenzirkulation zuin Schaden des Landes steigern.

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Literaturbericht.

Wir können infolge all dieser Erwägungen nicht umhin, zu erklären, daß die Godetschen Vorschläge durchaus ungeeignet sind, den bevorstehenden Debatten zur Basis zu dienen: sie stehen formell im Widerspruche mit den Bestimmungen der Bundes- verfassung und materiell würde ihre Verwirklichung von vornherein den Verzicht auf die Erfüllung der vornehmsten Aufgaben einer zentralen Notenbank bedenten.

Es wird heute von keiner Seite verkannt, daß die Errichtung einer zentralen Notenbank nnr dann möglich ist, wenn dies ohne Schädigung der kantonalen Finanzen und mit möglichster Schonung der Interessen der bestehenden Emissionsbanken geschehen kann. Man ist bereit, nach dieser Seite hin soweit eutgegenznkommen. als es recht und billig ist, vielleicht noch etwaB weiter. Dagegen erscheint es uhb als eine arge Verkennung des Ganges der historischen Entwicklung und Mißachtung der vitalsten Interessen des Landes, wenn der Versuch gemacht wird, den 36 Emissionsbanken, deren Politik zu den gegenwärtig bestehenden, anerkanntermaßen unhaltbaren Verhältnissen führte, ein Privileg zn erteilen, das in der Folge nicht nur keine Besserung, sondern zweifellos eine Ver- schärfung der vorhandenen Mißstände nach sich ziehen würde.

Basel. Dr. Julius Landmann.

Dr. Ernst v. Halle, Volks- und Seewirtschaft. Reden und Aufsätze. Berlin 1902. E. S. Mittler & Sohn. 2. Bde.

Ein vielseitiges, inhaltliches Werk liegt vor uns, das sein Antor. getragen von dem Bewußtsein. Mitglied einer großen, zukunftsfrohen Nation zu sein, geschrieben hat. Immer wieder liest man zwischen den Zeilen, daß der Verfasser ein größeren Deutschland fordert, und daß er seinem Vaterlan de zutraut, das höchste Ziel zu erreichen, wenn es nnr will. Man begreift hier unmittelbar, wie sich Deutschland in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat; denn vor 50 Jahren wäre ein solches Buch nicht möglich gewesen. Es ist ja kein Weckruf, sondern ein Bericht darüber, daß Deutschland in den Kampf an» die Teilnahme an der Weltherrschaft eingetreten ist, und ein Nachweis der Mittel und Ziele, die in diesem Ringen Erfolg verheißen.

Wohl ist zwischen den einzelnen Abschnitten des Werkes kein äußerlicher Zusam- menhang bemerkbar, obschon die Untertitel der beiden Bände „Die deutsche Volkswirt- schaft an der Jahrhundertwende**, and „Weltwirtschaftliche Aufgaben und weltpolitische Ziele- bedeutungsvoll gewählt sind. Hervorgegangen ans Gelegcnheitsreden ond Aufsätzen eines vierjährigen Zeitraumes (1897 1900), können die verschiedenen Abschnitte kc*in einheitliches Gepräge haben, und darf es nicht verwundern, daß selbst der Standpunkt des Verfassers in dieser Zeit sich fortschreitend entwickelt hat, wie z. B. in seiner Stellungnahme zu Holland; nber trotzdem ist eine innere Einheit unverkennbar. Der Verfasser unterrichtet uns in den ersten vier Aufsätzen über das wirtschaftliche und soziale Leben in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts sowie über seine Ent- wicklung in den letzten Jahrzehnten, sodann weist er in sechs weiteren Aufsätzen die wirtschaftlichen Verhältnisse und deren Entwicklung in Holland, England, Nordamerika und Mexiko auf und zeigt an der Hand seiner Darstellungen sowie zum Schlüsse, was Deutschland vermeiden, was es anstreben müsse, um sich jene Geltung unter den welt- beherrschenden Nationen wieder zu erringen, die ihm nach seiner Volkszahl und kultu- rellen Höhe gebührt.

Wirken die Aufsätze zur Beleuchtung und Schilderung wirtschaftlicher Verhältnisse durch die Überreiche Ausstattung mit statistischen Daten bei zu geringer Verarbeitung derselben etwa« ermüdend, so sind die übrigen Aufsätze, selbst wenn sie Bekanntes in anderer Form sagen, durch die Kühnheit des ausgesteckten Zieles und die Offenheit der Darstellung ebenso anregend als interessant.

Gleich im dritten Aufsatze „Die Seeinteressen Deutschlands- treten diese Vorzüge hervor. Energisch bekämpft er hier die moderne, vom Kla-seninteresse diktierte Anschauung, daß der Kaufmann zwar möglicherweise früher eine Kulturmission gehabt habe, heute aber in der nationalen Organisation ein unnützes Glied sei, und daß speziell der Außenhandel Deutschlands ebenso wie anderer Länder in die ungesunden Bahnen des Industrialismus lenke. Zunächst widerlegt er diese Anschauung in einem knappen

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historischen Eikurs, den er zu einem gelungenen Seiteuhieb auf den in Deutschland, leider auch in Österreich nngenügf nden historischen Unterricht benützt, der die Jugend nicht vertrant mache mit den großen Problemen der Weltgeschichte, mit der Verteilung des internationalen Schwergewichtes in den verschiedenen Zeiten und mit den Gründen für dessen Wechsel, denn „lieber erzählt man von den Siegen Friedrichs des Großen oder von der Schlacht von Leipzig, als davon daß die Früchte der Siege schließlich verloren gegangen sind, weil die großen Welt- und Seemächte die Beute unter sich teilten * ln diesem Exkurse zeigt er, wie in allen Zeiten die Großmachtstellung der Staaten Hand in Hand ging mit der Blüte ihrer Seemacht; wie die Vormachtstellung Frankreichs zu sinken begann seit Ludwig XIV. die Politik Colberts aufgab und gegen den Rat eines Leibniz, den Schwerpunkt »einer Macht auf die See zu verlegen uni durch koloniale Erwerbungen sich den Welthandel und die Seeherrschaft zu sichern, in kontinentalen Kriegen Frankreichs Kraft erschöpfte; er schildert ferner wie schmach- voll Deutschland während seiner Zersplitterung von den Seemächten behandelt wurde und wie weder Kaiser Josef II. noch Friedrich II. im Stande waren die wirtschaft- lichen Interessen ihrer Staaten gegen die Seemächte zu schützen; wie endlich erst wieder mit dem Emporkommen der politischen Macht Deutschlands sein Außenhandel insbesondere als Seehandel sich hob, und zwar in der für die Wirtschaft vorteilhaftesten Richtung durch Vergrößerung des Anteiles am internationalen Zwischenhandel und durch Ein- führung und Erweiterung des direkten Bezuges überseeischer Produkte für den Bedarf des inländischen Konsums und der heimischen Industrien. Das Ergebnis dieser Dar- stellung, daß Seehandel und politische Macht sich wechselseitig erhalten und stützen, gilt dem Verfasser somit als unwiderlegbare, historische Tatsache, der sich auch das deutsche Volk erkennend fügen müsse.

Aber nicht bloß freiwillig treibt und stärkt Deutschland seinen Seehandel, sondern gezwungen. Seine große und für die Erhaltung der Staatskraft notwendige Volksver- mehrung verlangt fortgesetzt wachsende Zufuhren von Konaumartikeln, die weiterhin nur bezahlt werden können durch die Export« einer kräftigen Industrie, deren Blüte um so nötiger ist, als sie die Verproletarisierung des Volkes verhindert und weiterhin kauf- kräftige Abnehmer der landwirtschaftlichen Produkte schafft. So wird der Handel zur Stütze der Volkswirtschaft und um dieser die überseeischen Importe und den freien Export zu sichern, muß der Staat eine große koloniale Politik treiben und die Interessen seines Handels und seiner Volkswirtschaft durch eine entsprechende Machtentfaltung zur See schützen.

Wenn das deutsche Volk das nicht will, dann, meint der Verfasser, muß es seine Stammesgenossen wieder auswandern und die Kraft fremder Nationen verstärken lassen wie ehedem, dann muß es wieder wie ehedem „ohne Kolonien, ohne Hochseefischerei, ohne starke Handelsflotte, ohne eine Marine zu Schutz und Trutz, ohne mächtig werbende Kapitalskräfte, die im Ausl&nde arbeiten, die Brosamen verzehren, die andere übrig ließen*. Ein hartes Wort, das aber auch uns als Warnung gesagt sein könnte.

In dem nächstfolgenden Aufsatz „Deutschlands wirtschaftliche Entwick- lung* ergänzt und erweitert Halle seine Widerlegung jener merkwürdigen Anschauung, indem er die Haltlosigkeit ähnlicher Behauptungen in verschiedenen Publikationen, so insbesondere von Blondei, Oldenberg, Kautsky u. s. w. dartut. Ihren Anschauungen von der Produktion um des Exportes willen und von der steigenden Tendenz nach einer ExportinduBtrie hält Halle entgegen, daß solche Auschauungen bestenfalls für einzelne Klassen von Industriellen in manchen Gebieten zu gewissen Zeiten, nie aber allgemein zutreffen können, mache man ja doch vom patriotischen Standpunkte aus allgemein dem Kaufmann zum Vorwurf, daß er lieber importiere als exportiere. In der Tat sind eine Anzahl von Staaten und darunter in erster Reihe England und Deutschland durch ihre BevölkerungH-, Kultur- und Bodenverhältnisse auf wachsende Importe angewiesen. Haupt- sächlich um diese xu erlangen respektive zu bezahlen wird exportiert, nicht also wegen des Exportes an sich. Es geht dies schon daraus hervor, daß die wirtschaftlich am höchsten stehenden Staaten regelmäßig eine größere Einfuhr als Ausfuhr besitzen und

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diese ständig ungünstige Handelsbilanz nur dadurch ertragen, weil sie im Auslande werbende Kapitalien besitzen, mit deren Zinsen sie die Einfuhrüberschüsse bezahlen. An der Hand von zahlreichen statistischen Daten weist Halle insbesondere für Deutschland nach, daß in den letzten Jahrzehnten seine hinfuhr in viel höherem Maße gewachsen ist als seine Ausfuhr, daß also nicht die Ausfuhr der Einfuhr, sondern diese jener vor* angehe. Und ebenso zeigt er. drß in den letzten Jahren die inländische Produktion einiger großer Exportartikel viel stärker emporgewachsen ist als der Export, daß somit in erster Linie für den Konsum, nicht für den Kaufmann und den Export produziert wurde. Wie allenthalben, so wird auch von Deutschland exportiert, was es billiger oder besser produzieren kann, um das zu bezahlen und zu erlangen, was es benötigt aber gar nicht oder nur teurer produzieren kann. So ist der Kaufmann und insbesondere der im Seehandel beschäftigte für die Volkswirtschaft ein nützliches und notwendiges Glied, das zu erhalten, Deutschland allerdings guten Grund hat.

Bei der Erörterung der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands geht aber Halle weit hinaus über die Behandlung dieser Frage. Wiederum mittels statistischen Materials zeigt er. daß in Deutschland wie auch vielfach in anderen hochentwickelten Staaten eine blühende Industrie in erster Linie für den steigenden inländischen Konsum arbeite, ja arbeiten müsse, darin wurzle hauptsächlich ihre Kraft. Für Deutschland zeigt er, daß sie in den letzten Jahren sogar zu wenig exportierte, so daß sich eine ungünstige Zahlungsbilanz einstellte, wodurch dann Deutschland genötigt wurde, werbende Kapitalien aus dem Auslande heraus zu ziehen, was eine gewisse Gefahr mit »ich bringt und wofür er die seiner Meinung nach verkehrte Börsenpolitik verant- wortlich macht.

Besonders interessant ist, was Halle im Zusammenhang damit von der in den letzten Jahrzehnten in Deutschland besonders mächtig hervorgetretenen Entwicklung der auf maschineller Kraftleistung aufgebauten Industrie und von ihren Rückwirkungen sagt. Obschon er nicht verkennt, daß sie eine Hauptsache ist für die wachsende Akkumulation des Kapitals in der Hand weniger, so glaubt er doch, daß das ihre erstzeitliche Wirkung gewesen ist und daß sie die Hebung der sozialen Lage der mittleren und unteren Klassen bewirkt habe und fernerhin noch in größerem Maße bewirken werde. Bei dieser großen Bedeutung dieser eigenartigen modernen Industrie findet er aber, daß es unzulässig sei, hinsichtlich der Gründung neuer Konkurrenzunternehmen, auch wenn sie auf einer vervollkommneten maschinellen Technik aufgebaut sind, die freie Privatwillkür herrschen zu lassen. Ein übereiltes, die möglichen Wirkungen nicht ervrägendei Vorgehen in dieser Richtung kann zu vorzeitigem Aufgeben nutzbringender Kapitalsanlagen, zur Vergeudung von Kapitalien, zu Krisen führen, so daß die Willkür des Einzelnen der Volkswirtschaft schwere Schäden zufügen kann. Deshalb fordert er in dieser Beziehung eine nationale Organisation, für welche ihm die Kartelle und Trusts Anhaltspunkte zu bieten scheinen, obwohl er deren Auswüchse, so die Tendenz der amerikanischen Trusts, den Export- industrialismus zu fördern und die Weltmärkte zu erobern, strenge verurteilt. Er fordert nur eine nationale Organisation der Wirtschaft, dieser aber vindiziert er das Recht, sich ihre Bedürfnisse, ihre Abrundung auch auswärts selbst durch wirtschaftliehe Ausbeutung einer minder kräftigen, wirtschaftlich minder hoch entwickelten Nation zu sichern. Hier- durch findet er die neuzeitlichen Unternehmungen in Ostasien, die Kolonialbestrebungen der Vereinigten Staaten, die Aufteilung Afrikas u s f. erklärt and gerechtfertigt. Da Deutschlands Volkswirtschaft zu ihrer Abrundung der Erzeugnisse wohl auch die Märkte fremder Länder benötigt, so müssen diese in der einen oder der anderen Weise gesichert, eventuell die Länder wirtschaftlich oder politisch dem Reiche angegliedert werden. Weiterhin muß sich deshalb Deutschland eine entsprechende militärische und maritime Macht verschaffen, um auch eine gewaltsame Störung der naturgemäßen Fort- und Ausbildung der nationalen Wirtschaft durch die konkurrierenden Weltmächte erfolgreich verhindern zu können. So gelangt Halle auch hier wieder zu der Forderung des Aus- baues der deutschen Seemacht als notwendiger Konsequenz der gegenwärtigen und künftigen Wirtschaftsent Wicklung.

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Durch die folgenden Aufsitze gewinnen diese allgemeinen Sätze teilweise ein bestimmteres Ziel. In den Aufsätzen über „Die volks- und seewirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Holland*, „Die deutschen Kapitalinteressen in der ostasiatischen Inselwelt und die politische Lage* und „England als Beschützer Hollands* geht Halle ron den Gedanken Fichtes über die für die Staaten bestehende Notwendigkeit, natür- liche, den wirtschaftlichen Bedürfnissen entsprechende Grenzen zu erlangen, aus und stellt die deshalb der Losung durch das Deutsche Reich in Ost und West harrenden Probleme auf. Von dem östlichen Problem, unter welchem Halle in kühnem Ideenflug die Aus- dehnung der deutschen Wirtschaftssphftre Uber das Stromgebiet der Donau und die Balkanstaaten verstellt, wird nicht weiter gesprochen, dagegen wird das westliche Problem, das in der Angliederung des Rheinstromgebietes gelegen ist, eingehend erörtert. In den genannten, mit statistischen Daten reich ausgestatteten Abhandlungen, welche die volkswirtschaftlichen Verhältnisse Hollands und seiner Kolonien nach den verschiedensten Seiten beleuchten, bemüht sich der Verfasser darzutun. daü diese Verhältnisse Holland in fortgesetzt steigendem Maße an Deutschland anknüpfen. Seine Ausfuhr nach Deutsch- land ist beständig im Wachsen und beträgt jetzt mehr als die Hälfte seiner gesamten Ausfuhr. Seine Einfuhr aus Deutschland ist absolut in der Zunahme relativ in Abnahme begriffen, weil die Zufuhren ans anderen Ländern, insbesondere aus den oatindischen Kolonien und den Vereinigten Staaten, sehr stark angewachsen sind; aber von den Zufuhren selbst geht ein immer größerer Teil wieder nach Deutschland ab, so daü Holland sich tatsächlich als Seehafen Deutschlands darstellt, dessen Handelsbilanz durch den wachsenden deutschen Konsum sich fortgesetzt zu Gunsten Hollands verschiebt. Ähnlich ist der Anteil der deutschen Kapitalien an den Unternehmungen in den holländischen Kolonien, und der Anteil der deutschen Schiffahrt an dem Schiffahrtsverkehr dieser Kolonien im Wachsen und jedenfalls bedeutender als der anderer Staaten.

So wie also Holland das größte Interesse hat. nicht vom deutschen Markte aus- gesperrt zu werden, ebenso hat Deutschland ein wachsendes Interesse dafür, daß die holländischen Außenbesitxungen nicht in fremden Besitz geraten und daß Hollands Küste nicht infolge militärischer Ohnmacht unter die Kontrolle eines anderen Staates kommt oder zum Ausgangspunkt militärischer Operationen werden kann. Unter Hinweis auf die Nachteile, welche Holland erlitten hat, als England sich zu seinem Beschützer aufgeworfen hat und unter Hinweis auf die Verloste, welche Spanien in jüngster Zeit erlitt und schwachen Seemächten fortgesetzt drohen, verlangt der Verfasser direkt, »laß zwischen Holland und Deutschland eine Militär- und Marinekonvention sowie ein Zoll- und Verkehrsbflndnis abgeschlossen werde, wodurch die innere Bewegungsfreiheit Hollands nicht weiter berührt werden sollte. Nur dafür müßte ausreichend gesorgt werden, daß die Küsten 'und der koloniale Besitz durch ein starkes Heer und eine große Flotte sowie die nötigen Verteidigungsmittel unantastbar w'erden und daß die Entwicklung der weiterhin gemeinschaftlichen Volkswirtschaft nicht durch territoriale Schranken gehindert werde.

So kühn auch der Gedanke der Angliederung Hollands an Deutschland erscheinen mag. so entbehrt er doch nicht einer gewissen realen Basis; auch ist er. von verschiedenen Seiten besprochen, nicht inehr ganz neu, was aber au den vorliegenden Aufsätzen über- rascht, das ist das Eingehen in die Details der Fragen, woraus hervorgeht, daß man in manchen Kreisen dem Ziele näher zu sein glaubt, als der unbefangene Beobachter ver- mutet. Und in der Tat dürfte der Zusammenschluß für beide Völker, wohl auch für die Menschheit als Ganzes gerechnet, weniger für die mit Deutschland konkurrierenden Mächte als ein ungeheurer Gewinn zu betrachten sein, er könnte für die Welt und ihre friedliche wirtschaftliche Entwicklung die gleiche Bedeutung erlangen, die das deutsch- österreichische Bündnis von 1878 für Europa und sein politisches Leben erlangt hat.

Minder groß angelegt ist der nächstfolgende Aufsatz des Verfassers über „Die wirtschaftliche Entfaltung Mexikos*. Durch eine ausführliche, teilweise auf persönlicher Kenntnisnahme beruhende Schilderung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Landes sucht der Verfasser zu zeigen, daß Financiers, Kaufleute und industrielle Unter- nehmer in Mexiko ein Feld gewinnbringender Tätigkeit finden können, daß aber Bauern.

Z«iU«hrift Wr Volkswirtschaft, SoclalpoUtlk un<l Verwaltung. XII. Band.

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industrielle Arbeiter oder Träger geistigen Lebens doit nichts zu suchen haben. Darnach müsse sich auch die deutsche Politik richten, die sich bemühen solle, für eine weiter- gehende Erleichterung und .Sicherung des wirtschaftlichen Verkehres zu sorgen, nicht aber die Ansiedlung von Volksgenossen oder weiterausgreifende volkswirtschaftliche Pläne zu fördern, denn „politisch, gesellschaftlich oder kulturell ist \ on einer Förderung der Beziehungen zu Mexiko gar nichts zu erwarten". Und noch ein anderes steht den hochfliegenden Plänen des Verfassers schroff gegenüber, die Monroe-Doktrin, von der er allerdings nicht spricht, die aber sein Urteil wohl beeinflußt haben dürfte.

Die Monroe-Doktrin behandelt eingehend der zehnte Aufsatz, in dem Halle „Die Bedeutung des nordamerikanischen Imperialismus" bespricht und in einem kurzen historischen Überblick darstellt, wie das angeblich den ewigen Frieden pro- pagierende Volk der Nordamerikaner zu der rohesten Form des Imperialismus gelangte, der auf die widerspruchslose Alleinherrschaft über die ganze Erde abzielt. Die relativ lescheidene Monroe-Doktrin, die nur Amerika den Amerikanern sichern wollte, erlangte so eine Auslegung, wonach nicht bloß ganz Amerika für die Niclitamerikaner politisch und wirtschaftlich verschlossen sein boII, sondern auch der ganze stille Ozean und seine outasiatische» Küstengebiete als das ausschließliche Dominium der Nordamerikaner zu gelten hat. Wie diese aus Befreiern Kubas und der Philippinen zu Tyrannen dieser Inseln geworden sind, so werden sie künftighin aus Vorkämpfern für die Freiheit der Welt zu Beherrschern der Welt Haben sie, meint Halle, „frühzeitig erkannt daß die Weltmacht sich nicht allein auf eine Militirhierarchie stützen kann, sondern heutzutage mehr als je einen Rückhalt an einem gewaltigen, kapitalistisch und technisch hoch entwickelten, gewerbestarken Gemeinwesen haben müsse", so haben sie gegenwärtig bereits einge- sehen, daß der Staat „nicht im freien Wettbiwerb auf dem Weltmarkt in ewigem Frieden seine Stellung wahren und erweitern kann, sondern künftig um Macht und Märkte werde kämpfen müssen* und deshalb vergrößern sie ihr Landheer und bauen eine starke Flotte. Die Gefahr, die dadurch den übrigen Weltmächten droht, hält Halle mit Recht für größer als jene, die von England ausgeht, dessen große Übermacht zur See er in dem neunten Aufsatz „Englands Machtstellung auf dem Meere* beleuchtet, dessen Kriegsflotte in der Tat größer ist als jene von Deutschland, Frankreich und Rußland zusammengenoromen, dessen Tendenz noch immer dahin geht, das offene freie Meer zu einer geschlossenen englischen See zu machen und dem er zutrant. sich auch über das Völkerrecht hinwegzusetzen, wo es das kann. Dennoch gilt es, England gegenüber nur die Unabhängigkeit der Seeintcressen auf allen Gebieten, speziell die Offcnbaltung der beiderseitigen Kolonien zum freien Wettbewerbe in der Arbeit zu wahren und als starker Feind und Freund auftreten zu können. Anders die Vereinigten Staaten, welche durch die Beherrschung der Kornkammern der Welt und durch eine künstlich empor- geschraubte Exportindustrie fortgesetzt mehr exportieren können als sie zu importieren brauchen und dadurch zu Gläubigern der ganzen Welt, weiterhin aber durch Umwandlung der finanziellen Verpflichtungen in politische eben zu Herren der Welt werden können.

Es scheint, daß der Verfasser hier in Fnrcht um die holländischen Kolonien doch allzusehr grau in grau malt; denn wie hoch man auch die Rücksichtslosigkeit und den Tatendrang der Nordamerikaner einschätzen mag, sllzurasch dürfte das hier ausgesteckte Ziel nicht zu erreichen sein; welche Kräfte aber sich während des Marsches auf dem langen Wege dahin noch entwickeln werden, das entzieht sich jeder Kenntnis, so daß man Prophezeiungen auch in dieser Beziehung besser unterläßt. Nichtsdestoweniger möchten wir aber doch dem Verfasser beistimmen, wenn er meint, daß es sinnlos für Europa wäre, gegen Amerika eine Absperrungspolitik zu verfolgen, und verlangt, Europa solle durch Wahrung seiner politischen Machtiüstung und durch fortschreitende innere Reformen in der Verwaltungsorganisation in technischer und sozialpolitischer Beziehung sein bisheriges Übergewicht sichern und dauernd erhalten. Keine chinesische Mauer schützt ein Volk vor dem Untergang, wohl aber hebt es fortgesetzte Kulturarbeit und erhöhte Schlagkraft zu Wasser und Land an die Spitze der Menschheit!

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In dem Aufsatz «Die Verteilung der Industrien auf die klimatischen Zonen“ revidiert der Verfasser die bislang festgehaltene Anschauung, daß die Ver- schiedenheiten des Klimas mit all seinen Einflüssen auf die Lebenskraft und Lebens- bet&tigung der Menschen einerseits und die Produktionskraft des Bodens anderseits eine bestimmte Verteilung der Industrien und der landwirtschaftlichen Produktionen geradezu vorher bestimmt hat Das Ergebnis dieser Revision geht dahin, daß die zahl- reichen Erfindungen und bedeutenden Fortschritte auf dem Gebiete der Technik die Widerstände des Klimas vielfach durchbrochen haben und die Allgemeingültigkeit jenes Satzes keineswegs mehr behauptet werden kann. Tatsächlich haben sich ja auch in den heißen Zonen Indiens und Mittelanierikas derzeit bereits mancherlei Industrien ent- wickelt, die man ehedem nur für nördliche Zonen bestimmt erachtete. Obwohl der Ver- fasser davor znrückschreckt, daß man deshalb anuehinen düife, die tropischen Zonen würden im Laufe der Zeiten wieder ein wirtschaftliches Übergewicht erlangen, denn es müsse erst noch erwiesen werden, daß durch das Tropenklima die physische und geistige Kraft der Rassen uicht erschlaffe und eine Kultnrblüte in diesen Zonen ohne fnsche Zuflüsse aus den nördlichen Zonen erhalten werden könne: so meint er doch, daß durch jene Erfahrung der Gedanke, daß der Staat keine Kolonien, der heimische Arbeiter und die heimische Arbeit keinen Schutz benötige, da inan immer und überall im freien Austausch das Notige bekommen respektive zu vergeben haben werde, hinfällig geworden sei. Es konnte die Zeit kommen, in der die Gebiete, welche die notwendigen Nahrungs- und Genußmittel der nördlichen Kulturvölker erzeugen, selbst auch die ihnen notigen Industrie- artikel erzeugen oder unter die Herrschaft einer der Nationen gefallen sind (der Ver- fasser denkt hier offenbar an Amerika und England), denen es gelungen ist, sich die Errungenschaften der modernen Technik vollkommen zu Nutze zu machen. Daher bandle es sich für die emporstrebeuden Nationen gar nicht darum, ob sie Exportindustriest&aten sind und sein wollen, sondern darum, «ob sie es vermögen, rechtzeitig sich einen Macht- bereich durch alle Klimazonen za schaffen, der sie durch die Natur seiner Bodenerzeug- nisse in Stand setzt, die Bedürfnisse ihrer Bevölkerungen an Rohprodukten und Industrie- Erzeugnissen nach allen Richtungen hin selbst zu decken“. Auch hier ist also das allerdings unausgesprochene Endergebnis der Abhandlung, Deutschland müsse sich industriell entwickeln, eine kräftige Flotte und entsprechende Kolonien schaffen, wenn es sich selbständig unter den Vormächten der Welt behaupten wolle.

Dem gleichen Ziele strebt auch der letzte Aufsatz des Werkes «Weltpolitik und Sozialreform“ zn. Von den vielen Parteien Deutschlands steht eine ganze Anzahl anf dem Standpunkt, daß die Machterweiterung angestrebt werden solle, nicht aber die Sozialreform, die vielleicht auf diesem Wege sogar zu umgehen wäre. Ein anderer Teil fordert wiederum die Sozialreform in der Hoffnung, dadurch der Machterweitcrungspolitik zu entgehen. An diese nun wendet sich der Verfasser und bemüht sich darzutun, wie Weltpolitik und Sozialreform der gleichen Quelle entstammen und sich wechselweise bedingen und unterstützen. Beide gehen aus dein brennenden Verlangen hervor, das eigene Volk in seinem Wohlstand, seiner Stärke und Kultur zu heben. Dieses Verlangen kann nur dadurch erreicht werden, meint der Verfasser, daß der Staat politisch auf der breitesten Unterlage, dem ganzen Volke aufgebaut bleibt, daß der Wohlstand, die Lebens- haltung und Kultur der tieferen, breiten Schichten des VolkeB in Industrie und Land- wirtschaft gehoben wird und daß anderseits die Bezugsquellen der für die Ernährung der Massen und die Versorgung der Industrie notwendigen Rohprodukte und ebenso die Absatzmärkte der erstarkten Industrie offen gehalten und für alle Eventualitäten, eventuell also durch Besitzergreifung gesichert werden. Durch die Hebung des Wohlstandes in den Arbeitermassen. der physischen und geistigen Kräfte des einzelnen Arbeiters hofft der Verfasser die Güte und Konkurrenzfähigkeit der industriellen Produkte und damit die Erleichterung des Kampfes um die Beherrschung der Märkte zu gewinnen, rückwirkend aber, durch die Erfolge der Weltmachtpolitik den Wohlstand der Massen fester zu gründen. So schließt das Werk mit einem mächtigen Appell an alle Parteien, insbesondere die sozialdemokratische, iin wohlverstandenen eigenen Interesse wie im .Staatsinteresse die Sozialreform zu fördern und die Weltmachtpolitik zu unterstützen.

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Literaturbericht.

Wie immer man sich dem lcühnen Gedankenflug, den auf ferne Zeiten hinaus berechneten Planen des Verfassers entgegenstellen mag, »ei es, daß man sich in chau- vinistischer Weise über die Schwierigkeiten ihrer Verwirklichung hinwegsetzend sie billigt, sei es, daß man sie als Phantasmagorien erklärt, sei es, daß man sie als der betroffene Fremde entrüstet zurückweist: immer wird man das eine zugeben müssen, daß der Autor mit packenden Worten eine mögliche Entwicklung der Weltwirtschafta- zustände schildert und mit Recht verlangt, daß sich die Völker für diese Entwicklung, diesen möglicherweise nahe bevorstehenden Kampf, rüsten. Aber dieser Appell ist nicht bloß an das deutsche Volk gerichtet, er richtet sich mehr noch an andere Völker; denn die Völker werden sich in einem solchen Kampfe nur dann behaupten, wenn sie die eigene Kraft aufs höchste gesteigert und das vom Schicksal zugewiesene Gebiet vollkommen auszunützen verstanden haben. Andernfalls könnte ihnen nach den Worten deB Evangeliums das vergrabene Pfund, das W’enige, das sie haben, von den Mächtigen genommen werden. Das möchten die Parteien und Fraktionen wohl erwägen, die ihrer Interessen wegen die Entwicklung der Staats- und Volkswirtschaft zurückhalten. Juraschek.

ZEITSCHRIFTEN- ÜBERSICHT.

Bei den Redaktion eingelaufene Bücher und Schriften.1)

Slnnstem A. i Di« F,at<t*hnDf «irr gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung im deutschen Sattlergewerbe. I Üblngen, Mohr, ÜJ02. (139 8.)

Bunul J.\ Studien iur Sozial- und Wirtschaftspolitik Ungarns. Leipzig, Dunrker& liamblot. 1902. (231 S ) <V.: Die holländischen Arbeitskammeni, Ihr»' Entstehung, Organisation und Wirksamkeit TübSugcn, Mohr, 1903.

JuUttti'trgx Die Kartelle und die deutsche Kartellgesetzgebnng. Berlin, Vablro F., 1903.

A *«<»// Tk.x (iesaminelte Beiträge zur Rechts' und Wirtschaftsgeschichte, vornehmlich de* deutschen Bauernstandes . Tübingen, H. Laupp, 1902. (485 S )

l.aytr M. I Prinzipien des Enleiguungsrechtes. Leipzig, Dunrkrr it llumblot, 1902. (660 8)

Menzel AH.' Die Kartelle and die Rechtsordnung. Leipzig, Duncker & llumblot, 1902. (79 8.)

O/Rel A.t Die Baum wolle nach Geschichte, Anbau, Verarbeitung und Handel sowie nach ihrer Stellung im Volksleben und in der Staatswirtsehalt. Leipzig, Duncktr tc llumblot, I9U2- 74.% 8 )

Orter R. : Wie stellen wir uns zu «len Kartellen und Syndikaten ? Frankfurt a. M., Sanerl&nder, 1902. (29 8.)

i'iefer A. und Simen H. ; Die Herabsetzung der Arbeitszeit für Frauen und die Erhöhung des Schutzalter* ftlr Jugendliche Arbeiter in Fabriken. (Schriften der Gesellschaft für soziale Reform.) iHell 7 und 8.) Jena, Fischer O , 1902. (164 8.)

Sehwikler s Die städtischen Hausdienstboten in Graz. ( Veröffentlichungen des statistischen .semiuar* der Universität Ora». Heft 1.) Graz, Verlagsbuchhandlung .8 jrrla, 1903. (40 8.)

Seelman w tf.i Die preußische Ministerialanweisung vom 6. Dezember 1899. Berlin-Gronewald, Troecbel A., 1903. (180 S.)

Seel mann H. j Di« preußische Ministerialanweisung vom 17. November 1899. Beriln-Grunewalii. Trosche! A-, 1908. (139 8.)

i ‘eye E, i Über die Hübe der verschiedenen Zinsarten und ihre wechselsoitige AbbEngigkeil, Jena, 1902. (94 8.)

U etffH.i Die russische Naphtbaindustrie und der deutsche Petroleumnurkt. Tübingen, Mohr, 1902. (918.)

Zetffl G.. Nationalökonomie der teeboisrhen Betriebs kraft. Erstes Buch: Grundlegung Jena. Fischer O., 1908. (228 8.)

CnuJerlirr E. : I/Kroliillon £eonomtque du zlx slfrcle, Anglaterre, Relfciquc, France, Etats Unis. Bruxelles, Lamertin II., 1303. (948 8.)

f fettete y. und VanHervtlHe E. t Le 8»ciaii*ine en Bcdgique Paris (5c), Giard & E. llrlöre, 191*3 (498 8)

Offite Hi Trav.*il\ L es Industries 4 Domicile en Belgique. Volume IV. Bruxelles, 1902. (315 8.)

’) Autler den hier genannten Ist bei der Redaktion noch eine größere Zahl von Büchern und Schriften cingelaufen, die sich bereits ln den HXnden der Rezensenten befinden

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DAS RECHT DER ÖFFENTLICHEN ARBEITEN.

VON

DR THADDÄUS BRESIEWICZ,

K. K. LANDESG ER1CHT8RAT IN KRAKAU.

öffentliche Verwaltungsorgane müssen 7,nr Ausführung der für die Verwaltung notwendigen Arbeiten und Erreichung des beabsichtigten Erfolges die geistigen und körperlichen Kräfte der Menschen sowie die sachlichen Mittel in Anspruch nehmen. Diese Inanspruchnahme ist den öffentlichen und privaten Arbeiten gemeinsam. Die Arbeiten, welche von der Verwaltung zum öffentlichen Vorteile unternommen werden, haben außerdem einige nur ihnen eigentümliche Merkmale:

1. Es ist zuerst die Menge und tlroßartigkeit der öffentlichen Arbeiten, welche sie von Privatarbeiten absondern;

2. dann ist es die Person des Unternehmers, welche gewöhnlich die Verwaltungsverbände vorstellen;

3. vor allem ist es aber der Zweck des öffentlichen Wohles, welcher diesen Arbeiten ein besonderes Gepräge aufdrückt.

Dieser Zweck führt hauptsächlich herbei, daß öffentliche Arbeiten ein Stück öffentlicher Verwaltung bilden. Zur Erlangung dieses Zweckes sind aber die Vorschriften des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches unzu- reichend; die ans obigen Arbeiten entstehenden Verhältnisse werden demnach dem Privatrechte entzogen und dem Verwaltungsrechte zugewiesen. Das Verwaltungsrecht hat besondere, nur den öffentlichen Arbeiten eigentümliche Vorschriften ausgebildet zur Regelung der Rechtsverhältnisse:

1. der Staatsverwaltung und der Selbstverwaltung zum Unternehmer;

2. der an den Arbeiten Beteiligten untereinander:

3. des Unternehmers gegenüber dritten, sowohl bei don Arbeiten mitwirkenden, als auch den durch sie berührten Personen.

Die Enthüllung und Entwicklung der Vorschriften, welche die öffent- lichen Arbeiten beherrschen, und die systematische Ordnung der gemeinsamen Rechtsgrundsätze ist der Zweck dieser Abhandlung. Die nachfolgende Dar- stellung beruht auf einer großen Anzahl von Reichs- und Landesgesetzen; meistenteils wurden sie für einzelne Fälle erlassen und sind auf analoge

ZelUcbrlft ftir VolkivrirUchaft, KoxlalpoUtik and Verwaltung. XII. Band. 1 1

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Bresiewicz.

Verhältnisse unanwendbar. Mit der zunehmenden Anzahl der öffentlichen Arbeiten wiederholen sie sich jedoch so oft, dal! sie als AustliiU derselben Ideen erscheinen müssen und dem aufmerksamen Leser eine unerwartete Rechtsfölle aufweisen.

I. Beirrilf der öffentlichen Arbeiten.

Der Ausdruck .öffentliche Arbeiten* wird in der österreichischen Gesetzgebung nicht angewendet, obwohl es in Österreich ein Ministerium für öffentliche Bauten gegeben hat.1) Sein Wirkungskreis in Bausachen umfaßte sämtliche Agenden des Straßen-, Wasser- und Hochbaues sowie der Eisenbahnen, vorbehaltlich der dem Ministerium des Innern zustehenden Einflußnahme auf die Baupolizei und Enteignungen. Mit Auflösung dieses Ministeriums im Jahre 1851! verliert sich auch der Begriff .öffentliche Arbeiten*. Unsere Aufgabe wird wesentlich erleichtert durch die Unter- suchung, was fßr ein Inhalt mit diesem Ausdrucke in anderen Ländern verbunden wird:

In Deutschland versteht man unter .öffentlichen Arbeiten* die gesamte Bautätigkeit des Staates, mag dieselbe nur im fiskalischen oder im gesell- schaftlichen Interesse sich vollziehen. Sie umfaßt den Hochbau, Straßenbau. Wasserbau und Neubau der Eisenbahnen. Dagegen werden zu öffentlichen Arbeiten nicht gerechnet: die Arbeiten der Kommunalverhände. das Landes- meliorationswesen, der Festungsbau, wie auch die Unterhaltung und der Betrieb der Eisenbahnen. Der Ausgangspunkt des Begriffes ist also nicht rechtlicher, sondern technischer Art.*)

Desgleichen ist in Italien trotz des vorhandenen Gesetzbuches3) weder im Gesetze noch in der Literatur der Begriff der öffentlichen Arbeiten zu finden: man kennt nur den Wirkungskreis des Ministeriums der öffentlichen Arbeiten, welcher umfaßt:

’) Das Ministerium für Handel. Gewerbe und öffentliche Bauten wurde mit Aller- höchster Entschließung vom 12. .September 1859. R.-G.-Bl. Nr. 193. aufgelöst.

7) In Deutschland finden sich die Vorschriften für das öffentliche Bauwesen zum Teil in den Wege- und Wassergesotzen sowie im Knteignungsgesetze, ihrem größeren Teile nach bestehen sie in Dienstanweisungen technischer und Hnanzwirtschaftlicher Natur über den Umfang des Bauwesens, die Grundsätze fflr die technische Herstellung und Unterhaltung der Bauwerke, das Verdingen ganzer Bauten oder einzelner Arbeiten, die Beschaffenheit des zu verwendenden Materials, die Veranschlagung und Revision der Bauten, die Kassen- und Kechnurtgsgebarung. (Leuthold in Stengels Wörterbuch des Deutschen Verwaltungsreehts, I., S. 183.)

*) Nur iu Italien bestellt ein umfangreiches Gesetz über öffentliche Arbeiten „Codice dei luvori pubblici* vom 20. Mftrs 1865; cs enthält in 882 Artikeln Bestimmungen über den Wirkungskreis des Ministeriums der öffentlichen Arbeiten. Hinrichtung der Zivilgeuiebchörden, über Staat«- und Provin/ialstraßen. Gemeinde- und Ortswege, über Wasserbauten an Flüssen. Bachen. Seen und Kanälen, über Häfen und Lenchttünne, über Staats- und Privateisenbaiinen, schließlich über Verträge, betreffend die Arbeiten des Staates und deren vollzug. Dieses Gesetzbuch hat durch nachträgliche Gesetze und Verordnungen so viele Änderungen und Zusätze erfahren, daß die Aufzählung dieser Nachträge allein im Werke von Artur Lion (Trattato Rulla legislaxionc dei lavori pubblici. Torino, 1900) 28 Seiten in 8ft einnimmt.

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Da« Recht der öffentlichen Arbeiten.

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1. den Bau und die Erhaltung der Nationalstraßen, der Staatsbahnen, der Staatskanäle für Schiffahrt und Bewässerung, der Staatshäfen und Leucht- tflrme, der zum öffentlichen Gebrauche bestimmten Gebäude und die tech- nische Konservation der öffentlichen Denkmale;

2. die Aufsicht über die konzessionierten Eisenbahnen und subven- tionierten Gesellschaften für öffentliche Arbeiten, um die Erfüllung der Konzessionsbedingungen zu sichern, das volkswirtschaftliche Interesse des Staates, die Sicherheit und Regelmäßigkeit des öffentlichen Dienstes zu fördern ;

3. die Aufsicht über die Arbeiten der Provinzen, der Städte und Genossenschaften, welche die Wege, Kanäle, Wasserschutz, Entsumpfung der Grundstücke und Handelshäfen zum Gegenstände haben: sie beschränkt sich auf Prüfung und Genehmigung der technischen Entwürfe und Sicherung der Erfüllung der auferlegten Bedingungen;

4. die Verwaltung und Polizei der Staatsstraßen, der Staatsbahnen, der Staatshäfen und Leuchttürmc. der öffentlichen Gewässer, der Schiffahrts- einrichtungen und Staatskanäle.

Das Gesetzbuch umfaßt also nicht nur Vorschriften über Staatsarbeiten, sondern auch einige Vorschriften über Provinzial-, Gemeinde- und Privat- arbeiten, insoweit sie der Aufsicht der Staatsverwaltung unterliegen. Die Artikel 319 bis 382 behandeln die Verwaltung der Staatsarbeiten allein; diese Vorschriften wurden durch besondere Gesetze1) auf alle Provinzial- und Gemeindearbeiten anwendbar erklärt. Demnach werden in Italien als öffentliche Arbeiten betrachtet: alle Staatsarbeiten für öffentliche Zwecke und die pflichtschuldigen Arbeiten der Provinzen, Gemeinden*) und kon- zessionierten Gesellschaften.

Auch in Frankreich, wo die Gesetzgebung3) Über öffentliche Arbeiten so sehr ausgebildet erscheint, wird der rechtliche Begriff der öffentlichen Arbeiten von keinem Gesetze gegeben; das Herkommen und die reichhaltige Rechtsprechung des Conseil d’Ktat ersetzen das Fehlende: Als öffentlich wird jede Arbeit anerkannt, welche die Schaffung, Einrichtung und Instand-

*) Gemeinde- und Provinzialgesetz vom 4. Mai 1898, Artikel 166, und Vollzugs- Verordnung vom 19. September 1899, Artikel 112.

*) Zu den obligatorischen Arbeiten der Gemeinden werden jene gezählt, «eiche die Geraeindewege, Wasserleitungen, kleinere Handelshäfen, andere öffentliche Anlagen, öffentliche Rauten, Bezirksgefungnis und Kirchhöfe, für die Provinzen nur Provin2ialwege znm Gegenstände haben (Gemeinde- und Provinzialgesetz Artikel 175 und 286.)

*) In Frankreich bestehen einige Gesetze, welche auf alle öffentliche Arbeiten Anwendung finden. Zu diesem zählt das Gesetz vom 28. Pluviose an VIII betreffend die Zuständigkeit des Präf, kturrates in allen aus Anlall der öffentlichen Arbeiten entstandenen Streitsachen, das Gesetz vom 8. Mai 1841, betreffend die Enteignung der Grundstücke, das Dekret vom 18, November 1882 und die Verordnung vom 14. November 1887, betreffend die Vergebung öffentlicher Arbeiten, die Gesetze vom 16. September 1807 über die Trockenlegung der Sümpfe und vom 29. Dezember 1892 über die am Privateigentums durch Ausführung öffentlicher Arbeiten verursachten Beschädigungen. Anllerdem bestehen zahlreiche besondere Vorschriften für einzelne Arbeiten, wie für Wege, Kanäle, Eisen- bahnen. Handels- und Kriegshäfen u s. w.

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Br#*»iewicT.

haltung eines dem öffentlichen Dienste gewidmeten unbeweglichen Gegen- standes bezweckt und von einem öffentlichen Verbände oder einer öffent- lichen Anstalt pflichtgemäß ausgeführt wird.1) Der Begriff enthält folgende Merkmale:

1. Die Arbeit muß einen unbeweglichen Gegenstand betreffen; es macht keinen Unterschied, ob die Anlage von neuem hergestellt, verbessert, geändert oder nur erhalten wird, ob sie bestimmt ist ein Kinkommeu abzuwerfen oder nicht.

2. Als Unternehmer kann der Staat, ein Departement, eine Gemeinde oder sonst eine andere den Verwaltungsdienst dieser Verbände besorgende Anstalt auftreten. Der Charakter öffentlicher Arbeiten wird auch dadurch nicht geändert, dall die Arbeiten nicht von der Verwaltung selbst, sondern von einem Vertragsschließer auf Rechnung der Verwaltung oder von einem belieheneii Unternehmer auf dessen Rechnung verrichtet werden. Diese Unternehmer müssen jedoch in Ausübung der öffentlichrechtlichen Ver- pflichtung handeln; die Arbeiten, welche von den allgemein nützlichen Gesellschaften oder Anstalten aus eigenem Antriebe unternommen werden, zählen nicht zu den öffentlichen.

8. Der Gegenstand der Arbeit muH dem öffentlichen Dienste gewidmet sein. Der Begriff öffentlicher Arbeiten umfufft aber nicht nur die Verrichtungen am öffentlichen Gute (an Gassen, Wegen, Flüssen und Kanälen i, sondern auch den Bau der öffentlichen Denkmale, der Schulen. Amtsgebäude, Markthallen n. s. w.; hingegen sind die Arbeiten betreffend die Staatsgüter und Forste sowie auch das Privateigentum anderer öffentlicher Verbände nicht inbegriffen.

Der Rechtebegrifr öffentlicher Arbeiten, welchen die französische Rechts- wissenschaft. ausgebildet hat, lädt sich auf das österreichische Recht nicht einfach auwenden. Unzweifelhaft ist nur, dali jene Arbeiten als öffentliche zu betrachten sind, durch welche die öffentliche Verwaltung geführt wird. Sie erweisen ihren Zusammenhang mit dem öffentlichen Rechte dadurch, daß sie in den Verhältnissen nach außen nach öffentlichem Rechte beurteilt werden. Es ist also am richtigsten: die induktive Untersuchungsmethode anzuwenden und zu beachten, welche Arbeiten in der Wirklichkeit nach den Regeln des Verwaltuugarechtes behandelt werden, um danach den Bereich der öffentlichen Arbeiten Schritt für Schritt zu bestimmen.*) Zu diesem Zwecke sind die Subjekte und Gegenstände der öffentlichen Arbeiten näher zu untersuchen.

A. Die Person des Unternehmers.

1. Der Ausdruck .öffentliche Arbeiten“ fällt oft mit dem Begriffe der Staatsarbeiten zusammen; unter letzteren versteht man alle Arbeiten,

!) Ducrocq: Cour« de droit adminmtratif. Paria, 1897, II., S. 24C, ff. H. Ber- thdlemy: Traito ebunentaire de droit udminiatratif. Pari«, 1901, S. .735 11’.

*) Vergl. Otto Mayer, im Arcliiv für Offentl. Hecht, 1901, 8. (15,

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Da« Recht der Öffentlichen Arbeiten

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welche vom Staate verrichtet werden, also sowohl die Arbeiten Itir Staats- güter und Forste wie auch den Bau öffentlicher Gebäude, der Staatshahnen, die Flutiregulierungen. die Hafenarbeiten, Festungsbauten u. s. w. Allen diesen Arbeiten ist gemeinsam, daß sie auf Kosten des Staates ausgeführt, oft von denselben Behörden geleitet werden, und daß die Art und Weise der Ausführung ähnlich sein können. Ks ist also kein Wunder, daß für alle diese Arbeiten gewisse gemeinsame Vorschriften vorhanden sind. Ein flüchtiger Überblick läßt jedoch erkennen, daß /.wischen dem Bau eines Wirtschafts- hauses für die Güterverwaltung und einer Flußregulierung sowohl in Bezug auf den Zweck als auch auf ihre rechtliche Folgen gewaltige Unterschiede bestehen; es ist also einleuchtend, daß alle diese Arbeiten nicht denselben rechtlichen Vorschriften unterworfen werden können. Nicht alle .Staatsarbeiten sind als öffentliche Arbeiten zu betrachten.

Auch ist der Inhalt der öffentlichen Arbeiten mit dem Begriffe der Staatsarbeiten nicht erschöpft: die öffentliche Verwaltung wird nicht nur vom Staate, sondern auch vom Laude, Bezirke, der Gemeinde u. s. w. geführt, und alle diese Verwaltungskörper können auch auf dem Gebiete der öffent- lichen Arbeiten mitwirkeu. Ob die Herstellung und Erhaltung eines öffentlichen Weges vom Reiche, einem Lande oder einer Gemeinde besorgt wird, kann nur einen quantitativen, aber keinen qualitativen Unterschied hervorrufen. Die öster- reichische Gesetzgebung kennt indessen keinen alle diese Arbeiten umfassenden Begriff'; sie kennt nur Staats-, Landes-, Bezirks- und Gemeindearbeiten, also nur den technischen Begriff öffentlicher Arbeiten; der rechtliche Begriff hat sich noch nicht herausgebildet. Wir erhalten auf diese Weise den weiteren Grundsatz, daß öffentliche Arbeiten nicht nur vom Staate, sondern auch von Selbstverwaltungskörpern ausgeführt werden können, und in allen diesen Fällen bleibt ihr rechtlicher Charakter derselbe; es sind jedoch nicht alle von diesen Verwaltungskörperu verrichteten Arbeiten als öffentliche zu betrachten.

2. Außerdem gibt es Arbeiten, welche zwar von Privatpersonen unternommen werden, jedoch das öffentliche Beste sehr nahe berühren. Wenn das Zustandekommen gewisser Arbeiten einzelnen Bürgern oder einem Kreise der Grundeigentümer notwendig oder nützlich erscheint, ist es nicht die öffentliche Verwaltung, welche diese Arbeiten durchführen soll und nicht auf Kosten aller Steuerzahler; es ist der Interessenten Sache, die Arbeiten auf eigene Kosten herzustelleu. Die Rolle der Verwaltung beschränkt sich auf Erleichterung der gemeinsamen Tätigkeit und auf Veranlassung der Arbeiten. Die Unternehmungen, durch welche die Grundstücke gegen Wasser- verheerungen geschützt oder in ihrer Ertragsfähigkeit gehoben werden, liegen unmittelbar im Privatinteresse der Grundeigentümer. Deswegen werden die betreffenden Arbeiten von Wassergeuossenschaften ausgeführt, welche ent- weder freiwillig oder unter Mitwirkung der Behörde auf Grund eines Mehr- heitsbeschlusses gebildet werden. Dieser Mehrheitsbeschluß kann die Arbeiten durchführen oder auch von dercu Vornahme abstehen; die Genossenschaft hat keine Pflicht zur Vornahme der Arbeiten und kann sieh jederzeit nach

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Breeiewicz.

Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten gegen dritte Personen auflösen.1) Diese Arbeiten werden zwar im genossenschaftlichen Interesse ausgeführt, aber die öffentliche Verwaltung hat dabei kein entscheidendes Wort, weil die gehofften Vorteile nicht über die Mitglieder der örtlichen Genossenschaft hinausreichen; diese Arbeiten sind nicht als öffentliche zu betrachten.

Diese Sachlage ändert sich vollkommen, wenn die Genossenschaft im Gesetzeswege’) gebildet wurde, oder wenn die Arbeiten zwar von der Genossenschaft verrichtet, jedoch als ein aus Landes- oder Staatsmitteln zu unterstützendes Unternehmen erklärt werden.3) In dieseu Fällen wird ausge- sprochen, daß die Arbeit im öffentlichen Interesse liegt, der Vollzug der Arbeit wird allenfalls im Zwangswege gesichert, der Regierung oder der I «Indesselbstverwaltung wird eine angemessene Einflußnahme auf den Gang des Unternehmens eingeräumt, und die künftige Erhaltung der herzustollenden Anlagen wird in genügender Weise gesichert. Durch die Gesetze, welche die Ausführung obiger Arbeiten amrdnen. wird die Genossenschaft der Grundeigentümer mit ihren Organen der öffentlichen Verwaltung einverleibt, und die von ihr geführten Arbeiten gewinnen einen öffentlichrechtlichen Charakter. Öffentliche Arbeiten können also auch von den zu diesem Zwecke gebildeten Genossenschaften ausgeführt werden, wenn sie auf Grund einer öffentlichen Verpflichtung haudeln.

3. Die Erfahrung lehrt, daß die Arbeiten für öffentliche Zwecke auch ohne gesetzliche Verpflichtung oft von Privatpersonen und Privatgesell- schaften ausgeführt werden. Zahlreich sind die Beispiele besonders auf dem Gebiet« des Verkehrswesens; Öffentliche Wege, Brücken. Überfuhren. Schiff- fahrtskauäle, Eisenbahnen, Telegraphen- und Femsprechleitungeu werden oll auf Grund der Bewilligung der Staatsorgane von Privaten gebaut und betrieben. Neben ihnen bestehen Staatsanlagen derselben Gattung. Sowohl die Staats- als die Privatanlagen verfolgen denselben Zweck und verrichten gleichzeitig denselben öffentlichen Dienst. Soll z. B. der Bau einer Eisenbahn durch eine Aktiengesellschaft anders behandelt werden als der Bau einer Staatsbahn? Wäre es überhaupt möglich, daß die Aktiengesellschaft die Eisenbahn erbaue, ohne die Gewalt der öffentlichen Verwaltung in Anspruch zu nehmen? Nein. Die Arbeiten des Konzessionärs müssen den Arbeiten der Verwaltungskörper gleichgestellt werden und sind somit öffentliche Arbeiten.

Es muß jedoch hervorgehoben werden, daß nicht jede einem Privat- unternehmer erteilt« Baukouzession den betreffenden Arbeiten den Charakter der öffentlichen Arbeiten verleiht, da mit dem Namen .Baukonzessionen* verschiedenartige Bewilligungen der Behörde bezeichnet werden, welche mit der Verleihung öffentlicher Arbeiten keine Ähnlichkeit besitzen.3) Die meisteu

') g 24 des Reichswasserrechtsgesetzes.

*) § 41 Steiermark., § 42 lmkow., § 43 niedcrOstcrr., § 46 liühm., § 45 sonstiger Wasserrechtsgesetze.

>) Gesetz vom 30. Juni 1884, R.-G.-BI. Sr. 116, § 4.

‘i Vergl. Greste Ranelletti: Teoria generale delle autorizzazioni e concessioni amuiiuistrative. Torino, 1894.

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Da« Hecht der öffentlichen Arbeiten. 147

Kaliwerke und Anlagen erfordern die Genehmigung der Baubehörde; nie ist nur eine einfache Bestätigung, daß der beabsichtigte Bau den Gesetzen entspricht; ist letzteres festgestellt, so muß die Genehmigung erteilt werden. Bei anderen Bauten, wo die Möglichkeit des Widerspruches mit dem öffent- lichen Wolile besteht, entscheidet die Baubehörde auf Grund des freien Ermesseus, ob die Ausübung des Baurechtes den diesbezüglichen Vorschriften des Gesetzes entspricht; diese Erlaubnis räumt nur das Hindernis des polizei- lichen Verbotes weg, aber sie gibt dem Bauwerber kein neues Recht, welches er bis jetzt nicht besaß. Es kommen aber auch Fälle vor, wo die Verwaltung zur Förderung der wirtschaftlichen Zwecke dem Unternehmer neue öffent- liche Hechte verleiht, wie z. B. die Wasser- und Straßenbenutzungsrechte. Er kann jedoch die verliehenen Hechte benutzen oder unbeuutzt lassen. Wenn auch im einzelnen Falle noch die Pflicht zur Ausübung des Hechtes hinzu- tritt, werden daraus keine öffentlichen Arbeiten, weil sie nur einen privat- wirtschaftlichen Zweck verfolgen. Öffentliche Arbeiten sind nur dann vor- handen:

a) wenn die Herstellung oder Erhaltung eines gemeinnützigen Unter- nehmens beabsichtigt wird, welches sonst der öffentlichen Verwaltung obliegen würde;

!>) wenn die öffentliche Verwaltung diese Arbeiten dem Unternehmer überträgt:

rj wenn der Beliehene die Verpflichtung übernimmt, das Unternehmen auszuführen und zu verwalten. Der Unternehmer tritt hier in die Hechte des Verleihenden ein.

Der Unternehmer der öffentlichen Arbeiten muß also immer auf Grund einer öffentlichen Verpflichtung handeln; es macht dabei keinen Unterschied, ob die Verpflichtung vom Gesetze auferlegt oder freiwillig durch öffentlich- rechtliches Obereinkommen, Konzessionsannahme u. s. w. übernommen wurde.

B. Der Gegenstand des Unternehmens.

Alle Arbeiten, welche vom Staate oder den Selbstverwaltungskörpern vorgenommen werden, dienen schließlich der öffentlichen Verwaltung. Nicht bei allen jedoch ist der Zweck so wichtig, daß er die Ausschließung des Privatrechtes rechtfertigen könnte.

1. Vor allem gilt da» bei Arbeiten, welche eine Lieferung der beweg- lichen Sachen bezwecken. Die Lieferanten des Staates genießen zwar Vor- züge der Unpfändbarkeit1) bezüglich der Lieferungsgegenstände, aber die Anschaffung derselben erfolgt nach allgemeinen privatreclitliclieii Grund- sätzen; denn diese Sachen kommen nur mit ihrem Vermögenswert in Betracht, und es genügt ihnen vollkommen der Schutz, den solche Werte durch das Zivilrecht erhalten. Öffentliche Arbeiten haben also zum Gegenstände nur unbewegliche Sachen, wie im französischen Rechte.

*) Hoflickrete v,nn 13. Mai IHM. ,1. Ü.-S., 10» 6. und vom 15. Februar 1S15. J. fi.-S., 1132.

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Bresiewicz.

2. Die Arbeiten des Staates und der Selbstverwaltungsverbände werden ent- weder am Patrimonialgute oder an anderen Gutem ausgeführt. Die ersteren dienen mittelbar auch dem öffentlichen Nutzen, weil sie doch den Zweck haben, das Stammvermögen der Verwaltungsverbände zu vermehren, und dieses Vermögen dient zur Deckung öffentlicher Auslagen. Unmittelbar handelt es sich jedoch um einen wirtschaftlichen Zweck der genannten Verbände und nicht um öffentliche Verwaltung. Die Arbeiten, welche das Stammvermögen öffentlicher Verbände betreffen, sind nur I’rivatarbeiten. Das Privatrecht reicht vollkommen aus, uiu den Zweck dieser Arbeiten zu sichern, und es ist kein Grund vorhanden, um sie den Bestimmungen des Privatrechtes zu entziehen.

3. Außer dem Stammvermögen besitzt der Staat und die Selbstver- waltungsverbände ein Verwaltungsvcrmögen, welches den Zwecken des öffent- lichen Dienstes gewidmet ist. Der Staat haut Amtsgebäude, Universitäten und Mittelschulen, das Land Spitäler, die Gemeinden Rathäuser, die Kon- kurrenzpflichtigen die Kirchen und Pfarrgebäude. Allen diesen Bauten*) ist gemein, daß sie dem öffentlichen Dienste gewidmet sind, und daß die Geld- mittel zum Baue auf die Art uud Weise der Steuer aufgebracht werden ; die Kirchen- und Schulkonkurrenzen können zur Herstellung oder Krhaltung der betreffenden Bauten von Staats wegen gezwungen werden. Trotzdem werden sie dem Privatrecht nicht entzogen; der Unternehmer erwirbt die nötigeu Grundstücke und errichtet die Bauten nach denselben Grundsätzen wie sein Nachbar. Der Grund dieser Erscheinung*) liegt darin, daß bei obigen Bauten, in welchen sächliche und persönliche Mittel zu einem öffentlichen Zwecke ver- einigt werden, der Schwerpunkt der Leistungen in den persönlichen Mitteln liegt. Wenn das Privatrecht die Herstellung oder weitere Benutzung dieser Gebäude unmöglich macht, so mag die Anstalt anderwärts untergebracht werden. Der Zweck dieser Gebäude ist an sich selber nicht genug wichtig und zugleich gegen die privatrechtlichen Störungen derart emptindlich, daß die betreffenden Arbeiten dem Privatiechte entzogen werden müßten.

Daraus erhellt, daß unsere Gesetzgebung grundsätzlich den Hochbau zu den öffentlichen Arbeiten nicht zählt. Einige unbedeutende Ausnahmen bestehen nur hinsichtlich jener Hochbauten, bei denen der Zweck so ernst ist. daß seine unbedingte Aufrecbthaltuug zur guten Ordnung des Gemeinwesens gehört. Ein Beispiel liefern die Festungswerke. Auch bei Anstalten, welche nur durch Betrieb der Öffentlichkeit dienstbar gemacht werden können, ist die Ausführung und Erhaltung der für die Betriebszwecke unumgänglichen, mit der Anstalt innig verbundenen Gebäude als öffentliche zu betrachten. Als Beispiele gelten die Betriebsgebäude der Eisenbahnen,5) die Leucht- türme und die Bauten für Schiffahrtskaual- und Wasserleitungszwecke.

') Im französischen Rechte werden sie als domaine pnblic und die betreffenden Arbeiten als travauz publica betrachtet.

*) Vergl. Otto Mayer: Eisenbahn- und Wegerecht. (.Archiv für dffcntl. Recht, 1901, S. 65. ff.)

3) Gesetz roiu 18. Februar 1878, R.-G.-Bl. Sr. 30, 9 3. Der Verwaltungsgerichtshof bat die Enteignung auch zum Zwecke der Herstellung eines Wohnhauses für die Balm- heamten der htatiun zugcstaudeu. (Erkenntnis vom 11. Mai 1887, Budwidski Nr. 3525.)

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Du Recht der öffentlichen Arbeiten.

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4. Eit gibt auch «ine Menge öffentlicher Unternehmungen, in welchen der Zweck wesentlich durch die geeignet helgerichtete Sache erreicht wird und in ihr sicli verkörpert, wie Museen, Markthallen, Parkanlagen. Volks- bäder. Diese dienen unmittelbar dem öffentlichen Zwecke und erfüllen den öffentlichen Dienst durch ihre Beschaffenheit, ihr bloßes Bestehen: der Staat und die Selbstverwaltungskörper verwalten diese Sachen. Öffentliche Arbeiten werden hier aberall nicht daraus, weil die Wucht des öffentlichen Vorteiles an der Herstellung und an dem unversehrten Bestände dieser Sachen fehlt. Dasselbe gilt von Denkmalen, Kunstgebäuden u. s. w.1)

Nach obiger Ausscheidung bleiben als Gegenstand öffentlicher Arbeiten nur jene Sachen, welche dem gewöhnlichen privatrechtlichen Verkehre ent- zogen und als öffentliches Gut betrachtet werden. Unter dem Ausdrucke .öffentliches Gut* kann man jedoch nicht nur jene Sachen begreifen, welche im Sinne des bürgerlichen Gesetzbuches*) als privatrechtliches, durch den usus publicus beschränktes Eigentum des Staates oder der Selbstverwaltungs- körper aufgezählt werden, sondern alle Sachen,*) welche vermöge ihrer Beschaffenheit bestimmt sind, dem wichtigen öffentlichen Interesse unmittelbar zu dienen.4' Das öffentliche Interesse ist mit dem usus publicus nicht erschöpft. Der usus publicus an Wegen. Plätzen. Gassen, Flössen u. s. w. ist nur ein Merkmal, durch welches das öffentliche Gut sich erkennen läßt. Die Bedeutung des öffentlichen Gutes besteht darin, daß durch dasselbe unmittelbar öffentliche Verwaltung geführt wird. Der Natur des öffentlichen Gutes tut es keinen Eintrag, wenn eine amtliche Tätigkeit noch dazwischen kommt, um die Leistung der Sache jedesmal zugänglich zu machen und zu vermitteln, wie z. B. beim Eisenbahnbetrieb und bei der Schleußen- bedienung; durch diese Vermittlung leistet der Eisenbahn- und Kanalkörper seine Dienste. Die selbständige Bedeutung der Sache für den öffentlichen Vorteil tritt auch dann noch genügend in den Vordergrund.

Außerdem gibt es öffentliches Gut, welches dem Einzelnen keine Dienste leistet, das jedoch durch seine Beschaffenheit das öffentliche Interesse selbständig befriedigt. Dazu gehören vor allem die Festungswerke. Ander- seits gibt es auch Sachen, welche als Privateigentum der einzelnen Bürger oder Gesellschaften betrachtet werden, aber einzig und allein dazu bestimmt sind, um öffentliche Dienste zu leisten. Das Hauptbeispiel gehen die kon- zessionierten Eisenbahnen.5) Das Yerwaltungsreeht verleiht sowohl den

‘(.Otto Mayor: Archiv für öffcütl. Recht, 1901, sä. 71 ff. Derselbe ; Deutsches Yerwaltungsreeht, U., S. 74.

* 287 and 288.

*) 'Otto Mayer (Deutsches Verwaltungsrecbt. II., 8. 60. 84 ff.), dem wir in obiger Darstellung folgen, hat für dieses Verhältnis die unzutreffenden Begriffe des öffentlichen (Besitzes und Eigentums angewendet. Vor ihm hat es schon Eisclc (Über das Rechtsverhältnis der res publivae iu pubticu oau. Schriften der Universität Basel, 1873) und Burckhard (Gröubuts Zeitschrift, XV., 1887, S. 644) getan.

4) Der anstaltsmäUigc (Iharakter des Öffentlichen Gutes wird mit Recht von Ulbrich (im 'Staatsworterbuch von Mischler, I., S. 519 ff.) hervorgehoben.

*) Die Eisenbahnen sind Öffentliche Verkehrswege und wurden mit Hofdekreten vom 15. September 1845 und vom 18. Februar 1847, J. G.-S. Nr. 904 und 1036 als

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Brealewicz.

Festungen als auch «len Eisenbahnen die Vorzüge und den Schulz des öffentlichen Gutes.

5. Es kommt nur ausnahmsweise vor, daß das öffentliche Gut von Natur aus die entsprechende äußere Beschaffenheit besitzt, um für die Ver- wirklichung des bestimmten öffentlichen Zweckes unmittelbar verwendet werden zu können (z. B. Meerosufer); öfters geschieht es durch Bearbeitung, durch öffentliche Arbeiten. l)as Verhältnis dieser Arbeiten zum öffentlichen Gute ist nicht immer gleich; es lassen sich unterscheiden:

a) die Herstellungsarbeiten, welche den Zweck verfolgen, etwas Neues zu schaffen, was bisher nicht bestanden hat, oder das Bestehende derart zu ändern, daß ein neuer Zweck damit erreicht wird:

b) die Verbesserungsarbeiten, welche die Vermehrung der Nutzungen bezwecken, und

<y die Instandhaltungsarbeiten, welche nur auf Erhaltung des Bestehenden im guten Zustande abzielen.

Sind alle diesen Arbeiten bei einer öffentlichen Anlage oder Anstalt als öffentliche zu betrachten? Vom rechtlichen Standpunkte besteht zwischen diesen Arbeiten ein Unterschied nur bezüglich der Menge, nicht der Beschaffen- heit: zur Beurteilung des Charakters der öffentlichen Arbeiten ist es also vollkommen gleichgültig, ob die Arbeiten die Herstellung, Verbesserung oder Instandhaltung bezwecken, ln Gesetzen und Verordnungen wird jedoch nur von Herstellung und Erhaltung gesprochen; da die zur Ausführung dieser Arbeiten Verpflichteten oft verschieden sind, ist es wichtig festzu- stellen, was unter dem einen und dem anderen Begriffe verstanden wird. Eine gesetzliche Begriffsbestimmung ist nicht gegeben. Laut Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes1) kann von Herstellung eiuer Anlage überhaupt nur dort gesprochen werden, wo sie nicht vorhanden und ihrem Zwecke noch nicht zugeführt ist. Ist dies geschehen, so müssen alle späteren Arbeiten in den Kähmen der Erhaltung fallen. Es gehören hieher also nicht nur die gewöhnlich und regelmäßig vorkommenden Konservierungsarbeiten, sondern auch alle außerordentlichen Herstellungen iz. B. Neuherstellung einer Brücke im Straßenzuge), welche erforderlich sind um den den Gesetzen oder beson- deren Verpflichtungen entsprechenden Zustand der Anlage dauernd zu sichern. Die Begriffe der Herstellung und Erhaltung decken sich nicht mit den ordentlichen und außerordentlichen Auslagen des Staats-, Landes- oder Gemeindevoranschlages; «lenn zu den außerordentlichen Auslagen zählen nicht nur diese, welche die Ausführung neuer Anlagen bezwecken, sondern auch den Umbau und die Verbesserung der bestehenden; aus ordeutlicheu Krediten werden nur die Kosten der Erhaltungsarbeiten und der Verwaltung der Anlagen bestritten.*)

öffentliches Gut erklärt. Dieser Betrachtungsweise widerspricht nicht das Gesetz veni 19. Mai 1*74 über die Eiseiibuhnbilcher, da das Eigentum und die Widmung für den öffentlichen Dienst nebeneinander bestehen können.

:) Erkenntnis dös Verwaltungsgericktshofcs vom 20. Mai 1*H7, Hud winski Nr. 3553. *J Ital. codinc dei lavori pubblici Art. 320.

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Da» Recht doi affentUchcn Arbeiten.

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Demnach sind in Österreich als öffentliche Arbeiten jene zu betrachten, welche vom Staate, von Selbst» erwaltungskörpern, Zweckverbänden oder vom beliebenen Unternehmer auf Grund einer öffenlliciirechtliehen Ver- pflichtung zur Herstellung, Änderung und Instandhaltung einer unbewegli- chen Anlage für die gemeinnützigen Zwecke unternommen werden. Diese Begriffsbestimmung unterscheidet sich wesentlich vom Begriffe der öffentli- chen Arbeiten in Deutschland, Frankreich uud Italien. Die angeführten Merk- male treffen zu beim Wegebau, bei Eröffnung und Erweiterung der Gassen und Plätze, beim Bau der Eisenbahnen, Telegraphen und Telephone, der Kanäle, der Häfen und Festungswerke, bei der Kegulierung und Schiffbar- machung der fließenden Gewässer, bei der Abwehr der Binnengewässer und des Meeres, bei der Entwässerung großer Sümpfe, Verbauung der Gebirgsbäche, bei der Kanalisation, Wasserleitungen und alleu Assanierungsarbeiten in Städten. In Gesetzen und Verordnungen, welche für einzelne hier aufgezählte Arbeiten erlassen wurden, siud die Vorschriften zu suchen, welche das Gebiet der öffentlichen Arbeiten in Österreich beherrschen.

Viele Grundsätze über öffentliche Arbeiten finden Anwendung:

<i> beim Bergbaue,

b ) bei der Wasserabwehr uud Benützung für Privatzwecke, und

c) bei der Zusammenlegung der Grundstücke.

Es findet seine Kechtfertigung darin. d..ti auch der öffentliche Nutzen befördert wird, weun die Bergwerke abgebaut, die nützlichen Wasserkräfte ausgebeutet und die schädlichen Wirkungen entfernt suwie auch wenn die Bewirtschaftung der Grundstücke erleichtert wird. Der unmittelbare Zweck dieser Arbeiten bleibt jedoch immer der Nutzen einer Privatwirtschaft uud die Arbeiten werden somit nach den Grundsätzen des Privatrechtes beurteilt.

II. Der Unternehmer.

Als Unternehmer öffentlicher Arbeiten gilt derjenige, welcher die Aus- führung derselben auf Grund der öffentlichen Berechtigung im eigenen Namen besorgt. Sowohl im täglichen Leben als auch in der Gesetzessprache wird auch derjenige ein Unternehmer der öffentlichen Arbeiten genannt, welcher die Ausführung derselben von der Verwaltung vertragsmäßig übernommen hat; er verrichtet sie jeduch im Namen der Verwaltung und auf Grund einer privatrecbtlichen Verpflichtung. Die diesbezüglichen Verhältnisse werden im V. Abschnitte behandelt; hier kommt nur die rechtliche Stellung der unternehmenden Verwaltung zur Besprechung.

I. Verhältnis des Unternehmers zum Gegenstand der Arbeiten.

.4. Der größte Unternehmer der öffentlichen Arbeiten ist der Stuut. Die oberste Leitung und Beaufsichtigung aller Arbeiten, welche vom Staate ausgefflhrt werden, ist nicht in den Händen einer Behörde vereinigt; sie wird vielmehr von mehreren Staatsbehörden und verschiedenen Ministe; ien verrichtet.

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IÜ2

Bresiewiez,

1. Das Ministerium des Innern besorgt die Verwaltung des öffentlichen Bauwesens mit Ausnahme der dem Dienstbereiche einer anderen Zentral- behörde ausdrücklich zugewiesenen Bausachen. Insbesondere gehört zu seinem Wirkungskreise: *)

a) die Leitung, Pflege und Überwachung der lamd- und Wasserstraßen überhaupt;

lij die unmittelbare Verwaltung der aus dem Ärarialstralien- und Wasser* baufonds dotierten Baulichkeiten und Anschaflungen.

Als Organe des öffentlichen Bauwesens in den Ländern und Bezirken fungieren die politischen Landes- und Bezirksbehörden. Dem Ministerium des Innern und seinen Unterbehörden werden Baukundige zugeteilt, welche als Mitglieder derselben die ihnen zugewiesenen technischen Geschäfte zu besorgen haben. Zu diesem Zwecke sind beim Ministerium drei technische Departements (für Straßen- und W'asserbau, für Hochbau und für technisch- ökonomische Geschäfte aller Baulacher , bei den Statthaltercien je zwei solche Departements bestellt; mehrere Bezirkshauptmannsehaften werden zu einem Baubezirk vereint, technische Kräfte aus Baubeamten, Unterbeamten und Dienern zugeteilt.

2. Dem Kisenbahnministerium sind zugewiesen : ’j

a) die staatliche Aufsicht über alle Eiseubahnbauten. und

h) die oberste Leitung des Staatseisenbahubaues, der Erhaltung und des Betriebs.

Diesem sind die Staatsbahndirektionen, Eiseubaliubauleitungen und Bahn- crhaltungsektioneu untergeordnet. Zur Besorgung der großen Buhnbaulen*) wurde im Ministerium eine eigene Geschäftsabteilung ,k. k. Eisenbahn- baudirektion* gebildet.

3. ln die Kompetenz des Handelsministeriums fallen:

a) die Telegraphen- und Fernsprechleitungen. Zur Verwaltung des betref- fenden Dienstes bestehen in einzelnen Ländern die Post- und Telegra- pheudirektioneu,4 1 denen für die Agenden des Baues und der Erhaltung der Anlagen und Leitungen technische Abteilungen beigegeben sind;

h) die leitende Fürsorge für Herstellung, Verbesserung und Instandhaltung aller Anstalten, welche als Schutz- und Förderuugsmittel des See- schiffahrtsbetricbes dienen. Als untergeordnete Organe5; fungieren die Seebehörde in Triest, die Hafen- und Seesanitätskapitanate, Seesanitäts- depututionen und -agentien;

r) alle Angelegenheiten, welche sich auf die Feststellung und Ausführung der Entwürfe der großen Wasserstraßen beziehen.* Zu diesem Zwecke

■) Verordnung des Staatsrainisteriums vom 8. Dezember 18ÖU, K.-G.-Bl. Nr. Ztib. S) $5 1 bis 3 Jes Organisationsstatutes vom 19. Jauner 1896. K.-G.-Bl. Nr. 16. ’j Verordnung dee Eisenbahnmimatcriums vom 6. Oktober 1901, K.-G.-Bl. Nr. 167. 4 1 Erlali des Handelsministeriums vom 16. Dezember 1883 (Post- und Tel. -V. -Bl. 8. 783), 1 und 74.

*) Kundmachung des Handelsministeriums vom 3. Juni 1871, K.-G.-Bl. Nr. 46.

*) § 13 des Gesetzes vom 11 .Tun; 1901, K.-G.-Bl. Nr. 66.

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Da« Recht der öffentlichen Arbeiten.

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wurde im Handelsministerium eine besondere Geschäftsabteilung „k. k.

Direktion fflr den Hau der Wasserstraßen* errichtet. Behufs Durchführung

der Bauten werden je nach Bedarf eigene Bauleitungen aufgestellt.')

4. Der Wirkungskreis des Ackerbauministeriums umfaßt die oberste Leitung der Angelegenheiten der Landeskultur;*) öffentliche Arbeiten kommen liier nur bei Wasserabwehr, *) bei Verbesserung, Entsumpfung und Bewässerung des Bodens vor. Dieses Ministerium entfaltet eine sehr rege Tätigkeit seit Veröffentlichung der Gesetze,4) betreffend die Förderung der Landeskultur auf dem Gebiete des Wasserbaues und die Vorkehrungen zur unschädlichen Ableitung von Gebirgswässern.

Dag Ackerbauministerium bedient sich in den Angelegenheiten der Landeskultur der Landesstellen und Bezirkshnuptmannschafteu als Mittel- und Unterbehörden. Außerdem bestehen besondere Behörden. Auf Grund des Gesetzes, betreffend Vorkehrungen zur unschädlichen Ableitung von Gebirgswässern wurde eine ,k. k. forsttecbnische Abteilung för Wildbach- verbauung* aus zwei5) und später aus fünf“) Sektionen gebildet. Zur Durch- führung der Aufforstungsarbeiten im Karstgebiete und im Gebiete der oberen Beczwa wurden im Wege der Landesgesetzgebung 7) besondere Aufforstungs- kommissionen ins Leben gerufen.

5. Vom Kriegsministerium ressortieren die Bauangelegenheiten der festen Plätze und der Kriegsliäfen. Der Baudienst für die fortiflkatorischen und nicht fortifikatorischen Baulichkeiten und Liegenschaften wird getrennt betrieben ; zur Ausübung der ersteren sind die Geniedirektionen und die fall- weise aufzustellenden Befestigungsbaudirektionen berufen8’ sowie das Marine- land- und WasBerbauamt in Pola.

Schon aus dieser Übersicht läßt sich entnehmen, welche Mannigfaltigkeit von Arbeiten vom Staate verrichtet werden. Es ist auch ganz natürlich, daß der Staat als der oberste Verwalter in allen Verwaltungszweigen wirkend auftritt.“)

*, Verordnung des Handelsministeriums vom 11. Oktober 1901, U.-G.-Bl. Nr. 163.

*) Verordnung vom 29. Jänner 1868, R -G.-Bl. Nr. 12.

3j Landeawaaserrechtsgesctze SS 72 krain.. § 8 7 ateiermärk., $ 88 bukow., <S 90 niederOsterr., § 93 istrian.. § 95 bohm., $ 94 sonstige.

*) Gesetze vom 30. Juni 1884, R.-G.-Bi. Nr. 110 und 117.

l) Erlall des k. k. Ackerbauministera vom 5. Juni 1884. (Gesetze und Verord- nungen aus dem Dienstbereiche des Ackerbauministeriums, Jahrg. 1884. 8, 24.)

®) Dienstinstruktiou vom 2. September 1888, abgeändert mit Erlali vom 8. Jänner 1895. (Gesetze und Verordnungen aus dem Dienstbereiche des Ackerbauministeriums, Jahrg. 1888, S.t&4, Jahrg. 1895, S. 129.)

*) Sieh Mayrhofers Handbuch, I., S. 645, wo die betreffenden Landesgesetze aufgezählt aind, und Gesetz vom 12. Oktober 1896, L.-G.-Bl. für Mähren Nr. 52 ex 1897.

*) Bandienatvorsehriften für das k. u. k. Heer, 1. Teil, § 1.

*) Im Auslände bestehen meistenteils Ministerien der Öffentlichen Arbeiten, ln Frankreich wirkt als Organ des letzteren die Administration .des pouts et chaussdes“, iu Italien die ZivilgeniebehOrdcn, welche alle Öffentlichen Staatsarheiten mit Ausnahme der Arbeiten des Heer- und Marinewesens besorgen. Diese letztere Ausnahme besteht auch in Deutschland, wo die Baubehörden (wie in Österreich) keine Selbständigkeit besitzen, sondern den Behörden der allgemeinen Landesvcrwaltung untergeordnet sind.

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Bresiewici.

Ti. Als Landesangelegenheiten wurden erklärt die öffentlichen Bauten, welche aus Landesmitteln bestritten werden.') Die Kronlünder haben bis in die neueste Zeit hinein nur eine begrenzte Wirksamkeit auf dem Gebiete der öffentlichen Arbeiten entfaltet;*) erst seit der Veröffentlichung der Meliorationsgesetze und des Lokalbahngesetzes ist diese Tätigkeit im Auf- schwung begriffen, da die Länder selbst gewisse wirtschaftliche Aufgaben übernehmen.

1. Zn den obligatorischen Aufgaben zählt die Erhaltung der Landes- strallen; eine Verpflichtung zur Neuanlage solcher Straßen besteht nicht;’) die Landesausschüsse haben jedoch auf dem Gebiete des Wegebaues erheb- liche Leistungen aufzuweisen.

2. Die Länder verwalten unmittelbar die Unternehmungen zur Hebung der Landeskultur, wenn sie durch Landesgesetze als aus Landesmitteln auszuführende1) oder doch wenigstens zu unterstützende Unternehmen erklärt wurden. Man kann sie in drei Kategorien zusammenstellen :

a) die Regulierung größerer Ströme und Flüsse, bei welchen außer dem Beitrage des Meliorationsfonds mit Rücksicht auf die Interessen der Schiffahrt der staatliche Baufonds beteiligt ist; h) eigentliche Meliorationen i wie Regulierung kleinerer Bäche, Eindämmung der Flüsse und Entsumpfungen der Grundstücke), deren Kosten vom Meliorationsfonda, vom Lande und von Interessenten bestritten werden; c) die Verbauung der Wildbüche und Aufforstung der- Abhänge im Gebirge, deren Kosten vom Meliorationsfonds und vom Lande zur Hälfte gedeckt werden.

3. In der Mehrzahl der Kronländer wurde im Gesetzgebnngswege 5) die Mitwirkung des Landes bei Förderung des Lokalbahnwesens geregelt. Der Landesausschuß beziehungsweise das Landesbureau für Eisenbahnen prüft die vorgelegten Entwürfe und führt alle Verhandlungen, welche die Sicherstellung der für das Landesinteresse bedeutenden Lokalbahnen bezwecken. Das Land kann auch den Kau der Lokalbahnen selbst übernehmen, ohne Rücksicht darauf, ob die Konzession von Aktiengesellschaften oder vom Landesausschusse erworben wurde, oder wirkt doch wenigstens bei Vergehung des Baues und der Ausführung mit. Der Betrieb und die Instandhaltung der Lokalbahnen wird gewöhnlich der Staatseisenbahnverwaltung anvertraut. Die Durchführung der Landesbauten, die gesamte technische und ökonomische Verwaltung gehören in den Wirkungskreis des Landesausschusses.8)

C. Die Bezirke als Selbstverwaltuugskörper bestehen nur in Böhmen, Galizien und Steiermark ; ihre Tätigkeit auf dem Gebiete öffentlicher Arbeiten

') § 18 der Landesordnungen.

*) In Frankreich haben die Provinzialarbeiten nnr die Departenientswege und Brücken, größere Vizinalwege, Lokalbahnen und Departcmcntsgebäude zum Gegenstand. *; Vergl. irn StaatswOrterbuche von Mi schier, II.. S. 589.

') § 4, Z. 1. des Gesetzes vom 80. Juni 1884, R.-G.-BI. Nr. 116.

Diese Landesgesetze sind im Han.lbuche von Mayrhofer, V., 8. 612, zusammen- gestellt. Sehr eingehend ist das galizische Gesetz vom 17. Juli 1893, R.-G.-Bl. Nr. 42. bi § 26 der Landesordrtungen.

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Pas Recht der öffentlichen Arbeiten. ]5fi

ist unbedeutend, weil sie keine selbständige und ergiebige Einnahmequellen besitzen.

1. Die wichtigste pflichtschuldige Aufgabe des Bezirkes bezieht sich auf den Bau und die Erhaltung der Bezirksstraßen : sie wurde den Bezirken durch Straßengesetze ') in einzelnen Ländern auferlegt, ln jenen Kronländern, in welchen die Bezirksvertretungen nicht eingeführt wurden, erfüllen dieselbe Aufgabe die Straßenkonkurrenzverbände.

2. Andere gemeinwirtschaftliche Unternehmungen können infolge eines von der Bezirksvertretung gefaßten Beschlusses errichtet werden, wenn ihre Kosten ans Bezirksmitteln bestritten werden und wenn sie die gemeinsamen Interessen des Bezirkes und seiner Angehörigen betreffen.*) Dahin gehören insbesondere die Arbeiten auf dem Gebiete der Landeskultur, wie Wasser- schutzanlagen. Regulierung der Bäche u. s. w.

Die vom Bezirke zu verrichtenden Arbeiten werden vom Bezirksaus- schüsse verwaltet und vollzogen.

D. Öffentliche Arbeiten, welche von Gemeinden verrichtet werden können, weisen nach den Staatsarbeiten die größte Mannigfaltigkeit auf.

1. Zu Angelegenheiten des selbständigen Wirkungskreises der Gemeinde gehört die Sorge für die Erhaltung der Gemeindestraßen, Wege, Plätze. Brücken sowie für die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs. Besondere Wichtigkeit erlangen diese Arbeiten in Städten,*) wenn im Interesse des Verkehrs, der Feuersicherheit oder der Assanierung die Eröffnung neuer Straßen und Gassen notwendig wird oder wenn es sich um Erweiterung und Regulierung bestehender Gassen handelt. Laut Vorschrift der Straßen- gesetze ist die Ortsgemeinde Konkurrenz verpflichtet, notwendige Gemeinde- wege innerhalb ihres Gebietes herzustellen und zu erhalten, und kann zur Erhaltung gezwungen werden.4)

2. Zur Herstellung der Hauptkanäle in volksreichen Ortschaften sind die Gemeinden laut Bauordnungen verpflichtet, da die Gesundheitspolizei und somit auch die Veranlassung der die öffentliche Gesundheitspflege bedingenden Einrichtungen naeli der Gemeindeordnung zu dem Pflichtenkreise der Gemeinde gehört. Wenn der Gemeindeausschuß es unterläßt oder ver- weigert, sind die politischen Behörden nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, die Gemeinde tut Herstellung der Hauptkanäle zu verhalten und auf ihre Gefahr und Kosten Abhilfe zu treffen.'’) In neueren Zeiten ergehen Landesgesetze für einzelne Städte, s( welche die Eigentümer der

’) Mayrhofers Handbuch. V., S. 545 ff.

') BezirksTertretungsgeselze für Rühmen §§ 50 and 51, für Galizien 20 and 21, für Steiermark §§ 4* and 49.

J) Mayrhofer» Handbuch. III., S. 948 ff.

4) Erkenntnis de» Yerwaltungsgeriditshofes vom 16. Juni 1880, Budwinski Nr. 796, nnd vom 31. Marz 1882, Budwinski Nr. 1856.

5 ) Erkenntnis des Verwaltungsgerichtahofes vom 12. Dezember 1877. Bndwiäeki, I., Nr. 175.

6> Znsammengestellt im Staatswürterbucli von Misrhler, II.. S 1136.

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Bresiewicx.

Häuser zur Verbindung ihrer Kealitäten mit dem öffentlichen Kanäle und Entrichtung einer Taxe für Gemeindezwecke verpflichten.

3. Die Wasserversorgung ist nach Maßgabe des Gemeindegesetzes eine Angelegenheit der Gemeinden und Ortschaften, wo an dem zum Trinken, Kochen, Waschen, Tränken und zu anderen wirtschaftlichen Zwecken oder zum Feuerlöschen nötigen Wasser ein dauernder Mangel herrscht und die Versorgung damit die Kräfte der einzelnen Gemeindemitglieder über- steigt.1) Ältere Erkenntnisse des Vorwaltungsgerichtshofes*) stehen auf dem Standpunkte, daß obige Bestimmung der Wasserrechtsgesetze eine gesetz- liche Verpflichtung der Gemeinden zur Wasserversorgung begründe. In neuerer Zeit hat sich der Verwaltungsgerichtshof dahin ausgesprochen,®) daß die fragliche Bestimmung nur die Voraussetzungen der Zulässigkeit der Enteignung zu Zwecken der kommunalen Wasserversorgung aufstelle; weder aus den Vorschriften des Wasserrechtsgesetzes noch des Sanitäts- gesetzes, noch der Gemeindeordnung kann eine bindende Verpflichtung der Gemeinde zur Herstellung von Wasserversorgungsanstalten für wasserarme Gebietsteile abgeleitet werden. Wenn auch die Wasserversorgung die Interessen der Gemeindemitglieder wesentlich berührt, gehört sie dennoch zum selbständigen Wirkungskreise der Gemeinde, in welchem sie nach freier Selbstbestimmung verfügen kann. Die gesetzliche Pflicht der Gemeinde zur Wasserversorgung besteht nur dort, wo sie von besonderen gesetzlichen Vorschriften festgesetzt wurde.4)

In neueren Zeiten wurden viele Landesgesetze, betreffend die städti- schen Wasserleitungen, erlassen;®) ihren Inhalt bildet die Verpflichtung der Hauseigentümer zur Verbindung der Häuser mit der städtischen Wasser- leitung und Berechtigung der Gemeinde zur Einhebung eines Wasserzinses.

4. Die Assanierungsarbeiten umfassen jene Maßnahmen, welche die Reinigung und Reinhaltung des Bodens und des Wassers sowie die Luft- heschafl'ung betreffen und die Herbeiführung besserer Gesundheitsverhältnisse bezwecken. Sie wird durch die oben erwähnten Arbeiten (Straßenregulierung, Kanalisation, Wasserversorgung) bewirkt; Assanierungsarbeiten werden sie dann genannt, wenn sie alle im größeren Umfange auf einmal durchgeführt werden. Als Beispiel seien die großen Assanierungsarbeiten der Stadt Prag erwähnt.6) Hieher gehört auch die Durchführung örtlicher Vorkehrungen zur Verhütung ansteckender Krankheiten und ihrer Weiterverbreitung, ’) wenn sic die Herstellung gewisser Bauten oder deren Änderung bedingen.

5. Nach Vorschrift der Gemeindeordnung ist die Gemeinde berechtigt, alle Arbeiten und Anlagen durchzuführen, welche zwar nicht ausdrücklich

’) § 35 der Wasserreclitagcsetze der meisten Länder; Keichswasserrechtsgcsetz § 16.

Mayrhofer, V„ S. 1287 ff.

*) Erkenntnis vom 27. Februar 1897, ßudwiüski Nr. 10.447.

§ 19 des istrian. Gesetzes vom 14. November 1864, L.-G.-B1. Nr. 18; § 14 des dalmat. Gesetzes vom 5. August 1892, L.-G.-BJ. Nr. 19.

J) Z. B. Gesetz vom 25. November 1900, L.-G.-Bl. für Galizien Nr. 16 ei 1901.

(l) Gesetz vom 11. Februar 1893. B.-G.-Bl. Nr. 22.

7) Gesetz vom 30. April 1870. R.-G.-Bl. Nr. 6s, $ 4, Ijt. «).

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Das F.'-rht der öffentlichen Arbeiten.

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ihrem Wirkungskreise zugewiesen sind, durch welche jedoch die Interessen der Gemeinde gewahrt, die Lösung von Aufgaben ihres Wirkungskreises gefördert und för die Sicherheit der Person und des Eigentums gesorgt werden soll. Es gehört liieher z. B. die Regulierung eines in der Gemeinde fließenden Wassers, welches den Dferbesitzern Schaden verursacht. Obwohl die Verpflichtung zur Tragung des obigen Aufwandes durch Wassergesetze den Interessenten auferlegt wird, ist die Übernahme der Arbeiten nicht außerhalb des Wirkungskreises der Gemeinde gelegen, wenn nur obige Bedingungen zutreffen.1)

Die unmittelbare Ausführung und Verwaltung der Gemeindearbeiten gehört in den Wirkungskreis des Gemeindevorstandes.

E. Die Wassergenossenschaften, welche durch freiwilligen Zusammen- tritt der Grundbesitzer oder auf Grund von Mehrheitsbeschlüssen zwangs- weise gebildet werden, sind Organe der betreffenden Grundbesitzer, deren Geschäfte sie verwalten. Öffentliche Verwaltungsorgane werden sie dann wenn sie durch ein Gesetz gebildet oder als solche anerkannt und dem öffentlichen Verwaltungswesen eingereiht worden. Die betreffenden Unter- nehmungen haben zum Zwecke:

1. den Schutz des Grundeigentums gegen Wasserverheerungen oder die Erhöhung der Ertragsfähigkeit der Grundstücke durch Entwässerung oder Bewässerung, deren Ausführung im öffentlichen Interesse liegt;*)

2. die unschädliche Ableitung von Gebirgswässern.*)

Aus dem Inhalte dieser besonderen Gesetze muß entnommen werden, ob und inwieweit auf derlei Verbände die Bestimmungen der Landeswasser- rechtsgesetze über Genossenschaften Anwendung zu finden haben. Es ist zwar möglich, daß eine solche Genossenschaft im Gesetzeswege gebildet und ihr nur allein die Durchführung der Arbeiten anvertraut wird : praktisch wird jedoch immer die Mitwirkung des Staates und des Landes eingreifen, durch welche besondere, im nächsten Abschnitte zu erörternde Verhältnisse geschaffen werden.

F. Die Ausführung öffentlicher Arbeiten durch den beliehenen Unter- nehmer weist im Verhältnisse desselben zur Staatsverwaltung und in der Aufbringung der Geldmittel wesentliche Unterschiede auf; deswegen ist es angezeigt, dieses Verhältnis in einem besonderen Abschnitte (VI) zu behandeln. Als Vorbild und Hauptgegenstand dieses Verhältnisses erscheint die Eisenbahnkonzession; andere Konzessionen haben nur eine untergeordnete Bedeutung.

Aus dieser Darstellung erhellt, daß nicht alle Arbeiten von jedem beliebigen Unternehmer verrichtet werden können. Der Staat, die Länder, die Gemeinden, die Konzessionäre u. s. w. können sich nur in dem ihnen gesetzlich zugewiesenen Wirkungskreise bewegen. Der Unternehmer muß

*) Erkenntnis iles Verwaltungsgerichtshofei vom 30. März 1887, Budwinski Nr. 8464. Für Dalmatien: Gesetz vom 25. Juli 1885, L.-G.-B1, Nr. 22.

*) § 1 des Gesetzes vom 30. Juni 1884, R.-G.-B1. Nr. 116.

*)5 9 des Gesetzes vom 80. Juni 1884, R.-G.-B1. Nr. 117.

Zeiuchrift für Volkawlrucbaft, 8ogi«Jp»1ltik and Verwaltung. XII. Bao<I. 12

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Breni**wicT.

zur Ausführung der Arbeit die öffenUichrecbtUche Befugnis besitzen; ohne diese Berechtigung kann er nicht ein Stück der öffentlichen Verwaltung führen, und die Arbeiten außerhalb dieses Wirkungskreises sind keine öffent- liche Arbeiten. Diese Berechtigung hat ihre Quelle in gesetzlichen Vor- schriften ; sie ist natürlicherweise am umfangreichsten heim Staate : hei anderen Verwaltungskörpern wird sie sachlich und örtlich viel enger.

Einige dieser Arbeiten sind dem Staate ausschlielilich vorbehalteif, wie der Bau der Telegraphen- und Fernsprechleitungen1) sowie der Festungen. Auf sonstigen Gebieten wirkt der Staat mit anderen Unternehmern iz. B. heim Eisenhahnbaue mit Landern und anderen beliehenen Unternehmern) zusammen.

II. Pflichtgemäße und freiwillige Arbeiten.

Um öffentliche Arbeiten in Angriff' zu nehmen, muß beim Unternehmer uußer der Berechtigung noch der Wille hinzutreten. Der Privatunternehmer kann sich immer frei entschließen, ob er eine Arbeit ausführen will; er kann im Zuge der Arbeit die weitere Ausführung aufgehen, weil der Beschluß und dessen Betätigung in einer Person vereinigt erscheinen. Anders verhält es sich beim Unternehmer öffentlicher Arbeiten, wo diese zwei Handlungen getrennt sind. Die Beschlußorgane der Verwaltungskörper bestimmen, oh gewisse öffentliche Arbeiten vorgenommen werden sollen, und bewilligen die nötigen Mittel. Die Verwaltungsorgane hingegen besorgen die Durchführung sowie die gesamte technische und ökonomische Ver- waltung öffentlicher Arbeiten. Sie sind an die Bestimmungen der Beschluß- Organe gebunden. In welcher Form der Ausfülirungsheschluß zur Erscheinung kommt und inwieweit er an bestehende Gesetze und erlassene Verwaltungs- anordnungen gebunden ist, hängt von der inneren Einrichtung des betreffenden Verwaltungskörpers ab.

.1. Die Durchführung öffentlicher Arbeiten auf Staatskosten setzt immer ein die Regierung hiezu ermächtigendes Gesetz voraus.*) Deswegen sind alle öffentlichen Arbeiten des Staates obligatorisch, d. h. durch das Gesetz angeordnet. Diese gesetzliche Ermächtigung wird entweder für ganze Gattungen von Arbeiten (z. B. Wegebau. Flußregulierungen) oder für ein- zelne Arbeiten erlassen. Wenn in einem gewissen Zweige der Verwaltung genaue Vorschriften über die Ausführung öffentlicher Bauten bestehen, ist zur Vornahme derselben nur die Einstellung der bewilligten Ausgabe in den Staatsvoranschlag ausreichend: das gilt insbesondere für Straßen- und Brflckenbauten. Wasserregulierungs- und Meliorationsbauten, Befestigungs- und Hafenbauten. Telegraphen- und Fernsprechleitungen, schließlich für alle Arbeiten, welche nur die gewöhnliche Instandhaltung5» der bestehenden

*) Hofkanzleidekret vom 25. Jänner 1847, P. G.-S. 9, und Gesetz vom 29. Dezember 1892, R -G.-Bl. Nr. 234.

*) Ähnlich auch in Frankreich. (Gesetz vom 27. Jnli 1870.)

*) Französische Ordonnanz vom 10. Mai 1829. Art. 3 nnd 4.

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Das Recht der Öffentlichen Arbeiten.

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öffentlichen Hauten betreffen und aus der Jahresbandotation für den laufenden Verwaltungsdienst bestritten werden. Wenn es sich hingegen :

a) um größere Herstellungen handelt, welche nicht in den gewöhnlichen

Einkünften des Staates ihre Bedeckung finden, also den Kredit in

Anspruch nehmen ;

b) um Festsetzung eines Bau- und Investitionsprogramms für längere Zeit;

r) um Bauten, für welche keine allgemeine Vorschriften bestehen, ist

ein Spezialgesetz erforderlich ;

(1) dasselbe gilt vom Baue einer neuen Eisenbahn auf Staatskosten.

Die diesbezüglichen besonderen Gesetze enthalten die Bezeichnung der Arbeiten und die nähere Spezialisierung der Ausführungsart, weichen aber bezüglich des sonstigen Inhalts wesentlich voneinander ab. In der Mehrheit der Fälle wird der Höchstbetrag der Errichtungskosten angegeben, dann die Endfrist der Vollendung der ganzen Anlage oder der einzelnen Teile; häufig gesellt sich hiezu die Bewilligung des erforderlichen Kredits für die Vorarbeiten und die Bedeckungsweige desselben, endlich die Bestim- mungen, betreffend die eventuelle Betriebsführung. ’)

II. Bei Selbstverwaltungskörpern ist das Verhältnis des Beschlußwillens teilweise in anderer Art und Weise geregelt.

1. Es gibt oft Vorschriften, welche den betreffenden Selbstverwaltungs- körper zur Vornahme gewisser Arbeiten verpflichten. Zn diesen Arbeiten zählen die Landes-, Bezirks- und Konkurrenzstraßen, Gemeindewege und -kanäle. Wird die Arbeit nicht verrichtet, so tritt die Einstellung der not- wendigen Auslagen im Voranschläge von Amts wegen ein oder die zwangs- weise Durchführung auf Kosten des Verpflichteten.

2. Die Verrichtung anderer Arbeiten ist dem freien Entschlüsse des Selbstverwaltungskörpers überlassen. Sie bilden ein weites Gebiet, auf welchem die Tätigkeit der Selbstverwaltung die größten Dienste der Öffentlichkeit bieten kann. Der Beschluß eines Verwaltungskörpers, betreffend die Schaffung einer öffentlichen Anlage, bindet ihn selbst als eine freiwillige Übernahme der Last.

Bezüglich der Voraussetzungen für die Gültigkeit des Ausführungs- beschlusses läßt sich auf La u d e s a r b e i t e n alles anwendeu. was über die Staatsarbeiten oben gesagt wurde. Wenn ein Gebiet der öffentlichen Arbeiten durch allgemeine Gesetze beherrscht wird (wie der Wege- und Eisenbahnbau), so ist zu einzelnen Arbeiten auf diesem Gebiete nur die Bewilligung der Mittel im L&ndesroranschlage erforderlich; sonst muß ein Gesetz erlassen werden. Diese besonderen Gesetze kommen gewöhnlich nur auf dem Gebiete der Wasserbauten vor; diese Bauten werden jedoch vom Lande allein ohne Beteiligung anderer Faktoren nicht verrichtet ; das besondere Verhältnis dieser Mitwirkung wird im nächsten Abschnitte behandelt.

In jenen Kronländern, wo Bezirksvertretungen bestehen, beschließt der Bezirksrat über die Notwendigkeit und die Errichtung neuer Anlagen. Zur

!) Dem ausgezeichneten Aufsätze von Bröf im St&&t*wOrterbueh von Miachler, 1., 8. 340, entnommen.

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IfiO

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Wirksamkeit der Besclilüsse, durch welche die Zuschläge zu den unmittel- baren Steuern über 15 Proz. beziehungsweise 20 Proz. erhöht oder größere Darlehen aufgenommen werden sollen, ist die Genehmigung des Landes- ausschusses beziehungsweise ein Landesgesetz erforderlich.1) Wenn die Bezirksvertretung die Krrichtung oder Unterhaltung der nötigen Bezirksstraßen verweigern sollte, hat die Statthalterei auf Kosten und Gefahr des Bezirkes die entsprechende Abhilfe zu treffen. In anderen Ländern, wo die Bezirks- vertretungen nicht bestehen, bleibt die Bestimmung über Anlage neuer Konkurrenzstraßen oder Auflassung derselben der Landesvertretung (Gesetz oder Beschluß) Vorbehalten.

Bezüglich der öffentlichen Arbeiten einer Gemeinde beschließt die Gemeindevertretung über die Herstellung. Abänderung und Auflassung der Anlagen.8) Die Gemeindevertretung kann ohne weitere Genehmigung die Inangriffnahme aller Arbeiten beschließen, wenn sie die ordentlichen und außerordentlichen Einnahmen der Gemeinde nicht Übersteigen.*) Wenn die notwendigen Auslagen höher sind, wenn sie besondere Einnahmequellen in Anspruch nehmen oder die Aufnahme eines Darlehens notwendig machen, muß der Auslagebeschluß der Genehmigung der Aufsichtsbehörde unter breitet werden.4) Diese Behörde hat also auf die Entwürfe und Ausführungsart nur einen mittelbaren Einfluß. In Frankreich ist dieser Einfluß unmittelbar, da in diesem Falle die Entwürfe, die Voranschläge und alle Urkunden vom Präfekten bestätigt werden müssen.5)

Die öffentlichen Arbeiten der Gemeinde werden vom Gemeindevorstande, und zwar im selbständigen Wirkungskreise ausgefflhrt.

Daraus erhellt, daß alle öffentlichen Arbeiten auf Grund einer öffent- lichen Verpflichtung ausgeführt werden; die unternehmende Verwaltung hat uicht nur das liecht, sondern auch die Pflicht zur Ausführung der öffentlichen Arbeiten. Diese Verpflichtung kann ihre formelle Quelle entweder im Gesetze oder in einem bindenden Beschlüsse eines Selbstverwaltungskörpers haben.

III. Rechte und Obliegenheiten des Unternehmers.

Der Unternehmer ist der Träger der betreffenden öffentlichen Arbeit.

A. Er ist verpflichtet, die Arbeiten auf seine Kosten durchzuführen, wenn nicht etwas anderes im einzelnen Falle bestimmt wurde. Zahlreiche Ausnahmen von dieser Kegel werden im folgenden Abschnitte eingehend behandelt. Die Mittel zur Ausführung der öffentlichen Arbeiten werden auf verschiedene Art aufgebracht;

*) Benirkavertretongsgesetze für Böhmen §$ 54 nnd 55, für Galizien §§ 23 onJ 24, für Steiermark §§ 53 nnd 54. in dem durch nachträgliche Gesetze abgeänderten Wortlaute.

*) § 80 beziehungsweise 31 der Geineindegesetze.

3t Französisches Gemeindegesetz Art. 139 und 141.

4I Sieh die betreffenden, im Wortlaute sehr voneinander abweichenden Gemeinde- gesetze und Novellen im Handbuche von Mayrhofer, II., S. 016 bis 671, 682 bis 699.

s) Französisches Gemeindegesetz Art. 1 14 nnd 115 und Ordonnanz vom 14. November 1887. Art. 10.

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Dm Recht der Öffentlichen Arbeiten. |til

1. Die notwendigen Kosten können aus den laufenden Einkünften des Unternehmers bestritten werden. Bei Bauten, welche mehrere Jahre dauern, werden auch die Kosten auf mehrere Jahre verteilt und alljährlich in den Voranschlag eingestellt Dieser Fall bildet die Kegel bei den Erhaltungs- arbeiten oder bei kleineren Neubauten, welche ihre Bedeckung in den ordentlichen Einkünften des Unternehmers finden.

2. Die Kosten der öffentlichen Arbeit werden im Wege einer Kredit- operation gesammelt. Das Anlehen wird entweder vom Unternehmer selbst aufgenommen oder dessen Aufnahme durch eiu Kreditinstitut mittels Über- weisung der Verzinsuugs- und Tilguugsannuitäten an dieses letztere durch- geführt. Der Gebrauch solcher Anlagen kann entweder unentgeltlich den Bürgern überlassen oder mit einer Abgabe belegt werden. Diese Abgabe dient zur Aufbringung aller Herstellungs- und Ei haltungskosten oder nur zur Deckung der letzteren. So sind bei Staatsbahneu, Telegraphen- uud Fernsprecbanstalten die Beförderungsabgaben, bei SchiffahrtskauiUen die Kanalgebübren eingeführt. So werden auch zur Deckung der Kosten der Herstellung, Erhaltung und Verwaltung der städtischen Kanüle und Wasser- leitungen Kanaleinmündungsgebühren und Wasserzinse eingehoben. Zur Instandhaltung der lindes-, Bezirks- und Gemeindewege dienen die ilaut- gebübreu. Die Erhebung der Abgabeu kann uur auf Grund einer Ermächtigung erfolgen, welche in allgemeinen oder in besonderen Gesetzen enthalten ist.

Dem Unternehmer liegen auch die Kosten für die fernere Erhaltung des Werkes ob.1) Wenn das Eigeutum der Anlagen auf Grund eines Gesetzes auf jemanden anderen übergeht, übernimmt der neue Eigentümer auch die Lasten der weiteren Erhaltung.*) Dieser Fall kommt oft bei Übertragung öffentlicher Staatsstralien an Selbstverwaltungskörper vor.“' ln einzelnen Fällen kann jedoch die Pflicht zur Erhaltung der Anlagen im Wege eines Gesetzes oder eines Übereinkommens in anderer Weise geregelt werden.4'

li. Der Unternehmer bestimmt die Art der Ausführung, wenn sie nicht gesetzlich vorgesebrieben ist. Er kann sie nämlich in eigener Kegie ausführen oder die Ausführung im Vertragswege vergeben. Er bestellt die Organe der Bauleitung beziehungsweise auch der Bauführung. besorgt die Abnahme der Arbeiten und die Verrechnung des Baufonds. Der Unternehmer übt die Rechte der öffentlichen Verwaltung dritten Personen gegenüber. Er legt die Entwürfe der Arbeiten vor, nimmt in Anspruch die Grundstücke und Hechte, welche zu Gunsten des Unternehmens enteignet beziehungs- weise belastet werden sollen, und betreibt die Krlassuug betreffender Anord-

') Eisenbabnbetriebsorduung § 3; §§ 4b. 44 und 85 der meisten Was.errechfcs- geeelze; Wildbachverbaunugsgesetz $ 18.

§ des Gesetzes vom 4. Jänner 18'J‘J, K..G.-B1. Nr. 5, betreffend die Donau- regulierung.

») Gesetz rom 21. Mai 1874, R.-G.-Bl. Nr. 78, vom 21. März 1876, K -G.-Bl Nr. 46; preuüisches Gesetz vom 8. Juli 1875, 4 18, Abc. 2; italienisches Gesetz über Öffentliche Arbeiten Art. 11 und 88.

4 Wildimcbvcrbauungigcsetz 4 18.

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Bresiewict.

nungen seitens der Staatsbehörde. Anderseits übernimmt er auch die l’tlicht zur Zahlung einer Geldausgleichung für alle durch die Ausführung der öffentlichen Arbeiten in ihren Hechten betroffenen Personen und die Pflicht zur Ausführung der Arbeiten im Sinne der darüber bestehenden Vorschriften.

Der Unternehmer erwirbt grundsätzlich das Eigentum der geschaffenen Anlagen, wenn nicht anders durch ein Spezialgesetz angeordnet wurde, ln jedem Falle bleibt der öffentliche Charakter der Anlagen und deren Zugäng- lichkeit für jedermann, der dieselben unter den hiefür vorgeschriebenen Bedingungen benutzen will, immer aufrecht.1) Der Unternehmer verwaltet schließlich die fertig gestellte Anlage den allgemeinen oder den für den einzelnen Fall erlassenen Vorschriften gemäß.

III. Verhältnis der Verwaltung zu Drittem.

Aus der Nachbarschaft der Grundstücke ergeben sich für die Anrainer verschiedenartige Eigentumsbeschränkungen, welche den wechselseitigen Bedürfnissen der Grundnachbarn Rechnung tragen, ihr wirtschaftliches Interesse gegenseitig fördern und in Kollisionstallen in billiger Weise aus- gleichen.*) Dieses sogenannte Nachbarrecht umfaßt:*) n) die Beschränkungen der Benutzung des Eigentums durch Verbot unmittelbarer Eingriffe in das Eigentum des Nachbars und Duldung der gewöhnlichen Immissionen ;

b) Duldung gewisser Vorkehrungen zu Gunsten des Nachbars oder seiner Handlungen, wie die Errichtung der Notwege. Verfolgung flüchtiger Tiere u. s. w. ;

r) Verpflichtung zu wirklichen Leistungen zu Gunsten des Nachbars, wie Erhaltung verfallender Mauern und Planken, Zurüekleitung des unverbrauchten Wassors in das ursprüngliche Bett u. s. w.

Das Rechtsverhältnis bleibt vollkommen gleich, wenn auch die Ver- waltung des Staats-, Landes- oder Gemeindevermögens als Nachbar auftritt.*) Die daraus entstehenden Ansprüche können in der Regel im Rechtswege geltend gemacht werden.

Wenn aber diese Verwaltungsverbüude oder andere Personen öffentliche Arbeiten ausführen, sind die privatrechtlichen Grundsätze des Nachbarrechtes nicht anwendbar. Die öffentlichen Arbeiten als ein Stück der Verwaltung bringen die Grundsätze des Verwaltuugsrechtes zur Bestimmung des Ver- hältnisses der Verwaltung zu dritten Personen mit Deswegen bestehen besondere Vorschriften sowohl bezüglich der Nachteile als auch der Vor- teile. welche den Anrainern durch öffentliche Arbeiten entstehen ; sie lassen sich in folgende Gruppen zusammenfassen : Enteignung, Duldung von Lasten und Verrichtung von Leistungen, Beschädigungen und Zwangsbeiträge.

') S 12 de* Gesetzes vom 4. Jänner 1899, R.-G.-B1. Nr. 5.

*) Banda: Kigentmnsrecht S, 104, Note S.

*) Stubenrauch: Kommentar 1902, 1.. S. 486 bis 441.

*) § 290 des a. b. G.-B.

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Das Recht ler nft'entliclieu Arbeiten.

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A. Enteignung.

Die Enteignung ist ein obrigkeitlicher Eingriff in das Eigentum, um es dem Untertanen ganz oder teilweise aus Gründen des öffentlichen Wohles zu entziehen. Die meisten Enteignungen finden wohl zu Gunsten eines öffentlichen Unternehmens statt: diese beiden Begriffe decken sich jedoch nicht immer.*) Es gibt eine bedeutende Anzahl von Fällen, in welchen die Enteignung zur Förderung der ökonomisch wichtigen privatwirtschaftlichen Vorteile gewährt wird, wie für Bergbau-, Bewässerung^- und Wasserleitungs- zwecke. Anderseits ist die Enteignung nicht ein notwendiges Merkmal der öffentlichen Arbeiten ; sie können auch ohne Enteignung ausgeführt werden, wenn die Ausführung auf dem Grund und Boden des Unternehmers erfolgt, z. B. eine Trambahn auf städtischen Straffen.

Vom rechtlichen Standpunkte wäre es möglich, dali öffentliche Anlagen auf fremdem Grund und Boden ohne Enteignung ausgefflhrt werden. Wenn keine begründete Zweifel bestehen, dall der für Errichtung des Zweckes der Arbeit erforderliche Zustand dauernd nicht erhalten werde, wird zur Ent- eignung nicht geschritten.1) Den Untertanen wird nur so viel genommen, als unumgänglich notwendig ist um die Zustandebringuug und den Betrieb des öffentlichen Unternehmens zu ermöglichen. Sur wenn sich die Rechte des Untertans der Ausführung einer öffentlichen Arbeit derart eutgegenstellen, dall die Ausführung ohne Eingriff in diese Rechte unmöglich wird, müssen die Frivatrechte weichen: denn es handelt sich hier um die öffentliche Verwaltung.

Das Enteignungsrecht umfaßt insbesondere3) das Recht:

1. auf Abtretung von Grundstücken:

2. auf Überlassung von Quellen und Privatgewässern ;

:t. auf Einräunuug von Dienstbarkeiten und anderen dinglichen Rechten an unbeweglichen Sachen sowie auf Aufhebung derartiger Rechte;

1. auf Duldung der Beschränkungen des Eigentumsrechtes oder auderer Hechte an einem Grundstücke.

Die Enteignung ist also lediglich gegen das Eigentum an Grundstücken gerichtet. Der Enteignungsanspruch des Unternehmers richtet sich weiter nur gegen das privatrechtliche Eigentum ; wenn die Sache dem privatreclitlichen Verkehre entzogeu ist, wenn sie bereits einem öffentlichen Interesse dient (z. B. das öffentliche Gut), kann sie nicht zwangsweise einem anderen öffent- lichen Gebrauch gewidmet werden die Enteignung wird unmöglich.*)

*) Wie es Otto Mayer (Deutsches Verwaltungsrecht, II., S. 3} definiert. Auch Grän hat (Enteignungsrecht, S. 3i stellt „die Übertragung in das öffentliche Gut“ als wesentlich für die Enteignung auf.

*) Wildbachverbaunngpgesetz § 4.

*) EUenbahnkonzessionsgesetz § iit, c)\ Gesetz vom 18. Februar 1878, K.-G.-B1. Nr. 30, § 2. Reichswasserrechtsgeseti § 15; Wasaerrechtogesetze: § 29 des kraiu.. § 43 steiennftrk , § 44 bukow., § 49 böhm., § 48 sonstiger Gesetze; § 14 des Melioration*- gesetzes von 1884; § 18 des Gesetzes vom 11. Juni 1901, R.-G.-Bl. Nr. 66.

4) Grünhut: Enteignungsrecht S. 76 ff. Otto Mayer: Deutsches Verwaltuugs- reeht II. , 8, 23. Die entgegengesetzte Meinung behauptet Praftäk (Das Recht der Ent- eignung, Prag, 1877, S. 75 ff).

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Bresiewicz.

Wenn zum Bau einer öffentlichen Anlage die Mitbenutzung des öffentlichen Gutes oder eines öffentlichen Werkes notwendig erscheint, so muß ein Übereinkommen mit dem Verwalter des Gutes geschlossen werden.1) Das gilt insbesondere für Lokalbahnen*) auf Landes- oder Bezirksstraßen, Tram- bahnen auf städtischen Gassen und Gasleitungen.

Der Enteignungsausspruch wird ausschließlich von staatlichen Ver- waltungsbehörden gefällt, ohne Rücksicht darauf, ob der Staat, die Selbst- verwaltungskörper oder der Konzessionär als Unternehmer auftreten. Die letzteren haben nur einen Anspruch auf AusQbung des Enteignungsrechtes durch den Staat’) und können die betreffenden Anträge stellen; selbst enteignen können sie nicht.*) Die Amtshandlungen bei der Enteignung umfassen folgende Tätigkeiten :

1. Anerkennung der Zulässigkeit der Enteignung;

2. Bezeichnung der in Anspruch genommenen Grundstücke und Rechte;

8. Verhandlung bezüglich des Gegenstandes und Umfanges der Ent- eignung ;

4. Fällung der Enteignungserkenntnisse;

5. Feststellung der Geldausgleichung;

6. Vollzug der Enteignung.

Die Zulässigkeit der Enteignung muß immer durch ein Gesetz aus- gesprochen werden. Sie erfolgt entweder für ein besonders bezeichnetes Unternehmen oder im allgemeinen für eine Gattung von Unternehmungen. Im letzteren Falle wird von der Regierung ausgesprochen, daß das beab- sichtigte Unternehmen allgemein nützlich ist und das Enteignungsrecht in Anspruch nehmen kann. Die Bezeichnung der zu enteignenden Gegenstände ist Sache des Unternehmers. Auf Grund der von ihm vorgelegten Verzeichnisse wird ein Ediktalverfahren eingeleitet und über die Not- wendigkeit, den Gegenstand und Umfang der Enteignung verhandelt Auf Grund dieser Verhandlung fällt die Verwaltungsbehörde die Enteignungs- erkenntnisse.5)

r) Eisenbahnkonzessionigesetz § 10, lit. d).

*) Gesetz vom 31. Dezember 1894, K.-G.-Bl. Nr. 2 ex 1895, Art XIV.

*) W. v. Rohland: Zar Theorie and Praxis des deutschen Enteignungsrecbtes, Leipzig, 1875, S. 14.

4) v. Rohland bemerkt ($. 12j mit Recht, daü die „Verleihung des Entciguaugs- rechtes“ an den Unternehmer nie stattfindet, obwohl sie von Gesetzen ausgesprochen wird.

*) Tn Frankreich wird die Erklirung der öffentlichen Nützlichkeit vom Gesetze oder einem Dekrete ausgesprochen; die zu enteignenden Grundstücke werden vom Prä- fekten bezeichnet. Die Enteignung kann nur der Gerichtshof ausspreilien, wobei er zu untersuchen hat, ob die gesetzlichen Formen des Verfahrens eingehalteu wurden. Der Ausgleichungsbetrag wird von Geschworenen festgestellt; nach Zahlung oder Hinter- legung des Betrages ist der Antragsteller der Enteignung zur Besitznahme des Grund- stückes ermächtigt (Gesetz vom 3. Mai 1841). In Italien wird der Enteignungsplan vom Präfekten bestätigt und die Höbe des Ersatzes über Anordnung des Bezirksgerichtes von drei Sach verständigen festgestellt; nach Zahlung oder Hinterlegung des bestimmten Betrages wird die Enteignung vom Präfekten ausgesprochen und der Enteigner zur Besitzergreifung der Grundstücke ermächtigt (Gesetz vom 25. Juni 1865).

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Daa Recht der öffentlichen Arbeiten.

165

Die Enteignung legt dem Betroffenen eine Lust auf, welche ihm allein einen Vermögensnachteil verursacht; da jedoch die öffentlichen Lasten im Staate gleichmäßig verteilt werden sollen, wird dem Betroffenen vom Unter- nehmer der Wert der entzogenen Sache entrichtet und dadurch eine Aus- gleichung der Vermögenswirkungen der Enteignung bewirkt.

Das ist die Idee, welche die Zahlung des Wertes der euteigneteu Sache an den Eigentümer vermittelt. Das Wort .Entschädigung*, welches in den Gesetzen und in der Wissenschaft') anstatt .Ausgleichung* benutzt wird, ist zu verwerfen, weil es notwendig den Eindruck hervorruft, als ob dem Eigentümer durch die Enteignung ein Schaden zugefügt worden wäre.

Die Entziehung des Eigentums und der dinglichen Rechte veranlaßt wohl einen vermögensrechtlichen Nachteil wie jede Steuerzahlung ; sie ist aber so wie diese keine eigenmächtige Beschädigung, sondern Auflegung einer öffentlichen Last.

Die endgültige Ermittlung und Feststellung der Ausgleichungen erfolgt immer auf gerichtlichem Wege. Da jedoch die Gesetze über öffentliche Arbeiten aus verschiedenen Epochen stammen, liefern sie ein buntes Bild verschiedener Systeme.

1. Es kommt vor, daß die Ermittlung der Ausgleichung ausschließlich auf gerichtlichem Wege erfolgen kann : die maßgebenden Tatumstände werden nach den Grundsätzen des Verfahrens außer Streitsachen an Ort und Stelle unter Zuziehung von Sachverständigen erhoben und der Aus- gleicbungsbetrag vom Gerichte festgestellt. Als Vorbild dient das Gesetz vom 18. Februar 1878, K.-G.-Bl. Nr. 30, betreffend die Enteignung zum Zwecke der Herstellung und des Betriebes von Eisenbahnen.*)

2. Bedeutend öfter sind jedoch Fälle, in welchen die Ausgleichuugs- ansprnche vorläufig im Verwaltungswege festgesetzt werden.*) Jedem, welcher sich durch die Entscheidung der politischen Behörde über eine Ausgleichungs- frage nicht für befriedigt hält, stellt es frei, die gerichtliche Ermittlung der Ausgleichung zu begehren. Diese erfolgt;

a) entweder unter sinngemäßer Anwendung der für die Eisenbahnen

geltenden Vorschriften;1)

') Otto Mayor (Deutsches Verwaltungsrecht, II.. 8. 13 ff., 345 ff.) erfaßt das Wesen der Geldausgleichang ganz richtig, macht aber die Darstellung unklar durch Anwendung der dem Privatrechte entlehnten Ausdrücke.

*) Gesetz über die Regulierung des Assanierungsrayons von Prag rom 11. Februar 1893, R.-G.-B1. Nr. 22. 23 ff.; Geseta, betreffend die Donaureguliernng, vom 4. Jänoer 1899, R.-G.-B1. Nr. 5. § 16; Gesetz, betreffend den Bau von Wasserstraßen, vom 11. Juni 1901, R.-G.-B1. Nr. 66, 6 13.

9) Z. B. bei Enteignungen rum Straßenbau (Hofkanzleidekret vom 27. September 1793. P.G.-S. Bd. 3, S. 38, vorn 11. Oktober 1821, P. G.-S. Bd. 49, S. 306, und Ver- ordnung des Ministeriums des Innern vorn 21. April 1857, R.-G.-Bl. Nr. 82, § 2;, bei der Wildbacbverbanung (Gesetz g 14) und bei Wasserbauten (Gesetz vom 30. Mai 1869, B.-G.-Bl. Nr. 93. g 17).

4) Wildhachverbauungsgeaetz >8 15 und 16.

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lfifi

Bresiewicz.

h) oder durch gerichtliche« Befund nach den Gruudsfitzen des Etit-

eignungsverfahrens: *)

e) oder schließlich im ordentlichen Rechtswege.1

Die Zuständigkeit der Gerichte zur Ermittlung der Ausgleiehungs- heträge ändert nicht den öfl'entlichiechtlichen Charakter der Forderung.

Der Vollzug der Enteignung ist erst nach Entrichtung der festgestcllteu Geldausgleichuug zulässig: er wird durch Übergang des Eigentums an einen dritten oder Anfechtung der Feststellung des Ausgleichungsbetrages im Rekurswege nicht gehemmt. Auf Ansuchen des Unternehmers hat die poli- tische Behörde die zwangsweise Einführung des Unternehmers in den Besitz der enteigneten Liegenschaften zu veranlassen. Die unmittelbare Ver- wendung fremden Grund und Bodens zu ötfentliciieu Bauzwecken ist nicht anders als nach durchgeführter Enteignung statthaft und die politischen Behörden sind lediglich zum Ausspruche und zur Durchführung der Ent- eignung berufen. Wenn also die unmittelbare Verwendung fremden Besitzes zu Bauzwecken ohne Enteignung stattgefunden hat, ist es eine eigenmächtige Handlung, über dereu Folgen im ordentlichen Rechtswege abgesprocheu wird.3»

H. Duldung von Lasten und Verrichtung von Leistungen.

Die Unternehmer öffentlicher Arbeiten sind verpflichtet.4) allen Bau- anlagen eine so entsprechende Rinrichtuug und Ausführung zu geben, daß die angrenzenden Gebäude und Grundstücke gegen jeden Nachteil sieber- gestellt sind. Ungeachtet dessen ist gewöhnlich die Errichtung der öffent- lichen Anlagen ohne Eingriff in die benachbarten Grundstücke unausführbar. Auf diese Eingriffe können die Grundsätze der Enteignung nicht angewendet werden, weit sie keine vollständige Entziehung des Eigentums der Grund- stücke und keine Einräumung dinglicher ständiger Rechte veranlassen. Diese Eingriffe sind öffentliche Lüsten, Ober deren Zulässigkeit im einzelnen Falle die politischen Behörden entscheiden. Sie können vorübergehend oder ständig, mittelbar oder unmittelbar sein und sind von den Verwaltungs- gesetzen folgendermaßen geregelt:

1. Der Eigentümer muß unschädliche Änderungen seiner Liegenschaften unentgeltlich dulden. Infolge der Straßengesetze sind die Besitzer der an öffentliche Straßen anstoßenden Grundstücke gehalten, die Pflanzung von Baumalleen3) von Seite der Gemeinde längs des Straßenzuges auf ihren Gründen zu gestatten. Im Verbauuiigsgehiete der Wildbäche*) muß der Besitzer dulden, daß die zur Herbeiführung des zweckentsprechenden

*) Keichsgeaetz über du Wasserrecht g 17.

*l Bei Enteignungen für fttraRenzwecke (vcrgl. oben angeführte Vorschriften).

3) Erkenntnis des Venvaltungsgerichtahofee rum 9. Juli 1885. Budwiüsk i Nr. 9656 und 2657.

*) Eisenbatiukonzessionsgezetz § 10 lit. b).

3) I)aa Eigentum der Bäume steht selbstverständlich stete dem Grundbesitzer zu fg 420 a. b. G.-lS.i. Banda: Das Eigentum S. 108.

4j Wildbaehverbauungagesetz § 6.

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Das Keeht der öffentlichen Arbeiten.

1R7

Zustandes diese» Grundstücke» festgestellten Vorkehrungen i z. B. Herstellung von Sickergräben oder anderen Entwässerungsanlagen, Aufforstung, Berasung u. s. w.) durchgeführt werden. Für Meliorntionsunternehinungen kann die teilweise Entziehung des Wassers stattfinden, wenn gleichzeitig durch eine auf Kosten der Unternehmer auszuführende Änderung der Vorrichtung zur Wasserbenutzung der vorbestandene Nutzerfolg ungeschmälert erhalten und für den mit dieser Änderung etwa verbundenen Mehraufwand zu ßetriebs- oder Erhaltungskosten angemessene Entschädigung geleistet wird.')

Die Eisenbahnuuternehmungen haben die Errichtung einer Stuatstele- graphenleitung längs der Eisenbahn auf ihrem Grund und Boden unentgelt- lich zu gestatten.’) In anderen Ländern’) ist die Telegraphenverwaltung außerdem befugt, nicht nur die öffentlichen Wege. Plätze. Brücken, öffent- liche Gewässer und deren Ufer für ihre Leitungen zu benutzen, sondern auch die betreffenden Telegraphenlinien durch den Luftraum beliebiger Grundstücke zu führen. In Frankreich4) und in Italien '■ ist auch die zwangs- weise Inanspruchnahme der Privatgrundstflcke zur Aufstellung der Stangen und die sonstige Anbringung von Stützpunkten für die Leitungen an Gebäuden gestattet, insoweit sie von außen zugänglich sind. Ein Geldersatz wird nur für Erschwerung der Instandhaltung, für Beeinträchtigungen in der Benutzung des Grundstückes oder Hauses und für wirkliche Beschädigungen gewährt. Diese Ersatzansprüche werden vorläufig von der Verwaltungsbehörde, end- gültig vom Gerichte festgestellt.

2. Zar Ausführung und Instandhaltung der öffentlichen Bauten. müssen die Grundeigentümer die Benutzung der zur Zufuhr, Ablagerung und Bereitung der Materialien sowie zur Herstellung der Uuterkunftsräume für die Bau- leitung und die Arbeiter erforderlichen Grundparzellen gestatten.'1 Für die mit diesen Gestattungen verbundenen Nachteile haben die Grundbesitzer Ansprnch auf angemessenen Ersatz.

Materialien, welche zu den Herstellungen notwendig sind und auf den zum Arbeitsfelde gehörigen oder benachbarten Grundstücken vorhanden sind, müssen vou den Eigentümern zu diesem Zwecke gegen einen ange- messenen Preis überlassen werden.’) Bei Straßen und Eisenbahnen beschränkt sich das Hecht auf Gewinnung des notwendigen Schüttungsrohsteines und Schottermateriales.®) Obige Lasten werden in der Gesetzgebung als eine

') § 14 des Meliorationsgesetzes von 1884.

7 Eisenbahnkonzessionsgesetz § 10, lit. h).

*) Deutsches Telegraphenwege-Gesctz vom 1». Dezember 1809, gg 1 und 12.

*) Gesetz vom 28. Jnli 1885, Art. 8.

Gesetz vom 7. April 1892, Art. 5.

*) Wildbachverbauungsgesetz g 8; Wasserrecbtsgesetze: § 30 kraiu., § 44 Steier- mark. und niederOtterr., § 45 bukow., 5 50 bölim., § 49 sonstiger Gesetze: Gesetz vom 18. Februar 1878 (betreffend die Enteignung für Eisenbalinzwcckel, g 3.

’) Wildbachverbaunngsgesetz § 3; Wasserrechtagesetze : § 29 krain., g 48 Steier- mark., g 44 bukow., { 49 bObm-, g 48 sonstiger Gesetze.

*) Hofkauzleidekret vom 11. Oktober 1821, P. G.-S. Bd. 49, S. 306; Gesetz vom 18. Februar 1878, g 3.

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1«R

ßresiewicz.

teil- und zeitweise Enteignung betrachtet und dementsprechend behaudelt.1) In Frankreich wird der Geldersatz vom Präfekturrate, *) in Italien vom Präfekten3) auf Grund eines Sachverständigenbefundes festgestellt. Es gelten jedoch Oberall folgende Beschränkungen :

dj Das liecht, die Abtretung eines Grundstückes zu einer vorübergehenden Benutzung zu begehren, erstreckt sich weder auf Gebäude noch auf solche Grundstücke, deren Substanz durch die beabsichtigte Benutzung voraussichtlich wesentlich uud dauernd verändert würde. b) Die zeitweise Benutzung darf nicht länger dauern als sechs Monate nach dem Zeitpunkte der Beendigung der Arbeiten und zum Zwecke der Iustandhaltungsarbeiten nicht länger als zwei Jahre.

3. Für die Zwecke der Errichtung und Iustaudhaltuug der öffentlichen Anlagen sind die Eigentümer der angrenzenden Grundstücke in ihrem Gebrauchsrechte au gewisse MaUregeln gebunden. In der Umgebung öffent- licher Anlagen dürfen von den Anrainern Anstalten nicht getroffen oder Herstellungen nicht ausgefübrt werden, welche den Bestand der öffentlichen Bauten, ihres Zugebörs oder die regelmäßige und sichere Benutzung der- selben gefährden oder eine Feuersgefahr herbeiführen könnten, ln der Nähe von Straßen und Eisenbahnen') sind alle Handlungen verboten, welche diese Anlagen beschädigen könnten, wie das Austreiben des Viehes auf die Weide, Lagerung von feuerfangenden Stoffen, Anlegung und Abtreiben von Waldungen, die Gewinnung von Schotter, das Graben von Lehm uud überhaupt jede Auflockerung des Erdreiches. Bei Anlegung neuer Straßen, welche durch Waldungen führen, oder bei Anlegung neuer Wälder und Aufforstung abge- triebener Waldflächen ist eine gewisse Bodenfläche an beiden Seiten der Straße bäum- und buschfrei zu halten. Diese Lichtuugsbreite ist von der politischen Behörde zu bestimmen.5) Im Verbauungsgebiete der Wildbäche muß der Eigentümer den in Betreff' der künftigen Benutzung des Grundstückes und der Bringung der Produkte erlassenen Anordnungen vollständig nach- kommen. Ist mit diesen Vorkehrungen oder Anordnungen eine dauernde Herabminderung des Reinertrages des Grundstückes im Vergleiche zu seiner bisherigen Verwendung oder der Entgang einer für die Wirtschaft des Berechtigten wesentlichen Nutzung verbunden, so ist hiefür eine angemessene Entschädigung zu leisten.11)

Die größten Beschränkungen erleidet das Baurecbt. Durch die Bau- ordnuugen werden die Baubehörden ermächtigt, die den örtlichen Verhält- nissen angemessenen oder durch dieselben als notwendig bedingten Kegu-

*) EisenbahneuteignuugsgescU § 8, Hufkauzleidekret vom 11. Oktober 1821, Verordnuug vom 21. April 1857. K G - Bl. Nr. 82, §§ 5 und 6.

-) Gesetz vom 22. Juli 1889, Art. 10.

S) Gesetz vom 2 ä. Juui 1865, Art. 69.

') Die .Straßenpolizeiordnungen; Kisenbabubetriebsorduung § 100.

') ErlaO des Handelsministeriums vom 14. Juni 1859, Z. 2988, L.-G.-Bl. fdr Krain Nr. 20.

•) WildbarliverbauUHgsgesetx 5 6.

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Das Recht der nflentlichen Arbeiten. Ifi9

lierungslinien für die Neu-, Zu- oder Umbauten au ermitteln und festzu- stellen. Banlinien, welche die (lassen und Plätze begrenzen, müssen bei jeder Ballführung strengstens eingehaiten werden, und die Grundeigentümer können und dürfen ihr Baurecht nur innerhalb dieser Schranken ausüben. Noch strenger sind die Bauverbote, welche für alle Eisenbahnen1) in dem als feuergefährlich erklärten Bereiche, für Straßen3) sowie für befestigte Plätze und Pulvermagazine“) bestehen. Innerhalb des gesetzlich hezeichneten Kreises darf überhaupt nicht gebaut werden; die Grenzen dieses freien Feldes werden für verschiedene Anlagen enger oder weiter gezogen. Die Ausmittlung derselben erfolgt durch die Verwaltungsbehörden. Alle obigen Anordnungen stellen sich nicht als Verpflichtungen zur zwangsweisen Abtretung des Eigentums im Sinne des g 365 des a. b. G.-B. dar, sondern sie sind in der Bedeutung des g 364 ebendort als eine in den Gesetzen zur Erhaltung und Beförderung des allgemeinen Wohles vorgeschriehene Ein- schränkungin der Ausübung des Eigentumsrechtes aufzufassen; wegen solcher Einschränkungen kann aber mit Ausnahme jener Fälle, in welchen das Gesetz anders bestimmt, eine Geldausgleichung nicht beansprucht werden.*)

4. Außerdem gibt es Verpflichtungen zu wirklichen Handlungen: die zur Offenhaltung des Verkehrs notwendige Schneeabränmung auf den Reichs- straßen liegt den nachbarlichen Gemeinden gegen einen üblichen Taglohn ob.-'i Wenn zur augenblicklichen Verhütung großer Gefahr durch Ufer- oder Dammbrflcke oder durch Überschwemmungen schleunige Maßregeln ergriffen werden müssen, so sind auf Verlangen der politischen Behörde oder des Vorstehers des bedrohten Gemeindebezirkes die benachbarten Gemeinden verpflichtet, die erforderliche Hilfe zu bieten. Die für solche Hilfeleistungen geforderte Entschädigung wird von der politischen Behörde festgestellt und auf die bedrohten Gemeinden nmgelegt.“) Auf Grund besonderer Gesetze sind die nötigen Arbeits- und Zugkräfte unentgeltlich beizustellen. ’)

Durch Einzelgesetze können die Hauseigentümer im Bereiche der Städte verpflichtet werden,") ihre Häuser auf eigene Kosten mit der städti- schen Wasserleitung und mit dem bestehenden öffentlichen Kanäle zu verbinden.

*) Eisenbahnbetriebsordnung 5 üb.

*) Gubemialdekret vom 23. Juni 1887, Prov. G.-S. für Tirol, Bd. 24, S. 825, Nr. 64.

Hofkanzleidekret vom 28. April 1848, P. Q.-S. Nr. 51, und Verordnung de« Ministeriums des Innern vom 7. Juli 1876, R.-G.-R1. Nr. 99; Erlall des Ministeriums des Innern u. s. w. vom 21. Dezember 1859, ß.-G.-BL Nr. 10 ex 1860.

*) V.-G.-H. vom 18. Mürz 1880, vom 16. Juli 1880 und 14. April 1882, Bud- winski Nr. 783, 889 und 1374.

ij Gesetz vom 2. Jänner 1877, R.-G.-ßl. Nr. 83.

*) Landeswasserrechtsgesetze; § 81 krain., 4 45 steiermirk. und niederasterr., $ 46 bukow., 4 51 böhm.. 4 50 sonstiger Gesetze.

4 9 des Gesetzes vom 30. April 1895. Nr. 45, L.-G.-BI. für Galizien, betreffend die Erhaltung der Regutiernngsarbeiteu am Trzesnidvrkallusse.

*) Beispiele: Gesetze vom 13. Jänner 1897 und vom 16. August 1897, Nr. 13 und 65, L.-G.-B. für Mähren; Gesetz vom 26.- Dezember 1900, I. -G.-B. für Galizien Nr. 17 ei 1901.

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Breaiewicr.

Die öfters gebrauchte Benennung aller obigen Lasten als , Legalservi- tuten“, „öffentliche Beschränkungen des Eigentumsrechtes“ ist unrichtig, weil Bie an die privatrechtlichen Dienstbarkeiten und Nachbarrechte erinnert. Es sind Vorzugslasten der betreffenden Liegenschaften. Sie finden ihre Begründung :

a) darin, dal! das Eigentum der Untertanen nie derart ausgeübt werden kann, daß die Verwaltung in ihrer Tätigkeit gestört werde;

b) darin, daß der Betroffene an dem Bestände uud der Instandhaltung der öffentlichen Anlage als Nachbar besonders beteiligt ist.1) Diese besondere Beteiligung liegt in der Möglichkeit öfterer Benutzung der öffentlichen Anlage also in der Erreichung mittelbarer Vorteile. Alles dies sind Opfer, für welche die Vorteile des geregelten staatli- chen Verbandes dem Eigentümer vollauf Vergütung gewähren.*)

C. Beschädigungen.

1. Außer obigen unmittelbaren Eingriffen gibt es auch Belästigungen, welche aus den öffentlichen Arbeiten mittelbar hervorgehen. Ihre Behandlung ist verschiedenartig und läßt sich uur am praktischen Beispiele erläutern.

Wenn bei der Enteignung eines Grundstückes nur ein Teil davon genommen wird, muß bei Ermittlung des Geldersatzes auch auf die Ver- minderung des Wertes, welche der zurückbleibende Teil des Grundbesitzes erleidet, Hücksieht genommen werden. Es kommt jedoch auch der Fall vor, daß dem Eigentümer gar nichts genommen wird, daß jedoch sein Eigentum durch Ausführung der öffentlichen Arbeiten bedeutend an Wert verliert. Durch den Bau einer Eisenbahn kann dem benachbarten WohnhauBe die Aussicht genommen und den Bewohnern durch Betrieb eine Störung der häuslichen Stille bereitet werden ; einer Wirtschaft werden durch Umlegung der Wege oder Schließung der Rampen bei Durchfahrt der Züge bedeutende Erschwernisse verursacht. Alles dieses sind mittelbare Belästigungen, welche vom Unternehmer zwar nicht beabsichtigt werden, aber als eine Rückwirkung der Errichtung öffentlicher Anlagen sich ergeben; den Eisenbahndamm hat die Unternehmung auf eigenem Grund und Boden errichtet und der nicht enteignete Nachbar kann gegen dessen Bau nichts einwenden; den Rauch der Maschine und das Geräusch muß der Nachbar als gewöhnliche Im- missionen dulden ; so hat die Errichtung und der Betrieb der Eisenbahn ihm Belästigungen verursacht, aber seine Eigentumsrechte nicht berührt. Vorher hat er einen kürzeren Weg benutzt, um in die Stadt zu gelangen; aber er hat kein Privatrecht zur Benutzung dieses kurzen Weges erworben ; wird der Weg verlegt, so hat der Grundbesitzer das öffentliche Recht nur zur Benutzung dieses längeren Wreges. Alle diese Belästigungen berühren keine Privatrechte des Grundeigentümers und geben ihm keinen Anspruch auf Entschädigung. Daraus ist der Grundsatz zu entnehmen, daß mittelbare

’) Otto M :i _y e r : Deutsch?« VerwAltun gt recht, II , S. 277.

’) Rauda: Das Eigentumsrecht S. 104.

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Pa* R-rht der öffentlichen Arbeiten.

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Belästigungen durch öffentliche Arbeiten nur dann ersetzt werden, wenn sie sich einem unmittelbaren Kingriffe anschlieflen; wenn dieses nicht der Fall ist, werden sie nicht ersetzt.

Es ist unzweifelhaft, daß öffentliche Anlagen in der Art ausgeführt werden sollen, daß sie so wenig als möglich Belästigungen verursachen. Zur Herbeiführung dieses gesetzlichen Zustandes dient die onquete de commodo et incoramodo, bei welcher alle Beteiligten ihre Einwendungen Torbringen und eine unschädliche Errichtungsart beantragen können.

Diese Einwendungen müssen bei Genehmigung der öffentlichen Arbeiten insoweit berücksichtigt werden, als sie ohne Beeinträchtigung des Zweckes der Anlagen sich vermeiden lassen. In jenen Fällen, wo die Besitzer angrenzender Grundstücke durch eine nicht entsprechende Einrichtung und Ausführung einer öffentlichen Bauanlage gefährdet werden, kann die politi- sche Behörde die zur Sicherstellung vor Gefahr nötigen und möglichen Einrichtungen oder Änderungen solcher Anlagen verfügen.1)

2. Alle bisher besprochenen Eingriffe haben dieses gemeinsame Merkmal, daß sie rechtlich gestattet sind; der Unternehmer, welcher sie gemacht hat, hat keine widerrechtliche Handlung begangen und nur sein Kocht ausgeflbt. Wenn aber der Unternehmer ans dem Kreise seiner Berechtigungen herans- tritt und die Rechte der Privatpersonen verletzt, was fflr ein Rechtsver- hältnis ist in diesem Falle entstanden? Nach welchen Vorschriften wird es beurteilt? Wenn der Unternehmer eine Handlung begeht, zu welcher ihn das Verwaltungsrecht nicht berechtigt, bewegt er sich nicht mehr im Kreise der öffentlichen Arbeiten und wird ein Privatmann. Derlei Verletzungen der Privatrechte sind kein notwendiger Bestandteil der öffentlichen Arbeiten; sie bilden widerrechtliche Handlungen des Unternehmers und müssen den all- gemeinen Grundsätzen folgen. Diese Beschädigungen können entweder an Personen oder an Gütern, aus böser Absicht oder aus Versehen verursacht werden. Ihre Folgen werden nach dem Strafgesetze oder nach dem all- gemeinen bürgerlichen Gesetzbuche beurteilt Wenn z. B. durch Nichtbeob- achtung der notwendigen Vorsichtsmaßregeln Körperverletzungen der Menschen verkommen, wenn durch unvorsichtiges Fahren mit Langhölzern ein Gebäude beschädigt wird, so ist das ordentliche Gericht zur Entscheidung der Streitigkeiten zuständig Die strafrechtlichen Ansprüche können nur gegen den Schuldigen, die privatrechtlichen gegen den wirklichen Unternehmer erhoben werden. Sind die Arbeiten vergeben, so ist es nur der Unternehmer, welcher seine und seiner Angestellten Tätigkeiten verantwortet; nie können diese Ansprüche hilfsweise gegen die Verwaltungskörper angestrengt werden.

D. Zwangsbeiträge.

Öffentliche Anlagen verfolgen den Zweck der Beförderung des allge- meinen Wohles; sie erfüllen ihn in der Art, daß sie die Bürger vor dem

*) Erkenntnis des Verwaltnngsgcriebtshofes Tom 9. Jnli 1885, Budwihski 2656 und 2657 (bezüglich der ätraiieiibauanlageii,.

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Brewewie*.

bevorstehenden Schaden schützen oder ihnen einen Vorteil zuwenden ; das letztere kann entweder ohne Mitwirkung des einzelnen geschehen oder durch Benutzung der Anlage, welche unentgeltlich oder gegen Entgelt stattfindet. Kann der beteiligte Borger fordern, daß der Staat oder die Selbstverwaltungs- körper notwendige Öffentliche Anlagen errichten? Er hat in dieser Hinsicht gegen die Allgemeinheit kein persönliches, im Yerwaltungs- oder im Rechts- wege verfolgbares Recht: die Verwaltung kann zu öffentlichen Arbeiten von Privaten nicht gezwungen werden. Auf Ansuchen des Bürgers kann jedoch die Vorgesetzte Behörde einschreiten, wenn gegebene öffentliche Arbeiten bindend sind. Ist schon die Ansfflhmng der öffentlichen Arbeiten beschlossen worden (auch vom Gesetze!, so wird den einzelnen nur während der Entwurfsfeststellung die Möglichkeit geboten, Anträge auf Änderung der Anlage zu stellen. Sonst haben die Beteiligten kein Recht, daß die Anlage so hergestellt werde, daß ihnen ein größtmöglichster Vorteil daraus erwachse. Desgleichen sind die Normalbestimmungen über die Art und Weise der Errichtung nur allgemeine Vorschriften für die öffentlichen Organe, aus welchen die Parteien ein Recht auf die Einhaltung der Vor- schrift in einzelnen Fällen für sich nicht ableiten können.1) Die Vorteile, welche dem einzelnen aus der Ausführung der öffentlichen Anlagen erwachsen; sind also nur eine Reflexwirkung des objektiven Rechtes. Die Nachbarn einer Eisenbahnstation ziehen aus der Erleichterung des Verkehrs bedeutende Vorteile. Es sind jedoch nur willkürliche. Jeder kann Gebrauch von der Eisenbahn machen oder nicht; wenn er ihn macht, muß er so wie ein anderer die Transportkosten zahlen. Er hat also nur die Möglichkeit der Ver- kehrserleichterung, aber sein Eigentum hat an wirklichem Wert nichts gewonnen.

Anders stellt sich die Sache dar, wenn durch öffentliche Arbeiten den Anrainern ein zwar mittelbarer, aber wirklicher Nutzen zu statten kommt. Wenn ein neuer Weg gebaut wird, den der Eigentümer benutzen muß, oder ein Damm, der ihn von alljährlichen Überschwemmungen schützt, so hat sein Eigentum an Wert unzweifelhaft gewonnen. Es entspricht vollkommen den Grund- sätzen über die Tragung deröffentlichen Lasten, daß diese, welche mittelbar einen wirklichen Nutzen aus öffentlichen Arbeiten ziehen, auch zu besonderen Lasten herangezogen werden. Das französische Gesetz2) stellt in dieser Hinsicht den Grundsatz auf: .Wenn durch Entsumpfung der Grundstücke, Eröffnung neuer Gassen, Bildung neuer Plätze, neuer .Strandplätze und durch andere öffentliche Arbeiten, welche vom Staate, vom Departement oder von der Gemeinde unternommen und von der Regierung genehmigt werden, das beiliegende Privateigentum an Wert erheblich gewinnt, können die Eigen- tümer zu Beiträgen bis zur Hälfte der erworbenen Vorteile herangezogen werden. Die Beiträge werden durch eine besondere Kommission auf Grund

') Bezüglich der Straßenbreite: Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 24. November 1876, Btidwihski Nr. 5.

*) Vom 16. September 1807, Art. 38. Diese Vorschrift wurde jedoch nur selten angewendet.

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t>M Recht der öffentlichen Arbeiten.

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der Schätzung bestimmt* Auch zu den Schutzarbeiten gegen Überschwem- mungen der Städte sollen die Departements, die Gemeinden und Eigentümer nach Maßgabe ihres Interesses beitragen.1) Dieser Grundsatz des französischen Hechtes wurde im österreichischen Rechte in dieser allgemeinen Fassung nicht angenommen. Es bestehen jedoch für einzelne Arten der öffentlichen Arbeiten besondere Vorschriften, welche denselben Gedanken znm Ausdruck bringen :

1. Werden öffentliche Wasserbauten aus Reichs- oder Landesmitteln unternommen und gereichen dieselben zugleich den Besitzern der angren- zenden Liegenschaften durch Zuwendung eines Vorteiles oder durch Abwendung eines Nachteiles in erheblichem Grade zum Nutzen, so können die erwähnten Besitzer im Verwaltungswege verhalten werden, einen angemessenen Beitrag zu den Baukosten zu leisten *) Denselben Gedanken, betreffend die Heran- ziehung der Interessenten, spricht auch das Gesetz über den Bau der Wasserstraßen aus.’) Ob der Bau den gedachten Personen in erheblichem Grade zum Nutzen gereiche oder erheblichen Nachteil abwende, dann die Ziffer des angemessenen Beitrages ist im Verwaltungswege zu ermitteln und auszusprechen, und wenn die Beteiligten sich dabei nicht beruhigen, vom Richter zu bestimmen.1) Die Einbringung der ermittelten Beiträge ist jedoch nicht bis znr richterlichen Bestimmung der Beitragspflicht auf- zuschieben.1’)

Manchmal wird die Ziffer dieses Beitrages durch besondere Gesetze bestimmt’) oder das nicht zu überschreitende Höchstausmaß desselben an- gegeben.’) Eigentümlich sind diese Verhältnisse in Italien geregelt, wo das Maß der Beiträge gewöhnlich in allgemeinen Gesetzen*) angegeben ist, wie für Arbeiten des Staates an eingedämmten Flüssen, bei Flußregulierungen, Provinzialkanälen, an Handelshäfen und bei Einsumpfungen aus Sanitäts- rücksichtcn. Die Provinzen, Gemeinden und Genossenschaften, welche die Beiträge leisten, haben nur das Recht, dieselben zu repartieren und einzu- ziehen; sie sollen nur dann einveruommen werden, wenn es sich um neue außerordentliche Arbeiten handelt.9) Auch für Herstellung eines Eisenbahn netzes wurde den Provinzen und Gemeinden ein Zwangsbeitrag von ■/,„ der Kosten auferlegt.10)

’) Gesetz vom 28. Mai 1858, Art. 1.

*) 26 des Keichswassergesetzes.

>) Vom 11. Jani 1901, R.-G.-Bl. Nr. 66, § 1.

A) § 26 des IteichswsBsergesetzes.

5) 1 13 des MeliorationsgesetzeB von 1864, Erkenntnis des Verwaltungsgerichts- liofes vom 10. doli 1879, ßudwinski Nr. 536, vom 11. Jänner 1888, ßudwifiski Nr. 3868.

6) Beispiel: Gesetz vom 15. September 1900, T.-G.-Bi, für Tirol Nr. 64.

’J Beispiel; Gesetz vom 25. Juli 1898, L.-G.-B1. für Niederösterreich Nr. 51.

N Art. 95 des Gesetzes über öffentliche Arbeiten; Art. 7 bis 9 und Art. 23deskönigl. Dekret* vom 2. April 1885; Art 6 und 25 des königl. Dekrets vom 22. März 1900.

*) Art 113 des Gesetzes aber öffentliche Arbeiten; Art. 13 des königl. Dekrets vom 2. April 1885.

'") Gesetz vom 29. Juli 1879, Art. 4 und 7.

ZetlUcliriA für VoUuwirUcbaft, SoiUIpolltlk uud Verwaltung. XII- Bind. ]$

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Bredevict.

2. Bei den Reichsstraßen und in einigen Ländern auch hei Bezirks- straßen sollen die Gemeinden jene Mehrkosten der Herstellung und Erhaltung tragen, welche sich durch eine kostspieligere Konstruktionsart der Durch- fahrtsstraßen bloß aus Rücksicht für die Ortsbewohner ergeben. ') Bei Landes- straßen können von den durchschnittenen Bezirken oder Gemeinden entweder zu den Kosten der Herstellung oder der Erhaltung Beiträge gefordert werden.’) Nach den Straßengesetzen einiger Kronläuder können einzelne Beteiligte, z. B. GemeindeaLteilungen. Industrielle. Wald-, Steinbruch und Fabriksbesitzer u. s. w., welche öffentliche, nicht ärarische und nicht bemautete Straßenstrecken in außergewöhnlichem Maße benutzen, behufs Erhaltung derselben im Verhältnis der Benutzung zu einem außerordentlichen Beitrage herangezogen werden.’) Die Einbringung rückständiger Beiträge und Lei- stungen für die Zwecke der öffentlichen Straßen findet durch die politische Exekution statt.

3. Alle Bauordnungen stimmen darin überein, daß die Eigentümer der Grundflächen, welche durch die Anlegung neuer Stadtteile zu Bauplätzen werden, verpflichtet sind, die zur Herstellung neuer Straßen oder Gassen erforderlichen Flüchen an die Stadtgemeinde zu überlassen; die Abtretung hat im ganzen oder bis zum Höchstausmaße von 12 bis 23 Meter außer- halb der bestimmten Baulinie unentgeltlich stattzuflnden. Einige Bauord- nungen’) heben weiter hervor, daß der Grundeigentümer die aus Anlaß der Gassenregulierung von ihm an die Gemeinde abzntretende Grundfläche auf seine Kosten auf das festgesetzte Niveau zu bringen hat: einige fordern auch die Ausführung des Trottoirs der Gasse und der Hauptkanäle. Den Bauherren in den Städten liegt nach den meisten Bauordnungen''1 ob, längs der neuerbauten Häuser gepflasterte Gehwege auf ihre Kosten herzustellen. In einigen Bauordnungen *t wird der Gemeinde, welche aus Anlaß der Er- öffnung neuer Straßen zum Vorteile des Verkehrs, der Feuersicherheit oder Assanierung Ankaufskosten ausgelegt hat, das HOekanspruchsrecht gegen- über jenen Realitätenbesitzern Vorbehalten, welche aus der Neueröffnung der Straßen Vorteil ziehen. Die Hauseigentümer in Städten werden auf Grund besonderer Gesetze’ t verpflichtet, für die Verbindung der Hauakanäle mit den öffentlichen Kanälen eine einmalige Gebühr zu entrichten, deren Höhe nach der Größe der verbauten Fläche bemessen wird.

Daraus ist zu entnehmen, daß die Privateigentflmer der Liegenschaften, welche durch Ausführung öffentlicher Arbeiten erheblich anWert gewinnen,

*) Hofkanzleidekret vom 26. September 1885, P. G.-S. Bd. C3. S. 420, Nr. 158.

*) Mayrhofers Handbuch, V., S. 568.

*) Mayrhofers Handbuch, V., S. 562.

4) Sieh Mayrhofer« Handbuch, III,, S. 982 und 933, und die dort angeführt« Entscheidung de« Verwaltungsgerichtshofen vom 2. April 1891, BndViiiski Nr. 5857.

*) Mayrhofer, HL, 8. 998.

•) Bauordnungen für Prag, Brünn, Laibach und für Mähren (Mayrhofer HL. S. 944).

7) Z. B.: Gesetz vom 20. Dezember 1900, betreffend die Hauakanäle in der Stadt Podgdrze (L.-G.-Bl. für Galizien Nr. 17 ex 118)1).

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Das Recht der öffentlichen Arbeiten.

175

zu Beiträgen für diese Arbeiten im Verwaltungswege herangezogen werden. Die Leistung dieser Beiträge bildet eine öffentlichrechtliche Pflicht, worüber im Verwaltungswege erkannt wird; die rückständigen Beiträge werden im Verwaltungswege nach Art und Weise der Öffentlichen Steuern eingezogen. Die Zwangsbeitriige kommen nicht bei öffentlichen Arbeiten vor, welche dem Gesamtwesen nur gegen Entgelt zum Gebrauche verstattet werden (z. B. Eisenbahnen).

IV. Freiwillige Beiträge und Anteilnahme.

Einen anderen Rechtsgrund weisen diese Leistungen auf, welche für öffentliche Unternehmungen freiwillig gemacht werden. Vom rechtlichen Standpunkte aus muß man die Beitrugsleistung von der Beteiligung an öffentlichen Arbeiten absondern, da die Rechtsfolgen beider Arten der Unter- stützung einen bedeutenden Unterschied aufweisen.

I. Beitragsleistung.

Die Beiträge können entweder von Verwaltungskörpern oder von Privatpersonen gegeben werden:

A. Die Beiträge des Staates und der größeren Verbände gewinnen im Haushalte der kleineren Verbände eine mit jedem Tage wachsende Bedeu- tung. Besonders mit der Erweiterung des Aufgabekreises der Gemeinden verfolgen diese Zuweisungen den Zweck, eigene Einnahmen der Gemeinden zu ergänzen und sie zur Erfüllung der durch das allgemeine Interesse auf- erlegten Aufgaben fähig zu machen, ln Deutschland werden diese Zuwei- sungen nach dem Grundsätze der Dotation oder der Beteiligung gegeben, je nachdem die Verteilung ohne Beziehung auf bestimmte Auslagen oder im Verhältnisse zu dem für die Erfüllung der bezüglichen Aufgaben not- wendigen Aufwande vorgenommen wird.1) ln Preußen ist der Grundsatz der Dotation, in süddeutschen Staaten der Grundsatz der Beteiligung vorherr- schend. In Österreich besteht die Einrichtung ständiger Überweisungen aus bestimmten Quellen herstammender Mittel des Staates an die Selbstver- waltungskörper nur in einem sehr begrenzten Umfange zu Recht.’) In desto größerem Umfange bestehen frei vorgenommene Überweisungen unter dem Namen von Subventionen, welche besonders auf dem Gebiete öffentlicher Arbeiteu eine wichtige Rolle spielen. Unter Subventionen werden materielle Leistungen des Staates beziehungsweise auch der Selbstverwaltungskörper an ihnen nicht gehörende Unternehmungen verstanden, welche den Zweck verfolgen, das Zustandekommen, die vorteilhaftere Kapitalbeschaffung oder günstigere Betriebsergebnisse der betreffenden Unternehmung zu ermöglichen.

■) Näheres darüber von Reitzenstein: Über finanzielle Konkurrenz von Gemeinden, Koinmnnalverbündcn und Staat in Schmoltera Jahrbuch, Jahrg. 1888, XI., S. 123 ff. Vom Standpunkte des österreichischen Rechtes mtlssin wir den Ausdruck „Beteiligung“ in einem ganz anderen Sinne gebrauchen.

’) Gesetz vom 25. Oktober 1898, R.-G.-Bl. Nr. 220, betreffend die direkten Personaltteuern, Art. IX. und X.

13*

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Brrsiewiez.

Im weiteren Sinne werden unter den Begriff der Subventionen noch Befrei- ungen der Unternehmungen von Steuern und Gebühren einbezogen (negative Subventionen). Die Geldsubventionen können entweder in einem festen Be- trage oder in einem Prozentansatze der veranschlagten Kosten der Arbeit zugesichert werden.1)

Alle Verwaltung« verbände, welche an der Ausführung der öffentlichen Arbeiten mitwirken, können sich wechselseitig unterstützen, wenn die Zu- standebringung der betreffenden Arbeiten den vou ihnen vertretenen Kreisen zum Nutzen gereicht. Jeder Jahresvoransehlag des Staates und der Selbst- verwaltungskörper weist bedeutende Summen für Subventionierung öffent- licher Anlagen auf. Die Hauptfülle sind folgende:

1. die Staats- *i und Dandesstibventionen für Bezirks- (Konkurrenz-) und Gemeindewege1) und Brücken;

2. die wichtigsten von allen sind Subventionen für Eisenbahnen. Es kommen sowohl Subventionen des Bandes für Staatsbahnen ‘,i als auch Subventionen des Staates, des Landes, der Bezirke und Gemeinden für Lokalbahnen1) vor.

Sie bestehen entweder:

a) in Kapitalzuwcndungen oder

b) in rückzahlbaren Vorschüssen,

c) in Steuer- und Gebührenbefreiungen,

ä) in Erleichterungen bei Herbeischaffung des Bau- und Betriebsmaterials,

e) in der Zulassung der Benutzung der Straßen für die Anlage der Bahn

oder schließlich

f) in der Übernahme der Halmeu in den Staats- oder Landesbetrieb.

Die Subventionierung der Eisenbahnen hat in größerem oder kleinerem Umfange überall stattgefunden. *) In B'rankreich und in Italien, wo jede

■) Brat in Miscblers StaatswGrterbuch, I., 8. 337 ff. In diesem lehrreichen Artikel wird zwischen Beitrag»leistnngen und Beteiligung am Unternehmen kein Unter- schied gemacht.

J) Z. B.: Gesetz vom 22. Augnst 1 «07. betreffend den Bau der Konkurrenz- straßen, L.-G.-Bl. fiir Tirol Nr. 31.

*) Gesetz vom 19. April 1894, L.-G.-Bl. für Niederösterreich Nr. 20. § 8; Gesetz vom 15. Mai 1890, L.-G.-BI. für Oberösterreieh Nr 21. Art. I. S 10; Gesetz vom 5. Juli 1897, L.-G.-Bl. für Galizien Nr. 43, ä 28. Tn Frankreich werden Subventionen vom Staate (Gesetz vom 12. März 1880 und viele nachfolgende) und von Departements (Gesetz vom 21. Mai 1836, Art 8) für den Bau der Genieindewege verliehen, ln Preußen ist mit Gesetz vom 18. Juli 1875 die Unterhaltung und der Neubau der Straßen den Provinzen übertragen worden, welche den Neubau durch die Kreise mittels Gewährung von Prämien und Beihilfen unterstützen.

4) Z. B. für die böhmisch-mährische Transversalhahn (Gesetz vom 25. November 1883. B.-G.-Bl. Nr. 173, Art. III).

6) Gesetz über Bshnen niederer Ordnung von 1894, Art VI, Vll bis X; Gesetz vom 1. Juli 1901, lt.-G.-Bl. Nr. 85. Art. IX

®) Ein allgemeines Gesetz besteht für Lokalbahnen in Frankreich (vom 11. Juni 1880, Art. 13 bis 15), welchen eine jährliche Subvention von 500 Fr. pro Kilometer und des znr 5proz. Verzinsung de« Einlagekapitals fehlenden Ertrages zug. standen wird. In

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Dftt liecht der öffentlichen Arbeiten.

177

größere Eisenbahn einer gesetzlichen Genehmigung bedarf, wurden die Sub- ventionen nur als Ausfluß des Übereinkommens Aber öffentliche Arbeiten betrachtet1)

3. Staatliche Subventionen für öffentliche Arbeiten kommen auch in der Form der Steuerbefreiuungen für Gebäude vor, welche infolge der Re- gulierung ganzer Stadtteile zur llehebung der bestehenden sanitären Übel- stände bewilligt werden jedoch nur dann, wenn die Regulierung nicht vereinzelt der Privatwillkür überlassen,*) sondern als ein Stadtunternebmen zwangsweise5) durcbgeführt wird.

Nur in vereinzelten Fällen werden Subventionen auch für die Wasser- versorgung mehrerer Gemeinden gewährt.4)

B. Wenn die Subventionen von Privatpersonen geleistet werden, er- halten sie den Namen „freiwilliger Konkurrenzbeiträge“. Der Anlaß zu diesen Beiträgen kann sehr verschieden sein. Es ist möglich, daß die betreffende Partei zu gesetzlichen Beiträgen verpflichtet ist und nur eine größere, das gesetzliche Maß überschreitende Last freiwillig übernimmt. Die Partei kann aber auch ohne jede gesetzliche Verpflichtung einen Beitrag zusichern.5) Dies kann entweder in einer an die Behörde gerichteten Eingabe oder im Protokolle aus Anlaß der Konknrrenzverhandlung geschehen. Das Ergebnis der Verhandlungen kann nachher in einer Verfügung der Verwaltungsbehörde oder auch im Gesetze“) (wenn es zur Ausführung der Arbeiten notwendig ist) festgestellt werden.

C. Der gangbaren Anschauung5) nach werden die Beitragsleistungen als Darlehen oder als Schenkungen betrachtet, welche bedingungslos oder unter Bedingungen gewährt werden. Folgerichtig müßten zu den durch Beitragsleistungen geschaffenen Verhältnissen alle privatrechtlichen Vor- schriften über die Form, das Maß und den Widerruf der Schenkung, die Form des Schuldscheines, Zinsen u. s. w. Anwendung linden. Es ist jedoch einleuchtend, daß es nicht so ist, daß der Beitragende nicht die Absicht hat, den Unternehmer zu bereichern oder ihm die Möglichkeit zu ver-

Italien ist eine Staatsmibvention bis 6000 Lire vom Kilometer jährlich xulässig (Gesetz vom 30. Juni 1889); die Lokalbahnen werden auch von Provinzen und Gemeinden sub- ventioniert (Gesetz vom 27. Dezember 1896, Art. 38).

l) H. Berthelemy. Traitd llcmentaire S. 584.

*) Wie im Gesetze vom 25. Mar/. 1880. R.-G.-Bl. Nr. 89.

*) Wie z. 11. die Regulierung der Stadt Prag (Gesetze vom II. Februar 1898, fc-G-fel. Nr. 22 und 23,.

4) Gesetze vom 13. und 17. August 1895, L.-G.-Bl. für Krain Nr. 26 und 27.

a) Beitragsleistungeu der Interessenten werden im Art. V des Gesetzes vom I. Juli 1901, R.-G.-Bl. Nr. 85. erwähnt.

*) So spricht § 3 des Gesetzes vom 26. April 1896, L.-G.-Bl. für Käruten Nr. 18, von einem freiwilligen Beitrage von 127.000 Kroueu, zugesichert von der Franz S trutz- in au n scheu Agrikulturstiftung zum Ausbau der Regulierung des Gailflusses.

T) Bräf in Mischlers Staats Wörterbuch (I., S. 338) betrachtet die Beihilfen der Gemeinden (wie Grundabtrctungeii. Geldbeiträge) fiir Eisenbahnen als Privatabmachungen behufs Erlangung lokaler Vorteile. Desgleichen Otto Mayer im Deutachen Verwaltungs- recht. II., S. 27* fl'.

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Break wie*

schaffen, durch Xutzenziehung aus den Beiträgen vermögcnsrecbÜiclie Vor- teile für sich zu gewinnen: der einzige Zweck der Beiträge ist die Ermög- lichung des Öffentlichen Unternehmens und seine Zustandebringung, also ein Zweck, welcher außerhalb des Privatrechtskreises des Unternehmers und des Beitragsleistenden liegt. Es ist ein öffentlicher Zweck und auch die rechtliche Natur der Beiträge ist eine öffentlicbrechtliche. Die Beitrags- leistung zu den öffentlichen Unternehmungen ist eine Einrichtung des öffent- lichen Rechtes, welche wohl den privatrechtlichen Formen der Schenkung und des Darlehens ähnelt, aber ihre Natur nicht im geringsten teilt. Es macht dabei keinen Unterschied, ob die Beiträge vom Staate, von Selbst- verwaltungs- und Zweckverbänden oder von Privatpersonen zngesichert werden. Auch die freiwillig zugesicherten Beiträge der letzteren Personen sind Konkurrenzleistungen für öffentliche Zwecke und es hat nach dem Hofdekrete vom 4. Jänner 1836, Nr. 113 J. G.-S., die Eintreibung der- selben nach den für die unmittelbaren Steuern bestehenden Vorschriften zu erfolgen. Die politischen Behörden entscheiden auch darüber, ob den der Verpflichtungserklärung beigesetzteu Bedingungen Genüge geschehen ist.1)

D. Allen Beitragsleistungen sind folgende Grundsätze gemeinsam:

1. Sie werden immer freiwillig gegeben: der Unternehmer hat kein gesetzliches Recht auf diese Zuschüsse; die Pflicht zur Leistung besteht nur nach Maßgabe der freiwillig übernommenen Verpflichtung, welche ein öffentlichrechtliches Übereinkommen bildet.

2. Der Gewährende erhält nur das Recht auf Erfüllung der allenfalls gestellten Bedingungen, aber sonst gewinnt er weder auf das Zustande- kommen noch auf die Art der Ausführung und des Betriebes einen besonderen Einfluß. Dadurch unterscheidet sich rechtlich die Subveuiionierung von der im nachfolgenden zu behandelnden Beteiligung an öffentlichen Arbeiten.

3. Immer muß aber das Zustandekommen des Unternehmens und die richtige Verwendung der Beiträge gesichert erscheinen. Dies geschieht dadurch, daß das Unternehmen entweder von Organen der öffentlichen Ver- waltung ausgeführt oder auf Grund allgemeiner Gesetze beaufsichtigt wird.

4. Über die Verpflichtung zur Leistung der freiwilligen Beiträge er- keuneii die Verwaltungsbehörden und das Vorwaltungsgericht. Nur dann, wenn Abtretungen von Grundstücken und anderen unbeweglichen Gütern 8 1 zugesichert werden, müßten im Streitfälle die ordentlichen Gerichte ent- scheiden.

*) Erkenntnis des Verwaltungagerichtshofes vom 23. April 189t. Budwihtki Nr. 3909. Vergleiche auch die Gesetze vom 6. August 1900, L.-G.-Bl. für Oberöaterreich, Nr. 29 bis 36, §6 S und 6. Biese Anschauungsweise stimmt vollkommen mit dem fran- zösischen Hechte überein, laut welchem die offres de coucours für die Zwecke Öffent- licher Arbeiten als Offentlichrechtliche Leistungen betrachtet werden, worüber im Streit- fälle die Verw&ltnngsgerichte (conseils de prüfecture) za erkennen haben.

3) Auch in Frankreich ist die Sache streitig (Ducrocq: Cours de droit admini- stratif, Paris, 1897, II., S. 260); in Österreich können bezüglich der Übertragung des Eigentums an unbeweglichen Sachen nur die ordentlichen Gerichte entscheiden.

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l>a* Hecht i!«*r offen tlidien Arbcit>u.

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Wir kommen also zum Schlüsse, daß die rechtliche Natur der Kon- kurreuzbeiträge zu öffentlichen Arbeiten eine und dieselbe bleibt, ob Bie auf Grund des Gesetzes, der Verwaltungsverfügung oder eines freiwilligen Übereinkommens geleistet werden.

II, Beteiligung an öffentlichen Arbeiten.

Wenn die Beiträge so bedeutend werden, daß sie einen großen Teil der Kosten des Unternehmens decken, so müßte bei Anwendung der privat- rechtlichen Grundsätze auf gemeinsame Kosten ein Werk geschaffen werden, welches im Miteigentum« der Teilnehmer stände. Indesseu tritt hier die prhatrechtliche Frage, wem das Eigentum des Werkes gehören soll, voll- kommen in den Hintergrund: die Ableitungsgräben zur Trockenlegung der Sümpfe bleiben Eigentum der unternehmenden Wassergenossenschaft, die l.okalbahuen Eigentum des Konzessionärs und dennoch beteiligt sich der Staat und das Land an dem Zustandebringen dieser Arbeiten: die Haupt- sache bleibt, daß die als öffeutlichnDtzlieh anerkannte Anlage geschulten wird. Was ist der rechtliche Charakter dieser Leistungen und weiche Folgen?

.4. Rechtlicher Charakter.

Der Grundsatz, daß die Kosten der öffentlichen Arbeiten vom Unter- nehmer zu bestreiten sind, wurde in neuester Zeit durchbrochen. Die Ver- waltungsorgane des Staates, der Selbstverwaltung uud der Zweckverbände sind Organe derselben öffentlichen Verwaltung, welche in verschiedenen Wirkungskreisen sich bewegen, aber dennoch denselben Zweck verfolgen, den allgemeinen Nutzen zu fördern. Die Wirksamkeit dieser verschiedenen Organe läuft nicht in entgegengesetzten Richtungen, sondern nebeneinander. Es ist also ganz natürlich, daß die öffentlichen Arbeiten, welche verschiedenen Kreisen zum Nutzen gereichen, auf Kosten dieser Interessenten ausgefülirt werden. Große öffentliche Anlagen der Neuzeit, welche bedeutende Summen in Anspruch nehmen, könen nut viribus unitis zu stände gebracht werden. So erklärt sielt eine neue Erscheinung auf dem in Rede stehenden Gebiete, daß sich an manchen öffentlichen Arbeiten verschiedene Fonds und Ver- waltungsorgane beteiligen. Au» dem Zusammenwirken verschiedener Ver- bände uud der Verschiedenheit der Anteile entsteht eine große Anzahl von verschiedenartigen Rechtsverhältnissen. Der in Gesetzen und Verordnungen augewendete Ausdruck „Beiträge* entspricht der Sachlage nicht, da die Rolle des zahlenden Staates oder Selbstverwultuugskörpers mit der Leistung der Zuschüsse für öffentliche Unternehmungen nicht endet. Sie gewinnen dadurch uicht nur etwa die Rechte der Mitunternehmer, lJ sondern die Aufsichtsrechte Ober die Unternehmung. *) Denn sie müssen die Sicherheit

') Z. B bei Übernahme eines Teiles der Stammaktien einer Lokalbahn.

J) Es ist nicht nnr hei wirtschaftlichen Unternehmungen der Fall, datt durch Beitragsleistungen Öffentliche Aufsichtsrcchtc erworben werden. Z. B in England steht den Stfdten und den Grafschaften der Anspruch auf KQckersatz der Hälfte aller Poliiei- kosten ans dem Staatsschätze zu unter der Bedingung, dall die Stadtgemeinde be/w.

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Bresiewicx.

haben, daß die gewährten Beiträge ihren Interessen gemäß verwendet werden. Zu diesem Zwecke wird ihnen ein entsprechender Einfluß auf den Entwurf und die Ausführung des Werkes eingeräumt. Die Einflußnahme aller Beteiligten auf die Ausführung der Aulagen bildet das charakteristische dieser Ausführungsart öffentlicher Arbeiten. Dasselbe gilt im Falle einer rückzahlbaren Bitragsbürgschaft, wo der Garant nicht nur das Recht auf Hückersatz des Vorschusses, sondern hauptsächlich die Aufsichtsrechte gewinnt. Dieses Verhältnis kann man passender als Beteiligung1) oder Anteilnahme bezeichnen. Diese Beteiligung ist ein verwaltungsrechtlicher Begriff, welcher sich uuter die privatrechtlichen Begriffsformen der donatio, mutuum, commodatum oder tidejussio nicht unterziehen läßt. Vielmehr ist das Rechtsverhältnis ein Ausfluß des verwultungsrechtlichen Grundsatzes, daß durch Zuwendung der Vermögeusvorteile öffentliche Machtrechte be- gründet werden köunen. Durch Beteiligung an öffentlichen Arbeiten wird einerseits ein Machtverhältnis, anderseits ein Unterwerfungsverhältnis ge- schaffen. Das ganze Verhältnis ist ein öffentlichrechtlicheg und diesen Charakter tragen an sich alle daraus fließenden Rechte und Verbindlichkeiten, die vermögensrechtlichen Ansprüche nicht ausgenommen.*) Deswegen werden die bei Bezirken, Gemeinden und Interessenten rückständigen Beiträge durch Verwaltungseiekution eingetrieben. a)

li. Begründung der Anteilnahme.

Da die Beteiligten keine gemeinsamen Beschluß- und Verwaltungs- organe besitzen, kann ein derartiges Verhältnis im Wege einer Verwaltungs- verfügung nicht geschaffen werden; kann es iin Wege eines Gesetzes geschehen? Die Gesetzgebung ist in Österreich zwischen dem Reichsrate und den Landtagen derart geteilt, daß der Reichsrat auf manchen Rechts- gebieten keine Gesetze erlassen kann, auf anderen aber kann er nur die grundsätzlichen Bestimmungen treffen. Zu den von den Landtagen zu regelnden Angelegenheiten gehören alle Anordnungen in Betreff der Landes- kultur und der öffentlichen Bauten, welche aus Landesmitteln bestritten werden, also die Gebiete, auf welchen die Auteilnahme an öffentlichen Arbeiten gewöhnlich vorkommt. Da in den Grenzen dieses Wirkungskreises

der Gralscliaftir.it den Zustand ihre« gesamteu Polizeiwesens jährlich der Inspektion durch einen Beamten des Home office unterwirft, und dati letzterer bei dieser Prüfung der betreffenden Lokalverwaltung das Zeugnis genügender effektiver Stärke und Leistungs- fähigkeit ausstellt; verzichtet aber die Lokaiverwaltung auf den 8taat«zuschuß, so ent- fällt auch das Hecht der lnspektion. (Br. Josef Kedlich: Englische Lokalverwaltnng, Leipzig, 1901, S. 348.)

*) Der richtige Ausdruck .Der Staat beteiligt sich* wird z. B. im Art. II des Gesetzes vom 18. Juli 1892, K.-G.-Bl. Nr. 109, und in vielen anderen angewendet.

*} Streitigkeiten aus dein .Staatsgarantieverhältnisse mit Eisenbahngesellschafteu sind vom Rechtswege ausgeschlossen. (Erkenntnis des Verwnltnngsgerichtshofes vom 1. Juli 1892, Budwinski Nr. 0711.)

*) Gesetz vom 17. Jnli 1893, betreffend die Förderung des Baues der Lokalbahnen, L.-G.-Bl. für Galizien Nr. 42, fi 9.

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Das Recht '1er Öffentlichen Arbeiten.

181

die Länder selbständig bandeln, muH zur Schaffung des Beteiligungsver- hültnisses der Wille des Staates und des Landes ff herein kommen; denn das Übereinkommen ist überhaupt die einzige mögliche Form, um den über- einstimmenden Willen der unabhängigen Beteiligten zum Ausdruck zu bringen.1) Das Übereinkommen ist nur materielle Grundlage der Pflichten der Beteiligten; formell wird es gewöhnlich in der Gestalt des Gesetzes erscheinen :

1. Die Gewährung der Leistungen seitens des Staates an Unter- nehmungen, welche nicht vom Staate ausgeführt werden, setzt ein Gesetz voraus, welches der Regierung die Ermächtigung entweder irn allgemeinen oder für ein einzelnes Unternehmen erteilt. Allgemeine Ermächtigungen wurden erlassen:

a) rücksichtlich von Vorschüssen an garantierte Eisenbahnen;*)

b) rücksichtlich gewisser Erleichterungen. Begünstigungen und Beitrags- leistungen für Lokalbahnen;*)

t) rückaichtlich der finanziellen Unterstützungen für Unternehmungen, welche den Schutz der Grundstücke gegen Wasserverheerungen oder die Erhöhung des Ertrages derselben durch Entwässerung und Be- wässerung zum Zwecke haben.4)

Andere Begünstigungen und Unterstützungen der öffentlichen Unter- nehmungen sind nicht im Wirkungskreise der Verwaltung gelegen und werden im Bedarfsfälle durch ein besonderes Gesetz bestimmt. *1 Jedenfalls wird die verfassungsmäßige Genehmigung der Mittel durch das Finanzgesetz erfordert.

Die Beiträge aus Staatsmitteln «erden nur daun zugesichert, wenn die beteiligten Länder und andere Interessenten zur Unterstützung des Unter- nehmens in gewissem Maße beitragen.4) Zur Beitragsleistung des Landes- fonds ist nur die Genehmigung der Mittel im Landesvoranschlage er- forderlich, wenn allgemeine Gesetze bestehen, wie es bezüglich der Lokal- bahnen1) der Fall ist. Sonst gilt die Kegel, daß derartige Arbeiten ein Landesgesetz erheischen: jeder Jahrgang der Laudesgesetz und Verordnungs- blätter gibt uns eine große Anzahl von Gesetzen und Verordnungen, welche die Ausführung öffentlicher Arbeiten zum Gegenstände haben. Der wesent- liche Inhalt dieser Gesetze ist folgender: die Bezeichnung des Gegenstandes

') Kelim in Hirths Annalen. 1885. S. 118 ff. Jcllinek: Syetem der subjektiven öffentlichen Rechte, Freiburg i. B , 1892, S. 198.

*) Gesetz vom 14. Dezember 1877. R.-G.-Bl. Nr. 112. § 1.

*) Gesetz vom 81. Dezember 1894. R.-G.-B1. Nr. 2 ei 189.r>, Art. V bis X vl.okal-

bahngesetz).

*) Gesetz vmn 30. Juni 1884, R.-G.-Bl. Nr. 116.

*) Art. XI des Lokalbalmgesctzes

*) 6 4 des Gesetzes vom 30. Juni 1884. R.-G.-B1. Nr. 116: Art II, letzter Abs.

des Gesetzes vom 18. Juli 1892, R.-G.-Bl. Nr. 109; Art. V und IX des Gesetzes vom

1. Juli 1901, R.-G.-Bl. Nr. 85.

*) Die betreffenden Landesgesetze sind ira Haudbucbe Mayrhofers, V.. 8. 612, zusammengestellt

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Brcsicwiex.

öffentlicher Arbeiten, de» Entwurfes und die allgemeine Angabe des Umfanges, die Bezeichnung des Unternehmers und der Beteiligten, der Anteile in Prozentsätzen der Kosten oder im festgestellten Betrage, die Fälligkeit der Anteilssummen, schlielilich die Bestimmung Ober die zukünftige Erhaltung der Anlagen. Die Durchführungsverordnungen, welche zwischen den Inter- essenten vereinbart werden, enthalten die näheren Bestimmungen Ober die Dauer der Bauzeit und (Iber die Art und Weise der Ausführung des Unter- nehmens. daun Bestimmungen hinsichtlich der Bauleitung und der Einfluß- nahme der Beteiligten auf den Gang der technischen und ökonomischen Angelegenheiten des Unternehmens. Diese Verordnungen werden oft bis aufs Wort übereinstimmend verfaßt.

Das besprochene Verhältnis der Beteiligung an öffentlichen Arbeiten kommt in Italien nur seitens des Staates und der Provinzen vor: die Ge- nossenschaften, welche zur Errichtung örtlicher Schutzdämme, für Zwecke der Grundstflckbewässerung oder Sumpfentwässerung gebildet werden, können vom Staate und von den Provinzen Beiträge erhalten:') desgleichen gibt die Provinz den Gemeindeverbänden Beiträge fftr Wegebau.’) Die Kegierung und die Provinz müssen jedoch in der Generalversammlung und im Ver- w altungsrate der Genossenschaft vertreten sein; die Beschlüsse, welche Auslagen veranlassen, unterliegen der Genehmigung des Präfekten und der Provinziaideputation. Die Beiträge werden in jedem Jahre erst nach durch- geführter Untersuchung der Arbeiten bezahlt. Bei Entsumpfungen hat die Hegierung auch das Recht, die nachlässige Genossenschaftsverwaltung auf- zulösen und die Arbeiten seihst durchzufahren.*) ln Frankreich zeigt der Bau der konzessionierten Eisenbahnen eine sehr genaue Form des Betei- ligungsverhältnisses, indem der Staat auf eigene Kosten den ganzen Unterbau herstellt oder alle Baukosten gegen einen ständigen Beitrag der Bahn- gesellschafl bestreitet.*) Die subventionierte Aufforstung der Gebirge wird unter der Kontrolle und Aufsicht der Forstbeamten ausgefährt. die .Sub- ventionen des Staates oder der Departements an Gemeinden aber erst nach Endabnahme der Arbeiten ausbezahlt.5)

C. Form der Beteiligung.

Die Form, in welcher die Beteiligung erscheint, ist verschieden, je nachdem oh die Leistung iu einem im voraus genau bestimmten Verhält- nisse geschieht oder oh ihre Feststellung erst von der Gestaltung des Verkehrs abhängig gemacht wird. Die Haupltälle sind folgende:

’j Art 9b urul 97 de« Gesetzes über öffentliche Arbeiten: Art. 10 des künigl. Dekrets vom Februur l»8tj und Art. 17 dea künigl. Dekrets vom 92. Mürz 1900.

Art. 49 und 50 des Gesetzes über Öffentliche Arbeiten.

’) Art. 50 und 115 des Gesetzes über öffentliche Arbeiten; Art. 28 dea künigl . Dekrets rein 22. Mürz 1900.

') Vergl. die Geschichte der Eisenbahngesetzgebung in Itertbelemys Traite eleinentaire, S. 033 bis 651.

Gesetz vom 4. April fft»2, Art 5: Dekret vom II. Juli 1*82. Art. 15.

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Da* Recht der riffentliehen Arbeiten

183

1. Die Zuschüsse ä fonds perdu, welche ohne Pflicht zur Zurück- stellung geleistet werden. Ihre Höhe wird entweder in einem festen Betrage oder in Prozenten der veranschlagten Herstellungskosten bestimmt; die letzteren können im voraus auf Grund des Voranschlages auf einen unübersebreitbaren Betrag beschränkt werden.

2. Bei Unternehmungen, welche einen Gewinn abwerfen, ist die Be- teiligung auch in der Form einer jährlichen Subvention möglich. Davon unterscheidet sich nur unwesentlich der Fall, wenn der Beteiligte die Ver- zinsung und Tilgung des vom Unternehmer aufzunehmenden Anlehens übernimmt. *)

3. Die Beteiligung des Staates, der Länder, Bezirke und Gemeinden an einem öffentlichen Unternehmen kann auch in der Weise stattfinden, daß die Stammaktien der zu bildenden Aktiengesellschaft zum vollen Nenn- werte in einem bestimmten Betrage übernommen werden. Dem Beteiligten werden dadurch gleiche Rechte mit den übrigen Aktionären eingeräumt, *) also die Rechte eiues Mitunternehmers.

4. Die Beteiligten können auch nur unverzinsliche oder verzinsliche Vorschüsse leisten mit der Pflicht des Unternehmers zur Rückzahlung. ’)

5. Die Garantie des jährlichen Erträgnisses verpflichtet die garan- tierende Verwaltung zur Ergänzung des Fehlenden, wenn die Reinerträge des Unternehmers die ihm garantierten Beträge nicht erreichen sollten. Die Höhe des garantierten jährlichen Reinerträgnisses entspricht dem Er- fordernisse für die 4 Proz. nicht überschreitende Verzinsung und die Tilgungsquote des Anlagekapitals oder des zum Zwecke der Geldbeschaffung aufzunehmenden Anlehens. Manchmal wird die Garantie nur auf den durch Prioritätsaktien angeschafften Teil des Anlagekapitals.*) aber gewöhnlich nur auf eine bestimmte Anzahl von Jahren eingeschränkt.') Die Garantie wird nur ausnahmsweise ä fonds perdu gewährt; gewöhnlich werden dio geleisteten Vorschüsse mit 4 Proz. Zinsen rückgezahlt, sobald ein Überschuß des Reinerträgnisses eintritt.

Die Subventionsbeträge dürfen nur nach Maßgabe des genehmigten Staats- beziehungsweise Landesvoranschlages verausgabt werden; sie werden in diese Voranschläge in gleichen Jahresraten eingestellt. Die Einzahlung der Jahresraten in den Banfonds hat während der Dauer des Baues nur nach Maßgabe des tatsächlichen Bedarfes der Arbeiten zu erfolgen. Manchmal wird die Flüssigmachung der Staats- und Laudeszuschüsse durch die vorher- gängige Zahlung der Zuschüsse der Gemeinden und Wassergenossenschaften bedingt.*) Die zugesicherten Leistungen des Staates und des Landes zu

*) Z. B.: Gesetz vom 18. Juli 1892. R.-G.-BI. Nr. 109. Art. II.

*) Gesetz vom 1. Juli 1901. R.-G.-Bl. Nr. 85, Art. VIII und IX.

*) Gesetz vom 14. Dezember 1877, R.-G.-B1. Nr. 112, ä 3; Gesetz vom 30. Juni 1884, K.-G.-B1. Nr. 116. (jj 6 und 7.

*) Z. B. : Gesetz vom 8. Jänner 1892, R.-G.-Bl. Nr. 10, Art. II.

*) Gesetz vom 1. Juli 1901, li.-G.-Bl Nr. 85, Art. III.

*) 5 4 der Verordnung der Landesregierung in Krain vom 7. September 1896. L-G.-Bi. Nr. 39.

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Brosiewicz.

18 t

einem von ileu Gemeinden, Bezirken oder Wasseigenossenschatlen geleiteten Unternehmen werden nach vorgenommener Schlußabrechnung flüssig gemacht; ausnahmsweise können sie während der Arbeit nach Maßgabe des Baufort- schrittes vorschußweise überwiesen werden,') und zwar folgendermaßen: n) während der Bauzeit werden je 50 bis 75 Proz. des Zuschusses zur Zahlung angewiesen; der jeweilige Baufortschritt ist durch Verdienst- zeugnisse nachzuweisen, welche vom Bauleiter bestätigt sein müssen: !>) auf Grund der Abnahme einzelner Gegenstände kann jedoch vom Minister im Einvernehmen mit dem Landeeausschusse die Flüssig- machung von Zuschüssen bis zur Höhe von 75 und höchstens von 110 Proz. bewilligt werden;

<■) außer diesem Falle ist die Kollaudierungsquote (25 beziehungsweise wenigstens 10 Proz.: bis zum Zeitpunkte der Endabnahme der Ar- beiten zurückzubehalten. *)

' D. E r h a 1 1 u n g s a u s 1 a g e n.

Die Kosten der Erhaltung werden nur selten von allen an der Aus- führung Mitbeteiligten getragen.

1. Die vom beliehenen Unternehmer errichteten Arbeiten sind von ihm allein in Stand zu halten.

2. Der staatliche Meliorationsfonds trägt nie die Erhaltungskosten, vielmehr müssen sie in anderer Weise gesichert erscheinen.3) Bei Ein- deichungen. Ent- und Bewässerungen und Verbauungen der Wildbäche sind ilie Erhaltungskosten fertiger Anlagen von den interessierten Gemeinden, Bezirken und Eigentümern zu tragen.4) Zu diesem besonderen Zwecke werden oft auf Grund gesetzlicher Anordnungen Konkurrenzen gebildet.') welche die Eigentümer der durch die Anlagen geschützten Grundstücke umfassen. Die Aufteilung der Erhaltungskosten wird im Verwaltungswege festgestellt. Wenn die Gemeinden in die Konkurrenzpflie.ht einbezogen werden, bleibt es ihnen Vorbehalten, den teilweisen Ersatz ihrer bezüglichen Auslagen von den Besitze™ der durch die Anlagen geschützten oder begünstigten Liegenschaften anzusprechen. Das Ausmaß der hienuch auf die einzelnen Interessenten entfallenden Beitragsleistung ist im Wege eines gütlichen Übereinkommens der Beteiligten oder in Ermangelung eines solchen von der zuständigen politischen Behörde nach Analogie des Wasscr- rechtsgesetzes festzustellen.8)

*) Kundmachung der Statthaltern fiir Österreich u. d. Knus vom 19. Jänner 1896, L.-G.-Bl. Nr. 7.

. s) Böhmische Laudeagesctze vom -4. April 1900, L.-G.-lll Nr. 45, § 3, vom

92. August 1900, L.-G.-Bl. Nr. 50 und 51, §3; Kundmachung der Statthalterci in Böhmen vom 17. Juli 1900, L.-G.-Bl. Nr. 44, § 13.

3) Meliorationageaetz 9 5, Z. 3.

4) 9 44 der meisten Landeawasserreehtsgesctzc.

i) B.: Gesetz vom 16. Mai 1896, L.-G.-BI. für Galizien Nr. 37, § 6.

*) 99 5 und 6 der Gesetze vom 6. August 1900, L.-G.-Bl. für Oberösterreich Nr. 29 l.is 36.

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Das Hecht der öffentlichen Arbeiten.

185

3. Nur in Salzburg besteht eine allgemeine gesetzliche Bestimmung,1) laut welcher die ordentliche Erhaltung der an den Flüssen und Bächen mit Beihilfe des Staates oder des Landes von Wassergenossenschaften herge- stellten Regulierungsbauten als eine bleibende Verpflichtung der Wasser- genossenschafteu erklärt wurde, die Kosten der Erhaltung jedoch zu einem Dritteile vom Landesfonds zu bestreiten seien. Die Entwertung, Leitung und Kollaudierung der betreffenden Arbeiten liegt dem Landesausschusse ob.

4. Sonst wird oft zur Erhaltung der Anlagen ein besonderer Fonds gebildet.') In diesen Erhaltungsfonds fliehen ein:

a) die Einkünfte aus der Verpachtung der Schutzdeiche, Böschungen

sowie des durch Regulierung gewonnenen Grund und Bodens;

b) der erzielte Erlös für die durch Regulierung gewonnenen Gründe.

Die nicht gedeckten Kosten werden entweder von den Besitzern von Liegenschaften und Anlagen eingehoben5 > oder zum Teile vom Lande,4) zum Teile von Interessenten bestritten. Die Höhe der Beiträge wird manchmal für einige Jahre durch das Gesetz bestimmt und die weiteren Jahresbeiträge aus dem Durchschnitte des wirklichen Erfordernisses aus- gemittelt. Die Verwaltung des Erhaltungsfonds wird vom Landesausschusse geführt.

E. Ein fl ul! nah me der Beteiligten.

Obwohl mehrere Verbände an den Kosten der öffentlichen Arbeiten beteiligt sind, haben sie nur selten gemeinsame Organe zur Ausführung des Unternehmens. Ausnahmsweise kommt es bei der Donaureguliernng und den Wiener Verkehrsanlagen vor, wo die Leitung der Arbeiten den von allen Mitbeteiligten gewählten Kommissionen übertragen wurde.6) Gewöhnlich mul! die Ausführung einem der Beteiligten anvertraut werden. Anderen Be- teiligten wird eine angemessene Einflußnahme auf die Art und Weise der Ausführung des Unternehmens, den Kostenvoranschlag und auf den Gang des Unternehmens eingeräumt.8} Grundsätzlich haben alle Interessenten gleichen Einfluß auf die Festsetzung näherer Bestimmungen über die Dauer der Bauzeit, dann über die Art und Weise der Ausführung des Unternehmens. Allen Interessenten steht desgleichen das Recht zu, sich zu jeder beliebigen Zeit durch ihre Organe von dem Fortschritte der Arbeiten und von deren Beschaffenheit zu überzeugen, und es müssen diesfalls die Bauleitungs- und Aufsichtsorgane den betreffenden, hiezu abgeordneten Personen alle ge- wünschten Auskünfte erteilen.')

') Gesetz vom 12. November 1896, L.-G.-Bl. Nr. 37.

*) Z. B. zur Erhaltung der Gailregulierung (Gesetz vom 11. August 1900, L.-G.-Bl. für Kärnten Nr. 28).

s> Z. B.: Gesetz vom 26. April 1896, L.-G.-B1. für Kärnten Nr. 18.

*) Z. B.: Gesetz vom 30. April 1895, L.-G.-Bl. für Galizien Nr. 45.

*) Gesetz vom 6. Juni 1882, R.-G.-BI Nr. 68, betreffend die Regulierung der Donau, §3; Gesetz vom 18. Juli 1892, R.-G.-Bl. Nr. 109, Art. VII des beigeschlossenen Programms.

*) Gesetz vom 30. Juni 1884, H.-G.-Bl. Nr. 116, § 5; Gesetz vom 21. Dezember 1898. R.-G.-Bl. Nr. 283, Art. XII.

') Beispiel: Verordnung vom 25. Juli 1901, I..-G.-B1. für Galizien Nr. 12, § 18

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Rresienica

18fi

Sonst ist die Einflußnahme verschiedenartig, je nach der Stellung des Unternehmers:

1. Wenn die Staats- oder Landesverwultting als Unternehmer Auftritt, haben die interessierten Bezirke, Gemeinden und Wassergenossenschaften kein Kocht der Entscheidung in Bezug auf den Gang des Unternehmens und der Kollaudierung der ausgeführten Arbeiten sie können nur An- träge stellen. Ganz abweichende Bestimmungen1) wurden fflr den Bau der Wasserstraßen erlassen, laut welchen die Durchfflhrung der Bauten einer im Handelsministerium errichteten, von der Kegierung ernannten Direktion anvertraut, neben derselben aber zur Erstattung von Gutachten und Stellung von selbständigen Anträgen ein Wasserstraßenbeirat errichtet wurde: der letztere besteht aus den von der Regierung und von den beteiligten Landes- ansschössen ernannten Mitgliedern.

2. Bedeutend stärker ist der Einfluß, welchen der Staat und das Land auf die von Bezirken, Gemeinden, Wassergenossenschaften und beliehenen Unternehmern geführten Arbeiten ausüben. Die Aufgabe dieses behördlichen Einflusses ist im allgemeinen die Fürsorge, daß die vom Staate und vom Lande gewährten Anteile in einer zweckmäßigen, dem genehmigten Entwürfe entsprechenden Weise Verwendung finden und daß die Vorschriften des das Zustandekommen des Unternehmens sichernden Gesetzes genau beobachtet werden.*) Dieser Einfluß gestaltet sich im einzelnen folgendermaßen:

a) Die Ausführung der Unternehmung darf nur auf Grund des von den Behörden genehmigten Entwurfes erfolgen. Die während des Baues als notwendig erkannten Abänderungen oder Ergänzungen am Entwürfe können nur mit der jeweilig einzuholenden Genehmigung der Staats- verwaltung und des Landesausschusses vorgenommen werden. Wenn sich infolge dieser Änderungen Überschreitungen des Voranschlages ergeben sollten, ist der überschreitende Kostenbetrag aus eigenen Mit- teln des Unternehmers zu decken. Im Falle sich an dem vorbezifferten Höchstbetrage der Kosten eine Ersparung heraussteilen sollte, so hat eine verhältnismäßige Abminderung beziehungsweise Rückerstattung der Beiträge des Landesfonds und des staatlichen Fonds einzutreten,5) h) Die Bauvergebungsverträge einschließlich der Bedingungen für Sub- unternehmer unterliegen der Zustimmung dieser Behörden. c) Sowohl der Staats- als der Landesverwaltung steht das Recht zu, zu den Beratungen des Ausschusses, welche die Ausführung des Entwurfes betreffen, je einen Vertreter zu entsenden, welchem eine entscheidende Stimme zukommt.

(I) Die Staats- und Landesverwaltung muß von allen wichtigen Vorkomm- nissen bei der Ausführung des Unternehmens rechtzeitig verständigt,

*) Gesetz vom 11 Jaiii 1901. R.-G.-Bl. Nr. 06, § 3. und Verordnung des Handels- ministeriums vom 11. Oktober 1901, R.-G.-Bl Nr. 163.

3) Vergl. die Kundmachung des Statthalters von Rühmen vom 3. Februar 1899, I..-G.-BI. Nr. 17.

a/ Gesetz vom 4. April 1900. L.-G.-BL für Böhmen Nr. 45, g 4.

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I)ax Recht der öffentlichen Arbeiten.

1*7

deren Vertretern alle erforderlichen Behelfe zur Verfügung gestellt, alle gewünschten Auskünfte wahrheitsgemäß erteilt und deren Da- zwischentreten anstandslos zugelassen werden.

>■) Der Staats- uud Landesverwaltung steht das Recht zu, sich zu jeder beliebigen Zeit von dem Fortgange uud der Beschaffenheit der Arbeiten durch eigens hiezu bestimmte Vertreter zu überzeugen.

3. Der Einfluß des Staates uud der Länder auf die vom beliehenen Unternehmer verrichteten Arbeiten entspricht obigen Grundsätzen, aber er ist durch besondere Gesetze geregelt. Hauptsächlich kommen hier die Lokal- hahnunternehmungen in Betracht. Als Bedingung der staatlichen Beteiligung wird die unmittelbare Ingerenz der Regierung auf die Aufstellung des Ein- zelentwurfes und Kostenvoranschlages sowie die Vergebung des Baues und der Lieferungen aufgestellt. ') Das Land, welches sich am Baue einer Lokal- bahn beteiligt, fordert auch, daß der Bahubau den Interessenten des Landes entsprechend und unter unmittelbarer Mitwirkung des Landesansschusses ausgeführt werde.*)

V. Durchführung öffentlicher Arbeiten.

Öffentliche Arbeiten können:

1. entweder in eigener Regie der Verwaltung.

2. oder durch einen Unternehmer,

3. oder im Wege der Konzessionserteilung durchgeführt werden. Die Art und Weise der Durchführung muß natürlicherweise verschiedene recht- liche Verhältnisse zwischen der Verwaltung und den bei der Durchführung der Arbeit beteiligten Personen hervorrufen sie ändert jedoch nicht den Charakter der öffentlichen Arbeit Nach welchen Vorschriften werden die daraus entstehenden Verhältnisse beurteilt? Obwohl die öffentlichen Arbeiten dem öffentlichen Rechte gehören, ist nicht jede Lebensäußerung, die irgend- wie damit zusammenbängt, als Stück der öffentlichen Verwaltung nach öffentlichem Rechte zu beurteilen. Namentlich wenn es sich um die Be- schaffung und Bereithaltung der Mittel handelt, welche dieser öffentlichen Verwaltung dienen sollen, wird es immer darauf ankommen, wohin diese Tätigkeiten, für sich betrachtet, gehören. Privatwirtschaftlicher und zivil- rechtlicher Natur ist die Herrschaft des Staates über die erworbenen Sachen, welche solchen öffentlichen Unternehmungen als Mittel dienen, und der Staat in der Stellung des Vergebers der Arbeiten wird grundsätzlich nach dem Zivilrecht zu beurteilen sein.’) Dieses bezieht sich insbesondere auf die Durchführung der öffentlichen Arbeiten in eigener Regie und durch pinen Unternehmer. Die dritte Ausführungsart durch Konzessionserteilung weist wesentliche Unterschiede auf und wird deswegen in einem besonderen Ab- schnitte behandelt.

x) Gesetz vom 31. Dezember 1^94, R.-G.-Bl. Nr. 2 ex 1895, Art, XII; Gesetz vom 1. Juli 1901, R.-G.-Bl Nr. 85, Art. XII.

*) Gesetz vom 17. Juli 1893. L.-G.-Bl. fQr Galizien Nr. 42. 9»G.

*j Otto Mayer: Deutsches Verwaltuiigarecht, II., S. 74.

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ßresiewicz.

I. Eigene Regie.

Unter Kegiearheiten sind jene Arbeiten zu verstehen, welche von der Verwaltung selbst durch in ihren unmittelbaren Dienst gestelltes Personal ausgeführt werden.') Diese Ausführungsweise setzt voraus, daß die Verwal- tung verfügbare Kräfte zur Leitung und Beaufsichtigung der Arbeiten be- sitzt Sie wird ordentlich nur dann gewählt, wenn andere Ausführungsarten einen vorteilhaften Erfolg nicht voraussehen lassen, was meistenteils von Bedingungen wirtschaftlicher Natur abh&ngt. In der Hegel werden in eigener ltegie verrichtet :*i

1. die Arbeiten im Palle dringender Not, wenn Gefahr am Verzüge haftet, und

2. die gewöhnlichen Instandhaltungsarbeiten.

Mit der Ausführung der Arbeiten, ferner mit der Ausübung des technisch- administrativeu Dienstes wird ein beeideter technischer Beamter unter der Auf- sicht der Baubehörde betraut. Zur Unterstützung dieses Bauleiters in Angelegen- heiten administrativer Natur, namentlich durch Vermittlung bei Verhandlungen bezüglich des Geldersatzes für eingenommene Gründe, bei Vereinbarungen bezüglich der Materialpreise, Arbeitslöhne u. dgl„ dann zur Buchführung bei den Bauarbeiten wird für jede Bauabteilung ein Ingenieur bestellt, welchem hinsichtlich der Bauleitung eine beratende Stimme zukoramt. Außerdem werden nach Bedarf die technischen und Rechnungsgehilfen ernannt. Die Bauzulagen, Tagegelder und Reisekosten des Bauleiters, der Gehalt desselben während des Baues, die Reisekostenvergütungen und Zehrgelder der Ingenieure, die Bezüge der Bauaufseher und Hilfsarbeiter sowie überhaupt alle Kosten der Verwaltung und Bauleitung werden aus dem Baufonds bestritten. Zur Be- streitung dieser und weiterer Bauauslagen als Scliichtenlöhne, Verdienste durch Akkordarbeit. Auslagen für Werkzeuge. Materialien und Professionisteu- arbeiten werden für die Dauer der jährlichen Arbeitsperiode beim Steuer- amte monatliche Bauverläge angewiesen. Die Höhe der für die einzelnen Monate erforderlichen Verläge ist vom Bauleiter nach Maßgabe der für das Baujahr genehmigten Arbeiten und der hiefür verfügbaren Mittel vor Be- ginn der Arbeitsperiode zu veranschlagen. Der Bauleiter hat vor Erschöpfung der angewiesenen Verläge eine Baurechnung rechtzeitig zusammenzustellen und mit allen Belegen der anweisenden Behörde cinzusenden. Diese ver- anlaßt die Überprüfung der Baurechnung durch die Rechnungsabteilung und die erforderliche Ergänzung des ßauverlages.

Außer der Baurecbnung sind folgende Aufzeichnungen zu führen:

<t) die Arbeiterverzeichnisse und Zahlungslisten;

b) die Akkorddienstansweise, welche mit Quittungen belegt werden;

c) die Verzeichnisse der Werkzeuge und Hilfsmittel;

A) die Verzeichnisse der Baumaterialien;

') % 2 de» Gesetzes rom 2S. Juli 1902, It.-G.-Bl. Nr. ISO, betreffend die Regelung des Arbeitsrerliältniases bei den Kegiebautcn von Eisenbahnen u. s. w.

*) Sehr genaue Bestimmungen über liegiearbeiten enthalten die Art. fiff bis 90 des italienischen kflnigl. Dekrets vom 25. Mai 1H95, Nr 350.

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Das Recht der öffentlichen Arbeiten.

189

v) das Bauprotokoll, und zwar abgesondert für die Regie- und für die sonstigen Arbeiten. Es enthält die Darstellung des Baufortsebrittes, d. i. aller auf den Beginn und Betrieb sowie anf die Vollendung des Baues wesentlich Einfluß nehmenden Tatsachen, den Witterungszustand, die Zahl der Arbeiter und Fuhrwerke sowie die Übernahme der Baumaterialien. Weiter enthält es verläßliche Ergänzungen zur Herstellung der Schluß- abrechnung. wie die Ausmaße, welche nachträglich nicht leicht festgestellt werden können, die Abweichungen vom genehmigten Entwürfe und deren Begründung, die vereinbarten Preise der Leistungen u. s. w. Das Bauproto- koll ist mit Ende einer jeden Woche abzuschließen und der Baubehörde vorzulegen.

Auf Grund dieses Baujournals wird jeden Monat ein Bericht Ober den Banfortschritt zusammengestellt. Am Schlüsse eines jeden Baujahres hat der Bauleiter seiner Vorgesetzten Behörde einen Bericht Ober die Bautätigkeit und deren Erfolge sowie Ober etwaige andere wichtige Wahrnehmungen vorzulegen. Demselben ist auch eine mit den erforderlichen Belegen ver- sehene Rechnung Ober die Einnahmen und Ausgaben des verflossenen Zeit- abschnittes und am Ende des letzten Baujahres nebst der Rechnung för das verflossene Jahr eine alle Baujahre umfassende Schlußrechnung beizuschließen.

Bei der Durchführung der Arbeiten in eigener Regie wird vor allem die Arbeit gegen Vergfltung nach Ausmaß empfohlen, während die Arbeit gegen tägliche Vergütung nur in solchen Fällen einzutreten hat, wenn deren Durchführung nach Ausmaß unmöglich oder unzweckmäßig wäre. Es bleibt jedoch dem Bauleiter überlassen, einzelne Arbeitsleistungen auf der Grund- lage von Einheitspreisen im Akkordwege ausführen zu lassen.’) Die zweite Modalität der Ausführung besteht darin, daß die Arbeiten im Wege schrift- licher Akkorde an Akkordanten vergeben werden; diese Art der Sicherstel- lung der Arbeiten darf nur bei Ausführungen geringeren Umfanges, für welche ihrer Natur nach keine weitläufigen Bedingungen zu stellen sind, angewendel werden. Übereinkommen über Arbeiten und Lieferungen, welche den Betrag von 1000 Kronen nicht übersteigen und die so dringend sind, daß mit ihrer Verwirklichung bis zum Einlangen der Entscheidung der Baubehörde nicht gewartet werden kann, werden vom Bauleiter mit dem Uuternehmer abgeschlossen und übergibt derselbe die Arbeiten und Liefe- rungen gegen nachträgliche ehebaldigste Rechtfertigung zur Ausführung. Alle anderen Übereinkommen und Anerbieten der Unternehmer, besonders solche, welche den Bau von Objekten, wie Brücken. Schleusen und Durch- lässe betreffen, legt der Bauleiter vor Beginn der Arbeiten der Baubehörde zur Genehmigung vor.1)

Die Verhältnisse der Verwaltung zum Lohn-, Stück- oder Akkordarbeitcr werden nach den Bestimmungen des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches

') Kundmachung der Statthaltern vom 5. September 1000, L.-G.-Bl. für Ober- uat erreich Nr. 38, § 6.

t)j9 der Verordnungen der Statthalterei vom 17. Dezember 1897 und vom 19. Dezember 1900, L.-G.-Bl. für Galizien Nr. 1 ex 1898 ond Nr. 19 ex 1901.

Zeitschrift für Volkswirtschaft, gngUlpAlllik und Verwaltung. XII. Band. 14

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194) Rresiewinc.

Uber den Lohuvertrag beurteilt Ausnahmen bestehen bezüglich der Arbeiter bei Regiearbeiten au Eisenbahnen und beim Baue von grollen Wasserstraßen, deren Verhältnisse den Vorschriften des VI. Hauptstflckes der Gewerbeord- nung entsprechend geregelt wurden.1)

II. Ausführung der Arbeiten durch Vertragschließende.

Die Unternehmung öffentlicher Arbeiten ist ein Vertrag, wodurch sich eine Privatperson zur Herstellung öffentlicher Arbeiten in Unterwerfung unter die Organe der Verwaltung gegen eine Geldsumme verpflichtet. Es macht hiebei keinen Unterschied, ob der Unternehmer nur Arbeitskräfte beistellt oder auch die zur Vollendung des Werkes notwendigen Materialien liefert. Der rechtliche Charakter der Vergebung der Arbeiten ist der einer privat- rechtlichen Dienstmiete. Trotzdem gibt es bei Vergebungsverträgen zahl- reiche Abweichungen vom Privatrechte, und zwar sowohl formelle als mate- rielle. Sie sind dadurch gerechtfertigt, daß der Unternehmer auf Grund des privatrechtlichen Vertrages die Arbeiten für die Verwaltung besorgt und daß an der Ausführung derselben die öffentliche Verwaltung beteiligt ist.

A. Die Beding u ngshefte.

Was die Form der Verträge anbelangt, so gilt als Kegel, daß sie auf Grund der vorgeschriebenen Bedingungshefte im Wege der öffentlichen Versteigerung abgeschlossen werden. Diese Bedingungshefte !) werden in Österreich Iflr jeden Verwaltungszweig abgesondert ausgegeben. Filr die Vergebung von Straßen- und Wasserbauarbeiten bestellen: Allgemeine tech- nische und administrative Baubedingnisse,1) Vertragsbedingungen für die Anfertigung. Lieferung und Aufstellung von eisernen Keichsstrattenhrflcken*) und Bedingnisse für die Ausführung größerer Wasserbauten. Allgemeine und besondere Bedingungen für die Militärarbeiten wurden mit Verordnung des k. u. k. Kriegsministeriums vom 21. November 1895 vorgeschrieben.5 1 Für

') Gesetz vom 28. Juli 1902. K.-G.-Bl. Nr. 156; (ieiotx vom 11. Juni 1901,

R. -G.-B1. Nr. 66. § 15.

ln Preußen wurden mit Erlalt des Ministers der öffentlichen Arbeiten vom 17. J inner 1900 (Verw.-Min.-Bl. S. 107) „Allgemeine Vertragsbedingungen für die Aus? fiihrung von Stantsbauten- eingetührt. welche genullt Verfügung de» Ministers des Innern vom 22. März 1900 auch für seinen Geschäftsbereich anzuwenden sind. In Frank- reich dienen als Vorbild die Bedingungshefte für die Verwaltung der Brücken und Strafen vom 16. Februar 1892 fCahier des clauses et condition* generales itnposles aux entrepreneurs des travaux des ponts et chaussles). Ke bestehen auch ähnliche Bedingungs- hefte für die Arbeiten der Militärgenic. der Kriegsmarine und den Bau der Amts- gebäude. — In Italien wurden fiir den Dienstbereich des Ministeriums iler öffentlichen Arbeiten allgemeine Vertragsbedingungen (Capitolato generale per gli appalti) mit Ministeriabiekret vom 28. Mai 1895. für Militärarbeiten aber (Be condizioni generali per l'appalto dei lavori dcl genio militarei mit Dekret vom 9 Oktober 1900 erlassen.

*) Verordnung der ehemaligen Generalbaudirektion vom 15. Dezember 1851. Ver- ordnungsblatt des Handelsministeriums vom Jahre 1852 Nr. 2.

*) Verordnung des .Ministeriums des Innein vom 31. Dezember 1892, Z. 21.817.

a) Die Baudienstrorscbriften für das k u. k. Heer. Wien, 1896, I. T., IV. Absohn.,

S. 91 bis 183.

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Das Hecht der Affeutlichen Arbeiten.

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die dem Wirkungskreise des Handelsministeriums augehörende Post- und Telegraphen Verwaltung bestehen keine besonderen Normen Aber das Unter- bietungswesen. Das Eiseubahnministerium hat „Allgemeine Bedingnisse für die Anbieter und Unternehmer von StaatseisenbahnbautenV

Ein noch bunteres Bild liefern uns die öffentlichen Arbeiten der Selbstverwaltungskörper: In Niederösterreich. Oberösterreich, Salzburg, Steier- mark, Kärnten. Görz und Gradiska, Istrien und Dalmatien bestehen keine Vorschriften Ober das Unterbietungsverfahrem die für die autonome Landes- verwaltung erforderlichen Arbeiten werden im Wege des freihändigen Ver- fahrens vergeben beziehungsweise in eigener Regie ausgeföhrt. In anderen Kronländem werden die Vertragsbedingnisse vom Landesausschusse aufge- stellt und es ist leicht erklärlich, daß sie nicht vollkommen Qbereinstimmen können: meistenteils sind sie jedoch den für Staatsbauten geltenden Vor- schriften oft wörtlich nachgebildet.1) Das gleiche gilt bezüglich der Regelung des Unterbietungswesens der Gemeinden; vielfach ist eine allgemeine Norm für die Vergebung städtischer Arbeiten überhaupt nicht vorhanden, vielmehr werden die Bedingnisse von Fall ztt Fall besonders festgesetzt. Eine Ausnahme machen nur die größeren Städte und besonders die Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, wo für den Bau der Hauptsammelkanäle, der Verkehrsanlagen und der städtischen Gaswerke besondere Unterbietungsbedingnisse getroffen wurden.

Die Ausbietungsbedingungen sind keine allgemein verbindlichen Vor- schriften: sie sind nur innerliche Weisungen für die Behörde, welche im Namen der Verwaltung die Verträge mit Unternehmern abzuschließen bat Diese Behörde besitzt nicht die natürliche Handlungsfreiheit eines Privat- mannes im Verkehre, sondern sie muß die als gut anerkannten Maßregeln anwenden. Da die Verwaltung nur auf Grund der vorgeschriebenen Bedin- gungshefte Verträge abschließt, so muß ein jeder Unternehmer diese Be- dingungen annehmen. Sie bilden also für den Unternehmer ein Recht, aber nur ein Vertragsrecht. Aus diesem Charakter der Versteigerungsbedingungen fließt, daß sie nichts den zwingenden Vorschriften des Privatrechtes wider- sprechendes enthalten können. Anderseits werden die Vertragsbedingungen seitens der Verwaltung im vi rhinein festgestellt und es ist nicht zulässig, daß von den Bewerbern Abänderungen oder Gegenbedingungen beantragt werden. Obwohl also die Vergebung der Arbeiten die äußere Form eines Privatvertrages besitzt, innerlich weist sic einen anordnungsmäßigen Charakter auf. Die Vertragsbedingungen teilen sich in allgemeine und besondere. u) Allgemeine Vertragsbedingungen enthalten diese Bestimmungen, welche bei allen Verträgen des betreffenden Verwaltungszweiges Anwendung finden; sic regeln das Verhältnis des Unternehmers zur Verwaltung, zu den Arbeitern und zu dritten Personen, sowohl die gegenseitigen Rechte als auch die Pflichten aus dem Vertrage.

*) Der Arbeiterschutz bei Vergebung öffentlicher Arbeiten und Lieferungen, Wien, 1900, S. 196 ff. ßei Vergebung des Baues der vom Staatsschätze subventionierten Lokal- bahnen ist es gesetzlich geboten. (Art. XU des tiesetzes vom 21. Dezember 1»9S, Nr. 233 R.-G.-Bl.)

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Rreni^wicz.

b) Die besonderen Vertragsbedingungen bestehen wieder aus zwei vonein- ander verschiedenen Teilen: der erste Teil enthält jene Angaben, welche bei der besonderen Gattung der Arbeiten immer Anwendung linden und sonach den wesentlichsten Inhalt des abgeschlossenen Vertrages hilden, d. i.: die Gattung der Arbeiten, Beschaffenheit der Materialien und den Ort der Ausführung des Baugegenstandes, die Summe, welche als Reugeld von den Bewerbern vor der Versteigerung erlegt werden muß. die Höhe der Sicherheitsleistung des Unternehmers, die zur Ausfflhrung der Arbeiten bestimmte Zeit, die Haftzeit nach Vollendung des Baues und die Zahl der Fristzahlungen. Den zweiten Teil der besonderen Be- dingnisse bilden alle technischen Bedingungen, welche sich einzig und allein auf den betreffenden Baugegenstand und dessen eigentümliche Verhältnisse beziehen. Die besonderen Baubedingnisse sollen überhaupt alle einzelnen Andeutungen und Vorschriften enthalten, welche ver- bunden mit den allgemeinen technisch-administrativen Baubedingnissen notwendig und genügend sind, um einem Bauverständigen die Pflichten und Rechte des Vertragschließenden bestimmt und unzweideutig er- sichtlich zu machen.

Sowohl die allgemeinen als auch die besonderen Bedingnisse bilden bei der Ausbietung keinen Gegenstand der Verhandlung: sie dürfen nicht geändert werden und sind die feste Grundlage des Vertrages. Den Gegen- stand der Verhandlung bildet nur der Preis der Leistungen. Zur Ermittlung dieses Preises dienen die von der technischen Behörde verfaßten Verzeich- nisse, und zwar:

a) der summarische Kostenüberschlag, welcher aus der Zusammenstellung der verschiedenen Gattungen von Bauerfordernissen, ihrer Menge und den Gesamtkostenbetr&gen besteht:

b) die Preisverzeichnisse, in welchen die Einheitspreise sämtlicher Mate- rialien und sonstiger Bauerfordernisse ausgeführt werden.

Die Hintangabe eines Unternehmens erfolgt:

a) nach Gesamtkosten, wenn eine vorbestimmte Arbeit um einen fest- gesetzten Betrag übernommen wird;

b) nach Einheitspreisen, wenn die Verbindlichkeit übernommen wird, den Bau gegen bestimmte Preise für einzelne Leistungen herzustellen:

c) teils nach Gesamtkosten, teils nach Einheitspreisen: in diesem Falle ist dag Unternehmen gemischt.

Es kann ferner die Vergebung sämtlicher Arbeiten an einen einzigen Unternehmer oder die gruppenweise Vergebung an verschiedene Unternehmer stattflnden.

B. Die Hintangabe der Arbeiten.

Die öffentliche Ausbietung hat den Zweck, durch Zulassung mehrerer Mitbewerber möglichst günstige Bedingungen für die Verwaltung zu erreichen und diese vor dem Vorwurf der Parteilichkeit zu schützen. Ausnahms- weise kann eine beschränkte Bewerbung oder der Abschluß des Vortrages

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Das Kcclit der Offeutlicbcu Arbeiten.

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mit einem bestimmten Unternehmer ohne Ausbietung1) angeordnet werden, wie ■/.. B. bei ungünstigen Gewerbeverhältnissen, in technisch schwierigen Fällen oder bei Kunstleistungeil.

Im Ausbietungsverfaliren’ lassen sich sechs Abteilungen unterscheiden: 1. Öffentliche Bekanntmachung der Ausbietung.

Sobald ein Bauentwurf von der zuständigen Behörde genehmigt ist, hat die Baubehörde, welcher die Oberleitung des Baues zusteht, die Aus- hietungskundmachung zu verlautbaren, ln dieser Kundmachung ist anzugeben: n ; die Beschaffenheit, der Ort und Kostenbetrag des Baues. Zeitangabe und Geschäftszahl der Baubewilligung uud die Behörde, von welcher dieselbe erteilt wurde;

h) ob der Bau nach den Gesamtkosten oder nach Einheitspreisen oder oh er teilweise in der einen und in der anderen Art vergeben wird; <■) der Betrag, welcher zur Sicherung des Anbotes und welcher nachher als Sicherheitsleistung zu erlegen ist; il) Ort und Behörde, wo, daun Tag und Stunde, wann die Ausbietung abgehalten wild;

cj Angabe der Stunden und des Ortes, wo die Entwurfsui künden ein- gesehen werden können.

Die Aiisbiet-iingskundniachnng wird in der Gemeinde, wo der Bau ausgefflhrt werden soll, in dem betreffenden Bezirke und an dem Sitze der politischen Landesbehörde veröffentlicht und zugleich in das Anzeigeblatt der Kegierungszeitung eingeschaltet. Bei Arbeiten vou höherem Betrage (fiber 10. onu Kronen) ist diese Kundmachung außerdem auch in den angren- zenden Kronländern zu verbreiten und in der Wiener Zeitung zu ver- öffentlichen.

Vom Tage der Kundmachung bis zur Vergebungsverhandlung muH die Zeitinst so bemessen werden, daß den Bewerbern Zeit zur Prüfung der Behelfe und Bedingungen bleibt. Zu diesem Zwecke werden am Sitze der hauleitenden Behörde folgende Entwurfsurkiiiiden zur Einsicht ausgelegt:

a) der summarische Kostenübcrschlag,

b) das Verzeichnis der Einheitspreise,

c / die altgerueiuon technisch administrativen Baubedingnisse, und d) die besonderen Baubedingiiisse mit den allenfalls notwendigen Zeich- nungen.

') ln Frankreich (Dekret vom IS. November 1882, Art. IS, und Ordonnanz vom 14. November 1887. Art. 2) und Italien (Dekret über die .Staatsverwaltung und Ver- rechnung vom 17. Febtuar 1K84, Art. 4) ist die Vergebung der Arbeiten aus freier Hand nur in genau bestimmten Fällen gestattet

V) Das Verfahren ist mit Instruktion der gcw. Generalbaudircktion vom 15. De- zember 1851 (Verordnungsblatt des Handelsministeriums vom Jahre 1H52, 3M. 1, 8. 8, Form. A. i geregelt. In Frankreich sind die betreffenden liestimmungen in der Verordnung vom 14. November 1837 für Gemeindesrbeiteu und im Dekret vom 18. November 1882 für Staatsarbeiten zusammengestellt. Für ltalieu bat das Dekret vom 17. Februar 1884 (l.egge soll amministrazione dello Stale in Art. 3 bis 12 und die Volhngeverordnnng vor ■I Mai 1885 in Art. 37 bis 122 wehr genaue und klare riestiuimuogen gegeben.

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Bresiewicz.

1!'4

2 Pie Zusammensetzung der Vergebungskommission.

Die Ausbietung wird abgehalteu: gewöhnlich ira Lokal der Behörde, welche den Vertrag abschließt. oder nach Umständen bei der politischen Behörde im Orte, wo der Bau ausgeführt werden soll. Die Verhandlung ist. eine konrniissionelle. Die Zusammensetzung der Kommission ändert sich je nach dem Gegenstände der Verhandlung und der sie abbaltenden Behörde. Grundsätzlich werden als Mitglieder Bau- und Recbnungsbeamte zugezogen. Den Vorsitz hat der Vorstand der Baubehörde, bei welcher die Versteigerung stattfindet oder ein von ihm beauftragter Baubeamtcr zu fahren.

3. Einreichung der Anbote.

Zur öffentlichen Ausbietung wird in der Kegel jedermann zugelassen: ii) der nach den Bestimmungen der bürgerlichen Gesetze die Befähigung zum Abschlüsse eines gültigen Vertrages besitzt: es kann sowohl eine einzelne Person als auch eine aus mehreren Personen bestehende Genossenschaft sein;

h) der das vorgeschriebene Reugeld erlegt:

r) gegen dessen Redlichkeit kein Anstand obwaltet: dieses muß durch ein Rechtlichkeits- und Leistungstalngkeitszeugnis der Handels undGcwerbe- kamnicr oder der zuständigen politischen Behörde bewiesen werden; d) der nicht etwa schon bei irgend einer öffentlichen Bauunternehmung als vertragsbröchig erklärt worden ist.

Die Anbote können schriftlich oder »ländlich gemacht werden, je nach der in der Kundmachung der Verhandlung zugelassenen Art und Weise. Die schriftlichen Anbote müssen, abgesehen von etwaigen in der Ausschreibung besonders geforderten Punkten, enthalten:

n ) genaue Bezeichnung des Bewerbers, seiner Beschäftigung und seines Wohnortes; seitens gemeinschaftlich bietender Personell die Erklärung, daß sie sich für das Angebot zur ungeteilten Hand verbindlich machen und die Bezeichnung des für die Geschäftsführung Bevollmächtigten;

b) Angabe der geforderten Preise, und zwar sowohl die Angabe der Einheitssätze ads des Gesamtpreises. Bei den Arbeiten, welche in Bausch und Bogen hintangegeben werden, muß die angebotene Summe oder der Nachlaß oder Zuschuß auf die Kostenüberschläge, bei den Anboten nach Einheitspreisen die Aufzählung des Nachlasses in Pro- zenten genau angegeben werden:

c ) eine Erklärung, daß der Bewerber von den in der Ausschreibung bekannt gegebenen Bedingungen, Entwürfen u. s. w. genaue Kenntnis genommen hat und dieselben ohne Vorbehalt als maßgebend anerkennt;

dj die amtliche Bestätigung über den Erlag des Reugeldes von 5 Proz. des gesamten Baukostenbetrages im Baren oder in pupiUarinäßigen Wertpapieren.

Die Einreichung der Angebote muß längstens bis zu der in der Aus- schreibung festgesetzten Stunde des daselbst bestimmten Tages erfolgen. Später einlangende Angebote sind von der Verhandlung ausgeschlossen.

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I>M Hecht der öffentlichen Arbeiten.

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Hei «1er mündlichen Verhandlung, nenn sie angeordnet wurde, muß «las Heugeld vor der Ausbietung erlegt werden. Denjenigen Unternehmungs- lustigen. welche bei der öffentlichen Vergebung aus was immer filr Ursachen zu erscheinen verhindert sind, ist gestattet, sich durch einen Bevollmächtigten vertreten zu lassen; dieser hat sich bei der Kommission mit einer gesetz- lichen Vollmacht auszuweisen. Die Bietenden sind aufzufordern, ihre Anbote abzugeben. Diese Anbote lauten wie bei schriftlichen auf Nachlaß von Ein- heitspreisen oder vom Gesamtbeträge. Das Ergebnis der mündlichen Ver- handlung ist im Protokolle festzustellen.

4. Eröffnung «1er Anbote.

Allsogleich nach dem Schlüsse der mündlichen Vergebungsverhandlung oder nach Ablauf der zur Überreichung der schriftlichen Angebote fest- gesetzten Zeit werden die schriftlichen Anträge eröffnet.

Wenn die Behörde, welche die Ausbietung vernimmt, das Ergebnis derselben für den Baufonds nicht vorteilhaft findet, kann sie sämtliche Angebote zurückweisen: es bleibt ihr freigestellt, eine zweite und selbst eine dritte Vergebuugsverhandlung zu veranstalten. Zwischen je zwei solchen Verhandlungen soll ein Zeitraum von mindestens zwei und höchstens dreißig Tagen liegen, welcher Zeitraum nach Maßgabe der größeren oder geringeren Wichtigkeit und Dringlichkeit des Baues zu bemessen ist. Sonst hat die Kommission das Bestbot sofort festzustellen und unter Erwägung aller maßgebenden Verhältnisse das begründete Gutachten zu Protokoll zu geben. Gewöhnlich wird der Mindestfordernde als Ersteher kundgemacht. Die ver- gebende Behörde hat jedoch das itecht völlig freier Wahl, ob das Bestbot oder etwa ein anderes Anbot empfehlenswert sei. Das Reugeld wird den- jenigen. deren Anträge nicht angenommen wurden, nach erfolgter Hintangabe der Arbeiten unverzüglich zurückgestellt, das des Meistbieters jedoch zur Sicherstellung der Verwaltung bis zur gänzlichen Erfüllung der Vertrags- verbindlichkeiten zurüekbehalteu.

Der Ersteher und sämtliche Mitglieder «1er Vergebungskommission haben das Verhandln ngsprotokoll und alle Urkundenstücke, welche die Bei- lagen desselben bilden, zu unterfertigen. Im Falle der schriftlichen Angebote werden die Bewerber mittels schriftlicher Bescheide von der Annahme oder Ablehnung ihrer Auträge verständigt. Der Bauersteher wird au sein Anbot von dem Augenblicke an gebunden, als sein Antrag von der Vergebungs- komurissiou angenommen wurde, die Verwaltung erst vom Tage der Genehmigung des Anbotes durch die höhere Behörde.

5. Genehmigung der Vergebung* Verhandlung.

Die Zuerkennung «les Baues hat immer uuter dem Vorbehalte der höheren Genehmigung zu geschehen. Zu diesem Zwecke hat die Behörde, welche die Ausbietung eines Baues besorgt, das Vevgebungsergebnis behufs Genehmigung desselben der Vorgesetzten Behörde vorzulegen, dabei sowohl über die Rechtlichkeit und den Hilf «les Erstehers ihre Äußerung abzugeben

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Brcuiewicz.

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uud einen bestimmten Antrag zu stellen. Nur iu Fällen, wo offenbare Gefühl' am Verzüge haftet, kann die Arbeit, wenn dieselbe erstanden ist, in Uewür- tigung der Genehmigung sogleich unternommen werden.

Die Mitbietenden haben gegen den Beschluß der Ausbietungskoumiissiou keine Berufung wegen vermeintlicher Verletzung ihrer Beeilte, auch iu dem Falle, wenn die Vorschriften bei der Verhandlung irrig angewendet werden sollten; diese Vorschriften bestehen nur zu Gunsten der Verwaltung und haben uur den Zweck, dieselbe vor Schaden zu sichern; sie gehen aber den Vertragsbewcrborn keine persönlichen Beeilte. Etwaige Beschwerden wird jedoch die zur Genehmigung berufene Behörde prüfen und wenn sie das Interesse der Verwaltung verletzt erachtet, wird sie die Genohmiguug einem anderen Mitbietenden erteilen können.

6. Abschluß des Vertrages.

Sobald das Ausbietuugsergebnis von Seite der berufenen Behörde bestätigt ist, hat die Behörde den Unternehmer innerhalb einer angemessenen Frist zum Abschlüsse des Vertrages und der Leistung der Kaution aufzu- fordern. Wenn der Unternehmer am bestimmten Tage nicht erscheint, ver- liert er die Hälfte seines Beugeides. Die Behörde hat in diesem Falle eine neuerliche Frist zum Abschlüsse des Vertrages anzuberaumen. Bei Ver- säumung dieser Frist wird der Unternehmer als vertragsbrüchig erklärt, die zweite Hälfte des Beugeides eingezogen uud die Arbeiten werden nach dem Ermessen der Verwaltung ausgeführt. Es hat jedoch die Verwaltung das Hecht und die Wahl, den Unternehmer auf Grund seines genehmigten Antrages und der von ihm unterschriebenen Vertragsbedingungen und Bau- behelfe zur Erfüllung des Vertrages auf gesetzlichem Wege zu verhalten.

Beim Abschluß des Vertrages muß der Unternehmer zur Sicherstellung für alle Forderungen beziehungsweise Ersatzansprüche und Haftungen aus dem Vertrage einen Betrag erlegen, welcher im Vereine mit dem Beugeide die Kaution zu bilden hat. Bei Bestimmung der Kautionssumme wird nicht allein auf den Kostenbetrag, sondern auch auf die Gattung des Baues und die Zufälligkeiten, welchen derselbe unterliegt, Kflcksicht genommen und nach Maßgabe dieser Umstände die Höhe der Kaution auf 5 Proz. bis 10 l’roz. des Erstehungsbetrages der Bauherstellungen bestimmt. Die Kaution ist in Bargeld oder in öffentlichen Wertpapieren nach dem Börsekurse berechnet, zu erlegen. Nur ausnahmsweise, mit besonderer Bewilligung der Oberbehörde, kann eine grundbücherlicb gesicherte Kaution oder eine Geaamtbürgschuft angenommen werden. Die Kaution dient als Sicherstellung für Erfüllung aller Vertragsbedingungen, als Fonds für Entschädigung aller durch Nichterfüllung entstandenen Schäden und Bückersatz der über den Endabrechnuiigshetrag geleisteten Vorauszahlungen.

Als wesentliche Beilagen und Bestandteile des Vertrages sind das Vergebungsprotokoll mit seinen Belegen und eine beglaubigte Abschrift des GenehmigungserlasBes zu betrachten. Im Vertrage ist sodann die Zeit zu bestimmen, wann dem Unternehmer der Bau übergeben wird und wann

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Das Recht <ler ßffentlirhen Arbeiten- 1*>7

derselbe iu Angriff zu nehmen ist. Ferner muh erklärt werden, ob und in welcher Art und Weise der Ereteher die Kaution geleistet hat. Der Bau- vertrag ist der Oberbehörde ebne Verzug zur Genehmigung vorzulegcn und wenn diese erfolgt ist, dem Ersteher eine beglaubigte Abschrift desselben mitzuteilen. Sobald der Vertrag zu stände gekommen ist, kann der Bau unternommen werden, wenn auch dessen Bestätigung noch aussteht, und es ist letztere nur in jenen Fällen abzuwarten, wenn dies besonders ange- orduet wird.

C. Die Rechtsfolgen des Vertrages.

Jede der vertragsschließenden Parteien bat das privatrechtliche Recht auf genaue Erfüllung des Vertrages. Insbesondere:

1. der Unternehmer, welchem von der Bauleitung der Tag der Über- gabe der Arbeiten bei Zeiten bekannt gegeben wird, bleibt für jeden Schaden, welcher aus der verspäteten Übergabe und Einleitung der Arbeiten der Verwaltung zugelien sollte, verantwortlich und zu entsprechender Ent- schädigung verpflichtet. Außerdem wird die Bauleitung einen anderen Tag zur Übernahme mit dem Bedeuten festsetzen, daß der Unternehmer, wenn er sich auch dieser Anordnung nicht fügen sollte, ohne weiteres als vertrags- brüchig zu behandeln und mit dem Verluste der geleisteten Kaution von der Unternehmung auszuscliließen ist.

2. Der Unternehmer muß die Arbeiteu mit Fleiß und Genauigkeit und nach den anerkannt zweckmäßigsten Grundsätzen ausfübrj?n. Er ist ver- pflichtet, sich strenge nach allen bestehenden Vorschriften zu richten und alle einschlägigen VerwaltungsmaUregeln zu beachten. Er bat die Arbeiter zu verteilen, ihnen jene Arbeiten zuzuweisen, in welchen sic geübt sind, sie mit geeigneten Arbeitsmitteln und Gerätschaften zu versehen und über sie zu wachen.

3. ln Fällen, wo die Verzögerung in der Ausführung der Arbeiten von Seite des Unternehmers nicht gerechtfertigt werden kann, bat derselbe als geringste Strafe für die ganze überschrittene Zeit die Kosten der Bau- Überwachung durch den Bauführer, der Bauleitung und der Kommission, welche infolge jener Verzögerung au Ort und Stelle entsendet wordeu ist. zu tragen. Wenn jedoch durch die Verzögerung auch Nachteile hervor- gerufen wurden oder wenn es notwendig ist, den Unternehmer seiner Ver- tragsverbindlichkeiten zu enthebeu und die Arbeiten in einer anderen Art forizusetzen, so ist derselbe zur Vergütung der genannten Schäden und zur Zahlung aller Mehrkosten, die zur Beendigung der Arbeiten notwendig sein sollten, verpflichtet

Außerdem wird im Vertrage für je 15 Tuge der überschrittenen Bau- zeit eine angemessene Vertragsstrafe zu Gunsten des Baufonds festgesetzt, welche bei der nächsten Fristzahlung iu Abzug gebracht werden soll.

Dem Unternehmer liegeu bis zu dem Zeitpunkte, zu welchem die hergestellten Arbeiten durch die Kollaudierung in allen ihren Teilen als dem Vertrage vollkommen entsprechend anerkannt sein werden, der Schutz

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Bnwicwicz.

und die Überwachung seiner Leistungen dergestalt ob. daß er bis dahin alle daran sich zeigenden Mängel und Gebrechen aus Eigenem zu ergänzen, nachzu tragen und zu verbessern hat. Zur Deckung von derlei Ausfällen sind die rückständigen Verdienstsiimmen und die geleistete Kaution des Unter- nehmers zu verwenden.

4. Vertragsmäßig kann bestimmt werden, daß der Unternehmer auch eine gewisse Zeit nach Vollendung der Arbeiten für das ausgefertigte Werk eine Haftung übernimmt. Die Haftzeit ist nicht notwendige Bedingung für alle Bauten, wohl aber für solche, welche von großem Belange sind oder welche ihrer Natur gemäß in kurzer Zeit nach ihrer Vollendung einer Nachbesserung bedürfen, endlich für Herstellungen von ungewöhnlicher Art, deren gute Ausführung oder Erfolg erst nach einiger Zeit beurteilt werden kann. In diesem Falle wird in den besonderen Bedingnissen die Kaution bezeichnet, welche der Unternehmer für die Haftzeit zu erlegen hat.

5. Bei Verträgen in Bausch und Bogen wird der bedungene Preis in bestimmten gleichen Teilen nach Maßgabe des Baufortschrittes an den Unternehmer ausbezahlt. Die Zahl der Fristzahlungen richtet sich nach der Größe der Gesamtkosten. Bei kleineren Arbeiten werden drei bis sechs Katen, hei größeren mich mehrere festgesetzt, so daß eine ltate von 5 bis 10 Proz. der Gesamtsumme beträgt. Kür Herstellungen nach Einheits- preisen wird die Verabfolgung der Fristzahl ungen nach Verlauf von gewissen Zeitabschnitten i eine oder mehrere Wochen) festgesetzt und hiebei auf den Umfang der Arbeiten Rücksicht genommen. Die Auszahlung während des Raues erfolgt immer nur nach Maßgabe des wirklichen Arheitsfortschrittes; der Unternehmer, welcher eine Abschlagszahlung beansprucht, hat den erzielten Verdienstbetrag durch eine genaue Rechnung gehörig zu begründen. Sie wird vom Bauleiter geprüft und bestätigt.

Von jeder Abschlagszahlung werden immer 5 Proz. zurückbehalten, um die Schlußrate zu bilden: sie wird zur Sicherstellung der Verwaltung für etwaige Unzuträglichkeiten und sonstige Mängel zurüeklielialten.1) Diese letzte Rate wird erst naeli erfolgter Genehmigung der Endabnahme und Endabrechnung ausgefolgt. Zugleich wird auch die geleistete Kaution zurückgestellt.

6. Etwaige Ansprüche des Bauunternehmers auf Entschädigung für angebliche Mehrauslagen, für Wiederherstellungen, die nicht durch sein Verschulden herbeigeführt wurden, endlich für Gegenstände überhaupt, welche weder im ursprünglichen Bauentwürfe, noch in den nachträglich ver- faßten Entwürfen, Überschlägen und Buurechnuugen berücksichtigt worden sind, müssen spätestens bei der Endabnahme der Arbeiten erhoben werden, da sic sonst ausgeschlossen werden.

7. Für alle aus dem Vertrage etwa entspringenden Bechtsstreitigkeiteu. welche nicht kraft des Gesetzes vor einen ausschließlichen Gerichtsstand gehören, wird das sachlich zuständige Gericht am Sitze der k. k. Finanz- prokuratur des betreuenden lindes als ausschließlich zuständig festgesetzt.

lu Frankreich wird 10 Proz. der Zahlungen verlüutig zurückbehalten.

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Das liecht der Affent licheu Arbeiten.

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D. Die materiellen Sonderrechte der Verwaltung.

Sie haben den Zweck, die gute Beschaffenheit der Materialien und die pünktliche Ausführung der Arbeiten zu sichern und den Streitigkeiten möglichst vorzubeugen. In Österreich sind diese Rechte der Verwaltung nicht in allgemeinen Gesetzen enthalten, sondern nur in den Vertrags- bedingungen, uud bilden dementsprechend ein Vertragsrecht. Diese beson- deren Rechtsfolgen aus einem Vertrage über Ausführung öffentlicher Arbeiten äußern sich im Verhältnisse der Verwaltung zum Unternehmer, im Ver- hältnisse des letzteren zu den Arbeitern und im Verhältnisse des Unter- nehmers zu dritten Persoueu.

Das Verhältnis der öffentlichen Verwaltung zum Unternehmer bewirkt :

1. Die Notwendigkeit der persönlichen Ausführung der Arbeiten.

Der Abschluß des Vertrages erfolgt intuitu persouae und die Ausführung desselben muß persönlich erfolgen. Die Übertragung der übernommenen Arbeiten oder auch eines Teiles derselben au einen andern ohue vorher eingeholte Bewilligung der Verwaltung ist durchaus untersagt. Ein Unternehmer, welcher die bereits übernommenen Arbeiten ohne Erlaubnis weiter überläßt, ist so zu betrachten, als wenn er die Arbeiten aufgegeben hätte.

Die die Versteigerung besorgende Behörde kann deswegen den Vertrag auflösen im Falle des Ablebens des Unternehmers, im Falle der Zahlungs- unfähigkeit oder im Falle der Verurteilung wegen einer aus Gewinnsucht begangenen strafbaren Handlung. Nach Auflösung des Vertrages wird Abrechnung gepflogen, indem die Behörde den auf die ausgefertigten Arbeiten entfallenden Kostenbetrag sowie den Wert jener Vorgefundenen Materialien, welche zur Benutzung bei Fortsetzung der Arbeiten geeignet befunden werden, ausbezahlt.

Der Unternehmer muß sich beständig am Arbeitsorte betindeu oder sich durch einen Bevollmächtigten vertreten lassen, welcher diu volle Macht besitzt, allen Verpflichtungen des Unternehmers ohue irgeud einen Vorbehalt Genüge zu leisten.

2. Die Unterwerfung des Unternehmer» unter die Leitung der HaubchOrde.

Durch den Abschluß des Vertrages unterwirft sich der Unternehmer der Aufsichtsgewalt der Baubehörde, und zwar:

a) der Unternehmer muß sich auf der Baustelle persöulich eiiitinden, so oft es von der Verwaltung gefordert wird; er ist verpflichtet, jederzeit die geforderten Auskünfte zu erteilen, von wichtigeren Ereignissen (z. B. Behinderung der Bauausführung. Vollendung der nicht mehr nachzumessenden Arbeiten) sofort Anzeige zu erstatten und die den Bau kontrollierenden Aufzeichnungen zu unterschreiben;

b) die sämtlichen auf dem Bau beschäftigten Bevollmächtigten, Gehilfen und Arbeiter des Unternehmers sind bezüglich der Bauausführung und der Aufrechterhaltnng der Ordnung auf dem Bauplätze den Anord- nungen der Verwaltung unterworfen. Im Falle der Unfähigkeit oder

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Bresiewicx.

Widerspenstigkeit dieser l’ersonuii kann ihre sofortige Entfernung von der Baustelle verlangt werden ;

c) die Tauglichkeit der Materialien wird vor dem Verbrauche von der Bauleitung untersucht; im Falle sich der Unternehmer schlechter Materialien bedient oder selbe schlecht ins Werk gesetzt haben sollte, muß der auf diese Art hergestellte Teil der Arbeit abgetragen und auf Kosten des Unternehmers vorschriftsmäßig neu errichtet werden;

d) der Unternehmer muß jenen Vorschrillen entsprechen, welche ihm die Bauleitung während der Arbeiten von Fall zu Fall erteilen wird und welche die Art und Weise der Ausführung der Arbeiten betreffen. Insbesondere bestimmt die Bauleitung den Zeitpunkt des Beginnes der übernommenen Arbeiten. Wenn der Unternehmer die Arbeiten mit geringerer Kraft betreibt als unumgänglich notwendig ist. um erstere in der festgesetzten Frist zu Ende zu bringen oder aus was immer für einer Ursache die Arbeiten verzögert, so hat die Bauleitung die Verpflichtung, ihn nicht nur sogleich schriftlich darauf aufmerksam zu machen, sondern auch die Leistungen zu bestimmen, welche von ihm geliefert werden müssen, um das Versäumte nachzuholen. Wenn der Unternehmer in dem ihm von der Bauleitung auf 3— 10 Tage vorher bestimmten Zeiträume dieser Aufforderung nicht entspricht, wird üher Bericht der Bauleitung zur kommissionsweisen Erhebung des Sachverhaltes geschritten. Auf Grund dieses Befundes wird die Kom- mission, wenn Gefahr am Verzüge haftet, sogleich die ihr als zweck- mäßig erscheinenden Einleitungen zur gehörigen Fortsetzung des Baues treffen; wenn aber ein Aufschub zulässig ist, die geeigneten Anträge der Vorgesetzten Baubehörde vorlegen. Wenn die letztere die Vorkehrungen der Kommission genehmigt, erhalten sie ihre volle und unwiderrufliche Gültigkeit;

c) in jedem Falle steht es der Baubehörde frei, alle jene Maßregeln zu ergreifen, welche zur unaufgehaltenen Erfüllung des Vertrages führen.1) Wenn der Bauunternehmer sich weigern sollte, die von ihm geforderten Arbeiten, Nachbesserungen, Ergänzungen und Umänderungen vorzu- nehmen, so ist diese Arbeit uaeh vorausgegaugencr fruchtloser Auf- forderung dem Vertrage gemäß auf Kosten und Gefahr des Bauunter- nehmers durch die Bauleitung zu vollziehen. Die betreffenden Auslagen werden von dem Guthaben des Bauunternehmers in Abrechnung gebracht;

f) im Falle sich der Unternehmer während der Dauer der Arbeiten durch die Beamten bei der Überwachung, Prüfung oder Übernahme der Arbeiten in seinen Kochten geschädigt erachtet, hat er bei der Behörde, welche den Vertrag abgeschlossen hat, darüber Beschwerde zu führen beziehungsweise deren Entscheidung anzurufen. Gegen diese Ent- scheidung kann er au die höhere Verwaltungsbehörde Berufung

’) Hnfkiuiileidekiwt vom 2!l Jnnl 1820. 1». G.-S. IM. IS, Nr. 80, 8. HO.

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Pas Recht 1t Öffentlichen 4 rbriten.

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ergreifen und erst dann, wenn er eich Mich dieser Entscheidung nicht fügen will, steht ihm die Betretung des Rechtsweges ollen ; ij) überhaupt hei Zweifeln oder Meinungsverschiedenheiten zwischen der Bauleitung und Bauunternehmung über den Sinn und die Anwendung der allgemeinen oder besonderen Baubedingnisse oder des Vertrages, wird die Entscheidung über derlei Streitpunkte im Instanzenzuge von den Verwaltungsbehörden gefüllt. Es bleibt jedoch dem Bauunternehmer, nachdem er in allen Instanzen eingeschritten ist. unbenommen, den Rechtsweg einzuschlagen.1'! Der vertragsmäßige Verzicht auf den Rechtsweg ist unzulässig5) und wäre rechtlich unwirksam.

Daraus ist zu entnehmen, datl die Verwaltungsbehörden im admini- strativen Instanzenzuge alle Entscheidungen fällen und vollziehen, welche die Erfüllung des Vertrages und die beiderseitigen Rechte betreffen. Dieses in allen lindern bestehende Recht der Verwaltung zur Vollziehung der noch nicht rechtskräftigen Anordnungen hei Vergebung der öffentlichen Arbeiten wird in Frankreich sehr richtig „privilhge du preable* genannt. Es ist ein Ausfluß des tledankens, laut welchem die die öffentlichen Pflichten bestimmenden Anordnungen sofort vollstreckbar sind, damit der (lang der öffentlichen Verwaltung durch Beschwerden nicht gehemmt werde. Diese Entscheidungen sind zwar nur ad interim bindend es ist jedoch die große Wirkung einer vorläufigen Entscheidung nicht zu verkennen. Die Verwaltung macht ihre Rechte selbst geltend und setzt sie in Vollzug; der Vertragschließer muß die schwierigere Rolle des Klägers im gerichtlichen Streite übernehmen und die gerichtliche Entscheidung abwarten. Nicht jeder ist ökonomisch so mächtig, um die mögliche Auflösung des Vertrages und den Verlust der Kaution sowie der Verdienstbeträge zu wagen, und wird sich lieber den Anordnungen der Verwaltung fügen. Die endgültigen Ent- scheidungen werden immer nur von Gerichten gefallt, weil die gesetzlichen Bestimmungen über die Grenzen der administrativen und richterlichen Zuständigkeit zwingender und nicht bloß willkürlicher Natur sind, so daß sie weder durch die Ausübung der Behörden noch durch Privatübereinkünfte der Parteien verrückt werden können." i

■) Pas französische Hecht weist alle Streitigkeiten aus den Verträgen über Offent- liehe Arbeiten den Verwaltnngagerichten zu (Gesetz vom 28. Ploviose de Tan VIII, Art. 4). In Preußen entscheidet ein von beiden Parteien berufene- Schiedsgericht (die Vertragsbedingungen 8 29); in Italien ein au» höheren Beamten berufenes Schieds- gericht (Capitolato generale del genio cirile Art 42; condizioni generali de! genio miiitare Art. 79). Überall muß jedoch die Streitsache zuerst im Verwaltungswege aus- getragen werden. In Preußen gilt die Entscheidung der Verwaltungsbehörde als aner- kannt. falls der Unternehmer nicht binnen vier Wochen eine schiedsrichterliche Ent- scheidung beantragt : in diesem Palle entscheiden die von den Parteien ernannten •Schiedsrichter (die Vertragsbedingungen § 29). In Italien beträgt die Frist zum Anträge auf schiedsrichterlich'' Entscheidung SO Tage (Capitolato generale Art. 45; condisioni generali Art. 82).

*) Hofdekret vom 10. Dezember 1819, J. G.-S. 1685. Anh. 4.

3! Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 21. Dezember 1881, Rudwinski Nr. 1242.

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Bresiewicz.

3. Die Zulässigkeit gewisser Änderungen des Vertrages.

Während der Ausführung eines Baues dürfen keine wesentlichen Änderungen eintreten, d. i. solche, welche das Wesen und die Natur desselben berühren: es kann z. B. anstatt einer eisernen Brücke keine steinerne gefordert werden. Die zulässigen Änderungen können also nur die Menge der Arbeiten und die Zeit der Ausführung betreffen. n) Im Zuge eines Banes kann sich die Notwendigkeit von Mehrarbeiten heraussteilen, ln diesem Falle werden vom Bauführer und Bauleiter mit Zuziehung des Unternehmers Erhebungen gepflogen, um dasjenige, was zu geschehen hat. zu ermitteln und ordnungsmäßig zu berechnen. Solche Erhebungen sind protokollarisch zu behandeln, mit der Angabe der Hauptveranlassungen, mit der Beschreibung und den Zeichnungen der aiiszuführenden Mehrarbeiten zu versehen und mit Überschlägen der höheren Baubehörde vorzulegen, welche darüber entscheidet. Wenn die Notwendigkeit einer Mehrarbeit nnvorgesehen eintritt und ohne daß die Zeit zur Einholung einer höheren Genehmigung zu den zu treffenden Vorkehrungen vorhanden ist. indem Gefahr am Verzüge haftet., berichtet die Bauleitung hierüber sogleich an die Vorgesetzte Behörde, weist aber zu gleicher Zeit den Unternehmer an. die nut- wendigen Arbeiten sofort zu beginnen.

In beiden Fällen ist der Unternehmer verbunden, der Anordnung der Baubehörde zu entsprechen und die geforderten Mehrarbeiten urn den im Vertrage verabredeten l’reis auszuführen.1) Wenn solche Arbeiten notwendig sind, welche in den ursprünglichen Voranschlägen nicht bewertet erscheinen, so kann die Baubehörde die bezüglichen Arbeiten den Unternehmer ausfflhren lassen oder sie einem andern Unternehmer übergeben. Die Preise werden auf Grund der im Vertrag bewerteten ähnlichen Arbeiten und der üblichen Tagespreise mit dem Unternehmer vereinbart oder von der höheren Baubehörde einstweilen festgestellt. Falls eine Arbeit ausgeführt werden mußte, welche sich nicht bewerten läßt, wird sie im Taglohne ausgeführt und dem Unternehmer auf Grund der von dem Bauführer bestätigten Zahlungsbogen mit einem lOproz. Zuschlag für Werkzeuge und Aufsiehtskosten entlohnt. Nie darf die Arbeit wegen der noch nicht erfolgten endgültigen Entscheidung betreffs der Notwendigkeit derselben oder des Preises vom Unter- nehmer aufgehalten werden.

Wenn während der Ausführung der Arbeiten Umstände eintreten, welche nach dem Urteile der die oberste Leitung der Arbeiten besorgenden Behörde die Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit einer Verminderung der Arbeiten herbeiführen, ist der Unternehmer ver- pflichtet, die Leistungen in der ihm von der Bauleitung vorgezeichneten Art einzuschränken und sich daher auch die entsprechende Verminderung

*) In Preußen kennen dem Unternehmer keine in den Bauentwürfen nicht vor- gesehene Arbeiten ohne deasen Zustimmung übertragen werden 1, Z, 2 der Vertrags- bedingungen).

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Da* Rächt '1er öffentlichen Arbeiten. 20R

der Zahlung gefallen zu lassen.') Nur bei gänzlicher Einstellung der Arbeiten ohne Verschulden des Vertragschließers, wenn die ermittelte Verdienstsunmie nicht zwei Drittel der veranschlagten Bausumme erreicht, wird ihm eine Entschädigung gewöhnlich in einem Prnzent- hetrage des Unterschiedes zugesichert ;*) bi die fflr die Ausführung der Arbeiten im Vertrage genau angegebene Zeit muß strengstens eingehalten werden. Bei der Bemessung dieser Zeit ist iui vorhinein jener Zuschuß einzubeziehen, welcher mit Kiicksicht auf die wahrscheinlichen gewöhnlichen Unterbrechungen in der Arbeit notwendig ist.

Der Zeitpunkt des Beginnes der Arbeiten wird mittels eines von der Bauleitung mit dem Unternehmer nufgenomnienen Übergabsprotokolles urkundlich festgesetzt und die Zeit der Ausführung wird nach unmit- telbar aufeinander folgende Tage oder Monate, ohne Ausnahme und ohne irgend einen Vorbehalt, gerechnet. Für gewöhnliche Unter- brechungen, wie sie z. B. durch Kegenwetter verursacht werden, wird keine weitere Nachsicht zugestanden. Eine Ausnahme besteht nur dann, wenn während der Ausführung einer hintangegehenen Arbeit die Notwendigkeit einer Mehrarbeit hervortritt oder die Elementar- ereignisse an dem schon hergestellten Teile der Arbeit einen erweis- lichen Schaden verursachen. In dem einen wie im andern Falle wird dem Unternehmer die Frist um diejenige Zeit hinaus gerückt, welche der bezüglichen Mehrarbeit entspricht. Die Verwaltung kann hingegen die Arbeiten zeitweise einstellen (jedoch nicht über ein volles Jahrl und der Vertragschließer hat aus Anlaß dieser Einstellung keinen Anspruch auf eine Entschädigung. Durch die zeitweise Unterbrechung wird die verabredete Beendigungsfrist der Arbeiten um die Dauer der Unterbrechung verlängert.

Das Verhältnis des bauführenden Unternehmers zu dritten an den Arbeiten nicht beteiligten Personen ist grundsätzlich eine Privat- sache, welche im Streitfälle auf den Rechtsweg gehört. Bei öffentlichen Arbeiten trachtet jedoch die Verwaltung danach, daß diese nicht- beteiligten Personen keine Vermögensnachteile erleiden. Die Bauunter- nehmung wird vertragsmäßig verpachtet, den Privaten des Ortes, wo die Arbeit ausgeführt wird, alle ihnen während der Ausführung, sei es durch Gewinnung und Transport der Materialien oder durch irgend eine Besitznahme, zugefügten zeitweiligen Nachteile oder Beschädigungen zu vergüten. Die für solche Entschädigungen im vorhinein berechnete

') In Preußen hat der Unternehmer in diesem l alle Anspruch auf den Ersatz, des Hon daraus nachweislich entstandenen wirklichen Schadens (Vertragsbedingungen § 5). In Italien (Codice dei lavori pubblici Art. 344 > muß sich der Unternehmer eine Ver- mehrung oder eine Verminderung der Arbeiten um '/» de» Preises gefallen lassen; in Frankreich um t (Art. 30. 31, 32 cahieri. Sonst kann er die Auflösung des Vertrages verlangen.

’) Italien 10 Prot. (Codice dei lavori pobblici Art. 345).

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BreMMrir*.

Summe wird von dem Unternehmer in jedem Kalle in Bauseh und Bogen übernommen. Sobald die Arbeiten ihrer Beendigung nahe sind, wird es von der Bauleitung der politischen Ortsbehörde angezeigt, damit diese öffentlich kundmache. die verletzten Privateigentümer, welche die ihnen gebührende Entschädigung nicht erhalten haben sollten, mögen innerhalb zweier Wochen ihre Forderungen gegenüber dem Unternehmer der Bauleitung angeben, welch letztere den Unter- nehmerdavon sogleich in Kenntnis zu setzen hat. Wären die besagten Ent- schädigungen nicht geleistet, so wird dem Unternehmer sein Guthaben so lange zurückbehalten, bis derselbe die volle Erfüllung dieser Ver- bindlichkeiten darzutun vermag. Die Ausgleichungsheträge für die bleibende Grundbesitznahme und für die immerwährenden Eigentums- verluste werden von der Verwaltung unmittelbar an die betreffenden Beschädigten geleistet. Die für zeitweilige Beschädigungen an Private berechnete Summe wird dem Unternehmer erst dann ausbezablt, wenn die Bauleitung demselben das Zeugnis ausstellt, daß die Arbeiten vollendet oder so weit vorgeschritten sind, daß kein Anlaß zu weiteren Beschädigungen vorhanden ist, und wenn der Unternehmer über die seinerseits geleisteten Entschädigungen sich mit Bestätigungen der Beteiligten auszuweisen vermag.

VI. Verleihung öffentlicher Unternehmungen.

Bei Arbeiten, welche in eigener Kegie oder vom Unternehmer aus- geführt werden, gibt die Verwaltung die Geldmittel. Der Staat und die öffentlichen Verwaltungskörper besitzeu aber nicht immer die nötigen Geld- vorräte, um gemeinnützige und notwendige Arbeiten, welche viele Millionen kosten, herzustellen : auch ist es nicht immer ratsam, diese Geldmittel im Darlehenswege aufzubringen, weil dadurch der öffentliche Kredit zu sehr in Anspruch genommen wäre. Die größten öffentlichen Arbeiten der Neuzeit wären nicht zu stände gekommen, wenn mau Privutkapitalien nicht heran- ziehen könnte. Die Privatpersoneu oder Gesellschaften übernehmen die Last der Arbeiten, wenn sie die Zusicherung erhalten, daß sie während gewisser Zeit den Nutzen des Werkes ziehen können werden, um ihr Anlagekapital zu amortisieren und die Verzinsung desselben zu erreichen. Diese Zusicherung wird ihnen in der Verleihung gegeben.

Der Zweck der Verleihung ist, ein öffentliches Unternehmen ins Lebe« zu rufen. Die Verleihung ist also nur eine Art der Sicherstellung der öffent- lichen Unternehmung. Das ist die Auffassung des österreichischen Hechtes,1)

') Lehrreich in dieser Hineicht iet Art. I de» Gesetze* vom 25. November 1 8.-3, K.-G.-Bl. Nr. 173, über die bOlnmsch-in&hrischen Transversalbahnen, und Art. YFliI des .lern Gesetze vom 13. Juli Ibt(2. R.-G.-B1. Nr. 109, Ober die AuslQhnmg Öffentlicher Verkehrsanlagen in Wien beigeschlossenen Programme, laut welchen gewisse Bahn- strecken auf Kosten des Staates beziehungsweise der Kommission für Wiener Anlagen hergestellt werden sollen, insoweit es nicht möglich ist, die Ausführung derselben im Wege der Konsessionserteilung an eine Privatuuternehrnung sieherzustellrn.

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Das Recht der öffentlichen Arbeiten.

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welche vollkommen mit dem französischen und italienischen Beeilte über- einstimmt; es ist aber nicht die Auffassung der österreichischen und meistenteils auch nicht der deutschen Rechtswissenschaft.1)

A. Gegenstand der Verleihung.

Die Verleihung öffentlicher Unternehmungen ist nur dort möglich, wo das fertige Werk einen Geldnutzeil abzuwerfen im stände ist; fast alle Ver- leihungen beziehen sich auf Verkehrsanstalten, wie Straßen, Brücken, Über- fuhren, Schiffahrtskanüle, Eisenbahnen. Trambahnen und Fernsprechanlagen ; es kommen noch die Wasser- und Gasleitungen sowie die Stadtkanäle hinzu. In früheren Jahrhunderten waren die Verleihungen sehr häufig; in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts wurden jedoch vielo dieser Anlagen eingelöst und werden weiter von der öffentlichen Verwaltung selbst geführt. Mit der Zeit sind jedoch neue Anstalten und neue Verleihungen entstanden.

1. Die wichtigste von allen ist die Eisenbahnkonzession; sie zeigt auch in den Gesetzen die allseitigste Ausbildung und ergibt deswegen den natürlichen Faden für die weitere Darstellung. Das Konzessionswesen der Eisenbahnen ist in Österreich mit Verordnung des Ministeriums für Handel und öffentliche Bauten vom 14. September 1854, K.-G.-Bl. Nr. 238,’) mit Gesetz vom 31. Dezember 1894, B.-G.-B1. Nr. 2 ei 1895, über Bahnen niederer Ordnung, und mit Verordnungen des Handelsministeriums vom 25. Jänner 1879, K.-G.-Bl. Nr. 19, und vom 29. Mai 1880, K.-G.-Bl. Nr. 57, geregelt. Die Eisenbahnen waren zuerst lediglich Gegenstand von Privat- unternehmungen. Die steigende Bedeutung des Verkehrs und Gewährung der Zinsgarantien und Zuschüsse seitens des Staates an die Unternehmungen hat jedoch bald der Verstaatlichung den Weg gebahnt, so daß heutzutage fast überall Staats- und Privateisenbahnen nebeneinander bestehen. Das Verhältnis der einen zu den anderen bat sich in Mitteleuropa sehr ungleich- mäßig geformt9 1 und damit ist auch die Bedeutung des Eisenbahnkonzessions- wesens nicht überall eine und dieselbe.

'■ Eino Ausnahme macht nur Otto Mayer (Deutsches Verwaltungsrecht, II, S. 294 ff.), welcher sich in mancher Hinsicht der französischen Wissenschaft nShert.

7) Sie wird als Eiseubalinkonzessionsgesetz angeführt.

*) In Österreich-Ungarn hat das Eisenbahnnetz 36.883 km Länge: davon etil fallen auf Priratbahnen 30.593 km. Im Deutschen Reiche bestehen in Sachsen nur Staats- bahnen, in Barem. Württemberg und Baden ist der Besitz der Stsatshahn-n ein sehr überwiegender, ln Preußen und in Elsaß beträgt das Priratbahnnetz nur 3617 km gegen 30.347 km der Staatsbahnen. In England sind alle Eisenbahnen (35.296 km) in Prirat- hünden, in Frankreich (42.826 km) ihre überwiegende Mehrzahl. Desgleichen sind die italienischen Bahnen (15.787 km) meistenteils durch Konzessionen vergeben, obwohl viele von ihnen vom Staate gebaut wurden. (Die statistischen Ziffern sind der „Statistik der Lokoinotiveisenbahnen“, III. Bd., Wien, 1901, S. 60 bis 129, dem „Ungarischen stati- stischen Jahrbuche“, VIII., Budapest, 1902, S. 218, dem „Bulletin de statistique“, Paris, 1902, S. 698, und den „Annalen des Deutschen Reichs“, 1901, Bd. 34, S. 395 bis 400. entnommen und beziehen sieh alle auf den Stand am Ende des Jahres 1900.)

Zeitschrift für V<tlk*'*irtiMbafi, $oci*l|>r>Utlk. und Verwaltung. XU. Bnnd.

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Rretiewicz.

2. Die Verleihung der Wege-, Brücken- und Überfuhrkonzessionen ist in Österreich unter dem Namen der Mautkonzessionen bekannt. Ähnliche Mauten bestehen auch auf öffentlichen Landes- und Bezirksstraßen, wo sie auf Grund besonderer Gesetze erhoben werden: sie dienen denselben Zwecken, wie die Mauten an Wegen, Brücken und Überfuhren, welche von beliehenen Unternehmern eingehoben werden. Äußerlich besteht zwischen diesen Mauten kein Unterschied, wohl aber in der rechtlichen Grundlage. Die Errichtung öffentlicher, d. h. von den Ländern, Gemeinden, Konkurrenzen für öffentliche Straßen unterhaltener Wege. Brücken und Überfuhranstalten bedarf keiner Verleihung.1) sondern einer allgemeinen Genehmigung, welche für jede öffentliche Arbeit unumgänglich nötig ist. Diese Genehmigung ist daher nicht dem freien Ermessen der Staatsbehörde anheimgestellt, sondern sie muß gegeben werden, wenn keine öffentlichen Kücksichten dagegen sprechen. Wenn auch die Einhebung der Mautgehühren bewilligt wird, ist dadurch noch keine Verleihung der öffentlichen Arbeiten geschaffen.

Solche Verleihungen an Private können bezüglich der öffentlichen Wege und Brücken nur noch aus älteren Zeiten herstammen: die betreffenden Mautbezugsrechle bleiben auf die Dauer jener Privilegien aufrecht.*) Noch heute ist die Errichtung der Überfuhranstalten mit gewerbsmäßigem Betriebe auf Grund behördlicher Genehmigung zulässig.*) Mit behördlicher Geneh- migung der Anstalt ist aber die Konzession nicht vollkommen; es muß dazu noch die Bewilligung der überfuhrgehühren hinzutreten.4) Bei Fest- stellung dieser Gebühren darf man sich keinesfalls an die ärarischen Maut- tarifsätze unbedingt binden, sondern es ist einzig und allein an dem Grundsätze festzuhalten, daß durch die Privatmaut die Herstellungs- und ErhaltnngskoBten gedeckt werden sollen. %)

Die Brückenkonzessionen von National- und Departementswegen werden in Frankreich seit dem Gesetze vom :tO. .Juli 1880 nicht mehr erteilt und die baldigste Einlösung der bestehenden ist ungebahnt worden: jetzt können sie nur für Gemeindewege erteilt werden. In Deutschland wurde der Chausseebau von Aktiengesellschaften gegen Verleihung angemessener Abgaben übernommen. l!l Die Wege- und Brückenkonzessionen können nur für Brücken Vorkommen, welche von Gemeinden, höheren Kommunal- verbänden. Aktiengesellschaften und Privatpersonen unterhalten werden.’)

') Stenographische Protokoll« des Reichsrates vom 27. April 1*89.

*) Gesetz vom 2. April 1867, L.-G.-Bl. fär Böhmen Nr. 32, § 4; Gesetz vom 17. Mai 1866, L.-G.-Bl für NiedorOsterreich Nr. 10, § 3 u. s. w.

*} Waaserrechtagesetz vom 20. Mai 1869, It.-G.-Bl. Nr. 93. g 7.

1 j Diese wird in Galizien durch einen vom Kaiser genehmigten Landtagsbeacbluß 9 des Gesetzes vom 5. Juli 1897. L.-G.-Bl. Nr. -43), sonst von der Landesregierung bezw. vom Ministerium des Innern erteilt (Verordnungen des Ministeriums des Innern vom 27. August 1*79, L.-G.-BL für Böhmen Nr. 44).

*) Hotkanzleidekret vom 17. Mai 1*47, Prov. G.-S. für Tirol, Bd. 34, Nr. 36; Erkenntnis des Verwaltungsgcrichtshofes vom 9. März 1882, Budwinski Nr. 1333.

s; Das Material darüber hei v. Könne: Verfassung und Verwaltung des preußischen Staates. T. IV , Bd. IV., Abt. 2. S. 178 ft'.

’) Stengel: Wörteibueb, II., S. 909.

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i>as Recht 4er Öffentlichen Arbeiten.

207

3. Die Verleihungen betreffs der SchilTahrtskanäle kommen in Österreich nicht vor, weil bisher fast keine künstlichen Wasserstraßen ') vorhanden waren. Die kurzen Kanäle, welche in Handelshäfen zur Erleichterung der Schiffsauf- und -abladung vorhanden sind, wurden auf Staatskosten errichtet, ln Frankreich werden die Kanalverleihungen seit 40 Jahren eingelöst;*) die Einlösung kann nur im Wege eines besonderen Gesetzes und eines Übereinkommens stattfinden. In Italien wurden alle Sehiffahrtskanälc vom Staate erbaut. In Deutschland*) können öffentliche Kanäle auch durch Privatunternehmer hergestellt werden, welchen dafür der Betrieb und die Erträgnisse derselben überlassen werden. Das Verhältnis ist ein ähnliches wie bei den Privateisenbahnen.

4. Die Stadtkanäle und Stadtwasserleitungen werden bei uns nur von Stadtgemeinden gebaut und bestehen als städtische Anstalten. Die betreffenden Arbeiten sind als öffentliche zu betrachten, aber sie bilden keinen Gegen- stand der Verleihung. Die Gesetze, welche zur Einnahme der Kanal- einmündungsgebühren4 i und des Wasserzinses s) die bezüglichen Gemeinden berechtigen, schaffen eine öffentliche Last, eine Gebühr, sie begründen aber keine Verleihung der öffentlichen Arbeiten, da die Errichtung der Wasser- leitungen im eigenen Geschäftskreise der Gemeinden liegt. In Frankreich verleiht die Gemeinde wirkliche Konzessionen zum Baue der üurats- kanäle.8)

5. In Frankreich können auch die Entsumpfungsarbeiten der Grund- stücke verliehen werden. Der Unternehmer führt die Arbeiten auf eigene Kosten und erst nach Abnahme derselben wird der Mehrwert der ent- sumpften Grundstücke zwischen dem Eigentümer und dem Unternehmer nach dem in der Konzession bestimmten Verhältnisse geteilt.1) In Italien wird für die Entsumpfung der Grundstücke auch eine Konzession 'erlichen, aber sie hat einen andern Charakter, welcher sie der Unternehmung öffent- licher Arbeiten nähert, da die Kosten in jährlichen Annuitäten an den Unternehmer zu zahlen sind.8) Bpi uns sind die Entsumpfungsarbeiteu durch Wasserrechts- und Meliorationsgesetze geregelt; die Verleihung dieser Arbeiten findet nicht statt.

6. Desgleichen bildet in Frankreich die Gasbeleuchtung der Städte den Gegenstand der Verleihung; sie wird seitens der Gemeinden gewährt

*) Der Lundkaual Klagenfurt— Wörthersee (41 km) and der Wiener-Neustidter- kanal <63-4 km) haben für die Schiffahrt keine nennenswerte Bedeutung.

b Auf Grund der Gesetze vom 1. August 1860 und vom 20. Mai 1863.

*) Stengel: WOrterbnch, I., 8. 703.

4) Z. B. Gesetz vom 29. April 1894, L.-G.-Bl. für Mahren Nr. 54. Pie Zusammen- stellung der betreffenden Landesgesetze im StantewOrterbucbe von Mischler, II., 8. 1136.

ft) Z. B : Gesetz vom 16. August 1897, L.-G.-Bl. für Mähren Nr. 65, § 11; Gesetz vom 12. August 1899. L.-G.-Bl. lür Galizien Nr. 94, § 6.

4) Art. 115 des Gemeindegesetzes vom 5. April 1884.

'•) Dekret vom 7. Fructidor an XII, Art. 15 und Gesetz vom 16. September 1807, Art. 20.

b Gesetz Qi -er die Entsumpfung der Grundstücke vom 22. März 1900, Art. 6 und 25.

lö*

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20H

Br^Biewic*.

und bedarf in gewissen Fällen einer höheren Genehmigung.1) In Österreich wird von Gemeinden nur die Benutzung der öffentlichen Plätze und Gassen zur Anlage der Gasrohrleituugen verliehen. Die Ausführung der Beleuchtungs- anlagen* ist nur vom gewcrb- und Sicherheitspolizei liehen Standpunkte geregelt.

7. In Italien kann auch der Fernsprechdienst entweder von der Regierung unmittelbar oder von einem beliehenen Unternehmer ausgeflbt werden.-’) Die Konzessionsdauer ist auf höchstens 25 Jahre festgesetzt; nach deren Ablauf gehen die Leitungen mit allen Hinrichtungen in das Eigentum des Staates (Iber. In anderen Lindern wurden die ersten Fern- sprechleitungen auch von beliehenen Unternehmern errichtet; sie sind jedoch vom Staate übernommen und monopolisiert worden.4) Die Telephonie wird überall als ein Stück der Telegrapheneinrichtung angesehen.-')

Damit sind die Verleihungsarten der öffentlichen Unternehmungen nicht erschöpft; die öffentliche Verwaltung übernimmt mit jedem Tage weitere Kreise der Tätigkeit, schallt neue öffentliche Anstalten und damit die Möglichkeit neuer Verleihungen.

B. Der Verleiher.

Die Konzessionen dürfen nur von der öffentlichen Verwaltung aus- gehen, da sie die Ausführung der öffentlichen Arbeiten besorgt. Da jedoch die Organe dieser Verwaltung verschieden sind, entsteht die Frage, welche Verwaltungsorgane zur Konzessionserteilung berechtigt sind? Die Antwort scheint sehr einfach: diese Organe, in deren Wirkungskreise die betreffenden Arbeiten gelegen sind, weil sie nur ihre Rechte zur Verwaltung in Betreff des bestimmten Gegenstandes zeitweise aufgeben können. Dieser SchlulS wird jedoch nur im französischen uud im italienischen Hechte gezogen. Die Verkehrsverleihungen werden als Bewilligung zur zeitweisen Benutzung des öffentlichen Weges und zur Einnahme der Abgaben betrachtet. Des- wegen wird die Verleihung vom Staate, von der Provinz oder von der Gemeinde gewährt, je nachdem, wessen Verwaltung der Gegenstand der Verleihung untersteht.8) Das gilt insbesondere bezüglich der Verleihungen der Eisenbahnen, welche nicht auf eigener Unterlage, sondern am Wege-

’) Art. 115 des Gemeindegesetzes.

*) Mit Verordnung der Minister des Handels nnd de« Innern vom 9. Mai IS75, R.-O.-Bl. Nr. 76.

*) Gesetz vom 7. April 1692, Art. 4,

4) In Österreich mit Gesetz vom 29. Dezember 1 SS*2, ll.-G.-ill. Kr. 234: in Frank- reich mit Gesetz vorn 10. Juli 1889; in Deutschland meistenteils Taktisch (Stengels Wörterbuch, Ü..S. 617 ff.); rergl. auch das Telegraphcnwege,Gesetz vom 18. Dezember 1899.

*) Meili: Das Teiephonreclit, 1885, S. 47 ff.

*) In Frankreich werden die Konzessionen der Trambahnen vom Staate, vom Departement oder von der Gemeinde (Gesetz vom 11. Juni 1880, Art. 27(, der Über- fuhrsanstalten an Nationalwegen vom Staatzhaupte (Gesetz vom 14. Florcal an X), an Departementawegcn von Generalr&tcn (Gesetz vom 10. August 1871, Art, 46, 4 13) verliehen.

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Das R.-eht '1er nffriitli'hen Arbeiten,

209

körper gebaut werden.1) Die Verleihungen der Beleuchtung, der Gag- und Wasserleitungen sowie der Kanalisation werden vom Gemeinderate erteilt: wenn sie den Bewohnern Leistungen auferlegen, müssen sie vom Präfekten beziehungsweise dem Staatshaupte bestätigt, werden.8

Die österreichische Gesetzgebung kennt nicht den inneren Zusammen- hang zwischen der Verleihung und dem Körper der Anlage. Wenn auch zmn Baue einer öffentlichen Anlage ilie Benutzung des StraBengnindes not- wendig erscheint, muH der Bewerber vor der Verleihung sich ausweisen, datl er vom Verwalter des Weges die Benutzungsbewilligung erlangt hat, Nichtärarische öffentliche Straften können nur mit Zustimmung der zur Erhaltung Verpflichteten zur Anlage der Lokalbahnen in Anspruch genommen werden.5) In zahlreichen diesbezüglichen Landesgesetzen4) sind ähnliche Grundsätze ausgedrückt: die Bewilligung zur Benutzung der Straße wird entweder der Landes-, Bezirks- oder Gemeindevertretung, jeder bezüglich der von ihr verwalteten Straßen, oder nur dem Landesausschusse znge- standeu. Die Selbstverwaltungsvprhände in Österreich und in Deutschland haben zwar das Beeilt, gewisse öffentliche Arbeiten zu verrichten, ja sie können auf Grund gesetzlicher Ermächtigung für die Benutzung der Anstalten für sich Abgaben fordern,1 aber sie haben nicht die Möglichkeit, diese Berechtigungen an andere abzutreten und können keine Konzessionen ver- leihen, wenn auch sonst der Gegenstand des Unternehmens in ihren Wirkungskreis fallen würde. So erklärt sich die Erscheinung, daß in Öster- reich die Konzessionen nur von Organen der Staatsverwaltung verliehen werden können.0) Welche Organe der Staatsverwaltung die Verleihung gewähren, hängt von der Art derselben und ihrer Wichtigkeit ab. Für Eisenbahnen wird die kaiserliche Verleihung gesetzlich gefordert.8! für Überfuhrskonzessionen die Verleihung seitens der politischen Landesbehörde.' Eine Ausnahme machen nur die Verleihungen an nicht ärarischen Straßen und Wegen, welche in den meisten Kronländern eines Gesetzes, eines Beschlusses des Landtages oder des Landesausschusses bedürfen.5)

Die Verleihung öffentlicher Arbeiten liegt im freien Ermessen des dazu Berufenen; der Staat ist nicht gehalten, die Konzession unter bestimmten Voraussetzungen zu erteilen.

*) Italienisches Gesetz vom 27. Dezember 1896, Art. 1 und 10

3) Französisches Geiueindegesetz. Art. llä, 68, 133 and 145.

5) Loknlbahngesetz vum 31. Dezember 1894. R.-G.-Bl. Nr. 2 ei 1805, Art. XIV-, preußisches Gesetz vom 28. Juli 1832, 6 und 7.

*) Mayrhofers Handbuch, V., S. 616 ff.

s) Gemeindegesetze, sieh Mayrhofer. II., S. 586 bis 596.

*1 Für Eisenbahnen Konzessionsgesetz t) 2. Für PreuUcn sieh § 1 des Gesetzes vom 3, November 1838, für Bayern $ 2 der Verordnung vom 20 Juni 1855, für Württem- berg Gesetz vom 18. April 1843. Die Genehmigung zur Herstellung der Kleiubahueu in Preußen wird durch die Pruvinzial-VerwaUungshehOrden erteilt <£$ 2 und 3 des Gesetzes vorn 28. Juli 1892).

T) Kisenhahnkouzessionsgesetx 4 2.

4i 6 76 der meisten Wasserrerhtsgesetze.

.8ieb dir Zusammenstellung hei Mayrhofer, V., 8. 1017 ff.

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210

Bresi- wir/

Die Erteilung der Konzession kann sowohl an einzelne, au Länder und Gemeinden als auch an gesetzlich anerkannt« Vereine erfolgen; es kann auch die Übertragung der erteilten Konzession an die zu bildende Aktien- gesellschaft erlaubt werden.')

C. Die Fprm der Verleihung.

1. Zur Erwirkung einer Verleihung öffentlicher Arbeiten ist immer unum- gänglich notwendig, daß der Bewerber darum ansuche. Das Ansuchen kann schriftlich oder mündlich zu Protokoll gestellt werden. Die Grundlage dieses Ansuchens bilden allgemeine Vorschriften, welche für die betreffenden Unter- nehmen erlassen wurden: dann brauchen keine näheren Bedingungen der Verleihung gestellt zu werden. Wenn es sich jedoch um Begünstigungen handelt, welche nicht jedem Unternehmer vorschriftsmäßig zukommen, müssen sie besonders angesucht werden. Die öffentliche Verwaltung kann ihrerseits dem Verleihungswerber besondere Bedingungen stellen. Es werden die Verhandlungen geführt, bis vollkommene Einigkeit über die Bedingungen der Verleihung erzielt wird und der Bewerber erklärt, alle vereinbarten Bedingungen annehmeu zu wollen. Auf dieser Grundlago wird erst die Ver- leihung gegeben, und zwar immer schriftlich in der Form einer einseitigen Verwaltungsverfügung. Von Verhandlungen, welche zur Verleihung geführt haben, geschieht in der Urkunde keine Krwähnuug. Die Eisenbahnver- leihungen, welche für die Volkswirtschaft wichtiger sind als die übrigen Verleihungen, ergehen in einer mehr feierlichen Form eines Privilegs: grundsätzlich ist es immer ein Verwaltungsakt. Wichtigere Verleihungen oder wenn es sonst vorgesehrieben ist, werden in Gesetzblättern zur allge- meinen Kenntnis gebracht.*) In den übrigen Fällen reicht die Zustellung der Verleiliungsurkunde an den Bewerber aus.

Die Verleihungen haben in Österreich sehr selten die gesetzliche Form allein. Es kommt nur vor in jenen Ländern, wo Privatmautkonzes- sionen durch ein Landesgesetz verliehen werden.*) Die Verleihungen setzen jedoch die gesetzliche Ermächtigung zur Erlassung des Verwaltungsaktes voraus. Gewöhnlich wird sie für ganze Gattungen von Verleihungen gegeben. Wenn für einzelne Verleihungen besondere Zugeständnisse gewährt werden sollen, welche in allgemeinen Gesetzen nicht begründet sind, muß der Ver- leihung ein besonderes Gesetz vorangehen, welches die Regierung zu dieser Verleihung ermächtigt.*) Es bestehen hier zwei besondere Akte, ein Gesetz- und ein Verwaltungsakt. Der letztere ist jedoch immer der eigentliche Konzessionsakt. welcher die Rechte und die Pflichten begründet. Es kann jedoch auch Vorkommen, daß sich die Verleihung aus zwei besonderen Akten zusamraensetzt: es gibt zwei Verwaltungsakte, wenn z. B. bei Über-

Vl B. : Konzessionsurkunde vom 28. Koreniber 1877, R.-G.-B1. Nr. 12 ex 1878, § 15.

*j Z B.: Verleihung der Eisenbahnen, der Mauten u. s. w.

*) In der Bukowina, in Mähren und OberOsterrehh.

*) Gesetz vom 31 Dezember 1894, R.-G.-Bl. Nr. 2 ex 1895, Art. IX und X.

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Dtu> Hecht der öffentlichen Arbeiten.

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fubrsanstalteu zuerst die wasserrechtliohe Bewilligung und dann mit einem zweiten Erlaß die Genehmigung des Überfuhrtarifs erteilt wird.

2. Eine ganz andere Form haben die Verleihungen öffentlicher Arbeiten in Frankreich und in Italien, und zwar die Form eines Übereinkommens, welches zwischen der Verwaltung und dem lielielienen abgeschlossen und von beideu Parteien unterschrieben wird. Diese Übereinkommen haben sehr verschiedenen Inhalt und regeln das Verhältnis des Verleihenden zum Unter- nehmer. Wir finden darin Bestimmungen Ober Beiträge des Verleihenden, Garantien, Vorschüsse, etwaige Teilnahme am Gewinn u. s. w. Dem Über- einkommen werden die Submissionsheiliugiingen angeschlossen.1) welche die Vereinbarung Ober Ausführung öffentlicher Arbeiten bilden. Diese bestehen aus zwei Teilen: einer bezieht sich auf die Bauart der Anlage und die Beschaffenheit des Baumaterials, der andere auf den Betrieb, Maximal- tarife u. s. w. Zur Gültigkeit dieses Übereinkommens wird noch die Genehmigung gefordert: die Form und die Bedingungen der Genehmigung wechseln je nach der rechtlichen Handlungsfähigkeit des Verleihenden: Das Gesetz oder Dekret für die Staatsverleihungen. Erlaß des Präfekten für Verleihungen der Departements, schließlich der Erlaß des Gemeinde- vorstandes in Ausführung des Gemeinderatsbeschlusses, genehmigt vom Präfekten für Gemeindeverleihungen.

Im Falle, daß die Verleihung von Staatsorganen nicht erteilt wird, bleibt immer den letzteren die Anerkennung der öffentlichen Nützlichkeit des Unternehmens und die Ermächtigung zum Betriebe Vorbehalten. Diese Anerkennung wird durch ein Gesetz oder ein Dekret erlassen, welches das abgeschlossene Übereinkommen bestätigt.*) Sowohl das Übereinkommen als auch die Bedingungen bilden einen wesentlichen Bestandteil des Gesetzes oder Dekrets und haben dieselbe Wirkung.

Bei Erteilung der Konzessionen wird gewöhnlich keine öffentliche Bewerbung zugelassen. Sie ist jedoch nicht ausgeschlossen: so war es mit den ersten Bahnen in Frankreich :*) so ist es noch jetzt möglich bei Fern- sprechverleihungen in Italien,4 welche an denjenigen vergeben werden, welcher den Betrieb der Anstalt für niedrigere Tarife übernimmt. Die Ver- längerung der Konzession geschieht in derselben Form wie die Verleihung;

') Ala Master für Bahnverleihangen dienen in Frankreich die Bedingungen, welche den Gesetzen vom 4. Dezember 1975 (Eisenbahn von Alais zur Rhöne) und vom 27. Juli 1886 (Linie von Vivarais) beigelegt sind; für Lokalbahnen wurden die Bedin- gungen mit Dekret vom 6. August 1881 bestätigt. Filr Italien sieli das wichtigste Gesetz vom 27. April 1885, genehmigend die Übereinkommen betreffs der Verleihungen für mittelländische, adriatisebe und sizilische Eisenbahnen und kOuigl. Dekret vom 1. April 1883, welches die 8ubmissiotisbedingungeu für den Fernsprechdienst bestätigt.

ll Das französische Gesetz vom 3. Mai 1841 überläßt dem Dekrete nur die Ver- leihung der Abzweigungen von Eisenbahnen unter 20 km Länge. Italienisches Gesetz über öffentliche Arbeiten Art. 203 und 246 und Gesetz vom 27. Dezember 1896 über Lokalbahnen Art. 1 und 13.

*) Block Mantice: Dictionnaire de rsdministration francaise. V. Chemins de fer,

*/ Eonigl. Dekret vom 16. Juni 1892, Art. 4.

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Brosicwicz.

sie ist dunu begründet, wenn vom Unternehmer neue Herstellungen (z. B. der Bau eiuer eisernen Brücke anstatt einer hölzernen, neuer verlust- bringender Eisenbahnlinien) gefordert oder wenn er durch unverschuldete Elementarereignisse im Betriebe längere Zeit hindurch verhindert war.

D. Inhalt der Verleihungsurkunde.

Für einzelne wichtigere Arten von Verleihungen hat das Gesetz allge- meine Regeln aufgestellt; dies ist vor allem durch die Kisenbahngesetze für Eisenbahnkonzessionen geschehen. Diese Bestimmungen bilden den gesetzlichen Inhalt jeder Konzession und werden in ihren Wortlaut nicht aufgenommen. Die Verleihungsurkunde enthält teils Hinweise auf die in allgemeinen Konzessionsgesetzen enthaltenen Bestimmungen, teils aber auch besondere Vorschriften, welche sich hauptsächlich auf das Verhältnis des Staates zum Beliehenen beziehen. Gewöhnlich enthält die Urkunde noch die Verpflichtung des Beliehenen, sich späterhin den von der Staatsgewalt zu erlassenden allgemeinen Vorschriften zu unterwerfen. Der besondere Teil einer Verleihungsurkunde enthält Bestimmungen Uber die Eintluliuahme des Staates auf die Einrichtung und Verwaltung der Unternehmung, die Fest- setzung der Baupflicbt und einer Baufrist, die besonderen technischen Bedingungen, Bestimmungen Uber die Betriebspflicbt und Instandhaltung der Anlage, Uber die Verpflichtung zur Vorlage und Veröffentlichung der Beförderungspreise und Fahrordnungen, Ober die Maximaltarife wie die Verpflichtung zur Ergänzung der Anlage in bestimmten Fällen. Auflerdem werden dem Unternehmer durch die Verleihungsurkunde Pflichten zu gewissen Leistungen für öffentliche Zwecke, z. B. gegenüber der Militär-, l’ost , Telegraphen- und Zollverwaltung sowie gegenüber den Staatsaufsichts- behörden auferlegt.1) Endlich enthält die Urkunde oft auch Zusicherungen von Begünstigungen, welche dem Unternehmer seitens des Staates gewährt werden, wie Beihilfen, Befreiungen von Gebühren und Steuern, Zinsgarantien, Zulässigkeit der Betriebsübernahme seitens des Staates u. s. w.

Für Wege- und Brückenverleiliungen finden sich die Bestimmungen in den Mautvorschriften. Die Bewilligung von Überfuhren und Übcrfuhr- gebühreu wurde mit Erlali des Ministeriums des Innern vom 27. August 1879 (L.-G.-Bl. für Böhmen Nr. 44) näher geregelt.

Aus der Verleihung erwirbt der Unternehmer Rechte, er übernimmt aber auch Pflichten; da dem Rechte einer Person eine diesbezügliche Ver- pflichtung einer andern Person entsprechen muH, sind die aus der Ver- leihung entspringenden Hechte und Pflichten gegenseitig.

1. Die Berechtigungen des Unternehmers sind folgende: n) die Verwaltung verleiht dem Unternehmer das ihr allein’) zustehende

Rocht zur Ausführung einer bestimmten öffentlichen Anlage und ver-

’) r. Neumann in Miechlers StaatewOrtorbaeb, I., S. 336.

’) Eisenbahn konxessionsgesetz §Olit. a). Die Deutsche Verfassung 'Art. 41) um! das französische Gesetz über Lokalbahnen vom 11. Juni 1880 (Art. 8t kennen nicht die AneschlieSlichkeit

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Da> Recht der öffentlichen Arbeiten.

213

zictitet aut' die Möglichkeit, iu der festgesetzten Zeit eiue sulche selbst auszuführen;1)

b) sie stattet den Unternehmer mit der Kraft der Öffentlichen Gewalt aus, um die Ausführung des Werkes zu ermöglichen, sie gibt ihm das Recht der Anspruchnahme der Enteignung und der öffentlichen Lasten;1)

et die Verwaltung gibt dem Unternehmer das Recht, während der Dauer der Verleihung den Betrieb der öffentlichen Anlage zu führen und eine Abgabe zu erheben;9)

<l) sie verleiht ihm die Polizeigewalt des öffentlichen Gutes; 4 1 e) manchmal gibt sie ihm Ansprüche auf besondere Gewährungen,9) Zuschüsse, Zinsgarantien, Steuerbefreiungen u. s. w.

Die Verleihung der öffentlichen Arbeiten ist also eine Handlung der öffentlichen Gewalt; sie stattet den Beliehenen mit der Fähigkeit aus, ein Stück öffentlicher Verwaltung zu führen. Die verliehenen Rechte haben einen öffentlichrechtlichen Charakter; sie begründen für den beliehenen Unternehmer öffentliche persönliche Rechte auch gegenüber dem Verleihenden. 2. Der Beliehene hat jedoch folgende Pflichten : u) die öffentlichreehtliche Pflicht, das Unternehmen dem Edtwurfe gdinäß und in der festgesetzten Frist ins Werk zu setzen und durchzu- führen:‘)

b) die Kosten der Ausführung und Instandhaltung der Arbeiten während der Konzessionsdauer zu tragen;’)

c) die durch Ausführung der Arbeiten zugefügten Schäden um fremden Gute zu ersetzen und die durch den Bau gestörten Wege. Brücken und sonstige Verkehrsmittel anderweitig wieder herzustellen; 1

dt den Betrieb gegen die festgestcllten Preise zu führen, die bezüglich des Betriebes bestehenden Vorschriften zu beobachten und sich der Regulierung der Beförderungspreise seitens des Staates zu unter- ziehen;*)

e) nach Ablauf der Konzessionszeit das Bauwerk lasten- und kostenfrei an den Staat zu übergeben.9) Die letztere Pflicht wird hei diesen Aulagen nicht auferlegt, welche für Gemeindezwecke errichtet werden.

’) Kiacnbahukonzessionsgesetz § 9 lit. b.)

*) KiseubahnkonzesBionsgesetz § 9 lit. c) uml Gesetz roin IS. Februar 1878, lt.-G.-Bl. Sr. 30.

*> Eisenbahnkonxessionsgcaetz § 9 lit. d).

4) Die Eiaenbahnbetriebsordnung vom 16. November 1851, R.-G.-Bl. Nr. 1 ex 1*58, § 101.

a) Gesetz vom 81. Dezember 1894. R.-G.-Bl. Nr. 2 ex 1895, Art. IV bis VIII und XX. Bezüglich der deutschen Halmen sich Stengels Wörterbuch. Ergilnz.-Rd. III, S. 81 und 82. 1 Eisenbahnkonxcssionsgesetz 44 10 lit a) und 11 tit. b).

’) Eisenbahnkonzessionsgesetz 44 9 lit. a) und 8.

*) Kisenbahnkonzessionsgesetz 4 10 lit. e); bezüglich der Privatbrücken das Uubernial- dekret vom 8. Juni 1847, Prov. G.-S. für Tirol, Bd. 84. S. 847.

8 ) Eisenbahnkonzesaionsgesetz 4 8. ln Preußen ist nur das Einlöcungsrecht bekannt.

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Bresiewicz.

wie Trambahnen, städtische Wasser- und Kanalleitungen. Die Sanktion dieser Pflichten bildet das Recht des Staates, die Kaution einzuziehen, 1 ' die aufgetragenen Arbeiten auf Kosten des beliehenen Unternehmers auszuführen,11) die Einnahmen zu sequestrieren5) und schließlich den Widerruf der Verleihung auszusprechen.

3. Der Unternehmer darf von der Konzession nicht einseitig zurück- treten. Auch der Verzicht auf die verliehenen Rechte setzt eine Genehmigung voraus, um wirksam zu sein. In gleicher Weise kann die Verleihung ohne Zustimmung des Staates einem Dritten nicht abgetreten werden. Diese Be- willigung wird manchmal schon in der Verleihungsurkunde gegeben, und zwar:

u) bei kleineren Unternehmungen wie Brücken, Fähren, wo die Verleihung an den Unternehmer und seine Rechtsnachfolger geschieht;

b) bei Eisenbahnverleihungen, wenn dem Unternehmer gestattet wird, die durch Verleihung begründeten Rechte und Verpflichtungen an eine zu diesem Zwecke zu bildende Aktiengesellschaft zu übertragen.4)

4. Die Verleihung wird nur auf eine bestimmte Zeit erteilt, nach welcher sie erlischt. ’’) Vor Ablauf dieser Zeit darf sie jedoch ohne einen gesetzlich zulässigen Grund nicht zurückgezogen werden; während der Konzessiousdauer kann sie erlöschen;

aj durch beiderseitiges Übereinkommen ;

h) durch Erklärung der Behörde im Falle der in der Verleihungsurkunde vorbehaltenen Einlösung und im Falle der Verwirkung der Konzession, wenn mit den Arbeiten in der festgesetzten Frist nicht begonnen wurde, oder wenn der Konzessionsinhaber seine Pflichten schwer verletzt.

E. Rechtlicher Charakter der Verleihung.

Man kann die Verleihung keineswegs als eine gewerbepolizeiliche Erlaubnis auffassen. *! Der Unterschied zwischen beiden Begriffen fällt bei Eisenbahnen sofort ins Auge. Eine Eisenbahn, welche nur zum eigenen Gebrauche des Unternehmers auf eigenem Grund und Boden oder mit Zustimmung des Grundeigentümers angelegt werden soll, bedarf keiner Verleihung, nur einer polizeilichen Erlaubnis, welche nach Erwägung der Sanitäts- und Sicherheits- rflcksichten erteilt werden kann. Zur Anlage einer Eisenbahn dagegen, welche bestimmt ist, als öffentliches Verkehrsmittel zu dienen oder öffentliche Straßen benutzt, ist die Verleihung notwendig.’)

*) Eisenbahnkonzcssiensgesetx § 11 lit. b.J ■) Eisenbahnkonzessionegesetz $ 13.

3) Eisenbahnkonzessionsgesetz § 12; Gesetz vont 14. Dezember 1877, R.-G.-Bl. Nr. 112, §§ 2 and 4.

*) Z. B.: Konzessionsurkunde für die Eisenbahn Wien Aspang vom 28. November 1877, B.-G.-BL Nr. 12 ei 1878, § 15.

5; Eisenbabnkonzessionsgesetz si 7, i! und 12. Diese Begrenzung besteht nicht in Preußen bezüglich der Hauptbahnen und in Württemberg.

•) Wie schon im ersten Abschnitte dargelegt wurde.

') Eizenbabnkonzessionsgesetz 4 1. Italienisches Gesetz über öffentliche Arbeiten Art. 207 und 209.

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Das R*-cht dpr Öffentlichen Arbeit«».

215

Die Verleihung der öffentlichen Unternehmungen unterliegt in der Rechtswissenschaft einer verschiedenen juristischen Beurteilung.1

1. Der ersten Ansicht nach ist die Verleihung ein privatrechtlicher Vertrag, welchen der Staat mit dem Unternehmer abschließt und aus welchem privatrechtliche Ansprüche beiderseits entstehen.’) Der Vertrags- charakter der Verleihung wird in der französischen Literatur nicht beanständet. Dieser Vertrag wird als ein ,acte de gestion* betrachtet, weil die Verwaltung dabei von seiner Gewalt keinen Gebrauch macht-1 Diese Anschauung läßt sich auf den historischen Entwicklungsgang der französischen Bahnen zurückführen. Bei den ersten Bahnen hat der Staat für den Bau enteignet und auf seine Kosten den Unterbau geliefert;4) den Eiseubahngesellschaflen wurde der Gebrauch des fertigen Bahnkörpers fibergeben, welcher als öffent- licher Weg und öffentliches Gut betrachtet wurde und immer im Eigentums des Staates verbleibt. Da jedoch durch diese wissenschaftliche Anschauung das Euteignungsrecht und die Ausübung der Polizei sich nicht erklären lassen, hat sich eine abgeschwächte Vertragstheorie gebildet, welche den Konzessionsakt in zwei Teile zerlegt; durch deu eigentlichen Konzessionsakt werden öffentlichrechtliche Befugnisse begründet und die Konzession im weiteren Sinne enthält alle übrigen Bestimmungen, die eben den privatrecht- lichen Vertrag darstellen.-') Diese letztere Anschauung ist in der italienischen Literatur vorherrschend, wo die Konzessionen der öffentlichen Arbeiten wegen dieses doppelten Charakters „concessioni-contratti“ genannt werden.4)

2. Die zweite Ansicht verfährt gerade umgekehrt. .Die Verleihung,* sagt sie, .ist ein öffentlicher, ein hoheitlicher Akt, aus welchem ffir den Unternehmer keine Rechte entstehen körnten.*’) Der Staat kann insbesondere jederzeit die gemachte Einräumung wieder einschränken und zurficknehmeu ohne jede Entschädigung, Diese Schlüsse beruhen auf einer Überspannung des Begriffs der allmächtigen Staatsgewalt und stimmen nicht mit dem bestehenden Rechte fiberein. Der Staat kann die Verleihung zurncknehmen, aber es geschieht immer nur in gewissen, im Gesetze vorgesehenen Fällen, wenn der Belieheue die ihm gestellten Bedingungen nicht erfüllt.

') Mrili: Da* Recht der modernen Verkehrs- und Trauxportanitalten, Leipzig, 1888, 8. 22.

3 Kultiuiaun: Das uordainerikanische BuudesstaaUrecht, Zürich, 1878, II. 2, 8. 129 ff.

*) H. Bcrthclemv: Traitc cldinentaire de droit administrativ Paris, 1901, 8. 47 und -'>83; Haurioa Maurice: Prccis de droit administrativ Paris, 1901, 8. 819, Anm. 2; Block Maurice; Diedonuaire V. Trutauz public« Art. 0.

*) Gesetz vom 11. Juui 1842.

b> Carrard und Hiltp: Drei Rechtsgutachten über die rechtliche Natur der Eisenbabukonzessionen, Basel, 1877, 8. H bezw. IG. Ebenso H oberer; Österreichisches Eisenbahnrecht. Wien, 1885. 8. 24.

4) Mantellini Giuseppe: I.o stxto e il codice cirile, Firenze. 1882, II., 8. 505 bis 508, 521, 524 ff.; Giorgi Uiozgio: La dottrina delle persone. giuridiche. Firenze, II. (i891), S. 4G1 ff. III. (1892), S. 278 ff.

’) U. Seiler; Über die rechtliche Katar der Eiseubahnkonzessio» »sch schweize- rischem Recht. Zürich, I8S9, S. 24.

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21 fi

Kresiewicz.

3. Die dritte herrschende Ansicht ist die, daß allerdings die Verleihung eine Handlung öffentlichrechtlicher Natur ist, 1 daß aber gleichwohl nicht bloß Pflichten, sondern auch Hechte des Beliehenen dadurch gegründet werden können. Man erklärt die Konzession als Privilegium, welches rein öffentlichrechtlicher Natur ist. dessen Wirkung aber gemischt ist, d. i. teils öffcntlichrechtlich, teils privatrechtlich.

Zur Begründung der Hechte genügt der Verwaltungsakt ( die Verleihung : zur Auflegung der Verpflichtungen wäre eine gesetzliche Grundlage erforder- lich: sie wird ersetzt durch die freiwillige Unterwerfung des Betroffenen, die in dessen Gesuch oder in der Annahme der Verleihung enthalten ist.1)

Jede dieser Anschauungen hat etwas Richtiges an sich; sie sind jedoch nicht im stände, das Wesen der Verleihung und alle ihre Wirkungen zu erklären. Die Verleihung gibt dem Unternehmer die Hechte, welche der Staat allein besitzt und welche er selbst ausüben kann, sie erlaubt dem Unternehmer ein Stück öffentlicher Verwaltung im eigenen Namen und für eigene Rechnung zu führen. Die Stellung des beliehenen Unternehmers hat die größte innere Verwandtschaft mit der des Selbstverwaltungskörpers.5) Die Konzessionserteilung ist also unzweifelhaft ein Akt der öffentlichen Gewalt. Die verliehenen Hechte haben einen öffeutliehrechtlichen Charakter; sie begründen für den Unternehmer öffentliche persönliche Rechte auch gegen- über dem Verleihenden. Der Unternehmer übernimmt aber auch Pflichten: in erster Linie die Pflicht, die verliehenen Rechte auszuüben: weiter noch viele andere öffentliche Lasten, welche ihn allein treffen. Der Staat kanu diese Lasten nicht jedem beliebigen Bürger auferlegen, weil öffentliche Lasten nur allen Untertanen gleichmäßig auferlegt werden können: ohne ein besonderes Gesetz kann man die Ausübung der betreffenden Pflichten nur von jenem Bürger fordern, der sie freiwillig übernimmt. Wenn aber der Staat vom Untertan gewisse Leistungen fordert, zu welchen er gesetzlich nicht verpflichtet ist, und der Untertan freiwillig diese Leistungen gegen dio ihm zugesicherten Vorteile übernimmt, so ist der freie Wille des Staates und des Bürgers übereingekommen, um ein Rechtsverhältnis zu Stande zu bringen. Solche übereinstimmende Willensäußerung wird im Privatrechte „Vertrag“ genannt. Die Konzession ist jedoch kein privatrechtlicher Vertrag, weil die öfl'entlichcn Hechte, welche dem Unternehmer verliehen werden, den Gegenstand des privatrechtlichen Verkehrs nicht bilden können. Den Gegen- stand der Vereinbarung bilden öffentliche Rechte und Pflichten. Deswegen ist cs nicht ratsam, den Ausdruck „öffentlichrechtlicher Vertrag“ zur

*) Hcusler: Drei Hechtsgutachten S. IS; Eger: I’reuliisclies Eisenbahnrecht, Breslau, 18*9, I„ S 1)8; ti. Meyer: Lehrbuch des Verwaltnugs rechts, I, 8. 582; Loening: Lehrbuch des Verwaltungsrochts S. 028.

J; Ulbrich: Österreichisches Staatsrecht, Freiburg i. U., 1892, S. 126; 11a- nclletti Oreste: Teoria generale «leite autorizzazioni e coneessioui, Tonne», 1894 S, 80 ff.; Otto Mayer: Deutsches Verwaltungsrecht, Leipzig, DJ- L, 1895, S. 98, und lld. II., 1896, S. 307; Cummeo Federico: La volontu individuale e i rapporti di diritto pubblico, Torino, 1900, S. 24.

-1) Otto Mayer: Dentsehes Verwaltnngsreeht. II., S. 295.

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Pa* Recht der Öffentlichen Arbeiten.

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Bezeichnung der Verleihung anzuwenden, weil er sofort die entwickelten Grundsätze des I’rivatrechtes über Verträge in das Verwaltungsrecht mit- bringt und wider Willen die Meinung hervorruft, dal) diese Grundsätze auch im Verwaltungsrechte angeweudet werden müssen.1) Im Vcrwaltungsrechte finden wir indessen die vollkommen entsprechenden Ausdrücke „Vereinbarung“ und „Übereinkommen“. Es ist zwar dasselbe, nur mit etwas anderen Worten; die Worte sind jedoch hier besondere wichtig, weil die ungenaue Ausdrucks- weise so viele falsche Ansichten über die Natur der Konzession hervorge- rufen hat. Die Grundlage der Verleihung der öffentlichen Arbeiten bildet immer ein öffentlichrechtliches Übereinkommen, womit sich der Unternehmer zur Fertigstellung einer Öffentlichen Arbeit sowie zum Betriebe des Werkes verpflichtet und dafür das Hecht erhält, durch eine festgesetzte Zeit ein Stück der Öffentlichen Verwaltung im eigenen Namen zu führen und bestimmte Abgaben zu beziehen. Das Hechtsgeschäft ist zweiseitig; ein- seitig ist nur die Form, in welcher es erscheint. Die Konzession selbst ist die Form, in welcher der Staat die Annahme des vom Unternehmer gestellten Antrages erklärt, sie ist die amtliche Bestätigung des abgeschlossenen Übereinkommens. Da die vorangehenden Verhandlungen nach aullen nicht hervortreten, wird die Verleihungsurkunde die einzige Quelle der beider- seitigen Hechte und Pflichten; so ist die Ansicht entstanden, als ob das ganze Geschäft ein einseitiger Verwaltungsakt wäre. Es ist ein Verwaltungs- akt (weil er die Feststellung der Öffentlichen Hechte und Pflichten betrifft) aber ein zweiseitiger. Wenn auch das Übereinkommen die Grundlage des Rechtsverhältnisses bildet, weiden die Parteien nicht wie bei einem privat- rechtlichen Vertrage ihre Rechte im ordentlichen Rechtswege verfolgen.1 Das ganze Verhältnis hat nur einen Offentlichrechtlichen Charakter*) und seine Wirkungen bleiben dieselben, als wenn es vom Staate durch einen ein- seitigen Verwaltungsakt geschaffen wäre. Für das einmal entstandene Recht ist der Verpflichtungsgrund ohne Belang. Der beliehene Unternehmer gewinnt zwar durch den Ahschluü des Übereinkommens öffentliche persönliche Berechtigungen, aber er bleibt doch immer dem Staate untertan. Die Ver- waltung, welche ein Übereinkommen über öffentliche Rechte und Pflichten abschliellt, wird dadurch nicht zu einem Privatmann herabgedrflekt; sie ist zwar an die Bestimmungen des Übereinkommens gebunden, aber sie verzichtet doch nicht auf seine Herrschaftsgewalt: der Staat bleibt immer das herr- schende Wesen, welches über öffentliche Hechte und Pflichten selbst erkennt. Das weitere Verhältnis zwischen dem Staate und dem beliehenen Unternehmer

*) Jellinek (System der öffentliche« subjektiven Hechte S. 62) will ganze Kate- gorien von Vorschriften de» Priiatrechtes über Irrtum, Arglist, Verschulden, Befristung, Bedingungen, Abrechnung, ungeteilte Haftung, Bürgschaft und Verjährung auf die Offentlichrechtlichen Leistungen anwenden.

5; Eisenhahnkonzessionsgesetz § Li.

*) Unbegreiflich erscheint die Vorschrift des Art. II. $ 23 de» Gesetzes vom 6. September 1BS5, R.-G.-Bl. Nr. 122, welche fiir etwaige, nicht dem Schiedssprüche vorbehaltenc Privatrechtsanspriiche aus dem Konzessionsverhältnisse den Rechtsweg Vor- behalt, als oh Privalreciitsanspriiche aus der Konzession möglich wären.

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Breriewicz.

wird gewöhnlich eine Reihe von obrigkeitlichen, einseitigen Verfügungen darstellen. Es darf uns also gar nicht befremden, daß der das Übereinkommen abschließende Staat das Aufsichtsrecht Ober das Unternehmen ausObt, sich die gehörige Instandhaltung und Fortführung durch obrigkeitliche Maßregeln sichert, daß er obrigkeitlich feststellt, was zu den verleihungsmäßigen Pflichten des Unternehmers gehört und seinen Anordnungen durch Zwangs- mittel Geltung verschafft.1)

Dadurch wird die Möglichkeit eines neuen Übereinkommens nicht ausgeschlossen. Fast jeder .Jahrgang des Reichsgesetzblattes bietet in dieser Richtung zahlreiche Beispiele.*) Sie betreffen gewöhnlich den Bau neuer Eisenbahnlinien, StaatsbQrgschaft, Änderung ihrer Bedingungen, die Berech- nung der gegenseitigen Forderungen aus diesem Titel, die Einlösung der Bahn und ihre Bedingungen, ja selbst die Verlängerung der Konzession. Die Verleihung der Konzession kann auch vereinbart werden *) und erst auf Grund dieses Übereinkommens wird die Konzession verliehen. Wenn die Grundlage dieser zweiten Verleihung ein Übereinkommen bildet, so ist es auch ganz dasselbe bei der ersten. Solche Übereinkommen sind manchmal unumgänglich nötig, wie z. B. bei Abtretungen des durch die Bahn durch- schnittenen Staatsgebietes an einen andern Staat.1)

Daß diese Betrachtungsweise nicht staatsgefährlich ist und der öffent- lichen Gewalt keinen Abbruch tut, beweist wohl am besten die' Vergleichung der ausländischen Gesetzgebungen. In Frankreich und in Italien bestätigt nur das Gesetz das abgeschlossene Übereinkommen; in Österreich und in Deutschland wird die Konzession in der Form eines Privilegs von dem Landesherrn verliehen; trotz dieses formellen Unterschiedes bleibt das Ver- hältnis des beliehenen Unternehmers zum Staate grundsätzlich ftherall ein und dasselbe.

VII. Arbeiterschutz.

Eine alle Arbeiter umfassende Schutzgesetzgebung besteht Oberhaupt nirgends; sie bezog sich bisher immer nur im wesentlichen auf diejenigen Berufsgruppen, bei welchen die Gefährdung am größten ist, d. i. auf die im Kleingewerbe, in den Fabriken sowie im Handel beschäftigten Arbeiter,6) und war hauptsächlich durch das Gewerbegesetz, die Novelle vom 8. März 1885, R.-G.-Bl. Nr. 22, das Gesetz vom 15. Jänner 1895, R.-G.-Bl. Nr. 21, ilber die Sonntagsruhe und die Arbeiterversicherungsgesetze geregelt. Die gewerberechtlichen Vorschriften gelten jedoch nur fflr alle gewerbsmäßig

l) Otto Mayer: o. s. c. II., S. SOS ff.; Eisenbabnkonzessionsgesetz §§ 11 bia 13.

*) 7,. B.: Gesetze vom 17. April 1876, R.-G.-Bl. Nr. 68, vom 6. Jänner 1878, R.-G.-Rl. Nr. 10. vom 22 März 1890, R.-G.-Bl. Nr. 49, und vom 25. November 1891, R.-G.-Bl. Nr. 164.

*) Gesetz vom 6. September 1885, bestätigend das mit der Nordbahn abgeschlossene Übereinkommen ddto. Wien, 10. Jänner und 17. Jnli 1885.

•) Sieh die Übereinkommen des Staates mit der Seilbahn vom 20. November 1861, K.-G.-Bl. Nr. 113 und vom 25. Februar 1876, R.-G.-Bl. Nr. 36 ei 1877.

*) Vergl. den Artikel von Miseiiler über den Arbeiterschutz im Staatswörter- buche, I., S. 47 ff

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r>*8 R*cht der flffentlirhen Arbeiten.

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betriebenen Beschäftigungen, finden also keine Anwendung auf öffentliche Arbeiten, welche regelmäßig keinen finanziellen Gewinn bezwecken; es muß noch hervorgehoben werden, daß auch diese öffentlichen Anstalten, welche Einkünfte abweifen, wie Eisenbahnen, Überfuhren und Dampfschiffalirts- nntemehrnungen. dem Bereiche des Gewerbegesetzes entnommen sind. ')

Die Arbeiterschutzvorschriften stellen sich dar als unmittelbare Ein- schränkungen des Unternehmers in der Benutzung der ihm zur Verfflgung stehenden menschlichen Arbeitskräfte, mit den Verboten der Arbeitsverwen- dung und mit den Regeln über die Dauer. Länge und Unterbrechung der Arbeitszeit,’) sowie als Pflichten des Unternehmers zu Leistungen zu Gunsten «ler Arbeiter. Man hat sich lange gesträubt, die Verwaltung bei Durch- führung der zur allgemeinen Wohlfahrt dienenden öffentlichen Arbeiten einzuschränken und man fürchtete eine' bedeutende Erhöhung der Kosten. In neuester Zeit hat sich jedoch die Anschauung Geltung verschafft, daß die Verwaltung, welche durch öffentliche Arbeiten die allgemeine Wohlfahrt fördert, die Wohlfahrt der bei diesen Arbeiten beschäftigten Arbeiter doch nicht vernachlässigen kann. Die Erfahrung hat außerdem die wichtige Tat- sache ins volle Licht gesetzt, daß durch die Einführung der Arbeiterschutz- vorschriften und insbesondere der Lohnklausel die Kosten der öffentlichen Arbeiten in keinem nennenswerten Maße erhöht werden. •’) Aus diesen Erfahrungen entwickelt sich vor unseren Augen ein neues Hechtsgebiet des Arbeiterschntzes bei öffentlichen Arbeiten.

I. Es gibt Vorschriften über den Arbeiterschutz, welche auf öffentliche Arbeiten ohne Rücksicht auf die Ausführungsart derselben (Abschnitt V und VI) Anwendung finden.

1. Die Gesetze über Unfall- und Krankenversicherung der Arbeiter*) haben alle bei der Ausführung von Kauten beschäftigten Arbeiter als ver- sicherungspflichtig erklärt und somit auch die bei öffentlichen Bauten ange- stellten. Sie umfassen jedoch nicht diejenigen Personen, die bei Jnstand- haitungsarheiten und anderen beschäftigt sind, welche nicht als Bauten angesehen werden können.

Es sind fast die einzigen allgemeinen Vorschriften, welche für alle öffentlichen Bauten und in allen Ländern eingeffihrt wurden.4)

2. Einen weiteren Schritt vorwärts hat das Abgeordnetenhaus in der Resolution vom 8. Juli 1892 gemacht, wodurch die Regierung aufgefordert wurde, dafür Sorge zu tragen, daß hei Herstellung großer Verkehrs- anlagen in Wien die Bestimmungen des VI. Hauptstückes der Gewerbe-

1 ) Kais. Patent vom 20. Dezember 1859, R.-G.-Bl Nr 227, Art. IV, V lit. !). nj.

’) Alfred Weber im Jahrbuch,- von Schmoller, XXI, 1897, S. 1146.

’) Office da travail, Note sar le niininiam de aalairc dan« le» traranz public«. Paris. 1897. S. 34.

*) Gesetz vorn 28. Dezember 1887, R.-G.-Bl. Nr. 1 ez 1888, und rom 80. M a 17 1888, R.-G.-Bl. Nr. 33.

’) Bezüglich der Einzelheiten muß an das in Paria erschienene Werk von M. Bellom: „Lea loia d'asaurance oavriere u l’etranger« oder an die in Berlin erscheinende Bibliothek von Zacher: .Die Arbeiterveraiehernng im Aualaude" verwieeen werden.

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Bresiewicz.

Ordnung strenge gehandbabt werden. Diese Anforderungen haben eine gesetzliche Weihe erhalten im Gesetze über den Bau von Wasserstraßen, ') welches sämtliche Bestimmungen des VI. Hauptstückes der Gewerbeord- nung, einschließlich der für die Fabriken vorgesehenen Sonderbestimmungen, auf alle Arbeiter ausdebut, die bei der Ausführung der Wasserstraßen beschäftigt werden sollen. Dadurch finden die Vorschriften über die Hygiene der Arbeitsräume, Normalarbeitstag, Arbeitspausen, Sonntagsruhe, Feiortags heiligung, Lohnzahlung. Kündigung des Arbeitsverhältnisses und Entlassung aus demselben, über Arbeitsordnungen, Arbeitsverzeichnisse, Arbeitsbücher, über jugendliche Hilfsarbeiter und Frauen, auch auf die Taglöhner Anwen- dung. welche dieses Schutzes bis jetzt nicht teilhaftig waren.

:t. Beim Baue der Schiffahrtskanäle und der Kanalisierung der Flüsse sind, soweit dies mit dem gedeihlichen Fortgang der Arbeit vereinbar ist, inländische Arbeiter zu beschäftigen. *)

4. Die Gewähr für die Durchführung des Arbeiterschutzes wurde aus Anlaß der größeren Arbeiten (wie die Wiener öffentlichen Verkehrsanlagen und die großen Wasserstraßen) durch Errichtung*) besonderer Gewerbe- inspektoren gegeben. Sie sind insbesondere verpflichtet, die gewerbe-hygie- nischen Einrichtungen der Arbeit«, und Wohnräume, die Verhältnisse der Arbeiter, das Vorhandensein der vorgeschriebenen Aufzeichnungen zu unter- suchen und bei Erhebung der Ursachen über vorgefallene Unglücksfälle teilzunehmen. In den alljährlich zu erstattenden Berichten sollen sie genaue Angaben über die Lohn-, Wolmungs- und SanitätBverhältnisse der bei der Ausführung der bezeichneten Bauten beschäftigten Arbeitspersonen sowie über die Art der Arbeitsvergebung und über die Arbeitszeit zusammenstellen, wodurch der Gesetzgebung iu der gedachten Hichtung vorgearbeitet werden soll. Außerdem sind zur Überwachung des Gesundheitszustandes unter den bei der Ausführung der bezeichneten Bauten beschäftigten Arbeitspersonen besondere ärztliche Organe zu bestellen.

Sonstige Vorschriften beziehen sich teils auf Regiearbeiten, teils auf andere durch Vertrüge an Privatunternehmer vergebene Arbeiten.

II. Die Regiearbeiten werden durch unmittelbar im Dienst« der Ver- waltung stehendes Personal für Rechnung derselben verrichtet; es mag dieses die Staats-, Landes-, Gemeinde- oder vom beliehenen Unternehmer aufgestellte Verwaltung sein. Für die dabei ständig oder zeitweise ange- stellten Beamten, Unterbeamten und Diener ist in den Dienstordnungen Vorsorge getroffen worden. Die beschäftigten Arbeiter hielt man dadurch genug geschützt, daß sich diese Arbeiten unter Aufsicht der Behörden voll- ziehen, und man hat bis vor kurzem an die Regelung von Arbeitszeit und Arbeitslohn gar nicht gedacht. Durch den Mangel der bezüglichen Vor-

') Gesetz vom 11. Juni 1901, E -G.-lil. Nr. 66, § 15.

5) Gesetz über Wasserstraßen § 7.

3, Gesetz vom 27. August 1892. R.-G.-BI. Nr. I58, und Gesetz rom 11. Juni 1901, R.*ti.*Bl Nr. 60. $ 14. Über die „Gewcrboinapektinn1* sieb den Artikel von Miacbler iiu StaatswOrterbucbe, 1 , 8. 915 bis 925.

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Du Recht der öffentlichen Arbeiten.

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Schriften wurde eine große Ungleichmäßigkeit in der Behandlung der Arbeiter hervorgerufen. Die Verwaltung hat jedoch nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, ein Musterarbeitgeber zu sein und mit gutem Beispiele voranzugehen.

Den Anfang auf diesem Gebiete hat erst das Gesetz vom 28. Juli 1902, R.-G.-B1. Nr. 156, gemacht, welches die Arbeitsverhälthisse der bei den Regiebauten aller Eisenbahnen (sowohl Staats- als auch Privatbahnen) verwendeten Arbeiter geregelt hat. Das Gesetz umfaßt nur die Arbeiten, welche von der Bahnverwaltung selbst unmittelbar ausgeführt werden und nicht die an Unternehmer vergebenen Arbeiten; auch nicht diejenigen, welche in dem Rahmen der gewöhnlichen Bahnerhaltung bewirkt werden; es besitzt also nur einen begrenzten Wirkungskreis. Da es jedoch den ersten Grund- stein auf diesem Gebiete bildet, die neuesten Rechtsanschauungen abspiegelt und voraussichtlich weiteren gesetzlichen Bestimmungen als Vorbild dienen wird, werden seine Vorschriften im folgenden kurz dargestellt: ')

A. Verbote, einen Vertrag abzuschließen oder bestimmte Arbeiten zu verrichten, bestehen für jugendliche Arbeiter und Frauen. Bei den ltegie- bauten dürfen die Knaben vor dem vollendeten 14. Lebonsjahre und die Frauenspersonen vor dem vollendeten 16. Lebensjahre Oberhaupt nicht ver- wendet werden. Bei der Nachtarbeit und bei der Überstundenarbeit kann man jugendliche Arbeiter (vor dem vollendeten 16. Lebensjahrei und Frauens- personen auch nicht beschäftigen: sonst können ihnen nur leichtere Arbeiten anvertraut werden, welche fflr die Gesundheit dieser Arbeiter nicht nach- teilig sind.

B. Die Eingehung des Vertrages ist durch privatrechtliche Vorschriften geregelt. Der Arbeitgeber ist jedoch verbunden:

1. vor Antritt der Arbeit dem Arbeiter deu Lohnsatz bekannt zu geben und in die Lohnlisten einzutragen;

2. die Arbeitsordnungen aufzustellen, welche die wesentlichen Bestim- mungen des Arbeitsvertrages enthalten müssen: sie werden von der Auf- sichtsbehörde geprüft und bestätigt. Die bestätigte Arbeitsordnung ist in einer den Arbeitern verständlichen Sprache an jeder Arbeitsstätte und in jedem Arbeitsraume anzuschlagen und jedem Arbeiter beim Eintritte gegen schriftliche Bestätigung eiuzuhändigen.

C. Der Inhalt des Arbeitsvertrages wird grundsätzlich durch freie Übereinkunft der Parteien bestimmt, jedoch nur innerhalb der durch die Gesetze vorgeschriebenen Einschränkungen bezüglich der Besehäftigungszeit, des Lohnes, der Sicherheitsvorkehrungen und der Arbeitsbücher.

1. Die Arheitsdauer darf ohne Einrechnung der Arbeitspausen nicht mehr als höchstens 11 Stunden binnen 24 Stunden betragen. Diese Bestim- mung findet keine Anwendung:

a) auf die notwendigsten Hilfsarbeiten, welche der eigentlichen Arbeit

vor- oder nachgeheu müssen:

■) ln der Gruppierung des Stoffes folgen wir grundsätzlich der Einteilung von J. II. v. Zanten (Die Arbeiterichutzgesetigebung in den europäischen Ländern. Jena. 1!0‘> .

ZeiWchrin fiir V'uik« vlrttclmft, So* k und Wmaltim*. XII- lifcud. jtj

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Bre*iewicz.

bj auf jene Verrichtungen, bei denen eine genaue Abgrenzung der täglichen Arbeitszeit und der Arbeitspausen nicht durchführbar erscheint und

r) bei unvorhergesehenen zwingenden Umständen, wenn die ungestörte Aufrechterhaltung des Verkehrs ein vermehrtes Arbeitsbedürfnis zur Folge hat.

Zwischen den Arbeitsstunden sind den Arbeitern angemessene Ruhe- pausen zu gewähren, welche zusammen nicht weniger als anderthalb Stunden betragen dürfen. Bei Bauten, bei welchen eine Unterbrechung der Arbeit beziehungsweise des Betriebes untunlich ist. können hinsichtlich der Arbeits- pausen besondere Bestimmungen getroffen werden.

An Sonntagen bat die Arbeit zu ruhen. Von dieser Bestimmung sind ausgenommen:

a) die an den Arbeitslokalen und Werksvorrichtnngen vorzunehinenden Säuherungs- und lustandbaltungsarbeiten, welche an Wochentagen nicht verrichtet werden können;

h) die erforderliche Bewachung der Bauten und der Hilfsanstalten;

r) sonstige unaufschiebbare Arbeiten in Notfällen;

d) schließlich kann für Regiebauten, bei welchen eine Unterbrechung der Arbeit untunlich ist, diese Arbeit an Sonntagen im Verordnungs- wege gestattet werden.

Ben Arbeitern, welche am Besuche des Vormittagsgottesdienstes ver- hindert wurden, ist am nächstfolgenden Sonntag freie Zeit zu gewähren und bei längerer Beschäftigung eine Ruhezeit an einem Wochentage.

2. Wenn über die Zeit der Entlohnung der Arbeiter nichts anderes vereinbart ist, wird die Bedingung wöchentlicher Entlohnung vorausgesetzt. Im Verordnungswege können Maximaltermine für die Lohnzahlung festgestellt werden. Die Löhne sind in barem ("leide auszubezahlen und dürfen insbe- sondere nicht an Stelle des Lohnes Anweisungen für den Warenbezug aus bestimmten Geschäften ausgegeben werden. Von den Verdienstbeträgen der Arbeiter dürfen nur folgende Abzüge gemacht werden:

a) das mit Zustimmung des Arbeiters im voraus bedungene, einen Gewinn aiisschlietfende Entgelt für Wohnung, Beleuchtung«- und ßelieiznngsmatcrialien für häusliche Zwecke, für Benutzung der Grund- stücke und für bezogene Lebensmittel;

b) zur Abstattung von Lohnvorschüssen;

c) Beiträge für die Krankenkassa und für das Provision«- oder Alters- versorgungsinstitut;

d) die Konventionalstrafgelder für Übertretung der Arbeitsordnung (welche nur in Fällen besonders strafbaren Leichtsinnes die Höhe eines halben Tagesverdienstes innerhalb des Zeitraumes einer Woche überschreiten können);

e) die Entschädigungsbeträge für die nicht zurückgestellten Arbeitsmittel. Unstatthaft ist die Lohnzuräckhaltung zur Hereinbringung oder

Sicherstellung anderer Forderungen der Eisenbahnverwaltung. Die Verdienst-

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Das liecht der öffentlichen Arbeiten.

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beträge der Arbeiter können auch vor dem Auszahlungstage mit Eiekutions- verfügungen zu Gunsten dritter Personen nicht getroffen werden, wenn es sich nicht um die Steuern und öffentliche Abgaben oder um gesetzliche Ansprache auf Leistung des Unterhaltes handelt.

3. Jede Bahnverwaltung ist verpflichtet, die Banarbeiten derart zu regeln, daß die daselbst beschäftigten Arbeiter gegen Gefahren für Leben und Gesnndheit nach Möglichkeit geschätzt sind; ebenso ist für die erste Hilfeleistung bei ünglücksfallen und hygienische Einrichtungen Sorge zu tragen. Der Eisenbahnminister ist ermächtigt, besondere diesbezügliche Anordnungen im Verordnungswege zu erlassen. Das Aufsichtspersonal der Bahnverwaltungen hat die Verpflichtung, die Arbeiter mit den bestehenden Sicherheit« maßregeln und den Schutzvorkehrungen vertraut zu machen.

4. Jeder Arbeiter muß bei Eintritt mit einem Arbeitsbuche versehen sein: bezüglich dieser Arbeitsbücher gelten die jeweiligen für gewerbliche Hilfsarbeiter vorgeschriebenen Bestimmungen. Die Bnhnverwaltungen sind verpflichtet, dem Arbeiter auf Verlangen beim ordnungsmäßigen Austritte aus dem Arbeitsverhältnisse ein Zeugnis auszustellen und haften für die aus Verweigerung oder wahrheitswidriger Erteilung entspringenden Nachteile.

D. Die Dauer und das Ende des Vertrages werden in erster Linie durch Vereinbarung der Parteien bestimmt. Mangels vertragsmäßiger Be- stimmungen endet der Vertrag durch eine vierzehntägige Kündigung seitens einer der Parteien. Insofern eine andere Kündigungsfrist vereinbart wird, muß sie für beide Teile gleich sein. Vor Ablauf der bedungenen Dauer des Arbeitsverhältnisses kann der Arbeiter nur aus den im Gesetze taiativ aufgezähltcn wichtigen Gründen ') die Arbeit ohne Kündigung verlassen beziehungsweise sofort entlassen werden. Die unbegründete Verlassung der Arbeit beziehungsweise Entlassung gibt der andern Partei Anspruch auf Entschädigung, welche dem Arbeitslöhne für die Kündigungsfrist gleich ist.

E. Die Entscheidung der Streitigkeiten aus dem Arbeits- und Lohn- verhältnisse gehört zur Zuständigkeit des Gewerbegerichtes (wo ein solches bestellt ist) oder des Bezirksgerichtes, ohne Rücksicht auf den Wert des Streitgegenstandes.

F. Der Vollzug der Gesetze ist in ähnlicher Weise wie bei Gewerbe- unternehmungen gesichert Die Überwachung der Durchführung der Be- stimmungen über den Arbeiterschutz liegt jedoch der Generalinspektion der Eisenbahnen ob. Die Bahnverwaltungen sind verpflichtet, den Organen der Aufsichtsbehörde die notwendigen Aufklärungen zu geben, den Eintritt in sämtliche Arbeitsräume zu gestatten und den Anordnungen auf das genaueste nachzukommen.

1. Zum Zwecke der erfolgreichen Aufsichtsausübung sind von den Bahnverwaltungen folgende Verzeichnisse zu führen und der Aufsichts- behörde auf Verlangen vorzuweiseu:

l) §| 87 und 38 des Gesetzes vom 28. Juli 1902, welche den der Gewerbeordnung gleichlautend sind.

82 und 82 a) 16*

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Breaiewie*.

aj eia Verzeichnis aller verwendeten Arbeiter mit Angabe des Alters, des Eintrittes in den Dienst und des Austrittes, der Verwendungsart und der Krankenkassa;

U) ein Verzeichnis aller am Sonntage beschäftigten Arbeiter, mit Angabe des Ortes, der Art und der Dauer ihrer Beschäftigung;

<) ein Verzeichnis der jugendlichen Hilfsarbeiter:

d) ein Tarif der Wohnungen. Beheizuugsinaterialien und Lebensmittel, welche von der Hahnverwaltung geliefert und vom Lohne in Abzug gebracht werden;

e) die Lohnlisten, mit besonderer Angabe der Itezüge eines jeden Arbeiters und der Abzüge.

2. Der Aufsichtsbehörde muh die Anzeige erstattet werden: n) Aber das die Überschreitung oder Verlängerung der Maximalarheits dauer hervorrufende Bedürfnis und h) (Iber die Vornahme der unaufschiebbaren Arbeiten am Sonntag.

8. Die Aufsichtsbehörde muh bewilligen beziehungsweise bestätigen: n) die Bestimmung der wöchentlichen Maximalarbeitszeit in ununter- brochenen Betrieben;

b) die Verlängerung der täglichen Arbeitszeit im Palle eines vermehrten Arbeitsbedürfnisses;

<•) den Tarif der Wohnungen. Beheizungsmaterialien und L ebensmittel, welche dem Arbeiter geliefert und vom Lohne in Abzug zu bringen sind; dj die Arbeitsordnungen.

Bei Übertretungen des Gesetzes weiden jene Personen, welche für die Einhaltung der betreffenden Vorschriften nach Mall gäbe der Tatumstände verantwortlich erscheinen, von der Aufsichtsbehörde mit Verweisen oder mit Geldstrafen bis zum Betrage eines Monatsgehaltes geahndet. Diese Strafen werdeu unbeschadet einer anfälligen disziplinären Behandlung aus- gesprochen; sie sind jedoch ausgeschlossen, wenn eine den Gerichten zuge- wiesene strafbare Handlung oder Unterlassung vorliegt. Zur Durchführung des Gesetzes und der erlassenen Anordnungen können die Bahnunter- nehmungen nach vorati8gegangeuer Androhung durch Ordnungsstrafen bis zur Höhe von 5(100 Kronen verhalten weiden. Die Konventional- lind Ordnungsstrafgelder sind solchen im Verordnungswege zu bezeichnenden Einrichtungen zuzuwenden, die zum Dosten der Arbeiter dienen.

III. Bei Vergebung der öffentlichen Arbeiten an Privatunternehmer hat man bis in die jüngste Zeit mir an die Sicherstellung der Hechte der Verwaltung gedacht: die sozial politischen Anforderungen einer wirksamen Fürsorge für den Schutz der Arbeiter waren der Verwaltung vollkommen fremd. Die Regelung des Verhältnisses des Unterbieters zu den Arbeitern war der freien Übereinkunft der Parteien überlassen: so war das Verhältnis des Unternehmers und des Arbeiters nur vom wirtschaftlichem Gesetze von Angebot und Nachfrage beherrscht. Dieses inulite hei grotlem Wettbewerb und bei übertriebenen Unterboten der Unternehmer eine Verschlechterung

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Da* H**cht *it*r ftffentliclien ArH«t<*n.

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der Lohnverhältnisse und Versäumung jedweder Schutzeinrichtungen der Arbeiter im Gefolge haben.

Die Gewerbenovelle vom H. März 188.r>, welche eine sehr bedeutsame sozial-politische Regelung der gewerblichen Arbeit hervorgebracht hat, ') konnte auf dem Gebiete der öffentlichen Arbeiten nur kaum nennenswerte Wirkungeu hervorbringen, und zwar aus folgenden Gründen:

<i> manche öffentliche Arbeiten (wie z. B. Eisenbahnarbeiten) sind aus dem Begriffe des Gewerbes ausgeschlossen; h) nicht für alle Unternehmungen öffentlicher Arbeiten gelten die Bestim- mungen des Gewerbegesetzes, sondern nur für solche, welche einen regelmätiigen Erwerb der Unternehmer bilden; bei gelegentlicher Unter- bietung und Vornahme der öffentlichen Arbeiten kann der Unternehmer nicht als Gewerbsmann betrachtet werden; e> die Gewerbeordnung findet keine Anwendung auf die Lohnarbeit der gemeinsten Art. welche bei öffentlichen Arbeiten eine sehr bedeutende Rolle spielt.

Diese feinen Unterschiede, welche der Arbeiter nie erkennen konnte, haben bewirkt, daß der Arbeiterschutz bei öffentlichen, an die Unternehmer vergebenen Arbeiten ganz unzureichend geworden ist. Das Recht und die Pflicht des Staates und der öffentlichen Korporationen, hei Vergebung von Arbeiten an private Unternehmer auf den Schutz der bei der Ausführung derselben beschäftigten Personen Bedacht zu nehmen und liiefür Vorsorge zu treffen, ist in den westlichen Industriestaaten ziemlich allgemein aner- kannt. *) Trotzdem ist dieser Arbeiterschutz bis jetzt fast nirgends gesetzlich geregelt. Zur teilweisen Ersetzung dieser gesetzlichen Lücke, um wenigstens die größten Härten der überwiegenden Stellung des Unternehmers auszu- gleichen. werden vou der Verwaltung den Unternehmern öffentlicher Arbeiten vertragsmäßig verschiedene Bestimmungen zu Gunsten der Arbeiter auferlegt. Sie beziehen sich auf die Zahl der anzustellenden Arbeiter, auf die Art der Lohnzahlung, auf das Vorrecht der Arbeiter an den dem Unternehmer von der Verwaltung geschuldeten Geldern, auf die Fürsorge und die Hilfe- leistungen hei Unglücksfällen, schließlich auf die Sonntagsruhe und die Akkordarbeit. 3 Die wichtigsten Arbeitsbedingungen bei Vergebung öffent- licher Arbeiten in Österreich sind folgende:

1. Der Unternehmer ist verpflichtet, stets die nötigen Vorsichtsmaß- regeln zu ergreifen, damit die Arbeiter keiner körperlichen Verletzung oder gar einer Lebensgefahr ausgesetzt werden: er muß deswegen denjenigen Anordnungen entsprechen, welche zur Sicherung der Gesundheit seiner

*) In Deutschland hat die Novelle zur Gewerbeordnung vom SO. Juni 1900 in den Art ü hie 14 für einen noch ausgiebigeren Schutz der Arbeiter gesorgt.

J) Der Arbeiterschutz bei Vergebung öffentlicher Arbeiten uud Lieferungen. Wien. 1900, S. VL

*) Vergl. das Werl von Oubert (übersetzt von Franz Hauptvogel): Arbeits- bedingungen bei Submissionen, Leipzig, 1902, S 4. und von Carraro dott. Gins.: Le clausole tutrici dcl lavoro negli appalti puhhliri. I'adova. 1903.

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Bre&iewicz.

Arbeiter und zur Wahrung der Reinlichkeit von der Verwaltung getroffen werden. ') Einige Vertragsbedingungen *) stellen außerdem die Verpflichtung des Unternehmers fest, für die Unterkunft, Pflege und Heilung erkrankter oder verwundeter Arbeiter Sorge zu tragen. Bei größeren Wasserbauten und bei Staatseisenbahnbautcn wird der Erstelier durch die Bediugnishefte ver- halten, durch Errichtung von Baracken für die Unterkunft, und von Speise- anstaltcn für die gesunde und billige Verköstigung seiner Arbeiter zu sorgen.’)

2. Um die Umgehung der Vertragsbestimmungen, betreffend den Arbeiterschutz, zu verhindern, wird allgemein anerkannt, daß die Weiter- vergebung der erstandenen Arbeiten an Zwischenunternehmer ohne ausdrflck- liehe Genehmigung der vergebenden Behörde nicht stattfinden kann und daß der Unternehmer für die Einhaltung der Bedingnisse durch den Zwischen- unternchmer haftet. *)

:i. Den Unternehmern der Staatseisenbahnbauten wird zur Pflicht gemacht, ’) die Arbeiter in der Kegel alle vierzehn Tage oder in noch kürzeren Zeitabschnitten regelmäßig zu bezahlen. Im Falle nachgewiesener Säumnis des Unternehmers hat die Bauleitung das Recht, die Arbeiter auf seine Kosten zu befriedigen und die hiezu verwendete Summe als eine an den Unternehmer selbst geleistete Abschlagszahlung zu behandeln.

4. Allen Unternehmern bei den Wiener Verkehrsanlagen wird schon durch die Offertbedingnisse die Beobachtung der aufgestellteu Arbeitsord- nungen vorgeschrieben, welche den Bestimmungen des VI. Hauptstückes der Gewerbeordnung Rechnung tragen.') Bei Staatseisenbahnbauten ist wenigstens die Aufstellung und Kundmachung einer behördlich genehmigten Arbeitsordnung vorgeschrieben.

In England wurden seit einem Beschluß dos Unterhauses vom 13. Fe- bruar 1891 uach und nach von Staatsbehörden die Bedingungen über Verbot der Weitervergebung der Arbeiten an Zwiscbenunternebmer und Bezahlung der Arbeiter nach dem gangbaren Lohnsätze des betreffenden Gewerkes in die Bedingungsheftc der öffentlichen Arbeiten aufgenommen. Diese Lohnsätze werden von der Genossenschaft der Unternehmer mit den Gewerkvereinen vereinbart.') Ähnliche Bestimmungen werden auch bei

') Allgemeine üanbedingnisse für Wasser- und Ktraßcnarbciten § Iü; allgemeine Bedingungen für Militärarbeiten Art. XXXV.

') Vertragsbedingungen für die Anfertigung u. ». w. vou eisernen Iieichsstraßeu- brückeu § 37 (Erlaß des Ministeriums des Innern vorn 31. Dezember 1*92, X. 21.817). Allgemeine Bedinguisse für die Offerenten und Unternehmer von Staatseisenbaiinbauten Art. 20 bis 22.

’) Der Arbeitersehutz bei Vergebung öffentlicher Arbeiten 8. 131 und 134.

*) Allgemeine Baubediugnisse für Wasser- und , Straßenarbeilen § 5; allgemeine Bedingungen für Militiirarbeiten Art. XXX.

’) Sieh die oben erwähnten allgemeinen Bedingnisse für Staateeisenhalmbaiiten.

*) Der Wortlaut dieser Arbeitsordnung findet sich im Berichte der Kommission für Verkehrsanlagen in Wien (Wien, 1824), S. 08 ff.

') Uber die „Tarifverträge zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern" sieh den Artikel von Philipp Lotmar in Brauns Archiv für soziale Gesetzgebung, 1200, S. 11 bis 122.

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Lias Recht der öffentlichen Arbeiten.

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Arbeiten des Londoner Grafschafte rate« und der größeren Städte in die Bedingungshefte aufgenommeu. ') Auch bei uns wird der Zusammenstellung von den den Orts- und jeweiligen Zeitverbältnissen entsprechenden Preis- tarifen der Arbeiten eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet, sie haben jedoch nur den Zweck, für die Vergebuugsverhandlungen eine richtige Grundlage zu erzielen.*) In Frankreich wurde schon durch das Dekret vom 2. März 1848 die den Arbeiter ausbeutende Akkordarbeit unterdrückt. Seit 18663) besteht die Pflicht des Unternehmers, die Arbeiter in ent- sprechenden Zeitabschnitten zu zahlen und das Recht der Verwaltung, die Lohnansprüche auf Rechnung des Unternehmers unmittelbar zu bestreiten; außerdem wird dem Unternehmer von jeder Abschlagszahlung ein Hundertstel der jeweiligen Summe für die Zwecke der Unterstützung der verunglückten oder erkrankten Arbeiter, ihrer Witwen und Kinder zurückbehalten. Seit 1882 führte der .Stadtrat von Paris mit der Regierung einen Streit4) Ober Feststellung des Normalarbeitstages, eines Ruhetages in der Woche und der Lohnhöhe hei Vergebung der Stadtarbeiten r diese Bestrebungen scheiterten durch lange Zeit an der herrschenden Rechtsanschauung über die Freiheit der Arbeit. Erst ein Dekret vom 10. August 1899 ordnet an. daß in die Lastenhefte der Verträge über öffentliche Arbeiten des Staates folgende Bedingungen aufgenommen werden müssen; a) die Gewährleistung eines Ruhetages den Arbeitern in der Woche; bj die Anstellung ausländischer Arbeiter nur in einem von der Verwaltung bestimmten Verhältnisse;

r. ) die Beschränkung der täglichen Arbeitszeit auf die gebräuchliche Arbeitsdatier;

A) die Auszahlung der gangbaren Normallöbne, welche zwischen den Verbänden der Arbeitgeber und uehiner vereinbart, oder von gemischten Kommissionen ausgemittelt worden sind, und deren Verzeichnis jedem Lasteuhefte beigelegt werden muß. Die Verwaltung ist befugt, den Unterschied zwischen dem gezahlten und dem gangbaren Lohne den Arbeitern selbst auszuzahlen und dem Unternehmer von dem Ver- dienstbetrage oder von der Kaution in Abzug zu bringen.

Zwei andere, an demselben Tage erlassene Dekrete haben den Departements, den Gemeinden und den Woblt&tigkeitsanstalten die Freiheit gelassen, obige Klauseln in ihre Lastenhefte einzuführen.

ln Preußen und in Baden ist die Verwaltung befugt, die Verdienst- beträge der Handwerker und Arbeiter unmittelbar zu zahlen, wenn der Unternehmer die Verpflichtungen aus dem Arbeitsvertrage nicht pünktlich

l) Arbeiterschutz bei Vergebung öffentlicher Arbeiten, $. I bis 14.

*) Hau tienst Vorschriften für das Heer § 23.

’) Cahier de elauses et conditions generales artete le 16. uuveeobre 1866, Art. 16 und 16.

4) l>r. Viktor Mataja: Städtische Sozialpolitik. (Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, III. Hd. 1894, S. 56- ff ) ; Hubert: Arbeitshedingnngen bei Submissionen S. S bis 26.

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ßrcsii wie«.

erfüllt und das angemessene Fortschreiten der Arbeiten dadurch in Frage gestellt werden sollte.1) Boi städtischen Arbeiten in Berlin ist die Arbeits- zeit durchweg auf 10 Stunden herabgesetzt und die Mindestlahne auf 3'50 Mark erhoben worden; Überstunden werden entsprechend höher ent- lohnt.’) Im Jahre 1901 wurde vom Ausschüsse der bayrischen Abgeordneten- kammer beschlossen,’! daß bei Vergebung von staatlichen Arbeiten den Arbeitern mindestens der orts- und berufsübliche oder in vereinbarten Tarifen festgesetzte Tagclohn bezahlt werden muH; die Arbeitszeit darf in der Regel 10 Stunden täglich nicht überschreiten; Überstunden sind mit mindestens 25 Proz. Zuschlag zu vergüten; die Ruhezeit an Sonn- und Feiertagen dauert mindestens ununterbrochen 30 Stunden; in erster Reihe sind inländische Arbeiter zu beschäftigen; die Verwendung anderer Arbeiter darf nur zu den gleichen Lohn- und Arbeitsbedingungen stattfinden. Den Behörden der Kreise und Gemeinden wird empfohlen, bei Ausführung und Vergebung ihrer Arbeiten nach gleichen Grundsätzen zu verfahren.

In Italien ist dem Unternehmer nicht erlaubt, ohne behördliche Genehmigung den Vertrag an Zwischenunternehmer abzutreten. Die Zahluug der Löhne soll wenigstens alle 15 Tage erfolgen; falls der Unternehmer mit der Zahlung im Ausstande bleibt, ist die Verwaltung ohne weiteres befugt, die Löhne auf seine Kosten zu begleichen.4) Außerdem muß der Unternehmer seine Arbeiter auf eigene Kosten gegen UuglOcksfälle ver- sichern.5)

Durch Umstellung obiger Bedingungen in die Vergebungsverträge wird die Freiheit der Verträge und der freie Wettbewerb nicht verletzt, da es doch einem jeden Unternehmer freisteht, den Vertrag mit der Ver- waltung abzuschließen oder nicht, und alle Unternehmer gleichmäßig behandelt werden. Ks wird dadurch auch in die gesetzliche Regelung der Arbeits- verhältnisse nicht eingegriffen,*) da der Verwaltung das Recht nicht ahge- sprochen werden kann, den Unternehmern Bedingungen aufzulegen, welche den zwingenden Vorschriften des bürgerlichen Gesetzbuches nicht zuwider- laufen. Die große rechtliche Wichtigkeit dieser Arbeiterschutzbestimmungen läßt sich nicht verkennen. Sie bilden zwar für die Parteien kein Gesetzes-, sondern ein Vertragsrecht und können nur in der Art wie andere Vertrags klausein durchgefflhrt werden. Es ist jedoch die öffentliche Verwaltung, welche die Erfüllung dieser Bedingungen überwacht und ohne gerichtliches Verfahren erzwingt. Schließlich sproßt aus diesen tausendmal wiederholten Vertragsverhältnissen die rechtliche Überzeugung von der Notwendigkeit

') Preußische allgemeine Vertragsbedingungen für Staatsbauten J 11; badische Ministerialverordnung vom 7. Juni 1890, 0.- und V.-Bl. S. 293.

•) Soziale Präzis, XI. Jahrg., Sp. 351 ff. und 1299 (T.

*) Soziale Präzis. XI., Sp. 154.

9 Legge sui Invori pubblici Art. 339 and 357.

Gesetz vom 17. Mürz 1898, Art. 7; Capitolato generale Art 22; Condizioni generali Art. 18 und 19.

•j Wie es BrJmond (Revue Critique, 1391, S. 147 bis 153) behauptet.

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1 >as Ki'cht 4c r offriitlicben Arbeiten.

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eines gedeihlichen Arbeiterschutzes, welche diese Schutzklauseln in der Zukunft zum Gesetzesrechte umzuwandeln geeignet ist. Diese Rcchts- bildung wird in den westlichen Ländern Europas rascher Platz greifen, da in diesen Ländern fast durchwegs hei öffentlichen Arbeiten viel weiter- gehende Arbeiterschntzbestimmungen1) Anwendung finden, als sie sonst für die Arbeiterschaft der privaten Industrie gelten. Bei uns hingegen ist der Kechtszug auf Erweiterung der gewerberechtlichen Schutzbestimmungen auf die Unternehmungen der öffentlichen Arbeiten gerichtet.

VIII. Verwaltung öffentlicher Arbeiten.

Das Verfahren, welches bei Durchführung öffentlicher Arbeiten etu- gehalten wird, weist wesentliche Unterschiede auf, je nachdem es sich um Herstellung oder um Erhaltung handelt. Dieser Unterschied ist durch die Möglichkeit des gröberen oder kleineren Einflusses auf die Beeilte dritter Personen gerechtfertigt.

I. H e r s t e 1 1 u n g s a r b e i t e n.

Im Verfahren. welches bei Herstellung öffentlicher Arbeiten beobachtet wird, lassen sich mehrere Cbergangsstufen unterscheiden:

A. Vorarbeiten.

B. Vorlegung und vorläufige Prüfung des Entwurfes,

C. Beratsehlagungsverfahren,

D. Genehmigung des Entwurfes und Fällung der Enteignungs- erkenntnisse,

E. Ausführung,

F. Prüfung und Betriebserlaubnis.

A. Vorarbeiten.

.Sind behufs der Ausführung öffentlicher Arbeiten Vorarbeiten auf fremden Grundstücken notwendig und will der Grundeigentümer die Vor- nahme derselben nicht gestatten, so entscheidet die politische Bezirksbehörde auf Ansuchen des Unternehmers sowohl über die Notwendigkeit als auch die Zulässigkeit der beabsichtigten Handlung.*) Die politische Bezirks- behörde bestimmt auf Ansuchen des Beteiligten die Sicherheit, welche die Unternehmung zu leisten hat. und die Höhe der zu entrichtenden Entschä- digung, die letztere vorbehaltlich der Entscheidung im urdentlicheu Rechtswege.

Zur Vornahme der Vorarbeiten wird eine angemessene Frist festgesetzt; nach Beendigung dieses Zeitraumes ist die Bewilligung als erloschen anzu-

*) Der Arbeiterschntz bei Vergebung öffentlicher Arbeiten, S. VII.

•) § 55 krain.. § 71 stelermlrk., $ 72 bukow., 5 73 niederösterr.. § 75 istrian., e 77 sonstiger Landeawaaaerreehtsgesetze ; § 42 des Eiienbahuenteigntingsgcsetzes. Die Bewilligung f(ir die Vorarbeiten einer Eisenbahn wird vom Eisenhahnniiimteriiim erteilt ($ 2 des Eisenbahnkonzessionsgesetzes.t Italienisches Gesetz über öffentliche Arbeiten Art. 242 und 243 und Gesetz vom 26. Juni 1865. Art. 7. Französisches Gesetz vom 22. Juli 1880. Art. 1.

Hresiewiez.

.'Hfl

sehen: sic kann jedoch wiederholt angesucht und erteilt werden.1) Durch die Bewilligung zu den Vorarbeiten erhält der Unternehmer weder ein Vor- recht auf Konzession der Anlage noch eine sonstige ausschließliche Befugnis; es kann daher die Bewilligung zu den Vorarbeiten verschiedenen Personen erteilt werden. Die Bewilligung zu den Vorarbeiten gibt bloß das Beeilt, auf Kosten des Unternehmers die Vorerhebungen für die künftige Ausführung der beabsichtigten Arbeiten unter Aufsicht der Behörden zu pflegen und die nötigen Vermessungsarbeiten vorzunebmen.*)

Den Vorarbeiten, welche von Staatsbehörden oder den Selbstverwaltungs- körpern verrichtet werden, muß ein Antrag der Vollzugsorgane an die be- schließende Behörde vorangehen. Diese Anträge5) werden entweder über höheren Auftrag von den Baubehörden verfaßt oder sie entspringen aus eigenem Antriebe der unteren Baubehörden. Im letzteren Falle wird ihre Verfassung durch Bedürfnisse und Zweckmäßigkeitsrücksichten oder durch zwingende Umstände (z. B. durch Elementarereignisse, durch eingetretpne Gefahr u. dgl.) begründet.

Anträge über Neubauten sind stets, andere Anträge aber hei einem höheren Kostenerfordernisse besonders zu begründen; sie umfassen: a) die Darstellung der Veranlassung, Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit und Tragweite der beabsichtigten Arbeiten; hj die Darstellung der technischen Einzelheiten, der Bauerfordernisse und die Vorbereitung der Behelfe für die Ausführung; c) den Kostenvoranschlag.

Zur Verfassung eines Bauautrages sind kommissioneile Vorverhandlungen durchzuführen, an welchen die Vertreter jener Behörden teilzunehmen haben, welche zur Wahrung der in Frage stehenden Interessen bestimmt sind. Wenn durch die vorgeachlagenen Arbeiten nachbarliche oder sonstige fremde Hechte berührt werden, sind unter Beiziehung der Aurainer und sonstiger Interessenten Verhandlungen zu führen, um die Bedingungen der entwurfs- mäßigen Ausführung zu erheben und mögliche Ansprüche der Anrainer auszntrngen.

/#. Vorlegung und Prüfling des Entwurfes.

Die Entwürfe und Berichte, betreffend die auf Staatskosten anszufüh- renden Arbeiten, sind der höheren Baubehörde zur Genehmigung vorzulegen. Bei anderen öffentlichen Arbeiten hat der Unternehmer bei der zuständigen Behörde ein Bewilligungsgesuch4) einzubringen. Die betreffende Vorlage muß enthalten:

*) Verordnung des Handelsministeriums vom 25. Jänner IST II. It.-Ii.-HL Nr. 19, § I.

*1 1 4 <les Eisenbahnkonzessionsgesetzes.

3) Üüer die Verfassung von Banuuträgeu bestehen besondere Vorschriften z. 1t. in den Baudieiistvorschriften für das h. und k. Heer, I. T., 20 bis 37.

§ 78 der meisten Wasserreehtsgesetze: Gesetz über Ableitung von Gebirgs- wässem §9; Eisenbahukonxessionsgesetz vom 14, September 1854, It.-G. Bl. Nr. 238, § 5, uml Verordnung des Handelsministeriums vom 25. Jänner 1879, K.-G.-Bl. Nr. 19, § 1. Gesetz vom 18. Febril sr 1»78, It.-G.-Bl. Nr. 30, § 12.

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Das Hecht d* r ftffVutlicheii Arbeiten.

2*» 1

1. die Angabe de« Zweckes und Umfanges der Unternehmung;

2. die von einem Sachverständigen verfallen Entwürfe und Zeichnungen ;

3. die Art und Weise der Ausführung;

4. die Darstellung der zu erwartenden Vorteile und der im Falle der Unterlassung zu besorgenden Nachteile;

5. eine Schätzung der mutmaßlichen Baukosten :

0. die Aufzählung der Mittel zur Deckung der erforderlichen Kosten;

7. die Angabe der Interessenten, deren liechte durch die beabsichtigte Unternehmung berührt werden;

8. die Angabe der Grundstücke und Liegenschaften, welche abzutreten oder mit Dienstbarkeiten zu belasten wären.

Bei den Arbeiten, welche vom Staat« oder von Selbstverwaltungs- körpern entworfen werden und vom Unternehmer ausgefülirt werden sollen, zerfallen die Entwurfsbelege in zwei Teile:

1. in rein technische: in diese ist alles aufzuuehmen, was zur Erläuterung der Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit, Beschaffenheit und Form, ferner zur Dar- stellung der Kosten des beantragten Baugegenstandes erforderlich ist. Diese Belege sind zunächst lediglich zum Gebrauche der Baubehörden bestimmt;

2. in technisch-administrative Belege, welche als Grundlage der Ver- träge für die Unternehmer zu dienen haben.

Die näheren Bestimmungen über die Einrichtung und Vorlage der technischen Entwürfe für Unternehmungen, welche aus dem staatlichen Me liorationsfonds unterstützt werden sollen oder die unschädliche Ableitung von Gebirgswässern betreffen, enthalten zwei Verordnungen des Ackerbau- ministeriums vom 18. Dezember 1885, R.-G.-Bl. Nr. 1 und 2 ei 1886. Die Verfassung von Eisenbahnentworfen und des hierüber einzuhaltenden Verfahrens ist in den Verordnungen des Handelsministeriums vom 25. Jänner 1879, R.-G.-Bl. Nr. 19, und vom 29. Mai 1880. K.-G. B1. Nr. 57, geregelt. Das weitere Verfahren ist dasselbe bei den Staatsbauten1 und anderen öffentlichen Arbeiten. Ergibt sicli schon aus dem Iuhalte des Gesuches auf unzweifelhafte Weise die Unzulässigkeit des Unternehmens aus öffentlichen Rücksichten, wird das Gesuch ohne weitere Verhandlung ahgewiesen. Wenn dies nicht der Fall ist, werden nötigenfalls an Ort und Stelle Erhebungen gepflogen. Ergeben sich bei der Vorprüfung Bedenken, ob der angestrebte Zweck überhaupt oder doch in der angegebenen Weise erreicht werden könne, so sind diese Bedenken dem Bauweiber zur Abgabe einer Erklärung init- zuleilen.’ Auf Grund des vorgelegten Generalentwurfes und der gepflogenen Erhebungen entscheidet’) die zuständige Behörde:

1. Über die öffentliche Nützlichkeit des beabsichtigten Unternehmens im allgemeinen,

l) Verordnung des Handelsministeriums vom 25. Jfuiner 1879, K.-G.-Bl. Nr. 19. §§ 5 und 16.

*) § 80 der meisten LanJeswaaserrcchtsgegetze.

WiMbachverbauungsgeaetz §§ 10 bis 11; § 79 ff. «ler meisten Landeswagserreehts- gesetze; Eiseubahnkonxessionwgesetz $ 6.

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Brdirffirz

•2. sowie darüber, ob sieh insbesondere der vorgelegte Gencralentw urf in seiner ursprünglichen oder in seiner einveruebmlicli mit dem Unternehmer abgeänderten Form zur weiteren Verhandlung eignet.

C. Ueratsohlagungsrerfahrcn.

Der ergänzte Entwurf wird von der politischen liehörde in den betei- ligten Gemeinden durch H Tage bis zu f> Wochen zur allgemeinen Einsicht aufgelegt und in ortsüblicher Weise verlautbnrt. In der öffentlichen Bekannt- machung ist auch der Tag und der Ort zu bezeichnen, an welchem die kommissioneile Verhandlung über den aufgelegten Entwuif beginnen wird. Von dem Inhalte der Verlautbarung sind auch alle bekannten Interessenten persönlich zu verständigen. Den Gemeindevertretungen und den einzelnen in irgend einer Weise Beteiligten steht es frei, etwaige Einwendungen gegen den Entwurf im ganzen oder gegen einzelne Teile desselben bei der poli- tischen Bezirksbehörde einzubringen. Nach Ablauf dei* in der öffentlichen Vorladung bestimmten Fristen findet an Ort und Stelle eine kommissioneile Verhandlung statt. Bei derselben ist anzuetrehen:

1. vor allem die volle Klarstellung der voraussichtlichen Einwirkung des beabsichtigten Unternehmens auf die allgemeinen Interessen;

2. die Berücksichtigung der im Öffentlichen Interesse erhobenen Ein- wendungen durch entsprechende Änderungen und Ergänzungen des Entwurfes:

:t. die Klarstellung der voraussichtlichen Einwirkung auf die beteiligten privaten Interessen;

4. die gütliche Einigung der Beteiligten hinsichtlich der im privaten Interesse erhobenen Einwendungen;

5. oft auch die Erhebung der Verhältnisse, welche für die Entschei- dung der mit dem beabsichtigten Unternehmen verbundenen Ausgleichnngs- fragen von Belaug sind.

Die kommissionelle Verhandlung mit den Parteien ist mündlich zu führen und sind zu derselben nach Erfordernis Sachverständige von Amts wegen beizuziehen. Uber die ganze Verhandlung ist ein Protokoll aufzu- nehmen, welches alle wesentlichen Umstände der Verhandlung, insbesondere die erzielten Übereinkommen und die sonstigen Ergebnisse der mündlichen Erörterung, unter Angabe der für und gegen den Entwurf vorgebrachten Grunde zu enthalten hat.

I). Genehmigung des Entwurfes.

Das Yerhandlungsprotokoll wird samt allen darauf bezüglichen Behelfen in der Regel der politischen Uandesbehörde vorgelegt, welche die Entschei- dung fällt :

a) über den Entwurf überhaupt und dessen einzelne Teile;

h) über die zur Ausführung desselben vorzunelmienden Enteignungen oder

sonstige Vorkehrungen:

c) manchmal auch über die Geldausgleichung hei Enteignungen.

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Pas Recht der öffentlichen Arbeiten.

2ÜÜ

Gegen die Entscheidungen der Landesbehörde stellt die Berufung an den betreffenden Minister offen, welcher mit Ausnahme der sub c) erwähnten Fragen alle anderen emlgfiltig entscheidet. Der Yerwaltungsgericlitshof kann die ministerielle Entscheidung nur in der Dichtung überprüfen, ob die ge- setzlichen Formen des Enteignungs Verfahrens eingehalten worden sind. Aus der Entscheidung der Behörde über die kommissionelle Verhandlung ergibt sich die Bauhewillignng ‘) und der Bau darf in Angriff genommen werden. Bei Privatunternehmungen bleibt zur Austragung der privatrechtlichen Ein- wendungen der Rechtsweg Vorbehalten, wenn sie auch in öffentlicher Be- ziehung als zulässig erkannt wurden.’) Bei öffentlichen Arbeiten ist dieser Rechtsweg ausgeschlossen, da durch die entgegenstehouden privatrechtlichen Einsprüche die Ausführung öffentlicher Arbeiten nicht gehemmt werden kann; sie lösen sich auf in Ausgleichungsansprflche. welche im Enteignung«- wege geltend gemacht werden müssen.’)

Die Genehmigung der öffentlichen Arbeiten, welche nicht auf Staats- kosten zu stände kommen, ist ein Ausflull des staatlichen Aufsichtsrechtes. Andere Bedeutung hat die Genehmigung der Staalsarbeiten: sie wird auch nicht notwendig von den die Aufsicht über alle öffentliche Arbeiten führenden politischen Behörden, sondern von diesen Behörden erteilt, in deren Geschäfts- kreis die vorgeschlagenen Arbeiten fallen. PieseBehörden entscheiden selbständig über alle in Frage stehenden öffentlichen Rücksichten.

Die Landesbehörden des betreffenden Yerwaltung.-zweiges genehmigen*) aile Arbeiten, welche bloll die Instandhaltung zum Gegenstände haben, wenn der jährliche Beitrag 1000 Kronen nicht übersteigt, und alle Neu- oder Um- bauten. deren Gesamtkosten 10.000 Kronen nicht übersteigen. Die Geneh- migung anderer Bauten bleibt dem Ministerium Vorbehalten, (n jedem Falle muff der notwendigen Auslage die Bedeckung hielür in den gehörigen Orts genehmigten Jaliresvoranschlägen zu Grunde liegen. Die Genehmigung der Staatshauten enthält also immer auch die Bewilligung der notwendigen Auslagen.

Bei Staatsbauten beschränkt sich die Tätigkeit der politischen Behörden (wenn sie nicht zugleich als Baubehörden eingreifen i auf die Fällung der Enteignu ngserkenntnisse nach Durchführung des auf diese sich beziehenden Verfahrens. ■') Das Enteignungsverfabren bat im wesentlichen denselben Gang, wie oben dargestellt wurde; es entfällt nur die Verhandlung bezüglich der Nützlichkeit und Ausführbarkeit des Unternehmens.

fi § 86 der meisten Landeswasscrrechtsgesetze : s 14 des Gesetzes aber Ableitung der Gcbirpswässer; Verordnung des Handelsministeriums vom 25. Jauner 1870, K.-G.-Ul. Nr. 19. § 19.

’) S ss der meisten Landeswasserrechtspesetzc.

*1 Kisenbahuenteignungsgesetz § 2. Z.

*1 §§ 31 und 33 der Verordnung vom 8. Dezember 1860. K.-G.-B1. Nr. 268. Bei Staatseisrnbahnen (Organisationsstatut § 6, Punkt 17) und bei Militarbauten (Bauvor- schriften för das k. und k. Heer. I. T., § -3) ist der Betrag höher.

fi Nur in Mähren bedürfen die Wasserbauten auf Staatskosten der Bewilligung der politischen Behörde.

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Breaiewicz.

E. Ausführung des Unternehmens.

Auf Grund der Genehmigung wird zur Ausführung der Arheiten go- aehritten. Die Arten der Ausführung und die dabei vorkommenden Rechts- verhältnisse sind schon im V. und VI. Abschnitte behandelt worden; es erübrigt noch, die dabei beteiligten Organe der Verwaltung und die Vor- schriften, welche ihre Handlungen bestimmen, näher zu betrachten:

1. Die mit der Ausführung der Arbeiten betrauten Organe, ihre Anzahl, rechtliche Stellung und ihr Wirkungskreis wechseln je nach der Wichtig- keit der Arbeiten, nach der Person des Unternehmers n. s. w. Dem Unter- nehmer gegenüber sind sie an die erteilten Weisungen gebunden. Ohne jedoch in die minder wichtigen Einzelheiten einzugehen. muH die rechtliche Stellung des Bauführers und des Bauleiters hervorgehoben werden. Der Bauführer ist das unmittelbar ausübende Organ des Unternehmens. Dem mit der Ballführung betrauten Techniker liegt insbesondere ob:*) ii) die Aussteckung jeder einzelnen Arbeit nach Maßgabe des genehmigten Entwurfes und die Baueinteilung der einzelnen Gegenstände; h) die Wahrnehmung der auf die Ausführung der Arbeiten Einfluß aus- übenden Umstände, der Gattung und Menge des dabei in Verwendung zu nehmenden Materials und der Güte der Arbeit; r) die Führung eines den Fortschritt der Arheiten genau nachweisenden und alle wichtigen Wahrnehmungen enthaltenden Tagebuches und die Verfassung der dazu sowie überhaupt zur Zusammenstellung der Ver- dienstausweise und der Ausführungskostenberechnung erforderlichen Behelfe;

ilj die rechtzeitige Verständigung des Unternehmers und der Bauleitung von allen wichtigeren Vorkommnissen bei dem Baue, schließlich die Unterstützung der letzteren bei Besichtigung und Endabnahme.

Wenn der Bauführer die wirkende Hand des Unternehmens vorstellt, ist der Bauleiter die Seele, welche alle Handlungen bewältigt.

a) Der Bauleiter hat anfangs eines jeden Baujahres das Arbeitsverzeichnis für das laufende Jahr mit den nötigen Plänen und Voranschlägen der Baubehörde vorzulegen;

b) er hat die Verteilung der Arbeiten zu veranlassen und für die plan- end fachgemäße sowie ökonomische Ausführung derselben Sorge zu tragen;

r) er hat die Arbeiten zu besichtigen und deren Ausführung zu prüfen; d) der Bauleiter prüft und unterfertigt sämtliche Urkunden, auf Grund welcher die Auszahlungen zu bewerkstelligen siud, er führt ein Tage- buch des Schriftenwechsels, Ausweise der Materialien. Gebührenaus- weise für ausgeführte Arbeiten und erhält in Ordnung die Bauakten; r) in unaufschiebbaren Fällen trifft der Bauleiter die nötigen Vorkehrungen unter eigener Verantwortung und rechtfertigt dieselben unverzüglich vor der Baubehörde;

’) Vergl. die Kundmachung der Slatthalterei vom 25. April 1900, L.-G.-B1, fur Böhmen Nr. 30, § 7.

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Dm Reicht der nffentliehen Arbeiten. 23.r>

f) er legt der Baubehörde periodische Berichte Ober die Bautätigkeit und deren Erfolge vor und begutachtet die beabsichtigten Abweichungen vom genehmigten Entwürfe.

Wenn es sich gut Arbeiten von geringem Umfange oder nur um In- standhaltuugsarbeiten handelt, kann die Baufahrung und Bauleitung in der Person eines Ingenieurs vereinigt werden. Von großer Wichtigkeit ist der obige Unterschied dann, wenn die Organe der Bauführung und der Bauleitung nicht vom Unternehmer allein, sondern auch von anderen an den Arbeiten Beteiligten beigestellt werden.

2. Während der Ausführung eines Baues darf keine wesentliche Än- derung desselben vorgenomineu werden, wenn hiezu nicht von der Behörde, welche den ursprünglichen Entwurf genehmigte, vorher die ausdrückliche Bewilligung erteilt wurde. Ausgenommen hievon sind nur jene Fälle, wo Gefahr im Verzüge ist: der Bauleiter ist aber für die wegen Dranges der Umstände von ihm angeordneten Änderungen verantwortlich.

Ergibt sich hei Ausführung des Unternehmens das Bedürfnis neuer, im Entwürfe nicht vorhergesehener Vorkehrungen, so hat die politische Be- zirksbehörde mit den Beteiligten zu verhandeln und den Erfolg der bewilli- genden Behörde vorzulcgen.1 welche darüber entscheidet

3. Die Bauführungen für Öffentliche Zwecke*; des Staates, eines Landes oder Bezirkes, dann der in ihrer Verwaltung stehenden Fonds sind hinsicht- lich der Bauart an materielle Bestimmungen der Bauordnung gebunden: die Baubewilligung wird in diesen Fällen von der hauführenden Behörde gegeben, weiche nur in Bezug auf die Begulienings- und Niveaulinie und die Sicherheitspolizei mit der Gemeindebehörde das Einvernehmen zu pflegen hat. Bei Ballführungen der Gemeinde oder der Fonds, welche in der Ver- waltung der Gemeinde stehen, erteilen die Baubewilligung die Organe der Gemeinde selbst oder die dazu ahgeordneten Behörden des Staates.

ln ähnlicher Weise sind die allgemein verbindlichen Vorschriften der Wasserrechtsgesetze nicht nur zu den Wasserbauten für Privatzwecke, sondern auch für öffentliche Zwecke anwendbar.

F. Prüfung der Arbeiten und Hetriebserlaubnia Die Prüfung der Arbeiten’) ist eine Amtshandlung vorwiegend tech- nischer Natur und hat zum Zwecke, genau zu erheben und festzustellen: aj ob die Arbeiten nach den Kegeln der Kunst und den Vorschriften entsprechend verrichtet wurden;

h) ob sie dem Vertrage und den allenfalls bestätigten Änderungen des- selben entsprechen;

') Mayrhofer, III.. S. 966 ff.

3; Vorschrift, 'ii über die Prüfung der Arbeiten sind in der Verordnung der ehe- maligen Generalhaudirektion vom 15. Dezember 1851, Z. 5980 (Verordnungsblatt dea Handelsministeriums vom Jahre 1852. Bd. I.. Nr. 2), und in Bauvorschriften für dos k. und k. Heer, I. T.. 53 bis 56, enthalten. Kör Italien das kOnigl. Dekret vom

25. Mai 1895, Nr. 350, Art. 91 bis 117.

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23fi

Bresiewiez.

e) oh die Rechnungen und Ausgabsurkunden mit den tatsächlichen Erfolgen übereinstimmen, und zwar nicht nur bezüglich der Form und der Menge, sondern auch bezüglich der Beschaffenheit der Materialien und der Leistungen :

d) ob in der Endabrechnung die Preise dem Vertrage gemäß angegeben wurden:

r) ob die Hegiearbeiten zum Vorteile der Verwaltung geführt und die vergebenen Arbeiten vorschriftsmäßig beaufsichtigt wurden.

Wird der Bau in Regie geführt, so hat sich der den Bau leitende Ingenieur diesfalls selbst an die ihm Vorgesetzte Baubehörde zu wenden. Im Falle einer Vergebung des Baues hat der Bauleiter dem Bauunternehmer ein Zeugnis auszustellen, wodurch bestätigt wird, daß der Bau beendigt sei und der Prüfung unterzogen werden könne. Auf Grund dessen hat der Unter- nehmer bei der Baubehörde um die Bestimmung einer besonderen Kommission das Ansuchen zu stellen.

Ordentlich ist die Prüfung durch die zu entsendenden technischen Organe der unternehmenden Verwaltung vorzunehmen; wenu mehrere an Kosten der Arbeiten beteiligt sind, müssen sie bei der Kommission ent- sprechend vertreten sein. Mit der Vornahme von Prüfungen einzelner Gegen- stände oder einzelner Partien von Arbeiten, falls sich solche während einer Bauperiode als unabweislich ergehen sollten, kann der Bauleiter betraut werden. Die Prüfung findet statt:

a) am Schlüsse der jährlichen Arbeitsdauer und

h) nach erfolgter Ausführung des ganzen Unternehmens, d. i. am Ende des letzten Baujahres (Schlußkollandierung).

Der vertragschließende Unternehmer ist zur geeigneten Zeit aufzu- fordern, zur Prüfung an dem bestimmten Tage zu erscheinen. Wenn er der Verhandlung nicht beiwohnt, so findet die Untersuchung und Erhebung der Tatsachen dennoch statt und der Unternehmer kann dann seine allfälligen Bemerkungen nachträglich im Protokolle beifügen. Die Untersuchung hat mit der genauen Besichtigung und Beschreibung, dann mit der Abmessung der Baugegenstände zu beginnen. Die Güte der verwendeten Materialien und die Genauigkeit der Ausführung ist dabei insoweit zu prüfen, als sie durch die äußerliche Besichtigung des Werkes und die Abmessung festgestellt werden können. Wenn jedoch die Bauleitung oder die Prüfungskommission bei der Abnahme einen genügenden Verdacht schöpfen kann, daß der Bau nicht ver- tragsmäßig geführt wurde, daß unbrauchbare Materialien verwendet oder die Arbeit schlecht hergestellt worden ist, so ist sie befugt, behufs Feststellung des Tatbestandes die nötige Abtragung eines Teiles der Arbeiten anzuordnen.

In dem über den Befund aufgenommeneu Protokolle ist die Menge und Güte der tatsächlich ausgeführten Arbeiten sicherzustellen, mit den Entwürfen zu vergleichen, der ganze Kostenaufwand, welchen die aufgeführten Arbeiten erfordert haben, darzustellen und der ökonomische Erfolg anzugeben. Wenn die Arbeiten von der Prüfungskommission ohne irgend einen Vorbehalt voll- kommen entsprechend ausgeführt befunden werden und der Unternehmer

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bas Hecht der öffentlichen Arbeiten.

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keine Ansprüche erhebt, wird das Ergebnis im Protokolle ersichtlich gemacht. Wenn aber die Arbeit nicht nach den genauen Bestimmungen des Vertrages bergestellt und vollendet worden ist, so ist zu unterscheiden:

a) Wenn die erhobenen Mängel der Arbeit nur untergeordnete Verbesse- rungen erheischen, wird zur Abnahme geschritten und im Protokoll nur die geeignete Bemerkung gemacht, daß die erforderlichen Nach- arbeiten sogleich in Angriff genommen werden müssen.

ist dieses geschehen, so stellt der Bauleiter darüber ein Zeugnis aus und auf Grund dieser Urkunde wird die Abnahme als endgültig angenommen.

h) Sollten jedoch die erhobenen Mängel von solcher Wichtigkeit sein, «laß die Arbeit nicht abgenommen werden kann, so wird die Prüfungs- kommission den Zustand der Arbeiten protokollarisch erheben, die Mängel beschreiben und erklären, ob sich Belbe auf die schlechte Aus- führung oder Nichtvollendung der Arbeiten beziehen oder durch zu- fällige Ursachen nach deren Beendigung herbeigeführt worden seien. Zugleich wird das zu Geschehende angegeben und die Zeit zur Be- seitigung der Mängel bestimmt. Nach Bewirkung der Nacharbeiten wird eine Nachprüfung vorgenommen.

Dio bei dieser Tätigkeit etwa Vorgefundenen Anstände, welche die Verantwortlichkeit des Bauleiters oder des Bauführers betreffen, werden im Protokolle festgestellt und im Verwaltungswege auBgetragen.

Nach Beendigung der Prüfung wird das darüber aufgenommene Pro- tokoll von allen Anwesenden unterfertigt und zum Schlüsse das eigene be- gründete Gutachten der Kommission abgegeben, ob und inwiefern der Bau- unternehmer den eingegangenen Verpflichtungen nachgekommen ist. ob und mit welchem Vorbehalte die Bestätigung der Empfangnahme erfolgen kann, endlich in welchen Beträgen die zur Ausgleichung mit dem Bauunternehmer entfallenden Gebühren sich darstellen. Der Prüfungsakt wird mit sämtlichen Behelfen und Beilagen dieser Baubehörde zur Genehmigung vorgelegt, welche bei den betreffenden Bauten als Unternehmer auftritt.

Falls der Vertragschließende im Sinne der Vertragsbestimmungen eine Haftpflicht für einige Zeit nach Übergabe der Arbeiten übernommen hat, ist nach Ablauf der Haftzeit eine Nachprüfung vorzunehmen, wobei im all- gemeinen in analoger Weise wie bei der ersten Prüfung vorzugehen ist.

Bei Ausführung der Unternehmungen, welche in Betrieb gesetzt werden sollen, ist vor Eröffnung des Betriebes eine Benutzungsbewilligung der Staatsbehörde1 zu erwirken. Zum Behufc der Erwirkung der Erflffnungs- bewilligung’) muß von der Unternehmung ausgewiesen weiden, daß ein regelmäßiger, ungestörter und sicherer Betrieb mit vollem Gruude erwartet werden kann, insbesondere:

*) Eisenbah nbetriobsordnung vom 16 November 1851. R.-G.-Bl. Nr. 1 ex 1852. § 1. *) Eiseubahnbetriebsorduung § 2; Verordnung des Handelsministerium* vom 25. Jänner 1879, H.-O.-Bl Nr. 19, 25 bis 34.

Keilschrift fdr Volfcswlracbaft, äoalaJpsHitik und Verwaltung. XII. Band. 17

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Breflfcwirz

a) daß die Anlagen den diesfölligen Sicherheitsvorschriften entsprechen;

b) daß die Betriebsmittel in gehöriger Beschaffenheit vorhanden sind und

c) daß zur Abwendung von Gefahren die nötige Vorsorge getroffen wurde.

Die besondere Prüfung der Herstellungen zum obigen Zwecke erfolgt

in diesem Falle inaner durch die Staatsbehörde.

II. I n s t a n d h a 1 1 u n g s a r h e i t e n.

Durch Prüfung und Beuutzungsbcwilligung wird festgestellt, daß der Unternehmer der Pflicht zur Errichtung der öffentlichen Anlage Genüge geleistet hat. Bezüglich der weiteren Auslagen sind zwei Fälle möglich:

1. Die Kegel bildet, daß der Unternehmer auch die Kosten für die fernere Erhaltung des Werkes zu tragen hat. Durch Empfangnahme wird dann nur die Verrechnung der Auslagen geändert : etwaige weitere Auslagen belasten nicht mehr den Baufonds, sondern die für Erhaltungszwecke ange- wiesenen Beträge.1)

2. Wenn in einzelnen Fällen eine besondere Pflicht zur Erhaltung eintritt. wird die fertige Anlage nach Beendigung der Prüfung vom Unternehmer dem Erhaltungspflichtigen übergehen und vom Tage der protokollarischen Übergabe beginnt seine Erhaltungspflicht.

Die Instandhaltungsarbeiten werden in ordentliche und außerordent- liche geteilt.

1. Die gewöhnlichen lnstaudhaltungsarbeiten sind solche, welche durch gewöhnliche Abnutzung der Anlagen hervorgemfen werden und in jedem Verwaltungsjabro sich wiederholen. Sie werden aus der Jahresausstattung und gewöhnlich in eigener Kegie durchgeführt. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß die Erhaltung vom Unternehmer vertragsmäßig übernommen, ja selbst daß eine Konzession zu diesem Zwecke verliehen werde; als Beispiel dienen die Mautkouzessionen mit der Verpflichtung zur Erhaltung eines Bezirks- oder Gemeindeweges.

Wenn die Erhaltungsarbeiten keine Änderungen im Zustande der öffent- lichen Anlagen hervorrufen und die liechte Dritter nicht berühren, bedürfen sie keiner besonderen behördlichen Bewilligung. Wenn zum Zwecke der * Erhaltung öffentlicher Anlagen die Pflichten den Anrainer zu gewissen Hand- lungen oder zur Duldung von Eingriffen in Anspruch genommen werden, hat sich der Verwalter der Anlage an die politische Behörde zu wenden, welche im Streitfälle darüber entscheidet.

2. Außerordentliche Krluiltungskosten finden keine Bedeckung im Jahres- voranschlage der Verwaltiingskörper und müssen besonders bewilligt werden: nur im Falle, wenn Gefahr am Verzüge haftet, ist der Verwalter berechtigt, die nötige Auslage gegen nachträgliche Kechtfertigung anzuordnen.

Wenn im Interesse der guten und zweckentsprechenden Erhaltung des Werkes nachträglich noch weitere Vorkehrungen (Um- und Zubauten) er- forderlich erscheinen, finden auch in Betreif solcher Vorkehrungen die für

Vergt. die Bsaüienatvorechriften für dae k. u. k. Heer § 14

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Du Recht der öffentlichen Arbeiten.

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die Herstellung des Werkes selbst gegebenen Vorschriften Anwendung. E9 wird also auch in diesem Falle eine Verhandlung an Ort und Stelle mit den Inter- essenten vorgenommen ; mit Rücksicht jedoch auf den verhältnismäßig geringeren Umfang dieser Vorkehrungen findet ein abgekürztes Verfahren statt.1)

Wenn auch die Herstellungsarbeiten im einzelnen Falle nicht obliga- torisch erscheinen können, bilden die Instandhaltungsarbeiten immer die Pflicht des Unternehmers, welche im Verwaltungswege erzwungen werden kann. Mit der Aufsicht über die Instandhaltung ist die Staatsbehörde betraut.

III. Aufsicht über öffentliche Arbeiten.

Die politischen Behörden besorgen:*)

1. die Leitung und Überwachung des Staatsbauwesens:

2. die Aufsicht über alle nicht ärarischen öffentlichen Arbeiten;

3. die Einflußnahme auf die unter Beitragsleistung des Staatsschatzes ausgefübrten Bauten.

Dasselbe gilt auch vom Eisenbahnministerium.*)

Da alle diese Handlungen oft von denselben Organen ausgeflbt werden, erscheint es schwierig, im einzelnen Falle sie rechtlich abzusondern. Diese Absonderung ist jedoch notwendig, um den rechtlichen Charakter der be- treffenden Handlung zu bestimmen.

1. Die Organe, welche zur Leitung und Überwachung der auf Staats- kosten gemachten Arbeiten berufen sind, wurden schon im II. Abschnitte näher besprochen.

2. Der politischen Behörde kommt das Aufsichtsrecht über alle öffent- lichen Arbeiten zu. Es wird nach folgenden Grundsätzen ausgeübt:

n) Vor Inangriffnahme jeder Anlage muß die' politische Staatsbehörde vernommen werden und deren Zustimmung muß in Bezug auf die öffentlichen Rücksichten vorangehen. Sie prüft die Enteignungsanträge und fällt die betreffenden Erkenntnisse. Dadurch hat sie die Möglich- keit, das bestimmte Unternehmen als ein öffentliches Unternehmen anzuerkennen oder nicht.

b) Die politische Verwaltung gewährt nach Maßgabe der darüber beste- henden besonderen Anordnungen die Unterstützung bei Entwerfung und Ausführung öffentlicher Bauten;4) insofern die für derlei Verrichtungen zunächst bestimmten, nicht in landesfürstlichen Diensten stehenden Techniker örtlich und zeitlich hiefür nicht zu Gebote stehen. Hieher gehört auch die Übernahme des Betriebes der Lokalbahnen.5)

l) Wildbachverbauungsgesetz § 20; för Eisenbahnen § 39—41 des Gesetzes vom 18, Februar 1878, R.-G.-Bl. Nr. 30; Verordnung des Handelsministeriums vom 25. Jftnner 1879, R.-G.-B1. Nr. 19f § 18; Erlaß des Eisenbahnministeriuma vom 17. Juni 1897, Verordnungsblatt für Eisenbahnen Nr. 77.

*) Verordnung vom 8. Dezember 1860, R.-G.-Bl. Nr. 268, § 2.

*) Organisationsstatut vom 19. Jftnner 1896, R.-G.-Bl. Nr. 16, § 6.

4) Z. B. för die Unternehmen, welch«? die unschädliche Ableitung von Gebirgs- wftssern bezwecken (Gesetz vom 7. Februar 1888, R.-G.-Bl. Nr. 17).

•) Lokalbahngeseta vom Jabre 1894, Art IX, Abs. 2.

17*

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Brrsievriez.

e) Die politische Behörde übt das Aufsichtsrecht in der Richtung aus,1) daß die die öffentlichen Arbeiten führenden Organe ihren Wirkungskreis nicht überschreiten und nicht gegen die bestehenden Gesetze Vorgehen. Die Regierung kann nicht nur jene Arbeiten, welche außerhalb des Wirkungskreises des betreffenden Unternehmers liegen, verbieten, sondern aucli die Ausführung der Arbeiten anordnen, welche auf Grund einer gesetzlichen Verpflichtung oder auf Grund eines mit der Regierung abgeschlossenen Übereinkommens dem Unternehmer obliegen.

il) Außerdem ist die politische Behörde berechtigt und verpflichtet, darauf zu dringen, daß die öffentlichen Anlagen im gesetzlich vorgeschriebenen Zustande erhalten werden und daß die Benutzung derselben (insoweit sie stattfindet) für jedermann ungehindert bleibe. Ks liegt ihr oh. in Fällen, in welchen durch das Vorgefundene Gebrechen der Anlage der Verkehr gehemmt oder die Sicherheit der l’erson oder des Eigentums gefährdet wird, die erforderliche Abhilfe von den hiezu verpflichteten Organen in Anspruch zu nehmen und hei Gefahr im Verzüge oder wenn die Abhilfe nicht rechtzeitig geleistet wird, dieselbe unmittelbar auf Kosten der Verpflichteten zu treffen.

<■) Zur Auflassung beteheuder Anlagen ist die Zustimmung der politischen Behörde erforderlich.

Die Staatsaufsicht über öffentliche Arbeiten, welche nicht vom Staate ausgeführt werden, ist eingehender als über sonstige Geschäftsführung der Selbstverwaltnngskörper. Bei den letzteren wird die Regierung von der un- mittelbaren positiven und sachlichen Einflußnahme aut die Besorgung der in den selbständigen Wirkungskreis der Gemeinden gehörigen Angelegen- heiten möglichst fern gehalten: sie übt nur das Aufsichtsrecht dahin aus, daß die Selbstverwaltungsorgane ihren Wirkungskreis nicht überschreiten und nicht gegen die bestehenden Gesetze vergehen sowie mich daß sie die ihneu gesetzlich obliegenden Leistungen und Verpflichtungen erfüllen.*) Bei den öffentlichen Arbeiten hingegen führt die Regierung aucli die eigentliche Verwaltungsaufsicht, daß die Organe der Ausführung ihre Aufgaben voll- ständig, sachgemäß und ohne ungerechtfertigte Verletzung der persönlichen Interessen der einzelnen vollziehen

3. Bedeutend stärker ist noch die Einflußnahme des Staates auf jene Bauten, welche unter Beteiligung der Ärarial-. Straßen-, Wasserbau- und Meliorationsfonds oder anderer vom Staatsschätze ausgestatteten und sonst der Verwaltung oder Aufsicht der politischen Behörden unterstehender öffentlicher Fonds ausgeführt oder erhalten werden. Hier behält sich der Staat außer der Aufsicht auch die Leitung’) der betreffenden Arbeiten, die unmittelbare Einwirkung auf die besonderen Entwürfe. Kostenroranschläge

’) Wasserrechtsgesetze: ft 74 krsin., § *9 Steiermark.. $ 90 bukow., 92 nieder- futerr.. § 95 istrian.. $97 t>ohm., $97 sonstiger Gesetze. Wildhudiverbanungsgesetz $ 19. *) ülutli in Mischlers StaatswO: lerbacb, 1., 8. 706 ff.

5) $ 45 der Verordnung vom 8. Dezember 1*60, R.-G.-Rl. Nr. 268.

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Ha* Recht der öffentlichen Arbeiten.

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und die Vergeltung der Arbeiten vor.1) Die daraus entspringenden Rechts- Verhältnisse wurden schon im IV. Abschnitte besprochen.

Aus der obigen Darstellung ist zu entnehmen, daß die österreichische Gesetzgebung auf dem Gebiete der öffentlichen Arbeiten sehr zerstückelt ist und hinter den Bedürfnissen des Lebens weit zurückbleibt. Der Fort- schritt der öffentlichen Verwaltung lädt sich jedoch nicht auflialten. Die großartige Entwicklung der öffentlichen Arbeiten der Neuzeit hat das Be- dürfnis und die Notwendigkeit, daß die neu entstehenden Rechtsverhältnisse geordnet und daß die Verwaltung der öffentlichen Arbeiten einheitlicher ge- regelt und geleitet werde, recht fühlbar gemacht. Möge obiger Aufsatz zur Förderung dieser Ansicht beitragen!

') Gesetz vom 1. Juli lütll, R.-G.-BI. Nr. 85, Art. Xll.

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- ZUR AUSGESTALTUNG DES RECHTS- UND STAATSWISSENSCHAFTLICHEN STUDIUMS IN ÖSTERREICH.

VON

PROF. ALFRED v. HALBAN

Vorbemerkung.

Wir wollen die etwas mißliche Aufgabe unternehmen, die ohnehin starke Zahl von Aufsätzen, die sich mit dem juristischen Sludicnwesen befassen, zu vermehren, ohne dabei eine polemische Auseinandersetzung mit den vorgebrachten Meinungen anzustreben. Es sollen die von den akademischen Lehrern und der Unterrichtsverwaltung, zum Teile von der studierenden Jugend selbst empfundenen Übel von den Grundlagen aus untersucht und eine Besserung der Lage vorgeschlagen werden, soweit sie ohne Umwälzung erreichbar ist. Mit einem Worte: wir planen keinen Neubau, nicht einmal einen Umbau, sondern bloß einen Ausbau des Bestehenden, der geeignet wäre, den wissenschaftlichen Forderungen der Neuzeit im Rahmen der vor- handenen Einrichtungen gerecht zu werden.

Darin liegt vielleicht der wichtigste Unterschied zwischen den meisten ähnlichen Schriften und der vorliegenden. Reformvorschläge leiden nur zu oft an dem Fehler, daß sie dem Besseren, das sie wünschen, das bestehende Gute opfern. Leicht bricht man den Stab Aber alles, was man genau kennt, und ist nur zu sehr geneigt, die Vorzüge des Bestehenden zu mißachten, die Nachteile mit besonderer Schärfe zu betonen. Nur ein Schritt und man entwirft Idealpläne, ohne ihre Durchführbarkeit zu bedenken. So schwer es auch fällt, bei Besserungsvorschlägen Maß zu balteu, so sehr muß man, soll nicht ganz Unpraktisches vorgeschlagen werden, sich auf Schritt und Tritt sagen, daß ein mittelmäßiger Vorteil immerhin besser ist als gar keiner. Zu Umwälzungen, wie sie hie und da verlangt werden, wird sich kein gesetzgebender Körper und keine Verwaltung entschließen. Und mit Recht. Man kann einem wenn auch noch so schön motivierten Experimente zuliebe das Bestehende nicht fallen lassen, namentlich wenn niemand zu bärgen vermag, daß das empfohlene Experiment wirklich durchführbar ist und man eher bezweifeln muß, ob sich Hörer und Lehrer in eine grund-

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Zar Ausgestaltung de* rechts- and *iaa(«wL*eii»idiuftli<dien Studiams etc. 243

sätzlich ueue Lage hineintinden könnten. Mau versuche vielmehr im Bereiche der jetzigen Einrichtungen alles durchzuröhren, was durchgeföhrt werden kann und was dem Geiste dieser Einrichtungen nicht nur nicht widerspricht, sondern von ihm sogar gefordert wird. Auf diesem Wege, der langsam, aber sicherer zum Ziele führt, mut! der Boden för weitergehende Reformen geebnet werden. Wir sind also darauf gefallt, daß man von mancher Seite die nach- folgenden Ausführungen als Flickwerk bezeichnen wird, glauben aber der Sache seihst besser zu dienen, als durch Aufführung eines Idealplanes, för dessen Verwirklichung niemand die nötigen Kräfte und Mittel finden würde.

Dieselbe Rücksicht auf die Möglichkeit der Durchführung veranlaßt uns, hier ausschließlich österreichische Verhältnisse ins Auge zu fassen, obwohl gewiß mancher Vorschlag durch eine auf ausländische Erfahrungen gestützte Begründung gewinnen könnte. Sollten die nachfolgenden Bemer- kungen zu einer Debatte Anlaß geben, dann wären die einschlägige Literatur, sowie ausländische Einrichtungen und Erfahrungen in den Kreis der Betrach- tung zu ziehen. Vorläufig erscheint uns ein solches Vorgehen nicht geboten. Argumente, die durch Hinweis auf ausländische Verhältnisse begründet werden, begegnen oft dem Einwande, daß eben dort die Ver- hältnisse anders geartet sind. Wir möchten solchen Einwänden entgehen sind übrigens in der Lage, dasjenige, was wir anregen, auf Grund des in Öster- reich schon Bestehenden vertreten zu können.

Es muß bemerkt werden, daß die österreichischen Studieneinrichtungen ihrem Geiste nach und speziell hinsichtlich des Studienplanes Vorzüge aufweisen, die jede Ausgestaltung ermöglichen. Als günstig wirkender Faktor ist das Einverständnis zwischen den Bestrebungen der Hochschulen und der Staatsgewalt zu nennen; wo dasselbe nicht zutrilft, liegen gewöhnlich finan- zielle Hindernisse vor. Uber eine von Goldschmidt und anderen namhaften Rechtslehrern Deutschlands oft gerügte Rücksichtslosigkeit, mit der man Anregungen aus Professorenkreisen als Professorenweisheit abfertigte, darf man in Österreich seit T li u n s Zeiten wohl keine ernste Klage führen: weder die Unterrichtsverwaltung noch der Reichsrat können eines geringschätzenden Vorgehens gegenüber wissenschaftlichen Anregungen bezichtigt werden.

Der rechts- und staatswissenschaftliche Studienplan ist von richtigem Geiste beseelt, und man muß anerkennend hervorheben, daß in dem öster- reichischen Studien- und Prüfungswesen die Kluft zwischen den Anforderungen der Wissenschaft und der Praxis in keiner Weise zum Ausdruck kommt. Man fordert, daß in den praktischen Berufen Leute lütig sind, die möglichst wissenschaftlich ausgebildet wurden. Hinsichtlieh dieser wissenschaftlichen Ausbildung bietet das österreichische Studienwesen Gelegenheit zu Erwei- terungen, wie sie jeweils als wissenschaftlich begründet erachtet werden könnten. Diesu prinzipielle Anerkennung darf nicht hindern, Einzelheiten zu bemängeln. Gerade der Umstand, daß eine Kluft zwischen Wissenschaft und Praxis dem Geiste der Studienordnung fremd ist, muß den Ausgangs- punki von Besserungs Vorschlägen bilden, damit nicht mit der Zeit infolge

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Halhan

von Unterlassungssünden diese Kluft entstehe. Es muß an der wissenschaft- lich vorteilhaften Grundlage festgehalten werden; sie ist die einzig richtige, wenn man erwägt, daß ein wissenschaftliches Plus dem künftigen Praktiker niemals schaden, ein wissenschaftliches Minus aber lähmend wirken kann. Die österreichische Studienordnung geht ferner von der Auffassung aus, daß die gesamt« Jurisprudenz organisch gegliedert und organisch gelehrt werden soll. Dieser Auffassung entspricht die Reichhaltigkeit der Vorleseordnung, die Verbindung der rechts- und staats wissenschaftlichen Bildung und das Streben nach gerechterem Verhältnisse der einzelnen Disziplinen zu einander. Ist auch in beiden Beziehungen vieles einer Besserung bedürftig, so ist doch die Besserung leicht durchführbar; dem Geiste der Studieneinrichtungen würden Verbesserungen nicht widersprechen, vielmehr den eigentlichen Wert des Studienplanes in neuem Lichte erscheinen lassen.

Unsere Vorschläge sollen vor allem wissenschaftlichen Rücksichten Rechnung tragen; nur wo es unbedingt notwendig ist, wird diese Grenze überschritten. Es ist z. B. klar, daß der beste Studienplan, die beste Ein- richtung von Kollegien und Seminaren, ebenso wie die zweckmäßigste Prüfungsordnung die verhängnisvolle Belastungsprobe der falsch aufgefaßten lernfreiheit nicht aushalten wird. Die anregendsten Vorlesungen werden den Studierenden, der außerhalb der Universitätsstadt weilt oder aus anderen Gründen nicht frequentieren will, niemals in den Hörsaal locken. So erfreulich es ist, daß man sich in den letzten Jahren gerade in Deutschland mit der Beseitigung der Nachteile der falsch verstandenen Lernfreiheit befaßt, so wolleu wir doch an diese vorwiegend administrative Frage nicht herantreten und vom akademisch-wissenschaftlichen Standpunkte nur darauf eingeiien, was dem gewissenhaften Lehrer die Lösung seiner Aufgabe zu erleichtern und dem gewissenhaften Hörer erfolgreiches Studium zu ermöglichen vermag.

Nur eines administrativen Übelstandes muß im akademischen Interesse gedacht werden. Die übliche Semestereinteilung bringt es mit sich, daß das Sommersemester unverhältnismäßig kurz ist und in die heißeste Jahres- zeit ausgedehnt wird. Schwer ist es, einen regelrechten Studienplan durch- zuführen, wenn man mit dieser Unzukömmlichkeit zu rechnen hat: es ist nicht abzusehen, warum man die schwankende Ostergrenze als maßgebend betrachtet, ebensowenig aber, warum man bis über die Hälfte Juli (gesetz- lich bis Ende Juli < Professoren und Studenten zu wenig ersprießlicher Tätigkeit zwingt. Man könnte das Studienjahr, welches erfahrungsgemäß nie vor dem 15. Oktober beginnt, um einen Monat früher beginnen lassen und um einen Monat früher schließen, innerhalb dieser Zeit aber eine Ein- teilung treffen, die das Sommersemester doch nicht so illusorisch machen würde.

I.

Aufgabe des Studiums. Hauptursachen der Übelstände.

Die Aufgabe des Studiums besteht in der Erziehung zu selbständigem Denken. Nicht die Summe des dem Hörer vermittelten positiven Wissens

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Zar Ausgestaltung des rechts- und Staat sv issensrhaftlicheii Studiums etc. 24 »

ist maßgebend für die Vorzüge de» Lehrplänen, sondern die ihm gebotene Möglichkeit, juristisch denken zu lernen, um demgemäß wissenschaftlich oder praktisch vorgeheu zu können. Man kann bei bestem Willen und größtem Fleiße, auch wenn das Studium doppelt so lange währen würde, niemandem die Gesamtheit des juristischen Wissens bieten, ebensowenig aber, ihn zu einem gewandten Praktiker machen. Man kann nur die Grund- bedingungen für beides schaffen und den Hörer derart auBrüsten, daß er später theoretisch oder praktisch selbständig und richtig zu arbeiten in der Lage sei. Die rechts- und staats wissenschaftliche Fakultät kann weder eine reine Gelehrtenschnle noch auch eine Abrichtungsanstalt für Praktiker sein. Im ersten Falle wäre sie filr Staat und menschliche Gesellschaft zwar von schätzbarem Werte, würde aber einer Entfremdung zwischen Rechtswissenschaft und Rechtsleben Vorschub leisten; im zweiten Falle würde sie der Präzis den ewig jungen wissenschaftlichen Boden entziehen.

Wenn wir diese banal gewordene Frage berühren, so geschieht es leider nicht ohne Grund. In unserer so überwiegend praktisch denkenden Zeit hört man immerwährend, daß die Fakultät der Aufgaben der Präzis zu wenig gedenkt, daß der die Schule verlassende Jurist zu wenig ausge- bildet ist u. s. w. Man muß diesen zum Teil übertriebenen Klagen energisch entgegentreten. Bereitwilligst geben wir zu, daß die Fakultät die nötige Vorbildung für die Präzis bieten soll, doch muß man diese Vorbildung, in ihrem höheren Sinne, unterscheiden von einer Abrichtung für die nächsten, momentanen Bedürfnisse der Praiis: denn nur die erstere, und nicht- die letztere, obliegt der Hochschule. Ebensowenig «s Aufgabe der philoso- phischen Fakultät ist, speziell Mittelschullehrer heranzubilden, ebensowenig darf die juristische Fakultät daran denken, fertige Beamte. Richter. An- wälte u. s. w. zu produzieren. Selbst die medizinische Fakultät, die ihre Doktoren mit dem Recht* zur sofortigen Ausübung praktischer Tätigkeit entläßt, kann für praktische Gediegenheit nicht bürgen und immer häutiger mehren sich auch dort Reformpläue. die für eine obligatorische Probeprazis dos jungen Arztes eintreten. Man muß sich darüber klar werden, daß bei noch so intensivem Hinübersehielen nach den unmittelbaren Aufgaben der Praxis dennoch an der Universität keine guten Praktiker erzogen werden können, wohl aber durch Hintansetzung der Wissenschaft die Zukunft der Jurisprudenz gefährdet werden müßte. Man darf also einer Aufgabe zuliebe, die an der Universität unmöglich gelöst werden kann, nicht dasjenige opfern, was man zu erzielen vermag. Die Forderung, die Universität möge den Bedürfnissen der Praiis so wie es eben die Praktiker verstehen I in höherem Grade gerecht werden, entspringt derselben Wurzel, der wir die Anfeindung wissenschaftlicher Bestrebungen des Gymnasiums verdanken, nämlich dem immer mehr überhand nehmenden Streben noch faehmäßiger. um nicht zu sagen handwerksmäßiger Schulung, im Gegensätze zu wissenschaftlicher Erziehung und Bildung.

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Haihfll!.

Staat und menschliche Gesellschaft Italien kein Interesse au der Abrichtung juristischer Handwerker, wohl aber an der Erziehung von Hfltcrn der Hechtsidee; mögen sie auch iu der ersten Zeit ihren unmittel- baren praktischen Aufgaben wenig gewachsen sein, wichtiger ist, daß sie durch ihre Vorbildung für etwa aufkeimende, künftige Aufgaben tauglich gemacht werden. Die vollkommenste Abrichtung zur Handhabung derzeit bestehender Gesetze kann niemals den Mangel theoretischer Ausbildung ersetzen; nur die letztere macht cs dem Praktiker möglich, sich in Situa- tionen zurechtzufinden, die man zur Zeit seiner Studien nicht berücksichtigte, vielleicht nicht einmal ahnte. Läßt man dies ans dem Auge, dann geht man der Gefahr des flachen Wissens entgegen, das womöglich verderblicher wäre als volle Unwissenheit. Wird dem Juristen nicht frühzeitig Verständnis für höhere Zwecke eröffnet, in der Präzis wird er es aus sich heraus nur aus- nahmsweise finden, und ein handwerksmäßiges Beamtentum würde einen Tiefstand herbeiführen, an den mau lieber nicht denken mag. Die wert- vollsten Erfolge für die Praxis sind gerade dann zu erreichen, wenn man an der Universität nicht unmittelbar praktische Zwecke anstrebt.

Man könnte eher sagen, daß die juristische Fakultät aus anderen Gründen ihre Aufgabe nicht gelingend erfüllt. Sie gibt, da ihr Studienplan trotz der an und für sich günstigen Reform (durch das Gesetz vom 20. April 1893) zu wenig entwickelt wurde, nicht mehr die wissenschaftliche Grundlage, die mit Rücksicht auf die jetzigen und künftigen Bedürfnisse des Rechtslebens erwünscht wäre. Der Studienplan ist überholt, und es ist eine Scheidewand zwischen der Wissenschaft, wie sie an den juristischen Fakultäten betrieben wird, und dem Lehen schon im Entstehen begriffen, was nicht nur der Wissenschaft und den Anforderungen der Praxis in ihrem höheren Sinne, sondern auch dem Geiste der Studienordnung entschieden zuwiderläuft.

Es ist natürlich nicht zu verlangen, daß die Hochschule jeder Strömung nachgebe und allen, mitunter kurzlebigen Bedürfnissen folge. Sie muß viel- mehr im Interesse der Wissenschaft und ebenso im Interesse der wirklichen Anforderungen des Lebens für jetzt und später, als wissenschaftlicher Curutor posteritatis ihre Selbständigkeit wahren. Sie kann es verschmerzen, wenn kurzsichtige Praktiker von ihr etwas verlangen, was momentan vielleicht nützlich, für die Zukunft aber schädlich ist; anders, wenn es sich um eine Auffrischung des Studienplanes handelt, die nicht durch momentane Strö- mungen, sondern durch die glücklich erfolgte Entwicklung der Wissenschaft und durch das Überwinden früherer Felder geboten ist. Da ergibt sich die Notwendigkeit zahlreicher Änderungen, die für Wissenschaft und Praxis in gleicher Weise wichtig erscheinen; für die Wissenschaft, weil sic ihrem gegenwärtigen Niveau entsprechen; füi die Praxis, weil nur moderne, all- seitige Vorbildung die Grundlage für verständige, der Versumpfung ent- rückte praktische Tätigkeit bilden kann.

Dieser Gesichtspunkt fordert eine Überprüfung der Studieneinrichtungen sowohl hinsichtlich der vertretenen als auch der nicht vertretenen Wissens-

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Zur Au»ge»talUii£ Je» recht*- un»l ft. raus wisse lisch erblichen Studium» etc. 2 1 7

zweige und hinsichtlich der Lehrmethode. Jedes Fach muh die ihm im Hinblicke auf den Gesamtzweck der juristischen Bildung gebührende Stellung erhalten; die Bedeutung der einzelnen Fächer aber ist nach ihrem Werte für die R e ch t s b i 1 d u n g und nicht nach ihrem Werte für die Rechts- kunde zu beurteilen.

Nichtsdestoweniger muß man. selbst wenn es gelingen sollte, einen geradezu unanfechtbaren Lehrplan herzustelien. mit der Tatsache rechnen, daß dadurch noch lange nicht das erwünschte Ziel erreicht wird. Es gilt, daneben Mängel zu beseitigen, die zum Teile schon vor dem Betreten der Hochschule das Studium an derselben erschweren, zum Teile nach Verlassen der Universität ihre Wirkung äußern.

Es ist bekannt, daß das juristische Studium als das leichteste betrachtet wird. Mediziner, Theologe, Philosoph, Techniker u. s. w. wird in der Regel nur derjenige, der eine Vorliebe für das betreffende Studium hegt, während an die juristische Fakultät auch diejenigen gehen, die eigentlich für gar kein Studium ausgesprochene Vorliebe zeigen. Wenig zahlreich sind jene, die der Beruf zur Jurisprudenz an die juristische Fakultät führt. Die Mehrzahl wählt diesen Wissenszweig als einen, der die meisten Aussichten bietet und die geringste Summe von Mühe verlangt. Man betrachtet sogar die Vorlesungen als überflüssig, und an keiner Fakultät ist die Frequenz so schlecht, wie gerade an der rechts- und staatswissenschaftlichen. Wir werden selbstverständlich kein Wort verlieren, um die einfach nicht diskutable Anschauung von der Überflüssigkeit der Vorlesungen zu entkräften. Es handelt sich vielmehr darum, Wege zu suchen, um diesen Zuständen in erfolgreicher Weise zu begegnen.

Einen Teil der Schuld muß mau dem Umstande beimessen, daß, wie erwähnt, die rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät zum großen Teile von Abiturienten bezogen wird, die keine Vorliebe für dieses Studium empfinden, keine Ahnung von der Bedeutung desselben haben und entweder nicht in der Lage sind, sich für dasselbe zu interessieren oder auch nicht einmal die Absicht haben, ein Interesse zu gewinnen. Einen weiteren Teil der Schuld muß man dem Lehrplane sowie der Art und Weise, wie gewisse Fächer gelehrt werden, beiinessen, nicht minder auch dem Prufungssystem. Der Rest der Schuld fällt auf das bureaukratische System, welches leider an dem jungen Beamten nichts so sehr schätzt, als die Leichtigkeit, mit der er sich den Aratsgepflogenheiten unterwirft und auf sein Wissen zu geringen Wert legt. Wir » ollen die angeführten Übelstände der Reihe nach besprechen und gleichzeitig Vorkehrungen gegen dieselben anregen.

II.

Die Vorbereitung des künftigen Hörers der Rechte.

Der übermäßige Zudrang zum Rechtsstudium ist wohl in erster Linie den sogenannten Vorteilen des Rechtsstudiums zuzuschreiben. Doch ist dies nicht der einzige Grund. Es muß darauf hingewiesen werden, daß das Gymnasium eigentlich für alle Berufe vorbereitet

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Malta».

JI8

ii n il über alle Studien informiert, nur n i c li t Aber da» R ec h ts s t u di u ni. Der Gymnaaialschüler findet Gelegenheit, wenigstens in bescheidenem Malle mit den Grundbegriffen der Theologie, der Sprach- wissenschaft, der Geschichte, der Mathematik und Naturwissenschaft ver- traut zu werden. Kr vermag sich also, insofern dies in jungen Jahren Oberhaupt möglich ist, zu Oberzeugen, ob ihm die eine oder die andere Wissenschaft zusagt. Deshalb sehen wir. daU diejenigen, die sich der theologischen, medizinischen oder philosophischen Fakultät zuwenden, in ernsterer Weise ihren Beruf wühlen; sie haben wenigstens einen allgemeinen Begriff von dem Charakter der Beschäftigung, der sie sich zuwenden. Der zukünftige Jurist weill vom Rechtsstudium gar nichts: die Schwierigkeiten, die das medizinische oder philosophische Studium bereitet, sind ihm gewöhnlich sogar in übertriebenen) Malle bekannt; hinsichtlich der Juris- prudenz dagegen weil! er, daß viele seiner Freunde und Bekannten ohne große MOhe ihre Prüfungen bestanden und Anstellungen erhalten haben: daß man, um Jurist zu werden, ebenso wie für jedes andere Studium einer bestimmten Veranlagung bedarf, liegt ihm vollkommen ferne. Wir hören doch so oft, daß ein Kandidat, dem das Rechtsstudium die größten Schwierigkeiten bereitet, die Erfolglosigkeit seiner Bestrebungen einfach nicht begreift: hat er doch die Maturitätsprüfung, vielleicht sogar mit sehr gutem Erfolge, bestanden und dadurch die Berechtigung erhalten, eine beliebige Fakultät zu beziehen. Es ist ihm nicht eingefallen, Philologe zu werden, denn er hat bereits im Gymnasium die Erfahrung gemacht, daß er dafür nicht taugt: er ist auch nicht Mathematiker geworden, und zwar aus ähnlichem Grunde; aber darüber, ob er zum Juristen taugt, hat er nicht nachgedaclit und eigentlich auch keine Gelegenheit zu solchem Nachdenken gefunden.

Und das ist noch nicht alles; denn seihst während des ersten Hien- niums ist er mitunter auch noch nicht in der Lage, sich zu überzeugen, ob er zum Juristen taugt. War er im Gymnasium guter Historiker, so wird er in den ersten zwei Jahren, namentlich wenn ihm die rechtshistorischen Fächer mehr historisch als juristisch vorgetragen werden, keinen richtigen Begriff von den Eigenheiten der Jurisprudenz erhalten. Wir sind gewiß weit davon entfernt, gegen die Rechtsgeschichte auftreten zu wollen, doch muß Diun bemerken, dali viele akademische Lehrer in dieser Beziehung weit über das gebotene Maß gehen und ihre Vorlesungen mehr historisch als juristisch einricliten. Das Gesetz vom 20. April 1808 hat diesen Übel- stand teilweise dadurch beseitigt, daß das deutsche Privatrecht obligat wurde und einen Prüfungsgegenstand bildet, ferner dadurch, daß die Geschichte Österreichs, die früher ausschließlich historisch vorgetragen wurde, nunmehr eine andere Bedeutung gewonnen hat. Es sei dem wie immer, so viel ist klar, daß mit Ausnahme der Pandekten die übrigen Fächer des ersten Bieuniums keinen richtigen llegrifl von der Schwierigkeit der Jurisprudenz geben. Diese Schwierigkeiten treten in umfassenderer Weise erst später zu Tage, doch hat der Kandidat inzwischen zwei Jahre

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Zur AnBgeataltung doa rerhta- und fttaatawinaeni'rliArtlicheti Stadium« ,‘to. 2if)

geopfert, er will oder kann nicht mehr zurück und tröstet sich mit der Hoffnung, dal! hei einiger Arbeit und einigem Glück die Prüfung über- wunden werden kann. In der Praxis hält einen solchen Juristen der Schimmel und eine gewisse Portion von Gewissenhaftigkeit aufrecht und schließlich ist er selbst überzeugt, daß er Jurist ist.

Der Vorwurf, den wir gegen das Gymnasium erheben, kann auffallen. Wir verlangen, daß das Gymnasium ebenso wie für andere Wissenszweige auch für die Jurisprudenz vorarbeite. Sollte entgegnet werden, daß das Gymnasium vor allem allgemeine Bildung und erst in zweiter Linie eine Vorbereitung für das Universitätsstudium bietet, so pflichten wir dieser Anschauung hei, meinen aber, daß gewisse Kenntnisse aus dem Gebiete der Rechts- und Staatswissenschaften sowie der Volkswirtschaft zum mindesten ebenso in den Kähmen des allgemeinen Wissens gehören wie Trigonometrie oder Analytik: denn auch als Schulung des Denkens hat die Jurisprudenz denselben Wert wie die Mathematik.

Es ist selbstverständlich, daß man diese Frage ausschließlich vom Standpunkte der Aufgaben des Gymnasiums zu behandeln hat. Der Cmstand, daß eine solche Vorbereitung den juristischen Fakultäten die Lösung ihrer Aufgabe erleichtern würde, könnte niemals ausschlaggebend sein. Wir verlangen also nicht, daß die Hauptzwecke der Mittelschulbildung ver- kannt oder zu Gunsten der Bequemlichkeit der Hochschule abgeändert werden.

Zweifellos ist die sogenannte allgemeine Bildung und die Befähigung zu selbständiger Fortbildung der Hauptzweck des Gymnasiums. Die Fortbildung selbst besorgen, insofern es sich um spezielle Berufe handelt, die Hoch- schulen: jene Fortbildung aber, die gewissermaßen die Fortsetzung der im Gymnasium erhaltenen allgemeinen Bildung bedeutet, die also für jedermann ohne Rücksicht auf seinen Lebensberuf von Wichtigkeit ist, bleibt persön- licher, eigener Arbeit überlassen, da niemand behaupten wird, daß die allgemeine Bildung mit dem Augenblicke abgeschlossen ist. wo man das Gymnasium verläßt. Dieser Umstand läßt das zuletzt erwähnte Gebiet per- sönlicher Arbeit zum Zwecke der Fortführung der allgemeinen Bildung als besonders wichtig erscheinen; deshalb muß man die Weckung von Lust und Fähigkeit zu solcher Arbeit als wertvollsten Teil der Gesamtaufgabe des Gymnasiums beze;chnen. Das Gymnasium muß seine Schüler nicht nur positiv belehren, sondern zu eigenem Denken anregen und für alles, was unter den Begriff der allgemeinen Bildung fällt, derart interessieren, daß diese Schüler, namentlich in späteren Jahren, neben dem Berufe, dem sie den größten Teil ihrer Zeit widmen, sich veranlaßt sehen, sich Ober die Fort- schritte der Kultur und der Wissenschaft auf anderen Gebieten zu infor- mieren. Das, was die Mittelschule bieten soll, ist bestimmt, ein Gegen- gewicht zu bilden gegen die Einseitigkeit rein berufsmäßiger Arbeit, die Bildung selbständigen Urteiles zu ermöglichen und die Erweiterung des Gesichtskreises zu erleichtern.

Wenn wir von diesem Standpunkte Zweck und Ergebnis des Gymnasial- studiums betrachten, muß es unliebsam auffallen, daß die Schule unxweifel-

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Halbst).

haft vieles bietet, daß sie aber weder direkte Kenntnisse rechtlicher, wirt- schaftlicher. sozialer und politischer Verhältnisse gibt, noch auch eine Anregung zu späterer selbständiger Erwerbung derselben. Diese Kenntnis betrachtet man offenbar als zu speziell und gibt sich der Hoffnung hin, daU die berufsmäßige Ausbildung, nämlich an der rechts- und staatswissen- schaftlichen Fakultät, diese Lücke ausffillen wird. Fdr die zukünftigen Juristen trifft ja das zum Teile zu. Im übrigen aber ist eine solche Auf- fassung, die vielleicht im absoluten Staate gerechtfertigt werden könnte, in einem konstitutionellen Staate unhaltbar. In einem absoluten Staatswesen sind derartige Kenntnisse und selbständiges Denkvermögen in dieser Hinsicht für die Bevölkerung überflüssig; denn nur die Staatsgewalt und ihre unmittelbaren Organe kommen in die Lage, sich mit öffentlichen Angelegen- heiten zu befassen. Anders in einem konstitutionellen Staate. Abgesehen davon, daß da fast jeder Staatsbürger ohne Rücksicht auf Stellung und Rang schon als Wähler berufen ist, an der Lösung der Staatsaufgaben mitzuwirken, muß man besonders betouen. daß namentlich die gebildeten Schichten vor Aufgaben gestellt werden, die ebenso wichtig sind wie diejenigen, die den Juristen zufallen. Der Wirkungskreis der Vertretuugskflrper wächst, es ent- stehen immer neue Kammern und Beiräte, die über wichtige Fragen entscheiden oder wenigstens befragt werden. Es ist zu erwarten, daß der Wirkungskreis solcher Körperschaften zunehmen und in gleicher Weise der Wirkungskreis der Beamtenschaft, d. h. der fachmännisch gebildeten Organe, abnehmen wird.

Dennoch haben sogar die gebildeten Stände, die die Mittelschule, und zwar überwiegend das Gymnasium absolvieren, nicht die geringste Quali- fikation zur Erfüllung solcher Aufgaben. Jahrhundertelanger Absolutismus, der sich ausschließlich auf seine eigenen Organe stützte, hat die Bevölkerung von jeder Teilnahme an dem öffentlichen Leben ferngehalten und dadurch eine Verkümraeruug juristischer und politischer Anlagen bewirkt. Die französische Revolution und alles, was ihr folgte, hat großen Schichten der Bevölkerung einen Anteil an dem Staatsleben revindiziert, vermochte aber nicht, die inzwischen zum großen Teile abgestorbenen Fähigkeiten neu zu erwecken. So kommt es. daß die Bureaukratie, die sich in absolutistischer Zeit als eine streng geschiedene und über der Bevölkerung stehende Kaste fühlte, bis auf den heutigen Tag einiges von diesem Gefühle behalten hat und einem gesunden öffentlichen Leben bis nuuzu einigermaßen fremd gegenübersteht; zur Rechtfertigung dieses Zustandes muß man aber anführen, daß angesichts der verwirrten Begriffe, die in dieser Beziehung selbst unter Gebildeten herrschen, die Beamtenschaft mit vollem Rechte nur sich selbst als Träger des Rechtes, der Ordnung und der Wohlfahrt betrachten darf. Diese Verhältnisse sind so allgemein, juristische und politische Bildung so selten, daß die Bureaukratie nur zu oft in < ie Lage kommt, mit gutem Grunde allgemein erhobene Forderungen mit der Bemerkung abzutun, daß man Hachen verlange, die man nicht verstehe.

Es muß als betrübend bezeichnet werden, daß die Schule, die bemüht ist. in der Jugend Sinn für Kunst, für Geschichte und Kultur zu wecken,

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Zur Ausgestaltung des rechts- und staatswissensrliafttirhen Studiums etc. 2 ■> 1

die Schiller in Frageu der Naturwissenschaft und der Hygiene einzuführen, nicht daran denkt, daß die Jugend bestimmt ist. in verschiedenen Berufen neben Juristen und Beamten Ihr Lund und Reich zu wirken, daß sie mittelbar oder unmittelbar die Öffentliche Meinung des Staates bilden mul leiten wird, daß viele dieser Schüler in die Lage kommen werden, über die wichtigsten Staatsangelegenheiten, Ober wirtschaftliche Fragen und soziale Bewegungen zu urteilen. Da genügt nicht einfacher Menschenverstand, denn auch der verständigste Mann muß sein Urteil auf irgend etwas stützen; die hiefür notige Grundlage wird er im späteren Leben schwer linden, wenn die allgemeine Bildung, die er genossen, in dieser Beziehung versagt, ihn nicht einmal anregt, über solche Fragen zu deukeu und sich zu informieren. Die Berufsarbeit gibt zwar die Möglichkeit, gewisse Rechts- und Lebensverhält- nisse aus eigener Erfahrung kennen zu lernen, fördert aber auch die schäd- liche Einseitigkeit, die kastenmäßigen Charakter annehmen kann ; der Fortschritt des Rechtslebens, die Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse fordert im Gegenteile gerechte Beurteilung allgemeiner Bedürfnisse.

Man darf behaupten, daß eine allgemeine Bildung, die so wichtige Gebiete gänzlich außer acht läßt, nicht mehr den Namen einer allgemeinen verdient, und daß sie den so Gebildeten weder die nötigen Kenntnisse noch auch die Grundlage für die Erwerbung derselben auf den Lebensweg mitgibt. Die Hochschule kann sich damit nicht mehr befassen, denn sie bietet nur spezielle Ausbildung in einer bestimmten Richtung. So wird also diese Lücke nie mehr ausgefüllt, und die zur Anteilnahme an dem öffent- lichen Leben notwendigen Kenntnisse bleiben ebenso wie im absoluten Staate ausschließliche Domäne der Juristen.

Es war uns darum zu tun, einen l'belstand zur Spruche zu bringen, den die rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät empfindet; nun können wir aber auch behaupten, daß das. was diesem C belstande zu Grunde liegt, nicht nur im Interesse der rechts- und Staat «wissen- schaftlichen Fakultät, sondern vor allem im Interesse der eigentlichen Aufgabe der Mittelschule seihst aus- gemerzt werden muß. Es kann uns also nicht der Vorwurf treffen, als ob wir von der Mittelschule etwas fordern würden, was ausschließlich den Interessen des Rechtsstudiums dienen soll. Die Beseitigung der erwähnten Lücke würde dem Mittelschüler einen allgemeinen Begriff von der Bedeutung, aber auch von der Schwierigkeit des Rechtsstudiums beibringen und gewiß manchen von der Wahl dieses Studiums abhalten. Zweifellos aber würde die allgemeine Bildung und das öffentliche Lehen dadurch viel gewinnen.

Die praktische Durchführung dieses Gedankens ist nicht leicht, und man darf die pädagogischen Schwierigkeiten nicht gering anschlagen. Des- halb ist es unmöglich, diese Angelegenheit hier eingehend zu besprechen. Es wäre darauf hinzuweisen, daß die Idee einer sachgemäßen Berück- sichtigung der Staatswissenschaften in Deutschland infolge der kaiserlichen Botschaft vom Jahre 188ß mehrmals behandelt wurde; doch wurde da vor

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allem au die Bekämpfung des Sozialismus gedacht, was natürlich wissen- schaftlichen /wecken nicht voll entspricht und in der Lehrerwelt Bedenken herrorrufen mußte. Die Einimpfung vielleicht einseitiger Urteile würde das anzustrebende Verständnis der Jugend für wissenschaftliche Fragen nicht fördern; denn es kann sich nicht darum handeln, einen Gymnasialkatechismus für rechts- und staatswissenschaftliche Fragen zu schaden, sondern dämm, der Jugend die nötige Basis und Anregung zu vermitteln, um sie mit der /eit zu einem selbständigen Urteile gelangen zu lassen. Angesichts der Veränderlichkeit politischer Urteile und mit Rücksicht auf die Fortschritte der Wissenschaft hat nur eine Basis und nur die Entwicklung des Denk- vermögens bleibenden Wert. Eine katechismusartige Zusammenstellung gewisser Prinzipien und Argumente wäre vollkommen wertlos und überdies trocken, so dal! sie zur Weckung des Interesses kaum beitragen könnte; deshalb sind Versuche, eine sogenannte Bürgerlehre einzuführen, als unpassend zu betrachten. Leichter erscheint es, dasjenige, was zur Ent- wicklung des juristisch-politischen Denkvermögens nötig ist, gelegentlich beim Unterrichte in jenen Fächern, die hiefür taugen, zu bieten. Mau entgeht dadurch der Gefahr, den Gymnasiallehrplan durch Anfügung eines neuen und trockenen Gegenstandes zu belasten und gewinnt gleichzeitig die Möglichkeit, die betreffenden Fächer durch eine so geartete Erweiterung interessanter zu gestalten.

Wir denken dabei an den Unterricht in Religion, Geschichte und Philologie.

Die Religionslehre gibt die erwünschte Gelegenheit, da jede rechts- und stautswissenschaftliche Bildung im weitesten Sinne des Wortes auf ethischer Grundlage beruhen muß. Der ethische Inhalt aller juristischen und staatlichen Institute, der Zusammenhang zwischen Recht und Pflicht, der in der Sozialpolitik immer mehr zu Worte kommt und die Gesetzgebung in günstiger Weise beeinflußt, das alles, was wir hier natürlich nur streifen können, vermag recht wohl Gegenstand des Religionsunterrichtes zu bilden, ohne gegen die Hauptaufgabe desselben zu verstoßen: namentlich im Ober- gymnasium. Die konfessionellen Unterschiede würden in dieser Beziehung wenig bedeuten, da es sich um Dinge handelt, die jeder Lehre in fast gleicher Weise naliostehen.

Die Hauptaufgabe würde natürlich dem Geschichtsunterrichte zufallen. Er kann mit Leichtigkeit den Schülern Kenntnisse vermiiteln, die sie zu ersprießlicher Teilnahme am öffentlichen Leben befähigen, in ihnen ein tieferes Interesse und die Möglichkeit gründlichen Erfassens der öffent- lichen Angelegenheit entwickeln. Die allseitig behandelte Geschichte würde durch eine Berücksichtigung politischer Strömungen und Bewegungen, juristischer, wirtschaftlicher und sozialer Einrichtungen, nur an Wert gewinnen, die historischen Tatsachen den Schülern in ganz anderer Be- leuchtung erscheinen. Die treibenden Kräfte des staatlichen und sozialen Lebens werden am besten an Völkern studiert, deren Geschichte abge- schlossen und dem Parteigetriebe entrückt ist. Es ist zuzugeben, daß die

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jüngere Lehrergeneration bestrebt ist, in dieser Weise vorzugehen, man müßte also diese Richtung unterstützen und in den Lehrbüchern zum Aus- drucke bringen. Selbstverständlich könnte es sieb nur um den Unterricht in den obersten Kiassen handeln. Daß der Geschichtsunterricht durch eine derartige Erweiterung nicht verlieren, sondern gewinnen müßte, ist klar.

Es mag auffallen, daß wir in diesem Zusammenhänge auch die Philologie nennen. Die Gegner des sogenannten Klassizismus »erden gewiß nicht zngeben wollen, daß man überhaupt noch neue Vorteile dieses Unterrichtes zu finden vermag; die Anhänger dagegen könnten möglicher- weise geneigt sein, in dem Gedanken, den wir vertreten wollen, ein Attentat auf die wesentlichen Aufgaben des klassischen Unterrichtes zu erblicken.

Es sei gestattet, zu betonen, daß wir zu den unbedingten Anhängern des sogenannten Klassizismus gehören, weil wir, ganz abgesehen von allen genügend bekannten Vorteilen, in den alten Sprachen, die alles wesentlich besser unterscheiden als die modernen und allen Begriffen schärfer au den Leib gehen, somit also für die Ausbildung des präzisen Denkens von unge- heuerem Werte sind, ein unersetzliches Bildungsmittel erblicken. Wir sind uns also auch über die eigentlichen Zwecke dieses Unterrichtes klar. Man muß aber bemerken, daß der Gymnasinllehrplan, und zwar überall, den wichtigen Unterschied zwischen der Tätigkeit der Griechen und Römer und den Unterschied des Anteiles, der beiden Völkern an dem großartigen Gebäude der antiken Kultur gebührt, außer acht läßt; es unterliegt doch keinem Zweifel, daß in Bezug auf Philosophie, KunBt und Literatur im engeren Sinne, die Griechen derart die Römer überragen, daß alles, was das Altertum auf diesem Gebiete unvergänglich Großes geleistet bat, ent- weder direkt griechischen Ursprungs ist oder wenigstens auf griechischen Einfluß zurückgeht Unbegreiflich erscheinen uns von diesem Standpunkte die allgemein üblichen Angriffe gegen den griechischen Unterricht, aber noch unbegreit lieber der Umstand, daß e3 selbst Philologen gibt, die diesen Angriffen nachgebend, den Klassizismus dadurch zu retten versuchen, daß sie sich mit der Streichung des Griechischen einverstanden erklären, um nur das Latein zu behalten. Mit Rücksicht auf diesen ungleichen Anteil, den beide Völker hinsichtlich der anliken Kultur nahmen, müsseu die Mängel des Gymnasiallehrplanes ganz besonders hervortreten. Die Bedeutung der Römer beruht doch wesentlich darauf, daß sie eine Sprache von unver- gleichlicher Logik und ein besonderes Recht geschaffen haben. Die Ent- wicklung der anliken Philosophie und der schönen Literatur hat ihnen viel weniger zu verdanken. Betrachtet man es als notwendig, der Jugend die Grundbegriffe der antiken Philosophie und K’un-t in direkter Weise zugänglich zu machen, dann kann diese Aufgabe folgerichtig nur durch den griechischen Unterricht gelöst werden; die Jugend, die Gelegenheit findet, Homer zu lesen, kann füglich Virgil und Ovid entbehren. Die Jugend gewinnt hin- sichtlich der Römer eine falsche Auffassung, wenn sie im Gymnasium lernt, ihre Tätigkeit auf Grund ihrer literarischen Produktion zu beurteilen und nicht auf Grund der wirklich originellen Produktion auf anderen

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Gebieten, auf dein Gebiete des Staats- und Kechtswesens. Die Hörner haben auch in anderen Hinsichten, so z. B. für Kriegswissensebaft und Technik, viel geleistet, doch kann dies nicht Gegenstand des Gymnasial Unterrichtes sein und hat überdies für die moderne Kultur keine unmittelbare Bedeutung. Will man die Philologie so auffassen, wie sie die Schöpfer dieser Wissen- schaft, die grollen Humanisten aufgefaüt haben, als Mittel zum Erforschen der Gesamtheit des Geisteslebens eines Volkes, so mutt man zugeben, dal) es sich iu erster Linie um die Tätigkeit eines Volkes handelt, in der das- selbe seinen Geist am mächtigsten und am selbständigsten offenbart hat. Nicht in der Dichtung und auch nicht in der Rhetorik, wohl aber im Rechte hat der Geist des römischen Volkes seine größten Triumphe gefeiert und nicht für Dichtung oder Rhetorik hat das römische Volk seine unnach- ahmliche Sprache entwickelt.

Die Lektüre lateinischer Schriftsteller im Gymnasium sollte also den Zweck verfolgen, die Schüler mit dem rechtspolitischen Sinn der Römer vertraut zu machen, mit dem bürgerlichen Gedanken, sie auf die Höhen der originellen römischen Leistungen zu führen. Wenn man Zeit findet, um bei Besprechung der sogenannten Realien eine Menge ziemlich gleich- gültiger, wenn auch archäologisch interessanter Informationen über Leben und Sitten zu bieten, so könnte man auch daran denken, die Schüler mit den Rechtssitten und den Grundlagen der römischen Kechtstechnik bekannt zu machen. Dasjenige, was schon im ersten Semester des juristischen Studiums möglich ist, kann in der siebenten oder achten Klasse nicht unmöglich sein, namentlich hei Verwendung einer richtigen pädagogischen Methode, an die an der Universität nicht gedacht werden kann, die man aber im Gymnasium anzuwenden vermag. Das Lesen der Institutionen von Gaius, ja sogar von Justinian wäre durchführbar, und wenn die Sprache der römischen Juristen den Fachphilolngeu nicht so entzückt wie die Sprache Ciceros, so muß man entgegenhalten, daß die Sprache der römischen Jurisprudenz in weit höherem Grade vorbildlich war als die Ciceros. Es darf ferner daran erinnert werden, daß bei den Römern selbst die Schule das Recht berücksichtigte, daß auch später die Schulen der Rhetoren und Grammatiker, die in der Hauptsache römischen Traditionen entsprachen, das Recht niemals ignorierten, daß schließlich die Humanisten des XV'. und XVI. Jahrhunderts Philologen und Juristen waren und niemals daran vergaßen, daß die wahre Größe Roms nur auf diesem Gebiete gesucht und auf andere Weise gar nicht verstanden werden kann.

Das, was wir hier anregen, liegt also durchaus nicht außerhalb der Grenzen der Philologie, sondern innerhalb ihres Wirkungskreises. Und es ist nicht zu übersehen, daß dadurch auch die Lehre der sogenannten Realien eine ganz andere Grundlage gewinnen würde. Die Schüler würden von den Römern einen wesentlich anderen Begriff erhalten, und wenn daneben dank dieser Ausdehnung des philologischen Unterrichtes auch der juristische Gesichtskreis detjenigen. die nicht die Absicht haben. Juristen zu werden, erweitert würde, so darf man wohl darin keinen Schaden erblicken. Nur

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nebenbei sei noch bemerkt, daß auch in den Augen der leider so zahl- reichen Gegner des Klassizismus eiue solche Behandlung des Stoffes der angefeindeten Philologie eine neue und praktische Bedeutung verleihen würde.

Man muß also behaupten, daß eine derartige Änderung der Lehr- methode in erster Linie den betreffenden Gegenständen selbst Nutzen bringen, ihrem Wesen entsprechen und daneben durch die Abrundung des Wissens auch der allgemeinen Bildung Früchte tragen würde. Die Juristen könnten einwenden, daß auf diese Weise das römische Recht, von dessen Herrschaft wir uns in moderner Zeit immer mehr emanzipieren, eine Stärkung erfahren würde; da aber auch jetzt die Schüler Gelegenheit haben, bei der Lektüre der Klassiker Begriffe und Rinrichtungen kennen zu lernen, die unserem Empfinden nicht entsprechen und dennoch diese Begriffe nicht zu den ihrigen machen, so wäre auch diese Befürchtung übertrieben. Es hängt natürlich das meiste vom Lehrer und von der Darstellung ab.

Halten wir daran fest, daß die Gegenstände, die am Gymnasium gelehrt werden, die Möglichkeit bieten, die mehrfach erwähnte Lücke in der sogenannten allgemeinen Bildung zu beseitigen, ohne daß dadurch die eigentlichen Zwecke der betreffenden Fächer tangiert werden, so erscheint die Einführung eines neuen Gegenstandes man mag ihn Bürgerlehre oder anders nennen überflüssig, abgesehen davon, daß ein solcher Gegenstand durch seine Trockenheit für die Jugend ungenießbar und infolge der unabweisliehen Abstraktion ungeheuer schwer, daher wahrscheinlich ebensowenig nützlich wäre wie z. B. die philosophische Propädeutik. Die Reform des Unterrichtes in Religion. Geschichte und Philologie in der angedeuteten Richtung ist möglich, und, was die Geschichte anbelangt, ist ja dieser Weg schon zum guten Teile betreten worden. Es ist zuzugeben, daß der von uns für die Rechtslehre im Gymnasium vorgeschlagene Weg ein langsamer ist. Doch ist auf andere Weise ein nennenswertes Resultat gar nicht zu erreichen. Bei direktem Lossteuern auf ein bestimmtes Ziel könnte höchstens eine schablonenhafte Kenntnis der gegenwärtigen Rechts- zustände, beziehungsweise eine Abrichtung im Sinne der gerade zur Zeit herrschenden Ansichten, erreicht werden. Der wahren Bildung kann es nicht um augenblickliche, sondern um dauernde Erfolge zu tun sein, und die sind nur möglich, wenn das Interesse geweckt und die Denkfähigkeit gesteigert wird. Das Gymnasium würde dadurch überhaupt an erziehlichem Werte gewinnen und dem künftigen Staatsbürger eigene Weiterbildung, daher eigenes Urteilen ermöglichen.

Es ist eingangs bemerkt worden, daß das Gymnasium auch den zweiten Zweck, den es neben der allgemeinen Bildung erfüllen soll und den es hinsichtlich der meisten Wissenszweige auch wirklich erfüllt, in unserem Falle nicht einmal anstrebt, daß es nämlich für alle Arten der Berufsbildung gewisse Vorkenntnisse bietet, nur nicht für das Rechts- studium, so daß der Abiturient in Bezug auf die Jurisprudenz ohne jede Information bleibt. Wir beanspruchen nicht, daß man diese zweite Aufgabe des Gymnasiums in den Vordergrund stelle, und wolleu deshalb auf gewisse

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Vorschläge betreffs der Erleichterung des Überganges vom Gymnasium zur Universität gar nicht eingehen. weil diese Vorschläge zum größten Teile schwer durchföhrbar sind, vor allem aber weil uns die allgemeinen Ziele der Mittelschule höher stehen. Jedenfalls muß man den Umstand, daß der Abiturient keinen Begriff vom llechtsstudiuin hat, ffir die Überflutung der rechts und staatswissenschaftlichen Fakultäten mitverantwortlich machen. Allerdings Wörde selbst die beste Durchführung der angedeuteten Reformen den Übeln nicht steuern. Aber abgesehen davon, daß wenigstens eine Besserung eintreteu könnte, müßte doch derjenige, der schon im Gymna- sium Gelegenheit hatte, die Schwierigkeiten und den Ernst des Rechts- studiums wenigstens teilweise keimen zu lemen und denuoch dasselbe wählte, obwohl es seinen Aulagen nicht entspricht, die Konsequenzen tragen, während er gegenwärtig mit Recht darüber klagen darf, daß er sein Fach- studium wählte, ohne Gelegenheit gehabt zu haben, seine Tauglichkeit für dasselbe zu untersuchen.

Aus diesen Gründen wäre eine derartige Reform, deren Einzelheiten natürlich erwogen werden müßten, von prinzipieller Bedeutung. Eine ent- sprechende Auslese der studierenden Jugend bildet wohl die wichtigste Basis für jede Besprechung des Universitätslehrplanes. Wenn Professoren anderer Fakultäten uns so häutig Vorhalten, daß wir Elementarunterricht betreiben, während sie seihst, namentlich an der philosophischen Fakultät, ihre Vorlesungen ganz wissenschaftlich gestalten, so dürfen wir entgegnen, daß wir einem Auditorium gegenüberstehen, welches ganz unvorbereitet ist. nicht einmal über populäre Kenntnisse verfügt, ja nicht einmal weiß, ob es für dieses Studium überhaupt taugt.

III.

Pädagogische Mängel des rechts- und staatswissenschaftlichen Studiums.

Der weitere Teil der Schuld an den ungenügenden Ergebnissen des Uechtsstudiums ist den Fakultäten selbst, nämlich der Einrichtung des Unterrichtes und des Lehrplanes zuzuschreiben.

Auch die Universität ist in erster Linie Schule; namentlich die rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät, die eiuen Wissenszweig vertritt, der

den Hörern gänzlich unbekannt ist. Deshalb hat auch der Lehrplan an

keiner Fakultät diese Bedeutung; dies wird immer mehr anerkannt, trotz- dem aber nicht entsprechend berücksichtigt. Es bestellt dabei eine prinzipielle Schwierigkeit, um die man schwer herumkommt. Der akademische Lehrer ist nicht Pädagog, und man darf von ihm keine pädagogische Tätigkeit im

engen Sinne des Wortes fordern. Ist auch die Universität vor allem eine

Schule, so ist sie doch daneben eine Stätte der Wissenschaft. Die aka- demischen Dozenten haben die Pflicht, die Wissenschaft durch selbständige Forschung zu fördern, und sie werden allgemein gerade von diesem Stand- punkte aus gewürdigt. Jeder Universität gereicht cs zur Ehre. Männer zu berufen, die sich wissenschaftlich bewährt haben und bei Berufungen spielt

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die eventuelle pädagogische Eignung keine wesentliche Rolle. Sie ist auch schwer zu beurteilen; Aufsichtsorgane sind durch die Stellung des Hoeh- scliulunterrichtes von vornherein ausgeschlossen. Erst bei der Prüfung kann man sich überzeugen, ob die Lehrtätigkeit von Erfolg war; aber auch da in ungenügender Weise, denn gute Prflfungsergebnisse bilden keinen Beweis für pädagogisches Vorgehen und umgekehrt; viel bängt von dem Vor- handensein entsprechender Handbücher, von der Auffassungsgabe des Kandidaten u. s. w. ab. Die mangelhafte Frequenz schließt überhaupt präzise Schlußfolgerungen von der Prüfung auf den Vortrag aus; übrigens ist es klar. daß. nachdem die Prüfung über viele Fächer erst lange nach Absolvierung des betreffenden Kollegiums abgelegt wird, selbst fleißig besuchte Vorlesungen schon teilweise vergessen seiu können.

Eine Änderung dieser Verhältnisse ist weder möglich noch erwünscht. Die akademischen Lehrer können nicht verhalten werden, pädagogisch vor- zugehen, man muß vielmehr Wert darauf legen, daß sie in erster Linie Gelehrte bleiben, und die Verbindung von Lehre und Forschung bildet eine wertvolle Charaktereigenschaft der Universität. Was dem akademischen Unterrichte an pädagogischen Eigenschaften abgeht, soll ersetzt werden durch das Wirken der wissenschaftlichen Selbständigkeit. Ausgeschlossen erscheint die Forderung pädagogischer (Qualifikationen, ebenso wie irgend eine Aufsicht. Selbstverständlich ist es auch unmöglich, die Professoren zu verpflichten, während der Vorlesungen durch Stellung von Fragen sich zu überzeugen, ob die Hörer das Vorgebraclite richtig auffassen, denn abge- sehen von allem anderen, steht dem einfach Zeitmangel entgegen. Der Charakter der Vorlesungen verbietet es ferner, daß man bestimmte Lehr- bücher zur Grundlage wähle und die Vorlesung denselben anpasse. Die Darstellung muß dem Professor Vorbehalten bleiben, den man in dieser Beziehung nie und nimmer fesseln darf.

Man braucht die Vorzüge dieser seit Jahrhunderten erprobten Ein- richtungen nicht lierrorzuheben; zweifellos kann man nur auf diese Weise für die Universitäten Gelehrte gewinnen, die sich unter keiner Bedingung irgend einer, wenn auch pädagogisch noch so richtigen Einschränkung unterwerfen könnten. Wenn es aber unmöglich ist. die pädagogischen Obeistände abzustellen, da jeder Versuch in dieser Hiusicht einer Ver- nichtung der wesentlichen Vorzüge der Hochschule gleich käme, so muß man einen anderen Weg suchen, um wenigstens teilweise den auch auf dieser Stufe nötigen pädagogischen Rücksichten zu entsprechen. Es ist nicht abzusehen, warum man nicht das Bestreben äußern soll, wenigstens den Lehrplan möglichst pädagogisch richtig zu ge- stalten.

Der Lehrplan der rechts- und staatswissenschnftlicheu Fakultät ist derart mangelhaft, daß er nicht wenig zur Steigerung der an und für sich durch die Natur des Hochschulunterrichtes gegebenen pädagogischen Schwierigkeiten beiträgt. Wir verstehen darunter die Reihenfolge, in welcher die einzelnen Disziplinen vorgetragen, beziehungsweise von den Studenten

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gehört werden »ollen. Vom Standpunkt« der Hochschule müßte man aller- dings auch jede Idee eines Lehrplanes perhorreszieren uud den Hörern vollkommene Freiheit gewähren. Bekanntermaßen ist dies aber nicht mehr der Fall. Man braucht also den Vorwurf, als ob man die akademische Lernfreiheit schädigen wollt«, nicht au befürchten, wenn man angesichts des Umstandes, daß diese Freiheit ohnedies schon durchbrochen ist, auf dem einmal betretenen Wege nur folgerichtig weitergeheu will. Wir ver- weisen darauf, daß gewisse Fächer nicht vor der ersten Staatsprüfung gehört werden dürfen, beziehungsweise wenn sie gehört werden, nicht anrechenbar sind. Man hat das Prinzip der akademischen Freiheit in dieser Hinsicht nicht nur bei uns, sondern auch anderwärts in höherem oder geringerem Grade fallen lassen, so daß dieselbe eigentlich nur noch an den philosophischen Fakultäten besteht, au den anderen aber stark eingeschränkt ist. Es ist nicht abzusehen, warum man in dieser als gut und praktisch anerkannten Richtung nicht noch weiter gehen sollte. Wenn es als untunlich betrachtet wird, beispielsweise Nationalökonomie vor Ablegung der ersten Staatsprüfung zu hören, so erscheint es unbegreiflich, warum dasselbe Prinzip nicht z. B. für die Statistik gilt, oder warum es im Kähmen eines Bienniums den Hörern freigestellt ist, die sinnwidrigsten Kombinationen durebzuführen. Vom Standpunkte der bestellenden Gesetze und Verordnungen könnte z. B. deutsches Privatrecht vor deutscher Hechtsgeschichte. Straf- prozeß vor Strafrecht, der zweite Teil des Zivilprozesses vor dem ersten u. s. w. gehört werden. Wenn dies nicht geschieht, wenn die Studenten trotzdem in traditioneller Weise die Reihenfolge der Fächer richtiger wählen, so ist das ein Beweis dafür, daß sie die Notwendigkeit einer geordneten Reihenfolge anerkennen, und daß die Schlußsätze der §§ 1 und 5 der Ministerialverordnung vom 2t. Dezember 1893, die bekanntlich die weitest- gehende Freiheit innerhalb eines Bienniums statuieren, unpraktisch geworden sind. Nichts hindert daher die Fakultäten und die Unterrichtsverwaltung, eine einheitliche Reihenfolge der zu liöi enden Kollegien festzustellen. Es würde darin niemand einen Angriff auf die ohnehin nur noch in der Theorie bestehende freie Wahl der Fächer erblicken, und für die Freizügigkeit der Studierenden, die ein Semester an der einen, das andere an einer anderen Hochschule zubringen wollen, würde sich ein wesentlicher Vorteil ergeben. Wir wollen zunächst den Studienplan des ersten Bienniums ins Auge fassen.

IV.

Das erste Biennium. Rechtsgeschichte als Einführung in das Studium.

Das Rechtsstudium wird eingeleitet durch Vorlesungen über rechts- historische Fächer, d. i. über römisches, deutsches und Kircheurecbt, öster- reichische Reicbsgeschichte uud über Philosophie; außerdem wird an deu polnischen Universitäten polnische und an der böhmischen Universität böhmi- sche Rechtsgeschichte vorgetragen. Diese Fachgruppe hat durch die Ein- führung von Vorlesungen über österreichische Reichsgeschichte eine Berei-

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cherung erfahren; sie hat auch au juristischem Werte angenommen, seitdem mau das deutsche Privatrecht als obligat erklärt hat: inan muß zugeben, daß dadurch bei uns diese Gruppe den wissenschaftlichen Anforderungen wesentlich besser entspricht als anderwärts: denn beispielsweise in Frank- reich wird Geschichte des Kirehenrechtes nicht vorgetragen, in Deutschland fehlt das Obligatkolleg über die Rechtsgeschiclite des betreffenden Staates. Man könnte also annehmen, daß wenigstens in dieser Beziehung der Lehr- plan vorwurfsfrei erscheint.

Nun ist aber xu bedenken, daß die Aufgabe der Hechtsgeschichte darin besteht, die Entwicklung bis auf den heutigen Tag darzustellen. Die Keehtägeschichte behandelt die Entstehung moderner Rechtsverhältnisse, sie bespricht ihre Schicksale zu verschiedenen Zeiten; sie operiert also mit Begriffen, die den Anfängern gänzlich fremd sind. Wer Rechtsgeschiclite vorträgt und dabei bemüht ist., sich in die Luge seiner Zuhörer zu ver- setzen, gelangt nach einiger Zeit zur Überzeugung, daß ihm nur zwei Wege offen stehen: entweder wirklich wissenschaftlich vorzutragen und Gefahr zu laufen, daß ihm die Hörer nicht zu folgen vermögen, oder aber aufs Niveau der Hörer herabzusteigen, mithin geradezu Elementarunterricht zu treiben. Darunter leidet der wissenschaftliche Charakter der Vorlesungen, ganz besonders aber der juristische Inhalt derselben. Ist es doch ganz unmöglich, eine wissenschaftliche Darstellung z. B. des germanischen Gerichtswesens Hörern zu bieten, die von der Bedeutung des Gerichtswesens im Staate noch keine Ahnnng haben, oder von öffentlichen und privaten Abgaben und verschiedenen Zwitterbildungen auf diesem Gebiete zu sprechen, wenn die Hörer weder die nationalökonomische noch die öffentlichrechtliche Bedeutung dieser Dinge kennen. Der Rechtshistoriker muß seinen Hörern die Geschichte von Begriffen und Einrichtungen schildern, deren Wesen ihnen noch ganz unbekannt ist. Dies heißt ebensoviel, wie Geschichte der Malerei einem Auditorium vortragen, das noch nie ein Bild gesehen hat. ja nicht einmal weiß, was ein Bild ist. oder, um einen näherliegenden Vergleich zu wählen, etwa Paläontologie denjenigen, die den anatomischen Körperbau der Tiere nicht kennen und das zoologische Studium auf diese Weise beginnen wollen. Da darf es nicht uuffallen. daß manche Dozenten der rechtshistorischen Fächer nur obeiflächlich auf die wirtschaftlichrechtliche Entwicklung ein- gelien und (Iberwiegend die äußere Entwicklung behandeln, ohne in das Wesen der Sache einzudringeu. Allerdings wird häutig auch der Modus gewählt, bei Gelegenheit der Besprechung der ältesten, primitiven Rechts- verhältnisse die historische Darstellung mit der rechtsvergleichenden und soziologischen zu verbinden, dadurch also den Vortrag gewissermaßen enzy- klopädisch zu gestalten. Dieser Vorgang ist aher mit Rücksicht auf die beschränkte Zeit für die Gesamtheit des zu besprechenden Stoffes undurch- führbar. Eine sorgfältige Darstellung des Entstehens der staatlichen Kräfte, der wirtschaftlichen und juristischen Keime nimmt so viel Zeit in Anspruch, daß die weitere Entwicklung natürlich nur noch ganz kurz gewürdigt werden kann. Der gewissenhafte Dozent eines rechtshistorisr.hen Faches hat fort-

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während mit den hier angedeuteten Schwierigkeiten zu kämpfen, und diese Schwierigkeiten gelten nicht nur fOr die eigentliche Rechtsgeschiehte, also fflr Geschichte des deutschen, beziehungsweise des polnischen oder böhmi- schen Rechtes. Auch die Vorlesung über römische Rechtsgeschichto und Geschichte des Kirchenrechtes ist denselben Gefahren ausgesetzt, und wenn man in diesen beiden Fällen die vorhandenen Schwierigkeiten leichter über- windet, so geschieht dies deshalb, weil man üblicherweise den Schwerpunkt des römischen und des Kircbenrechtes einigermaßen verschiebt Wer daran geht, seinen Hörern die ursprüngliche, älteste Entwicklung des römischen Rechtes wissenschaftlich vorzuführen, begegnet jedenfalls denselben Hinder- nissen, ebenso derjenige, der Kirchenrechtsgeschichte zum Gegenstände seiner Vorlesung macht.

Verlangt man, und dieses Verlangen ist ja richtig, von einem Rechts- historiker, daß er die Hörer in die historische Entwicklung der einzelnen Zweige allseitig einführe, so muß man ihm die Lösung dieser Aufgabe ermöglichen, indem man ihn vor ein entsprechend vorbereitetes Auditorium stellt, nämlich vor Hörer, die bereits die allgemeinen Rechtsbegriffe beherr- schen. Denn es ist selbstverständlich, daß die Rechtsgeschichte nur erfaßt wird von demjenigen, der über das Weseu des Rechtes, über seine allgemeine Stellung in der menschlichen Gedankenwelt und speziell Ober seine Stellung im Leben der Völker einigermaßen informiert ist. Die Rechtsgeschichte umfaßt in organischer Weise alle Teile des Rechts- und Staatslebens, sie setzt also, wenn sie überhaupt verstanden werden soll, wenigstens eine pri- mitive Kenntnis dieser Teile, ihres inneren Inhaltes und ihrer gegenseitigen lleziehungen voraus. Sie soll die physiologische, biologische und zum Teile auch die pathologische Forschung ersetzen, kann also nur denjenigen zugänglich sein, die bereits von der Anatomie etwas wissen.

Man entgegnet in solchen Fällen gewöhnlich, daß das römische Recht die Aufgabe hat, die Hörer in die juristische Gedankenwelt einzuführen. Nun haben wir schon bemerkt, daß es hinsichtlich der Rechtsgeschichte diese Aufgabe nicht erfüllen kann. Es erfüllt sie auch tatsächlich nur hin- sichtlich eines Teiles der Jurisprudenz, nämlich hinsichtlich des Privat- rechtes, denn es gibt die Möglichkeit, die Grundbegriffe der privatrechtlichen Verhältnisse zu besprechen. Geht aber der Romanist dabei gründlich vor, so überschreitet er eigentlich die Grenzen seines Spezialfaches und betritt das Gebiet der Rechtsenzyklopädie, natürlich nur für das Privatrecht, also ohne Rücksicht auf alle anderen Gebiete des juristischen Denkens und Schaffens. Mag er für das Privatrecht seine Hörer noch so gut vorbilden, man wird ihn, da er nur Privatrecht betreibt, von dem Vorwurfe nicht frei- sprechen können, daß er dadurch von vornherein in dem Hörer die irrige Überzeugung erweckt, als ob das Privatrecht ein von der übrigen Juris- prudenz und von den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen ganz abgeschiedenes Leben führen würde. Die Gestalt, in der die privatrechtlichen Verhältnisse im römischen Rechte erscheinen, kommt dem Anfänger geradezu als obligatorisch vor. und er gelangt zu der irrigen Annahme, als ob jedes

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Privatreclit nur so uml nicht anders gestaltet werden dürfte. Der Gedanke, daß das römische Privatrecht nur einen Teil der römischen juristischen Gedankenwelt bildet, ferner der Gedanke, daß es an und für sich nur eines der vielen Privatrechtssysteme der Welt ist und anderweitige Lösungen von derlei Fragen durchaus nicht ausschließt, diese Gedanken werden hei dem Anfänger nicht geweckt, eher unterdrückt. Wer also in dem römischen Rechte ein brauchbares Mittel zur Beseitigung des besprochenen Übels erblicken wollte, müßte diesen falschen Standpunkt des Anfängers ein- nehmen. einen Standpunkt, der historisch unrichtig und praktisch für die Zukunft schädlich ist, und er müßte die prinzipielle Wahrheit verkennen, daß man das Wesen und die große Aufgabe des Rechtes im allgemeinen nie und niemals an dem Beispiel eines Volkes und eines Rechtssystems studieren kann. Hiezu tritt, daß, wie in diesem Falle, nicht das gesamte Recht der Römer, sondern überwiegend nur ein Teil desselben in Frage kommt. Und wir können getrost hinzufflgen, daß auch von diesem Teile, nämlich vom Privatrechte, auch nur sein letztes Entwicklungsstadium eingehend gewürdigt wird, so daß der Hörer die Entwicklung ungenügend kennen lernt und sich eigentlich nur mit dem römischen Privatrechte, so wie es theoretisch durch die späteren Juristen ausgebildet wurde, beschäftigt.

Wir gelange!) zur Überzeugung, daß die Rechtsgeschichte keine richtige Einführung in das Studium abgibt. Wohl können die treibenden Kräfte des politischen, staatlichen und sozialen Lebens am besten an Organismen gelehrt werden, deren Ausbildung abgeschlossen und daher den politischen Strömungen entrückt ist. Doch kann der Zweck des rechtshistorischen Unterrichtes nur dann erreicht werden, wenn der Hörer entsprechend vorbereitet wurde. Die Aufgabe der Rechtsgesciiichte bestellt nicht in der Vermittlung der Kennt- nisse rechtshistorischer Tatsachen. Die genaueste Kenntnis von Tatsachen ist noch keine Wissenschaft; sie wird erst zur Wissenschaft, wenn man die Kräfte begreift, die den rechtshistorischen Tatsachen zu Grunde, liegen, und die Ursachen des Entwicklungsprozesses zu verstellen vermag. Der höhere Zweck der Uechtsgeschiclitc besteht nicht darin, den Hörern zu zeigen, daß das Recht wechselt, sondern zu erklären, warum es wechselt, und sie in diesem Sinne bis zur Pforte des modernen Rechtes zu führen, ja sogar in dasselbe einzudringen und die historische Kontinuität bloßzu- legen. Daran, wie Rechtsveränderungen in historischer Reihenfolge eintreten, und wodurch sie bedingt werden, soll der künftige Jurist lernen, die Not- wendigkeit des Zusammenhanges zwischen der Entwicklung der Lebensver- häitnisse und den Fortschritten des Rechtes zu begreifen, und in diesem Verständnisse soll er einen Schutz gegen die einseitige Auffassung lies positiven Rechtes finden. Wir dürfen uus darüber nicht wundern, daß unsere unvorbereiteten Hörer über die Rechtsgeschichte klagen. Die Lehre von den Quellen beispielsweise erscheint ihnen als totes Wissen, weil sie nicht auf theoretischem Verständnisse für die Entstehung des Rechtes und sein Wirken in der menschlichen Gesellschaft beruht; zu seltenen Ausnahmen gehören diejenigen, die die Beziehungen zwischen Gesetz und Gewohnheits-

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recht historisch erfassen können ; die meisten ei blicken in der Quellenkunde eine Sammlung von Namen und Jahreszahlen ohne inneren Zusammenhang. Deswegen vermag die Rechtsgeschiehte den Hörer nicht so zu fesseln, wie sie sollte und könnte.

Es ist vielfach bemerkt worden, dall im Sinne pädagogischer Grund- sätze das Fortschreiten vom Näheren zum Ferneren empfehlenswert ist, daher das geltende Recht, namentlich interessante Teile desselben, z. H. Strafrecht, zuerst, die rechtshistorischen Fächer aber zuletzt vorgetrageu werden sollten. Jeder Rechtshistoriker würde darauf ciugohen, denn seine Aufgabe wäre dann leichter. Da aber eine wissenschaftliche Behandlung des modernen Hechtes ohne rechtshistorische Kenntnisse unmöglich ist, müßte man höchstens das Studium in zwei Stufen teilen und die meisten Fächer zweimal vertragen. Es ist klar, welche Folgen sich aus einer Umkehrung der jetzt bestehenden Reihenfolge ergehen müßten; die Lehre des geltenden Rechtes würde herabgedrückt werden, und man würde einer besseren Darstellung der Rechtsgeschiehte zulieb auf eine wissenschaftliche Behandlung des geltenden Rechtes verzichten, oder, wie gesagt, nach Absolvierung der Rechtsgeschichte ■ias geltende Recht zum zweiten Male vorzunehmen gezwungen sein. Zu bemerken ist ferner, daß die sofortige Einführung des Anfängers in weit- verzweigte Spezialfächer, oder auch nur in einzelne derselben, das wissen- schaftliche Gleichgewicht stört, weil dadurch die Erfassung der Rechts- wissenschaft als einer organischen Einheit erschwert wird. Mau kann nicht zu früh und nicht eindringlich genug betonen, daß alles, was vorgebracht wird, ia dem Gesamtbau der Jurisprudenz einen nicht willkürlichen, sondern ideell gebotenen Platz einnimmt.

Den Aufgaben des juristischen Unterrichtes kann also weder die Bei- behaltung der jetzigen Reihenfolge noch die erwähnte Umstellung derselben gerecht werden. Man muß einen Ausweg suchen, der keinen Teil des Studiums schädigt, sondern alle Teile fördert. Dies ist nur dann erreichbar, wenn man dem Gesamtstudium eine Grundlage gibt, an die sich alle Teile gut und sicher anlehneu.

V.

Die Facher des ersten Bienniums.

Das Rechtsstudium kann sich mit viel größerem Erfolge auf eine Grundlage stützen, die unserem Lehrplane durchaus nicht fremd ist und nur einer entsprechenden Verwendung bedarf. Wir denken au die Kechts- enzyklopädie. die ja vorgetragen wird, aber nicht obligat ist, keinen bestimmten Platz ciunimint und daher selbstverständlich von den Studierenden mit Geringschätzung behandelt wird. Die Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaften sollte durch Erhebung zum Range eines Obligatfuches die ihr gebührende Stellung erhalten, überdies aber durch allseitige Ent- wicklung an innerem Werte zunehuien. Sic darf sich nicht darauf beschränken, den Hörern die Kategorien, in die die Jurisprudenz zerfällt, darzustellen. Diese Kategorien, die vorwiegend auf römischer Auffassung beruhen, gestalten

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Zur Ain-gMtaltang des reclits- und stMtnriisnncbalUiclirn Studimns etc. 2Ö'

sicli iu den Augen der Hörer zu unabänderlichen Größen und die Hörer werden zu Sklaven von Definitionen, welche sich seil Jahrhunderten in der Wissenschaft eingebürgert haben, in der inoderneu Zeit aber einer heftigen Kritik ausgesetzt sind und für die Zukunft vieles ton ihrem Werte einbnßen werden. Eine so gestaltete Enzyklopädie kann höchstens als technische Einleitung dienen, insofern als sie den Anfängern das Verständnis der Terminologie und die landläufige Bedeutung der einzelnen Rechtsgebiete erklärt, sie gibt aber keiuen Begriff von den rechtserzengenden Kräften und von den Bedingungen der Reehtsentwickluug, ebensowenig von dem Zusammen- hänge, der zwischen den rechtserzeugenden Kräften und den mittelbar wichtigen Faktoren besteht; sie isoliert also das Hecht, das seinem Wesen nach nicht isolierbar ist und vermag, ungeachtet der zuzugesteheudeu tech- nischen V orteile, die Kluft zwischen der Jurisprudenz und dem Leben nicht zu öberbrückeu. Die Aufgabe der Enzyklopädie besteht, wenn man die Bedürfnisse der Anfänger ins Auge faßt, vor allem darin, ihnen einen orien- tierenden Einblick in die Hauptteile der Rechtswissenschaft zu bieten, gleichzeitig aber die organische Verbindung dieser Teile darzulegen. Sie muß also bestrebt sein, das Recht an seiner Wurzel zu fassen, die Ver- bindung zwischen den primitiven Einrichtungen der Familie und des Volkes einerseits und dem wirtschaftlichen und kulturellen Leben der Gesamtheit anderseits zu zeigen und hiebei die in den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnissen keimenden Anfänge staatlichen und rechtlichen Lebens bloßzulegen. Auf diese Weise kann man dem Hörer vergegenwärtigen, welche Momente für das Anfkeimen und für die Entwicklung staatlicher und rechtlicher Ordnung bestimmend sind, welche Bedeutung das primitive Rechtsleben hat, wodurch die Störung oder Abtötung einzelner Teile erfolgt, welche Rolle die Differenzierung und die Integrierung spielt, mit einem Worte, unter welchen Umständen und Einflüssen Kechtseinriclitungen ent- stehen. Nicht mit Definitionen darf begonnen und operiert werden, man muß sich vielmehr zur Definition durchringen, und nicht fertige Kategorien darf man dem Hörer vorführen, sondern ihre Ausbildung erklären. Es kann wohl nichts pädagogisch Schädlicheres geben als die übliche aprioristische Hand- habung der Begriffe des öffentlichen und des l’rivatrechtes, die man schon dem Anfänger förmlich wie zwei verschiedene Welten vorfflhrt. Wissen wir doch, daß die Grenze zwischen privatem und öffentlichem Rechte zu allen Zeiten schwankend war und sein wird. Der Hörer, dem man einen prinzi- piellen Unterschied in dieser Beziehung eingeprägt hat. kan» es nicht fassen, daß man z. B. im Mittelalter öffentlichrechtliche Befugnisse den privatrechtlichen gleich behandelt; weun er selbständig über diese Frage nachdenkt, so gelangt er zweifellos zur Überzeugung, daß ein Rechtssystem, welches die Möglichkeit solcher Rechtsgeschäfte bietet, falsch ist; nur ausnahmsweise dürfte der Anfänger die wissenschaftliche Keife besitzen, lim sich zu sagen, daß nicht alles falsch ist. was iu die üblichen Kategoiieu nicht hiueinpaßt, und daß diese Kategorien bei jedem Volke, also auch in jedem Kechtssysteme anders geartet sein können. Eine dogmatisch behandelte Enzyklopädie muß

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subjektiv sein, sie kiiiin nicht allseitig bilden, sondern nur einseitig verbilden. Es filllt keinem Sprachforscher ein. ?.. B. bei Behandlung der Sprache der Basken oder Kelten die lateinische Grammatik zur einzigen Grundlage zu wühlen, denn er weiß ganz wohl, daß jede Sprache ihre eigenen Entwicklungs- gesetze und ihren eigenen Geist hat, und daß die Prinzipien einer, wenn auch noch so hochstehenden Grammatik keineswegs generalisiert werden dürfen; aber die ltechtsenzyklopädie bietet ihren Hörern sofort fertige Definitionen, eine Kechtsgraiunmtik, als oh es möglich wöre, eine für alle Zeiten und alle Völker anwendbare detaillierte Kechtsgrammatik auszu- arbeiten, und als oh irgend ein Zweifel darüber obwalten könnte, daß ebenso wie die Grammatik nur für ein bestimmtes Volk paßt, ja sogar mitunter nur für eine bestimmte Zeitperiode, auch eine Bechtsgramtuatik nur bestimmte Kechtszustünde in Definitionen und Einteilungen zu fassen vermag.

Eine entsprechend erweiterte Enzyklopädie der Rechts- lind Staats- Wissenschaften würde den besten Übergang vom Gymnasialstndium zu dem Rechtsstndium bilden. Im Gymnasium lernt der Schüler die äußere Geschichte der Völker kennen. Würde der Gymnasiallehrplan in der oben angeregten Weise erweitert und vertieft wrerden, so könnte der Schüler die historische Entwicklung gründlicher verstehen und die Bedeutung wirtschaftlicher und rechtlicher Strömungen einigermaßen kennen lernen: er würde auch gewisse allgemeinjuristische Kenntnisse erlangen und wäre für eine allseitige Enzy- klopädie der Hechts- und Staatswissenschaft vorbereitet. Dieses Fach würde pädagogisch wirken, denn es würde daran anknttpfen. was im Gymnasium geboteu wurde, und zum Itecbtsstiidium führen, während dermalen vom Gymnasialstndium zum Itechtsstudium ein Sprung gemacht werden muß, der durch nichts erleichtert wird. Die Rechtsgeschichte ist dem Hörer hiebei nicht behilflich; aber auch eine zu eng gefaßte Enzyklopädie, die sich überwiegend mit der Klassifizierung juristischer Begriffe, die den Hörern natürlich ganz unbekannt sind, beschäftigt und weder die Entstehung dieser Begriffe noch auch ihr Verhältnis zu den übrigen Gebieten des mensch- lichen Lehens erklärt, ist ebensowenig geeignet, einen Übergang zu bilden. Die weitere Bedeutung der Enzyklopädie würde darin bestehen, daß die rechtshistorischen Disziplinen au dieselbe ankntlpfen könnten, sich also nicht mehr in dem circulus vitiosus von unverständlichen Begriffen und unbekannten Verhfdtnissen zu bewegen hätten.

Ein so gedachtes enzyklopädisches Kolleg müßte vor allen anderen Vorlesungen zu Ende geführt werden ; es erfüllt seine Aufgabe nicht, wenn es etwa im dritten oder vierten Semester geboten wird; es erfüllt seine Aufgabe aber auch nicht gut. wenn es parallel mit anderen Fächern vorgetragen wird. Es ist weiters selbstverständlich, daß eine allseitig erweiterte Enzyklo- pädie viel Zeit beanspruchen, aber dennoch die Absolvierung in einem Semester erfolgen müßte, damit im folgenden Semester das eigentliche Kechtsstudium beginnen könne. Nachdem auch aus naheliegenden Gründen eine Teilung des enzyklopädischen Kollegs nach Materien untunlich ist, weil die einheitliche Darstellung der Gesamtheit der einschlägigen Fragen wichtig

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Zur Ausgestaltung *les recht*- lind staatswissenscliaftlichen Studium - etc. 2 f> '>

ist, so gelangt man zum Schlüsse, daß man die Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft in einem etwa ßstündigen Kolleg, bestimmt für die Hörer des ersten Semesters, zu erledigen hätte. Dermalen wird die Enzy- klopädie trotz ihres wesentlich geringeren Inhaltes als der, den wir wünschen, doch 3 4 ständig gelesen; sie ist nicht obligat, wird aber doch von den meisten Hörern inskribiert. Die Änderung würde somit darin bestehen, daß dieses ohnehin von den meisten Hörern belegte Kolleg obligat werde und nicht etwa 3 Stunden, sondern das Doppelte angewiesen erhalte. Von Zeitverlust kann man dabei nicht sprechen; die 2 3 Stunden, um die die Enzyklopädie zu verstärken wäre, würde man bei der Darstellung sämtlicher übrigen Fächer hereinbringen; alle Disziplinen würden durch eine tüchtige enzyklopädische Schulung gefördert werden.

Den so gestalteten Vorlesungen über Enzyklopädie wären Vorlesungen über Philosophie an die Seite zu stellen. Wir wissen, daß für die Juristen ein vierstündiges Kolleg besteht, doch ist es kein Geheimnis, daß dasselbe seinen Zweck nicht erfüllt. Überdies hören die Juristen ein zweites philosophisches Obligatkolleg, nämlich Vorlesungen über Geschichte der Rechtsphilosophie, ebenfalls vierstündig. Beide Kollegien können von Hörern verschiedener Semester besucht werden, so daß der Vortragende vor ein Auditorium gestellt wird, in dem ältere und jüngere Studenten vermischt siud. was namentlich für die Vorlesungen über Geschichte der Rechts- philosophie störend wirkt. Das streng philosophische Kolleg könnte, angesichts der Erfahrungen, die in dieser Beziehung vorliegen, fallen gelassen werden ; dagegen müßte die Rechtsphilosophie, die parallel mit der Enzyklopädie vorzutragen wäre, einerseits an die Philosophie im allgemeinen angelehnt, anderseits aber, so wie es übrigens auch geschieht, historisch vorgetragen werden. Die Aufgabe der Rechtsphilosophie, den Begriff des Rechtes über- haupt anschaulich zu machen und zu erklären, inwiefern dieser Begriff die Grundlage wechselnder Erfahrungen in Wissenschaft und Praxis zu bilden vermag, kann unbeschadet der philosophischen Zwecke am besten au der Hand der Geschichte der Rechtsphilosophie gelöst werden, weil bei histori- schem Vorgehen die Gefahr subjektiver Systeme vermindert wird; diese Gefahr, die jedem philosophischen Studium anhattet, ist in keinem Falle von so wesentlicher Bedeutung wie hier, wo das philosophische Studium nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zu tieferem Erfassen der Rechts- wissenschaft dient. Selbstverständlich bliebe es dem Vortragenden unbe- nommen. bei der Darstellung der rechtsphilosophischen Systeme durch kritische Bemerkungen und schließlich hei Besprechung der modernen Hechts- philosophie durch entsprechende Zusammenfassung seine eigenen systemati- schen Gesichtspunkte zur Geltung zu bringen. Selbstverständlich müßte darauf Gewicht gelegt werden, daß die Geschichte der Rechtsphilosophie nicht auf halbem Wege stehen bleibe, sondern bis auf die Neuzeit vorsebreite. somit kein Leichenfeld philosophischer Doktrinen bilde und dem Juristen durch die Einführung in die moderne Gedankenwelt für sein weiteres Studium die allgemeinen Gesichtspunkte biete. Das Verhältnis zwischen Enzyklopädie

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und Rechtsphilosophie stellen wir uns in der Weise vor, daß die Enzyklopädie bestimmt ist. die Entstehung des Rechtes in Gesellschaft und Staat, das Wirken reehtserzengender Faktoren, innerer Kräfte und Oberhaupt aller Momente, die für die Entwicklung der sozialen und rechtlichen Verhältnisse wichtig sind, darzustellen, uni endlich zur Klassifikation und Definition der juristischen Begriffe zu gelangen; die Rechtsphilosophie dagegen hat sich mit dem Rechte nur, insoweit sich dasselbe aus dem Wesen der Persönlich- keit und den juristisch relevanten Grundformen des Verhaltens der Person ergibt, zu befassen ; sie scheidet also das Individuelle, wie cs sich historisch hei den einzelnen Völkern äußert, aus, bespricht nur dasjenige, was dem Rechte an und für sich sowie den Grundformen seiner Erscheinungen ent- spricht und ergänzt auf diese Weise die von der Enzyklopädie gebotene Grundlage der weiteren rechtshistorischen und dogmatischen Behandlung. So wie sie die Veränderlichkeit der philosophischen Begriffe im Laufe der Zeit darlegt, findet sie auch Gelegenheit, mit der Geschichte der Begriffe eine Auseinandersetzung derselben zu verbinden. So wie die Enzyklopädie die Stellung des Rechtes und seiner einzelnen Teile innerhalb aller anderen Lebensverhältnisse ergründet, so hat wieder die Rechtsphilosophie, nachdem sie sich hauptsächlich in dem Gebiete der philosophischen Gedankenwelt bewegt, ilie Beziehungen zwischen dem Rechtsgedanken und seinen philoso- phischen Gestaltungen einerseits und der Gesamtheit des menschlichen Denkens in den verschiedenen Zeiten anderseits zum Gegenstände. Wir glauben daher, daß diese beiden Wissenszweige sich sehr gut ergänzen würden. Die Enzyklopädie würde positives Denken und praktische Auffassung der Rechtseinrichtungen, in denen der Hörer nicht feste Größen, sondern das Ergebnis der allgemeinen, also nicht nur juristischen Entwicklung erblicken würde, lehren; die Philosophie würde ihn in die Welt der Abstrak- tion und des logischen Denkens führen. Dadurch würde der Hörer die zwei wichtigsten Grundlagen erlangen, die ihm dermalen fehlen. Selbstverständlich müßte auch ein derartiges philosophisches Kolleg, für die Hörer des ersten Semesters bestimmt, mehr Zeit beanspruchen als jetzt: aber doch weniger als die beiden philosophischen Kollegien zusammen: an Stelle der beiden philosophischen Kollegien im Gesamtansmaße von 8 wöchentlichen Stunden würde ein fistfiudiges Kolleg über eine so gestaltete Geschichte der Rechtsphilosophie treten. Nebenbei ist zu bemerken, daß somit das für die Enzyklopädie verlangte Plus von 2 3 Stunden hier durch eine Ersparnis von 2 Stunden an philosophischen Kollegien wettgemacht wird.

Als Korrelat der llechtsenzyklopJdie und der Rechtsphilosophie erscheint die allgemeine G e s e 1 1 s c li a ft s 1 e h re. die Lehre von den Kräften, die nicht nur die Gesellschaftsordnung, sondern weiter in derselben die Variabilität der Einrichtungen bestimmen. So aufgefaßt, ist die allge- meine Gesellselmflslehre Grundlage jeder Kechtsgeschichte, aber auch der Staatswissensehaft und der Rechtspolitik, sowie ein besonders förderliches Mittel zur Vertiefung des rechtsdogmatischen Verständnisses, insofern man darunter das Eingehen auf die Funktionen des modernen Rechtes in der

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Znr Ansgestftltnne des rechts- und stft»t«wiasen»chafiliehpn Studiums etr. 207

modernen Gesellschaftsordnung versteht.. Die Gesellschaftslehre soll sich mit den sozialen Formen und ihren Funktionen im sozialen Dasein, also mit der Entwicklungsgeschichte der gesellschaftlichen G nippen, mit ihren Beziehungen zueinander, sowie mit den Einflössen, denen sie in ihrer Gestaltung unterworfen sind, schließlich mit dem Einflüsse, den sie selbst auf die Rechtsentwicklung ausöhen, befassen. Wer für das historische und das dogmatische Studium reif gemacht werden soll, dem kann die Gesell- schaftslehre gute Dienste leisten. Denn sie verbindet die fflr den historischen Sinn wichtige Betrachtung aufeinanderfolgender Erscheinungen mit der fflr das dogmatische Studium nützlichen Betrachtung verschiedener, aber gleich- zeitig auftretender Verhältnisse. Als Wissenschaft der Kollektiverscheinungen und Bewegungen der Menschen berührt sie sich mit der Rechtsphilosophie, die im umfassendsten Rinne betrachtet, eigentlich als praktische Kollektiv- psychologie bezeichnet werden darf. Beide zusammen geben die Grundlage für das Verständnis jener teilweise materiellen, teilweise ideellen Erscheinung, die wir Recht nennen. Besonderen Wert muß man darauf legen, daß gerade Gesellschaftslehre im Vereine damit, was die Enzyklopädie zu bieten vermag, die für das rechtshistorische Studium nötigen Kenntnisse aus dem Gebiete der sozialen und Wirtschaftslehre vermitteln könnte. Es ist ja vielfach der Wunsch ausgesprochen worden, die Nationalökonomie in das erste Biennium zu verlegen, und zwar nicht mir um das zweite zu entlasten, sondern in richtiger Erwägung des Umstandes, daß das rechtshistorische Studium nationalökono- mischer Kenntnisse bedarf. Die Sarhe scheitert daran, daß man doch unmöglich die Nationalökonomie zum Gegenstände der ersten Staatsprüfung machen kann, weil es nicht angeht, sie aus dem Zusammenhänge mit den übrigen Disziplinen der staatswissenschaftlichen Gruppe zu reißen: die Erfahrung lehrt aber, daß sich die Hörer in erster Linie fflr Fächer inter- essieren, die sie zur Staatsprüfung brauchen. Deshalb glauben wir eben durch die allgemeine Gesellschaftslehre die von allen Seiten gerügte Lücke am besten ausfßllen zu können.

Die erwähnten drei Kollegien würden das erste Semester ausfflllen. Und dieses Semester könnte als eine eigene Abteilung des juristischen Studiums betrachtet werden, nämlich als Vorstufe zu demselben. Hücksicht- Iich der erwähnten Fächer darf als hekannt vorausgesetzt werden, daß die- selben sich einerseits großer Unterschätzung, anderseits einer ebensowenig begründeten Überschätzung erfreuen. Man darf selbstverständlich nicht dafür blind sein, daß eine Überschätzung geeignet wäre, uns auf die Abwege des Naturrechtes zurückzuführen, denn sowohl bei der Enzyklopädie wie auch hei der Philosophie, am allermeisten aber bei der allgemeinen Gesellachafts- lelirc kann die Gefahr nicht übersehen werden, daß Probleme heterogenster Art von einem gewissen Gesichtspunkte aus zusammengefaßt werden, daher eine subjektive Beleuchtung naheliegt. Trotz dieser Gefahr wird man nichts- destoweniger die evidenten Vorteile einer solchen Vorbildung nicht unter- schätzen dürfen. Die Voranstellung der Enzyklopädie, der Geschichte der Hechtsphilosophie und der Gesellschaftslehre macht es sodann dem Hechts-

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historiknr möglich, alle rechtserzeugenden Kräfte in ihrem historischen Wirken zu zeigen und ihren Einfluß auf die Bildung ehemaliger und moderner Rechtsinstitute darzustellen. Das niodemrechtliche und das staatswissen- sehaftlichc Studium erfahren eine analoge Förderung.

Man könnte \iellcicht sagen, daß die erwähnten drei Kollegien für das erste Semester nicht passen, weil sie ja ihrerseits einer Vorbildung bedürfen. Es ist im allgemeinen richtig, daß man diese Fächer erst dann gründlich /u verstehen vermag, wenn man bereits in die einzelnen Zweige der Rechts- und Staatswissenschaft eingeweiht ist. Doch gilt dasselbe schließlich von allen Wissenszweigen ; unzweifelhaft würde der absolvierte Jurist, wenn er Zeit fände, von vorn anzufangen, die Vorlesungen mit viel mehr Erfolg besuchen können als der Student. Dieser Gesichtspunkt kann also nicht maßgebend sein, denn daun gäbe cs gar kein Fach, welches man für den Anfänger bestimmen könnte. Maßgebend muß vielmehr die Erwägung sein, ob ein gewisses Fach an der Stelle, die wir ihm im Lehrplane anweisen, Ober- haupt mit Aussicht auf Erfolg vorgetragen weiden kann, und man muß sich von vornherein mit dem geringeren Cbel zufriedenstellen. Von diesem Standpunkte wird man sich sagen dürfen, daß sowohl die Enzyklopädie als auch die Rechtsphilosophie und Gesellschaftslehre möglich, für das weitere Studium aber jedenfalls vorteilhaft sind. Es wird der Anfänger gewiß in diese drei Disziplinen nicht bj eindringen, wie es der erfahrene Jurist tun könnte: es wird also der wissenschaftliche Zweck einer Ausbildung in diesen Fächern an und für sich kaum erreicht werden. Aber vom Standpunkte des gesamten Studiums betrachtet, kommen ja diese Fächer nicht als Selbstzweck, sondern als Einleitung in die Jurisprudenz und als Grundlage für ein erfolg- reiches Hören aller Fächer in Betracht: diesen Zweck würden sie gewiß in bester Weise erfüllen; die einzelnen Disziplinen vorteilhaft, d. h. verständlich zu gestalten, hängt schließlich immer vom Dozenten ab. Pädagogisch könnte auch das Bedenken laut werden, daß die erwähnten drei Kollegien ihrem Wesen nach abstrakt sind, infolgedessen dem Grundsätze widersprechen, demzufolge man vom besonderen ausgehen und zum allgemeinen aufsteigen müsse. Dies ist richtig, doch dürfte man entgegnen, daß die abstrakten Eigenschaften eines jeden Stoffes bei entsprechender Behandlung gemildert werden können und sollen, und schließlich darauf hinweisen, daß, wenn das Gymnasium seine Pflicht in der vorher besprochenen Weise erfüllt, auch diese abstrakten Kollegien nicht unverständlich erscheinen werden.

Auf diese Weise wäre ein Semester Vorlesungen gewidmet, die eigent- lich jetzt nur als Nebenfächer in Betracht kommen und nirgends ein ganzes Semester füllen. Es könnte anscheinend mit Recht entgegengehalten werden, daß dadurch ein ganzes Semester dein eigentlichen Studienplan entzogen wird, und daß die wichtigsten Fächer des ersten Bienniiuns zu kurz kommen, wenn ihnen nur drei Semester verbleiben.

Da ist zu bemerken, daß auch der jetzige Studienplan mit der Mög- lichkeit rechnet, die rechtshistorischen Studien in drei Semestern zu absol- vieren, obwohl ein 4 ständiges philosophisches Kolleg, das wir ja schon

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Zur Ausgestaltung des rechts- und staitswiasenschaftüchen Studiums etc. 269

ausgesehieden haben, auch in diese drei Semester fällt. Die Ablegung der ersten Staatsprüfung ist bekanntlich schon nach drei Semestern gestattet. Fragen wir 8ber, welche Vorteile dem Studenten erwachsen, der von diesem Rechte Gebrauch macht, so füllt es schwer, eine zufriedenstellende Antwort zu geben. An der Gesamtdauer der Studien ändert die Tatsache, daß jemand schon nach drei Semestern die erste Staatsprflfung abgelegt hat. gar nichts. Die Möglichkeit aber, sich desto intensiver den Fächern des zweiten Bien- niums zu widmen und auf dieselben fünf anstatt vier Semester zu verwenden, ist illusorisch. Denn das vierte Semester, also das erste nach abgelegter Staatsprflfung, ist in der Regel ein Sommersemester und da sind die Vor- lesungen des zweiten Bienniums. die natürlich mit dem Wintersemester einsetzen, so weit vorgeschritten, daß der Student höchstens die Möglichkeit hätte, den zweiten Teil des österreichischen Privatrechtes, ferner Strafprozeß und Volkswirtschaftspolitik zu hören, ohne den ersten Teil des österreichi- schen Privatrechtes, das materielle Strafrecht und Nationalökonomie gehört zu haben. Die fleißigen Hörer, die nach drei Semestern die erste Staatsprüfung abgelegt haben, befinden sich daher in Verlegenheit und sind gezwungen, dieses Semester nebensächlichen Vorlesungen zu widmen. Man kann sagen, daß die Möglichkeit, die Staatsprflfung nach drei Semestern nbzulcgen. ohne daß allseitig dieser Möglichkeit und ihren Konsequenzen Rechnung getragen wird, nur zur Verwirrung des Lehrplanes beigetragen hat. Bekanntlich ist die Fassung der betreffenden Bestimmung aus einem Kompromiß zwischen der Regierungsvorlage und reichsrütlichen Abänderungsanträgen hervorge- gangen. Die Erfahrung lehrt übrigens, daß nur ein sehr geringer Teil der Studentenschaft von diesem Rechte Gebrauch macht, und daß der Früh- jahrstermin überwiegend von solchen Kandidaten benutzt wird, die nicht drei, sondern fünf Semester absolviert und die Pröfung nach Ablauf von vier Semestern versäumt haben, oder schließlich von solchen, die fflr ein halbes Jahr reprobiert wurden. Die Entziehung des Rechtes, nach drei Semestern die erste Staatsprüfung ablegen zu dürfen, würde also niemand treffen, da es niemandem Vorteil bringt. Auch die Vorleseordnung rechnet nicht mit den Bedürfnissen von Studenten, die schon im vierten Semester an die zweite Studienabteilung herantreten, rechnet vielmehr mit dem regel- mäßigen Falle des Studienbeginnes im Wintersemester.

Daß die rechtshistorischen Studien ganz gut im Verlaufe von drei Semestern erledigt werden können, ist zweifellos und ist sowohl durch den Regierungsentwurf für das Gesetz vom Jahre 1893 wie auch im Laufe der Verhandlungen zugegeben worden. Destomehr kann man dies behaupten, wenn den rechtshistorischen Studien die erwähnten drei vorbereitenden Kollegien vorangehen würden. Die Absicht, eventuell das vierte Semester für die Zwecke des zweiten Studionabschnittes zu benutzen, läßt sich nicht verwirklichen und infolgedesseu kann das vierte Semester viel besser auf andere Weise verwertet werden, indem es von den recbtshistorischen Studien getrennt, allgemeinen Studien gewidmet und als erstes dem ganzen Studien- lauf vorangesetzt wird.

Zeltachrift fflr VolkawirUctiaft, Soiialpolilik und Verwaltung. XII. Rand, 19

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Nun bleibt Liber noch die Frage der Summe aller während des ersten lliennimns 7.11 hörenden Vorlesungsstunden. Das erste Semester wflrde, obigen Anregungen gemäß. sechs Stunden Enzyklopädie der Rechtswissenschaften, ebensoviele Stunden der Ueschiebte der Rechtsphilo- sophie und 8 4 Stunden der allgemeinen Gesellschnfltslehrc umfassen. Zusammen 15 16 Stunden, während es bisher Prinzip ist. daß in den drei ersten Semestern je 20, im vierten 12, zusammen 72 Stunden obligat zu hören sind. Es würde sich also selbstverständlich bei Entlastung des ersten Semesters eine größere Belastung der folgenden drei Semester, namentlich aber des vierten, welches bisher mit Rücksicht auf die Vorbereitung zur Staatsprüfung privilegiert erscheint, ergeben. Nur muß mau bedenken, daß dieses durch die Rücksicht auf die Vorbereitung zur Staatsprüfung motivierte Privileg der Hörer des letzten Semesters ohnehin für diejenigen, die die Staatsprüfung schon nach drei Semestern ablogen, nicht besteht. Eine geringere Slundenanznhl für Hörer des ersten Semesters wäre hingegen vielleicht eher am Platze. Man vergesse nicht, daß das üniversitätssludium sich derart prinzipiell von «lein Gymnasialunterrichte unterscheidet, daß ein Übergang ersprießlich und eine Überlastung des Anfängers mit einer großen Anzahl von Vorlesungen nicht das richtige Mittel ist, ihn an die neue Studienart zu gewöhnen. Wir sprechen vom eifrigen Hörer, und für den ist die sofortige Verpflichtung, 20 24 Stunden schwer begreiflicher Fächer

zu hören, schon mit Rücksicht auf die ihm ganz neue Art des Vortrages gewiß eine harte Pflicht. Es ist übrigens bekannt, daß S 6 des Ministerial- erlasses vom 24. Dezember IS! '3 den Rechtsliörern die Pflicht auferlegt, im Verlaufe des Quadrienniums Vorlesungen an der philosophischen Fakultät zu hören. Man könnte diese Pflicht, wenn man durchaus für das erste Semester eine größere Stundenanzahl verlangt, auf dieses Semester überwälzen. Namentlich die Hörer des ersten Semesters sind gewiß leichter dazu zu bewegen, allgemein bildende Kollegien zu hören, vor allem dann, wenn man im Gymnasium ihr Interesse für Geschichte. Literatur u. s. w. entsprechend geweckt hat. Die Einstellung dieser frei zu wählenden Kollegien für das erste Semester hätte auch den Zweck, den jungen Studierenden den Zusammen- hang der Rechtswissenschaft mit der allgemeinen Bildung nahezulegen. Selbstverständlich ist aber, daß diese philosophischen Kollegien auf Philo- sophie. Geschichte, Literaturgeschichte und Philologie zu beschränken wären. Die erwähnte gesetzliche Bestimmung ist zu allgemein. Ist es auch nicht zu verkennen, daß jedes Studium bildet, so muß man doch den Wert eines kurzen naturwissenschaftlichen oder mathematischen Kollegs entschieden bezweifeln: für die allgemeine Bildung des Juristen wird durch eine ein- malige Abstreifung auf ein ihm gänzlich ferneliegendes Gebiet nichts gewonnen. Man kann ihn nicht daran hindern, beliebige Vorlesungen zu hören; der Absicht der erwähnten gesetzlichen Bestimmungen entspricht es gewiß nicht, daß man solche Kollegien in die vorgeschriebene Minimalzahl einrechnet.

Die vorgeschlagenen, sachlich gewiß vorteilhaften Abänderungen lassen sich auch vom Standpunkte der Zeiteinteilung im Lehrplane rechtfertigen.

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Zur Aoigeataltuiig de* rechts- und •tutswissenschufttichen Studiums etc. 271

Wie schon erwähnt, wird ja Rechtsenzyklopädie auch jetzt vorgetragen und von einem großen Teile der Hörer belegt; Philosophie wird im Gesamt- ausmaße von 8 Stunden vorgetragen, Enzyklopädie 3 4 Stunden; frei wählbare Kollegien allgemeiner Natur, die aber bekanntermaßen zur Erlangung des Absolutoriums notwendig sind, nehmen auch mindestens drei, häufig mehr Stunden in Anspruch. Durch die vorgeschlagene Änderung würde die Anzahl der Enzyklopädiestunden erhöht, die der Philosophiestunden aber vermindert werden und die Anzahl der den frei wählbaren Vorlesungen der philosophischen Fakultät gewidmeten Stunden würde keine Änderung erfahren. Es käme also nur das 3 4stündige Kolleg über allgemeine Gesell- schaftslehre als ein Novum hinzu. Wenn man die frei wählbaren, an der philosophischen Fakultät zu hörenden Kollegien, die in einem beliebigen Semester absolviert werden, in das erste Semester verlegt, erlangt man eine Entlastung der späteren. Eine wesentliche Änderung würde also darin liegen, daß die bisher nicht obligate Enzyklopädie den Hang eines Obligatfaches erhalten und ein neues 3— 4 ständiges Kolleg über allgemeine Gesellschafts- lehre eingeführt werden müßte: eine Überlastung würde daraus nicht

resultieren.

Auf einer so gearteten Grundlage könnte dann das Studium der rechtshistorischen Disziplinen beginnen. Jeder Dozent derselben wäre in der Lage, sich auf seine eigentliche Aufgabe zu beschränken und in wissen- schaftlicher Art die Geschichte desjenigen Hechtes, mit dem er sich befaßt, darzustellen, denn er könnte selbst in schwierigen Fragen, auf die er jetzt kaum einzugehen vermag, auf Vorkenntnisse rechnen und wäre nicht ver- pflichtet, auf die Erörterung von Grundbegriffen Zeit zu verwenden. Das rechtshistorische Studium würde also eine technische Vereinfachung erfahren. Noch richtiger ist es aber, daß es gleichzeitig auch juristisch höher gestellt werden könnte, weil die der Entwicklungsgeschichte zu widmende Zeit angesichts schon vorhandener allgemeiner Kenntnisse für die dogmatische Erörterung der einzelnen Rechtsinstitute ansgenützt werden könnte. Von großem Vorteil ist es, daß man auf diese Weise allen Schäden der Ein- seitigkeit, die man nicht mit Unrecht der historischen Richtung zum Vor- wurfe macht, auszuweichen in der Lage wäre. Tatsächlich kann die techts- historische Richtung auf Abwege geraten, wenn sie das eigentliche Wesen des Stoffes, der rechtshistorisch erörtert wird, verkennt; sie gerät auf diese Abwege notgedrungen, wenn es sich um Hörer handelt, bei denen man gar keine Vorkenntnisse voraussetzen darf. An Vorkenntnisse, wie wir sie uns denken, ankuüpfend, kann aber die Rechtsgeschichte Unschätzbares für die juristische Begriffsentwicklung leisten; es wird sie dann nicht der Vorwurf treffen, daß sie den Gesichtskreis einengt, indem sie den Hörer veranlaßt, nach rückwärts in die Vergangenheit anstatt vorwärts in die Zukunft zu blicken. Überdies müßte dann das rechtshistorische Studium eine andere Gestalt annehmen; es wird ja mit Recht bemängelt, >laß die systematischen, allgemein gehaltenen Vorlesungen über Rechtsgeschichte sich zu wenig an das Quellenmaterial anlehnen; mit Fug und Recht darf man fordern, daß

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die Darstellung, ohne die durch die moderne Wissenschaft geforderte Gruppierung anfzugeben, sich durch Anlehnung an Quellenstilcke belebe, ebenso wie man bei dem systematischen Vortrage des geltenden Hechtes Gesetzesstellen bespricht: denn es ist klar, da!) eine systematische Vorlesung, ohne Anlehnung an die Quellen, die communis opinio flber die einzelnen Fragen vermitteln kann, aber nicht im stände ist, den nötigen Einblick in die in jedem Falle originelle Gestaltung des Rechtes zu gewähren. Wenn man richtigerweise der Ansicht huldigt, dat) keine Übersetzung den klassischen philologischen Unterricht ersetzen kann, so muß man dasselbe für die Rechtsgeschichte behaupten. Jetzt findet man keine Zeit für Ein- flechten und Erörtern interessanter Quelleustellen; baut man aber den rechtshistorischen Unterricht auf der richtigen Grundlage auf. dann wird sich Zeit und Verständnis für die Quellen finden. Es muß übrigens betont werden, (laß auch der Unterricht im modernen Hechte keineswegs vorwurfs- frei dasteht Wenn man sagt, daß die Rechtsgeschichte den Gesichtskreis des Juristen einengt, somit also ihre eigentlichen Zwecke nicht erfüllt, so gilt dasselbe von der Dogmatik, weil auch sie den Gesichtskreis nicht erweitert, wenn sie in einseitiger lletonung des geltenden Rechtes von der früheren Entwicklung und den künftigen Aufgaben absieht. Das Recht befindet sich in niemals ruhender Entwicklung; unvollkommen ist jede Behandlung, die einseitig rechtshistorisch oder einseitig dogmatisch vorgebt, indem sie im ersten Falle das Recht als einen festen Körper behandelt, im zweiten Falle ihr Gebiet als abgeschlossenes Ganzes betrachtet, ohne genügende Berücksichtigung der treibenden Kräfte, die den Fortschritt bestimmen. Die Möglichkeit, eine Grundlage für die rechtshistorische und die dogmatische Richtung herzustellen, ist in hohem Grade von der ange- regten Vorbildung abhängig.

Was nun die r e c h t s h i s t o r i s c h e n Studien selbst anbelangt, so muß als wichtiger Fehler der Art und Weise, wie sie betrieben werden, das Übergewicht des Privatrechtes, vor allem natürlich der Pandekten gerügt werden. Die Rechtsgeschichte hat so umfassende Aufgaben, daß man sie nicht zur Privatrechtsgeachichte machen darf. Das Huuptflhel besteht darin, daß der Hörer auf Grund des Pandektenrechtes den Eindruck gewinnt, daß die privatrechtlichen Verhältnisse im Vordergründe stehen und ferner den Eindruck, daß die einzelnen privatrechtlichen Verhältnisse eine bestimmte, unabänderliche Fassung annehmen müssen. Auf dein ent- gegengesetzten Pole steht dann das deutsche Recht, welches, wie alles mittelalterliche Recht, weniger Definitionen aufweist als das römische, und dessen Institute weder so abgeschlossen sind wie die römischen noch auch so gleichförmig kristallisiert, ja zum Teile gar nicht kristallisiert erscheinen, so daß der Hörer dieselben als ein Chaos betrachtet, mit dem nichts anzu- fangen ist. Man bietet ihm Antithesen und verlangt von ihm die Durch- führung der Synthese, was nicht nur pädagogisch unrichtig, sondern auf dieser Altersstufe und mit diesen Kenntnissen einfach unmöglich ist. Das römische. Recht soll vor allem auf die Rechtsgeschichte Nachdruck legen

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Zur Ausgestaltung ü*e rechte- und stuaUwisseuschaftlichen Studiums etc. 273

Die reebtshistoriscbe Ausbildung wird dadurch ergänzt und harmonisch gestaltet, wenn man den Hörern gleichzeitig römische und deutsche Hechts- geschichte vorträgt und daneben die Geschichte des Kirchenrechtes. Sind auch die römisebrechtlieheu Grundlagen vor allem für das bürgerliche Hecht wichtig, so erscheint dennoch die überwiegende Betonung des privatrecht- lichen Elements schädlich, weil sie geeignet ist. die falsche Vorstellung von dem nicht bestehenden Fbergewiehte des Privatrechteg und noch mehr eine begrifflich gefährliche Lostremmng des l’rivatrechtcs von dem gesamten Hechte zu fördern. Unsere Studienordnung, rechnet ja eiuigermaUen, aber viel zu wenig, mit der eigentlichen Holle der Pandekten; hoffentlich wird man jetzt, wo im Deutschen Reiche nach Zustandekommen des neuen bürgerlichen Gesetzbuches endlich auch die Überschätzung der Pandekten zugegeben wird, in Österreich den Weg betreten, den man leicht schon seit 1811 hätte betreten können. Das deutsche Privatrecht hat trotz allem, was dagegen vorgebraeht wurde, prinzipiell dieselbe bildende Bedeutung wie das römische Privatrecht. Gerechtfertigte Bedenken können sich nur gegen das System des sogenannten gemeinen deutschen Rechtes geltend machen, und zwar aus demselben Grunde wie gegen das Pandektenrecht. Die Vorlesungen über deutsches Privatrecht sollen ja allerdings in der Darstellung der deutsehrechtlichen Grundlagen des geltenden Hechtes gipfeln; mau darf aber über diese Aufgabe nicht an die Darstellung des Geistes des deutschen Privatrechtes, wie er sich konsequeut auch in den für das moderne Recht nebensächlichen Teilen offenhart, vergessen. Sowohl bei der Dar- stellung des römischen wie auch des deutschen Privatrechtes mag man an das praktisch Wichtige denken; man darf es aber nicht in den Vorder- grund stellen; sonst ist es keine vollständige, wissenschaftlich ebenmäßige Erörterung, sondern eine Reihe von Prolegomena zum modernen Hechte; das ist und darf nicht der Zweck des rechtshistorischen Unterrichtes sein. Gestützt darauf, was er in der Enzyklopädie und Philosophie erfahren, soll der junge Jurist sowohl im römischen als auch im mittelalterlichen Hechte immer nur eines der vielen möglichen Reelitssysteme der Menschheit erblicken: er muH sich darüber klar werden, daii die eine oder die andere Gestalt eines Heehtsinstituts nicht obligatorisch ist für die Zukunft, sondern den Bedürfnissen einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Volkes mit Rücksicht auf seine Kultur und seine Gesellschaftsordnung entspricht, so datl dieses Rechtsinstitut hei anderen Völkern oder zu anderen Zeiten gegenüber anderen kulturellen und gesellschaftlichen Zuständen seine Pflicht nur daun erfüllt, wenn es sich diesen Zuständen akkomodiert. Bei jedem Fache muß das Prinzip, daß Rechtswissenschaft nicht Hechtskunde ist, in erste Unit« treten; die Hechtsgeschichte darf nicht zur Kunde oder zum Kultus alten Hechtes werden; ebenso wie die Lehre des positiven Hechtes niemals identisch werden darf mit der bloßen Kunde desselben, weil davon nur noch ein kleiner Schritt zum Erstarren des Rechtsgeistes führt Selbstverständlich können diese Erwägungen durch keinen Lehrplan direkt berücksichtigt werden; übrigens ist es angesichts der Stellung des

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Halbftn.

Universitätsunterrichtes unmöglich, den Dozenten Verhaltungsmaßregeln zu geben. Rs kann also der beste Lehrplan nicht verhüten, daß einzelne Fächer in einer zweckwidrigen, ganz einseitigen Weise gelehrt werden. Wir denken auch gar nicht an irgend eine Einschränkung der weitgehendsten Lehr- freiheit der akademischen Dozenten, weil die daraus resultierende Gefahr weit schlimmer wäre als alles andere: doch glauben wir, daß, wenn einmal für die Schaffung der nötigen Vorbildung gesorgt wird, auch die Dozenten ihrerseits das Möglichste beitragen werden, um von der gewonnenen Grund- lage aus die Erreichung der wahren Zwecke anzustreben.

Die Keihenfolge der rechtshistorischen Disziplinen könnte fast unver- ändert bleiben; es würde das zweite Semester die Stellung einnehmen, die jetzt das erste hat. Man könnte also dem römischen Rechte 10 Stunden und dem deutschen 5 widmen. Als passend würden wir es erachten, daß man parallel mit diesen beiden Fächern auch die Darstellung des Kirchen rechtes verbinde, keineswegs aber die der österreichischen Reichsgeschichte. Es unter- liegt zwar keinem Zweifel, daß die Geschichte des Kirchenrechtes mit teilweise größerem Erfolge vorgetragen wird, wenn schon römische und deutsche Rechtsgeschichte vorangegaugeu sind; doch würden wir den Vorteil, der sich aus geeintem rechtshistorischen Studium für die Auffassung ergibt, vorziehen und ihm zulieb manche Unbequemlichkeit hinnehmen; es könnte der Hörer auf diese Weise die drei Rechte, deren Entwicklung für das moderne europäische Recht von nahezu gleicher Hedeutung ist, io engen Zusammenhang bringen. Auf Grund dessen, was er in der Enzyklopädie gelernt hat, wird er in ihnen die historischen Illustrationen der Rechts- ontwicklung in verschiedenen Organismen und in verschiedenen Richtungen erblicken: auf Grund dessen, was ihn die Rechtsphilosophie gelehrt, wird er die theoretischen Unterschiede der verschieden gearteten Denkweise mit Vorteil studieren können; die Bedeutung der allgemeinen Gesellschaftslehre aber ist für alle drei Gebiete die gleiche. Es muß übrigens erwähnt werden, daß auch jetzt Kirclienrccht gesetzlich im ersten Semester gehört werden darf; denn nur die Institutionen des römischeu Rechtes werden gesetzlich als notwendiger Beginn des Keehtsstudiums hingestellt. Natürlich könnte es sich nicht um das gauze Kirchenrecht haudeln: aber ein Teil desselben, z. B. die Geschichte der Kirchenverfussung und der Quellen, könnte ganz gut im zweiten Semester gehört werden. Dieses Semester würde also römisches Recht (10 Stunden), deutsches Recht (5 Stunden) und einen Teil des Kirchenrechtes i 3 4 Stunden umfassen.

Das dritte Semester würde die Fortsetzung des zweiten bilden, so wie jetzt das zweite sich dem ersten anreiht; es würde also die Fortsetzung des römischen, deutschen und kanonischen Rechtes bieten. Die Einteilung des Stoffes müßte der Entscheidung des Dozenten Vorbehalten bleiben und würde auch wahrscheinlich so ausfallen wie jetzt. Es wäre nur eine Änderung erwünscht, nämlich die Bestimmung, daß das Kirchenrecht, welches dermalen entweder im Laufe eines Semesters, oder verteilt auf zwei Semester vorgetragen wird, prinzipiell auf zwei Semester verteilt werde.

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Zur Ausgestaltung das rächt*- tuid staatswisseuscUaftlirtien Studium* etc. ß7.">

Die Darstellung der österreichischen Rciclisgeschiehte möchten wir aber aus wichtigen Gründen dein letzten Semester des ersten Bienniums Vorbehalten. Denn zweifellos bedarf das Verständnis dieses Faches einer Keihe von Kennt- nissen aus dem Gebiete des deutschen und kanonischen Rechtes; Österreich ist während des ganzen Mittelalters ein deutschrerhtliches Territorium und auch die weitere Entwicklung vollzieht sich, wenigstens zum großen Teile, unter dem Einflüsse der wichtigsten Ereignisse der deutschen Reichs- und Hechtsgeschichte sowie der Geschichte des Kirchenrechtes. Es bliebe schließlich noch die Unterbringung der an den polnischen Universitäten vorgetragenen polnischen Recbtsgeschichte beziehungsweise der au der böhmischen Universität gelehrten böhmischen Recbtsgeschichte zu besorgen, ln beiden Fällen erscheint die Kenntnis der deutschen Rechtsgeschichte sowie der Geschichte des kircheurechtlichen Organismus notwendig; infolge- dessen können diese Fächer nicht im zweiten, sondern erst im dritten uud vierten Semester mit Erfolg gehört werden, am vorteilhaftesten wohl im vierten: um aber einer zu großen Belastung des letzten Semesters zu entgehen, wäre eine Verteilung der polnischen, beziehungsweise böhmischen Rechtsgeschicht« auf zwei Semester ratsam.

Somit wäre das römische, deutsche und kanonische Hecht im zweiten und dritten Semester, die österreichische Keichsgeschichte im vierten und die polnische beziehungsweise böhmische Rechtsgeschichte, die an den betreffenden Universitäten mit vollem Rechte als obligates Fach zu gelten hätte, im dritten und vierten Semester untergebracht. Weder das zweite noch das dritte Semester könnten als überlastet betrachtet werden, im vierten dagegen bliebe noch Raum für eine Reibe anderer Vorlesungen. Es könnte beispielsweise mit großem Nutzen ein exegetisches romanistisches Kolleg, so wie es in Deutschland jetzt gefordert, in Frankreich aber seit jeher üblich ist. untergebraeht werden.

Überdies aber wäre an einen entsprechenden Abschluß des rechts- historischen Studiums zu denken. So wie durch eine zweckmäßig erweiterte Enzyklopädie und eine den Bedürfnissen des Studiums augepaßte Rechts- philosophie und Gesellschaftslehre der Ausgangspunkt gewonnen wird, so müßte auch ein wirklich vorteilhafter Abschluß, also ein solcher gefunden werden, der nicht nur hinsichtlich der schon vorgetragenen Fächer, sondern auch hinsichtlich der künftigen von bleibendem Werte wäre. Eine solche, nach beiden Seiten hin wichtige Stellung nimmt die vergleichende Rechtswissenschaft ein. Es erscheint mit Rücksicht darauf, daß auch unsere Studienordnung die Sicherstellung von Vorlesungen über ver- gleichende Rechtswissenschaft den Fakultäten förmlich zur Pflicht gemacht hat, überflüssig, eine Motivierung dieser Anregung zu gehen. Abgesehen von der mit jedem Jahre wachsenden Redeutung der vergleichenden Rechts- wissenschaft, die man mit vollem Rechte als die wichtigste Disziplin der künftigen Jurisprudenz bezeichnen darf, ist zu bemerken, daß ja ohnehin dasjenige, was die Hörer über die Geschichte einzelner Rechte gehört haben, einer Rcassumierung bedarf, und zwar in einer Weise, die eine

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Ergänzung der allgemeinen Lehren der drei Fächer dos ersten Semesters bedeuten würde. Dafür taugt eben die vergleichende Rechtswissenschaft am besten und sie findet ihren natürlichen Platz im vierten Semester, für Hörer, die bereits im ersteu Semester die allgemeine Vorbei eituug durchgemacht und dann während des zweiten und dritten Semesters die Entwicklung des Rechtes in drei verschiedenen Organismen betrachtet haben. Hörer, die bereits auf die wechselnden Erscheinungen des Rechtes bei verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten aufmerksam gemacht worden sind, können für die Aufgaben und Ergebnisse der vergleichenden Rechtswissenschaft das nötige Interesse und Verständnis finden. Die vergleichende Rechtswissen- schaft bietet aber gleichzeitig den besten Übergang zum speziellen Studium des modernen Rechtes, denn sie fördert die Fähigkeit, die Aufgaben des Rechtes von einem allgemeineren Standpunkte ins Auge zu fassen und rüstet den Juristen mit einem grollen Maße praktischer Objektivität aus. Diesen allgemeinen Auf- gaben könnte ein 4 5 ständiges Kolleg über ausgewählte Lehren der ver- gleichenden Rechtswissenschaft wenigstens in anregender Weise gerecht werden.

Aus dem Vorgcbraohten geht hervor, daß man im Rahmen des Bestehenden eine Reihe von Änderungen vornehmen könnte, ohne die Studierenden zu belasten und ohne den dermaligen Studienplan prinzipiell zu ändern. Ungeämlert bliebe ja sogar die im Auslande vielfach gerügte Einrichtung, wonach bei uns die Hauptkollegien in einem größeren Stundeu- ausmaße gelesen werden. Man könnte in dieser Beziehung tatsächlich manche Einschränkung vornehmen; wir selten davon ab, weil es uns, wie in der Vorrede gesagt, darum zu tun ist, die bestehenden Einrichtungen so schonend als möglich zu behandeln. Eine wichtige äußere Änderung bestellt nur darin, daß mit Rücksicht auf diese Entwürfe die Möglichkeit, die Staatsprüfung schou nach drei Semestern akzulegen, Wegfällen müßte, was aber, wie erwähnt, praktisch bedeutungslos ist. Wichtiger erscheint dagegen der Umstand, daß bei einer durch diesen Entwurf geschaffenen Sachlage der Beginn des Studiums nur mit dem Wintersemester eintreten könnte, ln dieser Beziehung aber sei es gestattet, auf § 4 der Ministerial- Verordnung vom 24. Dezember 18M hinzu weisen; steht es auch dem Studenten dermalen frei, seine Studien entweder im Winter- oder im Sommcr- semester zu beginnen, so wird doch diese Freiheit infolge der erwähnten Bestimmung eingeschränkt, weil das Rechtsstudium prinzipiell mit dem Institutionenkolleg zu beginnen bat; das Iustitutionenkolleg aber wird an den meisten Universitäten bekanntlich nur im Wintersemester gelesen; läßt mau trotzdem Immatrikulationen im Sommersemcster zu. so geschieht dies, falls nicht für ein zweites Institutionenkolleg im Sommersemester vorgesorgt wird, ungesetzlich. Deshalb darf man schon auf Grund der jetzt bestehenden Vorschriften damit rechnen, daß das Rechtsstudium nur im Wintersemester beginnen kann und darf auf dieser Grundlage den ganzen Studienplan des ersten Bienniums aufbauen.

Im allgemeinen tragen wir durch den entworfenen Studienplan allen Bedenken, die im Jahre 18S12 bei Gelegenheit der parlamentarischen Debatten

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Zar Ausgestaltung <les recht»- uml staatawiftscnschaftlichen Studium» etc.

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und überdies auch in der Literatur geltend gemacht wurden, Rechnung. Wir meinen da den Vorwurf, daü ausschlielllieh das rechtehistorische Studium zur Basis des Kechtsunterricbtes gemacht wird und dal! es hin- sichtlich seiner Ausdehnung gegenüber den Staubswissenschuften und dem modernen Rechte privilegiert ist. Wir schlagen eben als Basis des Studiums nicht die Rechtsgeschichte, sondern die erwähnten allgemeinen Fächer vor. beschränken ferner die Rechtsgeschichte auf drei Semester, wobei überdies im dritten rechtshistorischen Semester, d. i. im vierten Semester des gesamten Studiums, noch ein Fach, nämlich die vergleichende Rechtswissen- schaft, Platz findet, die auch für die gesamten weiteren Disziplinen von grober Bedeutung ist.

Der Studienplan würde also folgeudcrmaUen aussehen:

Erstes Semester:

1. Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschatten . . 6 Stunden

'2. Geschichte der Rechtsphilosophie t> ,

3. allgemeine Gesellschaftslebre 3 4 .

Eventuell könnten, wie erwähnt, auch die an der philosophischen Fakultät frei zu wählenden Kollegien in diesem Semester uutergehracht werden; wenn man dieselben mit 3 Stunden hemibt, wären im ganzen im ersten Semester 18 19 Stunden zu hören.

Zweites Semester:

1. Komisches Recht 10 Stunden

2. deutsches Recht 5 ,

3. Kirchenrecht 3

zusammen ... 18 Stunden

Drittes Semester:

1 . Römisches Recht 8 Stunden

2. deutsches Recht *> ,

3. Kirchenrecht 4 .

zusammen ... 17 Stunden

auiierdeni in Krakau und Lemberg polnische, an der Prager böhmischen Universität böhmische Kechtsgeschichte . . 3—4 Stunden

Viertes Semester:

1. österreichische Reich sgeschicbte 5 Stunden

2. ein romanistiseh-cxegetischcs Kolleg 2 ,

3. vergleichende Rechtsgeschichte 4 5 ,

zusammen . . . 11 12 Stunden in Krakau und Lemberg polnische, in Prag böhmische

Rechtsgeschichte 3-4 Stunden

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Haltan.

Nun ist es ja bekannt, dal! behufs Zulassung zur ersten Staatsprüfung Kollegien im Gesaintausmalie von 72 Stunden naehgewiesen werden müssen, obwohl die betreffenden Obligatfüeher (römisches, deutsches, kanonisches Hecht und österreichische Keichsgeschichte) zusammen nur 42 Stunden erfordern; wenn wir noch die erwähnten Fächer des ersten Semesters im Gesamtausmalie von 15— 16 Stunden, sowie die neu hinzutretende vergleichende Rechtswissenschaft im vierten Semester 4 5 Stunden dazu rechnen, so erhalten wir zu den schon obligaten 42 Stunden noch weitere 19- 21 Stunden, so daß also noch immer 11 13 Stunden für frei zu wählende Kollegien und Übungen übrig bleiben, ohne daß das gesetzlich geforderte Minimalausmaß von 72 Stunden überschritten wird. (Fortsetzung folgt.)

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DIE REFORM DER ÖSTERR. HAUSZINSSTEUER.')

VI IN

ft* FRANZ FREIHERRX v. M Y KBAO II -RHEIN FELD.

(I, Ö. PROCESSOR AN »ER UNIVERSITÄT IN I N NMlRlTK

Zwanzig Jahr« sind verflossen, seitdem ich eiuer Monographie Aber die Besteuerung der Gebäude und Wohnungen iu Österreich*) auch die Frage in Erwägung zog. inwieweit unsere Hauszinssteuer reformbedürftig sei und in weicher Richtung sich die Reform zu bewegen habe. Meine Arbeit hat in fachwissenschaftlichen Kreisen Anerkennung gefunden, sie hat aber nicht einmal den praktischen Erfolg gehabt, eine Bewegung für die von mir damals schon als höchst dringend bezeiclmete Reform anzubahuen. Der gewaltige Druck dieser Steuer wurde schon längst von allen Beteiligten empfunden, es geschah aber gar nichts, um auf die Milderung dieses Druckes hi n zu wirken.

Wie es scheint hat erst die teilweise Vermehrung der Steuerlast durch die lang angestrebte und endlich im Jahre 1 806 verwirklichte Reform der sogenannten Persoualsteueru und noch mehr durch die rapid steigenden Bedürfnisse der Selhstverwaltnngskörper, die Geister aufgerflttelt und sie veranlaßt, an die Stelle dumpfen Murrens endlich tatkräftiges Handeln zu setzen. Wie auf so vielen Gebieten, hat auch auf diesem die Organisation erst Wandel geschaffen. Die in neuester Zeit entstandenen Vereine der Hausbesitzer haben die Frage der Gebüudesteuerreform in Fluß gebracht und die Städtetage haben sich mit ihr ernstlich befaßt.

Naturgemäß nehmen die Hausbcrrenvereine dieser Frage gegenüber einen ziemlich einseitigen Interessentenstandpunkt ein. Es soll ihnen daraus kein Vorwurf gemacht werden, denn die Gemeinsamkeit eines bestimmten Interesses hat sie zusamiiieugeführt und ihre Existenzbedingung ist die gemeinsame Verfechtung ihres Interesses. Wenn sich ihr Interesse mit jenem der Gesamtheit begegnet, dann ist es desto besser, und größtenteils ist dies wirklich der Fall.

Die Stüdtetage stehen iiu allgemeinen auf einem objektiveren Stand- punkt. immerhin kann aber auch da der große Einfluß, den die Hausbesitzer

Vortrag gehalten in der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.

a) „Die Besteuerung der Gebäude und Wohnungen in Österreich und deren Reform- in der Zeitschrift für die gesamte Staat* Wissenschaft; 1S*6 auch in Buchform bei H. I.yupj» iu Tübingen erschienen.

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Myrk»ch-Rlioinf»M.

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auf die Zusammensetzung der Gemeindevertretungen üben, nicht gänzlich verschwinden und gerade die hohe Gehäudesteuer sichert ja den Haus- besitzern als privilegierten Wühlern diesen Einflult.

Nun sind aber, wie ich zeigen will, bei dem besprochenen Gegenstände nicht die Hausbesitzer, sondern die Mieter die in erster Linie betroffenen. Es handelt sich also um eine Angelegenheit des öffentlichen Interesses, und da kann Klassenvertretungen nicht der entscheidende Einfluß zugestanden werden, wenn sie auch als rührige Kampfer willkommen sind, soweit sie eben M i t käuipfer sind.

Um so lebhafter ist es zu begrüßen, daß eine Vereinigung von der Iiedeutuug und der Zusammensetzung der Gesellschaft österreichischer Volkswirte in die Erörterung der Frage der Gebäudesteuerreforin eiutritt. In dieser hochaugesebenen Körperschaft wird diese Frage zweifellos eine streng objektive Behandlung erfahren und wird der Gesichtspunkt eiuer gesunden Sozialpolitik der allein richtunggebende sein.

Zur besonderen Ehre rechne ich es mir an, daß ich vom Vorstande dieser Gesellschaft berufen w urde, diese hoffentlich fruchtbringende Diskussion durch einen Vortrag zu eröffnen. Meine heutige Aufgabe kann ich auch nur so auffassen, daß ich sachliches Material vorzubringen und für die Diskussion eine Grundlage zu liefern habe. Weit entfernt von der Annahme, als ob ich den einzig richtigen Schlüssel für die Lösung des schwierigen Problems in Händen hätte, werde icli vollkommen zufrieden sein, wenn es mir gelingt, einige brauchbare Gesichtspunkte für die weitere Behandlung der Frage zu liefern. Dabei muß ich gleich bemerken, daß ich in der Hauptsache noch heute auf demselben Boden stehe, wie vor zwanzig Jahren. Daran mag allerdings der Umstand schuld seiu. daß mir inzwischen wenig Gelegenheit geboten wurde, andere Ansichten auf ihren Wert zu prüfen.

Als Provinzbewohner hatte ich auch wenig Gelegenheit, die junge, auf eine Reform der Gebäudesteuer gerichtete Bewegung zu verfolgen, deshalb bin ich leider außer stände, hierüber eingehend zu referieren ; ich werde mich darauf beschränken müssen, Bruchstücke, die zu meiner Kenntnis gelangten, gelegentlich zu berühren. Trotzdem werde ich ihre Geduld wegen der Natur des Gegenstandes ziemlich lange in Anspruch nehmen müssen, wenn ich mich auch auf die Besprechung der Hauszinssteuer beschränken und die Hausklassensteuer außer Betracht lassen werde. Die Grundsätze der Besteue- rung der Gebäude nach dem Zinsertrag darf ich dabei wohl als allgemein bekannt voraussetzen.

Klie ich daran gehe, unsere Hauszinssteuer auf ihre Reformbedürftig- keit zu prüfen, muß ich noch einige Worte über das Wesen dieser Steuer vorausscbickeu.

Die österreichische Hauszinssteuer ist, wie jede Gehäudesteuer. eine sogenannte E r t r ags s t e u e r, das heißt sie erfaßt die Erträgnisse aus Häusern ganz objektiv, ohne Rücksicht auf die Person und die persönlichen Verhältnisse des oder der Eigentümer, ohne Rücksicht auf die Verteilung dieser Erträgnisse auf mehrere Subjekte, insbesondere auch ihre Verteilung

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Tlie Heform 'l'r AO-rr Hftu*?ins*tener

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unter Eigentümer und Gläubiger. Die moderne Theorie anerkennt eine solche, ursprünglich recht rohe Besteuerungsfonu, weil angenommen werden muß. daß durch die Besteuerung der verschiedenen objektiven Erträgnisse gleich bei ihrem Entstehen, schließlich doch die persönlichen Einkommen, die sich aus Erträgnissen und Ertragsteilen zusammenfügen. getroffen werden.

Diese Begründung gilt aber niemals für Steuern auf einreine Arten von Ertragsobjekten, sondern nur dann, wenn ein ganzes System solcher Steuern so zusammenwirkt, daß auch alle Wurzeln des Einkommens, also die Erträgnisse aus allen Quellen, mag es sich um Verwendung von Ver- mögen oder um Verwertung der Arbeitskraft handeln, tunlichst gleichmäßig durch die Steuern gekürzt werden, weil auch nur dann die Einkommen gleichmäßig durch sie getroffen werden.

Nur selten wurden die ursprünglich einzelnen und daher fehlerhaften direkten Objektsteuern zu ganzen Ertragstenersystemen ergänzt. England in seiner Income-tax und Württemberg haben solche Systeme: das österrei- chische, der englischen Gesetzgebung nachgehildete System, das in seiner Anlage als ziemlich korrekt bezeichnet werden konnte, hat durch die Gesetz- gebung des Jahres 1896 an Einheitlichkeit viel eingebüßt und litt schon früher unter unrichtigen Steueisätzcn und einem sehr mangelhaften Verfahren.

Ein gut eingerichtetes Ertragsteuersystem gehört sicher nicht zu den schlechten Besteuerungsmethoden, weil es mit möglichster Umgangnahme von Schätzungen alle Einkommensquellen' wenigstens mit annäherungsweiser Richtigkeit und Gleichmäßigkeit erfaßt. Allerdings gestattet es nur eine proportionale Besteuerung. Die schlechte Behandlung, welche den Ertrags- steuem in der neueren deutschen Literatur zu teil wird, erklärt sich daraus, daß man meistens nur Bruchstücke eines Systems vor Augen hatte und anch diese nur unzulänglich eingerichtet waren.

Die ganze Liebe hat sich der Personaleinkommensteuer zugewendet und dies geht so weit, daß der in der Entwicklung des Steuerwesens jetzt führende Staat, Preußen, für sich unter den direkten Steuern bekanntlich nur noch die Einkommensteuer in Anspruch nimmt und die Erträgnisse aus den dort allerdings wenig ausgebildeten Ertragsteuern bekanntlich den Selbstverwaltungskörpern, besonders den Gemeinden, überläßt.

Eine gleiche Entwicklung schwebte gelegentlich der letzten Steuerreform auch den maßgebenden Faktoren in Österreich vor, aber die Verwirklichung hat bei uob noch gute Wege. Ist ja doch schon das Verhältnis der Ergebnisse dieser Steuergruppen in Österreich und in Preußen ein total verschiedenes.

In Preußen betrug 1898/9 die Einnahme an

Einkommensteuer 1641/, Mill. Mark

jene aus der Grund-, Gebäude- und Gewerbesteuer nur 93 Mill. Mark in Österreich brachte 1898 die Personal- einkommensteuer ein 36 Mill. Kronen

die Ertragsteuern dagegen über 222 Mill. Kronen.

Allerdings umfaßt die preußische Einkommensteuer auch die Steuer der Aktiengesellschaften. Aber wenn man hei uns auch die zirka 42 Mill. Kronen,

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MvrWh-RheiiiOltl.

welche die der öffentlichen Rechnungslegung unterworfenen Unternehmungen zu zahlen hatten, von den Ertragsteuern ab- und der Einkommensteuer zurechnet, so ändert dies nichts au der Tatsache, daß für unsere Finanzen die Ertragsteuern die ungleich wichtigere Einuahmenquelle bilden. Und jene ans den Krtragsteuern ist so bedeutend, daß darauf nicht leicht ein Staat verzichten könnte, das finanziell bedrängte Österreich aber am allerwenigsten.

Wir müssen also damit rechnen, daß filr absehbare Zeit unser Staat sein Ertragstenersjstein behalten wird, und da die Gebäudesteuer einen integrierenden Bestandteil desselben bildet, kann er auch diese einzelne Steuergattung nicht aufgeben. Um so wichtiger ist es aber, daß endlich ernstlich an die Beseitigung ihrer grellen 1 beistünde geschritten werde.

Nach drei Richtungen will ich nun untersuchen, ob und inwiefern unsere Hauszinssteuer einer durchgreifenden Reform zu unterziehen wäre:

1. Rilcksicbtlich des Umfanges der Steuerpflicht, d. i. also der ihr unterliegenden Objekte:

2. rflcksichtlich der Steuersätze und

3. rflcksichtlich der Art der Veranlagung.

Die Steuerpflicht erstreckt sich bekanntlich auf verschiedene Objekte in den beiden Ortskategorien, welche das Gesetz unterscheidet. In jenen Städten und Orten, wo die Hauszinssteuer 2fi*/> Proz. beträgt und welche im Gesetz ausdrflcklicli benannt sind, dann in jenen Orten, in welchen wenigstens die Hälfte der Häuser und zugleich wenigstens die Hälfte der Wolmräume einen Zinsertrag durch Vermietung wirklich ahwirft. sind alle Gebäude zur Gänze zinssteuerpflichtig, ohne Unterschied, wie und durch wen sie benützt werden ln allen übrigen Orten unterliegen der Zinssteuer nur jene Gebäude beziehungsweise Gebäudeteile, welche tatsäch- lich vermietet sind, und auch davon gibt es noch Ausnahmen.

Neuerdings ist wieder behauptet worden, daß der Gebäudesteuer Ober- haupt nur Wohngebäude unterliegen. Diese Ansicht, welche sich auf eine ungenaue Textierung des alten Gebäudesteuerpatents vom Jahre 1820 stützte, konnte allenfalls früher vertreten werden, seit dem Gesetze vom 9. Februar 1882 kann über ilire Unrichtigkeit aus dem Gesichtspunkt des geltenden Rechtes kein Zweifel mehr bestehen.

Eine andere Frage ist es. ob es richtig und zweckmäßig sei, alle unter die erwähnte Bestimmung fallenden Gebäude, ohne Rücksicht auf ihre Verwendung, mit einer Ertragstcuer zu belegen. Das ist eine Frage de iure ferendo und sie soll uns zunächst beschäftigen.

Zu diesem Zwecke wollen wirdie verschiedenen Verwendungen der Gebäude nach der technischen und nach der ökonomischen Seite unterscheiden.

Im technischen Sinne dienen die Gebäude entweder zur Bewoh- nung oder als geschützte Örtlichkeiten zur Ausführung von Arbeiten, zur Aufbewahrung der verschiedensten Gegenstände oder zur Versammlung einer größeren Zahl von Menschen. Die letztere Art der Verwendung kann sehr

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Hi.' Reform der öit.rr. Jlan«yin*«teu*-r.

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mannigfaltig nein. Werkstätten der grollen und kleinen Industrie und des Handwerks, Magazine, Kontors, Kanzleien, Ordinationsräume der Ärzte, Ver- kaufsgewölbe. Gast- und Kaffeehäuser, Theater, Hall- und Konzertsäle und viele andere Gebäude und Gebäudeteile gehören in diese Kategorie.

Bei der Verwendung im ökonomischen Sinne müssen wir unter- scheiden zwischen Baulichkeiten, welche der A u f w a n d w i r t s c h aft. und solchen, die der E r w e r b wi r tsc h a ft dienen, ln diesem Sinue kommt für uns nur die Verwendung seitens des Eigentümers oder Nutznießers in Betracht, Dieser benützt sein Haus in der. A u f w an d wi r tsc h aft ent- weder als Wohnung oder zur Unterbringung von Gegenständen, welche dem unmittelbaren Gebrauche dienen, wie z. B. Gewächsen, Pferden u dgl. Einen Teil des Aufwandes bildet diese Verwendung deshalb, weil das Subjekt Mittel, die ihm bereits frei verfügbar sind, unmittelbar zur Befrie- digung von Bedürfnissen benützt. Wollte man etwa die Bezeichnung als .Aufwand* nicht gelten lassen, so müßte mau doch zugeben, daß im Selbst- bewohnen eine Aufwandersparung gelegen sei.

In der Erwerbwirtschaft kommen wieder zweierlei Verwetidungs- arten vor:

Entweder das Haus soll dienen zur Erzielung einer Rente, indem man dasselbe an andere vermietet,

oder als Mittel irgend einer Erwerbtätigkeit des Besitzers

selbst.

Im ersten Falle ist das Haus ein Objekt selbständiger reiner Kapitalanlage und bat als solches den gleichen wirtschaftlichen Charakter wie ein verpachtetes Landgut oder eine Darlehensforderung. Wie der Mieter das Haus technisch verwendet, ist dabei vom Standpunkt des Vermieters ökonomisch irrelevant.

Im zweiten Falle hat das Haus durchaus keine wirtschaftliche Selbständigkeit, denn es wirft für sich allein keinen Ertrag ab, es ist in gleicher Weise Betriebsmittel wie eine Maschine, ein Werkzeug, ein Zugtier, nnd wie diese Dinge nur ein integrierender Bestandteil einer ganzen Betriebsanlage. Ein Ertrag wird dann nur erzielt durch gleichzeitige Verwendung aller zusammengehörigen Betriebserfordemisse und es läßt sich auch nicht eine bestimmt« Quote des Unternehmungsertrages gerade auf die Verwendung des bestimmten Gebäudes oder der bestimmten Räume zurückführen. Von einer Hausrente kann also da nicht die Rede sein, man müßte denn an eine sogenannte Lageren te denken, die ich aber als eine selbständige wirtschaftliche Erscheinung auch nicht anerkennen kann.

Nun bilden den Gegenstand der Besteuerung nach den Grundsätzen der Krtragsbesteuerung alle Erträgnisse im weiten Sinne des Wortes, also die Renten von Gebäuden ebenso wie die Gewinne aus den verschieden- artigen Erwerhsunternehmungen. Daraus folgt, daß alle Zinserträg- nisse auB vermieteten Gebäuden und Gebäudeteilen, ohne Rücksicht auf die technische Verse» düng dieser Objekte, einer Ertrags t e uer, die wir am zutreffendsten wohl als .Hans

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Myrbacti-ltlielnMd.

rentonsteuer“ bezeichnen können, unterzogen werden sollen. Insofern ist also unsere Gesetzgebung vollkommen richtig.

Ob der Hausbesitzer seinen Zins fflr eine Wohnung, für einen Laden oder fflr eine Werkstätte erhält, ändert an der Rente gar nichts. Deshalh kann dem von Rieh. H a r k u p auf dem Städtetag zu St. Pölten im Jahre 1S01 gemachten Vorschläge nicht zustimmen, daß die gewerblichen Zwecken dienenden Qebäude und Werkstätten schlechthin nur mit dem halben Prozent- satz der Gebäudesteuer belegt werden sollen. Dabei setze ich eine Gebäude- steuer voraus, die nicht ilberwälzt werden kann.

Mir scheint unsere Gesetzgebung aber auch richtig hinsichtlich der Art, wie sie die von den Eigentümern selbst benützten Wohnungen mit ihrem Zugehör behandelt. Sie unterwirft dieselben der Zinssteuer in jenen Orten, wo das Wohnen in Miete in umfassendem Malle stattfindet, wo somit Wohnungen einen Markt und einen Marktpreis haben, so dafl sie zu einem bestimmten Zinse leicht vermietet und leicht gemietet werden können. Wer in einem solchen Orte im eigenen Hause wohnt, der genießt in der Wohnung ein Äquivalent des ihm entgehenden Zinses, er könnte da ebensogut aus seinem Hanse durch Vermietung eine Rente ziehen und in einem fremden Hanse in Miete wohnen: er kann eine Wohnung nach seinen persönlichen liedürfnissen wählen und ist nicht, wie es oft auf dem Lande der Pall ist. auf eine bestimmte, ihm nicht passende Wohnung angewiesen. Auch ist der Nutzwert einer selbst benützten Wohnung durch Vergleichung mit den wirklich vermieteten leicht festzustellen. Der ganzen ökonomischen Sachlage entspricht es. daß man in solchen Fällen den Genuß der eigenen Wohnung einem Erträgnis des Hauses gleichstellt und dem- entsprechend behandelt.

Ich kann deshalb der von mehreren Seiteu gestellten Forderung, es möge die eigene Wohnung des Hausbesitzers niedriger oder gar nur mit der Hälfte des fflr vermietete Wohnungen erzielten Zinses veranschlagt werden, keineswegs beistimmen. Diese Begünstigung wird gefordert, um den Besitzer fflr die Milbe der Verwaltung schadlos zu halten. Ich sehe davon ab. daß sich viele Hausbesitzer eine solche .Schadloshaltung“ contra legem ohnedies verschaffen und will anderseits zugeben, daß die Haus- besitzer durch eine Reihe von Verwaltungsgesetzerl fflr öffentliche Zwecke stark in Anspruch genommen und nahezu zu Organen der öffentlichen Ver- waltung gemacht worden. Aber eine solche Art der Entschädigung würde bei der großen Masse der Unbeteiligten gewiß weder ethisches noch ästhetisches Gefallen erwecken und würde auch höchst ungerecht wirken. Jener, der ein großes Zinshaus mit vielen kleinen Parteien besitzt, somit die mühsamste Verwaltung zu besorgen hat, aber selbst in einem fremden Hause in Miete wohnt, ginge vollständig leer ans, die Besitzer der größten und schönsten Palais, denen die öffentliche Verwaltung fast gar keine Pflichten auferiegt. würden dagegen glänzend begünstigt!

Als korrekt erkenne ich unsere Gesetzgebung auch darin, daß sie in jenen Orten, wo die Mietwohnungen nicht flberwiegen, somit auch keine so

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Di*' Reform der 0«terr. Hanezinstteurr.

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festen Preise haben, die Besteuerung der selbstbenützten Wohnungen nach dem Zinse unterläßt und auf dieselben die Hausklassensteuer anwendet.

Dagegen scheint es mir nicht richtig, daß in den Orten mit Oberwie- genden Vermietungen auch die nicht vermieteten Betriebs- lokalitäten mit der Zinsstener belegt, sind. Da fehlt, nicht nur die Rente, sondern auch ein Äquivalent derselben, man besteuert das Betriebs- mittel, das Werkzeug der Erwerbstätigkeit. Dies ist theoretisch nicht richtig und führt auch zu praktischen Unrichtigkeiten, denn der wirkliche Unter- nehmungsertrag entspricht gar häufig nicht d m Umfange der Betriebsmittel. Die Anomalie dieser Bestimmung zeigt sich aber auch klar bei ihrer praktischen Anwendung. Mag man auch von Geschäftsläden. Kanzleien und Handwerkstätten annehmen können, daß sie wie die Wohnungen. Marktpreise haben, so gilt dies gewiß nicht von Fabriksgebäuden. Magazinen u. dgl. Bei der sogenannten Parifikation ergeben sich da immer Verlegenheiten und die Annahme irgend eines „Zinswertes* ist eigentlich immer ein Akt der Willkür. Das trifl't noch mehr zu bei Theatergebäuden. Vergnüguugslokalitäten u. dgl. Schon bei Gasthäusern und Hotels ist die Veranlagung sehr schwierig, einfach weil die rationelle Grundlage für eine Schätzung, der Marktpreis fehlt.

Nach meiner Meinung sollten somit alle jene Gebäude und Gebäudeteile, welche vom Hausbesitzer selbst nicht zu A u f w a n d z w e c k e n, sondern in Ausübung irgend einer Er- werbstätigkeit benützt werden, von der Besteuerung in allen Orten freigelassen werden.

Der sich ergebende Ausfall am Steuereingang sollte in einem korrekten Ertragsteuersystem dadurch wettgemacht werden, daß die Steuer von den Erwerbsuntemehmungen entsprechend mehr trägt, was bei den der öffentlichen Rechnungslegung unterliegenden Unternehmungen auch der Fall wäre. Da nun aber unsere allgemeine Erwerbsteuer kontingentiert ist. würde ein großer Teil dieses Ausfalles, der übrigens nach der bestehenden Statistik auch nicht annähernd beziffert werden könnte, endgiltig verloren sein. Sollten einschlä- gige Erhebungen einen gar zu empfindlichen Ausfall ergeben, dann könnte man allenfalls für jene Arten von Geschäftslokalitäten, die in großer Zahl gemietet zu werden pflegen, wie Verkaufsläden. Kanzleien u. dgl. einen mäßigen Steuersatz zngestehen.

Ich glaube aber ein Mittel angeben zu können, durch welches ein solcher Ausfall unter Wahrung des Prinzips vielleicht ganz gedeckt werden könnte. Ich denke dabei an eine Erweiterung des Kreises jener Objekte, die der Gebäudesteuer zu unterziehen sind.

Mit zahlreichen Mietwohnungen ist der Genuß eines Hausgartens verbunden, sehr oft werden dem Mieter amli gewiße bewegliche Gegen- stände zur Benützung überlassen. Nach den gegenwärtig geltenden Ver- anlagungsgrundfätzen ist aber nur der reine üebäudemietzins als Besteuerungs- grnndlage anzunehmen, für die Überlassung von Gärten und Fahrnissen darf der Hauseigentümer deshalb eine entsprechende Quote seiner Gesamteinnahme ahziehen. Dies wird nun vielfach dazu benützt, um den steuerpflichtigen

Zeit»«.' Drift für Volk* wirUchaft, gotlidfiolilik und VenvAltunf. XII. Bnnd. 20

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Myrhaeh-Rh^infetd.

Zins möglichst herabzudrücken und tatsächlich wird das Recht einer Garten- benfltzung von den Mietern oft sehr hoch bewertet und gut bezahlt. Die Hausgärten werfen deshalb einen weit größeren Ertrag ab, als den zur Grnndsteuerhemessung eingeschätzten Katastralertrag, der überhaupt etwas ganz FiktUes ist. Der Hausgarten liefert kein landwirtschaftliches Erträgnis, er kommt in der Hegel Oberhaupt nur als Zugebör des Hauses in Betracht und es wäre ganz gerechtfertigt, wenn man nebst der Bauarea und den Hofräumen auch dieHausgärten von der Grundsteuerbefreien, die wirklichen Einnahmen für mietweise Verwertung der- selben aber der Hauszinssteuer unterziehen würde. Man kann annehmen, daß die Hauseigentümer auch daun, wenn sie Fahrnisse mitvermieten, davon einen gewißen Nutzen haben und wird deshalb keinen Verstoß begehen, wenn mau auch diese Arten von Erträgnissen in die Besteuerung ein bezieht. Jedenfalls würde aber ein Anlaß zu übertriebenen Abzügen abgeschnitteu und ich meine, daß der Erfolg ein überraschend günstiger vom Standpunkt der .Steuerverwaltung wäre. Zugleich würde noch die Veranlagung vereinfacht und an Sicherheit gewinnen.

Natürlich empfehle ich diesen Vorgang nur unter der Voraussetzung einer sehr ausgiebigen Reduktion des Steuersatzes.

*

Ich komme nun zum zweiten und wichtigsten Punkte der Untersuchung der Höhe der Steuer.

Betrachten wir zunächst die Ziffern der Steuersätze. Bekanntlich wird von der Bruttozinseinnahme zunächst die sogenannte Erhaltungs- und Amor- tisations<|iiote abgezogen: diese beträgt in den Orten der ursprünglichen Hauszinssteuer 15 Proz., in den übrigen Orten 30 Proz.; vom restlichen sogenannten reinen Zinsertrag wird die Steuer in den erstgenannten Orten, dann in Innsbruck und Wüten mit 2ßVs Proz., in den übrigen Orten mit 20 Proz., in Tirol und Vorarlberg mit 15 Proz. bemessen.

Da die Abzugsrpiote mit den wirklichen Erhaltungs- und Verwaltungs- kosten der Häuser in gar keinem Zusammenhänge steht, bildet sie mit ihrem festen Satze nichts anderes, als eine Reduktion der Bruttoeinnahme als Besteuerungsgrundlage; man wird die Sache richtiger beurteileu, wenn man annimmt, daß die Bemessung von der Br u tto zinseinnahme erfolgt und die Steuersätze nur 22*/, Proz., 14 Proz. lind I I)1/, Proz. betragen. Davon ist jetzt der Nachlaß mit 121/. Proz. = ’/„ der Steuer abzurechnen.

Zu dieser an und für sich schon exorbitant hohen Steuer, die unter den direkten Steuern in der Welt nicht ihres Gleichen hat. kommen nun noch die Zuschläge oder Umlagen der verschiedenen Selbstverwaltuugskörper, die von Land zu Land, von Bezirk zu Bezirk, von Gemeinde zu Gemeinde äußerst verschieden sind. Bis vor kurzem konnte man sich gar keine Vor- stellung machen, in welchem Maße die Bevölkerung durch die Kosten der Selbstverwaltung belastet wird, denn die auch noch nicht lange erscheinen- den Tabellen der k. k. statistischen Zentralkommission über die Finanzen der

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Di® Reform der örtert. Haufzinfstener.

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autonomen Verwaltung beschränkten sich rücksichtlieh der Bezirke und Gemeinden auf die Angabe, in wie vielen dieser Körper Zuschläge Ton ge- wisser Höhe eingefordert wnrdeu. Umsomehr mtlssen wir dem Finanz- ministerium dafür dankbar sein, daß es in seinen .Mitteilungen* ein reiehes ziffermäßiges Material publiziert. Die Ergebnisse dieser fleißigen Zusammen- stellungen sind geradezu verblüffende, ich möchte sogar sagen erschreckende: die Gesamtsumme (über 235-7 Mill. Kronen) der Zuschläge allein zu den direkten Steuern überstieg im Jahre 1900 bereits die Vorschreibung an den betreffenden Staatssteuern um nahezu 6 Proz.! Das beängstigende dabei ist aber insbesondere das rapide Anwachsen dieser Zuschläge, welche allein in den vier Jahren von 1897 bis 1900 um 13'5 Proz. seit dem Jahre 1862 aber um 4192 Proz. gestiegen sind. Allein die Vorschreibung an Zuschlägen zur Hauszinssteuer und zur 5 proz. Steuer von zeit- lich steuerfreien Gebäuden, ist seit 1898 bis 1900 von ca. 66‘/s Mill. Kronen auf nahezu 75 Mill. Kronen, also um 81/» Mill. Kronen gestiegen.

Das sind aber nur die Gesamtzahlen, im Einzelnen sieht es teilweise noch viel schlimmer aus. Die Landeszuschläge zur Hauszins- steuer bewegten sich 1900 von 17 bis 82 Proz.; in 11 Ländern wurden über 40 Proz., in 8 Ländern 50 und mehl- Prozente eingehoben.

In jenen Ländern, wo D e z irk s v er t r e t u n ge n bestehen, werden für deren Zwecke auch bis zu 50 und 60 Proz. an Umlagen eingehoben.

Besonders rasch steigen die Gemeindezuschläge zur Hauszinssteuer.

Es hoben ein:

1888 au Zuschlägen bis 20 Proz. : 11.779 Gemeinden,

, , über 20 Proz.: 10.600 Gemeinden, darunter

, . über 100 Proz.: 702 Gemeinden.

1900 . . bis 20 Proz.: 5.792 Gemeinden,

, . über 20 Proz.: 15.983 Gemeinden, darunter

. , über 100 Proz.: 1.183 Gemeinden.

Im letzteren Jahre gab es schon 4 Gemeinden mit über 800 Proz., worunter 2 mit über 1000 Proz.

Auch zur 5 proz. Steuer kommen schon Zuschläge bis über 300 Proz. vor. Zudem weisen die „Mitteilungen* aber auch noch .Andere Konkurrenz- beiträge* aus, die in 617 Gemeinden bis über 200 Proz. ausmacheu.

Die höchsten Umlageziffern kommen wohl hauptsächlich bei kleineren Gemeinden vor: aber auch Städte, die der hohen Hauszinssteuer unterliegen, haben zum Teil horrende Zuschlagsprozente, so

Salzburg im ganzen 138 Proz., dazu 5 Zinskreuzer;

Troppau , , 99-4 Proz., „6 .

Zara , 110 Proz.

Linz , , 91 Proz. und 2 7 Zinskreuzer.

lu Salzburg hat also der Hausbesitzer mit Berücksichtigung des Nachlasses 51 Proz. seiuer B r u t to zinseinnahme an öffentlichen Abgaben zu zahlen, ohne daß die den Mieter treffenden Zinskreuzer berücksichtigt sind.

20*

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Myrhnch-Rheinfeld.

Unter den größeren Städten hat außer Innsbruck und Triest Wien die niedrigsten Zuschläge, nämlich 25 und 25 Proz., zu zahlen, so daß da die Oesamtsteuer ohne Zinskreuzer per 8 V4 Prozi nach Herflcksichtignng des Nachlasses 31 Proz.. also schon nahezu ein Drittel!

Betrachten wir nun die Gesamtleistung an öffentlichen Abgaben von den grundsätzlich der Hauszinssteuer unterliegenden Gebäuden, so be- trug dieselbe 1900:

an Hauszinssteuer nach Abrechnung des 12'/i proz. Nachlasses, dann der Abschreibungen wegen Leersteh ung und Demolierung 62-8 Hill. Kronen und an 5 Proz. Steuer von den zeitlich befreiten Gebäu- den unter Berücksichtigung der Abschreibungen ... 5' 7 Will. Kronen

zusammen an Staatssteuer 68 5 Will. Kronen ferner an Zuschlägen zu beiden Steuergattungen 74 0 Mill. Kronen

Gesamtsumme 143-4 Mill. Kronen Das gibt, verglichen mit der Gesamtsumme der zur Steuerbemessung ermittelten Bruttozinserträguisse von 524 2 Mill. Kronen eine Quote von 27-3 Proz. Also Über ein Viertel ihrer rohen Einnahmen müssen die Haus- besitzer in ihrer Gesamtheit steuern. Würde die 5proz. Steuer in die Berechnung nicht einbezogen, dann würde die Quote noch bedeutend höher ausfallen.

Damit sind aber die Lasten, welche die Hausbesitzer zu tragen haben, noch keineswegs erschöpft. Ich sehe ah von den Zinskreuzern, welche die Mieter tragen sollen, und die offenbar in der erwähnten Summe von 524 2 Mill. nicht enthalten sind, ich sehe auch ah von den verschiedenen sonstigen Ver- pflichtungen gegenüber den Gemeinden, die nicht in die Kategorie der Zu- schläge gehören, ich muß aber einer empfindlichen Last gedenken, welche die Personalsteuergesetzgcbung von 18116 den verschuldeten Hausbesitzei u, deren es doch gewiß nicht wenige gibt, gebracht hat

Bekanntlich muß sich jeder Kealitätenbesitzer. der ein Hypothekar- darlehen aufnimmt. vertragsmäßig verpflichten, dem Gläubiger alle jene Steuern und Abgaben zu vergüten, welche letzterem von den Darlehenszinsen vorgeschriebeu werden. Das hatte früher nur bei solchen Darlehen Bedeu- tung, die auf steuerfreien Liegenschaften hypotheziert waren. Das Gesetz von 1896 unterwirft aber der Rentensteuerptlicht auch jene Darlehens- zinsen, die bereits beim Schuldner dadurch getroffen sind, daß sie von der Besteuerungsgrundlage nicht abgezogen werden dürfen.

Der Schuldner muß also neben der Steuer vom vollen Bruttoertrag seines Objektes auch noch die dem Gläubiger vorgeschriebene 2proz. Keuten- steuer nebst allen Fondszuschlägen aus seinen Mitteln tragen, uud das ist keine geringe Last. Ist die Nichtubzugsfahigkeit der Schuldzinsen im Prinzip der Ertragsbesteuerung vollkommen begründet, so ist andererseits die Einforderung einer Reutensteuer von denselben Zinsen beim Gläubiger ein eklatanter Fall einer fehlerhaften Doppelbesteuerung.

Die größte Anomalie liegt aber darin, daß solcherweise der schuldende Hausbesitzer oft einem Lande und einer Gemeinde tributär wird, mit welcher er weiter absolut nichts zu tun hat, als daß doit, sein Gläubiger domiziliert

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I'it Kefomt der Osterr. Hauszinssteoer. 289

Die ganz enorme Belastung des Hausbesitzeg mit öffentlichen Abgaben stebt somit außer aller Frage.

Eine Steuer uud ihre Wirkungen können erst dann richtig beurteilt werden, wenn man darüber Klarheit erlange hat, wer sie trägt. Indem wir uusere Hauszinssteuer aus diesem Gesichtspunkt prüfen, werden wir auch erfahren, inwiefern sie überhaupt in Wirklichkeit eine Ertrags- steuer ist

Die zahlreichen Emanationen der Hausherrenvereine weisen allerdings auch auf die Verteuerung der Mietobjekte durch die Steuer hin, sie schildern die Sache aber doch so, als ob die Hausbesitzer diejenigen wären, welche unter ihrer Last hauptsächlich leiden. Man möge es mir nicht verübeln, wenn ich mir erlaube, die vom Standpunkt der Haus- besitzer vorgebrachten Klagen, meiner Oberzeugung gemäß, als übertrieben zu bezeichnen.

Ich habe sch in zugestanden, daß die Hausbesitzer durch verschiedene Vernaltungseinrichtnngen sehr stark und in unangenehmerWeise in Anspruch genommen sind, es steht auch außer Zweifel, daß sie eine sehr schwere Steuerlast zu tragen haben, das letztere Schicksal teilen sie aber mit allen Bürgern des österreichischen Staates. Was ich leugne ist, daß der Haus- besitzer wesentlich mehr belastet ist, als die Angehörigen der übrigen crwerbeuden Klassen. Er ist es deshalb nicht, weil er nicht höher belastet sein kann.

Es gibt ein sog. Gesetz in der Volkswirtschaft, das als jenes der Gewinnausgleichu ug zu bezeichnen ist und welches überall seine Wirkung äußert, wo eine Konkurrenz stattfinden kann. Nun ist es zweifel- los, daß das Kapital, welches rentenmäßige Anlage sucht, hei den ver- schiedenen Anlagearten konkurriert, so daß dorthin, wo gute Erträgnisse winken, viel Kapital zufließt und die Erträgnisse lierahdrückt, dagegen kein Zufluß, wo möglich ein Abströmeu. von jenen Anlagearten stattfindet, wo die Erträgnisse klein sind, so daß da wieder ein Steigen der Erträgnisse eintreten muß. Wie der börsenmäßige Eftektenverkehr bewirkt, daß in einem bestimmten Moment alle Effekten, welche gleich sichere Anlage bieten, auch einen gleichen prozentuellen Gewinn bringen, so verhält es sich im großen auf dem allgemeinen Kapitalsmarkt, das Erträgnis aller Anlagen von gleicher Sicherheit muß sich beiläufig auf ein gleichmäßiges Niveau stellen. Das muß auch von den Hauserträgnisseu gelten, denu die Miethäuser bilden eine rein rentenmäßige Anlage von Kapital.

Es wird nun behauptet, daß Häuser sich nur mit 2 3 Proz. ver- zinsen und daß infolge der hohen Besteuerung die Bautätigkeit gänzlich stagniere. Das letztere müßte auch die unausbleibliche Folge seiu, wenn das in Gebäuden angelegte Kapital sich schlechter verzinsen würde als das sonstig angelegte nnd die Stagnation müßte solange dauern, bis das Miß- verhältnis ausgeglichen ist.

Betrachten wir nun, was für eine Bewandtnis es mit diesen beiden Argumenten hat.

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M/rbarli-KheiiifelH.

Die gleiche Klage Aber geringe Verzinsung hört man auch immer von den Besitzen! landwirtschaftlicher Güter. Es würde somit der unbeweg- liche Besitz überhaupt die gleichen niedrigen Erträgnisse abwerfeu. Es ist nun unmöglich festzustellen, wie groß die wirklichen Erträgnisse aus diesen Anlagen sind, beziehungsweise nach welchen Grundsätzen dieselben von den Besitzern ermittelt werden. Kommt es doch z. B. oft vor, daß Land- wirte das, was sie im eigenen Haushalt verzehren, gar nicht zum Erträgnis rechnen. In vereinzelten Fällen weiß man, daß Zinshäuser 5 und 6 I’roz. Reinertrag abwerfen. Das würde aber allerdings für die Gesamtlage nichts beweisen.

Man muß aber fragen: welche Verzinsung erwarten die Kapitalisten von Zinshäusern? Da hört man eben auch wieder: ja Häuser tragen nicht mehr als 3 Proz., man kann nicht mehr erwarten; und darnach werden sie vielfach zu Kapital bewertet. Ein Beispiel für viele: In der nächsten Nähe meiner Wohnung befindet sich ein Haus, das noch 6 Jahre steuerfrei sein dürfte und bei ziemlich hoch gespannten Zinsen 4000 Kronen Brattozins ein- trägt. Unter Berücksichtigung der Erhaltungskosten und der Abgaben berechne ich den Reinertrag nach Eintritt der vollen Steuerpflicht mit etwas über 2600 Kronen, die vorläufige Steuerersparnis mit ca. 4300 Kronen und so gelange ich bei Zugrundelegung einer 4 proz. Verzinsung zu einem Kapitalswert von etwas über 70.000 Kronen. Den jetzigen Eigentümer hat das Haus nicht so viel gekostet, so daß er eine mehr als 4 proz. Verzinsung hatte. Nun werden für dieses Haus bis zu 90.000 Kronen geboten, d. h. dem Käufer wird das Haus nur 3-1 Proz. tragen! Wer ist nun schuld an der niedrigen Verzinsung? Doch niemand anderer als der Käufer, der dafür ein so großes Kapital aufwendet. Dieser Fall steht nun keineswegs vereinzelt da. er entspricht nur dem allgemeinen Zuge, der dahin geht, rententragende Immobilien hoch zu schätzen. Man haut und man kauft Häuser mit einem solchen Aufwande an Mitteln, daß das Erträgnis perzentuell nur ein kleines sein kann. Gewiß ist aber der weitaus größte Teil der zinstragenden Häuser seit jener Zeit, wo die hohe Hauszinssteuer besteht, gebaut worden oder im Kaufwege in andern Besitz übergegangen. Die Mehrzahl der Hausbesitzer trägt somit die Schuld an der niedrigen Verzinsung, denn die Erträgnisse (Mietzinsei sind absolut genommen, stetig gestiegen; relativ sind sie gesunken, weil die nutzbringenden Objekte eine progressiv steigende Bewertung erfahren haben.

Diese hohe Bewertung erklärt Bich zum größten Teil aus dem Gefühl größerer Sicherheit der Anlage und aus der noch immer bestehenden höheren gesellschaftlichen Achtung, die dem Besitzer von Grand und Boden ent- gegengebracht wird. Der Erwerbung von Immobilien wendet sich aus diesen Gründen sehr viel Kapital unter Verzicht auf die sonst erhältlichen höheren Zinsen zu: man baut und kauft nun fast allgemein auf Grundlage der niederen Verzinsung. Wen dazu nicht eigene Überlegung veranlaßt, der folgt dem Nachahmungstrieb, diesem wichtigen Faktor im wirtschaftlichen Leben.

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Die Reform der österr. Hauezin »Steuer.

2'J1

Würde die erreichbare Verzinsung als unzureichend befunden, dann müßte die Erwerbung bestehender, besonders aber die Erbauung ueuer Häuser unterbleiben. Ist es nun wahr, daß nicht gebaut wird!- In dieser Beziehung kann ich Ziffern sprechen lassen.

Die Gesamtzahl der zinssteuerpflichtigen Häuser im ganzen Keiche hat sich in der kurzen Zeit von 1895 bis 1900 ver- mehrt von 535.865 auf 576.559, also um 10.694 oder zirka 7 Proz. Von diesem Zuwachs entfallen aber alleiu auf die der 36*/, Proz. Steuer unterliegenden Städte und Orte 11.833 Gebäude oder 18-81 Proz.

Daß die Bautätigkeit in jenen Orten, wo die Bedingungen dazu vor- handen sind, nicht nur nicht stagniert, sondern vielmehr eine sehr lebhafte ist, geht auch aus den Daten der einzelnen Orte hervor, aus welchen ich nur einige wenige hervorheben will. In dem Dezennium von 1890 bis 1900 vermehrte sich die Zahl der bewohnten Häuser: in Wien um 8826. d. i. 13-47 Proz., in Wiener-Neustadt um 23-15 Proz., im ganzen Bezirke Baden um 16-56 Proz., in Linz um 15-94 Proz., in Salzburg um 25-26 Proz., in Graz um 15 69 Proz.. in Marburg um 21 Proz., in Klagenfurt um 13-33 Proz.. in Laibach um 19 36 Proz., in Bräun um 14'38 Proz., in Troppau um 13-66 Proz., in Bielitz um 15 Proz., in Czernowitz um 18-3 Proz., in Krakau um 26-96 Proz., in Lemberg gar um 31-82 Proz.

Dabei ist aber noch zu berücksichtigen, daß die alten städtischen Territorien zum Teil schon ganz verbaut sind und sich somit die Bautätig- keit in den benachbarten Gemeinden entfaltet. So hatte die Stadt Prag nur einen Zuwachs von 374 Häusern oder 9'12 Proz., mit Hinzu- rechnung der Vororte aber einen Zuwachs von 2910 Häusern oder 19 4 Proz., wozu Zizkow allein mit 57 Proz. beitrug: die Stadt Brünn nebst dem ganzen Gerichtsbezirk hatte einen Zuwachs von 21 '24 Proz. ßeichenberg mit seinem Gerichtsbezirk hatte einen Zuwachs von 8 88 Proz.. was ich deshalb besonders erwähne, weil der dortige Hausherrnverein das gänzliche Versiegen der Bautätigkeit in Nordbölimen stark betonte.

Kiicksichtlich Tirols stehen mir noch lehrreichere Daten zur Ver- fügung.

In Innsbruck und Wilten, welche rücksichtlich der Besiedlung zusainmengefalit werden müssen, hat sich seit dem Jahre nach der Ein- führung der Gebäudesteuer, d. i. seit 1883. bis 1902 die Zahl der Steuer pflichtigen Häuser von 946 auf 1798 erhobt, also in diesen 19 Jahren um

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Mjrrba. b ßhcinfeld.

circa 90 Proz. zugenomuien. In Meran und Untermal« stieg sie von 155 auf 860. Das auffallendste Verhältnis finde ich in Vorarlberg, wo die Zahl aller zinssteuerpflicbtigen Häuser des ganzen Landes in derselben Epoche um 55'63 Proz. gestiegen ist

Aber auch in den Industriegebieten Böhmens weisen die ganzeu poli- tischen Bezirke Zuwächse von 7 10 Proz. in den zehn Jahren von 1890 bis 1900 auf.

Ein treues Bild der baulichen Entwicklung geben aber auch diese Zahlen noch nicht, denn die neu hinzukommenden Häuser sind ja, wenigstens in den größeren Orten, meist viel umfangreicher als jene des alten Bestandes und auch die Umbauten lassen gewöhnlich viel größere Häuser entstehen, als die demolierten waren. Und wie oft wird an Stelle mehrerer kleiner niedergerissener Häuschen ein großer Zinspalast aufgeffihrt! Würde man diese Umstände statistisch erfassen, dann würde es noch viel klarer zu Tage treten, daß trotz der enormen Steuerlast überall dort, wo Aufschwung besteht, auch die Bautätigkeit eine ganz bedeutende ist.

Ich frage nun, oh so viel gebaut werden würde, wenn die Erbauer der Häuser wirklich nur eine so kümmerliche Kente von dem auzulegenden Kapital erwarten dürften? Und dabei darf auch nicht übersehen werden, daß die Neubauten fast durchwegs mit steigendem Komfort, ja Luxus aus- gestattet sind, was die Baukosten ganz namhaft erhöht.

Man darf ja wohl annehmen, daß Einzelne sich durch die zeitliche sogenannte Steuerbefreiung irreführen lassen, aber es kann doch eben nur Einzelnen zugemutet werden, daß sie so schlechte Rechner sind. Wird doch anderseits behauptet, daß, z. B. in Lemberg zahlreiche Häuser so gebaut werden, daß sie gerade nur die Periode der Steuerfreiheit überdauern und sich in dieser Zeit vollständig bezahlt machen.

Ich halte mich also für berechtigt zu der Schlußfolgerung, daß das in Häuseru angelegte Kapital jene Verzinsung finden muß, die man überhaupt von der Anlage in Immobilien erwartet und diese kann nicht sehr viel niedriger sein, als die bei anders gearteter Kapitalsanlage erzielbare Kente.

Das hat aber zur Voraussetzung, daß die Hausbesitzer von den Haus- renteu auch keine namhaft höhere Abgaben zu tragen haben, als jene Kapitalisten, die andere Kenten beziehen.

Da nun die nominelle tiebäudesteuer ganz bedeutend höher ist, als die sonstigen, die Kenten belastenden Steuern, so müssen die Hausbesitzer für den Überschuß schadlos gehalton werden in höheren Mietzinseinnahmen, mit anderen Worten: dieser ganze Überschuß an Steuer samt Umlagen wird auf die Mieter überwälzt.

Es ist aber keine einfache Überwälzung, denn bei unserer Steuer, die nach dem Preise der Ware, d. i. nach den Mietobjekten bemessen wird, kommt hinzu, daß jede Überwälzung der Steuer wieder zu einer Erhöhung der letzteren führt, daß diese Erhöhung wieder eine Überwälzung, d. h. Erhöhung der Mietzinse veranlaßt und so fort ad infinitum.

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hie Reform der foterr. Hau&rinssteuer.

SäiW

Wie grüß die Quote der Steuer ist, welche der Hausbesitzer zu tragen hat, wie viel somit auf die Mieter überwälzt wird, das ist bei unserem jetzt so komplizierten Ertragsteuersystem unmöglich mit Sicherheit anzugeben. Dieses System umfaßt so vielerlei Steuersätze, die zum Teil nicht einmal in einem bestimmten Verhältnis zum Erträgnis ausgedrückt sind, daß mau uicht sagen kann, von Vermögensnutzungen sei im allgemeinen diese oder jene Quote an den Staat und an die Selbstverwaltungskörper abzugeben. Wenn man demnach gezwungen ist. eine Berechnung aufznstellen, ist man also auf eine, ich möchte sagen, geföhlsmäßige Annahme angewiesen.

Ich kann mir aber bei dem folgenden ohne eiue, wenn auch nur ganz rohe Berechnung nicht helielfen und will zu diesem Zweck eine Quote annehmen, die mir auch eine ziemlich geeignete Grundlage für die anzu- bahuende liefern) zu geben scheint Ich gehe also davon aus, daß die Hausbesitzer von ihren Haus reuten 5 Proz. an den Staat und eben so viel an die Selbstverwaltungskörper abzugeben haben, der Rest über diese 10 Proz. ist dann als Qberwälzt anzusehen, d. h. um ihn sind die Miet- zinse höher, als wenn die Steuer samt Zuschlägen auf die erwähnten 10 Proz. beschränkt sein würde.

Ich will zuerst ein Haus in Wien als Beispiel wählen.

Von einer Bruttozinseinnahme per 1000

sind zu zahlen an den Staat 226*67

weniger den 12'/,proz. Nachlaß 28*33

die Zuschläge betragen 88*40

zusammen an Abgaben 286*74

Die Erhaltungs- und Verwaltungskosteu nehme ich an mit . . 150*

Es verbleibt somit eine reine Rente von 563*26

Will ich nun berechnen, wie groß die Bruttoeinnahme, also die Summe der Mietzinse bei gleicher Hausrente und ungeänderten Erhaltungs- kosten sein würde, wenn die Abgaben nur 10 Proz. der Bruttoeinnahme betragen würden, dann erhalte ich folgenden Ansatz, wobei ich das Erfordernis an Bruttozins mit x bezeichne:

x = 563 + 150 +

10 i 100

90 x = 71.300 = x = 792

Nur diesen Zins hätten somit die Mieter zu zahlen.

Sie zahlen somit tatsächlich inehr um 203 pro Mille, das ist ein Fünftel.

Viel größer gestaltet sich diese überwälzte Quote in jenen Orten der ersten Kategorie, welche höhere Zuschläge haben, sic kann auf die Hälfte und höher steigen, ja sich verdoppeln (wie es für Salzburg zutrifft) und selbst vervielfachen.

Ich will nun auf derselben Grundlage berechnen, um wie viel die gesamten Mietzinse im ganzen Reich durch die Hauszinssteuer mit Zugehör verteuert werden und ziehe dabei auch die sogenannten zeit-

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Mjrrbach* Rheinfeld.

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lieh steuerfreien Häuser in Betracht, wodurch das Ergebnis namhaft lierab- gedrflekt wird.

Die ganze richtiggestellte Bemessungsgrundlage, also die Gesamt-

summe der Zinse betrug im Jahre 1900 524-2 Mill. Kronen

die gesamte Hauszinssteuer nach Abrechnung der Nach- lässe und Abschreibungen einschlieOlich der 5proz. Steuer (>8'5 Mill. Kronen

die sämtlicher Zuschläge 74'9 Mill. Kronen

Die wirklich bestrittenen Kosten nehme ich an mit 80 Mill. Kronen

Somit bleibt an Hausrente 000 8 Mill. Kronen.

Bei blot! lOproz. Besteuerung erhalte ich:

10 x

x 3008 -f 80 + j())( = 423’ 1 Mill. Kronen.

Die durch die Steuer Aber 10 Proz. verursachte Belastung beläuft

sich somit auf rund 100 Mill. Kronen

daran partizipiert der Staat mit 47-7 Mill. Kronen

und die Selbstverwaltungskörper mit 523 Mill. Kronen.

Eine Bestätigung dieser Wirkung der Hauszinssteuer sehe ich auch in dem Umstande, dali in Tirol und Vorarlberg, wo, wie erwähnt, die Gebäudesteuer erst im Jahre 1882 eingeföhrt worden ist, die Höhe der Mietzinse sich in viel stärkerem Verhältnis erhöht hat. als die Zahl der steuerpflichtigen Gebäude.

ln Innsbruck samt Wüten stieg von 1883 auf 1902 die Häuserzahl um 90 Proz., die Mietzinse um 151 Proz.;

in Meran und Untermais die Häuser um 91 Proz., die Zinse um 194 Proz,;

in Kufstein die Häuser um 24 Proz., die Zinse um 149 Proz.; iu Kiva die Häuser um 19 Proz., die Zinse um 44 Proz.; in ganz Tirol die Häuser um 39 Proz.. die Ziuse um 123 Proz.; in ganz Vorarlberg die Häuser um 55*/, Proz., die Zinse um 114 Proz.

Dali die Mietzinse rascher steigen als die Zahl der Häuser ist aller- dings eiue fast allgemeine Erscheinung, von der Wien eine Ausnahme macht. Aber es zeigt sich da ein eigentümliches Verhältnis.

Im ganzen Bei che haben sich von 1895 auf 1900 die steuer- pflichtigen Häuser vermehrt um 7-6 Proz., die Zinse um 191 Proz.

Diese verhältnisuiäliige Steigerung betrifft aber nur zum kleineu Teile die grollen Orte, denn in jenen, welche der 26*/»proz. Steuer unterliegen.

ist die Zahl der Häuser gestiegen um 18-8 Proz.

die Summe der Mietzinse aber nur um 19-6 Proz.

Dagegen wuchs in den ganz liausiinssteuerpflicbtigen Orten

mit 20proz. Steuer die Zahl der Häuser um 0-07 Proz.

die Summe der Zinse um 16-4 Proz.

und iu den übrigen Orten die Zahl der Häuser um .... 0'14 Proz.

die Summe der Mietzinse um 24 21 Proz.

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I*ie Reform >lttr öiterr. Iiiuszin*»teiu-r.

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Wir fitideu somit eine sehr starke relative Steigerung der Zinse haupt- sächlich in den kleinsten Orten. Ich glaube, daß sich hierin die Wirkung der gerade in diesen Orten so rapid zunehmenden Gemeindezuschläge erkennen läßt. Keine dieser Zifferngruppen zeigt uns aber eine so starke relative Zunahme der Zinse wie jene der Länder, wo die Steuer neu eiu- geführt wurde.

Hei all dem ist die weitere Belastung der Mietobjekte durch die „Zinskreuzer' noch gar nicht berücksichtigt.

Richard Harkup schätzte in seinem Referate auf dem St. Pöltener Städtetage von 1901 die Verteuerung der Wohnungen auf 70 90 Proz. Dies trifft fßr einzelne Orte mit besonders hohen Umlagen gewiß zu. über- schreitet aber sicher weitaus den Durchschnitt.

Ich glaube aber, daß eine durchschnittliche Verteuerung aller Wohnungen der in Miete wohnenden Bevölkerung um ein Fünftel schon genügenden Anlaß gibt, um gegen eine Steuer, welche eine solche Wirkung übt, mit allem Nachdruck aufzutreten.

Die Hauszinssteuer mit ihrem ganzen Anhänge von Zuschlägen ist zweifellos zum weitaus überwiegenden Teile eine Wohn st euer, zum kleinen Teile nur eine Ertragsteuer von den Hausrenten.

Das Schlimme daran ist nicht die Tatsache an sich, daß der Wohnungs- aufwand zum Gegenstände der Besteuerung gemacht wird. Der Wohnungs- aufwand kann von einer gewissen Hfihe an die gesamte Leistungsfähigkeit des Wirtschaftsobjektes klarer zum Ausdruck bringen, als die meisten anderen Aufwandzweige und eine nach demselben bemessene Steuer kann vielleicht richtiger wirken, als eine mittelmäßig veranlagt« Einkommensteuer. Ich halte die Besteuerung nach Maßgabe des Wohmingsaufwundes geradezu für eine den besten möglichen Steuern, wenn sie auch, wie jede, ihre Schwä- chen hat.

Was aber hei unserer Steuer das geradezu verderbliche ist, das ist der traurige Umstand, daß sie wahllos und in drückendster Höhe de» ganzen Bevölkerungen auferlegt ist. Sie belastet ein absolut notwendiges Lebenserfordemis auch dort, wo nur der äußerste Notbedarf gedeckt werden kann und drängt solche, die vermöge ihrer Mittel sonst noch gerade menschenwürdig und gesund wohnen könnten, in die traurigsten Wohuvei- hältnisse.

Die Wohnungsfrage bildet heute den Gegenstand so vielfacher Untersuchungen und Erörterungen, daß es gänzlich überflüssig wäre, sie mit einer Schilderung der unendlich traurigen Erscheinungen, welche unzu- längliche Wohnungen bei den unbemittelten Volksschichten herbeiführen, aufzuhalten. Die Wohnuugsfürsorge ist ja allseitig als eine der dringendsten Aufgaben moderner Sozialpolitik anerkannt Anderwärts wetteifern alle öffent- lichen Faktoren und die private Wohlfahrtspflege, um die an und für sich schon viel besseren Wohnverhältnisse zu verbessern und auch in Österreich greift eine dahin gerichtete Bewegung nnter der kräftigen Führung ihres

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Mvrbach- Rheinfeld.

verehrten Vorstandes un. sich. Aber was soll diese Bewegung für Erfolge haben, wenn die öffentlichen Gewalten das meiste dazu beitragen, um die Wohnungsverhältnisse recht, recht sclilecht zu gestalten?

Bei dem Bestände der jetzigen Verhältnisse ist das äußerste, was un sozialer Hilfe geleistet werden kann, die vorübergehende Hinwegräumung unseres Hauptübels, der Gebäudesteuer.

.Zeitliche Steuerbefreiung,“ also Herstellung jenes Zustandes, der sonst ohnedies besteht und bei dem die sozialpolitische Tätigkeit erst ein- zusetzen beginnt! Das kennzeichnet am besten diese unglückliche Steuer, daß man an eine V e r w a 1 1 u u g s e i n r i c h t u n g z u er s t die Axt anzu- legen hat, wenn mau Notleidenden Hilfe bringen will. Und wenn es geschieht, wie schwachmütig geht man an das Werk! Für eine beschränkte Zeit, für einen eng begrenzten Berufskreis oder für ein eng begrenztes Territorium und unter drückenden, beengenden Bedingungen wird die Begünstigung gewährt ; während die allgemein geltende zeitliche Befreiung oder richtiger Ermäßigung, eine verfehlte Maßregel ist, die nur geeignet ist, den Häuser- und Wohnungsmarkt zu beirren und ungesunde Spekulationen zu fördern.

Ich glaube kaum, mich einer Übertreibung schuldig zu machen, wenn ich behaupte; die dringendste sozialpolitische Aufgabe in Österreich ist die Ile form der Hauszinssteuer im Sinne einer gründlichen Heduktiou der Steuersätze, nebst einer nicht minder durchgreifenden Regelung der Zuschläge zu dieser Steuer.

Leider hat man schon viel zu lange damit gezögert und jedeB Jahr weiter erschwert die Durchführung.

Ich komme nun zur Frage, w i e die Reform durehzuführen sei.

Die mir bekannt gewordenen, von anderer Seite berrfihrenden Vor- schläge laufen soweit es sich um die Höhe der Steuer handelt, sämtlich darauf hinaus, daß die Hauszinssteuer unter Beseitigung der Verschiedenheit nach Ürtskategorien, einfach auf einen entsprechend niedrigen Satz reduziert werde. Meist wurde der Steuersatz von 5 Proz. genannt, den ich ohne weiters als angemessen annehmen will. Da man aber wußte, daß die Finanzverwaltung ohne einen einigermaßen genügenden Ersatz auf eine solche Einnahmenver- niiuderung niemals eingeheu würde, schlug man als Deckungsmittel für den Ausfall eine Erhöhung der Personaleinkommensteuer jener Personen, deren Einkommen 96.000 Kronen übersteigt, vor.

Leider haben die Proponenten, wie ich annehmen muß, seinerzeit ver- gessen, den Reclieustift in die Hand zu nehmen. Sie haben sich weder darüber Rechenschaft gegeben, wie groß der Ausfall sein würde, noch was die Einkommensteuererhöhuug einbringe» könnte.

Nach meiner früheren, wenn auch ziemlich rohen Berechnung, betrüge der Ausfall für den Staat bei -18 Mill. Kronen, während anderseits die Ein- kommensteuer von allen schon 80.000 Kronen übersteigenden Einkommen nur rund 11% Mill. Kronen ausmachte. Würde man also die Einkommensteuer

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Pie Reform der Raterr. HanstinMtoner.

207

dieser Klassen selbst verdoppeln können. dann wäre erst der vierte Teil des Ausfalles gedeckt. Um die ganze entgehende Summe hereinzubringen, mußten jedenfalls gewaltige Einnahmequellen eröffnet werden, die nicht nur die Reichsten, sondern die ganzen Bevölkerungen in Mitleidenschaft ziehen mußten.

Dabei ist es den Proponenten entgangen, daß an der Hauszinssteuer Fondszuschläge hängen, welche eine noch höhere Summe ansmachen als die Staatssteuer!

Da sich nun der 5 Proz. Obersteigende Betrag an staatlicher Hauszins- steuer nicht einfach streichen läßt, wurde ein anderer, höchst beachtungs- werter Vorschlag zur Ermöglichung der Reduktion gemacht, und zwar vom Ingenieur R i c h a rd Harkup in dem schon erwähnten St. Pöltener Städtetag. dann vom Reichsratsabgeordneten Glöckner in den nordböh- mischen Hausbesitzervereinen, ein Vorschlag, den neuestens auch der Zentral- verband der Wiener Hansbesitzervereine angenommen hat und seinen Aktionen zu Grunde legt.

Nach diesem Vorschläge soll die Deckung des Ausfalles in der Hauszinssteuer selbst gefunden werden beziehungsweise in ihrem natürlichen Zuwachs. .Der gegenwärtige Ertrag der Hauszinssteuer soll kontingentiert werden und der Steuersatz soll in dem Maße, als im Laufe der folgenden .Jahre der Ertrag dieser Steuer wächst, solange herabgesetzt werden, bis der Steuersatz von 5 Proz. erreicht ist.* Das ist der Hauptpunkt des jetzigen Programms. Es wurde angenommen, daß dieses Ziel in 18 bis 25 Jahren erreichbar sei. Die Zuschläge werden auch in diesem Programm außer Betracht gelassen.

Gegen die einfache Reduktion des Steuersatzes habe ich nun das ge- wichtige Bedenken, daß ihr Erfolg in der Hauptsache gar nicht jenen zu- gute käme, um derentwillen mir die Reform so unbedingt notwendig er- scheint. nämlich den Mietern der kleineren Wohnungen, sondern ganz anderen tauten, und daß dieses Ergebnis um so sicherer im Falle der Kontingentie- rung eintreten wflrde.

Mit der Wirkung einer sofortigen Herabsetzung der ganzen Steuer auf 5 Proz. brauche ich mich gar nicht zu befassen, da dieser Vorschlag keinerlei Aussicht auf Verwirklichung hat. Das Kontingontierungsprojekt dagegen kommt praktisch in Betracht, ich will daher nur dieses mit Be- ziehung auf die Preisbildungen untersuchen.

Reduktion der Steuer bedeutet zunächst: Erhöhung des Erträgnisses des Steuerpflichtigen, also in diesem Falle, Zuwendung eines Gewinnes an die sämtlichen Besitzer steuerpflichtiger Häuser.

Wer einen solchen Gewinn macht, der ist nicht sofort bereit, ihn einem anderen abzutreten, er trachtet ihn fflr sich zu behalten. Nur ge- zwungen gibt er ihn ah. In unserem Falle sollen nun die Hauseigentümer durch die Konkurrenz gezwungen werden, mit ihren Ziosforderungen herahzugehen, so daß der Steuernachlaß den Mietern zu gute käme. Die Konkurrenz soll aber durch die Steigerung der Hau sren ten ange-

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Myrbftch-Rheinfelrt.

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lockt worden Also namhafte Vermehrung und Erweiterung der verfügbaren Wohnungon bei billigeren Zinsen, alles was man wünschen kann, würde die Wirkung sein und die Rente der Hausbesitzer würde auf ihr jetziges Maß wieder herabgedrückt, sie hätten also keinen Gewinn davon.

Wir haben aber gerade in der letzteren Zeit Erfahrungen mit der Herabsetzung von Stenern und deren Wirkungen gemacht. Der ZeitungsBteuipel wurde ganz aufgehoben, bei der Grund-, Ge- bäude- und Erwerbsteuer wurden Nachlässe gewährt. Und der Erfolg? Die Zeitungen kosten mit wenigen Ausnahmen das gleiche wie früher, die Lebensmittel. Industrieartikel und Wohnungen sind teurer ge- worden. Vielleicht wird auf die Preise der Zeitungen noch ein Druck durch die Konkurrenz geübt werden, der Preis der Nahrungsmittel und Handwerkserzengnisse bildet sich unter dem Einflüsse des Weltmarktes, ich will daher diese Dinge nicht weiter berühren. Aber bei den Preisen der Wohnungen hätte sich ein lß'/sProz. Steuernachlaß unbedingt bemerkbar machen müssen, wenn die hergebrachten Preistheorien auch nur einigermaßen Geltung haben sollen.

Die Hausherren behaupten nun, der Nachlaß sei , minimal- gewesen und durch neue Lasten, besonders die Einkommensteuer, absorbiert worden.

Das .Minimal“ kann ich nicht gelten lassen, ein Achtel einer so hohen Steuer ist schon etwas ansehnliches, es macht über 2’8 Proz. des Bruttozinses und ft1/» Proz. des sogenannten steuerbaren Zinses und soviel wird die Einkommensteuer (die übrigens mit den Zinsen gar nicht« gemein haben sollte i auch nicht bei den meisten Hausbesitzern be- tragen haben.

Viel minimaler würde die jährliche Abnahme der Steuer bei Anwen- dung des Kontingentierungssystems ausfallen und es ist nicht abzusehen, wann sich dann der Moment einstellen würde, in welchem die Hausbesitzer sich veranlaßt sehen würden, die Zinsforderungen herabzusetzen.

Die neu zu schaffende Konkurrenz würde sich auch nur sehr langsam geltend machen und wenig energisch einsetzen. Dagegen würde um so sicherer eine Eskomptierung des allmählich zunehmenden Mehrertrages aus Häusern von Seite jener erfolgen, die zur Verbauung geeignete Gründe bcsitzeu und diese Steigerung der Grün d- p rei s e würde sich auch auf die schon verbauten Flächen erstrecken. Wenn auch die eigentlichen Baukosten kaum eine namhafte Erhöhung aus diesem Anlasse finden würden, so würde doch schon die Verteuerung der Baugründe ausreichen, um eine kräftige Konkurrenz durch Neubauten zu verhindern. Mit einem Worte: den Gewinn aus der Steuerherab- setzung würden die Besitzer von Baugründen machen, natürlich mit Einschluß jener, die schon überbaute Gründe besitzen.

Dafür daß eine Steigerung der Grundpreise in einem solchen Maße statttinden kann, um die ßaulust wesentlich zu hemmen, werden sich wohl in allen aufstrebenden Gemeinwesen Beispiele finden. Ich will nur anführen, daß zu Anfang der 1880er Jahre von Spekulauten ausgedehnte Wiesengründe

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Pi* Reform 4er ö*t«rr. Haanni»*stv'n<kr-

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und Äcker in der Gemeinde Wilteu hei Innsbruck um SO— 40 Kreuzer pro angekauft wurden, deren wenige verfügbare Reste jetzt nicht unter SO Gulden für die Klafter zu haben sind.

Wenn aber auch eine belangreiche Konkurrenz durch Neubauten entstehen sollte, könnt« sich ihre Wirkung nur auf die an den Peripherien gelegenen Gebäude erstrecken. Das würde aber den Preis der zentral oder an den Hauptverkehrsadern gelegenen Wohnungen und Geschäftslokalitäten sehr wenig berühren, denn diese haben ihren eigenen Markt, ihre eigenen Abnehmer, die mindestens in den einigermaßen größeren Städten für das peripherische Angebot gar nicht in Betracht kommen. Die Besitzer der Häuser in verkehrsreicher Lage haben ein Monopol, das sich ganz gewaltig ansnützen läßt.

Auch den ungeheuren Einfluß, welchen das Trägheitsmoment im wirt- schaftlichen Lehen, speziell die Gewohnheit, hei den Preisphänomen übt, darf man ja nicht übersehen. Der eine ist gewöhnt, so und so viel zu neh- men, der andere, ebensoviel zu zahlen, und da müssen ganz besondere Ereignisse eintreten. damit der eiue und der andere von seiner Gewohnheit abweicht. Auch ist der Wohnungswechsel und gar der eines Geschäftslokales keine bequeme und billige Sache. All dies würde die Tendenz nach Fest- haltung der herkömmlichen Preise sehr stark unterstützen, zumal ja die als Ersatz für den Ausfall von den Steuergewalten nen aufzulegen- den Lasten gewiß auch den Hausbesitzern in irgend einer Form neue Leistungen verursachen würde.

Sicher müßte der Erfolg der Aktion als verfehlt bezeichnet werden, wenn er nur in einer starken Steigerung der städtischen Grundrente und einer Bereicherung der Bodenspekulanten bestünde.

Kurz, es ist sehr schwierig, eine alte, eingelebte Steuer mit einem Vor- teil (ür die Gesamtheit zu beseitigen. Turgot schon sagte: „tout nouvel impöt est mauvais, tout vieil impöt est hon.*

Gut ist nun unsere alte Steuer nicht, aber in dem Sinne findet Tur- gots Ausspruch auch auf sie Anwendung, als ihre einfache Beseitigung kaum ohne Schädigung der Gesamtheit möglich ist.

Daran knüpft nun mein K efo r m v o r s ch 1 ag an: Die Abgabe soll vorläufig zur Gänze beibehalten werden, aber sie soll offen und klar als das behandelt werden, was sie jetzt zwar verdeckt, aber vermöge ihrer Wirkung in Wirklichkeit ist: eine Kombination aus einer Ertragsteuer und einer Aufwand-, nämlich einer Mietsteuer. Diese beiden Teile sollen aus- einandergelegt, vollkommen geschieden werden und dann kann der Gesetzgeber mit jedem der Teile so verfahren, wie es im Interesse der Gesamtheit nützlich scheint. Es wird dann insbesondere möglich gemacht werden, das was man geben will, unmittelbar jenem zu gehen, dem es zngedacht ist, und nicht einem Dritten der erst durch die Verhältnisse gezwungen werden soll, die Gabe dem an- deren zuzuweudeu.

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300 M\ rbMh-Rheinfeld.

Vielleicht ermöglicht mein Vorschlag auch, die noch schwierigere, bisher gar nicht erörterte Frage der Zuschläge zu lösen und zugleich den finanziell so sehr bedrängten Gemeinden eine solide und selbständige Grund- lage für ihre Wirtschaft zu verschaffen.

Ich komme somit in der Hauptsache auf mein altes Projekt zurflck, nämlich die Teilung der jetzigen Hauszinssteuer in eine Hausrenten- steuer, d. i. eine Ertragsteuer von dem wirklichen und möglichen Erträgnis der Häuser und in eine Mietsteuer, welche die Mieter nach Maßgabe des von ihnen für die Bestandobjekte gemachten Aufwandes zu treffen hätte.

Zunächst wäre der volle gegenwärtige Betrag der Hauszinssteuer in dieser Weise aufznteilen. .Ta noch mehr, um mit der Aktion auch die Regulierung der Fondszuschläge verbinden zu können, mflßte auch die gegenwärtige Summe aller dieser Zuschläge zur Hauszinssteuer für Rechnung des Staates übernommen und der Hauszinssteuer zugeschlagen werden, wogegen den Ländern, Bezirken und Gemeinden dasjenige als Fixum aus Staatsmitteln auszubezahlen wäre, was ihnen jetzt in Form von Umlagen znfließt.

Der wichtigste aber auch schwierigste Punkt wäre dann die Reduktion der vertragsmäßig vereinbarten Mietzinse auf jene Höbe, welche der neu geschaffenen Sachlage entspricht. Jetzt ist ja tatsächlich ein großer Teil dessen, was formalrechtlicli als Mietzins erscheint, in Wahrheit Steuer des Mieters und diese Quote müßte aus dem formalen Mietzins entfernt und auch rechtlich zur Steuer gemacht werden. Ich verweise diesfalls auf die früher angestellten Berechnungen, ln Wien z. B. müßten die Mietzinse für jedes Tausend Kronen auf 792 Kronen herabgesstzt werden, da in diesen 1000 Kronen 208 Kronen an Mietstener stecken und von nun an als Mietsteuer behandelt werden müßten.

Eine solche Änderung des Mietvertrages könnte aber natürlich den Vertragsparteien nicht vom Steuergesetze oktroyrt werden: es ist auch kaum anzunehmen, daß alle Hausbesitzer die nötige Einsicht besitzen, um freiwillig auf die entsprechende Mietzinsreduktion einzugehen, wenn auch Vereine und Gemeinden eine aufklärende Tätigkeit entfalten würden. Somit wäre man zur Anwendung einer douce violance genötigt und als Mittel einer solchen wäre wohl das beliebte Optionsrecht geeignet. Die Durch- führung stelle ich mir dann in der Weise vor, daß gemischte Kommissionen die Ermittlung bei den einzelnen Objekten vornehmen, die Parteien auf- klären und deren bindende Erklärungen in Veitragsform anfnebmen.

Schlimm wäre es, wenn sich noch immer Hausbesitzer in größerer Zahl finden würden, die mit Hinblick auf gewisse Zinsertragsbekenntnisse eine begründete Scheu vor solchen Verhandlungen haben sollten: doch könnto ein Generalpardon vielleicht darüber hinaushelfen und wer weiß, ob daraus nicht ein hübscher Steuerzuwachs resultieren würde!

Von dem Momente an, wo diese Regulierung der Zinse allgemein durchgeführt ist. könnte zur getrennten Vorschreibung der neu kreierten Steuern flhergegangen werden.

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Pie Reform der Osterr. Hauszinsstcuer.

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Die Hausrentensteuer müßte einen entsprechend niedrigen Steuersatz haben. Wie schon bemerkt, läßt sich nicht angeben, mit welcher Quote bei uns die Renten aus Vermögensverwendung belastet sind, um diese Quote auch als Steuersatz der Hausrentensteuer anwenden zu können: ich würde aber der vielseitig ausgesprochenen Ansicht beitrcten, daß der Steuersatz 5 Proz. betragen solle. Eine Differenzierung nach Ovtskategorien dürfte natürlich nicht bestehen, denn ob die Rente in diesem oder in jenem Orte bezogen wird, das hat nicht den mindesten Einfluß auf die Leistungsfähigkeit des Rentners und gibt ja auch bei den anderen Ertragsteuern keinen Anlaß zu einer verschiedenen Besteuerung.

Als Bemessungsgrundlage der Hausrentensteuer könnte der reine oder der rohe Zinsertrag benutzt werden. Das erstere wäre theoretisch richtiger. Wenn man aber den jetzigen Fehler vermeiden und nicht eine willkürlich angenommene Kostenquote ganz allgemein anwenden will, daun müßte man die individuell so uugemein verschiedenen und zeitlich wechselnden Kosten für jedes Objekt einzeln ermitteln, eine Arbeit, die außer Verhältnis zu dem praktischen Erfolge stände. Darum schiene mir bei dem niedrigen Steuersatz die Vereinfachung statthaft, daß die Steuer schlechthin von der Bruttozinseinnahme bemessen würde. Würde man dies aber nicht für annehmbar halten, dann würde ich auf meinen alten Vorschlag zurückgreifen, die Gebäude in .Zustandsklassen“ einzureihen und für diese Klassen besondere Abzugsquoten zu bestimmen.

Natürlich hätte die zeitliche Steuerbefreiung für Neu-, Um- und Zubauten zu entfallen. Nur die jetzt bestehenden permanenten Befreiungen wären beizubehalten.

Ich würde auch den Anspruch auf eine Steuerabschreibung wegen Leerstehung auf die Fälle länger dauernder Nichtbenfltzung beschränken. Die subtile Berücksichtigung jeder, auch der kürzesten Leer- stehung, ist bei dem jetzigen hohen Steuersätze geradezu eine Notwendigkeit, wenn es sich aber um eine niedrige Steuer handelt, stehen die der Behörde und den Hausbesitzern verursachten Mühen und Kosten außer Verhältnis zu dem Erfolge. Man könnte etwa unter analoger Anwendung der Prinzipien, welche für die Abschreibung der Hausklassensteuer gelten, den Anspruch auf solche Leerstehungen beschränken, welche länger als drei Monate währen. Diese Beschränkung hätte auch den sozialpolitischen Vorteil, daß manche Hausbesitzer es sich besser überlegen würden, durch übermäßige Zins- ansprüche öftere Leerstehungen zu provozieren.

Wie schon erwähnt, würde die Hausrentensteuer einen merklichen Zuwachs dadurch erhalten können, daß auch die nicht landwirtschaftlich benützten Hausgärten und die mitvermieteten Mobilien unter die Objekte der Hausrentensteuer einbezogen würden.

Von der reduzierten Hausrentensteuer wären den Hausbesitzern auch die Fondszn schlüge in dem Ausmaße vorzuschreiben, welches in jedem

Zeitschrift für Vn1k«wlfta<*baft, SosialpoMtik und Verwaltung. XII. Band.

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Myrhaeh-Rheinfeld.

Orte gerade Geltung hat, doch würden dieselben den Selbstvervvaltungskörpern vorläufig in jenen fixen Beträgen zufließen. welche ich früher erwähnt habe.

Höchst wünschenswert wäre die Beseitigung der Doppelbesteuerung der Zinsen hypothezierter Darlehen durch Änderung der gesetzlichen Bestimmungen über die Rentensteuer.

. Dnd nun zur Mietsteuer. Dieser Teil der alten Hauslinssteuer müßte von der Hausrenteusteuer völlig unabhängig gemacht werden, so daß sie eine gänzlich für sich bestehende Aufwandsteuer würde, die nicht mehr indirekt eingehoben und somit nicht mehr dem Spiel der wirtschaftlichen Kräfte überlassen bliebe. Sie könnte in allmählicher Ausgestaltung mit den Grundsätzen einer vernünftigen und gerechten Besteuerung in Einklang gebracht werden, weil sie vom beabsichtigten Kontribuenten nach individuell festznstellenden Merkmalen der Leistungsfähigkeit einzufordern wäre.

Den Grundsätzen der Aufwandbesteuerung entsprechend, sollte diese Steuer nur insoweit gefordert werden, als ein persönlicher Aufwand, jener für die Wohnung gemacht wird. Das würde aber einerseits zu einem sehr beträchtlichen Steuerausfall führen, denn die Zinse für Geschäftsloka- litäten machen in den größeren Städten sehr bedeutende Summen aus und die Ersparnis der Geschäftsinhaber würde bei der bestehenden Kontingen- tierung der allgemeinen Erwerbsteuer nicht mehr heranzuziehen sein. Aus diesen praktischen Gründen könnte auch von gemieteten Lokalitäten, die Erwerbszwecken dienen, die Mietsteuer, aber in einem geringeren Ausmaße, eingefordert werden.

Ich habe schon erwähnt, daß icli eine nach dem Wohuuiigsaufwand veranlagte Aufwandsteuer für eine der besten Steuern halte, weil sich bekanntlich in diesem Aufwands, wie in keinem anderen, die materielle Leistungsfähigkeit der Individuen spiegelt. Aber der Wohimngsaufwand ist auch ein für jedem Kulturmenschen völlig unvermeidlicher, er muß auch von jenen gemacht werden, die absolut keine Steuerkruft besitzen. Cher das Minimum hinaus aber muß ein größerer Aufwand gemacht werden, um ein gesundes und behagliches Wohnen, die Grundbedingung allgemeiner Volkswohlfahrt, zu ermöglichen. Die diesbezügliche Grenze darf ja nicht niedrig angenommen werden, wie cs einige Gemeinden tun. welche mir die allerbilligsten Wohnungen von den .Zinskreuzern* freilasscn. Bis zu jener Grenze, welche durch den für alle wünschenswerten W o h n n n g s gen u U bestimmt wird, darf eine Besteuerung überhaupt nicht stattfiuden.

Wras den darüber hin ausgehenden Wohnungsaiifwand betrifft, ist vor allem die bekannte Erscheinung zu berücksichtigen, daß die Quote des Gesamtaufwandes, welche für die Wohnung verwendet wird, desto kleiner wird, je größer die dem Haushalte verfügbaren Mittel sind. Die Wohnung- steuer muß daher progressiv eingerichtet sein.

Ferner muß vermieden werden, daß die Angehörigen der Mittelklassen durch die Steuer in mindere Wohnungen gedrängt werden lind deshalb soll die Steuer mit sehr niedrigen Sätzen beginnen und anfänglich

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Die Reform vier taten*. HauBiiassteuer.

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nur sehr langsam steigen, dagegen Heide sie in den oberen Stufen die Anwendung sehr hoher Steuersätze zu, ohne daß deshalb eine starke Beein- trächtigung des Steuereinganges zu befürchten wäre. Natürlich müßten die ron den Hausbesitzern selbst benützten Wohnungen ebenso dieser Steuer unterliegen, wie die effektiv gemieteten.

Hinsichtlich derDetailausführung ergeben sich so viele Probleme, daß ich auf deren Erörterung hier nicht eingehen kann, ich will nur bemerken, daß sie mir sämtlich lösbar erscheinen, wenn man nicht pedantisch Vor- gehen will.

Nun muß die Freilassung der kleinen, und die mäßige Besteuerung der mittleren Wohnungen notwendig zu einem beträchtlichen Steuerausfall für den Staat und die Selbstverwaltuugskörper führen, denn der größere Teil der Umlagen fiele ja auch der Deckung durch die Mietsteuer zu, beziehungsweise bliebe ungedeckt.

Da nun möchte ich den Gedanken der K on t in ge n t i er u n g ver- wenden.

Der gesamte gegenwärtige Ertrag an Hauszinssteuer und 5proz. Steuer nebst allen jenen Summen, die gegenwärtig an Umlagen eingehoben werden, hätte ein festes Kontingent für solange zu bilden, bis die angestrebte end- gültige Ordnung hergestellt ist. Die gesamten Zahlungen wären an die Staatskassen zum Teil als Hausrentensteuer, zum Teil als Mietsteuer zu leisten. Der Staat würde von diesem Kontingent zunächst die fixen Ent- schädigungen an die Selbstverwaltungskörper abführen und den Rest für sich behalten. Der sich ergebende Zuwachs würde aber dazu benützt werden, um sukzessive die Mietsteuer auf den gewünschten Stand zu bringen, das heißt sie für die kleinen Wohnungen aufzuheben, für die mitt- leren aber zu ermäßigen und schließlich auch dazu, um die von den Besitzern selbst zu Erwerbszwecken benützten Lokalitäten auch von der Hausrentensteuer zu befreien.

Damit möglichst rasch sichtbare Erfolge eintreten und die Hausbesitzer nicht etwa dazu gereizt werden, die Gelegenheit allmählicher kleiner Nachlässe an der Mietsteuer zu einer Steigerung der Mietzinse zu benützen, wfi:de ich vorschlagen, daß die jeweilig verfügbaren Summen dazu benützt werden sollen, kategorien weise mit der sofortigen Herstellung des endgültigen Zustandes vorzugehen, so daß also die ersten Überschüsse dazu dienen sollten, um die allerkleinsten (oder allerbilligsten) Wohnungen in den Großstädten ganz zu befreien, in gleicher Weise die nächst verfügbaren Summen den kleinsten Wohnungen in den übrigen Orten zu gute kommen lassen u. s. f.

Wenn dann der beabsichtigte definitive Zustand erreicht ist. würde das Kontingent aufgehoben, der Staat träte dann in den freien Bezug der inzwischen staik angewachsenen Hausrentenstener nebst dem natürlichen ferneren Zuwachs, sowie der Mietsteuer; den Selbstverwaltungskörpern würden die Zuschläge unmittelbar wieder zufließen, wenn nicht eine noch weitergebende Regelung damit verbunden werden sollte.

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Als Endziel sehwebt mir nämlich vor die g ä u z 1 i c h e Über- lassung der vollständig geregelten Mietsteuer an die Gemeinden als deren vorwiegeudo Finanzquelle. Es würde damit endlich auch ein Mittel geschallen, diesen finanziell so arg bedrängten Wirtscbafts- körpem eine ergiebige und selbständige Einnalmien<|uelle \erfflgbar zu machen, die unabhängig wäre von den Staatssteiiern, während anderseits auch die letzteren in ihrer Entwicklung nicht durch das Kleigewicht der Zuschläge in dem Maße wie bisher gehemmt würden. Diese Mietsteuer würde dann mit den jetzt schon so verbreiteten kommunalen Zinskreuzern zusammen- fiießen und könnte den lokalen Verhältnissen vollkommen angepaßt werden. Im Anschluß daran sollte auch die Hausklassensteuer, welche in das staat- liche Ertragateuersystem ohnedies nicht paßt, in eine Woluis teuer umge- staltet und den Gemeinden überwiesen werden.

Itflcksichtlich des letzten Punktes, der Art der Veranlagung unserer Steuer, kann ich mich ganz kurz fassen. Mir ist die österreichische Hauszinssteuer mit ihrer genauen Anpassung an den wechselnden wirklichen Ertrag der Häuser i von der summarischen Berücksichtigung der Kosten abgesehen! immer als die idealste unter den bestehenden Ertragsteuern erschienen. Die Einführung der zweijährigen Bemessung hat schon störend gewirkt, indem damit die Anwendung eines, wenn auch nur kurzen Durch- schnittes erfolgt ist. Heute findet man diese Veraulagungsinethode veraltet Ich kann mich dieser Ansicht nicht anschließen und meine, daß jede Pau- schalierung, jede Durchschniltsberechnung und jede Vereinfachung zur l’n- genauigkeit, zur Unwahrheit führt und daher keineswegs einen Fortschritt bedeutet, sondern ein Zurückgreifen auf primitivere Formen.

Mit Rücksicht auf mein Projekt der teilweisen Umwandlung unserer Steuer in eino Mietsteuer muß ich mich um so mehr für die Beibehaltung der jetzigen Veranlagungsgruudsätze aussprechen, weil dadurch nicht allein die Einnahme des Hausbesitzers, sondern auch die Zinse der einzelnen Mieter zur Kenntnis der Behörde gebracht werden und damit gleich die Grundlage für die individuelle Bemessung der Mietsteuer gegeben ist.

Ein Teil der Hallsbesitzerorganisationen propagiert neuesteiis eine radikale Änderung der Veranlagungsgruudsätze. Den Aus- gangspunkt soll der von 10 zu 10 .lalircn durch Kommissionen festzustel- lende Kapital s wert der Häuser bilden. Von diesem Kapitalswelt soll unter Anwendung des jeweiligen landesüblichen Zinsfußes die Hausrente berechnet und von letzterer sodann die Steuer bemessen werden. Gegen die kommis8ionelle Schätzung soll die Berufung an eine gerichtliche Schätzung zulässig sein.

Nun ist es klar, daß reine Schätzungen, hei welchen dem Arbitrium der weiteste Spielraum gelassen ist, bei welchen deshalb auch große Un- gleichmäßigkeiten unvermeidlich sind, nur als Notbehelf dann in Anwendung kommen sollen, wenn jedes Mittel zur unmittelbaren Feststellung der ent-

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Die Reform der österr. Haiiazinssteaer. 805

scheidenden Tatsachen mangelt. Der erwähnte Vorschlag stellt überdies die Verhältnisse geradezu auf den Kopf und steht mit den rationellen Bewer- tungsgrutidsätzeu in krassem Widerspruch. Anstatt von den leicht zu er- mittelnden wirklichen Erträgnissen auszugehen und darnach den Wert des nutzbringenden Objektes zu berechnen, soll der umgekehrte Weg eingeschla- gen werden: das Bekannte soll aus einem Unbekannten, das Sichere aus etwas Arbiträrem berechnet werden! Da mähten sich notwendig große In- kongruenzen zwischen dem berechneten und dem wirklichen Erträgnis heraus- steilen. l'nd es ist noch fraglich, ob dies den Hausbesitzern zum Vorteil gereichen würde, denn die Finauzverwaltung würde schon dafür sorgen, daß man den Schätzungen wirklich vorgefallene Käufe und Belehnungen zu eirunde legt und bei der erwähnten Tendenz zur Ü b e r Schätzung von Häusern könnte sich leicht ein den Besitzern unerwünschtes Ergebnis herausstellen.

Inwiefern mir unter der Voraussetzung einer starken Heduktion der Steuersätze Vereinfachungen des Veranlaguugsverfahrens zulässig er- scheinen, habe ich bereits im Laufe der früheren Auseinandersetzungen dargestellt.

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Ich bin somit am Ende meiner Ausführungen angelangt.

Wollen Sie überzeugt sein, daß mir die Meinung sehr fern liegt, eiu vollkommen einwandfreies Projekt vor Ihnen aufgerollt zu haben. Ich hin mir selbst am besten bewußt, daß dasselbe zahlreiche Schwächen ent- hält. daß vielleicht auch seine gänzliche Undurchführharkeit nachgewiesen werden kann. Aber angesichts der großen Schwierigkeiten, welche die Lo- sung des Problems hei dem Stande aller ütl'entlichen Finanzen in Österreich bietet, angesichts der geringen Aussicht auf Verwirklichung, welche den sonst gemachten Vorschlägen zugesprochen werden kann, glaubte ich mit meinem bisher noch nicht diskutierten Gedanken, der sich auf theoretische und praktische Befassnng mit dem Gegenstände gründet, noch einmal her- vortreten zu sollen, um wenigstens eine vertiefte Erörterung der Frage in einem derselben objektiv gegenüberstehenden Kreise von Fachmännern an- zuregen.

Ich schließe mit dem Wunsche, daß die Gesellschaft österreichischer Volkswirte als Korporation, daß aber auch die einzelnen Mitglieder dieser hochansehnlichen Vereinigung mit allem Nachdruck auf die Beseitigung der schweren Cbelstände auf dem Gebiete unserer Gebäudebesteuerung hin- wirken und daß die diesßlligeu Bestrebungen von wirklichen Erfolgen be- gleitet sein mögen.

Dann erst wird auch iu Österreich der Weg für eiue gedeihliche Wohnuugsfürsorge frei sein.

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VERHANDLUNGEN DER GESELLSCHAFT ÖSTERREICHISCHER VOLKSWIRTE.

CXIX. und CXX. Plenarversammlung.

Am H. und 15. November 1902 hielt Herr Dr. Viktor Graetz einen Vortrag : über da* Problem der amerikanischen Trusts, in dem er ungefähr folgendes ans führte:

Das Problem der amerikanischen Trusts ist sowohl ein europäisches Problem wie ein amerikanisches. Für Europa sind die Fragen zu stellen: inwieweit ist die Entwicklung, die sich in Amerika vollzogen hat und vollzieht, typisch, so daß wir aus der amerikanischen Gegenwart auf die europäische Zukunft schließen können. Und ferner, inwieweit sind die Trusts die Träger der .sogenannten amerikanischen Konkurrenz? Die Wichtigkeit der Trusts für die Volkswirtschaft der Vereinigten Staaten von Amerika erfordert keim* längere Darlegung, in ökonomischer und politischer Beziehung entstehen Fragen, deren Lösung große Schwierigkeiten bietet.

Vor allein muß der Begriff festgestellt werden; der ursprünglich juristische ist zu einem wirtschaftlichen Terminus geworden, dessen Merkmale schwanken. Aus den Definitionen der Gesetze, der Literatur und dem Sprachgebrauch des täglichen Lebens läßt sich nur ein gemeinsames Element hervorheben, nämlich die Beschränkung der Konkurrenz. Wichtig ist ferner, daß die strenge, in der europäischen Literatur übliche Unterscheidung von Kartell und Trust nicht gerechtfertigt ist. Unter Trusts sind sowohl Vereinbarungen von selbständigen Unternehmungen zu verstehen als auch Fusionen, in denen die Selbständigkeit gänzlich aufgehoben ist.

Das Charakteristiken des Begriffes Trust ist die Bildung eines einheitlichen Unternehmerwillens; dies trifft sowohl bei Kartellen wie bei Fusionen zn. Während im Kartell neben dem einheitlichen Unternehmerwillen die zersplitterten Unter- nehmerwillen der einzelnen Unternehmungen weiter bestehen bleiben, hat bei der Fusion der einheitliche Untemehmerwille die zersplitterten gänzlich anfgezehrt. Der Begriff King ist dem Begriffe Trust und Corner übergeordnet. Ein King ist dann vorhanden, wenn durch die Bildung eines einheitlichen Unternehmer- willens für einen bestimmten Markt der Bezug respektive die Lieferung von Waren oder Leistungen zu günstigeren Bedingungen, als dieser einheitliche Unter- nehmerwillo festsetzt, ökonomisch nicht in Betracht kommt. Nimmt man diesem

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CXIX. nnd CXX Plenarversammlung. ;^)7

Begriffe King das genetische Element, nämlich: Bildnng des einheitlichen Unter- nchmerwillens, dann liegt ein Zustand, das ausschließende Marktverhältnis, vor. I>ie dem Begriffe Ring untergeordneten Begriffe Trust und Corner unterscheiden sich durch die Dauer, für welche der einheitliche Unternehmerwille berechnet ist; während der Corner eine Wirtschaftsperiodo dauern soll, soll der Trust mehrere Wirtschaftsperioden bestehen.

Diese „Bildung des einheitlichen Unternehmerwillens“ kann in ganz ver- schiedenen Kechtsformen vor sich gehen. Doch versagt in vielen Fällen die juristische Unterscheidung, die Einheitlichkeit des Unternehmerwillens wird häufig auch durch rein tatsächliche Verhältnisse hergestellt. Und gerade diese Trusts sind von besonderer Bedeutung; denn sie sind die Zufluchtsformen, zu denen Trust- oder Kartellgesetze zwingen. Der verpönte Trust setzt in neuer, juristisch unfaßbarer Form seine wirtschaftlichen Funktionen fort.

Aus dieser Wandelbarkeit und Vielgestalt ergibt sich die Schwierigkeit, ja die Unmöglichkeit, eine Morphologie der Trusts anfzn stellen, welche der Wirklichkeit gerecht wird. Derselbe wirtschaftliche Zweck kann eben in ganz verschiedenen Formen erreicht werden. So kann /.. B., wie dies heim Whisky trust geschehen ist, durch Pachtung der zu vereinigenden Unternehmungen die Einheitlichkeit ihrer Leitung bewirkt werden. Die Einheitlichkeit des Unternehmerwillens kommt auch durch «las sogenannte factor agreemeiit zu Stande, eine Vereinbarung, in welcher der Produzent den UAndlern die Verkaufspreise vorschreibt. Die Händler bewerben sich sogar in manchen Fällen um solche Vereinbarungen, weil damit die Konkurrenz der Händler untereinander gehemmt wird.

Besonders mannigfaltige Arten der Bildung des einheitlichen Unternehmer- Willens schließen sich an die Uechtsforin der Aktiengesellschaft an. Auch die Kechtefonn „Trust" fand besonders hier häufige Anwendung. Indem die Aktionäre der Unternehmungen, welche einheitlich geleitet werden sollen, ihre Aktien, zum mindesten aber mathematisch, nicht wirtschaftlich gesprochen die Majorität der Aktien einem Vertrauenakomitee, dem board of trustees übergeben, konzentriert sich die mit dem Besitze der Aktien verbundene Uuteniehnierstellung in diesem Ausschuß. Die Dividendenberechtignng bleibt bei den Aktionären, die für ihre Aktien Trustzertifikate erhalten haben.

Zwei andere typische Formen, in denen die Aktiengesellschaft zur Trust- bildung verwertet wird, unterscheiden sich dadurch, daß in einem Falle juristische und wirtschaftliche Einheit durchgeffihrt wird, während im andern Falle die wirtschaftliche Einheit einer juristischen Mehrheit gegen übersteht Im ersten Falle tritt eine neue Aktiengesellschaft an Stelle der schon bestehenden Unter- nehmungen. so daß die Gliedunternehmungen als solche ganz verschwinden; im zweiten Falle bleiben die Gliedgesellschaften bestellen, aber die Majorität ihrer Aktien ist einer Zentralgesellschaft ausgeliefert, die wirtschaftlich nur den Zweck hat, die einheitliche Leitung dnrchzuführen. Dieser zweite Typus ist nur ein .Spezialfall der Großaktionärschaft, nämlich Großaktionärschaft durch eine juristische Person. In manchen Fälleu ist aber auch physische Großaktionärschalt ausreichend.

Die Tendenz geht im allgemeinen dahin. Trustformen zu schaffen, in denen größere Gebundenheit herrscht, der Kollektivwilli» des Kartells wird ersetzt durch

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;i08 Verhandlungen der Geselteehaft österreichischer Volkswirte.

den Einzelwillen der Großunternehmung. Dies ergibt sich aus der geschichtlichen Betrachtung der Trusts. Doch stehen sowohl der historischen wie statistischen Betrachtung grolle Schwierigkeiten entgegen. Die Vieldeutigkeit des Begriffes Trust, das Fehlen der juristischen Merkmale erschwert eine statistische Erfassung. Eine Geschichte der Trusts muH sich auf mehr oder weniger ausführliche Notizeu beschränken.

So zeigt uns die Geschichte der Standard Oil Co. eine dramatische Auf- einanderfolge voll Kartellahscblüssen und -auflüsungen. eine Kette von Kartellen der Petroleumraflinerieii und der Eisenbahnen, ln ganz verschiedenen Formen hat dieser Trust dieselbe wirtschaftliche Funktion erfüllt. Die Truststatistik, welche anläßlich des Zensus im Jahre 1900 aufgeiiomuien wurde, führt den Titel : Industrial Combinations. Sie umfaßt bei weitem nicht alles, was üblicher- weise uud in dem vorliegenden Vortrage als Trust bezeichnet wurde, nämlich nur solche Trusts, „dio durch Vereinigung einer Zahl früher selbständiger Betriebe in einer Gesellschaft durch eine zu diesem Zwecke erwirkte Charter zu stände gekommen sind“. Aus dieser Statistik ergibt sich, daß in vielen Fällen im Gebiete der Vereinigten Staaten mehrere gleichartige Trusts bestehen; dies ist begreiflich, denn jeder Trust bezieht sich ja nur auf einen bestimmten Mark t. der nicht immer mit einen Staats- oder Verwaitungsgebiete znsamiiieiifällt. Aus dieser Statistik ergibt sich weiters, daß in den Trusts nicht nur gleichartige Industrien, sondern auch verwandte und Hilfsindustrien vereinigt sind. Wenn die europäischen Kartelle als homogene bezeichnet werden, kann man in Amerika von homogenen und allogenen Trusts sprechen.

Die Ursachen der Trustbildung sind nicht identisch mit den l'rsachen der Kartellbildung in Europa Entstehen die europäischen Kartelle in ihrer Mehrzahl zur Zeit der sinkenden Konjunktur, sind genule die Trusts der jüngsten Jahre in der Zeit der steigendeu Konjunktur entstanden; den organisatorischen Trusts lassen sich die spekulativen an die Seite stellen. Der spekulative Trust entsteht durch „Gründung“. Die aus der Bildung des einheitlichen Unternehmerwillens erhofften Vorteile werden kapitalisiert, scholl in der Gegenwart flüssig gemacht. Pie Überkapitalisierung, die Verwässerung des Aktienkapitals ist das Mittel, um Gründer und Kursgewinne zu erzielen.

Bei Betrachtung der Voraussetzungen der Trustbildung muß man zwischen spekulativen und organisatorischen Trusts unterscheiden. Die spekulativen Trusts haben eine Keibe von Voraussetzungen, deren Darlegung eigentlich eine Charakteristik der amerikanischen Volkswirtschaft wäre; die organisatorischen Trusts beruhen im großen und ganzen auf denselben Voraussetzungen wie die koiitineutal-europäischen Kartelle; doch haben die spezifisch amerikanischen Fracht- begünstigungen an der raschen Trustentwicklung besonderen Anteil. Nur Schutzzoll uud Frachtbegünstigung sollen als Voraussetzungen der Trusts erörtert werden.

Der Zusammenhang von Trust und Schutzzoll ist in Amerika wohl ein doppelter. Durch die schnelle Aufeinanderfolge der Zollerhühuugen wurde eine überrasche Industrieentwicklung veranlaßt und so eine Überproduktion herbei- gefübrt, die in dem Zusammenschluß der Konkurrenten endigen mußte. Ferner aber wird das ausschließende Marktverhältnis der Trusts durch den Ausschluß

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CXIX. und CXX. Plenarversammlung- ;u 1 1, 1

oder diu Erschwerung der ausländischen Konkurrenz gefestigt. Dies zeigt sich besondere in den Trostpreisen.

Die Frachtbegünstigungen, die „railroad discriminationa“ , bestehen in ihrer einfachsten Form darin, daB einem einzelnen Verfrachter günstigere Tarife gewährt werden als anderen. Die Konkurrenten dieses begünstigten Verfrachters sind auller stände den Wettbewerb auszubalten und müssen trachten, im Vertrags- wege mit dem begünstigten Verfrachter derselben Vorteile teilhaftig zu werden, sie streben eine Interessengemeinschaft in irgend einer Form an.

In der jüngsten Zeit werden die Wirkungen der spekulativen Trusts in viel höherem Grade fühlbar als die der organisatorischen Trusts. Dies ergibt sich zum Teil aus der großen Elastizität der amerikanischen Volkswirtschaft, zum größeren Teil aber ans der besonders günstigen Konjunktur der letzten Jahre.

Eino Analyse der Wirkungen der Trusts ist deshalb schwierig, weil dio Trusts meistens in kapitalintensiven Industrien entstehen, so daß sich die Wirkungen der Kapitalintensität und der Trusts nicht gut sondern lassen. Besondere Vorteile bietet die Organisationsart, welche oben als allogen bezeichnet wurde, die Vereinigung korrelativer Industrien. Wenn verschiedene Stufen der Produktion innerhalb derselben Unternehmung durchlaufen werden, entfällt, juristisch

gesprochen, die Notwendigkeit in vielen Verträgen, wirtschaftlich gesprochen, der Kampf um den Vertragsinhalt (Preise, Lieferzeiten, Vertragsdauer). Dadurch wird die Widerstandsfähigkeit der Organisation gegen Konjunkturschwankungen gehoben.

Die Preisbildung der Trusts beruht sicher auf den Erwägungen, die den Monopolpreis herbeifübren. Doch erfährt der Monopolpreis gewisse Modifikationen, da die Prämissen, unter denen der reine Monopolpreis zu stände kommt, hier nicht zntrefTen. Es wird vor allem nicht der größte unmittelbare Tauschvorteil ange- strebt. sondern nur die größt« Rentabilität. Zweitens aber ist das Absatzgebiet eines Trust nicht als ein unter gleichartigen Bedingungen stehender Markt auf- zufassen, sondern als eine Gruppe verschiedener Märkte, deren Preise auch ver- schieden sein müssen. Aus den lokalen Preisverschiedenheiten erstehen den Trusts viele Gegner.

In diesen Zusammenhang gehören auch die billigeren Auslandspreise und die sogenannten Ausfuhrprämien der Trusts, die aber mit den staatlichen Export- prämien nur den Namen gemeinsam haben.

Das Verhältnis der Trusts zu der Arbeiterschaft ist nicht ganz klarzu- stellen. Das prinzipielle Wohlwollen der Gewerkvereine beruht im wesentlichen auf der Analogie von Trust und Gewcrkverein; die Lohnstatistik ist nicht genügend eindeutig, um darauf Schlüsse basieren zu können. Die Erfahrungen aber, welche bei den großen Ausständen der letzten Jahre gemacht wurden, scheinen für die Arbeiter ungünstig zu sein.

Eine Antitrustpolitik mit wirtschaftlichen Mitteln ist in den Vereinigten Staaten noch nicht inauguriert worden, die Bewegung zu Gunsten einer Tarif- ermäßigung hat in nächster Zukunft nicht viel Aussicht auf Erfolg. Die vielen Antitrustgesetze, welche versuchten mit den Mitteln des Zivil- und Strafrechtes die Trusts zu bekämpfen, hatten nicht die gewünschte Wirkung. Es wurde zwar eine rechtliche Umformung der Trusts erzielt, aber wirtschaftliche Änderungen

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810 Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkiwirte.

traten nur insofern ein, als da« Trustproblem durch die Probleme des Aktien- rechtes kompliziert wurde. Die Gründe für die Erfolglosigkeit dioser Gesetzgebung liegen zum Teil in der Verfassung der Vereinigten Staaten, zum Teil in der Materie selbst. Die Begriffe, mit denen die Gesetzgebung und Rechtssprechung operieren mußte, sind zn wenig präzis, um eine konsequente Judikatur zu ermög- lichen; die Merkmale der Begriffe restruint of trade, public policy, monopoly, werden den Anschauungen des Richters entnommen, der so meist nach national- ökonomischen Vorurteilen Recht spricht.

Die Trusts sind insofern ein europäisches Problem, als die Frage gilt, ob die Trustbildung typisch ist. ob die Bildung einheitlicher Unternehmerwillen auch in Europa .statttindet. Es braucht nicht weiter erörtert zu werden, daß dies der Fall ist. Inwieweit die Trusts Träger der amerikanischen Konkurrenz sind, diese Frage bezieht sich nur auf die Überlegenheit der amerikanischen Organisations- fortuen ; zweifellos ist besonders der allogene Trust den europäischen Formen überlegen; wenn wir die Anfänge zu solchen Organisationen, die sich in Europa zeigen, fördern, dann werden wir in der Lage sein, die amerikanische Konkurrenz mit ihren eigenen Waffen zu bekämpfen, neben dem wirtschaft- lichen Festungskrieg auch die offene Feldschlacht aufzunehmen.

Außerordentliche Generalversammlung.

Am 16. Dezember 1902 dem 80. Geburtstag August Meitze ns hielt die Gesellschaft eine außerordentliche Generalversammlung zur Ehrung August Meitzens ab.

Präsident Hofrat Professor Dr. von Philippovicli gibt zunächst den Zweck der Einberufung einer außerordentlichen Generalversammlung bekannt, den 80. Geburtstag Professor August Meitzens zu feiern, der als einer der hervorragendsten Agrarhistoriker auch für uns in Österreich eine besondere Be- deutung besitze; Meitzen habe den Ansiedlungsform en auch auf österreichischem Boden seine Aufmerksamkeit gewidmet, er habe wiederholt unser Vaterland bereist, mit österreichischen Gelehrten Fühlung genommen, um in die Ansiedluiigsver- lialtnisse auf österreichischem Boden Einblick zu gewinnen. Der Vorsitzende bittet hierauf, den Antrag des Vorstandes, August Meitzen zum Ehrenmitglied der Gesellschaft zu ernennen, zu erwägen, und ersucht Se. Exzellenz Herrn Dr. von I ii a in a - S t e r n e g g einen Vortrag über Meitzen zu halten. Der Text dieses Vortrages ist in dein l. Hefte dieses Jahrganges veröffentlicht.

Nach Schluß dieses Vortrages wurde der Antrag. August Meitzen zam Ehrenmitglied der Gesellschaft zu ernennen, mit Akklamation und unter lebhaftem Beifalle angenommen, worauf der Präsident sagte: Wir wollen Meitzen noch eine kleine Huldigung darbringeu. indem wir anknüpfend an jene Arbeiten Meitzens. von denen uns Exzellenz von luaina erzählte, uns eine Skizze dessen entwerfen lassen, was sich an jenes Alte anschließt und sich als Gegenstand der heutigen Agrarpolitik darstellt. Wir kamen deshalb auf die Idee, an den Vortrag, der uns die Person Meitzens schildert, eine kurze Darstellung der agrarischen Operationen in Österreich folgen zu lassen, insbesondere jener agrarpolitischen Arbeiten, welche unmittelbar Zusammenhängen mit den Forschnngsaufgaheu. denen Meitzen «ddag.

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CXXI. Plenarveraammlang.

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Hierauf eröffnet« der Vorsitzende die

CXXI. Plenarversammlung.

in welcher, dieser Anregung Folge leistend, Herr Dr. Walter Schiff einen Vortrag über die agrarischen Operationen in Österreich hielt. Der Vortragende führte ans:

Die Flurverfassung in der Mehrzahl der Gemeinden Österreichs leidet an einer Reihe großer Übelstände. Diese sind verschieden einerseits hinsichtlich der extensiven, anderseits hinsichtlich der intensiven Kulturen; die extensiven Kul- turen. leiden an einer 7.u starken Konzentration des Besitzes oder doch an einer zu starken Gemeinsamkeit der Nutzungen; die intensiven Kulturen hingegen umgekehrt an einer zu starken Zersplitterung. Die Nachteile des erstgenannten Zustandes sind gegenseitige Konflikte zwischen den mehreren nutzungsberechtigten Personen, ökonomische Abhängigkeit, schlechte Bewirtschaftung. Raubbau, infolge dessen Verschlechterung der Landeskultur; die Nachteile der Zersplitterung bei den intensiven Kulturen sind Verlust an produktivem Boden, Steigerung der Bestellungskosteil, wechselseitige ökonomische Abhängigkeit.

I. Die extensiven Kulturen befinden sich in gemeinsamer Nutzung aller oder doch einer großen Anzahl von Bauern; diese sind berechtigt, im Wald sich das erforderliche Holz schlagen, die notwendige Streu zu sammeln, ihr Vieh in die Wälder, auf die Alpen oder Hutweiden zur Weide zu treiben. Diese Natural- nutzungen sind heilte vielfach noch, namentlich in den Alpciilämlcm, für die bäuerliche Wirtschaft unentbehrlich. Die Formen dieser gemeinsame)! Nutzungen sind sehr verschied**» : bald steht das Eigentum am Walde und au der Alpe einer einzelnen physischen oder juristischen Person zu, und die Bauern haben au dom Boden jura in re aliena, also subjektive Privatrecht«, Dienstbar- keiten; bald liegt Gemeindegut vor, wobei alle GemeindegeitosBen oder bestimmte Klassen derselben berechtigt sind, das Gemeiudegut zu benutzen, und zwar nicht kraft eines subjektiven Privatrechtes, sondern als Ausfluß der Geiiieiudeangehörigkeit, demnach als eine öffentlich-rechtliche Befugnis ; oder endlich der gemeinsam ge- nutzte Boden steht im Eigentum der Nutzungsberechtigten selbst, die Nutzungen sind hier Ausfluß des Miteigentums.

Im ersten Falle, dem der Forst- und Weideservituten, besteht der Übelstaud. daß beide Teile einander ökonomisch schädigen können, daß sie sich in einer wechselseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeit befinden. Die Servitutsberechtigten gehen schonungslos mit dein fremden Walde, der fremden Weide um; die Dienstbarkeit hindert den Gutsbesitzer, den Betrieb rationell zu gestalt«», intensivere Wirtschafts- methoden einzuführen. Anderseits befindet sich auch der Servitutsberechtigte Bauer in einer stark wirtschaftlichen Abhängigkeit von dem Grundherrn. Dieser hat nebst den ungesetzlichen auch eine groß*- Anzahl von ganz gesetzlichen Mitteln, um den Servitutsberechtigten die Nutzungen zn verleiden; er kann diesen dabei so chikanieren, ihn so sehr schädigen, daß er auf die Ausübung seines Rechtes ver- zichten und damit die Grundlage seiner wirtschaftlichen Existenz aufgeben muß.

Andere Übelständ« liegen dort vor, wo der extensiv benutzte Boden Ge- meingut ist oder einer der unorganisierten Gemeinschaft von Bauern gehört.

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:S12 Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirt*.

Dioso beiden Formen kann man unter dem Kamen der agrarischen Ge- meinschaften zusamineufassen. Es ist vielfach kein Organ, keine Autorität da, die für eine ordentliche Bewirtschaftung und für eine 'pflegliche Behandlung der Kulturen sorgen würde. Die Nutzungsrechte der einzelnen Genossen sind in der Regel nicht ziffermiiällig bestimmt, sondern sie lauten auf den Haus- und Gutsbedarf, wodurch der Willkür, dem Eigennutz Tür und Tor geöffnet ist Der wirtschaftliche Zustand der meisten agrarischen Gemeinschaften ist ein elender; die Wälder werden devastiert, die Alpen und Weiden mit Vieh überstellt, so daß sich ihre Ertragsfähigkeit immer mehr vermindert. Durch die Devastiernng der Wälder sind in vielen Gebirgsgegenden neue Wildbäche entstanden und die alten au Gefährlichkeit gewachsen.

II. Das Acker- und Wiesenland kann auf sehr verschiedene Weise unter die einzelnen Bauerngüter verteilt sein. Boi uns herrscht die Gemengelage, der Streubesitz vor; d. h. das Bauerngut besteht aus einer sehr großen Anzahl von Parzellen, die ganz zerstreut in den verschiedenen Teilen der Dorfflur gelegen sind. Es ist durchaus nichts Seltenes, daß ein Bauerngut, aus 50, 00, 70 Stücken besteht, die oft mehrere Kilometer weit voneinander entfernt sind. Außerdem sind die einzelnen Besitzstückc irrationell geformt, and sie stoßen nicht au Wege oder Straßen an. Diese Flureinteiluug hat zahlreiche und schwerwiegende Nach- teile zur Folge.

Aus je mehr einzelnen Parzellen ein Besitz von gegebener Grüße besteht, um so länger muß der gesamte Umfang, die gesamte Länge der Grenze wordeu. Damit steigt aber einerseits die Möglichkeit für fremde Eingriffe von Mensch nnd Vieh und für die Invasion von Pflanzenschädlingen, vor allem aber der Verlust an produktiven Boden, denn die Grenze von zwei Grundstücken ist keine ganz mathe- matische Linie, sondern ein Kain oder eine Furche von wenigstens SO cm Breite.

Auch die ungünstige Form der Parzellen erhöht die Betriebskosten und den Flächenverlust, denn auch sie steigert die Länge der Grenze. Denn je un- gleicher die Seiten bei rechteckiger Form des Grundstückes sind, um so gröfler ist dessen Umfang. Ganz besonders nachteilig sind Parzellen mit stumpfen oder spitzen Winkeln. Diese können mit den gewöhnlichen Ackergeräten nicht bestellt werden, sondern müssen auf mühselige und kostspielige Weise mit der Hand be- arbeitet werden.

Auch die gegenseitige Entfernung der Parzellen erschwert die Bodenbe- stellung aufierordeiitlich; sie macht eine große Anzahl von unproduktiven Gängen und Fuhren notwendig, welche die Betriebskosten erhöhen müssen.

Endlich stoßen nicht alle Parzellen an Wege nnd Straflen an, können also nur über das Grundstück eines Nachbars betreten werden. Übertritts- und Über- falirtsrechte können natürlich nur zu solchen Zeiten ausgeübt werden, wo dies für das zwischeniiegeude Feld unschädlich ist. Dadurcli wird der eine Landwirt in der Bestellung seines Bodens davon abhängig, was sein Nachbar baut ; es besteht, wenn auch nicht rechtlich, so doch faktisch, ein Flurzwang, der dem Fortschritt auf landwirtschaftlichem Gebiete so auflerordeutlich hinderlich ist

Die Servitutswälder haben gegenwärtig eine Ausdehnung von l'/j Millionen Hektar, 15 Proz. der gesamten Waldfläclic. Die agrarischen Gemeinschaften

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i A \ I. Plenarversammlung.

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bedecken in zwölf Kronländern eine Fliehe von mehr ak 3,000.000 Hektar, d. h. mehr als 31 Proz. der Untweiden, Alpen and Wilder. Von 25.000 Katastral- gemeinden haben nur 4700 oder 21 Proz. überwiegend arrondierten Besitz, 2000 = 9 Pmz. Hofsystem mit Gemengelage, 17.000 = 70 Proz. Dorfsystem mit Gemengelage. Der Streubesitz dominiert demnach in mehr als V, aller Katastralgemeinden Österreichs, und zwar auch in den Alpenländem.

Wenn gegenwärtig der Bauernstand sich, zwar nicht überall aber doch großenteils, in einer bedrängten Lage befindet, so ist dies nach Ansicht des Beferenten wesentlich mit auf die besprochene Flurrerfassung, auf die Servituten* nnd Gemeinschaftsverhältnisse, auf die irrationelle Flureinteilung zurückzuführen.

Sicherlich spiele auch die geringe allgemeine technische und ökonomische Bildung des Bauernstandes sehr stark mit und das Sinken der Getreidepreise. Doch könne man behaupten, daß die hier besprochenen Übelstände den Bauern- stand weit mehr gefährden als jene Dinge, welche die agrarischen Parteien in den letzten Jahrzehnten so sehr bekämpfen: Freiteilbarkeit, gleiches Erbrecht, freie Verschuldbarkeit der Bauerngüter oder dei Tenninhandel. Es sei daher zweifellos Pflicht des Staates einzngreifen, um die herrschenden Übelstände zu beseitigen. Es könne dabei zwar nicht ohne die Ausübung eines gewissen Zwanges abgehen, bei den Servitnten und bei den agrarischen Gemeinschaften int Sinne einer gänzlichen Beseitigung des Rechtsverhältnisses oder doch im Sinne einer genauen Regulierung desselben, hinsichtlich der Finreinteilnng im Sinne einer zwangsweisen Zusammenlegung der Parzellen in der ganzen Flur; aber da dieser Zwang nur ausgeübt werde für die wirtschaftliche Freiheit des Landwirtes, so bewege mau sich damit durchaus in der Linie des ökonomischen Liberalismus.

In Preußen hat denn auch die Beseitigung der in Rede stehenden Überreste der alten Agrarverfassung in unmittelbarer Folge der Bauernbefreiung und Grund- entlastnng sehr radikal stattgefunden.

In Österreich hat man nur die Forst- und Weideservitnton mit einer gewissen Energie angepackt. Ein Patent vom Jahre 1853 ordnet an. dall alle solche Dienstbarkeiten von Amt* wegen entweder durch Ablösung beseitigt oder doch reguliert werden müssen, und tatsächlich ist diese Operation im großen und ganzen in allen Kronländern schon längst beendigt.

Allein deren Wirkung war in weiten Teilen Österreichs von großem Schaden für die nutzungsberechtigten Bauern. Das Gesetz nimmt so einseitig Partei zu Gunsten der großen Wald- und Alpenbesitzer und zum Nachteile der Bauern, daß diese dort, wo Ablösungen vorgenommen wurden, für die Aufhebung ihrer Rechte kein entsprechendes Äquivalent erhielten und so materiell geschädigt wurden. In den Alpenländern, daun auch in Galizien sind viele Bauern an der Servitutenablösung zu Grunde gegangen.

Die Regulierung, die in vielen Kronländern die Kegel gebildet bat. war vielfach eine so ungenügende, die Bauern wurden dabei oft so benachteiligt, daß auch gegenwärtig trotz der durchgeführten Regulierung die Bedrückung der nutzungsberechtigten Itanem fortdauert, daß auch jetzt keineswegs Ruhe und Ordnung herrscht, vielmehr der Jahrhunderte alte heftige Kampf um die Wald- und Weideuutzu ugen weiter gekämpft wird.

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Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.

Dieser für die Kulturen so schädliche Kampf kann nur durch eine neuer- liche Operation beseitigt werden. Die unablösharen Servituten müssen überall dort für ablösbar erklärt und auch abgelöst werden, wo dies möglich ist, ohne den Wirtscbaftsbetrieb der berechtigten Dauern au schädigen. Wo dagegen auch heute noch die Bauern auf die Naturalnutznngcn nicht verzichten können, dort müßte eine neuerliche und viel genauere Regelung der Verhältnisse vorgenommen werden.

Das Bedürfnis nach Beseitigung oder Regulierung der agra- rischen Gemeinschaften und nach einer Neneinteilung der Feld- fluren hat in Österreich viel später zu gesetzlichen Normen geführt, die bisher leider noch nicht von besonders großer Wirksamkeit gewesen sind.

Der Keim für die geringe praktische Wirksamkeit dieser Gesetzgebung liegt schon darin, daß sie bloße Rahmengesetze sind, die nnr dann und dort in Kraft traten, wann und wo ausführende Landesgesetze erlassen werden. Nun hätte allerdings die Regierung auf die Landtage einen Druck in der Richtung ausüben können, daß diese möglichst rasch die notwendigen Landesgesetze be- schließen; aber das geschah leider nicht. Der Kifer der Regierung war offenbar erkaltet. Nur in einigen wenigen Landtagen wurden sofort Regierungsvorlagen eingebracht. Manche Länder, wie z. B. Galizien, mußten erst viele Jahre lang inständig bitten, ehe sie Regierungsvorlagen erhielten. Die Salzburger Landes- gesetze. die im Jahre 1892 publiziert wurden, sind heute nach 10 Jahren noch nicht in Wirksamkeit, weil die Durchführungsverordnung hiezu derzeit noch nicht erlassen ist!

So sind denn ßemeinheitsteilungs- und Kommasaationsgesetze zunächst nur in Niederösterreich. Schlesien und Mähren zu stände gekommen das Salz- burgische zählt ans dem angeführten Grunde nicht mit , außerdem Gesetze über Teilung und Regulierung von agrarischen Gemeinschaften in Kärnten und Krain. Krst in den allerletzten Jahren ist wieder ein gewisser Fortschritt be- merkbar; in den beiden zuletzt genannten Kronländem wurden Zusammenlegungs- gesetze erlassen, in Galizien kam endlich sowohl ein Kommassationsgesetz als auch ein Gesetz über agrarische Gemeinschaften zu stände. In den anderen Kronländem hat die Regierung Vorlagen überhaupt nicht eingefiracht, mit Aus- nahme von Böhmen, wo der Landtag eine solche teils aus unbegründeten staats- rechtlichen Kompetenzbedenken, teils aus nicht unberechtigten sachlichen Hin- wendungen gegen das Kommassationsgesetz verworfen hat.

Der oberste Grundsatz der Gesetze ist, daß diese Operationen in der Regel nur über Verlangen eines Teiles der Grundbesitzer vorgenommen werden dürfen, und daß die überstimmten Beteiligten sich dem Zwange der Zustimmenden fügen müssen. Man mnß es außerordentlich bedauern, daß die Regulierung der agrarischen Gemeinschaften nicht imperativ, von Amts wegen angeordnet worden ist. Kür die Provokation ist mit gewissen lokalen Ausnahmen die Zu- stimmung der Hälfte der Beteiligten erforderlich. Diese Norm erschwere, meint der Referent, die Provokation sehr.

Ist die Einleitung der agrarischen Operation erfolgt, so wird dnreh eigens bestellte Behörden (Lokal-, Landes-, Ministerialkoinmission) in einem ziemlich

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CXXI. Plenam »Sammlung.

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komplizierten Verfahren die Operation durchgefübrt. Sie besteht bei der Regelung der Gemeinschaft in einer genauen Festeteil ong der Nutzungsrechte selbst, in der Aufstellung der Verwaltungsnonnen und in der Schaffung von Verwaltungs- organen für die Gemeinschaft Bei der Teilung der Gemeinschaft wird nach dem gegenseitigen Wert Verhältnis der Nutzungsrechte das gemeinschaftliche Grund- stück geteilt. Für die Zusammenlegung der Grundstücke muß für jede einzelne Parzelle die Fläche und deren Wert festgestellt werden; hierauf werden in der Flur die gemeinsamen Anlagen (Wege. Brücken, Entwässerungen. Bachregnlierungen u. s. w.) projektiert, endlich wird ein Plan für eine neue Flureinteilung verfaßt, wobei die neuen Besitzungen aus einigen wenigen, möglichst rationell geformten und leicht zugänglichen Abtindungsstücken bestehen sollen. Die einzelnen Fest- stellungen und Bewertungen, die der Lokal kommissär vomimmt, müssen in der Form von Registern und Plänen öffentlich kund gemacht und durch eine längere Frist zu jedermanns Einsicht aufgelegt werden. Gegen sie können die Beteiligten Rechtemittel an die Landeskoinmission und die Ministerialkominissiou ergreifen. Ist über diese Rechtsmittel rechtskräftig entschieden, daun wird der Teilungs- oder Regnlierungsplan ausgeführt, für die Zusammenlegung der Grundstücke muß hingegen erst in diesem Stadium noch eine zweite Abstimmung der Grundbesitzer vorgenommen werden, wobei ein Zusammenlegungsplan nur dann als angenommen gilt, wenn sich mehr als die Hälfte der Grundbesitzer dafür ausspricht, und wenn auf die den letzteren gehörigen Grundstücke wenigstens */a des Katastralertrages der zu kom massierenden Fluren entfallen. Kommt diese qualifizierte Majorität nicht zu stände, so sind die ganzen langjährigen Arbeiten nmsonst gewesen, die Zusammenlegung wird nicht durchgeführt, und die Antrag- steller haben nach den meisten Landesgesetzen auch noch die Kosten zu tragen.

In dieser Bestimmung erblickt Referent einen ernstlichen Fehler des Ge- setzes. Die ganzen Kommassationsarbeiten worden dadurch auf das Niveau eines bloßen Experimente herabgedrückt. Die Notwendigkeit der zweiten Abstimmung müsse auch das Verfahren selbst beeinflussen. Diese soll nur durch die Grund- sätze der Gerechtigkeit und der technischen Zweckmäßigkeit bestimmt sein. Wegen der zweiten Abstimmung müsse der ausfühlende Beamte, will er nicht umsonst gearbeitet haben, auch die unberechtigten Ansprüche und unzweckmäßigen Wünsche derjenigen Grundbesitzer berücksichtigen, welche durch ihren größeren Besitz ihrer Abstimmung einen besonderen Nachdruck verleihen können.

Die Erfolge der agrarischen Operationen waren in qualitativer Beziehung durchaus sehr gute. Die Teilung der Gemeinschaften hat zu einer besseren Aus- nützung des Bodens und zu einer sorgfältigeren Pflege desselben geführt. Aus der Zusammenlegung der Grundstücke sind für die betreffenden Gemeinden außer- ordentlich große, wirtschaftliche Vorteile erwachsen.

Zu bedauern ist, daß der quantitative Erfolg dieser Gesetzgebung hinter den gehegten Erwartungen und den berechtigten Wünschen weit zurückgeblieben ist.

Bis zun\ Jahre 1897 waren erst 56 Zusammenlegungen beantragt, 24 davon durchgefübrt.

Bis Ende 1901 waren noch nicht 100.000 Hektar agrarischer Gemein- schaften reguliert oder geteilt.

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Verhandlungen dar (MMllft österreichischer Volkswirt«.

Referent schloß: Kine hochwichtig«, für das Gedeihen der bäuerlichen

Landwirtschaft entscheidende Aufgabe haben Gesetzgebung und Verwaltung in Österreich zu lösen bisher erst begonnen. Ks ist von der allergrößten volkswirt- schaftlichen Wichtigkeit, daß alle Faktoren Zusammenwirken, um die Flurver- fassnng in rationeller Weise umzugestalten. Hiezu ist nötig

1. hinsichtlich der Servitutengrundstücke die Durchführung einer neuerlichen Ablösung»’ und Regulierungsaktion von Amts wegen;

2. hinsichtlich der agrarischen Gemeinschaften die Vornahme von Re- gulierungen von Amts wegen in all den Fällen, wo die Teilung nicht provoziert wird;

3. die Erleichterung der Voraussetzungen für die Teilung dadurch, daß die Provokation von einer Minorität der Beteiligten genügt;

4. das zuletzt Gesagte gilt anch von den Zusammenlegungen, bei denen insbesondere die zweite Abstimmung nach Durchführung des ganzen Verfahrens zu entfallen hätte;

3. in allen Kronländem, in welchen ein Bedürfnis nach Gomeinheita- reguliernng. Teilungen der Kommassationen besteht, müßte energisch auf das Zustandekommen der betreffenden Landesgesetze hingewirkt werden, die Durch- führungsverordnungen müßten schleunigst erlassen und für die Bereitstellung eines genügenden technischen Personals müßte gesorgt werden;

6. endlich müßten alle Mittel angewendet werden, nm die ländliche Be- völkerung von den großen Vorteilen der agrarischen Operationen zn überzeugen.

Erst wenn alle diese Postulats erfüllt sein werden, werden die Vorbe- dingungen geschaffen sein, damit auch die österreichische bäuerliche Landwirtschaft sich die ökonomischen und technischen Errungenschaften der Gegenwart aneigne, daß sie trotz Ungunst der Konjunktur sich im Kampfe ums Dasein behaupte; denn vorübergehend mag es möglich sein, auch das Untüchtige durch künstliche Schranken und Stützen zn erhalten; auf die Dauer muß jeder Einzelne nnd so anch jede Klasse durch eigene Kraft die Daseinsberechtigung sich erkämpfen.

CXXII. Plenarversammlung.

Am 13. Jänner 1903 hielt Herr Reichsratsabgeordneter Wrabetz einen Vortrag über die Reform des Gesetzes über die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften. Dem Wosen und dem Zweck der Genossenschaften liegt, wie der Referent ausfuhrt. der Satz zn Gründe, daß mehrere kleine Kräfte vereint eine große Kraft bilden, und daß, wenn man etwas für sich allein nicht zn vollbringen vermag, man sich zu diesem Zwecke mit anderen verbinden soll. Die Genossenschaft soll ohne Ertötung der Selb- ständigkeit des Individuums jedem, besonders dem wirtschaftlich Schwachen lohnende Tätigkeit gewähren oder das Erträgnis seiner eigenen Tätigkeit lohnender gestalten, nicht aber eine Form der Assoziation für kapitalistische Kreise abgeben.

Die Genossenschaften zerfallen in die zwei Hauptarten der Produktions- und Distributivgenossenschaften. Der Zweck der Produktionsgenossenschaften ist die Vermehrung der Einnahmen, und ihre Hanptarten sind Vorschuß- und Kredit- genossenschaften, Rohstoff- und Maguzinsgenossenschaften. di« sämtlich mit der

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CXXIf. Plenarversammlung. :(I7

gewerblichen oder landwirtschaftlichen Produktion Zusammenhängen, nnd endlich die Produktivgenossenschaften im engeren Sinn des Wortes. Die Distribntiv- gennssenschaften haben lediglich den Zweck der Verminderung der Ausgaben durch Förderung der Wirtschaft der Mitglieder im engeren Sinne, es sind dies Konsumvereine und Baugenossenschaften. Das Hauptmerkmal aller Genossen- schaften ist. daß die Mitglieder die Träger des Unternehmens sind, und daß sie auch die Produktiv- und Magazinsgenossenschaften ausgenommen die Kunden des Unternehmens sein sollen. Dies unterscheidet die Genossenschaft von der Aktiengesellschaft. Unser Genossenscbaflsgesetz hat sich auch nur physische Personen als Mitglieder gedacht. Allerdings sind die Meinungen über diese Frage in den letzten Jahren vielfach auseinandergegangen. Keferent steht auf dem Standpunkte, daß das Genossenschaftswesen nur zur Hebung des materiellen Wohles physischer Personen gedacht ist.

Die praktischen Erfahrungen in den 29 Jahren der Geltung des Gesetzes haben Mängel mehrfacher Art gezeigt: Dispositionsmängel und Unklarheit im Gesetze seihst. Mißbräuche und Auswüchse in den Genossenschaften, Mißbräuche der genossenschaftlichen Form durch Kreise, für welche sie nicht bestimmt ist, und prinzipiell unrichtige Auffassung der genossenschaftlichen Tätigkeit seitens der staatlichen Behörden. Ein neues Genossenschaftsgesetz soll hier Abhilfe schaffen. Die Regierung bat im Jahre 1897 dem Abgeordnetenhause ein solches Gesetz vorgelegt; seit vorigem Jahre liegen auch zwei Gesetzentwürfe von Abgeordneten vor. Unser Gesetz vom Jahre 1873 gewährt den Genossen- schaften vollständige Autonomie und Bewegungsfreiheit; es enthalt wenig zwingende Bestimmungen, überläßt das meiste vollkommen dem freien Ermessen und der Einsicht der Mitglieder, ja es geht soweit, daß nicht einmal der Anfsichtarat für die Genossenschaft obligatorisch vorgeschrieben ist. Man glaubt«, die Mit- glieder würden sich selbst um ihr Interesse kümmern.

Die internen Mißbräuche, die durch die Beschaffenheit der meisten genossen- schaftlichen Statute bedingt und befördert wurden, sind Allteilshäufungen in einer Hand, ungleiches Stimmrecht, Zulassung von Stellvertretern in der General- versammlung dadurch bedingt* Strohmännerwirtschaft Entziehung des Stimmrechtes der Mitglieder nnter irgend welchen anstichhältigen Gründen, Ver- sagung der Dividenden, ein autokratisches Regime des Vorstandes, der sich in solchen Fällen meist .Direktion“ nennt. Infolge dieser Mängel kann man manche Genossenschaften von Aktiengesellschaften trotz der großen prinzipiellen Ver- schiedenheit überhaupt nicht mehr auseinander kennen. Der große Unterschied zwischen ihnen soll nun im neuen Genossenschaftsgesetze nicht nur theoretisch festgehalten, sondern mehr als bisher praktisch verwirklicht werden. Gründungen, wie Bräuhäuser, Kartelle n. dgl. in genossenschaftlicher Form sollen in Zukunft verhindert werden, denn das kann man nicht mehr Entwicklung, sondern nnr Miß- brauch der genossenschaftlichen Form nennen. Die Genossenschaft soll in erster Linie die Möglichkeit der Existenzverbesserung der kleinen, unbemittelten oder nur schwach bemittelten Leute bieten, sie soll aber nicht der Deckmantel sein für kapitalistische Vereinigungen, die vielleicht die Erlaubnis zur Bildung einer Aktiengesellschaft nicht bekommen.

Zeitschrift für VolkawlrtMha/t, Sozialpolitik und Vi>rtraltiiD(. XII. Band. 22

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Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.

Um solche Mißbräuche zu vermeide», wird es notwendig sein, daß der Reform des Ueuosseuschaftsgesetzes eine Reform des Gesetzes über die Aktien- gesellschaften und die Schaffung eines Gesetzes für Gesellschaften mit beschrankter Haftpflicht vorausgehen. Die kapitalistischen Genossenschaften und ihr ganzes Gebaren führen zu einer unrichtigen Auffassung der genossenschaftlichen Tätig- keit seitens der politischen und der Finanzbehörden. Sie sehen in der Regel in allen Genossenschaften Erwerbsunteiuehinuugen. Ks ist dies im Hinblick auf die Besteuerung deshalb wichtig, weil Erweibsgenossonschaften doch nur jene sind, welche ihre Tätigkeit über den Kreis ihrer Mitglieder hinaus erstrecken. Alle übrigen fördern doch nur das ohnehin schon besteuerte selbständige Unternehmen des einzelnen Mitgliedes der Genossenschaft. Die Distributivgenossenschaften erwerben aber gar nichts, sondern haben lediglich den Zweck der Verminderung der Ausgaben. Diese sollte aber keinesfalls Gegenstand der Besteuerung sein, weil sie keine Vermehrung des Einkommens bedeutet, und hier eigentlich eine Steuer für die Sparsamkeit, für eine vernünftige und ordentliche Wirtschaft im Hause verlangt wird. Die kapitalistischen Answüchse im Genossenschaftswesen verhindern jedoch das Platzgreifen dieser Ansichten hei uns. Die Auswüchse im Genossenschaftswesen haben auch dazu geführt, daß unsere Juristen sich eine andere unrichtige Konstruktion zurecht gelegt haben : nicht der Erwerb des Mitgliedes werde gefordert, nicht die Ausgaben des Mitgliedes werden ver mindert, nein, die Genossenschaft als juristische Person produziere einen Gewinn, und dieser Gewinn werde an die Mitglieder verteilt. Auch wirtschaft- liche Körperschaften, wie die Handelskammern, sind sich übei diese Frage nicht klar. 4 her auch unser Handelsministerium hat in dieser Beziehung eiuen falschen Standpunkt. Durch das Steuorgesetz vom 25. Oktober 18% wurden die Erwerbs- und Wirtschaftsgeiiossenschafteu wieder in das zweite Hauptstück betreffend die Krwerbsteuer von den der öffentlichen Rechnungs- legung unterworfenen Unternehmungen eingeruiht und zur Entrichtung einer Krwerbsteuer verhalten. Dadurch ist eigentlich das frühere Gesetz vom 27. De- zember 1880. das die Genossenschaften von der Erwerbgteuer des Jahres 1812 befreite mit der Begründung, daß hier ein Erwerb nicht vorliege, illusorisch gemacht. Es wurde aber eine Unterabteilung geschaffen und im Absätze II des § 83 des zweiten Hauptstückes die auf Selbsthilfe beruhenden Unternehmungen im Gesetze als gemeinnützige Unternehmungon angeführt: das Finanzministerium hat bekannt gegeben, daß die im zweiten Hanptstücke genannten Genossen- schaften zu den Haiidelskamniorumlageu nicht heranzuziehen seien. Das Handels- ministerium zieht sie aber jetzt alle heran. Das Handelsministerium sagt hier: »Der Konsumverein hat nach seinen Statuten den Zweck, für seine Mitglieder Waren gegen Barzahlung anzuschaffen und Kapitalien zu sammeln** das Ersparnis bei Einkäufen nennt das Ministerium eine Sammlung von Kapitalien „was sich zweifellos als der Betrieb von Handelsgeschäften Im Sinne des Artikels 271 des Handelsgesetzbuches darstellt“. Indessen besitzen wir zwei Ent- scheidungen des Obersten Gerichtshofes, welche gerade das Gegenteil dessen besagen.

Alle diese Fragen müssen bei der Schaffung eines neuen Genossenschafts- gesetzes zur Lösung kommen. Dieses solle aber auch noch folgende Bestimmungen

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CXXU. Plenarversammlung.

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enthalten : Schatz der Mitglieder und der Gläubiger, Mininialuntgliederzahl, Sicherung des Stimmrechtes, Festsetzung einer Verechuldungsgrenze, aber nicht etwa durch das Gesetz, sondern so, daß der Generalversammlung das Recht zuerkannt oder vielmehr die Pflicht auferlegt wird, die Verschuldungsgrenze selbst zu bestimmen; denn jene, welche die Haftung für die Verbindlichkeiten tragen, sollen auch die Macht haben, zu bestimmen, wie weit sie mit dieser Haftung gehen. Ferner müsse der Aufsichtsrat als obligatorische Institution ausgesprochen, die obligatorische Revision eingeführt werden. Auch solle man die diesbezügliche Bestimmung des Revisionsgesetzes herübernehmen. Es müsse weiters die volle Einzahlung der Geschäftsanteile normiert werden, damit das manchmal sehr zweifelhafte Gebaren mit den gezeichneten Geschäftsanteilen, welche nie eingezahlt werden, aber immer als Aktiven in der Bilanz figurieren, a u führe. Es müsse die Nichtbelaatnng der Geschäftsanteile ansgesprochen werden, weil sic, wenn sie mit Vorschüssen belastet sind, für die Gläubiger keinen Wert haben. Es müsse die Nichtzulassung von Prokuristen zum gesamten Geschäfts- betrieb ausgesprochen werden, denn dadurch werden rein kapitalistische Unter- nehmungen hintangehalten, um welche sich weder die Leitang noch die Mit- glieder viel kümmern. Es müssen ltispositivnormen bezüglich der Veröffentlichung der Bilanz und einer Minimalmitgliederzahl, ferner solche mit Bezug auf die Verlustdeckungen im Falle der Liquidation getroffen werden; nnd endlich sei es der Wnnsch der genossenschaftlichen Kreise, daß die anbeschränkte Solidarhaft dnreh die Beseitigung des Einzelangriffes im Falle des Konkurses, durch die Solidarbürgschaft, ersetzt werde.

Die Genossenschaften brauchen auch einen Schatz vor den allzn zahlreichen nnd oft allzu starken staatlichen Anforderungen. Bisher waren die Genossen- schaften lediglich Drangsalierung* und Stenerobjekte. Nach Erlassung des Ge- setzes vom 27. Dezember 1880 wurden sofort wieder Versuche gemacht, die Errungenschaften dieses Gesetzes illusorisch zu machen oder doch zu schmälern. Man ist mit der Auffassung gekommen, daß die Zulassung von Bürgen bei Er- teilung von Vorschüssen einen Verkehr mit Nichtiuitgliedem bedeute, das Gesetz »Iso in diesem Falle nicht mehr gelte. Mit dem Steuergesetze vom 25. Oktober 1890 konnten die Genossenschaften im großen nnd ganzen zufrieden sein. Es ist gelangen, für jene Genossenschaften, die den Verkehr auf die Mitglieder be- schränken. eine ganz bedeutende Herabsetzung der Stenern, und zwar um mehr als die Hälfte, durchzusetzen. Aber kaum ist das Gesetz in Geltung, werden wieder Versuche gemacht, die Begünstigungen des Gesetzes möglichst illusorisch zu machen.

In dieser Beziehung ist insbesondere das Kronland Galizien einfach groß- artig. Die Leistungen daselbst übertreffen alles bisher Dagewesene. Es werden da Vorschußvereine als nicht begünstigte erklärt, weil die Mitglieder nach dem Statut erst dann eine Dividende bekommen, wenn ihr Geschäftsanteil, der sich nur auf 50 Kronen beläuft, voll eingezahlt ist. Die Steuerbehörde erklärt: weil die Betreffenden keine Dividende bekommen, sind sie nicht Mitglieder, ergo ver- kehrt die Genossenschaft mit Nichtmitgliedern, ergo genießt sie keine Begün- stigung. Also von der Ezisteuz eines Genossenscbaftsgosetzes, das genau sagt,

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Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte

wie jemand Mitglied einer Genossenschaft wird, und welche Pflichten er damit zu übernehmen hat, wissen manche HezirkshanptmaniiKchaftei! in Galizien bis heute nichts.

Diese und andere Hedrängiiiigeu der Genossenschaften, die auf der reinen Selbsthilfe beruhen, vertragen sich durchaus nicht mit der staatlicherseits so oft zur Schau getragenen oder vielleicht auch wirklich beabsichtigten Forderung des Genossenschaftswesens. Den Gipfelpunkt hnreaukratischer Auffassung bildet aber jener Vorfall, der die Sparkassa in Cattaro, eine Kreditgenossenschaft, betraf. Diese Genossenschaft wurde vom Handelsgerichte anstandslos registriert, die Statthalterei von Zara sistierte aber die Tätigkeit mit der Begründung, daß ihr verschiedene Bestimmungen des Statutes nicht entsprechen. Unter anderem ist darunter auch ein Paragraph angeführt, in welchem bestimmt wird, daß die Ge- nossenschaft für ihre Mitglieder die Umwechslung von Geldsorten und derlei Bankgeschäfte vornehme. Die Statthalterei von Zara sagt, daß Bankgeschäfte nicht in den Wirkungskreis solcher Genossenschaften gehören. Die Einstellung der Tätigkeit dieser Genossenschaft erfolgte auf Grund des § 7 des kaiserlichen Patentes vom 20. April 1854!

Unseren ganzen Verwaltnngskörper durchdriugt schon großenteils der Geist des § 14. Heben dieser ewigen Bedrängung der selbständigen Genossenschaften geht ein auffälliges Protegieren aller mehr oder weniger abhängigen und aller staatlicherseits oder ländiicherseit* oder von Handelskammern subventionierten Ge- nossenschaften. Diese erfreuen sich jeder Gunst; diesen wird jede Steuer- und Gebührenerleichterung gewährt. Es erweckt förmlich den Eindruck, daß man abhängige Genossenschaften will, und man jene Unabhängigkeit, die das Ge- nossenschaftswesen bis heute besessen hat, nicht gerne sieht und beseitigen will. Und doch ist diese Staatsunterstützuug ein sehr zweischneidiges Schwert, sie ist ein Linsengericht gegenüber der Gesamtheit und ein Danaergeschenk gegenüber der einzelnen Genossenschaft, denn im Jahre 1809 betrugen die Betriebsmittel der «sonstigen Genossenschaften- 681/* Millionen Kronen. Die Staatsunterstützung für die Jahre 1898 und 1809 beträgt nur 140.000 Kronen. Im allgemeinen macht sonach die Unterstützung wenig aus, trotzdem kommen aber einzelne Ge- nossenschaften vor, bei denen ein sehr schlechtes Verhältnis des eigenen Ka- pitals zum fremden bestand. Man gründet auch in neuerer Zeit gewerbliche Kreditgenossenschaften unter der Patronanz des HandelNininisteriums, die an- geblich Kaiffeisenkassen sein sollen, es aber gewiß nicht sind, zumal das System der Raiffeisenkassen ausschließlich für die Landwirtschaft und nicht für das Ge- werbe berechnet ist. Diese Kassen haben eine recht zweifelhafte ökonomische und kaufmännische Unterlage.

Von einem neuen Genossciischaflsgcsetze ist zu verlangen, daß es gegen jede mißbräuchliche Anwendung der genossenschaftlichen Formen Sicherheit ge- währe, daß es aber der volkswirtschaftlichen, echten genossenschaftlichen Tätigkeit hindernde Schranken nicht ziehe und daß die bisherige Autonomie der Genossen- schaften auch in einem neuen Gesetze keine Schmälerung erfahre.

Nach einer kurzen Diskussion wurde die Versammlung geschlossen.

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DIE VORGESCHLAGENE EINFÜHRUNG DES GRUND- BUCHSYSTEMS IN GRIECHENLAND.

VON

C. 1>. C A R U SSO.

An anderer Stelle1) erwähnten wir. daß die griechische Regierung unter Ministerpräsidenten Trikupis im Jahre 1888 auC Grund der Erkenntnis, daß die dem bayrischen Hypotheken- und dem französischen Transskriptiousgesetze nachgebildeten griechischen Gesetze den Forderungen des Rechtsverkehrs mit Immobilien und des Hypothekarkredits nicht entsprechen, deu prinzipiellen Ent- schluß faßte, zu einer durchgreifenden Reform des geltenden Immobiliarrochtes zu schreiten. Zwar führten die diesbezüglich gepflogenen Vorberatungen nicht zu einem endgültigen Ergebnis, doch wurde beschlossen, als nötige Grundlage für die Reform eine Vermessung aller Grundstücke durchzufuhren und diese auf eine neue Landestriangnlierung zu stützen nachdem die älteren Triangulierungs- arbeiten unzureichend waren. Letztere Arbeit zu deren Leitung und Aus- führung einige in geodätischen Arbeiten erfahrene Offiziere ans der österreichisch- ungarischen Armee beigezogen wurden ist sofort in Angriff genommen worden, und es wurde seither das Netz erster Ordnung im ganzen Lande durchgeführt; auch sind gegenwärtig die Triangulierungen niederer Ordnung in Ausführung be- griffen. Hingegen blieb die Frage der Reform des Immobiliarrechtes 9 Jahre laug in vollem Stillstand, wofür auch außerordentliche Regebenheiten kaum eine genügende Rechtfertigung zu bieten vermögen.

Im Jahre 1898 erwog die Regierung, unter Ministerpräsidenten Zaiuiis, die zur Bekämpfung der Krisis in den korintheuproduzierendeii Laiidesteilen zu ergreifenden Maßregeln. Hiebei wurde der Schaffung gesunder Grundkreditver- hältnisse die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt, es wurde zu diesem Zwecke eine entsprechende Umgestaltung des geltenden Immobiliarrechtes als nötig er- kannt und eine solche grundsätzlich wieder beschlossen. Es wurden dabei zwar das Ziel und das Wesen der Reform festgestellt, zu näheren Bestimmungen kam es jedoch nicht, da die diesbezügliche Tätigkeit durch den Regierungswechsel

') Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft (Tübingen; - l'JOO I. H* ft. „Grundeigentum, Flaclicnstener etc. in Griechenland.*4

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Carusso.

unterbrochen wurde. Es folgte sodann eine dreijährige Stillatandspcriode, über deren Berechtigung deneit noch kein Urteil abzugeben ist.1;

Als Ende des Jahres 1901 das Ministerium Zaimis wieder zur Leitung der Regierungsgeschäfl* berufen wurde, beschloß es die ungesäumte Wiederauf- nahme der Vorbereitungen zur Reform des Immobiliarrechtes. Die bereits im Jahre 1898 hierüber festgestellten Grundsätze sowie die vergleichende Übersicht der ausländischen Gesetzgebungen führten zur Überzeugung, daß in Griechenland ein Grundhuchsystem nach Vorbild des in Österreich und in Deutschland geltenden cinzuführen ist.*)

Eine besondere Kommission unter dem Vorsitze des Justizministers wurde mit der Ausarbeitung eines Gesetzentwurfes betraut, worin die Reform in ihren Grundzügen zu bestimmen war. Innerhalb einiger Monate verrichtete die Kom- mission ihre Arbeit und es wurde der Kammer ein Entwurf betreffend „die Ein- führung des Grundbuchsystems“ vorgelegt (April 1902).

In der Begründung wird angeführt, daß die vorgescblagene Vervollkommnung des Immobiliarrechtes sich auf die Gnindbucheinführung stützen werde, denn nur eine solche könne den erhöhten Forderungen des Rechtsverkehrs mit Immobilien und des llypothekarkredits genügen. Allen Rechten auf unbewegliches Eigentum soll in gleichem Maße Schutz geboten werden, die Entscheidung von Streitig- keiten soll möglichst erleichtert, Betrug und Chikano möglichst erschwert werden. Auch wird, um irrigen Auffassungen zuvorzukommen, erwähnt, daß ein auf dem Grundbuchsystem beruhendes Immobiliarrecht zwar die Form der Immobiliar- geschäfte neu regeln müsse, daß dadurch jedoch nicht der freie Gebrauch oder die Ausdehnung der verschiedenen Rechte auf unbewegliche Sachen berührt werden. Neben ihrer Bedeutung als Justizmaßregel wird die wirtschaftliche Trag- weite der vorgeschlagenen Reform folgendermaßen hervorgehoben. Die geklärten und gesicherten Rechtsverhältnisse werden dem Grundeigentnine einen leichteren und gesünderen Kredit znführen und den Verkehrswert der Grnndstücke erheben. Es werde aber außer der unmittelbaren Hebung des Grundkrodits auch der For- sonalkrcdit der Grundeigentümer unterstützt werden, die Wirksamkeit der ver- schiedenen Krediturganisationen werde sich besser entfalten, cs werde gegen den Wucher ein harter Schlag geführt, dio Erhaltung der hochwichtigen Klasse von kleinen Grundeigentümern gefördert und den besonderen Interessen der Land- wirtschaft gedient werden. Auch werde im allgemeinen die Grnndstückverinessnug und die Einführung des Grundbuches jene amtliche Kenntnis filier die Grundstücke und die daran bestehenden Rechtsverhältnisse gewähren, deren Mangel bisher in

*) Um wieder das allgemeinere Interesse für die Frage anzuregen, hatten wir im Jahre 1901 bei der juridischen Abteilung des Vereines „Parnassos“ sowie bei der sta- tistischen, der landwirtschaftlichen und geographischen Gesellschaft in Athen die Aus- schreibung voo Preisen veranlaßt für kurze Aufsätze über verschiedene auf die geplante Reform bezügliche Themata. Wir erfahren soeben, daß im ganzen nur drei Aufsätze ein- gesendet wordeu seien und man sich gegenwärtig mit der Beurteilung derselben behufs Preiserteilung befasse.

*J Bereits im Jahre 1889 hatte die griechische Regierung amtliche Informa- tionen Ober die Einführung des Grandbuchsystems in Bosnien und der Herzegowina schöpfen lassen.

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Die vorgeachlageuc Einführung des Grund buchayttem» in Griechenland. 323

Griechenland die richtige Lösung manches das unbewegliche Eigentum betreffenden Problems verhindert hat.

Nach den Bestimmungen des Entwurfes wird im gesamten Lande die Ver- messung und Kartierung der Grundstücke angeordnet und es ist diese Arbeit auf die von der Kriegsverwaltung bereits ausgeführte und weiterhin zu vervollstän- digende Triangulierung höherer und niederer Ordnung zu stützen. Mit der Her- stellung der Karte und mit der Flächen berechnung der Grundstöcke wird der kartographische Dienst des Kriegsministeriums betraut; diese Arbeiten und die Fortführung des Kartenwerkes ist durch königliche Verordnung zu regeln. Auf der Karte sind alle Linien. Objekte und Zeichen anzugebeu. wodurch auf dem Erdboden die Grenzen von Bezirken und Gemeinden sowie der einzelnen Grund- stücke bestimmt sind. Zur Unterscheidung der Grundstücke untereinander "erhält jedes derselben auf der Karte eine besondere Bezeichnung mittels Nummern oder Buchstaben; es wird ein amtliches (»üterverzeichnis aufgestellt, auf welches sich die Anlegung der Grundbücher zu stützen hat. In dem Güterverzeichnisse können aulier den für die Grundbuchsanlogung erforderlichen Angaben über die Grundstücke und deren Besitzer (vermutliche Eigentümer) auch andere Dateu über das unbewegliche Eigentum aufgenoinineii werden, und ist di« Bestimmung über alles diesbezügliche durch königlich« Verordnung zu treffen.

Besonderen Kommissionen, worin die Staats-. Gerichts- und Gemeinde- behörden sowie der Vermessungsdienst vertreten sind und denen ortskundige Leute zum Anweisen der Grenzen und die Feldhüter des betreffenden Bezirkes zugeteilt werden, liegt die Aufstellung der erwähnten Güterverzeichnisse ob sowie das Feststellen der Bezirks-, Gemeinde- und Eigentumsgrenzen. Uiefür werden die Vorstände der angrenzenden Gemeinden sowie die faktischen Besitzer der angrenzenden Grundstücke aufgefordert, an Ort und Stelle persönlich zu erscheinen oder sich vertreten zu lassen. Sind die beteiligten Grenziiachbarn einig über den Lauf ihrer gemeinschaftlichen Grenzen, so ist darüber ein besonderes Protokoll anfzunehinen und wird danach der Grenzlauf auf der Karte verzeichnet. Unzu- reichende Grenzvermarkuiig auf dem Erdboden ist durch Setzen von GrHtizzeichen zu ergänzen; die Kosten sind zu gleichen Teilen von den Grenznachbarn zu tragen. Findet hingegen zwischen den Grenznachbarn keine Einigung statt oder Anden sich die Beteiligten bei der Grenzfee Stellung nicht ein, so sind die von der Kommission als wahrscheinlich angenommenen Grenzlinien auf der Karte als solche zu verzeichnen. Der dadurch Beeinträchtigte darf innerhalb bestimmter Frist vor Gericht Klage führen; die Verhandlung darüber hat nach einem eigenen raschen Verfahren statt/u finden. Durch besondere Anordnungen und Strafbe- stimmungen wird bezweckt, der Kommission und dem Vermessungspersonale den freien Zugang zu den Grundstücken zu sichern, die für die Vennessungsarbeiten und für die Grenzvermarkung dienlichen Signale und Zeichen gegen Entfernen oder Beschädigung zu schützon, die Grenzanweiser zu wahrheitsgetreuen Angaben zu veranlassen u. s. f.

Mit der Anlegung und Führung der an Stelle der bisherigen Hypotheken- und Transskriptionshnrher tretenden Grundbücher wird die Justizverwaltung be- traut.. worin eine für dieso Angelegenheiten besondere Dienstabteilung geschaffen

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Carusso.

werden darf. Im allgemeinen ist in jedem Friedensgorichtsbezirko ein Grand- bachamt za errichten und ist der betreffende Friedensrichter der Leiter des Grandbachamtes; in den Grundbuchämtern werden die nach Gemeindebezirken angelegten Grundbücher der in dem Bezirke liegenden Gemeinden geführt; Ans- nahmebestimmungen sind durch königliche Verordnung zu treffen und darf auf solchem Wege auch die Anlegung und Führung besonderer Bücher für Berg- werke u. s. f. angeorduct werden. Alle Grundstücke sind buchungspflichtig, aus- genommen die zum öffentlichen Gebrauche dienenden staatlichen oder gemeindlichen Bodenflächen. Im allgemeinen erhält im Grundbuchs jedes Grnndstück eine eigene aus mehreren Abteilungen bestehende Stelle Grundbachsblatt); jedoch kann auch über mehrere demselben Eigentümer gehörende und im Bezirke desselben Grnnd- buchaintes liegende Grundstücke ein gemeinschaftliches Blatt geführt werden. Weitere Bestimmungen des Entwurfes betreffen die Vereinigung mehrerer Grund- stücke zu einem Grundstücke, die Zuschreibung eines Grundstückes als Be- standteil eines andereu, die Belastung eines Grundstückteiles, den Fall, wo ein Grundstück sich über die Grenzen eines Grnndbuchbezirkes hinausdebnt; die öffentliche Einsicht in die Grundbücher, die Verantwortlichkeit des Grimdbucbs- führers hinsichtlich der Erledigung von Anträgen auf Eintragung in das Grund- buch, die durch höhere richterliche Funktionäre über die Grandbnchämter aus- zuübende Aufsicht, die Haftung des Staates für die richtige Führung der Grundbücher.

Nach Erwähnung der in das Grundbuch zur Eintragung gelangenden Hechte wird der Satz ausgesprochen, dafl die Eintragung in das Grundbuch eine wesentliche Voraussetzung für die Übertragung von Eigentum und von dinglichen Rechten an Grundstücken ist; auch ist zur Aufhebung eines Rechtes an einen) Grundstücke die Löschung des Rechtes im Grundbuche, zur Änderung des Inhaltes eines Rechtes die Eintragung derselben im Grundbuche erforderlich. Weitere Vor- schritten haben zum Gegenstände: das Uangvorhältnis unter mehreren ein Grund- stück belastenden Rechten; die Vormerkung zur Sicherung des Anspruches auf Einräumung, Aufhebung, Änderung des Inhaltes oder des Rangverhältnisscs eines Rechtes an einem Grundstücke oder einem das Grundstück belastenden Rechte; das Nicliterlöschen eines Rechtes an einem fremden Grundstücke durch die Vereinigung des Eigentumes und des Rechtes am Grundstücke in einer Person. Ferner wird der Satz von dem öffentlichen Glauben des Grundbuches aufgestellt und der Auspruch auf Berichtigung des Grundbuches und die Ein- tragung eines Widerspruches gegen die Richtigkeit des Giundbuclios zugelasseii; die Ersitzuug des Eigentumes sowie eines anderen zntn Besitze des Grundstückes berechtigenden Rechtes wird geregelt zu Gunsten desjenigen, der, ohne Be- rechtigter zn sein, als solcher im Gruudbnche eingetragen ist; es wird allge- ordnet, daß durch Voijäbrung ein mit Unrecht im Grnudbuchc gelöschtes Recht au einem fremden Grundstücke erlischt; desgleichen auch ein krall Gesetzes ent- standenes, jedoch in das Grundbuch nicht eingetragenes Recht; allgemein unter- liegen die Ansprüche aus eingetragenem oder durch Eintragung eines Wider- spruches gewahrten Rechte der Verjährung nicht.

Bezüglich der Ausführung nnd der Reihenfolge der verschiedenen Arbeiten sind jeweilig durch königliche Verordnung zu bestimmen: die Bezirke, in denen

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Di« vorgetchlagene Einführung des Grundbuchsystema in Griechenland. 325

die Verdichtung des Triangulieningsnetzes, die Vermessung und die Kartierung der Grundstücke und die Anlegung des Grundbuches stattzufinden hat; für jedeu solchen Bezirk die Zoitfrist für den Übergang von der bisher geltenden Gesetz- gebung zu dem Grundbuchsrechte und der Zeitpuukt des Inkrafttretens der Grundbücher, Feststellung und Vermarkung der Grenzen sind bezirksweise inner- halb einer durch Verfügung des Justizministers zu bestimmenden Zeitfrist vor Beginn der Grundstückmessung durchzuführen und ist nach Fertigstellung der Karte in einem Bezirke, dieselbe sofort für die Anlegung der Grundbücher zu benützen und im Fortlaufenden zu halten.

Zur Deckung der Kosten für die Herstellung der Karte und die Anlegung der Grundbücher ist jährlich ein besonderer Posten iu den Staatsvoranschlag aufzunehmen. Für die Ausführung dieser Arbeiten iu den korinthenproduzierendeu Laudesteilen jedoch wird die Korintheubank1) zu einem bestimmten jährlichen Beitrage verpflichtet.

Zur Ergänzung und näheren Ausführung oberwähnter der neuen deutschen Keichsgesetzgebung entnommenen wesentlichen Sätze des Entwurfes über das materielle Grundbuchsreclit sind offenbar weitere Gesetze und Verordnungen notwendig. Der Entwurf stellt auch solche in Aussicht und erwähnt jene betreffend die zur Eintragung der Rechts&nderungen in das Grundbuch erforderlichen Voraussetzungen, den Übergang von dem gegenwärtigen zu dem neuen Imntobiliari echte, die Eintragung von Rechten auf Bergwerke, ferner das Verfahren für die Herstellung und die Fortführung der Karte, für di« Aufstellung der Güterverzeichnisse, für die Anlegung der Grundbücher, die Führung derselben und der Hilfsregister, die innere Einrichtung der Grundbücher u. s. f.

Der Entwurf wurde jedoch nicht zum Gesetze, er gelangte nicht einmal zur Beratung. Dies war vorausznsehen bei den Schwierigkeiten, gegen welche zu jener Zeit jedwede Arbeit im Parlamente zu kämpfen hatte: auch wurde der Entwurf mitten in einer stürmischen Budgetdebatte und knapp vor Schluß der Session der Kammer vorgelegt. Trotzdem ist der Entwurf von Bedeutung iin Entwicklungsgänge der in Betracht kommenden Frage, denn im Entwurf« wird dieselbe viel genauer bestimmt als je zuvor, so daß nunmehr die Parteinahme für oder gegen die Reform erleichtert wird und der Erörterung engere Greuzen gezogen sind.

Grundsätzlich wurde vermieden au die vorgeschlagene Reform irgend welche Steuermaßregel anznknüpfen. obwohl es in Griechenland sehr not tut auf dem Gebiete der Grnudbestenernng fund nicht minder auf den anderen Steuergebieten) umgestaltend einzugreifen; und das völlige Mißlingen der in letzter Zeit ge- machten Versuche. Flächenstenern einzuführen, mag allen jenen, welche die Notwendigkeit amtlicher Feststellung der Steuerobjekte und -Subjekte verkeimen, wohl ein Besseres gelehrt haben. Offenbar werden durch die Grundbucheinführung wichtige Daten für die Lösung einzelner Steucrproblenic gewonnen, doch ist dies nicht Zweck der vorgeschlagenon Reform; nunmehr, da deren Wesen und Ziel genau bestimmt ist, kann man allen jenen Meinungen entgegentreten, die Mol)

*) Siehe den auf Seite 321 erwähnten Aufsatz.

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L.uuat'j

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auf Grund französischer Katasterverhältnisse zu einer Verwirrung von Grund- steucrkatastcr- un<l Grundhnchwcscn gelangen und dadurch auch zur Irreführung weiterer Kreise von Beteiligten beitragen. Die Vorteile, welche die Grundbücher dem Grundcigentumc bieten, beeinflussen dessen Steuerkraft günstig, worin die Berechtigung für die Kosten der Grundbucbreform gelegen ist. Die Deckung der- selben soll nicht dnreh Schaffung von neuen Steuerlasten, sondern nach dem Geiste der die Kostendeckung betreffenden Bestimmung des Entwurfes soll in Anbetracht der gegenwärtigen Besteuerung des unbeweglichen Vermögens (um so mehr wenn man diese Besteuerung jener der übrigen Roichtumsqncllen gegen- üherstellt) ein Teil des .Steuerbeitrages verwendet werden für die Durchführung der hier besprochenen, solch bedeutende Vorteile anfweisenden Reform.

Der Entwurf bildet bezüglich des dariu enthaltenen Stoffes jene erste Aufstellung, auf welche sich nunmehr vorteilhaft eine sorgfältige Umarbeitung an- lebuen muH. Neben einigen, dem Sinne oder dem Worte nach und konsequen- terer oder genauerer Fassung wegen, nötigen Änderungen kommt auch die Frage einer Erweiterung des Inhaltes des Entwurfes in Betracht mit Bezug auf die uberwähnten weiterhin nötigen Ergänzungsvorschrifteil, wobei doch nicht alle Eiiizelnbestinimniigeii im vorhinein getroffen werden können und für das An- passen einzelner davon an die Lokalforderungen die Erfahrungen aus dem Gange der ersten Arbeiten und zum Teile auch aus versuchsweisen Vorgehen abzu- warten sind.

Bezüglich der ferneren vorbereitenden Tätigkeit hat der Justizminister der nntor seinem Vorsitze mit der Ausarbeitung des Entwurfes zu einem bürgerlichen Gesetzbncbe tätigen Kommission anheimgestellt, heim Entwerfen des Sachenrechtes die vorgeschlagene Grundburhseinfiihrung zu berücksichtigen und danach auch die in der übrigen Gesetzgebung nötigen Umgestaltungen zu regeln. Fenier ordnet« die Regierung das Sammeln von ausführlichen amtlichen Informationen über das Grund- buchwesen und einigen damit zusammenhängenden Snnderfragen im Auslände au und ist die diesbezügliche Tätigkeit im besten Vorschreiten begriffen. Eine zweck- tnäflige Verwertung dieser Informationen ist für die weitere Gestaltung der vor- geschlagenen Reform nötig und wird ancli dienlich sein, um den von der Re- gierung in der Frago eingenommenen Standpunkt fernerhin zu behaupten. Auf letzteres ist besonderes Gewicht zu legen, denn in der Weise, wie gesetzgeberische Arbeiten vorbereitet nnd von der Kammer verrichtet werden, lädt sieh in Griechen- land manchmal noch die schädliche Einwirkung voll Faktoren erkennen, welche den Sitten und Gebränchen der inneren Politik nicht fremd sind. Dabei tritt auch das Unzulängliche jener Einrichtungen hervor, Welche der Verwaltung, dem Parlamente nnd auch der Krone streng sachgemälie Auskunft nnd Rat für die Be- urteilung der geseztgeberischcn Maßregeln vermitteln sollten.

Im Interesse des objektiven Vorgehens in der Frage der Grnndbuchoin- führung ist der Regierung wiederholt aiiheimgestclll worden. Erhebungen rorzu- nehmen, um auf statistischer Grundlage die lokalen Verhältnisse festznstellen und zu beleuchten, für deren Beurteilung man nur auf subjektive Anschauungen an- gewiesen ist. Dies wäre einerseits dienlich znr genaneren Bestimmung der Wir- kungen der Torgesr.hlagenen Reform, anderseits nötig für die Aufstellung einiger

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Die rorgeschlagent Einführung Je« Grundbechsjslems in Griechenland :(27

den Lokalverhältnissen anzupassenden Vorschriften der neuen Gesetzgebung and für das Regeln gewisser, hauptsächlich in das wirtschaftliche Gebiet fallenden Konsequenten der Grnndbucbeinführnng. Die Durchführung solcher Erhebungen ist leider bisher ausgeblieben.

Desgleichen ist es tu bedauern, daü die Verdichtung des Triangulierungs- nettes in letzter Zeit nicht das für die hier besprochene Frage erwünschte Vor- schreiten aufzuweisen hatte und es erweckt dieser Umstand das Bedenken, ob au Stelle der allerdings vorteilhaften und auch beabsichtigt gewesenen Zontral- organisation für staatliche kartographische Arbeiten nicht eine andere Organisation treten müßte.

Es ist im allgemeinen ratsam, die Frage der Grundbuchcinführnng als eine nach allen Seiten hin möglichst genau abgegrenzte, in sich abgeschlossene Frage anzusehen und einer praktischen Lösung zuznfnhren. ohne sie von anderen all- gemeineren oder spezielleren Problemen, mit denen sich diese Frage berührt, ab- hängig zu machen. Ein solches Abhängigkeitsverhältnis würde unberechenbare Aufschübe nach sich ziehen und könnte die vorgeschlagene Reform sogar zum Scheitern bringen. Zwar folgt der Entwurf dem Gedanken, die Reform selbständig in Angriff zu nehmen, doch müßte diese Selbständigkeit noch bestimmter bekundet und sichergestellt werden.

Die praktischen Resultate in der Frage der Grundbucheiiifübrnng in Griechen- land seit dem Jahre 1888 sind allerdings gering, doch wäre es nicht gerecht, dies ausschließlich gewissen spezifisch lokalen Umständen zuzuschrciben: man muß anch jene Schwierigkeiten in Rechnung setzen, gegen welche die Vorbereitung und die Durchführung einer solchen Rcfnrm zu kämpfen hat und welche zwar in verschiedenem Maße, jedoch in jedem Lande und zu jeder Zeit auftreten. Erfreulich ist es jedenfalls, daß die Frage der Gruudbucheinfdhrnng in Griechenland nunmehr be- deutend geklärt und sogar zu einer Reife gelangt ist. welche bald zur prak- tischen Lösung zu führen verspricht. Anerkennung verdient diu im Jahre 11102 von der Regierung entfaltete diesbezügliche vorbereitende Tätigkeit und cs ist zu heffeti, daß der eingeschlageue Weg auch weiter befolgt werde.

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LITERATUR BERICHT.

Neuere Literatur über Wirtschaftsgeschichte.

Bulmerinc<i, Stieda, Brandt, Lohmann.)

Besprochen von Inania- Stern egg.

August v. Buliucrliicq, Zwei Kämmereiregister der Stadt Riga. Ein Beitrag zur deutschen Wirtschaftsgeschichte. Leipzig, Duncker & H timblot, 1902. 280 8.

August v. Bulmerincq hat sich um die Verfassnngsgeschichte seiner Vaterstadt schon mehrfach verdient gemacht. Seine Schriften über den Ursprung der Stadtverfassung Rigas 1894 und die Verfassung der Stadt Kiga im ersten Jahrhundert der Stadt sind wertvolle Beiträge zur deutschen .Städtegeschichte. Mit der vorliegenden Arbeit eröffnet der Verfasser einen tieferen Einblick in die Finanxverwaltuug der Stadt im 16. Jahr- hundert. Die beiden Kämmereiregister v«»u 1514/16 und von 1555/56 geben zwar kein vollständiges Bild der Stadttinanzcn. aber sie enthalten in reichem Detail einen so wesentlichen Teil derselben. daß sie eine Publikation wohl verdienten. Der Natur des Amtes entsprechend, von dem sie geführt sind, enthalten die Kämmereiregister alle Ein- Uuguugen über die laufenden täglichen oder wöchentlichen Zahlungen und Eingänge eines Wirtschaftsjahres. Es ist sehr bezeichnend für die ganze Art der Finanzverwaltung, daß diese Rechnungen regelmäßig mit einem Fehlbetrag abscli ließen, da die dem Kämmerer zur Verfügung gestellten Einkünfte nie zur Befriedigung der gewöhnlichen Anforderungen an seine Kasse ausreichten, alle außergewöhnlichen Ausgaben dagegen zunächst von dem Kämmerer vorschußweise bestritten werden mußten und erst nach der Abrechnung ihm wieder vergütet wurden, wie der Kümmerer auch innerhalb des Wirt- schaftsjahres laufende Ausgaben aus seiner Tasche bestreiten mußte, insoweit die ihm zugewiesenen laufenden Einnahmen sich zeitlich nicht mit seinen Ausgaben deckten. Abgesondert von den Käimnereirechuungen wurden in Riga alle Einnahmen verrechnet, welche an bestimmten Terminen erhoben wurden, wie Miet- und Pachtgelder. Grundzinse und Kenten, die im über reddituum eingetragen sind, welche J. G. Napiersky schon 1881 veröffentlicht hat, ferner Schoß und später auch Akzisen, die Einkünfte der besonders verwalteten Wirtschaftsgebiete und alle Zahlungen, welche, erst nach Ablauf des Jahres eingeteilt, für das ganze Jahr oder während des Jahres in bestimmten Beträgen au bestimmten Tagen zu machen waren; diese Einnahmen und Ausgaben werden entweder unmittelbar vuu den Bürgermeistern verwaltet oder von besonderen Beamten der einzelnen Verwaltungszweige. Es ist sehr verdienstlich, daß der Herausgeber auch die Einkünfte der Stadt an Zinsen, Reuten, besouders Wirtschaftsführung sowie über einzelne Ver- waltungszweige anhangsweise mitgeteilt hat. um den Überblick über die Finanzlage der Stadt zu erweitern. Aber auch die volkswirtschaftlichen Verhältnisse, Produktion. Löhne, Preise etc. erhalten aus den Registern eine wertvolle Beleuclituug.

Die Edition der beiden Register ist sehr sorgfältig und besonders verdient Anerkennung, dall sich der Verfasser die Mühe nicht verdrießen ließ, eine vollständige statistische Aufarbeitung derselben durchzuführen, wodurch derartige Quellen erst recht benutzbar werden

Wilhelm Stleda. Die Anfänge der Porzeilanfabrikation auf dem Thüringer Walde. Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Thüringens. I. Band. Jena, Ü. Fischer, 1902. VIII und 425 8.

Der Industriezweig, dessen Anfänge der gelehrte Verfasser für das Gebiet des Thüringer Waldes untersucht, ist dermalen auf diesem Gebiete sehr st alt lieh vertreten.

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Literatnrberirht.

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Derzeit bestehen in ileu thüringischen Staaten nicht weniger als 112 Porzellaufabiiken, darunter einige, die Hunderte von Arbeitern beschäftigen. Die Einbürgerung dieser erst seit dem Anfang des 18. Jahrhundert« auf gekommenen, bald aber von den Höfen wie ira wohlhabenden Bürgertume sehr begünstigten Industrie scheint aber speziell in Thüringen unter sehr großen Schwierigkeiten sich vollzogen zu haben. Nachdem im Jahre 1710 auf der Albrechtsburg in Meißen die erste deutsche Porzellanuiauufaktur eingerichtet war und bald zu \ ielbcneidetem Weltruf gedieh, erscheint auch bald, im Jahre 1718 die erste Porzellan fahrik des Thüringer Waldes in Saalfeld, ini selben Jahre, in welchem auch die nachmals berühmte Wiener Porseilaumanufaktur entstand Aber sowohl diese, wie die bald nachfolgenden Gründungen in Rudolstadt. Ilmenau und Coburg konnten trotz der ausgiebigen fürstlichen Patronanz während der ersten 40 Jahre der Geschichte dieses Industriezweiges zu keiner irgend namhaften Leistungsfähigkeit kommen. Rr>t den Bemühungen zweier tüchtiger und unternehmender Männer, welche, unabhängig von Böttgcrs Entdeckung, das Geheimnis der Fabrikation von Hartporzellan fanden, gelang es seit 1760 bi« znm Ansgange des 18. Jahrhunderts 12 Fabriken in Thüringen anzulegen, von denen die Mehrzahl sich bis auf den heutigen Tag erhalten hat. Über die technische und kunstgewerbliche Seite der altthüringischen Porzellanmanufaktur vermag der Verfasser bei dem Mangel an Aktenmaterial und bei dein sehr spärlichen Vorkommen älteren Porzellans thüringischer Provenienz leider mir sehr wenig zu berichten. Dennoch kann er es sich zum Verdienst anrechnen, daß er soviel als möglich die Anhaltspunkte gesammelt hat, welche es den Museen und Liebhabern ermöglichen, das thüringische Porzellan zu erkennen, auch wenn eine Marke fehlt Eine Reihe von interessanten Aktenstücken, zum Teil mit genauen Kostenberechnungen, Lohnlisten u. n., auch der Text eines Kartellvertrages sieben thüringischer Porzcllaufabriken aus dem Jahre 1814 geben tiefen Einblick in die wirtschaftlichen Verhältnisse dieses Industrie- zweige« und seine wechselnden Schicksale im ersten Jahrhundert seines Bestände«.

Otto Brandt, Studien zur Wirtschaft«- und Verwaltungsgeschichte der Stadt Düsseldorf im 19. Jahrhundert. Düsseldorf, A. Bagel. 1902. XIII und 436 S.

Mit der vorliegenden Schrift hat die Stadt Düsseldorf allen gröberen Kommanal- verwaltungen ein sehr gutes* Beispiel gegeben, indem sie einen geschichtlichen Überblick über die wichtigsten Lebcnsgebicte der Stadt während des ganzen abgelaufenen Jahrhunderts bietet. Unsere Städte sind lange Zeit hindurch sozusagen ins blaue hinein gewachsen, ohne sich über die Tragweite dieser Tatsache eine weitere Rechenschaft zu geben und ohne sich selbst klare Ziele ihrer eigenen Entwicklung zu setzen. Heute ist es allerdings schon allgemein zum Bewußtsein gekommen, welch große Bedeutung die Stftdte- verwalt urigen für das ganze Wirtschaftsleben der Nation haben. Die Dinge liegen in mancher Hinsicht heute wieder ebenso wie schon im späteren Mittelalter, wo ja auch die Städte und ihre wirtschaftliche Verwaltung vorbildlich für die folgende landes- herrliche Wirtschaftspolitik geworden sind. Insbesondere dürften die wirtschaftlichen Unternehmungen der Städte heutzutage als die Pfadfinder auf dem weiten Gebiete der öffentlichen Unternehmungen bezeichnet werden und mit Recht bat der Verfasser der vorliegenden Studie dieser Seite der Kommunalverwaltung ganz besonders seine Auf- merksamkeit zugewendet. Es ist ein besonderer Vorzug dieser Darstellung, daß sie auch die Statistik soviel als möglich herbeigezogen hat, utn die Dimensionen des Wachstums der Stadt klarzustellen; das Material ist zwar lückenhaft und gewiß nicht leicht zu beschaffen gewesen, aber cs ist damit doch wieder einmal der Beweis geliefert, daß sich die volkswirtschaftliche Entwicklung des 19 Jahrhunderts doch, wenigstens in großen Zügen, immerhin auf statistischer Grundlage rekonstruieren läßt, wenn man nur die Muhe nicht scheut, die in den Verwaltungsakten aufgespeicherten Materialien äun- zugraben und mit wissenschaftlichem Geiste zu bearbeiten Wir kOnneu es uns nicht versagen, einige der besonders sprechenden Zahlen aus dem Werke mittu teilen, um die gewaltigen Dimensionen zu ersehen, welche eine Stadt vom Hange Düsseldorfs im Laufe de« Jahrhunderts angenommen hat.

st*-

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Literaturbericht.

Einwohner 1*00: 16.000 19DÖ: 213.71 1

Gesamt gäterverkehr im Dussel*

dorfer Hafen 1881: 7.106 Tonnen 1900 : 620.802 Tonnen

Verkehr bei der Düsseldorfer Anstalt der Preußischen Bank

beziehungsweise der Reichsbank 1*60: 33,109.200 Taler 1900: 2.109,325.100 Mark

Briefe angekommen 1883: 487.516 1900: 30,912.408

Eisenbahnverkehr:

Personen 1845 : 234.370 1900 : 2,845.972

Güter 1845: 1,001.145 Zentner 1900 : 8,220.345 Tonnen

Telegramme aufgegeben und ein- gelangt 1869: 81.202 1900: 1,661.367

Friedrich Lohmaim, Die staatliche Regelung der englischen Woll- industrie vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. (Schindlers staats- and sozial- wissenschaftliche Forschungen, XVIII, 1.) Leipzig, Dunckler & Hamblot, 1900. X und 100 S.

.Seit sich die Nationalökonomie daran gewöhnt hat, der Morphologie der volks- wirtschaftlichen Verhältnisse ein schärferes Augenmerk zuzuwenden, fördert auch die Wirtschaftsgeschichte immer mehr fruchtbare Analogien zu unseren modernen volkswirt- schaftlichen Zuständen durch eine genauere Klarstellung der inneren Struktur der älteren Wirtschaftfrverfnssung zu Tage. Vieles, was noch bis vor kurzem als ein spezifisches Erzeugnis moderner wirtschaftlicher Kultur gegolten hat, erscheint nunmehr, nachdem das beobachtende Ange an den Tatsachen des Lebens geschärft ist, auch bcIioq in älterer Zeit in ähnlichen Formen vorhanden, als ein mehr oder weniger notwendiges Durchgangs- Stadium in dem unablässigen Prozett der Entwicklung menschlicher Einrichtungen. So verhält es sich z. B. mit dem in dem vorliegenden Buche anschaulich geschilderten Ver- lagssystem in der englischen Wollindustrie, welches, mindestens vom Beginne der zweiten Hälfte des 15. Jahrhundert« angefangen, dieser Industrie zum groüen Teil ihr charakte- ristisches Gepräge gegeben hat und nicht nur in einem heftigen Kampfe mit dem alten Wollenhandwerk, sondern auch bald in einer Reihe von Konflikten mit der öffentlichen Gewalt sich durchzusetzen versuchte. Gerade die frühreife englische Gesetzgebung and Wirtschaftspolitik hat es aber zuwege gebracht, daß die Verlagsorganisation neben dem allgflnstigen Wollhandwerk und der gleichfalls schon frühzeitig auftretenden selbständigen Hausindustrie zum raschen Aufblühen der englischen Tuchindustrie beitrug und nicht in selbstsüchtige Ausbeutung ausartete. Als mit dem Anfang des 16. Jahrhunderts die alt- heriihmte deutsche Tuchindustrie in unverkennbaren Verfall geriet, wurde die englische Gesetzgebung in den Reichspolizeiordnungen nachgeahmt, Verbote der Wollausfuhr, der Verfälschung der Tuche, der Anwendung neuer Farben erlassen. Vorschriften über Technik und Handel mit Tuchen aufgerichtet, wie das alles die englische Gesetzgebung seit zweihundert Jahren, aber allerdings unter ganz anderen Voraussetzungen gehandhabt hatte. Aber der Geist, in dem diese Ordnungen der Reicbapolizci erlassen wnrden, war ein wesentlich anderer als jener, von dem die englische Wirtschaftspolitik geleitet war. Hier kleinliche Reglementierung, die noch dazu jeder einheitlichen Exekutive entbehrte, in jedem Territorium anders verstanden und gehandhabt wurde, dort ein großer ethischer Zug, der vor allem unehrliche Gesinnung und betrügerisches Gebaren bekämpfte und die Ehre der Nation darein setzte, daß englisches Tuch im Auslande dem englischen Namen und dem königlichen Stempel keine Schande mache; und das alles durchgesetzt durch eine Organisation, welche eine glückliche Mischung von Selbstverwaltung und staatlicher Aufsicht war und in dieser Verbindung daB Bewußtsein nie abhanden kommen ließ, wie große Güter der Nation in dem staitlichen Schutze der Wollindustrie zu ver- teidigen waren.

Die Schrift ist eine Vorstudie zur Geschichte der älteren preußischen Gewerbe- politik, deren Verständnis durch historische Analogien aus anderen Ländern erleichtert werden soll. Diesen Zweck wird sie auch erreichen, der Wert der Wirtschaftspolitik des

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Literaturbericbt.

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absoluten Königtums in l’reufieu wird diesen aus Knglaml geholten Maßstab nicht zu scheuen haben. J.

Blihm-Bawerk, Kapital und Kapitalzins, 2. Auflage, II. Abteilung. Positive Theorie des Kapitals, Innsbruck. Wagner 11X12, 46S S.

Der zweiten Auflage der ersten Abteilung dieses Werkes, welche vor zwei Jahren erschienen ist, sollte baldigst eine Neubearbeitung auch der zweiten Abteilung folgen. Die Übernahme des österreichischen Finanzportefeuilles durch den Verfasser hat aber bisher die Verwirklichung dieses Planes unmöglich gemacht und ihn gezwungen, die letztere auf gelegenere Zeit zu verschieben. Die vorliegende, unveränderte, zweite Auflage der zweiten Abteilung wurde dadurch veranlaßt, daß die erste vergriffen ist, die Nachfrage nach dem Werke aber ungeschwächt andauert Diese Zeilen haben nur den Zweck, auf das Erscheinen der zweiten Auflage aufmerksam zu machen.

Lily Braun, Die Frauenfrage, ihre geschichtliche Kntwicklung und ihre wirtschaftliche Seite. Leipzig 1901, 557 S. ft*.

Frau Braun will in dem hier anzuzeigenden Werke die Frauentage in ihrem ganzen Umfange darstellen. Es soll zwei Bände umfassen. Der erste ist vorläufig allein erschienen. Er bringt eine gedrängte Geschichte der Frauentage und der Frauenbewe- gung und eine sehr eingehende Darstellung der Frauentage nach ihrer wirtschaftlichen und sozialpolitischen Seite hin Der zweite Band soll die rechtliche Stellung der Frau sowie die psychologische und ethische Seite der Frauentage behandeln. Daß die wirt- schaftliche Seite als die grundlegende zuerst erledigt wird, ist kein Zufall, sondern eine notwendige Konsequenz des Standpunktes der Verfasserin, die als überzeugte Sozial- demokratin auf dein Boden der materialistischen Geschichtsauffassung steht. Über diesen Standpunkt läßt sich nicht rechten. Jeder Autor hat das Recht, seine allgemeine Welt- anschauung den Untersuchungen seines speziellen Arbeitsgebietes xu Grunde zu leger». Ist doch überhaupt die Forderung voraussetzungsloser Forschung auf keinem Gebiete weniger erfüllbar, als auf dem der Frauentage, wo schon durch das Geschlecht des Forschers eine ganze Menge von Voraussetzungen von vornherein gegeben ist. Immer aber muß volle Beherrschung, objektive Darlegung und gerechte Würdigung der Tat- sachen gefordert werden. Das ist auch die Meinung der Verfasserin. Sie sagt im Vorwort: Eines aber darf ich für mich geltend machen: daß die Darstellung auf einem umfas- senden Studium der Literatur, insbesondere auch soweit es sich um die Ermittlung der tatsächlichen Zustande handelt, auf der Benutzung der amtlichen Statistiken, staat- lichen wie privaten Enqueten, kurz so weit als möglich auf quellenmäßigen Unter- suchungen beruht.“

In der Tat zeugt das Buch von einer nicht nur bei Frauen ganz ungewöhn- lichen Bildung, von voller Kenntnis und Beherrschung des Stoffes, von emsigem Heiß und großem Darstellungstalent. Es ist an und für sich ein wichtiges Dokument, der Frauenfrage, indem es das Vorurteil von der wissenschaftlichen oder geistigen Minder- wertigkeit der Frauen schlagend widerlegt. Gar mancher von jenen Männern, die dieses Argument mit Vorliebe wiederholen, ist unfähig zu einer ähnlichen Leistung. Das Buch ist aber zugleich ein Beleg dafür, daß die weibliche Begabung, wenn auch der männ- lichen gleichwertig, doch nicht mit ihr gleichartig ist. Das Gefühl überwiegt: das leiden- schaftliche Verlangen, die sittliche, geistige und wirtschaftliche Lage der Frauen zu heben, herrscht so sehr vor, daß es den Maßstab für die Beurteilung der Vergangenheit und Gegenwart verrückt und den Blick in Bezug auf die Möglichkeiten der Zukunft verwirrt. Das verleiht zwar der Darstellung einen oft hinreißenden pathetischen Schwung, verleitet aber die Verfasserin dazu, die Dinge nicht mit dem ihnen innewohnenden, eigenen ^faße, sondern an ihren, der Verfasserin, hochgespannten Idealen zu messen und führt zu übertriebenem Pessimismus in der Beurteilung des Bestehenden und Gewesenen und zu maßlosem Optimismus in Bezug auf die durch den Sieg der Sozialdemokratie zu realisierenden Möglichkeiten der Zukunft.

Frau Braun gehört darin ganz dem orthodoxen Flügel der wissenschaftlichen Sozialdemokratie an, der die Augen vor vielen ihm ungelegenen Tatsachen hartnäckig

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Literaturbericht.

verschließt, uin nur die „lteiuhcit der Lehre** aufrecht zu halten. Dadurch wird auch der „quellenmäßige“ Charakter der Untersuchung arg beeinträchtigt. Frau Braun sieht die Dinge nicht unbefangen, sondern durch die Brille der traditionellen sozialdemokra- tischen Parteiauffassung an. Sie ist gewiß ein origineller, selbständig denkender Kopf, aber dein Parteikanon gegenüber versagt ihre sonst so scharfe und vielfach treffende Kritik. Daa beeinträchtigt auch den historischen Teil des Buches, worin die Verfasserin bei der Schilderung der primitiven Verhältnisse den Morgan- En gelsschen Konstruktionen folgt, ohne von den entgegengesetzten Ergebnissen neuerer Forscher Notiz zu nehmen.

Die Frauenfrage ist für die Verfasserin ganz einheitlich und umfassend. Das Ziel ist: „die Frauen durch selbständige Arbeit aus ihrer wirtschaftlichen Versklavung zu be- freien.“ Arbeit, die Befreierin des Weibes! Das ist der Grundgedanke. Die restlose Durchführung dieses Gedankens würde allerdings eine so tiefgreifende Änderung der Produktionsweise, des Familienleben* und der Konsumtionssitten bedingen, wie sie auf dem Boden der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung undenkbar ist. Es ist daher ganz folgerichtig, wenn Frau Braun die Frauenfrage in einen so engen Zusammenhang mit der sozialen Frage bringt, daß sie die Lösung der cineii nur durch die andere für mög- lich erklärt. Die Verwirklichung ihres Programme» erwartet die Verfasserin nur vom sozialistischen Zukunftsstaate. Ja, es scheint, daß sie diesen nur oder doch in erster Linie nur um seiner Verheißungen für die Frauen willen herbeiwünscht. Sie ist Sozial- demokratin, weil sie an der Lösung der Frauenfrage durch die bürgerliche Gesellschaft verzweifelt.

Vom Standpunkte der Frauenarbeit aus betrachtet, zerfällt die Frauenfrage in zwei große Abschnitte, denen auch die Einteilung des Buches entspricht: in die bürger- liche Frauen frage und in die proletarische Frauen frage oder die Arbeiterinnen frage. Bei der ersteren handelt es sich bisher ganz überwiegend um die Versorgung unverheirateter Frauen aus der bürgerlichen Schichte durch Erwerbstätigkeit. Sie ist also in erster Linie eine Heirat«- oder alte Jungfernfrage. Auch Frau Braun faßt sie, wenigstens praktisch, so auf, indem sie den Frauenüberschuß, das spätere Heiratsalter und die Heiratsunlust der Männer in den bürgerlichen Kreisen als die Hauptursachen der bürgerlichen Frauenfrage hinstellt. Hier gilt es also den Frauen, die bei der Ehe zu kurz gekommen sind, Erwerbsgelegenheiten zu eröffnen, die sie nicht deklassieren. Insofern das letztere der Fall ist, geht die bürgerliche Frauenfrage in die prole- tarische über. Theoretisch scheint Frau Braun allerdings der Ansicht zu sein, daß auch die bürgerlichen Frauen nur durch die Berufs-, d. h. Erwerbsarbeit zur vollen Ent- faltung aller ihrer Fähigkeiten gelangen können, und daß demnach alle Frauen diesen Weg einschlagen sollten, auch die bürgerlichen, auch die es nicht nötig haben. Sie be- grüßt den Eintritt der Frauen in das öffentliche Leben als ein neues belebendes Prinzip, indem dadurch die Fülle der bisher noch nicht voll erkannten und ausgenützten spezifisch weiblichen Begabung den Menschheitszwecken zugefiihrt werde. Auch wer diese Anschau- ung nicht teilt, wird den kritischen Bemerkungen der Verfasserin über Fraucncrziehung und Lehensansprüche, über die Vorurteile, die der bürgerlichen Frauenarbeit entgegen- stehen, Über die Härte und Ungerechtigkeit der Entlohnung zustimmen müssen, und der Freund der Frauenbewegung wird sich über die eindringliche und treffende Art des Vortrages freuen.

Ganz besonders begrüße ich es, daß die Verfasserin sich nicht etwa auf den me- chanischen Konkurrenzstandpunkt stellt und für die Frauen schlechtweg die bisher männlichen Berufe und Beschäftigungen in Anspruch nimmt, sondern daß sie, von der verschiedenen natürlichen Veranlagung der beiden Geschlechter ausgehend, eine ver- feinerte gesellschaftliche Arbeitsteilung anbahnen möchte, wonach den Frauen jene Funktionen und Beschäftigungen zufallen, die ihrer besonderen Begabung entsprechen. Auch ich habe immer den Gedanken vertreten, daß die Zunahme der Frauenarbeit nicht ohneweitera als eine Einengung des männlichen Arbeitsfeldes anfzufassen sei, sondern stets Hand in Hand gehe mit Fortschritten der Arbeitsteilung zwischen den beiden Ge- schlechtern, so daß jedes Geschlecht diejenigen Funktionen zugewiesen erhält, zu welchen es

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Literaturbericht.

besser veranlag ist. Pas gilt sowohl für die bürgerliche als auch für die proletarische Frauenarbeit. Vom Standpunkte technischer Arbeitsteilung aus dörfte die Frauenarbeit demnach als ein gesellschaftlicher Gewinn gelten. Darin stimme ich mit der Verfasserin uberein.

Aber der Standpunkt der tcchnichen Arbeitsteilung ist nicht der maßgebende. Ich teile durchaus nicht die Ansicht der Verfasserin, daß Erwerbsarbeit das einzige oder überhaupt das geeignete Mittel sei. um die spezifisch weibliche Genialität zu wecken und die weiblichen Anlagen oder die allgemein menschlichen Anlagen im Weibe voll zu entwickeln. Ich erblicke in der Nötigung zu hartem Erwerb vielmehr ein Hindernis dieser Entwicklung, das zu schweren Schäden führt. Das ist eine Konsequenz meiner vol der Verfasserin völlig abweichenden Gesellschaftsauffassung. Ich stehe eben nicht auf dem atnmistischen Standpunkt, der Mann und Weib immer für sich betrachtet, sondern halte die Familie für die wahre Einheit der gesellschaftlichen Organisation. Auch in wirtschaft- licher Hinsicht: für Erwerb und Verbrauch. Damit will ich die Frauen keineswegs ins Haus bannen Mit der Verfasserin bin ich der Ansicht, daß sowohl die gesellschaftlichen Interessen als auch die individuelle Ausbildung durch einen erweiterten Bildungs- und Wirkungskreis der Frau nur gewinnen können. Aber die Erwerbsarbeit der Frau ist nicht das geeignete Mittel dazu. In den bürgerlichen Kreisen ist sie doch regelmäßig die Folge eines Notstandes. Ich begrüße daher alles, wodurch die Erwerbsgelegenheit der Frauen erweitert, ihre Ausbildung hiefür verbessert, ihr Einkommen daraus erhöht wird. Sehr erheb- liche Fortschritte werden auf diesem Gebiete zweifelsohne möglich sein, wofür die westlichen Kulturstaaten ja mannigfache Belege bieten. Allerdings kann ich das Bedenken nicht unter- drücken, daß Frau Braun die Erfolge des Auslandes, insbesondere hinsichtlich der Bildungs- gelegenheiten einigermaßen überschätzt. Allein eine erweiterte Erwerbstätigkeit derjenigen bürgerlichen Frauen, die nicht durch iie Ungunst der Vermögenslage datauf angewiesen sind, halte ich nicht für wünschenswert. Sie würden ja doch nur den minder günstig Gestellten das Brot wegnehmen. Frau Braun übersieht auch keineswegs, daß die hauswirtschaftlichen und Mutterpflicht en verheirateter Frauen die Ausübung eine» Erwerbebernfes sehr erschweren. Sie will diesen Schwierigkeiten durch eine Umbildung der hauswirtschaftlichen Sitten und der Erziehungsweise begegnen: durch Wirtschaftsgemeinschaften mit Zentralküchen und durch gemeinsame Beaufsichtigung, wo nicht Erziehung der Kinder. Das Lehen in derartigen Pensionen mag ja für alleinstehende Personen, auch für einzelne Familien, wo besondere Verhältnisse obwalten, ganz praktisch sein. Aber Frau Braun ist in einer großen Täu- schung befangen, wenn sie glaubt, die allgemeinen Wirtschaftssitten in dieser Richtung umbildcu uud so die geistige Befreiung der Frauen fördern zu können. Viel mehr Aussicht auf Erfolg scheinen mir die Bestrebungen zu haben, das geistige und sittliche Niveau der bürgerlichen Frauen von innen aus zu heben, durch Erziehung und Bildung, durch Erweiterung der Weltkenntnis und Weckung des sozialen Pflichtbewußtseins, aber ohne die Zuchtrute der Erwerbsarbeit. Bei ernster Lebensauffassung und Pflichterfüllung ist der Lebensinhalt einer Fran, die Mutter ist, reich genug, um jene gewaltsame Aufrütte- lung des Interesses entbehren zu können, welche der Erwerb mit sich bringt und bedingt. Ist die bürgerliche Frauenfrage wirklich eine Heiratsfrage, so darf die Lösung nicht nur auf der Frauenseite gesucht werden, sondern sie muß auch von der Münnerseite aus in Angriff genommen werden. Auf der Frauenseite gilt es. Arbeit und Erwerb für die Un- verheirateten oder durch die Ehe nicht vor Not Geschützten zu finden. Von der Männer- seite aus betrachtet, besteht das Problem darin, die Zahl der auf eigenen Erwerb ange- wiesenen Frauen durch häufigeres und frühzeitigeres Heiraten zu vermindern. Die hohe Zahl der alten Jungfrauen ist nicht so sehr durch den Frauer.ühcrschuß bedingt als wie vielmehr durch »las spätere Heiratsalter und die Ehescheu der Männer. Für da« Entscheidende halte ich den Alt ersah stand zwischen Alaun und Frau, der in Deutschland und hier insbesondere in den bürgerlichen Kreisen abnorm hoch ist. Dadurch wird die Zahl der unverehelichten und der vorzeitig verwitweten Frauen außerordentlich erhöht. Das kann freilich nicht durch Moralpredigten geändert werden, wohl aber durch eine allmähliche Änderung der Sitten und Anschauungen, durch eine ernstere, frohere und

ZWUrhrlU für Volkswirtschaft, Sntlalpnlltlk nn<1 Verwaltung. XII. Hand. 2

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Llteratnrbe rieht.

stöbere Lebensauffassung, welche, leerem „gesellschaftlichen" Scheine abbold, sich der wahren und unverwüstlichen Grundlagen menschlichen Lcbensglilckes bewußt wird.

I>ie Verfasserin irrt übrigem, wenn sie auf Grund der nach Jahrzehnten berech- neten Durchschnittszahlen annimmt, daß die Heirat »zitier allenthalben im Rückgänge, die Zahl der uuversorgttMi Jungfrauen daher im Zunehineii begriffen sei. Eingehen auf das Detail des letzten Jahrzehntes belehrt uns vielmehr darüber, dalt die Heiratsziffer wieder wichst, daß im Durchschnitt etwas jünger geheiratet wird wie früher, daß der Alters- abstand zwischen Mann und Frau abnimmt, und daß endlich die zweiten Kheschlieflnngen gegenüber den ersten mehr in den Hintergrund treten. Es geht also im allgemeinen ein frischerer Zug durch die Weit, wo man lieht und freit. Daß das auch für die bürger- lichen Kreise gelte, wage ich nicht zu behaupten. Denn die Wandlung ist offenbar in erster Linie darauf zuriickzufiilireii, daß die Industriearbeiter ab maßgebende* Element in die Volksbewegung eingetreten sind. Die Großindustrie bietet aber, insbesondere mit dem Handwerk und der Landwirtschaft verglichen, ihrer Arbeiterschaft die Möglichkeit relativ frühzeitiger Eheschließung. Aber auch auf die anderen sozialen Schichten gewinnt die groBindustrielle Entfaltung immer mehr Einfluß. Sie wird die von «len alten leitenden Klassen übernommenen ehehindernden Vorurteile mit diesen seihst immer mehr zurück - drängen. Ich hoffe, kein blinder Optimist zu sein, wenn ich aniiehiue, daß unser Volks- leben sich in ansteigender Linie bewegt and daß «las auch in d«*r Zunahme der Ehen und in der Abnahme der alten Jungfrauen «um Ausdruck gelangen wird. Die fortgesetzte Zunahme der arbeitenden bürgerlichen Frauen steht keineswegs in Widerspruch rnit einer solchen Wendung «1er Dinge. Denn der Notstand bleibt noch immer groß genug, «ler Zugang zum Erwerb eng; nur Wenigen gelingt es, sich durch das Tor zu drängen. Der Fortschritt der Frauenbewegung wird die Krwerbswege sicherlich erweitern und vervielfältigen. Wächst dann die Zahl der berufstätigen Frauen, so wird es kein Beweis für die Zunahme «ler Bedürftigen »ein, sondern für die Besserung ihrer Lage.

Ganz anders geartet wie die bürgerliche Frauenfrage ist die proletarische. Hier handelt es sich nicht um die Erschließung des Erwerbes, sondern um die Bekämpfung der Gefahren, die mit «ler weiblichen Erwerbstätigkeit verbunden sind. Der Arbeiterinnen- frage ist die bei weitem größere Hälfte des Buches gewidmet. Mit vollem Rechte. Denn die Zahl der Lohnarbeiten nnen ist ganz unvergleichlich großer als die der erwerbstätigen bürgerlichen Frauen. Bei diesen handelt es sich nur um eine Minderzahl, zumeist um Unverehelichte, bei jenen um die breitesten Schichten, auch um «iie Ehefrauen und Mütter. So wichtig und dringlich die bürgerliche Frauenfrage für die hiemn Betroffenen, vom prinzipiellen Standpunkte aus auch für «lic Gesamtheit sein mag. sie rührt doch nicht an die Grundlagen der Volkskraft: an das Leben und di«* Tüchtigkeit der kom- menden Generation. Das ist aber gerade bei der Arbeiterinnenfrage der Fall. Denn in den sogenannten unteren Schichten sind so ziemlich alle Kranen zur Erwerbsarbeit ge- zwungen, die M«dirznhl auf Lebenszeit oder bis zur Erwerbsunfähigkeit, eine glücklichere Minderzahl «loch bis zur Verehelichung o«ler bis zur Erfüllung der Mutterpflichteu. Und auch jene Frauen des Proletariats, die nicht mehr erwerbstätig sind, sind doch durch die Er- werbsarbeit gegangen: Allen «Irückt sie ihren Stempel auf. Und es erhebt sieh die Frag«-, wie sie zurückwirkt auf die Eignung der Frauen zu Müttern und Erzieherinnen der kom- menden Generation. Das ist's was die Arbciterinncufrage zu einer der dringlichsten unserer nationalen Angelegenheiten macht.

Die Verfasserin wi«lmct «ler proletarischen Frauenfrage 7 Kapitel ihres Buches. Sie schildert die Kutwickelung der proletarischen Frauenarbeit, gibt eine sehr fleißig und geschickt zusammengest eilte Statistik derselben, beschreibt die wirtschaftliche und kulturelle Lage der Arbeiterinnen in den verschiedenen Produktionszweigen und legt den Gang und die Ziele der A rbeiterinnen beweg ung dar. Das vorletzte Kapitel erörtert das Verhältnis der bürgerlichen Frauenbewegung zur Arbeitcrinnenfrage unter prinzipieller Ablehnung aller Wohltätigkeitsverauche und aller Organisationen, die auf anderer als auf sozialdemokratischer Grundlage beruhen. Im letzten Kapitel wird ein Programm tiir «lic

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sozial politische Gesetzgebung unter Jen Gesichtspunkten Je« Arbeiterinnenschutzes und der Arbeiterinnenversicherung entworfen. Die Zielpunkte sind durchaus zu billigen oder Juch diskutabel. Es handelt sich dabei im wesentlichen nur darum, die bisher bereits ein- geschlagenen Wege weiter zu verfolgen. Beachtenswert ist insbesondere der zuerst von belgi- scher Seite ausgesprochene und von der Verfasserin warm vertretene Gedanke einer Mutter- tfchaftsTcrsicherung. Wie weit das Heformprogramm der Verfasserin durchführbar ist, hängt allerdings von der Aufbringung der Mittel ab. Auf diese Frage gebt leider die Verfasserin nicht naher ein. Sie begnügt sich damit, prinzipiell gehaltene Anforderungen an die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit aufzustellen.

Das umfangreichste Kapitel ist jenes, das von der Lage der Arbeiterinnen handelt. Hier inalt die Verfasserin grau in grau, wie das ja schon uach ihrem ParteUtandpuukt und ihren agitatorischen Absichten nicht anders zu erwarten ist. Selbr-t wenn man ein gut»** Stück Übertreibung mit iu Rechnung stellt, bleibt noch immer genug des Trauri- gen und Düsteren, noch immer dringende Veranlassung zu raschem und durchgreifendem Eingreifen der Gesetzgebung in der Lichtung de* Frauenschutzes.

Wenn ich von Übertreibung spreche, so will ich damit durchaus keinen Zweifel an der boua fides der Verfasserin aussprechen. Mehrfache Umstände wirken dabei mit. Zuuächat ist zu bedenken, daß die Schriften, die sich mit Jer Lage der Arbeiterinnen befassen, auch wenn sie nicht von der sozialdemokratischen Seite ausgehen, Keformab- *icht»*n verfolgen, demnach die krassesten Fälle hervorheben und die ungünstigsten Ver- hältnisse schildern. Nicht die guten, sondern die schlechten Lolinverhiltnisae und Arbeits- bedingungen sind die interessanten; nur aus ihnen läßt sich publizistisch und sozialpoli- tisch Kapital schlagen. .So kommt es, daß wir mehr schlechte als gute Zeugnisse besitzen, und daß die an sich gewiß keineswegs befriedigende Lage der Arbeiterinnen nach der Literatur beurteilt noch schlimmer erscheint, als sie es in Wirklichkeit ist. Ein zweites Moment, welches Frau Braun zu Übertreibungen, zumindest im Tone des Vortrages verleitet, ist zugleich jenes, worauf ihre Stärke ais Schriftstellerin und Rednerin zuin guten Teil beruht: die Kraft ujpl Phantasie ihres Mitleids, die leidenschaftliche und leideusvolle Anteilnahme an der Lage aller bedrückten und leidenden Frauen sowie der glühende Wunsch, das Niveau der Frauen überhaupt zu heben. Diese Stimmung ist es ja, die der Verfasserin die Feder in die Hand gedrückt, die sie in die Öffentlichkeit ge- führt und ihre sozialpolitische Stellung bestimmt hat. Aber diese Stimmung bringt es auch mit sich, daß die Verfasserin die Dinge nicht vom Standpunkte der Arbeiterin, sondern vom Standpunkte ihrer eigenen hochgespannten Anforderungen aus beurteilt. Lebens- und Arbeitsverhältnisse, die ihr, der geistig, sittlich und ä>thetisch hochstehenden und fein- fühlenden Frau, unerträglich erscheinen, sind es nicht für jene Tausenden, die aus noch dunkleren Verhältnissen sich emporarbeiten. Die idealen Ziele der Verfasserin weiß ich gewiß zu würdigen. Aber die subjektive Lage der Arbeiterinnen, der Grad von Lust oder Unlust, die sie empfinden, darf uicht au jenem idealen Maßstabe gemessen werden, son- dern nur an dem gegenwärtigen Niveau der betreffenden Arbeiterinnen und an dem sozialen Milieu, dem sie entstammen.

So kräftig auch die Verfasserin die Schattenseiten der Frauenarbeit hervorzuheben, weiß, so liegt ihr doch der Gedanke völlig fern, ob nicht eine prinzipielle Einschränkung der weiblichen Arbeit, wenigstens jene der verheirateten Frauen und der Mütter, wünschenswert und möglich sei. Ihr Reformprogramm beschränkt sich auf die Arbeitsbedingungen, auf den Ausbau des Frauenschutzes und des Versicherungswesens. Das entspricht dem sozial- demokratischen Gedankengang, der beide Geschlechter mit gleichen Rechten und Pflichten in die gesellschaftliche Produktion einstellen will. Dem gegenüber bedeutet schon die Anforderung eines speziellen Frauenschutzes einen Fortschritt. Wer jedoch nicht auf dem Boden der sozialdemokratischen Weltanschauung steht, wird die von der Hauswirt- schaft losgelöste Erwerbarbeit der Frauen, insbesondere die Fabriksarbeit, keineswegs als eine gleichsam selbstverständliche Sache mischen, in die mau sich ohneweiters finden muß. Insbesondere die eheweiblicbe Arbeit ist, wie auch die Verfasserin mehrfach zugibt regelmäßig die Folge von Not. Reicht Jas vom Manne erworbene Einkommen zum Untcr-

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halt der Familie aus, so braucht die Frau nicht mit zu erwerben, wenigstens nicht als voll- tätige Fabriksarbeiterin, und sie tut es dann in der Regel auch nicht. Bei der Besichtigung von Arbeiterwohnhäusem, die allerdings in der Regel von der Elite der Arbeiterschaft bewohnt sind, traf ich in den verschiedensten Teilen Deutschlands die Frauen zu Hans an. Eine Umfrage ergab, daß allenthalben die Frauen zu Hause bleiben, sobald nur der Verdienst des Maunes es gestattet. Die Lohngrenze, bei der das der Fall ist, schwankt je nach den Ansprüchen und Bedürfnissen. Aber cs besteht kein Zweifel darüber, daß in den besseren Arbeiterkreisen die Krwerbsarbeit der Ehefrauen ebenso als MiOstand empfunden und nach Möglichkeit vermieden wird wie in den bürgerlichen Kreisen. Wenn auch in den Ländern, deren technisch-industrielle Entfaltung der sozialen vorausgeeilt ist, die prole- tarische Frauenarbeit vorläufig noch wächst, so ist es duch keineswegs ausgemacht, daß dies in aller Zukunft so bleiben werde. Ich halte es vielmehr für wahrscheinlich, daß die Frauenarbeit, sobald nur eine gewisse Höhe der sozialen Entwicklung erreicht ist, zurückgehen werde. Denn der technische und soziale Fortschritt hat die Wirkung, mit der Hebung der Pro- duktivität und des Lohnes der männlichen Arbeit die weibliche Arbeit sowohl volkswirt- schaftlich als auch privatwirtschaftlich immer entbehrlicher zu machen. Anzeichen einer solchen Wendung habe ich an anderer Stelle nachgewieseu. lj Es gehört sicherlich kein größerer Optimismus zu der Annahme, daß die Lage der Arbeiterfrauen auf diesem Wege werde gehoben werden, als zu der sozialistischen Verheißung, die alle Frauen durch Arbeit „befreien“ will. Befreiung durch die Arbeit oder Befreiung von der Arbeit? So steht dis Frage. Ich halte die letztere Lösung für die wünschenswertere und für die wahrscheinlichere.

Ich habe das Buch der Frau Braun ausführlicher besprochen, wie dies bei Litcraturanzcigen sonst üblich ist, weil es als eine klassische Formulieruug der Frauen- frage vom sozialistischen Standpunkt aus zu prinzipieller Stellungnahme auffordert. Mußte ich auch die prinzipiellen Voraussetzungen und Folgerungen des Buches ablehnen, so möchte ich doch dringendst wünschen, daß es in den bürgerlichen Kreisen fleißig gelesen werde. Mögen insbesondere die bürgerlichen Frauen daraus lernen, wie hohe Kulturzielc einu Bewegung verfolgt, über welche viele von ihnen noch immer spotten zu dürfen vermeinen. H. Kauebbe rg.

C. Hugo, Die deutsche Städteverwaltung. Ihre Aufgaben auf den Gebieten der Volkshygiene, des Städtebaues und des Wohnungswesens. Stattgart 1901, 512 S. 8®.

C. Hugo (Dr. Lindemann) ist der Kommunalpolitiker der deutschen Sozial- demokratie. Er hat für den 1902 zu München abgehaltenen sozialdemokratischen Parteitag ein umfängliches Programm für die Stellung der Sozialdemokratie zur Kommunal- politik auagearbeitet, dessen Durchberatung allerdings auf einen spätereu Parteitag verschoben worden ist. Nicht unvorbereitet ist der Verfasser an diese Aufgabe b cran- getreten. Schon 1897 hat er ein Werk über „Städfteverwaltung lind Munizipalsozialismus in England“ veröffentlicht. Zu den neuen Untersuchungen des Vereines für Sozialpolitik über die Wohnungsfrage hat er die Wohuungastatistik geliefert. Nunmehr hat er sich zur Aufgabe gestellt, das ganze Gebiet der deutschen Städteverwaltung wissenschaftlich durchzuarbeiten, um daran von seinem Parteistandpunkte au» Reform Vorschläge uud •Forderungen zu knüpfen. In dem vorliegenden Bande werden Volkahvgiene, Städtebau und Wohnungswesen behandelt. Einer für später in Aussicht genommenen Fortsetzung des Werkes bleiben Wirtschaftspflege, Volksbildung, Armenwesen sowie die Sozial- oder Arbeiterpolitik der Gemeinden Vorbehalten.

Die Gemeindeverwaltung ist bisher sowohl von der wissenschaftlichen Verwaltungs- lehrc als auch von den politischen Parteien Deutschlands einigermaßen vernachlässigt worden. In Theorie und Praxis steht die staatliche Verwaltung im Vordergrund des Interesses: an den Staat pflegen sich die Männer der Wissenschaft mit ihren Ratschlägen, die politischen Parteien mit ihren Anliegen in erster Linie zu wenden. So kommt es. daß die deutschen und noch mehr die österreichischen Stadtverwaltungen, von dein

*) Vergl. da« Kapital „Din Htallnaf dnr Kraann im ErwerMnbnn* in meiner Haarbeltung der UcuUcbes Beruf»- uud licwerbfibUuiti vom 14. Juni 1810. Berlin 1901, H. 181 ff.

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Literaturbericht.

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.Strome der geistigen und politischen Bewegung weniger beeinflußt wie die Staats- verwaltung, nach eigener Einsicht und Kraft ihre Aufgaben wählten und lösten, häufig wohl auch in träger Routine verharrend, ihre Augen vor dringenden Bedürfnissen des gesteigerten städtischen heben» verschlossen. Nimmt man noch dazu die große Mannig- faltigkeit der örtlicheu Verhältnisse, so ist es leicht begreiflich, daß die Schwierigkeit. Übersicht über das Bestellende zu gewinnen und einheitliche Gesichtspunkte für diu weitere Entwicklung aufzuatellen, groß genug war, um bislang eine einheitlich zusammen- fassende wissenschaftliche Bearbeitung der Probleme der Stadtverwaltung in der deutschen Literatur zu verhindern.

Die Arbeit C. Hugos entspricht daher einem wirklichen und dringenden Bedürf- nisse. Sie beruht auf dem ausgedehnten und mühsamen Studium städtischer Verwaltunga- berichte, von Denkschriften, Rechnungsabschlüssen, statistischen und andereu Publikationen, mit welchen man sich sonst nicht abzugeben liebt. Schon deswegen ist sie höchst verdienstlich. Auf die Behandlung der einzelnen Probleme einzugehen und mich mit dem Verfasser darüber auseinander zu setaen, ist mir an dieser Stelle natürlich nicht möglich. Ich muß mich darauf beschränken, den allgemeinen Eindruck wiederzugebcii, den ich beim Lesen des Buches gewonnen habe. Es ist der, daß der Verfasser die einzelnen Probleme technisch beherrscht und daß seine Reformvorschlüge im allgemeinen sachlich begründet sind, daß ihn aber sein radikaler sozialpolitischer Standpunkt einer- seits hindert, historisch begründete Zustände gerecht zu beurteilen, anderseits oft genug dazu verleitet, Forderungen aufzustellen, für deren Durchführung die wirtschaftlichen, sozialen uni politischen Voraussetzungen nicht oder noch nicht zutreffen, C. Hugo ist der Vertreter eines fcjtadtsozialismus, der nicht minder einseitig und doktrinär ist, wie der Staatssozialismus seiner Partei. Manches, da» sich in einem Parteiprogramm vielleicht ganz gut macht, verträgt doch nicht den strengeren Maßstab, den inan an ein wissenschaftliches Werk anlegt. Insbesondere die Behandlung der Wohnungsfrage leidet unter dem Prinzip des Gemeindesozialismus. Nur aus der parteipolitischen Vorliebe für dieses Prinzip kann ich ea mir erklären, daß der Verfasser ohne Bedenken die Lösung der Wohnungsfrage ausschließlich den Gemeinden zuweisen will und die sehr beachtens- werten Versuche und Vorschläge zu anderen Lösungen teils mit Stillschweigen übergeht, teils mit ungerechtfertigter Geringschätzung abfertigt. Den Schwierigkeiten, welche sich der Verwaltung von Wohnhäusern durch die Städte entgegenstellen, will der Verfasser durch Mictergenossenschaften begegnen.

Leider hat sich der Verfasser durch seinen Parteiatundpunkt mitunter auch dazu verleiten lassen, seine Kritik durch gehässige Angriffe und öde Schimpfereien zu ver- stärken. Da» schadet nur der Sache und beeinträchtigt das Niveau des Buche». Und doch liegt auch diesen Verirrungen eine berechtigte Empfindung zu Grunde. Es ist da» Gefühl, daß Stadtverwaltung und Stadtverfassuug innerlich Zusammenhängen und daß die Ver- waltung im großen und ganzen immer im Sinne derer geführt werden wird, welchen die Verfassung die Macht in der Stadt und über die Stadt verliehen hat. Diemm Zusammen- hang wissenschaftlich darzulcgen gehört allerdings mit in den Rahmeu eines Buches über Stadtverwaltung. Vielleicht holt der zweite Teil nach, was der erste in dieser Hinsicht versäumt hat.

Durch diese Bedenken soll aber der Wert des Buches in Bezug auf die technische Behandlung der einzelnen Verwaltungsprobleme keineswegs herabgesetzt worden. Nicht nur da» große Publikum, sondern vor allein das Verwaltungsperaonal der Städte selbst, sowohl das ehrenamtliche als auch da» berufsanitliche, wird darin vielfache Anregung und Belehrung finden. Der Fortsetzung des Werkes sehen wir mit Interesse entgegen.

H. 1! auchberg.

I)r. Zacher, kais. geh. Regiernngsrat und ScnaUvorsitzcndcr iin Reichsversiclic- rungsamt, Die Arbeiterversicherung im Auslande, Verlag der Arbeitervcrsorguiig, A. Troschel, Berlin-Grunewald I8ü8-DM)2, 18 Hefte.

Maurice Ilellom, Ingenieur au Corps des Mines, Les lois d'assurance ouvricre a lVtranger, A. Rousseau, Paris, 5 Bände, 18U2— 1901.

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Literaturbericht.

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Die Darstellung der Arbeitervereicherung hat in dem /.acli er scheu Werke betreffs der europäischen Staaten ihren vorläufigen Abschluß gefunden, so daß ein Rückblick auf das groß angelegte Werk am Platze ist. Die Arbeiterversichcrnng im .Auslande wurde ein unentbehrlicher Schelf für jeden, welcher dem Studium dieses Zweiges der sozialen Verwaltung obliegt. Zacher erbringt betreff» der einschlägigen Gesetzgebung jedes Landes die gesamten in den Gesetzentwürfen und Motiveuberichtcu aufgespeicherten und ver- arbeiteten Materialien sowie den Text der zur Geltung gelangten Gesetze in der Ur- sprache und abgesehen von den französischen Gesetzen auch in der deutschen Übersetzung. Er ermöglicht hiedurch die Kenntnis des Entwicklungsganges der Gesetzgebung und der in den einzelnen .Staaten abweichenden Methoden, welche bei der Lösung der Arbeiter- vereieherungsl'rageu angeweudet wurden. Insbesondere Frankreich nahm durch lange Zeit einen dem deutschen Prinzip des Vereicherungazwanges entgegengesetzten Standpunkt ein, und erst in den letzten Jahren wurde auch dort diese Gegnerschaft aufgegeben, denn es wird wohl kein einsichtsvoller Betriehsuntemebmer verabsäumen, sich auch ohne den ausgesprochenen Versicherungszwang gegen die Lasten durch Versicherung zu schützen, welche ihm das französische Versicherungsgesetz vom 9. April 189?* aufnftrdet. Die neuesten Gesetzentwürfe zur Invalidenversicherung fußen ausdrücklich auf dem Prinzip der Zwangsveraicherung. Auch die Beratungen des Internationalen Kongresses für Arbeiter- Versicherung, welche das uächstemal (1905) in Wien stattfinden werden, zeigen, unter französischem Einflüsse stehend, diese Wandlung. In früheren Jahreu widerhallten sic von dem Rufe nach freiwilliger Versicherung und der Negierung jede» Zwange«, wogegen diese Stimmen jetzt nur mehr selten zu vernehmen sind. Zacher ist demnach berechtigt, den Sieg dem deutschen Prinzipe des Vereicherungszwanges zuzuspreehen. In Österreich verdient es betont zu werden, daß in der Gesetzgebung jener Staaten, wie Norwegen, Luxemburg, die Niederlande, in welchen die Unfallversicherung gleichwie in Deutsch- land and Österreich nach dem Grundsätze des Vereicherungszwanges und der Zwangs- kassen durchgeführt wurde, in den Details das österreichische Vorbild Nachahmung ge- funden hat.

Zacher verweist hei «1er Besprechung des Ausgabserfordeniisses der Arbeiter- Versicherung, welches oft als Hindernis gegen die Erweiterung der Versicherung wirkt, mit vollem Recht auf die Unsummen, welche in Deutschland 'und leider auch anderwärts) für den AlkoholgennB verausgabt werden. Wahrend die deutsche Arbeiterversichemng selbst im Reharnmgsznstande kaum eine halbe Milliarde Mark jährlich erfordern werde, verwende das deutsche Volk für alkoholische Getränke alljährlich den enormen Betrag von fast drei Milliarden Mark. Innerhalb eines Jahrzehnts stieg der Verbrauch au Brannt- wein von 4*6 auf 8'4, an Bier von 99*2 auf 125 Liter auf den Kopf der Bevölkerung, wogegen Amerika nur 49 und 60‘6 Liter auf weist! Man kann also mit Recht sagen, we- niger wäre auch da mehr, sowohl für die Volksgesundheit und die Verminderung des Elends wie auch für den Aushau der Arbeiterversicherung und die Besserung der so- zialen Verwaltung überhaupt; was könnte auf dem noch vernachlässigten Gebiete der Wohuungsfüreorge für die Minderbemittelten geschehen, das vor allem an der Unzuläng- lichkeit der Mittel krankt.

Zachers Werk ist und bleibt von aktuellem Interesse, den» die Arbeiterver- vereichemng stellt mitten in ihrer Entwicklung, so daß jeder, welcher mit ihr sich zu befassen hat, ein Buch schätzen wird, das ihm über die zu diesem Gegenstände schon gemachten Vorschläge und über die anderwärt* zusamm engetragenen reichen Materialien Aufschluß erteilt.

Der schätzenswerten Arbeit Zacher* schließt sich das umfangreiche Werk des Franzosen ßellom würdig an. Auch dieses ist ein Denkmal emsigsten Fleißes. Bellom wendet seine besondere Aufmerksamkeit nicht nur der Erläuterung der Bestimmungen, sondern auch den Details der Durchführung der Kranken- und Unfallversicherungflgesetze zu und hat hierüber ein sehr umfangreiches und vollkommen erschöpfendes Material beigebracht. Sein verdienstliches Werk bildet demnach einen unentbehrlichen Behelf für jene, welche sich für die Durchführung der Arbeit eneraicherung in ihren Einzelheiten

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Literat urb er icbt.

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interessieren. Es verdient anerkennend hervorgehoben zo werden, das Bcllotn speziell die Durchführung der Österreichischen Arbeitorversicherung mit besonderer Aufmerksam- keit verfolgt»- and die hiebei beobachteten Prinzipien überaus eingehend schilderte. Er hat demuach wesentlich dazu beigetragen, die Österreichische Arbeiter Versicherung in ihren Details iin Aaslande bekannt zu machen. Kogler.

l)r. Gforf Sydow, Theorie und Praxis in der Entwicklung der franzö- sischen Staatsschuld seit dem Jahre 1870. i Mit einem Vorwort von Adolf Wagner.’: Verlag von (instar Fischer in Jena 1903.

Der erste Teil dieser Monographie ist der Theorie des .Staatsschuldenwesens ge- widmet; zunächst wird die Entwicklung de« staatlichen Finanzbedarfes und das erste Auftreten des Staatskredits geschildert, woran sich der Versuch einer Abgrenzung der Besteuerung gegen die Benützung des Staatskredits schließt. Im Gegensatz zu Dietzel und Malchus tritt der Autor warm ftir die Schaffung eines Kriegsschatzes ein, dem er eine hohe Bedeutung für die militärische Schlagfertigkeit beimißt. Bei Besprechung der verschiedenen Formen der staatlichen Schuldaufnahme, der schwebenden und der fundierten Schuld, sowie der Unterarten der letzteren: der rückzahlbarer» und der nicht rückzahl- baren oder Rentenschuldeu macht er auf die Bedenken aufmerksam, die der Aufnahme von Anlehen mit Bäckzahlung des Kapital* zu bestimmten Terminen, namentlich wenn es sieh um größere Summen handelt, entgegenstehen, da durch das Versprechen der Regie- rung. zu bestimmtem Termine größere Rückzahlung»'!! vorzunehmen, ein Moment der Unsicherheit in die Finanz Wirtschaft hineingebracht wird: „Die Regierung verfügt im voraus über eineii vielleicht nicht unbeträchtlichen Teil ihrer künftigen noch nicht fest- stehenden Einnahmen, ohne in der Lage zu sein, die Wirkung dieser Ausgabe auf die Finanzwirtschaft voraus zu sehen. Kann sie dafür dann in einer kritischen Zeit die Mittel nicht beschaffen, so muß sie entweder den RückzHhlungfitermin hinaus schieben und unter Fortzahlung der Zinsen die Last weiterschleppen. bis diese durch Fälligkeiten späterer Termine so angewachsen ist, daß eine Anleihe meist unter ungünstigen Bedingungen unver- meidlich ist, oder die Rückzahlung einstweilen auf die schwebende .Schuld übernehmen und dem Defizit Tür und Tor Offnen, Diese Behauptungen beweist der Autor im /weiten Teile seiner Darstellung, indem er die Entstehung der französischen Defizitwirtschaft auf die Vorliebe der französischen Staatsmänner für die Anleihen mit bestimmten Tilgungs- terminen zurückführt. B**i der Frage, ob eine Begehung durch Vermittlung der Bank- häuser oder eine direkte Begebung der Anleihen vorteilhafter ist, spricht er die Ansicht au«, daß die ersten* Art mehr den kapitalannen Ländern, die letztere aber den kapital- reichen, wohlhabenden entspräche. Für die Wahl eines niederen Zinsfußes spricht der Umstand, daß der Staat hiebei das Geld billiger bekommt und auf ein rascheres Ein- gehen der erforderlichen Summen rechnen kann, während Anleihen mit höherem Zinsfuß wieder die Möglichkeit bieten, sie unter günstigeren Verhältnissen in eine niederer ver- zinsliche zu konvertieren.

Im zweiten Teile ist ein anschauliches Bild der Entwicklung der französischen Staatsschuld seit dem Jahre 1870 entrollt. Es wird die aufopfernde Unterstützung des Staates durch die Bank von Frankreich geschildert, die einen großen Teil der Kriegs- kosten vorstreckt, deren Noten aber trotz der hohen Kreditgewährung an den bedrohten Staat infolge der frühzeitigen Verhängnng des Zwangskurses vor einer eigentlichen Ent- wertung bewahrt werden. Hierauf folgt die Zahlung der Milliarden-Kriegsentschädigung wo der starke Bedarf an Edelmetall eine vorübergehende Steigerung des Goldkurses be- wirkt. Die Schulden au die Bank von Frankreich werden durch eine Anleihe zurück- gezahlt und zur Rekonstruktion des Kriegsmaterials in dem Compte de Liquidation ein außerordentliche« Budget geschaffen, das im weiteren Vei laufe durch das Budget des ddpenses extraordinaires stark erweitert wurde. Die Schaffung des Budget extraordinaire erklärt Sydow für einen der verhängnisvollsten Fehler der französischen Finanzpolitik, da dadurch verhindert wurde, daß der Volksvertretung ein klares Bild von dem Mißver- hältnis der ordentlichen Einnahmen zu dem staatlichen Gesamtbedarf geboten wurde, wie es die Gesamtdarstellung von Einnahme und Ausgabe in einem einheitlichen Etat gewährt

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Literaturberieht.

bitte. Wäre «lies geschehen, so wäre manche iler itn Budget extraordinaire enthaltenen Ausgaben durch ordentliche Kinnahmen gedeckt worden, manche Steuerrermehrungen wären bewilligt, manche Mchuldaufnahmen vermindert worden. Dieses Budget des depenses extraordinaire* war 1878 geschaffen worden, als man nach Tilgung der Kriegsschulden bei der Bank von Frankreich infolge der erhöhten Steuer Aber eine FQllc von Hinnahmen verfügte, die man zur Verstaatlichung und zum Ausbau des Eisenbahnnetzes und zur Vor nähme von Wasserbauten zu benützen beschloß. Da der Aufwand für diese Investitionen die ursprünglichen Berechnungen weit überstieg und infolge der scheinbar günstigen Finanzlage eine Reihe von äteuererlässen bewilligt worden war, so wuchs die schwebende Schuld ungemein, und es stellte sich im Jahre 1882 ein deutliches Defizit ein. Die schwebende Schuld wurde zunächst durch Ausgabe von amortisabler dreiprozentiger Rente konsolidiert, die jedoch nicht auf den Markt gebracht, sondern von der Depositen- knsse (Caisse des depöts et consignations) übernommen wurde, deren Depositen größtenteils aus Spnrkassaguthaben bestehen-, ein Vorgang, dessen Bedenklichkeit Sjdow hervorhebt. Durch weitere Anleihen und Konversionen gelingt es, das Defizit im Jahre 1888 aus dem Budget verschwinden zu machen. Als endlich im Jahre 1892 das Budget extra- ordinaire aufgehoben wird, zeigt sich wieder das Defizit; erst durch neue Anleihen und .Steu Erhöhungen wird der Staatshaushalt wieder ins Gleichgewicht gebracht; da aber die Anleihen Tilgungen zu bestimmten Terminen featsetsen, so glaubt 8 y d o w, daß dadurch die französische Finanzwirtschaft in ernste Gefahren geraten könne, denen selbst der Reichtum Frankreichs vielleicht nicht gewachsen wäre.

Braun von Fernwald.

Vergleichende Studien über ßetricli.sstntiHtik und Betrlebsformen der englischen Textilindustrie von Pr. Georg Bmdnitz, Privatdozent in Halle a. S. Jena, Verlag von Gustav Fischer, 1902.

Die Arbeit von Dr. G. Brodnitx sucht eine höchst bedauerliche Lücke in den Materialien zur Kenntnis der englischen Wirtschaft auszufülleu. England besitzt keine offizielle gewerbliche Betriebsstatistik. Wir können daher ein Bild der relativen Bedeutung der einzelnen Betriebsformen und Betriebsgrößen nicht auf statistischer Grundlage, sondern lediglich für einzelne Industriezweige beiläufig auf Grund von Enqueten, Mono- graphien, Schätzungen etc. gewinnen Dr. Brodnitz konnte in einer privaten Arbeit nicht daran denken, das ganze Gebiet der englischen Industrie in Angriff zu nehmen; er wählte die Textilindustrie und schuf für dieselbe eine Betriebsstatistik auf Grund der ihm vom Leiter der englischen Fabriksinspektion zur Verfügung gestellten Mit- teilungen der einzelnen Fabrikanten, die in neuerer Zeit verpflichtet sind, der Zentralfabriksinspektion die von ihnen im Jahresdurchschnitte beschäftigte Arbeiterzahl bekanntzugeben. Das auf diese Weise gewonnene Material vergleicht Dr. Brodnitz sohin * in methodologischer und meritorischer Hinsicht mit der Betriebsstatistik des Deutschen Reiches.

•Dieser Vergleich wird allerdings in mehreren Fällen durch verschiedene Klassi- fizierung der Gewerbe erschwert, indem die deutsche Reichsstatistik im Gegensätze xum englischen Material zwischen der Verarbeitung von Streich- und Kamingarn nicht unterscheidet, Bleicherei, Färberei, Druckerei und Appretur zusammenfaßt, ebenso Spitzen- verfertigung und Weißzeugstickerei etc.

Als Einleitung gibt uns Dr. Brodnitz eine gedrängte Darstellung der Geschichte der englischen Textilindustrie mit Rücksicht auf die in derselben vorherrschenden Betriehsformen, das doraestic System einst, die große Industrie in neuerer Zeit.

Die große industrielle Umwälzung im 18. und 19. Jahrhundert hat vielfach in der englischen Literatur die Anschauung gezeitigt, der fabrikmäßige Großbetrieb werde und müsse allgemein alle anderen Betriebsformen verdrängen.

Dr. Brodnitz führt uns jene spärlichen englischen Schriftsteller vor, welche auf Grund näherer Untersuchung ein richtigeres Bild der tatsächlichen- Verhältnisse geben konnten, so insbesondere Charles Booth in seinem Kolossalwerke „Life and labour of the people <»f London*. Interessante zeitgemäße Formen des Kleinbetriebes stellen insbesondere die

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Literaturbericlit.

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„gemeinschaftlichen Fabriken“ dar, die wir in der Baumwollwcberei Anden, nnd das in der Nottinghamer Spitzenindustrie ausgebildete System der Maachinenmiete.

Pr. Brodniti berichtet uns aber auch über die neuesten Bestrebungen, die textilen Hausgewerbe xu unterstützen und neu zu beleben, Bestrebungen, die von Ruskin und Albert Fleming ausgingen, ton der Home arts and industries association. der Irish, Scottish and Walsh association propagiert werden und sich der besonderen Unterstützung des Königs erfreuen.

Per Vergleich der englischen Betriebsstatistik mit der deutschen xeigt uns auf den ersten Blick, daß sich die Überbleibsel der englischen textilen Hausindustrie mit Einschluß ähnlicher moderner Neubildungen auch nicht annähernd mit der gewaltigen Zahl der deutschen textilen Zwergbetriebe yergleichen lassen; wir finden aber den Mittelbetrieb auch in England stark verbreitet, teilweise stärker wie in Peutschland. Ein Vergleich der Zahl der Betriebe in den verschiedenen Größenklassen (Kleinbetriebe 1-5 Personen, Mittelbetriebe 6-50. Großbetriebe 5t nnd mehr Personen) wäre freilich für sich allein ungenügend gewesen. Besondere Vorsicht bei der Wahl des Vergleichs- msßstabes war infolge der großen Zahl der deutschen Alleinbetriehe geboten, die von allen Haqptbetrieben der deutschen Textilindustrie mehr als die Hälfte ansmachen die aber in England nahexu ganz fehlen. Stellte man daher x B. ohne weiteres die Zahl der Arbeiier, die in den beiden Ländern in einxelnen Gewerbexweigen durchschnittlich auf einen Betrieb kommen, nebeneinander, ao würde England infolge Fehlens der den deutschen Purcbsehnitt berabdrüekenden Alleinbetriebe weit mehr xum Großbetriebe entwickelt erscheinen als richtig ist. Per Vergleichungsmaßstab, den Pr. Brodnitx gewählt hat. ist die Verteilung der Personenzahl auf die verschiedenen Größenkategorien der Betriebe.

Dr. Brodnitx stellt auf diesem Wege fest, daß im großen and ganzen dem Großbetriebe anf dem _ Gebiete der Textilindustrie in Peutschland nahezu eine ebenso große relative Bedeutung zukoromt wie in England. In verschiedenen Industriezweigen .st das Verhältnis freilich ein verschiedenes. Es sind in der englischen Baumwollspinnerei «5-95 Proz. der Personen im Großbetrieben tätig, in der deutschen 92'8 Proz , obwohl in Peutschland nur 15-3 Proz. der Betriebe, in England hingegen 78 9 Proz. der Betriebe Großbetriebe sind; Kleinbetriebe gibt es in England 1 Prox., in Peutschland 759 Proz Pte enghsche Baumwollspinnerei beschäftigt 9V52 Proz. der Arbeiter in Großbetrieben', die deutsche bloß 67 Proz. der Arbeiter; von den deutschen Betrieben sind 96-8 Proz Kleinbetriebe von den englischen 1-8 Proz. Aber sowohl in der Baumwollspinnerei »U such in der Baomwollweberei haben die Betriebe mit über 100 Personen in Deutschland eine höhere durchschnittliche Personenzahl pro Betrieb als in England

Auch in der Wollspinnerei und der Wollweberei finden wir in England nur um einige wenige Prozente mehr Personen in Großbetrieben beschäftigt wie in Deutschland Wieder aber beschäftigt innerhalb des Großbetriebes in der Wollweberei der ein zelne Betrieb durchschnittlich in England 51, in Deutschland 145 Personen. Man kann also wohl atmehmen, daß die Tendenz zu konzentriertem Großbetrieb in Deutschland sogar stärker ist als in England

Emen größeren Anteil des Großbetriebes wie England weist Deutschland nur iu einigen weniger wichtigen Zweigen (Shodd.rhe Stellung. Wollbereitnng) auf. Die Jute- Spinnerei ist in beiden Ländern so ziemlich gleich organisiert. Die Juteweberei ist schon "* tngi“d„etwa3 mehr konI,-'ntriert P'M- der Personen arbeiten in Großbetrieben gegen 98 8 Proz. in Peutschland). aber wieder ist der Großbetrieb in Deutschland stärke' konzentriert, indem er durchschnittlich 288, der englische Großbetrieb nur 221 Personen beschäftigt Stärker in größeren Betrieben konzentriert sind in England insbesondere die Strunipfwirentndustne, die Spitzenindustrie und die Leinen weher,,, die in Deutschland noch vtel ach h.uimdustneU betrieben werden, die Seidenspinnerei, schließlich die Seiden- Weberei, letztere jedoch wied.r in Deutschland mit größerer durchschnittlicher Peraonen- sahl innerhalb des Großbetriebe«. Betrieb« mit mehr als 500 Personen weist England in der Seidenweberei nur 3, Deutschland dagegen 14 auf.

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Literaturbericht.

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Betrachten wir die Riesenbetriebe der Textilindustrie mit wehr als 1000 Personen gesondert, io finden wir, daß England deren 20 mit 38.89*2 Personen zählt. Deutschland 32 mit 42.777 Personen.

Der verdienst vollen Arbeit Ober die Betriebsfonnen der englischen Textilindustrie soll eine Studie über die englischen Kleingewerbe im allgemeinen folgen. Ziiek.

L. r. Amran, Englands Land- und Seepolitik und die orientalische Frage nebst Vorschlägen in Betreff der Meereugen und Isthmen des Mit- telländischen und des Roten Meeres. Berlin. W. 35, Fußingen Buchhandlung. Preis 1 Mark.

Das Büchlein ist ein schöner Beweis dafür, daß selbst am Anfänge des 20. Jahr- hunderts der Idealismus noch nicht ganz abgestorben ist; denn abgesehen von einer wirklich sehr klaren und übersichtlichen Darstellung der jetzigen Macht Englands und ihrer Fundamente, kann man füglich die Vorschläge de» Verfassers zur Lösung der orientalischen Frage ebenso wie die zur Neutralisierung der wichtigsten, maritimen Welt- straßen durch Schaffung von Neutralstaaten an den betreffenden Meerengen und Isthmen im besten Falle als schöne Traume bezeichnen, die durch Hineinziehung der Judenfrage und des Zionismus nicht an Realität gewinnen. Alle in diesem Büchlein niedergelegten Ideen können zu wunderbaren Diskussionen an den .Stammtischen der Provinzst&dte Anlaß geben, wo die Fragen der internationalen Politik hinter den Bierkrügen rasch und endgültig entschieden werden, und wo gewiß auch die Idee, alle Juden an der Straße Bab-el-Mandeb in einem Neutralstaatskäfig zusamiuenzupferchen, und zwar unter einem christlichen Oberhaupt, ebensolchen Ministern und Heerführern (!), ebensoviel Bewunderung als Widerspruch erregen würde. Wie ideal gedacht ist es auch, den Abyssiniern als Experiment eventuell den Bab-el-Mandebstaat zu übergeben und zu versuchen, „ob nicht auch diese Menschen- mit ihren höheren Zwecken wachsen können. Der Verfasser träumt mit einer wahren Wollust von internationalen Konferenzen, Bündnissen, Verträgen etc. etc., kurz von einer Regelung aller Fragen im Einvernehmen zu mindestens aller Kon- tinentalstaaten, die alle seine Vorschläge durchzuführen und dann auch noch inte» national zu garantieren hätten. Leider läßt sich Herr v. Amran wohl infolge der Kürze der Darstellung nicht in eine nähere Ausführung der Durchführung dieser Gesaintaktionen ein; vielleicht hat er ein näheres Eingehen darauf schon deshalb vermieden, um nicht damit selbst das Fundament aller seiner weiteren Vorschläge von vornheiein zu zer- stören. Gewiß wurde dieses mit soviel Fleiß und Umsicht verfaßte Vorachiäge-Mosaik auch dem ernstesten Politiker ein Lächeln abnötigen, aber er würde wohl vom Ver- fasser dasselbe denken müssen, was dieser selbst von den Zionisten und Antisemiten sagt „Beide haben den Boden der realen Tatsachen v-u lassen und bewegen sich in den luft- und lichtlecren Regionen der Phantastereien.- L. K.-M.

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ZUR AUSGESTALTUNG I»ES RECHTS- UNI) STAATS WISSENSCHAFT LICHEN STUDIUMS IN ÖSTERREICH.

VON

PP.OP. T>H ALFRED V. HALBAN

(FORTS ETIL’NO.)

VI. Das staatswissenschaftliche Studium.

Die zweite Studienabteilung, der jetzt 4 - !>, in der Regel doch nur 4 Semester gewidmet werden, umfallt die Staatswissenschaften und das moderne Recht.

Was die Staats Wissenschaften anbelangt, so bedarf es keiner speziellen Auseinandersetzung, um das mangelhafte Gleichgewicht zwischen der juristischen und staatswissenschaftlichen Bildung näher zu schildern; dieses Übel ist genügend anerkannt und man darf sich darüber durch den Hinweis darauf, daß es anderwärts auch nicht besser, teilweise sogar noch Viel schlechter stehe, nicht hinwegsetzen. Wenn wir sehen, wie häufig die neuen, von modernen Ideen getragenen Verwaltungsgesetze in der Praxis einfach nicht durchdringen, so sind wir nur zu oft geneigt, in dem Mangel einer verwaltungsrechtlichen Kodifikation die Ursache zu suchen. Gewiß spielt auch dies eine Rolle. Aber die Hauptursache ist doch eine andere.

Wie soll sich der vorwiegend juristisch, eigentlich aber nur zivilistisoh vor- gebildete Beamte in Wesen und Zweck der Staatsaufgaben hineindenken? Hat er überhaupt Veranlagung zu selbständigem Denken und wird diese Veranlagung durch seine Vorgesetzten gelordert, so hindert ihn doch die überwiegend zivi- listische Schulung an voraussetzungslosem Eingehen auf den wesentlich anderen Gedankengang der öffentlichen Verwaltung, ihres Rechtes und ihrer Politik. Das Gleichgewicht zwischen privatem und Öffentlichem Rechte muß endlich durchgeführt werden. Die Zurückstellung des öffentlichen Rechtes und aller Verwaltnngsaufgnben. die sieh in der früheren Jurisprudenz aus der einseitigen Pflege des römischen Rechtes ergab, ist durch die Lebens- verhältnisse längst überholt. Wir sind, wie schon erwähnt, gewiß weit davon entfernt, zu verlangen oder auch nur zuzugehen, daß sich die Wissenschaft und ihre Lehre an der Universität jeder Mode anschließe; aber hier handelt es sich um ein Bedürfnis, dessen wissenschaftliche Berücksichtigung dringend ist, wenn die weitere Entwicklung des öffentlichen

Zeitschrift fdr Volkswirtschaft, Sozialpolitik and Verwaltung. XII. Band. 24

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Halhan

Leben« sich nicht in vollkommenem Gegensätze zur Rechtswissenschaft vollziehen soll. Neben die zwei bisher so gut wie ausschließlich vertretenen Richtungen, die rechtshistorische und die moderne dogmatische, muß die staatswissenschaftliche nicht nur de nomine, sondern auch de facto, eben- bürtig hinzutreten, was sich aus dem Geiste unserer Studienordnung ergibt. Die einleitenden Kollegien des ersten Semesters würden die nötige Grund- lage bieten und es wäre erwünscht und möglich, daß sodann auch die lieclitsgeschichte wirtschaftliche und staatsrechtliche Fragen in höherem Grade berücksichtigt als dies jetzt der Fall ist. Im ersten Bienniunt wäre auf diese Weise das gerechte Ebenmaß zwischen rechts und staatswissen- schaftlichen Gesichtspunkten leicht herzustellen. Im zweiten Biennium fallt dies bei der jetzigen Sachlage schwerer; denn die Beschäftigung mit dem modernen Rechte hat nach der jetzt herrschenden Ansicht derart spezielle Zwecke, daß eine harmonische Mitberücksichtigung der Staatswissenschaften bei Behandlung des modernen Rechtes schwierig erscheint. Wir gehen uns nicht der Hoffnung hin. daß inan die gesamte Lehre des modernen Rechtes, bei welcher iin Gegensätze zur Rechtsgeschichte von vornherein Spezialgebiete in Angriff genommen werden müssen, so ändern könnte, daß auch die Staatswisseuschaften zu ihrem Rechte gelangen würden. Wir wollen den Vertretern der modernen österreichischen Fächer keinen Vorwurf machen, denn nachdem jeder von ihnen nur ein bestimmtes Gebiet zu behandeln hat und nicht in der Lage ist, das gesamte moderne Recht ein- heitlich durzustellen, ist es ihm auch nicht möglich, auf das öffentliche Hecht und die staatswissenschaftlichen Aufgaben näher einzugehen; eB kann höchstens die staatswissenschaftliche Bedeutung des betreffenden Faches und auch die nur nebenher gewürdigt werden. Da erscheint es denn dringend notwendig, den Staatswissenschaften auf eine andere Weise die ihnen im Lehrplane gebührende Stellung zu sichern.

So wie die Dinge jetzt stehen, werden die staatswissenschaftlichen Fächer bei uns in ziemlich großem Umfange vorgetragen, gelten aber doch nur als eine untergeordnete Beigabe der sogenannten jtidiziellen Fächer. Dem Hörer des zweiten Bienniums steht nach Absolvierung desselben vor allem die zweite, nämlich die judizielle Staatsprüfung bevor und ist auch die Reihenfolge der zweiten und dritten Staatsprüfung gesetzlich nicht bestimmt, so daß der Hörer die Wahl hat, entweder die judizielle oder die staatswissenschaftliche Prüfung abzulcgen, so wird doch bekanntermaßen der judiziellen Staatsprüfung eine größere Bedeutung beigelegt und dieselbe wird durchwegs vor der staatswissenschaftlicben gemacht Es kommt hinzu, daß bei vielen Behörden, selbst bei Verwaltungsbehörden, der Nachweis der judiziellen Staatsprüfung zur Aufnahme in die Präzis genügt; infolge- dessen wird die dritte Staatsprüfung vielfach von Kandidaten abgelegt, di« bereits in der Praxis tätig sind und weder Zeit noch Lust finden, sich zu dieser Prüfung eingehend vorzubereiten. Unwillkürlich muß der Kandidat, der ohne staatswissenscliaftliche Staatsprüfung dennoch hei einer Ver- waltungsbehörde Aufnahme gefunden hat. die erwähnte Prüfung als weniger

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Zur Ausgestaltung des rechts- und staat8wi«senschaftlichen Studiums etc. 345

wichtig betrachten als die judizielle; wird er doch als Verwaltungsbeamte verwendet, ohne Aber die betreffenden Fächer geprüft worden zu sein; überdies wird ihm in der Begel die Pflicht auferlegt, binnen sechs Monaten diese Prüfung nachzuholen; es wird also gewissermaßen offiziell konstatiert, daß zur Vorbereitung für diese Prüfung trotz der Beschäftigung im Amte sechs Monate genügen, während für die judizielle Staatsprüfung die Vor- bereitung viel gründlicher betrieben und überdies zu einer Zeit vorgenommen wird, wo der Kandidat noch nicht im Amte ist und dem Studium mehr Zeit widmen kann. Nicht unberücksichtigt bleibt schließlich der Umstand, daß die staatswissenschaftliche Prüfung über Fächer abgelegt werden soll, die der Kandidat meistens während des dritten Studienjahres gehört hat. also lauge vor dem Prüflingstermin. Dahingestellt lassen wir es, ob gleichzeitige Verwendung im Amte und emste Vorbereitung für eine Prüfung, die doch auch den Namen einer theoretischen führt, möglich und er- sprießlich ist.

Allen diesen Schwierigkeiten wäre leicht abzuhelfen, wenn man die staatswissenschaftlichen Disziplinen, ebenso wie es mit den rechtshistorischen geschieht, in eine eigene Gruppe znsammenfassen würde, so daß nach Absolvierung der nötigen Vorlesungen die staatswissenschaftlic.he Staats- prüfung noch vor derjudiziellen abgelegt werden könnte. Es wären den Staatswissenschaften zwei Semester vorzubehalten, nämlich das fünfte und sechste; in diesen zwei Semestern hätten sich die Hörer ausschließlich mit den auch jetzt schon vertretenen staatswissenschaftlichen Fächern zu beschäftigen, die dadurch schon äußerlich als eiu gleichberechtigter Teil des gesamten Studiums erscheinen würden.

Was die einzelnen Fächer anbelangt, so wäre die Frage zulässig, oh die separate Behandlung der Volkswirtschaftspolitik nicht einigermaßen der Verwaltungslehre abträglich ist. Es unterliegt doch keinem Zweifel, daß die Volkswirtschaftspolitik, die eines der allerwichtigsten Gebiete des Staats- und Volkslebens behandelt, mit der Vcrwaltnngslehre in ihrem höheren Sinne in innerem Zusammenhänge stellt. Es ist klar, daß die Grundlagen der Volkswirtschaftspolitik in der Volkswirtschaftslehre zu suchen sind; nichtsdestoweniger muß die Verwaltungslehre auf Schritt und Tritt mit den Aufgaben der Volkswirtschaftspolitik rechnen. Die Trennung der Verwaltungslehre von der Volkswirtschaftspolitik kann daher nicht als er- sprießlich bezeichnet werden, da wir im Gegenteile bestrebt sein müssen, den Bedürfnissen der Volkswirtschaftspolitik in der Verwaltung und im Verwaltungsrecbte Kecliming zu tragen. Es scheint, daß eine Vereinigung beider Disziplinen angezeigt wäre; fraglich ist es nur, ob man die Ver- waltungslehre mit der Volkswirtschaftspolitik in der Hand des National- ökonomen oder umgekehrt in der Hand des Vertreters der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechtes vereinigen soll. Es lassen sich mit Rücksicht auf die persönliche Veranlagung der betreffenden Dozenten nicht leicht prinzipielle Regeln aufstellen; im allgemeinen würde die Überweisung der Volkswirtschaftspolitik an die Verwaltungslehre als das passendere erscheinen,

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wogegen auch in der theoretischen Volkswirtschaftslehre ein von diesem Standpunkte erwünschtes Eingehen auf die Aufgaben der Volkswirtschafts- politik angebracht und leicht durchführbar ist. Eine Folge dieser Ver- einigung wäre die Ausscheidung des österreichischen Verwaltungsrechtes, welches dann ein separates Kolleg zu bilden hätte. Die Verwnltungslehre mltlite bedeutend ausgestaltet werden; ist auch das Verwaltungsrecht bei uns, wie übrigens auch anderwärts noch zu wenig kodifiziert, und ist aus diesem Grunde eine detaillierte Darstellung desselben vom akademischen Standpunkte weniger erwünscht, so muß desto größeres Gewicht auf die allgemeine Verwaltungslehre gelegt werden, weil nur auf diese Weise das nötige Verständnis für zahlreiche wichtige Zweige des Staatslebens vermittelt werden kann. Verwaltungsrechtliche Details werden zum Teile mit liecht als Gedächtnisballast bezeichnet: sollten sie diesen Charakter verlieren, dann mflßte dem Verwaltungsrechte mindestens dreimal soviel Zeit gewidmet werden als einem kodifizierten Rechte, was natürlich im Rahmen des Hochschulunterrichtes unmöglich und mit Rücksicht auf die häufigen Ver- änderungen verwaltnngsreehtlicher Normen auch nicht nötig ist. Aber über die theoretischen Grundlagen der Verwaltung und über die verwallungs- politischen Aufgaben darf der Hörer nicht im Unklaren gelassen werden und wäre dabei auch auf die anderwärts beobachteten Grundprinzipien Rücksicht zu nehmen. Der Hörer erhält jetzt eine beiläufige Ausbildung in der Volkswirtschaftspolitik, wogegen die Ausbildung in Verwaltungslehre und Verwaltnngsrecht eine ganz ungenügende ist. Man könnte sogar bemerken, daß durch die besondere Hervorhebung der Volkswiitscbafts- politik, ohne daß dieselbe mit der Verwaltungslehre verbunden wird, sich eine Störung des Gleichgewichtes ergibt, wobei das Verständnis für die Verwaltungslehre, also das Allgemeinere, Schaden leidet und auch das Verständnis für das Besondere, nämlich für die Volkswirtschaftspolitik selbst, nicht gefordert wird.

Was das Staatsrecht anbelangt, welches seiner modernen Ge- staltung nach eigentlich eine streng juristische Disziplin ist, so möchten wir es dennoch im Zusammenhänge mit den Staatswissenschaften belassen, ebenso wie das Völkerrecht. Wir glauben, daß Staatswissonsrhatten, die für .Juristen vorgetragen werden, doch nicht ohne diese juristische Weihe, die ihnen eben nur das Staatsrecht in höchster Potenz zu verleihen vermag, belassen werden dürfen. Ist auch das Staatsreeht zweifellos vor allem Recht, so schöpft es doch seinen Inhalt und das Verständnis für seine Zwecke aus den Staatswissenschaften, gehört also teilweise begrifflich hieher, namentlich wenn nmn sich gemäß den Intentionen unserer Studien- nrdnnng nicht bloß auf das österreichische Staatsrecht beschränkt, sondern auch das allgemeine in den Kreis der Heobachtungen zieht. Docli müßte selbstverständlich für das Staatsrecht mehr geschehen als bisher. Wir haben schon auf den Mangel des Gleichgewichtes zwischen Privat- und öffentlichem Rechte hingewiesen: dieser Mangel trifft namentlich für dag Staatsrecht zu. Privatreeht hört der .Jurist eigentlich dreimal: nämlich

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Zur Ausgrbtaltuug -tes rechte- und staats wissenschaftlichen Studiums etc. 347

römisches, deutsches und österreichisches Privatrecht Das römische Privat- recht, oder eigentlich das gemeine römische Hecht, führt ihn bis an die Pforte des modernen Privatrechtes; die Darstellung des deutschen Privat- rechtes legt begreiflicherweise den größten Wert auf diejenigen Einrichtungen, die trotz der Rezeption des römischen Rechtes sich auf deutschrechtlicher Grundlage entwickelt und bis in die moderne Zeit erhalten haben; also auch von dieser Seite her gelangt der Hörer hart an die Grenze des zeitgenös- sischen Privat- und Handelsrechtes; nichtsdestoweniger bieten wir ihm eine lSstöndige Vorlesung über österreichisches Privat- und eine 7stflndige über österreichisches Handels- und Wechselrecht. Das Staatsrecht dagegen lernt der Hörer im ersten Biennium in weit geringerem Grade kennen. Wir sehen ab von der Enzyklopädie und Philosophie, weil diese Fächer in gleicher Weise alle Reehtsgebiete betreffen und für alle in gleicher Weise vorbilden sollen; seihst wenn dabei dem Staatsrechte ein gewisses Plus zutällt, was übrigens durchaus nicht allgemein der Fall ist, so vermag dieses Plus noch keineswegs die Privilegierung des Privatrechtes aufzuwiegen. Die rechtshistorische Darstellung gibt allerdings auch staats rechtliche Lehren, aber selbst da erscheint wieder das Privatrecht privilegiert; denn die Rechtsgeschichte behandelt alle Rechtsgebiete und während daneben für das deutsche und römische Privatrecht Spezialkollegien bestehen, die ebensoviel Raum fordern wie die gesamte übrige Rechtsgeschichte, ist ein spezielles Kolleg über Geschichte des römischen oder deutschen Staatsrechtes bekanntermaßen nicht vorhanden. Und trotz alledem soll dann das Staatsrecht mit 5 Stunden auskommen, wobei, wie erwähnt, nicht nur das österreichische, sondern auch das allgemeine Staatsrecht zur Darstellung zu gelangen hat. Es erscheint also nur gerecht, wenn mau für das Staatsrecht eine größere Stuudeuanzahl fordert, desto mehr, als ja eine ersprießliche Erörterung desselben doch auch auf ausländische Einrichtungen eingehen muß.

Was die Statistik anbelangt, so hat dieselbe nach übereinstim- mender moderner Auffassung, als Geschichte und Methodik der Statistik, deu Zweck, den Studierenden die Kenntnis der allgemeinen Gesichtspunkte und der wissenschaftlichen und praktischen Aufgabe dieser heutzutage als eiakt zu betrachtenden Wissenschaft zu ermöglichen.

Der staatswissensebaftliche Studieoabschnitt, der sich dem rechts- historischeu anzureihen hätte, würde der jetzigen Einrichtung gemäß obligate Fächer im Gesamtausmaße von 2b wöchentlichen Stunden umfassen. Durch die Ausscheidung des österreichischen Verwaltungsrechtes würde sich die Notwendigkeit eines neuen etwa dreistündigen Kollegs ergehen, wodurch aber keine Belastung einzutreten hätte, weil die Vereinigung der Volkswirtschafts- politik mit der Verwaltungslebre eine Ersparnis bewirken würde. Dagegen müßte das staatsrechtliche Kolleg erweitert und das völkerrechtliche als obligat anerkannt werden. Es ist ferner Rücksicht zu nehmeu auf das schon jetzt an allen Universitäten vorgetragene Kolleg über österreichisches Finanz- recht, auf das durch § 5 der Ministerialverordnung vom 24. Dezember 1893 mit Recht empfohlene Kolleg über österreichisches Agrarrecht sowie auf

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Haiban.

das ebenfalls richtigerweise empfohlene Kolleg über Bergrecht, welches übrigens wegen seiner historischen Entwicklung ebensogut im ersten Bien- nium, etwa im Anschlüsse an das deutsche 1‘rivutrecht, also im vierten Semester gebürt werden könnte und auch tatsächlich an vielen Universitäten in diesem Zusammenhänge vorgetragen wird.

Auf tirund des Angeregten würde also der zweite Studienabschnitt

folgenden Lehrplan benötigen:

Fünftes Semester:

1. allgemeines österreichisches Staatsrecht 8 Stunden

2. Nationalökonomie 6

3. Statistik 4 ,

zusammen ... 18 Stunden

Sechstes Semester:

1. Verwaltungslehre und Volkswirtschaftspolitik 7 Stunden

2. Finanzwissenschaft 3

3. österreichisches Verwallungsreclit 3 .

4. Völkerrecht 3 .

zusammen ... 18 Stunden

Überdies kämen als nicht obligate Vorlesungen in Betracht:

1. österreichisches Finanzrecht 3 Stunden

2. , Agrarrecht 2 3 .

3. . Wasserrecht 1 2 .

eventuell österreichisches Bergrecht (falls es nicht schon

im ersten Biennium gehört wird i 3 ,

Die Staatsverrechnungswissenschaft gehört natürlich auch dieser Gruppe an, wird aber bekanntermaßen von Juristen nicht gehört, kann also in diesem Lehrplane unberücksichtigt bleiben. Im ganzen hätten wir somit während dieser zwei Semester Obligatkollegien im Oesamtausinaße von 36 Stunden und nichtobligate Kollegien im Oesamtausmaße von 9 11 Stunden unter- zubringen, wobei übrigens schon das Bergrecht mitgerechnet erscheint, welches, wie erwähnt, vielfach während des ersten Bienniums gehört wird. Aber selbst dann erscheint die Summe aller obligaten und nichtobligaten Kollegien dieses Studienabschnittes nicht zu groß, um während der Dauer von zwei Semestern bequem bewältigt werden zu können, so daß daneben noch immer für das eine oder andere Seminar Zeit verbleiben würde. Den Abschluß dieses Studienabschnittes würde wieder eine Staatsprüfung, näm- lich die politische als zweite bilden, so daß das Aufsteigen in den nächst höheren Jahrgang von dem Ablegen derselben abhängen müßte.

VII.

Die judiziellen Fächer.

Wir gehen zu dem letzten Studienabschnitte, der dem geltenden Rechte gewidmet ist, über. Es handelt sich hiebei um bürgerliches Recht

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Zur Ausstattung de« rechts- und »taatswissrnsrhuftlichen Studiums et« rt40

und Z i v i 1 r o z e ß, Handels- und VV ec h s u 1 r e cli t, Strafrecht und Strafprozeß, denen nach dem geltenden Studienplane insgesamt 47 Stunden gewidmet werden. Überdies gehört in diesen Studienabschnitt eine Keilte von niehtobligaten Vorlesungen, unter denen bekanntlich gericht- liche Medizin, G e n g n i s k u n d e, G r u n d b u c h s r e ch t. Kou- kurs recht u. s. w. seit jeher vorgetragen und mit Hecht als besonders wichtig betrachtet werden. Diese nichtobligaten Vorlesungen erfordern zu- sammen nach der jetzigen Praxis mindestens 12 Stunden, so daß das Ganze in diesem Abschnitte zu absolvierende Pensum auf zirka 60 Vortragsstunden zu veranschlagen ist, wobei natürlich praktische Übungen und Seminare nicht mitgerechnet sind. Diese Menge von Vorlesungen in zwei Semestern nnterzubringen. erscheint gewiß sehr schwierig, namentlich wenn dem Hörer - und es handelt sich gerade um die Berücksichtigung der pflichteifrigen Studenten noch die nötige Zeit zur Beschäftigung in dem einen oder dem andern Seminar und zum Privatstudium übrig gelassen werden soll.

Diesem Übel könnte mau auf zweierlei Art begegnen. Es wäre entweder die den einzelnen Eichern jetzt gewidmete Zeit einzuschränken oder aber noch ein Semester hinzuzufflgen. mithin die Gesamtdauer des Studiums von acht auf neun Semester zu erstrecken. Es läßt sich für jede der beiden Eventualitäten vieles Vorbringen.

Die große Stundenzahl, die den sogenannten judiziellen Fächern in Österreich gewidmet wird, beruht auf der seit langer Zeit eingebürgerten Überzeugung, daß gerade diese Fächer die größte Bedeutung und für die Präzis den größten Wert haben. Diese privilegierte Stellung haben die judi- ziellen Fächer zu einer Zeit gewonnen, wo man die übrigen Gebiete der Jurisprudenz und vor allem die Staatswissenscliallen nicht genügend wür- digte und wo man auch im Bereiche der Hechtsgeschichte vor allem das Privatrecht als das Wichtigste betrachtete. Die Folge dieser auch bisher noch immer vertretenen Überzeugung scheu wir auf Schritt und Tritt. Die judiziellen Fächer werden bei uns in einer Ausdehnung vorgetragen, die ihresgleichen sucht; es kommt die im Interesse der Wissenschaft so sehr erwünschte Ebenmäßigkeit des gesamten Studiums zu Gunsten der judiziellen Fächer, vor allem aber des Privatrechtes, ins Schwanken; es fehlt auch nicht an arideren unzweckmäßigen Äußerungen der erwähnten Überzeugung; denn, wie erwähnt nimmt man absolvierte Rechtshörer ohne politische Staatsprüfung selbst hei Verwaltungsbehörden auf, so daß auch von dieser Seite her die judiziellen Fächer und die judizielle Staatsprüfung besonders gewürdigt werden. Unter den judiziellen Fächern wieder genießt das Privat- recht eine entschieden bevorrechtete Stellung und dies gilt nicht nur für den Studienplan, sondern in ebensolchem Grade für die Praxis. Gilt es doch gewissermaßen als natürlich, daß die besten Kräfte dem Zivilgerichte, die minder guten dem Strafgerichte überwiesen werden; auf die Durchführung der Zivilprozeßgesetze legt die Justizverwaltung weit größeren Nachdruck als auf die gute Durchführung der Strafprozeßordnung. Teils der alten Über- zeugung, teils den unrichtigen Anforderungen naebgebend, ist auch der

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Halban

Lehrplan der rechts- und staatswissensehattlichen Fakultät in diesen Fehler verfallen. Können wir uns auch damit trösten, dali es anderwärts nicht viel besser steht, so folgt noch daraus nicht, daß inan diesen Mangel gänzlich übersehe und ihm nicht abzuhelfen trachte.

Es ist schon im vorigen Kapitel hei Besprechung des ungerechten Verhältnisses der Staatswissenschaften gegenüber den Rechtswissenschaften darauf hingewiesen worden, daß, wie ja übrigens von allen Seiten anerkannt, von den einen getadelt, von den anderen gefordert wird, der gesamte Studiengaug eigentlich auf das privatrechtliche Ziel losgeht. Vergleichen wir die Behandlung des Privatrechtes mit der des Strafrechtes. Wie erwähnt, hört der Student Privatrucht drei-, eigentlich viermal; nach dem ausführ- lichen Kolleg über römisches, folgt das Kolleg über deutsches Privatrecht; und dann soll der Hörer noch 18 Stunden österreichisches Privatrecht und 7 Stunden Haudels- und Wochseirecht hören. Weit weniger ist er für das Strafrecht vorbereitet; abgesehen davon, was er darüber in den vorbereitenden Kollegien des ersten Semesters hören konnte und was wir gerecliterweise nicht mit in Rechnung zielten dürfen, weil in diesen Kollegien dieselbe Vor- bildung für alle Fächer geboten werden soll, kann er nur in der Geschichte des deutschen und kanonischen Rechtes einige strafrechtliche Kenntnisse erwerben; die römische Recht. «geschieh te läßt ja konsequent das Strafrecht außer Betracht. Dennoch werden 5 .Stunden als genügend betrachtet, um den Juristen in die Geheimnisse des Strafrechtes einzuweihen; überdies müssen aber, uud zwar mit Recht, viele Wochen des dem Strafrechte gewid nieten Kollegs für die Besprechung der philosophischen Grundlagen des- selben entfallen. Dasselbe gilt für den Prozeß; die dogmatische Besprechung der beiden Prozeßarten ist für den Hörer in gleicher Weise neu; doch ist er durch das übliche, wenn auch nicht obligate Kolleg über römischen Zivilprozeß schon einigermaßen für den Ideengang des Zivilprozesses vor- bereitet; dennoch sollen 5 Stunden für die dogmatische Darstellung des Strafprozesses genügen, wälireud für den Zivilprozeß mehr als das Doppelte, nämlich 13 Stunden, gefordert werden.

Es ist ja selbstverständlich, daß eine genaue, theoretisch und praktisch vollkommen genügende Darstellung des österreichischen bürgerlichen Rechtes selbst in 18 Stunden unmöglich ist und daß eine für die Präzis hinreichende zivilprozessuale Schulung in 12, ja sogar noch mehr Stunden nicht erzielt werden kann. Wir fragen aber, ob es möglich ist, hei einem fünfstündigen Kolleg, von dem wie erwähnt ein guter Teil den philosophischen Grund- lagen gewidmet wird, das Strafrecht und in weitereu 5 Stunden den Straf- prozeß beherrschen zu lernen. Man muß da wieder daruul hinweisen, daß es niemals Zweck des akademischen Unterrichtes sein kann, geschulte Praktiker zu produzieren. Wie gesagt, auch das 18 ständige privatrechtliche Kolleg, dem die ziemlich eingehende Vorbildung roinauistischer uud germa- nistischer Art vorangeht, kann den Zweck, um den es den Praktikern zu tun ist, nicht erreichen; wir können getrost sagen, daß selbst eine. Ver- doppelung dieser schon so großen Stundenanzahl die Erfüllung dieses Zweckes

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Zur Aasgestaltaag des rechts- und staatsvie&ensch&ftiiehen Studiums etc. 351

ebensowenig sichern würde. Es spricht also vom akademischen Standpunkte entschieden gar nichts dafür, daß mau dem einen Fache gegenüber den andern eine so übermäßige Ausdehnung gebe. Entweder ist eine so ein- gehende Darstellnug des geltenden Hechtes notwendig, dann trifft diese Not- wendigkeit in demselben Grade wie für Privatrecht und Zivilprozeß auch für Strafrecht uud Strafprozeß zu oder aber genügt die Art und Weise, in der Strafrecht und Strafprozeß vorgetragen werden, dann ist nicht eiuzu- sehen, warum dem Privatrechte und dem Zivilprozeß, namentlich angesichts der romanistischen und germanistischen Vorbereitung noch dieses weitere Privileg im zweiten Bicunium zugestanden werden soll. Es wird doch nie- mand im Ernste behaupten wollen, daß das eine leichter, das andere schwerer sei. Der größere stoffliche lieiclitum des Privatrechtes gegenüber dem einigermaßen tatsächlich beschränkten Gebiete des Strafrechtes kann keinen prinzipiellen Unterscheidungsgrund bilden; denn er wird mehr als genügend aufgewogen durch die größere Bedeutung der strafrechtlichen Verhältnisse und durch die ihnen speziell eigene Schwierigkeit der Auf- fassung. Die llülic, die Lehrer und Hörer darauf verwenden, um in die Details des Privatrechtes einzudringeu, ist theoretisch nur zu kleinem Teile gerecht fertigt, für die Praxis aber überwiegend wertlos oder wenigstens ganz ungenügend. Muß der absolvierte Jurist auf Grund der weniger um- fassenden Vorlesungen über Strafrecht und Strafprozeß sich dennoch praktisch in die Strafrechtspflege einleben, so kann man dasselbe hinsichtlich des bürgerlichen Hechtes und Verfahrens fordern. Und so weit wir wissen, ist dies möglich: es ist uns nicht bekannt, daß man, wenn von den Mängeln unserer Strafrechtspflege die Hede ist, in der geringen Stundcuanzahl der kriminalistischen Kollegien den Grund dieser Übel gesucht und gefunden hätte; fügen wir hinzu, daß bekanntermaßen auch die Pflege des Zivil- rechtes trotz weit besserer Vorbereitung zu Klagen Anlaß gibt, die gewiß nicht geringer und nicht weniger berechtigt sind als die Klagen über die Strafrechtspflege. Vom akademischen Standpunkte kann man in dieser Un- gleichmäßigkeit ein direktes Übel linden. Unwillkürlich gewinnt der Hörer die Überzeugung, daß das Zivilrecht wichtiger ist als das Strafrecht und pflanzt dann in seiner praktischen Tätigkeit diese von Generation zu Gene- ration flbernommeue Auffassung fort. Die ausgedehnten Vorlesungen gebeu ihm Gelegenheit, nebst theoretischem Wissen auch das Gesetz näher kennen zu lernen; ist dies gewiß ein Vorteil, so muß doch mit Nachdruck betont werden, daß dabei unwillkürlich der Schwerpunkt nicht des Vortrages, wohl aber des Studiums auf das Gesetz, nicht auf die wissenschaftliche Auffassung gelegt wird. Immer häutiger begegnen wir Kandidaten, die nicht nur bei der Staats- prüfung, sondern sogar beim Kigorosiim neben einer hinreichenden Kenntnis des Gesetzes ein ganz ungenügendes theoretisches Verständnis aufweisen. Es liegt uns gewiß ferne, die betreffenden Dozenten dafür verantworllich zu machen; die Jugend aber neigt mit Rücksicht auf die ihr bevorstehenden praktischen Aufgaben znm Studium des bloßen Gesetzes und findet in den aus- gedehnten Vorlesungen gewiß eine Art Vorscbubleistung für dieses Übel.

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Haibau.

352

Es darf also yesagt werden, daß eine Einschränkung der Vorlesungen Ober bürgerliches Hecht und Zivilprozeß vom akademischen Standpunkte unschädlich wäre, ja sogar insofern Vorteil bringen könnte, als dadurch Lehrer und Hörer förmlich gezwungen wären, vor allem das Theoretische und nicht das Praktische zu berücksichtigen. Aber auch die Zwecke der Praxis würden darunter nicht leiden; es würde der absolvierte Jurist bei seinem Eintritte in den praktischen Dienst weniger Detailkenntnisse, die er übrigens nicht anzuwenden weiß, mitbringen, aber er wäre vielleicht theore- tisch besser geschult, von der Bedeutung der wissenschaftlichen Auffassung des Hechtes mehr durchdrungen, er wäre nicht wie jetzt unzureichender Praktiker und verschulter Theoretiker; er würde an die Aufgaben der Praxis voraussetzungslos herantreten und würde doch für das künftige Leben die Hochschätzung der Theorie behalten. Eine entsprechende Kürzung, bei der man auf deutsche Muster verweisen könnte, wo z. B. Zivilprozeß in einem Semester 4stündig vorgetragen wird, würde die Unterbringung der judiziellen Fächer in swei Semestern ermöglichen. Man brauchte nicht einmal radikal zu verfahren; es würde genügen, die Stundenanzahl für Privatrecht und Zivilprozeß um ein Drittel einztischränkeu, so daß immer noch dem Zivil- prozeß 8 anstatt 12, dem Privatrechte 12 anstatt 18 Stunden verbleiben würden: dio Gesamtsumme der obligaten und nichtobligaten Fächer dieses Studienabschnittes wäre schon dadurch von 60 auf 48 heruntergedrückt, was für zwei Semester nicht abnorm ist, namentlich wenn man berück- sichtigt. daß es sich überwiegend um Fächer handelt, die für den Hörer kein Novum bilden.

Sollte aber die bisherige Gepflogenheit und die Überzeugung, auf der sie beruht, weiter erhalten bleiben, so gäbe es keiu anderes Mittel, als das vorhin erwähnte, nämlich die Hinzufflgung des neunten Semesters. Es ist klar, daß dieses Auskunftsmittel im ersten Moment unpopulär erscheinen müßte. Aber abgesehen von vielen Vorteilen, die es bieten würde, glauben wir. daß man über kurz oder lang dennoch dazu wird greifen müssen. Bei näherer Betrachtung ist einziisehen, daß die Hinzufflgung des neunten Semesters praktisch keine erhebliche Ver- längerung der Gesamtdauer des Studiums bedeuten würde. Denn auch jetzt dauert das Studium, wenn man die für die Vorbereitung zu den Staats- prüfungen nötige Zeit mitrerhnet. 4’ Jahre. Es ist bekannt., daß in neuester Zeit die Ablegung der zweiten Staatsprüfung vor den Sommerferien, d. h. am Schlüsse des achten Semesters erschwert wurde; somit werden viele Kandidaten frühestens im Oktober die zweite Staatsprüfung ablegen, und zwar entweder die judizielle. oder die staatswissensehaftliche. Wird der Eintritt in den praktischen Beruf, was geradezu geboten erscheint, erst nach Ablegung der dritten Staatsprüfung gestattet, so kann der Kandidat erst mehrere Monate naeli Ablegung der zweiten Staatsprüfung sich der dritten unterziehen. Es wird ihm also in der Kegel nicht möglich sein, vor Ablauf von nenn Semestern (seit Ablegung der Maturitätsprüfung) in die Praxi- eiuzutreten. Nun haben wir in dem vorigen Kapitel den Vorschlag

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Zn Ausgestaltung des rechts- and stautswissenscbaftliclicn Studiums etc. 353

gemacht, die zweite Staatsprüfung (und zwar die staat-wissenschaftliche), im unmittelbaren Anschlüsse an die dem staats wissenschuft liehen Studium gewidmeten zwei Semester ablegen zu lassen, so dab der Hörer heim Ein- tritte in das vierte Studienjahr nur noch eine Staatsprüfung vor sich hätte, die er. wenn das Studium um ein Semester verlängert werden sollte, zum Schlüsse des neunten Semesters ablegen könnte, also zur selben Zeit, in der er sich auch jetzt gewöhnlich der dritten Staats- prüfung unterzieht. Wir sehen, dalt die Gesamtdauer des Studiums und der Vorbereitung zu den Prüfungen keine Veränderung erleiden würde. Es ist sogar anzunehmen, das viele Hörer mit einer solchen Zeiteinteilung einverstanden wären, weil sie nach AbschluU der Studien nicht mehr an zwei, sondern blob an eine Staatsprüfung zu denken hätten.

Dieser Ausweg wäre aber auch aus vielen anderen Gründen praktisch; es könnte die allgemein beliehte, wenn auch von uns kritisierte Ausdehnung der Vorlesungen beibehalten werden und es könnte, was gewitl von grobem Nutzen wäre, auch eine lleihe von Spezialvorlesungen über die modernsten Rechtsgebicte gelesen und gehört werden. Sowohl vom Standpunkte der liedürfnisse der Praxis, als auch vom wissenschaftlichen Standpunkte wird mit Recht gerügt, dab beispielsweise an den wenigsten Fakultäten Vor- lesungen über internationales Pr ivatrecht, über Urheberrecht, über modernes V e r k e h r s re eh t u. s. w. gehalten werden. Solche Vor- lesungen würden gerade für diesen Studienabschnitt passen, weil die vor- angegangeue staatswissenschaftliche Ausbildung das Verständnis für diese modernen Hechtsgebiete, auf denen die Volkswirtschaftspolitik eine Rolle spielt, gleichtun würde. Jedenfalls sollte man, wenn die bisherige Ausdehnung privatrechtlicher Kollegien beibehalten und infolgedessen ein neues Semester hinzugefügt werden sollte, auch daran denken, den Hörem bei Besprechung der einzelnen judiziellen Fächer einen Überblick über die einschlägigen Einrichtungen im Auslande, namentlich über die deutsche und französische Gesetzgebung zu bieten. Die grobe Ausdehnung macht dies den zivilrechtlichen Kollegien auch jetzt schon möglich; es ist aber ebenso die Ausdehnung des strafrechtlichen Unterrichtes erwünscht.

Einen passenden Ahschlub des modernrechtlichen Studiums würde ein zweites Kolleg aus dem Gebiete der vergleichenden Rechts Wissen- schaft bilden. Es hätte natürlich andere Zwecke zu verfolgen, als das für das neunte Semester bestimmte. Gegenstand einer im neunten Semester zu hörenden rechtsvergleichenden Vorlesung mflbten Materien des modernen Rechtes bilden, deren Auswahl dem Ermessen der Dozenten Vorbehalten wäre. Ist es auch nicht möglich, das Gesamtrecht in den Kreis vergleichender Betrachtung zu ziehen, so könnte doch ein 3— Istflndiges Kolleg über besonders interessante Institutionen ungemein anregend und bildend wirken.

Der Studienplan des judiziellen Studionabschnittes mühte je nachdem, ob derselbe zwei oder drei Semester umfassen soll, verschieden ausfallen. Im ersten Falle mübten, wie schon erwähnt, die Vorlesungen über Privatrecht und Zivilprozeb auf zwei Drittel der jetzigen Stundenanzahl reduziert werden:

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Halban.

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das Handels- und Wechselrecht könnte in der Weise geteilt werden, daß vier Stunden auf das siebente and drei auf das achte Semester zu entfallen hätten. Wenn dagegen, wie zu wünschen wäre, drei Semester dem letzten Studienabschnitte angewiesen werden, würde der Studieuplau folgendermaßen

aassehen :

Siebentes Semester:

1. Österreichisches Privatrecht 9 Stunden

2. Österreichisches Strafrecht 7 ,

3. Zivilprozeß 6 ,

zusammen ... 22 Stunden

Achtes Semester:

1. österreichisches Privatrecht 9 Stunden

2. Strafprozeß 6 ,

3. Zivilprozeß 6 ,

4. gerichtliche Medizin 3 ,

zusammen ... 24 Stunden

Neuntes Semester:

1. Handels- und Wechselrecht 7 Stunden

2. Gefängniskunde 2 .

3. Spezialkollegien über moderne Kechtsgebiete .... 3 5 ,

4. Ein rechtsvergleichendes Spezialkolleg 3—4 .

zusammen . 15 18 Stunden

sodann in den letzten vier Wochen dieses Semesters die dritte Staats- prüfung.

VIII.

Die Konsequenzen der Veränderung des Studienplanes.

Eine derartige Ausgestaltung des Lehrplanes, die sich doch zum größten Teile an die bestehenden Einrichtungen anlehnt und nicht als zu weitgehend bezeichnet werden darf, würde hinsichtlich des Prfifuugswesens keine einschneidenden Änderungen erfordern.

Das österreichische Prüfungswesen unterscheidet sich vom deutschen hauptsächlich durch die Einrichtung der sogenannten Zwischenprüfung, die hei uns ein gesetzliches Erfordernis behufs Aufsteigens in höhere Jahr- gänge bildet.

Wir wollen uns nicht mit der Frage beschäftigen, ob Zwischenprüfungen gut oder schlecht sind und lehnen uns einfach an das bestehende an. Jede Zwischenprüfung ist allerdings für den eifrigen Studenten insofern von Nachteil, als sie ihn gerade zur Zeit, wo er vielleicht selbständig zu arbeiten Gelegenheit hätte, zum Prüfungsstudium zwingt. Durch jede Zwischenprüfung wird ferner der Anschein erweckt, als ob die Fächer, über welche eine Prüfung abgelegt wurde, damit schon für alle Zukunft abgetan wären. Es wird also der wissenschaftliche Zusammenhang zwischen den einzelnen Teilen

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Zar AaiigpftaHnne de« recht*- und sUst*wis*enschaftlichen Stadium« etc. 355

der Reihten issensihaft gestört und auf diese Gefahr sollte man ein Augenmerk richten. Sie ließe sieh beheben, wenn man, ebenso wie es in den Vorlesungen über die weiteren Fächer geschieht, auch bei den Prüfungen über die später an die Reihe kommenden Disziplinen der zweiten und' dritten Staats- prüfung auf das frühere, natürlich nur allgemein, eingehen würde. Sowie zwischen den einzelnen Teilen der Jurisprudenz ein organischer Zusammen- hang besteht, so soll er auch zwischen den Prüfungen über diese Teile aufrechterhalten werden. Nur auf diese Weise ist es möglich, die Vorteile der Zwischenprüfungen zu wahren, ohne den wissenschaftlichen Charakter des Gesamtstudiums zu gefährden. Der Hörer soll einsehen, daß er das betreffende Fach nicht bloß für die eine Prüfung lernt, sondern desselben zum Verständnisse der späteren Vorlesungen bedarf, mithin die nötigen Kenntnisse auch weiter behalten und pflegen. In der Überzeugung, daß die Vorteile der Zwischenprüfung im allgemeinen größer sind als die Nachteile, haben wir auch vorhin den Vorschlag gemacht, die staatswissenschaftliche Prüfung während des Studiums, also in Form einer Zwischenprüfung, ein- zuschalten.

Was nun die einzelnen Staatsprüfungen anbelangt, so soll die erste lieben ihrem eigentlichen Zwecke, im Interesse der Studierenden selbst, zur Sichtung der Hörer dienen. Man muß das Studium so einrichten, daß dem Hörer auf Schritt und Tritt Gelegenheit geboten werde, an sich selbst die Frage zu stellen, ob er für das gewählte Stadium tauge. Wir haben auf die Cbelstäude hingewiesen, die sich daraas ergeben, daß die Mehrheit der Hörer von den Schwierigkeiten des Rechtestudiums keine Ahnung hat und in der Regel erst in späteren Jahrgängen, wo es zu spät ist, einen andern Beruf zu wählen, ihre üntauglichkeit einsieht. Deshalb soll, wie angeregt, schon das Gymnasium in dieser Beziehung seine Pflicht erfüllen; es sollen ferner die vorbereitenden Kollegien des ersten Semesters dem Hörer einen Begriff' von der Eigenartigkeit der Jurisprudenz beibringen und es soll auch das rechtshUtorische Studium, w enn dasselbe auf Grund der vorgeschlagenen, im ersten Semester zu bietenden Vorbildung ein juristisch höheres Niveau erreicht, den Studierenden über die Schwierigkeiten der Jurisprudenz nicht mehr täuschen. Sind diese Vorbedingungen erfüllt, ist der Studierende durch den Gymnasialunterricht, noch mehr aber durch die vorbereitenden Kollegien des ersten Semesters, auf den Charakter des Rechtestudiums aufmerksam gemacht worden und ist ihm sodann die Rechtsgeschichte, ihrer eigentlichen Aufgabe gemäß, mehr juristisch vorgetragen worden als jetzt, dann kaun auch das Niveau der ersten Staatsprüfung gehoben und ihr wahrer Zweck erreicht werden. Dann wird man mit Recht den Kandidaten als angehenden Juristen behandeln und ein Urteil darüber zu gewinnen vermögen, ob er zum Juristen geschaffen ist. Auch der Kandidat selbst wird diese Frage besser beurteilen können, als es dermalen geschieht.

Soll die rechtshistorischc Staatsprüfung die Bedeutung einer Sichtung haben, dann kann die mündliche Prüfung allein schwerlich genügen und es wäre gerade bei der ersten Staatsprüfung eine Klausurarbeit einzuführeu,

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Halban.

nicht allein wegen der Bedeutung de» rechtehistorischen Studiums an und für sich, sondern um die Fähigkeit des Kandidaten, sich auch nur einiger- maßen präzis juristisch anszudrüeken, schon in diesem Zeitpunkte erproben zu können. Es würde also eine Klausurarbeit aus einem Fache genügen und es müßten Themen gewählt werden, die überwiegend juristischen, nicht historischen Charakter hätten, also aus dem Gebiete des Privat- oder Straf- rechtes, aus dem Gebiete der Geschichte des öffentlichen Rechtes nur solche, die zu präzisem juristischen Ausdrucke Anlaß geben. Die Kom- mission hätte einfach zu beschließen, aus welchem Fache der einzelne Kandidat seine Klausurarbeit zu machen hat.

Was die I’rüfungsgegenstände anbelangt, so wäre eine Änderung der bisherigen Vorschriften überflüssig. Haben wir auch im Lehrplan dem ersten Rienuium neue obligate Fächer hinzugefügt, so muß doch gesagt werden, daß sich dieselben zu Prüfungsgegenständen nicht eignen. Eine Prüfung über Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft, über Rechtsphilo- sophie, allgemeine Gesellschaftslehre und vergleichende Rechtswissenschaft müßte entweder sehr eingehend sein, was einfach unmöglich ist, oder aber wieder so flüchtig, daß dieselbe der wissenschaftlichen Bedeutung dieser Fächer höchstens Abbruch tun könnte. Die Bedeutung dieser Fächer besteht ja in der Kräftigung der Auffassungsgabe, in der Gewährung des nötigen Überblickes und in der Erweiterung des Gesichtskreises. Die Prüfungskom- mission wäre in der Lage, sich bei Gelegenheit der Prüfung über rechts- geschichtliche Fächer zu vergewissern, ob der Kandidat auf diese allgemeinen Fächer eingegangen ist. Schon der Umstand, daß diese Fächer vorgetragen würden und obligat wären, würde die Prüfungskommission berechtigen, wirklich wissenschaftliche Anforderungen zu stellen und ein tieferes Ver- ständnis der rechtshistorischen Disziplinen vorauszusetzen. Somit wäre nicht zu befürchten, daß diese allgemeinen Disziplinen vernachlässigt werden, ln dem wissenschaftlichen Charakter der Prüfungen müßte sich der Erfolg der allgemein vorbereitenden Kollegien ausdrücken.

Nur an den beiden galiziachen Universitäten und an der böhmischen Universität in Prag wäre eine Änderung der ersten Staatsprüfung in der Richtung erwünscht, daß auch das nationale Recht zum Prüfungsgogenätaude gemacht werde; denn man kann nicht behaupten, daß die polnische oder böhmische Kechtsgcschichto für die Juristen dieser Länder überflüssig wäre; die rechtshistorische Ausbildung des künftigen galizisehen oder böhmischen Juristen ist unvollkommen, wenn die Kunde der speziellen Rechtsgeschichte des betreuenden Landes mangelt

Hinsichtlich der Fächer der zweiten Staatsprüfung, die mit Rücksicht auf das eben Erwähnte nach Schluß des sechsten Semesters, und zwar über die staatswissenschaftlichen Fächer nbzuhalteu wäre, müßte wohl der Wunsch ausgedrückt werilen, daß wenigstens die Grundzflge des Völker- rechtes und die Theorie der Statistik von den Kandidaten studiert werden; allerdings könnte dieser Erfolg erreicht werden, wenn man bei der Prüfung Ober Staatsrecht auf das Völkerrecht und ebeoso bei der Prüfung über

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Zu r Au»*r*»tj»!tnng <les recht*- und *ta*t<wi^en*chaftHchcn Studium* etc. 357

Nationalökonomie oder auch hei der Prüfung über Verwaltungsrecht auf die Theorie der Statistik einginge.

Am wenigsten wäre au der j u d i z i e 11 e n Staatsprüfung, die nach unserem Vorschläge als letzte an die Reihe käme, zu ändern. Wir haben zwar dem Wunsche Ausdruck gegeben, daß auch spezielle Vorle- sungen über die allermodernsten Rechtsgebiete sichergestellt werden, doch könnten Fragen über derartige Materien ganz gut bei Gelegenheit der Prüfung über Privatrecht oder Handelsrecht gestellt werden. Die Anzahl der Prüfungsfächer bliebe unverändert. Es bedarf keiner besonderen Erwähnung, daß auch das Niveau der judiziellen Staatsprüfung gehoben werden muß. Es muß, namentlich bei dieser letzten Prüfung, der Zusammenhang aller Teile der Jurisprudenz hervortreten und jede Möglichkeit einer Gering- schätzung der früher absolvierten Fächer ausgeschlossen werden.

Im Zusammenhänge damit muß aber eine besondere Frage berührt werden. Schon bei der rechtshistorischen Staatsprüfung kommt es vor. daß außer Professoren und Dozenten der betreuenden Fächer Prüfungskommissäre aus nicht akademischen Kreisen beigezogen werden; noch häufiger ist dies bei der staatswissenschaftlichen und judiziclleu Prüfung der Fall. Wir sind weit davon entfernt, die wissenschaftlichen Kenntnisse hervorragender Prak- tiker in Zweifel zu ziehen. Doch wird man zugeben müssen, daß namentlich der vielbeschäftigte Praktiker einfach nicht in der Lage ist. die Fortschritte der Wissenschaft zu verfolgen. Dies gilt nicht nur für die rechtshistorischeu Disziplinen, in denen während der letzteu Dezennien geradezu Umwälzungen statttindeu, sondern auch für die dem Praktiker naturgemäß näher liegenden Wissenszweige, weil auch da Theorie und Systematik derartige Fortschritte gemacht haben, daß eine mitunter kaum geahnte stoffliche Bereicherung erfolgt ist. Der akademische Lehrer hält es für seine Ehrenpflicht, seinen Hörern das Beste zu bieten und er ist moralisch verpflichtet, auch die neuesten Theorien, so weit sie dem Anfänger zugänglich gemacht werden können, zu berücksichtigen. Daraus ergibt sich eine Inkongruenz zwischen Lehre und Prüfung; der Dozent trägt nach wissenschaftlicher Überzeugung das Modernste vor: der nicht, fachmännische Prüfer ist vielfach schon wegen Zeitmangels nicht in der Lage, diese neuesten Stadien des wissenschaftlichen Fortschrittes zu kennen. Ein weiterer Nachteil bestellt darin, daß der Prak- tiker, der seltener prüft als der akademische Dozent, die Aufnahmsfälligkeit der Kandidaten nicht so zu beurteilen vermag, wie der Professor, der bei Kolloquien, Seniinarübungen. Rigorosen u. s. w. seine Erfahrungen sammelt. Darin liegt wahrscheinlich der Grund, warum Praktiker als Prüfungskom- migsäre überwiegend Gesetzeskenntnis fordern und sich seltener auf theore- tische Gebiete begeben. Der Student akkomodiert sich erfahrungsgemäß den Anforderungen der Prüfungskommissionen; er ist zwar in keinem Falle sicher, ob er von einem Professor oder von einem Praktiker geprüft wird; doch weiß er, daß er für den Praktiker vor allem das Gesetz genau kennen muß. für den Professor dagegen Gesetz und Theorie; das Gesetz muß er also unter allen Fällen zu beherrschen trachten und in dieser Beziehung darf

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er sich keinem Risiko aussetzen: hinsichtlich der Theorie ist das ltisiko zulässig.

Es ist übrigens unverständlich, warum gerade bei juristischen Staats- prüfungen ein Gewicht auf die Beteiligung der Praktiker gelegt wird. Diese Prüfungen werden doch sogar theoretische Staatsprüfungen genannt; sie verleihen kein praktisches Recht, wie etwa das medizinische Doktorat oder die Lehramtsprüfung und dennoch werden weder heim medizinischen Doktorat, noch bei der' Lehramtsprüfung Praktiker beigezogen. Man macht ans der juristischen Staatsprüfung ein Zwitterding; man läßt die Grenzen des Prflfungagebietes verschieben, indem man die Studenten von der Theorie, die sie lernen können nnd sollen, abwendet und sie zur Praxis treibt, die sie nicht verstehen können. Man benimmt also der Prüfung den theoretischen Wert, ohne ihr einen wirklich praktischen zu verleihen. Überdies erfolgt die Ernennung der Prüfungskommission aus den Reihen der Praktiker ohne jede Ingercnz des Professorenkollegiums. einfach über Vorschlag des Präses der Prüfungskommission, der häufig Praktiker ist. Das Prflfungsamt ist vom staatlichen Standpunkte gewiß ebenso wichtig wie das Lehramt; man müßte doch also zum mindesten verlangen, daß sich die Professorenkollegien über jede Ernennung eines Praktikers zum Prüfungikommissär äußern.

Selbstverständlich würde die Ausschließung oder auch nur die geringere Heranziehung von Praktikern eine größere Belastung der Professoren ver- ursachen. Um diesem Übel zu steuern, wäre vielleicht auf die früheren Bestimmungen zurückzugreifen, wonach das Rigorosem die betreffende Staatsprüfung ersetzen konnte. Nachdem das Rigorosum gegenüber der Staatsprüfung ein Plus bildet und bei einer Reform des Doktorats gewiß wesentliche Verschärfungen uintreten werden, ist nicht einzusehen, warum die umfassendere Prüfung nicht als Ersatz der weniger umfassenden gelten sollte. Theoretische Prüfungen sind sie beide.

Nebenbei wäre noch darauf hinzuweisen, wie zweckwidrig die Abstim- mungsart der Prüfungskommissionen ist. Gesetzlich soll sich jeder Prfifuugs- kommissär über das Gesamtergebnis der Prüfung aussprechen und es ist der Kandidat, der auch nur aus einer Partie eines Faches ganz ungenügende Kenntnisse an den Tag gelegt hat. zu reprohieren; nichtsdestoweniger stimmt bekanntermaßen jeder Prfifungskommissär faktisch nur über sein Fach ab und die Folge davon ist, daß per majora Kandidaten approbiert werden, die aus einem Fache geradezu verblüffende Unkenntnisse aufweisen. Man will eben, wenn die Vorbereitung in den übrigen Fächern eine genügende war, nicht sofort zur Reprohation schreiten. Es wäre passender, dasjenige Fach, welches ungenügend beherrscht wurde, zum Gegenstände einer Nachtrags- prüfung zu machen; natürlich aber auch nur dann, wenn die Unkenntnis keine gar zu krasse war. Man würde dadurch den zahlreichen Approbationen per majora Vorbeugen und ein Nachholen der Kenntnisse erzwingen. Selbst- verständlich dürfte das Institut der Nachtragsprflfung nicht etwa dazu miß- braucht werden, daß die Kandidaten gewissermaßen den Prflfungsstoff teilen; dieser Gefahr könnte mau begegnen, wenn man bei der Nachtragsprüfung

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7ut Ausgestaltung des rechts- und staats Wissenschaft liehen Studiums etc. 351)

auch darauf sehen würde, oh dem Kandidaten der Zusammenhang dieses Faches mit der ganzen Studiengruppe gegenwärtig ist.

Sehen wir, dall die Erweiterung des Lehrplanes keine Veränderungen des Prüfungswesens zur Folge haben würde, so muß mit Nachdruck betont werden, daß die Durchführung eines solchen Lehrplanes an die Professoren- kollegien Anforderungen stellt, die mit den jetzt vorhandenen Kräften, namentlich an den kleineren Universitäten, unmöglich bewältigt werden können. Es müßte unbedingt eine Vermehrung der Lehrkanzeln eintreten. Schon heute ist ungleichmäßige Verteilung der Pflichten und Oberbflrdung der einzelnen Professoren wahrnehmbar. Es genügt beispielsweise, das dem Romanisten oder Zivilisten obliegende Pensum mit dem des Statistikers oder auch Kanonisten zu vergleichen. Die Verhältnisse liegen in dieser Hin- sicht sehr verschieden.

Am krassesten tritt die Überbürdung an kleinen Universitäten zum Vorscheine, wo die wenig zahlreichen Professoren nicht nur ihre Nominal- facher in der ganzen Ausdehnung vertreten, sondern auch andere Fächer, die durch keinen Fachmann repräsentiert werden, Übernehmen müssen. So z. B. muß der Kanonist in Ozernowitz Kechtsenzjklopädie, und bis vor kurzem mußte der Prozessualist gar Rechtsphilosophie vortragen. Es ist klar, daß eine Vereinigung von Fächern, die wissenschaftlich nicht verwandt sind, der akademischen Auffassung widerspricht. Man kann doch nicht den Standpunkt vertreten, daß der Professor zu einer bestimmten Stundenanzahl verpflichtet ist. Will man aber dieses der Volks- oder Mittelschule ent- sprechende Prinzip durchführen, dann möge man auch beachten, daß selbst für die Mittelschule Gruppeneinteilungen bestehen, die sich mehr oder weniger wissenschaftlich verteidigen lassen und daß man in dem Umstande, daß der Mittelschullehrer für die Fächer geprüft, daher qualifiziert ist, die Entschuldigung für die Vereinigung finden kann. Es käme niemand auf die Idee, den Philologen zur Erteilung mathematischen Unterrichtes zu ver- pflichten. An den juristischen Fakultäten werden aber in dieser Hinsicht Fehler begangen, die an der Mittelschule ausgeschlossen wären. Es wird nicht nur eine uuakademische Überbflrdung hervorgerufen, indem mau ein- zelnen Professoren ein Arbeitspensum vorschreibt, welches an das Maximum der Lehrverpflichtung an Mittelschulen grenzt, sondern überdies noch eine zweckwidrige Vereinigung heterogener Fächer bewirkt, für welche der be- treffende Professor nicht qualifiziert ist, für die er sich vielleicht nicht interessiert und in denen er niemals wissenschaftlich zu arbeiten beabsichtigt. Die Vereinigung der Lehrverpflichtung für Privat- nnd Handelsrecht, wie sie manchmal üblich ist, verpflichtet den Professor, wenn man noch Seminar- übungen dazurechnet. zur Abhaltung von mindestens 27 Vorlesungen, so daß auf ein Semester 14, auf das andere 13 entfallen; hält dieser Professor, wie es erwünscht ist, noch Spezialkollegien ab, dann erreicht er das Maximum der mittelschulmäßigen Lehrverpflichtung. Die Vereinigung so weit auscinandcrgehender Fächer wie z. B. Zivilprozeß und Rechtsphilosophie, wäre an der Mittelschule mit der Vereinigung von Philologie und Mathe-

Zdtachrift für VoHuwlrucWk, Soiialpolltlk und Verwaltung. XII. 25

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matik zu vergleichen und würde dort als pädagogisches Horrendum be- trachtet werden. Es ist doch eine bescheidene Forderung, wenn man für den Hochschulunterricht nur diejenige Rücksicht verlangt, die dem Mittel- schulunterrichte seit jeher zu statten kommt. Ganz anders verhalten sich die Dinge an der medizinischen oder philosophischen Fakultät; es gibt auch dort Lehrkanzeln, die man als überbürdete bezeichnen muß; doch ergibt sich dort die Überbürdung regelmäßig aus der Natur des Faches, aus der Notwendigkeit vielstündiger Übungen u. s. w. Es ist uns nicht bekannt, daß mau in irgend einem Falle noch besonders dazu beigetragen hätte, eine Überbürdung zu schaffen; es kommt niemand auf die Idee, etwa zwei Fächer, die in wenigen Stunden vorgetragen werden, in einer Hand zu ver- binden. Im Gegenteile nimmt die Anzahl der Lehrkanzeln an den medizini- schen und philosophischen Fakultäten' beständig zu. denn für diese Fakul- täten wird das wissenschaftliche Prinzip beobachtet, wonach jeder Wissens- zweig ohne Rücksicht darauf, ob derselbe in einer vierstündigen oder zwanzig- stflndigen Vorlesung behandelt wird, selbständig in Betracht kommt. Wenn in der Tat die Vorlesungen hoher stehen als ein Kompendium, wenn der Professor, der in erster Linie selbständiger Forscher ist, Zeit und Lust finden soll, neben seiner eigenen Arbeit auch die Vorlesungen auf wissen- schaftlicher Hohe zu erhalten, dann muß man entschieden mehr Professoren und von jedem einzelnen weniger Vorlesungen fordern. Die Verbindung mehrerer Fächer, selbst wenn dieselben verwandt sind, ist in höchstem Grade unakademisch; reicht schon das Leben nicht aus, um ein Gebiet all- seitig zu beherrschen, so ist die Beherrschung mehrerer Gebiete selbstver- ständlich ganz ausgeschlossen; deijenige, der verpflichtet wird, mehrere Fächer zu vertreten, muß entweder auf allen Gebieten Dilettant bleiben oder aber auf dem einen Gebiete, welches ihm näher liegt, arbeiten, das andere dagegen vernachlässigen. Wenn man einen Dozenten, der in seinem Fache ein tüchtiger Gelehrter ist. veranlaßt, daneben noch ein Fach zu übernehmen, für welches er sich niemals interessiert hat, so muß man sich wohl auch sagen, daß das betreffende Kolleg auf Jabre hinaus zu einem inferioren gemacht wird, und daß die.Hnrer auf Jahre hinaus in diesem Fache keinen wissenschaftlich vollwertigen Unterricht empfangen werden.

Eb ist unbegreiflich, warum gerade die rechts- und staatswissen- schaftlichen Fakultäten zum Gegenstände von Versuchen gemacht werden, denen in der Regel budgetäre Rücksichten zu Grunde liegen. Man darf doch einerseits hervorheben, daß gerade diese Fakultäten die meistfrequen- tierten sind und in höchstem Grade unmittelbar für staatliche Zwecke arbeiten, anderseits aber auch bemerken, daß die Ausgaben, die mit der Schaffung neuer Lehrkanzeln an unseren Fakultäten verbunden sind, ver- hältnismäßig geringfügig ausfallen. weil dahei weder Institute, noch Instituts- personal in Frage kommen.

Das alles mußte gesagt weiden, weil, wie eingangs bemerkt, die Ein- führung der in den vorigen Kapiteln angeregten Neuerungen keineswegs durch «eitere Überbürdung erfolgen kann. Eine weitere ßberbfirdung ist iu

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Zur Ausgestaltung des rechts* nnd staatswissenschaftlicben Studiums etc. 30 1

den meisten Fällen einfach unmöglich; sie ist auch akademisch unpassend, wenn man nicht die Wissenschaftlichkeit der Vorlesungen opfern will. Über- dies handelt es sich, wie wir gleich sehen werden, um Auslagen, die man, wenu es um medizinische oder philosophische Fakultäten zu tun wäre, gewiß als geringfügig bezeichnen würde.

Wir haben seinerzeit bemerkt, daß die Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaften erweiterungsbedürftig ist und daß dieselbe ihren Zweck nur bei entsprechender Erweiterung erfüllen kann. Es ist selbstver- ständlich, daß eine Vorlesung von grundlegender Bedeutung für das gesamte Studium nicht als Anhängsel betrachtet werdeu darf. Man kann sie auch mit der Rechtsphilosophie nicht verbinden, weil nur ganz ausnahmsweise die eigenartige Individualität eines Philosophen den speziellen Aufgaben der Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft gerecht zu werden vermag; überdies wäre eine solche Vereinigung schon deshalb ausgeschlossen, weil die Vorlesungen über Rechtsenzyklopädie mit denen über Rechtsphilosophie parallel im ersten Studiensemester unterzubringen sind, mithin der betreffende Professor in einem Semester 12 Obligatvorlesungen zu halten hätte. Ebenso kann die vergleichende Rechtageschichte als eine selbständige und an den Dozenten die grüßten Anforderungen stellende Disziplin nicht in dauernde Verbindung mit irgend einem Obligatfaehe gebracht werden; höchstens mit der allgemeinen Uesellschaftslehre. Es müßte also eine spezielle Lohrkanzel für Enzyklopädie der Rechts- und Staats wissen schäften, eine zweite für Rechtsphilosophie und eine dritte für vergleichende Rechtswissenschaft und allgemeine Gesellschaftalehre geschaffen werden. Es ist ja selbstverständlich, daß in jedem Professorenkolleginm sich Männer linden künnen, die ihrer ganzen Geistes- und Studienanlage gemäß sich nicht nur für ihr Spezial- fach, sondern nebenbei auch für enzyklopädische, philosophische und rechts- vergleichende Fragen interessieren. Daraus folgt aber nicht, daß man diese Männer von ihrem eigentlichen Arbeitsgebiete ahlenke nnd sie zwinge, einen Teil ihrer Arbeit obligaten, jährlich wiederkehrenden Vorlesungen über Enzyklopädie, Philosophie oder vergleichende Rechtswissenschaft zu widmen. Seihst die theologischen Fakultäten haben heute ihre eigenen philosophischen Lehrkräfte: wir dürfen mit Fug und Recht dasselbe beanspruchen. Der Umstand, daß der Professor für Enzyklopädie nur sechs, der für Philosophie ebensoviel und der für vergleichende Rechtsgeschichte und Gesellschafts- lehre IO bis 12 Stunden zu lesen hätten, daß sie also nach heutigen Be- griffen zum Teile wenig beschäftigt wären, kann nicht ins Gewicht fallen; denn diese Stundenanzahl betrifft ja nur die Obligatkollegien, an die sich selbstverständlich Spezialkollegien und Übungen anzuschließen hätten. Die beiden erstgenannten Dozenten wären im Wintersemester wohl genügend beschäftigt, weil ein sechsstündiges Obligatkolleg gewiß als ein vollkommen hinreichendes Pensum betrachtet werden darf; sie könnten im Sommer- semester Spezialkollegien lesen und es würden sich gewiß Hörer höherer Jahrgänge eventuell auch anderer Fakultäten Huden, die ein rechtsphilo- sophisches oder enzyklopädisches oder methodologisches Kolleg. auch wenn

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dasselbe nicht obligat ist, hören; der Professor für vergleichende Rechts- wissenschaft und allgemeine Gesellschaftslehre hätte in beiden Semestern Obligatkollegien zu lesen, in dem einen ein 3stiindiges für Hörer des I. und ein 3 4stflndiges für Hörer des IX. Semesters, in dem andern ein 4 5 ständiges für Hörer des IV. Semesters, daneben selbstverständlich auch Spezialkollegien und Übungen.

Der Wirkungskreis der rechtshistorisclien Lehrkanzeln könnte unver- ändert bleiben, doch bedarf die österreichische Reichsgeschichto ganz ent- schieden einer separaten Vertretung, und zwar vor allem an den deutschen Universitäten. Ihre Verbindung mit dem deutschen Rechte könnte vom Standpunkte wissenschaftlicher Verwandtschaft verteidigt werden; man bedenke aber, daß dadurch dem Germanisten eine Pflicht auferlegt wird, die zeitraubend ist und ihn von seiner eigentlichen Aufgabe abzieht, ihm es auch schwer macht, dentschrechtliche Spezialkollegien zn lesen und ferner die weitere Folge, daß niemals Spezialkollegien aus dem Gebiete der österreichischen Reichsgeschichte abgehalten werden. Gegen die dauernde Verbindung dieser beiden Fächer spricht unter andern auch der Umstand, daß in dem deutschen Rechte neben allgemeinen rechtshistorischen Fragen besonders das Privatrecht in den Vordergrund tritt, während die öster- reichische Reichsgeschichte in ihrer jetzigen Gestalt eine Grundlage für das österreichische Staats- und Verwaltungsrecht enthält. Ihr Vertreter sollte deshalb ein ltechtshistoriker sein, der überwiegend Sinn für öflentlichrecht- liche Fragen hat. Dasselbe huzieht sich auf die Verbindung der österreichi- schen Reichsgeschichle mit der polnischen beziehungsweise böhmischen Rechtsgeschicbte; nachdem aber diese Verbindung über ausdrücklichen Wunsch der betreffenden Fakultäten cingeführt wurde, müssen wohl wichtige Umstände für dieselbe sprechen. Dennoch darf man sagen, daß der Übel- stand derselbe ist und daß vor allem der Mangel von Spezialkollegien und Seminarübungen aus dem Gebiete der österreichischen Reichsgeschiehte nur durch Schaffung neuer Lehrkanzeln behoben werden könnte.

Was den staatswissenschaftlichen Studienabschnitt anbelangt, so liegt hier das Redürf'nis nach Vermehrung der Lehrkanzeln in einem andern Sinne vor. Es würde sich hier nicht so sehr um Schaffung neuer, selbstän- diger Lehrstellen handeln als vielmehr um die Verdoppelung der bestehenden. Die Fächer dieses Studienabschnittes sind teilweise national-ökonomischer, teilweise öffentlichrcchtüoher Art. Es ist natürlich unmöglich, alle ökonomi- schen Fächer durch einen Profossor der Nationalökonomie und alle öffentlich- rechtlichen Disziplinen durch einen Professor des Staats- und Venvaltungs- rcchtcs vertreten zu lassen. Es wäre vor allem eine Dnppelbesetzung des Lehramtes für Staats- und Verwaltungsrecht erforderlich, so daß ein Professor Staatsrecht und Völkerrecht, der andere Verwaltnngslolire und österreichisches Verwaltungsrecht, eventuell auch Statistik zu übernehmen hätte. Die letzte Verbindung wäre, obwohl sie prinzipiell auch nicht gebilligt werden könnte, erträglich, wenn die Verwaltungslelirc, wie seinerzeit gesagt, mit der Volks- wirtschaftspolitik vereinigt werden könnte; deuu die Verwandtschaft der so

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Zur Auug*‘«tal(uni' des recht-** uu*l atautswisüeliicharttjrhen Stadium« ctr ;dtr.*t

gearteten Verwaltungslehre mit der .Statistik liegt ja nahe. Es würde also der Professor für Staatsrocht im Wintersemester allgemeines und österrei- chisches Staatsrecht, im Sommersemester Völkerrecht vortragen, eventuell noch das eine oder andere nichtobligato Kolleg Der Professor für Verwal- tungslehre und Venvaltungsrecht hätte im Wintersemester Statistik, im Sommersemester das Kolleg über Verwaltungslehre und Volkswirtsehafts- politik, sowie das kürzere Kolleg über österreichisches Verwaltuugsrecht zu lesen. Die Verdoppelung der Lehrstellen für Nationalökonomie erscheint uns erwünscht, weil die grundverschiedenen modernen Strömungen, die sich auf diesem Gebiete mehr als auf jedem andern äußern, nur auf diese Weise Vertretung linden könnten; es wäre dringend erwünscht, dal! wenigstens die zwei Hanptrichtungen, die theoretische und die historische, in jeder Fakultät ihre Vertreter finden.

Was den judizielleu .Studienabschnitt anbelangt, ist eigentlich nur die Schaffung einer speziellen Lehrkanzel für Handels- und Wechselrecht erforderlich. Dieses Bedürfnis ist zu sohr bekannt, als datl eine Dcgründung notwendig wäre. Die seinerzeit angeregte lterücksichtigung der Spezialgebiete des modernen Hechtes würde sowohl dem Zivilisten, als auch dem Handels- rechtslehrer zufalleu, so daß eine weitere Fortdauer der Verbindung des Handelsrechtes mit einem anderen Fache zu ganz unzweckmäßiger Cber- bürdung führen müßte.

Das ist auch alles. Die wesentliche Bereicherung des Lehrplanes wäre also mit geringen Kosten verbunden. Es muß ja bemerkt werden, daß die Forderung einer zweiten nationalökonomischen Lehrkanzel nicht mit den von uns angeregten Neuerungen zusammenhängt, sich vielmehr aus der Ver- schiedenheit der wissenschaftlichen Richtungen ergibt, so daß sie auch ohne die vorgeschlagenen Neuerungen dringend notwendig ist: an einigen Uni- versitäten besteht sie übrigens schon. Dasselbe gilt für die handelsrechtliche Lehrkanzel; auch ihre Notwendigkeit steht mit den vorgescblagenew Neu- erungen in keinem Zusammenhänge; übrigens existiert auch diese Lehrkanzel dermalen schon an den meisten österreichischen Fakultäten: die Forderung hinsichtlich der zweiten öffentlichrechtlichen Lehrkanzel ist ebenfalls nicht neu und wäre namentlich, wenn man die statistische Lehrkanzel in diese Kombination bringen würde, leicht zu erfüllen. Wir dürfen also von diesen Forderungen abselien, so daß als unmittelbare Konsequenz der von uns angeregten Neuerungen eigentlich nur die Forderung, betreffend die Schaffung von eigenen Lehrkanzeln für Keebtsenzyklopädie, für Hechtsphilosophie und für vergleicliende Rechtswissenschaft und Gesellscliaftslchre erübrigt. Das Bedürfnis einer eigenen Lehrkanzel für österreichische Heicbsgescbiclite ist prinzipiell durch die Unterrichtsverwaltung anerkannt worden, wenn auch bis nun nur in Wien und in Graz solche Lehrkanzeln bestehen.

Wenn mau das gesamte, in diesem Zusammenhänge als notwendig und als neu erscheinende Erfordernis überblickt und dabei, wie erwähnt, von der zweiten Lehrkanzel für Nationalökonomie, von der für Handelsrecht und für österreichische Reichsgesehichte absieht, gelangt man zur Überzeugung,

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daß' durch die Annahme unserer Vorschlüge bloß das Erfordernis von je drei neuen Lehrkanzeln an den in Österreich bestehenden acht juristischen Fakultäten entsteht. I)ie für ganz Österreich erforderlichen 24 Lehrkanzeln würden, selbst wenn sie sofort alle mit Ordinarien besetzt würden, eine Auslage von 180.960 K erfordern. Dabei ist aber zu berücksichtigen, daß manche der in Frage kommenden Fächer an einigen Universitäten gegen spezielle Remunerationen gelesen werden, die natürlich zu entfallen hätten, daß ferner durch die Belegung der diesen Fächern gewidmeten Vorlesungen das dem Staate zufalleude Kollegiengeld eine Steigerung erfahren würde, so daß ein beträchtlicher Teil der erwähnten Gesamtsumme in Wegfall käme. Wir glauben, daß wenn mit diesem Betrage die Ausbildung so zahlreicher Studenten gefördert werden kann, das Opfer wahrhaftig nicht zu groß ist.

Wir gehen nunmehr zur Besprechung der juristischen Lehrmittel über, also zur Erörterung der Bedeutung der Vorlesungen und Übungen.

IX.

Die Lehrmittel und Lehreinrichtungen des rechts- und staatswissen- schafthchen Studiums.

Der entworfene Lehrplan kann natürlich nur als Minimum betrachtet werden: es ist Unmöglich, bei Entwertung eines allgemein aiizuwendenden Lehrplanes auch Spezialkollegicn. die gewiß vom wissenschaftlichen Stand- punkte die größte Bedeutung haben, gehörig zu berücksichtigen: in dieser Beziehung sind die Personal veibültnisse der einzelnen Professorenkollcgien maßgebend: einseitiges Verordnen hilft nichts und man könnte auf § 7 der Ministerialverordnung vom 24. Dezember 1893 hinweiseu, wo die Vorsorge für mehrere Spezialkollegien den Fakultäten förmlich zur Pflicht gemacht wird, ohne daß es namentlich an kleinen Universitäten, möglich gewesen wäre, dieser Pflicht liachzukomraeu. In noch höherem Grade gilt dies für die eigentlichen Spezialkollegien, die nach individuellem Wunsche des Dozenten gehalten werden sollen. Angesichts der großen Überbürdung der meisten Professoren spielen diese vom wissenschaftlichen Standpunkte mitunter unschätzbaren Vorlesungen im Lehrplane leider eine zu kleine Rolle: auch an größeren Universitäten ist ein Rückgang sichtbar und derselbe steht mit dem Wegfalle des Kollegiengeldcs einigermaßen im Zusammenhänge.

Hinsichtlich der Bedeutung der Spezialkollegieu herrschen allerdings verschiedene Ansichten. Man hört manchmal, daß namentlich kleinere Spezialkollegien überflüssig sind, weil sie eigentlich gesprochene Monographien darstellen: dabei vergißt man an die Vorteile des lebendigen Wortes, ferner daran, daß wissenschaftliche Monographien von Studierenden nur selten gelesen werden, weil sie in der Regel den Anfängern schwer verständlich sind und sich vielmehr an die Fachleute wenden. Das Spezialkolleg aber, namentlich, wenn cs vou einem Dozenten gelesen wird, der in der Lage ist, die Aufnahmsfähigkeit der Hörer zu beurteilen, bietet sclion dadurch, daß es auf interessante Details cingeht, literarische Streitigkeiten, Hypothesen und die Forschungsmethode berücksichtigt, den Hörern vielfach Anregung.

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Zar Au'ßeitftltuup <ies rechte- und .stamtewisjtenscbaftlichni Studiums etc 36»ri

Die Le ii r m e t li o <1 e, mit der wir uns liier belassen wollen, uiuU also jedenfalls mit den drei Lehrmitteln des akademischen Unterrichtes, nämlich dem allgemeinen Kolleg, dem Spezialkolleg und den Übungen rechnen. Daraus folgt, dal!, obwohl man vom akademischen Dozenten kein pädagogisches Vorgehen fordern darf, dennoch auf die Eigenheiten der drei Arten von Lehrmitteln Rücksicht genommen werden muB.

Das allgemeine Kolleg hat offiziell als Lehnnittel im weiteren Sinne des Wortes die größte Bedeutung. Wir halten die radikalen Vorschläge, die sich gegen die bisherigen systematischen Vorlesungen aussprechen, für teilweise unbegründet, teilweise undurchführbar. Ohne System kann die Rechtswissenschaft nicht betrieben und es muU dem Anfänger eine syste- matische Darstellung geboten »erden. Man verkennt den Wert dieser Vor- lesungen. wenn man meint, dat! die auf diesem Wege erfolgende Mitteilung durch Lehrbücher ersetzt werden könnte; mau darf die aufklärende Bedeutung des freien Wortes (es soll eben frei gesprochen werden) und den pädagogischen Wert langsamer Mitteilung nicht unterschätzen, weil nur auf diese Weise die Kenntnisse ohne Überstürzung, langsam, aber sicher geboten werden. Hinsichtlich der Details kann und soll das Kolleg mit einem Hnndbuche nicht in Wettbewerb treten: was belehrenden Wert anbclangt. steht cs unvergleichlich höher als das beste Hand- oder Lehrbuch; allerdings nur dann, wenn die allgemeinen, systematischen und kritischen Gesichtspunkte hervortreten und nicht vom Detail überwuchert werden. Der Vorwurf zweck- loser Weitschweifigkeit ist vielfach begründet.

Praktische und exegetische Übungen können sich erst auf dieser Grund- lage aufbauen; bei zahlreicher Zuhörerschaft ist die Verlegung des Schwer- punktes von der systematischen Vorlesung in die Übungen unmöglich. Die hervorragende Stellung des Gesamtkollegs beruht darauf, daß dasselbe als ObligalkoUeg für alle Hörer, ohne Rücksicht auf ihre persönlichen Fähig- keiten. bestimmt ist und demgemäß gehalten werden soll. Darin liegt aber auch die Schwierigkeit Selbst wenn die Reform des Gymnasialunterrichtes in der vorher angeregten Weise durchgeführt und dem Professor dadurch, wie auch durch die einleitenden Kollegien des ersten Semesters Entlastung geboten wird, werden dennoch die prinzipiellen Schwierigkeiten nicht behoben; denn auch dann fehlt die Möglichkeit, sich zu überzeugen, oh die Hörer zu folgen vermögen, ebenso die Möglichkeit, die einzelnen individuell zu berücksichtigen. Diese Schwierigkeiten sind nicht zu beheben, doch könnte eine Linderung eintreten. wenn z. B. zu Beginn des Semesters Vorlesungs- programme, wie sic auch heute teilweise üblich sind, unter die Hörer verteilt würden; ein entsprechend ahgefaßtes Programm gibt dem Hörer Gelegenheit, einen Überblick über die gesamte Darstellung zu gewinnen und diesen Überblick während des Semesters im Auge zu behalten; das vom Professor seihst verfaßte, ausführliche Programm könnte doch nicht als Schmälerung der Lehrfreiheit betrachtet werden, würde vielmehr die indivi- duelle Richtung zum Ausdrucke bringen. Wichtig wäre es, wenn der Ver- fasser eines solchen Programmes wenigstens hei schwierigeren Fragen die

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dem Hörer zugänglichen literarischen Hilfswerke augehen würde, weil dann sowohl vor der Vorlesung, als nach derselben, das Nötige nachgelesen werden könnte. Soweit es der Stoff gestattet, könnte man, wie es ja ab und zu geschieht, die Hörer zu direkter Beteiligung zulassen, indem man sie zur Stellung von Fragen bei Zweifeln geradezu auffordern und ermächtigen würde. Wird entsprechende Vorbildung geboten und durch ein genügendes Programm sowohl der Überblick als auch das kontinuierliche Fortarbeiten erleichtert, dann werden gewitl auch die heute mit Kocht gerügten Unzu- länglichkeiten des systematischen (iesamtkollegs zum grollen Teile ver- mindert werden.

Die Spczialkollegien »ollen auf einer wissenschaftlich höheren Stufe stehen, als das allgemeine Kolleg, denn sie dienen ihrem Wesen nach anderen Zwecken. Hier soll der Professor, unbeengt durch zeitliche Schranken, Fragen erörtern, die nach seiner Überzeugung besonders interessant sind, oder ihm speziell wissenschaftlich nahe liegen, vor allem aber solche, die die Eigenart der betreffenden Disziplin besonders hervortreten lassen. Hier ist Raum für die Entfaltung der vollen Individualität des Lehren. Selbstverständlich denken wir dabei nicht an Kollegien, die ihrerseits Gesamtdarstellungen bilden, wie namentlich die verschiedenen nichtobligaten Kollegien, z. B. Bergrecht, Geßngniskunde u. s. w. und auch nicht an jene, welche den Hörern einen Teil der in dem Obligatkolleg wegen Zeit- mangels nicht erschöpften Gesamtdarstellung bieten. Diese Kollegien sind eben nicht Spczialkollegien im echten Sinne des Wortes. Das eigentliche Spezialkolleg soll von dem Hauptkolleg unabhängig sein, die Hörer in die wissenschaftliche Werkstätte einfflhren und sie bei Darstellung irgend einer Materie darüber belehren, wie wissenschaftliche Meinungen entstehen u. s. w. Eine solche Vorlesung wird also nur für einen Teil der Studierenden interessant, überhaupt nur einem Teile derselben zugänglich sein: sie kann aber mit Erfolg selbst von solchen Hörern besucht werden, die noch nicht die gesamte Darstellung des betreffenden Faches zu Ende gehört haben; denn es handelt sich ja hier nicht um die Ergänzung von Elementar- kenntnissen, sondern um die Vertiefung der allgemeinen wissenschaftlichen Begriffe, wofür der Hörer durch die Kollegien des ersten Semesters genügend vorgebildet ist und um die Einführung in die Literatur des Faches, was alles auch ohne Gesamtkenntnis der betreffenden Disziplin möglich ist, wenn nur das wissenschaftliche Interesse und die Denkfähigkeit nicht fehlt. Wenn wir den Zweck des Spezialkollegs so auffassen, dann brauchen wir den Vergleich mit einer Monographie nicht zu fürchten. Die Monographie erörtert ausschließlich eine bestimmte Streitfrage und wenn sie dabei, wie cs ihrer Aufgabe zukommt, die eng gezogene Grenze nicht überschreitet, ist sie für den Anfänger zum großen Teile wertlos; die Spezialvorlesung dagegen, mag sie auch äußerlich einer Monographie ähnlich sehen, unter- scheidet sich von derselben dadurch, daß sie das Verständnis für wissen- schaftliche Arbeit, für wissenschaftliche Forschungsmethode ermöglicht und die Bedeutung wissenschaftlichen Streites zeigt; so ist das Spezialkolleg

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ein Mittelding zwischen Vortrag und Übung; cs kanu auf die Übungen vorbereiten und das in den Übungen Gewonnene ergänzen.

Die Übungen bilden den schätzbarsten Teil des akademischen Unterrichtes und das wichtigste akademische Lehrmittel; leider werden sie stiefmütterlich behandelt, obwohl die an den philosophischen Fakultäten gemachten Erfahrungen gegen eine solche Behandlung sprechen. Wir haben schon an anderer Stelle,1) wenn auch kurz, über diese Frage gesprochen, überdies der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät in Czernowitz eine Beihe von motivierten Anträgen vorgelegt, die durch das Professoren- kullegium einstimmig angenommen und dem Ministerium sowie allen anderen Universitäten übermittelt wurden. Durch Ministerialerlab vom 7. Februar 11100 wurden alle Professorenkollegien der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultäten zur Berichterstattung über dieselben aufgefordort. Mull dieses Eingreifen der Untcrrichtsvorwaltung dankbar hervorgehoben werden, so kann man gerade aus den Berichten der einzelnen Professorenkollegien ersehen, daii eine Reform der Seminare und anderer Übungen notwendig ist, leider aber auch erkennen, daß die Bedeutung der Übungen nicht überall gehörig gewürdigt wird. Aus einzelnen Berichten kann man die Befürchtung herauslesen, daß die auch jetzt unangenehm empfundene Über- bürdung der Professoren noch weiter gesteigert werden könnte. Man kann sich darüber nicht wundern, es auch nicht verübeln; wohl aber darf man bedauern, daß manche Professorenkollegien anstatt die Überbürdungsfrage direkt in den Vordergrund zu stellen, es vorgezogen haben, Argumente, deren Stichhaltigkeit keineswegs einleuchtet, gegen die Notwendigkeit der betreffenden Reform ins Feld zu führen.’) Es sei hier gestattet, die wichtigsten Fragen wenigstens kurz zu erörtern.

Es ist bekannt, daß Seminarübungen zunächst an den philosophischen Fakultäten, und zwar vor allem für Philologen geschaffen worden sind. Heute bestehen sie fast für alle Wissenszweige. Und mit Recht; denn die allgemeine Vorlesung vermag den Hörer nicht in die Werkstätte zu führen und lehrt ihn nicht selbständig zu arbeiten. Die Fortschritte der Wissen- schaft haben eine Methodologie geschaffen, die fortwährend verbessert wird. Ohne den mitunter mit großem Erfolge tätigen Autodidakten nahezutreten, muß man doch im allgemeinen behaupten, daß wissenschaftliche Arbeit nur bei Beherrschung der Methode gut möglich ist; natürlich kann die Methode allein nicht genügen, und cs wird auch der methodisch geschulte, im übrigen unfähige Mann nichts leisten; der fähige, methodisch nicht geschulte aber läuft Gefahr, auf Abwege zu geraten und jahrelang erfolglos zu arbeiten.

*) ln Grünhuts Zeitschrift für das Privat- und Öffentliche Hecht, 1t. XXIV, S. 709 ff.

’) Der Verfasser ist durch die rechts- und staatawissenschatliicho Fakultät der Czernowitzer Universität beauftragt worden, ein ausführliches Memorandum ausznarbeilen, um den von manchen Fakultäten vorgebrachten Hinwendungen zu begegneu; dieses Memorandum ist, nachdem es von der Fakultät einstimmig angenommen wurde, dem Ministerium vorgelegt und allen Fakultäten, mitgeteilt worden.

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ftalSan

Die Verteile von philosophischen, historischen uml anderen Seminarnbungen sind so einleuchtend, di« Wissenschaft verdankt ihnen eine so rege Belebung der Forschung, da 11 ein weiteres Eingehen auf diese Frage überflüssig erscheint.

Nur an den rechts- und staatswissenschaftlichcu Fakultäten konnte sich diese Wahrheit trotz zahlreicher Beweise keinen Eingang verschaffen. Es hat fast den Anschein, als ob unsere Wissenschaft und ihre praktische Entwicklung immer zurückzubleiben und erst schneckenartig nachzukommen bestimmt wäre. Wir haben später als alle anderen wissenschaftlich zu arbeiten begonnen; unsere Forscher haben es endlich aufgegeben, bloß Gesetzesinterpretatoren zu sein: aber daran, daß man. sowie es hei Philologen und Historikern geschieht, die gewonnene und bewährte Methode allen zugänglich machen soll, wird noch immer zu wenig gedacht.

Man hat im Jahre 1875 in Österreich rechts- und staatswissen- schatt liehe Seminare geschaffen. Es ist der damaligen l'nterrichtsverwaltung wegen der Unzulänglichkeit dessen, was geschehen ist, kein Vorwurf zu machen; es muß anerkannt werden, daß die österreichische Unterrichts- Verwaltung in dieser Beziehung, wie in manchen anderen, dem Auslande mit gutem Beispiele voranging. Die Fehler, die der im Jahre 1875 geschaffenen Einrichtung anhaften, sind vom damaligen Standpunkte, nament- lich wenn man berücksichtigt, daß es sich um eine Neuerung handelte, entschuldbar und vermögen das Verdienst, welches in der Einführung der Seminare überhaupt liegt, nicht zu schmälern. Aber eigentümlich berührt es, daß mau nach 27jähriger Erfahrung an die Beseitigung der ursprüng- lichen Mängel nicht geht und, . wie den Berichten mancher Professoren- kollegicii zu entnehmen ist, nicht geben will Es war ein Mißgriff, daß man nur zwei Seminare eingeführt hat. nämlich das rechtswissenschuftliche, in dem Übungen aus allen juristischen Disziplinen unterbracht werden, und das staatswissenschaftlich«. in dem ebenfalls Seminarflbungen aus allen Disziplinen dieser Gruppe Unterkunft finden. Ein weiterer Mißgriff wurde dadurch begangen, daß die Professoren nur zu einstflndigen und auf ein Semester beschränkten Übungen verpflichtet wurden. Wenn die Seminure sich dennoch bewährt haben, so verdanken sie es nicht dieser Verfassung, man kann eher sagen, daß alle Vorteile trotz dieser Verfassung zuwege gebracht wurden. Es wäre also jedenfalls an der Zeit, die ursprünglich begangenen Fehler gutzumachen, für jede selbständige Disziplin ein eigenes Seminar zu bilden, für dasselbe eine entsprechende Bibliothek zu schaffen, weiters eine Anzahl von Seminarstipeudien nach dem Muster der philo- sophischen Fakultät sicherzustellen und die kontinuierliche Fortführung der Übungen während des ganzen Studienjahres zur Pflicht zu machen. Die Konzentrierung von Seminarübungen aus verschiedenen Wissensgebieten hat nebst administrativen Folgen auch die. daß die Bibliotheksdotation gering ausföllt. offenbar deshalb, weil immer von einer Bibliothek die Rede ist, während tatsächlich im rechtswissenschaftlichen Seminar allein sieben bis acht separate Bibliotheken zu unterscheiden wären; infolgedessen

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entfällt- auf jede dieser gesetzlich nicht anerkannten Bibliotheken eine Quote, die man keiner einzigen selbständigen Bibliothek der philosophischen Seminare oder eines medizinischen Institutes anbieten würde. Dasselbe gilt hinsichtlich des Prämienfonds, der so gering ist. daß nicht einmal für jedes Seminar eine entsprechende Prämie entfallt.

Diese administrativen Mängel lassen sich leicht belieben, sind also nicht in dem Maße verhängnisvoll wie der Umstand, daß die Übungen selbst nicht das ganze Jahr hindurch fortgeführt werden. Hs ist einleuchtend, daß dieses fbel die wissenschaftlichen Vorteile des Seminars geradezu in Frage stellt. Der Hörer besucht das Seminar nährend eines Semesters, und zwar gemäß der üblichen Einrichtung, nur einmal wöchentlich während einer Stunde. Wer den Universitätskalender kennt, weiß, daß nach Abzug aller Feiertage und Ferien kaum 12 15 Übungsstundcn abgehalten werden können, und daß namentlich im Sommersemester vielfach nicht einmal diese Anzahl erreicht wird. Da kann man doch fragen, oh es überhaupt möglich ist, eine nennenswerte Tätigkeit in einer so kurzen Zeit zu entfalten und eine Einführung in die Forschungsmethode auch nur annäherungsweise zu erreichen. Und selbst wenn hei besonderer Bemühung des Seminarieitcrs und bei besonderem Eifer und großen Fähigkeiten der Hörer die wenigen Stunden von Erfolg waren, so geht doch dieser ganze Erfolg wieder ver- loren, weil die Übungen im nächsten Semester nicht weiter geführt werden, im übernächsten aber kaum ein Teil der schon einmal etwa eingeachultcn Teilnehmer zurüekkehrt. vielmehr wieder neue Anfänger eintreten und dem Professor dieselbe Ahriclitungsarbeit mit demselben fraglichen Erfolge bevor- steht. Der fleißige Seminarist hat auch tatsächlich wenig davon, wenn er nach halbjähriger Unterbrechung wieder in dasselbe Seminar eintritt; denn mit ihm zusammen erscheinen ja Anfänger, und der Seminarleiter ist nicht in der Lage, sich ausschließlich jenen zu widmen, die schon einmal das Seminar besucht haben, sondern er muß in erster Linie die Anfänger berücksichtigen, so daß in jedem Seminarsemester sich dasselbe Schauspiel wiederholt und es verhältnismäßig selten zu wirklicher Ausbildung und nocli seltener zur Abfassung wissenschaftlicher Arbeiten im wahren Sinne des Wortes kommt. Ist der Student strebsam und fähig, so tritt er nach Ahsolvierung eines einsemestrigen Seminars, in dem er, wie gesagt, nicht viel lernen konnte, im nächsten Semester womöglich in ein ganz anderes Seminar ein, in welchem er, nachdem es ja auch nur während eines Semesters geführt wird, ebenfalls nur ein Semester verbleibt. So kann er, als Gast auf eine Weile, möglicherweise in allen Seminaren der Fakultät je ein Semester zugebracht haben und verläßt die Hochschule ohne diejenige wissenschaftliche Ausbildung, die er sich, wenn er nur ein Seminar, dafür aber konstant während 1 1 , 2 Jahren besucht hätte, gewiß in höherem Grade hätte verschaffen können. Die auf ein Semester beschränkten Seminar- übungen haben also nur geringen Wert; denn erat nach Überwindung der ersten Schwierigkeiten vermag der Teilnehmer das nötige Interesse zu gewinnen, lind da ist gewöhnlich dann schon die Zeit zu kurz, um an

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selbständige Arbeit zu denken. Dazu kommt, daß wissenschaftliche Debatten, die wieder jeweils auf nur eine Stunde, d. h. eigentlich auf */« Stunden beschränkt werden, aussichtslos sind. Wahren Vorteil können nur häutigere, also wenigstens zweistündige, und das ganze Jahr hindurch dauernde Übungen gewähren. Die l’rcfessoren, die so verfahren, ohne dermalen dazu verpflichtet zu sein, wissen, daß die Seminarteilnehmer ihnen lange erhalten bleiben, manchmal sogar während des gauzen Quadrienuiums in einem Seminar arbeiten, so daß sic nach einigen Semestern an wirklich wissen- schaftliche Aufgaben schreiten können.

Selbstverständlich muß man aber dem Hörer neben den Seminar- Übungen die nötigen Studienbeholfe und eine gewisse Ancifcrung bioten; man raut! also anstatt der kleinen und geradezu zwecklosen Seminar- bibliotheken wirkliche Handbibliotheken schaffen, wie sie in allen philo- sophischen Seminaren und Instituten bestehen, sowie die nötigen Arboits- räume. Man betrachtet es als ganz selbstverständlich, daß man z. R. in einem zoologischen Institute alle Redtlrfnisso der Hörer berücksichtigt, ihnen nicht nur Präparate, Bücher und Zeitschriften, sondern die teuersten Instrumente zur Verfügung stellt, ja sogar mit Eilziige» Seetierc verschafft; und gleichzeitig erträgt man es ruhig, daß dem Rechtshörer, der unter Leitung eines Professors ernst arbeiten will, weder die nötigon bescheidenen Räume, noch auch die unumgänglichen Bücher und Zeitschriften geboten werden. Die rechts- und staats wissenschaftlichen Seminare werden durch- schnittlich mit je 100 K jährlich dotiert; wenn man damit dio Sominar- bibliothek auf dem Laufenden erhalten will, so entfällt für die einzelnen Fächer der Teilbetrag von etwa CO K jährlich.

Es fehlt auch die kleine materielle Ancifcrung, die in den philosophischen Seminaren durch sogenannte Scininarstipcndien erreicht wird. Die Seminar- stipendien werden den ordentlichen Mitgliedern verliehen, also denjenigen, die durch eine wissenschaftliche Arbeit den Beweis geliefert haben, daß sie Lust und Fähigkeit zur Betätigung haben. Diese Stipendien sind an und für sieh so geringfügig, daß sie keineswegs den Charakter einer ausgiebigen Unterstützung, vielmehr den Charakter von wissenschaftlichen Prämien haben. Die rechts- und staatswissenschaftüclien Seminare erhalten ebenfalls einen Prämicnfoud; da wir aber de jure nur zwei Seminare haben, so ist diese Dotation eine ungenügende und was noch schlimmer wirkt, es ist die Höhe der einzelnen Prämien nicht so sehr von dem Werte der Arbeit, als vielmehr von der Anzahl der in dem betreffenden Studienjahr gelieferten Arbeiten abhängig. Ist diese Anzahl groß, so müssen vorzügliche Arbeiteu mit lächerlich kleinen Beträgen prämiiert werden; ist dagegen diese Anzahl gering, so werden selbst weniger gute Arbeiten höher prämiiert. Man müßte auch in dieser Beziehung das Beispiel der philosophischen Fakultäten nachahmen, wobei zu bemerken ist, daß die Einführung dor Scheidung in ordentliche und außerordentliche Mitglieder des Seminars überdies den Vorteil bietet, daß im Seminar eine Anzahl von ständigen Mitgliedern verbleibt, wodurch die ganze Arbeitsführung auf ein höheres Niveau gebracht wird.

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Zur Ausgestaltung des rechts- und staatswirsensehaftlicheu Studiums etc. 1171

Im Zusammenhangs damit hat Verfasser auch die Einführung von Proseminaren fßr Anfänger angeregt. Die Proseminare wären erwünscht, um Anfängern die elementaren Anleitungen 7.11 geben. Mangels solcher Proseminare müssen die Seminarleiter in jedem Semester ab ovo beginnen, wobei viel Zeit verloren geht und die richtige Schulung doch nicht geboten werden kann; frühere Seminarteilnehmer werden also während dieser den Anfängern gewidmeten Zeit zur Untätigkeit verurteilt, die Anfänger selbst aber erhalten nicht diese Anleitung, die sie in einem eigenen Proseminar gründlich und allseitig gewinnen könnten. Die Seminararbeit muß richtiger- weise abgestuft werden; es ist nicht möglich eine volle Individualisierung durchzuführen und es werden sich immer störende Unterschiede zwischen Teilnehmern, die z. B. schon zwei Jahre lang in dem betreffenden Seminar arbeiten und solchen, die erst seit einem Semester in demselben tätig sind, ergeben; aber wenigstens die erste Abrichtung und die daraus für die Vorgeschrittenen sicli ergebende Störung müßte entfallen, d. h. dem Pro- seminar überwiesen werden. Im Seminar selbst sollen wissenschaftliche Prägen unter Benutzung wissenschaftlicher Mittel ergründet werdeu; über die Methode seihst und die verschiedene Art der Mittel sollen die Hörer schon vorher im Proseminar belehrt werden ; bei wissenschaftlicher Erörterung der Materie, die in dem betreffenden Seminar verhandelt wird, muß doch die Möglichkeit bestehen, das ganze wissenschaftliche Arsenal zu benutzen; man kann sieh nicht dabei auflmlten, dio Frage zu besprechen, was eine Quello ist, in welchem Verhältnisse einzelne Qucllengattungen zu einander stehen, u. s. w. Mit Rücksicht auf die Einheitlichkeit wissenschaftlicher Methode ist ein Proseminar namentlich für die rechtshistorischen Seminar- übungen notwendig und nützlich; doch glauben wir, daß auch für die Staatswissenschaften, vor allem aber für die Statistik und Volkswirtschaft ein Prosominar ebenso vorteilhaft wäre.

Das alles hängt zusammen; die nicht vorbereiteten Seminarteilnehmer können vom Seminar keinen Vorteil davontragen und der Professor selbst verliert infolgedessen das Interesse am Seminar; selbst wenn er. ohne nach der jetzigen Einrichtung hiezu verpflichtet zu sein, das gauze Jahr hindurch Seminarühungen hält, kann er doch ungeschälte Anfänger nicht abweisen und muß immer wieder zum Nachteile der Vorgeschrittenen ihnen viel Zeit widmen. Viel ärger steht es natürlich, wenn die Übungen überhaupt nur ein halbes Jahr dauern; denn dann muß man entweder den größten Teil des Semesters der Einschulung der Anfänger widmen, so daß für wissen- schaftliche Arbeit keine Zeit übrig bleibt oder aber man muß versuchen, wissenschaftliche Arbeit mit Leuten, deneu dio Vorbildung fehlt, in Angriff' zu nehmen, was wohl nicht als Schulung, sondern als Verschulung zu bezeichnen ist; im ersten Palle arbeitet der Seininarieiter pädagogisch richtig, erreicht aber den Zweck der Seminarübungeti nicht, sondern deu Zweck eines Proseminars; im andern Falle erreicht er überhaupt gar keinen Erfolg. Es bedarf keines Beweises, daß schon die Hörer des ersten Semesters ein Proseminar besuchen könnteu.

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Wir gelangen also zur Überzeugung, daß für jedes selbständige Fach ein eigenes Seminar errichtet werden muß, ebenso wie dies au der philo- sophischen Fakultät der Fall ist: nur übergangsweise könnte man auf eine Vereinigung, aber auch nur der nächstverwandten Fächer eingeheu, obwohl man prinzipiell auf die Selbständigkeit der einzelnen Seminare Gewicht legen muß. An den philosophischen Fakultäten bestehen selbständige Semi- nare für klassische l’hilologie, für germanische, romanische und slavische Philologie, obwohl die Verwandtschaft der einzelnen philologischen Gebiete die denkbar nächste ist; jedenfalls kann man die Verwandtschaft, die etwa zwischen römischem liechte und österreichischem Handelsrechte besteht, doch nicht vergleichen mit der Verwandtschaft zwischen allgemeiner und beispielsweise alter Geschichte; nichtsdestoweniger verlangt inan die Unter- bringung so verschiedener juristischer Disziplinen in einem Seminar, während für die philosophischen Disziplinen ohne Rücksicht auf ihre Verwandtschaft eigene Seminare bestehen. Jedes Seminar muß eine entsprechende Bibliothek besitzen, dieselbe ergänzen, überdies abor über einen eigenen Prümieufond beziehungsweise über Seminarstipendien verfügen. Die Übungen müssen das ganze Jahr hindurch, und zwar zweistündig abgolialten werden uml der Eintritt in das Seminar sollte nur denjenigen freistelien, die bereits in dem entsprechenden Proseminar die nötige Vorbildung erhalten haben. Die Beteiligung an den Seminarübungen muß auch ganz anders kontrolliert werden, als die Frequenz von Vorlesungen; der Seminarleiter muß diejenigen, die nicht fleißig besuchen, oder selbst wenn sie besuchen, nicht mitarbeiteu, einfach entfernen, um dadurch unangenehme Störungen in der Fortführung der Arbeit zu beseitigen. Man fürchte nicht, daß durch eine angestrengt« Tätigkeit im Seminare der Student das Interesse für die übrigen Fächer verliere. Im Gegenteile; er wird, wenn die Seminarbescliäftigung nicht zu einseitig gewählt ist, den Zusammenhang der einzelnen Disziplinen mit dem gesamten juristischen Studiengehiete erst recht merken und schätzen. Die Abhaltung von Proseminaren müßte von den einzelnen Professoren im Einvernehmen mit den übrigen regelmäßig stattfinden, wobei, wie schon erwähnt, wohl keine Notwendigkeit vorliegen würde, für jedes Fach besondere Proseminare einzurichten, sondern vielmehr ein gemeinsames Proseminar für mehrere verwandte Fächer genügen könnte.

Bei dieser Reform wäre es, namentlich an größeren Hochschulen, möglich, mit der Zeit gelehrte Seminare für reifere Teilnehmer zu errichten, die eine wirklich produktive Tätigkeit entfalten könnten. Denn es ist ein- leuchtend, daß man selbst von dem Studenten, der ein Proseminar besucht und dann mehrere Semester in einem Seminar zugehracht hat, so lange er sich dem eigentlichen Studium und der Vorbereitung für Prüfungen widmen muß. keine wissenschaftlich selbständige Arbeit erwarten darf. Erst nach Abschluß seiner allgemeinen rechts- und stuatswisscnschuftliclien Ausbildung kann daran gedacht werden. Dann muß ihm aber auch ein, seiner Gcsamtausbildung entsprechendes Seminar geboten werden, was dermalen nicht der Fall ist. Zu erwägeu wäre in diesem Zusammenhänge die

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Zur Auagestaltang «1« rechts- and staatswiuenschaftlichen Studium« etc. 373

Sicherstellung von Mitteln Ihr die Publikation hervorragender wissenschaft- licher Arbeiteu.

Natürlich würde dies zu eiuer weiteren Überbflrdung der Professoren führen; während dermalen die Professoren nur zu einstündigen Übungen in jedem zweiten Semester verpflichtet, ja sogar manche auch dazu nicht ver- pflichtet sind, würde bei einer so gearteten Neuordnung die gesamte Lehr- verpflichtung um 3 Stunden im Jahre erhöht werden, was namentlich für die Vertreter ausgedehnter Disziplinen, die zu zahlreichen Obligatvorlesungen verpflichtet sind, als eine Überbflrdung betrachtet werden müßte. Es wäre nur recht und billig, wenn man zu demselben Mittel greifen würde, welches an den philosophischen Fakultäten üblich ist, nämlich zu spezieller Reniune- rierung. Es sei schließlich bemerkt, daß die Kosten einer entsprechenden Dotierung selbständiger Seminare nach der durch die Lemherger Fakultät entworfenen Berechnung für alle österreichischen rechts- und staatswissen- schaftlichen Fakultäten zusammen 60.000 80.000 K betragen müßten, also kaum mehr als oftmals ein einziges naturwissenschaftliches oder medi- zinisches Institut kostet; die Hebung des ganzen wissenschaftlichen Lebens, die sich daraus ergeben würde, wiegt wohl diese Ausgabe auf.

Neben eigentlichen Seminarübuugen bestehen bekanntlich noch kon- versatorische und praktische Übungen im engeren Sinne des Wortes. Sie werden sehr mit Unrecht als Seminarflbungen betrachtet und denselben gleichgestellt Die Aufgabe der eigentlichen Seminarflbungen be- stellt in der methodischen Schulung der Teilnehmer behufs Ermöglichung selbständiger wissenschaftlicher Forschung; als Mittel hiezu dient nicht nur die Lektüre und Kritik der Quellen, sondern auch die weitgehende logische Kombination, die schließlich zur wissenschaftlichen Konstruktion führt. Konversatorium und Praktikum haben eine wesentlich andere Bestimmung.

Das Konversatorium soll vor allem in die Literatur eines Faches einführen; man beschäftigt sich also im Konversatorium mit der Zusammen- stellung und Inhaltsangabe literarischer Erscheinungen, die sich auf eine, den Teilnehmern einigermaßen bekannte Frage beziehen. Die Nützlichkeit dieser Arbeit ist unbestreitbar; Anfänger, die naturgemäß nur ungerne wissenschaftliche Werke zur Hand nehmen, werden mit der Literatur ver- traut gemacht und es kann sich an Referate über den Inhalt interessanter Schriften eine Debatte knüpfen, so daß auch diejenigen, die das betreffende Werk nicht kennen, sicii veranlaßt schon, dasselbe oder andere nachzuschlagen. Ja man kann sagen, daß für gewisse Disziplinen gerade diese Form von Übungen besonders geeignet ist, so z. B. für Rechtsphilosophie, für theore- tische Nationalökonomie, zum Teile auch für das allgemeine Staatsrecht und für manche Gebiete des modernen Rechtes, namentlich wenn es sich darum handelt, mit den Teilnehmern neue Richtungen, neue Gesetzesvor- iagen u. s. w. zu besprechen. Von den Seminarübungen aber unterscheiden sich die konversatorischeu Übungen dadurch, daß sie keine wissenschaftliche Arbeit der Teilnehmer anstreben und sich überwiegend mit dem Studium der Literatur begnügen. Es wäre zu wünschen, daß lür eine Reihe von

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Fächern konversatorische Übungen häufiger als es bis jetzt geschieht, abge- halten werden.

Während die letztgenannten Übungen sich doch eines indirekt wissen- schaftlichen Charakters erfreuen, muß dies hinsichtlich der sogenannten Praktika wenigstens zum Teile fraglich erscheinen. Die Praktika haben eine eigenartige Bedeutung. Es sollen praktische Fragen, wie sie iin Leben Vorkommen und Gegenstand der Judikatur bilden, verhandelt werden. Natürlich kann auch ein Praktikum wissenschaftlichen Wert haben, nament- lich wenn man bei Besprechung des Falles den Zusammenhang desselben mit dem Kechtsleben berücksichtigt und den theoretischen Hintergrund nicht vernachlässigt; betrachtet man einen speziellen Rechtsfall allseitig, so hat man dabei Gelegenheit, die Hörer auf den Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis aufmerksam zu machen und auf die Schwierigkeiten, denen die Anwendung einer Rechtsnorm im Leben begegnet; das hat wissenschaft- lichen Wert, weil es den Hörer in das Verständnis der Gesetzgebungstechnik, ihrer Mängel und Lücken einführt. Nur gehe man sich nicht der Hoffnung hin, daß eine so geartete Übung einer praktischen Schulung gleichkommt. Leider ist diese Auffassung häufig vertreten und so kommt es, daß die Praktika im engsten Sinne des Wortes praktisch abgehalten wurden. Man glaubt damit den Zwecken der Praxis zu dienen; ebenso wie kein pädagogisches Seminar praktische Schulmänner hervorbringt, ebensowenig vermag ein noch so eifrig geführtes Praktikum den jungen Juristen wirklich zum Praktiker zu machen. Man kann, selbst weuu das Praktikum nicht ein Semester, sondern länger dauert und wenn demselben mehrere Stunden wöchentlich gewidmet werden, dennoch in der Regel nur eine kleine Anzahl praktischer Fälle gründlich und allseitig durchnehmen, namentlich wenn man das richtige Prinzip beobachtet, die Hörer denken und zu Worte kommen zu lassen. Nun wird niemand behaupten, daß das Durchnehmen einiger praktischer Fälle, auch wenn sie noch so interessant sind, jemanden für die Praxis reif machen könnte. Dem geringen Vorteil stehen aber gewisse Nachteile gegen- über. Zunächst entwickelt sich unwillkürlich bei den Teilnehmern eine Überschätzung des praktischen Elements auf Kosten des wissenschaftlichen; je weniger jemand wissenschaftlich ausgebildet ist, desto mehr neigt er zu unberechtigter Skepsis gegenüber der Theorie. Der junge Student fühlt sich förmlich als Richter oder als Mitglied eines Spruchkollegiums und nicht unbeachtet bleibe die Erwägung, daß der theoretisch wenig sattelfeste An- fänger geneigt ist, in dem verfrühten Streben nach selbständigem Urteile auf Abwege zu geraten. Die Praktika sind nicht geeignet, die wünschenswerte Sicherheit eines methodischen Vorgehens, wie es für jeden Beruf wichtig ist, anzuerziehen; sollte dieser Zweck erreicht werden, dann müßten die Praktika jahrelang dauern und nicht auf wenige Stunden beschränkt sein.

Es ist vielfach der Unterricht im Praktikum mit dem klinischen Unterrichte verglichen worden und man bat mehrmals den Vorschlag gemacht, juristische Kliniken zu errichten. Der Vergleich ist unrichtig und der Vorschlag undurchführbar. Man vergißt daran, daß der medizinische

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Zur Ausgestaltung des rechts- und staatswisaenschaftlichen Studiums etc. 375

Student stunden- und tagelang auf der Klinik weilt, bei interessanten Füllen auch die Nächte dort zubringt, daß an jeder größeren Klinik eine Schar von Assistenten und Eleven vorhanden ist, um dem Studenten fortwährend an die Hand zu gehen. Man vergleiche damit ein Praktikum von 1 2 wöchentlichen Stunden während eines Semesters! Aber auch der Vorschlag wegen Errichtung juristischer Kliniken, d. h. juristischer Sprechstunden, in denen namentlich das ärmere Publikum sich beim Professor in Gegenwart der Studenten Kat holen würde, ist nicht durchführbar. Man vergesse nicht daran, daß an die Klinik in dor Regel nur sogenannte interessante Fälle kommen, bei denen der Student Beobachtungen machen kanu, wie er sie als durchschnittlicher Arzt in der Praxis kaum machen könnte; eine solche Sortierung der Fälle ist bei der Jurisprudenz viel schwieriger; auch ist die Diagnose eines juristischen Falles auf Grund einseitiger Aussage eines Inter- essenten in der Kegel unmöglich, während man zur klinischen Diagnose doch nur des Patienten bedarf. Man müßte also, um einen Kechtsfall zu untersuchen und zu entscheiden, auch die andere Partei, eventuell auch die Zeugen zur Verfügung haben und es ist mehr als zweifelhaft, ob sieb die gegnerische Partei oder gar die Zeugen in den Yortragssaai begeben und ihre geschäftlichen oder strafrechtlichen Geheimnisse vor einem großen Auditorium aufzurollen geneigt wären; ganz abgesehen davon, daß dies viel- leicht den Interessen der Justiz in manchem Falle zuwiderlaufen könnte.

Wir bringen das alles vor, nicht um die Praktika etwa als wertlos zu bezeichnen, sondern vielmehr um ihren geringen Wert für dasjenige, was sie auzustreben vorgeben, nämlich für die wirkliche praktische Ausbildung, zu kennzeichnen. Die Praktika können höchstens, wenn der eiuzelne Fall, wie eingangs erwähnt, allseitig und wissenschaftlich behandelt wird, von Vorteil sein, weil sie dann ebeu dem rein theoretisch gebildeten Studenten eineu Einblick in die Schwierigkeit der Kechtsanwendung geben; mehr ver- mögen sie nicht zu erreichen, Übrigens ist es uns iu erster Linie darum zu tun, die Praktika ebenso wie vorher die Konversatorien von deu Seminar- übuugeu im wahren Sinne des Wortes gehörig zu unterscheiden.

Wie erwähnt, spielt hinsichtlich der Art der Übungen die Natur des betreßeuden Faches eine wichtige Kollo. Wir können uns beispielsweise ein Praktikum aus dem Gebiete der Kechtsgeschichte nicht gut vorstellen; es wäre höchstens eine praktisch sein sollende Spielerei. Wir vermögen uns auch nicht leicht ein Konvorsatorium aus dem Gebiete der Kechtsgeschichte vorzustellen; denn das Verständnis der rechtshistorischen Literatur setzt vieles voraus, was bei einem jungen Studenten nicht vorausgesetzt werden kann; es ist viel leichter, in einem Konvorsatorium die Tätigkeit der modernen italienischen kriminalistischen Schule oder die neueste Wendung auf dem Gebiete der sozialen Frage auf Grund der einschlägigen Hauptwerke zu besprechen, als beispielsweise die rechtshistorische Richtung von Julius Ficker u. s. w. So gelangen wir zur Überzeugung, daß es Fächer gibt, für die sich nur Semiuarübungen im eigentlichen Sinne des Wortes eignen, andere Fächer, über die man nicht uur Semiuarübungen, sondern auch Kon-

ZeiUchrlft f Jr VolktwlrtMbaft, Sozialpolitik and Verw«Uuog. XU Baad

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versatorion, andere, (Iber die man alle drei Arten von Übungen abhalten kann. Die Hörer, die sich für ein gewisses Fach interessieren, könnten also Gelegenheit finden, im Seminar Aber dasselbe speziell wissenschaftlich zu arbeiten, im Praktikum die Anwendung der betreffenden Norm im Rochts- leben zu studieren u. s. w. Auch da könnte auf das Reispiel der philosophi- schen Fakultäten hingewiesen werden; es bestehen dort bekanntlich neben eigentlichen Seminarübungen Übungen im Schill vortrage, die fAr künftige Pädagogen bestimmt sind.

In diesem Zusammenhänge tritt nun die Redeutnng der einzelnen akademischen Lehrmittel hervor. Das allgemeine Kolleg bildet eine breite, wenn auch nicht intensive Grundlage, Das Spezialkolleg ist einem Teile des Faches gewidmet und soll wie eine Monographie, aber nilseitiger als eine solche, die Hörer mit der Art und Weise vertraut machen, wie man zu wissenschaftlichen Ergebnissen gelangt. Ist es insofern mit dem Seminar verwandt, so besteht doch der Unterschied, daß im Seminar der Professor die Arbeit der Seminarteilnehmer leitet, somit den Ergebnissen, zu denen die Teilnehmer gelangen können, nicht vorgreift, im Spezialkolleg dagegen nicht als la-iter fremder Arbeit, sondern als selbständiger Darsteller eines wissenschaftlichen Problems vorgeht. Deshalb legen wir auf das Spezial- kolleg einen großen Wert und räumen demselben trotz des Bestehens von Setiiinarfibungen eine eigene Stellung ein; es soll im Spczialkolleg in gewisser Hinsicht mehr geleistet werden als wn Seminar, mit RAcksicht darauf, daß in demselben die Hörer die Hauptarbeit zu verrichten haben.

Man muß sofort liinzufAgeii, daß die DiirchfAhrung eines so gearteten Programms und eine genögend reiche Anwendung aller akademischen Lehr- mittel, also Obligatkolleg. Spezialkollegien und Übungen verschiedener Art, praktisch schwer ist. Haben wir doch erwähnt, daß fAr manche Fächer die Abhaltung von zweierlei, ja sogar dreierlei Übungen passend und nAtzlich wäre. Bei den heutigen Verhältnissen ist das physisch unmöglich, nachdem an den meisten Fakultäten nicht einmal jedes Fach durch einen hiclAr ernannten Professor vertreten ist. Selbst da, wo fAr jedes Fach eine eigene Lehrkanzel besteht, fftr die wichtigeren sogar mehrere, entspricht doch diese große Anzahl von Professoren einer übergroßen Frequenz, so daß auch da eine Arbeitsteilung schwer möglich ist, für Übungen aber eben mit Rück- sicht auf die auf jeden Professor entfallende kolossale HOreranxahl aus- geschlossen erscheint. Selbstverständlich darf man Übungen nicht obli- gatorisch machen; deunoch würde sich namentlich an größeren Universitäten immer eine so zahlreiche Teilnahme ergeben, daß eine erfolgreiche Leitung durch einen Professor nicht bewerkstelligt werden könnte.

Diesen Schwierigkeiten weicht man unter den heutigen Umständen nur dadurch aus, daß man entweder die eine oder die andere Art von Übungen, um nicht zu sagen, alle Arten derselben vernachlässigt. Die eigentlichen SemiuarAbungcn müssen überall bestehen, selbst wenn dadurch die Abhaltung von Konversatorien und Praktika unmöglich gemacht würde. Man muß den Standpunkt vertreten, daß das wissenschaftliche Seminar,

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Zur Ausge?UUung dea rechte- und ataatawHaonachaftliehen Studiums etc. 377

welches für die Ausbildung und methodische Schulung durch nichts anderes ersetzt werden kann, im Programme niemals fehlen darf. Eher kann das Konversatorium oder das Praktikum entbehrt werden, denn viel leichter kann sich derjenige, der Seminarfibungen mitgemacht hat, selbständig das- jenige. was Konversatorium oder Praktikum bieten, sichern; das Umgekehrte ist dagegen schwer. Die Möglichkeit wissenschaftlich arbeiten 7.11 lernen, muß unbedingt dem Studierenden, der dies wünscht, geboten werden; geschieht dies nicht, dann ist die Universität keine Hochschule im wahren Sinne des Wortes. Kann man ihm daneben auch ein Konversatorium oder Praktikum bieten, desto besser; denn es ist auch Pflicht der Universität, für solche Übungen zu sorgen. Wenn aber die vorhandenen Kräfte eine allseitige Durchführung des groß angelegten Programms unmöglich machen, dann muß man im Zweifel das geringere Übel vorziehen und ein geringeres Übel ist es, wenn man Übungen, die keinen wissenschaftlichen Charakter im eigentlichen Sinne des Wortes bähen, fallen läßt, um wenigstens das wirklich Wissenschaftliche zu retten.

Der einzige Ausweg wäre, wenn man sich zu einer Neuerung, die allerdings eine Neuerung im vollen Sinne des Wortes wäre, entschließen könnte, nämlich zu einer Ausgestaltung des Lehrkörpers durch Schäftung von Assistentenstelle 11. Der Lehrkörper der rechts- und staats- wissenschaftlichen Fakultäten besteht aus Professoren und Privatdozenten. Die Anzahl der Privatdozenten ist niemals groß, was nicht überraschen darf. Für die Stellung der Privatdozenten geschieht nichts, es werden nicht einmal die Dozenturjahre angerechnet und die einzige Entlohnung des Privatdozenten besteht in dem oft ganz fragwürdigen Kollegiengelde. Dadurch werden die meisten Privatdozenten gezwungen, neben der Dozentur eineu andern Beruf zu wählen und den größten Teil ihrer Zeit unwissenschaft- lichen Berufen zn widmen; die Fakultät hat angesichts dieser Umstände nicht das geringste Recht, auf die Tätigkeit des Dozenten Einfluß zu nehmen, so daß es zu einer Arbeitsteilung zwischen Professor und Dozent mir in seltenen Fällen kommt. Die medizinischen und naturwissenschaft- lichen Lehrkanzeln sind von Assistenten umgeben und es kommt häufig vor. daß der Assistent auch nach seiner Habilitierung in der früheren Stellung verbleibt; er hat. übrigens schon als Assistent das Recht, Übungen zu halten. Es wäre von größtem Nutzen, wenn man an den rechts- und staatswissenschaftliclicn Fakultäten besoldete Assistentenstellen schallen und den Assistenten gewisse elementare Kollegien, namentlich aber die Abhaltung von Konversatorien oder praktischen Übungen überweisen würde, so daß die Professoren entlastet, dafür aber in desto höherem tirade zur Abhaltung eigentlicher SeininarObungen verpflichtet werden könnten. Auf diese Weise wäre viel zu erreichen. Wenn von mancher Seite, wie erwähnt, für einen völligen Umschwung des Universitätsunterrichtes plaidicrt, die systematischen Kollegien bekämpft, praktische Übungen in den Vordergrund gestellt und eine Kombination der systematischin Darstellung mit Übungen gefordert wird, so ist dies nur dann durchführbar, wenn mehrstündige und verschieden

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abgestufte Übungen eingeftihrt werden. Erscheint auch die zu weitgehende Bekämpfung der systematischen Kollegien ungerechtfertigt und vom Stand- punkte der Jurisprudenz verfehlt, so muh man doch zugehen, dah eine gewisse Verschiebung des Schwerpunktes des Unterrichtes nur eine Frage der Zeit, vielleicht nicht einmal allzulanger Zeit ist. Nicht Abschattung, aber Einengung der systematischen Kollegien wäre möglich, ebenso eine Verstärkung der Spezialkollegien und eine bedeutende Ausgestaltung der Übungen. Dies alles ist. so wie die Dinge sich jetzt verhalten, ganz undurchführbar und deshalb glauben wir, daß man Ober kurz oder lang wird daran denken müssen, nicht nur die Anzahl der Lehrkanzeln zu ver- größern, sondern daueben im Interesse der Professoren und der Studenten, nicht zum geringsten Teile aber auch im Interesse des wissenschaftlichen Nachwuchses, an die Schaffung von Assistenturen zu denken. Soll die Tätigkeit der Assistenten wissenschaftlichen Bedürfnissen voll entsprechen, dann dürfte auch die Auzahl derselben nicht zu gering sein. Prinzipiell sollte jede Lehrkanzel ihren Assistenten haben. Dies würde für ganz Österreich etwa 90—100 Assisten bedeuten. Veranschlagt man die Dotierung jeder Assistentur mit etwa 1000 K, so ist dies immer noch kein unerschwinglicher Betrag, namentlich, wenn gleichzeitig für alle Übungen ein Kollegiengeld eingeführt würde, was keinem Bedenken unter- liegen könnte.

Damit sind, was die eigentliche Ausbildung anbelangt, unsere Vor- schläge erschöpft. Man wird denselben keine Unbescheidenheit vorwerfen können und zugestehen müssen, daß auch die finanziellen Erfordernisse nicht übermäßig ausfallen würden, wenn man alles, was hier vorgeschlagen wurde, durchführen wollte. Es handelt sich ja im wesentlichen nur um drei neue Lehrkanzeln, abgesehen von solchen, die schon ohnedies als not- wendig anerkannt sind. Es handelt sich vor allem um einen zweckmäßigen Lehrplan, welcher wiederum nur dann durchführbar ist, wenn die nötigen Lehrkräfte vorhanden sind. Hiezu tritt die angeregte Reform der Übungen, die, wenn sie für den Anfang bescheiden durchgeführt wird, wie erwähnt, nicht mehr als 60 80.000 K für ganz Österreich beanspruchen würde. Dazu käme allerdings noch die Auslage für die Assistenturen. die sich auf etwa 150.000 K belaufen würde. Somit würde das gesamte Mehrerfordernis für die durch den erweiterten Lehrplan geforderten drei neuen Lehrkanzeln, für die sachgemäße Reform der Übungen und für die Assistenturen etwa 400.000 K jährlich betragen, eine Summe, die iu Anbetracht der hervor- ragenden Bedeutung des rechts- und staats wissenschaftlichen Studiums gewiß nicht hoch ist. Aber selbst diese an und für sich nicht übermäßige Summe würde sich tatsächlich geringer stellen. Die Erweiterung des Lehr- planes müßte sich in einer Mehreinnahme des dem Staate zufallenden Kollogiengeldes ausdrücken, ebenso die leicht durchführbare Entgeltlichkeit der bis jetzt unentgeltlichen l'htingen; wir halten sie für leicht durch- führbar. weil selbst dann die Kosten des juridischen Studiums sich noch immer niedriger stellen würden, als z. 13. die des medizinischen.

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Zur AuftgeMaltnng do* rechts- uml staatswis'.enjtehaftlichen Studium» etc. 379

Es sei gestattet, noeli einige Worte über die letzte Stufe der Aus- bildung, wie sie nach dem Eintritte in die Praxis erfolgt und erfolgen soll, hinzuzuftigen. *

X.

Die Praxis als Abschluß des Studiums.

.Sollen die Vorteile eines zweckmäßig durchgefil Irrten rechts- und staatswissenscliaftlichen Studiums nicht verloren gehen, so darf auch die Praxis ihre Unterstützung nicht versagen. Daß die Universität für die Praxis die nötige Grundlage bieten soll, ist selbstverständlich und wird niemals aus dem Auge gelassen. Die theoretische Ausbildung hat ja den Zweck, juristisch Brauchbares zu schaffen und wenn wir darunter vielleicht etwas anderes verstehen, als jene Praktiker, die gewohnt sind, nur die aller- nächsten Zwecke ihres Berufes zu beachten. Ho glauben wir den wahren Interessen des Ilechtslebens für Gegenwart und Zukunft besser zu dienen, als durch übermäßige Detailabrichtung, die. wie die Erfahrung lehrt, ohnehin für praktische Bedürfnisse nicht genügt.

Es ist selbstverständlich, daß die Ausbildung niemals abgeschlossen ist. Wird dieser Grundsatz von jedem Gewerbetreibenden anerkannt, der trotzdem, daß er die Berechtigung zur Ausübung seines Gewerbes erhalten hat, dennoch trachtet, Fortschritte zu machen, so sollte man annehmen dürfen, daß dasselbe für die geistigen Berufe mindestens ebenso gilt. Das Absolvieren der Prüfungen ist nicht als Abschluß des Itechtsstudiums aufzufassen, sondern bloß als Abschluß eines, wenn auch des wichtigsten Abschnittes, worauf im praktischen Berufe die Fortsetzung der Ausbildung folgt.

Nun muß man fragen, ob die Praxis dieser Aufgabe gerecht wird, ob sie nicht vielmehr der Erfüllung derselben auch in den Fällen, in denen der einzelne sie erfüllen möchte, Schwierigkeiten in den Weg setzt? Man wird die letztere Frage wohl bejahen müssen. Vielos trägt dazu bei. Die Majorität der Praktiker ist von der Überzeugung durchdrungen, daß die Wissenschaft für das praktische Leben keine Bedeutung hat. Man wird nicht fehlgehen, wenn man die Geringschätzung der Wissenschaft bei zahlreichen Praktikern darauf zurückfflhrt. daß dieselben wissenschaftlich ganz unge- nügend ausgebildet sind. Geringschätzung geht eben häufig mit geringer Bildung Hand in Hand. Jene Praktiker, die der Wissenschaft achsel- zuckend begegnen, haben während ihrer Studien an der Universität die Nähe der Wissenschaft nicht gesucht, eher gemieden; sie haben wohl die Wissen- schaft nur als maluni nccessarium betrachtet uud sich mit dem Minimum begnügt, dessen sie zur Ablegung der Prüfung bedurften; und dieses Mini- mum ist in vielen Fällen wirklich mikroskopisch klein. Solche Praktiker können dann, wenn sie dennoch zu Stellung gelangen, von ihrem Stand- punkte mit Fug und Recht behaupten, daß die Wissenschaft ihnen gänzlich überflüssig war. Diese Geringschätzung der Theorie verbreitet sich in manchen Dienstzweigen unter dem Einflüsse der älteren Beamten auch in den Reihen der jüngeren. Der Anfänger ist von Natur aus geneigt, die

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praktischen Handgriffe, die er natürlich nicht kennt und deren Unkenntnis ihm von den routinierten Vorgesetzten zum Vorwurfe gemacht wird, zu überschätzen. Kr fühlt sich gedemfitigt, daß er trotz intensiver Studien fort- während zurechtgewiesen wird und praktisch so wenig taugt; er überschätzt die Bedeutung dessen, was im fehlt und was einfach durch Kinarbeitung gewonnen wird und verfällt uach kurzer Zeit in die übliche Unterschätzung des Wissens. Wir wollen uns keine Kritik der einzelnen Ämter und Dienst- zweige erlauben; es ist aber kein Geheimnis, daß viele Gesetze hei uns nicht zweckmäßig durchgeführt werden, weil das Beumtenpersonal mancher Ämter auf die theoretischen und sozialpolitischen Grundsätze eines solchen Gesetzes einzugehen nicht in der Lage ist. Die Medizin hat uns in dieser Beziehung stark überflügelt; vom praktischen Arzte verlangen wir mit liecht, daß er bei der Behandlung des Kranken nicht nur das kranke Organ, sondern den ganzen Menschen ins Auge fasse; für viele juristische Praktiker bildet die einzelne Angelegenheit noch immer nichts anderes, als ein Exhibit, hei dessen Erledigung sie sich des Zusammenhanges mit dem gesamten sozialen und Kechtslehen gar nicht bewußt sind.

Insofern dies auf älteren Sünden und traditionellen Fehlern beruht, ist eine Abhilfe schwer, namentlich da zu allem noch die Übermäßige L’ber- bürdung hinzutritt, die alle Kräfte derart in Anspruch nimmt, daß zu allgemeinerem Nachdenken oder weiterer Fortbildung die Zeit fehlt. Das alte Sprichwort, daß mau vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht, bewährt sich auch hier; die Überlastung mit Details, die für wissenschaftliche Aus- bildung schädlich ist, ist es nicht minder auch für die praktische Tätigkeit; in beiden Fällen wird dadurch diu Übersicht über das Gauzo und die Unter- scheidung des Wichtigen vom Unwichtigen erschwert.

Doch ließe sich so manches pro futuro ändern. Vor allem müßte man es klar heraussagen, daß die praktische Tätigkeit in der ersten Zeit. z. B. wahrend zweier Jahre, ausschließlich vorbereitenden Charakter hat Die ein- seitige Beschäftigung eines frisch eingetretenen Juristen in irgend einem Amte, wo er sofort so behandelt wird, wie wenn sein ganzes Leben keinen andern Zweck hätte, als den Interessen dieses speziellen Departements zu dienen, muß verhängnisvoll einwirken. Der Anfänger kommt gar nicht dazu, einen Überblick über die gesamte, für den Staat wichtige Tätigkeit des betreffenden Dienstzweiges zu gewinnen: man richtet ihn für den Detaildienst ab; os ist möglich, daß man ihn auf diese Weise für dieses Amt, richtiger gesagt, für den betreffenden Teil des in Frage kommenden Dienstes, brauchbar macht; daß dies auf Kosten seines allgemeinen Wertes geschieht, ist selbst, verständlich. Man soll die ersten Jahre der Praxis als praktische Schulung betrachten und fordern, daß der Anfänger die Möglichkeit habe, sich eine eigene Ansicht auf Grund eines allgemeinen Überblickes zu verschaffen, somit das theoretisch Gelernte zu vertiefen. Dieser Zweck könnte nur durch eine umfassende, verschiedene Gebiete berührende Praxis erreicht werden. Ohne Rücksicht darauf, welchem Dienstzweige der Kandidat sielt zu widmen beabsichtigt, wäre vom künftigen Richter uud Anwalt, ebenso vom künftigen

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Zur Ausßrataltung Ü--, rechts- und .■‘taaUwisgenschaftliehen Studiums etc. :{H 1

Verwallungsbeamteu gerichtliche uud administrative Praxis tu fordern. Auf jedem praktischen Gebiete lernt man andere Verhältnisse kennen, aber alle vereinigen sich im lebendigen Organismus der Gesellschaft und es gibt fast keinen Fall, wo eine gerichtliche Angelegenheit nicht auch soziale und wirtschaftliche Momente, ebenso eine vcrwaltungsrechtliche auch streng juristische aufweisen würde. Im Leben kreuzen sich die juristischen Kate- gorien derart, daß es unmöglich erscheint, in einer Richtung praktisch tätig zu sein, ohne die andere wenigstens einigermaßen zu verstehen. Es ist ja klar, das eine kurze Verwaltungspraxis dem künftigen Richter nicht die Vorzüge eines Verwaltungsbeamten, ebenso eiue kurze Gerichtspraxis dem Verwaltungsbeamtem keine richterlichen Vorzüge sichern wird; aber sie können auf diese Weise wenigstens einen Begriff erlangen von der Richtung anderer praktischen Tätigkeiten und auf diese Weise ihren Gesichtskreis erweitern, während heutzutage der Eintritt in die Praxis sofort eine beklagens- werte Einseitigkeit zur Folge hat Man darf die Frage stellen, ob es denn einem Zufall zu verdanken ist, daß hei uns die Beamten der Finanzprokuratur, wenn sie sodanu sei es zu Gericht, sei es zur Verwaltung übertreten, all- gemein geschätzt und als gute Kräfte betrachtet werden? Dies beruht darauf, daß der Dienst bei der Finanzprokuratur Gelegenheit bietet, gericht- liche, administrative, finanzielle und kirchliche Rechtsverhältnisse kennen zu lernen. Diese Erfahrung wäre auszunützen und deshalb für alle Praktiker ein mindestens zweijähriger, allgemein gehaltener Vorbereitungsdienst anzu- ordnen. Nach Absolvierung dieses Vorbereitungsdienstes würde der Kandidat die praktische Prüfung ablegen und daun könnte er sich schon ausschließlich dem gewählten Berufe widmen. Aber selbst da wäre noch immer in den ersten Jahren darauf Gewicht zu legen, daß er, sowie es ja hinsichtlich des richterlichen Vorbereitungsdienstes angeordnet ist, womöglich alle Teile der Agenden kennen lerne.

Zweifellos wäre eiue so geartete praktische Verwendung den Vorge- setzten einigermaßen unbequem; sie könnten die ihnen für kurze Zeit zuge- teiltcn Beamten nicht so benutzen, wie es jetzt geschieht: wir geben zu, daß derartige Hilfskräfte geradezu als Ballast für das betreffende Amt betrachtet werden können. Mit der Zeit würde man sich au diese Unbequemlichkeit gewöhnen uud ihre weiteren Vorteile, die sich im späteren Stadium äußern würden, wären gewonnen.

Ein guter Lehrplan und eine entsprechend eingerichtete praktische Vorbereitung würden sich gegenseitig ergänzen zu wahrem Vorteile beider.

* *

Hieinit beschließen wir diese Erörterungen, die. wie in der Einleitung gesagt, durchaus nicht als gänzlich genügende betrachtet werden können. Es fehlt in der einschlägigen Literatur nicht an weitergehenden Vorschlägen, die manchen Leser gewiß sympathisch berühren und eine ideale Gestaltung der Dinge anstreben, der man schwerlich die vollste Zustimmung versagen

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H&lban.

kann. Wir möchten insbesondere das Reformprojekt des Prof. Dr. J. von Rose li mann- Hörbnrg (Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung X) erwähnen, weil dasselbe ebenfalls allo hier behandelten Fragen ins Auge faßt.

Pie Durchführbarkeit berücksichtigend, waren wir, im Gegensätze zu radikalen und wie rückhaltlos zugestanden werden soll vielfach besseren Vorschlägen, bemüht, den Roden der bestehenden .Einrichtungen nicht zu verlassen. Es galt nachzuweisen, datl auf Grund des Beste- henden noch sehr viel geleistet werden kann, gewiß mehr als man gewöhnlich annimmt lind daß alle diese wesentlichen Fortschritte verhältnismäßig leicht durchführbar sind.

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VERHANDLUNGEN DER GESELLSCHAFT OST E RRE IC H I SCHE R VOL KSW IRTE.

CXXIII. Plenarvarsammlung.

Am 20. Jänner 1903 referierte Herr 1)r. Franz Oppenheimer aus Berlin „über innoro Kolonisation*.

Als die zcntralo Tatsache des gegenwärtigen Kulturlebens ist die Urbani- sierung der Bevölkerung anzusehen. Die firoltstadtbildung hat in keinem Lager Freunde. Si« ist vom Standpunkte der höchsten Leistung der Volkswirtschaft eine bedenkliche Erscheinung. Nahrungsmittel müssen ans immer größeren Entfernungen herbeigeführt werden, um diese großen Gebilde zu speisen. Die Großstadt ist immer ein hygienisch höchst mangelhaftes Gebilde. I)io Mortalität in den günstigsten Landhezirkeu steht tief unter der der ausgezeichnetsten Großstädte. Die Ursache der ürbanisiernng ist die Abwanderung vom platten Lande, die die Agrar- und dio Industriearbeiterfrage erklärt.

Dio Not der Großgrundbesitzer und der großen Bauern ist durch den Preissturz der Agrarprodukte und das Steigen der Arbeiterlöhne hervorgerufen. Beides ist Folge der Wanderung. Durch die Auswanderung konnten in Amerika die Felder unter den Pflug gebracht werden, deren Ernten heute dio europäischen Preise niederwerfen, wurden die europäischen Landarbeiter vom Lande fortgeführt, der Lohn der zurückgebliebenen erhöht.

Die inländische Abwanderung ist eine der wichtigsten Ursachen der sozialen Frage. Die Ansicht, daß das , Kapital respektive dio Maschine Arbeiter freisetzt“, ist sichtlich falsch. Die Theorie bricht vor jeder statistischen Prüfung zusammen, denn überall wächst die Zahl der industriellen Arbeiter in allen kapitalistisch entwickelten Ländern viel stärker als die Gesamtbevölkerung. Dio Industrie als Ganzes setzt nicht nur absolut genommen keine Arbeit frei, sic vermehrt die Zahl der Arbeitsplätze, nicht nur im Verhältnis des eigenen inneren Zuwachses ihrer Bevölkerung, sondern weit darüber hinaus.

Der Druck auf dem Arbeitsmarkte rührt nur von der ungeheuren Abwan- derung her, diese schafft jeno „Snrplus-Bovölkernng“, ohne deren Vorhandensein Geld respektive Produktionsmittel gar nicht „Kapital“, d. h. Mehrwert, heckender Wert wären. Ohne Stopfung dieser Zuwanderung in die Industriebezirke ist eine Heilung der sozialen Lage der Arbeiter oder auch nur eine gründliche Besserung dieser Lage nicht möglich.

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Verhandlungen der Gesellschaft rtstt-rreichischer Volkswirte.

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„As luiig a* Immigration endurot, it wonld be must diflicult and almost wholly iinpossible tu organize unskilled labor.“

Nun ist aber die Wanderung eine direkte Folge derGrund- e i ge ii t u m » v e r t e i 1 u u g. Die Wanderung ist immer starker vom Groß- grundbesitze als vom Bauerubesitze und vom größeren Bauern besitz immer größer als vom kleinen. „Die Wauderung wächst mit dem Quadrate des Groß- gruiideigeutums.“ Von den zirka 14 Millionen Auswanderern, die in den letzten 80 Jahren des 19. Jahrhunderts sich in Amerika angesicdelt haben, sind mindesten.“ 10 bis 11 Millionen Auswürflinge aus den Bezirken des Großgrundeigeiitumy, (Irland, Ostelbien, Italien, in neuerer Zeit Galizien, Rußland, Ungarn). Die Rache dieser Ausgestoßeiien war die „amerikanische Konkurrenz“, die die Preise warf, und der jetzt ihre alten Herren wehrlos gegenüber stehen. Dieselbe Auswanderung und die noch viel stärkere inländische Abwanderung hat die Arbeitskräfte fort- geliihrt. mit denen die europäische Landwirtschaft allein jener Konkurrenz durch Übergang zum intensiveren Betriebe sich hätte entziehen können. Wo diese Arbeitskräfte vorhanden sind, d. h. im Bauernbezirk, namentlich in der mittleren bäuerlichen Wirtschaft, hat diese Konkurrenz keinen Schaden, sondern nur Nutzen gebracht, wie die dänische Bauernwirtschaft beweist, die ihre Kdclproduktion an Vieh und namentlich Molkerei-Erzeugnissen geradezu auf dem Import des billigen amerikanischen Kornes und Maises aufgebaut hat und heute noch ohne jeden Schutzzoll im höchsten Flor dastellt.

Dein Großbetrieb fehlen dafür qualitativ und quantitativ genügende Arbeits- kräfte; er muß der Konkurrenz, der er nicht ausweichen kann, erliegen. Alle Schutzzölle werden da nicht helfen; sie werden den Fall nicht aufhaltcn, sondern nur verzögern, der aber dann nur um so härter sein wird.

Darum sind Groß grundoigon tum in irgend größerem Um- fange und Freizügigkeit völlig unvereinbar. Der Großgrundbesitz ist eine feudale Machtposition, der letzte Rest einer überwundenen Gesellschafts- Verfassung, und stört als solcher die Harmonie der sozialen Funktionen. Diese Störungen nennen wir die soziale Frage. Da es nun unmöglich sein wird, die Freizügigkeit den Völkern Westeuropas wieder zu nehmen, gibt es nur ein Heil- mittel : innere Kolonisation; aber nicht eine Kolonisation von Häuslern, von Arbeitern, die dauernd auf Lohnarbeit bei dem Großgrundbesitzer angewiesen bleiben, sondern durch eine entschiedene Verminderung des großen Grundeigentums.

Eine Kolonisierung in geringerem Maßstabe kommt nur auf eine Sanierung verkrachter adediger Vermögen hinaus; aber große Mengen auf einmal zu parzel- lieren, dagegen wehren sich die Herren.

Das Tempo, in welchem die preußischen Behörden die innere Kolonisation betreiben, ist durchaus kein solches, das dem Junkertum irgend welche Gefahr brächte.

Trotzdem sie mit unbegrenzten Mitteln arbeiten, ihre Beamten aus Staats- mitteln erhalten werden und eine große Anzahl unbesoldeter Beamter sie ehren- amtlich unterstützt, sind die Resultate winzig. Nach dem Rentengütergesetz sind im ganzen 9214 Bauern angesiedelt worden: von der Ansiedlungskommission wurden in toto zirka 40U0 bäuerliche Güter geschaffen. Der Versuch, auf diesem

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fXXIIL Plenarversammlung.

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Wege io getniaiiisiereii, liictet sehr wenig Aussichten auf Gelingen. Das Resultat der Tätigkeit der Ansiedlnngskommission war eine enorme Steigerung der Güterpreise gewesen, toii der diu Polen profitiert haben. Ferner haben polnische Großgrundbesitzer, die toii der Ausiodlnngskonimissioti ausgekauft waren, sich sofort mit dem hoben Erlös an anderer Stelle derselben Provinzen wieder angekauft, zum Teil auf Gütern, die vorher in deutscher Hand gewesen waren. Das Ergebnis war hier also die Schäftung einer starken national polnischen Wirtschaft an Stelle einer schwachen. Überdies hat die Politik der Ansiedlungskoiiiinission. im wesent- lichen größere Bauerngüter zu schäften, die Gesinde bedürfen, geradezu zu einer Polonisierung der iieugcschalfouen deutschen Ortschaften geführt, da deutsches Gesinde nicht zu erhalten ist und poluischos billiger und williger ist.

Die Polonisierung schreitet am stärksten in den Grollgrundbesitzen vor. Germanisierung und Erhaltung des Groügrundeigentums in den polnischen Provinzen können nebeneinander nicht bestehen.

Innere Kolonisation und Gennanisation bei gleichzeitiger Erhaltung des grollen Grundeigentums in bedeutendem Einfang ist unmöglich.

Enter der Voraussetzung, dal! man sich klar macht, daß das grolle Grund- eigentum geopfert werden mall, läßt sich eine Methode der Besiedlung linden, die den heutigen Methoden Torzuziehen wäre. Jetzt schafft mau selbständige Bauern, die ein römisch-rechtliches Eigentum erhalten. Dieses Verfahren ist von vielen Gesichtspunkten ans unbequem. Ein Gut zu parzellieren, ist eine sehr heikle, sehr kostspieligo und sehr zeitraubende Arbeit. Viele Werte werden vernichtet, Kapital geht verloren, die Schwierigkeit, Ansiedler zu bekommen, ist sehr groß. Man muß von den einzelnen ein bedeutendes Investitionskapital verlangen, und das den Leuten zur Verfügung stehende Kapital reicht oft nicht aus. Wir sehen also eine ganze Reihe von Schwierigkeiten bei der Parzellierung.

Dem gegenüber empfiehlt Redner mindestens als Übergangsstadiiiui die Organisation von Arbeiterproduktivgenossenschaften in etwas modifizierter Form. Eine solche Arbeiterprodnktivgenossenschaft bietet, wenn sie auch keine oder nnr geringe Anzahlung leistet, eine glänzende Kreditbasis. Wenn man die Leute in den ersten zehn Jahren abhält, Dummheiten zu machen, stramme Disziplin hält, sie während dieser Zeit nur insofern als Genossen behandelt, als an sie der gesamte Reinertrag pro rata ihrer Leistungen verteilt wird, wenn man dann noch kleinere Genossenschaften für Konsnmartikel, Düngereinkanf, für Viehzucht, für Samenankauf etc. einrichtet und den Leuten dabei in gewisser Richtung freie Hand läßt, um sie allmählich zu einer vernünftigen, selb- ständigen Wirtschaft heranzuziehen, so werden sich die Vorteile einer solchen Organisation bald zeigen. In Westfalen besteht ein ähnliches Arbeitsvorhältnis zwischen den großen Gütern und den sogenannten Heuerlingen. Diese haben vom Gute Land, zirka 8 bis 12 Morgen gepachtet, sie sind verpflichtet, gegen einen bestimmten Lohn jeden Tag auf dem Gute zu arbeiten und zahlen ihrerseits eine bestimmte Pachlsumme für das Haus und Grundstück, das sie in Pacht haben. Das ist eine ganz ansgezeichnet bewährte Wirtschaftsform.

Die reine Arbeiterproduktivgenossenschaft soll mit einer dieser Heucrlings- Verfassung angenäherten Organisation verbunden werden; die Arbeiter Genossen

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Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.

sollen nicht bloß Teilarbeiter des großen Zcutralbctriebes werden, sondern die Mehrzahl von ihnen soll kleine Stellen, je nach der Bodenqualität 1 */* his 3 Hektar, in Erbpacht erhalten, die sie unter eigener Verantwortung bewirtschaften. Der Best des Objektes bleibt im Gemeinbesitz und zunächst im Gemeinbetrioh«, wobei der Heinertrag pro rata der Löhne zu verteilen wäre. Die Durchführung dieses Vorschlages sei leicht und rasch möglich, sie erspart Bauten, Land und Inventar bietet und begünstigt das Zuströmen neuer Arbeiter. Wenn auch der bäuerliche Betrieb dum privaten Grollbetrieb überlegen ist. gilt dies doch nicht gegenüber dem genossenschaftlichen Großbetrieb. Ist es möglich, die Arbeiter eines Großbetriebes zu derselben Sorgfalt, Arbeitsenergie und Sparsamkeit zu erziehen, wie sie der einzelne Bauer aufwendet, dann werden diese Vorteile die landwirtschaftliche Produktivgenossenschaft der Produzentengenossenschaft selbständiger Bauern überlegen machen.

Wo heute herrschaftlicher Großbetrieb besteht, dort wird der genossen- schaftliche Großbetrieb mindestens für die Anfangszeit und vielfach auf die Dauer eine der Zerteilung vorzuzioheude Form der inneren Kolonisation darstellen. Denn die angesiedelteu Genossen haben hier an dem Reinerträge dasselbe oder doch fast dasselbe Interesse wie der einzelne Bauer, da auch ihnen der volle Rrtrag ihres Arbeitsfleißes znfließt Es dürfte sich das Großkapital in der aller- nächsten Zeit dieses Gedankens bemächtigen. Schon heute legt eines der größten Geldinstitute Kapital in der genossenschaftlichen Kolonisation au, allerdings noch nicht in Produktivgenosseiischaflen. sondern in rroduzcntengenossenschaften. Bei genossenschaftlicher Kolonisation besteht auch nicht die Möglichkeit, das Gut zu verkaufen oder zu verschulden.

Das Bedenken, daß man für die Disziplin der Genossenschafter nicht einsteheu könne, werde durch die Geschichte der bisherigen Versuche widerlegt.

Der Bauer ist das Mark der Bevölkerung, die Grundlage jeder politischen Gesundheit und Kraft. Wir haben alle Ursache, Bauern überall hinzusetzen, wo dies nur möglich ist. Wir können nichts Besseres tun, als mit vereinten Kräften zu fördern, was die Schärfe der sozialen Frage zn mildern, vielleicht zu lösen geeignet ist: die innere Kolonisation!

CXXIV. Plenarversammlung.

Am 27. Jänner 1903 hielt Herr Universitätaprofessor Dr. Schwiedland einen Vortrag „Ober Mindostlohnsätze für Heimarbeiter“.

Einleitend wies der Vorsitzende Hofrat Prof. v. Philippovich auf den Streik der Konfektionsarbeiter hin. Eine Erhellung des arbeitsstatistischen Amtes hat die Verbesserungsbedürftigkeit ihrer Lage dargetan, aber eine Verbesserung könne nicht einseitig erzwangen werden. Nun seien zwischen den Unternehmern, den Stückmeistern und Arbeitern Verhandlungen im Gange, auf allen Seiten sei das ernste Bestreben vorhanden, zu einem befriedigenden Abschlüsse zu gelangen. Dies sei nur dann erreichbar, wenn die Organisation der Unternehmer und diu Organisation der Arbeiter einander als zwei vertragschließende Teile gegenüberstehen. Derartige Vereinbarungen gehen schließlich zum Wohle der Beteiligten aus uud schaffen

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(.'XXIV Plenarversammlung.

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«in gute« Verhältnis zwischen Unternehmern und Arbeitern. Solche Tarifver- einbarnugcn bestehen auswärts in größerem, bei nns in kleinerem Maßstabe, aber nnr dort, wo gute Organisationen auf beiden Seiten vorhanden sind. Wir sehen jetzt die merkwürdige Erscheinung, daß Arbeiter, deren Arbeitsverhültnisse außer- ordentlich kompliziert sind, deren Organisationsfähigkeit man sehr oft bezweifelt hat, eine Organisation schaffen, am die vereinbarten Arbeitsbedingungen dauernd zu erhalten. Anf Seite der Unternehmer wird dieses Bestreben durchaus nicht mißgünstig beurteilt, der Zweck des heutigen Vortrages ist, zu zeigen, daß solche Vereinbarungen nnr nnter gewissen Voraussetzungen möglich sind, und daß es außerordentlich wünschenswert sei, daß jene Tendenzen, die heute in Wien inner- halb der Konfektioiisbranche als herrschende bezeichnet werden dürfen, auch zu eiuem praktischen Erfolge gelangen.

Professor Dr. Scbwiedland zeigt, wie seine Forderung von verbindlichen Mindestlohnsatzuugen für Hausindustrie oder Verlagsarbeit in der Literatur Anklang gefunden habe. Er unterscheidet private und öffentliche Mindestlohnsatzungen, ln den filteren Weltteilen haben sie sich bisher in vertragsmäßigen Formen verwirklicht: kraft Vereinbarung zwischen den unmittelbar Beteiligten (Tarifgemeinschaften, rKollektive Arbeitsverträge“;, oder kraft der vertragsuiäßig respektierten Willens- äußerung öffentlicher Körperschaften als Besteller (Fairwages-Klausol). Hingegen sind staatliche Mindestlohnsatzuugen die Einführung von Grenzen, unter welche der Einheitslohn kraft öffentlich-rechtlicher Verfügung nicht sinken darf. Es (luden sich dafür zwei Systeme in Australien. In Viktoria haben Kommissionen von fachkundigen Unternehmern nnd Arbeitern Vorschriften für das ganze Gewerbe zn erlassen; in Neuseeland haben Eiuigungsämter und ein Schiedsamt Tarifgemein- schaften zu befördern beziehungsweise die Arbeitsbedingungen durch Schiedsspruch zu regeln. Zweck ist dort Hebung der Löhne und die Festsetzung der Yerhältnis- zabl zwischen Arbeitern und Lehrlingen, hier Beseitigung des barbarischen Lohn- kauipfes , Arbeitseinstellungen und -aussperrungetr) durch ein besonderes Verfahren, dort Überwachung« durch Inspektoren, hier Erzwingbarkcit des Vertrages vor dem Zivilgericht. In Viktoria werden die Konimissionen von Staats wegen für bestimmte Gewerbe eingesetzt. Dio Satzung gilt jeweils für die Ortschaften, für welche sie kniidgemacht wird. In Neuseeland bestehen sieben lokale Einigungsämter nnd ein Schiedsamt. Das zuständige Einigungsamt bemüht sich, einen Tarifvertrag zwischen den Streitteilen zn stände zn bringen. Mißlingt dieser Versuch, so wird die Angelegenheit von Amts wegen an das Schiedsamt geleitet. Dieses kann die Arbeite- und Lohnbedingungen für sämtliche Arbeiter nnd Unternehmer des Gewerbes und aucli der verwandten Gewerbe verbindlich festsetzen, und zwar die Löhne in ihrer konkreten, tatsächlichen Höhe, oder zulässige unterste Lohngrenze bestim- men. Auf Grund staatlicher Ermächtigung setzen somit diese Behörden Kommis- sion beziehungsweise Schiedsamt den Inhalt der Arheitsverträge autoritativ fest. Die Minimalsätze sind in Neuseeland in der Hegel so, wie durchschnitt- liche Arbeiter sie tatsächlich bereite flüher bezogen haben, die Gewerkschaften hingegen sind bestrebt, diesen Satzungen den Verdienst guter Arbeiter zu Grund« legen zu lassen. In Viktoria wurden starke Erhöhungen der unteren Löhne in lokalen Gewerben Bäckerei. Maßschneiderei) ohueweiters beschlossen.

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Verb Rn dlnngeo der Gesellschaft Asterreichisoher Volkswl rte

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Die Folgen einer solchen Maßregel können sein: Umgehung der Satzung; Verteuerung des Erzeugnisses; Entfaltung der maschinellen Ausrüstung; Auslese unter den Arbeitskräften ; Anslese unter den Betriehen (Untergang der leistungs- unfähigsten).

Vorteile solcher staatlicher Mindestlohnsatzungen sind: Allgemeinheit der Wirkung; Versuche einer gütlichen Vereinbarung; Billigkeit des Unparteiischen, der die Entscheidung fällt; Kontrolle der Öffentlichkeit; Ruhe der Verhandlung ohne Arbeitsunterbrechung; geringer Zeitaufwand; Vermeidung aller Verluste, der Erbitterung des Lohnkampfes. Speziell in der Verlagsindustrie können die Arbeiter aus eigener Kraft durch ihre Organisation 7.u Tarifverträgen mit den Faktoren, '/.wisehenmeistoni und Verlegen! nicht gelangen.

In Ktfropa hat man es mit freien Tarifvereinbarungen probiert. Sie waren in der Hausindustrie nicht von Dauer. So beruhte der „Zentralverband der Ktickcreiindnstrie der Ostschweir. und des Vorarlbcrges“ auf der ausschließlichen Beschäftigung von Verbandsmitgliodern, einem Normalarbeitstag und einem Mini- mallohn. Als der Verband zerfiel, wurde das Lohnminimum aufgehoben.

In Gablonz haben die Erzeuger von Lnsterbehängen und Waren aus Kristallglas 1897 die Mindestpreise, zu welchen sie an die Exporteure liefern, sowie die Mindestlöhtic, die sie den Arbeitern bezahlen sollten, durch eine Konvention festgelegt. Seit die Vereinbarung seitens der Exporteure gesprengt wurde, vollzog sich rasch die Abbröckelung; man beschäftigt nur die wohl- feilsten Vcrlagsarheiter; das Arbeitseinkommen der Leute sank in kurzer Zeit bei der gleichen Leistung auf die Hälfte. Die Mindestlöhne sind den Arbeitern, anderseits den bereits eingefübrten Verlegern von Vorteil. Dagegen unterbietet jeder aufstrebende Verleger die bestehenden Löhne. Fflr die nämliche Arbeit bestehen für verschiedene Verleger Lohndifferenzeil bis zu 30 Proz. Der kleine Verleger beeinflußt die Lohnbewegung entscheidend.

Bei Einführung verbindlicher Mindestlohnsätze würde man wissen, wie weit das Untergebot aufstrebender kapitalloser Verleger gehen kann. Da besser bezahlte Leute besser arbeiten, würde die Qualität der Erzeugnisse sich heben; Der Anteil der Arbeit an den Gestehungskosten ist in den verschiedenen Gewerben sehr verschieden. Kr ist in der Leinen- nnd Ranmwollweherci sehr gering, in der Glaskur/.warenindustrie, bei der Erzeugung ganz feiner Fleehtwaren oder Spitzen hoch. So betrügt der Lohn des mährischen Webers bloll Iß1/, Proz. des Preises. Hier wäre eine „starke“ Lohnerhöhung zulässig.

Die Lohnsatzung müßte zugleich Preissatzung sein, weil das Kaufverhältnis in der Verlagsarboit sehr häufig ist: ebenso dort, wo die Arbeiter den Rohstoff selbständig kanfen, wo sic ihn ans der eigenen Wirtschaft (Stroh, Holz) beistellen. Eine organisatorische Schwierigkeit begründen jene, die hinter dem Durchschnitt der Arbeiterschaft Zurückbleiben, die Mindertücbtigen. Schwachen. Alten, Unintelli- genten. Der Warenverkäufer muß bei gleichen Preisen eine entsprechendere Qualität, der Arbeiter seinem Käufer mehr Produkte bieten.

Eine besondere Schwierigkeit ist, daß unsere Hausindustrien vielfach Waren hersteilen, welche der Mode ausgesetzt sind. Hier ist es nun auch äußerst schwierig, autoritäre LohnsStze in Vorschlag zu bringen, es könnte höchstens eine Auseinander-

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fXXIV. Plenarversammlung.

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svtzung uiit einem Ausschuß der eigenen Arbeiterschaft in Betracht kommen. Solche Arbeiterausschüsse linden sich aber bisher in der Hausindustrie nicht. Es müßten tlaher organisatorische Bestimmungen in die Arbeitsordnung aufgenommen werden.

Eine weitere erhebliche Schwierigkeit würden in Gegenden armer und wirtschaftlich einsichtsloser Verlagsarbeiter sinkende Konjunkturen begründen, da bei solchen die Arbeitsbedingungen derart verschlechtert werden, daß sie auch bei einer Besserung des Marktes sich nur äußerst schwer heben lassen. I.olinsatznngen würden sicher häufig umgangen werden.

Die Gefahr, daß eine Verlagsindustrie abgewamlert, wenn ihre Lehne erhöht werden, ist nicht schlechthin zu verallgemeinern.

Lohusatzungen haben besonders zwei Vorteile: die Verlagsindustrien würden zu höheren Prodnktionsformen zu motorischem Betrieb, zur Werkstatt oder Fabrik übergehen; dadurch käme der Vorteil halbwegs gerechter Löhne. Ileferent rekapituliert; Die Lohnsatzungen müssen öffentlich rechtliche sein. Sie dürfen keine starren schematischen Verfügungen sein und dürfen nicht allznrasch verallgemeinert werdeu. Die Gesetzgebung hat die rechtlichen Handhaben znr Ein- führung von Mindcstlohnsatzungen zu schaffen. Die Einleitung des Verfahrens wäre der Initiative der Interessenten zu überlassen, die Festsetzung der Satzung durch die Beteiligten individualisierend vorzuuehmen, ihre Durchführung aber durch die Machtmittel des Staates auf dem Gebiet« der Justiz wie der Verwaltung zu gewährleisten. (Lebhafter Beifall und Händeklatschen.)

In der hierauf folgenden Diskussion macht Kommerzialrat Siegmnnd Mayer vom Stand des Schneiderstreiks Mitteilung und erklärt, daß am Vormittag ein Lohn- tarif vereinbart worden sei (Bravo!), wenn auch unter schweren Kämpfen. Dieser Kampf sei nicht so sehr zwischen den Konfektionären und den Arbeitern, als vielmehr unter den Konfektionären selbst geführt worden. Die Exporteure zahlen ohnedies Löhne, welche den Tarif übersteigen, da sie besonders auf gute Ware halten müssen. Auch die Kngroskonfektionäre zahlen zum größten Teile keine schlechten Löhne. Erst die Detail- konfektionäre und von diesen wieder nur die kleinen Detailkonfektionäre, besonders draußen in den Vorstädten, zahlen Schundlöhne. Die Schwierigkeit lag darin, diese verschiedenen Interessenten nuter einen Hut zu bringen und eine Kontrolle über die Einhaltung der Lohntarife auzuführen. Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, daß, wenn die Konfektionäre den Kampf aufgenommen hätten, die Arbeiter sofort unterlegen wären ; sie waren aber zu allen Konzessionen bereit, vorausgesetzt, daß an der Institution der Stückmoister nicht gerührt werde.

Kaimnersekretär-Stellvertreter Dr. v. Tayenthal meint, von Tarifverein- harungen in der österreichischen Konfektionsbranche könne ein dauernder Erfolg kaum erwartet werden. Es fehlt an gesetzlichen Mitteln, um den Vereinbarungen der Interessenten die Dnrchsetzbarkeit zu gewähren. Die Schwierigkeiten bereiten feiner die große Anzahl der Beteiligten, die Kontrolle und dio Schwäche der Itevölkorungskreise, die dem Lohndrncke leicht nachgebon. Der Staat müßte eine Vereinbarung, die ausschließlich aus der Initiative der Interessenten bervor- geht und die Zustimmung der Majorität derselben gefunden hat, zwangsweise durchführen, wie er z. It. Gemeinden und Ländern bei Durchführung ihrer autonom gefaßten Beschlüsse mit seiner Zwaugsgewalt zur Seite steht.

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300 Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.

Redner weist noch auf einen Vcrsnch hin. der gemacht wurde, um Mindest- lohnsätze in einer Branche durchzusetzen, und der darauf abzielt, «in einzelnes Zwischenglied zwischen den Verleger und den Arbeiter zu setzen: die Verknufs- geuossenschaft in der Perlenbranche der Gablonzer Industrie, deren Krfolg ein grullartiger war.

Es wäre doch zn erwägen, ob nicht im Wege einer ähnlichen Organisation auch in der Koufektionshranche ein günstiger Krfolg zn erzielen wäre.

Vorsitzender Hofrat Prof. Dr. v. Ph iiippovich verweist darauf, daß in Genf im Jahre 1900 ein Gesetz erlassen wurde, das Tarifvereinbarungen zwischen organisierten Unternehmern und organisierten Arbeitern bindende Kraft für die ganze Branche, auch für solche, welche der Organisation nicht angehören, gibt. Wer die Vereinbarungen nicht einhält, wird mit Polizei- eventuell mit Strafen nach dem Strafgesetze behandelt. Kr befürwortet, daß wenn Vereinbarungen nicht zu stände gekommen sind, nachdem der Behörde das ganze Material der beider- seitigen Interesaentengruppen vorgelegt wurde, schlieslicU auch durch einen behördlichen Kutscbeid eine Lohnfivierung .stattfinden könne. Das Koalitionsgesctz sei für die Einhaltung der Vereinbarung kein Hindernis. Wenn Unternehmer und Arbeiter miteinander Vereinbarungen treffen, seien das privatreehtlich bindende Verträge. In einem solchen Vertragsbrüchigen Vergehen des Unternehmers liege ein nnlaulerer Wettbewerb. Auch sollten die Genossenschaften gegen Mitglieder, die in solcher Weise die Standesehre verletzen, dis/.iplinarweise Vorgehen.

Solange eine Strafsanktion für die Nichteinhaltung nicht besteht, wäre es nicht unmöglich, unlauteren Wettbewerb der Unternehmer öffentlich kund zn machen.

C XXV. Plenarversammlung.

Am 10. Februar 1 903 stand ein Referat des Herrn Alfred Ostersetzer: .Uber die Aufnahme der Barzahlungen" auf der Tagesordnung.

Das Thema, sagt der Vortragende, ist ein so ungeheures, daß nicht die Möglichkeit vorhanden ist, es nach allen Seilen hin zu erschöpfen. Ks soll nur die Hauptfrage behandelt werden: Sind wir heute befähigt, die Barzahlungen aufzunehmen, und ist der gegenwärtige oder ein nulie bevorstehender Moment hiezu geeignet? Sie hängt auf das engste mit der Zahlungsbilanz zusammen. S p i t z m ü 1 1 e r bezeichnet sie als passiv, indem er alle übersehbaren ständigen Verpflichtungen der Monarchie im internationalen Zahlungsverkehr den überseh- baren ständigen Eingängen gegenüberstellt. Gleichwohl aber hat. sich während der letzten Jahre ein kolossaler Importüberschuß an Gold bei uns angesammelt und in diesem Sinne bat man sagen müssen, die Aufnahme der Barzahlungen werde ins Auge gefaßt werden können, wenn unsere Zahlungsbilanz sich als dauernd übel wiegend aktiv erweisen werde. Freilich, das bloße Faktum der Aktivität der Zahlungsbilanz in diesem Sinne genügt nicht. Wenn die Elemente der Zahlungsbilanz besonders heftigen Schwankungen ausgesetzt sind, nützt alle durchschnittliche Aktivität der Zahlungsbilanz unter Umständen nicht, und die gefährlichen Elemente der Zahlungsbilanz können in gewissen Momenten auch die beste Währung auf eine zu harte Probe stellen. Der Zahlungsverkehr mit

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( XXV. Plenarversammlung.

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Jen) Anslande beruht auf dem Warenverkehr mit dem Aaslande (Handelsbilanz), den Zinsen für fixe Schulden an Kffekten und Kapitalien, den Einnahmen aas dem Transit- verkehr, dem Saldo aas dem Verkehr von Vergnügungsreisenden, den Kemittierungen von Auswanderern n. s. w. Von 1891 bis 1901 hat unser Warenverkehr einen Aktiv- saldo von durchschnittlich rund 217 Millionen Kronen ergeben ; die tproz. Zinsen auf die 6 9 Milliarden Kronen Kffcktenschulden an das Ausland sind dnreh den Aktiv- saldo unserer Handelsbilanz bei weitem nicht gedeckt. Spitz mdller gelangt zu einem Gesauitpassivum der Zahlungsbilanz von 130 18U Millionen Kronen; das bedeutet, daß wir darauf angew iesen wären, um günstige Wechselkurse zu erhalten und einen angemessenen Goldschatz zu bewahren, entweder flottierende Kapitalien in nennenswertem Umfange ständig bei uns festzuhalten, oder alljährlich dnreh neue Kdekteneiporte, durch neue ständige Verschuldung im Anslande das Passivem der Zahlungsbilanz in diesem Sinne zu begleichen. Dazu kommen die starken Schwan- kungen in der Handelsbilanz: innerhalb der 11 Jahre war ein Jahr mit einem Aktivsaldo von 372 Millionen Kronen, vier Jahre später wieder eins mit einem Aktivsaldo von nur 81 Millionen Kronen, drei Jahre später ohne den Veredlungs- verkehr gar ein Passivum der Handelsbilanz, um dann wieder einen Aktivsaldo von zirka 300 Millionen Kronen zu sehen. Womit haben wir unsere schon an sich passive Zahlungsbilanz in Jahren beglichen, wo der Aktivsaldo der Waren- bilanz völlig wegliel? Ein Aktivsaldo der Warenbilanz 1893/94 von durchschnitt- lich 280 Millionen Kronen konnte nicht die Agioepoche verhindern, während die Jahre 1895/9G mit einem geringen Aktivsaldo das Verschwinden des Agios und starken Goldznftuß brachten! Die Warenbilanz spielt eben heute eine außer- ordentlich geringe Rolle in der Zahlungsbilanz. Ihre Aktivität oder Passivität ist bei weitem nicht von solchem Einflüsse für die Wechselkurse, als die unbe- rechenbaren, oft jäh eintretenden Bewegungen des Effekten- und Kapitalienverkehrs. Auch kann man die Warenbilanz am wenigsten beeinflussen. Denn Diskont und Wechselkurs üben auf den Warenverkehr keinen wesentlichen Einfluß aus. Vom Standpunkt der Währungspolitik aus spielt die Warenbilanz eine äußerst geringe Rolle. Es ist nicht wahr, daß ein verschuldeter Staat eine aktive Handelsbilanz haben muß, und man kann nicht Staaten mit rein agrarischem Charakter uiit industriellen Staaten oder gemischten Staaten wie wir vergleichen. Verschuldete Staaten, wie Serbien oder Bulgarien, haben meist aktive Handelsbilanz, Rumänien fast immer eine passive Warenbilanz; entwickelte passive Staaten, wie Rußland und Österreich-Ungarn, haben aktive Warenbilanz und ähnlich entwickelte verschuldete Staaten, wie Italien, seit jeher passive Warenbilanz. Allerdings haben fast alle Gläubigerstaaten passive Warenbilanz, aller es ist auch interessant zn sehen, wie Amerika, welches eben den Übergang vom schuldneriscben zum Gläubigerstaat vollzieht, immer noch mit riesig aktiver Warenbilanz arbeitet. Es gibt also da keine Kegel und keine Notwendigkeit, alles richtest sieb bei jedem einzelnen Wirtschaftsgebiet nach spezifischen Umständen, deren etwa vorhandener tiefliegender Zusammenhang uns nicht klar ist, sich bisher wissen- schaftlicher Erfassung entzieht. Nicht nur, daß sich die aktiven Staaten von den Schuldnerstaaten monetär dadurch wesentlich unterscheiden, daß sie im Bedarfs- fälle zur Begleichung des Saldos Effekten abstoßeu oder Außenstände an Z«iuohrk/i für VolaawrlrUahaii, desitlpolUlk und Verwaltung, XXI. Baad. 27

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Verhandlungen der Gesellschaft österreichischer Volkswirt*

Schuldfnrderungen rin/it'hrn , während umgekehrt die passiven Staaten stete gewärtig sein müssen, daß ihnen von ihren im Auslands nntsrgehrarhten Effekten Gestände zurückgesendet, geborgte Kapitalien znrnckgefordert werden; auch innerhalb der passiven Staaten gibt es Verschiedenheit bezüglich der Art nml des Grades der Wirksamkeit der schwankenden Faktoren der Zahlungsbilanzen. Man kann die primitiven verschuldeten Staaten nicht unter demselben Gesirhts- pnukt betrachten, wie etwa Italien nnd Österreich-Ungarn. In Serbien oder Bulgarien können die Titres dieser Staaten im Kurse sinken; aber heimgesdiirkt werden können sie nicht, weil niemand da ist, der sie kauft. Wo aber in dem verschuldeten Lande selbst eiu Börsenverkehr, ein freier Anstausch in Staatstitres und flottierenden Kapitalien bestellt, da wirken diese beweglichsten Faktoren der Zahlungsbilanz ganz anders.

Ist unsere Zahlungsbilanz so wie S p i t z m ü 1 1 e r sie berechnet, so ist sie vom Standpunkte der Aufnahme der Barzahlung ans ungünstig. Um günstige Wechselkurse zu haben und den Passivsaldo unserer Zahlungsbilanz zu begleichen, müssen entweder flottierende Kapitalien von zirka 150 bis 20 > Millionen Kronen bei uns festgehalten werden oder ständig unsere auswärtige Schuld durch Effektanexport in solcher Höhe vergrößert werden; denn sonst müßten wir ständig schlechte Wechselkurse haben, stetigem Goldahflnß ansgesetzt sein. Das ist keine Situation, welche die Aufnahme der Barzahlungen nnd deren Anfrechtorhaltung als leicht erscheinen läßt. Und dabei ist der Aktivsaldo der Handelsbilanz, kein verläßlicher Faktor in einem Momente, wo wir in einen Weltkampf um Hnrh- schutzzollpolitik eingetreten sind. Wir haben heute keine Ahnung, ob wir nicht zu grnndumwälzenden Zollkriegen, zn ganz neuen Wegen unserer Handelsbilanz gelangen werden. Auch hat die Handelspolitik mit der auswärtigen Verschuldung sehr viel zn ton! Auch das Festhalten einer Diskontpolitik, welche den Znfluß ausländischen Kapitals, mit allen Kräften fördert, ist schwierig. Eine weitere Bedingung ist nach Spitzmüller „die tnnlichste Femhaltung aller Störungen, welche auf die Zahlungsbilanz eine ungünstige Rückwirkung üben können. Als ein störender F.intlnß müßte nach den Erfahrungen früherer dahre insbesondere das vorzeitige Ueraligehen anf einen niedrigeren Zinsfuß hei dem Gros unserer Anlagetitres betrachtet werden.“ Aber kürzlich wurden Gerüchte verbreitet, mau plane eine Konversion der 4'2proz. Renten im Ausmaße von 5 Milliarden Kronen auf 8 7, oder überhaupt unter 4 Proz. Die Renten haben kaum erst durch den Knnversionsrunitnel das pari erreicht nnd schon soll der 4proz. Zinsfuß obsolet sein?

Im Momente, wo wir die Barzahlungen aufnehinen wollen mit einer Zahlungsbilanz, welche anf zwei Säulen ruht: fester Bestand nnseror Titres im Anslande und möglichst hoher Zinsfaß im Inlande znr Festhaltnng der flottie- renden Kapitalien, wollte man auswärtigen Gläubigern einreden. daß sie 3 oder 3’/4proz. österreichische Kronenrente nehmen und festhaiton sollen. Wenn wir oder Ungarn aber einen solchen Fehler begehen, so schickt man uns unsere Werte zurück und wir müssen sie auch bezahlen. Es ist an Barzahlungen nicht zu denken, solange mau nicht sicher ist. daß Ungarn etwa anf eigene Kunst eine den allgemeinen Interessen der Monarchie znwiderlaufcndc Kreditpolitik betreiben sollte.

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Di* Ungarn glauben ganz, daß die Aufnahme der Barzahlungen ihnen ungeahnte Vorteile bringen werde, und daß die Aufnahme der Barzahlungen ein Kinderspiel sei und unmöglich mißglücken könne. Ich seihst habe oft Gelegenheit gehabt, mit maßgebenden Persönlichkeiten der anderen Reichshälfte über das Thema zu sprechen, und darum kenne ich den Untergrund der felsenfesten Überzeugung sehr genau.

Es ist dies die Theorie des Geldwesens, welche Theodor Hertzka vertritt, und die besagt: wenn ein Währungsmetall in verschiedenen Staaten allgemein rezipiert ist, richten sich allenthalben alle Preise genau nach der Menge des Goldes, dieses strömt von seihst in alle Länder, welche es brauchen, auf Grund des Verhältnisses /.wischen Preisniveau und Geldbedarf, welcher allenthalben stetig wachsen muß; man brauche sich daher um den Zufluß des Goldes nicht zu kümmern und ohne jede Rücksicht auf Handels- und Zahlungs- bilanz nicht vor Goldabfluß zu fürchten. Denn aus keinem Land kann mehr Gold abfließen als der Verkehr entbehren kann, denn es entsteht sofort ein solcher Preisdruck im Inlande, daß Export wieder rentiert und das entfließende Gold festhält, das entflohene wieder zurückführt. Aber für den Geldbedarf eines Landes ist auch die Emission an unbedeckten Noteu und die ganze Kredit/ahlungsorganisation als Geldcrsparnngsmittol in Rechnung zu stellen, und da ist schon die Berechnung des Effektes mit Bezug auf das Verhältnis zwischen Edelmetall und Preisgestaltung eine sehr komplizierte, kaum durchführbare.

An sich ist die Theorie richtig, und so beweist sie die ökonomische Wid ersinn ig- keit der Metallwährung, da dadurch die Preisgestaltung von den Zufälligkeiten der Produktion dieses Metalle» abhängig ist. Das ist der Widersinn der freien Prägung. Nur wird übersehen, daß die ziffermäßige Menge des Geldmetalles auf den kleinen und mittleren Warenverkehr überhaupt nicht oder außerordentlich langsam wirkt, auf den großen Verkehr zwar unter Umständen sehr stark, aber es wirken auch andere Faktoren (Kreditorganisation, Effekten- und Kapitalienverkehr), Als in Italien die kleine Münze infolge der lateinischen Münznnion und des Agios nach Frank- reich wandert«, sind die Preise im kleinen Verkehr nicht gefallen. Dasselbe geschah in Amerika 1893. Man behalf sich eben mit Privatpapiergeld. Uud ganz so würde es sich bei uns in praxi abspielen. Schickt man uus infolge innerer oder äußerer Krisen Effekten herein oder zieht Kapitalien ab und gehen dadurch etwa 200 Millionen Gold rasch über die Grenze, so kann das unter Umständen ganz ruhig abgehen. Die Preise werden fallen, zunächst jene der Effekten, vielleicht auch Preise spekulativer Waren. Der übrige Handel wird in den Preisen zunächst gar nichts davon merken, und ist sonst alles im Wirtschaftsleben gesund, so kann die Parität der Währung erhalten bleiben; aber greift nur ein wenig Spekulation und Mißtrauen um sich, uud das tritt meistens in solchen Fällen ein, so hat der Preisfall der Effekten hier nicht Export, sondern nur um so regeren Import zur Folge und immer stärker wird die Spannung und der Diskont mag noch so hoch gehen, er wird die ausländischen Kapitalien hier nicht festhalten, sondern inan wird sie aus Mißtrauen zunickzichen, uud greift das Mißtrauen auch im Innern um sich und versagt die Kreditorganisation, der künstlich organisierte Zahlungsverkehr, so entsteht eine solche Panik, daß die

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Bank weder mit 6. noch mit 7, noch mit 10 Proz. Diskont etwas erreichen kann, sondern sich sofort an die Regierung um Suspension der Akte wenden und Noten ausgeben moß, bis die durch den Goldabfluß und durch das Versagen der Kreditorganisation entstandene Lücke wieder ausgcfflllt ist. Das Gold wird fort sein, der Umlauf, die Zirkulation wird numerisch gleich geblieben, eher erhöht sein. Aber was auch dahin sein wird, das ist der Kredit der Monarchie und ein gutes Stück Volksrerinögen. Man darf die Wirkung des Diskonts gegenüber Fak- turen, wie sie unsere Zahlungsbilanz beherrschen, nicht überschätzen; er hat in sehr vielen Fällen, in viel reicheren Ländern, wie Deutschland und England, völlig versagt. Bedner ist gegen die baldige Aufnahme der Barzahlungen, weil eine Reihe der wichtigsten Bedingungen, welche biefür gestellt werden mußten, nicht erfüllt wurde. Die finanztechnischen und rein innerlich monetären Bedin- gungen sind, von Nebensachen abgesehen, mit Glück und Geschick über alle Erwartung erfüllt worden. Aber was uns scheinbar so reich und mächtig macht, ist geborgtes, zum großen Teil kurz fällig geborgtes Gold. Aber fast alle Bedingungen allgemein ökonomischer, moralischer Natur, die uns neben der technischen Vorbereitung virtuell barzahluugsfuhig hätten machen sollen, sind absolut nicht erfüllt Hat irgend jemand bemerkt, daß in unserer inneren, unserer äußeren, unserer Steuerpolitik, Kreditpolitik auf die Währungsreform auch nur die kleinste Rücksicht genommen worden sei? Was ist seit 1892 erfolgt? Sofort durch die Gesetze von 1892 die unnütze Brüskiernng unserer auswärtigen Gläubiger durch die Art der Festsetzung der Relation, dann durch die Konversion, gleich- zeitig der Streit der Staatshahn um den Coupon ihrer Prioritäten. Die Folge war das Agio. Seither auf finanziellem Gebiete bis in die allerletzte Zeit nichts als Verstaatlichung und Verstadtlichung, was sich bei uns gewöhnlich mit Verge- waltigung verdeutschen läßt. Nicht einen Finger hat der Staat gerührt, um zu hindern, daß hunderte von Millionen fremden Kapitals an Südbahnaktien verloren gingen; er hat die Gelegenheit benützt, um sich durch eine Anleihe der Südbaltn seine Kassenbestände zu füllen, im übrigen sieht er ruhig zu, daß ein Unter- nehmen. das schwere Millionen an Steuer, aber nichts an Dividende zahlt, zu Grunde gehl und läßt die garantierten Prioritäten dafür sorgen, daß dieses Milliardenunternehmen nicht ganz bankerott wird. Ich brauche nicht von allen Eingriffen zu sprechen, die sich das Eisenbahnministerinm unter dem Vorwand des staatlichen Aufsichtsrechtes gestattet hat. Von der Nordwestbahn, der Böh- mischen Nordbahn, der Ferdinands-Nordbahn, der Graz-Kßflaehcr Balm u. s. f. Ist das der Weg, die Schnldverschreibungen im Anslande geschätzt zu machen? Ich streife nur die Wirkungen des neuen Stenergesetzes auf die Bahnen und anderen der öffentlichen Rechnungslegung unterliegenden Unternehmungen und den Geist der Judikatur des Vcrwaltungsgericbtshofes. Ist das der Weg, das bestehende Kapital zu schützen, neues Kapital zu Unternehmungen heranznziehenV Soll jemand liier eine Aktiengesellschaft gründen, wenn er die Fallstricke der Steuer- gesetzgebung für die erste Bilanz einer Aktiengesellschaft kennt, dann sieht, wie ihr bei Lebzeiten 30 Proz. des Gewinnes konfisziert werden und schließlich der Fiskus sich wie ein Geier auf die Liqnidationsergrbnisse stürzt? Wie haben wir seit 1892 unserem inländischen mobilen Kapital initgespielt? 1893 die Konversion

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um nahezu ein volles Prozent, 1807 das neue Steuergesetz ; and Leute. die noch wenige Jahre vorher von ihren Ersparnissen 5 Proz. Erträgnis hatten, mußten auf einmal von den 1 Proz.. die man ihnen gelassen Uattte, die Personaleinkominen- steuer und noch dazn eine vexatorische. mit peinlichen Inquisitionen verbundene Iicutcnsteuer zahlen. War das der Weg, das heimische Kapital zu stärken, ihm die Kraft zu gehen. Überschüsse zn bilden, mit welchen es unsere auswärtige Ver- schuldung absorbieren soll? Ich habe von den Konversionen nnd der Kreditpolitik schon oben gesprochen. Brauche ich noch zu erinnern, was dem Verkehr des mobilen Kapitals, dem Handel durch die Börsensteuer und deren Erhöhung, durch die Judikatur über Differenzgeschäfte, durch den Terminhandel, durch Differenzierung von Steuerzuschlägen, durch die Gebührennovclle, durch die ununterbrochen fortgesetzt* sogenannte wirtschaftliche Gesetzgebung* zugefügt worden ist? Haben wir nicht die Resultate all dessen in der entsetzlichen Stagnation der letzten Jahre deutlich geling gesehen und hieße es nicht der Häufung der ökonomischen Irrtümer die Krone unfsetzon. wenn man aus dem durch solche Mißhandlung entstandenen Marasmus der Volkswirtschaft, aus der dadurch ent- standenen Anhäufung mutlosen, toten Kapitals die Folgerung ziehen wollte, wir seien reicher geworden und seien nun fähiger als 1892 in den Wettkampf mit den vorgeschrittenen Nationen einzutreten, weil wir eben infolge dieses Marasmus und infolge der unrichtigen Politik fortwährend Schulden zn großenteils unproduk- tiven Zwecken im Ausland auhäufeu, anstatt Schulden zurückzuziehen, ein paar hundert Millionen unverwendbaren Goldes bei ans angehänft haben? Nein, das war nicht der richtige Weg, und mit einem su geschwächten Organismus, mit solchen Prinzipien der Wirtschaftspolitik und Kreditpolitik und einer kritiklosen öffentlichen Meinung, wie sie sich jetzt wieder gezeigt hat, dürfen wir nicht die Barzahlungen aufnehmen. Bei dieser konsequenten, alles wirtschaftliche Leben ertötenden antikapitalistischen Politik mit solchen Tendenzen die denkbar größte kapitalistische üntemeluuung, die reine Goldwährung, verwirklichen zu wollen, das wäre ein Widerspruch sondergleichen. Und die Barzahlungen aufnehmen zu wollen, in den freien Wettstreit mit den großen kapitalistischen Staaten treten zu wollen, wo nnser ganzes Wirtschaftsleben auf dem Tiefpunkte augelangt ist, als Folge nur dieser verfehlten wirtschaftlichen Politik und unserer innerpolitischen Verhältnisse, das wäre ein verhängnisvoller Irrtum. Und wozn denn diese offenbar übereilte Aufnahme der Barzahlungen? Was kann sie nns bringen? Wir haben die Stabilität des Wechselkurses in ungeahnter Weise, wir haben billiges Geld erreicht, nnser auswärtiger Kredit steht so gut. als er berechtigterweise nur irgend stehen kann, wir haben die Konzentrierung des Goldes bei der Bank und strikteste Beherrschung des Wechselkurses durch die Bank im Wege ihrer ausgebildeten Devisen- und Goldpolitik. Was man sonst noch alles von der Aufnahme der Barzahlungen erwartet, ist Chimäre. Wo bestehen denn noch die Barzahlungen in Gold im vollen Sinne? Die Bank vou England wehrt sich schon seit vielen Jahren gegen die Barzahlung, so viel sie nur irgend kann, nämlich nach außen hin, indem sie ein offenkundiges Agio zuläßt. Frankreich zahlt nach außen hin bekanntlich nie bar in Geld nnd läßt lieber kräftiges Agio entstehen. Deutschland hat noch kaum je nach außen hin schlank bar gezahlt.

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Wir aber, wenn wir die Barzahlungen erklären, müssen als Schulduerstaat har zahlen, wir dürfen uns auch nicht die geringste Abweichung vom oberen Goldpunkt des Wechselkurses gestatten, sonst sind wir sofort verloren. Auch nur das kleinste wirkliche Disagio, und es beginnen die Arbitragen init den Coupons und Renten und die geringste Abweichung vom Wechselkurse bringt uns durch Mißtrauen Effekten herein, desto mehr, je mehr wir wieder durch die Vorgänge der letzten Zeit flottierendes Materiale und Rentenspeknlation geschaffen haben. Was alle die starken großkapitalistischen Staaten nicht durchführen können, dazu fühlen wir uns stark genug? Wenn draußen nicht bar gezahlt wird, wird eben einfach gestundet und in kolossalstem Maße international giriert. Das Gold kommt von den l’mduktionsstaaton gar nicht mehr wie früher nach Europa, sondern Australien sendet Gold direkt nach Indien, Südafrika nach Argentinien. Mit jedem Jahr deutlicher bildet sich der internationale Giro- und Abrechnungs- verkehr heraus, dem die Zukunft gehört. Und wenn die Österreichisch-ungarische Bank an 200 Millionen Devisen hält, so hat auch sie bereits in dieses System eingegriffen, und zwar in der praktischesten Weise; denn das heißt, daß sie England oder anderen Staaten Forderungen in dieser Höhe, welche sie in Gold einkassieren könnte, gestundet hat; dieses System, welches wir für die Bar- zahlung aufgeben wollen, ist das richtige, vom monetären Standpunkt des einzelnen Landes wie vom internationalen Standpunkt aus. Schon hat die Deutsche Reichs- hank begonnen, es uns nachzmnachen, und andere werden folgen, ln dieses große internationale Getriebe mit unseren veralteten Begriffen über Barzahlungen eili- greifen, wäre unüberlegt und unsachverständig.

Vorsitzender Hofrat Prof. I)r. v. Phil ippov ich:

Der schöne Vortrag, den wir soeben gehört haben, hat eine so starke Überzeugung zum Ausdruck gebracht und barg so viel Temperament in sich, daß ich nicht glauben kann, daß er ganz ohne Widerspruch geblieben ist. Ich halte eine Diskussion darüber gerade wegen der Stärke, mit der der Vortragende seiner Meinung Ausdruck gegeben, die vielleicht von vielen als einseitig angesehen werden wird, für unbedingt notwendig. Ich schlage vor, daß wir die Diskussion heute beginnen, vielleicht wird es möglich sein, sie auch heute zuiu Abschlüsse zu bringen.

In der an diesen Vortrag anknüpfenden Diskussion erklärt Herr Richard Lieben, daß auch er das bereits Erreichte, diu dauernde Erhaltung der Parität, für das wesentlichste Ziel der Valutarefonn halte. Trotzdem siebt er die Aufnahme der Barzahlungen als etwas Nützliches und Wünschenswertes an. Er sagt: Trotz dieser meiner Anschauung betone ich gleich hier ausdrücklich, daß auch ich keineswegs darauf dränge, daß das möglichst rasch geschehe; denn das ist nicht wesentlich. Ich glaube aber, daß die Barzahlungen kommen, daß sie sich durch ihr eigenes Gewicht durchsetzen werden und daß sie nicht so sehr durch akademische Diskussionen, als vielmehr durch die Logik der Tatsachen werden herbeigeführt werden. Doch sollen sie nicht in politisch oder wirtschaftlich bedrohlichen Zeiten erfolgen. In wirtschaftlicher Hinsicht findet er den gegenwärtigen Zeitpunkt nicht so bedrohlich wie manchen anderen, der hinter uns. und manchen, der vielleicht noch vor uns liegt, wenn auch nicht gerade besonders günstig. Das

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wesentlichste Bedenken des Vortragenden sei, daß unsere Zahlungsbilanz für die Aufnahme der Barzahlungen nicht geeignet sei; dies sei aber unrichtig. Das , Auspumpen des Goldes“ muß automatisch aufhören, sobald die Geldmittel einigermaßen knapp werden. Er könne daher die furchtbare Gefahr, die in der EfTektonrückstrümung liegen soll, nicht sehen. Auch der Zustand der Notenbank sei sehr beruhigend. Allerdings müßten wir bei offenen Kassen zahlen, ohne Schwierig- keiten irgend welcher Art machen zu dürfen. Wenn wir die Barzahlungen nicht aufnehmen, wie würde eine Millionenrücksendung von Effekten und die ent- sprechende Goldabströuiung wirken? Aber wir würdet! sofort ein Agio bekommen. Ob das aber gerade wünschenswert wäre und ob dafür die großen Opfer ge- bracht wurden, weiß ich nicht. Wenn es uns aber gestattet wird, der Bank das Gold zu entnehmen, damit zu zahlen und das Gold dem Zwecke znznführeti, für den es gekauft wurde, um nämlich ungünstige Konstellationen der Zahlungs- bilanz aushalten zu können, dann entgehen wir der Gefahr des Agios, dann hat die Valutaregulierung ihren Zweck erreicht und wir brauchen nicht durch eine kopflose Nervosität das ganze Werk zu gefährden. Wie uns di« Geld- beschaffung gelungen ist, so werde uns auch die Golderhaltung gelingen.

Herr Hof- und Gerichtsadvokat Dr. Wilhelm Kosenberg tritt für die Aufnahme der Barzahlungen ein. Diese müssen ein gewaltiges Moveiis für die Ausgestaltung unserer wirtschaftlichen Verhältnisse im medernen Sinne bilden, weil die Regierung all« Maßnahmen, die die Zahlungsbilanz verschlechtern könnten, insbesondere jede rückschrittliche Produktionspolitik, mit der größten Schärfe bekämpfen müßte.

Aus der Zahlungsbilanz, welche lediglich die Gegenüberstellung der Geldeinnahmen und Geldansgaben eines Staates in einer bestimmten Wirt- schaflsepoche darstelle, könne auf die ökonomische Lage des Staates anch nicht im entferntesten ein zulässiger Rückschluß gezogen werden. Die Krage der Aufrechterhaltung der Barzahlungen hänge iui wesentlichen davon ab, wie man von einem plötzlichen Rückströmen der Effekten aus dem Auslande denkt. Bei solchem Herein strömen von Effekten liermche entweder ini Inlande große Geld- plethora — dann haben wir nichts zu fürchten , oder die Effekten kommen herein, obwohl hier Geldknappheit herrscht, und das werde auf die Dauer nur dann möglich sein, wenn das Ausland den Kaufschilling, durch den die Effekten berichtigt werden sollen, stundet. Wir werden die Effekten nur dann kaufen, wenn wir die Preise für nutzbringende halten und wir uns gleichzeitig das dazu erforderliche Geld noch ausleihen können. Wenn das Ausland ans nicht mehr kreditieren würde, so würde in solchen Fällen eine Panik die Felge sein; aber das Horeinstrüiiieii der Effekten hätte wohl sein Ende erreicht.

Vorsitzender Hofrat Prof. Dr. v. Philippovich ist persönlich der Meinung, daß der psychologische Moment für die Aufnahme der Barzahlungen nicht gekommen ist. Wir haben heute nicht die Beruhigung, daß die wirtschaftliche Entwicklung in Österreich in der nächsten Zeit unbedingt eine aufsteigende sein w erde. Wir haben keine Beruhigung über jene Wirkung, welche die Handelsverträge auf die Österreichische Zellpolitik auszuiihen vermögen, und haben auch keine Beruhigung über die Wirkung der Brüsseler Zockorkoiivention durchgehend.«

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Momente, die für unsere Zahlungsbilanz schwer ins Gewicht fallen. AH diese Dinge lassen, wenn sic auch jetzt für uns ungünstig ausfallcn, sich wieder ausgicichen und wir werden zu einer Zahlungsbilanz und zu einer solchen Gestaltung der wirtschaftspolitischen Verhältnisse kommen, die uns das Vertrauen gehen, daß wir die Barzahlungen dann aufnehinen könnten. Wenn aber so wichtige Grundlagen unserer l’rnduktionsorganisation unsicher sind und wir nehmen die Zahlungen auf und es kommt daun irgend eine Störung, die uns zu einem starken Goldabflusse zwingt wie wird dann jene ruhige Hand in Österreich zu linden sein, die nicht zittert und die ruhig das kaum erworbene Gold hinausfließen läßt, ohne zu überstürzten Maßregeln zu greifon? Es wäre ein unglücklicher Moment, für die Aufnahme der Barzahlungen jenen Zeit- punkt zu wählen, wo die Grundlagen unserer l’roduktion im lulaude voll- kommen neu geordnet werden sollen. Nicht der 1. März 1903, sondern etwa der 1, März 1901, wenn wir die Handelsverträge abgeschlossen haben nnd wissen werden, wie sie wirken werden, wäre vielleicht der hiezu geeignetere Moment.

Auch vom taktischen Gesichtspunkte aus wäro der gegenwärtige Zeitpunkt schlecht gewählt. Wie sollen unsere Unterhändler hoi den Handelsvertragsver- handlnngen mit Erfolg anftreten, wenn die auswärtigen Unterhändler wissen, daß wir auf den Export in gewissen Artikeln förmlich brennen, um unsere Zahlungs- bilanz möglichst günstig zu gestalten? Auch das Verhältnis Österreichs zu Ungarn ist heute noch ein unbestimmter Faktor aber ein Faktor, mit dem man rechnen muß von dem man nicht weiß, ob er ein positiver oder negativer Grund sein wird. Uentc ist Ungarn in hohem Maß auf den österreichischen Kapitalsmarkt angewiesen. Im Falle der Aufnahme der Barzahlungen würde sich dieses Verhältnis ändern, Österreich-Ungarn würde ein einheitliches Geldgebarungs- gchict sein und es würde Ungarn dann viel leichter auf die auswärtigen Märkto kommen können. Ob nun Ungarns volkswirtschaftliche Entwicklung eine auf- steigende sein wird, ob dort immer Besonnenhoit herschen, ob nicht Gründungs- hewegnngeu und Spekulationen zu einer ungünstigen Gestaltung unserer Zahlungs- bilanz führen werden, bei der dann wir das Bad mitausgießon müssen, das weiß mau nicht. Auch dieser Faktor verdient Erwägung und wirkt dahin, dio Frage zu vertagen.

Wie steht es ferner mit unseren Finanzen? Sind wir so weit gekräftigt, daß wir Störungen unsoror Währungsvorhältnisse mit Ruhe aushalten können, so daß wir uns nicht davor zu scheuen brauchen, im Anslande Schulden zu machon? Wir haben in Österreich und in Ungarn ein Budget, das nur formell und mit Mühe aktiv bilanziert, so daß sich bei näherer Betrachtung das Budget als ein solches hcrausstellen würde, das ein Defizit involviert Die Steucrbelastung kann nicht gemindert werden. Die Produktion Österreichs wird noch weiter mit den gegebenen Lasten zu rochnen haben. Auch das ist etwas, was den gegenwärtigen Augenblick für die Aufnahme der Barzahlungen nicht geeignet erscheinen läßt.

Referent Ostersetzer erklärt in seinem Schlußworte, daß es ihm ferne gelegen gewesen sei, von einer Vertagung der Barzahlungen ad calendas graecas

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sprechen za wollen. Er wünsche nur. daß kein Husarenstück aufgefnhrt werde, wie es von mancher Seite intendiert zu sein scheint. Wie der Vorsitzende, so überlasse auch der Berichterstatter alles dem Laufe der Zeit: wir wollen den Abschluß der Handelsverträge sowie insbesondere auch die Klärung de» Verhält- nisses zn Ungarn abwarten. Wenn der Berichterstatter, der von Anfang an der wärmste Förderer aller positiven Schritte zur Einführung der Goldwährung gewesen sei, heute vom Optimisten zum Skeptiker geworden sei, ao liege der Grund eben darin, daß er gesehen habe, wie unzweckmäßig die wichtigsten Fragen der Kreditpolitik bei uns behandelt werden. Der llefcrent schließt sich daher der Meinung des Vorsitzenden an, dahingehend, daß zunächst eine Klärung der Ver- hältnisse abzuwarten sei.

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ÖSTERREICH-UNGARN

UND DIE BRÜSSELER ZUCKERKONVENTION.

VON

RUDOLF AU 8 PITZ.

1. Einleitung.

Nachdem in diesen Blattern die Vorgeschichte der Brüsseler Znckerkon- veution und dies« seihst schon von berufener Seite1) eingehend besprochen worden sind, erübrigt noch dar/.ulegen, wie und unter welch besonderen Begleit- umständen der Beitritt unserer Monarchie zu dieser Konvention sich vollzogen hat.

Vorher sei es gestattet, ganz kurz auf eine merkwürdige, historische Koinzi- denz hinzuweisen.

Am 28. Jänner 1903 wurde im österreichischen Abgeordneten hause jener Ausschußbericht verteilt, welcher den Beitritt zur Brüsseler Zuckerkonvention und somit die Festsetzung eines Zolles von 6 Frcs. für 100% raffinierten Zuckers empfahl, und in derselben Sitzung wurde der neue österreichisch-ungarische Aus- gleich und mit demselben jener Zolltarif eingebracht, welcher nebst anderen Merkwürdigkeiten einen Weizenzoll von 7 K 50 h, beziehungsweise für jene Staaten, welche geneigt sein sollten, Handelsverträge mit uns abzusclilicßen, einen solchen von 0 K 30 h und einen Roggenzull von 7 K. beziehungsweise 5 K 80 h enthalt, also bei dem Rohprodukt Weizen ein Zoll von beinahe. 50 beziehungsweise 40 Proz. des dermaligen Wertes und gleichzeitig bei raffiniertem Zucker, einem Fabrikate, an dessen Gestehungskosten der Rohstoff mit kaum 50 l*roz. partizipiert, ein Zoll von beiläufig 20 Proz. ad valorem. Erwähnenswert ist auch, daß der Zoll für ein auf der Stufenleiter industrieller Gestehungskosten so hochstehendes Fabrikat, wie raffinierter Zucker, um 25 Proz. niedriger sein wird als jener Begünstigungszoll von 8 Frcs. für das Naturprodukt Wein, wegen dessen für unsere Winzer angeblich unerträglicher Niedrigkeit der italienische Handelsvertrag gekündigt worden mußte. Was würde Friedrich List, der geniale Begründer der modernen Schutzzulltheurie. zu solchen Mißan Wendungen seiner Lehre wob! sagen? Verlockend wäre es, noch andere ähnlich verfängliche Fragen aufzuwerfen, z. B. warum diese exorbitante Erhöhung der Zölle auf Weizen

*) E. v. Plencr: „Die Brüsseler Zuckerkonvention“, XL Band, S. 894 ff. der Zeit- schrift für Volkswirtschaft, •Sozialpolitik und Verwaltung.

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Österreich-Ungarn und die Brüsseler Znck'-rkonvention.

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and Koggen gerade jetzt, gerade zu einer Zeit notig sein soll, in welcher ohne- dies eine wesentliche Erhöhung des inländischen Preisniveaus für Brotgetreide in naher und sicherer Aussicht steht? Österreich-Ungarn war bis vor kurzem und ist bei sehr guter Ernte auch heut« noch für Brotgetreide ein Exportland, in welchem der Inlaiidpreis sich regelt nach der Formel: „Weltmarktpreis minus Fracht zum Weltmarkt*; Österreich- Ungarn wird aber durch die stetige Zunahme der Bevölkerung und des Wohlstandes ganz von selbst sehr bald auch bei noch so guter Ernte an Brotgetreide ein Importland werden, für dessen Inlaiidpreis die Formel gilt:

„Weltmarktpreis plus Fracht vom Weltmarkt plus Zoll.“

Es wird also •dinedies eine Erhöhung des inländischen Preisniveaus um das Doppelte der Fracht und um den bisher nur auf dem Papiere gestandenen, fortab aber wirksam werdenden, bestehenden Zollsatz von l1/* fl» in Gold, d. i. 3 K 57 h, Platz greifen.

2. Warum in Österreich-Ungarn die Produktion von Inlandkonsum- zucker kontingentiert wird.

Österreich- Ungarn vollzieht seinen Beitritt zur Brüsseler Konvention in anderer Weise als die vier anderen Zucker exportierenden Signatannflehte. Diese suchen ihrer Zuckerindustrie für den voraussichtlichen Kntgang au Export dadurch einen Ersatz zu bieteu, daß sie, um den lulandkonsum zu beben, ihre Zucker- steiler herabsetzen, und zwar Frankreich von 60 auf 25 Frcs., Deutschland von 20 auf 14 Mark, Belgien von dem infolge des sogenannten Abonnements aller- dings nur nominellen Steuersatz von 45 auf 15 Frcs. und die Niederlande von 27 auf 24 fl. Bei uns dagegen besteht die staatliche Fürsorge für die von der Aufhebung der Ausfuhrprämie und der Herabsetzung des Kingangszolles betroffene Zurkeriudustrie darin, dal] es derselben ermöglicht werden soll, au dem Inland- konsum den verbliebenen Sechsfrancs-Zollschutz möglichst vollständig auszunützen, und zwar geschieht dies durch die hier bcigedruckteu Gesetze, von welchen das eine für beide Teile der österreichisch-ungarischen Monarchie, das andere, welches die individuelle Kontingentierung regelt, aber nur für Österreich gilt, während die analoge ungarische Gesetzesvorlage noch iin Stadium der parlamentarischen Behandlung sich befindet.

Welches sind nun die Gründo, durch welche die beiden Regierungen Österreich-Ungarns veranlaßt wurden, einen von dein Vorgehen der übrigen Zucker exportierenden Signatarstaaten so ganz und gar abweichenden Wog ciiizuschlagen?

Gewiß war die Rücksicht auf die beiderseits nur mühsam iui Gleichgewicht erhaltenen Staatsbudgets hiebei wesentlich inithestimmeiid, und ich für meinen bescheidenen Teil könute, so sehr ich auch von der Konsum steigernden Wirkung eines niedrigen Zuckerpreises und somit auch einer Herabsetzung unserer sehr hoheu Zuckersteuer überzeugt bin, doch denjenigen mich durchaus nicht anschließen, welche unserem Fiuanzminister seine ptliclitmflüige Obsorge für die Aufreclit- haltung des budgetären Gleichgewichtes förmlich zum Vorwurf machen und von der Inkamcriornug des bisher für Zuckerausfuhr-Bouifikatioiieu aufgewendeten Betrages beinahe wie von ein^r unmoralischen Handlung sprechen.

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Auspitz

Aber bei allem Respekt vor den budgetären Kücksichh-ii, halte ich mich doch fiir überzeugt, daß der wahre, der eigentliche, der Ausschlag gebende Grund dafür, daß unter allen Zucker exportierenden .Signatarstaaten gerade nur wir einen ganz besonderen Weg eiuschlagen, ganz wo anders, und zwar lediglich in der inneren, staatsrechtlichen Gestaltung der Monarchie und in dem steten llestrcbcli Ungarns zu suchen ist. seine staatliche Selbständigkeit auf wirtschaftlichem Gebiete auch innerhalb der aus hochpolitischen Gründen noch belassenen Zoll- geineinsainkeit so weit als nur irgend möglich nuszndchnen, ein llestreben. welches im vorliegenden Kalle durch die nationalen Gegensätze innerhalb des diesseitigen Itoichsteiles nur noch unterstützt wnrde.

ln der Drüsseler Konvention heißt es Art. 7, Abs. 0: „Österreich und Ungarn werden jedes für sich als vertragschließender Teil betrachtet“, und ferner im Schlußprolukoll zu Art 3: „In der Krwägung, daß der Zweck des Überzolles darin besteht, den inneren Markt der Krzengungslünder wirksam zu schützen“ u. s. w.

Ob und inwieweit die zuerst zitierte Bestimmung mit der doch wenigstens nach außen fcstznhaltenden Einheitlichkeit der Österreichisch. ungarischen Monarchie vereinbar ist, das zu erörtern muß ich Diplomaten und Staatsrechtslehren! über- lassen; aber das eine ist mir als Laien auf dieseu Gebieten doch vollkommen klar und muß jedem, der unsere transleitlianischen Brüder nur halbwegs kennt, unbedingt klar sein, daß nämlich aus dein Zusammenhalte der beiden, soeben angeführten Bestimmungen mit unabweisbarer Notwendigkeit der ungarische Ausprncli erwachsen mußte, daß der gesamte ungarische Zuckerkutisum ausschließ- lich nur durch die ungarische Produktion gedeckt werden dürfe.

Bisher war dies bekanntlich nicht der Kali, ln der Erzeugungsperiode 1900/Ul, der letzten, für welche diu Ergebnisse des Überweisungsverkehres mir bekannt geworden sind,

wurden in Ungarn versteuert ......

und davon ansgeführt:

nach Österreich

. Bosnien

zusammen . .

während zu den iu Ungarn verbliebenen . i »higelührt wurden:

aus Österreich

* Bosnien

dem Zollauslaud

so »laß also in Ungarn verbraucht wurden

Konsumzucker

Rohzucker

i in Meterzentner

in Meterzentner

! 550.807-75

3.461-39

r

92.194*43

0-20

26.486 23

il 118.68066

0-20 1

432.17709

3.46119

| 360.155-48

3.376-54

4.070 03

313

796.724 60

6.837-73

j

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Österreich-Ungarn nud die Brüsseler Zuckerkonvention.

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«ler, den Rohzucker zu 00 Proz. gerechnet, zusammen 802.879 q Konsumzucker- wert repräsentierte. Von dieser letzteren Ziffer gelangt man durch Zuschlag von jo 2*5 Proz. für jedes der drei zwischenliegenden Jahre zu der pro 1003/4 normierten, ungarischen Kontingentziffer von 863.600 q; während aber, wie aus Jen vorstehenden Zahlen hervorgeht, der ungarische Zuckerverbrauch in der Erzeugungsperiode 1 900/1 nur zu 69 Proz. aus ungarischen und zu 31 Pro/., aus österreichischen Raffinerien gedeckt wurde, soll künftig die Deckung des ungarischen Konsums ausschließlich den ungarischen Raffinerien zufallen.

Um nun diesem durch das oberwähnte, staatsrechtliche Zugeständnis unab- weisbar gewordenen, ungarischen Anspruch gerecht zu werden, ohne jedoch gegen die unbedingt aufrecht zu erhaltende Einheitlichkeit des österreichisch-ungarischen Wirtschaftsgebietes irgendwie zu verstoßen, blieb in «ler Tat nichts anderes übrig, als für jedes der innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie zollgeeinten Staatsgebiete die Produktion von Inlandkonsumzucker zu kontingentieren. Eine weitere Folge hievon ist dann die Kontingentierung auch der von jeder einzelnen Zuckerfabrik für den Inlandkonsnm zu erzeugenden, beziehungsweise zu ver- steuernden Zuckermenge; denn z. B. die österreichische Regierung kann der ungarischen Regierung gegenüber die Verpflichtung, «laß, von allen Österreichischen Zuckerfabriken zusammengenonnnen, nicht mehr als das diesseitige Kontingent beziehungsweise nicht mehr als das davon jeweilig liberierte Teilquantum, auf den Inlandmatkt gebracht werden wird, nur daun übernehmen, wenn sie es auch kraft des Gesetzes in der Hand hat, bestimmen zu können, welche dieser Fabriken überhaupt und wie viel jede der hiezu berechtigten Fabriken in jeder Erzeugnngs- periode auf den Inlaudmarkt bringen darf.

Wenn ich oben erwähnt habe, daß das ungarische Bestreben nach größt- möglicher, wirtschaftlicher Selbständigkeit im vorliegenden Falle durch die in Österreich herrschenden, nationalen Gegensätze nur noch unterstützt wurde, so bängt dies folgendermaßen zusammen. Die Kontingentierung der Produktion wird als ein Mittel gepriesen und ist auch in der Tat ein geeignetes Mittel uni kleinere, manchmal einigermaßen rückständige Betriebe gegen die überlegene Konkurrenz größerer, besser investierter Etablissements zu schützen; gerade hierin liegt aber auch ein schwerer, gegen das Prinzip der Kontingentierung zu er- hebender Vorwurf, der gerade dann sich anfdrängen muß, wenn es sich darum handelt, eine bisher durch Ausfuhrprämien unterstützte Industrie auch ohne Prämie exportfähig zu erhalten, wozu ja naturgemäß nur die bestausge nisteten Betriebe geeignet erscheinen. An dieser staatswirtschaftlich gewiß nicht un- berechtigten Erwägung scheint im Deutschen Reiche die von der Mehrheit «ler Fabriken auch dort gewünschte Kontingentierung zu scheitern, während bei uns die gleiche Erwägung dadurch von vornherein aus dem Felde geschlagen wurde, daß das Interesse der kleineren Fabriken infolge ihrer tatsächlichen, geogra- phischen Verteilung zu dem Range einer tschechisch-nationalen Parteifrage erhoben wurde. Auch die polnische Fraktion des Abgeordnetenhauses ist für di«» Kontingen- tierung — allerdings nur für eine nach ihrem provinziellen Sonderinteresse zu- geschnittene Kontingentierung förmlich mit Vehemenz eingetreten. Nachdem zuvor Ungarn ein Junktim zwischen der allein unbedingt nötigen und kurz

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Auspttz.

befristeten Annahme <ter Brüsseler Konvention und der keineswegs ebenso eiligen Kontingentierung der Zuckerproduktion in jedem der drei, in der österreichisch- ungarischen Monarchie zollgeeinten Staatsgebiet« durchgesetzt hatte, haben die polnischen Politiker durch Obstruktionsdrohungen auch noch ein weiteres Junktim für die schon gar nicht eilig«, individuelle Verteilung des österreichischen Zucker- kontingentes erzwungen. Anderseits fanden die Tschechen mit der weitgehenden, in der Regierungsvorlage den kleineren Rohzuekerfabriken auf Kosten der größeren, insbesondere aber der sogenannten, gemischten Fabriken zugewendeten, sehr nam- haften Begünstigung sich noch nicht zufriedengestellt, warfen sich zu Paladinen der Rohzuckerindustrie überhaupt anf und machten im letzten Augenblick am 29. Jänner, also unmittelbar vor der am 1. Februar ablaufcnden Ratiflkationsfrist der Brüsseler Konvention, ihre Znstimmung, ja ihren Veracht auf eine Obstruktion von einer vorausgogangenen, die Kohznckorfabriken befriedigenden Einigung der- selben mit den Raffineuren abhängig. Diese Einigung ist bekanntlich am fol- genden Tage gegen 12 Uhr mittags erfolgt; wäre aber die Entrüstung der deutschen Volkspartei darüber, daß znm Zwecke des Zustandeliriiigens dieser Einigung die Vertreter der beiden genannten Industriebranchen selbstver- ständlich nicht aus eigener Anmaßung, sondern nur über an sie von einer Stelle, welche sie für kompetent halten mnßten, ergangene Aufforderung in den Nebeiiräumcn des Parlamente selbst sich zusaiumengefunden hatten, eine halbe Stunde früher ausgebrochen, wäre sonach der Hinauswnrf der Zucker- industriellen aus dem Budgetsaale eine halbe Stunde früher erfolgt, so wäre diese Einigung und mit derselben die parlamentarische Erledigung der Brüsseler Konvention, zur großen Blamage unseres Vaterlandes vor ganz Europa, in die Brüche gegangen. Es hat sich eben, wie schon öfter bei früheren ähnlichen Anlässen, diesmal wieder gezeigt, daß tschechische und polnische Politiker, wenn sie auch die herrschende Mode des Gebrauches antikapitalistischer Redensarten im allgemeinen gerne rnitmachen, doch überall dort, wo es um materielle Inter- essen ihrer Kon nationalen nnd selbst auch größerer Unternehmer, wie ja selbst der kleinste Rohzuckerfabrikant doch ein solcher noch ist, sich handelt, dieselben mit aller Energie und ohne Rücksicht auf sonst beliebte, antikapitalistische Allüren zu vertreten nicht anstehen; nur di« deutschen Parteien gönnen sich den in unserem relativ kapitalsarmen Vaterlande recht bedenklichen Luxus, es mit dem Antikapitalismns bitter ernst zu nehmen, und unr die deutschen, größeren Unternehmer sind es daher, welche auf eine wirksame Vertretung im Abgeordneten- hause nicht rechnen können, welche vielmehr dort, statt den gebührenden Schulz zu linden, sogar noch Verunglimpfungen ausgesetzt sind.

3. Singularkontingentierung und Doppelkontingentierung.

Die individuelle Aufteilung des Zuckerkontingentes erfolgt in Österreich und Ungarn nach verschiedenen Grundsätzen; es sind eben auch die einschlägigen Verhältnisse dies- und jenseits der Leitha sehr verschieden. Wir haben in Österreich im ganzen 211 wie der amtliche Ausdruck lautet Zucker- erzeugungsstätten. Davon sind 14 reine K a f fi n e r i e n, welche den zu ver- arbeitenden Rohzucker aus anderen Fabriken ankaufen; eine weitere Raffinerie

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Österreich-Ungarn und die Brüsseler Zackerkonvention, 405

wird, weil dieselbe nebst Rohzucker auch fremde Melasse verarbeitet, d. h. entzückert., zu der Kategorie der sogenannten gemischten Fabriken gerechnet. Wir haben ferner 28 gemischte Fabriken, welche Rübe verarbeiten and daraus mit oder ohne Zukauf von Rohzucker Konsumzucker, und zw ar entweder ausschließlich Inlandkonsumzncker oder daneben auch Exportkonsumzacker herstellen. Dabei sei bemerkt, daß nur einige, weniger ins Gewicht fallende Konsumzuckersorten, Würfel, Mehl und Pile, sowohl im Inland als auch zum Export, verkauft werden, wahrend di»* Hauptmasse des inländischen Zuckerbedarfcs auf sehr feinkörnige Zuckerbrote oder -Hute sich erstreckt, welche ein spezielles, für den Export ungeeignetes Produkt bilden, zu dessen Herstellung besondere, kostspielige Werksvorriclitungen erforderlich sind. Endlich haben wir in Österreich eine weit überwiegende Zahl, nämlich 1 138 reine Roh Zuckerfabriken, welche Rühe verarbeiten und daraus bisher entweder nur Rohzucker oder daneben auch Exportkonsamzucker hergestellt haben. Dagegen gibt es in Ungarn im ganzen nur 21 Zuckererzeugnngs- stätten. darunter gar keine reine Raffinerie, 10 gemischte und 11 reine Rohzucker- fahriken. von welch letzteren jedoch die Mehrzahl durch ihre Eigentümer mit gemischten Fahriken Zusammenhängen. Daher kommt es, daß das in Österreich so zahlreich vertretene und gegen die anderen Zweige der Zuckerindustrie mehr oder weniger antagonistisch sich geltend machende, spezifische Rohzuckerinteresse in Ungarn nur durch drei oder vier Fabriken repräsentiert erscheint. Auch der Unterschied und somit auch der Interessengegensatz zwischen groß und klein ist in Ungarn weit geringer als in Österreich, wo die größte der Rüben ver- arbeitenden Fabriken zufällig eine gemischte Fabrik in Rohzucker berechnet 154.000 fl, d. i. das 17fache der kleinsten Rohzuckerfabrik mit bloß 9000 q, produziert, während die analogen, ungarischen Zahlen 217.000 und 31.000 im Verhältnis von nur 7 : 1 zueinanderstehon; nicht weniger als 42 österreichische Fabriken .stehen mit ihrer Erzeugung hinter der kleinsten, ungarischen Fabrik zurück. Endlich sind die 21 ungarischen Fabriken Eigentum von bloß 12 Firmen, während in Österreich die Falle, daß mehrere Fabriken gemeinsame Eigentümer haben, verhältnismäßig weit seltener sind.

Nimmt inan zu alledem noch hinzu, daß für die individuelle Verteilung des ungarischen Zuckerkontingentes eine gegen bisher um rund 300.000 tj oder beinahe 53 Proz. erhöhte Kontiiigentziffer znr Verfügung steht, so wird es begreiflich, daß die ungarische Regierung wie in ihrem Motiven berichte ans- geführt wird es gar nicht nötig hatte, für diese Verteilung irgend eine theoretische Grundlage anfzustellen. daß vielmehr die bei diesem Anlaß offiziell gerühmte „patriotische Einsicht“ der ungarischen Zuckerfabrikanten genügt hat, um eine freiwillige Vereinbarung der Interessenten zu stände zu bringen. Dieselbe beruht, auf dein Prinzipe der sogenannten Singularkontingentierung, wonach die 10 gemischten Fabriken in ihrer Eigenschaft als Raffinerien vorweg ein Prüzipnnm von 25 Proz. des ungarischen Kontingentes erhielten und der Rest dieses Kontingentes auf sämtliche 21 Fabriken im Verhältnisse ihrer Kobznckcrproduktion, jedoch mit einer gewissen Benachteiligung der jüngsten Fabriken, aufgeteilt wurde. Die reinen Rohzuckerfabriken werden dadurch, soweit sie nicht durch ihre Eigentümer mit einer gemischten Fabrik Zusammenhängen, vor die Alternative

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Auapiti,

gestellt, entweder die zur Selbsterzengang der anf sie entfallenden Inland-Konsum- zuckermengen notigen Werks Vorrichtungen anzuschaffen, also gerade zur Zeit der durch die Brüsseler Konvention ungünstig beeinflußten Konjunktur kostspielige Investitionen zu machen oder aber ihre Kontingentanteile an eine der mit diesen Wo rks Vorrichtungen schon hinlänglich versehenen, gemischten Fabriken abzutreten oder dieselben dort in Lohn herstellen zu lassen. Ilis nun ist eine solche Transaktion noch nicht zum Abschlüsse gelangt und es bleibt abzuwarten, oh eine solche zu Gunsten der Rohzuckerfabriken Ausfallen wird, da dieselben dabei anf den kleinen Kreis der gemischten, ungarischen Fabriken, tatsächlich, wie die Dingo liegen, auf bloß drei, als Abnehmer angewiesen sind und den letzteren die Zwangslage, in der sich die reinen Kohznckerfahrjken befinden, selbstverständlich sehr wohl bekannt ist.

Unter den weit schwierigeren, weit komplizierteren, weit mehr und größere Interessengegensätze in sich bergenden. Österreichischen Verhältnissen hat man sich bei uns für die sogenannte Doppelkontingentierung entschlossen, welche den großen Vorzug hat, dem bei jeder wirtschaftlichen Gesetzgebung vor allem hochzuhal lenden Prinzipe tunlichster Schonung des Bestehenden zu entsprechen, während bei der Singularkontingentierung sprunghafte Änderungen und Produktions- Verschiebungen nur schwer vermeidlich sind. An diesem Fehler leidet auch die ungarische Singularkontingentierung, und dieselbe dürfte nur dämm unbedenklich sein, weil sie ja auf einer freiwilligen Vereinbarung hoiuht und weil infolge der starken Erhöhung der Erzeugung von Inlandkonsumzucker schmerzliche Produktious- einschränkungen dort nicht, Vorkommen werden; hei uns dagegen würde die Singular- kontingentierung — ganz abgesehen davon, daß an eine diesbezügliche, freiwillige Vereinbarung der so viel zahlreicheren und in ihren Interessen weit disparateren, österreichischen Fabrikanten gar nicht gedacht werden könnte geradezu eine Gefahr bedeutet haben. Es hätten nämlich höchstwahrscheinlich, obwohl ein nüchterner Kalkül hievon abraten müßte, doch viele bisherige reine Rohzucker- fabriken schon weil dies der Eitelkeit der Direktoren schmeichelt die hei der Siugularkoiitingenticrnng ihnen zufallenden Inlandkonsumzncker- Anteile auch seihst erzeugen wollen und daher die zu deren Herstellung nötigen, besonderen Werksvorrichtungen anschaffen müssen; dies wäre aber vorn Standpunkte der Volkswirtschaft geradezu eine Vergeudung gewesen; denn die bestehenden, öster- reichischen Raffinerien, deren Werksvorrichtungen für die Erzeugung des ganzen österreichischen Kontingente», ja solbst auch eines weit größeren Quantums vollkommen ausreichen, hatten, da ja hei uns nicht, wie in Ungarn, eine Erhöhung der Produktion an Inlandkonsmnzucker, sondern im Gegenteile eine Verminderung um mnd 100.000 7 Platz greift, ihren Betrieb wesentlich eiuschräiikeii müssen. Also unnötige, neue Investitionen auf der einen und partielle Lahmlegung beste- hender, gleichartiger Investitionen anf der andern Seite, da« war doch wahrlich unter unseren nicht gerade an Kapitalüberfluß leidenden Verhältnissen unbedingt zn vermeiden. Dazu kommt aber noch eins: für den Zweck der ganzen Kontiu- gentieruugam aßregel, welcher außer daß der ungarische Znckerkonsum für die dortige Produktion Vorbehalten wird darin besteht, der heimischen Zucker- industrie die möglichst vollständige Ausnützung des Sechs-Franes-Schutzzolles zu sichern, ist die Kontingentierung allein noch nicht genügend; es muß vielmehr

Österreich-Ungarn and die Brüsseler Znckerkonvention.

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noch eine Zentralisierung des inländischen ZuckerverkanfeB dnrch eine sogenannte Verkaufsvereinignng hinzukommen. Sonst würde nämlich jede Raffinerie dort ver- kaufen wollen, wo nach der geographischen Lage der Znckerpreis am höchsten sein wird, also z. B. in Wien, während niemand nach Triest würde verkaufen wollen, weil trotz der hohen Kosten für die Fracht seihst von der nächstgelegenen Raffinerie der Znckerpreis in Triest besonders niedrig wird gehalten werden müssen und das Rindringen von französischer Raffinade oder von ägyptischem Rohzucker, der, weil aus Zuckerrohr stammend, unmittelbar konsumtionsfähig ist, hintanzn- halten. Kine Verkaufsvereinignng wird nun unter den 43 österreichischen Raffinerien wnlil zu stände gebracht werden können, schwerlich aber wenn dnrch den ilinzutritt bisher reiner Rohzuckerfabriken die Zahl derjenigen, die unter „Einen Hut“ gebracht werden müssen, sich vielleicht verdoppelt oder verdreifacht oder gar noch mehr vervielfältigt hätte.

Was ist nun die Doppelkontingentiernng und worin besteht dieselbe? Ein- fach darin, «lall das ganze österreichische. Zuckerkontingent zweimal, und zwar:

das eine Mal auf alle Raffinerien, das sind die reinen Raffinerien und die gemischten Fabriken,

das andere Mal auf alle Rohzuckerfabriken, das sind die reinen Roh- zuckerfabriken und wieder die gemischten Fabriken, aufgeteilt wird,

dall ferner jede Rohzuckerfahrik vom Finanzminister eine ihrer Quote ent- sprechende Menge sogenannter Berechtigungsscheine erhält und

daß endlich jede Raffinerie ihre Quote an dem Zuckerkontingent nur gegen dem in den freien Inlandverkehr setzen darf, daü dieselbe ebenso, wie über die erfolgt«! Versteuerung, auch darüber sich ausweise, daü sie die diesem Quantum entsprechende Menge von Berechtigungsscheinen, welche nur von den Rohzucker- fabriken erhältlich sind, erworben habe. Oie aus den beiden Aufteilungen sich ergebenden, beidemale in sogenannten Beteilungs mall stäben zum Aus- druck kommenden Quoten sind in ihrer wirtschaftlichen Bedeutung auüerordentlich verschieden. Wenn eine Raffinerie aus der ersteren Aufteilung einen Beteilungs- maßstah von z. B. 01.166 erhalten hat, so bedeutet dies, da die Summe der BeteilungsmaBstäbe aller Raffinerien 3,058.285 beträgt, «laß diese Raffinerie «las Recht und bei Verlust dieses Rechtes auch die Pflicht hat, in jeder der fünf Erzeugungsperioden, für welche das Kontingentierungsgesetz gilt, von jenem Quantum lulandknnsumznrker, welches der Finanzminister zuui Verkaufe in einer Erzeugungsperiode freigeben (liberieren) wird, 2 Proz. zu versteuern und im Inland zu verkaufen; erzeugen darf diese Raffinerie an Inlandkonsumzucker aller- dings auch mehr, aber sie müßte das Plus für die nächste Erzeugungsperiode in ihren Magazinen zurückbehalten. Der Beteilungsmailstab einer Raffinerie ist also auch für den Umfang ihrer Produktion an Inlaudkonsumzucker maßgebend: demselben kommt eine sehr wesentliche, technische Bedeutung zu. (ianz anders die aus der zweiten Aufteilung für die Rohzuckerfabriken hervorgehenden Quoten, beziehungsweise Beteilungsmallstäbe; wenn einer Rohzuckerfabrik ein solcher Retcilungsmaflstab in der Höhe von z. B. 48.070 angewiesen ist, so hat dies lediglich die Bedeutung, daß da die Summe der Beteilungsmaßstäbe aller Roh- zuckerl'abriken 0.615.800 ist diese Fabrik mit */, Proz. an jenem Gesamtbeträge

Zeitschrift für Voikawlmchaft, Sozialpolitik und Verwaltung. XII. Band. 28

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Awpiti.

partizipiert, welchen sämtliche Raffinerien für die von denselben benötigten Berechtigungsscheine an sämtliche Robzuckerfabrikon zu entrichten haben. Dieser Betrag ergibt sich aus der Multiplikation der aus allen österreichischen Raffinerien in einem Jahre hinweggebrachten Inland konsumauckerm enge mit dem am 30. Jänner d. J. im Budgetsaale des Abgeordnetenhauses zwischen den beiden Zweigen der Zuckeriudustrie vereinbarten Einheitssätze von 3 K 30 h per 100 ky versteuerten Konsuinzucker. Eine technische Bedeutung in dem Sinne, daß die Höhe des einer Kohzuckerfabrik zugewiesenen Beteilungsmaßstabes irgend wie begrenzend auf den Produktionsumfang und somit auf die Rübeneinkaufstnenge der betreffenden Rohzuckerfabrik einwirken würde, kommt also diesen Beteilungs- maßstäben in keiner Weise zu, obwohl es bei der leider wenig glücklichen, für den Nichtfachmann oft kaum verständlichen Diktion des Kontingentierungsgesetzes begreiflich ist. daß die gegenteilige Meinung, als ob ebeuso, wie den Raffinerie- hetmlungsmaßstäben, auch den RohzuckerbeteilungsmaßstAben eine wichtige, tech- nische Bedeutung zukfnne, entstehen kann. Vielmehr ist der Umstand, ob eine Rohzuckerfabrik einen noch so großen oder noch so kleinen Beteilungsmaßstab hat, für die Grüße ihrer Produktion vollkommen gleichgültig und ist vielmehr nur dafür maßgebend, mit welcher Quote diese Fabrik an dem soeben erwähnten Geldbeträge partizipiert. Nur in einer Hinsicht es sei dies der Vollständigkeit wegen bemerkt hat der einer Kohzuckerfabrik zugewiesene Beteiluiigsinaßstab auch eine technische Bedeutung, aber nicht im Sinne einer Begrenzung der Produktion nach oben, sondern vielmehr in detn Sinne, daß durch denselben für die Produktion eilt Minimum festgesetzt wird. Es wird nämlich im § 7, Abs. 3 des Gesetzes, betreffend die Regelung der individuellen Verteilung des Zuckerkontingentes, eine Strafe darauf gesetzt, wenn z. B. die oberwähnte Fabrik, deren Rohzacker- beteilungsmaßstab 48.079, d. i. gerade '/* Proz. der Summe aller Hohzucker- boteilungsinaßstäbe beträgt, in einer Betriebsperiode weniger Zucker fertigstellen würde, als einem halben Prozent des ganzen, in derselben Betriebsperiode libe- rierten Konsum zuckerquantums entspricht; das wäre, wenn gerade das ganze Kontingent von 2,770.340 q liberiert würde, 13.852 q Konsumzucker oder 15.391 7 Rohzucker. Die Strafe besteht darin, daß, wenn die Erzeugung der Fabrik hinter diesem Minimum z. B. um 10 Proz. zurückgeblieben wäre, ihr Kolrzuckcrheteilungsmaßstab für die nächste Betriebsperiode um 10 Proz. gekürzt wird. Praktische Bedeutung dürfte dieser Bestimmung wohl kaum jemals zukommen.

Um das Gesagte noch klarer zu machen, mögen für das liberierte Konsuin- zuckerqnantum und für den daraus erzielten Erlös bestimmte Ziffern angenommen werden. Gesetzt, es würden in der Betriebsperiode 1903/4 gerade das ganze Kontingent voll 2,770.340 q liberiert, und es würde für dieses Quantum ein Erlös erzielt werden, von welchem nach Bestreitung aller Verkaufsspesen und aller Frachten von den Uaffineriestationen zu den Konsumplfitzen gerade 200 Mill. Kronen übrig bleiben würden; das wären also 72 K 19 h per Meterzentner Konsuinzucker. Voll diesen 200 Mill. Kronen haben die Raffinerien abzugeben 38 X 2,770.340 = 105,272.920 K an den Fiskus und 3*3 X 2,770.340 = 9,142.142 K an die Rohzuckeriudustrie. so daß denselben verbleiben 85,584.985 K

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Österreich-Ungarn und die Briüneler Zuckerkonveution

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oder 30 K 89 h per Meterzentner Inlandkonsumzucker. Ob hievon nach Bestreitung der Rohzuckerbeschaffuugs- und der Raffinierungskosten, nach Verzinsung des Betriebs- und Anlagekapitals und nach angemessener Amortisation des letzteren noch irgend etwas und wie viel erübrigt, das wird jede einzelne Raffinerie erst nachträglich ans ihrer Bilanz erfahren. Dagegen weiß jode Rohznckorfabrik im vorhinein ganz genau, wie viele Heller ans jedem vom Finanzminister liberierten Zentner Konsum - zucker ihr, und zwar völlig unabhängig von Quantum und Quäle ihrer eigenen Produktion, lediglich dank dem Sechs-Franca-Zollscbutz zn gehen werden; der inehr- erwähnten Fabrik mit dom Uobzuckerbetcilungsmaßstab von 48.079 z. B. gerade Vs Pro», von 3 K 30 /i, da« ist 1*05 h.

Ganz ähnlich so hat es sich auch bisher verhalten. Auch jetzt fungieren die Raffinerien, indem sie den ganzen Inlandkonsumzucker zum Verkauf bringen, als Einnehmer sowohl der staatlichen Verhrauchsabgabe, als auch des den Roh- zuckerfahriken nach den bestehenden Vereinbarungen zukommenden Anteiles an dem Kartellnutzen. Auch bisher ist dieser Anteil für jede einzelne Rohzueker- fabrik prozentuell von vornherein genau bestimmt und dem gesamten, inländischen Zuckerverbrauch genau proportional. Ein Unterschied besteht darin, daß die Höhe dieses Anteiles bis nun auch noch von der Differenz abhing, um welche der jeweilige Rohzuckerpreis hinter einem im voraus garantierten Preisniveau zurückblieb, während fortab an die »Stelle diese« schwankenden Faktors der fixe Satz von 3 K 30 h tritt.

4. Begünstigungen und Benachteiligungen.

Von dem durch die Doppelkontingentierung zu verwirklichenden Grundsätze der Erhaltung des Bestehenden sind in zwei Richtungen Ausnahmen gemacht worden, und zwar einerseits zu Gunsten der galizisch-bukowinaer Fabriken und anderseits zu Gunsten der kleinen, vorwiegend böhmischen, reinen Rohzucker- fabriken.

Die erstere Ausnahme bestand in der Regierungsvorlage darin, daß nebst den 43 Raffinerien 14 reinen Raffinerien und 29 gemischten Fabriken welche bis nun in Österreich tatsächlich allein Zucker in den freien Inlandverkehr gesetzt haben nud für welche die höchste Versteuerung in einer der drei Erzeu- gungsperioden 1898/9, 1899/1900 und 1900/1 als Beteilnngsmaßstab festgesetzt ist, noch die 3 östlichen, bisher reinen Rohzuckerfabrikeil mit Individualanteilen an «lein Konsnnizuckerkontingent bedacht wurden. Es sind dies die ostgalizische Fabrik Tlnmacz und die hukowinaer Zuckerfabriken Lnzan und Zuczka, von welchen die beiden ersteren der Chropiner Aktiengesellschaft, das ist der Gesamtheit der österreichisch-ungarischen Raffineure, die letztere aber der galizisch-huko- winaer Zuckeriiidustrie-Aktiengesollschaft in Przeworsk gehören, und es ist dies aus dem Grunde geschehen, weil es unwirtschaftlich erscheint, den in diesen drei so weit östlich liegenden Fabriken erzeugten Rohzucker nach der einzigen galizischcn. im westlichen Landesteile gelegenen Raffinerie Przeworsk oder gar nach der nächsten, schlesischen Raffinere Chjbi zu verfrachten und dann die daraus erzeugte Raffinade wieder nach den ustgalizischen und hukowinaer Konsumplätzen zurückzuführen. Es mag ja sein, daß trotz der Ersparnis

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A Ulpits.

dieser Frachtkosten die Errichtung einer neuen Raffinerie den Besitzern der drei iiatlich gelegenen Fabriken nicht rentabel erscheinen und es daher bei dem eben erwähnten Hin- und Herverfrachten nach wie vor bleiben wird ; aber eine Ent- scheidung, durch welche so etwas perpetuiert wird, sollte doch wenigstens von der Gesetzgebung nicht getroffen werden. Dies wurde auch in der am 12. bis 14. Jänner d. J. im Finanzministerium abgehaltenen Enquete allseitig, und /.war dadurch anerkannt, daß kein Widerspruch dagegen sich erhob, daß den genannten drei östlich gelegenen Fabriken IiafÜneriebeteilungsmaßstäbe in der GesamthOhe von 100.000 zugewiesen würden. Wenn die Regierung noch etwas weiter, nämlich auf 120.000, gegangen ist, so befremdet dies weit weniger als die höchst eigen- tümliche Art der Verteilung dieser Ziffer, daß nämlich die der polnischen Aktien- gesellschaft l’rzeworsk gehörige Fabrik Zuczka 100.000 erhalten hat. während die beiden der vorwiegend deutschen Chropiner Gesellschaft gehörenden Fabriken Lnzan und Tlnmacz mit je 10.000 sich zu begnügen haben. Es ist eine gute Illustration dessen, was über die seitens unseres Abgeordnetenhauses den größeren Unternehmern, je nachdem dieselben einer slavischen oder der deutschen Nationalität angehören, zuteil werdende, ungleiche Behandlung oben gesagt wurde, daß an dieser Begünstigung der Przoworsker Aktiengesellschaft der Zucker- stencrausschuß nicht nur keinen Anstoß genommen, sondern im Gegenteil in dieser Richtung noch weiter zu gehen für nötig gefunden hat.

Der Zuckersteuerausschuß hat an der Kontingentierungsvorlage der Regierung zwei Änderungen, beide im § 4. vorgenommen; dieser Paragraph bestimmt, was zu geschehen hat, wenn infolge einer Zunahme des österreichischen Zucker- konsmns das österreichische Zuckcrkontingent, sei es schon in der Erzeugnngs- periode 190:1/4 oder in einer der späteren Erzeugungsperioden 1004/5 bis 1907/8, über die ursprüngliche Ziffer von 2,770.340 7 erhöht werden sollte. Nach der Regierungsvorlage sollte in solchem Falle das Plus an Kontingent den 46 Raffinerien den 14 reinen Raffinerien, den 29 gemischten Fabriken und überdies noch den drei östlichen Fabriken verhältnismäßig znge- wiesen werden, während die 197 Rolizuckerfahriken, das sind die nach Ausschluß der letzteren drei Fabriken mir mehr 165 reinen Rohznckerfabriken, dann wieder die 29 gemischten nnd die drei östlichen Fabriken zu gleichen Teilen an dem Kontingentzuwachg partizipieren sollten. Diese letztere Bestimmung ist liebst anderen, die noch zu besprechen sein werden, eine Begünstigung der kleinen auf Kosten der größeren Rohznckerfabriken.

Der Zuckerstenerausschuß hat, wie gesagt, an diesem § 4 zwei Änderungen vorgenommen. Die eine, welche im Ansschußberichte mit den Worten „daß der Schatz der Kleinen auch bei den kleinen Raffinerien zum Siege gelangte und daß denselben eine Aufbesserung ihrer Zuckerkontingente bis zur Quote von je 70.000 7 bewilligt wurde- man kann wohl nicht sagen begründet wurde, ist bei der zweiten Lesung im Plenum, sonderbarerweise und gegen alle Geschäftsordnung über Antrag des Berichterstatters, sang- und klanglos gefallen; es würde auch in der Tat recht schwer sein, für den Schutz der Kleinen, welcher bei Rohznckerfabriken nnr mit dem Interesse der Landwirtschaft an der Konser- vierung jeder bestehenden Rühoiieinkaafsstelle motiviert werden kann, bei

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Österräch-thigani und die Brüsseler Zuckerkonventiou. ; ] [

Raffinerien, wo jede derartige Krwägung vollkouiuieii weglallt, auch nur einen halbwegs plausiblen Grund zu linden. Überdies wäre die Begünstigung der „kleinen Raffinerien* mehreren der allergrößten Zuckerfirmen zu gute gekommen. Die andere Änderung, welche der Ausschuß, und zwar zu Gunsten der Przeworsker Aktiengesellschaft, vnrgenonimen hat, ist dagegen Gesetz geworden. Dieselbe bedeutet nichts anderes, als daß, wenn das österreichische Zuckerkontingent erhöht wird, diese Krhühuug, sw lange diesolbe nicht mehr als 63.900 7 Konsum- zucker = 71.000 7 Rohznckerwert beträgt, zwar den Raffinerien im Sinne der Kegierungsvurlagc, aber, was die Rolizuckerfahriken aubelangt, nur den beiden, derselben Aktiengesellschaft gehörenden Fabriken Przeworsk und Zuczka und der von der Leipnik-Luudenburger Aktiengesellschaft in Leopoldsdorf neu errichteten Fabrik, welche wohl, um die Begünstigung der erstereu Aktiengesellschaft minder grell erscheinen zu lassen, mit herangezogen wurde, zu gute kommen soll; erst wenn das österreichische Zuckerkontingent die ursprüngliche Ziffer von 2,770.340 um mehr als 63.900 7 überstiegen, wenn dasselbe also die Ziffer von 2,834.240 7 überschritten haben wird, erst dann tritt hinsichtlich der Roh- znckerfahrikeli die Bestimmung der Regierungsvorlage, daß nämlich au dem Plus alle Rohzuckerfabriken zu gleichen Teilen zu partizipieren haben, wieder in Kraft. Die hier in Betracht kommenden Kohzuckerbeteilungsmaßstäbe sind für Przeworsk, nach der noch weiter unten zu besprechenden Regel für schon während einer der drei Krzeuguiigsperioden 1898 99, 1899/1000 und 1900/01 in Betrieb gewesene Fabriken 74.250, für Zuczka und für Leopoldsdorf, welche beide erst im Jahre 1901/2 in Betrieb gesetzt wurden, 102.000 beziehungsweise 39.000, und es ist eine weitere, schon in der Regierungsvorlage enthaltene Begünstigung der Przeworsker Aktiengesellschaft, daß von den drei Fabriken, welche im Jahre 1901/2 in Betrieb gesetzt wurden, gerade nur Zuczka den hohen Bcteilungsmaßstab von 102.000, die beiden anderen Luran und Leopoldsdorf aber nur je 39.000 erhalten haben. Der Kffekt der in Rede stehenden, vom Zuckersteneransschuß beschlossenen und Gesetz gewordenen Änderung ist nun der folgende;

Solange das österreichische Zuckerkontingent die Ziffer von 2,770.340 7 nicht übersteigt, partizipieren die Przeworsker Aktiengesellschaft für ihre beiden

1

Fabriken Przeworsk und Zuczka mit -■ . = I ’83 Proz., die Leopoldsdorfer

9, 61. >.800

39.000

Fabrik mit , -- = 0'41 Proz. au der von allen Raffinerien für die bouö-

9,615.800

tigteu Berechtigungsscheine an alle Rohzuckerfabriken zu zahlenden Summe, das ist bei voller Liberierung des Kontingentes der oben angeführte Betrag von 9,142. 1 22 K, voll welchem also in diesem Falle erhalten würden: die Przeworsker Aktien- gesellschaft 167.567 K und die Fabrik Leopoldsdorf 37.079 K. Steig! nun das österreichische Zuckerkontingent um oberwähnte 63.900 7 und somit der bei voller Liberierung von den Raffinerien für die erforderlichen Berechtigungsscheine zu entrichtende Betrag uin 3'3 X 63.900 210.870 K, so wäre hievon nach der Regierungsvorlage auf jede der 197 Rohzuckerfabriken ein Betrag vou 1070 K entfallen; es hätte also die Przeworsker Aktiengesellschaft für ihre zwei Fabriken 2140 K und Leopoldsdorf 1070 K mehr, als soeben berechnet, erhalten. Durch

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Auspitz.

die vom ZuckereteuerauBBchdß beschlossene und seither Gesetz gewordene Änderung kommt dagegen der Mehrbetrag von 210.870 K ausschließlich den genannten drei Fabriken zu gut«*, und zwar wird derselbe unter diese drei Fabriken im Verhältnis von 32 : 02 : 7 oder zwischen den zwei Aktiengesellschaften Przeworek einerseits und Leipnik-Luiidenhurg anderseits im Verhältnis von Gl : 7 geteilt; die erstere erhält also 190.080 K. die letztere 20.790 K , so .laß ans der an der Regierungsvorlage vorgenonuueiien Änderung der erstcron Aktiengesellschaft ein Gewinn von jährlich 187.940 K. der letzteren aber ein solcher von 19.720 K, den übrigen 194 Rohzuckerfabrikon aber ein Nachteil von je 1070 K erwächst.

Außer dieser rein pekuniären Bedeutung «ler au der Regierungsvorlage vorgenommenen Änderung kommt derselben nur noch «li«-* praktisch ganz gleich- gültige Bedeutung zu, daß für die begünstigte’« Fabriken das durch § 7., Abs. 5 des Kontingeutierungsgesetzes normierte Krzeuguiigsmiiiiiiiuin sich erhöht, und es ist daher geradezu erstaunlich, daß hervorragende Parlamentarier, wie A. v. J a w o r s k i, 1). v. Abraham «wict und Prof. G 1 a i n s k i, hieran bei der ersten Lesung im Abgeordnetenhaus««, dann im Zuckersteuerausschuß und wieder bei der zweiten Losung im Plenum so große Worte gewendet haben. Man muß beinahe an nehmen, daß dieso Abgeordneten ungenügend informiert und wirklich der Meinung waren, als handelt«; «*s sich für die galiziscli-bukowinaer Zuckerindustrie und den dortigen Rübenbau um eine Lebensfrage, während doch tatsächlich die betreffenden Fabriken in ihrer R«>hznckerproduktion auch durch die Bestimmungen der Regierungsvorlage in keiner Weise beschränkt waren und dieselben durch die erlangte, von dem Umfange ihrer Produktion ganz unabhängige Sonderbegün- stigung sich schwerlich veranlaßt sehen werden, Rnbenpreise anzulogon, welche durch den Wert des Produkt«?« nicht gedekt sein würden. Für die Verwertung des Rohzuckers ist aber nicht die Höh«? des RohzuekerbeteiluugsmaUstabcs, sondern lediglich die Höhe des Kaffineriebeteilungsmaßstabes ausschlaggebend, und in letzterer Hinsicht war ja die Przeworsker Aktiengesellschaft schon in der Regierungsvorlage nicht eben karg bedacht.

Die andere der beiden oben erwähnten Abweichungen von dein Grundsätze der Erhaltung des statu.« quo ant«? besteht im folgenden: es würde diesem Grundsätze entsprechen, wenn für alle die 194 Rolizuckerfabriken, welche schon in einer der Erzcugungspcri«»dcii 1898/99, 1899/1900 und 1900/01 im Betriebe waren, nämlich 165 reine Rohzuckerfabriken und die 29 gemischten Fabriken, die höchste Erzeugung an Rohzuckerwert in einem dieser drei Jahre als Roh- zuckerbeteilungsmaßstah gelten würde. Dies wird jedoch durch § 3 des Kon- tingentierungsgesetzes nur hinsichtlich jener 51 reinen Rohznckurfahrikeu ange- ordnet, deren höchste Erzeugung zwischen 45.000 und G0.000 q liegt; die 89 kleineren, reinen Rolizuckerfabriken werden begünstigt, und zwar werden den sieben kleinsten, der«?» Höclisterzeugung kleiner als 19.500 q ist. Beteilungsinaß- stäbe in der Höhe des Doppelten ihrer Höchsterzeugung zugewiesen. Es folgen dann 47 Fabriken mit H<Öchstorzeugniig«n» zwischen 19.500 und 36.700' 9, welche alle den gleichen Betcilungsmaßstah 39.000 erhalten, und weitere 35 Fabriken mit Höchsterzeugungen zwischen 36.700 und 45.000, welche in abfal- lender Skala um 6 Proz., dann um 3 Pruz. und zuletzt nur eben auf 45.000

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Österreich-Ungarn und die Brüsseler Zuckerkonvention 41.3

erhöht werden. Dagegen werden sieben reine Rohzuekerfabrikeii mit Höcbst- erzeugungen zwischen (50.000 nnd 07.000 q auf 60.000 und diu restlichen 18 reinen Kohzuckerfabriken mit Höchsterzeugungen zwischen 07.000 und 124.3<tü am 12*46 Pr>»z. herabgesetzt, während die 29 gemischten Fabriken noch ungünstiger behandelt und denselben Btdeilungsmaßstäbe zugewiesen werden, welche um 22*33 Pro/., niedriger sind, als ihre in Rohzuckerwert berechne hui H<"»chs terzengungeii in einem der mehrerw&hnten drei Jahre.

Der finanzielle Effekt dieser Bestimmungen ist aus der nachfolgenden Tabelle ersichtlich; dieselbe beruht auf der Annahme. daß das österreichische Zucker- kontingent Ton 2,770.340 q voll liberiert werde, daß also sämtliche 197 Roh- zuckerfabriken zusammen den früher erwähnten Betrag von 9,142.122 K erhalten. Hievon entfallen, nach Ausscheidung der drei erst in der Erzeugungsperiode 1901 2 in Betrieb gesetzten Fabriken Leopoldsdorf. Lnzan und Znczkn mit Rücksicht auf deren Rohzuckerbeteilungsmaßstäbe per zusammen 180 000, auf die 194 filteren Fabriken rund 9,125.000 K. ln der folgenden Tabelle ist für jede Gruppe von Fabriken berechnet, in Spalte I wie viel dieselbe erhalten würde, wenn für alle diese 194 Rohzuckerfabriken die höchste Erzeugung in einer der mehrerwähnteil drei Erzeugungsperioden als Beteilungsmaßstab festgesetzt worden wäre, und in Spalte II wie viel dieselben Gruppen von Fabriken infolge der tatsächlichen Anordnungen des § 3 des Ko.itingentierungsgesetzes erhalten werden. Siehe Tabelle S. 414.)

Daß von den reinen Rohzuckerfabrikeii die kleinen so sehr begünstigt, die großen aber benachteiligt werden, wird damit begründet, daß die Erhaltung der «rsteren im Interesse der Landwirtschaft gelegen ist, und daß die letzteren ver- hältnismäßig geringere Betriebskosten haben. Dies ist richtig, dürfte aber zur Rechtfertigung der daraus gezogenen, so weitgehenden Konsequenzen doch kaum aus- reichen. Die Betriebskosten sind neben den beiden anderen, für den Gestehungsprcis des Rohzuckers maßgebenden Faktoren Rübenpreis und Uübenqualität von untergeordneter Bedeutung, und insbesondere die letztere ist in verschiedenen Gegenden so verschieden, daß eine große Fabrik trotz ihrer geringeren Betriebs- kosten ganz w'obl teurer produzieren kann als eine viel kleinere Fabrik, wenn derselben ein besseres Rübenmaterial zur Verfügung steht. Auch ist nicht zu übersehen, daß die große Fabrik ihren größeren Rübenbedarf nicht in nächster Nähe decken kann, sondern wenigstens teilweise zu entlegenerer Rübe mit höheren Frachtkosten greifen muß. Für die besonders starke Benachteiligung der ge- mischten Fabriken wird geltend gemacht, daß dieselben durch die lokale Ver- einigung der beiden Betriebe Rübenvorarbeitung und RolizuckerrafHnierung all Frachten nnd Betriebskosten wesentlich sparen; auch das ist richtig, aber cs fehlt auch hier nicht an einschränkenden Momenten. Die Ersparnis an Rohzucker- fracht nimmt in dem Maße ab, als die gemischte Fabrik mehr fremden Rohzucker zukauft, und es gibt gemischte Fabriken, die dies eigentlich nur dem Namen nach siud, indem die beiden Betriebe in je zwei getrennten, nur innerhalb der- selben Umfriedung stehenden Gebäuden stattfinden und nur das Kesselhaus ge- meinsam ist; d:t können dann die Betriehsersparnisse nicht sehr erheblich sein. Anderseits macht sich dort, wo Rohzuck ererzeugung und -raffinerie wirklich in

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414

Au spitz.

5>

m

u.

Höchst* rzeuguug in Meterzentner

i

11 j' Begünstigung Benachteiligung!

von

bis

K r o

n e .i

Kronen

l*roz.

Kronen

Proz.

A. Keine Robzuckerfabriken.

7

8.800

19.500

110.060

220.120 '

110.060

ioo-o

10

19.500

24.300

211.470

377.150

165.680

78-3

-

10

24.800

27.000

250.720

877.150

126.430

50 4

- 1

10

27.000

30.340

283.100

377.150

94.050

33 2

- i

10

30.340

35.000

317.560

377.150

59.500

18-8

-

1

35.000

36.700

243.140

264.010

20.870

8-6

-

7

36.700

38.000

254.560

260.830

15.270

60

5

38.900

40 ODO

190.600

199.310

8.710

4-6

18

40.000

43.700

720.450

742.070 ii

21.620

30

5

43.700

45.000

214.510

217.590 ||

3.080

1-4

51

45.000

60.000

2,531.480

2,531.480 |j

7

60.000

67.000

432.510

406.170 1

~

-

26.340

61

67.000

124.350

1,544.780

1,352.240 ||

~

192.540

12 46

/>. Gemischte Fabriken.

29

1 16.800

1

154.400

1,820.060

1,413.580 j

-

406.480

2233

104

1

zusammen . . .

9,125.000

9,125.000

625.360

-

625.360

1 1 I i S i

einem Gebäude vereinigt sind, oft der Übelstand geltend, daß die letztere viel länger dauert als die Rübenarbeit und also dann die Raffinerie in einem für ihre speziellen Zwecke zu großen Gebäude und daher mit unnütz großen Wärme- verlusten, d. h. mit zu großem Kohlenverbrauch, arbeitet. Endlich darf nicht übersehen werden, daß os volkswirtschaftlich ganz verkehrt wäre, den Vorteil, welchen der rationellere Betrieb und dies gilt gleichmäßig von der großen wie von der gemischten Fabrik seinem Unternehmer bietet, zu konfiszieren; der Unternehmungsgeist ist ohnedies in Österreich nicht allzu rege und sollte nicht noch dadurch abgeschreckt werden, daß. wenn jemand doch etwas unter- nimmt, die Frücht« seines Wagemutes ihm weggonoiumen werden.

5. Einwendungen.

Bei der Beratung der KontingenticrangHYorlage sind gegen dieselbe in beiden Häusern des Reichsrates mehrfache Einwendungen erhoben worden.

Der Haupteiiiwand geht dahin, daß lür die bestehenden Raffinerien ein Monopol geschaffen werde, daß eine neue Raffinerie nicht errichtet werden k^nne, weil dieselbe kein Inlandkontingent erhalten und also auf den unrentabel«

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Österreich-Ungarn und die Brüsseler Zuckerkonvention. 415

Export angewiesen sein würde, daß ancli die Errichtung neuer Rohzuckerfabrikeu indirekt dadurch verboten sei, daß hiezu nur Genossenschaften, deren Teilnehmer die Rübe liefern, berechtigt sein sollen, während doch gerade mit solchen Genos- senschaften recht zahlreiche und nichts weniger als zur Nachahmung ermunternde Erfahrungen gemacht worden sind, daß überhaupt die freie Bewegung gehindert, mit einem Worte, die ganze heimische Zuckerindustrie petriti ziert werde. Daran ist allerdings etwas Wahres. Aber ich meine, der darin liegende Vorwurf geht an eine falsche Adresse; derselbe sollte nirht gegen die durch die jetzige Lage unserer Zuckerindustrie ich will nicht geradezu sagen gebotene, aber doch der Gesetzgebung' in sehr kräftiger Weise suggerierte Kontin- gentierung, als vielmehr gegen all das gerichtet werden, was seit Jahren und Jahren geschehen und nicht geschehen ist und wodurch die heutige, kritische Situation der Znckeriuduslrie verursacht, ja man kann sagen, verschuldet wurde. Man hat es nicht nur geschehen lassen, ja mau bat es goradezn gerne gesehen und es gefördert, daß unsere Zuckerindustrie weit, sehr weit über ihr natürliches Ausmaß hinaus gewachsen und dahin gekommen ist, daß in der Hetriebsperiode 1901/2 die Produktion mehr als dreimal größer war als der heimische Verbrauch. Wenn dann allerdings anch schon durch den infolge dur allgemeinen Überproduktion ein- getretenen Rückschlag, aber doch jedenfalls außerdem auch noch durch die Brüsseler Konvention plötzlich und durch letztere dauernd dio Notwendigkeit einer empfindlichen l'rndnktionscinschriinknug über unsere Industriellen hereinbricht, ist es da nicht begreiflich, daß sic für ihr gutes Recht es halten, zu verlangen, daß diese ihnen unterlegte Restriktion wenigstens nicht durch im Inlande neu binzutretende Konkurrenten noch gesteigert und verschärft werde? Übrigens ist ja die durch die Brüsseler Konvention geschaffene Lage ohnedies nicht darnach angetan, die Errichtung neuer Zuckerfabriken rentabel erscheinen zu lassen, so daß, wenn die Gesetzgebung solchen Neuerrichtungen Schwierigkeiten bereitet, hiedurch nichts gesetzt wird, was nicht ohnedies geschehen würde, und also gegen die Gesetzgebung der Vorwurf wohl nicht erhoben werden kann, daß dieselbe dem freien Walten der wirtschaftlichen Kräfte gewaltsam entgegentreto.

Es gibt Viele, und ich glaube, denselben mich anschließen zu sollen, welche der Meinung sind, daß ohne Prämie die Kühe, dieses bescheidene Produkt der gemäßigten Zone, welches so viele, durch Maschinen bisher und wohl auch weiterhin nicht ersetzbare menschliche Arbeit erheischt, mit dem beinahe ohne Zutun dos Menschen sich entfallenden Produkt der Tropensolino, dem Zuckerrohr, auf die Dauer den Wettbewerb auf dem englischen Markte nicht werde aufrecht erhalten können. Wenn dies richtig ist, dann hat unsere Zuckcriudnstric in der weiteren Zukunft wesentlich nur die Aufgabe, unseren eigenen Zuckerbedarf zu befriedigen; es wird aber einer viel längeren als der fünfjährigen Gültigkeits- dauer des Kontingentierungsgesetzes und es wird einer viel ausgiebigeren Herab- setzung unserer Zuckerstener als der vom Finanzministor anläßlich der Resolution H Hornreit hör in Aussicht gestellten bedürfen, um diese Übereinstimmung zwischen unserem Zuckervoi brauch und unserer Zuckererzeugung herzustellen. Ganz unabsehbar lang dürft« dieser Zeitraum übrigens denn doch nicht sein. In der Betriebsperiode 1889/90, der ersten, in welcher das Znckorsteucrgcsetz

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416

Auspitz.

vom 20. Juni 1888, R.-G.-Bl. Nr. 97, nach überwundener Übergangszeit voll zur Geltung gekommen ist, wurden 2,668.281 q Konsuinzuckcr und 22.978 7 Roh- zucker, zusammen 2,588.911 7 Konsumzuckerwert versteuert; in der Betriebs- Periode 1901/2 waren die entsprechenden Zahlen 3,479.82-1, 37.833, beziehungs- weise 3,518.374, also in 12 Jahren, trotz der in diesen Zeitraum fallenden Erhöhung der Steuer von 22 auf 38 K und trotz der in dieselbe Zeit fallenden, verteuernden Wirkung der Bildung des Kartells, eine Verbrauchszunahme um 929.463 7 oder rund 36 Proz., das entspricht einer von Jahr zu Jahr ein- trutciiden Steigerung um je 2*59 Proz.

Es ist nun vielleicht doch nicht allzu kühn, anzunehinen, daß infolge der bevorstehenden Preisermäßigung um 10 12 K, dann der in Aussicht gestellten, allmählichen Reduktion der Zuckersteuer fortab der Verbrauch von Jahr zu Jahr um jo 5 Proz., also nicht ganz um das Doppelte der bisherigen jährlichen Zunahme, wachsen wird; dann würde unser Zuckerverbrauch in 20 Jahren auf 9,322.000 steigen, so daß unsere Produktion, welche in der Betriebsperiode 1901/2 zur Zeit der stärksten Überproduktion rund 11,619.000 7 Konsuinznckcr- wert erreicht hat. nur um 20 Proz. reduziert zu worden brauchte, um das Gleich- gewicht zwischen Verbrauch und Erzeugung herzustellen. Eine ähnliche Reduktion dürfte gegen 1901/2 schon die laufende Kampagne 1902 3 aufweisen.

Schon einige Zeit vor der Erreichung dieses Gleichgewichtszustandes wird man aber der heimischen Zuckerindustrie die Krücken, welche ihr jetzt fiir die Übergangszeit geliehen werden die Erschwernisse der Errichtung neuer Fabriken, die ganze Kontingentierung und schließlich wohl auch das Ganze oder doch einen großen Teil des Schutzzolles entziehen können, so daß dann unsere Zneker- fabrikanten von dem beschämenden Gefühle. Opfer von ihren Mitbürgern heischen zu müssen, endlich befreit sein werden. Dann wird man auch allseits die für die Züchtung und Erhaltung der ganzen, kontinentalen Zuckerindustrie von den Staaten und Völkern Europas gebrachten Opfer als nicht ganz vergeblich gebracht aner- kennen; denn, welch große Meinung von der Entwicklungsfähigkeit der tropischen Zuckerproduktion mau auch haben mag. zur Deckung des ganzen Weltkonsums wird dieselbe vielleicht doch niemals allsreichen, so daß also neben ihr auch auf die Dauer die Kubonzuckerprodiiktiou eine berechtigte Stellung behaupten und das Verdienst für sich wird in Anspruch nehmen können, daß ohne dieselbe zum Nachteile der Konsumenten der ganzen Welt der Zuckerpreis ein viel höherer sein würde, als er es bei dem Neheiieinanderhestehen der Rohr- und der Rühen- prodnktion dauernd sein wird.

Berechtigter als der bisher besprochene Einwand erscheint es mir, wenn Anstoß daran genommen wurde, daß durch § 5, Abs. 3 des Kontingentierungs- gesetzes jedem Besitzer einer Fabrik, welche mit einem Rolizuckerboteilniigxniaß- stab versehen ist, das Recht eingeräumt wird, denselben ganz oder teilweise au eine andere derartige Fabrik zu verkaufen. Allerdings ist die Ausübung dieses Rechtes an die Bedingung geknüpft, daß der Rohzuckcrbcteilungsmaßstab der kaufenden Fabrik nicht über 80.000 sttdgeu und daß hievon nur dann eine Ausnahme und auch nur bis zur MaximalzifTer von 150.000 gemacht werden darf, wenn die Entfernung der beiden Fabriken 25 km Luftlinie nicht über-

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Österreich- Ungarn and die Brüsseler Zuckerkonvention. 417

schreitet Wenn also eine der 47 Fabriken, welche einen Rohzuckerboteilnngs- maßstah von 39.000 haben, ihren Betrieb einstellen und dieson Maßstab ver- kaufen will, so kann dies nur an eine Fabrik geschehen, welche bei mehr als 25 km Entfernung eitlen Rohznckerbcteilnngsmaßstah von höchstens 41.000 oder bei weniger als 25 hm Entfernung einen solchen von höchstens 1 1 1 .000 hat. Es ist also die Befürchtung so ziemlich ausgeschlossen, daß durch diese Befugnis eine weitgehende Aufsaugung der kleinen durch ganz große Fabriken ein förmliches Bauernlegen Platz greifen werde. Immerhin bleibt es sonderbar, daß namhafte Opfer den größeren, reinen Rohzuckerfabrikon und insbesondere den gemischten Fabriken zu Gunsten der kleineren, reinen RohzurkerfahriKcii auferlogt werden, um angeblich im Interesse der Landwirtschaft die Betriebs- einstellung dieser einigermaßen rückständigen Betriebe hintanzuhalten, und wenn im Gegensatz hiezu dem Besitzer einer solchen kleinen Fabrik das Hecht einge- räumt wird, dieselbe zu sperren und dennoch den Geldwert des an derselben haftenden Hohzuckerbetoilungsmaßstabes einzustreichen. Es ist in der Debatte iin Herronhause nicht mit Unrecht darauf hingewiesen wurden, daß hiebei die Land- wirte der betreffenden Gegend, in deren angeblichem Interesse die kleine Fabrik bei der Zuweisung der RohznckerbeteilungsinaflstAbe so sehr begünstigt wurde, eigentlich nur das Nachsehen haben. Wenn hierauf Se. Exzellenz der Herr Finanzminister erwidert hat, daß durch die Übertragbarkeit der Rohzuckerbeteilongu- maßstübe verhindert werden soll, daß au die Betriebseinstellung einer kleinen Fabrik der wirtschaftliche Ruin ihres Besitzers sich anschließe, und daß für die Landwirte einer Gegend, in welcher zwei Fabriken .4 und li bestehen, die Betriehseinstelhiug der erstereil nur die Folge haben werde, daß die Rübenprodu- zenteti, welche bisher nach .4 lieferten, nun nach B liefern werden, so möchte ich mir denn doch gestatten zu entgegnen, daß es unter den Besitzern kleiner Fabriken sehr viele gibt, deren Vermögensverliältnisso jeden Gedanken an wirt- schaftlichen Ruin vollkommen ansschließen, daß ferner der Staat außer stände ist, allen seinen Bürgern eine Gewähr gegen wirtschaftliche Unfälle zu bieten, und endlich, daß es für die Landwirte der erwähnten Gegend keineswegs ganz gleich- gültig ist, ob daselbst zwei Fabriken, welche einander beim Rnbeneinkauf even- tuell Konkurrenz machen, fortbestehcii, oder ob durch das Verschwinden der einen die Rfibeneinkanfsposition der anderen Fabrik wesentlich verbessert wird. Allerdings in dem vom Herrn Finanzminister zuletzt angeführten Fall«*, daß die Besitzer von zwei benachbarten Fabriken beide den Betrieb einskdtcn wollen, und daß die Inbetrieberhaltung wenigstens einer dieser Fabriken von der Zusammen- legung der beiderseitigen Rohzuckerbeteilungsinaßstäbe abhängig gemacht würde, in einem solchen Falle würden daran, daß diese Zusammenlegung gestattet werde, in der Tat auch die Landwirte der betreffenden Gegend ein wesentliches Interesse haben. Es wäre daher vielleicht richtig gewesen, die Übertragbarkeit der Roh- zuckerbeteilnngsmaßstäbe nicht allgemein ausznsprechen, sondern fallweise von der Genehmigung des Fiuanziniiiisters abhängig zu machen.

Die letzten Betrachtungen führen von selbst zu der von agrarischer Seite jetzt so leidenschaftlich bekämpften Rüben rayonierung. Der derselben zu Grunde liegende Gedanke, daß jede Rübe derjenigen Fabrik zugeführt werden solle, welche

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418

Auspit*.

von den» Acker, auf dem die Rübe gewachsen ist. am leichtesten, d. h. mit der geringsten Tran spurt lei* tu ng erreichbar ist dieser Gedanke ist gewiß gesund und richtig und entspricht dem allgemeinen, volkswirtschaftlichen Interesse. Die Lage, welche durch die bezüglichen Verabredungen der Fabrikanten den einzelnen Landwirten bereitet wird und welche von agrarischer Seite in den düstersten Farben geschildert und geradezu als moderner Robot bezeichnet wird, ist genau dieselbe, in welcher alle jene Landwirte sich befinden, welche hinsichtlich ihres Rübenahsatzes wegen zu großer Entfernung von allen anderen Fabriken auf eine einzige Fabrik angewiesen sind. Von einer wie in den agrarischen Ausführungen immer und immer wieder behauptet wird unerhörten Zwangslage kann in keinem Falle die Rede sein; denn, wenn ein Landwirt mit der Fabrik, welcher seine Rübe zugewiesen ist, sich nicht einigen kann und also derselben keine Kühe liefern will, so ist er um nichts schlechter daran, als jene Tausende und Tausende vmii Landwirten, bei welchen wegen zu großer Entfernung von allen Fabriken der Zuckerrübenbau überhaupt von vornherein ausgeschlossen ist. Wie immer übrigens das von den Agrariern so stürmisch geforderte gesetzliche Verbot der Rüben rayo- nierung formuliert werden mag. das eine wird unzweifelhaft eintreten, daß dasselbe nämlich als ein würdiges Glied jener Reihe von Enttäuschungen sich anschließen wird, welche von den die Führung der Landwirte usurpierenden Agitatoren denselben bereitet werden. Geradeso, wie die Aufhebung des Mahlverkehres zwar der Mühlen- industrio geschadet, aber keinem Landwirte irgend etwas genützt hat, und geradeso, wie das Verbot des Teriuinhandels an der Wiener Getreidebörse zwar den großen Handel von Wien nach Budapest verdrängen, aber den Promptpreis von Weizen nicht um einen Heller erhöhen wird, geradeso wird auch die neueste, das Verbot der Rübenrayonierung aussprechend« Gesetzgebung zwar vielleicht mancherlei für beide Teile wenig förderliche Konflikte zwischen Küheuproduzeiitcn und Fabrikanten berheiführen, aber doch daran ganz gewiß nichts zu ändern vermögen, daß bei der durch die Brüsseler Konvention geschaffenen Konjunktur die hohen Rtiben- preise von ehedem nicht mehr werden gezahlt werden können.

Schließlich muß angesichts der im Ansland gegen unsere Kontingentierung laut werdenden Stimmen wohl auch noch der Einwand, daß dieselbe gegen die Brüsseler Konvention verstoße, besprochen werden. Da gereicht es mir denn zu großer Freude, daß hingegen niemand geringerer als der Finanzininister und scharfsinnige Gelehrte Dr. v. Böhm-Bawerk ein Argument gebraucht hat, welches ich in der unter Vorsitz des Sektionschefs Freih. v. Jorkasch -Koch abgehalteiien Enquete vorzubringen mir erlaubt habe, daß nämlich nach Art. I, lit. f der Brüsseler Konvention zu den verbotenen Dingen jene Vorteile gehören, welche der Znckerindustrie eines Staates aus einem Eingangszeile von mehr als 6 Francs erwachsen würden. Es sind also jene Vorteile, welche der Zucker- industrie aus dem gestattetem Sechs-Francs-Zoll erwachsen, vollkommen berechtigt, und etwas anderes als die Sicherung dieses legitimen Nutzens wird ja durch unsere Kontingentierung nicht angestrebt.

Ein weiter hier anzuführendes Argument besteht darin, daß es ja einer der wenigen unbestrittenen Lehrsätze der Volkswirtschaft ist, daß der Inlandpreis einer Ware, welche in starkem Maße exportiert wird, voll einem auf diese Ware

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Österreich-Ungarn und die Brllwcler Znckerkonventiou. 410

etwa gelegten Eingangszeile insolauge ganz unabhängig bleibt, als die inländischen Erzeuger dieser Ware in wirklich freiem Wettbewerb zueinander stehen und nicht organisiert sind. Nun ist aber in Brüssel zwischen Großbritannien einerseits und Österreich und Deutschland anderseits eine lebhafte Kontroverse über die zulässige Hübe des von diesen beiden Zucker exportierenden Staaten auf etwaige Zuckerein fuhren zu legenden Zolles geführt worden. Wozu das, wenn dieser Zoll ohne jeden Einfluß auf die Preisbildung von Zucker in Österreich und Deutschland bleiben soll, wie er ja bleiben muß. wenn es nicht gestattet sein soll. Vorkehrungen, wie unsere Kontingentierung, zu treffen, um denselben wirksam zu machen.

Endlich ist in dieser Hinsicht noch hervorzuheben, daß ja die bei uns zur Einführung gelangende Kontingentierung auch bei mikroskopischer Untersuchung aller ihrer Details nicht das Geringste erkennen läßt, was als Produktionsstimu- lierung angesehen werden könnte. Was wird denn, uni es kurz zu rekapitulieren, die Wirkung dieser Kontingentierung sein? Es wird zum Nachteile lediglich der heimischen Konsumenten, welchen aber trotzdem eine namhafte Preisermäßigung •zu gute kommen wird, der inländische Zuckerpreis um einen im vorhinein nicht genau zu bestimmenden, jedenfalls aber hinter dem Zoll von 6 Francs = 5 K 70 h zuriickbleibenden Betrag höher sein, als derselbe ohne diese Maßregel sein würde; es wird ferner der Gesamtbetrag, um welchen infolgedessen die Konsumenten für ihren Zuckerverbrauch mehr als sonst zahlen werden, znnächst gerade so wie die an den Staat abznführende Steuer den Raffinerien zugehen, von denselben jed<H*h znm größeren Teile, nämlich 3 K 30 h per Meterzentner Konsumzucker, an die Rohznckerfabriken abgeftihrt werden. Der Anteil einer jeden dieser Fabriken an jenem Gesamtbeträge ist prozentuell itn vorhinein genau festgesetzt und hängt seiner absoluten Höhe nach, entspiechend der Provenienz aus einem Schutzzölle, nor noch von der Größe des inländischen Zuckerkonsuuies ab; ganz unabhängig ist dieser Anteil von der Größe der Produktion der betreffenden Fabrik, sowie auch umgekehrt der Umfang dieser Produktion von der Höhe dieses Anteiles ganz und gar unabhängig ist Nicht im allereutferntesten besteht ein Zusammenhang zwischen dem Geldbeträge, welchen jede einzelne Kohzurkerfahrik und alle zusammen aus dem Zollschutze beziehen, und der Größe ihrer Zuckerproduktion, und es ist daher ganz und gar unbegreiflich, aus welchem Titel irgend ein ausländischer Staat gegen diese Kontingentierung, durch welche die Exportfiihigkeit unserer Znckerindustrie in keiner Weise gesteigert wird, irgend etwas sollte einwenden können.

Wie unmöglich dies wäre, zeigt sich auch ans folgendem: Nach Art. 4 der Brüsseler Konvention ist von prämiiertem Zucker „ein besonderer Zoll“ (Strafzoll) einznheben, und zwar mindestens in der Höhe der direkten oder indirekten Prämie, welche der Zucker in seinem Heimatslande genießt, wnhei ein f> Francs übersteigender Schutzzoll surtaxe) mit der Hälfte des Mehrbetrages als Prämie anzurechnen ist. Wo ist aber und wie hoch ist bei uns die direkte oder indirekte Prämie und wo ist der die 6 Francs überschreitende Schutzzoll? Jeder, der unsere Kontingentierung angreifen und gegen unseren Zucker einen Strafzoll fordern wollte, müßte in die größte Verlegenheit geraten, wenn er aufgefordert

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420

Auspitz.

würde, die der zitierten Bestimmung entsprechende Höhe dieses Strafzolles anzugeben.

Welch mißverständlichen Auffassungen trotzdem unsere Kontingentierung im Auslande begegnet, dafür hat die gestern atn (5. März 1. J. im deutlichen Reichstage geführte Debatte einen drastischen Beleg geliefert. Freund und Feind haben da an Unrichtigkeiten und schiefen Urteilen einander überboten. Wenn Graf C armer seine Anregung, daß eine der unseligen ähnliche Kontingentierung auch im deutschen Reiche eingeführt werden möge, unter anderem damit be- gründet hat, daß ansonst die deutsche Zuckerindustrie im Kxportwettbowerb gegen die österreichische ungünstig gestellt sein werde, wenn derselbe also der Meinung Ausdruck gibt, als ob durch die Kontingentierung unserer Industrie für den Export eine wirksame Waffe in die Iland gegeben werde, so hat dieser Redner hiemit, gewiß ganz gegen seine Absicht, nur Wasser auf die Mühle der Gegner der Kontingentierung getrieben. Tatsächlich hat unsere Kontingentierung mit einer Exportförderung gar nichts gemein; denn da die Betrüge, welche unsere Rühen verarbeitenden Fabriken aus dem Zollscliutznutzeu beziehen werden, nur von der Größe des inländischen Konsums, ganz und gar nicht aber von ihrer eigenen Produktion und also auch durchaus nicht von ihren Exportquantitäteii abhängen werden, so wird durch diesen Zuschuß gewiß keine Fabrik sich ver- anlaßt sehen, einen Export, bei welchem die Gestehungskosten nicht gedeckt sein würden, zu pflegen oder gar noch auszudehnen. Anderseits nimmt der Staatssekretär Freiherr v. Thiel mann keinen Anstand, unserer Kontingentierung nachzusagen, dieselbe bezwecke eine Einschränkung des Inlandverbrauches, während doch unser mit der Handhabung der Liberiemng betraute Finanzminister ganz gewiß niemals vergessen wird, daß jeder Zentner Konsnmzucker, den er freigibt, seinem Fiskus jo 38 K zuführt und während doch auch die ganze Zuckerindustrie und beide Zweige derselben an der möglichsten Steigerung des Inland Verbrauches ein sehr lebhaftes Interesse haben, die Raffinerien, weil dadurch ihre Produktion größer und somit rentabler wird, und die Rohznckerfabriken, weil dadurch ganz direkt die ihnen aus dein Zollschutznutzen zugehcndcu Be- träge sich erhöhen. Herr Freiherr v. Thielmanu verschmäht es auch nicht, das abgegriffene Argument, daß durch die Kontingentierung für die bestehenden Fabriken ein Monopol geschaffen werde, zu wiederholen und die deutsche Land- wirtschaft anzurufen, was sie zu der Erschwernis der Errichtung neuer Fabriken wohl sagen würde. Nun, ich denke, bei richtiger Überlegung müßte dieselbe wohl antworten, daß einerlei, ob gesetzlich erschwert oder erleichtert, neue Fabriken in den nächsten 5 Jahren wegen voraussichtlich völlig mangelnder Rentabilität ohnedies nicht werden gebaut werden und daß es weit wichtiger sei, durch die Kontingentierung die ansoust sehr ernstlich drohende Betriehseinstellung zahlreicher bestehender Fabriken hiiitauzuhalten.

Was soll man vollends dazu sagen, daß Herr Prof. P aase he der- selbe, welcher so wesentlich mit Schuld daran war, daß im Jahre 1806 das Deutsche Reich jene Erhöhung der Zuckerausfuhrprämie vorgenommen hat. welche zum Signal für den letzten Paroxysmns des internationalen Ausfuhrprämien- Steeple-cliases und für jene Überproduktion, deren Rückschlag schließlich zur

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Österreich •Ungarn und die Brüsseler Zupkerkonrention.

421

Biüssclcr Konvention geführt hat. geworden ist daß dieser Mann nun auf das Piedestal der Perhorreszierang jeder staatlichen Intervention zn Gunsten der Zucken nd 08 trie sich stellt?

Die Absicht ist klar und deutlich; die Herren glauben, der deutschen Zuckerindostrie besser als durch eine Nachahmung unseres Beispieles vielmehr dadurch dienen zu können, daß sie uns aus der Konvention hinaus und dadurch von dem englischen Markte hinwegzudrängen suchen. Ganz unmöglich ist es ja auch nicht, daß dies gelingen könnte; denn so zweifellos es auch ist, daß ein unparteiischer Gerichtshof jede gegen unsere Kontingentierung gerichtete Beschwerde als in dem Wortlaute der Brüsseler Konvention nicht begründet abweisen müßte, wenig sicher ist dies bei der nicht aus Richtern, sondern aus Vertretern von Interessenten und Konkurrenten bestehenden Kommission, welche über eine solche Beschwerde zu befinden haben wird. Die Herren, welche hierauf rechnen, werden sich aber doch irren; denn dazu, daß wir aus der Brüsseler Konvention, der wir nach reiflicher Überlegung und auf Grund der dadurch gewonnenen Über- zeugung, daß dies das kleinere Übel sei, beigetreten sind, hinausgedrängt würden, werden wir so denke ich wenigstens es nicht kommen lassen. Ehpr wäre auf den durch die Kontingentierung angestrebten Schutz der kleinen Fabriken zu verzichten und das österreichische Gesetz, betreffend die individuelle Verteilung des Kontingentes, wieder atifxnbeben eventuell unter Anwendung des § 14, der dann schwerlich jemals mit mehr Berechtigung angerufen worden wäre und in Ungarn ist ja die analoge Vorlage noch nicht Gesetz geworden. Kirn» Mög- lichkeit. trotzdem dennoch das beiden Staaten gemeinsame Gesetz und die in dessen § 5 normierten Kontingente aufrecht zu erhalten, wird sich iiu Notfälle vielleicht doch finden lassen; es könnte z. B., wenn ich dies auch keineswegs empfahlen möchte, für die Amtshandlungen, welche der Überweisungsverkehr in Zucker zwischen den beiden Staatsgebieten nötig macht, eine nach der jedes- maligen Zuckermenge zu bemessende Gebühr von solcher Höhe eingehoben werden, daß dadurch dieser Verkehr gänzlich beseitigt würde.

Es wird die gemeinsame Aufgabe des österreichischen und des ungarischen Vertreters hei der internationalen Brüsseler Kommission sein, nicht nnr die voll- knmmene Vereinbarlichkeit unserer Kontingentierung mit den Bestimmungen der Brüsseler Konvention darzutun, sondern anderseits auch keinen Zweifel darüber auf kommen zu lassen, daß Österreich und Ungarn unter gar keinen Umständen und koste es seihst das Opfer einer Änderung ihrer internen Gesetzgebung aus der Brüsseler Konvention sich hinansdrängen lassen werden, daß also ein etwa gegen unsere Kontingentierung gerichtetes Verdikt der internationalen Kommission zwar diesen beiden Staaten einige Verlogenheit, aber gar keinem anderen Staat* irgend einen Nutzen bereiten würde. Wenn es gelingt, die Über- zeugung hiervon den Vertretern dieser anderen Staaten heizuhringen, dann werden dieselben gerne bereit sein, die Rechtsbeugung, welche in jedem gegen unsere Kontingentierung gerichteten Votum liegen würdo, zu vermeiden; denn niemand tut gerne Unrecht, wenn es ihm Oder seinem Kommittenten nicht einmal etwas nützt.

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Auspitz.

I.

Gesetz vom 31. Jänner 1903, betreffend einige Abänderungen und Ergänzungen der Bestimmungen Ober die Zuckerbesteuerung.

Mit Zllstimimiini Imiiler Hänsrr ilrs Rrirhsrales timle Ich atizarrdnen. wie folgt:

§ 1.

Der Einfuhrzoll für Zucker der im § 1, Z. I des Znckersteuergesetzes bezeichnet«?!) Art wird wahrend der Dauer des am 5. Mär/. 1902 in Brüssel abgeschlossenen Vertrages« betreffend die Znckergesetzgebung, unbeschadet der gegen prämiierten Zucker gemäß Art. 4 dieses Vertrages zu treffenden besonderen Maßnahmen in dem höchsten Betrage eingehoben, welcher nach den Bestimmungen eben dieses Vertrages zulässig ist.

Der Ursprung des Zuckers ist hei der Einfuhr nachzuweisen.

§ 2.

Für jenen Zucker, welcher als solcher oder in zuckerhaltigen Waren nach dem 31. August 1903 über die Zollinie ausgeführt wird, wird eine Ausfuhr- bonilikation nicht mehr geleistet.

§ 3-

Als Betriebsperiode 1902/3 wird der dreizehnnmnatliche Zeitraum vom 1. August 1902 bis 31. August. 1903 erklärt. Tn der Folge wird unter Betriebs- periode der Zeitraum vom 1. September des einen bis 31. August des unmittel- bar darauffolgenden Jahres verstanden.

Der Finanzminister ist ermächtigt, unter den im Vollzugswege festzusetzenden Bedingungen zu bewilligen, daß die gesetzliche Ausfuhrboniflkation in dem rest- lichen Teile der Betriebsperiode 1902/3 auch für solchen Zucker gewährt wird, welcher in einer öffentlichen Niederlage oder in einer Privatniederlage unter amtlicher Mitsperro eingelagert wird.

Der so eingelagerte Zucker kann in den inländischen freien Verkehr nur gegen Entrichtung der Verbranchsahgabe und Hückersatz der gewährten Ausfuhr- houifikation, in eine Zuckererzengungsstätte oder in ein Zuckerfreilager dagegen nur gegen Rückerstattung der gewährten Ansfuhrhonifikation gebrarht werden. Der eingelagerte Zucker haftet, ohne Rücksicht auf die Hechte dritter für die etwa zurückznzahlende Ausfuhrhonifikation.

Die erteilte Bewilligung kann jederzeit mit der Wirkung widerrufen weiden, daß der eingelagerte Zucker hinnen längstens vier Wochen aus der Niederlage weggebracht werden muß.

8 4.

Die Summe des von den Unternehmern der Znckererzeugnngsstätten im österreichisch-ungarischen Zollgebiete zu leistenden Rückersatzes an Ausfnhr- bonifikation für die Betriebsperiode 1902/3 wird auf jenen Betrag beschränkt, um wfdehen die Gesamtsumme der Ausfnhrbonilikation für den während dieser Betriehsperiode in dem österreichisch-ungarischen Zollgebiete mit dem Ansprüche auf Ansfuhrhi'iiifikation ahgefertigten Zucker die Summe von einundzwanzig Still. Kronen übersteigt.

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Österreich-Ungarn uml die Brüsseler Zuckerkonvention.

423

§ 5.

Um die Versorgung des In landsmark tos mit Zucker in den einzelnen Länder- gebieten des österreichisch-ungarischen Zollgebietes im Geiste des Schlußprutokolles zu Art- 3 des ain 5. Mürz 1902 in Brüssel abgeschlossenen Vertrages, betreffend die Zuckergesetzgebung, zu regeln, wird jene Menge Zucker der im $ 1, Z. 1 des Znckersteuergesetzes bezeichnet«!! Art, welche in den einzelnen Ländergobieten im Laufe je einer Bvtriebsperiode ans den Zuckererzeugungsstütton und Zucker- freilagern gegen Kntrichtung der Verbrauchsabgabe weggebracht werden darf, kontingentiert.

Das Zuckerkontingent für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder wird für die Betriebeperiode 1903/4 mit 2,770.340 q Konsumzucker fest- gesetzt. Das Zuckerkontingent für die Länder der ungarischen Krone beträgt für die genannte Betriebsperiode 863.660 q Konsnmzucker und jenes für die Läuder Bosnien und Herzegowina 26.000 q Konsumzucker.

Für die folgenden Betriebsperioden werden die Zuckerkontingente der drei Ländergebiete des Österreichisch-ungarischen Zollgebietes auf Basis des Konsums in der jeweilig unmittelbar vorausgegangeneu Betriebsperiode von dem k. k. Finanz- minister und dem königlich ungarischen Finanzminister einvernehmlich festgesetzt, wobei jene Menge, um welche der jeweilig ermittelte Konsuln der Länder Bosnien uml Herzegowina das für diese Länder für die Betriebsperiode 1903/4 festgesetzte Zuckerkontingent übersteigt, den ermittelten Konsuiuziflem der beiden anderen Lfuidergebietu verhältnismäßig zugeschlagen wird.

Als Zuckerkonsnm der einzelnen Ländergebiete hat jene Zuckermenge zu gelten, welche sich ergibt, wenn zu der in dem betreffenden Ländergebiete gegen Kntrichtung der Verbrauchsabgabe weggebrachten Zuckermenge die in diesem Ländergebiete zur Einfuhrverzollung gelangte und die ans den .beiden anderen Ländergebieten iin Übergangsverfahren bezogenen Zuckermengen zugeschlagen, dagegen die an die beiden anderen Ländergebiete im Übergangsverfahren abge- gebene Zuckermenge abgezogen wird.

Diejenigen Personen, welche am Schlüsse der jeweiligen Betriebsperiode einen fünf Meterzentner übersteigenden Vorrat an versteuertem Zucker besitzen, sind verpflichtet, diesen Zuckervorrat über fallweise zu treffende Anordnung des Finanzministers auf die im Vollzugswege näher zu bestimmende Art auezuweisen. Sollte der so ausgewiesune Zuckervorrat im Geltungsgebiete des gegenwärtigen Gesetzes zehn Proz. des Kontingente« der betreffenden Betriebsperiode übersteigen, so ist der Überschuß von der in Gemäßheit der Bestimmungen des vorstehenden Absatzes ermittelten Zuckermenge in Abzug zu bringen.

Rohzucker ist stets unter Zugrundelegung einer Ausbeute von 90 hg Kon- sumzucker aus 100 hg Rohzucker auf Konsumzucker umzoroebnen.

Der k. k. Finanzminister bestimmt nach Anhörung von zwei Sachverstän- digen im Einvernehmen mit dem königlich ungarischen Finunzminister periodisch, und zwar wenigstens für einen einmoiiatliched Zeitraum jene Teilmenge des Zuckerkontingentes, welche in den freien Verkehr gebracht werden darf und ist ermächtigt, das jeweilige Zuckerkontingent behufs Anpassung an den tatsächlichen Bedarf des Konsums in» Laufe der einzelnen Betriebsperioden mit Zustimmung des

Zeiucbrift fUr Volkswirtschaft, SozialiKtlltik ud<1 Verwaltung. Xll. Band. 2t#

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Anspiti.

königlich ungarischen Finauznunisters zn •■rhühcii oder allenfalls auch herab- ZUsetzeil.

Zucker, welcher ohne Einrechnung in da» Kontingent aus einer Zucker- erzeugungsstätte oder ans einem Znckerfreilager weggebracht wird, darf nur im Falle der nachträglichen Umrechnung in das Kontingent in den inländischen Verkehr gebracht werden.

Die Regelung der individuellen Verteilung der Zuckerkontingente wird jedes Lilndergebiot selbständig im Woge der Gesetzgebung vornehmen.

8 6.

Die Frist zur Einzahlung der am Tage des Wirksamkeitsbeginnes der gegen- wärtigen Bestimmung bereits geborgten und der in Hinkunft zn borgenden Zucker- verbrauchsabgahe wird mit sechs Monaten, von dem dem Vorschreibungsmonate unmittelbar folgenden Kaleiidermonate an gerechnet, festgesetzt.

Von der im vorhinein bar eingezahlten Zurkerverbrauchsabgabe wird ein Diskonto nicht mehr gewährt.

§ 7.

Der k. k. Finanzminister wird ermächtigt, jenen Zucker, welcher zur Fütterung von Tieren oder zur Herstellung von Fabrikaten anderer Art als Ver- xehrnngsgegenstände verwendet wird, unter den zum Schutze des Staatsschatzes erforderlichen Bedingungen und Vorsichten von der Verbraoehsahgabc zu befreien.

§ 8-

Als schwere Gefällsühertretnng ist zu bestrafen: a) wenn Zucker verbotswidrig aus einer Zuckererzeugungsstätte oder einem Zucker- freilager ohneEinrechnnng in das Kontingent in don freien Verkehr gebracht wird; h) wenn Zucker, welcher auf Grund des ■? 7 zur Verwundung für bestimmt*

Zwecke abgabefrei abgelassen wurde, zu anderen Zwecken verwendet wird.

Die Strafe ist nach der Verbrauchsabgabe zu bemessen, welche für die den Gegenstand der Übertretung bildende Znckermenge entfällt.

Amlere Übertretungen des gegenwärtigen Gesetzes oder der zum Vollzüge desselben erlassenen Bestimmungen unterliegen einer Ordnungsstrafe von 10 bis 10O0A’.

8

Das gegenwärtige Gesetz tritt bezüglich der tjlj 3, 7 und 8 mit dem Tage der Kundmachung, im übrigen gleichzeitig mit dem am 5. März 1902 in Brüssel abgeschlossenen Vertrage, betreffend die Zuckergesetzgehung, in Kraft; mit dem Vollzüge desselben ist bezüglich des § 1 Mein Finanzminister und Mein Handels- minister, bezüglich der übrigen Bestiniinniigen Mein Finanzminister beauftragt.

n.

Gesetz vom 31. Jänner 1903, betreffend die Regelung der indivi- duellen Verteilung des Zuckerkontingentes.

Mit Zustimmung der beiden Häuser des Reichsrates finde Ich anzuordnen, wie folgt:

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Österreich-Ungarn and die Brüsseler Zuckerkonvention.

425

8 1.

Das lant § 5 des Gesetzes vom 31. Jilnner 1903, E.-G.-B1. Nr. 26, für die Betriebsperiode 1903/4 mit 2,770.340 q Konsumzucker festgesetzt« Zucker- kontingent wird

n) jenen Zuckcrerzongnngsstätten, ans welchen wenigstens in einer der Betriebs- Perioden 1898 99, 1899/1900 nnd 1900/01 mehr als zehntausend Meter- zentner Konsumzncker gegen Entrichtung der Yerbrauchsabgabe weggebracht worden sind,

V) den Zuckererzengungsstätten Lnzan und Zuczka in der Bukowina und Tlumacz in Galizien

nach Maligabe der Bestimmungen des § 2 zugewiesen.

Der Bohznckerwert des Znckerknntingentes wird jenen Zuckeren, eugnngs- stätten, in welchen aus Rübe oder fremder Melasse Zucker erzeugt wird, im Verhältnisse der gemäll § 3 festzustellenden Beteilnngsmaßstäbc mit der Wirkung zugewiesen, die dem Zuckerkontingente nach dem Ausbeuteverhaltnisse von 90 hj Konsumzucker aus 100 kg Rohzucker entsprechende Rohzuckermengc mit dem Ansprüche auf Anrechnung auf die gegen Entrichtung der Verbranchsabgabe wegzubringeude Zuckermenge erzeugen zu dürfen. Die nach dem 1. September 1903 neu errichteten Erzeugungsstätten sind nur dann anspruchsberechtigt, wenn dieselben gesellschaftliche Unternehmungen sind, deren Teilhabern die Verpflichtung obliegt, für die Znckererzengungs&tiitte selbst Rübe zu bauen und zu liefern.

Jede Zuckorerzeugungsstätte bat ihren Anspruch auf Beteilung mit einem Individnalanteile an dem Znrkerkontingente beziehungsweise an dem Rohzucker- werte desselben spätestens am 1. August 1903, sofern aber die Anspruchs- herechtigung in einem späteren Zeitpunkte eintritt, spätestens vier Wochen vor Beginn der Betriebsperiode, von welcher an die Anspnicbsberechtignng eintritt, bei der zuständigen Finanzbehörde erster Instanz anzumelden.

Die aus einem Individnalanteile an dem Znrkerkontingente oder an dem Rohzuckerwerte des Zuckerknntingentcs gemäll den Bestimmungen des gegenwärtigen Gesetzes für die Dauer der Wirksamkeit desselben fließende Berechtigung haftet an der Erzeugnngsstätt« und steht dem jeweiligen Unternehmer derselben zu. Mit dem etwaigen Erlöschen des gegenwärtigen Gesetzes in einem früheren als dem im § 4 bestimmten Zeitpunkte erlischt diese Berechtigung ohne jedweden Anspruch auf Entschädigung.

8 2.

Für die gemäß § 1, UL n) an dem Zuckerkontingente ansprnchsberechtigten Zuckererzeugungsstätten bildet die in den Betriebsperioden 1898/99, 1 899 T 900 und 1901) 01 erzielte größte Versteuerung einer Betriebsperiode, ausgedrnckt in Meterzentner Konsnmzncker, den Reteilnngsmaßstah. Die aus den Ztickerfreilagern gegen Entrichtung der Verbrauchsabgabe weggebrachten Znckermergcn werden der Versteuerung jener Zuckererzeugungsstätten zugeschlagen, aus welchen der versteuert weggebracht« Zucker nachweislich stammt.

Für die im § l, lit. b) genannten Zuckererzeugungsstätten werden die Beteilungsmallstäbe an dem Zuckerkontingente wie folgt festgesetzt:

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Auspitz.

für die Zockererzeugungsstätte Luzan . . . 10.000,

Tlumacz . . 10.000,

Zuczka . . . 100.000.

8 3.

Die Beteilungsmaßstübe der mit einem Individnalanteile an dem Ilolizucker- wertc des Zuckerkontingontcs zu betoilenden Znckererzeugnngsstätten werden aul felgende Weise bestimmt:

1. Für jene anspruclisborechtigten Krzougungsstätten, welche wenigsten« in einer der Betriebsperioden 1898/99, 1899/1900 und 1900 Ol im Betriebe gewesen sind, wird die in diesen Betriebsperioden erzielte größte Ncttoerzongung einer Betriebsperiode vorn Finanzministerium ermittelt. Unter Nettoerzeugung einer Zuckererzeugnngsstütte wird jene in Meterzentner Uolirnckerwert ausgedriiekt« Zuckermenge verstanden, welche sich ergibt, wenn von der laut Aufschreibung 1 (ij 83, Z. 1 des Zuckersteuergesetzes) fertiggestellten Zuckermenge der umge- arbeitete und der laut Aufschreibung 2 (g 33, Z. 2 des Zuekersteuergesetzes i verwendete Zucker in Abzug gebracht wird.

a) Die Maßzahl der ermittelten größten Nottoerzengung bildet ohneweiter* den Beteilungsmaßstab für jene Zuckorerzeugungsstätten, deren größte Netto- erzeugung 45.000, jedoch nicht 60.000 übersteigt, und welche zugleich die Anspruchsberechtigung auf Beteilnng mit einem Individnalanteile an dem Zurkerkontingente nicht besitzen oder nicht geltend machen.

b) Insofern die größte Nettoerzeugung jener Znckcrerzougungsstätten. welch« die Ansprurhsberechtigung an dem Znckerkontingente nach § 1, lit. a) nicht besitzen oder nicht geltend machen, 15.000 nicht übersteigt, werden die ermittelten Zahlen der größten Ncttoorzcngmig wie folgt erhöht:

na I Für Znckererzeugungsstätten mit einer größten Nettoerzengung von

40.000 bis 45.000 am 3 Pro/.., jedoch nicht auf mehr als 45.000.

Mi) Für Zuckereizeugungsstätten mit einer größten Nettoerzeugnug von

35.000 bis 40.000 um 6 Proz., mindestens aber anf 39.000 und nicht auf mehr als die kleinste der durch die im Sinne des vor- stehenden Absatzes na) vorgenummene Erhebung gewonnene Zahl.

re) Für Zuckererxeugungsstßtten mit einer größten Nettoerzengung von weniger als 35.000 auf 39.000, jedoch nicht anf mehr als das Doppelte der größten Nettomengung.

Die so gefundenen Zahlen bilden die Ueteilnngsmaßstäbe der unter lit. b) fallenden Erzeugnngsstätten.

r) Die mehr als 60.000 betragenden Maßrahlen der grüßten Nettoerzengung jener Znckererzengungsstätten. welche die Anspruchsberechtigung an dem Znckerkontingente nicht besitzen oder nicht geltend machen, werden um 35 Proz. der Summe der gemäß lit. b) vorgenommenen Erhöhungen ver- hältnismäßig. jedoch nicht auf weniger als 60.000 vermindert. Die restlichen 65 Proz. der erwähnten Krhöhnngssurnme werden von den Maßzahlen der größten Nettoerzeugnng jener Zuckererzeugungsstfitten, welche zugleich die

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ftsterreirh-Ungam und die Brüsseler Zackerkonvention

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Anapruchsburechtiguog an dem Zackcrkontingunte gemäß § 1, lit. a) besitzen und geltend machen, verhältnismäßig allgezogen.

Die so gefundenen Zahlen bilden die Uoteilungsmaßstäbe der unter lit c) fallenden Erzen gungsstfttten.

2. Für die nachbenannten erst in der Botriebsperiode 1901/2 in Betrieb gesetzten ZuckererzeugungMt&tten werden die Beteilnngstnaßstäbe wie folgt fest- gesetzt :

Für die Zuckererzeugungsstätte Leopoldsdorf (Niederosterreich) mit 89.000

für die Zuckererzeugungsstätte Lnzan mit 89.000

, * Zuczka 102.000.

Für jene Zuckererzeugungsstätten, deren Ansprnchsherechtigung nach dem 1. September 1903 Eintritt 1. zweiter Absatz', wird der Beteilnngsmaßstah vom Finanzminister nach Anhörung von drei Sachverständigen, von welchen zwei vom Finanzminister und einer von den Unternehmern der betreffenden Erzeugungs- stätte zu bestimmen sind, festgesetzt.

Die vom Finanzminister zu bestimmenden Beteilnngsmaßstäbu dürfen einzeln 60.000 nicht übersteigen.

8 4.

Die im Sinne des § 2 festgcstellten Beteiiungsmaßstäbc behalten auch für die individuelle Verteilung des Zuckerkontingentes in den Betriehsperiodeii 1904/5 bis einschließlich 1907/8 Gültigkeit. Falls das Zuckerkontingent im Laufe einer Betriobsperiode erhöht oder herabgesetzt werden sollte, werden die individuellen Anteile an dem Zuckerkontingente verhältnismäßig erhöht beziehungsweise herab- gesetzt.

Der Rohzuckerwert der für die Betriebsperiode 1908/4 zu gewärtigenden Erhöhung des Zuckerkontingentes wird bis zur Menge von 71.000 q Kobzuckerwert den Zuckererzengungsstätteii : Przeworsk bis 32.000 q. Zuczka bis 32.000 q und Leopoldsdorf bis 7000 q. der Rest dieses Robznckerwertes sämtlichen an dem Kohzuckerwerte des Zmkerkontingentes ansprnchsberechtigten Krzeugungsstätten zu gleichen Teilen zugewiesen.

Den an dem Kohzuckerwerte des Zuckerkontingeiites anspruchsboreclitigten Znckerer/.eugungsstätten wird für die Botriebsperioden 1904/5 bis einschließlich 1907 8 der dem für die Botriebsperiode 1903 4 mit § 5 des Gesetzes vom 31. Jänner 1903, R.-G.-B1. Nr. 26, festgesetzten Zuckerkontingente entsprechende Rohznckerwert im Verhältnisse der gemäß § 3 des gegenwärtigen Gesetzes fest- gestellten Beteilungsmaßstäbe zugewiesen.

Von dem Rohzuckerwerte jener Kontingentineiige, um welche das jeweilige Zuckerkoutiiigent der Betriehsperioden 1904 5 bis einschließlich 1907 8 das mit § 5 des Gesetzes vom 81. Jänner 1908. R.-G.-Bl. Nr. 26, für diu Butriebsperiode 1903/4 bestimmte Zuckerkontingent übersteigt, wird die Teilmenge von 71.000 q Rohzuckerwert dun Zuckurer/.eugnngsgtätteu Przoworsk, Zuczka und Leopoldsdorf, und zwar Przeworsk und Zuczka je bis 32.000 q und jener in Leopoldsdorf bis 7000 q, der Rest sämtlichen an d**m Rohzuckerw'ertu des Zuckerkontingentes ansprachsberechtigten Zuckererzoogungsstätbii für die jeweilige Botriebsperiode zu gleichen Teilen zugewiesen. Im Falle einer Herabsetzung des Zuckerkontingentes

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Autpitz.

unter das mit § 5 des Gesetzes vom 31. Jänner 1903, R.-G.-BI. Nr. 26, für die Betriebsperiode 1903/4 bestimmte Ausmali werden die lndividualanteile an dem Rohzuckerwerte des Zuckerkuntiugentes verhältnismäßig vermindert.

S 5.

Die Unternehmer von ZuotererzengungsstäUen dürfen den für ihre Erzeugungs- stätte zugewiesenen Individualanteil an dem Zuckerkontingente au eine oder mehrere mit einem Individualanteil an dein Zuckerkuntingeiite oder an dem Rohzuckerwerte dosseiben beteilte Erzcugungsslütto ganz oder teilweise für eine oder mehrere Hetriobsperioden übertragen.

Der Pinaiizmin'ister kann den Unternehmern der mit einem lndividualanteile an dem Zuckerkontingente bcteilteu Zuckurerzcuguugsstätten auch im Laufe einer lietriebsporiudo diu Übertragung eines nicht in Anspruch genommenen Koiiüngent- teiles an eine andere mit einem lndividualanteile am Zuckurkuntingonto beteilte Erzeugungsstätte bewilligen.

Die Unternehmer der mit einem lndividualanteile am Ruhzuckerwert des Zuckerkontingeiites beteilten Zuckererzengungsstätten sind berechtigt, ilireu Indi- vidualanteil ganz oder teilweise au eine andere mit einem lndividualanteile am Ruhzuckerwerto des Kontingentes beteilte Zuckererzeugungsstätto für eine oder mehrere Uetriebsperiodcn zu übertragen, wenn die Summe der Beteilnngsmaßstäbe für den Rohzuckerwert des Znckorkontingcntos 80.000 nicht übersteigt oder wenn die Summe der IJotcilnngsmallstäbe zwar 80.000, aber nicht 150.000 übersteigt und zugleich die Entfernung der beiduu Erzeugungsstätten 25 km Luftlinie nicht überschreitet.

Jede Übertragung eines Individualanteiles an dem Zuckerkontingente oder an dem Rohzuckerwert« desselben ist dom Finanzministerium anzuzeigen, und zwar spätestens am 1. September jener Betriebsperiode, für welche oder von welcher ab die Übertragung wirksam sein soll.

§ 6.

Die Wegbringung von Zucker gegon Entrichtung der Verbrauchsabgabe darf nur nach .Maligabe der vom Finauzmiuister jeweilig liberierten Mengen und nur insoweit erfolgen, als das Verfügungsrecht über den der wegzubringenden Zuckermenge unter Zugrundelegung der Ausbeute von 90 hj Konsumzucker ans 100 kij Rohzucker entsprechenden Rohzuckerwert des Zuckerkontingeiites nachge- wiosen wird.

Bildet Rohzucker den Gegenstand der gegen Entrichtung der Vcrhrauchs- abgabc stattfindenden Wegbringuug, so ist nicht das wirkliche Gewicht desselbon, sondern nnr der dem im vorstehenden Absätze bezeichnten Ansbeutcverhältnisse entsprechende Konsumzuckcrwcrt in das Kontingent einzurechnen.

Die jeweilig liberierten Teilmengen des Znckerkontingentos können nur iiu Laufe der betreffenden Betriebsperiode weggebracht werden.

Wenn Unternehmer der mit einem lndividualanteile an dein Zuckerkontingente beteilten Erzengungsstätten durch Zurückhalten von liberierten Mengen des Zuckerkontingentes die regelmäßige Versorgung des Marktes stören und die

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Österreich-Ungarn und die Brüsseler Znckerkonvention.

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zurückgebaltenen Zuckonnengcu nicht binnen einer fallweise mit mindestens 14 Tagen zu bestimmenden Frist in den Verkehr bringen, so kann der Finanz- minister das Recht zur Versteuerung der zurückgehaltenen Zuckermengen anderen mit einem ludividualanteile au dem Zuckerkontingente beteilten Zuckererzeuguugs- stätteu einräumen.

Es ist gestattet, den gegen Kinrechnnng in das Kontingent wegzubringenden Zucker unversteuert unter dem Hände der Verbrauchsabgabo in ein ZuckcrfreUager einzulageru. Derart eingelagerter Zucker muß vor Ablauf der betreffenden Betriebs- periode gegen Entrichtung der Verbrauchsabgabe weggebracht werden, wenn der L'ntcraehmer des Freilagers zugleich Unternehmer der Zuckererzeugungsstätte ist, aus welcher der uingelagerte Zucker stammt und wenn in dieses Freilager nur Zucker aus dieser Erzeugungsstätte eingelagert wird. In allen anderen Fällen muß der in ein Freilager eingelagerte Koutiugentzucker spätestens vier Wochen uach dem Tage der Einlagerung gegen Entrichtung der Verbrauchsabgabo weg- gebracht werden.

§ V.

Den mit einem ludividualanteile am Rohzuckorwerto des Zuckerkontiugeiites bctcilteu Erzeugungsstätten werden spätestens zu Beginn jeder Betriebsperiode für jeden Monat derselben Berechtigungsscheine ansgefolgt. Diese Berechtigungs- scheine dienen zur Erbringung des im § Ö, erster Absatz, gefordertem Nach- weises.

Der Fiuauzminister ist ermächtigt, von den Unternehmern der mit einem lndividnalanteile au dem Kohzuckerwert« des Zuckerkontiugeiites beteilteu Zucker- erzeugungsstätten den Nachweis über die bestimmungsgemäße Verwendung der ausgefolgten Berechtigungsscheine zu verlangen und wenn diesem Verlangen binnen einer fallweise mit mindestens 14 Tagen zu bestimmenden Frist uicht entsprochen wird, die Berechtigungsscheine, hinsichtlich welcher der geforderte Nachweis uicht erbracht wird, einzuzieheu mul zu gestatten, daß die entsprechende Menge des Zitckerkontingcntes ohne Beibringung des im § ti, Absatz 1, geforderten Nach- weises weggebracht werden darf.

Sollte sich nach Schloß der Betriebsperiodu herausstetleu, daß die in einer Znckererzeugungsstätt« während dieser Betriebsperiode erzeugte Zuckermenge, aus- gedrückt in Kohzuckerwert, geringer ist als der Didividualanteil au dem Kuh- zuckerwerte des Zuckerkoiitingentes für die betreffende Betriebsperiode, so wird der Individualanteil der betreffenden Znckererzeuguugsstätte an dem ltohzucker- werte des Zuckerkontingentes für die darauffolgende Betriebsperiode um diesen Unterschied vermindert, insofern der Unternehmer nicht uachweist, daß diu Mindererzeugung in einem unvorhergesehenen Ereignisse oder in einer zulässigen Kontiiigeutübertragung ihren Grand hatte. Derart verfügbar werdende Teilmengen werden vom Finanzminister anderen Zuckererzeugungsstätten zugewieseu.

8 8.

Mit dem Vollzüge dieses Gesetzes, welches am Tage der Kundmachung in Kraft tritt, ist Mein Finanzminister beauftragt.

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DIE LANDWIRTSCHAFT ALS AUSHANGS PUNKT FÜR EIN SYSTEM DER POLITISCHEN ÖKONOMIE.')

VON

PR FRIEDRICH KLEINWÄCHTER.

K K HOFBAT UND PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT CZ BRNO WITZ.

Es gibt wohl kein wirtschaftliches Gut, welches seit jeher eine so ent- gegengesetzte lleurteilnng erfahren hätte wie das Geld. Während fast alle Religions- Stifter das Geld gewissermaßen als Ausgeburt der Hölle bezeichnen und das Jagen nach Gold auf das Strengste verdammen, strebt im gewöhnlichen Leben ein jeder nach Geld und glaubt nie genug desselben erwerben zu können; und doch erscheint anderseits wieder jedem von uns der Geizhals, der auf seinen Geldsäcken sitzt, oder der Wucherer als eines der verabscheoungswürdigsten Wesen. Nicht anders liegen die Dinge auf dem Gebiete derjenigen Wissenschaft, die ej r professo vom Gelde nnd Geldeswert handelt der Nationalökonomie. Während das Merkantilstem sozusagen eine Apotheose des Geldes repräsentiert, wollen die Vertreter des Kommunismus und Sozialismus vom Gelde nichts wissen. In Uto- pien kennt man kein Geld nnd werden um die Edelmetalle so recht verächt- lich erscheinen zu lassen die Ketten der Verbrecher aus Gold und Silber angefertigt und gibt man goldenes nnd silbernes Geschmeide, soviel sie dessen verlangen, den Irrsinnigen und Kindern als Spielzeug; desgleichen soll im sozial- demokratischen Volksstaat der Zukunft kein Metall, sondern nur „Arbeitspapier- geld4* zirkulieren. Und selbst ein Mann wie der alte Boisguillebert, der den kommunistischen oder sozialistischen Ideen ganz fern steht, spricht vom „mandit arrrent dessen Dienst lediglich in der Vermittlung der Tauschoperationen be- steht und das daher ebensogut durch ein morccau tle papier u ersetzt werden kann. Dieser Widerspruch ist nie ganz geschwunden, sondern hat sich bis auf den heutigen Tag erhalten. Er wird heute repräsentiert durch dasjenige, was die Engländer als „woneg intercsl u und als „land inlerrst u bezeichnen, d. i. durch den Gegensatz von Industrie und Handel auf der einen und der Landwirtschaft auf der anderen Seite, nnd aus ihm erklärt sich auch die Abneigung, mit der

*) Dr. G. Ruh land, o. ö. Professor der politischen Ökonomie an der Universität Freiburg (Schweiz): „System der politischen Ökonomie. I. u. II. Band: Allgemeine Volkswirtschaftslehre. Bd. I.“ Berlin, Wilhelm Isslcib, 1903.

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Die Landwirtschaft als Ausgangspunkt für ein System etc.

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alle sogenannten konservativen Elemente die Landwirte an der Spitze dem- jenigen Orte gegenüberstehen, an dem das Geld die hervorragendste Rolle spielt: der Börse.

Der letzte Grund dieser eigentümlichen Erscheinung ist ein ziemlich tief liegender. Das Geld sieht auf den ersten Blick ganz harmlos aus. es besteht aus blanken Metallstücken, denen der Staat seinen Stempel aufgeprägt hat und es erscheint ganz unbegreiflich, warum diese glanzenden Metallstücke verabscheuungs- würdig sein sollen. Auch die wirtschaftliche Funktion des Geldes ist zunächst eine ganz unverfängliche, denn sie besteht darin, die Schwierigkeiten zu beseitigen, die sich dein Natural tausche entgegenstellen. Man vergegenwärtige sich nur um mit Roscher zu sprechen einen Nagelschmied, der nichts anderes an- znbieten hat als seine Nägel und der eine Kuh zu erwerben wünscht. Wie lange wird der Mann suchen müssen, bis er einen Besitzer einer Kuh findet, der just so viele Nägel braucht als die Kuh wert ist! Tritt jedoch das Geld dazwischen, so verkauft der Mann seine Nägel in kleinen Partien gegen Gold und legt die Münzen zusammen so lange, bis er die Summe hat, die die Kuh kostet. Wenn also trotzdem das Geld von so vielen natioiialökonomischen Schriftstellern verabscheut wird, so muß ein tieferer Grund vorliegen, der jene Abneigung rechtfertigt.

Dieser Grund liegt auch tatsächlich vor und bestellt darin,* daß das Geld heute zum wesentlichsten Herrschaftsmittel geworden ist. Die Bedeutung dieses Wortes wird klar, wenn man sich das Wesen der Güterproduktion vergegen- wärtigt. Fast jede menschliche Produktion beruht auf dem gleichzeitigen harmo- nischen Zusammenarbeiten mehrerer Personen nach einem einheitlichen Plane; ein derartiges Zusammenarbeiten mehrerer Personen aber ist nur denkbar, wenn die Betreffenden sieb einem einheitlichen leitenden Willen unterwerfen. Mit anderen Worten: eine der wesentlichsten Voraussetzungen fast jeder Produktion ist der Gehorsam der zusammonwirkenden Personen, und damit ist von selbst die Frage gegeben, auf welche Weise mau die Menschen zum Gehorsam veranlassen kann. Die Antwort ist eine naheliegende: derartiger Mittel gibt es vier.

Es ist zunächst möglich, daß die Menschen freiwillig gehorchen. Ein der- artiger Gehorsam kommt aber bekanntlich nicht leicht vor, denn er setzt einen relativ hohen Grad von Einsicht und Selbstbeherrschung voraus. Er setzt nämlich einmal voraus, daß die Menschen die Notwendigkeit des Gehorchens einsehen, und er setzt zum zweiten voraus, daß die Betreffenden den angestrebten Zweck der fraglichen Produktion klar erkennen und richtig zu würdigen wissen. Speziell diese letztere Voraussetzung wird in den meisten Fällen und ganz besonders dann nicht zutreffen, wenn es sich um die Verwertung einer neuen Erfindung handelt. Man versuche es doch beispielsweise, Leuten, die von der Bedeutung der Elektrizität keine Ahnung haben, die Vorteile eines Elektrizitätswerkes klar zu machen und sie dazu zu bewegen, daß sie sich zusammoiitun und etwa die dazu erforderlichen Wasseranlagen samt den notwendigen Maschinen hersteilen, l’nd wenn was ja kaum zu vermeiden ist der orsto derartige Versuch mißlingt und die erste Anlage sich als verfehlt erweist, so unternehme man es, die Leute dazu zu bringen, daß sie das ganze Werk zum zweiten Male hersteilen.

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Kleinw&chter.

Dur Gehorsam kann zum zweiten auf dem Antoritäbsgefülile, <1. i. auf dem- jenigen Gefühle beruhen, «reiches die Staminesangehörigen ihrem Patriarchen, die Soldaten ihrem sieggewohnten Heerführer odor die Angehörigen einer reli- giösen Sekte ihrem Propheten cntgegeubriugen. Ein derartiger blinder Gehorsam kann unter Umstünden geradezu Wunder bewirken, aber er ist zumeist einem Strohfeuer zu vergleichen und erlischt nur zu leicht, wenn der Prophet oder der Heerführer stirbt oder wenn er sich eine bedeutende Blöße gibt, überdies ist das Autoritätsgefühl speziell das der Staminesangehörigen zumeist auf einen engen Kreis (der persönlichen Bekanntschaft) beschränkt.

Ist auf diese Weise von den beiden gedachten Arten des Gehorsams nicht viel zu erwarten, so bleiben nur die zwei anderen Mittel übrig, d. i. der Zwang und das Inaussichtstellen eines Vorteils, Dio rohe physische Gewalt, d. i. also die Sklaverei, ist zwar geeignet den Gehorsam zu erzwingen, sie hat bekanntlich auch in der Geschichte der Menschheit eine sehr große Bolle gespielt, aber der Ge- horsam des Sklaven ist doch nur ein widerwilliger und äußerlicher, d. h. der Sklave arbeitet nicht freudig und arbeitet nur soviel als er unbedingt muß. Ganz anders dagegen, wenn man dem Betreffenden einen selbstverständlich ent- sprechenden) Vorteil in Aussicht stellt, weil auf diese Weise der Arbeitende eiu

Interesse au seiner Leistung gewinnt. Er ist bestrebt, die Zufriedenheit des

sogenannten Arbeitgebers zu erringeu und trachtet daher, die Arbeit so gut auszuführen als er kann. Will man den Arbeitenden dauernd au sich fesseln, d. h. will man ihn zum dauernden Gehorsam veranlassen, so muß man ihm be- greiflicher Weise einen dauernden Vorteil in Aussicht stellen, und dies kann auf dreifache Weise geschehen.

Wir pflogen heute bekanntlich dem Dienenden eiue bestimmte Geldzahlung zu versprechen, diese Summe wird jedoch selbstverständlich nicht anf einmal, solidem in Wochen-, Monatsraten o. dg!, ansgezahlt, und jedesmal wird dio

Zahlung der nächsten Kate davon abhängig gemacht, daß der Betreifende in der

Zwischenzeit seinen Verpflichtungen zur Zufriedenheit des Dienstherrn uaclige- kommen ist.

Vielfach in Verbindung mit diesem wird das zweite Auskunftsmittcd in An- wendung gebracht, welches darin besteht, daß die Erlangung gewisser (größerer; Rechte von der gewissenhaften Erfüllung der geforderten Pflichten abhängig ge- macht wird. Es ist dies der bekannte Anspruch der Fixangestelltcn auf Dienst- altersznlagen, auf Beförderung auf höhere Dienstposten, auf Altersversorgung u. dg]., der namentlich für den öffentlichen Dienst von so ungeheuer weittragen- der Bedeutung ist. Auch für sich allein wird dieses Auskunftsmittel in Anwendung gebracht und dient beispielsweise auf dem Gobiete des öffentlichen Unterrichts- wesens dazu, die Disziplin unter der studierenden Jugend aufrecht zu erhalten und die jungen Leute zum ernsten .Studium zu veranlassen. Beiläufig bemerkt, war vor der Einführung der schrankenlosen Gewerbefreiheit auch dies das Mittel, um die Handwerkslehrlingn und -Gesellen zur strengen Pflichterfüllung zu ver- halten, weil der junge Mann weder zum Gcsellou noch zum Meister emporsteigen konnte, wenn er von seinem Lehr- beziehungsweise Dionstherm nicht das ent- sprechende Zeugnis erhielt.

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Die Landwirtschaft als Ausgangspunkt für ein System eto.

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Die periodische Auszahlung einer bestimmten Geldsumme setzt aber selbst- verständlich voraus, daß man Geld hat, d. h. dal! eine genügende Menge baren Geldes im Volke zirkuliert. Im Mittelalter und speziell in seiner ersten Hälfte war dies nicht der Fall, und aus diesem Grunde mußt«! man sich eines anderen AuskunflstnitUds bedienen, wenn man jemandem einen materiellen Vorteil bieten wollte, um ihn dauernd an sich zu fesseln. Dieses Ausknnftsinittel bot sich dar im Grundbesitz oder präziser ausgedrückt iiu Lehenwesen. Wollte der Herr einen Vasallen dauernd an sich fesseln, so übergab er ihui Grundstücke, aber nicht ins freie Eigentum, sondern nur zur Nutzung. Der Herr übergab dem Vasallen Grundstücke zu erblichen Nutzung, aus denen der Vasall, solange er seinen Ver- ptlichtungcn gewissenhaft nachkam, sich um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen sein Gehalt gewissermaßen herausackeru durfte. Das sogenannte Ohereigentum behielt der Herr für sich, und au dieser Schnur hielt er seinen Vasallen fest, denn sobald dieser sich's beifallen lassen wollte, seine Vasallenpflichten zu vernachlässigen, konnte der Herr kraft seines Obcreigenluins das Nutzungs- oder Untcreigeutum an sich ziehen und der Vasall war au die Luft gesetzt.

Das alles ist ziemlich bekannt, was aber bisher vielleicht weniger gewür- digt wurde, ist der Umstand, dafl die vorstehenden Erwägungen geeignet sind, gewisse grolle volkswirtschaftliche Tatsachen in einem uoncu Lichte erscheinen zu lassen und demgemäß die gangbare nationalekonoinische Theorie teilweise richtig zu stellen. In allen nationalükouomiscbcn Lehr- und ' Handbüchern werden die sogenannten drei „staatswirtschaftlichon Systeme“, d. i. der In- begriff jener Maßregeln eingehend gewürdigt, die von den Regierungen der verschiedenen Kulturvölker seit dem Beginn der sogenannten Neuen Zeit in An- wendung gebracht wurden, um die Wirtschaft der ihrer Leitung auvertraoten Völker zu heben. Das erste dieser Systeme ist das sogenannte Merkautilsystem ; die Beurteilung jedoch, die dasselbe in der volkswirtschaftlichen Literatur im Laufe dor Zeit erfahren hat, ist eiuo ziemlich verschiedene. Daß das Merkantil- system von seinen Anhängern und ersten Vertretern als ein Arcanum, als ein unfehlbares Mittel gepriesen wurde, die Völker reich uud glücklich zu machen, ist selbstverständlich und bedarf keiner weiteren Begründung. Mit der Zeit kamen jedoch die Gegner uud die Kritiker.

Die ersten unter ihnen erblickten im Merkautilsystem nichts andores als ein ganz unvernünftiges nnd unsinniges Haschen nach Geld und Silber, also eino Art Midas-Fabid. Die Kegierungeu so lehren jene Autoren seien unter der Herrschaft der merkantilistischen Ideen ungefähr auf dem Standpunkte gestanden, den der einfache Mann aus dem Volke einniuunt, wenn er sagt: „Reich ist der- jenige, der viel Geld hat.“ b'nd um das Volk in diesem Sinne „reich“, d. Ii. reich an Gold und Silber zu machen, seien die Regierungen bestrebt gewesen, die Produktion und den Export von hochwertigen ßanzfabrikaten zu fördern, weil ja der Export beziehungsweise der Überschuß des Exportes über den Import durch Sendungen von Gold nnd Silber aus dein Auslande nach dem lnlande be- glichen werden muß.

Die späteren Beurteiler geben zu, daß eine zwecklose Vermehrung der Menge des umlaufenden Geldes in einem Lande ein Unding wäre, sio lehren

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Kleinwächter.

jedoch, daß jenes Streßen der Regierungen nach Vermehrung des Geldreichtum» im Lande sozusagen nur die äußere Schale des Merkaiitilsystems repräsentiere, daß jedoch dessen eigentlicher und vernünftiger Kern in dem berechtigten Streben der Regierungen zu erblicken sei, die Industrie ihrer Länder die bis dahin nur unbedeutend, nur Handwerk war auf eine höhere Stufe zu heben, also eine eigentliche Großindustrie im Lande zn schaffen, l'nd gewissermaßen zur Entschuldigung führen sie all, daß auch jenes Streben nach Gold und Silber eine gewisse durch die Zeitumstflnde bedingte Horechtigung gehabt habe, weil einmal speziell in jener Zeit der Übergang von der Natural- zur Geldwirt- schaft sich zu vollziehen begann, dann weil die Regierungen jener Zeit bemüht gewesen seien, eine stramme staatliche Verwaltung zu organisieren, zu der man Beamte und Soldaten brauchte, die selbstverständlich mit Geld bezahlt werden mußten.

Die neuesten Schriftsteller endlich, wie namentlich Schmoll er und Bücher, erblicken im Merkantil System das Bestreben der Regierungen, eine ein-, heitliche Volkswirtschaft zu schaffen. Das Mittelalter besaß koino einheitliche Volkswirtschaft im heutigen Sinne des Wortes, sondern nur eine Anzahl lokaler Stadtwirtschaften. Straßen und sonstige Kommunikationsanstalten fehlten im Mittel- alter fast gänzlich, und infolgedessen mußte jede Stadt, was sie und ihre nächste Umgebung an gewerblichen Erzeugnissen brauchte, selbst erzeugen. Außerdem fällt in die sogenannte Neue Zeit die Kntstohnng der heutigen Großstaaten in der Weise, daß verschiedene, bis dahin selbständige Territorien unter einem Scepter vereinigt wurden. Diese heterogenen Volkselemente, die eine verschie- dene Steuer- und sonstige Gesetzgebung besaßen, mußten zu einem einheit- lichen Staatsganzen verschmolzen werden, und dies geschah durch die Anwendung der merkantilistischen Regiermigsmaßregeln.

Auf dies« Darstellung und Kritik des Merkaiitilsystems folgt dann in den Lehrliüchorn der Nationalökonomie die Erörterung des physiokratischen Systems, welches den natürlichen Rückschlag auf die Loliron der Merkantilsten bildet. Der Gcilankeninhalt der physiokratischen Lehre läßt sich in zwei kurze Sätze zusammenfassen: 1. Der Reichtum eines Volkes besteht nicht im Besitze von Gold und Silber, sondern darin, daß jeder einzelne im Volke mit allen denjenigen Gütern möglichst reichlich versorgt ist, die man im Leben braucht. Die Stoffe, aus denen diese Güter allgefertigt werden, werden der Natur entnommen und aus diesem Grunde ist die Natur die einzige Quelle des Wohlstandes ; ist die Landwirtschaft im weitesten Sinne des Wortes, also mit Einschluß der Forstwirt- schaft, der Viehzucht, der Jagd und Fischerei sowie des Bergbaues) die einzig produktive Beschäftigung. 2. Weil die Landwirtschaft unter der merkantilis tischen einseitigen Begünstigung von Handel und Industrie vielfach benachteiligt war und sich nicht frei entfalten konnte, wird die Forderung aufgcstellt, daß sich der Staat so wenig als möglich in das wirtschaftliche Leben eininischen soll. Unter der Devise: James faire, laissee passer, la wo mir ra de tut mime“ gedeiht die Landwirtschaft nnd das ganze wirtschaftliche Leben am besten.

Als drittes wird sodann das sogenannte „Indnstriegystem“ des A d a in S m i t h behandelt. S m i t li berichtigt einerseits die Lehre der lMiysiukratcn. Hatten diese

Dit* Landwirtschaft als Ausgangspunkt für sin System etc.

4.35

den Satz aulgestelit, (lad nur die landwirtschaftliche Arbeit produktiv sei, so lehrt Ad. Smith, daß die Produktivität* jeder materiellen Arbeit anerkannt werdeu müsse, „welche den Wert des Stoffes, an den sie gewendet wird, erhöht.“ Anderseits schließt sich Smith den Physiokraten an, indem er erkennt, daß die vielfache Reglementierung nnd Bevormundung des wirtschaftlichen Lebens durch die Staatsgewalt, wie sie unter der Herrschaft der merkantilistischen Ideen an der Tagesordnung war, überflüssig und schädlich ist. Er fordert daher mit den Physiokraten die möglichst geringe Einmischung des Staates in das Wirt- schaftsleben.

Hie, Smithsche Lehre wurde im Laufe der Zeit von seinen Nachfolgern - wie Gustav Cohn sich gelegentlich in überaus zutreffender Weise aus- drnckt zu einer „Nationalökonomie der Börse“ umgestaltet. Schon Smith hatte bekanntlich den Fehler begangen, daß er die Ungleichheiten der einzelnen Menschen im wirtschaftlichen Leben unberücksichtigt ließ, d. h. daß er von der stillschweigenden Voraussetzung ausging, daß die Menschen bei Geschäfts- abschlüssen sich ausschließlich von der Rücksicht auf ihren Vorteil (also vom KigenintereSse) leiten lassen, und zweitens, daß doch jeder selbst am besten wisse, was ihm frommt, oder mit anderen Worten, daß jeder ein gewisses Quan- tnm von Verstand nnd Einsicht mitbringe. Anf dieser Grundlage wurde von seinen Nachfolgern ganz besonders von dem Bankier Ricardo weiter gebaut, und so gelangte man dazu, das ganze Wirtschaftsleben der Menschen als eine ununterbrochene Reihe von Kauf- uud Verkaufgeschäften aufzufassen, bei denen sich jedesmal zwei unabhängige gleichgewiegt« Kanfleutc gegenüber- stehen, die mit reichem kaufmännischen Wissen ausgerüstet miteinander regelrechte Börsengeschäfte, u. zw, selbstverständlich nach dein ewigen nnd un- abänderlichen „Gesetze“ von Angebot nnd Nachfrage, abschließen. Unter solchen Umständen muß jeder Eingriff der Staatsgewalt in das Wirtschaftsleben nur störend wirken und von Nachteil sein, denn das gesamte Wirtschaftsleben regu- liert sich unter der Herrschaft der Naturgesetze von selbst. Haß die gedachten Voraussetzungen im wirklichen Lehen fast nie zutreffen, daß zumeist auf der einen Seite eine unabhängige wirtschaftliche Position, anf der anderen Seite eine wirtschaftliche Not oder eine Zwangslage vorliegen daß auf der einen Seite der rücksichtsloseste Egoismus, auf der anderen Seite alle erdenklichen Rücksichten anf die Vorschriften der Religion, der Gesetzgebung, der Moral, der Staudessitten n. dgl. mitspielen daß auf der einen Seite die rafliniertest» ge- schäftliche Geriebenheit, auf der anderen Seite geschäftliche Unkenntnis, Unver- stand. Trägheit, Leichtsinn otc. herrschen kann ; kurz, daß jeder Geschäftsabschluß das Resultat eines Kampfes ist, in welchem jeder Teil (so gut oder schlecht er es eben versteht) die Vorteile seiner Position nach Kräften auszunutzen bestrebt ist, nnd daß aus diesem Kampfo ( wie überhaupt aus jedem Kampfe) der stärkere Teil als Sieger hervorgeht, von dem allen hatten die guten Herren auch nicht die leiseste Ahnung.

Au dieser Dreiheit der sogenauuten „staatswirtschaftiichen Systeme“ Merkantilsystem, System der Physiokraten, Industrie- oder Freihandelsystem hat die gangbare Lehre seither festgehalten, sieht inan jedoch etwas genauer

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Klein Wächter.

hin, so erscheint einigermaßen fraglich, ob man an dieser Dreiheit auch fernerhin festhalten darf. Anf den ersten Klick scheint nämlich zwischen der Lehre des Ad. Smith und seiner Nachfolger und zwischen dem Merkantilsystem eine un- überbrückbare Kluft zu gähnen. Die Merkantilisten erblicken den Reichtum des Volkes in dem Besitze von möglichst viel Gold und Silber Smith dagegen lehrt, daß die Arbeit allein die Quelle des Volkswohlstandes ist. Die Merkantilsten verlangen, daß der Staat nach allen erdenklichen Richtungen hin eingreifen und reglementieren soll, um die Industrie auf jede mögliche Weise zu fördern die Vertreter der Freihandelslehre hingegon fordern, daß der Staat sich jeder Ein- mischung in das Wirtschaftsleben möglichst enthalten soll. Das sind die denkbar schärfsten Gegensätze, wo also soll das verbindende und einigende Moment liegen? Und doch ziehen beide an demselben Strang.

Das Merkantilsystem ist der ungezügelte Durst nach Gold und Silber und dieses Streben so widersinnig es anf den ersten Blirk zu sein scheint erklärt sich ungezwungen aus der Tatsache, daß man zu jener Zeit, wenn auch vielfach unklar und unbewußt, die Bedeutung des Geldes für das Wirt- schaftsleben nnd seine Macht zu ahnen begann. Wie bereits oben erwähnt wurde, beruht fast die gesamte Produktion auf dem Zusammenwirken mehrerer Menschen nach einem einheitlichen Plane. Es handelt sich also darum, die Menschen zusammenzufassen und sie zur Unterwerfung unter den einheitlichen leitenden Willen zu veranlassen, und gerade dieses Bedürfnis trat mit dem Beginn der sogenannten Neuen Zeit mit besonderer Intensität hervor. Auf der einen Seite waren es die Landesfürsten, die ergebene Beamten nnd Soldaten brauchten, um die ihrem Sceptcr unterworfenen heterogenen Ländergebiete stramm zu administrieren nnd zu einem Einheitsstaate zusammenzuschweißen. Anf der andern Seite standen die aufkeimenden industriellen Großuntemehmnngen, die sogenannten „Manufak- turen“, an welche die Aufgabe herantrat, immer größere Scharen von Arbeitern zusammenzufassen nnd in ihren Betrieben zum harmonischen Zusammenwirken zu vereinigen. Nun war aber zu jener Zeit die Sklaverei in Europa längst abge- schafft und an eine Wiederherstellung derselben nicht zu denken. Das Lehen- wesen hatte sich wenn man so sagen darf ausgelebt, d. h. der Grund und Boden war verteilt, und es waren keine Ländereien mehr vorhanden, die man hätte als Lohen ansteilen können; überdies war in der Stadt selbstverständ- lich mit dem Lehenwesen erst recht nichts anzufangen. Man mußte sieb daher nach einem anderen Ausknnl'tsmittcl Umsehen, um die Menschen zum Gehorsam und zum Zusammenarbeiten zu veranlassen, und als solches tat sich sozu- sagen von selbst das Geld dar, das ja in der Stadt schon seit längerer Zeit zur Lohnzahlung, speziell an die Handwerksgesellen, verwendet wurde. Soll aber das Geld in größerem Maßstabe zur Lohnzahlung verwendet werden, so maß man es selbstverständlich vorerst haben, d. h. es müssen was im geldarnien Mittelalter bekanntlich nicht der Fall war entsprechende Mengen zirkulierenden Geldes im Lande vorhanden sein, nnd die Mittel nnd Wege, wie ein Land in den Besitz von Gold und Silber gelangen kann, die lehrte nnd wies uhen das Merkantilsystem.

Hierin liegt die eigentliche Bedeutung dieses Systems. Die Menschheit der damaligen Zeit brauchte Geld, aber nicht wie die späteren Nationalökonomen

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Pie Landwirtschaft al« Anegangepnnkt fUr ein System etc.

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lehrten weil iui Anfänge der ««genannten Nenen Zeit «ich der Übergang von der Natural- zur Goldwirtschaft z.n vollziehen beginnt, sondern man brauchte das (leid als Herrschaftsmitte], um die Menschen speziell unter den Willen des in- dustriellen Großunternehmers (denn in den landw irtschaftlichen Großbetrieben behalf man sich noch immer mit lehenartigen Verhältnissen! r,u zwingen und sie zur Arbeit in den gewerblichen Großbetrieben zu nötigen. Kine derartige Produktion, bei der eine größere Anzahl von Arbeitern produziert und durch Zahlung eines Geldloh lies zum Gehorsam und zum Zusammenarbeiten nach dem Plane und dem Willen eines „Herrn* verhalten wird, bezeichnet inan als „kapi- talistische Produktion“. Pas Merkantilstem diente somit dazu und das war sein eigentlicher Zweck und seine eigentliche Bedeutung die sogenannte kapi- talistische Produktion in die Welt zu setzen; dein gleichen Zwecke aber dient die Freihandelslehre. Die Lehre nämlich, daß jeder, der Arbeiter wie der Guts- besitzer und wie der Kaufmann ein Warenverkäufer sei, und die stillschweigende Annahme, daß die jedesmaligen Käufer und Verkäufer sich als gleich starke und ebenbürtige Kontrahenten gegemiberstehen, oder init anderen Worten, der kind- lich-naive Glaube, daß der Preis aller Gütor durch das ewige und unabänderliche „Gesetz“ von Angebot und Nachfrage gebildet werde, bot eine überaus bequeme Handhabe, um alle Schritte und Maßnahmen aller Kapitalisten 'Unternehmer'' gegenüber ihren Arbeitern zu rechtfertigen und als vollkommen legitim hinzu- stellen. Für den Starken bildet ja der Grundsatz der wirtschaftlichen Freiheit den überaus wertvollen Rerhtstitel, um den Schwachen in aller Form Rechtens nach Herzenslust und nach allen Richtungen hin ansbeuten zu dürfen. Wnltl waren nnter der Herrschaft der merkantilistischen Ideen die Regierungen bestrebt, durch alle erdenklichen Eingriffe und Maßregein die Industrie zu fördern, während die Staatsgewalt unter der Herrschaft der „liberalen* Ideen sich jeder Ein- mischung in die Wirtschaft der Individuen tunlichst enthält. Aber im Wesen dienten alle Regierungsmaßregeln der merkantilistischen Epoche nur dazu, die Unternehmer und nicht etwa die Arbeiter zu unterstützen und zu för- dern, und dem gleichen Zwecke dient nnter der Herrschaft der „Freiheit“ die Nichteinmischung der Staatsgewalt, weil sie die Arbeiter als den schwächeren Teil den Unternehmern schutzlos ausliefert.

Anderseits aber kann nicht geleugnet werden, daß die kapitalistische Produktion wenigstens in der heutigen Welt bis zu einem gewissen Grade geradezu unentbehrlich ist. Der Reichtum eines Volkes und sein Fortschritt be- steht in der Herrschaft über die Naturkräfte. Hiezu aber sind zumeist Anlagen erforderlich, deren Herstellnng die Kräfte eines einzelnen weit übersteigt, die also das Zusammenwirken einer größeren Anzahl von Menschen erfordert. Sollen daher derartige Anlagen hergestellt und in Betrieb gesetzt werden, so muß mail die Macht besitzen, die Menschen zur Arbeit und zum Gehorsam zu verhalten, und dies geschieht heute am einfachsten und kürzesten durch die Zahlung eines Geldlohnes. In Utopien wäre die Regierung, wenn sie größere Anlagen Eisen- bahnen, .Schiffahrtskanäle, Elektrizitätswerke u. dgl.) hersteilen lassen wollte, auf den freiwilligen Gehorsam der Bürger angewiesen, und wenn diese die fraglichen Arbeiten nicht auf sich nehmen wollten, weil sie den Zweck und die Vorteile

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Kleinwäehter.

der neuen Anlagen nicht einsehen, so niüflte die Regierung nenn es ihr nicht gelingt, die Bürger zu belehren und zu überzeugen auf die Durch- führung ihrer I’lj'tm* verzichten, ln der heutigen Welt vollführt der Kapitalist (der Unternehmer) mit seinen blanken Gold- und Silberstücken dieses Kunststück sozusagen iin Handumdrehen. Kr verspricht den betreffenden Personen einen an- gemessenen I.ohn, und da heute jeder darauf angewiesen ist, zu verdienen, so greift jeder bereitwilligst zu und vollführt die gewünschte Leistung, ohne weiter nach ihrem Zweck zu fragen. Besitzt der Unternehmer selbst die erforderliche Geldsumme, so kann er sofort an die Ausführung seiner Pläne schreiten, und besitzt er das Geld nirht, so wird es immer noch verhältnismäßig leicht fallen, ein paar Kapitalisten für die Idee zu gewinnen, die dann das nötige Geld zu- sammenschießen. — Hierin liegt die ungeheure Bedeutung der kapitalistischen Produktion in der heutigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.

Merkantilismus und ökonomischer Liberalismus repräsentieren also nicht zwei verschiedene „staatswirtschaftliche Systeme“, sondern sind zwei Entwicklungs- Stadien eines und desselben staatswirtschaftlichcn Systems, nämlich der sogenannten .kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“ oder präziser aus- gedrückt : des Industrialismus, denn diesen beiden sogenannten „Systemen“ ging es in erster Reihe nur darum, die Industrie um jeden Preis in die Höhe zu bringen. Will man die Sache mit anderen Worten ausdrücken, so kann man sagen, daß mau es hier mit dem uralten Gegensatz von Stadt und Laud oder von Gewerbe und Landwirtschaft zn tun hat. Der Merkantilismus und der ökonomische Liberalismus (das sogenannt« „Industriosystcm des Ad. Smith*) repräsentieren die Interessen der Industrie und des Handels der sogenannt« Physiokratisinus die der Landwirtschaft.

Fast die gesamte nationalökonomische Literatur nach Ad. Smith hat sich darin gefallen, dem Industrialismus und Kapitalismus zu dienen, und speziell die sogenannte liberale Nationalökonomie hat das gesamte Wirtschaftsleben immer nur so aufgefaßt, als wäre die ganze Welt ein einziger großer Börsensaal, in welchem alle Menschen von ihrer Geburt bis zu ihrer Sterbestunde eine ununter- brochene Reihe vou Börsengeschäften abschließen. Später kam wohl die moderne (deutsche) sogenannte kathedersozialistische Richtung der Nationalökonomie, und diese hat nach zwei Richtungen hin segensreich gewirkt, weil sie die bisherige Theorie und Praxis berichtigte. Sie hat einmal die theoretischen Grundlagen des ökonomischen Liberalismus einer eingehenden Kritik unterzogen und hat wie bereits oben angedeutet wurde gezeigt, daß das wirkliche menschliche Leben sich nicht ausschließlich nach den Regeln dor kaufmännischen Berechnung ali- spielt; sie hat damit den Nachweis erbracht, daß das Bild, welches die liberale Ökonomie VOtl dem Wirtschaftsleben entwarf, ein einseitiges und somit schiefes war. Sie hat zum zweiten erkannt, daß die stillschweigende Annahme, von der die liberale Richtung ausging, als ständen sich bei jedem Geschäftsabschlüsse zwei gleiche und ebenbürtige Partner gegenüber, eino irrige war und bat nachgewiesen, daß zumeist zwei ungleich starke Gegner im wirtschaftlichen Kampfe sich gegen- überstehen, und daß daher dieser Kampf in der Regel zum Vorteile des stärkeren und zum Schaden des schwächeren Teiles ausschlägt. Und indem die moderne

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sogenannte kathedersozialistische Richtung diesen Nachweis erbrachte, hat sie wesentlich mit dazu beigetragen. daß die heutige Arbeifcerschutzgesefczgebnng ent- stand. die sich’s zur Aufgabe stellt, den wirtschaftlich Schwachen gegenüber dem wirtschaftlich Starken zu schützen. Die moderne nationalökonomische Richtung ist also zwar bestrebt, dem Kapitalismus einigermaßen entgegenzutroten und seine Auswüchse zu beschneiden, aber im Industrialismus ist sie trotzdem stecken ge- blieben, denn sie bat sich (allerdings unter dem Drucke der sozialistischen Lehre) fast ausschließlich darauf beschränkt, die Vorgänge auf dem Gebiete der Industrie und des Handels und insbesondere das Verhältnis der Arbeiter zu ihren Arbeit- gebern einer Erörterung zu unterziehen die Frage der Landwirtschaft dagegen ist (fiat wäre man geneigt zn sagen:) unberücksichtigt geblieben, lind dies ist aus einem zweifachen Grunde unrichtig.

Zunächst ist die theoretische Grundlage des Indnstrialismns eine teilweise irrige. Wenn nämlich Ad, Smith im Gegensätze zu den Physiokraten den Satz aufstellte, daß nicht nur die landwirtschaftliche, sondern überhaupt jede mate- rielle (also auch die gewerbliche,) Arbeit produktiv ist, wenn sie den Wert des betreffenden Stoffes erhöht, so hat er rein theoretisch gesprochen unbedingt recht, denn unsere gesamte sogenannte Produktion besteht (da wir bekanntlich auch nicht ein einziges Stäubchen ans Nichts zu schaßen vermögen) lediglich darin, daß wir gewisse, für uns wünschenswerte Naturstoffe oder -Gegen- stände herbeischaffen, daß wir sie in eine uns wünschenswerte (chemische oder mechanische) Verbindung bringen oder ans einer derartigen Verbindung heraus- lösen, oder daß wir ihnen eine uns wünschenswerte Form geben. Und das tut der Gewerbetreibende ebensogut wie der Landwirt, der Jäger oder der Bergmann. Und ebenso richtig ist es, daß uns mit der bloßen Rohproduktion nur wenig ge- dient ist, weil die meisten Rohstoffe ehe sie unseren Bedürfnissen dienen können vorher einer gewissen Be- oder Verarbeitung bedürfen. Mit anderen Worten, wenn wir unsere materiellen Bedürfnisse befriedigen wollen, so müssen Rohproduktion und gewerbliche Arbeit Hand in Hand gehen.

Wenn jedoch Ad. Smith lehrte, daß die Arbeit allein Reichtum schaffe, und wenn seine Nachfolger, gestützt anf diese Behauptung, die Lehre von der „ernährenden Kraft“ der industriellen Arbeit aufstellten, so war dies nicht nnr ein kolossaler, sondern ein überaus folgenschwerer Irrtum. Unsere gesamte „Arbeit“ ist nichts weiter als Bewegung und sich bewegen, d. h. laufen, springen, mit den Armen in der Luft herumfuchteln kann jeder soviel er will. Wenn jedoch nnr diese Muskelanstrengnng sich nicht an irgend einem Stoffe verkörpert, so ergibt sie auch kein greifbares Resultat, sondern bleibt eine einfache Turn- übung. Die Arbeit „an sich“ ist also, wirtschaftlich betrachtet, gar nichts und am allerwenigsten eine „Quelle des Reichtums“; zu einer solchen kann sie erst werden, wenn sie ein wertvolles Produkt liefert, allein auch dies nur bedingungs- weise. Der Mensch muß nämlich bekanntlich wenn er leben will zunächst essen; wenn er also durch seine Arbeit keine Lebensmittel, sondern sonstige Ge- nußgüter produziert, so kann er verhungern, ln unserer heutigen arbeitsteiligen und verkebrswirtschaftlich organisierten Volkswirtschaft kann allerdings nicht nur der Gewerbetreibende, sondern auch der Seiltänzer. Kunstreiter oder Luftspringer

Zeitschrift für VolkavrirtachaO, Soitatpolitlk und Verwaltung XU. Band. 30

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Klahiwächter.

nicht bloß leben, sondern unter Umständen auch ein reicher Mann «erden, kann also auch diese „Arbeit“ Quelle des Reichtums sein, aber immer nur unter einer Voraussetzung, nämlich dann, wenn der Mann andere findet, die ihm seine Leistungen mit sonstigen Gätern, und zwar insbesondere auch mit Lebensmitteln bezahlen. Und dieser Satz, dessen Richtigkeit so handgreiflich ist, daß sie keines weiteren Beweises bedarf, gilt selbstverständlich nicht nur von einzelnen, sondern ebenso von einem ganzen Volke. Ein Volk kann sich nur dann zu einem soge- nannten lndustrievolke answachsen und nur so lange als solches existieren, wenn und so lange andere Völker vorhanden sind, die geneigt sind, ihm seine überschüssigen Industrieprodukte abzunehmen und ihm hiefür die notwendigen Lebensmittel zu liefern. Fehlt diese Voraussetzung oder fällt sie fort, so muß die ganze Industrieberrlichkeit so sicher wie zweimal zwei vier ist zn- sammenbrechen.

Bet Industrialismus ist aber anderseits wie ein gefräßiges niniinersattes Ungeheuer und hat im Gegensatz, zur Landwirtschaft die Tendenz, ins ungemessene zu wachsen. Der landwirtschaftlichen Produktion sind durch die Natur der Dinge, d. i. durch die Menge und Beschaffenheit des Bodens im Lande, ziemlich enge Grenzen gezogen, welche nur bedingungsweise (durch eine intensivere Boden- kultur i bis zu einem gewissen Grade überschritten werdon können, und hieraus ergeben sich für die Gestaltung der gesamten Volkswirtschaft zwei schwer- wiegende Konsequenzen. Kin ausschließlich ackerbautreibendes Land kann einmal selbstverständlich nichts anderes exportieren als Bodenprodukte und dies nur so lange als es untervölkert ist. Nimmt seine Bevölkerung zu, so wird sich sein Getreideeiport sukzessiv vermindern, bis er schließlich ganz aofhört, weil dio gesamte landwirtschaftliche Produktion zur Krnälirung der heimischen Bevölkerung verbraucht wird. Nimmt die Bevölkerung weiter zu, so wird dieses Land Menschen exportieren müssen, d. b. die überschüssige Bevölkerung, die in der Landwirte Schaft kein Unterkommen mehr linden kann, wird abziehen. Zum zweiten ist in einem ausschließlich ackerbautreibenden Laude auch der Vermögeiisansaminlnng in der Hand der einzelnen eine gewisse Grenze gezogen, denn die einzige Form, in der Vermögen angesainnudt werden kann, besteht im Grundbesitz. Ist aber einmal der gesamte Grand ond Boden in den Privatbesitz übergegangen, so kann der einzelne in der Hauptsache sein Vermögen nur durch Ankauf von Grandstücken vergrößern und würde - wenn er Grandkäufe in größerem Maße vornehmen wollte die Bodenpreise bald so sehr in die Höhe treiben, daß das Geschäft bald aufhöreu würde, rentabel zu sein.

Gerade umgekehrt verhalten sich dio Dinge auf dem Gebiete dos Handels und der Industrie. Industrielle und Handelsunternohmungen können wie man zn sagen pflegt in beliebiger Menge ins Leben gerufen werden und weil jeder Unternehmer die theoretische Möglichkeit hat, reich zu werden, finden sich auch immer Personen, die derartige Unternehmungen nen ins Lehen rufen. Ferner kann jede kaufmännische oder indnstricdle Unternehmung beliebig vergrößert werden, weil jedor Unternehmer tancli wieder theoretisch i die unbegrenzte Mög- lichkeit hat oder doch zn haben glaubt, Abnehmer für seine Produkte oder Leistungen zu finden. Auf der andern Seite fehlt hier das Korrektiv für die

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Bevölkenmgsznnahme. Die wachsende Industrie zieht immer größere Scharen von Arbeitern an sich und die Ernährung dieser Massen verursacht niemandem Sorgen» denn selbst wenn diese Massen so zahlreich werden, daß die heimische Landwirtschaft sie nicht mehr zu ernähren vermag, nun gut. so sucht man die Industrieprodukto im Auslande abzusetzen und bezieht das fehlende Brotgetreide von dort. Die Welt ist ja groß genug!

So ungefähr ging die Sache bis vor kurzem, denn tatsächlich war bis dahin die Welt rgroß genug“, und dasjenige Land, welches auf dein Gebiete des Handels und der Industrie am ersten und ain kecksten zugegriffen hat England hat bekanntlich auf diesem Wege ganz erkleckliche Keiehtümer eiu- geheimst. Allgemach aber beginnt das Blatt sich zu wenden, die Welt hört auf „groß genug“ zu sein und beginnt zu klein zu werden. Die Seelenzahl der ehe- mals dünn bevölkerten Agrikultu rstaaten Amerika voran wächst, die Leute dort fangen au einzusehen, daß sie ebensogut industrielle Produkte er- zeugen können wie die Bewohner der alten europäischen Kulturstaaten und jene Länder beginnen sich durch hohe Einfuhrzölle gegen die Überschwemmung mit europäischen Industrieprodukten zu schützen. In den alten europäischen In- dustriestaaten wird dadurch ein Prozeß ausgelöst, den ich mit den Worten kenn- zeichnen möchte, daß die europäische Industrie aufäugt, sich selbst totznschlageu. Anfänglich exportierte man wie R u h 1 a n d in seinem eingangs zitierten Werke S. 101 treffend andeutet die fertigen Fabrikate (fertige Genußgnterl, welche die früheren Agrikulturstaaten brauchten. Als diese letzteren dann sich gegen die Einfuhr der Fabrikate sperrten, begann man in Europa die Maschinen zu exportieren, mit welchen jene Genußgüter hergestellt werden. Später expor- tierte man die Werkzeugmaschinen, mit welchen die Arbeitsmaschinen erzeugt werden, l'nd wenn auf diese Weise die Möglichkeit eines Exportes erst recht untergraben ist, dann tun sich zum Überflüsse noch europäische Kapitalisten zu- sammen und errichten selbst in den fraglichen Läudern alle erdenklichen Fabriken, um für sieb, wenigstens für einige Zeit noch, einen Dividendetibezng von dort zu retten.

Diese Seite der Frage ist von der bisherigen nationalökonomischen Literatur viel zu wenig gewürdigt worden. Die zünftige Nationalökonomie hat sich viel zu einseitig mit dem Handel und der Industrie beschäftigt, sie hat in der Schaffung unserer modernen industriellen RiesenetahlissemenLs und unserer Ver- kehrsanlaget) eine kolossale Steigerung des Volkswohlstandes erblickt, sie hat die wirtschaftlichen Vorgänge, die sich auf dem Gebiete des Handels und der Industrie abspielen (Geld- und Kreditwesen, Verkehr, Verbände der Unternehmer wie der Arbeiter u. dgl.) genau verfolgt und aufmerksam studiert. Aber weil sie immer von dein Smith sehen Gedanken erfüllt war, daß die Arbeit allein die Quelle des Keichtumes sei (als ob Gehirntätigkeit und Mnskelanstrengung für sich allein im stände wären, greifbare Güter zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse her- vorzubringen!), hat sie sich nie die Frage vorgelegt, ob es möglich ist, den Reichtum, d. i. die Wohlfahrt eines Volkes ausschließlich auf der Grundlage des Handels und der Industrie aufzubauen. Die Tatsache, daß die Güter, die wir tagtäglich brauchen, aus irgend welchen Naturstoffen augefertigt werden müssen,

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Klelnwlchter

and die weitere Tatsache, daß ein Volk genau ebenso wie ein einzelner nicht einmal existieren kann, wenn ihm der Bezug dieser Naturstoffe nicht ge- sichert ist. d. i. als» der Zusammenhang von Handel und Industrie auf der einen und der Landwirtschaft (Urproduktion) auf der andern Seite, blieb unberück- sichtigt und die Frage, wie sich der Entwicklungsgang und der Verlauf einer bestimmten Volkswirtschaft gestalten wird und muß, wenn in dem betreffenden Lande Kapitalismus und Industrialismus überwuchern und die Landwirtschaft vernachlässigt wird, wurde bis vor kurzem nicht einmal aufgeworfen.

Erst in der allerletzten Zeit sind einzelne Nationalökonomie!, wie Ad. Wagner, Olden berg u. a. hervorgetreten, welche auf die Gefahren hin- weisen, denen ein Volk entgegengeht, wenn es die Industrie und den Handel überwuchern läßt und die Landwirtschaft soweit vernachlässigt, daß das Land nicht mehr im stände ist, seine Bevölkerung zu ernähren. Ein zusammen fassend es und systematisches Werk jedoch, welches kontinuierlich auf den Zusammenhang der genannten drei Wirtschaftsgebiete hinweist und die Schäden anfdeckt, die ein treten müssen, wenn die Landwirtschaft eines Volkes zurückgeht, hat bisher in der nationalökonomischen Literatur gefehlt. Ein solches Werk zu liefern unter- nimmt G. Rn hl and, der unermüdliche Vorkämpfer für die agrarischen In- teressen in Deutschland, in seinem oben genannten Buche, dessen ersten Band er soeben der Öffentlichkeit übergeben hat.

Er beginnt mit der Entstehungsgeschichte der bisherigen nationalökono- misehen Schulsysteme des Merkantiisysteius, des physiokratisrhen Systems, der Freihandelslehre und des modernen sozialistischen Systems uud erklärt sie als das Produkt der jeweiligen Zeit- und Wirtschaftsverhältnisse. Sehr beachtens- wert ist, was Ruhland in dem folgenden Kapitel „Das Getreide als Ausgangs- punkt des Systems“ über die Kultur der verschiedenen Handelsgewächse sagt, weil er entgegen der vielfach verbreiteten Meinung, daß der Landwirt heute in der Zeit der sinkenden Getreidepreise zur Kultur von Handelsgewächsen über- gehen müsse, den Nachweis erbringt, daß di« Fliege dieser Kulturen nicht im stände ist. der europäischen Landwirtschaft aufzuhelfen. Der „zweite Teil“ des Buches beschäftigt sich mit der „Entwicklungsgeschichte der Völker“ (des Alter- tums). speziell der .Inden, der Griechen und der Römer, und sucht zu zeigen, wie diese Völker an der Vernachlässigung der Landwirtschaft und dem fiber- wuchern des Kapitalismus zu Grunde gegangen sind.

Vorläufig liegt nur der erste Band des Kühl and sehen „Systems“ vor und dieser bildet nur die historische Einleitung zum Ganzen, ein abschließendes Urteil über das Werk ist also noch nicht möglich, allein trotzdem möchte ich meine Meinung schon heilte dahin aussprechen, daß mir der Grundgedanke, von dem Ruhland ausgeht, ein richtiger zu sein scheint, weil ich der Anschauung hul- dige, daß ein Volk, welches in einem bestimmten Lande sitzt und dort eine selbständige Existenz führen will, auch eine in der Hauptsache in sich abge- schlossene Wirtschaft führen muß. ' Es fällt mir selbstverständlich nicht entfernt ein, behaupten zu wollen, daß ein Volk auf allen Handel und Verkehr mit anderen Völkern verzichten, d. h. daß es keine anderen Produkte an das Ausland al - setzen und sozusagen auch nicht eine einzige .Stecknadel von dort beziehen solle.

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Die Landwirtschaft als Ausgangspunkt für ein System etc.

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Aber wenn ein Volk seine wirtschaftliche Selbständigkeit verliert nnd bezüglich der Deckung seines allcrdringendstcn Bedarfes, des Bedarfes an Lebensmitteln, von anderen Völkern wirtschaftlich abhängig wird, so liegt wie ich glaubt? die Gefahr überaus nahe, daß auch die politische Selbständigkeit dieses Volkes bei nächster Gelegenheit verloren geht. Allerdings ist es möglich, daß das frag- liche Industrieland wie der Vorgang Englands lehrt Kolonien erwirbt, die ihm das notwendige Brotgetreide liefern, aber trotzdem bleibt meines Erachtens die Frage eine offene, ob ein derartiger Kolonialbesitz auf die Dauer Vorhalten besw. den Interessen des sogenannten Mutterlandes dienen kann. Staatengehilde können sich nur so lange erhalten, als dies den Bedürfnissen der zu einem Staatsganzen verbundenen Völkerschaften entspricht. Und ob es auf die Dauer den Interessen der Kolontalländer entspricht, sich von dem sogenannten Mutterlande beherrschen zu lassen oder doch mit ihm verbunden zu bleiben, ist eine andere Frage. Hiezu kommt ein zweites: Jedes Land und daher auch jedes Kolonialland muß das Bestreben haben, eine angemessene Bevölkerung zu besitzen, weil es nur dann eine achtunggebietende Stellung erlanget! kann, wenn es über eine ent- sprechende Zahl von Menschen verfügt. Und da Kolonialländer begreiflicherweise anfänglich nur eine dünne Bevölkerung besitzen, so wird jedes Kolonialland bestrebt sein, durch Begünstigung der Einwanderung u. dgl. auf eine Zunahme seiner Bewohner hinzuwirken. Je mehr aber die Bevölkerungsziffer wächst, um so weniger wird die Kolonie in. staude sein, das Mutterland mit Brotgetreide zn versorgen, nm so weniger wird sie auch geneigt sein, die Industrieerzeugnisse des Mutterlandes aufzunehmen. Indes, wie dem auch sei, die in Rede stehende Frage ist gegenwärtig in der Literatur nun einmal angeregt und man darf auf ein Werk gespannt sein, welches sich’s zur Aufgabe setzt, die Bedeutung der Land- wirtschaft für die gesamte Volkswirtschaft systematisch und nach allen Rich- tungen hin zu erörtern.

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LITERATUR BERICHT.

l)r. Adolf BuehenUerger. Finanzpolitik and Staatshaushalt im Groß- herzogtum Baden in den Jahren 1S50 1900. Heidelberg, Winter, 1902.

Das Großheraogtum Baden gilt in Deutschland als ein Musterland und es ist beson- ders dankenswert, daß der in der Wissenschaft und der Verwaltungspraxis gleich rühmlich bekannte Fiuanzminister Buchenberger aus Anlaß des 50jährigen Regierungsjubiläutna de» Großh erzog* eine Darstellung der Finanz Verwaltung seines Landes veröffentlicht hat. Das kleine Buch ist voll interessanter Daten und sein Wert wird noch erhöht durch die eingestrenten Bemerkungen und Urteile des erfahrenen Verfasser*. Die süddeutsche zweijährige Budgetperiode wird gebilligt, da sie sich als ein Hemmschuh gegen das übermäßig rapide Anschwellen der Ausgaben erwiesen habe. Der Verfasser macht einige sehr zutreffende Bemerkungen über die Ausgabeninitiative der parlamentarischen Körper- schaften; » ine Ausgabenerhöhung, welche der Landtag gegen das Verlangen der Regierung beschließt, verpflichtet trotz ihrer Aufnahme in das Finanzgesetz die Regierung nicht zur Leistung dieser Ausgabe. Die Überschüsse eines Rechnungsjahres werden nicht, wie bei den deutschen Reichsfinanzen, im nächstjährigen Budget in Kinnahntc gestellt, sondern dem Betriebefonds der allgemeinen Staatsverwaltung einverieibt, von welchem noch ein bestimmter Betrag von 9*5 Millionen Mark als eiserner“ Betriebsfonds zur Erleichterung des Kassenverkehrs ausgeschieden wird. I)»e übrigen Betriebafondsübersclnisse werden zur Deckung außerordentlicher Aufgaben benützt. Das System der Matriknlarbei träge und Überweisungen wird scharf kritisiert wegen seiner Schwankungen, welche den Haus- halt der Einzelstaaten stören und dort jede voraussehende Finanzpolitik unmöglich machen. Das Anwachsen der Staatsausgaben infolge der modernen gesteigerten staatlichen Tätigkeit auf allen Gebieten wird sehr anschaulich, wenn auch mit einer gewissen Besorgnis geschildert. Die Staatacisenbahn Verwaltung ist vom übrigen Staatshaushalt getrennt, ihr Reinertrag sollte ursprünglich nicht zu allgemeinen .Staatsbedürfnissen, sondern dauernd zur Verzinsung und Tilgung der Eisenbalinschuld und sonach für allgemeine Eisenbahnzwecke verwendet werden. Die große Ausdehnung des Bahunetzes und der Kisenbahnauslagen überhaupt jedoch machten die Aufrechterhaltung dieses Systems unmöglich, es muß vielmehr, um die Tilgungsquote der amortisabeln Eisenbahnanlehcn zu bedecken, eine Dotation von mehr als 2 Millionen Mark aus dem allgemeinen Staatsbudget (wesentlich aus den Post- und Telegrapheuerträgnissen) an den Eisenbahnetat geleistet werden. Die Steuerreform wird ausführlich geschildert, an dem Widerstand der Landtage, insbesondere der ersten Kammer, sind die größer angelegten Regierungsentwürfe teilweise gescheitert. Es bestehen noch die alten Ertragsteuern, die aber durch neue Katastrierung, insbesondere bei der Grundsteuer durch Aufnahme des Verkehrsprintip», sich zu Partial- vermögenssteuern entwickeln sollen, daneben die Peraonaleinkouiro engteuer, auch hier ist die Landwirtschaft mit dem niedrigsten Prozent (11) und das Einkommen auB Dienst- bezögen mit dem höchsten Prozent (56) am .Steuerertrag beteiligt, gerade sowie in Österreich. Das Buch enthält sehr übersichtliche Tabellen und ist ein Rechenschafts- bericht, welcher der Finanzverwaltung des Landes nur zur Ehre gereichen kann.

E. Plener.

Max Sr-hlppel, Zuckerproduktion und Znckerprimien bis zur Brüsseler Konvention 19U2. Stuttgart, J. H. W. Dietz Nachfolger, 1903. VIII u. 419 S. 6 Mark.

Eine lebendig geschriebene Geschichte der Zuckerproduktion, insbesondere der Anfänge der Rübenzuckerfabrikation. Die Steuergesetzgebung wird mit Ausnahme der

Literaturbericht.

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deutschen sehr kursorisch behandelt. Eine ausführliche Darstellung des Prämienwesens fehlt gänzlich, weder die interessanten französisch* n Steuerprämien, wie sie insbesondere durch das Gesetz von 1884 geschaffen wurden, noch die deutschen und österreichischen Kartell prämien werden irgend wie eingehend erörtert, während gerade eine solche Ziffer* madige Darstellung der Prämien und eine Schilderung ihrer ökonomischen Wirkungen in einem Buche, das auf seinem Titelblatt die Zuckerprämien als Inhalt angibt, einen geräumigen Platz einnehmen müßte.

Dagegen werden interessante Daten aus der überseeischen Produktionsstatistik gegeben, die Versuche. Rübenzucker in den Vereinigten Staaten zu erzeugen, werden ausführlich geschildert. Michigan. Kalifornien. Kolorado und Utah haben 259.513 acres Kubenfläche, 47 Fabriken und produzieren 195.000 Tonnen. Rohrzucker wird in den Vereinigten Staaten hauptsächlich in Louisiana erzeugt, viele primitive Fabriken (275), doch in letzter Zeit Fortschritte der Technik. Produktion von 280.000 Tonnen, der Gesamtverbrauch der Union ist aber 21/* Mül. Tonnen, also heimische Produktion im besten Fall ein Fünftel davon. Hawaii eiportiert 317.000 Tonnen, Portoriko erzeugt lOü.QOÖ, Kuba 850. 1?0 Tonnen, der Portorikozucker gehl zollfrei ein, während Kuba eine 2Üproz. Ermäßigung erhielt. Die Produktion der Philip} inen soll sich auf der Höhe jener von Hawaii halten. Die Zölle auf Rohzucker und Raffinade sind ziemlich hoch und außerdem werden bekanntlich Ausgleichszölle auf prämiierten Rübenzucker gelegt, die interessante Berechnung dieser amerikanischen Ausgleichszölle wird im Detail nicht angegeben. Noch immer verhält sich die Itübenzuckereinfuhr zur Rohrzuckereinfuhr wie 1 : 3. Die Entwick- lung und der Umschlag der öffentlichen .Meinung in England bezüglich der Ausgleichs- zölle wird sehr anziehend geschildert. Erst die Raffineure, dann die Gewerkvereiue, welche vom Produzentfnstandpunkt die Prämien als ein unerlaubt«' Unterbieten der fremden Produzenten mißbilligten, endlich die zunehmende Notlage der Westindischen Kolonien bringen allmählich jenen Umschwung der öffentlichen Meinung hervor, welche die neue imperialistische koloniale Schutzpolitik mit großer Energie in eine ganz konkrete Aktion umsetzt. Vorgearbeitet wurde der Bewegung durcli das Vorgehen der indischen Regie- rung, welche in erster Linie die weitverbreitete einheimische Rohrzuckererzeugung schützen wollte. Die große Masse der eingeborenen Bevölkerung konsumiert nur Roh- zucker, als aber selbst dieser durch den massenhaften Import europäischer Raffinade int Preise zurückging, legte die indische Regierung auf diese letzteren Ausgleichzölle aus, womit sie zugleich der Zuckerproduktion von Mauritius, welche gleichfalls nach Indien stark importiert, unter die Arme greifen wollte. Bekanntlich lut die indische Regierung diese Ausgleichszölle im vorigen Jahre noch erhöht und das mit Anwendung der in der Brüsseler Konvention gegen den Prämienzucker aufgestellten Berechnung, obwohl sie seihst der Konvention gar nicht beigetreten ist. Die davon getroffenen Staaten ließen sich diesen willkürlichen Vorgang ruhig gefallen und seitdem nimmt der Zuckereiport Österreich' -Ungarns nach Indien auffallend ab. Der Verfasser schließt seine Ausführungen mit dem Datum der Brüsseler Konferenz vom 5. März 1902 und unterläßt daher, obwohl das Buch mehr als ein Jahr später erscheint, eine Besprechung der infolge der Kon- vention in den verschiedenen Staaten beschlossenen Steuergesetze, die gerade aktuell gewesen wäre. In der europäischen Publizistik wurde bisher nur die Frage der Verein- barkeit der neuen österreichischen Kontingentierung mit den Bestimmungen der Brüsseler Konvention erörtert, dagegen hat sich niemand damit beschäftigt, ob die durch das neue französische Gesetz vom 27. Jänner 1993 verfügte Wiederherstellung der von 1884 geltenden gesetzlichen Bestimmungen über die Aufzeichnungen der Rohzuckcrfabriken und die gesetzliche Ausbeute des Zuckersaftes in der Tat ein wirkliches exercice der Fabriken im Sinne der Konvention und nicht vielmehr ein Zurückgreifen auf das Abonnement des Gesetzes vom 23. Mai 1860 bedeute, welches keineswegs eine wirkliche Produkten* besteuerung war. Auf diese und ähnliche interessante Fragen, wie z. B. die Kontroverse, ob die russische Normirofka wirklieh eine Exportprämie bedeute, ob Ausgleichszölle mit dem System der Meistbegünstigung verträglich sind u. s. w., geht der Verfasser nicht ein und beschränkt sich am Schlüsse der Rühenzuckerproduktion die tröstende Versiehe-

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rang ru geben, daß ihr Eiport durch kolonialen Rohrzucker nicht bedroht sei, da im internationalen Wettbewerb nicht die klimatischen Voraussetzungen, sondern die höhere Kultur den Sieg erringe. K. Piene r.

Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus. Leipzig, Duncker & Hum- blot, 1902, 2 Bände.

In seinem großen, zweibändigen Werke, dem „modernen Kapitalismus** unter- nimmt Professor Werner Sombart den Versuch „das kapitalistische Wirtschafts- system von seinen Anfängen bis zur Gegenwart zu verfolgen“ Sein Buch stellt Bich uns also zunächst als eine geschichtliche Darstellung der kapitalistischen Wirtschaft dar, eine Arbeit, schon deswegen dankenswert, weil sie eine fühlbare Lücke unserer wirt- schaftshistorischen Literatur auszufüllen geeignet ist. War doch schon lauge gegenüber dem Anschwellen der Einzeldarstellungen und Detailforschungen auf dem Gebiete der Wirtschal tsgeschicbte der Wunsch nach einer das große, an gesammelte Material zusamuien- fassenden Darstellung rege geworden. Namentlich die Entstehung des Kapitalismus, wie sie Marx für England in den Kapiteln über ursprüngliche Akkumulation schildert, vollends der Siegeszug der modernen Wirtschaftsweise im letzten halben Jahrhundert, war ein von der Forschung etwas stiefmütterlich behandeltes Gebiet. Ist es doch eine oft schmerzlich empfundene, eigentümliche Erscheinung, daß das Wirtschaftsleben des Mittelalters uns vielfach vertrauter ist als das Leben unserer eigenen Zeit.

Darin schafft nun der „moderne Kapitalismus** gründlich Wandel. Wir erhalten mit stets besonderer Berücksichtigung deutscher Verhältnisse eine Darstellung des gewerblichen Lebens, wie es das Wirtschaftssystem des Handwerks geschaffen hat. Es wird gezeigt, wie der Grundgedanke de« Handwerkers, durch eigene, zunächst nur gewerbliche Arbeit für andere sich die standesgemäße, traditionelle Nahrung zu sichern, die ganze Wirtschaftsverfassung ergreift, und diese uns in ihren Einzelheiten geschildert. Vor uns entsteht ein lebendiges Bild vom Handwerker, wie er produziert und wie er als Händler seine Waren zu Markte bringt. Denn auch der Handel des Mittelalters trägt, soweit er berufsmäßig ausgeübt wird, durchaus handwerksmäßiges Gepräge, während die großen gewinnreichen Unternehmungen als Gelegenheitshandel Nichtkaufleuten Vorbehalten werden, den Bauherren und Bürgermeistern, den reichen Geschlechtern oder den Stiften und Orden.

Dann geht die Darstellung dazu über, uns das Aufkommen der kapitalistischen Wirtschaft vorzuführen. Hier ist ein große*, zum Teil neues Material in klarer und über- sichtlicher Darstellung verarbeitet. Besonderes Gewicht legt Sombart dabei auf die Rolle, die die Vermögensübertragnng bei der Entstehung des Kapitalismus spielt; die Anteilnahme der aufkoramenden Händler und Wucherer an den öffentlichen Einkünften des Staates sowohl als an den Renten der Feudalherren durch Erwerb privater Gruml- eigentuinsberechtigungen, das Anwachsen und die Akkumulation vor allem der städtischen Grundrente, die Urbanisierung des Landadels, die Kolonialwirtschaft und ihre Bedeutung für die Geldakkumulation werden ausführlich geschildert.

Dies die objektiven Bedingungen des Kapitalismus. In dem so entstandenen sozialen Milieu wird nun die subjektive Bedingung der kapitalistischen Wirtschaft wirksam. Der Erwerbstrieb erwacht, das Streben nach Gewinn, dieses prävalente Motiv der kapitalistischen Wirtachaftasobjekte, welche« da» Motiv des Handwerkers, sein Streben nach standesgemäßer Nahrung ablüst Der ökonomische Rationalismus, die „Recheiihaftigkeit“ wird ausgebildet.

Ein Vergleich zwischen dem Wirtschaftsleben Deutschlands um die Mitte des 19 Jahrhunderts, der Periode des Frühkapitalismus, mit dem Deutschland zu Ende des Jahrhunderts zeigt dann den Sieg des Kapitalismus zunächst auf dem Gebiete der gewerblichen Produktion und wir erhalten damit ein interessantes Stück Wirtschafts- geschichte der neuesten Zeit. Den Schluß des ersten Bandes bildet eine auf dem großen Material, das die Untersuchungen des Vereines für Sozialpolitik zu Tage gefördert haben, fußende Darstellung der Lage de« Handwerks und der Handwerker in der Gegenwart. Der zweite Band zeigt uns dann die Neubegründung und Neugestaltung des Wirtschaft»-

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lebens. In einem neuen Recht schafft es sich die Form, die seinem Inhalt angemessen ist, und die Entwicklung der neuen Technik, die hier vom ökonomischen Gesichtspunkt au« gewürdigt wird, schafft die immer reichere Entfaltung dieses Inhalts. Das stürmische Dahinfluten des Stromes des modernen Lebens wird in dem glanzend geschriebenen Kapitel .Der neue Stil des Wirtschaftslebens“ lebendig veranschaulicht, die Durchdrin- gung alles Tuns mit dem Streben nach Gewinn aufgezeigt. Die Entstehung der modernen Landwirtschaft und die Auflösung ihrer alten Wirtschaftsverfa.ssung wird verfolgt, um dann in dem folgenden Abschnitt die städtische Entwicklung den Ursprung und das Wesen der modernen Stadt darzustellen.

Die folgenden Kapitel beschäftigen sich mit der Neugestaltung des Bedarfes und der Neugestaltung des Güterabsatzes, welcher die geänderten Bedürfnisse des Konsums nunmehr zu befriedigen hat.

Den Abschluß des Bandes bildet eine .Theorie der gewerblichen Konkurrenz.“ Hat Sombart bereits im früheren geschildert, «laß der Kapitalismus auf allen Linien das alte Handwerk überwunden hat, so gibt er hier in systematischer Darstellung die Gründe, warum sein Sieg ein notwendiger war.

Sombart stellt die Diskussion zunächst auf eine neue, rationelle Basis. Nicht inehr um die Frage der Überlegenheit von Kieiu- oder Großbetrieb handelt ea sich, sondern um die verschiedene Anpassungsfähigkeit zweier Wirtschaftssysteme, dem des Handwerks und dem des Kapitalismus. Dieser Unterscheidung zwischen Betrieb und Wirtschaft legt Sombart große Wichtigkeit bei und ihre Herausarbeitung hat er als Einleitung seinem Werk vorangestellt. Betrieb ist ihm eine Anstalt zum Zweck fortgesetzter Werkverrichtung. Er ist also bloßes Mittel, um Bedarfsgegenstände herznstellen. Unter Wirtschaft aber ▼ersteht er, die Organisation, welche ein Wirtschaftasubjekt schafft, um einen seinem Wirtschaftsprinzip entsprechenden Nutzeffekt zu erzielen. Diese Unterscheidung erweist sich so fruchtbar, weil sie die einseitige Betrachtung vom Standpunkt nur technischer Überlegenheit, wie sic bei der Frage nach Klein- oder Großbetrieb allein gestellt werden kann, zu Gunsten einer alle im Konkurrenzkampf zur Geltung kommenden Momente umfassenden Darstellung zu verlassen gestattet. Und nuu wird im einzelnen untersucht, in welchen Beziehungen die Überlegenheit der kapitalistischen Wirtschaftsorganisation zu Tage tritt. Sie zeigt sich in der Qualität der Darbietung das Kapital liefert rascher, massenhafter, in gefälligerer Form wie in der Qualität des Dargebotenen; hier erreicht es größere Vollkommenheit durch die Verfügung über hochqualifizierte Arbeit, die heute nur mehr dem Kapital zur Verfügung steht. Ist doch, wie Sombart in dem interessanten Kapitel übcrKunH-.handwerk“ nachweist, das Kunstgewerbe fast ausschließlich hochkapitalistisch organisiert. Und ebenso wie im Kampf um die beste Leistung, siegt das Kapital auch im Preiskarapf, was ausführlich im einzelnen nachgewicsen wird. Das Handwerk ist mehr und mehr einem zunehmenden Verkrüpplungsprozesse verfallen und es ist ein Traum, zu glauben, seinen Untergang durch Zwangsgenossensehafien und der- gleichen verhindern zu können. Auch die mißbräuchliche Verwendung der jugendlichen Arbeitskraft kann darin nichts ändern. Die Auslieferung des Lehrlings an das Haudwerk bildet nur eine Gefahr für unsere industrielle Zukunft, deren immer dringendere Aufgabe die Sorge für die nötige Zahl gut ausgebildeter, qualifizierter Arbeiter ist, deren Heran- bildung das verkommende Handwerk längst nicht mehr leisten kann.

Es sind aber gerade diese Kapitel, welche das größte Interesse gerade für uns hier in Österreich, dem von allen Zünftlern gelobten Lande der Mittelstandspolitik, bieten. Was das vortreffliche Buch Waontigs1) in seiner deskriptiven Art im einzelnen dartut, die vollständige Nutzlosigkeit der Mittelstandspolitik und ihre Schädlichkeit lür die allgemeine gewerbliche Fortentwicklung, wird uns hier im Zusammenhang der kausalen Ableitung als Notwendigkeit bewiesen. Den zwingenden Argumenten Soiubarts. der hier alles einheitlich zusammenfaßt, was gegen die MittelstAndspolitik vom wisse lisch aftlich- ökonomischen Standpunkt aus angeführt werden kann, wird man sich schwer entziehen

1 ) Heinrich Waentig, Gewerblich« MlttclalandspoHtifc. 18W.

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Literaturbericht.

können. Die Vertretung dieser Politik wird fürder kaum mit wissenschaftlichen Argu- menten geführt werden können. Die österreichischen Volkswirtschaftspolitiker haben alle Ursachen, diesem Abschnitt des Buches ihre volle Beachtung zu schenken.

* *

Aber mit dieser bei dein groben Umfang des Werkes naturgemäß flüchtigen Inhaltsangabe ist unsere Aufgabe noch kaum begonnen. Denn Sombart will mehr geben als Wirtschaftsgeschichte. Sein Buch erhebt den Geltungaansprucli, zugleich Theorie zu »ein, und zwar, wie Sombart die« näher bestimmt, historische Sozialtheorie.

Damit hofft Sombart, wie er in seinem Geleitwort auaführt, den Widerspruch zwischen Empirie und Theorie zu versöhnen und der ökonomischen Forschung ueue Bahnen gewiesen zu haben.

Worin besteht nun das Wesen dieser historischen Sozialtlieorie? Sombart erblickt das „Spezifische der Theorie in der Ordnung unter dem Gesichtspunkt eines einheitlichen Krklärungsprinzipes* (S. XIII). Erwählt zwischen den beiden hier zur Verfügung stehenden Krkläruugsmöglichkeiten die kausale. Dies deshalb, weil die kausale Betrachtung dem Wesen der modernen Wirtschaft mit ihrer Abhängigkeit von den sie beherrschenden Marktgesetzen, welche analog den Naturgesetzen sich um die Zwecksetzung der einzelnen nicht kümmern, besser entspricht als die teleologische Erklärung. Es ist also die bestimmte historische Struktur der kapitalistischen Gesellschaft, welche für die Wahl der Kausal- erklärung entscheidet, während etwa die geschichtliche Beschaffenheit einer von den Organen der Gesellschaft bewußt geleiteten Wirtschaft zu ihrer Erklärung die teleologische Betrachtung erforderte. An den Beginn der Kausalreihe setzt Sombart die menschlichen Motive in ihrer bestimmten historischen Gestalt. Kr sieht die Welt des Handwerkes kausal gestaltet durch das Streben des Handwerkers nach standesgemäßem Unterhalt, während die Welt des Kapitalismus beherrscht wird vom Erwerbstrieb, vom Streben nach Gewinn, dessen Träger, die kapitalistischen Wirtschaftssubjekte, Händler und Unternehmer, die Welt des Handwerkers nun nach ihren Wünschen umgestalten. Freilich, diese Motive können sich nicht beliebig verwirklichen Sie sind gebunden an eine bestimmte Gestaltung der äußeren Verhältnisse, unter denen sic auftreten. Diese objektiven Bedingungen müssen gegeben sein, um die Wirksamkeit der Motive, der subjektiven Bedingungen, begreifen zu können. Nur in einer so eigentümlichen Welt, wie es das sinkende Mittelalter war, konnte der aufkornmende, kapitalistische Geist unsere heutige eigentümliche Wirtschafts- Verfassung hervorbringen. Es gibt somit nur für jeweils verschiedene soziale Zustände jeweils verschiedene Theorien, eben nur historische und keine allgemeinen Sozialtheorien. Es gibt eine Theorie des modernen Kapitalismus, aber keine Theorie des Kapitalismus überhaupt. Die Wahl des Ordnungsprinzipes ist somit keine subjektive, vielmehr ent- scheidet über das jeweils ordnende Prinzip die Geschichte. Der Merkantilismus, dem die Wirtschaft als von gesellschaftlichen Organen bewußt geregelt erscheinen mußte, ging naturgemäß aus vom Zweckgedauken. Bei den Klassikern geht kausale und teleologische Betrachtung nebeneinander her, bis dann Karl Marx das Wirtschaftssystem streng kausal zu erklären unternimmt.

Die strenge Unterscheidung der Wirtschaftsprinzipiell legt Sombart auch seiner Systematik der Wirtschaftssysteme zu Grunde, deren er zwei unterscheidet, die Bedarf- deckung«- und die Krwerbswirtsehuft, je nach dem herrschenden Wirtschaftsprinzip. Hiemit erscheint ein Gedanke, auf den Karl Marx großes Gewicht legt, rezipiert; der Gedanke nämlich, daß der Zweck der einfachen Warenproduktion, wie sie historisch z. B. in der mittelalterlichen Wirtschaft entwickelt war, der Gebrauchswert ist, während Zweck des Kapitalismus der Tauschwert ist, daß di« kapitalistische Gesellschaft nur verstanden wird, wenn man als ihr treibendes Motiv das Streben nach Mehrwert begriffen hat. Aber während bei Marx diese Motivation, wie wir noch später sehen werden, Resultat, erwachsend aus den jeweiligen Produktionsverhältnissen ist, stellt Sombart sie als Voraussetzung für die Bildung dieser Produktionsverhältnisse auf. Wird dadurch der wissenschaftliche Zweck, den Sombart verfolgt, gefördert? Sein Werk soll ja eine

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Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung" geben (S. XXVlll). Er sieht eine Haupt- aufgabe in der ursächlichen Erklärung objektiver Tatbestände de» Wirtschaftsleben«: die Untersuchung führt somit „mit Notwendigkeit auch zeitlich stets ?on einem Phänomen der Gegenwart au einem Phäuomen der Vergangenheit zurück“. Eine Feststellung, womit, wie Sombart meint, der „erste Versuch einer theoretischen Begründung historischer Betrachtungsweise im Gebiete der Nationalökonomie unternommen wäre“. Dabei läßt sich freilich kaum die skeptische Frage unterdrücken, wozu in aller Welt historische Betrachtungsweise für die Darstellung der Wirtschaftsgeschichte erst theoretisch begründet Werden soll.

Aber erfüllt Sein hart» Betrachtungsweise auch wirklich die Aufgabe, die er ihr gestellt hat? Soll die historische Entwicklung wirklich in ihrem kontinuierlichen Verlaufe dargestellt werden, so erhebt sich naturgemäß die Frage, wie entwickelt sich ein Wirtschaftssystem aus dem anderen, ihm vorhergehenden. Hier läßt uns aber Sombart» Theorie vollständig im Stich. Seine beiden Wirtsehaftsprinzipien stehen sich in voller Schilfe unvermittelt gegenüber, ohne daß nur ein Versuch gemacht wird, einen Zusamtneu- hang hcrzustellen. Und Sombart muß dies selbst zugeben, wenn er plötzlich erklärt, nur wie das Wirtschaftsprinzip sich die Wirtschaftsordnung nach seinem Bedürfnis gestattet, stellen wir unter dem Gesichtspunkt der Notwendigkeit dar, die Genesis des Wirtschaftsprinsipcs selbst aber unter der» Gesichtspunkt der Zufälligkeit.1/ Damit erscheint uns Aber das Zugeständnis gemacht zu sein, daß Sombarts historische Sozialtheorie eben nicht eine Entwicklungstheorie ist. Dies beweist gerade das Kapitel, das die Ent- stehung des „neuen Geistes,“ also der subjektiven Bedingung des Kapitalismus behandelt Der „neue Geist“ erscheint zu unserer Verwunderung als alter Geist, als die atiri sacra faines, womit die Menschheit konstitutionell behaftet sei, davon uns die Märchen von Midas und den Argonauten schon erzählen. Aber dieser Geist, die Sucht nach dem Golde, nach immer mehr und mehr des gleißenden Metalle» erfaßt nun plötzlich, „als die Zeit erfüllet war,“ wie die von einem historischen Standpunkt aus nicht ganz genaue Zeit- angabe lautet, die Menschheit. Kaubrittertuin und Ablaßkräinerci, Goldgräbertum und Alchymie suchen die Sucht nach dem Golde zu befriedigen und da entsteht nun der Gedanke, auch die wirtschaftliche Tätigkeit in den Dienst dieses Zweckes zu stellen. Nicht mehr die standesgemäße Nahrung, sondern Geldmachen wird Leitmotiv des Wirt- schaften«. „Wann, wo und wie dieser Gedanke zuerst in die Welt kam, wird sieh wohl immer in undurchdringliches Dünkel hüllen“ (1, S. 888). Und in dieser Finsternis ver- läßt der grausame Verfasser plötzlich den ängstlichen Leser, während er selbst in dem schützenden Dunkel den Salto mortale über den Abgrund schlägt, der die Welten des Handwerkes und des Kapitalisten voneinander trennt.

Man kann cs dem Leser nicht verargen, wenn er sich weigert, diesen Todessprung der historischen Sozialtheorie mitzumachen. Mühsam, allein in» Dunkeln tappend, sucht er nach Mitteln, die Finsternis zu erhellen und die Brücke über die Kluft zn schlagen. Und cs gelingt nicht allzu schwer. Kr findet diese Mittel in den zahlreichen Kapiteln, die uns die objektiven Bedingungen schildern, unter welchen nun der „neue Geist“ seine Wirksamkeit entfalten soll. Ein Beginnet» freilich, auf das der kühne Springer, der längst mit kühnem Satz die Schwierigkeit genommen, nur verächtlich wird blicken wollen. Aber es schreckt den Verlassenen nicht' mehr, hier mit Sombart in Widerspruch zu geraten.

In »einem Geleitwort hat Sombart behauptet, daß die Motivation lebendiger Menschen die letzten, primär wirkenden Ursachen sind, auf die wir zurückgehen können.2)

Um nicht in eine extrem-idealistische und damit die Tatsachen vergewaltigende Auffassung zu geraten, sucht er diese Motive historisch zu erfassen. Aber dadurch, daß er sie als primäre Faktoren ansieht, wird er gezwungen, sie nur nacheinander folgen zu lassen, wahrend es Aufgabe einer Entwicklungstheorie sein müßte, sie auseinander abzu- leiten. Die Einheit der menschlichen Praxis ist zerstört, aus der die verschiedenen

>) Bä. i. *. 3W.

») n<i. i, s. xvm.

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Literaturbericht.

Maximen als Folge jeweils verschiedener determinierender Faktoren hätten erkannt werden können. Die Erklärung hat dort plötzlich eine Lücke, wo ein Motiv das andere ersetzt; hier hört. was. wie wir schon oben konstatiert haben, Sombart selbst zugeben muß, die kausale Ableitung auf.

Und der Standpunkt So in bar ts mußte mit Notwendigkeit zu diesem Resultat führen. Wir dürfen, heißt es im Geleitwort (8. XIX), nicht weiter als auf menschliche Motive zurückgehen, weil wir sollt t za einem unbegrenzten Regrcssus gezwungen werden, „der «ein Ende erst bei der Einsicht in die Bewegung der kleinsten Teile und der Gesetze, welche diese regeln, finden könnte.“ Hiebei stießen wir „auf die noch nicht überbrückte Kluft der psychologischen Verursachung, die eine andere als die mechanische Kausalität ist.“ Sombart scheint uns hier die ontologische i metaphysische) Frage nach dem Verhältnis von Geist und Materie mit der Frage nach der Determination mensch- lichen Wollen« durch die Gestaltung der Außenwelt zu verwechseln. Während aber die erste Frage eine solche ist, deren unlösbaren metaphysischen Charakter und falsche Problemstellung die kritische Philosophie nachgewiesen, ist die zweite Frage vielmehr eine solche, deren richtige Beantwortung die Grundbedingung aller Sozialwiasenschaft bildet. Durch die Kimfundierung beider Probleme schließt sich Sombart nicht nur nicht an Karl Marx an. er bringt sich vielmehr methodisch in schärfsten Gegensatz zu dem Begründer der materialistischen Geschichtsauffassung.

Denn die materialistische Geschichtsauffassung und man sollte doch heute nicht noch zu sagen brauchen, daß diese wissenschaftliche Betrachtung der Geschichte auch nicht das geringste mit irgend einer materialistischen Metaphysik zu tun hat erklärt das gesellschaftliche Sein und Handeln der Menschen, also die Menschen in der für die geschichtliche Entwicklung relevanten Tätigkeit aus ihren Produktionsverhältnissen als dein grundlegenden Verhältnis aller Vergesellschaftung. Die Frage, ob die Motive da» „Primäre“ sind oder die objektiven Bedingungen, eine Fragestellung, die so recht die Wiederholung der Frage der dogmatischen Metaphysik nach dem Primat von „Geist“ und „Materie“ ist. existiert für diese Auffassung gar nicht. Vielmehr, ebenso wie die kritische Philosophie die Möglichkeit der Erfassung der Natur erst dadurch Legreiflich macht, daß sic uns die Welt als unsere Vorstellung und damit als unserem Denk n adäquat und in die Einheit des Denkens einreihbar nachweist, stellt auch die materialistische Geschichtsauffassung nichts anderes dar als die Begründung det Möglichkeit des sozialen Monismus. Die« geschieht, indem die ganze Umwelt des Menschen als auf rein geschicht- liches Verhalten erst dann wirksam nachgewiesen wird, sobald sie in die Einheit seines Handelns aufgenommeii, das heißt sobald sie Bestandteil seines gesellschaftlichen Lebens geworden ist.

Die Grundlage des gesellschaftlichen Daseins des Menschen aber, dasjenige, was ihn, der von Natur aus als Cui'iv koXctixov vergesellschaftet iät, in dieser Vergesellschaftung und damit in seiner Entwicklung weiter treibt, sind die Produktionsverhältnisse; mensch- liche „subjektive“ Verhältnisse und keine „objektiven“ Bedingungen, die es von diesem Standpunkt schließlich so wenig gibt, wie etwa vom Standpunkt der kritischen Philosophie objektive Größen, die nur aus den subjektiven Anschauungsformen entspringen. Indem die Natur, da» „Milieu“, die „objektiven Bedingungen“ gefaßt sind als biolies »Substrat für das grundlegende, gesellschaftliche Verhältnis von Mensch zu Mensch wie die Menschheit es eiugehen muß zur Gewinnung ihre» Lebensunterhaltes erscheint in dem Produktionsprozeß die Einheit des Prozesse« zwischen Men&oh und Natur, dessen dialek- tische Entfaltung den wechselnden Inhalt der Geschichte ausmacht.

Sombart aber, der angeblich die „revolutionistischen“ Begriffe von Marx weiter entwickeln und cvolutionistisch ausgestalten will, geht in Wirklichkeit weit hinter ihn zurück, wenn er an Stelle des Monismus in der WeiBc des Dualismus objektive und subjektive Bedingungen scheidet, die dann im konkreten Verlauf der Geschichte ihre Vereinigung feiern, man weiß nicht wie und wann und warum.

Aber Sombart wird noch weiter getrieben. Der Dualismus zieht sich durch die ganze Geschichte. Aber zu diesem Dualismus tritt auf der einen »Seite, auf Seite der

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subjektiven Bedingungen, uoch eine Vielheit von Motiven je nach den geschichtlichen Zeitaltern, die ganz unvermittelt einander gegenöheratehen. Die Einheit der menschlichen Psyche ist so verloren gegangen und wir bekommen für jede geschichtliche Epoche eine andere Psyche. Das Verhallen der Menschen wird etwa nicht als in einer bestimmten geschichtlichen Periode auf besondere Weise determiniert geiaht; umgekehrt, das Ver- halten der Menschen ist zu verschiedenen Epochen ein wesen »anderes und bildet sich dann nach seinen jeweiligen verschiedenen Zwecken eine jeweils verschiedene Geschichte aus. Die kausale Betrachtung schlägt hier notwendig in die teleologische um. Dies ist nicht anders möglich, wenn von psychischen Faktoren als den primären „Ursachen* ausgegangen wird. In Wirklichkeit ist es der verschiedene Zweck, den die Wirtschafts- subjekte zu verschiedenen Zeiten verfolgen, der das Wirtschaftsleben erfaßt und diesem Zweck dienstbar macht. An dieser im Grunde eben doch teleologischen Betrachtung ändert es nichts, daß das telos jeweils geschichtlich verschieden, nicht das tele» Som- hart». sondern das einfacher Handwerkerseelen oder geriebener Kapitalisten ist. Die kausale Betrachtung wäre nur dann vorhanden, wenn diese Motive als historisches Resultat dargestellt worden wären, während sie bei So m hart vielmehr als Voraussetzung gefaßt weiden. Da aber die Verschiedenheit der Motive in Wirklichkeit nur Produkt einer langen geschichtlichen Entwicklung ist, ist sie als Voraussetzung für eine geschichtliche Entwicklungstheorie direkt falsch, während sie einmal als historisches Produkt begriffen wohl Ausgangspunkt fiir eine systematische Ordnung deB Wirtschaftssystems darstellen kann. Dadurch aber, daß Sombart die Motive, die bei ihm notwendigerweise als Zwecke erscheinen, die nicht weiter abgeleitet werden können, in diametralen Gegen- satz zueinander stellt, statt sie nur als verschieden determinierte Momente in der Einheit des menschlichen Willens zu begreifen, unterbricht er vollkommen die Kontinuität der geschichtlichen Entwicklung und wird zu einer wirklich „revolutionistischcn“, um das Sombartsche Wort zu gebrauchen, Darstellung gezwungen. Das Entstehen der Moti- vation, die ja eine historisch bestimmte sein soll, bleibt unerklärt. Die Motive erscheinen bei ihm wie der deus ei machina oder vielmehr die dii ex machina denn der weltfrohe Soinbart ist Polytheist und gegen den Vorwurf der Willkürlichkeit, der so leicht gegen die Auswahl der Motive erhoben werden könnte, gibt es wirklich keine andere als die von Sombart gebrauchte Abwehr, versuche es ein anderer anders, die typische Ausrede schlechter Dichter gegen die Einwände ihrer Kritiker, die sie nicht zu entkräften wissen.

Diese unvermittelte Gegenfiberstellung aberscheint ihren Ursprung in der Abneigung Sombarts gegen die „diakursive Nationalökonomie“ zu haben, deren Ergebnisse allerdings unserer Meinung nach im stände sind, diese Vermittlung herzustellen. Das Betriebs- ergebnis des Handwerkers ist im vorhinein fixiert. Denn die fortwährende Änderung der Technik, also die qualitative Änderung der Produktion, dieses Charakteristikum der modernen Wirtschaft, ist unmöglich. Auch der quantitativen Ausdehnung der Produktion sind enge Greuzen gezogen, sowohl was die Zahl der Hilfskräfte als was die Verlängerung der Arbeitszeit anbelangt. Die persönliche Mitarbeit des Meisters wirkt als Schranke, die die unbegrenzte Venuehrongsmöglichkcit des Ertrage» der Wirtschaft im vorhinein aus- schließt. Dies macht Konkurrenz im heutigen Sinn unmöglich Dem Handwerker tritt so das Ergebnis im vorhin ein als mehr weniger unveränderlich entgegen; nur um verhältnis- mäßig geringe Unterschiede in seiner herkömmlichen Lebenshaltung kann es “ich ihm handeln. Anders beim Kapitalisten. Die Trennung von Besitz der Produktionsmittel und der Arbeit und das Verhältnis von Produktionsmittel und Arbeiter eischeint bei Marx als das objektive Kriterium für die Unterscheidung der Wirtschaftssysteme, aus dessen Verschiedenheit die Verschiedenheit der Maximen der Wirtschaftssubjekte abgeleitet werden maß diese Trennung ermöglicht die unbegrenzte Vermehrbarkeit des Erträg- nisses. Die qualitative und quantitative Änderung des Produktionsprozesses geben die Grundlage für die kapitalistische Konkurrenz, deren Gesetz dem Kapitalisten fortwährende Verbesserung und Erweiterung seiner Wirtschaft als Gebot seiner Erhaltung mit Not- wendigkeit aufzwingen. Soweit er wirtschaftlich handelt, kann er gar nicht anders handeln, als ob Vermehrung des Gewinnes sein einziges Motiv wäre, was auch immer im

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individuellen Fall das Gemüt einer schönen KapitaiistcnM'-ele bewegen mag. Rein öko- nomisch gesprochen: Das konservative Wirtschaftsprinzip des Handwerkers, das revo- lutionäre des Kapitalisten, sie folgen mit Notwendigkeit aus dem Umstand, daß im ganr.cn großen Reproduktion auf einfacher Stufenleiter das Bewegungsgesetz der handwerker- lichen, Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter das Gesetz der kapitalistischen Wirt- schaftsweise ist.

Die Umwandlung des psychischen Verhaltens aber vollzog sich allmählich und nicht allzu schwierig, öfters auch wohl bei denselben oder doch derselben Klasse ange- hörigen Personen. Und in» Anfang war die ökonomische Tat. Zuerst wurde die Wirtschaft, namentlich der Handel einträglich, dann wurde sic fortgesetzt und ausgedehnt, weil sie einträglich war und zunächst eine besser« Lebenshaltung erlaubte. Aus dem Streben nach besserer Lebenshaltung wurde allmählich daB Streben nacli Gewinn als ursprünglich dem Wesen nach gleiches, aber gesteigertes Streben nach dem gewohnheitsgemäßen Unterhalt. Erst die weitere Entwicklung des Kapitalismus macht das Mittel, den Gewinn, zum Zweck durch die Gesetze des Wirtschaftslebens selbst, welche das Gewinn- streben zur Notwendigkeit machen bei Strafe des Unterganges im kapitalistischen Kon- kurrenzkampf.

Es ist somit gerade für historische Darstellung, die zugleich Entwicklungsgeschichte sein will, unerläßlich, den inneren Zusammenhang eines Wirtschaftssystems erkannt zu haben. Das heißt aber, es ist theoretische oder, wie Sombart sagt, diskursive National- ökonomie nötig gerade auch für die Vollständigkeit de« geschichtlichen Erfassens. Dies kann auch Sombart nicht ganz in Abrede stellen. Er ist denn doch methodisch zu geschult, um blindlings das plumpe Dogma der historischen Schule zu reproduzieren, das Theorie und Geschichte verwechselt und Nationalökonomie nur alt» Geschichte für möglich erklärt. Aber Sombart will die ,db»kursive“ Ökonomie zur Propädeutik erniedrigen, die die notwendige Begriffsbildung besorgt, nnd bezeichnet es al« Unge- schicklichkeit des Autors, wenn er den Leser merken läßt, wieso er zu diesen Begriffen gekommen sei. Kann cs aber etwas Bezeichnenderes geben, als daß hier Sombart die theoretische Ökonomie zur Privatsache erklärt, von der Rechenschaft abzugeben etwas Überflüssiges sei?

Wir haben gesehen, wie dieser Standpunkt bei der geschichtlichen Darstellung versagt. Sein Ausgangspunkt, die prävalenten Motive, er ist zu eng, um den ganzen Umkreis des geschichtlichen Werdens einzuschließen. Wenn dies in spiner Darstellung wenig hervortritt, so weil Sombart in seiner geschichtlichen Darstellung im I. Band im wesentlichen sich darauf beschränkt, die objektiven Eutstehungsbedingangen des Kapi- talismus zu schildern, wo auf Motive überhaupt kein Bezug genommen wird, und dann weiter nur die Sphäre des gewerblichen Lebens in ihrer Entwicklung verfolgt. Hier ist da» Gewinnstreben ein geeignetes Ordnungsprinzip für die Darstellung, weil es sich hier auch in Wirklichkeit entfaltet. Die Theorie braucht fiir die Ableitong ihrer Gesetze auf nicht.» anderes Rücksicht zu nehmen, anders aber die Entwicklungsgeschichte. Hier bedeutet das Ausgelien von diesem einzigen Motiv eine Einseitigkeit, die tatsächlich die Fülle des Lebens vergewaltigt. Die Geschichte ist in Wirklichkeit Resultat von Kämpfen, bei denen die Kämpfenden zu großen, in letzter Instanz nach ihren wirtschaftlichen Interessen geordneten Gruppen zusammengeballt sind, deren Handeln von verschiedenen, oft entgegengesetzten Interessen und daraus entspringenden Motiven geleitet wird, die alle in fördernder oder hemmender Weise ihre Wirksamkeit für die geschichtliche Ent- wicklung entfalten.

Sombart unterstellt mit seinen prävalenten Motiven, die aber bei ihm zu den einzig wirksamen werden, die alleinige, unumschränkte Herrschaft einer einzigen Klasse und vernachlässigt die Wirksamkeit »Iler anderen. Bedeutet das schon einen Mangel für den engeren Kreis der Wirtschaftsgeschichte selbst und wir führen es darauf zurück, daß Sombart z. B. über die Entstehung des modernen Proletariats und seine oft durch die gewaltsamsten Methoden erfolgte Schaffung aus früher selbständigen Schichten fast achtlos hinweggleitet so macht es die Herstellung eines Zusammenhang«-* zwischen

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der Wirtschaftsgeschichte und der allgemeinen historischen Entwicklung erst recht unmöglich. Freilich wird Sombart dazu verleitet durch seine wirtachaftspolitische Haltung, durch seine Tendenz, auch die künftige Entwicklung sich als eine kampflos durch sozial- politische Maßnahmen der Kapitalistenklaace erfolgende vorzustellen, durch sein Bestreben, den Gegensatz zwischen bürgerlicher und sozialistischer Gesellschaftsordnung theoretisch aus der Welt zu schaffen.

Wo aber Sombart zur systematischen Darstellung übergeht, besonders in dem Abschnitt, den er als „Theorie der gewerblichen Konkurrenz“ bezeichnet, verläßt er vollends seine Methode und legt der ganzen Darstellung und Beweisführung eine Pro- duktionskostentheorie zu Grunde. Man wird ohneweiter» »geben, daß dieser ganze Abschnitt uicht möglich gewesen wäre ohne die Arbeit der theoretischen Ökonomie, auf deren Resultaten sie beruht. Sombart kann in Wirklichkeit die theoretische Ökonomie x so wenig entbehren, daß er sic vielmehr als selbstverständlich voraussetzt, eine Huldigung wider Willen.

Woher kommt es nun aber doch, daß Sombarts Werk trotzdem soviel Aufklärung bringt und viele Einblicke in die wirtschaftlichen Zusammenhänge gewährt? Unseres Erachtens aus nichts anderem, als daß der Erfinder der historischen Sozialtheorie sich in Wirklichkeit gehütet hat, seine Methode allzu strenge anzuwenden. Nicht die „Geschichte“ hat für Sombart die Wahl der Urdnungsprinzipien vorgenommen. Hinter dem Pseudo- nym „Geschichte“ verbirgt sich vielmehr der Name Karl Marx.

Schon daß Sombart die Triebkraft für die Entwicklung des Wirtschaftslebens nur in der rein wirtschaftlichen Sphäre sieht, ist ein MArxscher Grundsatz. Die Formu- lierung seiner Wirtschaftsprinzipiell ist nichts anderes als Anwendung wieder Marxscher Lehren. Nur daß Sombart die Einheit der Manschen Geschichtsauffassung dualistisch spaltet und so zu dem Gegensatz von objektiven und subjektiven Bedingungen gelangt, den zwar oft die Praxis seiner Darstellung, nicht aber seine Theorie zu fiberhriieken weiß. Es wäre falsch, diese Theorie Sombart« als idealistisch oder als psychologisch der materialistischen Geschichtsauffassung gegenüberstellen zu wollen. Sie ist beides nicht, weil sie in letzter Instanz indeterministisch ist, weil die Motive als selbständige Mächte unabhängig nacheinander gestellt sind, statt auseinander abgeleitet zu werden. Aber immerhin. Einmal ihre Existenz zugegeben und daß sie so existieren und existieren müsset», hat nach unserer Meinung der Marxismus bewiesen erweisen sie sich als glückliches Ordnungsprinzip der geschichtlichen Darstellung.

In jenen zahlreichen Kapiteln aber, wo das Spezifische seiner Theorie überhaupt nicht zur Geltung kommt und es sind dies die meisten des Buches, welches daher trotz Sombarts Streben nach Einheitlichkeit gleichfalls einen dualistischen Charakter auf- weist.. werden dem Leser selbst die Anhaltspunkte gegeben, die ihm gestatten, die Kontinuität der geschichtlichen Entwicklung herzustellen.

Der Wirtschaftshistoriker Soinbart war glücklicher als der Sozialtheoretiker.

Dr. Rudolf Hilferding.

Regierung»™! IMIttiniinn, Vorsitzenlerder Landesversicherungsanstalt Oldenburg, Die deutsche Arbeiterversicherung. 2. Ausgabe, Verlag Dr Ludwig Huborti, Leipzig. 124 S., 8°. Preis M. 2-75.

Ernst Funke und Walter Hering, kais. expedierende Sekretäre im Reichs-Vcr- sicherungsamte. Die reichsgesetzliche Arbeiterversicherung (Kranken-, Un- fall- und Invalidenversicherung». Berlin, Franz Vahlen, 1903. 116 S., kl. 8*. Preis 50 Pfennig.

Die beiden Bücher orientieren den Arbeitgeber und Arbeitnehmer über die Rechte und Pflichten aus den deutschen Arbeiterveraicberungsgesetxen in praktischer Art. Das zuerst genannte Werkelten, welches in Dr. Hubertis moderner kaufmännischer Bibliothek erschien, zieht auch die wichtigsten einschlägigen Bestimmungen aus der Gesetzgebung des Auslandes zum Vergleiche heran und enthält ein Verzeichnis der Berufsgenossen- schaften, lnvalidenversicherungnanstalten und Schiedsgerichte für die Arbeiterversicherung. Die Entschädigungssätze betreffs der hauptsächlichsten Unfallsfolgeu, welche auf Grund

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der Reknrsentscheidungen des Reichs- Veraicberungsamtes zusammengcstellt worden, bilden eine für die beabsichtigte allgemeine Orientierung hinreichende Beigabe. Auch das an- gesehlossene Sachregister ist ein erwünschter Behelf.

Die beiden Bücher kennen jenen empfohlen werden, welche sich rasch über die Bestimmungen der deutschen Arbeiterveraicherungsgeseti’e unterrichten beziehungsweise im Eimelfalle Auskunft erhalten wollen.

Beide Werkchen bringen aber auch ein Merkmal der deutschen Arbeiterversicherung zur Erkenntnis, nämlich ihre Kompliziertheit, eine Folge des sei) rittweisen Ausbaues und der Unvollkommenheit, welche dein auf einem neuen Gebiete unternommenen ersten Versuche stets anhaftet. Dies ist auch für Österreich von aktueller Bedeutung, da ja hier die Deform und Vervoltotändigurg der Arbeiterversichcrung durch die gesetzliche Regelung der Invalidenversicherung für die nahe Zukunft angekiindigt wurde. In Öster- reich ist die Vereinfachung der Arbeiterversicherung dadurch erleichtert, dall die Unfall- versicherung territorial organisiert wurde, so dall die Verwaltung der Invalidenversicherung ohneweiter* an die bestehenden Zweige der Arbeiterversicherung angegliedert werden kann. Die deutschen Berufisgctiossenschaften bilden ein wesentliches Hindernis für die Vereinfachung der Versieherungsdurchfuhrung in Deutschland, da denselben die Invaliden- versicherung nicht übertragen, die Unfallversicherung auch nicht weggenommen und sohin deu territorialen luvalidenversicherungsanstalten zugewiesen werden kann, weil für die- selbe zufolge des Umlageverfahrens die kapitalische Bedeckung mangelt. Die beiden ürundgebrecheu der deutschen Unfallversicherung (Beiufsgenossenschaften und Umlage- verfahren) verhindern demnach die im Interesse aller Beteiligten gelegene Vereinfachung der Arbeiterversicherung. Wenn auch in Österreich das gesetzliche Kapilaldeckunga- prinzip faktisch nicht durchgeführt ist, vielmehr nur ein Uralagev erfahren mit starken Reserven besteht, so kann doch, dank dem Territorialprinzip, die Arbeiterversicberung mit Einschluß der Invalidenversicherung einfach organisiert und durchgeführt werden, ohne daß es notig wäre, die vom »Standpunkte der kapitalischeu Bedeckung der Hentenaus- zahiungen passiven Territorialanstalten aufzulösen

Der deutschen Arbeitcrver.iicherung würden die erwähnten Schwierigkeiten erspart geblieben sein, wenn der Gesetzgeber von der Invaliden- und Krankenversicherung aus- gegangen wäre und die Unfallentschädigung nur als Ergänzung der Invalidenversicherung etwa derart eiugefiihrt haben würde, daß den IJnfallinvaliden nach Abschluß der Kraukenunteratutzung jene Invalidenentacbädigung gebührt hätte, welche bei Fortbe- zahlung der Versicherungsbeitrag« bis zum Schlüsse der Maximalbeitragszeit resultieren würde. Für die Entschädigungsbcrechtigung im Unfälle hätten im übrigen dieselben Voraussetzungen wie betreffs der sonstigen Invaliden zu gelten gehabt. Kögl er.

Viktor Heller. Der Getreidehandel und seine Technik in Wien. Wiener staatswissenschaftiiche Studien, herausgegeben von Edmund Bernatzik und Eugen v. Philippe vich. Wien, bei Manz, 1Ö02.

Wien bat viele Jahre hindurch im tietreidehandcl Europas eine hervorragende Holle gespielt; namentlich zu der Zeit, als Ungarn noch die „Kornkammer41 Europas bildete, besaß Wien einen blühenden Getreide-Exporthandel und iin Zusammenhänge damit einen für sämtliche europäische Getreidebörsen tonangebenden Tenninhandel. Die Veränderungen und Verschiebungen, welche sieb in den Getreideliandelsverhältnissen in dem Maße vollzogen, als einerseits Kuliland und Amerika sich des Getreide- Welt- marktes mehr und mehr bemächtigten, anderseits die Monarchie infolge Zunahme der Bevölkerung und Wachsen der Konsumkraft aus einem Getreide- Exportland allmählich in ein Getreide-Importland geworden ist; dies und der Rückgang des Termingeschäftes, der teils eine natürliche Folge de« Exportrückganges, teils der zur Eindämmung des Börsenspieles in Getreide erfolgten gesetzlichen Einschränkung der Teilnehmer an dem börsenmäßigen Terminhandcl in Getreide ist, hatten die Stellung Wiens als Getreide- handelsplatz selbstverständlich nicht unberührt gelassen. Aber immer blieb ihm die Vermittlung der sk-ts wachsenden Getreideeinfuhr aus Ungarn und dein Grient nach den nördlichen und westlichen Provinzen Österreichs und blieb ihm die Vermittlung des »ich

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put entwickelnden Exporte« von Braugerste. Gleichwohl verfiel der Getreidehandel Wiens immer mehr, weil nicht« oder so gut wie nichts zur Pflege dieses Handelszweiges geschah, obgleich es der einzige Groflhandelszweig von Bedeutung ist, den Wien, and der bedeutendste, den Österreich überhaupt besitzt. Es oblag dem Verfasser, aufzuzeigen, wie die Gebrechen der dem Wiener Getreidehandel zur Verfügung stehenden technischen Einrichtungen, der Hafenanlagen. Landungsplätze, Lagerhäuser etc., den Handelsverkehr sichtbar schädigen, die Hemmnisse hloßzulegen. welche einer Gesundung der Verhältnisse entgegenstehen, und ßeformvorschUge zu machen, deren rasche Ausführung der Verfasser um so dringlicher verlangen zu müssen glaubte, als ungarische und deutsche Städte, die Situation wahrnebmend, den Getreidehandel Wiens Stück um Stück an sich ziehen.

Verfasser verlangt eine rasche und intensive staatliche und kommunale Aktion, um diese nicht nur für Wien, sondern für die ganze österreichische Volkswirtschaft be- deutsame Frage zu einer gedeihlichen Losung za bringen. Bisher ist durch den Beschluß der Donau-Regulierangskominission. den neuen Freuden auer Winterhafen zu einem Handelshafen ausriisten zu wollen, wenigstens ein Punkt des von dem Verfasser auf- gestellten Keorgauisatiousprogrammes erfüllt worden.

Dr. \. E. Weill: Die Solidarität der Geldmärkte, eine Studie über die Verschiedenheit der gleichzeitigen Diskontsätze verschiedener Länder Frankfurt a. M., J. D. .Stoerlindtr« Verlag. 1903.

Noch im Anfänge de» neunzehnten Jahrhunderts diente der internationale Geld- verkehr hauptsächlich zur Leistung fälliger Schuldverpflichtungen; ein Teil dieser Zah- lungen war wohl zum Zwecke der Investierung von Geldsummen im Auslande auf eine längere Periode bestimmt, zum Zwecke kurzfristiger Anlagen waren sie äußerst selten. Jetzt sucht man schon den geringsten Vorteil einer kurzfristigen Anlage im Auslände auszunutzen, so daß dieser Geschäftsbetrieb die großen Handelsplätze der ganzen Welt umspannt. Dies bewirkt, daß die Diskontsätze der einzelnen Geldmärkte einen immer lebhafteren Einfluß aufeinander ausüben.

Weill hat »ich das Verdienst erworben, auf Grund der praktischen Erfahrungen der letzten zehn Jahre nachzuprüfen, inwieweit die Ansicht der Theorie, daß zwischen den Hisk ontsätzen verschiedener Länder eine Tendenz gegenseitiger Ausgleichung bestehe, als» eine Solidarität der Geldmärkte zu erkennen sei. auf Richtigkeit beruhe. Da die offiziellen Bankdiskontsätze Bich nicht immer genau der Marktlage an passen, sondern aut autonomen Verfügungen der Bankleitungen beruhen, so können sie für die Beurteilung der Frage, ob eine Solidarität der Geldmärkte besteht, nicht als maßgebend angesehen werden; es sind dies vielmehr die „Marktdiekontsätze“ oder „Privatdiskontsätze“, d. h. jene Diskontsätze, welche in den Geldmärkten für absolut erstklassige Wechsel in Anrechnung gebracht werden. Weill gelangt zu folgen len Ergebnissen: der Markt- diskontsatz eines Landes bestimmt sich, wenn weder eine Furcht vor politischen Verwick- lungen noch eine Furcht vor einer wirtschaftlichen Krisis besteht, nach dem Verhältnis des internationalen Leihgeldbedarfes zum internationalen Leihgeldangebot, das nur in dem Maße, in welchem das Risiko der Valatadifferenzen oder die Höhe der Kosten des Edelmetalltransportea eine Geldüberweisung verbieten, eine Modifizierung erfahren kann. Die Marktdiskontsätze verschiedener Länder müssen (den Fall einer Kriegsgefahr oder einer wirtschaftlichen Krisis ausgeschlossen) in Ländern gleicher Valutaverhältnisse, welche in räumlicher Vereinigung gleichzeitig eine einheitliche Volkswirtschaft bilden, gleich sein; können in Ländern gleicher Valutaverhältnisse, welche jedoch räumlich und volkswirtschaftlich getrennte Gebiete darstellen, nur verschieden sein innerhalb der durch die Höhe der Transportkosten bedingten Grenzen ; können in Ländern ungleicher Valntaverhältnisse nur verschieden sein innerhalb der durch das Risiko der Valuta- differenzen und die Höhe der Edelnietalltransportkosten bedingten Grenzen. Bei der Besprechung der Einwirkung der Valutadifferenzen und der Kosteu des Edelmetall- transportes bemerkt der Autor, daß, wenn und solange beide Länder, zwischen denen der Wechselverkehr stattfindet, unbedingt in Gold zahlen, den Schwankungen des die Zahlungsbilanz beider Länder au «drückenden Wechselkurses sehr enge Grenzen gezogen

Zoittchrift fir Vjltrv Irlich* ft, Sozialpolitik and Verwaltung- XII. Band. 31

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sind, daß da» Risiko der Valuta nach üben und unten sehr eng begrenzt ist. Ist jedoch auch eine Zahlung in Silber möglich, so erweitert sich der Spielraum der Schwankungen des Wechselkurses und damit das Risiko der Valuta ganz bedeutend; es ei hellt daraus das grolle Interesse, welches das internationale Geldgeschäft au dem Bestand möglichst vieler reiner Goldwährungen hat. Schließlich werden die ziffermiißigen Grenzen 1er Differenz der gleichzeitigen Diskontsätze ei örtert.

Braun v. Fernwald.

t'barlcM Ziieblin, Professor of Sociology in the Univemty of Chicago: American M u nie i pal Progress, chapters in municipal sociology, New York, The Macmill an Company, 1902.

Die Vereinigten Staaten von Nordamerika gewinnen als politische und wirtschaftliche Macht eine immer größere Bedeutung. Infolgedessen wendet sich die öffentliche Aufmerksam- keit Europas mehr und mehr den dortigen Zuständen und Verhältnissen zu, uin die Ursachen dieses so staunenswert raschen Aufschwunges zu ergründen. Sofern sich dieser Aufschwung bei den Fortschritten in den Stadt gemeiuden äußert, wird er in Zue bl ins Werk in belehrender Weise beleuchtet. Wo die in dem Bulletin of the Department of Labor enthaltene amtliche Statistik den Autor im Stiche ließ, hat er versucht, durch Aussendiing von Fragebogen an die Städte mit mehr als 80.000 Einwohnern die wünschenswerten Ergänzungen und Aufklärungen zu beschaffen; doch erhielt er nur selten entsprechende Auskünfte, da auch in den Vereinigten Staaten die Statistik der Gemeinden wenig entwickelt ist und es daher sehr schwer fällt, von ihnen statistische Daten in größerem Umfange zu erlangen. Wie der Autor sagt, hat er für seine Arbeit drei Hilfsmitte angewendet: Dokumente, persönliche Beobachtung und Interviews, so daß seine Angaben vielfach auf unmittelbarem Studium beruhen, was ihren Wert erhöht. Er schildert den großartigen Aufschwung, den die Verkehrsmittel in vielen Städten genommen haben; er verhehlt aber auch nicht, mit welcher Rücksichtslosigkeit gegen die Sicherheit von Men- schenleben hei deren Betrieb besonders in früherer Zeit vorgegangen wurde. Beim Lesen dieser Schilderungen steigt einem der Gedanke auf. ob nicht gerade in dieser schonungslosen Rücksichtslosigkeit zum Teil die ungemeine Raschheit der Fortschritte begründet ist. da die Handlungsfreiheit durch keine Rücksicht auf die Nebemnenschen eingeengt war. Dieselbe Geringschätzung von Menschenleben und menschlicher Ge- sundheit zeigt sich auf dem Gebiete des Sanitdtswcaens, so daß der Autor schließlich in den Ausruf ausbricht: „Wir werden uns der Langlebigkeit erfreuen, sobald mensch-

liches Leben wertvoller wird als Privateigentum. So wurde in manchen Städten bei der Wasserversorgung nur auf die Menge der Wasserzufuhr gesehen, die Zuträglichkeit des Trinkwassers aber mit wahrhaft mittelalterlicher Gleichgültigkeit behandelt, so daß sogar durch Unratkanille verseuchtes Wasser für diesen Zweck nicht verschmäht wurde. Erst die letzten Jahre haben Besserung gebracht. Von aani täten Maßnahmen sind Vor- kehrungen zur Verhinderung der übermäßigen Rauchentwicklung erwähnenswert: auch sei ein guter Einfall angeführt, wie der sonst oft schwierige Beweis für derartige Übertretungen durch Photographieren der qualmenden Schornsteine durch die behördlichen Organe herge- stellt wurde. Schließlich sei noch des freilich vergeblichen Kampfes gedacht, der in einigen Städten mit Geld- und Arreststiafen gegen das Ausspucken an öffentlichen Orten geführt wurde. Entsprechend dem amerikanischen Geschäftsgeist steht die Verwertung des Kehrichts und der sonstigen Ahfallstotle vielfach auf hoher Stufe. In der Darstellung des Unter- richtswesens erweckt besonders die Mitteilung eines Planes Interesse, die Schule nicht so sehr der Vermittlung von Kenntnissen dienstbar zu machen, sondern sie zu einer Vorschule für das praktische, wirtschaftliche und politische Leben zu gestalten. Von den öffentlichen Bibliotheken fordert Zueblin, daß sie möglichst allgemein und bequem zugäng- lich gemacht werden und die Besucher zur Selbstbedienung angeleitet werden. Auch öffent- liche Gebäude, Parks und Boulevards sowie öffentliche Erholungsstätten sind in den Kreis der Betrachtung gezogen, besonders ist der Jugendfürsorge liebevolle Aufmerk- samkeit geschenkt In der großen .Streitfrage, ob die öffentlichen Anstalten möglichst den Pri vatunternehmungen zu überlassen sind oder besser in den Eigenbetrieb der

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Gemeinde übernommen werden, entscheidet sich der Antor dahin, daß die Begründung ron gemeinnützigen Anlagen mit Vorteil dem privaten Unternehmungsgeiste überlassen werden kann, daß aber die fertigen Anlagen besser in das Eigentum der Gemeinde übernommen werde, wodurch noch der weitere Vorteil erzielt werde, daß das darin investierte Privatkapital für neue Unternehmungen frei werde. Jedenfalls sei die öffent- liche Überwachung nur dann wirksam, wenn ihr die Möglichkeit einer Übernahme in das städtische Eigentum als Korrektiv zur Seite stehe. So enthält das Buch vieles, das auch für europäische Leser von großem Interesse ist, indem dadurch ein Einblick in die Licht- und Schattenseiten der amerikanischen Gemeindeverwaltung gewährt wird.

Braun v. Fernwald.

J)r. JuliunBunzel, „Studien zur Sozial- und Wirtschaftspolitik Ungarns.“ Beiträge zu den Ausgleichs- und Zolltarifverhandlungen zwischen Österreich und Ungarn. Leipzig. Duncker & H umblot, 1902.

Br. Emil Ktin, „Sozialhistorisehe Beiträge zur Landarbeiterfrage in Ungarn“. Jena, Gustav Fischer, 1903. (Zugleich 37. Band der von Dr. Johanu Gonrad heraasgegebenen Sammlung nationalOkonomischer und statistischer Abhandlungen dcB staatswissenschaftlichen Seminars zu Halle a. d. S.)

Zwei nach Anlage und Durchführung ganz verschiedene Publikationen über un- garische Wirtschaftspolitik, deren Titel dem Leser bloß fragmentarische Forschungs- ergebnisse in Aussicht stellen. Hunzel verspricht „Studien“ und vereinigt in dem Bande tatsächlich Aufsätze über verschiedene Gegenstände, deren erste Veröffentlichung im «Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik“, in Conrads „Jahrbüchern“, Schmo Ilers „Jahrbuch“, in vorliegender Zeitschrift u. h. w. stattgefunden. (Der Untertitel „Beiträge zu den Ausgleichsverhandlungen“ hat nur zum geringen Teil Berechtigung und wohl vielmehr den Zweck, dem S&mnielLand Aktualität zu verleihen.) In anderem Sinne sind die loiialhistorischen «Beiträge“ Küns zu verstehen, der ein genau umgrenztes Thema methodisch durchführt; hier kann nicht die Art der Darstellung, sondern bloß die Tatsache, daß die* derzeit erschlossenen Quellen eine systematisch erschöpfende Behandlung der ungarischen Landarbeitei frage nicht gestatten, den Titel bestimmt haben. Bunzel wendet sich mit seinen temperamentvoll geschriebenen Artikeln, deren polemische Grundtendenz gegen das „magyarische System Potemkin" gerichtet ist, an jeden Information suchenden Leser, wobei jedoch sein „unbefangenes Wort“ bisweilen auch dort, wo es bei aller Schärfe durchaus berechtigt ist. vermöge des mit Animo, häufig selbst aninios gefärbten Vortrages Zweifel wachrufeu mag, ob der Autor nicht nach der andern, schwarztnalendeii Richtung übertreibt. In Wahl und Benützung von Quellen ist Bunzel. sicht allzu streng. Er schöpft wohl auch aus amtlichen Materialien, zum mindesten aber neben«« gern aus allerlei offiziösen Berichten, Privatarbeiten, selbst aus Tagesblittern, z. B der „Arbeiterzeitung“, dein« Pester Lloyd“; Parlamentsreden werden nach dem letztgenannten Blatt zitiert. So ist denn beim Gebrauche dieser mehr journalistischen Aufsätze etwas Vorsicht aui Platze. Anderseits wird durch Mitteilung der betreffenden Gesetze ein sicheres Fundament geboten, so daß sich der Leser ohne Ermüdung annähernd unter- richten kann. Eingestreute Pikanterien wie z. B. die Erinnerung an Baron Bänffys „heiligen Simon“, womit der ungarische Ministerpräsident Saint-Sinmn meinte gestalten die Lektüre noch leichter.

Kun dagegen hat für den Sozialhistoriker geschrieben. Zu zeigen, daß in Uugarn schon vor der Bauernbefreiung eine Klasse der ländlichen Arbeiter als besondere« Glied des gesellschaftlichen Organismus vorhanden gewesen, ist Zweck seiner analytisch- historischen Untersuchung. Indem er die Organisation der landwirtschaftlichen Arbeits- kraft Ungarns aus ihrer Entwicklung heraus pragmatisch schildert, zeigt Verfasser ähnlich wie es Theodor v. d. Goltz bezüglich der ländlichen Arbeiterklasse in Preußen getan „daß die Rechtsorganisation durch den gesellschaftlichen Bildungsprozeü hervor- gerufen wurde und nicht umgekehrt“. Krstere greife gewöhnlich erst dann sanktionierend beziehungsweise reglementierend ein. weun letzterer in Überbildung übergeht und Übelstände zeitigt. Es liegt auf der Hand, daß einem solchen Thema nur mit ernsten Wissenschaft'

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liehen Mitteln heizukomiuen ist: Kün hat solche zu beschaffen gewußt und ein auf authentische Rechtaqnellen gestutztes, objektiv und streng sachlich gehaltenes Stück ungarischer Sozial- und Rechtagesehichte ab ovo erstellt.

Was den Inhalt der beiden Publikationen im besonderen betrifft, so handelt Runzel über die Lage der ungarischen Landarbeiter, zwei Gesetze über den Agrar- sozialisii.tts, die Lage der gewerblichen Arbeiter, das Annenwesen und bringt Bemerkungen über den Ausgleich und über di»- ungarische Industriepolitik.

Von einer Besprechung des Aufsatzes über „Die Lage der gewerblichen Arbeiter in Ungarn“ kann hier abgesehen werden, da derselbe in dieser Zeitschrift <11. u. III. Heft des XL ßnudes. 1902, S. 252 ff.) zum erstenmal veröffentlicht worden und daher den Lesern bekannt ist. Der Aufsatz über das Armen wesen, welches in Ungarn infolge der unbestimmten Verpflichtung der Gemeinden fast ausschließlich den einzelnen überlassen sei. ist in der Hauptsache einer in französischer Sprache veröffent- lichten Abhandlung des ungarischen Ministerialrates Kanüsz gewidmet. Die Aus- führungen über die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Österreich und Ungarn gelten hauptsächlich der Beweisführung, daß die Sicherung der Zollgemeinschaft weit mehr im ungarischen als im österreichischen Interesse gelegen sei, wobei die haudels , fiuanz-, imiustrie- und verkehrspolitischen Verhältnisse, die Quotenfrage etc. mit reichein Datenmaterial beleuchtet werden.

Der ungarischen Industriepolitik macht Verfasser den Vorwurf, daß sie anstatt för eine Verbesserung der allgemeinen Produktionsbedingungen zu sorgen nnd durch soziale Reformen die Kaufkraft der Bevölkerung zu erhöhen, sich auf die För- derung einzelner Unternehmungen verlege, was nur eine Bereicherung einzelner, meist ausländischer Unternehmer, eine Schädigung des Kleingewerbes sowie der Hausindustrie und die Belastung breiter Volksschichten zur Folge habe. Vielmehr müsse der theoretisch als richtig erkannte Grundsatz, daß sich die ungarische Großindustrie in erster Linie aus der Agrikultur entwickeln solle, auch in die Praxis Eingang finden. Die erwähnte, auf Gesetzen ans den Jahren 1881 und 1890 ruhende Förderung einzelner Unternehmungen betrifft langjährige Steuer- und Gebührenfreiheit, Subventionen, zinsenfreie Darlehen. Beteilung mit staatlichen Lieferungen, unentgeltliche Überlassung von Grund und Boden, Tarif- und sonstige Begünstigungen, hat aber nach Ansicht des Verfassers nicht die gewünschten Resultate gezeitigt. Mehr Erfolg schein»'ii die Bestrebungen auf Sicherung den heimischen Marktes fiir die Industrieprodukte gehabt zu haben. (Im Jahre 1899 wurden bereits 88-7 Proz. de» Bedarfes der Verkehrsanstalten an Industrieerzeugiiisseu im lolande gedeckt.) Da aber auch diesen Bemühuugen die geringe Konsumfälligkeit der ohnehin nicht dichten Bevölkerung im Wege stehe, mußten Versuche, den Export ins Ausland zu heben, unternommen werden: diesem Zwecke diente vor allem die ungarische Eisen- bahnpolitik. dank welcher der Staat nunmehr seit einem Jahrzehnte über das ganze Eisenbahnsystetn des Landes selbständig entscheidet. Zu beklagen sei der infolge weit- gehender Begünstigung der Gründung von Aktiengesellschaften (1901/02 500 industrie- aktiengesellschaften) fühlbare Mangel an Einzelunternetimungcii. Die Zahl der Gewerbe- treibenden betrug im Jahre 1890 5*26 Proz. der Gesamtbevölkerung gegen 4-2 Proz. iin Jahre 1870. 97 03 Proz. aller Unternehmungen waren Kleinbetriebe (mit 0 5 Arbeitern), 1 87 Proz. Mittelbetriebe (6—20 Arbeiter) und nur 0 4 Proz. Großbetriebe (über 20 Arbeiter). Im Jahre 1899 wurden in Ungarn 2.364 Fabriken mit zirka 245.500 Angestellten gezählt. Am stärksten entwickelt sind jene Industrien, welche entweder die Rohprodukte des Landes verarbeiten, wie die Nahrung»- und Genußmittcl- sowie die Holzindustrie, oder welche staatliche Bedürfnisse zu befriedigen vermögen, wie die Eisen-, Metall- und Masehinenindustrie; dagegen sei die besonders unterstützte Textilindustrie höchstens in Siebenbürgen lebensfähig. Als besonders hinderlich für die Induslrieentwicklung in Ungarn erscheinen dein Verfasser der Mangel an Kapital (dieses sei größtenteils durch landwirt- schaftliche Investitionen gebunden), das mehrfache Fehlen einer fachmännischen Leitung, der Mangel an billigen Rohstoffen sowie an geschulten Arbeitskräften (der ungarische Arbeiter pflege in einem gewissen Alter wieder zur bäuerlichen Beschäftigung zurückzukehreui.

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Literatorbericht.

450

Von diesen aktuellen Erwägungen wenden wir uns nun zu den historischen Untersuchungen Küns. Bei den nomadisierenden Ungarn und noch zur Zeit der Land- nahme (900) war jeder Soldat (in Nachwirkung der römischen militär-agrarischen Formen) Eigentümer eines Grundstückes, das von den Ureinwohnern (Avareu, Deutschen, Slaven) und /«Wanderern bestellt wurde. Christentum und Monarchie lieUcn einen erbunter- täuigen Dienerstand und aus diesem eine Klasse freizügiger Schutzunterütneu entstehen den ersten Vorläufer des heutigen Gesindes. Die durch wachsende Bodenkultur bewirkte reichere Gliederung des arbeitenden Volkes auch die Anfänge einer Klein- grundbesitzerklasse (freie Ungarn und Kolonisten) zeigten sich bereits ging in den Tartaren- und Türkenstürmen wieder unter. In der Folge war der Bauer theoretisch zwar frei, «loch schutzlos, da der infolge königlicher Schenkung emporstrebende feudale Großgrundbesitz eine derartige Ausbreitung der Hörigkeit mit sich brachte, daß sich alsbald alle freien und unfreien Ackerbauer in der großen Klasse der grundholden Hörigen zu«ammenfanden. Dieses von Ludwig d. Gr. 1351 gesetzlich geregelte Institut der Jobbagyien (eventuell erbberechtigte) Nutznießer der herrschaftlichen Felder bestand im Wesen bis 1*50 fort. Mit dem Sieg des Hochadels über die Königsgewalt (nach dem Tode Matthias' Corvinus) verlor auch die Freizügigkeit ihre praktische Be- deutung; es kam zum großen Bauernaufstand 1514, nach dessen Niederwerfung die erbliche Hörigkeit vom Reichstag dekretiert wurde. Nachdem Verfasser schon für das 15. Jahrhundert einen freien Feldtaglöhnerstamm in Ungarn festgestellt, bezeichnet er die Zeit von 1514 bis auf Maria Theresia als eine Periode ökonomischen, moralischen und hauptsächlich infolge der Pest 1707 auch physischen Verfalles. Die Hebung und Befreiung der Bauernschaft wird vom Verfasser ebenso konzise wie klar dargestellt. Innerhalb dieses hier nur ganz leicht angedeuteten Rahmens unterzieht Kan die einzelnen Laadarbeiterkategorien nach ihren historischen, wirtschaftlichen, politischen, sozialen und rechtlichen Faktoren einer gründlichen Untersuchung. In einer abschließenden, objektiv formulierten Betrachtung Über ungarisches Arbeiterrecht und Arbeiterfürsorge wird erst die Möglichkeit geboten, die Ausführungen dieses Autors mit dem der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit gewidmeten Aufsatz Bunzels über die Lage der ungarischen Landarbeiter in Vergleich zu ziehen. Wohl ergänzen einander die ideu Arbeiten in gewissem Belange, so insbesondere iu den statistischen Angaben, dann in den Mitteilungen über die agrarsozialistische Bewegung der letzten Jahre, ergeben jedoch kein Ganzes. Einer einfachen Zusammen- legung der beiden Abhandlungen steht vor allem ihr unter anderem durch die oben erwähnte Verschiedenheit der benutzten Informationsquellen bedingter disparater Charakter entgegen. (Übrigens verweist K ün mehrfach auf den Aufsatz Bunzels.) Beide Autoren klagen über den Mangel beziehungsweise die Mängel des für ihre Arbeiten notwendigen statistischen Materials, doch ist es Kün gelungen, selbst für weit zurückliegende Perioden reichere und verläßlichere Daten aufzuspüren. Besonders Rillt es auf, daß Hunzel in seinem Aufsatz, der zuerst im „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik“, Baud XVII, 1902 erschienen ist, die ungarische agrarstatistischc Konskription vom Jahre 1895, ^ worüber die ersten Bände 1897, die letzten zwei 1900 veröffentlicht wurden, nicht verwertet.

Sowohl die sozial- und nationalökonomischen Feuilletons Bunzels wie die wissenschaftliche Monographie Kün’s tragen zur Verkleinerung einer großen Lücke bei. Dali dieselbe nicht ausgefüllt ist. vielmehr noch anderen Forschem Arbeitsgelegenheit bietet, liegt an der Art des Gegenstandes wie an der Beschaffenheit des Materials.

Dr. Julius Twardowski.

Dr. Theodor Spickenunnn. Der Teilhau in Theorie und Praxis. Ein Bei- trag zur Lösung der ländlichen Arbeiterfrage. („Volkswirtschaftliche und wirtschaftsge- schichtliche Abhandlungen“ herausgegeben von Prof. Dr. W. Stieda. IV. Heft). Leipzig, Verlag von Jfthn und Schanke, 1902, 8°, 68 8.

<) Vgl. blerOb-r den Auf-nu vuo ProffMor v. Heb « Iler n Sch re tle n ho. e n in der vom k. k. Arbriuumtlsil scheu Aiat h-r ju*geg«t>c,n .Sotlelru Kundseh Mi", Aprilhe/l lÄJt, «. 4ill ff.

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460

Literaturbericht.

Nicht ohne günstige Vorurteil nahm ich das angezeigte Schriftchen zur Hand. Ein interessant«-1» Thema, mit wohltuender Kürze and ohne weitwendigen literarischen Apparat behandelt. Offenbar, sagte ich mir, hat der Verfasser über den Gegenstand eigene Gedanken vorzutragen und begniigt sich auch damit. Das erweckte meine »Spannung um so mehr, als bekanntlich die Meinungen über das juristische Wesen des Teilbaues sowohl wie über seinen produktionstechnischen und sozialpolitischen Wert sehr auseinandergellen. So begann ich denn zu lesen und das Gelesene nachzuprüfen.

Hier ist das Ergebnis dieser Prüfung:

In einer kurzen Einleitung (8. 1 2), bietet der Verfasser einen Überblick Ober die Verbreitung des Teilbaues. Die betreffenden Angaben sind zur Gänze entlehnt den übrigens bereits 1894 und nicht erst 1897 erschienenen .Studien über den Teilbau in der Landwirtschaft“ u. s. w. von Pappafava, S. 2—34. Herr Spickermann nennt aucli keinen andern Gewährsmann, diesen aber nur zu zwei speziellen Punkten. Dadurch wir«! der Anschein erweckt, d«*r Best der Darstellung beruhe auf Eigeuforschung. Zudem ist der Auszug nicht nur höchst flüchtig, was bei seiner Kürze 1 aus 34 Seiten kaum zu vermeiden war, sondern auch ungenau.

Der erste Abschnitt der eigentlichen Darstellung behandelt den Teilbau in Italien (S. 3-21).

Er beginnt mit einer Skizze der .geschichtlichen Entwicklung und Ausdehnung des Teilbaues“ (S. 3 9). Eingangs derselben verweist der Verfasser auf die in der .Zeitschrift für Staat» Wissenschaft“ (er meint die .Zeitschrift für die gesamte Staats- wissenschaft.“) 1884—1885 erschienenen Abhandlungen H. Dietzels: .Über Wesen und Bedeutung des Teilbaue» in Italien“, welche der Verurteilung des Teilbaues namentlich durch deutgehe Gelehrte den Boden entzogen hätten, und fügt hinzu: „Da von allen Arbeiten über die italienische Knquüte (von 1877), welche auch den Teilhau eingehend würdigen, die von Dietzel und Eheberg anerkannte rmaUen die beuten sind, so stützt sich Verfasser unter Mitberücksichtigung der umfangreichen sonstigen Literatur hauptsächlich auf diese beiden Autoren.“ (8. 3 Text und Anm. 1.) Nun ist bekanntlich die Untersuchung Dietzels in drei Abteilungen erschienen (a, a. O., 40. Bd., S. 219—284 und 59“»— 639; 4L Bd., S. 29 86), deren erste: Verbreitung, Wesen, legis- lative Behandlung und Stabilität des Teilbausystems schildert, während die beiden andern .das Entwicklungsgesetz der colonia parziaria“ und «len Prozeß der Entstehung uud Ausbreitung derselben zur Darstellung bringen.

Der entwicklungsgeschichtliche Teil der Dietzelachen Untersuchung wird von Herrn Spick ermann überhaupt nicht und speziell in d«»r erwähnten historischen Skizze (S. 4—9) kein einziges Mal zitiert, trotzdem die letztere vollständig und noch dazu höchst ungeschickt, ja in vielfach sinnstörender oder sinnloser Weise aus- schließlich von Dietzel abgeschrieben ist. Dagegen bezieht ersieh auf eine ganze Reihe anderer Gewährsmänner: Bertagnolli, Curtius, Appian, Cato, Mommsen, Pohl mann sowie auf da» Florentiner Statut von 1415. Kr hat jedoch zweifellos aus keiner einzigen der angeführten Quellen unmittelbar geschöpft. Er hat vielmehr wie den Text so aucli die Anmerkungen mechanisch Dietzel .entlehnt“. Es decken sich nämlich bei:

Spickermann 3. 4, Anm. 2

. 3

» 4

5, . 1

2 - 3

4

6 . 1 « p 1 * 2

Dietzel

a. a. 0. 40. Bd , S. 597 Text

598 Amu. 2

599 Anm. 2

603 Text 601 Anm. 2 611 1

Cll 6

617 . 1

41. Bd., S. 63 . 1

64 3

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Literaturbericht.

461

Originell ist unser Autor nur darin, daß die Anmerkungen mitunter Überhaupt nicht zum Teit passen.

Dafür sind die Daten über die «Bedeutung des Teil baue»* (in der Gegenwart. S. 9 11), ohne dali überhaupt eine (Quelle zitiert wäre, von Dietzel a. a. 0. 40. Hd., S. 22S ff.) abgesch rieben Kinen drolligen Kindruck macht es, wenn mau die Ausführungen auf S. 11 und 8. 21 vergleicht. Hier bringt nämlich Herr Sp ick ermann nach Asairelli, Le metayage cn Italie, eine Gegenüberstellung der gesamten und der teilbaumaßig bewirtschafteten Anbauflächen sowie der Produktion auf beiden für die wichtigsten ßodenerzeugnisso (Getreide, Mais, Wein, Oliven. Gemüse). Dort hingegen bemerkt er: .Am vorteilhaftesten wäre es, uin die Bedeutung des Teilbaues voll würdigen zu können, wenn Jie von den Teilbauern bewirtschaltete Flüche bekannt wäre. Die KnquMe verrät hierüber nichts und eine Schätzung würde wohl kaum das Richtige treffen/ Es braucht wohl kaum gesagt zu werden, dali diese Bemerkung Dietzel (a. a. 0. S. 234 f) und Eheberg (Agrarische Anstände in Italien S. 125 f.) entstammt.

Es überrascht förmlich, dali unser Autor seine Schilderung des „Wesens des Teilbaues* (S. 11 18), nicht wieder stillschweigend Dietzel und Eheberg entnommen hat, sondern diesen einmal, jenen sogar dreimal fitiert. Allerdings wieder nur zu speziellen Punkten. Dagegen steht er, wenn aus dem Mangel jeglicher Literaturangabe geschlossen werden sollte, in der .Beurteilung“ (S. 18—21), durchaus auf eigenen Füßen. Ein fataler Zufall fügt es aber, dali auch schon Eheberg (a. a. O. S. 133 137) zu genau deiu gleichen, vielfach wörtlich übereinstimmenden Urteil gelangt ist. Ergänzt hat dasselbe Herr Spickermaiin nur durch die schon erwähnte Tabelle aus Asairelli, aus der er jedoch die die Seidenkultur betreffenden Ziffern weggelaasen hat. (Vgl. „La rdforme sociale“ vom Juni 1893, S. 874).

Noch leichter hat sich unser Autor die Sache gemacht im zweiten Abschnitt (8. 22—32), der dem Teilbau in Frankreich gewidmet ist. Die vorhandene, so überaus reiche Literatur kennt or offenbar gar nicht; ja nicht einmal die doch wahrlich unschwer zugänglichen Artikel in dem „Nouveau dictiounaire de ricoiiomie politique“ und in „La grande Kncyclopddie“. Kr nennt nur und zwar insgesamt in der uns bereits be- kannten Art zu ganz nebensächlichen Punkten Roger Merlin, Le metayage en France dreimal. Mlplain, Dialogucs snr le metayage und Reitze uste ins Landwirtschaft Frankreichs je einmal. Die beiden ersterwähnten Werke sind mir nicht zugänglich. Ich kann also nicht im Detail nachprüfen, ans welchem von beiden sein Auszug stammt, über dessen Wert das von dem früheren Gesagte gilt. Hervorgehoben sei nur, daß der ge- schichtlichen Entwicklung des Teilbaues in Frankreich 34 Zeilen gewidmet sind, darunter sieben der Erwähnung einer Urkunde aus dem Jahre 800 über eine .Schenkung an den „Abbl Friedegia*(!) Aus welchem Grunde Herr Spickermann seine geschichtliche Skizze mit der „zweiten Hälfte des Mittelalters“ abschließt und sie erst 1832 wieder einsetzen läüt, weil) ich nicht.

In» dritten Abschnitt (8. 43—48) wird die Beteiligung der Arbeiter am Roh- uud Reinertrag eines landwirtschaftlichen Betriebes in Deutschland behandelt. Neu siud nur die Daten über die Anteilwirtschaft beim Tabakbau auf drei Mecklenburgischen Gütern nach Mitteilungen der Verwaltung derselben. Den Rest verdankt der Verfasser wieder ausschließlich den „Yerhandlnngcn der XXV. Plenarversammlung des deutschen Landwirtschaftsrates“. Außerdem findet sich die Wiedergabe der Auffassung von der Goltz über die Berechnung de» Reinertrages von landwirtschaftlichen Unternehmungen durch ein Zitat aus Böh inert. Gewinnbeteiligung, belegt (8. 40).

Im vierten Abschnitt (S. 47 52) werden die bisherigen deutschen Versuche zur Begründung bäuerlicher Stellen und zur Lösung der ländlichen Arbeiterfrage äußerst flüchtig besprochen. Für die Zeit vor dein preußischen Rentengütergesetz vom 26. April 1886 ausschließlich an der Hand von Rirnpler wobei aus den Zitaten nicht zu ersehen ist, ob dessen Schritt: Domäuenpolitik etc. in Preußen, oder die im 32. Bande der „Schriften des Vereines für Sozialpolitik“ enthaltene Abhandlung benützt wurde für die spätere Zeit an der Hand von Aal, das preußische Reutengut. Sonst finden Bich in

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Literaturbericht.

diesem Abschnitt nur außerordentlich spärliche, dazu nicht immer richtige Literatur- angaben. Von Aal S. 92, ist jedenfalls die verstümmelte Anmerkung 2 auf S. 50 über- nommen. Das Zitat aus von der Goltz S. 50, Anm. 5 ist falsch. Es soll dort heißen statt S. 07: S. 90. bes. S. 154.

Auf Aal gestützt, steht Spickermann der preußischen Bentenguta-Gesctzgebung skeptisch gegenüber. Die Lösung der ländlichen Arbeiterfrage erwartet er auch nicht von der Begründung von Arbeiter-Renteiigiitem oder Arbeit er- PachUtellcn, wohl aber von der Einführung des Teilbaues in die deutsche Landwirtschaft. Dieser würde, meint Herr Spickermann, eine Interessengemeinschaft zwischen Gutsherrn und Bauern schaffen, einen Damm gegen die cigentumsfeindliche Sozialdemokratie bilden und „das Deutschtum des Ostens vor einer Verdrängung durch das polnische Element bewahren helfen.“ Zwar bestünde begrifflich die Gefahr der Ansetzung deutscher Teilbauern auf polnischen Gütern und damit der Polonisierung jener. Aber „ein Deutscher, der noch die Hälfte seines Deutschtums besitzt, wird sich nicht so leicht in die Abhängigkeit eines Polen begeben“ und überdies „hat es die Regierung in der Hand dafür zu sorgen, daß Deutsche auf polnischen Gütern als Teilbauern nicht ange- nommen werden können“ (S. 62). Mit der Einführung des Teilbaues soll der Staat auf seinen Domänen vorangchen. Der Privatgroßgrundbesitz wird folgen, namentlich wenn der Staat den Gutsbesitzern ein unverzinsliches oder niedrig, zu 1—2 Proz. verzinsliches Kapital zur Bestreitung der Anaiedlnngskosten vorschießen würde. Übrigens empfiehlt der Verfasser keineswegs volle Zerschlagung, sei es auch nur der Domänen. Sie soll vielmehr nur in arbeiterarnien Gegenden und auch da in erster Linie für die wenig oder gar nicht rentablen Außenscbläge statttinden.

Es ist höchst befremdlich, daß eine Arbeit wie die Spickernianns in der von Prof. Stieda herausgegebenen Sammlung erscheinen konnte. Nur dieses Gefühl der Bcfremdung mag die Ausführlichkeit dieser Besprechung rechtfertigen, die wahrlich im umgekehrten Verhältnis zum Wert ihres Gegenstandes steht.

Wien. Karl Grünberg.

Br. Ludwig Slnzhelmer. Privatdozent an der Universität München. Die Arbeiter- wohnungsfrage (Bd. 2 u. 3 der „Volksbücher der Rechts- und Staatskunde“), Stuttgart, bei Ernst Heinrich Moritz, 1902, 190 S.

Das vorstehend angezeigte Werkelten ist aus einer Reihe von Vorträgen hervor- gegangen, welche der Verfasser im November und Dezember 1901 im Münchener Volks- hochschulvereine gehalten hat. Es zerfällt in sechs Kapitel. Im ersten wird einleitend auf den durchaus modernen Charakter der Wohnungsfrage als allgemeines Problem hingewiesen mul die Differenzierung in den Anschauungen über die Mittel zu ihrer Lösung skizziert. Die nächsten vier Kapitel schildern: die Methoden zur Beurteilung von Wohuungszu- standen; die Geschichte der Gesetzgebung und Verwaltung auf dem Gebiete des Wohnungs- wesens in England: die Verwaltung und Gesetzgebung in Deutschland; die Entwicklung und Funktionierung baugenossenschaftlicher Tätigkeit. Im Schluükapitel werden die zu- künftigen Aufgaben gegenüber der Wohnungsfrage auch in Deutschland behandelt.

Die der Popularisierung der Erkenntnisse und Bestrebungen zur Bekämpfung der Wohnungsnot in allen ihren Erscheinungsformen gewidmete .Schrift erfüllt ihren Zweck vortrefflich trotz der durchaus nicht immer einwandfreien, vielfach zu sehr die Spuren des freien Vortrages an sich tragenden Form, die sich in Sprache und übermäßiger Länge bemerkbar macht. Sie wird aber auch dem Kenner nicht uninter- essant sein.

Wien. Karl Grünberg.

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DIE DISKONT- UND DEVISENPOLITIK DER ÖSTERREICHISCH-UNGARISCHEN BANK') (1892—1902).

VON

FRIEDRICH HERTZ.

Das Jahr 1892 bildet den Ausgangspunkt der neuereu Entwicklung auf dem Gebiete des österreichischen Geld- und Kreditwesens. Zahlreiche Umstande wirkten zusammen, um die Ordnung des Geldwesens zu begün- stigen. Die große Zunahme der Goldproduktion durch die Erschließung der südafrikanischen Minen, die Preissteigerung des Silbers durch die währungs- politischen Experimente der Vereinigten Staaten (1890/91) schufen eine Situation, die an die beginnenden Fünfzigerjahre erinnerte, in die der erste Versuch Österreichs zur Goldwährung überzugehen, fällt,*) Das Sinken des Agios brachte selbst die agrarischen Exporteure auf die Seite der Gold- währung,8) der Industrielle und Kaufmann hatte genug unter den fort- währenden Wertschwankungen des Geldes zu leiden gehabt, um die Reform freudig zu begrüßen. Die Staatsfinanzen waren in einem bisher nicht erreichten günstigen Zustand, das Budget wies beträchtliche Überschüsse auf die Besserung des Staatskredits und die Einstellung der Staatsanleihen äußerten sich in einem rapiden Steigen der Rentenkurse. Dazu kam noch, daß Österreich

*) Die Daten der nachfolgenden Darstellung lieferten hauptsächlich folgende Quellen: „Neue Freie Presse", „Fester Lloyd“, „der Tresor“, „Zeitschrift für Volkswirtschaft und Finanzwesen“ (offiziöses Organ der Bank), „Zeitschrift für Staats- und Volkswirtschaft“, Wien; „Der Kompafi“, finanzielles Jahrbuch für Österreich -Ungarn. Salings Börsenpapiere; die wöchentlichen Bankausweise, Rechnungsabschlüsse und Generalversainmlungsberichte der Österreichisch-ungarischen Bank, ferner die offizielle Statistik, aus der die „Tabellen zur Währungsstatistik“ und die „Statistik der Banken“ hervorzuheben sind. Einen guten Bericht über den Geldmarkt enthielt bis 1900 der „Bericht über Handel. Industrie und Verkehr in Niederösterreich, erstattet von der Wiener Handels- und Gewerbekainmer“. Seit 1901 erscheint ein eigener „Jahresbericht der Wiener Börsenkammer über den Verkehr an der Wiener Börse und den Geldmarkt“.

*) Vergl. Karl Helfferich, Geschichte der deutschen Geldreform. Leipzig 1898. Seite 21 und 102.

Vergl. Bericht des ValutaausschoBses S. 7 (in Beilagen zu den atenogr. Proto- kollen des Abgeordnetenhauses, XI. Session 1892. Nr. 491).

ZaiUchrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung. XII Band. 3*2

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Hertz.

von der industriellen Depression 1891 92 verschont blieb. Das Handels- aktivum wuchs beständig. Die großen Verluste, die das europäische Kapital an exotischen Papieren besonders an Südamerikanern, Griechen, Portugiesen, Spaniern u. s. w. erlitten hatte, und der infolge der Krise fallende Zins- fuß schufen der Emission von Staatsrenten und der Geldbeschaffung die günstigsten Vorbedingungen. Da überdies die Regierungen eine in wirt- schaftlichen Dingen sonst ungewohnte Energie entwickelten was vor allem auf die Rechnung der Finanzminister Steinbach und Weckerle zu setzen war so gelang es in überraschend kurzer Zeit, die Goldwährung gesetzlich festzulegen.1 Auch die sofort eingeleitete GoldbeschafTuug hatte einen großen Erfolg aufzuweiseu. Um so mehr mußte die langsame Fortsetzung der Reform Verwunderung hervorrufen. Die gegenwärtige Lage macht die Aufnahme der Barzahlungen im nächsten Jahre 1 1904) sehr wahrscheinlich und ein Rückblick auf die Ereignisse der Zwischenzeit wird einesteils die Gründe der Verzögerung, andemteils die erreichte sichere Fundierung des großen Werkes erkennen lassen. Trotz wiederholter Anstrengungen und einer kurzen Episode 1858 59 hatte die österreichisch-ungarische Bank resp. ihre Vor- gängerin die österreichische Nationalbank die 1848 eingestellten Barzahlungen nicht mehr aufnehmen können. Gleichzeitig mit der Einstellung der freieu .Silberprägung im Jahre 1879 war auch die Verpflichtung der Bank, Silber gegen Noten einzulöseu, suspendiert worden, so daß seither die Bank weder zur Annahme noch zur Abgabe von Metall verpflichtet war. Hiedurch war zwar die Bank gegen alle Gefahren geschützt, die barzahleuden Banken aus den Diskontverhältnissen erwachsen können. Doch hat schon der hoch- verdiente Generalsekretär W. v. Luc am den Grundsatz ausgesprochen, daß mit Rücksicht auf die Wiederaufnahme der Barzahlungen die Bank bis dahin nichts tun dürfe, was einer barzahlenden Bank nicht gestattet wäre, und nichts unterlassen, was Pflicht einer barzahlenden Bank sei, ein auch später oft wiederholter Grundsatz,’) der freilich heftigem Wider- spruch nicht entgehen konnte. Man behauptete, Österreich befinde sich infolge seiner Währungsverhältnisse gleichsam auf einem Isolierschemel und die Bank könne unbekümmert um den W eltmarkt die Zinsrate dauernd beliebig niedrig halten.

Schon Lucam hat auf das Irrtümliche dieser Behauptung hingewiesen. Ein küustlich niedergehaltener Zinsfuß äußert sich alsbald in einem Einströmen der Effekten, deren Kurs getrieben wird, und in einer Zurückziehung ausländischer Guthaben, wodurch Geld sofort knapper wird und der Zinsfuß neuerlich steigt. Da Österreich aber des Kapitalzullusses bedarf, liegt ein niedriger Zinsfuß schon deshalb nicht im Interesse der

‘) Vergl. die Darstellung in der Schrift des Hufrates Dr. Alexander Spiti- raüller. Die Österreichisch-ungarische Währungsreform, Wien 1902. (In dieser Zeit- schrift IX. Jahrg.).

*i Vergl. W. v. Lucam, Die Österreichische Natiuualbank während der Dauer des drittes Privilegs 1876, S. 66 und E. v. Mecenseffy, Verwaltung der Österreichisch- ungarischen Bank 1896. 3. 28.

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Die Diskont- und Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank et«. 465

Industrie. Auch ist es zweckmäßig, die Gewöhnung des Publikums an den Zustand einer barzahlenden Bank schon vor seinem Eintreten anzustreben. Ganz besonders mußte dieser Gesichtspunkt während des Übergangsstadiums seit 1892 zur Geltung kommen. Was die vorhergehende Epoche anbelangt, so ist freilich seit der Umwandlung der Nationalbank in die Österreichisch- ungarische Bank jenem strengen Grundsatz selten Genüge getan worden. Ein Blick auf die Tabellen der Diskontändernngen zeigt, daß die Bank mit wenigen Ausnahmen eine von den Schwankungen des Weltmarktes ziemlich unabhängige Diskontrate eingehalten hat. Doch kann ihr der Vorwurf eines übermäßig niedrigen Zinsfußes nicht gemacht werden, es fehlte mehr die Beweglichkeit als die absolute Höhe.

In der ersten Auflage der .Statistischen Tabellen zur Währungsfrage*1) findet sich eine graphische Darstellung des Diskonts der europäischen Hauptplätze, des Silberpreises und des Wiener Goldkurses. Es geht daraus hervor, daß die österreichisch-ungarische Bank während der Dauer ihres ersten Privilegs (1878 87) eine Oberaus konstante Bankrate hatte. Während der 91 t Jahre fanden nur zwei Hinaufbewegungen und zwei Herabsetzungen des Diskonts statt. Vom Mai 1879 an blieb die Rate von 4 Proz. durch 3 Jahre und 5 Monate, 4 Monate herrschte der Satz von 5 Proz., worauf bis gegen Ende des Privilegs durch 4 Jahre und 8 Monate*) der Normal- zinsfuß von 4 Proz. aufrecht blieb. Bemerkenswerterweise fällt genau in diese Epoche das gewaltige Anwachsen des Agios, das sich in einer Stei- gerung der Devisen und des Goldknrses ausdrückte.’) Allerdings ist es, wenn man den Gang des Privatdiskonts verfolgt, nicht sehr wahrscheinlich, daß eine straffere Diskontpolitik die Wirkungen des sinkenden Silberpreises auf die nicht völlig isolierte österreichische Währung hätte paralysieren können. Stets hätten die Regierungen es in der Hand gehabt, durch Redu- zierung ihrer Kassenbestände und Rückziehung von Salinenscheinen ein riesiges Quantum von Staatsnoten auf den Markt zu bringen und die Diskonterhöhung wirkungslos zu machen. Während des zweiten Privilegs (1887 1897) befolgte die Bank eine beweglichere Diskontpolitik, die aller-

dings fast nur die periodischen Schwankungen des inneren Bedarfes wieder- spiegelt. Der Normalsatz war 4 Proz. im September oder Oktober ging man auf 41/, oder 5 Proz., bereits im Januar oder Februar erfolgte die Rückwendung zum Diskont von 4 Proz. Immerhin ist eine größere Annäherung an den Privatdiskont und an den internationalen Zinsfuß dicht zu verkennen. Es ist nun unsere Aufgabe, jenen Teil dieser Epoche, der nach der Valutareform liegt, und die ersten Jahre des neuen Regimes ein- gehender darzustellen. Vorher seien jedoch die gesetzlichen Grundlagen der

') Verfallt im k. k. Finanrminiiteriom 1892 (in der iweiten Anflage 1896/99 weg- gelassen).— Vergl. ferner Mecenseffy, a. a. O., S. 8182.

*) Von Februar 1883 bis September 1887.

») Die Jahresdurchschnitte der Devise London betrugen: 1879: 117-708; 1883: 120 167: 1887: 126-968. Der Wiener Goldkurs (Preis von 260 Franken ip Napoleons in Noten 0. W.) stand: 1879: 116-26; 1888: 118-93; 1887: 125 28.

82*

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466

Hertz.

Diskontpolitik kurz wiederholt. Da die Bestimmungen des neuen Privilegs (kaiserliehe Verordnung vom 21. September 1899. R.-G.-Bl. Nr. 176, bezie hungsweise ungarischer Gesetzartikel XXXYI1 ex 1899; von jenen des alten (Gesetz vom 21. Mai 1887, R.-G.-Bl. Nr. 51,resp. ungarischer Gesetzartikel XXVI ex 1887) in dieser Hinsicht wenig abweichen,1) mögen sie gemeinsam dargestellt werden. „Der Generalrat setzt nach freiem Ermessen den einheitlichen Zinsfull im Kskomptegeschäft sowie im Darlehensgeschäft fest.* (N. Art. 25 al. f). „Die Eskomptierungen der Bank haben bei allen Bankanstalten in der Hegel nur zu dem vom Gencralrat einheitlich festgesetzten Zinsfüße, welcher öffentlich und an den Schaltern der Bank bekannt zu machen ist, zu geschehen; Ausnahmen sind nur auf Grund eines Beschlusses des Generalrates oder eines von diesem hiezu beauftragten Komitees zulässig* (N. Art. 60 al. c). „Die österreichisch-ungarische Bank wird in beiden Teilen des Reiches von der Wirksamkeit jeder die Höhe des Zinsfußes beschränkenden gesetzlichen Verfügung losgezählt“ (A. N. Art. 57). Hieher gehört ferner die 5proz. Notensteuer, die bei einer Überschreitung des steuerfreien Kontingents von 400,000.000 K in Kraft tritt (A. N. Art. 84 al. d). Insoweit hat das neue Privileg keine Änderung des bestehenden Zustandes bewirkt, jedoch diesen in einigen Punkten ausdrücklich festgelegt. Einfluß auf die Diskontpolitik können noch die neuen Bestimmungen der Art. 55 al. d) und 75 haben, die die Bank zur unentgeltlichen Verwaltung von Staatsgeldern verpflichten und ihr die Annahme verzinslicher Depositen gestatten. Eine wichtige Änderung ist jedoch folgende; Der Staatseintluß ist iin neuen Privileg dadurch bedeutend verstärkt, daß nunmehr jedem Regierungskommissär ein Einspruchsrecht „aus dem Grunde der Wahrung des Staatsinteresses* zusteht, worauf die endgültige Entscheidung beim Gesamtministerinm des einsprucherhebenden Staates liegt. (Art. 52, 53 N.) Während der Verhandlungen zwischen den Regierungen und der Bank war insbesondere die ungarische Regierung lebhaft bemüht, dieses Einspruchsrecht ausdrücklich auch auf den Zinsfuß zu erstrecken.'; Dies gelang nicht; im Art. 25 al. f.) N.) wird ausdrücklich festgestellt, daß der einheitliche Zinsfuß vom Generalrat nach freiem Ermessen festgesetzt wird und die Kommissäre der Regierungen nur über- wachen, „ob die diesfölligen Beschlüsse f o r m e 1 1 den Statuten entsprechend,* d. h. ob sie unter Einhaltung der angezogenen Geschäftsordnungsbestimmungen, die Art. 37 für die Sitzungen des Generalrates aufstellt, gefaßt wurden. Sehr wichtig ist nun, daß diese Einschränkung sich nur auf den einheitlichen Zinsfuß bezieht, daß aber der Eskompte auf offenem Markte ebenso wie alle sonstigen Maßnahmen der Diskont politik dom Regierungseinspruch nunmehr unterliegen.

') D*s alle Privileg wird im folgenden mit (A.)„ daa neue mit (N.) bezeichnet. Im neuen Ausgleich von 1908 erscheint das Privileg von 1899 unverändert rezipiert (vide 1624 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Abgeordnetenhauses, XVII. Session 1903, S. 97).

*) Yergl. „Neue Freie Presse- vom 27. Juni 1895 und vom 17. September 1896.

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Die Diskont- und Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank etc. 467

Der Art. 87 (A.), der die Bank zur Silbereinlösung verpflichtet, war für die Dauer der Einstellung der freien Prägung suspendiert und wurde auf Grund der Valutagesetze (Gesetz vom 2. August 1892, R.-G.-Bl. Nr. 129, und Gesetzartikel XX ex 1892) durch einen Zusatz vermehrt, der die Bank zur Goldeinlösung verpflichtet, womit das Einströmen von Gold bei günstigen Wechselkursen befördert wurde.1) Dagegen ist die Verpflichtung zur Barzahlung in Gold (Art 83 N.) durch den Art. 111 solange suspendiert, als der Zwangskurs der Staatsnoten besteht. Sobald dieser wegfallt kann die Barzahlung durch eine Beschlußfassung der Gesetz- gebungen beider Staatsgebiete in Kraft gesetzt werden. Laut Ministerial- verordnung vom 10. August 1901 erlosch der Zwangskurs der Staatsnoten am 28. Februar 1903 und die erwähnte Schlußfassung sollte überdies nach einer Regierungsvereinbarnng sofort nach diesem Termin veranlaßt werden.

Sehr wichtig für die Diskontverhältnisse sind auch die l’artial- hvpothekaranweisungen *), die auf drei oder sechs Monate mit wechselndem Zinsfuß ausgestellt und ihrer hypothekarischen Sicherstellung auf öster- reichische Staatssalinen wegen auch Salinenscheine genannt werden. Ihre Maximalhölie wurde 1853 auf 100,000.000 fl. fixiert und 1856 aus finanziellen Gründen eine Verbindung der Salinenscheine mit den Staatsnoten herge- stellt, so daß die österreichische Regierung jene Summe, um die der Salinenumlauf unter dem Maximum von 100,000.000 fl. zurflckblieb, durch Staatsnoten ersetzen konnte.’) Ein Rückfluß der Salinenscheine hatte daher eine Vermehrung der Staatsnotenzirkulation zur Folge, während die für die Salinen eingezahlten Beträge in Metall und Papier zum größten Teil in den Staatskassen und daher der Zirkulation entzogen blieben. Da der Zinsfuß der Salinenscheine niedrig gehalten wurde, bewirkte der ganze Mechanismus eine automatische Regulierung der Zettelmenge. Wenn der Zinsfuß fiel, strömten Salinenscheine aus und dafür Geld in die Staats- kassen, wenn er stieg sank der Umlauf, dafür erhielt der Verkehr Geld- mittel zurück. Der Erfolg war also ebenso, als wenn der Finanzminister bei Geldiiberfluß eine Anleihe aufgenommen, bei knapperem Geldstand dem Markt Geld zur Verfügung gestellt hätte. Durch die Festsetzung des Salinenzinsfußes hatte der Minister gleichzeitig einen indirekten Einfluß auf die Diskontpolitik. Die Verwaltung der Salinenscheine geschah durch die öster- reichisch-ungarische Bank für Rechnung des Staates, seit 1. November 1900 durch die Kreditanstalt, seit l. November 1902 durch die Postsparkasse.4)

0 Nach dem neuen Statut Art. 65 ist fortan jede Anschaffung oder Belehnung von Silber durch die Bank an die Zustimmung beider Finanzminister gebunden. Der erwähnte Zusatz bildet nunmehr allein den Art. 87.

’) Vergl. „Salinenscheine* in Mischler-Ulbrichs „Österreichisches Staats- wörterbuch“ 1897. Ferner Spitzmiiller, a. a. 0., S. 31 ff.

*) Neuestens wurde die Verbindung der Salinenscheine und Staatsnoten auf- gehoben und daa Maximum seihst durch Tilgung bedeutend herabgesetzt.

4) Die ungarischen Staatskassaanweisungen fTreeorscheine) sollen im folgenden nicht berücksichtigt werden, da ihr Umlauf nicht bedeutend und vor allem nur geringen Schwankungen unterworfen war. (Vergl. Tabellen zur Währungsstatistik, II. Ausgabe, 1896 bis 1899, I. Teil, S. 189.)

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Seitdem der Generalsekretär Lucam durch eine kühne und der Öffentlichkeit verborgene Handlungsweise in den Siebzigerjahren einen nicht unbeträchtlichen Goldschatz für die Bank erworben hatte, war eine Vermehrung des Goldes nicht mehr eingetreten. Seit Anfang der Achtziger- jahre war der Goldvorrat sogar im Rückgang begriffen und die silber- freundliche Bankleitung versäumte selbst die günstige Gelegenheit, die die durch die amerikanischen Experimente bewirkte Preistreiberei des Silbers bot, um einen Teil ihres weißen Metalls zu günstigen Bedingungen los zu werden. Der in den Valutagesetzen enthaltene Zusatz zu Art. 87 der ßankstatuten verpflichtete die Bank zur Einlösung von Goldbarren und gesetzlichen Goldmünzen gegen Banknoten. Ferner wurde die Bank gegen- über Privaten dadurch begünstigt, daß ihre Münzgebflhr mit 4 K per Kilo- gramm Feingold (gegen 6 K) fixiert wurde i Finanzministerialverordnung vom 1 1. August 1892, B.-G.-Bl. Nr. 132). Die Bank ging über ihre gesetzliche Verpflichtung hinaus, indem sie ihrerseits sofort einen sehr günstigen Tarif für den Ankauf fremder Goldmünzen aufstellte.1) Schließlich wurden einige Grenzfilialen zur Übernahme des Goldes bestimmt und im größeren Matlstabe zinsfreie Vorschüsse auf Goldeinlieferungen gewährt. Die Wechsel- kurse stellten sich den Rest des Jahres hindurch günstig und obwohl die Differenz gegen Pari die Bezugskosten zeitweilig nicht deckte, machten doch die geschilderten Maßnahmen der Bank und der .Patriotismus* der Importeure den Goldbezug ununterbrochen möglich. Vom August bis Jahresschluü gelangten so 40,394.000 fl. Gold zum Ankauf.’) Um Raum für die zum Goldankauf verwendeten Banknoten zu schaffen, beob- achtete die Bank auch große Zurückhaltung beim Eskompte, was sich in dem gegen das Vorjahr bedeutend niedrigeren Wechselportefeuille aus- drflckte.3) Allerdings nahm die Bank vom November angefangen einen großen Betrag von Salincnseheinen ins Ell'ektenportefeuille, was im folgenden Jahre einer lebhaften Kritik unterzogen wurde. Gegen Jahresende verschlechterten sich die Wechselkurse, ohne daß man anfangs diesem Umstande Gewicht beigelegt hätte. Im Jahre 1893 trat ein sehr rasch anwachsendes Agio auf, das im Mai und August ein plötzliches Aufsteigen mit darauffolgender Abschwächung zeigte, im November den Höhepunkt erreichte,*) hierauf bedeutend fiel und in den Jahren 1894/95 langsam geringer wurde, endlich im Oktober 1895 ganz verschwand.

Diese merkwürdige Erscheinung hat mehrere Erklärungen gefundeu, vou denen wir die Theorie des Dr. Tb. H e r t z k a zuerst skizzieren wollen.1’)

‘l Abgedruckt bei Meceuieffy, a. a. 0., S. 171.

’) Unter den angekauften Goldmünzen befanden sieb: 18,761.000 fl. in amerikanischen Eagles, 1,917.000 fl. in deutschen Reichsgoldmünzen. 1,230.00011. in Sovereigns, 729.000 fl. in Zwanzigfranksstückcn. 434.000 fl. in japanischen Vena und 246.000 fl. in diversen Münzen. (Generalrersannnlungsbericht 1893, S. 12.)

3) Vergl. die Zahlen bei Mecenseffy, a. a. 0., S. 61.

*) Die Entwertung betrug gegenüber der Parität London 6’3 Proz., gegen Paris 5-97 Proz., gegen Berlin 6-71 Proz.

*) Hertzka, Wechselkurs und Agio, Wien 1894.

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Pie Diskont- nnii Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank etc. 469

H e r 1 z k a siebt im Agio eine Inflationserscheiming. Nicht die vermehrte Nachfrage nach Devisen war es, was deren Kurs znm Steigen brachte, sundern die Zirkulationsmittel haben sich entwertet und das erst rief eine Wertsteigerung der fremden Valuten hervor (S. 125). Eine aus der Zahlungs- bilanz entspringende gröbere Nachfrage nach Devisen und folgende Preis- steigerung müsse vermehrte Exporte, verminderte Importe zur Fcdge haben. Die Zahlungsbilanz regle sich also unbedingt automatisch. Dies sei nur dann nicht möglich, wenn gleichzeitig mit dem Steigen der Devisen die Inlandspreise derart steigen, dab ein vermehrter Export nicht möglich und die Importvermehrung sogar begünstigt wird also im Falle einer Inflation. Als Hauptgrund einer solchen betrachtet Hertzka die durch das eingeflossene Gold vermehrte Banknotenmenge, womit dem Verkehr 40.000.000 fl. von ihm nicht verlangte Zirkulationsmittel zur Verfügung gestellt wurden, ferner das Flüssigwerden früher gebundener Staats- und Bankengelder. In einem Lande mit geregelter Währung würde der Metall- abfluß alsbald den Geldüberflub und damit den Grund der Inflation beseitigen. Zettel aber können nicht abfließen. Daher fordert Hertzka. Staat und Bank sollten Gold abgeben und Noten einziehen. Der Diskontpolitik ist er dagegen nicht günstig gesinnt. In ganz abstrakter Weise deduziert er,1! dab ungünstige Wechselkurse als Anzeichen einer Geldflberfülle die Banken zur Diskontherabsetzung, günstige aber als Zeichen der Knappheit zur Hinaufsetzung mahnen müßten (vergl. S. 61 <.

Die ganze Hertzkasche Hypothese ermangelt bei aliem Scharfsinn völlig der realen Grundlagen. In Ländern mit noch nicht ganz bankrotter Valuta beeinflussen Konjunkturen, handelspolitische Maßnahmen, Ernte- ansfall, NotverkäuVe, Kartellpolitik u. dergl. die Handelsbilanz und damit die Wechselkurse in viel stärkerer Weise als die Einwirkung der Geld- menge. Es ist wohl wahr, daß z. B. hohe Devisenkurse den Export erleichtern. Was aber, wenn wir gerade nicht exportbereit sind? Gerade in agrarischen Ländern drängt sich der Expoit in ganz bestimmten Zeiten zusammen. Oft ist der hohe Wechselkurs auf ein Land durch eine dort herrschende Geld-

') Vergl. auch Seite 78: .Mit allem Nachdruck null hier nochmals darauf hin- gewiesen werden, dal] dieses Bestreben der Zettelbanken, zeitweilig im Wege ihrer Diskontpolitik den Edelmet&UstrOmungen entgegenzutreten, weit entfernt davon ist, im allgemeinen zu den Aufgaben guter und vorsichtiger Bankpolitik zu gehören: als Regel muü gelten, daß sich eine gut geleitete Bank, d. i. also eine solche, bei welcher die Begünstigung von Finanz- oder Reitwechseln nicht in Frage kommen kann, am die Wechselkurse direkt überhaupt nicht zu kümmern hat; sie soll den Zinsfuß erhoben, wenn die Krediteinreichungen überhandnehmen. ihn herabsetzen, wenn das Gcgehteil der Fall ist; Zn- und Abßnß von Edelmetall haben damit direkt nichts zu tun. Indirekt allerdings, insofern nämlich als Geldabfluii Gcldfülle, Geldzufluß Geldknappheit anzeigt: sofern daher die Banken den Wechselkursen symptomatische Bedeutung für ihren eigenen Geschäftsbetrieb beilegen, haben sie in schlechten Wechselkursen ein Argument für ZintfußermMignug, in guten ein solches für Zinsfußerhohung zu erblicken. Damit soll natürlich nicht gesagt werden, daß sie bei schlechten Wechselkursen den Zinsfuß wirklich allemal ermäßigen, bei guten allemal erhoben sollen, denn es spielten hier noch zahl- reiche andere Faktoren mit.1* Ein Musterbeispiel verschrobener Deduktion!

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krise bedingt, in der wohl keine große Lust zu vermehrten Importen herrschen dürfte. So ist denn die „Selbstregulierung der Zahlungsbilanz* eine recht fragliche Sache.

Speziell für 1890 und Österreich fehlen die Grundvoraussetzungen der H e r t z k a schon Hypothese :

X. ist ein wesentlich vermehrter Geldumlauf gerade während der Agioperiode keineswegs nachweisbar;

2. ist von der vorausgesetzten Preisinflation und stimulierten Im- porten nichts zu bemerken;

3. auch die Produktion entwickelte sich in diesem Jahre in ruhiger aber stetiger Weise. Kein Zeichen einer Krise oder Produktionseinschränkung war wahrnehmbar,1) so daß auch eine relative Geldüberffllle nicht ange- nommen werden darf;

4. schließlich bat Kalk mann*) den genauen Zusammenhang des Agios mit dem Zustande des Londoner (und später des Berliner und Amsterdamer) Geldmarktes in gründlicher Weise nachgewiesen. Im folgenden werden die Kalk m a n n sehen Ergebnisse nur kurz rekapituliert, dagegen die Lage des inneren Marktes, die Beziehungen des Agios zur Valutareform sowie die Haltung der Bank und der Regierungen eingehender dargestellt als bei dem genannten Autor.

Das Jahr 1893 erölfnete mit einem außerordentlich flüssigen Geld- stande. Bereits am 4. Jänner nahm die österreichisch-ungarische Bank den Eskompte auf offenem Markte auf und eskomptierte zunächst zu 3 Proz., während sich der Privatdiskont alsbald auf 3 Proz. stellte. Gleichzeitig war eine ungewöhnliche Goldfülle bei den Kotenbanken sichtbar. Am 11. Jänner weigerte sich die Bank von Frankreich Gold unter den gewöhnlichen Bedingungen anzunehmen, da sie sich der Marimalgrenze ihrer Kotenemission näherte. Die Folge war, daß die Pariser Devise London unter den Gold- punkt fiel, ohne daß Goldimporte stattfinden konnten, und daß die Marimal- emission schnell gesetzlich erweitert werden mußte. Das durch den Panaina- prozeß und den italienischen Bankenkrach erzeugte Mißtrauen trug zu dieser Geldfülle ebenso bei wie die großen Goldexporte aus Amerika. So war es denn möglich, daß das Goldbeschaffungskonsortium, das zunächst 30.000.000 Kominale 4proz. Goldrente übernommen hatte, bereits 14 Tage nach dem Übereinkommen mit der Regierung den ganzen Gegenwert in effektivem Gold einlieferte und während dieser Frist sogar die Bank von England und die deutsche Reichsbank den Diskont herabsetzten. Die Roth schild- gruppe übernahm weitere 30,000.000 11. und begann sofort mit der Gold- beschaffung. Es ist möglich, daß durch die Einzahlung der inländischen Mitglieder der Gruppe das Steigen der Devisen mit verursacht wurde. Der

') Im Gegenteil war das Wirtschaftsjahr 1893 günstiger als das vorhergehende. Vergl. Wiener Handelskaimnerbericht pro 1893, S. 7, and „Neue Freie I’ resse- vom 81. Dezember 1893. (Ökonomist.)

3) Vergl. Knlkmann. Die Entwertung der Österreichischen Valuta im Jahre 1893 und ihre draschen. Freiburg 1899 Wiener staatswissenachaftliche Studien, I., 3.)

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Die Diskont- and Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank etc. 471

Hauptgrund liegt wohl in den Kfl'ekteniraporten, was sich auch darin äußerte, daß die Wiener Effektenkurse in den ersten Monaten großenteils höher notierten als die Berliner Paritäten.1)

Die Subskription auf die 60,000.000 österreichischer Qoldrente fand am 27. Februar statt, und zwar hauptsächlich im Auslande, um eine Besserung der Devisenkurse zu bewirken. Aus diesem Grunde erhielten die inländischen Zeichner nur 5 Proz. ihrer Zeichnungen, die ausländischen 11 Proz., in absoluten Werten zirka 5,000.000 fl. gegen 55,000.000 fl.

Im Jänner und Februar vollzog sich auch die große österreichische und ungarische Konversion von 5 Proz. auf 4 Proz. Der Nominalbetrag der zu konvertierenden Effekten machte Ober 782,500.000 11. aus, von denen mehr als 97 Proz. (759.100.000 fl.i tatsächlich umgetauscht wurden. Während die gleichzeitig emittierte Goldrente auf alte Goldgulden i ä 2 50 Frks.), also eigentlich auf fremde Währung lautete, wurde die im Konversionswege emittierte Hente in Kronenwährung ausgestellt Die Sub- skription schloß am 7. Februar.

Am 29. März wurden weitere 40,000.000 4proz. österreichischer Gold- rente zum Kurs von 97 Proz. Berliner Usance begeben, während noch die ersten 60.000.000 nur zu 95*5 Proz. abgegeben worden waren, wozu noch die Beteiligung des Staates am Kursgewinne kam.’) Das Konsortium begann sofort mit den Goldkäufen, wozu es die aus den ersten 60,000.000 11. erlösten Devisen verwenden konnte.3) Die inzwischen eingetretenen Ver- hältnisse bewogen es, diesen Betrag nicht zur Subskription aufzulegen, sondern ihn freihändig zu verkaufen. Dies verzögerte sich jedoch infolge des inzwischen auftretenden Agios bis 1894. Das Fehlen des Gegenwertes für diese Anleihe auf dem Markte trug wieder einigermaßen zur Steigerung des Agios bei.

Von Mitte April bis Mitte Mai erfolgte ein starkes Steigen des Agios. K a 1 k m a n n hat nachgewiesen, daß die Wechselkurse dabei genau den Schwankungen des Londoner Privatdiskontes folgten, der sich unter dem Einflüsse des großen australischen Bankenkraches hob. Die durch dieses Ereignis erzeugte große Geldknappheit führte zur Zurückziehung englischer Guthaben im Auslande sowie zu einer starken Nachfrage nach englischen Wechseln, welche eine höhere Verzinsung boten.1) Während jedoch die Devisen barzahlender Länder sich nur bis zum oberen Goldpunktc hoben, eiistierte ein solcher für Österreich nicht, da freies Gold nicht vorhanden war und die Bank ihren Barschatz nicht opfern wollte. Die Devise London erreichte am 16. Mai den Höhepunkt von 124 fl. (gegen die Parität 120'087 fl). Die österreichisch-ungarische Bank versuchte anfangs das Agio durch Verleihung von Devisen zu mildern. Der wöchentliche Betrag dieser Verleihungen betrug gewöhnlich zirka 700.900 bis 800.000 fl. Im ganzen

') Vide Kalktnann, a. a. 0.. Tafel 6 and 7.

3) Vergl. .Neue Freie Presse* vom SO. Murr 1893.

*) Die effektive Beschaffung dieses Goldbetragea war Ende April vollendet.

*) Vergl. Kalkmann, S. 15.

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Jahre 1893 wurden 30,(500.000 fl. österr. Währung ausgeliehen, ohne dali ein großer Einfluß auf die Kurse bemerkbar gewesen wäre. Eine wirksame Bekämpfung des Agios wäre uur möglich gewesen durch größere Gold- Verkäufe oder durch eine energische Zinsfußerhöhung. Zu keinem wollte sieh die Bank verstehen, was ihr scharfen Tadel eintrug, der nur zum Teil berechtigt war. Die der Ko t h s c h i ld gruppe angehörende Kredit- anstalt stellte dem Markte wiederholt Devisenbeträge zur Vertilgung, so am 3. Mai allein 6,000.000 bis 7,000.000 M„ ohne einen wesentlichen Eindruck zu erzielen. Um so mehr mußte es sich die Bank mit Rücksicht auf die Valutaaktion überlegen, ihren eben erworbenen Goldschatz ohne Gewißheit eines Erfolges zu opfern. Der niedrige Bankdiskont lenkte eines- teils die Nachfrage auf ausländische Devisen hin, beförderte anderseits die Höherbewertung österreichischer Effekten und den darauffolgenden Import derselben. Erst am 12. Mai, als das Agio bereits dem Höhepunkt nahekam, stellte die Bank den Eskompte unter der Bankrate von 4 Proz. ein, die um dieselbe Zeit auch in London und Berlin erreicht und in London sogar zeitweilig vom Privatdiskont überschritten wurde.

Die Kritiker dieser passiven Diskontpolitik konnten selbst nicht umhin, der Bank wenigstens mildernde Umstände zuzugestehen. Aus den dargelegt en Finanzoperationen ergibt sich der Grund für das Interesse der ltegierung an der Niederhaliung des Zinsfußes, die zu Gunsten des Staatskredits und zum Schaden der Volkswirtschaft geübt wurde. Mit den Budgetüberschössen waren auch die KassenbeBtände der Regierungen außerordentlich ange- wachsen und ein Teil davon wurde gegen niedrige Verzinsung bei privaten Geldinstituten eloziert. Der Betrag dieser Guthaben, die nicht jedes politischen Hintergrundes entbehren, wird in den Rechnungsabschlüssen nicht gesondert nachgewiesen.1) Doch enthält der Einnahmenausweis des Finanzministeriums eine Post .Verschiedene Zuflüsse“, in der nach den .Erläuterungen“ sich .Zinsen aus der Fruktifizierung von Barbeständen beziehungsweise von schwebenden Vorschüssen“ befinden, deren Betrag z. B. 1892 mit 625.186 fl. 501/» kr., 1893 mit 741.171 fl. 18 kr. angegeben wird.*) Da diese stets fälligen Guthaben nur zu 2'5 Proz. ausstehen, ergibt sich ein durchschnittlicher Jahresbetrag pro 1893 von 29,600.000 fl., was auch mit der Angabe der .Neuen Freien Presse“ übereinstimmt, die am 16. April 1893 die österreichischen Regierungsguthaben auf 25,000.000 fl., die ungarischen auf 30.000.000 fl. schätzt. In der dritten Märzwoche über- wies der österreichische Finanzminister einem Wiener Institut allein 6,000.000 fl. in Silber gegen eine Verzinsung von 2'/4 Proz. Das Institut legte sie vorläufig auf Girokonto in die Österreichisch-ungarische Bank, ein Teil wurde in Salinenscheinen investiert, für die der Staat 3 Proz.

*) Über die Art ihrer Verrechnung vergl. G. Scidler, Lehrbuch der Österreichischen Staatsverrechnung, 3. Auf!., 1897, S. 233/4. Der Verfasser findet, daß die geübte Ein- reihung der Guthaben in die schwebenden Gebarungsreste nicht zu billigen sei.

*) Vergl. Erläuterungen zum ZentralrcclinungsabschluU über den Staatshaushalt pro 1898 (Wien 1896). 8, 151, pro 1892 (Wien 1895), S. 171.

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zahlte, während er selbst nur 2 '/4 Proz. für das Guthaben erhielt Die Salinenscheine erreichten zu gleicher Zeit den Maximalumlauf von 100,000.000 fl., trotzdem die dreimonatlichen Scheine nur mit 2*/t Proz.. die sechsmonatlichen mit 3 Proz. verzinst wurden. Erst später wurde bekannt, daß die Notenbank einen großen Teil dieser Effekten eskomptiert hatte.

Nicht nur die Presse1), auch politische Faktoren und die Bank selbst haben den störenden Einfluß der Hegierungsguthaben auf die Diskontpolitik tadelnd hervorgehoben. Eine Zinsfußerhöhung zum Schutze der Wechsel- kurse' ist nicht möglich, solange die Regierungen privaten Banken bedeutende Beträge zu billigem Zins überlassen uud im stände sind, aus den zinslos liegenden Kassenbeständen diese Summen jederzeit zu vermehren. So besprach am 15. April Abgeordneter Dr. Rosenberg im ungarischen Abgeordnetenhaus das Agio und bezeichnete als eine .Hauptursache des Geldüberflusses" die Regierungsguthaben und die Eskomptierung unter der Bankrate. Er beklagte auch die durch den Geldüberfluß und die hohen Effektenkurse beförderte große Ausdehnung des Börsenspieles unter dem Publikum des ganzen Landes, eine Tatsache, die der Finanzminister Dr. Weckerl e in einer bemerkenswerten Rede bestätigte Bei einer am 22. April im Finanzministerium abgehaltenen Konferenz wurde die Aus- dehnung der Regierungsguthaben vom Generalsekretär Mecenseffy getadelt und mit Entschiedenheit die Einheitlichkeit der Zinsfußpolitik gefordert. Der Finanzminister behauptete dagegen, die Guthaben seien ohnedies geringer als früher.

Auch die Bank selbst weist in ihrem Dezennalberichte mit großer Schärfe auf diese Cbelstände hin.*) Einige Sätze aus dieser offiziellen Darstellung mögen hier Platz linden: „Gerade von der Zeit an, als die Finanzen der beiden Staaten der Monarchie unter der Obhut ausgezeichneter Männer einen ungeahnten Aufschwung nahmen und die Staatsverwaltungen von Jahr zu Jahr über größere Überschüsse verfügten, machte sich trotz der durch die Vorsicht gebotenen Zurückhaltung der Bank häufig eine auffallende Geldfttlle. die doch nur eine künstliche sein kounte. bemerkbar: Anträge von Geldinstituten überschwemmten das Land, das Geld wurde förmlich aufgedrängt. Der Zinsfuß auf dem Geldmärkte sank, allen Erfahrungen entgegen, oft tief unter den Banksatz, zeitweilig sogar unter 3 Proz., während der Banksatz zu dieser Zeit 4 Proz. betrug und aus wohlerwogenen Gründen nicht herabgesetzt werden konnte: dazwischen trat unvermittelt Geldknapp- heit ein, der Zinsfuß schnellte in die Höhe, bis an den Banksatz. Es war ein wechselvolles Bild.* .Den unmeßbaren und unkontrollierbaren Einflüssen plötzlich zuströmender und abströmender Mittel auf dem Geldmärkte stand jedoch die Bank nach wie vor wehrlos gegenüber; von einer Zinsfußpolitik

*) Vergl. .Neue Freie Presse“ vom 13. April 1893: „Die Lage des inländischen Geldmarktes hängt wesentlich von dem Guthaben der beiden Regierungen in den Bank- institnten ab.“ VergL auch Nr. 10.287 u. s, w.

*) Mecenseffy, Die Verwaltung der Österreichisch-ungarischen Bank 1886— 1895, Wien 1896. S. 29—31 and S. 149

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im strengen Sinne des Wortes konnte unter solchen Verhältnissen nicht die Bede sein. Die schwierigsten Jahre waren 1802 und 1803.* Auch in einer Note der Bank an die Regierungen vom 6. Juli 1894 wird die nachdrückliche Forderung aufgestellt, die Finanzverwaltungen sollten der Österreichisch-ungarischen Bank die Möglichkeit bieten, eine einheitliche und richtige Zinsfuflpolitik zu verfolgen.

Von Mitte Mai bis Anfang Juni sank das Agio auf den Stand von Anfang Mai. um von da an bis Ende August andauernd und schnell zu steigen. Am 25. August erreichte die Devise London den Stand 126-80. Nach einem zeitweiligen Rückgänge Ende Augnst und Anfang September setzte sie das Steigen fort und erreichte am 9. November mit 127'65 ihren höchsten Stand, der eine Entwertung um 6‘3 Proz. gegenüber der Relation bedeutete.

Die öffentliche Diskussion brachte diese Steigerung mit verschiedenen Umständen in Verbindung. Es lag am nächsten, in den Valutaoperationen einen Grund zu erblicken. Die Regierungen und dag Konsortium sollten durch Devisenankäufe den Kurs gesteigert haben, die Konversion hätte die auswärtigen Gläubiger Österreichs beunruhigt und zur Effektenrück- sendung bewogen.

Die Goldbeschaffung für die 40,000.000 Goldrente fiel freilich zeit- lich mit der ersten Steigerung des Agios im April zusammen und da das Konsortium infolge Zurückbehaltung der Anleihe in den Kassen den Devisen- betrag, deu es zum Ankäufe von Gold verwendet hatte, vom Auslande nicht ersetzt erhielt, so kann dies ja wirklich mindernd auf den Devisen- vorrat und dadurch verschärfend auf die spätere Kurssteigerung eingewirkt haben. Erwähnt muß aber werden, daß gerade die Kreditanstalt, die der Gruppe angehörte, wiederholt größere Devisenbeträge abgegeben hatte und überhaupt seit Ende April keine Goldkäufe mehr erfolgt waren.1) Ebenso- wenig begründet waren die Beschuldigungen gegen die Regierungen, die schon längere Zeit keine Goldkäufe vorgenommen hatten. Die Kursbewegung’) beweist, daß vom April bis Mitte August große Effektenimporte stattgefunden haben, bezüglich deren wir auf die sorgsamen Untersuchungen Kalkmanns liinweisen (S. 35 ff. ). Der oft behauptete Zusammenhang mit den Konversionen ist jedoch sehr bestreitbar. Die Konversionen waren ja freiwillig und trotzdem hatte nur ein sehr geringer Bruchteil der Gläubiger Rückzahlung verlangt. Auch in der späteren Epoche waren gerade die hier in Betracht kommenden Kenten fast gar nicht nach Österreich hereingekommen.3) Die Gründe der Effekteneiuströmung sind vielmehr 1. der plötzlich auftretende starke Geldbedarf der auswärtigen Märkte, 2. die ungerechtfertigte Oberwertung

*) Vergl. die Besprechung des Zusammenhanges zwischen Geldbeschaffung und Devisenpreis in der „N. Fr. Pr.“ v. 24. Mai 1893 und Artikel vom Direktor v. Mauthner in der Nummer vom 21. Mai.

a) Vergl. Kalkm an na Tabelle.

*i Die Wiener Bürsenkammer äußert in ihrem Bericht die gegenteilige Ansicht (Wiener Handelskammerbericht pro 1893, S. 54).

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Die Diskont* und Devisenpolitik der Österreichisch- ungarischen Hank etc. 475

der österreichischen Effekten in Österreich. 3. die verschärfende Tätigkeit der Berliner Baissespekulation. 4. vielleicht auch die Furcht vor den) Steigen des Agios, das den Geldwert der in ö. \V. verzinsten Papiere verminderte.

K a 1 k m a n n ist der Meinung, daß die Effekteneiufuhr, die etwa bis Anfang November dauerte, weniger zum Auftreten als zum langen Beharren des Agios beigetragen habe, indem die Abwicklung der Geschäfte im Wege des Reports hinausgeschohen wurde. Eine eingehende Erörterung hat die Frage in einer Artikelserie von Professor Emil Sachs gefunden,1) auf die wir für manche Einzelheiten verweisen. Sachs hat insbesondere darauf aufmerksam gemacht, daß die Emissionen und EfTektenverkäufe seitens der Regierungen seit 1889 fast aufgehört hatten, während gerade seither das Anlagebedflrfnis bedeutend wuchs. Auch die Industrieelfekten erfuhren infolge der engherzigen Konzessionspraxis nur eine ganz geringe Vermehrung. Daher finden wir seit 1889 eine lebhafte Kurssteigerung der Renten,*) für die wir als Beispiel die Jahresdurchschnitte des Kurses der gemeinsamen Notenrente anführen. Diese betrugen:

1869 61 28

1879 66 36

1889 8440

1890 88-68

1891 91-92

1892 95-97

1892 i letzter Börsentag) .... 97 80

1893 (I. Semester) 98-47

Diese rasche Steigerung, der die auswärtigen Geldmärkte im gleichen Schritte nicht folgen konnten, mußte Effektenimporte verursachen, deren Betrag die .Neue Freie Presse- vom 1. Jänner 1894 für das ganze Jahr 1893 und für den Wiener Platz auf 252,610.000 fl. schätzt, denen 137,920.000 fl. an Effekteneiporten gegenflberstehen. Dazu wären noch 15,000.000 fl. fflr direkte Budapester Bezüge zu rechnen, so daß der gesamte Mehrimport zirka 130,000.000 fl. betragen hätte.

Eine wesentliche Verschärfung der Lage bewirkte der Umstand, daß die im vorigen Jahre eingeführten 40,000.000 fl. Gold nicht bezahlt worden waren und infolge der knappen Geldverhältnisse der ausländischen Märkte nunmehr die Guthaben aus Österreich bezogen wurden.

Der Grund dieser Geldknappheit ist noch zu erörtern. Kalkmann hat nachgewiesen, daß der hohe Zinsfuß in London durch die nordaraerikanische Krise, deren Höhepunkt in die Monate Juli bis September fiel, verursacht wurde. Unter dem Einfluß des enormen Diskonts und der großen Not-

*> Vide Sachs, .Agio, Zahlungsbilanz. Kapitalsvrandirung,* .Neue Freie Presse* 27, 28. Juli, 2., S., 8. August 1894.

*) Der Erfolg der Konversionen hatte ebenfalls eine grolle Kurssteigerung aller Effekten zur Folge (Handelskammeibericht S. 544).

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Verkäufe von Getreide fand im August eine starke Goldeinfuhr in New York statt ln den letzten Monaten des Jahres war es der Berliner Diskont, der die europäischen Kapitalsströmungen beherrschte und die österreichischen Wechselkurse am Sinken verhinderte, obwohl England bereits wieder zu einem niedrigeren Diskont zurückgekehrt war.

Welche Politik verfolgten nun die Bank und die Regierungen unter diesen Verhältnissen?

Zunächst versuchte man es wieder mit Verleihung von Goldwechseln, die zeitweise größere Beträge in Anspruch nahm. Am 10. August, als da» Agio sich bereits dem Höhepunkte näherte, beschloß der Generalrat den Diskont nicht zu erhöhen. Das Agio betrug damals bereits 5 Proz., der deutsche Diskont von 5 Proz. war um 1 Proz. höher als der österreichische, dem der englische gleichstand. Dabei hatte die englische Bank weitere Erhöhungen in Aussicht gestellt und am 11. August erklärte der Vize- präsident der Reichsbank, diese werde ihren Diskont immer nach dem englischen richten, um ihren Goldschatz zu schützen. Der Generalrat begründete seinen Entschluß damit, daß in nächster Zeit kein drängender Geldbedarf zu erwarten sei und die Bank an ihrem Salinenscheinbesitz eine Reserve habe, sonach ausschließlich mit der Lage des inneren Marktes. Am 24. August stieg der englische Diskont wirklich auf 5 Proz., obwohl die Bank noch über mehr als 15,000.000 £ Reserve verfügte und in den letzten Tagen sogar Goldeingänge bei nicht ungünstigen Wechselkursen erfolgt waren.1) Es mußte auffallen, daß die Österreichisch-ungarische Bank auf dem 4proz. Diskont beharrte, trotzdem ihre steuerfreie Notenreserve Ende August auf einem für diese Jahreszeit ganz ungewöhnlich niederen Stand angelangt war. Sie betrug am 23. August 15,800.000 fl. (gegen 48,500.000 fl. im Vor- jahre), am 31. August 0,500.000 fl. i gegen 50,700.000 fl.). Dies wurde weiteren Kreisen erst durch die Erklärung der Bank verständlich, sie habe gegen 60,000.000 fl. in Partialhypothekaranweisungen angelegt und betrachte diese als eine Reserve für den Fall größerer Ansprüche.*) Diese Handlung wurde nun Gegenstand einer lebhaften Diskussion. Man bezweifelte, ob sie mit den Bankstatuten sich vereinbaren lasse,1) man wies darauf hin. daß der Staat für die Salinenscheine Zinsen zahle, um Geld aus dem Markte zu heben und eine Kontraktion zu bewirken, was aber nicht erreicht werde, wenn die Bank ihre innerhalb des Kontingents kostenlosen und beliebig vermehrbaren Noten einzahle. Außerdem bedeute dies eine Verschleierung des Eskomptebestandes.

0 Oie Bank von England griff sogar zu dein Mittel, dem offenen Markte Geld gegen Verzinsung bis zu 4 •/, and 5 Proz. zu entlehnen.

*) Den Höehstbetrag wieB der Juni 1898 auf. In diesem Monate betragen die im EskompteportefeniUe befindlichen Saliuenschoinc 60,200.000 fl., dazu kamen aber noch 1,150.000 fl., die dem Iteeervefond gehörten. Vergl. Mecenseffj a. a. 0., S. 84.

*) Vergl. Zuschrift des Abgeordneten Dr. Schwab in „Neue Freie Presse“ Nr. 10.462. Der Vorgang führte auch zu einer Interpellation (Stenographische Protokolle des Abgeordnetenhauses, XI. Seesion. X. Band, S. 11.128.)

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Die Diskont- und Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank etc. 477

Die Kritiker der Bauk forderten also die Einstellung dieser Praxis, die Erhöhung des Salinenzinsfußes, damit Salinenscheine auch von anderen Kapitalisten gekauft würden als von der Bank, schließlich die Anlegung der Regierungsguthaben in Salinenscheinen, Alle diese Maßregeln würden erst eine energische Diskontpolitik und Bekämpfung des Agios ermöglichen. Wenn aber die Bank die Salinen. reserve* zur Einlösung bringe, so werde sich natürlich kein weiterer Abnehmer zu 21/» und 3 Proz. finden, es würden also Staatsnöten im gleichen Betrage ausströmen und damit die schädliche Geldfülle nur vermehrt werden.

Die Bank rechtfertigte ihr Vorgehen im Generalrutsbericht an die XVI. regelmäßige Generalversammlung (1894) folgendermaßen (s. XL) : .Ohngeachtet der Zinsfuß auf offenem Markte bis tief in den August hinein stets unter der Bankrate und in den ersten Monaten des Jahres vereinzelt selbst unter 3 Proz. notierte, hat sich die Bank zu ihrem geschäftlichen Nachteil uud nur im Interesse der Allgemeinheit nicht bestimmen lassen, aus ihrer schon im Jahre 1892 auf dem Eskomptemarkte beobachteten strengen Zurückhaltung herauszutreten. Im Zusammenhang mit dieser Tatsache stellt sich die größere Anschaffung von zumeist 2l/,proz. Partialhypothekaran- weisungen als eine ausnahmsweise bankpolitische Maßregel dar. Die Anschaf- fungen haben schon im letzten Drittel des Jahres 1892 begonnen. Ohne diese Maßregel, die keineswegs den Bezug von Partialhypothekaranweisungen durch Dritte ain Schalter der Bank iu Wien als Emissionsstelle behinderte, wäre die steuerfreie Notenreserve öfters auf mehr als 100,000.000 fl., also über das halbe Notenkontingent emporgewachsen; und unter dem Drucke einer so enormen Reserve wäre der Zinsfuß auf offenem Markte ins Bodenlose gefallen. Die Bank mußte das. soweit tunlich, hintanhalten.* Und im Dezennalbericht S. 31 betont Mecenseffy noch besonders das Verdienst, das sich die Bank derart um den höheren Zinsfuß und die Valuta erworben habe.

Diese Argumentation ist freilich anfechtbar. Wir müssen bezüglich der Salinenscheine 3 Fälle unterscheiden:

1. Ein Privater erwirbt Salinenscheine vom Staat durch Vermittlung der Bank. Der strengen Jnterpretation des Gesetzes nach kann er dies nur gegen Einzahlung von Staatsnoten ; doch wurde davon häufig Abstand genommen und erst 1897 die genaue Erfüllung der Vorschrift angeordnet. Die Folge ist eine Verminderung der Umlaufsmittel.

2. Die Bank erwirbt Salinenscheine vom Staat. Bei der niedrigen Verzinsung derselben ist dies nur im Falle einer sehr hohen Notenreserve über- haupt möglich. Da die Banknoten, in denen die Bauk die Einzahlung leistet,') früher nicht im Verkehr waren und die Staatsnoteneinziehung mit der Wiederausgabe der Banknoten zusammenfällt, so findet keine oder nur eine sehr schwache Kontraktion statt. Der einzige Erfog ist, daß im Verkehr an die Stelle eines Staatsnotenbetrages Banknoten getreten sind.

') Wenn die Bank die Einzahlung in Staatsnoten leistet, mul) sie diese vorher durch Banknotenausgabe erworben haben.

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3. Die Bank erwirbt Saliuenscheine von Privaten. Da sie dafür Bank- noten ausgibt und eine Ruckziehung von Staatsnoten Oberhaupt nicht stattfindet, ist nicht bloß keine Kontraktion, sondern sogar eine Erweiterung der Zirkulationsniittelmenge die Folge.

Nun ist aber nach § 35 der Statuten, abgesehen von der unter gewissen Kautelen gestatteten Eskomptierung von Regierungswechseln, der Bank jedes Geschäft mit den Regierungen verboten, mit dem eine Dar- lehens- oder Kreditgewährung seitens der Bank verbunden ist. Geschäfte mit Dritten werden natürlich nicht betroffen. Das Resultat ist also: Die Erwerbung der Salinenscheine vom Staat wäre statuten- widrig gewesen, hätte aber weder eine Kontraktion noch eine Inflation bewirkt. Die Erwerbung von den gesetz- lichen Bedingungen entsprechenden1) Salinenscheiuen durch Ankauf auf dem Markte wäre zwar erlaubt gewesen, hätte aber keine Kontraktion, sondern eine bedeutende Vermehrung des Umlaufes bewirkt. Es ist nicht bekannt, welcher von beiden Wegen von der Bank gewählt worden war. Man darf annehmen, daß die Bank teilweise die rückströmenden Salinenscheine vom Publikum übernommen hat.* > In diesem Fall hätte sie zwar das Ausströmen von Staats- noten verhindert, selbst aber eine gleiche Quantität Banknoten in Verkehr gesetzt

Die oberwähnte Erklärung der Bank gibt aber noch in einem Punkte Anlaß zur Kritik. Der Privatdiskont hatte sich im Juli und im August bedeutend gehoben und der Satz für Kommerzwechsel erreichte bereits während des ganzen Monats August die volle Bankrate. Wenn es möglich gewesen wäre, die Salinenscheine im Publikum zu plazieren, so hätte dies auf offenem Markte eine ganz andere einengende Wirkung geübt als in der unergründlichen Papierreserve der Bank. Diese hätte sofort die führende Rolle erhalten und wäre auch finanziell nicht schlechter gefahren. Die Voraussetzung hiefflr wäre aber die Erhöhung des Salinenzinsfußes gewesen, die dem österreichischen Finanzininister zustand. Auch hätten die Regierungen ihre Guthaben in Salinenscheinen anlegeu können, die man noch immer auf zusammen 30,000.000 fl. schätzte. (.Neue Freie Presse* 27. August.)

Am 31. August beschloß nun der Generalrat den Zinsfuß nicht zu erhöhen und die .Salinenreserve* nach Maßgabe der Herbstansprüche flüssig zu machen. Die starke Abnahme der Reserve, die wir oben angeführt haben, hatte diesen Beschluß offenbar herbeigeführt. Gleichzeitig verlautete, der österreichische Finanzminister werde einen Teil der Salinenscheine aufnehmen, um den Zinsfuß nicht zu drücken. Es wurde als Tatsache

') Das sind also Salinenscheine mit dreimonatlicher Fälligkeit und sechsmonatlicbe, die bereite mindestens 3 Monate im Verkehre respektive in irgend einem Fond der Bank waren.

3) Fs ergibt sieh dies aus einer Vergleichung der monatlichen Stande des Salinen- Umlaufes mit den Beständen der Bank während des Jahres 1892, in dessen letztem Drittel nach der Aussage der Bank die Operationen begonnen wurden.

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berichtet, die Regierung habe ihre Guthaben gekündigt und die Postspar- kasBa sowie einzelne Fonds angewiesen. Salinenscheine zu kaufen.

Bereits Ende August wurde der Betrag der Salinenscheine um ungefähr 10,000.000 fl. vermindert Im Verlaufe des September wurden noch weitere 31,000.000 fl. Salinenscbeine realisiert. Es ist uun bemerkens- wert, daß der Besitz der Bank an Staatsnoten genau gleichen Schritt

hält. Es geht daraus hervor, daß die Regierung nur einen geringen Teil

oder gar keine Salinenscheine als Anlage aufgenommen hatte. Während der Salinenscheinumlauf von Ende August bis Ende Dezember von 95,900.000 fl. auf 39,900.000 sank, stieg die Staatsnotenzirkulation fast genau um dieselbe Differenz. Freilich blieb ein Teil der ausgegebenen

Staatsnoten im Portefeuille der Bank und gelangte daher vorläufig nicht in

den Verkehr. Gleichzeitig stellte die Bank wieder größere Beträge an Devisen dem Markte leihweise zur Verfügung, ohne das Steigen des Agios mildern zu können. Das Bedürfnis nach einer Zinsfußerhöhung wurde immer dringender. Noch aber schienen die Regierungen nicht geneigt, die Voraus- setzungen dafür zu schaffen. Der Ökonomist der .Neuen Freien Presse* schrieb: »Von der Kündigung der Regierungsguthaben ist es völlig still geworden.* Von großer Bedeutung sind hiefür die Aufklärungen, die der ungarische Finanzminister Dr. W e c k e r 1 e am 27. September in seinem Expose gab. Unter stürmischen Eljenrufen konnte er erklären, daß der weitaus größte Teil des Valntagoldes bereits beschafft sei. Zur Bekämpfung des Agios gebe es zwei Mittel: Goldabgabe und Zinsfußerhöhung. Bezüglich der ersteren erklärte der Minister energisch, sie unter keiner Bedingung anwenden zu wollen, da sie nur zum Abflüsse des Goldes, nicht aber zum gänzlichen Verschwindeu des Agios führe und höchstens einen Druck um V, oder 1 Proz. ausüben könne.1) Über den Zinsfuß äußerte sich der Minister : »In industriellen Staaten, in welchen sich die Einnahmen und Ausgaben auf verschiedene Epochen des Jahres proportionell verteilen, pflegt der Zinsfuß nicht von solcher Einwirkung zu sein wie in landwirtschaftlichen Staaten“, er sei deshalb gegen eine Zinsfußerhöhung. Die .Neue Freie Presse* bemerkt hiezu: .Wo die Politik beginnt, hören auch richtige Grundsätze der Valutaregulierung auf und die Scheu vor einer großangelcgten Diskont- politik ist die Konzession, welche der Ministerpräsident Dr. Weckerle, der in einem Kampfe auf Tod und Leben mit der Kurie über die konfes- sionellen Gesetze begriffen ist. wahrscheinlich schweren Herzens von dem ehrlichen und innerlich des Fehlers bewußten Finanzminister Weckerle fordert und erlangt.* In derselben Rede gab der Ministerpräsident Dr. Weckerle das Goldguthaben der Regierung hei den Banken auf 29.000.000 K an, wozu noch die beträchtlichen Guthaben an Bankvaluta kamen. Am 2. Oktober interpellierte der Abgeordnete Armin Neu mann im unga-

*) Im November 1893 machte der Finanzminister Weckerle die interessant«* Mitteilung, daß der österreichische Finanzminister Stein b ach 7,000.000 fl. Gold veräußert habe, nm das Agio zu drücken. Dieser Versuch habe sich als vollständig wirkungslos erwiesen. Über den Zeitpunkt, wann dies stattgefunden hat, sagte der Minister nichts.

Zeitschrift für Volkswirtschaft. Soilalpolltik und VcrtvaHaui;. XII- Rand 33

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rischen Abgeordnetenhause, ob der Minister sich für eine Erhöhung des Diskonts einsetzen wolle, wobei er die Summe der Regierungsguthaben auf 25.000.000 fl. bezifferte. Dr. Weckerle antwortete unter anderem: .Ich leugne nicht, daß ich meinerseits alles getan habe, damit die Notwendigkeit einer Erhöhung des Zinsfußes nicht eintrete,“ hiezu habe er moralische, doch auch andere Mittel angewendet, z. B. dem Markte ansehnliche Betrüge aus den Kassabestünden zur Verfügung gestellt, ja er habe selbst große Betrüge an Salinenscheinen, gegenwärtig zirka 10,000.000 fl., in die Staatskassen auf- genommen und die Zinsen ebenfalls dem Markte zur Verfügung gestellt. Doch werde er, sobald die Grenzen erreicht seien, nichts tun, um einer Erhöhung des Zinsfußes entgegenzuwirken.

Diese Angaben besagen offenbar, daß der Minister Salinenscheine vom Publikum gekauft habe, wodurch eine Ausdehnung des Geldumlaufes bewirkt wurde.

Ende September nahm die steuerfreie Notenreserve rasch ab und anfangs Oktober trat ein steuerpflichtiger Notenumlauf ein, der am 7. Oktober bereits mit 6.500.000 fl. ausgewiesen wurde, was gegen die Vorwoche einen Abfluß von 10.700.000 fl. bedeutete. Diese rasche Abnahme war großen- teils durch spekulative Einreichungen bedingt, die in Erwartung der Zinsfuß- erhöhung sich noch Geld zu billigerem Satze sichern wollten, was mit großer Deutlichkeit aus der Vermehrung der Giroeinlagen erhellt Am 5. Oktober erhöhte die Bank endlich den Zinsfuß auf 5 Proz.. wärend die Bank von England am selben Tage von 3l/s auf 8 Proz. herabging. Als Begründung wurden ausschließlich Argumente des inneren Marktes ange- führt: der erhöhte Herbstbedarf, die Stockung im Getreidehandel infolge der amerikanischen Notverkäufe und die allgemein geringere Geldflflssigkeit. Die Devisenkurse stiegen übrigens mit einer kurzen Unterbrechung fort- während, sie erreichten am 10. November ihren Höhepunkt. An diesem Tage betrugen die Geldkurse der Vistadevisen :

London 1 27-60 ')

Paris 50-70

Deutsche Bankplätze 62’75

Von da an beginnt ein allgemeines Fallen, das um die Mitte des Monats in einen rapiden Sturz übergeht. Am 20. November erreichen alle 3 Devisen den tiefsten Stand, und zwar:

London 123-80

Paris 4D*225

Deutsche Bankplätze 60-95

Zur Erklärung des weiteren Anwachsens des Agios dient die Kal k- m an u sehe Ausführung, daß in den letzten Jahresmonaten nicht mehr der Londoner Diskont, sondern der höhere Berliner und Amsterdamer Diskont auf die Devisenkurse wirkte (vergl. S. 27 und 41). Doch legt Kalkmann

') Am Tage vorher wurden 127.Ü.') notiert. Der Warenkurs an beiden Tagen war 127-90.

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Di« Diskont- an] Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Dank etc. 481

diesem Umstande zuviel Gewicht bei; denn einerseits stand der Wiener Privatdiskont zeitweilig höher als der Berliner und Amsterdamer, anderseits blieb der Berliner Privatdiskont bis zum Jahresende auf gleicher Höhe, während schon Mitte November der große Kurssturz einsetzte. Das Zusammen- treffen des Falles des Amsterdamer Privatdiskonts mit dieser Bewegung ist doch wohl mehr zufällig.

Einerseits bewirkte der hohe Privatdiskont in Wien, verstärkt durch die Wirkungen des beträchtlichen Deports auf Marknoten, einen großen Zufluß von deutschen Noten.

Der Deport erreichte im September ein Maximum von 12 kr. (per 100 M. und Monat), sank seither infolge des Zuflusses von ausländischer Valuta bis Mitte Oktober auf etwa 4‘/j kr. und verschwand am 81, Oktober nach langer Zeit zum ersten Mal. Anfang November wurde sogar ein nicht unbedeutender Report von zirka I kr. beobachtet. Wenn nun trotz dieses Zuflusses die Devisenkurse nicht sanken, so ist dies in mehreren Umständen begründet, die zufällig zusammenwirkten. Gegen Mitte Oktober (etwa vom 9. an) wurde ein heftiger Vorstoß seitens der Berliner Spekulation gegen die österreichischen Effekten gemacht, von denen große Partien auf den Wiener Markt geworfen wurden. In der zweiten Oktoberwoche kauften Zuckerexporteure, die infolge des Stillstandes der Elbeschiffahrt nicht liefern konnten, ihre Ware zurück, wodurch die fremden Valuten gesteigert wurden. Schon am 17. Oktober bewirkte der Regenfall eine Besserung der Kurse.

Verschiedene Arbitrageoperationen wirkten in ähnlicher Richtung, so am 18. Oktober Käufe Wiener Getreidehändler, die den Fall des Rubel- kurses in Berlin zu Rubelkfiufen benutzten und den Gegenwert in Mark in Wien anschafften. Der größere Zufluß an auswärtiger Valuta wurde vielfach zur Abwicklung alter Engagements benutzt, wodurch die direkte Wirkung auf die Kurse abgeschwächt wurde. Schließlich waren es die Goldkäufe der Regierungen für den Jänner- und Februarcoupon, die die Kurse hoben. Am <i. November wurde gemeldet, daß die ungarische Regierung in den letzten Wochen zirka .'10,900.000 M. Devisen und Valuten gekauft hätte. Dies und die Anforderungen der Effektenarbitrage waren die Hauptgründe dafür, daß das Agio mit mannigfachen Schwankungen und wechselnder Stärke noch bis Mitte November stieg.

Nachdem schon vom 9. November an die Kurse rückläufig waren, beginnt am 17. November ein rapider Fall der deutschen Devisen, zu dem der Anstoß von den Wiener Banken der Kothschildgruppe gegeben worden zu sein scheint, die anscheinend planmäßig größere Devisenverkäufe vornahm. Die Kreditanstalt und Bodenkreditanstalt stellten etwa 5.000.000 9,000.000 M. zur Verfügung. Die Kontremine schloß sich an, Wechselmaterial, das von kaufmännischen Firmen bisher zurückgehalten oder von Exporteuren als Versicherung gegen weiteres Steigen gekauft worden war. kam zum Vorschein, während anderseits die Nachfrage geringer wurde. Auch die auswärtigen Märkte folgten der von Wien ausgehenden Bewegung, die österreichischen Effektenpreise besserten sich zusehends. Günstig wirkte

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ein, daß an den fremden Plätzen ein äußerst Massiger Gelds tand herrschte, während er in Wien sehr knapp war. der Privatdiskant sich nahe der Hank- rate hielt und ein sehr hoher Report bestand. Insbesondere groß war der Rudapester Geldbedarf, was auch darin zum Ausdrucke kam. daß Ende November das ungarische Portefeuille der Österreichisch-ungarischen Bank zum ersten Mal beinahe so groß war wie das österreichische 1 80,540.000 fl. gegen 81,590.000 fl.). Der .Salinenscheinumlauf war außerordentlich niedrig.

Eine Folge de» hohen Reports äußerte sich in dem ungewöhnlichen Anwachsen des Lombards zu J a h r es s c h 1 u ß. der im Dezember von 28.360.000 fl. auf 43,810.000 fl. sich hob.

Erwähnenswert ist ein Versuch der österreichischen Regierung, dadurch ausgleicbend auf die Devisenkurse zu wirken, daß die Käufe für die Coupon- augzahlungen, die in Österreich bisher in kurzen Zeiträumen vorgenommen wurden, Ober das ganze Jahr verteilt wurden, eine schon früher in Ungarn geübte Praxis. Der Finanzmiuister machte davon in seiner Rede vom 15. Dezember 1893 Mitteilung. Doch stand man infolge der geringen Wirkung bald wieder davon ab. ln derselben Rede teilte der Finanzminister auch mit, daß die Bank küuftig von den gemeldeten Operationen mit Salinen- acheinen absehen und er im Januar den Salinenscbeinzinsfuß erhöhen werde.

Wir haben das Agio bis zum 29. November verfolgt, an welchem Tage es den niedrigsten Stand arreicht. In den letzten 20 Tagen war das Agio der deutschen Devisen von 6.75 Proz. auf 3.67 Proz., das der Londoner von 6.29 Proz. auf 3.09 Proz. gesunken. Im Dezember hob es sich wieder, stand jedoch Ende des Monats tiefer als am Anfang. Im Monate Jänner erfolgte eine neue jähe Steigerung und am 1. Februar wurde ein Höhepunkt erreicht, der bei den deutschen Devisen 61.60, bei den französischen 5010 und bei den englischen 126 ausmachte. Von diesem Tage an begann ein allgemeines, langsames, von zahlreichen wellenförmigen Auf- und Abbewegungen begleitetes Sinken des Agios, welches das ganze Jahr 1894 hindurch anhielt und im Jahre 1895 ein etwas schnelleres Tempo annahm. Im allgemeinen bietet diese Bewegung wenig Interesse. In ihr spielt sich die langsame Abwicklung der während des stürmischen Jahres 1893 eingegangenen Effekten Verbindlichkeiten ab.’)

Das neue Jahr eröffnete mit einem bedeutend flüssigeren Geldstande. Die Bank von England trat mit einem 3proz., die französische mit einem 21/, proz.. die Reichsbank mit einem 4proz., die Österreichisch-ungarische Bank mit einem 5proz. Zinsfuß in das neue Jahr ein. Die Einschränkungen des Kredits, die die Bank in der ungarischen Provinz vornahm, wo bei einzelnen Geldinstituten arge Mißstände aufgedeckt worden waren, riefen eine Interpellation im ungarischen Reichstage hervor, bei der jedoch der Finanzminister die Haltung der Bank verteidigte. Am 24. Jänner wurde der Zinsfuß für sechsmonatliche Salinenscheine auf 3l/j Proz.. für dreimonatliche

’) Beachtung verdient du Diagramm 3 bei Kalkmann 8. 65. du den engeren Zusammenhang der Schwankungen der Devise London nnd de* Privatdiakonts während der Monate Dezember 1893 bi* März 1894 vor Aug-n fahrt.

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auf 3 Proz. hinaufgesetzt. Bereits am Tage zuvor hatte die österreichisch- ungarische Bank ihren Diskont um '/* Pro z. ermäßigt. Anfang Februar ging die Deutsche Reichsbank auf 3 Proz. die englische auf 21/, Pro*, herab. Diese Situation bewirkte sofort eine bedeutende Zunahme des Salinen- sebeinumlanfes; er stieg in der letzten Jännerwoche um 5,000.000 fl., die zum großen Teile von Sparkassen und ähnlichen Instituten aufgenommen wurden. Daß der gegenflber dem Auslande beträchtlich höhere Zinsfuß in Wien dag Steigen der Devisenkurse nicht verhindern konnte, ist auf spe- kulative Vorgänge auf dem Effektenmärkte zurQckzufflhrcn. Am 9. Februar erfolgte eine Herabsetzung auf 4 Proz., am 20. Februar nahm die Bank den Eskompte auf offenem Markte, u. zw. zunächst zum Satze von 3'/a Proz. wieder auf. Die Notenreserve, die am 3. Februar den Höhepunkt des ganzen Jahres mit 88,100.000 fl. erreicht hatte, fand dadurch im ausreichenden Maße Verwendung. Am 13. März fand die Subskription auf die 40.000.000 fl. österreichischer Goldrente statt, die das Konsortium bisher in den Kassen behalten hatte und die zur Schonung der Devisenkurse nur im Auslande aufgelegt wurde. Damit wurden dem Markte jene Devisen wieder ersetzt, die die österreichischen Mitglider des, Konsortiums im Vorjahre zum Gold- ankaufe verwendet hatten und deren Fehlen besonders oft von der ungarischen Regierung mit Übertreibung als Ursache des Agios bezeichnet worden war.

Am 14. März 1894 wurde im Budgetausschusse das Kapitel: .Staats- schuld* behandelt. Das Referat Neuwirths verurteilte die Salinenschein- operation der Bank im Jahre 1893 schärfstens. Der Finanzminister bemerkte in seiner Erwiderung mit Bezug hierauf: ,cr habe es fflr seine Pflicht gehalten, die Sache zu ordnen und dies sei durch ein formales Übereinkommen geschehen, welches die Regierung mit der Bankleitung abgeschlossen habe, ein Übereinkommen, worin die Bank ausdrücklich sich dabin erkläre, daß sie in Hinkunft die beanstandete Eskomptierung der Salinenscheine nicht weiter vornehmen wolle*. Gegenflber dieser zweifelfreien Erklärung des Finanzministers ist es ein absoluter Widerspruch, wenn in dem 1896 erschienenen Dezennalberichte der Bank unbedingt die Berechtigung der Bank zu den beanstandeten Operationen behauptet und das vom Finanz- minister angezogene Übereinkommen einfach in Abrede gestellt wird. Es heißt dort (S. 46): .Die Bank hat sich daher weder verpflichtet, noch kann sie sich fflr die Zukunft verpflichten, von diesem ihr zustehenden Rechte keinen Gebrauch zu machen; ob und in welchem Umfange sie davon Gebrauch macht und machen darf, hängt allein von den verfügbaren Mitteln, der I.age des Geldmarktes und der zu beobachtenden Zinsfußpolitik ab.*

Eine interessante Erscheinung bot die Anlage fremder Kapitalien in Salinenscheinen, die zum ersten Mal außerhalb Österreichs erschienen. Am 12. März wurde aus London, wo damals ein lproz. Privatdiskont herrschte,1) gemeldet, daß dort 6,000.000 fl. .Salinenscheine aufgenommen wurden. Größten- teils blieben übrigens die Effekten selbst in Wien, der Gegenwert in

*) Ende Februar war die Londoner Bankrate auf 2 Proz. gesunken.

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Herta.

Devisen mußte natürlich Wirkung auf die Kurse ausüben. Bis 14. März war der Betrag bereits auf 8,000.000 fl. gewachsen und die Meldungen Aber weitere Bezüge reichen bis Ende Juli. Ende März wurde auch für Pariser Rechnung gekauft, hauptsächlich handelte es sich um 81 tproz. in sechs Monaten fällige Scheine. Der Umlauf hob sich im Mai bereits nahe an die Maxi- malgrenze.

Im März wurde die grolle Wiener Verkehrsanleihe von 100,000.000 K zum Teil an eine Bankgruppe (Unionbank und Mendelsohn) begeben und 20,000.000 K zur öffentlichen Subskription aufgelegt, was aber wenig auf die Wechselkurse einwirkte. Eine leichte Verschlechterung der Devisenkurse im Mai und Juni bewirkte die Zurückhaltung der Zuckerexporteure, die zu den herrschenden niedrigen Preisen nicht verkaufen wollten und bedeutende Bezüge inländischer Raffinerien an Herbstware aus dem Ausland, wofür Ende Mai ein Gegenwert von 600.000 £ angegeben wurde. Anfangs Juli wurde bekannt, daß der ungarische Finanzminister seine Bankguthaben bis auf za. 0,000.000 bis 7,000.000 fl. zurückgezogen hatte und auch* der österreichische Finanz- minister tat sukzessive dasselbe. Bei der herrschenden Geldfülle konnte dies keinen merkbaren Einfluß auf den Markt üben.

Das ganze Wirtschaftsjahr 1894 zeigte ohne ernste Symptome doch keine befriedigende Lage der Erwerbstätigkeit. Die niedrigen Preise der landwirtschaftlichen Produkte und der Exportrückgang bei wachsender Einfuhr ließen auf eine Stockung im Absatz schließen, die in allen Gebieten des Wirtschaftslebens herrschte. Mit Rücksicht hierauf erklärt es sich, daß die im zweiten Halbjahr in Anspruch genommenen Mittel der Bank länger als gewöhnlich festgehalten wurden, was sich einesteils in der längeren Durchschnittslaufzeit der Wechsel, anderntoils in dem bisher nicht beobachteten Notenmaximum von 517,700.000 fl. (höchster Stand vom 31. Oktober) äußerte.

Die Bank selbst schildert die Lage wie folgt: .Die Lage des Geld- marktes war in diesem Jahre insofern eine befriedigendere als Geldstand und Zinsfuß eine größere Stetigkeit als im Vorjahre zeigten. Der Herbst brachte keine übermäßigen Ansprüche und die in der letzten Oktoberwoche ausgegebenen 2,000.000 11. steuerpflichtiger Noten verschwanden schon in der ersten Novemberwoche wieder aus dem Umlauf. Die Rückströmung nahm weiter zu und ermöglichte es der Bank, die ebenfalls nur mäßigen kommerziellen Ansprüche im Dezember innerhalb des steuerfreien Noten- kontingeuts und ohne Erhöhung des Zinsfußes vollkommen zu befriedigen.* In eigentümlichem Gegensätze hiezu stand der stark bewegte Effektenmarkt, auf dem ein sehr knapper Geldstand herrschte, während die auswärtigen Märkte fortwährend Geldüberfluß zeigten. Im Zusammenhänge damit war die große Kurssteigerung österreichischer Reuten besonders in Paris und London, die bei den in Wien herrschenden Geldverhältnissen zu größeren Ett'ekten- exporten führte. Im letzten Jahresdrittel erreichten alle österreichischen Kenten den Paristand. Die 4proz. österreichische Goldrente überschritt an der Wiener Börse am 1. September den Paristand dauernd. Die einheitliche

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Notenrente i Mairente), die am 7. Jänner 18W) zuerst mit 614 Proi. notiert worden war und während des deutsch-französischen Krieges einen Tiefstand von 5175 Proz. erreicht hatte, stand am 6. November 1894 zum ersten Mal auf 10035. die einheitliche Silberrente auf 100 40. Die österreichische Kronenrente überschritt am 17. November den Paristand, auch die ungarischen Renten notierten nur um ein Geringes tiefer als die österreichischen. Die fortgesetzten Käufe des Auslandes bewirkten einen Devisenzufluß, der die Kurse im August und September senkte. Vom Ende September bis Jahres- schluß vollzog sich dann eine neuerliche übrigens nicht bedeutende Hebung und Senkung, so dafi das Agio zu Ende des Jahres ungefähr ebenso hoch war wie zu Anfang, jedoch bedeutend geringer als Ende Jäuner.

Der starke Geldbedarf auf dem Effektenmärkte drückte sich in seinen hohen Reports aus. Bereits anfangs September stieg der Marknotenreport bei einzelnen Abschlüssen bis 10' , kr., was ein Abströmen von Marknoten zur Folge hatte. Auch in der Folge blieb der Zinsfuß im Effektengeschäfte zwischen 7—10 Proz.

Am 27. Dezember steigerten sich die Prolongationssätze in der Kulisse bis nahe zu 20 Proz. Es ist dies umso bemerkenswerter, als die Bank selbst konstatierte, daß die kommerziellen Ansprüche und die Geschäfts tätigkeit einen mäßigen Umfang nicht überschritten. Der Spekulation gegenüber nahm die Bank eine ziemlich energische Haltung ein. Bereits am 24. September hatte die Bank auf ofTenem Markte nur mehr zur offiziellen Rate von 4 Proz. eskomptiert. Um dieselbe Zeit stellten die Bankinstitute für die Prolongation verschiedener Industriewerte erschwerende Bedingungen. Einzelne wurden von der Prolongation völlig ausgeschlossen und bei anderen Effekten die Heportierung nur zu stark reduzierten Kursen vorgenommen. Trotzdem dauerte die spekulative Kurssteigerung fort. Als Gründe der starken Nachfrage können das geringe Kreditbedürfnis der Regierung, die unbedeutende Vermehrung der Aktiengesellschaften und die Pläne der Eisenbahnverstaat- lichunggelten, die eine besonders starke Hebung der Transportwerte bewirkten, auf die man den Rentenzinsfuß anwendete. Besonders in Ungarn nahm die Spekulation einen ungewöhnlich großen Umfang an; Mitte November wieder- holten sich die Maßregeln mehrerer größerer ungarischer und österreichischer Institute gegen Kursübertreibungen, die wir erwähnt haben. Es war eine eigentümliche Situation: bei großer Geldfülle ein Zinsfuß im Effektengeschäft, der zeitweilig über 10 Proz. stieg. In der Generalratssitzung vom 6. Dezember teilte der Generalsekretär Meeenseffy mit, daß das Verhältnis zwischen Lombard und Escompte sich so verschoben habe, daß die Bank ihren Lombard einschränke, Industriewerte zurückweise und sich bis Wiederher- stellung normaler Verhältnisse auf Belehnung von Renten beschränke, eine Zinsfußerhöhung sei in nächster Zeit nicht beabsichtigt.

Am 27. Dezember wies die Bank sogar Renten bei der Lombardierung zurück, allerdings nur gegenüber einzelnen Börsenfirmen, während Privat- leuten Renten und andere Effekten belehnt wurden. Erwähnenswert ist noch, daß die Gruppe der Unionbank in der zweiten Hälfte des Dezember

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Hertz

70,000.000 K der 3proz. Lokalhahn priori täten größtenteils in das Ausland verkaufte.

Das Jahr 1894 nimmt in der ttankgeschichte einen wichtigen Platz in Anspruch, da in ihm die Verhandlungen um das neue Privileg begannen. Für die Diskontpolitik ist die Note der Finanzminister vom 8. JSnner 1894 bemerkenswert, in der die Grundlage für eine künftige energische Devisen- politik vorgezeichnet erscheint1)

Das neue Jahr 1895 brachte alsbald einen sehr flüssigen Geldstand, besonders auf den westlichen Märkten, der durch einen Goldzufluß aus Amerika noch verstärkt wurde. Wieder ergriffen die französische und englische Bank die üblichen Maßregeln gegen den übergroßen Goldzufluß. Der Londoner Privatdisbont stand während des ganzen Jänner zwischen */» und V8 Proz., während er in Wien zwischen 3 5 und 3'6 schwankte. Eine Folge war der neuerliche Eflekteneiport, an dem auch Salinenscheine teilnahmen. Ihr Umlauf war während des knappen Geldstandes der letzten Monate zurückgegangen und betrag Ende Dezember nur 38,600.000 fl..’) hob sich aber aus den angeführten Gründen bis Ende Jänner auf 60,900.000 fl. Die anhaltende große Geldflüssigkeit in der ersten Jahreshälfte bewirkte, daß er bis Ende Juni noch auf 76,700.000 II. stieg; von da aber begann wieder die Abnahme. Die Devisenkurse waren in einem langsamen aber anhaltenden Fallen begriffen, sie erreichten um die Mitte des Oktober ihren tiefsten Stand. Die Devise Paris unterschritt bereits am 20. September die Parität und stand im Oktober am tiefsten. Die Devise London folgte erst am 17. Oktober, an dem sie 120 notierte, während der deutsche Kurs erst am 28. Oktober die Parität passierte und sieh auf 58'75 stellte. Vom Oktober an schlugen alle Kurse wieder eine aufsteigende Richtung ein. Die einzelnen Bewegungen des Jahres 1895 gewäliren nicht viel Interesse. Ebensowenig bietet die Wirtschaftslage des Jahres 1895 eine besondere Abwechslung:3) ein ruhiger und mäßiger Fortschritt der Industrie, eine Durchschnittsernte und das Fehlen ungesunder Erscheinungen auf dem Gebiete der Produktion sind dio charakteristischen Züge des zu besprechenden Wirtschaftsjahres.

Der Februar brachte einen etwas knappen Geldstand,4) am 11. diosos Monats wurde der Vertrag der Regierung mit der Rothseliildgruppe über die Begebung von 50,000.000 fl. Goldrente geschlossen. Die günstige Stimmung des Geldmarktes und die gesunde Kraft der österreichischen

') Vide: Generalversammlungsbericht 1894, S. XXI. Die Finanzminiater drücken darin den Wunsch aus, die Österreichisch-ungarische Bank möge ihrem Devisen- und Valuta- geschäfte die möglichste Ausdehnung geben und es durch organische Einrichtungen ermöglichen, daß das legitime Geschäft regelmäßig darauf rechnen könne, einen Teil seines Geldbedarfes zur Abwicklung des ausländischen Zahlnngarerkehres durch die Mithilfe der löblichen Bank decken zu können.

*j Gegen Jahreaschluß hatte der Finanzniinistcr 10.000.000 ß. Salinenscheine aus den Kassabeständen getilgt.

*) abgesehen von dem sehr unruhigen Effektenmärkte.

*) Amcriksn. Anleihe von 162.HOO.OOO Dollar, cliines. Anleihe etc.

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Di« Diskont- und Devisenpolitik der llsterreichisch-nn^eriecben Bank etc. 487

Staatswirtschaft drückte sich darin aus, daß der Finanzminister den Parikurs und eine Gewinnbeteiligung bei einem Mehrerlös Ober 1.4 Proz. erzielte. In der dritten und vierten Februarwoche schlug die optimistische Tendenz der Börse plötzlich um. es kam insbesondere am 25. bis 27. Februar zu starken Kursrückgängen, die sich anfangs März wiederholten. Den unmittelbaren Anlaß dazu boten die Schwierigkeiten einiger Zuckerfabriken. Da jedoch die auswärtigen Märkte die gesunkenen Preise zu Käufen benutzten, fand sogar eine Ermäßigung der Devisenkurse statt: die Kurse der Kenten wurden kaum berührt Nach diesen Vorfällen entwickelte sich die Haussebewegung ruhig weiter, die sich in dem bedeutenden Report (Ende März 8 10 Proz.) deutlich ausdrückte. Auch der Privatdiskont war im Steigen und betrug während des ganzen Monats März den vollen 4 proz. Banksatz, während er sich in Berlin im Monatsdurchschnitt vom Februar bis März von 1’/, auf 1 */a ermäßigte. Die Folge war ein Zufluß von Marknoten nach Wien und das Entstehen bedeutender Reports für diese. Die Zinsfußdifferenz einerseits, die fortgesetzten Effektenpxporte anderseits bewirkten im März einen starken Fall der Devisen. Der englische Kurs fiel von 123-80 auf 122-40. der französische von 49-075 auf 48-425, der deutsche von 60-525 auf 59'80. Die Effekten- eiporte betrafen vor allem Renten und Transportwerte. Im März fand die Emission von 100,000.000 M. 3proz. Staatsbahnprioritäten statt, die zur Hälfte behufs Einlösung älterer Anleihen zur Hälfte aber neuemittiert wurden und auf Markwährung lauteten.

Die Haussebewegung wurde durch das Projekt einer großen Eisenbahn- verstaatlichung stimuliert.1) Die Transportwerte stiegen und wirkten auf die anderen Kurse steigernd ein. Der große Kontrast zwischen dem Wiener und den auswärtigen Märkten verschärfte sich noch in den Sommermonaten. Während der Privatdiskont in London unter 1 Proz. stand, mußten in Wien 4 Proz. gezahlt werden. Im Juli zeigten die Ausweise der Österreichisch- ungarischen Bank eine für diese Zeit sehr geringe Reserve, was hauptsächlich dadurch bewirkt wurde, daß die Banken ihre Portefeuilles bei der öster- reichisch-ungarischen Bank reeskomptieren ließen. Die Salinenscheine dienten wieder als Ventil, ihr Umlauf sank vom Ende Juni bis Ende Juli von 76,700.000 auf 52,900.000 fl. und bis Ende August auf 48,200.000 fl. Außerordentlich hohe Reports, die bis 10 Proz. stiegen, kennzeichnen die Haltung der Wiener Börse. Trotz zeitweiliger Kurssteigerungen der Devisen im Juni und Juli, die mit großen Anleihen im Aüslande’) und den Wassereinbrüchen im Brüxer Bergbau5) zusamraenhingen, blieb die Tendenz der Wechselkurse vorwiegend günstig. Im August fanden Tauschoperationen der österreichisch- ungarischen Bauk in französischen Valuten statt, die ein Steigen des Wechsel-

') Vergl. die Schilderung im Wiener Handelskanunerberichte pro 1895, 8. 426 ff.

*) Große chinesische, chilenische, brasilianische, mexikanische u. a. Anleihen. Dem- gegenüber fiel die am 21. Juli subskribierte Eiserne Toranleihe, die gröfitenteils ins Ausland ging, nicht ins Gewicht. (Nominale 45,000.000 K).

*) Die Katastrophe fand am 19. und 20. Juli statt und hatte einen Kurssturz der Effekten zur Folge.

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kurses wirksam verhinderten und noch im seihen Monate beendet wurden. Eine interessante Erseheinung bot Ende August der Ankauf von 300.000 fl. sechsmonatlicher Salinenscheine seitens des Auslandes, da diese Operation um diese Zeit bisher noch nicht vorgekommen war und die Ansichten flber die Zukunft der Geldverhältnisse beleuchtete.

Der Report gab zwar im August nach, gleichzeitig aber stieg der Privatdiskont und die Rankreserve sank auf einen in dieser Jahreszeit ungewöhnlich niedrigen Stand. Jedoch muß bemerkt werden, daß weder die eskomptierten noch lombardierten Effekten eine übermäßige Zunahme erfuhren.*) Die Spekulation wurde durch das Steigen des Privatdiskonts nicht einge- schflchtert. Seit Monaten beobachtete man die seltsame Erscheinung, daß zur Aufrechterhaltung von Engagements in Effekten, die kaum mehr eine 4proz. Verzinsung trugen, mindestens 6 Proz. und oft viel mehr gezahlt werden mußten. Am 7. September wies die Bank nur mehr eine Reserve von 14,000.000 fl. aus, die bis zur Monatsmitte auf 8.600.000 fl. sank. Daher ging die Bank bereits am 17. September mit einer Erhöhung des Bankzins- fußes von 4 Proz. auf 5 Proz. vor. Die Geldknappheit bewirkte einen bedeutenden Zufluß ausländischer Valuten und ein weiteres Steigen ihrer Reports.*) Im Zusammenhänge damit und mit den bedeutenden Effekten- eiporten steht der erwähnte Tiefstand der Devisenkurse, die kurze Zeit sogar unter die Parität fielen.*)

') Nach der Bankstatistik (Österreichische Statistik vol. XLVIII) betrugen die Veränderungen : (Abnahme oder Zunahme in Millionen Gulden und Prot.) gegen das Vorjahr:

Wechseleskompte

Vorschüsbe auf Effekten und Waren

1894 1895

1894

1895

Bei der Österr.-ung. Bank

+ 8,600.000 8. 39.200.000 8. + 4-98 Proz. +21-76 Proz.

4,800.0008.

1111 Proz.

+ 7,800.000 8. 4-20 19 Proz.

Bei den änderet) Banken

+ 11,100.0008. + 24,400.0008 | 5 47 Proz. +11-45 Proz.

-j- 85.700 000 fl. 4-29 40 Proz.

46,800.0008.

29-74 Proz.

Nach diesen Zahlen scheint die Österreichisch-ungarische Bank tatsächlich eine große Krediterweiterung vorgenotnmen zu haben, während die anderen Banken gerade 1895 eine bedeutende Abnahme der EfTcktenrorsehOsse aufweisen. Es ist dies jedoch nur eine Folge davon, daß in den letzten Monaten alle Banken ihr Reportgeschäft im Zusammenhänge mit der Börsenkrise einschränkten, während die Österreichisch-ungarische Bank, die nur erstklassige Papiere belehnte, nach in dieser Zeit eine Zunahme des Vorschußgeschftftes aufwies. (Vide Rechnungsabschlüsse pro 1894/95, S. 53).

*) Vielleicht steht mit den Vorsichtsmaßregeln auch die Einschränkung des Reeskomptes der Sparkassen in Verbindung, den die Bank am dieselbe Zeit vomahtn.

*) Näheres über diesen Effektenexport enthält ein Artikel der „Nenen Freien Presse“ vom 25. September 1895, Nr. 11.166; daraus geht hervor, daß Dividendenpapiere nur in geringem Maße emittiert wurden, wohl aber große Mengen ron Pfandbriefen, Renten und dergleichen.

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Die Diskont- und Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank etc. 439

Infolge der Zinsfußerhöhung war die Bankreserve zwar vom 15. bis 23. September um 2,600.000 fl. gestiegen, fiel aber in der folgenden Woche um 9,400.000 fl., so dall ein steuerpflichtiger Notenumlauf von 6,800.000 fl. auftrat, der Ende Oktober den höchsten bisher nie dagewesenen Stand von 38,000.000 fl. erreichte nnd bis Jahresende blieb. Um die Ende September herrschende Geldknappheit zu mildern, griff die ungarische Regiening ein. Am 21. September wurde gemeldet, dall der ungarische Finanzminister einigen Instituten zusammen 10,000.000 fl. zu den gewöhnlichen Bedingungen angeboten und tatsächlich übergeben habe, und am letzten Septembertage erlegte er denselben Betrag bei der Budapester Hauptanstalt der Österreichisch- ungarischen Bank mit dem Aufträge, diese Summe hauptsächlich für das ungarische Geschäft zu verwenden. Die Bank selbst berichtet, dall dieses Vorgehen sie der Notwendigkeit einer weiteren Zinsfußerhöhung enthoben habe. Der große Geldbedarf in Budapest, der sich auch in dem ungewöhnlich hohen Stande des Budapester Portefeuilles ausdrückte, entstammte übrigens keineswegs vorwiegend dem Effektenmärkte, sondern zum großen Teile den landwirtschaftlichen Industrien (Zucker und Spiritus), deren Hauptbedarf in diese Zeit fällt und außerdem dem Geldbedflrfnis vieler Grundbesitzer, die bei dem herrschenden niedrigen Preise nicht verkaufen wollten und ihre Produkte belehnen ließen. Auch die ungarische Industrie war mit den Vorarbeiten für die Ausstellung voll beschäftigt Eine weitere Ursache des knappen Geldstandes war der niedere Wasserstand der Flüsse, der große Mengen von Zucker, Getreide, Holz, Kohlen u. s. w. festhielt und ihre Verkäuflichkeit herabsetzte.

Es ist nicht mit Sicherheit zu konstatieren, ob das Gerücht, das der Bank die Absicht einer weiteren Zinsfußerhöhung zuschrieb, auf Wahrheit beruhte; jedenfalls stand die Bank von dieser Maßregel, die auch in ihrem publizistischen Organ befürwortet wurde, ab. Die Geldknappheit stieg während des Oktober, die Reports erreichten 10 15 Proz.,1) während gleichzeitig die meisten Devisen auf dem Paristand verharrten. Mitte Oktober forderte die Neue Freie Presse, der Finanzminister möge den November- coupon vor Fülligkeit einlösen. Tatsächlich geschah dies bereits am 14. Oktober. Wie der österreichische Finanzminister Bilinski 10 Tage später mitteilte, war von der gesamten, zirka 18.000.000 fl. betragenden Fälligkeit bis zum 23. Oktober nur 5.200.000 fl. flüssig gemacht worden.*) Im übrigen lehnte der Finanzminister es ab, dem Beispiele seines ungarischen Kollegen folgend, größere Summen zur Verfügung zu stellen, da man soust Gefahr laufe, die Spekulation zu unterstützen.

Im letzten Quartal des Jahres 1895 erfolgte schließlich die große Liquidation, die durch die übertriebene Haussebewegung unvermeidlich gew orden

') In der Kulisse stiegen sie bis 20 Proz.

*) ln derselben Hede machte der Finanetninister einige Mitteilungen über die Hohe der Regierungeguthaben. Nach dem Berichte aber das Budget des Finanzministeriums, der im Dezember erstattet wurde, waren Ende August bei Wiener Kreditinstituten and Bundesbanken Iiegiemngaguthabeu von 13,465.000 fl. zu 2 Proz. eloziert, außerdem 1,625.700 fl. in Gold zu 1 V , Proz.

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Herti.

war. Gegen Ende Oktober erreichten die Prolongationssätze eine unerhörte Höhe, da gleichzeitig Handel und Industrie bedeutende Summen in Anspruch nahmen. Die Regierungsguthaben waren schon seit langer Zeit beträchtlich reduziert.1) Nun begannen auch die Wiener Banken mit empfindlichen Ein- schränkungen. Am 30. Oktober und in noch größerem Maßstabe am 9. November erfolgte ein plötzlicher und fiberaus heftiger Kursfall aller Werte an der Wiener Börse, der mit den Vorgängen an den auswärtigen Börsen eng verknüpft war*) und natürlich bei den besonders im Kurse übertriebenen Transportwerten am empfindlichsten wurde. Die unmittelbare Veranlassung wurde durch den Zusammenbruch der Goldminenspekulation in Paris und London, durch die Schwierigkeiten der Ottomanbank und die Verstimmung zwischen England und Rußland gegeben. Eine Notiz des .Petersburger Regierungsboten*, die sich überaus scharf gegen England richtete, wurde fälschlich als offizielle Note telegraphiert und gab den ersten Anstoß zum Kursfall am letzten Oktober, der sich am 9. November in den Formen einer Panik wiederholte. Die Krise wurde dadurch in ihrer Dauer beschränkt, daß die niedrigen Kurse vom Publikum und besonders auch vom Auslande zu Käufen benutzt wurden und nach dem zweiten Ausbruche auch große Wiener Banken bedeutende Effektenkäufe Vornahmen.3 Das Portefeuille der Österreichisch-ungarischen Bank, das noch im August auf der. Höhe des Vorjahres gestanden war, war vom September an bedeutend gestiegen.

W echt

elportefonill

e

Tage

1894

i

1895

23. Oktober

. . . 169.800.000

205.400.000

31. Oktober

. . . 188.000.000

227,700.000

7. November . . . .

. . . 190.000.000

227,400.000 |

1.5. November . . . .

. . . 180.800.000

222.600.000

31. November . . . .

... I 180,200.000 .

J 1

219,500.000

Die Österreichisch-ungarische Bank erleichterte somit in dieser kritischen Zeit die Geldbeschaffung, während die Deutsche Reichsbank am 11. November den Diskont von 3 auf 4 Proz. erhöhte. Unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Spekulation trat eine Erleichterung des Geldstandes ein. der sich eines-

■) Nach dem Bericht über das Budget de» österreichischen Finanzministeriums betragen sie Ende 1895: beim Qiro- and Kasaenverein 450 000 fl., bei Landes- oud Priratgeidinstitnten : 17.500.000 fl., auUerdem bei Privatbanken Goldguthaben von 4.000.000 fl. Die ungarischen Guthaben konnte ich nicht ermitteln.

3> Vergl, näheres itn Wiener HandeUkammerbericbt pro 1895. S. 431 ff.

5 Vergl. .Neue Freie Presse* r. 11. und 12. November 1895.

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Die Diskont- and Devisenpolitik der österreichisch-ungarische» Dank etc. 491

teils in dem Fallen des Reports und Privatdiskonts (Ende November auf 4*/» respektive 6 Proz.), andernteils in dem zeitweise ungewöhnlich hohen Girostande der Österreichisch-ungarischen Bank ausdrückte. Die Devisenkurse hatten Mitte Oktober, wie bereits erwähnt, den tiefsten Stand erreicht und zeitweilig selbst die Parität unterschritten, was teilweise durch die An- ziehungskraft der hohen Effektenreports begründet erscheint. Von da an stiegen sie zwar etwas, insbesondere anfangs Dezember infolge der Zurückziehung auswärtiger Guthaben, aber im allgemeinen übte die Börsenkrise wenig Wirkung auf sie aus. Zeitweilig kam es sogar während des Effektensturzes zu Rückgängen der Devisenkurse, indem auswärtige Märkte als Käufer auftraten und die Effektenarbitrage, um eine Valutaspekulation zu vermeiden, Devisen verkaufte. Mit dem Schwinden der übermäßigen Reports fiel auch der Anreiz zum Valutenzufluß fort, was ebenfalls die wenig bedeutende Steigerung der Devisenkurse erklärt, ln der dritten Dezemberwoche kam es zu neuen großen Kursrückgängen, deren Anlaß hauptsächlich in der Niederlage der Italiener in Afrika und in dem drohenden Ausbruch eines Konfliktes zwischen England und Venezuela lag. Die Panik auf dem ameri- kanischen Markte pflanzte sich nach Europa fort uud bewirkte am 21. Dezember eine völlige Deroute, von der besonders der geschwächte Wiener Markt betroffen wurde. Auch diesmal kam es zu sehr bedeutenden Effekten- anschaffungen für Deutschland.

Bemerkenswert ist noch, daß am 23. Dezember die österreichisch- ungarische Bank ihren Börsenvertreter auf dem Wechselmarkte abberief. Schon seit vielen Monaten hatte die Bank auf offenem Markte nur mehr langfristige für den Reservefond geeignete Wechsel erworben, sich aber von einer Ergänzung ihres Portefeuilles ferngehalten.1)

Über die Gründe der Börsenkrise von 1895 enthält die „Neue Freie Presse* vom 1. Jänner 1890 interessante Materialien. Bereits im Neujahrs- artikel des vorhergehenden Jahres hatte dieses Blatt auf die enorme Über- kapitalisation und die drohende Katastrophe hingewiesen. Darnach nahmen von 1893 1894 alle österreichischen Effekteu um 221.000.000 fl. Nominal- wert und 1137,000.000 fl. Kurswert zu; während der Rentenzinsfuß 1894 4 02 Proz. ausmachte, betrug die Verzinsung der Effekten bei den: Bahnen 3-80 Proz.. Textilindustrien 3"25 Proz., Brauereien 2 63 Proz., Tramways 3'30 Proz., Eisen- und Kohlenwerken 3 44 Proz., Ballgesellschaften 3 74 Proz. Insgesamt betrug die Verzinsung der ludustriewerte in Wien 3'85 Proz., in Berlin 4’57 Proz., in Paris 4 63 Proz., in London 4'92 Proz. Im folgenden Jahre setzte sich die Überwertung noch fort. Nach derselben Quelle war bei einer Gesamtnominale von 1273,000.000 fl. der höchste Kurswert 1895: 2419,000.000 fl., der Wert in der Panik vom 20. Dezember 1888,000.000 fl . der Gesamtverlust also 531,000.000(1. oder 2 1 ‘9 Proz. des Nominales. Das gesamte eigene und fremde Kapital dar Wiener, Prager und ßudapester Banken stieg von 1883 bis 1894 um 404,600.000 fi, davon entfallen

’) Aach in den Jahren 1 89' and 1896 wurden je 10,000 000 fl. an SaUnenscheinen aus den Kassabestäaden getilgt.

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269,800.000 fl. auf Österreich, 107,800.000 fl. auf Budapest, ln den 11 Jahren von 1888 bis 1894 stieg aber infolge der engherzigen Konzessionspraxis die Zahl der österreichischen Aktiengesellschaften nur um 11 Stöck (also jährlich eine Neugründung!), das Nominalkapital um 97.000 fl., das eingezahlte Kapital um 60,782.000 fl. Erst 1895 bewirkte die Eifersucht gegen Ungarn, wohin zahlreiche Gesellschaften ihren Sitz verlegten, daß 19 Gesellschaften mit einem Kapital von 11,000.000 fl. bewilligt wurden. Dagegen betrug der Zuwachs des Gesamtkapitales der Budapester Aktien- gesellschaften von 1885 bis 1895 174.200.000 fl., wovon 100.900.000 fl. auf Industriegesellschaften entfielen. Diese wenigen Ziffern lassen die tieferen Gründe der großen Katastrophe von 1895 klar erkennen. Das nach Anlage verlangende Kapital findet in der Industrie keine Verwertung, es entwickelt sich eine von der Wirtschaftslage ganz unabhängige Kursüberbietung, das Spiel tötet die Arbeit, das Endresultat ist die Verdrängung der kleineren Kapitalisten, die ihre Effekten zu Tiefpreisen abgeben müssen, eine schwere Entmutigung des Geldmarktes und die Diskreditierung unserer Börse. Es fragt sich nun, ob die schweren Angriffe, die seitens eines Teiles der Presse gegen die Österreichisch-ungarische Bank gerichtet wurden und die in der Beschuldigung einer übermäßigen Krediterweiterung gipfelten, berechtigt waren. Allerdings war der Eskompte und Lombard der Bank zu jener Zeit höher als zuvor.1) Aber die Krediterweiterung der anderen Geldinstitute, die auch noch über ziemlich bedeutende wenn auch bereits reduzierte Begierungseinlagen verfügten, war ebenfalls groß. Es muß daher der Zweifel ausgesprochen werden, ob eine Restriktion seitens der Notenbank großen Einfluß auf den Markt gehabt hätte. Jedenfalls aber hätte eine Diskont- erhöhung zur rechten Zeit einen großen moralischen Eindruck gemacht und ein allgemein beachtetes Warnungszeichen abgegeben. Die Bank selbst räumt ein. daß bereits seit August gefahrdrohende Anzeichen wahrgenommen wurden, die Gefahr der Cberspekulation wurde aber bereits seit vielen Monaten in der ernstesten Weise öffentlich diskutiert. Wenn die Bank schon im Sommer eine Diskonterhöhung vorgenommen hätte, wäre sie nicht in die von ihr selbst zngegebene Lage versetzt worden, nur durch Regierungshilfe die Krise ohne weitere Geldverteuerung überstehen zu können. Eine solche Maßregel hätte die schwersten Konsequenzen nach sich gezogen und es gehört zu den Aufgaben der Notenbanken, in kritischen Lagen aus eigener Kraft eine Kreditreserve zu bilden.

Das Jahr 1896 war in wirtschaftlicher Hinsicht nicht ungünstig, wenn auch der kräftige Aufschwung, den die deutsche Industrie nach dem russischen Handelsvertrag nahm, in Österreich nicht erreicht wurde. Ernte und Handelsaktivum besserten sich, in Ungarn begann eine lebhafte industrielle Bewegung. Der Geldmarkt erholte sich nur langsam von dem Zusammenbruch des Vorjahres.- Der Zinsfuß blieb das ganze Jahr hindurch relativ billig.

l) Vergl. S. 490.

*) Die Effrktenunmtz^tener betrag 1895: 1,650.000 K.% 1896: 670.000 K.

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Die Diskant- and Devisenpolitik der Österreiehisch-angsrisrhen Hank etc. 493

Im Oktober 1895 hatten die Devisenkurse ibren niedrigsten Stand erreicht und zeitweilig selbst die Parität unterschritten. Die Versteifung im Ausland in Deutschland durch die industriellen Ansprüche verstärkt das Schwinden der hohen Reports und die folgende Rückziehung von Gut- haben aus Österreich bewirkten während der Krisenepoche ein langsames Steigen um etwa l1/, Proz. Am 7. Dezember 1895 war der höchste Stand erreicht*) und von da an beginnt hauptsächlich unter dem Einfluß fort- gesetzter Effektenexporte ein beständiges und langsames Fallen, bis im Mai, Juni und Juli die Paritäten unterschritten wurden. Erst im letzten Jahresdrittel begann wieder eine langsame Hebung.

Die übliche Geldfülle zu Jahresbeginn bewirkte, daß der steuerbare Notenumlauf bereits im zweiten Jännerausweis verschwand, doch blieb die Notenreserve noch lange auf einem verhältnismäßig niederen Staude und erreichte erst im zweiten Quartal die normale Höhe. Der höchste Stand in jedem der drei ersten Monate betrug40.200.000 fl., 55.500.000 fl.. 62, 700.000 fl., die höchsten Stände des Vorjahres 55,600.000 fl., 68.400.000 fl., 72,200.000 fl. Dabei ist aber von den Beträgen des Jahres 1896 die Regierungseinlage von 10,000.000 fl. abznziehen, so dafl die lange Bindung großer Beträge noch deutlicher wird. Zum schnelleren Anwachsen des Portefeuilles trugen die Zinsfußherabsetzungen bei. Bereits am 23. Jänner ermäßigte man den Diskont um */, Proz., mit Rücksicht auf die Spannung in Berlin wollte man eine rasche Senkung vermeiden. Als diese Ende Jänner wich, die Deutsche Reichsbank auf 3 Proz. herabging und auch die Devisen- kurse günstig wurden, erfolgte am 13. Februar bereits die unerwartete Herabsetzung um ein weiteres halbes Prozent auf den 4proz. Normalsatz. Noch am selben Tage waren viele Abschlüsse zum Privatdiskont von 4 */, Proz. gemacht worden und man forderte, die Bank solle das Publikum auf ihre Entschlüsse vorbereiten. Selbst der .Tresor“ vom selben Tage hielt die Herabsetzung für nicht wahrscheinlich.

Ende April war der Geldstand bereits wieder so normal, daß der ungarische Finanzmiuister seine Einlage von 10,000.000 fl. kündigte und sie auf Wunsch der Bank wegen der großen Ultimoverbindlichkeiten in zwei Raten zu 5,000.000 fl. zurückgezahlt erhielt.

Am 18. und 19. Mai verschlechterte sich die Stimmung des Geld- marktes neuerlich infolge der Schwierigkeiten einer ungarischen Sparkassa, die ihre Mittel immobilisiert hatte, durch welchen Umstand auch die Öster- reichisch-ungarische Bank berührt wurde. Dieser Vorfall und die Verlegen- heiten einiger unbedeutender Industrieunternehmungen in Ungarn lenkten die Aufmerksamkeit auf den ungarischen Markt und erregten eine lebhafte Agitation selbst gegen gute Anlagen.

Es kam zu Kursrückgängen, bald aber gelang es, den Markt zu beruhigen und das Institut zu stützen. Als Zeichen der großen Empfindlichkeit und Schwäche des Wiener Geldmarktes, den selbst die Zufälle eines wenig

*) Die Kurse betrugen: 5955, 121*95, 48*87:>.

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bedeutenden Provinzinstitutes angreifen konnte, ist der Vorfall bemerkens- wert. Das Schlagwort .weg mit den ungarischen Werten* das bei dieser Gelegenheit auftauchte, führte dazu, daß ungarische Institute die von ihnen emittierten Werte aufnehmen mußten um Kursrückgänge zu vermeiden. Um ihre Mittel wieder Hott zu machen, begannen sie den ungarischen Werten ein neues Absatzgebiet zu eröffnen, indem sie große Emissionen in Deutschland veranstalteten. Das Einströmen des Gegenwertes trug in der Folgezeit am meisten zum Tiefstand der Devisenkurse hei. Auch die Aufnahme von Eisenbahnanleihen, die teilweise mit Konversionen verbunden waren und zu verschiedenen Zeiten des Jahres stattfanden, waren hierauf von Einfluß.1)

In denselben Tagen erreichten dio Devisenkurse endlich die Parität. Der Markkurs unterschritt sie am 18. Mai, der Sterlingkurs zwei Tage später, während die Pariser Devise, die sich ganz in der Nähe der Parität hielt, doch erst am 22. Juli für längere Zeit unter sie fiel. Die Bank hatte schon seit einiger Zeii die günstigen Kurse zu Devisenkäufen benutzt und sogar durch gelegentliche Abgaben versucht, den Kurs noch mehr zu drücken. Ein Goldimport war vorläufig, trotzdem die Devisenkurse unter Parität standen, nicht möglich, da die Bank keine zinsfreien Vorschüsse auf Gold gewähren wollte, wie sie 1891' getan hatte. Besonders stark und lang anhaltend war das Angebot der Devise London, die zum Teil aus Deutschland und Frankreich als Kffektenrembours nach Wien gelangte. Speziell die Jproz. Lokalbahnprioritlten und Eiserne Torobligationen übten Einfluß. Doch auch die allgemeine Geldfülle in London machte sich hierin geltend. Im ganzen kaufte die Bank im Juni etwa 10.000.000 fl. Devisen, wovon ein Teil wieder abfloß, so daß der Devisenstand des Metallschatzes vom 30. Mai bis 30. Juni sich von 8,700.000 auf 10,600.000 fl. hob.*) Anfang Juli hörte die Bank auf zu kaufen und verkaufte sogar größere Posten Devisen.*) Obwohl der untere Goldpunkt noch nicht erreicht wurde, begannen doch von jetzt an Goldimporte, da einesteils infolge der großen Goldzufuhr der Londoner Goldpreis sich ermäßigte, anderseits Londoner Bankiers fortdauernd Guthaben in Wien erwarben. Zu diesem Zwecke kauften sie Salinenscheine

l) Anesig-Teplitxer Prioritätsanleihe im Äugest (45,000.000 M. ausschließlich in Deutschland aufgelegt), die BuschUhrader und Frag-Duxer Konversionen u. s. w.

*) Die Bewegung der .sonstigen Aktiven* stimmt dntnit überein, sie vermehrten sich um 4,700.000 S.

5) Dies spiegelt sich in der Abnahme der .sonstigen Aktiven“ vom 30. Juni bi« 7. Juli um 6,500.000 fl Im weiteren Verlaufe des Juli trat wieder eine Vermehrung der Devisenvorräte ein. Die Batik hat, solange die Suspension der Barxahlungen dauert das Recht. 30,000.000 fl. Golddevisen in den Metallschatx einxurechnen, die gesondert ans- gewiesen werden. Sie hat aber auch stets einen beträchtlichen Devisenvorrat unter den .sonstigen Aktiven* deren Bewegungen die Devisengeschäfte der Bank erkennen lassen, übrigens werden sie auch Ton anderen Gründen bestimmt. Eine Abnahme, die mit einer Zunahme der Scbatxdevisen korrespondiert, xeigt x. B. eine Übertragung langfristiger Devisen in den Schatz an, die dnreh Zeitablauf die Qualifikation als Schatzdevisen erhalten haben. Die umgekehrte Bewegung (besonders zu f'ltimo) kann darauf bedeuten, daß Wechsel auf dem Wege xum Inkasso sind und vorläufig aus dem Schatz ab und den .sonstigen Aktiven* ingeschrieben wurden n. s. w.

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Di* Diskout- und Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank etc. 495

und ungarische Schatzscheine. Die Wiener Firmen, die dieses Geschäft vermittelten, brachten zur Kurssicherung sofort Sichtwechsel zum Verkauf und kauften zugleich lange Sichten auf London. Diese stellten sich um etwa 2 Proz. teurer als Sichtwechsel und Cheks, (Report),1) so daß von der 3‘ ;proz. Verzinsung der erworbenen Papiere nur l1/, Proz. Qbrig blieben die aber gegentlber dem Londoner Privatdiskont noch immer vorteilhaft waren.

Mitte Juli stockte der Goldeingang infolge des Anziehens des Gold- preises5 in London. Eigentümlich war die Situation in Amerika. Die Furcht vor dem Erfolg der Silberagitation bewirkte eine große Effektenrücksendung und entsprechende Goldexporte nach Europa. Die amerikanischen Hanken bemühten sich daher, den Goldexport zu verhindern, es bildete sich ein Syndikat zum Schutze der Goldreserve, das darnach strebte, durch Devisen- operationen den Wechselkurs zu drücken. Nach Mitte Juli wurde der Wiener Geldmarkt sehr tiüssig, besonders da die Kreditanstalt nach längerer Zeit wieder zum ersten Mal auf offenem Markte eskomptierte. Der reichliche Devisenzufluß und die hohen Reports im Devisengeschäft mußten schließlich die Kurse beeinflussen. Anfangs August fielen diese bis nahe an den Gold- punkt. Es kam zu Goldimporten, die aber dadurch beschränkt waren, daß trotz des hohen Standes der Kurse das Gold in Amerika künstlich zurück- gehalten wurde. Der Getreidemarkt entfaltete bereit« Mitte August eine viel lebhaftere Tätigkeit als sonst um diese Zeit, so daß auch aus diesem Geschäft Valuten und Devisen zuflossen. Überdies hat die Bank, wie aus den Ausweisen ersichtlich ist. Devisen verkauft und so den Kurs weiter gedrückt. Insbesondere wurden Napoleons für das Balkangeschäft abgegeben. Obwohl sich der Londoner Goldpreis unter dem Einfluß der amerikanischen Maßnahme hob. fanden doch im weiteren Verlaufe des Augustes große Goldeinfuhren statt. Im September versteifte sich der auswärtige Markt, der Privatdiskont ging voran, am 7. September setzte die deutsche Reichs- bank den Diskont von 3 auf 4 Proz. hinauf, die Bank von England erhöhte ihn am 10. von 2 auf 21/, Proz. Gleichzeitig erreichte der Goldpreis das Maximum von 78 sh iam 17. September!. Die Devisenkurse hoben sich und die Goldeinfuhr hörte auf. Noch im selben Monat, am 24. September, setzte die Bank von England den Diskont um noch ein halbes Prozent auf 3 Proz. hinauf. Trotzdem blieb der Londoner Kurs ständig und der Pariser größtenteils bis Jahresschluß unter der Parität, während die deutsche Devise sie um ein kleines überstieg.

' Uber die Teeboik diese« in Wien üblichen Deckungsverfahrens und de« „uueigent- iichen Reports“ vergl. I.oti Wl h rang sfr age in Österreich-Ungarn.“ (Schmoilers Jahr- buch für Gesetzgebung. XIII.. 4. 1889. (Sonderabdruck S. 24 und 25.)

*) X ach den Berichten von Pixlev und Abel! betrag der Goldpreis im Juni 77 sh 9 d per stand, os., stieg Ende Juni auf 77 sh 9*/4 d und betrag im Juli 77 sh9*/j d. Die folgenden Wochenausweise geben in: ö. August: 77 sh 9 J/4 d, 18. August: 1 7 sh 10 d, 20. August: 77 sh 10Vs d, 8. September: 77 sh 10*/4 d, 17. September: 78 eh (Maximum). Den Reet des Jahres schwankte er zwischen 77 sh 10* ? d (1. Oktober) und 77 sh 1 1 */2 d. (8. und 15. Oktober).

Zeiiwbrift (Sr Volk*wlrt»ch«ft. Sozialpolitik uo*l Verwaltung. XII. Ran'l 1^4

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Am 15. September beschloß der Generalrat in allen Filialen Gold einznlösen und sie mit den nötigen Einrichtungen 7.11 versehen. Die Importeure erhielten also die Möglichkeit, Gold bei den Gren7filialeu einzuliefern und dadurch Zinsen und Transportkosten zu sparen. Übrigens war diese Erleich- terung fflr dieses Jahr nicht mehr von Bedeutung. Zinsfreie Vorschüsse waren während der ganzen Zeit nicht gewährt worden. Im September gab die Hank größere Beträge au Devisen und Valuten ab. Insbesondere wurden Mark abgegeben, anderseits aber Sterliugdevisen gekauft. Gerade in dieser Zeit der steigenden Kurse vermehrte die Bank ihren Devisen- besitz sehr beträchtlich. Vom 31. August bis 31. Oktober stieg der im Metallschatz betindliche Devisenbesitz von 18.800.000 fl. auf 25.000.000 fl., nahm aber von da an bis Jahresende wieder um 4.600,000 fl. ab. Auch die .sonstigen Aktiven* bewegten sich in gleicher Weise, indem sie von Anfang August bis Ende Oktober sich um 6,000.000 11. vermehrt und von da ab bis Jahresschluß wieder 7.500.000 fl. abpben. Die Wechselkurse wiesen zwar eine unbedeutende Hebung auf, blieben aber fortdauernd günstig. Wie weit dies den umfangreichen Devisenverleihungen seitens der Bank zuzuschreiben war, ist nicht zu konstatieren.

Der Herbst brachte hohe Geldanforderungen denen jedoch die Bank ohne Zinsfußerhöhung begegnen konnte, da die Regierungen, die bereits früher größere Golderläge zur Noteneinlösung gemacht batten. Anfang Oktober

16.000. 000 fl.1) in Gold unverzinslich und jeder Zeit rückziehbar bei der Bank einlegten, wodurch ihre Notenreserve bedeutend stieg. Hauptsächlich waren es Anforderungen der Industrie, die die Bank zu befriedigen hatte, da der Export gegen das Voijahr wesentlich gestiegen war. Den größten Anteil an dieser Steigerung nahmen die Ganzfabrikate.*

Im Auslande nahm die Geldknappheit zu. Am 10. Oktober stieg der deutsche Diskont von 4 auf 5 Proz. am 22. Oktober der englische von 3 auf 4 l’roz. Beide Erhöhungen hatten übrigens den Hauptzweck, den Metallschatz zu schützen und nicht dem inneren Markt zu entsprechen. Die Wechselkurse wurden dadurch wenig berührt, ja große Effektenverkäufe bewirkten sogar Ende Oktober einen leichten Rückgang der Londoner und deutschen Kurse. Der gegenüber Wien außerordentlich knappe Geld- stand in Berlin5) verursachte eine lebhafte Nachfrage nach Marknoten und das Auftreten von Reports für sie. Sowohl durch Übertragung von öster- reichischen Guthaben im Auslande auf deutsche Plätze als auch durch direkten Export von Reichsmark, die die Österreichisch-ungarische Bank verlieh, entstand eine Kapitalströniung von Wien nach Berlin.

Die derart entstandenen vorübergehenden Guthaben der österreichischen und ungarischen Institute in Deutschland wurde Ende Dezember auf zirka

100.000. 000 bis 120,000.000 M.. die der österreichischen Institute allein

1 ) Davon Österreich 10,000.000 fl., Ingarn 6,000.000 fl.

5) Vergl. Tabellen mr Wührungsstatistik, 2. Ausgabe. 1900, Tabelle 174.

*) Der Zinsfuß im Report stieg über 7 Pro*. Über die Gründe vergl. u. a. den Wiener HandeDkaiunierbericht, 1896, S. 564.

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Die Diskont- und Devisenpolitik der Öaterreichiadi-ungiuiBehen Bank etc. 497

auf zirka 80,000.000 bis 100,000.000 M. goschätzt Die Monge des aus diesem Anlaß effektiv nach Deutschland versendeten Goldes schätzen wir bloß für den Monat Dezember auf zirka 8,000.000 bis 9,000.000 M. Im ganzen Jahre 1896 hatte sich der Goldschatz der Bank um 88.800.000 fl. vermehrt, wovon 27.600.000 fl. von den beiden Finanzverwaltungen im Verlaufe der Valutaoperationen erlegt, 16.600.000 fl. tarifmäßig angekauft und der Rest in Geschäften erübrigt wurde.1) Die angekauften Goldfor- derungen, Devisen und Valuten machten 250.100.000 fl. aus (gegen 154,900.000 fl. im Vorjahr). Verkauft wurden davon: 248,400.000 fl., verliehen 47.300.000 fl. ln diesen Zahlen ist die Wirkung der aktiven Goldpolitik und des durch die Effektenexporte geschaffenen günstigen Kurs- standes unserer Währung zu erkennen.

Das Jahr 1897 brachte eine sehr schlechte Ernte, außerordentlich hohe Getreidepreise, einen großen Ausfall in der Handelsbilanz und den Ausbruch der nationalen Kämpfe, die auf das gesamte Wirtschaftsleben ungünstig wirkten. Der Überschuß der Ausfuhr über die Einfuhr betrug (ohne edle Metalle und Münzen) nur 10,984.000 fl. (gegen 68.217.000 fl. im Vorjahre). Mit Einrechnung des Edelmetallverkehrs ergibt sich ein Saldo von 37,200.000 fl. (gegen +41,900.000 fl.). Gerade dieses ungünstige Wirtschaftsjahr hat, was die Valuta anbelangt, gute Erfolge und einen durch den Stand der Wechselkurse erzeugten bedeutenden Goldzufluß auf- zuweisen gehabt. Der französische und englische Kurs waren seit dem Vorjahre unter der Parität, der deutsche, der sich gegen Jahresende zeit- weilig über Pari gehoben hatte, kehrte anfangs Jänner wieder auf seinen günstigen Stand zurück und alle drei Kurse fielen, bis in der zweiten Februar- woche eine plötzliche aber kurz dauernde Hebung eintrat. Von da an sanken alle Kurse wieder unter Pari, am tiefsten der Eondoner.*) Erst im Dezember trat wieder eine starke Hebung ein. Der Zinsfuß der Österreichisch-ungarischen Bauk blieb das ganze Jahr hindurch 4 Proz.

Im Jänner erfolgte die gewöhnliche Erleichterung des internationalen Geldmarktes. Die Reichsbank setzte zuerst den Diskont von 5 auf 4 Proz. herab, die Bank von England folgte am 21. Jänner und am 4. Februar mit je einer '/„proz. Ermäßigung bis auf 3 Proz. Die günstige Verzinsungs- gelegenheit zog alsbald fremdes Kapital nach Österreich. Anfangs Jänner erfolgte ein Fall der Markdevisen.’) der in Verbindung mit der preußischen Konversion (von 4 auf 8'/j Proz.) stand, indem österreichische Besitzer ihre preußischen Werte verkauften, oder den Kapitalbetrag zurückforderten, um österreichische 4proz. Renten zu kaufen, der erhaltene Wert in Mark aber auf die Kurse drückte. Der starke Fall der englischen Devise hing teilweise mit dem Ankauf von 4 proz. sechsmonatlichen ungarischen Schatz-

') Vergl. die Tabelle HI bei Spitzmüller a. a. 0.

*) Die deutsche Devise erreichte vom Februar Mb Juni wiederholt den tiefsten Stand mit 58*60, die englische von April bis August den ihrigen mit 1 19*45. die französische aber erst im September und Oktober mit 47*475.

') Ihr höchster Kurs im Dezember betrng 58*95. ihr niedrigster im Jänner 58*65.

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cheine» zusammen, die in ähnlicher Weise, wie früher Salinenscheine, vom englischen Kapital erworben wurden. Anfangs Februar nahm die Bank die Goldkäufe wieder auf. indem sie ohne Gewfihrung von zinsfreien Vorschüssen sich zum tarifmäßigen Ankauf bereit machte.

Mitte Februar ain 11., 15., 19. u. 20. fand an allen Börsen ein Kurs- rückgang statt, der mit dem Beginn der griechisch-türkischen Feindselig- keiten zusammenhing und der Befürchtung eines großen Weltkrieges im Falle eines griechischen Sieges entsprang. Wie stets in solchen Situationen entstand eine lebhafte Nachfrage nach sicheren Golddevisen und die Gefahr eines beträchtlichen Agios lag nahe. Da grill' die österreichisch-ungarische Bank ein und gab insgesamt 17,000.000 fl. Devisen ab, wodurch das Entstehen eines Agios wirksam verhindert wurde. Die Kurse hoben sich nur unbedeutend: der Londoner, dessen tiefster Stand im Jänner 1 1 9’70 gewesen war, auf 120‘25, der Berliner von 58'fiO auf 58-82, der französische Kurs von 47-50 auf 47*70. Die Operationen der Bank') fanden einstimmiges Lob und es wurde rühmend hervorgehoben, daß die öster- reichische Valuta zum ersten Mal eine Kriegsgefahr ohne Agio fiber- standen habe. Nach dieser kurzen Unterbrechung setzte der allgemeine Fall der Wechselkurse sich weiter fort. Ende Februar setzte die Keichsbank den Diskont auf 3'/j Proz. herab. Die Spannung zwischen den Wiener und den auswärtigen Privatdiskonten betrug bald 1 2 Proz. Die im Vorjahre ausgewanderten österreichischen Kapitalien kehrten zurück, es entstand ein Report auf Marknoten und ein Kttekgang der Devisenkurse. Am 4.. 5. und 6. März wurde die Börse neuerdings durch Nachrichten aus Griechenland in Unruhe versetzt und die Bank opferte zirka 2,500.000 fl. in Goldforde- rungen, wodurch dem Entstehen eines Agios vorgebeugt wurde. Im ganzen soll die Bank bis zur Verhängung der Blockade über Kreta, die die Märkte beruhigte, etwa 23.000.000 fl. in Devisen abgegeben haben.*) Anfangs April folgten Diskontherabsetzungen der Keichsbank von 3*/, auf 3 Proz.. der Baak von England von 3 auf 21/, Proz. Am 13 Mai fiel die englische Batikrate bis 2 Proz.. während der Londoner Privatdiskont den Tiefstand von % Proz. erreichte. Nach einer leichten Hebung stellte sich der englische Privatdiskont von Mitte Juli bis Mitte August auf */4 Proz. i für 60 day’s bankers drafts).

Der englische Wechselkurs fiel bereits im März bedeutend (von 119*95 auf 119-55) und da sich anfangs März der Londoner Goldpreis senkte, stand die Wiederaufnahme des Goldimportes nahe bevor. Doch seit Mitte März begannen die Goldkäufe der russischen und japanischen Regierungen zum Zwecke der Valutaregulierung von neuem und der Gold-

*) In den Bankausweisen linden sich wenig Spuren davon, da die Verkaufe mm Teil auf Zeit gemacht wurden und die Abnahme des Devisenstandes inzwischen durch Käufe verhindert wurde.

*) Es wurde damals auch hervorgehoben, datl ohne diesen Eingreifen die Effekten- börse weit tiefer gefallen wären, da jedes Agio sofort eine Kffektenriiekströmung hervor- gerufen hätte.

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preis1) hob sich rasch. Trotz des hohen Goldpreises begannen im April die Goldimporte nach Österreich, die aber ohne Verbindung mit anderen Operationen nicht gewinnbringend gewesen wären. Nach einer Berechnung von Mitte April kostete damals bei dem Preis von 78 und dem Kurs- stand von 119-55 das Kilogramm Feingold inklusive Spesen in Wien 1638-19 fl., während der Bankpreis nur 1638 fl. war. Man verband daher den Goldimport mit einem Export von Salinenseheiueu in Form eines Metall- geschäftes. doch muli auch ohne diese Verbindung Gold importiert worden sein, da die Zunahme der Salinenscheine hinter dem Werte des Goldimportes zurückblieb.

Am 24. April geschah der erst« große Goldexport aus New York.*) Der Goldpreis fiel von 78 00 bis 77-11 (6. Mai, da gleichzeitig die japanische Nachfrage aufhörte) als aber Ende Mai die russische Nach- frage wieder einsetzte, stieg er neuerdings bis 77'11% t3. Juni). Die Salinenscheinoperationen wurden dadurch erschwert, daß das Finanz- ministerium anfangs Mai anordnete, Salinenscheine seien in strenger Inter- pretation des Gesetzes nur mehr gegen Staatsnoten auszugeben, deren Umlauf doch schon beträchtlich restringiert war.’) Da die rasche Abwicklung der Arbitragegeschäfte .dadurch gehindert wurde, hörten die Salinenschein- exporte im Sommer auf; im nächsten Jahre trat überdies als erschwerendes Moment die 2proz. Rentensteuer hinzu, die den Ertrag der Salinenscheine herabsetzte.4)

Trotz dieser Umstände begann nun erst ein sehr lebhafter Goldimport, hervorgerufen durch den außerordentlich günstigen Stand der Londoner Devise. Am 17. Mai fand die Subskription auf die österreichische Investitions- anleihe statt,6) die wegen der für Österreich noch nicht geeigneten 3%proz. Verzinsung hauptsächlich vom Ausland aufgenommen wurde, wodurch das Devisenangebot sich stark vermehrte. Obwohl ein Teil der Anleihe in den nächsten Monaten wieder zurückfloß, blieben die Kurse doch günstig. Im August begann übrigens eine neue große Nachfrage nach dieser Rente seitens Paris und Lyon, womit die Senkung der französischen Devise gerade in dieser Zeit, in der die anderen Kurse breits im Steigen begriffen waren.

') Nach Pixley und Abella Berichten notierte die Unze Standard Gold am 7. Jänner 7711, vom 21. bis 25. Jänner 77-101/,. Im März fiel sie zwischen dem 14. and dem 18. von 77*10 aut 77' 91/, and hob sich hierauf bis Mitte April bis auf 78-00. Von da an bis Oktober schwankte der Preis fortwährend um 7711’ ,.

*) Vergl. Kcouomist (London), 1897. S. 716 und 747.

*) Nach den Ausweisen der Staatsschnlden-fControllkoniinissinn waren Ende Mai von den auf gemeinsame Kosten eiuzulosenden 312,000.000 11. Staatsnoten bereits 199,280 000 fl. ans dem Verkehr gezogen und vernichtet.

*) Dagegen blieben sic von der 1897 erfolgten Erhöhung der Effektenumsatz- steuer frei. Diese trifft nicht die Wertpapiere mit fixen Zahlungsterminen und Beträgen. Der ganze Devisen- und Valutenhandel wurde nicht der Steuer unterworfen, was mit währungspolitiseben Rücksichten begründet wird. Vergl. Dr. K. Fr. v. Lempruch. Das Gesetz betreffend die Effektenumsatzsteuer. (Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, VII, Band, 1898, S. 306.)

4) Nominale 116,900.000 K.

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sich erklärt.1) Von anderen größeren Emissionen, die einen Zufluß fremder Valuten bewirkten, fanden statt: die Wiener Verkehrsanleihc II. Emission (Nominale 88,000.000 K), übernommen am 20. Mai von der Unionbank und dem Hause Mendelsohn & Co; Budapester Stadtanleihe (80,000.000 K, emittiert am 3. und 5.Februar),Temes-Bega-Regulierungsanleihef33, 800.000 K, emittiert am 6. Juli). Die im September übernommene Styproz. ungarische Investitionsanleiho kam erst im März des nächsten Jahres auf den Markt, Erwähnt sei noch die Bozen-Meraner Stadtanleihe (4. Juni), die den Betrag von 3,000.000 M. ausmachte und ausschließlich in Deutschland subskribiert und notiert wurde. Auch der Verkauf der Wiener Tramwayaktien nach Deutschland übte einigen Einfluß.

Die Österreichisch-ungarische Bank benutzte den günstigen Kursstand, um ihren Devisenbesitz zu vermehren. Die Schatzwechsel nahmen von Jahresbeginn bis Ende Mai von 10,000.000 fl. auf 25,400.000 fl. zu, die .sonstigen Aktiven* von 8,300.000 fl. auf 21,200.000 11. Im Juni, Juli und August nahm der Devisenbesitz wieder ab. Vom höchsten Stande von

27.800.000 fl. (am 15. Juni) fielen die Schatzdevisen bis Ende August auf

21.100.000 fl, auch die „sonstigen Aktiven*, die große Schwankungen durchmachten, verringerten sich beträchtlich. Es hing dies zusammen mit dem langsamen Steigen des Berliner Privatdiskonts, dem sich Mitte August auch der Londoner anschloß. Während aber der Berliner Kurs sich nur sehr langsam hob und auch durch die Diskonterhöhung der Iieichsbank (6. September von 3 auf 4 Proz.) nicht beeinflußt wurde, stieg Mitte August der Londoner Kurs sprunghaft von ll‘J'45 bis auf 11980. Er sank zwar in den folgenden Monaten wieder um 15 kr.*) aber der Goldimport hörte Mitte August auf. Ohnehin war der Nutzen bei dem hohen Goldpreis (anfangs August 77" 1 1 */,) nur sehr gering, die .Neue Freie Presse* berechnet ihn auf etwa 600 fl. bei einem Import von 1,000.000 fl. und er fand oft nicht wegen dieses minimalen Nutzens, sondern nur in der Absicht statt, den Preis der Wechsel nicht noch mehr zu drücken und die Guthaben flüssig zu machen.

Der Eskompte der Bank war während des Sommers infolge des Gold- imports beträchtlich geringer als sonst. Trotzdem nahm sie den Eskompte auf offenem Markte nicht auf. um den Zinsfuß nicht zu drücken. Es gelang auch den Marksatz nahe der Bankrate zu halten, so daß eine beträchtliche Spannung zwischen dem ausländischen und dem österreichischen Diskont bestand und die Kurse sich günstig stellten. Mitte Juli eskomptierte der ungarische Finanziuinister die im August 1896 erworbenen 5,000.000 fl. Salinenscheine bei der Bank, was dieser sehr gelegen kam.

Da die europäische Ernte des Jahres 1897 sehr schlecht ausfiel, kam es zu großen Getreidezufuhren aus Amerika, wofür teilweise Effekten retour- niert wurden. Die Gefahr einer Goldausfuhr und der starke Herbstbedarf

fi Hauptsächlich der Credit Lyonnais versorgte seine Kundschaft mit Investi- tionsresten.

2) Hauptsächlich infolge des Zuflusses aus dem Zuckergeschäft.

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Ilii* Diskont- und Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank etc. 501

bewirkten eine schnelle Hinaufsetzuug der Diskontraten. Der österreichische Privatdiskont hielt sich vom September an auf der Höhe der Bankrate, die selbst nicht verändert wurde. Der Grund der Geldknappheit in Wien lag in den um etwa 70 Proz. gestiegenen Getreidepreisen, die den Betrag der um jene Zeit wichtigen Mühlenwechsel erhöhten, in den Wiener öffentlichen Bauten und den großen Einzahlungen des Konsortiums auf die ungarische Investitionsanleihe. Der deutsche Banksatz betrug im September 4 Proz., im Oktober und den folgenden Monaten 5 Proz., der englische im September 2 und 2 l/,, im Oktober und den folgenden Monaten 2'/» und 3 Proz.

Die Bank setzte die Goldabgaben, die wir bis Ende August verfolgt haben, in den folgenden Monaten fort. Insbesondere wurden große Mengen Napoleons für den Balkanbedarf und Oktober-Coupons der Südbahn- prioritäten sowie Marknoten abgegeben, letztere um dem höheren deutschen Diskont entgegenzuwirken. Auch aus Geschäften mit der Regierung ergaben sich Änderungen des Gold- und Devisenbestandes.' Der Betrag der Gold- wechsel nahm dabei im September und Oktober eher zu als ab; die großen Schwankungen in ihrer Höhe zeigen, daß es sich hauptsächlich um Verleih- ungen handelte. Im November begannen die Geldwechsel stetiger abzunehmen. Ende November stieg der Marknotenreport bis 17» Proz., so daß es nicht mehr rentabel war. österreichische Noteu nach Berlin zu senden. Gleichzeitig überschritten alle Kurse wieder die Parität in aufsteigender Richtung. Die Kurssteigerung vollzog sich rasch und erreichte am 13. Dezember den Höhepunkt. An diesem Tage standen die 3 Hauptdevisen 59-20, 120-70 und 47 82. Von da bis .lahresschluß vollzog sich aber ein heftiger Fall, am 30. Dezember war der Stand: 58"825. 120-00, 47 575. so daß die fran- zösische und englische Devise also bereits wieder unter der Parität notierten. Bemerkenswert ist, daß seit Anfang Dezember die Bank effektive Gold- abgaben gemacht hatte. Der Goldschatz verminderte sich vom 30. November bis 31. Dezember von 379,600.000 tl. auf 363,800.000 (1., die Schatzdevisen fielen in derselben Zeit von 27,500.000 H. auf 18,900.000 fl., die .sonstigen Aktiven* von 14.700.000 fl. auf 12,100.000 fl.

Im Jahre 1897 vermehrte sich der Goldschatz der Bank von 302,100.000 auf 363.800.000 fl. Tarifmäßig angekauft wurden 69,400.000 fl., in Geschäften eingenommen 119,200.000. der Goldausgang betrug 126.900.000 fl.

Das Jahr 1898 brachte einen wesentlich höheren Zinsfuß, der durch die kriegerischen Ereignisse, die Verschuldung des Kontinents an Amerika und die industrielle Hochkonjunktur in Deutschland erklärt wird. Österreich hatte eine bessere Ernte; infolge der völligen Mißernte des Vorjahres war aber trotzdem eine große Einfuhr an landwirtschaftlichen Produkten nötig, die bewirkte, daß zum ersten Mal nach vielen Jahren die Bilanz des Spezialhaudels (exklusive Edelmetall und Münzen) mit 12,179.000 fl. passiv war und ein bedeutender Abfluß von Edelmetall erfolgte. An der großartigen

') Ende September kaufte der österreichische Finanzminister für 10,000.000 fl. Salincnscheiue gegen Erlag von Gold ans den Kassabest&nden, Ende November tauschte er Noten gegen Gold, das aus Zellzählungen disponibel war.

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Heru.

Entfaltung der deutschen Industrie nahm die österreichische wenig teil. Der Devisenkursstand zu Jahresanfang war günstig, doch schon Ende Jänner begann der Londoner Kurs zu steigen und erreichte im April und Mai Höhepunkte. In diesen beiden Monaten hoben sich auch die anderen Kurse über die Parität, um im Sommer wieder unter sie zurückzusinken: erst der Herbst brachte eine neuerliche Verschlechterung der Wechselkurse.

Im Jänner trat zunächst die gewöhnliche Erleichterung des öeldstandes ein und die Notenreserve hob sich bis zur dritten Februarwoche auf 101,300.000 fl. Da im Jänner Nachfrage nach Londoner und Pariser Devisen herrschte, gab die Bank größere Beträge davon ab. dagegen wurden Berliner Wechsel stark angeboten. Am 20. Jänner wurde der deutsche Diskont von 5 auf 4 Proz. herabgesetzt, die Bank von England aber zögerte mit einer Ermäßigung, da der New Yorker Wechselkurs sich senkte. Anfangs Februar beschloß der Generalrat trotz der steigenden Notenreserve den Eskompte auf offenem Markte nicht aufzunehrnen, damit die Bank nicht zum Schaden der Valuta das Sinken des Zinsfußes beschleunige. Mitte Februar begann der Pariser und Berliner Kurs zu fallen, da infolge der Diskontspannung österreichische Wechsel- und Salinenscheine gesucht wurden. Am 18. Februar setzte die Reichsbank den Diskont von 4 auf 3 Proz. herab und am 21. nahm die österreichisch-ungarische Bank den Eskompte auf offenem Markte, der seit 4 Jahren sistiert war, wieder auf, und zwar zunächst zwischen S’/j und 33/„ Proz. Doth blieb dieser Satz auf feinste Wechsel und längere Sichten beschränkt. Ende Februar wurde sogar im böhmischen Landtag interpelliert, warum die Bank in Prag anstatt mit 3*/» bis 3’/i» Proz., wie in Wien und Budapest, mit dem höheren Satze 35/s eskomptiere, und über diese Zurücksetzung Prags Klage geführt. Die Behauptung, daß dieser Beschluß mit Rücksicht auf die anfangs März stattzuliudende Subskription der ungarischen Investitionsauleihe gefaßt wurde, ist wohl nicht begründet. Der Wiener Privatdiskont blieb im Februar und Mürz zwischen 3‘/t und 3V4 Proz., während der Pariser zwischen 2 und 1% Proz. und der Berliner zwischen 2’/« und 2% Proz. schwankte, somit eine wirksame Diskontspannung vorhanden war. Von größeren Subskriptionen fanden statt: am 7. März die 3'/iproz. ungarische Investitionaanleihe, am 19. März die Wiener Gasanleihe im Betrage von 60,000.000 K, beide brachten sehr große ausländische Kapitalien, besonders deutscher Herkunft, nach Österreich. Die Anschaffung der Valuta hiefflr bewirkte hauptsächlich neben der Diskontspannung, daß der Berliner und Pariser Kurs im Februar und März unter die Relation fielen.

Eine ungünstige Wendung nahm der Loudoner Wechselkurs, der auch auf die anderen Kurse rflekwirkte, sein tiefster Stand im Jänner war 119-90, im Februar erreichte er bereits den Stand von 120-30. im März 120*50 und am 22. April den Höchststand von 121-10. In seinen heftigen und sprung- weisen Schwankungen folgte er den Bewegungen des Londoner Privatdiskonts.

Die Gründe dieser Erscheinung waren folgende: Die großen Getreide- exporte Amerikas von 1897 waren großenteils mit Effekten, teilweise auch

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mit Wechseln gezahlt worden, die jetzt zur Einlösung kamen. Der ameri- kanisch-spanische Krieg stand vor der Tflr und Amerika suchte auf jede Weise Gold an sich zu ziehen. *i Tatsächlich fand seit Anfang März ein wenn auch nicht beträchtlicher Goldausgang aus London statt. Die Geld- knappheit wurde verschärft durch die Anhäufung grolier Guthaben der englischen Regierung bei der Bank und die Aussicht auf die bevorstehenden chinesischen und griechischen Anleihen.

Die politische Lage, der Goldausgang und das Gerächt von einer bevorstehenden Erhöhung der Bankrate bewirkten in der ersten Hälfte der zweiten Märzwoche ein Steigen des Londoner Diskonts bis 81/» Proz., das ein Wachsen des Londoner Kurses in Wien bis 120-45 verursachte. Zum ersten Mal seit der Baring-Krise floß wieder Gold aus Österreich nach London, und zwar 160.000 £. Doch schon in der zweiten Wochenhälfte erfolgte ein Rückgang, der Diskont fiel iu der dritten Woche bis 2w/n Proz. der Kurs bis 120-25. Am 22. März fand die Subskription auf die chinesische Anleihe von 16,000.000 £ statt. Am 28. bis 29. März stand der Privat- diskont neuerdings auf 3 bis 3'/8 und der Wechselkurs auf 120-45 bis 120 50. Bis Ende März waren etwa 250.000 £ aus Österreich nach London gegangen. Nach einer neuerlichen Senkung stiegen Diskont und Kurs wieder rasch. Am 7. April setzte die Bank von England den Diskont auf 4 Proz. hinauf. Am 9. folgte die Reichsbank auf dieselbe Höhe. Der Kriegszustand zwischen Amerika und Spanien begann am 21. April. Am 22. erreichte der Londoner Privatdiskont die volle Höhe des Banksatzes und der Wiener Kurs auf London den Stand von 121T0. Doch schon am nächsten Tage begann ein rascher Fall. Genau eine Woche später war der Stand 3*/s Proz. respektive 120-65. Die Ursache davon war, daß nach Ausbruch des Krieges alles nach Amerika bestimmte Gold in London blieb und die Rank von England Oberdies den Goldzufluß durch zinsfreie Vorschüsse und Erhöhung der Ankaufspreise fördert«, was zu einer großen Vermehrung ihres Metall- schatzes und zu einem Druck auf den Diskont führte. Mitte Mai bewirkten die griechische Anleihe und andere Umstände ein neuerliches Steigen auf 120.65. Doch der Londoner Geldstand besserte sich schnell, bis Ende Mai fiel der Privatdiskont auf 2*/4, so daß die Bank von England am 29. Mai ihre Rate auf 8*/» Proz. hcrabsetzte. Einen Monat später war die Privat- rate l*/u Proz. und die Bank ging am 30. Juni auf 2' ä Proz. herab. Auch in Paris herrscht« große Flüssigkeit, nur in Berlin verursachten große Neuemmissionen und Getreideimporte einen knapperen Geldstand. Die Folge davon war. daß von Juni an die Londoner und Pariser Kurse unter Parität notierten, während der Berliner Kurs sich knapp über der Relation hielt. Die Österreichisch-ungarische Bank hatte während der kritischen Zeit versucht, das Agio hauptsächlich durch Devisenabgaben zu bekämpfen, die anfänglich leihweise, später im Verkaufswege erfolgten. Da sie aber nicht mehr viel englische Devisen hatte, gab sie überwiegend deutsche Wechsel ab, um so

Die Situation war ähnlich wie im Jahre 1861 vor Ausbruch des Bürger-Krieges (vergl. Goschen, Theorie of foreign Exchanges).

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indirekt den englischen Kurs zu beeinflussen. Die Schatzwechsel nahmen von Anfang Jänner bis Ende Mai von 19.100.000 H. auf 2.7OO.O00 fl. ab, der Goldbestand in derselben Zeit von 364.400.000 auf 348,400.000 fl.1) Als Mitte Mai schon fast der ganze Devisenvorrat des Schatzes aufgebraucht war. ersuchte die Bank die Regierung um die Bewilligung, den in Devisen angelegten und vorläufig dem Reservefond zugeschriebenen Relationsgewinn von 13.500.000 fl. angreifen zu dürfen, ohne damit eine Erweiterung des Notenausgaberechtes herbeifflhren zu wollen. Die Regierung stimmte auch zu, doch machte die bald eintretende Besserung die Ausführung unnötig. Wie die große Empfindlichkeit des englischen Wechselkurses gegen jede .Schwankung des Londoner Privatdiskonts beweist, hat die Devisenpolitik keinen sehr großen Einfluß geübt. Bemerkenswert ist jedoch, daß der Berliner Kurs während April und Mai zwar dem Londoner genau folgte, aber uur in abgeschwächtem Maßstabe. Möglicherweise ist dies den Abgaben der Bank an deutschen Valuten zu danken gewesen. Die Diskontschraube hat die Bank dagegen nicht in Anwendung gebracht, obwohl sie nach der englischen Zinsfußerhöhung am 7. April den Privateskompte einstellte und Mitte Mai der Regierung gegenüber anerkannte, daß eine Restriktion durch Diskonterhöhung in Aussicht zu nehmen sei.

Obwohl der Umschwung auf dem Markt« diese unnötig machte, trat doch eine Restriktion der Umlaufsmittel als naturgemäße Folge der Devisen- politik der Bank ein; von März bis Jahresscbluß hatte die Bank einen bedeutend höheren Eskompte als im Vorjahre. Der Mehrbedarf betrug zu Ende der Monate: März + 3,700.000 fl., April -f- 21,400.000 fl.. Mai 4- 43,300.000 fl., Juni 4- 63.400.000 fl., Juli 4- 64,600.000 fl., August 4- 39.500.000 fl.. September + 50,300.000 fl.. Oktober 4- 60,800.000 fl., November -f- 65,400.000 fl., Dezember 4- 51.600.000 fl.

Auch der Privatdiskont entfernte sich nicht sehr weit von der Bankrate. Diese erhöhte Inanspruchnahme der Bank erklärt sich daraus, daß für die verkauften und ins Ausland abgeflossenen Devisen- und öoldbeträge Noten in die Bank zurflckgelangten und dadurch die außerhalb der Bank vorhandenen Kreditmittel vermindert wurden. Der Abfluß von etwa 60,000.000 fl. Gold und Goldforderungen ins Ausland entspricht ungefähr der höchsten Eskompte- steigerung. Das Festhalten der Bank an dem 4proz. Zinsfuß und ihr durch diese Verhältnisse gestärkter Einfluß trugen zur Erzeugung einer Diskont- spannung gegenüber dem Auslande und zur Besserung der Wechselkurse bei. Der tiefste Stand des Londoner Wechselkurses war im Juni 119'75, im Juli 1 19*85, im August 120*00. Aber schon seit August begann er langsam zu steigen und überschritt schon seit September zeitweilig die Parität. Die Österreichisch - ungarische Bank hatte die günstigen Kurse zu Devisenankäufen benutzt, die Schatzdevisen stiegen vom Ende Mai bis Ende August von 2,700.000 fl. auf 21.700.000 fl. Die Ursache der

*) Seit dem höchsten Stande des Jahres 1897 hatte die Bank (ohne Errechnung der Veränderungen in den , sonstigen Aktiven“) an .Schatzdevisen und Gold 52,100.000 fl. verloren.

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Versteifung in London seit Mitte August lag jenseits des Ozeans, die Be- endigung des spanisch-amerikanischen Krieges batte dort eine Steigerung der industriellen Tätigkeit zur Folge, die Kriegsanleihe und das Erträgnis der erhöhten Kriegssteuern lag angehäuft in den Kegierungskassen und blieb dem Markte entzogen, während bereits eine außerordentlich günstige Ernte ein großes Oeldbedflrfnis erzeugte.1 Der steigende New Yorker Diskont und das Fallen des Kabelkurses rückten Ende August die Möglichkeit eines Goldexportes aus England nahe und hoben den dortigen Privatdiskont. Am 22. September setzte die englische Bank den Diskont von 2*/u auf :t Proz. hinauf, um der Goldentnahme entgegenzuwirken. Iw Oktober wurden zwar die New Yorker Geldverhältnisse günstiger, doch die durch die Faschoda- Angelegenkeit erzeugte politische Unruhe, die hohen Ansprüche der deutschen Industrie und die künstliche Restriktion des Geldmarktes durch die Ent- nahme von Geld seitens der Bank von England übten weiter einen Druck aus. Der Londoner Kurs in Wien stieg ziemlich rasch weiter und er- reichte am 27. Oktober den Höhepunkt von 120'70. Nach einem raschen Fallen um 20 kr. hob er sich noch einigemale um kleinere Betrüge und erreichte um Mitte Dezember neuerlich den Stand von 12070. um dann bis JahresschluB schnell um 30 kr. zu fallen. Der französische Kurs blieb bis JahresschluB von heftigen Schwankungen frei und hob sich nur ein wenig über die Parität. Dagegen stieg der Berliner Kurs langsam und ohne Sprünge von 5S'80 im August bis Ö'.H)7 Ende Dezember. Im Gegensätze zu früher standen seine Bewegungen in keinem Ähnlichkeits- Verhältnisse zu denen des Londoner Kurses. Diese Bewegungen waren be- gleitet von Diskonterhöhungen der Märkte und Banken. Die Österreichisch- ungarische Bank verminderte ihren Bestand an Schatzdevisen zwischen Ultimo August und Ultimo Dezember von 21,700.000 fl. auf 6,700.000 11. Die .sonstigen Aktiven* fielen von ihrem Höchststände am 15. September bis Jahresscbluß von 28.700.000 fl. auf 8,600.000 fl. Die großen Devisenabgaben bewirkten neuerlich eine Restriktion, die um so mehr empfunden wurde, als das Getreide und Zuckergeschäft sowie der durch den niedrigen Wasser- stand gehemmte Verkehr im Oktober große Ansprüche stellten. Bereits Ende September trat ein steuerpflichtiger Notenumlauf von 8,100.000 fl. ein, der Ende Oktober 40,200.000 fl. betrug und nach einer Abnahme im November und Dezember zu Jahresscbluß auf 44,900.000 fl. stieg. Am 10. Oktober erhöhte die Deutsche Reichsbank den Diskont anf 5 Proz., also um 1 Proz. über die Wiener Rate. Der drückende Geldbedarf veranlaßte den ungarischen Finanzminister am 4. Oktober bei Privatinstituten 6,000.000 fl. gegen 3proz. Verzinsung zu erlegen, was nur eine unbedeutende Erleichterung bewirkte. Trotz der schwierigen Lage des inländischen Marktes und des ungünstigen Standes der Wechselkurse wollte der Generalsekretär der Österreichisch- ungarischen Bank, Mecenseffy, den seit 2 *1, Jahren bestehenden Zinsfuß von 4 Proz. nicht aufgeben, sondern schlug am 13. Oktober in der Sitzung des Verwaltungskomitees das aus 4 Österreichern und 2 Ungarn bestand.

*, ViJe -The Economitt* (London) 1898, 8. 1281, 1377 ff.

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vor. zuerst den ganzen freien Devisenvorrat zu erschöpfen und erst wenn man zur letzten Reserve dem Relationsgewinn gelange, den Zinsfuii zu erhöhen. Doch das Komitee beschloß wie .es hieß mit 4 gegen 2 Stimmen eine Diskonterhöhung auf 4'/» Proz. dem Generalrat in Vor- schlag zu bringen. Auch in der Generalratssitzung blieb Mecenseffy bei seiner Ansicht doch ohne Erfolg. Der Zinsfuß wurde auf 4 1/4 Proz. erhöht, am selben Tage ging London auf 4 Proz.. Petersburg auf 5l/j Proz. Selbst die Hank von Frankreich, die den Diskont seit 1894 nicht erhöht hatte, rückte ihn um 1 Proz. hinauf. Es wäre um so sonderbarer gewesen, auf 4 Proz. stehen zu bleiben, als ja die Bank von dem großen steuerbaren Notenumlauf 5 Proz. zu zahlen hatte; die Bank hätte also den Kredit- nehmern direkt 1 Proz. geschenkt; nach der halbprozentigen Erhöhung betrug das Geschenk doch wenigstens nur die Hälfte, über die Gründe der allen Kegeln der Bankpolitik widersprechenden Haltung des Generalsekretärs herrschte die allgemeine Meinung, daß Ungarns Einfluß gegen die Diskont- erhöhung gewesen sei. Am selben Tage, an dem die Generalratssitzung stattfand, erklärt« übrigens auch der Obmann des Ausgleichsausschusses und Schöpfer des neuen Privilegs, Ungarn sei gegen die Zinsfußsteigerung. Dies bestätigte in der folgenden Sitzung der Finanzminister Dr. Kaizl. der ungab. beide Regierungen seien Gegner der Maßregel gewesen.1)

Die Anspannung des deutschen Geldmarktes machte inzwischen weitere Fortschritte. Die Reichsbank setzte ihren Diskont auf 5’/* Proz. tü. November) und 6 Proz. (19. November) hinauf. Die Österreichisch ungarische Bank folgte am 25. November mit einer Erhöhung auf 5 Proz. und opferte außerdem einen großen Teil ihres Devisenbesitzes, wie aus den bereits angeführten Zahlen sich ergibt. Obwohl fortdauernd große Beträge in Noten und Gold von Wien nach Berlin flössen, gelang es doch, das Agio auf einer erträglichen Höhe zu halten. Auffallend ist es, daß trotzdem der Berliner Diskont weit höher stand als der Londoner, doch die englische Devise eine viel größere Kurssteigerung durchmachte als die deutsche. Da die Schatzdevisen in die Notendeckung eingerechnet werden, mußte ihre Abnahme eine Erhöhung der Steuerpflicht der Bank befördern. Auch effektive Goldabgaben doch nur in geringerem Umfange nahm die Bank vor, die Hauptmasse des aus- fließenden Goldes stammte aus den seitens der Regierung bei den Privat- instituten deponierten Beträgen. Am 13. Dezember zog der österreichische Finanzminister für 10,000.000 fl. Salinenscbeine aus den Überschüssen des Jahres 1897 ein und erlegte dabei denselben Betrag in Gold bei der Bank. Gegen Jahresschluß trat auf allen Märkten eine große Geldteuerung ein. die Bank von Frankreich wies fremde Finanztratten ab, um eine Erhöhung des Diskonts zu vermeiden. Dies bewirkte in Berlin eine Reportsteigerung bis 8 Proz. und eine große Nachfrage nach deutschen Kassennoten in Wien. Hier mußte bei der letzten Versorgung für alpiue Montanaktien bis 15 Proz. Kostgeld gezahlt werden, für die übrigen Papiere 7 bis 10 Proz. Trotzdem

*) VergL die Darstellung in der , Neuen Freien Presse“ vom Oktober 1S9Ö (^Economist- Nr. 12.259, 12.261 bi« 12.26^ j.

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war der Jahresultimo von einem Rückgänge des Diskonts und der Devisen begleitet, da man viel zu große Reserven angeschafft hatte und der erwartete große Bedarf ausblieb. Laut Kundmachung vom 29. Dezember tilgte der Finanz- minister Salinenscheine für 20,050.000 ti., wodurch ihr Gesamtumlauf auf 49.500.000 fl. herabgesetzt wurde. Schließlich ist noch zu erwähnen, daß am Jahresultimo der österreichische Finanzminister 10.000.000 fl. Steuerwechsel bei der Bank eskomptieren ließ und außerdem die Finanzverwaltung dem Giroverkehr der Bank beitrat, wodurch die Möglichkeit entstand, Steuer- wechsel durch die Bank einzukassieren. Im Jahre 1898 nahm der Gold- besitz der Bank von 368,801 >.000 fl. auf 359,400.000 fl. ab. Die Summe der durch den Kauf erworbenen Valuten, Devisen und anderen Forderungen an das Ausland betrug 354.600.000 fl., anderseits gelangten 321,800.000 fl. durch Verkauf und 89.200.000 fl. durch Verleihung wieder in den Verkehr. Im Wege des Tausches wurden ebenfalls Valuten und Devisen dem Markte Bberlassen. der lTmsatz betrug hier 268,000.000 fl.

Das Jahr 1899 brachte die Hochkonjunktur in Deutschland, die in Österreich freilich keine ähnliche Bewegung hervorrief, eine gute Ernte und gesteigerte Preise aller Produkte. Im letzten Jahresdrittel machte sich der Einfluß des Transvaalkrieges durch Unterbindung der Goldzufuhr und starke Anspannung des englischen Marktes fühlbar.

Hervorzuheben ist auch der Ober das ganze Jahr verteilte hohe An- leihenbedarf auf den auswärtigen Märkten.1) Die Devisenkurse standen ent- sprechend den internationalen Diskontverhältnissen fortdauernd über Parität ohne jedoch (mit Ausnahme des Londoner großen Schwankungen zu unter- liegen. Der deutsche und Pariser Kurs bildete fast das ganze Jahr hindurch eine wenig bewegte Linie, die sich zwischen 12 und 27 kr.-) über der Parität hielt. Die zu Jahresanfang eintretende Erleichterung war weit weniger ausgiebig als in früheren Jahren. Zwar setzte die Reichsbank am 17. Jänner den Diskont von 6 auf 5 Proz. herab und die Bank von England zwei Tage später den ihrigen von 4 auf 31/, Proz., aber die Österreichisch - ungarische Bank folgte sowohl mit Rücksicht auf die Wechselkurse als auch infolge der Steifheit des inneren Marktes, die ungewöhnlicherweise nach Ultimo Jänner zu einer Eskomptesteigerung führte, diesem Vorbild nicht nach. Sie bemühte sich auch, durch Devisen- und Goldabgaben den Rück- gang der Wechselkurse zu befördern. Die Schatzdevisen fielen im Jänner von 11,700.000 fl. auf 5,200.000 fl., auch der Goldschatz nahm um 1,100.000(1. ab. Mehr als einen vorübergehenden Erfolg hatte dies nicht und die Bank begann daher vom Anfang Februar an ihren Devisenbesitz zu stärken, ohne Rücksicht darauf, daß die Wechselkurse über der Parität standen. Zwischen Ultimo Jänner und Anfang Juli hoben sich die Schatzdevisen von 5.200.000 fl. auf 26.2OO.O00 fl., ohne daß die Wechselkurse sich merkbar versteift hätten.

') Vergl. die Zusammenstellung in deu Tabellen zur Withrungsstatistik II. Ausgabe 2. Teil. 1901. S. 155.

J) Je 10 kr. bedeuten bei der französischen Devise 0-21 Proz.. bei der deutschen OlT Proz. vom Pari.

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Man darf also den Devisenoperationen auf längere Perioden keinen stark wirkenden Einfluß zuschreiben. Dagegen kommen leichte Änderungen des Zinsfußes unter Umständen in scharfen Kurssteigerungen zum Ausdruck. Auch der Einfluß des öffentlichen Geldbedarfes konnte die Stetigkeit der Wechselkurse nicht stören. Weiler die im Jänner emittierten Anleihen fflr Bosnien und die Donauregulierung, noch die anfangs Februar subskribierten 200.000.000 Mark der deutschen und preußischen Anleihen noch die zahl- reichen anderer deutschen Staaten machten sich in dem Stande der Valuta fOhlbar. Die Verbilligung des Geldes machte weitere Fortschritte. Anfangs Februar ging die englische Bank auf t) Proz. herab, die Reichsbank am 21. Februar auf 4‘lS Proz. Die österreichisch ungarische Bank bewahrte noch immer ihre Zurückhaltung und setzte den im Herbst erhöhten Satz von 5 Proz. nicht herab. Eine Hauptursache des fflr die Jahreszeit ungewöhnlich hohen Diskonts lag fflr Österreich in der großen Haussebewegung besonders in Montanwerten, weitere Gründe waren eine Stockung im Getreidehandel infolge der großen aus dem Vorjahre Testierenden Mehlvorräte, die bedeutenden Devisenabgaben und die dadurch verursachte Restriktion, schließlich ein durch die Steifheit der auswärtigen Märkte erzeugter Effektenrflckfluß. Im März und April flbte der große Budapester Weizenring einen merkbaren Einfluß aus. Die Tendenz des Effektenmarktes zeigte sich auch in den hohen Reports, die bei den Kulissenwerten Mitte Februar bis 16 Proz. stiegen. Ende März 7 bis 9 Proz. betrugen und erst im April sich auf 6 Proz. ermäßigten.

In der zweiten Aprilwoche erfolgte ein ziemlich starkes, aber nicht lange anhaltendes Steigen des Londoner Kurses, auch die anderen Kurse hoben sich etwas. Der Grund war in der Einzahlung auf die chinesische Anleihe und Neuemissionen von südafrikanischen Minenaktien zu suchen. Die Bank gab einige Millionen Devisen aus den „sonstigen Aktiven* ab. In wenigen Tagen war der alte Kursstand wieder hergestellt. Am 9. Mai sank die deutsche Bankrate auf 4 Proz., zehn Tage später entschloß sich die Österreichisch-ungarische Bank zu folgen und ermäßigte ihren Diskont von 5 auf 4l/j Proz. Aber schon war die Zeit einer neuerlichen Geldverteuerung nahe und die Bank hatte wohl in einem Vorgefühl des Kommenden bloß eine halbprozentige Herabsetzung ihres Zinsfußes vorgenommen. Vorläufig machte zwar die sinkende Tendenz noch Fortschritte. Seit Anfang Juni war der New Yorker Kurs so günstig geworden, daß Gold von Amerika nach England floß und der Privatdiskont bis 2 Proz. fiel. Der Umschwung kam von Deutschland. Am 19. Juni setzte die Reichsbank den Diskont von 4 auf 4*/t Proz. Die Ursache lag vor allem in dem enormen Kreditbedflrfnis des dem Gipfel sich nähernden produktiven und spekulativen Aufschwunges, ln London bewirkte dies Vorgehen und eine RQckziehung japanischer Guthaben vom Markte eine Versteifung, die aber bald wieder durch die reichlichen Goldzuflflsse gemildert wurde. Die Bank von England war in letzter Zeit mit Hinblick auf die beträchtlich zusammengeschmolzene Goldreserve stark angegriffen worden, schon war der Transvaalkrieg im Herannahen und eine

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energische Stärkung der Bannittel geboten. Bereits seit der ersten Juli- woche begann der Privatdiskont zu steigen und erreichte am 12. Juli die Bankrate, der New Yorker Kurs wendete sich wieder nach unten und die Bank erhöhte am 13. Juli ihre Minimalrate von 3 auf 31/» Proz.. nachdem sie tatsächlich schon früher den neuen Satz in Anwendung gebracht hatte. Die Österreichisch-ungarische Bank, die bis Anfang Juli Gold und Devisen gekauft hatte, begann sofort mit bedeutenden Abgaben. Die Devise London erzielte ein Leihgeld, das Ende Juli 11'/« kr. betrug. In Österreich machte sich bereits der Erntebedarf fühlbar und der Privatdiskont, der sich über- haupt nicht weit von der Bankrate entfernt hatte, erreichte Ende Juli deren Höhe. Da der Berliner Diskont einige Zeit rückgängig war. entstand eine Spannung, die zur Plazierung deutschen Kapitals in Wien führte. Der deutsche Kurs war seit Mitte Juli im Sinken begriffen und stand sogar am 2. und 3. August 3 kr. unter der Parität der einzige derartige Fall im ganzen Jahre! Schon aber begann das Wettrennen zwischen der deutschen und englischen Bank um die Gewinnung eines möglichst starken Geld- vorrates.1) Am 7. August steigerte die Reichsbank ihren Diskont auf 5 Proz. Der Berliner Kurs kehrte sofort auf seinen früheren Stand etwa 15 kr. über Pari zurück. Die Spannung in den Bankraten drückte sich aber in keinem Steigen des Berliner Kurses über das frühere Niveau aus, er notierte sogar etwas tiefer als zur Zeit, da der frühere Reichsbanksatz galt. Es mag dies dem Umstande, daß der Berliner Privatdiskont sich nicht gleich stark gehoben hatte, oder auch den Devisenabgnbeu der Bank zugeschrieben werden. Anfangs September versetzte die Transvaalfrage und der Dreyfusprozeü die Börsen in Verstimmung. Am 18. Septeuiber erhöhte die Österreichisch- ungarische Bank den Zinsfuß von 41/, auf 5 Proz. Anfangs Oktober begannen die Wechselkurse scharf zu steigen, allen voran der Londoner, der von 120-65 Ende September) binnen wenigen Tagen auf 121T5 (7. Oktober! stieg. Am 3. Oktober setzte die englische Bank den Diskont auf 41/,, die Reichsbank auf ti Proz. und nur drei Tage später stieg die englische Bankrate auf 5 Proz., die der östeneichisch-ungarischen Bank auf (i Proz. Dieses energische Vorgehen und die bedeutenden Devisenabgaben be- wirkten. daß, als am 9. Oktober der Krieg ausbrach, die Kurse bereits wieder im Fallen waren und speziell der englische Ende des Monats wieder die alte Höhe von 120 05 erreicht hatte. Bis Mitte Oktober war der Eskompte der Notenbank höher gewesen als im Vorjahre. Jetzt erfolgte ein Umschwung. Der starke Geldbedarf der letzten Zeit war offenbar zum Teil spekulativer Natur, dies zeigte das starke Steigen der Giroguthaben von 16,800.000 fl. (7. September) bis 30.200.000 ft. (7. Oktober). Die Ein- reichungen waren eben hauptsächlich in der Absicht geschehen, noch vor der Diskonterhöhung billiges Geld zu erlangen und sind die erhaltenen Betrüge deshalb sofort auf Girokonto übertragen worden, ln den nächsten Wochen

') Die finanzielle Lage Deutschland» und Englands in jener Zeit ist oft dargestellt worden, so daß wir nur die Ergebnisse bezüglich des Diskonts anführen. Vergl. z. B. die Reichsbank. 187«— 1900, S. 175 ff.

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wurden diese Gelder allmählich abgehoben, ln der Mitte der dritten Oktober- woche vollzog sich ein heftiger Kurssturz in Montanwerten, deren Kurs in ganz Obertriebener Weise gesteigert worden war. Gleichzeitig mit diesem schweren Zusammenbruch der Überspekulation erholten sich die Kenten- kurse wieder, die bis dahin unter dem überschätzten Zinsfuß und einem Rückfluß aus dem Ausland gelitten hatten. Auf den westlichen Märkten begann der Diskont zu weichen, da ein reichlicher Goldzufluß in Aussicht stand und die englische Bank ermäßigte selbst den Eaglepreis. In Wien übte der infolge des flotten Ganges des Getreidegeschäftes geringere Bedarf Budapests einen erleichternden Einfluß, die Banken hatten ihre im Report- geschäft angelegt gewesenen Kapitalien dem Eskompte zugewendet und drei großen Instituten (Kreditanstalt, Bankverein, Unionbankl standen infolge ihrer Kapitalsvermehrung bedeutend gestiegene Mittel zur Verfügung. Be- merkenswert ist auch, daß der Besitz der Bank an bOrseniuäßig nugekauften eigenen Pfandbriefen eine ganz außerordentliche Steigerung erfahren hatte; vom Jahresanfang bis Jahresschluß hob sich ihr Betrag von 2.600.000 fl. auf 13,500.000 fl. Die Ursache lag in dem Bestreben, den Kurs der Pfand- briefe, den die spekulative Übertreibung der Effektenkurse schädigte, zu schützen. Diese Operation mußte natürlich die auf dem Markte vorhandene Notenmenge vermehren, wenn auch der Betrag nicht sehr bedeutend war. Seit dem Kurssturz am 18. Oktober war 'die Börse nach einer kurzen Er- holung in gänzliche Stagnation verfallen und die Industrie schränkte unter dem Einfluß des hohen Diskonts ihren Bedarf ein. Es kam selbst vor, daß größere Industrielle Hypotheken aufnahmen, um von dem billigeren Hypo- thekensatz zu profitieren. Alle diese Umstände erleichterten den inneren Markt, der Bankeskompte war seit Mitte Oktober geringer als im Vorjahre und diese Differenz betrug Ende November zirka 39,000.000 fl., wenn man die 10.000.000 11. Steuerwechsel berücksichtigt, sogar 49,000.000 fl. Von prinzipieller Wichtigkeit für die einheitliche Diskontpolitik war die durch das 1. Kapitel des II. Teiles der kaiserlichen Verordnung vom 21. September 1899. H.-G.-Bl. Nr. 176, verfügte und vom 1. Novembar an tatsächlich gewordene Lösung des Verhältnisses zwischen der Zirkulation der Salinen- scheine und Staatsnoten. Durch diese Maßregel wurden die Salinenscheine einfach Schatzanweisungen, die für die Valuta keine Bedeutung mehr besitzen. Übrigens war durch Einlösungen der Umlauf bereits sehr herabgemindert und der größere Teil befand sich im Besitze der Postsparkasse und diverser Fonds, so daß in freier Zirkulation höchstens 15 bis 16,000.000 fl. standen. Gleichzeitig wurde die durch diese Änderung nötig gemachte Erhöhung des Zinsfußes der Scheine vollzogen.

In der Zeit der steigenden Devisen hatte die Bank große Mengen Goldwechsel verkauft. Zwischen Anfang Juli und Jahresschluß sanken die Schatzdevisen von 26.200.000 fl. auf 10,100.000 fl. Der Goldbesitz nahm in den letzten Jahresmonaten infolge von Regierungserlägen l) bedeutend zu

l) Hauptsächlich laut Übercinkuimneu vom 2-1. Juli 1894 bezüglich des Austausches von LaudesgoldmOnzen gegen Silbergulden zur l'rägnng von Fünfkronenstückeu.

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und betrug am 81. Dezember 398.000 000 fl. gegen 359,200.000 fl. zu Jahresbeginn.

Im Dezember hatte die Bank noch eine harte Probe zu bestehen. Vom 1. Dezember an betrug die englische Bankrate 6 Proz. und am 19. Dezember mußte die Beiehsbank zum Schutze ilireg Goldes den denkwürdigen Satz von 7 Proz. einfilhren. Die Bank von Frankreich erhöhte zweimal, am 7. und 22. Dezember den Diskont, und zwar zuerst auf 31/, dann auf 4*/t Proz. Außerdem wurden noch die anderen kleinen Mittel der Gold- politik angewendet: zinsfreie Vorschüsse und Erhöhung der Ankaufspreise seitens der Bank von England, Prämien seitens Frankreich. Der Grund für diese Geldverteuerung lag einesteils in den bereits geschilderten wirtschaft- lichen und politischen Verhältnissen Englands und Deutschlands, haupt- sächlich aber in den großen Goldabflüssen aus der englischen und französischen Bank nach Argentinien. Der Wollpreis und der Wollimport aus Südamerika waren in den letzten Monaten außergewöhnlich gestiegen und die Reserve der englischen Bank sank unter dem Einfluß der sich verschlechternden Wechselkurse bedeutend unter 20.000.000 £.') Es erregte das größte Auf- sehen. als die Österreichisch-ungarische Bank am 6. Dezember plötzlich den Zinsfuß auf 5‘/. Proz. herabsetzte. Die Maßregel kam so überraschend, daß noch am selben Tage die ersten Firmen zu 6 Proz. eskomptierten und die Stornierungsklausel für den Fall einer Ermäßigung der Banbrate allgemein weggelassen wurde. Begründet wurde die Maßregel mit dem Verschwinden des steuerpflichtigen Notenumlaufes, der von 14,170.000 fl. (Ultimo Oktober) auf 6,250.000 fl. (7. November gesunken war und hierauf durch eine stetig steigende Notenreserve ersetzt wurde, die Mitte Dezember den Höhepunkt von 46,700.000 fl. erreichte.*) Die österreichisch-ungarische Bank hatte also einen Zinsfuß, der tun '/, Proz. unter dem deutschen stand. Die Folge war ein sehr scharfes Steigen der englischen uud ein etwas weniger ausgeprägtes der französischen Kurse, während die deutsche Devise höchst merkwürdiger- weise sehr wenig berührt wurde. Der Höchststand der englischen Wechsel war gegen Ende Dezember 12T70, der französischen 48' 10. der deutschen 5910, was einer Entwertung unserer Valuta von respektive T34, 1'03 und 0-54 Proz. entsprach. Die Beurteilung dieser Handlung war sehr ver- schieden. Der Zentralverband der Industriellen dankte dem Generalrat in einer Eingabe für diese Erleichterung des industriellen Kredits und wünschte eine weitere Ermäßigung, Theoretiker und Finanzleute übten dagegen scharfe Kritik an diesem ungewöhnlichen Schritt, z. B. eine Versammlung von Vertretern der nordböhmischen Sparkassen. Bezeichnend ist. daß in der folgenden Sitzung des Geueralrates der Generalsekretär die Bank gegen den

*) Sie betrug nach den aufeinanderfolgenden tVochenausweisen seit Ende November 19.S40.000. 18,950.000, 18.010.000. 17,340.000, 17.850,000 £.

*) Am 31. Dezember war wieder ein «teucrpflichtiger Umlauf von 9,920.000 fl. vorhanden, der aber bloß dem Umstand sein Dasein verdankte, dal) der Ultimo auf einen Sonntag fiel, dem ein Feiertag folgte, so dal) die grollen Inkassi erst vom 2. dünner an: zur Geltung kommen konnten.

Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung. XU. Band. 35

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Vorwurf verteidigte, den Diskont nicht erhöht tu haben. Das wäre freilich sehr zu überlegen gewesen, aber jedenfalls war eine Herabsetzung des Diskonts in solcher Lage von recht anfechtbarem Werte. Eine sehr regel- widrige Erscheinung war das geringe Steigen der Berliner Devise, die vom 7proz. Diskont kaum betroffen zu sein schien. Man kann hieraus schließen, daß die ausländischen Guthaben in Österreich sehr gering1) und der Vorrat fremder Wechsel bedeutend war oder daß die Devisenverkäufe der Bank diese Wirkung hervorgebracht hatten. Die Schatzdevisen nahmen im Dezember um 11,270.000 fl., die .sonstigen Aktiven* um 8,210.000 fl. ab. Seit der dritten Dezemberwoche war der amerikanische Goldzufluß nach London bedeutend und der Londoner Privatdiskont ging von 7 Proz. bis unter 6 Proz. zurück, so daß in den letzten Tagen des Jahres auch die Devisenkurse zu sinken begannen. Interessant ist, daß damals die Möglichkeit eines Gold- vorschusses seitens der Österreichisch-ungarischen Bank an die Bank von England erörtert wurde. Im Zusammenhänge mit den hohen Kursen erfolgte auch ein ziemlich beträchtlicher Goldeiport ans Österreich.

Jm Jahre 1809 vermehrte sich der Goldschatz der Bank von 359,400.000 fl. auf 393,000.000 fl. Davon erlegten 19,600.000 fl. die beiden Finanzver- waltungen. Durch Kauf wurden 372,300.000 fl. an Devisen und Valuten erworben, davon 308,400.000 fl. durch Verkauf und 57,500.000 fl. durch Verleihung wieder in den Verkehr gebracht. Im Tauschgeschäft betrug der Umsatz 308,500.000 fl.

Das Jahr 1900 ist durch die kriegerischen Ereignisse in Transvaal und China sowie durch den Umschwung in der Konjunktur gekennzeichnet. Die unerhörte Preisübertreibung und Überspekulation führte zur Krise, an der auch Österreich mehr Teil nahm als an dem vorhergegangenen Aufschwung. Eine schlechte Ernte und eine minder günstige Handelsbilanz blieben nicht ohne Einfluß auf die Geldverhältnisse. Einen großen Teil des Jahres hin- durch — bis September bestand ein bedeutendes Agio, das erst im letzten Jahresdrittel sich schnell senkte. Die Devisenkurse wiesen dabei eine große Ähnlichkeit ihres Ganges auf. Am höchsten stand im ganzen Jahre der Pariser Kurs, worin sich die Wirkung der Weltausstellung auf die Zahlungs- bilanz äußerte. Dann folgte der englische Kurs, der unter dem Einflüsse der großen Gelderfordernisse des Krieges stand. Der deutsche Kurs notierte am tiefsten.

Mit dem 1. Jänner trat das neue Privilegium der Bank in Kraft, das mehrfache Änderungen in den Ausweisen hervorbrachte. Besonders wichtig war die große Vermehrung des Goldschatzes in der zweiten Jahreswoche. Von nun an erscheinen auch alle die Bank betreffenden Geldziffern in Kroneu.

Die Erleichterung, die sich bereits Ende Dezember angekündigt hatte, stellte sich im Jänner ein. Der Londoner Diskont, der Ende des Jahres noch 6 Proz. betragen hatte, fiel bis Ultimo Jänner auf 3 Proz.. hauptsächlich

'•) So Dr. W. liosenberg in zwei beachtenswerten Artikeln, die die Bankpolitik verteidigen (.Zeitschrift für Staats- und Volkswirtschaft“ Nr. 50 und öl ei 1899).

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unter dem Drucke der Goldzuflüsse aus Amerika und vom Kontinent. Auch an den anderen Plätzen fiel der Diskont, so daß bereits eine Österreich gfinstige Spannung entstand, die im Laufe des Monats den englischen und deutschen Kurs drückte. Die Reichsbank ermäßigte im Jänner ihren Diskont zweimal, von 7 auf 6 und von 6 auf 5*/» Proz., die englische Bank gar dreimal, von 6 auf 5, 4*/t und 4 Proz., die Bank von Frankreich folgte von 41/» auf 4 und 3*/j Proz. Am 22. Jänner ermäßigte auch die Österreichisch- ungarische Bank ihren Satz von 51/* auf 5 Proz. und am 6. Februar auf 4 '/» Proz. Doch bereits der März brachte wieder die ansteigende Tendenz des Privatdiskonts, der an allen Plätzen zeitweilig die Höhe des Bank- satzes erreichte und ihn in einigen Fällen sogar überschritt. Die Haupt- ursache lag in den großen Kriegsanleihen der englischen Regierung,1) und dem herannahenden Quartalschluß. Im März, April und Mai fand eine Reihe von größeren Anlehen für deutsche Staaten (Bayern, Württemberg, Baden. Sachsen) statt. Der Privatdiskont stand seit Februar in Wien tiefer als in Berlin und ungefähr ebenso hoch als in London, im März wurde die Differenz gegen Berlin bedeutend (zeitweise über 1 Proz.). Die geringere Geldknappheit Wiens findet in der völligen Stagnation der Börse und in dem großen Kohlengräberstreik’i während der drei ersten Monate ihre Be- gründung. Dieser Umstand, verbunden mit der infolge der englischen Siege wieder beginnenden Nachfrage nach Goldminenaktien bewirkten im Februar und März ein Steigen der Wechselkurse, deren Höhepunkte in der dritten Märzwoche liegen und für den englischen Kurs 243 (1-177 Proz. über Pari), für den deutschen 118 70 (0 967 Proz.) betrugen.’) Die französische Devise stieg noch weiter und erreichte erst Knde April mit 96-50 (1.338 Proz.) den Höchststand eine Folge der am 14. April eröffneten Weltausstellung, deren Beginn naturgemäß große Zahlungen in Paris seitens der fremden Aussteller und Besucher bewirkte.

Einiges Aufsehen erregte Mitte Mürz das Steigen der Lombarddarlehen der Bank um 8.500.000 K nicht nur wegen dieser zu solcher Jahreszeit ungewöhnlichen Bewegung selbst, sondern der Ursache halber, die in der Verpfändung von 10,000.000 K Bankpfandbriefen seitens der Postsparkassa lag. Die infolge der parlamentarischen Obstruktion uud der Anwendung des § 14 herbeigeführte Kassenleere der Regierung machte nämlich eine Stärkung des Barbestandes der Postsparkasse nölig. Der hiezu gewählte Weg wurde aber mit Hinweis auf Artikel 55 des Bankstatuts, welcher mit Ausnahme der unter gewisse Kautelen gestellten Wechseleskomptierung jedes Darlehen an die Finanzverwaltung verbietet, stark angefochten. Die Verteidiger dieser nur prinzipiell bedeutsamen Maßregel beziehen sich darauf, daß die Postsparkasse die ein rein staatliches Institut ist unter .Finanzver- waltung“ nicht verstanden werden könne.

') In der zweiten Märzwoche 30.000.000 £.

*) Der Streik vernrsachte große Koldeniiuportc an Stelle der sonstigen Importe. Nach zuverlässigen Aufstellungen soll mit 50.000 000 K der Schaden noch unterschätzt sein. Selbst viele Fabriken maßten den Betrieb einstellen oder einschränken.

>) Die Parität beträgt: 100 M = 1 17-563 K, 100 Frks. = 95-226 K, 10 i" = 240174 K.

36*

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Hertz.

Die Wechselkurse fielen Anfang April, hoben sich bis gegen Ende wieder um einen Teil der verlorenen Höhe respektive der französische Kurs noch höher und fielen dann den ganzen Mai. Die tiefsten Notierungen betrugen: 11825 1 0-585 Proz. Ober Pari, Ende Mai), 212*05 (0*781 l’roz., Anfang Juni) und 06*225 (1*049 Proz., Anfang Juni). Diese Bewegung entsprach der Spannung, die iu diesen Monaten zwischen dem wenig veränderten österreichischen Diskont und dem weichenden der westlichen Plätze, vor allem Berlins, auftrat. Die Beendigung des Kohlen- gräberstreiks (Ende März) ermöglichte einen großen Export von Kohle und eine Belebung der ganzen Wirtschaft. Seit März entwickelte sich infolge der durch die geringe Kolonialzuckerernte beförderten amerikanischen Nach- frage ein bedeutendes Zuckergeschäft,1) ferner aber kommen die bedeutenden Devisenverkäufe der Bank in Betracht. Bis Ende März waren die Schatz- devisen auf 58.000.000 K gestiegen und fielen von da an bis Ende Mai auf

30.500.000 K, auch der Goldschatz hatte sich schon während des März um

6.500.000 K vermindert.

Im Mai fiel die Londoner Bankrate auf 8*/, Proz., die französische auf 3 Proz.. Mitte Juni setzte die Bank von England ihren Diskont neuerlich, und zwar auf 3 Proz. herunter. Diese Bewegung war eine Folge der durch große amerikanische und russische Goldzuflfisse hervorgebrachten Geldfölle. In Berlin entstand dagegen im Juni eine Versteifung, die zeitweise eine beträchtliche Spannung gegen Wien herbeifflhrte und die Kurse der deutschen Devise hob. Veranlaßt wurde diese Geldteuerung durch den großen Fall der Montanwerte infolge der amerikanischen und deutschen Überproduktion, ferner durch den Beginn der Expedition gegen China. Die deutsche Devise erreichte Ende Juni und Anfang Juli den Höhepunkt von 1 18 675 (0*946 Aber Pari), dann aber begann sie langsam zu fallen, wozu einesteils ein Nach- lassen des Diskonts im Juli und August,*) anderseits der Verkauf des Gegen- wertes für den in Deutschland subskribierten Teil der 4proz. ungarischen Kronenrente (Gesamtbetrag 70,000.000 K. aufgelegt am 23. Mai) beige- tragen hat. In Paris war der Diskont ebenfalls im Fallen; trotzdem stieg der Wechselkurs bis Ende Juli und erreichte die Höhe von 96*625 (1*469 Proz. Aber der Parität). Diese Anomalie erklärte sich einfach aus der großen Nachfrage nach Pariser Wechseln seitens der Ausstellungs- besucher während der Reisemonate Juni und Juli. Zu dem Fallen im August hat die größtenteils in Frankreich vollzogene Subskription von 4proz. SAd- bahnprioritäten (50.000.000 Frks.) ebenso beigetragen, wie die große Spannung, die zwischen dem Wiener und Pariser Diskont entstand. Um dieselbe Zeit wurde auch die Staatsbahnprioritäts-Anleihe im Betrage von 84,000.000 Frks. durch Vermittlung des Credit Lyonnais und der Rothschildgruppe im Wege des freihändigen Verkaufes auf dem französischen Markte plaziert. Die Operation war bereits im Herbst vollendet und trug ebenfalls zum Fall der

’) Bericht der Wiener Handelskammer pro 1900. Wien 1901, S. 267. *) Herabsetzung des Reichsbankdiskonts »nf 5 Prot. (18. Juli.)

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französischen Devise bei. Auch in England stieg itn Juli der Diskont1) infolge der Ankündigung weiterer Kriegsanleihen durch den Schatzkanzler, die chinesische Lage und den großen Goldabfluß nach Frankreich. Dem- entsprechend hob sich auch der englische Kurs bis Anfang August auf 243-05 (1-197 Proz.), um dann rasch zu fallen.

Anfang August brachte einen heftigen und übereinstimmenden Fall aller Wechselkurse, der während des Septembers aufhörte und Mitte Oktober neuerlich in ganz rapider Weise sich fortsetzte. Der Durchschnitt des Kurs- standes der drei Hauptdevisen in Prozenten über dem Relationspari betrug im August -+- 1‘153 Proz., fiel noch in diesem Monat bis 4- 0-805 Proz., schwankte im September um das Mittel von 4- 0-811 Proz. und fiel im Oktober von 4- 0-844 auf 0'328 Proz., also um mehr als ein halbes Prozent. Der Fall setzte sich in etwas weniger steiler Weise fort. Der englische Kurs unterschritt Mitte Dezember die Parität, der deutsche Kurs gelangte in ihre nächste Nähe schon Mitte November, nur der Pariser Kurs machte im Dezember bei einem Stande von 0-498 Proz. über der Parität Halt.

Diese Kursbewegung entspricht ziemlich genau den Spannungen zwischen den Privatdiskonten Wiens und des Auslandes, allerdings sind diese Differenzen nicht groß genug, um die Heftigkeit der Schwankungen allein aus dem Streben des Kapitals nach besserer Verzinsung zu erklären. Der führende Kurs war offenbar der englische. Während der Kurssteigerung im Juli stand der Londoner Diskont stets unter dem österreichischen, stieg aber doch rascher als dieser.*) Es beweist dies, daß eine Tendenz zur Rückziehung der englischen Guthaben aus Österreich nicht aus der Absicht höherer Verzinsung, sondern mehr aus Dringlichkeit der Geldbeschaffung entsprang. Anfangs August fand die Emission von 10,000.000 £ Schatzscheine statt, die zur Hälfte in Amerika begeben wurden. Dies brachte einen bedeutenden Goldzufluß aus Amerika hervor, der die größere Geldfiüssigkeit der folgenden Zeit beförderte. Im August hob sich der Wiener Diskont infolge des Erntebedarfes von 41/, auf 47u Proz., während er sich in London von 4 */, auf 34/a Proz. senkte, womit der gleich- zeitige Devisenfall erklärt wird. Nach einer Versteifung im September wurde der Geldstand wieder flüssiger. Beigetragen 3 - dazu hat die deutsche Schatz- anweisungsanleihe von 80,000.000 M. in den Vereinigten Staaten. September und Oktober brachten die krisenhaften Vorgänge auf dem Berliner Montau- markte, die auch den Wiener Markt beeinflußten. Gerade Mitte Oktober fand der Sturz der Devisenkurse statt, den wir geschildert haben. Drsache war nicht die geringe Diskontspanuung. sondern Rückfluß deutscher Effekten und der Verkauf der für die Prioritäten erlösten französischen Valuten. In der Folgezeit wirkten die im November begebenen restlichen 50,000.000 K

*) ZingfnßerhGlmng der Bank von England von 3 auf 4 Proz. am 19. Juli. Dies war die letzte Zinsfutländerung einer großen europäischen Notenbank in diesem Jahre,

*) Von 2 Proz. auf 4*/t gegen ♦7« Proz. bis 4% Proz. (Im Zeitraum von Anfang bis Ende Juli.)

3) Der im allgemeinen niedrigere ZinBstand der zweiten Jahreshälfte rührte haupt- sächlich von der industriellen Stagnation her.

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ungarischer Investitionsrente, die vom Konsortium freihändig verkauft wurden, im günstigen Sinne auf die Zahlungsbilanz. Auch die Handelsbilanz wies einen beträchtlichen Aktivsaldo auf. der hauptsächlich im Herbst auf die Wechselkurse drückte.

Die Bank hatte seit Februar ihren Zinsfuß nicht mehr verändert. Während der günstigen Kursbewegung im April und Mai war. wie erwähnt, ihr Devisenbesitz bedeutend gefallen, in der folgenden Zeit der steigenden Devisenkurse vermehrte er sich aber wieder bedeutend.1 1 Die Bank scheint also hier die Versteifung der Kurse durch ihre Käufe sogar gefördert zu haben. Von Mitte Juli bis Ende August nahmen die Schatzdevisen wieder um 5.200.000 K ab, ein Betrag, der bei dem ziemlich starken Kursfall nur von nebensächlicher Bedeutung gewesen sein kann. Von Ende August an nahm der Betrag der Schatzdevisen wieder stark zu und erreichte im Oktober das gesetzliche Maximum von 60,000.000 K. Devisen konnten also nur mehr unter anderen Posten sich vermehren und die .sonstigen Aktiven* nahmen auch bis Ende November zu. wo sie das hohe Maximum von 40,900.000 K erreichten. Der Kursfall scheint dadurch wenig berührt worden zu sein. Wie der Geschäftsbericht der Bank uiitteiit, wurden Verleihungen in diesem Jahre weniger vorgeuommen, vielmehr die erforderlichen Devisen prompt verkauft.

Für die Beurteilung des hohen Agios des Jahres 1900 ist ein bisher nicht erwähnter Umstand bemerkenswert, nämlich das Rückströmen öster- reichischer Effekten während eines Teiles des Jahres. Die „Münchner Allg. Zeitung“ schrieb diesbezüglich am 3. Jänner 1901: .Der Rückfluß öster- reichisch-ungarischer Werte hat sich in solchem Umfange vollzogen, daß förmlicher Stückebedarf besonders im Goldrentenbestand und auch die übrigen österreichischen Schuldverschreibungen nicht entfernt mehr in solchem Maße wie früher in deutschem Besitz vorhanden sind.“

Im Jahre 1900 vermehrte sich der Goldschatz der Bank von 786.000.000 K auf 919,600.000 K. Die Erläge der Regierungen betrugen 98,300.000 K.

Das Jahr 1901 stand im Zeichen der Krise. Die industriellen und finanziellen Katastrophen im Deutschen Reiche wirkten ungünstig auf Öster- reich, das doch in keinem unmittelbaren Zusammenhänge mit den ungesunden Wirtschaftselementen gestanden war. Die industrielle Ausfuhr ging bedeutend zurück, die Ernte war mittelmäßig, der Arbeitsmarkt fühlte die ungünstige Konjunktur in voller Schwere.*) Die Annahme der großen Investitionsvor- lagen und die Emittierung der neueu Anleihen erweckte anfangs große Er- wartungen, die aber durch das langsame Tempo der Realisierung bald ent- täuscht wurden. Die Börse stagnierte, abgesehen von einigen besseren Tagen, denen dann umso schwerer© Rückschläge folgten, gänzlich.3 Alle diese Ver-

■) Zwischen 31. Mai und 15. Juli von 30.500.000 K auf 48,100.000 K (nur Scbati- devisenj.

*) Vergl. die Belege im Wiener Haiidelskammerberichte pro 1901, Wien 1902.

s. vn bi« nm

3) Vergl. Jahresbericht der Wiener Borsenkammer im Jahre 1901.

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hältnisse bewirkten ein andauerndes Sinken des Zinsfußes, in der zweiten Jahreshälfte erzeugte die Gunst der Wechselkurse eine große Vermehrung des österreichischen Goldbesitzes.

Eine Überraschung war in Anbetracht des Zeitpunktes die Erhöhung der englischen Bankrate von 4 auf 5 Proz. am 3. Jänner, deren Ursache in einer Deroute auf dem australischen Minenmarkte in dem andauernden Kriegsbedarf für Südafrika i Ausgabe von 15,000.000 £ Schatzbons) und in der Abnahme der Bankreserve (Abfluß nach Frankreich und Indien) zu suchen war. Der Privatdiskont folgte übrigens dieser Bewegung nicht, er fiel im Jänner von 45/s auf 4 Proz. Schon Anfang Jänner hatte der New Yorker Sterlingskurs die günstige Richtung eingeschlagen und stieg bis an den Goldpunkt. Da die Bank von England den Eaglepreis ermäßigte, floß aber das Gold nach Frankreich, wo sich, wie an allen Plätzen der Diskont ver- billigte. Während seit Mitte Jänner der französische und deutsche Kurs fielen, stieg der englische bis Anfang Februar, doch blieb die Steigerung infolge der geschilderten Ereignisse und der bedeutenden Devisenabgaben *) der Österreichisch ungarischen Bank in sehr mäßigen Grenzen. Das Maximum betrug 240-85 (0-281 Proz. über der Parität). Die allgemeine Verbilligung des Geldes setzte sich im Februar fort, am 7. Februar ging die Bank von England auf 4 7, Proz., am 21. Februar auf 4 Proz. herab, die Österreichisch ungarische Bank blieb aber, trotzdem der Privatdiskont fortdauernd unter 4 Proz. stand, auf dem Satz von 47, Proz., wie der Generalsekretär anfangs Februar ausführte, in Verfolgung der Tendenz, das Publikum zu einer strengereu Diskontpolitik zu erziehen und das Ausland von dem Ernst der Bestrebungen zur Herstellung geordneter Geldverhältnisse zu überzeugen. Es fielen daher im Februar alle Devisen, die französische sogar von 95-75 auf 95-30 also um beinahe ’/, Proz.*) Der deutsche Kurs senkte sich unter die Parität. Ende des Monats wurde der deutsche Diskont auf 4 */, Proz.. der österreichische auf 4 Proz. herabgesetzt. Mitte März ereignete sich das Kuriosum, daß in Wien, Berlin und London der Privatdiskont sich um 4 5/9 Proz. bewegte. Tn den Monaten März. April, Mai erfolgte eine leichte Versteifung der auswärtigen Märkte, die sich in einer Steigerung der Devisen um etwa 1 bis 3 pro Mille ausdrückte. Den Anlaß haben wir einerseits in den großen Emissionen5) der Regierungen, deren Datum ungefähr mit dem Höchststände der betreffenden Devisen zusammenfiel, anderseits in der großen New Yorker Spekulation Mitte Mai (Schwänze in North Pacific-Aktien) zu suchen. Am 22. April setzte die Reichsbauk den Diskont auf 4 Proz. herab, am 9. April hatte die Öster- reichisch-ungarische Bank den seit drei Jahren eingestellten Eskompte auf offenem Markte aufgenommen, der ihr bald größere Mengen langsichtiger

!) Sie betrugen im Monat Junner auf London zirka 14,000.000 K.

2) Hauptsächlich trug dazu bei die Diskontspannung Wien— Paris, die dazu führte, daß österreichische Wechsel lebhaft für Pariser -Pension“ gesucht wurden.

*} Deutsche Anleihe von 300,000.000 M. und englische Anleihe von 60,000.000 £ (April), russische Anleihe von 425,000.000 Frks. in Paris (Ende Mai).

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Wechsel zuführte. vom April bis Juni wurden zirka 200,000.000 K unter der Bankrate angenommen.

Vom Juni au nahm die Verbilligung des Geldes immer mehr zu. Das durch den Zusammenbruch der Leipziger Bank und der Dresdener Kredit- bank erzeugte Mißtrauen bewirkte zwar Ende des Monats noch eine vor- übergehende Hebung des deutschen Privatdiskonts, aber bald entstand eine Art künstliche Geldfülle, eine Nachfrage nach ganz zweifelfreien Sicherheiten, die bei einer Restriktion des Kreditumfanges doch den Zinssatz drückte. Seit Anfaug Juni waren alle Wechselkurse unter Parität') und blieben es bis Jahresschluß. Den tiefsten Stand erreichten sie im September und Oktober mit 117 i0'479 Proz. unter Parität), 23805 ( 0510 Pro*.), 94-80 ( 0-447 Proz.). Die Diskontspannung entsprach dieser Bewegung, im Juni ging die englische Bank auf 31/, und 3 Proz.. die deutsche auf 3V, Proz. herab, der amerikanische Goldzufluß dauerte fort.

Die geschilderte Wirtschaftslage war der großen österreichischen In- vestitionsanleihe überaus günstig. Billiges Geld und Nachfrage nach sicheren Werten waren die Bürgen ihres Erfolges. Am 20. Juni wurden die ersten 125.O0O.000 K der iproz. Kronenrente aufgelegt, die im Ausland sehr günstig aufgenommen wurde. Der hiedurch erzeugte Zufluß von Devisen beförderte sehr das Sinken der Wechselkurse. Von sonstigen Operationen dieser Zeit, die Devisenmengen auf den Markt brachten, sind bemerkens- wert: die 4proz. Prioritätsanleihe des Lloyd (18,000.000 JST), Subskription am 15. Mai und vor allem die Vereinbarung, die zwischen der Unionbank und zwei ungarischen Hypothekenbanken getroffen wurde und die einen sehr bedeutenden Export von Aktien und Obligationen der beteiligten Hypotheken- institute bewirkte.*}

Anfangs Juli begannen bereits die Goldimporte, die nach einer Unter- brechung gegen Ende des Monats bald wieder großen Umfang annahmeu. Ein großer Teil der eiugeliefcrteu Münzen bestand aus Eagles. Die Bank gewährte in einzelnen Fällen zinsfreie Vorschüsse und schaffte überdies bedeutende Devisenmengen an. Auch in das Lombardportefeuille wurden Devisen aufgenommen.

Mitte Juli mußte die Bank den börsenmäßigen Eskompte einstellen, da die Regierung geltend machte, der Eskompte habe nach den .Statuten in der Hegel zum einheitlichen Zinsfuß zu geschehen, der Eskompte auf offenem Markte könne daher nur als vorübergehende Maßnahme, nicht aber als länger dauernde Einrichtung gestattet werden. Im August wurde mehrmals kritisiert, daß die Bank die Gewährung zinsfreier Vorschüsse ablebnte, wodurch der Goldimport beeinträchtigt wurde.

1 ) Der deutsche Kurs stand abgesehen Tun) Jänner und einigen Tagen im M i n nnd April das ganze Jahr unter Pari.

*) Vergl. näheres in der „Neuen Freien Presse“ vom 6 und 7. Juli 1901. Der Betrag der nach nnd nach in Frankreich plazierten Werte dürfte etwa 60,000.000 K betragen haben.

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Schon gegen Ende August machte sich infolge der Ernteansprflche ') und den fälligen Einzahlungen auf die Kronenrente eine Versteifung be- merkbar, die den Unterschied zwischen Rankrate und Privatdiskont beseitigte. Oie Diskontspannung gegenßber dem Auslande wuchs mit der gleichzeitigen Verbilligung in Paris und London, die Wechselkurse näherten sich dem Tiefstand. Die Bank kaufte auch direkt im Ausland Gold, hauptsächlich Münzen, während die Firmen meistens Barren einlieferten. Am 20. August ermächtigte der Generalrat die Bankleitung nach Maßgabe ihres geschäft- lichen Ermessens Zwanzigkronenstücke in den öffentlichen Verkehr zu bringen. Man wünschte durch diese Maßregel die Bevölkerung mit dem neuen Oelde vertraut zu machen und die Höhe des Thesanrierungsbodürfnisses kennen zu lernen.’) Gleichzeitig wurde der gesamte restliche Golddienst der Re- gierungen der Bank übertragen und seitens der Regierungen ein großer Golderlag zu Zwecken der Staatsnoteneinlösung gemacht. Ende August griff die Reichshank zu dem Mittel, nur abgenutzte Goldmünzen herauszu- geben, was zu einem Stocken im Goldimport führte, obwohl die deutsche Devise am tiefsten stand.

Mitte September wurde der Wiener Effektenmarkt durch starke Kurs- bewegungen beunruhigt, die von Deutschland und Amerika ausgingen. Der Geldstand blieb andauernd in nächster Nähe der Bankrate. Eine auf- fällige Bewegung zeigte der Pariser Kurs, der im Oktober plötzlich bis nahe an die Relation stieg, sie im November und Dezember zeitweise erreichte und gegen Jahresschluß wieder fiel. Auch die anderen Kurse hoben sich in den letzten Monaten in wenig übereinstimmender Weise. Berlin und London kehrten zum 4proz. Banksatz zurück. Das Steigen der französischen Devise war zum Teil iu der Emission von 265,000.000 Frks. Renten be- gründet, die am 21. Dezember subskribiert wurden. Auch in Österreich wurden in den letzten Jahresmonaten Neuemissionen vorgenommen. Das Konsortium optierte Ende Oktober 20,000.000 Ä' Kronenrente und am 12. Dezember nochmals 42,500.000 K, die alle freihändig verkauft wurden. Ins Ausland wanderten ferner 1,800.000 K 4proz. Lokalbahnprioritäten, die der niederösterreichische Landesausschuß an eine französische Bank verkaufte.

Noch zu Jahresschluß war der Diskont an allen Hauptplätzen niedrig, die steuerfreie Notenreserve der Österreichisch-ungarischen Bank erreichte in der dritten Dezemberwoche den an und für sich hoben und in Anbetracht der Zeit geradezu abnormen Betrag von 331,590.000 K, was zum Teil eine Folge der großen Goldimporte war, die den Bankmitteln Konkurrenz bereiteten.

Der Goldschatz der Bank vermehrte sich in diesem Jahre von 919,600.000/T auf 1.116,100.000 K. Die Finanzverwaltungen erlegten 86.350.000 K, tarif- mäßig angekauft wurden 152,980.000 K. in Geschäften eingenommen

’i Die Infolge der reichen amerikanischen Ernte auftretenden niedrigen Preise verursachten eine Stockung im inländischen Absatz, da die Landwirte mit dem Verkant warteten und ihre Vorräte vorläufig belehnen ließen .

*) Da sehr viel über den Mangel an kleinen Geldstückeu geklagt wurde, den die Staatsnoteneinziehnng verursacht habe, wurden später auch Zehnkronenstücke ansgegeben.

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Hertt.

195.200.000 K. Der Goldausgang betrug 237,960.000 K. Außerdem wurden aber 61,000.000 K in Landesgoldmünzen in den freien Verkehr gebracht, von denen big Jabreaschluß nur 6,000.000 K zur Bank rückgeströmt waren.

Die krisenhafte Wirtachaftalage und der abnorm billige Zinsstand setzten sich im Jahre 1902 fort. Dio Notenreserve der Österreichisch- ungarischen Bank erreichte gegen Ende Jänner die volle Hohe des Noten- kontingents von 400,000.000 K. der Privatdiskont sank unter 3 Proz. Zu Jahresanfang hatten London. Paris und Berlin den Zinssatz von 4 Proz. Mit Rücksicht auf die Geldfülle nahm die Österreichisch-ungarische Bank schon am 7. Jänner den Börseneskompte auf. Mitte des Monats fiel die Berliner und Londoner Bankrate auf 3‘/ä Proz., die Österreichisch-ungarische Bank folgte erst am 4. Februar um gleich wieder von der englischen Bank überholt zu werden, die am 6. Februar auf 3 Proz. berabgiug. Bis Ende Jänner stand der Berliner Privatdiskont unter dem Wiener Satz und die Devise Berlin wich in Wien um ein geringes. Übrigens war die Meinung allgemein, daß dabei mit Rücksicht auf die Sproz. Reichsauleihe il 15,0000.000 M.

22. Jänner Subskription; künstlich nachgeholfen wurde. Am selben Tage wurde der Restbetrag der 4 proz. Kronenanleihe von 62,500.000 K an das Konsortium gegeben und in der folgenden Zeit freihändig abgesetzt.

Am 12. Jänner setzte die deutsche Reichsbank ebenfalls ihren Diskont auf 3 Proz. fest, so daß Berlin, Paris und London den gleichen Banksatz besaßen. Gleichzeitig mit der Herabsetzung auf 3*/, Proz. ein niemals früher erreichter Satz! hatte die Österreichisch-ungarische Bank den börsenmäßigen Eskompte eingestellt. Im Budgetausschuß brachte der Abg. Forscht diesen Umstand mit Rücksichten auf die ungarische Kon- version in Verbindung. Übrigens wurde er bereits am 25. Februar wieder aufgenommen und die Bank eskomptierte im März sogar unter 3 Proz. Am

23. März betrug die Notenreserve der Bank die ungeheure Summe von

457.600.000 K , der Metallschatz von 1.439,400.000 K war um 71,900.000 K größer als der gesamte Notenumlauf. Der Privatdiskont betrug fortdauernd schon seit Februar in Wien ebensoviel wie in Paris, nämlich zwischen 2l/t und 2'/j Proz., wogegen er sich in London infolge des Kriegsbedarfes auf 2% bis 2*/« Proz. stellte. Die Folge war ein langsames Steigen der Londoner und Pariser Devise bis Mitte April und nach einem Fall zu Ende des Monats, von da an bis Mitte Mai. Die Kurse auf Berlin, wo ein überaus niedriger Zinsfuß herrschte,1) blieben das ganze Jahr unter Parität und hoben sich in der angegebenen Zeit kaum um 0-1 Proz. Die französische Devise stand vom Anfang Jänner bis Juni über Parität, während die englische sie nur im April und Mai vorübergehend überschritt. Die Haupt- Ursache der Kurssteigerung der Devisen waren übrigens nicht sowohl die Zinsfußdiffereuzcn, obwohl insbesondere viele französische Devisen infolge Ablaufes von Pensionen, die nicht erneuert wurden, nötig waren, sondern der Bedarf für die Deckung gekaufter Goldshares, englischer Diskonten,

*) Anfangs Märt fiel er oaf 1 ■/, Prot.

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Die Diskont- und Devisenpolitik der Österreichisch-ungarischen Bank etc. 521

für effektiven Bezug englischer Konsols und Verwendung im Londoner Reportgeschäft. Im April wurde ein Wiener Kommunalanlehen im Betrage von 286,000.000 K aufgenommen, wovon 100.000.000 K zur Subskription (davon 70,000.000 K im Ausland) aufgelegt, der Rest aber dem Credit Lyonnais zum freihändigen Verkauf gegeben wurde. Ein Fall der Devisen war die Folge. Anfangs Mai hoben sie sich aber wieder infolge des großen Bedarfes an fremden Wechseln anläßlich der um diese Zeit stattfindenden Konversionen.1)

Die Bank hat während der Devisensteigerung in der ersten Jahreshälfte bedeutende Abgaben an Gold vorgenommeu. so daß das Agio in ganz mäßigen Grenzen blieb. Übrigens kommen in der Abnahme des Goldschatzes auch der Couponbedarf der Regierungen, die Balkananforderungen u. s. w. zum Ausdruck.

Seit Juni*) waren die Devisen rückgängig und blieben es bis Oktober, am tiefsten stand die deutsche, die Ende Oktober den Stand von 116-82 erreichte, dann folgte die englische, die zur selben Zeit 239 05 notierte. Der Pariser Kurs senkte sich dagegen seit August nur wenig unter die Parität. Am 5. Juli fand die Subskription auf 48,000.000 K der bosnischen Anleihe statt, die zum Teil in deutschen Besitz gelangte. Seit der dritten Juliwoche begannen die durch die Wechselkurse verursachten Goldimporte, obwohl die Bank zinsfreie Vorschüsse ablehnte. Mitte September herrschte in New York eine bedeutende Geldnot und österreichisches Geld ging durch Vermittlung deutscher und englischer Häuser nach Amerika. Man schätzte diese Guthaben auf etwa 100,000.000 K. Am 22. September wurde der Eskompte auf offenem Markte eingestellt, da die große Ernte und die er- wartete Zinserhöhung in London ein Haushalten mit den Mitteln der Bank empfahlen. Am 25. September wurde beschlossen, von nun an einen variablen Ankaufstarif für Goldmünzen zu führen und die Geschäftsleitung zu den erforderlichen Änderungen zu ermächtigen. Es sollten häufig ge- brauchte Münzsorten begünstigt, dagegen selten verwendbare wie Eagles und Yens herabgesetzt werden. Da die Bank für das Balkangeschäft stets große Mengen Napoleonsdors benötigte uud die Bank von England für diese Sorte bisher einen besseren Preis zahlte als die Österreichisch-ungarische Bank, setzte man am 4. Oktober die Frankspreise von 2,946-47 K auf 2,951-0 K hinauf. Prinzipiell wichtig ist, daß mit der Einführung des variablen Tarifes eine neue Waffe im Kampf um Gold geschaffen wurde. Zu gleicher Zeit äußerten amerikanische Banken die Absicht, von der Österreichisch-ungarischen Bank, die neben der Bank von Frankreich allein größere Eaglemengen besitzt, amerikanische Gold- münzen zu beziehen,3) wozu die Bank ihre Zustimmung prinzipiell gab. Anfangs Oktober stieg der Diskont der englischen uud deutschen Bank auf

*) Ungarische Konversion und Umwandlung der Karl-Ludwigsbahn-Obligationen (für beide Schluß der Subskription am 10. Mai).

a) Die französische Devise stieg im Juni und fiel vom Anfang Juli an bis Anfang Oktober.

*) Vergl. .Zeitschrift für Staats- und Volkswirtschaft“. 1902. Nr XV.

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Hertz.

I Proz. Trotzdem der österreichische Satz nur 8'/s Proz. betrug, waren die Devisen bis Ende des Monats rückgängig. ') Erst vom Anfang No- vember an hoben sie sich wieder etwas bis Jahresschluß. Die Bank sah für den Rest des Jahres von einer Erhöhung des Diskonts völlig ab, da die sehr große Notenreserve es nicht wahrscheinlich machte, daß der Markt der Erhöhung Folge leisten würde.

Im Laufe des Jahres war die Bank im stände, nicht nur Gold an sich zu ziehen, sondern auch ihren Devisenvorrat auf eine ganz außerordentliche Höhe zu bringen.*' Der Generalsekretär erklärte dies damit, daß infolge der Krise große Rohstoffanschaffungen unterblieben und die dafür sonst ver- wendeten Devisenmengen der Bank zuflossen. Wiederholt wurde ferner darauf hingewiesen, daß die ungünstige Lage der Industrie sich auch in dem Rückfluß gerade jener Sorten von Zahlungsmitteln äußerte, die hauptsächlich zu Lohnzahlungen und sonstigen Zwecken des Kleinverkehrs gebraucht werden.

Die ganze dargestellte Entwicklung zeigt einen stetigen Fortschritt in der Richtung zur Einheitlichkeit und Festigkeit in der Anwendung des Diskonts. Die jede Bankpolitik durchkreuzende automatische Regelung des Balinenscheinumlaufes ist verschwunden, die Versorgung des Marktes mit Geldmitteln durch die Regierungen bedeutungslos geworden. Aber auch die Bank hat in den letzten Jahren eine früher nie beobachtete Sicherheit und Energie in Ausübung der ihr eingoräumten Macht zum Schutze unserer Währung bewiesen. Die folgende Tabelle gibt die Spannung zwischen den höchsten und tiefsten Kursen der Devisen in Prozenten des Relationspari an.

Wiener Kur» auf:

Berlin:

Paria:

London :

Berliner Kurs auf London :

1893 . .

. . . 613

5'74

6-98

0-88

1894 . .

. . . 1'44

1-98

1-86

0-64

1895 . .

. . . 4 00

4-31

3-88

0-49

1896 . .

. . . 1-44

1 51

1-83

0-64

1897 . .

. . . 1-02

069

1-08

0-54

1898 . .

. . . 0-64

0-94

112

083

1999 . .

. . . 0-59

0-79

1 19

088

1900 . .

. . . 0-96

0-97

1*24

0 54

1901 . .

. . . 0'55

115

0-79

0-54

1902 . .

. . . 0-74

0-53

0-72

') Hauptsächlich infolge der noch immer aus dem Effektenezport zuströmenden Wechsel. Fenier zogen Österreichische Firmen ihre (iuthaben aus dem Ausland in der Erwartung eines größeren Herbstbedarfes zurück. Der französische Kurs stieg im Oktober etwas, was vielleicht ndt dem aus politischen Gründen ^Kongregationen) ent- springenden ItOekzieliungen von Geld aus den Banken, zum Teil auch mit anderen Umständen zu erklären ist. Im Oktober fand ein neuerlicher Goldimport nach Österreich statt, und zwar hauptsächlich ans London, trotzdem die englische Bank einen um ’/, Proz. höheren Diskont hatte als die Öster- reichisch-ungarische! Ein Beweis dafür, daß Diskonterhöhungen durch- aus kein unfehlbares Mittel sind.

3) Der gesamte Besitz an Devisen and Goldfordernngen stellte sich zum Jabres- «chluB auf 208*6 Mill. K.

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Die Diskont- and Derwenpolitik der Uiterrcichisch-angariachen Bank ttc 523

Ans dieser Zusammenstellung geht hervor, daß die österreichischen Wechselkurse heute von der Relation sich nicht viel weiter entfernen als dies in barzahlenden Ländern der Fall zu sein pflegt. Die Schwankungen, die früher im Laufe weniger Tage um ganze Einheiten vorkamen, bemessen sich heute nur mehr nach zehntel Prozenten. Aus graphischen Darstellungen des Ganges der Wechselkurse ergibt sich ferner die große Ruhe der Linien, die früher in fortwährendem Steigen und Fallen begriffen waren. Besonders wichtig ist aber, daß die Abweichungen von der Parität in den letzten Jahren meist zu unseren Gunsten vorkamen und einen Goldstrom nach Österreich führten. Ein Hauptgrund dieser Kursgestaltung liegt in den fortgesetzten großen Effektenezporten. Natürlich werden die Passivzinsen in künftigen Jahren unsere Zahlungsbilanz wieder ungünstig beeinflussen. Aber eine kräftige Bankpolitik wird dennoch die Währung zu schützen vermögen, wie sie es bisher in Jahren eines überwiegenden Effektenexportes im stände war. Die Frage lautet nur, ob die Anwendung der Devisen- oder der Diskont- politik vorzuziehen sei. Ein Ergebnis unserer Darstellung ist, daß beide Mittel an ihrem Platze nützlich wirken. Gegen Störungen der Valuta, die aus rasch vorübergehenden Ursachen entspringen (Kriegsgefahr, Börsen- krisen n. s. w.), wird die Abgabe von Goldforderungen besser wirken als die schwerfällige Diskonterhöhung, deren Wirkung für die ganze Laufzeit der von ihr betroffenen Wechsel anhält. Dagegen werden aus lang anhaltenden Ursachen i Effektenezport. schlechte Handelsbilanz, Wirtschafts- krisen u. s. w.) entspringende Devisenschwankungen nur durch eine Handhabung des Diskonts bekämpft werden können. Immer muß natürlich berücksichtigt werden, daß die Lage des Marktes das Vorgehen der Bank unterstützen muß. Eine Diskonterhöhung hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn die vorhandenen Mittel des Marktes so gering sind, daß er wesentlich auf die Bank angewiesen ist und der Verkauf einiger Millionen Devisen kann nichts nützen, wenn eine ungünstige Zahlungsbilanz Hunderte von Millionen erfordert.

Wie aus unserer Darstellung hervorgeht, bewirkt übrigeus auch die Devisenabgahe indirekt eine Versteifung, indem sie Noten aus dem Verkehr zieht und führt so die Tendenz zum Steigen des Diskonts herbei. Auch an die Wirkung des Reports auf die Devisenkurse sei nochmals erinnert.

Die öffentliche Meinung Österreichs, die hauptsächlich vom kleinbürger- lichen Interesse beherrscht wird, ist einer energischen Diskontpolitik ungünstig gesinnt. Die Wortführer des Kleinbürgertums haben immer im billigen Kredit eine Art soziale Panacee gesehen von Proudhon angefangen bis Professor Schlesinger. Natürlich schließen sich ihnen die Wünsche der Agrarier an. Wiederholt ist in den Generalversammlungen die Forderung ausgesprochen worden, die Bank möge dem .kleinen Mann* in reichlicherem Maße billigen Kredit gewähren. Die Bankleitung hat diesem Ansinnen bisher stets Widerstand geleistet. Wie aus unserer Darstellung hervorgeht, ist insbesondere die ungarische öffentliche Meinung sehr für einen niedrigen Diskont eingenommen. Auch ihre Opposition gegen die dauernde Anwendung

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Hertz.

<ies börseumäßigen Eskomptos entspringt offenbar dieser Tendenz.1) Die ungarische Wissenschaft vertritt natürlich das patriotische Interesse. Pro- fessor Heia Feldes hat in einem in der ungarischen Akademie der Wissenschaften gehaltenen Vortrag’) u. a. folgende Bemerkungen gemacht:

, Hinsichtlich der Anwendungen der Diskontänderungen glauben wir nicht zu irren, daß in Österreich-Ungarn diesbezüglich, ebenso wie in Frankreich, große Sensibilität herrscht: gerade in Österreich-Ungarn kann der Fall eintreten, daß die Erhöhung des Diskonts die Produktivität erschwert, die in vielen Fällen das einzige endgiltige Mittel ist, um eine günstige Änderung der Zahlungsbilanz herbeizuführen u. s. w.‘ (S 683). Fenier auf Seite 685: .Was aber speziell die Handhabung der Diskontpolitik betrifft, so haben wir zur Genüge gesehen, daß dieselbe auf vielfache Schwierigkeiten stößt, viele Interessen verletzt und in ihren Resultaten auch uicht immer zuverlässig ist. Eine lieihe von Beispielen ließen sich dafür anführen, daß die Diskont- politik ihre Dienste versagt.* Aus dem interessanten Vortrag Földes geht aber eher das Gegenteil seiner Schlußfolgerung hervor und die .Reihe von Beispielen“ wird uns vorenthalten. Auf österreichischer Seite ist wiederholt die Bank von Frankreich mit ihrer Prämienpolitik unserer Bank als Muster vorgeführt worden, so seitens Landeshergers u. a., ja in Deutschland hat man den Erfolg dieser Bemühungen bereits eskomptiert und glaubt wenigstens in gewissen Kreisen daß die Bank bereits Goldprämien erbebe. Die vollständige Unrichtigkeit dieser Behauptung ist offenbar,3) da ja die Bank überhaupt noch gar nicht verpflichtet ist, bar zu zahlen. Es ist selbst- verständlich, daß die gefährlichen Seiten einer Prämienpolitik in Österreich viel fühlbarer werden würden als in Frankreich. Hier ein Reich, das eben erst mit ungeheuren Opfern das Vertrauen des Auslandes für seine Valuta und Finanzen gewonnen hat und ein schwer belastetes Schuldnerland ist, dort ein Land von sprichwörtlichem Wohlstand, dessen riesige Aktivzinsen die ungünstige Wirkung der Prämienpolitik auf die Devisenkurse verringern. Merkwürdig ist, daß selbst die industriellen Kreise in Österreich zu den Befürwortern eines niedrigen Diskonts gehören. Das zwölftel Perzent, das eine Erhöhung von 1 Proz. im Monat ausmacht, fällt bei der großen Ren- tabilität der meisten österreichischen Industrien gewiß nicht in die Wagschale, während Schwankungen der Wechselkurse unsere Konkurrenzfähigkeit auf

1 Der Eskorapte unter der Bankrate kommt nämlich nur ansgesuchtem Wechsel- material zu gute. Wenn er in Zeiten niedrigen Zinsfußes der Bank nicht freisteht, so muß diese, um überhaupt Wechsel zu bekommen, den allgemeinen Zinsfuß, der für alle Provenienzen gilt, herahsetzen.

5i B. Feldes. .Cher Maßregeln zum Schutze der Edelmetallreserve* in .Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik* 1895, II. Folge. Band 9. S. Ö71. ff.

’) Vergl. über die Wirkung der Prämienpolitik besonders die Abhandlung Rosen- dorffs in den .Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik.* 1901, II. Folge, 21 Band, S. GS2 ff. Ks ist jedoch anderseits auch nicht richtig, daß. wie oft behauptet wird, die laterrcichische-ungarisclie Bank französische Devisen nicht als GolddeviBen betrachtet und sie daher au» den Schatzdcrisen ausschiießt. Der relativ geringe Vorrat französischer Devisen ist nur ihrer geringen Rentabilität zuzuschreiben.

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Die Diskont- und Devisenpolitik der österreichisch-ungarigchen Bank etc. 525

den) ungeschützten Weltmärkte sehr fühlbar treffen können. Dagegen ist der Zwischenhandel mit Geld und Werten also vor allem die Börse ebenso an jedem kleinsten Bruchteil des Zinsfußes wie an den Schwankungen der Devisen wesentlich interessiert. Die Veränderlichkeit der Wechselkurse, die der Industrie und dem Handel so schäd- lich ist. ist ein Segen für den Spekulanten. Dabei ist außer der direkten Wirkung des Zinsfußes auf Erwerb und Profit noch in Betracht zu ziehen, daß ein im Verhältnis zum Ausland niedriger Zinsfuß zum Spiel anreizt, einen falschen Rentabilitätsmaßstab gewährt und derart die Oberwertung unserer Effekten und ihren Import befördert. Der höhere Zinsfuß ist daher sowohl wegen seiner direkten Wirkung auf die Wechselkurse als wegen seiner Tendenz, den Effektenexport zu mehren, dem Bestände der Valuta günstig. Die von ihm betroffenen Interessenten müssen lernen, daß in seiner Höhe eine Versicherungsprämie unserer Währung enthalten ist, die dem Elementarereignis der Valutaschwankungen ebenso vorzuziehen ist, wie jede Versicherungslast dem dadurch abgewehrten Obel, mag auch erstere drückend und letzteres nicht jederzeit fühlbar sein.

Die geforderte Krediterweiterung der kleinen Landwirte und Hand- werker ist überdies aus dem Gesichtspunkt der absoluten Sicherheit und Mobilität der zur Notendeckung dienenden Forderungen entschieden abzu- lehnen.

Der große Goldzuffuß der letzten Jahre hat der Bank großen Nachteil gebracht, den sie im gemeinnützigen Interesse auf sich nahm. Das ein- strömende Gold wurde gegen Noten getauscht, die den im Eskompte ver- wendeten Bankmitteln Konkurrenz bereiteten. Dadurch ist die Rentabilität der Österreichisch-ungarischen Bank unter allen Notenbanken die geringste geworden. Der zeitweilig größere Ertrag aus den) Devisengeschäft wiegt den Ausfall an Eskomptezinsen nicht auf.

Beachtung verdieut mit Rücksicht auf die bevorstehende Aufnahme der Barzahlungen das Bestreben der Bank, die goldsparenden Mittel auszu- bilden. Hieher gehört die Konzentration des gesamten Golddienstes der Regierungen bei der Bank, die darin besteht, daß die Regierungen, die im Zoll-, Post- und Eisenbahnverkehr eingenommenen Goldbeträge der Bank überweist, die dafür alle in Gold zu leistenden Zahlungen der Regieruugen ausführt. Für die übergebenen Goldbeträge leistet die Bank eine Verzinsung, die um einen gewissen Satz hinter dem Diskont des Landes zurückbleibt, dem die betreffenden Valuten entstammen. Durch dieses System ist der früher erwähnte Cbelstand beseitigt, daß die Regierungen durch ihre Käufe für das C'oupongold das Agio steigerten.1)

Ein anderes Mittel der Goldsparung sind die Zollgoldanweisungen. Sie sind Anweisungen auf Gold lautend zu Gunsten der Staatszentralkassa,

1 Die Regierung bot «chon 189» der Bank den gesamten Golddienst all, doch machte die Verzinaungsfrage große Schwierigkeiten. Die tatsächliche Übernahme erfolgte am 1. Oktober 1901.

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Hertz.

die auf beliebige Beträge ausgestellt und zur Zahlung der in Gold normierten Zölle benutzt werden können. Ihre Ausgabe begann am 15. Dezember 1900. Im Jahre 1901 wurden 25,700.000 fl. ausgestellt. Der Zweck dieser Anwei- sungen ist. die Kosten, die mit dem effektiven Bezug von Gold aus der Bank zur Zahlung an die Begierung, die das Gold doch sofort wieder an die Bank ahfffhrt. entfallen zu lassen.

Der Giroverkehr, dem in Deutschland eine so wichtige Bolle unter den goldsparenden Mitteln zufällt, ist in Österreich weniger entwickelt. Doch ist auch hierin in den letzten Jahren durch den Beitritt der Staats- venvaltungen, der Post, der Eisenbahnen u. s. w. sowie durch zweckmäßige Ausgestaltung mancher Fortschritt erzielt worden.

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DIE EINFÜHRUNG DER NEUNSTUNDENSCHICHT

BEI»

ÖSTERREICHISCHEN KOHLENBERGBAU.

VON

KARL v. WEBERN.

Die Beschränkung der Vertragsfreiheit zwischen Arbeitgeber ond Arbeit- nehmer durch gesetzliche Regelung der Arbeitszeit bildet eine Pflicht des Staates, welche in hygienischen, kulturellen und auch sozialpolitischen Rücksichten begründet erscheint Bezüglich der letzteren ist namentlich hervorzuheben, daß der einzelne Arbeiter dem Unternehmer gegenüber in der Regel nicht die volle Willensfreiheit besitzt und daher znr Erreichung seiner Bestrebungen nur das Machtmittel des Strikes besitzt, welcher aber als eine Unterbrechung der wirtschaftlichen Tätigkeit möglichst hintatigebalten werden mufl.

Eine gesetzliche Regelung der Arbeitszeit für Erwachsene ist jedoch in vielen Kulturstaaten noch heute nicht eingeffihrt. Der Grund hiefür dürfte teil- weise in der besonderen Schwierigkeit gelegen sein, für diese Regelung die richtige Grenze zu finden und dieselbe den oft so verschiedenen lokalen Ver- hältnissen entsprechend anzupassen.

In Österreich erfolgte eine solche Regelung zunächst für den Bergbau durch das Gesetz vom 21. Juni 1884. mit welchem eine maximale Schichtdauer von zwölf Stunden und eine Maximalarbeitszeit von zehn Stunden innerhalb derselben festgesetzt wurde; gleichzeitig wurde durch dasselbe auch die Frauen- und Kinderarbeit gewissen Beschränkungen unterworfen. Seitdem wurde der Frage der Arbeitszeit beim Bergbaubetriebe von Seite des hiezu berufenen Ackerbau- ministeriums stets eine besondere Aufmerksamkeit zugewendet, namentlich, da von Seite der Arbeiterschaft das Verlangen nach Einführung der Achtstundenschicht immer häufiger und dringender erhoben wurde. Es wurde übrigens bei einem nicht unbeträchtlichen Teile der österreichischen Bergbaue, durch verschiedene Verhältnisse veranlaßt, freiwillig eine kürzere als die gesetzlich gestattete Schicht- dauer eingeführt.

Die zu Beginn des Jahres 1900 bei den Kohlenbergbauen des Ostrau- Karwiner Revieres ausgebrochene Strikebewegnng, die sich dann auch auf die böhmischen Kohlenreviere ansdehnte, brachte neue Bewegung in die Sache; es

Zeitschrift für Vulkäwirtacbeft, Sozialpolitik and Verwaltanf. XII. Bend. 36

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Webern

beschäftigte sich auch das Abgeordnetenhaus mit der Frage der Verkürzung der Schichtzeit, wobei überwiegend der Gedanke zum Ausdrucke gelangte, daß eine solche Kürzung nur bei den Kohlenbergbauen und auch bei diesen nur für die in der Grube beschäftigten Arbeiter einzutreten hätte. Im Laufe der Strike- bewegong wurde auch von Seite der Regierung die Geneigtheit ausgesprochen, eine Abkürzung der Schichtdauer auf gesetzlichem Wege eintreten zu lassen. Mitte Mai 1900 wurde ron derselben tatsächlich der Kutwurf eines Gesetzes eingebracht, nach welchem die Schichtdauer für die beim Kohlenbergbau in der Grube beschäftigten Arbeiter auf neun Stunden beschränkt werden sollte. Bei der im Monate Mai des folgenden Jahres stattgebabten Verhandlung über den infolge Sessionsschlusses in diesem Jahre neuerlich eingebrachten Gesetzentwurf im Abgeordnetenhause wurde an den Regierungsrertreter die Frage gerichtet, ob die neunstündige Schichtdauer für jeden einzelnen Arbeiter zu gelten habe oder als eine Gesamtschicht auf die gesamte Mannschaft zu beziehen sei; derselbe gab hierüber die Erklärung ab, daß eine neunstündige Schicht eingefübrt werden soll, welche für die gesamte Mannschaft zu gelten hat, so zwar, daU, wenn beispielsweise bei der Mannsfahrt die erste Schale um sechs Uhr früh hinabgeht, die letzte um drei Uhr nachmittags zu Tage gelaugt sein muß.

Auch im Herrenhause wurde bei der Verhandlung über den Gesetzentwurf seitens des Ackerbauministers eine in demselben Sinne gehaltene Erklärung abgegeben und wurde auf Grund der Ausführungen des Referenten, welcher unter anderem darauf verwies, daß auch die ältere Berggesetzgebung die Schicht stets als eine Gesamtschicht aufgefallt habe, der Antrag, die Schichtdaoer für jeden einzelnen Arbeiter fcstzusetzen, abgelchnt und die Fassung des Abgeordneten- hauses angenommen.

Nachdem sodann das Gesetz mit einigen geringen Änderungen von beiden Häusern des Reichsrates angenommen worden war und die a. h. Sanktion erhalten hatte, erfolgte am 1. Juli 1901 die Kundmachung desselben im Reichsgesetz- blatt« und war hiemit für die Grubenarbeiter bei dem Kohlenbergbaue die Neun- stuudenscbicht gesetzlich eingeführt.

Nach den Bestimmungen dieses Gesetzes sind in die Schichtzeit die für die Ein- und Ansfahrt erforderliche Zeit, dann die aus der Natur des Betriebes sich ergebenden sowie die sonstigen Ruhepausen einzurechnen, insoweit letztere nicht über Tag zugebracht werden, in welchem Falle auch die zur bezüg- lichen Aus- und Wiedereinfahrt erforderliche Zeit in die Schicbtdauer nicht ein- zureebnen ist.

Ausnahmsweise kann auch eine längere als die in dem Gesetze festgesetzte Schichtdauer bis zum Ausmaße ron zwölf Stunden mit einer zehn Stunden nicht übersteigenden wirklichen Arbeitszeit gestattet werden, wenn bei dem betreffenden Bergbaue zur Zeit der Kundmachung des Gesetzes eine längere Schichtdauer bestanden bat und die Einführung der neunstündigen Schichtdauer oder eine Abkürzung der bisherigen Schichtdauer überhaupt im Hinblicke auf die obwaltenden betriebstechnischen oder wirtschaftlichen Verhältnisse die Aufrechthaltnng des Betriebes unmöglich machen oder gefährden würde. Die Bewilligung einer derartigen Ausnahme, welche entweder für sämtliche Grubenarbeiter oder für

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Die Einfährung der Neunstundenschicht heim österreichischen Kohlenbergbau. 529

einzelne Kategorien derselben gewährt werden kann, steht nach Anhörung des Bergbauunternehmers und des Lokalarbeiterausschusses auf die Dauer der tor- erwähnten Verhältnisse in erster Instanz der Berghauptmannschaft iin Einvernehmen mit der politischen Landesstelle und in zweiter Instanz dem Ackerbauministerium im Einvernehmen mit dem Ministerium des Innern zu.

Eine weitere Ausnahme von der neunstündigen Schichtdauer kann der Ackerbauminister für hochgelegene Kohlenbergbaue der Alpenländer mit der Maßgabe bewilligen, ilali die Gesamtdauer der von einem Arbeiter in einer Woche verfahrenen Schichten nicht über 54 Stunden betragen darf.

Hinsichtlich des Beginnes der Wirksamkeit des Gesetzes wurde festgesetzt, dali dieselbe ein Jahr nach der Kundmachung einzutreten hat. Diese einjährige Übergangszeit wurde in Anbetracht dessen bewilligt, daß der Durchführung des Gesetzes betriebstechnische Änderungen namentlich bei jenen Werken werden vorangehen müssen, bei welchen wegen der großen Entfernung der Arbeitsorte von der Einfahrtsstelle die Ein- und Ausfahrt eine unverhältnismäßig lange Zeit erfordert.

Diese Frist wurde nun von einem Teile der Unternehmungen unausgenutzt verstreichen gelassen, indem dieselben einerseits sich der Hoffnung hingaben, eine Ausnahmsbewillignng zu erlangen, anderseits sich eine längere Schichtzeit dadurch zu erhalten versuchten, daß sie ungeachtet der im Parlamente seitens der Kegierung erstatteten Aufklärung die Neunstundenschicht nicht als Gesamt-, sondern als Einzelnschicht einführten. Diesen Versuchen wurde jedoch von der Bergbehörde entgegengetreten und unter Hinweis auf die Regierungserklärung verlangt, daß innerhalb der neun Stunden sich die Ein- und Ansfahrt der gesamten Mannschaft zu vollziehen habe.

Von mehreren durch diese in zweiter Instanz bestätigte Entscheidung betroffenen Unternehmungen wurde die Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof ergriffen. Auf Grund der über eine dieser Beschwerden am 8. Jänner 1903 durchgeführten ersten öffentlichen mündlichen Verhandlung hat nun dieser Gerichtshof mit dem Erkenntnisse vom 21. Februar 1903 die Beschwerde als unbegründet abgewiesen. In der Begründung dieses Erkenntnisses wird zunächst die Einwendung wegen mangelhaften Verfahrens und wegen Gesetzwidrigkeit der angefochtenen Entscheidung als nicht zutreffend bezeichnet and erklärt, daß der Verwaltnngsgerichtshof sonach nur zu prüfen habe, ob die angefochtene Verfügung mit dem Wortlaute und dem Geiste des Gesetzes im Einklänge stehe. Die diesbezüglichen Ausführungen, welche auch in dem weiteren Erkennt- nisse, mit welchem alle anderen die gleiche Angelegenheit betreffenden Beschwerden als nnbegründet abgewiesen wurden, enthalten sind, lauten wörtlich:

.Die Beschwerde wendet gegen die Entscheidung in meritorischer Beziehung ein, daß als „Schicht“ niemals und bis in die letzte Zeit nicht ein anderer Zeitraum verstanden worden sei als derjenige, innerhalb dessen jeder einzelne Arbeiter seine Beschäftigung vollzieht. Ans dieser Begriffsbestimmung wird in der Beschwerde der Schluß gezogen, daß auch nach dem zitierten Gesetze die neunstündige Schichtdauer für jeden einzelnen Arbeiter za berechnen

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sei. Der Verwaltungsgerichtshof hat innächst, da weder das allgemeine Berg- gesetz vom Jahre 1X54 noch spätere Gesetze, also insbesondere das Gesetz vom 21. Juni 1884, R.-G.-Bl. Nr. 115, und das Gesetz vom 27. Jnni 1901, R.-G.-Bl. Nr. 81. den Begriff ausdrücklich bestimmen, an der Hand älterer Quellen festznstellen versucht, wie der Begriff sich historisch entwickelt hat. Da ■zeigt sich denn, da# fast alle älteren Bergordnungen, welche bis mr Wirksam- keit des allgemeinen Österreichischen Berggesetzes und der neueren deutschen Berggesetze in Geltung waren, in Betreff der .Schichtordnungen ziemlich überein- stimmende Vorschriften enthalten. Fast alle bezeichnen nämlich bestimmte Stunden für den Anfang und das Ende der Schichten. In diesem Sinne sind auch die Arbeits-, Dienst- und Schichtordnungen gehalten.

Hienach kann also eine Verschiedenheit bezüglich der Schichtberechnung nur darin bestanden haben, ob die Scliichtzeit ausschließlich für Arbeiten in der Grube zu verwenden ist, oder ob innerhalb der Schichtzeit sich auch die Einfahrt oder die Ansfahrt, oder die Ein- uud Ausfahrt zu vollziehen hat. Darin gab es aber eine Verschiedenheit nicht, daß die Schicht gleichmäßig und gleichzeitig für die gesamte Belegschaft begann und endete. Es mag sich nun, wie in der Enquete des sozialpolitischen Ausschusses des Abgeordnetenhauses behauptet wurde, im Laufe der Zeit bei einzelnen, vielleicht vielen Bergbanen eine abweichende Übung entwickelt haben.

Wenn aber in den neueren Gesetzen eine andere Begriffsbestimmung der Schicht nicht gegeben ist, so darf wohl angenommen werden, daß der historische Begriff beibehalten wurde, soferne sich nicht ans den betreffenden Bestimmungen in ihrem Zusammenhänge oder ans der klaren Absicht des Gesetzgebers ergibt, daß diese Gesetze von dem historischen Begrifft! abge- gangen wären.

Das allgemeine Berggesetz vom Jahre 1854 bleibt in dieser Beziehung ganz außer Betracht, weil es einschränkende Bestimmungen hinsichtlich der Schichtdaner und Arbeitszeit beim Bergbatie überhaupt nicht enthält, sondern sich damit begnügt, im § 200. lit. c, anzuordnen. daß in die Dienstordnung die Bestimmungen über die Zeit und Dauer der Arbeit gebären. Erst mit dem Gesetze vom Jahre 1884 und in weiterer Folge mit jenem vom Jahre 1901 wurden solche Einschränkungen normiert. Die Absicht des Gesetzgebers ergibt sieh aus dem Zwecke der beiden Gesetze ; beide sind Arbeiterschutz- gesetze. dazu bestimmt, den Bergarbeiter vor übermäßiger Ausnutzung seiner Arbeitskraft zu schützen. Diesem Zwecke scheint nun. wenn speziell das im vorliegenden Falle zur Anwendung gelangende Gesetz vom Jahre 1901 ins Ange gefaßt wird, entsprochen zu sein, wenn der einzelne Arbeiter nicht länger als 9 Ständen täglich dem Arbeitgeber für die Arbeit zur Verfügung steht, arid es würde sich daraus ergeben, daß die Interpretation der Beschwerde, wonach die Schichtdauer für jeden einzelnen Mann berechnet werden soll, mit dem Gesetze und dessen Absicht im Einklänge stünde.

Allein das Gesetz bezeichnet im zitierten $ 3, Absatz 2, als den Beginn der Schicht die -Einfahrt“. Jene Zeit also, welche der Arbeiter in der Anstaltsstube wartend zubringt, und während welcher er seinem Arbeitgeber für den Dienst zur

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Die Einführung der Neunstundenschicht beim österreichischen Kohlenbergbau. '■> 3 1

Verfügung steht, zählt hienach nicht zur Schichtdauer. Würde man nun die Einfahrt als individuellen Anfangspunkt der Schichtdauer für jeden Arbeiter besonders zählen, so käme man zu dem Ergebnisse, daß einzelne Arbeiter erheb- lich länger in den Dienst gestellt wären als 9 Stunden mehr der gemein- samen Wartezeit Würde zum Beispiel wie ja aus den von Seite der Beschwerde zitierten Beispielen als möglich hervorgeht die Einfahrt der gesamten Belegschaft 1 Stunde dauern, so hätte der letzte einfahrende Arbeiter zu leisten:

1. Die Wartezeit des ersten Arbeiters, welche nach dem Wortlaute des Gesetzes nicht zur Schichtdauer zählt,

2. die Zeit, bis die Reihe an ihn kommt, also eine Stunde.

3. volle 9 Stunden.

Die ganze Unzulänglichkeit des technischen Betriebes, die ganze natürliche Beschaffenheit des Bergwerkes, die aus der Zahl der Arbeiter notwendig gewordene oder anch nur faktisch ausgeübte Verzögerung in der Einfahrt würde dann dem Arbeitet znr Last geschoben. Der Arbeiter in dem Bergwerke, in welchem die Einfahrt der gleichzeitig zum Einfahrtsorte befohlenen Belegschaft wenig Zeit beansprucht, wurde anders behandelt, als ein solcher in einem Bergwerke, in welchem diese Einfahrt lange dauert. Nicht der Unternehmer, welcher den Vorteil aus seinem Venndgensobjekte zieht, welcher die Gefahren und Nachteile aus der Beschaffenheit dieses Objektes zu tragen hat, sondern der abgelohnte Arbeiter, welcher au dem Uiiternehmergewinue keinen Anteil hat, würde hiedurch mit Nachteilen aus der Beschaffenheit des Objektes belastet. Wenn also im Gesetze vom Jahre 1901 im ersten Absätze bestimmt wird: „Die Schichldauer für die beim Kohlenbergbaue beschäftigten Arbeiter darf 9 Stunden nicht über- steigen;* und der folgende Absatz lautet: „Der Beginn der Schiebt wird nach der Zeit der Einfahrt, die Beendigung nach der vollendeten Ausfahrt berechnet*, so kann damit nur gesagt sein, daß für alle Arbeiter einer Belegschaft, das ist die in eine Schicht oingeteilten Arbeiter, heim Kohlenbergbaue die Schicht mit der Einfahrt des ersten Arbeiters beginnt und erst mit der Vollendung der Ausfahrt des letzten Arbeiters endet.

Dagegen kann nun allerdings eingewendet werden, daß hienach fast kein Arbeiter volle 9 Stunden in der Grube arbeitet, allein die dem Zwecke des Gesetzes als eines Arbeiterschntzgesetes allein entsprechende Interpretation macht dies eben zur notwendigen Konsequenz, schließt übrigens die Verwendung des Arbeiters während der Ausfahrt und Einfahrt der anderen Arbeiter, also während der ganzen Schichtdaner, zu anfälligen Arbeiten nicht aus.

Würde aber anch noch ein Zweifel über diese Auslegung des Gesetzes verbleiben, so muß derselbe schwinden, wenn man die Vorgänge vor der Ab- stimmung in beiden Häusern des Keichsrates ins Auge faßt. In der Sitzung vom 23. Mai 1901 stellte der Abgeordnete Eldersch zu dem Gesetzentwürfe einen Abänderungsantrag dahin, § 3, Alinea 2, habe zu lauten: „Der Beginn der Schicht wird nach der Zeit der Einfahrt des ersten Mannes der Schicht, ihre Beendigung nach der vollendeten Ausfahrt des letzten Mannes der Schicht

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Webern.

berechnet“ Der Regierungsvertreter, Ministerialrat Z e c h n e r, gab in derselben Sitzung zur Behebung des rege gewordenen Zweifels, ob die Bestimmung der Regierungsvorlage so aufzufassen sei, daß die daselbst festgesetzte Schichtdaner für jeden einzelnen Arbeiter zn gelten habe oder als eine Gesamtschicht auf die gesamte Mannschaft zu beziehen sei, unter Beifügung einer ausführlichen Begründung die Erklärung ab, die neunstündige Schichtdaner werde als Gesamt- schicht aufgefaßt in der Weise, daß. wenn zum Beispiel bei der Mannsfahrt die erste Schale um 6 Uhr früh hinabgeht, die letzte nnt 3 Uhr nachmittags zu Tage gelangt sein muß. Mit Bernfung auf diese Erklärung zog der Abgeordnete Eid er sch seinen Abänderungsantrag zurück und es wurde die Bestimmung in der Fassung der Regierungsvorlage zum Beschlüsse erhoben. Hienach konnte das Abgeordnetenhaus über die Tragweite der gesetzlichen Bestimmungon und darüber, wie die gesetzliche Bestimmung seitens der die Vorlage einbringenden Regierung gemeint war, nicht den mindesten Zweifel haben. Eine weitere Klärung erfolgte im Herrenhause, und zwar nicht nur durch die mit der Erklärung des Regierungsvertreters im Abgeordnetenhanse übereinstimmende Erklämng des Ackerbauministers in der Sitzung vom 8. Juni 1901, sondern insbesondere auch dadurch, daß der vom Grafen Zedtwitz in derselben Sitzung gestellte Antrag, der erste Absatz des § 3 solle lauten: „Die Schichtdaner für jeden einzelnen beim Kohlenbergbaue in der Grube beschäftigten Arbeiter darf täglich 9 Stunden nicht übersteigen“, abgelehnt wurde, und daß auch schon ein gleicher in der Kommission des Herrenhauses gestellter Antrag laut Nr. 41 der Beilagen zu dem steno- graphischen Protokolle des Herrenhauses, XVII. Session, 1901) nicht die Majorität erlangen konnte. Hiedurch ist nicht etwa die Frage ira Herrenhanse unentschieden geblieben, sondern ist unzweideutig im Sinne der von der Regierung in beiden Häusern des Reichsrates abgegebenen Erklärungen entschieden worden. Die aus einzelnen Bestimmungen des Gesetzes entnommenen Einwendungen vermögen die Richtigkeit dieser Auffassung nicht zu erschüttern.

Daraus, daß der 5. Absatz des § 3 bezüglich der zulässigen Verlängerung der Schiehidauer verfügt, eine solche Ausnahme könne entweder für sämtliche Grubenarbeiter oder für einzelne Kategorien derselben gewährt werden, daß also hier ausdrücklich die Gesamtheit der Grubenarbeiter ins Auge gefaßt sei. kann ein Gegensatz zu den Bestimmungen des ersten und zweiten Absatzes nicht abgeleitet werden; denu hier ist der Ausdruck „sämtlich“ nicht im Gegensätze zn „einzeln“ gebraucht, sondern als Gegensatz von einzelnen Kategorien.

Aber auch aus der Bestimmung des vorletzten Absatzes, wonach für hochgelegene Kohlenbergbaue der Alpenländer vom Ackorbauminister auch eine längere Schichtdaner, als die in den beiden ersten Absätzen bestimmte nur mit der Maßgabe bewilligt werden kann, daß die Gesamtzahl der „von einem Arbeiter“ in einer Woche verfahrenen Schichten nicht über 51 Stunden betragen darf, läßt sich der Schluß nicht rechtfertigen, daß das Gesetz einen von dem Begriffe der Gesamtschicht abweichenden Begriff der Schicht in dem Sinne hat aufstellen wollen, wie die Beschwerde das Gesetz auslegt. Denn hier ist nicht gesagt, daß die Schichtdauer für jeden einzelnen Arbeiter individuell zu berechnen sei. sondern

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Die Einführung der Neunstundenschicht beim Österreichischen Kohlenbergbau. 533

es will damit nur eingeräumt werden, daß allerdings die Dauer der einzelnen Schichten (für die Gesamtheit der Belegschaft; mehr als 9 Ständen betragen dürfe, daß aber, wenn die Gesamtdauer der in einer Woche verfahrenen Schichten mehr als die normale von 54 (6x9) Stunden betragen sollte, der einzelne Arbeiter doch nicht länger als 54 Stunden in der Woche beschäftigt sein darf.

An einem Beispiel wird dies klar. Angenommen, es wird in einem solchen hochgelegenen Bergbaue nur an 5 Tagen gearbeitet, weil für den Zugang auf den Berg und den Abgang von demselben 2 Tage der Woche in Abschlag kommen, und es würde die Dauer der Schichten mit 12 Stunden filiert, so würde sich eine Gesarotdauer der Arbeit von 60 Stunden ergeben, und da bestimmt nun das Gesetz, daß der einzelne Arbeiter mehr als 54 Stunden in der Woche nicht beschäftigt sein dürfe.

Daß im § 4 des Gesetzes vom 21. Juni 1884. B.-G.-Bl. Sr, 115. welcher durch das Gesetz vom 27. Juni 1901 in seiner Geltung für den Kohlenbergbau unberührt geblieben ist. bestimmt wird, „die Sonntagsruhe hat für die gesamte Uannschaft gleichzeitig zu beginnen,“ beweist ebenfalls nichts gegen die in der angefochtenen Entscheidung zum Ausdrucke gelangte Auslegung des Gesetzes vom Jahre 1901. Denn auch hier bildet der Ausdruck „gesamt« Mannschaft“ nicht den Gegensatz zum einzelnen Arbeiter; vielmehr erscheint der Ausdruck als Gegensatz zur „Belegschaft einer Schicht“ und die Bestimmung ist darum getroffen, weil beim Bergbaue die Arbeit am Sonntag vollständig zu ruhen hat und der Beginn der Sonntagsruhe spätestens auf Sonntag 6 Uhr früh festgesetzt ist. Da aber anderseits bestimmt ist, daß die Sonntagsruhe volle 24 Stunden von ihrem Beginne an zu dauern hat, so mußte der gleichzeitige Beginn für die gesamte Mannschaft festgesetzt werden, weil sonst die Arbeit beim Berg- baue nicht während des ganzen Sonntags, das ist während voller 24 Stunden ruhen würde. Nur deshalb bedient sich hier das Gesetz des Ausdruckes „gesamte Mannschaft.“

So ist denn mit der vorstehenden Begründung an letzter Stelle der entscheidende Ansspruch erfolgt und es erübrigt den Bergbauunternehmern nur, sich zu fügen und darauf bedacht zu sein, die mit der Durchführung des Gesetzes im Sinne dieser Entscheidung etwa verbundenen größeren lokalen Schwierigkeiten zu überwinden.

Man findet in der Literatur vielfach die Ansicht ausgesprochen, daß eine Verkürzung der Arbeitszeit nicht auch einen Ausfall in der Leistung, bezw. in der Produktion nach sich ziehen müsse, sondern in vielen Fällen sogar eine Steigerung derselben zur Folge habe. Wenn dies auch beim Bergbau gewiß nicht allgemein zutrifft, so gibt es bei demselben doch auch Mittel und Wege, die der Erhöhung der Arbeitsleistung entgegenstehenden Hindernisse als: geringe Mächtigkeit der Lagerstätte, Vertaubungen, ungünstige Beschaffenheit der Hangend- schichten, große Ausdehnung der Grubenräume. Schlagwetter, Feuer- oder Wasser- gefahr etc. zu überwinden. Diese bestehen in einer richtigen Wahl der Abbau- methode, möglichster Abkürzung der Arbeitswege. Einführung maschineller Gewinnungsarbeit, besserer Ausnutzung der Schichtzeit der Häuer durch Bei- - Stellung des Grubenholzes bis auf die Arbeitsort«. Verbesserung der Schacht- und

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534

Webern.

Streckenförderung durch Einbau leistungsfähigerer Maschinen und gute Erhaltung der Förderbahnen, Beistellung einer genügenden Anzahl von Förderwagen, Verkürzung der unfreiwilligen Arbeitspausen etc. Freilich sind hiezu zumeist bedeutende Geldopfer erforderlich, zu welchen sich die Unternehmer ungeachtet der Vorteile, welche dieselben unzweifelhaft bringen würden, mitunter nicht entschliefen können; unter dem Drucke des Gesetzes ist jedoch schon manches durchgeführt worden, was vorher unmöglich erschien und wovon man sich Übel- stände erwartete, die daun nicht eingetreten sind. Hoffen wir, daß sich dieser Erfahrungssatz auch bei der strikten Durchführung des Gesetzes über die Neun- stundenschicht bewähren und sonach mit diesem Gesetze ohne Schädigung der Industrie ein nicht geringer sozialer und hygienischer Fortschritt beim Kohlen- bergbau erzielt werden wird.

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DIE NEUEN TRIESTER HAFEN BAUTEN.

(MIT EINER PLAN8KIZZE) TOS

D" GUSTAV LIPPERT.

Die am 22. November 1899 dem Abgeordnetenhaus« in seiner XVI. Session überreichte Regierungsvorlage betreffend die Erweiterung der Hafenanlagen in Triest, wodurch die Herstellung des Sanitätsmolos, die Verbreiterung der Riven m alten Hafen, ferner der Bau eines Molo mit einer Riva für ein Hafenbassin bei der Spitze von St. Andrea im Anschluß an den Holzlagerplatz am die Gesamtsumme von 12 Mill. Kronen ins Auge gefallt war. hat zwar nie gesetz- liche Sanktion erhalten; jedoch war die Ausführung der Bauten im alten Hafen schon zn Beginn des Jahres 1901 in Angriff genommen und für die nötigen Auslagen durch Einstellung der jeweils erforderlichen Budgetposten vorgesorgt worden.

Eine neuerliche Anregung, sich mit den Hafenerweiternngsfragen eingehend zu befassen, bildete das Gesetz vom 6. Juni 1901, R.-G.-Bl. Nr, 68, betreffend die Herstellung mehrerer Eisenbahnen auf Staatskosten und die Festsetzung eines Bau- und Investitionspräliminares der Staatseisenbahnverwaltung für die Zeit bis Ende des Jahres 1905.

Der biemit geplante Hau der zweiten Eisenbahnverbindung mit Triest rückte die Frage einer allen zukünftigen Verkehrsanforderungen entsprechenden Vergrößerung des Hafens in den Vordergrund.

In Betreff der absoluten and relativen Handelsstellung Triests während der unmittelbar vorausgegangenen Jahrzehnte gibt der zu dem erwähnten Gesetze erstattete technisch-kommerzielle Bericht*) eine Reihe von Zahlenübersichten, deren bedeutsamste samt den hieraus gezogenen Schlußfolgerungen zur Beur- teilung des Verkehrswachstums und zwecks Veranschaulichung des Umfanges der zukünftigen Hafenausgestaltung hier Aufnahme ßnden sollen.

Zunächst zur Charakterisierung der Bedeutung von Triest als Hafenplatz im internationalen Verkehre zur See folgende Wertzahlen:

') Beilage 60 zu den stenographischen Protokollen des Abgeordnetenhauses, xvn. Session, 1901, S. 62 ff.

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536

Lippert.

I. Einfuhr zur See nach Triest.

1899

1898

1897

1896

1895

1894

1893

1892

1891

Wert des Gesamt*

verkehr» in Mill. Kronen ....

3886

885*6

3680

346*8

3700

372-8

378-4

375-8

833-6

davon aus bezw.

nach österr.-nngar. Häfen ....

28*4

296

272

28-0

28*2

26-2

24-0

25-0

25*4

daher W ert des

Außenhandels . .

3602

356 0

340 8

3188

341-8

3466

354 4

8508

8082

n.

Ansfuhr

zur See von Triest:

1899

1898

1897

1896

1895

1894

1893

1892

1891

Wert des Gesamt-

verkehrs in Mill. Kronen ....

322-6

326-8

313 4

3034

801-0

336-6

3338

3140

3238

davon aus bezw.

nach österr.-ungar. Häfen ....

52-6

532

56 8

560

■30

59-6

584

51-6

54-6

daher Wert des

Außenhandels . .

270-0

278 6

256-6

247-4

248 0

2770

2754

262 4

2692

Die noch weiters gebrachten Zusammenstellungen von Ziffern betreffend den Triester Handel im Mittelmeer, im Atlantischen Ozean, im Schwarzen Meer, im Roten Meer, mit Ost- und Südafrika. Asien jenseits des Roten Meeres, Nord- amerika und Westindien. Südamerika und Australien zeigen, daß das Schwer- gewicht des Triester Sechandels in den Mittelmeerlilndern liegt; mit diesen ist auch der Handelsverkehr aktiv, in allen übrigen Beziehungen führt Triest mehr Waren ein als es ausfährt und zeigt die Differenz, namentlich im Verkehre mit Asien. Nord- und Südamerika, eine nicht unbedeutende Höhe. Wenn die Bestimmung der von Triest zur Versendung gelangenden Waren im einzelnen weiter verfolgt wird, so erweisen sich eigentlich nur die Türkei, Italien und Griechenland sowie Ägypten und Britisch-lndien als Hauptabsatzgebiete des Triester Verkehrs. Die für die Ausfuhr unserer Erzeugnisse so wichtigen Märkte Ostasiens, Nord- und Südamerikas. Australiens, Ost- und Südafrikas dagegen erscheinen entweder mit nur sehr bescheidenen Anteilen oder gar nicht. Und darin liegt das bei weitem wichtigste Hemmnis für eine gesunde Entwicklung von Triest. Es mangelt an Ausfracht für jene Märkte, das heißt: die Schiffe, welche Güter von dort bringen, müssen damit rechnen, in Triest wenig oder gar keine Fracht zu erhalten; das verteuert den Seetransport, macht regelmäßige und Öftere Verbindungen unmöglich und drückt die Konkurrenzfähigkeit bedeutend herab.

Die geringe Anziehungskraft des Triester Platzes zeigte sich dementsprechend auch in den Ziffern des Eandverkehrs und noch schärfer treten diese Mängel in der Entwicklung des Warenverkehrs von TrieBt boim Vergleiche des Triester Handels mit jenen der konkurrierenden Seehäfen hervor, von welchen Fiume, Venedig, Genua. Marseille, Bremen und Hamburg in Betracht gezogen werden sollen.

Es betrug der Gesamtwarenverkehr während der Jahre 1860- 1899 in 1000 Tonnen;

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Die neuen Triester Hafenbauten.

537

Davon entfallen auf

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§ 1 f 1 1

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1860-1869

5512 635

311‘)

9067, 1803 734")

1113 '

1870-1879

8898! 837

197*)

460“)

1278») 260s 1387")

2181«)

1880—1889

14601 1116

602

707

2851*) 3498 1618"

4209*)

j 1890—1899

1

21032 1273

1

1 '1

95a

1132

3614") 4371 -2596")

1 1

7091")'

oder in Proz. des Gesamtverkehra i

5 ; e ? 1 ,2

2 ’s ! a | *s |

11-5

6 2-25 '4-1 jr.

iS-t-5'5-

I

33 13 20, 20 1 15, 25!

11 12

Triest hat hienach während der bezeichneten 40 Jahre fortwährend alige- 1 Kimmen nnd es beträgt sein Anteil hente fast nnr mehr die Hälfte jenes der Sechzigerjahre. Finme, Genua und Hamburg dagegen haben ihre Koukurrenzkraft gestärkt; Venedig blieb konstant.

Aus all diesem Zahlenmaterial zieht der technisch-kommerzielle Bericht den Schloß, daß angesichts der während jenes Zeitraumes zwecks Besserung der Verkehrsverhältnisso getroffenen Maßnahmen die Abnahme der Konkurrenz- fähigkeit Triests nur durch das Fehlen der notwendigen Ausgestaltung seiner Hinterlandsverbindungen erklärt werden könne.

Der Triester Handel bedürfe eines neuen Handelsweges mit einem ver- größerten festländischen Attraktionsgebiete, um die ungleichmäßige Verteilung der Zn- und Abfuhrverhältnisse auszugleichen, welche die Schiffahrt auf das Nachteiligste beeinflussen.

Der neue Schienenweg sei berufen und geeignet, einerseits die Ausfuhr von Textilien, Kleidern und sonstigen Konfektionen, von Papier, Leder- und Schüttwaren, hölzernen und eisernen Möbeln. Nägeln, Holzwaren, Zement. Glas-, Ton- und Kurzwaren u. s. w, insbesondere nach Ostasien, Zentral- und Süd- amerika wesentlich zu fördern, anderseits die Abfuhr der für unsere Textil-

'1 Ein- und Ausfuhr zu Lande.

*) Ein- und Ausfuhr zur See.

*) Gewicht der im Hafen ein- und auegeschifften Waren. *> Erst seit 1872 ausgewiesen, 1872 1879.

*1 Ungefähr.

•) 1876—1879.

’) 1861.

•> 1871—1880.

•) 1881—1890.

">) 1891—1899.

») 1867—1871.

") 1877—1881. n, 1887—1891.

>*) 1892-1899.

1891—1898.

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538

Lippen.

Industrie nötigen Rohstoffe: Baumwolle, Schafwolle und Jute, welche bisher nur 7.um geringen Teil über den heimischen Hafen gehen, zu übernehmen, sowie Häute, Chilisalpeter, mineralische Dungmittel, Farbhölzer, Tabak u. s. w. 711 Stapelartikeln für den Bedarf unserer Produktion dortselbst zu machen.

Gin lebhafter Schiffsverkehr mit regelmäßigen und billigen Vcrfrachtungs- gelegenheiten nach den für die Förderung der heimischen Ausfuhr so wichtigen Konsumplätzen Ostasiens. Ost- und Südafrikas, Amerikas und Australiens werde sich dazu automatisch gesellen.

Über den mutmaßlichen Umfang der zu gewärtigenden Verkehrszunahmeu werden in dem im Jänner 1903 verfaßten Berichte der bei der Seebehörde zur Beratung der Ausgestaltung der Uafenanlagen in Triest-St. Andrea zusammen- getretenen Kommission folgende Schätzungen angestellt:

Wie ans den letzten statistischen Ausweisen der Triester Handelskammer über den Schiffsverkehr des Triester Hafens erhellt, hat sich der Tonnengehalt der eingelanfenen Schilfe von 2.063.112 im Jahre 1898 auf 2,499.528 im Jahre 1902 erhöht, ist daher um 21 Proz. gestiegen, was einem Jahreszuwachs von durchschnittlich 5-2 Proz. entspricht.

Eine verhältnismäßig weitaus beträchtlichere Steigerung zeigt sich jedoch im Seeverkehr des Triester Freigebietes, welcher sich von 9,560.512 Meter- zentnern im Jahre 1898 auf 12.494.480 Meterzentner im Jahre 1902, sonach im ganzen um 30'6 Proz. und im Jahresdurchschnitte um 7'(i Proz. erhöht hat.

Der Bahnverkehr des Freigebietes ist im gleichen Zeitraum von 5,785.600 auf 7,433.629 Meterzentner, also um 29 Proz. und im Jahresdurchschnitt um 7-25 Proz. gestiegen, wobei zu beachten ist, daß die Unterschiede zwischen den Ergebnissen dos See- nnd Bahnverkehrs auf den lokalen Warenverkehr zurück- zuführen sind. Es erschien hienach die Annahme begründet, daß der Triester Hafenverkehr ohne Rücksicht auf die Wirkungen der zweiten Eisenbahnverbindung während der nächsten fünf Jahre mindestens einen gleichen Fortschritt nehmen, daher mit Ende des nächsten Quin<iuenninms eine 50proz. Steigerung gegenüber dem Jahre 1898 aufweisen würde.

An die Eröffnung der neuen Eisenbahnverbindung knüpft sich aber die berechtigte Erwartung, daß die hiedurch herbeigeführte Yerkehrssteigerung den Yerhältnisanteil Triests an dem Gesamtverkehr der Seehäfen Triest, Yenedig, Fiume, Genua, Marseille, Bremen und Hamburg wenigstens auf das im Jahr- zehnt 1860 1870 bestandene Verhältnis, nämlich von 6 Proz. (in dem Zeit- räume 1890 1898) auf 1 1*S erhöhen werde, was mit einer Verdoppelung des gegenwärtigen Warenverkehrs gleichbedeutend wäre.

Hieran« ergibt sich notwendigerweise die Forderung, daß die neue Hafen- anlage der gegenwärtigen an Umfang zumindest gleichkommen, au Leistungs- fähigkeit aber überlegen sein und die Möglichkeit einer Erweiterung für die einer ferneren Zukunft vorbehaltene Yorkehrsentwicklung bieten müsse.

Diese Forderung war um so dringender, als seitens der Konkurrenzhäfen alle Anstrengungen gemacht werden, um durch Erweiterung und Vervollkommnung ihrer heute schon großartigen Anlagen ihre Wirkungssphäre noch mehr aus- zudehnen. Es war somit eine nene Hafenanlage in Aussicht zu nehmen, welche

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Die neuen Triester Hafenbauten.

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nicht bloß den gegenwärtigen ' Verkehrsanforderungen, denen die bestehenden Hafeneinrichtungen schon längst nicht mehr genügen, unter Berücksichtigung des normalen Verkehrszuwachses auf absehbare Zeit hinaus vollständig entspricht, sondern auch zur Bewältigung der außerordentlichen Verkehrssteigerung aus- reichen soll, die sich nach Vollendung der neuen Bahnverbindungen und ins- besondere der Tauernbahn aller Voraussicht nach einstellen wird.

Daß da der in der Regierungsvorlage vom Jahre 1899 geplante eine Molo samt Riva in St. Andrea ganz und gar nicht ausreichen konnte, lag auf der Hand. Deshalb wurde im Zusammenhänge mit den Bahnanlagen der alsbald in Bau gegebenen internationalen Hanptverkehrslinie die Anlage eines neuen Hafen- teiles mit drei senkrecht auf die Bahnriva angesetzten und durch einen Wellen- brecher geschützten Molis projektiert.

Allein noch im allerersten Anfang der Ausführung dieses Bauplanes entstanden wichtige Bedenken in Betreff der Angemessenheit der ganzen Anlage, nicht nur vom nautischen Standpunkt wegen der bei Bora und Seegang zu befürchtenden Gefährdung der Schiffsoperationen, sondern auch aus eisenbahntechnischen Gründen, indem die Einschaltung der vielen Drehscheiben als untunlich und verkehrshinderlich erschien.

Die im Laufe d^s Jahres 1902 und anfangs 1903 in Wien und Triest zur Beratung dieser Frage abgehaltenen Kommissionen1) fanden einen die Aus- gestaltung des neuen Hafenteiles endgültig bestimmenden Abschluß in den vom 3. bis 9. Februar 1903 bei der Seebehörde abgehaltenen Sitzungen.

Hienach soll nunmehr, wie aus der angefügten Planskizze ersichtlich, der Ban der drei neuen Molis in der Richtung N. 83° E. der wahren Windrose ioder E. N.), also parallel zum Durchzugsgeleiso der Staatsbahn stattfinden und außerdem gegen die aus Südwesten kommenden Meereswogen ein sicherer Schutz vermittels dreier staffelformig angelegter Wellenbrecher geschaffen werden. s)

*) In der am 11. November 1902 bei der Seebehörde stattgefundenen Kom- misaionssitzung wurde beschlossen, mit der Ausarbeitung des Entwurfes ein Komitee zu beauftragen. Das von derselben aasgearbeitete Generalprojekt wurde in der Sitzung des Lagerhauskomitees vom 23. Dezember 1902 vorgetragen und bildete aoeh die Grundlage der in Angelegenheit der Triester Hafenbauten im Handelsministerium vom 12. bis 17. Jänner 1903 abgehaltenen Sitzungen.

rl Für die Richtung der nautischen und technischen Linien des Hafens war vor allem maßgebend, auf den vorherrschenden Wind und dessen Richtung streng Bedacht zu nehmen und weiters darauf zu achten, daß die Wellenbewegung des Meeres aus jener Weltgegend, aus welcher erfahrungsgemäß der gefährlichste Seegang fQr den Golf von Triest kommt, möglichst geringen Einfluß auf die im Hafen vertäuten und handelstätigen Schiffe nehmen könne. Diesem klaren Gesichtspunkte folgend, mußten die nautischen Linien des neuen Hafens tunlichst genau der mittleren Richtung der stürmischen Bora entsprechend veranlagt werden.

Die Erbauung eines einzigen Stückes Wellenbrecher in der ganzen erforderlichen Länge von 2S40 Metern vor dem Hafenwerk in St. Andrea und vor der Bucht von Muggia wäre ein Fehler kommerziell-technischer Natur gewesen, hätte auch den nautischen Anforderungen wenig entsprochen, denn erstere erheischen die Ermöglichung tunlichst rascher Abwicklung der bade- und Löschungstätigkeit der Schiffe, letztere verlangen die leichte Zugänglichkeit jeder Hafenanlage unter Wahrung der nautischen Sicherheit. Expos* zum Generalprojekte der Halenanlagen in Triest-St. Andrea. Jänner 1903.

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540

Lippert.

Die Ausdehnung und Leistungsfähigkeit der neuen Freigebiets- und Hafen- anlage übertrifft erheblich jene des gegenwärtigen Puntofranco, wie folgende vergleichende Zusammenstellung ersehen läßt:

Derzeitige Freigebiets- anlagen einschließlich Molo IV und Rangierbahnhof

Projektierte Anlage in .8t. Andrea samt Rangier* bahihof

Rivalänge

8260 m

4850 m

Länge der Moli ....

Molo I 19b m (durchschnittl. '

Molo V 360 m

Molo II 197 m

Molo VI513m(durchBchnittM

Molo III 21 1 m r

Molo IV 142 m

[Molo VII 778 m *

Bassinbreiten

Bassin I 229 m Bassin 11268 m Bassin III 298 m

Bassin IV 280m (durchschnittl.)'

jedes der beiden Bassins 300 mj

Länge des Wellenbrechers

1086 m

500 + 500 +1600 m

Breite der Einfahrten . .

vor Molo I 95 m

vor Molo V 400 m : zwischen ^

vor Molo III 165 m

den Wellenbrechern je 233 m

Hangars. Belegfläche . .

46.000 m'

128.000 m5

Magazine, Relegfläcbe . .

153.000 in»

180.000 m

1 Zahl der Uferkrahne . .

54

95

| Gesamt areal

1

417.828

603.000 m!

Ranm wird für etwa 30 Schiffe großen Tounengehaltes geschaffen, und zwar bei der Meerestiefe von 12 bis 18 m gerade für solche größter Verhältnisse.

Die Kosten für sämtliche Hafenanlagen beziffern sich nach den bezüg- lichen, allgemein gehaltenen Voranschlägen auf 87*1 Mill, Kronen, wovon 53'9 auf die eigentlichen Hafenbauten und 33‘2 Mill. Kronen auf die Freigebietsaulage entfallen.

Als leitender kommerzieller Gesichtspunkt war bei der Anlage maßgebend die Erwägung, daß ein möglichst rascher, einfacher und billiger Umschlag zwischen Schiff und Land und insbesondere zwischen Schiff und Bahn zu ermög- lichen sei. Hiebei war insbesondere darauf Bedacht zu nehmen, daß durch die zweite Bahnverbindung mit Triest, welche eben in St. Andrea münden soll, hauptsächlich der Durchzugsverkehr einen wesentlichen Aufschwung erfahren wird, daß also die überwiegende Mehrzahl der Güter im zukünftigen Freigebiete nur vorübergehend gelagert wird, somit der Warenverkehr in den allgemeinen Lagerräumen dem im unmittelbaren Umschlag sich abwickelnden Verkehre an Bedeutung nicht unwesentlich nachstehen werde. Auch ist es nicht wahrscheinlich, daß die Vermietung von Lagerhausflächen an Private in demselben Verhältnis

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Die neuen Triester Uafenbauten.

541

wie derzeit im neuen Hafen Vorkommen werde. Dagegen maß auf die Ein- and Ausfuhr der hohe Lagerzinse nicht vertragenden Massengüter sowie deren Lagerung im Freien in weitgehendem Maße gerechnet werden. Unter diesen Voraussetzungen war es geboten, den Hafen in St. Andrea reichlich mit Hangars und freien Lagerplätzen auszugestalten und derart einzurichten, daß Zu- und Abstellung der Eisenbahnwagen in ungehinderter Weise zu jeder Zeit und wo- möglich, ohne den Verkehr der eigentlichen Lagerhäuser zu kreuzen oder zu behindern, vor sich gehen könne.

Da. wie erwähnt, der Bedarf an Magazinen in den Hintergrund treten dürfte, wird die Anlage einer Reihe Lagerhäuser voraussichtlich genügen. Sollte aber diese Vermutung sich nicht verwirklichen, vielmehr der Bedarf an allge- meinen Lagerräumen und Privatmagazinen sich in einer Weise steigern, daß die projektierten Magazine nicht mehr ausreichen würden, so ist die Möglichkeit gegeben, auf Anschüttnngsflächen vom Leuchtturm bis zum kleinen Bootshafen in St. Andrea hinreichenden Raum für deren Errichtung zu gewinnen, was bei der nicht bestehenden Notwendigkeit, unmittelbar vor den Lagerhäusern sichere Schiffsanlegestellen zu schaffen, um so leichter wird geschehen können, wenn für die vorderhand an jener Stelle gedachten Holzlagerplätze anderswo, nämlich in Servola, Ersatz gefnnden wird.

Geplant sind 22 Hangars, deren benützbare Flüche zwischen 4700 und 8200 n/! beträgt, welche Verschiedenheit in der Größe nicht als ein Nachteil bezeichnet werden kann, weil in den Hafen Schiffe verschiedenen Tonnengehalts einlaufen.

Bei der Bestimmung des Flächenausmaßes des Hangars wurde auf die Löschung von Schiffen bis zn 9000 Tonnen Gehalt Rücksicht genommen, so daß eine volle Ladung in einem einzigen Hangar zur Löschung gelangen kann.

Die Gesamtbelegfläche der zu errichtenden Hangars beläuft sich sonach anf 128.200 »t*. welche sich bei Aufführung von Obergeschossen in einzelnen Hangars auf 160.400 erhöhen würde, eine Fläche, die auch im Falle eines bedeutenden Verkehrsaufschwunges auf absehbare Zeit hinaus allen Anforderungen genügen dürfte.

Die Hangarlängen schwanken zwischen 120 bis 207 m und worden den verschiedenen Schiffslängen angepaßt; die Hangarbreiten wurden mit 45 m fest- gesetzt. Vor den Hangars ist eine Riva mit 14 m Breite gedacht, auf welcher ein Umschlagsbahngeleise angelegt wird; an der Landseite der Hangars sollen drei Geleise den Bahnverkebr vermitteln, eines für den Umschlag, das mittlere für die Waggonanfstellmig, das innerste als Dnrchzngsgeleise.

An den Köpfen der Moli wird ein freier Lagerraum für die einstweilige Lagerung von Massengütern (Mineralien, Erze, Holz) belassen; als Hauptlager- platz für diese Artikel ist übrigens das östliche, gegen das Lloydarsenal gelegene Ende des neuen Freigebietes auserseben.

Die Magazine anlangend, sind deren acht in zwei Reiben landscits der Hangars projektiert; sie werden mit Keller, Erdgeschoß und drei Stockwerken vorsehen und bieten einen Belegraum von 180.000 ws. Ihre Breite wurde, ein-

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542

I.ippert.

schließlich des Perrons zu 1’50 m, mit nnr 28 m bemessen, innerhalb welcher Grenze das Tageslicht zur Erhellung des Innern der Abteilungen ausreicht.

Die Bestimmung der neuen Hafenanlage ist die, vorzugsweise zur Bedienung des indischen und ostasiatischen Verkehrs gewidmet zu bleiben; denn eine solche Trennung des Verkehrs nach Weltgegenden erwies sich als angezeigt, um die nachteiligen Folgen der abgesonderten Lage des älteren und neuen HafenteUes zu mildern sowie um die Schwierigkeiten in der Betriebsführung des Eisenbahn- dienstes tunlichst zu beheben.

Das gewaltige Hafenwerk wird nach seiner Vollendung Triest zu einem der grüßten und besten Häfen des Mittelmeerbeckens emporheben und im Bereiche desselben wird dieser Platz außerordentlich günstig Handel und Verkehr ver- mitteln können, wie nur wenige andere Häfen einer mächtigen Entwicklung entgegengehend.

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LITERATUR BE RECHT.

Eduard Huirno, k. k. MinUtcrial-Vizesekret&r, im Finanzministerium. Die Bechtsaprcchnng des Verwaltungsgcrichtshofes auf dem Gebiete des Gesetzes vom 25. Oktober 1896, R. G.-Bl. Nr. 220, betreffend die direkten Personalsteuern «eit Beginn der Wirksamkeit des Gesetzes (1898—1901). III. Teil des Kommentars zu diesem Gesetze, herausgegeben von Eduard Bugno und Pr. Emil Wilmer, Wien, 1902, M. Breitenstein, 240 S.

Unter diesem trotz einiger hier bereits durchgeführten Kürzungen noch immer etwas zu lang geratenen Titel ist als vollständig für sich bestehende Arbeit eine auUerordentlich übersichtliche Zusammenstellung der Verwaltungsgerichtshof-Judikatur nun neuen PersonalsteuergeBetze erschienen; in möglichst engem Anschlüsse an den Wortlaut der Entscheidungsgründe ‘werden hier von Bachkundiger Hand prägnante Rechtssätze aus etwa 1000 Erkenntnissen und Bescheiden des Verwaltungsgerichtshofes hcransgezogen, nach den einschlägigen Paragraphen gereiht und innerhalb dieser Ordnung wieder systematisch gruppiert, so daß sich der Xachschlagendc in der denkbar kürzesten Zeit über den letzten Stand der Judikatur zu orientieren vermag. Hiemit hat sich der Autor den Dank jener weiten Kreise verdient, welche über den jeweiligen Stand der einschlägigen Judikatur informirt zu sein wünschen, ohne in der Lage zu sein, die immer mehr anschwellende Zahl der Judikate in extenso zu studieren und sich wenigstens die wichtigeren der bisher nicht veröffentlichten Beschlüsse und Be- scheide zu verschallen. Dankbar werden aber auch alle jene die Zusammenstellung begrüßen, welche die Entwicklung des direkten Steuerwesens in den verschiedenen Ländern mit Aufmerksamkeit verfolgen wollen ; denn ihnen eröffnet sich hier in leicht zugänglicher Weise eine überreiche Fundgrube praktisch vorgekommener Bestcuerungs- fällc, aus welcher sie auch wenn die konkret getroffene Entscheidung nicht immer ihre Billigung wird finden können gleichwohl gewiß Anregung und Belehrung in vielen bisher noch wenig geklärten Fragen der Besteuerung schöpfen werden.

Einen ganz besonderen Reiz gewinnt die vorliegende Zusammenstellung dadurch, daß sie uns einen Überblick über einen vollständig neuen Zweig der Verwaltnngs- gerichtshof-Judikatur verschafft: Das Personalsteuergesetz hat nämlich wohl die durch- greifendste Umgestaltung eines ganzen großen, in sich geschlossenen Verwaltungszweiges herbeigeführt, welche seit Bestand unseres VerwaltungBgerichtshofes überhaupt stattgefunden hat; es hat sich daher dem Verwaltungsgerichtsbofe hier auch zum ersten Mal die Gelegenheit geboten, von allem Anfänge an auf die Entwicklung der Praxis bestimmenden Einfluß zu nehmen. Von dieser Möglichkeit wurde tatsächlich der umfassendste Gebrauch gemacht und mit dem Zeitpunkte des Inslebentretens des neuen Gesetzes insbesondere auch die eigene frühere Judikatur dermaßen zur Seite geschoben, daß manche Gesetzes- stelle, durch welche lediglich die bisherige PraxiB kodifiziert werden sollte z. B. die Bestimmungen über die Behandlung der Verwaltungsratsbezüge, der Couponsteropel- gebühren, der veijährtcn Dividenden etc. etc. nunmehr zum Ausgangspunkte ciuer geradem gegenteiligen Praxis genommen wurde.

Die Neuerungen beschränken sich nun aber keineswegs auf das engere Gebiet des Finanzrechtes, sondern greifen auf eine Reihe von Fragen über, welche für das Administrativverfahren im allgemeinen von Wichtigkeit sind und daher auch außerhalb des Kreises der Steuerpraktiker und -tlieoretikcr Aufmerksamkeit verdienen. Hieher Zniucbrifi für VolkawirUohaft, Sozialpolitik und Verwaltung. Xtf. Rand. 37

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Literaturbericht.

gehören interessante und fein distinguierte Erörterungen über die Frage der Zulässigkeit der reformatio in pejus sowie (allerdings schon in das Jahr 1902 fallend z. B. Er- kenntnis vom 17. April 1902, Budw. 9*10) weit ausgreifende Deduktionen über die Folgen der Kontumaz in erster Instanz auch für das zweitinstanzliche Verfahren: hieher gehört aber vor allem der radikale und soweit ich sehen kann, unvermittelte Bruch mit einer dezennienlangen Judikatur, zufolge welcher eine nachträgliche Sanierung von Mängeln des Adtninistrativverfahren« für zulässig erklärt worden war: Die neuere Judikatur stellt sich demgegenüber auf den Standpunkt, daß „wesentliche" Mängel des Verfahrens im Instanzenwege nicht saniert werden können, vielmehr die Wiederholung des ganzen Veranlagungsverfahrens erfordern; hiebei wird überdies die Wesentlichkeit des Mangels nicht so sehr nach der konkreten Bedeutung desselben für den Einzelfall als vielmehr unter Annahme gewisser essentieller und rücksichtlich ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge un- verrückbarer Formerfordemisse beurteilt. In weiterer Konsequenz dieser Auffassung gelangt der V erwaltun gsger ichtahof zur Lehre von der „ursprünglichen Nichtigkeit“ der auf Grund eines derart mangelhaften Verfahrens erlassenen behördlichen Verfügungen und berührt damit Fragen, welche in der verwaltnngsrechtlichen Theorie bekanntlich noch immer strittig sind und wohl auch bei einer eventuellen Reform unsere« Admini- strativ Verfahrens noch eingehend erörtert werden müßten; denn es wird «ich darum handeln, das tatsächliche Maß der dieser Weise augeblich bewirkten Erhöhung des Rechtsschutzes des Einzelnen ins klare und weiter fcstzustellen, inwieweit die hiedurch bewirkte Beeinträchtigung öffentlicher Interessen, die Vennehrung der verwalt ungs- behürdlichcn Arbeit und die bekanntlich sehr unangenehm empfundene wiederholte Inanspruchnahme der Zensiten mit der vermeintlichen Erhöhung des Rechtsschutzes in richtigem Verhältnisse stehe.

Das Personalsteuergesctz hat endlich nicht nur eine radikale Reform dieser Steuern lierbeigeführt, sondern auch das Gesetz über den VerwaUungsgerichtshof selbst in der einschneidendsten Weise abgeändert, da der Verwaltungsgerichtshof erst von nun ab über die Entscheidungen der mit Laienelementen besetzten Steuerkommissionen, ferner der aus Richtern und Verwaltungsbeamten zusammengesetzten Spruchsenate im •Strafverfahren, sowie endlich über Beschwerden der Vorsitzenden der zweitinstanzlichen Kommissionen gegen Entscheidungen dieser Kommissionen zu erkennen hat. Die vor- liegende Zusammenstellung ladet daher förmlich dazu ein, festzustellen, wie der Ver- waltungsgerichtshof sich mit diesem ihm durch das Personalsteuergesetz zugewiesenen erweiterten Wirkungskreise abgefundeu hat, und zu untersuchen, ob Bich auf dein neu betretenen Tätigkeitsfelde .Schwierigkeiten ergeben haben und welche Abhilfe hier etwa geboten wäre.

Es kann selbstverständlich nicht Aufgabe dieser Anzeige sein, die hier berührten Fragen im Detail zu verfolgen, vielmehr soll nur darauf verwiesen werden, daß in der vorliegenden Zusammenstellung trotz der Kürze der Beobachtungszeit welche nament- lich auf dem Gebiete der Stenerstrafen noch gar kein Material geliefert hat, da die hier einschlägigen, höchst bemerkenswerten Erkenntnisse (z. B. jenes vom 28. Februar 1902, B. 827) erst nach dem Jahre 1901 erflossen sind schon Anhaltspunkte zu ihrer Beantwortung gefunden werden können. Kurz angedeutet, dürfte sich aus der- selben ergeben, daß die große Kluft, welche zwischen den Entscheidungen einer auf Grund ihrer eigenen Sach- und Personenkenntnis schätzenden Kommission und der Judikatur eines lediglich auf Grund der Akten entscheidenden Gerichtshöfe« natur- notwendig besteht, durch die gegenwärtigen gesetzlichen Bestimmungen noch keineswegs vollkommen befriedigend fiberbrückt ist; daß die Vorschriften über die Überprüfung des Verfahrens bei dieser Sachlage wie dies im Strafprozesse bei einigermaßen analogen Verhältnissen der Jury gegenüber geschehen ist einer wesentlichen Präzisierung bedürften, um zwischen der Betonung des Momentes der Überprüfung« m Cgi ichkeit einerseits und der tatsächlichen Gestaltung des auf Grund mündlicher und unmittelbarer Verhandlungen durchzuführenden Vcranlagungsr erfahrene anderseits die Harmonie herzu- stellen, und daß endlich auch die ■teuergesetslichen Bestimmungen über den Bedenken-

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Literatorbericht.

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Vorhalt und über die Befugnis zur Feststellung des KinkommenstcuerBatzes einer Revision bedürften, da sich in der Auslegung dieser für das ganze Veranlagungsvcrfahren wichtigsten Bestimmungen gegen Wirt ig eine weitgehende Divergent der Anschauungen bemerkbar macht. In dieser Richtung fällt in »besondere die starke Betonung der Worte: Behelfe, welche die Hohe des einzuschätzendeu Einkommens zi ff ermäßig genau erkennen „lassen“ und die damit verbundene überaus restriktive Auslegung des § 212 („Fest- setzung der Kinkonunensstufe durch die Kommission auf Grund der gepflogenen Ver- handlungen4) zu Gunsten einer extensiven Auslegung des $ 214 (Schatzung des Ein- kommens nach äußeren Merkmalen) auf, durch welche die Gefahr entsteht, daß dieser vom Gesetze offenbar als Notbehelf gedachte § 214 zu einer geradezu führenden Rolle berufen werde.

Wie in diesen Punkten, so wird eine eventuelle Reform des Personalsteuergesetzes gewiß auch in zahlreichen anderen Beziehungen mit den Ergebnissen der Vcrwaltungs- geriebtshof- Judikatur rechnen müssen; cs wäre daher Behr zu begrüßen, wenn die der- malen hie und da noch bemerkbaren Schwankungen in der Judikatur, welche teils in ein- ander unmittelbar widerstreitenden Erkenntnissen zum Ausdrucke kommen, teils aber sich iu Rechtssätzen offenbaren, welche bei konsequenter Weiterbildung zu einer in- kongruenten Gesetzeshandhabung führen müßten, nbei wunden und durch eine streng einheitliche Judikatur ersetzt würden. Dieses Ziel konnte meines Erachtens schon durch die vom preußischen Oberverwaltungsgerichtshofe geübte Methode, sich jeweils mit den in früheren Judikaten ausgesprochenen einschlägigen Rechtsanschaunngcn auseinanderzusetzen, ferner durch die Aktivierung des schon im 1875er Gesetze vorgesehenen eigenen Steuersenates, endlich durch Schaffung eines Judikatenbuches nach Analogie des für den obersten Gerichtshof bestehenden Vorbildes wesentlich gefördert werden. Sollte die dringend wünschenswerte Entlastung des Verwaltungsgerichtshofes von der Unzahl der cauaae miserabilcs welche gegenwärtig mit dem wohl ganz unverhältnismäßigen Apparate einer öffentlichen mündlichen Verhandlung vor einem Vierer-Senate durch- geführt werden müssen über kurz oder lang zu einer Revision des Verwaltungs- gerichtshofgesetzes den Anstoß geben,1) so dürfte wohl auch der Wunsch nach Sicherung der Einheitlichkeit der Judikatur Berücksichtigung finden. Wert und Einfluß der Verwaltungsgerichtshof-Judikatur fär Administrative und Praxis müßte noch erheblich steigen, wenn die zu erhoffende Fortsetzung der vorstehend angezeigten trefflichen Zusammenstellung künftighin das Bild einer durchaus homogenen Rechtssprechung erschließen könnte. Reisch.

Charles Booth, Life and Labour of the people in London. Third seriös: rcligious influeuces. 7 Bände. Macinillan and Co.

Bevor wir in die Besprechung der neuerechienenen sieben Bände des Boothschcu Werkes eingehen, wird es zweckmäßig sein, uns den wesentlichen Inhalt der ersten neun Bände desselben ins Gedächtnis zurückzurufen.2) Charles Booth hat dort die Bevölkerung Londons in ihrer sozialen insbesondere wirtschaftlichen Lage statistisch dargestellt. Er klassifizierte die ganze Bevölkerung Londons nach zwei Methoden. Zuerst gliederte er sie auf Grund der Aufzeichnungen der School board visitors nach Wohlstands- beziehungsweise Annutsklassen und stellte die Verteilung dieser Klassen straßenweise kartographisch dar. Sohin teilte er die ganze Bevölkerung neuerdings auf Grund des 1891er Zensus in soziale Klassen ein, und zwar die Armen nach Maßgabe der Dichtigkeit in ihren Wohnungen, die Wohlhabenden nach der Zahl ihrer Dienstboten. Mit letzterer Gliederung verband er eine eingehende Darstellung der einzelnen Londoner Erwerbszweige. In das Werk wurden überdies eingefügt: Monographien der Gewerbe in East London, Untersuchungen der Wohn- und Schulverhältnisse, der Einwanderung ctc. Eine besondere moralstatistische Erfassung der Bevölkerung sollte folgen.

*) Seit «ler Niederschrift die*ei Siiih Nt im Herrenbauve tatsirblNb bereits ein Ton bernfeDster Seit«: brrrflbrcndfcr Au trag auf Krlassung einer -lies behaglichen Ciraethesnovi-lie eingebracht worden.

’l Din ersten vier It&nde bilden in der neuen Ausgabe de* (IriimlnvrkM Serie I, betitelt Poverty die Bünde 5— 'J Serie II, betitelt Indn»try.

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Literaturbericht.

Als ihren ersten Teil bringen nunmehr tlie neuerschienenen sieben Bände (Serie III des Gesamtwertes) die Resultate einer erschöpfenden Untersuchung der religiösen Organisationen jeglicher Art. Die charakteristischen Merkmale derselben, ihre Bedeutung für ihre engeren Anhänger, ihr EinfluU auf die Masse des Volkes, schließlich ihre Beziehungen zueinander werden dargestellt. Die ersten sechs Bünde behandeln London in geographischer Gliederung. Von Stadtteil zu Stadtteil wandernd, beschreibt Booth das kirchliche Leben wio es sich im Anschlüsse an die einzelnen Gotteshäuser der verschiedenen Konfessionen in mannigfachen Können entwickelt hat und in verschiedener Weise auf die benachbarte Bevölkerung einwirkt. Gleichzeitig werden aber auch zahl- lose Beobachtungen betreffend Wohnung«- und Gesondhcitaverhältnisse, Heirat lichkcit, Sparsamkeit, Alkoholismus. Verbrechertum und Prostitution verzeichnet und die sozial- politischen Maßregeln der autonomen Behörden besprochen. Auch neue „deskriptive Karten der Londoner Armut“ mit den seit 1*89 eingetretenen Veränderungen sind den Kapiteln für die einzelnen Stadtteile beigeschlossen. Der Schlußband VII faßt die Resultate für die einzelnen religiösen Organisationen zusammen.

Zweifellos gehört das Forschungasiel, das sich Booth gesetzt hat, zu den inter- essantesten und wichtigsten. Allerdings ist es nicht möglich, die individuelle innere Religiosität direkt zu erfassen. Auch handelt es sich Booth nicht in erster Linie darum, Jen moralischen Einfluß der verschiedenen Konfessionen auf ihre Anhänger qualitativ zu vergleichen. Booth begibt sich nur ausnahmsweise auf das religionsphilosophische Gebiet. Nicht in den ohnehin mehr oder weniger überein stimm inen den religiösen Lehr- sätzen äußern sich die Unterschiede der verschiedenen Konfessionen. Die Verschieden- artigkeit der religiösen Verbände hat ihren Grund vor allem in dem verschiedenen sozialen Milieu derselben. Daher das besondere Interesse, das Booth der sozialen Lage der Angehörigen der verschiedenen Konfessionen zuwendet. Sie ist nach seiner Meinung maßgebend für die Richtung deB religiösen Lebens, maßgebend noch mehr für die Betätigung der Kirchen auf dem Gebiete des Unterrichtes, der Armenpflege ctc. Gerade anf diesen und verwandten Gebieten entfalten die Religionsgenossenschaften die mannigfaltigste Tätigkeit und sind daher auch als soziale Entwicklungsfaktoren in Betracht zu ziehen.

Charles Booth und seine Mitarbeiter haben alle vorhandenen Informationsquellen zu Rate gezogen, was hei der großen Zahl der Religionsgenossenschaften keine geringe Arbeit war. Zirka 1800 auf dem Gebiete der Religion tätige Personen der verschiedensten Richtungen wurden eingehend befragt und ihre Angaben mit den bei dem Besuche der betreffenden Kirchen und Organisationen gemachten Beobachtungen verglichen. Zahllose gedruckte Berichte religiöser Anstalten, ihre Zeitschriften, Zirkulare, Versammlungs- Protokolle ctc. wurden durchstudiert. Es liegt mehr vor als eine Enquete. Es wurden aus der Masse der Erscheinungen nicht einzelne behufs näheren Studiums ausgewählt oder allgemeine Gutachten eingeholt; die zahllosen lokalen religiösen Aktion »Zentren wurden so gut wie alle auf dem Wege der Besichtigung und der Befragung ihrer Leiter erfaßt; das gesamte statistische Material der einzelnen religiösen Vereinigungen wurde ver- wertet; offizielles Material lag insofern keines vor, als in England bei der Volkszählung die Frage nach dem Religionsbekenntnisse nicht gestellt wird.

Das Werk von Charles Booth kann wohl als die hervorragendste moderne Arbeit auf dem religiösen »Spezialgebiete der »Soziologie bezeichnet werden.

Von dein Bilde der Tatsachen, das uns Booth gibt, können hier mangels Raumes wohl nur wenige charakteristische Züge angedeutet werden.

Von allergrößter Bedeutung ist die von Booth behauptete Tatsache, daß dio Masse der arbeitenden Klasse in Londcn im großen und ganzen außerhalb des kirchlichen Lehens steht, sich an religiösen Übungen nicht beteiligt und von den Bestrebungen der verschiedenen Religionsgenossenschaften unbeeinflußt bleibt.

Die englische Staat skirclic in ihren verschiedenen Richtungen und die zahlreichen Sekten der Dissenter (Nnnkonformisten), wio die Kongregationalisten, die Baptisten, die Wesleyaner und die Methodisten, ebenso dio Presbyterianer, die UniUrier, die Quaker etc..

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Literatur bericht

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wurzeln alle im Mittelstände beziehungsweise den besitzenden Klassen; lediglich den Baptisten ist es gelungen, einen Bruchteil der Arbeiterklasse zu gewinnen. Bas normale kirchliche Lebeu aller dieser protestantischen Beligionsgenossenschaften ist dem sozialen Milien, in dem sie wurzeln, angepaßt; letzterem entsprechend auch die den Kirchen ange- gliederten sozialen Organisationen. Diese pflegen eine auf dem Kontinente ganz unbekannte vielseitige Entwicklung zn nehmen. Abgesehen von der Pflege des Unterrichtes werden für die Religionsgenossen im Anschlüsse an die einzelnen Gotteshäuser Vereine (Klubs) aller Art gegründet, insbesondere Mäßigkeit*-, Tierschutz- und Diskussionsvereine, aber auch Ver- eine für die Jugend zur Pflege aller möglichen Sporte, zur Veranstaltung von Ausflügen ctc. ln allen diesen Organisationen spielt natürlich das Laienelement eine gToßc Bolle und es ergibt sich eine gewisse soziale Homogenität ganz von selbst

Allerdings entwickeln alle diese Religionsgenosseuschaften gleichzeitig eine rege Tätigkeit im Interesse der religiösen und sozialen Hebung der alleruntersten Klasse der „Armen“, insbesondere durch eigens organisierte Missionen in den armen Stadtvierteln. Auch hier wird die religiöse Propaganda unterstützt durch soziale Arbeit, wie Sonntags* schulen, Versammlungen der Hausfrauen der NacEbarschaft (mothers Meetings, eine ausschließlich protestantische Erscheinung), Gründung verschiedener Klubs, Besuch der Armen in ihren Wohnungen, Volksausspeisungen etc.

Aber die Älasse der zwischen Mittelstand und Armenproletariat stehenden Arbeiter- klasse hält sich abseits. Die Ursachen dieser Tatsache sind nach lJooth verschiedene. Nicht daß Religiosität als rein individuelle innerliche Tatsache in der Arbeiterklasse erloschen wäre. Aber die Betätigung der kirchlichen Förmlichkeiten wird außer acht gelassen. Weltliche Interessen füllen die freie Zeit des Arbeiters aus. Selbstbewußtem entspricht mehr seiner Stimmung als Selbsterniedrigung. Die Einhaltung der religiösen Tradition ist am Lande infolge der engen Nachbarschaftsvcrhältnisse einer Kontrolle unter- worfen, die bei der persönlichen Isoliertheit in der Großstadt fehlt. Auch fühlt sich der Arbeiter in den normalen, dem Mittelstände an gepaßten kirchlichen Versammlungen Londons nicht zu Hause. In den protestantischen Kirchen fällt bekanntlich der Predigt die Hauptrolle zu und „dieselbe Predigt taugt nicht für verschiedene Klassen“. Anderseits stölit gerade das patronisierende Auftreten uuter den Armen den selbstbewußten Arbeiter ab. Die Bemühungen der einzelnen Sekten, unter der Armenbevölkerung durch charitative Unterstützungen Anhänger zu gewinnen, arten nämlich nach Booth geradezu in gewerbs- mäßigen Seelenkauf ans.

In England gehören alle Personen, die sich zu keiner anderen Kirche oder Sekte bekennen, zur Staatskirche, so der größte Teil der Arbeiter, aber ihre Zugehörigkeit ist eine rein theoretische.

Diese Schilderung bezieht sich »jedoch nicht auf die katholische Bevölkerung. Die katholische Kirche allein scheint im stände zu sein, die Verschiedenheit der Klassen zu überwinden. Es gibt in London nahezu 200.000 Katholiken, nach ihren eigenen Schätzungen. Die Hauptmasse bilden jedoch nicht Einheimische, sondern arme Irländer und Italiener, auch zahlreiche Franzosen und Deutsche. Die Katholiken sind kirchlich mul sozial gut organisiert, insbesondere ihre Volksschulen wirken erfolgreich, sie ent- wickeln aber keine nennenswerte Propaganda nach außen hin. Die Gewinnung Englands für den Katholizismus hält Booth für ausgeschlossen.

Anderseits ist aber anch die „Free Cburch“-Bewegung. welche die Vereinigung der Kirchen der Nonkonformisten bezweckt, bisher noch nicht weit vorgeschritten. Es gibt momentan keine wirklich starke Strömung, welche den Status quo wesentlich zu ändern im stände wäre. Eigenartige Religionsgenossenschaften aber von geringem allgemeinem Einflüsse sind die Brethrcn, die „catholic apostolic Church“, die Swcden- borgianer und die Agapemoniten, deren Haupt sich für den Messias hält.

Erwähnenswert ist schließlich der Einfluß der Positivsten und der ethischen Gesellschaften, obgleich er sich direkt nur innerhalb eines engen Kreises äußert. Die Heilsarmee unter der Leitung des „Generals“ Booth (nicht zn verwechseln mit dem Autor der hicrbesprochenenBöchcrjhat von London aus ihre Organisation über die ganze angtosaxonisch

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Litemturbericht.

Kalturwelt ausgebreitet. Sie verkündet den Armen und Verlassenen das Evangelium, sacht ihnen durch großartige humanitäre Institutionen, wie Nachtasyle, Volksküchen, Arbeitshäuser für Arbeitslose, eine landwirtschaftliche Kolonie etc. beizustehen und vereinigt schließlich ihre Anhänger in einem einheitlichen religiösen Verbände.

Eine ähnliche Tätigkeit wie die Heilsarmee entwickelt die Church Artny, nur mit dem Unterschiede, daß diese letztere einen Zweig der Staatskirche bildet. Gleich den Katholiken besitzen die meisten protestantischen Kirchen weibliche Kongregationen, ins- besondere für Unterricht und Armenpflege. Heilsarmee, Church Anny und Kongregationen bemühen sich uin die Kettung gefallener Mädchen und nehmen sich der entlassenen Sträflinge an.

Im Anschlüsse an die Untersuchung der von den Religionsgenosscnichaften aus- gehenden Einflüsse bespricht Booth die Tätigkeit der Settlements, dio mit wenigen Ausnahmen (wie Toynbee Hall, Passmore Edwards Settlement und einige andere) auch der religiösen Propaganda bestimmter Sekten dienen.

Nach den Darlegungen Booths ist an der weit verbreiteten religiösen Indifferenz Londons nicht mehr zu zweifeln. Es ist die intellektuell-moralische Erziehung des Volkes, auf dio Booth seine Hoffnungen setzt. Daher schlägt er auch vor, die Kirchen der City, die infolge Abwanderung der Bewohner in äußere Stadtteile ihre ursprüngliche Aufgabe nicht mehr erfüllen können, in Tempel der Volksbildung umzuwandeln. Die zahllosen Arbeiter und Angestellten, welche tagsüber die City bevölkern, sollen dort Abends nach Arbeitsschluß einige Stunden Erholung und Belehrung finden.

Innere Religiosität ist eine individuelle und keine Klassentatsache. Aber die Entwicklung der religiösen Organisationen ist durch eine Reihe gesellschaftlicher Tatsachen beeinflußt. Demographische Momente, wie Geschlecht und Alter, äußern ihren Einfluß in der größeren Anteilnahme des weiblichen Geschlechtes und der Jugend. Auch der nationale Faktor tritt in London hervor: Die Walliser gehören fast ausnahmslos der methodistischen Kirche an, die ihnen auch allein den Gottesdienst in ihrer heimat- lichen keltischen Mundart bietet; die Irländer sind gute Katholiken und die Schotten erfüll en zweifellos religiöse Pflichten viel gewissenhafter als die Engländer. Die soziale Differenzierung der Bevölkerung schließlich ist von der allergrößten Bedeutung für den Entwicklungsgang der einzelnen religiösen Organisationen. Die Farbenverteilung auf der Boothschen Londoner Armutskarte deutet gleichzeitig die Art und die Stärke des religiösen Lebens an. In den gelben, wohlhabenden Vierteln finden wir auch reiche meist anglikanische Kirchen mit zahlreichen Besuchern wenigstens Sonntag Morgens ; die roten vom Mittelstände bewohnten Viertel weisen ein aktives, meist nonkonformistisches religiöses und daran anschließendes soziales Leben auf; rosa bedeutet Arbeiterklasse und .Mangel religiöser Betätigung, blau Armut und Missionen; je dunkler die Schattierung wird, desto hoffnungsloser wird dort jede religiöse aber auch jede erziehliche Tätigkeit.

Der noch ausstellende Schlußband VIII soll die übrigen auf die Londoner Bevölkerung cinwirkendeu sozial-ethischen Kräfte analysieren und die Resultate des ganzen Werkes zusammenfassen. Zizek.

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DIE GEWERBEGERICHTE IN ÖSTERREICH.

VOM

MINISTERIALRAT D«. HUGO SCHAUER.

Ais am Ende des vorigen Jahres Ergänzungswahlen für das Gewerbe- gericht Wien stattfanden, vereitelten die Arbeitgeber einer Gruppe durch Wahlenthaltung den ersten Wahlgang. Unterstützt durch einige größere Unternehmerorganisationen wollten sie damit ihrer Unzufriedenheit mit den Gewerbegerichten überhaupt und speziell mit der Organisation und Wirksam- keit des Wiener Gewerbegerichtes Ausdruck geben. Unter der Führung des niederösterreii liisclien Gewerbevoreiues wurden der Kcgierung gleichlautende Petitionen überreicht, in denen die hauptsächlichsten Beschwerdepunkte dargelegt und Abhilfe verlangt wurde. Das Justizministerium berief eine Enquete ein, in der zunächst Vertreter der Unternehmerverbände, die ihre Wünsche bekanntgegeben batten, vernommeu wurden.

In den Petitionen wurden folgeude Wünsche formuliert:

1. Scheidung der Wahlkörper und der Senate des Gewerbegerichtes in solche für handwerksmäßige und fabriksmäßige Betriebe, unbeschadet der Notwendigkeit besonderer Abteilungen des Gewerbegerichtes für die Handels- gewerbe im engeren Sinne;

2. Vermehrung und zweckentsprechende Zusammenlegung der Fach- gruppen;

3. Vereinfachung der Anlegung der Wählerlisten durch Zulassung der Anmeldung der Wähler seitens der Genossenschaltsvorstehungeu und der industriellen Korporationen:

4. Gewährung von Diäten an die Unternebmerbeisitzer in den Senaten für handwerksmäßige und kleingewerbliche Betriebe;

5. Aufnahme einer strikten Bestimmung über Jlutwilleusstrafen in das Gesetz;

6. Beistellung entsprechender Lokalitäten filr das Wiener Gewerbe- gericht und endlich

7. Novellierung des g 77 der Gewerbeordnung in dem Sinne, daß. wenn über die Kündigungsfrist nichts anderes vereinbart ist, das Arbeits- verhältuis jederzeit sofort aufgelöst werden kann, und des g 88 der Gewerbe-

Zeitschrift für VolkavrirUchaft, Sozialpolitik und Verwaltung. XII. lUml.

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Schauer.

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Ordnung in der Richtung, daß der Anschlag der Arbeitsordnung genügen solle, um deren Bestimmungen über den Arbeitsvertrag für den Arbeitgeber und den Arbeiter rechtsverbindlich zu machen.

Gleichzeitig hat der Zentralverband der Industriellen Österreichs an die Mitgliedsverbände eine Umfrage gerichtet, deren Ergebnis in Nr. 16 der .Industrie“ 1903 zusammenfassend dargestellt ist und im allgemeinen günstig lautet, ln einem Nachwort zur Gewerbegerichtsenquete in Nr. 96 des .Fremdenblatt“ vom 7. April 1903, wird dagegen summarisch und ziemlich abfällig über die Gewerbegerichte geurteilt. Auch sonst besteht eine lebhaft zum Ausdruck gebrachte Verschiedenheit der Meinungen über die Wirksamkeit der Gewerbegerichte. Die Arbeiterschaft verlangt sie und ist mit ihrer Tätigkeit zufrieden, die Unternehmer lehnen sie im Prinzip zwar nicht ab. erklären aber, daß sie zur Zeit zu diesen Gerichten kein Vertrauen haben. Bei solchem Widerstreit der Meinungen dürfte es von Interesse sein, den heutigen Stand der G ewerhegerichte zu betrachten, deren wesentlichste Einrichtungen darzustellen, über die Erfahrungen und über die Verhandlungen der Enquete und ihre Ergebnisse zu berichten. Auf diese Weise werden sich die Gründe der Bewegung klarstellen lassen und viel- leicht wird auch ein Schluß auf die künftige Entwicklung möglich sein.

I.

Gewerbegerichte wurden in Österreich zuerst mit dem Gesetze vom 14. Mai 1869. R.-G.-Bl. Nr. 63, eingefflhrt. Es wurden fünf Gewerbegerichte errichtet, von denen jedoch nur vier wirklich aktiviert wurden und bis zur Schäftung der Gewerbegerichte neuen Stils bestanden. Zu einer reicheren Entwicklung konnte das Gesetz wegen seiner Mängel nicht führen.

Die Kostenfrage war in diesem Gesetze nicht gelöst, nur umgangen. Es wurde verlangt, daß schon mit dem Antrag auf Errichtung eines Gewerbe gerichtes der Nachweis erbracht wird, auf welche Weise die Kosten bedeckt sein sollen. Der Staat trug nichts dazu bei. Dies hinderte die Errichtung neuer Gerichte. Der wesentlichste Mangel war aber der, daß der Vorsitzende des Spruchkollegiums, dessen Stimme bei Streitverhandlungen den Aus- schlag gab, wenn die Arbeiter- und Unternehmerbeisitzer verschiedener Ansicht waren, in der Versammlung der Mitglieder des Gewerbegerichtes aus ihrer Mitte gewählt werden sollte. Daran scheiterte sogar die Aktivierung des schon errichteten Gewerbegerichtes in Reichenberg.

Gewerbegerichte waren nur für Orte, in welchen Gewerbe fabriksmäßig betrieben wurden, in Aussicht genommen. Für die Kleingewerbe, denen eine sachkundige, rasche und billige Justiz ganz besonders notwendig gewesen wäre, waren die Gewerbegerichte nicht bestimmt. Ihre Kompetenz war keine ausschließliche. Das Verfahren war ein unmittelbares und münd- liches, doch konnten die Gewerbegerichte Zeugen nicht mit Zwangsbefugnis laden und Eide nicht almehmen. In Streitsachen bis zu SO 11. entschieden sic endgültig, größere Ansprüche konnten ungeachtet des gewerbegerichtliehen Urteils vor den ordentlichen Gerichten neuerlich geltend gemacht werden.

Die Gewrerbegerichte in Österreich. 5«il

Obwohl auch die alten Gewerbegerichte befriedigend gewirkt haben, so konnte sich die Einrichtung wegen ihrer organisatorischen Mängel doch nicht recht entwickeln und dem Bedürfnisse des Rech tslebens entsprechen.

Gelegentlich der Verhandlungen im Abgeordnetenhause Aber die neue Zivilprozeßordnung hat Abgeordneter Dr. Baernreither einen Initiativ- antrag auf Einführung von Gewerbegericliten nach dem von ihm vorgelegten Entwürfe eingebracht (Nr. 950 der Beilagen zu den stenographischen Proto- kollen. XI. Session 1894). Der Antrag wurde dem Permanenzausschusse zur Vorberatung der Zivilprozeßvorlagen zugewiesen und gleichzeitig mit diesen beraten und verabschiedet. Berichterstatter war der Antragsteller. Sein Bericht i Nr. 1837 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen. XI Session 1895) enthält eine vorzügliche Darstellung des Standes der Frage und die legislativpolitischen Erwägungen für die Reform der Gewerbe- gerichte nach dem Vorbilde des deutschen Gesetzes vom 29. Juli 1890. Es sei gestattet, im allgemeinen auf diesen höchst instruktiven Bericht zu ver- weisen. (Separataiisgabe des Gewerbegerichtsgesetzes hei Manz, Wien. 1898).

Die Gewerbegerichte neuen Stils sind staatlich organisierte Schöffengerichte. Der Vorsitzende sowie dessen Stellvertreter, müssen für das Richteramt befähigte, wenn auch nicht aktive richterliche Beamte sein: sie werden vom Justizminister ernannt Tatsächlich versehen bei allen zur Zeit bestehenden Gewerbegerichten aktive Richter die Funktion des Vor- sitzenden. Neben ihm walten als Richter in den Fällen, die nicht schon bei der ersten Tagsatzung (durch Vergleich, Verzicht, Zurückweisung der Klage wegen prozeßhindernder Einreden, durch Zurücknahme der Klage, oder durch Urteil über Anerkenntnis, Verzicht oder Versäumnis) erledigt »erden. ($5 28 Gewerbegerichtsgesetz) zwei Beisitzer, die von den Unternehmern und Arbeitern der dem Gewerbegerichte unterstellten Betriebe für eiue vierjährige Funktionsdauer gewählt werden. Sie werden vom Vorsitzenden des Gewerbe- gerichtes auf Grund der von ihm festgestellten Dienstliste (Ministcrialver- ordnung vom 23. April 1898, R.-G.-B1. Nr. 57) oder mittels besonderer Ein- ladung von Fall zu Fall (5 der zitierten Verordnung) zugezogen, und zwar je einer aus dem Stande der Arbeitgeber und aus dem Stande der Arbeitnehmer.

Die Zuständigkeit der Gewerbegerichte ist eine obligatorische und aus- schließende (§ 23 des Gewerbegerichtsgesetzes). Der Bereich der örtlichen Zu- ständigkeit und der Umfang der sachlichen Zuständigkeit wird durch die Verordnung bezeichnet, mit der das Gewerbegericht errichtet wurde. Bei sämtlichen Gewerbegerichten, die bisher errichtet worden sind, ist der vom Gesetze zugelassene Umfang der sachlichen Zuständigkeit voll in Anspruch genommen. Die sachliche Zuständigkeit umfaßt bei allen Gewerbe- gerichten alle im Sprengel bestehenden gewerblichen Betriebe, und zwar sämtliche der Gewerbeordnung unterliegenden Beschäftigungen und Unter- nehmungen und die gewerblichen Unternehmungen des Staates imit Aus- nahme der militärischen Etablissements).1)

9 Die Zuständigkeit kann sich auch auf die Eisenbahn- und BinnendampfschilT- fahrts-Cntemehmungen erstrecken, doch sind für diese Unternehmungen die Gewcrbe-

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Schauer.

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II.

ln Wien, Brünn, Bielitz und Reichenberg mußten schon infolge der Anordnung des Gesetzes 2, Absatz 2, Gewerbegerichtsgesetz) Gewerbe- gerichte errichtet werden, uud mit Beginn der Wirksamkeit des ueuen Gesetzes, d. i. mit I. Juli 1898 in Tätigkeit treten. Im übrigen ist die Errichtung von Gewerbegerichten ziemlich umständlich und von einem Faktor abhängig, auf den die mit der Errichtung betrauten Ministerien keinen unmittelbaren Einfluß haben. Die Errichtung erfolgt nach eingeholtem Gut- achten des Landtages und nach der bisher nur im Falle der Errichtung eines böhmischen Bezirksgerichtes verlassenen Auslegung der gleichlautenden Bestimmung des § 2 des Gesetzes vom I. Juni 1868, R.-G.-BI. Nr. 59. wird diese Vorschrift dahin verstanden, daß zwar ein negatives Votum des Landtages kein rechtliches Hindernis bildet, ein Gericht zu errichten, daß aber die Errichtung nicht erfolgen kann, wenn der Landtag Oberhaupt kein Gutachten abgibt. Dadurch wird nun die Errichtung der Gewerbegerichte mitunter zum mindesten verzögert.1)

Im ganzen wurden bisher 15 Gewerbegerichte aktiviert, und zwar in Wien, Brünn, Bielitz und Reichenberg (1898 , Lemberg. Krakau, Mährisch- Ostrau, Mährisch-Schönberg (1899), Prag, Pilsen, Teplitz, Aussig, Graz, Leoben und Jägerndorf (1900).

Auch nach dem neuen Gewerbegerichtsgesetz ist es die Kostenfrage, die die Ausbreitung der Gewerbegerichte einigermaßen hemmt. Die sach- lichen Erfordernisse, nämlich die mit der notwendigen Einrichtung vei »ebenen Amtslokalitäten, dann Beheizung, Beleuchtung und sonstige sach liehe Erfordernisse (insbesondere Drucksorten und Schreibmaterialien) haben die Gemeinden, für deren Gebiet ein Gewerbegericht errichtet wird, im Verhältnis der ihrem Gebiete vorgeschriebenen Erwerb- und Einkommeu- steuerleistung zu bestreiten. Alle übrigen Kosten, insbesondere den Auf- wand für das Personal, für die Präsenzgelder der Beisitzer, für Zeugen- und Sachverständigengebühren in Armenrechtssachen trägt der Staat 6 Gewerbegerichtsgesetz). Die Gemeinden scheuen nun die auf sie entfallenden

geeichte noch nirgends aktiviert, da ca bisher an einer brauchbaren uud sicheren Ab* grenzung des Arbeiterbegriffes mangelt. Es ist auf Grund des geltenden Rechts nicht zu ermitteln, welche Kategorien von Bediensteten als Beamte und Unterbeamte der Zuständigkeit der Geweibegeiichte entrückt und welche als Arbeiter ihnen unter- stellt sein sollen. Der Entwurf einer Gesetzesnovelle, die diese Lücke auszufülleu bestimmt wäre, wurde unter Nummer (336 in der XVI. Session, daun neuerlich unter Nummer f»37 in der XVII. Session des Reichsrates im Abgeordnetenhause einge- bracht. Eine Verhandlung hat aber über diesen Entwurf bis heute noch nicht statt- gefunden.

*) Beispielsweise wurde das Projekt der Eriicbtuug von vier neuen Gewerbe- gerichten in Niederösterreich, nämlich in Liebing, Schwechat, Wiener-Neustadt und Neunkirchen schon einmal dem niederösterreichischen Landtag zur Begutachtung vor- gelegt. ohne dall es zur Erstattung des Gutachtens gekommen wäre. Die Session wurde geschlossen, ehe im Plenum des Landtages das zustinimend lautende Gutachten des Ausschusses auf die Tagesordnung gestellt war.

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Die Gewerbegerichte in Österreich. 558

Kosten und verhalten sieh aus diesem Grunde nicht selten gegen ein ihnen sonst keineswegs unsympathisches Projekt ablehnend.3)

Die von den Gemeinden zur Vertilgung gestellten Atntslokalitäten entsprechen nicht überall dem Bedarf und ihrem Zweck. Insbesondere sind seit jeher über die Unterbringung des Gewerbegerichtes in Wien in einem der Gemeinde Wien gehörigen Hause in der Florianigasse lebhafte Klagen laut geworden. Deren Berechtigung wurde von den Funktionären der Stadt- gemeinde Wien in der Enquete vom 30. März 1903 nicht in Abrede gestellt.4)

Die Rücksicht auf die Kostenfrage führte dazu, einen neuen Typus von Gewerbegerichten zu schaffen, bei dem sich diese Schwierigkeiten ver- meiden lassen. Man war darauf bedacht, einerseits den Gemeinden größere Kosten zu ersparen, anderseits aber die Arbeitskraft des zum Vorsitzenden bestellten Richters, die hei weniger beschäftigten Gewerbegerichten nicht ganz in Anspruch genommen wird, voll verwerten zu können. Zu diesem Behufe wurden Gewerbegerichte mit voraussichtlich kleinerem Geschäfts- umfange derart an das Bezirksgericht angeschlossen, daß es weder eines besonderen Personales noch weiterer Räumlichkeiten bedarf. Es handelt sich da nur formell um die Errichtung eines selbständigen Gewerbegerichtes, tatsächlich wird lediglich bei dem Bezirksgerichte das schöffengerichtliche

Äi Da mittlerweile die Steuerreform durchgeführt warde, war auch der im Gesetze aufgestellte Verteilungsschlüssel nicht mehr zutreffend und mußte durch interne Erlässe den neuen Steuerkategorien »allgemeine und besondere Erwerbssteuer) angepaßt werden. Auch der formelle Vorgang bei Durchführung der Aufteilung bedurfte erst der näheren Regelung.

*) Es sind zu wenig Verh&ndlungasäle vorhanden, infolgedessen müssen die Senate, um die Verhandlungen zeitgerecht durchführen zu können und Rückstände zu vermeiden, jeden Tag der Woche, auch den Samstag zu Verhandlungen benutzen, obwohl es an diesem Tage wegen der Lolmauszahlung den Parteien und Zeugen beschwerlich ist, vor Gericht zu erscheinen. Die Verhandlnnguftle sind zu klein, verdienen diesen Namen gar nicht, Warteräume sind nicht vorhanden. Für die Parteien ist es daher mißlich, auch nur eine Viertel- oder eine halbe Stunde zu warten, zumal die zahlreichen Verhandlungen eine unverhältnismäßig große Anzahl von Rechtsuchenden zu gleicher Zeit in den Gängen nnd auf den Stiegen des alten, demolierungsreifen Hauses zusammen führt. Die Parteien sind dadurch genötigt, vor den Verhandlungszimmern mit ihren Prozeßgegnern in Berührung zu treten, woraus sich, wie in der Enquete mitgeteilt wurde, mitunter unlieb- same, selbst peinliche Erörterungen und Auftritte ergeben.

In demselben Verhältnis als würdevolle, ernste aber nicht unbehagliche Räumlich- keiten durch ihren unverkennbaren Einfluß auf das Verhalten aller Beteiligten die Ver- handlungen nnd deren Ergebnis fördern, wirken unpassende und zweckwidrige Lokalitäten im entgegengesetzten Sinne. Der Aufenthalt im Gerichtshause wird dadurch den Parteien noch mehr verleidet, als dies ohnehin schon die Notwendigkeit, zu warten, der Anlaß des Erscheinens und die unvermeidlichen Erörterungen mit sich bringen. Die Vor- stellung von der Bedeutung und Wichtigkeit des Vorganges, von der Würde des Gericht« und von der Notwendigkeit besonders anständigen Verhaltens wird geradezu gehemmt, wenn sich in einem schlecht gelüfteten,’ engen, ungeeigneten Raume Richter, Parteien und Zuhörer zusamm»*ndrüngen müssen.

Die Vertreter der Gemeinde haben ührigens in der Enquete mitgeteilt, daß die Demolierung des Hauses, in dem das Gewerbegericht untergebracht ist, in Aussicht steht und daß man sich damit beschäftigte, einen den Anforderungen entsprechenden Ersatz zu beschaffen.

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Schmier.

554

Verfahren für gewerbliche Reehtsstreitigkeiten eingeführt. Der Bezirksrichter uiler ein Einzelrichter des Bezirksgerichtes ist zugleich Vorsitzender des Gewerbegerichtes und kann zu der Zeit, da er mit gewerbegerichtlicheu Sachen nicht beschäftigt ist, in den bezirksgerichtlichen Geschäften arbeiten. Dieser Typus von Gewerbegericliten, der z. B. bei den Gewerbegerichten Jägerndorf, Bielitz, Mährisch-Schönberg schon besteht, und bei den Gewerbe- gerichten Neunkirchen und Schwechat angewendet werden soll, ermöglicht mit geringen Kosten auch an solchen Orten Gewerbegerichte zu errichten, die sich sonst wegen der geringen Anzahl von gewerblichen Streitigkeiten dazu nicht eignen würden.

III.

Die Verordnung, durch die ein Gewerbegericht errichtet wird, bezeichnet den Sprengel des Gewerbegerichtes sowie den Umfaug seiner Zuständig- keit (§ 2 des Gewerbegerichtsgesetz i, d. h. jene Kategorien von gewerb- lichen Unternehmungen, für die das konkrete Gewerbegericht geschaffen wird. Damit ist auch der Kreis der Personen umschrieben, deren Streitig- keiten vor das Gewerbegericht gehören. Das Gewerbegericht ist nämlich be- rufen. zur Austragung von gewerblichen Streitigkeiten, die in § 4 des Gewerbe- gerichtsgesetz taxativ aufgezählt sind, und zwar zwischen gewerblichen Unter- nehmern und Arbeitern, ferner zwischen Arbeitern solcher Betriebe unter- einander. Wer als Arbeiter im Sinne des Gewerbegerichtsgesetzes anzu- sehen ist, bestimmt § 5 des Gesetzes, im wesentlichen im AnschluU an den Arbeiterbegriff der Gewerbeordnung. Als Arbeiter im Sinne des Gewerbe- gerichtsgesetzes sind aber auch Personen anzusehen, die nach der Gewerbe- ordnung als Arbeiter nicht in Betracht kommen. Es gelten auch die Werk- meister, Werkfflhrer und Vorarbeiter als Arbeiter. Desgleichen aber auch Taglöhner (Art. V, lit. d) der Gewerbeordnung),1 1 Heimarbeiter, ferner beim Handelsgewerbe alle zu kaufmännischen Diensten verwendeten Personen, auch wenn sie nach § 73 der Gewerbeordnung nicht unter die Kategorie der gewerblichen Hilfsarbeiter fallen, weil sie höhere Dienste leisten, wie Buch- halter, Kassiere, Expedienten, Reisende u. dgl.

Während somit allerdings beim Handelsgewerbe im engeren Sinne alle zu kaufmännischen Diensten verwendeten Personen als Arbeiter im Sinne des Gewerbegerichtsgesetzes betrachtet und dem Gewerbegerichtc unterstellt werden, ist dies hinsichtlich der beim Produktionsgewerbe beschäftigten Personen nicht der Fall, insoweit sie höhere Dienste leisten.*1)

■"') Die Gewerbegerichte verlangen mit Recht, daU der im Tagluhn beschäftigte Arbeiter, regelmäßig beim Gewerbe Verwendung findet, auf die Qualifikation der geleisteten Hilfsarbeit wird kein Gewicht gelegt. Kntscheidung Nr. 349, 495, Sammlung. Andere Tagelöhner sind nicht als gewerbliche Hilfsarbeiter anzusehen und unterstehen nicht dem Gewerbegerichte.

*) Dr. Siegmund Gränberg (Der Arbeiterbegriff des Gewerbegericlitagesetzes „Gerichtazeitung“ Nr. 33, 1901) vertritt die Ansicht, daü die Handlungsgehilfen und Handlungslehriinge, die beim Produktionsgewcrbe beschäftigt sind, als Arbeiter im Sinne den Gewerbegerichtsgesetzes nicht- anzuschcn sind. Sie leisten dem Unternehmer zwar

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Die Gewerbegerichte in Österreich. 555

Diese sachlich nicht begründete Verschiedenheit der Behandlung von Personen gleicher Beschäftigung und gleicher Stellung wurde schon hei der Enquete im Jahre 1898, die von der Wiener Handelskammer durchgeführt wurde, bemerkt und getadelt. Sie würde zum Teil wenigstens verschwinden, wenn die Gewerbenovelle (Nr. 1102 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen Abgeordnetenhaus XVII.. Session 1901) Gesetzeskraft erlangen würde. Nach der vorgeschlagenen neuen Fassung des § 78 der Gewerbe- ordnung fällt nämlich unter den Begriff Hilfsarbeiter das gesamte kauf- männische Hilfspersonal (Handlungsgehilfen) der Handels- und Produktions- gewerbe mit Ausnahme der Prokuristen. Disponenten und sonstigen leitenden Beamten. Dadurch wird dann auch die sachliche Zuständigkeit der Gewerbe- gerichte in zutreffender Weise auf die Angestellten der Prodnktionsgewerbe ausgedehnt. Der unmotivierte Unterschied in der jurisdiktionelien Behandlung von Dienststreitigkeiten der Reisenden. Kassiere und Buchhalter heim Pro- duktions- uud beim Handelsgewerbe würde entfallen.

IV.

In erster Linie stellt man an das gewerbegerichtliche Verfahren die Anforderung, daß es schleunige und leicht erreichbare Justiz biete. Der Ausschußbericht äußert sich darüber folgendermaßen: »Die wirt- schaftliche Entwicklung hat einmal dahin geführt, daß viele gewerbliche Arbeiter schon eine relativ gesicherte Existenz haben, wenn sie auf Wochen- verdienst rechnen können, während eine gewiß nicht geringere Anzahl auf Tagesverdienst angewiesen ist. Bei Streitigkeiten, wo es sich in solchen Verhältnissen um Lohnabzüge. Entlassung, Ausfolgung der Arbeitsbücher oder Eintragungen in dieselben etc. handelt, kommt richterliche Hilfe zu spät, wenn sie nicht sofort angerufen werden, und wenn sie nicht unmittelbar, sicher ohne jede Verzögerung eingreifeu kann.*

Hierauf mußte schon bei Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit Bedacht genommen werden. Die Gewerbegerichte dürfen keinen zu großen Sprengel haben und es wäre geradezu verfehlt, wie bei den Verhandlungen über die Errichtung einzelner Gewerbegerichte des öfteren vorgeschlagen wurde, ihnen etwa das ganze Gebiet eines Gerichtshofes zuzuweisen. Die Sprengel der Gewerbegerichte, die bisnun errichtet wurden, erstrecken sich zumeist nur auf das Gebiet der am Sitze des Gewerbegerichtes befindlichen Bezirksgerichte' oder auf benachbarte durch gute Kommunikation mit dem

kaufmännische Dienste, aber sie seien nicht in seinem Gewerbebetrieb beschäftigt. Dieser Ansicht ist nicht zuzustimmen, da das Produktionsgewerbe auch den Vertrieb der Er- zeugnisse umfaßt. Die hiebei verwendeten Hilfspersonen sind somit allerdings im Gewerbe- betrieb beschäftigte Hilfsarbeiter und daher Arbeiter im Sinne des § 5 lit. b des Gewerbe- gerichUgesets.

7) Reichenberg: Gerichtsbezirk Reichenberg.

Mähr.-Ostrau: Gerichtsbezirk Mähr.-Üstrau.

Pilsen: Gerichtsbezirk Pilsen.

Teplitx: Gerichtsbezirk Teplitz.

Graz: Gerichtsbezirke Stadt Graz und Umgebung Graz.

Lemberg: Gerichtsbezirke Lemberg und Umgebung Lemberg

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556

Schauer.

Gewerbegerichtsortc verbundene Gemeindegebiete oder Gerichtsbezirke.8) Der Sprengel des Gewerbegericlites Prag umfaßt das Gebiet von Prag und den Vororten (Gerichtsbezirkc: Karolinenthal. Königliche Weinberge, Smichov und Ziikov). Sehr groß ist der Sprengel des Gewerbegerichtes Mährisch Schönberg. Er umfaßt drei Gerichtsbezirke und fünf Gemeinden eines vierten Bezirkes.9)

V.

Die Gewerbegerichte sollen nicht nur schleunigen Rechtsschutz gewähren, sondern auch gute Justiz Oben. „In den gewerblichen Streitigkeiten handelt es sich um eine ganz bestimmte Kategorie von Rechtsgeschäften, bei der Erfahrung, Herkommen, Kenntnis der Gewohnheiten, von technischen Vor- gängen. von sprachlichen Spezialitäten und Ausdrücken eine große Rolle spielen. Soll die Rechtsprechung rasch und sachgemäß zugleich sein, so ist unerläßlich, daß sie ihre notwendigen Informationen nnmittelbar aus dem Geschäfts- und Lebenskreis schöpfe, in dem sich die Streitigkeiten bewegen. Es ist die Heranziehung des Laienelements eine Notwendigkeit* (Ausschuß- bericht). Die Mitwirkung an der Rechtsfindung durch die Beisitzer aus dem Kreise der rechtsnehmenden Unternehmer und Arbeiter soll der ursprüng- lichen. lebensfrischen Auffassung der beteiligten Kreise Einfluß verschaffen.

Die Bedürfnisse des Geschäftsverkehres, die wirtschaftliche Lage der Beteiligten, die Übungen und Gewohnheiten im Gewerbebetriebe sollen bei der Rechtssprechung zur Geltung kommen. Allein das Gesetz deutet mit keinem Worte an, daß die Beteiligung von fachkundigen Beisitzern an der Rechtsfindung als eine Art von Interessenvertretung aufgefaßt werden dürfe, eine Auffassung, die in der Enquete vom Jahre 1898 und bei der letzten Enquete wieder in der Forderung zum Vorschein kam. daß jede Art von Gewerbe im Gewerbegerichte „vertreten sein soll* und daß ein Zusammenhang hergestellt werden müsse zwischen den Berufsorganisationen der Gewerbe und den Wahlen. Den Gewerbegerichten ist nicht die Aufgabe gestellt, über die Gesetze hinweg speziellen Interessen zu dienen, sondern sie haben auf Grund der bestehenden Gesetze Recht zu sprechen. Für den Vertreter einseitiger Standes- oder Klasseninteressen ist auf der Richterbank kein Platz. Ein Beisitzer, der mit der vorgefaßten Absicht, so gut als möglich Klasseninteressen zur Geltung zu bringen, sein Amt verwalten möchte, würde pflichtwidrig handeln, und müßte nach § 17 lit. b des Gewerbe- gerichtsgesetzes wegen grober Verletzung seiner beschworenen Amtspflichten vom Amte enthoben werden. Glücklicherweise ist diese mißverständliche

*') Wien: Gebiet der Stadt Wien und Gemeindegebiet von Floridsdorf und Stadlau.

Brünn: Stadtgebiet und 15 angrenzende Gemeinden.

Bielitz: Bielitz und 8 Gemeinden.

Jägerndorf: J&gemdorf und 4 Gemeinden.

Krakau: Gerichtsbezirke Krakau und Podgörze.

Aussig: Gerichtsbezirke Aussig und Karbitz.

Leoben: Gerichtsberichte Leoben und Bruck an der Mur.

’*> Mähr.-Schünberg: Sprengel der Bezirksgerichte Miihr. -Schönberg, Wiesenberg und Hohenstadt, ferner 5 Gemeinden des Gerichtsbezirkes Mäbr.-Neustadt.

Die Gewerbegerichte in Österreich.

557

Auffassung bisher nur vereinzelt im Publikum, nicht aber bei den Beisitzern der Gewerbegerichte zu finden. Diese haben ihre Aufgabe richtig erfaßt und das ihnen entgegengebrachte Vertrauen gerechtfertigt.

Auch in der Richtung wird die Stellung der Beisitzer nicht zutreffend beurteilt, daß man ihren Fachkenntnissen eine zu große Bedeutung beilegt. Das Gesetz hat den Gedanken, daß es vorteilhaft ist. wenn im Richterkollegium Träger fachmännischer Kenntnisse vorhanden sind, keines- wegs übertrieben. Es enthält nur die Vorschrift, daß gegebenenfalls für die Streitigkeiten zwischen Handeltreibenden und ihren Bediensteten eine besondere Abteilung des Gewerbegerichtes zu bilden ist, und das die Wahl der Bei- sitzer für diese Abteilung getrenut von den anderen Wahlen in einem besonderen Wahlkörper zu geschehen hat 21 Gewerbegerichtsgesetzl. Dagegen ist nirgends vorgeschrieben, daß die Beisitzer aus den einzelnen dem Gewerbegerichte unterworfenen Betriebsarten genommen werden müßten. Das Gesetz 10, Absatz 4) läßt es nur zu, die Wahlkörper nach der Größe der Betriebe zu teilen, wenn sich die Zuständigkeit des Gewerbe- gerichtes auf verschiedenartige Kategorien von großen und kleinen Betrieben erstreckt. Die Verordnung über die Errichtung der Gewerbegerichte in Wien, Brünn. Kcichenberg, Graz. Krakau, Lemberg und Prag teilt die Betriebe in Gruppen verwandter Betriebe ein und bestimmt im Sinne des § 21 der Ministerinlverordnung vom 23. April 1898. R.-G.-Bl. Nr. 56. daß eine bestimmte Anzahl von Beisitzern aus den Wahlberechtigten dieser Betriebs- gruppen zu wählen ist. Diese Teilung wurde aber, wie bemerkt, extra legem vorgeschrieben, sie ist in gewissem Umfang zweckmäßig, ja selbst im Sinne des Gesetzes gelegen. Man darf aber den Wert der fachmännischen Kenntnisse eines Beisitzers nicht überschätzen. Dieselbe Erfahrung wie im Deutschen Reiche wurde auch bei uns gemacht. Die gewerblichen Streitig- keiten betreffen nur höchst selten technische Fragen des Arbeitsprozesses, oder nur in Gewerben gewisser Art gestellte Anforderungen an den Arbeiter, oder nur in einem bestimmten Betriebe vorkommende sonstige tatsächliche Verhältnisse. Zumeist handelt es sich um die Entscheidung typischer Fragen, die bei allen oder doch sehr vielen Gewerben Vorkommen. Streitigkeiten wegen grundloser Entlassung, wegen Nichtbeschäftigung (sogenanntes Aus- setzen), Streitigkeiten über den Lohn, über die Kündigung, über das Zurfiek- behalten der Arbeitsbücher und dergleichen bilden die Regel.

Auch in der Enquete vom März und April d. J. wurde unumwunden zuge- geben, daß mit wenigen Ausnahmen regelmäßig solche RechtsfiUUe Vorkommen, die jeder Beisitzer, ohne daß er einer bestimmten Fachgruppe angehören müßte, zu beurteilen vermag. Die häufig auftauchende Frage, welcher Betrag als Entschädigung für Verdienstentgang mit Rücksicht auf den üblichen Tage- und Wochenlohn angemessen ist, kann gleichfalls so ziemlich jeder Beisitzer beantworten, da die Lobnverhältnisse allgemein bekannt sind.

Besondere Fachkenntnisse sind somit nur selten notwendig. Erheischt aber einmal ein Fall solche Fachkenntnisse, so ist es fast ein Zufall, wenn sich unter den Beisitzern gerade ein Mann findet, der den Anforderungen

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Schauer.

un einen Sachverständigen auch wirklich entspricht. Denn die Beisitzer werden nicht bloß mit Kncksicht auf ihre technischen Kenntnisse gewählt, sondern für die Wahl ist eine ganze Keilie anderer Erwägungen maßgebend, insbesondere das Vertrauen der Wählerschaft, vielleicht auch die größere Betriebsamkeit des Kandidaten, oder doch seine Bereitwilligkeit, das Amt zu übernehmen u. a. m.

Wenn der Wahlvorgang nicht bis zur l’ndurchfahrbarkeit kompliziert werden soll, ist es auch gar nicht möglich, die Aufteilung der Beisitzer unter die verschiedenen Gewerbe so einzurichten, daß auf jede Betriebsart oder auch nur Betriebsgruppe ein Beisitzer entfällt.1")

In schwierigen Fällen ist, wie die Erfahrung gezeigt hat, die Bei- ziehung eines vom Gerichte bestellten Sachverständigen nicht zu ver- meiden.

Es ist ganz unmöglich, schon durch die Art der Wahl eine Gewähr dafür zu geben, daß für jeden Rechtsstreit ein mit aller erforderlichen Sachkenntnis ausgestatteter Beisitzer zur Verfügung steht; diese Forderung ist unberechtigt, undurchführbar und es heißt, einen gesunden Gedanken zu Tode hetzen, wenn man dieses Verlangen mit dem Argumeut vertritt, man brauche die ganzen Gewerbegerichte nicht, falls nicht die Sachkenntnis der Beisitzer die Zuziehung von Sachverständigen überflüssig macht. Tat- sächlich sind auch außerhalb Wiens bisher von keiner Seite in dieser Richtung Beschwerden laut geworden, obwohl bei keinem Gerichte die Gliederung der Wahlkörper unter dem Gesichtspunkte der fachlichen Scheidung so kompliziert ist wie in Wien. Bei der Mehrzahl der Gewerbegerichte sind überhaupt die Betriebe nur in Groß-, Klein- und Handelsbetriebe unter- schieden. Bielitz, Aussig, Jägerndorf, Leoben, Mähr.-Ostrau. Mähr.-Schönberg. Pilsen, Teplitzi. ll)

Die Forderung nach einer weiteren fachlichen Gliederung der Wahl- gruppen des Gewerhegerichtes in Wien, die in den Petitionen gestellt worden ist, wurde denn auch in der Enquete vom 30. März d. J. außer von jenen Experten, die von der Vorstellung einer Interessenvertretung im Gewerbegerichte beeinflußt schienen, nicht weiter urgiert. Die Teilung der Gruppen des Wiener Gewerbegerichtes in solche nach Groß und Klein- betrieben wurde aber auch in der Enquete einmütig gefordert.

*") Nach der Klassifikation der Unternehmungen and Beschäftigungen (Beilage I, zur Vollzugsforschrift zum l’ersnnalsteuergesetz, R.-G.-Bl. Kr 35, 1897; sind ungefähr 350 Gruppen und Arten von Betrieben zu zählen, die dem Geirerbegericht unterstellt sind. Wenn man sich bloü darauf beschränken würde, die Klasseneinteilung der Kin- teilung der Wahlgruppen zu Grunde zu legen, so würde man XXIV Wablgruppen erhalten, die aber anch wieder die verschiedensten Betriebe in sich vereinigen würden, wie z. B. in der Klasse IV die Gold- und .Silberarbeiter, die Nagelschmiede und Klempner n. a. m.

U) Die Einteilung des Gewerbegerichtes in Reicbenberg ist nur .scheinbar reicher gegliedert als jene des Gewerhegerichtes in Wien. In Wien bestehen sechs Fachgruppen, in Reichenherg, wo die Gruppe der Textilindustrie und der Metallindustrie nach Groß- und Kleinbetrieben untergeteilt ist. bestehen eigentlich nur fünf Gruppen.

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Die liewerbegerichte in Österreich. 559

Die Berechtigung dieser Forderung ist eigentlich niemals in Abrede gestellt worden, wie sich daraus ergibt, daß bei den meisten Gewerbegerichten eine solche Scheidung angeordnet ist.18)

Schon in der Enquete vom Jahre 1898 vertraten die Experten der Unternehmer vieler Betriebsgruppen die Forderung nach Teilung in Groß- und Kleinbetriebe. Die Arbeitnehmer perhorreszierten allerdings damals ausnahmslos jede Trennung.” i Die Handels- und Gewerbekammer in Wien befürwortete im Jahre 1898 nach dem Ergebnisse der Enquete die Teilung im Wahlkörper der Unternehmer, sprach sich jedoch gegen die Teilung im Wahlkörper der Arbeitnehmer aus.

Die Regierung hat bei Aktivierung des Gewerbegerichtes in Wien wegen der Erschwerung der Wahlen, die zum ersten Mal nach dem neuen Gesetze für alle Gewerbebetriebe in Wien durchzufOhren waren, von der Trennung der Betriebe abgesehen und reine Fachgruppen gebildet. Hieför war auch maßgebend, daß ein Teil der Unternehmer eine Scheidung nur von dem Gesichtspunkte aus durchgefOhrt wissen wollte, ob der Betrieb fahriksinlßig betrieben wird, während allerdings der größere Teil der Unter- nehmer-Experten mit der Teilung nach dem Steuersatz zufrieden gewesen wäre. Der Bund der österreichischen Industriellen erneuerte schon im Jahre 1898 die Forderung nach Trennung der Wahlkörper, erklärte aber auch da ganz entschieden, daß eine Teilung nach dem Steuersätze nicht befriedigen würde. Der Magistrat hingegen betonte ebenso bestimmt, daß eine Unter- scheidung nach fabriksmäßigen und nicht fabriksmäßigen Betrieben nicht durchführbar wäre. Trotzdem wurde auch in der letzten Petition wieder diese Art der Scheidung verlangt und die Teilung nach dem Steuersätze ausdrücklich abgelehnt. Allenfalls erklärte man sich damit einverstanden, daß die Wähler optieien dürfen. Erst als in der Enquetesitzung vom 30. März von den Vertretern der Gemeinde Wien neuerlich erklärt wurde, daß Wahlen

**) Beine Fachgruppen, ohne Teilung nach der Grölte des Betriebes, weisen nur die Gewerbegerichte in Wien, Graz, Lemberg und Krakau auf. Bei allen übrigen Gewerbegerichten sind entweder alle oder doch einige Gattungen von Betrieben uacki der Höhe der Steuerleistung in Groß- und Kleinbetriebe zusammengefaßt. Bei allen Gewerbegerichten bildet der Erwerbsteuersatz von 300 K das Unterscheidungsmerkmal.

'*) Sie wiesen auf die bedeutende Fluktuation des Arbeiterpersonals hin. Irgend- eine Unterscheidung iu der manuellen Geschicklichkeit oder im intellektuellen Verständnis bestehe zwischen Arbeitern der Groß- und Kleinbetriebe nicht. Die Wahl werde durch die Trennung, für die sich übrigens kein zutreffendes Merkmal finden lasse, rerzögeit. erschwert und verteuert. Entscheidend war aber für ihre Ablehnung wohl die Befürchtung, daß ein Arbeiterbeisitzer, der aus der Gruppe der Großindustrie gewählt ist, gemäß § 18 Gewerbegerichtsgesetz sein Mandat verlieren könnte, wenn er während seiner F'unktionsdauer in einen Kleinbetrieb übertreten würde. Diese Besorgnis ist aber offenbar ganz unbegründet, weil § 18 des Gesetzes nach seinem ganz klaren, nicht mißzuver- stehenden Wortlaut nur den Fall iln Auge hat, daß der Beisitzer durch Übertritt zu einem anderen Berufe (z. B. als Kedakteur einer Zeitschrift oder Sekretär einer Arbeiter* Organisation u. dgl.) dauernd seine Arbeitereigonschaft einbüßt oder seit drei Monaten bei Unternehmungen in Arbeit gestanden ist, fiir welche das Gewerbegericht überhaupt nicht zuständig ist.

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Schauer.

auf dieser Grundlage nicht durchgeführt werden können und daß gegen die Selbsteinschätzung manche Bedenken bestünden, wurde das Verlangen der Scheidung nach dom Merkmale der Fabriksmäßigkeit dps Betriebes endgültig fallen gelassen. Die Knquete erklärte sich nun einmütig mit der Teilung der Wahlkörper nach dem Steuersätze einverstanden. Hätte man sich auf diesen einzig möglichen Standpunkt früher gestellt, wäre dem Verlangen nach Vornahme der Wahlen in getrennten Gruppen für Groß- und Kleingewerbe sicherlich längst entsprochen worden.

Für die Scheidung ist nämlich tatsächlich manches anzufflhren. Nicht nur die Verschiedenheit in der Organisation der Arbeit und in den An- forderungen an den einzelnen Arbeiter sowie das Vorhandensein von Arbeits- ordnungen, die dem Arbeitsverhältnis zu Grunde liegen, auch die ökonomische Situation des Unternehmens, das Milieu des Betriebes ist ein anderes. In den Großbetrieben, die überhaupt den Gewerbegerichten wenig Arbeit geben, kommen Streitigkeiten, wie sie in den Kleingewerben an der Tagesordnung sind, fast gar nicht vor. Hier hat der rechtliche Verkehr zwischen Unter- nehmer und Arbeiter noch mit Schwierigkeiten zu kämpfen, da auf beiden Seiten große Unkenntnis über die Rechte und Pflichten besteht. In den Großbetrieben dagegen ist das Arbeitsverhältnis in der Regel ein geordnetes. Streitigkeiten, nie lediglich in der Nachlässigkeit hei Begründung und Auf- lösung des Arbeitsverhältnisses, bei der Uohnbestimmung ihren Grund haben, sind da selten. Hienaeh ist die Forderung, daß an der Entscheidung von Streitigkeiten in den Großbetrieben nur Beisitzer aus diesen Betrieben teil- nehmen sollen, bis zu einem gewisseu Grade nicht unbegründet. Auch läßt sich nicht bestreiten, daß die in der Minderzahl befindlichen Unter- nehmer von Großbetrieben bei den Wahlen von der großen Zahl der Klein- meister majorisiert werden können.

VI.

Der Wahlapparat für die Gewerbegerichte wurde durch die Ministerial- verordnung vom 23. April 1898, R.G.-B1. Nr. 56, geregelt und ist ein recht umständlicher. Die Unternehmer werden mittels Kundmachung zur Anmeldung ihrer Betriebe und der darin beschäftigten wahlberechtigten Arbeiter aufgefordert, d. i. der Arbeiter männlichen und weiblichen Ge- schlechtes, die mindestens 20 Jahre alt und seit einem Jahre im Inland beschäftigt sind 8, Absatz 4, Gewerbegerichtsgesetz). Die Gewerbebehörden verfassen auf Grund der Anmeldungen die Wählerlisten, diese werden im Wege des Reklamationsverfahrens ergänzt und berichtigt. Den Wahlbe- rechtigten werden Wahllegitimationen zugestellt. Die Wahl geschieht durch persönliche Abgabe eines Stimmzettels 10 Gewerbegerichtsgesetz). Die Anlegung einer Wählerliste ad hoc ist nicht zu vermeiden, weil die Wahl- berechtigung von speziellen Erfordernissen abhängt und eine starke Fluk- tuation in der Arbeiterschaft besteht. Erfahrungsgemäß findet nur ein kleiner Teil der Wahlberechtigten in der Wählerliste Aufnahme, insbe- sondere erstatten nicht alle Unternehmer rechtzeitig die Anmeldung. Auch

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Die Gewerbegerichte in Österreich. 5fil

die Beteiligung an der Wahl auf Seite der Unternehmer ist eine außer- ordentlich geringe, ln dieser Hinsicht wird sich aber in Hinkunft, wenn auch den Unternehmer-Beisitzern, wenigstens jenen der untersten Erwerb- steuerklasse, Präsenzgelder gewährt werden, vieles bessern. Man darf übrigens die schwache Wahlbeteiligung der Unternehmer nicht mißverstehen. Häufig vereinbaren die Unternehmer unter sich, wen sie wählen wollen. Die Wahl ist von vornherein sicher und daher die Beteiligung einer größeren Anzahl von Wählern nicht notwendig.

In der Enquete vom 80. März d. J. wurde der Vorschlag unterstützt, der in den Petitionen der Gewerbetreibenden angeregt wurde, wonach die Genossenschaften zur Mitwirkung bei der Aufstellung der Wählerlisten heran- gezogen werden sollen. Ob dieser Vorschlag durchführbar ist. steht noch dahin. Allzu viel darf man davon nicht erwarten, weil viele Gewerbe- treibende außerhalb des Genossenschaftsverbandes stehen und von den Genossenschaften über das Alter der Arbeiter und die Dauer der Beschäftigung im Inlaude keine Aufzeichnungen geführt werden. Die Anregung behufs Vereinfachung des Wahlvorganges die Einsendung der Stimmzettel mittels Post zu gestatten, fand bei der Enquete eine drastische Widerlegung durch die Teilnehmer, die in Wahlsachen über eine große Erfahrung verfügen und versicherten, daß dieser Wahlmodus die ärgsten Mißbräuche ermögliche. Das Ergebnis der Wahl sei hiebei eigentlich nur von der Höhe der für Wahlzwecke zur Verfügung steheuden Summe abhängig.

VII.

Während J 18 des Deutschen Gewerbegerichtsgesetzes vom 29. Juli 1890 den Beisitzern ohne Unterschied ihrer bürgerlichen Stellung eine Ent- schädigung für Zeit Versäumnis zusichert und die Zurückweisung des Entschädigungsbetrages sogar für unstatthaft erklärt, gibt das öster- reichische Gewerbegerichtsgesetz 13) nur den Beisitzern und Ersatzmännern aus dem Wahlkörper der Arbeiter eiuen Anspruch auf Eutschädigung für den Verdienstentgaug. Die Höhe der Entschädigung ist im Verordnungswege festgestellt. 14 1

Diese Bestimmung hat zweifellos der Popularität der Gewerbegerichte in den Kreisen der Unternehmer sehr geschadet. Von allem Anfänge an wurde in den Enqueten iu Wien und Graz, vom VI. allgemeinen österreichischen Gewerbetage im Jahre 1899, dann in den Gutachten der Handelskammern Wien und Graz, endlich iu einem Initiativanträge der Abgeordneten Dr. Hofmann, Pommer und Genossen (Nr. 215 der Beilagen zu den steno- graphischen Protokollen des Abgeordnetenhauses, XVII. Session, 1901) die

u) Die Entschädigung beträgt beim Gewerbegerichte: Wien K 6- für de» halbe» und K 10"— för de» ganze» Tag; Graz und Prag K 4- für den halben und A' 8* für den ganzen Tag; Leuben A' 4- für den halben und A" (>• fflr den ganze» Tag; Ausaig, Ilriin», Krakau, Mährisch-Ostrau, Pilsen und Tepliu K 8- für den halben und K 0 für den ganzen Tag: hei den übrigen Gewerbegerichten; K 2 für den halben und K 4- für den ganzen Tag.

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Gewährung von Diäten an die Unternelmierbeisitzer verlangt. Insbesondere wurde einmütig auf die ungünstige ökonomische Lage der Kleingewerbe- treibenden hingewiesen. Im Interesse der ganzen Institution ist es somit nur zu begrüßen, daß von Seite der Finanzverwaltung laut der Erklärung ihres Vertreters in der Enquetesitzung vom 3. April d. J. kein Widerstand dagegen erhoben wird, daß den Unternehmerbeisitzern, die in die 4. Erwerb- steuerklasse eingereiht sind, Präsenzgelder gerade so wie den Arbeiter- beisitzern bewilligt werden. Die finanzielle Bedeutung dieses Zugeständnisses ist nicht allzu groß. Die ablehnende Haltung der Regierung war augenscheinlich auf die Besorgnis zurückzuführen, daß die Gewährung von Prüscnzgeldern an die Unternelmierbeisitzer eine gewisse präjudizielle Bedeutung erlangen könnte. Die Finanzverwaltung hat denn auch in der erwähnten Sitzung mit Nachdruck betont, daß sie mit ihrer Zusicherung kein Präjudiz für eine Änderung des ehrenamtlichen Charakters ähnlicher öffentlicher Funk- tionen geschaffen wissen wolle. 16 1

VIII.

Über die Wirksamkeit der Oewerbegerichte lassen sich aus der Statistik einige sichere Anhaltspunkte gewinnen. Hiebei muß jedoch beachtet werden, daß die Gewerbegerichte staffelweise in den Jahren 1898, 1899 und 1900 errichtet wurden. Hieraus erklärt sich die sprunghafte Zunahme dor Klagen.

Die Zahl der Klagen betrug:

im Jahre 1898 2.944

. , 1899 11.389

1900 18.028

. . 1901 24.282

, . 1902 23.981

Die vier ältesten mit 1. Juli 1898 errichteten Gewerbegerichte weisen folgende Geschäftsfrequenz nach:

Jahr

Wien

Reichenberg

Brünn

Bülitz

1898

1.984

182

607

161

1899

9.404

401

1198

386

1900

10.453

405

1080

285

1901

11.590

874

1155

506

1902

10.906

415

1102

382

ls) Die besprochene Zusage wurde mittlerweile durch vom 5. August 1903, K.-O.-Bl. Nr. 165. eingehalten.

die Miui&terialverordnung

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Die Gewerbc^erichte in Österreich.

563

Abgesehen von Bielitz, wo sich wegen der absolut geringen Anzahl der Klagen einzelne lokale Ereignisse in der Klagenfrequenz stärker bemerkbar machen, ist die Geschäftsbewegung eine konstante; eine ausgesprochen steigende Tendenz ist nirgends zu bemerken.

Auch bei den übrigen Gerichten, abgesehen von Prag, wo die Zahl der Klagen von 755, 3265 auf 4131 im .lalire 1902 stieg, ist eine bemerkens- werte Zunahme nicht zu konstatieren. Diese Erscheinung spricht, wenngleich man sich wegen der Kürze der Beobachtungsreihe eine gewisse Keserve im Urteile auferlegen muß, doch gegen die von mancher Seite vorgetragene Ansicht, daß die Gewerbegerichte eine nur im einseitigen Interesse einer Klasse wirkende Einrichtung seien. Denn, wenn dies der Fall wäre, würde eine lebhafte Agitation nicht zögern, sie diesen Klasseninteressen durch möglichst zahlreiche und immer zunehmende Inanspruchnahme dienstbar zu machen.

in welcher Weise sich die Arbeitgeber und Arbeitnehmer an den Klagen vor den Gewerbegerichten beteiligen, ergibt folgende Tabelle:

A

n z a h 1

der Klagen

Jahr

überhaupt

von Arbeitgebern

von Gehilfen oder Artiei tf-rn

von Lehrlingen

absolut

in Proz.

absolut in Proz.

absolut

in Proz.

1900 1S.273

506

2-77

17.199 94 13

,568

310

1901 I 24.474

704

290

! 22.973 93 90

797

3-20

1902 23.9*1

702

, 2-90

|

22.521 93 90

li

758

3-20 |

Das aus der vorstehenden Tabelle ersichtliche Verhältnis besteht mit geringfügigen Abweichungen auch bei den einzelnen Gewerbegerichten, z. II.:

A n z

a h 1 d

er K 1 a

gen

Gewerbegericht 1901

der Arbeitgeber

der Oelitlfra oder Arbeiter

der Lehrlinge

absolut

in Proz.

absolut

iu Proz.

absolut

iu Proz.

Wien

139

118

11.853

96-31

285

2-51

P«!?

83

254

3.040

93-26

136

4-20

Brünn

39

1

3-37 ]

8

1.084

9384

32

2-79

Von den bei den österreichischen Gewerbegerichten eingebrachten Klagen sind somit nur ungefähr 3 Proz. solche von Arbeitgebern.

In Preußen (Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Keich, 1902. S. 180) wurden eingebracht:

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564

Schauer.

lin Jahre 1900 von 50.061 Klagen 8770 oder 17 2 Proz. von den Arbeitgebern und 16.894 oder 828 Proz. von den Arbeitnehmern.

Im ganzen Deutschen Reiche betrug die Zahl der gewerbegerichtlichen Klagen 81.164 und hievon 8068 oder 10 Proz. von den Arbeitgebern und 76.096 oder 90 Proz. von den Arbeitnehmern.

Die Klagen der Arbeitgeber sind somit flberall verhältnismäßig selten.

Die Erklärung für diese auffallende Erscheinung liegt nicht darin, daß die Ursache des Streites zumeist in einem gesetz- oder vertragswidrigen Verhalten des Arbeitgebers zu suchen sei oder daß, wie behauptet wurde, die Arbeitnehmer klagen, auch wenn sie gar keinen Grund zur Klage haben, sondern sic ist unschwer in der verschiedenen ökonomischen und rechtlichen Position der beiden Teile zu finden. Die in der Kegel ungünstige Lage des Arbeitnehmers benimmt der Klage des Arbeitgebers zumeist jede Aussicht auf Realisierbarkeit. Wirtschaftlich ist ein günstiges Urteil gegen den Arbeiter zumeist ohne Wert, während die Arbeiter hoffen können, einen gerichtlich zuerkannten Anspruch gegen den Arbeitgeber auch durchsetzen zu können.16)

Noch wichtiger ist aber folgendes. Im Falle eines Vertrags- oder gesetzwidrigen Verhaltens des Arbeiters sieht der Unternehmer davon ab. den Arbeiter zu klagen, er entläßt ihn oder macht ihm einen Abzug vom Lohn. Der Arbeitgeber stellt sich damit gewissermaßen selbst klaglos, schafft sich selbst Recht und nötigt den Arbeiter, die Rolle des Klägers zu übernehmen. Der Streit kommt daun in der Form einer Klage des Arbeiters auf Entschädigung für den Entgang der Kündigungsfrist wegen ungerecht- fertigter Entlassung oder auf Zahlung des voreuthalteuen Lohnes vor Gericht.

Daß fast immer der Arbeiter als Kläger auftritt, ist somit durchaus nicht in einer besonderen Gestaltung des gewerbegerichtlichen Verfahrens oder, wie behauptet wurde, in den den Arbeitern günstigen Urteilen der Gewerbegerichte begründet. Dieselbe Erscheinung wäre auch bei den politischen Behörden, solange diese noch die Judikatur in Gewerbegericktssachen hatten, und auch bei den ordentlichen Gerichten zu konstatieren, wenn sie eine Statistik über die Zahl der Klagen vou Unternehmern und Arbeitern führen würden.

Sieber ist allerdings, daß die Arbeiter vor den Gewerbegei ichten häufiger klagen als vor den ordentlichen Gerichten, weil, wie später noch darzulegen sein wird, das Verfahren vor den Gewerbegerichten rascher ist als jenes der ordentlichen Gerichte. Zudem ist vermöge der besonderen

1S] Der höhere Prozentsatz der Klagen von Arbeitnehmern gegen Arbeiter im Deutschen Reiche ist darauf zurückzuf&hren, daß nach % 2 des Deutschen Gewcrbe- gerichtsgesetzes als Arbeiter im Sinne dieses Gesetzes auch Betriebsbeamtc, Werkmeister und mit höheren technischen Dienstleistungen betraute Angestellte, deren Jahresverdienst au Lohn oder Gehalt 2000 M. nicht übersteigt, anzusehen sind. Es gehören somit zu den der Zuständigkeit der Gewerbegerichte unterworfenen Personen solche mit größerem Einkommen als dies in Österreich der Kall ist. Die Möglichkeit, ein Urteil gegen den Arbeiter durchsetzen zu können, ist somit in Deutschland in mehr Fällen gegeben als in Österreich.

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Die Gewerbegerichte in Österreich.

565

Gebührenbegünstigungf die Eingaben, Protokolle und Vergleiche sind gebühren- frei und die Urteilsgebühr ist sehr niedrig, § 34 Gew.-Ger.-Ges.)17) das gewerbegerichtliche Verfahren billiger. Die GelXlhrenbefreiung der Protokolle. Eingaben und Vergleiche fiberhebt den Arbeiter der Notwendigkeit, sich ein Armutszeugnis zu verschaffen, was immerhin mit Umständlichkeiten, mit Zeit- verlust und Wegen verbunden ist. Endlich mag wohl auch dazu der Umstand beitragen, daß die Gewerbegericlite sich des besonderen Vertrauens der Arbeiterschaft erfreuen.

IX.

Es wurde schon zu wiederholtenmalen behauptet, daß das besondere Vertrauen der Arbeiterschaft zu den Gewerbegerichten auf die besonders günstige Haltung der Gewerbegerichte gegen Ansprüche der Arbeiter zurück- zuftthren sei. Man hat den Gewerbegerichten sogar den Vorwurf nicht erspart, daß sie nicht unparteiisch ihres Amtes walten, sondern im Zweifel leicht zu Gunsten des Anspruches des Arbeiters entscheiden. Dieser Vorwurf wurde in den Petitionen der Unternehmerverbünde, die zur letzten Enquete geführt haben, nicht mehr aufrecht erhalten. Er ist auch durchaus unbegründet.

Im Jahre 1901 wurden von den Streitsachen erledigt:

bei allen beim Gewerbe-

Gewerbegerichten gerichte Wien

durch Urteil auf Grund Versäumnis,

Verzicht und Anerkenntnis . . . 2577 1710

durch anderes Endurteil 5014 1346

Der Klageanspruch wurde

gänzlich zuerkannt 2861 (87’7 Proz. i 1487 (48-6 Proz.i

teilweise zuerkannt 1480 (19-5 Proz.) 266 ( 8-7 Proz.)

gänzlich abgewiesen 3250 (42-8 Proz.) 1304 (42-7 Proz. )

Urteile auf Grund Verzichtes sind nur sehr selten, Versäumnisurteile fast immor, Urteile auf Grund Anerkenntnis immer stattgebend. Die zahl reichen Urteile dieser Kategorie bilden somit einen großen Druchtcil der stattgebenden Urteile. Von den an sich nicht zahlreichen stattgebenden Urteilen (37 7 Proz. i entfällt somit nur ein kleiner Teil auf die Urteile, die nach Durchführung der Streitverhandlung gefällt worden sind, von den streitig verhandelten Fällen schließt daher nur ein kleiner Teil mit einem für den Kläger günstigen Urteil. Da nun in der überwiegenden Zahl der Fälle der Arbeiter als Klüger auftritt, so dringt dieser, wenn sich sein Gegner, der Unternehmer, in den Streit einläßt, nur selten mit seinem Anspruch durch. Schon damit ist die Behauptung einer einseitigen Begün- stigung der Arbeiter widerlegt.

17) Oie rrteilsgebühr betragt bei Streitsachen im Werte

b«i den ordmtllcheii Gerichten

bei den Gewerbe* jrcrfchlen

bis 50 K über 50 bis 100 K . 100 400 K

. 400 . 1600 K

K 1 A' 2 K .V- K 10 -

K 1 K 1 K 2-50 A' 5 -

Zelurkrift ftlr VolkxntrUchkft, Soxia],,°lüik uns Vera-alluaf. XU. llsnS.

39

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5615

Schauer.

Wen» tatsächlich die Gewerbegerichte Klassenjustiz treiben würden, so müßten ferner in der Hegel die Unternehmerbeisitzer für den Unternehmer, die Arbeiterbeisitzer für den Anspruch des Arbeiters stimmen und der Vor- sitzende zu Gunsten des Arbeiterklägers entscheiden. Tatsächlich zeigt aber eine von den Gewerbegerichten geführte Aufschreibung, in die der Verfasser Einsicht zu nehmen Gelegenheit hatte, daß das Urteil regel- mäßig auf Grund einhelligen Beschlusses der Stimmführer zu stände kommt. Nur bei ungefähr 10 Proz. aller Urteile ergibt sich eine Meinungs- verschiedenheit und ein Majoritätsbeschluß. Dieser Prozentsatz entspricht nun aber dem Verhältnis, in dem die wirklich zweifelhaften Fälle zu jenen stehen, in denen ein Urteil mit größerer Sicherheit gefüllt werden kann. Die Objektivität der Gewerbegerichte kann also nach den bisherigen Erfahrungen nicht i n Zwei fei gezogen w erde n.18)

X.

Eine wiederholt gegen die Einrichtung der Gewerbegeriehte erhobene Beschwerde richtet sich dagegen, daß sie die Erhebung mutwilliger Klagen begünstige.

Dieser Vorwurf ist nur in einem Punkte nicht ganz unbegründet. Die weitgehende Gebfihrenbegünstigung(sieh die Anmerkung Nr. 17 1, insbesondere der Umstand, daß der Arbeiter, ohne ein Armutszeugnis beizubringen, kostenlos und mündlich Bein Begehren anbringen kann, erleichtert es ihm, Klage zu erheben. Es mag infolgedessen wirklich hie und da Vorkommen, daß ein mit Hecht entlassener Arbeiter trotz aller Belehrung über die Aussichtslosigkeit seines Anspruches die Aufnahme der Klage verlangt und darauf spekuliert, daß der Arbeitgeber die erste Tagsatzung versäumt und kontumaziert werden kann. Die Gebührenbegünstigung ist aber auch der einzige Punkt, in dem die gewerbegerichtlicheu Klagen im Vergleich zu jenen der ordentlichen Gerichte begünstigt sind. Auch bei den Bezirksgerichten kann der Kläger ohne Anwaltszwang schriftlich oder mündlich seine Klage anbringen. Mut- willige Klagen und Prozesse kommen in der Tat leider auch bei den ordent- lichen Gerichten vor. Es ist eben der Nachteil jeder leicht zugänglichen Einrichtung, daß sie auch leicht mißbräuchlich in Anspruch genommen werden kann. Diese Erfahrung macht man bekanntlich auch bei der Ge- währung von unentgeltlicher ärztlicher Hilfe. Man steht da nur vor der Wahl, diesen Übelstaud mit in Kauf zu nehmen oder wegen des vereinzelten Mißbrauches die im allgemeinen wohltätige Einrichtung fallen zu lassen.

Das wirksamste und verhältnismäßig um wenigsten schädliche Mittel zur Abhilfe wäre die Beseitigung der Gebührenbegünstigung. In der Enquete

l,l Nach der Mitteilung der »Industrie* Xr. )6, 1903, über eine Umfrage bei den IlitgUedsverb&nden des ZcntraU erbendes der Industriellen Österreichs wurde die Stellung des Vorsitzenden der Gewerbegerichte bei Entscheidung der Rechti fülle beinahe durchgehend« als objektir bezeichnet Nur ron einzelnen Seiten, insbesondere von Prager und Wiener Industrielien, wird darüber geklagt, daß die Entscheidungen der Gewerbegerichte zu sehr mit sozialpolitischem Ul getränkt seien. Diese Behauptung wird aber durch die geringe Zahl der stattgebeuden Urteile in Streitfällen nnd die Zahl der einhellig gefäliten Urteile widerlegt.

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Die Gewerbegerichte in Österreich.

:»i37

vom 3. April d. J. verhielten sieh jedoch alle Experten gegen eine darauf abzielende Anregung entschieden ablehnend. Die Enquete erklärte sich damit zufrieden, wenn die in der Zivilprozeßordnung gebotenen Mittel gegen mut- willige Prozeßführung Anwendung finden. Es ist dies die Verhängung einer Mutwillensstrafe bei mutwilliger Bestreitung der Echtheit einer Urkunde 313 Z.-P.-O.) und die Zuerkennung eines Entscbädigungsbetrages für den Schaden, der durch die mutwillige Prozeßfflhruug verursacht wurde 408 Z.-P.-O.). Der in mehreren Petitionen geäußerte Wunsch nach Einführung einer allgemeinen, in Arrest umwandelbaren Mutwillensstrafe oder nach Zulassung der Zurückweisung einer mutwillig scheinenden Klage durch den Richter wurde in der Enquete auch von den Unternehmerezperten als undurchführbar fallen gelassen. Solche Zurückweisung könnte in Willkür ausarten und würde, wie die »Industrie* Nr. 16, 1903, treffend bemerkt, auch mit dem Grundsatz dos beiderseitigen Gehörs in Widerspruch stehen. Die Zulassung einer Freiheitsstrafe als allgemeine Folge mutwilliger I’rozeßiührung. nicht spezieller im Gesetze schon heute geregelter Mutwiileustatbestände, wäre ein nicht zu rechtfertigendes Privilegium odiosum der arbeitenden Klassen.

Man darf aber überhaupt daran zweifeln, ob es hinsichtlich der mut- willigen Prozeßführung vor den Gewerbegerichten so schlimm steht, als behauptet wurde. Wenn in den wirklich streitig verhandelten Füllen auch nur ungefähr die Hälfte der Klagen von Erfolg ist, so läßt sich nicht be- haupten, daß die Klageführung dort mutwillig war, wo dem Klagebegehren nicht stattgegeben worden ist. Denn sonst könnte man mit ebenso viel Be- rechtigung auch gegen die beklagten Unternehmer den Vorwurf erheben, ihre Verteidigung gegen die Klage sei in jenen Fällen mutwillig gewesen, in denen sie sachfallig geworden sind.

Die Klage ist zudem nicht bloß dort von Erfolg, wo durch Urteil ein Anspruch zuerkannt wird. Denn ein großer Teil der zahlreichen Vergleiche führt zu einer teilweisen Befriedigung des klagenden Arbeiters. Außerdem werden erfahrungsgemäß viele der weder durch Urteil noch durch Vergleich erledigten Klagen infolge außergerichtlicher Befriedigung des Klägers bei- gelegt. Schließlich ist aber noch folgendes in Erwägung zu ziehen. Wenn man vollkommen verläßlich darüber urteilen wollte, ob mutwillige Klagen der Arbeiter verhältnismäßig häufig sind, so müßte man auch darüber eine Ermittlung pflegen und eine Statistik fülireu, in wie viel Fällen der ge- klagte Arbeitgeber offenbar gegen das Gesetz den Arbeiter vorzeitig ent- lassen, ihm das Arbeitsbuch vorenthalten, den Lohn verweigert oder verkürzt hat. Denn das, was dem Arbeiter das Klagen erleichtert, die Billigkeit und Raschheit des Verfahrens, die leichte Zugänglichkeit des Gerichtes, das macht es natürlich auch dem Arbeitgeber leichter möglich, es auf ein ge- richtliches Verfahren aukommeu zu lassen. Keinesfalls läßt sich somit aus den zur Zeit gegebenen Grundlagen und aus vereinzelten Beschwerden der einen oder anderen Partei ein sicherer Schluß darauf ziehen, daß das gewerbegerichtliche Verfahren mutwillige Prozeßführung in ungewöhnlichem Maße begünstigte.

39*

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Schauer.

568

XI.

Unter den Erlediguugsarten liimnit im gewcibegerichtlichen Verfahren der Vergleich eine auffallende Stelle ein. Die Anzahl der dnrch Vergleich erledigten Klagen ist bei den Gewerbegerichteil erheblich größer als bei den Bezirksgerichten. Dies ergibt sich ans der nachstehenden Tabelle, in der den Klagen und Vergleichen des Gewerbegerichtes die Klagen und Vergleiche bei den Bezirksgerichten des Gewerbegerichtsgebietes gegenüber - gestellt sind. Die Tabelle enthält die Daten der sechs größten Gewerbe- gerichte aus dem Jahre 1901.

Gewerbegerichtliches _ ,, Ordentliches bezirk«-

Verf ähren Bagatell verfahren gerichtliches Verfahren

Gewerbe-

gerichtsort

Anzahl

Vergleiche

Anzahl

Vergleiche

Anzahl

Vergleiche

der

Klagen

ab-

solut

..in

Proz.

der

Klagen

ab-

solut

in

Proz.

der

Klagen

ab- i in solut j Proz.

Wien

11.632

5056

43-4

92.459

17.558

19-0

53.059

9.806 18*5

I’rag

3.336

1582

47 4

22.120

2.562

11 '6

13 734

2.398; 17-5

Brünn ....

1.154

584

46-2

7362

647

8-8

4.825

528j 109 1

Mähr. -Ostrau .

1.104

369

33-4

3.312

539

163

1.679 i

431 25-6

Krakau ....

2.202

841

«8*1

10.625

1.214

114

4 945

794 16 1

Lemberg . . .

1.812

150

8-2

19.707

8.183

16-2

7.218

2.157 299

In allen 15 Ge- werbegerichts- orten ....

24.882

9650

39-5

172.174

28.141

16-8

99.323

18.689, 188

i

Nach der vorstehenden Tabelle ist die Zahl der Vergleiche fast bei allen Gewerbegei ichten mit Ausnahme von Lemberg mehr als doppelt so groß als bei den ordentlichen Gerichten. Diese Zahlen werden aber erst dann in das rechte Licht gerückt, wenn man sie mit den Ergebnissen der Gewerbegerichte des Deutschen Reiches (1900) vergleicht (Statistisches Jahr- buch für das Deutsche Reich, 1902).

Vergleiche

Staaten

Erledigte

Klagen

absolut in Proz. ,

Preußen

48.859

21.377

43*7

Bayern

6.032

2.726 |

452

Sachsen

12.271

5.880

47-9

Württemberg

2.440

1.248

511

Baden . .

3.004

948

31*5

Deutsches Reich . . .

81.931

36.265

44*2

I

I

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Die Ge.verbegericbte in Österreich. 561)

Danach besteht zwischen der Zahl der Vergleiche der Gewerbegerichte in Österreich und im Deutschen Keiche eine auffallende Übereinstimmung.

Ks ist daher nicht bloß auf einen größeren Druck der Gewerbegerichts- vorsitzenden zurückzufühlen, wenn bei den Gewerbegerichten sehr viele und mehr Vergleiche zu stände kommen als vor den ordentlichen Gerichten. Eine solche Einwirkung würde den großen Unterschied zwischen der Zahl der Vergleiche vor den ordentlichen Gerichten und vor den Gewerbegerichten nicht erklären. Übrigens sind ja bei uns staatliche Richter mit derselben Vorbildung da und dort tätig, bei den kleinen Gewerbegerichten sind es sogar dieselben Richter. 13 1

Der Grund dieser Verschiedenheit ist vielmehr folgender:

Von den Klagen, die bei den ordentlichen Gerichten eingebracht werden, hat die Mehrzahl überhaupt nicht streitige Ansprüche oder ein streitiges Rechtsverhältnis zum Gegenstand. Es handelt sich zumeist um energische Mahnung gegen einen säumigen Schuldner, die sofort zur außergerichtlichen Uefriedigung führt, oder um Klagen gegen zahlungsunfähige Schuldner als Einleitung zur unvermeidlichen Exekution. Daraus erklärt sich die große Zahl der Versäumnisurteile und der auf andere Weise als durch Vergleich erledigten Sachen bei den Bezirksgerichten. Im Jahre 1900 wurden im Bagatellverfahren 62-9 Proz. aller Klagen durch Versäumnisurteil und auf andere Weise erledigt, im ordentlichen bezirksgerichtlichen Verfahren 62 8 Proz. aller Fälle.

Diese beiden Gruppen von Klagen geben selbstverständlich zu einem Vergleich keinen Anlaß. Bei den Gewerbegerichten dagegen handelt es sich zumeist wirklich um streitige Ansprüche, streitige Tatsachen und Rechtsverhältnisse. (Die Zahl der durch Versäumnisurteil und auf andere Weise erledigten Fälle betrug bei den Gewerbegerichten im Jahre 1900 nur 3!1'7 Proz. gegen annähernd 63 Proz. im Verfahren vor den Bezirksgerichten.! Nun sind von den bei den Gewerbegerichten angebrachten Klagen viele nur zum Teil begründet. Bei der Verhandlung überzeugt sich der Kläger nach der Aussprache mit dem Gegner unter Leitung des Richters, daß ihm nicht alles gebührt, wus er angesprochen hat, der Beklagte aber, daß er nicht alles verweigern darf. Es liegt dann nahe, daß der haltlose Teil des Begehrens fallen gelassen, der andere aber durch Vergleich festgestellt wird.

In anderen Fällen zeigt sich zwar, daß bei Anwendung des strengen Rechtes dem Kläger nichts gebührt, der beklagte Arbeitgeber läßt sich aber doch aus Gründen der Billigkeit zu einer teilweisen Leistung herbei. Endlich kommt vor den Gewerbegerichten auch dann ein Vergleich leichter zu stände, wenn wirklich für und wider den Standpunkt eines jeden Streitteiles manches spricht, weil zumeist die Parteien persönlich anwesend sind, während im ordentlichen Verfahren häufig Anwälte intervenieren und diese ein Zu-

**1 Die „Industrie- konstatiert auch, half nach den übereinstimmenden Iterichten bei den Verhandlungen vor den Gewerbegerichten kein grellerer Druck auf das Zustande- kommen von Vergleichen ausgeübt wird, als es im Verfahren vor den ordentlichen Gerichten der Full ist.

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Schauer.

570

geständnis ihrem Klienten gegenüber nicht rechtfertigen zu können ver- meinen. Nicht selten hindert auch bei Intervention von Anwälten die Frage, wer die Anwaltskosten zu tragen hat, das Zustandekommen eines Vergleiches. Letzteres Hindernis entfällt aber bei den Gewerbegerichten, da dort Anwälte als Parteieuvertreter nicht zugelassen sind und daher beträchtliche Kosten im Stadium der Vergleichsverhandlung nicht in Frage kommen.

XII.

Die Gewerbegerichte erfreuen sieh gewisser für die Raschheit der Erledigung besonders günstiger Verhältnisse, die den ordentlichen Ge- richten nicht im gleichen Maße zu statten kommen.

In allen Streitigkeiten, auch in jenen, die einen Gegenstand im Werte von über 100 K betreffen, kommt das bagatellgerichtliche Verfahren zur Anwendung. Die Vereinfachungen dieses Verfahrens wirken im Sinne der Beschleunigung. So insbesondere die Erleichterung der Protokollierung, die sich nicht auf die Darstellung der Ergebnisse der Verhandlung erstreckt und die Wirksamkeit des Urteiles vom Zeitpunkt« der Verkündung. Wenn beide Teile bei der Urteilsverkündung zugegen waren, wird eine Urteils- ausfertigung nur auf ausdrückliches Verlangen zugestellt. Der Zustellungs- dienst wird von den Gemeinden in zumeist musterhafter Weise besorgt.

Die Konzentrierung der gewerblichen Streitigkeiten eines größeren Gebietes bei demselben Gerichte macht die Richter mit allen für die Ent- scheidung wesentlichen Momenten vertraut. Ihnen macht die Verhandlung und Entscheidung sowohl in der Tat- wie in der Rechtsfrage weniger Schwierigkeiten als dem Richter des ordentlichen Gerichtes, dem nicht nur die betreffenden gesetzlichen Bestimmungen und deren Auslegung weniger geläufig, sondern auch die tatsächlichen Verhältnisse nicht in dem Maße bekannt sind wie dem Fachrichter des Gewerbegerichtes. Die Arbeitsteilung macht auch hier ihre arbeitfördernde Wirkung geltend.

Die Anwesenheit sachkundiger Beisitzer erleichtert die Ermittlung und Feststellung der Tatsachen und ihre Sachgemäße Beurteilung. Häufig kann das Gewerbegericht auf Grund der bei ihm notorischen Verhältnisse ohne Beweisaufnahme entscheiden. So insbesondere, wenn es sich um die Be- stimmung der Entschädigung für die entgangene Kündigungsfrist, für vor- enthaltenen Lohn u. dgl. handelt, wo die ordentlichen Gerichte genötigt wären, erst Sachverständige zu vernehmen.

Sehr wichtig ist zudem, daß vor den Gewerbegerichten eine Vertretung durch Advokaten nicht statthat. Die Parteien müssen ihre Sache selbst führen oder sich durch unmittelbar informierte Angehörige. Angestellte oder Berufs- genossen vertreten lassen 25 Gew.-Ger.-Ges.l. Unter Umständen mag es allerdings den Parteien unbequem sein, daß sie selbst oder durch einen Angestellten vor Gericht erscheinen müssen. Dio persönliche Beteiligung der Parteien bietet aber Vorteile, die diesen Nachteil üherwiegen. Namentlich wird dadurch manche Vertagung, die sonst zur Einholung einer Information unvermeidlich ist. erspart.

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Die tiewerbegerichte in ÖBierTeich. ")7 1

Dem raschen Verlauf des Verfahrens kommt auch der Umstand zu gute, daß regelmäßig gleichartige, verhältnismäßig einfache Rechtssachen das Gewerbegericht beschäftigen, deren Dauer im voraus ziemlich sicher abgeschätzt werden kann. Die Aufstellung eines die Arbeitszeit ganz aus- füllenden Verhandlungsprogrammes ist daher bei den Gewerbegerichten leichter als bei den ordentlichen Gerichten, bei denen Streitsachen von ganz verschiedener Tragweite und Ausdehnung bunt durcheinander fallen. Last not least kommt noch in Betracht, daß die Gewerbegerichte wenige Aus- nahmen abgerechnet mit Richter- und Kanzleipersonal gut dotiert sind.

Alles das wirkt zusammen, um das gewerbegerichtliche Verfahren merklich rascher verlaufen zu lassen, als das bei einem ordentlichen Gerichte in Österreich möglich wäre, obwohl auch diese anerkanntermaßen an Rasch- heit des Verfahrens die Gerichte aller Staaten Europas überholt haben.

Den Beweis für diese Behauptung liefert die folgende Tabelle. Sie enthält eine Statistik der Gewerbegerichte !0j über die im Jahre 1902 in 1, 2 3. 4 7 und über 7 Tagen erledigten Fälle, die leider die Daten des Gcwerbegerichtes Wien nicht enthält. Beim Gewerbegerichte Wien werden die erforderlichen Aufzeichnungen nicht geführt, aber es ist bekannt, daß auch dort die Erledigung der Streitfälle eine außerordentlich rasche und vollkommen kurrente ist.

Erledigte Fälle Dauer des Verfahrens

Gewerbegericht

Im

1 Tag ) 2-3 Tage

4-7 Tage

über 7 Tage

ab-

solut

m ab-

Proz. aulut

in

Proz.

ab-

solut

in

Pro*.

ab-

solut

in

Proz.

Frag

4138

869

210 2402

580

758

18 3

109

2-7

Aussig

264

77

29 2 99

37-5

75

28-4

13

49

Pilsen

439

241

54 9 167

38-0

27

62

4

09

Reichenberg . . .

387

81

20 9 210

543

83

21*4

13

3*4

Teplitx

490

90

13 4 258

52 7

118

241

24

4-8

Brünn

1023

546

53-4 .367

35 9

100

98

10

09

Bieiiti

806

26

8-5 1 93

304

151

493

36

11-8

Jägemdorf ....

28

- 1' 23

821

3

10 7

2

72

Mibr.-Ostrau . . .

724

153

21-1 387

535

176

24 3

8

11

Mähr.-Schönberg

102

6

5-9 j 43

42-1

30

294

23

22-6

Graz

66*»

122

18-3 339

51 0

174

26*2

so

4 5

Leoben

270

71

26-3 143

530

39

14-4

17

6-3

Krakau

2167

1125

51 9 1 706

32-6

299

138

37

17

Lemberg

1731

57

3-3 240

13-9

1

759

43-8

67o

39-0

”) ln der Statistik der ordentlichen Gerichte werden nur die Fälle ausgewiesen deren Krledigung bis 1 Monat, Uber 1— S Munate, 3—6 Monat«, 6 Monate bis 1 Jahr. 1—2 Jahre und über 2 Jahre gedauert haben. Sie umfaltt übrigens nur die Fälle, die durch L'rteil und Vergleich erledigt wurden, nicht die auf andeie Weise erledigten Fälle.

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572

Schauer.

Nach der vorstehenden Tabelle wird, abgesehen von den Gewerbe- gerichten Mähr.-Schönberg, Bielitz und Lemberg, der überwiegende Teil der Klagen in längstens drei Tagen erledigt. Besonders bemerkenswert sind ins- besondere die Ergebnisse der grollen Gewerbegerichte, bei denen unter drei Tagen erledigt wurden:

in Prag 79 l’roz. der Klagen

, Brünn 90

Mähr.-Ostrau 75

, Krakau“ i 84

Damit stimmen auch die vom Zentralvcrbande der Industriellen ein geholten Berichte überein. („Industrie“ Nr. 16, 1903.) Dort wird nämlich mitgeteilt, daß man dem Verfahren vor den Gewerbegerichteu vor jenem der odentlichen Gerichte den Vorzug gebe, und zwar wegen der Raschheit der Erledigung und der größeren Erfahrenheit der Richter hei Beurteilung fach- licher Fragen. Die gegenteilige Behauptung in dem Artikel Gewerbegerichte .Fremdenblatt“ Nr. 96. 1902, wird durch die oben angeführten Gründe und durch die Statistik widerlegt. Das Verfahren vor den ordentlichen Gerichten kann unmöglich so rasch sein wie jenes vor den Gewerbegerichten und es ist auch nicht so prompt. Die Gewerbegerichte haben in dieser Richtung den Erwartungen vollständig entsprochen. Die Raschheit des Verfahrens kommt natürlich beiden Parteien zu gute.

XIII.

Ober die Qualität der Judikatur der Gewerbegerichte läßt sich nicht so sicher urteilen, wie über die vorerwähnten Seiten ihrer Recht- sprechung.

Vielleicht ist der Vorwurf nicht unbegründet, daß sie noch nicht so sicher ist wie man wünschen möchte. Gewiß wäre die Unsicherheit aber eine noch größere, wenn nur die ordentlichen Gerichte mit gewerblichen Lohnstreitigkeiten befaßt wären und die ausschließlich mit derartigen Fragen beschäftigten Gewerbegerichte den ordentlichen Gerichten in der praktischen Verarbeitung des Rechtsstoffes nicht beispielgebend vorausgehen würden. Ein Blick auf die verbreiteten Ausgaben der Gewerbeordnung zeigt, welch spärliche Ergebnisse bis zur Übertragung der Lohn Streitigkeiten an die Gerichte die praktische Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen zu Tage gefördert hat. Das Recht des Lohnvertrages ist auch in der Literatur wenig gepflegt, es fehlte der wissenschaftlichen Betrachtung das reiche Material, das die Klinik des Rechtslebens, das gerichtliche Verfahren, schafft. Die politischen Behörden waren nach ihrer ganzen Organisation, wegen ihres

3I) Die verhältnismäßig weniger günstigen Ergebnisse von Mähr.-Schönberg sind offenbar darauf zurückzuführen. dali dieses Gewerbegericht einen über mehrere Gerichts- bezirke ausgedehnten übergroüen Sprengel hat und deshalb die Ladung der Parteien und Zeugen einen gröberen Zeitaufwand erfordert. Die weniger günstigen Verhältnisse in Lemberg finden wahrscheinlich in der gröberen Belastung dieses Gerichtes ihre Er- klärung.

Die Gewerbegerichte in Österreich. 578

zumeist übergrolien Sprengel« u. a., nicht geeignet, in privatrechtliclieu Streitigkeiten Hecht zu sprechen. Die Entscheidung erheischt nicht selten eine wohlgeordnete Parteienrerhandlung und umständliche Tatsachenfegt- stellung; dazu fehlten der politischen Behörde nahezu alle Mittel, ins- besondere Zeugniszwang mit Wahrheitspflicht und Eid. Die streitenden Parteieu mögen bei den ihnen früher zugänglich gewesenen Instanzen manchen guten Kat und freundlichen Zuspruch gefunden haben, aber regelrechte Justiz wurde in gewerblichen Lohnstreitigkeiten nicht geübt.”}

Diese Zustände muhten natürlich auch die Auffassung über die recht- liche Position des Unternehmers und Arbeiters beeinflussen, da ihren Lebens- beziehuugen der Regulator einer nach Kechtsgrundsätzen gehandhabten, leicht zugänglichen, rasch und sicher funktionierenden Rechtssprechung fehlte.

Der Ausschuft des Abgeordnetenhauses hat in seinem Bericht klarsehend die Verhältnisse rückhaltslos geschildert und die Erfahrungen der Gewerbe- gerichtsvorsitzenden haben ihm vollkommen Recht gegeben, wenn er behauptete :

„Die Gewerbegerichte haben die wichtige soziale Funktion, daß Unternehmer und Arbeiter zur Achtung der gegenseitigen Rechte, welche die Grundlage jedes Vertragsverhältnisses ist, erzogen werden.“ Durch die Rechtssprechung mutt erst .das Lohnverhältnis nicht nur ökonomisch, sondern auch rechtlich auf ein höheres Niveau gehoben werden“. Daß dieser Erziehungsprozeft in der kurzen Zeit von wenigen Jahren noch nicht vollendet sein kann, darüber darf man sich nicht wundern. Er ist auch in der Tat noch nicht abgeschlossen.

Denn noch heute herrscht, wie die Vorsitzenden der Gewerbegerichte bestätigen, namentlich im Kleingewerbe eine erstaunliche Unkenntnis der wichtigsten Vorschriften des gewerblichen Lohnrechtes und es gibt noch immer Arbeit- geber, die sich in den Gedanken erst hineinflndeu müssen, daß ihnen in der Person des Arbeiters ein Vertragsgenosse gegenübersteht, über dessen Recht man nicht durch genossenschaftliche Beschlüsse und einseitige Änderung W

Der Bericht de» Ausschüsse? des Abgeordnetenhauses (zu Nr. 1337 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen, Abgeordnetenhaus, XI. Session. 1895) Äuliert sich über diesen 1 unkt in folgender Weise:

,.Mit der Durchsetzbarkeit der privatrechtlichen Ansprüche, die sich aus dem neuen Lohnrecht ergeben, ist es jedoch schlechter bestellt als mit der Durchsetzbarkeit irgend eines anderen privatrechtlichen Anspruches. An Instanzen ist wahrhaft kein Mangel, wohl aber an jeder sicheren Rechtshilfe. Wahrend der Dauer des Arbeitsverhältnisses oder vor Ablauf von 30 Tagen nach seinem Aufhören sind die politischen Behörden zur Ent- scheidung von Lohn- und anderen Streitigkeiten aus dem Arbcitsverhältnis kompetent.

Von dieser Judikatur wollen wir den Schleier nicht hinwegziehen. Man wird zugeben, daß dieselbe für die ohnehin überlasteten politischen Behörden eine Tätigkeit bedeutet, die nicht in ihre Sphäre palit. Seit dein Bestehen von Gewerbeinspektoren ist es daher auch ausgedehnte Praxis. Arbeiter mit solchen Klagen einfach zum Gewerbeinspektor zu schicken, der natürlich in rein priTatrechtlichen Fallen auch nur die Achsel zuckt ....

Nach Ablauf der oben angedeuteten Frist endlich kann der Arbeiter allerdings die ordentlichen Gerichte, also in seinem Fall Bagatellgerieht oder Bezirksgericht, anrof.;n.

Aber in manchen Fällen ist er dann wegen Arbeitsmangel weggezogen, in anderen Fallen hat er anderweitig am selben Orte Arbeit gefunden und kann Arbeit«- und Lohnentgang eines oder mehrerer Tage, die er zur Vertretung seiner Sache vor Gericht bedarf, nicht opfern, weil er Weib und Kinder zu ernähren hat.“

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der Arbeitsordnungen verfügen kann. Dieser Mangel an Kechtakenntnis und Gewöhnung an die Formen des Rechtsverkehres inacht sich auch in den unklaren und ungenauen Erklärungen sowie in den vieldeutigen Rechtshand- lungen bemerkbar, die im Verkehr zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Vorkommen. Zahlreiche Rechtsstreitigkeiten entstehen lediglich daraus, daß man es unterläßt, sich präzise darüber auszusprechen, ob der Arbeiter auf- uenommen ist, gegen welchen Lohn, für welche Zeit, was bezüglich der Kündigungsfrist gelten soll; desgleichen kommt es häufig zum Streite, weil eine beabsichtigte Entlassung oder Kündigung in einer allen Auslegungen zugänglichen Fassung ausgedrflckt wird.*3)

Diese Erziehung zum Verständnis der beiderseitigen Rechte und Pflichten und zu einem dementsprechenden Verhalten ist natürlich keine schmerzlose, denn sie muß vom Uelehrten in der Regel mit der Sachfälligkeit bezahlt werden. Sie ist auch nicht in wenigen Jahren vollendet, da es an der er- forderlichen Belehrung der Gewerbetreibenden fehlt.*4)

Das mißliche Übergangsstadium ist somit noch nicht überwunden.

Die Gewerbegerichte haben aber auch deshalb mit großen Schwierig- keiten zu kämpfen, weil offenbar unter dem Mangel einer zivilgerichtlichen Judikatur das gewerbliche Lohnrecht bisher ziemlich primitiv und wenig ausgehildet ist. Schon das halbe Tausend veröffentlichter Entscheidungen der Gewerbegerichte weist eine reiche Kasuistik von Fällen auf, für deren Entscheidung man in der Gewerbeordnung nur wenig Anhaltspunkte fand, die man unter Heranziehung von Grundsätzen des bürgerlichen Rechtes und unter Bedachtnahme auf die natürlichen Rechtsgrundsätze zu entscheiden genötigt war. Daß unter solchen Umständen nicht alle Entscheidungen übereinstimmen und nicht joden überzeugen können, ist begreiflich. Über ganz naheliegende Fragen gibt das Gesetz keine Auskunft, zu ihrer Lösung nicht einmal genügende Anhaltspunkte. So Ober die Frage, ob im Falle der Krankheit sofort gekündigt werden kann, ob es genügt, das Arbeitsbuch eines entlassenen Arbeiters bei der Gewerbebehörde oder bei der Polizei zu hinterlegen, ob die Folgen des Kontraktbruches zeitlich unbegrenzt sind, ob cs zulässig ist, ein Aushilfe- oder Probedienstverhältnis mit zeitlich unbegrenzter Dauer zu begründen, welchen Einfluß die unverschuldete Arbeitsunfähigkeit auf den Lohnanspruch hat, ob ein Zeugnis auszustellen ist. auch wenn es ungünstig lauten müßte, u. a. m.

*3) Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis zu der vom Justizministerium herausgegebenen Sammlung geworbegcrichtlicher Entscheidungen zeigt eine Fülle solcher Erklärungen, z. B.: .Wenn es Ihnen hier nicht gefällt, so können Sie sich einen andern Dienst

suchen'*, .wenn Ihnen die Arbeit nicht pnlit. können Sie gehen*, .jetzt sind wir schon fertig-, .gehen Sie nach Hans und schlafen Sic sich aus-, .Sie können auch gehen-, .gehen Sie hin, wohin Sie wollen-, .kommen Sie mir heute nicht mehr unter die Augen" .wenn Sie nicht arbeiten wollen, können Sie gehen“ u. a. m.

24 ) Wenn es die Genossenschaften unternehmen worden, iltre Mitglieder Ober die wichtigsten Fragen des gewerblichen Lohnrecbtcs ebenso zu unterrichten, wie dies die Arbeiterorganisationen besorgen, so würde dies den Arbeitgebern sehr nutzen und die aufgewendete Mühe gewiß lohnen.

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Die Gewerbegerichte in Österreich.

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Trotzdem muß ein unbefangener Beurteiler den Gewerbegerichten die Anerkennung geben, daß ihre Judikatur im großen und ganzen eine über- einstimmende und zutreffende ist.,s)

Die Gewerbegerichte haben insbesondere in der wichtigen Frage, unter welchen Voraussetzungen die in der Arbeitsordnung enthaltenen Bestimmungen als Bestandteil des Arbeitsvertrages anerkannt werden sollen, eine überein- stimmende und auch den Bedürfnissen des Lebens entsprechende sichere Haltung bekundet. Mit der Herausgabe der amtlich publizierten Entscheidung der Gewerbegerichte seit 4 Jahren betraut, kann der Verfasser dieses Artikels bestätigen, daß ihm die Entscheidungen dieser Gerichte fast durchwegs natürlich und überzeugend begründet zu sein scheinen und daß auch ein erhebliches Schwanken nicht zu bemerken ist. Allerdings kommen auch Entgleisungen vor und Entscheidungen, denen man sich nicht so ohneweite rs anschließen kann. Aber das ist bei allen übrigen Gerichten, auch jenen der höchsten Instanz, der Fall und ist übrigens nicht immer ein Beweis dafür, daß das Urteil nicht richtig gewesen ist. Häufig ist nur die Darstellung im Urteil ungenau oder sonst mangelhaft.

Alles in allem bedeutet die Judikatur der Gewerbe gerichte einen großen Fortschritt in der rechtlichen Behand- lung des gewerblichen Lohureehtes. Die Änderung in der Handhabung der Rechtsnormen mußte sich freilich für die Gewerbetreibenden nicht scdten

Die ..Industrie“ Nr. 16, 1903. resümiert die Äußerungen der Verbandsvereine Uber diesen Punkt in folgendem: „Die Spruchpraxis wird in der überwiegenden Anzahl der eingelangten Antworten als stabil und unter Rücksichtnahme auf Präjudikate bezeichnet und dabei hervorgehoben, daß die Präjudikate nicht schablonenmißig angewendet, sondern die Eigentümlichkeit des speziellen Kalles gewahrt wird.*

Die Vorwürfe, die in dieser Richtung im Artikel „Gewerbegerichte* in Nr. 96 des „Fremdenblatt“ vom Jahre 1903 enthalten waren, sind unbegründet und beruhen auf einem Mißverständnis über das Wesen und die Tragweite des gerichtlichen Urteilee. Der Verfasser des Aitikels verlangt, daß die gerichtlichen Urteile für die Beteiligten ein festes und unabänderliches Regulativ gewähren sollen, übersieht aber, daß das ganz unmöglich ist. wenn das Gesetz Belbst für die individuelle Beurteilung einen weiten Spielraum läßt. Darüber, was z. B. grobe Ehrenbeleidigung ist, läßt sich nicht ein für alle Fälle gültiges Normale aufstellen. Das hängt vom Bildungsgrade der Beteiligten, von dem in diesen Kreisen Gebräuchlichen oder doch Geduldeten, vom Grade der Ver- traulichkeit, der zwischen Ihnen besteht, ab. Wenn man beachtet, wie wenig tragisch in gewissen Schichten die bekannte Aufforderung Götzen* an den Feldhauptmann genommen wird, so kann man sich auch darüber nicht wundern, daß das Gewerbegericht Wien anfänglich geschwankt hat, ob es diesen Zuruf wirklich als grobe Ehrenbeleidigung und nicht bloß als einen gedankenlos hingeschleuderten rohen Ausdruck des Unwillens aufzufassen habe. Wie können ferner die Entscheidungen der Gewerbegerichte darüber was beharrliche Pflichtverletzung ist. in einem kurzem Rechtssatz derart wiedergegeben werden, daß dieser auch immer dem wirklichen Sachverhalte entspricht? Die Entscheidung hängt da von hundertfältig verschiedenen Umständen ab, die auf das Urteil Einfluß nehmen, aber nicht einmal in der Begründung des Urteils immer ihren Ausdruck finden. Wer über ein gerichtliches Urteil, ohne den Tatbestand des einzelnen Falles zu studieren, bloß nach der Überschrift der veröffentlichten Entscheidung urteilt, verfährt ebenso unkritisch und ungriindlich wie jener, der glaubt, über die Angemessenheit einer vom Gerichte verhängten .Strafe absprechen zu können, ohne bei der Verhandlung anwesend gewesen zu sein.

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Schauer.

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in für sie unerwünschter Richtung fühlbar machen. Denn durch die Gerichte werden nun auch jene Bestimmungen der Gewerbeordnung durch- ge führt und angewendet, die früher nicht in diesem Maße praktisches Recht waren. Die Tragweite mancher Bestimmung der Gewerbeordnung kommt jetzt erst den Beteiligten, und zwar zumeist den Arbeitgebern, zum vollen Bewußtsein. Der prompte Rechtsschutz, den die Gerichte gewähren, führt bei vorzeitiger Entlassung, bei Aussetzenlassen mit der Arbeit, bei unbe- rechtigten Lohnabzügen u. ä. unvermeidlich zur tatsächlichen Ersatzleistung, während früher der Anspruch zwar auch bestand, aber nicht geltend gemacht wurde. Die gesetzliche Kündigungsfrist 77 Gewerbeordnung) besteht seit langer Zeit. Die Arbeitnehmer sahen aber früher darin nur ein Hindernis für ihre Freizügigkeit und für die beliebige Einstellung der Arbeit. Die Arbeitgeber waren dagegen mit der Kündigungsfrist nicht unzufrieden, da sich für sie daraus eigentlich nur Vorteile ergaben. Die Arbeitgeber wurden nur selten auf KOndigungsentsehädigung belangt, konnten aber doch, wenn sie die damit verbundenen Wege und Kosten nicht scheuten, im Falte des Koutraktbruches des Arbeiters gegen diesen Strafe und Exekution zur Rückkehr in die Arbeit erwirken. Nun auf einmal das dringende Verlangen der Arbeitgeber nach Beseitigung der Kündigungsfrist und anderseits das warme Eintreten der Arbeiterschaft für diese Bestim- mung! Diese Änderung in der Auffassung erklärt sich zwanglos dadurch, daß nun das Gesetz nach beiden Seiten gehandhabt wird und daß dessen Vor- und Nachteile zu Tage treten. Daß die Arbeitgeber ihre Interessen zu wahren suchen und für eine Änderung dieser Bestimmung eintreten. kann ihnen sicherlich nicht znm Vorwurf gemacht werden, es wäre aber ungerechtfertigt, wenn sich ihr Unwille gegen die Gerichte kehren würde, die nichts anderes als ihre Pflicht tun, indem sie das Gesetz anwenden.

Wenn man den Gewerhegerichten Zeit läßt, sich einzuleben, wenn man sie als eine Justizeinrichtung, frei von dem Einflüsse politischer Partei- und sozialer Klasseuintcressen, sich betätigen und entwickeln läßt, so werden Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Vorteile der Gewerbegerichte immer mehr und mehr würdigen.

Zu dieser Hoffnung berechtigen die Erfahrungen im Deutschen Reiche. Die .Kreuzzeitung“ Nr. 48, 11)03, gewiß kein Organ, das sozialdemokratische Tendenzen vertritt, faßt ihr Urteil über die Gerichte in folgendem zusammen: .Die Zeiten haben sich auch hier geändert. Die Vorsitzenden der Gewerbe- gerichte haben sich als stark genug erwiesen, um unzulässigen Übergriffen pflichtwidriger Beisitzer erfolgreich entgegenzutreten. Das politische Moment, das der Wahl zu Grunde lag, trat bei Ausübung ihrer Funktionen als Richter immer mehr und mehr zurück, und heute trefl'en die Entscheidungen der Gewerbegerichte ebensogut das Richtige, sind ebensogut begründet und rechtlich haltbar, wie diejenigen der ebenfalls aus Vertretern der Arbeitgeber und Arbeiter zusammengesetzten Schiedsgerichte für Arbeiterversicherung, wie die der ordentlichen Gerichte.“ Die .Kreuzzeitung“ anerkennt die unbestrittenen Vorzüge des gewerbegerichtlichen Verfahrens „schnell, billig und b c q u e m“.

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ABSTUFUNG DER GEBÄUDESTEUER NACH DEM MASS DER VERBAUUNG DER GRUNDFLÄCHE.1)

RIN VORSCHLAG ZIJK ABÄNDERUNG DER GEBÄUDESTEUERN BEHUFS FÖRDERUNG DER ASSANIERUNG MIT BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG DER ÖSTERREICHISCHEN HAUSZINSSTEUER UND FÜNFPROZENTIGEN STEUER.

VON

RAOUL BRAUN von FERN WALD.

Vordem wa rn die Straßen der Städte meist eng nnd winkelig, die Kana- lisation und andere hygienische Vorkehrungen waren sehr ungenügend oder

fehlten ganz, wie überhaupt die öffentliche Gesundheitspflege sehr im argen lag. Gegenwärtig werden gemäfl den Anforderungen der Wissenschaften von den

öffentlichen Gewalten grolle Anstrengungen und Aufwendungen zu Gunsten der Assanierung gemacht: die Straften verbreitert, öffentliche Gärten angelegt, für zweckmällige Kanalisation und die Zufuhr gesunden Trinkwassers gesorgt, so dafl es gelungen ist, vielen früher verheerenden Krankheiten einen großen Teil ihrer Furchtbarkeit zu nehmen und sie auf einige verhältnismäflig seltene Fälle zu beschränken. Leider fehlt aber such die Kehrseite nicht; besonders wird oft der Erfolg der Bemühungen der Allgemeinheit durch die rücksichtslose Geltendmachung des Privatinteresses schwur beeinträchtigt. Früher hatten die Häuser selten eine gröflere Höhe, so dafl auf dor gleichen Grundfläche weniger W'ohnraum und

daher auch nur Platz für eine geringere Anzahl Menschen war. Wo nicht

besondere Verhältnisse, wie Raummangel infolge einengender Festnngsinauern, obwalteten, waren bei den Häusern in der Kegel geräumige Höfe, die oft mit ein paar Bäumen bepflanzt waren, welche mit ihrem Grün das Auge erfrischten und auch ein wenig zur Verbesserung der Luft beitrugen. Auch darf man nicht vergessen, dafl früher der Umfang der heutigen Großstädte unendlich geringer war und eine geringe Luftströmung genügte, utn allen Teilen des Ortes frische unverdorbene Luft zuzuführen, während jetzt ganze Stadtteile nur Luft bekommen können, die bereits über weit«, diclttbewohnte Gebiete hingestrichen und dadurch verunreinigt und verdorben worden ist, wie ja überhaupt die Luft durch den stärkeren Verbrauch von Brennmaterial und durch die anderen Emanationen der Industrie mit Unreinigkeiten und schädlichen Gasen erfüllt wird und der uner- meßlich gesteigerte Verkehr immer neue Staubuiassen aufwirbelt Das Gemeinwesen hat da im Kampfe um die Wahrung der Gesundheit seiner Bewohner oinen

*) Da dieser Artikel sich schon seit März bei der Redaktion befand, konnte die spätere Literatur nicht mehr verwertet werden

Zeitschrift für Vollem Irocbift, SosialpolUlk und Verwaltung. XII. UauJ. 40

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schworen Stand. Mau muß daher von den Privaten verlangen, daß sie es in dieser Bedrängnis nach Kräften unterstützen. Leider wird aber nur zu oft aus Selbstsucht oder Unverstand gegen diese Pflicht gefehlt.

Der ungemein gesteigerte Wert der Bodenfläche in den günstig gelegenen Stadtteilen drängt dazu ihn auszunützen, soweit es irgend rechtlich und technisch möglich ist. Die Häuser werden bis zur größten, gestatteten Hölle gebaut und der Hofraum auf ein Minimum beschränkt. Was die Allgemeinheit durch Straßen- verbreiterung und Gartenanlagen mühsam an freiem Luftraum errungen hat. geht wieder durch die stete Verkleinerung der Hofränme und Hausgärten verloren. Auch wird durch eine so rücksichtslose Verbauung der Peripherie der zentrale Teil der Städte immer ungesunder, da ihm die Zufuhr von frischer Luft ganz abgeschnitten wird. Ebenso nachteilig sind die engen Höfe für die einzelnen Häuser und ihre Bewohner. Abgesehen davon, daß die Lichtliöfo bei Feuers- brünsten oft wie Schlote wirken und die rasche Ausbreitung und da» Umsich- greifen der Flammen begünstigen, verkümmern siu ihren Bewohnern Luft und Licht. Infolgo ihrer Enge ist die Luft in ihnen wenig bewegt und stagnierend, nur ein besonders kräftiger Windstoß vermag aus ihnen die verbrauchte, ver- unreinigte Luft und die angesammelten Miasmen zu vertreiben und sie mit frischer, sanerstoffreicher Luft zu füllen. Die Sonnenstrahlen, deren heilsamo Wirkung immer mehr geschätzt wird, können nnr im Sommer während weniger Tagesstunden eindringen, im Winter aber sind die unteren Stockwerke in ewiges Dunkel getaucht.

Glücklich, wem es seine Mittel erlauben eine Wohnung zn haben, von der wenigstens einige Fenster auf die Straße gehen und der frischen Luft Einlaß gewähren. Wer aber verdammt ist, seine Tage in einer Hofwohnung hinznhringen. deren Fenster auf einen engen Lichthof hinausgehen, der bleibt der frischen Luft und des hellen Tageslichtes beraubt. Besonders bedenklich sind daher die engen Höfe dann, wenn hinter dem Vorderhausc noch ein Hinterhaus eingebaut ist, dessen sämtliche Fenster sich auf solche enge Höfe öffnen, da dann dieses ganze Gebäude unter den erwähnten i'belständen leidet und eine gründliche Ventilation vollkommen ausgeschlossen ist.

Xiomaud wird leugnen, dal) angesichts der lebhaften Bautätigkeit eine Abhilfe gegen eine solche übermäßige Ausnützung des Baugrundes unbedingt und dringend not tut. Es fragt sich, welche Mitte] am raschesten und besten zur Erreichung dieses Zieles führen. Zunächst kommt natürlich eine entsprechende Verschärfung und strengere Handhabung der Bauordnungen in Betracht, wodurch wenigstens bei den Neubauten diesen sanitären Forderungen liechnung getragen werden könnt«.1) Die schon bestehenden Bauten würden dadurch natürlich nicht

*) Die Wichtigkeit der Berücksichtigung der Forderungen der Hygiene bei Erlassung neuer Bauordnungen hat die volle Würdigung des österreichischen k. k. Obersten Sanitätsrates gefunden und war bei ihm Gegenstand eingehender Beratungen. Bereits im Jahre 1893 wurden in einem Bericht seiner Mitglieder Franz Bitter von Gruber und Dr. Max Gruber genaue „Anhaltspunkte für die Verfassung neuer Bauordnungen in allen die Gesundheitspflege betreffenden Beziehungen“ (Wissenschaftliche Abhandlungen aus dem k. k. Obersten Sanitätsrate II) ausgearbeitef. In diesem Berichte ist auf die genügende Erhellung und direkte Liiftbarbeit der Innenräume der Gebäude großes Gewicht gelegt. Für die Erhellung ist darin in der Weise Sorge getragen, daß die

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Abstufung der Gebfiudesteuer nach dein Maß der Verbauung der Grundfläche. 588

berührt. Auch dürfte es selbst bei der besten Formulierung der diesbezüglichen Vorschriften nicht za vermeiden sein, daß in vielen einzelnen Fällen Meinungs- verschiedenheiten und Streitigkeiten über die Zulässigkeit einer Hauführung ent- stehen. deren Erledigung wieder einen großen Verwaltungs* und Judikatnrapparat beansprucht

Es wäre demnach auf ein Mittel zu sinnen, welches die Bauordnung ergänzt und die Verbauung möglichst automatisch regelt und dadurch die Häufig- keit der Beschwerden und Rekurse vermindert.

Bedenkt inan, welchen weitgehenden Einfluß gewisse Rcalstenern auf die Bauweise geübt haben, wie die Fenstersteuer1) es bewirkte, daß mit den Licht- öffnnngen in einer Weise gespart wurde, die der Gesundheit der Bewohner schädlich war. wie anderseits eine Besteuerung nach der Zahl der Wohnräume eine Bauart veranlaßt, bei der ohne Rücksicht auf die Zweckmäßigkeit nur möglichst wenige Räume hergestellt werden, wo man dann deren geringe Zahl durch ihre Größe ersetzen muß, so liegt der Gedanke nahe, im Kampfe gegen dio übermäßige Verbauung der Bauplätze die Gebäudestener zu Hilfe zu nehmen und durch ihre entsprechende Organisierung d i e Wirkung der Bauordnungen zu unterstützen. Diesen heil- samen Einfluß der Besteuerung könnte man erzielen, wenn man die Gebäude, bei denen zu wenig unverbauter Raum übrig gelassen ist, mit einer höheren Steuer belegt. Es würde dann der durch die stärkere Vorbanung erzielte Vorteil durch den Nachteil auf- gewogen werden, eine größere Steuerquote zahlen zu müssen. Wenn nun der Bauführer dort, wo die Fenstersteuer besteht, um möglichst wenig Steuer zu zahlen, entgegen den Wünschen seiner Mieter die Zahl der Fenster auf das Mindestmaß herabsetzt. so ist anzunehmen, daß er auch, wenn er für die über- mäßige Verbauung mehr Steuer zahlen umß, darauf verzichtet, seinen Baugrund bis aufs äußerste auszunützen und den Parteien luftige und gut erleuchtete Wohnräume schafft und so ihren Bedürfnissen entgegenkotnmt. Natürlich würde die Steuererhebung nur dann wirksam sein, wenn sie den Gewinn aus der stärkeren Verbauung aufhebt. Da die Belastung des Hausbesitzes in der Regel und speziell in Österreich sehr hoch ist. so kann an eine weitere Steuererhöhung nicht gut gedacht werden. Man wird daher die Abstufung durch Gewährung von Steuer- nachlässen für die Gebäude mit genügend großen Höfen durch- führen müssen. Es soll später auf diese Frage zurückgekommen und ihre Lösung versucht werden, vorläufig sei der Einfachheit halber davou abgesehen und der Fall einer Steuererhöhung erörtert. Es ist zunächst festzustellen, wo inan mit Auflegung der Zuschläge zu beginnen hat, welches Minimalmaß von unverbauter Fläche die Freiheit von den Zuschlägen begründen soll. Diese Frage kann aber erst nach genauen, eingehenden Untersuchungen und Erwägungen entschieden

Festsetzung bestimmter Verhältnisse der Abstände des Hauses von den umgebenden Gebäuden zu deren Höhe verlangt wird, wodurch für jedes Fenster eine entsprechende Erhellung gesichert werden kann.

•) Vgl. P. I.eroy- Beaulieu, Tratte de la seiend* des finances, 5. Auflage. I. Band, S. 364, und Adolf Wagner, Fiuanzwissensrhaft, III. S. 2f>6 und 464.

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Braun von Fernwahl.

worden. Beispielsweise sei hier angenommen, dalt die Befreiung von diesen Steuer- zuschlägen dann gegeben sei, wenn die unverbaute Fläche: Hofranm, Hausgarten, Vorgarten u. s. w. wenigstens die Hälfte des gesamten Bauplatzes ausmacht. Weitere Steuerbegünstigungen für Gärten und Höfe zu gewähren, welche dem verbauten Grund nicht nur gleiclikommeu. sondern greller sind, würde sich vielleicht weniger empfehlen, da das eine gewisse Bevorzugung der Reichen wäre, obwohl der Wert großer Privatgärten für die Allgemeinheit nicht unter- schätzt werden soll. Auch muH mau es vermeiden, in Fisttalismus zu verfallen, indem man ein zu hohes Minimalmall voll unverbauter Fläche annimmt.

Die Hohe des Zuschlages muß so bestimmt werden. daH er den durch weitergehende Verbauung erzielten Gewinn ganz oder zum größten Teil aufhebt: natürlich kann man da nicht jedem einzelnen Fall gerecht werden, sondom muH eine allgemeine Schätzung zur Grundlage wählen. Beispielsweise kann man einen Maximalzuschlag von 10 Proz. des bisherigen Steuerbetrages annehmen. Dieser wäre von Häusern ohne allen unverbautem Grund zu entrichten. Ks wäre aber unbillig, jede noch so geringe Überschreitung der zulässigen Normalverbauung mit dem gleich hohen Strafzuschlag zu belegen, es dürften daher die Zuschläge nach dem Mafle der Mehrverbauung abzustnfen sein. z. B. in der Weise: Für die Verbauung von 50 55 Proz. des Baugrundes 1 1‘ruz. Zuschlag, für 55 00 Proz. 2 Proz. Zuschlag, für 60 65 3, für 65 70 4. für 70 75 5, für 75 80 6. für 80 85 7. für 85 90 8, für 90 95 9, endlich hei einer Verbauung von über 95 Proz. der Fläche der volle Zuschlag von 10 Proz. Diese Ziffern machen natürlich keinen Anspruch, den tatsächlichen Verhältnissen und Erforder- nissen zu entsprechen, sondern sollen nur den Gedanken veranschaulichen.

Wie früher erwähnt, wird eine derartige Strnrrerhiihnng nur dann eine stärkere Verbauung hindern, wenn dadurch der durch die grellere Ausnutzung der Baufläche entstandene Gewinn dem Hausbesitzer entzogen wird, l'm dieses Ziel zu erreichen, müßte man feststellen können, wie groll dieser Gewinn etwa per Quadratmeter der verbauten Fläche ist. Dies wäre aber äußerst schwierig und müßte für jedes einzelne Haus besonders ermittelt werden. Es kommen da nämlich sehr viele Momente in Betracht. Bei einem Hanse, das an einer Haupt- verkehrsader, in einem geschäftlich oder gesellschaftlich bevorzugten Viertel liegt, wird sich das Publikum mit einer Bauart zufrieden gehen, die in einer andern Gegend nicht rentabel wäre. Auch hängt es sehr davon ab. ob das Haus Geschäftszwecken oder zu Wohiiräumen oder zu beiden dienen soll, und bei Wohtlbäusom macht es einen großen Unterschied, ob sic für die bemittelte Klasse, die sich Annehmlichkeiten gönnen kann, oder für arme Leute, die froh sein müssen, wenn sie ein Obdach bezahlen können, berechnet sind. Auch die Nationalität und Herkunft der Mieter fällt ins Gewicht, da die Ansprüche und Gewohnheiten bei den einzelnen sehr verschieden sind. Natürlich sind für die Annehmlichkeit einer Wohnung noch sehr viele andere Umstände maßgebend als dio Größe der Höfe, die es bewirken können, daß selbst eine übergroße Verbauung noch Gewinn bringt. Fenier ist die Höhe des Hauses von Bedeutung. Ein Hof, der hinlänglich groß für ebenerdige Gebäude wäre, erweist sich als ganz ungenügend, wenn ihn vierstöckige Zinskasernen umgeben. In der Regel ist hei einem Hans die Ver-

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Abstufung der Gebäudesteucr nach dom Maß der Verbauung der Grundfläche. 5H5

bauuug des Grundes nur bis zu einer bestimmten kritischen Grenze gewinn- bringend. die von den oben angedenteten Umständen abhängt. Wird diese Grenze überschritten, so tritt nicht mehr eine Steigerung, sondern eine Minderung des Erträgnisses ein. Freilich gibt es Ausuahmsfulle, z. 13. daß ein Haus so zwischen zwei oder mehreren Straßen gelegen ist, daß ein Uofrauui überhaupt entbehrlich ist. Da kann freilich die ganze Fläche vorteilhaft ausgenutzt werden.

Kine Ermittlung der Steigerung des Erträgnisses durch eine stärkere Ver- bauung stößt also auf große Hindernisse und würde unverhältnismäßige Mühe und Kosten verursachen. Es dürfte jedoch genügen, wenn der Unterschied in der Besteuerung einen beträchtlichen Teil der Steuersumme, die im ganzen auf das Haus entfällt, ausmacht. Hei einem Neubau wird dann der umsichtige Hau- führer zu berechnen trachten, inwieweit ein durch eine stärkere Verbauung erzielter Gewinn ihm selbst verbleiben und wie viel davon durch die Steuererhebung absorbiert würde, und wird danach den Hauplan einrichten. Natürlich wird er, wenn es in seinem Interesse ist, trotz der höheren Steuer stark verbauen. Es ist dann der Zweck dieser Abänderung der Gebäudesteuer nicht erreicht, doch betrifft dies nur einen Teil der Gebäude, und zwar einen um so kleineren, je größer der Unterschied in der Besteuerung ist, so daß man es in der Hand hat, die Zahl solcher Gebäude mit übergroßer Verbauung durch entsprechende Differenzierung der Steuersätze nach Bedarf zu verringern. Anderseits wird durch eine solche Art der Besteuerung selbsttätig eine Anpassung an die Lokalver- hältnisse bewirkt. In den Zentren des Geschäftslebons und des Verkehres wird die Hautlächc so stark verbaut werden als es irgend zulässig, da jeder Fußbreit Hoden äußerst wertvoll ist und für Geschäftsräume, die in der Regel nur während einiger Stauden benützt werden, Licht und Luft nicht die gleiche Wichtigkeit haben wie für Wohnräuine. Dagegen wird es sich in den Gegenden, wo der Grund weniger Wert hat, nicht rentieren, die Verbauung zu weit zu treiben und es werden Hofräume entstehen, die den sanitären Anforderungen an ihre Größe entsprechen. Damit eine solche annähernd richtige Vorausberechnung des Erträg- nisses mit Rücksicht auf die größere oder geringere Verbauung möglich sei, ist es natürlich notwendig, daß die Summe der ganzen auf das Haus entfallenden Steuer möglichst konstant ist und nicht von Jahr zu Jahr Schwankungen unterliegt.

Wenn alle Häuser einer derart nach der Verbauung abgestuften Besteuerung unterworfen werden, so bildet dies bei alten Häusern, deren Hofräume aus irgend einem Grunde sohr klein gemacht wurden, einen Ansporn zur Demolierung der- selben und zur Erbauung von sanitären Häusern, indem dadurch eine verhältnis- mäßig geringere Besteuerung erzielt werden kann.

I)a die vorgeschlagene Abänderung der Gobäudesteuer nur eiue Seite der städtischen Sanitätspolizei, die Verhinderung einer übermäßigen Verbaunng, berührt, kann sie natürlich die hygienischen Bestimmungen der Bauordnungen nicht ersetzen, sondern diese nur ergänzen und unterstützen. Dies geschieht dadurch, daß sie in zweierlei Hinsicht automatisch wirkt: 1. durch Verminderung der Streitigkeiten und Rekurse betreffend das zulässige Maß der Verbauung der Bodenfläelie und 2. durch die Anpassung der Bauweise an die Verkehrs- und Geschäftsverhältnisse des betreffenden Ortsteiles.

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l)a der für die Gewährung einer Steuerbegünstigung geforderte Minimal- hofrauin stet» bedeutend größer festgesetzt werden kann als der durch die Ban- ordnungen vorgeschriebene, so wird bei allen den Häusern, wo der Bauführer freiwillig auf eine gegen die Bauordnung verstoßende stärkere Verbauung ver- zichtet, um nicht unter einen höheren Steuersatz zu fallen, diesbezüglich keine Meinungsverschiedenheit zwischen Bauführer und Baubehörde vorhanden sein, während sonst in vielen Fällen der Bauführer geglaubt hätte, eine stärkere Ver- bauung durchsetzen zu können und gegen die Kutscheidung der Baubehörde den Rekurs ergriffen hätte. Streitfälle werden sich nur dann ereignen können, wenn der Bauführer auch die höheie Besteuerung nicht scheut und seinen Grund sogar über das von der Bauordnung gestattete Maß verbauen will. Ks wird demnach oine bedeutende Anzahl von Fällen, wo sonst der Kekursweg beschritten worden wäre, von selbst bcigclegt und so alle Faktoren, die am Reknrsverfahrcn beteiligt sind, entlastet und viel au Arbeit, Zeit und Kosten erspart, so daß. wenn auch nicht im einzelnen Ressort, doch in der Volkswirtschaft der Aufwand für die Mehrarbeit, welche die Einführung der abgestuften Gebändesteuer verursacht, dadurch einigermaßen aufgewogen würde. Außerdem ist nicht zu übersehen, daß durch diese Besteuernngsart der Bauführer veranlaßt wird, selbst sich für eine den sanitären Anforderungen entsprechende Verbauung seines Grundes zu ent- scheiden und so viel Anlaß zu Mißstimmung und Klagen über behördliche Bevormundung und Schikane vermieden wird. Bei dein Spielraum, den die Bau- ordnungen für ausnahmsweise Erleichterungen im Sinne einer stärkeren Ausnützung des Grundes gewähren müssen, ist es auch vorteilhaft, daß durch die erwähnte Steuerform die Art der Verbauung von der größeren oder geringeren Strenge der einzelnen Baubehörden unabhängiger gestellt wird und so eine größere Gleich- förmigkeit erzielt wird.

Was die zweite Richtung aulangt, in der die Rcstenernng nach Maßgabe der Verbauung automatisch wirkt, so ist zunächst darauf hinzuweisen, daß die Vorschriften der Bauordnungen über das höchste Maß der zulässigen Verbauung in der Regel schematisch sind. Gewöhnlich ist nur bestimmt, daß mindestens ein gewisser Prozentsatz des Bangrundes, z. B. l.r> Proz.. unverbaut hloiben soll. Bei kleineren Orten erweckt eine solche gleichmäßige Normierung weniger Bedonken, da die Unterachiede der Verhältnisse bei den einzelnen Ortschaflsteilen meist nicht so groß sind. Anders bei einer Großstadt. Im Zentrum wird mau wohl sich billigerweise mit einem ziemlich geringen Minimalhofraum begnügen müssen, für dio Peripherie aber ist eine höhere Anforderung gerechtfertigt. Mail könnte nun versuchen dem abzuhelfen, indem man für die verschiedenen Stadtteile ver- schiedene prozentuelle Ausmaße der Hofräumo als Minima festsetzt. Da es aber äußerst schwierig ist, die örtlichen Verhältnisse richtig zu würdigen um! ihnen entsprechend Rechnung zu tragen, so würde eine solche Ravunnierung immer etwas willkürlich ansfallen. Es wird daher dio Bauordnung in wünschenswerter Weise durch don hier behandelten Vorschlag ergänzt, so daß sie sich mit der einheitlichen Fixierung des technisch und sanitär zulässigen Minimums begnügen kann. Wenn die Besteuerung nach Maßgabe der Verbauung erfolgt, wird eine richtige Regulierung durch die Rücksicht der Bauherren auf ihr eigenes Interesse

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Abstufung der Gebäudesteuer nach dem il.iU der Verbauung der Grundfläche. 587

ointreten. Dort, wo es privatwirt-scbaftlicli und wohl auch nationalftkonuluisch gerechtfertigt ist, alsn in den Geschäfts- und Verkehrszentren, wird die kostbare Grundfläche im höchsten zulässigen Malle verbaut werden, dagegen werden an den weniger vorteilhaft gelegenen Stellen Häuser mit großen, luftigen Höfen entstehen. Gegenüber der Festsetzung von verschiedenen Hofranmgröflen für die einzelnen Stadtteile hat dies noch den Vorteil, datt keine starre Abgrenzung in einzelne Gebiete notwendig ist. sondern daß die Hanweise sich den speziellen Verhältnissen anschmiegen und ihnen hei jedem Hanse Rechnung tragen kann. Uei einem an einer Hauptverkehrsader gelegenen Hans wird die Fläche möglichst ansgenützt werden, bei dem in einer stillen Seitengasse gelegenen Nachbarhause wird es vielleicht schon nicht mehr vorteilhaft sein, so da# der Banherr es vorzieht, einen geräumigen Hof frei zu lassen. Ändern sich die Verhältnisse im Laufe der Zeit in einem bestimmten Stadtgebiete, so kann dem bei Bestimmung fixer Ausmaße für die Hofräume nur durch Änderung der Bauordnung Rechnung getragen werden. Ist jedoch die Gebäudesteuer nach der Verbauung abgestnft, so erfolgt die Anpassung allmählich von selbst. Entsteht durch Anlage eines Bahnhofes oder Hafens ein neues Verkchrszcntrnm, so werden die Hausbesitzer lieber eine höhere Steuer zahlen und ihre Gebäude nach Möglichkeit ansbauen, um den höchsten erreichbaren Nutzen zn erzielen. Wird dagegen eine Gegend vom Verkehrs- nnd Geschäftsleben abgeschnitten, so werden die Hausbesitzer, um der hohen Besteuerung zn entgehen, ihre alten Hänser. sobald es deren Bau- znstaud irgend rechtfertigt, durch andere gesündere, an denen nicht so sehr mi dem Hofrauin gespart ist, zu ersetzen trachten oder doch durch Niederreißcn von Seitentrakten nnd Anbauen die Höfe vergrößern. So bewirkt die reformierte tiebündestener, daß die Bauweise nicht nur im einzelnen Falle den Verkehrs- und Geschäfts verhnltnis>eu vollkommen entspricht, sondern auch, daß sie den Änderungen derselben allmählich folgt. Natürlich bleibt es den Bauordnungen gänzlich unbenommen, für gewisse Gebiete weitergeheudo Anordnungen zu erlassen, z. B. sie zu Villenvierteln zn bestimmen.

Es darf nicht übersehen werden, daß die geschilderten Wirkungen nicht immer eintreten werden. Bis jetzt wurde angenommen, daß die Bauführer genug Umsicht und Gescliäftskonntnis besitzen, um ziemlich richtig vorans zu berechnen, welche Bauweise unter den betreffenden 8tsnerverhältnissen die gewinnbringendste ist. und danach Vorgehen. Bei den gewerbsmäßigen Bauunternehmern wird dies wohl in der Regel zutreffeii. Bei den Rcalitätenbesitzern, die nur ausnahmsweise in die Lage kommen, einen Neubau ausführen zu lassen, wird es wohl nicht immer der Fall sein, doch dürften viele durch den Rat nnd das Beispiel anderer auf den zweckmäßigen Weg geleitet werden. Nützen sie eine günstige Lage nicht vollständig ans und geizen nicht mit dem Hofraum, so ist das natürlich für die Allgemeinheit voll Vorteil, wenn auch die Hausbesitzer und die Steuerbehörde dadurch etwas geringere Einnahmen haben. Verhauen sie ihren Grund aus wirt- schaftlichem Unverstand oder Eigensinn unvernünftig stark, so müssen sie dafür büßen, indem daun ihr Haus unter einen höheren Steuersatz fällt, so daß das etwa erzielte Mehrerträgnis und oft noch mehr durch die Erhöhung des Steuer- betruges anfgezehrt wird. Endlich kann es aber Vorkommen, daß ein Baugrund

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gar nicht besonders günstig gelegen ist, daß sein Besitzer es dennoch vorteil- haft findet, ihn sehr stark zo verbauen, weil er das Haus zu besonderen Zwecken bestimmt hat, wo ihm eine solche Bauweise trotz der höheren Besteuerung doch noch einen höheren Gewinn verspricht, z. B. weil er sein Haus auf Mieter berechnet, die von anderen Hausbesitzern nicht gern aufgenommeu werden und dadurch gezwungen sind, selbst bei geringer Annehmlichkeit der Wohnung so hohe Zinse zu zahlen, daß dem Hausbesitzer nach Bezahlung der höheren Steuer ein beträchtlicher Mehrgewinn bleibt. Immerhin ist der Gewinn erzielt, daß ein bedeutender Teil des Mehrertrages der Steuerbehörde znfließt und so der Allge- meinheit zu gute kommt. Ks kann also Vorkommen, daß mitten # unter lauter geräumigen Höfen ein oder das andere Haus mit einem engen und ungenügenden Hofe vorkommt. übrigens dürfte dies kein so großer Schade sein, wenn nur wenigstens die Mehrzahl der Häuser größere und gesündere Hofrftnme hat, als man durch bloße Anwendung der Bauordnung hätte erzielen können. Will man jedoch eine vollständige Gleichförmigkeit in der Verbauung der Grundflächen in einem bestimmten Stadtteil erlangen, so müssen Bauordnung und Baupolizei eingreifen.

Nun entsteht die Frage.' ob eine derartige auf das Maß der Verbauung begründete verschiedene Steuerbehandlung auch den Grundsätzen der Billigkeit entspricht. Das ist wohl anzunehmen. Es ist gerecht, daß derjenige, welcher durch große Ausnutzung seines Grundbesitzes die Allgemeinheit schädigt, höher besteuert wird, so daß der durch ihn verursachte Schaden dadurch einiger- maßen ausgeglichen wird. Wenn es ihm schon erlaubt sein soll, rücksichtslos einen höheren Gewinn herauszuschlagen, so soll wenigstens die Allgemeinheit daran Teil haben. Wird die Abstufung der Gebäudesteucr durch eine prozentuelle Herabsetzung der bisherigen Steuer durebgeführt. so wird wohl nichts dagegen einzuwenden sein, daß diese Begünstigung den Besitzern der gesünder gebauten Häuser zugewendet wird. Es ist ja den anderen Hausbesitzern die Möglichkeit geboten, durch entsprechende Neu- oder Umbauten derselben Vorteile teilhaftig zu werden. Auch in Bezug auf Neubauten liegt darin keine Härte und es ist kein nachteiliger Einfluß auf die Bautätigkeit zu besorgen. Und wenn vielleicht jemand, der die löbliche Absicht hatte, ein Massenquartier mit engen Höfen ohne Luft und Licht zu bauen, es infolgedessen nicht mehr profitabel findet und den Plan aufgibt und gar nicht baut, so ist dies auch gerade kein Unglück. -

Bedenklicher ist die Sache, wenn die Differenzierung durch Zuschläge zur bisherigen Gebäudesteuer erfolgt. Den Besitzern der bestehenden Häuser mit zu kleinen Höfen wird dadurch, daß sie höhere Steuern zahlen müssen, tat- sächlich ein Teil ihrer Einnahme» weggenommen und man kann da von einer teilweisen Vermögenskonfiskation*) sprechen. Gegenüber einer andern Steuer- erhebung besteht jedoch der Unterschied, daß die Hausbesitzer cs durch einen Neubau oder Umbau erreichen können, daß sie wieder nach dem alten Steuerfuß behandelt werden und ihnen so das konfiszierte Vermögen wenigstens teilweiso restituiert wird. Was die Neubauten anbelangt, so würde eine partielle Steuer-

*) Vgl. das grundlegende Werk von F. Frh. von Myrhach, Die Besteuerung der Gebäude und Wohnungen in Österreich und deren Reform, S. 180.

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Abstufung: der GebäucWateuer nach dem Maß der Verbau m»g der Grundfläche. .‘»8*1

crhöhnng wohl die Wirkung haben, daß ein Teil der Häuser, die sonst mit kleinen Hofen gebaut worden wären, überhaupt nicht gebaut wird und so die Bautätigkeit etwas verringert wird. Dadurch würde die Nachfrage nach Bau- gründen ein wenig sinken und deren Preis ungünstig beeinflußt werden. Anch würden dadurch die Baugewerbe einigermallen in Mitleidenschaft gezogen werden. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dal* dadurch nur die Erbauung unsanitärer Häuser verhindert wird, deren Vorhandensein schädlich gewesen wäre. Übrigens hat es auf die Errichtung von Neubauten dieselbe Wirkung, wenn durch eine Bauordnung ein gewisser Minimalhofraum vorgeschrieben und diese Anordnung streng durchgeführt wird. Daun ist noch zu berücksichtigen, daß die Bau- gewerbe in der durch den Druck, der auf die Besitzer nnsanitärer Häuser durch die höhere Steuer ausgeübt würde, bewirkten Erhöhung der Bautätigkeit einigen Ersatz linden würden. Wird jedoch die Reform gelegentlich einer Herabsetzung der Gebäudesteuer vorgenommen, so bestehen alle diese Bedenken nicht. Endlich kommt noch in Betracht, daß der aus der günstigen Lage entspringende Teil des Ertrages eines Hauses, die sogenannte Rente der Lage, wie schon Schaeffle1) bemerkt, keine Erhaltungskosten verursacht, während allen anderen Einnahmen aus dem Haosbesitz ein gewisser Kostenaufwand gegen übersteht, der bei der Besteuerung nur nuvotlkommen berücksichtigt werden kann. Es entspricht daher der Billigkeit, wenn solche kostenlose Einnahmen höher besteuert werden, wie es geschieht, wenn der Besitzer wegen der Gunst der Lokalverhältnisso seinen Grund stark verbaut und infolgedessen seiu Haus unter einen höheren Steuer- satz fällt.

Wenn eine neue Steuer einge führt oder eine alte abgeändert wird, so strengen viele Leute ihren Scharfsinn an, um herauszuflnden, wie sie unter den neugeschaffenen Verhältnissen am wenigsten .Steuer zu zahlen brauchen und wie sie cs anstellen, um behufs Erlangung einer günstigeren Steuerbehandlung gebrachte Opfer wieder hereinznbekommeu. Dies würde jedenfalls auch bei Durchführung der vorgeschlagenen Abänderung der Gebäudesteuer ointreten.

Insbesonders liegt die Gefahr nahe, daß der Bauherr das, was er zur Erlangung einer niedrigeren Besteuerung an Raum für den Hof geopfert hat, bei anderen Teilen des Gebäudes zu ersparen sucht, also Wohnräume, Küchen, Gänge, Stiegen u. s. w. möglichst klein macht. Das wird besonders bei jenen Räumen der Fall sein, wo die betreffende Bauordnung keine Mindestmaße vor- schreibt. Es würde dann der Vorteil, der durch die Vergrößerung des Hofes für die Assanierung errungen wurde, durch die sanitäre Verschlechterung der übrigen üausteile verloren geben. Um das zu verhindern, könnte man die Bestimmung

Albert Schaeffle, Die Grundsätze der Steuerpolitik, S. 314 316. Da der Bruttomietzins von der Grundrente stark beeinflußt wird, schlägt er vor, den Brutto* mietwert per Quadratmeter periodisch zu berechnen, dann nach einer bestimmten, auf Grund konkreter Erhebungen konstruierten Skala im Maße dots Steigen s oder Fallens der Einheitsrente per Quadratmeter Grundfläche eine Erniedrigung oder Steigerung des Unterhaltungskostenprozentes durchznführen und demgemäß auch einen Zuschlag oder Abschlag an den Gebüudesteuersätzen pro Quadratmeter Grundfläche vorzunehmcii, um der wechselnden Grundrente bei der Besteuerung gerecht zu werden.

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treffen, daß dio günstigere Steuerbehaiidlung einem Hause nur dann gewährt werde, wenn eine Kommission das Haus ganz allgemein als sanitär erklärt oder sich wenigstens dahin ausspricht, daß gewisse Bedingungen erfüllt sind, wie sie z. B. im Gesetze vom 8. Juli 1902, R.-G.-Bl. Xr. 144, betreffend Begünstigungen für Gebäude mit gesunden und billigen Arbeiterwohnungen und in der dazu erflossenen Durchführungsverordnung der Ministerien der Finanzen und de« Innern vom 7. Jänner 1903, R.-G.-Bl. Xr. 6, gestellt sind. Um eine Erhöhung der Kosten zu vermeiden, könnte diese kommissionelle Entscheidung mit der Erteilung des Ban- oder Benützungskopsenses verbunden werden. Es ist jedoch zu bedenken, daß dann das subjektive Ermessen der Kommissionsmitglieder eine große Rolle spielen würde. Selbst bei einem vollkommen unparteiischen Vorgehen kann man im einzelnen Fall über die sanitäre Zulässigkeit der Bauart und Ein- teilung eines Gebäudes verschiedener Meinung sein. Es wird daher die Ent- scheidung oft von Zufallsmehrheiten abhängen und daher selbst im Gebiet einer und derselben Kommission nicht immer ganz gleichförmig ausfallen. Für das gesamte Staatsgebiet kann natürlich von einer Gleichförmigkeit keine Rede sein. Es ist sogar möglich, daß aus mißbräuchlicher Schonung mit Rücksicht auf die Steuervorschriften Zustände als sanitär zulässig erklärt werden, die es eigentlich nicht sind. Die Entscheidung hei der Baukonsenserteilung zu fällen, ist deshalb mißlich, weil auf dem Plan vieles anders aussieht, jedenfalls für solche, die nicht Bantechniker sind, weniger klar hervortritt, als wenn es wirklich ansgeführt ist. .Wird sie erst bei der Erteilung des Benützungskonsciiscs gefällt, so erfahrt der Hausbesitzer erst, wenn der Bau fertig ist, ob ihm die Opfer, die er für die Vergrößerung des Hofraumes gebracht hat, auch wirklich die erhoffte Steuer- begünstigung verschaffen. Es würde dadurch der ganze Erfolg der Abänderung der Gehäudesteuer in Frage gestellt, da der Bauherr nicht mehr mit annähernder Sicherheit voraus berechnen könnte, welche Bauweise für ihn am einträglichsten ist, da alles von der Entscheidung der Kommission ahhüngt. Es muß daher den Bauordnungen und der Baupolizei überlassen bleiben, dafür zu sorgen, daß eine Vergrößerung der Hofräume nicht den sonstigen sanitären Zustand eines Hauses schädlich beeinflusse. Überhaupt kann ja die Steuergesetzgebung wohl die Bau- polizei unterstützen, aber nicht sie ersetzen.

Außerdem ist es möglich, daß eine Abstufung der Gehäudesteuer nach der unverbauten Fläche zunächst nur eine Änderung der Hofraumgeometrie einer Hänsergruppe bewirkt. Grenzen z. B. au den sehr großen Hofraum eines Hauses andere mit zu kleinen Höfen, so würde das eine die volle Steuerbegünstigung genießen, während die anderen von einer höheren Steuer getroffen würden. Es liegt nun für die Besitzer dieser Häuser nahe, ihre Höfe durch Zukauf von Teilen des großen Hofes so zu vergrößern, daß auch ihre Häuser unter einen niedrigeren Steuersatz fallen. Dadurch würde natürlich ein Steuerausfall bewirkt werden. Es ist jedoch zu bedenken, daß bei den gegenwärtigen Steuerbestiinmnngen den Eigentümer des großen Hofes nichts gehindert hätte, diesen, soweit es die Bauordnung znläßt, zu verbauen, wodurch für die ganze Hänsergruppe weit schlechtere sanitäre Bedingungen geschaffen würden. Es ist auch nicht unbillig, •laß die angrenzenden Hausbesitzer veranlaßt werden, Teile der unverbauten

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Abstufung dei GcbäudeMtcucr nach dem Mali der Verbauung der Grundfläche. yi i

Fläche zu erwerben, deren Luftraum ihren Häusern zu gute kommt und so dur Aufwand beziehungsweise Erträgnisverlust, den diese freie Fläche verursacht, gloichmäbiger verteilt wird. Es bleibt also nur das fiskalische Moment des Steueraus- falles. Hiebei ist jedoch zu erwägen, dali die Abtrennung und der Verkauf einzelner Teile des grollen Hofrauiiies nur dann für den Hesitxer vorteilhaft sein wird, wenn dadurch nicht die Steuer , des eigenen Hauses so stark erhöht wird, dali ihm kein Gewinn bleibt. Dies wird nun davon abhängen, welche Minimalhofräuuic für die einzelnen Steuersätze festgestellt sind. Jo gröber sie angenommen sind, desto weniger wird abgesondert werden können. Pie Steuergesetzgebung kann daher auf solche Verschiebungen dnreh die Bestimmungen über das für einen gewissen Steuersatz erforderliche Verhältnis zwischen unverbauter und verbauter Fläche einen tiefgreifenden Einfluß nehmen.

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Es wurde bis jetzt nur die Einwirkung einer Abstufung der Gebäudesteuern nach dem Verhältnis der verbauten und unverbauten Fläche im allgemeinen ohne näheres Eingehen auf das Steuersystem, in das sich diese Abänderung einfugen soll, erörtert. Nun sei es gestattet» darauf einzugehen, wie diesbezüglich die Verhältnisse in Österreich liegen. Da die Reformbestrebungen zur Frage der gerechten Besteuerung der Gebäude noch zu keinem Abschluß gebracht sind, so kann hier nur die bestehende Gesetzgebung in Betracht kommen. Anderseits ist natürlich dadurch die Möglichkeit geboten» die hier vertretene Anregung hei einer allgemeinen Reform zu berücksichtigen. Bevor man die Frage erörtert, wie sich die vorgeschlagene Abänderung bei den bestehenden Gebündesteuern durch- führen ließe, mögen die betreffenden gesetzlichen Bestimmungen kurz angedeutet werden.1) Die Grundgesetze für die österreichische Gebnudesteuer bilden das allerhöchste Patent vom 23. Februar 1820 und die zur Durchführung desselben erlassenen Instruktionen und außerdem das Gesetz vom 9. Februar 1882, R.-G.-Bl. Nr. 17, durch das einige Abänderungen eingefuhrt wurden. Danach bestehen in Österreich zwei Gebäudestenersy>teme nebeneinander: die Hauszins- Steuer, welche durch die oproz. Steuer vom Ertrage der aus dem Titel der Ballführung gänzlich oder teilweise von der Hauszinssteuer für eine bestimmte Zeit, die sogenannte Baufreijahrsperiode, befreiten Gebäude ergänzt wird, einerseits und die Hausklassensteuer anderseits.*) Die Hauszinssteuer trifft den Ertrag sämtlicher in den als hauszinssteuerpflichtig erklärten Orten gelegenen und der außerhalb dieser Orte befindlichen ganz oder teilweise vermieteten Gebäude. Die hauszinssteuerpflichtigen Orte werden teils im erwähnten Gesetze vom 9. Februar 1882. der sogenannten Gebäudestonemovelle, namentlich angeführt, teils werden als solche im allgemeinen jene erklärt, in welchen sämtliche Gebäude oder wenigstens die Hälfte derselben und außerdem dio Hälfte der Wolinbestand-

’) Mit Rücksicht auf den beschränkten Kaum wurde von einer Anführung von Übergangsbestimmungen ganz abgesehen.

*) Vgl. besonders Gustav Freiberger, Handbuch der österreichischen direkten Steuern. 2. Auflage, S. 191 ff.» und in Mayrhofer-Graf Pace. Handbuch für den politischen Verwaltungsdienst, 5. Anfl., VII. B l.. S. 787 ff.

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teil«; <;ii»ei» Zinsertrag durch Vermietung ab werfen. Die Hauszins* teuer wird vom tatsächlichen oder angenommenen Zinserträge der Gebäude nach Abzug der gesetzlichen Erhaltung»- und Amortisationskosten, und zwar gegenwärtig in der Hegel *) nach einem zweijährigen Durchschnitt, für die zwei folgenden Stoner- jalire berechnet. Es ist hier nicht der Ort. um auf <li«; Detailvorschriften und AusiiaUmsbestimmungen «‘inzugehen, doch muß hervorgehoben werden, daß die Hauszinssteuer in den namentlich als hauszinssteuerptiiehtig genannten Orten mit 26*/s Proz. des nach Abzug von 15 Proz.2) für Erhaltung«- und Amor- tisationskosten ermittelten steuerbaren reinen Zinsertrages (Nettozinses) festgesetzt ist, während sie für die hauszinsstouerpflichtigen Gebäude iu anderen Orten in der Kegel 20 Proz.8) des nach Abzug von 30 Proz. für Erhaltung»- und Amortisationskosten vom Bruttozinse verbliebenen Nettozinses beträgt. In gleicher Weise wird die 5 proz. Steuer bei den Gebäuden, welche ein zeitliche Befreiung von der Hauszinssteuer aus dem Titel der Bauführung genießen, ermittelt; es ist also auch bei ihr die H«~die d«»r Abzugsprozente für Erhaltnngs- uud Amortisationskosten verschieden. Diese fünfprozentige Steuer ist durch die Eigentümlichkeit der österreichischen Steuergesetzgebung veranlaßt, daß infolge v«»n Bauführungen auf eine lange Reihe von Jahren eine Befreiung von den Gebäudesteuern gewährt wird. Bei den hauszinssteuerpflichtigen Gebäuden wurde diese weitgehende Begünstigung durch Einführung der 5 proz. Steuer eingeschränkt.

Auf ganz anderen Prinzipien beruht die H a u s k I as s e u s t e u e r. Sic erfaßt die nicht vermieteten Wohngebäude außerhalb der hauszinssteuer- pllichtigeu Orte, also nicht wie die Hausziussteuer alle Gebäude, sondern nur die Wohngebäude, d, h. im »Sinne der österreichischen Steuergesetze solche Gebäude, welche Bestandteile in sich fassen, die als Wohnung wirklich benutzt werden oder zu dieser Benutzung bestimmt sind. Auch bildet bei ihr nicht der Ertrag die Grundlage der Besteuerung, sondern die Anzahl der Wohnhcstandteile. Von diesem Gesichtspunkte aus werden die Häuser iu 10 Klassen geteilt, für jede Klasse ist ein bestimmter Steuerbetrag festgesetzt, und zwar beträgt dieser für die niedrigste Klasse: Häuser mit einem Wohuraum 3 K . für die höchste: Häuser mit 36 bis 40 Wohubrstandteilcii 440 K. Bei jenen Gebäuden, w'elche über 40 Wohnbestandt«.*ile enthalten, sind dem Tarifsätze der höchsten Klasse für je einen mehr vorhandenen Bestandteil 10 K zuzurechnen. Die Größe der Wohnräume. die Anzahl der Stockwerke, der eventuelle Zinsertrag kommen für die Besteuerung. gar nicht in Betracht. Auch bei der Uausklassensteuer gibt es ans dem Titel der Bauführung Baufreijahrsperioden, doch bleiben da die Gebäude tatsächlich steuerfrei und besteht keine der 5 proz. analoge Steuer.

Diese staatlichen Steuern sind jedoch nicht die einzige Belastung des Gehäudebesitzes, sondern sie werden sehr wesentlich erhöht durch die von ihnen für autonome Körperschaften, besonders die Länder und Gemeinden, und für verschiedene Konkurrenzbeiträge erhobenen prozentuellen Zuschläge, die «»ft ein Vielfaches der Staatssteuer ausmaclien.

l) Nämlich in den hauszinssteuerpflichtigen Orten.

s,i In Zara und Czernowitz (innere Stadt) 30 Proz.

3) In Tirol und Vorarlberg (außer Innsbruck und Witten) 15 Proz.

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Abstufung der Gebäudesteuer nach dem Maß der Verbauung der Grundfläche. 503

In Würdigung der außerordentlich hohen Steuerbelastung der Gebäude wird nach dein Personalsteuergesetze vom 25. Oktober 1896. R.-G.-Bl. Nr. 220, den Hausbesitzern ein jährlicher Nachlaß an der vorgeschriobonen Gebäudesteuer, jedoch nur von der Hauszins- und Hausklassensteuer, nicht aber von der 5proz. Steuer, in der Hohe von 10 bis 12T» Proz. der Jahressteuer ans den Mehrerträgnissen der Personalsteuern zugewendet. Dieser Nachlaß betrifft aber nur die Staats- steuer, die erwähnten Fondszuschläge bleiben davon unberührt und werden nach der ursprünglich vorgeschriebenen Staatssteuer berechnet und eingehoben.

Die steuerpolitische Behandlung der verhauten Flächen Bauarea) und der Hofräume1) war bis zum Jahre 1880, wo das Gesetz vom 24. Mai 1869, K.-G.-Bl. Nr. 88. über die Grundsteuerregelung vollständig durchgeführt wurde, nach den einzelnen Ländern verschieden, ln den Ländern des stabilen Katasters waren sie in der Regel der Grundsteuer unterworfen und nur in den der sogenannten ursprünglichen Hauszinsstcner (von 26*/s Proz.) unterliegender. Orten steuerfrei. Dagegen gehörten sie in den anderen Ländern, wo nur Grundstouerprovisorien bestanden «Tirol, Vorarlberg, Galizien und Bukowina), durchwegs zu den steuer- freien Grundflächen. Durch die Grundsteuerregelung wurden in allen Ländern Österreichs die Bauarea und die Hofräume von der Grundsteuer frei. Die Haus- gärten wurden jedoch immer von der Grundsteuer getroffen und unterliegen ihr auch gegenwärtig. Diese gleichmäßige Behandlung der Hofräume und der Banarea hatte auf die Finanzstatistik die Wirkung, daß kein Interesse nach der Unter- scheidung derselben bestand nnd die Flächenmaße für beide gemeinsam festgestellt wurden, dagegen wurden die Hausgärten einfach dein Gartenlande zugerechnet.

Während dio Hofräume von der Steuergesetzgebung als bloßes Zubehör der Häuser keine selbständige Berücksichtigung fanden, wurden für sie in Bau- ordnungen mehrfach Vorschriften ans hygienischen und anderen Rücksichten erlassen.2) Sie sollen so angeordnet sein, daß sie den anstoßenden Räumen ausreichendes, womöglich direktes Licht nnd genügenden Luftzutritt gewähren. Ihre erforderliche Größe hängt daher von der Lage und Hohe der sie umgebenden Gebäude. von der Situierung der Nachlmrhöfe und der Bestimmung der anstoßenden Lokalitäten ah. Die Erkenntnis der Wichtigkeit eines entsprechend großen Haus- liofes hat es bewirkt, daß in den neueren Bauordnungen vorgeschrieben wurde, daß von der Gesamtbaufläche mindestens ein gewisser Prozentsatz unverbaut bleiben müsse, wovon der größere Teil auf den Haupthof zu entfallen hat So verlangen die Bauordnungen für das Land Mähren, für Brünn, Wien, Innsbruck, Trient, Laibach und Prag 15 Proz., die für Krakau 20, dio für Lemberg gar 25 Proz. der Fläche für den Hofraum. Auch über die Anbringung von Lichthöfen bestehen einschränkende Bestimmungen. Bei Baustellen, welche nicht vorzugs- weise zu Wohnzwecken verhaut werden sollen, sowie «lort, wo Haus- und Licht- höfe mehrerer Baustellen Zusammenstößen, endlich bei solchen zwischen schon bestehenden Gebäuden liegenden Baustellen, deren Verbauung ohne ein Herab-

l) Vgl. von In ama-Stcrnegg. Die definitiven Ergebnisse der Grundsteuerregelung in Österreich.

J) Vgl. Mayrhofer- Graf Pace, Handbuch fiir den politischen Verwaltungs- dienst, ö. Auf!., III. Bd., S. 98’».

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geholt „unter die bestehenden Normen“ unmöglich war«, bleibt den Baubehörden Vorbehalten, in Bezug auf die Grüße der Höfe die liaeh den lokalen Verhältnissen notwendigen Erleichterungen zu gewähren. Es ist klar, daß diese Erleichterungen selbst dort, wo bestimmte Größen für die Höfe gefordert werden, zu einer sehr starken Verbauung der Fläche führen können. Die letzte dieser Bestimmungen ist natürlich unvenneidlich, doch läßt sich nicht verkennen, daß es in vielen Fällen vom Ermessen der Baubehörde abhängen wird, ob eine vorschriftsmäßige Verbauung als unmöglich angesehen wird. Die Bestimmungen über die Baustellen, welche nicht vorzugsweise zu Wohnzwecken verbaut werden sollen, und über die zusammen- stoßenden Höfe sind nicht in der Natur der Sache begründet und es kann auch ihre Berechtigung angezweifelt werden. Wenn mehrere Höfe Zusammenstößen, so ist den Häusern wohl gesichert, daß jede der einmüudenden Öffnungen einen entsprechend großen Luftraum vor sich hat. doch ist dieser eine natürlich allen gemeinsam und es wird von der Bauart und sonstigen Lage der Häuser abhängen, ob diese Luftzufuhr als genügend anzusehen ist. Jedenfalls kann auf diese Weise Grundfläche und Luftraum erheblich stärker ausgenutzt werden, so daß eine höhere Besteuerung gerechtfertigt ist. Gegen die Gestattung einer stärkoren Verbauung bei Gebäuden, welche nicht vorzugsweise zu Wohnzwecken dienen sollen, ist darauf hinzuweisen, daß die Bedingung „nicht vorzugsweise“ etwas zu mild ist und es besser wäre, wenn es hieße: „ganz oder nahezu ausschließlich nicht zu Wohnzwecken verbaut werden sollen“, so daß nur etwa ausnahmsweise eine Wohnung, z. B. für das Aufsichtspersonal, sich darinnen befinden dürfte, für deren sanitäre Lage aber auch Sorge getragen werden müßte. Daß die hygienische Baupolizei bei nicht zu Wohnzwecken erbauten Häusern weniger strenge Anfor- derungen stellt, ist wohl in dem Gedanken begründet, daß solche Häuser nicht so vielen l’ersonen und während so vieler Tagesstunden Unterkunft gewähren als Wohngchäude. Dies ist aber nicht immer richtig, so beherbergen z. B. Fabriksräume, in denen Tag- und Nachtarbeit geleistet wird, auch viele Leute durch viele Stunden. Dazu kommt noch, daß die Bestimmung eines Hauses im Laufe seines Bestandes geändert werden und daß ein nicht zu Wohnzwecken erbautes, dann als Wohnhaus verwendet werden kann. Es ist daher hilligenswert wenn auf die Bauherren durch die Steuergesetzgebung ein Druck ausgeübt wird, auf diese Erleichterungen nur dort Anspruch zu machen, wo es durch die lokalen oder speziellen Verhältnisse gerechtfertigt ist.

Um die Tragweite einer Abänderung der Gobäudestenern richtig zu erfassen, ist es notwendig festzustelleu, welche Bedeutung ihnen im Finanzwesen zukommt. Es seien deshalb hier einige statistische Nachweisungen über die österreichischen Gebäudesteuem, welche den Mitteilungen des k. k. Finanzministeriums (VIII. Jahr- gang, 2. Heft, S. Olli ff.) entnommen sind, wiedergegeben. Es sind zwei Jahre in Betracht gezogen worden, um durch den Vergleich derselben Unregelmäßig- keiten, die sich bei einem derselben durch zufällige Umstände ergeben haben, klarstellen und auf ihre wahre Bedeutung zurückführen zu können. Die Nach- weisungen beziehen sich auf die Jahre 1899 und 1900. Die Zahl der Gebäude, welche in diesen Jahren der Hausklassensteuer und der Hanszinssteuer unterlagen, ist in den Tabellen 1 und II angeführt:

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Die gesamten Objekte der Gebäudesteuer im Jahre 1899

Abstufung der Geb.udesteuer nach dem Maß der Verbauung der Grundß&elie. 595

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Tabelle II.

Uruun von Fernwahl.

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1 Die liebkude Mn'l zum Teile «feuerfrei, wenn «ich «Ile Itefrelunir nur n«f einen Teil Ihrer Ifeatendfeile beschrankt.

Abstufung der Gebäudesteuer nach dem Mali der Verbauung der Grundfläche. 597

Neben den steuerpflichtigen Gebäuden sind auch jene ausgewiesen, die überhaupt und permanent von den Gebfiudesteuern befreit sind sowie diejenigen, welchen ans dem Titel der Baufübrung eine zeitliche Befreiung von den regel- mäßigen Gebäudesteuern genießen. Die in das Gebiet der Hausklassenstener fallenden, bleiben tatsächlich ganz steuerfrei und kommen nicht weiter in Betracht, während die für die Baufreijahrsperiode von der Hauszinssteuer befreiten der oproz. Steuer unterliegen, bei deren statistischen Darstellung sie Berücksichtigung finden werden. Die nächsten Tabellen (DI und IV) enthalten die Nachweisungen über die gesamte Steuervorscbreibung an Hausklassen- und Hauszinssteuer lur 1899 und 1900, wobei die Hauszinssteuer im ganzen und gesondert für die namentlich als hauszinssteuerpflichtig genannten Orte, ferner für die Orte, in denen sämtliche Gebäude oder wenigstens die Hälfte derselben und außerdem die Hälfte der Wohnbestandteile einen Zinsertrag durch Vermietung abwerfen 1 § 1 a der durch Gesetz vom 1. Juni 1890, R.-G.-Bl. Nr. 150 abgeänderten Gebäudesteuer- novelle vom 9. Februar 1882, K.-G.-BI. Nr. 17) endlich für die vermieteten Gebäude in nicht hauszinssteuerpflichtigen Orten § 16 der genannten Novelle) angegeben ist. Aus den Tabellen erhellt dio bedeutend höhere Bedeutung der Hauszinssteuer, indem für sie 68,985.111 A' im Jahre 1899 und 72,594.352 K zur Einzahlung vorgeschrieben wurden, während die Vorschreibung für die Haus- klassensteuer nur 11,705.940 K im Jahre 1899 und 1 1,757.568 K im Jahre 1900 betrug. Neben den Steuern, di© für dio Gebäude an den Staat bezahlt werden müssen, sind auch die Beträge ausgewiesen, die für die zeitlich befreiten Gebäude an Gebäudestcuern berechnet werden, deren Einzahlung während dor bewilligten Baufreyahre unterbleibt; sie beliefen sich im Jahre 1899 auf 31,813.778 im Jahre 1900 auf 28,598.7 17.1) Bedenkt man. daß die Vorschreibung für die zahlbare Hausklassen- und Hausziussteuer im orsteren Jahre SO, 691. 051. itn folgenden 84,351.920 K ausmachte, so sieht man. welch großer Teil des möglichen Steuererträgnisses durch die langen Baufreijahre dem Staate entzogen wird.

Die oproz. Steuer vom Ertrage der aus dein Titel der Bauführung von der Hauszinssteuer befreiten Gebäuden ist in den Tabellen V und VI dargestellt. Darnach ist die Zahl dieser Gebäude von 96.180 im Jahre 1899, auf 90.934 im Jahre 1900 herabgesunken. Dementsprechend betrug die Vorech reibfing für die 5proz. Steuer im Jahre 1899 6,485.550 A" im Jahre 1900 nur 5.873.391 K. Dieser starke Ausfall ist jedoch größtenteils auf die durch Einführung der zwei- jährigen Bemessung verursachte Störung in der Berechnung zurückzuführen. Werden die infolgedessen nicht berücksichtigten, zugewachsenen Neubauten mit in Rechnung gezogen, so beträgt nach den vorläufigen Berechnungen des Finanz- ministeriums die 5proz. Steuer nach dem Stande mit Beginn des Jahres 1901 6,316.177 K. so daß nur ein Ausfall von 169.373 K übrig bleibt, der damit erklärt wird, daß eine Anzahl von Gebäuden mit größerem Mietzinsertrage in die volle Steuerpflicht getreten ist.

l) Die Verminderung ist zum Teil darauf zurrickzuführen. «laß infolge der Neu- einführung der zweijährigen Bemessung der Hauszinssteuer wohl der Abfall infolge Erlöschens der zeitweiligen Steuerbefreiung, nicht aber der Zuwachs infolge Neubauten berücksichtigt erscheint.

Zeitschrift fUr Volks wlruchaft, .Sozialpolitik und Verwaltung. XII Baud. 41

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Braun ?<*n Femwald,

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Summe. . . . 6», 985.111 49,183.93« 13,790.408 0,010.767 11,705.940 80,691.051 31,813.778

Die gesamte Geb&udeiteuerrorschreibuug im Jahre 1900 mit Ausnahme der 5pro*. Steuer

Abstufung der Gebäudesteuer nach dem Maß der Verbauung der Grundfläche. 590

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6U0

Braun von Fernwald.

Tabelle V.

Die 5proz. Steuer vom Ertrage hauszinssteuerfrvier Gebäude im Jabre 1899

1 2

3

4

5

6 "

||

Land

o ij

Anzahl der

ganz i teilweise sämtlichen

von der Hauszinssteuer befreiten Gebäude

An 5proz.

Steuer entfallen in Kronen

1 Niedere iterreich ....

11.748

9.143

20.891

3,489.066

j 2 OberOsterreicb

2.099

1.178

3.277

91.858

3 Salzburg

1.106

336

1.442

55.836

4 Steiermark

3.544

1.044

4.588

237.844

5 Kärnten

901

452

1.358

41.996

6 Krain

780

343

1.123

39.292

7 Küstenland

2.027

696

2.723 l)

106.848

1 8 Tirol und Vorarlberg . .

2.554

1.031

8.585

112.036

9 Böhmen

2G.303

5.777

32.080

1,303.202

10 Mähren

6.099

1.876

7.975

305.992

1 1 Schlesien

3.584

672

4.256

89.63*

12 Galizien

8.811

2.437

11.248

562.646

13 Bukowina

752

357

1.109

34.742

14 Dalmatien

377

153

530

14.560

Summe ....

70.685

25.495

96.180

6,485.550

'i

*) Unter Berücksichtigung der Übergangsbestimmungen der Gesetze vom 9. Februar 1882 15) und vom 12. Juli 1896, beziehungsweise vom 9. April I960

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l'ustiHimiiier

Abstufung der Gebäudesteuer nach dem Maß der Verbauung der Grundfläche. (JO 1

Tabelle VI.

i

i:

5

I 6

8

9

10

11

13

14

!

Dl« 5pros. Steuer vom Ertrage hanszinssteuerfreier Gebäude im Jahre 1900*)

2 | 3

4

5 1

6

1

Land

Anzahl der

ganz teilweise sämtlichen

von der Hauszinssteuer befreiten Gebäude

An 5proz. Steuer entfallen in Kronen j

Niederösterreich ....

10.041

8.542

i 18.583

3,056.890 j

Oberösterreich

2.006 i

1.093

3.099 J

85.862

Salzburg

1.150

348

1.498

55.121 ]

Steiermark

3.541

1.071

4.612

224.825

Kärnten

893

479

1.372

40.226

Krain

817

337

1.154

39.718

Küstenland |

1.956

045

2.601

98.167

Tirol und Vorarlberg . . '

2.576

1.010

3.586 |

108.700

Böhmen

25.275

5.373

30.648

1,222.125

Mähren j

5.739

1.783

7.522 ,

282.381

Schlesien

3.600

606

4.206

87.534

Galizien

8.266

2.245

10.511

525.021

Bukowina

723

294

1.017

32.339

Dalmatien

372

153

525

14.482

Summe ....

66.955

|

23.979

90.934

i

5.873.391 !

l) Das gegenüber dem Vorjahre zu Tage tretende Minderergebnis des Jahre« 1900 erklärt sich dadurch, daß infolge der zweijährigen Bemessungen (Gesetz vom 12. Juli 1896) der in den Jahren 1899 und 1900 eintretende Abfall an der 5proz. Steuer infolge Erlöschens der Steuerfreiheiten berücksichtigt ist, hingegen der in den gleichen Jahren eintretende Zuwachs infolge Neu-, Zu- und Umbauten naturgemäß erst im Vorschreibungsergebnissc für die Steuerjahre 1901/02 zum Aus- drucke kommt.

*) Unter Berücksichtigung der Übergangsbestimmungen der Gesetze vom 9. Februar 1882 15) und vom 12. Juli 1896, beziehungsweise vom 9. April 1900.

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602

Hraun von Fernwald.

Bis jetzt wurden die Vorschreibungen der Gebäudesteuer zur Darstellung gebracht; wesentlich anders gestaltet sich das Bild, wenn man nicht die Vor- schreibungen, sondern die tatsächlichen Eingänge, den Nettoertrag, berücksichtigt. Unter Nettoertrag ist in den Mitteilungen des Finanzministerium»') die gesamte, sowohl auf die Rückstände aus den Vorjahren, als auch auf die laufende Schuldigkeit erfolgte Einzahlung nach Abrechnung jener Steuerüber- zahlnngen verstanden, welche in dem betreffenden Jahre den Parteien gutgerechnet, beziehungsweise har rückvergütet wurden. Die Nachweisungen über die Netto- erträge der Hausklassen- und Hauszinssteuer sowie der 5proz. Steuer in den Jahren 1899 und 1900 sind in den Tabellen VII und VIII enthalten. In beiden. Jahren blieben die tatsächlichen Eingänge stark hinter den Verschreibungen zurück, nur bei der 5proz. Steuer des Jahres 1900, deren Vorschreibung durch

Tabelle VII.

Nettoertrag sämtlicher Gebäudesteuem im Jahre 1899.

1

2

3

4

5

5

1

9

S

Länder

Hausklassen-

steuer

Hauszins-

steuer

Äproi. Siobw vom £ftr*(r hkuaalna»u>ii*r- frvtor

£

Kronen

i

Niederüsterreich

751.456

27,475.982

3,853.6s»

2

Oberösterreich

611.86«

1,348.906

90.180

3

Salzburg

102.262

448.118

53.904

4

Steiermark . . '

.'.91.498

2,778.162

268.324

5

Kärnten

174.422

489.110

48.412

6

Kraiu

258.976

383.460

46.340

7

Küstenland

287.S76

2,981.758

115.550

darunter Triest

19.342

2.416.394

61.926

Istrien

157.792

292.210

39.448

Görs und Gradiska .

110.742

292.15 4

14.176

8

Tirol und Vorarlberg

475.440

1,313.594

116.734

darunter Tirol

381.862

1.191.232

101.296

Vorarlberg

93.578

122.362

15.438

9

Böhmen

2,801.670

11.155.148

1,232.882

10

Mähren

1,011.166

3,488.260

293.338

11

Schlesien

217.662

745.114

92.750

12

Galizien

2,956.220

4,151.516

490.498

13

Bukowina

357.382

586.236

34.696

14

Dalmatien

160.400

347 184

18.594

Summe

10,258.296

57,642.607

6,745.890

') VIII. Jahrgang, 2. Heft, 8. 483 (T.

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Abstufung der Gebäudesteuer nach dem Mali der Verbauung der Grundfläche 50d

Tabelle VIII.

Nettoertrag sämtlicher Gebäudeateuern im Jahre 1900.

1

2

3

4

5

'z

5

0

X

Länder

Hausklassen-

steuer

Hauszins-

steuer

5 pro*. Steuer vom Kr trag* hftuulti'Mi-.irr- freier nebln de

£

Kronen

1

Niederösterreieh

758.257

28,748.157

3,742.503

2

Oberösterreich

604.949

1.867.918

108.019

s

Salzburg

106.403

476.510

53.509

4

Steiermark

592.001

2,8*8.725

273 689

5

Kärnten

177.871

498.522

45.989

6

Krain

251.862

417 294

48.039

7

Küstenland

301.184

3,006.466

106.552

darunter Trient .......

20.866

2,387.736

49.023

, Istrien

160.788

309.720

45.881

Gore und Gradiska .

119.530

309 010

11.648

8

Tirol und Vorarlberg

478.006

1.297.699

109.940

darunter Tirol

383.026

1.172.204

94.855

Vorarlberg

94.980

125.495

15.085

9

Böhmen 1

2.348.579

11,531.717

1,269.167

10

Mähren . .

1,006.278

3.506.416

380.208

11

Schlesien

214.017

796.764

93.781

12

Galizien ,

2,964.471

4.262307

574 543

13

Bukowina

880.952

530 951

88.190

14

Dalmatien

162.186

369.450

17.665

Summe

10,347.011

59,693.896

i

6,811.789

die Einführung der zweijährigen Bemessung beeinflußt ist, stellt sich das tat* sächliche Erträgnis bedeutend günstiger als diese. Der auffallend starke Unter- schied zwischen Vorschreibung und Nettoertrag bei der Hausklassen- und der Hauszinssteuer erklärt sich zum Teil durch die Nachlässe, die infolge des Personal- steuergesetzes vom 25. Oktober 1896. K.-G.-Bl. Nr. 220 bei diesen gewährt wurden, da im Jahre 1899 Nachlässe von 11*2 Proz. und im Jahre 1900 solche von 12*5 Proz. gewährt wurden, die natürlich im Erträgnis zum Ausdruck kommen.

Um die Entwicklung der österreichischen Gcbüudesteuer in den letzten Jahren zu veranschaulichen, seien schließlich in Tabelle IX die aus ihnen in den Jahren 1891 bis 1900 erzielten Staatseinnahmen nachgewiesen.1) Das Erträgnis

xf S. Österreichisches statistisches Handbuch, 1902. S. 374.

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Braun von Fernwal J.

004

Tab

«11« IX.

Übersicht der Staatseinnahmen aus den Gebäudesteuern 1891—1900

Jahr

Haasklassen-

»teuer

L_

Hatmins-

steuer

5 proz. Steuer ; vom Ertrage hauszinssteuer- 1 freier Gebäude

Kronen

1991

\

11,279 904

19.870.1M

4,035.338

1892

11,177.566

50,545.486

4,256.686

1x93

11,170.878

51.402.180

4,499.692

1891

10,591.908

50.510.446

4,364.656

1895

11,515.180

54,710.012

4,741.578

1896

11,588.896

56,959.828

1.706.598 1

1897

11,260.271

59,442.764

4,801.210

|

1898

10.233.021

55,079.348

5,974.371

1899

10,258.297

57,642.607

6,745.889 I

1900

10.347.011

59,693.896

6,811.788

i

d‘*r Hausklassenstener, das im Jahre 1891 11,279.904 K betragen hatte, stieg 1892 auf 11,477.566 K, um dann 1893 auf 11,170.878 und weiter 1894 auf 10,591.908 K zu sinken. Das Jahr 1895 brachte eine Steigerung auf 11.515.180 K. das Jahr 1896 eine weitere auf 11,583.896 K , worauf itn Jahre 1897 wieder ein Zurückgehen auf 11,260.274 K folgte. Da im Jahre 1898 infolge des Personalsteuergesetzes ein Nachlaß von 10 Proz. gewahrt wurde, sank der Ertrag auf 10,233.021 K, um dann im Jahre 1899 trotz eines Nachlasses von 11*2 Proz. auf 10,258.287 K, endlich im Jahre 1900 trotz eines Nachlasses von 12*5 Proz. auf 10,347.011 K zu steigen. Von der Einwirkung der Nachlässe des Porsonalsteuergeset/.es abge- sehen, blieb also die Einnahme aus der Hausklassenstener in diesem Jahrzehnt ziemlich stationär.

Der Ertrag der Hauszinssteuer betrug im Jahre 1891 49.870.154 K , stieg dann bis zum Jahre 1893 auf 51,402.160 K, sank im Jahre 1894 auf 50,510 446 K, um sich dann im Jahre 1895 auf 54,710.012 K zu erheben. Von da an stieg er weiter bis zu 58.442.764 K im Jahre 1897. Infolge des Steuer- nachlasses des Personalsteuergesetzos von 10 Proz. zeigt sich im Jahre 1898 ein Rückyang auf 55,079.348 IST. Trotzdem sich der Nachlaß 1899 auf 11*2 Proz.

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Abstufung der Gebäudesteuer nach dem Maß der Verbauung der Grundfläche. (jliA

erhöhte, stieg der Ertrag der Hauszinssteuer in diesem Jahre auf 57,642.607 K. Im Jahre 1000 erreichte der Ertrag, obwohl ein Nachlaß von 12 5 Proz. gewährt wurde, die Höhe von 59,692.896 K, war also trotz des starken Nach- lasses höher als im Jahre 1897, wo kein solcher Nachlaß zugestanden worden war. Die Einnahmen ans der Hauszinssteuer zeigten somit in dem betrachteten Jahrzehnt, von einzelnen Schwankungen abgesehen, eine stark steigende Tendenz, indem sie sich von 49,870.154 K im Jahre 1891 auf 58.442.764 K im Jahre 1897 und endlich, trotzdem ein Nachlaß von 12'5 Proz., also einem Achtel, gewährt wurde, im Jahre 1900 auf 59,693.896 K erhöhten, was nur zum Teil durch die infolge von Übergangsbestimmungen allmählich gesteigerte Itosteuerung von früher günstiger behandelten Gebieten verursacht ist.

Die Einnahmen ans der fiproz. Steuer beliefen sich im Jahre 1891 auf 4.035.338 K, wuchsen dann bis zum Jahre 1893 auf 4,499.692 K. worauf sie im Jahre 1894 auf 4.364.656 K zurückgingen. Auf dieses Sinken folgte 1895 eine Erhöhung auf 4.744.578 K, wogegen das Jahr 1896 mit einem Ertrag von 4,706,598 K unmerklich zurückblieb. Von 1896 bis 1898 stiegen die Ein- nahmen aus der 5proz. Steuer allmählich'auf 5.974.371 K, um dann im Jahre 1899 auf 6,745.889 K hinaufznschncllen. Das Erträgnis des Jahres 1900 zeigt nur die geringe Steigerung auf 6,811.783 K. was in dem Ausscheiden einer größeren Anzahl Häuser mit hohem Zinserträge ans dem Bereich der 5 proz. Steuer begründet erscheint. Gegenüber dem Erträgnis des Jahres 1891 ist also das des Jahres 1900 nm 2,776.450 K. demnach um 68'8 Proz. gestiegen.

Die Staatssteuom bilden jedoch nicht die einzige finanzielle Belastnng des Gebändebesitzes, sondern es gesellen sieb zu ihnen prozentuelle Zuschläge: die sogenannten Fondsbeiträge, zu Gunsten autonomer Körperschaften und für Konkurrenzbeiträge. Da diese für den Umfang des Gebietes einer jeden Körperschaft nnd eines jeden Konknrrenzbezirkcs verschieden sind, so gestaltet sich die auf einem Gebäude ruhende Steuerlast je nach den lokalen Verhältnissen sehr ver- schieden. Um die Größe der Belastung und die Art ihrer Verteilung zu ver- anschaulichen, seien einige statistische Daten für die Jahre 1899 und 1900 ans den -Mitteilungen des k. k. Finanzministeriums. VIII. Jahrgang. 2. Heft. S. 739 ff." angeführt.

Zunächst kommen hier die Länder in Betracht, die einen großen Teil ihrer Bedürfnisse durch Zuschläge zu den staatlichen Steuern decken. Da jedes Land selbständig vorgeht, ist Art und Maß der Znschlagserhebung sehr verschieden. Viele Länder ließen in den Jahren 1899 nnd 1900 die 5proz. Steuer von Zuschlägen frei : dahin gehören Oberösterreich, h’rain, Istrien, Görz und Gradiska Vorarlberg. Böhmen. Schlesien, Bukowina und Dalmatien, wo nur Landeszuschläge zur Hauszins- und Haosklassonstoner Vorkommen. Von diesen erhob Oberösterreich, wo für verschiedene Fonde verschiedene Umlagen vorgeschrieben werden, für den Landesfond im Jahre 1899 14'5, im Jahre 1900 13 5 Proz., für den Landes- schulfond aber 1899 22, 1900 23. endlich für den Landesaidehenfond in beiden Jahren je 7 5 Proz. Auch ziemlich nieder waren die Zuschläge für den Landes- fond in Görz nnd Gradiska (1899 12, 1900 17 Proz.) und Vorarlberg 1899 12,

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Braun von Fernwahl.

606

1900 20 Proz.; ; dagegen bedeutend höher in Istrien ije 35 Proz.) und Krain (je 40 Prot.). In der Bukowina worden in beiden Jahren für den Laudesfoud 42 Proz. erhoben, für den Landesschulfond. zu dem jeduch die Stadt Czemuwitz nebst ihren Vorstädten, insolange sie die Erhaltung der Volksschulen aus eigenen Mitteln bestreitet, nicht beitragspflichtig ist, in beiden Jahren je 40 Proz. In Dalmatien stieg der Zuschlag für den Landesfond in beiden Jahren auf je 50. in Böhmen gar auf je 55 Proz. Endlich wurden in Schlesien im Jahre 1899 57'3 Proz. an Zuschlägen für alle Landcsfonde erhoben, im Jahre 1900 aber wurden sic auf 52'4 Proz. ermäßigt. In Salzburg, Steiermark. Mähren und Galizien werden alle Gebändcsteuorn gleichmäßig von den Landeszuschlägen getroffen. Den allerhöchsten Zuschlag hat Salzburg, wo er in beiden Jahren 65 Proz. erreichte, in Galizien wurden für den Landesfond in der Stadt Krakau und den politischen Bezirken Krakau und Chrzanöw 49 Proz. im Jahre 1899 und 54 im Jahre 1900 erhoben, sonst aber in Ost- und Westgalizien 60 Proz. im Jahre 1899 und 65 im Jahre 1900. In Mähren stieg der Zuschlag für den Landesfond von 54 Proz. im Jahre 1899. im Jahre 1900 auf 57 Proz., in gleicher Weise in Steiermark von 40 auf 44 Proz. In Kärnten waren im- Jahre 1899 alle Gebäudesteuern mit einem Laudesfoudzuschlag von 60 Proz. belegt, im Jahre 1900 wurde dasselbe nur für die 26!/aProz. Hauszinssteuer in der bisherigen Höhe belassen, für all« übrigen direkten Steuern aber auf 65 Proz. erhöht, so daß auf diese Weise den von der Staatssteuer besonders hart getroffenen Gebäuden eine Schonung gewährt wurde. In Niederösterreich wurde in beiden Jahren ein Zuschlag von 25 Proz. bei den Gebäudesteuern erhoben, von der 5proz. Steuer vom Ertrage gewisser steuerfreier Häuser aber wurde der Zuschlag mit 30 Proz. bemessen. In Tirol betrug der Landesfondzuschlag 1899 und 1900 prinzipiell 36 Proz. bei allen direkten Steuern, doch wurden folgende Ausnahmen gemacht: Der Zuschlag zur Hauszinssteuer wurde in Innsbruck und Willen nur von der Hälfte, in den übrigen Städten und Orten aber von zwei Dritteln der bemessenen Steuer, der zur Haus- klassensteuer jedoch im ganzen Lande gar nur von einem Drittel der Gebühr berechnet. Im Triester Gebiet werden keine besonderen Landesfondzuschläge erhoben. Die von den Ländern eiugehobenen Zuschläge kommen bei vielen der- selben ungefähr der Hältte der .Staatssteuer gleich, was eine empfindliche Mehr- belastung der Gebäude verursacht.

Außer den Landeszuschlägen bestehen aber noch mannigfaltige andere Fondsbeiträge, die in Prozenten der Staatsstenern berechnet werden. Soweit sie die Gebäudesteuem belasten, müssen auch sie hier berücksichtigt werden, um einen ungefähren Oberblick über die Besteuerung der Häuser zu ermöglichen. Da ihre Höhe sehr wechselt, so sei hier die Anzahl der Steuergemeinden angegeben, bei denen sich gewisse Beiträge innerhalb bestimmter Grenzen bewegen und dann der Gesamtbetrag der Zuschläge, die in den einzelnen Ländern zu jeder der Gebäudesteuern hinzakommeu.

Zuerst seien die Zuschläge für Bezirksbedürfnisse der Betrachtung uutorzogen. Über ihre Höhe bei der Hauszins- und Hausklassensteuer geben unterstehende Tabellen X und XI) Aufschluß:

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Abstufung* der Geb&udesteuer nach dem Maß der Verbauung der Grundfläche. (J07

Tabelle X.

s Zuschlag für Bezirksbedürfnisse

'S'g zur Hausklassensteuer

Land

|

Jalu

§ § .

l>is einschließlich

c

*

1 s

| u 5 10

rt -

* s

W V

15

1 20 .30 1 40

Prozente

50 | 60

in

einer Anzahl vor» Hteuergemeinden

|

Niederösterreich .

. (1899

8.184 -

52

2.613I

338

3.003

1900

3.184 ! .

378

2.255

367 -

- I-

3.000

•Steiermark . . .

. 1899

2.690 53 188

71

552

1.095 509

130: 47

,645

1900

2.690 53 242

21

554;

1.072 544

92 66

2.644

: Krain

. 1899

932 41 1

.38

114

478' 229;

- 21

921

1900

932

67

165,

533 97

59 -

921

Istrien

. 1899

333 14 168

98

70

,

350

1900

333 14 107

112

117

j -

_ | _

350

Görz und Gradiska

. 1899

284 4 50

71

71

62j 2i

18 -

278

1900

285 - 461

62

74

57 l!

19 20

279

Tirol

. 1899

974 113 65

- -

178

1900

974 68 66]

-

- 1

- -

- -

134

Böhmen

. 1899

9.117 17dl

715

954

3.822 2.177

934 27

8.807

1«0U

9.120 - 178

624

681

8.8171 2.406

.019 94

8.819

Mähren ....

. i 1899

3.139 —1

59

378,

1.516 871

203

3.027

,1900

3.14« |

124

315!

1.421 704

467

3.031

Schlesien ....

. 1890

584'— 120

35

108

147 89,

40 -

539

1900

584 100,

17

167

95 90

72.

54.

Galizien

. 1899

5.947. 104

356

304

3.630 1.658

133 -

6.185

11900

5.9471 64]

295

189

2.894 2.397j

356j

0.195

Bukowina ....

. 1899

335 - 41

66

221

, *

I

328 1

1900

335, 41

66

70j

151 1

32h

Zusammen .

. 1899

30.788 184 955|

.561

5.38;.

11.088 5.585 1.458 95 26.2611

I

1900

30.793 135 844 1.766

4.587

0.407 0.239 2.084 180 26.242

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Braun von Femwald.

Zuschlag für Bezirk'bedärfnisse zur Hauszinssteuer bis einschließlich !> 5

l| s I

0 15 20 30 40 50 60 § I

Prozente ^ I

io einer Anzahl von Stcuergemeinden

Niedcrösterreicb . .

. 1899

3.184

7

63, 2.176

306

1

2.552

1900

3.184!!

8

301

1.863

387

-

_

-

2.559

Steiermark . . . .

. 1899

2.690 49 123

57

340

697

282

104

31

1.683

1900

2.690 52

166

18

356

621

335

66

47

1.661

Krain

. 1899

932

41

31

87

353

167

19

698

!l900

932

-

65

135

404

72

39

715

Istrien

. 1899

333 13 106

49

33

201

1900

35&! 14

77

56

53

-

-

200

Gflrx und GrAdiska .

. 1899

284 1 4

3X

58

58

32

1

14!

_

205

1900

285 1

41

47

61

31

-

n

15

206

Tirol5) ......

. 1899

974 100

46

_

_

-

I

146

1900

974 82

44

_

1

-

2!

_

136

Böhmen

. 1899

o.injj

166

789

875

3.826

1.868

873

25

T.>72

11000

9 120 -

165

659

631

3.369

2.U94

923

75

7.916

Mähren

. 1899

3.139

70

375

1.401

777

163

_ j

2.786

1900

8.140

_

136

315

1.309

626

4oo:

2.786

Schlesien

. 1899

W4 _

112

40

111

151

89

42

545

11900, . |l899

581 -

93

17

163

118

118

22

~

531

Galizien

5.9471: -

84

235

179

2.340

1.042

37!

3.917

jll900

5.947

55

167

157

1.841

1.550

176

1

3.946

Bukowina

. 1899!

835 j

41

64

215

320

II19001

335

38

64

67

147

816

Zusammen . .

. 1899 30.788 166j704

1.406

4 449

I

8.606; 4.226

1.288

20.925

1900,

30.793 148 687

1.530

3.801

8.228

4.795

1.639 137

20.972

*) Zuschlag für Bezirksbedürfnisse bis einschließlich

80 Proz. bis 100 Proz. über 100 bis 150 Proz, B 150 bif 200 Proz. . 300 bin 400 Proz.

1 Steuergemeinde,

2 Steuergemeinden, 2 Steuergemeinden, 1 Steuergemeinde,

1 Steuergeineinde.

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Abstufung der Gebäudesteuer nach dem Mab der Verbauung der Grundßüche. (Ji b.t

Die Beitrüge für Bezirksbedürfniwe kommen also bei der Hauskl assensteuer nur in Tirol, Niederösterreich, Istrien, Bukowina, ferner mit hühereu Beträgen in Steiermark, Krain. Gör?, and Gradiska, Böhmen, Mähren, Schlesien und Galizien vor. ln den genannten Ländern werden sie auch von der Hanazinsstcuer erhoben und zeigen bei ihr, was Höhe and Häufigkeit anbelangt, einen gewissen Paral- lelismus zn denen bei der Hansklassensteuer; nur in Tirol kommen einige ganz ausnahmsweise hohe Hauszinssteuerzuschläge vor, in einem Fall sogar über 300 Proz. Tirol ist auch das einzige Land, in welchem für Bezirksbedürfnisse Zuschläge zur 5 proz. Steuer erhoben worden, während sie in den übrigen Ländern davon frei bleibt. Übrigens sind diese Zuschläge nicht hoch und kommen nur bei verhältnismällig wenigen Steuergemeinden vor. Von den 074 Steuer- gemeinden Tirols waren im Jahre 1890 19 mit einem solchen Zuschlag bis ein- schließlich 5, 15 mit einem bis einschließlich 10 Proz., im Jahre 1900 18 mit eineu Zuschlag bis einschließlich 5 und 10 mit einem bis zu 10 Proz. belegt.

Zuschläge zu don Gebäudesteuern für den Bezirksschul- fond sind nur für Niederösterreich, Steiermark. Görz und Gradiska sowie für Böhmen und Galizien naebzuweiseu. ' ) In Niederüsterreicb bewegten sich die zur Hausklassensteuer vorgeschriebenen im Jahre 1899 bei 384, 1900 bei 573 Stenergemeinden zwischen 10 und 20 l’roz., im Jahre 1899 bei 2619 Stener- geiueinden und im Jahre 1900 bei 2428 zwischen 20 und 30 l’roz. In Steiermark und Böhmen blieben sie in beiden Jahren zwischen 5 und 10 Proz., and zwar kommen sie in Steiermark bei 2645 Steuergeineindcn im Jahre 1899 und bei 2644 im Jahre 1900 vor; im Böhmen ist die Zaiil der betroffenen Steuer- gemeinden von 8801 im Jahre 1899, im Jahre 1900 auf 8813 gestiegen. Noch niedriger waren sie in Galizien. (1899 bei 6185, 1900 bei 6195 Steuer- gemeinden bis einschließlich 5 Proz.) Höhere Prozentsätze erreichten sie nur in Görz und Gradiska (1899 4, 1900 5 Steuergomeinden 40 bis 50 Proz., 1899 59, 1900 58 Steuergemeinden 50 bis 60, 1899 88, 1900 89 Stenergemeinden 70 bis 80, 1899 keine, 1900 69 Steuergemeinden 80 bis 90, 1899 69 Stener- gemeinden, 1900 dagegen keine 90 bis 100, endlich in beiden Jahren 58 Stouer- gemeinden 100 bis 150 Proz. Zuschläge zur Hausklassensteuer.) Gauz ähnlich verhält es sich mit den Bezirksschulfondznschlägeu zur Uauszinssteuer, nur sind sie iti Böhmen in einigen Fällen etwas höher, indem sie 1899 bei 9 Stener- gemeinden, 1900 bei 8 bis zn 20 Proz. stiegen, sonst bewegten sie sich in diesem Lande zwischen 5 und 10 Proz. (1899 bei 7865, 1900 bei 7909 Stenergemeinden). ln denselben Grenzen waren sie in Steiermark 1899 bei 1683 Stenergemeinden. 1900 bei 1661. In Galizien blieben sie bei 3917 Steuergemeinden, bei denen sie 1899, und bei den 3946, bei denen sie 1900 vorkamen, unter 5 Proz. In Niederösterreich hatten 1899 382, 1900 596 Stenergemeinden Bezirksscbul- f'iudzuschläge zur Hauszinsstener zwischen 10 und 20 Proz., 1899 2169. 1900 1962 Steuergemeinden solche zwischen 20 und 30 Proz. Am höchsten waren sie in den Berichtsjahren ebenso wie bei der Hausklassenstener in Görz

9 Die Schulbezirksbedärfnisse werden in einzelnen Ländern ganz oder doch soweit sie bestimmte Prozentsätze (10 Proz.) der Steuern übereteigen, teils aus dein Gemeinde-, teils sns den Lsudesschulfoudumlagen bestritten.

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610

Braun von Fernwahl.

und Gradiska (bei 4 und 5 Steuergemeinden zwischen 40 und 50 Proz., bei 57 und 56 zwischen 50 und 60, bei je 71 zwischen 70 und 80 Proz.: zwischen 80 und 90 Proz. 1899 bei keiner, 1900 aber bei 40 Steuergenieinden, dagegen zwischen 90 und 100 Proz. 1899 bei 37, jedoch 1900 bei keiner Steuergemeinde; über 100 bis zu 150 Proz. waren diese Zuschläge in Gdrz und Gradiska bei 36 Steuergemeinden im Jahre 1899 und bei 34 im Jahre 1900). Die verhältnis- mäßig geringe Häufigkeit dieser Zuschläge in den genannten Ländern kann mau ersehen, wenn man diese Ziffern mit den bei den Tabellen über die Zuschläge für Bezirksbedürfnisse (X und XI,> angegebenen Gesamtzahlen der Steuergemeinden dieser Länder vergleicht. Zur 5 proz. Steuer sind keine Bezirksschulfondznschläge nachzuweisen.

Ferner werden noch zur Hausklassen- und Hauszinssteuer. jedoch gleichfalls nicht zur 5 proz. Steuer Zuschläge für den Bezirksarme nfond erhoben. Diese sind in den Mitteilungen des k. k. Finanzministeriums nur für Nieder- österreich angegeben. Sie betrugen bei der Hausklassensteuer im Jahre 1899 bei 40 Steuergemeinden unter 5 Proz. bei 2960 zwischen 10 und 15 Proz., im Jahre 1900 bei 40 unter 5 Proz., bei 118 zwischen 5 und 10, bei 2839 aber zwischen 10 und 15 Proz. Bei der Hauszinssteuer blieben sie 1899 bei 59, 1900 bei 52 unter 5 Proz., dagegen schwankten sie 1899 bei 2490 Stener- gtuneinden zwischen 10 und 15 Proz., im Jahre 1900 jedoch boi 138 Steuer- gemeinden zwischen 5 und 10 und bei 2366 Steuergemeinden zwischen 10 und 15 Proz. Die Zuschläge für den Bezirk sänne nfond sind also nicht hoch und haben daher für die Gesamtsteuerbelastung der Gebäude weniger Bedeutung, doch mußten sie der Vollständigkeit halber erwähnt werden.

Von ungleich höherer Wichtigkeit sind die Zuschläge für Gemeind e- bedürfnisse, die, wie aus den Tabellen XII, XIII und XIV zu ersehen ist, zu der Hausklassen- und der Hauszinssteuer in allen Ländern, zur 5 proz. Steuer aber in Niederösterreich, Salzburg, Steiermark, Kärnten, Tirol, Vorarlberg, Mähren und Galizien erhoben werden. Sowohl bei der Hausklassensteuer, als bei der Hauszinssteuer zeichnen sie sich nach den Mitteilungen des k. k. Finanzministeriums durch ihre ungeheure Häufigkeit und die manchmal erschreckende Höhe ihrer Prozentsätze aus. Von den 30.788 im Jahre 1899 bestehenden Steuergemeinden hatten 27.959 Gemeindezuschläge zur Hausklassensteuer. Von diesen hatten 6023 Zuschläge für Gemeindebedürfnisse von 50 bis 100 Proz., wo also diese Zuschläge allein den halben Betrag der Staatssteuer übersteigen. In 951 Gemeinden steigt die Höhe dieser Zuschläge über den Betrag der Staatssteucr, indem die Zuschläge sich zwischen 100 und 150 Proz. bewegen. Bei 394 Gemeinden sind sie über 150 Proz., bei 235 über 200 Proz., bei 27 gar zwischen 200 und 300, bei 7 zwischen 300 und 400, bei 7 anderen zwischen 400 und 500, bei 6 zwischen 500 und 600 Proz., bei 2 Steuergemeinden zwischen 700 und 800, bei 2 anderen zwischen 800 und 900 Proz., die Gemeinde Torebach im Bezirk Reutte in Tirol hatte 1899 gar Zuschläge in der Höhe von 1123 Proz. Vergleicht inan damit die Zuschläge zur Hansklassensfceuer, die im Jahre 1900 für Gemeinde- bedürfnisse vorgeschrieben wurden, so findet man, daß die Zahl der Steuergemeinden, in denen sie verkamen, gegen das Vorjahr auf 28.060 gestiegen ist, während

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Abstufung der Gebindesteuer nach dem Maß der Verbauung der Grundfläche. Oll

sich die Gesamtzahl aller Steuergemeinden nur unbedeutend vergrößert hatte. Was die Zahl der Gemeinden mit hohen Zuschlägen anbelangt, so hat sich die Zahl der Gemeinden mit Zuschlägen von 50 bis 100 Proz. um beinahe 400, nämlich auf 6421 vermehrt, die mit Zuschlägen von 100 bis 150 Proz. sind auf 1032 gestiegen. Die mit Zuschlägen von 150 bis 200 sind auf 378 her- untergegangen, dafür die mit Zuschlägen von 200 bis 300 Proz. auf 249 gestiegen. Die Zahl der Gemeinden mit Zuschlägen von 300 bis 400 Proz. ist auf 18 gesunken, die deijenigen, bei denen sich die Zuschläge zwischen 400 und 500 Proz. bewegten, ist sich gleich geblieben. Die Gemeinden mit Zuschlägen zwischen 500 und 600 Proz. sind auf 4. die mit 600 bis 700 Proz. auf 3 zurückgegangen. Mit Zuschlägen zwischen 700 und 800 Proz. kamen 1900 überhaupt keine Gemeinden vor. dafür 2 wie im Vorjahre mit Zuschlägen zwischen 800 und 900 Proz., endlich gar 3, in welchen die Gemeindezoschläge zur Hansklassensteuer 1000 Proz. überstiegen, es waren dies die Gemeinden Giovo im Bezirke Lavis in Tirol mit 1061 Proz. Zuschlägen und Dellana und Kakolno im Bezirke Mies in Böhmen mit 1223 Proz. Zuschlägen. Durch solche entsetzlich hohe Zuschläge gestaltet sich die Hausklassensteuer zu einer drückenden Last und wenn man diese Ziffern liest, so begreift man nicht, wie eine so furchtbare Belastung überhaupt ertragen werden kann. Bei der Vergleichung der Ziffern in den einzelnen Spalten sind sehr starke Schwankungen in den Zahlen zu bemerken, auch fällt es auf, daß die Gemeinde Torchaeh im Jahre 1899 Zuschläge über 1000 Proz. hatte, während sie im folgenden Jahre nicht unter denen mit so hohen Zuschlägen genannt ist. und daß an ihrer Stelle drei andere Gemeinden angeführt sind. Tatsächlich wird das Drückende der hohen Zuschläge dadurch einigermaßen gemildert, daß sie zum Teil nur vorübergehend so auffallend hoch sind, indem gewisse außerordent- liche Ausgaben einfach auf die Steuerträger umgelegt werden. Aber selbst wenn man von diesen auffallend hoben Zuschlägen absieht, so wird doch die Belastung der hausklassHistenerpflichtigen Gebäude durch die Gemeindezuschtäge sehr wesentlich erhöht Übrigens ist zu beachten, daß Zuschläge über 300 Proz. nur in wenigen Landern: in Tirol. Vorarlberg. Böhmen und Mähren und in einem vereinzelten Falle in Schlesien vorkamen.

Zu der Hauszinssteuer wurden in nicht so vielen Gemeinden wie zur Haus- klassensteuer Geineindezuschläge erhoben, nämlich bei 21.495 Gemeinden im Jahre 1899 und bei 21.775 im Jahre 1900. Zuschläge von 50 bis 100 Proz. hatten 1899 4519 Steaergemeinden. 1900 4797, solche von 100 bis 150 im Jahre 1899 705, im Jahre 1900 752, solche von 150 bis 200 Proz. 1899

286, 1900 257 Gemeinden, solche von 200 bis 300 Proz. 1899 158, 1900

147 Gemeinden, über 300 bis 400 Proz. Zuschläge hatten 1899 nur 26, 1900

noch 11 Gemeinden, über 400 bis 500 Proz. Zuschläge hatten 7 Gemeinden

iin Jahre 1899 und ?> im Jahre 1900. Im Jahre 1899 hatten 10 Gemeinden Zuschläge zur Hanszinsstener zwischen 500 und 600 Proz., während im selbe» Jahre nur 7 Gemeinden gleich hohe Zuschläge zur Hansklassensteuer hatten. Es ist dies der einzige Fall, wo bei der Ilauszinssteuer in einer Spalte eine höhere Gesamtziffer ansgewiesen ist, wie bei der Hausklassensteuer; im Jahre 1900 gab es nur mehr 4 Gemeinden mit derselben Höhe der Zuschläge. Zwischen

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Zuschlag für Geiiieindebedürlni&ic

Braun von Fernwald,

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Zuschlag für Gemeindebedärfnirse

614

Braun ton Femwald.

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Zuschlag lür Geineimlebedürfniase

616

Braun von FemuralJ.

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Abstufung der Gebäudesteuer nach dem Maß der Verbauung der Grundfläche. H | 7

600 und 700 Proz. betrogen die Zuschläge bei 5 Gemeinden im Jahre 1800, bei 3 im Jahre 1900. Zuschläge zwischen 700 und 800 Proz. hatte nur 1 Gemeinde im Jahre 1899, sulche -/.wischen 800 und 900 Proz. 1 im Jahre 1800 und 2 im Jahre 1900. Zuschläge über 1000 Proz. sind nach den Mitteilungen des Finanzministeriums im Jahre 1890 bei keiner Gemeinde vorgeschriebeu worden, dagegen 1000 bei den 2 Gemeinden Oellana und Iiakolno 1223 Proz. wie hei der Hausklaxsenstener. In den Orten, wo der Steuersatz der Hauszinssteuer 20 Proz. vom Nettozins nach 30 Proz. Kostenabschlag, somit 14 Proz. vom Bruttozins beträgt, hat der Besitzer, sobald die Zuschläge 600 Proz. etwas übersteigen, mehr an Steuern und Umlagen zu zahlen, als er überhaupt im ganzen an Zins eingenommen hat, wie es im Jahre 1000 bei 4 Steuergemeinden Böhmens vorkam. Daß eine solche Belastung ertragen werden kann, ist nur durch den vorübergehenden Charakter derselben erklärlich und cs gilt hier das bei der Hausklassensteuer Gesagte. In den Mitteilnngen des Finanzministeriums sind die hanszinssteuer- pflichtigen Orte mit denen, wo die Hanszinsstener nur von einzelnen Gebäuden infolge Vermietung erhoben wird, znsainmen nachgewiesen, so daß sich kein Bild von der Höhe der Zuschläge in den hauszinsstenerp nichtigen Orten gewinnen läßt Zuschläge zur Hauszinssteuer über 300 Proz. kommen nur in denselben Ländern wie bei der Hausklassensteuer vor.

Bescheidener sind die Zuschläge, die für Geineindebedürfnisse zur 5 proz. Steuer erhoben werden; sie kommen nur in einigen Ländern vor, über 100 Proz. erheben sie sich nur in Salzburg, Kärnten, Tirol und Vorarlberg, während sie in Niederösterreich, Steiermark. Mähren und Galizien unter 50 Proz. bleiben.

Um die Übersicht der Belastung der Gebäude mit Zuschlägen zu vervoll- ständigen. müssen noch die Zuschläge für andere bisher nicht berücksichtigte Konkurrenzbeiträge angeführt werden, die in den Mitteilungen des Finanzministeriums nicht namentlich, solidem nur alle gemeinsam nachgewiesen sind. Soweit sie zur Hausklassensteuer und zur Hauszinssteuer erhoben werden, sind sie in den Tabellen XV nnd XVI enthalten. Zur Sproz. Steuer werden sie nur in 2 Ländern erhoben: in Kärnten und Tirol, nnd zwar blieben sio in Tirol stets unter 10 Proz. Im Jahre 1899 kamen sie in 76, im Jahre 1900 in 54 Steuergeineinden dieses Landes vor. In Kärnten waren sie häufiger, nämlich 1899 in 147, 1900 in 109 Steuergemeinden. Unter 10 Proz. blieben sie dort 1899 bei 90, 1900 bei 73 Steuergemeinden, zwischen 10 und 50 Proz. bewegten sie sich 1899 bei 47, 1900 bei 27 Gemeinden, zwischen 50 und 100 Proz. 1899 bei 4, 1900 bei 8 zwischen 100 und 150 Proz. 1899 bei 6. 1900 hei 1 Steuergemeinde Kärntens.

Schließlich seien noch in den Tabellen XVII nnd XVIII die Gesamtbeträge aller Zuschläge zu den Gebäudestenem in den Jahren 1899 und 1900 wieder- gegeben, aus denen die Belastung des Hausbeäitzes durch die Zuschläge zu ersehen ist. Daneben ist noch das Ausmaß der Zuschläge in Prozenten der Umlagsbasis angeführt. Im Jahre 1899 beliefen sich die auf die Hausklassen- sleucr umgelegten Zuschläge auf 15,003.656 K, 1900 stiegen sie 15,616.591 K. Da dio Vorschreibung für die Hausklassensteuer (Tabelle III und IV) im Jahre 1899 nur 11,705.940 K nnd im Jahre 1900 11,757.568 K ausmachte, so ist zu ersehen, daß die Zuschläge zur Hausklassensteuer um ein Bedeutendes, im Jahre 1900

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Abstufung der Gebiiudesteuer nach dein Mali der Verbauung der Grundfläche. 019

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Postnummer

Braun von Fernwald.

620

Tabelle XVII.

Gesamtbetrag aller Zuschläge zu den Gebäudesteuern im Jahre 1899 Beirag der nmgelegtcn Zuschläge, und zwar:

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1

Niederösterreich

945.840

1020

24,759.430

52-2

309.594

38-9

2

Oberösterreich . .

620.714

K60

1.840.500

93-4

3

Salzburg ....

183.566

144 1

862.134

143-5

50.862

110-9

4

Steiermark ...

822.522

1131

4,070.718

92-2

1.860

189-8

5

Kärnten ...

233.960

110 8

431.978

78-0

45.114

107-8

6

Krain

292.354

96-7

326.496

58-9

-

7

Triest

2.292

100

626.016

210

8

Istrien '

206.382

110-2

481.824

96-2

9

Görx und Gradiska .

237.616

178-5

299.452

73-0 -

60-7 73.550

10

Tirol

347.180

79-8

829.370

76-1

11

Vorarlberg ....

Böhmen

150.560

143-0

224.916

162-8

2.690

242-3

12

3,568.734

125-2

19.778.706

1050

_

13

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Mähren

1,507.158

128*8

4,721.202

88-8

11.018

580

14

Schlesien

401.43*

161-3

1,570.806

133-9

15

Galizien ....

4,575.656

130-8

5,859.962

100-0

330.672

70-3

,6

Bukowina ....

568.356

1391

642.418

82-3

17

Dalmatien ....

339.332

1784

636 084

136-4

-

Zusammen ...

15,003.656

122-3

67,961.962

72-7

825.860

56-2

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Postnuminer

Abstufung der Gebiudesteucr nach dem Maü der Verbauung der Grundfläche. 621

Tabelle XVIII.

Jesamtbetrag aller Zuschläge zu den Gebäudeateuern im Jahre 1900

Betrag der umgelegten Zuschläge, und zwar:

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mit Kronen

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mit Kronen

i

Niederösterreich . .

978.816

105-3

24,892.429

51-2

321.003

40-1

o

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Oberösterreich

632.475

873

1,909.115

93-8

- |

-

3 ■'

Saliburg

187.809

146-7

882.084

142-2

46.762 >

111-0

*\

Steiermark ....

857.796

117 7

4,378.368

961

5.015

143-9

h

Kärnten

258.095

120-5

575.538

99 7

47.683 |

106-3

6

Krain

287.989

949

334.114

58-1

-

-

7

Triest .....

2.336

100

634.605

21-0

-

-

8

Istrien

286.588

12-5-3

514.709

99-6

-

-

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Görz und Gradiska .

246.287

178-7

318.674

77-5

-

-

10

Tirol

844.638

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622

Braun von Fernwald.

nahezu um 4,000.000 höher sind als diese selbst. Sämtliche auf die Hauszinssteuer eingelegten Zuschläge betrugen 1809 67,061.962 K, 1900 aber 70,286.084 K. so daß eine Steigerung um mehr als 2,000.000 zu konstatieren ist. Da die Haus- zinssteuervorsclireibuiig (Tabelle 111 und 1 Y 68,985.111 K im Jahre 1899 und 72,594.052 K im Jahre 1900 ausmachte, so zeigt es sich, daß die Belastung mit Zuschlägen etwas geringer ist wie bei der Hausklassensteuer, indem deren Gesamt- betrag den der Hauszinssteuer nicht ganz erreicht. Weil Zuschläge zur Sproz. Steuer mir in einigen Ländern Vorkommen, so kann man nirht deren Gesamtbetrag mit der Summe der Verschrei bungen für die 5proz. Steuer vergleichen, sondern muß selbst zu einer oberflächlichen Orientierung auf die einzelnen Länder eingehen. Um jedoch nicht zu weitschweifig zu werden und mit Rücksicht darauf, daß die Vorschreibungen an 5proz. Steuer für das Jahr 1900 durch außergewöhnliche Umstände gestört wurden, sei nur das Jahr 1899 in Betracht gezogen. In Nieder- österreich stehen einer 5proz. Steuer von 3,489.060 K nur Zuschläge hiezu im Ausmaße von 309.594 K gegenüber, dagegen ist in Salzburg der Betrag der Zuschläge (50.862 K nur wenig niederer als der der Sproz. Steuer (55.836 K. In Steiermark machen die Zuschläge 1860 K aus, die Sproz. Steuer aber 237.844 K. Dagegen umfaßt sie in Kärnten nur 41.996 K, während ihre Zuschläge im Betrage von 45 114 K sie stark überragen, ln Tirol und Vorarl- berg. wo die Steuer 112 036 K beträgt, kommen auf die Zuschläge 76.240 K. In Mähren betrugen sie 11.018 K. die Sproz. Steuer 305.992 K, in Galizien die Zuschläge 330.672 A*. die Steuer 562.646 K.

Nachdem die Belastung der Gebände mit Steuern und Zuschlägen dargestellt worden ist. wäre cs für die Beurteilung der Wirkung der vorgeschlagencn Abstufung der Gobäudestonern von großem Wert, wenn möglichst vollständige Nachweisungen über das Ausmaß der verbauten Flächen, der Höfe, der Haus- gärten und der anderen zu den Gebäuden gehörigen unverbauten Gründe sowie über das Verhältnis der verbauten und unverbauten Fläche bei den einzelnen Gebäuden gegeben werden könnten. Leider haben diese Funkte bisher in Öster- reich wenig Beachtung gefunden, so daß derartige statistische Angaben sehr schwierig zu beschaffen sind. Für die Zwecke der Grundsteuer werden zwar für ganz Österreich sehr detaillierte Nachweisungen über die Verteilung der Bodoufläche auf die einzelnen Kulturarter geführt, bei denen die Gärten eine selbständige Gruppe bilden, doch ist keine Unterscheidung zwischen privaten und öffentlich zugänglichen Gärten gemacht und auch nicht ersichtlich, oh die Gärten zu Gebäuden gehören oder nicht. Da die verbaute Fläche und die Höfe vou der Grundsteuer befreit sind und der Gebüudestener unterliegen, so werden die Flächenmaße für Häuser nnd Hofräume nur gemeinsam dargestellt, ohne daß zu entnehmen wäre, welcher Teil davon tatsächlich von Gebäuden eingenommen ist. Es kann daher keine Übersicht über das Gesamtausmaß der verbauten Fläche gegeben werden. Leider war es auch nicht möglich, wenigstens für einzelne Orte statistische Darstellungen über das Ansmaß der verhauten Fläche und das Verhältnis derselben zur ganzen zugehörigen Grundfläche bei den einzelnen Gebäuden zu beschaffen.

In Czernowitz, der Landeshauptstadt der Bukowina, wird nach dem Gesetze vom 11. November 1893. L.-G.-Bl. Nr. 34. eine jährliche Kanalgebühr im

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Abstufung der Gebftndesteuer nach dem Maß der Verbauung der Grundfläche. 623

Höchstbetrage von 7 Kreuzer (14 Heller) von jedem Quadratmeter der ver- bauten Fläche, vervielfacht mit der Auzahl der Gescboße, eingehoben. In § 22 des zu diesem Gesetze erflossenen Regulativs vom 1. Dezember 18%, L.-G.-Bl. Nr. 27, sind diese Bestimmungen folgendermaßen erläutert: „Die Grund- lage der Bemessung der Kanalgebühr bildet das Maß der verbauten Fläche sämtlicher Gebäude, wobei alle Räume ohne Ausnahme, somit auch sämtliche Mauern, Stiegenhäuser. Vestibüle, Korridore, Aborte, Speisekammern etc. mit einzurechnen sind. Die festgestellte Quad ratnieterzahl der verbauten Fläche ist bei stockhohen oder mehrstöckigen Baulichkeiten zur Ermittlung der der Abgabe unterliegenden Gesamtfläche mit der Anzahl der Geschoß« zu vervielfältigen; die sich darnach ergebende Gesamtzahl der Quadratmeter bildet die für die Vor- schreibung und Einhebung der Abgabe maßgebende verbaute Fläche. Keller und Dachböden kommen hiebei nicht als Geschoße in Betracht, es ist jedoch von allen im Keller- oder Dachbodenbereiche befindlichen hergerichteten Räumlichkeiten, insoweit sie bewohnbar sind, das Flächenmaß gleichfalls zu erheben und dem nach dem Vorangeschickten ermittelten verbauten Flächenraume zuzuschlagen. Bei einer allfalligen Verschiedenheit der in den einzelnen Geschoßen verbauten Fläche ist die verbaute Fläche jedes Geschoßes abgesondert in Rechnung zu stellen und die aus der Summierung der auf jede Geschoßllächo entfallenden Gebühren sich ergebende Gesamtgebühr vorzuschreiben.“ Da für diese Kanal- gebühr die verbaute Fläche festgestellt wird, so könnte leicht eine Darstellung der verbauten Flächen in den kanalisierten Straßen gegeben werden. Bis jetzt waren aber keine diesbezüglichen statistischen Nachweisniigen zu erlangen.1)

Da keine statistischen Darstellungen über die verbauten Flächen erhältlich sind, so sei an einem Beispiel veranschaulicht, welcher Anteil an der Gesamt- grundfläche einer Großstadt auf die Häuser und Hofräume zusammen entfallt und wie sich der Rest auf die anderen Benützungsarten verteilt. In Tabelle XIX ist nach den Nacbweisnngen in den Statistischen Jahrbüchern der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien für die Jahre 1891 lind 1900 eine Zusammenstellung über die Verteilung der Grundfläche des Gemeindegebietes in diesen beiden Jahren auf die einzelnen Benützungsarten gegeben, und zwar sind die Daten für jeden Bezirk gesondert geliefert. Am meisten interessieren die ersten beiden Spalten „Häuser und Hofrflume“ und „Haus-, Obst- und Gemüsegärten und öffent- liche Anlagen“. Die ersteren umfaßten im Jahre 1891 im ganzen 2.097*8420 ha, im Jahre 1900 aber bereits 2.337*3347 ha. Wie viel von dieser Fläche von Gebänden bedeckt ist und wie viel nnverbaut geblieben ist, kann gegenwärtig nicht angegeben werden. Die Gruppe der Gärten wies 1891 einen Flächenraum von 2356' 7493 ha auf. der bis zum Jahre 1900 auf 2240*2440 herabsank. Das Jahrbuch für 1900 gibt an, daß in diesem Jahre hievon 965’8959 ha auf öffentliche Gartenanlagen entfielen. Von diesen öffentlichen Anlagen waren 12*5687 ha bloße Zieranlagen, die dein Publikum nicht zugänglich sind, also für die Öffentlichkeit ungefähr den Wert von Privatvorgärten haben, die dem Vor-

') Nach Drucklegung dieser Arbeit ist eine Zusammenstellung über die verbauten und unverbauten Flächen in einigen Straßen von Czernowitz eingelangt, die leider nicht m«*hr berück, siehtigt werden konnte In einzelnen Fällen kommt eine Verbauung von über 90 Pro*, vor.

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Verteilung der Grundfläche im Geineindegebiete der Keichshnupt- und Residenzstadt Wien in den Jahren 1891 und 1900 mit Rücksicht auf die

Art der Benützung.*)

624

Braun von Fernwahl.

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62G

Braun von Fertiwuhl.

übergehenden vollen Einblick gewähren. Von sämtlichen öffentlichen Anlagen standen im Eigentmn des Hof- und Staatsärars 699 4330 ha, in dem von Fonds und Privaten 172 0028 ha, in dem der Gemeinde nur 94-4601 ha; von diesen letztgenannten waren 10-4967 ha bloße Zieranlagen. Im Jahrbuch für das Jahr 1891 sind keine entsprechenden Nachwcisungeu über die öffentlichen Anlagen enthalten. Nach Abzug der Fläche sämtlicher öffentlicher Anlagen verbleiben für die Haus-, Obst- und Gemüsegärten im Jahre 1900 noch 1274-3481 lia, doch ist nicht zu entnehmen, wie viel davon die Hausgärten ausmachen. Der prozentuelle Anteil der Häuser und Hofräume an der Grund- fläche des Gemeindegebietes, der 1891 11*78 I’roz. betrug, ist 1900 auf 1312 Proz. gestiegen, dagegen ist der Prozentanteil der Gärten und öffent- lichen Anlagen in derselben Zeit von 1 3' 23 Proz. auf 12'58 Proz. gesunken. Die Zunahme und Abnahme der den einzelnen Benützungsarten gewidmeten Flächenrüunie von 1891 bis 1900 zeigt Tabelle XX. Was das ganze Gemeinde- gebiet betrifft, so haben die Häuser und Hofräuine mit einer Flächenvermehmng von 239-4927 ha den größten Zuwachs zu verzeichnen. Ihnen zunächst kommen die Straßen und Wege mit einer Zunahme von 128 0731 ha. Dagegen ist nach den Äckern, Wiesen und Weiden, die 262-0836 ha verloren haben, die stärkste Abnahme in der Flächenausdehnung der Haus-, Obst- und Gemüsegärten und öffentlichen Anlagen zu bemerken, die um 116-5053 Zw kleiner geworden ist. Was die einzelnen Bezirke betrifft, so zeigen Häuser und Hofräume in den meisten Bezirken eine Zunahme, so im II. Bezirk sogar um 52-7412 Ä«, im X. um 34-7268 ha, im XVI. Bezirk um 24 4879 und im XIII. um 23 4661 ha, in den anderen Bezirken ist die Vermehrung geringer; eine Abnahme bei den Häusern und Hofräumen bat nur beim 1. Bezirk um nicht ganz ein 1 ha und im VI. um etwas inehr als 1 ha stattgefunden. Die Gärten und öffentlichen Anlagen haben in allen Bezirken eine Verminderung ihrer Flüche erfahren, nur im I. Bezirk ist bei ihnen ein Znwachs von 6 0383 ha ans- gewieson. Die Straßen und Wege haben naturgemäß in allen Bezirken an Gebiet gewonnen, nur im I. Bezirk ist bei ihnen im Jahre 1900 eine um 5 8058 ha kleinere Fläche angegeben. Die große Zunahme der Flächen der Häuser und Höfe beweist ein starkes Fortschreiten der Verbauung. Die kleine Abnahme bei den Häusern und Hofräuinen im VI. Bezirk ist, da in diesem Bezirk nur die Straßen einen Flächenzuwachs erfahren haben, offenbar auf Nenanlage und Ver- breiterung von Straßen und Plätzen zurückzuführen. Auf der gleichen Ursache beruht wohl auch die Verminderung der Häusergründe im I. Bezirk; weil die Vermehrung der Flächo der Gärten und Anlagen gleich ist der Summe der Flächen, welche bei den Häusern und bei Straßen weggefallen sind, ist es wahr- scheinlich, daß Gebiete, die früher zu den Straßen gehörton, jetzt unter den öffentlichen Anlagen erscheinen. Die Tabellen XIX und XX zeigen das rasche Wachstum der Verbauung dos Stadtgebietes; wie weit aber der einzelne Grund ausgenützt und wie viel für Hofräume übrig gelassen worden ist. kann man aus ihnen nicht ersehen. Aber gerade dies wäre wichtig zu wissen, um die Wirkung einer Abstufung der Gebäudesteuer nach der Stärke der Verbauung der Grund- fläche im voraus zu beurteilen.

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Nummer

628

Braun von Fernwald.

Tabelle XXI.

Verzeichnis der verbauten und unverbauten Flächen der Häuser in der Kärnthneratr&ße im I. Bezirk, Innere Stadt.

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Abstufung ‘1er Gebäudeateuer nach dem Maß der Verbauung der Grundfläche. 629

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1860

Zeitschrift für V«IW*wlrUcb*ft, Sozialpolitik und Vcrwoltuntf- XII IUb<I.

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Ö30 Braun ton Fernwald.

Tabelle XXII.

Verzeichn« der verbauten und unverbauten Flächen der in den letzten 20 Jahren um gebauten Häuser in der Alserstraüe von der Kochgasse bis zur Blindengasse im VIII. Bezirke, Josefstadt

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21349

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Abstufung der Gebäudesteuer nach dem Mali der Verbauung der Grundfläche. 631

Tabelle XX111.

Verzeichnis der verbauten und unterbauten Flächen der in den letzten 20 Jahren umgebauteu Häuser in der Alscrstralk» ton der Spitalgasse bis zur Zimniermanng&sse im IX. Bezirke.

Alsergrund.

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Orientierung*- Nn tiimer

632 Braun von Fernwald.

Tabelle XXIV.

Verzeichnis der verbaoten und unverbauten Flächen der in den letzten Jahrzehnten erbauten Häuser in der Schellhatninergaase im XVI. Bezirke, Ottakring.

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Abstufung der Gebäudesteuer nach dein Maß der Verbauung der Grundfläche. (533

Weil aber auch für Wien keine statistischen Nachweisungen über die verbauten Flachen besteheu, muß man sich mit einigen Stichproben begnügen. Cher Krauchen wurden vom Wiener Magistrat Verzeichnisse über die ver- bauten und unverbauten Flächen der in den letzten Jahrzehnten neuerrichteten Häuser1) in drei Wiener Straßen zusammengestellt, die in den Tabellen XXI bis XXIV wiedergegeben sind. Von den drei gewählten Straßen liegt eine, die Kärntnerstraße, im I. Bezirk, der das Gebiet der ehemals befestigten alten Stadt umfaßt. Biese Straße, die eine Hauptverkehrsader bildet, wurde in den letzten Jahrzehnten stark verbreitert. Leider war es nicht möglich, Angaben über das Maß der Verbauung der früher bestandenen Hänser zu erbalten; es ist dies sehr zu bedauern, weil man durch den Vergleich der Verbauung bei den alten und den neuen Gebäuden hätte ersehen können, welche Wirkung die Verbreiterung der Straße auf die Größe der Hofräume gehabt hat. Die nächste Straße, die Alserstraße. bildet die Grenze zwischen der Josefstadt und dem Alsergrund, welche zu den Bezirken gehören, die aus den unbefestigten Vorstädten der alten Festungs- stadt erwachsen sind. Die dritte Gasse endlich, die Schellhamergasse, liegt in Ottak- ring (XVI. Bezirk), welchor einer jener peripherischen Bezirke ist, die aus den außer der alten Verzehrungssteuerlinie gelegenen Vororten gebildet und erst im Jahre 1891 der Stadt Wien einverleibt wurden. Die folgende Tabelle XXV gibt eine Übersicht über das Maß der Verbauung in den einzelnen angeführten Straßen und Straßenteilen.

Tabelle XXV.

Übersicht über «las Maß der Verbauung bei den Häusern, deren verbaute und unverbaute Flächen in den Tabellen XXI bis XXIV ausgewiesen sind.

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Von den 5:1 ausgewiesenen Häusern der Kärntnerstraßo sind 32 stärker verbaut als es der Wiener Bauordnung entspricht, die, wie oben angeführt, nur ansnahmt weise eine Verbauung von mehr als 85 Proz. der Grundfläche gestattet. Es mußte der durch die Verbreiterung der Straße bewirkten Verkleinerung der Bau- gründe Kechnnng getragen werden, weshalb Erleichterungen gewährt wurden. Von diesen 32 Häusern haben 14 Höfe, die kleiner sind als 10 Proz. der Grund-

’) In «1er Kümthnerstraße sin«l auch die Maße der älteren Gebäude angegeben.

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634

ßraun von Femwald.

fläche, hei zwei Häusern bleibt der unverbaute Teil sogar unter 5 Proz. der Grund- fläclie. In der Alserstraße ist bei 4 von 22 Häusern eine Verbauung über das vorschriftsmäßige Maximum hinaus ausgewiesen. In der Schellhammergasse ist die Vorschrift der Bauordnung hei allen angeführten Häusern befolgt. Nur bis zur Hälfte verbaut ist der Grund bei einem Hause der Alserstraße und bei dreien der Schcllhainmcrgasse; in der Kärntnerstraße kommt eine so schwache Ausnützung der Bodcnflllche überhaupt nicht vor. Zwischen 50 und 75 Proz. beträgt die Verbauung bei 6 Häusern der Kärntnerstaße. bei 9 der Alserstraße und bei 7 der Schellhammergasse. Den Forderungen der Krakauer Bauordnung, die einen Hof von 20 Proz. verlangt, würden im ganzen 33 Häuser genügen. Im allgemeinen ist zu bemerken, daß die Stärke der Verbauung der Grundflächen mit der Ent- fernung vom Zentrum abnimint. Wollte man die günstigste Behandlung bei Bemes- sung der Hauszinssteuer von dem Vorhandensein eines Hofes gleich der Hälfte des ganzen Grundes abhängig machen, so würden derselben nur 4 von den ange- führten 92 Häusern teilhaftig werden, so daß nur bei ihnen der volle durch einen etwaigen Nachlaß bewirkte Steuerausfall eintreten würde. Es darf aber nicht übersehen werden, daß die angeführten Beispiele lediglich einen Wert als Stich- proben haben und daß man ans ihnen keine weitgehenden Folgerungen ableiten darf. In den ländlichen Stadteilen sind natürlich viele Häuser mit großen unver- bauten Flächen. Anderseits ist nicht ausgeschlossen, daß anch au der Peripherie in einzelnen Fällen eine sehr weitgehende Ausnützung des Grundes vorkommt. Darüber könnte nur oine vollständige Statistik der verbauten Flächen und detaillierte Nach- weisungeu darüber, wie das Verhältnis derselben zur ganzen Grundfläche bei den einzelnen Häusern ist, Auskunft geben. Diese Fragen hatten aber bis jetzt in Österreich von der Statistik wenig Beachtung gefunden. Erst in neuester Zeit wendet sich ihnen das Interesse zn. So hat die am 28. Februar 1903 in Wien unter dem Vorsitze des Präsidenten der k. k. statistischen Zentralkommission abgehaltene Konferenz für Städtestatistik beschlossen, die Erhebung der verbauten und unverbauten Flächen bei den nach dem 1. Jänner 1903 fertiggestellten Ge- bäuden Neubauten und Umbauten) anzuregen, im „Österreichischen Städtebuch“ die so gewonnenen Summen ausznweisen und Übersichten über das Verhältnis der verbauten Fläche znr Gesamtfläche bei den einzelnen neuerrichteten Gebäuden zu veröffentlichen, so daß für eine Keihe von Städten für die Zukunft eine stati- stische Erfassung der bei den Bauführungen eingehaltenon Bauweise zn erhoffen ist Die Lieferung derartiger Nachweisungen über die bestehenden Gebäude wurde als untunlich abgelehnt, so daß auch von dieser Seite keine vollständige Aufklärung der Verbauungsverhältnisse zu erwarten ist.

Wenden wir uns nun der Erörterung der Anwendbarkeit der vor- geschlagenen Abstufung der Gebäudesteneru nach Maßgabe der Verbauung der Grundfläche auf die österreichischen G e b ä n d es t e n e r n zu, so ist zunächst zu bemerken, daß bei den der Haus- klassenstener unterliegenden Gebäuden weniger Bedürfnis nach einem Schatz gegen allzu starke Verbauung bestehen dürfte, da diese meist in kleineren Urten gelegen sind, wo der Bangrund keinen so besonders hohen Wert hat und daher der Anreiz zur Einengung der Hofränme geringer ist. Da es sich aus-

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Abstufung der Gebändesteuer nach dem Maß der Verbauung der Grundfläche, 635

schließlich um nicht vermietete Wohngebäude handelt, die also vom Besitzer selbst, seinen Angehörigen und Bediensteten bcnfitzt werden, so dürften die Besitzer in der Regel wenigstens dort, wo es sich um ihre eigene Wohnung und die ihrer Angehörigen handelt, schon aus Egoismus eine zu ungesunde Bauweise vermeiden. Da bei der Hausklassensteuer die Besteuerung nach der Zahl der Wohnbestandteile erfolgt, so liegt die Versuchung nabe, diese möglichst einzn- schräuken, ohne viel Rücksicht auf Bequemlichkeit und moralische Anschauungen sowie die Möglichkeit einer Isolierung der Kranken hei Infektionskrankheiten zu nehmen. Dafür werden aber der einzelnen Wobnräume groß und geräumig gemacht. Wird nun die Steuer nach Maßgabe die unverbauten und verbauten Fläche ahgestuft, so kann dies gerade dort, wo die verfügbare Fläche nicht groll ist, zu einer Verkleinerung der Wobnräume führen, die vielleicht ungesunder ist als ein kleiner Hofraum Es empfiehlt sich demnach nicht die Hausklassensteuer der vorgeschlagenen Reform zu unterziehen; es wird so die Sache vereinfacht, indem nur mehr die öproz. und die Hauszinssteuer zu berücksichtigen bleibeu. Übrigens wird gerade dort, wo der Raum wertvoll ist. die Gelegenheit zur Vermietung vielfach günstig sein, so daß es dem Bauherrn ualiegelegt wird, sein Haus, das zunächst der Hausklassensteuer unterliegt, so zu bauen, daß der Steuersatz der Hauszinssteuer, wenn es durch Vermietung unter dieselbe fällt, nicht allzu ungünstig ist.

Bei der Hauszinssteuer und der 5proz. Steuer von den von der Hauszinssteuer befreiten neu errichteten Baulichkeiten1) ist das Bedenken wegen einer etwaigen Verkleinerung der W'ohnräume infolge der Vergrößerung der Höfe weniger vou Belang, da in den größeren Orten ohnedies der hohe Grundwert hiezu verlockt, um möglichst viel Wobnräume herauszubekonnnen, so daß ein Eingreifen der Bauordnung und der Baupolizei auch bei der gegenwärtigen Besteuerungsart notwendig ist und dadurch also keine neue Schwierigkeit geschaffen wird.

Die Abstufung der Steuersätze nach dem Verhältnis der verbauten Fläche zur ganzen Grundfläche kann in dreierlei Weise erfolgen:

1. durch Einführung verhältnismäßiger Zuschläge zur bisherigen Steuer,

2. durch Gewährung verhältnismäßiger Nachlässe,

3. dadurch, daß die Spannung zwischen höchstem und niedrigstem Steuersatz so gewählt wird, daß die bisherige Steuer zwischen beiden zu liegen kommt.

Dieser letztere Vorgang würde sich aber weniger empfehlen, da es sehr schwer wäre im vorhinein festzustellen, ob er eine Erhöhung oder Verminderung des Stenerertrages bewirken würde oder ihn ungefähr unverändert ließe und auch dadurch dio Umrechnung der bisherigen Steuervorschreibungen bedeutend erschwert würdo. Es bleibt also die Möglichkeit, dio Steuer durch Zuschläge zu erhöhen oder durch Nachlässe zu vermindern. Welcher dieser Wege zu wühlen ist, hängt von der allgemeinen Finanzlage und der relativen Höhe der Gebäudestcner im Verhältnis zur Belastung anderer Stenerobjekte ab. Wie groß die Spannung

’) Neu-, Uni- und Znhauten. im Folgenden ist der Kurze halber vielfach nur von Neubauten gesprochen, worunter dann auch die Um> and Zabauten zu verstehen sind.

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636 Brann Ton Femwald.

«wischen dem höchsten nnd dem niedrigsten Steucrfuß sein muß, ntn eine Beein- flussung der Bauweise im Sinne einer Assanierung zu bewirken, kann nur nach eingelienden Untersuchungen entschieden werden, zum Teil wird es erst die Erfahrung lehren. Es wird die Spannung teilweise auch davon abhangen müssen, welches Ziel man vor Augen hat, ob man sich damit begnügen will, daß der Baugrund wenigstens an abgelegeneren Stellen nicht übermäßig verbaut wird oder ob man ganz allgemein eine gewisse Größe der Höfe durchsetzen will. Steigt z. B. die Besteuerung rapid, sobald der Hof kleiner ist als ein Viertel der Grundfläche, so wird eine weitergehende Verbauung nur ausnahmsweise stattfinden. Damit hängt auch die Frage zusammen, ob die Steigerung der Besteuerung gleichmäßig mit der größeren Verbauung erfolgen soll .oder ob sie progressiv nach Graden der Verbauung eingerichtet werden soll. Beispielsweise sei ange- nommen. daß ein Zuschlag bis zu 10 Proz. vom Steuerbetrag bei einer Ver- bauung von mehr als der Hälfte der Grundfläche erfolge. Da kann die Abstufung so erfolgen, daß bei einer Verbauung zwischen 50 und 55 Proz. der Fläche ein Zuschlag von 1 Proz., bei einer zwischen 55 und 60 Proz. einer von 2 Proz, n. s. f. erfolgt, so daß bei einer Steigerung der Verbauung um 5. Proz. auch der Zuschlag um 1 Proz. steigt bis er endlich bei vollständiger Verbauung 10 Proz. erreicht Sic kann aber auch progressiv erfolgen, z. B. in der Weise, daß bei einer Verbauung über die Hälfte bis zu drei Viertel je 5 Proz. mohrverbanUT Fläche ein Zuschlag von '/, Proz., bei einer Verbauung über drei Viertel je 5 Proz. der mehrvcr- bauten Fläche ein Zuschlag von 1 '/» Proz. entspricht ialso 50 55 Proz. Verbauung '/, Proz. Zuschlag, 55 60 Proz. 1 Proz., 60 65 Proz. I1/, Proz-, 65 70 Proz. 2 Proz., 70 75 Proz. 2’/j Proz.. aber 75 80 Proz. t Proz., 80 85 Proz. 5*/* Proz., 85 90 Proz. 7 Proz., 90 95 Proz. 8 */, Proz., endlich bei einer Verbauung von 95 100 Proz. 10 Proz. Zuschlag). Erfolgt die Progression in solcher Weise nach Abschnitten, so liat dies die Folge, daß in dem günstiger behandelten Abschnitt der Verbauung noch ein größerer Spielraum gewährt wird, während eine Verbauung über die Grenze hinaus, bei der die Progression einsetzt, sehr erschwert wird; es würde also eine Verbauung über diese Grenze hinaus, in den gewählten Beispiel drei Viertel der Fläche, nur ausnahmsweise eintreton. Es wäre ohne diesbezügliche Bemühung der Baubehörden annähernd dasselbe erreicht, wie wenn in der Bauordnung eine bestimmte Verbauungsgrenze, z. B. 75 Proz. fest- gesetzt wäre. Außerdem würde innerhalb derselben der mäßigere Zuschlag regulierend wirken. In jedem Falle würde die durch die Steuerbehörden vertretene Allgemein- heit an dem Gewinn aus der stärkeren Verbauung teil haben. Natürlich kann die Progression auch nicht nach Abschnitten, sondern allmählich steigend einge- richtet werden.

Das finanzielle Ergebnis der Einführung derartiger Zuschläge oder Nachlässe wird größtenteils von dein Ausmaß der unverbauten Fläche abbängen, die als Bedingung für die Gewährung der günstigsten Stcuerbehandlung festgesetzt wird. Je größer es ist, desto weniger Gebäude werden ihrer teilhaftig werden und desto besser wird sich das Erträgnis gestalten. Durch die Forderung großer Höfe wird es auch hintaugehalten, daß der große Hof eines Hauses zum Schaden der Steuerbehörde teilweise an die Nachbarhäuser mit kleineren Höfen abgetreten

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Abstufung der Gebändcateuer nach dem Maß der Verbauung der Grundfläche. iY.\l

werde. I!ci gleicher Spannung /wischen höchstem und niedrigstem Steuersau wird die Steigerung immer unmerklicher, je höhere Korderungen man an die Ausdehnung der unverbauten Fläche stellt. Bei einem Maximalzuschlag von 10 Pro/., der gleichmäßig ansteigt, beträgt sie, wenn für den niedrigsten Steuersatz ein Hofraum gleich der Hälfte der Grundfläche verlangt wird, bei je 5 l’roz. Verbauung l Pro/., soll aber der Hof doppelt so groß sein wie die Bauarea, würde dieselbe Steigerung erst bei einer Verbauung von je 7'5 Pro/, eintreten. Knüpft man die Begünstigung an das Vorhandensein sehr großer unverbauter Flächen, so ist dies auch eine Bevorzngung der Luxusbauten wie der Villen, Paläste mit großen Gärten u. s. w. Man wird also einen mittleren Weg einschlagen müssen. Hans- gärten und Hofräume erfuhren /war von der österreichischen Steuergesetzgebung eine ganz verschiedene Behandlung: die Hofrännie teilten alle Schicksale der Bauarea, während die Uansgärten ohne Rücksicht auf ihre Zugehörigkeit zu einem Hause wie alles übrige Gartenland der Grundsteuer unterworfen wurden; für den sanitären Zustand eines Hauses ist aber ein Hausgarten keineswegs weniger wertvoll wie ein Hof, vielmehr hat er, von Ansnahmsfällen wie übermäßige animalische Düngung abgesehen, viel größeren Wert Für die Gewährung einer günstigeren Steuerbehandlung ist daher lediglich die unverbaute Fläche die zum Gebäude gehört iin Betracht zu ziehen ohne Rücksicht darauf, oh sie Hofraum oder Hansgarten ist; ebenso ist es gleichgültig, ob der Hausgarten nur ein mit Gewächsen bepflanzter Hof ist oder das Hans von allen oder mehreren Seiten umgibt. Daß der Hofraum als Zubehör des Hanses von der Grnndsteuer frei bleibt, der Hausgarten aber von ihr getroffen wird, braucht kein Bedenken zu erregen, da die Gebändesteueni von der Grundsteuer gänzlich unabhängig sind. Hing cs ja doch oft von zufälligen Umständen ab, ob ein mit Pflanzen besetzter Hof oder Hofleil als Garten oder Hoframn qualifiziert wurde. So wird z. B. bei einem Hause in Wien, das ursprünglich in einer ländlichen Umgebung sich befand, die aber infolge Verbauung jetzt ganz städtisch geworden ist, ein bepflanzter Teil des keineswegs die gewöhnliche Größe über- schreitenden Hofes noch immer als Garten behandelt und mit der Grundsteuer belegt. Das kann nnr auf zufällige Umstände zurückgeheu, es ließe sieb doch nicht rechtfertigen, einen Hof von gewöhnlicher Größe als Garten zu bestenem, wenn einige Bäume hinein gepflanzt sind.1) Der sanitäre Wert eines Gartens oder Hofes kann natürlich auch die Art der Benützung vernichtet werden, wenn z. B. der Hof zu einer Lagerstätte von staubigem Bauholz oder von Kohlen oder gar von Kehricht oder Hadem verwendet wird. Das hintanznhalten ist aber Sache der Itan- und Sanitätspolizei, bei der Bemessung der Gcbändestenem kann es selbstverständlich nicht Berücksichtigung finden.

Wenn in einem Hofe ebenerdige Znhanten, z. 11. Waschküchen, Wagenremisen. Veranden, Terrassen, sich befinden, so entsteht die Frage, ob der von ihnen einge- nommene Raum ebenso als verbaut anzusehen ist wie die Bauarea des vielleicht vicl-

*) Die ßehandluug eines Holes als Garten kann auch für die Steuerbehörde nach- teilig sein, da der für Benützung des Hofes etwa bedungene Zius immer der Hauszins. Steuer unterliegt, der für Gartenbenützung gezahlte aber von derselben frei bleibt, Virl. v Myrbach, a a. O. S. 1C1.

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638

Braun von Fernwahl.

stückigen Hauses. Obwohl darin einige Unbilligkeit liegt, wird man diese Frage doch bejahen müssen, weil sonst die Berechnung der Gcbändesteuer leicht sehr kom- piliert werden könnte. Ob ein Hof den sanitären Anforderungen genügt, wird oft von seiner Form und besonders von der Höhe der Häuser die ihn nmgeben, ahhängen. Einer, der bei ebenerdigen Gebäuden genügt, wird sanitär gänzlich unzulänglich, wenn noch 4 Stockwerke anfgebaut werden. Man könnte Vor- schlägen. dies bei der Besteuerung zu berücksichtigen, indem die geforderte Größe der Hofräume oder die Steuersätze nach der Anzahl der Stockwerke verschieden normiert würde; doch wird man wohl darauf verzichten müssen, da die Steuerbemessung dadurch schwieriger würde. Man darf nicht vergessen, daß die eigentliche Aufgabe der Steuerbehörden die zweckmäßige und genaue Besorgung des Steuerdienstes ist und eine beabsichtigte assanierende Wirkung einer Steuer nur Nebenzweck sein kann und als solcher behandelt werden muß. Man muß daher bei einer dahin zielenden Abänderung trachten, alles möglichst einfach einznrichten, damit dadurch die Geschäftsgebarung der Steuerbehörden nicht behindert werde.

Nunmehr ist zu erwägen, ob bei der Hauszinssteuer und der 5 proz. Steuer ein ganz gleichmäßiges Vorgehen anzuwenden ist oder wie die Abstufung bei jeder durchzufüliren ist. l)a die Hauszinssteuer sehr hoch ist, kann nicht daran gedacht werden, sie noch durch Zuschläge zu steigern; man würde sich daher entschließen müssen, Nachlässe zu gewähren. Nimmt man an. daß die Finanzlage es gestatte, einen Nachlaß im Höchstbetrage von 10 Proz. der Steuer zu gewähren, und diese Differenzierung anch genüge, die Banweisc wirksam zu beeinflussen, so würde sich die Ermäßigung in den namentlich als hauszinssteuerpflichtig angeführten Orten höchstens anf 2‘67 Proz. des durch Abzug von 15 Proz. Erhaltungs- und Amortisationskosten ermittelten Nettozinses stellen, während die anderen der Hauszinssteuer unterliegenden Gebäude in Tirol und Vorarlberg eine Ermäßigung um höchstens 1'5 Proz., in den übrigen Ländern um höchstens 2‘0 Proz. des Nettozinses erfahren würden, der aber in diesen Fällen durch Abzug von 30 Proz. Erhaltungs- und Amortisationskosten berechnet wird. Rechnet man diese Nach- lässe in Prozente des Brnttnzinses um. so beträgt der Nachlaß für die Gebäude der namentlich angeführten Orto 2"27 Proz., für die übrigen hanszinssteuerpflich- tigen Gebäude in Tirol und Vorarlberg 1 05 l’roz.. in den anderen Ländern 1'4 Proz. des Bruttozinses. Der faktische Gewinn wäre also für die verschiedenen Gruppen verschieden groß: da aber die Intensität der Besteuerung verschieden ist, so scheint es nur billig, daß bei Gebäuden, die strenge besteuert sind, auch eine größere Ermäßigung eintrete. Dazu kommt noch, daß diese Differenzierung in der Besteuerung hauptsächlich auf historischen Gründen beruht und den gegen- wärtigen Verhältnissen nicht mehr immer entspricht. Bei der Sproz. Steuer werden bei allen ihr unterworfenen Gebäuden ohne Unterschied 5 Proz. vom Nettozinse erhoben. Dieser wird jedoch auf verschiedene Weise ermittelt, indem analog der Hauszinsstener bald 15, bald 30 Proz. Erhaltungs- und Amortisationskosten abge- rechnet werden; es werden also in dem einen Falle 4’25 Proz,. in dem anderen 3‘5 Proz. vom Kruttn/.inse als Steuer eingehoben. Wollte man da gleichfalls wie bei der Hauszinsstener eine Steuerermäßigung bis zu 10 Proz. des .Steuerbetrages

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Abstufung der Gebäudcstouer mich dem Mail der Verbauung der Grundfläche. (j3<)

gewähren, so würde der Unterschied zwischen dem höchsten und niedrigsten mög- lichen Steuersatz nur O'ö 1‘roz, des Nettozinses ausmachen und dies würde gänzlich ungenügend sein um die Art und Grüße der Verliannng wirksam zu beeinflussen. Und gerade bei der öproz. Steuer ist eine starke Differenzierung bei den Steuer- sätzen dringend notwendig, da sie allein für den Bauherrn unmittelbar fühlbar wird, da eine Abstufung, bei der Uauszinssteuer allein durchgeführt, meist nur andere, spätere Besitzer treffen würde und daher anf die Bauführung nur geringen Einfluß hätte. Um annähernd die gleiche Wirkung auf das Erträgnis eines Gebäudes zu haben, müßte der Nachlaß bis zu 50 l'roz. des Steuerbetruges gesteigert werden, so daß er 2'ö Proz. des Nettozinses betragen würde. Er würde so zwischen den zwei niedersten (l"ö nnd 2'0 Proz.) und dem höchsten Nachlaß bei der Hanszinssteuer (2 (57 Proz.) liegen, sich jedoch dem letzteren sehr stark nähern. Diese Annäherung ist ratsam, da sonst der Unterschied in der Besteuerung leicht zu wenig fühlbar sein würde und gerade bei Neubauten eine energische Beeinflussung der Bauweise nötig ist Di den Fällen, wo der volle Nachlaß eintritt, würde dies aber einer Herabsetzung der öproz. Steuer auf 2';> Proz. glcichkommen. Das würde einen bedeutenden Steneransfall verursachen. Anßerdem ist noch zn berücksichtigen, daß diese Wirkung einer Steuerermäßigung bei der öproz. Steuer viel rascher und fühlbarer eintreten würde wie bei der Hanszinssteuer. Denn diese trifft schon bestehendo Gebäude und es hängt von der herrschenden Bau- weise und dem Grad der Verbauung ab. wie viele Häuser einer bedeutenden Ermäßigung teilhaftig würden. Bei dem Beste würde gar keine und nur eine geringe Veränderung in der Stenerleistnng eintreten. Erst bei einem Umbau könnten auch sie eine günstigere Steuerbehandlung erlangen. Der Steueraosfall wird sich daher zunächst innerhalb gewisser Grenzen halten nnd sich nur allmählich im I.aufe der Jahre dem theoretisch möglichen Maximum nähern. Anders bei der öproz. Steuer! Bei Einführung einer Abstufung in den Steuersätzen würden wohl in der Übergangszeit die bereits bestehenden von der Hauszinsstener freien Gebäude natürlich je nach ihren Verbannngsverhältnissen von der abgestuften Steuer erfaßt werden und diese würde auf sie ebensowenig eine unmittelbare Einwirkung ausüben wie bei den hauszinssteuerpflichtigen; bei der Neuerrichtung von Gebäuden wird jedoch der Unterschied in der Besteuerung bereits die Bsuweise bestimmen, so dat! die Mehrzahl derselben einer bedeutenden Ermäßigung der Steuer sich erfreuen würde. Sind einmal die Tor der Abänderung der Gebäude- steuer erbauten Häuser durch Ablanf der Baufreijahre hausziiissteuerptlichtig und so der öproz. Steuer entzogen worden, so wird die öproz. Steuer die Tendenz zeigen, sich in ihrem Erträgnis dein niedrigsten Steuersätze zn nähern, ohne ihn allerdings vollständig zu erreichen. Es würde dann ihr Ertrag nahezu um das volle Ausmaß der Nachlaßprozente verringert werden; in dem angeführten Beispiel käme dies beinahe einer Verminderung des Ertrages anf die Hälfte gleich, was im Jahre 1899 einen Minderertrag bis zu 3,372.940 Kronen, im Jahro 1900 einen solchen bis zu 3,40ö.H99 Kronen bedeutet hätte. Da dies ein großer Steuer- ansfall wäre, könnte die Finanzverwaltnng schwer darauf eingehen, weil die Nachlässe bei der Hauszinssteuer gleichfalls eine namhafte Minderung der Ein- nahmen verursachen würden. Gegen die Gewährung langer Baufreijahrsperioden

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besteht seit langem eine heftige Opposition,1) die eben zur Kinführung der 5 pro/.. Steuer geführt hat. Der gleiche Gedanke zeigt sich darin, dal! aus den Erträgnissen der Personaleinkominenstetier wohl bei der Hauszins- und Hausklassenstcuer, nicht aber bei der 5proz. individuelle Nachlässe gewährt werden. Endlich treffen manche Gemeinden in der Höhe der erhobenen Zuschläge Unterscheidungen; so belegte die Stadt Wien die 5proz. Steuer im Jahre 1901 mit einem Zuschlag von BO, die Hauszinssteuer aber mit einem von 25 Proz. Es ist demnach auch die allgemeine Stimmung einer Herabsetzung der 5 proz. Steuer nicht günstig. Wollte man die Spannung so einrichten, dali der bisherige Steuersatz zwischen dem niedrigsten und höchsten neuen liegen würde, so würde dies, sobald einmal die bereits fertigen Häuser ausgnschieden sind, aus den oben angeführten Gründen darauf hiuauslaufen, dalJ wieder eine Herabsetzung der 5 proz. Steuer, wenn auch in geringerem Malle, einträte. Es bleibt also nur der Ausweg, zur 5 proz. Steuer nach Maßgabe des Grades der Verbauung Zuschläge*) einzuführen. Um wirksam zu sein, müßte der höchste Zuschlag ziemlich hoch augesetzt sein, z. B. mit 50 Proz. des bisherigen Steuerbetrages, so daß sich dann der höchste Steuersatz auf 7*5 Proz. des Nettozinses stellen würde. Rechnet man dies in Prozente des Bruttozinses um, so beträgt es bei den Gebäuden, bei denen nur 15 Proz. für Erhaltung«- und Amortisationskosten abgerechnet wird, 6 375 Proz. vom Ilrutto- zins, bei denen aber, denen ein Abzug von 30 Proz. gestattet wird. 5*25 Proz. Die Spannung zwischen dem höchsten und niedrigsten Steuersatz beläuft sich somit bei den Gebäuden mit 15 Proz. Abzug auf 2*125 Proz., bei denen mit 30 Proz. Abzug auf 1*75 Proz. vom Bruttozins, während die Spannung infolge der 10 proz. Nachlässe an der Hauszinssteiier bei ersteren Gebäuden 2*27, bei letzteren 1*05 und 1*4 Proz. ausgemacht hatte. Die Spannung, in der sich die Steuererhebung bei der 5 proz. Steuer ausdrückt, wäre also bei den Gebäuden in den namentlich als hauszinssteuerpßiclitig angeführten Orten, wo der Abzug für Erhaltungs- und Amortisationskosten nur 15 Proz. ist, etwas geringer wie die Hauszinssteuerermälligung bei derselben Kategorie (und zwar um 0*14 Proz. des Bruttozinsesi. bei den übrigen Gebäuden etwas größer (in der Regel um

0*35. in Tirol und Vorarlberg um 0*7 Proz. des Bruttozinses).

Wie die angeführten Beispiele zeigen, würden die Zuschläge zur 5proz. Steuer bei den nicht namentlich als hauszinssteuerpflichtig angeführten Orten, besonders in Tirol und Vorarlberg, viel energischer anf die Bauweise

pinwirken als die Ermäßigungen bei der Hauszinssteuer und das. was diesen an Wirksamkeit fehlt, in wünschenswerter Weise ersetzen. Daß die stärkste Erhöhung der 5proz. Steuer (um 2*125 Pro/., des Bruttozinses"’ bei den namentlich als hauszinsstouerptlichtig genannten Orten etwas niedriger ist, als der stärksten

l)Vergl. i. B. v. Myrbach, a. a. O., 8. 198 und A. Schaeffle, a. a. 0., S. 318, ferner

Adolf Beer, Der Staatshaushalt Österreich-Ungarns, S. 70, der behauptet, die Gowiilining langfristiger Steuerbefreiungen hätte nicht der Wohnungsnot abgeholfen, sondern wäre nur den Grundbesitzern zu gute gekommen, indem sie eine Steigerung der Preise der Baugründe bewirkte.

*) Mit dein Worte „Zuschläge“ soll hier lediglich die Art der Erhöhung der Steuer bezeichnet werden, mit den Zuschlägen zu Gunsten der autonomen Körperschaften und Pondc bat es natürlich nichts zu tun.

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Abstufung der Gebäudesteuer nucb dem Muß der Verbauung der Grundfläche. f,4 I

Ermäßigung ihrer Hauszinssteuer entsprechen würde, beeinträchtigt bei der Kleinheit des Unterschiedes <0*14 Proz. des Brnttozinses) die Wirksamkeit der Abänderung der Steuer nicht; es wird doch bei dieser Kategorie die 5 proz. Steuer um 2' 125 Proz. vom liruttozins erhöht, während sie bei den Häusern init 30 Proz. Abzug für Krhaltungs- und Amortisationskosten nur um 1’75 Proz. vom Bruttozinse gesteigert wird. Da die gegenwärtige Sproz. Steuer wohl Verschiedenheiten beim Ausmaß der Abzugprozente, nicht aber sowie die Hauszinssteuer in den Steuer- sätzen der einzelnen Kategorien kennt, würde durch Erhöhung der 5 proz. Steuer eine Milderung der Härten dieser Ungleichmäßigkeit der Steuersätze nach Kate- gorien eintreten. Die Gebäude mit besonders günstiger Lage würden, wenn diese durch starke Verbauung ausgenützt wird, höher besteuert werden und es würden da die tatsächlichen Verhältnisse, nicht die mehr und minder willkürliche Annahme der Bestandes günstiger Bedingungen für die ganze Ortschaft für die Höhe des Steuersatzes entscheidend sein. Die Stärke der Erhöhung von 5 auf 7'5 Proz. vom Nettozins braucht, wenn das für die Gewährung des niedrigsten Steuersatzes, also in diesem Falle für die Belastung der Besteuerung mit 5 Proz.. geforderte Ausmaß an unverbauter Fläche nicht zu hoch bemessen wird, kein Bedenken zu erregen, da dann die Mehrzahl der Neubauten genügend Kaum freilassen wird, so daß die bisherige Besteuerung gar nicht oder nur wenig überschritten wird uud nur jene Hänser, bei denen durch stärkere Verbauung ein höherer Gewinn erzielt werden soll, einen Teil dieses Gewinnes abgeben müssen.

Was die praktische Durchführbarkeit der vorgeschlageuen Abstu- fung der Gebäudesteuern nach dem Verhältnis der verbauten Fläche zur gesamten Grundfläche anbelangt, so handelt es sich hauptsächlich um authentische Fest- stellung dieses Verhältnisses bei jedem Gebände. dessen stete Evidenzhaltung und endlich nm die Vornahme der Umrechnung des bisherigen Steuersatzes in den neuen, nach dem dann die Bemessung erfolgt. Durch das gleichzeitige Bestehen zweier Steuersysteme in Österreich ist die Sache insofern vereinfacht, als die Hans klassenstener überhaupt unverändert bleiben kann, da bei den ihr unterliegenden Gebäuden wenig Bedürfnis nach Schutz gegen übermäßige Verbauung besteht. Es kommen sonach nur die Hauszinssteuer und die 5proz. Steuer in Betracht. Da die 5 proz. Steuer neuerrichtete Gebäude betrifft, bietet die Feststellung der Größe der unverbauten und der verbauten Fläche eines Gebäudes keine Schwierig- keit, indem bei Erteilung der Baubewilligung einfach die Beibringung von Plänen verlangt werden kann, welche die entsprechenden Daten, eventuell das Verhältnis der verbauten Fläche zur gesamten Grundfläche bereits ausgerechnet, enthalten müssen. Auch die genaue Kvidenzhaltung kann leicht erfolgen, weil zu jeder baulichen Veränderung die Baubewilligung erforderlich ist, deren Erteilung an die Mitteilung der dadurch bewirkten Veränderung in dem Ausmaße der Verbauung geknüpft werden kann. Ist das prozentuelle Verhältnis der verbauten Fläche bekannt, so kann leicht berechnet werden, nm welche Zuschläge der nach den bisherigen Bestimmungen ermittelte Steuerbetrag zu erhöhen ist. Die ganze Geschäftsgebarung ist also sehr einfach und verursacht wenig Mehrarbeit. Bei den zur Zeit des Inkrafttretens der Abänderung der Gebäude- stcuervorschrift bereits bestehenden, aus dem Titel der Baufühl ung von der

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Hauszinssteuer befreiten Gebäuden kann wohl die Gproz. Steuer während des Beates der Baufroijahrsperiode unverändert gelassen werden, da infolge des guten Bauzustandes derselben eine Abstufung wenig Wirkung haben wurde und eine nutzlose Erhöhung als Härte empfunden würde. Bei den der Hausziussteuer unterworfenen Gebäuden würde die UerbeischafTung und vollständige Ergänzung und Richtigstellung der Bauplatte oft, besonders wenn die Häuser schon vor langer Zeit erbaut sind, sehr schwierig sein und eine Neukatastrierong der Grundfläche der hauszinsstouerpflichtigon Gebäude würde große Kosten verursachen Man darf jedoch nicht verzichten, auch bei der Hauszinssbuer Abstufungen einzuführen, weil sonst alte Häuser, die wegen ihrer engen Höfe unsanitär sind, aus Furcht vor einer höheren Besteuerung überhaupt nicht umgebaut würden. Wird die Abstufung bei der Hauszinssteuer durch prozentuelle Nachlässe bewirkt, so bietet sich ein sehr einfacher Ausweg, wenn man die Beweislast bezüglich des Ausmaßes der Verbauung den Hausbesitzern zuschiebt, indem man nur jenen Gebäuden die Nachlässe gewährt, für die von ihren Besitzern die entsprechenden genauen Pläne beigebracht werden. Gewährt man die Nachlässe erst vom Zeitpunkt der Beibringung der Pläne und ohne Rückwirknng bis zum Zeitpunkt des Inkraft- tretens der Abänderung der Gebäudesteuer, so würde dadurch ein nur allmäh- liches Sinken des Ertrages der Hauszinssteuer bewirkt werden, da von den Häusern, die Anspruch auf Ermäßigung hätten, für die aber die Pläne nicht beigebracht werden, die bisherige Steuer erhoben würde.1) Nun bleibt noch zu untersuchen, wie bei jenen Gebäuden vorzugehen ist, die durch ihre Vermietung oder dadurch, daß in dem betreffenden Orte wenigstens die Hälfte sämtlicher Gebäude und außerdem die Hälfte der Wohngebäude vermietet werden und so der ganze Ort hauszinssteuerpflichtig wird, aus dem Gebiete der Hansklasseiistetier ansscheiden. Fallen sie bereits unter die Hauszinssteuer, so sind sie nach dem höchsten Steuersätze, also dem bisherigen, so lange zu besteuern, als nicht durch Beibringung der Pläne der Anspruch auf einen Nachlaß nachgewiesen wird. Aber auch wenn sie noch Banfreijahre genießen und daher unter die 5proz, Steuer fallen, sind sie bis zur Beibringung der Pläne nach dem höchsten Steuersätze zu behandeln, also mit dem höchsten Zuschläge zu belegen. Dadurch wird bewirkt, daß wenigstens dort, wo dio Möglichkeit naheliegt, daß das Haus einmal hauszins- steuerpflichtig wird, die Bauherren veranlaßt werden, beim Bau darauf Rücksicht zu nehmen, und so die Reform der Hanszinsstener auch teilweise auf die Bau- weise des liansklassensteuerpflichtigen Gebäude heilsam einwirkt. Für die zur Zeit der Einführung der Abstufung bereits bestehenden steuerfreien Häuser müßten Übergangsbestimmungen getroffen werden, damit sie, wenn sie aus dem Bereich der Hausklassensteuer Ausscheiden, nur mit der gewöhnlichen 5proz. Steuer ohne Abstufung belegt werden.

*) Um die Steuerermäßigung zu erhalten, würde die große Mehrzahl der Besitzer von Hausern mit genügend großen Höfen die Pläne beibringen, so daß binnen wenigen Jahren für sehr viele hauizin »steuerpflichtigen Gebäude die genauen Nachweisungen über das Maß der Verbauung der Grundfläche vorhanden sein werden, die unschwer zu einem Kataster der rerbauten Flächen und Hofräume der hauszins- steuerpflichtigen Gebäude ergänzt werden können.

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Abstufung der Gebäudesteuer nach dem Maß der Verbauung der Grundfläche. 643

l>a nach dem Personalsteuorgesetz vom 25. Oktober 1806, R.-G.-Bl. Nr. 220, an der vorgeschriebenen Hanszinsstener jährliche Nachlässe vom 10 bis 12'5 Proz. der Jahresstener zu gewähren .sind, so entsteht die Krage, wie diese Uestiinmnng mit der Bewilligung von Nachlässen mit Rücksicht auf das Vorhandensein größerer unverbauter Flächen in Einklang zu bringen ist. Erst nach Abzug der l’ersonal- steuernachlässe die anderen zu berechnen, wäre mifllich, da sie je nach dem Erträgnis von 10 bis 12'5 Proz. schwanken. Man könnt« allerdings von einer etwaigen Erhöhung absehen und den Nachlaß immer mit 10 Proz. in Anschlag bringen und vom Best den Nachlaß wegen geringer Verbauung berechnen, doch würde dadurch die Spannung zwischen dem höchsten und niedrigsten Steuersatz geringer. Wäre dieser Nachlaß i. B. auch 10 Proz., so würde die Spannung nicht ein Zehntel von der ursprünglich vorgeschriebenen Steuer, sondern nnr neun Hundertel derselben betragen. Wollte man umgekehrt zuerst diesen Nachlaß abziehen und vom Rest den durch das Personalsteuergesetz gewährten berechnen, so kämen gerade die Gebäude, denen wegen ihrer sanitären Bauweise ein größerer Nachlaß gewährt wurde, zu Schaden, da bei ihnen der Personalsteuemachlaß von einer bedeutend verkleinerten Summe berechnet würde und deshalb geringer wäre. Es ist daher am besten, beide Nachlässe von der ursprünglich vorgeschriebenen Steuer zu berechnen und von dieser nebeneinander zum Abzug zu bringen.

Bei der großen Rollt, welche in Österreich die Zuschläge der sogenannten Fondsbeiträge spielen, ist es von großer Bedeutung, von welcher Stener- souime sie berechnet werden, von der ursprünglichen, nach den bisherigen Vor- schriften ermittelten oder zu derjenigen, zu der man unter Berücksichtigung der hier gemachten Vorschläge gelangt. Nimmt man die bisherige Staatssteuer zur Grundlage, so ist es für den Bauherrn einfacher zu berechnen, wie weit eine stärkere Verbauung unter der Herrschaft der ahgeänderten Gekäudestener noch für ihn vorteilhaft ist, indem er nur die Abstufungen der Staatsstouer zu berück- sichtigen braucht, wärend die llöho und Zahl der Zuschläge nicht in Frage kommen, da sic von dem Maß der Verbauung unabhängig sind. Nimmt man hingegen die ahgestnfte staatliche Gebüudesteuer znr Berechnuugsgrundlage, so wird deren assanierende Wirkung ungemein verstärkt, da der Unterschied zwischen höchster und niedrigster, für ein Gebändc möglichen Gesamtsteuerschuldigkeit sehr vergrößert wird. Beträgt der lOproz. Nachlaß bei der staatlichen Gebäude- steuer 100 Kronen, so steigt der Unterschied bei 100 Proz. Zuschlägen auf 200 Kronen, hei 10ÖÜ Proz. aber auf 1100 Kronen. Im demselben Maße würde eine Erhöhung der Staatsstener durch die. Foudsbeiträge hinaufgetrieben werden. l)a die Höhe der Zuschläge sehr verschieden ist. wurde auch die Wirkung der Abstufung der Gebäudestener große lokale Verschiedenheiten zeigen. Um die daraus sich ergebende Ungleichmäßigkeit zn vermeiden, bleibt nichts anderes übrig, als die Zuschläge nach der ursprünglichen Steuervorschrcibung zu berechnen. Dies empfiehlt sich auch deshalb, weil die Höhe der Zuschläge in derselben Steuergeineinde stark wechselt, so daß eine Vorausberechnung der Stenerbelastung nicht möglich ist.

Bis jest wurde nur die Möglichkeit ins Auge gefaßt, daß bei der staat- lichen Gebäudesteuer mit Rücksicht auf die Stärke der Verbauung der Grund flächen Abstufungen gemacht werden. Es kann aber auch eine znr Erhebung von

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Zuschlägen zur Gebäudestcuer berechtigte autonome Körperschaft durch die Gestaltung dieser Erhebung auf die Bauneise und die Intensität der Verbannng einwirten. Es ist wohl hergebracht, daB die Zuschläge von der Steuer gleichmäßig ohne weitere Unterscheidung erhoben werden, so daß eine Abstufung der Zuschläge bei den Gebändesteuern nach Maßgabe der Verbauung nicht gut möglich wäre, doch steht es den autonomen Körperschaften frei, von den ihnen znkommenden Beträgen Nachlässe zu gewähren, und sie können dies auch bei den Gebäuden tun, die infolge der geringen Verbauung der Grundfläche besser den sanitären Anforderungen entsprechen. So kann z. B. eine Gemeinde, die einen SJOproz. Zuschlag zur Hanszinssteuer einhebt, abgestnfte Nachlässe für einzelno Häuser gewähren, indem sie z. B. auf 25 Pro:, der ihr zukommenden Summe verzichtet Natürlich würden dadurch die Gemeindeeinnahinen sinken. Da die meisten Gemeinden in ungünstiger finanzieller Lage sind, könnten sie aber auf diese Hingänge nicht verzichten, ohne dafür Ersatz zu erhalten. Dieser kann entweder in der Eröffnung oder Steigcrnng anderer Einnahmequellen bestehen oder er müllte wieder bei der Gebäudesteuer gesucht werden. Dies könnte nur durch Erhöhung des Prozentsatzes des Gemeindezuschlages erzielt werden. Würde z. B. bei einem 20proz. Gemeiudezuschlag ein Nachlaß bis zn 25 Proz. gewährt werden, so müßte dieser entsprechend erhöbt worden; wenn der Ausfall wirklich 25 Proz. betrage, was in der Wirklichkeit nicht leicht der Fall sein dürfte, müßte die Gemeinde ihren Zuschlag zur Staatssteuer auf 26' 7 Proz. erhöhen. Eine Einflußnahme auf die Bauweise ist hei dieser Art der Steuererhebung natürlich nnr durch Nachlässe möglich, während Zuschläge nicht in Anwendung kommen können. Doch kann der verschiedenen Beiastungsfähigkeit der Hauszins- steuer und der 5 proz. Steuer dadurch Bechnung getragen werden, daß der Gemeindeznschlag bei der 5proz. Steuer bedeutend höher angesetzt wird.

Faßt man das Ergebnis der vorliegenden Arbeit zusammen, so ist zunächst zu betonen, daß die Förderung der Hygiene durch die Abstufung der Gebände- steuern nur Nebenzweck sein kann. Boi der Durchführung dieser Abstufung ist daher alles zu vermeiden, was den regelmäßigen Steuerdienst erschweren könnte, und der Geschäftsgang möglichst einfach zu gestalten, damit jede nicht unbedingt nötige Mehrarbeit erspait werde. Wird die Abstufung der Gebäudestener in zweckmäßiger Weise durchgeführt, so wird den Baubehörden und allen Instanzen, welche sich mit Rekursen in Baukonsensangelegenheiten zu befassen haben, viel Arbeit erspart, die Rente der Lage wenigstens in den Fällen einer stärkeren Verbauung durch eine höhere Besteuerung wirksam getroffen, endlich, was das Ziel dieses Vorschlages ist, die Bauordnung und Baupolizei in ihrem Kampfe gegen die starke Verbauung kräftig unterstützt, so daß eine ungesunde Ver- kleinerung der Höfe und Hausgöttern möglichst bintangehalten wird. Mag auch die praktische Durchführung einer solchen Abänderung der Gebäudesteueni auf größere Schwierigkeiten stoßen, als es theoretisch scheint, so ist es doch ein anziehender Gedanke, gleichwie die Katnrkräfte immer mehr zum Wohle der Menschheit verwendet werden, so auch die gewaltige Kraft des auf den Gebäuden ruhenden Steuerdruckes in den Dienst der Hygiene zu stellen und durch Erschwerung der übermäßigen Verbauung für die Assanierung natzbar zn machen.

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BERICHTIGUNG.

Im Y. Heft dieser Zeitschrift, S- 483, im Aufsatz des Herrn Fr. Hertz über die Diskont- und Devisenpolitik der österreichisch-ungarischen Bank 1892 1902 wird eine von mir im Budgetausschnß des Abgeordnetenhauses am 14. März 1894 über die Salinonscheiuoperationen der Bank in den Jahren 1892/93 abgegebene Äußerung angeführt, deren wesentlicher Inhalt übrigens schon früher in meiner Rede im Abgeordnetenhaus vom 15. Dezember 1893 (255. Sitzung) enthalten war und welche nach dem angeführten Zitat lautete: „Der Finanz- minister habe es für seine Pflicht gehalten, die Sache zu ordneD und dies sei durch ein formales Übereinkommen geschehen, welches die Regierung mit der Bankleitung abgeschlossen habe, ein Übereinkommen, worin die Bank ausdrücklich sich dahin erkläre, daß sie in Hinkunft die beanständete Kskomptierung der Salinenscheine nicht weiter vornehmen wolle.“

Gegenüber dieser zweifelfreien Erklärung des Finanzministers sei es, heißt es in jenem Aufsatz weiter, ein absoluter Widerspruch, wenn in dem 1896 erschienenen Dezennalberichtc der Bank unbedingt die Berechtigung der Bank zu den beanständeten Operationen behauptet und das vom Finanzminister ange- zogene Übereinkommen einfach in Abrede gestellt wird. Es heiBt dort (S. 46): ,üie Bank hat sich daher weder verpflichtet, noch kann sie sich für die Zukunft verpflichten, von diesem ihr zustehenden Rechte keinen Gebrauch zu machen; ob und in welchem Umfange sie davon Gebrauch macht und machen darf, hängt allein von den verfügbaren Mitteln, der Lage des Geldmarktes und der zu beobachtenden Zinsfullpolitik ab.*

Diese Stelle im Bankberichte, die bisher meiner Aufmerksamkeit entgangen war, erscheint als Widerlegung der von mir gemachten Mitteilung über die Angelegenheit. Cm nun jeden Zweifel über die Richtigkeit meiner Mitteilung zu beheben, sei hier der Wortlaut des im Finanzministerium über diese Angelegen- heit aufgenommenen Protokolls abgedruckt:

Protokoll.

Am 21. November 1893 hat im Bureau Seiner Exzellenz des Herrn k. k. Finanzministers eine Besprechung über die Praxis der Geschäftsleitung der Österreichisch-ungarischen Bank bei Erwerbung von Salinenscheinen für das Bankportefeuille stattgefunden, an welcher Besprechung seitens der Österreichisrh-

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Berichtigung.

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ungarischen Bank Seine Exzellenz der Herr Gouverneur Dr. Kautz und der Herr Generalsekretär von Mecenseffy, seitens der k. k. Finanzverwaltung Seine Exzellenz der Herr k. k. Finanzminiater, Herr Sektionschef Freiherr von N i c b a u e r, Herr Ministerialrat Freiherr von Winterstein und Herr Finanzrat G r u h e r teilnahinen.

Nachdem der bisherige Vorgang der Bankleitung auf diesem Gebiete vom juridischen und vom bankpolitischen Standpunkte eingehend erörtert worden war, erklärte der Herr Generalsekretär unter Zustimmung Seiner Exzellenz des Herrn Bankgouverneurs, daii die außerordentliche Vermehrung des Besitzes des Bank- portefeuille an Salinenscheinen in dem Zeiträume 1892/93 ihren wesentlichen nnd ausschließlichen Grund in der durch die Valutagesetze vom August 1892 geschaffenen währungspolitischen Situation, insbesondere in der durch die Gold- eingänge bei der Bank hervorgerufenen Vermehrung des Banknotenumlaufes und in dem Wunsche der Bankleitung hatte, den Zinsfuß nicht allzutief sinken zu lassen, daß hingegen die Bankleitung in der gegenwärtigen Situation, abgesehen von der statutenmäßigen Eskomptie- rungvonSalinenscheinen auf Grundvon Parteieinreichungen sowie auf Grund von allfälligen normalen Anlagen für den Reservefonds, eine weitere Ausdehnung der Erwerbung von Salinenscheinen nicht beabsichtigt.-

Diese Erklärung wurde von Seiner Exzellenz dem Herrn Finanzminister zur Kenntnis genommen und hierauf das gegenwärtige Protokoll von den Anwesenden gefertigt.

Wien, am 21. November 1893.

Kautz m. p.

Gouverneur der Österreich i»di-u Dorischen Bank.

Mecenseffy m. p.

OiomUHmtir.

Wien, im Oktober 1903.

E. Plener.

E. Plener m. p. Niebauer in. p. Wlntersteln m. p. l)r. Ignatz Gruber m. p.

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